Rainer Karlsch
Stalin, der Bluff und die Bombe Verwirrspiel um den ersten sowjetischen Atomtest
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Rainer Karlsch
Stalin, der Bluff und die Bombe Verwirrspiel um den ersten sowjetischen Atomtest
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OSTEUROPA 57. Jg., 12/2007, S. 117-136
Gescannt von c0y0te. Nicht seitenkonkordant. Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
Rainer Karlsch Stalin, der Bluff und die Bombe Verwirrspiel um den ersten sowjetischen Atomtest
Am 11. Juli 1949 präsentierte Stalin einer chinesischen Delegation unter Leitung von Liu Shaochi in Moskau einen „Atomfilm“. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Sowjetunion noch gar keinen Atomtest durchgeführt. Es gibt Gründe anzunehmen, dass Stalin die Chinesen mit einem in Deutschland erbeuteten Film täuschte, um militärische Stärke zu demonstrieren und die Vormachtstellung der Sowjetunion in der kommunistischen Welt zu unterstreichen. Am Juli 1945 explodierte in der Wüste von New Mexiko ein großes Munitionslager. So zumindest erklärte es die US Army. Tatsächlich handelte es sich jedoch um den ersten Test einer amerikanischen Atombombe („Trinity“). Die amerikanische Regierung unter dem neuen Präsidenten Harry S. Truman hielt den Test geheim, um einen Trumpf für die nur einen Tag später beginnende Potsdamer Konferenz (17. Juli – 2.August 1945) zu verfügen. Dort verhandelten die „Großen Drei“, Truman, Churchill und Stalin, über die Zukunft Europas und die Strategie zur schnellstmöglichen Beendigung des Krieges gegen Japan. Der amerikanische Präsident und der britische Premierminister hofften, mit der Atombombe den Krieg gegen Japan schneller beenden zu können und durch ihren alleinigen Besitz zugleich über ein mächtiges Druckmittel in den Verhandlungen mit der Sowjetunion zu verfügen. Churchill beklagte sich während der achten Verhandlungsrunde in Potsdam am 24. Juli über das sowjetische Vorgehen in Osteuropa und die ―――――――――――― Rainer Karlsch (1957), Dr. oec, Wirtschaftshistoriker und Publizist, Berlin; seit 2005 Forschungsprojekte am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Chemnitz. Von Rainer Karlsch liegt u.a. vor: Hitlers Bombe. München [DVA] 2005. - Uran für Moskau. Die Wismut - eine populäre Geschichte. Berlin [Ch. Links-Verlag ] 2007. 1 Diese Verhandlungsrunde war für Churchill zugleich die letzte. Seine konservative Partei hatte überraschend die Unterhauswahlen verloren. Ab 28. Juli führte deshalb sein Amtsnachfolger Clement Attlee die Verhandlungen in Potsdam weiter.
Schaffung vollendeter Tatsachen zugunsten der dortigen kommunistischen Parteien.1 In dieser Sitzung gebrauchte er zum Mal das Bild vom „Eisernen Vorhang“, der herunter gelassen worden sei, also lange vor seiner berühmten Rede in Fulton am 5. März 1946.2 Als Truman nach Abschluss der Sitzung Stalin über den erfolgreichen Atomtest informierte, war die Stimmung bereits gespannt. Churchill beobachtete, wie der amerikanische Präsident zu Stalin ging und die beiden Männer nur in Begleitung ihrer Übersetzer miteinander redeten. Churchill, der nur wenige Meter entfernt stand, hielt in seinen Memoiren dazu fest: Es war ungemein wichtig, die Wirkung abzuschätzen, die diese umwälzende Neuigkeit auf ihn ausübte. Ich sehe alles vor mir, als wäre es gestern gewesen. Eine neue Bombe! Von unerhörter Sprengkraft! Vermutlich kriegsentscheidend gegen Japan! Welcher Glücksfall! Das war mein im Moment gewonnener Eindruck, und so war ich überzeugt, dass ihm die Bedeutung dessen, was ihm gesagt wurde, völlig entging. Die Atombombe hatte im Rahmen seiner ungeheuren Nöte und Mühen offenbar keine Rolle gespielt. Hätte er die kleinste Ahnung gehabt, welche Revolutionierung der Weltangelegenheiten in Gange war, hätte man das seiner Reaktion bestimmt entnehmen können. Es wäre nichts leichter für ihn gewesen als zu sagen: „Vielen Dank für diese Mitteilung über Ihre neue Bombe. Ich bin natürlich kein Techniker. Darf ich morgen früh meine Sachverständigen für Kernphysik zu den Ihren schicken?“ Aber Stalins Züge blieben heiter und unbeschwert, und die Unterhaltung der beiden großen Staatschefs ging gleich darauf zu Ende. Während wir auf unsere Autos warteten, fand ich mich neben Truman. „Wie ist es abgegangen?“ fragte ich. „Er stellte keine einzige Frage“, antwortete er.3 Doch Churchill irrte sich gründlich, als er annahm, dass Stalin über die amerikanischen Fortschritte bei der Entwicklung der Atombombe nicht im Bilde gewesen sei. Er unterschätzte sowohl Stalins Gerissenheit als auch seine Paranoia. Ihm war während vieler spätabendlicher Gespräche in Moskau, Teheran und Jalta entgangen, dass sich Stalin durchaus lebhaft für neue Technologien der Kriegführung interessiert hatte – ein Interesse, das sie miteinander teilten. Amerikaner und Briten hatten offensichtlich seit Jahren an der Atombom2 3
Martin Gilbert: Never Despair. Winston S. Churchill 1945-1965. London 1988, S. 97. Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Bern 1954, S. 1095f.
be gearbeitet, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, obwohl sie doch Verbündete waren. Das bestärkte Stalin in seinem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den westlichen Alliierten. Er sollte in der Folgezeit die Geheimhaltung in puncto Atomrüstung auf die Spitze treiben. Bereits Anfang Juni 1945 war der sowjetische Geheimdienst NKVD (Narodnyj Komissariat Vnutrennich Del; Volkskommissariat des Inneren) durch den Physiker Claus Fuchs, der in Los Alamos arbeitete, von dem unmittelbar bevorstehenden Atomtest informiert worden. Diese Nachricht erreichte Stalin noch vor Konferenzbeginn.4 Allerdings erwartete der NKVD den Test bereits am 10. Juli. Tatsächlich sollte der Test schon am 4. Juli stattfinden, er wurde dann aber auf Grund des schlechten Wetters auf den 16. Juli verschoben. Stalin war also im Bilde, um was für eine neueWaffe es sich handelte, als Truman ihn am 24. Juli über die neue Bombe informierte. Lediglich das exakte Datum des Tests kannte er nicht. Im Anschluss an das Gespräch mit Truman übte Stalin Kritik an Geheimdienstchef Lavrentij Berija, da dessen Agenten den Tag des Tests falsch vorausgesagt hatten. Gegenüber Andrej Gromyko erklärte Stalin, dass die Amerikaner mit dem Atombombenmonopol versuchen werden, ihre Vorstellungen vom Nachkriegseuropa gegen die Sowjetunion durchzusetzen. „Aber das wird ihnen nicht gelingen.“5 Er ordnete an, die Arbeit am sowjetischen Atomprojekt zu beschleunigen.
Das sowjetische Atomprojekt Die amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki am 6. u. 9. August 1945 veränderten die weltpolitische Lage. Entscheidend für das Ende des Krieges im Pazifik waren jedoch weniger die Zerstörung der beiden Städte als der Kriegseintritt der Sowjetunion am 8. August.6 Am 14. August erließ der Tennō den „Kaiserlichen Erlass über das Kriegsende“, und am 2. September 1945 kapitulierte Japan schließlich bedingungslos. Stalin sah sich durch das amerikanische Atombombenmonopol herausgefordert. Am 12. August 1945 bestellte er die Mitglieder des Staatlichen 4
Tsuyoshi Hasegawa: Racing the enemy. Stalin, Truman, and the Surrender of Japan. Andrej Gromyko: Memories. New York 1989. S. 110 6 Hasegawa, Racing [Fn. 4], S. 177f. 5
Verteidigungskomitees und Verantwortlichen für die sowjetische Atomforschung zu einer Serie von Besprechungen auf seine Datscha nach Kuncevo, 20 km von Moskau entfernt.7 Professor Igor’ Kurčatov, der wissenschaftliche Leiter des Projektes, nahm an den Gesprächen in Stalins Datscha nicht teil, wurde aber zu verschiedenen Fragen telefonisch konsultiert. Boris Vannikov, Minister für Munition und eine der Schlüsselfiguren im Atomprojekt, hat viele Jahre später über diese Gespräche berichtet.8 Demnach erklärte Stalin den Anwesenden: Hiroshima hat die Welt verändert. Das Gleichgewicht ist gestört. Baut die Bombe – dies wird eine große Gefahr von uns abwenden.9 Am 20. August 1945 wurde ein Spezialkomitee für Atomfragen mit Lavrentij Berija als Vorsitzendem gegründet. Das Komitee erhielt außerordentliche Vollmachten für den Zugriff auf alle für das Atomprojekt nötigen personellen und materiellen Ressourcen.10 Igor’ Golovin, einer der führenden sowjetischen Atomphysiker, erinnerte sich an die dramatischen Tage im August: Aber nach den Atombombenabwürfen vom 6. und 9. August auf Hiroshima und Nagasaki endete unsere ruhige Arbeit. Die Regierung und die Generalität waren von Panik ergriffen. Kurchatov, Chariton, Kikoin und andere wurden täglich zu Sitzungen in den Kreml oder vom Geheimdienst in die Lubjanka beordert. Die Besprechungen dauerten stundenlang bis zur völligen Erschöpfung der Teilnehmer. Die Wissenschaftler mussten erklären, was die Bombe eigentlich ist und wie sie gemacht worden sein konnte. In den Zeitungen wurden Massen von Artikeln geschrieben, und viele Reden waren im Rundfunk zu hören. Sie hatten immer den Tenor: „Das Vernichten der japanischen Städte ist gegen uns gerichtet.“ Diese Propaganda wirkte auf uns und überzeugte uns davon, dass wir uns beeilen mussten. Ein paar Tage später war die Panik überwunden, und Stalin und Berija zeigten ihr organisatorisches Talent. Stalin ließ 7
Zhores A. Medvedev, Roy A. Medvedev: The unknown Stalin. London, New York 2003, S. 123f. 8 Bez grifa „sekretno“, in: Krasnaja Zvezda, 24.8.1994. 9 Zitiert nach: Vladislav Zubok, Constantine Pleshakov: Inside the Kremlin’s Cold War. Cambridge 1996, S. 40. 10 Mark Kramer: Documenting the early soviet nuclear weapons program, in: Bulletin of the Cold War International History Project, 6-7/1995
den Generalstab zu diesem Projekt nicht zu und übergab Berija alle Machtbefugnisse.11 Das sowjetische Atomprojekt beruhte hauptsächlich auf dem Enthusiasmus der Atomphysiker, der materiellen Beute aus dem besiegten Deutschland, umfangreichen Spionageerkenntnissen und dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern.12 Als Ziel gab Stalin den Bau von Uran- und Plutoniumbomben bis 1948 vor. Angesichts der immensen Kriegszerstörungen, dem Fehlen ausreichender Mengen Uran und vieler noch ungeklärter wissenschaftlicher und technischer Probleme war dies eine äußerst knappe Vorgabe. Die Infrastruktur für die Atomindustrie musste erst aufgebaut werden. Die technisch ungleich leistungsfähigere und von Kriegszerstörungen nicht beeinträchtigte amerikanische Wirtschaft hatte dafür rund drei Jahre benötigt. Stalin verlangte nun Gleiches von der sowjetischen Wirtschaft. Die Wege zur ersten sowjetischen Atombombe sind inzwischen oft beschrieben worden, so dass hier nur die wichtigsten Eckdaten genannt zu werden brauchen.13 Am 25. Januar 1946 empfing Stalin Kurčatov im Kreml zu einem kurzen Gespräch über den Stand der Arbeiten. Nur noch ein zweites Mal, am 9. Januar 1947, sollte er sich persönlich mit Kurčatov unterhalten. Der erste Forschungsreaktor, bestückt mit Uran aus Deutschland, ging im Dezember 1946 im Laboratorium Nr. 2 in Moskau in Betrieb. Ein größerer Reaktor für die Produktion von Plutonium und eine radiochemische Fabrik wurden im Ural gebaut, 100 km von Čeljabinsk entfernt. 1947 begann der Bau von drei weiteren „Atomstädten“: Sverdlovsk 44, Sverdlovsk 45 sowie Arzamaz-16, wo die Endfertigung der Bomben stattfinden sollte. Anfang 1948 konnte der Produktionsreaktor noch immer nicht in Betrieb 11
Igor N. Golowin: „Beeilt Euch, Genossen!“ Stalins Atombombenprogramm, in: Wissenschaft und Frieden, 2/1995, S. 51-54. 12 Medvedev, Medvedev, The unknown Stalin [Fn. 7], S. 125. 13 Andreas Heinemann-Grüder: Die sowjetische Atombombe. Münster 1992. – David Holloway: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy 1939-1956. New Haven, London 1994. – Arkadi Kruglov: The History of the Soviet Atomic Industry. London 2002. – Leo D. Rjabev (red.): Atomnyj proekt SSSR: Dokumenty i Materialy, T. 1/2, 19381945. Moskva 2002. - Vladimir Lota: GRU i atomnaja bomba: neizvestnaja istoprija o tom, kak voennaja razvedka dobyvala svedenija ob atomnych proektach Velikobritanii, Germanii, SŠA i Jaopnii. Moskva 2002. – Vladimir P. Vizgin: Istorija sovetskogo atomnogo proékta: dokumenty, vospominanija i issledovanija. Sankt Petersburg 2002.
Stellungnahme Kurčatovs zu dem Bericht des GRU über einen deutschen Atomtest, S. 1.
genommen werden. Auch die Trennfabriken in Sverdlovsk liefen noch nicht vollständig. Es fehlte nach wie vor an ausreichenden Mengen Uran. Angesichts dieser Sachlage musste der Termin für die Produktion der ersten sowjetischen Atombomben verschoben werden. Erst am 8. Juni 1948 begann der Testlauf des Produktionsreaktors, ungefähr ein Jahr später als geplant. Doch damit nicht genug. Der Reaktor musste infolge technischer Probleme am 20. Januar 1949 außer Betrieb genommen werden. Etliche Brennstoffkassetten waren während des Dauerbetriebs korrodiert. Die Kassetten mit 39 000 Uranzylindern und einem Gewicht von 150 t mussten entnommen, ausgetauscht und die neuen Kassetten mit dem bereits „heißen“ Uran gefüllt werden. Es dauerte 39 Tage, bis diese hochgefährliche Arbeit abgeschlossen und der Reaktor erneut angefahren werden konnte. Kurčatov und Avraamij Zavenjagin, von 1941 bis 1950 Berijas Stellvertreter, leiteten die Reparaturarbeiten persönlich. Sie nahmen schwere Strahlenschäden bei mehreren tausend Arbeitern, zumeist Häftlingen, und Wissenschaftlern in Kauf und wurden selbst verstrahlt. Kurčatov Gesundheit verschlechterte sich in den 1950er Jahre rapide. Er starb 1960 im Alter von 57 Jahren, Zavenjagin 1958 mit 55 Jahren.14
Molotovs Erklärung vom November 1947 Vom Stand des sowjetischen Atomprojektes wusste man in Washington in den ersten Nachkriegsjahren nicht viel. Im Gegensatz zu den sowjetischen Geheimdiensten verfügten die Amerikaner nicht über Top-Quellen unter den sowjetischen Physikern. Auch deshalb konnte sich in der amerikanischen Administration die Auffassung durchsetzen, dass die Sowjetunion erst in acht bis zehn Jahren in der Lage sein würde, eine Atombombe zu testen. Die sowjetische Diplomatie reagierte auf das Atommonopol der Amerikaner mit einem Verwirrspiel. Außenminister Vjačeslav Molotov erklärte im November 1947 der überraschten Weltöffentlichkeit, dass es kein Atomgeheimnis mehr gäbe.15 Ohne es direkt auszusprechen, deutete er 14 15
Medvedev, Medvedev, The unknown Stalin [Fn. 7], S. 166. Hollowav. Stalin and the bomb [Fn. 13]. S. 266.
an, dass sein Land bereits über Atombomben verfüge. Amerikanische Militärs und Wissenschaftler hielten das für einen Bluff. In kommunistischen Führungskreisen hingegen schenkte man der Erklärung Molotovs nur zu gern Glauben. So kam der Führer der bulgarischen Kommunistischen Partei, Georgi Dimitrov, gegenüber Milovan Djilas, Mitglied des Politbüros der Jugoslawischen Kommunistischen Partei und Titos Verbindungsmann in Moskau, im Februar 1948 in Moskau auf die Atombombe zu sprechen. Dimitrov zeigte sich überzeugt, dass die Sowjetunion bereits Atombomben entwickelt habe.16 Während Stalin nach außen Stärke demonstrierte, nahmen die internen Spannungen zu. Berija musste sich wiederholt für die Verzögerung des Atomprojektes rechtfertigen. Der Diktator wurde zunehmend ungeduldig. Im Sommer 1948 hatte er die Berlin-Blockade begonnen und damit eine gefährliche Kraftprobe mit den Westmächten provoziert. Zur gleichen Zeit tobten in China die entscheidenden Schlachten des Bürgerkrieges, und es war unklar, wie sich die Amerikaner verhalten würden, wenn sich die Waage zugunsten der Kommunisten neigte. Solange die Sowjetunion noch nicht über Atomwaffen verfügte, konnte Stalin seine Außenpolitik nicht aus einer Position der Stärke heraus betreiben. Im Frühsommer 1949 schienen schließlich die größten technischen Probleme überwunden zu sein. Der Produktionsreaktor lief, und im Mai konnte die radiochemische Fabrik in Čeljabinsk mit der Abtrennung des Plutoniums beginnen. Bis Ende Juni 1949 wurden rund 10 kg Pu-239 gewonnen. Trotzdem war nicht klar, wann der erste Test stattfinden sollte und ob die neue Bombe auch wirklich funktionieren würde.
Stalins Bluff Die Verzögerungen und Unsicherheiten beim Bau der Bombe störten Stalins außenpolitische Pläne. Im Frühsommer 1949 stand der Besuch einer hochrangigen Delegation der chinesischen KP bevor. Stalin wollte Stärke zeigen. Da seine Wissenschaftler mit dem Atomprojekt noch nicht zum Abschluss gekommen waren, griff er zu einem Bluff. Die Chinesen sollten annehmen, die Sowjetunion habe schon Atomtests durchgeführt. Einige Monate zuvor war Stalin von Ivan Kovalev, seinem persönlichen Emissär bei Mao Zedong, darüber informiert worden, dass die chinesi16
Milovan Djilas: Conversations with Stalin. Harmondsworth 1963, S. 119
Notiz I. Zubovičs über den Erhalt des Films
schen Kommunisten einen geheimen amerikanischen Plan in Chiang Kaisheks Hauptquartier gefunden hätten.17 Demnach bereiteten sich die Amerikaner auf einen Dritten Weltkrieg vor. Gemeinsam mit den Nationalchinesen und den Japanern hätten sie vor, die Volksbefreiungsarmee in China unter Einsatz von Atombomben zurückzudrängen. Kovalev war skeptisch gegenüber dieser Information, gab das Dokument aber an Stalin weiter. Stalin antwortete Kovalev, dass die USA für einen großen Krieg noch nicht bereit seien.18 Schon seit einiger Zeit drängten die chinesischen Kommunisten auf eine Neugestaltung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion. Sie hatten inzwischen im Bürgerkrieg die Oberhand gewonnen und standen im Begriff, die letzte entscheidende Offensive zu beginnen. Mao Zedong hatte erstmals im April 1948 den Wunsch signalisiert, die Sowjetunion zu besuchen und mit der sowjetischen Führung über ihre künftigen Beziehungen zu verhandeln. Stalin reagierte zurückhaltend.19 Erst nachdem die Volksbefreiungsarmee Anfang 1949 Tianjin erobert hatte, entsandte Stalin seinen Vertreter Anastas Mikojan für eine Woche zu einem Treffen mit der chinesischen Führung. Im Mai 1949 beschloss das Zentralkomitee der KPC, eine Regierungsdelegation mit dem zweithöchsten Parteifunktionär der Kommunistischen Partei Chinas, Liu Shaochi, an der Spitze nach Moskau zu schicken.20 Am 2. Juli 1949 trat die chinesische Delegation ihre Reise mit der Bahn an und erreichte am 9. Juli Moskau. Die chinesischen Kommunisten blieben bis zum 14. August in der sowjetischen Hauptstadt.21 Der hohe Stellen17
Ivan Kovalev hatte während der sowjetisch-japanischen Kämpfe in der Mongolei 1939 und während des sowjetisch-finnischen Krieges den Nachschub für die sowjetischen Truppen organisiert. Von 1941 bis 1944 leitete er die Transportverwaltung der Roten Armee und fungierte bis 1948 als Transportminister. Im Mai 1948 sandte Stalin ihn als seinen persönlichen Berater zu Mao. Dort blieb Kovalev bis Januar 1950. Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija. Moskva 1986, S. 594. – Dialog I.V. Stalina s Mao Czedunom. I.V. Kovalev, ličnyj predstavitel’ I.V. Stalina pri Mao Czėdune, otvečaet na voprosy istorikakitaeveda S.N. Gončarova, in: Problemy Dal’nego Vostoka, 6/1991 und 1-3/1992. Im Jahr 1990 schrieb Kovalev seine Erinnerungen an diese Mission nieder und übergab sie dem Historiker German A. Gončarov. 18 Holloway, Stalin and the Bomb [Fn. 13], S. 264. 19 Shi Zhe: I accompanied Chairman Mao, in: Far Eastern Affairs, 2/1989, S. 125-133. 20 Der Delegation gehörten noch Wang Jiaxiang, Gao Gang, Xu Jiefan und Shi Zhe an. 21 Sergej Goncharov, John Lewis, Xue Litai: Uncertain Partners: Stalin, Mao and the Korean War Stanford 1993. S. 64 –.Michel Korzec: Encounter over the Chinese Wall: The secret Contacts between Mao and Stalin 1948–1950, in: China Information, 1/1995, S. 79
wert des Besuchs lässt sich daran ablesen, dass sich Stalin zu fünf Gesprächsrunden mit Liu Shaochi traf. Der Empfang fand auf Stalins Datscha in Kunčevo statt, das zweite, uns besonders interessierende Gespräch, am Abend des 11. Juli im Kreml. Zur Diskussion standen die internationale Lage und Schlüsselprobleme der künftigen sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Liu Shaochi fragte Stalin, ob er bereit sei, die Volksbefreiungsarmee bei einer Landung auf Taiwan zu unterstützen. Stalin lehnte dieses Ansinnen ab. Liu Shaochi schnitt daraufhin die Frage an, für wie groß Stalin die Gefahr eines Dritten Weltkrieges erachtete. Der Diktator gab sich gelassen und erklärte, dass er in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht damit rechne. Die „Imperialisten“ seien dafür noch nicht ausreichend gerüstet. Die Sowjetunion sei jederzeit in der Lage zurückzuschlagen. Liu Shaochi bat darum, sowjetische Atomlabore besichtigen zu dürfen. Diese Bitte war zweifellos zuvor mit dem Vorsitzenden Mao abgestimmt worden. Mao hatte sehr wohl verstanden, welche Macht der Besitz von Atombomben bedeutete. Er wollte solche Waffen ebenfalls. Einer seiner Vertrauten erklärte rückblickend: „Dem Vorsitzenden lag unglaublich viel daran.“22 Vor der Öffentlichkeit hielt Mao dieses Besitzstreben geheim und pflegte mit Verachtung über den militärischen Wert der Atombombe („Papiertiger“) zu reden. Stalin lehnte Liu Shaochis Wunsch ab. Es lag nicht in seinem Kalkül, den Chinesen Nukleartechnologie zur Verfügung zu stellen. Als Kompensation und um eigene Stärke zu demonstrieren, lud er statt dessen seine Gäste zu einer Filmvorführung ein. Gezeigt wurde die Testexplosion einer Atombombe! Der Test, so Stalin, habe im hohen Norden der Sowjetunion, in einer verlassenen Gegend nahe dem Polarkreis stattgefunden. Nach der Filmvorführung prahlte er mit den von der Sowjetunion erreichten Fortschritten in Wissenschaft und Technik. Sein Land sei schon bald in der Lage, noch wesentlich wirkungsvollere Waffen herzustellen.23 An dieser Geschichte ist eines überaus merkwürdig: die Filmvorführung fand einige Wochen vor dem ersten erfolgreichen Test einer sowjetischen Atombombe in Semipalatinsk am 29. August 1949 statt. Es stimmt also nicht, dass die Chinesen erst unmittelbar nach diesem Test von der So-
22
Jung Chang, Jon Halliday: Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes. München 2005, S. 489. 23 Goncharov, Lewis, Xue Litai, Uncertain Partners [Fn. 21], S. 71.
wjetunion darüber informiert wurden, wie Roland Timerbaev vermutet.24 Nein, ihnen wurde der Test einer in der Sowjetunion hergestellten Bombe vorgetäuscht, ein Ereignis, das erst noch stattfinden sollte. Wie ist das zu erklären? Handelt es sich um einen Irrtum des Berichterstatters? Nun, die Vorführung des „Atomfilms“ haben unabhängig voneinander zwei maßgebliche Teilnehmer an den Gesprächen bestätigt: Ivan Kovalev und Shi Zhe. Beide verstanden sich nicht besonders gut und arbeiteten eher gegen- als miteinander. Wir können ausschließen, dass sie ihre Darstellungen abstimmten. Außerdem gibt es mehrere hochkarätige Schriftstücke zum Film, auf die später noch einzugehen sein wird. Kovalev, Stalins Chinaexperte und wichtigster sowjetischer Funktionär in China, hat über die Filmvorführung in seinen nicht publizierten Memoiren berichtet. Die Hintergründe der sowjetisch-chinesischen Beziehungen legte er 1991/92 in einer Artikelserie dar.25 Eine der Kovalevs vergleichbare Funktion nahm Shi Zhe ein. Obwohl er in der Parteihierarchie der KPC nur eine mittlere Position inne hatte, gehörte er zu den wenigen Vertrauten Maos. Von 1928 bis 1939 hatte er in Moskau als Mitarbeiter des sowjetischen Außenministeriums gearbeitet. Er kannte daher die Mechanismen der sowjetischen Politik bestens. Shi Zhe war also mehr als nur der Dolmetscher Maos. Er verfügte in den Fragen der chinesisch-sowjetischen Beziehungen über beträchtlichen Einfluss auf den Vorsitzenden.26 Nach 1949 war Shi Zhe als Direktor des Verlagshauses für fremdsprachige Literatur in Peking tätig und leitete die Übersetzung und Herausgabe der Schriften von Marx, Engels und Lenin. Auch Shi Zhe erwähnt in seinen Memoiren die Filmvorführung.27 Darauf stützte sich auch der chinesische Historiker Zhu Yuanshi in seiner Darstellung des geheimen Besuchs von Liu Shaochi in Moskau.28 Sowohl Kovalev als auch Shi Ze geben an, einen „Atomfilm“ gesehen zu haben. Stalins Kommentare ließen keinen anderen Schluss zu, als dass es sich um Aufnahmen von einem sowjetischen Atomtest handelte. Weitere Details 24
Roland Timerbaev: How the Soviet Union helped China develop the A-bomb, in: Yaderny Kontrol [engl. Digest], 8/1998, S. 44-50; <www.pircenter.org/data/publications/ ykd23-1998.pdf.> 25 Dialog I.V.Stalina s Mao Czedunom [Fn 17]. 26 Goncharov, Uncertain Partners [Fn. 21], S. 20f. – Korzec, Encounter [Fn. 21] S. 72f. 27 Shi Zhe Zai Lishi Juren Shenbian Shi Zhe Huiyilu (Beside Great Historical Figures: The memories of Shi Zhe). Beijing 1991, S. 410. 28 Zhu Yuanshi: Liu Shaoqi’s Secret Visit to the Soviet Union in 1949, in: Dang de Wenxian (Party Documents), 3/1991, S. 76f.
kennen wir nicht. Nochmals sei aber darauf verwiesen, dass zum Zeitpunkt der Filmvorführung noch unklar war, ob die sowjetische Bombe überhaupt funktionieren würde. Was also hat Stalin zu dem Bluff veranlasst? Er muss dafür wichtige Gründe gegeben haben. Diese sind in seiner Bewertung der weltpolitischen Lage zu suchen. Stalin hatte allen Erklärungen zum Trotz durchaus Grund zur Besorgnis. Sein Versuch, die Westmächte aus West-Berlin herauszudrängen, war gerade gescheitert. Schlimmer noch, die Berlinkrise trug dazu bei, dass sich zahlreiche westeuropäische Staaten und die USA im April 1949 im Nordatlantikpakt (NATO) zusammenschlossen. Das amerikanische Nukleararsenal war zwar immer noch klein, aber es wuchs, wohingegen die Sowjetunion noch nicht über die Atombombe verfugte. In Europa befand sich Stalin ohne Zweifel in der Defensive. Sein Augenmerk richtete sich daher stärker denn je auf Asien. Gegenüber Liu Shaochi erklärte Stalin, dass sich das Zentrum der revolutionären Weltbewegung jetzt nach Ostasien verlagere. Er sah – trotz seiner Vorbehalte gegenüber Mao – in den chinesischen Kommunisten potentielle strategische Partner. Daher musste ihm daran gelegen sein, als ein möglichst starker Partner zu erscheinen. Nichts vermochte dies besser zu unterstreichen als der Besitz der Atombombe. Bis zur erfolgreichen Erprobung der ersten sowjetischen Kernspaltungsbombe wollte Stalin offenbar nicht warten. Er hielt es für geboten, die Chinesen bereits im Juli davon zu überzeugen, dass die Sowjetunion eine Atommacht sei.
Um was für einen Film handelte es sich? Wenn es einen erfolgreichen sowjetischen Test vor dem 29. August 1949 gegeben hätte, dann wäre darüber spätestens nach dem Ende der Sowjetunion 1991 berichtet worden. In den großen Dokumentationen des russländischen Atomministeriums zur Geschichte der sowjetischen Atombombenentwicklung findet sich jedoch darauf nicht der geringste Hinweis.29 Was man den Chinesen vorführte, kann demnach kein Film von einem sowjetischen Atomtest gewesen sein. Handelte es sich um einen Film von 29
Rjabev, Atomnyj proekt SSSR [Fn. 13 ]
einem amerikanischen Atomtest? Das ist nahezu auszuschließen. Die erste amerikanische Atomtestserie nach Hiroshima fand Mitte 1946 auf dem Bikini-Atoll statt („Able“ am 30. Juni 1946, Zündung in einer Höhe von ca. 160 m über dem Wasserspiegel, und „Baker“ am 24. Juli 1946, Unterwasserzündung). Ziel war die Überprüfung der Waffenwirkung des als „Fat Man“ bekannten Plutonium-Implosionsbombentyps. Während der „Operation Sandstone“ 1948 auf dem Eniwetok-Atoll im südlichen Pazifik wurden neue Spaltstoffkombinationen und technische Veränderungen an der Geometrie des Spaltstoff-Dämmschicht-Systems ausprobiert („X-Ray“ am 14. April 1948, „Yoke“ am 30. April 1948 und „Zebra“ am 14. Mai 1948). Eine Verwechslung beider im tropischen Pazifik gelegenen Atolle mit einem winterlichen europäischen oder russischen Testgebiet ist unmöglich. Stalin sprach, wie bereits erwähnt, von einem Test im hohen Norden der Sowjetunion. Außerdem gelangte der merkwürdige Atomfilm, wie gleich zu zeigen ist, schon im Mai 1946 in sowjetischen Besitz, während der erste Atomtest der USA im Pazifik erst einen Monat später stattfand. Wurde eine Atomexplosion simuliert? Das ist denkbar. Mit etlichen Tonnen konventionellem Sprengstoff und Benzin können optische Effekte erzeugt werden, die denen von Atomexplosionen ähneln. Hinweise auf solch eine von Stalin in Auftrag gegebene Manipulation gibt es allerdings nicht. Meine Vermutungen gehen in eine andere Richtung. Möglicherweise wurde besagter Film nach Kriegsende irgendwo in Deutschland gefunden. Das klingt im ersten Moment nach einer wüsten Verschwörungstheorie. Doch es gibt Schriftstücke, die diese These stützen. So findet sich im Russländischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte in Moskau (Rossijskij Gosudarstvennyj archiv social’no-politiceskoj istorii; RGASPI) ein interessantes Quelleninventar. Darin sind hunderte von deutschen Beuteakten über die Raketenentwicklung aufgelistet. Neben Akten werden auch Filme verzeichnet. Der Inhalt einer Filmrolle ist wörtlich so beschrieben: „Film über den Start einer V-2 und die Explosion einer Atombombe“.30 Dieser und einige andere Filme sowie die gesamte schriftliche Dokumentation über die deutsche Raketenentwicklung wurden im Juni 1946 vom Leiter der Hauptverwaltung für Artillerie der Ro30
Opisi materialov po reaktivnoj technike, chranivšichsja v Upravlenii kadrov CK, VKP(b) i podgotovlnennych dlja peredači v Osobyj Komitet pri Sovete Ministrov SSSR mai 1946 g –40 listov, RGASPI, f. 17, op. 127, d. 1294, 1.7–17
ten Armee, Marschall Nikolaj D. Jakovlev, an den Stellvertretenden Vorsitzenden des Sonderkomitees für Raketentechnik Ivan G. Zubovič, übergeben.31 Nur wenige Tage zuvor waren die Grundsatzentscheidungen für ein Programm zur weiteren Entwicklung des Raketenbaus in der UdSSR gefallen.32 Die Ergebnisse wurden am 13. Mai 1946 in einem Ministerratsbeschluss zum Raketenprogramm zusammengefasst. Damit wurde das Raketenprogramm in seiner Bedeutung dem Atombombenprogramm gleichgestellt. Für dieses zeichnete die Erste Hauptverwaltung des Ministerrates der UdSSR verantwortlich, und für das Raketenprogramm wurde jetzt ein Sonderkomitee für Raketentechnik, die spätere Zweite Hauptverwaltung des Ministerrates, gebildet. Chef des Sonderkomitees für Raketentechnik wurde Politbüromitglied Georgij M. Malenkov. Er war einer der Stellvertreter Stalins und leitete bis 1946 die Kaderverwaltung des ZK der KPdSU. Außerdem war er seit Februar 1945 als Leiter des Sonderkomitees beim Staatlichen Verteidigungskomitee (Gosudarstvennyj Komitet Oborony; GKO) maßgeblich für die sowjetische Demontagepolitik und den Know-how-Transfer aus Deutschland verantwortlich. In dieser Funktion unterstand ihm auch ein im Sommer 1945 gebildetes Sonderkomitee für „Reaktivtechnik“ (Raketenentwicklung). Es lag in der Logik der Bürokratie, das die gesamte Dokumentation zur Raketenfrage im Mai 1946 dem neu gegründeten Sonderkomitee für Raketentechnik übergeben wurde. Zu Malenkovs Stellvertretern wurden der Minister für Bewaffnung, Dimitrij F. Ustinov, und eben jener bereits erwähnte Stellvertretende Minister für Elektroindustrie, Ivan G. Zubovič, ernannt.33 31
Opis’ sov. sekretnych i sekretnych dokumentov, peredavaemych zamestitelju predsedatelja Special’nogo Komiteta po reaktivnqj technike pri Sovete Ministrov SSSR t. Zuboviču LG. -RGASPI, f. 17, op. 127, d. 1294, 11. 10-17. 32 Matthias UM: Stalins V-2. Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959. Bonn 2001, S. 106. 33 Ivan G. Zubovic (1901-18.7.1956) war gelernter Elektromonteur. Seit 1935 leitete er verschiedene elektrotechnische Werke. Von 1940 bis 1946 war er Stellv. Minister für Elektroindustrie der UdSSR und von 1946 bis 1947 Minister für Fernmeldeindustrie. Von Mai 1946 bis Ende 1949 fungierte er als Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees Nr.2 (für Raketentechnik) beim Ministerrat der UdSSR. Danach war er bis 1956 Chef der 7. Hauptverwaltung (Raketentechnik) des Ministeriums für Verteidigungsindustrie der UdSSR tätig.
Was in seiner Regie mit den Dokumenten und Filmen geschah, kann man nur mutmaßen. Jedenfalls wurden die Filme im technischen Archiv des Komitees Nr. 2 verwahrt. Für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass die Filme von Mitarbeitern des Sonderkomitees für „Reaktivtechnik“ irgendwann zwischen dem Mai 1945 und April 1946 in Deutschland entdeckt wurden. Wahrscheinlich handelte es sich überwiegend um Aufnahmen von verschiedenen Raketenstarts. Auf einer Filmrolle war aber nicht nur ein Raketenstart zu sehen, sondern, laut Archivinventar, auch die „Explosion einer Atombombe“. Diese Titelbezeichnung scheint wörtlich von der deutschen Filmrolle ins Russische übertragen worden zu sein, zumal bei anderen Filmrollen ebenso verfahren wurde. Ein Übersetzungsfehler ist auszuschließen. Freilich bleibt unklar, ob es sich tatsächlich um Aufnahmen vom Test einer Kernspaltungsbombe handelte. Meine Vermutung geht eher in Richtung des Tests einer thermobaren Bombe oder einer sogenannten Hybridbombe. Letztgenannte Variante erscheint nach den bisher verfügbaren Quellen wahrscheinlicher zu sein. Bei einer thermobaren Bombe wird aus einem Vorratsgefäß zunächst eine brennbare Substanz, bevorzugt Kohlenstaub, ausgestoßen, die sich mit der Luft vermengt und als Aerosol eine zündfähige Wolke bildet. Bei Erreichen des optimalen Brennstoff-Luft-Verhältnisses wird gezündet. Die Verbrennung innerhalb der Wolke verläuft so heftig, dass die Druckwellen der Verbrennungsfront davonlaufen und noch unverbranntes Gemisch vorkomprimieren. Somit steigt die Reaktionsgeschwindigkeit, die Druckwellen steilen sich auf und pflanzen sich mit Überschallgeschwindigkeit fort. Die resultierenden Überdrücke einer solchen „Aerosolbombe“ sind nicht so hoch wie bei Sprengstoffdetonationen und steigen auch langsamer an, wirken aber dafür länger auf das Ziel ein. Der Luftsauerstoff wird im Reaktionsvolumen vollständig verbraucht. Gegen Ende der Reaktion kehrt sich die Strömungsrichtung der Brandgase und der Außenluft nach innen und ruft einen sehr starken Sog hervor. Daher rührt der physikalisch falsche Ausdruck „Vakuumbombe“.34 Die Wirkungen solcher Bomben sind verheerend und denen kleiner Kernwaffen vergleichbar. Die Grundlagen für den Bau thermobarer Bomben waren deutschen und österreichischen Physikern seit Ende der 1930er Jahre bekannt.35 Während 34
Rainer Karlsch: Großvaters Vakuumbombe, in: FAZ, 23.9.2007. Kurd von Haken: Fliegerbombe für Kohlenstaubexplosionen, Patentschrift Nr. 680483, 30.8.1939. 35
des Krieges arbeitete eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Mario Zippermayr in Wien an ihrer Herstellung und Erprobung.36 Nach amerikanischen Geheimdienstberichten verfügte das deutsche Militär bei Kriegsende sogar schon über fünf Tonnen schwere „liquid air bombs“ (wie man sie damals nannte).37 Zum Einsatz kamen diese Bomben, wohl aufgrund ihres Gewichts und der noch nicht abgeschlossenen Erprobung, jedoch nicht mehr. Sowjetische Wissenschaftler und Militärs wollten sich das Expertenwissen der Zippermayr-Gruppe nutzbar machen. Nach einem amerikanischen Bericht musste Prof. Dr. Heinrich Mache von der TH Wien schon im Oktober 1945 Experimente mit Kohlenstaub-Sprengstoffen unter sowjetischem Befehl durchführen.38 Während es sich bei thermobaren Bomben um konventionelle Waffen mit Wirkungen handelt, die nuklearen Explosionen ähneln, stellen Hybridbomben nukleare Waffen dar. Solche Bomben bestehen, vereinfacht gesagt, aus viel Sprengstoff und einer kleinen Menge an Spalt- und Fusionsmaterial.39 Da im Deutschen Reich 1943/44 die Chancen für den Bau einer Kernspaltungsbombe schlecht standen – weder gab es einen Reaktor zur Produktion von Plutonium noch industrielle Anlagen zur Herstellung von U-235 –, setzten die Verantwortlichen beim Heereswaffenamt (HWA) auf Hohlladungskonfigurationen und elektrische Gasentladungen, um die für eine Wasserstoffbombe nötigen Zündtemperaturen von vielen Millionen Grad zu erreichen. Seit dem Herbst 1943 fanden dazu streng geheime Versuche auf dem Gelände der Heeresversuchsanstalt in Kummersdorf und an verschiedenen Orten in Mecklenburg statt. Über deren Resultate ist nicht viel
36
Fl. Stabsing, d. B. Lang und Fl. Stabsing, d. B. Dr. Zippermayr, Bekämpfung bemannter und unbemannter Fluggeräte durch Großraum-Explosionen, 5.11.1944, BArch BerlinLichterfelde, R 26 III, Nr. 52, Bl. 252ff.; Information obtained from targets of opportunity in the Sonthofen area, BIOS Nr. 142, Imperial War Museum London, p. 4f. 37 Report No. 3: Evacuation and Movement of Intelligence Targets GERMANY with Particular Reference to BERLIN Targets. 18.3.1945. NARA Washington, RG-331, Entry (UD)18A, Box-157. 38 Ebd. – Spätestens seit 1943 war Prof. Mache im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums am Forschungsprojekt „Kohlenstaubbombe“ beteiligt.. Dies geht aus Unterlagen des Reichsforschungsrates hervor. Barch, Berlin-Lichterfelde, R 26 III, Nr. 504 39 Rainer Karlsch, Heiko Petermann (Hg.): Für und Wider Hitlers Bombe. Studien zur Geschichte der Atomforschung. Münster 2007.
bekannt, da die meisten Unterlagen vernichtet wurden.40 Immerhin können aber mit Hilfe von Publikationen und Patentschriften aus den 1950er Jahren die Grundzüge der Entwicklung rekonstruiert werden. Zunächst erprobten die Wissenschaftler des HWA den Weg der rein chemisch ausgelösten Fusion. Darüber wurde nach dem Krieg in Fachkreisen in der Bundesrepublik und der DDR diskutiert. So fragte Fritz Selbmann, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der DDR und seit Ende 1956 für alle Fragen der Atomforschung zuständig, beim Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Max Volmer, an, was es mit der Idee der Fusionsbombe auf sich habe. Volmer, der zu den deutschen Wissenschaftlern gehörte, die von 1945 bis 1955 am sowjetischen Atomprojekt mitgearbeitet hatten, antwortete ausführlich.41 Er hielt es für möglich, bei Kombination von Gasentladung und Kompression eine Temperatur von etwa 1 Million Grad zu erreichen: Aber auch dieses Ergebnis ist noch unzureichend. Für die Einleitung der D-D oder D-T-Reaktionen (Wasserstoffbombe) ist das Vielfache von 1 Mio. Grad erforderlich. Vorläufig sieht man noch keinen anderen Weg außer der Anwendung von Uran oder Plutonium.42 Zu dieser Erkenntnis dürften 1944 auch schon die Wissenschaftler des HWA gekommen sein. Es lag nahe, den nächsten Schritt zu erproben und eine kleine Menge an Spaltstoff als zusätzliche Komponente zu verwenden. Ob sie 1944/5 schon soweit waren, Hybridkonfigurationen zu entwickeln, lässt sich bisher nicht mit letzter Gewissheit sagen. Doch dafür gibt es Indizien. Bemerkenswert sind insbesondere der Bericht der sowjetischen Militäraufklärung (GRU) über einen deutschen Atomtest vom März 1945 sowie die Patentschriften und Artikel Kurt Diebners aus den fünfziger Jahren. In einem GRU-Bericht vom 23. März 1945 finden sich konkrete Angaben vom März 1945 sowie die Patentschriften und Artikel 40
Rainer Karlsch: Hitlers Bombe. München 2005, S. 18f. Streng Vertrauliches Schreiben von Max Volmer an Fritz Selbmann vom 2. Oktober 1956, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), Bestand: Akademieleitung, Kommission für kernphysikalische Forschung, Nr. 348, ohne Blattangaben. 42 Ebd. – Volmers Antwort entsprach dem damaligen Stand der Technik. Spätere Forschungen, z.B unter der Leitung des polnischen Professors Sylwester Kaliski, zeigten, dass man mit sehr raffinierten Anordnungen unter Umständen doch reine spaltfreie Fusionszündungen erreichen kann; Pawel Rodziewicz: Polnische Forschungen zur Reduktion der kritischen Masse, in: Karlsch, Petermann, Für und Wider [Fn. 38], S. 95-122 41
Kurt Diebners aus den fünfziger Jahren. In einem GRU-Bericht vom 23. März 1945 finden sich konkrete Angaben: In der letzten Zeit haben die Deutschen in Thüringen zwei große Explosionen durchgeführt. Sie fanden in einem Waldgebiet unter strengster Geheimhaltung statt. Vom Zentrum der Explosion wurden Bäume bis zu einer Entfernung von fünfhundert bis sechshundert Metern gefällt. Für die Versuche errichtete Befestigungen und Bauten wurden zerstört. Kriegsgefangene, die sich im Explosionszentrum befanden, kamen um, wobei häufig von ihnen keine Spuren blieben. Andere Kriegsgefangene, die sich in einigem Abstand zur Zentrum der Explosion aufhielten, trugen Verbrennungen an Gesicht und Körper davon, deren Grad von der Entfernung zum Zentrum abhing. […] Die Bombe enthält vermutlich U235 und hat ein Gewicht von zwei Tonnen. Sie wurde auf einem speziell dafür konstruierten Flachwagen transportiert. Mit ihr zusammen wurden Tanks mit flüssigem Sauerstoff gebracht. Die Bombe wurde permanent von zwanzig SS-Männern mit Hunden bewacht. Die Bombenexplosion wurde von einer starken Detonationswelle und der Entwicklung hoher Temperaturen begleitet. Außerdem wurde ein starker radioaktiver Effekt beobachtet. Die Bombe stellt eine Kugel mit einem Durchmesser von 130 Zentimetern dar. Die Bombe besteht aus: 1. Einer Hochspannungsentladungsröhre, die ihre Energie von speziellen Generatoren bezieht 2. Einer Kugel aus metallischem Uran 235 3. Einem Verzögerer 4. Einem Schutzkasten 5. Dem Sprengstoff 6. Einer Detonationsanlage 7. Einem Stahlmantel Alle Teile der Bombe werden ineinander montiert. [… Es folgt eine detaillierte Konstruktionsbeschreibung; R.K.] Fazit: Ohne Zweifel führen die Deutschen Tests einer Bombe mit großer Zerstörungskraft durch. Im Falle ihres erfolgreichen Tests und der Herstellung solcher Bomben in ausreichender Menge werden sie über eine Waffe verfügen, die in der Lage ist, unsere Offensive zu verlangsamen.43 43
Ivan I. Il’ičev: Načal’niku general’nogo staba Krasnoj Armii, Generalu Armii tov. Antonovu, 23.3.1945. Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii, f. 93, d. 81 (45), 1. 37. Unterstreichungen im Original.
Igor’ Kurčatov war zweifellos überrascht, als er diesen Bericht Ende März 1945 erhielt und dazu eine Stellungnahme für Stalin verfassen sollte. Einige für den Physiker entscheidende Details konnte der GRU-Informant nicht kennen oder hat sie unvollständig wiedergegeben. Das machte die Aufgabe für Kurčatov schwierig. Während er die Konstruktionsbeschreibung als „sehr glaubwürdig“ bezeichnete, war er „nicht vollkommen überzeugt, dass die Deutschen tatsächlich Versuche mit einer Atombombe vorgenommen haben“.44 Nach seinen Berechnungen hätte bei der Zündung einer Atombombe eine viel größere Fläche zerstört werden müssen, als ihm aus Thüringen berichtet wurde. Dennoch erkannte er, oder ahnte zumindest, dass die Deutschen an einem neuartigen Prozess arbeiteten: Hier ist eher die Rede von spezifischen Details zu Beginn des Explosionsprozesses, die auf irgendwelchen neuen physikalischen Faktoren bei der Einwirkung von Neutronen auf die Atomkerne des Urans basieren.45 Kurčatov verfasste schließlich am 30. März 1945 eine sorgfältig abgewogene Stellungnahme. Diese gab er an Stalin oder Molotov weiter. Die einzige Kopie ging an den Chef der Hauptverwaltung für militärische Aufklärung, Generalleutnant Ivan I. Il’ičov. Kurčatov betonte die Wichtigkeit des ihm vorgelegten Berichts aus Deutschland, sprach von „sehr glaubwürdigen Konstruktionsbeschreibungen“ und bat um weitere Informationen: Es wäre äußerst wichtig, zu diesen Fragen detailliertere und exaktere Informationen zu erhalten. Noch wichtiger wäre es, Einzelheiten über den Prozess der Gewinnung von Uran 235 aus Natururan zu erfahren.46 Damit hatte er sich geschickt abgesichert. Den nächsten Schritt überließ er der Hauptverwaltung für militärische Aufklärung, die ihm ergänzendes Material besorgen sollte. Aufschluss, um was für einen Test es sich letztlich handelte, können nur die Originalfilme oder weitere, bisher nicht entdeckte Archivalien bieten. 44
Igor’ Kurčatov: Otzyv o materiale pod zagolovkom „O nemeckoj ,atomnoj bombe’“, postupivšem iz GRU Genštaba KA, 30 marta 1945, in: Rjabev, Atomnyj proekt SSSR [Fn. 13 ], S. 260-261. 45 Ebd. 46 Ebd.
Die Kopplung von Rakete und Kernsprengsatz lag jedenfalls nahe und wurde bereits während des Krieges von deutschen Militärs und Wissenschaftlern diskutiert. Daher dürfte es auch kein Zufall gewesen sein, dass Filmaufnahmen von Raketen- und Bombentests zusammen verwahrt wurden. Unverhofft stießen wir an anderer Stelle auf die Fortsetzung dieser Geschichte. Es handelt sich um mehrere Schreiben des Sonderkomitees für Raketentechnik (Komitees Nr. 2) bzw. des Innenministeriums, welche die „streng geheimen Spezialfilme“ betreffen. Am 28. Oktober 1948 übergab Ivan G. Zubovič den „streng geheimen“ Spezialfilm Nr. 185 in acht Teilen an den Sekretär des Innenministers, Charitonov.47 Dessen Chef, Generaloberst Ivan Serov, war seit 1947 Stellvertretender Innenminister und seit 1946 ebenfalls Mitglied des Sonderkomitees für Raketentechnik.48 Es spricht vieles dafür, dass es sich bei diesem „Spezialfilm“ eben um jenen deutschen Beutefilm handelte, den Zubovič seit dem Mai 1946 aufbewahrte. Vor allem ist auf die personelle Kontinuität zu verweisen. Zubovič war seit dieser Zeit für das technische Archiv des Komitees Nr. 2 verantwortlich. Dort wurden deutsche Raketenfilme und auch besagter Film von einer „Atomexplosion“ aufbewahrt. Sowjetische „Raketenfilme“ gab es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Der erste erfolgreiche Start einer Rakete in der UdSSR fand erst am 18. Oktober 1947 auf dem Testgelände von Kapustin Jar, in der Steppe ca. 100 km südöstlich von Stalingrad, statt.49 Die Herstellung eines manipulierten Films hätte man wohl kaum bei Zubovič in Auftrag gegeben. Schließlich deuten auch die Bezeichnung „Spezialfilm“ und die Zerlegung des Films in acht Teile auf einen besonderen Hintergrund hin.
Der Test in Semipalatinsk Wenige Wochen nach den sowjetisch-chinesischen Gesprächen, am 29. August 1949, fand der erste sowjetische Atomtest unweit von Semipalatinsk statt. Stalin verhielt sich jetzt wie Truman und Churchill im Juli 47
Akt, 28.10.1948, Gor. Moskva prinjal: Charitonov. Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, f. 9401, d. 1, d 4153,1. 366. 48 Zu Ivan A. Serov vgl. Nikita I., Petrov Konstantin F. Skorzin: Kto rukovodil NKVD 1934–1941. Spravočnik. Moskva 1999, S. 381 49 Uhl, Stalins V-2 [Fn. 32], S. 153.
1945. Er ordnete striktes Stillschweigen an. Erst einen Monat nach dem Test, am 23. September 1949, erfuhr die überraschte Welt vom amerikanischen Präsidenten Truman, dass die Sowjetunion wahrscheinlich eine Atombombe getestet habe. Amerikanische Aufklärungsflugzeuge hatten zuvor Luftproben des radioaktiven Fallout ausgewertet, die keinen anderen Schluss zuließen.50 Auf diese Mitteilung reagierte nun die sowjetische Nachrichtenagentur TASS zwei Tage später mit einer merkwürdigen, teilweise absurd klingende Erklärung: Bekanntlich sind weitreichende Bauarbeiten in der Sowjetunion in Gange – der Bau von Wasserkraftwerken, Bergbauschächten, Kanälen und Straßen –, die große Sprengtätigkeiten mit Hilfe neuster technischer Mittel erfordern. Da diese Sprengtätigkeiten häufig in verschiedenen Regionen des Landes stattfanden und weiter stattfinden, ist es möglich, dass dies die Aufmerksamkeit außerhalb der Grenzen der Sowjetunion auf sich gezogen hat. Was die Produktion von Atomenergie in der Sowjetunion anbetrifft, ist es nötig, nochmals festzustellen, dass bereits am 6. November 1947 Vjačeslav M. Molotov, der Außenminister der UdSSR, eine Erklärung zum Geheimnis der Atombombe abgegeben hat, in der er sagte, dass „dieses Geheimnis seit langem nicht mehr existiert“. Diese Erklärung bedeutete, dass die Sowjetunion bereits das Geheimnis der Atomwaffen enthüllt und diese Waffen zu ihrer Verfügung hatte.51 Moskau versuchte also noch immer den Eindruck zu erwecken, dass die Sowjetunion schon seit 1947 Atomwaffen besessen habe. Nur zwei Wochen nachdem der amerikanische Präsident über den ersten sowjetischen Atomtest berichtet hatte, erschien im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein großer Artikel über neueste sowjetische Waffentests.52 Der merkwürdige, stellenweise lächerlich klingende Bericht beruhte angeblich auf den Erlebnissen eines deutschen Professors namens Robert Tellmann. Allerdings gab es keinen deutschen Wissenschaftler namens Tellmann, der am sowjetischen Atomprojekt mitwirkte. Jedenfalls behauptete dieser Mann unter anderem, sowjetische Wissenschaftler hätten auf der Grundlage deutscher Erfindungen künstliche Blit50
Holloway, Stalin and the bomb [Fn. 13], S. 265. Heinemann-Grüder, Die sowjetische Atombombe [Fn. 13], S, 135. 52 Atom: Wir haben den Beweis, in: Der Spiegel, 42/1949 51
ze und Eisbomben entwickelt und seien auch in der Lage, mit Mesonenschauern Raketen zum Absturz bringen. Tatsächlich hatten deutsche Physiker während des Krieges über die Entwicklung einer „Mesonenwaffe“ diskutiert. Doch bis heute ist dies Science Fiction. Was aber hat es mit der von Teilmann ebenfalls erwähnten MiniKernwaffe mit einer 150 Gramm-Ladung auf sich? War dies eine Anspielung auf Entwicklungen im Deutschen Reich?
Was geschah mit dem Film? Warum betrieb Stalin ein derartiges Verwirrspiel um den ersten sowjetischen Test? Der amerikanische Historiker David Holloway gibt darauf zwei Antworten: Die Sowjetunion wollte den Amerikanern keinen Anlass geben, ihr Rüstungstempo zu erhöhen. Außerdem wurde auch nach dem Test noch Zeit benötigt, um die sowjetische Atomindustrie auszubauen. Dies sollte geschehen, bevor die USA eine diplomatische Offensive beginnen würden. Neben diesen stichhaltigen Gründen dürfte es noch weitere Motive gegeben haben. Stalin galt nach dem Krieg als der unumstrittene Führer der kommunistischen Weltbewegung. Diese Position setzte Stärke voraus. Daher war es für die Sowjetunion wichtig, rasch das amerikanische Atommonopol zu brechen. Auch deshalb wurde gegenüber den Verbündeten betont, man sei bereits im Besitz der Bombe. Für seine Verschleierungstaktik nutzte Stalin auch den „Atomfilm“. Nachdem seine Rechnung aufgegangen war, brauchte er den Film nicht mehr. Unmittelbar nach dem Test in Semipalatinsk sollten der Film vom „falschen Test“ samt Kopie sowie noch ein weiterer streng geheimer Spezialfilm im Archiv verschwinden. Der Stellvertretende Innenminister Serov war für die Archivierung verantwortlich. Er wird beim technischen Archiv des Komitees Nr. 2 nachgefragt haben, wo sich die Filme befinden. Ihm wurde daraufhin am 3. September 1949 von Zubovič mitgeteilt, dass auf Veranlassung von Nikolaj Bulganin, dem Verteidigungsminister, das zweite Exemplar des Spezialfilms an das Ministerium für Bewaffnung ausgeliehen worden sei. Das Original befinde sich beim Chef der Privatkanzlei Stalins, Aleksandr N. Poskrebyšev.53 53
Ivan Zubovič: Soversenno sekretno. Zamestitelju ministra vnutrennich del SSSR tov.
Dieser Hinweis ist höchst bemerkenswert und kann als weiteres schlüssiges Indiz dafür gelten, dass am 11. Juli 1949 im Kreml die Filmvorführung stattgefunden hat. Poskrebyšev leitete von 1930 bis 1952 die Geheimabteilung des Zentralkomitees der KPdSU. Er war Stalin absolut ergeben. Nach dem geglückten Bluff war das Original des Films also noch bei Stalins Sekretär verblieben. Der Schriftwechsel zwischen dem Komitee Nr. 2 und dem Innenministerium (Ministerstvo Vnutrennich Del; MVD) bezog sich nur auf die Kopie. Für den Transport sollten die Filme in einen Spezialkoffer gelegt werden. Dieser wurde mit zwei Siegeln des Innenministeriums sowie je einer Petschaft des Sondersektors des ZK der KPdSU und des Komitees Nr. 2 gesichert. Welch ein Aufwand für den Transport von Filmdosen! Ein letztes die Filme betreffendes Schreiben datiert vom 20. Januar 1950.54 Darin teilte Charitonov seinem Chef Serov mit, dass das Archiv des MVD die beiden streng geheimen Spezialfilme Nr. 185 und 127 an das Staatliche Kino- und Fotoarchiv zur endgültigen Aufbewahrung gegeben habe. Der Übergabeakt wurde dem Schreiben in Kopie beigefügt. Demgemäß übernahm das Staatliche Kino- und Fotoarchiv den Spezialfilm Nr. 185 in acht Teilen und auch den Koffer mit dem zweiten Exemplar des Spezialfilms. Sämtliche Siegel auf dem Koffer waren unversehrt. Außerdem wurde dem Staatlichen Kino- und Fotoarchiv der streng geheime Film Nr. 127 in zwei Exemplaren zu je vier Teilen übergeben. Am Schluss wurde noch ein Passus eingefügt: „Die Einsichtnahme in die Akte über die Kinofilme ist ohne ausdrückliche Zustimmung des MVD verboten.“ Bis heute konnten die streng geheimen „Spezialfilme“ nicht aufgefunden werden. Sie wurden Mitte der 1950er Jahre auf Betreiben des MVD aus dem Bestand des Staatlichen Kino- und Fotoarchivs entnommen und sind seitdem verschollen. Vielleicht könnten uns die Filme auch mehr über den Stand der deutschen Waffentechnik während des Zweiten Weltkrieges erzählen und helfen, manch ungelöstes Rätsel zu lösen.
Serovu I. A. 3.9.1949. GARF, Fonds 9401. Kat. 1, Akte 4153, Bl. 361 54 Sekretar’ zam. ministra vnutrennich del SSSR Podpolkovnik Charitonov: Zamestitelju ministra vnutrennich del SSR general-polkovniko tovariscu Serovu I.A. – Ebd. , Bl. 364f.
Schluss Stalins Filmvorführung im Kreml am 11. Juli 1949 kann als ein Lehrstück für seine Art der Machtpolitik nach außen und innen angesehen werden. Den chinesischen Kommunisten wurde mit der Vorführung demonstriert, wer auch künftig die Nr. 1 in der kommunistischen Welt sein werde. Ebenso wichtig waren die Wirkungen nach innen. Welch ein Druck muss auf den Verantwortlichen und den Wissenschaftlern des sowjetischen Atomprojektes gelastet haben, sofern sie von dieser Vorführung erfuhren. Sie waren zum schnellstmöglichen Erfolg verurteilt. In Stalins System gab es keine Transparenz, selbst für engste Vertraute nicht. Die Grundlage seiner Macht war das Zusammenfließen von Informationen an der Spitze der Herrschaftspyramide. Nur eine Handvoll sowjetischer Politiker und Militärs erfuhr überhaupt von der Existenz der „Spezialfilme“. Wer sonst außer den Chinesen der Vorführung beiwohnte, wissen wir nicht. Keiner hat später gewagt, die Frage zu stellen, wie es möglich war, bereits im Juli einen Film von einem Atomtest zu sehen, der doch erst am 29. August stattfand.