Zu diesem Buch Der Auftakt zu einem düsteren Actionspektakel in einer zerstörten Welt: Der ehemalige UN-Waffeninspekteu...
36 downloads
697 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Zu diesem Buch Der Auftakt zu einem düsteren Actionspektakel in einer zerstörten Welt: Der ehemalige UN-Waffeninspekteur Dekalb gelangt mit dem Schiff nach New York und stellt fest, dass sich die Stadt in der Gewalt von Zombies befindet, die die gesamte amerikanische Zivilisation dem Erdboden gleichgemacht haben. Dekalbs Ziel ist es, in den Ruinen der Metropole Medikamente für die Entführer seiner Tochter zu beschaffen, um sie aus der Geiselhaft in Afrika zu befreien. Doch die Untoten lauern überall. Dekalb setzt alles daran, die wenigen menschlichen Überlebenden, die sich im Untergrundsystem der Stadt verschanzt haben, im Kampf gegen den übermenschlichen Gary und die Monster-Armee auf seine Seite zu bringen. Immer neue Fronten entstehen zwischen den scheinbar Verbündeten, bis es nur noch ums nackte Überleben jedes Einzelnen geht... »Stadt der Untoten« ist der erste Roman des neuen dreibändigen Epos von David Wellington. David Wellington wurde in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und studierte an der Syracuse University. Seine ersten Romane veröffentlichte er zunächst in seinem Internet-Blog, bevor mehrere große Verlage auf ihn aufmerksam wurden. Mit den Romanen »Der letzte Vampir« und »Stadt der Untoten« avancierte Wellington aus dem Stand zum neuen Star der amerikanischen Horror- und Dark Fantasy-Szene. Wellington ist verheiratet und lebt in New York, wo er als Archivar bei den Vereinten Nationen arbeitet. Weiteres zum Autor: www.davidwellington.net
David Wellington
Stadt der Untoten ROMAN
Teil eins Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Monster Island«, Thunder's Mouth/Avalon Publishing Group, New York 2006
1 Osman beugte sich über die Reling und spuckte in die graue See, bevor er sich umdrehte und seinem Ersten Maat Yusuf weitere Befehle zubrüllte. Zwei Wochen zuvor war auf hoher See das GPS-Gerät verreckt, und bei dem Nebel mussten wir Glück haben, um nicht mit voller Fahrt in Manhattans Ufer hineinzukrachen. Da es keine Hafenbeleuchtung gab, an die man sich halten konnte, und das Funkgerät tot war, konnte Osman sich nur auf seine Intuition verlassen. Er warf mir einen nervösen Blick zu. »Naga amus, Dekalb«, sagte er. Das bedeutete »Halt die Klappe«; dabei hatte ich gar nichts gesagt. Die Mädchen aus dem Weg stoßend rannte er von einer Seite des Decks zur anderen. In dem Nebel konnte ich ihn fast nicht mehr sehen, als er die Steuerbordreling erreichte. Weiße Schwaden, die alles Glas auf dem Vordeck mit winzigen Tauperlen benetzten, wickelten sich um seine Füße. Die Mädchen plapperten und kreischten, wie sie es immer taten, aber in dem klaustrophobischen Nebel klangen sie wie Aasvögel, die sich um eine besonders schmackhafte Beute stritten. Yusuf brüllte irgendetwas aus dem Ruderhaus, etwas, das Osman offensichtlich nicht hören wollte. »Hooyaa da wasl«, rief der Kapitän zurück. Dann, auf Englisch: »Nur ein viertel Kraft voraus! Bring sie auf ein viertel Kraft herunter!« Er musste etwas in der Suppe vor uns gespürt haben. Aus einem unerfindlichen Grund wandte ich mich um und schaute nach Backbord. In dieser Richtung waren eigentlich nur drei der Mädchen zu erkennen. In ihren Uniformen sahen sie aus wie eine Girlband aus der Hölle. Graue Kopftücher, ma 3 rineblaue Schulblazer, Faltenröcke, Kampfstiefel. Die AK-47 über die Schulter gehängt. Sechzehn Jahre alt und bis an die Zähne bewaffnet, die Glorious Girl Army of the Free Women 's Republic of Somaliland. Eines der Mädchen hob den Arm, zeigte auf etwas. Dann sah sie zu mir zurück, als erwartete sie eine Bestätigung, aber ich konnte nichts erkennen. Dann sah ich doch etwas und nickte. Eine Hand erhob sich hoch über dem Meer. Eine aufgedunsene, gewaltige grüne Hand mit einer riesigen Fackel. Das Gold an ihrer Spitze schimmerte matt im Nebel. »Das ist New York, ja, Mr. Dekalb? Das ist die berühmte Freiheitsstatue.« Ayaan sah mir nicht in die Augen, aber auch nicht zur Statue. Da sie von allen Mädchen noch das beste Englisch sprach, diente sie auf meiner Reise als Dolmetscherin, aber wir standen uns nicht nahe, wirklich nicht. Ayaan stand niemandem nahe, ausgenommen vielleicht ihrer Waffe. Angeblich war sie eine Meisterschützin mit der Kalaschnikow und eine skrupellose Killerin. Und trotzdem erinnerte sie mich unwillkürlich an meine Tochter Sarah und an die Verrückten, bei denen ich sie in Mogadischu zurückgelassen hatte. Wenigstens hatte Sarah nur mit Gefahren zu tun, die von Menschen ausgingen. Mama Halima persönlich, die Kriegsherrin der FWRS, hatte mir das Versprechen gegeben, sie vor Übernatürlichem zu beschützen. Ayaan sah mich immer noch nicht an. »In der Koranschule haben sie uns ein Bild der Statue gezeigt. Dann mussten wir darauf spucken.« Ich ignorierte sie, so gut ich konnte, und beobachtete, wie sich die Statue aus dem Nebel schälte. Lady Liberty schien unversehrt, so wie ich sie vor fünf Jahren bei meinem letzten Besuch in New York hinter mir gelassen hatte. Lange vor dem
Anfang der Epidemie. Vermutlich hatte ich etwas zu sehen erwartet, ein Zeichen des Verfalls oder Beschädigungen, aber die Patina hatte sich schon lange vor meiner Geburt grün verfärbt. In der Ferne konnte ich das sternenförmige Fundament 4
der Statue durch den Nebel erkennen. Es erschien auf eine unglaubliche Weise real, wie eine Halluzination, perfekt und makellos. Vermutlich hatte ich in Afrika so viel Schreckliches gesehen, dass ich vergessen hatte, wie der Westen mit seiner Fassade aus Normalität und Gesundheit war. »Fiir !«, rief eines der Mädchen an der Reling. Ayaan und ich drängten uns nach vorn und starrten in die trüben Schleier. Jetzt war der größte Teil von Liberty Island zu erkennen, dahinter der Schatten von Klus Island. Die Mädchen zeigten aufgeregt auf den Weg am Ufer, auf die Menschen dort. Amerikanische Kleidung und amerikanisches Haar, das den Elementen ausgesetzt war. Vielleicht waren es Touristen. Vielleicht auch nicht. »Osman«, rief ich. »Osman, wir kommen zu nahe heran.« Aber der Kapitän befahl mir nur erneut, die Klappe zu halten. Auf der Insel entdeckte ich Hunderte von ihnen, Hunderte Menschen. Sie winkten uns zu, ihre Arme bewegten sich so steif wie in einem Stummfilm. Sie schoben sich gegen das Geländer, drängten uns entgegen. Als unser Trawler durch die Dünung heranrollte, sah ich, wie sie übereinander krabbelten in ihrem verzweifelten Bemühen, uns zu berühren und an Bord zu schwärmen. Vielleicht, nur vielleicht waren sie ja in Ordnung, dachte ich, vielleicht hatten sie auf Liberty Island Zuflucht gesucht, befanden sich in Sicherheit und warteten einfach auf uns, warteten auf ihre Rettung, aber dann roch ich sie und wusste Bescheid. Wusste, dass sie nicht in Ordnung waren. Gebt mir eure Müden, eure Armen, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten, wiederholte ich das berühmte Gedicht auf der Bronzetafel am Podest der Statue unablässig in Gedanken, wie ein Mantra. Mein Kopf wollte nicht aufhören. Gebt mir eure geknechteten Massen. Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren. 4
»Osman! Dreh ab!« Einer von ihnen kippte über das Geländer, vermutlich von der Masse gestoßen. Es war eine Frau in einer hellroten Windjacke, das Haar hing als fettiger Klumpen auf der einen Kopfseite. Sie versuchte verzweifelt auf den Trawler zuzupaddeln, hinderte sich aber selbst daran, indem sie immer wieder mit einer blau verfärbten Hand nach oben griff, um uns zu packen. Sie wollte unbedingt zu uns. Wollte uns erreichen, uns berühren. Gebt mir eure Müden, eure ach so Müden. Ich konnte es nicht ertragen, wusste nicht, was ich geglaubt hatte erreichen zu können, wenn ich herkam. Ich ertrug es nicht, noch einen von ihnen anzusehen. Noch einen Toten, der nach meinem Gesicht krallte. Eines der Mädchen eröffnete mit dem Gewehr das Feuer, ein kontrollierter Feuerstoß, drei Schüsse. Die Kugeln wirbelten das graue Wasser auf. Zapp, zapp, zapp. Und zapp, zapp, zapp durchbohrten sie die rote Windjacke, rissen den Hals der Frau auf. Zapp, zapp, zapp, ihr Kopf zerplatzte wie eine überreife Melone, und sie versank, glitt ohne jegliche Spritzer oder Luftblasen unter die Wasseroberfläche, und trotzdem griffen weiter Hunderte nach uns, drückten sich gegen das Geländer
von Liberty Island. Streckten flehende, skelettierte Hände nach uns aus, um sich das zu nehmen, was ihnen gehörte. Eure geknechteten Massen. Gebt mir eure Toten, dachte ich. Das Schiff legte sich hart auf die Seite, als Osman es endlich herumbrachte. Er fuhr an der Spitze von Liberty Island vorbei und sorgte dafür, dass wir nicht auf den Felsen aufliefen. Gebt mir eure erbärmlichen Toten, die zu fressen begehren, eure dahinschlurfenden Massen. Gebt sie mir. Das dachten sie doch, oder? Die lebenden Toten dort auf der Insel. Falls in ihren Gehirnen noch ein Funke aufblitzte, falls die verwesten Neuronen noch zu einem Gedanken fähig waren, dann zu dem: Gebt es mir. Gebt mir euer Leben, eure Wärme, euer Fleisch. Gebt es mir.
2.
Vor Garys Augen wirbelten Lichtsplitter und bleiche Schatten. Er konnte sich nicht erinnern, die Augen geöffnet zu haben, konnte sich kaum an eine Zeit erinnern, in der sie nicht offen gewesen waren. Nach und nach erkannte er das Bild. Er sah, dass er unter einer Schicht aus geschmolzenen Eiswürfeln in die Höhe starrte. Etwas Hartes und Störendes trieb mit rhythmischem Pumpen Luft in seine Lungen, aber das war nicht sehr schmerzhaft. Nein, sein Körper war zur Hälfte gefroren, und er verspürte überhaupt keinen Schmerz mehr. Es war unglaublich unbequem. Er setzte sich so schnell auf, dass bunte Flecken vor seinen Augen tanzten, und mit vor Kälte tauben Fingern griff er nach der Maske vor seinem Gesicht, riss sie weg und zog daran, zog an einem unglaublich langem Schlauch, der sich mit einem letzten Zerren tief aus dem Inneren seiner Brust löste, das sich in ein Reißen verwandelte, aber noch immer war da kein Schmerz. Er schaute sich um, registrierte die Badezimmerfliesen, die Wanne voller Eis und gelblichem Wasser. Die Schläuche an seinem linken Arm. Er riss auch sie heraus, einen tiefen Schnitt in seinem Arm hinterlassend, wo die Nadel seine gummiartige, feuchte Haut zerfetzte. Aus der Wunde kam kein Blut. Nein. Nein, natürlich nicht. Gary fing an, sorgfältig sein Befinden zu überprüfen. Die Funken, die im Rhythmus eines Tinnitus vor seinen Augen tanzten, wurden nicht weniger. In seinem Hinterkopf dröhnte 12
ein Summen. Es wollte, dass er nach dem Telefon griff. Dieser Impuls war kein Anzeichen für einen Hirnschaden, sondern natürlich bloß ein simpler pawlowscher Reflex. Man hörte einen Klingelton in dieser Frequenz und wollte schnell darauf reagieren, so wie man es sein ganzes Leben lang getan hatte. Natürlich gab es keine Telefone mehr. Er würde nie wieder ein klingelndes Telefon hören. Er würde sich dieses Verhalten abgewöhnen müssen. Seine Beine fühlten sich etwas schwach an. Kein Anlass zur Panik. Sein Gehirn... hatte es überstanden, hatte fast keinerlei Schaden davongetragen. Es hatte funktioniert! Aber bevor er feiern konnte, musste er seine Eitelkeit besänftigen. Er stolperte zum Spülstein, stützte sich mit beiden Händen auf das Porzellan. Schaute auf und in den Spiegel.
Vielleicht etwas zyanotisch. Blau am Kinn, an den Schläfen. Sehr blass. Seine Augen waren gerötet, weil einige Kapillaren geplatzt waren... Vielleicht würde das ja mit der Zeit heilen. Falls er noch heilen konnte. Eine abgestorbene Ader unter seiner linken Wange wölbte sich hervor, so blau, dass sie fast schon schwarz wirkte. Er drückte und tastete, zerrte an der Haut und entdeckte weitere Klumpen und Okklusionen, ein Spinnennetz aus toten Adern. Wie die Maserung in einem Stück Marmor, fand er, oder in einem schönen Stück Stilton. Ohne die Adern war Marmor nichts anderes als ein Stück Granit. Ohne die blauen Adern war ein Stück Stilton bloß eine weitere Käsesorte. Die toten Adern verliehen seinem Gesicht einen gewissen Charakter, vielleicht sogar Erhabenheit. Es war besser, als er gehofft hatte. Er drückte zwei Finger auf sein Handgelenk und ertastete keinen Puls. Er schloss die Augen und lauschte und wurde sich das erste Mal bewusst, dass er nicht atmete. Urtümliche Bedürfnisse regten sich in seinem Hirnstamm, die vererbte *3 Ur-Angst vor Ertrinken und Ersticken, und seine Brust dehnte sich aus, bemühte sich, Luft einzusaugen, aber es ging nicht. Von Panik ergriffen - er wusste, es war Panik, und konnte sie dennoch nicht unterdrücken - stieß er die gestohlene Dialysemaschine um und hörte, wie sie auf den Boden krachte, während er sich den Weg aus dem einengenden Badezimmer bahnte, einen Weg an Licht und Luft. Seine Beine drohten ihn jeden Augenblick im Stich zu lassen, seine Arme waren ausgestreckt, die Muskeln angespannt wie Stahlkabel unter der kalten Haut. Er stolperte vorwärts, bis seine Beine nachgaben, bis er auf den weißen Flokati krachte. Sein Körper krümmte sich in dem Versuch, einen Atemzug zu tun, egal wie, Hauptsache Luft. Das ist nur der Instinkt, schrie er in Gedanken, es ist nur ein Reflex, und er wird bald aufhören, gleich wird er aufhören. Seine Wange rieb über den Teppich, und er spürte die Wärme der Reibung, als sich sein Körper in Krämpfen schüttelte. Schließlich beruhigte sich sein System, sein Körper gab nach. Seine Lungen hörten auf, sich zu bewegen, und er lag still da, ohne die geringste Energie. Irgendwie hatte er Hunger. Er blickte auf, in den strahlend blauen Himmel jenseits der Fenster. Die weißen Schäfchenwolken, die langsam vorbei trieben. Alles würde gut werden. 6
3
Sechs Wochen zuvor: Endlich schlief Sarah ein, in die fadenscheinige Decke gehüllt, die sie ihr überlassen hatten, nachdem ich mich lange genug beschwert hatte. Sie hatte gelernt, in jeder Situation zu schlafen. Braves Mädchen. Ich hielt einen Arm um sie gelegt, beschützte sie, egal, ob es nun eine unmittelbare Bedrohung gab oder nicht. Es war ein Instinkt geworden, so viel wie möglich von meinem Körper zwischen sie und die Welt zu drängen. Das hatte ich schon vor der Epidemie getan. In Afrika hatten wir Dinge gesehen, die kein Mensch je sehen sollte, hatten in uns Reserven entdeckt, die es dort nicht hätte geben dürfen. Ich hatte Dinge getan... aber das war
egal. Auf diese Weise waren wir aus Nairobi herausgekommen. Ich hatte uns über die Grenze nach Somalia gebracht. Wir waren zu dritt gewesen, und jetzt waren wir nur noch zu zweit. Aber wir hatten es geschafft. Sarahs Mutter war nicht mehr unter uns, aber wir hatten es geschafft. Wir hatten es nach Somalia geschafft, nur um an einer Straßensperre von einer Horde Söldner aufgegriffen und zusammen mit ein paar Typen aus dem Westen in diese Zelle geworfen zu werden. Wo wir die Entscheidung des Warlords abwarten sollten. Drauf geschissen. Ich würde mir keine Selbstvorwürfe machen. Wr lebten. Wir waren noch immer unter den Lebenden. Wir gehörten der glücklichen Minderheit an. »Ich kann das nicht begreifen«, sagte Toshiro. Ein Ärmel seines Anzugs war an der Schulter eingerissen und enthüllte ein paar Quadratzentimeter des darunter liegenden Futters, aber sein Krawattenknoten saß tadellos. Selbst in der Hitze '7
der Zelle war er der perfekte Konzernangestellte. Er fuchtelte mit dem Handy herum. »Ich habe vollen Empfang. Vier Balken! Warum bekomme ich keine Verbindung mit Yokohama? Im Büro antwortet keiner. Früher hätte es das nicht gegeben!« Die deutschen Rucksacktouristen in der anderen Ecke klammerten sich aneinander und versuchten, ihn nicht anzusehen. Sie wussten genauso gut wie ich, was mit Yokohama passiert war, aber in diesen ersten schlimmen Tagen der Epidemie sprach man nicht darüber. Es hatte weniger mit Verdrängung zu tun als vielmehr mit dem erdrückenden Ausmaß der Sache. Soweit wir wussten, war ganz Europa verloren. Wie von der Landkarte verschwunden. Russland war weg. Und wenn man zu der Frage gelangte, was mit Amerika passierte, war im Kopf einfach nicht mehr genug Platz. Eine Welt ohne Amerika - das war einfach unvorstellbar. Die Weltwirtschaft würde zusammenbrechen. Jeder Möchtegern-Warlord und Diktator in der Dritten Welt würde feiern. Es war einfach nicht möglich. Es bedeutete das globale Chaos. Es bedeutete das Ende der Geschichte, so wir wie sie kannten. Und genau das war es. Die zivilisierten Länder mit ihren Zweikammerparlamenten und ihrer ehrlichen Polizei und guten Infrastruktur und der Herrschaft des Gesetzes und des Reichtums und der Privilegien, der gesamte Westen also - als die Toten nach Hause kamen, konnten sie nicht bestehen. Nur die Pisspötte der Welt schafften es. Die gefährlichsten Orte. Die instabilen Nationen, die Feudalstaaten, die anarchistischen Schlangengruben, Orte, an denen man nicht ohne Waffe aus dem Haus zu gehen wagte, wo Leibwächter Modeaccessoires darstellten - am Ende kamen diese Orte damit viel besser zurecht. Soweit wir gehört hatten, stellte der Mittlere Osten das 7
letzte Refugium der Zivilisation dar. Afghanistan und Pakistan hatten keine größeren Schwierigkeiten. Somalia wies nicht einmal eine Regierung auf. Hier gab es mehr Söldner als Landwirtschaftsarbeiter. Somalia war gar nicht so übel. Ich war Waffeninspekteur bei der UN gewesen. In meinem Büro in Nairobi hing eine Weltkarte. Verschiedene Farbschattierungen zeigten an, in welchem Land es wie
viele Waffen pro Kopf gab. An deren Stelle hätte man jetzt eine neue Kartenlegende setzen können: die Bevölkerungsdichte. »Vier Balken!«, winselte Toshiro. »Ich habe beim Aufbau dieses Netzwerkes geholfen, alles digital! Dekalb - Sie müssen doch Neuigkeiten für mich haben! Sie müssen doch wissen, was da passiert! Ich brauche eine Verbindung. Sie werden mir dabei helfen. Sie müssen mir helfen. Sie gehören zur UN. Sie müssen jedem helfen, der Sie darum bittet!« Ich schüttelte den Kopf, wenn auch nicht mit großer Überzeugung. Ich war so müde, mir war so heiß. So dehydriert war ich in dieser kleinen Zelle. Vor der Epidemie hatte es uns Dreien in Kenia niemals an Wasser gemangelt. Bevor die Toten wieder zum Leben erwachten. In Nairobi, wo wir einen Diener und einen Chauffeur und einen Gärtner hatten, in unserer kleinen abgeschlossenen Welt, gab es einen Springbrunnen, den wir das ganze Jahr über fröhlich vor sich hinplätschern ließen. Obwohl Sarah wusste, dass es das Beste für sie war, wollte sie im nächsten Jahr nicht auf das Internationale Internat in Genf gehen, so sehr gefiel ihr Afrika. Mein Gott, Genf. Ich hatte dort viele Freunde, Kollegen im dortigen UN-Büro. Wie war es dort wohl abgelaufen? In der Schweiz gab es Waffen. Aber nicht genug. Es konnte kein Genf mehr geben. Die Tür öffnete sich, und heißes Licht fiel auf uns alle. Die Silhouette eines Mädchens winkte mir zu. Eine Sekunde lang verstand ich nicht - ich war davon ausgegangen, nie mehr aus dieser Zelle herauszukommen. Dann brachte ich mich mühsam auf die Füße und hob Sarah auf. »Dekalb! Fragen Sie sie nach meiner Verbindung! Und der Teufel soll Sie holen, wenn Sie es nicht tun!« Ich nickte, eine Art Abschied, eine Art Einverständnis. Ich folgte der Kindersoldatin aus der Zelle auf den von der Sonne beschienenen Hof. Der Gestank brennender Körper hing schwer in der Luft, aber er war besser als der Geruch des Latrineneimers in der Zelle. Sarah drückte ihr Gesicht an meine Brust, und ich hielt sie fest an mich gedrückt. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde. Vielleicht würden wir etwas zu essen bekommen, die erste Verpflegung in zwei Tagen. Oder die Kindersoldatin brachte mich zu einem Folterkeller oder einem Flüchtlingszentrum mit heißen Duschen und sauberen Betten und irgendeiner Aussicht auf eine Zukunft. Oder man führte uns zu unserer Hinrichtung. Wenn es kein Genf mehr gab, gab es auch keine Genfer Konvention mehr. »Komm!«, sagte die Soldatin. Ich gehorchte. 8
Sechs Wochen zuvor: Fortsetzung. Ein in China gebauter Helikopter
wirbelte mit seinem sich träge drehenden Rotor den Staub des Hofes auf. Wer auch immer gerade eingetroffen war, er musste wichtig sein - schon seit Wochen hatte ich kein Flugzeug mehr zu Gesicht bekommen. Im Schatten der Kasernen hielten Frauen im Khimar und züchtigen Kleidern die Hände über die Mörser, in denen sie Getreide mahlten. Die Soldatin führte mich an zwei »Technicals« vorbei -gewöhnlichen Pick-ups, auf deren Ladeflächen schwere Maschinengewehre montiert waren. Eine weitverbreitete Errungenschaft somalischer Bösartigkeit. Normalerweise waren
Technicals mit Söldnern bestückt, aber die hier hatte man hastig mit Mama Halimas Farben versehen: Hellblau und Gelb wie bei einem Osterei. Die Fahrzeuge gehörten jetzt der Free Women's Republic. Kindersoldatinnen lungerten an den Wagen herum, die Gewehre lässig im Arm; sie kauten gleichgültig Kat und warteten auf den Befehl, irgendjemanden zu erschießen. Hinter den Technicals gingen wir um einen Scheiterhaufen aus Leichen herum. Er war viel größer als noch bei Sarahs und meiner Ankunft im Lager. Die Soldaten hatten die Toten in weiße Laken gehüllt und Kameldung als Brandbeschleuniger dazwischengepackt. Benzin war zu wertvoll, um es zu verschwenden. Der von dem Feuer ausgehende Gestank war schrecklich, und ich fühlte, wie sich Sarah an meiner Brust verkrampfte, aber unsere Führerin verzog keine Miene. 9
Ich versuchte, mich meiner Identität zu versichern, versuchte Kraft aus meiner professionellen Empörung zu ziehen. Mein Gott. Kindersoldaten. Kinder, nicht älter als zehn -praktisch noch Babys -, die man aus der Schule gezerrt und denen man ein Gewehr in die Hand gedrückt hatte, denen man Drogen gab, um sie bei Laune zu halten und damit sie in Kriegen kämpften, deren Grund sie nicht einmal ansatzweise begriffen. Ich hatte hart daran gearbeitet, diese Obszönität zu ächten, und jetzt hing die Sicherheit meiner Tochter von ihnen ab. Wir betraten ein niedriges Ziegelgebäude, das einen heftigen Artillerietreffer abgekommen hatte und nie repariert worden war. Im durch das eingebrochene Dach hereinströmenden Sonnenlicht tanzte der Staub. Am anderen Ende eines dunklen Korridors kamen wir zu einer Art Befehlsstand. Auf dem Boden waren Waffen sorgfältig sortiert aufgestapelt, während auf einem Holztisch ein Haufen Handys und Transistorradios lag. Dort saß eine Frau in einer Militäruniform und starrte lustlos auf ein Blatt Papier. Sie war vielleicht fünfundzwanzig, etwas jünger als ich, und sie trug keine Kopfbedeckung. In der islamischen Welt war das eine Botschaft, und man erwartete, dass ich sie sofort begriff. Sie schaute nicht auf, als sie mich ansprach. »Du bist Dekalb. Von der UN«, las sie von einer Liste ab. »Und Tochter.« Sie machte eine Geste, und unsere Führerin setzte sich neben sie. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu bestätigen. »Sie halten ausländische Staatsbürger in dieser Zelle fest, die auf unmenschliche Weise behandelt werden. Ich habe eine Liste mit Forderungen.« »Das interessiert mich nicht«, sagte sie. Ich unterbrach sie. »Zuerst einmal brauchen wir Lebensmittel. Saubere Lebensmittel. Bessere sanitäre Einrichtungen. Und noch mehr.« Sie richtete einen Blick auf meine Leibesmitte, den ich wie einen Messerstich fühlte. Das war keine Frau, mit der man umspringen konnte, wie man wollte. »Es ist noch immer möglich, dass man uns die Kommunikation mit unseren verschiedenen Konsulaten ermöglicht. Wir brauchen...« »Deine Tochter ist schwarz.« Sie hatte gar nicht mich angesehen. Sie hatte Sarah angesehen. Ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund. »Aber du bist weiß. Ihre Mutter?« Ich atmete eine Minute lang hart durch die Nase. »Kenianerin. Tot.« Da blickte sie mir in die Augen, und alles brach aus mir heraus. »Wir fanden sie... ich meine, ich ertappte sie eines Nachts dabei, wie sie in unserem Müll herumwühlte; sie hatte
Fieber, aber wir glaubten, sie würde es schaffen. Ich brachte sie hinein, aber ich ließ sie nicht aus den Augen, ich konnte nicht...« »Du wusstest, dass sie eine von den Toten war.« »Ja.« »Hast du dich ihrer auf die richtige Weise entledigt?« Der Gedanke daran ließ mich zusammenzucken. »Wir... ich habe sie im Badezimmer eingesperrt. Dann brachen wir auf. Die Diener waren schon fort, der Block zur Hälfte verlassen. Nirgendwo war Polizei in Sicht. Nicht einmal die Armee konnte noch länger durchhalten.« »Hat sie auch nicht. Laut meinen Informationen wurde Nairobi zwei Tage nach deinem Aufbruch überrannt.« Die Frau seufzte, ein schrecklich menschlicher Laut. Ich konnte diese Frau als Bürokratin des Todes verstehen. Ich konnte sie als Soldatin verstehen. Aber ich konnte es nicht ertragen, wenn sie ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachte. Ich bat sie stumm, mich nicht zu bemitleiden. Ich Glückspilz. »Wir können euch nicht ernähren, und dieses Lager ist nicht zu verteidigen, also können wir euch auch nicht hier lassen«, sagte sie. »Und ich habe keine Zeit, mich mit dir um deine Liste zu streiten. Die Einheit bricht heute Abend im Rahmen eines taktischen Rückzugs auf. Wenn du uns begleiten willst, hast du fünf Minuten, um mich von deinem Nutzen zu überzeugen. Du bist bei der UN. Katastrophenhelfer? Wir brauchen Verpflegung und Medikamente, mehr als alles andere.« »Nein, ich war Waffeninspekteur. Was ist mit Sarah?« »Deine Tochter? Wir nehmen sie. Mama Halima liebt alle Waisenmädchen Afrikas.« Es klang wie ein politischer Slogan. Uber die Tatsache, dass Sarah keine Waise war, brauchte man nicht weiter zu diskutieren - wenn ich jetzt versagte, würde sie eine werden. In diesem Augenblick erkannte ich, was es bedeutete, einer von den Lebenden zu sein. Es bedeutete, dass man alles tat, um nicht zu einem von den Toten zu werden. »Da gibt es ein Waffenlager, hauptsächlich leichtes Gerät, ein paar Panzerabwehrgeschosse, direkt hinter der Grenze. Ich kann euch dort hinführen, euch zeigen, wo ihr graben müsst.« Als wir die Waffen gefunden hatten, hatten uns das Geld und die Ausrüstung gefehlt, um sie zu zerstören. Wir hatten die Waffen in einen versiegelten Untergrundbunker geschafft in der Hoffnung, dies eines Tages nachholen zu können. Wir Idioten. »Waffen«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf den Gewehrstapel neben mir. »Waffen haben wir. Und es ist auch nicht zu befürchten, dass uns die Munition ausgeht.« Da drückte ich Sarah so hart an mich, dass ich sie weckte. Sie wischte sich die Nase an meinem Hemd ab und schaute zu mir hoch, aber sie hielt den Mund. Braves Mädchen. Die Offizierin erwiderte meinen Blick. »Deine Tochter wird beschützt werden. Sie bekommt zu essen, erhält eine Schulbildung.« »In einer Madrasa?« Sie nickte. Soweit ich wusste, war das auch schon das Höchste des somalischen Bildungssystems. Die Koranschule. Das tägliche Rezitieren des Korans und endlose Gebete. Wenigstens würde sie lesen lernen. In diesem Augenblick verkrampfte sich
etwas in meinem Herzen, verkrampfte sich so sehr, dass ich es niemals wieder würde entspannen können. Das Wissen, dass dies das Beste war, was sich Sarah erhoffen konnte, dass jeglicher Protest von meiner Seite, jede Andeutung, dass es vielleicht nicht genug war, unrealistisch und kontraproduktiv wäre. Wenn meine Tochter in ein paar Jahren alt genug war, um ein Gewehr zu halten, würde aus ihr eine Kindersoldatin werden, und das war das Beste, was ich ihr bieten konnte. »Die Gefangenen«, sagte ich und schloss mit diesem Gedankengang ab. Ich musste jetzt hart sein. »Lasst uns ein paar Waffen da, wenn ihr geht. Damit wir eine Chance haben und kämpfen können.« »Ja. Aber ich bin noch nicht fertig mit dir.« Sie schaute wieder auf das Blatt. »Du hast für die Vereinten Nationen gearbeitet. Du hast der internationalen Hilfsgemeinschaft angehört.« »Schon, ja«, sagte ich. »Vielleicht kannst du ja helfen, etwas für uns zu finden. Etwas, das wir dringend brauchen.« Sie sprach weiter, aber ich verstand eine Weile lang nichts, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, mir meinen eigenen Tod vorzustellen. Als mir klar wurde, dass sie mich nicht auf der Stelle erschießen würde, hörte ich ihr wieder zu. »Es geht um Mama Halima.« Sie legte das Blatt ab und sah mich an, sah mich richtig an. Nicht so, als wäre ich eine unangenehme Aufgabe, die sie zu erledigen hatte, sondern als wäre ich ein menschliches Wesen. »Sie ist etwas zum Opfer gefallen, das in Afrika leider weit *11 verbreitet ist. Sie ist von bestimmten Mitteln abhängig geworden. Mitteln, die bedrohlich knapp werden.« Drogen. Die Kriegsherrin war süchtig, und sie brauchte einen Kurier, der ihr Stoff besorgte. Jemanden, der verzweifelt genug war, um loszuziehen und ihr Dope zu beschaffen. Natürlich würde ich es tun. Keine Frage. »Von welchen >Mitteln< reden wir genau? Heroin? Kokain?« Sie schürzte die Lippen, als würde sie sich fragen, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte, gerade mich für diese Mission auszusuchen. »Nein. Eher so etwas wie AZT.« 11
5
Fünf Wochen zuvor: Mama Halima hatte AIDS - in der Tat etwas, das in Afrika weit verbreitet war. Meine Aufgabe war, die von ihr benötigten Medikamente aufzutreiben, die Pillenkombination, die die Zahl der Viren kontrollierte und verhinderte, dass sie Schwäche zeigte. Es bedeutete ein neues Leben für Sarah, vielleicht sogar für mich. Ich musste also Krankenhäuser und Lager identifizieren, die Hauptquartiere internationaler medizinischer Hilfsorganisationen und Kliniken, die die WHO aufgebaut hatte. Natürlich tat ich, was ich konnte. Ich malte Kreuze auf Karten, dann brachten sie mich an die Orte, die ich benannt hatte, und hielten mich am Leben, während ich plünderte.
In Ägypten krachten Gewehre in der Dunkelheit, eines nach dem anderen. Jenseits des Stacheldrahts stürzten Körper zu Boden. Ich musste nicht nahe genug herangehen, um ihre Gesichter zu sehen. Ich war froh. Der kräftige Wind aus der Wüste ließ die Zelte auf ihrem Aluminiumgestänge Wellen schlagen. Auf jedes Zelt war ein rotes Kreuz gemalt, das man von der Luft aus sehen konnte. Im Inneren drehten Mädchen, die kaum älter als Sarah waren, im Licht der Kerosinlampen eine Kiste nach der anderen um und entleerten den Inhalt auf den gestampften Boden. Plastikbeutel mit Antibiotika, Schmerzmittel in Folienpackungen, Insulin in Spritzen. Ich durchsuchte alles gewissenhaft, las die Großbuchstaben der Aufkleber. Das Rote Kreuz hatte diesen Ort aufgegeben, und sie hatten einen wahren Schatz zurück 12
gelassen. Wie viele Menschen draußen in der afrikanischen Nacht starben in genau dieser Sekunde, nur weil ihnen ein paar Tabletten Erythromycin fehlten? Eine Achtzehnjährige in Militäruniform betrat das Zelt und musterte mich. Ich hockte zwischen den hingeworfenen Medikamenten und schüttelte den Kopf. »Noch nichts«, sagte ich zu ihr.
Vier Wochen zuvor:
Zwei Tagesreisen außerhalb von Dar es Salam stießen wir in den Ruinen eines befestigten Lagers auf ein Feldlazarett der Médecins Sans Frontières. Das Lager befand sich unterhalb eines bewachsenen Hügels. Der schmale, bunkerähnliche Eingang war von Bäumen umgeben. Maschinengewehrnester hielten noch immer unbesetzt im Regen Wache. In dem Lazarett unter der Erde leuchteten wir mit Taschenlampen in jede Ecke, erhellten jeden Operationssaal, jeden Untersuchungsraum. In dem unheimlichen Dämmerlicht blieb mein Lampenstrahl immer wieder an Dingen hängen, Schatten in der Form menschlicher Körper, die Spiegelung meines Gesichts in Bettpfannen, in Waschbecken. Hier gab es nichts. Keine Pille, nicht mal ein Arzneipulver. Profis hatten diesen Ort auseinandergenommen und nichts außer Schatten und Furcht zurückgelassen. Wir traten zurück ins Sonnenlicht, und plötzlich rissen die um mich gescharten Kindersoldatinnen die Waffen hoch. Etwas stimmte nicht -sie fühlten es. Ich nahm nichts wahr. Aber dann wurde es auch mir bewusst - ein Geräusch, das Brechen eines Zweiges unter dem Gewicht eines Fußes. Einen Augenblick später roch ich es. Ich hatte etwas Somali gelernt und verstand, dass die Be 12
fehlshaberin den Mädchen zurief, sie sollten mich beschützen, egal was es kostete. Ich fühlte mich nicht geschmeichelt. Mir war mehr als nur einmal klar gemacht worden, dass ich der Einzige war, der wusste, wo sich die Medikamente befanden. Wir gingen in loser Formation zurück zum Wasser, ich in der Mitte. Gelegentlich feuerte jemand eine Waffe ab. Zwischen den Bäumen war nichts zu erkennen. Wir schafften es.
Drei Wochen zuvor:
»Wie viele Millionen in Afrika leiden an AIDS?«, wollte ich wissen. »Wie viele von ihnen hatten die gleiche Idee wie wir?«
»Ich hoffe um deinetwillen, Dekalb, dass es nicht alle waren.« Ifiyah, die Anführerin der Teenagersoldatinnen, machte eine komplizierte Geste. Hinter ihr nahmen die Truppen Aufstellung. Das Hauptquartier der Oxfam in Maputo hinter uns stand dunkel und verlassen da. Wie jedes andere verfluchte Gebäude in Afrika. Vor sechs Tagen hatten wir in Kenia ein paar Überlebende gesehen. Soweit wir das feststellen konnten, gab es in Mozambique keine. Wir waren in einem Helikopter gekommen, und als wir über den Dschungel flogen, hatten wir nichts gesehen, das sich bewegt hätte. Nicht das geringste. Die Toten waren da draußen. Vermutlich näher, als mir lieb war. Unser Plan - mein Plan - hatte vorgesehen, das Oxfam-Lager schnell und kompromisslos zu überrennen und wieder draußen zu sein, bevor uns einer der untoten Bastarde roch und zu einem Imbiss herübergewandert kam. Ein Blick in die Baracken von Maputo hatte jedoch uns alle überzeugt, dass wir unsere Zeit verschwendeten. Der Ort war niederge 13
brannt. Hier gab es nur noch kalte Asche und gelegentlich ein paar warme, glühende Scheite. »Es gibt hier keine AIDS-Medikamente mehr!«, brüllte ich Ifiyahs Rücken an, als sie mich stehen ließ. Ihr Gewehr baumelte an ihrer Schulter, aber sie drehte sich nicht zu mir um. »Hier nicht. Und auch nirgends sonst.« Ich war zu müde für diese Auseinandersetzung. Ich hatte keine Nacht mehr als vielleicht drei Stunden geschlafen. Nicht, weil es keine Gelegenheit zum Schlafen gegeben hätte. Sondern aus purer Angst. »Was schlägst du also vor?«, fragte sie. Ihre Stimme klang gefährlich leise. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo wir noch suchen sollen, nicht in Afrika.« Selbst das Oxfam-Lager war ein Verzweiflungsversuch gewesen. Oxfam war eine Entwicklungshilfeorganisation - sie hatten nie Medikamente in ihren Lagern. »Ich kenne nur noch einen Ort, wo es das gibt, was du suchst.« »Einen Ort, von dem du es mit Sicherheit weißt? Warum hast du nicht früher etwas davon gesagt?« Jetzt drehte sie sich um und sah mich an. »Weil er eine halbe Welt weit weg ist«, sagte ich. Eigentlich war es nichts anderes als ein dummer, bösartiger Scherz. Ein schwacher Trost, den ich da zu bieten hatte, das sichere Wissen, dass es tatsächlich gab, was sie brauchte, aber dass man an den Ort unmöglich herankam. Ich hätte nie geglaubt, dass sie mich beim Wort nehmen würde. »Das UNGebäude.« »Welches UN-Gebäude? Davon haben wir in den vergangenen zwei Wochen einige gesehen.« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als wüsste sie, dass ich sie verarschte, sie aber den Witz nicht kapierte. »Nein, nein, das Hauptquartier der UN. Das Sekretariats13
gebäude, in New York, in Amerika. Das gesamte fünfte Stockwerk dient der Medizin. Ich habe mich da jedes Jahr gegen Grippe impfen lassen. Das ist wie ein vollständig ausgerüstetes Hospital. Sie haben Medikamente gegen jede nur denkbare Krankheit, gegen alles, was sich ein Mitarbeiter einfangen könnte. Es gibt eine
ganze Station nur für chronisch Kranke. HIV-Medikamente, wie du sie dir nicht einmal vorstellen kannst.« Sie zeigte mir die Zähne und sah verwirrt aus, aber nur eine Sekunde lang. »Also gut.« »Komm schon, das sollte ein Scherz sein«, sagte ich eine Stunde später zu ihr, als wir wieder in den Helikoptern saßen und nach Mogadischu zurückflogen. »Wir können nicht nach New York City, um diese Medikamente zu holen. Das ist doch verrückt.« »Um sie zu retten, werde ich auch verrückte Dinge tun«, sagte Ifiyah. Ihr Blick war entschlossen, ruhig. »Ich würde um die Welt reisen, jawohl. Und ich würde das Antlitz des Todes berühren, jawohl.« »Aber denk doch nur einmal eine Sekunde lang darüber nach! Du kannst nicht mehr einfach nach New York fliegen. Es gibt dort keinen sicheren Landeplatz.« »Dann müssen wir eben ein Schiff nehmen.« Ich schüttelte den Kopf. »Und selbst dann... wie viele Tote gibt es im Augenblick in Manhattan?« »Wir können sie bekämpfen«, sagte sie. Einfach so. »Ihr habt gegen Dutzende gekämpft. Vielleicht auch mal gegen einhundert. In New York gibt es bestimmt zehn Millionen.« Ich hoffte, ihr damit Angst machen zu können. Mir selbst jagte die Vorstellung ordentlich Angst ein. Sie aber zuckte bloß mit den Schultern. »Weißt du, was eine Infibulation ist?«, fragte sie. »Ja? Eine übliche Praxis in Somalia. Jedenfalls früher.« 20
Ich schüttelte den Kopf, ich wollte nicht abgelenkt werden. Ich wusste, in welche Richtung das führen sollte, und das konnte ich nicht zulassen. »Ich weiß, was das ist, eine Art der weiblichen Beschneidung...« Ifiyah unterbrach mich. »Die Beschneidung der Klitoris ist nur der erste Schritt. Danach kümmern sich die Männer um die Vagina. Sie nähen sie zu. Lassen ein kleines Loch fürs urinieren und für die Menstruation. Wenn das Mädchen verheiratet wird, reißt man ein paar der Nähte auf, damit ihr Ehemann sie ficken kann, wenn er Lust dazu hat. Viele Mädchen bekommen durch diesen wunderbaren Eingriff eine Entzündung. Hier bei uns sterben mehr Frauen bei der Geburt als an den meisten anderen Orten. Viele sterben nach ihrer ersten Menstruation.« »Das ist schrecklich. Ich habe mein Leben lang solche Barbareien bekämpft«, versicherte ich ihr und versuchte wieder die Gesprächsführung zu übernehmen. Sie wollte nichts davon hören. »Mama Halima tötet jeden Mann, der versucht, so etwas zu tun. Sie hat daraus etwas Illegales gemacht. Für mich kam das alles zu spät, aber nicht für meine Kumayo-Schwestem.« Sie zeigte auf die Mädchen, die angeschnallt auf den Mannschaftssitzen saßen. »Sie haben das, was du als Barbarei bezeichnest, nicht erdulden müssen. Wenn du mich also fragst, ob ich verrückt bin und nach Amerika reise, um diese Pillen zu holen und Mama Halima zu retten, glaube ich, du kennst meine Antwort.« Was konnte ich danach noch tun, außer beschämt den Kopf zu senken? 14
6.
Jetzt: Gary saß auf dem Boden seiner Kochnische - umgeben von Verpackungen und Schachteln. Alle leer. Er leckte das Innere eines Müsliriegelpapiers ab, grub die winzigen Krümel mit der Zunge heraus. Alles weg. Er hatte größeren Hunger denn je. Sein Magen zog sich zusammen. Er wusste, dass er voll war, voller als je zuvor in seinem Leben. Es schien keine Rolle zu spielen. Offensichtlich bedeutete der Tod ewigen Hunger. Bedeutete diese Krämpfe in den Eingeweiden, die man nie beschwichtigen konnte. Es erklärte so vieles. In seinem alten Leben hatte er sich gefragt, warum sie die Leute angegriffen hatten, selbst Leute, die sie kannten, Leute, die sie geliebt hatten. Vielleicht hatten sie ja versucht, sich zu bremsen. Doch der Hunger war einfach zu groß. Das Verlangen zu essen war ungeheuer und furchterregend. Hatte er sich dem ausgeliefert? Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als er auch schon aufstand und nach dem Schrank griff. Seine Finger bewegten sich unbeholfen. Das bereitete ihm Sorgen. Hatte er sein Nervensystem zu sehr geschädigt? Die Finger gehorchten ihm so weit, dass sie den Schrank öffnen konnten. Er war fast leer, und er fühlte, wie sich in seinem Inneren ein Abgrund öffnete, ein verzweifelter, finsterer Ort, der gefüllt werden musste. Nahrung. Er brauchte Nahrung. Eigentlich hatte er gedacht, er hätte mit den Dingen des Lebens abgeschlossen. Das war der Sinn des Ganzen gewesen. 3*
Das Zeitalter der Menschheit war vorbei und die Zeit des homo mortis gekommen. Im Krankenhaus hatte das reine Chaos geherrscht, sterbende Patienten erhoben sich, um sich die Gesunden zu schnappen, Polizisten in den Korridoren schössen wild um sich, die Stromversorgung setzte aus. Er war mit einem Wäschewagen voller teurer Ausrüstung aus der Notaufnahme gefahren, und niemand hatte auch nur den Versuch unternommen, ihn aufzuhalten. Er fand eine Packung Rigatoni. Der Gasofen funktionierte nicht. Wie sollte er sie kochen? Sein Daumennagel grub sich trotzdem in die Kartonlasche. Wunschdenken. Er hatte keine Wahl gehabt. Entweder man wurde einer von ihnen oder man fütterte sie - es wurden unaufhörlich mehr, man konnte fliehen und sich verstecken, aber sie waren überall. Jeden Tag gab es mehr von ihnen und weniger Orte, an die man sich wenden konnte, weniger Abschnitte der Stadt, von denen die Nationalgarde behaupten konnte, eine lückenlose Quarantäne aufrechtzuerhalten. Selbst nachdem eine Anordnung in Kraft getreten war, wie man sich der Toten auf die richtige Weise entledigte. Der Bürgermeister hatte aufgegeben, hieß es. Auf jeden Fall war er aus dem Blick der Öffentlichkeit getreten. Im Fernsehen hatte man nur noch die öffentliche Verlautbarung des CDC gesendet, des Amtes für Seuchenkontrolle, wie man seinen Angehörigen korrekt den Schädel aufbohrte. Außerhalb der Polizeibarrikaden brannte es überall. Qualm und Schreie. Genau wie am 1 1 . September, nur in allen Stadtteilen gleichzeitig. Gary fischte eine Nudel aus dem Karton und stopfte sie sich zwischen die Lippen. Vielleicht würde sie weich werden, wenn er nur lange genug darauf herumlutschte.
Möglicherweise würde alles gar nicht so schlimm werden, hatte er sich gedacht. Wenn man sowieso starb und dann einfach zurückkam... Das Schlimmste war der Verlust der Intelligenz, der Geistesgaben. Er könnte auf alles verzichten, aber er könnte nicht ertragen, bis ans Ende aller Tage als hirnlose Leiche auf Erden zu wandeln. Aber vielleicht musste es ja nicht so kommen. Die Dummheit der Toten musste von einem organischen Hirnschaden verursacht werden, der durch den Luftmangel entstand, oder? Der kritische Augenblick kam in dem Moment, wenn man zu atmen aufhörte und wieder erwachte, genau da musste es passieren, das war die Lücke zwischen einem denkenden, rationalen menschlichen Wesen und einem dummen, toten Tier. Wenn es einem gelang, die Sauerstoffversorgung zu gewährleisten, wenn man sich an eine Dialysemaschine anschloss, die das Blut weiter zirkulieren ließ und so den unverzichtbaren Sauerstoff in den Kopf transportierte. Batteriebetrieben für den Fall, dass das Stromnetz ganz ausfiel. Er biss fest zu, sein Magen wollte nicht auf Speichel warten, um die Nudel in ihre Einzelteile zu zerlegen. Er kaute, zermalmte die Rigatoni zu Stücken, die so hart und scharf wie kleine Messer waren. Schob sich die nächste Nudel in den Mund. Dann noch eine. Eines Tages hatte er einen Hubschrauber der Regierung gesehen, den ersten seit einer Woche, der mit einem Krach wie bei einem Autounfall im Park abstürzte. Stundenlang hatte er zugesehen, wie der schwarze Rauch in die Luft stieg, wie die orangefarbenen Flammen über der Skyline tanzten. Niemand kam ihnen zu Hilfe. Niemand löschte den Brand. Da hatte er gewusst, dass der Zeitpunkt gekommen war. Ein Stück Nudel grub sich tief in seine Unterlippe und durchbohrte beinahe die Haut. Mit einem Ruck erkannte er, was er da tat, und er spuckte die Nudelstücke in die trockene Spüle. Er strich über die Innenseite seiner Lippen, ertastete Hunderte winzige Risse. Er hätte sich wirklich verletzen können - aber er hatte kaum 16
etwas gefühlt. Der Schmerz war so fern gewesen, nur ein sanftes Glimmen am Horizont. Hier drinnen verlor er noch den Verstand. Er musste aus seinem Apartment heraus. Er musste mehr Essen beschaffen. Richtiges Essen. Fleisch. 16
7.
»Epivir. Ziagen. Retrovir.« Osman ging die Liste durch, schüttelte den Kopf. »Das sind AIDS -Medikamente.« Ich nickte, hörte aber kaum zu. Yusuf lenkte das gute Schiff Arawelo ein paar Strich zur Seite, und Manhattan erschien im sich auflösenden Nebel. Wie es so über dem Wasser schwebte, sah es aus wie ein kubistischer Bergzug. Wie eine zerfallende Festung. Andererseits hatte es schon immer so ausgesehen. Ich hatte erwartet, ein paar offensichtliche Schäden zu sehen, Narben der Epidemie. Doch da war nichts. Nur die Stille, die komplette Stille auf dem Wasser verriet einem, dass hier etwas Schlimmes geschehen war. Osman lachte. »Aber Mama Halima hat kein AIDS. Du musst dich irren.«
Während wir uns der Stadt näherten, war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich Osman eine Erklärung schuldete, warum wir den halben Planeten umrundet hatten, um in einer von Geistern heimgesuchten Stadt an Land zu gehen. Er und Yusuf und natürlich die Soldatinnen - würden ihr Leben für meine Mission riskieren. Sie hatten es verdient, Bescheid zu wissen. »Das sind meine Befehle. Mach daraus, was du willst.« Mama Halima war das Einzige, was zwischen Osmans Familie und einer Horde Untoten stand. Wenn er glauben wollte, dass sie sich kein HIV einfangen konnte, dann würde ich ihn nicht davon abbringen. Ich wünschte nur, ich könnte diese Tatsache ebenfalls einfach ignorieren - Sarah verließ sich ebenfalls auf Mama Halima. Das bösartige Charisma einer Frau war alles, das Somalia zusammenhielt. Sollte Halima jetzt 17
sterben, würden rivalisierende Fraktionen ihr Erbe beanspruchen. Alte Fehden würden in den Vordergrund treten. Somalia würde sich selbst vernichten. Wie lange konnte ein Land im Bürgerkrieg den Toten widerstehen? Yusuf brachte uns zum Battery Park, weiter an der Fähranlegestelle Staten Island vorbei. Sämtliche Boote waren verschwunden - vermutlich hatten Flüchtlinge sie sich geschnappt. Wir kreuzten in etwa hundert Meter Entfernung an den Anlegestellen vorbei in Richtung Nordost, in den East River hinein, passierten Governors Island zu unserer Rechten. Brooklyn lag als brauner Schatten im Osten. »Aber das ist doch Wahnsinn. Diese Medikamente kann man überall finden. Ich bringe euch woanders hin«, schlug Osman vor und klang unendlich vernünftig. »Das kenne ich zur Genüge.« Ich seufzte. »Als sie mich geschnappt haben, hatten sie bereits jede Stadt in Afrika durchsucht, hatten Selbstmordkommandos nach Nairobi, Brazzaville und Jo'burg geschickt. Ich schlug ein halbes Dutzend weiterer Orte vor - Flüchtiingslager, UN-Krankenhäuser, von denen sie vermutlich noch nie etwas gehört hatten. Alle waren überrannt oder zerstört worden. Dann kam ich auf diese brillante Idee. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass man sie tatsächlich in die Tat umsetzen würde.« Mama Halimas Agenten gingen davon aus, dass in New York AIDS-Medikamente in jeder Duane Reade-Apotheke frei verkäuflich waren. Soweit ich jedoch wusste, gab es auf der Welt nur einen Ort, an dem ich sie mit Sicherheit finden konnte. Die Arztpraxen in der fünften Etage des UNSekretariatsgebäudes. Und das Sekretariat befand sich direkt am Wasser und war mit dem Schiff erreichbar. Mama Halimas Truppen hatten keine Zeit verschwendet. Sie hatten Osmans Schiff requiriert, einen neuen Namen auf den Bug gepinselt, und schon waren wir unterwegs. Wenn 3<S Osman die Mission nicht gefiel - und das tat sie nicht -, war er schlau genug, dies nicht auszusprechen. Yusuf legte etwas Dampf zu, als wir uns nach Norden wandten und in die Hauptfahrrinne des East River einfuhren. Er steuerte direkt auf die dunkle Silhouette der Brooklyn Bridge zu, die noch immer in Nebel gehüllt war. Osman rieb sich das glatt rasierte Gesicht und sah aus, als würde er jeden Augenblick einen grandiosen Einfall bekommen. »Ich glaube, ich verstehe«, sagte er dann. »Ich glaube, jetzt verstehe ich es.«
Ich blickte ihn erwartungsvoll an. »Sie will die Medikamente an andere verteilen. Menschen, die mit AIDS infiziert sind. Mama Halima ist eine sehr großzügige Frau.« Ich zuckte bloß mit den Schultern und begab mich zum Bug des Trawlers, wo ein paar der Mädchen dicht zusammengedrängt beieinander standen und auf Gebäude zeigten, als wären sie Touristen, die nach dem Empire State Building und dem Chrysler Building Ausschau hielten. Ich blickte starr ans Ufer, auf die Massen aus Pfählen und Docks, aus denen sich der South Street Seaport zusammensetzte. Sie lagen verlassen da, man hatte alles weggeschafft, was schwimmen konnte. Hier und da konnte ich sehen, dass sich Leute auf den Pieren bewegten. Es waren Tote, das wusste ich, aber in dem Nebel konnte ich mir einreden, dass es nicht so war. Ansonsten wäre ich bei jeder Bewegung zusammengezuckt. Das alles würde in ein paar Stunden vorbei sein, sagte ich mir. Rein, Medikamente holen, wieder raus. Dann konnte ich zurück zu Sarah. Ein neues Leben anfangen oder so. Überleben war die erste Bürgerpflicht. Danach konnten wir darüber nachdenken, wie wir die Dinge in Ordnung bringen sollten. Der härteste und längste Teil würde der Wiederaufbau sein. 18
Mein Magen zuckte ständig, als würde ich meinen Bauch einziehen, ohne aber die Muskeln entspannen zu können. Die Mädchen fingen an, aufgeregt zu plappern, und ich folgte ihren Blicken, als sie sich über den Bug hinausbeugten. Nichts, nur eine gelbe Boje. Jemand hatte in Schwarz etwas darauf gemalt, ein primitives Zeichen, das mir bekannt vorkam. Oh. Ja. Das internationale Symbol für Biogefährdung. Osman trat hinter mich und packte mich am Oberarm. Er sah es auch und brüllte Yusuf zu, er solle Fahrt wegnehmen. »Das ist nichts«, sagte ich zu ihm. »Nur eine Warnung. Wir wissen doch ohnehin, dass es hier gefährlich ist.« Er schüttelte den Kopf, schwieg aber. Vermutlich kannte er sich in Schifffahrtszeichen besser aus als ich. Er zeigte auf einen Schatten auf dem Wasser und befahl Yusuf, die Schiffsschrauben ganz zu stoppen. »Es ist nichts«, wiederholte ich. Vielleicht war auch ich für Verdrängung empfänglich. Der Trawler trieb nach Norden, jetzt völlig lautlos, so lautlos, dass wir hören konnten, wie das Wasser gegen den Rumpf klatschte. Der Schatten auf dem Wasser nahm langsam Gestalt an. Er verlief als eine Reihe quer über die Flussmündung, ein dunkler Flecken voller winziger weißer Wellenbrecher. Auf einem Pier erhob sich ein großes Gebäude, das ein ordentliches Stück über das Wasser hinausragte, und dahinter veränderte das Wasser einfach seine Beschaffenheit. Wir trieben langsam näher heran, allein durch unsere Eigengeschwindigkeit, bis Osman befahl, den Rückwärtsgang einzulegen. Wir kamen zu nahe heran, falls es sich um ein Hindernis handelte. Der verschwommene Fleck wurde konkreter, verwandelte sich in eine dichte Masse, einen Stapel aus etwas, das man ins Wasser geworfen, das man haufenweise hineingekippt hatte. Leichen. Ich konnte sie nicht sehr gut erkennen. Ich wollte es auch 18
nicht. Osman hielt mir ein Fernglas vor die Nase, und ich sah sie mir trotzdem an. Der East River war mit Leichen verstopft. Mein Mund war trocken, aber ich zwang mich zu schlucken und schaute erneut hin. Auf der Stirn einer jeden Leiche (ich überprüfte ungefähr ein Dutzend, um sicherzugehen) befand sich eine aufgedunsene rote Wunde. Kein Einschussloch. Mehr wie etwas, das man mit einem Eispickel machte. Sie hatten es gewusst - die Behörden von New York hatten gewusst, was mit ihren Toten passierte. Sie mussten es gewusst haben, und sie hatten versucht, es aufzuhalten - oder es wenigstens zu verlangsamen. Man zerstört das Gehirn, und die Leiche bleibt liegen, das war die Lektion, die wir alle so teuer bezahlt hatten. In Somalia verbrannte man die Leichen danach und begrub die Überreste in Gruben, aber hier, in einer Millionenstadt, gab es dafür keinen Platz. Die Behörden mussten die Leichen einfach in den Fluss geworfen haben in der Hoffnung, dass die Strömung sie weiterbefördern würde, aber so viele Tote konnte nicht einmal das Meer aufnehmen. Tausende Tote. Zehntausende, und es hatte nicht gereicht, vermutlich hatte man die Arbeit nicht schnell genug erledigen können. Es musste eine mühsame, widerwärtige Arbeit gewesen sein. Ich konnte sie in den Armen spüren, als hätte ich sie selbst verrichtet. Knochen und graue Gehirnmasse mit einem Dorn zu durchstoßen, immer und immer wieder. Und es musste auch gefährlich gewesen sein - eine Leiche, die man entsorgen wollte, konnte sich aufsetzen und nach Arm oder Gesicht greifen, und als nächstes landete man selbst auf dem Stapel. Wer hatte es getan? Die Nationalgarde? Die Feuerwehrleute? »Dekalb«, sagte Osman leise. »Dekalb. Wir können da nicht durch. Da führt kein Weg durch.« Ich starrte an dem Leichenfloß vorbei nach Norden. Es er 19 streckte sich, soweit ich sehen konnte, weit über die Brooklyn Bridge hinaus. Er hatte recht. Ich konnte das UN-Gebäude von hier aus nicht sehen, obwohl es so nahe war. Ich zitterte am ganzen Leib, vielleicht waren es unterdrückte Tränen, vielleicht wollte ich mich auch einfach nur übergeben, ich vermochte es nicht zu sagen. Dort vorn waren die Medikamente, meine einzige Chance, Sarah jemals wiederzusehen, aber sie hätten genauso gut eine Million Meilen weit weg sein können. Yusuf brachte die Arawelo herum und steuerte zurück zur Bucht, während Osman und ich überlegten, wie es nun weitergehen sollte. Man konnte den Hudson herauffahren und dann durch den Harlem River um Manhattan herumnavigieren, um schließlich wieder den East River herunterzufahren. Osman verwarf diese Idee sofort. »Der Harlem River«, sagte er und zeigte auf eine schmale blaue Schleife auf seinen Karten, »ist zu seicht. Wir würden auf Grund laufen.« »Es ist die beste Chance, die wir haben«, erwiderte ich. Ich hatte die Arme fest um meinen Leib geschlungen, während ich die Karte anstarrte. »Es tut mir leid, aber das ist unmöglich. Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit. Ein Krankenhaus. Oder einen Drugstore.«
Ich starrte die Karten an. Und starrte. Ich kannte mich hier aus. Ich kannte mich besser aus als jeder andere auf diesem Schiff. Warum wollte mir nur nichts einfallen? 20
8.
Im Kühlraum der kleinen Bodega, in der Dunkelheit, hinter glatten Scheiben fand Gary endlich, wonach er gesucht hatte. Er nahm eine Packung Hamburger mit nach vorn und legte sie neben dem Ständer Einwegfeuerzeuge und der Lottomaschine auf die Plastiktheke. In der Kühltruhe hatten sie sich kalt angefühlt - völlig aufgetaut und mit einer weißen Schimmelschicht bedeckt, aber noch immer essbar, wie er fand. Ihm erschienen sie jedenfalls essbar. Er war am Verhungern. Er überlegte sich verschiedene Methoden, sie zu braten, bis er den Mut fand, in einen rohen hineinzubeißen und das Risiko einzugehen. Sein Mund füllte sich mit Speichel, und er zwang sich zu kauen, das Fleisch zu genießen, obwohl sich seine Augen mit Tränen füllten. Die Anspannung in seinem Magen, der nagende Hunger, ließ nach, und er stützte sich mit beiden Händen auf der Theke ab. Er hatte den ganzen Morgen gebraucht, um überhaupt ein Stück Fleisch zu finden. Er war weit von seinem Apartment entfernt, war nördlich ins West Village hineingegangen. Aber in jeder Metzgerei und jedem Lebensmittelladen hatte er nur leere Kühltheken vorgefunden und Fleischerhaken, die in den Kühlräumen verlassen an ihren Ketten baumelten. Offensichtlich war er nicht der Erste, den es dorthin zog, wo es früher Fleisch gegeben hatte. In den vergangenen Stunden hatte er alle kleinen Läden und die Küchen schuhkartongroßer Diner abgesucht, und das war alles, was er gefunden hatte. Danach zu urteilen, wie sich sein Magen entspannte und seine Hände aufhörten zu zittern, hatte sich der Weg gelohnt. 20
Er verschlang seinen zweiten Hamburger, als er ein Geräusch hinter sich hörte, und er drehte sich herum und sah, dass er nicht allein war. Ein großer Kerl mit einer Truckermütze und Koteletten war in den Laden gestolpert und hatte einen Ständer mit Slimjims umgestoßen. Es war der erste wandelnde Tote, den Gary aus der Nähe sah. Der Kopf des Eindringlings rollte auf seinem dicken Hals, und Sabber rann von der herabhängenden Unterlippe, als er Gary aus Augen anstarrte, die sich anscheinend auf nichts konzentrieren konnten. Er wies die gleichen toten Adern und bläuliche Hautfarbe auf, die Gary in seinem Badezimmerspiegel gesehen hatte, aber das Gesicht des Kerls war ganz schlaff und lose, die Haut hing in Falten von Wangen und Hals herab. In seinem linken Oberschenkel klaffte ein großes Loch. Seine Jeans waren blutverkrustet, und als er weiterschlurfte, beugte sich das Bein auf die falsche Weise und drohte ihn gegen Garys Brust zu schleudern. Truckermütze zog das Bein langsam und gequält wieder unter sich und torkelte zur Theke. Wordos streckte der Tote die Hände aus und griff nach den letzten Burgern. Bevor Gary ihn daran hindern konnte, stopfte sich der große Kerl eine der Fleischscheiben in den Mund und griff nach der nächsten, der letzten der vier. »Hey, komm schon, die gehören mir«, sagte Gary und versuchte, den Kerl am Hemd von dem Essen wegzuziehen, aber es war, als wollte er einen Kühlschrank
bewegen. Er packte den Typen am Arm, doch er schleuderte Gary zurück, der in einen Dosenstapel StarKist-Thunfisch krachte. Langsam drehte sich der große Kerl um und starrte Gary aus diesen trüben, glasigen Augen an. Gary schaute nach unten und stellte fest, dass er noch immer ein Stück Hamburger in der linken Hand hielt. Der Trucker riss den Mund weiter auf, als wollte er Gary 21
verschlucken, wie eine Schlange, die ein Ei herunterwürgt. Noch immer gab er keinen Laut von sich, nicht den geringsten. Er machte einen wackeligen Schritt nach vorn mit dem verletzten Bein, stürzte beinahe. Fing sich. Hob die Fäuste. »Nein.« Gary bemühte sich, auf die Beine zu kommen, rutschte aber auf den Dosen aus. »Bleib von mir weg.« Der große Kerl kam weiter auf ihn zu. »Wage es ja nicht!«, kreischte Gary. Das klang selbst in seinen eigenen Ohren absurd, aber es kam einfach so aus ihm heraus. »Halt!« Der große Kerl verharrte mitten im Schritt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht veränderte sich, aus wütendem Hunger wurde einfache Verwirrung. Eine Minute lang schaute er sich um, und Gary fühlte, wie die kalte Gestalt des Typen ihn überragte, ein toter Schatten in der Luft, der drauf und dran war, auf ihn herabzustürzen wie eine Mauer, ihn zu zerschmettern, ihn zu Brei zu prügeln. Er stand einfach da, kam nicht näher. »Verpiss dich und verrecke!«, schrie Gary außer sich vor Angst. Lautlos drehte sich der Kerl auf dem Absatz seines gesunden Beins herum und verließ die Bodega. Er schaute nicht zurück. Gary sah ihm nach, dann kämpfte er sich wieder auf die Füße. Er fühlte sich wieder zittrig. Ihm war fast schon übel. Er aß den Hamburger auf, aber der half nicht so wie der Erste. Der Kampf mit dem Hünen hatte ihm irgendwie zugesetzt. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sah zum Gefrierschrank. Der war nun leer. Er bückte sich und sammelte die Slimjims auf, die der Kerl umgestoßen hatte. Die Salamistäbchen enthielten auch Fleisch. Vielleicht würden sie helfen. Als Gary aus der Bodega schlurfte, war das Klingeln in seinen Ohren plötzlich wieder da, lauter als je zuvor. Er musste hier weg, das war ihm klar - fort aus der Gegend, bevor der 21
Große zurückkehrte -, aber er konnte kaum aufrecht stehen. Die Welt drehte sich, und er hielt sich den Kopf und lehnte sich gegen das kalte Glas der Fensterscheibe. Eine Welle weißes Rauschen schoss wie ein Schwall Eiswasser durch seinen Kopf, und er taumelte auf die Straße - was zum Teufel ging mit ihm vor? Er fühlte, wie sich seine Beine bewegten, fühlte, wie er fortbewegt wurde, aber er konnte nichts sehen, konnte seine Augen nicht zwingen, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Was war bloß mit ihm los? Seine medizinische Ausbildung war keine Hilfe. Ein Aneurysma? Ein ischämischer Insult? Sein Gehirn fühlte sich an, als würde es vertrocknen und schrumpfen. War das alles, was er für seine harte Arbeit bekam ein halber Tag geistige Klarheit? Würde er sie jetzt verlieren? Etwas Hartes und Metallisches kollidierte mit seinen Oberschenkeln, und er zwang sich stehenzubleiben. Er tastete umher und fühlte ein Geländer, an dem er sich festklammerte, während er auf die Knie sank. Mit großer Anstrengung zwang er
seine Augen, offen zu bleiben, und kniete dort, mit verzweifelter Intensität auf den Hudson River vor ihm starrend. Noch drei Schritte, und er wäre hineingefallen. Alles war so deutlich, so viel klarer, als es je im Leben gewesen war. Gary schaute über das Wasser auf New Jersey, auf die Hügel dort drüben, und er fühlte den Boden erbeben. Er umklammerte das Geländer, als sich die Erde unter seinen Füßen aufbäumte und sich Spalten im Felsen ausbreiteten, Spalten, die stinkenden schwarzen Rauch ausspuckten, der die ganze Welt erfüllte. Hinter ihm an der Bodega löste sich die Mütze vom Kopf des Typen, als er auf dem Asphalt zusammenbrach. Seine Hände verkrampften sich, als ihm ein Lebensfunke entströmte, und flatternd schlossen sich seine Augen. 22
9
»Der da ist zu aktiv«, sagte Ayaan und musterte die Anlegestelle mit dem Fernglas. Der fragliche Tote trug nur eine enge Jeans, aus der sein aufgedunsenes Fleisch hervorquoll. Er klammerte sich mit dem Arm an einem Holzbalken fest, während er mit dem anderen ins Leere griff. Sein hungriges Gesicht folgte dem Schiff, als wir vorbeidampften. Oben auf dem Ruderhaus rief Mariam nach ihrer Dragunow, und eines der anderen Mädchen reichte sie hinauf. Mariam stützte sich an der Radarkuppel der Arawelo ab und spähte durch das Zielfernrohr des Scharfschützengewehrs. Ich steckte mir die Finger in die Ohren, einen Moment, bevor sie schoss. Der Tote auf dem Pier wirbelte, umgeben von einer Wolke explodierender Gehirnmasse, herum und stürzte ins Wasser. Mit nur sechzehn Jahren war Mariam bereits eine ausgezeichnete Scharfschützin. Wann hatten die Soldatinnen Zeit zum Trainieren? Vermutlich hatte es in Somalia nicht viel anderes zu tun gegeben. Kein Kabelfernsehen, keine Einkaufszentren. Osman räusperte sich, und ich schaute wieder auf die Karte. »Hier«, sagte ich und zeigte auf das blaue H auf der Karte, nur ein paar Blocks vom Hudson entfernt. Ich warf einen Blick auf die Gebäudereihen an der Küste und zeigte auf eine Stelle zwischen ihnen. »Das St. Vincent Medical Center. Da gibt es - beziehungsweise gab es - eine HIV-Station.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist gefährlich. Wir wären mindestens eine Stunde lang außer Sicht des Schiffes. 22
Aber es ist die beste Option, wenn wir nicht zum UN-Gebäude können.« Der Kapitän rieb sich das Gesicht und nickte. Er gab Yusuf Anweisung, das Schiff zu einem leeren Pier zu steuern, und die Mädchen strömten an Deck, schulterten ihre Waffen und überprüften deren Funktion. Osman und ich mühten uns mit einem drei Meter langen und genauso breiten Stück angerosteten Blech ab, das auf dem Trawler als Landungsbrücke diente. Die Motoren jaulten, und Gischt spritzte, als Yusuf uns zum Stehen brachte. Das Blech lag noch nicht auf, da sprangen die Mädchen auch schon auf die andere Seite - Kommandantin Ifiyah an der Spitze. Sie rief ihre Kumayo-Schwestern zu sich. Sie brüllten wie Löwen, als sie losrannten, um auf dem Holzpier die ihnen zugeteilten Positionen in zwei Zwölferreihen einzunehmen. (Mariam hockte noch immer mit ihrer Dragunow auf dem Ruderhaus.) Ich nahm meinen Rucksack, schüttelte
Osman die Hand und schritt vorsichtig über das Blech, als hätte ich Angst, ins Wasser zu fallen. Ich fühlte mich ruhig, viel ruhiger als am East River. Ayaan hatte mir gezeigt, wie man sich vor einem Kampf übergibt, damit man nicht danach den Drang dazu verspürt. Es war nicht schwergefallen. Der Gestank nach Tod und Verfall, den Manhattan verströmte, verstärkte meine Seekrankheit noch und verursachte mir Übelkeit, seit wir die Freiheitsstatue erspäht hatten. Das Geräusch meiner Schritte auf dem Pier hallte in der Stille. Ich ging hinter Ayaan, die mir nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte, in die Hocke. Sie war äußerst konzentriert, in diesem Wahnsinn völlig mit sich im Reinen. Ich hob meine AK-47 und versuchte ihre Feuerhaltung zu kopieren, aber schon das Gefühl des Kolbens an meiner Schulter verriet mir, dass ich es falsch machte. 23
»Xaaraan«, sagte sie leise, aber nicht zu mir. Das Wort bedeutete »rituell unrein« beziehungsweise »auf die falsche Weise geschlachtetes Fleisch«, wenn man es wörtlich nahm. Noch nie hatte ich eine zutreffendere Beschreibung für die Männer und Frauen gehört, die auf den Pier zukamen. Grotesk verzerrte Gesichter auf angeschwollenen, blutigen Körpern, die sich auf unnatürliche Weise verrenkten... Hände, die wie Krallen nach uns griffen... zerbrochene Zähne... rollende Augen... ihre Lautlosigkeit... Diese Lautlosigkeit war das Schlimmste. Menschen, richtige Menschen, machten Geräusche. Diese hier waren tot. »Diyaarl«, schrie Ifiyah, und die Mädchen legten los, ein Gewehr nach dem anderen peitschte auf, und eine Leiche nach der anderen wirbelte herum und krachte auf den Pier. Ich sah, wie es einen von ihnen zwischen den Zähnen erwischte. Zahnschmelz flog durch die Luft. Ein anderer mit schulterlangem Haar griff sich an den Magen, setzte aber seinen Weg zu uns fort, nicht rennend, sondern eher auf unsicheren Beinen taumelnd, er taumelte mit einer Unerbittlichkeit auf uns zu, die mich erschreckte. Eine Frau in einer Jeansjacke und schwarzen Schaftstiefeln drängte sich an ihm vorbei direkt in meine Richtung; der Wind fuhr durch ihr Haar und enthüllte, dass ihre beiden Wangen weggefressen waren. Ihre freigelegten Kiefer schnappten voller Erwartung zusammen, als sie die Arme hob, um mich zu packen. Ein Rauchwölkchen quoll aus ihrem Leib, sie fiel zurück, aber andere nahmen ihren Platz ein. »Madaxal«, befahl Ifiyah - schießt auf die Köpfe. Ein paar der jüngeren Mädchen veränderten nervös ihre Feuerstellung und hoben die Gewehrläufe eine Winzigkeit höher. Sie feuerten erneut, und die Toten fielen, stürzten dumpf auf den Pier oder ins Wasser oder in die Menge zurück, die einfach um sie herumströmte und schneller herankam. Hatten sie auf uns ge 23
wartet? Es waren so viele - selbst mit dem Lärm, den wir machten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass wir so viele von ihnen angelockt hatten. Es sei denn, New York, die stets überfüllte Stadt, beherbergte so viele der wandelnden Toten. In diesem Fall waren wir verloren. Wir würden unsere Mission unmöglich erfüllen können. »Iminka«, hauchte Ifiyah. Jetzt. In meinem Entsetzen war mir das Schrecklichste entgangen - dass die Toten näher an uns herangerückt waren. Nur noch wenige
Meter trennten uns von der immer näherkommenden Flut. Die Mädchen gerieten nicht in Panik, aber ich weiß, dass ich es tat. Ich hyper-ventilierte und war nahe dran, mir vor Angst in die Hosen zu scheißen. Mit einem lauten Klirren legten die Schützinnen Hebel um und stellten auf Dauerfeuer. Hatte ich geglaubt, das Gemetzel wäre zuvor schlimm gewesen, nun, ich hatte ja keine Ahnung. Natürlich hatte ich schon zuvor erlebt, wie man automatische Gewehre im Dauerfeuermodus abfeuerte. In meinem Job als Waffeninspekteur hatte es diverse Gelegenheiten gegeben, wenn ein Warlord mich mit seiner Feuerkraft hatte beeindrucken wollen. Aber ich hatte nie gesehen, wie automatische Sturmgewehre auf Amerikaner gerichtet wurden. Es schien keine Rolle zu spielen, dass sie bereits tot waren. Die Reihe vor mir explodierte einfach, ihre Köpfe zerplatzten, Hals und Oberkörper wurden in Fetzen gerissen. Die hinter ihnen zuckten bloß, als würden sie von wilden Krämpfen geschüttelt, während die Kugeln in sie einschlugen. Den Lärm von vierundzwanzig Kalaschnikows, deren Magazine sich unter Dauerfeuer leerten, kann man nicht beschreiben, also werde ich das gar nicht erst versuchen. Er schüttelt einen buchstäblich durch - durch die Vibrationen bekommt man den Eindruck, als würde einem gleich das Herz stehenbleiben, und die Lautstärke kann die inneren Organe 24
schädigen, wenn sie ihr längere Zeit ausgesetzt sind. Es hörte einfach nicht auf. Am Ende standen wir vor einem Haufen regloser Körper. Eine Frau in einem TShirt mit der Aufschrift I Love New York mit abgerissenen Ärmeln kämpfte sich darunter hervor und krallte nach uns, aber eines der Mädchen - Fathia - trat einfach vor und stach sie mit dem Bajonett am Gewehrlauf in den Kopf. Die Leiche sackte zusammen. Danach lauschten wir eine Weile dem Klingeln in unseren Ohren, betrachteten das Ende des Piers und warteten auf die nächste Welle, aber sie kam nicht. »Nadiif«, verkündete Ifiyah. Der Pier war gesäubert. Die Mädchen entspannten sich und schulterten die Gewehre. Ein paar lachten aufgedreht und traten nach den Leichen auf dem Holzsteg. Fathia und Ifiyah klatschten ab. Alle Mädchen lächelten - mit Ausnahme von Ayaan. Ihr Gesicht war so starr wie eine Maske, als sie an die Mündungsbremse meiner Kalaschnikow griff. Ich zuckte zusammen, unwillkürlich in dem Glauben, sie wollte sich aus einem unerfindlichen Grund absichtlich verbrennen - die AK-4 7 war berüchtigt dafür, nach längerem Feuern zu überhitzen -, aber dann nahm sie die Hand weg und zeigte mir ihre unversehrte Handfläche. »Du hast nicht geschossen«, sagte Ayaan. Der Abscheu in ihrer Miene war vernichtend. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich keinen Schuss abgegeben hatte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, den Mädchen zuzusehen. »Ich bin kein Killer«, protestierte ich. Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Wenn du nicht kämpfen willst, bist du bereits einer der Xaaraan.« Die Mädchen schwärmten auf dem Pier aus, Kommandantin Ifiyah übernahm die Führung, als sie das Ufer nach Anzei
25
chen von Bewegungen absuchten. Ayaan rannte los, um ihre Position an der Spitze des Keils einzunehmen. Ich drehte mich um und schaute zur Arawelo zurück. Osman winkte mir zu. »Geh ihnen nach, Dekalb«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Wir bleiben hier und bewachen das Schiff.« 25
IO. Die Mädchen verteilten sich auf der Straße und gaben sich Handzeichen. Die Läufe ihrer Kalaschnikows zielten auf Straßenecken, Häusereingänge und die Hunderte von aufgegebenen Autos, die hier standen. Ich war davon ausgegangen, dass die Straßen frei sein würden. Nun gut, sagen wir, ich hatte es gehofft. Wir hätten uns Wagen organisieren und zum Krankenhaus fahren können. Keine Chance. In der Panik der Epidemie musste sich der übliche Manhattan-Stau in eine Todesfalle verwandelt haben. Überall standen Autos, viele davon verbeult oder beschädigt. Sie standen in jeder Seitenstraße, an der wir vorbeikamen, versperrten jede Kreuzung. Ich sah einen Hummer 2 auf dem Bürgersteig, dessen funkelnder vorderer Kotflügel für alle Ewigkeit zwischen einem Briefkasten und der eingedrückten Holzfassade eines verlassenen Bistros verkeilt war. Auf der anderen Straßenseite kletterte Fathia auf ein Taxi mit vier platten Reifen und überprüfte die vor ihr liegende Straße durch das Zielfernrohr. »Hier entlang«, sagte ich zu Ifiyah, und sie bedeutete ihrem Stoßtrupp, uns zu folgen. Ich führte sie auf der Horatio Street einen kurzen Häuserblock entlang, vorbei an einer Tankstelle mit verbarrikadierten Fenstern. Die Zapfsäulen waren mit Pappschildern beklebt: Kein Benzin, kein Geld, keine Toilette. Gott segne Euch. Um die Ecke befand sich eine kleine Boutique, die Frauenkleidung verkauft haben musste. Im Schaufenster befanden sich drei fröhliche, angekleidete Schaufensterpuppen und ein voluminöser grüner Stoffhaufen. 25
Ayaan blieb vor dem Fenster stehen und schaute hinein. »Suchst du eine neue Sommergarderobe?«, fragte ich, weil ich wollte, dass sie sich beeilte. Natürlich hatte ich Verständnis für sie - vermutlich hatte Ayaan noch nie in ihrem Leben richtige Frauenmode gesehen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in Uniform verbracht, und die Verlockung westlicher Kleidung musste... »Da hat sich etwas bewegt«, erklärte sie. Oh. Die Soldatinnen marschierten weiter, ein paar von ihnen gingen rückwärts, die Gewehre im Anschlag, während ihre Kameradinnen sie mit einer Hand auf der Schulter führten. Ihre Disziplin war herzerwärmend. In einem anderen Leben hätte ich die Art, wie diese Mädchen zusammenarbeiteten, unheimlich gefunden, aber jetzt bedeutete sie, dass ich diese Irrsinnsmission möglicherweise überlebte. Ohne Vorwarnung schob sich eine Tote aus dem grünen Stoff und krachte von innen gegen die Scheibe. Es war eine schlanke Blondine mit zarten Zügen. Ihr Gesicht war mit winzigen Geschwüren übersät, die beinahe wie Ziermünzen aussahen. Sie trug ein wallendes kastanienbraunes ärmelloses Kleid, und einen Herzschlag lang ließ der Anblick ihrer Eleganz uns alle erstarren.
Dann hoben sich ihre dünnen Arme, und ihre kleinen Fäuste hämmerten gegen das Glas. Sie drückte das Gesicht gegen die Scheibe, und ihr Mund öffnete sich, als wollte sie sich mit ihren gelben Zähnen den Weg frei beißen. Das schwarze Loch ihres Mundes verschmolz perfekt mit dem Glas, während sie nach uns hungerte. Fathia hob das Gewehr, aber ich schüttelte den Kopf. »Das ist bruchsicheres Glas. Da kommt sie nie durch. Aber wenn du jetzt schießt, könnte es die anderen anlocken.« Die Soldatin schaute ihre Kommandantin an. Ifiyah nickte nur, und wir gingen weiter, ließen die Tote hinter uns zurück. Als wir am Ende des Blocks um die Ecke bogen, hörten wir nicht einmal mehr das dumpfe Dröhnen ihrer Fäuste auf dem Schaufenster. Auf der breiteren Greenwich Avenue stießen wir auf einen Wassertransporter, aus dem noch immer Wasser aus einer Reihe von Einschusslöchern tropfte. An seine Stoßstange war ein unglaublich langes Stück gelbes Absperrband der Polizei gebunden und flatterte im Wind. Ich schnappte es mir und las Quarantänegebiet: Auf Unbefugte wird geschossen, bevor ich es wieder dem Wind überließ. Auf der 12* Street gingen wir nach links, und die Mädchen schwärmten schnell aus. Wir waren da. Ifiyah instruierte ihre Truppe, Kampfpositionen einzunehmen und einen CCP zu bestimmen - einen Casualty Collection Point, an dem sich Verwundete sammelten. Dort sollte man sich treffen, falls man getrennt wurde. Ich führte Ayaan zum geschlossenen Eingang der Notaufnahme des St. Vincent und schaute hinein. »Da drin ist es dunkel«, sagte ich. Natürlich war es das. Hatte ich sechs Wochen nach dem Weltuntergang ernsthaft noch mit Strom gerechnet? »Das gefällt mir nicht.« »Das hast nicht du zu entscheiden«, erwiderte Ayaan, aber in ihrer Stimme lag weniger Wut als gewöhnlich. Sie schob ihre schmalen Finger in den Spalt der Automatiktür und zog. Die Türflügel bewegten sich ein paar Zentimeter und glitten dann auf. Sie schaute zu Ifiyah hinüber, hob drei Finger, und drei Sechzehnjährige eilten herbei. Zu fünft schoben wir die Türen weit genug auf, dass ich hindurch konnte. Ayaan reichte mir eine Taschenlampe aus ihrer Dambiil-Tasche und überprüfte ihre eigene, indem sie sie ein paar Mal schnell ein- und ausschaltete. Die drei Mädchen, die sich zu uns gesellt hatten, taten das Gleiche. Ich warf Ifiyah einen Blick zu, um die Erlaubnis zum Fortsetzen einzuholen, dann 26
trat ich ein. Die Lobby der Notaufnahme war ein Chaos aus umgestürzten Stühlen und toten Fernsehbildschirmen, aber immerhin drang etwas Licht durch die Glastüren und zerschnitt das Zwielicht. Auf und vor der Empfangstheke lag eine Masse Hochglanzbroschüren über Herzerkrankungen und Passivrauchen. Ich trat darauf, vorsichtig, um nicht auszurutschen, und sah die an die Wand geklebte Fotokopie des Grundrisses. »Hier entlang«, sagte ich und zeigte auf eine Schwingtür, die aus der Lobby herausführte. Die HIV-Station befand sich in den Tiefen des Gebäudes. Wir würden mindestens zehn Minuten brauchen, um in der Dunkelheit dorthin zu kommen, und der Rückweg würde genauso lang sein. Ifiyah hatte uns neunzig Minuten gegeben, um die Mission abzuschließen und uns zum Schiff zurückzuziehen.
Ich muss das nur einmal tun, sagte ich mir. Nur einmal, dann kann ich Sarah wiedersehen. Der Gedanke an meine siebenjährige Tochter, die in einer somalischen Koranschule schmachtete, schnitt mir tief ins Herz, und mir stockte plötzlich der Atem. Ich trat die Schwingtür auf und leuchtete mit der Taschenlampe in die abgrundtiefe Schwärze des dahinter liegenden Korridors. Der Lichtkegel zeigte ein paar Krankenhausbetten, die an der Wand standen. Auf dem Boden lag ein Haufen schmutziger Laken. Zwei Reihen Türen, Dutzende von ihnen, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. »Bringen wir es hinter uns«, sagte ich. Ayaan schürzte die Lippen, als ginge es ihr gegen den Strich, von einem Zivilisten herumkommandiert zu werden. Aber sie hob das Gewehr an die Schulter und betrat den Korridor. 27
II. Gary schüttelte hart den Kopf und erhob sich langsam auf die Füße. Er schaute nach Hoboken hinüber und sah nichts außer leer stehenden Gebäuden und stillen Straßen. Die giftigen Gasfontänen, die er hatte ausbrechen sehen, waren verschwunden. Es hatte sie nie gegeben. Nur eine Halluzination. Er ballte die Fäuste, horchte eine Sekunde lang in sich hinein. Alles funktionierte. Tatsächlich fühlte er sich besser als jemals zuvor - das Summen in seinem Kopf war verschwunden, und seine Hände zitterten nicht mehr. Viel wichtiger aber war, dass der Hunger verschwunden war. Zwar nicht vollständig - er konnte ihn am Rand seines Bewusstseins spüren, wusste, dass er schon bald stärker denn je zurückkehren würde, aber wenigstens für diesen Augenblick gab sein Magen Ruhe. Er drehte sich langsam um und fragte sich, wie lange dieses neue Gefühl der Gesundheit anhalten oder wie zerbrechlich es sein würde. Hinter ihm hatte sich nichts verändert. New York war wie immer. Still wie immer. Er entdeckte eine Leiche neben der Bodega, in der er gegen Truckermütze gekämpft hatte, und entschied sich, sie sich näher anzusehen. Was er fand, beantwortete keine Fragen. Truckermütze war tot. Nicht untot, kein wandelnder Toter - einfach nur tot, lag da und verfaulte in der Sonne. Das hätte es eigentlich nicht geben dürfen. Die Toten kamen heran, bis man ihr Hirn zerstörte. Jeder wusste das, der Vizepräsident hatte es im Fernsehen verkündet. Gary konnte keine Beschädigung des Kopfes finden, es gab keinerlei Anzeichen einer Verletzung, aber 27
aus irgendeinem Grund hatte Mütze einfach aufgehört zu leben. War hingefallen und hatte einfach mit allem aufgehört - dem äußeren Anschein nach für immer. Gary hob die Kappe auf und drehte sie in den Händen. Dann ließ er sie plötzlich fallen und kroch auf allen vieren schnell von der Leiche weg. Wie hatte er es vergessen können! Er war selbst einer der Toten. Wer auch immer das dem großen Kerl angetan hatte, er konnte noch in der Nähe sein -und Gary war genauso verwundbar. Was, wenn ein Scharfschütze auf dem Dach lauerte? Was, wenn die Apokalypse endlich vorbei war und die Toten nicht mehr ins Leben zurückkehrten? Was, wenn ein neuer und verheerender Virus sich angepasst hatte und die Toten attackierte?
Nein. Es konnte kein Virus sein - ein Virus benötigte lebende Zellen, um sich fortzupflanzen. Ein Bakterium konnte es geschafft haben, noch wahrscheinlicher war eine Pilzinfektion, genau, ein Pilz, dessen Sporen sich durch die Luft weiterverbreiteten... Aber Sporen, die genau in der Sekunde von Garys dunkler Halluzination vorbeikamen? Es ergab keinen Sinn. Gary hatte dem Typen befohlen, sich zu verpissen und zu verrecken. Der Gedanke, dass genau in diesem Augenblick ein Pilz zugeschlagen hatte, der zufällig die Auswirkung der Epidemie zunichte machte, war lächerlich. Aber etwas hatte Truckermütze ausgeschaltet, etwas, das genau in dem Augenblick geschehen war, als Gary ihm befohlen hatte, sich zu... Möglicherweise hätte Gary noch länger darüber nachgedacht, hätte er nicht die Schüsse gehört. Waffen - was bedeutete, dass sich Überlebende in der Nähe befanden. Den Toten fehlte die nötige Koordination, um Waffen bedienen zu können. Ein verzweifelter einsamer Überlebender musste irgendwo im Norden sein letztes Gefecht schlagen. Dem Klang nach zu urteilen irgendwo im Meatpacking District. Es würde 28
bald vorbei sein. Gary hätte es ignorieren sollen, hätte nach Hause gehen und Pläne für die Zukunft schmieden sollen, jetzt, da er tatsächlich wieder eine Zukunft hatte. Aber er hatte seiner Neugier noch nie widerstehen können. Sie hatte ihn überhaupt erst zum Medizinstudium gebracht, das Verlangen zu ergründen, wie die Dinge funktionierten. Trotz seiner besten Absichten lief er nach Norden auf den Schusslärm zu. Auf halbem Weg verstummte der Lärm abrupt, aber da war Gary bereits zu dem Schluss gekommen, dass es aus der Nähe des Flusses kam, vielleicht von einem der Piere. Er schlich vorsichtig näher heran und wäre beinahe erschossen worden. Ein schwarzes Mädchen in einer Schuluniform und einem Kopftuch richtete ein Gewehr genau in seine Richtung. Er warf sich hinter ein Auto und kniff die Augen zusammen, schlang die Arme um die Knie, versuchte sich so klein und unbedeutend wie nur möglich zu machen. Sie hatte die Waffe recht überzeugend gehalten. Wie ein Soldat oder ein Polizist oder dergleichen. Absurd... aber anscheinend war dies ein Tag für Absurditäten. Es waren noch andere bei ihr. Wie es sich anhörte, ein ganzes Team. Ihre Waffen klirrten, als sie sich bewegten. Er hörte eine von ihnen sprechen - eine harte, kalte Stimme mit Akzent. Sie musste aus Brooklyn sein. »Da hat sich etwas bewegt«, sagte sie. Nein. Nein nein nein nein nein. »Wenn du jetzt schießt, könnte es die anderen anlocken«, sagte ein anderer - ein Mann. Danke, wer auch immer du bist, dachte Gary. In verzweifelter Reglosigkeit wartete er eine lange Zeit, noch lange, nachdem er gehört hatte, dass sie weiterzogen. Es klang, als gingen sie in Richtung seiner alten Arbeitsstelle. Soviel zu seiner Neugier. Nun würde er sie auf jeden Fall in 28
Ruhe lassen. Als er sicher war, dass alle außer Sicht waren, stand er auf und begab sich so schnell er konnte zum Fluss -nur weg von ihnen. Er versuchte zu laufen,
bekam aber nur einen schlurfenden Gang hin. Am Fluss erwartete ihn eine weitere Überraschung. Ein Schiff schwamm auf dem Hudson, vielleicht hundert Meter vom Ufer entfernt. Ein alter Kahn mit deutlich sichtbarem Rost am Rumpf und einer Nottakelage aus Holz. Die Registratur am Bug war unleserlich, in Buchstaben geschrieben, die Gary unbekannt waren - es ähnelte Hebräisch, mehr aber mittelalterlicher Kalligrafie. Er schaute näher hin und entdeckte Menschen an Bord. Zwei Schwarze stützten sich auf die Reling und musterten die Anlegestellen, während ein Mädchen in der gleichen Schuluniform und Kopftuch auf dem Dach eines hölzernen Aufbaus stand und ein ungewöhnlich langes Gewehr in Händen hielt. Dieses Mal war er schlau genug, den Kopf unten zu halten. Es waren... Überlebende. Organisierte Überlebende mit einer Möglichkeit, Manhattan zu verlassen. Er hatte keine Ahnung, was sie in New York taten, aber ihre Anwesenheit bedeutete eine unausweichliche, schreckliche Tatsache. Seine Entscheidung, sich in einen der wandelnden Toten zu verwandeln - zu dieser untoten Kreatur zu werden - hatte auf der Annahme beruht, dass New York erledigt war. Untergegangen. Vorbei. Dass für die menschliche Rasse keine Hoffnung mehr bestand. So, wie es aussah, wäre er möglicherweise gerettet worden, hätte er nur noch ein paar Tage gewartet. 29
12. Ich trat einen Schritt vor, und meine Hüfte kollidierte mit etwas Hartem und Rechteckigem, das davonschoss. Ich hörte, wie Ayaans Gewehr klirrend herumgerissen wurde, und hielt die Lampe hoch, aber ich war im Dunkeln bloß mit einem Rollwagen zusammengestoßen. Einem Plastikwagen voller Medizinartikel. Die Korridore standen voll davon. Er rollte noch ein paar Schritte weiter und blieb dann mitten im Gang stehen. Verlegen schob ich ihn zur Seite. Ich spürte, wie sich die Mädchen hinter mir entspannten - Ayaan und ihre drei Kameradinnen -, als klar wurde, um was es sich handelte. Ich hingegen konnte mich nicht entspannen. Ich hatte Krankenhäuser noch nie gemocht - nun, wer tut das schon? Der chemische Gestank ihrer Desinfektionsmittel. Die traurige Nüchternheit ihrer Möblierung. Der lauernde Eindruck von Verfall. Ich hatte das Gefühl, etwas würde auf meinen Schultern herumkriechen, einer dieser langen, feucht aussehenden Tausendfüßler mit feinen, wimpernartigen Haaren. Ich trat einen Haufen blutiger Bettwäsche auseinander und rechnete eigentlich damit, dass etwas darunter hervorspringen und mich ins Bein beißen würde. Nichts. Ayaan warf mir einen Blick zu, und wir arbeiteten uns weiter vor. Es ging viel zu langsam. Die Gänge des verlassenen, dunklen Krankenhauses waren voller Dinge, über die man stolpern konnte, wie ich gerade bewiesen hatte, und alle paar Meter wurde der Korridor von einer Schwingtür unterbrochen. Hinter jeder von ihnen konnte sich eine Horde Toter verbergen, also hatten die Mädchen eine Strategie entwickelt. Jeweils zwei von 29
ihnen knieten auf je einer Seite der Tür nieder, die Gewehre im Anschlag, die Taschenlampenstrahlen auf die Türflügel gerichtet. Ayaan stellte sich ein paar Schritte davor auf, bereit zum Frontalangriff. Ich stieß dann die Türen auf und trat so schnell wie möglich zurück, während sie aufschwangen. Theoretisch könnte ich mich dann aus dem Weg rollen, bevor die Schießerei anfing. Ich war mir ziemlich sicher, dass das meine Strafe war, weil ich am Dock nicht geschossen hatte. Auf diese Weise durchquerten wir eine ganze Etage. Als wir zu den Aufzügen kamen, war mein Hemd schweißdurchtränkt, obwohl es in den dunklen Korridoren kühl war. Meine Gesichtsmuskeln zuckten ununterbrochen. Jedes Mal, wenn wir eine Seitentür passierten, die auch nur einen Spaltbreit offen stand, fühlte ich buchstäblich, wie sich die Gänsehaut auf meinem Rücken vom Körper lösen wollte. Jedes Mal, wenn der Korridor eine Biegung machte, überkam mich das Gefühl, dass ich mich in einen bodenlosen Abgrund begab, wo etwas Schreckliches und Gewaltiges schon seit Jahren auf der Lauer lag und genau auf diese Gelegenheit wartete, um zuzuschlagen. Bei den Aufzügen sah ich mir die Wegweiser an den Wänden an, die das grelle Licht meiner Taschenlampe verblassen ließ, und versuchte herauszufinden, was passiert war. Ich wusste, dass wir uns verlaufen hatten, das war völlig klar. Ich wusste auch, dass ich das nicht laut aussprechen durfte. Der eingeborene Führer, das war meine Rolle bei der Mission. An diesem Punkt mein Versagen einzugestehen hätte die Mädchen möglicherweise dazu veranlasst, zurück nach draußen zu gehen und mich hier allein zu lassen. Allein und verloren, nicht dazu imstande, den Rückweg zu finden. Das wollte ich nicht. Auf keinen Fall. Ayaan räusperte sich. Ich leuchtete ihr ins Gesicht, sodass ihre Augen wie zwei von innen heraus beleuchtete Glasmur 30
meln aufblitzen. Sie sah nicht ängstlich aus, was ich irrationalerweise als ein Zeichen der Verachtung mir gegenüber interpretierte. Wie konnte sie es wagen, so ruhig zu sein, wenn ich kurz davor stand, mich aus purer Angst zu übergeben? Ich leuchtete wieder über die farbkodierten Wegweiser und zeigte dann auf die Feuertreppe. »Hier entlang«, sagte ich, und die Mädchen stürmten die Brandschutztür, als würden sie gegen eine Festung anrennen. War ich bloß ein Feigling? Im Verlauf meiner Karriere hatte ich absichtlich einige der schlimmsten Orte der Erde besucht (zumindest waren sie das gewesen, bevor die Toten wieder zum Leben erwacht waren -jetzt war jeder Ort ein schlimmer Ort), und nach Kriegsverbrechern und schwer bewaffneten Psychopathen gesucht, damit ich sie höflich darum bitten konnte, doch freundlichst ihre Waffen abzugeben, um sie zu vernichten. Damals hatte ich mich nie besonders gefürchtet, obwohl ich immer gewusst hatte, wann ich in Deckung gehen musste und wann es Zeit zu gehen war, egal, ob ich mein Ziel erreicht hatte oder nicht. Einmal hatte ich im Sudan einen Konvoi voller Lebensmittel und Sanitärartikel zu einem Dorf tief im Süden des Landes begleitet. Ausgerechnet an jenem Tag hatten sich die Rebellen dazu entschieden, genau diese Straße zu besetzen. Einhundert Männer in grünen Krankenhauskitteln (sie konnten sich keine Uniformen leisten - dafür natürlich eine Menge Waffen) hatten uns angehalten und verlangt, ihnen die Ladung unserer
Lastwagen zu überlassen. Es gab eine Diskussion, ob sie uns außerdem erschießen sollten oder nicht. Am Ende ließen sie uns einen Wagen und unser Leben, und wir rasten nach Khartum zurück. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mein Herz damals etwas schneller schlug. Das war nichts verglichen mit jetzt, mit diesem lähmenden Schrecken, dieser schleichenden Angst. Damals bestand immer noch die Möglichkeit, in die Sicher 31
heit zurückzukehren, ganz egal, wie schlimm die Dinge auch lagen. Die Vereinten Nationen würden immer Bestand haben, so wie das Rote Kreuz oder Amnesty International. Irgendwo würde es Leute geben, die Tag und Nacht daran arbeiten würden, einen aus der Gefangenschaft zu befreien oder in eine ordentliche, saubere Klinik verlegen oder ausfliegen zu lassen. Seit der Epidemie gab es das alles nicht mehr. Meine amerikanische Staatsbürgerschaft brachte mir hier gar nichts -keine Hilfe, keine Unterstützung. Selbst mitten in New York war ich hilflos. Ayaan und ihre Truppe hätten das nachvollziehen können -sie hatten nie ein anderes Leben kennengelernt, nicht einmal vor dem Tod der Welt. Als wir das Treppenhaus betraten und die Stufen nach oben gingen, dachte ich darüber nach, wie viel ich von ihnen lernen konnte, wie sehr ich mich verändern musste, um zu überleben. Ich versuchte sie nicht zu sehr dafür zu hassen, dass sie einen Vorsprung hatten. Bumm, bumm. Bumm, bumm. Jede Stufe hallte. Die Echos dröhnten durch den scheinbar endlosen Treppenschacht, die Laute ließen die kalte Luft erzittern, durch die wir emporstiegen. Es war laut genug, um die Toten aufzuwecken, wären sie nicht bereits... Verdammt. Nicht einmal blöde Witze halfen. Die Angst raubte mir den Atem. Als wir die Tür zur ersten Etage aufstießen, richtete ich meine Lampe direkt auf einen Wegweiser, der den Weg zum HIV-Zentrum zeigte. Wir hatten es geschafft. Wir hatten unser Ziel fast erreicht. Jetzt mussten wir nur noch die Medikamente holen und uns auf den Rückweg machen. Wir attackierten die nächste Tür, und wie bei allen anderen lag nichts als weitere Finsternis und übelriechendes Krankenhaus dahinter. Noch mehr Wagen und noch mehr schmutzige Wäschehaufen. Nichts bewegte sich, nichts hungerte stimmenlos nach unserem Fleisch. Überall nur Stille. Ich betrat 31
den Korridor und entdeckte die Anmeldung des HIV-Zentrums direkt voraus im gelben Licht meiner Taschenlampe. Ich machte den nächsten Schritt, bemerkte aber, dass mir die Mädchen nicht gefolgt waren. Ich wirbelte herum und wollte den Grund wissen. »Amtis!«, zischte Ayaan. Ich schloss den Mund. Nichts. Stille. Völlige Abwesenheit jeglicher Laute, so ausgeprägt, dass ich hörte, wie mein Atem aus meiner Brust entwich. Und darunter etwas Dumpfes und Atonales und sehr, sehr Fernes. Aber es wurde lauter. Lauter und beständiger. Bumm. Bumm. Bumm, bumm, bumm. Bumm. Die gleichen Laute, die wir auf der Eisentreppe gemacht hatten - aber ohne den Rhythmus von Schritten. Der Laut, den eine Faust machte, wenn sie ein Stück Metall trifft, aber ohne dahintersteckende Absicht oder Plan. Bumm, bumm, bumm. Wir hörten, wie etwas
zerbrach und zu Boden fiel, vielleicht ein Türriegel, der abbrach. Mir trat ein Bild vor Augen - ich weiß nicht, warum - von Fäusten, die gegen die Innenseite einer verschlossenen Stahlschranktür schlugen, die schließlich nachgab. Klar, dachte ich. Wie die Metalltür eines Kühlschranks oder einer Kühlkammer. Oder die dick isolierte Tür, die die Leichenhalle eines Krankenhauses vor der wärmeren Luft draußen abschirmte. Noch etwas, das ich an Krankenhäusern hasste - hier starben Menschen. Menschen wurden hier gelagert. Verstorbene Menschen. Eine Weile lang hörten wir nur Stille. Keiner von uns rührte sich. Dann hörten wir das Geräusch wieder. Langsam, quälend langsam, aber laut. Sehr laut. Bumm, bumm. Pause. Bumm, bumm. Bumm, bumm. Etwas kam hinter uns die Treppe herauf. 32
!3‐ »Zuerst holen wir die Medikamente«, sagte Ayaan und richtete das Gewehr auf mich. »Dann fliehen wir.« Ich wollte den Lauf packen und von mir wegdrücken, in der festen Überzeugung, dass sie nicht auf mich schießen würde, aber sie machte einen großen Schritt zurück, der mich ins Leere greifen ließ. »Sie sind langsam. Wir haben genug Zeit.« Im Licht der wenigen Taschenlampen konnte ich ihre Miene nicht richtig deuten. Dafür hörte ich sehr gut die Toten, die hinter uns die Treppe heraufkamen. Ich drängte mich an den Mädchen vorbei in die Station; mein Lichtstrahl durchschnitt den wirbelnden Staub in der Luft. Zur Rechten erstreckte sich eine Abteilung aus Zweibettzimmern - ich hatte keine Zeit für diesen Mist! -, dahinter lag zwischen zwei Korridoren das Schwesternzimmer. Beweg dich!, sagte ich mir, beweg dich!, und ich rannte los. Dabei leuchtete ich jede Tür an, die ich sah. Badezimmer. Patientenaufenthaltsraum. Wäschekammer. Apotheke. Okay. Okay. Ja. Die Tür wies ein kompliziertes Schloss auf, eines, das sich nur mit einer Schlüsselkarte öffnen ließ. Bei Stromausfall verriegelte es sich vermutlich automatisch. Ich fuhr mit der Hand über den Türknauf, in der Hoffnung, irgendeine Art von Not-fallöffnungsmechanismus zu finden, und hätte beinahe aufgeschrien, als sich die Tür bei meiner Berührung öffnete. Nein!, heulte ich innerlich schon auf, aber ich verdrängte den Gedanken - das hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht öffnete sich die Tür ja automatisch, wenn der Strom ausfiel. Ich betrat 32
den wandschrankgroßen Raum, und etwas knirschte unter meinem Fuß. Ich richtete die Lampe auf den Boden und entdeckte mehrere Dutzend Pillen, hellrot und mattgelb, sowie das pulverige Rosa, das Pharmazieunternehmen so lieben. Ich schaute auf und sah leere Schränke, deren Türen höhnisch offen standen. Um sicherzugehen, durchsuchte ich jeden Schrank mit vor Stress tauben Fingern. Ich fand ein Fläschchen Paracetamol. Paracetamol. »Plünderer«, teilte ich Ayaan mit, als ich zurück rannte und ihr das Fläschchen zuwarf. Sie fing es auf, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen. »Das ist nicht verwunderlich -hier gab es Patienten. Sie konnten nicht lange ohne ihre
Medikamente überleben. Als man sie evakuierte, müssen sie alles mitgenommen haben.« Sie bewegte sich nicht. »Hier gibt es keine Medikamente«, brüllte ich sie an und wollte nach ihrem Arm greifen. Sie wich mir wieder aus. Der Lärm der die Treppe heraufkommenden Toten hatte ohrenbetäubende Ausmaße angenommen, ihre unbeholfenen Füße knallten auf die Eisenstufen. Sie würden jede Sekunde hier sein. »Gibt es hier noch einen Raum, in dem man Medikamente aufbewahrt?«, fragte Ayaan. »Eine Hauptapotheke?« Aber ich war damit beschäftigt, die Wände des Nord-Süd-Korridors abzuleuchten, der vom Schwesternzimmer fortführte. Laut dem Gebäudeplan, den ich unten gesehen hatte, gab es am anderen Ende des Gebäudes noch eine Treppe, und vielleicht war die frei. Sonst würden wir aus einem Fenster springen müssen. »Mach dir keine Sorgen, Amerikaner«, sagte eines der Mädchen. Sie legte den Sicherungshebel ihrer AK-47 herum und lächelte mich süß an. »Wir bekämpfen sie für dich.« Ich richtete meine Taschenlampe auf sie. Ihre sechzehn33 jährige Haut war makellos bis auf einen großen Pickel am Kinn. Es geschah wie etwas, das man unter Wasser sieht. Mit der langsamen, flüssigen Anmut eines Albtraums, in dem man fällt und nie am Boden auftrifft. Ich sah entsetzt zu, wie sich eine Hand mit herabbaumelnden Hautstreifen um ihren Mund legte und sie in die Dunkelheit außerhalb meines Lichtkegels riss. Ich hörte ihre gedämpften Schreie, als sich die Treppenhaustür schloss und ein Geräusch wie ein zerreißendes Bettlaken ertönte. Ich stürzte los. Panik schoss in mir hoch, Adrenalin sprudelte in meinem Blut, als ich den Korridor entlang rannte. Im wippenden Licht meiner Taschenlampe sah ich überall Instrumentenwagen und Schmutzwäschestapel - ich wich Ersteren aus und sprang über Letztere hinweg und wusste genau, dass ich mir dabei garantiert ein Bein brechen würde, aber die Alternative, die einzige Alternative, bestand darin, stehen zu bleiben und mich von ihnen einholen zu lassen. Hinter mir ertönten Schüsse - das schnelle Knattern von Automatikgewehren. Die Disziplin, die die Mädchen auf dem Pier gezeigt hatten, schwand im Angesicht eines dunklen Korridors voller Tod. War es Ayaan, die ich da schießen hörte, oder hatten sie sie bereits erwischt? Ich warf mich in die Finsternis, stieß eine Schwingtür auf und kam wieder zu Aufzügen, wieder zu einer Feuertreppe. Ich schaute zurück. Stieß die Türhälften auf und leuchtete in den Korridor hinein, auf der Suche nach Verfolgern. »Mädchen?«, rief ich in dem Wissen, dass das die Toten anlocken würde, aber ich wusste auch, dass ich die Mädchen unmöglich zurücklassen konnte, nicht, wenn die Chance bestand, wieder zu ihnen zu stoßen. »Ayaan?« In der Ferne hörte ich jemanden etwas auf Somali rufen. Es 6h war zu schnell, als dass ich mit meinem begrenzten Wortschatz etwas hätte verstehen können. Ich lauschte, reckte den Kopf, als könnte ich besser hören, wenn ich nur näher an die Quelle der Geräusche herankäme, aber da ertönten weder Gewehrfeuer noch Schreie. Nur Stille.
»Ayaan!«, rief ich und wusste, dass ich allein war. Ich gab ihr die Zeit, die ich für zehn lange Atemzüge brauchte, dann versuchte ich die Tür zum Treppenhaus zu öffnen. Sie wollte nicht nachgeben, also stemmte ich mich mit der Schulter dagegen, und schließlich ließ sie sich ein paar Zentimeter weit aufschieben. Etwas musste sie von der anderen Seite blockieren. Ich trat wütend dagegen, aber das schien nichts zu nützen. Von rechts aus dem Korridor rollte etwas auf mich zu. Ich richtete die Lampe darauf und sah einen Instrumentenwagen, der langsam kreiselte, bis er gegen die Wand stieß. Weiter den Gang hinauf spießte mein Lichtstrahl einen Wäschehaufen auf. Er war voller Blut. Nein. Keine Bettwäsche. Eine Frau in einem blauen Krankenhaus-Papierkittel. Natürlich tot. Ihr Haar war so dünn, dass es wie an ihre fleckige Kopfhaut gebundene Seidenfäden aussah. Im gelben Lichtschein meiner Lampe erschien ihre Haut hellgrün. Sie hatte keine Augen. Innerhalb von einer Sekunde begriff ich, was passiert war. Sie war durch den Korridor auf mich zugekommen, mit dem Instrumentenwagen zusammengestoßen und hingefallen. Auch wenn sie mich nicht sehen konnte, wusste sie, dass ich da war. Vielleicht roch sie mich. Mit quälender Langsamkeit stand sie auf, stützte sich mit einem toten Arm an der Wand ab. Ich stieß wieder gegen die unnachgiebige Tür zur Feuertreppe, aber sie bewegte sich einfach nicht. Also stieß ich die AK-47 in den Spalt, den ich geschaffen hatte, und versuchte 34
sie aufzustemmen. Sie gab ein kleines Stück nach... dann noch mehr. In diesem Augenblick stand die Frau wieder auf den Beinen und kam auf mich zu. Ich hielt die ganze Zeit das Licht auf sie gerichtet, während ich mich mit dem Gewehr abrackerte. Endlich sprang die Tür auf, und ich sah, was sie blockiert hatte - ein schwerer Aktenschrank aus Metall. Nach den Blutflecken am Boden des Treppenabsatzes zu urteilen, hatte sich hier jemand verbarrikadiert. Ohne Erfolg. Doch ich hatte jetzt andere Sorgen. Ich drängte mich vorbei und raste die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. 34
i4» Eine Kugel prallte von der Beifahrertür ab, und der Wagen schaukelte. Die Windschutzscheibe des Volkswagens wies über ihre ganze Länge einen langen, silbrigen Riss auf, war aber noch nicht zerbrochen. Gary krümmte sich im Fußraum der Fahrerseite in fötaler Position zusammen und versuchte, keinen Laut zu machen. Die bescheuerten Pfadfinderinnen - oder was auch immer sie darstellten - hatten ihn entdeckt und das Feuer eröffnet, bevor er ein Wort sagen konnte. Er hatte fliehen wollen, steckte aber zwischen zwei Gefahren fest: dem Boot auf dem Fluss mit der Scharfschützin, die auf alles schoss, was sich bewegte, und den schwer bewaffneten Schulmädchen, die das halbe West Village eingenommen hatten. Man würde ihn unweigerlich entdecken. Er hatte kaum genug Zeit gehabt, in dem verlassenen Wagen in Deckung zu gehen, bevor sie angefangen hatten, die Gegend
mit Blei zu füllen. Immerhin war er sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht sahen, sondern einfach blindlings um sich schössen. Und er war sich ziemlich sicher, dass sie irgendwann verschwinden würden, wenn er sich nicht regte und sich nicht verriet. Was, wenn man seinen derzeitigen Gesundheitszustand (untot) in Betracht zog, durchaus machbar erschien. Wäre da nicht die verdammte Fliege gewesen. Seine Beifahrerin summte jedes Mal ärgerlich, wenn sich der Wagen bewegte. Sie krabbelte eine Weile auf dem Armaturenbrett herum, erhob sich dann plötzlich in die Luft und kreiste in dem begrenzten Raum umher, bevor sie auf einer 6i)
Kopfstütze landete. Gary tat es wirklich leid, dass er sie in seine Schwierigkeiten hineingezogen hatte - offensichtlich fühlte sich die Fliege hier wohl. Auf der Rückbank des Wagens stapelten sich verfaulte Lebensmittel. Das meiste hatte sich schon vor längerer Zeit in eine weiße, faserige Schimmelmasse verwandelt, aber vielleicht aß die Fliege die ja auch. Auf jeden Fall sah sie dick und zufrieden aus. Barst förmlich vor Leben - richtigem Leben, nicht so einem Schwindel, der Gary belebte. Eine Art goldene Aura umgab sie und leuchtete auch in ihrem Inneren, als strahlte sie reines, eingefangenes Sonnenlicht aus. Sie war das erste lebende Ding (von den Gewehre schwingenden Mädchen mal abgesehen), das Gary seit seiner Reanimation vor Augen gekommen war. Sie war wunderschön - exquisit. Unbezahlbar in ihrer Immunität dem Tod gegenüber, in ihrer atmenden, kontinuierlichen Existenz. In Garys Seele regte sich das tiefe, drängende und völlig unerträgliche Verlangen, diese Fliege irgendwie in seinen Mund zu bekommen. Eine Kugel traf den VW-Reifen, und der Wagen sackte mit einem scharfen, platzenden Laut, der von den Backsteinwänden der umgebenen Stadthäuser zurückgeworfen wurde, zur Seite. Gary, dessen Hand auf die Fliege zugekrochen war, rollte sich auf dem Boden zu einer noch kleineren Kugel zusammen und versuchte, an nichts zu denken. Es klappte nicht. Die Fliege landete auf dem Gurtverschluss und breitete ihre prismatischen Flügel kurz im Sonnenlicht aus. Ihr ganzer Körper schien im Licht ihrer Gesundheit zu glühen. Sie rieb die Beine aneinander wie eine Zeichentrickfigur, die sich vor einen leckeren Hamburger setzt - jetzt fehlte nur noch das kleine Lätzchen. Wie süß würde das wohl aussehen? O Gott, wie gern Gary diese Fliege doch essen würde. Seine Fliege, wie er entschieden hatte. Sie gehörte ihm. 35 Die Fliege erhob sich wieder mit schwirrenden Flügeln in die Luft, und Garys Hand schoss nach oben. Die Fliege wich ihm aus, und er warf sich in die Höhe, fing sie zwischen beiden Händen. Einen Augenblick später hatte er sie sich in den Rachen gestopft, und er fühlte ihre Flügel hektisch gegen seinen Gaumen stoßen. Er biss zu und fühlte ihren Saft auf seine trockene Zunge spritzen. Energie durchschoss ihn, bevor er den winzigen Bissen überhaupt heruntergeschluckt hatte, ein Stromstoß puren Wohlbefindens, der wie eine weiße Flamme in ihm brannte, die ihn nährte, statt ihn zu verschlingen. Wo die Hamburgerscheiben, die er zuvor gegessen hatte, seinen Hunger beruhigt hatten, sättigte die Fliege ihn vollständig, erfüllte ihn mit einer Euphorie, die in keiner
Relation zu der winzigen Masse des Insekts stand. Er fühlte sich gut, fühlte sich warm und trocken und zufrieden, er fühlte sich so gut. Das Gefühl hatte kaum abgenommen, als er sich bewusst wurde, dass er aufrecht saß, dass er auf dem Vordersitz des Wagens hockte und durch die Scheiben deutlich sichtbar war. Er hörte Schüsse und wusste, dass sie ihn entdeckt hatten. Verzweifelt, aber von einem Gefühl der Sicherheit und Kraft erfüllt, stieß Gary die Fahrertür auf und rollte sich aus dem Wagen. Er setzte die Füße auf den Asphalt und lief von dem Volkswagen weg, davon überzeugt, sich in Sicherheit bringen zu können, wenn er sich nur etwas beeilte, wenn sich seine Beine nur etwas schneller bewegten... Ein Bajonett bohrte sich in seinen Rücken und drang bis ins Herz. Gut, dass er es nicht mehr brauchte. Er wollte sich umdrehen, stellte aber fest, dass das Bajonett ihn buchstäblich aufspießte. Er hob die Hände, das universelle Zeichen des Aufgebens. »Nicht schießen«, rief er. »Ich bin keiner von ihnen!« 36
»Kumaad tahay?« Eines der Mädchen trat in sein Blickfeld und hob das Gewehr. Sie keuchte vor Anstrengung oder Furcht, die Waffe pendelte auf und ab. Er sah das finstere O der auf ihn gerichteten Mündung, das kurze Stück Weg zwischen einer Kugel und seinem Gehirn. Sie riss an einem Hebel an der Seite der Waffe und drückte den Finger am Abzug durch. »Bitte!«, schrie Gary. »Bitte! Ich bin nicht wie sie!« »Joojin!«, rief jemand. Hinter ihm trampelten Stiefel heran. »Joojin!« Das Gewehr vor ihm in der Hand des Mädchens kam zur Ruhe. Erhielt sie den Befehl zu schießen oder nicht zu schießen? Garys Stirn fühlte sich heiß an, erwartete die Kugel. Ein anderes Mädchen trat vor ihn. Sie bellte den anderen Befehle zu, und Gary fühlte, wie das Bajonett aus seinem Rücken gerissen wurde. Die Mädchen debattierten untereinander - er hörte immer wieder das Wort »xaaraan« -, aber offensichtlich lauteten ihre Befehle abzuwarten. »Du sprichst«, sagte das Mädchen, das den Befehl gegeben hatte. Sie musterte sein Gesicht, offensichtlich irritiert durch die abgestorbenen Adern in seinem Gesicht. »Ich kann sprechen«, bestätigte Gary. »Du fekar?« »Ich weiß nicht, was das bedeutet.« Sie nickte und vollführte eine komplizierte Handgeste an die Soldatinnen. Den goldenen Epauletten auf den Schultern ihres Marineblazers entnahm Gary, dass sie irgendeine Art von Offizier sein musste, obwohl das keinen Sinn ergab. Welche Armee auf der Welt hatte denn Offiziere im Teenageralter? Gary konnte die Annahme nicht loswerden, dass er hier gerade von Teilnehmern eines Schulausfluges gefangen genommen wurde, der schrecklich schief gelaufen war. 36
»Wir töten dich, wenn du was Falsches sagst«, meinte die Offizierin. Sie drohte ihm mit dem Gewehr. »Wir töten dich, wenn du was Falsches tust. Du tust nur das Richtige, und vielleicht töten wir dich trotzdem, weil du so stinkst.« »Das klingt fair«, meinte Gary und senkte die Hände. 36
Ich zwängte mich durch die Türen des Notausgangs und rannte die Rollstuhlrampe hinunter auf den Bürgersteig; eigentlich rechnete ich damit, dort niemanden mehr vorzufinden. Kommandantin Ifiyah und ihre Truppe warteten dort auf mich - allem Anschein nach mit einem Gefangenen. Jemand kniete mit einem Strick um den Hals auf dem Boden. Es spielte keine Rolle - ich musste Ifiyah berichten, was geschehen war. Es war idiotisch gewesen zu glauben, dass man in dieser toten Stadt die Medikamente finden würde. Wir mussten gehen - und zwar sofort -, bevor noch jemand starb. »Ifiyah«, rief ich und winkte sie herbei. Vornüber gebeugt und die Hände auf die Oberschenkel gestemmt, rang ich nach Luft. »Ifiyah! Mindestens eine deiner Frauen ist tot! Der Feind ist da drinnen, und er kommt näher!« Die Kommandantin drehte sich um und betrachtete mich mit einem Ausdruck leidenschaftlich eingeübten Desinteresses. »Drei sind tot«, sagte sie. Da sah ich, dass Ayaan neben ihr stand. Gott sei Dank, dachte ich, wenigstens eines der Mädchen hatte überlebt. »Ayaan hat Ruhe bewahrt und deine Feinde abgeschlachtet, Dekalb. Es sind keine mehr da.« Ich ging zu ihnen hinüber, wo sie bei dem Gefangenen. standen. »Großartig... Trotzdem, es gibt keinen Grund für uns, weiter hier zu bleiben. Es waren keine Medikamente da. Das Krankenhaus wurde geplündert.« Ifiyah nickte bloß gedankenverloren - natürlich hatte Ayaan ihr das gesagt. Ein Stich durchfuhr mich, als ich mir ausmalte, was Ayaan der befehlshabenden Offizierin noch alles erzählt haben mochte. 37 Wie ich beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten davongelaufen war zum Beispiel (obwohl sie das sicherlich verstehen würden - schließlich hatten wir es hier mit lebenden Toten zu tun) und meine Teamkameraden im Stich gelassen hatte. Während ich also darüber nachgrübelte, dass Ayaan nicht nur das Recht hatte, einen solchen Bericht abzugeben, sondern sogar die Pflicht, und dass ich im Krankenhaus meine Pflicht nicht gerade brillant erfüllt hatte, hatte ich endlich Gelegenheit, einen genauen Blick auf den Gefangenen zu werfen und zu erkennen, dass es einer der Toten war. Jesus Fucking Christ, sie haben eines der Dinger an der Leine... Mein Verstand setzte aus, während sich meine Füße rückwärts bewegten und von der reanimierten Leiche fortbrachten. Für einen seiner Art sah er gar nicht so schlimm aus - man konnte deutlich die schwarzen Adern unter seiner kalkigen Gesichtshaut erkennen, und seine Augen sahen irgendwie gelb aus, aber davon abgesehen war sein Fleisch intakt. Er fletschte die Zähne, und ich stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus, bis ich feststellte, dass er mich anlächelte. »Gott sei Dank, Sie sind Amerikaner«, sagte er. Das verursachte mir echte Kopfschmerzen. Die Toten redeten nicht. Sie stöhnten nicht und wimmerten oder heulten nicht. Sie waren auf keinen Fall in der Lage, zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten zu unterscheiden - die Toten glaubten wahrlich an die Mannigfaltigkeit und fraßen alle, ohne Berücksichtigung von Rasse, Geschlecht oder Rang. »Sie müssen mir helfen«, stammelte das Ding, aber dann hörten wir ein Dröhnen und drehten uns um. Zwei Tote -eine war die augenlose Frau, die mich beinahe im
Krankenhaus erwischt hätte - warfen sich gegen den Notausgang. Möglicherweise waren noch mehr von ihnen da drinnen. Es war zu dunkel, um das sagen zu können. 38 »Ifiyah«, sagte ich, »wir müssen sofort zum Schiff zurück.« Aber die Kommandantin kam mir zuvor. Sie gab ihrer Truppe Handsignale, und nach weiteren gebellten Befehlen setzten wir uns in Bewegung. Ayaan trat an meine Seite. »Habt ihr denn nicht alle erwischt?«, sagte ich leicht ungehalten. »Ich dachte, schon«, erwiderte sie. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie zurück zum Krankenhaus, aber die Türen hielten - den Toten fehlte der nötige Verstand, um herauszufinden, dass sie einfach nur die Türhälften auseinander schieben mussten statt dagegen zu drücken. »Die beiden, die meine KumayoSchwestern gefressen haben, existieren nicht mehr. Ich habe nicht gehört, dass du dich verteidigt und geschossen hättest. Du bist kein Mann, Dekalb, oder? Zumindest das wissen wir jetzt.« Mein Gesicht brannte. Es war eine Mischung aus Wut, schlechtem Gewissen und dem Arger darüber, dass sie es einfach nicht verstand, dass sie einfach nicht begriff, was ich durchgemacht hatte. Aber ich wusste, dass es besser war, nichts zu erwidern. Ich würde mich nur wie ein verzogenes Kind anhören, das war mir klar. Ich schnitt eine Grimasse und beschleunigte mein Tempo, um von ihr fortzukommen. Wie vermutet war sie viel zu diszipliniert, um aus der Formation auszuscheren. Ich holte den gefangenen Toten ein und das Mädchen, das seine Leine hielt - es war Fathia, die Bajonettexpertin. »Bitte, sprechen Sie mit ihnen«, bettelte der Tote, als er mich sah. Wir bogen auf die 14* Street ab, und ich schüttelte traurig den Kopf. »Wer, zum Teufel, sind Sie? Sie sind keiner von denen, jedenfalls nicht richtig...« Er ließ den Kopf hängen. »Ja, stimmt«, gestand er ein. »Sie brauchen nicht höflich zu sein, ich weiß, was ich bin. Aber ich bin mehr als das. Ich war Arzt.« Er konnte mir nicht in die Augen sehen. »Okay, ehrlich gesagt war ich Medizinstudent. Aber ich könnte euch helfen - jede Armee braucht doch Arzte, stimmt's? Genau, wie bei M*A *S*H\ Ich könnte euer Hawkeye Pierce sein!« Das Massaker im Krankenhaus hatte meine Phantasie beflügelt. »Ein Arzt. Sind Sie... sind Sie von einem Ihrer Patienten angefallen worden? Von jemandem, den Sie noch für lebendig hielten?« »Ich heiße übrigens Gary«, sagte er und schaute zur Seite. Er streckte die Hand aus, aber ich konnte mich nicht überwinden, sie zu schütteln. »Ich kann das verstehen«, sagte er. »Nein, es war keiner meiner Patienten. Ich habe es selbst getan.« Das trieb mir den letzten Rest Farbe aus dem Gesicht. »Lassen Sie mich erklären - es schien keinen anderen Ausweg mehr zu geben. Die Stadt brannte. New York brannte. Alle waren tot. Man konnte sich ihnen entweder anschließen oder ihr Abendessen werden. Okay?« Als ich nicht antwortete, hob er die Stimme. »Okay?« »Klar«, murmelte ich. Das ergab keinen Sinn... und dann doch. Ich hatte schreckliche Dinge getan, um die Epidemie zu überleben. Ich hatte meine siebenjährige Tochter einer fundamentalistischen Kriegsherrin anvertraut. Ich hatte
meine tote Frau eingesperrt und sie dann im Stich gelassen. Und das alles nur, weil es mir zu dem jeweiligen Zeitpunkt logisch erschienen war. »Wie schon gesagt, ich war Arzt, daher wusste ich, was mit mir passieren würde. Ich wusste, dass mein Gehirn in dem Augenblick zu sterben anfangen würde, in dem ich zu atmen aufhörte. Darum sind die Toten so dumm - in der Zeitspanne zwischen ihrem Tod und der Wiederauferstehung gelangt kein Sauerstoff in ihr Gehirn, und die Zellen sterben einfach ab. Das wollte ich verhindern. Ich konnte mein Gehirn schüt 39 zen. Ich hatte die nötige Ausrüstung. Himmel, ich wette, ich bin im Moment der klügste Tote der ganzen Welt.« »Der klügste Untote«, stellte ich fest. »Wenn Sie nichts dagegen haben: Ich ziehe die Bezeichnung Nichtlebender vor.« Er schenkte mir ein Grinsen, um zu zeigen, dass er einen Witz gemacht hatte. Er wirkte so verzweifelt und einsam - ich wollte schon auf ihn zugehen, aber... hey! Das war selbst für einen liberalen Gutmenschen wie mich zu viel verlangt. »Ich habe mich an ein Beatmungsgerät angeschlossen und dann in eine Badewanne voller Eis gelegt«, erklärte Gary. »Da stand mein Herz sofort still, aber mein Gehirn wurde weiterhin mit Sauerstoff versorgt. Als ich aufwachte, konnte ich noch immer denken. Ich habe noch immer die Kontrolle über mich. Vertrauen Sie mir, Mann, okay? Okay?« Ich antwortete nicht. Die Soldatinnen waren stehen geblieben, und Ifiyah brüllte Befehle, die ich nicht verstand. Ich schaute mich um, versuchte herauszufinden, was geschehen war. Wir standen vor dem Western Beef, der Großmetzgerei. Nicht für eine Million Dollar wäre ich dort hineingegangen. Zwei Türen weiter gab es dann eine andere Art von Fleischladen - ein protziger Nachtclub namens Lotus. So ist eben New Yorks Meatpacking District. Man konnte die Ironie mit einem Göffel schneiden. Ayaan stützte sich auf einem Knie ab und brachte das Gewehr hoch. Hatte jemand etwas gehört? Unter den Pappkartonstapeln vor dem Western Beef konnte ich keine Bewegung entdecken. Der Geruch war scheußlich, aber was war auch von einem Lagerhaus voller Fleisch zu erwarten, wenn der Strom ausfiel? Der Eingang des Lotus öffnete sich zuerst. Ein kleiner, gedrungener Mann in einem modisch geschnittenen schwarzen Anzug stolperte auf die Straße. Auf diese Entfernung 39
hätte er einfach nur betrunken sein können und nicht tot. Ayaan zielte mit perfekter Ruhe und schoss ein Loch in seine linke Schläfe. Er sackte zu einem unordentlichen Haufen aus schwarzem Stoff zusammen, der aussah wie eine tote Krähe. »Vielleicht sind da noch mehr von ihnen«, sagte ich laut. Eine der überflüssigsten Bemerkungen, die ich je gemacht hatte. Durch den Schuss vibrierte die Luft um uns herum wie eine Glocke, der Lärm hallte noch lange zwischen den Betonfassaden der Geschäfte und den Ziegelgebäuden wider, nachdem der Tote gestürzt war. Von dem Laut angelockt, kamen andere nach.
Dutzende große, kräftige Kerle mit weißen Schürzen, stolperten aus dem Western Beef, Eurotrash aus dem Club. Sie hielten nicht einmal inne und nahmen sich gegenseitig wahr, sie krochen manchmal einfach übereinander in ihrer wilden Gier nach uns. Aus Dutzenden wurden fünfzig oder mehr. Wenn man die Toten dazurechnete, die aus den daneben liegenden Gebäuden kamen. Aus fünfzig wurden Hunderte. 40
i6. Sie füllten die Straße vor uns, eine taumelnde Horde mit aufklaffenden Mündern und rollenden Augen. Manche wirkten unversehrt, fast so gesund, wie sie ausgesehen haben mussten, als sie noch lebten. Anderen fehlten Gliedmaßen oder die Haut oder sogar die Gesichter. Die Kleidung hing ihnen in Fetzen am Leib oder war perfekt gebügelt, und sie alle -alle! - kamen auf uns zu. Sie würden nicht stehen bleiben, bis wir in Stücke gerissen waren. »Wir müssen hier weg«, schrie ich Ifiyah zu. Ich wollte ihren Arm ergreifen, aber sie schüttelte mich einfach ab. Mit abgehackten Worten befahl sie ihre Mädchen in eine Schussformation - die gleiche, die sie an den Docks benutzt hatten. Dieses Mal waren es viel mehr Untote, und ihre Bewegungen waren weniger zurückhaltend. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir das überleben sollten. »Wir können vor ihnen weglaufen, in eine Seitenstraße«, schlug ich vor. Die Toten machten den nächsten Schritt auf uns zu. Und den nächsten. Sie würden nie langsamer werden. »Ifiyah...« »Sie haben keine Waffen, Dekalb«, sagte die Kommandantin, als würde sie ein lästiges Insekt verscheuchen. »Sie sind so dumm, dass sie uns auflauern, wo sie nicht einmal Waffen haben.« »Das ist kein Hinterhalt - sie sind nicht dazu fähig, so etwas zu planen«, beharrte ich. Ich sah Gary an, den klügsten Toten der ganzen Welt, und er nickte. Auch Ayaan ignorierte mich geflissentlich. Im Gegensatz sc
zu den anderen musste sie wissen, was geschehen würde. Sie war dabei gewesen, im Krankenhaus, als die Mädchen gestorben waren. Ich sah, wie sie schwer durch die Nase atmete, die Zähne zusammenbiss, aber sie gab ihre kauernde Haltung nicht auf. Befehl ist eben Befehl. Die Mädchen eröffneten das Feuer, schössen nur auf die Köpfe. Vielleicht, dachte ich, stimmt es ja. Vielleicht war ich bloß ein Feigling. Die Mädchen waren ausgebildete Soldatinnen, und sie gerieten nicht in Panik. Vielleicht war es genau richtig, diese Stellung hier nicht aufzugeben. »Wir sind im Arsch«, stöhnte Gary und zog an seiner Leine. Das andere Ende war an einem Hydranten festgebunden. Die Toten fielen lautlos einer nach dem anderen, aber immer neue krochen einfach über die Leiber hinweg und setzten den Angriff fort. Ayaan und Fathia knieten nebeneinander und dünnten die Reihen derjenigen aus, die uns am nächsten waren, aber während ihre Gewehre krachten, drängten noch mehr Tote auf die Straße. Ich erinnerte mich daran, wie dieser Ort in glücklicheren Tagen gewesen war, wie lärmend und belebt es hier zugegangen war, aber das war nichts gegen das, was jetzt
hier geschah. Der von uns veranstaltete Lärm musste jede wiederbelebte Leiche im ganzen Village anlocken. »Jetzt wegzulaufen ist zu gefährlich«, rief Ifiyah. »Wir gehen nicht, bevor alle tot sind! Dann ist es sicherer, Inschallahl« Ich weiß nicht, mit wem sie sprach - mich sah sie dabei jedenfalls nicht an. Ich ging ein Stück zurück, um mir die Seitenstraßen anzusehen, und sie waren ebenfalls blockiert - nicht von einer unüberwindlichen Mauer aus Toten, die zwischen uns und dem Fluss stand, sondern mit Dutzenden umherwandernden Leichen, die aus allen Richtungen auf uns zukamen. Im Osten - weg vom Fluss und darum weiter entfernt von einem siche 41
ren Ort - sah die Straße relativ frei aus, aber wer vermochte schon zu sagen, was uns dort erwartete, wenn wir jetzt die Flucht ergriffen? Direkt neben mir stellte eines der Mädchen - eine Dürre mit verschorften Knien das Gewehr auf Automatik und belegte die näherkommende Horde mit Dauerfeuer. Panik hatte sie ergriffen - auf diese Distanz konnte sie mit Dauerfeuer nicht darauf hoffen, genaue Kopfschüsse zu erzielen -, und Ifiyah kam schnell herbei, um nach ihren Händen zu schlagen und sie zum Aufhören zu bringen. So verschwendete sie bloß Munition. Ich sah ihre Augen, als sie die kalte Wut ihrer befehlshabenden Offizierin verinnerlichte. Ich hatte Angst erwartet, fand aber nur Scham. Die Mädchen waren bereit, hier zu sterben, wenn Ifiyah es befahl, in dem Bewusstsein, dass es besser war, für eine edle Sache zu sterben, als ehrlos zu leben. Ich persönlich hätte lieber gelebt, selbst wenn es bedeutete, das Wort FEIGLING auf die Stirn tätowiert zu bekommen. Als die Toten aus den Seitenstraßen kamen und anfingen, uns einzukesseln, packte ich Ayaans Arm und brüllte ihr ins Ohr, dass wir uns zurückziehen müssten. Wenn jemand Ifiyah zur Vernunft bringen konnte, dann sie. Mir blieb die Luft weg, als sich der Kolben ihrer AK-47 in meinen Magen rammte. »Du gibst mir keine Befehle!«, überschrie sie den Gewehrlärm der Kompanie. »Du gibst mir keinen Befehl, gaalwe'ell Sedexgoor, habe ich dir gesagt, und noch immer zwitscherst du mich wie ein Babyvogel an! Waadwal-antahayl« Die Toten näherten sich in Massen und mit hohem Tempo, während ich nach Luft rang. Sie marschierten direkt auf uns zu, wichen nicht vom Weg ab. Der Kugelhagel machte sie nicht einmal langsamer. Ifiyah rannte herum und feuerte die eine oder andere ihrer Kumayo-Schwestern an oder maß 8:
regelte sie. Ein Toter in einem grünen Pullover und spitzen Schuhen kam von links, war durch die Spalten in der Verteidigungslinie der Mädchen geschlüpft. Er griff nach ihr, nach ihrer Jacke, ihrem Kopftuch, ihrem Fleisch, und sie sägte ihn mit Automatikfeuer in zwei Teile, in einer sprühenden Wolke aus zerfetztem Fleisch und Knochenfragmenten trennte sie buchstäblich den Torso von den Beinen. »Sharmutaada ayaa ku dhashay was!«, kreischte sie, und ihre Augen strahlten triumphierend. Der Tote im Pullover hielt keinen Moment lang inne. In der Sekunde, in der seine obere Hälfte auf dem Boden aufschlug, kroch er wieder auf Ifiyah zu. Die Kommandantin leerte den Rest ihres Magazins in den Körper, verfehlte aber den
Kopf. Bevor sie Gelegenheit zum Nachladen hatte, packten zwei skeletthafte Hände ihr Knie, und abgebrochene Zähne verbissen sich tief in ihrem Oberschenkel. Zwei der Soldatinnen zerrten die Leiche von Ifiyahs Bein weg. Sie trampelten mit ihren Kampfstiefeln auf dem Kopf des Toten herum, bis nichts mehr da war außer Matsch und Knochensplittern. Aber es war zu spät. Ifiyah hielt sich die Wunde, das Gewehr war vergessen, und sah ihre Schützlinge an, als suchte sie nach Ideen. »Wir müssen einen sicheren CCP finden«, sagte Ayaan zu mir, »und du bist unser Stadtführer.« Ich war so in das versunken gewesen, was mit Ifiyah geschehen war, dass ich sie nicht hatte herankommen sehen und vor Überraschung zusammenzuckte. »Schaff uns hier raus, Dekalb!« Ich nickte und starrte die 14* Street entlang - nach Osten. Aus dieser Richtung kamen nur ein paar Tote auf uns zu. »Macht ihn los«, sagte ich und zeigte auf Gary. »Er ist Arzt. Ein takthar. Wir brauchen ihn.« Sie taten, was ich sagte. Der Tote behauptete, nicht laufen zu können, also stellte ich zwei der Mädchen dazu ab, ihn zu tragen. Falls ihnen der Auftrag 42
nicht passte, waren sie zu gut ausgebildet, um es zu sagen. Ich selbst lud mir Ifiyah auf - und fand es leicht verstörend, dass sie kaum mehr als meine siebenjährige Tochter wog -, und dann rannten wir, rasten die 14* Street entlang, und unsere Waffen schlugen uns gegen den Rücken. Wir wichen den Toten aus, die nach uns griffen. Eines der Mädchen wurde von einer besonders agilen Leiche geschnappt, aber sie trat ihr ins Gesicht und befreite sich wieder. Obwohl ich schon außer Atem war, bevor wir den Block hinter uns gelassen hatten, wurde ich nicht langsamer, bis wir an einem eingerüsteten Gebäude vorbeikamen und sich die Straße zu dem von Bäumen gesäumten Union Square öffnete. Da erkannte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich hinlief. Wir bewegten uns vom Fluss und der Sicherheit des Schiffes fort. Welche Art von Unterschlupf vor den Toten konnten wir überhaupt finden? 42
17Ich hieß die Gruppe anhalten, und wir versammelten uns um die Gandhistatue am Rand des Union Square. Ich schaute zu dem lächelnden Gesicht hoch und bat stumm um Verzeihung dafür, dass ich ihn mit schwer bewaffneten Kindersoldatinnen umgab. Ich erinnerte mich daran, dass die Hippies dem Pazifisten früher immer Blumengirlanden um den Hals hängten, aber jetzt waren dort nur Drahtschlingen zu sehen. »Sie haben die Blumen gefressen«, sagte Gary. Ich richtete den Blick auf ihn. »Blumen?«, fragte ich. »Alles, was lebt. Fleisch ist besser, und lebendes Fleisch das Beste von allem, aber sie nagen auch die Rinde vom Baum, wenn es sein muss.« Er trat an eine große Eiche heran und legte die Hand auf einen dicken Ast. In der Tat fehlte Rinde, große parallele Streifen waren ins Holz gegraben. »Warum, verdammt? Warum tun sie das?« Gary zuckte mit den Schultern, setzte sich und lehnte sich an den Baumstamm. »Es ist ein Zwang. Man kann ihm nicht lange widerstehen - der Hunger gewinnt. Ich
habe eine Theorie ... Weißt du, sie müssten mittlerweile alle verwest sein. Menschliche Körper verwesen schnell. Sie müssten mittlerweile Haufen aus Knochen und Matsch sein, aber meiner Meinung nach sehen sie ganz gesund aus.« Ich starrte ihn finster an. »Okay, okay, das war eine dämliche Bemerkung. Mit >gesund< meine ich >in einem Stück<. Ich glaube, sie ziehen irgendeine Lebenskraft oder was auch immer aus dem leben 43
den Fleisch, das sie fressen. Irgendeine Art von Energie, die hilft, sie zusammenzuhalten.« »Blödsinn«, stieß ich leise hervor. Ich sah die Mädchen an, weil ich wissen wollte, ob sie mir zustimmten, aber sie hätten selbst Statuen sein können. Sie hatten einfach dichtgemacht und konnten nicht darüber nachdenken, wie schlimm die Dinge geworden waren. Sie brauchten jemanden, der ihnen sagte, was zu tun war, und da Kommandantin Ifiyah jetzt außer Gefecht war, wussten sie nicht, an wen sie sich wenden sollten. Mir fiel nichts mehr ein. Wo sollten wir hin? Unser einziger Fluchtweg war abgeschnitten. Wir konnten in einem der Gebäude Schutz suchen - vielleicht in dem Barnes & Noble an der Nordseite des Union Square. In der Buchhandlung hatten wir wenigstens viel zu lesen, damit konnten wir uns ablenken, während wir langsam verhungerten. Bis jetzt hatte mich das Adrenalin angetrieben, aber nun... Wir hörten die Toten nicht herankommen. Sie machten keinen Lärm. Wegen der Bäume des Parks konnten wir sie auch kaum sehen, aber irgendwie wussten wir, dass sie uns umzingelten. Man konnte es Schlachtfeldparanoia nennen. Vielleicht entwickelten wir auch eine Art von sechstem Sinn für die Toten. Ich schickte die Mädchen die Stufen hinauf auf den Platz, wo die Sicht vielleicht besser war. Als wir zu einem der Pavillons über den U-Bahn-Eingängen kamen, hoben die Mädchen aus reiner Gewohnheit die Gewehre. »Wacan... kurta...«, sagte Ifiyah leise. Etwas über Kopfschüsse. Ihr schien die Kraft für einen richtigen Befehl zu fehlen. Ich warf einen Blick auf ihr Bein und sah, dass es noch immer stark blutete. Ich rief Gary herbei und befahl ihm, sich darum zu kümmern. Schließlich war er Arzt gewesen. Na gut, Medizinstudent, aber das würde reichen müssen. Ich legte 43
eine Hand an die Stirn, um meine Augen vor der Sonne zu beschatten, und betrachtete die westliche Seite des Parks, nach Bewegungen Ausschau haltend. Ich sah sie sofort. Viele - Dutzende, vielleicht fünfzig Leichen, die auf uns zu kamen, während wir bloß darauf warteten, dass sie auftauchten. Aber was konnten wir tun? Wir waren im Begriff, eingekreist zu werden. Hinter uns kam eine Horde Untoter heran. Sie bewegten sich nicht schneller als im Schritttempo, aber sie mussten sich nicht ausruhen, und schließlich würden sie uns unweigerlich einholen. Vor uns waren es viel weniger. Wir mussten uns lediglich den Weg freikämpfen. »Fathia«, sagte ich und rief die Soldatin herbei, die direkt neben mir stand. »Da, siehst du sie? Sind sie in Reichweite? Jeder Schuss muss sitzen.« Sie nickte und hob das Gewehr an die Schulter. Ihr Schuss hallte durch den Park, in der Ferne fiel ein Ast vom Baum. Sie schoss erneut, und ich konnte einen der
Toten stolpern sehen. Aber er ging weiter. Ayaan versuchte es als Nächste, hatte aber nicht mehr Erfolg. In diesem Moment hätte ich viel für ein Fernglas gegeben. In der Nähe der Lafayettestatue kamen sie ins Freie. Große Kerle mit kahlen Köpfen - nein, Helmen, sie trugen irgendwelche Helme. Motorradfahrer? Einer von ihnen hielt einen großen Stock oder ein Gewehr in der Hand, und eine schlimme Sekunde lang dachte ich über die Möglichkeit von Toten mit Waffen nach. Was auch immer es war, er ließ es fallen, um die Hand frei zu haben, damit er nach uns greifen konnte, obwohl er noch hundert Meter weit entfernt war. Diese Dinger waren wie hitzesuchende Raketen, unfähig zu jeder Hinterlist oder Täuschung. Ihr Wunsch nach uns war so groß, dass in ihrem Kopf nichts anderes als dieses Verlangen Platz hatte. 44
»Der da.« Ich zeigte auf den Vordersten, und in schneller Folge krachten drei Schüsse. Einer musste getroffen haben -ich sah Funken vom Helm stieben. Den Träger schien das nicht zu stören. Plötzlich wurde mir klar, was wir da betrachteten. Bereitschaftspolizei. Klar. In den ersten Tagen der Epidemie hatte es viele Plünderungen gegeben. Öffentliche Panik. Natürlich war Bereitschaftspolizei eingesetzt worden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Und natürlich waren ein paar der Beamten der Epidemie zum Opfer gefallen. »Versucht es noch einmal«, sagte ich, und sie schössen beide. Der Ex-Polizist torkelte im Kreis, als die Kugeln seinen Kopf trafen. Er brach zusammen, und ich atmete erleichtert auf. Dann stand er langsam wieder auf. »Der Helm... er muss gepanzert sein«, sagte Ayaan. Himmel, sie hatte recht. Nur ein Kopfschuss konnte die wandelnden Toten vernichten, und diese Leichen hier trugen kugelsichere Helme. Was, zum Teufel, sollten wir nur tun? Die Mädchen schössen weiter. Mir war klar, dass sie Munition verschwendeten, aber was blieb uns sonst übrig? Sie versuchten es jetzt mit Gesichtstreffern, aber die Helme wiesen Visiere auf, die genau dagegen schützten. »Gib Befehle«, sagte eines der Mädchen und schaute zu mir hoch. »Jetzt du bist Kommandant. Also gib Befehle.« Ich rieb mir hektisch die Wange, während ich mich umschaute. An der Südseite des Parks gab es auf der anderen Straßenseite einen Virgin Megastore. Ich war bei meinem letzten Besuch in New York dort gewesen und glaubte mich zu erinnern, dass er nur ein paar Eingänge hatte. Aber es würde einige Zeit erfordern, dort hereinzukommen und den Laden zu verbarrikadieren. Zeit, die wir nicht hatten, wenn wir diese Xaaraan nicht aufhalten konnten. »Schießt auf die 44
Beine«, schlug ich vor. »Wenn sie nicht laufen können...« Aber natürlich trugen die Polizisten auch Körperpanzer. Die Horde der Toten, die die iq.th Street hinaufstolperte, kam immer näher heran. Die ehemaligen Polizisten waren vielleicht noch fünfzig Meter entfernt. »Gib die Befehle«, beharrte das Mädchen. Ich stand so still wie eine Statue und wusste nicht, was ich tun sollte. 44
i8. Die tote Bereitschaftspolizei war nur noch vierzig Meter entfernt. Wir konnten sie jetzt deutlich sehen - die gepolsterten Körperpanzer, die Helme mit den durchsichtigen Plastikvisieren, die einen Blick auf die zyanotische Haut darunter freigaben. Sie bewegten sich zögernd, als hätten sich ihre Muskeln versteift, bis sie so beweglich waren wie trockenes Holz. Ihre Füße schlurften über den Boden, suchten nach Gleichgewicht, das sie nicht zu finden schienen. »Die bleiben nicht stehen«, sagte Gary zu mir. »Die werden nie stehen bleiben.« Auf diese Information konnte ich verzichten. Ifiyah, die verwundete Kommandantin der um mich gescharten Kindersoldatinnen, hatte den Fehler gemacht, die wandelnden Toten wie eine normale feindliche Streitmacht zu behandeln. Sie hatte versucht, sie mit gezieltem Feuer aus einer Verteidigungsstellung heraus niederzumachen. Sie hatte geglaubt, sie alle vernichten zu können. Aber dafür gab es einfach nicht genug Kugeln. Ayaan schoss erneut und schlitzte einen Polizistenstiefel auf. Der Untote stolperte und wäre beinahe gefallen, fing sich aber. Der einzige verwundbare Teil seines Körpers - sein Kopf - wurde von einem Helm bedeckt, den die relativ langsame Kugel einer AK-47 nicht durchschlagen konnte. Ich wusste das besser als jeder sonst. Es hätte eine der Aufgaben sein können, die ich während meiner Ausbildung bei der UN lösen musste. Mit einer Geschwindigkeit von 710 Metern in der Sekunde - ungefähr doppelte Schallge 45
schwindigkeit, an einem sonnigen Tag auf Meereshöhe -konnten die Geschosse zwar große Wucht auf diese Helme ausüben, aber die würde von dem auf der Innenseite eingearbeiteten Netz aus Kevlarfasern zerstreut. Das war das Wissen, das man von einem UN-Waffeninspekteur einfach erwartete. Ob das Ziel lebte oder untot war, hatte nicht zu den Variablen in unseren Rechenaufgaben gehört. An der Ostseite des Parks - unserer entblößten Flanke -ertönte ein Schrei, und ich schaute in die Richtung und sah eines unserer Mädchen winken. Ich hatte sie dorthin geschickt, um die Gegner auszuspähen, und das Signal bedeutete, dass eine Horde - eine ganze Armee der Untoten - die 6* Avenue überquerte, nicht mehr weiter als zwei Blocks von uns entfernt. Bei ihrer durchschnittlichen Gehgeschwindigkeit von drei Meilen in der Stunde (der lebendige Durchschnittsmensch geht mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde, aber die Toten neigen zum Herumtrödeln) gab uns das bestenfalls zehn Minuten, bevor sie uns überrannten. Vielleicht konnten wir die ehemaligen Polizisten abwehren, wenn wir sie aus nächster Nähe bekämpften, aber das würde Zeit kosten. Zeit, die wir nicht hatten. An diesem Punkt konnte ich auf nichts anderes mehr zurückgreifen als auf meine Ausbildung, also rechnete ich. Es spielte keine Rolle, wie sinnlos das letztlich war. Die Ex-Polizisten waren noch dreißig Meter entfernt, als ich es endlich sein ließ. Die Mädchen schössen noch immer -was nutzlos war. Auf so etwas waren sie nicht vorbereitet, nicht geistig. Sie kämpften noch immer einen Guerillakrieg. Guerillataktiken basierten darauf, dass der Gegner auf die Aktivitäten des
Angreifers mit logischen Entscheidungen reagierte. Die Toten kannten keine Logik. Ich musste etwas Verrücktes tun, etwas wahrhaft Wahnsinniges. Die Mädchen hatten ihre überflüssigen Waffen am Funda 46
ment von Gandhis Statue zu einem Haufen aufgeschichtet -eine Ironie, die ich im Augenblick ignorierte. Ich bin mir nicht sicher, was ich dachte oder ob ich überhaupt etwas dachte, abgesehen davon, dass ich mich besser bewaffnen sollte. Der Lauf der AK-47, die man mir auf dem Schiff zugeteilt hatte, war verbogen, das Resultat meiner verzweifelten Bemühungen, das Gewehr im Krankenhaus als Brechstange zu benutzen. Ich hatte noch nie eine Waffe mit der Absicht abgefeuert, jemanden zu verletzen. Ich kannte ihre technischen Daten und ihren Aufbau auswendig, aber ich hatte nicht einmal eine Pistole in einer Kampfsituation abgefeuert. Ich schaute mir die Waffe nicht an, die ich mir nahm. Auf abstrakte Weise war mir bewusst, dass es eine russische Panzerabwehrwaffe war, eine RPG-7V. Ich wusste, dass ich irgendwann einmal ihr Handbuch gelesen hatte. Ich wusste, wie man eine Granate vorne ins Rohr lud und wie man es sich auf die Schulter legte. Ich wusste genug, um die Schutzkappe vom Zielmechanismus zu nehmen und ein Auge zu schließen und mit dem anderen durchs Visier zu schauen. Ich richtete das Fadenkreuz auf den Helm des vordersten untoten Cops. Dann senkte ich es, bis ich auf seine Füße zielte. Ich drückte den Abzug durch. Ich wusste, wie man das machte, obwohl ich dieses Modell noch nie abgefeuert hatte. Die Toten waren zwanzig Meter entfernt. Ein fast einen Meter langer Funken- und Feuerschweif schoss aus dem Rohrende. Fathia sprang schreiend zur Seite -die Explosionsgase hatten ihr die Wange versengt. Die Granate raste los. Es gab überhaupt keinen Rückstoß. Ich ließ das leere Rohr von meiner Schulter fallen und sah zu, wie die raketengetriebene Granate an der Spitze einer weißen Rauchsäule verschwand. Sie schien sich äußerst langsam zu bewegen, in der Luft zu hängen. Ich sah, wie Stabilisatoren aus 46 ihrem Ende klappten, sah, wie sie sich mitten in der Luft stabilisierte und ihren taumelnden Flug korrigierte. Ich sah, wie sie genau vor dem ersten Mann den Boden berührte. Ein kurzes Aufblitzen eines blendenden, weißen Lichts wurde augenblicklich von einem grauen Nebel verschluckt, der sich in eine wütend aufblühende Rauchwolke verwandelte. Überall waren Trümmer, fielen aus dem Himmel - zerborstene Betonstücke, Grasfladen, eine abgetrennte Hand. Viel weniger Lärm, als ich erwartet hatte. Eine heiße Woge hüllte uns ein, brachte die Kopftücher der Mädchen zum Flattern, und ich musste Staub und Dreck fortblinzeln. Der Rauch verzog sich, und ich sah einen etwa einen Meter großen Krater im Boden, der von verstümmelten Körpern umgeben wurde, mit abgerissenen Gliedmaßen und weißen Knochen, die anklagend in den Himmel zeigten. Ein paar der ehemaligen Cops bewegten sich noch, zuckten bloß, zerrten sich aber noch immer mit Fingern auf uns zu, die alle unnatürlich gekrümmt waren. Die meisten lagen reglos am Boden, Opfer von Schrapnell und hydrostatischem Schock.
»Xariif«, murmelte Ayaan. Das bedeutete »clever« und war das Netteste, was sie je zu mir gesagt hatte. Ich schlang mir das leere Rohr, aus dessen beiden Enden noch immer Rauch strömte, über die Schulter, und winkte unserem Späher zu, zu uns zurückzukommen. Noch immer kam es auf jede Sekunde an. Sobald wir uns gesammelt hatten, führte ich die Mädchen in einem verzweifelten Lauf über die 14* Street nach Osten - auf den Virgin Megastore zu. Der Haupteingang, eine dreieckig geformte Glaslobby, war fest verschlossen, aber das war gut so. Ein zweiter Eingang in der Nähe des Ladencafes öffnete sich, als ich an dem Chromgriff der Tür riss. Ich drängte die Mädchen hinein, befahl ihnen auszuschwärmen und den Ort zu sichern. Gary bildete das Ende der Reihe. Ich legte den Arm quer über die Türöffnung, 47 bevor er herein konnte. Wir waren aufgewühlt, müde und noch immer in Gefahr. Es wäre nicht gut für die Moral, wenn die Mädchen Ifiyah beim Sterben zusehen mussten. Ich wollte mit Gary darüber sprechen, was man tun konnte und welche Möglichkeiten wir hatten. »Sie wird sterben«, setzte ich an, aber darauf war er vorbereitet. »Ich sehe sie mir einmal an. Vielleicht kann ich sie retten.« Wir wussten beide, wie wahrscheinlich das war. Niemand überlebte den Biss eines Untoten. Der Mund des Toten, der Ifiyah angegriffen hatte, war sicher voller Mikroben gewesen - Gangrän, Sepsis und Typhus waren direkt in die Wunde injiziert worden. Zusammen mit dem Schock und dem massiven Blutverlust hatte Ifiyah drinnen bei uns kaum eine größere Chance als draußen bei den Toten. Aber sie lebte. Noch. Zwar hatte ich gerade eine raketengetriebene Granate in eine Menge gefeuert, aber das hatte mich nicht grundlegend verändert. Wenn es für Ifiyah eine Chance zu überleben gab, musste ich sie ihr verschaffen. Ich seufzte, aber ich hielt ihm die Tür auf. Er murmelte einen Dank, als er den dämmerigen Megastore betrat. Ich folgte ihm auf den Fersen und zog die Tür hinter mir zu. 47
19Wir schwärmten im Erdgeschoss des Megastore aus, streiften leise durch die Regalreihen, richteten Gewehre hinter Theken und in Wandschränke. Das Geschäft bestand aus zwei Etagen, dem Erdgeschoss mit einer Glaswand, durch die man auf den Union Square sah, und einem Untergeschoss voller DVDs. Das Nachtmittagslicht erhellte das Erdgeschoss ganz ordentlich, aber das Untergeschoss lag in absoluter Finsternis. Ich schickte Ayaan und eine Abteilung Mädchen mit Taschenlampen hinunter, um alles zu durchsuchen. Sie kehrten nach ein paar Minuten zurück, sahen verängstigt aus, hatten aber nichts zu berichten. Gut. Als Erstes mussten wir die Cafetür sichern. Im Büro des Filialleiters fanden wir die Ladenschlüssel und schlossen ab, dann verbarrikadierten wir den Ausgang mit Tischen und Stühlen. Ein paar der Mädchen taten das Gleiche am Haupteingang. Da waren die Toten bereits eingetroffen. Sie drängten sich gegen die Fenster. Sie stießen sich beiseite bei dem Versuch, durch das Glas hindurchzubrechen. Sie
schlugen mit den Händen dagegen, pressten die Gesichter an die Scheiben. Etwa zehn schlimme Minuten befürchtete ich, das Glas könnte dem Druck ihrer Körper nachgeben. Es hielt. Sie waren schrecklich anzusehen - ihre Gesichter waren mit weißen und rosafarbenen Geschwüren bedeckt, die Hände, mit denen sie hilflos gegen die Scheiben trommelten, waren aufgeschnitten und gebrochen. Ich befahl den Mädchen nur aus Gründen der Moral, sich von den Fenstern fernzuhalten und im dunklen, hinteren Teil des Ladens zu bleiben. 48
Wir setzten Ifiyah in den Ledersessel des Filialleiters, und Gary, der im Café einen Erste-Hilfe-Kasten gefunden hatte, versorgte ihre Wunden. Die Haut um den Biss sah blutleer und geschwollen aus. Ich hatte nicht viel Hoffnung. Kommandantin Ifiyah konnte noch immer sprechen, und Fathia, ihre Bajonettexpertin, hielt ihre Hand und stellte ihr eine Reihe leiser Fragen, die ich nicht genau verstand. »See tahay?«, fragte Fathia. »Waan xanuunsanahay«, lautete die Erwiderung. »Biyo?« Fathia reichte ihrer Kommandantin eine Feldflasche, und das verwundete Mädchen trank gierig und verschüttete Wasser auf ihren Blazer. Ich wandte mich ab und sah Ayaan zwischen den Verkaufsregalen auf mich zukommen. »Dekalb. Im Moment sind wir doch sicher, oder? Einige der Mädchen würden gern beten. Es ist schon viel zu lange her.« Ich nickte, überrascht, dass sie mich überhaupt fragte. Anscheinend war ich in dem Machtvakuum, das Ifiyahs Verwundung hinterlassen hatte, zur obersten Autorität des Teams aufgestiegen. Ich war mir nicht sicher, was ich davon hielt. Eigentlich war mir an dieser Art von Verantwortung nun wirklich nicht gelegen, obwohl es für mich als Mensch aus dem Westen eine Erleichterung war, keine Befehle mehr zugebrüllt zu bekommen. Mehr als die Hälfte der Mädchen wollte beten. Sie breiteten handgewebte Matten auf dem Boden des Megastore aus und richteten sie nach Osten, wo, soweit ich das sagen konnte, Mekka lag. Sie sangen auf Arabisch, während ich den Rest der Mädchen betrachtete - vermutlich die weniger Frommen. Die meisten starrten die Toten vor den Fenstern an. Ob sie sich fragten, was wir als Nächstes tun würden? Ich jedenfalls tat es. Ein Mädchen - eine der Jüngsten, ich glaube, ihr Name war Leyla - wanderte an den Verkaufsregalen vorbei, hielt mit der 48
einen Hand den Riemen ihrer AK-47 und schnippte mit der anderen die verschiedenen ausgestellten CDs durch. Ihre Unterlippe verzog sich, als sie die Titel las. Wenn sie eine fand, die ihr wirklich zusagte, knickte sie in der Taille ein, als müsste sie verzweifelt das Verlangen unterdrücken, auf und ab zu hüpfen. Ihr zuzusehen ließ mich an Sarah denken. Leyla mochte ein ganzes Stück älter und viel gefährlicher sein, aber sie verfügte noch immer über das Temperament und die kaum gebändigte Energie, die ich bei meiner Tochter so zu bewundern gelernt hatte. Gott, noch nie war Sarah so weit weg gewesen wie in diesem Augenblick. »Mehr kann ich nicht für sie tun«, sagte Gary und zog die Latexhandschuhe aus. Ifiyah schlief oder hatte das Bewusstsein verloren. Ausgefranste Stoffstreifen waren
so fest um ihr Bein gebunden, dass sich ihr Fuß dunkel verfärbte. Eine Aderpresse. Selbst wenn sie überlebte, würde sie das Bein vermutlich verlieren. Gary setzte sich auf den Boden und schälte ein Slimjims aus der Packung. Er kaute unbeteiligt darauf herum und starrte mich an, bis ich das Gefühl hatte, das Schweigen zwischen uns hätte sich in etwas verwandelt, das gezähmt werden musste. Aber Gary ergriff als Erster das Wort. »Warum bist du nach New York gekommen?«, fragte er. »Hast du Familie hier?« Ich schüttelte den Kopf. »Vor langer Zeit, ja. Aber meine Eltern starben... lange davor. Meine Mutter starb bei einem Flugzeugabsturz, und mein Vater konnte ohne sie nicht leben. Er ist einfach gestorben. Es ist komisch - ich erinnere mich noch, wie sehr ich mir bei dem Begräbnis meiner Mutter wünschte, dass sie zurückkommt.« Ich warf einen Blick zum Fenster. »Vermutlich sollte man vorsichtig mit dem sein, was man sich wünscht, was?« 49
»Himmel, du bist so was von hart drauf«, sagte Gary und rollte mit den Augen. »Entspann dich.« Ich nickte und ging neben ihm in die Hocke. Mir wurde bewusst, wie hungrig ich war, und nahm dankbar einen seiner in Plastik verpackten Snacks entgegen. »Tut mir leid. Ich nehme an, ich habe bloß Angst. Nein, wir sind auf der Suche nach Medikamenten nach New York gekommen. Die Präsidentin auf Lebenszeit von Somaliland hat AIDS, aber in Afrika gab es einfach keine Medizin mehr.« »Was ist da für dich drin?« Ich nahm Sarahs Bild aus meinem Portemonnaie, ließ es ihn aber nicht berühren, nicht mit diesen Totenhänden. Ich zeigte es ihm und starrte es dann selbst eine Weile lang an. »Sie und ich erhalten in einem der letzten sicheren Länder der Welt die volle Bürgerschaft.« Auf dem Bild war Sarah fünf Jahre alt und streichelte die Nase eines Kamels, das ungewohnt friedlich gewesen war. Das Bild zeigte nicht, was als Nächstes geschehen war - das feuchte Niesen des Kamels und das Gekreische der kleinen Sarah, die durch ein Lager voller Nomaden lief, die lächelten und in die Hände klatschten und ihr Obststücke anboten. Das war ein schöner Tag gewesen. Ich neige immer dazu, an Afrika als eine unendliche Horrorgeschichte zu denken - vermutlich ein berufsbedingtes Risiko -, aber es hatte so viele schöne Tage gegeben. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gern eine Weile ausruhen«, sagte ich. Ich war weniger müde als vielmehr in einer so nachdenklichen Stimmung, dass es schwer wurde, sich auf anderes zu konzentrieren. Er tat mir den Gefallen und verzog sich in eine staubige Ecke des Ladens, wo er in Ruhe auf seinen Slimjims herumkauen konnte. Ich schaute aus dem Fenster, aber nicht auf die Toten, die ich kaum bewusst wahrnahm, sondern auf das Empire State Building, das über den Baumwipfeln am nördlichen Ende des 9» Union Square deutlich zu sehen war. Der ikonische Wolkenkratzer schien zu schweben, losgelöst von der Welt. Ich fragte mich, was man in den oberen Stockwerken jetzt finden würde. Es wäre ein ordentlicher Marsch, da die Aufzüge nicht funktionierten, aber vielleicht wäre er es wert. Welche Art Sicherheit, welche
Art Frieden mochte dort oben wohl noch existieren? Als Kind hatte ich die Aussichtsplattform oft besucht, und ich wusste, dass man von dort oben die ganze Stadt sehen konnte, aber in meinen Gedanken war nun nichts zu sehen außer lang gezogenen, eiskalten Wolken, ein Schleier zwischen mir und dem Dreck auf dem Boden. Man hat mir erzählt, dass diese Art Tagträumerei unter erfahrenen Soldaten weit verbreitet ist. Nach einem gefährlichen Kampf schaltet der Verstand langsam ab und treibt vor sich hin - erlebt vielleicht ununterbrochen noch einmal den Augenblick, in dem sich ein Kamerad eine Kugel einfing, versucht vielleicht, sich an alle Einzelheiten des Chaos zu erinnern, jetzt, es vorbei war. Oder er wandert einfach nur ziellos umher, so wie das bei mir der Fall war. Es gibt sogar einen Namen für dieses Phänomen, den »Tausend-Meter-Blick«, diese zeitweilige Umnachtung. Die moderne Medizin bezeichnet es manchmal als »Combat-StressReaction«. Es hat weniger mit Zen zu tun, als es sich vielleicht anhört. Ist eher das Gegenteil unbewusster Erleuchtung. Es ist, als wäre man in seiner schlimmsten Erinnerung gefangen. Normalerweise löst sich ein Opfer wieder daraus, sobald sich eine neue Aufgabe oder eine neue Pflicht präsentiert. Manchmal wachen Soldaten aber nie wieder daraus auf oder verfallen ihr immer wieder mal für den Rest ihres Lebens - das nennt man dann »Posttraumatische Belastungsstörung«, was wohl jeder schon einmal gehört hat. Für mich gab es im Augenblick keine Reize, um mich aus diesem Zustand herauszuholen. Für mich gab es nur das Waren
ten - darauf, dass die Toten dort draußen einfach verfaulten. Darauf, dass eines der Mädchen eine brillante Idee hatte. Darauf, dass wir alle verhungerten. Ich sah zu, wie sich das Licht veränderte, wie das Empire State Building von einer grauen Eminenz zu einem rötlichen Monolithen und schließlich zu einem schwarzen Strich am sternenklaren blauen Himmel wurde, während der Nachmittag dem Abend und dann der Nacht wich. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte. ioo
20.
»Baryo.« Das Mädchen - die Kommandantin der Mädchen -stöhnte im Schlaf. Gary hatte sie mit seinem Gürtel auf dem gepolsterten Bürosessel festgebunden, damit sie nicht herunterfallen konnte, falls sie Krämpfe bekam. Er schaute sie nicht an. Er konnte es nicht - noch nicht. Er wusste, dass sie starb, und er wusste, was er sehen würde, wenn er sich zu ihr umdrehte, und das wollte er nicht sehen. Stattdessen schaute er durch die Scheibe auf die Totenhorde draußen. Noch immer drängten sie sich dicht an dicht gegen das Glas, aber in den vergangenen Stunden hatte ihre Verzweiflung etwas nachgelassen. Nicht, dass sie weniger hungrig gewesen wären - aber die Nacht und die Dunkelheit hatten sie anscheinend etwas friedfertiger gemacht. Sie brauchten keinen Schlaf. Gary wusste das aus erster Hand. Er konnte nicht schlafen - das altvertraute Gefühl, die schwer werdenden Lider, die bleiernen Gliedmaßen. Nein. Das gab es für ihn nicht mehr, genauso wenig wie für sie. Aber irgendeine tief verwurzelte Erinnerung an ihr Leben sagte ihnen, dass nach Sonnenuntergang die Zeit zum Ausruhen gekommen
war. Es ist bestimmt faszinierend, ihr Verhalten zu studieren, dachte Gary. Welch eine Gelegenheit für die Wissenschaft. »Daawo«, sagte sie hinter ihm. Unwillkürlich wollte er über die Schulter nach ihr sehen. Brach die Bewegung gerade rechtzeitig wieder ab. Er würde noch mehr als genug Zeit unter den Toten leben und ihr Verhalten erforschen können. In den letzten Stunden war ihm klar geworden, dass die Somalis ihn nicht mitnehmen würden, wenn sie abreisten. Natürlich nicht - er war ein Untoter. In ihren Augen unrein. Aber seit er ihr Schiff auf dem Hudson gesehen hatte, hatte sich in ihm eine Art bizarre Hoffnung auf Rettung geregt. In der Aufregung seiner Gefangennahme und der folgenden Schlacht hatte er nicht klar denken können, aber jetzt... konnte er sich dem nicht entziehen. Ganz egal, wie sehr er ihnen auch half und ihnen in den Hintern kroch, sich einen Platz in ihre Herzen bahnte, sie würden ihn niemals aus New York herausschaffen. Er würde höchstens einen anerkennenden Klaps auf die Schulter bekommen. Viel wahrscheinlicher war eine Kugel in den Kopf als Entschädigung für seine guten Dienste. »Maxaa? Madaya ayaa i xanuunaya... gaajo.« Gary wünschte sich, er würde verstehen, was sie da sagte. Sie litt solche Qualen, und er konnte sie nicht lindern. Er drehte sich um und sah sie an. Das Gesicht des Mädchens hatte die Farbe von Zigarettenasche angenommen, und die Augen quollen ihr aus dem Kopf. Er zog die Decke von ihren Beinen. Sie waren so stark angeschwollen, dass er kaum feststellen konnte, wo die Knie waren. Und nicht nur an dem verletzten Bein. Die Infektion hatte sich im ganzen Unterleib ausgebreitet. Sie war verloren. »Canjeero«, sagte sie voller Trauer. »Soor. Maya. Hilib. Hilib. Xalaal hilib. Baryo.« Er spürte die Hitze, die ihr Gesicht ausstrahlte. Nein, keine Hitze. Etwas anderes. Eine Art von Energie, aber nichts wirklich Greifbares. Wie die Vibrationen, die man fühlte, wenn man im Inneren eines Gebäudes saß und draußen ein schwerer Lastwagen vorbeifuhr. Oder wie das Kribbeln der Haut, wenn jemand direkt hinter einem geht, man ihn aber nicht sehen kann. Ein Phantomgefühl, kaum an der Schwelle zum Bewusstsein, aber da, wenn man danach greift. Gary griff danach. 51
»Fadian maya«, stöhnte das Mädchen, als könnte sie spüren, was er tat. Dann ärgerlicher: »Ka tegidl« Die Worte sagten ihm nichts, aber er konnte sich ihre Bedeutung denken. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Nur eine Sekunde, dachte er in dem Bewusstsein, dass er an seinem Umgang mit Patienten arbeiten musste. Aber er wollte es unbedingt erfahren. Er untersuchte sie weniger mithilfe seiner Augen oder Nase oder Ohren als vielmehr mit etwas anderem - den Härchen auf seinen Armen, der Haut hinter seinen Ohren. Ein Teil seines Körpers reagierte auf diese seltsame Energie, die sie ausstrahlte. Energie. Wie die Vibrationen einer Stimmgabel. Die Energie wand sich um das Mädchen und strömte wie Rauch in die Luft, wie Funken, die aus einem Lagerfeuer wirbelten. Sie wärmte Garys Haut, wo immer sie ihn traf, reizte ihn leicht auf eine gute Art. Wie der Atem einer Geliebten im Nacken. Gary hatte nie
viele Freundinnen gehabt, aber er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man berührt wurde. Wenn man liebkost wurde. Was geschah da mit ihm? Um es etwas besser zu verstehen, ging er zu der Stelle hinüber, an der Dekalb und die anderen, gesunden Mädchen in ihre bunten gewebten Matten gehüllt schliefen. Er verharrte regungslos und versuchte sich so aufnahmefähig wie möglich zu machen. Die Energie war da, in ihnen allen, aber sie war völlig anders - eine kompakte Masse, die in einer niedrigen Tonlage pulsierte, wie eine Trommel. Dekalb besaß etwas mehr - er war größer als die Mädchen -, aber die in den Mädchen enthaltene Energie fühlte sich lebendiger, irgendwie aufregender an. »Waan xanuunsanahay«, murmelte die Verwundete. Gary kehrte zu ihr zurück, ging vor ihr in die Hocke. Was auch immer diese Energie war - und Gary wusste, war ganz sicher, dass es ihr Leben war -, sie tröpfelte aus ihr heraus. Verrann. Nach dem zu urteilen, wie viel davon noch in ihr 52
war, würde sie innerhalb der nächsten Stunde tot sein. Dann würde niemand mehr etwas von ihr haben. Was für ein seltsamer Gedanke, aber er war nun einmal da. Sie würde sterben, und niemand würde einen Nutzen daraus ziehen. Gary wich zurück und riss die Verpackung eines weiteren Slimjims auf. Kaute nachdenklich darauf herum. Er konnte, durfte sie nicht länger anschauen, es brachte ihn auf falsche Gedanken. Doch er hatte noch immer die Kontrolle über sich. Das waren die ersten Worte gewesen, die er zu Dekalb gesagt hatte. Er konnte für sich selbst denken. Er musste nicht jeder flüchtigen Laune folgen. Er drückte eine Hand gegen die Scheibe. Die Toten draußen schauten einen Moment lang seine Hand an, dann quetschten sie wieder die Gesichter gegen das Glas und starrten weiter auf die Menschen im Inneren. Verzehrten sich wieder, hungerten wieder. In vielerlei Hinsicht war er wie sie, aber es gab einen gravierenden Unterschied. Seine Willenskraft. Seinen Willen. Er konnte jedem Drang widerstehen, wenn er sich nur genug anstrengte. »Waan xanuunsanahay. Hilib.« Er dachte daran rauszugehen, sich zu der Menge dort draußen zu gesellen - er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihm etwas tun würden. Er war für sie nutzlos. Ohne jedes Interesse. Aber er wusste nicht, ob er die Tür öffnen konnte, ohne dass sich Hunderte von ihnen hineindrängen würden, bevor er herauskam und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es gab keinen Ausweg. Er hing hier fest - war gefangen wie die anderen hier. »Biyo«, bettelte das Mädchen. »Biyol« Vielleicht würden ihre Rufe ja die anderen wecken. Vielleicht würde Dekalb aufwachen und erkennen, dass er vergessen hatte, eine Wache aufzustehen. Vielleicht würden die Mädchen aufwachen und sich um ihre Kommandantin küm 52
mern, sie versorgen. Vielleicht würden sie sie von ihrem Leiden erlösen. Aber sie regten sich nicht einmal. Mit zitternden Händen aß er den nächsten Slimjim, aber es war nicht der Hunger, der ihn so nervös gemacht hatte -jedenfalls nicht die Art Hunger, den man mit einem Snack stillen konnte.
»Takhtar! Kaalay dhaqsil« Das Mädchen hörte sich beinahe völlig klar an. Gary eilte auf die andere Seite des Ladens, in das Büro des Filialleiters. Er fand einen Wandschrank, trat hinein und zog die Tür zu. Hockte sich auf den Boden, schob den Kopf zwischen die Knie und hielt sich die Ohren zu. Alles würde gut. Er hatte sich unter Kontrolle. Alles würde gut. 53
21. In meinem Traum fuhr ich. Großer Wagen, vermutlich acht Zylinder. Lederpolster, verchromte Reifen. Ach zum Teufel, sollte er doch Heckflossen haben. Ein dumpfes, kehliges Dröhnen, wenn ich aufs Gas trat und eines dieser Radios mit einer Leuchtnadel anstellte, die durch den Äther glitt und knisternd Hits einfing. Meine Hände auf dem verzierten Lenkrad waren groß und stark und braun. Es war Nacht, und ich fuhr durch die Wüste. Mondlicht beleuchtete die Büsche und die sanft emporsteigenden Hügel und die Toten. Abgesehen von der schimmernden Leuchtnadel, die sich in Sarahs Augen widerspiegelte, war es dunkel im Wagen. In der Dunkelheit sah Sarah genau wie Ayaan aus, aber es war Sarah. Es war Sarah. Draußen rannten die Toten neben dem Wagen her, hielten gut mit, obwohl wir fast neunzig fuhren. Ich trat etwas fester aufs Gas und sah, wie Helen mich von der linken Seite anlächelte; ihre Beine pumpten wie wild, damit sie die Geschwindigkeit halten konnte. Ihr fielen die Zähne aus. Ihre Haut schälte sich ab, sie rannte so schnell, und bald waren von ihr nur noch die Knochen übrig, aber sie rannte noch immer. Sie winkte, und ich nickte ihr zu, mein dicker runder Ellbogen hing aus dem offenen Wagenfenster. Mein Körper schaukelte, während der Wagen weiterfuhr. »Dekalb«, sagte Sarah, »iga raali nogo, aber was ist das?« Sie starrte auf meine Hand am Lenkrad. Ich schaltete die Innenbeleuchtung an und sah, dass meine Hände blutverschmiert waren. »Zum Teufel, Liebes, das ist 53
doch nichts«, sagte ich mit breitem Akzent. »Nur ein bisschen Flüssigkeit. Ich...« Ich erwachte, bevor ich den Gedanken zu Ende führen konnte. Ich schlug die Augen auf, aber ich sah nichts - ohne Strom war es in Manhattan nachts so dunkel wie irgendwo auf dem Land. Sogar noch dunkler, da die Wolkenkratzer das Sternenlicht blockierten. Ich lag steif und unbequem auf der Seite, kalt bis auf die Knochen. Unter meiner Hand hatte sich etwas Feuchtes und Klebriges gesammelt vielleicht Tau. Mit einem Stöhnen setzte ich mich langsam auf und krümmte die Knie, um den Blutkreislauf in meinen Beinen anzuregen. Ich glaubte zu hören, wie sich in der Nähe etwas bewegte, nahm aber an, dass es die Toten draußen waren, die darauf warteten, dass wir herauskamen und uns fressen ließen. Ich ignorierte es und stand auf. Neben dem Büro des Filialleiters hatte ich eine Toilette gesehen, und ich ging dorthin und achtete darauf, auf keines der schlafenden Mädchen zu treten. Das war nicht einfach - meine Augen hatten sich zwar an die Dunkelheit gewöhnt, aber im Dämmerschein konnte man kaum individuelle Schatten erkennen. Ich urinierte lautstark in die trockene Toilettenschüssel und griff in der Beinahedunkelheit nach
dem Spülhebel. Seltsamerweise funktionierte die Spülung. Wasser schoss in die Schüssel und spülte meinen Urin weg. Ich weiß nicht, auf welche Weise Manhattan mit Wasser versorgt wurde, aber es musste ein Wunder sein -Monate nachdem der letzte lebende Wartungstechniker sich darum gekümmert hatte, funktionierten die sanitären Anlagen im Virgin Megastore perfekt. So eine Kleinigkeit, albern, aber es bedeutete so viel. Etwas, das noch immer funktionierte. Etwas aus der alten Welt, dem alten Leben, und es funktionierte immer noch. Beeindruckt und erleichtert ging ich zurück in den Laden und fragte mich, ob es in der Küche des Cafes wohl noch 54
etwas zu essen gab. Eigentlich bezweifelte ich es, aber ich war hungrig genug, um wenigstens oberflächlich zu suchen. Auf halbem Weg hörte ich das Geräusch wieder, die Bewegung, die ich beim Aufwachen vernommen hatte. Dieses Mal war ich sicher, dass es aus dem Inneren des Ladens kam. Natürlich reinigt Angst den Verstand. Adrenalin pumpte aus meinen Nieren und breitete sich in Windeseile in meinem Körper aus. Mein Rücken kribbelte, und die Haut unter meinen Ohrläppchen fing an zu schwitzen. Es konnte eine Ratte sein oder eines der Mädchen, das sich im Schlaf bewegte. Es konnte eine reanimierte Leiche sein, die irgendwie den Weg ins Gebäude gefunden hatte, während wir nichts sehen konnten, um uns zu verteidigen. Ich zog die Taschenlampe hervor und schaltete sie an. »Dekalb.« Es war Gary, der klügste Tote der Welt. Ich wollte mich umdrehen und das Licht in seine Richtung lenken, aber er sagte: »Nein, bitte, sieh noch nicht her.« Ich hielt inne und knipste die Lampe aus. Ich hörte, wie er näher kam. Vielleicht konnte er im Dunkeln sehen - er stolperte nicht so herum wie ich. »Dekalb«, sagte er, »ich brauche deine Hilfe. Du musst es ihnen erklären. Sie sollen es verstehen.« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Ich kann dir sehr nützlich sein.« In der Dunkelheit war seine Stimme beruhigend, fast schon hypnotisch. »Du musst diese AIDS-Medikamente finden, damit sie dich gehen lassen, richtig? Ich kann mich in der Stadt frei bewegen. Ich besorge die Medikamente, die du brauchst, und bringe sie zu deinem Schiff. Du sitzt in Sicherheit auf dem Schiff und wartest einfach darauf, dass ich zu dir komme.« »Gary«, sagte ich, »hast du etwas getan...« »Dazu kommen wir noch. Ich habe noch etwas anderes -eine Idee, wie du hier heil rauskommst. Im Augenblick bist du 54
am Arsch, richtig? Du kannst nicht durch diese Tür, ohne in Stücke gerissen zu werden. Du hast keine Verpflegung, keinen Funk. Niemand wird kommen und dich retten. Du brauchst das hier. Du brauchst diese Lösung, die mir eingefallen ist.« Er hatte recht. »Sag mir, was ich tun soll.« »Nicht, bevor du bei den Mädchen ein gutes Wort für mich einlegst. Du musst sie von mir fernhalten, Dekalb. Das ist doch dein Ding, oder? Du hast für die UN gearbeitet. Du hast Streitigkeiten geschlichtet. Du kannst für mich eintreten, du musst mir helfen, komm schon. Sag mir, dass du das tust.«
Ich fühlte mich, als hätte ich zwanzig Schneebälle gegessen. Mein Bauch war voller Eis. »Ich mache jetzt meine Lampe an, Gary.« Er bewegte sich so schnell, dass er mir das Genick hätte brechen können, wenn er gewollt hätte. Stattdessen griff er nur nach meiner Hand und zwang mich, die Taschenlampe fallen zu lassen. Ich spürte ihn dicht neben mir, roch sein verwesendes Fleisch - und etwas anderes, etwas Frischeres, das aber nicht weniger grässlich war. »Du musst mir helfen, Dekalb. Verdammt noch mal, du wirst mir helfen«, flüsterte er mir ins Gesicht, und ich roch Salami. »Sie wäre sowieso gestorben.« KLICK-KLACK! Das Geräusch des Sicherungshebels einer AK-47, der von GESICHERT auf EINZELFEUER geschoben wurde. Es war Ayaan. »Dekalb, was ist los? Warum machst du solchen Lärm?« Das Licht ihrer Lampe durchschnitt die Finsternis und enthüllte mir Garys Gesicht. An seinem Kinn war Blut, rotes, nasses Blut. Oh-oh. Nein, dachte ich, das gehörte nicht zum Plan. Nein, das hatte ich nicht geplant. »Ich kann dir die Medikamente besorgen, Dekalb. Ich kann dich hier rausbringen!« Ich fühlte, wie Ayaan meinen Hinterkopf anstarrte. Auf 55
Teil zwei
einen Befehl wartete. In einer Sekunde würde sie die Entscheidung selbst treffen und die Taschenlampe auf die Ecke richten, wo wir Ifiyah bewusstlos auf einen Bürostuhl gesetzt hatten. Ich fühlte, wie sich Garys Körper vor Entsetzen verkrampfte, nur wenige Zentimeter weit weg. Wir alle Drei hatten die Blutspur auf dem Boden gesehen. Ich erinnerte mich an die klebrige Pfütze, in der ich aufgewacht war, und meine Kehle zog sich zusammen. In meinem Traum hatte ich Blut an den Händen gehabt. »Dekalb! Rette mich!« Das Licht enthüllte, dass Ifiyah sich verändert hatte. Jacke und Hemd waren weg. So wie der größte Teil ihres Torsos. Gelbe Rippen schimmerten in dem schwachen Licht. Ich konnte weder ihr Gesicht noch ihren linken Arm sehen -möglicherweise lagen sie im Schatten. Möglicherweise. »Ayaan«, sagte ich leise, »lass uns darüber nachdenken, was wir als Nächstes tun, bevor...« Ich hörte die Kugel durch die Luft rasen, laut wie ein Donnerschlag. Ich hörte, wie sie Garys Schädel zerschmetterte. Etwas Trockenes, Pulverisiertes spritzte in mein Gesicht und auf meine Brust, als Garys Körper von mir fortfiel, sich drehte und dann auf der Seite zusammenbrach. Ich wollte atmen, aber der Atem wollte nicht kommen. Dann platzte es mit einem Schwall aus meiner Kehle. Eine Art Wimmern. Ich bückte mich und hob meine Taschenlampe auf. Schaltete sie ein und richtete sie auf ihn.
Der klügste Tote der Welt hatte ein fingergroßes Loch in der Stirn. Da war kein Blut, aber etwas Graues sickerte aus der Wunde - vermutlich Gehirnmasse. Sein Körper zuckte noch eine Weile lang. Dann regte er sich nicht mehr. iio
I.
Finger graben wühlen drücken an der offenen wunde herum es riecht nach zimt lachen dunkel dunkel dunkel kalt hungrige finger graben greifen reißen... Gary verlor. Starb. Sein Funke, die Lebenskraft, strömte aus ihm heraus, strömte aus dem Loch in seinem Kopf. Fang noch einmal an. (Da war noch jemand. Jemand, der stark und so entschlossen war, der auf keinen Fall wollte, dass Gary aufgab. Da war noch jemand.) Fallen, frei und gewichtslos, nur einen Augenblick lang in der Dunkelheit, selbst die gelben Bahnen der Taschenlampen gab es nicht mehr für ihn in dieser angenehmen stillen Blindheit, während er stürzte, vom Gleis geworfen, aus dem Paradies in den Tiefen des Megastore verjagt. Ein Zusammenstoß, sein Rücken kollidierte mit dem weichen Gummihandlauf einer Rolltreppe, aber bei dieser Geschwindigkeit war alles hart, so hart und brüchig, und er spürte, wie seine Brustwirbel brachen, Th6, dann Thy, Th8, alle kaputt, pulverisiert, während sein Körper wie ein Taschenmesser über dem Handlauf zusammenklappte, er würde nie wieder gehen können, ha ha ha. In der Finsternis, der Finsternis dieser Blindheit, war dieser Umriss, dieser weiße, baumförmige Umriss, als wäre er in Garys Retina eingebrannt, der Blitz, der Mündungsblitz eines Sturmgewehrs, das Letzte, was er sah, das Letzte, was er jemals sehen würde. Es sah wie eine Art Baum aus, vielleicht waren die Zweige die Adern in seinen Augen, die aufleuchte 56
ten, als sie durch den hydrostatischen Schock des Schusses explodierten, vielleicht waren es auch keine Aste, vielleicht... Gary sackte zu Boden und blieb verkrümmt liegen. fìnger finger finger im kuchenteig kneten graben wühlen Das Unleben sickerte aus ihm heraus, das halbe Licht erstarb. Noch einmal von vorn. Weiß und fett, beinahe fleischig, wuchs der Baum aus fruchtbarem Boden, um mit hellen Blättern den Himmel zu verdecken, sein dicker, fleischiger Stamm pulsierte vor Leben, aber nein, zerschmettert, der Baum war zerschmettert vom Blitz oder vom Regen, war nur noch ein Stumpf. Gary sah es, die Aste zerbrochen und um ihn herum verteilt, war er nur noch ein aus dem Boden emporragender, zerschmetterter Stumpf, in seiner Mitte ein großer Astknoten wie ein vor Überraschung aufklaffender Mund, ein ewiges O, erstarrt im Augenblick der Überraschung, dem Augenblick, in dem Karl Kojote noch nicht erkannt hat, dass er über dem Abgrund in der Luft steht, der Baum ist nur ein Stumpf... Das alles breitete sich wie hingespritzt über sein Sichtfeld aus. Das Einzige, was er sehen konnte. Seine Muskeln -sein Körper, sein gummiartiger Körper bewegte sich noch immer unter ihm. Zuckungen zerrten seinen Kopf über den Boden. Stirb endlich, er konnte die Kugel in seinem Schädel spüren, so heiß, so heiß und fest, wie sie in der Flüssigkeit trieb, der bebenden Gehirnmasse. Das war es natürlich,
das Ende, finito. Die Toten sterben nur zweimal, und das war es - das war natürlich das Ende. Eine Kugel im Kopf. Das Ende. (Nicht das Ende. Der Jemand... der Wohltäter... der in der Finsternis... der Starke... der Entschlossene sagte, das ist nicht das Ende, sagte, du hast noch eine Chance, aber du musst sie ergreifen.) 57
Der Baum war nur ein Stumpf. Reglos. Von Leben erfüllt. Pulsierte gottverdammt noch mal. Er hatte noch immer eine gewisse Kontrolle. Eine zitternde, zerbrechliche Energie, die ihm gehörte, die er nutzen konnte, während sie versickerte. Er fühlte sich gewichtslos, leichter als Luft, und seine Hand griff nach der Schläfe und ertastete die Wunde, das Eintrittsloch. Da war Feuchtigkeit auf seinen Fingern. Mein Gott. Widerlich. Das Loch war groß genug, dass man einen Finger hineinstecken konnte. der laut den ein nasser mopp macht wenn er auf den boden auftrifft ...aber das war eine Erinnerung, kein realer Laut. Gary stocherte erneut mit dem Finger herum und hörte denselben Laut. Beinahe, als würde man eine Klaviertaste anschlagen. Er drückte wieder, und dieses Mal... dieses Mal fühlte er etwas Reales. Hartes Metall, das seinem Finger widerstand. Die Kugel. saugte das leben irgendwoher ab mein gott man konnte sie sich bewegen sehen als sie pulsierte als die flüssigkeiten flössen als das leben unter der fleischigen weißen rinde zirkulierte in dem feuchten faserigen holz nur ein stumpf der aber von irgendwoher leben nahm. Es war fast vorbei. Warum sich weiter abmühen, wenn es doch keine Hoffnung gab? FANG WIEDER AN. (beharrte der Wohltäter.) vielleicht waren es ja gar keine äste sondern wurzeln Gedanken wurden unbeständig, so schlüpfrig wie ein Fisch im Fluss, nach dem man greift, silbern und hell im gischtigen Wasser, silbern und hell im Kopf, wenn man danach griff. Man würde zwei Finger brauchen, nur um es noch ein Stück weiter zu öffnen, komm schon, sag aaahh, sehr gut, du bist der "57
bravste Junge, den ich je am offenen Gehirn operieren durfte, hi hi, zwei Finger stecken jetzt drin, tut es weh? Tut es weh? Nichts kann mehr weh tun, Alter, ich bin angenehm taub, und jetzt habe ich die Finger drin, aber dieser Anblick, Alter, dieser Baum, dieser BAUM... Seine Wurzeln sind endlos. Oben im Sonnenlicht könnten goldene Apfel hängen, kleine, feste Bündel voller Lebenskraft in der Farbe von... von... einfach eine hübsche Farbe, aber nichts, was man mit den Augen wahrnehmen kann. Keine der sieben Farben, die sie einem in der Schule beibringen. Oder waren es zwei Dutzend? Dekalb und die Mädchen, richtig, zwei Dutzend, sie warten, kauern sich verängstigt und kalt und hungrig und allein in die Dunkelheit, aber sie wussten es ja nicht, sie konnten ja nicht wissen, wie wunderbar lebendig sie waren. Hier oben im Sonnenschein, der natürlich rein metaphorisch ist, da es dort noch immer Nacht sein muss, es im Megastore noch immer stockfinster sein muss. Aber hier in diesem metaphorischen Raum, an diesem Ort, an den du dich, geflüchtet hast, weil du ohnmächtig wurdest - hej, der war gut, ein ohnmächtiger Toter -, ohnmächtig wurdest, weil du versucht hast, mit den Fingern eine Kugel aus deinem Schädel zu
graben, in diesem metaphorischen Raum sind Dekalb und so weiter hier oben, hier oben, wo es ein Sommertag ist verglichen mit dem, was da unten ist, da unten in der Tiefe, da unten bei den Toten, den Toten, den Toten... JA. (der Wohltäter nickt.) ...denn sie, die Toten, sind auch hier, wenn auch kaum wahrnehmbar. Drunten unter der Erde im Dreck, wo die Wurzeln endlos wie blinde Würmer wühlen und graben, wie Finger, die nach einer Kugel bohren, weil... oh ja, nur, weil du das Bewusstsein verloren hast, Gary, heißt das noch lange nicht, dass du aufgehört hast, nach diesem Messingring zu n58
greifen, nach diesem Bleianker im Matsch - hör auf damit! -, in der Mitte deines matschigen Kopfes. Aber, dachte Gary, ich schweife ab. Ich sprach von den Toten, die den Baum futtern. Gammlige kleine Mistkröten, die nach Lebenskraft stanken, weil sie nur so aus ihnen heraustropfte, wie Dampf aus ihrem Rücken quoll und sich auflöste, aber nicht das goldene, funkelnde Leben von Dekalb und seinen Freunden, nein, das war nur der Schatten dieser Energie - da fehlte die nötige Dimension, war kalt statt heiß, dunkles Purpur statt Helligkeit -, aber es handelte sich immer noch um Energie. Genug, um den Baum zu füttern. Genug, um jeden zu füttern, wenn man sie anzapfen konnte, und ja, Gary konnte es. Gary konnte es. Denn im Gegensatz zu den diskreten Energiepaketen im Inneren von Dekalbs Engeln, jenen überreifen Früchten der Lebenskraft, waren die Toten alle miteinander verbunden, aneinander gefesselt in einem Netz dampfender Dunkelheit. Vor der Epidemie gab es sechs Milliarden Menschen - oder waren es sieben? -, aber in gewissem Sinn gab es jetzt nur noch einen Toten. Das Ding, die Epidemie, die Katastrophe, die die Toten zurückgebracht hatte, führte sie zusammen, vereinigte sie wie eine Wolke Heuschrecken, die so dicht war, dass sie die Sonne verdunkelte, eine unendliche Zahl winziger Wassertropfen, aber wo der eine endet und der andere anfängt, darauf gibt es keine Antwort. Es ist ein Zen-Koan, es gibt nur einen von uns mit vielen Körpern, und ich bin sein Wille. Ich bin sein Befehlshaber. JA. (es gibt eine Verbindung, sagt der Wohltäter, ein Netz, das uns miteinander verbindet.) Erinnerst du dich an Truckermütze? Erinnere dich an ihn, denn Gary erinnert sich sehr wohl noch daran, wie Truckermütze ihn angriff, und Gary musste ihm befehlen, damit auf 58
zuhören, und er tat es. Und Gary sagte ihm, er solle sich verpissen und sterben, und siehe da, genau das passierte, weil Gary als einziger Toter noch denken konnte. Er konnte noch immer an andere denken. Er allein hatte die nötige Willenskraft. Er war mit ihnen allen verbunden, er war einer von ihnen, aber er allein konnte das ausnutzen. Er saugte dunkle Energie aus der Menge, die den Megastore belagerte, saugte sie aus der Ferne und fühlte sie seinen Arm hinaufschießen, fühlte sie in seinen Fingern kribbeln, und da war sie, ja, ja und ja, gottverdammt noch mal, er hatte sie, Eureka, er hatte sie und zog, so viel Macht in seinen Fingern, dass es eine bewusste
Willensanstrengung kostete, das beschissene Teil nicht herauszureißen, und dann lag es feucht und heiß in seiner Hand, und er packte sie und drückte sie, die gottverdammte Kugel war aus seinem Kopf heraus. Sie war aus seinem Kopf heraus. Der Schaden war angerichtet, Gehirngewebe war zerrissen wie nasses Klopapier, Haut und Knochen und Muskeln und Wirbel zerbrochen, zerschmettert, aber wisst ihr was? Nichts von alldem spielte eine Rolle. Der Baum pulsierte vor Leben, wie er es für alle Ewigkeit tun würde. Für ewig und alle Zeiten, verdammt, Alter, ich werde für alle Ewigkeit leben, und du kannst mich nicht daran hindern, dachte Gary; er wollte es der verfluchten Ayaan entgegen brüllen und dem verfluchten Dekalb. Du kannst mich nicht aufhalten, denn ich bin stark wie Millionen. Er ließ die Kugel fallen, und sie machte einen Laut wie ein kleines läutendes Glöckchen. Von oben hörte er ein angespanntes Flüstern. »Was war das?« Er hörte es. Er konnte wieder hören. Als die Morgendämmerung kam und mit ihr das Licht, konnte er wieder sehen. Er stand da, stand in den Schatten, betrachtete die CD der Olsen-Zwillinge in seiner Hand und n59
konnte den winzigen Text auf der CD-Hülle lesen. Er konnte sehen. Er konnte stehen und gehen. In ihm pulsierte Leben (eine Art Leben, eine finstere Art), so wild und so stark, dass er überrascht war, dass er nicht leuchtete. JA. (ja, sagte der Wohltäter, ja.) 59
2. Natürlich weckte der Schuss die Mädchen. Ayaan beeilte sich, ihren Blazer über Ifiyahs verstümmelte Gestalt zu werfen, damit die anderen nicht sehen mussten, was Gary mit ihr gemacht hatte. Zusammen packten sie und ich Garys leblosen Körper und warfen ihn in die Dunkelheit des Untergeschosses. Die Mädchen hätten ihn dafür in Stücke gerissen, und das hätte ich nicht ertragen. Selbstverständlich hatten die Mädchen eine Million Fragen. Ich versuchte so ruhig, wie ich konnte, zu erklären, dass sie gestorben war und Gary auch. Es wurde etwas geweint und geklagt, und ein paar der Mädchen sprachen ein Gebet für Ifiyah. Danach konnte keiner mehr schlafen. Was auch immer Gary mit Ifiyah angestellt hatte, sie wurde nicht reanimiert. Entweder hatte er ihr Gehirn gefressen oder... Ach, zum Teufel damit, ich hatte keine Ahnung, wie die Epidemie funktionierte. Ich wusste nur, dass Ifiyah nicht wiederauferstehen würde. Im ersten Licht des Tages hörte ich ein winziges Geräusch, einen blechernen Laut wie von einem Glöckchen. »Was war das?«, flüsterte ich und dachte an die Glöckchen, die bimmelten, wenn man in dieser Stadt eine Bodega betrat. Aber das hier war der Virgin Megastore, und dessen Türen waren fest verschlossen - das hatten wir überprüft. Der Laut wiederholte sich nicht. Ich konnte mich nicht entspannen, obwohl sich mein Kopf wegen der Erschöpfung weich anfühlte und meine Gedanken so träge und kalt waren wie Gletscher, die in einer Eiszeit
I20
wuchsen, jedes Jahr nur ein paar Zentimeter. Ich stand da und beobachtete die Toten, die sich gegen die Scheiben drängten, und hatte nicht die nötige geistige Energie, um mir einen Plan auszudenken. Ich nahm kaum bewusst wahr, dass einer der Toten zu Boden fiel und andere eilig seinen Platz einnahmen. Eine Frau mit einer langen offenen Wunde am Arm, an deren Ellbogen noch immer eine Handtasche von Yves Saint Laurent baumelte, klatschte mit einer matschigen Hand gegen das Glas und fiel, ihr Körper wurde noch einen Moment lang von der Menge hinter ihr aufrecht gehalten. Sie rutschte an der Scheibe herunter, ihre dicke Wange streifte am Glas entlang, bis sie auf dem Bürgersteig landete. Ein Teenager in einem weißen T-Shirt kletterte auf sie drauf, fiel dann aber ebenfalls. Hier und da stürzten andere - zuerst einzeln, dann in ganzen Gruppen, die zurückrollten wie Wellen von einer Küste. Ich packte mein Gewehr, denn ich hielt es für einen Trick. Aber das war natürlich Ifiyahs Fehler gewesen, die Annahme, dass die Toten zur Hinterlist fähig waren. Soweit ich sagen konnte, existierten sie bloß, ohne jeden Plan oder Gedanken. Als sie von dem Megastore fortfielen, kam das Sonnenlicht durch die Fenster und beleuchtete die Gesichter der Mädchen. »Sie dhimasha, Kommandant«, sagte Fathia, als erstattete sie mir einen Frontbericht. Vermutlich meinte sie damit, dass sie starben. Das sah ich selbst. Von den Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Toter, die gegen den Megastore angerannt waren, um uns zu erwischen, waren nur noch wenige auf den Beinen, und die hielten sich die Köpfe und wanderten ziellos auf dem Union Square herum. Sie schienen weniger an uns interessiert zu sein als daran, was mit ihren Kameraden passiert war. Bestimmt gestand man ihnen da zu viel zu, aber so sah es nun einmal aus. Autorität, so hatte mir einmal der Regionaldirektor des Entwaffnungsprojektes im Sudan gesagt, hatte weniger damit zu tun, die beste Entscheidung zu treffen, als vielmehr, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. »Schnappt euch eure Sachen, wir gehen«, sagte ich zu den Mädchen. Sie eilten los. Gebetsmatten wurden eingerollt, Waffen überprüft und über die Schulter gehängt. Fathia und Leyla, die Jüngsten, wollten Ifiyahs Leiche holen, aber ich schüttelte den Kopf. Wir mussten schnell sein und konnten es uns nicht leisten, dass uns eine tote Kommandantin behinderte. Ich schloss die Tür auf, aber Ayaan war als Erste draußen, fuchtelte wild mit dem Gewehr herum in dem Versuch, jeden einzelnen Nachzügler ins Visier zu nehmen. Sie reagierten nicht auf ihre Anwesenheit. Ich scheuchte den Rest der Mädchen durch die Tür, dann übernahm ich die Nachhut. Ich wollte einen Befehl brüllen, besann mich aber gerade noch anders - der Lärm hätte womöglich die Toten aus ihrer Betäubung gerissen -, und trabte stattdessen an die Spitze, um Ayaan auf die Schulter zu tippen. Ich zeigte in Richtung Fluss. Das war alles, was sie brauchte. Sie gab den Mädchen drei schnelle Handsignale, und wir liefen los, weniger in einem Sprint (jeder von uns trug mindestens zwanzig Pfund an Ausrüstung) als vielmehr in einem Dauerlauf, aber da steckte Eile dahinter, glaube mir. Zuerst mussten wir über Leichenstapel springen (oder an einigen Stellen darübersteigen), aber jenseits des Union Square waren die
Bürgersteige frei. Wir passierten die 6thAvenue. Die 7*. Vor dem Western Beef wurde ich etwas langsamer, fragte mich, ob unser Glück uns hier wohl verließ, aber die Toten befanden sich nicht mehr an diesem Ort. Jede wandelnde Leiche im Vllage musste vor dem Megastore gewesen sein, denn auf dem Rückweg zum Hudson sahen wir nur wenige. Nach der 6thAvenue war es vorbei mit ihrer Benommenheit - sie kamen wieder entschlossen auf uns zu, aber so langsam wie immer. Als wir an ihren zugreifenden Klauen vorbeirannten, verspürte ich echte Erleichterung, dass wir uns wieder auf vertrautem Boden befanden. Was auch immer die Toten auf dem Union Square dahingerafft hatte, musste groß und mächtig sein, und ich verspürte nicht das geringste Verlangen herauszufinden, was es von mir wollte. Dabei kam mir nicht einmal der Gedanke, dass diese unsichtbare Macht, die die Toten für sich beansprucht hatte, wohlwollend sein könnte. In dieser Welt gab es nichts wirklich Gutes oder Sauberes mehr. Alles, was so erschien, musste einen Haken haben. Am Fluss blieben wir auf dem Dock stehen und winkten. Die Arawelo lag etwa hundert Meter weit entfernt auf dem Wasser. An Deck war niemand zu sehen, aber wir waren viel zu sehr außer Atem, um das Schlimmste anzunehmen. Nach ein paar Minuten kam Mariam an Deck, ohne Blazer, Osmans Fischerhut tief ins Gesicht gezogen. Sie machte eine hektische Geste in Richtung der Luken, und die zwei Seeleute kamen an Deck. Die beiden sahen aus, als hätte man sie gerade bei etwas Verbotenem erwischt. Mir war scheißegal, was sie gemacht hatten. Sie brachten das Schiff ans Dock und warfen uns Taue zu, damit wir es festmachen konnten. In einer Minute waren wir an Bord und legten wieder ab. Vermutlich war es die richtige Entscheidung gewesen, den Megastore so eilig zu verlassen, denn wir hatten es alle zurück geschafft. Die Mädchen schauten mich mit einem neuen Ausdruck in den Augen an. Aber ich wäre nicht soweit gegangen, es als Respekt zu bezeichnen. Als ich mich endlich setzte, wurde mir bewusst, wie hungrig ich war. Ich verlangte ein canjeero, ein somalisches Fladen 61
brot, das auf dem Schiff unser Hauptnahrungsmittel darstellte. Osman rieb sich den Kopf und starrte mich eine Weile aus zusammengekniffenen Augen an, bevor er sich zum Sprechen entschied. »Hast du jetzt das Sagen, Dekalb? Bist du der weyn nirü« Er sah sich die Mädchen an. »Wie ich sehe, ist Ifiyah nicht zurückgekommen.« Ich kommentierte das nicht. Auf unserer Reise nach New York hatten sich zwischen Osman und mir eine Art Kameradschaft entwickelt. Zwei erwachsene Männer auf einem Schiff voller Kinder - es wäre schwer gefallen, da keine Freundschaft zu schließen. Aber jetzt war ich verändert, auf eine subtile, aber durchaus reale Weise. Ich hatte eine Granate in eine Horde meiner Feinde gefeuert. Ich hatte Soldaten befohlen zu schießen, um zu töten. Ich hatte die Mädchen in Sicherheit gebracht - und ich hatte einen Toten ihre Kommandantin fressen lassen.
»Sag mir wenigstens, dass du die Medikamente hast und wir nach Hause können!« Er hob die Hände in den Himmel und übergab sich seiner Fassungslosigkeit. Mein Schweigen nahm ihm den Wind aus den Segeln, und er senkte die Arme langsam. Wir wussten beide, dass wir ohne die Medikamente nicht nach Somalia zurückkehren konnten. Wir hatten sie nicht gefunden und dabei vier unserer Leute verloren. Ich schüttelte den Kopf. »Nun, das ist doch Scheiße, yes, Sir!«, sagte Osman und salutierte mir. Mit einem Finger. Vermutlich gibt es Grenzen für den Respekt, den Autorität mit sich bringt. 62
3-
Zarte blaue Tätowierungen bedeckten ihn von Kopf bis Fuß. Ein fest um den Hals gebundener Strick und ein Fellarmband waren seine einzige Kleidung, aber er stand ohne jede Scham da und sah mit einer Art hochmütigem Stolz auf Gary hinunter. Ein besonders arroganter Lehrer, der vom Ende der Rolltreppe auf seinen Musterschüler hinabblickte. »Komm zu mir«, sagte er erneut, und dann war er verschwunden. An seiner Stelle stand das Bild eines Tempels oder einer Bibliothek oder dergleichen. Viele Stufen führten zu einem Säulengang. Gary kannte den Ort, aber der Name wollte ihm nicht einfallen. Die Rolltreppe hinaufzusteigen brauchte ein paar Anläufe. Garys Gehirn heilte sich selbst, aber seine Motorik brauchte am längsten, bis sie wiederhergestellt war. Ein klares Bewusstsein war zurückgekehrt, als würde man an einem brüllend heißen Tag einen klimatisierten Raum betreten, aber die simple Handlung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war noch immer fast unmöglich. Die Krämpfe, die seinen Körper rüttelten und sein Gehirn wie eine ordentlich geschüttelte Mineralwasserflasche zum Sprudeln brachten, waren auch nicht unbedingt hilfreich. Er kam ein paar Meter voran, nur um sich dann auf dem Boden liegend wiederzufinden, ohne dass er sich erklären konnte, wie er dorthin gekommen war, die Hände zu Krallen gekrümmt und die Fußgelenke nach innen verdreht. Schließlich erreichte er das Erdgeschoss des Megastore, die letzten Meter auf Händen und Knien zurücklegend. Er erhob 62
sich unsicher und taumelte zur Tür. Der Anblick dort draußen überwältigte ihn. Leichen in fortgeschritten Stadien des Zerfalls verstopften die Bürgersteige Hunderte von Leichen - oder lagen planlos auf den überall herumstehenden Autos. Verfaulendes Fleisch, nicht länger als menschlich zu erkennen, stapelte sich zu Haufen unter der Vormittagssonne. Mein Gott, dachte Gary. Hatte er das wirklich ganz allein verursacht? Die waren nicht wie die Untoten, die er zuvor gesehen hatte. Das war bloß... sich zersetzendes Fleisch, aus dem gelbe Knochen von der Konsistenz matschigen Käses herausragten. Im Norden des Union Square bewegte sich etwas, und er duckte sich hinter einen Jeep, weil er nicht wieder in den Kopf geschossen werden wollte. Aber diese Sorge erwies sich als unnötig. Es war eine Tote. Eine Frau in einem Kleid, das mit altem Blut und dunkleren Flüssigkeiten befleckt war. Sie kam näher, watschelte, als könnte sie die Knie nicht krümmen, und er sah, dass sie schwer beschädigt war.
Ihrem Gesicht fehlte der größte Teil der Haut, in den Einbuchtungen ihrer Schlüsselbeine klebten Madenklumpen wie ein sich windender Schal. Lieber Gott, wie konnte sie so etwas nur zulassen? So widerlich die Maden auch sein mochten, sie waren lebendig. Sie hätten ihr die Energie geben können, ihren Körper zu reparieren. Stattdessen ernährten sie sich von ihr. Hinter ihr erschienen weitere, größtenteils Männer. Auch sie hatten schon bessere Tage gesehen. Sicher, die wandelnden Toten hatten meistens ein paar Wunden am Körper, und vielleicht war ihre Haut eine Spur blasser und blauer als nötig -Gary musste unwillkürlich an die abgestorbenen Adern in seinem Gesicht denken -, aber so sehr hatten sie sich sonst nie gehen lassen. Einer der Neuankömmlinge hatte keine Nase 63 mehr, da war nur ein dunkles umgedrehtes V in der Mitte seines Gesichts. Ein anderer hatte die Lider verloren, sodass er sich ständig in entsetzter Verblüffung umzusehen schien. Gary griff durch das Netzwerk des Todes zu, das ihn mit diesen taumelnden Gestalten verband. Dieselbe Verbindung, durch die er ihre Energien aufgesaugt, die ihm die Kraft verliehen hatte, die Kugel aus dem Kopf zu graben. Durch die geistige Anstrengung verkrampfte sein Gehirn, und weißglühender Schmerz raste seinen Rücken hinunter, aber der Kontakt war da. Er fühlte die schwarze Energie aus den armseligen Gestalten herausdampfen und begriff ansatzweise, was geschehen sein musste. In seiner Verzweiflung hatte er die Energie aus der Menge um den Megastore gesaugt, um seine eigene Haut zu retten, und dabei den Verfall seiner Opfer beschleunigt. In der neuen Ordnung der Dinge fraßen die Toten die Lebenden in dem vergeblichen Versuch, die eigene erlöschende Existenz zu stützen, um ihr Nichtleben zu stärken. Gary hatte diese harte Arbeit ungeschehen gemacht, und jetzt sahen die verwesenden Leichenhaufen aus, als wären sie schon die ganze Zeit über tot gewesen, wären seit Beginn der Epidemie tot und am Verfaulen. Gary erkannte, dass sich der Tod nicht betrügen ließ, sondern lediglich hinausschieben -und wenn er einen schließlich einholte, dann war er unerbittlich. Der Nasenlose streckte die Hand aus und berührte Garys Gesicht mit tauben Fingern. Sie strichen leblos über seine Wange. Gary zuckte nicht zusammen. Wie konnte er? In der Geste lag keine Bosheit. Sie hatte die emotionale Resonanz einer Muskelzuckung. Die meisten Untoten hatten den Kampf mit dem Tod verloren, als Gary ihre Essenz stahl. Die wenigen, die stark genug waren, um zu überleben, verfügten nur noch über 63
Bruchteile der Energie. Darum die zerbrochenen und steifen Untoten, die er vor sich sah. Schlimmer als ihr körperlicher Zustand war vielleicht ihr geistiger. Er hatte ihnen die Reste des Intellekts gestohlen, die sie nach Nahrung jagen ließen. Ihr Hunger blieb - er spürte die bodenlose Gier in ihnen, die heller loderte, als je zuvor -, aber er hatte ihnen das Wissen geraubt, wie sie ihn stillen konnten - so rudimentär dieses auch sein mochte. Er hatte ihnen das letzte bisschen Wissen geraubt, sodass
sie sich jetzt nicht mehr daran erinnerten, wie man aß. Sie konnten nur noch ziellos umherwandern, während ihr Körper Stück für Stück verrottete. Gary fühlte keine Schuld. Es war nötig gewesen. Er war ein zweites und letztes Mal gestorben, und nur die gestohlene Energie hatte sein Bewusstsein am Leben erhalten. Warum identifizierte er sich dann so mit ihnen, warum verspürte er so viel Mitleid? Er war an sie gefesselt, das war es. Er war einer von ihnen. Er war ein Teil des Todesnetzwerks. Seine Fähigkeit, hinauszureichen und ihre Energie zu stehlen, definierte ihn. Es gab keine echte Trennungslinie zwischen ihm und diesen beinahe leblosen Hüllen, die ziellos auf der 14* Street umherstolperten. Sollte er ein paar Mahlzeiten verpassen, sollte er nicht fressen, würde er so werden wie sie. Die Erkenntnis seiner wahren Natur zwang ihn auf die Knie. Die mitgenommenen Toten kamen heran, angezogen von dem flackernden Instinkt, sich zu versammeln, und stellten sich um ihn herum auf, bis ihre verfaulten Gesichter seine Sicht verschwimmen ließen. Sie machten ihm keine Angst mehr. Er war untot. Er war einer von ihnen. Als ihre Hände nach ihm tasteten, wusste er, dass sie nicht angriffen - sie verfügten nicht länger über den nötigen Verstand, um ihn anzu 64
greifen. Es war eine Geste der Solidarität. Sie wussten, was er war. Auch Gary war ein Monster. Der Tote ohne Lider starrte ihn mit einer Offenheit, einer Unschuld an, wie sie Gary zu seinem Erstaunen noch nie zuvor gesehen hatte. Da war nichts Böses, kein Schrecken. Nur simples Verlangen. Ihre Gesichter waren kaum Zentimeter voneinander entfernt. Gary beugte den Kopf nach vorn und berührte mit der Stirn die des anderen. Als er sich erholt hatte, befahl er der gesichtslosen Frau, ihm aufzuhelfen, und sie tat es. Kommt, befahl er ihnen, so wie sein mysteriöser Wohltäter ihn gerufen hatte. Zusammen ging die kleine Gruppe - Gary und die geistlosen Toten - nach Norden in Richtung Midtown. Es fühlte sich so gut an, nicht mehr allein zu sein. Gary hatte sein Leben wieder, jetzt hatte er auch einen Daseinszweck. Er würde diesen seltsamen Tätowierten finden und erfahren, was dieser wusste. Gary hatte so viele Fragen, und aus irgendeinem Grund war er davon überzeugt, dass der Wohltäter Antworten hatte. Er führte seine kleine Gruppe strikt nach Norden, nach Midtown hinauf. Bald würden sie den Park erreichen. Was war ihr Ziel? Auf gewisse Weise spielte das keine Rolle mehr. Auf eine gewisse Zen-Weise war die Reise an sich genug. Als er die Vision wieder vor sich sah, erschien das Gesicht des Mannes sorgenvoll. »Du kommst näher, aber sei vorsichtig. Ich glaube, du wirst gleich angegriffen.« »Was?«, fragte Gary, aber die Vision war weg. Er schaute den Nasenlosen zu seiner Rechten an, fragte sich, ob der andere Tote die Erscheinung auch gesehen hatte oder ob es sich nur um eine Störung in seinem Nervensystem handelte. Der überrascht aussehende Ghoul ohne Lider starrte auf 64
etwas in der Ferne. Bevor Gary etwas sagen konnte, knallte er leblos zu Boden. Gary entdeckte das Einschussloch im Hinterkopf des Toten, lange bevor er den Schuss hörte.
Die nächste Kugel traf den Bürgersteig, Betonsplitter spritzten über Garys Füße. Er wurde beschossen. »Scheiße, nicht schon wieder«, winselte er. 65
4‐ Ich rasierte mich mit einem Elektrorasierer, der in einem Stecker im Ruderhaus des Schiffes steckte. Jedes Mal, wenn ich den Rasierer an- und ausschaltete, erhielt ich einen leichten Schlag, aber es war immer noch sicherer, als auf einem schaukelnden Schiff ein Rasiermesser auszuprobieren. Als ich fertig war, fühlte ich mich unendlich besser, sowohl, was mich selbst, als auch, was die Chancen der Mission betraf. Was nicht bedeutete, dachte ich, als ich den Scherkopf mit Wasser aus dem Hudson ausspülte, dass ich glaubte, dass irgendetwas einfach sein würde. Nur, dass wir möglicherweise nicht alle sterben würden. Als ich fertig war, ließ ich mir meine Karten von New York bringen. Ich studierte sie lange, in dem Glauben, dass es eine Möglichkeit geben musste. Krankenhäuser gab es in der ganzen Stadt. Die meisten befanden sich auf der East Side, was bedeutete, dass sie wegen des Leichenfloßes, das den East River blockierte, unmöglich zu erreichen waren. Außerdem waren sie während der Evakuierung sicher alle geplündert worden. Aber ich wusste noch immer einen Ort, an dem wir die benötigten Medikamente finden konnten. Das UN-Gebäude. Meine erste Wahl. Aber vom Wasser aus war es nicht zu erreichen. »Osman«, rief ich und stand auf. »Komm her und sieh dir das an.« Ich zeigte ihm die Karte und wies auf unsere nächste Haltestelle: 42nd Street in Midtown. Er betrachtete die West Side, las die Namen der Gebäude. *%*
»Theatre District«, las er laut vor. »Dekalb, willst du dir eine Show ansehen?« Ich führte meinen Finger die 42nd Street entlang, den ganzen Weg von Westen nach Osten. Die Straße verlief schnurgerade vom Hudson River bis zum East River, wo sie auf den FDR Drive stieß und am südlichen Ende des UN-Hauptquartiers vorbeiführte. »Es ist eine große Straße - breite Bürgersteige, eine geringere Gefahr steckenzubleiben. Vor der Epidemie war es eine der belebtesten Straßen der Welt, also könnte es dort möglicherweise nicht einmal stehengebliebene Autos geben. Die Behörden haben vielleicht versucht, sie frei zu halten, während sie die Überlebenden evakuierten.« Der Kapitän starrte mich bloß an. Er begriff es nicht, oder er glaubte nicht, dass ich das tun wollte. Aber ich konnte nicht zurück, bevor ich diese Medikamente in meinem Besitz hatte. Ich würde meine kleine Sarah nicht wiedersehen, würde mich nicht davon überzeugen können, dass es ihr gut ging. Dafür würde ich alles tun. »In ein paar Stunden können wir von hier zur UN laufen. Die Medikamente holen und zurückmarschieren. Das dauert weniger als einen Tag.« »Du vergisst, dass die Toten wiederauferstanden sind«, sagte Osman. »Millionen von ihnen. Das war früher eine belebte Straße? Ich sage dir, das wird sie noch immer sein.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ich habe eine Idee, was wir dagegen tun können.« Jetzt, da Gary tot war. Jetzt, da wir uns darauf verlassen konnten, dass die Untoten alle dumm waren. Dumm genug. Ich schaute auf die Stadt hinaus, aber nicht auf die Gebäude oder die geisterhaften Straßen. Da. Ich zeigte auf ein baufälliges Gebäude aus verwittertem Holz und verrostetem Metall, das in den Fluss hineinragte. »Unser erster Anlegepunkt ist der Pier des Amtes für Abfall Entsorgung. Die werden haben, was wir brauchen.« Vermutlich war Osman verwirrt, aber er beugte sich über seine Kontrollhebel und setzte den Trawler in Bewegung. Wir gingen an einer zur Hälfte gefüllten Müllbarke längsseits, die Mädchen nahmen an der Reling Aufstellung; ihre Gewehre ragten wie Ruder aus der Schiffsseite. Mariam rief vom Dach des Ruderhauses, sie sehe auf der Pier keinerlei Anzeichen von Bewegungen. »Dort wurde früher der Müll der Stadt eingesammelt«, erklärte ich Ayaan, als wir mit dem Trawler an der Barke festmachten. »Vom Wasser aus leicht zu erreichen, aber von der Landseite ist das eine Festung. Man wollte nicht, dass jemand reinkommt und krank wird - um potenzielle Klagen zu vermeiden. Das müsste noch immer sicher sein.« Sie antwortete nicht. Das brauchte sie auch nicht. Wir wussten beide, dass es lange her war, dass es in dieser Stadt so etwas wie Ordnung gegeben hatte. Die Toten konnten überall hin, wenn sie hartnäckig genug waren. Sie hätten ins Wasser springen und dann an Bord der Barke klettern können. Sie hätten den Zaun am Ufer überwinden können. Die Untoten sind keine großartigen Kletterer, aber wenn es auf dem Pier etwas Lebendes gegeben hatte - etwas zu fressen -, dann hätten sie einen Weg gefunden. Fünf Mädchen sprangen auf die Barke und dann weiter über das Heck auf den Pier. Sie sicherten sich gegenseitig, eine ging voran, während die anderen ihren Rücken deckten. Ich folgte ihnen, wie immer mit einem unguten Gefühl, aber nicht zu besorgt. Der größte Teil des Piers lag unter offenem Himmel, eine Gegend voll dreckiger Kräne und Winden und ziemlich verbeulten Stahlcontainern. Überall verrostetes Metall. Ich befahl den Mädchen, vorsichtig zu sein - es war unwahrscheinlich, dass sie gegen Tetanus geimpft waren. Sie gehorchten, aber sie waren zu jung, um sich deswegen Sorgen zu machen. Am landseitigen Ende des Piers fanden wir einen ^66
Schuppen mit einer mit Vorhängeschlössern versperrten Tür. SICHERHEITSAUSRÜSTUNG, war mit silberner Sprühfarbe an die Wand neben der Tür gemalt. Genau das, was ich suchte. Ich fand eine Eisenstange von der Länge meines Armes und schob sie durch den Bügel des billigen Schlosses. Nach ein paar Hebelbewegungen gab es nach und schickte Vibrationen durch meinen Arm, als es zerbrach. Die Einzelteile glitzerten zu meinen Füßen. Drinnen bedeckte ein Streifen Sonnenlicht den Boden. Staubflocken trieben durch die Luft. Ich entdeckte einen Schreibtisch mit einer kleinen Leselampe, auf dem zur Hälfte ausgefüllte Formulare herumlagen. Dann war da noch eine NotfallAugenspülstation und ein großer Erste-Hilfe-Koffer. Fathia schnappte ihn sich und trug ihn zum Schiff zurück. Möglicherweise würden wir ihn noch brauchen, bevor
das hier vorbei war. Am anderen Ende des Schuppens stand eine Reihe frisch gestrichener Spinde. Ich öffnete den Ersten, und die Mädchen fingen an zu schreien. Leyla riss das Gewehr hoch und feuerte ein halbes Dutzend Kugeln in den menschlichen Umriss, der aus dem Spind fiel. »Halt!«, brüllte ich in dem Wissen, dass es zu spät war. Ich hob den gelben Anzug in die Höhe - den leeren Anzug - und schob einen Finger durch das Kugelloch im Gesichtsvisier. Auf einem Kärtchen am Reißverschluss des Hazmat-Schutzanzugs stand KLASSE A/GANZKÖRPERSCHUTZ. Des weiteren versicherte es WASSERDICHT UND GASDICHT. Nun, das war einmal. »Ich öffne jetzt einen anderen Spind. Dieses Mal wird nicht geschossen, okay?« Die Mädchen nickten. Sie sahen ängstlich aus, als könnte der nächste Spind einen magischen Vogel enthüllen, der herausflattern und ihnen die Augen aushacken würde. Stattdessen enthielt er ein Duplikat des ersten Anzugs, 67
genau wie der dritte Spind. Ich warf einen Ayaan zu, und sie starrte mich bloß an. »Jetzt gibt es nur noch zwei Anzüge. Rate mal, wer sich für diese Mission gerade freiwillig gemeldet hat.« Gemein, ich weiß. Aber sie hatte mir nun auch nicht gerade viel Herzenswärme entgegengebracht. Und sie war eines der wenigen Mädchen, bei denen ich davon ausging, dass sie nicht in Panik geraten würde, wenn wir, nur geschützt von drei Schichten Tyvek, mitten in eine Horde Untoter hineinspazierten. Tyvek war eine Art High-Tech-Papier. »Normalerweise schützen einen diese Anzüge vor Kontaminierung«, erklärte ich. »Dieses Mal werden sie unseren Geruch abschirmen. Die Toten werden nichts angreifen, das wie Plastik riecht und wie ein Teletubby aussieht.« »Glaubst du das, oder weißt du das?«, fragte sie und hielt den voluminösen gelben Anzug auf Armlänge. »Ich verlasse mich darauf.« Das war das Beste, was ich anzubieten hatte. Wir brachten die Anzüge aufs Schiff und ließen Osman nordwärts zur 42nd Street dampfen. Es gab viel zu tun. Wir mussten die Außenseite der Hazmat-Anzüge sterilisieren, die Bedienungsanleitung lesen und dann üben, wie man sie anzog und die SCBA-Atemgeräte benutzte, die für einen hermetisch geschlossenen Luftkreis sorgten. Wir mussten einander beibringen, wie man in die Anzüge stieg (eine Aufgabe für zwei Personen), ohne die Oberfläche zu kontaminieren. Wir mussten üben, wie man durch die Mylar-Gesichtsvisiere miteinander sprach, sogar, wie man gehen musste, damit man nicht wegen der dicken Hosenbeine stolperte. Ich hatte mal einen Crashkurs in der Benutzung eines Klasse-B-Anzugs gemacht, als ich in Libyen Nuklearfabriken für waffenfähiges Spaltmaterial untersucht hatte: ein achtstündiges Seminar mit PowerPoint-Präsentationen und ein «67
Test mit dreißig Fragen am Ende. Ich hatte dabei aufgepasst, weil eine Verletzung des Anzugs möglicherweise dazu geführt hätte, dass man krebserregenden Stoffen ausgesetzt wurde. Dieses Mal würde der kleinste Riss sicherlich bedeuten, von den hungrigen Toten umzingelt und verschlungen zu werden. Ich sorgte dafür, dass wir alle Übungen zweimal machten. 67
5-
Gary trat zur Seite, und der nächste Schuss verfehlte ihn weit. Er schaute seine Gefährten an, den Mann ohne Nase und die Frau ohne Gesicht, und bedeutete ihnen, in Deckung zu gehen. Sie zeigten ihre Unfähigkeit, das zu tun. Ihnen fehlte der nötige Verstand, um zu erkennen, was Deckung war und was nicht, also verschwendete er eine weitere Sekunde damit, ihnen geistig zu übermitteln, sich hinter Autos zu ducken. Die Gewalttätigkeit des Augenblicks hatte seine Sinne geschärft und alles ganz deutlich gemacht. »Kev... ich muss nachladen... schnapp dir den!«, rief ein lebender Mensch. Gary drehte sich, um der Stimme zu folgen, und entdeckte einen großen Kerl mit kurzem, schwarzem, lockigem Haar, der unter einer Markise stand. Der Lebende fummelte nervös an dem Mechanismus eines lang-läufigen Jagdgewehrs herum, das in seinen enormen Händen wie ein Stock aussah. Er trug ein zerknittertes braunes Hemd mit einem Namensschild. HALLO, MEIN NAME IST Paul. Sie waren mindestens zu zweit, schloss Gary, dieser Paul und ein anderer namens Kev. Gary trat näher auf den Schützen zu und übersandte seinen Gefährten den Befehl, auszuschwärmen und die Angreifer einzukreisen. Etwas surrte an Garys Augen vorbei. Möglicherweise ein Moskito, aber als er der Flugbahn mit dem Blick folgte, endete sie in einem kleinen Krater in einer Sicherheitsglasscheibe, der nicht größer als sein kleiner Fingernagel war. Keine Kugel, entschied Gary, aber trotzdem eine Art Projektil. 68 Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er selbst völlig deckungslos war. Er trat in den Schatten eines Gebäudes und überdachte seine Möglichkeiten. Laufen konnte er nicht - jedesmal, wenn er es versuchte, fühlten sich seine Beine wie ein Stück totes Holz an. Zurückschießen konnte er nicht. Selbst wenn er eine Waffe gehabt hätte, zitterten seine Hände viel zu sehr dafür. Er würde versuchen müssen, diesen Überlebenden den Weg abzuschneiden. Gary nahm die Wellenlänge der Toten auf und schickte seine Gefährten weiter die Straße hinauf und hinunter. Er musste sie daran erinnern, den Kopf unten zu halten. Dann hob er eine leere Limodose von der Straße auf und warf sie, so hart er konnte, in Richtung des unsichtbaren Schützen. Es hatte den gewünschten Erfolg. Der Schütze - sein Namensschild verkündete HALLO, MEIN NAME IST Kev -schoss wie von der Tarantel gestochen hinter einem Briefkasten hervor. »Paul!«, brüllte er. »Wir müssen hier weg!« Paul hob das Gewehr und zeigte damit in Garys Richtung, schoss aber nicht. »Er ist irgendwo da drüben. Siehst du ihn?« »Vergiss ihn! Sie sind überall!« Kev eilte zu einer Limousine und riss die Tür auf. Er kletterte in das Gefährt, bis Gary nur noch den langen, dünnen Lauf eines Gewehrs herausragen sah. Die Waffe sah wie ein Spielzeug aus. Es war doch nicht etwa ein Luftgewehr, oder? Gary unterdrückte den Drang zu lachen. Der Schatten bot ihm eine gewisse Deckung, aber Paul sah aus, als würde er auf alles schießen, was sich bewegte. Der Überlebende würde nicht fliehen - was bedeutete, dass Gary sich in ein Unentschieden hineinmanövriert hatte.
Er griff mit seinem Bewusstsein weit hinaus, klinkte sich in das Nervensystem seiner Töten ein. Nicht nur dem seiner beiden Reisegefährten. Er brauchte Verstärkung. Glücklicherweise musste er sein Bewusstsein nicht sehr weit ausstrecken. 69
Eine Gruppe Toter war nur ein paar Blocks entfernt; sie drängten sich um die Trümmer eines ausgebrannten Hot-Dog-Standes. Es fiel schwerer, mit ihnen den Kontakt aufrechtzuerhalten - im Gegensatz zu der Frau ohne Gesicht und dem Mann ohne Nase hatte diese Gruppe erst kürzlich gefressen und war darum stärker -, aber er wusste, wie er ihre Aufmerksamkeit erregen konnte. Essen, flüsterte er ihnen zu, hier gibt es Essen. Kommt her und esst. Paul feuerte, und neben Garys Kopf zersplitterte ein Fenster. Gary nahm an, dass der große Kerl blind schoss, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein. Die Verstärkung war noch Minuten entfernt - vermutlich zu weit weg, um helfen zu können. Er würde das Risiko eingehen und selbst zuschlagen müssen. Gesichtslos stand dort auf, wo sie sich versteckt hatte. Paul drehte sich mit einer Anmut, mit der keiner der Untoten mithalten konnte, und schoss der gesichtslosen Frau eine Kugel mitten in die Brust. Auf Garys Befehl duckte sie sich wieder, beschädigt, aber nicht tödlich getroffen, und Paul beschirmte seine Augen, versuchte zu erkennen, was passiert war. Er fragte sich bestimmt, ob er sie erwischt hatte oder nicht. Gary hatte nicht vor, ihn das herausfinden zu lassen. Er bewegte sich so schnell er konnte, hielt sich geduckt und blieb hinter den Wagen, sodass, als Paul wieder in seine Richtung blickte, Gary nirgendwo in Sicht war. Kev steckte den Kopf aus der Limousine, aber Nasenlos war bereits da. Gary schickte den Befehl, und Nasenlos rammte die Wagentür zu und stieß Kev zurück ins Wageninnere. Der Überlebende würde nur eine Sekunde brauchen, um die Tür wieder zu öffnen, aber in dieser Sekunde kam Gary Paul ein Stück näher. »Herrgott noch mal.« Paul starrte die schaukelnde Limou !69
sine an. »Was, zum Teufel, machst du da drin, Kev? Wir haben hier draußen ein paar Tote, schon vergessen?« Die Heckscheibe der Limousine explodierte in einem Splitterregen. Das Luftgewehr kam hervor, und der Überlebende kroch direkt hinter ihm heraus. »Das ist doch Scheiße!«, brüllte Kev. »Die haben sich organisiert oder so!« Gary hatte noch eine Überraschung für sie. Während sich die beiden gegenseitig anbrüllten, war er ständig näher gekommen. Jetzt stand er direkt neben Paul, nahe genug, um zu sehen, wie die Lippen des Überlebenden einen unausgesprochenen Fluch formulierten. Das Jagdgewehr kam in die Höhe, und Gary packte den Lauf. Er riss ihn nach unten, gleichzeitig feuerte Paul. Die Kugel schlug in Garys Brustbein ein. Schmerzen - richtige Schmerzen - durchzuckten seinen Körper, und das Hemd fing Feuer, wo sich die Waffe entladen hatte, aber er zuckte nicht einmal zusammen. Ganz ruhig nahm Gary Paul das Gewehr ab und warf es hinter sich auf die Straße. Er rief nach seinen Gefährten, und Nasenlos und Gesichtslos reagierten, rückten auf Kev zu. Das Luftgewehr knallte ein paar Mal, und Nasenlos schwankte, als die
winzigen Projektile von seiner Stirn abprallten, aber gleich darauf hatten die beiden Untoten den kleineren Überlebenden in der Zange. Sie machten keinerlei Anstalten, ihn zu beißen, sondern drehten ihm lediglich die Arme auf den Rücken. Gary brachte seine Zustimmung zum Ausdruck, und er konnte fühlen, wie Gesichtslos zu lächeln versuchte und sich die freiliegenden Muskeln ihres Gesichts zu einer obszönen Grimasse verzerrten. »Bist du jetzt fertig, oder was?«, fragte er Paul. »Vielleicht können wir das ja auf die einfache Weise regeln. Ich war Arzt...« Pauls Miene spiegelte viele Fragen wider. Die Erste, die herauskam, lautete: »Du warst Arzt?« 70 Gary lachte. »Ich weiß, ich weiß. Ich habe um Leben gekämpft, und jetzt nehme ich sie. Das ist so verdammt ironisch, dass ich dir einfach den Kopf abreißen könnte.« Der Überlebende wurde totenblass, und Gary erkannte, dass er irgendeine unausgesprochene Regel verletzt haben musste, die normalerweise zwischen Jägern und ihrer Beute eingehalten wurde. Vermutlich Taktgefühl. »Ich verspreche, dass ich das so schmerzlos wie möglich mache.« Er warf Nasenlos und Gesichtslos einen Blick zu. »Wollte er uns ernsthaft mit einem Luftgewehr töten?« Kev antwortete selbst. »Hätte ich dein Auge erwischt, würdet du nicht mehr lachen! Paul... du musst mir helfen, Alter. Befrei mich von diesen Dingern!« Paul befeuchtete sich die Lippen. Seine Augen glänzten. »Nur, damit ich das kapiere - du willst uns beide fressen, richtig?« »Yup«, gestand Gary ein und fragte sich, worauf das hinauslaufen sollte. »Und ich kann nichts tun, was deine Absicht ändern könnte?« Gary zuckte mit den Schultern. »Du hast versucht, uns zu töten. Irgendwie scheint das nur fair zu sein, oder?« »Klar«, sagte Paul. »Nun, in dem Fall - hey, was ist das?« Gary folgte Pauls ausgestrecktem Zeigefinger, und der große Überlebende stieß ihm die freie Hand ins Gesicht und schubste ihn um. Gary setzte sich auf den Hintern. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, sah er Paul nur noch von hinten, als dieser die Straße entlang stürmte. Seit Völkerball in der Schule hatte sich Gary nicht mehr so gedemütigt gefühlt. Aber er bekam seine Rache. Genau in diesem Augenblick kamen mindestens ein Dutzend gut gestärkte Untote um die Ecke, die seinem Ruf gefolgt waren. Paul wollte um sie herumlaufen, aber eine Tote mit gewalti 70 gen zerbrochenen Fingernägeln schlug nach seinem Bauch, als er sie passierte. Er rannte noch ein paar Schritte weiter, bevor er innehielt und an sich herunter sah. Die Vorderseite seines Hemdes war voller Blut. Er schaute zu Gary zurück, als wollte er den Arzt anflehen, alles wieder heil zu machen, bevor sich die aufgeschlitzten Muskeln öffneten und sich seine Eingeweide dampfend auf den Asphalt ergossen. Die Toten kamen auf ihn zu. Er wollte weiterlaufen, aber ein Mann hob den Darm auf und fing an, darauf herumzukauen. Paul stolperte und fiel aufs Gesicht. Mit quälender Langsamkeit zerrte der Tote ihn über die Straße zurück, holte ihn ein wie einen Fisch an der Angel. Als er nahe genug war -wild schreiend und um sich
schlagend, aber geschwächt vom Blutverlust -, beugten sich die Untoten über seinen zitternden Körper und bissen abwechselnd Stücke aus seinem Gesicht. Schließlich verstummte er. Gary wandte sich dem anderen Überlebenden zu. Nasenlos und Gesichtslos starrten ihn an, als er näher kam. Er schaute nur Kev an. Das Gesicht des Überlebenden schimmerte vor Schweiß, und sein Mund schien sich nicht schließen zu wollen. »Du... du hast gesagt, du würdest es schmerzlos machen, nicht wahr?« »So schmerzlos wie möglich«, sagte Gary, »aber weißt du, dummerweise...« Er hielt die Arme hoch und schaute auf seine Taschen. »Mir sind eben die Betäubungsmittel ausgegangen.« Er machte einen Satz und schlug die Zähne tief in Kevs Hals, verdrehte den Kopf, als er die Halsschlagader fest im Griff hatte, und riss ihm mit einem blutigen Bissen die Kehle heraus. 71
6. Wir konnten die Intrepid aus einer halben Meile Entfernung sehen, aber ich erkannte sie erst, als wir praktisch schon in ihrem mattgrauen Schatten fuhren. Nachdem Osman einen ausgiebigen Blick auf den außer Dienst gestellten Flugzeugträger geworfen hatte, rieb er sich bewundernd das Kinn. »Können wir... können wir den übernehmen, was meinst du?« Ich schüttelte den Kopf, aber er ließ sich nicht so leicht davon abbringen. »Ich glaube nicht, dass deine Navy den vermissen wird, Dekalb.« Ich lächelte. »Er ist zur Hälfte im Flussbett begraben. Sie mussten den Hudson ausbaggern, nur um ihn herzuschaffen.« Ich schaute zu den historischen Flugzeugen hoch, die auf dem Deck befestigt waren. Natürlich war mir der militärische Wert eines solchen Schiffes klar, erst recht nach dem, was wir alle durchgemacht hatten, aber ehrlich gesagt war das jetzt eine andere Art von Konflikt. Kampfjets und Schiffsgeschütze boten keinen Nutzen mehr. Direkt südlich von dem Flugzeugträger legten wir langsam und vorsichtig am Circle Line Pier an, Pier 83 an der 42nd Street. Die Aussichtsdampfer waren natürlich alle verschwunden und mit ihnen die Touristen, die mitunter stundenlang gewartet hatten, um eine Rundfahrt im Hafen von New York zu machen. Die Toten hatten sie ersetzt, sie schoben sich durch die Drehkreuze, reihten sich auf, um die Ersten zu sein, die uns erwischten. Die Mädchen standen an Backbord an der Reling, während 71 Ayaan und ich uns gegenseitig in die Hazmat-Schutzanzüge halfen. Wie gesagt war das eigentlich eine Arbeit für jeweils zwei Personen - man musste in ihnen eingeschlossen werden -, aber uns durfte niemand berühren. Jeder menschliche Kontakt an der Außenseite der Anzüge würde uns kontaminieren. Wir würden nach Mittagessen riechen. Osman und Yusuf sahen uns mit einer Gleichgültigkeit zu, die aus ihrer Überzeugung geboren wurde, dass sie uns niemals wiedersehen würden. Ich ignorierte sie und konzentrierte mich auf Ayaan. Wir zogen Handschuhe an, dann schüttete ich Bleichmittel über unsere Hände. Ich schloss Ayaans Atemregulator an ihrer Maske an und setzte sie ihr auf, sie erwiderte den Gefallen. Wir kämpften uns in die Anzüge und zogen einander die luftdichten Reißverschlüsse
hoch, dann glätteten wir die Storm Flap Laschen aus Velcro. Ich überprüfte Ventile und Versiegelungen, dann schaltete ich die Luftversorgung an, bevor es im Inneren des Anzugs stickig wurde. Wir hatten zwölf Stunden, bevor wir die Tanks für die SCBA-Geräte austauschen mussten, was während des Einsatzes nicht möglich war. Nicht viel Zeit. »Fertig?«, fragte ich sie. Sie hängte sich ihre sterilisierte AK-47 über die Schulter und richtete den Riemen, bevor sie nickte. Ich blickte durch ihr breites Gesichtsvisier, sie wirkte ruhig und diszipliniert. Mit anderen Worten, sie sah aus wie Ayaan. Unter Fathias Befehl hoben die Mädchen die Waffen und feuerten eine kurze Salve in die xaaraan, die auf uns warteten. Ein paar stürzten, andere kreiselten bloß herum und erschienen einen Moment lang desorientiert, bevor sie weitermachten. Die Mädchen feuerten eine weitere Salve ab, und in die Toten kam Bewegung, sie drängten sich mit mehr Nachdruck gegen die Absperrgitter, bis sich ein paar von ihnen durch sie hindurchquetschten und ins Wasser fielen. Die Schüsse hat 72
ten den gewünschten Effekt, sie zogen die Aufmerksamkeit von uns, während wir leise von Bord schlichen. Ayaan und ich senkten eine schmale Laufplanke aufs Ufer, bewegten uns schnell, aber mit aller nötigen Vorsicht, um die Anzüge nicht mit Splittern zu durchlöchern. Dann eilten wir die Anlegestelle entlang. Osman und Yusuf waren bereit und stießen die Planke sofort ins Wasser, nachdem wir festen Boden berührt hatten. Wir hielten uns nicht auf, sondern eilten auf die Promenade am anderen Ende des Platzes zu. Ein Toter mit einem Goldkettchen im Brusthaar kam mit weit ausgebreiteten Armen auf uns zu, seine Beine wollten ihn im Stich lassen, als er zu laufen versuchte. Ayaan machte ihr Gewehr bereit, aber ich legte meine behandschuhte Hand auf den Lauf und schüttelte den Kopf. Eigentlich musste ich sie nicht an unsere Abmachung erinnern - dass sie nur im äußersten Notfall schießen sollte, damit die Toten nicht durch Schusslärm angelockt wurde -, aber ich fühlte mich danach besser. Indem ich sie beruhigte, beruhigte ich mich selbst, und das brauchte ich in diesem Augenblick. Ich fühlte, wie jede Faser meines Seins vor der wiederbelebten Leiche wegkriechen wollte, die immer näher kam. Er streckte die Hand aus und ergriff meinen Ärmel. Sofort dachte ich, dass es vorbei wäre, dass ich einen gravierenden Fehler begangen hatte. Vielleicht konnten die Toten die Lebenskraft fühlen, von der Gary gesprochen hatte, vielleicht konnten sie direkt durch die Anzüge hindurchsehen. Ich bereitete mich innerlich auf das vor, was jetzt kommen musste -das Zupacken, der Biss, das Gefühl, wenn das Fleisch von den Knochen gerissen wurde. Ich schloss die Augen und versuchte an Sarah zu denken, an ihre Sicherheit. Der Tote stieß mich zur Seite und stolperte zwischen Ayaan und mir weiter. Wir hatten seinem wahren Ziel nur im Weg gestanden - den Mädchen auf der Arawelo. Eine Minute oder 72
zwei lauschte ich den schweren, zyklischen Arbeitsgeräuschen meines SCBAAtemgeräts, einfach nur froh, noch am Leben zu sein. Welche besonderen Sinne die Toten auch haben mochten, durch die Anzüge konnten sie nicht hindurchsehen. Mein Plan schien tatsächlich aufzugehen.
»Dekalb«, sagte Ayaan mit gedämpfter Stimme durch die Lagen von Plastik zwischen uns, »wir atmen geborgte Luft.« Ich nickte, und wir brachen gemeinsam auf. Wir überquerten den West Side Highway, bewegten uns vorsichtig an den verlassenen Fahrzeugen vorbei, um die Anzüge nicht zu zerreißen, und dann schlossen sich die Gebäude der 42nd Street wie die Mauern eines Labyrinths um uns. Ich hatte gehofft, dass diese Straße frei von Fahrzeugen sein würde, und dieses eine Mal hatte ich recht behalten -mit einer Ausnahme. Genau in der Mitte der Straße stand ein gepanzerter Truppentransporter. Der APC war mitten in einen Kiosk gekracht und hatte Hochglanzausgaben von Maxim und Time Out New York über den Asphalt verteilt. Ihre Seiten flatterten im sanften Wind. Ich wollte nachsehen, ob man den APC noch benutzen konnte, aber Ayaan wies mich durchaus berechtigt - darauf hin, dass, wenn schon ihr Gewehr zu viel Lärm machte, der aufbrühende Dieselmotor des Gefährts völlig inakzeptabel war. Wir gingen vorsichtig um das offene Heck des Transporters herum. Vermutlich mussten wir beide an die Bereitschaftspolizisten auf dem Union Square denken. Kein ehemaliger Nationalgardist stürzte sich auf uns, aber wir brauchten nicht lange, um sie zu finden. Drei von ihnen balgten sich einen halben Block weiter um einen Mülleimer, noch immer in ihre Interceptor-Körperpanzer und die schusssicheren Helme gekleidet. Er musste schon vor Wochen geplündert worden sein, aber sie kämpften noch immer um den Inhalt. Einer von ihnen packte eine Handvoll Müll und ließ sich hart auf den Bord 73 stein sacken, wo er glänzendes Styropor und Zeitungspapier beschnüffelte und ableckte. Ein anderer grub eine alte Limodose hervor. Er schob einen Finger tief in die Dose, um vielleicht den letzten Tropfen Zuckerwasser herauszubekommen, aber der Finger blieb stecken. Er schüttelte wild die Hand, um sie wieder loszuwerden, aber sie wollte einfach nicht abgehen. Jetzt, da ich das beschreibe, klingt es fast witzig, aber damals ... Nun, über die Toten lacht man einfach nicht. Das hat nichts mit Respekt zu tun, sondern vielmehr mit Furcht. Nach den ersten Begegnungen mit den reanimierten Leichen hört man nie auf, sie ernst zu nehmen. Sie waren zu gefährlich und zu schrecklich, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Es sei denn, sie konnten sprechen. Bei dem Gedanken zuckte ich innerlich zusammen. Es war ein schlimmer Fehler gewesen, Gary zu vertrauen. Ich verlangsamte nicht einmal meinen Schritt, um die Nationalgardisten anzusehen. Wir gingen an den Häusern der Theatre Row vorbei, vorbei an den bunten Plakaten für Aufführungen, die längst ihren Sinn verloren hatten. Unter den Schirmdächern jagten die Toten nach etwas zu essen. Wir sahen eine ältere Frau mit blauen Haaren und einem bunten Schal um den Hals, die mit dem Gesicht nach unten am Boden lag. Ihre knochigen Arme steckten in einem Gullydeckel und holten Spinnen aus der Dunkelheit in der Tiefe. Jeder Müllcontainer schepperte, weil die Toten in ihnen nach dem letzten Krümel Nahrung suchten. Am traurigsten waren die Schwachen. Aus verschiedenen Gründen konnten sie bei der Jagd nach der kaum vorhandenen Nahrung nicht mitmachen. Einigen fehlten Gliedmaßen, oder sie waren zu klein oder zu dürr, um sich gegen die anderen
durchzusetzen. Viele waren Kinder gewesen. Man erkannte sie an der gesprenkelten, aufgedunsenen Gesichtshaut und den zurückgebildeten Lippen, die ausgetrocknet 74 waren und ihre Zähne nun permanent in verzerrten Grimassen entblößten. Sie taten, was in ihrer Macht stand, um sich mit Nahrung zu versorgen, aber das war nie viel. Wir sahen ein Mädchen in Ayaans Alter, die den grünen Bewuchs an einer Ziegelmauer abkratzte. Andere nagten planlos die Rinde von abgestorbenen Bäumen oder kauten Grasbüschel, bis grüner Saft aus ihren mahlenden Mündern rann. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis selbst die Stärksten unter den Toten so tief sinken würden. In der Stadt gab es nur eine begrenzte Menge an Nahrung, ganz egal, wie breit man diesen Begriff interpretieren wollte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fraßen sie sich nicht gegenseitig, also war das alles, was ihnen übrig blieb. So sah also die Zukunft aus. Der Rest der Geschichte in einer Momentaufnahme zusammengefasst: ein Gesicht, dessen Mund für alle Ewigkeit an einem Lederstiefel herumkaute. Ich hielt den Kopf gesenkt, und Ayaan auch. Keiner von uns blieb stehen, um darüber nachzudenken, während wir uns weiter nach Osten schleppten, Fertigluft atmeten und dem Knarren unserer Anzüge lauschten. 74
Der Central Park war ein Schlachtfeld, das sah Gary auf den ersten Blick. Ein Schlammfläche, unterbrochen von gelegentlichen Pfützen aus stehendem Wasser, die in den Regenbogenfarben der Umweltverschmutzung glitzerten. Knochensplitter, die selbst für die niedrigen Ansprüche der Untoten ungenießbar waren, hatten sich in diesen grabenähnlichen Vertiefungen gesammelt. Nirgendwo war mehr ein Grasbüschel zu finden - die Toten hatten alles verschlungen. Zahllose zusammensackende Bäume reckten dem bewölktem Himmel dunkle Aste flehen dich entgegen, ihr Holz war schwammig und weiß, wo die Rinde abgenagt worden war. Ohne Halt durch die Wurzeln lebender Pflanzen hatte die Erde unter der Oberfläche des Central Park rebelliert und war bei jedem neuen Regenguss zu Schlamm geworden. Die breiten Parkwege hatten sich in Flüsse aus schlammigem, aufgewühltem Wasser verwandelt. Die Zäune, die den Park in voneinander abgeschiedene Erholungszonen aufgeteilt hatten, konnten der wilden Macht von Wasser und Erdreich nicht widerstehen und lagen nun in langen Linien aus Stacheldraht da, die in der Sonne vor sich hinrosteten. Hier und da ragte eine Laterne in schiefem Winkel aus dem Dreck wie ein Grabstein auf einem verlassenen Friedhof. Die asphaltierten oder mit Kies bestreuten Wege, die einst auf freundliche grüne Lichtungen geführt hatten, waren völlig verschwunden. Eine Schlammlawine war auf die 5thAvenue geströmt. Sie hatte die Rinnsteine verstopft und breite braune Streifen in verästelten, fächerförmigen Mustern auf der Straße hinterlas 74
sen, hatte Autos mit sich gerissen und sie einen Block entfernt gegen die Gebäude geschleudert, wo nichts als dreckige Karosserien aus geborstenem Metall und zersplittertem Glas zurückblieben.
Gary führte Nasenlos und Gesichtslos in den braunen Park und sank sofort mindestens drei Zentimeter in den weichen Untergrund ein. Nach einigen Minuten des Vorankämpfens über die leblose Fläche hatte Gary das Gefühl, sich völlig verirrt zu haben. Um sich herum konnte er die hohen Gebäude der Stadt ausmachen, nur im Norden nicht; die krude Geometrie der verlassenen Stadt kam ihm wie abstrakte Gebirgszüge vor, die ihn einsperrten. Er fühlte sich allein, aber keineswegs unbeobachtet. Irgendwo jenseits des nächsten Erdhügels wartete der geheimnisvolle Wohltäter auf ihn. Jetzt, da er gegessen hatte, konnte er klarer denken. Er hatte die Trance abgeschüttelt, die ihn wie ein Leichentuch eingehüllt hatte, seit er im Untergeschoss des Virgin Megastore seine Kraft zurückgewonnen hatte, und jetzt hatte er Zeit, darüber nachzudenken, wohin sein Weg führte. Jemand - ein anonymes Geschöpf - war ihm im Augenblick der größten Gefahr zu Hilfe gekommen und hatte ihm gezeigt, wie er sich etwas Größerem als sich selbst öffnen konnte, wie man sich mit dem Nervensystem zahlloser toter Männer und Frauen verband. Aus dieser Verbindung hatte er die Kraft gezogen, um sich nach einem Kopfschuss wiederzubeleben. Im Austausch für dieses Wissen hatte der unbekannte Wohltäter Gary zu sich befohlen, und er hatte ohne nachzudenken gehorcht. Aber jetzt, da er etwas klarer denken konnte, fragte er sich, worauf er wohl zumarschierte. Es konnte keine lebende Person sein - kein Lebender hatte Zugang zum Netzwerk des Todes, davon war er überzeugt, und davon abgesehen: Warum sollte ein Lebender einem Monster wie Gary helfen zu überleben? *5° Aber wenn der Wohltäter tot war, was wollte er dann von ihm? Selbst wenn er, genau wie Gary, irgendwie seinen Verstand bewahrt hatte, musste er trotzdem die gleiche Biologie und Physiologie wie die Toten aufweisen. Die Toten kannten nur ein Verlangen: Nahrung. Der Gedanke erschien absurd, aber Gary war überzeugt, dass er auf dem Weg zu einem Ort war, wo man ihn fressen würde. Fast Food frei Haus. Falls das zutraf, falls er nur verschont geblieben war, um einem Toten als Mahlzeit zu dienen, der noch klüger war als er selbst... Gary konnte trotzdem nicht stehen bleiben. Er riss die Füße aus dem Schlamm und machte den nächsten Schritt. Hinter ihm kamen Nasenlos und Gesichtslos wortlos nach, ohne jede Beschwerde oder Frage. Als er die erste Unterbrechung in der Monotonie des Schlammparks sah, war die Sonne am Himmel höher geklettert. Rechts von ihnen erhob sich der Zoo, die Gebäude standen noch, waren allerdings zur Hälfte in dickem Schlick begraben. Dankbar für jede Abwechslung in dem visuellen Rätsel, zu dem der Park geworden war, trieb Gary seine Gefährten an und eilte in das versunkene Labyrinth des Zoos. Natürlich hielten sich in den Käfigen keine Tiere auf - die Toten hatten sicher kurzen Prozess gemacht. Hier und da hatte sich ein Stück Fell im Maschendraht eines Geheges oder den filigranen Mustern eines schmiedeisernen Zauns verfangen, aber das war alles. Genauso waren die interaktiven Displays oder Hinweistafeln schon lange von Schlammwellen begraben oder fortgetragen worden. Nur die Barrieren blieben sichtbar, eine Sammlung unbewohnter Käfige, die das Nachmittagslicht in lange Streifen schnitten. Gary führte seine Gefährten über
gewundene Wege, die einst an Gehegen für Paviane und rote Pandas vorbeigeführt hatten und jetzt nur noch Schlammkanäle darstellten. Er wollte etwas sehen und brachte sie zu einem Gebäude, 76 das mit den nachgebildeten Köpfen von Elefanten und Giraffen verziert war. Die Reliefs, in besseren Tagen ein drolliger Anblick, hatten sich in abstoßende Wasserspeier verwandelt, vom Regen heimgesucht und vom Rost befleckt, der den Tieren wie blutige Tränen aus den Augen rann. Gary ignorierte die Kälte, die von dem Ort ausging, und berührte die abgenutzten Messinggriffe am Eingang des Gebäudes. Die Türen flogen mit einer Gewalt auf, die ihn ein paar Meter zurückstieß und auf dem Rücken landen ließ, sein trockener Körper bohrte eine tiefe Schramme in den Matsch. Nasenlos und Gesichtslos drehten sich um und starrten ihn in einer Art benommenem Schock an, den sie vielleicht seiner eigenen Miene entnommen hatten. Was hatte die Stille des Parks auf solch gewalttätige Weise gestört? Ein nackter Mann stapfte auf Unterschenkeln, die so breit waren wie Strommasten, aus dem Elefantenhaus. Er war mindestens drei Meter groß, ein bebender Berg bleichen, von schwarzen Adern durchzogenen Fleisches. Aber der Riese wies keinerlei Muskeltonus auf, er bestand nur aus großen, wabbeligen und teigigen Fleischrollen. Seine Hände waren aufgedunsen und so gut wie nutzlos, normalgroße Nägel waren tief in den Spitzen der angeschwollenen Finger versunken. Der ebenfalls normalgroße Kopf saß wie eine obszöne Entenmuschel in der Mitte der gallertartigen Masse seines Körpers. Gary hatte noch nie zuvor eine derartige Person gesehen. Er dachte länger als eine flüchtige Sekunde daran, dass es sich möglicherweise um seinen Wohltäter - und sein Verhängnis -handelte, aber das konnte nicht sein. Als er an den Fäden des Netzes zupfte, das alle Toten miteinander verband, fühlte er in diesem Monstrum nicht die geringste Intelligenz. Was er allerdings vor seinem geistigen Auge sah, war schrecklich anzuschauen schwarze Energie, weitaus mehr, als möglich erschien, eine wogende, rollende Sturmwolke, die 76
dem Riesen in gewaltigen Tropfen entströmte und dennoch niemals an Kraft verlor. Ein schwarzer Stern. Und er enthielt auch Hass, unverfälschten, wilden Hass auf jeden, der es wagte, das Territorium dieses Monstrums zu betreten. Diese Kreatur hatte ihre Existenz nicht in dieser Größe begonnen. Zu Lebzeiten war sie ein großer Mann gewesen, aber weder ein Bodybuilder noch ein Sportler. Er war lediglich einer der ersten wandelnden Toten gewesen, der seinen Weg in den Zoo gefunden hatte. Er hatte die Schwächeren abgewehrt, wenn sie kamen, hatte sich epische Schlachten mit den Kräftigeren geliefert, aber er hatte immer gesiegt. Er war so groß, weil er viel mehr Fleisch gefressen hatte als alle, die ihn herausgefordert hatten. Im Elefantenhaus gab es keine Elefanten mehr, wie Gary erkannte, und auch keine Giraffen, Rhinozerosse, Nilpferde oder Bären. Was von ihnen noch übrig war, stand ihm gegenüber. Der Riese stapfte auf Gesichtslos zu, und Gary sandte ihr den dringenden Befehl, sich zurückzuziehen. Sie bewegte sich nicht schnell genug, und der Riese schlug sie
zur Seite. Nasenlos versuchte in den Rücken des Monstrums zu gelangen, und es trat mit einem Bein zu und schleuderte ihn mit einem satten Aufprall gegen eine Ziegelmauer. Die Kreatur wollte Gary und duldete keine Verzögerungen. Sie würde ihn in Stücke reißen. Nicht als Nahrung, denn die Toten fraßen niemals andere Tote, sondern allein wegen der Beleidigung, dass er in sein Reich eingedrungen war. Physisch konnte Gary gegen den Riesen kaum etwas ausrichten. Stattdessen hob er die Hände und zupfte an den Fäden, die die beiden in einer Art von Überraum miteinander verbanden. Es schmerzte, die wilde Energie des Riesen zu berühren, aber Gary zog hart und tief daran, bis er anfing, die irrsinnige Hitze der Bestie abzusaugen. J77
Der Riese konnte unmöglich begreifen, was hier vor sich ging, aber er fühlte es, und es musste höllisch schmerzen. Er sog tief die Luft ein, kämpfte gegen seine massiven Fettrollen an, um den Atem in seinen Körper zu pumpen, dann blies er ihn mit dem Lärm eines Signalhorns heraus. Gary hielt sich die Ohren zu - und trennte gleichzeitig die Verbindung zu dem Riesen. Einen Augenblick lang war die Welt wieder von Stille erfüllt. Dann drehte sich der Riese um und fing an, über einen leeren Käfig zu klettern, grub die Finger in das Gitter und zog sich so schnell von Gary fort, wie er nur konnte. Gary hätte am liebten in die Hände geklatscht, als der Riese außerhalb des Zoogeländes über die Schlammebene eilte. Er hätte es beinahe auch getan - bis sich ein unsichtbarer Schraubstock um sein schmerzendes Gehirn zu schließen schien. Sein Wohltäter, der sich vielleicht wunderte, warum er von seinem vorgegebenen Weg abgewichen war. Amaideach stocach!, brüllte der Wohltäter. Es war Garys eigene Stimme, die Stimme, die er hörte, wenn er dachte, aber sie war viel lauter und so verzerrt, dass es nicht sein eigener Gedanke sein konnte. Jemand anders - der Wohltäter -brüllte in sein geistiges Ohr. Die Worte sagten Gary nichts, aber sie schnitten wie ein Flammenschwert durch sein Inneres und schmetterten ihn zu Boden, wo er sich eine Weile, von einem schlimmen Krampfanfall geschüttelt, wand. Als er endlich wieder aufstehen konnte, sammelte er Nasenlos und Gesichtslos (die nach dem Kampf mit dem Riesen etwas mitgenommen aussah, sich aber noch immer bewegen konnte) ein und kehrte wieder auf den Weg nach Uptown zurück. Er hatte nicht die Absicht, den Wohltäter noch einmal warten zu lassen. »77
8.
Wir hielten uns in der Straßenmitte, als wir uns dem Port Authority Bus Terminal näherten. Dieser Teil der Stadt musste zuletzt evakuiert worden sein. Wir entdeckten auf dem Bürgersteig aufgeschichtete Gepäckstapel - manchmal einfach zugeklebte Müllsäcke, manchmal auch große Haufen Prada-Handtaschen oder Tumi-Reisekoffer. Überall klebten Flugblätter an den Wänden oder flatterten wie Albino-Rochen die Straßen entlang. BLEIBEN SIE ZUSAMMEN, wiesen sie die Leute an, oder MERKEN SIE SICH IHRE GRUPPENNUMMER! Am Ende musste der Busbahnhof der einzige Weg aus der Stadt heraus gewesen sein. Ich verspürte kein Verlangen, ihn zu betreten und nachzusehen, was aus all den panikerfüllten
Flüchtlingen geworden war. Es wäre bestenfalls deprimierend und schlimmstenfalls schockierend gewesen. Dann gingen wir weiter und kamen zum Times Square, und ich entdeckte eine neue Definition des Wortes »schockierend«. Nach all der Zerstörung, derer ich Zeuge geworden war, wird sich das für manche bestimmt albern anhören, aber der Times Square war der entsetzlichste Ort, den ich in diesem neuen New York erblickte. Es gab keine Leichenberge, keinerlei Anzeichen von Plünderungen oder Panik. An diesem Times Square stimmte nur eines nicht. Er war dunkel. Nirgendwo brannte ein Licht, keine einzige Glühbirne. Ich sah Ayaan an, aber sie konnte das natürlich nicht verstehen, *78
also wandte ich wieder den Kopf und starrte zu den riesigen Fassaden der mich umgebenden Gebäude herauf. Ich wollte es ihr erklären - dass es hier früher sechs Stockwerke hohe Fernsehbildschirme gegeben hatte, wie die Neonlichter so hell gestrahlt und geflackert und geleuchtet hatten, dass sich die Nacht in einen schimmernden Dunstschleier verwandelte, der weder Tageslicht noch Mondschein ähnelte, in etwas, das völlig transzendent und ortsgebunden war. Es hatte ein Gesetz gegeben, dem zufolge jedes Gebäude eine bestimmte Beleuchtung aufweisen musste, sodass selbst das Polizeirevier und der Eingang zur U-Bahn und das Rekrutierungszentrum des Militärs wie der Las-Vegas-Strip gestrahlt hatten. Aber wie hätte sie das verstehen sollen? Ihr war das alles fremd - sie hatte die riesige Werbung für Samsung und Reuters und Quiksilver und McDonald's nie gesehen. Und sie würde sie auch niemals sehen. Mit offen stehendem Mund drehte ich mich auf der Stelle um, so schockiert, dass ich nicht klar denken konnte. Das Herz von New York City - so hatte man den Times Square in allen Reiseführern bezeichnet. Das Herz von New York City hatte aufgehört zu schlagen. Die Stadt war wie ihre Bewohner untergegangen und existierte nur noch in einem albtraumhaften Dämmerzustand, einem nicht lebenden Zustand des Untodes. Ayaan musste nach meiner Hand greifen und mich weiterführen. Wir gingen an den Kinos vorbei, und dann sahen wir Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu unserer Rechten. Dutzende Wachspuppen waren auf die Straße gezerrt worden, Regen hatte ihre Farbe abgespült, und ihre zur Hälfte geschmolzenen Gesichter starrten uns vorwurfsvoll an. Die zerfransten Löcher in ihren Hälsen und Oberkörpern waren unübersehbar, wo die hungrigen Toten über sie hergefallen waren, weil sie sie offensichtlich für echte Menschen gehalten r78
hatten. Ich starrte die zerbrochenen Puppen an, als ich jemanden sprechen hörte. Ich schaute Ayaan in demselben Moment an, in dem sie mich anschaute. Wir hatten es beide gehört -was bedeutete, dass keiner von uns etwas gesagt hatte. Wir hörten es erneut. »Hey, Jungs! Hier drüben!« Ayaan schaute grimmig drein. In dieser heimgesuchten Stadt konnte eine andere Stimme nur Gary bedeuten - aber der war schon lange tot, begraben unter einer DVD-Lawine, wir waren dabei
gewesen, wir hatten es getan. Außerdem hörte sich das sowieso nicht wie Gary an. Konnte es noch einen wie ihn geben? Wenn das der Fall war, dann steckten wir wirklich in Schwierigkeiten. »Lebendige Menschen, Mann! Überlebende! Kommt schon!« Die Stimme kam aus Richtung Broadway. Wir eilten zum U-Bahn-Eingang, der mit einem Stahlgitter versperrt war. Direkt dahinter standen drei Männer, die sehr wohl lebendig waren und atmeten. Sie waren völlig verschwitzt, als wären sie ein ordentliches Stück gelaufen, und sie winkten uns wild zu. »Wer...?«, setzte ich an, aber natürlich war offensichtlich, wer sie waren. Überlebende - New Yorker, die noch immer am Leben waren. Hatten sie die ganze Zeit seit Ausbruch der Epidemie in der U-Bahn gelebt? Das erschien unmöglich, aber da standen sie. Sie sahen unterernährt und schmuddelig aus, aber sie waren nicht tot; sie waren tatsächlich nicht tot. »Ihr müsst gekommen sein, um uns zu retten, Mann«, rief einer von ihnen und klang überzeugt, dass das nicht der Fall war, er es aber verzweifelt hoffte. »Es hat so lange gedauert, aber wir haben gewusst, dass ihr kommt!« Ayaan schüttelte den Kopf, aber ich ignorierte sie. Zum Teufel mit den Medikamenten - das hier waren Überlebende! Ich schaute an den Gitterstäben vorbei. Die Männer waren mit Pistolen und Schrotflinten und Jagdgewehren bewaff '79
net - Zivilistenwaffen. Jeder trug ein Namenschild am Hemd: HALLO, MEIN NAME Ray; HALLO, MEIN NAME IST Angel; HALLO, MEIN NAME IST Shailesh. Ray streckte eine verschwitzte, verzweifelte Hand aus, schob den Arm bis zur Schulter durch das Gitter. Er streckte mir die Hand entgegen - nicht, um mich zu packen, nicht, um mich in Stücke zu reißen, sondern um mich zu begrüßen. Ich schüttelte sie herzlich. Shailesh stellte die erste Frage. »Wozu diese Anzüge? Wir sind nicht infiziert. Wir sind sauber!« »Sie verhindern, dass die Toten uns riechen«, erklärte ich hastig. »Ich bin Dekalb, und das ist Ayaan - wir sind schon ein paar Tage hier, aber ihr seid die ersten Überlebenden, die uns begegnen. Wie viele von euch gibt es?« Ray antwortete. »Fast zweihundert. Jeder, der da war, als die letzte Barrikade der Nationalgarde nachgab. Sagt mal, habt ihr wirklich keine Überlebenden gesehen? Zwei unserer Jungs suchen nach Lebensmitteln. Paul und Kev - sind sie euch bestimmt nicht begegnet? Sie sind schon viel zu lange unterwegs.« Ich sah Ayaan an, als hätte sie vielleicht etwas gesehen, das mir entgangen war, aber natürlich war uns allen klar, was mit den Nahrungssuchern passiert war. »Wir haben ein Schiff auf dem Hudson«, sagte ich. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, euch alle zum Fluss zu schaffen, dort seid ihr in Sicherheit. Wer hat das Kommando ? Das muss organisiert werden.« Ich wollte das wie eine klassische Flüchtlingsoperation der UN durchführen - der erste Schritt bestand darin, die soziale Hierarchie herauszufinden. Nicht nur würde der Boss wissen, wie er seine oder ihre Leute unter Kontrolle halten musste, er würde auch beleidigt sein, wenn man seine Autorität nicht anerkannte, wie temporär sie auch sein mochte. Ich hätte nie gedacht, diese Art Gruppenpsychologie einmal bei Amerika 79 IST
nern anwenden zu müssen, aber das Prinzip war immer das Gleiche. »Das dürfte el Presidente sein«, sagte Angel höhnisch. Offensichtlich verspürte er eine gewisse Verachtung für die lokale Autorität, aber sie ließ nach, als er begriff, dass die Rettung möglicherweise kurz bevor stand. »Klar, Mann, ich rede mit ihm, ich bringe den Ball ins Rollen. Wollt ihr nicht reinkommen, vielleicht einen Happen essen? Wir haben zwar nicht viel, aber es gehört euch.« Ich schüttelte den Kopf, aber die Geste würde durch das Visier nur schwer zu interpretieren sein, also hob ich die Hände und winkte ab. »Öffnet das Tor nicht. Ihr solltet euch nicht in Gefahr bringen. Wir gehen jetzt zum Schiff zurück, sind aber in ein paar Stunden wieder da. In Ordnung?« Die drei Männer blickten mich mit einem solchen Vertrauen an, dass ich mich abwenden musste, weil ich sonst angefangen hätte zu heulen. Ayaan räusperte sich, als wir uns von der U-Bahn abwandten, versuchte meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wusste, was sie sagen würde, aber ich wollte es nicht hören. »Dekalb. Auf der Arawelo ist es jetzt schon zu voll, mit nur siebenundzwanzig Leuten. Es ist nicht möglich, zweihundert Flüchtlinge an Bord zu nehmen.« Sie hielt die Stimme gesenkt, damit die Überlebenden uns nicht streiten hören konnten. Ich folgte ihrem Beispiel. »Dann machen wir eben mehrere Fahrten... oder, keine Ahnung, vielleicht erfüllt sich Osmans Wunsch - vielleicht schaffen wir es ja irgendwie, die Intrepid wieder flott zu machen. Verdammt noch mal, Ayaan! Wir können sie nicht einfach im Stich lassen!« »Dekalb«, sagte sie, dieses Mal viel lauter, und ich drehte mich um, weil ich ihr bedeuten wollte, doch leiser zu sein, aber sie hatte ein anderes Thema im Sinn. Die Seitenklappe eines Müllcontainers hatte sich geöffnet, und ein nackter Mann *80
war herausgeklettert. Er kam mit zuckender Nase auf allen vieren auf uns zugekrochen. »Er muss die Überlebenden riechen«, zischte ich Ayaan zu. »Beweg dich nicht!« Der Tote kroch heran und stand mühsam auf. Zu Lebzeiten hatte er eine Glatze gehabt. Er hatte winzige Schweinsäuglein. Eine unbehagliche Minute lang schwankte er vor mir hin und her, bevor er sich nach vorn beugte und den Hals verdrehte, um an mir herumzuschnuppern. Vor allem meine rechte Hand schien ihn zu faszinieren. Es war nur natürlich, dass ich seinem Blick folgte, um zu sehen, was ihn so interessierte. Da bemerkte ich den feuchten Schimmer auf meiner Handfläche. Schweiß, auf der Außenseite meines Handschuhs. Zwei weitere Tote krochen aus dem Container. Weiter hinten auf der Straße sah ich Bewegungen - viele Bewegungen. »Du hast dem Lebenden die Hand geschüttelt! Du bist kontaminiert!«, brüllte Ayaan, und ihr Gewehrriemen verhedderte sich, als sie nach der Waffe griff. Ich schaute von ihr zurück auf den Toten, der mit seinen krallenähnlichen Fingern nach mir griff. Sie glitten harmlos von dem Tyvek-Anzug ab - ich spürte vier harte Kontaktpunkte (einen für jeden seiner Fingernägel), die meine Rippen entlang fuhren -, dann blieben sie am Ansatz des Handschuhs hängen.
Ich wollte ihn wegziehen. Stattdessen stolperte ich in dem voluminösen HazmatAnzug und fiel beinahe hin. Der Tote riss einmal kräftig, der Handschuh löste sich und entblößte meine nackte Hand der Luft. Meine luftdichte Unversehrtheit war dahin. 81
9*
Zwischen den Säulen der Fassade flatterten lange Mylarbanner; die Sonne hatte ihre Werbebotschaften bis zur Unleserlichkeit gebleicht. Der Wind peitschte sie, sie waren das Einzige, was sich in Sichtweite bewegte. Das Metropolitan Museum of Art ragte allein aus dem Parkschlamm empor, seine massiven Türen standen weit offen. »Ich habe Besseres zu tun«, sagte Gary laut. Er fürchtete sich davor, dort hineinzugehen. Nasenlos und Gesichtslos gaben keinen Kommentar von sich. »Ich muss das Mädchen finden, das auf mich geschossen hat. Und ich habe Hunger.« Aber er wandte sich nicht ab. Zu viele Fragen hatten sich in ihm aufgestaut. Er führte Nasenlos und Gesichtslos die lange Treppe zum Eingang hinauf und spähte einen Augenblick lang hinein; er fragte sich, was dort drinnen ihm solche Angst einjagen konnte. Der massive Eingangsbereich schwang sich zu drei schmutzigen Deckenfenstern empor, die für etwas Licht sorgten. Es reichte aus, um zu sehen, dass hier niemand war. Gary trat in die kühle Luft des Museums und starrte zu seiner Deckenkuppel hinauf, zu der breiten Treppe, die am anderen Ende der Lobby nach oben führte, auf die Karten- und Informationsschalter, die verlassen und schäbig im Dämmerlicht standen. Das war wahrlich nicht sein erster Besuch im Met, aber ohne die Touristenmengen, ohne das Kreischen gelangweilter Kinder oder das müde, lautstarke Geleier der Tourführer hatte es den Anschein, als würde jeder seiner Schritte in dem steinernen Museumsbau wie in einer Gruft widerhallen. 81
Er hatte mehr als nur einen vagen Verdacht, wo er nach dem Wohltäter suchen sollte, obwohl das nicht den geringsten Sinn ergab. Er wandte sich nach rechts und ging an einer Sicherheitsabsperrung vorbei. Nasenlos und Gesichtslos folgten ihm mit schlurfenden Schritten. Sie passierten einen langen Korridor mit Gruftgemälden, die Szenen aus dem ägyptischen Alltag zeigten, dann kamen sie in einen dunklen Raum mit gläsernen Vitrinen. Das Erste, was sie sahen, war ein Kasten mit einer Mumie, die mit festen Leinenbandagen wie in einen Kokon gewickelt war. Aus den Tiefen des dunklen Glases starrte eine Goldmaske, deren Züge einen Ausdruck völligen Friedens zeigten, als sie durch Gary hindurch in die Ewigkeit starrte. Die riesigen Augen erweckten den Eindruck von Teichen voll heiterem Verständnis und der freudigen Akzeptanz der Unsterblichkeit. Das konnte nicht der Wohltäter sein, davon war Gary überzeugt. Er legte eine Hand auf den Schaukasten. Die Maske krachte gegen das Glas, der bleiche, armlose Körper darunter zappelte, die verpuppte Gestalt von etwas Schrecklichem. Gary sprang zurück. Das war unmöglich. Und doch war es real, die Mumie in ihrem Glaskäfig zuckte. Gary tastete nach der Todesfrequenz und fühlte den Schatten finsterer Hitze -Wut und Qual waren das Einzige, was die Mumie belebte, und
selbst sie waren nur rudimentär vorhanden. Diese Kreatur würde sich bald erschöpft haben und der Entropie erliegen. Und doch war es völlig unmöglich, dass sie überhaupt über eine Art von Leben nach dem Tod verfügte. Mein Gott! Sie hörte gar nicht zu zucken auf! Die heftigen Schläge gegen das Glas hatten die Goldmaske eingedellt und ihre Züge verzerrt. Gary mochte ja selbst ein Untoter sein, aber er konnte den Anblick dieser Gestalt in ihrem Kasten nicht ertragen. Jedesmal, wenn sie sich krümmte oder ihr Gesicht gegen das Glas 82 schmetterte, zwang sie ihn, sich vorzustellen, wie ihre Existenz aussehen musste: Blind, gefesselt, hungrig - für alle Ewigkeit, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war, ohne Antwort auf die Frage, ob sie lebendig oder tot war. Das musste die Hölle sein. Er wandte sich Gesichtslos zu und versuchte es ihr zu erklären. »Nein, nein, das kann nicht sein -man hat den Leuten das Gehirn entnommen, wenn man sie mumifizierte, mit einem... Löffel oder dergleichen!« Du sprichst die Wahrheit, sagte der Wohltäter. Soweit du sie kennst. Gary sah erschrocken auf. Die Worte ließen seine Zähne schmerzen: so intim wie seine eigenen Gedanken, so laut wie eine Sirene. »Was meinst du damit?«, fragte er. Man hat ihnen das Gehirn genommen, ja ‐ aber nur in einigen Dynastien. Vor der Achtzehnten Dynastie war diese Praxis unbekannt. Die Griechen haben die Gehirnentfernung verboten, als sie Ägypten eroberten.
»Woher weißt du das?« Gray drehte sich im Kreis, versuchte den Wohltäter zu entdecken, aber das war unmöglich - die Stimme konnte von überall herkommen. Ich weiß vieles, Gary. Ich habe in dein Herz geblickt. Ich weiß Dinge, die du vergessen hast, und Dinge, die du dir nie hättest träumen lassen. Komm, zu mir, Gary, und ich hinge dir alles bei. Komm schnell — wir haben so viel zu tun.
Gary schob sich um den Ausstellungskasten; er wollte nicht in der Nähe des untoten Etwas in seiner grausigen Verpuppung sein, wenn es schließlich durch das Glas brach. Nicht einmal annähernd in der Nähe. Er führte Gesichtslos und Nasenlos tiefer in die Agyptenausstellung hinein, durch schlecht beleuchtete Räume voller riesiger Sarkophage und zerbrochener Statuen und Skarabäenschmuckstücken und befleckten Totentüchern. Jedesmal, wenn er sich umdrehte, entdeckte er weitere Mumien, die gegen ihre Gefängnisse 82 trommelten - überall blickten ihm Skarabäen und weiße Augen von den Wänden entgegen. In einem winzigen Alkoven drückte sich eine geschwärzte Mumie, die von den Hörnern toter Antilopen umgeben wurde, am Glas entlang - in einem anderen bebte ein aufwendig bemalter und mit Gold verzierter Sarg so heftig, dass Splitter wie trockener Regen herabfielen. Die Wut, Furcht und Entsetzen, die Gary den zuckenden Körpern ablas, ließ ihn die Hände gegen die Schläfen drücken, weil er ihre Qualen nicht ertragen konnte. Schließlich kamen sie in einen großzügig bemessenen Raum, dessen eine Wand nur aus Glas bestand, durch das graues Sonnenlicht hineinfiel. Auf einer Plattform ragte der Tempel von Dendur auf - ein rechteckiges Gebäude mit Hieroglyphen, vor dem sich ein massiver Torbogen erhob. Unter dem Torbogen stand eine niedrige Bank,
und dort hatte jemand drei der sich windenden Mumien abgelegt. Die Goldmasken lagen abgerissen in der Nähe auf einem Haufen, unbezahlbare Artefakte, die man einfach auf den Müll geworfen hatte. Eine braune Gestalt stand über sie gebückt und arbeitete mit einer schlaffen Hand daran, das Tuch zu entfernen, das die Toten fesselte. Das war der Wohltäter, das war Gary sofort klar. Er hob den Kopf und winkte Gary näher heran. Sieh mich, wie ich wirklich bin, Gary. Ich bin Mael Mag Och, und ich brauche deine Augen.
Da war keine große Ähnlichkeit mit der Erscheinung, die Gary im Megastore begegnet war. Seine Haut war hartes Leder, zu einem dunklen Braun gegerbt, haarlos und faltig an einigen Stellen, an anderen wiederum straff über Knochen gespannt, die spitz hervorstachen. Der Kopf baumelte auf der einen Schulter, als könnte er ihn nicht heben, und in der Tat war sein Genick offensichtlich gebrochen, die obersten Wirbelstücke ragten aus seinem Nacken heraus. Er hatte nur einen Arm, und seine Beine waren auf eine schreckliche Weise 83 uneins. Das eine sah stark und muskulös aus, das andere verkümmert und skelettiert. Er trug keine Kleidung, wenn man von dem Strick absah, der eng um seinen Hals geknotet war -eine Schlinge, wie Gary erkannte -, und einem verfilzten Fellstreifen um den Arm. »Du bist nicht... wie sie«, sagte Gary und starrte die zuckenden Mumien an. Nicht einmal halb so alt und auch nicht so weise. Komm, komm her. Nein, ich war nie in Ägypten, mein Junge. Ich komme von einer Insel ein Stück abseits des Landes, das dir als Schottland bekannt ist. Bitte, schau her. Das ist einer der Gründe, warum ich dich brauche. Damit du mir dabei hilfst, das hier zu sehen.
Gary begriff nicht, was er damit meinte - und dann erkannte er es. Mael Mag Och hatte keine Augen im Kopf. Da waren nur unergründliche Löcher. Ich sehe, was du siehst, durch das Eididh, das uns verbindet. Ich hatte keine Ahnung, wie hässlich ich geworden bin. Dorthin.
Gary sah auf die Stelle, auf die Mael Mag Och zeigte. »Das Eididh}« Du bezeichnest es als Netzwerk, obwohl es so viel mehr als das ist. Ein dickes Bündel fleckiger Binden löste sich von der Mumie und enthüllte einen Arm, einen dürren Arm, der in fünf knochigen Fingern endete. Die Hand griff nach Mael Mag Ochs Gesicht, hatte aber nicht genügend Kraft, um Schaden anrichten zu können. Die Leiche ohne Augen griff nach dem nächsten Stück Leinen und schälte es ab, die Finger fummelten an dem verfaulten Stoff herum. Wir müssen sie befreien. Man hat ihnen die Unsterblichkeit versprochen, Gary. Diese bemitleidenswerten Geschöpfe glaubten, sie würden im Paradies erwachen, in einem Schilffeld. Ich kann ihr Entsetzen nicht ertragen. Hilf mir.
Die Sanftheit und das Mitgefühl dieser Handlung bewegten Gary auf eine Weise, die er nicht für möglich gehalten 83
hatte. Er kniete nieder, um beim Entfernen der Binden zu helfen, und er befahl Gesichtslos und Nasenlos, das Gleiche zu tun. Mit so vielen Händen war die Mumie bald frei von ihren Fesseln. Sie erhob sich langsam von der Bank, eine
skelettierte Gestalt, eingehüllt in Leinenfetzen. Direkt über dem Herzen steckte eine goldene Brosche in Form eines Skarabäus, an ihrer Seite und von ihrem Hals baumelten weitere Amulette. Das Gesicht blieb unter den Binden verborgen; da, wo einst der Mund gewesen war, befand sich nur eine ausgefranste Öffnung. Das war das letzte Ritual ‐ das war, die »Öffnung des Mundes«. Das hat man mit Hammer und Meißel gemacht. Der Stoff um die Wunde war von vor langer Zeit getrockneten Flüssigkeiten braun und gelb verfärbt. Verfluchte Barbaren, murmelte Mael Mag Och. Die Mumie stolperte auf unsicheren Beinen fort, humpelte zu dem Torbogen, wo sie sich an den abgenutzten Sandstein lehnte, als könnte sie die Hieroglyphen mit dem Körper lesen. Hätte Gary sie so fest in ihre Binden eingewickelt in ihrem Glaskasten gefunden, hätte er ihren Kopf in Stücke gehauen. Mael Mag Och hatte die wiederbelebte Kreatur unter den Bandagen gesehen. Die Menschlichkeit. »Was bist du?« Ein demütiger Draoidh. So, wie Mael Mag Och es aussprach, klang es wie »Druide«. »Okay, wer bist du?« Nun, die Frage ist schnell beantwortet. Ich bin derjenige, der das Licht ausmacht, wenn die Welt endet.
84
IO.
Der Untote starrte meine entblößte Hand an, als wäre er unsicher, was das sein könnte. Ich wich vorsichtig zurück, aber er folgte mir schnuppernd. Er öffnete den Mund, und ich konnte die abgebrochenen, verschleimten Zähne sehen, und dann stürzte er sich auf mich. Seine Arme schnappten wie eine Krebsschere um meine Taille zu. Ich wollte ihn abschütteln, aber der Hazmat-Anzug schränkte meine Bewegungsfreiheit ein. Ich trat zu, aber falls ich ihn mit genug Wucht traf, um ihn zu verletzen, zeigte er keine Reaktion. Seine Zähne verbissen sich in einer Anzugfalte, und er schüttelte wild den Kopf in dem Versuch, ihn aufzureißen. Ich schwebte in akuter Gefahr, hintenüber zu fallen, was meinen sicheren Tod bedeuten würde - mit dem schweren Atemschutzgerät auf dem Rücken würde ich viel zu lange brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Die anderen beiden Toten aus dem Müllcontainer kamen heran. Wenn ich fiel, würden mich drei der Dinger am Boden festnageln. Wo zum Teufel steckte Ayaan? Ich drehte mich in der Taille und sah, wie sie mit ihrem Gewehr herumhantierte. Sie schien es nicht anlegen zu können, die Anzugschultern waren zu dick, um richtig zielen zu können. Vermutlich konnte sie auch aus der Hüfte schießen, aber so würde sie vermutlich auch mich treffen. Ich war auf mich allein gestellt, bis sie soweit war. Mein Atem ließ die Innenseite meines Visiers beschlagen und schränkte meine Sicht ein, während ich gegen den Untoten kämpfte, der mich umklammerte. Er hielt mich mit eisen 84
hartem Griff, während ich seine Arme auseinanderzuzwingen versuchte. Jedesmal, wenn ich glaubte, einen guten Halt zu haben, quetschte ich nur eine tote Hautschicht vom Körper und rutschte ab. Seine Zähne konnten das Tyvek nicht durchdringen - das Material war ziemlich widerstandsfähig -, aber irgendwann
würde er nach meiner Hand beißen, und dann wäre es vorbei. Selbst wenn ich den Biss überleben sollte, wäre ich anfällig für alle möglichen Sekundärinfektionen. Ich erinnerte mich nur zu gut an die Panik in Ifiyahs glasigen Augen, als ihr Bein anschwoll und ihr Herz zu rasen anfing. Verzweiflung zwang meine Finger tief in die Achselhöhlen des Toten. Endlich konnte ich etwas greifen. Meine Finger fühlten sich an, als würden sie gleich brechen, als ich seinen Griff sprengte. Unbeholfen hob ich ein Bein und trat ihn von mir fort, seine Hände fuchtelten in der Luft herum. Er landete auf dem Rücken und rollte sich augenblicklich auf alle viere, von der Absicht getrieben, sich sofort wieder auf mich zu stürzen. Dann explodierte seine Schädeldecke in einer grauen Wolke zerstörter Gehirnmasse. Keuchend drehte ich mich um und erblickte Ayaan. Sie hatte es geschafft, den Anzug bis zur Taille zu öffnen und die Arme zu befreien, damit sie ihre AK-47 ungehindert bedienen konnte. Noch während ich sie anstarrte, hob sie die Waffe erneut und feuerte zwei schnelle Schüsse ab, schaltete die beiden Toten aus, die sich mir in meinem Rücken näherten. Eilig pellten wir uns aus den jetzt nutzlosen Anzügen. Noch mehr Tote kamen, eine ganze Horde bewegte sich von Westen so schnell heran, wie sie eben konnten. Ihrem Anführer fehlten beide Arme, aber sein Kiefer mahlte hungrig. Es waren zu viele, um sie abwehren zu können - wir mussten fliehen. Ich packte Ayaans Arm, und wir rannten auf dem Broadway nach Norden, aber da waren sie auch, die Schwächlichen, die 85 Sorte, die die Häuserwände ableckte. Ihre Kleidung schlotterte an ihren abgemagerten Gestalten, ihre dürren Hälse und die spärlichen Haare waren schrecklich anzuschauen. Doch jetzt, da wir ungeschützt waren, sahen sie bedeutend weniger erbärmlich aus. Von Süden kam eine tote Frau mit langem schwarzen Haar in einem Brautkleid mit langer Schleppe heran, die Hände in blutverschmierten Handschuhen; der zurückgeschlagene Schleier zeigte ihre langen scharfen Zähne, die die verkümmerten Lippen freilegten. Ich entschied, das Risiko einzugehen. Wir würden die Braut niederschießen und hoffen, dass ihr keine weiteren Toten folgten. Ich hatte keine Lust, den Rest der Hochzeitsgesellschaft kennenzulernen. Ayaan hatte das Gewehr angelegt und wartete lediglich auf meinen Schießbefehl, als ein orangefarbener Blitz an unseren Füßen vorbeischoss und fauchend in die größte Gruppe Untoter hineinschnellte. Es war eine Katze - eine halb verhungert wirkende, tollwütig aussehende Katze. Eine lebende Katze. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein lebendiges Tier gesehen hatte. In den Straßen von New York gab es nicht einmal einen streunenden Hund, geschweige denn einen Spatz. Das hier konnte unmöglich ein Zufall sein, aber für mich blieb es dennoch ein verblüffendes Rätsel. Die Wirkung der Katze auf die Untoten war unglaublich. Sie ignorierten uns und drehten sich wie auf Kommando der rennenden Katze zu, ihre Hände griffen nach ihrem Fell. Das Tier wich nach links aus, täuschte rechts an, und die Toten fielen buchstäblich übereinander, während sie versuchten, den orangefarbenen Blitz zu erwischen.
Ob sie Erfolg hatten oder nicht, sollte ich erst später herausfinden. Während ich wie hypnotisiert das Schauspiel betrachtete, kam Shailesh, einer der Überlebenden aus der U-Bahn, 86
von hinten heran und ergriff meinen Arm. Ich kreischte wie ein kleines Kind. »Komm schon«, sagte er, »wir haben nicht so viele lebende Köder.« »Köder?« Klar. Die Katze. Die Überlebenden mussten sie losgelassen haben, um die Untoten lange genug von Ayaan und mir abzulenken, dass wir hineinkonnten. Wir eilten hinter unserem Führer her und rasten unter dem Stahlgitter zum Eingang in den U-Bahnhof hindurch - ich hörte, wie es sich rasselnd hinter uns schloss -, dann weiter eine schlecht beleuchtete Treppe hinunter. Im Zwielicht sah ich überall Katzenklos und ein paar gereizt wirkende Katzen und Hunde, die es sich dort bequem gemacht hatten. Eine einzige Glühbirne beleuchtete die Drehkreuze. Wir kletterten darüber hinweg, da uns Shailesh versicherte, dass sie sich nicht mehr drehten, seit die Züge nicht mehr fuhren. Hinter den Drehkreuzen wartete ein ernst aussehender Überlebender in einer verblichenen, aber makellos sauberen Jeans und mit Nickelbrille. In den Händen hielt er eine schwarze Militär-Schrotflinte, den Lauf von uns abgewandt. Die Waffe bewegte sich, als wir näher kamen, seine Hände hielten sie wie von selbst auf einer sicheren Höhe. Das geschah so unbewusst, dass mir klar war, dass er eine militärische Ausbildung haben musste. Sonst würde er nicht so diszipliniert mit der Schusswaffe umgehen. An seinem weißen Hemd steckte ein Sticker, einer der vertrauten HALLO,MEIN NAME IST-Sticker, aber das weiße Feld darunter war nicht ausgefüllt. Er wandte sich Shailesh zu. »Sind wir sicher?« Shailesh lachte. »Alter, das ist die erste Regel des Überlebens. Sie stürzen sich auf das schnellste Objekt, das sie sehen können. Je schneller es sich bewegt, desto aufgeregter sind sie! Du hättest sie sehen sollen, Jack. Das war wie in einem JimCarrey-Film.« 86 Jacks Tonfall blieb ganz ruhig, aber seine nächsten Worte veranlassten Shailesh, den Blick zu senken. »Ich habe gefragt, ob wir sicher sind oder nicht«, wiederholte er. Unser Führer nickte beflissen. »Ja. Passt auf«, sagte er dann zu mir, »Jack bringt euch rein. Ich muss, ihr wisst schon, das Tor bewachen. Willkommen in der Republik, okay?« »Sicher«, erwiderte ich, obwohl ich es nicht richtig begriff. »Danke.« Jack betrachtete mich einen Augenblick lang, und ich wusste, dass er mich einschätzte. Er unterzog Ayaan derselben Inspektion, sagte aber nichts außer »Hier entlang«. Eine der Mumien - ein Ptolemäer und, Mael zufolge, ein Cousin von Kleopatra fuhr mit teilweise ausgewickelten Händen über das Glas eines Schaukastens und schlug dann mit den Handflächen dagegen. Mael humpelte zu der Mumie, konnte sie aber nicht daran hindern, das Glas zu zerschlagen. Es ergoss sich in einer Flut winziger grüner Würfel über ihre eingewickelten Beine. Lange Splitter blieben in ihren Armen und Händen stecken, aber sie ignorierte sie und beugte sich vor, um einen Tonkrug aus der Vitrine zu nehmen. Seine Außenseite war mit Hieroglyphen
übersät, der Stöpsel bestand aus Holz, das zu einem Falkenkopf geschnitzt war. Mael versuchte die Mumie von den Scherben fortzuziehen, aber der untote Ägypter weigerte sich mitzukommen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Krug an die Brust zu drücken. Es war das erste Mal, dass Gary einen Toten sah, der aus einem anderen Beweggrund als Hunger handelte. »Was ist denn so Wichtiges in dem Krug?« Ein geisterhaftes Lächeln huschte über Maels lederige Lippen. Seine Eingeweide. Gary konnte bloß eine angewiderte Grimasse ziehen. Sie begreifen diesen Ort nicht, Gary. So vieles hat sich so schnell verändert. Sie glauben, sie sind in der Hölle, also klammern sie sich an alles, was sie kennen und verstehen.
»Vermutlich kann man von dir das Gleiche sagen.« Es war eine spöttische Bemerkung, aber sie kam nur halbherzig heraus. Vielleicht. Ich bin etwas besser dran als sie. Ich habe Zugang zum. 87
Eididh. So habe ich deine Sprache und alles andere gelernt, was ich über Manhattan weiß. Wieder das flüchtige Lächeln.
»Ich konnte nur die Energie sehen, die Lebenskraft. Du kannst Informationen aus dem Netzwerk ziehen?«
Oja. Unsere Erinnerungen enden dort, wenn wir sterben, mein Junge. Unsere Persönlichkeit. Das, was unsere älteren Freunde dort das Ba nannten. Das Lagerhaus unserer Hoffnungen und Ängste. Indras Netz. Die Akasha‐Chronik. Die gesammelten Ideen der menschlichen Rasse. Du und ich, wir können dort alles lesen, wenn wir uns dieser Möglichkeit öffnen.
»Du und ich. Weil wir noch immer denken können. Der Zugang zum Netzwerk erfordert eine bewusste Anstrengung, und die anderen - die Toten dort draußen können diesen Sprung nicht machen, nicht mit dem, was ihnen als Gehirn geblieben ist.« Aye.
»Aber zwischen dir und mir besteht ein Unterschied. Ich fühlte das. Deine... deine Energie, sie ist komplizierter. Wie die eines Lebenden, aber so dunkel wie meine. Ich kann das nicht gut erklären.« Du machst das schon sehr gut. Die Mumien und ich, nun, wir teilen deinen Hunger nicht. Unsere Körper sind unantastbar. Wir verfaulen nicht. Wieder das flüchtige Lächeln. Dann ist da die Tatsache, dass du diesen Zustand gewählt hast. Du hast dir das selbst angetan.
»Aber es kann nicht sein, dass ich der Einzige bin. Du hast mich aus der Ferne aufgespürt, du musst wissen, ob es noch andere wie uns gibt.« Mael nickte. Ein paar. Hauptsächlich solche wie mich, aber du warst nicht der Einzige, der sich auf diese Weise gemartert hat. Da ist ein Junge an einem Ort namens Russland. Sehr vielversprechend. Wurde von einem rasenden Vehikel überfahren. Er litt jahrelang, während Maschinen sein Herz in Gang hielten, aber seine
87 Eltern ließen nicht zu, dass die Arzte den Stecker zogen. Natürlich konnten sie nicht wissen, was sie da erschufen. Eine weitere ist hier in deinem Land. Sie nennt den Ort Kalifornien. Eine Yogalehrerin, die sich in einer Sauerstoffbar aufhielt. Ich habe keine
Ahnung, was das sein soll. Sie hatte die gleiche brillante Idee wie du, aber bei ihr hat es nicht so gut geklappt. Erwachte mit schlimmen Kopfschmerzen und fand heraus, dass sie nicht mal mehr das Einmaleins konnte. Und sie hat noch viel mehr verloren. Ihren Namen zum Beispiel.
Gary nickte. Russland. Kalifornien. Ohne Auto oder Flugzeug wurde er zu Fuß zu ihnen gehen müssen. Sie waren so weit weg. »Die könnten genauso gut auf dem Mond sein. Schon komisch. Vor ein paar Tagen hielt ich mich noch für den Einzigen, und das war okay so. Dann hast du Kontakt zu > mir aufgenommen. Irgendwie wurde ich erst einsam, als ich wusste, dass ich nicht allein bin.« Er griff in den Schaukasten und nahm sich einen Edelstein in der Form eines schakalköpfigen Gottes. Er war wunderschön - von liebevollen Händen gestaltet. Ein künstlich erzeugter Gegenstand. Das alles war jetzt vorbei. Es war niemand mehr da, der schöne Dinge erschaffen konnte. So, wie niemand mehr da war, der diese zu schätzen wusste. Es gab Überlebende, aber sie waren nur noch damit beschäftigt, nicht getötet zu werden. Vermutlich konnte man ihnen das nicht einmal vorwerfen. Er legte den Edelstein zurück. »Was ist mit uns geschehen, Mael? Was hat die Epidemie verursacht?« Der Druide kratzte sich am Kinn. Die Geste besagte, dass er angestrengt nachdachte. Mael war ein wahrer Meister der Körpersprache, selbst mit nur einem Arm. Ich weiß, was du für den Grund hältst. Eine Krankheit wie die Grippe oder die Pocken. Aber das stimmt nicht. Die Alten, die Väter, die du als Götter bezeichnen würdest, sie haben uns das als Vergeltung geschickt. Es war ein Urteil.
88 »Wofür?« Such es dir aus, mein Junge. Ich könnte sagen, für alles, was ihr der Erde angetan habt, aber dann wäre ich bloß ein alter Okospinner. Vielleicht für das, was ihr euch gegenseitig angetan habt. Ich weiß, dass du das nur schwer akzeptieren kannst. In deiner Welt passieren die Dinge eben einfach so, nicht wahr? Wie ein Unfall. Zufällig. Zu meiner Zeit dachten wir da anders. Für uns geschah alles aus einem Grund. Begleite mich, Gary. Ich habe nur wenig Zeit, um mich mit dir zu unterhalten. Da wartet ein finsteres Werk, das verrichtet werden muss. Kampf. Massenmord, bevor alles erledigt ist.
»Was?«, fragte Gary. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Dazu kommen wir noch, wenn die Zeit gekommen ist. Lass mich dir zuerst etwas zeigen.
Mael führte ihn zurück durch den Agyptenflügel des Met. Die befreiten Mumien hatten ihn übernommen, und Gary begriff zum ersten Mal, wie morbide dieser Ort eigentlich war. Ein geplünderter Friedhof, wo man die Toten für Schulkinder zur Schau stellte. In einem der Räume fiel sein Blick auf eine Mumie, die versuchte, Schmuck anzulegen; die Ketten aus Türkis und Gold hoben sich funkelnd von den dreckigen Bandagen an ihrem Hals ab. In einem anderen Raum bemühte sich eine wahrhaft uralte Mumie, die aus kaum mehr als Knochen und Lumpen bestand, mit gespreizten Fingern einen gewaltigen Sarkophag zu öffnen. Es sah aus, als wollte sie zurück ins Grab. Mael blieb in einem Raum stehen, der durch eine klappbare Trennwand abgeteilt wurde. Offensichtlich hatten die Kuratoren an diesem Raum gearbeitet, bevor sie
das Museum wegen der Epidemie verlassen hatten. Die Wände waren himmelblau gestrichen, und über einer Reihe leerer Ausstellungskästen standen in großen weißen Buchstaben die Worte MUMIEN AUS ALLER WELT. Die Leichen in diesem Raum *89 waren wahrlich tot. SIBIRISCHE EISMUMIEN stellten kaum mehr als unvollständige Skelette mit Haarbüscheln an den zerbrochenen Schädeln dar; BERGMUMIEN AUS PERU zeigten nur leere Dunkelheit hinter den eingefallenen Augenhöhlen, ihre Gehirne waren schon vor langer Zeit verfault. Ganz hinten im Raum lag ein langer, niedriger Kasten, der von innen zerschmettert worden war. KELTISCHE MOORMUMIE AUS SCHOTTLAND war dort zu lesen. Das musste Maels Grab gewesen sein. »Die Mumie in diesem Kasten«, las Gary von einer Tafel an der Wand, »lebte zur Zeit der Römer. Aller Wahrscheinlichkeit wurde der Mann von seinem eigenen Volk geopfert. Aus den bei ihm gefundenen Artefakten schließen die Archäologen, dass es sich um einen Priester oder einen König handelte.« Tatsächlich ist beides richtig. Und, falls nötig, Musiker und Astronom und Heiler. Ja, Gary, zu meiner Zeit war auch ich Arzt. Du würdest meine Methoden sicherlich für primitiv halten, aber im Großen und Ganzen habe ich mehr Gutes als Schlechtes getan.
Gary ging in die Hocke, um sich die Tafel genauer anzusehen. Da war eine Rekonstruktion, wie Mael als Lebender vermutlich ausgesehen hatte - es entsprach ziemlich genau der Erscheinung, die ihn Downtown besucht hatte. Die Tätowierungen waren falsch - sie sahen aus wie moderne Tribal-Tattoos. Direkt daneben befand sich ein Bild von Stonehenge, das, wie das Museum Gary versicherte, nicht von Druiden erbaut worden war, das sie aber dazu benutzt hatten, um die Sonnenfinsternis vorherzusagen. »Wie bist du gestorben?« Das ist in der Tat eine tolle Geschichte. Mael setzte sich auf einen Schaukasten voller teilweise erhaltener Schädel und dachte eine Weile nach, bevor er weitersprach. Wir kamen nacheinander dran. Ich erhielt das verbrannte Bannockbrot in meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. So wählten wir die Gesalb 89
ten: indem wir Brotstücke aus einem Beutel zogen. Der Sommer war zu kalt für das Korn gewesen, und mein Volk drohte zu verhungern. Also brachte man mich zu den Eichen überMoin Boglach und hängte mich auf bis ich nach Luft rang. Als man mich abschnitt und ich in das dunkle Wasser unterhalb des Torfs stürzte, hatte ich ein Gebet an Teuagh auf den Lippen. Wir nannten ihn den Vater der Stämme. 0 Gott, bitte lass das Korn wachsen. So etwas in der Art. Unter Wasser wartete er bereits auf mich. Er sagte mir, wie enttäuscht er war. Was ich zu tun hatte. Dann wachte ich hier wieder auf.
Gary wurde sich zum ersten Mal bewusst, dass der Strick um Maels Hals keinen Schmuck darstellte. Es war eine Henkersschlinge. »Mein Gott«, stieß Gary leise hervor. »Wie schrecklich.« Wut belebte Mael, als er antwortete, sein Kopf wackelte so stark, dass Gary einen Moment Angst hatte, er könnte sich lösen. Es war großartig! In diesem Moment war ich die Seele meiner Insel, die Hoffnung meines Stammes, zu gemartertem Fleisch gemacht. Ich wurde für diesen Tod geboren. Es war Magie.
Gary legte Mael die Hand auf den Arm. »Es tut mir ja wirklich leid - aber dein Tod war umsonst. Teuagh, wer auch immer das war. Er konnte das Korn nicht wachsen lassen.« Mael stand hastig auf und humpelte aus dem Raum. Mag sein, mag sein. Zu meinem Glück endete die Geschichte damit aber ʹnicht. Meine Welt bestand aus ein paar Dutzend Häusern und einem kleinen bestellten Feld. Dahinter gab es nur den Wald ‐ den Ort, an dem nachts die Ungeheuer umherstreiften. Wir hatten keine eurer technischen Errungenschaften, aber wir wussten Dinge, die ihr vergessen habt. Aye, wahre Dinge ‐ wertvolle Dinge. Wir kannten unseren Platz in der Welt. Wir wussten, was es bedeutete, der Teil von etwas zu sein, das größer war als wir alle zusammen. Als ich hier erwachte, war ich blind. Mir fehlten Körperteile. Ich 90
verstand weder die Sprache meiner Häscher noch, warum sie mich in einem winzigen Glassarg einsperren wollten. Ich wusste nur, dass mein Opfer gescheitert war ‐ es bringt nichts, wenn man überlebt, verstehst du? Der Vater der Stämme hatte andere Pläne für mich, aber zuerst konnte ich sie nicht begreifen. Es dauerte viel zu lange, bis ich mich dem Eididh öffnete und endlich verstand. Im Leben hatte ich einem Zweck gedient. Im Tod würde ich einem anderen dienen. Ich war zum Ungeheuer in der Nacht geworden. Was uns auf den neuesten Stand hingt, mein Junge, und zu dem Augenblick, in dem ich die Dinge umkehre und dir eine Frage stelle. Ich habe eine Arbeit zu erledigen und nur eine Hand. Ich könnte dich gebrauchen, mein Sohn. Du wärst eine große Hilfe.
»Arbeit? Was denn für eine Arbeit?« Ah, ja. Ich werde alle Überlebenden töten. Die Stimme des Druiden hatte eine
melancholische Müdigkeit angenommen, die Gary kaum ertragen konnte, als sie in seinem Kopf widerhallte. Diese Aufgabe hatte er wirklich nicht gewollt, darum hatte er wirklich nicht gebeten. Es war eine Pflicht. Das alles verriet Gary der Tonfall des Druiden. Ich sprach von einem Urteil. Nun, ich bin das Instrument, das
dieses Urteil vollstreckt. Ich bin hier, um es geschehen zu lassen.
»Mein Gott. Du redest von Völkermord.« Er zuckte mit den Schultern. Ich rede von dem, was wir sind. Ich rede davon, warum wir mit funktionierendem Verstand zurückgebracht wurden ‐ um das zu vollenden, was man angefangen hat. Nun, mein Junge. . . Bist du dabei oder nicht? 90
12. Jack führte uns einen langen Gang entlang, der nur sporadisch von Licht erhellt wurde, das durch Gitter in der Decke hereinfiel. Auf der anderen Seite dieser Gitter befanden sich Tausende von Untoten, und das Licht in dem Tunnel veränderte sich ständig, als sie über uns auf den Bürgersteigen umherstreiften, mit ihren Schatten die Sonne verdeckend. Für jemanden wie Jack, der hier unten lebte, war dieser Weg vermutlich nicht so unheimlich. Nach einer Minute sammelte sich eiskalter Schweiß in meinem Nacken. Es ging mir etwas besser, als ich sah, dass Ayaan jedesmal,
wenn sie über uns einen Toten vorbeigehen sah, automatisch das Gewehr hob. Einmal ließ sich ein Toter zu Boden fallen und starrte uns durch das Gitter an, seine Fingernägel kratzten über das Eisen. Ich spürte die Anspannung in Ayaans Körper, obwohl ich über einen Meter Abstand zu ihr hielt. Es kostete sie ihre ganze Beherrschung, keinen Schuss abzugeben, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach als Querschläger von dem Gitter abgeprallt wäre und einen von uns getroffen hätte. Wir waren Ratten in einem Käfig. Die Toten hatten uns in der Falle. Als ich schon glaubte, es nicht länger ertragen zu können, verbreiterte sich der Gang. Dahinter befand sich eine große Halle, die eine gewisse Helligkeit aufwies. Als wir um die Ecke bogen, wollte ich meinen Augen kaum trauen. Das Zwischengeschoss des U-Bahnhofs sah fast genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte fast. Die weißen Säulen waren da und stützen noch immer die niedrige Decke. Die Wände waren noch 91 immer von Werbetafeln hinter dünnen, mit Graffiti vollgekritzelten Plastikscheiben bedeckt. Es befanden sich noch immer zu viele Leute in dem niedrigen Raum, aber sie bewegten sich nicht. Normalerweise wäre dieses Zwischengeschoss mit gewaltigen Menschenströmen gefüllt gewesen, die von einem Bahnsteig zum nächsten eilten. Jetzt saßen die Menschen in Gruppen von fünf oder sechs Leuten auf Decken am Boden oder lungerten an den Wänden herum und mieden unsere Blicke. Ihre Kleidung war farbenfroh, von teurem Schnitt, man sah Pelze im Wert von Tausenden von Dollar, aber ihre Gesichter waren eingefallen und blass. Die Augen zeigten nichts außer der erschöpften Langeweile, die ein Leben in Angst mit sich bringt. Diesen Blick hatte ich überall in Afrika gesehen. Ich schaute zur Decke und sah etwas anderes, das mich überraschte. »Ihr habt Elektrizität.« Dort oben flackerten ein paar vereinzelte Leuchtstoffröhren. Die meisten waren dunkel, aber es gab genug Licht, um unsere Umgebung sehen zu können. »Ich dachte, es gäbe keinen Strom mehr.« »Es gibt ein Brennstoffzellensystem. Das wurde nach dem Stromausfall von 2 0 0 3 installiert, als Leute hier unten in der Dunkelheit festsaßen. Es sollte nur für Notfälle sein, aber wir haben es am Laufen gehalten.« »Wie lange sind Sie schon hier unten?«, fragte ich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Seit der Evakuierung?« Jack sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Es gab keine Evakuierung.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben vor Port Authority doch Gepäckstapel gesehen. Schilder, die den Leuten befahlen zusammenzubleiben.« Er nickte. »Klar. Weil sich dort Menschen versammelten, die weg wollten, und vielleicht haben einige von ihnen es sogar geschafft. Aber es gab keine groß angelegte Evakuierung. 91 Denken Sie doch mal darüber nach. Wo sollten die Leute denn hin? Es gibt keinen sichereren Ort als diesen hier. Abgesehen vielleicht von dem, wo Sie herkommen. Die Nationalgarde hat die Stadt Block für Block gesperrt, beschützt, was sie nur konnte, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Der Times Square war der letzte Ort, an dem es noch eine gewisse Ordnung gab. Die hielt sich bis vor ungefähr einem
Monat. Diejenigen unter uns, die schlau genug waren, um zu begreifen, dass es mit der Zivilisation vorbei war, kamen hier herunter. Der Rest wurde gefressen.« Wir wurden unterbrochen, bevor ich weitere Fragen stellen konnte. Eine Frau trat auf uns zu, eine lebendige Frau (ich verspüre noch immer die Notwendigkeit, diesen Unterschied zu verdeutlichen), die einen langen Louis-Vuitton-Mantel über einem Umstands-Shirt mit der Aufschrift NICHT HINSEHEN trug. Selbst im Zwielicht der Bahnhofsetage trug sie eine pfirsichfarbene Sonnenbrille. Ihrem Bauchumfang nach zu urteilen musste sie mindestens im sechsten Monat schwanger sein. Auf ihrem Namensschild stand HALLO, MEIN NAME IST fuckyou. »Das sind unsere Retter?«, fragte sie Jack. Er zuckte mit den Schultern. »Sie sind ja nicht sehr weit gekommen.« Anscheinend hatte die Nachricht unserer Taten die Überlebenden bereits erreicht. »Na ja, wenigstens haben wir jetzt neuen Gesprächsstoff. Geschichten über schwachsinnige Fehlschläge sind immer gut.« Jacks Mund war zuvor ein schmaler Strich gewesen. Jetzt verschwanden seine Lippen ganz. In ihm brodelten Abscheu oder Hass oder Wut oder sonst etwas, aber er gestattete sich nicht, das zu zeigen. »Sie hatten einen guten Plan, Marisol. Er war wirklich einfallsreich.« »Das waren Plastikgürtel auch, Darling, aber es gibt sie nicht mehr.« Sie streckte die Hand aus und berührte Ayaans 92 Kopftuch. »Britney Spears trifft Mullah Omar. Wie süß. Ich sollte euch wohl in der Großen Republik willkommen heißen, aber das wäre nicht ehrlich. Wir haben etwas zu essen für euch, falls ihr Hunger habt. Vielleicht können wir auch eine Decke ohne zu viele Flöhe auftreiben, falls ihr ein Nickerchen machen wollt.« Sie seufzte und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Bin gleich wieder da.« Jack führte uns in eine weniger vollgepackte Ecke und hockte sich auf die Fersen. Ich setzte mich auf den Boden, froh, mich ausruhen zu können. Ayaan blieb stehen und fummelte gelegentlich an ihrem Gewehr herum. Ich weiß nicht, was sie von alledem hielt. Jack hatte offensichtlich nicht die Absicht, sich mit uns zu unterhalten, also brach ich das Eis. »Das ist ein schönes Schrotgewehr«, sagte ich und zeigte auf seine Waffe. Er zog sie dichter an sich, als befürchtete er, ich würde sie ihm wegnehmen wollen. Vermutlich ein Reflex aus seiner Ausbildungszeit. »Das ist eine SPAS-12, nicht? Mit diesem Überzug habe ich sie erst nicht erkannt.« Er schaute auf die mattschwarze Emaillefarbe der Waffe. »Ich habe sie mit Polizeilack versehen, weil die Standardfärbung so schimmerte.« Ich nickte eifrig. Zwei Waffennarren, die sich unterhielten, mehr nicht. Die SPAS12 oder auch Sporting Purposes Automatic Shotgun 12 -Gauge (der Name hatte dem Kongress vorgaukeln sollen, dass es sich um eine Jagdwaffe handelte - eine dicke Lüge, das Teil war eine Militärwaffe, ein in jeder Hinsicht brutaler »Straßenfeger«) hatte ziemlich weit oben auf meiner Liste der Waffensysteme gestanden, die meiner Ansicht nach hätten verboten werden sollen, aber das war vor der Epidemie; nun war mir klar, dass sie von Nutzen sein konnte, wenn es darum ging, den U-Bahnhof gegen einen Angriff der Untoten zu beschützen. »Verschießen Sie die Standardpatronen, oder haben Sie sie auf taktische Stärke reduziert?« 92
»Taktisch.« Jack schaute eine Weile in die andere Richtung. Offensichtlich ein Mann, der jede Unterhaltung gern mit aussagekräftigen Pausen würzte. Schließlich deutete er mit der Schulter auf Ayaan (seine Hände waren mit der Schrotflinte beschäftigt). »Sie ist ein Gerippe, oder? Eine Somali?« »Ein Gerippe?«, wiederholte ich. »Das ist bloß Army-Slang. Soll keine Beleidigung sein. Ich war Ranger bei der 75*.« Er schien nicht die Notwendigkeit zu verspüren, das weiter auszuführen. Nach dem Ruck zu urteilen, der durch Ayaan ging und danach, wie sie sogar leise zischend die Luft ausstieß, konnte ich ein paar der Lücken ausfüllen. Das 75* Ranger Regiment war, wie ich mich später vergewisserte, die Truppe, die 1993 versucht hatte, Mohammed Aidid im Olympic Hotel in Mogadischu gefangen zu nehmen. Die Mission endete damit, dass man zum ersten Mal in der Geschichte zusehen konnte, wie ein toter amerikanischer Soldat durch die Straßen einer fremden Hauptstadt geschleift wurde. »Sie hat sich als wertvolle Verbündete erwiesen«, protestierte ich, aber er brachte mich mit einem Blick zum Schweigen. Anscheinend wollte er genau darüber sprechen. »Ich war nicht bei dem Kommando am Hotel, ich war im Lager und spielte den ganzen Tag Karten. Die Gerippe waren schlau. Sie haben uns übertrumpft, trotz unserer Ausbildung und unserer Disziplin. Und sie waren entschlossen. Ich habe gesehen, wie Gerippe erschossen wurden und die Waffe fallen ließen und andere Typen - und sogar Frauen und Kinder - ins Feuer rannten, um die Waffen aufzuheben und noch ein bisschen auf uns zu schießen.« Er schüttelte den Kopf und sah direkt durch mich hindurch. »Wir haben ihr Land besetzt, und sie wollten uns vertreiben. Wir hätten niemals dort sein sollen, und als Bill Clinton den Kontakt abbrach, war ich unendlich froh, nach Hause zu können.« 93
Er starrte Ayaan an, als wollte er sie lesen, als wäre ihre Anwesenheit ein Bericht von einem anderen Ort, den er studieren und analysieren konnte. »Ich sehe hier nur, dass die Gerippe diese Epidemie überstanden haben, dass sie nicht wie wir überrannt wurden.« Ich nickte zur Bestätigung. »Das überrascht mich gar nicht. Tun Sie mir einen Gefallen und behalten Sie das für sich. Wenn diese Menschen wüssten, dass unsere einzige Hoffnung in einem Bündnis mit Somalia bestand... Ich glaube nicht, dass viele dort hinwollen.« Vermutlich war das alles gewesen, was er zu sagen hatte. Ich löcherte ihn weiter, benutzte mein längst nicht mehr aktuelles Wissen über Army-Abkürzungen und Slang, um ihn herauszulocken, aber er antwortete nur noch einsilbig. Schließlich stand er wortlos auf und schlenderte davon. Irgendwann kam Marisol mit ein paar Decken für uns und einer Dose Buttermais zurück, deren Inhalt Ayaan und ich dankbar herunterschlangen. Es war offensichtlich das Beste, was die Überlebenden zu bieten hatten. Sie mussten die ganze Zeit von Dosen gelebt haben. »Ich sehe, unsere Unterkunft beeindruckt euch«, sagte Marisol, während sie uns beim Essen zusah. »Ihr müsst einfach bis zur Show bleiben.« Etwas schien sich in ihr zu verändern, eine Maske fiel, und sie setzte sich neben mich. »Ich hoffe, Jack hat nicht eure Gefühle verletzt. Er kann ein Bastard sein, aber wir brauchen ihn.«
Eigentlich hatte ich mir Gedanken über sie gemacht, nicht über ihn. Was konnten ihr unfreundliches Benehmen und ihre blöden Witze hier unten eigentlich ausrichten? Aber ich stellte eine andere Frage. »Er hat den Befehl über unsere Verteidigung?« »Süßer« - sie klimperte mit den Wimpern in dem halbherzigen Versuch, ihre einstudierte Sorglosigkeit zurückzuerlangen - »er hat den Befehl über alles. Er repariert den Genera 94
tor, wenn der stehen bleibt. Er organisiert die Suchmannschaften, die unsere Lebensmittel besorgen. Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie viele Lebensmittel zweihundert Leute am Tag konsumieren? Ohne ihn würden wir sterben. Schrecklich.« Sie nahm mir die leere Dose aus der Hand, als ich fertig war. »Natürlich sollte ich die Bedeutung meiner besseren Hälfte nicht herunterspielen. Der Alte macht auch einen tollen Job. Ich hoffe, ihr bleibt bis zu seiner großen Ansprache.« Die Nacht brach herein, und wir hatten keinen Schutz gegen die Untoten mehr. Es sah so aus, als hätten wir keine Wahl. 94
13.
»Du... das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Gary. Mael ging immer tiefer in das dunkle Museum hinein, durch einen Skulpturengarten, der nur indirekt durch Fenster an der Außenseite erhellt wurde. »Du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich glaube, du gehst in die Stadt und fängst an, Überlebende zu töten?« Als der Druide weiterhumpelte, kamen die Mumien aus der Agyptenabteilung, Kanopenkrüge und Herzskarabäen fest an die Brust gedrückt. Ein außerordentlich frustrierter Gary rief Gesichtslos und Nasenlos herbei - er wollte in diesem Augenblick nicht unbedingt in der Minderzahl sein. »Davon abgesehen, das wäre hier sowieso sinnlos. In dieser Stadt gibt es vielleicht noch eine Handvoll Menschen...« Als ich das letzte Mal nachsah, waren es noch über tausend.
Mael stieß eine Tür auf, und sie traten in einen bunten Lichtstrahl. Bemalte Fenster an der Decke überschütteten sie mit Helligkeit, während massive gotische Torbögen sie zum Weitergehen einluden. Mael blieb stehen und schaute Gary an. Sie sind in einem schlechten Zustand, mein Sohn. Sie verhungern ‐ sie sind eingesperrt auf engstem Raum, und sie können nie wieder nach draußen, oder sie haben zu viel Angst, um draußen nach Essen zu suchen.
»Dann lass sie doch verhungern!« Das wäre grausam. Ich bin für Gnade, mein Junge. Die menschliche Rasse ist erledigt, das kann keiner bestreiten. Aber sie lässt sich Zeit mit dem Ende. Stell dir nur vor, welches Leid ich ihnen erspare. Hier!
Mael hatte einen Schaukasten gefunden, der genau wie 186 hundert andere aussah, die Gary gesehen hatte. Mithilfe zweier Mumien öffnete er ihn und entnahm ein Schwert. Eine wunderschöne Schmiedearbeit, aber die Jahrhunderte hatten es mit dunkelgrüner Patina verfärbt, und die Klinge war mit der Scheide verschmolzen.
Das Heft hatte die Form eines brüllenden Keltenkriegers. Mael ließ es in weitem Bogen durch die Luft sausen. Sie ist nicht die Antwort, aber sie wird reichen.
»Du willst damit Leute töten?« Maels Kopf sackte nach vorn. Sei nicht so engstirnig. Ich will nur vernünftig ausgerüstet sein. Also hilfst du mir nicht? Das ist nicht >dein Ding Nun gut. Willst du also meinen Feind spielen ? Muss ich dich also beseitigen, um das Große Werk zu vollenden? Oder trittst du zur Seite und lässt mich machen?
Einen Augenblick lang dachte Gary darüber nach, aber es war sinnlos. Er war kein Kämpfer - und er hatte gesehen, wie stark Mael war, auch wenn er nicht so aussah. Seine dunkle Energie war enorm und mächtig. Sie fühlte sich an wie ein sonnenloser Planet, groß und rund und völlig unabhängig, etwas so Großes, dass es seine eigene Schwerkraft hatte. »Ich... ich glaube kaum, dass ich dich aufhalten kann. Ich kann versuchen, es dir auszureden.« Es wird keine Diskussion geben, Gary. Wir sind\Jamhas. Ungeheuer. Es gibt Gutes auf dieser Welt und es gibt Böses, und wir sind das Böse. Entweder du kommst mit mir oder du lässt mich gewähren, mein Junge. Da wartet Arbeit auf mich.
Mael benutzte das Schwert als Stock und humpelte durch die Mittelalterausstellung. Er betrat den großen Museumssaal. Gary wusste nicht, was er anderes machen sollte, und folgte ihm wie benommen. Nein zu sagen war seine unmittelbare Reaktion gewesen, und er wusste, er hätte dabei bleiben sollen, aber Maels Überzeugung war ein mächtiges Argument. Schließlich war Gary 95 mit seinen Fragen zu dem Druiden gekommen. Hatte er das Recht, sich die Antworten auszusuchen, die ihm gefielen, und die anderen zu verwerfen? Es war nicht gerade so, dass Gary den Lebenden gegenüber eine besondere Treuepflicht empfand. Dafür hatten sie ihn einfach zu schäbig behandelt. Er musste an den Augenblick der Erkenntnis denken, als er Nasenlos das erste Mal auf der 14* Street gesehen hatte, als sie wie Spiegelbilder erschienen waren. Damals hatte Gary sich selbst als Monster bezeichnet, und er hatte es auch so gemeint. Er hatte so viel Zeit mit dem Versuch verbracht, einfach nur zu überleben. Mit eigener Hand hatte er sich in einen toten Freak verwandelt, weil das als der einzige Weg erschienen war. Er hatte versucht, sich mit Dekalb anzufreunden, um aus einer schlimmen Situation herauszukommen. Doch wofür existierte er eigentlich? Einfach nur weiterzumachen war ursprünglich genug gewesen, aber jetzt... wenn er nichts mit der zweiten Chance anfing, die er bekommen hatte, hatte er sie dann überhaupt verdient? Er glaubte nicht an diese Scheiße mit dem Urteil und der Vergeltung. Aber vielleicht gab es andere Gründe mitzumachen. Zum Beispiel Rache. Alle Menschen zu vernichten schloss Ayaan mit ein und Dekalb auch. Die Arschlöcher hatten ihm nicht zugehört - sie hatten ihn einfach wie einen Hund abgeknallt, ihm nicht die geringste Chance gegeben.
Dann war da der Hunger in seinem Bauch, eine wilde Bestie, die in ungezügeltem Verlangen gegen die Gefängnismauern trat. Bei der Arbeit für Mael würde er viel frisches Fleisch bekommen. »Wie willst du anfangen?«, fragte Gary zaghaft. Mael stand da, eingerahmt von den offenen Eingangstüren des Met, das Sonnenlicht floss um sein lederiges Fleisch. Ich habe schon angefangen, sagte er und trat in den Tag hinaus. Gary 96
folgte ihm und sah, dass unzählige Augen auf ihn gerichtet waren. Die ganze 5* Avenue war mit Toten verstopft. Ihre Körper füllten den Raum wie ein Wald aus menschlichen Gliedmaßen. In Kleidung, die Zeit und Dreck gebleicht hatten, und mit ausgerissenem oder verfilztem oder ausfallendem Haar wurden sie zu einer Entität, einer gesichtslosen Masse. Weiße, Schwarze, Latinos, Frauen, Männer, hinfällige Skelette und frisch umgebrachte Leichen. Tausende. Sabber tropfte aus ihren offen stehenden Mündern. Ihre gelben Augen richteten sich in erschreckendem Gleichklang auf den Druiden. Sie warteten auf seinen Befehl. Mael hatte eine Armee versammelt -er musste sie die ganze Zeit über gerufen haben, während Gary seine Fragen stellte und in moralischem Treibsand versank. Gary hatte sich nie so viele von ihnen an einem Ort vorgestellt - es erschien unmöglich, als könnte die Welt kein so großes Gewicht tragen. Ihr Schweigen machte sie zu Sphinxen, unergründlich, unerbittlich. Keine Macht konnte gegen sie bestehen. Zum ersten Mal fragte sich Gary, ob Mael es tatsächlich schaffen würde. Es gab so viel mehr Tote als Lebende. Die wenigen Überlebenden waren am Leben geblieben, weil sie klüger als ihre Gegner waren, aber wenn man die Untoten organisierte... wenn eine Person sie anführte, welche Chance hatten die Lebenden dann? Der Augenblick war gekommen, sich für eine Seite zu entscheiden. Mael hob das Schwert und gab ein Zeichen, und die Töten eilten als geschlossene Masse die Straße entlang, teilten sich, als sie um die Seiten des Museums und in den Central Park strömten. Ihre Füße trafen die Steinfliesen wie eine Kriegstrommel, die einen wilden Schlag schlug. Mael und die Mumien schlossen sich dem Pulk an, und Gary holte sie ein, als sie die Bronzestatue von drei Bären passierten. Gary hatte die 96
Skulptur schon zuvor gesehen, jedoch immer gedacht, sie hätte etwas mit einem Märchen zu tun. Jetzt sah sie wie ein Totem aus, das Emblem eines Eroberungsheeres. Ob nun gut oder böse, Gary, ich tue, wozu ich bestimmt war. Es spielt keine Rolle, wozu wir uns entscheiden. Es ist nur wichtig, was wir sind. Obwohl Mael nur wenige Schritte weit entfernt war, überraschte Gary das plötzliche Eindringen der Gedanken in seinen Verstand. Bei dem donnernden Gleichschritt der marschierenden Toten hatte er erwartet, dass alle Worte übertönt wurden. Stattdessen schienen sie widerzuhallen. Ob für das Gute oder das Böse: zwei Seiten derselben Pflicht. Früher habe ich Leben gerettet, hatte Gary dem Überlebenden Paul gesagt. Jetzt nehme ich sie.
Hast du das Gefühl, es gäbe eine andere Sache, der du dienen könntest? Was ist dir wichtiger? Was könnte wichtiger sein als das Ende der Welt? Der Schlamm im Park schäumte unter den trampelnden Füßen der Toten, spritzte in großen Klumpen hoch, durch die Gary hindurchstolperte. Sie kamen zu einer großen, offenen Fläche ohne Bäume - das musste einst der Great Lawn gewesen sein -, und die Toten verteilten sich, ließen eine große, kreisrunde Lichtung in ihrer Mitte, eine offene Stelle, auf der Mael mit den Mumien stand. Der Druide drehte sich ein paar Mal und kratzte schließlich mit dem Schwert ein Zeichen in die Erde. Er gestikulierte den Toten, und die handelten. Aus der Ferne hörte Gary ein lautes Grollen, und eine Staubsäule stieg über den kahlen Bäumen im Süden auf. Eine Bombe musste explodiert sein oder eine Gasleitung oder... Gary hatte keine Ahnung. »Was geschieht?«, fragte Gary. Der Bau hat begonnen. Ich muss einen Broch haben, von 190 dem ich meine Befehle geben kann. Eine Festung mit einem Thronsaal. Das alles sagte Gary herzlich wenig, aber bald verstand er. Die Menge kam an den Rändern in Bewegung, dann pflanzte sich die Bewegung fort. Die Toten reichten Ziegel weiter. Mörtel klebte an den Steinen, auf denen gelegentlich Graffitifragmente zu sehen waren. Die Toten mussten ein Gebäude zum Einsturz gebracht haben - das war der Lärm gewesen -, und jetzt benutzten sie das Baumaterial für Maels Hauptquartier. Ein Ziegel nach dem anderen wurde abgelegt; die Toten drückten sie unbeholfen tief in den Schlamm. Sie schwärmten wie die Ameisen um die Stelle herum, an der Mael stand, völlig auf ihre Aufgabe konzentriert. Das ging weit über das hinaus, zu dem die Toten nach Garys Erfahrungen fähig waren, dazu brauchten sie eine Intelligenz, die sie aus der Ferne organisierte. Konnte Mael sie tatsächlich alle zugleich kontrollieren? Die Macht des Druiden musste gewaltig sein. Gib mir eine Chance, Gary. Arbeite einen Tag mit mir. Vielleicht gefällt es dir ja. Vielleicht fühlst du dich ja wohl mit dem, was du bist. Er hatte solche Schuldgefühle gehabt, weil er Ifiyah gefressen hatte, weil er versucht hatte, dem Standard der Lebenden zu entsprechen - dem zum Trotz, was er geworden war. Die Euphorie, die er verspürt hatte, nachdem er Kev verschlungen hatte, war die natürlichste Sache gewesen, die er je erfahren hatte. Gary wollte ablehnen, aber er konnte es nicht. Angesichts derart konzentrierter Bemühungen - und ganz zu schweigen von Maels Sicherheit - erschien es unmöglich, das zu bestreiten, was hier gerade geschah. »Einen Tag«, sagte er, die trotzigsten Worte, die er aus seinem Mund zwingen konnte. »Einen Tag, dann sehen wir, wie ich mich fühle.« Mael nickte und achtete darauf, dabei sein gebrochenes Genick nicht zu sehr zu belasten. 97
14. Shailesh führte uns an eine Stelle, wo wir uns gegen einen der Stützpfeiler lehnen konnten. Es sei die beste Stelle, um die Rede zu verfolgen, meinte er. Ich hatte noch immer keine Ahnung, was hier vorging. Das Licht wurde gedämpft, und das
Summen der Unterhaltung um uns herum senkte sich zu einem leisen Gemurmel. Wir schauten auf eine freie Stelle. Dabei hatten wir eine gute Sicht auf das berühmte Wandgemälde von Roy Lichtenstein über unseren Köpfen. In Grundfarben und kräftiger Federführung, wie in einem Comic, zeigte es ein New York der Zukunft: raketengetriebene U-Bahn-Waggons mit Flügeln, die durch eine Stadt aus spitzen Türmen und Luftbrücken flogen. Ganz rechts überwachte ein ernst aussehender Mann mit einem Funkhelm stolz die Züge. Unter dem Wandgemälde erschien ein lächelnder Mann und winkte den Leuten in der Menge zu. Applaus ertönte, und irgendwo fing eine Geige an, »Hail to die Chief« zu spielen. Der Mann war vermutlich sechzig Jahre alt. Er hatte einen grauen Bart und nur noch wenige Haare auf dem Kopf. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem Riss in einem Ärmel und einem Namensschild, auf dem HALLO, MEIN NAME IST Mr. President stand. Am Revers funkelte diskret eine amerikanische Flagge. Auf der anderen Seite des Raumes stand Marisol auf und brüllte: »Ladies and Gendemen, ich präsentiere Ihnen den Mann der Stunde, meinen geliebten Ehemann und Ihren Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: Montclair Wilson!« 98 Die Menge rastete aus. Wilson verschränkte die Hände über dem Kopf und strahlte wie ein Suchscheinwerfer. »Danke, vielen Dank«, rief er über dem Lärm der Menge. Als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte, räusperte er sich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Meine lieben Mit-Amerikaner«, sagte er, »es war ein harter Monat. Und doch müssen wir uns daran erinnern, dass der Frühling gekommen ist und mit ihm das Versprechen eines neuen Morgens für Amerika.« Ich packte Shaileshs Arm. Er musste sich dazu zwingen, den Blick von Wilson zu reißen. »Meint er das ernst?«, wollte ich wissen. Er schüttelte den Kopf in dem Versuch, mich zum Schweigen zu bringen, aber dann seufzte er und sagte: »Ohne einen starken Führer sind wir zum Untergang verdammt.« »Aber wer ist der Kerl?« »Er war Professor für Politische Ökonomie an der Columbia, bevor... Ihr wisst schon. Darf ich jetzt bitte zuhören? Das ist wichtig.« Ich ließ ihn los, und er drehte sich um und konzentrierte sich wieder auf die Rede, von der wir einen Teil verpasst hatten. »...habe alle meine Wahlversprechen gehalten oder sogar übertroffen. Mit Stolz sage ich, dass wir jetzt genug heißes Wasser haben, damit jeder einmal in der Woche duschen kann. Ihr habt mich um mehr funktionierende Leuchtstoffröhren in den Schlafquartieren gebeten, und mit Jacks Hilfe habe ich unserem dunklen Land eintausend Lichter gebracht. Außerdem haben wir unsere Bibliothek um fünf Bücher vergrößert, einschließlich einem Roman von Tom Clancy, den ich persönlich sehr empfehlen kann.« Ich sah Ayaan mit einem sarkastischen Grinsen an, aber sie war genauso hingerissen wie die anderen. Sie war von Dema *98
gogen und Beratern für politische Indoktrination großgezogen worden, also war es wohl keine große Überraschung, dass sie für diese Art von Rhetorik empfänglich war. Ich lehnte mich gegen den Pfeiler, betrachtete das Wandgemälde mit seinen Rasterfolieneffekten und versank in einem Tagtraum über eine Zukunft, die jetzt nie mehr eintreten würde. Allerdings merkte ich auf, als der Präsident zu seiner Zusammenfassung aktueller Ereignisse kam. »Wir alle haben die Gerüchte gehört. Anscheinend ist es die Wahrheit - im Hafen liegt ein Schiff. Ich habe erfahren, dass es sich um einen dieselbetriebenen Fischfang-Trawler handelt, der zu einem Truppentransporter gemacht wurde. Nun, wir wollen nicht anfangen, das Wort >Rettung< zu benutzen. Ich weiß, wir alle sind erschöpft und gelangweilt, und wir wollen hier raus, aber ich werde heute Abend nicht über unsere Rettung sprechen. Ich werde euch keine Rettung versprechen, bevor ich sie euch nicht garantieren kann. Ich werde persönlich ein Komitee anführen, um Fakten zu sammeln und in Erfahrung zu bringen, wie es tatsächlich um unsere Rettungschancen bestellt ist. Meine Ergebnisse werden sofort öffentlich gemacht, sobald sie zur Verfügung stehen. Aber eines kann ich euch versprechen: Wenn wir gerettet worden sind, gehen wir alle in das neue und verheißene Land. Wir lassen kein Kind zurück. Gute Nacht, Amerika - und Gott segne euch!« Die Menge explodierte förmlich in einen Begeisterungstaumel, als Wilson fäusteschwenkend die »Bühne« verließ, während die Geige lärmend »It's a Grand Old Flag« anstimmte. Marisol rannte los, um den Platz ihres Mannes einzunehmen, und klatschte dabei. Als das Lied endete, rief sie den Geigenspieler zu sich, damit er auf Wunsch Lieder spielte. Er war ein schlanker Teenager, kaum älter als Ayaan, mit schlimmer Akne, und trug ein T-Shirt mit der Aufschrift 99 WEAPONIZED 2004 WORLD AUTOPSY TOUR. Eine leicht bedrohlich aussehende Nu-Metal-Band blickte verächtlich von der verblichenen Baumwolle. Die Wünsche waren hauptsächlich Lieder von Madonna oder Sinatra, die er mit viel Gefühl spielte. Es war die erste Musik, die ich seit dem Aufbruch aus Somalia gehört hatte, und ich muss zugeben, dass sie mich bewegte, dass sie selbst den verbitterten, zynischen alten Dekalb erreichte. Ich sang ein paar Strophen mit und erinnerte mich an meine Jugend in den Staaten. Ich war aus meinem Heimatland davongelaufen, ich hatte in der Sekunde, in der mich die UN eingestellt hatte, um Auslandseinsätze gebeten. Aber Amerika war gar nicht so schlecht gewesen, oder? In meinen Erinnerungen war es durchaus schön. Es hatte viele Autos gegeben, die ständig liegen blieben, wie ich mich erinnerte, man hatte viel vor McDonald's herumgehangen in der Hoffnung, dass hübsche Mädchen vorbeigingen, auch wenn das nie geschah, aber verglichen mit dem, was nun über unseren Köpfen vor sich ging, erschien es wie das Paradies. Als der Junge anfing, eine Geigenversion von Avril Lavignes Hit »Complicated« zu spielen, erhob ich mich aus der Hocke und ging zum hinteren Teil der Etage, wo Erfrischungen auf einer Reihe Kartentische warteten. Ich nahm mir etwas Punsch (verwässertes Kool-Aid, gemischt mit gepanschtem Wodka) und einen Keks voller Backpulverklumpen.
Die Uberlebenden wollten nicht mit mir sprechen. Ich versuchte verschiedene Methoden - lobte die Snacks, sprach über das Wetter, stellte mich sogar vor, aber ich vermute mal, dass sie einfach nicht hören wollten, wie ihre Chancen standen, mit uns hier rauszukommen. Wenn sie mich nur anstarrten, konnten sie die Illusion aufrechterhalten, dass ich ein Freifahrtschein in die Sicherheit war. Nun, vielleicht war ich das ja tatsächlich. Die Arawelo war «100 noch immer irgendwo da draußen in der Nacht. Wenn wir sie erreichen konnten, gab es eine Chance. Und ich glaubte eine Idee zu haben, wie wir sie erreichten. Ich machte mich auf die Suche nach Jack und kam in einen verlassenen Korridor. Er endete an einer kleinen Treppe. Dort unten hörte ich Menschen, also schaute ich nach und fand Jack. Marisol auch. Er hatte eine Hand in ihrem Hosenbund, seine Lippen liebkosten ihren Hals. Sie sah mich, und einen Augenblick lang war der Ausdruck in ihren Augen purer Trotz. Warum nicht?, schien sie zu fragen, und, um ehrlich zu sein, konnte ich ihr nicht einmal einen Vorwurf machen. Der Tod war immer in unserer Nähe. Davon abgesehen ging es mich nicht das Geringste an. Nach einer Sekunde schien sie sich zu besinnen und stieß Jack wütend weg. »Du verdammtes Arschloch, lass mich los!«, schrie sie. »Du weißt, dass ich verheiratet bin!« Sie schoss an mir vorbei. Ich beobachtete Jack genau, fragte mich, ob er es mir übel nehmen würde, dass ich sie entdeckt hatte. Stattdessen drehte er sich nur langsam um und öffnete die Augen. »Was kann ich für Sie tun, Dekalb?«, fragte er. Bevor ich antworten konnte, hörten wir ein Kreischen, vielleicht sogar einen Schrei - die weißen Bahnhofskacheln verzerrten jede Akustik -, und wir rannten zurück ins Zwischengeschoss. Die Katze war zurückgekehrt. Die räudige Tigerkatze, die Shailesh als Köder ausgesetzt hatte, damit Ayaan und ich rein konnten. Sie musste ihren Weg an den Toten vorbei gefunden haben und durch einen Eingang zurückgekehrt sein, der zu klein war, als dass er bewacht wurde. Sie sah verwirrt und sehr zerzaust aus, als sie über den Bahnsteig schlich; ihr Schwanz zuckte misstrauisch hin und her. Ein Mädchen mit Zahnspange und einer dicken Brille bückte sich und klopfte sich auf die Knie. »Komm her, Baby«, 100 lockte sie, und die Katze drehte sich zu ihr um. Im nächsten Augenblick hatte sie sich auf das Mädchen gestürzt und ihm die spitzen Zähne tief in die Arme geschlagen, als es versuchte, sich zu schützen. Wir konnten jetzt alle das Loch in der Seite der Katze erkennen, eine zerfetzte Wunde, die deutlich alle Rippen sehen ließ. Jack raste auf das Mädchen zu, während der Rest der Menge entsetzt zurückwich und sich dabei beinahe über den Haufen rannte. Jack zog ein Kampfmesser aus dem Stiefel und trieb es in den Katzenkopf. Dann wandte er sich dem Mädchen zu. Er packte grob einen ihrer Arme und riss ihn nach oben. Er war mit kleinen Bisswunden übersät, voller Katzenspucke und Blutströpfchen. »Komm mit«, sagte er. Seine Stimme war weder grausam noch freundlich - einfach nur leer. Er hatte keine Gefühle mehr, die er ihr geben konnte. Er führte sie in einen der vielen abzweigenden Gänge.
Danach fühlte sich die Luft hier unten wie etwas Festes und scheußlich Schmeckendes an. Als hätte man den Bahnhof mit flüssigem Gummi gefüllt. Die feierliche Fröhlichkeit war verschwunden - was anscheinend Marisols Stichwort war, wieder auf die Bühne zu steigen. »Berühmte Filmszenen!«, rief sie. Die Worte klangen brüchig, aber sie erregten die Aufmerksamkeit der Menge. »Berühmte Filmszenen! Wer fängt an?« Die Überlebenden sahen sich an, vermutlich wie benommen vor Entsetzen, und versuchten sich etwas einfallen zu lassen. Egal was. Schließlich stand Ayaan auf. Sie sah aus, als würde sie gleich vor Verlegenheit auf der Stelle tot umfallen, und ihr Englisch litt sehr unter ihrem Lampenfieber, aber sie rief mühsam: »Dürfen wir haben berühmte Szene von Mrs. Sandra Bullock und Mr. Keanu Reeves in Speed?« Marisol nickte eifrig und winkte Ayaan herbei, damit sie sie zusammen vorspielen konnten. »Da ist eine Bombe im Bus!«, 101 schrie Ayaan und lächelte zaghaft. »Ich muss wissen, Ma'am, können Sie diesen Bus fahren?« Also dafür brauchten sie Marisol. Ich überließ sie ihrem Spaß und wandte mich ab, um Jack zu folgen. 101 Gary kniete im Schlamm des Riverside Park und schaute über den Fluss auf das 79* Street Boat Basin. Im Hafen lagen noch immer ein paar Segelboote vor Anker; ihre Masten waren zersplittert, und ihre Rümpfe trieben leblos im Wasser. Ein Schnellboot qualmte in ihrer Mitte vor sich hin, aus seinem Motorgehäuse stieg beißender Rauch in die Höhe und trieb durch die Nachduft auf Garys schnüffelnde Nase zu. Ein Schiff, ein großes Rennsegelboot mit gerefftem und zusammengebundenem Segel, sah aus, als wäre es noch seetüchtig. Hinten am Deck war ein großes Doppelruder festgebunden. Alle paar Sekunden blitzte am Bug eine elektrische Lampe auf. Jemand hatte eine amerikanische Flagge verkehrt herum am Mast gehisst. Mael war davon überzeugt gewesen, dass es im Bootshafen noch Überlebende gab. Sie würden nicht schwer zu finden sein. Gaiy streifte die Schuhe ab und sprang in den Hudson. Nasenlos und Gesichtslos folgten ihm dichtauf. Sie sanken wie Steine auf den Grund, während Gary wie ein Korken auf dem Wasser schaukelte. Er erkannte, dass er die Luft anhielt. Er stieß sie aus - er brauchte sie nicht - und trieb in die Tiefe. Das Wasser war kalt, sogar sehr kalt, hätte er es durch seine dicke Haut fühlen können, aber es störte ihn nicht. Es war auch dunkel, so schlammig, dass er kaum einen Meter weit sehen konnte. Hier unten konnte man sich schnell verirren. Das wenige Mondlicht, das die Oberfläche durchdrang, war mehr oder weniger nutzlos. Er konnte Sedimentströmungen ausmachen, die 101
an ihm vorbeitrieben, und er konnte die verschwommenen Umrisse von seit Jahrhunderten hier abgeladenem Müll sehen - Autowracks, vom Rost löcherige 18oLiter-Fässer, stapelweise schwarze, mit Metallklammern verschlossene Mülltüten. Alles wurde von einer schleimigen Schicht aus Algen bedeckt, die im Fluss trieben. Jeder Schritt bedurfte echter Anstrengung, aber Gary ermüdete nicht. Seine Füße
versanken im Schlamm des Flussgrundes, aber er ging weiter und hielt nach dem Anker des Segelbootes Ausschau. Nasenlos erschien zu Garys Rechten im Zwielicht. Der Tote sah aus, als fühlte er sich unter Wasser eher zu Hause als an Land, ein weißes, matschiges Ding mit wehendem Haar und aufgeblähter Kleidung. Silbrige Luftblasen lösten sich aus seinem Hemd. Gary sah stolz zu, wie sein Gefährte einen Fisch aus dem dunklen Wasser schnappte und die Zähne tief in seinen Leib schlug. Blutwolken wallten um ihn herum und verbargen ihn kurzzeitig. Der Tote machte sich gut. Nach einem Tag voller Beute handelte die lebende Leiche, die einst nicht mehr in der Lage gewesen war, sich selbst zu ernähren, wieder aus eigenem Antrieb. Gesichtslos' Fortschritte waren langsamer, aber wenigstens hatte sie es geschafft, sich von der Insektenfauna zu befreien, die in ihren Schlüsselbeinen nistete. Sie alle hatten unter Maels Führung gut gespeist. Gary hatte herausgefunden, dass er ein echtes Talent zum Töten hatte. Er begeisterte sich dafür. Ihre erste Mission war eine ältere Frau in einem Backsteinbau oben in Harlem gewesen. Sie hatte sich in die erste Etage zurückgezogen und das Treppenhaus mit zerschlagenen Möbeln und verschnürten Bündeln alter Magazine gefüllt. Uber den ganzen Müll zu klettern war der schwierige Teil gewesen. Oben hatten sie sie im Badezimmer gefunden, wo sie hinter einer Weidentruhe kauerte. Gary hatte damit gerech102 net, dass in ihm moralische Bedenken aufstiegen, wenn sie um ihr Leben bettelte, aber dann hatte sie am ganzen Leib so sehr gezittert, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Es hatte nicht die geringsten Probleme gegeben, als Gary sie tötete, nicht das geringste Zögern von seiner Seite, nur kalte Bewegungen, bis der Hunger das Kommando übernahm und er selbst dann nicht mehr hätte widerstehen können, wenn er es versucht hätte. Danach waren sie weitergezogen und hatten an der U-Bahn-Station an der 125* Street Halt gemacht. Die oberirdische Haltestelle war verlassen, aber direkt daneben stand ein verrammeltes Gebäude, das leer stand, solange sich Gary erinnern konnte, die ausgebrannte Hülle eines Bürogebäudes aus rotem Backstein, das mit komplizierten Wappen geschmückt war. Eine Flagge, die gebrauchte Laptops anpries, hing schlaff an seiner Seite herunter. Vom Bahnsteig sah er Sonnenlicht durch die glaslosen Fenster und an den Bäumen vorbei strömen, die aus den Balken des zerstörten Dachs wucherten. Er sah auch die sich windende Rauchwolke, die oben aus dem Gebäude entwich - Rauch, der beinahe sofort, nach dem er ihn entdeckt hatte, verschwand. Dort oben hatte jemand Feuer gemacht und es schnei! gelöscht. Die Gebäudeeingänge auf Straßenhöhe waren seit Jahrzehnten verbarrikadiert, aber zu dritt machten sie kurzen Prozess mit der Speerholzabdeckung eines niedrigen Fensters, ihre Schultern zerschlugen das Hindernis mit vereinter Kraft. Drinnen fielen dreieckige Lichtflecke aus dem zwei Stockwerke über ihnen befindlichen Himmel. Das Gebäudeinnere war implodiert und hatte ein dreidimensionales Labyrinth aus zersplitterten Verschalungen und baumelnden Bodenbalken hinterlassen. Sie kletterten nach oben, bewegten sich mit den Händen von Planke
zu Planke, gingen zurück, wenn die Bretter nachgaben, kamen voran, wenn sie es nicht taten. Wer auch immer auf dem Dach Zuflucht gesucht hatte, hätte sie jederzeit mit Trümmern bewerfen oder auf sie schießen können, aber als sie die oberste Etage erreichten, trafen sie nicht auf den geringsten Widerstand. Jemand hatte zuvorkommender Weise eine Trittleiter unter das Loch im Dach gestellt. Sie kletterten durch zerrissene Dachpappe und traten ans Tageslicht. Gary entdeckte einen provisorischen Unterstand auf der letzten stabilen Ecke des Dachs. In der Nähe glühten die Scheite eines Lagerfeuers, darüber eine aufgespießte Ratte, die darauf wartete, gebraten zu werden. Er hörte etwas zerbröckeln, und ein Geröllregen traf auf die Straße; er drehte sich um und sah einen Lebenden auf der Dachkante hocken, einen Schritt vom Nichts entfernt. Er sah wie ein Obdachloser aus, das Gesicht verdreckt, die Kleidung farblos und zerrissen. Gary machte einen Schritt in seine Richtung, und er sprang. Besser so, als das, was Gary für ihn geplant hatte, musste er sich gedacht haben. Aus seiner Perspektive war das vermutlich nicht einmal so verkehrt. Nasenlos und Gesichtslos kletterten wieder nach unten auf die Straße, bevor er aufstehen konnte. Gary ließ sich Zeit. Er wollte kein Fleisch mehr, er wollte die Lebenskraft, die goldene Energie der Lebenden, die ihn stark machte. Vier Stunden später stand er auf dem Grund des Hudson und legte die Hände auf die Ankerkette des Segelboots. Er würde diese Überlebenden nicht entkommen lassen, das schwor er sich. Er fing an zu klettern, eine Hand nach der anderen, seine Anhänger hinter ihm. Als sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, griff er nach oben und zog sich auf das Holzdeck. Wasser strömte an ihm herab. Er erhob sich auf die Füße und schwankte, weil die Strömung das Boot schaukeln ließ. In der Mitte des Decks erhob sich eine Kabine, ihre 103
Luke war zurückgeschoben. Das war ihr Ziel. Aber bevor Gary die Hälfte der Distanz überbrückt hatte, lehnte sich ein Lebender heraus. Er hielt etwas in der Hand, das wie eine Spielzeugpistole aussah, hellorange mit einem Lauf, der groß genug war, um Golfbälle damit zu verschießen. Die Pistole machte ein lautes, zischendes Geräusch, und Rauch schoss über das Deck. Gesichtslos schaute herunter auf ihren Bauch, wo ein dumpfer Metallzylinder zischte und Funken sprühte. Er explodierte in einem roten Feuerball und stieß sie rückwärts ins Wasser. »Eine Signalpistole?«, sagte Gary laut. »Ohne Scheiß, eine Signalpistole? Was kommt als Nächstes? Eine Startschusspistole?« »Mein Gott«, stieß der Lebende hervor. Er trug einen blauen Fleecepullover mit hochgeschlagenem Kragen. »Du kannst... du kannst sprechen.« Er legte die Signalpistole aufs Deck und hob die Hände. »Es tut mir so leid! Ich habe dich für eines der toten Dinger gehalten!« Das bin ich auch, dachte Gary und machte sich bereit, sich auf den Idioten zu stürzen. Aber da rannte der Seemann über das Deck und beugte sich über die Reling, starrte in das aufgewühlte Wasser. »Mein Gott, was habe ich getan! Es tut mir so leid - irgendwo ist hier ein Rettungsring. Kann sie schwimmen?« Gary schaute ins Wasser. Er konnte Gesichtslos unter der Oberfläche sehen, erhellt von dem Signalgeschoss. Sie drehte sich, als sie dem Grund entgegen sank und sich
dabei bemühte, den Brandzylinder aus dem Leib zu pulen. »Sie ist schon in Ordnung«, sagte Gary so drohend, wie das möglich war. »Du hingegen...« »Oh. Du bist tot.« Der Seemann wurde aschfahl. »Aber du kannst sprechen. Hör zu. Komm mit unter Deck. Wir, wir reden darüber wie vernünftige Leute. Bitte.« 104 Am liebsten hätte Gary gelacht, aber er nickte bloß. Er stieg in den Bauch des Schiffes und überließ es Nasenlos, Gesichtslos zurück an Bord zu helfen. Gary duckte den Kopf, um durch eine niedrige Kombüse zu kommen, und folgte seinem Führer in eine enge Kabine im Vorderteil des Schiffes. »Willst du einen Kaffee?«, fragte der Seemann und schenkte sich eine Tasse aus einer winzigen Kaffeemaschine ein. »Nein, vermutlich nicht. Ich heiße übrigens Phil, Phil Chambers aus... eigentlich aus Albany. Es war schlimm dort. Wir sind den Fluss hinunter in der Hoffnung, einen sicheren Ort zu finden... Saugerties brannte, und jetzt New York City, das war's, ich will damit sagen, es gibt keinen Ort mehr, an den man gehen könnte, man kann nur noch auf den Atlantik hinaus. Das ist das Ende der Fahnenstange.« »Ja«, sagte Gary. Es würde nur einen Augenblick brauchen, den Mann zu töten. Ein schneller Biss in den Hals. Ein tiefer Schnitt in die Halsschlagader. Chambers zog ein paar Karten aus einem Regalfach und breitete sie auf dem Tisch aus. Er starrte angestrengt in seine Tasse, als hätte er darin ein Insekt entdeckt. Er schien nicht trinken zu können. »Bitte tu das nicht«, sagte er. »Meine Kinder sind im Heck. Sie haben sonst keinen mehr. O Gott, nein. Nein, du wirst doch nicht auch meine Kinder nehmen. Bitte.« Gary trat näher heran, bis er die Körperwärme des Mannes spürte. Chambers zitterte, und er stank nach Schweiß. Gary packte ihn am Hinterkopf. »Ich flehe dich an. Bitte. Bitte.« Tränen rollten dem Mann die Wangen hinunter. Gary konnte sie auf seinem Hals schmecken, als er in das nachgiebige Fleisch hineinbiss. Er hatte gedacht, es würde anders sein, wenn sie um ihr 104 Leben bettelten. Er hatte den Moment gefürchtet, in dem die alte Frau zu jammern anfing. Wie sich herausstellte, machte es nicht den geringsten Unterschied.
i6
2°5 Jack sah mich über die Schulter an, als ich näher kam. Das Mädchen - die Kleine, die eine Katze angelockt hatte und dafür von einem untoten Tier gebissen worden war - befand sich hinter einer verschlossenen Stahlgittertür am Ende einer Treppe. Sie sah eher mürrisch als ängstlich aus. »Warten Sie, Dekalb«, sagte Jack. »Ich muss mich erst um sie kümmern.« Ich nickte und setzte mich auf eine Kiste. Einem mit Filzstift geschriebenen Schild an der Wand zufolge standen wir vor der letzten sicheren Absperrung des Bahnsteigs der Linie 7. Die U-Bahn-Tunnel selbst konnten nicht versperrt werden, also hatten die Überlebenden einfach alle Bahnsteige geschlossen und waren auf den Zwischengeschossen und ihren Verbindungskorridoren geblieben, wo sie sich in Sicherheit fühlen konnten. Shailesh hatte mir erzählt, dass sie noch nie einen Un
toten auf den Gleisen gesehen hatten, aber dass Jack dieses Risiko nicht eingehen wollte. Man hatte das Mädchen - HALLO, MEIN NAME IST Carly stand auf ihrer Namensplakette - auf den Bahnsteig gesperrt, um zu beobachten, ob sie starb oder nicht. Falls nicht, durfte sie zurück. Falls doch, würde ihr Jack eine Kugel in den Schädel jagen. In beiden Fällen würde er die ganze Nacht lang neben ihr sitzen. Er tat, was er konnte, reichte einen Erste-Hilfe-Kasten durch die Gitterstäbe. Sie tupfte sich Mercurochrom auf die Arme, bis sie hellorange waren. »Hast du vergessen, was ich dir beigebracht habe?«, fragte Jack tonlos. Als würde er einfach nur Grundwissen abfragen. 105 »Wir berühren niemals etwas, das draußen war. Nicht, bevor es für unbedenklich erklärt wurde.« »Sie sah so verängstigt aus, und ich wollte doch nur...« Carly zuckte mit den Schultern. »Es spielt ja keine Rolle. Wir werden sowieso alle sterben.« »Diese Einstellung kannst du dir gar nicht leisten. Vor allem jetzt nicht, da wir eine echte Chance haben, hier herauszukommen. Hast du nicht das mit dem Boot gehört?« Das Mädchen starrte mich an. In ihrem Blick lag nichts außer nackter Antipathie, eine totale Verweigerung. »Echt? Danke, dass du meinen Tod doppelt ironisch machst, Opa.« »So sprichst du nicht zu Respektspersonen«, sagte Jack. Er hob seine Stimme nicht an, aber sein Ton machte mir eine Gänsehaut. »Hörst du mir zu?« »Ja, Sir. Es ist mir bloß scheißegal, Sir.« Sie drehte sich um und ging von dem Tor weg. »Ich hab die Schnauze voll«, rief sie zurück. »Ich gehe nach Brooklyn!« Dort unten brannte nur eine einzige Leuchtstoffröhre, und die Schatten hatten sie schnell verschluckt. Jack rief ihr nicht hinterher. Stattdessen ließ er sich auf den gefliesten Boden sinken, den Rücken an der Wand, damit er das Tor im Auge behalten konnte. Er hob seine SPAS-i 2 auf und legte sie sich über die Knie. Dann holte er eine Patrone aus der Tasche - mit einem über sechs Zentimeter langen Tungstengeschoss, wenn ich mich nicht irre. »Wie stehen ihre Chancen?« »Ungefähr neunzig zu zehn, nach dem, was ich so gesehen habe. Reden Sie mit mir, Dekalb. Verraten Sie mir, warum Sie mich die ganze Zeit verfolgen, während ich bloß versuche, meinen Job zu machen.« Die Worte waren zu offen und verletzlich für diesen Mann. Er stand offensichtlich unter gewaltigem Druck. Ich dachte darüber nach, ihn allein zu lassen und am nächsten Tag zurückzukommen, aber ich hatte das Gefühl, dass alle seine Tage so waren. 105 »Sie haben vor ein paar Tagen ein paar Leute rausgeschickt. Paul und Kev, glaube ich.« Ray hatte ihre Namen am Eingang mir gegenüber erwähnt. Er nickte, betätigte die Magazin-Verriegelung seiner Waffe und öffnete die Kammer. Er schob die Patrone hinein und schloss sie wieder. »Ja«, bestätigte er. »Also seid ihr hier drin nicht gefangen. Ihr könnt Leute rausschicken, wenn nötig. Sagen wir, um Vorräte zu besorgen. Ich sage nicht, dass es nicht gefährlich ist, aber
es ist machbar. Ihr müsst ein paar Tricks kennen, um hier am Leben zu bleiben, die wir nicht kennen.« Ohne den Blick von dem versperrten Tor vor ihm zu nehmen, hob er die Mundwinkel. Als Lächeln hätte ich es nicht bezeichnet. »Klar. Wir kennen einen tollen Trick. Er heißt Verzweiflung. Wenn wir hungrig genug sind, meldet sich immer ein Freiwilliger, um nach draußen zu gehen und etwas zu essen zu holen. Manchmal langweilen sich die Leute auch nur und gehen so raus. Manchmal kommen sie sogar zurück. Uns fehlt hier alles, Dekalb. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber eine Ressource, die wirklich zur Neige geht, sind allein stehende Männer im Alter zwischen achtzehn und fünfunddreißig. Sie sind diejenigen, die sich immer als Erste freiwillig melden.« »Wow«, sagte ich. Und ich hatte angenommen, dass es ein Geheimnis gab. »Hier unten gibt es nichts zu tun außer zu warten. Manche Leute können das nicht.« Ich verstand ihn, irgendwie. »Ich habe eine Idee, aber sie ist gefährlich. Wir müssen euch zum Fluss schaffen. Direkt westlich vom Port Authority steht ein APC.« Jack nickte. »Habe ich gesehen. Ich habe auch schon daran gedacht. Er würde noch fahren, unter der Vorrausetzung, dass der Treibstoff nicht verdunstet ist und die Batterie nicht leer 106 und keiner der Keilriemen verrottet. Klar, wir könnten ihn rückwärts an eines der Tore fahren und ganz einfach die Leute einladen. Wir müssten ein paar Fahrten machen, aber ja, wir würden zu Ihrem Boot kommen.« Ich erwärmte mich für die Idee, aber ich wies auf ein Problem hin. »Jemand müsste dorthin gehen, ihn starten und zurückfahren. Falls der Motor nicht beim ersten Versuch anspringt, müssten sie versuchen, ihn zu reparieren. Die Toten wären die ganze Zeit an ihnen dran. Ich habe ein paar Soldatinnen - Somalis -, aber sie wissen nicht, wie man mit einem amerikanischen Truppenpanzer umgeht. Sie schon, glaube ich.« »Korrekt.« Okay. Wir kamen voran. »Es gibt nur ein Hindernis. Nichts davon wird passieren, bevor ich meine eigentliche Mission erfüllt habe.« Er warf mir einen scharfen Blick zu, und ich hielt die Hände hoch und bat um Geduld. »Hören Sie, das ist eine politische Sache. Somalia ist in den Händen einer Kriegsherrin. Ich brauche einen guten Grund, um sie davon zu überzeugen, einen Haufen weißer Flüchtlinge aufzunehmen, die keine Soldaten sind und nur ihre Ressourcen belasten. Wir müssen realistisch sein.« Wenn ich ihn manipulieren wollte, dann war das das Wort, das man benutzen musste. Ich hatte es mit einem Mann zu tun, der sich sämtlicher Gefühle entledigt hatte. Realismus war seine einzige Philosophie. Er nickte einmal. Ich versuchte mit ihm darüber zu reden, was ich brauchte und wie er mir dabei helfen konnte, aber für ihn war diese Unterhaltung beendet. Er schaltete einfach ab - sparte vermutlich seine Energie. Es war ein enervierender Trick, aber er war ihm sehr dienlich - die Fähigkeit, andere menschliche Wesen einfach zu ignorieren, selbst wenn sie direkt vor ihm standen und seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten. Er war der här106
teste Mann, der mir je begegnet war. Aber die Situation machte mir auch Hoffnung. Wenn mich jemand zum UN-Gebäude bringen konnte, dann Jack. Wr saßen eine Weile schweigend da. Ich dachte darüber nach, wieder zurück ins Zwischengeschoss zu gehen, zurück zu Ayaan und den anderen Überlebenden, aber ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nicht damit umgehen, wie sie mich ansahen - als wäre ich ein geschmackloser Witz, ihre größte Hoffnung, die vor ihrer Nase herumbaumelte, nachdem man ihnen Woche für Woche erzählt hatte, dass nie wieder etwas Gutes geschehen würde. Ich ertrug ihre seltsamen Spiele nicht, die auf einer Populärkultur basierten, die nicht mehr existierte. Die Stille fing gerade an, mir zu schaffen zu machen - ich stand kurz davor, Selbstgespräche zu führen, nur um etwas zu hören -, als sie von Carly gebrochen wurde. Wir konnten sie nicht sehen. Sie blieb in den Schatten, aber wir hörten ihre Schritte über den verlassenen Bahnsteig hallen. Jack hob das Schrotgewehr, um den Laut zu verfolgen. Das kam mir gefühllos vor, aber wir beide wussten, dass sie sich möglicherweise in der Zwischenzeit verändert hatte. »Ich musste kotzen«, sagte sie aus der Dunkelheit. »Das ist schlecht, oder?« »Schon möglich. Vielleicht sind es auch bloß die Nerven.« Jack stand langsam auf, die Waffe noch immer in seinen Händen, aber nicht mehr notwendigerweise auf sie zielend. »Komm her. Dir ist vermutlich kalt, und du bist hungrig. Ich kann dir helfen.« Ifiyah hatte gefroren und war hungrig gewesen, nachdem sie gebissen worden war. Ich fragte mich, wie oft Jack diese furchtbare Wache wohl schon gehalten hatte. Carly trat ans Gitter, und wir sahen sofort, dass sie sterben würde. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, ihre Augen völlig blutunterlau2IO
fen. Da, wo die Katze sie gekratzt hatte, waren ihre Arme geschwollen und dunkel angelaufen von gestautem Blut. Jack bot ihr eine Decke und eine Dose Rindfleisch an. Sie nahm beides kommentarlos entgegen. Ich sah ihr beim Essen zu. Die Zahnspangen zerfetzten die zarte Innenhaut ihrer Lippen, als sie das Essen herunterschlang. Sie bemerkte meinen Blick und hielt eine Sekunde lang inne. »Sieh nur gut hin, du Perverser«, sagte sie. »Hübscher werde ich nicht.« Ich schaute zur Seite und wurde knallrot vor Verlegenheit. Ich hatte an Sarah gedacht, hatte mich gefragt, ob sie wohl bald einen Kieferorthopäden brauchen würde. Aber das konnte ich Carly wohl kaum erklären. Sie hätte es nicht verstanden. Wir saßen die ganze Nacht bei ihr. Gelegentlich nickte ich ein, aber wenn ich aufwachte, erblickte ich immer Jack, der völlig still dasaß. Das Schrotgewehr auf seinen Knien veränderte nie seine Position. Jedes Mal, wenn ich Carly ansah, hatte sich ihr Zustand verschlechtert. Sie fing an zu keuchen, ihre Lungen kämpften darum, dem Verlangen ihres Körpers nach Sauerstoff nachzukommen. Ihre Finger verwandelten sich in schmerzhaft aussehende, würstchenartige Glieder, die so dick waren, dass die Haut an ihren Nägeln aufplatzte und dunkles Blut herausquoll. Um vier Uhr morgens fing sie an zu delirieren - verlangte nach Wasser und ihrer Mutter und immer häufiger nach Fleisch.
Jack bot ihr zweimal an, ihre Leiden zu beenden, aber beide Male lehnte sie es ohne zu zögern ab. »Ich glaube, ich fühle mich etwas besser«, sagte sie beim zweiten Mal. Tatsächlich hatte sich ihre Atmung etwas beruhigt. Ihre Lider senkten sich flatternd, und ich glaubte, dass sie es vielleicht tatsächlich schaffen würde vielleicht würde ihr Immunsystem diesen Kampf gewinnen. »Leg dich doch hin, vielleicht hilft das«, sagte ich. »Stell dir vor, wie viel besser du dich morgen fühlen wirst. Wenn du schlafen kannst, dann solltest du das tun.« Sie erwiderte nichts darauf. Wir warteten ein paar Minuten, dann trat Jack hart mit seinem Stiefel gegen das Stahltor. Es schepperte so laut, dass es in meinen Ohren schmerzte, aber sie zuckte nicht einmal. »Okay«, sagte er. »Ich werde es tun. Tritt zurück.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, sie ist nur müde...« Langsam stand sie vom Boden auf. Sie war unsicher auf den Beinen und hielt die Augen noch immer geschlossen. »Sieh doch«, sagte ich, »sie ist in Ordnung.« Ich wusste, dass ich mich irrte, aber ich sagte es trotzdem. Sie stürzte sich mit der ganzen ihr zur Verfügung stehenden Kraft auf uns, schlug ihre aufgedunsenen Hände und das schweißfeuchte Gesicht gegen das Gitter, stieß Schulter und Hüfte gegen den Stahl. Ihr Nasenknorpel zerbrach, als sie mit dem Gesicht frontal gegen die Absperrung krachte, ihr Wangenknochen brach und ihre Züge verschoben sich. Da trat ich zurück. Jack hob die SPAS-12 und schoss, die Kugel schlug in ihr linkes Auge ein und trat zusammen mit einem Teil ihres Schädels aus ihrem Hinterkopf wieder heraus. Da hörte sie auf, sich zu bewegen. Das Schrotgewehr klickte, als der von den Projektilgasen angetriebene Mechanismus automatisch die nächste Patrone lud. Jack brauchte sie nicht. Ich atmete schwer, mein ganzer Körper summte durch die Chemie der Panik. Jack lehnte die Waffe an die Brust und sah zu mir herüber. »Manchmal«, sagte er leise, »glaube ich, dass sie alle besser dran wären, wenn sie eines Nachts im Schlaf sterben würden. Dann müssten sie keine Angst mehr haben. Manchmal bleibe ich nachts wach und denke darüber nach, wie ich das schaffen könnte.« Er schüttelte den Gedanken ab, und als er weitersprach, tat er es in seinem üblichen, selbstbewussten Ton. »Wir machen morgen mit deiner Mission weiter, nachdem wir etwas geschlafen haben.« Dann drehte er sich um und stieg die Treppe hinauf. 2I3
J7
Gary marschierte wie ein zurückkehrender Held in das Lager im Central Park ein. Eigentlich hätte er einen Umhang tragen sollen, fand er. Nasenlos und Gesichtslos hinter ihm hielten mühelos Schritt. Die Arbeit an Maels Broch ging gut voran. Zwei dreieckige Stützflügel ragten ein Dutzend Meter in die Luft, und eine Mauer war bereits über Garys Kopf hinausgewachsen. Die untoten Arbeiter auf dem Baugerüst sahen unsicher auf den Beinen aus, aber sie hoben und trugen ihre Baumaterialien, als handelte es sich um kostbare Relikte, und sie setzten die Ziegel so eng aneinander, dass Gary Mühe gehabt hätte, ein Stück Papier dazwischenzuschieben. Gruppen Toter hockten in
Löchern rund um den Bauplatz und bereiteten Steine vor, kratzten den alten Mörtel mit den Fingernägeln ab. Manche benutzten ihre Zähne. Andere Arbeitergruppen errichteten die Gerüste, Spaliere aus Metallröhren, die man von den Fassaden der Gebäude New Yorks abgerissen hatte. Daran hatte es nie einen Mangel gegeben. Die von den Toten konstruierten Leitern und Plattformen waren wackelig und unsicher, und Unfälle geschahen häufig - in der kurzen Zeit, die Gary auf der Baustelle verbracht hatte, hatte er mehr als nur einmal den dumpfen Aufprall eines untoten Körpers gehört, der zehn Meter tief in den Schlamm stürze. Diese Opfer mit ihren zerbrochenen Knochen und nutzlosen Gliedmaßen wurden zur Arbeit eingesetzt, wo immer es möglich war - konnten sie noch laufen, zogen sie mit Ziegel beladene Schlitten, konnten sie die Arme noch benutzen, kratzten sie in den Reinigungsgruben Mörtel ab. Diejenigen der armen Teufel, die nach einem Unfall dauerhaft gelähmt waren, waren Mael noch immer als Taibhsear oder Seher nützlich - im wahrsten Sinne des Wortes. An die immer höher werdenden Mauern des Broch gebunden, beobachteten sie den Park für ihren Herrn. Da ihm die Augen fehlten, war er auf diese Assistenten angewiesen, ohne sie war er blind. Tote stiegen Leitern hinauf, um die Späher mit Fleischfetzen zu füttern und sie frisch zu halten. Der Druide saß in der Lagermitte auf einem Steinhaufen. Seine Ehrenwache aus Mumien stand hinter ihm; sie stützten sich aneinander und hielten ihre Amulette und Herzskarabäen wie ein Hofstaat aus geistig minderbemittelten Zauberern umklammert. Vor Mael am Boden ausgebreitet lag ein Stadtplan aus einer Tankstelle. Steinchen markierten den Aufenthaltsort aller bekannten Überlebenden. Eine Mumie kniete sich auf den Plan und entfernte die Steinchen der drei Orte, die sie im Lauf der Nacht besucht hatten. Mael stützte sich auf das vom Grünspan verfärbte Schwert, verscheuchte die Mumie und hob den Kopf, um seinen Champion zu begrüßen. Mein Gowlach Curaidh kehrt zurück! Du siehst gesund aus, mein Junge. Das Große Werk muss dir bekommen. »Ich habe ein Recht auf meine Existenz«, sagte Gary zögerlich. »Was bedeutet, dass ich essen muss.« Aye, und du hast gut getan. Der Kopf des Druiden sackte auf seine Brust. Vielleicht zu gut. Musstest du mit den kleinen Kindern so grausam umgehen? Gary konnte bloß mit den Schultern zucken. »Du hast selbst gesagt, dass wir böse sind und dass wir uns dementsprechend verhalten müssen. Ich habe nur Befehle befolgt.« Gary ging in die Hocke und betrachtete die Karte. Es waren noch 2I5 eine Menge Überlebende übrig - Hunderte. Er konnte noch Monate weitermachen und würde immer etwas zu essen haben. Jedes Mitgefühl oder Mitleid, das er einst für die Lebenden verspürt hatte, verließ ihn. Vielleicht lag es daran, dass sie jedes Mal auf ihn schössen, wenn er ihnen begegnete. Möglicherweise wurde er auch wirklich zu der von allen Zwängen befreiten Kreatur, die Mael ihn gebeten hatte zu werden. »Das ist es doch, was ich bin, oder? Ein Monster. Kritisiere mich nicht dafür, dass ich gut darin bin.« Mael musterte ihn einen langen Augenblick, bevor er zustimmte. Aye. Vergib einem alten Zauberer seine sentimentalen Anwandlungen. Ich habe eine weitere Aufgabe für dich, mein
Junge, eine Aufgabe, die dir sicher gefallen wird. Es ist eine schwere Arbeit, und für sie braucht man einen klugen Mann. Gary nickte. Er war bereit, egal, worum es sich handelte. Mael hatte ihm versprochen, dass er seinen Frieden finden würde, sobald er die Rolle akzeptierte, die das Schicksal für ihn ausersehen hatte, und wie gewöhnlich hatte der Druide recht behalten. Er fühlte sich stark, so viel stärker als in dem Augenblick, in dem er mit einem Loch im Kopf aus dem Untergeschoss des Virgin Megastore gekrochen war. Selbst stärker als an dem Tag, an dem er in der eisgefüllten Badewanne erwacht war. Eine Tote in einer dreckigen Jeans und einem tief ausgeschnittenen Haltertop, das ihre verschrumpelten, blau angelaufenen Brüste zur Geltung brachte, stolperte heran und wäre beinahe auf den Stadtplan getreten. Einst war sie sicher hübsch gewesen, eine Latina mit einem gewaltigen Lockenkopf. Jetzt zeigten sich auf ihrem Gesicht wuchernde Geschwüre, und die Augäpfel waren milchig. Sie sah zuerst Gary und danach Mael an und starrte dann ins Leere. Kein unbedingt seltsames Verhalten für eine wandelnde Leiche, 110 aber Gary erschien sie benommener, als sie sein sollte. Als stünde sie unter Drogen oder wäre hypnotisiert. Für diesen Job brauchst du mehr als dein übliches Gefolge. Du musst lernen, das Eididh zu lesen und wie man Truppen in die Schlacht fiihrt. Die da trägt Wissen in sich, das ich ihr zugänglich machen will, falls du drankommst. Gary fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, mehr als nur etwas aufgeregt. Mael verfügte über Kräfte, die weit über die seinen hinausgingen, aber bis jetzt war der Druide ausgesprochen zurückhaltend darin gewesen, seinem Hund neue Tricks beizubringen. Öffne dich, wie ich es dir schon einmal gesagt habe. Gary nickte und streckte die Hand aus, um die tote Frau am Nacken zu packen. Er versuchte das, was er schon zuvor getan hatte - er streichelte das Netzwerk des Todes, so wie er es gemacht hatte, als er die Kontrolle über seine Gefährten übernommen hatte, so wie er die Horde zu sich befohlen hatte, die den Überlebenden namens Paul verschlungen hatte. Er drückte, bis sein Gehirn dröhnte und weiße Lichtblitze am Rand seines Sichtfeldes aufflackerten, schaffte es aber lediglich, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als faszinierten sie die abgestorbenen Adern auf seinen Wangen. Das kannst du doch besser, spottete Mael. Das ist doch nichts, was du sehen oder hören oder schmecken könntest - vergiss das und versuche es noch einmal! Etwas ärgerlich versuchte Gary es erneut - und erzeugte bloß ein Summen im Ohr. Das tote Blut zitterte in seinem Kopf, und er war davon überzeugt, sich selbst ein Aneurysma zu verpassen. Aber dann gab - endlich - etwas nach, und wogende Schatten blühten in seinem Verstand auf, Schlieren aus Dunkelheit und schwarzer Todesenergie, die sich zu Strahlen und dann zu Fäden verfestigten. Stränge des Netzes, das ihn 110 mit jedem in seiner Umgebung verband - der toten Latina, Mael, den Sehern, die an der Mauer hingen. Er konnte Nasenlos und Gesichtslos hinter sich spüren.
Dann sah er seinen eigenen Hinterkopf. Er blickte durch die Augen seiner Truppe, sah, was sie sahen - obwohl er gleichzeitig auch in der Lage war, die eigenen Augen zu benutzen. Er drehte den Kopf, um die Latina zu betrachten, und fühlte die Verbindung, die sie vereinte, die Einheit des Todes. Gedanken und Erinnerungen hüllten sie blubbernd ein Informationen, zu denen sie selbst keinen Zugang mehr hatte, weil im Augenblick ihres Todes ihr Gehirn erstickt war. Garys aber nicht. Er erkannte sofort, was Mael ihn zu suchen angewiesen hatte. Etwas, das sie bei der Suche nach Nahrung gesehen hatte, etwas Wichtiges. Eine Straße... ein Platz... eine Tür, ein Stahltor. Menschliche Hände, lebende Hände, die Gitterstäbe umklammerten. Um ihn herum zischte und knisterte weißes Rauschen, er schmeckte Eisen, Kupfer, getrocknetes Blut, aber er drängte es zurück. Mehr Lebende, alle dicht aneinandergedrängt - Hunderte. Er sah ihre Augen, die aus der Dunkelheit spähten, ihre angsterfüllten Augen. Hunderte? Hunderte. Ihre grelle Energie verbrannte ihn. Er wollte sie ihnen fortnehmen. Als er wieder er selbst war, hockte er auf allen vieren, und Sabber tropfte in langen Fäden von seiner Unterlippe in den Schlamm. »Jetzt?«, fragte er. Aye. Gar)' streckte den Arm aus, und von den Leitern kamen tote Arbeiter heran, um sich vor ihm zu versammeln. Er griff mit seinen Gedanken zu und befahl andere zu sich - eine ganze Armee -, aus der Ferne, bis hin zum Reservoir. Es war einfach, wenn man den Bogen raus hatte. Er brauchte ihnen 111 keine genauen Informationen zu geben, so wie bei Nasenlos und Gesichtslos. Mikromanagement war hier nicht erforderlich. Er sagte ihnen einfach, was er wollte, und sie gehorchten, ohne Fragen zu stellen. Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich erstaunlich an. Er rief noch mehr herbei, so viele, wie er erreichen konnte. Lass mir ein paar übrig, die mir ein Dach über dem Kopf bauen, ja, mein Junge? Gary nickte, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Armee zu versammeln, um dem Druiden große Aufmerksamkeit zu schenken. »So viele«, sagte er und war sich nicht sicher, ob er die Lebenden oder die Toten meinte. 111
i8. Jack gab mir ein Mobiltelefon, das aussah wie aus den frühen Neunzigern. Ein richtiger Ziegelstein - fünf Zentimeter dick, mit Gummigriffen an den Seiten. Die Antenne war beinahe größer als das Telefon selbst, zwanzig Zentimeter lang und so dick wie mein Zeigefinger. »Motorola 9505«, sagte ich in dem Versuch, ihn zu beeindrucken. »Toll.« In New York waren die meisten Mobiltelefone nutzlos - die Sendemasten auf den Dächern der Stadt waren jetzt ohne Strom -, aber dieses Monstrum konnte auf das Iridium-Satellitenkommunikationssystem zurückgreifen. Es würde überall auf dem Planeten funktionieren, solange es aufgeladen und die Verbindung nach oben frei war. Was bedeutete, dass man sich in der Nähe eines Fensters aufhalten musste - oder einem der Gitter, die die U-Bahn mit Luft versorgten. Die UN hatte Iridiums benutzt, sich dabei aber äußerst geizig verhalten; als hätte man Faberge-Eier an die Feldagenten ausgeteilt. In Amerika gehörten sie
zur Standardausrüstung des Militärs, und in der Tat hatte Jack sie aus einer verlassenen Stellung der Nationalgarde mitgenommen. Zwei weitere Mobiltelefone steckten in einer Mehrfach-Ladestation, die sechs Stück aufnehmen konnte. Der Rest hatte Plünderungstrupps nach draußen begleitet und war nie zurückgekehrt. Eine der herausragenden Funktionen dieses besonderen Modells bestand darin, dass es als Walkie-Talkie eingesetzt werden konnte, also konnte ich mich mit der Arawelo in Verbindung setzen. Ich rief Osman, um ihn wissen zu lassen, dass wir noch lebten. 112 »Das ist wirklich schade, Dekalb«, sagte er. Die dicke Bahnhofsdecke beeinträchtigte das Signal, aber man konnte sich verständigen. »Wärt ihr tot, könnte ich nach Hause.« Ich legte auf, um die Batterie des Telefons zu schonen. »Jetzt geht es ins Waffenlager«, sagte Jack. Er schloss die Tür des Fahrkartenschalters des U-Bahnhofs auf, der einst vierundzwanzig Stunden geöffnet gewesen war. Hinter dem kugelsicheren Glas reihte sich ein Ständer mit langläufigen Gewehren an den anderen, einige waren noch immer neu verpackt. Zu schade, dass es bloß Spielzeuge waren. Paintball-Gewehre und Luftgewehre, die kein Fleisch durchdringen konnte. »In New York gibt es mehr Spielzeug- als Waffenläden«, erklärte Jack. Es klang nicht wie eine Entschuldigung. »Wir haben genommen, was wir kriegen konnten. Man kann sie immerhin zur Ablenkung benutzen. Trifft man eine Leiche damit, spürt sie es. Sie wendet sich einem zu, und das gibt deinem Partner dann genügend Zeit, sie auszuschalten.« Theoretisch benutzte der Partner ein Jagdgewehr, von denen genau drei im Schalter standen, oder eine Pistole - davon gab es Dutzende, allerdings nur eine Handvoll Pappkartons mit Munition. Aber es gab viele Messer und Vorschlaghämmer. Und Schlagstöcke. »Ich nehme mal an, dass du ohnehin nicht viel mit einer Feuerwaffe anfangen kannst«, sagte Jack und musterte sein Arsenal. Er wählte eine Machete mit einer fünfzig Zentimeter langen Klinge - eigentlich ein Gartengerät. Sie fühlte sich gut ausbalanciert in meiner Hand an und hatte einen mit Gummi überzogenen Griff, damit man sie besser halten konnte, aber ich freute mich nicht gerade darauf, sie zu benutzen. »Das ist nicht dein Ernst.« Zumindest hoffte ich das. »Ich habe sie selbst geschärft. Überlass mir das Kämpfen, in Ordnung? Du kannst der Funker sein.« Er verschloss den Schalter wieder, und wir machten uns auf die Suche nach Ayaan. Sie war bei Marisol, die ihr die Fingernägel lackierte. Die Kindersoldatin nahm Haltung an, als sie Jack sah, konnte aber den Wortschwall, mit dem sie mich nun überschüttete, nicht eindämmen. »Sie war ein Filmstar«, sprudelte Ayaan hervor, und ich musste mir ein Lachen verkneifen. »Sie war in Die Braut, die sich nicht traut dabei, mit Julia Roberts, aber man hat ihre Szenen hinterher rausgeschnitten. Ich glaube, sie ist jetzt die schönste Frau der Welt.« Ayaan war sechzehn Jahre alt. In ihrem Alter hatte ich mich wie Kurt Cobain angezogen und alle Strophen von »Lithium« auswendig gelernt. Ich schätze, wir suchen uns unsere Helden, wo wir sie finden. »Wir holen die Medikamente«, sagte
ich. Das zerstörte den Zauber. Sie fing augenblicklich an, ihre Waffe zu reinigen und zu überprüfen, dann nahm sie ihren Rucksack. Sie wartete nicht einmal ab, bis ihre Nägel getrocknet waren. Ich bemühte mich, diskret zu sein, als sich Jack und Marisol voneinander verabschiedeten, aber ich wollte endlich aufbrechen. Jack hatte einen Plan, und auch wenn er ihn mir noch nicht verraten hatte, wusste ich doch, dass er gut sein würde. »Wenn du nicht zurückkommst...«, sagte Marisol und schob Jack die Brille zurück auf die Nase. Sie schien den Satz nicht beenden zu können. »Dann seid ihr alle im Arsch.« Jack legte den Arm um ihre Hüfte. »Dekalb«, wandte sie sich mir zu. »Verstehst du jetzt, warum ich einen Politiker heiraten musste? Montclair weiß wenigstens, wie man lügt. Verschwindet. Ich höre von hier aus zu. Nicht, dass ich was machen könnte, wenn ihr in Schwierigkeiten geratet, aber wenigstens kann ich dann eure Todesschreie hören.« 113 Das brachte Jack doch tatsächlich zum Lachen, etwas, das vergangene Nacht unmöglich erschienen war. Er gab Marisol einen letzten, innigen Kuss, dann führte er uns in die Tiefen des U-Bahnhofs und direkt zum Bahnsteig der Linie S. Die nebeneinanderliegenden Öffnungen der Tunnel sahen aus wie die Mündung einer doppelläufigen Schrotflinte. Sie befanden sich direkt hinter einem Stahltor. Natürlich hatte er mit unserer Überraschung gerechnet und bemühte sich um eine Erklärung, während er einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche fischte. »Die Tunnel führen auf direktem Weg zur Grand Central. Der Strom ist weg, also brauchen wir uns keine Sorgen wegen der Stromschiene zu machen. Ja, da drinnen ist es finster, aber soweit wir wissen, ist da auch keiner drin. Wir haben noch nie eine versprengte Leiche aus diesem Tunnel kommen sehen.« »Es ist ein U-Bahn-Tunnel, und die Toten sind wieder zum Leben erwacht«, sagte ich, als hätte er das Offensichtliche übersehen. »Er wird uns unter der halben Stadt durchfuhren«, beharrte Jack und schloss das Tor auf. »Fast bis zur UN, und es ist den ganzen Weg eine geschlossene Umgebung.« »Hast du noch nie einen Horrorfilm gesehen?«, wollte Ayaan wissen, aber sie schob sich genau wie ich durch das Tor. Jack verschloss es wieder hinter sich und eilte dann in forschem Tempo den Bahnsteig entlang. Ich musste mich ranhalten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Elektrisches Licht kam von der Decke, und die weißen Fliesen der Wände waren keineswegs schmutziger als die im Zwischengeschoss, aber der Bahnsteig fühlte sich deutlich anders an - kälter, weniger einladend. Hier gab es keinen Schutz vor der wartenden Stadt. Als wir den rechten Tunnel betraten, steigerte sich das Gefühl zu schleichendem Schrecken. Jack blieb stehen, um für 113
jeden von uns einen Leuchtstab herauszuholen. Er knickte sie in der Mitte und schüttelte sie, bis die chemische Flüssigkeit darin zu glühen anfing, dann klemmte er sie an unsere Hemden, damit wir einander in der Dunkelheit des Tunnels sehen konnten. Er hatte mit Klebeband eine Halogenlampe an seine SPAS-12 geklebt,
und er schaltete sie ein. Der Lichtstrahl enthüllte die Schienen, die in einer geraden Linie verliefen - eine Vorspiegelung der Unendlichkeit, geradewegs aus dem Geometrieunterricht der siebenten Klasse, vorausgesetzt, der Unterricht der Junior High School fand in der Hölle statt. Die Zeit verlor so gut wie ihre Bedeutung, als wir durch den Tunnel marschierten. Wir gingen auf den Schwellen, unsere Füße verfielen in einen Rhythmus, in dem wir auf jede zweite Bahnschwelle traten. Eine Weile versuchte ich meine Schritte zu zählen, aber das wurde schnell langweilig. Gelegentlich schaute ich über die Schulter und sah zu, wie das grelle Licht des Bahnsteigs hinter mir immer kleiner wurde, und wünschte mir, ich könnte zurück, aber bald war es nicht mehr heller als ein heller Stern. Wir machten so wenig Lärm wie möglich, versuchten, nicht einmal heftig zu atmen. Der von Jacks Lampe enthüllte Tunnel war einfach nur schwarz. Nein, mehr als das. Eine dumpfe, staubige Farbe, die das Licht absorbierte und wenig zurückgab, auf das man sich konzentrieren konnte. Gelegentlich stießen wir auf einen Schaltkasten an der Wand oder ein Signallicht, aber sie schienen im Raum zu schweben, losgelöst von jeder Realität. Die Realität waren die Schwellen und die Stromschiene neben uns und die zahllosen Nischen und Einschnitte und Notfalltüren in den Wänden, die von römisch anmutenden Torbögen durchbrochen wurden, um die beiden Tunnel zu belüften. Löcher, in denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Jack blieb abrupt stehen, sein gelbgrünes chemisches Licht stieß beinahe mit meiner Nase zusammen. Ich ging um ihn herum, um zu sehen, was ihn zum Anhalten veranlasst hatte. Eine Tote kroch auf allen vieren auf den Schwellen herum und stopfte sich Küchenschaben in den Mund. Als sie aufschaute, wirkten ihre milchigen Augen wie perfekte Spiegel, die das Licht reflektierten und uns blendeten. Der größte Teil ihrer Oberlippe fehlte, was ihr ein permanentes höhnisches Grinsen verlieh. Sie kämpfte sich auf die Füße und schlurfte auf uns zu, das zielfernrohrähnliche Muster von Jacks Lampe zeichnete seltsam wässrige Muster auf ihre verblichene Kleidung. Sie hatte uns fast erreicht, als mir klar wurde, dass weder Jack noch Ayaan sie erschießen würden. Ich starrte sie an und sah, das er den Lauf ihrer AK-47 festhielt und zur Decke richtete. Er sah mich mit einem Ausdruck gleichgültiger Neugier an. Einen Arm hielt die Tote unnatürlich verkrümmt unter den Brüsten, aber der andere war ausgestreckt, um uns zu packen. Ihr Mund war weit aufgerissen, als wollte sie uns ganz verschlingen. »Genau wie ein Baseballschläger, Dekalb«, sagte Jack und erinnerte mich an die Machete in meiner Hand. Sie war jetzt so nah, dass ihr Gestank mir die Luft raubte und sich in meinen Sachen festsetzte. »Mein Gott«, kreischte ich und machte einen Satz, schwang mit beiden Händen die Machete, mein ganzes Gewicht in den Schlag legend. Ich fühlte, wie ihr knochiger Körper mit meiner Brust kollidierte, als die Klinge direkt durch ihren Kopf fuhr; jeglicher Widerstand schlug als ein schlimmer Ruck in meinen Schultern ein, als würde ich von einem Auto angefahren. Aber dann war sie leblos, ein lebloser Haufen, der an meinem Hosenbein herunterrutschte. Ich keuchte, rang
nach Luft, beugte mich vor und erkannte im Licht von Jacks Lampe, dass ich in einem 115 großen, diagonalen Schnitt einen Teil des Kopfes der Frau einschließlich einem Auge abgetrennt hatte. Sie würde nicht wieder aufstehen. »Warum?«, fragte ich. Jack beugte sich vor und legte einen Arm um meine Schultern. »Ich musste wissen, ob ich dich mitschleppen muss. Jetzt weiß ich, dass du dich behaupten kannst.« »Und das ist eine gute Sache?« Ich spuckte alles aus, was in meinem Mund war meine Angst, ihren Gestank, den Ausdruck auf Ayaans Gesicht, der zum allerersten Mal echte Anerkennung zeigte. Eine Anerkennung, die ich verflucht noch mal nicht brauchte, wenn so etwas nötig war, um sie zu erringen. Ich war gerade schikaniert worden. Jack drückte meinen Bizeps und ging weiter. Ich sah dem sich entfernenden Leuchtstabglühen einen Moment zu, dann trabte ich los, um ihn einzuholen. 115
19-
Wir folgten Jacks Lichtkegel eine unendlich erscheinende Reihe von Treppen und stehen gebliebenen Aufzügen hinauf. Irgendwann sah man wieder etwas besser. Ich nahm zuerst an, meine Augen hätten sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber in Wirklichkeit waren wir in der Grand Central eingetroffen, und Licht - echtes Sonnenlicht - strömte durch die hohen Fenster des Bahnhofs. Als wir die marmorgesäumten Korridore betraten, die zur Eingangshalle führten, konnte ich plötzlich wieder alles sehen, und ich musste heftig blinzeln, weil meine Augen tränten. Ayaan duckte sich und kontrollierte den leeren Bahnhof hinter dem Visier ihres Gewehres. Jack hielt sich in der Nähe der Wände, aber ich war so froh, aus den Tunneln heraus zu sein, dass ich diesen Grad gesunder Paranoia einfach nicht aufrechterhalten konnte. Ich führte sie an leeren Zeitungskiosken und leeren Geschäften vorbei, die Männerhemden oder CDs oder Blumen verkauft hatten, vorbei an einem verlassen Schuhputzstand. Dann betraten wir die große Halle, und ich konnte zu der grünblauen Decke und den goldenen Sternkreiszeichen hinaufschauen, zu den gewaltigen Fenstern, durch die deutlich sichtbare gelbe Lichtstrahlen einfielen. Es gab keine Anzeichen von Leben oder Bewegungen. Die Leere des Times Square hatte mich schockiert, und hier hätte es mir eigentlich genauso ergehen müssen. In meiner Erfahrung war Grand Central immer voller Menschen gewesen. Aber etwas an diesem Ort sorgte für eine Art von ernstem Frieden - vielleicht war es die kathedralenartige Größe oder 115 der funkelnde Marmor. Ich hatte keine Zeit, mich in Ruhe umzusehen, aber es fiel schwer, sich von der eindringlichen Stille des Bahnhofs loszureißen. Dieser Ort war für schlafende Riesen gebaut worden, und ich sehnte mich danach, eine Weile in ihrem Megalithgrab zu ruhen. Ich führte sie in den Durchgang zum Graybar Building und weiter zu einer Reihe Glastüren. Sie waren oben und unten verschlossen, aber Jack hatte einen Polizei-
Türöffner. Er sah wie ein Pistolengriff mit einer dicken Nadel anstelle eines Laufes aus. Damit konnte man fast jede Tür in der Stadt öffnen. Ursprünglich waren sie Zivilbehörden vorbehalten gewesen, aber das Internet hatte sie für die Allgemeinheit verfügbar gemacht - Jack hatte seinen von derselben Firma, die ihm die SPAS-12 verkauft hatte. »Überprüfe die Straße«, sagte er, als er in die Hocke ging, um sich um das untere Schloss zu kümmern. Dazu brauchte man ein gewisses Geschick - man musste die Pistole abfeuern, um die Zylinderbolzen einzuziehen, während man gleichzeitig mit einem Spannhebel das Schloss drehen musste. Ich schaute durch die Scheibe auf die Lexington Avenue und sah verlassene Autos und leblose Gebäude, aber abgesehen von einem Taubenschwarm, der an den Glasfassaden zweier leer stehender Bürotürme vorbeiflog, war nichts Lebendes zu entdecken. Anscheinend hatte unser Glück Bestand. Von hier waren es nur ein paar kurze Blocks bis zum UN-Gebäude. Wenn wir uns still verhielten und keine Aufmerksamkeit auf uns lenkten, konnten wir es vielleicht schaffen. Es war beinahe so, als hätte jemand diesen Teil der Stadt geräumt. Vielleicht hatte die Nationalgarde Straßensperren aufgebaut, um die Toten fernzuhalten. Vielleicht war sie sogar noch immer dort draußen. Vielleicht beschützten lebendige Soldaten diese letzte Bastion New Yorks, warteten darauf, dass wir kamen und sie fanden. 116 »Was zu sehen?«, fragte Jack. Das Schloss öffnete sich mit einem lauten Klicken, das die Tauben draußen aufscheuchte. Mit flatternden Schwingen erhoben sie sich eine nach der anderen in den Himmel. Jack stand auf und kümmerte sich um das obere Schloss. »Negativ«, sagte Ayaan. Sie beobachtete die Vögel fast so verzückt wie ich, beobachtete, wie sie sich völlig aufeinander verließen; jeder von ihnen spiegelte die Bewegungen seiner Nachbarn wider, sodass bei jeder Richtungsänderung des Schwarms eine Welle der Bewegung durch sie hindurchging, als handelte es sich um ein einziges Wesen mit vielen Körpern. Das zweite Schloss öffnete sich, und Jack steckte die Werkzeuge ein. Er drückte die Tür auf, und sie ließ einen kühlen Luftstrom hinein. Luft, die nach Verfall und Verwesung stank. »Runter!«, brüllte Jack, als der Taubenschwarm eine Drehung vollzog und kopfüber durch die Tür schoss. Der ExRanger knallte die Tür zu, und ein Dutzend Vögel oder mehr prallte gegen die Scheiben. Ihre verschleierten Augen zeigten nur nacktes Verlangen. Hunger. Eine von ihnen lag nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt da, zuckend, nur durch ein schmales Stück Sicherheitsglas von mir getrennt, und ich sah die Löcher auf ihrem Rückgrat, wo sie zu Tode gepickt worden war. Ihr Schnabel hackte gegen die Glastür, hackte verzweifelt nach einem Bissen meines Fleisches. Hinter mir flatterten Flügel, und Jack rollte sich in eine sitzende Position, die Schrotflinte in den Händen. Er feuerte, und der Lärm hallte ohrenbetäubend von den Marmorwänden. Vögel fielen rechts und links aus der Luft herunter, als diejenigen, die es hineingeschafft hatten, zu einem weiteren Angriff drehten. Jack feuerte noch einmal und dann wieder, und Ayaan eröffnete das Feuer mit einer Salve, die die unto 116
ten Vögel in Wolken aus blauen Federn und nassem Blut verwandelte. Meine Ohren schmerzten durch den Lärm, und ich hatte die Sorge, sie könnten anfangen zu bluten. Ich verspürte einen Druck am Rücken, drehte mich um und sah Tauben, die gegen die Tür prallten, die sie mit ihren Körpern aufdrücken wollten. Ich stemmte die Schulter gegen die Tür, während Jack die letzten der Eindringlinge erledigte, auf die Köpfe derer trat, die seine Schüsse lediglich verkrüppelt hatten. Ayaan warf sich das Gewehr über die Schulter und half mir, als die Vögel draußen ihre Anstrengungen verdoppelten. »Das ist doch verrückt!«, sagte sie. »Völlig irre!« Jack beeilte sich, die Tür mit zitternden Händen wieder zu verriegeln. Der Angriff hatte selbst ihn überrascht. »Untote Tiere... das sieht man nicht oft. Die meisten frei lebenden Tiere der Stadt sind in den ersten Wochen gefressen worden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Eichhörnchen gesehen habe.« »Was machen wir jetzt?«, fragte ich und trat von der Tür weg, während sich eine weitere Taube gegen die Barriere warf. Der Matsch ihrer Körper hatte das Glas verschmiert. »Das ist doch lächerlich. Was machen wir jetzt?« Jack schüttelte den Kopf. »So nahe dran. Wenn wir jetzt abbrechen...« »Niemand bricht diese Mission ab.« Ayaan blickte uns finster an. »Ich habe meine Kommandantin verloren, um bis hierher zu kommen. Ich habe meine Freundinnen verloren. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um aufzuhören. Es wird eine Möglichkeit geben, wir müssen sie nur finden.« Wie als Trotzreaktion auf ihre Worte fiel ein Schatten auf den Bürgersteig draußen. Ich schaute auf und sah einen neuen Vogelschwarm näher kommen. Es war fast so, als wären sie organisiert, als könnten sie ihren Angriff planen. Aber es war bloß ein Instinkt, etwas in ihren Knochen, wozu sie ihre klei 117 nen Gehirne nicht einmal brauchten. Tauben waren Tiere mit einem Sozialgefüge, nahmen ihre Reize voneinander, so wie sie es immer getan hatten. Ich konnte mir vorstellen, wie es dazu gekommen war, dass ihnen dieser Teil der Stadt gehörte. Eine von ihnen musste von einem toten Menschen auf der Suche nach einer kleinen Mahlzeit gebissen worden sein. Sie war entkommen, aber an ihren Verletzungen gestorben. Zurück bei ihrem Schwärm hatte sie ihre Gefährten angegriffen - die dann wiederum die nächsten angegriffen hatten und so weiter. Der Schwärm, der zusammen flog, starb auch zusammen. Die Epidemie musste sich in der Vogelpopulation von New York schneller ausgebreitet haben als unter den Menschen. Einen Augenblick lang fragte ich mich, was sie alle hier machten, so nahe beim East River. Dann begriff ich, und mein Blut gerann zu Eis. Hungrige Wesen gingen dahin, wo es etwas zu fressen gab. Die toten Menschen hatten so gut wie alles an Land gefressen. Die letzte große Nahrungsquelle verstopfte den Fluss im Süden, auf Höhe der Brooklyn Bridge. Ich hatte es von Bord der Arawelo gesehen. Vor der Epidemie hatte es in der Stadt Hunderttausende Tauben gegeben - jetzt hatten sie sich zusammengetan, aus einem Instinkt heraus, der stärker war als der Tod. »Wenn wir da raus gehen, hacken sie uns binnen Sekunden zu Tode«, sagte ich. Es klang lächerlich, aber keiner lachte. »Aber hier gibt es irgendwo Tunnel. Ich
weiß, dass einer davon zum Chrysler Building führt. Wenn wir die Straße irgendwo anders betreten, irgendwo, wo sie es nicht erwarten...« Jack nickte. »Klar. Und wenn der Wind richtig weht, werden sie uns nicht riechen. Und wenn wir die Schuhe ausziehen, können wir lautlos gehen. Klar. Wir können es einen oder zwei Blocks weit schaffen, bevor sich etwas verändert und sie uns bemerken.« 23* Ich starrte durch die Tür, blickte zwischen den Gebäuden hindurch. Von hier aus konnte ich das Sekretariatsgebäude der UN nicht sehen. Aber ich konnte es fühlen, keine zehn Minuten Fußweg entfernt. Wir waren so nahe. Das Schicksal traf für uns die Entscheidung. Das Iridium-Mobiltelefon in meiner Gesäßtasche läutete, ein stetiges Pulsieren, das mich so ärgerte, dass ich es herausnahm und den Anruf beantwortete. »Hier spricht Dekalb.« Ich hatte Marisols Summe erwartet, aber da sprach ein Mann. »Echt? Dekalb? Ich habe gerade dieses Telefon gefunden und Stern Neunundsechzig gedrückt. Ich muss dich knapp verpasst haben. Das ist der Hammer! Ist Ayaan bei dir?« »Sie ist... Wer ist da?«, wollte ich wissen. Osman? Shailesh? Es hörte sich nach keinem von beiden an, aber ich wusste, dass ich die Stimme kannte, selbst mit der elektronischen Verzerrung der Leitung. Dann fiel es mir ein, und ein eiskalter Schauer fuhr mir den Nacken hinunter. »Wer ich bin? Ich bin derjenige, der gerade den Präsidenten des Times Square gefressen hat.« »Hallo, Gary«, sagte ich. Ich drückte hastig auf AUS, als könnte er durch die Satellitenverbindung kriechen und mich packen. »Jack«, sagte ich und versuchte mich zu sortieren, »im Bahnhof gibt es Schwierigkeiten. Die Toten...« Er wartete nicht darauf, dass ich den Satz beendete. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte so schnell zum U-Bahn-Eingang, wie er konnte. Ich rief ihm hinterher, und Ayaan folgte ihm ein paar Schritte, aber dann drehte sie sich um und schaute mich an. Ihre Miene war eine Frage, die ich nicht beantworten wollte. 118
20
Gary stieg die Feuertreppe des Armeerekrutierungsbüros auf dem Times Square hinauf und stellte sich aufs Dach. Ein Windstoß fuhr durch sein Haar und seine Kleidung. Er schaute auf und sah die dunklen Reklametafeln, aber für ihn waren die toten Neonlampen weniger ein schockierendes Omen als vielmehr ein Monument dessen, zu was die Welt -und damit auch er - geworden war. Tot, aber noch immer auf den Beinen. Eine Reflektion in einem Zerrspiegel. Er schaute zur Straße hinunter. Zu seinen Truppen. Er hatte Hunderte Untote mitgebracht, und auch wenn sie weder Waffen noch Uniform trugen, stellten sie dennoch eine Armee dar. Sie warteten stumm und leidenschaftslos auf seine Befehle. Er ließ den Blick über ihre schlaffen Gesichter und ihre hängenden Gliedmaßen schweifen und dachte darüber nach, wie er beginnen sollte. Hinter dem Stahltor des U-Bahnhofs starrten lebendige Gesichter auf die Armee. Ein Gewehrlauf schob sich zwischen den Gitterstäben hindurch, ein Schuss fiel. Einer von Garys Soldaten brach zusammen und fiel rückwärts auf ein Auto,
brachte die Karosserie zum Schaukeln. Gary lachte bloß. Er legte die Hände an den Mund und rief. »Ihr da drinnen -warum kommt ihr nicht zum Spielen raus?« Die Gesichter am Tor zogen sich in die Schatten zurück. »Hier kommt ihr niemals durch«, warnte einer der Lebenden. Falls sie überrascht waren, einen Toten sprechen zu hören, ließen sie es sich nicht anmerken. Das Gewehr krachte erneut, und eine weitere lebende Leiche sackte auf den Asphalt. 119 Gary griff mit den Gedanken zu, und der Boden dröhnte. Der Riese vom Zoo im Central Park - der jetzt gezähmt war und unter Garys Kontrolle stand - kam um die Ecke gewankt und packte das Gittertor mit seinen massigen Händen. Der Gewehrlauf verschwand. Mit einem Kreischen verformte sich das Tor in seiner Aufhängung, dann löste es sich mit einem widerhallenden Klirren, und der Gigant taumelte zurück. Horden der Untoten strömten vorwärts und in die U-Bahn hinein. Gary konnte durch ihre Augen sehen, als sie die Stufen hinunterstolperten, sich in ihrer Hast, zu dem lebenden Fleisch zu gelangen, gegenseitig aus dem Weg stießen. Dort unten gab es Tiere, lebendige Tiere. Ein großer Hund versenkte die Zähne im Oberschenkel von einem von Garys Soldaten, aber drei andere rissen das Tier einfach dort weg und verschlangen es. Die Horde ergoss sich in das Zwischengeschoss des Bahnhofs, strömte über und unter den Drehkreuzen hinweg. Die Menschen waren geflohen, hatten aber die seltsamen Zeichen ihrer Besetzung zurückgelassen. Von der Decke hingen ein halbes Dutzend durchsichtiger Mülltüten, die aussahen wie industriell gefertigte Eierstöcke. Tausende Nägel und Kies und alle möglichen Arten von Eisenwaren waren durch die dünne Plastikhaut zu sehen - Schrauben, Muttern, Bolzen, Dichtungsringe. Dazwischen klebte grobes schwarzes Pulver. Gary konnte sich nicht erklären, was das sollte. Alte Decken und leere Dosen lagen auf dem Boden herum. Unter den zurückgelassenen Dingen befand sich eine einzelne braune Papiertüte, bloß ein weiteres Stück Müll, solange man nicht die Drähte sah, die aus ihrer Öffnung ragten. Einer der Toten trat darauf, ohne auch nur einen Blick daran zu verschwenden. Ein Staubsturm brach in der Etage aus, Garys Sicht verschwand in einer blauen Düsternis, die heulte und pfiff, als die 119 Eisenwaren in den Plastikbeuteln in alle Richtungen schössen. Nägel und Schrauben krachten in die weißen Kachelwände, Dichtungsringe und Bolzen bohrten sich durch die ausgetrockneten Gehirne der Toten. Als sich der Rauch in eine wallende Staubwolke verwandelt hatte und Gary wieder sehen konnte, lag seine Armee zuckend und zerbrochen auf dem Boden. Offensichtlich hatten die Lebenden sich auf diese Invasion vorbereitet. Sie hatten die Toten wochenlang studiert, ihre Schwächen ergründet - darum die selbst gebastelten Granaten, die in Kopfhöhe von der Decke hingen, wo sie den größten Schaden anrichten konnten. Landminen wären deutlich weniger effektiv gewesen. Das hier würde nicht so einfach werden, wie sich Gary gedacht hatte.
Egal. Er rief die nächste Abteilung und schickte sie tiefer in das Labyrinth hinein, sie kletterte auf verwesenden Händen und Knien über die Körper der zum zweiten Mal Gestorbenen. Gary schloss die Augen und lauschte durch ihre Ohren, roch durch ihre Nasen... Da. Unter dem Gestank des selbst hergestellten Pulvers und aufgerissener Eingeweide erschnupperte er etwas viel Schwächeres, aber bedeutend Appetitlicheres. Schweiß, Angstschweiß - die Ausdünstungen der Lebenden. Er schickte einen Befehl durch das Netzwerk, das Eididh, und seine toten Krieger stolperten vorwärts in eine lange Halle, die in einer Rampe endete. Das zweite Zwischengeschoss, das für die Linien A, C und E da war, war einst eine Einkaufspassage gewesen. Die Boutiquen und Geschenkläden waren schon lange geplündert und in schlichte Schlafsäle verwandelt worden. Sie lagen jetzt leer und erbärmlich im Licht der Neonröhren, Reihen von Pritschen, von denen man die Laken heruntergerissen hatten, Stapel teurer Gepäckstücke, von den Lebenden in ihrer Hast zurückgelassen. Gary schickte seine Truppen tiefer, ließ 120 sie auf die Treppen zuströmen, die zu den Bahnsteigen führten. Er übersah die zweite Falle. In der Nähe des Eingangs zum Zwischengeschoss gab es eine einfache, unmarkierte Tür, hinter der früher die Utensilien des Reinigungspersonals verstaut gewesen waren. Die Toten waren daran vorbeigelaufen, als sie sich auf geölten Angeln öffnete. Drei Männer mit Elektrowerkzeugen an Verlängerungsschnuren sprangen heraus und eröffneten das Feuer. Untote fielen wie Weizen unter der Sense, von hinten von Projektilen gefällt, die mit einem pneumatischen Zischen abgeschossen wurden. Gary ließ seine Truppen drehen, damit sie sich den Angreifern stellten, und sah, dass diese Nagelpistolen benutzten - schwere Modelle für Dacharbeiten, die wie automatische Gewehre feuerten. Die Nägel, die sie ausspuckten, waren kaum so zerstörerisch wie Kugeln, aber das mussten sie auch nicht sein. Schon ein Einschlag in einem untoten Schädel war zu viel. Durchschnittliche Ghoule konnten keinen Kopfschuss wegstecken, wie Gary es getan hatte. Er musste diese Schützen eliminieren. Er schickte seine Truppen in ihre Vernichtung, in der Absicht, diese Bedrohung so schnell wie möglich auszuschalten. Plötzlich kamen noch mehr Lebende aus den Treppenhäusern. Pistolen und Gewehre in den Händen. Die Toten, die sich dem Angriff der Nagelschützen zugewandt hatten, boten ein leichtes Ziel für die schwer bewaffneten Überlebenden hinter ihnen. Die Toten konnten sich nicht schnell genug bewegen, um ihre Angreifer zu überrennen, darum waren sie im Kreuzfeuer völlig hilflos. Es sah schlecht aus - die Lebenden hatten eine perfekte Feuerzone erschaffen -, aber Gary rief einfach Verstärkungen herbei und schickte sie so schnell wie möglich in den Kampf. Am Ende war es eine einfache Rechenaufgabe. Sobald die 120 Lebenden zehn Feinde vernichtet hatten, folgten sofort zehn weitere. Der Letzte der Verteidiger, der starb, war ein älterer Mann mit einem zerrissenen Anzug und Krawatte. Er trug ein Namensschild am Revers - Gary erinnerte sich an die Schilder, die Paul und Kev getragen hatten -, auf dem HALLO, MEIN NAME IST Mr. President stand.
»Ich werde nicht mit Untoten verhandeln!«, schrie der Überlebende und fuchtelte mit seiner Nagelpistole herum. Egal. Gary ließ den Anführer der Lebenden von seinen Soldaten in Stücke reißen und schickte sie dann weiter. Die Toten marschierten die Treppen hinunter zum Bahnsteig, wohin sich die Lebenden geflüchtet hatten, wie ihm ihre Nasen verrieten. Doch es war niemand zu sehen - sie mussten sich in die Bahntunnel zurückgezogen haben. Gary lenkte seine Truppen auf die Gleise und erlebte eine böse Überraschung, die seine Kopfhautjucken ließ. Die Lebenden hatten die Stromschiene reaktiviert. Die Falle erschien sinnlos - nur ein paar seiner Soldaten hatten die Stromschiene berührt. Ihr Fleisch brutzelte, und ihre Körper zuckten wild, aber nur ein Bruchteil der Toten war betroffen. Schnell stieg der Qualm ihres brennenden Fleisches zur Decke auf, und das Sprinklersystem schaltete sich ein, ergoss Hunderte von Litern auf die Köpfe von Garys Armee, bis die Flüssigkeit ihre Gesichter herunterströmte und ihre dreckige Kleidung tränkte. Dämpfe stiegen von den Toten auf und wallten auf die Stromschiene. Im nächsten Augenblick flammten die untoten Soldaten wie Feuerwerkskörper auf. Gary blinzelte wie verrückt, als er sie durch ihre eigenen zerschmelzenden Augen brennen sah. »Scheiße«, sagte er in plötzlicher Erkenntnis. Die Spur führte vom Bahnsteig in den Tunnel nach Downtown. Natürlich. Wer auch immer die Fallen gebaut hatte, war Gary die ganze Zeit über einen Schritt voraus gewesen. 121 Sie mussten gewusst haben, wie viele Soldaten er zusammenrufen konnte, und dass er bereit war, so viele von ihnen zu opfern, wie es sein musste. Ganz egal, aus welchem Blickwinkel sie es betrachtet hatten, es war ein Kampf, der nicht zu gewinnen war - also hatten sie sich entschlossen, sich ihm nicht direkt zu stellen. Die Verteidigung des Bahnhofs hatte die Toten nicht aufhalten sollen, sondern sie nur behindern, um den Überlebenden die Zeit zu erkaufen, durch die Tunnel flüchten zu können. Direkt im Süden, eine Haltestelle weiter, lag die Penn Station - ein perfekter Rückzugsort, sollte der Times Square fallen. Gary führte seine letzte Gruppe Soldaten von hinten heran, trieb sie durch den zerstörten Bahnhof, drängte sie in die stygischen Tunnel. Die Toten sahen in der Dunkelheit nicht besser als die Lebenden, und sie stolperten und stürzten über Gleise und Schwellen, aber die meisten bewegten sich voran. Bald konnte Gary in einiger Entfernung tanzende Lichter erkennen - ein grünliches Glühen, das von Hunderten von Leuchtstäben kam. »Bewegt euch!«, hörte er eine Frau rufen. »Wir können ihnen davonlaufen!« Oh, das hätten sie in der Tat schaffen können - hätte Gary das zugelassen. Stattdessen sandte er einen Befehl zur 34* Street. Dort gab es eine Menge Untote. Es war einfach, sie zu mobilisieren und in die U-Bahn-Tunnel zu schicken. Bald hatte Gary die Überlebenden zwischen zwei Horden hungriger Toter getrieben. Die Überlebenden schlossen die Reihen und versuchten zu kämpfen - schließlich hatten sie nichts zu verlieren -, aber ihnen ging schnell die Munition aus. Messer und Hämmer und andere Handwaffen wurden gezückt, aber sie waren verloren, und sie wussten es.
Gary kletterte von seinem Kommandoposten und eilte so schnell er konnte durch den verwüsteten U-Bahnhof, um 122 seine Armee einzuholen. Er schob sich durch die untote Menge und erreichte die Überlebenden, um seinen Sieg mit eigenen Augen zu begutachten. Es waren Hunderte, wie versprochen. Hauptsächlich Frauen und Kinder und alte Männer, die Rucksäcke oder Schultertaschen trugen. In ihrem Entsetzen drängten sie sich aneinander, einige schluchzten. Eine von ihnen stand ein Stück abseits der Menge. Eine Frau in teuer aussehender Kleidung. Auf ihrem Namensschild stand HALLO, MEIN NAME IST fuckyou. Sie war ausgesprochen schwanger und hatte die Hände auf ihren Bauch gelegt. »Du hast gewonnen, Arschloch«, sagte sie. »Komm schon. Friss mich. Tu mir den Gefallen.« Gary trat näher heran. Er schaute nach unten und legte eine von toten Adern geprägte Hand auf ihren Bauch. Darin pulsierte die Lebenskraft, helle Energie strahlte wie ein warmes Feuer aus dem Kern ihres Wesens. Er konnte sie durch seine Finger glühen sehen, sie verlieh ihnen einen roten Schimmer, als würde er die Hände der Sonne entgegenstrecken. »Da habe ich allerdings eine bessere Idee«, sagte er. 122
Teil drei I
Rauch und ätzende Dämpfe wogten über die Oberfläche des angesengten Bahnsteigs. Die Wandfliesen waren während des Infernos zersprungen, die Scherbenhaufen knirschten unter meinen Schuhen. Jacks Lichtstrahl konnte den Staub und die Asche in der Luft nicht durchdringen. Körper, hauptsächlich graue Haufen, aus denen gelegentlich eine verräterische Hand oder ein verbranntes Haarbüschel ragten, lagen überall verstreut auf den Schienen. »Braves Mädchen«, sagte Jack. Er rannte eine Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Wir versuchten mitzuhalten, aber bei der dicken Luft konnten wir kaum atmen, und wir fielen zurück, bis wir in der fast völligen Dunkelheit verlassen worden waren und nur unsere Leuchtstäbe den Weg erhellten. Ayaan warf mir ihren zu, damit sie beide Hände für die Kalaschnikow frei hatte. Ich fuchtelte mit beiden Stäben über meinem Kopf herum, als wären es Fackeln. Wir kamen an eine Stelle, an der die Körper wie eine untote Barrikade aufgeschichtet waren, und ich suchte mir behutsam einen Weg hindurch, voller Angst, einer der zum zweiten Mal gestorbenen Toten würde sich hinter mir erheben und mir den Hals umdrehen. Ayaan schwang den Gewehrlauf von links nach rechts und von oben nach unten, zielte nacheinander auf jeden punktierten Kopf. Schließlich kamen wir zum HauptZwischengeschoss, wo Montclair Wilson seine Ansprache zur Lage der Nation gehalten hatte. Der Ort, wo Hunderte Menschen gelebt hatten, war nicht wiederzuerkennen. Die Wände bestanden nur noch aus 122
nacktem Beton. An einigen Stellen war die Decke eingestürzt, waren Tonnen von Gips auf den Fahrscheinschalter herabgeregnet, der verlassen und eingedellt dort stand. Die Toten waren grob zur Seite geschoben worden und öffneten einen breiten Gang zu der Treppe, die zur Straße hinaufführte. Von oben lockte das Licht, und wir hielten uns nicht auf. Wir fanden den Times Square verlassen vor, ohne seine taumelnden Leichen. Jeder Untote in Midtown musste an der Invasion des U-Bahnhofes teilgenommen haben, aber sie waren schon lange fort. Nur Jack war da, der sich ständig im Kreis drehte und Spuren oder andere Hinweise suchte. Ich konnte keine Anzeichen für einen Kampf entdecken, aber Jack bückte sich und hob irgendein Stück Abfall von der Straße auf. Wortlos gab er es mir. Einst war es ein Flugblatt für eine BroadwayShow gewesen, aber jemand hatte etwas mit einem Kugelschreiber auf die Rückseite gekritzelt: DIE LEBENDEN = GEFANGENE DIE TOTEN = ORGANISIERT! DER ANFÜHRER = »GARY« AUF DEM WEG NACH UPTOWN
»Jack«, sagte ich und hielt den Zettel fest, weil ich ihn einfach nicht wegwerfen wollte, nicht, wenn es möglicherweise die einzige Verbindung zu den Menschen war, denen er geholfen hatte. »Du konntest nichts tun. Du konntest sie nicht retten.« Er starrte mich an, während sich sein Mund mühsam zu einer Grimasse verzog. »Sie sind noch am Leben«, sagte er schließlich und winkte meine Proteste ab. »Hätten die Toten sie einfach nur umbringen wollen, dann hätten sie es hier getan, statt sie dafür durch die halbe Stadt zu zerren. Man hat sie aus einem bestimmten Grund mitgenommen. Wer ist dieser Gary? Ein Überlebender?« 123 »Er... er ist ein Untoter, aber er ist anders als die anderen. Er konnte sprechen und denken. Er war Arzt und wusste, wie er bei seinem Tod einem Hirnschaden entgehen konnte, er... Wir haben ihn vor einer Weile kennengelernt, ich hätte ihn erwähnt, aber...« Jack starrte mir tief in die Augen. »Es gab eine Bedrohung, von der ich nichts wusste, und du hast vergessen, mir davon zu berichten.« Er nahm mir den Zettel aus der Hand. »Im Moment bin ich zu beschäftigt, um dich in den Arsch zu treten, aber das hole ich nach.« Es war so untypisch für ihn, so etwas zu sagen, dass ich ihn bloß sprachlos ansehen konnte. Glücklicherweise konnte Ayaan noch sprechen. »Er ist tot! Gary ist tot! Ich habe ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich habe das selbst erledigt. Wir haben gesehen, wie er starb. Aber er ist zurückgekommen und sehr gefährlich.« »Ja, so viel weiß ich auch.« Jack musterte den leeren Times Square. Er wandte sich nach Westen, dem Fluss zu, und dann ging er schnell los. Ich rannte hinter ihm her. Er hatte Fragen. »Man hätte eine Armee gebraucht, um unsere Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Man hätte elektrisches Handwerksgerät und Strom gebraucht. Wie konnte er durch das Tor kommen... Weißt du, wie er das geschafft hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Er konnte nichts festhalten... er war Arzt, bevor er... nun, eben bevor. Er wollte einer unserer Verwundeten helfen, aber er konnte nicht
einmal einen Verband anlegen, seine Finger waren zu unbeholfen. Ich glaube nicht, dass er Handwerksgeräte hätte benutzen können.« »Diese Toten waren organisiert. Ist er dazu fähig?« »Er hat nie... Wir haben nicht erlebt, dass er sie organisiert hätte«, sagte ich. »Er machte einen harmlosen Eindruck, als wir ihm begegnet sind.« 245 »Sie haben sich nicht selbst organisiert. Für mich hört sich das an, als hätte dieser Typ ein paar Tricks auf Lager, die er euch verschwiegen hat. Gedankenkontrolle über die Toten. Einen Kopfschuss überleben. Ohne Werkzeug ein Karbonstahltor aus den Angeln reißen. Jetzt hat er meine Leute in seiner Gewalt, aber anscheinend wird er sie nicht einfach bloß fressen, denn das hätte er hier machen können. Er schafft Fakten auf dem Schlachtfeld, und wir haben keinerlei Informationen darüber.« Nach kurzer Zeit hatten wir die Barrikade der Nationalgarde in der Nähe von Port Authority erreicht. Jack griff unter die Haube des aufgegebenen APC und legte einen Hebel um. Dann schaute er auf den Motor des großen Fahrzeugs und grunzte. »Sie haben mindestens eine halbe Stunde Vorsprung, und er wird immer größer, während ich hier mit euch rede. Wir werden das in Ordnung bringen, Dekalb. Wr werden sie verfolgen und sie finden, und ich hole mir Marisol zurück. Du kannst mir dabei helfen oder du kannst gehen. Deine Entscheidung.« Er griff in die Tiefen des Motors und zerrte an etwas herum. Eine Sekunde lang zitterte sein Arm vor Anspannung, dann ließ er blitzartig los, als sich der Motor aufbäumte und ein Husten von sich gab. Er verstummte wieder. »Jack... das ist doch Selbstmord«, sagte ich, obwohl mir klar war: Wenn jemand unter diesen Umständen nicht absichtlich den Cowboy spielen würde, dann dieser Ex-Ranger. »Dekalb, ich bin nicht blöd. Ich rede von einer Erkundung. Wir gehen nicht aggressiv gegen sie vor, bevor wir die Fakten kennen - das ist das Standardverfahren. Jetzt fahre ich erst einmal dorthin und sehe mich um.« Er öffnete einen Werkzeugkasten, der an der Nase des APC befestigt war, und holte einen langen weißen Keilriemen heraus. Er musste auf den Motor klettern, um ihn zu installieren, seine Arme verschwanden in der Tiefe des Mechanismus. Er betätigte erneut 124 den Anlasser, und der Wagen brüllte und jaulte und begnügte sich schließlich mit einem markerschütternden Rattern. Jack sprang wieder auf die Straße und kletterte dann ins Fahrerhaus. Ich wollte hinter ihm her, aber er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ich. Mit dem Ding hier komme ich nahe heran, aber es ist schwer, es zu verbergen. Ich werde es irgendwann stehen lassen und sie zu Fuß weiter verfolgen müssen. Da wirst du mir keine Hilfe sein.« Das war nicht unrichtig. Wenn es darum ging, sich unbemerkt in urbaner Umgebung zu bewegen, hatte er die beste Ausbildung auf der ganzen Welt erhalten, ich hingegen hatte nicht die geringste Ahnung von so etwas. Er gab Gas, hüllte die ganze Straße in schwarzen Rauch und legte den Gang des APC ein. Er musste brüllen, um den Lärm zu übertönen.
»Nimm Ayaan und geh zurück zu deinem Schiff. Fahrt nach Governors Island. Wenn ich nicht in vierundzwanzig Stunden dort bin, seid ihr auf euch allein gestellt.« Ich nickte, aber er wartete meine Antwort nicht ab. Er fuhr los, nach Norden - zu den Überlebenden, vorausgesetzt, sie waren noch am Leben. 125 Zwei Mumien erwarteten Gary, als er zum Broch zurückkehrte. Sie bedeuteten ihm, ihnen zu folgen - allein. Natürlich würde es Ärger geben. Mael wusste sicher bereits, was geschehen war. Als sie das Lager betreten hatten, hatten sich die Arbeiter auf den Mauern des großen Turms umgedreht und sich die große Prozession angeschaut. Ihre Hände waren gesunken, die Ziegel in ihren Händen waren zur Seite gelegt worden, damit sie zusehen konnten, wie Hunderte lebendiger Menschen furchterfüllt mitten nach Untotenhausen hinein marschierten. Die Toten selbst kannten keine Neugier - trotz all der Augen, die sich Gary und seinem Kommando zuwandten, gab es nur eine Intelligenz, die durch sie hindurch sah. Gary konnte Maels Überraschung verstehen. Die Armee der Toten hatte den strikten Befehl, nicht ein lebendes Wesen in den Central Park hinein zu lassen, ganz zu schweigen eine Menschenmenge. Gary brach da ein ernstes Tabu. Er befahl seiner Armee, die Gefangenen zu bewachen, und trat in die Schatten der Baustelle. Die Mauern wuchsen beständig: Tote brauchten keine Ruhe, und Mael standen genug Tote zur Verfügung. In der Mitte des Gebäudes wartete der Druide auf seinem steinhaufenähnlichen Thron. Er sah nicht erfreut aus. Also ehrlich, mein Junge, ich weiß, dass du clever bist, also wirst du mir das auch mühelos erklären können. Warum sollte mein bester Diener meine Befehle so gründlich missachten? Du hast nicht vergessen, worum es hier geht, oder? Das Töten und so weiter? 125 »Ich habe es nicht vergessen.« Gary trat näher heran, bis er fast Nase an Nase mit der Moormumie stand und direkt in die dunklen Augenhöhlen starrte. Der Druide hob nicht den Kopf, aber die Taibhsearan, die von den Wänden hingen, verdrehten die Hälse, um Garys Bewegungen zu folgen. Dann bist du also wieder weich geworden ? Ist es das? Hast du im entscheidenden Moment den Mut verloren? Um ehrlich zu sein, mache ich dir nicht zum Vorwurf, dass du etwas Mitgefühl verspürst, mein Sohn. Wenn du willst, schicke ich meine eigene Kreaturen los, um die böse Tat zu vollenden. Mael erhob sich von seinem Sitz und humpelte auf den Ausgang zu. Als er dabei ganz nahe an Gary vorbeiging, schien er etwas anderes zu spüren. Er blieb stehen und hob die Hand, um Gary langsam über das Gesicht zu streichen. Dann war es also gar kein Mitleid, o nein. Gary wusste, was der Druide fühlte - die Energie, die wie Wellen auf einem Ozean durch Gary hindurchströmte, gewaltig und tief und stark. Sie summte in seinem Inneren, und es kam ihm so vor, als würde er jeden Augenblick aufplatzen. Wie viele hast du gefressen? Zwanzig? Dreißig? »Ich brauchte die Kraft. Sonst hätte ich sogar sie verschont.« Die Männer, die er getötet hatte, waren alt oder auf die eine oder andere Weise behindert gewesen. Sie hätten ihm nicht helfen können, sein gewünschtes Ziel zu erreichen. »Mael, ich habe nachgedacht.«
Tatsächlich? Und welcher großartige Einfall hat dich in seinen Klauen ? »Ich muss wissen... ich muss wissen, was du mit mir vorhast. Mit mir und allen Untoten, die wie ich sind, den Hungrigen. Wenn das Werk erledigt ist und alle Überlebenden tot sind, was wird dann aus uns?« Der Druide strich sich über das Kinn und stolzierte zu seinem Thron zurück, während die Taibhsearan jeder noch so ge 126 ringen Bewegung Garys folgten. Ihr werdet natürlich belohnt werden. Ich bringe euch Frieden, Frieden und die Zufriedenheit, die ein Mann nach getaner Arbeit verspürt. »Frieden? Der einzige Friede, den ich noch verspüre, ist ein gefüllter Bauch«, sagte Gary. Oh, mein Junge, sei nicht so begriffsstutzig. Ich weiß, worauf du anspielst, und es ist unnatürlich. Keine Kreatur sollte ewig leben. Das ist ein Fluch. Nimm den Frieden, den ich anbiete. Ich wünschte mir, es könnte anders sein, aber in dieser Sache gibt es nur zwei Seiten: Du bist entweder für mich oder gegen mich. Gary umkreiste langsam den Thron, die Seher an den Wänden verdrehten die Köpfe, um ihn im Auge zu behalten, während er seinen nächsten Zug bedachte. »Du sprichst vom Frieden des Grabes. Wenn es keine Menschen mehr gibt, wird es für uns auch keine Nahrung mehr geben. Du wirst uns hungern lassen, bis wir zu Staub zerfallen. Oder nein... nein, das würdest du grausam finden. Wenn die Arbeit getan ist, wenn der letzte lebende Mensch auf der Erde tot ist, dann würdest du uns einfach abschneiden. Du würdest unsere dunkle Energie einfach absaugen und uns dort fallen lassen, wo wir gerade stehen.« Siehst du denn eine andere Möglichkeit? »Ja!«, brüstete sich Gary. »Es fängt mit all diesen Leuten an, den Lebenden dort draußen. Wir hören auf, sie zu töten, das heißt, wir hören damit auf, sie alle zu töten. Ein paar von ihnen wählen wir als Nahrung aus, aber den Rest halten wir am Leben und schützen sie vor den Toten. Sie sind ein nachwachsender Rohstoff, Mael - sie werden weiterhin Babys machen. Ganz egal, wie schlimm die Dinge werden. Selbst mitten in der verfluchten Apokalypse werden sie noch immer Babys produzieren. Ich kann dafür sorgen, dass es weitergeht - so lange, wie ich dazu Lust habe.« Und wenn du das tust, mein Junge, wird mein Opfer verschwen126 det sein. Mein Leben und mein Tod werden völlig umsonst gewesen sein. Nein! Ich lasse nicht zu, dass du mich bedeutungslos machst! Und jetzt tu, was man dir befohlen hat! »Ich bin fertig, Mael. Ich arbeite nicht mehr für dich«, sagte Gary und schaute auf seine Füße. Die beiden Mumien kamen mit erhobenen Händen auf Gary zu, offensichtlich hatten sie den Befehl zum Angriff erhalten. Gary duckte sich unter den Armen einer Mumie hinweg und sah ein Amulett zwischen den Binden auf ihrer Brust ihren Herzskarabäus. Er riss es ab und warf es so weit weg, wie er konnte. In seinem Kopf hörte er die Mumie nach ihrem magischen Amulett heulen. Sie rannte in die Richtung, in die es geflogen war, und überließ es ihrem Partner, sich weiter um Gary zu kümmern. Es war nicht schwer, die verbundenen Arme der
zweiten Mumie abzuwehren. Gary rammte ihr die Stirn so hart gegen den uralten Schädel, dass sie einfach zusammenbrach. Dann griff Mael selbst in den Kampf ein. Das grüne Schwert krachte gegen Garys Hinterkopf, aber er war darauf vorbereitet und rollte mit dem Hieb ab. Er wich zur Seite und suchte nach einer Öffnung. Ihm war klar, dass ihm nur Sekunden blieben, bevor Mael einfallen würde, nach Verstärkung zu rufen - nach Tausenden. Trotz der Energie, die in Garys toten Adern brannte, konnte er allein nicht gegen eine Armee aus Untoten bestehen. Er wusste auch, wie stark Mael war und dass der Druide ihm mit nur einer Hand den Hals brechen konnte. Er brauchte einen Vorteil, und zwar schnell. Mael schlug zu, und das Schwert krachte hart auf den Boden und zerschmetterte Ziegel zu Staub, verfehlte Gary nur um Zentimeter. Nimm, was du verdient hast, mein Junge! Gary schützte das Gesicht mit den Armen, aber er wusste, dass das Schwert seine Knochen zerschmettern würde, wenn Mael traf. Ein weiterer Hieb - Gary sprang zurück und prallte gegen eine Steinmauer. Es gab keinen Ort zum Ausweichen mehr. Mael verfolgte ihn, sah durch die Augen seiner Taibhsearan auf ihn herunter. Die Waffe hob sich und verharrte dann mitten in der Bewegung. In Balros Namen, kreischte der Druide, es ist so finster wie in der Nacht! Was hast du getan, mein Junge? Gary hielt die Hände fest vors Gesicht, während er das Eididh manipulierte. Seine Stimme war leiser als beabsichtigt, als er sprach. »Ich habe gerade jedem Ghoul im Park befohlen, die Augen zu schließen«, sagte er. Das Schwert fiel aus Maels Hand. Der Druide griff in die Höhe, um seine leeren Augenhöhlen zu berühren. Er fing an zu stöhnen, ein leiser, trauernder Laut, bei dem Garys Zähne so sehr vibrierten, dass er beinahe die Kontrolle über die Toten verloren hätte. Er fühlte, wie Mael seinen Befehl rückgängig zu machen versuchte, schrille geistige Schreie tasteten nach den Taibhsearan an den Wänden, verzweifelte Schreie gingen an die Arbeiter draußen, sie sollten hereinkommen und ihrem Herrn mit ihren Augen dienen. Aber Gary war zu stark geworden. Er hatte zu viele von den Lebenden gefressen. Gary erhob sich langsam, achtete sorgfältig darauf, nicht zu viel Lärm zu machen, und trat hinter seinen einstigen Wohltäter. Das fiel mit geschlossenen Augen nicht leicht, aber er hatte sich genau gemerkt, wo der Druide stand. »Ich habe ein Recht auf meine Existenz, Mael«, flüsterte er. Oh, mein Junge, was bist du doch zu einem wunderbar schlauen Ding geworden. Gary spürte, dass Gefühle wie Wärme von dem Druiden ausstrahlten. Da war Furcht und etwas Hass und auch etwas Stolz auf seinen abtrünnigen Schüler. Aber hauptsächlich war es Bedauern, tiefes Bedauern, dass sein Werk am Ende war. 127
Gary griff mit zitternden Händen zu und packte Maels Kopf unterhalb der Ohren. Kaum mehr als ein paar Hautfetzen verbanden ihn noch mit dem gebrochenen Hals. Mit einer schnellen Bewegung riss Gary den Kopf ab. Maels vertrockneter Körper sackte zu Boden, so tot wie damals, als er in dem kalten Wasser eines schottischen Moores getrieben war. Der Kopf summte in Garys Händen wie etwas, das gleich explodieren würde. Er fühlte sich zugleich heiß und kalt und feucht und trocken an, und Gary verspürte das echte Verlangen, ihn einfach wegzuwerfen, aber das wäre wirklich dumm gewesen - Mael war noch nicht richtig tot. Gary war nicht
sicher, ob sein Plan funktionieren würde, aber er hob den Kopf an die Lippen, als wäre es ein Kürbis, und biss fest zu. Der uralte Schädel zerbrach zwischen seinen Zähnen - und dann überflutete ein schwarzer, kreischender, knisternder Strom die Welt und riss Garys Bewusstsein mit unbarmherziger Gewalt einfach mit. 128
Wir kamen problemlos zum Fluss zurück. Anscheinend war jeder Tote in Midtown Manhattan zu Garys Armee einberufen worden. Die Mädchen waren begeistert, Ayaan wiederzusehen. Sie lachten und wischten sich Tränen aus den Augen und nahmen sie in den Arm. Sie stellten ihr unzählige Fragen, von denen ich nur »See tahay?« und »Ma nabad baa?« verstand, die üblichen Begrüßungen. Ayaans Antworten wurden mit gebannter Aufmerksamkeit und echtem Entzücken aufgenommen. Was mich anging, so schüttelte Osman mit Blick auf meine mitgenommenen Sachen und mein ausgezehrtes Gesicht nur den Kopf. »Wenigstens ist dieses Mal keiner gestorben«, lautete sein Kommentar. Er schnappte sich eine alte PlastikMilchflasche mit grüner Hydraulikflüssigkeit und begab sich wieder zu den Maschinen unter Deck, damit wir in See stechen konnten. Es war keine lange Reise nach Governors Island, aber wir ließen uns Zeit. Die tränenförmige Insel liegt direkt südlich der alten Festung an der Spitze von Manhattan, in der Nähe von Klus Island und Liberty Island. Den größten Teil meines Lebens war sie eine Basis der Küstenwache, die aber 1997 von der Regierung geschlossen wurde. Ich hatte keine Ahnung, was Jack dort wollte. Aber ich hatte auch nichts dagegen, mich dorthin zu begeben. New York. Es tat so gut, wieder auf dem Wasser zu sein, dort, wo man nicht unentwegt in Gefahr schwebte. Wenn man sich ununterbrochen in einer Kampfsituation befindet, 2 54 fällt einem irgendwann nicht mehr auf, unter welcher Anspannung man steht. Man fängt an, es für völlig normal zu halten, dass einen grundlos Muskelkrämpfe überfallen oder man das Gefühl hat, es schleiche sich jemand hinter einem an, selbst wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Erst nach der Rückkehr in die Sicherheit wird einem bewusst, wie verrückt man geworden ist. Was vielleicht die Erklärung dafür ist, dass ich Osman bat, einen Umweg zu nehmen. Er setzte die Arawelo auf halbe Kraft, und während wir die Insel einmal vollständig umrundeten, sah ich das bewaldete Ufer vorbeistreichen. Der größte Teil der Küste ist von Docks und Kais gesäumt, an anderen Stellen gibt es Wege, die den Hafen überblicken. Die Schießscharten in den runden Festungsmauern von Castle Wdliams waren leer, und ich konnte durch sie hindurch auf einen verlassenen Hof blicken, der in der Tageshitze schimmerte. Die Mädchen faszinierte die größte Konstruktion, ein mit Schlitzen versehener Stahlturm, der direkt am Ufer wie das Skelett eines Hochhauses aus dem Wasser ragte. Er sorgte im Brooklyn Battery Tunnel für die Ventilation. Ich beachtete ihn nicht und suchte weiterhin das Ufer ab. Irgendwann trat Ayaan zu mir an die Reling und fragte, wonach ich Ausschau hielt. »Nach den Toten.« »Und, hast du welche gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. Es war eigentlich unwahrscheinlich, dass ein Ort auf dieser Welt gänzlich von der Epidemie unberührt geblieben war, aber Governors
Island erschien nicht nur verlassen, sondern auch in voller Blüte zu stehen. Das Grünzeug, das bis ans Wasser reichte, rauschte in der Wärme des Tages, und die fröhliche Brise aus dem Hafen roch nicht im Mindesten nach Tod. Die Sonne spiegelte sich auf unversehrten Fenstern und verlieh allem einen völlig unnatürlichen gesunden Glanz. 129 Anscheinend hatte uns Jack an einen sicheren Ort geschickt. Einen ruhigen Ort, an dem wir Pläne schmieden konnten. Ich bedeutete Osman, uns zum Fährhafen zu bringen. Die Anlegestellen dort waren als Einzige groß genug für die Arawelo. Wir legten zwischen zwei Ufermauern an, die mit alten Reifen bestückt waren, und das Schiff kam ächzend zum Stillstand. Fathia und ich warfen Taue auf das Dock, und zwei der anderen Mädchen machten sie an großen, aus dem Wasser aufragenden Betonsäulen fest, die von Algen überwuchert waren. Wr wollten gerade die Landungsbrücke ausbringen, als der helle Knall eines Schusses uns alle zusammenzucken ließ. Ein Mann mit marineblauer Windjacke und Baseballmütze trat auf die Laderampe des Fähranlegers und schaute zu uns herunter. Zu diesem Zeitpunkt hätte mich der Anblick eines Überlebenden nicht mehr schockieren dürfen, nicht nach meinen Erfahrungen am Times Square, aber dieser Typ erregte meine volle Aufmerksamkeit. Zum einen steckte vorn an seiner Jacke ein funkelndes Abzeichen, und auf dem Rücken war in Gelb die Aufschrift DHS zu lesen; zum anderen hielt er einen M4A1 Karabiner mit einem Nachtsichtvisier in der Form eines übergroßen Teleobjektivs und einem M203 Granatwerfer unter dem Lauf. Der Mann war nicht groß, und es sah aus, als könnte er durch das Gewicht der Waffe vornüberkippen, aber ich lachte nicht. Der Lauf zielte auf meine Stirn. Ich sah direkt in die Mündungsbremse. »Wir leben«, sagte ich. »Das ist nicht nötig.« Das Gewehr schwang nach links, und ich duckte mich reflexartig. »Und du rührst dich nicht, Kopftuchschlampe«, verkündete der Überlebende. Er zielte auf Ayaan, die nach ihrer Kalaschnikow hatte greifen wollen. Toll, dachte ich, genau das konnten wir jetzt gebrauchen. Kleinkarierte Geopolitik im schlimmstmöglichen Augenblick. 129 »Sie sind beim Department of Homeland Security, stimmt's?«, rief ich. Der Überlebende drehte sich nicht um, kratzte aber mit der linken Hand seine Bartstoppeln. »Ich bin Special Agent Kreutzer von der Heimatschutzbehörde, ja, und ich beschlagnahme euer Schiff unter Berufung auf die Notfallverordnung des Patriot Act. Ihr könnt jetzt eure Waffen über Bord werfen. Ihr braucht sie nicht mehr.« Ich atmete tief ein. »Hören Sie, ich heiße Dekalb. Ich gehöre der mobilen Inspektions- und Entwaffnungseinheit der Vereinten Nationen an. Ich glaube, wir sollten uns jetzt alle nur etwas beruhigen.« »Ich nehme keine Befehle von verrückten Weltregierungs-Spinnern an, danke schön. Jetzt befolgt verdammt noch mal Befehle. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen!«
»Wie lautet Ihr Auftrag denn?« Ich versuchte den Dialog am Leben zu erhalten. Dieser Kerl würde jemanden erschießen, wenn es mir nicht gelang, ihn zu beruhigen. Der Special Agent hob beide Arme gen Himmel, als würde er ein verlockendes Schicksal anflehen. »Meinen haarigen weißen Arsch zu retten! Und jetzt weg mit den Waffen, ihr dummen Arschlöcher!« Das war die Gelegenheit für Mariam. Ohne dass ich es bemerkt hatte (und Kreutzer glücklicherweise auch nicht), war die Scharfschützin auf das Ruderhaus geklettert und hatte zum perfekten Schuss angelegt. Als sich Kreutzers Arme hoben und er nicht länger direkt auf jemanden auf dem Schiff zielte, hielt sie die Luft an und zog den Abzug ihrer Dragunow durch. Der vorderlastige M4 Karabiner krachte auf den Betonboden, als Kreutzer nach seinem rechten Zeigefinger griff. »Mein Gott!«, schrie er. »Sie hat mir den Finger abgeschossen!« Er starrte mit weit aufgerissenen Augen zuerst auf seine blutige Hand und dann wieder auf mich. »Mein Gott!« 130 In einer Sekunde war ich über die Reling gesprungen. Ich hob die Waffe auf, die er fallengelassen hatte, und wollte ihn damit in Schach halten, während die Mädchen die Umgebung sicherten. Ayaan hatte eine ähnliche Idee, aber ihre war einfacher. Sie bestand größtenteils darin, dem Überlebenden den Kolben ihrer AK-47 ins Gesicht zu rammen. Er stürzte zu Boden und rollte sich zusammen. »Gottverdammt noch mal, Ayaan, das war unnötig«, rief ich. »Und gefährlich obendrein. Was, wenn er einen Partoer gehabt hätte - oder ein ganzes Platoon, das sich dort hinter den Bäumen versteckt?« Ayaan nickte nachdenklich. Dann rammte sie Kreutzer den Gewehrlauf in den Bauch. »Diese Kopftuchschlampe hier will Informationen, futo delo. Versteckt sich da ein Platoon voller solcher Idioten wie dir?« »O mein Gott, nein, ich bin hier der Einzige, Jesus beschützte mich in der Stunde meiner Qual, ich schwöre es, ich schwöre es!« Sie sah mit einem Lächeln und einem Schulterzucken zu mir herüber. Ich befahl den Mädchen, die Finger dieses blöden Arschlochs zu verbinden (Mariam hatte sie gar nicht abgeschossen, sondern nur gestreift, damit er die Waffe losließ) und nach einem sicheren Ort zu suchen, an dem wir unsere Operationsbasis aufschlagen konnten. So wie es aussah, gehörte Governors Island uns. Ich schaute mir Kreutzers Waffe an und sicherte sie, dann gab ich sie an Ayaan weiter. »Lust auf ein Upgrade?«, fragte ich sie. Sie widmete der Waffe etwa eine Sekunde, zielte den überladenen Lauf entlang und wog ihr beträchtliches Gewicht in der Hand. Sie zog den ausziehbaren Kolben zu seiner vollen Länge heraus und schlug ihn wieder zurück. Dann betrachtete sie abwechselnd das M4A1 mit seinem schwarzen Plastik so 130 wie den elektronischen Spielereien und ihr eigenes Gewehr aus lackiertem Kirschbaumholz und solidem Stahl. Kreutzers Waffe sah aus wie ein futuristisches Spielzeug. Ihre wie eine Waffe aus dem Mittelalter.
»Diese M4 kennt jeder. Die Urbane Gefechtsversion des M16, oder?«, fragte sie. »Ist dafür bekannt, im falschen Augenblick zu blockieren. Der Lauf wird überhitzt, wenn man ein volles Magazin durchjagt.« Sie warf mir das Gewehr zurück, und ich stolperte, als es gegen meine Arme prallte. »Kein Deal zu machen, Dekalb.« 131 Eine der Mumien brachte die schwangere Frau zu Gary. Sie war auf einen Rollstuhl gefesselt, nachdem sie versucht hatte, einem ihrer Häscher mit einem Ziegel den Schädel einzuschlagen. Ein mutiger Versuch, keine Frage, aber Gary fragte sich, wie weit sie wohl in einer Stadt voller Toter zu kommen geglaubt hatte, wo sie doch nicht einmal rennen konnte. Ihr angeschwollener Leib ruhte auf ihrem Schoß, als hätte sie sich eine Bowlingkugel unter das Hemd gestopft. Die Mumie schob den Rollstuhl zu dem Steinhaufen, auf dem Gary saß, und wartete geduldig auf den nächsten Befehl. Er ließ sich damit Zeit. Er war schon den ganzen Morgen in friedlicher Stimmung, betrachtete bloß den Himmel, den unvollständigen Broch hinter ihm und die neuen Gebäude, die er auf dem Great Lawn errichten ließ, und dachte eigentlich über nichts Bestimmtes nach. Nach der vergangenen Nacht hatte er sich die Pause wohl verdient. Sein Körper war stundenlang von Krämpfen geschüttelt worden, nachdem er Mael gefressen hatte; die dunkle Energie des Druiden war durch Bauch und Kopf und Finger geschwappt, bis ihm schwarze Blitze aus Augen und Mund schössen. Mindestens hundert Tote außerhalb der Mauern des Broch wurden verschlungen, während er versuchte, sich an seinem Funken festzuklammern - Maels Energie drohte ihn von allem zu trennen, ihn körperlich in Stücke zu reißen, und er griff nach ihrer flüchtigen Lebenskraft, um seinen mitgenommenen und gemarterten Körper zu erhalten. Irgendwie konnte er verhindern, dass er explodierte. Nachdem er ein 131
paar Stunden zitternd in einer Ecke gesessen hatte, die Arme fest um die Knie geschlungen, das Gehirn gefangen in endlosen Halluzinationen und die Augen von dem Phosphorblitz des schwarzen Lichts geblendet, konnte er endlich wieder aufstehen und etwas umhergehen. »Du hast ordentlich zugenommen«, sagte die Schwangere. Marisol, ihr Name war Marisol. »Das passiert wohl, wenn du dich vollstopfst und es nicht abarbeitest.« »Hmm?« Gary schaute auf. Er rieb sich die Schläfen und versuchte sich zu konzentrieren. Diese erstarrten Augenblicke, wenn er sich nicht von seiner Nabelschau befreien konnte, waren viel zu sehr wie der Tod, wie der richtige Tod. »Entschuldige. Ich war meilenweit weg«, sagte er. Er musste etwas tun, körperlich, oder er würde vermutlich wieder in Gedanken versinken. »Lass uns spazieren gehen, ja?« Die Mumie schob den Rollstuhl neben Gary her, und sie gingen die viereinhalb Meter hohe Mauer entlang, die sein neues Dorf umgab. »Hat dir dein Frühstück geschmeckt?«, fragte er. Er hatte dafür gesorgt, dass die Gefangenen ordentlich zu essen bekamen. In der leeren Stadt gab es viele Konserven, aber sie nutzten den Untoten nichts, da sie zu unbeholfen waren, um einen Büchsenöffner zu benutzen.
»Und wie«, sagte die Frau und rieb sich den Bauch, als würde er ihr Schmerzen bereiten. »Ich liebe kalte Muschelsuppe am Morgen. Wir brauchen Kochgeräte, wenn du willst, dass wir essen. Schon mal was von Botulismus gehört?« Gary lächelte. »Nicht nur das, ich habe es sogar schon gesehen. Ich war mal Arzt. Ihr dürft aber kein Feuer haben, sonst verletzt ihr euch noch.« »Du kannst uns nicht ständig beobachten. Wenn wir uns wirklich umbringen wollen, dann schaffen wir das auch so. Wir hören einfach auf zu essen oder... oder wir steigen auf diese Mauer und stürzen uns runter.« Die Frau mied seinen Blick. 132
»Du hast recht. Ich kann euch nicht daran hindern.« Gary führte sie hinaus zu einem furchigen Stück Erde. Im Schlamm des Central Parks würde alles wachsen nach Jahrzehnten des Düngens und der intensiven, liebevollen Pflege der Gartenbauprofis war die Erde dunkel und fruchtbar. Jetzt, da Gary da war und die Toten daran hinderte, alles Lebende zu fressen, dessen sie habhaft wurden, sprossen bereits die ersten Ansätze staubigen Unkrauts aus dem Boden. »Diese Fläche wird euer Garten sein. Wir hoffen, dass ihr irgendwann eure eigene Nahrung produzieren könnt. Frisches Gemüse, Marisol. Ihr bekommt wieder frisches Gemüse. Stell dir das nur vor.« »Bist du taub? Ich sagte, wir würden uns eher umbringen, als dir zu helfen!« Die Frau stemmte sich gegen die Fesseln, die sie auf dem Stuhl hielten. Die Mumie beugte sich vor, um sie davon abzuhalten, aber Gary schüttelte den Kopf. Marisol warf sich hin und her und schaffte es schließlich, den Rollstuhl umzukippen. Sie landete auf der Seite in der feuchten Erde, die in ihrem Gesicht klebenblieb. Gary stellte sie wieder hin. »Ich habe dich gehört. Und ich glaube, dass du vielleicht Selbstmord begehen würdest. Andere werden ihre eigenen Entscheidungen treffen.« Er führte sie einen schmalen Weg zwischen zwei Reihen behelfsmäßiger Ziegelgebäude entlang, die sich noch immer im Bau befanden. Er zeigte ihr die doppelten Wände und das Fiberglas, das man zwischen die beiden Schichten gestopft hatte. Im Winter würde es warm und im Sommer schön kühl sein, erklärte er ihr. Vor allem aber wäre es sicher - die Mauer würde die Toten fernhalten. »Wieso solltet ihr hier nicht glücklich sein?« »Da wäre zum einen der Gestank«, fauchte sie. Gary lächelte und hockte sich auf die Fersen, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie wollte seinen Blick noch immer nicht erwidern, aber das spielte keine Rolle. »Bei meiner 132 Arbeit im Krankenhaus habe ich eine Menge Menschen sterben sehen. Alte, deren Zeit um war, junge, die kaum begriffen, wo sie waren, die Unfälle hatten. Kinder, ich sah Kinder sterben, die Abflussreiniger getrunken hatten oder aus Dummheit aus dem Fenster gesprungen waren. Bevor sie dann starben, baten sie mich immer um einen letzten Gefallen.« »Und?«, sagte sie höhnisch. »Ja. Es war immer das Gleiche. >Bitte, Doktor, verschaffen Sie mir noch eine Stunde, bevor ich gehen muss. Verschaffen Sie mir nur noch eine Minute.< Den Menschen kann man schnell mit dem Tod Angst machen, Marisol, weil er so lang und unser Leben so kurz ist. Ich biete deinen Leuten die Chance auf ein langes und
erfülltes Leben. Ich kann die Welt nicht zurückbringen, die wir verloren haben. Ich kann ihnen keine Gourmet Dinner oder Luxusurlaube oder American Idol bieten. Aber ich verschaffe ihnen die Chance, nicht ununterbrochen Angst zu haben. Eine Chance, noch einmal neu anzufangen. Eine Chance, Familien zu gründen - große Familien. Das ist viel mehr, als du ihnen in eurem Spinnenloch geboten hast.« »Und was müssen wir dafür tun? Was kriegst du? Mein Baby? Meinen verdammten Mann hast du ja schon gefressen!« Das Haar war ihr ins Gesicht gefallen, und sie pustete es weg, blies die geröteten Wangen auf, die vor Wut glühten. »Alles hat seinen Preis. Ich brauche nur eine Mahlzeit im Monat, vielleicht auch weniger, wenn ich mich etwas einschränke. Das ist nicht viel, worum ich da bitte.« Er dachte an Mael und seinen Stamm auf den Orkneys. Sie hatten sich reihum geopfert. So etwas konnten Menschen, wenn man es zu einer Notwendigkeit machte. »Marisol, ich werde dir jetzt ein Angebot machen. Es war deine Schwangerschaft, die mich zu der Großzügigkeit inspiriert hat, die ich verspüre, also möchte ich dir etwas wirklich 133
Besonderes anbieten. Ich kann dich zur Bürgermeisterin des letzten sicheren Dorfes auf der Erde machen.« Er lehnte sich nahe an sie heran, und sie roch seinen sauren Atem. »Oder ich fresse jetzt dein Gesicht, auf der Stelle. Aber antworte noch nicht, ich bin noch nicht fertig! Ich werde es schmerzlos machen. Du wirst nichts spüren. Ich sorge sogar dafür, dass du nicht zurückkommst. Du wirst bloß tot sein.« Er umschloss die Rollstuhlgriffe und wirbelte sie im Kreis. Er genoss das. »Tot, tot, tot für alle Ewigkeit und Ewigkeit, und dein Körper wird in der Erde verfaulen, bis die Fliegen kommen und ihre Eier in deine hübschen kleinen Wangen legen.« Als er anhielt, atmete sie schwer. Sie zitterte am ganzen Körper, als wäre ihr sehr kalt, und er roch, dass etwas Scharfes und Abgestandenes aus ihren Poren aufstieg. Eigentlich war es nichts Besonderes. Bloß Angst. »Was also soll es sein, hm?«, fragte er. »Kriege ich mein Mittagessen heute was früher - oder soll ich dich von jetzt an als Frau Bürgermeisterin anreden?« Ihre Augen waren schmale Striche voller Hass. »Du Bastard, ich will die größte, seidigste Schärpe, die es gibt, auf der mit Glitzersteinen BÜRGERMEISTERIN steht. Ich will, dass die Leute wissen, wer sie verkauft hat.« Gary lächelte ganz breit, damit sie auch ja seine Zähne sah. 133
5-
Kreutzer rührte uns durch einen üppigen Park, dessen Bäume in der Brise raschelten; ihre Aste beschirmten Häuser mit hell gestrichenen Fachwerkfassaden und Pflasterwegen - die alten Offiziersbehausungen aus der Zeit, als Governors Island eine Militärbasis war. Überall war das Symbol der Küstenwache zu sehen, auf Denkmälern und Gedenktafeln und Drahtzäunen, selbst auf Straßenschildern. Der DHS-Agent schwor, dass die Häuser leer standen und er sie alle durchsucht hatte. »Ehrlich, da gibt es nicht einmal mehr Möbel, ganz zu schweigen etwas zu essen.«
Nicht überzeugt, schickte ich Abteilungen der Mädchen in jedes Gebäude, an dem wir vorbeikamen. »Hier müssen andere Menschen gewesen sein«, sagte ich. »Keiner postiert an so einem Ort einen Feldagenten, wenn der dann nichts zu tun hat.« »Es waren ja welche da«, erwiderte Kreutzer und hielt sich die verbundene Hand. »Da war eine ganze beschissene Garnison. Als die Epidemie ausbrach, brauchten wir einen befestigten Ort für Notfall-Einsatzkräfte. Wir reaktivierten die Basis hier und besetzten sie mit irregulären Agenten aus der Operationszentrale. Die Leute, die man dafür einsetzt, um mit wenig oder auch gar keinem Aufsehen auf allen möglichen Flugplätzen zu landen. Irgendein nutzloser, bescheuerter Schwachkopf im Pentagon war der Ansicht, man könnte tote Arschlöcher mit Helikoptern und Polizeiflugzeugen bekämpfen.« Ich betrachtete die Bäume, die sich im Wind bewegten, die 134 gelben Häuser. »Dazu braucht man aber eine vernünftige Infrastruktur.« Kreutzer wies mit dem Kopf in Richtung des anderen Teils der Insel. »Da drüben. Das hier ist nur Touristenmüll. Als die Stadt 2003 alles übernahm, hat man hier alles auf Vordermann gebracht und Besucher zugelassen. Das echte Zeugs blieb außer Sichtweite.« Ich nickte und signalisierte den Mädchen, sich zu sammeln. Wir gingen über einen grünen Rasen am sternförmigen Fort Jay vorbei. »Also, ich und mein Partner Morrison, wir wurden für SIGINT abgestellt, du weißt schon, Signals Intelligence. Wir kümmerten uns also um die elektronische Aufklärung, während die Nationalgardepiloten ihre Gebiete überflogen. Wir gehörten zum Systems Directorate, bevor uns die Homeland Security geschluckt hat. Zuerst war ich stinksauer, in diesem Scheißhaus rumzuhängen, während Typen mit niedrigerem Rang in der Stadt die echte Männerarbeit erledigten. Dann kamen die Hubschrauber nicht mehr zurück, ganze Mannschaften, und ich kam zu dem Schluss, dass ich es vielleicht doch gar nicht so schlecht getroffen hatte. Am Ende bekamen wir einen Anruf aus Washington. Sie brauchten alle unsere Einheiten für einen taktischen Einsatz am Potomac. Morrison und ich blieben zurück, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.« Kreutzer hatte uns zu Liggett Hall geführt, einem gewaltigen Backsteinbau, der die Insel praktisch in zwei Teile teilte. Eine Reihe Bäume hinter dem Gebäude verbarg einen Maschendrahtzaun mit einem Stacheldrahtaufbau. Ein Tor stand offen und enthüllte einen Trampelpfad zur anderen Seite. »Ich nehme mal an, dass sie nie zurückgekommen sind«, sagte ich. »Zwei Punkte für dich, Arschloch. Soweit wir das über Funk mithören konnten, wurden sie geschlachtet. In der Luft 134
waren sie nutzlos, und als sie landeten, hat man sie gefickt, aber richtig.« Kreutzer blieb vor dem Tor stehen. »Ich weiß nicht. Das ist Sperrgebiet.« Ich schob mich an ihm vorbei und betrat die eigentliche Basis. In der Mitte führte eine breite Rasenfläche fast bis zum anderen Ufer, hier und da von einem Baseballfeld unterbrochen. Quer über den Rasen hatte man eine Landepiste aus Beton gegossen, die von bereits zerfallenden Fertighäusern gesäumt wurde, solchen, die ich mit amerikanischen Militärbasen assoziierte. Zeit und Rost waren
mit den meisten Gebäuden nicht gerade sanft umgegangen, aber ich entdeckte ein paar Hangar, die noch immer funktionstüchtig aussahen, und einen Flugkontrollturm. »Wir taten unser Bestes. Gelegentlich kletterte einer der toten Wichser aus dem Ventilationsturm, aber wir schössen sie ab. Schließlich haben wir es geschafft, die Lüftungsschlitze zu schließen, damit gibt es dieses Problem auch nicht mehr.« Ich nickte geistesabwesend, in Gedanken damit beschäftigt, die Aktivposten der Insel zu katalogisieren. Im Wasser dümpelten ein paar Kutter der Küstenwache, aber die waren für uns nutzlos. Gary würde nicht einfach übers Wasser kommen, damit wir seinen Kopf mit einem Maschinengewehr vom Kaliber .50 wegbliesen. Ich entdeckte ein paar Dinge, die möglicherweise nützlich sein würden, einschließlich eines voll ausgerüsteten Arsenals mit M4S und Handfeuerwaffen, und machte mir eine geistige Notiz, es zusammen mit Jack bei seinem Eintreffen durchzugehen. Falls er eintraf. Wir schlugen unser Lager auf dem Rasen auf. Zuerst war ich versucht, in einem der gelben Offiziershäuser zu schlafen oder in einer der Unterkünfte, aber als die Nacht hereinbrach, wurden sie unendlich unheimlich. Sich in einem fensterlosen Raum ohne Strom aufhalten zu müssen hat etwas an sich, das meine moderne Seele tiefhaltig stört. Die Mädchen störte es 135 nicht im Mindesten, ihr Lager im Freien aufzuschlagen - daran waren sie von zu Hause gewöhnt. Sie bewachten Kreutzer die ganze Nacht, ließen ihn aber im Großen und Ganzen in Ruhe. Wir entfachten ein großes Lagerfeuer und aßen Brot und dünnen Haferbrei - unsere übliche Verpflegung. »Auf diesem Misthaufen hier gibt es nicht mal mehr eine Bohne, nicht mal eine verdammte Möhre«, informierte uns Kreutzer, als er hungrig in die flachen canjeero biss, die ihm die Mädchen widerwillig angeboten hatten. »Folgendes ist mit Morrison passiert.« »Ich habe mich schon gefragt, wann wir zu diesem Thema kommen«, sagte ich. Kreutzer nickte. »Morrison wurde schneller hungrig als ich. Er war ein großer Kerl. Stemmte in der Freizeit gern Gewichte, und vermutlich brauchte er mehr Kalorien. Er nahm sich ein Schlauchboot und fuhr rüber nach Staten Island, um Nachschub zu holen. Das war vor zwei Wochen. Ich rechne nicht damit, ihn je wiederzusehen.« »Und was ist mit dir? Wolltest du hier einfach verhungern?« Kreutzer schöpfte einen Finger voll Haferbrei aus einem Topf und stopfte ihn sich in den Mund. »Ich würde lieber aufs Fressen verzichten, als gefressen zu werden. Ich hätte jederzeit gehen können, aber wo hätte ich hingehen sollen? Ich dachte, ich müsste hier verrecken, bis ich euch anlegen sah.« Er gab Fathia den Topf zurück. »Danke«, sagte er. Ich erwachte inmitten des Geräusches von Wellen, die an einen der Kutter schlugen, und in einer frischen Brise, die meine Wimpern hob und mit ihnen spielte. Ich grinste, grinste dämlich, weil ich mich so gut fühlte. Dann setzte ich mich auf und erinnerte mich wieder an alles. Ich zog meine Hosen an und sah mich nach einer Latrine um, als ich vom Wasser her das Summen hörte. 135
Es war Jack.
Ich habe keine Ahnung, wo er in New York einen Jetski herbekommen hatte, aber er bretterte hart über die Wellen aufs Ufer zu. Ich rannte ans Wasser, schwenkte die Arme, pfiff, und endlich entdeckte er mich und kam auf mich zu. Ich streckte eine Hand aus und half ihm, auf die Strandpromenade zu klettern. Er zog die Schwimmweste aus, zog den Reißverschluss der Tragetasche auf, in der er seine Waffen und seine Ausrüstung trocken gehalten hatte, und dann begrüßte er mich endlich. »Er hat sie in den Central Park gebracht. Ich konnte nicht sehr nahe heran - der Wind blies in ihre Richtung, und sie hätten mich gerochen, aber ich habe gesehen, wie sie den Park betraten. Dort geht etwas vor sich, etwas Großes, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was. Ich kann bloß nicht einfach wild um mich schießend dort reinplatzen und hoffen, jemanden zu retten. Doch genau das werde ich tun.« Ich nickte ernst. Ich musste schrecklich dringend pinkeln, aber ich wollte ihm auch etwas zeigen, etwas, das sein Problem möglicherweise lösen würde. Ich führte ihn zur Rückseite eines Hangars und zu dem neun Meter langen Anhängermobil, das von Radarschüsseln gekrönt wurde, und zu den vier »Särgen« - Slang für die Kisten mit den Drohnen. »Gut«, sagte er und fing an, die Särge aufzustemmen. »Sag mal, Jack«, begann ich, weil die Frage wirklich an mir nagte, »warum hast du uns hergeschickt? Woher wusstest du, dass Governors Island verlassen ist?« Er starrte mich an. »Ich wusste es nicht. Hätte sein können, dass es hier nur so von Toten wimmelt. Ich wusste nur, dass du trotzdem zurechtkommen würdest.« »Wir hätten in eine Falle laufen können!«, rief ich. Jack sah erst zur einen und dann zur anderen Seite. »Sieht so aus, als hättest du alles im Griff. Und jetzt hilf mir mit dieser Kiste.« 136 Die Bedienung des ferngesteuerten Miniaturflugzeugs Predator RQ-iA Unmanned Aerial Vehicle war simpel. Sie war für den Durchschnittssoldaten des 2 1 . Jahrhunderts entwickelt worden und sah fast aus wie eine Play Station. Mit einem Daumen bediente man den Gashebel und mit dem anderen die Lenkung, während man den Rest über die Schulterknöpfe steuerte - Fahrwerk einfahren, die in der Nase befestigte Kamera bewegen und so weiter. Ich fand, das war ein Kinderspiel. In der alten Zeit hatte ich mich mit dem Waffensystem beschäftigt, damals, als ich noch ein Leben und eine Karriere hatte. Ich fühlte mich selbstbewusst und aufmerksam, als eines der Miniaturflugzeuge auf Governors Island in die Luft sprang und auf Manhattan zuflog. »Pass auf plötzliche Aufwinde auf«, sagte Kreutzer. »Die können echt Scheiße sein.« Er hatte den zweiten Sitz in dem engen, überhitzten Anhängermobil eingenommen. Als Systemspezialist musste er dafür sorgen, dass die Avionik- und Telemetrieströme des Fluggeräts klar und verständlich hereinkamen. Er saß vor drei großen Monitoren, wo er sein »Produkt« darstellen und beeinflussen konnte. Zu meiner Rechten kam das Gebäude von Standard Oil heran, und ich schwenkte ein Stück herum, um nicht dage-genzufliegen. Dann ging etwas schief. Der Predator versuchte sich zu drehen, die rechte Flügelspitze schoss jedesmal in die Höhe, wenn ich versuchte, sie nach unten zu drücken. Ich gab etwas mehr Gas in
dem Versuch, mich aus der - wie ich glaubte - leichten Turbulenz zu befreien, und plötzlich 137 krachte eine Windbarriere auf die Nase des Aufklärers und saugte ihn in die Tiefe, in einen superschnellen, spiralenförmigen Sturzflug, den man eher als freien Fall hätte bezeichnen sollen. Die Drohne traf in stumpfem Winkel auf den Broadway auf und hüpfte wie ein Stein auf dem Wasser über die Dächer mehrerer geparkter Autos, bevor sie schließlich in der Mitte des Bowling Green Park auf dem Rücken zum Stehen kam. Die Kamera zeigte uns ein zittriges Bild der Charging Bull Statue vor einem teilweise bedeckten Himmel. Kreutzers Miene verzog sich zu einem Ausdruck unendlicher Selbstgefälligkeit, als er mir zeigte, was ich falsch gemacht hatte. Auf dem Bildschirm zeigte er mir die letzten Flugsekunden des Predator als PowerPoint-Diashow. Ich sah das Gebäude von Standard Oil und die dahinter befindliche Schneise, wo die Morris Street auf den Broadway stieß. Dann maximierte er die Infrarotansicht derselben Szene und zeigte mir einen Falschfarbenstrudel, der an der Kreuzung der beiden Straßen wie verrückt wirbelte - eine von den Temperaturunterschieden zwischen den sonnigen und den im Schatten liegenden Häusern verursachte Windschere. »Okay. Lektion gelernt«, sagte ich. Mein Herz pochte noch immer etwas von der Aufregung, den Predator zu steuern. Als Jack hereinkam, um sich zu erkundigen, wie es voranging, überließ ich Kreutzer die Erklärung. Da stieß ich unwillkürlich einen leisen Schrei aus. Beide drehten sich um und starrten mich an. Ein Toter ohne Haut auf dem Scheitel war ins Bild gekommen und untersuchte den Predator auf dem Rasen des Bowling Green Park. Seine nach innen gedrückte Nase zuckte, als er an der Kamera des abgestürzten Flugzeugs schnüffelte. Ich hatte mich so darin versenkt, die Drohne zu fliegen, dass ich vergessen hatte, dass sich ihr Wrack eine halbe Meile weit ent 137 fernt befand und die wandelnde Leiche durch den Bildschirm nicht an mich herankam. Ich schaltete die Übertragung ab und rieb mir die Hände. »Bauen wir noch eine zusammen«, sagte ich. »Ich bin bereit zum nächsten Versuch.« Eine Stunde später hatte Ayaans Mannschaft Vehikel Zwei fertig. Die Flügelspanne betrug fünfzehn Meter, und die Nase mit den vielen Instrumenten sah aus wie der Kopf eines der Aliens, gegen die Sigourney Weaver immer in den Filmen gekämpft hatte. Ich ging meine Startliste durch und schaltete die optischen Systeme an. Ich gab Vollgas - unsere Startbahn war kürzer, kürzer als vorgeschrieben - und ließ den Predator über den Rasen holpern. Das Bild auf meinem Schirm wackelte, als das Mini-Flugzeug an Geschwindigkeit zunahm. Im genau richtigen Augenblick riss ich am Steuerknüppel, und die Nase zeigte in die Luft. Die Drohne erhob sich in den Himmel und passierte mühelos die Spitze von Liggett Hall. Mir fiel ein, dass ich noch das Fahrwerk einfahren musste, und wir waren auf dem Weg. Ich brachte die Drohne auf Fluggeschwindigkeit und überließ sie sich selbst, drehte nur ein bisschen am Kurs, um sie im Battery Park über Castie Clinton zu bringen. Ich flog niedrig, hielt es für unwahrscheinlicher, dass ein oder zwei untote Spione
den Propeller hörten, als dass Millionen sie sahen, wenn sie hoch am Himmel flog. Das bedeutete, dass ich zwischen den Gebäuden fliegen musste - wozu der Predator gebaut worden war, aber an der Steuerung sollten auch gut geschulte Piloten sitzen. Als vor mir die Backsteinwände von Lower Manhattan auftauchten, zielte ich auf den schmalen Trichter oben an der Battery, wo sich nach dem Bowling Green Park die breite Schlucht des Broadway öffnet. »Lass ihr dieses Mal viel Raum - versuch nicht, sie zu zwingen.« Kreutzer beugte sich über mich, und ich roch seinen 138 Atem, als ich mich dem Strudel näherte, der mich beim ersten Mal zum Absturz gebracht hatte. Dieses Mal ließ ich den Gashebel im entscheidenden Moment los, und der Predator schoss hindurch wie ein im Wasser hüpfender Korken über eine Welle, sauste am Rand der Windschere vorbei anstatt mitten hindurch. Ich stabilisierte den Flug über den verlassenen Autos des Broadway, als das IridiumMobiltelefon summte. »Was soll ich tun?«, fragte ich. »Was soll ich tun?« Jack stürzte in den Anhänger und führ ein Terminal für einen zweiten Piloten hoch. Er wusste, dass nur eine Person meine Telefonnummer hatte. Er übernahm die Kontrolle über die Drohne, und ich eilte hinaus ins Sonnenlicht und das grüne Gras und nahm den Anruf entgegen. »Spionierst du mir jetzt nach?«, wollte Gary wissen. Ich war verblüfft. »Wovon redest du?« Der Tote lachte. »Dekalb, ich sehe alles. Jede wandelnde Leiche in Manhattan ist für mich Augen und Ohren. Ich gehe mal davon aus, dass du es warst, der gerade ein Flugzeug auf meine perfekte, schöne Insel geworfen hat. Du hast dumme Ideen, nicht wahr? Du willst herkommen und die Gefangenen retten. Das wird nicht funktionieren.« Ich versuchte zu bluffen. »Wir suchen nur nach den Medikamenten. Überprüfen Krankenhäuser, suchen nach einer Möglichkeit, die ursprüngliche Mission zu erfüllen.« »Netter Versuch. Mein Gehirn ist tot, nicht behindert. Du willst mich töten. Ich weiß, dass ich an deiner Stelle das Gleiche tun würde. Ich bin eine Bedrohung, eine ernste Bedrohung, und du willst mich neutralisieren. Natürlich habe ich etwas dagegen. Aber ich schlage dir einen Deal vor.« Ich setzte mich auf den Rasen. Hart. »Rede mit mir. Die Überlebenden...« »Gehören jetzt mir«, unterbrach er mich. »Da gibt es keinen Verhandlungsspielraum. Aber ich gewähre euch freien 138 Zugang. Ich weiß, dass ihr kürzlich Probleme mit Tauben hattet. Die sind jetzt weg. Ich gewähre euch lange genug Zugang nach Manhattan, um das UN-Gebäude zu betreten, eure Pillen zu holen und wieder zu verschwinden. Niemand wird in eure Nähe kommen - ich kann sie zurückhalten. Ich kann euch beschützen. Ihr erledigt das, dann zieht ihr euch auf euer Boot zurück und verschwindet für immer. Klingt das machbar?« »Und wenn wir trotzdem versuchen, die Gefangenen zurückzuholen?«
»Dann werdet ihr erfahren, warum eine Million Tote nichts Falsches machen können. Das ist mein Angebot, Dekalb, und zwar mein einziges. Schnappt euch die Medikamente und haut ab. Oh, und da wäre noch etwas. Ayaan.« Unwillkürlich schaute ich zu ihr hinüber. Sie posierte für ein Foto - Fathia hatte in einer der Unterkünfte eine Polaroidkamera gefunden, und alle Mädchen wollten ein Souvenir von ihrem Besuch in New York. Sie blickte mich an und lächelte. Gary summte mir ins Ohr. »Ayaan bleibt hier. Ich will ihr die Haut in kleinen Stücken vom Leib schneiden und sie essen. Ich will mir einen schönen Abend mit ihren Eingeweiden machen. Sie hat mich in den Kopf geschossen. Danach bekommt keiner mehr einen Freiflug.« Ich hielt mir den Mund zu, um nicht auszusprechen, was ich sagen wollte: Das wird garantiert nicht passieren, Arschloch. Stattdessen wartete ich einen Augenblick und sagte: »Ich rufe zurück.« Ich drückte AUS und packte das Telefon weg. »Dekalb«, sagte Kreutzer von der Tür des Anhängers. »Wir haben Bilder.« Ich folge ihm zurück in den stickigen, engen Raum, um zu sehen, was Jack gefunden hatte. 2 74
7-
Gary flog mit den untoten Tauben die ist Avenue entlang. Durch ihre Augen sah er zu, wie sie abstürzten, manchmal ganze Schwärme von ihnen, wie sie durch die Luft taumelten und ihre Flügelspitzen leblos flatterten. Gary stand zu seinem Wort wenn Dekalb sein großzügiges Angebot annehmen wollte, würde der Weg zum UN-Gebäude frei sein. Dekalb machte Gary keine Angst, aber er bereitete ihm Sorgen. Obwohl sein Team aus somalischen Killern Garys Verteidigungslinie kaum ankratzen konnte, hatten sie möglicherweise etwas so Ausgefallenes vor, dass es Garys Zuchtherde in Gefahr bringen könnte. Wenn sie beispielsweise Raketen auf den Broch abschössen, würde er mit großer Sicherheit überleben, aber Marisols Leute konnten in dem ausbrechenden Chaos verletzt werden. Tausend ähnliche Szenarien waren Gary durch den Sinn gegangen, und keines davon hatte ihm gefallen. Daher gebot ihm der gesunde Menschenverstand, Dekalb so schnell wie möglich aus New York rauszuschaffen. Gary saugte das Leben aus den Vögeln, bis nur noch einer übrig blieb, der unbekümmert über dem großen Haufen seiner einstigen Fluggefährten kreiste; ihre schmierigen, blaugefiederten Massen verstopften die Straßen. Gary verteilte mit flatternden Schwingen Luft und glitt über den Fluss und Long Island hinweg. Er ließ die Flügel schlagen und flog weiter, bis er Jamaica Bay sehen konnte, das von der Sonne in bronzefarbenes Licht getaucht wurde, bis er zu sehen glaubte, wie die Erde unter ihm einen sanften Bogen beschrieb und... Genug davon. Er drückte den Vogel hart hinunter und seine 139
Sicht wurde dunkel. Ein kaum spürbarer Funke dunkler Energie floss in Garys Wesen hinein. An einem weichen, schattigen Ort drehte er sich in seiner riesigen Badewanne, und Flüssigkeit schwappte träge in die Höhlung seines Schlüsselbeins. Er erhob sich, das salzige Nass tropfte in Strömen von ihm herunter. Er griff nach dem Bademantel. Die Arbeit wartete.
Marisol übergab sich geräuschvoll auf den Ziegelboden. »Morgenübelkeit?«, fragte Gary und hob die Lebende an einem Ellbogen auf die Beine. Sie schüttelte ihn ab. »Ich ersticke hier drin. Was ist das für ein Zeug, Salzlake?« »Formalin«, erwiderte Gary und betrachtete die Wanne mit der strohfarbenen Flüssigkeit, aus der er gerade herausgeklettert war. »Ich konserviere mich für zukünftige Generationen. Du solltest dankbar sein. Je mehr ich mich vor bakteriellem Verfall schütze, desto weniger von euch muss ich fressen. Lass uns an die Luft gehen, wenn dich das so stört.« Als er sie die in der dicken Mauer des Turms verborgene Wendeltreppe hinaufführte, befahl er eine Mumie herbei, um das Erbrochene aufzuwischen. Es bereitete ihm ein echtes -und zugegebenermaßen kleinliches - Vergnügen, Maels einstige Ehrenwache zu Hausmeistertätigkeiten heranzuziehen, aber jemand musste nun einmal im Broch für Sauberkeit sorgen, und nur die Mumien verfügten über die dafür nötige Beweglichkeit. Garys Hände benahmen sich, als steckten sie in pelzgefütterten Fäustlingen - er konnte sich nicht einmal das Hemd zuknöpfen. Die Ptolemäer aus dem Museum konnten wenigstens einfache Werkzeuge bedienen. »Wie gewöhnen sich deine Leute ein?«, fragte er. Die Toten waren noch immer emsig damit beschäftigt, die Mauer um das Gefängnisdorf zu bauen, aber die Lebenden hatten ihre einfachen Häuser bereits bezogen. Gary hatte sie so weit 140 unterstützt, wie er konnte, mit Büchern aus der New York Public Library unten an der 42nd Street und archaischen Werkzeugen aus dem Museum of the City of New York (das für seine historischen Ausstellungen bekannt war), aber Menschen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert fiel es nicht leicht, plötzlich leben zu müssen wie im achtzehnten Jahrhundert. Gary hatte keine Möglichkeit, für Strom oder fließendes Wasser zu sorgen, geschweige denn für Fernsehen und Online-Shopping. Primitives Überleben war alles, was er zu bieten hatte. Und das schlug noch immer die Alternative. »Natürlich haben sie Angst. Sie vertrauen dir nicht.« Gary runzelte die Stirn. »Ich bin ein Ghoul, der zu seinem Wort steht. Davon abgesehen liegt es in meinem Interesse, für ihre Sicherheit zu sorgen.« Marisol schenkte ihm etwas, das einem aufsässigen Lächeln nahekam. »Sie haben Dekalb nicht vertraut, und der hatte ein Schiff im Hafen. Mein Gott, hast du überhaupt eine ungefähre Vorstellung davon, wie du jetzt aussiehst? Das hat nichts mit Logik zu tun, okay? Wenn sie einen toten Kerl sehen, der wie Essiggurken riecht und dem noch immer Haut auf den Zähnen klebt, dann wollen sie wegrennen. Hab etwas Verständnis für sie. Irgendwann... Ich vermute mal, sie werden sich an alles gewöhnen, aber jetzt sind sie gerade von einer Armee blutdürstiger Monster in ein Gehege getrieben worden, und ihr Herrscher ist ein Kannibale in einem Bademantel. Sie haben Angst. Jedenfalls die meisten. Ein paar glauben noch immer, jemand würde sie retten.« Gaty kratzte sich. »Retten? Wer denn, etwa Dekalb? Wenn er schlau ist, dann legt er sich nicht mit mir an.« Es war ein harter Weg zur Spitze des Broch, vielleicht zu viel für eine Schwangere mit verdorbenem Magen (sie schien schwer außer Atem zu sein, als sie oben ankamen), aber Gary bezwang die steile Treppe mühelos, beinahe zwei Stufen auf
141
einmal hinaufstürmend. »Natürlich ist er nicht schlau«, sagte er zu Marisol. Nasenlos und Gesichtslos warteten auf der nicht fertiggestellten Brustwehr des Turms auf sie. Nasenlos brachte ein Silbertablett, auf dem ein Dutzend ausgepackte Slimjims für Gary bereit lagen. Er nahm sich einen und kaute eifrig. Marisol nahm widerstrebend auch einen, starrte die Minisalami in ihrer Hand einen langen Augenblick an, bevor sie hineinbiss, fragte sich vielleicht, ob es getrocknetes Menschenfleisch war. Das war es nicht - Gary war kein Wilder. »Dekalb ist Idealist. Er wird herkommen, selbst wenn er es allein tun muss, selbst wenn es seinen Tod bedeutet.« »Vielleicht hat er Hilfe«, meinte Marisol. »Du kennst meinen Jack noch nicht.« Gary bedeutete ihr, auf den Park zu schauen. Unter ihnen die Toten, Tausende ihre Schultern sackten nach vorn, ihre Körper waren ausgezehrt, aber sie waren so viele. Sie bedeckten den Boden wie Heuschrecken, ihre ständigen Bewegungen waren wie die Wellen des Meeres. Er griff in das Eididh, packte die Kehlen und Zwerchfelle Tausender Toter mit seiner geistergleichen Faust. Die Luft summte von ihren Spasmen, als sich ihre Luftröhren zum ersten Mal seit Wochen oder Monaten öffneten und Luft in sie hineinströmte. Gary ließ sie wie aus einem Ballon wieder entweichen. »Hall... o...«, stöhnten die Toten. Der Lärm glich tektonischen Platten, die sich bewegten, es war wie ein Ozean, der durch einen Spalt in der Welt abfloss. Ein echter, letzter Laut, die Symphonie einer Solo-Apokalypse. Garys Lippen platzten auf, so breit lächelte er. »Hallo... Marisol...« »Ich brauche keine Männer mehr«, sagte Gary. »Wenn dein Jack herkommt, stirbt er.« 141
8.
Der neun Meter lange Anhänger bot kaum genug Platz für drei Mann. Da alle Mädchen hinein und einen Blick auf die Monitore werfen wollten, heizte sich die Luft im Inneren sehr schnell auf. Man konnte kaum mehr atmen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und nickte, als Kreutzer mich fragte, ob ich bereit sei. Jack hielt den Predator noch immer in der Luft, ließ ihn in einer Höhe von sechstausend Meter große Kreise um Manhattan beschreiben, aber nicht einmal er konnte seine Neugier verbergen. Wir alle wollten wissen, was das Spionageflugzeug gesehen hatte. Ich blinzelte, als auf dem Display in schneller Reihenfolge Bilder von Gebäuden aufblitzten, die viel zu nahe und zu schnell an jeder Seite vorbeihuschten. Dann wurde der Anblick auf dramatische Weise größer, und der Predator glitt über den Kopf der Kolumbus-Statue an der 59* Street. Vor der Barriere von Central Park South veränderte sich das Bild erneut in eine Landschaft aus mit Müll übersätem Schlamm. Der Park war nicht wiederzuerkennen, die Veränderungen durch die Epidemie hatten dafür gesorgt, dass selbst das grüne Gras ausgerissen worden war. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht einmal der Gedanke gekommen, die Toten könnten die Vegetation dort fressen, und mir wurde bewusst, dass ich voller Zweifel und Ekel den Kopf schüttelte, als ich sah, was aus einem meiner liebsten Orte der Welt geworden war.
Schweigend verfolgten wir, wie das kleine Flugzeug in Richtung Uptown raste. Jack hielt es auf niedriger Höhe, damit wir einen besseren Blick hatten - vielleicht hundertfünfzig Meter 142
über dem Boden. Aus dieser Höhe sahen die ersten Toten, die wir im Park zu Gesicht bekamen, aus wie auf einer dunklen Tischplatte verstreutes Popkorn. Kreutzer hielt das Bild an und benutzte einen Bildverstärkungsalgorithmus, um auf einen von ihnen zu zoomen. Sein Haar war büschelweise ausgefallen, seine Haut hatte sich in eine Art weiches und cremiges Weiß verwandelt. Die Kleidung hing in Fetzen von seinen knorrigen Gliedern. Wir konnten nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Kreutzer, der bisher bloß eine Handvoll Toter gesehen hatte, musste sich kurz abwenden. Wir anderen ignorierten die Leiche und betrachteten den Hintergrund suchten nach Stellen, wo man sich verschanzen konnte oder von denen aus man einen Angriff starten konnte. Dann schwang die Nasenkamera des Predator nach vorn und öffnete den Blick auf den Horizont, und wir rissen die Augen auf. Die Toten füllten den halben Park. Sie standen so nahe beieinander, dass sie nur mit Mühe die Arme bewegen konnten, und zur Mitte des Parks hin, um etwas Rundes, Graues herum, drängten sie sich noch dichter. Sie füllten das, was einst der Great Lawn gewesen war, und den Ramble und das Pine-tum. Sie bedeckten den Boden wie schwankende Schaumkronen auf dem Meer. Nein. Das war ein viel zu schönes Bild. Sie sahen eher wie ein Haufen Maden aus. So widerlich das auch sein mochte, war es doch der einzige Vergleich, der mir einfiel - ihr farbloses, aufgedunsenes Fleisch und ihre ständige geistlose Bewegung konnte nur das Bild von Fliegenlarven hervorrufen, die auf der gespannten, trockenen Haut eines Tierkadavers wimmelten. Man konnte unmöglich schätzen, wie viele es waren. Auf jeden Fall Tausende. Vielleicht sogar Hunderttausende. Kurz vor dem ersten Golfkrieg hatte ich an einer Friedensdemons 142 tration in Midtown teilgenommen. Laut den Medien zählten meine kriegshassenden Kollegen und ich mindestens zweihunderttausend, und wir nahmen bloß ein paar Dutzend Blocks auf der ist und 2nd Avenue in Beschlag. Um die Hälfte des Central Park auf diese Art komplett zu füllen, nun ja... Gary hatte von einer Million Toten gesprochen. Anscheinend hatte er nicht übertrieben. »Was ist das?«, fragte Jack und rutschte mit dem Stuhl näher heran. Mit einem leisen, dumpfen Laut, der mich aus meinen Gedanken riss, klopfte er gegen den Monitor. Er zeigte auf den runden, grauen Umriss genau in der Mitte der Menge. Kreutzers Finger huschten über die Tastatur, und er rief eine dreidimensionale Darstellung des Objekts auf, extrapolierte Details aus Hunderten Einzelbilder zweidimensionaler Videoaufnahmen. Die Festplatten der Computer summten und grollten eine Minute lang, dann holte er seine Zusammenfassung auf den Schirm. Wir sahen eine Art gedrungenen Turm, ein rundes Gebäude, dessen sich zuspitzende Mauern in einer stümperhaften Kante ausliefen. Anscheinend war er
unvollendet. Er erhob sich gute dreißig Meter in die Luft und war breiter als das Met, das sich daneben befand. Was Gary mit einem solchen Bau anstellen wollte, blieb ein Geheimnis. Die Außengebäude ergaben etwas mehr Sinn. Die Toten hatten eine etwa vier Meter hohe Mauer errichtet, die einen Raum von der Größe des Great Lawn umgab. Die Mauer verschmolz mit dem Hauptgebäude und formte eine Art Gehege. Auf diesem abgeschlossenen Areal befand sich etwas, das wie ein winziges Dorf aus Steinhäusern mit roten Terrakotta-Dächern aussah. Es sah aus wie etwas aus dem mittelalterlichen Europa. Der einzige Weg ins oder aus dem Dorf führte durch das Hauptgebäude. »Warum will Gary hier das koloniale Williamsburg nachbauen?«, fragte ich verwirrt. Ayaan sah mich neugierig an. 143
»Diese Häuser« - ich zeigte darauf -, »da hat er vermutlich die Gefangenen untergebracht, aber das sieht kaum aus wie Gefängniszellen.« »Nein, das tut es nicht«, sagte Jack. »Es sieht aus wie Ställe.« Ställe - in denen man sein Vieh hielt. Ich verstand, worauf er hinauswollte. Gary musste über einen langen Zeitraum für die Sicherheit und Gesundheit der Gefangenen sorgen, vielleicht sogar für Zufriedenheit. Wie lange er mithilfe des Fleisches in diesem Gehege überleben konnte, war unklar, aber offensichtlich wollte er es so lange hinausziehen wie nur möglich. Ich stand von meinem Stuhl auf und ging an die frische Luft. Auf dem Weg drückte ich Ayaans Schulter. Sie folgte mir auf den Rasen und außer Hörweite. »Da gibt es etwas«, fing ich an und wusste nicht genau, was ich überhaupt sagen wollte. »Etwas, das du wissen solltest. Ich will hinter ihm her. Ich kann nicht zurück nach Afrika, bevor er tot ist. Richtig tot. Das heißt, ich muss in diesen Turm. Dabei werde ich versuchen, die Gefangenen zu befreien, aber letztlich geht es mir darum, sein Gehirn von seinem Körper zu trennen.« Sie atmete geräuschvoll ein. »Das ist unmöglich.« Ich nickte. »Ich habe gesehen, wie viele Tote er unter Kontrolle hat. Ich werde es trotzdem versuchen. Wirst du mir helfen?« »Ja, natürlich.« Sie schenkte mir ein seltsames Lächeln. »Wir haben wirklich keine Wahl, oder? Er wird uns nicht an das Gebäude der Vereinten Nationen heranlassen, nicht, solange er noch die Kontrolle hat. Wenn wir unsere Mission vollenden wollen, dann muss er ausgeschaltet werden.« Sollte ich es ihr sagen? Es konnte sie nur durcheinander bringen - und ehrlich gesagt brauchte sie keinesfalls den 143 ruck, dass sie sehr wohl eine Wahl hatte und sich frei entscheiden konnte. Aber am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich Ayaan gut genug kannte, um zu wissen, dass sie Bescheid wissen wollte. »Er hat mich angerufen«, sagte ich. »Er sagte, er würde den Weg für uns freimachen. Aber er verlangt einen Preis. Er will dich fressen. Aus Rache dafür, dass du ihn erschossen hast.« Sie riss die Augen weit auf, aber nicht lange. Dann nickte sie. »Okay. Wann soll ich aufbrechen?«
Ich trat vor und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden. Er will dich foltern. Zu Tode foltern. Ayaan, das lasse ich nicht zu.« Sie stieß mich weg. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Berührung das SchariaGesetz verletzt hatte, aber größtenteils missfiel ihr meine Einstellung. »Warum verweigerst du mir das? Es ist mein Recht! So viele andere sind gestorben! Ifiyah ist gestorben, nur damit wir etwas lernen. Das Mädchen - das mit der Katze -, sie ist gestorben, weil sie dumm war! Und du willst mich nicht für mein Land sterben lassen? In den ehrenvollsten Tod gehen lassen, den es gibt? Selbst wenn das bedeutet, dass unsere Mission ein Erfolg wird? Selbst wenn es bedeutet, dass du deine Tochter wiedersehen kannst?« Ich öffnete den Mund, aber da kam nichts raus. Nach so einer Aussage gibt es keine Worte. Nicht die geringsten. 144 »Klar.« Kreutzer kratzte energisch sein ungekämmtes Haar. »Ergibt schon Sinn. Sie ist Schiitin, oder? Die wollen Märtyrer werden. Das ist ein gutes Geschäft für sie - ein schneller Tod und zack, du bist mit deinen zweiundsiebzig Jungfrauen im verdammten Paradies.« Er dachte kurz darüber nach. »Vielleicht wird sie ja auch die Jungfrau von jemand anderem. Sieh es ein, sich selbst in die Luft sprengen können die doch am Besten.« Ich starrte ihn böse an. »Das ist das Idiotischste, was ich je in meinem Leben gehört habe. Zum einen basiert der in Somalia praktizierte Islam auf der Lehre des Sufismus und nicht auf der Schia. Darüber hinaus hat sich nur ein winziger Teil der Anhänger der Schia diesem Unsinn verschrieben.« Ich fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Sie ist ein Teenager, das ist alles. Sie begreift nicht, was Sterben wirklich bedeutet, aber sie weiß aus eigener Erfahrung, dass das Leben Scheiße ist. Da sind all diese Hormone und Energie und seltsamer, dämlicher, kulturell bedingter Unfug, verkorkste Sexualität, und das alles zeigt sich in der glorreichen Idee vom Tod als Transzendenz...« »Sie ist Soldatin.« Jack schnitt einen Grashalm ab und hielt ihn an die Lippen. Er blies kräftig, und es machte einen näselnden Laut, wie ein Fagott, das einen Trauergesang anstimmte. »Sie ist ein Kind«, sagte ich. Aber natürlich war sie viel mehr als das. In diesem Augenblick verstand Jack sie besser als ich. Sie war Soldatin. Was bedeutete, dass sie ihr Ich einer 144 größeren Idee unterordnen konnte, einer Gemeinschaft, der man dienen musste ihrer nationalen Identität als Somali, ihrem Platz als Kumayo-Kriegerin, die für Mama Halima kämpfte. Für das Wohl der ganzen Menschheit. Es war eine ausgesprochen unamerikanische Idee, aber ich hatte sie selbst verspürt. Ich hatte sie gefühlt, als wir nach dem gescheiterten Vorstoß in das Krankenhaus das mitgeschleppt hatten, was von Ifiyah noch übrig geblieben war. Meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche und Mängel spielten keine Rolle mehr. Als wir zum Schiff zurückkamen und Osman seine blöden Witze riss, hatte ich mich meilenweit von ihm und seiner selbstsüchtigen Feigheit entfernt gefühlt.
Wir brauchen Jahre, bis wir lernen, dass wir uns dem ergeben müssen, das größer ist als wir. Jack hatte einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, sich das eintrichtern zu lassen. Eltern sollten das eigentlich instinktiv begreifen, sobald sie Kinder bekommen, aber manche lernten nie richtig, die Familie vor ihre eigenen Bedürfnisse zu stellen. Ayaan hatte das in der Grundschule erkannt. Es war beleidigend und sogar witzlos, ihr den Glauben zu verweigern, der ihrer Seele ganz nah war. Sie musste uns gehört haben - ich hatte nicht gerade leise gesprochen, nachdem Kreutzer mit seinem Schwachsinn losgelegt hatte -, aber sie war beschäftigt und verspürte kein Verlangen, sich in die Unterhaltung einzumischen. Denn sie bereitete sich vor. Bereitete sich darauf vor, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Von all den beschissenen, kranken Dingen, die ich gesehen hatte, seit die Toten wieder zum Leben erwacht waren und die Welt in hungrigem Schrecken geendet hatte, war das Schlimmste der Anblick eines sechzehnjährigen Mädchens, das an einem sonnigen Tag mit der Stirn den grünen Rasen berührte und mit ihrem Gott kommunizierte. Ich konnte ihre 2«5
Motivation verstehen, warum sie ihr Leben wegwerfen wollte -ich konnte sogar mitspielen, wenn es sein musste, wenn auch nur zähneknirschend -, aber ich wusste, es würde mich für alle Ewigkeit heimsuchen. Aber das war es. Alles, was ich je zu erreichen hoffen konnte. Ich würde meine Medikamente bekommen, und ich würde zurück nach Afrika fahren, und ich würde Sarah wiedersehen. Ich würde sie in den Armen halten und beten, dass sie niemals eine solche Entscheidung treffen musste, niemals zusehen musste, wie sich auf der anderen Seite des Globus Leute zum Vorteil korrupter Politiker selbst zerstörten. Wir würden uns irgendeine Art von Existenz aufbauen, und ich würde versuchen zu vergessen, was geschehen war. Um Sarahs willen. Meine Mission stand kurz vor ihrem Abschluss. Der Preis: ein sechszehnjähriges Mädchen. Aber es war vorbei. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde«, murmelte ich und hieb mir die angespannte Faust gegen den Oberschenkel. »Dekalb«, sagte Jack. »Du vergisst da etwas.« O nein, das tat ich nicht. Ich wusste nur zu gut, dass Marisol und die anderen noch immer als Nahrungsreserve in diesem Schloss im Central Park gefangen gehalten wurden. Ich wusste, dass ich persönlich dafür verantwortlich war, Gary zu töten. Und ich wusste auch, dass mich Ayaan gerade vom Haken geholt hatte. Sie hatte diese Dinge unwichtig gemacht. Ignorierenswert. Ich konnte meine Mission beenden und musste dafür so gut wie nichts tun. Der Preis wurde höher: zweihundert Menschenleben. Zweihundertundeins, wenn man Ayaan mitzählte. Allerdings hatte ich meine Zweifel, dass die Zweihundert so begeistert von dieser Aussicht waren. Jack war noch nicht fertig. »Ich habe ein paar Ideen, aber ich brauche jeden Mann, den ich kriegen kann. Ich brauche 145 dich, Dekalb.« Er starrte mich an, obwohl ich mich beharrlich weigerte, seinen Blick zu erwidern.
Schließlich folgte ich ihm wortlos in das Radarmobil und ließ mich auf einen der bequemen Stühle sinken. Kreutzer lungerte im Hintergrund herum, rieb sich nervös die Hände, während Jack gestochen scharfe Bilder vom Central Park und den Gebäuden betrachtete, die Gary dort errichtet hatte. Schließlich sagte er: »Wir müssen ein paar Annahmen zu Grunde legen.« Das Wort »Annahmen« klang, als wäre ihm gerade etwas mit zu vielen Beinen in den Mund geflogen. Dieser Mann sammelte erst einmal so viele nackte Zahlen und Daten wie möglich, bevor er sich entschied, eine elektrische Zahnbürste zu kaufen. Für eine selbstmörderische Rettungsmission brauchte er eidesstattliche Versicherungen von Agenten der elektronischen Aufklärung und einen von den Vereinigten Generalstabschefs unterschriebenen Brief, der die Mission in allen Einzelheiten beschrieb. Natürlich stand ihm dieser Luxus jetzt nicht mehr zur Verfügung. »Wir fangen mit der Annahme an, dass es möglich ist. Dann nehmen wir an, dass wir die nötige Ausrüstung und das Personal haben, um es durchzuziehen.« Ich nickte, vermied aber noch immer den Blick auf den Bildschirm. »Wir müssen annehmen, dass er noch immer menschlich genug ist, um ein paar unserer Einschränkungen zu teilen. Dass er sich nicht gleichzeitig auf mehrere Sachen konzentrieren kann.« Ich rieb mir den Nasenrücken. »Du willst Ayaans Opfer als Ablenkungsmanöver benutzen.« Natürlich ergab das Sinn. Gary wollte unbedingt eines, und das war Rache. Wenn man ihm die auf einem Silbertablett präsentierte, warum sollte er uns bemerken, wenn wir uns mit einer Kettensäge in der 146 Hand in seinem Rücken anschlichen, um ihm den Kopf abzuschneiden? Mir fielen viele Gründe ein, warum er es bemerken könnte. Er war nicht dumm. Wir hatten ihn schon zuvor unterschätzt, und wir hatten dafür einen hohen Preis bezahlt. Aber Jack dachte im Reich der Möglichkeiten; er dachte nicht darüber nach, was vielleicht geschehen würde, sondern was geschehen konnte. Selbst ich wusste, dass das ein gefährliches Terrain war. »Wir müssen noch etwas anderes annehmen. Dass er nicht wusste, dass es das dort gab, als er seine Festung baute.« Das ließ mich aufsehen. Etwas, das Gary übersehen hatte? Etwas, das alle unsere Probleme lösen konnte? Jack tippte auf den Bildschirm, zeigte auf einen rechteckigen Umriss an der Grenze des Parks. Er befand sich direkt an der Durchgangsstraße durch den Park, die von der 79* Street abbog, ehemals eine ordentlich asphaltierte Straße und jetzt ein Streifen aus schlammigem Wasser. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das darstellen sollte. Nachdem Jack es mir verraten hatte, musste ich ernsthaft darüber nachdenken, was wir tun würden. Wie wir uns in Garys Festung schleichen und irgendwie lebendig wieder herauskommen würden mit ein paar Hundert Lebenden im Schlepptau. Es war nicht machbar. Aber wir würden es tun. »Wie fangen wir an?«, fragte ich. 146
IO.
Sie gingen im Garten zwischen den Unterkünften spazieren, wobei die Mumien einen Diskrektionsabstand zu den Lebenden einhielten. Da schoss etwas Weißes
und Schnelles an Garys Sichtfeld vorbei und kollidierte mit seiner Schläfe. Sein Gehirn verkrampfte sich bei der Anstrengung, ein Dutzend Befehle zugleich auszusenden, Soldaten zusammenzuziehen, um seinen Rücken zu decken, Nasenlos die Stufen des Broch hinaufzuschicken, um einen Überblick zu bekommen, Gesichtslos zu der Stelle zu schicken, wo die Mauer der Anlage noch nicht ganz fertig war. Aber es waren seine eigenen Augen, die das Geheimnis lösten. Noch immer von dem Schlag erschüttert, schaute er zu Boden und entdeckte das Geschoss, das ihn so schmerzhaft getroffen hatte. Es war ein Softball, schmutzig und eingedellt vom langen Gebrauch. Als er wieder aufschaute, sah er ein kleines Mädchen, das wenige Meter entfernt völlig erstarrt und mit weit aufgerissenen Augen dastand. Es trug einen Fängerhandschuh, und seine Nase lief ungehindert. Seine helle Energie dröhnte in ihm, da das Adrenalin durch seine Adern schoss. Gary ging vor der verängstigten Achtjährigen in die Knie und versuchte ein Lächeln. Zog man den Zustand seiner Zähne in Betracht, war das vielleicht keine so gute Idee. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, Furcht ließ seine Gänsehaut Wellen schlagen. »Komm her, Kleines. Ich beiße schon nicht.« Jedenfalls sie nicht. Sie hatte noch viele Jahre als Brüterin vor sich, bevor sie 147 ausgesondert werden würde. Sollte sie eine Bedrohung sein, würde er ihren Vater oder sonst jemanden als Lektion fressen. Er spürte Marisol an seiner Seite; sie konnte sich kaum beherrschen. Er wusste, dass sie ihm wehtun wollte. Seiner Person war Gewalt angetan worden, und sie fasste dies als Signal zu einer gewalttätigen Rebellion gegen die Gefangenschaft auf. Er wusste auch, dass sie nicht dumm war. Die anderen, die in einem weiten Kreis um ihn herumstanden, sahen aus, als würden sie bei der geringsten Provokation die Flucht ergreifen. Heute würde es keine Meuterei geben. »Hast du das geworfen?«, fragte er und hielt den Softball hoch. Er brauchte beide Hände, um ihn festzuhalten. »Hast du ihn absichtlich auf mich geworfen? Keine Angst, ich bin nicht sauer. Hast du ihn absichtlich geworfen?« Die Kleine schüttelte den Kopf, vielleicht etwas zu schnell. Gary lächelte wieder. »Ballspielen macht Spaß, aber wir müssen vorsichtig sein«, sagte er. »Vielleicht weißt du ja noch, dass es früher Arzte und Krankenhäuser gab, aber die sind verschwunden. Wenn sich einer von uns verletzt oder krank wird, kann sich niemand um ihn kümmern. Hast du...« Er hielt mitten im Gedanken inne. Seine vom Tod betäubten Sinne hatten etwas aufgefangen, etwas Fernes, Schwaches, eine Art Grollen, das er mehr fühlte als hörte. Wie ein fernes Erdbeben. Gary befragte die Taibhsearan, die von den Mauern des Broch hingen, und seine eigenen Späher im Park. Die Massen der Toten befanden sich in einem Zustand allgemeiner Unruhe, aber es gab keine deutlichen Informationen. Ein Lebender schob sich aus der Menge hervor und brachte das kleine Mädchen schnell weg. Ihre Erziehung würde warten müssen, bis Gary wusste, was da los war. »Was war das?«, wollte Marisol wissen. Die Lebenden schüttelten verwirrt die Köpfe. Gary verlor nicht den Verstand,
148 da war definitiv ein Geräusch gewesen. Er berührte Nasenlos' Verstand und ließ ihn die abgestorbenen Bäume des Central Park betrachten, die dahinterliegenden Bauten, die jetzt nur noch Grabsteinen glichen. Da - eine graue Rauchwolke stieg über einigen Bäumen am Westrand des Parks wogend in die Höhe. Drüben beim American Museum of Natural History, fast direkt dem Met gegenüber, wo Mael wieder zum Leben erwacht war. Gary griff durch das Eididh zu und schickte eine Abteilung seiner toten Soldaten in diese Richtung. Die, die dem Museum am nächsten waren, wurden von einer Staubwolke umhüllt, die sich schnell wieder auflöste. Sie taumelten auf dem Museumsgelände herum und stolperten über Mörtelbrocken und Steine. Das allein war nicht verwunderlich -die Toten hatten fast das halbe Naturwissenschaftsmuseum abgerissen, um an Ziegel für Maels Turm zu kommen. Vielleicht brach der Rest des Gebäudes gerade zusammen. Ein schrilles Plärren hallte durch den Park. Die Toten in der Nähe des Museums hielten sich die Ohren zu. Der Laut hob und senkte sich und endete dann mit einem schrillen Kreischen, bei dem Garys Schädel schmerzte. Als das Geräusch endlich verstummte, befahl er seinen Toten, das Museum zu umstellen. Dieser Laut war von einem Menschen verursacht worden. Vielleicht die Rückkopplung von einem Lautsprecher. Oder von einem Megafon. »Hallo! Mr. Arschloch. Xaa-raanl« Das war kein englisches Wort, aber es kam ihm bekannt vor. O ja, natürlich. Eine der Somalis hatte ihn so beschrieben. Dabei hatte sie seine Brust mit einem Bajonett durchbohrt. »Hallo, toter Mann, bist du da irgendwo?« In der Luft neben dem Museum hing noch immer Staub. Er vibrierte bei jedem Wort des Mädchens. Gary übernahm die Kehlen seiner Armee. »Jaaaa«, zischten sie mit verfaulten Stimmbändern. »Ichhh-hhh binnnn hieeeeeeeerrrrrr.« Auf dem Dach des Museums, oben auf dem von Glaswänden umgebenen Hayden Planetarium, erschien eine Gestalt. Nasenlos konnte sie gerade noch mit seinen milchigen Augen ausmachen - Faltenrock, Blazer, Kopftuch. Die Kindersoldatin hob das Megafon an die Lippen, und ihre Worte dröhnten durch den Central Park, hallten von dem hartgebackenen Schlamm und den verbogenen eisernen Straßenlampen wider. »Du hast gesagt, du wolltest mich als Bezahlung für die Medikamente. Hier bin ich.« Ayaan - es war Ayaan, das Miststück, das ihn erschossen hatte. Gary fühlte, wie seine verschrumpelten Speicheldrüsen vor Aufregung anschwollen. Er trieb seine toten Späher an, schickte sie in das tote Museum. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass Dekalb sein Angebot annehmen würde. In dem schattenerfüllten Raum wogte heißer Staub in dichten Wolken und behinderte die Sicht. Trümmerhaufen versperrten die Korridore und breiten Ausstellungsräume. Ayaan musste alle Treppen demoliert haben - soweit Gary feststellen konnte, gab es keinen Zugang zum Dach mehr. Der einzige Teil des Museums, der nicht beschädigt worden war, war das Planetarium, eine mit Metall ummantelte Kugel in einem Glasgebäude. Es führte kein Weg in den Glaswürfel, man konnte ihn nur durch das Museum erreichen, und das Glas war bruchsicher.
Gary zog seine Truppen aus dem zerstörten Museum ab und ließ sie ausschwärmen. Sie strichen über das Glas, konnten aber keine Haltepunkte finden, nichts, an dem sie hätten hinaufklettern können. Ayaan hatte sich eine großartig zu verteidigende Position für ihr letztes Gefecht ausgesucht. Es gab keinen Weg nach oben - aber für sie gab es auch keinen Fluchtweg. 149 »Hier bin ich!«, rief sie, und ihre Worte wurden von einem dumpfen Echo begleitet. »Komm und hol mich!« Offensichtlich hatte sie nicht vor, es ihm leicht zu machen. Nun gut, dachte Gary. Nun gut. Das hier würde Spaß machen. Er drängte seine Armee voran, die ganze schwankende Masse. Sie bewegten sich lautlos wie der Wind, der durch hohes Gras streicht, aber unter ihren Schritten erbebte der Boden. Gary genoss die Macht, über die er verfügte, nur damit einen Augenblick später sein Ego einen Schlag erhielt. Hinter Ventilations- und Aufzugschächten trat der Rest von Ayaans Kompanie in Sicht, ein, zwei Dutzend Mädchen mit schweren Rucksäcken auf dem Rücken und Stormgewehren in den Händen. Einige hielten große Pappkartons. Die Mädchen rannten zum Dach des Planetariums und kippten ihre Fracht auf die Köpfe die herankommenden Ghoul-Armee. Die Kartons waren voller scharfer Handgranaten. Sie fielen wie Obst in einer vom Sturm heimgesuchten Plantage, fielen fünfzehn Meter in die Tiefe, wo sie Garys Soldaten zwischen die Füße fielen. Sie explodierten und schickten Rauchwolken in die Luft, die die Armee vor Nasenlos' Blick verbarg, und bei jedem einzelnen Toten, der in Stücke gesprengt wurde, zuckte Gary vor Schmerz zusammen. »Gottverdammt noch mal«, heulte Gary. Er eilte zurück zum Broch und befahl den Mumien, ihm zu folgen. Anscheinend hatte Dekalb doch noch ein paar Überraschungen für ihn übrig. 149
Sechs Stunden zuvor:
Osman gab mir eine schlaffe Haschisch-Zigarette und ein Päckchen Streichhölzer, bevor er wieder an Bord der Arawelo sprang und anfing, Yusuf Befehle zuzubrüllen. »Das wird deine Nerven beruhigen«, sagte er. Vermutlich sah ich aus wie ein Geist den ganzen Morgen hatte ich mir schon anhören müssen, wie blass ich war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Osmans schwacher Hasch mir helfen würde, also schob ich den Joint in die Tasche, nachdem ich ihm dankbar zugewunken hatte. Das Schiff legte mit ratternden Kolben und einer explosionsartig ausgestoßenen Dieselwolke von der Anlegestelle der Küstenwache ab. Osman brachte es langsam mit einer Reihe von Zeitlupenmanövern herum. Die Mädchen an Deck hielten sich an der Reling oder festgezurrten Munitionskisten fest und schauten wehmütig auf den grünen Rasen von Governors Island. Ich hatte gehofft, Ayaan nicht mehr sehen zu müssen, aber sie stand auf dem Ruderdach wie die Königin der Homecoming Parade auf einem besonders verrosteten Wagen. Sie schaute zu mir herunter, ich schaute zu ihr hinauf. Unsere Blicke trafen sich vielleicht zum letzten Mal, und wir schienen auf einer nonverbalen Ebene zu kommunizieren, einer Wellenlänge des Respekts, den ich einfach nicht zu definieren vermochte. Am Ende schenkte sie mir ein Lächeln, das mir Unbehagen einflößte, und wandte ihr Gesicht dem Hafen zu.
Ich eilte im Dauerlauf auf die Flugzeughangar zu - das 294 Timing war ein wichtiger Teil von Jacks Plan, und ich wollte nicht derjenige sein, der ihn versaute. Der große, röhrenförmige Chinook Helikopter - ein CH-47SD, der neueste und schickste Transporthubschrauber, der den Streitkräften zur Verfügung stand - wartete auf dem Rasen auf mich. Ich rannte die hintere Laderampe hinauf und hieb auf den Knopf, um sie zu schließen, dann lief ich weiter durch die Kabine, die nun, nachdem wir sämtliche Sitze herausgerissen hatten, wie eine Höhle wirkte und in der es ratterte wie in einer Zementmischmaschine. Kreutzer ließ die Super-D Tandemrotoren bereits kreisen und war bereit zum Start. Natürlich hatte er protestiert, als wir ihn gebeten hatten, uns zum Central Park zu fliegen, aber Jack besaß eine gewisse Überredungskunst. Er stellte Kreutzer einfach vor die Wahl: Entweder er meldete sich freiwillig, oder wir ließen ihn auf Governors Island zurück, wo er verhungern konnte. Wenn Jack so etwas sagte, gingen die Leute davon aus, dass er nicht bluffte. Sobald ich das Cockpit erreicht hatte, brachte uns Kreutzer auf dreihundert Meter Höhe und schoss dann so ruckartig los, dass ich rückwärts taumelte und auf dem Hintern landete. Er sah mich vom Pilotensitz aus an, als wollte er lachen. »Wie viele Flugstunden hast du auf dem Ding gemacht?«, brüllte ich gegen den Motorenlärm an. »Mehr als du, Arschloch«, fauchte er zurück. Dagegen ließ sich nichts sagen. Vorsichtig kletterte ich in den Navigatorsitz. Jack, der auf dem Copilotensitz saß, gab mir ein Stück Kaugummi, mit dem ich mir die Ohren zustopfen konnte. Wir überquerten den Hafen und kamen in den Luftraum über Brooklyn, flogen tief und schnell. Das war das Erste von vielen dummen Risiken, die diese Mission erforderte. Wr mussten davon ausgehen, dass es in Brooklyn nur so von Toten wimmelte und dass einige uns sehen würden, und wir 150
konnten nur hoffen, dass Garys Fähigkeit, die Toten als Spione zu benutzen, nicht so weit reichte - oder dass er den Außenbezirken keine Aufmerksamkeit schenkte. Von meinem Sitz aus konnte ich nicht auf die Straße herunter sehen, sodass mir glücklicherweise der Anblick überraschter Toter erspart blieb, die uns zufällig entdeckten. Ich sah nur gelegentlich Gebäude am Fenster vorbeihuschen - das Gerichtsgebäude, den Glockenturm der Williams Savings Bank, das Hauptquartier der Zeugen Jehovas. Als wir nach Queens kamen, brachte uns Kreutzer ein großes Stück in die Höhe und hielt auf den Fluss zu. »Letzte Chance«, sagte er. Ich runzelte verwirrt die Stirn, dann schaute ich auf den überdachten Boden hinunter. Wir befanden uns auf der Höhe des UN-Komplexes, das weiße Sekretariatsgebäude funkelte wie ein Grabstein, der den mit Leichen verstopften East River überragte. Mein Verstand drehte die Perspektive um, und ich begriff, was er meinte. Wir konnten einfach dorthin fliegen, uns die Medikamente schnappen und wieder abhauen. Ich konnte Ayaan anrufen und diese Selbstmordmission abbrechen. Ich entdeckte keine Tauben - vielleicht hatte Gary sogar Wort gehalten und uns den Weg freigemacht. So nahe. Es war direkt da. Genau da! Jack legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte zu. Er bedrohte mich nicht, erinnerte mich nicht einmal an meine Verantwortung. Einfach nur moralische
Unterstützung, von einem Typen, dem ich so etwas niemals zugetraut hätte. Ich drehte mich um, nickte und ließ mich in meinen Sitz zurücksinken. Es dauerte nicht lange, bis Kreutzer über der Queensboro Bridge schwebte, wo sie Roosevelt Island überquerte. Das war gerade so nahe, wie wir uns in unserem lärmenden Fluggerät an Manhattan heranwagen konnten. Ich stand auf und schaute durch ein Bullauge nach unten. Dort waren die Toten; sie 151 drängten sich um die Brückenpfeiler, die Köpfe in den Nacken gelegt, und griffen nach uns. Kreutzer verrenkte sich in seinem Sitz. »Ich weiß ja nicht, ob einer von euch Jesus Christus als seinen Erlöser angenommen hat, aber jetzt könnte dafür der richtige Augenblick sein.« Wir ignorierten ihn und eilten nach hinten. Dort halfen wir uns gegenseitig in Hazmat-Anzüge, genau die gleichen Modelle, die Ayaan und ich benutzt hatten, als wir uns vor ein paar Tagen - oder einem ganzen Leben - das erste Mal auf den Times Square gewagt hatten. Das war Ausrüstung der Küstenwache, für die Aufräumarbeiten nach Chemieunfällen, also waren die Anzüge dicker und noch unhandlicher, aber ich hatte meinen getestet und wusste, dass ich darin noch gehen konnte. Als wir angezogen waren, zeigte mir Jack, wie man sich abseilt. Er führte ein Nylongeschirr zwischen meinen Oberschenkeln hindurch, dann brachte er mit Karabinerhaken einen Abseilachter - eine Aluminiumacht - in meinem Schoß an. Als er fertig war, öffnete er eine Luke im Bauch des Chinook und brachte eine Winde für vier Seile an. Ein Ende des Seils kam mit einem komplizierten Knoten durch meinen Abseilachter. Jack befestigte eine Sicherheitsleine am Rücken meines Geschirrs, und ich war fertig. »Wir sehen uns unten«, sagte ich und versuchte hart zu klingen. Jack gab keine Erwiderung, also hielt ich den Mund und trat durch die Luke. Man nennt es »schnelles Abseilen«, weil sich »fallen wie ein Stein« nicht militärisch genug anhört. Ich hätte meinen Abstieg verlangsamen können - wäre es mir egal gewesen, dass meine Handschuhe wegen der intensiven Reibung verbrannt wären -, aber ich verbrachte den größten Teil des Abstiegs im freien Fall, genau wie Jack es mir beigebracht hatte. Alle Gegenstände fallen mit der gleichen Geschwindigkeit das hat Galileo bewiesen -, aber wenn man fünfzig Pfund schwe 151 res Gepäck trägt, kommt es einem doch so vor, als würde man noch schneller stürzen. Als ich mich dem Boden näherte, bremste ich ab, griff hart nach dem Seil, bis meine Handschuhe buchstäblich zu qualmen anfingen, dann beugte ich die Knie in genau dem Augenblick, ich dem ich den Asphalt berührte und rollte ab, damit ich mir nicht die Knöchel brach. In der nächsten Sekunde war ich wieder auf den Beinen und hielt das Seil, während mir Jack nachkam. Wir machten diverse Seile los und winkten Kreutzer zu, aber der legte den Hubschrauber bereits in eine weite Kurve, die ihn außer Sichtweite von Manhattan brachte. In ein paar Sekunden war er hinter einer Gebäudereihe verschwunden, und die Welt war plötzlich stumm, nur mein Atem und das Quietschen meines Anzugs leisteten mir Gesellschaft. Jack hatte während dieses Teils der Mission das Sprechen ausdrücklich verboten, nur zur Vorsicht. Ein Toter,
der uns bemerkte, wäre genug, damit wir scheiterten. Und unser Leben wäre verwirkt. Die Brücke ragte zu beiden Seiten neben uns auf, Betontentakel, flankiert von hohen Eisentürmen. Im Osten befand sich Manhattan - die Upper East Side und dann der Central Park. Vor uns lag ein langer Marsch. Wir brachen wortlos auf. 152
12. Bei der Wanderung durch die Upper East Side schmerzten meine Knochen, und auf meiner Wirbelsäule sammelte sich der Schweiß, aber niemand entdeckte uns, und das war die Hauptsache. Die Straßen waren verlassen - vermutlich hatte Gary die Toten aus dieser Gegend abgezogen, um sie seiner Armee einzuverleiben. Das bedeutete nicht, dass wir keine Risiken eingingen. Wir bewegten uns mit einer Deckungsstrategie durch die Straßen von Manhattan, die Jack als »Sprungtaktik« bezeichnete. Das bedeutete, dass ich mich in einem schattenverhüllten Hauseingang verbarg und die Straßenecke im Auge behielt, während Jack so schnell wie möglich die offene Straße überquerte. Dann ging er in Deckung, und ich tat das, was er gerade getan hatte, wenn auch bedeutend unbeholfener. Wir stießen auf eine Reihe von Gebäuden, die mit brutaler Gewalt niedergerissen worden waren - vermutlich, um an Ziegel für Garys Turm zu kommen. Aus den Trümmerhaufen ragten Hände und Füße. Offensichtlich hatte sich Gary keine großen Gedanken über die Arbeitssicherheit gemacht, als er seine Truppen nach Baumaterial geschickt hatte. Wir sahen nur einen aktiven Toten, was schon ausreichte, um Beklemmungen zu kriegen. Wenn Gary in diesem Augenblick dessen Augen benutzte, waren wir erledigt - und es gab keine Möglichkeit, das herauszubekommen, nicht bevor wir den Park und damit Gary erreichten. Allein der Gedanke wollte Panik in mir schüren, also versuchte ich, nicht darüber nachzudenken. Was nicht funktionierte. 152 Der Tote stand in der Mitte der Madison Avenue, ein Stück, wo kaum Autos standen. Er wandte uns den Rücken zu und starrte eine Gebäudefassade an, vor der ein Bauzaun in eine gigantische Reklametafel verwandelt worden war. LA PERLA: NEUERÖFFNUNG 2005, verkündete die Werbung. Darunter befand sich das vergrößerte Bild einer Frau, die nur BH und Höschen trug; sie hatte das Kreuz durchgedrückt und schaute mit einem desinteressierten Gesichtsausdruck in die Kamera. Selbst in zehnfacher Vergrößerung sah ihre Haut makellos aus. Seine Haut war verfärbt und fleckig, voller Geschwüre, und löste sich an Wunden auf seinen Händen und dem Rücken. Sein Kopf bewegte sich hin und her, wobei sein Hals jedes Mal ein schmatzendes Geräusch machte. Was sah er wohl in der Reklame? Hielt er die riesige Frau für eine Art Nahrung? Ich hatte noch nie einen Beweis dafür gesehen, dass die Toten an Sex interessiert waren. Jack und ich warteten fünfzehn Minuten hinter einer Häuserwand darauf, dass die Leiche weiterging, aber es wurde offensichtlich, dass sie nirgendwohin gehen würde. Schließlich sah ich zu Jack hinüber und zog ein Kampfmesser aus meinem Gepäck. Er nickte. Eigentlich hatte ich ihm die Waffe geben wollen, aber offensichtlich war ich an der Reihe. Er hob einen Finger an das Gesichtsvisier - sei leise, bedeutete er mir.
Schnelligkeit war angebracht. Ich rannte so schnell zu dem Ghoul, wie ich in dem sperrigen Anzug konnte, das Messer hoch erhoben, damit ich es ihm direkt von oben in den Kopf rammen konnte. Aber ich blieb wie erstarrt stehen, als sich der Tote auf unsicheren Beinen umdrehte und mich anstarrte. Die Skleren seiner Augen verdeckten seine Pupillen fast völlig. Er musste so gut wie blind sein. Sein Unterkiefer baumelte herab, nur noch von der Haut gehalten und vom Rest des 153 Schädels getrennt. Ich hatte noch nie einen Toten in einem so erbärmlichen Zustand gesehen. Mitleid stieg in mir auf, aber nicht bevor ich ihm das Messer in den Kopf gerammt hatte. Er brach auf dem Bürgersteig zusammen. Weniger als eine Stunde später erreichten wir den Rand des Central Park. Wir betrachteten die verwüstete Landschaft -getrockneter Schlamm und viele entrindete Bäume, die etwas Deckung boten. Ein paar Tote liefen herum, aber sie waren zu weit weg, um uns sehen zu können. Hofften wir. Jack führte mich zu einer der Straßen, die quer durch den Park führten. Wir begaben uns zwischen die Steinmauern, die die Durchgangsstraßen in künstliche Canyons verwandelten, und bald standen wir bis zu den Knöcheln in braunem Wasser. Als die Toten das Gras und die Pflanzen des Central Park fraßen, hatten sie das zerstört, was einen gepflegten öffentlichen Garten vor der Erosion bewahrte. Der erste ordentliche Regenguss hatte den Central Park in eine Reihe von Schluchten verwandelt, die Sturzfluten und Unterspülung ausgesetzt waren. Jetzt waren die Durchgangsstraßen seichte Flüsse und die ursprünglichen Wassersammler des Parks - die Teiche, Seen und das Jacqueline Kennedy Onassis Reservoir -zu öligen Pfützen reduziert. Es ist unmöglich, lautlos durch stehendes Wasser zu marschieren, aber glücklicherweise hatten wir es nicht weit. Nach knapp fünfzig Metern kamen wir zu zwei hohen Eisentoren, die in die Mauer eingelassen waren. Dahinter lag Dunkelheit - viel Dunkelheit. Jack zog seinen Polizeitüröffner aus seinem Gepäck. Das Schloss an den Toren sah einfach aus, aber es kostete einige Anstrengung, es zu öffnen. Irgendwann holte Jack eine Feile heraus und arbeitete lautstark daran herum. Vielleicht war es zugerostet. Ich hielt in der Zwischenzeit angestrengt nach den Toten Ausschau. Schließlich gab das Schloss mit einem lauten Klirren nach, und wir waren drinnen. Der Tunnel jenseits des Tores hatte eine gewölbte Decke aus weißen Ziegeln und sandigen Boden, der jetzt unter ein paar Zentimetern Wasser lag - ich konnte den Sand zu meinen Füßen sehen; bei jeder Bewegung sprudelte er in wogenden Wolken auf. In der Decke waren Lampen angebracht, aber sie funktionierten nicht. Ein feiner Nebel erfüllte die Luft und reduzierte die Sicht auf bestenfalls drei Meter. Unsere eigenen Schatten ragten vor uns im Nebel auf. Jede meiner Bewegungen erschien weit vergrößert. Die Schatten multiplizierten sich, als wir in die Dunkelheit gingen, ihre wogenden Umrisse streckten sich mir entgegen oder flohen vor der Spiegelung unserer Taschenlampen im Wasser. In diesem Tunnel hätte alles sein können - eine Armee der Toten hätte uns direkt entgegenkommen können, und wir hätten es nicht bemerkt. Die engen Wände und die runde Decke schienen sich endlos zu dehnen, drohten jeden Augenblick zu verschwinden und uns ohne Vorwarnung in endlose Dunkelheit zu stürzen.
Schließlich kamen wir in einen Turbinenraum - glücklicherweise funktionierten sie schon lange nicht mehr, sonst hätte der Strom uns getötet. Die großen runden Maschinen standen wie Eier oder schlafende Riesen in einer Reihe; eine Wendeltreppe aus Gusseisen führte nach oben in milchige Dunkelheit. Unsere gummiüberzogenen Stiefel machten auf den Stufen keinen großen Krach, aber das Wasser, das aus den Falten unserer Anzüge abfloss, verursachte laute Tropfgeräusche. Die Treppe endete in einem Raum, in dem sich nur ein paar zerbrochene Möbelstücke und eine dreckige Matratze in der Ecke befanden. Es gab Fenster, aber durch die sah man nichts als schlampig aufgeschichtete Ziegelsteine. Es gab eine Tür - eine große, verschlossene Feuertür aus Stahl, die unser nächstes Ziel darstellte. Angenommen, sie führte irgendwo hin. 154 Gary hatte seinen Turm auf einem großen Flecken des Central Park gebaut, anscheinend ohne darüber nachzudenken, ob etwas im Weg war. Er hatte viele der Parkgebäude abgerissen, um an Steine zu kommen, aber andere - die in der Nähe des Great Lawn - waren einfach unversehrt in die Anlage übernommen worden. Belvedere Castle, einer meiner Lieblingsorte in New York City, war zu einem Stützpfeiler der großen Mauer geworden. Das Pumpenhaus am Südufer des Reservoirs auf der nach Uptown gerichteten Turmseite hatte eine ähnliche Verwendung gefunden. Es war direkt mit dem Turm verbaut worden, was Jack auf den Bildern des Predator aufgefallen war. Gary wusste nicht - zumindest war das unsere Hoffnung - dass ein Tunnel vom Pumpenhaus zu einer der Durchgangsstraßen führte. Der Tunnel, durch den wir gerade gekommen waren. Möglicherweise war die Tür, vor der wir standen, während der Bauarbeiten versiegelt worden. Oder sie führte direkt in Garys persönliche Räume. Oder in eine Wachstube voller gewalttätiger Leichen. Das würde man erst wissen, wenn man sie geöffnet hatte. Das war also unser Plan. Ayaan würde die Toten ablenken - so viele der Tausenden von Soldaten anlocken, wie sie konnte, so lange auf dem Planetarium ausharren, wie es ging. Zur gleichen Zeit würden Jack und ich in Garys Festung einbrechen, jeden lebenden Toten vernichten, der uns dort begegnete (Gary eingeschlossen), und die Überlebenden zu einer Stelle bringen, an der Kreutzer sie mit dem Chinook aufsammeln konnte. Es war die beste Idee, die uns eingefallen war. Ich hatte mich ihr verschworen, war bereit, für ihren Erfolg mein Leben zu geben. Das waren wir beide. Jack verschwendete keine Zeit. Er griff nach dem Türknauf und drehte. Die Tür schwang in gut geölten Angeln auf und enthüllte einen dunklen Korridor. Kein Toter wollte uns an 3°154 greifen. Trockene Luft blies uns entgegen und löste den größten Teil der Nebelschwaden auf, die von der Wendeltreppe aufstiegen. Jack schloss die Tür wieder - wir waren noch nicht ganz so weit, dass wir mit unserem Angriff beginnen konnten. Jack schüttelte den schweren Rucksack ab und ließ ihn zu Boden fallen, dann half er mir dabei. Er öffnete meinen Rucksack und packte lange, silbrige Zylinder mit Düsen am Ende aus; sie ähnelten kleinen Gasflaschen.
Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. »Was ist das?«, flüsterte ich. Selbst für mich hörte sich meine Stimme in dem Helm unverständlich an. Jack schaute auf, sein ruhiges Gesicht wurde von dem rechteckigen Fenster aus durchsichtigem Plastik eingerahmt. »Es hat eine Planänderung gegeben«, sagte er. 3°155 Körper dehnten sich und stemmten sich hoch, Köpfe wurden von Halt suchenden Füßen nach unten gedrückt. Eintausend Leichen strengten Arme und Beine an, drückten einander in die Höhe, die Gliedmaßen der ganz unten liegenden zerbrachen wie trockene Zweige. Die Tote ganz oben, eine junge Asiatin in einem blutverschmierten pinkfarbenen Sanryo-Overall, griff mit einer Hand zu und berührte den Dachrand des Planetariums. Eine Somali mit einem Bajonett am Gewehrlauf sprang vor und spießte den Kopf der Toten wie eine Ananas auf. Als die Klinge zurückgezogen wurde, rollte die Asiatin die Untotenpyramide hinunter und klatschte unten auf den Asphalt. Ein Mann in einem Armanianzug mit einem zerfetzten Hosenbein wuchtete sich in die Höhe, um ihren Platz einzunehmen. Eine der Somali eröffnete das Feuer mit einem auf einem Dreibein montierten Maschinengewehr vom Kaliber .50, und sein Körper zerplatzte zu verfaulten Fleischstücken, die sich wie stinkender Regen über die Körper unter ihm ergossen. Die Untotenpyramide würde nicht funktionieren. Also wandte sich Gary wieder seinem ursprünglichen Plan zu und schaute durch die Augen eines Töten, der tief in die Ruinen des American Museum of Natural History vorgedrungen war. Eine kleine Gruppe, die ständige Aufmerksamkeit erforderte, hatte sich einen Weg durch die Trümmer gebahnt, war unbeholfen über umgestürzte Statuen und durch Lücken in zusammengebrochenen Steinhaufen geklettert. Mit rotem Staub bedeckt, die Augen in den Höhlen austrocknend waren drei 3°155
von ihnen an einer herabhängenden Beleuchtungsschiene in die dritte Etage hinaufgeklettert. Gary hatte sie nur eine oder zwei Minuten lang sich selbst überlassen, während er mit dem Pyramidenbau beschäftigt war, aber in dieser Zeitspanne hatten es zwei seiner toten Späher geschafft, über einen Balkon in die Tiefe zu stürzen. Der eine hatte zwei gebrochene Beine und war nutzlos - Gary löschte sein Leben schon aus Prinzip aus. Die andere brauchte seine Aufmerksamkeit nicht. Ihr Schädel war auf einer hervorstehenden Eisenstange aufgespießt. Die dritte, noch funktionierende Leiche kam nicht weiter. Der Mann stand einfach bewegungslos da, die Arme nutzlos an den Seiten, den Kopf hin- und herbewegend. Er versuchte zu verstehen, was da vor ihm lag, ein gewaltiger Schatten, der sich aus der kühlen Dunkelheit des Museums schob - ein Schädel, der groß genug war, um hineinzuklettern, mit Zähnen wie Kampfmesser und Augenhöhlen, die größer als sein Kopf waren. Es war der Schädel eines Tyrannosaurus Rex. Der Tote versuchte zu entscheiden, ob das etwas zu fressen oder ein Feind oder beides war. Natürlich war es weder das eine noch das andere - aus diesem Knochen konnte man nicht einmal das Mark saugen, da der Schädel eine Nachbildung aus Kunststoff war. Gary knurrte und übernahm die Kontrolle über die Arme und Beine des Ghouls. Natürlich waren seine Soldaten schon immer dumm gewesen, aber sie waren auch nicht mehr gefüttert worden seit dem Tag, an dem Mael sie übernommen hatte. Darum brach sich
der schleichende Verfall immer mehr Bahn. Ihre Augen hatten sich weiß verfärbt, ihre Finger waren verkrümmt. Indem Gary den Toten zu einem schnellen Marsch zwang, schädigte er lebenswichtiges Gewebe irreparabel. In wenigen Stunden würde dieser Stellvertreter völlig auseinanderfallen. Egal, sagte er sich. Er brauchte den hier nur noch wenige Minuten. Dem Museumsplan zufolge stieß 156 der Saal mit den Saurischiern an die oberste Etage des Planetariums. Wenn es einen Weg auf das Dach gab, dann hier in der Nähe. Die Dinosaurierausstellung lag im Zwielicht; es herrschte keine völlige Dunkelheit. Gary versuchte, die versagenden Augen der Leiche zu entspannen und zu erkennen, woher das Licht kam. Nach ein paar Fehlversuchen konnte er den Toten in die richtige Richtung lenken - zu einem ordentlichen Loch in der Wand, einer Stelle, an der Ziegel herausgebrochen und Putz abgebröckelt war, bis Sonnenlicht und frische Luft hereinströmten. Gary drängte den ferngesteuerten Körper in das Loch und drückte. Das Fleisch des Toten blieb an zerbrochenen Rohren und Balken hängen blieb hängen und riss ab -, aber Zentimeter um Zentimeter näherte er sich der Außenseite. Schließlich stieß sein Gesicht ins Licht, und einen Augenblick lang sah Gary nur grelle Helligkeit, als die verwesenden Pupillen seines Avatars verzweifelt versuchten, sich zusammenzuziehen. Als sich seine Sicht endlich klärte, schaute er nach unten und sah genau das, was er sehen wollte - das Planetariumsdach, keinen Meter unter sich. Dachpappe und Belüftungsschächte und somalische Kindersoldatinnen. Er hatte einen Weg gefunden! Sofort konzentrierte er seine Aufmerksamkeit darauf, Hunderte, nein, Tausende seiner Soldaten zu rufen und sie zum Museum zu lenken. Diese Schwäche würde er sofort ausnutzen! Dann versetzte er sich wieder in das geschädigte Hirn seines Spähers, nur um die Situation besser zu erkennen - und starrte plötzlich in das Gesicht einer lächelnden Teenagerin. Sie hielt eine kleine, grüne Handgranate. Gary versuchte, den Toten mit den Zähnen nach ihren Fingern schnappen zu lassen, aber er konnte sie nicht daran hindern, ihm die Granate in den Mund zu stopfen. Er spürte das Gewicht störend im Mund. Er schmeckte das Metall. 3°156 Er brauchte nicht zu bleiben, um abzuwarten, was nun geschah. Das Loch in der Wand würde nutzlos sein - die Mädchen wussten davon und konnten mühelos jeden Soldaten ausschalten, den er hindurchschickte. »Scheiße!«, schrie er und wandte sich von dem Wehrgang des Broch ab. Zum ersten Mal seit der Belagerung wieder im eigenen Körper, stapfte er die Stufen hinunter. Die Mumien folgten ihm dichtauf. Er ließ Nasenlos oben zurück, um die Schlacht weiter zu verfolgen. Halbherzig beobachtete er weiterhin den Kampf im Westen, wo seine Soldaten einer nach dem anderen vernichtet wurden, aber er interessierte sich nicht für die Details. Ayaan würde nirgendwo hingehen, und er auch nicht. Er brauchte nur etwas Zeit, um sich zu sammeln und nachzudenken. Er erreichte das Erdgeschoss des Turms und ließ sich dankbar in sein Formalinbad sinken. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu bewegen - vielleicht verbrachte er so viel Zeit im Eididh, dass seine Muskeln atrophierten. Darüber konnte er sich Sorgen machten, wenn er Zeit dazu hatte. Wenn das hier vorbei war und er... PHWHAM. PHHHWHAM. PHHWHAM.
Steinstaub regnete von den Emporen herab und sprenkelte sein Bad wie Paprika. Gary setzte sich mit großem Geplätscher auf und suchte hektisch nach Informationen. Die Westseite des Broch war in Rauch gehüllt, der reglos in der Luft hing. Nasenlos war auf die Holzplanken des Wehrganges gestürzt, die Einschläge hatten ihn von den Füßen gerissen. Gary zwang ihn, wieder aufzustehen und sich umzusehen. Eines der Mädchen hatte eine Panzerabwehrwaffe mit Raketen - die gleiche Waffe, die Dekalb bei den toten Bereitschaftspolizisten benutzt hatte. Sie feuerte direkt auf den Broch, die Raketengranaten trudelten tödlichen Rieseneiern 157 gleich durch die Luft auf Garys Sichtfeld zu und zogen weiße, wie mit dem Lineal gezogene Rauchspuren hinter sich her. PHHHHHHHHWHAM. Gary schäumte vor Wut, als er noch mehr von seinen Truppen mobilisierte - ach was, zum Teufel mit ihnen, ihnen allen! - und sie gegen das Museum anrennen ließ. Er würde dem jetzt eine Ende bereiten, egal, zu welchem Preis. Und wenn er das Planetarium durch die rohe Kraft einer Million Toter einstürzen lassen musste, dann würde er das eben tun! Wenn er den Bau mit den eigenen Händen auseinandernehmen musste, würde er das tun! Er schickte seinen Riesen durch den Strom der Untoten, seine langen Beine trieben ihn schneller an, als der Rest laufen konnte. Er sandte Gesichtslos aus, damit sie ihm als Augen diente - sie hatte erst kürzlich gefressen und konnte daher mühelos sehen. So würde das nicht weitergehen, gottverdammt noch mal! Die Armee der Toten umgab das Planetarium in Reihen zu hundert, sie drängten mit den Schultern gegen das Gebäude an, bis sie einander niedertrampelten. Da hörte Gary den Schuss. Mit seinen eigenen Ohren. Sofort riss er seine Aufmerksamkeit zurück in seinen Körper. Das Geräusch war aus dem Inneren des Broch gekommen. 3°157
I4.
Im Licht einer Handvoll Leuchtstäbe machte Jack sich an die Arbeit. Wir zogen die Hazmat-Anzüge aus, um leichter arbeiten zu können, und ich wartete geduldig auf Jacks Anweisungen. Er hatte den großen Rucksack geöffnet, den ich in Garys Festung getragen hatte, und holte ein paar Folienpackungen heraus, die mit Warnaufklebern und Kleingedrucktem übersät waren. Ich schaute in den Rucksack und hatte keine Ahnung, was ich da sah. Abgesehen von den metallenen Gaszylindern gab es ordentliche Stapel elektronischer Komponenten und ziegelförmige Rechtecke aus einem weich aussehenden, mattweißen Material. Mir fiel auf, was fehlte: Schusswaffen. Es gab überhaupt keine Schusswaffen. Keine Pistolen, keine Sturmgewehre, keine Schrotflinten. Keine Raketenwerfer oder Scharfschützengewehre oder Maschinenpistolen. Auch keine Messer. Das am Bein meines Anzugs festgeschnallte Kampfmesser war die einzige Waffe, die ich finden konnte. Ich zog den Reißverschluss von Jacks Rucksack auf in der Annahme, dass er vielleicht die Waffen getragen hatte, weil er befürchtete, ich könnte mir aus Versehen den Fuß abschießen. (Eine faire Einschätzung. Doch das war wohl nicht seine Befürchtung gewesen.) Er ergriff meine Hand. »Den packe ich aus.«
»Würdest du mir verraten, was wir hier tun?«, fragte ich vorsichtig. »Nein.« Typisch Jack. Nur ein Nein, negativ, ist nicht. Er holte das 310 Iridium-Mobiltelefon aus meinem Rucksack und legte es auf den Boden, nachdem er vermutlich zum dritten Mal überprüft hatte, dass es auf Vibrationsalarm und nicht auf Klingeln gestellt war. Mit ziemlicher Sicherheit würde kein Signal die dicken Steinwände durchdringen, aber er ging das Risiko nicht ein. »Gib mir diese Ziegel, einen nach dem anderen und ganz langsam«, sagte er und zeigte auf meinen Rucksack. Ich holte einen heraus. Er fühlte sich leicht puderig an, wie ein bröckeliges Seifenstück, und er war in eine dünne Plastikfolie gewickelt. Mein Daumen hinterließ eine Einbuchtung, aber das schien Jack nicht zu stören. Er zog die Folie ab, dann nahm er einen Gaszylinder und drückte die kittartige Substanz um die Röhre, glättete sie vorsichtig. Während Jack damit arbeitete, verlor das Zeug seine pulverige Konsistenz und wurde gummiartig und formbar. Ich hatte es schon zuvor gesehen. Weil es billig ist und leicht zu bekommen, taucht es häufig in den Arsenalen der meisten Entwicklungsländer auf. Ganz zu schweigen von Terroristenausbildungslagern. »Das ist Semtex, richtig?« Jack starrte mich finster an. Idiot, der ich bin, dachte ich, er wäre sauer, weil ich den europäischen Namen benutzt hatte. »Entschuldigung. C-4. Plastiksprengstoff. Du willst Gary in die Luft jagen.« »So ähnlich.« Er formte eine Sprengladung um das Ende eines zweiten Zylinders. Ich musste es wissen. Ich hob einen der Zylinder auf. In der Nähe der Düse klebte ein verblichener Aufkleber mit zwei Symbolen. Das eine zeigte ein Dreieck mit einem zerbrochenen Reagenzglas. Cartoondämpfe strömten aus der Bruchstelle. Das andere Symbol bestand aus einem Totenschädel und zwei gekreuzten Knochen. Die Folienpackungen enthielten zwei Autoinjektoren mit Atropin. Erste Hilfe im Falle eines Chemiewaffenangriffs. 158 »Was ist in diesen Zylindern?«, fragte ich mit bemühter Ruhe. »Sarin?« »VX.« Er schnaubte, als hätte ich seine Berufsehre verletzt. »Sie enthalten eine LD 50 von zehn Milligramm, entweder bei Inhalation oder durch Hautkontakt.« Eine letale Dosis von einem Dreißigtausendstel einer Unze. Ein kleiner Tropfen, mehr braucht man nicht. Ich wusste viel mehr über LD 50 und Hautkontakt im Gegensatz zu Augenkontakt, als ich je hätte wissen wollen. Dieses Zeug war mein schlimmster Albtraum gewesen, als ich noch als Waffeninspekteur gearbeitet hatte. Es wäre jedermanns schlimmster Albtraum gewesen, wäre jemals jemand verrückt genug gewesen, es zu benutzen. Selbst Saddam Hussein hatte weniger tödliche Nervengifte als VX benutzt, als er versucht hatte, die Kurden auszurotten. Erfunden hatten es die Briten. Sie gaben es den Amerikanern im Austausch für die Pläne der Atombombe. So tödlich war seine Wirkung. »Als die Epidemie ausbrach, hat das Militär alles Mögliche versucht«, sagte Jack. »Es gab das Gerücht, dass sie eine Atombombe auf Manhattan werfen wollten, aber ich vermute, sie haben es nicht mehr rechtzeitig geschafft. Aber sie haben versucht,
Spanish Harlem zu vergasen. Das ist der Rest von dem, was sie für dieses Projekt herangeschafft haben.« »Sie haben Nervengas gegen die lebenden Toten eingesetzt?«, fragte ich ungläubig. Vermutlich hätte ich in der gleichen Situation möglicherweise ebenfalls nach Strohhalmen gegriffen, aber das war sicher Overkill. »Hat es... hat es funktioniert?« »Das hätte es sollen. Ein lebender Toter ist im Grunde nur ein Nervensystem, das herumlaufen kann, und VX ist ein Nervengift. Es schließt den Acetylcholinesterasekreislauf kurz. Es hätte funktionieren müssen.« Offensichtlich hatte es das aber nicht getan. Vermutlich 159 hatte das Militär damit bloß erreicht, dass alle in der Gegend verschanzten Überlebenden ausgelöscht wurden, während die Untoten unversehrt blieben. Dinge, die wir mit den besten Absichten tun... Ich schüttelte den Kopf. »Dann bist du gar nicht hier, um Gary zu töten.« Jack griff in seinen Rucksack und zog eine Handfeuerwaffe hervor, eine Glock 9mm. Er richtete sie nicht auf mich, bedrohte mich nicht einmal. Vorsichtig legte er sie auf dem Boden ab, den Lauf die ganze Zeit auf die Wand gerichtet. »Ich habe dir einmal von meinem Notfallplan erzählt. Wie ich darüber nachdachte, sie im Schlaf zu töten.« Er versah die Zylinder weiter mit Sprengstoff. Ich tat nichts. Ich erinnerte mich gut an das, was er gesagt hatte. Es hatte mir damals Angst eingejagt - und jetzt jagte es mir noch mehr Angst ein, weil ich wusste, dass es ihm damit Ernst war. Er fuhr fort. »Es gibt keine Hoffnung auf Rettung, Dekalb. Es wird einfach nicht funktionieren. Ich bin im Kopf Millionen von Szenarien durchgegangen, und wir beide werden auf gar keinen Fall hier lebend rauskommen.« »Das kannst du nicht wissen«, hielt ich dagegen. Er blinzelte und senkte den Blick. »Dekalb«, sagte er, »welche Ladekapazität hat ein Chinook-Helikopter mit herausgenommenen Sitzen?« Ich öffnete und schloss ruckartig den Mund. »Das ist nicht dein...« Aber das war es. Er kannte die Antwort. Genau wie ich. Vielleicht hundert Leute, wenn man nicht weit flog. Wr konnten nur die Hälfte der Überlebenden retten. Jack wollte offensichtlich nicht entscheiden müssen, wen man zurückließ. »Wir gewinnen nichts, wenn wir auf diese Weise sterben. Aber wir können trotzdem etwas für die Überlebenden tun. Wir können verhindern, dass sie sein Mittagessen werden. Oder zumindest ich kann es.« 3*3 Er warf mir einen der Atropininjektoren zu. Wenn ich dem Nervengas ausgesetzt wurde, konnte mich nur eines retten: mir die Injektionsnadel in den Oberschenkel oder das Gesäß zu rammen. Wenn ich dem Nervengas nicht ausgesetzt war und mich trotzdem injizierte, würde mich das Atropin umbringen. »Du kannst hier verschwinden. Geh den Weg zurück, den wir gekommen sind. Triff dich mit Kreutzer und lass dich von ihm zur UN bringen. Hol die Mädchen von diesem Dach. Du kannst deine Mission noch immer zu Ende bringen. Aber lass mich meine beenden.« Was bedeutete, zweihundert Männer, Frauen und Kinder dem Tod auszuliefern.
»Dekalb - ich habe dich bis jetzt nur gebraucht, weil ich die Ausrüstung nicht allein tragen konnte. Jetzt möchte ich dir einen Gefallen tun. Dreh dich einfach um und geh.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und erst recht wusste ich nicht, was ich tun sollte. Und vor allem hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie meine nächste Reaktion aussehen würde. Hätte ich meinen Körper verlassen und mich mit mir selbst unterhalten können, hätte ich mir davon abgeraten. Es war eine Art spontaner Entscheidung. Das Iridium-Mobiltelefon summte mit einem leisen, unauffälligen Laut. Es vibrierte auf dem Boden, hüpfte umher. Es glitt ein paar Zentimeter über den Boden und blieb stehen. Eine Sekunde später ging es wieder los. Das war Ayaans Signal, die Botschaft, dass sie Garys untote Armee zu ihrer Position gelockt hatte. Von uns fort. Jack und ich starrten das Telefon an. Wir schauten im gleichen Augenblick auf. Ich hielt das Kampfmesser in der Hand, die Spitze auf seinen Leib gerichtet. Er hielt die Glock in der Hand, zielte auf mein Herz. Ich sprang. Er schoss. 3*4
!5-
Jacks Plan, über den er tagelang nachgedacht hatte, bestand darin, jede lebende Person in Garys Festung umzubringen. Er würde acht Bomben bauen, von denen jede genug VX-Nervengas enthielt, um ein ganzes Stadtviertel auszurotten. Er würde sich diese Bomben umschnallen. Dann würde er mit einem Zünder in der Hand durch die Festung rennen. Entweder würde er es bis in Garys Bauernhof schaffen, wo man die Überlebenden festhielt - und dabei vielleicht einen letzten Blick auf Marisol werfen können -, oder angreifende Ghoule würden ihn aufhalten. In jedem Fall würde er den Zünder betätigen. Die Giftgaswolke würde sich in diesem Teil der Stadt ausbreiten. Sie würde Stunden brauchen, um sich aufzulösen. Jeder, der ihr ausgesetzt wurde, und sei es auch nur wenige Minuten, würde sterben. Gegen VX war niemand immun. Man konnte nicht einmal die Luft anhalten und hoffen, dass es verschwand. Bekam man es auf die Haut, starb man. Man hatte keine Zeit, es abzuwaschen. Mit dem Nervengas glaubte er garantieren zu können, dass die Vergifteten tatsächlich tot blieben. VX zerstörte das ganze Nervensystem, legte jegliche Körperfunktion lahm. Vielleicht hätte es Marisol und die Überlebenden vom Times Square daran gehindert, dass sie wiederbelebt wurden. Wir sollten es nie erfahren. In dieser letzten, hässlichen Sekunde versuchten wir einander zu töten, mit allem, was wir hatten. Ich stach mit dem Kampfmesser auf ihn ein. Er griff auf sein ganzes Geschick mit Feuerwaffen zurück und versuchte mir ins Herz zu schie3J5
ßen. Auf einen Menschen zu schießen ist etwas anderes, als auf einen Ghoul zu schießen. Wenn man auf einen lebenden und vor allem sich bewegenden Menschen schießt, dann sind Kopfschüsse eine schwierige Sache, selbst aus allernächster Distanz. Jack hätte mir das sicher bestätigt. Selbst wenn man trifft, schießt man in
den knochigsten Teil der menschlichen Anatomie, den Teil, der eine Kugel noch am ehesten ablenken kann. Möglicherweise streift man nur die Kopfhaut der Zielperson, womit man sie wütend macht. Möglicherweise trifft man ihren Kiefer, was zu einer hässlichen Verletzung führt, aber durch den Schock des Treffers werden die meisten Leute sie nicht einmal spüren. Ein Schuss in die Brust durchbohrt auf jeden Fall mindestens die Lunge. Wenn es darum geht, jemanden aufzuhalten, sollte man immer auf den Torso zielen. Ich hatte nie eine Ausbildung im Messerkampf erhalten. Ich kannte keine besonderen Tricks. Ich wusste nicht einmal, wie man einen Menschen mit dem Messer effektiv tötet. Ich sprang einfach drauf los, stach mit dem Messer zu und hoffte das Beste. Er verfehlte mich. Es ist möglich, dass er mich gar nicht erschießen wollte, dass er mich nur abschrecken wollte. Aber hier ist von Jack die Rede, also können wir diese Möglichkeit wohl sicher ausschließen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er mich nicht gut sah. Das alles geschah im Licht von vier Leuchtstäben. Ich war ein Schatten, der in einem Raum voller Schatten auf ihn zukam. Er verfehlte. Ich nicht. An uns beiden war Blut - so viel Blut -, dass ich zuerst überhaupt nicht begriff, was geschehen war. Das geschah erst später, als ich Gelegenheit hatte, mich zu untersuchen, und keine rauchenden Löcher fand. Ich hatte ihn aufgeschlitzt, mehrere Arterien zertrennt. Sein Blut strömte nicht, es spritzte förmlich aus seinem Bauch. Mein Stich war so wild gewesen, dass das Messer in ihm stecken blieb. Ich ließ es einfach dort. Es war, als würde man mit einem Steakmesser in ein genau richtig gebratenes Porterhouse stechen. Oder als würde man einen Fisch filettieren. Später sollte ich noch lange darüber nachdenken. In diesem Moment lag ich einfach nur auf ihm und rang nach Luft, bekam nicht mit, was um mich herum geschah ich wusste nur, dass ich noch am Leben war und ziemlich sicher, dass das nicht so bleiben würde. Den Schuss hatte man in der ganzen Festung hören können. Ein untrügliches, verräterisches Zeichen. Als die Tür aufflog, hörte ich nichts, obwohl sie ganz schön fest gegen die Wand geprallt sein musste. Als tote Hände mich ergriffen, nahm ich sie kaum wahr. Ich war mir viel mehr bewusst, dass ich ihnen immer wieder entglitt, weil ich so schwer war. Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche unverrückbare Felsen. Ich fühlte mich, als könnte mich keine Macht im Universum bewegen. Am Ende packten mich die Toten einfach bei den Knöcheln und zogen mich aus dem Pumpenhaus. Jack zerrten sie auf die gleiche Weise heraus. Er lebte noch. Gewissermaßen. Seine Augen waren geöffnet und glitzerten hell. Er sah mich ohne jede Gefühlsregung an, während wir einen langen Gang entlang geschleift wurden. Mein Körper brannte durch die Reibung, wo er mit dem Boden in Berührung kam. Die Zeit verlief wieder in normalen Bahnen, und ich versuchte mich zu wehren. Ich langte nach vorn, griff nach den verfaulenden Fingern, die sich in meine Knöchel gruben. Die Toten ließen mich los, und ich rollte in eine sitzende Position, bevor sie mich zu Tode treten konnten. Und glaube mir, sie haben es versucht. Irgendwie schaffte ich es, auf die Beine zu kommen. Dann stemmten sich fünf von ihnen einfach gegen mich, ihre Schultern trafen meine Brust und meinen Rücken.
162 Sie stießen mich einfach mit dem Gewicht ihrer verwesenden Körper gegen die Wand. Der Geruch war entsetzlich, vor allem in der Kombination mit dem öligen Gestank von Jacks Blut überall auf meinem Hemd. Sie fesselten mir nicht die Hände - dazu fehlte ihnen die Koordination. Stattdessen stießen sie mich einfach mit Händen und Füßen vorwärts, wie ein Kind, das eine Dose über die Straße kickt. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, um sie anzugreifen, drängten sie mich einfach wieder gegen die Wand, bis ich es aufgab. Sie hatten alle Zeit der Welt. Sie würden nicht ermüden. Schließlich ließ ich mich einfach von ihnen in die gewünschte Richtung treiben. Der Korridor führte in einen größeren Raum, dort stießen sie mich auf Hände und Knie. Ich schaute auf. Sechs Tote standen ringsum an den Wänden. Der runde, hohe Raum war nicht so groß, wie er zunächst aussah. Die Tatsache, dass man den größten Teil des Bodens ausgehoben und in eine Art gewaltiges Becken verwandelt hatte, machte ihn kleiner. Das Becken war wie eine Badewanne. Eine stinkende Flüssigkeit füllte es. Ich erkannte den stechenden Geruch von Formalin - es ist eine Vorläuferverbindung, eine Zutat für eine Reihe chemischer Waffen. In der Ausbildung hatte ich gelernt, den Geruch zu erkennen. Auf der Oberfläche trieb etwas von der Größe eines großen Kohlkopfes, aber ich konnte es nicht gut erkennen - durch die offene Decke strömte Tageslicht, und nach der langen Zeit in dem Tunnel und dem Pumpenhaus blendete mich das natürliche Licht. Eine Mumie - eine echte ägyptische Mumie mit dreckigen Binden, die von ihren Gliedmaßen baumelten - packte Jack an einem Fuß und schloss Polizeihandschellen um seinen Knöchel. Ich merkte mir das - Mumien waren sehr stark. Nicht, 3i162
dass ich erwartete, lange genug zu leben, um diese Information verwerten zu können. Der andere Ring der Handschelle wurde über einen Haken an einer Kette gelegt, die im Licht verschwand. Die Kette wurde ein paar Meter hochgezogen, und Jack baumelte wie eine Schweinshälfte an einem Fleischerhaken. Er bewegte sich nicht. Ein dicker Blutstrom floss seinen linken Arm herunter und tropfte zu Boden. Ich konnte ihn nicht ansehen. Wenn er noch lebte, musste er große Schmerzen haben. Wenn er tot war, würde er es nicht mehr lange sein. Ich richtete den Blick wieder auf das kohlkopfgroße Ding im Becken. Zwei sehr blutunterlaufene Augen öffneten sich. Es lächelte mich an. Es war Garys Kopf. »Hi«, sagte er. Ich schaute nach rechts und nach links. Die Toten waren von mir zurückgetreten als würden sie ihrem Herrn eine Mahlzeit präsentieren. Ich stürzte nach vorn, die Hände wie Klauen verkrümmt, in der festen Absicht, ihm die Augen auszukratzen oder so. Ihn zu verletzen, egal wie. Ich hatte mich weit von dem friedliebenden Beamten fortentwickelt, den er auf dem Union Square kennengelernt hatte. Er würde herausfinden, wie weit. Gary stand in seiner Badewanne auf und machte dabei ein Geräusch wie am Strand brechende Wellen; er streckte eine Hand aus und schlug mich zu Boden. Funken tanzten vor meinen Augen, ich bekam keine Luft mehr. Ich schaute auf und sah die Hand, die mich niedergeschlagen hatte. Sie glich jenen übergroßen Schaumgummihänden, die man bei Sportveranstaltungen bekam. Sie war riesig, die
Finger so dick wie Baumschösslinge. Gary war nackt, sein Körper eine wogende Masse aus Fett und toten Adern. Gelatine mit Leichengeschmack, in klumpige Wurstpellen abgefüllt, die jeden Augenblick zu platzen drohten. Er war zwei Meter dreißig groß. Er war ein Meter achtzig 3*9
breit. Er wog sicher tausend Pfund. Sein Kopf war nicht mitgewachsen. Er sah winzig aus, eine Warze auf den Schultern. Der Hals verschwand unter Fettrollen. Er schaute an sich herunter. »Zu viele Snacks zwischen den Mahlzeiten«, erklärte er. 163
i6. Der berüchtigte Jack hing an der Empore, sein regloser Körper baumelte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Das Blut, das aus seinen Arterien gespritzt war, tröpfelte kaum noch. Vor seinem geistigen Auge konnte Gary die goldene Lebensenergie sehen, die einst wild und unabhängig gewesen war und sich nun in Rauchschwaden auflöste, während der Körper kaum noch wärmer als die Luft um ihn herum war. Ein Tropfen Blut fiel von der linken Hand und traf mit einem leisen, satten Platschen auf die Steinplatten. »Also... habe ich gewonnen«, sagte Gary, ohne eigentlich zu wissen, was die Bemerkung nun genau ausdrücken sollte. Er schwappte zurück in die willkommene Umarmung seines Bades. Sein Gewicht war in letzter Zeit zum Problem geworden seine Knochen protestierten, wenn er aufstand und sie zwang, das ganze zusätzliche Fett zu tragen. Es fühlte sich bedeutend angenehmer an, sich in das Formalin zu legen und sich von seinem natürlichen Auftrieb tragen zu lassen. »Es ist vorbei.« Vor fünfzehn Minuten hatte die letzte Raketengranate den Broch getroffen. Ayaan musste die Munition ausgegangen sein. Dekalb und Jack waren ausgeschaltet. Die Gefangenen waren laut Nasenlos verängstigt, aber ruhig. In ganz New York City gab es niemanden mehr, der ihm seinen Platz streitig machen konnte. »Ich habe gewonnen«, sagte er erneut. Er wollte das hören. Und er wollte, dass auch Dekalb es glaubte. Ein weiterer Blutstropfen fiel. Platsch. Dekalbs Kiefer zitterte, als er den Mund öffnete. Er musste 32! die Worte förmlich herauszwingen. »Sieht wohl so aus. Dann bring es zu Ende. Friss mich und erlöse mich von meinem Elend.« Gary grinste und legte die Hände auf den angeschwollenen Bauch. »Nein.« »...nein?« »Nein.« Gary deutete mit dem Kopf auf Jack. Der Army Ranger war so weiß wie ein Laken. Platsch. Platsch. »Er stirbt gleich. Danach wird er zurückkommen - als einer von meinen Leuten. Dann werde ich dafür sorgen, dass er dich frisst.« Gary lächelte fröhlich. »Das wird toll.« Platsch. Dekalbs Bauch zuckte, die Muskeln unter dem blutverschmierten Hemd zitterten, während sich sein Brustkorb ängstlich hob und senkte. Er muss Probleme haben, den Arsch zuzukneifen, dachte Gary. Vielleicht scheißt er sich ja voll. Das wäre amüsant. Das
war der Mann, der keinen Ton von sich gegeben hatte, als Ayaan ihn in den Kopf geschossen hatte. Er würde lange leiden. Dekalb strich mit den Händen über den Leib, versuchte das Zittern wegzudrücken. Vielleicht wollte er sich auch nur den Schweiß von den Handflächen wischen. Er fuhr über seine Hosentaschen und schien dort etwas zu finden. Seine Brieftasche? Den Haustürschlüssel? Etwas Sicheres, Tröstliches. Eine falsche Hoffnung. Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, der Ausdruck war verletzt, verloren und machtlos. »Du... du musst das nicht tun. Du musstest nichts davon tun. Gary, es gibt immer noch eine Chance. Du kannst das ändern. Den Tag retten.« »Wirklich?«, sagte Gary höhnisch. »Ja.« Dekalb setzte sich im Schneidersitz an den Rand von Garys Wanne und rieb sich das Gesicht. »Du könntest... du kontrollierst die Toten. Du könntest sie alle in den Ozean 164 marschieren lassen, wenn du willst. Du könntest uns retten. Du könntest die menschliche Rasse retten.« Platsch. Gary tauchte den Kopf einen Augenblick lang in die Konservierungsflüssigkeit. Fühlte, wie sie Mund, Nase und das Labyrinth seiner Nasennebenhöhlen füllte. Er schob sich wieder in die Höhe und ließ die Flüssigkeit aus sich heraustropfen, bevor er fortfuhr. »Die menschliche Rasse. Du meinst die Lebenden - die Leute, die mich hassen. Die es nicht ertragen, mich anzusehen. Warum eigentlich, Dekalb? Warum widere ich euch so sehr an? Gib mir wenigstens darauf eine ehrliche Antwort.« Immerhin dachte der Feind nach, bevor er antwortete. »Weil du wie wir bist. Du kannst sprechen, du kannst denken - die ruhelosen Toten da draußen, deine Armee, die sehen wir an und denken, dass es bloß Monster sind. Sie wissen nicht, was sie tun. Aber du hast dich zu dem hier entschieden.« »Ich habe mich dazu entschieden«, wiederholte Gary. So hatte er das noch nie gesehen - er hatte sich immer als Opfer der Umstände betrachtet. Herumgestoßen von den Ereignissen, bis er sie am Ende beherrschte. »Du bist menschlich - du könntest menschlich sein. Und du frisst andere Menschen. Das ist nicht kompliziert. Es ist das älteste Tabu, das es gibt. Du bist ein Kannibale.« Bei dem Gedanken verkrampfte sich Garys Magen. Ein Dutzend Rechtfertigungen kamen ihm in den Sinn, aber er verwarf sie sofort - sie trafen nicht zu. Dekalb hatte recht. Er hatte sich entschieden, der zu sein, der er war. Es veränderte nichts. Wut schob sich aus seinem Inneren nach oben und in seinen Mund. Am liebsten hätte er ausgespuckt. »Du kapierst es noch immer nicht, Dekalb. Ich bin hier nicht der Schurke. Ich bin kein verfluchtes Monster. Beinahe 164
seit dem Tag meiner Wiedergeburt wollten mich Leute töten -Ayaan und ihre Pfadfinderinnen aus der Hölle. Marisol. Und wegen Marisol Jack hier. Du bist heute hergekommen, um mich zu töten. Da waren noch andere, von denen du nicht einmal etwas weißt - ein Typ, den ich für meinen Freund hielt, oder zumindest für meinen Lehrer. Er hat versucht, mich zu töten, jawohl. Aber warum? Weil ich
unrein, unnatürlich bin? Weil ich das Böse bin? Ich bin nichts dergleichen. Ich bin bloß hungrig«, brüllte Gary. »Ich habe ein Recht auf meine Existenz, das Recht, so lange am Leben zu bleiben, wie ich kann, und das bedeutet, dass ich essen muss. Das bedeutet, dass ich das Recht habe, etwas zu essen« Platsch. »Du kannst über mich urteilen, so lange du willst, aber hier stehen wir. Ich habe gewonnen. Ich werde ewig leben - und du wirst sterben.« Platsch. Jacks Körper fing wild an zu zucken, die Muskeln protestierten ein letztes Mal. Er zappelte an seiner Kette, seine Schulter krachte gegen die Mauer und er drehte sich. Sein Mund öffnete sich, und ein Schrei puren Entsetzens kam heraus, ein feuchter, urtümlicher, tierhafter Laut, der in ein Röcheln überging. Zu einem Teil die Symphonie der Verdammten, zum anderen der Schrei eines Neugeborenen. Erbrochenes floss aus Nase und Mund. Seine Brust hob sich ein letztes Mal, und dann hörte er einfach auf. Seine Systeme schalteten ab. Er starb. »Du hast etwa eine Minute, bevor er sich reanimiert«, sagte Gary. Sie beide starrten die brandneue Leiche an. »Irgendwelche letzten Wünsche?« Dekalb lachte, ein bitterer, explosionsartiger Laut. Er griff in die Tasche und holte etwas heraus. Gary rührte sich, entspannte sich aber, als er sah, was Dekalb dort gefunden 165 hatte - eine handgerollte Zigarette und ein Streichholzbriefchen. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.« Gary kicherte. »Wenn ich jetzt damit anfangen will, sollte ich mich lieber beeilen.« Er schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und klappte das Streichholzbriefchen auf. »Osman - du kennst ihn nicht - hat mir das gegeben, bevor ich Governors Island verließ. Er meinte, es würde mir helfen, mich zu entspannen. Vielleicht ist es damit weniger qualvoll, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Aber das würde dir den Spaß versauen, nicht wahr?« Gary hob einen tropfenden Arm und winkte ab. »So ein Arschloch bin ich nun auch wieder nicht. Mach schon. Ein letzter Gnadenakt.« »Danke.« Dekalb riss ein Pappstreichholz los und drückte den Zündkopf auf die Reibefläche. »Übrigens, jemand sollte sich noch bei dir entschuldigen.« »Ach ja?« Dekalb nickte, der absurde Joint wackelte zwischen seinen Lippen. »Ja. Deine Professoren von der Uni. Sie vergaßen dir zu sagen, dass Formalin leicht entflammbar ist.« Das Streichholz ratschte und entzündete sich mit einem leisen Zischen. Dekalb schleuderte es in einem großen Bogen, der direkt in Garys Badewanne endete. 165
J7
Die brennbare Flüssigkeit entzündete sich schlagartig mit einem lauten Krachen, als die ganze Luft des Raumes in den Feuersturm gesogen wurde. Ein Feuerball von unglaublicher Helligkeit und Hitze schoss nach oben durch die offene Decke, während alles andere im Raum sofort Feuer fangen wollte. Ich riss die Arme hoch in dem Versuch, mein Gesicht zu schützen, während das Feuer mir entgegen brüllte
und ich versuchte, die Luft anzuhalten. Meine Füße verloren den Kontakt mit dem Boden und alles wirbelte umher. Die Härchen auf meinen Armen krümmten sich und verbrannten. Ich senkte die Arme wieder und stellte fest, dass ich auf dem Rücken lag. Mühsam setzte ich mich auf, bis ich Gary wieder sehen konnte. Er hatte sich in eine lodernde Feuersäule verwandelt. Sein gewaltiger, überfressener Körper zuckte krampfhaft, während das brennende Fett aus seiner aufgerissenen Haut rann und wie Kerzenwachs an seinen Glieder hinuntertropfte. Während ich hinstarrte - und glaube mir, ich starrte hin, der schreckliche Anblick vor mir hatte eine brutale hypnotische Qualität - kämpfte er darum, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen. Die Schmerzen... Ich kann die Schmerzen nicht beschreiben, die er verspürte. Niemand könnte das, kein Lebender. Lebende Menschen verbrennen nicht bewusst, nicht auf die Weise, auf die Gary es tat. Selbst wenn wir auf dem Scheiterhaufen verbrennen, bleibt uns das Schlimmste erspart. Wir inhalieren etwas Rauch und verlieren das Bewusstsein, während wir ersticken. 166 Die Toten atmen nicht. Sie fallen auch nicht in Ohnmacht. Gary starb auf die schmerzhafteste Weise, die man sich vorstellen konnte, aber die Gnade der Bewusstlosigkeit blieb ihm verwehrt. Ich konnte sehen, wie er die Kontrolle über seinen rebellierenden Körper zurückgewinnen wollte, trotz der Schmerzen kämpfen wollte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Arme senkten sich. Er wollte etwas packen. Irgend etwas. Mich. Ich konnte gerade noch eben aus dem Weg rollen, bevor ein massiver, brennender Arm auf die Steinplatten donnerte. Ich spürte den heißen Wind, der von Gary ausging; ich spürte die supererhitzte Luft, die sein Schlag aufwühlte. Ich versuchte auf die Beine zu kommen, meine Arme spannten sich an, um mich vom Boden abzustoßen. Wenn ich nicht in der nächsten Sekunde in den Stand kam, war ich verloren. Gary schwang herum, die Arme wie Keulen ausgestreckt; die von ihnen ausgehende Helligkeit blendete mich, als ich unter seinem Griff abtauchte und mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Er zog einen Arm zurück und versuchte mich mit seiner enormen brennenden Faust zu schlagen, aber ich schaffte es auszuweichen. Der Hieb traf die Wand und zerschmetterte Ziegel. Für den Moment war ich sicher. Gary war blind - das Feuer hatte seine Augäpfel in gekochte Geleekugeln verwandelt. Er ertastete seinen Weg und versuchte mich in seiner Dunkelheit zu finden. Ich hatte nicht vor, ihm die Chance zu geben. Ich drehte mich um und schlüpfte in einen Korridor, der aus dem Wannenraum führte - und stand einem Toten in einem versengten Baumwolloverall gegenüber. Ich hatte Garys persönliche Leibwache vergessen. Er schien gar nicht erfreut zu sein über das, was ich mit seinem Herrn angestellt hatte. Seine kaputten Hände griffen nach meinem Hemd, und sein Mund öffnete sich, seine Zähne kamen auf meine Schultern 166 zu. Ich bäumte mich nach hinten auf, versuchte seinen Griff aufzubrechen, aber es war sinnlos - er hatte seinen Zeigefinger in einer meiner Gürtelschlaufen verhakt. Die beste Strategie wäre gewesen, ihn in Garys Badewanne zu stoßen und ihn dabei
hoffentlich in Brand zu setzen. Aber hätte ich das getan, wäre ich mit ihm hineingezogen worden. Der Tote riss den Mund weit auf und bereitete sich auf den Biss vor, als etwas wirklich Erstaunliches passierte. Was auch immer für einen belebenden Funken oder Lebenskraft ich in Overalls Augen erkennen konnte (viel war es nicht), strömte aus ihm heraus. Seine Augen rollten zurück, und seine Knie knickten ein. Leblos und zum zweiten Mal tot rutschte er neben mir zu Boden und riss mich beinahe von den Füßen. Eine Untote mit Kornstängeln im Haar wollte seinen Platz einnehmen, aber sie fiel tot um, bevor sie mich überhaupt berühren konnte. Das war gut so, denn ich war noch immer damit beschäftigt, Overall von meiner Gürtelschlaufe zu lösen. Ich kam frei und lief - lief so schnell ich konnte, ohne auch nur eine Ahnung, wohin. Ich kam zu einer Treppe und versuchte mich zu erinnern, ob mich die Toten auf dem Weg hierher nach unten oder nach oben gezerrt hatten. Ich war noch immer unentschlossen, doch ich wollte unbedingt aus der dunklen Festung heraus, da hörte ich Schritte, die sich von oben näherten. Zwei verschiedene Arten von Schritten. Die einen waren langsam, bedacht, rhythmisch, die anderen unregelmäßig und chaotisch, als versuchte jemand, dem die Koordination fehlte, mitzuhalten. Solche Schritte hatte ich schon einmal zuvor gehört, in dem Krankenhaus im Meatpacking District. Das hatte nicht gut geendet. Es gab kein Versteck, und ich hatte keine Waffe. Hätten die Kreaturen, die die Treppe herunterkamen, meinen Tod gewollt, wäre ich gestorben, keine Frage. Zu meinem Glück wollten sie es nicht. 167 Eine Mumie mit einem blauen Keramikanhänger um den Hals erschien im Zwielicht. Eine Frauenmumie - unter den wirren Leinenbinden konnte ich undeutlich Rundungen wie Brüste und Hüften erkennen - führte einen der Toten hinter sich her, einen Mann ohne Nase. In der Mitte seines Gesichts war nur ein klaffendes rotes Loch. Drei Schritte über mir blieben sie zugleich stehen, auf eine Weise, die ahnen ließ, dass sie miteinander kommunizierten. Sie legte die Hände an die Seiten seines Kopfes, drückte fest zu und legte ihre Stirn gegen die seine. Der Tote gab ein seltsames trockenes und saugendes Geräusch von sich, das krächzend und schmerzhaft klang und das offenbar dabei entstand, als er Luft durch seine Wunde einsog. Als er sprach, war mir irgendwie klar, dass das nicht seine Stimme war, die ich da hörte, sondern dass da jemand durch ihn sprach. »Er ist nicht mehr so richtig bei Verstand, unser Gary. Er kann seinen Teil nicht mehr erfüllen, wenn du verstehst, was ich meine. Hier wird es bald nur so von Toten wimmeln. Ich nehme an, du willst dann nicht mehr hier sein.« Ich befeuchtete die Lippen. »Nun, ja«, sagte ich. »Dann komm mit mir, mein Junge. Es gibt viel zu tun«, sagte er. Die Mumie trat an mir vorbei und zerrte ihren gezähmten Toten hinter sich her. Als er nicht mithalten konnte, hob sie ihn hoch und trug ihn; seine toten Gliedmaßen baumelten, sein Mund hing schlaff und zahnlos offen. Sie bewegte sich schnell, viel schneller als die anderen Toten, und in einigen der schmaleren Gänge war es schwierig, ihr zu folgen. Als ich Garys Wannenraum verlassen hatte, musste
ich in genau die falsche Richtung gerannt sein. Ohne meine ägyptische Führerin hätte ich nie den Weg nach draußen gefunden. Schließlich traten wir in helles Tageslicht. Erst als ich frische Luft in meine Lungen pumpte, wurde mir klar, wie viel 168
Ruß ich eingeatmet hatte. Garys Festung brannte - die Rauchsäule, die aus dem Turm quoll, war voller Funken. Das war mir egal. Es musste niemand mehr hinein. Nicht egal hingegen war die Tatsache, dass die Mumie mich zu einem Rasen gebracht hatte, der von anheimelnden Backsteinhäusern umgeben war. Garys Ställe, wo die Gefangenen lebten. Ich rief Marisols Namen, bis ich hustete, meine angesengte Luftröhre protestierte lebhaft gegen jedes weitere Wort. In den Häusern öffneten sich Türen und Fenster, ängstliche Gesichter schauten mich an. Während ich da stand und mich fragte, was ich sagen sollte, rannte Marisol mit einer angeschlagenen Teetasse auf mich zu. Sie war voll Wasser, das ich dankbar trank. Marisol warf der Mumie einen schnellen Blick zu und überwand jede Überraschung über die Ägypterin. Während der Zeit ihrer Gefangenschaft hatte sie vermutlich eine Menge Tote gesehen. »Wo ist Jack?«, fragte sie. Jack. Klar, Jack, der, so weit ich wusste, in diesem Moment mit dem Kopf nach unten an einem Fuß in Garys Wannenraum baumelte. Tot. Hungrig. Unfähig, sich zu befreien. »Er hat es nicht geschafft«, sagte ich. Es gab keinen Grund, die Details zu erwähnen. Sie gab mir eine kräftige Ohrfeige. »Okay.« Ich ließ mich schwer auf das spärliche Gras sacken. »Das war dafür, dass du ihn hast sterben lassen. Also. Was ist hier los? Ist Gary tot? Bitte sag mir, dass Gary tot ist.« Ich nickte. Warum sollte ich ihr sagen, dass ich mir nicht sicher war? Ich wollte nicht noch eine Ohrfeige kassieren. »Ja, er ist verbrannt.« »Gut. Wie sieht der Plan aus?« Ich dachte eine Weile nach, bevor ich antwortete. Es hatte 33°
einen Plan gegeben - und dann war der Plan ins Wasser gefallen. Obwohl er jetzt vielleicht doch noch funktionieren würde. »Wir haben einen Hubschrauber. Das Feuer sollte als Signal für unseren Piloten reichen. Er müsste in etwa zehn Minuten hier sein. Dann schaffen wir euch hier raus. Aber es gibt ein Problem.« »Ein Problem? Es gibt nur ein Problem?«, fragte Marisol. »So einen tollen Tag habe ich ja noch nie erlebt!« »Beruhige dich, ja?« Ich stand auf und gab ihr die Teetasse zurück, da ich mich erholt hatte. »In dem Hubschrauber ist nicht genug Platz, damit wir alle auf einmal fliegen können. Aber sieh mal - wir haben immer noch diese Mauer als Schutz.« Ich zeigte auf die viereinhalb Meter hohe Mauer, die die ganze Anlage umgab. Sie verschmolz mit der Festung und war offensichtlich dazu gedacht, einen Angriff der Untoten abzuwehren. »Zuerst fliegen wir Frauen und Kinder raus, dann kommen wir zurück und holen die Männer.«
Marisol biss sich so fest auf die Lippe, dass ich Blut sehen konnte. Dann nickte sie und ergriff mein Ohr. Sie zog kräftig daran, und ich konnte nicht anders als ihr zu folgen, wobei ich die ganze Zeit protestierte. Sie führte mich an einem der Häuser vorbei, bevor sie mich losließ. Ich starrte sie bloß wütend an - schließlich hatte ich gerade alles riskiert, um sie vor Gary zu retten. Dann schaute ich nach oben und begriff, was sie mir vermitteln wollte. In der Mauer klaffte eine fünf Meter breite Lücke - eine Stelle, an der Garys Bauarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen waren. Überall lagen ordentlich aufgeschichtete Ziegelhaufen, aber es gab keine Arbeiter, um den Bau zu vollenden. Auf der anderen Seite dieser Mauer warteten grob geschätzt eine Million Tote. Eine Million Tote, die seit Tagen nicht gefressen hatten. 169
i8. Die Toten rennen nicht. Sie humpeln. Sie hinken. Einige kriechen. Die Schnelleren trampeln die mit gebrochenen oder fehlenden Beinen nieder. Die Stärkeren stoßen die Schwächeren zur Seite. Sie machen keinen Lärm beim Gehen, verursachen nicht den geringsten Laut. Sie kamen wie eine Welle auf uns zu, eine Welle aus Gliedmaßen und verzerrten Gesichtern, mit weit aufgerissenen, milchigen und ins Leere starrenden Augen; Hände und Finger griffen nach uns wie der Schaum auf einer Woge, Finger, Klauen, Nägel. Die Einzelheiten waren schwer zu erkennen, ein Toter war kaum vom anderen zu unterscheiden. Ihre Münder waren geöffnet, bei jedem einzelnen. Sie waren zu menschlich und leidenschaftslos, als dass man sie als Herde in Panik geratener Tiere betrachtet hätte, und zu animalisch und unersättlich, als dass man sie als Menschenmenge betrachtet hätte. Sie alle wollten nur eines: uns. Wenn ein Mob auf einen zukommt, hat man keine Gefühle außer Furcht. Da war eine Frau in einem verdreckten, mit Blut befleckten und sogar angesengten Kleid, die schneller war als die anderen. Sie schritt ihnen selbstbewusst voran, und als sie näher kam, sahen wir, dass ihr Gesicht und ihr Hals keine Haut mehr aufwiesen; da waren nur noch die zitternden elastischen Bänder ihrer Gesichtsmuskeln, die sich in ihren bösartig aussehenden, entblößten Zähnen verfingen. Ihre Augen waren dunkle Gruben über einer dicken Masse aus geronnenem 169 Blut, die wie kalte Spaghettisoße aussah. Ihre Hände griffen nach uns, die Finger verkrampften sich unablässig, ihr Haar strömte in langen, verfilzten Strähnen an ihr herab. Marisol hob einen zerbrochenen Ziegelstein auf. Sie drückte ihn ein paar Mal, dann stieß sie einen leisen Schrei aus und schleuderte ihn so fest sie konnte in das Gesicht der Toten. Er traf sie genau auf der Stirn, in den entblößten Schädel. Die Tote brach zusammen, ihr Kopf glich zerbrochener Töpferware. Es zerbrach etwas die Lähmung der Furcht. Es reichte. Marisol und ich fingen an, Ziegel zu packen und sie in die Erde zu drücken, wir versuchten, das Loch in den paar Minuten zu schließen, bevor die Toten eintrafen. Natürlich war das eine sinnlose Beschäftigung, aber es war besser, als in Panik zu
geraten. »Marisol... hol den... Rest... zur Hilfe«, keuchte ich zwischen zwei Steinen. Sie nickte mir zu und drehte sich um, um zu den Häusern hinter uns zu laufen. Aber sie kam nicht weiter als ein paar Schritte. Als ich den Grund erkannte, ließ ich den Ziegel fallen, den ich in der Hand hielt. Die Mumie war da - die Mumie, die mich aus der Festung geführt hatte. Sie hielt den Toten ohne Nase auf dem Schoß wie eine Mutter ihr krankes Kind. »Was willst du?«, rief ich. »Wer bist du?« Die Stimme, die antwortete, gurgelte aus der Kehle des Toten, ein emotionsloses Grollen, das weder zu ihm noch zu der Mumie passte, die ihn hielt. Sie gehörte natürlich Mael, Garys Lehrer, aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Er hielt sich nicht damit auf, sich vorzustellen. »Was ich bin? Nur Einzelteile, nicht genug, um ein Ganzes zu ergeben. Ich werde euch nichts tun. Allein habe ich keine große Macht. Aber ich könnte vielleicht helfen.« Ich starrte in die Augen des Toten. »Hör zu, ich habe keine Zeit für so was.« Ich bedeutete Marisol, die anderen zu holen, 170 um die Lücke zu schließen. Sie ignorierte meine Geste und starrte die Mumie an. »Ich schon. Ich habe alle Zeit der Welt, mein Junge. Mehr Zeit, als mir lieb ist, um ehrlich zu sein. Ich bin auf gewisse Weise bei der netten Dame aus Ägypten, die du hier siehst, untergekommen. Bei ihr und ihren Freunden. Ich kann keinen Finger heben, um euch zu helfen, da ich keine habe. Ich bin im Augenblick völlig körperlos, sodass ich mir den Mund dieses armen Kerls hier ausleihen musste. Soll ich weiter erzählen, mein Junge, oder soll ich mich verpissen und dich deinen Bauarbeiten überlassen?« Ich hatte gesehen, wie stark die Mumien waren. Aber wie viele von ihnen konnte es geben? Garantiert nicht genug, um es mit der Totenhorde vor der Mauer aufzunehmen. Doch sie konnten die wandelnden Leichen möglicherweise eine Weile aufhalten. Vielleicht half das. Und trotzdem. Ich hatte nur so lange überlebt, weil ich wusste, dass man den Toten nicht trauen durfte. »Sicher verlangst du dafür eine Gegenleistung. Hilf uns, und wir reden darüber.« Marisol trat mich gegen das Schienbein. »Er will sagen, er wird alles tun, was du willst.« Sie starrte mich an und formte die Worte »Hey, Arschloch« mit den Lippen. Dann wies sie ruckartig mit dem Kopf in Richtung des toten Mobs, der, bei seiner derzeitigen Geschwindigkeit, vielleicht fünf Minuten von uns entfernt war. Vermutlich hatte sie da nicht ganz unrecht. Der Tote lächelte. »Es ist nichts, was du nicht tun willst. Du sollst einfach nur zu Ende bringen, was du angefangen hast. Ich bin ein doppelter Verlierer, mein Freund. Ich habe mich geopfert, um die Welt zu retten, aber beim Sterben habe ich versagt. Ich wollte das Ende der Welt in die Wege leiten, aber ich war einfach kein guter Toter. Was kommt danach? Was ist 170
wichtiger als das Ende der Welt, das würde ich gern wissen! Für mich muss es da noch etwas geben, denn mir wurde nicht erlaubt, einfach zu sterben. Verstehst du es jetzt? Man hat mich in Fragmente dessen zerschlagen, was ich war. Ich kann
nicht ruhen, bis sie wieder vereint wurden. Und ich glaube, du weißt, wer den besten Teil von mir übernommen hat.« »Nein. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du überhaupt sprichst«, gestand ich. Der Tote verdrehte die Augen. Eines blieb dabei hängen und zeigte nur noch das Weiße. »Gary meine ich, du Schwachkopf! Erledige ihn! Ich werde nicht schlafen können, bevor er endgültig tot ist! Er hat mich gefressen - hat in meinen Kopf gebissen wie in eine Melone, und jetzt hat er die Hälfte meiner Seele im Bauch. Befreie mich, und ich rette alle deine Freunde!« »Gary lebt noch?«, fragte ich. »Du hast gesagt, er sei tot«, fauchte Marisol. Nun, das hatte ich gesagt. Eigentlich hatte ich es auch geglaubt. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte ihn angezündet. Ihn lebendig oder untot oder wie auch immer verbrannt. Andererseits war ich auch Zeuge gewesen, wie man ihm eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, und davon hatte er sich erholt. Ich warf einen Blick auf Garys Festung. Sie qualmte noch immer, aber ich entdeckte oben keinen Funkenflug mehr. Ich war unbewaffnet und erschöpft. Aber wenn ich es nicht tat, würde er einfach zurückkommen. Immer wieder, in alle Ewigkeit, bis jeder, den ich kannte oder der mir etwas bedeutete oder den ich liebte, tot war. Mich eingeschlossen. »Wartet nicht auf mich, wenn ich nicht rechtzeitig zurückkomme«, sagte ich zu Marisol. »Okay.« Sie nickte begeistert. Ich hatte mich gerade in Bewegung gesetzt, als die Mumie 171
den Toten so hart ins Gesicht schlug, dass sein Kopf zerbröckelte. Unwillkürlich schrie ich leise auf, als ich das sah. Aber die Mumie ignorierte mich. Vermutlich war meine Unterhaltung mit einem Geist vorbei. Sie stieg über unseren traurigen Versuch, die Lücke in der Wand zu füllen, und baute sich dort mit verschränkten Armen auf, um auf die Toten zu warten. Weitere Mumien kamen aus der Festung insgesamt vielleicht ein Dutzend. Sie bewegten sich viel schneller, als sich Tote sonst bewegten. Ich machte auf dem Weg zurück nach drinnen einen weiten Bogen um sie. Es war nicht schwer, Garys Wannenraum zu finden. Ich folgte einfach dem Geruch von verbranntem Schinken. Der offene Raum im Mittelpunkt des Turms war voller Rauch, einem öligen, widerlichen, dampfenden Rauch, der in meiner Kleidung hängen blieb. Alles war mit einer dünnen, rußigen Fettschicht überzogen. Menschliche Wesen gehörten nicht an einen solchen Ort, aber ich schon. Ich musste dort sein. Ich trat näher heran und spähte in die Schatten der leeren Badewanne. Die gewaltige Hitze des Feuers hatte die Ziegel zersplittern lassen; ein paar von ihnen waren pulverisiert worden. In der Wannenmitte blubberte noch immer eine Pfütze aus geschmolzenem Fett, von kleinen Flämmchen gekrönt, vor sich hin. Was von Gary übrig war, lehnte am Rand. Seine Beine waren nur noch geschwärzte Knochen, die aus der verkohlten Masse seines Unterleibs herausragten. Sie sahen beinahe so aus wie Storchenbeine. Ein Teil seines Torsos war übrig geblieben und die Arme, keulenähnliche Anhängsel, die die Brust festhielten. Der Kopf qualmte
noch. Er hatte weniger Schaden genommen als der Rest - der eine Teil seines Körpers, der nicht aus entflammbarem Fett bestanden hatte. Seine Augen waren weg, genau wie Ohren und Nase, aber ich spürte, dass er irgendwie noch immer da drin war. 172 »Dekalb.« Er hustete. »Gekommen, um sich an mir zu weiden?« Die Stimme war nur noch ein trockenes Krächzen. »Nicht ganz.« »Komm näher. In meinen letzten paar Minuten bin ich froh um jede Gesellschaft. Komm schon. Ich beiße nicht, jedenfalls nicht mehr.« Jetzt würde ich wohl allein mit ihm fertig werden. Die Stimme - der Geist oder was auch immer er gewesen war -hatte mir gesagt, dass Gary die Untoten nicht länger kontrollieren konnte. Es würden also nur noch wir beide sein. Zumindest glaubte ich das, als ich näher an die Wanne herantrat. Dann hörte ich ein Klirren, als würde man aus großer Höhe eine Kette fallen lassen. In der Tat war es genau das. Jack musste an seiner eigenen Kette hochgeklettert sein - und hatte dann darauf gelauert, dass irgendjemand unter ihm vorbeiging. Er hing auf meinem Rücken, die Beine um meine Taille geschlungen, die Zähne in meinem Nacken. Seine Finger packten mein Gesicht, einer bohrte sich in mein linkes Nasenloch und riss an dem Fleisch. Ich schüttelte mich, versuchte verzweifelt, ihn loszuwerden, während warmes Blut über mein bereits verdrecktes Hemd lief. Ich bäumte mich auf, bekam dabei keine Luft mehr, noch immer betäubt von dem Aufprall. Nein, dachte ich. Nein. Ich war so weit gekommen, so weit gekommen, ohne schwer verletzt zu werden, ohne getötet zu werden... »Blödes Arschloch!«, röchelte Gary, ohne den Kopf zu heben. 172 Ich warf mich nach hinten, schlug Jack gegen die Wand, versuchte seine Wirbelsäule zu zerbrechen, den Griff um mein Gesicht zu sprengen. Es verstärkte bloß seine Entschlossenheit. Im Leben war Jack viel stärker als ich gewesen. Im Tod war er stark und gnadenlos. Er legte einen Unterarm um meinen Hals und zog, versuchte mir das Genick zu brechen. Es gelang ihm, meine Luftröhre abzuklemmen. Ich taumelte wild herum, zog an den Beinen, die er um meine Taille geschlungen hatte. Genauso gut hätte ich versuchen können, Eisenstangen zu verbiegen. Die wenige verbliebene Luft in meinen Lungen verwandelte sich in Kohlenstoffdioxid, aber ich konnte nicht ausatmen. Plötzlich explodierten dunkle Sterne in meinem Sichtfeld, Signalfeuern ähnelnde Lichtfunken, einer für jedes Neuron, das in meinem Kopf starb, während ich erstickte. In diesem Augenblick verlor ich jede Vernunft und geriet einfach nur in Panik. Völlig planlos rannte ich los, nur fort von dem Ding auf meinem Rücken; mein Unterbewusstsein war nicht dazu in der Lage zu begreifen, dass es noch immer an mir klebte. Jacks Griff verstärkte sich bloß, als sich meine Füße gegen den Ziegelboden stemmten. Ich versuchte von ihm fortzukommen wie ein Maultier, das einen Pflug zog. Der Sauerstoffmangel verzerrte mein Hörvermögen - das Geräusch meines pochenden Herzens war viel lauter als das Knacken von Jacks Halswirbeln. Er ließ plötzlich und völlig überraschend los, und ich sackte nach vorn, fing mich mit den Händen ab. Spucke rann aus meinem Mund, während mein
173 ganzer Körper nach Luft schnappte. Es war weniger ein Atmen als vielmehr ein Trinken von Sauerstoff. Ich musste mich anstrengen, mich nicht zu übergeben. Denn dann hätte ich mit Sicherheit etwas von dem Erbrochenen in die Luftröhre bekommen und wäre daran erstickt. Meine Augen schmerzten, Jacks wütender Angriff hatte die winzigen Adern in ihnen platzen lassen. Ich blinzelte wie verrückt, um Tränen zu produzieren, dann drehte ich mich um und setzte mich, berührte vorsichtig meinen Hals, versuchte das Brennen der Haut zu lindern. Ich schaute auf. Und konnte es kaum glauben, als ich sah, was mich gerettet hatte. Jack hing an seiner Kette, deren Glieder seinen Hals fest umschlossen. So fest, dass sie in seinem teigigen Fleisch versanken. Irgendwie hatte er sich in der Kette verheddert, während er im Hinterhalt auf mich gewartet hatte. Vermutlich hatte ihn das nicht einmal gestört - er musste ja nicht atmen -, bis durch den immer stärkeren Druck die Knochen in seinem Hals zersplitterten. Sein Körper baumelte schlaff in den Kettengliedern. Sein Kopf lebte noch. Er starrte mich unentwegt an. Seine Lippen bewegten sich in Erwartung eines weiteren Bissens von meinem Fleisch. Ich schaute weg. Dann begriff ich, dass ich verblutete. Ich schaute auf meine Brust und das Blut, das mein Hemd bedeckte. Zitternd griff ich mit zwei Fingern nach den Umrissen der Wunde. Jack hatte mit seinem Biss fast eine der Hauptarterien erwischt. Er hatte ein ordentliches Stück Fleisch aus meinem Nacken gerissen. Ich konnte zwei Finger in die Wunde stecken. Ich riss ein Stück Stoff aus dem Hemd und drückte es in das klaffende Loch - nur um den Blutfluss zu stoppen. »Oh Mann, das war toll.« Gary lachte, als ich den Verband gegen den Nacken drückte. »Kapierst du es jetzt, Dekalb? Das Rennen ist vorbei, und ihr Lebenden seid als Letzter durchs 173
Ziel! Ihr könnt einfach nicht mithalten. Ihr habt euch nicht einmal qualifiziert.« Ich kam mühsam auf die Beine, eine Hand Halt suchend gegen die Mauer gestützt. Allein vom Aufstehen wurde mir schwindelig. Definitiv ein schlechtes Zeichen. Ich ging zur Wanne und stieg hinein. »Du kannst mich nicht vernichten, Arschloch. Du kannst mich in den Kopf schießen, und du kannst mich verbrennen, aber das ist egal. Ich kann mich reparieren - mich regenerieren!« Garys verstümmelter Kopf schlug gegen die Ziegel, während er sprach. »Ich bin unbesiegbar!« Ich trat gegen seinen Hals, bis sich der Kopf vom Körper löste und über den Boden rollte. Ich war noch nicht fertig. Es dauerte eine Weile, bis ich das Pumpenhaus wiedergefunden hatte, aber es war nötig. Ich brauchte eine Tasche, außerdem musste ich mich vergewissern, dass die VX-Zylinder nicht von allein losgehen konnten. Im verglimmenden Licht der Leuchtstäbe zog ich den Plastiksprengstoff von den Kanistern. Ich baute die Zünder auseinander und zerbrach die Einzelteile, verteilte die Trümmer im ganzen Raum. Die Zylinder vergrub ich unter ein paar herumliegenden Ziegeln. Sonst konnte ich nicht viel tun -man kann Nervengas nicht einfach ins Abwassersystem kippen oder auf die Müllkippe schmeißen, aber
auf diese Weise konnte kein umherwandernder Toter die Chemiewaffen zufällig entfesseln. Es galt sich noch um eine andere Massenvernichtungswaffe zu kümmern. Es gefiel mir zwar nicht, aber ich würde sie mitnehmen müssen. Ich leerte einen der schweren Rucksäcke, die Jack und ich in die Festung gebracht hatten, und stopfte Garys Kopf hinein. Ich glaubte ihm, dass er sich am Ende regenerieren konnte, dass er alles überleben konnte. Ich hätte den Kopf zu einer feinen Masse zerschmettern können, aber selbst 34° das würde möglicherweise nicht reichen - schließlich hatte er eine Kugel im Gehirn überlebt. Wenn ich seinen Kopf behielt, dann konnte ich sichergehen, dass ich ihn wieder töten konnte, falls er zurückkam. So oft, wie es nötig war. Jacks Glock 9mm steckte ich in meine Tasche. Es war nicht viel, aber es war eine Waffe. Und obszönerweise verlieh sie mir ein Gefühl der Sicherheit. Das war etwas, das ich brauchte. Meine Verletzungen gaben mir das Gefühl, ich könnte jeden Augenblick zusammenbrechen. Als ich endlich bereit war, die Festung zu verlassen, ging meine Atmung mühsam, und ich sah nur undeutlich. Als ich ins Tageslicht hinaustaumelte, war ich einen Augenblick lang blind. Was ich dann sah, munterte mich beträchtlich auf. Ein orangeroter und weißer Schemen schwebte in der Luft. Die Farben der Küstenwache - das musste Kreutzer sein. Oh, Gott sei Dank. Er war gekommen. Ehrlich gesagt hätte es mich nicht gewundert, hätte er den Chinook nach Kanada geflogen. Etwas Gelbes hing unter dem Hubschrauber, aber ich konnte nicht klar genug sehen, um es zu erkennen. Als ich den Rasen zwischen den Häusern erreichte, hatte Marisol die Überlebenden bereits in einer Reihe Aufstellung nehmen lassen, um an Bord des Hubschraubers zu gehen. Der Rotorwind des Chinook klärte meinen Blick, und ich sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Es war reiner Unglauben - und Hoffnung. So einen Blick hatte ich noch nie zuvor bei ihr gesehen. Ich rannte zu der Lücke in der Wand und sah Tausende Tote dort draußen, angetrieben von ihrer Lust auf Fleisch. Sie wurden von Mumien aufgehalten. Nur sechs. Die Ägypter hatten sich beieinander eingehakt und standen in der Lücke, mit dem Rücken zu mir. Hunderte toter Männer und Frauen stemmten sich gemeinsam mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, aber sie hielten stand, traten die zurück, die versuchten, 174 zwischen ihren Beinen durchzukriechen. Ich sah, wie die weibliche Mumie - die, mit der ich gesprochen hatte - einem toten Jungen einen Kopfstoß verpasste, der ihn von den Beinen holte. Mitten unter den Toten - überragte sie einer. Buchstäblich. Ein Riese ging auf die Reihe der Mumien zu. Er klatschte die anderen Ghoule wie Fliegen zur Seite. Ob die Mumien diesem Ansturm widerstehen konnten, war fraglich. Genug - ich hatte keine Zeit mehr, mir Sorgen zu machen. Die Reihe würde halten. Sie musste. Ich drehte mich um und konnte den Hubschrauber jetzt deutlich sehen. Er landete. Der gelbe Schemen unter ihm entpuppte sich als Schulbus, der mit drei Stahlkabeln an der Unterseite des Chinook befestigt war. Kreutzer setzte den Bus
sanft auf - nun ja, er schwankte heftig, als ein Reifen nach dem anderen platzte, aber wenigstens kippte er nicht um -, dann setzte er sechs Meter weiter rechts davon auf. Die Kabel schleiften über den Boden. Er ließ die Rampe am Hinterteil des Hubschraubers herunter, und die Lebenden stürmten an Bord. Marisol brüllte sie an, die Reihen ordentlich einzuhalten. »Frauen und Kinder zuerst!«, schrie sie, »und wehe, ihr schubst!« Andere kletterten durch den hinteren Notausgang in den Bus. Die Reihe der Überlebenden, die darauf warteten, einen Sitz zu bekommen, schien kein Ende nehmen zu wollen, aber ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat, stellte ich mich hinten an und rief Marisol zu, ob sie durchgezählt hatte. »Das sind alle«, brüllte sie über den Hubschrauberlärm hinweg. »Jeder einzelne ist da!« (Später fragte ich Kreutzer, woher er gewusst hatte, dass er den Bus besorgen musste, woher er gewusst hatte, dass in dem Hubschrauber nicht genug Platz für alle war. »Ich war im gottverdammten Systems Directorate der USCG, klar?«, brüllte er mich an, als würde das alles erklären. »Die Compu 175 tertechniker. Wir sind gut in Mathe!« Er hatte ausgerechnet, wie viele Leute in einen leeren Chinook passten und entschieden, dass zu wenig Platz war. Ich konnte den Kerl nie richtig ausstehen, aber ich muss zugeben, dass er da einmal richtig gut nachgedacht hatte.) Ich sah zu, wie Marisol hinten in den Hubschrauber kletterte, dann bestieg ich den Bus von vorn. Es war kaum genug Platz für mich auf den Stufen. Ein paar wirklich nette Überlebende boten mir ihren Platz im Gang an, aber ich lehnte ab. Als sich der Bus in die Luft erhob, ächzte die Karosserie besorgniserregend, ihre Aufhängung fiel auseinander und löste sich vom Fahrgestell, als würde der Boden jede Minute nachgeben. Ich wollte dennoch einen Blick nach draußen werfen. Ich wollte einen letzten Blick auf die Stadt werfen, das war alles. Ich beachtete kaum die Horde Toter unter uns, als sie die Mumien zur Seite stießen und in die Festung strömten, als sich zwei Millionen Hände hoben, um uns zu packen, während wir wegflogen. Das wollte ich nicht sehen. Ich wollte die Wassertürme. Ich wollte die Feuertreppen und überwucherten Dachgärten und die Taubenschläge und die Klimaanlagenabdeckungen, die wie Kochmützen aussahen. Ich wollte die Gebäude, ihre große rechteckige Masse, die zahllosen leeren würfelförmigen Räume, in denen sich niemals wieder jemand aufhalten würde, die Straßen, die mit Autos verstopft waren, mit zurückgelassenen Taxen, die überall wie Pilze wucherten. Ich wollte einen langen, bedeutungsvollen Blick auf New York City. Meine Heimatstadt. Ich wusste, dass dies meine letzte Gelegenheit war. Mein Körper brannte bereits vom Fieber, meine Stirn war schweißfeucht, obwohl mir kalte Schauder eiswürfelgeich den Rücken hinunterrannen. Mir war schwindelig, meine Zunge belegt. Ich starb. 175
20. Liebe Sarah:
Ich furchte, ich werde nicht zu Dir zurückkommen. Ich fürchte, ich werde Dich nie wiedersehen. Der Gedanke ist zu groß, um sich im Moment damit auseinander zu setzen. Ich habe vielleicht nicht mehr genug Zeit, um diesen Brief zu vollenden. Gestern umarmte mich Ayaan auf dem Dach des Museums, aber ich konnte ihr Zögern dabei spüren. Sie konnte in meinen Augen lesen, was geschehen würde. Das ist egal, sagte ich ihr. Wir haben es fast geschafft. Das Fieber war zurückgegangen. Es kam und ging in Schüben, und ich fühlte mich ziemlich klar. Es gab neue Symptome, eine Art mulmiges Grollen in meinen Eingeweiden, aber das konnte ich für mich behalten. Ich fragte sie, wie es gewesen war, hier oben auf dem Planetarium, und sie zeigte es mir. In den letzten Minuten der Belagerung, kurz bevor Jack auf mich geschossen und Gary erkannt hatte, dass er hereingelegt worden war, war das Museum von einer Million Leichen mit den bloßen Händen angegriffen worden. Viele, viele von ihnen waren zerquetscht worden, als sie sich gegen die Stahlrahmen des Glasgebäudes stemmten. Ich ersparte mir den Blick über den Rand auf die zertrampelten Ghoule. Die Toten hatten so viel Schaden am Planetarium angerichtet, dass das Dach, auf dem wir standen, nun schräg stand und Kreutzer den Chinook kaum daran hindern konnte, über den Dachrand 176
zu rollen. Wir schafften die Mädchen an Bord und flogen ab, verschwendeten keine Zeit und ließen sogar einige der schweren Waffen und Ausrüstung zurück. In fünf Minuten waren wir in der Luft und flogen auf direktem Weg zu dem Gebäudekomplex der Vereinten Nationen auf der anderen Seite der Stadt. »Gary ist tot.« Uber den Motorenlärm des Chinook hinwegbrüllend berichtete ich Ayaan, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Die meisten der grausigen Einzelheiten ließ ich aus. »Ich weiß immer noch nicht, ob die Mumien mich in Garys Falle führten oder ob sie es ernst meinten. Wie dem auch sei, sie haben uns gerettet. Wir haben die Überlebenden nach Governors Island gebracht - Marisol wird dort etwas aufbauen, etwas Sicheres, Wichtiges.« Ayaan nickte, nicht besonders interessiert an meiner Geschichte, und starrte aus einem der bullaugenähnlichen Fenster. Ich schob die Hand durch eine in das Kabinendach eingelassene Nylonschlaufe, um einen sicheren Stand zu haben, und ging näher an sie heran, damit ich nicht so brüllen musste. »Es tut mir leid.« »Warum?« Ihre Gedanken waren anderswo. »Du konntest keine Märtyrerin werden.« Das entlockte ihr ein fröhliches, schmales Grinsen. »Allah kann man auf vielerlei Weise dienen«, sagte sie. Ich würde gern die Ayaan dieses Augenblicks in Erinnerung behalten. Das Licht aus dem Bullauge strömte über ihre Schultern. Sie saß da, die Hände im Schoß, ein Knie hüpfte aufgeregt. Wenn Ayaan wirklich aufgeregt war, konnte sie nie stillsitzen. Sie hielt das für eine Schwäche, aber mir bedeutete es so viel. Es bedeutete, dass sie ein Mensch war und kein Monster. Wir landeten im Nordpark der UN, ein grüner Flecken direkt an der ist Avenue, der seit dem elften September für die Öffentlichkeit geschlossen war. Die Mädchen nahmen nach Verlassen des Chinook sofort die übliche Kampfformation an, 176
aber anscheinend hatte Gary Wort gehalten, was mich etwas überraschte. Nicht einmal untote Tauben belästigten uns. Ich führte die Mädchen zu dem weißen Sicherheitszelt am Besuchereingang, vorbei an der Friedensskulptur Non-Violence, einer riesigen Pistole mit verknotetem Lauf. Sie begriffen nicht, was sie da sahen. Für sie ist eine Welt ohne Waffen eine Welt, die sich nicht verteidigen kann. Vor der Epidemie habe ich diese Einstellung bekämpft. 0 Gott - es schmerzt. Scheiße! Verdammt! Ein Schmerz in meinem Kopf, und ich... Tut mir leid - da bin ich wieder. Wir brauchten eine Stunde, bis wir Strom hatten - ich bin kein Elektriker. Verschwitzt, voller blauer Flecken und halbblind in dem Zwielicht des Bunkers unter dem Sicherheitszelt brachte ich die Notstromgeneratoren zum Laufen, und der ganze Komplex erwachte zum Leben. An der Fassade des Sekretariatsgebäudes flammten willkürlich Lichter auf, der Springbrunnen an der Vorderseite spuckte grünlichen Matsch drei Meter in die Höhe. Gott sei Dank war noch immer Treibstoff im Tank. Die Vorstellung, in der gleichen Dunkelheit wie im St. Vincents nach den Medikamenten suchen zu müssen, hatte mir zugesetzt. Im Inneren des Generalversammlungsgebäudes blieb ich stehen und musste nach Luft schnappen. Es war seltsam, wieder an einem Ort zu sein, wo ich ein Büro gehabt hatte - dieses Leben war nicht nur durch Zeit und Raum von mir entrückt worden, sondern auch durch eine psychologische Kluft, die mir unermesslich schien. Die schwungvolle Düsenzeitalterarchitektur der Lobby mit ihren terrassenförmigen Balkonen und dem Modell des Sputnik, der an Drähten von der Decke hing - wie sinnlos herzzerreißend das doch jetzt war -, erzählte nicht nur von einer anderen Ära, sondern von einer anderen Art von Menschheit, einer Menschheit, die tatsäch 177
lich geglaubt hatte, dass wir uns alle vertragen konnten, das die Welt eins sein konnte. Natürlich war die UN, die ich kannte, von Korruption und Klassensnobismus untergraben gewesen, aber sie hatte es trotzdem geschafft, Gutes zu tun. Sie hatte ein paar Hungrigen zu essen gegeben und versucht, Völkermord zu verhindern. Hatte den Anstand gehabt, sich schuldig zu fühlen, als sie in Ruanda versagte. Das alles gab es jetzt nicht mehr. Die Zivilisation war zu Ende, die Natur herrschte wieder, mit Lefzen und mit blutgefärbten Krallen. Auf dem Weg ins Sekretariatsgebäude kamen wir an dem Briefmarkenladen vorbei; dort konnten Touristen ihr Bild auf einen Briefmarkenblock aufdrucken lassen und damit ihre Postkarten frankieren. Ich warf ihm kaum einen Blick zu, aber Fathia rief eine Warnung, und plötzlich explodierten Lärm und Licht in der kalten Luft der Lobby. Ich warf mich hinter eine mit Leder gepolsterte Bank. Als ich wieder aufschaute, sah ich, was geschehen war. Die Kamera des Ladens war für Werbezwecke darauf programmiert, von jedem Vorbeigehenden ein Videobild zu projizieren. Als die Mädchen vorbeigegangen waren, hatten sie ihre eigenen Bilder gesehen, die anscheinend auf sie zu kamen. Natürlich hatten sie das Schlimmste angenommen: Ghoule. Als sie fertig waren, bestand der Videomonitor nur noch aus qualmenden Splittern.
Sarah - wirst Du Dich überhaupt noch an das Fernsehen erinnern, wenn du erwachsen bist? Ich hätte Dir erlaubt, mehr amerikanische Sitcoms zu sehen, hätte ich gewusst, dass das nicht zu einer Gewohnheit werden würde. Meine Hand zittert beinahe spastisch, und ich bin mir nicht sicher, ob Du meine Schrift lesen kannst. Aber ich weiß ja sowieso, dass Du das nie zu Gesicht bekommst. Ich schreibe das für mich 178 selbst, nicht für meine Tochter in der Ferne. So zu tun, als wäre das ein Brief, hilft mir, Dich mir vorzustellen, das ist alles. Es gibt mir einen Grund, damit weiterzumachen. Bitte. Lass mich lange genug leben, um diesen Brief zu beenden. Wie dem auch sei. Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. In der fünften Etage des Sekretariatsgebäudes fanden wir die Medikamente, genau da, wo ich sie vermutet hatte. Es gab dort eine vollständig ausgestattete Apotheke sowie einen kleinen Operationssaal und eine Arztpraxis. Die Pillen, die wir brauchten, waren sorgfältig in einem Regal gelagert, eine Reihe Plastikbehälter nach der anderen. Epivir. Ziagen. Retrovir. Es gab so viel davon, dass die Mädchen eine Kette bilden mussten, um es herauszuschaffen. Eine nach der anderen gingen sie zu den Fahrstühlen und verließen das Gebäude. Fathia lud sich die letzten vier Behälter auf und sah Ayaan an, die keinen Finger krumm gemacht hatte. »Kaalayl« »Dhaqso.« »Deg-degl«, flehte Fathia, und dann war auch sie weg. Ayaan und ich waren allein. Ich konnte meinen angestrengten Atem in der engen Apotheke hören. »Ich hoffe, es hört sich nicht zu herablassend an, wenn ich dir sage, wie stolz ich...«Ich verstummte, als sie die Waffe zur Schulter führte. Eines ihrer Augen war weit aufgerissen. Das andere lag hinter Kimme und Korn ihrer AK-47 verborgen. Der Lauf bildete eine Reihe mit meiner Stirn. Ich konnte jeden noch so winzigen Kratzer an der Mündung sehen. Ich sah zu, wie sie hin und herschwankte, als Ayaan den Hebel von GESICHERT auf EINZELFEUER schob. »Bitte, nimm das Ding weg«, sagte ich. Auf gewisse Weise hatte ich das erwartet. 178 »Sei ein Mann, Dekalb. Gib mir den Befehl zu schießen. Du weißt, das ist der einzige Weg.« Ich schüttelte den Kopf. »Hier gibt es Medikamente, Antibiotika. Allein schon sterile Verbände und Jod könnten mir helfen. Du musst mir eine Chance geben.« »Gib mir den Befehl!«, brüllte sie. Ich konnte das nicht zulassen. Ich konnte es nicht ertragen, so zu enden. Wie einer von ihnen. Ihre Waffe sollte Untote ausschalten, nicht ein menschliches Leben nehmen. Moment. Nein, darum ging es nicht. Ich werde ehrlich sein. Ich wollte einfach nicht sterben. Gary hatte Marisol einmal von seinem Beruf als Arzt erzählt, von den Sterbenden, die ihn anbettelten und anflehten, nur noch eine Minute länger leben zu dürfen. Ich verstand diese Menschen auf eine Weise, auf die ich Ayaan und Mael und ihre Bereitschaft, alles für das zu opfern, an was sie glaubten, nicht verstehen konnte. Das Einzige, an was ich in diesem Moment glaubte, während das Gewehr auf mich zielte, war ich selbst.
Meine Generation war so, Sarah. Selbstsüchtig und verängstigt. Wir hatten uns eingeredet, dass die Welt irgendwie sicher war, und daher trafen wir falsche Entscheidungen. Um dich oder deine Generation mache ich mir keine so großen Sorgen. Ihr werdet Krieger sein, stark und wild. Ich hob die Hand und berührte den Lauf mit einem Finger. Sie brüllte mich an, brüllte mich buchstäblich an wie eine Löwin, sammelte den Mut, mich trotzdem zu töten. Ich umfasste den Lauf und drückte ihn von mir fort. Als ich ihr wieder in die Augen blickte, weinte sie. Dann ging sie. Wortlos. Natürlich folgte ich ihr nicht. Ich würde nicht nach Somalia zurückkehren. Ich würde nirgendwo hingehen. Es war zu 179 spät für Antibiotika, zu spät für irgendeine Behandlung. Und dennoch. Ich war nicht bereit, einfach so aufzugeben. Ich setzte mich auf den Boden, rieb mir das Gesicht mit den Händen und dachte darüber nach, was geschehen war und was geschehen würde. Und das eine lange Zeit. Irgendwann wurde mein Bein taub, und ich stellte mich hin, was viele Flüche, viele Stürze und ein paar Tränen erforderte. Ich hoffte, die Taubheit abschütteln zu können. Ich rechnete damit, dass das Kribbeln kam, das man verspürt, wenn die Durchblutung wieder einsetzt. Es kam nicht. Nur um mich zu beschäftigen, suchte ich einen Schreibblock und einen Stift und fing an, das alles hier niederzuschreiben. Ich schrieb alles auf, was geschehen war, seit ich Dich zurückließ, und wie es geschehen war, Sarah. Ich brauchte Stunden dazu. Mein Bein ist noch immer taub. Das Licht flackert gelegentlich, und ich fürchtete, ich müsste meine letzten Stunden in Dunkelheit verbringen. Bis jetzt geht es mir gut, aber... warte... Ich habe gerade Blut erbrochen. Mein Körper versagt den Dienst. Bitte, Herr Doktor. Nur noch eine Stunde. Nur noch eine Minute. Nur noch... Okay, hier bin ich wieder, Sarah. Ich musste für eine Weile das Bewusstsein verlieren. Jetzt bin ich wieder da und fühle mich viel besser, vielleicht ein bisschen schwindelig und vergesslich. Irgendwie hungrig. Aber auf jeden Fall geht es mir so gut, dass ich diesen Brief zu Ende schreiben kann, auch wenn es mich jetzt große Mühe kostet, den Stift zu halten. Vor mir auf dem Tisch liegt Garys Kopf und sieht mir beim Schreiben zu. Er bewegt sich nicht, aber das braucht er auch nicht. Er ist da drin und hasst mich, hasst Ayaan, hasst Mael. Macht jeden für 179°
seinen Sturz verantwortlich außer sich selbst. Er ist genau wie ich, Sarah. Wir beide haben dem Tod ins Antlitz geschaut, dem tröstlichen, angebrachten, zeitgemäßen Tod, und beide sagten wir nein, weil wir Angst hatten. Vermutlich wunderst Du Dich über etwas, oder Du würdest Dich wundern, wenn Du das hier tatsächlich lesen würdest. Du wunderst Dich vermutlich, woher ich weiß, was er denkt. Wie ich diese ganzen Teile aus seinem Blickwinkel schildern kann, Dinge beschreiben kann, die ich selbst weder erlebt noch gesehen habe. Vielleicht glaubst Du ja, ich hätte das alles erfunden. Oder vielleicht weißt Du es ja auch schon längst. Vielleicht weißt Du, dass sich direkt neben der Apotheke eine Notaufnahme befindet. Ein Raum voller Krankenhausbetten und mit der ganzen medizinischen Ausrüstung, die nötig ist,
um jemanden am Leben zu halten, bis man ihn in ein richtiges Krankenhaus verlegen kann. Dort gibt es zum Beispiel Beatmungsgeräte und Dialysemaschinen. Bitte. Gebt mir nur noch eine Minute.