ADAM THIRLWELL
Strategie ROMAN AUS DEM ENGLISCHEN VON CLARA DRECHSLER UND HARALD HELLMANN
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ADAM THIRLWELL
Strategie ROMAN AUS DEM ENGLISCHEN VON CLARA DRECHSLER UND HARALD HELLMANN
S. Fischer Umschlaggestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg, unter Verwendung eines Fotos von getty images
2. Auflage Januar 2004 Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Politics« bei Jonathan Cape, Random House, London © 2004 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004 ISBN 3–10–080048–6
MOSHE LIEBT NANA und Nana liebt Moshe. Und sie versuchen ihr bestes und alles. Aber das reicht nicht. Dann kommt Anjali hinzu. Anjali ist Nanas Freundin. Sie ist sehr schön. Zuerst küssen sich Nana und Anjali nur. Und zuerst schaut Moshe nur zu. Irgendwann sind sie zu dritt. Eine ménage á trois in der Tradition von Milan Kundera und Woody Allen beginnt. Aber so einfach, wie sie sich das alles vorgestellt haben, ist es gar nicht. Adam Thirlwell inszeniert meisterlich ein extravagantes Rollenspiel zwischen Leser, Erzähler und Protagonisten. Spielerisch, verwegen und mit beeindruckender stilistischer Eleganz verbindet er Elemente der großen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
»Ein faszinierender Roman, der Ihre sofortige Aufmerksamkeit verdient.« THE 1NDEPENDENT
ADAM THIRLWELL wurde 1978 geboren, ist Oxford-Absolvent und lebt in London. Er war 2003 auf der »Granta 's list of Best young British Novelists« und gewann den Betty Trask-Award. »Strategie« ist sein erster Roman. Er wurde in 18 Sprachen übersetzt.
ADAM THIRLWELL
Strategie ROMAN AUS DEM ENGLISCHEN VON CLARA DRECHSLER UND HARALD HELLMANN
S. FISCHER
2. Auflage Januar 2004 Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Politics« bei Jonathan Cape, Random House, London © 2003 by Adam Thirlwell Für die deutsche Ausgabe: © 2004 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004 Satz: H &. G Herstellung, Hamburg Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3–10–080048–6
June Goldman (1921—1998) gewidmet
Inhalt I 1
Das Vorspiel 11
2 Die handelnden Personen 27
II 3 Sie verlieben sich 55 4 Eine Romanze 81 5 Verwicklung 115 6 Sie verlieben sich 128 7 Sie entlieben sich 171 8 Eine Romanze 208 9 Verwicklung 223 10 Sie entlieben sich 262
III 11 Das Finale 295
I
1 Das Vorspiel 1 Als Moshe behutsam die pinkfarbenen, plüschbesetzten Handschellen um die Handgelenke seiner Freundin schlie‐ ßen wollte, bemerkte er eine winzige Falte auf ihrer Stirn. Ich denke, Moshe wird euch gefallen. Seine Freundin hieß Nana. Ich denke, sie wird euch auch gefallen. »Pussy!«, sagte er. »Stimmt was nicht?« Er hockte neben ihrem Hals. Sie lag auf dem Bauch und hatte die Arme über den Kopf gestreckt wie eine Turm‐ springerin. Folgendes stimmte nicht: Nanas Hände waren zu schmal für die Handschellen. Deswegen das winzige Stirnrunzeln. Es gab ein logistisches Problem. Und Nana war ein Mäd‐ chen, dem es auf Logistik ankam. Sie nahm ihren Sex ernst. Aber es war schwierig, Sex ernst zu nehmen, wenn ihre Hände herauszurutschen drohten, sobald sie sich bewegte. Es war nicht ganz das Wahre, erklärte sie. Das Bewegen machte den Reiz daran aus. »Oh, nein! Süßer!«, sagte Nana, als sie aufschaute und Moshes betrübtes Gesicht sah. »Was ist los?«
Unbeirrt dachte Nana, dass sie dann eben so tun musste. Sie musste eben still liegen und sich nur im Geiste bewegen. Sie war lieb zu ihm. Es stimmte, räsonierte sie wehmütig in die Steppdecke, ursprünglich war der Plan ein anderer gewesen. Schon klar, dass sie ihm eigentlich hilflos aus‐ geliefert sein musste und Moshe, der Tyrann, schadenfroh den Verlust der beiden Schlüsselpaare für die Handschel‐ len, der richtigen und des Ersatzpaars, mimen sollte. Aber der Spaß läge in der Improvisation. Mir gefallen die beiden. Sie sind ein Do‐it‐yourself‐Paar, und das gefällt mir. Nana hatte sich etwas ganz Bestimmtes vorgestellt. Sie hatte es ihm in groben Zügen geschildert. Nana sollte gefes‐ selt sein und dann unbarmherzig anal genommen werden. Sie wollte, dass ihr starker Mann seine Potenz unter Beweis stellte. Und daraufhin hatte Moshe – weil sie ein Paar wa‐ ren, das nach Gemeinsamkeit strebte – einen Abstecher zum Sh!, Hoxtons Sexshop mit Gesichtskontrolle, vorgeschlagen. Gesichtskontrolle? Aber ja. Für Männer ohne Frauen‐ begleitung kein Zutritt. In Sh! sahen sich Moshe und Nana vier Minuten lang nervös um. Bei Sh! roch es nach Räucherstäbchen. Moshe fand, sie sollten gehen. Dann änderte er seine Meinung. Wenn sie jetzt gingen, überlegte Moshe, sähe das so aus, als wäre ihnen Sexspielzeug peinlich. Das sähe so aus, als hät‐ ten sie Angst vor Sex. Ich weiß nicht, warum das Moshe solche Sorgen machte. Es stimmte. Moshe hatte Angst. Er hatte Angst vor Sexspielzeug. Besonders der 12ʺ–Dildo mit einem geäderten Finger speziell für den Anus machte ihm Angst. Aber er wollte nicht ängstlich aussehen. Er wollte lässig aussehen.
Sie kauften einen zierlichen und biegsamen Dildo mit Leopardenmuster, für Sie oder Ihn, der, in seinem Karton verstaut, unter dem Bett herausguckte. Sie kauften ein paar Stricke. Als Andeutung von Bondage kauften sie einen schwarzen Leder‐BH für Nana. Er war drei Nummern zu klein. So was wie ein Sport‐BH aus Leder. Er quetschte ihren Busen platt. Für die Rolle der Devoten nahm Nana die Brüste einer Dreizehnjährigen in Kauf. Moshes Aufgabe war die Dominanz. Also war Moshe der Käufer und Nutz‐ nießer der pinkfarbenen, plüschbesetzten Handschellen – oder wäre es gewesen, wären die Verschlüsse, Zähne, Schließen oder was auch immer nicht zu weit für Nanas zarten Knochenbau. Sie waren zu weit. Sie musste so tun, als ob. Moshe ließ es mit den Handschellen und nahm das pink– farbene Bondage‐Seil. Er schlang es wie eine Acht um Na‐ nas pro forma gefesselte Hände und knotete es dann am Bettgestell fest. Er arrangierte ihre Handgelenke zu einem schlappen, fluoreszierenden Kreuz. Nana fand es auf schmerzhafte Art angenehm. Was per‐ fekt war, dachte sie. Es fühlte sich genau richtig an. Sie wollte dem Schmerz Vergnügen abgewinnen. Dann spreizte Moshe ihre Pobacken. Nanas erste Reaktion war Scham. Doch darauf folgte schnell Vergnügen. Moshe schnüffelte in ihrer Ritze. Das hatte seinen Reiz. Beharrlich leckte und schleckte er an Nanas Arschloch. Er stippte seine Zunge in die dunklere, gefältelte Rosette. Vielleicht sollte ich hier präzisieren. Nana war blond.
Überall. Ich will mit »dunkler« keinesfalls dunkel sagen. Nein, Nana hatte ein sehr blasses Arschloch. Es war ein Al‐ bino‐Arschloch. Moshe amüsierte sich mit ihrem Schweiß und ihrer Scheiße und dehnte ihr rosa Arschloch, indem er ihre Arschbacken mit den Händen auseinander zog. Das war also Zungenanal, dachte sie befangen – eine neue Erfah‐ rung. Nicht direkt das, was sie anmachte, aber interessant war Zungenanal schon. Es war ein Kribbeln ganz neuer Art für sie. Nana sagte: »Red doch mit mir.« Um genau zu sein, sagte sie, damit die Pornografie zu ihrem Recht kam, mit lasziver Stimme: »Redochmimi.« 2 Es gibt viele Einstellungen zum Reden beim Sex. Es gibt alle möglichen Arten, beim Sex zu reden. Manche geben gerne barsche Befehle. Sie sagen zum Beispiel: »Lutsch meinen Schwanz.« Das mit den Befehlen kann ziemlich paradox werden. Da sagt zum Beispiel ein Junge: »Bitte mich, mei‐ nen Schwanz lutschen zu dürfen«, das wäre ein Befehl zu einer Bitte. Oder ein Mädchen beziehungsweise Junge sagt: »Befiehl mir, deinen Schwanz zu lutschen«, also der Befehl zu einem Befehl. Das verkehrt den Befehl fast in eine Bitte. Andere Leute überlassen lieber ihrem Partner das Reden. Sie wollen gutturale, nie versiegende Obszönitäten hören. Das ist besonders erregend, wenn jemand vermutet, der Partner sei verklemmt. Es gibt aber auch Menschen, die Re‐ den nur zur Bestätigung brauchen. Mit manchen muss man
nicht einmal reden, um ihnen die Bestätigung zu geben, die sie wollen. Ihnen genügen schon Geräusche. Für diese Menschen sind Laute beim Sex eine andere Art des Redens. Das andere Extrem erfordert, wie ich annehme, einen ge‐ wissen Grad von Realitätsverschiebung oder Rollenspiel. Viele Menschen sind beim Sex gerne jemand anderer. Viele Leute stellen sich beim Sex gerne vor, jemand anderer sei jemand anderer. Und Nana war heute auf Sexfantasien eingestellt. Sie wollte eine Geschichte. Sie wollte ein Rollenspiel. Normalerweise lehnte Nana jedes Reden beim Sex ab. Selbst ein Flüstern störte sie. Aber jetzt, in einer Wohnung im schmuddeligeren Teil von Finsbury, leicht irritiert durch die Lederwäsche der Frau auf dem Dildo‐Karton und das schwarze Kabel der Nachttischlampe von Habitat, war Nana redefreundlich eingestellt. Eine Fantasie würde Mo‐ she eine Freude machen, dachte sie. Es würde den Abend ins Rollen bringen. Sie war übereifrig. Sie dachte dabei an Beruhigung. Aber Nanas Bitte machte Moshe nicht ruhiger. Wenn überhaupt, machte sie ihn nervöser. Moshe war ein Nervenbündel. Reicht es denn nie, einfach unanständig zu sein? Das ging Moshe durch den Kopf. Warum so kompliziert? Aber er ließ sich nicht entmutigen, noch nicht. Er überlegte. Er ent‐ wickelte einen Plot. Er dachte sich, dass Nana eine büh‐ nenreife Vorstellung wollte, und da hatte er Recht. Sie wollte eine detaillierte Fantasie. Sie wollte, dass er sich et‐ was ausdachte. Moshe dachte sich eine antisemitische Sexfantasie aus. Das mag überraschend kommen, ich weiß, aber das war die Sexfantasie, die Moshe schließlich einfiel.
Er leckte und schleckte und verhöhnte zwischendurch sein Mädchen aus der besseren Gegend, die einzige Tochter eines reichen Goj, mit Geschichten aus der Schatzkiste von Moshes jüdischer Ahnenreihe. Das war die Rache des Un‐ derdogs. Genauer gesagt, Nana hätte ihn für einen Under‐ dog halten können, aber Moshe hatte Einfluss und Manie‐ ren. Moshes Vater war auf der Jungfernfahrt der SS Shalom im Jahr 1964 dabei gewesen. Die Shalom war Israels ganzer Stolz – der Inbegriff von schnieke, bis hin zur wulstigen Modernität der Eames‐Ledersessel in jeder Kabine. Sie verfügte sogar über eine Synagoge. Ihr Lover war aus einflussreichem Hause. Moshes Ur‐ großvater beispielsweise war ein Held des East End. Er war Preisboxer. Man nannte ihn Yussel the Muscle. Und Nana war bloß Papas kleine Prinzessin. Im Gegensatz zu Moshe war sie verwöhnt und nicht metropolenerfahren. Sie wohn‐ te in einem Villenvorort. Sie wohnte, sagte Moshe an‐ geekelt, in Edgware. Und das stimmte auch. Das war nicht erfunden. Nana lebte mit ihrem Vater in Edgware. Edgware ist ein Vorort im Norden von London. An diesem Punkt seiner Geschichte hielt Moshe eine disziplinarische Maßnahme für angebracht. Ihm war das Material ausgegangen. Also gab er ihr ein paar zaghafte Klapse. Nana grinste, hob den Kopf und ließ ihn dann wie‐ der hängen. Er schlug sie erneut, diesmal fester, nur rutsch‐ te Moshe, weil er aufgeregt war, die Hand aus und klatschte nach unten, und er klapste ihr unbeholfen auf die fleischige Stelle, wo Pobacke und Oberschenkel aufeinander treffen. Sein Ungeschick ärgerte ihn. Er kam sich plötzlich lä‐
cherlich vor, wie er da zwischen Nanas Beinen kniete, mit dem rechten Arm in der Luft. Er fühlte sich nicht tyran‐ nesk. Er fühlte sich nicht sultanesk. Er fühlte sich wie nichts als Moshe. In der Wohnung über ihnen stolperte ein kleines Kind. Es fiel auf den Boden und fing an zu heulen. Das machte Moshe noch nervöser. Armer Moshe. Er war ein nervöser Sadist, ein schüchter‐ ner Arschficker. Er hatte eben keine Übung. Das machte ihm Sorge. Na ja, das war eine seiner Sorgen. Eine andere Sorge galt der Frage, wie viel Übung Nana darin hatte. Bei‐ de Sorgen gehörten untrennbar zusammen. Ganz entgegen seiner Veranlagung schlug Moshe Nana. Er schlug sehr fest zu. Nana gab einen unartikulierten Laut von sich.
3 Moshe machte sich bereit, im Knien. Er tunkte zwei Finger in ihre Möse, und sein Daumen drückte gegen ihr Arsch‐ loch. Seine Finger bildeten die Konfiguration, mit der man gemeinhin eine Bowling‐Kugel greift. Dann feuchtete er seinen Penis an und schob ihn dorthin, wo er ihr Arschloch zu finden hoffte, während er den Penis mit der rechten Hand nach unten drückte. Nana bat ihn aufzuhören. Sie sagte, es täte zu weh. Das war Moshes Stichwort, nicht nachzulassen. »Jede Schickse lässt sich gern von einem Judenjungen fik‐ ken«, antwortete Moshe etwas dick aufgetragen. Welch heroische Beharrlichkeit. Etwas irritiert spielte Moshe seine Geschichte weiter durch. Ich finde solche Be‐
harrlichkeit vorbildlich, wirklich. Mancher mag darüber spotten. Mancher mag sich darüber auslassen, dass es beim Sex nur auf Erfahrung ankommt – aber ich glaube das nicht. Auch Beharrlichkeit ist heroisch. Moshe verhielt sich vor‐ bildlich. Auf der linken Hand balancierend, mit der anderen mädchenhaft seinen Penis lenkend, während der dünne Zeigefinger das Arschloch lokalisierte, versuchte er ihn reinzustecken. Aber dieses Arrangement brachte ein unlös‐ bares Problem mit sich. Seinem untauglichen, zitternden linken Arm fehlte die Kraft. War ja schließlich auch ziem‐ lich schwierig, dachte Moshe – ein reglos daliegendes Mäd‐ chen in den Arsch zu ficken. Er spielte mit dem Gedanken, Nana zu sagen: »Lustsklavin! Kannst du ein bisschen hoch‐ kommen?« Aber Nana konnte ihm nicht behilflich sein. Das wusste er. Er wusste, dass sie ihm nicht ihr gefügiges, erwartungsfrohes Arschloch entgegenstrecken konnte. Das Geile war ja, sich nicht anmerken zu lassen, dass man es geil fand. Das hielt ihn auf. Nana, das Gesicht platt gedrückt, be‐ merkte das. Wenn sie schielte, konnte sie das Dunlopillo‐ Etikett auf der Matratze lesen, das blass durchs Laken schimmerte. Doch es gibt Augenblicke der Erleuchtung, und das war so einer. Moshe machte sich lang, streckte den Arm und bekam eine Tube Handcreme – Ren Tahitian Vanilla Hand and Body Milk – neben dem Bett zu fassen. Er schnippte sie mit Daumen und Zeigefinger auf und strich sie sich in seiner Erschöpfung einfach auf seine Schwanzspitze, über die Ei‐ chel, das Vorhautbändchen, über seinen ganzen erigierten
Schwanz. Dann legte er die Tube neben Nanas blonde, flau‐ mig geschnittene Haare und ließ sie für alle Fälle dort lie‐ gen. Von der Creme wurde sein Schwanz knallrot und brann‐ te. Er stieß wieder gegen sie und spürte eine ungewohnte, warme Enge, also hielt er inne. Wellen der Erleichterung über‐ spülten Moshe. Er gestattete sich einen selbstgefälligen Mo‐ ment. Wer hätte das nicht getan? Wir wollen uns doch nichts vormachen. Er fickte seine Kleine in den Arsch. Er verharrte in ihr, fühlte, wie er sich tiefer in sie hineinschob. Das war die Krönung von Moshes Abend. Er zog seinen Penis ein Stück zurück, ein Stück zurück, ehe er weiter vorstieß, und da rutschte er raus, runter und dran vorbei. In seiner Panik, bestürzt und beschämt, ver‐ suchte er, ihn schnell wieder in sein unnatürliches Futteral zurückzustecken, landete aber bloß in Nanas verdutzter Vagina. Optimistisch fickte er Nana trotzdem weiter. Er redete sich ein, Sex von hinten sei praktisch das Gleiche wie ein Arschfick. Er schraubte sich rein. Er wagte ein paar Stöße. Er versuchte es aus einem neuen Winkel. Aber nein. Das war kein Analverkehr. Daran bestand kein Zweifel. Moshe wusste es selbst. Es war das Gegenteil von Analver‐ kehr. Es war stinknormaler, heterosexueller, vaginaler Ge‐ schlechtsverkehr. Er entspannte sich auf Nana und dachte an Israel. Das hätte nun der Tiefpunkt von Moshes Abend sein müssen. Aber das war es nicht. Es kam noch schlimmer. Er lag schweigend da und begann zu denken. Beim Nach‐ denken wurde er ein wenig hysterisch. Ja, als es ihm über‐
lassen war, zu machen, was er wollte, wurde Moshe hyste‐ risch. Eine verkrampftere Sexszene als das hier, dachte Moshe, kann es nie gegeben haben. In der gesamten Geschichte des Sex kann es keine verkrampftere Szene gegeben haben. Sei‐ ne Gedanken wanderten ganz allgemein zu den anderen Paaren, den satten und zufriedenen Paaren in aller Welt. In jedem anderen Schlafzimmer schrien Mädchen und Jungen zu zweit, zu dritt oder, wer weiß, zu viert vor Ekstase. Sie bäumten sich auf, dachte Moshe, der unbewegliche Klotz. Sie waren ekstatisch. Das wusste er ganz sicher.
4 Ich möchte auf Moshes Problem näher eingehen. Es ist ein universelles Problem. Es ist der universelle Unsicherheits‐ faktor, selbst nicht universell sein zu können. In seinem ersten Buch, Über die Liebe, formuliert der französische Romancier Stendhal seine Theorie, warum wir gerne lesen. Sie lautet wie folgt: »Wie nun der Mensch über seine eigene Physiologie fast nichts weiß, außer durch ver‐ gleichende Anatomie, so verhindern bei den Leidenschaften unsere Eitelkeit und eine Anzahl anderer Ursachen, dass wir über unsere inneren Vorgänge Klarheit gewinnen, es sei denn, wir beobachten die Schwächen anderer. Wenn mein Versuch zufällig einen Nutzen bringen sollte, dann den, dass er den Geist zu derartigen Vergleichen anregt.« Ich will das erklären. Genau, wie man nicht weiß, wie der eigene Magen aussieht, so wenig weiß man auch, wie die eigenen Gefühle aussehen. Dass man nicht weiß, wie der
eigene Magen aussieht, liegt an der Haut darüber. Dass man nicht weiß, wie die eigenen Gefühle aussehen, liegt an der eigenen Eitelkeit und einer Anzahl anderer Ursachen. Um das Problem der Haut zu umgehen, haben wir Anatomiebücher. Um das Problem der Eitelkeit und anderer Ursachen zu umgehen, haben wir Romane. Vergleicht das mit Moshes übertriebener Sorge, während er da auf Nana liegt. Er fürchtete, dass alle anderen besseren Sex hatten als er. Er war gekränkt. Um über eine Kränkung hinwegzukommen, muss man sich unvorein‐ genommen und leidenschaftslos mit anderen Menschen vergleichen. Wenn man das tut, begreift man, dass jeder sich ab und zu ungeschickt anstellt. Nur einige wenige Auserwählte sind bei jedem Analverkehr erfolgreich. Es rückt die Proportionen wieder zurecht. Moshe brauchte einen Roman. (Er brauchte diesen Ro‐ man.) Moshe litt am Nichtvorhandensein des Romans. Dieser Roman hier zum Beispiel ist ein einziger großer Mi‐ niaturisierungsakt. Alles hat die richtige Größe. Hätte Moshe diesen Roman gelesen, wäre er glücklich gewesen. Es ist ein universelles Problem. Seht euch doch selbst an. Vielleicht war eure erste Reaktion auf Moshes kleinen Kummer ja beispielsweise, ihn einfach abzutun. Vielleicht fandet ihr ihn in seiner Schwäche unrealistisch. Ihr konntet euch einfach keinen Jungen vorstellen, der in Sachen Sex so neurotisch ist wie Moshe. Vielleicht fandet ihr diesen Text dazu noch obszön. Na ja, zu Anfang vielleicht. Eure Eitelkeit und andere Ursachen haben euch auf diesen Gedanken gebracht. Aber ich glaube gar nicht, dass ihr wirklich empört seid. Ich vermute, dass ihr selbst genauso seid. Vielleicht, aber nur vielleicht, ja auch nicht. Aber ich
stelle mir vor, euch ist irgendwann in eurem Leben etwas beinahe Identisches widerfahren. Natürlich ist es das! Dieses Buch soll Mut machen. Dieses Buch ist universell. Es ist eine vergleichende Studie. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass es nur mich betrifft. Weil es universell ist, soll es in diesem Buch auch keine herkunftsspezifischen Schwierigkeiten geben dürfen. Mos‐ hes Name könnte zum Beispiel ein Stolperstein sein. Es ist ein sehr jüdischer Name. Den hat er, weil das die einzige Konzession ist, die Moshes Vater gegenüber seiner jüdi‐ schen Familie machte, nachdem er eine nichtjüdische Frau geheiratet hatte. Vielleicht wisst ihr nicht, wie man den Namen ausspricht. Schön, dann verrate ich es euch. Moshe spricht man »Moisha« aus. So müsst ihr den aussprechen. Seht ihr? Ich möchte das hier keineswegs zur Privatsache machen. 5 Was Nana betraf, ihr war ein wenig unbequem. Ihre Hand‐ gelenke hatten sich an dem Metall der Handschellen wund gescheuert, während sie so tat, als sei sie gefesselt. Außer‐ dem hatte einer von Moshes eingerissenen Fingernägeln sie gekratzt. Sie sagte zu ihm: »Af‐hörn.« Moshe beugte sich vor, zog das lose pinkfarbene Seil auf, dann rollte er sich auf den Rücken und sah zu, wie sein Pe‐ nis zusammensank, sich zusammenzog und dann so blieb. Nana rieb sich die Handgelenke. Während sie rieb, regis‐
trierte sie ein kleinlautes Schweigen. Sie drehte sich auf den Rücken, um zu gucken, was mit Moshe war. Sie machte sich Sorgen, er könnte den Kopf hängen lassen. Sie machte sich Sorgen, er sei vielleicht traurig. Aber um keine Traurigkeit aufkommen zu lassen, dachte sie vernünftig, musste man nur vernünftig miteinander reden. Ach, Nana, wenn die Dinge doch so einfach wären. Wenn Moshe, nur mal angenommen, die notwendige Gelassenheit besessen hätte. Aber er besaß sie nicht. Im Gegenteil, Moshe war theatralisch. Er war von Grund auf theatralisch. Nanas Freund beherrschten zwei Emotionen, und keine von beiden half ihm weiter. Wie schon erwähnt, war das verbindende Element Hysterie. Moshe war ängstlich und beschämt. Er schämte sich, weil er vor ihr versagt hatte. Er war keine glaubwürdige Fantasie gewesen. Er war nicht realistisch rübergekommen. Und weil er dachte, er hätte sie enttäuscht, dachte er auch, sie sei sauer. Das musste sie ja sein. Und das schüchterte ihn ein, weil er dachte, dass sie vor Wut sarkastisch werden oder frustriert sein könnte. Das schüchterte ihn besonders ein, denn wenn Nana so richtig frustriert war, hätte er noch mehr Grund, sich zu schämen. Unterm Strich war er also mehr beschämt als einge‐ schüchtert. Aber Nana war weder sarkastisch noch frustriert, sondern ganz Entgegenkommen. Sie war freundlich und unbeein‐ druckt. »Alles okay mit dir?«, fragte Nana. Sie ist ganz Besorgnis! Das Mädchen ist beunruhigt! dachte Moshe beunruhigt. Seine Reaktion jedoch war simpel. Er improvisierte die Maske des entspannten Erfolgs. Alles war gut gelaufen, ent‐
schied er. Moshe war ein selbstsicherer Verführer. Zuerst hatte ein verblüffender Sexualakt stattgefunden, und nun, da sie erfüllt dalagen, beschloss er, sie wieder ganz aufs Neue zu umwerben, ihr die Geheimnisse seines lädierten Unbewussten anzuvertrauen. Deswegen hatten Leute Sex – wegen des Nachspiels, der stillen Vetrautheit, des Redens. Dies war ein Abend, der ihnen unvergesslich bleiben würde. Bei Gott, ja. Moshe antwortete nicht auf Nanas Frage. Er schilderte nicht seine seelische und physische Verfassung. Nun ja, nicht direkt. Er hielt ihr einen kleinen Vortrag. Mit abschweifendem Blick, weil dies Ausdruck von – nein, nicht Verlegenheit – von Aufrichtigkeit war, sagte Moshe: »Ich war mal mit meinen Eltern in einem kleinen Restron in der Normandie. Da sah ich durchs Fenster so eine Art Befreiungs‐Karneval, einschließlich einer Repro‐ Armee, die durch die Straßen marschierte.« Es hätte aber, und darauf wollte er hinaus, genauso gut die Besetzung sein können. Vielleicht spielten sie die Besetzung nach, sagte Moshe. Denn irgendwie konnte er über dem Dorf auch ein Schloss sehen, und wie sich blonde Männer in chemisch gereinigten Uniformen langsam bewegten, und einen winzigen Moshe, der irgendwie in die ganze Geschichte hineingezogen wurde. Und das war alles. Das war sein Beitrag zu der Katastro‐ phe: eine Anekdote über den Mini‐Moshe, eine unter‐ schwellige Angst – eine originelle Anekdote. Was wollte Moshe eigentlich sagen? Ich werde es euch verraten. Er wollte eigentlich sagen, dass es ihm Leid tat. Er wollte Nana bitten, nicht sauer zu sein. Er versuchte ihr
Mitleid zu erregen. Er wollte sagen, dass Moshe Angst vor den Nazis hatte. Aber Nana war nicht wütend. Sie war kein Nazi. Sie war nur verwirrt. Sie fragte sich, ob Moshe verlegen war. Sie fragte sich, welche anderen Erklärungen es für diese Szene‐ rie gab – Moshe, der charmante Plauderer im Bett, der ihr zwischen lauter Sexutensilien von seinen Kindheitsängsten erzählt.
6 Nana tat das Arschloch weh, wo Moshes Fingernagel sie ge‐ kratzt hatte. Darum rutschte sie hin und her. Sie suchte eine bequeme Stellung. Sie fragte sich, wie tief Moshe in ihren Arsch eingedrungen war, vorhin. Sie fragte sich, ob das bedeutete, dass sie jetzt infiziert war. Er konnte sehen, dass sie ihn ansah – nackt, auf dem Rü‐ cken liegend. Er war entblößt. Moshe fürchtete, Nana wür‐ de auf seinen Bauch sehen, guckte an sich runter, und dort war sein Penis. Sein Penis sah dumm und glitschig aus. Er sah deprimiert aus. Moshe stand auf und suchte sich etwas zum Anziehen. Es war erst neun Uhr abends, aber er wollte nur noch seinen Schlafanzug. Moshe kehrte zu seiner Travestie des Jüdischseins zurück. Er sagte: »Hat dir die jüdische Nummer nicht gefallen? Auf was Besseres bin ich nicht gekommen.« Moshe grinste deprimiert. Sie sah ihn an, stumm. Er war ein komischer Anblick. »Was ist?«, sagte er. Und sie grinste. Sie sagte: »Mein Engel, du bist nur halb jüdisch.«
Moshe stand vor ihr, den Körper leicht nach vorne ge‐ beugt. Sein Körpergewicht ruhte auf dem rechten Bein, das nun in kariertem Schlafanzug steckte. Der Fuß seines linken Beins war etwas vorgestreckt. Und sein Knie leicht an‐ gewinkelt. Er zog sich seinen Schlafanzug an. Nana fragte sich, warum sie glücklich war, wie sie so da‐ lag, während nacheinander die Straßenlaternen angingen. »Du bist ja nicht mal beschnitten«, sagte sie. »Wir wollen uns doch nicht zanken«, ermahnte er sie, während er auf der Suche nach dem linken Schlafanzug‐ hosenbein durchs Zimmer hüpfte.
2 Die handelnden Personen
1 Das hier ist zu weit gegangen. Ich sehe das ein. Vor diesem Experiment mit Sex und Bondage sind Moshe und Nana einander begegnet und haben sich ineinander verliebt. Nachdem das passiert war, doch noch vor dem Analverkehr, haben sie auch die Missionarsstellung, die Ejakulation auf Nanas Gesicht, Oralverkehr, Rollenspiele, Lesbianismus, Undinismus, den Dreier und Fisten auspro‐ biert. Nicht alles davon mit Erfolg. Eigentlich kaum etwas davon mit Erfolg. Falls diese Liste euch Sorgen macht, sollte ich etwas er‐ klären. In diesem Buch geht es nicht um Sex. Nein. Es geht um Integrität, Anstand und Güte. In dieser Geschichte geht es um freundliches Entgegenkommen. Wenn meine Figuren in diesem Buch Sex haben, dann wie alles, was sie tun, aus moralischen Erwägungen. Nachdem sie sich ineinander verliebt hatten, aber noch bevor sie mit lesbischer Liebe und Dreiern experimentier‐ ten, verknallte sich einer von beiden in ein anderes Mäd‐ chen.
Am Ende dieser Geschichte wird eine der Figuren an ei‐ nem Gehirntumor sterben. Wären die Dinge doch so einfach, wie sie aussehen. Wür‐ den Ereignisse doch ohne Vorgeschichte geschehen.
2 Das war also der Anfang und der Rest davon. Es war ein Theaterstück. Ihr Papa hatte Nana zu einer einmaligen Neuinszenierung ins Donmar Warehouse mitgenommen. Das Stück war Vera oder Die Nihilisten von Oscar Wilde. Es war der Auftakt einer Woche mit Werken von Oscar Wilde, erklärte Papa. Konzipiert hatte sie David Hare, der berühmte Verfasser politischer Bühnenstücke. Sie sollte zeigen, dass Oscar Wilde aktueller denn je war. Dass er ins einundzwanzigste Jahrhundert gehörte. Oscar Wilde als Homosexueller hatte begriffen, dass alles politisch war. Papa war im Beirat des Donmar Warehouse, daher musste er hingehen. Das sei sein Job, sagte er. Er hätte keine Wahl. Und er wollte nicht alleine hin. Er wollte mit Nana rein‐ gehen. Er versprach, es sei toll. Es war, wie er behauptete, eine Neuinszenierung im zeitgenössischen Gewand. David Hare habe das Stück als Klassiker bezeichnet. Aber es war nicht David Hare, der Nana überzeugte. Nein. Es war Papa. Sie ging mit, weil sie ihn liebte. Hier ist eine Erklärung am Platz. Papa war Witwer. Na‐ nas Mutter war gestorben, als Nana vier war. Und Nanas Mutter kommt in dieser Geschichte nicht vor. Nämlich
deswegen, weil sie auch in der Beziehung zwischen Nana und Papa nicht vorkam. Sie kam auf unauffällige Weise nicht vor. Nana betrachtete sie einfach als Papas beste Freundin. Immer wenn Nana sich ihre Mutter vorstellte, stellte sie sich vor, wie sie mit Papa plauderte. Und Nana wollte diese Gespräche zwischen ihrer Mutter und Papa nicht stören. Es war ihr lieber, dass die Gespräche ohne sie weitergingen. Aus diesem Grund waren Nana und Papa solch ein Duo. Deswegen gingen sie zu zweit in Vera oder Die Nihilisten. Und damit fing es an, dachte Nana später immer. Dieses Stück war der Anfang. Als die Lichter wieder angingen, nahm der privilegierte Papa Nana mit hinter die Bühne. Und da saß Moshe ritt‐ lings auf einem Plastikstuhl und räumte ein, ja, er sei der Star der Aufführung. Aber er habe das alles so satt. Er habe die ganze Bauchpinselei satt. Moshe war Schauspieler. Als Nana ihn das erste Mal sah, war das auf der Bühne – im Gegenlicht, melodramatisch. Nur dass sie ihn – damit zog sie ihn später auf, als sie ineinander verliebt waren – gar nicht richtig gesehen hatte. Nana wäre beinahe eingeschlafen. Oscar Wilde langweilte sie. Stattdessen hatte sie den Blick schweifen lassen – zum Lichtgerüst, zu dem aufgetakelten Paar, das sich links von ihr befummelte. Das polierte schwarze Holz ihres Sitzes und das unterdrückte Husten hinter ihr hatten sie genervt. Aus diesem Grunde erkannte sie es nicht als Anspielung, als Moshe – der Schauspieler, der Prinz Paul Maraloffski gespielt hatte – später, hinter der Bühne, sich erhob und sein prinzliches Lächeln aufsetzte. Das Einzige, was sie sah,
war eine Stelle mit Zahnstein oben auf Moshes beiden mittleren Schneidezähnen. Ein Auge war seltsamerweise kletʹ ner als das andere. Das mag gemein von ihr aussehen, war es aber nicht. Manche Menschen sind immer schön, und alle Menschen können manchmal schön sein, aber Moshe war ein Sonder‐ fall. Er war ein Fleisch gewordenes Dramolett. Das lag zum Teil daran, dass er mit seinen eins siebzig eher klein geraten war, und an der leichten Wölbung seines Bauches. Haupt‐ sächlich lag es an dem komischen, agilen Mienenspiel sei‐ nes fleischigen Gesichts und seinen großen, braunen, un‐ terschiedlichen Augen. Er war der unbeständige Typ, der sardonische, der verrückt‐coole. Weil er wegen seiner schlechten Zähne gehemmt war, biss sich Moshe oft rechts unten auf seine Unterlippe. Das verlieh ihm einen gewissen Charme. Es gab ihm einen schüchternen Reiz. Moshe war nicht hübsch, aber er war charmant. Er besaß eine verspielte Anmut.
3 Oft ist es langweilig, gar banal, wenn Menschen ihrem Part‐ ner zum ersten Mal begegnen. Manche Menschen haben damit Schwierigkeiten. Oft ist es einfach zu banal. Das ist vor allem für Menschen schwierig, die an großartige Dinge wie Bestimmung, Schicksalsfügung und Seelenverwandt‐ schaft glauben. Nadeschda Mandelstam hatte zum Beispiel damit Schwierigkeiten. Nadeschda war die Frau des sowjetischen Dichters Ossip Mandelstam, der im Gulag starb. Nadeschda glaubte an erhabene Dinge. Sie glaubte an Bestimmung. Sie
beschrieb Ossip wie folgt: »An seiner Bestimmung hegte er nie Zweifel und nahm sie so selbstverständlich hin wie sein späteres Schicksal.« Nachdem ich nun schon so weit ausgeholt habe, kann ich auch noch etwas weiter ausholen. Ist das verlogen! »Er hatte nie den geringsten Zweifel an seiner Bestimmung und nahm sie so selbstverständlich an wie sein späteres Schicksal.« Ich finde das unmoralisch. Da‐ mit sagt Nadeschda durch die Blume, dass Ossip den Tod im Gulag schicksalsergeben hinnahm. Sie könnte auch gleich sagen, es sei reines Poetenglück für ihn gewesen, im Gulag zu sterben. Nein, eine derartige Selbststilisierung verstehe ich nicht. Ich stelle es mir schwierig vor, Nadeschdas Ehemann zu sein. Da wäre es schon schwierig, in Frieden einen Teller Nudeln zu essen. Es wären immer schicksalhafte Nudeln. Seiʹs drum. In ihrer Autobiografie Das Jahrhundert der Wölfe beschreibt Nadeschda, wie sie den großen, romanti‐ schen Dichter Ossip Mandelstam kennen lernte. »An den Abenden trafen wir uns in einem Nachtklub für Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Musiker. Er befand sich im Keller des größten Hotels der Stadt, in dem einige Beamte aus Charkow untergebracht waren. M. war es gelungen, einen Platz in dem Zug zu buchen, mit dem sie gekommen waren, und darum wurde ihm versehentlich ebenfalls ein sehr hübsches Zimmer in dem Hotel zugewiesen. Am ersten Abend kam er nach unten in den Klub, und wir fanden sofort mit der größten Selbstverständlichkeit zueinander. Für uns hat unser gemeinsames Leben dort begonnen, am 1. Mai 1919, obwohl wir uns gezwungen sahen, danach noch anderthalb Jahre getrennt zu leben.«
Wenn man diese Passage in eigenen Worten zusammen‐ fasst, tritt die wahre Geschichte zutage. Und die lautet un‐ gefähr so: Ossip tauchte ganz zufällig auf. Er ging in eine Hotelbar und unterhielt sich mit einer Gruppe von Mäd‐ chen. Eines von ihnen fand er ganz nett. Er sah diese junge Frau ein oder zwei Jahre nicht wieder und hatte sie völlig vergessen. Als er ihr wieder über den Weg lief, erinnerte sie sich nicht an ihn. Er musste ihr auf die Sprünge helfen. Sie verziehen sich das und redeten sich beide ein, dass es das Schicksal gewesen sein musste, das sie wieder zusammen‐ geführt hatte. Also, keine meiner Hauptfiguren war derart romantisch. Aber sie waren, wie wir alle, ein bisschen romantisch. Da‐ her fanden sie es irgendwie schade, dass die erste Begeg‐ nung so banal verlaufen war. Es war irgendwie schade, dass sie sich nicht verliebt hatten.
4 Papa hatte ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt. Er fragte Moshe über die Geschichte des Prinzen Kropotkin aus. Das wirkt vielleicht sehr intellektuell. Das wirkt vielleicht, als wüsste Papa alles über den historischen Hintergrund von Oscar Wildes Vera oder Die Nihilisten, ein Stück über den russischen Anarchismus. Aber das war nicht intellektuell. Es bewies nur, dass Papa das Programmheft gelesen hatte. Papa war hingerissen von den wunderbaren Facetten, die er in Moshes Interpretation der Rolle des Prinz Paul Mara‐ loffski entdeckt hatte.
Moshe blickte, ganz bescheiden, zu Boden und auf Papas zweifarbige Schuhe und deren ineinander greifende Kurven von Leinen und Leder. »Oh ja«, sagte Moshe. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, diese Szene zu finden.« Doch war Moshe wirklich so bescheiden? Nein, war er nicht. Moshe hatte ein rötliches Ekzem auf den Spitzen und Innenseiten seiner Finger, das er verbarg, indem er die Hän‐ de ballte und verschränkte. Er hatte seine Hände hinter dem Rücken verschwinden lassen. Darum verfügte er nur über eine begrenzte Anzahl stolzerfüllter Gesten. Also stand Moshe mit leicht geneigtem Kopf und fest hinter dem Rücken verschränkten Händen da und würdigte den Kunstverstand seines Mäzens. Papa bewunderte die Würde, das unübersehbare Savoir‐ faire einer derart noblen Pose.
5 Moshe war ein gelangweilter Bühnenprofi. Er langweilte sich hinter der Bühne. Die Tristesse deprimierte ihn. Ich kann das gut verstehen. Vorgetäuschter Glanz ist deprimie‐ rend, wenn er nur Fassade ist. Aber es gab noch einen wei‐ teren Grund für Moshes depressive Anwandlung. Es war kein Mitglied des Königshauses zugegen. Des Königshauses ? Kürzlich, an einem Samstagmorgen, hatte Moshe in der Barbican Hall durch Benjamin Brittens The Young Persons Guide to the Orchestra geführt. Dieser Veranstaltung hatte die Königinmutter beigewohnt. Und Moshe fand es schön,
Ihrer Majestät vorgestellt zu werden. Er fand es sehr schön, ihr vorgestellt zu werden. Zuerst stellten sich die Musiker hinter der Bühne U‐för‐ mig auf. Moshe, der Neuling, landete am einen Ende der Reihe. Vom Flur her konnte er die Stimme der schwatzen‐ den Königinmutter hören. Jedenfalls nahm er an, dass es die Stimme der Königinmutter war. Sie war nasal. Sie war sehr aristokratisch. Dann erschien sie endlich. Moshe stand der Tür am nächsten. Das war eine Kata‐ strophe. Das bedeutete, dass Moshe als Erster der Königin‐ mutter vorgestellt wurde. In höfischer Etikette ungeübt, hatte Moshe vorgehabt, es einem der anderen nachzuma‐ chen. Er hatte sich vorgenommen, auf die Erste Geige zu achten. Die Erste Geige trug ein Frackhemd mit einer abge‐ steppten, plissierten und gerüschten Hemdbrust. Alle ande‐ ren trugen ordinäre weiße Hemden von Marks & Spencer. Die Erste Geige, dachte Moshe, würde wissen, wie man die Königinmutter ansprach. Aber die Erste Geige konnte Moshe jetzt nicht helfen. Elizabeth dackelte unaufhaltsam näher, auf einer Bahn unterhalb von Moshes Brustwarzen. Sie war höchstens eins dreißig groß, schätzte er. Das zermürbte ihn noch mehr. Und Moshe blieb stocksteif stehen. Er verbeugte sich nicht. Moshe gab ihr die Hand und sagte: »Hi.« Die Königinmutter fabrizierte ein Lächeln. Ihre Hofdame, Lady Anne Screeche, erstarrte. Unter allen möglichen Katastrophen war diese eher eine kleinere. Das Besondere an königlichen Hoheiten ist, dachte Moshe verblüfft, dass sie königlich sind. Und damit hatte er Recht.
Die Königinmutter war die Königinmutter. Aber genau die Königinmutter. Dann begann das Gespräch. An einem Ende des Raums saß die Königinmutter in einem pompösen Lehnsessel, da‐ neben zwei kleinere Sessel. Der Direktor des Barbican wählte zwei Leute für die beiden kleineren Sessel aus. Alle anderen sahen zu. Sie taten so, als sähen sie nicht zu, und aßen ihre Kaviar‐Kanapees, doch sie sahen zu. In sorgfältig bemessenen Abständen wurde unter Oberaufsicht des Di‐ rektors einer der Sessel frei gemacht und neu besetzt. Moshes Partner beim Gespräch war die Dritte Klarinette. Sein Name war Sanjiv, und er wohnte in Harrow Weald. Moshe langweilte sich. Sanjiv fragte die Königinmutter, ob sich in den hundert Jahren ihres Lebens viel geändert habe. Sie erwiderte ooh sicher doch. Sie hätte nie geglaubt, dass sie sich an Straßenbahnen gewöhnen würde. Dann wandte sie sich an Moshe und schaute mit ihren kleinen grauen Augen hoch in seine großen braunen Augen und sagte: »Aber man gewöhnt sich an alles? Nicht wahr?« Flirtet sie etwa?, dachte Moshe, plötzlich bestrickt, berückt von dieser melancholischen Grande Dame. Er schaute sie an und fragte sich, ob er sie attraktiv finden könnte. Er konnte. Und was wäre sie für eine Freundin, dachte Moshe. Wäh‐ rend die Königinmutter von ihrer kürzlich erfolgten Unter‐ weisung im E‐Mail‐Schreiben erzählte, schweiften Moshes Gedanken ab. Er hatte einen Tagtraum. Er als ihr Lustknabe. Er als Trost ihrer letzten Jahre. Er malte sich die Fotostrecke in Hello! aus – ein Bildbericht über die Königinmutter und ihren Galan. Nicht nur in Hel‐ lo!, auch in Hola! würden Bildberichte stehen. Vielleicht
würden sie sogar etwas in Paris Match bringen. Elizabeth und Moshe würden gemeinsam die ganze Welt bereisen, in einem einzigartigen Liebesnest von Yacht. Es wäre keine di‐ rekt sexuelle Anziehung, räumte er ein. Nun ja, vielleicht doch. Ihm wäre es gleich. Aber er stellte sich vor, dass es, realistisch betrachtet, einfach beiderseitige Vernarrtheit sein würde. Und wenn bekannt würde, dass ihr Testament zu seinen Gunsten geändert worden war und die Boulevard‐ presse unschöne Worte für ihn fand, würden die, die ihr nahe standen, verstehen. Ihre Hofdame, Lady Anne Scree‐ che, würde verstehen. Moshe blickte Elizabeth Windsor liebevoll an. Nachsichtig nahm er die aufgerauten Spitzen ihrer abgeschabten und himmelblauen Schuhe zur Kenntnis. Die Zeit wurde knapp, dachte er. Er spekulierte über die Reize, die ihr kunstvoll drapierter Chiffon verbarg. Ihre Beine waren seltsam, muss–te er gestehen. Ihre Schienbeine waren dick vom Wasser in den Beinen. Sie sahen aus wie aus Plastik. Sie hatte die Beine einer sehr ungewöhnlichen Barbie‐Puppe. Und ihre Arme waren rissig und voller blauer Flecken. Moshe stellte sich plötzlich vor, wie die Königinmutter Heroin auf einem Silberlöffel aufkochte, während sie mit den Zähnen eine seidene Aderpresse strammzog, die um ihren Arm geschlungen war. Vielleicht band ihr ja auch Lady Anne Screeche den Arm ab – vielleicht erledigte Lady Anne alles für sie. Nichts davon war sehr wahrscheinlich. Und ich glaube, er tat recht daran. Ich halte es nicht für denkbar, dass die Königinmutter eine nymphomane Dro‐ gensüchtige war. Aber Moshe tat recht daran, es in Erwä‐ gung zu ziehen. Es ist immer wichtig, sich alternative Vor‐
stellungen vom Leben der Reichen und Berühmten zu ma‐ chen. Man kann dabei schön an der eigenen Einfühlsamkeit arbeiten. Es hilft, sich in andere hineinzuversetzen. Oh, dachte Moshe. Oh, du Zuckerschnecke. Und dann, als wäre er nicht schon entzückt genug, der handgeschriebene Dankesbrief. Adressiert an den Direktor des Barbican, auf sechs Oktavbögen Briefpapier aus dem Clarence House mit dem Prägestempel eines schnörkelig umkränzten ER und einer Krone drüber, schrieb sie: »Es bedeutet für mich immer wieder große Freude und bange Erwartung, wenn ich meine Einladung ins Barbican bekomme. Alle Konzerte sind so perfekt. Aber es bedeutet auch bange Er‐ wartung, gerade weil sie so perfekt sind! Jedes Jahr fürchte ich für die neuen Künstler. Ich fürchte, es könnte unmöglich sein, es wieder so zu genießen wie im Vorjahr. Aber das habe ich! Vielleicht haben Sie nie Sir Max Beerbohm gelesen, aber er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller, und in seinem Buch Zuleika Dobson beschreibt er, wie jedermann sich in ein junges Mädchen mit Namen Zuleika verliebt, weil sie so schön ist. Natürlich ist es nicht ganz richtig, Sie alle Zuleika zu nennen, da Sie zu so vielen und alle so talentiert sind. Aber ich muss gestehen, dass ich jedes Mal, wenn ich Sie spielen höre, ebenso ehrfürchtig staune wie einer von Zuleikas Bewunderern. Vielleicht finden Sie diesen Brief etwas zu leicht beschwingt für einen solchen Anlass, doch als ich Sie am Samstag verließ, fühlte ich mich so euphorisch, und ich fürchte, ich bin es immer noch. Mit herzlichstem Dank verbleibe ich Ihre Elizabeth R.«
Was für ein entzückendes Geschöpf, hatte Moshe gedacht, als er seine persönliche Fotokopie las. Das alte Mädchen ist
in Ordnung. Und was ist schließlich falsch an guten Um‐ gangsformen, dachte Moshe? Und da stimme ich ihm zu. An solchen Tugenden ist überhaupt nichts falsch.
6 Und deswegen sehnte sich der arme, erschöpfte, ungeduldi‐ ge Moshe im Gespräch mit Papa nach königlichen Um‐ gangsformen. Er kannte diese Treffen hinter der Bühne zur Genüge. Sie langweilten ihn. Wenn nicht gerade eine attraktive Witwe da war, waren solche Partys für Moshe bedrückend. Nicht der Champagner und die Kaviar‐Kanapees bedrückten ihn, sondern die Leute. Der Verwaltungsrat nervte ihn. Da war man nun, dachte Moshe mürrisch, und sie erwarteten Dankbarkeit von einem. Sie wollten, dass man von ihren Erkenntnissen zur Schauspielerei fasziniert war. Moshe hat seine Probleme, genau wie wir alle. Er kann ganz schön unwirsch sein. Besonders wenn er sich langweilt oder fürchtet. Gestehen wir ihm das ruhig zu. Ignorieren wir einfach diese mürrische Stimmung. Verzeihen wir die Tatsache, dass er Papas persönliche Höflichkeit nicht als solche erkannte. Er war zwar nicht königlicher Abkunft, aber Papa hatte seine ganz eigene Etikette. Er hatte so etwas Herzliches an sich. Und obwohl ich das Wort »herzlich« nicht mag, ist es doch ein Wort, das Papa mochte. Daher werde ich ihn herz‐ lich nennen. Ich werde sogar noch weiter gehen. In Aner‐ kennung Papas und seiner weltfernen Instinkte werde
ich ihm ein Bild zuordnen. Papa ist der gute Engel in dieser Geschichte. Dass Papa so angeregt über Prinz Kropotkin plauderte, hatte zwei Gründe. Einmal war es Papas erster Auftritt als Verwaltungsratsmitglied. Daher wirkte er begeistert. Er be‐ eindruckte den Verwaltungsrat mit seinem Engagement. Und abgesehen davon war er auch freundlich. Dass er mit Moshe über Prinz Kropotkin sprach, sollte Moshe schmei‐ cheln. Es war keine Besserwisserei. Es sollte zeigen, dass Papa von Moshes Darbietung hingerissen war. Es war ein Kompliment.
7 Während Moshe deprimiert bei Papa stand, hatte sich Nana davongestohlen. Der schwierige Moshe hatte sie ver‐ unsichert. Sie wusste nicht, was sie zu einem Mann sagen sollte, der ihren Papa so beeindruckte. Hier dagegen war ein hübsches, gesprächiges Mädchen namens Anjali, das das funkelnde, grüne Glasperlennetz von Nanas Armband bewunderte. Nana sagte, das Armband sei oooh, furchtbar unbequem. Es sähe okay aus, würde ihr aber ins Hand‐ gelenk schneiden. Sie sah Anjali an und Anjali lächelte sie an. Nana nahm ihre kleine schwarze Brille ab und drehte sie am rechten Bügel zwischen zwei Fingern. Anjali ist die zweite Heldin dieser Geschichte. Nana bewunderte vor allem, wie Anjali geschminkt war. Darum will ich es beschreiben. Ganz oben auf den Wangen‐ knochen trug Anjali pinkfarbenes Rouge, das sie bis zum unteren Lidrand verwischt hatte. Ums Auge herum trug sie
kohlschwarzen Eyeliner. Unter den Brauen hatte sie dezent braunen Lidschatten aufgetragen, der sanft in den natürli‐ chen Hautton überging. Nana gefiel das. Anjali hatte Stil. Nana nahm ein Glas Champagner. Dann nahm sie ein Miniblini mit rotem Kaviar und Sauerrahm. Dann ein wei‐ teres Miniblini, auf dem eine schnucklige Garnele lag wie ein Minicroissant. Sie klemmte den Champagner in aben‐ teuerlichem Winkel zwischen Mittel‐ und Ringfinger. Sie sagte: »N cooler Name, Anjali klingt cool.« Sie sagte: »Ich heiße Nana.« Vielleicht sollte ich etwas zu Nanas Namen sagen. Ich sehe ein, dass er ein bisschen komisch klingt. Ihr richtiger Name war Nina. Aber als Nina ein Baby war, konnte Nina nur Nana sagen. Daher hieß Nana Nana. Sie verstummten. Anjali kramte in ihren Taschen nach Zigaretten. Sie fand eine und schob sie sich in den Mund. Nana sagte: »Nwas für Stücken bist du sonst so gewesen?« Es war nur Smalltalk. Aber Smalltalk ist nicht immer gleich Smalltalk. Im Grunde weiß man nicht, was man her‐ ausbekommt. Manchmal stellt man eine gargantueske Fra‐ ge, und jemand stimmt einem einfach zu. Oder man stellt eine beiläufige Frage und erhält eine gargantueske Ant‐ wort. Als Antwort auf Nanas Frage: »Nwas für Stücken bist du sonst so gewesen?«, breitete Anjali die Geschichte ihres be‐ ruflichen Werdegangs vor Nana aus. Anjali war anfangs eigentlich Schauspielerin gewesen. Aber was sind schon Anfänge? Wer will schon bestimmen, wann etwas beginnt? Nein, Anjali hatte als Schauspielerin angefangen. Dann lernte sie, nein, kürzlich hatte sie eine
Stimmtrainerin kennen gelernt, ein Mädchen aus Polen. Na ja, kein Mädchen, eigentlich eher eine Frau. Sie war das Klischee der älteren Frau. Und diese Frau war leidenschaft‐ lich, sie liebte die Oper, sie liebte den Belcanto des neun‐ zehnten Jahrhunderts. Sie liebte Sängerinnen mehr als Schauspielerinnen. Und Anjali hatte gar nicht Sängerin werden wollen. In der Schule hatten sie ihr gesagt, sie solle sich im Singen versuchen. Aber sie hatte es erst versucht, als sie sich verliebte. Nun, das ist der traurige Teil – ja, An‐ jali hatte eine todtraurige Geschichte, lachte Anjali – denn Anjali war eine bemerkenswerte Sängerin, wirklich wun‐ derbar. Nein, wirklich. Sie war der perfekte Mezzosopran. Ihr Timbre war der Hof um den Mond. Wer hätte das ge‐ dacht? Sie hatte eine Hof‐des‐Mondes‐Stimme. Aber Zosia – dieses Mädchen aus Polen hieß Zosia – liebte nur Bellini, den italienischen Komponisten Bellini. Und Bellini inter‐ essieren Mezzos nicht. Nein, für Bellini gibtʹs nur Soprane. Die Hauptfigur ist immer ein Sopran. Und Zosia wollte eine romantische Hauptfigur. Sie wollte eine Sopran‐Anjali – dunkle Färbung, beeindruckender Stimmumfang. Und An‐ jali, ja, Anjali war in Zosia verliebt. Also übte sie. Aber sie landete nur irgendwo dazwischen – ein Inter‐Mezzo, lachte die einsame Anjali. Und das polnische Mädchen verließ sie wegen eines anderen Mädchens. Na, wie auch immer, sagte sie. Sie hatte ja immerhin ihre Sprechstimme. Und das war sie ja auch eigentlich – Schauspielerin. Also war alles in Ordnung. Was sie damit zu sagen versuchte, lachte Anjali, war, dass sie in keinem Stück aufgetreten sei, nicht in letzter Zeit. Sie machte zurzeit vornehmlich Film. Film. Nun ja, hauptsächlich Werbung. Werbung, sagte sie, wird etwas besser bezahlt. Dieses Stück mit Moshe machte sie bloß so.
Hast du ihn kennen gelernt? Er war ein guter Freund von ihr. Oh sie waren schon seit einer halben Ewigkeit befreun‐ det. Sie machte das nur aus Gefälligkeit. Toll. Wahnsinn. Es ist wirklich anstrengend, der zu sein, der nicht redet.
8 Und Nana war eine, die nicht redete. Vielleicht überrascht es euch, dass Nana Anjali nicht unterbrach. Sie stellte ihr keine tiefer gehenden Fragen. Man sollte meinen, dass einem etwas dazu einfällt, wenn ein hübsches Mädchen namens Anjali anfängt, einem etwas über sein lesbisches Liebesleben zu erzählen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass manche Menschen Anjalis kleinen Vortrag als Einladung verstanden hätten, sie auszufragen. Aber Nana war keine Ausfragerin. Sie war zurückhaltend. Sie war schön und schüchtern. Nana war keine, die redete. Die meisten Menschen, die nicht hübsch sind – und das sind die meisten Menschen –, halten hübsche Mädchen für selbstbewusst und hochnäsig. Aber ich glaube, da sind sie im Irrtum. Hübsche Mädchen sind weit häufiger eher schüchterne Mädchen. Sie können schlaksig, nervös, un‐ vorteilhaft gekleidet sein. Häufig sind sie überrascht, dass man sie überhaupt hübsch findet. Ich vermute, bei hübschen Mädchen wird vorausgesetzt, dass sie hochnäsig sind, weil die Leute meinen, hübsche Mädchen wären permanent hübsch. Das macht sie zum Ge‐
genteil von nichthübschen Leuten — die nur gelegentlich hübsch sind. Aber Hübschsein ist ebenfalls Schwankungen unterworfen. Kein hübsches Mädchen ist permanent hübsch. Hübschsein ist sogar altersmäßig variabel. Manche Menschen sind hübsch, wenn sie vierzehn sind, und andere Menschen sind knackige Siebenundsechzigjährige. Manche Menschen sind nur mit vier Jahren hübsch, und das ist tragisch. Und Nana war hübsch. Nana war schön. Aber wie schön war Nana? Nana konnte nicht nicht schön sein. Sie versuchte, nicht schön zu sein, und war trotzdem schön. So schön war sie. Nana hatte es schon mit langem Haar probiert, mit kurzem Haar, mit Fransenpony, mit dem Bob, dem durchgestuften Bob, dem Meckischnitt, dem straff zurückgebundenen Pfer‐ deschwanz und mit Strähnchen, und gerade testete sie den asymmetrischen Kurzpony. In einem Anfall von Retro‐ begeisterung war sie sogar einen Monat lang mit ondulier‐ tem Haar herumgelaufen. Sie konnte nicht nicht schön sein. Im Directorʹs Cut auf der Edgware High Street ließen die Friseure ihre unglücklichen Klientinnen mit nassen Haaren sitzen, um Nana beraten zu können. Nennen wir die Friseure Angelo und Paolo. Nana bezauberte sie beide. Angelo hatte einen bleistiftdünnen Schnurrbart und schwarze Locken. Es sei ihre Blässe, sagte er. Paolo fand, es sei ihre Blässe und die Farbe ihres Haars. Sie fragten, ob sie ihr Haar jemals gefärbt habe. Nein, sagte Nana. Sie rieten ihr, es niemals zu färben. Es sei eine äußerst außerge‐ wöhnliche Farbe. Es war eine ganz merkwürdige Mischung, irgendwas zwischen Blond und Weiß.
Ihr Haar war schön. Nana war groß, schlank, blass, blond, vollbusig. Ihre Brillengläser waren kleine schwarze Recht‐ ecke, und sie war immer noch hübsch. Aber als sie klein war, war sie hässlich gewesen — und nur das zählte. Als sie zur Schule ging, war Nana die Längste, die schlaksigste Brillenschlange. Sie war maskulin und herb. Und das wirkte nach. Ihre ganze Kindheit über hielt sich Nana für hässlich. Alle sagten, sie wäre hässlich. Die Konsequenz war, dass sie hübsche Menschen nicht mochte. Oder genauer, dem Hübschsein keinen Wert bei‐ maß. Stattdessen wurde aus ihr die Kluge, die Vorsichtige, die Stille. Wenn man vierzehn ist, ist man schlaksig und maskulin. Wenn man fünfundzwanzig ist, ist man langbeinig und ele‐ gant. Das ist nicht ohne Ironie. Das ist ein psychologisches Problem. Jetzt, wo sie schön war, war sie für ihre Schönheit aner‐ kannt. Und so viel Anerkennung verwirrte Nana. Angelo und Paolo brachten sie in Verlegenheit. Sie fühlte sich grundlos bevorzugt. Sie war ein Mädchen, das seine Schön‐ heit hasste. Sie misstraute ihr. Schönheit gab ihr Macht, und das beunruhigte sie. Aber was sollte sie machen? Man kann Leute nicht bremsen, wenn sie einem sagen, wie hübsch man sei. Man kann den Leuten nicht sagen, dass einem das Aussehen gleichgültig ist. Wenn man das tut, wirkt man prätentiös. Man wirkt scheinheilig. Aus diesem Grund war Nana zur Nichtssagerin gewor‐ den. Es mag hochnäsig oder wunderlich gewirkt haben, wo sie doch hübsch war. Aber das war es nicht. Verunsicherte Schönheit – so würde ich Nana beschrei‐ ben.
9 Derweilen plauderten Moshe und Papa. Moshe sagte: »Sie sind also im Bankwesen. Ist das, ich meine, sind Sie? Ist das so?« »Tja, kommt drauf an, was Sie unter Bankwesen ver‐ stehen«, sagte Papa. »Tja, keine Ahnung«, sagte Moshe. »Es ist weniger Bankwesen als Finanzdienstleistungen und so«, sagte Papa. »Verstehe«, sagte Moshe. Papa sagte: »Elemente des Risikomanagements im globalen Kontext. Aus‐ sagefähige Risikodaten. Kreditrisikomodellierungen. Die neuen Standards durch GARP.« Moshe gaffte. »Garp?«, sagte er. »Generally Accepted Risk Principles«, sagte Papa. »Nicht zu verwechseln mit GAAP – Generally Accepted Accounting Principles. Das verwechseln die Leute oft.« »Ich weiß«, sagte Moshe. »GARP – GAAP. Ärgert mich auch jedes Mal.« Das brachte ihm keinen Lacher. Er versuchte es noch mal. Moshe sagte: »Ich kenne einen Banker–Witz.« Papa nahm ein weiteres Glas Champagner. Moshe sagte: »Was ist der Unterschied zwischen einem englischen und einem sizilianischen Buchhalter?« Er wartete. »Na? Soll ich es Ih‐ nen verraten?«, sagte er. »Soll ich es Ihnen verraten?« »Verraten Sie es mir«, sagte Papa. »Der englische«, sagte Moshe, »kann einem sagen, wie viele Menschen im Jahr sterben werden. Der sizilianische kann einem auch ihre Na‐ men und Adressen geben.« Das brachte ihm einen Lacher. Das brachte ihm einen höflichen Lacher. Papa sagte, dass man darüber keine Witze machen solle. Bekümmert erzählte er Moshe, das Bankwesen sei der beste
Weg, seine Gesundheit zu ruinieren. »Kennen Sie New York?«, sagte Papa. »New York ist einfach Wahnsinn. Es kam mir immer so vor, als müsste ich mein Kopfkissen mit zur Arbeit nehmen und irgendwann direkt im Konferenz‐ raum sterben. Als ich noch beim Bankerʹs Trust arbeitete, also da war ein Freund von mir, Charlie Borokowski, ein ganz lieber Kerl, merkwürdige Krawatten mit ägyptischen Mustern. Mit ägyptischen Mustern. Wo war ich. Wahnsinn. New York ist reiner Wahnsinn. Ach ja, Charlie Borokowski. Charlie hat zwei Tage rund um die Uhr Zahlen für die Bilanzen vorbereitet, irgendwas mit Capturing Funds. Am Montagmorgen kam er zur Arbeit, und am Mittwoch müsste ich ihn buchstäblich raustragen. Er erinnerte sich nicht mal, dass er bei dem Meeting überhaupt dabei gewe‐ sen war. Er hatte sehr weiße Zähne«, sagte Papa. »Angeb‐ lich vom Apfelessen.« Papa sagte: »Man merkt, dass sie einen Deal machen wol‐ len, wenn sie sagen, also, wenn sie ans Telefon gehen und sagen: ›Hey hey alter Junge.‹ Daran erkennt man, dass sie einen Deal machen wollen. Sie sagen: ›Hey hey alter Jun‐ ge‹« »Das gefällt mir«, sagte Moshe. »Ja, mir auch«, sagte Papa. Papa mochte diesen Schauspieler. Er mochte Moshe sehr.
IO Nana sagte: »Hast du schon meinen Vater kennen gelernt? Ich möchte, dass du meinen Vater kennen lernst.« Anjali sagte: »Äh äh ja ich.« »Oh, du musst ihn kennen lernen«,
sagte Nana. Sie führte Anjali rüber zu Papa. Sie stellte An‐ jali Papa vor. Papa stellte Nana Moshe vor. Papa und Anjali begannen sich über Papas tollen Schlips zu unterhalten. Nana sagte: »Es ist ja ausverkauftes Haus, das muss Sie freuen«, worauf Moshe sagte: »Ach, das ist nur bestellte Claque.« Diese Bemerkung sollte charmant, bescheiden klingen. Sie war als Witz gedacht. Unglücklicherweise blieb der Sinn dunkel. Nana hatte keine Ahnung, was mit »Claque« ge‐ meint war. Sie beäugte ihn schüchtern. Sie sagte: »Was ist denn eine ›Claque?‹« Sie trank aus ihrem Champagnerglas, und erst da fiel ihr auf, dass es leer war. Moshe tat so, als hätte er das nicht bemerkt. Stattdessen erklärte er die Mauscheleien der Theater, ihre Zwei‐für‐eins‐Angebote, Bestechungsgeschenke und so weiter. Sie sagte: »Ach.« Dann hatte sie eine ganz praktische Sorge. Sie sagte: »Muss ja stressig sein, die ganzen Texte zu lernen. Ich hasse es, etwas auswendig lernen zu müssen.« Sie setzte ihre Brille wieder auf. Zwei Dinge bezauberten Moshe. Das Bezauberndste war: Sie war eins der schönsten Mädchen, die er je gesehen hatte. Das Zweitbezauberndste: Sie war außerdem noch lie‐ benswert. Sie machte sich Gedanken um Moshes Wohl‐ befinden. Sie muss einen Freund haben, dachte Moshe. Also versuchte Moshe, Eindruck zu schinden. Als Intel‐ lektueller sagte er da: »Aber es ist so, es ist so interessant, darin mitzuspielen.« Sie nickte. Moshe sagte: »Ehrlich, bloß. So. Is ne tolle Rolle. Der Text ist kein Problem.« Nana guckte nachdenklich. Sie sagte: »Aber diese ganzen sich
wiederholenden Witze. Ein paar von den Sätzen sind grauenhaft. ›Ich habe das Gefühl, der Geist Charlotte Cor‐ days erfüllt jetzt meine Seele.‹ Das ist doch grauenhaft. Es ist so romantisch.« Moshe wünschte, er hätte nicht gesagt, es sei eine tolle Rolle. Er wünschte, er hätte ihr einfach zugestimmt. Er machte einen Rückzieher. »Das stimmt«, sagte Moshe. »Will sagen, das Stück macht den Klassenstandpunkt zur Modefrage. Es romantisiert Klassenstandpunkt.« Die zwei brachen ab. Das Gespräch brach ab. Keiner von ihnen verstand das. Moshe bestimmt nicht. Er schwankte. Er fing sich wieder. Nana guckte auf ihr leeres Champagnerglas. Gesprächspausen sind sehr schwierig. Sie erfordern Fle‐ xibilität. Unglücklicherweise waren weder Moshe noch Nana gerade besonders flexibel. Moshe fügte nervös hinzu: »Ich meine, ist das nicht die reinste Propaganda der Tat?«, während Nana wie in Zeit‐ lupe wiederholte: »Romantisiert Klassenstandpunkt.« Mos‐ he zog die Brauen zusammen und schürzte seine Lippen, um ihr zu zeigen, dass er fasziniert war. Dann blickte Moshe nach der Seite zu Papa. Papa unterhielt sich mit Anjali über die racial politics der Schauspielerei. Er versprach Reformen.
11 Und damit begann sie. Diese Unterhaltung war der Beginn der Liebesgeschichte zwischen Nana und Moshe. Aber Nana bekam das gar nicht mit.
Es ist schade, Nadeschda Mandelstam hätte es schade ge‐ funden, aber als Nana mit Papa heim nach Edgware kam, war sie in Gedanken nicht bei Moshe. Sie hatte ihn fast schon vergessen. Sie war in Gedanken beim Theater. Theater waren zu hoch für sie. Zum Beispiel das Foyer. Papa hatte im Foyer entspannt Konversation gemacht, den Kopf in den Nacken gelegt, mit größeren, dicken Männern. Und Nana hörte ihm zu, wäh‐ rend sie mitleidig den Jungen betrachtete, der einen Plas‐ tikcontainer mit Theaterprogrammen und Loseley‐Dairy‐Eis um den Hals geschnallt hatte. Voller Anteilnahme registrierte Nana, dass sein gegelter, akkurater Pony einige Aknepickel überdeckte. Und dann der Zuschauerraum. Der protzige Zuschauer‐ raum. Sie sah zu, wie die kleinen Lampen, die in die Decke eingelassen waren, gedimmt wurden. Die Unterhaltung er‐ starb zu heiserem Flüstern. Nana zählte währenddessen die weißen Notausgang‐Pfeile und dann die laufenden Männer in Weiß vor dem beleuchteten grünen Hintergrund. Papa tätschelte Nanas rechte Hand. Er sagte, sie solle ihre Brille aufsetzen, die sie in ihren Schoß gelegt hatte. Er lächelte sie an. Und dann trat der Star auf die Bühne, in der Maske des Prinzen Paul Maraloffski. Sein Name war Soundso, Moshe Soundso, murmelte Papa vor sich hin, das aufgeschlagene Programm in den Lichtschein der Notbeleuchtung haltend. Moshe, der sozialistische Gesellschaftslöwe, spulte mit schleppender Stimme seine schablonenhaften Bonmots ab. »In einer guten Demokratie sollte jeder Mensch ein Aristo‐ krat sein.« Niemand lachte. Prinz Paul Maraloffski spulte seine Epigramme ab. »Die Kultur basiert auf der Kochkunst.
Die einzige Unsterblichkeit, die ich ersehne, möchte ich der Erfindung einer neuen Soße verdanken.« Nana dachte über den Schluss von Vera oder Die Nihilisten nach. Sie war von der Sentimentalität des Stücks verblüfft. Vera, Liebesqualen leidend, rettet Russland und tötet sich selbst. Da hatte sich Nana ihrem geliebten Papa zugewandt. Sie hoffte, dass er auch grinste. Aber Papa grinste nicht. Papa war ein Engel. Er war von dem Schluss bewegt. Er weinte beinahe, dachte Nana. Aber weil sie ein Mädchen war, dem etwas an seinem Papa lag, lag ihr an ihm mehr als an allen anderen. Nana war das nicht peinlich. Nein, sie versuchte nur, für ihn da zu sein. »Ist ja gut, Papa. Sgut«, flüsterte Nana. »Reg dich nicht auf. Sie atmet noch.« Theater war Nana einfach zu hoch.
12 Als Anjali nach Hause ging, war es etwa Mitternacht. Sie wohnte zusammen mit ihrem Bruder in einer Wohnung in Kentish Town. Ihr Bruder hieß Vikram. Ihr werdet Vikram in dieser Geschichte nie begegnen. Ich erwähne ihn nur, falls ihr euch Sorgen macht. Er soll euch die Gewissheit ge‐ ben, dass Anjali kein einsamer Mensch ist. Anjali ging in die Küche und sah in den Kühlschrank. Dann machte sie den Kühlschrank wieder zu. Sie zog ihre Jeansjacke aus und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie ging mal pissen. Sie ging zurück in die Küche und öffnete das Tiefkühlfach. Sie nahm einen kleinen Pappkübel mit Ben & Jerryʹs‐Phish‐Food‐Eiscreme heraus.
Sie öffnete ihn und ließ ihn auf dem Tiefkühlfach stehen. Dann setzte sie sich auf das Sofa und nahm einen von einer Klemme zusammengehaltenen Stapel von Seiten auf, Anjalis Kopie des neuen Skripts von Gurinder Chadha. Fast hätte sie ihre ganzen vierzehn Zeilen gelesen. Dass sie die Klammer nicht löste, verriet deutlich, dass sie es nicht tat. Sie betrachtete den Brief, der Ms Shinta bat, diese Arbeits‐ kopie zu akzeptieren. Sie saß da. Sie starrte in den blinden Fernseher. Ihr fiel die Eiscreme wieder ein. Sie stand auf und nahm einen Löffel aus der Schublade. Das Eis war immer noch hart. Sie ging trotzdem mit dem Eis und dem Löffel zurück zum Sofa. Anjali stocherte gelangweilt in dem Eis. Sie leckte den Löffel ab. Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und zog ein Video von Sholay heraus, das ihr ihre Mutter geschickt hatte. Sie überlegte, ob sie sich einen vierstündigen Film ansehen sollte. Sie musste daran denken, wie ungern sie ernste Bollywood‐Filme sah. Ihr gefielen nur die frivolen. Sie lachte über den Geschmack ihrer Mutter laut heraus. Laut loszulachen war ein seltsames Gefühl für sie. Sie schob das Video in den Rekor‐ der und drückte auf Play. Sie wandte sich dem Fernseher zu und stellte als Programm o ein. Sie vermisste ihre Ex. Sie vermisste Zosia. Sie dachte daran, wie sie immer ins Belle‐Vue‐Kino in Edgware in die Spätvorstellung mit Filmen in Hindi gegan‐ gen war. Das Belle Vue lag ganz bei Nana und Papa in der Nähe, aber das wusste Anjali noch nicht. Anjalis Familie wohnte in Canons Park, und sie sahen sich oft alle zusam‐ men irgendwelche »Streifen« an. Sie fragte sich, warum sie immer Streifen gesagt hatten. Sie dachte daran, dass sie im‐
mer mehr für Madhuri Dixit als für Amitabh Bachchan ge‐ schwärmt hatte. Sie dachte daran, dass sie immer Samosas im Belle Vue gegessen hatten und wie ihre Mutter Anjali eine kitzelnde Papierserviette ins T‐Shirt stopfte. Anjali dachte daran, wie sehr sie immer den kleinen Komiker Johnny Walker gemocht hatte. Sie dachte an Johnny in Mr & Mrs 55 mit Guru Dutt, besonders an den Hit Dil Par Hua Asia Jadu, in dem Johnny verliebt Guru Dutt zuhört, von einer Bar zu einer Bushaltestelle und in einen Bus auf der Straße. Oder an Madhuri Dixit in Devdas, der man einen diamantförmigen Goldbarren zwischen die Augen gedrückt hatte. Anjali überlegte, ob die Masala‐Filme aus Bollywood ein bisschen unprofessionell waren. Sie machten einen nicht gerade konventionellen Eindruck. Anjali war eine mäßig erfolgreiche Schauspielerin mit mäßig erfolglosem Liebesleben. Das ist keine so ungewöhnliche Ausgangslage, finde ich. Sex ist schließlich nicht alles.
II
3 Sie verlieben sich 1 Nana verliebte sich am 28. April in Moshe. Das war Moshes Theorie. Das war das Datum, an das er sich erinnerte. An diesem Tag, glaubte Moshe, hatte sein Auftritt im Wohnzimmer Nana umgehauen. Das klingt vielleicht nicht unbedingt plausibel. Und es war auch nicht sehr plausibel. Wartet, bis ihr wisst, wie sein Auftritt aussah, dann wird es ausgesprochen unplausibel klingen. Sie waren in Moshes Wohnung in Finsbury. Sie lag im ersten Stock eines viktorianischen Hauses. Und Moshe kündigt den großen Kissen‐Shtick an. »Den was?«, fragte Nana. »Oh, den Kissen‐Trick«, sagte Moshe. Und so ging der Kissen‐Trick. Moshe stieß das Fenster auf, dann nahm er sich ein Kissen. Seine Großmutter hatte es mit einem großen roten Samtherz bestickt. Er drückte das Kissen an sich. Er trug das Kissen wiegend durch das Zimmer. Moshe gurrte und küsste, warf sein Baby in die Luft und fing es wieder auf. Die goldenen Troddeln des Kissens schaukelten. Nana starrte Moshe an. Er schwelgte
im Vaterglück. Aber plötzlich, tragisch glitt der Wonne‐ proppen Moshe aus den Händen, purzelte aus dem Fenster und schlug auf das Pflaster auf. Dort lag er neben einer leeren Kiste Heineken. Während Moshe seinem Kummer Ausdruck gab, sein Kind beweinte. Das konnte selbstverständlich nicht der Augenblick ge‐ wesen sein, in dem Nana sich in ihn verliebte. Zu einem solchen klimaktischen Moment kommt es gar nicht. Und hätte es ihn gegeben, glaube ich nicht, dass es dieser gewe‐ sen wäre. Moshe glaubte es allerdings. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sein Talent sie bezaubert hatte. Das heißt nicht etwa, dass Moshe kein Talent hatte. Er war ein guter Schauspieler. Es war nur einfach nicht sein Talent, das sie bezauberte. Als Moshe sich mit seinem Kissen‐Trick beziehungsweise ‐Shtick produzierte, sah Nana nämlich gar nicht hin. Na ja, sie sah schon hin, aber nicht konzentriert. Stattdessen fragte sie sich, warum sie dort war, an einem Sonntagnachmittag, wo doch ihre Magisterarbeit wartete. Sie war besonders verblüfft, weil Moshe sich so merkwürdig benahm. Nein, Moshe irrte. Es war nicht sein Talent, das sie bezau‐ berte.
2 Tatsächlich ziehen die Menschen meist falsche Schlüsse. Dazu habe ich eine Theorie. Schlussfolgerungen sind häufig falsch, weil Menschen so ein schlechtes Gedächtnis haben. Als Moshe Nana zum Beispiel das erste Mal auf ihrem Handy anrief, sah Nana, dass er es war. Sie hatte seinen
Namen falsch geschrieben. »Moysha mob«, hieß es auf ihrem Nokia 6210e. Aber sie ging nicht dran. Sie ließ es klingeln. Das lag daran, dass sie im Pizza Express in Bloomsbury auf dem Klo hockte, in der Sitzposition für die Notlandung – Beine gespreizt, Kopf runter, vornüberge‐ beugt. Und später erinnerte sie sich nicht mehr an diesen Anruf. Aber es war das erste Mal, dass er sie anrief. Es war ein entscheidender Schritt in ihrer Liebesbeziehung, und Nana dachte nie wieder daran, weil es peinlich, weil es unromantisch war. Andererseits ist ja jeder ein bisschen romantisch ver‐ anlagt, jeder hat dieses schlechte Gedächtnis. Auch Moshe war Romantiker. Weil Moshe sich an so wenig erinnerte, kam er zu zwei Schlussfolgerungen über den Beginn der Affäre. Beide wa‐ ren falsch. Trugschluss Nummer eins war, dass es Verführung gewe‐ sen sei. Sie war von seinem Talent verführt worden. Das dachte er unmittelbar nachdem er sie geküsst hatte. Trug‐ schluss Nummer zwei war, dass es reine Liebe gewesen war. Das dachte er unmittelbar nachdem sie sich getrennt hatten. Zu diesen beiden Schlussfolgerungen hatte er nur kommen können, weil er alle Details vergessen hatte. Um zu Schlussfolgerung i zu gelangen, vergaß er Nanas Mangel an Konzentration und seine Nervosität im Wohnzimmer. Um zu Schlussfolgerung 2 zu gelangen, vergaß er ihren ge‐ zwungenen Smalltalk hinter der Bühne im Donmar. Die erste Schlussfolgerung, die Verführungs‐Schluss‐ folgerung, stellte Moshe in ein romantisches Licht. Die zweite Schlussfolgerung, die Liebes‐Schlussfolgerung, ließ sie beide romantischer dastehen.
3 Als er das nächste Mal anrief, war er clever. Moshe rief sie aus dem Theater an. »Unbekannter Teilnehmer«, sagte ihr Nokia 6210c. Sie nahm an, es wäre Papa. Es war nicht Papa. Moshe lud sie zu einem Drink ein. Und die glückliche Nana sagte: »Nein nein nein, ich bin, in, nein. Nich heut Abend.« Sie sagte: »Aber warum schickst du mir keine E‐Mail?« Er schickte ihr keine E‐Mail. Er wurde auch schüchtern. Anfänglich, das akzeptierte er, schienen seine schauspie‐ lerischen Fähigkeiten sie nur zu deprimieren. Aber er war immer geistreich. Er verfügte über eine breite Palette von Rülpsern auf Kommando. Er verriet ihr Schauspielerkniffe. Aber warum sie dasaß und zuhörte, dachte Moshe, war ihm schleierhaft. Er war nicht cool. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass Moshe sich selbst gegen‐ über nicht fair war. Es stimmt, dass er nicht übermäßig cool war. Tatsächlich ist keine meiner Figuren besonders cool. Das mag ich an ihnen. Aber er war immerhin einigermaßen cool. Es gab allerdings einen spezifisch uncoolen Aspekt an Moshe. Das war die Schauspielerei. Bring ihn auf Schau‐ spielerei, schon hatte Moshe Gedanken. Er hatte Theorien. Er hatte Hintergrundwissen. Er hatte beispielsweise David Garrick, den großen Schauspieler des achtzehnten Jahr‐ hunderts, studiert. Tatsächlich war der Kissen‐Trick mehr oder weniger bei David Garrick geklaut. Ein weiterer Diebstahl kommt noch. Moshe erklärte Nana, dass Julia in der Schluss‐Szene von Romeo und Julia zu früh beziehungsweise zu spät beziehungsweise gerade noch rechtzeitig aufwachen sollte, um Romeo sterben zu
sehen. Das sei äußerst wichtig. Während Julia aus ihrem betäubten Schlaf erwacht, sollte sie schlaftrunken mit ansehen, wie Romeo den Giftbecher an seine geschminkten Lippen führt. Dann sei es wirklich tragisch. Denn dann würde das Publikum glauben, Romeo und Julia hätten glücklich miteinander werden können, es hätte ein Happyend geben können. Dann sei es eine herzzerreißende Tragödie. Oh ja, die Kunst der Schauspielerei bestehe darin, alles über das menschliche Herz zu wissen, und er sei ein Kenner des Herzens. Dann rief er sie an, noch während sie hinunter in die U‐ Bahn‐Station an der Goodge Street ging, und sie sagte, sie würde zurückrufen. Das tat sie nicht. Aber Moshe verfügte noch über weitere Fertigkeiten. Er konnte seinen Kopf durch die Tür stecken und innerhalb von vier oder fünf Sekunden seinen Gesichtsausdruck ändern, von überschwänglicher Freude in verhaltene Freude, von Freude in Zufriedenheit, von Zufriedenheit in Schock, von Schock in Überraschung, von Überraschung in Trauer, von Trauer in Erschöpfung, von Erschöpfung in Angst, von Angst in Entsetzen, von Entsetzen in Verzweiflung. Er konnte seinem Gesicht jeden beliebigen Ausdruck geben. Moshe machte es ihr in der Alphabet Bar in der Beak Street vor. Ihr schien es zu gefallen. Er bot an, ihr es noch mal zu zeigen. Sie stöberte durch seine Bücher, und als sie einen Band mit Texten von Nick Cave entdeckte, sagte er: »Oh nein nein nein nicht das«, und wollte ihn ihr lächelnd wegneh‐ men, aber nicht bevor die unartige Nana die Widmung von »C« gesehen hatte, die »Puppy« für immer lieben würde. Er war hartnäckig, dachte Nana. Und Hartnäckigkeit
hatte ihren Reiz. Sie zeigte immerhin, dass er sie mochte. Ja, Durchhaltevermögen konnte etwas Gutes sein. Dann, erinnerte sie sich später, rief er sie an, als sie in Begleitung war – »Weißt du noch«, sagte Moshe, »mit Cleo, oder Naomi. Oder Biff oder Scooter.« »Es war Cleo«, sagte Nana, »Nein Tamsin, genau, Tamsin, und wir probierten BHs an, bei M&S.« »Das hast du mir nie gesagt«, sagte er. Moshe sagte: »Mir hast du gesagt, Schuhe, ihr hättet Schuhe anprobiert. Bei L.K. Bennett.« »Als würd ich dir was von BHs sagen«, sagte Nana. Sie probierte gerade einen BH an und war gehetzt und nervös. Darum sagte sie ja. Darum betranken sie sich. Und einmal fragte sie: »Magst du eigentlich Sachen von Dario Fo?«, und Moshe fragte: »Dario?« »Dario Fo«, sagte sie. »Du hast viele von seinen Stücken.« »Ach, die«, sagte Moshe, »nein nein nein, eigentlich nicht.« »Ach«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, du magst ihn. Er ist gut, glaub ich.« »Ehrlich?«, sagte Moshe. »Na ja, vielleicht.« Wir harmonieren wunderbar, dachte Nana glücklich.
4 Und zum Sex – die Geschichte der sexuellen Begegnungen von Nana und Mosche begann mit Gekicher. Die zweite Nacht in Folge saßen sie auf dem Futon. Sie saßen sittsam auf dem Sofa und unterhielten sich über den Zustand des zeitgenössischen Theaters. Dann stand Moshe auf, um mal pissen zu gehen. Das war um 2 Uhr morgens. Und als er zu‐ rückkam, saß Nana nicht sittsam da. Nicht mehr. Sie hatte sich ausgestreckt, horizontal. Das muss meine Gelegenheit sein, dachte Moshe. Aber er
ging ganz langsam vor. Moshe ging ungemein langsam vor. Er wollte jetzt nichts falsch machen. Er wollte hier nichts falsch interpretieren. Er wollte nichts falsch interpretieren! Sie war in der Ho‐ rizontale! Er küsste sie. Sie küsste ihn. Sie küsste ihn. Er küsste sie. Sie sagte: »Du bist toll.« Er sagte: »Du bist auch toll.« Dann mussten beide kichern. Wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, war Moshe nicht frei von Nervosität. Also fragte er: »Hättest du Nein gesagt?« Und Nana sagte, »Wann?« Und Moshe sagte: »Wenn ich gefragt hätte, ob ich dich küssen darf?« Und Nana erwiderte: »Wenn ich Nein gesagt hätte, hätte dich das vielleicht unverschämt gemacht. Du hättest gedacht ... weiß nicht ..., dass ich Angst vor dir hätte. Deswegen hab ich dich geküsst.« Und obgleich es aufrichtig klang, dachte Moshe, der sie‐ gessichere, umwerfende, beschwingte Moshe – er ging da‐ von aus, es könnte nur gelogen sein. Also küsste Moshe sie erneut.
5 Ich werde ein Stück zurückgehen. Ich werde bis dorthin zu‐ rückgehen, wo Nana allein ist. Nana saß in der Cafeteria der Architectural Association am Bedford Square. Zu diesem Zeitpunkt kannte sie Moshe schon, hatte ihn aber noch nicht geküsst. Sie stand also im Begriff, sich zu verlieben. Doch obschon sie im Begriff war, sich zu verlieben, dachte Nana nicht an Moshe. Sie hing nicht wie eine Heldin Gedanken über das Wesen der Liebe nach.
Sie dachte über den Architekten Mies van der Rohe nach. Das überrascht euch, vermute ich. Aber das muss euch nicht überraschen. Nana hat einen plausiblen Grund dafür, über einen Architekten und nicht über Moshe nachzuden‐ ken. Nana studierte auf Magister im einjährigen Studien‐ gang Geschichte und Theorie an der Architectural Asso– ciation School of Architecture. Sie machte den M.A. als Vorstufe zur Promotion. Mies van der Rohe war das Thema ihrer Magisterarbeit. Sie war ein stilles Mädchen – das wisst ihr. Sie wollte Akademikerin werden. Sie wollte Architekturhistorikerin werden. Mies van der Rohe war der innovative Architekt, der 1921 das gläserne Hochhaus erfunden hatte. Er war ein Re‐ volutionär. Er gehörte der Bauhaus‐Bewegung an. Das Bau‐ haus befasste sich mit einer Erneuerung von Design und Stil im Einklang mit den Anforderungen einer neuen, sozialistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung. Es lehnte alles Ornamentale ab. 1930 wurde Mies van der Rohe der letzte Leiter des Bauhauses. Mies untersagte jedwede politische Aktivität. 1933 wurde das Bauhaus von der neu‐ gewählten Nazi‐Regierung aufgelöst. 1937 ging Mies nach Amerika. Dies ist kein Essay über revolutionäre Architektur. Ar‐ chitektur ist oft revolutionär, und mir gefällt das. Mir gefällt Bauhaus. Aber an dieser Stelle interessiert mich Bauhaus nicht. Mich interessiert Nana. Als Historikerin glaubte Nana an Genauigkeit. Ich weiß natürlich, dass sie, würde man sie bitten, sich an spezielle Details von Moshes und ihrer Geschichte zu erinnern, nicht
dazu in der Lage wäre. Es ist schwierig, immer ganz akkurat zu sein. Aber sie versuchte es wenigstens. Nanas Magisterarbeit befasste sich mit der Rezeption Mies van der Rohes in Amerika. Sie mochte die Leute nicht, die ihn idealisierten. Nana verehrte den Mann, keine Frage, aber sie war auch ein Mädchen, dem es auf Präzision ankam. Zum einen konnte sie in seinen amerikanischen Wol‐ kenkratzern keine natürliche, auf der Theorie von Demo‐ kratie aufbauende Weiterentwicklung von Miesʹ revolutio‐ närem Wohnungsbau in Berlin erkennen. Die Verbindung war eine ästhetische, keine politische. Zum anderen war sie mit Mies selbst in politischen Dingen nicht einverstanden. Zum Beispiel musste Mies, wollte er der Lehre des Bauhau‐ ses folgen, Flachdächer bauen. Steildächer waren dem Bau‐ haus zufolge Bourgeois. Sie symbolisierten Kaiserkronen. Nana hingegen fand Steildächer einfach notwendig. Sie waren praktisch. Von ihnen läuft der Regen ab. Und Deutschland ist regnerisch. Sie dachte an ihren Besuch der Neuen Nationalgalerie in Berlin, der Krönung von Mies van der Rohes Schaffen, wo kleine Eimer mit den dazugehörigen Feudeln, an strategi‐ schen Punkten postiert, in jedem Raum die klaren Linien aufbrachen. Ich weiß, Nana klingt etwas streberhaft, aber ich mag sie. Mir gefällt ihr Sinn fürs Detail. Manchmal habe ich das Ge‐ fühl, sie wird nicht genügend anerkannt – die Wertschät‐ zung der Fakten. Es ist für eine Historikerin kein Fehler, ak‐ kurat zu sein. Wenn ein Partymensch an Architektur denkt, kann er direkt jemandem davon erzählen. Wenn ein Partymensch
zufällig auf eine neue Theorie über das öffentliche Bauen im Deutschland der Weimarer Zeit stößt, hat er gleich ein empfängliches Publikum. Die Menschen hingegen, die sich einfach hinsetzen, lesen und nachdenken – sie verschwen‐ den ihren Charme an sich selbst. Und Nana war solch ein Mensch. Sie war ein stiller Mensch. Was für eine blöde Zeitverschwendung, dachte sie, als sie über Miesʹ Versuche nachsann, 1962 den Entwurf für eine Kunstgalerie zu politisieren. Das war so scheißanachronis‐ tisch. Dreißig Jahre lang an einer Theorie festzuhalten war einfach nur träge, fand Nana. Es war bloß eine Art Nostalgie. Seht ihr? Sie war eine Streberin, aber charmant.
6 Aber der Sex, der Sex brauchte seine Zeit. Den mussten sie noch üben. Ihr erster Sex verlief zum Beispiel so. Es war eine Woche nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Es war drei Wochen nach dem 28. April. Es war Mitternacht in einem Hotel in Covent Garden, und Moshe und Nana waren nackt. Sie waren nackt vis‐a‐vis einer summenden Minibar. Sie waren in einem Hotel? Das Hotel war Moshes spendable Geste. Er hatte die Idee, dass Menschen auf spendable Gesten ansprechen. Dum‐ merweise war das keine Idee, die er überprüfen konnte. Er war nämlich betrunken. Er war jetzt wahrscheinlich zu betrunken, um zu essen. Er war auf jeden Fall zu betrunken, um sexuelle Freuden würdigen zu können.
Eine leere Miniaturflasche Stolichnaya plumpste mit ei‐ nem Miniatur‐Bums vom Bett. Das war keine Sexszene, noch nicht. Ich möchte nicht, dass da jemand einen falschen Eindruck bekommt. Moshe schwankte über Nanas langem und schlankem Körper. Liebevoll streichelte er mit seinem Handrücken ih‐ ren Bauch. Der Handrücken mag einem als sexuell emp‐ findsame Zone unorthodox erscheinen. Und das war er auch. Aber Moshe hatte das bedacht. Der Handrücken war eine einfallsreiche Zärtlichkeit. Das war der eine Grund. Es gab auch noch einen prosaischen Grund. Er streichelte sie mit dem Handrücken, damit Nana nicht den Schorf des Ek‐ zems an Moshes rosa, wunden Fingern spürte. Nana hielt seinen Penis hart in ihrer Hand. Es war kein erigierter Penis. Und sie blickten einander an, wie sie es tun zu müssen glaubten – mit ernstem Blick, mit entschlosse‐ nem Blick. Es war ein sehr entschlossener Blick. Moshe sah an sich runter. Er wollte nachsehen, was sein Penis vorhat‐ te. Aber er sah stattdessen nur die Sommersprossen auf dem Rücken von Nanas rechter Hand. Er musterte sie eingehend, die Arme aufgestemmt, den Rücken gekrümmt, die Arme aufgestemmt, musterte er sie. Dann bemerkte er die durchhängende Wölbung seines Bauchs. Während sie beide seinen uneleganten Penis beobachteten, versuchte Moshe, den Bauch einzuziehen. Nana und Moshes erste Sexszene war keine Sexszene. Es sah entfernt wie eine Sexszene aus, war aber keine. Es war Slapstick. Moshe stieg vom Bett – um sich etwas zu trinken zu holen oder geheimnisvoll am Fenster zu stehen oder einfach nur irgendwas anderes zu tun, als auf seinen schlaffen Bauch
und seinen schlaffen Penis zu gucken – und trat unglücklich auf eine Minidose Diät‐Schweppes. Er torkelte. Seine Knie gaben nach. Sein Mund stand offen. Schwankend und sich wieder fangend, sprach er endlich, nicht beim Luftholen, sondern am Ende eines Atemzugs, mit zitternder Stimme. »Ohfuckjesusfickmich«, sagte er. Kichernd deckten sie einander zu. Sie kuschelten sich in ihrem Einzelbett zusammen. Ich weiß, das mit dem Einzelbett wirkt seltsam. Das Ein‐ zelbett überraschte Nana. Aber es gab eine Erklärung. Eine finanzielle Erklärung. Die Doppelzimmer, hatte Moshe ihr bedauernd erklärt, waren astronomisch teuer.
7 Um vier in der Frühe wachte Nana auf. Sie war verkatert. Sie gähnte, sie gähnte, stand auf. Sie nahm ein Glas mit Wasser, das ihr aus der Hand rutschte und sich übers Bett ergoss. Sie war verliebt. Ich weiß, es klingt kleinmädchenhaft, aber es stimmte. Sie fand es toll, dass sie hier war, mit Übel‐ keit kämpfend, in einem Einzelzimmer, das Moshe bezahlt hatte. Sie fand es einfach Wahnsinn, dass Moshe schlief und Nana wach war. Lasst mich diesen Moment beschreiben. Lasst mich dieses nächtliche Idyll beschreiben. Im Aufblick von oben sähe man das Bett und Nana im Stehen, während Moshe schläft. Über dem Bett hing in einem Wechselrahmen ein Raoul‐Dufy‐Druck mit einer sonnigen Landschaft und einem Topf voll herabhängender
roter Geranien auf einem Fensterbrett. Neben dem Druck wurde Regen von einem Fenster umrahmt. Aber Nana sah weder dieses todschicke Arrangement noch das Aquarium in der Ecke hinter ihr, in dem ein Fisch den anderen streifte. Daher konnte sie den Goldfisch auch nicht genau an ihrem Kopf vorbei beziehungsweise mittendurch schwimmen sehen. Interieurs hatten bei ihr keine Priorität. Nach zwei Flaschen Wein und danach vier Miniflaschen Stolichanayas, drei Miniflaschen Jim Beam und einer Mini‐ flasche Gordonʹs Gin, die sie getrunken hatte, musste Nana dringend pissen.
8 Das nächste Ereignis in dieser Geschichte ist ein Blowjob. Ich nehme an, das kann man positiv oder negativ sehen. Ich persönlich sehe es positiv. Nicht deswegen, weil ich Blowjobs per se für etwas Gutes halte. Also, ich halte Blowjobs schon für etwas Gutes, gegen einen Blowjob habe ich selten etwas einzuwenden, aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Blowjob hier positiv sehe. Meine Erklä‐ rung ist eine andere. Vieles bei der Liebe hängt vom Sex ab. Liebe kann ohne Sex schwerlich überleben. Daher müssen Nana und Moshe, wenn sie sich wirklich lieben wollen, letztendlich zum Sex kommen. Das ist meine Theorie. Es war auch Nanas Theorie. Und dann gab es noch ein weiteres, unausgesprochenes Motiv für Nanas Verhalten an jenem Morgen. Sie stellte sich das endlose Defilee von Moshes verflossenen, äußerst versierten Liebhaberinnen vor. Kein Zweifel, dass sie geüb‐
ter als Nana waren. Nana war keine Konkurrenz für die ele‐ ganten Mädchen aus Moshes Vergangenheit. Anders als Nana, konnten diese Mädchen auf zentimeterhohen Absät‐ zen gehen. Ihre Brüste brauchten keine BHs, um hochzuste‐ hen. Ihren yogageschulten Gliedern war keine sexuelle Po‐ sition fremd. Das sollte uns allen eine Lehre sein. Die geschmeidigen Mädchen aus Moshes Vergangenheit. Ich weiß nicht recht. Es ist die Schlussfolgerung eines Mädchens, das selbst nicht an seine Attraktivität glaubt. Es ist die natürliche Schluss‐ folgerung eines Mädchens, dass sich nichts auf seinen Sex‐ appeal einbildet. Würden die Menschen doch nur niemals irgendwelche Schlüsse ziehen. Nana stürzte ein paar Schluck Wasser herunter. Dann begann ihr verschlafener Kopf seine entschlossene Reise durch den dunklen Atompilz von Moshes weichem Brust‐ haar und entlang der feineren, vertikalen Haarlinie von sei‐ nem Bauchnabel nach unten zu seinem Schamhaar, bis sie seinen Penis erreichte. Dort angekommen, öffnete sie ihre unsicheren Labellolippen und umschloss Moshe ganz sanft. Moshe wuchs. Und wuchs. Er wachte benommen auf. Er fühlte Speichel erst warm, dann kalt um seine Eier tropfen. Es war ein sehr befriedigendes Gefühl für ihn. Manche Leute mögen der Ansicht sein, und ich kann sie verstehen, dass Fellatio im Vorfeld eines normalen Ge‐ schlechtsverkehrs den Regeln der landläufigen sexuellen Etikette zuwiderläuft. Zugegeben, dieser Blowjob kommt etwas überraschend. Er kommt sogar für mich fast über‐ raschend. Aber sexuelle Etikette ist dehnbar. Sie muss sich der Situation anpassen – die in diesem Fall von Befürchtun‐
gen gekennzeichnet war. Und in sexuellen Situationen, die von Befürchtungen gekennzeichnet sind, verfallen Men‐ schen häufig auf viel extremere Praktiken als einen freund‐ lichen Blowjob. Ein bisschen Fellatio zum Auftakt war so‐ gar relativ zahm. Und Nana hatte nicht vor, den Blowjob bei Moshe zu Ende zu bringen. Dieser Blowjob war nur ein Vorgeschmack. Nana wollte die Dinge beschleunigen. In dieser kitzligen Situation wollten sie beide Sex. Tatsächlich wollten sie, insgeheim, Sex gehabt haben. So nervös waren sie. Moshe war am oberen Ende nervös. Unten am unteren Ende war Nana nervös, dass sie Moshe nervös machen könnte. Sie zog ihren Mund hoch und von Moshes Penis ab. Dann stellte sich Nana auf Händen und Knien über Moshe und ließ die Spitze ihrer Zunge über seine fleischig‐flachen Nippel gleiten, pink auf pink. Das war sehr tapfer von ihr, finde ich. Es ist schwierig – stumm zu improvisieren. Und Moshe sagte zu ihr: »Sag mir, ich soll dich ficken.« Nana lächelte nur mit lüsternen Augen. Er sagte: »Sagʹs mir.« Wie jeder weiß, ist Sex ein Spiel um Dominanz. Nana betrachtete Moshe. Sie wusste nicht recht, ob Moshe zu schnell machte. Aber weil sie wollte, dass auch ihr rundlicher Liebster glücklich war, sagte sie: »Fick mich.« Sie sagte es mit lasziver Stimme: »Füg miiiich. Fiii‐ig‐miiiich.« Und dann, und dann, war Moshe unanständig. Er nahm selbst das Tempo zurück. Wie ein Profi schmuggelte er nur einen Finger ein und berührte ihre Möse an derselben Stel‐ le, wo sie es tat. Das ließ sie glücklich die Augen schließen.
9 Nana schloss glücklich die Augen. Sie befahl sich, an nichts anderes als das hier zu denken. Aber dieses Denken ließ sie an alles andere denken. Sie dachte an die Minibar. Deswegen machte sie die Augen lieber wieder auf. Sie öff‐ nete die Augen und sah auf Moshes Lippen. Sie sah auf Moshes Lippen, dem Anlass entsprechend leicht geöffnet, und das erinnerte sie daran, dass sie einen neuen Lippen‐ stift brauchte, was sie wiederum an ihren zur Neige gehen‐ den Lidschatten erinnerte, der genau diesen Ockerton ha‐ ben musste, weil ihre Augenbrauen ohne den wirklich unmöglich aussahen, und sie war sich nicht sicher, ihn in letzter Zeit irgendwo gesehen zu haben, nicht mal bei Pure Beauty. Dann drehte Moshe, also, er drehte sie um, auf den Rü‐ cken. Er drang in sie ein. Er verharrte. Nana machte die angemessenen stöhnenden Laute, sie stöhnte mit geschlos‐ senen Lippen, erstickt. Er drang tiefer in sie ein. Sie stöhnte ein bisschen mehr. Es war Sex! Es war eine Sexszene! Dann war es irgendwann vorbei. Es war sogar ziemlich schnell vorbei. Wie so oft bei Männern, war Moshe über‐ erregt. Das war umso bedauerlicher, als Moshe, weil er das Schicksal nicht herausfordern wollte, auf die Vorsichtsmaß‐ nahme verzichtet hatte, sich vor dem Sex einen runter‐ zuholen. Nana kam nicht. Und das war, muss ich zugeben, keine große Überraschung. Zumindest für Nana war es keine gro‐ ße Überraschung. Aber dieser minimale Mangel an Übereinstimmung löste
eine ganze Reihe fieberhafter Gedanken aus. Besonders bei Moshe löste er viele fieberhafte Gedanken aus. Während Nana sich zufrieden und erleichtert an ihn schmiegte, fragte sich Moshe, was sie wohl empfand. Es wäre vielleicht übertrieben gewesen, ein Kompliment zu erwarten, das sah er ein, aber überhaupt nichts zu sagen war etwas irritierend. Sie tat nichts weiter, dachte Moshe verärgert, als sich an ihn zu schmiegen. Ach, Moshe. Moshe, Moshe, Moshe. Muss denn immer geredet werden? Darf es kein einvernehmliches Schweigen geben? Wirst du immer so ängstlich sein? Ich muss euch leider sagen, dass er immer so ängstlich sein wird. Er fühlte, wie sein Penis im Schrumpfen aus ihr heraus‐ flutschte. Um diesem Moment zu verkürzen, rückte Moshe neben sie und rollte auf ihren ausgestreckten linken Arm, den Nana unter ihm hervorzog. Was Nana betraf, schwankten ihre Gefühle zu diesem Zeitpunkt zwischen glücklich und unbehaglich. Sie war glücklich über den Sex. Ihr war unbehaglich, weil sie kitzelndes, klebendes Sperma rund um ihr Arschloch und zwischen den Oberschenkeln hatte. Sie dachte daran, aufs Klo zu gehen und es abzuwischen, entschied dann aber, nein, dass sie bleiben musste. Abwischen würde nicht aussehen, als sei sie hin und weg. Und irgendwie gefiel ihr dieses klebrige Gefühl sogar, dachte sie, weil sie sich dadurch so anders vorkam. Sie fühlte sich darin so übersättigt, benutzt, verworfen. Verworfen fand sie gut. Also rieb sie ihre feuchten Schenkel aneinander und sagte: »Glaubst du, dass wir beide bald übersättigt sein werden?
Glaubst du, dass wir zu Menschen werden, die nur noch bei Autounfällen Sex haben können, wie in dem Buch von Ballard, wie heißt es noch, Crash?« Moshe beschwichtigte und beruhigte sie. Er nahm sich Zeit zum Überlegen. Dann sah er sie an. Er machte ihr Mut. »Ich hab keinen Führerschein«, sagte er.
IO Ich weiß, das war witzig, und wenn ein Junge witzig ist, dann wirkt er unbekümmert, dann wirkt er souverän. Aber die Wahrheit lag woanders. Moshe war nicht unbeschwert. Moshe war nicht unbekümmert. In ihm schwelten bittere und zornige Gedanken. Beim Sex hat es ein Junge schwer. Der Sexakt hat einen Leistungsaspekt, der unabweisbar objektiv ist. Dauer ist traurigerweise objektiv. Es dauert entweder siebzehn Se‐ kunden oder fünfundfünfzig Minuten. Beides zugleich geht nicht. Und weil Moshe an die unerbittlich objektive Natur der Dauer dachte, schwelten in ihm bittere und wütende Gedanken. Moshes verzweifelte Hoffnung war, Nana sei irgendwie so sehr in Sex verstrickt gewesen, dass ihr Zeitgefühl sich verloren hatte. Wenn ihr Zeitgefühl nicht verschwommen war, dachte er, würde sie nun spaßige Gedanken hegen. Das wäre nur natürlich. Und Moshe wollte nicht, dass sie spaßige Gedanken hegte. Natürlich hegte Nana gar keine spaßigen Gedanken. Nana war einfach zufrieden, dass eine intravaginale Pene‐ tration ihren normalen Abschluss gefunden hatte. Nana war rundum zufrieden.
Es war Moshe, der nicht zufrieden war. In einem Hotel in Covent Garden fand Moshe Homosexualität plötzlich gar nicht übel. Ein Pluspunkt beim Schwulsein, dachte er, wäre, dass man genau wüsste, wo der Durchschnitt unter Gentlemen lag. Man wäre nicht mit Ungewissheit geschla‐ gen. Das Problem bei der Heterosexualität, dachte Moshe, war die Heimlichtuerei der Paare. Da gab es keine Trans‐ parenz. Was Jungen über Jungen wissen, haben sie von Mädchen. Und Mädchen zählten nicht. Sie waren so mora‐ lisch, dass man sich nicht auf sie verlassen konnte. Sie wa‐ ren immer edelmütig. Im Gespräch mit anderen vielleicht nicht, räumte Moshe ein. Aber im Bett mit Moshe, in den poetischen Regen schauend, waren sie immer so lieb und beschwichtigend. Sie sagten, der Sex wäre wunderbar. Sie rühmten Moshes Zärtlichkeit und Stehvermögen. Nein, für Moshe mussten es Jungs sein. Er wollte eine offene Diskus‐ sion mit anderen Jungs. Das stimmte ihn traurig. Es stimmte ihn traurig, weil er nicht wirklich sicher war, ob es je dazu kommen konnte. Das mag nebensächlich erscheinen, aber Moshes perfektes Gespräch hat sich zugetragen. Es ist zwar lange her, aber zugetragen hat es sich. Am 3. März 1928 setzten sich Antonin Artaud, Andre Breton, Marcel Duhamel, Benjamin Peret, Jacques Prevert, Raymond Queneau, Yves Tanguy und Pierre Unik zusam‐ men, um über Sex zu reden. Ich weiß, für sich genommen sind nicht viele dieser Männer berühmt. Aber sie sind von Bedeutung. Sie sind nicht zu vernachlässigen. Sie waren Schlüsselfiguren des Surrealismus. Sie glaubten, aufrichtig über Sex zu reden sei ein notwendiger Anfang zur Schaffung einer gerechten und perfekten Gesellschafts‐
ordnung. Sie glaubten, das wäre der erste politische Schritt. Wäre Moshe bloß dabei gewesen; ich glaube, das hätte ihn beruhigt. Ich glaube, das hätte viele Jungs beruhigt.
11 Raymond Queneau: Sie haben seit einiger Zeit nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Wie lange brauchen Sie, von dem Moment an, da Sie allein mit der Frau sind, um zu eja– kulieren? Jacques Prevert: Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine Stunde. Marcel Duhamel: Idem. Benjamin Peret: Es gibt zwei Spannen. Die vor dem Ge‐ schlechtsakt im eigentlichen Sinne, die sehr lange dauern kann, eine halbe Stunde zum Beispiel, je nach Verlangen, das ich im Moment danach habe. 2. Die zweite, der Ge‐ schlechtsakt: ungefähr fünf Minuten. Andre Breton: Erster Teil, sehr viel länger als eine halbe Stunde. Fast unendlich. 2. Mindestens 20 Sekunden. Marcel Duhamel: Im zweiten Teil möchte ich für mich präzisieren: ein Minimum von fünf Minuten. Raymond Queneau: Das Vorspiel: Maximum zwanzig Mi‐ nuten. 2. Weniger als eine Minute. Ives Tanguy: 1. 2 Stunden. 2. 2 Minuten. Pierre Unik: 1. 1 Stunde. 2. Zwischen 15 und 40 Sekunden. Andre Breton: Und das zweite Mal? Wenn man annimmt, dass man den Akt in der kürzestmöglichen Zeit vollzieht? Ich? Drei bis fünf Minuten für den Geschlechtsakt.
Benjamin Peret: Geschlechtsakt: ungefähr eine Viertel‐ stunde. Yves Tanguy: Zehn Minuten. Marcel Duhamel: Idem. Pierre Unik: Das ist verschieden: zwischen zwei und fünf Minuten. Raymond Queneau: Eine Viertelstunde. Jacques Prevert: Drei Minuten oder sogar zwanzig Minu‐ ten. Was halten Sie von einer Frau mit rasierter Scham? Andre Breton: Sehr schön, sehr viel besser. Ich habe das nie gesehen, aber das muss wunderbar sein.
12 Meiner Meinung nach hätte Moshe sich wegen seiner Leis‐ tung wirklich nicht derart nervös machen müssen. Andre Breton, der Gründer der surrealistischen Bewegung, kam nach maximal zwanzig Sekunden. Raymond Queneau, ein Romancier, der Autor von Zazie in der Metro, hielt weniger als eine Minute durch. Moshe hingegen war nach sechs Minuten und sieben‐ undvierzig Sekunden gekommen. Im Vergleich zu Andre Breton und Raymond Queneau war er ein Übermensch. Er war vielleicht nur Halbjude, und dann war es womöglich sogar die falsche Hälfte, aber er gehörte immer noch zum auserwählten Volk. Und nicht nur seine sexuelle Leistungsfähigkeit war be‐ merkenswert. Er war darüber hinaus Freund und Kenner der »rasierten Scham«. Ja, Moshe hatte bereits eine haarlose Vagina gesehen. Als er siebzehn war, hatte seine allererste
Freundin, Jade, als Geburtstagsgeschenk für Moshe ihr gan‐ zes Schamhaar entfernt. Sie hatte dazu eine tüchtige Schicht Immac Sensitive gebraucht. Sie nahm ihn mit aufs Frauenklo im Fridge in Brixton und steckte seine Hand in ihre Hose, damit Moshe die babyhafte Glätte und ihre hemmungslose Feuchtheit ertasten konnte. Moshe war ein Sexvirtuose. Er war ein Naturtalent.
13 Aber ich befürchte, dass wir Papa vernachlässigen. Und ich werde Papa nicht vernachlässigen. Nun, nachdem Moshe und Nana endlich Sex gehabt haben, können wir zur Ab‐ wechslung sie für einen Moment vernachlässigen. Während seine Tochter von einem unorthodoxen jüdi‐ schen Jungen befriedigt wurde, ließ sich Papa einen Anzug anpassen. Wie der Zufall es will, ließ er sich seinen Anzug von einem orthodoxen Juden passend machen. Das Leben ist voller solcher schicksalhafter Ironien und Zufälle. Mr Blumenthal war Papas Schneider. Er war ein kleiner, rechteckiger Fünfundsiebzigjähriger. Er hatte keine Haare. Er trug Strickjacken. Er wohnte Ecke Shakespeare Close und Milton Road, nah der Synagoge in Hatch End. Auf der Straßenkarte von Greater London war die Synagoge durch einen Davidstern gekennzeichnet. Er wohnte mit seiner Frau zusammen, die Mrs Blumenthal genannt wurde. Mrs Blumenthal war eine kleine, stämmige Frau. Sie hatte sehr viele Haare. Sie trug keine Strickjacken. In ihrem Pseudo‐Tudor‐Haus Ecke Shakespeare Street und Milton Road war Sonntagmorgen, und Papa ließ sich
die Hose kürzen und die Schultern enger machen. Mr Blumenthal kniete in Mr und Mrs Blumenthals Wohnzimmer, über Papas gesprenkelte Socken gebeugt und mit einer Reihe Stecknadeln im Mund. Er lobte Papas gutes Auge für einen hochwertigen Stoff. Gleichzeitig kritisierte er die Hersteller des Anzugs wegen der schlecht verarbeiteten Nähte. Papa betrachtete einen Bildband mit israelischen Land‐ schaftsaufnahmen. Er betrachtete den gepolsterten, mit Girlanden aus Goldfäden bestickten Rahmen, der die Foto‐ grafie eines Knaben mit seinem auffallenden Bar‐Mizwa‐ Schal umgab. Und woran dachte Papa? Wie immer versuchte Papa, nicht an Auschwitz zu denken. Auschwitz ? Das lag nicht daran, dass er böse war. Nein, nein. Es lag daran, dass er herzensgut war. Papa war in Auschwitz gewesen. Als er geschäftlich in Krakau zu tun hatte, hatte er mit einer Reisegruppe israe‐ lischer Jungen und Mädchen die Fahrt nach Auschwitz un‐ ternommen. Als Papa dort war, war Auschwitz sonnig und proper. Der Rasen war frisch gemäht. Drei japanische Tou‐ risten ließen sich im Eingangstor unter der schmiedeeiser‐ nen Inschrift »Arbeit macht frei« fotografieren. Eine Putz‐ frau wienerte das Glas der Vitrinen, in denen Koffer, Kinderkleidung und Haare lagen. Es waren Tonnen von Haaren da. Die Nazis hatten Haar zu etwas Schwerwiegen‐ dem gemacht. Und das, dachte Papa, war eine Leistung. Es war schon eine Leistung – alles abnorm zu machen. Nur war eigentlich gar nichts abnorm. Das stimmte Papa in Auschwitz am traurigsten. Es wäre besser gewesen,
dachte er, wenn es so wäre. Stattdessen hatten alle Dinge genau die richtige Größe. Es waren ganz normale Dinge. Da war ein Zopf, der über die Schulter eines Mädchens wischen würde, wenn es den Kopf wandte. Er würde es seitlich am Hals streifen. Alles in der rechten Proportion. Papa hätte nie nach Auschwitz fahren dürfen. Das depri‐ mierte ihn nur. Es machte ihn kaputt. Denn das Problem von herzensguten Menschen ist, dass Aggression sie über‐ rascht. Und das regt sie so auf, dass sie das Warum heraus‐ finden wollen. Wie, fragen sie, wie kann es möglich sein, dass Menschen so grausam sind ? Papa wollte es nur begreifen. Einmal hatte er eine Broschüre für den von Midas Battle‐ field Tours angebotenen Holocaust‐Kurztrip bekommen, doch ihn hatte schon die Wortwahl zu sehr entsetzt. »3. Tag. An diesem Morgen fahren wir hinaus zu den Todeslagern von Treblinka, wo bis zu 17 000 Menschen täg‐ lich ermordet wurden. Am Nachmittag Rückfahrt nach Warschau und Spaziergang durch den hübschen, idyllischen Lazienki Park, vielleicht zu den Klängen Chopins, und Besuch des Palais auf dem Wasser. Anschließend Abendessen im Hotel.« Papa war nicht gefühllos. Er war nicht morbid. Er war einfach ein argloser Mensch. In seinem Bemühen, das Wesen des Bösen zu begreifen, hatte Papa eine Zeit lang vor dem Einschlafen Kommandant in Auschwitz von Rudolf Höß gelesen, zu dem Primo Levi den Klappentext verfasst hatte. Primo war nicht gerade ein großer Werbetexter. Sein Klappentext für Rudolf Höß lau‐ tete: »Dieses Buch ist voll des Bösen ... es hat keine literari‐ schen Qualitäten, und es zu lesen ist eine Tortur.«
Rudolf Höß stürzte Papa in Verwirrung. Rudolf wollte weiter nichts als Landwirt werden. Er wünschte sich ein be‐ schauliches Arbeitsleben zwischen Silo und Traktor. Und am Ende leitete er Auschwitz. »Wie Auschwitz war?«, fragte Mr Blumenthal einmal, Papas Frage wiederholend. Mr Blumenthal sah hinüber zu Mrs Blumenthal. Papa und Mr Blumenthal beobachteten die in blauen Strumpfhosen steckenden, fetten Füße von Mrs Blumenthal auf ihrem dunklen, elektrisch verstellbaren Velours–Fernsehsessel. »Wie Auschwitz war?«, sagte Mr Blumenthal. »Das Essen war schlecht«, sagte er. »Das Essen war grauenhaft.« Papa hatte nicht gewusst, ob das ein Witz sein sollte. Ein Lachen war ihm nicht ganz gelungen. Er hatte lachen wol‐ len und war nur bis zu einem Kichern gekommen. Aber ein Kichern ist kein Lachen. »Du«, sagte Mrs Blumenthal. »Eines Tages wirst du dich mit diesem Gerede noch in Schwierigkeiten bringen.« »Was für Schwierigkeiten?«, fragte Mr Blumenthal. »Schwierig‐ keiten«, sagte Mrs Blumenthal. Papa mochte Mr und Mrs Blumenthal. Er mochte sie sehr. Er fühlte sich bloß unwohl, weil er, wenn Mr Blumenthal in einer weißen Weste vor ihm kniete und Stecknadeln in seinen Saum steckte, auf seinem Handgelenk zwischen den Sommersprossen eine blau eintätowierte, fünfstellige Zahl sehen konnte. Möglicherweise versteht ihr, warum die Zahl Fünf hier so wichtig ist, aber vielleicht auch nicht. Fünf Ziffern, das be‐ deutete, dass Mr Blumenthal schon früh nach Auschwitz gekommen war. Da waren sie gerade erst in den Zehntau‐ sendern. Er hatte es länger ertragen müssen als die meisten.
Aber noch etwas anderes bereitete Papa Unbehagen. Es war nicht nur die Nummer. Es war das: »Da wohnt jetzt eine Schvartze nebenan«, sagte Mrs Blumenthal. »Ach, tatsächlich?«, sagte Papa. »Ja, eine Schvartze«, sagte Mrs Blumenthal. »Das ist doch sicher nett«, sagte Papa. »Nett?«, fragte Mrs Blumenthal. »Eine Schvartze neben einer Synagoge! Irgendeine meschuggene Familie neben der Shul? Das ist natürlich nicht nett!« Die Blumenthals waren Helden. Sie beide hatten Ausch‐ witz überlebt. Aber sie waren auch Rassisten. Sie mochten Schwarze nicht. Und das setzte Papa einleuchtenderweise matt. Er wusste nicht, was er denken sollte. Die Blumen‐ thals verwirrten ihn. Sie waren heldenhaft und verachtens‐ wert. Keine Frage, mit den Blumenthals war es heikel. »Und das Mädchen?«, fragte Mrs Blumenthal. »Wie geht es Nina?« »Nana«, sagte Papa. »Nana«, sagte Mr Blumen‐ thal. »Sie hat einen neuen Freund«, sagte Papa. »Das ist gut, einen Freund«, sagte Mr Blumenthal. »Und wie ist dieser so, der Freund? Ich glaube nicht, dass er was für sie ist.« »Er ist Schauspieler«, sagte Papa. »Er ist nichts für sie«, sagte Mr Blumenthal. »Und ich glaube, er ist Jude«, sagte Papa. »Dann ist er bestimmt nichts für sie!«, quietschte Mrs Blumenthal, die ihren Witz zum Prusten fand. Papa rang sich ein Kichern ab. Er war einfach zu verwir‐ rend, dieser permanente unernste Humor. Ich persönlich mag diese Art Humor sehr. Aber ich bin ja auch nicht herzensgut. Ich bin nicht lieb. Nicht so lieb wie Papa. ,
4 Eine Romanze
1 1963 reiste meine Mutter als Austausschülerin nach Prag. In Prag wohnte sie bei einem jüdischen Mädchen namens Petra. Eigentlich war Petra nur Halbjüdin. Sie hatte eine jüdische Mutter. Als die Nazis Prag besetzten, teilten sie Petras Vater mit, dass er sich von Petras Mutter trennen müsse. Das tat er nicht. Also schickten sie ihn ins Konzentrationslager Terezin. Petras Mutter schickten sie auch hin. Und beide überlebten. Das war natürlich ziemlich ungewöhnlich. Nicht viele Menschen überlebten Terezin. Um das zu feiern, beschlossen Petras Mutter und Vater, ein zweites Kind zu bekommen. Dieses Kind war Petra. Nach Terezin gab es in Prag nicht mehr viele Juden. Des‐ wegen interessiert sich Petra ganz besonders für alles Jüdi‐ sche. Als sie bei einem Schüleraustausch mitmachte, bat sie daher um ein jüdisches Mädchen. So kam es, dass meine Mutter bei ihr wohnte. Meine Mutter ist auch Jüdin. Später schrieben sich Petra und meine Mutter regelmäßig. Nachdem die Russen 1968 in Prag einmarschiert waren,
kam Petra nach London. Sie lebte bei der Familie meiner Mutter. Ein Jahr später gaben die Russen jedoch bekannt, dass alle Tschechen im Ausland sich innerhalb von drei Wochen entscheiden müssten, ob sie zurückkehren wollten. Wenn sie ihre Familien je wiedersehen wollten, müssten sie nun zurückkommen. Und sie ging zurück. Hier zwei Informationen über Petra. Sie trat nie der Kommunistischen Partei bei. Das ist die erste. Die zweite ist, dass sie Vaclav Havels Stücke den Romanen Milan Kunderas vorzog, weil Kundera 1975 die Tschechoslowakei verlassen hatte und das ein Verrat an der Opposition war. Aber das Motiv für Petras Entschluss, 1969 zurückzukeh‐ ren, war nicht ihr Engagement für die Opposition. Es war auch nicht ihre Überzeugung von der kommunistischen Sa‐ che. Petra ging 1969 zurück, weil ein Junge in London mit ihr Schluss gemacht hatte. Deswegen kehrte sie zurück. Sie selbst lebte allerdings in dem Glauben, dass sie zurück‐ gekehrt sei, weil sie ihre Familie nicht im Stich lassen konnte. Ihre jüdische Herkunft nicht verleugnen konnte. Das Gute, das einzig Richtige tun musste. So begründete es Petra vor sich selbst. Aber es gab auch einen weniger romantischen Beweg‐ grund, ein Beweggrund eher finanzieller Natur. In London jobbte Petra als Aushilfskraft, in Prag hatte ihre Mutter ihr eine Stelle in der amerikanischen Botschaft verschafft. Mit festem Gehalt. Mit sehr gutem festem Gehalt. Von diesem Gehalt konnte sich Petra ein Haus im alten jüdischen Viertel leisten. Und Petra hatte immer von einem Haus im jüdi‐ schen Viertel geträumt. Doch auch das nicht aus religiöser Überzeugung. Der Grund war ihre Liebe zum Jugendstil. Ihr müsst wissen, dass Petra – die Karotten‐Jeans in Stone‐
washed, himmelblaue Polyestersocken und schwarze Pumps mit Schlangenlederoptik trug – sich nach dem Schönen verzehrte. Sie schwärmte für das Maßwerk der Balustraden im jüdischen Viertel, die Stuckdecken mit ihren Blumendekors. Petra ging also aus zwei Gründen zurück. Keiner von bei‐ den war ein jüdischer Grund. Sie kehrte ins jüdische Prag zurück, weil sie erstens die Interieurs des frühen zwanzigs‐ ten Jahrhunderts liebte und zweitens, weil sie abserviert worden war.
2 »Ja, jaja, jaja, jaa«, sagte Anjali. »Gefällt dir das?«, fragte Nana. »Ja, ehrlich?« »Ja‐ja«, sagte Anjali. Während sie das sagte, unterstrich sie es mit einer beredten Handbewegung und stieß ein leeres Glas an, das Wodka Tonic enthalten hatte. Es schwankte und fand glücklich das Gleichgewicht wieder. Habe ich Anjalis Aussehen schon beschrieben? Ich glaube nicht. Gut, ich habe ihr Make‐up beschrieben, aber nicht ihre Kleidung. Anjali war irgendwie schlank, irgendwie klein und ir‐ gendwie dunkel. Ihr Stil war eine Mischung aus Clubwear und Sportswear. Das typische Outfit von Anjali bestand aus ihrer alten Jeansjacke, die sie trug, seit sie fünfzehn war, und roten Perry‐Ellis‐Turnschuhen mit schwarzen Nähten. Um die Nase herum sammelten sich ein paar Sommer‐ sprossen. Sie trug häufig einen silbernen Armreif am Handgelenk. Auf ihren Wangen waren blasslila Aknenarben.
Auf halbem Weg den Rücken hinunter war ein Muttermal auf ihrer Wirbelsäule. Dieses Muttermal würde Nana irgendwann nerven. Aber ich greife vor. »Manchmal ist Mies mir ein bisschen, ein bisschen zu programmatisch«, sagte Nana. »Wie bei seinen Hochhäu‐ sern« fragte Anjali. »Oh, nein, die sind toll«, sagte Nana. »Oh, gut«, sagte Anjali. »Sie sind so nüchtern«, sagte Nana. »Ich liebe dieses eine Hochhaus, das in der Friedrichstraße, das ist so was von schön«, sagte Anjali. »Diesen Bau ganz aus Glas?«, fragte Nana. »Yeah, genau den«, sagte Anjali. »Oh ja, der ist schön«, sagte Nana. Ihr seht, sie unterhielten sich über Architektur. Sie gaben sich intellektuell. Und Moshe war auch anwesend. Er war nur nicht in die Unterhaltung einbezogen. Er hatte sich selbst daraus ausgeschlossen. Moshe, zusammengesackt auf einem roten Ledersofa neben einem 60 Zentimeter hohen Reagenzglas mit runzligen weißen Lilien, gab sich schweig‐ sam. Um seine 6 Pfund 50 wieder reinzukriegen, verputzte er lieber eine japanische Knabbermischung, die von den In‐ habern der mybar im myhotel großzügig in einer weißen Por‐ zellanschale bereitgestellt worden war. Meinhotel ist das nicht, dachte Moshe, ganz bestimmt nicht. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, für einen My Mary 6,50 Pfund zu nehmen. Das war nicht seine Preispolitik. Er aß in knurpsig‐mampfigem Schweigen vor sich hin. Während Anjali und Nana sich näher kamen. Nana sagte: »Das Interessante finde ich, wie inner‐ nachional Form ist. Ich finde, sie hatten ganz Recht, es Innernachional Style zu nennen. Ich meine, die Leute glau‐ ben immer, weil, weil, dass Bauhaus was spezifisch Berline‐
risches ist. Aber dann geht Mies van der Rohe nach New York und macht die gleichen Entwürfe. Also hatte es nichts mit Berlin zu tun. Es hat alles nur mit Form zu tun.« Anjali nickte. Sie fand es richtig nett, belehrt zu werden. Sie fand Moshes neue hübsche Freundin und deren kompli‐ zierte Monologe richtig nett. Es war schön, dass dieses Mädchen klug war. »Aber was ist mit den Dächern?«, fragte Anjali. »Was meinst du?«, fragte Nana. »Na, ich dachte, es gäbe da spe‐ ziell deutsche Gründe für«, sagte Anjali. »Ach so, Häuser mit Flachdächern zu entwerfen? Gegen Spitzdächer zu sein?«, fragte Nana. »Ja«, sagte Anjali. »Oh, das find ich schrecklich«, sagte Nana. »Ich hasse das. Das war alles we‐ gen dem Kommunismus«, sagte sie. »Dem Kommunis‐ mus?«, fragte Anjali. »Sie meinten, spitze Dächer sähen wie Kronen aus«, sagte Nana. »Also machten sie ihre Dächer flach.« »Wegen Kronen?«, fragte Anjali. »Genau«, sagte Nana. »Aber«, sagte Anjali, »was ist, wenn es regnet? Was ist dann?« »Ja nee genau«, sagte Nana. Nana nickte. Sie fand dieses Mädchen richtig nett. Sie fand Moshes hübsche Freundin richtig nett. Es war schön, dass dieses Mädchen klug war. Nana sagte: »Mies war auch dagegen, dass die Jalousien verschieden weit aufgezogen waren. War er dagegen. Er wollte sie entweder auf oder zu. Im Seagram Building in New York. Dem Wolkenkratzer. Und dann haben die Leute drinnen sich beschwert. Also war Mies zu einem Kompro‐ miss bereit. Er genehmigte eine weitere Position. Da war es dann entweder auf oder halb auf oder zu. Also ehrlich.« »Nur drei Positionen?«, fragte Anjali. »Ja, ich weiß«, sagte Nana. »Ich weiß.«
3 Ich habe eine ganz einfache Theorie hinsichtlich der Lie‐ besgeschichte zwischen Nana und Moshe. Nämlich die: Ihre Romanze war nicht romantisch. Na ja, zumindest nicht romantisch im üblichen Sinn. Ein entscheidendes Element einer Romanze ist nach her‐ kömmlicher Auffassung, dass eine Romanze so zweisam ver‐ läuft. Eine Romanze ist das genaue Gegenteil einer Freund‐ schaft. Freunde klagen darüber oft. »Stacey«, sagen sie, »kennt mich nicht mehr. Sie hängt nur noch mit Henderson zu‐ sammen.« Auf der anderen Seite meint Stacey, wenn wir für den Moment bei Stacey bleiben wollen, dass ihre Freun‐ dinnen zu sehr klammem. Vielleicht ist dieses Beispiel ein wenig zu abstrakt. Es ist ein wenig abstrakt, ich sehʹs ein. Lasst mich etwas ins Detail gehen. Stacey hat ein Lispeln überwunden. Das bedeutet, dass sie langsamer spricht als andere Leute. Sie trägt drei bunte Freundschaftsbänder am rechten Handgelenk. Henderson, ihr Freund, ist jünger als sie, und das ist ihr peinlich. Sie ist neunzehn, er sechzehn. Na, wie auch immer, Stacey meint, dass ihre Freundinnen nicht begreifen, wie wichtig es ist, Zeit in eine Beziehung zu investieren. Zum Teil denkt sie das natürlich auch, weil sie nicht möchte, dass ihre Freundinnen Henderson zu oft be‐ gegnen. Wie ich schon sagte, ist er erst sechzehn. Was Henderson betrifft, finden dessen Freunde auch, dass seine Beziehung ihn zu sehr beansprucht. Aber sie haben ihre eigene Theorie dazu. Sie meinen, Henderson würde ihnen Stacey wegen deren Leibesfülle nicht vorstellen. Stacey ist nicht die Allerschlankeste. Hendersons Freunde
ziehen ihn damit auf, dass er nur einen Mutterersatz sucht. Einen Mutterersatz mit großen Titten. Hendersons Penis, sagen sie, ist die Nabelschnur, die ihn mit Stacey verbindet. Nun, Nana und Moshe sind offenkundig nicht gleich Stacey und Henderson. Keine Romanze gleicht der anderen. Nana und Moshe erlebten eine unromantische Romanze.
4 In einem Ledersessel neben Anjali und Nana und Moshe am Fenster der mybar saß ein Mädchen. Dieses Mädchen trug ein olivfarbenes Halstuch und einen Zopf. Um die Spitze des Zopfes war stramm ein türkises Flannell‐Haar‐ band gewunden. Sie war Französin. Sie war Frankoalgerierin. Sie unterhielt sich mit einer frankoalgerischen Freundin. Sie unterhielten sich auf Französisch. »Ouä«, sagte sie, »Ouä. Egsagdemon. Dans la vie. Ouä.« Dann zog sie einen dünnen olivfarbenen Pullover aus und entblößte ein ärmelloses schwarzes Top mit einem olivfarbenen Fragezeichen, dessen Punkt das Symbol für Frau war – ein Kreis über einem Kreuz. Das hatte Aufforderungscharakter. Das Mädchen rückte ihre schwarzen dünnen BH‐Riemchen unter ihrem Top zu‐ recht. Nana guckte hin. Anjali guckte. Anjali guckte die guckende Nana an.
5 Nana war keine Lesbe. Sie sah ihren Freund an. Sie fragte ihn, wie es ihm ginge. Moshe war, wie sich herausstellte, todunglücklich. Er empfand leichte Übelkeit von dem pikant gewürzten Knab‐ berzeug. Er leckte sich einen beklecksten Finger ab. Anjali sagte zu ihm: »Das ist auch so süß an dir, wie du dir Gratis‐ essen schmecken lässt. Du haust so richtig rein. Da kommt nichts um.« Und Nana grinste und sagte: »Ich weiß. Das muss seine puritanische Seite sein. Er hasst es, wenn was umkommt.« Moshe breitete die Arme in einer Geste aus, als wollte er sagen: »Was hackt ihr auf mir rum?« Er sagte: »Wie heißt dieser Stil noch mal – der, in dem sie in Indien gebaut ha‐ ben wisst ihr, dieses Lutyens‐Ding?« Aber da hatte Anjali bereits zu Nana gesagt: »Das Arm‐ band find ich so was von toll. Hab ich dir das neulich schon gesagt, als wir, das ist wunderschön, echt Wahnsinn.« Sie sagte: »Wo ist das her?« Moshe sagte: »Nee jetzt wie heißt der noch mal?« »Ach, ehrlich?«, sagte Nana zu Anjali. »Ehrlich? Hast du? Nee ...« Sie sagte: »Ich weiß nicht mehr wo, vielleicht in der Hoxton Boutique, oh, nein nein nein, es war so ein kleiner Laden, weißt du, dieser Hof, wenn man die Brick Lane ein Stück runtergeht, da ist so ein Hof mit kleinen Läden. Ich glaub, in einem von denen«, sagte sie. »Ein Schweißband hab ich auch daher, ein echt cooles Teil, ein rot und weiß und blau gestreiftes Band fürs Handgelenk mit ›I love Paris‹ drauf, an dem kleine Eiffeltürme aus Metall baumeln. Wir sollten da mal hin«, sagte sie. »Nicht nach Paris, Brick Lane,
mein ich.« »Oh, cool«, sagte Anjali. »Das war cool.« »Tja, Paris vielleicht auch«, sagte Nana grinsend. Moshe sagte: »War ich mit dir schon mal in diesem Ba‐ gel‐Laden in der Brick Lane?« Nana sagte: »Bay‐gel? Hast du Bay‐gel gesagt?« Und Moshe sagte: »Ja. Wieso? Wie sprichst du das denn aus?« Anjali steckte sich eine Zigarette an. Nana sagte: »Beigel. Alle sagen Bei‐gel.« Er sagte: »Tja, vielleicht sagen sie das in Edgware, ich nicht. Ich sag Bay‐gel. Aber davon ab‐ gesehen.« Anjali blies Zigarettenrauch in Nanas Richtung und we‐ delte ihn dann schnell mit der linken Hand weg. »Du bist aus Edgware?«, fragte sie. Das fragte sie Nana. »Yeah«, sagte Nana. »Sja scharf«, sagte Anjali, »ich bin aus Canons Park.« »Echt?«, quiekte Nana. »Und davon abgesehen«, sagte Moshe, »müssten wir da mal hingehen, Brick Lane Bakery. Superbillig da, ich glaub 50 Pence ein Bagel oder so. Mit Frischkäse und Lachs und allem.« Nana sagte: »Oh ja, kenn ich.« Moshe sagte: »Ach.« Sie sagte zu Anjali: »Da ist es ganz toll abends nach dem Aus‐ gehen oder so.« »Yeah, ich kenn die auch«, sagte Anjali. Moshe sagte: »Is ne nette Straße, Brick Lane, nette Ecke, mit den Bagels und wie hieß noch mal diese Bar zwei– neun‐eins nee nicht zwei‐neun‐eins wartet mal eins‐neun‐ zwei nein, nein, Scheiße, 96 Feet East. Und die Currys«, sagte er. Er sagte: »Wart ihr schon mal in diesem Restaurant da, Preem, ach ja, indosarazenisch.« Anjali fragte: »Wie?« Er sagte: »Indosarazenisch, dieser Stil, dieser Lutyens‐Stil. In Indien. Das exotische Gotikzeug.
In New Delhi.« »Oh, klar«, sagte Anjali. »Klar. Was ist damit?« »Ja, nichts«, sagte er. »Nichts. Ich mein, find ich nicht schlecht«, sagte er. »Ich wollte nur was zum Gespräch beitragen.« »Wusstest du, dass die größte Zahl von Gebäuden im Bauhaus‐Stil in Tel Aviv steht?«, fragte Nana. »Sie haben da Wohnungen für die Arbeiter gebaut.« »Nein, das wusste ich nicht«, sagte Moshe. »Das wusste ich nicht, Darling.«
6 Nein, Moshe war kein sehr beflissener Jude. Er fühlte sich der Geschichte des jüdischen Volkes nicht verpflichtet. Hätte man ihn aufgefordert, auf einer Landkarte von Israel Tel Aviv zu finden, ich weiß nicht, ob Moshe es gekonnt hätte. Zum Nationalcharakter habe ich auch eine einfache Theorie. Nationalcharakter existiert ebenso wenig wie Ro‐ mantik. Nationalcharakter ist vielmehr reine Romantik. Mitunter bekannte sich Moshe bereitwillig dazu, jüdisch zu sein. Manchmal empfand er loyal. Aber er neigte nicht dazu, sich Gedanken um seine Herkunft zu machen. Er machte sich über sein Jüdischsein keine Gedanken. Das lag unter anderem daran, dass nur sein Vater jüdisch war. Es lag auch daran, dass sein Vater kein besonders jüdisch empfindender Jude war. 1968 war Moshes Vater nach Israel gezogen. Und bereits 1973 war Moshes Vater zurückge‐ kommen. Es reichte ihm. 1975 hatte er freudig eine Schickse namens Gloria geheiratet. Einmal, an einem Wochenende, beim Mittagessen, hatte
Moshe Nana und dem herzensguten Papa erzählt, wie sehr er das Passah‐Fest hasste. Er habe Passah nur einmal mit‐ gemacht, erzählte er. Aber einmal habe ihm gereicht. »Kennt ihr Passah? Man muss die Matzen suchen, der Jüngste muss die Matzen suchen, und mein Großvater hatte sie in der Toilette oben versteckt, wisst ihr, in dem Wasser‐ tank mit dem Schwimmerventil. Und dann muss man sie essen. Also musste ich sie essen. Es war ekelhaft. Ich weiß gar nicht, wie er da raufgekommen ist«, sagte Moshe. »Mein Großvater hatte Parkinson. Aber er hatʹs nach da rauf geschafft.« Papa fand das ziemlich lustig. Nana fand das ausgespro‐ chen lustig. Sie lachte mit fest zusammengepressten Lippen, und ihr Kopf zuckte vor und zurück. Das lag daran, dass sie einen großen Schluck Wasser im Mund hatte. »Und dann muss man so ein Lied singen«, fuhr Moshe fort. »Ein Lied?«, fragte Papa. Moshe sang es vor: »›Ein Lämmlein, ein Lämmlein, das der Vater für zwei Susim ge‐ kauft hat, ein Lämmlein, ein Lämmlein...‹ Doch, ist echt faszinierend«, sagte Moshe. »Da kommt das Lämmlein und die Katze und der Hund und der Stock und das Feuer und das Wasser und der Ochs und der Schächter und dann tötet der Todesengel den Schächter und er tötet den Ochsen. Nein, andersrum. Der Schächter tötet den Ochsen und dann tötet der Todesengel den Schächter. Einfach fesselnd.« Manchmal empfand er loyal. Aber viel häufiger nicht. Für bedingungslose Treue hatte er kein Verständnis. Nein, Moshe hatte wahrlich kein ungetrübtes Verhältnis zum Judaismus. Moshe besaß beispielsweise eine Haggada der Union of
Jewish Students in der Ausgabe von 1996. Ich besitze dieses Buch ebenfalls. Die Haggada beschreibt den genauen Ab‐ lauf eines Passah‐Festes. In Anlehnung an das Hebräische beginnt die Haggada der UJS hinten. Man liest sie von hin‐ ten nach vorne. Ich halte das für affektiert. Moshe fand das auch affektiert. In diesem Buch findet sich jedenfalls ein Abschnitt unter dem Titel »Warum Jude sein?« Die Aus‐ gangsidee war vom obersten Rabbiner Englands, Dr. Jona‐ than Sacks, gekommen. Zu den dahingehend interviewten Persönlichkeiten jüdi‐ schen Glaubens – und es sind wirklich illustre Gestalten, unter anderem Kirk Douglas, Uri Geller, Roseanne, Steven Spielberg und Ehe Wiesel – zählte auch die Talkshow‐Mo‐ deratorin Vanessa Feltz. Jetzt kommt Vanessa Feltzʹ Antwort auf Dr. Sacksʹ Frage »Warum Jude sein?« Und ich muss sagen, dass ich mich Moshes skeptischer Haltung zum Judaismus in diesem Punkt wohl anschließe. Wir beide, Moshe und ich, fanden Vanessas Antwort ein wenig unausgewogen. »Mischehen nehmen uns unsere Zukunft. Damit schiebt man die 5000 Jahre Gelehrsamkeit, Verfolgung, Humor und Optimismus, die Juden zu so außergewöhnlichen Menschen gemacht haben, beiseite, als seien sie nicht bewahrenswert. Jede Ehe zwischen Juden und Nichtjuden zersetzt die Fundamente, die uns zu dem machen, was wir sind. Denn ohne jüdische Kinder gibt es auch keine Zukunft des Judentums. Und das erscheint mir selbst von einer dreiteiligen Sitzgarnitur in Finchley aus als Tragödie.«
Vanessa Feltz! Die goldige Vanessa Feltz! Zwei Jahre später, 1998, trennte sich ihr jüdischer Ehemann sich ihr. Und
Vanessa wandte sich einem anderen Mann zu. Dieser Mann war nicht jüdisch. Natürlich fand ich diese Rassenmischung gut. Und als der nichtjüdische Mann Vanessa Feltz verließ, fand ich das nicht gut. Ich befürchtete, dass dieses Missge‐ schick Vanessa die Gojs auf immer verleiden könnte.
7 Und was war mit Anjali? Ließ sie sich von ihrer kulturellen Identität mehr stressen? War die britisch‐asiatische Anjali von ihrem zwiespältigen kulturellen Erbe irritiert? Nein. Das war sie nicht. Nicht direkt gestresst jedenfalls. Filme be‐ schäftigten sie weit mehr. Aber selbst Filme können ethnisch problematisch sein. Zum Beispiel dieses eine Mal, als Anjali und ihr Schul‐ freund Arjuna sich Spike Lees Filmbiografie Malcolm X an‐ gesehen hatten, als sie 1992 rauskam. Sie sahen ihn im Warner Multiplex auf der Staples Corner. Es war kein Wei‐ ßer im Publikum. Es war auch kein richtig Schwarzer im Publikum. Zumindest keine Afroamerikaner wie Malcolm X. Sie waren alle so wie Arjuna und Anjali. Das war Anjali peinlich. Gut, es war nicht genau das, was Anjali peinlich war. Es war nicht das Publikum. Es war die Einstellung des Publikums. Unerklärlicherweise identifi‐ zierten sich alle mit Malcolm X. Und das wirkte idiotisch. Man musste den Film doch wohl mögen können, ohne sich für Malcolm X zu halten, dachte Anjali. Als sie aus dem Multiplex auf die Staples Corner traten, blickte Anjali Ar‐ juna an. Sie mochte ihn. Das war es nicht. Nur sah er mit
seinem navyblauen Brillengestell mit einem kleinen Panda auf den Bügeln, der anzeigte, dass ein Teil vom Kaufpreis für die Brille irgendwie dem World Wildlife Fund zugeflossen war, nicht gerade wie ein Freiheitskämpfer der Black Power aus. Und als sein Vater in einem weißen Mercedes mit Walnussholz‐Furnier vorfuhr, um sie heim nach Canons Park zu chauffieren, noch weniger. Anjali verstand das nicht. Malcolm X war ein eher mittel‐ mäßiger Film. Das Einzige, woran sie sich noch erinnern konnte, war ein Kameraschwenk um 360 Grad um Malcolm X in seinem Hotelzimmer. Das war die einzige Einstellung mit Wiedererkennungswert. Aber doch, einen Punkt gab es da. Auf ihre Ethnie ange‐ sprochen, konnte Anjali überempfindlich sein. Sie mochte es abstreiten, aber Anjali war überempfindlich. Zum Bei‐ spiel war das Einzige, was ihr an Indien gefiel, Bollywood. Und für Anjalis Liebe zu Bollywood gab es eine sehr ein‐ fache Erklärung. Bollywood war un‐indisch. Un‐indisch? Bollywood un‐indisch? Allerdings – weil In‐ dien für Anjali mit Kühen gleichzusetzen war. Indien be‐ deutete Baugerüste und Schlamm. Indien war voller Famili‐ en. Wohingegen ein sentimentaler Musikfilm das Gegenteil von Familien war. Bollywood war Hollywood. Als Auslandsinderin der zweiten Generation, wie sie von einigen, respektive Bürgerin des United Kingdom, wie sie von anderen, einschließlich Anjali selbst, klassifiziert wur‐ de, gefielen Anjali die Masala‐Filme. Mit amüsiertem Interesse las sie ein Interview mit Shyam Benegal, der den treuen Lesern von CineBlitz erklärte, dass das »gegenwär‐ tige Interesse an uns allein der Diaspora zu verdanken ist. Ohne sie würde niemand Interesse an uns zeigen.«
Ich finde Shyams Ausdruck »Diaspora« nicht ganz tref‐ fend. Von Diaspora spricht man, wenn es kein Heimatland mehr gibt. Und Indien mochte ja Kühe und Schlamm be‐ deutet haben, aber Kühe und Schlamm vertrieben einen nicht aus dem Heimatland. Shyam war da etwas melodra‐ matisch. Mit »Diaspora« meinte er Inder, die im Ausland leben. Auch Anjali fand die Wortwahl eigenartig. Sie gehörte keiner »Diaspora« an. Ausgebildet mit Stipendien an der North London Collegiate School und dann am Brasenose College in Oxford, war Anjali einfach eine Erfolgsstory. Mit Exil hatte sie nichts zu tun. Bollywood‐Filme waren das Gegenteil von Diaspora. Das machte ihren Reiz für Anjali aus. Sie hatten auch nichts mit dem Heimatland zu tun. In ihnen ging es allein um den Stil. Vielleicht seid ihr der Ansicht, Bollywood‐Filme hätten keinen Stil. Vielleicht findet ihr sie kitschig. Gut, über Stil lässt sich streiten. Das Entscheidende ist: Wenn Anjali überhaupt etwas Indisches mochte, dann nur, weil es Un‐ indisch war.
8 Anjali kann tatsächlich oft verwirrend sein. Das ist eine der Seiten, die ich an ihr mag. Sie ist unberechenbar. An Anjali ist beispielsweise nicht nur ihre ethnische Identität verwirrend. Oh nein. Ihre sexuelle Identität ist es auch. Auf der Old Bond Street war Nana eine unscharfe Spie‐ gelung neben dem sich spiegelnden unscharfen Fleck, der
Anjali darstellte. Sie bewunderten Reisetaschen von Tanner Krolle in einem Schaufenster. Die Reisetaschen waren knallrosa. Anjali sagte zu Moshe: »Guck doch mal, Moshe, guck mal, wie hübsch.« Und Moshe gab einen Laut von sich, er gab einen zustimmenden Laut von sich. Er dachte nicht an Mode. Er dachte daran, Nana zu küssen. Aber er hatte von einem gerade genossenen fettarmen, zuckerfreien Latte bei Starbucks einen beschissenen Geschmack im Mund. Davon verging ihm die Lust, sie zu küssen. Stattdessen drückte er sich mit den Hüften an sie, umarmte sie von hinten und schmiegte sich an ihre Schulter. Er sagte zu Anjali: »Nichso hübsch wie du.« Dann grinste er affektiert. Zu Anjali? Das sagte er zu Anjali? Doch, doch. Er flirtete im Spaß. Und Anjali grinste zurück. Sie flirtete auch.
9 Oh Shopping. Oh Mode. Manche Leute begeistern sich einfach deswegen für Mode, weil sie so kostspielig ist. Das ist keine sympathische Ein‐ stellung. Glücklicherweise ist es keine Einstellung, zu der sich irgendjemand bekennen würde. Andere Menschen be‐ wundern an der Mode die Qualitätsarbeit, das handwerk‐ liche Können. Diese Leute sind mir durchaus sympathisch. Sie sind mit denen zu vergleichen, die Kleidungsstücke als Kunstwerke betrachten. Für sie sind Kleidungsstücke
ästhetisch. Gelegenheiten, seine Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen. Ich muss dazu sagen, dass ich nie ganz sicher bin, ob ich ihnen das wirklich abkaufe. Ich fürchte immer, diese Menschen könnten insgeheim Mode deswegen lieben, weil sie kostspielig ist. Da kann man nie sicher sein. Aber im Großen und Ganzen mag ich sie. Dann gibt es diese Menschen, die sich auf abstrakte Wei‐ se, via Modemagazine, für Mode interessieren, weil sie hip sein wollen, und die Leute kapiere ich gar nicht. Und dann gibt es Menschen, die Mode verachten. Sie verachten sie, weil sie viel zu teuer ist. Oder weil sie materialistisch ist. Oder weil sie einfach so hässlich oder unpraktisch ist. Ich persönlich begegne ihr mit technischem Interesse und Respekt, gepaart mit staunendem Sarkasmus. Damit ist man immer auf der sicheren Seite. Die drei hatten unterschiedliche Einstellungen zur Mode. Und das ist wichtig zu wissen, denn wir sind an einem Punkt in der Geschichte, an dem Nana und Moshe und Anjali einen Schaufensterbummel über die Old Bond Street und die Saville Row machten. Sie wussten selbst nicht genau, wie sie dorthin gekommen waren, aber nun waren sie dort. Sie waren im Herzen von Londons Modewelt. Nana stand der Mode wohlwollend amüsiert gegenüber. Sie zählte zu den Menschen, die sich für die technischen Finessen interessierten. Ihr gefiel die raffinierte Machart. Zudem gefiel es ihr, dass die Modedesigner sich um große, dünne Mädchen verdient machten. Dass ihr die staksigen Models gefielen, ist keine Überraschung. Und ihr gefielen neue Materialien. Sie begrüßte die Suche nach Innovatio‐ nen. Aber Nana missfielen die Preise. Ihr missfiel die Ge‐
hässigkeit der Mode. Mode war für sie gleichbedeutend mit Ausgrenzung. Und Nana hasste Ausgrenzung. Das Verbissene und Neurotische an der Mode langweilte sie – die schweigenden auswärtigen Schergen, deren Augen einen auf angemessenes Modebewusstsein taxierten, wenn man die leichten Glastüren aufstieß. Anjali mochte Mode überhaupt nicht. Sie langweilte sich noch schneller als Nana. Sie staunte sogar noch mehr über die Preise. Durch die Preise wurde es schlicht unrealistisch. Für Anjali war Mode gleich Hype. Sie verschwendete nie einen Gedanken daran. Das brachte sie und Moshe einander näher. Moshe war der leidenschaftlichste. Er war am leiden‐ schaftlichsten dagegen. Für Moshe war Mode ein einziger Scheißdreck. Alles nur nervöse Leute unter Fortpflanzungs‐ druck. Sie machte Einfallslosigkeit zum Kult. Mode war Konformismus. Das war seine Theorie zur Mode. Aber jede Theorie gehört zu einem bestimmten Menschen. In Bezug auf Moshe mochte in seiner Theorie, Mode sei geistloser Konformismus, eine innere moralische Un‐ beugsamkeit zum Ausdruck kommen. Es mochte eine Theorie sein, der die Missbilligung exzessiven Interesses am Ephemeren zugrunde lag. Andererseits konnte es auch Un‐ sicherheit gewesen sein. Es konnte auch sein, dass Moshe, weil er sich nicht hübsch oder reich genug für diese luxuriö‐ sen und vornehmen Kleidungsstücke fand, beschlossen hat‐ te, darüber zu lästern. Sei es, wie es will – wie Anjali konnte auch Moshe die Mode nicht leiden. Sie ärgerte ihn.
IO Aber er gab sich Mühe. Ehrlich, Moshe gab sich Mühe. Bei Prada nahm er gähnend einen Sneaker hoch und versuchte ihn zu betrachten. Dieser Sneaker war das Puzzle eines schwarzen Slippers aus Synthetikmaterial im Licht einer unsichtbaren Halogenröhre. Nana ging zu ihm. Sie kam rü‐ ber, um nach Moshe zu sehen. Sie stand neben ihm und fin‐ gerte an etwas Schwerelosem und verschwindend Kleinem auf einem klappernden Bügel aus Metall. Moshe versuchte sie nachzumachen. Er gab einen herausfordernden Laut von sich. Der Laut kostete ihn Nerven. Sie kicherten. Dann tauchte hinter ihnen ein Mann auf. Seine Muskeln spannten unter dem Stretchmaterial seines schwarzen T‐Shirts. Auf dem Ärmel waren diagonale Risse. Die waren vermutlich Absicht. Er war entweder Verkäufer, dachte Moshe, oder Model. Moshe wusste es nicht zu sagen. Während Moshe sich noch über den Status dieses Mannes in der Welt des Stils Gedanken machte, redete der auf Nana ein, wie gut ihr die knappen weißen Shorts mit dem geringelten Kordelzug stehen würden. Er sagte, sie sei wahrlich süperb. Soooooo sexy. Er war Verkäufer. Moshe hasste ihn. Fühlt man sich geschmeichelt, wenn jemand dem gelieb‐ ten Menschen schmeichelt?, überlegte Moshe. Er dachte über die Frage nicht lange nach. Einerseits, weil er depri‐ miert und eifersüchtig war. Aber auch, weil er dringend scheißen musste. Seine Eingeweide vertrugen sich nicht mit dem Kaffee von Starbucks, und davon musste er furzen – kleine, verstohlene Fürze. Das Furzen war eine Qual für
Moshe, während er mit unwahrscheinlichen Höschen auf ihren rutschigen Bügeln hantierte. Nach jedem Furz musste er weitergehen. Er musste auf Distanz zu dem Gestank ge‐ hen. Moshe bereute jetzt seinen Morgenkaffee. Sein Magen war seit einiger Zeit nicht in Ordnung gewesen, aber er hatte gedacht, es ginge ihm schon besser. Doch anscheinend ging es ihm nicht besser. Der Kaffee hatte ihn schwer irritiert. Keine Frage, Moshe fühlte sich definitiv ungeschmeichelt. Er hasste Mode. Möglichst flach atmend, trollte er sich eine Treppe höher. Sind diese Klamotten für Jungen oder Mädchen?, dachte der plötzlich androgyne Hermaphrodit Moshe. Die Läden, mit denen er sich auskannte, hatten getrennte Bereiche für Mädchen und Jungs. Sie hatten getrennte Etagen für Jungs und Mädchen. Und dann stand da Nana, mit Anjali an ihrer Seite, und sah sich einen Nadelstreifenanzug an. Er sagte: »Ist für Jungen«, zu Anjali und Nana gleicher‐ maßen. Nana runzelte die Stirn. Sie sagte: »Wollte schon immer einen für Jungen.« Sie sagte es eigentlich zu dem Anzug, aus dessen seidenweichem Tuch sie mit zusammen‐ genommenen Fingerspitzen ein winziges Zelt errichtete. Sie sagte zu sich selbst: »Ich schätze, der würde mich größer machen.« »Ach, größer«, ließ sich Moshe vernehmen. »Das ist wichtig, also, es könnte wirklich nicht schaden, wenn du ein bisschen größer wärst.« Nana grinste Moshe an. Sie liebte es, wenn Moshe sie neckte. Nana sah sich den jungenhaften Business‐Anzug an, der für einen eleganten Tag in der City konstruiert war. Anjali versuchte es mal. Sie sagte: »Der ist cool, hat einen interes‐
santen Schnitt.« Und das stimmte. Anjali hätte ein Mode‐ profi sein können. Die rechte Tasche war gerade eine Idee höher als die linke aufgesetzt, ein absichtlicher Misston in der Symmetrie. Darum war er cool. Weil cool bedeutet, zu wissen, wie man mit Form arbeitet. Man wiederholt sich nicht. Dann schob Nana ein paar weitere Bügel zur Seite, um sich ein pinkfarbenes Shirt aus zusammengenähten Ein‐ zelteilen anzusehen, eine verrückte Version von Patchwork. Moshe sagte: »Gehen wir dann?« Es war in Wirklichkeit eine Feststellung, keine Frage. Auch wenn ich es hier mit Fragezeichen wiedergegeben habe, sprach Moshe es doch nicht mit Fragezeichen aus. Er sagte: »Gehen wir dann.« Moshe drehte sich rasch um und stieß mit einem Jungen in einem Tanktop mit V‐Ausschnitt zusammen. Das Tank‐ top hatte zwei verschiedene Muster – eins vorne, eins hin‐ ten. Auf dem Rücken waren blau‐gelbe Querstreifen. Auf der Vorderseite mehrfarbige gezackte Streifen. Aber es musste etwas Bestimmtes gewesen sein, dachte der düstere Moshe, in das sich der seltsame Junge verliebt haben muss‐ te. Eine verrückte Eigenart, die der Anstoß zum Kauf gewe‐ sen sein musste. Das Rückenmuster begann schon vorne. Es begann vorne links. Ich weiß nicht. Mir persönlich gefällt die Grundidee die‐ ses Tanktops. Es kränkt mich ein wenig, dass es Moshe nicht gefiel.
11 Nana sagte: »Hab ich heut Morgen meine Pille genommen? Ich weiß nicht mehr, hab ich meine Pille genommen?« »Yeah, hast du«, sagte Moshe. »Oh«, sagte Anjali. »Welche nimmst du?« »Microgynon«, sagte Nana. »Und verträgst du die?«, fragte Anjali. »Doch, ganz gut«, sagte Nana. »Ich mein bloß«, sagte Anjali, »ich werde von der Pille bloß so depressiv.« ! »Du nimmst die Pille?«, fragte Moshe. »Na ja, ich hab sie genommen«, sagte Anjali. »Jetzt hab ich dieses Ding da, ich ging mit dem Jungen, weißt du noch, Torquil, und er, er. Es ist so ähnlich wie eine Spirale, nennt sich Marina, sie ersetzt die Pille. So wie Hormone«, sagte sie. »Warum nimmst du immer noch die Pille?«, fragte Moshe. »Es ist ja nicht die Pille«, sagte Anjali. »Schön, was auch immer«, sagte Moshe. »Du hast keinen Sex mit Jungs mehr, oder? Welche Art Sex hast du dann?« »Ich?«, fragte Anjali. »Welche Art Sex? Ich hab überhaupt keinen Sex. Das weißt du genau. Das ist die Art Sex, die ich hab.« »Ich mein ja nur«, sagte Moshe. »Aber warum willst du das wissen?«, fragte Anjali. »Na, nur so. Ich meine, wenn du wieder mit Jungs zusam‐ men bist«, sagte Moshe. »Und ist das nicht unangenehm?«, fragte Nana.
»Nein, nein«, sagte Anjali, »das ist wunderbar, ich lass sie einfach für – ich glaub – fünf Jahre drin. Solltest du dir auch besorgen«, sagte Anjali zu Nana, als Moshe gegen die Tür von Issey Miyake drückte und Anjali darum ziehen musste. Linkischer Moshe.
12 Drinnen bei Issey Miyake war Nana besonders gut auf‐ gelegt. Sie fühlte sich, als wäre sie in Ferien, verkündete die redselige Nana Moshe und Anjali. Die beiden waren aller‐ dings momentan von einem Anzug, der ganz aus kleinen Metallscheiben bestand, belustigt und fasziniert. Hatte sie schon erzählt, dass sie mit Papa wegflog? Hatte sie schon erzählt, dass sie eine Reise gebucht hatten, für die erste Sep‐ temberwoche ? Moshe schürzte die Lippen. Sie hatte auf die Kleider eingequasselt, und als sie nichts hörte, nicht das kleinste Murmeln, sah sie sich um. Moshe und Anjali ki‐ cherten. Moshe schob die Lippen vor und nickte. Nana nickte und redete weiter. Ich werde hier für einen ganz winzigen Moment unter‐ brechen. Ich möchte nicht, dass Nana falsch verstanden wird. Vielleicht haltet ihr Nana in dieser Szene für gefühllos. Moshes Mode‐Aversion schien sie nicht zu kümmern. Wie ihr wisst, hegte Moshe eine Aversion gegen Mode. Er sah in ihr nur eine Zielscheibe seines Spotts, überteuert und un‐ praktisch. Und Nana wusste, dass ihn das nervte. Sie stimmte ihm in gewisser Weise sogar zu. Aber Nana durch‐
schaute Moshe auch. Sie erkannte die geheime Traurigkeit, die hinter Moshes Verdrießlichkeit steckte. Diese Kleidung gab Moshe das Gefühl, hässlich zu sein. Und Nana wollte ihm zu erkennen geben, dass er schön war, so kitschig das auch klingen mochte. Er hatte keinen Grund, deprimiert zu sein. Dass Nana bei Issey Miyake so gut aufgelegt und verspielt war, war als Liebesbeweis gegenüber Moshe gemeint. Es war vielleicht taktlos, aber auch aufrichtig und lieb. Es sollte Moshe davon überzeugen, dass sie beide in derselben Liga spielten. Er war absolut hübsch. Er war kein bisschen hässlich. Sie wusste, dass es in diesem Augenblick nicht wie ein Liebesbeweis wirkte. Aber sie dachte, dass Moshe es irgendwann so sehen würde. Letztendlich würde er es als Liebesbeweis erkennen. In der Issey‐Miyake‐Boutique gab es ein grauweißes Kleid aus Knitterstoff mit Applikationen aus Blattgold und Blatt‐ silber. Dieses Kleid konnte man nur ein einziges Mal tragen. »In dem würde ich dich zu gern sehen!«, sagte die poly‐ sexuelle Nana zu Moshe. Und das meinte sie ehrlich. Sie zog ihn nicht auf. Sie liebte es, sich Moshe in einem Kleid vorzustellen. Das war für Nana das Sexieste überhaupt. Dummerweise war es für Moshe nicht das Sexieste über‐ haupt. Sein Denken konzentrierte sich eher auf Toiletten als auf Transvestiten. Er musste dringend auf die Toilette. Und das raubte ihm den letzten Nerv. Plötzlich theologisch gestimmt, stellte Moshe Betrach‐ tungen über die Todsünde des Hochmuts an. Er stellte Be‐ trachtungen über den Unterschied zwischen Hochmut und Eitelkeit an. Klöster hatten schon ihre Berechtigung. Er malte sich einen Moshe mit Tonsur und Kutte aus, der im
Küchengarten Unkraut jätete. Er würde Kohl anbauen. Er würde Möhren anbauen. Er bezweifelte, dass Issey Miyake das Sortiment um Wurzelgemüse erweitert hatte. Sie zogen in Zickzacklinie ab, von Moshe nach draußen manövriert.
13 Ich muss kurz auf Henderson und Stacey zurückkommen. Für Henderson war der hinreißendste Moment in ihrer Liebesbeziehung ein Überraschungsbesuch im Zoo von London, wo Stacy zum ersten Mal in ihrem Leben eine Gi‐ raffe sah. Das war seine beglückende, romantische Erinne‐ rung. Stacey ihrerseits weiß nicht mehr viel von dem Be‐ such im Londoner Zoo. Das lag daran, dass sie an dem Tag ihre Periode bekam und es ihr in diesem frühen Stadium ihrer Beziehung zu Henderson peinlich war, es zu erwäh‐ nen. Nach einem früheren Freund, der sich vor der Mens‐ truation geekelt hatte, wusste sie nicht, wie Henderson das aufnehmen würde. Stacey erinnert sich viel lebhafter und liebevoller an die erste Nacht, in der sie unter ihrer Bett‐ decke versteckt ein kurzes, sehr krakeliges, mit Bleistift ge‐ schriebenes Briefchen von Henderson fand. Die Handschrift war so zittrig, weil Henderson es mit dem Kopfkissen als Schreibunterlage geschrieben hatte. In dem Briefchen stand, wie sehr er sie liebte. Liebesgeschichten sind kompliziert. Sie betreffen mehr als eine Person. Das bringt es mit sich, dass jedes Detail mehrdeutig sein kann. Und gerade das gefällt mir ganz gut daran.
Zum Beispiel war Moshes Lieblingsmoment natürlich nicht ihr Ausflug in die Savile Row. Moshes Lieblingser‐ innerung war nicht das Shoppen. Es war ein Blowjob. Es war ein Blowjob, in dessen Genuss er kam, während sein Penis in ein erdbeerrosa Kondom mit Erdbeergeschmack gezwängt war.
14 Eines Morgens wagte der verschlafene Moshe sich unter die Bettdecke vor. Unter der Steppdecke roch es. Es roch nach im Schlaf pupsenden, heißen, koitalen Körpern. Nana schnüffelte. Sie träumte von technicolorbunten Tieren. Sie fühlten sich wie Gummi an (waren aber pelzig), wenn sie sie kosten und liebten. Träumen war nichts für Moshe. Für ihn gab es nichts Köstlicheres, als sie aufzuwecken, langsam, sodass sie noch halb im Traum, aber zufrieden war, während er ganz behutsam ihre Beine spreizte. Er schob sie gerade so weit auseinander, dass er mit seiner kurzen, belegten Zunge hinkam. Und dann atmete er so flach, dass nichts sie störte oder weckte. Er atmete und atmete sie an und beobachtete, wie sie sich langsam, noch schläfrig, öffnete. Dann schmeichelte sich seine Zunge bei ihr ein. Er stupste sie damit an und ließ sie sanft hineingleiten. Sie schmeckte beinahe so wie Schweiß. Er roch seinen eigenen Atem. Er bemühte sich, seinen Atem nicht zu riechen. Das Licht der Morgensonne kam unter der Decke als gedämpftes Rosa an. Moshe öffnete mit zwei Fingern ihre Schamlippen. In den Falten saßen Sprenkel von einem komischen, klebrigen,
weißen – ja, wie wollte man es nennen, vielleicht Ricotta? Das war nicht romantisch. Es war, wie gesagt, keine ro‐ mantische Romanze. Moshe war nicht abgestoßen. Er zog es nur vor, nicht wei‐ terzumachen. Er hatte den Geschmack daran verloren. Un‐ glückseligerweise war das genau der Moment, in dem Nana aufwachte. Sie sagte: »Wasiswas, Süßer?« »Deine Möse ist so komisch«, sagte Moshe. »Irgendwas stimmt mit deiner Möse nicht.« Takt war nicht immer Moshes starke Seite. Nana fuhr sich mit einem Finger über die Schamlippen. Sie zog ihn wieder hoch und inspizierte ihn. Sie roch daran. »Das ist eine Pilzinfektion«, sagte sie, »es ist bloß eine Pilz‐ infektion.« Und dann war es Nana peinlich. Sie wusste nicht, warum, aber so war es. Ihr war es peinlich. Nana musste überhaupt nichts peinlich sein. Ich finde eine Pilzinfektion nicht peinlich. Schon gar nicht peinlich für das Mädchen. Praktisch alle Mädchen haben gelegent‐ lich eine Pilzinfektion. Hefepilze kommen in der Scheide häufig vor, ohne eine Infektion zu verursachen. Eine Infek‐ tion tritt nur ein, wenn die Pilze überhand nehmen. Dazu kommt es bei Irritationen der natürlichen Scheidenflora. Und wir alle wissen, was die Scheidenflora irritiert. Jungs irritieren sie. Nein, für Moshe war es viel peinlicher. Was sonst konnte Nanas Scheidenflora irritiert haben als Moshes Penis? Und das wusste er. »Bei Frauen mit rezidivierenden Pilzinfektio‐ nen«, hieß es in den Informationsbroschüren, »ist eine gleichzeitige Partnerbehandlung angezeigt, da die Infektion beim Mann oft symptomlos verläuft und eine direkte Wie‐ deransteckung zur Folge haben kann.« Das bedeutet, höf‐
lich ausgedrückt, dass normalerweise der Junge daran schuld ist. Aber am Abend dieses Tages empfand Moshe keine Reue. Ich sage es nicht gern, aber er war keineswegs zerknirscht. Er war glücklich. Moshe kam in den Genuss nostalgischer Erotikfreuden. Es war ihm vegönnt, Querschnitte der weib‐ lichen Anatomie in ihrer ganzen Pracht zu sehen. In der Packung von Nanas Gyno‐Canesten 1 mit Applikator – »vor dem Zubettgehen einzuführen, damit die Creme im Verlaufe der Nacht wirken kann (»Im Verlaufe!«, grinste Moshe, die gestelzte Formulierung bewundernd) – war ein Begleitheft mit der Gebrauchsanweisung. Und Nana er‐ laubte Moshe, ihr das Prozedere vorzulesen, während sie mit den Plastikutensilien auf dem Bett lag. Das Diagramm war perfekt. Vor einem himmelblauen Hintergrund wie in einem Fernsehstudio‐Diorama ruhte die Querschnittansicht einer Frau mit schlammgrün ge‐ zeichneten Umrissen. Die Abbildung zeigte auch die Masse ihres Unterleibs. Und dann die ganzen weichen Kurven und Linien, mit Pfeilen, die dezent, aber präzise auf Blase, Gebärmutter, Scheide und Rektum deuteten. Es war kein Körper, der je eine Veränderung erfahren hatte. Es enthielt alle Informationen, die Moshe brauchte. Und Moshe las seinen Text: »Führen Sie den Applikator behutsam so tief in die Scheide ein, wie es für Sie angenehm ist.« Er erfreute sich an der betulichen Parenthese, hinter der sich so viel Vergnügen verbarg. (»Das geschieht am einfachsten, wenn Sie mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken liegen.«) Also winkelte Nana für ihren engagierten Gynäkologen die Beine an. »Halten Sie den Applikator fest und drücken Sie dann langsam den Kolben bis zum Anschlag herunter, so‐
dass die zuvor abgemessene Cremedosis in die Vagina appliziert wird. Ziehen Sie den Applikator heraus. Ent‐ sorgen Sie den Applikator an einem sicheren Platz außer‐ halb der Reichweite von Kindern.« Sie führte sich den Applikator ein wie eine Pornodarstel‐ lerin. Er wurde immer kürzer, dann fluppte die Creme her‐ aus. »Möglicherweise entdecken Sie einen weißlichen Rück‐ stand«, fügte Moshe mit Grabesstimme hinzu. »Das bedeu‐ tet nicht, dass die Behandlung nicht angeschlagen hat.« Und warum war gerade das für Moshe der schönste Mo‐ ment ihrer Liebesgeschichte? Für ihn war es der schönste Moment, weil Nana, so verpilzt und unantastbar sie war, ihren Spaß wollte. Im vollen Bewusstsein ihres Körpers und seiner momentanen Verfassung hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie wollte das Mädchen seiner Träume sein. Ihre Sexfantasie war, eine Sexfantasie zu sein. Schon während des medizinischen Brimboriums hatte sie auf die Vorrats‐ packung Kondome mit Geschmack geschielt, die sie zusam‐ men mit der Canesten‐Salbe am Mittag bei Boots gekauft hatte. Kondome waren ihr neuester Einfall, ihre Möse zu‐ weilen sauberer zu halten. Und sie trug das flattrige Vichy‐ karo und Rosarot ihres Topshop‐Teils. Sie rutschte auf Knien neben den breitbeinig daliegenden Moshe. Dann zog sie seinem Schwanz etwas über. Sie umkleidete ihn mit Erd‐ beergeschmack. Das war Nana, das kleine Mädchen. Und Moshe war ihr Lolli. Es war eine Romanze. Okay, es war sozusagen eine Ro‐ manze. Schließlich ist Romantik immer eine Frage der Stra‐ tegie.
15 Nicht dass ihr denkt, ich hätte etwas gegen Moshe. Über‐ haupt nicht. Ich verurteile ihn nicht. Ich bin sicher, dass es nur sehr wenige Jungs gibt, die nie eine ihrer Freundinnen mit einer Pilzinfektion angesteckt haben. Es gibt sehr weni‐ ge Jungs, die nicht mindestens eine sexuell übertragbare Krankheit weitergegeben haben. Das kann jedem passieren. Beispielsweise dem Großen Vorsitzenden Mao. Das mag euch überraschen. Vielleicht denkt ihr jetzt: »Der Große Vorsitzende Mao? Der große kommunistische Führer und Vordenker? Der Verfasser poetischer Zeilen wie Ein einziger Funke kann einen Flächenbrand entzünden und Achtet auf das Wohlergehen der Massen, achtet auf die Arbeitsweisen ? Nein, doch nicht Mao.« Aber ehrlich, es stimmt. Ich denke mir das nicht aus. Der Beweis findet sich in den Memoiren von Maos Leibarzt, Dr. Zhi‐Sui Li. In seinem Buch geht Dr. Li auf Maos sexuelle Präferenz ein. Sie galt häufigem Sex mit möglichst vielen jungen Mädchen, ohne je selbst zu kommen. Das war natürlich nicht irgendeine spinnerte Neurose. Keineswegs. Maos se‐ xuelle Präferenz wurzelt in der erhabenen Lehre des Tao– ismus. »Als Anhänger taoistischer Sexualpraktiken«, schreibt Dr. Li, »behauptete er zum Beispiel, er brauche Yiu Shui; das Wasser des Yiu, nämlich die Vaginalsekrete, um sein eir genes, zur Neige gehendes Yang – seine männliche Sub‐ stanz, die Quelle seiner Stärke, Macht und Langlebigkeit – zu ergänzen. Da es so wichtig für seine Gesundheit und Kraft war, Yang aufzubauen, durfte er es nicht verschwen‐
den. Deshalb ejakulierte er während des Koitus selten und gewann stattdessen Kraft und Stärke aus den Sekreten sei‐ ner Partnerinnen. Je mehr Yiu‐Shui der Vorsitzende auf‐ nahm, desto kräftiger wurde seine männliche Substanz. Dazu war häufiger Geschlechtsverkehr nötig.« Das war kein x‐beliebiges Sexleben. Das war ein sehr strategisches Sexleben. Aber wie das Schicksal es will, kann selbst hier die Krankheit zuschlagen, hier, wo das Leben rein und unbefleckt ist. Eine junge Frau zog sich eine Trichomonadeninfektion zu. Sie gab sie sehr schnell an Mao weiter, der sie wiederum an seine anderen Partnerinnen weitergab. Wie eine Pilzinfektion sind auch Trichomonaden für das Mädchen sehr schmerzhaft, ohne dass der Junge Beschwer‐ den hat. Das macht es umso schwieriger, einen Jungen dazu zu bringen, dass er sich behandeln lässt. Jungs sind leider sehr stolz. Sie würden sich nie eine Krankheit eingestehen, von der sie nichts spüren. Da Mao der Überträger war, konnte die Präsidentenepidemie nur gestoppt werden, in‐ dem Mao selbst sich behandeln ließ. Aber es ist schwierig, jemanden, der keine Symptome spürt, davon zu über‐ zeugen, dass er eine sexuell übertragbare Krankheit hat. »Der Vorsitzende«, schreibt Dr. Li, »lachte über meinen Vorschlag. ›Wenn mir nichts wehtut, ist es auch nicht schlimm. Warum regen Sie sich so auf?‹ Ich schlug ihm vor, dass er sich wenigstens waschen lassen solle. Er wurde zwar immer noch allabendlich mit heißen Handtüchern abfrottiert, aber er badete nie. Seine Genitalien kamen nie mit Wasser in Berührung. Doch Mao wollte nicht baden. ›Ich wasche mich in meinen Frauen‹, entgegnete er.« Maos Äußerungen mögen überheblich und defensiv
klingen. Etwas verrückt klingen sie schon. Vielleicht zeigt es aber nur eine menschlichere Seite des Vorsitzenden Mao. Vielleicht war es ihm nur peinlich. Nichts, das er sagte, ließe sich nicht auch dadurch erklären, dass es ihm peinlich war. Es ist nicht leicht, seinem Arzt gegenüber zuzugeben, dass man Überträger einer Geschlechtskrankheit ist. Selbst Moshe fiel es schwer, und Moshe steht sehr viel weniger im Licht der Öffentlichkeit als Mao. Vielleicht zeigt diese Anekdote einfach, dass es viel Takt erfordert, mit jemandem über seine sexuelle Gesundheit zu sprechen. »In mir stieg Ekel hoch«, schreibt Dr. Li. »Ich konnte es kaum ertragen, dass er sexuell so zügellos war, taoistische Wahnideen hatte und junge Mädchen ins Verderben stürzte.« Tja – ich bin ganz einer Meinung mit Dr. Li. Ich denke nur, die Sache liegt komplizierter. Ich will Dr. Li noch ein letztes Mal zitieren. »Die Mädchen waren stolz auf ihre In‐ fektion«, schreibt er. »Sie waren von Mao angesteckt wor‐ den, und das war eine Auszeichnung – Zeugnis ihrer besonderen Beziehung zum Vorsitzenden.« Versteht ihr? Damit habt ihr nicht gerechnet, was? Ich glaube nicht, dass wir alle Aspekte sexuell übertragbarer Krankheiten begreifen. So etwas kann auch romantisch sein – manchmal.
16 Und Nana und Moshe waren romantisch. Sie waren auf ihre Art romantisch. Sie liebten sich. Sie sagten, dass sie sich liebten. Es stimmte.
Und das war ihr erstes »Ich liebe dich«. »Willst du damit was Bestimmtes sagen?«, hänselte Nana. Moshe sagte: »Nein.« Sie saßen so da. Er sagte: »Weißt du, ich mag dich wirklich.« »Du magst mich wirklich?«, fragte sie. »Ja, ich mag dich«, sagte er. »Was magst du?«, fragte Nana. »Ich mag alles an dir«, sagte Moshe. »Ich liebe dein Schamhaar«, sagte Moshe. »Ich liebe die Farbe deines Schamhaars. Ich liebe dein Dies, ich liebe dein Das. Ich liebe dich eben«, sagte Moshe. »Das wollte ich gar nicht sagen«, sagte Moshe. Selbst ihr erstes »Ich liebe dich« war unromantisch. Es war ein Versprecher. So gemein kann ich sein. »Natürlich«, sagte Nana. »Ich meine, kann ich nicht«, sagte Moshe. »Mmhmmm«, sagte Nana. »Ich meine, wir kennen uns ja erst, äh, einen Monat, ein paar Monate«, sag‐ te Moshe. »Mmhmmmm«, sagte Nana. Stimmt nicht, eigentlich war es ziemlich romantisch. Ich nehme meine Gemeinheit zurück. Ich schätze, es kann durchaus vorkommen, dass man jemanden erst zwei Tage kennt, aber dennoch glaubt, ihn lieben zu können. Man spürt, dass man ihn bereits liebt. Man kann es nur nicht aussprechen. Man kann einfach noch nicht sagen, dass man ihn liebt. Also war es romantisch, das allen gesell‐ schaftlichen Gepflogenheiten zum Trotz auszusprechen. Moshe und Nanas »Ich Hebe dich« war romantisch. »Meinst du, du könntest es?«, fragte Nana. »Was?«, fragte Moshe. »Mich lieben«, sagte Nana. »Was, jetzt schon?«, fragte Moshe. »Ich weiß nicht«, sagte Nana. »Na, ich weiß es auch nicht«, sagte Moshe. »Vielleicht.« »Vielleicht«, sagte Nana. »Na gut«, sagte Moshe. »Na gut was?«, fragte Nana. »Na gut, ich glaub schon, dass ich dich irgendwie liebe«,
sagte Moshe. »Ich glaub ich liebe dich irgendwie.« Nana wunderte sich über das »irgendwie«. Sie sagte: »Du weißt doch, dass ich dich echt hübsch fin‐ de?« Nana fand Mosche hübsch! Was für eine Love Story! Sie sagte: »Tja, oh. Ja. Ich liebe dich auch.« »Du liebst mich«, sagte er. »Tja«, sagte sie. »Du liebst mich«, sagte er. Sie küsste ihn. Er küsste sie. »Also«, sagte Moshe. Er grins‐ te. »Du bist also in mich verliebt.« »Nein, ich liebe dich nicht«, sagte Nana. »Du liebst mich nicht?«, fragte Moshe. »Doch, wohl«, sagte Nana. »Aber ich«, sagte Moshe. »Fick dich ins Knie«, sagte Nana. Aber Nana war nicht gemein. Sie sagte »Fick dich ins Knie«, und dann küsste sie ihn.
5 Verwicklung
1 Eines Abends saß Moshe rittlings auf Nanas Bauch. Seine Beine waren rechts und links ihrer Brust angewinkelt. Und er kicherte vor sich hin. Er sagte sich selbst, dass es jetzt ent‐ scheidend darauf ankam, Ruhe zu bewahren. Er sah sich seinen Penis an. Sein Penis war rot. Nana starrte auf seinen kastanienbraunen Penis. Sie dachte mit leiser Wehmut ans Sterben. Dies ist ein kurzes, aber notwendiges Kapitel. Ich fürchte, wir müssen erneut einen Blick auf Nanas und Moshes Sex‐ leben werfen. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ihr denkt, dass ihr von deren Sexleben wirklich genug gehört habt. Ihr wollt jetzt etwas völlig anderes hören. Euch ist nach der Be‐ schreibung einer Bergbaustadt auf Sachalin oder in Sibirien. Euch ist nach noch mehr Shopping. Nun, tut mir Leid. Ihr Sexleben war wichtig.
2 Nana und Moshe waren in Edgeware allein zu Haus. Ur‐ sprünglich waren sie zum Essen verabredet gewesen. Aber dann hatten sie das Essen irgendwie aus den Augen ver‐ loren. Nachdem sie eine Flasche Hillʹs Absinth in Papas Depot hinter den Kochtöpfen gefunden hatten, war aus Es‐ sen Trinken geworden. Absinth ist aber eine sehr technisierte Form des Trinkens. Das glückliche Paar zog die Küchenschubladen aus Pi‐ nienholz auf, in der Nanas limonengrünes Feuerzeug sein musste. Sie fanden es zwischen den Haushaltsgeräten, in ei‐ nem Schneebesen gefangen. Dann hielt Nana die Flamme unter einen Salatlöffel aus rostfreiem Stahl, bis sie ihn um– schloss, und erhitzte den Absinth. Der Absinth war vom gleichen Farbton wie das limonengrüne Feuerzeug. Er zischte. Neben ihnen stand eine blauweiße Tüte Kristallzucker von Tate & Lyle mit klebriger, geknickter Lasche. Es war der Zucker, der ihn so zischen ließ. Sie kamen nur bis ins Wohnzimmer. Mosche lehnte schläfrig an einem Sofabein. Er hatte seinen gebogenen Nacken gemütlich ans gebogene Ende des Polsters geschmiegt. Er sah sehr domestiziert aus, wie er da vor dem Hintergrund der weißen Chrysanthemen des Will‐ liam‐Morris‐Bezugs lag. Und Nana flößte ihm löffelchen‐ weise den Absinth ein. Es war eine lustvolle Situation – von dem Mädchen aus Moshes Träumen mit zuckrig knirschenden Löffelchen lau‐ warmen Absinths gefüttert zu werden. Nana sagte: »Du, du, guckste, mwas gucksten so.« Und
Moshe antwortete etwas Schräges, es war kein Wort, bloß ein Laut wie »Uuohoohyr«, und lächelte dann. Das machte sie glücklich. Sie war glücklich, dass Moshe glücklich war. Und weil sie glücklich war, zog Nana ihren BH aus, um ihm eine Freude zu machen. Das war eine Freude, keine Frage. Ihre Brustwarzen waren Grübchen, wie nach innen ge‐ stülpt. Moshe beugte sich auf den Knien vor und verschö‐ nerte, auf seine schwankenden Arme gestützt, mit seinem Mund eine Brustwarze, ihre linke Brustwarze. Sie spitzte sich zu, verhärtete sich, wurde röter, fest. Sie sah aus wie ein erdbeerfarbenes Fruchtgummi. Ihre Warzenhöfe dagegen waren blass wie Haut. Ab der Brustwarze begannen sie zu verblassen. Moshe stierte sie an. Er fragte, ob es ihr gefiele, wenn er sie anguckte. Nanas Erwiderung bestand in einem Grinsen, das ihr oberes Zahn‐ fleisch entblößte. Es war keine befriedigende Erwiderung, das konnte sie merken, das sah sie langsam ein. Also legte sie den Arm um Moshe und ließ sich von ihm küssen. Ihr Mund, feucht vom Absinth, brannte auf Moshes Mund. Und so bastelten sie sich zusammen eine Sexszene. Sie gin‐ gen liebevoll aufeinander ein. Liebevoll gaben sie einander Sicherheit. Sie konzentrierten sich. Sie versuchten ja, ein Sexleben zu entwickeln. Sie gaben sich alle Mühe. Aber es gab da eine Schwierigkeit.
3 Viele Menschen sind so naiv, zu glauben, Sex sei eine simp‐ le Sache. Sie denken, dazu gehörten bloß animalische Lust und leidenschaftliche Schreie. Aber es gibt zahllose Dinge, die ein Sexleben komplizieren können. Es gibt etwas, das ich euch nicht erzählt habe. Es gab et‐ was, das Nana Moshe nicht erzählt hatte. Nana hatte nie zu den Mädchen gehört, die viel Spaß an Sex hatten. Halt, nein, das stimmt nicht ganz. Irgendwie hatte ihr Sex schon gefallen. Sie kapierte ihn nur nie richtig. Das mochte einen weiteren Umstand erklären – bezie‐ hungsweise durch ihn erklärt werden. Moshe muss von diesem Umstand nichts erfahren. Nana war noch nie gekommen. Für sich alleine war sie schon gekommen, doch, ja. Auf der rechten Seite liegend, die Oberschenkel fest um ihre eingequetschte, unermüdliche rechte Hand geschlossen, fiel es Nana leicht zu kommen. Aber wenn noch jemand dabei war, hatte sie ein Orgasmusproblem. Nämlich keine Orgasmen. Es gab keinen ersichtlichen Grund dafür. Zugegeben, Nana war eine Spätentwicklerin. Nana hatte ihren ersten Freund, einen kleinen türkischen Jungen namens Can, als sie achtzehn war. Das erste Mal masturbiert hatte sie mit fünfzehn. Das war vierunddreißig Minuten nachdem sie den Roman Emmanuelle 2 unter Papas Bett gefunden hatte. Sie klaute ihn. Papa verlor natürlich nie ein Wort über die‐ sen Diebstahl. Du kannst nicht von der eigenen Tochter deinen Porno zurückhaben wollen. Und Nana verlor natür‐ lich auch nie ein Wort darüber. Sie wollte Emmanuelle 2
ganz für sich allein haben. Emmanuelle 2 machte Nana an. Es prägte ihre Masturbationshaltung. Nana masturbierte auf der Seite liegend, weil sie so das neben ihr aufgeschla‐ gen auf dem Kissen liegende Buch bequem lesen konnte. Aber das erklärte natürlich noch nicht, wieso Nana bei anderen nicht kommen konnte. Dass sie eine schüchterne Spätentwicklerin war, die Romane brauchte, um zu kom‐ men, hieß nicht zwangsläufig, dass Nana mit jemand ande‐ rem nicht würde kommen können. Aber so war es nun mal. Ich denke, das könnte Nanas und Moshes Nervenflattern beim Sex erklären. Das könnte erklären, warum sie sich konzentrierten. Bei ihren dreiundzwanzig bisherigen sexu‐ ellen Begegnungen mit Moshe, ganz abgesehen von den bisherigen sexuellen Begegnungen mit vier anderen Männern, war Nana noch nie gekommen. Das könnte besonders Moshes Nervenflattern beim Sex erklären. Er hatte sich immer für einen ganz talentierten Liebhaber gehalten, unser Moshe. Er hielt sich nicht – nicht mehr – für einen ganz talentier‐ ten Liebhaber.
4 Der mit Absinth abgefüllte Moshe war vielmehr benebelt und beunruhigt. Er war auf seine benebelte Art beunruhigt. Ich gebe euch ein Beispiel für diese benebelte Unruhe. Als Nana und Moshe sich küssten, fiel Moshe ein, dass er nichts mit seinen Händen gemacht hatte. Das mag sich nicht so schlimm anhören. Aber von Verliebten, dachte Moshe, konnte man erwarten, dass sie was mit ihren
Händen machten. Also schaute Moshe unten nach, was mit seinen Händen war. Sie steckten unter Nanas Rippen fest. Er zerrte sie unter ihr heraus und streichelte Nana. Doch wenn er seine Hände hochnahm, wurde Moshe Nana zu schwer, mit seiner rechten Hüfte in ihrer Magengrube. Also veränderte Nana ihre Lage, sie rutschte dazu ein bisschen. Das veranlasste Moshe, mit dem Streicheln aufzuhören. Moshes Anstrengungen, sich den Glauben an seine Ta‐ lente als Liebhaber zu bewahren, waren bisher nicht ganz erfolgreich. Er machte gerade mit einem weiteren zusätzli‐ chen Problem Bekanntschaft. Dem Problem der Gleichzei‐ tigkeit nämlich. Während er Nana liebevoll streichelte, hörte er gleichzeitig Nanas Frage: »Du, weißt du, dass ich dich echt hübsch finde?« Es war eine Frage, zu der er selbst oft Zuflucht genommen hatte. Das »du, weißt du« machte ihm Sorge. Die ganze Frage machte ihm Sorge. Dass ihm Nanas Frage Sorgen machte, hatte folgenden Grund: Man konnte sie auch so verstehen, als gäbe es hin‐ sichtlich Moshes Hübschheit Zweifel. Denn um die Frage überhaupt zu stellen, musste Nana angenommen haben, er sei sich seines Hübschseins nicht sicher. Und diese Annah‐ me verunsicherte Moshe natürlich, hübschheitstechnisch. Diese Reaktion mag ja nicht sehr glaubhaft wirken. Moshe stellte sich ziemlich an, das sehe ich ein. Mich hätte Nanas Frage nicht verunsichert. Mir wäre sie nicht im Kopf herumgegangen, während ich meine halb nackte Freundin küsse. Aber andererseits bin ich auch nicht Moshe. Es ist nicht mein Seelenleben. Er ließ seine linke Hand an ihren Brüsten entlang abwärts und zu ihrem Rock wandern. Dann hakte er seinen Mittelfinger in den verstärkten Satinteil im Schritt ihres
Höschens, arbeitete sich mit seinem Zeigefinger bis zu ihrer Möse vor und schob ihn hinein. Dass er sich an Nanas Hös‐ chen zu schaffen machte, geschah nicht aus unschuldiger Leidenschaft. Es hatte auch wieder einen miesen kleinen Grund. Dies ist das Kapitel der miesen kleinen Gründe. Moshe prüfte hinterlistig, ob Nana feucht war. Er machte sich an Nanas Unterwäsche zu schaffen, um herauszufin‐ den, wie sehr er begehrt wurde. Unglücklicherweise wurde Moshe nicht begehrt. Nana war trocken. Er spürte zwar Schweiß, aber heiß war Nana nicht, oh nein. Und Moshe dachte insgeheim, dass dies wohl das grausamste aller Spiele sein musste, das Enträtseln des Vergnügens. Grausam deshalb, weil man auch an Moshes Vergnügen denken musste, rechtfertigte sich Moshe vor sich selbst. Während Moshe Vermutungen anstellte und wieder verwarf, hatte er ein angenehm unangenehmes Gefühl gehabt, mit seiner Erektion. Er fragte sich, ob und wann Nana sich ganz ausziehen würde. Moshe war Experte für seinen betrunkenen Penis. Er kannte ihn wie seine Westentasche.
5 Aber Nana hatte ihren Spaß! Es stimmt, sie fühlte sich ir‐ gendwie berauscht und melancholisch. Der Absinth machte sie melancholisch. Aber im Moment fand sie Melancholie sexy. Sie machte sich vor, sie sei kurz vor dem Ableben. Und sie fand es unterhaltsam. Ihr gefiel die Vorstellung zu sterben. Bei der Beerdigung würden alle traurig, soooo soooo trau‐ rig sein.
Sie wusste, dass ihre Erscheinung nicht perfekt war. Um perfekt zu sein, dachte Nana, die methodische Träumerin, hätte sie ein weißes, mit Häkelspitze abgesetztes Seidenne‐ glige anhaben müssen. Es wäre eine Schande gewesen, dort nackt zu erscheinen. Deswegen war die Fantasie nicht per‐ fekt. Oben ohne war nicht perfekt. Das entscheidende Detail war, dass sie sich nicht über‐ anstrengen durfte. Also genoss sie die passive Rolle. Sie war zum Begrabschen da. Es war ihr ein Vergnügen, still dazuliegen und sich in die ruchlosen Gelüste des Mannes zu schicken. Das war eine unterhaltsame neue Erfahrung. Und so kam Nana in aller Zufriedenheit nicht. Zu kom‐ men wurde an diesem Abend nicht mehr angestrebt. Und das nahm eine Last von ihr. Während dieser Schlafzimmer‐Farce kam Nana allerdings nie der Gedanke, dass Moshe sich über ihre Sexfantasie nicht im Klaren sein könnte. Sie ging einfach davon aus, dass er sie kannte. Sie sah Moshe an, der ihr ins Gesicht sah und irgendeinen Kummer zu haben schien. Da musste ihm also eindeutig klar sein, dass sie im Sterben lag. Aber Moshe wusste natürlich nicht, dass Nana gerade starb – im neunzehnten Jahrhundert, an der Auszehrung. Woher auch? Woher sollte Moshe wissen, dass Nana eine hinfällige Geliebte war, die ihre letzten tuberkulösen Freuden in die Länge zog? Aufgrund von Nanas Krankheit durfte man sie zwar be‐ rühren, aber nie in sie eindringen. Darum überlegte sie sich eine neue Sinnenfreude. Aus Mitgefühl für den mitfühlen‐ den Moshe war unsere Heldin gnädig. »Echilldassu auf mein Gesicht kommst«, sagte sie. Daraus ergab sich eine weitere Komplikation.
Sie war nicht mal feucht, und jetzt versuchte sie es schnell hinter sich zu bringen, dachte Moshe. Sie wollte, dass er ab‐ spritzte und das Theater beendete. Moshe hatte die ganze Zeit Recht gehabt. Das brachte ihn aus dem Konzept. Diese traurige Erkenntnis brachte ihn aus dem Konzept. Er sagte: »Ehrlich?« Und Nana nickte – sprachlos, ver‐ zweifelt, flehentlich. Also rückte Moshe über ihr ein Stück höher, bis seine Hoden zwischen ihren abgeflachten Brüs‐ ten baumelten. Moshe saß rittlings auf Nanas Bauch. Seine Beine waren links und rechts von ihrer Brust angewinkelt. Und er ki‐ cherte vor sich hin. Er sagte sich, dass es jetzt entscheidend darauf ankam, Ruhe zu bewahren. Er sah sich seinen Penis an. Sein Penis war rot. Nana starrte seinen kastanienbraunen Penis an. Sie dachte mit leiser Wehmut ans Sterben. Dann begann Moshe zu wichsen. Und Nana wandte den Blick nicht ab. Sie starrte seinen Penis an. Er guckte Nana an, und Nana guckte auf seinen farbenfrohen Penis. Sein Penis wurde unangenehm weich. Der Absinth gab ihm den Rest. Aber er blieb dran. Er versuchte, dranzubleiben. Denn wenn er endlich käme, wäre das gut ausgegangen. Wenn er käme, wäre der vierundzwanzigste Geschlechtsakt zwischen Nana und Moshe endlich erledigt.
6 Mir tun Nana und Moshe Leid, doch. Gar nicht so einfach, ein befriedigendes Sexleben. Viele Menschen sind mit ih‐ rem Sexleben unzufrieden. Selbst Filmstars finden Sex schwierig. Greta Garbo fand Sex schwierig.
»Es gibt nur ein Wort, mit dem ich meine Einstellung zum Sex beschreiben kann: Verunsicherung«, sagte Greta. »Ich glaube, ich könnte nie für längere Zeit mit einem Mann oder einer Frau zusammenleben. Ich finde Männer wie Frauen attraktiv, solange ich nur mit dem Gedanken spiele. Aber wenn es zum geschlechtlichen Akt kommt, bin ich ängstlich. Ich brauche jedes Mal sehr viel Stimulation, ehe mich Leidenschaft und Lust überwältigen. Aber Verunsicherung – davor und danach – ist der bestimmende Faktor.«
Deswegen war Sex für Greta verwirrend. Sie war sich nicht sicher, wie und mit wem sie Sex wollte. Sie wusste nicht, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen wollte. »Ich habe oft von einem reifen Mann mit Erfahrung geträumt, der die ungestüme Kraft eines Jungen mit der gekonnten Technik eines Erwachsenen verbindet. Seltsamerweise träumte ich auch von Frauen im Alter meiner Mutter, die perfekte Geliebte waren. Diese Träume überlagerten sich. Manchmal stand das männliche Element im Vordergrund, manchmal das weibliche. Andere Male war ich mir nicht sicher. Ich sah einen weiblichen Körper mit männlichen Geschlechtsorganen oder einen Männerkörper mit weiblichen. Diese Bilder, die sich in meiner Vorstellung vermischten, waren mitunter angenehm, aber häufiger quälend.«
Das soll nicht heißen, quälende Bisexualität wäre der Grund für Nanas Sexproblem. Nein. Ich will damit nicht sagen, Nana sei Greta Garbo. Mich interessiert auch nicht Gretas Grund an sich. Mich interessiert der Umstand, dass Greta überhaupt dachte, es gäbe einen Grund dafür. Ich kann
verstehen, dass die Vorstellung, man hätte seinen Grund, Sex nicht zu mögen, eine Erleichterung sein muss. Ich kann nachvollziehen, dass man um keinen Preis anormal sein möchte. Und Gründe machen normal. Aber ich halte es für gut möglich, dass es überhaupt keinen Grund hatte. Das finde ich nämlich auch normal.
7 Dieses Kapitel hat zwei Hälften. Zwei ungleiche Hälften. Die erste Hälfte war unfroh. Sie schilderte eine unschöne Komplikation. Die zweite Hälfte dagegen ist viel kürzer und fröhlicher. Es ist ein ländliches Idyll. Es ist ein beschaulicher Blick auf das Reich der Tiere. Nana und Papa waren im Zoo. Etwas kreischte oder blökte. Es kreischblökte. Es konnte, dachte Papa erfreut, der neben seinem Wassertrog und sei‐ nen Salatblättern her tapsende, räudige Löwe gewesen sein, vor dem er stand, aber auch und mit viel größerer Wahr‐ scheinlichkeit ein völlig anderes Tier. Papa war kein Mensch, der sich im Tierreich besonders auskannte. Irgendwas, nein irgendwas musste sich definitiv gerade übergeben haben, dachte er. Er blickte skeptisch einen Panther an. Und versuchte zu entscheiden, ob er lavendel‐ blau oder doch eher heliotrop oder dunkelrot oder kas‐ tanienbraun oder damaszenerpflaumenrot oder etwa scho‐ koladenbraun war. Oder vielleicht gar tabakbraun, dachte er. Nana hingegen war ein Mädchen, das für die Tierwelt schwärmte. Sie liebte die Gemütsruhe von Tieren. Sie liebte
ihre Eindeutigkeit. Sie konnten nicht anders als gut sein. »Oh, ein Affe!«, kicherte Nana. »Ein Affe!« »Er rubbelt, er rubbelt an seinem Pimmel«, sagte Papa. Nana sagte: »Weißt du, was ich glaube, warum ich Tiere liebe? Weil sie stumm sind.« »Mhmmm«, sagte Papa. Nana sagte: »Glaubst du, Tiere wären glücklicher, wenn sie nährstoffreicheres Futter bekämen? Dann hätten sie mehr Zeit zum Spielen und Nachdenken übrig.« »Entschuldige«, sagte Nana. »Entschuldige. Das ist Un‐ sinn, ich weiß.« Sie stromerten durch den Zoo. Sie stromerten herum und guckten sich die Eisbären und Pinguine an, und Nana ent‐ deckte ihre Vorliebe für Pistazieneis. Sie kauften für Papa und sie ein Pistazieneis. Nana erzählte Papa von ihrer neuen unterhaltsamen Ent‐ deckung namens Elsa Schiaparelli. Ihr wisst nichts von Elsa Schiaparelli. Niemand außer Nana weiß von Elsa Schiaparelli. Nana ist so ein Typ Mäd‐ chen. Elsa Schiaparelli, sagte Nana, war eine surrealistische Modedesignerin, die die bourgeoise Vorliebe für überflüssi‐ gen Schnickschnack verachtete. Sie verachtete diese Vor‐ liebe so sehr, dass sie einen schwarzen Pullover mit einem zur Schleife gebundenen weißen Schal erfand. Der Schal war an den Pullover angestrickt. Es war ein unechter Schal. Und das war symbolisch gemeint. Es war ein Symbol für die falsche Fassade der Bourgeoisie. Und Nana sagte: »Ich versteh solche Sachen einfach nicht. Das ist so. Das ist so.« Dann klingelte ihr Telefon. Es war Moshe. Nana gab Papa lautlos zu verstehen, dass es Moshe war. Papa lächelte.
Das hier war die Lächelszene. Das Grundmotiv dieser Szene war das Lächeln. Denn das hier, dachte Nana, war eine Verschwörung. Sie sagte: »Hi hi hi.« Ein Elefant kreischte oder blökte. Nana sagte: »Chbin im Zoo.« Sie sagte: »War ich. Hab ich doch gesagt.« Sie sagte: »Ich war im College.« Sie sagte: »Keiner.« Sie sagte: »Bis jetzt!« Sie sagte: »Moshe! Moshe!« Sie sagte: »Was machste jetzt?« Sie sagte: »Uhhuh Uhhuh.« Sie sagte: »Nein, chbin im.« Sie lächelte. Sie sagte: »Ja, bin ich. Ja, ruf mich an.« In der Zwischenzeit hatte Nana ihre Handtasche über ihr rechtes Handgelenk gehängt, kramte darin herum und hol‐ te ihr Lipgloss raus, das sie langsam aufschraubte, langsam, mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand, und tupfte es auf. Dann wiederholte sie die ganze Operation noch mal in um‐ gekehrter Reihenfolge. Sie sagte: »Okay.« Sie sah Papa an. Sie steckte ihr Handy in ihre Tasche zurück. »Das war Moshe«, sagte Nana. »Ich weiß«, sagte Papa. Dann lächelten beide.
6 Sie verlieben sich
1 UND DANN DAS. Sie waren im Clinic in der Gerrard Street, im Herzen von Chinatown. Moshe und Nana und Anjali miteinander. Aber Moshe hatte sich die Treppe runter in die Bar verzogen. Also war Nana mit Anjali allein geblieben. Minutenlang guckte keine die andere an. Sie wiegten sich nur verträumt, machten kleine Tanz‐ schrittchen. Und unten schubste ein Mädchen Moshe beiseite. Nämlich weil er ihr den Blick auf einen Bildschirm versperrte. Auf dem Bildschirm lief ein Werbespot. Sie erklärte ihm, sie glaube, dass sie in diesem Spot zu sehen sei. Entschuldigend trat Moshe beiseite. In der Zwischenzeit rückte oben auf der Tanzfläche Anjali näher an Nana heran. »Is mit ihm alles klar? Er ist nicht traurig?«, fragte sie. Sie musste den Mund nach oben re‐ cken, in Atemweite der arrangierten Locken von Nanas linkem Ohr, seiner rötlichen, helleren Spitze. Nana sagte: »Häh?« Anjali wiederholte es und wiederholte ihre zarte Geste. Und Nana sagte: »Oh, ja. Dem gehtʹs gut. Hat
Bauchweh.« Und Anjali fragte: »Er hat was?« Dann sagte Nana: »Er hat Bauchweh. Ist wohl aufs Klo.« Anjali nickte beruhigt. Aber Moshe war nicht auf dem Klo. Während dieses klei‐ ne Gespräch stattgefunden hatte, war er wieder nach oben gestromert. Er schlenderte durch die dunkle, laute Menge und tat so, als sähe er sich nach jemandem um. Er sah sich natürlich nach niemandem um. Er behielt seine beiden bes‐ ten Freundinnen im Auge. Es war schwierig, lässig auszusehen. Es kam zu unabsichtlichen Kollisionen mit Fremden, die sich zu ihm umdrehten, während Moshe das Gesicht verzog und sich mit einer Grimasse entschuldigte. Es war wie ein Ballett. Moshe war wie eine Solo‐Ballerina. Er riss seine großen Augen auf und gestikulierte entschuldigend mit den Armen. Ballett war nichts für Moshe. Er beschloss, zurück in die Bar zu gehen. Aber bevor er die enge, feuchte Treppe mit den schlüpf‐ rigen Stahl‐Leisten an beiden Seiten runter war, kamen ei‐ nige Mädchen, die viel hübscher und noch mal so viel jün‐ ger als Moshe waren, triphoppend die Treppe hoch, ohne unseren Helden zu bemerken. Daher musste er rückwärts wieder hochsteigen, weil es rückwärts einfacher ging, und sich neben die Toiletten quetschen. Nach Ruhe, Luft, bloß irgendwas anderem als dem hier lechzend, trat er nach draußen an die Brüstung. Die Brüstung war schwarz mit schmiedeeisernen Schnörkeln und Blümchen. Der Fußboden war millionenfach mit feinen Diamanten gesprenkelt. Irgendein Trio teilte sich einen Joint – zwei Mädchen und ein Junge, ein sarkastischer Amor und seine himmlischen Heerscharen.
Moshe ging wieder runter, unten an der Bar vorbei, vorbei an den Türstehern, und mit einem raschen Schwenk in das Chinarestaurant unter dem Clinic.
2 An diesem Punkt der Geschichte sind ein paar klärende Worte hinsichtlich Anjalis sexueller Orientierung ange‐ bracht. Möglicherweise herrscht eine gewisse Verwirrung, was Anjalis sexuelle Orientierung betrifft. In der Marie‐ Stopes‐Klinik war ihr eine trendige Version der Spirale, die Marina hieß, eingesetzt worden. Sie hatte mindestens einen Ex‐Freund. Das ließe normalerweise auf heterosexuelle Ver‐ anlagung schließen. Sie hatte auch eine Ex‐Freundin. Das ließe normalerweise auf homosexuelle Veranlagung schlie‐ ßen. Nun, Anjali war vielseitig. Sie war ein ausgeglichenes Mädchen. Anjali konnte an jedem Interesse finden. Aber im Grunde war sie eher lesbisch als hetero. So, jetzt ist es raus.
3 Während Moshe unten chinesisches Essen bestellte, tanzten Nana und Anjali oben im Clinic. Da sie sonst niemanden zum Tanzen hatten, tanzten sie als Paar. Und es machte Spaß, so zu tun, als sei man ein Paar. Nana machte es im Augenblick besonderen Spaß. Nana hielt Anjali, locker, und ihre Hand erfreute sich an Anjalis Anderssein. Anjali sah
absolut schön aus, fand Nana. Sie hatte Stil. Das war ein ganz neuer Stil. Während Nana über Stil nachsann, beschäftigten Anjali pragmatischere Gedanken. Anjali musste pissen. Sie brüllte: »Kommst du mit zu den Klos? Wir könnten mal nach Moshe gucken.« Und Nana sagte ja. Aber Moshe war nicht da. Und nur ein Klo war frei. Also packte die pragmatische Anjali Nana bei der Hand und zog sie mit rein. Als Anjali sich hinsetzte, ohne sich umzuschauen, schob sie ihr Hös‐ chen mit der Hose runter und die gleichgültige, gelangweil‐ te, laszive Nana sah ein Büschel, einen Klecks von dunk‐ lerem Schamhaar. Anjali saß vornübergebeugt und grinste. Nana lehnte sich mit der Schulter an die Wand. Die Vibra‐ tionen der Bässe ließen ihre Haut mitschwingen. Sie ver‐ suchte so zu tun, als höre sie nicht, wie Anjali zischend piss–te. Wie der Strahl breiter wurde und dann tröpfelte. Sie guckte Anjali an, und Anjali lächelte irgendwas hinter den bunten Graffiti an. Dann stand Anjali auf und zog ihren Bauch ein, als sie den Reißverschluss an ihrer Hose hoch‐ zog. Sie nahm Nana bei der Hand und zog sie aus dem Klo. Ein Mädchen mit einer krummen Nase und gepiercter lin‐ ker Augenbraue, ein silberner Ring ganz am Rand, zog die Braue hoch – die andere, glücklicherweise. Derweil führte der ungeliebte und unliebenswerte Moshe seinen Mund zu den Essstäbchen und die Essstäbchen zu seinem Mund, um ein Chili‐Rindfleisch Chow Mein in sich hineinzuschlürfen. Er schüttelte tropfenweise extra dunkle Sojasoße aus dem roten Plastikverschluss der Flasche. Es war kein perfekter Abend. Vor ihm befand sich ein elektrisches Technicolorleuchtbild, das einen Blick aufs chinesische Meer zeigte, dessen Wellen endlos anzurollen
schienen. Er versuchte nicht nachzudenken. Er las den klei‐ nen Begleittext auf der Speisekarte, sardonisch, bierernst – »Wir trauen uns, dass Sie sie so genießen werden, wir wir selbst beim Sammeln, Ausprobieren und das Beste für Sie aussuchen.« Er wusste gar nicht recht, was er eigentlich hier unten verloren hatte, nachts um eins in einem China‐ restaurant. Er hatte nicht mal Hunger. Moshe beschloss, wieder reinzugehen. Aber die Türsteher am Eingang machten große Augen. Wer einmal raus war, durfte nicht umsonst wieder rein. Man musste noch mal bezahlen. Man musste sogar mehr bezahlen, weil es jetzt nach elf war. Also ging Moshe genervt weg, als ihm plötzlich haarsträubende Szenen nie da gewesener Intimität zwischen seinen Freundinnen vor Augen standen, die Zärt‐ lichkeit jeder Zärtlichkeit. Er latschte wieder zurück. Er gab den Türstehern die fünfzehn exorbitanten Pfund. Dann hetzte Moshe nach oben. Es stellte sich heraus, dass seine Fantasien so abwegig gar nicht waren. In der Bar unterhielten sich Nana und Anjali mit einem Mädchen. Und wenn ich Mädchen sage, meine ich auch Mädchen. Sie war höchstens siebzehn, dachte Moshe. Sie hatte es bloß hingekriegt, wie eine fünfunddreißigjährige Kindfrau auszusehen. Ihr Name war Verity. Verity trug eine pornografische Kombination von Shirt und windschiefem Halstuch, die jedoch, wie sie dem verdutzten Moshe mitteilte, ein Pulli war. Es war einer dieser Schalpullis von Bella Freud. Alles trompe lʹœil und so. Verity war in der Modebranche. Sie erklärte Moshe, ihr Pullover sei jetzt total aktuell, wo auch noch Clements Ribeiro für Cacharel und so. Clements
machte so mit Modeschmuck besetzte T‐Shirts und Blusen mit baumelnden Perlenschnüren, Hosen mit Kettengürteln, lauter solche Sachen eben. Es war so eine Art Hommage an Chanel, sagte sie. Nana sagte: »Wie, wie Elsa Schiaparelli«, und Verity lächelte beglückt. Ich mag Nana wirklich. Ihr wisst, was sie von Elsa Schia‐ parelli hielt. Aber da stand sie und war freundlich. Aus Nettigkeit diesem einsamen Mädchen gegenüber. Nana sagte: »Dasss cool.« Aber Moshe fand nicht, dass es cool war. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ihr denkt, er wäre eifersüchtig. Und das stimmt. Aber Moshe war nicht nur eifersüchtig. Moshe hat‐ te ein besonderes Verhältnis zu Mädchen wie Verity. Um das zu verstehen, müsst ihr verstehen, aus welcher Ecke Moshe stammt. Moshe war in der Ribblesdale Avenue in Friern Barnet aufgewachsen. Viele von euch werden nie von Friern Bar‐ net gehört haben. Es war Peripherie, Vorstadt, ein Stadt‐ bezirk im nördlichen Teil von London Nord. Ungewöhnlich deshalb, weil die Gegend sozusagen Niemandsland ist. Manchmal bezeichnete Moshe Friern Barnet als Hamp– stead. Das war gelogen. Ein anderes Mal bezeichnete er es als Highgate. Es ist auch nicht Highgate. Friern Barnet ist Whetstone, Southgate, Palmers Green. Das sind weniger aufregende Ecken von London, aber es sind die, zwischen denen Friern Barnet liegt. Die Eigentümlichkeit, die ich hier aufdecken will, ist folgende: Friern Barnet war nicht beson‐ ders reich, es war nicht besonders glänzend, aber es lag im Umfeld des Reichtums. Moshe hatte schon Mädchen aus besseren Kreisen gese‐ hen. Er hatte sie im Bus gesehen. Er hatte sie im 43er auf der
Strecke über Highgate und Muswell Hill in die Stadt gesehen. Er kannte den Typ. Und diese Mädchen aus bes‐ seren Kreisen lösten bei Moshe eine unerwartete Reaktion aus. Moshe mache sich romantische Vorstellungen von Mädchen wie Verity. Sie stimmten ihn traurig. Sie waren so jung und doch so erwachsen. Er sah eine tragisch zerstörte Unschuld in ihnen. »Weißt du, was komisch ist«, sagte Nana sinnend zu Ve‐ rity. »Meine modischen Vorbilder sind alle Männer.« Dann fragte sie Moshe, wo er geblieben war. Er sagte, er wolle Champagner holen. Anjali fing an zu lachen, weil Moshe einfach also. Einfach. So was von süß war. Er sagte: »Chwar nur mal gucken. Ich hol uns Champagner.« An der Bar, zwischen all den ungeduldigen Jungen und Mädchen, die ihre zu Mini‐Käsestangen gerollten Zwanzig‐ Pfund‐Scheine umklammerten, fühlte Moshe sich verloren. Die Bar war zu klein für alle. Selbst Moshe fühlte sich einge‐ zwängt, und Moshe war kein Hüne. Es war Chaos. Aber Moshe blieb hartnäckig, denn er fühlte sich einsam und me‐ lancholisch, und ein einsamer und melancholischer Moshe neigte unglücklicherweise zu theatralischen Gesten. Der bil‐ ligste Champagner kostete fünfundsechzig Pfund. Er zahlte das. Natürlich zahlte er das. Er nahm ein Glas für Verity mit. In einer geeigneten Nische mit klebrigen roten Ledersit‐ zen an einem Erkerfenster erzählte sie Anjali und Anjalis toller Freundin ihre traurige Lebensgeschichte. »Meine Mum«, sagte sie, »ist vor zwei Jahren gestorben, und das hat mich einfach echt aus der Bahn geworfen. Aber mir gehtʹs echt gut, seit ich diese Trapie mach; ich geh jetzt seit ein paar Jahren hin und merk einfach so eine innere Ruhe, ja?«
Es stimmte tatsächlich. Verity war ein Trauerspiel. Moshe hatte Recht.
4 Doch es kam an diesem Abend noch schlimmer für Moshe. Verity sagte: »Oh, guck mal, ich, ich hab eine Pille übrig. Sollen wir nicht alle. Wollt ihr?« Sie sagte: »Ich hab zwei über. Für einen Fünfer das Stück könnt ihr sie haben.« Und Moshe sagte: »Oh nein, nein nein nein, wir nein nein. Ganz schlecht für Depressionen, die machen Depressionen.« Verity guckte ihn an. »Wissenschaftlich bewiesen«, sagte er. Moshe bedauerte plötzlich, dass er je einen freundlichen Gedanken an Verity verschwendet hatte. Nana sagte: »Was au ja.« Dann sagte sie zu Anjali: »War‐ um nehmen wir nicht alle eine halbe?« Dann wieder an Ve‐ rity gewandt: »Bist du sicher?«, fragte sie. »Geht das auch wirklich?«, fragte sie. »Klar«, sagte Verity. »War toll, wenn ihr mitmacht.« Nana entfernte die Frischhaltefolie und legte sie auf den Tisch, dann brach sie die Pille vorsichtig sauber in der Mitte durch und legte eine Hälfte auf Anjalis Zunge, und so grinste Anjali, während Nana die andere Hälfte in ihren Smiley‐Mund warf. Sex and drugs and rock ʹnʹ roll war noch nie Moshes Le‐ bensziel gewesen. Er fragte: »Wollt ihr Wasser? Ich hol welches. Ihr braucht Wasser.« Er erzählte den tollkühnen Mädchen von den miesen Tricks der unmoralischen Nachtclubbesitzer, die die Wasserversorgung in den Clubs abdrehten und dann
überteuerte Mini‐Fläschchen Evian verkauften. Das war eine Frage von Leben und Tod. Die tollkühnen Mädchen grinsten ihn an. Er sagte: »Passt auf, ihr dürft keinen Alkohol trinken. Lasst stehn, ich hol Wasser.« Er holte ihnen Wasser. Sie tranken den Alkohol. So saßen sie am Fenster beieinander. Nana saß neben Anjali, die neben Verity saß. Moshe saß ganz außen. Er quetschte eine verspannte Arschbacke auf die äußere Sitz‐ kante und passte auf, dass er Verity nicht berührte. Er wollte nicht schmierig wirken. Nach Moshes Ansicht war die Welt viel zu gefühlig ge‐ worden. Und auch damit hatte Moshe Recht. Nana und Anjali weichten auf, sie zerflossen zu einem Mädchen‐Paar. Nanas Kopf neigte sich Anjalis Gesicht entgegen. Nana fühlte sich klein und warm und zugeknallt. Es gab keinen sichereren Ort als die Welt. Anjali war die hübscheste, dachte Nana ekstatisch, weil sie sie umfangen hielt. Anjali streichelte ihren nackten, ge‐ spannten Bauch. Die Bewegung machte Nana eine Gänse‐ haut. Ihr ganzes Empfinden war weich. Anjali stimmte sie sanft. Daher war es ganz natürlich, dass sie schnäbelten und schnuckelten und Küsschen gaben, und Moshe war da, er sah zu und war zufrieden, er unterhielt sich über Friern Barnet. So konnten Nana und ihre beste Freundin Anjali sich küssen, bloß küssen. Denn Küssen war das Sanfteste.
5 Ist Nana gerade lesbisch geworden? Natürlich nicht. Es war nur ein Kuss. Ein Kuss unter Mädchen macht ein Mädchen noch nicht zur Lesbe. Dass Nana Anjali küsste, hatte seine Gründe, aber es waren keine lesbischen Gründe. In erster Linie erklärte es sich so. Wie schon gesagt, war Nana kein Mädchen für unkomplizierten Sex. Aber machte das ein Mädchen gleich zur Lesbe? Schscht. Sie war keine Lesbe. Weil Nana selber keine bestimmte sexuelle Obsession hatte, war sie stets an den se‐ xuellen Obsessionen anderer Menschen interessiert. Sie interessierte sich immer für die Sexpraktiken anderer Men‐ schen. Sie fragte sich, wie das wohl wäre. Nana erhoffte sich nicht wirklich ein neues Prickeln, als sie Anjali küsste. Nein. Sie war neugierig. Sie hatte ein ase‐ xuelles Interesse am Sex. Ich bin mir bewusst, dass Nana an dieser Stelle möglicherweise etwas ichbezogen erscheint. Dann täte man ihr wirklich Unrecht. Wollte man daraus folgern, Nana sei egoistisch, wäre das die Folgerung eines Wesens mit sexuellen Bedürfnissen. Ich weiß, ein Großteil meiner Leserinnen und Leser hat sexuelle Bedürfnisse. Aber Nana hatte keine sexuellen Bedürfnisse. Sie war un‐ schuldig. Das war der wesentliche Grund. Es gab darüber hinaus zwei weitere Gründe, warum Nana keine moralischen Bedenken belasteten. Sie war gerade so schön auf Ecstasy. Das schränkte ihre Wahrnehmung für Unschicklichkeit ein. Der andere Grund war: Moshe war dabei, er saß daneben und unterhielt sich angeregt. Also
war Moshe auch glücklich. Wäre Moshe nicht glücklich ge‐ wesen, hätte nichts davon geschehen können. Denn dann wäre es Untreue gewesen. Es konnte keine Untreue sein, wenn er zusah. Also küsste Nana Anjali. Anjali war sanft. Es war sanfter, als Moshe zu küssen. Aber was ging Anjali durch den Kopf? Hegte Anjali nicht boshafte und triumphierende Gedanken? Natürlich nicht. War Anjali etwa auch unschuldig? Na ja, irgendwie schon. Anjali war nicht im selben Sinne unschuldig wie Nana. Anjali hatte sexuelle Bedürfnisse wie du und ichv Doch auch Anjali hatte sich ihre Gedanken gemacht. Auch sie war nicht egoistisch. Sie dachte über Nana und Moshe nach. Sie war gerade so schön auf Ecstasy. Wenn über‐ haupt, dachte sie, dass dieser Kuss bewiese, wie sehr Nana und Moshe einander liebten. Sie waren das verliebteste Paar überhaupt. Sie machten sich nicht alles durch Ei‐ fersucht kaputt. Zu eurer Beruhigung müsst ihr Anjali beispielsweise nur mit mir vergleichen. Einer meiner unschöneren Charak‐ terzüge ist: Ich kann sehr egoistisch sein. Ich weiß, man mag es kaum glauben, aber es stimmt. Das bedeutet, dass ich oft Dinge haben will, nur weil andere sie auch wollen. Ich bin manchmal etwas besorgt, dass ich zu kurz kommen könnte. Anjali dachte nicht auf so egoistische Art und Weise. Es ist eine Art und Weise, die ich selbstverständlich verstehen könnte, aber so dachte Anjali nicht. Ihr Beweggrund war nicht habsüchtiger Neid. Sie war einfach glücklich. Sie war glücklich, dass ihre Freunde glücklich waren. Es freute sie,
dass sie ineinander verliebt waren. Und das stimmte auch. Alles, was Nana und Moshe taten, taten sie aus Liebe. Ein Beispiel: Kaum dass Moshe begann, ein wenig nie‐ dergeschlagen und unruhig auszusehen, schob sich Nana an Anjali vorbei. Sie küsste Moshe. Sie küsste ihn entschuldigend, lieb. Es machte mehr Spaß, Moshe zu küssen. Dann hörte sie auf, ihn zu küssen, und schaute in seine großen braunen Labradoraugen.
6 Ich will eins unmissverständlich klarstellen. Anjali und Nana haben sich geküsst, aber es hat keine weiteren sexuellen Aktivitäten zwischen ihnen gegeben. Doch letztendlich wird es dazu kommen. Das verspreche ich euch. Wenn es dann so weit ist, erfahrt ihr es von mir! Ihr müsst euch nur etwas gedulden. Bis dahin dürft ihr vor‐ aussetzen, dass sie immer intimer werden. Alle drei werden unzertrennlich. Ihr wüsstet wahrscheinlich gerne Näheres über die Le‐ bensumstände von Nana, Moshe und Anjali. Es sieht so aus, als könnten die Lebensumstände wichtig werden. Also, ich sage es euch. Noch wohnen die drei nicht zusammen. Ihr erfahrt es, wenn es so weit ist.
7 Fangen wir auf Moshes Seite an. Ich werde mich einen Mo‐ ment lang näher mit Moshe befassen. Der nächste Teil der Geschichte, und es ist ein wichtiger Teil, war kein Ereignis. Es war eine Abfolge von Mikro‐Ereignissen. Und oft war so ein Mikro‐Ereignis nicht mal ein Mikro‐Ereignis. Es war nicht mehr als ein Gefühl. Der nächste Teil dieser Ge‐ schichte ist nichts als Kleinigkeiten. Moshe erwachte gewöhnlich aus dem ermüdenden Schlaf, der seine Spezialität war, und lag dann einfach da. Und während er dalag, pflegte er mit sich selbst Gedanken über Politik, Sex, Philosophie, Kunst auszutauschen. In erster Linie Sex. Er überließ sein Bewusstsein jedem der aus‐ schweifenden Bedürfnisse, die es verspürte. Er ließ es an der erstbesten dummen oder brillanten Idee schnüffeln, die ihm begegnete, gerade so wie sozialethisch desorientierte Jugendliche auf der Cally Road irgendein Mädchen in Nike‐ Turnschuhen ohne Schnürsenkel, mit toten Augen, Himmelfahrtsnase, verfolgen. Hatte irgendwer etwas Schlimmes gemacht? Keineswegs. Es war keine Untreue, überlegte Moshe. Und wenn es keine Untreue war, war Moshe auch nicht eifersüchtig. Schließ‐ lich war er dabei gewesen, als sie sich küssten. Wenn überhaupt, dann war es sexy gewesen. Er musste einräu‐ men, dass es ihm ganz gut gefallen hatte. Jeder Junge träumte von so was. Er war ein ethischer Denker, unser Moshe. Aber was war der Grund für diese philosophischen Ge‐ danken? Was ließ einen jungen Mann aus Friern Barnet, dessen ihn vergötternde Mutter Gloria hieß, über das We‐
sen des Guten nachdenken? Manchmal saßen Nanaa und Moshe und Anjali zusam‐ men unter einer Decke auf f dem Futon, Anjali in der Mitte, sahen sich Videos an und aßen Pizza vom Go‐Go Pizzaservice. Der Go‐Go Pizzaservice hatte eine Riesen‐Pizza Ihrer Wahl mit doppelter Portion Knoblauchbrot und einem Pott Häagen‐Dazs‐Eis im SoncHerangebot – alles zusammen für nur 9.99 Pfund, wenn man bis 17.30 Uhr bestellte. Fünf Uhr, darin waren sich alle einig, konnte manchmal zu früh für Pizza sein. Oder Anjali übernachtete bei ihnen, wenn sie alle im mittlerweile aufgelösten Dub Club in Finsbury Park gewesen waren, weil Nana und Moshe ihr den Gewaltmarsch nach Kentish Town ersparen wollten. Und hin und wieder spazierte Anjali, nachdem sie schon Gute Nacht gesagt hatten, von ihrem Platz auf dem Futon noch mal in Nana und Moshes Zimmer und quatschten noch ein bisschen. Sie kuschelte sich aufs Bett, während Moshe sich Sorgen machte, es könnte aussehen, als hätte er Brüste, weil seine Brust von der Bettdecke unvorteilhaft hochgedrückt wurde. Seht ihr, es waren an sich keine Ereignisse. Sie waren nicht der Rede wert. Aber sie hatten Moshe ans Philoso‐ phieren gebracht. Etwa einen Monat später standen sie nach einem ganz‐ tägigen Besuch der Embassy Bar in der Essex Road an einer Bushaltestelle. Nana wärmte sich die Hände in Moshes Ho‐ sentaschen. Und als Anjali verschämt gegen diese blanke Fummelei protestierte, reagierte Nana, indem sie Anjalis Hand in Moshes Tasche schob. Anjali lokalisierte unverfro‐ ren seinen Penis. Sie fasste ihn an, eine Idee zu fest, dachte
der erregte und anschwellend Moshe. Dann kam der Bus. Es gab kleinere Momente mit Küsschen. Hin und wieder küssten sich Anjali und Nana. Aber Moshe wurde immer mit geküsst. Es wurde immer eine gegenseitige Küsserei daraus. Anjali und Nana waren, um es noch mal zu wiederholen, kein Paar. Moshe war glücklich, der Ärmste.
8 Weil er glücklich war, hatte Moshe begonnen, Nanas und Moshes diverse Angewohnheiten aufzulisten. Wenn er al‐ lein aufwachte, dachte er an ihre Aufwach–Rituale. Er dachte daran, wie Nana sich ankuschelte, unfähig zu spre‐ chen. Nana signalisierte nur ein stummes Hallo, ein Winken mit geschlossenen Lippen. Sie duschte immer nach ein und demselben Schema: Erst einmal komplett abbrausen, auf die Haare zweimal Sham‐ poo und einmal Conditioner, Körper einseifen, einmal krumm machen und zwischen den Beinen rubbeln, den Sei‐ fenschaum in Ovalen um ihre Brüste verteilen, nach hinten umdrehen und zurückbeugen, um sich zwischen den Poba‐ cken zu waschen, dann ein weiterer Schauer, dann die Rub‐ belkur mit einem himmelblauen Borstenhandschuh aus dem Body Shop, dann letztes Abduschen von Haaren und Körper. Sie hatte eine Postkarte mit Toulouse‐Lautrec‐Bild neben dem Bett hängen, weil es sie an sich und Moshe erin‐ nerte, zwei Kinder unter der Bettdecke. Sie kniepte immer mit den Augen, und wenn er besorgt war und sie drängte,
ihre Brille aufzusetzen, sagte sie, es ginge auch so. Wenn sie traurig war, schlurfte sie mit der russische Fellmütze auf dem Kopf rum, die irgendwer in der Garderobe des Freedom auf der Wardour Street liegen gelassen hatte. Manchmal wünschte sich Moshe, noch völlig unberührt zu sein, so sehr belasteten ihn die mittlerweile zusammen‐ gekommenen Fakten. Nein, halt, er musste es zugeben – auch unberührte Menschen hatten ihre Fakten. Er wäre gern ein Baby gewesen. Er wäre gern ein sprachloses Baby gewesen. Moshe machte eine Liste seiner Lieblingsfantasien. Er lag da und fragte sich, ob eine Fantasie zur Sucht werden konnte. Dann fragte er sich, ob das eine Rolle spielte, und entschied, dass dem nicht so war. Er stellte sich Nana und Moshe immer im Sonnenlicht vor, in Zimmern mit zer‐ wühlten Betten und dem sanftesten Sonnenlicht, das sich irisierend kräuselte, in abstrusen Ferien, in denen sie aus ar‐ tesischen Brunnen geschöpftes Voss‐Wasser aus von Neil Kraft designten Flaschen tranken. Er versuchte, sich sich selbst ohne sie vorzustellen, und wollte das nicht. Er dachte daran, wie er mit ihr geschlafen hatte, während aus dem Nebenzimmer Fetzen von Duke Ellington herüber‐ wehten. Es war eine synkopierte Sexszene. Eine Sexszene mit Big Band. Sie redeten miteinander über Sex. Sie machten sich Ge‐ danken über Sex. Sie zerbrachen sich jeden Abend den Kopf über Sex. Moshe sagte ihr, sie solle einfach überlegen, was sie geil fände. Das war sein entnervter Ratschlag. Er sagte: »Woran denkst du, wenn du dir einen runterholst? Wo– raufholstedireinenrunter?« Nana guckte belämmert. Sie
wusste es nicht. Sie sagte: »An dich.« Traurigerweise stimmte das. Während Moshe mit Sexfantasien schnell bei der Hand war. Er musste sie sogar zügeln. Da war Nana in ihrer Schulmädchenpose, in Vichykaro, die ihm alles über ihr Treiben beim Gymkhana erzählte. Sie beschrieb, wie sich der Sattelknauf anfühlte. Sie ließ das Wort »Steigbügel« fallen. Und Moshe stellte sich vor, wie er sagte: »Reit mich wie ein Pferd.« Oder er erwog, sie zu schwängern. Das ließ ihn schneller kommen. Oft musste er seine Sexfantasien von Nana abstrakter gestalten. Er hielt sich mit Details zurück. Zu viele Details erregten ihn zu sehr. Allerdings gab es da eine immer wiederkehrende Traumvorstellung von Nana in einer Badewanne, die gerade für ihren Körper Platz bot, und in dem klaren Wasser schwammen hingetupfte Goldfische über ihre Haut. Nana streute dann Fischfutter in ihr flaumiges Schamhaar und ließ sie schnabulieren, während Moshe sie prüfend ansah, mit dem Kinn auf dem kühlen Badewannenrand. Wenn Nana früh aufgestanden war, um zu Vorlesungen zu gehen, und Moshe allein zurückblieb, fand er schon mal einen Roman von Louise Bagshawe, den Anjali gratis zur Cosmopolitan dazubekommen und in seiner Wohnung lie‐ gen gelassen hatte. Moshe stieß auf die Sexszenen. Das Buch begann bei den Sexszenen aufzuklappen. Er trottete dann zum Klo und holte sich das Klopapier. Anschließend arrangierte er die vier Kissen auf dem Bett in einigermaßen abstützenden Positionen, machte es sich darauf gemütlich und holte sich einen runter. An seiner Lieblingsstelle war beschrieben, wie ein Mädchen mit Ambitionen in der Mu‐ sikbranche gegen eine raue Ziegelmauer gelehnt auf die
Schnelle durchgefickt wurde. Die Szene war kurz, aber plastisch. Ihm gefiel der Stil von Louise Bagshawe. Wenn Moshe dann kam, ließ er den Samen auf seinem Bauch ab‐ kühlen, bis er dünnflüssig und unangenehm seine Lenden hinunterlief. Und dann vergaß Moshe immer, das Klopa‐ pier wieder wegzubringen. Wenn Nana nach Hause kam, zog sie ihn deswegen auf. Die Vorstellung, dass ein Junge masturbiert, obwohl er in einer festen Beziehung lebt, scheint viele Menschen zu schockieren. So was kommt vor. Masturbation ist etwas ganz Alltägliches. Moshe war ein leuchtendes Beispiel. Man traf ihn natürlich nicht ständig ans Kopfteil des Betts gelehnt an. Aber gelegentlich war das seine Haltung. Moshe dachte daran, wie Nana mit gespreizten Beinen über dem Klo stand, ein knabenhaftes Mädchen, und mit der gekrümmten Nagelschere aus einem Neccessaire von Boots, das ihr Papa zu Weihnachten geschenkt hatte, das Schamhaar stutzte. Oder wie er den ganzen Tag ihren Slip trug und sich an der knappen, duftigen Spitze erfreute. Einmal hatte Moshe sich ausgemalt, wie Nana Anjali von hinten leckte, aber das fand er jetzt abseitig. Es kam ihm ein bisschen überzogen vor. Er zählte ihre Lieblingsspeisen auf. Sie liebte lila Brokkoli. Sie liebte rosa Lachs‐Sashimi, den sie mit ruckenden Kopfbewegungen von den Essstäbchen abbiss. Er konnte nicht genug staunen über ihre Gelassenheit in Restaurants. Ihre Gelassenheit war sexy. Sie hatte Glamour. Sie rief ihn aus dem Ivy an, nonchalant, gelassen, weil Papa abgesagt hatte, und ob Moshe vielleicht? Und dann sah man Moshe, der kein Bügelbrett besaß, auf dem gefliesten Badezimmer‐ boden kriechen und sein einziges Hemd bügeln, fluchend
und drauflosbügelnd und wieder fluchend, diesmal über die tiefen Fugen im Boden. Er verehrte sie. Er verehrte alles an ihr. Er liebte sogar die Wochenenden in Papas Haus. Er saß dann im Wintergarten und nahm sich eine alte Ausgabe von, na, sagen wir Risk Professional vor. In einem Zeitschriftenständer war ein ganzer Haufen Zeitschriften. Der Ständer bestand aus Schlingen und Kringeln von po‐ liertem Mahagoni. Er sah aus wie eine Brezel. Moshe blät‐ terte flüchtig in Risk Professional. Er schlug die Zeitschrift bei einer doppelseitigen Anzeige für Zürich Financial Ser‐ vices auf. »Wir bauen Beziehungen auf, Lösung für Lö‐ sung.« Das war das Motto von Zürich Financial Services. Außerdem stand noch ein Zitat von William Hazlitt in Kur‐ sivschrift dabei. »Wer eine Straße selbst bereist, erfährt mehr über sie als aus allen Beschreibungen der Welt.« Un‐ ter dem Zitat sah man ein kleines Foto von zerschrammten Lederkoffern. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine edel fotografierte, staubige Straße im Abendlicht. In dem milchigen Licht lag die Melancholie verrinnender Zeit. »Unsere jahrelange Erfahrung hilft Ihnen, neue Wege zu gehen.« Das war die nüchterne Bildunterschrift. Es war das letzte Utopia auf Erden, dachte Moshe glück‐ lich beim Betrachten der Bilder auf dem Klavier – ein ange‐ schmuddeltes Bild vom Genfer See, Nana, die selbstverges‐ sen einen Schmetterling betrachtete. Moshe las einen malvenfarbenen Prospekt, der Risk Professional beilag und für ein Breakfast Briefing bei der British Bankers Associa‐ tion warb. Extremisten – Strategien zur Gefahrenabwehr.
Seit das Zeitalter der Globalisierung begonnen hat, mehren sich antikapitalistische Stimmen, die zunehmend auf Resonanz stoßen. Der Umgang mit der Mentalität von Terroristen und Extremisten erfordert strategische Planung, Voraussicht und das Zusammen‐ wirken aller gesellschaftlichen Kräfte gegen derartige Angriffe. Fehlen diese Voraussetzungen, haben Gegenmaßnahmen kaum Aussicht auf Erfolg.
Moshe vergötterte all das. Er vergötterte sie. Er fragte sich, was es wohl für ein Gefühl war, ihn zu lie‐ ben. Es ging über sein Vorstellungsvermögen. Dann lag er da. Er dachte an Dreier. Aber es gab keine Dreier. Irgendwie fielen ihm keine berühmten Dreierbezie‐ hungen ein. Sie waren erstaunlich unüblich. Er dachte an ]ules et Jim. Dieser Gedanke beschäftigte ihn nicht lange, denn Moshe hatte Jules et Jim nie gesehen.
9 Aber wir wollen bei Jules et Jim verweilen. Das ist ein Film von Francois Truffaut. Von allen Figuren in dieser Geschichte hat außer mir (und ich bin ja keine Figur) nur Papa diesen Film gesehen. Die Vorlage für den Film jules et Jim von Francois Truffaut war Henri‐Pierre Roches Roman Jules et Jim. Papa, der diesen Film liebte, war irgendwie an eine englische Ausgabe dieses Romans – »Die klassische französische Liebesgeschichte« – gekommen, als Verlags‐ beilage von Pavanne in der Zeitschrift Options im September 1983. Francois Truffaut erzählte, bei der Lektüre dieses Romans sei ihm klar geworden, dass er auf etwas Neues für das
Kino gestoßen war. Er hatte einen Plot entdeckt, der sich radikal von allen anderen Filmplots unterschied. Bis dahin hatte es in einem Filmplot immer die Guten gegeben, die vom Publikum geliebt werden, und die Bösen, die das Publikum unsympathisch finden konnte. Ambivalenz gab es nicht. In diesem speziellen Fall hingegen, bei Jules et Jim, würde sich das Publikum nicht ohne weiteres zwischen den Hauptfiguren entscheiden können, weil das Publikum gezwungen ist, sie alle gleich gerne zu haben. Alle drei Hauptpersonen sind ein bisschen gut und ein bisschen böse. Dieses Element, dass er »Antiselektivität« nannte, sei das gewesen, so Truffaut, was ihm am Plot von Jules et Jim am meisten beeindruckt habe. Nun, ich weiß nicht, ob es in dem Film Jules et Jim wirklich so funktioniert. Mir persönlich hat die Rolle von Jeanne Moreau nie besonders gefallen. Ich fand sie durch und durch egoistisch und unattraktiv. Aber mir gefällt das, was Francois damit aussagen wollte. Mir gefällt das Ideal. Moshe nickte ein. Er horchte auf die Geräusche der ge‐ schäftigen Stadt. Finsbury hatte seinen Segen. Alle Schnorrer hatten seinen Segen. Für die Freundschaft zwischen Jules und Jim gibt es in der Liebe kein Pendant. Sie akzeptierten ihre Gegensätze. Sie wurden von allen nur Don Quixote und Sancho Pansa ge‐ nannt. Alles war ambivalent.
IO Aber was dachte Nana? War auch Nana glücklich? War das wirklich häusliches Glück? Seht mal: Bislang war noch nichts passiert. Die beiden Mädchen küssten sich manchmal, sonst nichts. Natürlich war es häusliches Glück. Eines Abends, als sie mit Moshe im Bett lag, sie beide allein in Edgware, betrachtete Nana die drei Miffy–Postkar– ten über ihrem Ikeaschreibtisch Kiefer natur, deren Hän‐ gung die zehnjährige Nana als Kuratorin beaufsichtigt hat‐ te. Es waren: Miffy, die sich einen etwas verfremdet wiedergegebenen Mondrian ansah. Miffy, die durch ein verschneites Fenster hineinblickt. Miffy, die auf einem gelben Halbmond sitzt, inmitten gelber Sterne am dunkelblauen Himmel. Und über den Postkarten hing Nanas Poster von Babar – im grünen Anzug und mit seinem kecken Rüssel, in dessen Biegung genau der passende Bowlerhut Platz fand. Das war der Zimmerschmuck. Sie fand, dies sei häusliches Glück. Und es war auch häusliches Glück. Nana war glücklich. Heute Abend war sie besonders glücklich, weil ihr Name, nur ausnahmsweise, Bruno lautete. Ja, Bruno. Und was hielt Moshe davon? Nein, nein, nicht Moshe. Auch Moshe hatte im Bett einen neuen Namen. Moshes Sexpseudonym war Teddy, wie Nana ihn gerade erst getauft hatte. Alles klar? Nana – Bruno. Moshe – Teddy.
Nana war glücklich. Das Mädchen, dem Sex Angst machte, stellte sich seinen Ängsten. Sie hatte sich selbst ein Szenario ausgedacht. Für sie sollte ein Leben in Perversion beginnen. Das soll pervers sein? Ich halte es wirklich für pervers. Es hat etwas unbestreit‐ bar Schmutziges, wenn ein Mädchen von fünfundzwanzig ein zehnjähriger Junge ist, und das in ihrem eigenen Kin‐ derschlafzimmer. Es könnte aber auch zu schmutzig sein. Vielleicht muss man Sex in einem einigermaßen realisti‐ schen Rahmen belassen. Wenn Sex lächerlich ist, hört er auf, Sex zu sein. Er wird verwirrend. Moshe war besonders verwirrt. Als Bruno Teddy erklärte, wie sehr sie Teddys kindliche Armchen und deren tal‐ kumgepuderte Weichheit liebe, entgegnete der fantasielose Teddy prosaisch, sie seien weich, weil er sich im Bad mit E45 gewaschen hätte. Er hätte Ekzeme. Und Seife sei schlecht für Ekzeme. Moshe brillierte nicht gerade in dieser Fantasie. Er wuss– te nicht recht, was er sagen sollte. Moshe und Bruno und Teddy und Nana lauschten auf den Regen. »Ich hör so gerne dem Regen zu, wenn ich hier mit dir zusammen im Bett liege«, sagte der im Bett hin und her rut‐ schende Bruno als Teddys bester und engster Freund. Bruno schmiegte sich an in ihrem Baumwoll‐Schlafanzug mit dünnen bonbonfarbenen Streifen und leicht ausgestellten Beinen. »Was bist du für ein einmaliges Geschöpf«, sagte sie. Es war eine Sexfantasie. Da sollte ich ins Detail gehen. Teddy und Bruno waren auf einer Privatschule. Nur nicht
auf derselben Schule. Jeder wurde an einer anderen Schule erzogen. Aber in den Ferien konnten sie einander alles er‐ zählen. Sie reden, und während sie reden, tun sie so, als wä‐ ren sie nie getrennt gewesen und hätten nie andere Jungen kennen gelernt. Nein, ganz egal, was sich in der Schule ab‐ spielte, es waren immer die Ferien, auf die sie sich freuten. Sie sind liebende Kinder. Teddy und Bruno, beide im Überfluss aufgewachsen, sind beste Freunde. Sie sind seelenverwandt. Das war die Fantasie. Das war die Story dahinter. Teddy las Bruno Der kleine Prinz vor. Und weil sie, das war Nana besonders wichtig, sehr unartig waren, lasen sie im Dunkeln mit einer Taschenlampe unter dem Zelt der De‐ cke. Konnte man das schon Infantilismus nennen?, fragte sich Moshe. Wenn ja, ließ ihn das kalt. Er mochte es einfach, wenn Nana glücklich war. Er mochte Nana, wenn sie in Sexstimmung war. Nu ja, Moshe nahm zumindest an, dass noch etwas Sexu‐ elles kommen würde. Teddy redete also mit Bruno. Er erzählte Bruno, dass er so schlecht schlief. Die Hausmutter machte sich Sorgen um ihn. Er legte sich hin und konnte sein Herz in seinem Kopf schlagen hören. Er sagte, und dann auch noch das Asthma. Er konnte nicht atmen, das kam vom Asthma. Teddy vertraute Bruno an, wenn er einzuschlafen versuchte, käme ihm immer nur der Gedanke, er würde Kricket spielen. Es höre sich blöd an, sei aber wahr. Er war Schlagmann. Es war das gleiche Gefühl wie Schlagen. Es fühlte sich an, als würde er an der Aufstellungslinie stehen und auf dem Schlagmal seinen Schläger schwingen, wieder und wieder, wie sie es im Fernsehen immer machten. Und sein Herz
schlüge immer ganz laut. Dann wurde Moshe ganz still. Und Bruno riss gleich den Mund auf: »Das ist ein Angsttraum.« Ein frühreifes Kind, unser Bruno. Er war erst sieben, aber er hatte schon bei Freud reingeschnuppert. Da lagen sie im Kinderzimmer mit der Kommode voller Spielzeug. In der Kommode lag eine schlappe Bärenmütze aus Plastikfell, die Nana bekommen hatte, weil sie so tapfer war, als sie an der Stirn genäht werden musste. Nanas gesamte Musikzeugnisse vom Associated Board der königlichen Musikschulen – ihre Klavier– und Flöten‐ Noten, erste bis achte Klasse – hingen gerahmt an der Wand. Einige der Rahmen hatten an den Ecken plastisch ausgeformte, vergoldete Schnörkel. Die anderen waren schlichte Wechselrahmen. Und »Weißte noch«, sagte Teddy, »wie du dich immer von der Sofakante hast fallen lassen, rückwärts auf die Kis‐ sen, und dabei irgendwie das Gefühl hattest, dein Magen war plötzlich weg?« Nana blickte über Moshes Schulter mit den spärlichen dünnen Haaren. Seine Brust war zu zwei Ovalen gewölbt und zusammengedrückt. Sie fragte: »Gehtʹs dir gut?« Und Teddy, in dessen Innerem eine ganze Oper von Liebe, Lust und ihn überwältigenden Sex aufheulte, sagte flüsternd zu Nana: »Alles klar.« Er wälzte sich auf den Rücken, dann kippte er seinen Kopf rüber zu ihr. Seine Kinnpartie legte sich in Falten. Dann küsste er sie. Sie küsste ihn. Nana sag‐ te: »Cool. Wenn du sagst, dasses cool ist, dann ist es cool.« Wärt ihr dort unten vor dem Fenster gewesen, neben der Bodenschwelle zur Verkehrsberuhigung, in dem diesigen Licht der Natriumlampen, wäre nichts davon offenkundig
gewesen. Euch wäre beispielsweise kein kurzer Blick auf Nana in ihrem aufgeknöpften Schlafanzugoberteil vergönnt gewesen, unter dem sich die zarte Rundung ihrer linken Brust andeutete. Nein. Ihr hättet ein Schlafzimmer gesehen. Ihr hättet das Licht einer Lampe gesehen. Ihr hättet einen Ort der Geborgenheit gesehen. Das war häusliches Glück. Wie, fragte sich Moshe, wie kann man jetzt den Schritt vom Vertrauten zum Versauten vollziehen? Es war schwierig. Sie waren beide keine kleinen Jungen. Beide waren nicht schwul. Versautheit war unter diesen Be‐ dingungen schwierig. Beiden fehlte die praktische Erfah‐ rung in vorpubertärem schwulem Sex. Er fragte: »Soll ich dich anfassen?« Teddy und Bruno wa‐ ren ja schließlich homosexuell. Er fragte: »Möchtest du, dass ich dich anfasse?« Und Moshe führte seine Hand an die Stelle, wo Brunos klitzekleiner Penis war. Nana griff nach seiner Hand. Sie hielt sie dort fest. Sie sagte: »Oh nein.« Wenn ein Privatschulzögling nein sagt, meint er ja.
11 Ich könnte mir denken, dass bei euch mittlerweile leichtes Befremden aufkommt. Vielleicht habt ihr eine lange Liste von Fragen. Warum beklagen die sich nicht? Warum wün‐ schen sie sich nicht, sie würden eine unkomplizierte Bezie‐ hung führen? Warum machte Moshe dieses Teddy‐und‐ Bruno‐Theater mit? Und warum beklagt er sich nicht, wenn Nana mit einem anderen Mädchen flirtet? Und warum be‐ klagt sich Nana nicht, weil Moshe nie eifersüchtig wird? Sie beklagen sich nicht, weil sich zu beklagen Schwierig‐
keiten macht. Sie beklagen sich nicht, weil beiden nichts lieber ist, als Kompromisse zu schließen. Sich zu beklagen ist ihnen unangenehmer, als Kompromisse zu schließen. Ich weiß, das überzeugt euch nicht. Ihr wollt euch das nicht einreden lassen. Wo bleibt der Realismus?, fragt ihr. Wo bleibt die Genauigkeit des europäischen Romans? Wo ist die Wirklichkeitstreue eines Balzac oder Tolstoi ? Knöpfen wir uns doch mal einen europäischen Romancier vor. Ich will euch eine kleine Geschichte aus dem Leben Michail Bulgakows erzählen. Bulgakow war ein satirischer Romancier und Bühnenautor und lebte im Russland der Stalin‐Ära. Am 28. März 1930 schrieb Michail einen Brief an die Re‐ gierung der UdSSR.
12 »Nachdem meine sämtlichen Werke verboten worden waren, erhoben sich unter den vielen Mitbürgern, denen ich als Schriftsteller bekannt bin, Stimmen, die mir immer wieder denselben Rat gaben, ein kommunistisches Theaterstück‹ zu schreiben (...) und mich außerdem mit einem reumütigen Brief an die Regierung der UdSSR zu wenden, in dem ich meinen früheren Ansichten, die ich als Schriftsteller geäußert habe, abschwöre, und beteuere, ich wollte künftig als ein der Idee des Kommunismus ergebener schriftstellernder Weggefährte arbeiten. Der Zweck: Mich zu retten von Verfolgung, bitterster Armut und dem unvermeidlichen Finale zum Tode. Diesen Rat habe ich nicht befolgt. (...) Meine Absichten sind sehr viel ernster. Ich beweise mit den entsprechenden Dokumenten, dass die gesamte Presse der UdSSR (...) jahrelang, im Verlauf meiner ganzen schriftstellerischen
Arbeit, einmütig und mit außerordentlicher Wut zu beweisen trachtete, dass die Werke Bulgakows in der UdSSR keine Existenzberechtigung haben. Und ich behaupte, dass die Presse der UdSSR VOLLKOMMEN RECHT HAT! JEDER SATIRIKER IN DER UDSSR VERÜBT EIN ATTENTAT AUF DAS SOWJETISCHE SYSTEM. Bin ich also in der UdSSR überhaupt denkbar? (...) ICH BITTE DIE REGIERUNG DER UDSSR, ANZUORDNEN, DASS ICH DAS TERRITORIUM DER SOWJETUNION IN BEGLEITUNG MEINER EHEFRAU LJUBOW JEWGENJEWNA BULGAKOWA UMGEHEND ZU VERLASSEN HABE. (...) Sollte das von mir oben dargestellte nicht überzeugen und ich zu einem lebenslänglichen Verstummen in der UdSSR verurteilt sein, bitte ich die sowjetische Regierung um einen meinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz und um eine Dienstverpflichtung als festangestellten Regisseur an irgendeinem Theater ...«
13 Aber das lässt sich doch gar nicht vergleichen, werdet ihr sagen. Bulgakow lebte im stalinistischen Russland. Wo ist die Verbindung zwischen dem Pathos und Mut von Bulga‐ kows Brief und der Beziehung von Nana und Moshe? Ich will doch nicht etwa behaupten, dass die Beziehung von Nana und Moshe dem Leben unter einem stalinistischen Regime gleich käme? Ein frivoler Dreier ist nicht stalinis‐ tisch. Stimmt schon. Direkt stalinistisch ist das nicht. Wenn man unter Stalinismus lediglich totalitäre Gewalt versteht, dann ist so etwas nicht stalinistisch. Aber 1930 war Stalin noch kein Stalinist. Stalin war einigermaßen freundlich. Einem Informanten der Geheimpolizei zufolge rief Stalin Michail
Bulgakow an. »Bist du Genosse Bulgakow?«, fragte ein Apparatschik. »Ja«, sagte Michail. »Genosse Stalin wird nun mit dir spre‐ chen«, sagte der Apparatschik. Bulgakow war überzeugt, dass es sich hier um einen Scherz handelte, aber er wartete dennoch. Er blickte auf den Ärmel seiner braunen Jacke aus Baumwollsamt. Da war ein Fettfleck, in dem ein Stückchen Zwiebel klebte. Er ver‐ suchte, das Stückchen Zwiebel wegzuflitschen. Es blieb kle‐ ben. Er knibbelte es ab. Zwei oder drei Minuten später hörte Michail eine Stimme durchs Telefon. Es war die Stimme Stalins. »Es tut mir sehr Leid, Genosse Bulgakow, dass ich nicht früher auf deinen Brief antworten konnte, aber ich war sehr beschäftigt. Deinen Brief fand ich sehr interessant. Ich würde mich ger‐ ne mit dir unterhalten. Ich weiß nicht, wann das möglich sein wird, denn wie ich schon sagte, bin ich äußerst be‐ schäftigt. Aber ich werde es dich wissen lassen, wenn ich mich mit dir treffen kann. Wir sollten in jedem Fall ver‐ suchen, etwas für dich zu tun.« So war Stalin. Der Informant der Geheimpolizei war der Ansicht, das sei eine tolle PR‐Nummer von Stalin gewesen. Diesem Ge‐ heimpolizisten zufolge – nennen wir ihn Igor –, also, Igor zufolge sagte jeder: »Stalin ist wirklich ein außergewöhnli‐ cher Mann, und, man stelle sich vor, zugleich so volksver‐ bunden und zugänglich!« Igor wusste zu berichten, dass Stalins Popularität einen außerordentlichen Aufschwung erfahren hatte. Wie Igor erzählte, sprach man von ihm mit Wärme und Sympathie, und die legendäre Geschichte von Bulgakows Brief wurde in verschiedensten Varianten wei‐
tererzählt. Sie machte in jeder Kneipe die Runde. Auf dieses Telefongespräch hin bekam Bulgakow eine Stelle als Regieassistent im Moskauer Künstler‐Theater. Und veröffentlichte nie wieder etwas. Aber er hatte sich beklagt. Er hatte aufbegehrt. Nur hatte ihn Stalin am Tele‐ fon einfach matt gesetzt. Ich meine, dass sich die beiden Situationen, die von Bul– gakow und Stalin und die von Moshe und Nana, ziemlich ähnlich sind. Das mag auf den ersten Blick unwahrschein‐ lich klingen, aber es ist so. Falls es jemand noch nicht be‐ merkt hat: In diesem Buch interessieren mich keine Kin‐ kerlitzchen wie die Geschichte der UdSSR. Etwas so Beschränktes schreibe ich nicht. Nein, was mich interessiert, ist Freundlichkeit. Wenn Stalinismus ausschließlich totalitäre Gewalt bedeutet, kann ich verstehen, dass es wie ein Fall von Borderline‐Hysterie wirken muss, Nana und Anjali und Moshe als Stalinisten zu beschreiben. Aber wenn man Stalinismus mit Höflichkeit gleichsetzt, ist die Gemeinsamkeit offenkundig. Nennen wir diese Art von Stalinismus »Telefon‐Stalinismus«. Telefon‐Stalinismus ist der Einsatz von Freundlichkeit als Zwangsmaßnahme. Sie hilft der Kompromissbereitschaft etwas nach. Jeder ist gelegentlich Telefonstalinist. Was die Freundlichkeit betrifft, sehe ich keinen Unter‐ schied im individuellen Verhalten von Nana, Michail Bul– gakow, Moshe, Anjali und Stalin.
14 Anjali kam in Moshes Wohnzimmer. Nana lag in eine Decke verpackt auf dem Futon. Sie hatte einen Tag frei. Sie guckte Trisha. Ihr Trisha‐Gucken bestand darin, dass sie an die Decke starrte. Sie beschäftigten die strittigen Punkte, die sich aus dem heutigen Thema Mein Freund hat mir gesagt, ich soll Erotiktänzerin werden, und nun will er, dass ich damit aufhöre ergaben. Nana fand Erotiktanzen nicht erotisch. Als Gabrielle, die lange blonde Haare und kurze fette Beine hat‐ te und einen violetten, strassbesetzten G‐String mit passen‐ dem BH trug, die Hüften über dem Schoß eines applaudie‐ renden Mannes im Publikum kreisen ließ, schaute Nana weg. Es war eher bemitleidenswert als erotisch. Sie guckte an die Decke. Das Licht hatte eine etwas weichere Blautönung. Sie überlegte, warum blasses Weiß nicht blasser als blasses Blau war. Sie wunderte sich, dass beides den gleichen Grad an Blässe hatte. So brennend interessierten sie die emotionalen Kollateralschäden durch erotisches Tanzen. Anjali hatte sich neben sie auf den Futon gekuschelt. Sie setzte sich und guckte Trisha. Anjali gefiel die Tänzerin. Sie fand sie irgendwie exzentrisch. Es war ihr Freund, den sie nicht mochte. Ihr missfiel sein Toupet. »OmeinGott!«, sagte Nana stakkato. Sie hatte Recht. Es war ein Toupet. Der Freund war gräss‐ lich. Da war Nana sich mit Anjali einig.
15 Anjali hatte in Bezug auf ihr glückliches Trio – das noch keine Dreierbeziehung war, jetzt noch nicht – gemischte Gefühle. In erster Linie war sie traurig. Für Anjali bedeutete nur ein Paar richtige Liebe. Die dritte Person spielte immer eine Nebenrolle. Andererseits gefiel es ihr, bei einem Paar die Nebenrolle zu spielen. Es machte sie auch zu etwas Besonderem. Während Anjali sich Gedanken über Paare machte, wirkte sie gerade in einem Werbespot für Johnsonʹs Babypuder mit. Anjali war das Spießermädchen bei Anne Robinson. Der Spot war gedreht worden, als Annes Karriere gerade so richtig anlief. Wenn Anne heute einen Werbespot machte, war er an das Format Der Schwächste fliegt angelehnt. So ein Erfolg war sie. Der Spot für Johnsonʹs Babypuder war eine ulkige Babyversion von Der Schwächste fliegt. Vier Babys saßen in Kinderhochstühlen aus blauem Plastik. Anne Robinson befragte sie nach der wohltuenden Wirkung und praktischen Anwendung von Johnsonʹs Babypuder. Anjali war die Off‐Stimme für eines der Babys. Sie artikulierte dessen gegluckste Gedanken. Das Anjali‐Baby war das Baby ganz links. Sie blieb als Stärkste übrig. Und zwar darum, weil das Anjali‐Baby Johnsonʹs Babypuder allen an‐ deren Babypudern vorzog. Oh, letztendlich, dachte Anjali, wünschte sich Anjali eine Zweierbeziehung. Sie wünschte sich, dass Leute Glück‐ wunschkarten an ›Anjali und‹ schickten. Anjali und Anous– ka. Anjali und Zebedee. Auf den Namen kam es nicht an. Sie würde zu Grillpartys einladen, dachte Anjali. Man hätte meinen können, Grillpartys seien Anjalis einziger Ehrgeiz.
Das hatte einen Grund. Dass Zweierbeziehungen Anjali solchen Verdruss bereiteten, war ihre Ex‐Freundin Zosia schuld. Anjali hatte vor einer Woche erfahren, dass Zosia vor kurzem ihre neue Freundin, die sie erst drei Monate kannte, in Costa Rica mit einer innigen und bewegenden Zeremonie an irgendeinem Strand geheiratet hatte. Sie wa‐ ren in einer improvisierten Hütte aus Yam‐Holz getraut worden. Ach, Anjali. Sieh dir an, was Zosia aus dir gemacht hat. Nur ihretwegen träumst du von Grillpartys. Deine Ex hei‐ ratet in Costa Rica, und du willst plötzlich Ehefrau werden. Während Anjali, als sie noch jung war, den Gedanken an Zweierbeziehungen verabscheut hatte. Ihre Mutter war es gewesen, die Zweierbeziehungen befürwortete. Sie hatte auch die Ehe sehr befürwortet. Aufgrund dieser Geisteshal‐ tung waren die wöchentlichen Besuche im Belle–Vue–Kino in Edgware mit der ganzen Familie keine reine Freude für Anjalis Mutter gewesen. Diese Besuche waren nicht immer vergnüglich. Die Filme gingen nicht immer mit einer hete‐ rosexuellen Heirat aus. Manchmal schienen sie die Liebe als Tragödie zu betrachten. Sie zeigten Liebe als zerstörerische Urgewalt. Darüber gab es bis heute Differenzen zwischen Anjali und ihrer Mutter. Sie mochten immer noch nicht dieselben Filme. Anjalis Lieblings–Bollywoodfilm war zum Beispiel ein neuer mit dem Titel Devdas. Devdas ist der teuerste Bol– lywoodfilm, der je gedreht wurde. Nach einem hanebüche‐ nen Plot stirbt der Held vor der Pforte seiner ersten, ein‐ zigen und unerwiderten Liebe, gespielt von Aishwaya Rai, einer früheren Miss World. Devdas war Anjalis Lieblingsfilm. Ihr gefiel es, wie die
Bollywood‐Schmachtfetzen ausgingen. Sie schwelgte in der Theatralik. Sie schwelgte in dem grellen Stil. Vielleicht sollte ich hier noch präziser werden. Denn letztendlich war Anjali gar nicht so anders als ihre Mutter. Sie glaubte es zwar, war es aber nicht. Sie beide waren in die Vorstellung der perfekten Zweierbeziehung verliebt. Nur ließ ihre Mutter ausschließlich die Ehe als Zweierbeziehung gelten. Während Anjali den Begriff nicht ganz so eng definierte. Das war der eigentliche Unterschied zwischen ihnen. Anjali liebte es, wie Bollywoodfilme ausgingen, weil sie so romantisch waren. Anjalis Mutter missfiel es, wie Bollywoodfilme ausgingen, weil sie Romantikerin war.
16 Nana war klar, dass sich Anjali aus ihrer Beziehung aus‐ geschlossen fühlte. Ihr war klar, dass Anjali sich als Beiwerk zur Liebe zwischen Nana und Moshe vorkam. Und Nana war kein Mädchen, dem es gefiel, wenn sich jemand aus‐ geschlossen fühlte. Sie wollte, dass alle Menschen glücklich waren. Sie war kein selbstsüchtiges Mädchen. Sie war eine Heldin. Nana zog die Knie an und hockte sich auf die Füße. Sie beugte sich zu Anjali vor, und dabei geriet die Decke zwi‐ schen beide, daher musste sich Nana etwas aufsetzen, um wieder näher an Anjali heranzukommen, ganz dicht. Dann wandte Anjali ihr das Gesicht zu. Und Nana schaute in An‐ jalis braune Augen. Dann senkte sich Nanas Gesicht lang‐ sam herab.
Nana küsste sie, es war nur ein winziges Saugen oder Bei‐ ßen an ihrem Mund, und ließ dann von ihr ab. Es trat stum‐ me Verwirrung ein. Warum gab es da Verwirrung? Es war doch nicht unge‐ wöhnlich, dass Nana und Anjali einander mädchenhafte Küsse gaben. Was war daran also verwirrend? Es war verwirrend, weil bei den anderen Gelegenheiten, als sich Nana und Anjali geküsst hatten, immer Moshe da‐ bei gewesen war. Erst als Nana Anjali küsste, dieses winzige Saugen oder der kleine Biss an ihrem Mund, ging ihr auf, dass all ihre anderen Küsse unter Aufsicht stattgefunden hatten. Aber als es ihr aufging, war es zu spät.
17 Moshe war nicht in seinem Wohnzimmer in Finsbury, weil er stattdessen im Fitnessraum war, der zum Cally Pool ge‐ hörte. Er probte. Er brachte seinen Schauspielerkörper in Form. Es ging aufwärts mit seiner Karriere. Ihm war eine Haupt‐ rolle im Tricycle Theater in Kilburn angeboten worden. Er spielte Slobodan Milosevic in Peacekeeping Force, einem neuen Stück von Richard Norton‐Taylor, das auf frühen Protokollen des Internationalen Kriegsverbrechertribunals zum ehemaligen Jugoslawien basierte. Moshe gefiel seine Rolle als Slobodan Milosevic recht gut. Slobodan hatte immer irgendwas zu quengeln. Er konnte sich mit Slobodan identifizieren. Slobodan war ein genialer Komiker. Er hatte eine Begabung fürs Monologisieren. Während Moshe eine dreißig Kilo schwere Schulterhebe
mindestens dreißigmal hochstemmte, memorierte er den Text seines Lieblingsmonologs in Peacekeeping Force. »Da ich um sieben aufstehen muss, bin ich um acht bereit zum Transport, und ich komme frühestens um sechs zu‐ rück, das heißt, ich kann nur zwischen sechs und zwanzig Uhr dreißig das Telefon benutzen und habe daher keine Gelegenheit, meine zwei Stunden Hofgang pro Tag wahr‐ zunehmen, auf die jeder Inhaftierte Anspruch hat, und auch die Wachen beschweren sich darüber, dass sie nicht genug an die frische Luft kommen.« Es mag nicht sofort einleuchten, warum für Moshe als Hauptdarsteller in einem Justizdrama das Krafttraining oberste Priorität haben sollte. Dafür gab es eine Erklärung. Ich schäme mich ein bisschen, euch den Grund zu verraten, aber ich tue es trotzdem. Moshe hatte das Karrierefieber ge‐ packt. Er malte sich Porträts in den Sonntagsbeilagen aus. Er malte sich weitere Fotoaufnahmen für Hello! und \Holal aus. Aber er wusste nicht, ob er den richtigen Body für Fo‐ toaufnahmen hatte. Er war kein sportlicher und durchtrai‐ nierter Anblick. Nervös und eitel, machte sich Moshe in der Caledonian Road fit.
18 Unterdessen musste am schmuddeligeren Ende von Fins‐ bury Nana über Anjalis Geruch nachdenken. Anjali roch wie Nana, aber anders. Aber sie roch auch wieder mehr nach Nana als Moshe. Sie konnte vergleichen, wie sie beide rochen, weil Anjali und Nana sehr nah beieinander waren. Anjali hielt Nanas Gesicht in ihren Handflächen. Ihr
erster, unsicherer Kuss hatte Kontakt mit Nanas Unterlippe und dem oberen Teil ihres Kinns gehabt. Dann küsste An‐ jali sie erneut. Sie führte ihren Arm mit lang gestreckten, abgespreizten Fingern um Nanas Hals. Dann schloss sie ihre Hand und berührte Nanas Lippen mit ihrer Zunge. Sie machten eine Pause. In diese Pause hinein fragte eine Frau im Publikum von Trisha den Freund der Erotiktänzerin, warum er plötzlich was dagegen hätte – wo er doch jetzt bekommen hätte, was er wollte. Trisha stimmte zu, dass dies der strittige Punkt sei. Darum ging es ja gerade. Aber Anjali und Nana guckten längst nicht mehr Trisha. Sie hatten an Wichtigeres zu denken. Wenn das durchschnittliche heterosexuelle oder homo‐ sexuelle Paar Sex hat, folgt der Sex nur selten unmittelbar auf den ersten Kuss. Es wäre unhöflich, so schnell zum Sex zu kommen. Es sollte eine Wartezeit dazwischen liegen. An der Wartezeit kann man erkennen, dass es dem Duo nicht nur um Sex geht. Aber Nana und Anjali waren kein Durchschnittspaar. Sie waren ein heimliches Paar. Wenn heimliche Liebende sich küssen, liegt die Wahr‐ scheinlichkeit viel höher, dass Sex unmittelbar darauf fol‐ gen wird. Das liegt daran, dass bei heimlichen Liebenden viel mehr Ungewissheit besteht. Das Risiko ist viel höher. Wenn man sich erst mal heimlich geküsst hat, ist es schon schwierig, nicht zum Sex überzugehen. Es wäre unhöflich, keinen Sex zu haben. Man muss beweisen, dass es einem ernst mit dem anderen ist. Aber Nana und Anjali waren ja noch nicht mal durch‐
schnittliche heimliche Liebende. Sie waren nur unabsicht‐ lich heimlich. Das machte den Sex erst recht zur sozialen Zwickmühle. Sie haben sich gerade heimlich geküsst – also musste es Leidenschaft sein. Sie haben sich gerade ver‐ sehentlich heimlich geküsst – also sind sie immer noch ein‐ fach nur gute Freundinnen. Sie legten wieder eine Pause ein. Dann streckte sich Anjali aus und zog Nana der Länge nach auf sich drauf. In der bauschigen Decke unter Anjali steckte etwas, das sich wie eine Zeitschrift oder ein groß‐ formatiges Buch anfühlte. Sie ignorierte es. Während Nana im Stillen dachte, das sei also lesbischer Sex. Sie war im Be‐ griff, lesbischen Sex zu haben. Das musste sie sich einprä‐ gen. Der Raum war blassblau. Sie war im Begriff, lesbischen Sex zu haben. Nana war eine Novizin in diesen Dingen. Bekleidet waren die beiden an dieser bewussten Sex‐ variante Beteiligten wie folgt: Nana trägt Moshes South‐ wark‐Playhouse‐T‐Shirt der Spielzeit 1998, gewagterweise ohne alles. Anjali trägt einen weißen G‐String von M&S und einen weißen Satin‐Push‐up‐BH von M&S (ja, Anjali war mit ihren kleinen Brüsten nicht ganz zufrieden) unter einem blass cremefarbenen French‐Connection–Shiftkleid. Das sind keineswegs überflüssige Details. Zumindest nicht alle. Nana machten zwei Dinge Sorgen. Ihre Hauptsorge war Moshe. Es machte ihr Sorge, was sie ihm sagen sollte, wie sie ihm das hier erklären sollte. Sie wusste nicht so recht, wie sie ihm das erklären würde. Das war ihre Hauptsorge. Aber das war ein so schwerwie‐ gendes Problem, dass sie es vorerst vedrängte. Gegen diese
Sorge war sie machtlos. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre zweite Sorge. Die zweite Sorge war mehr praktischer Natur. Nana hatte Angst, dass sie Anjali enttäuschen könnte. Sie wollte, dass es erotisch wurde, aber Erotik war nicht Nanas starke Seite. Nana hatte Angst vor Sex, sie hatte Angst vor einer weiteren Enttäuschung. Um sich Anjali gegenüber ihre Befürchtungen nicht an‐ merken zu lassen, übersprang sie das Vorspiel. Wenn man das Vorspiel übersprang, dachte sie, machte das so einen schön erregten Eindruck. Nur gleichgültige und altvertrau‐ te Liebende hielten sich an die Rituale des Küssens und Be‐ rührens. Liebende wie Nana und Anjali waren leiden‐ schaftlich und wild. Nana fuhr mit ihrer Hand an Anjalis rechtem Ober‐ schenkel hoch und drängte sie unter ihren G‐String. Und Anjali war feucht, sie war feucht! Nana berührte Anjali sachte, ganz sachte, nahm ihre Finger zu Hilfe, da fasste Anjali ihr Handgelenk und hob sie weg. Nana fühlte sich zurückgewiesen und war traurig. Sie war ja noch Anfängerin. Dafür begeistert bei der Sache, fand sie. Ihre Sorge war jedoch unbegründet. Anjali beschwerte sich gar nicht. Sie wollte ihre neue Gespielin nur ein wenig bremsen. Für eine Weile ging es langsam und indifferent weiter. Sie küssten sich langsam. Als Anjalis Hand dann streichelte und rieb und Nana ganz vereinnahmte, trat eine neue sexuelle Krise auf. Nana, von ihrem Fortschritt angenehm überrascht, wurde sehr erregt. Deliriös, das war das Wort, das ihr immer wieder durch den Kopf ging. Es war fremdartig. Es war echter Sex, dachte sie. Also wiederholte sie ihre erste sexuelle Handbe‐ wegung. Nana rutschte mit ihrer Hand an Anjalis rechtem
Oberschenkel hoch und schob sie unter Anjalis Stringtanga. Dann war Anjalis Stringtanga am Haken, sein Schritt war um einen von Nanas Finger gehakt, während ein anderer in sie hineinstieß. Und ihr Finger war die reine Seligkeit für Anjali. Es hätte allerdings noch beglückender sein können, wäre Anjali in einer anderen Stellung gewesen. Sie lag zwar, war aber dabei ein Stück heruntergerutscht. Der Stringtanga kniff ihr in die Ritze, in ihr Schambein – oder sonst was, dachte Anjali, der Anatomie egal war, jedenfalls tat es weh. Aber Anjali war nun zu erregt, um Nana zu er‐ klären, dass ihr etwas wehtat. Jetzt wollte sie nur noch kom‐ men. Jetzt ging der Sex in die heiße Phase. Also sagte Anjali nichts. Scheiße, tut das weh, dachte Anjali. Oh nein, oh nein, oh, das darf ich nicht, dachte Nana, der Moshe wieder einfiel. In ihrer Verzweiflung streifte Anjali den Stringtanga mit der rechten Hand herunter und legte das Becken dann wie‐ der ab. Sie schob ihn mit dem Fuß noch weiter herunter. An ihrem linken Fuß war Schluss. Er baumelte an ihrem linken Fuß. Und Nana hörte nicht auf, sie anzufassen. Nana schaute auf Anjalis geschlossene Augen hinunter und fasste Anjali an. Und das war wundervoll, fand Nana. Als Anjali die Muskeln anspannte und das Becken durchdrückte und dabei keuchend zu atmen begann, war Nana happy. Nana starrte auf Anjalis Möse. Direkt über dem Schamhaar war ein glänzender Leberfleck. Anjali kam. Dann guckte sie Nana an. Sie guckte nach dem String‐ tanga, der an ihrem linken Fuß baumelte. Anjali kicherte. Ich habe ja gesagt, ich würde es euch wissen lassen. Was ich hiermit getan habe. Nana und Anjali haben gerade Sex gehabt.
19 Ich schätze, es ist eine gewisse Peinlichkeit damit verbun‐ den, wenn man eine seiner Freundinnen oder einen seiner Freunde zum Orgasmus bringt. Nana sah auf Anjali hinun‐ ter. Sie legte ihr Kinn auf Anjalis Kopf ab. Aber die größte Peinlichkeit für Nana war nicht psychologischer Natur, je‐ denfalls nicht im Moment. Sie war körperlicher Natur. Nana hatte das Kinn auf Anjalis Kopf gestützt und hielt den Mund geschlossen. Daher musste sie durch die Nase at‐ men. Das klingt vielleicht harmlos, war es aber nicht. Nana fiel das Atmen schwer, weil ihre Nase verstopft war. Nana musste in der Nase bohren. Nana krebste mit ihrer Hand von Anjalis warmem Haar zu ihrem schräg gelegten Kopf. Sie neigte ihr Gesicht nach unten, ihrer Hand entgegen, für die wunschlos glückliche Anjali zufrieden stöhnend. Vor Verlegenheit klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Dann pulte sich Nana den Schleim hochkant aus der Nase, nahm ihn in Augenschein, nicht jetzt, dachte sie, auf ihrem über Anjalis Kopf schwebenden kleinen Finger – eine gekrümmte, mit glänzendem Schleim überzogene Blutkruste. Dann tat Nana ganz verstohlen. Sie streichelte Anjali. Ihr Plan war, sie träge zu streicheln, wie erschöpft. Das machte sie, während sie gleichzeitig ihren kleinen Finger abspreizte, wie es der korrekten und gesitte‐ ten Art und Weise entsprach, in der man eine Teetasse aus Delfter Porzellan zu halten hat. Dann ließ Nana ihren Arm über die Kante des Futons fallen, ein Bild totaler Hingabe, und pappte den Rotz unter das hölzerne Gestell. Sie zer‐ quetschte ihn, um die Feuchtigkeit zu verreiben. So löste Nana das erste Problem, das ihre Untreue aufwarf.
20 Es war natürlich nicht das einzige Problem. Es war wohl das erste, aber nicht das wichtigste. Nana war untreu gewesen. Das war das schwerwiegendste Problem. Aber eigentlich ist das gar keine Geschichte über Untreue. Untreue war nicht der Grund, warum es für Nana eine ernste Sache war, zumindest nicht ganz. Das hier ist eine Geschichte über Großherzigkeit. Wenn du schon in jemanden verliebt bist, entscheidest du dich irgendwann. Werfen wir doch noch mal einen Blick auf den Fall von Stacey und Henderson, solange Nana verstohlen in der Nase bohrt. Nachdem Henderson sie mit einem Mädchen seines Alters namens Beyonce betrogen hatte, entschloss er sich letztendlich, Stacey für Beyonce zu verlassen. Der Grund war, dass Beyonce ihm einen geblasen hatte und Stacey Oralverkehr eklig fand. Ich will Henderson nicht verteidigen. Ich nenne nur die Fakten. Und dies ist eine der zur Verfügung stehenden Optionen. Man entscheidet sich schließlich, zu einem anderen (Stacey) grausam zu sein und dir selbst (Henderson) etwas Gutes zu tun. Die Ironie an der Trennung von Stacey und Henderson war, dass Stacey einen Monat zuvor einen Schweißer na‐ mens Barry kennen gelernt hatte. Er war bei der National Iron and Steel Foundation. Barry war ein großer Mann. Und groß war für Stacey gleichbedeutend mit sexy. Aber Stacey hatte sich entschieden, sie könne Henderson unmöglich für Barry verlassen. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es Henderson zu tief verletzen würde. Das ist eine weitere Option, die einem untreuen Menschen zur Verfügung steht.
Man entscheidet sich, zu sich selbst grausam zu sein (Stacey) und einem anderen etwas Gutes zu tun (Henderson). Dazu kommt es viel seltener. Oft gibt es dann noch einen weiteren Grund. Es gab zum Beispiel einen aufrichtigeren, eher zufallsabhängigen Grund, warum Stacey Henderson nicht zugunsten von Barry verlassen hatte. Gerade als Bar‐ rys Penis das erste und einzige Mal bei Stacey rein‐ und wieder rausfluppte, klingelte Staceys Handy. Es war drei Uhr morgens. Es war Henderson. Er war nur fünf Minuten entfernt und hatte überlegt, ob er noch hochkommen solle. Und traurig, aber wahr – wegen dieses Schocks schickte Stacey Barry in die Wüste, für immer. Für immer allerdings nur, weil sie vergessen hatte, ihn nach seiner Telefonnum‐ mer zu fragen. Wie dem auch sei, in beiden von mir skizzierten Möglich‐ keiten ist es die dritte Partei, der Eindringling, der gering geschätzt wurde. In beiden dieser Möglichkeiten wurden die Rechte von Beyonce und Barry ignoriert. Aber was ist, wenn man zu jemandem nett sein will, aber auch zur dritten Partei? Was, wenn man zu jedermann nett sein will? Was, wenn man zu Stacey und Beyonce oder Henderson und Barry nett sein will? Nana wollte zu allen nett sein. Aber es ist problematisch, wenn man zu jedem nett sein will. Das Zimmer war blass‐ blau. Nana hatte Anjali gerade zum Orgasmus gebracht. Und das war eine ernste Sache. ;
7 Sie entlieben sich
1 Es wird noch komplizierter. Aber ihr werdet es schon ver‐ kraften. Um einmal zusammenzufassen: Nana liebte Moshe. Anjali liebte niemanden. Moshe liebte Nana. Und nebenher haben Anjali und Nana wohl so was wie eine Affäre miteinander angefangen. Jetzt seid ihr auf dem neuesten Stand. Diese Story handelt davon, wie Moshe von seiner Freundin verlassen wird. Weil das die traurigste, die naheliegendste Story ist.
2 Und Papa war der gute Engel dieser Geschichte. Er war präsent, immer haarscharf am Rande des zentralen Plots. Er spielte den Glücklichen. Na schön, alle Protagonisten hier waren glücklich. Aber Papa war der glücklichste Glückliche.
Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte war es August. (Diese Geschichte dauerte knapp ein Jahr. Sie begann im März, und nun war es August.) Papa saß in seinem Büro in der Old Broad Street in der City. Er betrachtete das Büroklammernkästchen, das Nana mit zwölf im Werkunterricht entworfen hatte. Ihr Lehrer im Werkunterricht war Mr Scarborough gewesen. Mr Scar‐ borough wurde von den Müttern angehimmelt. Er war braun gebrannt und hatte ein Bauernhaus in der Provence renoviert. Die Väter misstrauten ihm. Nana himmelte ihn an, weil er ihr Büroklammernkästchen gemacht und dann Papa erzählt hatte, Nana habe es gemacht. Papa hatte so getan, als würde er den beiden glauben. Dieses Büroklam‐ mernkästchen war aus Zinn gefertigt, mit einem eingekerb‐ ten Zackenmuster. Der Deckel bestand aus einem runden Stück Buchenholz. Darauf hatte Nana persönlich vier tür‐ kisfarbene Emaillekaros zu einem Diamantenmuster ge‐ klebt. Es war nicht der wunderbarste Gegenstand auf der gan‐ zen Welt. Ich glaube nicht, dass Papa ihn jemals als wundervoll beschrieben hätte. Aber es war der Gegenstand, den Papa am meisten liebte. Papas Bürogebäude in der Old Board Street hatte einen Wasserfall im Kleinformat, der an der Rückwand des Foyers in ein Becken mit Farnen und Seerosen niederrauschte. Er erfüllte das Foyer mit leichtem Chlor‐ geruch. Er hatte so etwas von Schwimmbad. Und die zehn‐ jährige Nana fand diesen Schwimmbadgeruch schön, wenn sie Papa besuchen kam. Sie fand es schön, sich gemütlich auf ein Ledersofa zu setzen und zuzusehen, wie die Männer auf ihre Überwachungsmonitore guckten. Die kleine Nana
ging gerne schwimmen. Sie stellte sich vor, sie könnte in dem Wasserfall schwimmen. Das sagte sie Papa. Papa erklärte, das Becken unten sei dafür wirklich nicht tief genug. In seinem Büro in der Old Broad Street betrachtete Papa Nanas Büroklammernkästchen, das wie immer gewissen‐ haft mit Büroklammern nachgefüllt worden war. Er war glücklich, weil Nana glücklich war. Sein Mädchen war ver‐ liebt und das machte sie glücklich. Und das machte Papa glücklich. Papa ist kein zuverlässiger Führer durch diese Geschichte. Er ist kein guter Begleiter durch diesen Plot.
3 Zur selben Zeit hatte Anjali eine Drehpause. Sie rauchte eine Zigarette. Sie stand auf einer Feuerleiter auf der Rück‐ seite des Studios an der Leonard Street und versuchte, Rauchringe zu machen. Anjali drehte einen weiteren Werbespot für Johnsonʹs Babypuder. Das Konzept für diesen Spot waren nachge‐ spielte Szenen aus Filmklassikern. Anjali war in der berühmten Schlussszene von Casablanca. Für die unter euch, die sie nicht kennen, die Schlussszene von Casablanca zeigt, wie Humphrey Bogart in der Rolle des Rick die harte und edle Entscheidung trifft, dass Ingrid Bergman in der Rolle der Ilsa Lund gemeinsam mit ihrem emigrierten jüdischen Ehemann namens Victor Laszlo (ge‐ spielt von Paul Henreid), Casablanca verlassen wird. Es ist eine harte und edle Entscheidung, weil Rick und Ilsa sich lieben. Es ist ein Film, der ein schwärmerisches Bild von
edlem Verzicht vermittelt. Als das Flugzeug mit Ilsa und Victor sicher an Bord abhebt, wendet sich Rick an Captain Louis Renault (gespielt von Claude Rains) und sagt zu ihm: »Louis, ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« Das ist eins der beiden berühmten Zitate aus dem Film. Das andere ist »Play it again, Sam« – nur, dass diese Zeile, wie ihr ganzen Filmfreaks wisst, in Casablanca gar nicht vorkommt. In dieser neuen Version spielte Anjali Ingrid Bergmans Rolle. Und der Plot des Spots war folgender: Anjali Berg– man war schwer in Versuchung, bei einem anderen, weniger guten Babypuder zu bleiben. Aber Affären waren unmoralisch. Man konnte sie nicht gutheißen. Jedes Baby sollte der Versuchung widerstehen, Johnsonʹs leichtfertig zu verlassen. Folglich stieg am Schluss das Flugzeug mit Anjali‐Baby sicher an Bord in den Himmel. »Johnsonʹs und Baby – eine wunderbare Freundschaft.« Das war der Slogan des Spots. Ja, ich weiß. Ich weiß, das ist haarscharf daneben. Ich weiß, dass die wundervolle Freundschaft nicht zwischen Ingrid Bergman und Paul Henreid bestand. Sie bestand noch nicht mal zwischen Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Es war eine homoerotische Freundschaft. Aber da‐ für kann ich nichts. Erzählt das Johnsonʹs Babypuder. Eine Interpretation ist heikel. Oft genug ist eine Inter‐ pretation subjektiv. Es sind nicht nur die Produzenten der Spots von Johnsonʹs Babypuder, die sich irren. Anjali kann sich ebenso gut irren. Während sich Anjali hintereinander zwei Marlboro Lights ansteckte und runterqualmte, dachte sie an den wunderbaren Plot von Casablanca. Es war die Geschichte
eines berühmten Dreiers. Es war ein Film über Entsagung. Während sie rauchte, wurde Anjali klar, dass sie Rick war, sie war Humphrey Bogart. Also musste sich Anjali auch wie Rick verhalten. Sie musste Nana aufgeben. Wohl wahr, sie wollte Nana nicht aufgeben – aber wenn sie es nicht tat, was dann? Nana würde sich ihretwegen von Moshe trennen. Und Anjali wollte nicht, dass Nana Moshe aufgab. Es fiel Anjali schwer, Nana aufzugeben, aber es würde ihr noch schwerer fallen, mit anzusehen, wie Nana Moshe aufgab. Es war eine Tragödie. Tragödien, dachte Anjali, waren edel. Es bewegte sie so, dass sie da auf der Feuerleiter in der Nähe der Old Street beinah losgeheult hätte. Ich persönlich habe meine eigene Theorie zum Ausgang von Casablanca. Ich finde das Ende nicht tragisch. Für mich ist das ein Happyend. Victor Laszlo war ein tschechischer jüdischer Wider‐ standskämpfer. Ein Intellektueller, ein fleißiger und muti‐ ger Nazigegner. Ich finde das Ende alles andere als tragisch. Victor muss fliehen, weil es um sein Leben geht, und wir sollen uns grämen, weil seine Frau sich für ihn und gegen den missmutigen Besitzer einer Kneipe für Exilanten in Ca‐ sablanca entschieden hat? Also ich persönlich finde das nicht traurig. So wichtig finde ich die Liebe nicht. Ich finde Melancholie nicht so übermäßig wichtig. Es ist nicht nötig, Dreiecksbeziehungen zu romantisieren.
4 Wie der Zufall es wollte, hätte Anjali sich gar keine Sorgen um die einer Dreiecksbeziehung innewohnende Tragik ma‐ chen müssen, denn Nana dachte gar nicht daran, Moshe zu verlassen. Bisher gab es keine tragische Dreiecksbeziehung, denn Nana glaubte nicht, dass sie in Anjali verliebt war. Nana war in Moshe verliebt. Sie war in Moshe verliebt und sie war ihm einmal untreu gewesen. Das war soweit ihr Standpunkt. Sie fühlte sich eher schuldig als zerrissen. Ich glaube nicht, dass sie sich schuldig fühlen musste. Sie hatte ja keine Affäre. Und es war ja auch nicht so, als wäre sie allein schuld an der Situation. Selbst Moshe hätte so et‐ was voraussehen können. Doch Nana dachte, alles sei ihre Schuld, und das verunsicherte sie. Das brachte sie zum Weinen. Es war einige Abende nach ihrem lesbischen Sexerlebnis, und Nana weinte. Weinen war sogar ganz charakteristisch für sie geworden. Sie weinte jetzt regelmäßig. Ich werde besonders auf einen Abend eingehen. Nana lag im Bett, zusammen mit Moshe und ihrem Plüschleoparden. Sie weinte stille, graue Mascaratränen. Die Tränen schwärzten den Kopf des Spielzeugleoparden ein. Sie tropften auf die Nähte, die Pranken darstellen sollten. Und während sie weinte, schmiegte sich Moshe, der schon fast schlief, in der Löffelchenstellung an sie. Er schob seinen Penis in den Pelz ihres Unterleibs und machte keinen Laut. Es war drei Uhr morgens. Moshe versuchte aufzuwachen. Es hat alle möglichen komischen Momente, wenn jemand mitten in der Nacht weint. Daraus ergeben sich allerlei
spaßige Ironien. Das mag kalt und herzlos klingen, aber es ist wahr. Nana war nervös. Moshe dagegen war einfach verwirrt. Seine sensible Freundin quälte in letzter Zeit irgendetwas. Seht ihr? Das ist bereits eine der Ironien. Sie litt keine Qua‐ len – sie war bloß nervös. »Ws?«, machte Moshe. Er war schläfrig, so schläfrig. »Amorgen is wieder gut«, lallte er und fasste sanft an die Spitzen ihrer Schultern. Dann ließ er die Hand wieder fal‐ len. Keine Frage, Moshe war müde. Im Kopf driftete er schon weg. Nana war wach. Moshe fragte: »Wasis los?« Er fühlte sich hilflos. Und er fühlte sich so hilflos, dachte Moshe, weil er hundemüde war. In Wirklichkeit lag es nicht an der Schläfrigkeit, dass Moshe sich so hilflos fühlte. Ich weiß noch von einem wei‐ teren Faktor. Er fühlte sich hilflos, weil Nana weinte. Das war es. Es war ausschließlich die Tatsache, dass sie weinte. Aufgrund irgendeiner inneren Fehlschaltung blockierte Weinen Moshe immer völlig. Schließlich gibt es nur ein be‐ grenztes Spektrum an Gefühlen. Man kann nur empfinden, was man empfindet. Das ist nicht schön, aber so ist es nun einmal. Es ist sehr schwierig, sich nicht zu wiederholen, es ist sehr knifflig und macht keinen besonderen Spaß. Es machte Moshe keinen besonderen Spaß. Er ließ sich wieder auf den Rücken fallen, mitfühlend, nutzlos. Er lauschte auf Nana. Er sagte: »Süße willsunich, ehmvielleicht, habdichdochlieb.« »Nana, Nana«, säuselte er wie ein Schnulzensänger beim Kurkonzert, und das um drei Uhr morgens. Nana gab sich Mühe. Sie sagte: »Dutmirsoleid. Ist nur, tut mir Leid.«
Moshe dachte, das sei vielleicht eine Ruhepause. Es könnte der Auftakt zur Stille sein, dachte Moshe. Wenn sie sich erst, eiapopeia, des Wertes von süßem Schlummer ent‐ sann, dachte Moshe. »Nischlimm«, sagte er, »machtnix.« Aber nein. Es war nicht der Auftakt zur Stille. Es war nicht der Auftakt zum Schlaf. Es war der Auftakt zu einem neuen Anlauf. Während Nana murmelte und brabbelte, wurde Moshe immer gereizter. Er versuchte die unsichtbare Zeit zu sehen, die irgendwo auf dem Nachttischchen vor sich hin tickte. Es musste bald hell werden, dachte Moshe besorgt, ganz be‐ stimmt, und wenn es so war, war Moshe ein zerrütteter, übermüdeter Mann. Er überlegte, ob er sich an irgendeinen seiner Sätze erinnern konnte. Er versuchte seinen Text durchzugehen. In seiner Hysterie fiel Moshe kein einziger von Slobodan Milosevicʹ Sätzen ein. Er bekam Panik, und da war totale Mattscheibe. Es war mitten in der Nacht, und Moshe hatte Angst. Er fühlte sich nicht sicher. Wenn er als Kind mitten in der Nacht aufgewacht war und ihn die Umrisse seiner objets trouvés ängstigten, die in einem Homebase‐Schränkchen standen, da hatte Moshe immer gewusst, dass ihm nichts passieren konnte. Als er ein Kind war, ließ sich Moshe von seinen Springbohnen, seiner russischen Puppe oder seinem kleinen Holzelefanten, orange mit schwarzen Punkten, nicht schrecken. Er hatte keine Angst, weil in der Ecke des Zimmers eine Leiter stand. Er hatte nicht mehr zu tun, als darauf zu steigen, und dort oben war das Paradies, auf einem Sims, der fünf Zentimeter unter der Decke um die Wände lief und auf dem eine Reihe bemalter Holztiere in der Dunkelheit
glänzte. Und wenn das fehlschlug, wusste er, dass seine Mutter wie versprochen in Bärenmütze und roter Uniform mit goldglänzenden Knöpfen gleich vor der Tür stand, um ihn zu bewachen. Aber jetzt war es mitten in der Nacht, und Moshe fühlte sich verloren. Er fühlte sich alt. Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Und seine Freundin, die Nana hieß, weinte. »Arm‐ nehm?«, fragte sie. »Bitte nimich Arme.« Ach, Moshe. Moshe hatte Angst. Er war ein Erwachsener. Er wurde mit solchen Vorkommnissen nicht fertig.
5 Und so hatte Nana am nächsten Morgen Wiedergutma‐ chungssex mit Moshe. Nur für den Fall, dass ihr es nicht verstanden habt, möch‐ te ich etwas klarstellen. Hier geht es nicht um ihr Sexleben. Das ist es nicht, worüber ihr hier etwas lest. Ihr lest etwas über ihre Gefühle. Ihr lest etwas über ihre ethischen Grundsätze. Was Moshe angeht, der erwachsene Moshe hatte keine Schuldgefühle. Er lag oben. Er ließ Nanas Vagina schmat‐ zen und quatschen, als er wie ein Profi den Eintrittswinkel änderte. Aber das war nicht Moshes Lieblingsstellung. Nein, er wollte eine andere Stellung. Er wollte es, wie er es am liebsten hatte. Und wie hatte es Moshe am liebsten? Moment, Moment, ich sagʹs ja schon. Er hatte es am liebs‐ ten, wenn Nana die Beine an die Brust gezogen hatte und ihre Knie auf ihren Schlüsselbeinen ruhten. Doch an diesem Morgen war Moshes Lieblingsposition nicht das, was Nana am liebsten wollte. Dieser Morgen,
dachte Nana, war kein Morgen für derart prosaische Ver‐ renkungen. Nein. Sie war in altruistischer und bußfertiger Stimmung. Sie hatte vor, Moshe zuliebe etwas Besonderes zu machen. Sie hatte etwas vor, woran sie schon immer ge‐ dacht hatte. Und Moshe fragte sie ja immer, was sie gerne machte. Sie würde liegen bleiben und unartig sein. Unartig sein bedeutete Pissen. Sie müsste mal, sagte Nana, und sie wüsste wirklich nicht, ob sie gehen sollte. Ob sie gehen sollte? Es war nur, dass sie nicht wüsste, ob sie warten könne. Sie wüsste nicht, ob sie es noch bis zur Toilette schaffen würde. Ihre Bezeichnung für diese Innovation war »unartig sein«. In diesem sehr speziellen Moment sagte sie: »Darf ich unartig sein?« Wie es schien, war Nana an diesem Morgen zu einem knabenhaften Mädchen mit Kleinkindinstinkten erblüht. Und Instinkte kann man nicht kontrollieren, das weiß jeder. Nana sagte: »Ich Mussmalpipi. Ganzdringend.« Sie sagte es zu Moshe mit ihren geschlossenen Augen und angespannten Halsmuskeln. Sie sagte: »Bitte bitte darf ich gehn?« Das war ihr Bonbon. Das war ihre Wiedergutmachung. Nana war untreu gewesen. Und Untreue weckt in jedem zumindest vorübergehende Bußfertigkeit. Aber Nana hatte ein doppelt schlechtes Gewissen, weil sie nicht mal die üb‐ liche Entschuldigung für Untreue anführen konnte – ein tragisch übersteigertes Sexbedürfnis. Nana hatten keinen sehr ausgeprägten Sextrieb. Sie wusste, wenn sie sich schon auf Sex einließ, hätte sie ihn wenigstens für Moshe reservie‐ ren können. Daher war Nana doppelt bußfertig. Deswegen hatte sie beschlossen, es mit Pissen als erotischem Kick zu versuchen. Sie handelte altruistisch.
Und ich muss sagen, wenn das altruistisch ist, hat Al‐ truismus seine guten Seiten. Wären doch nur mehr Men‐ schen altruistisch, dann würden sie vielleicht entdecken, dass ihr Leben weit komplizierter ist. Sie würden vielleicht entdecken, dass sich ihr sexuelles Repertoire um einige pi‐ kante Varianten erweitert hat. Moshe sagte: »Bu, bu, Nana.« Offen gestanden, er war überrascht.
6 Ich bin nicht sicher, wie die allgemeine Einstellung zum Pissen aussieht. Ich weiß nicht, wie viele Menschen Pissen als sexuelle Variante in Betracht ziehen. Vermutlich gibt es Menschen, die das nicht erregend finden. Diese Menschen werden wohl keine Masturbationsfantasien von den rau‐ schenden, ineinander geschlungenen Perlenschnüren glas‐ klarer gelber Bächlein haben. Für andere Menschen ist es ein Luxus, in dem sie schwel‐ gen. Es macht einen Teil des ganzen sexuellen Triumphs aus. Für diese Leute ist es ein köstlicher Moment des Sich‐ gehenlassens, der geradezu nach dem Erwerb einer Gummiunterlage für die Matratze schreit, vielleicht von Mother‐care oder Asda. Und wenn es darum geht, etwas über das Pissen beim Sex zu lesen, werden beide Gruppen korrespondierende Vorstellungen von der angemessenen literarischen Umset‐ zung haben. Beide werden an meiner Beschreibung von Nanas Entdeckungsreise etwas auszusetzen finden. Es wird ihnen schwer fallen, sich zu identifizieren. Es wird ihnen entweder zu explizit oder nicht explizit genug sein. Das
weiß ich. Aber diese Lesart interessiert mich nicht. Mich interessieren keine Leser, die sich mit Moshe und Nana identifizieren wollen. Mein Interesse geht dahin, dass die Leserinnen und Leser alles hier richtig verstehen. Mir liegt ganz besonders daran, dass sie Moshes Einstellung richtig verstehen. Denn Moshe war weder dafür noch dagegen. Er war be‐ reit, sich rumkriegen zu lassen, das war seine Einstellung. Zuerst fand Moshe, Pissen sei nichts für ihn. Er gab seine Bewegungen auf und guckte sie an. Aber Nana ließ ihn nicht im Ungewissen. Sie hatte Spaß daran. Sie sagte: »Ich glaub nicht, dass ich es einhalten kann.« Eindeutig, Nana wollte das. Es gibt ein Phänomen, das von Propagandisten ausgefal‐ lener Sexpraktiken zu wenig beachtet wird. Diese Pro‐ pagandisten glauben, dass die jeweilige spezielle sexuelle Praktik von jedem der Sexpartner herbeigesehnt werden muss. Wenn man sich dieser Meinung anschließt, kann je‐ mand also kein Amateur auf dem Gebiet des Fistens sein. Man muss ganz darin aufgehen. Aber ich glaube nicht, dass das so stimmt. Wenn du die sexuelle Fantasie eines anderen nicht teilst, steht dir eine ganze Palette von Gefühlen zur Verfügung. Natürlich kann die sexuelle Fantasie eines an‐ deren bizarr und abstoßend wirken. Genauso gut kann sie schlicht und einfach langweilig sein. Aber eine weitere Re‐ aktion ist ebenso verbreitet. Es erregt einen, wenn ein anderer erregt wird. Es erregte Moshe, dass Nana erregt war. Zumindest an diesem Morgen war Pissen die Erfüllung von Moshes kühnsten Träumen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie nicht einhalten könnte.
Darum sagte Moshe: »Du wirst schon einhalten müssen. Du musst unbedingt einhalten. Ich werde nicht zulassen, dass du dieses Bett einsaust.« Er meinte, was er sagte. Er machte sich gut in dieser Fan‐ tasie. Moshe wollte nicht, dass Nana in sein Bett pisste, nicht so richtig. Das kam daher, dass er sich keine Gummi‐ unterlage gekauft hatte. Er hatte eine teure Dunlopillo‐ Matratze gekauft, aber keine Gummiunterlage. Daher war er nicht unbedingt scharf darauf, dass sich die nackte Nana nassmachte. Nana winselte. Sie winselte: »Aber ich kann nicht. Ich kann nicht.« Und Moshe wurde immer unerbittlicher. Er sagte: »Wenn du machst, werde ich sehr böse sein.« Und Nana sagte mit bebender Stimme: »Oh, oh.« Sie wirkte lammfromm. Er sagte: »Wenn du machst, werde ich sehr böse auf dich sein.« Und Nana wollte nicht, dass sich Moshe über sie ärgerte, aber sie war neugierig, was er tun würde, wenn er verärgert wäre. Unter ihm onanierte Nana jetzt. Moshe spürte die heftige Bewegung ihres Handrückens an seinem Bauch. Er sagte: »Wenn du machst, wenn du ohne Erlaubnis ins Bett machst, werde ich dich bestrafen müssen.« Sie fragte: »Mich bestrafen?« Er sagte: »Dich bestrafen.« Sie sagte: »Mmm.« Moshe legte die Innenfläche seiner linken Hand auf Nanas pelziges Schambein. Und Nanas Augen waren ge‐ schlossen. Sie atmete, sie atmete pfeifend durch die Nase. Sie warf ihren Kopf hin und her. Er sah zu ihr hoch. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund war zugepresst. Dann war Moshes Handfläche nass.
Nana war unartig gewesen. Sie war oh so geschickt unar‐ tig gewesen. Die Häutchen zwischen Moshes Fingern waren nass und brannten. Nana presste seine Hand mit ihrer Hand gegen ihre nasse Möse. Nana ließ es laufen. Moshe machte sich Sorgen über die Wirkung des Urins auf sein Ekzem. Er glaubte nicht, dass sie schmerzlindernd sein könnte. Und er musste überlegen, was er mit dem La‐ ken machen sollte. Er wollte nicht unfreundlich wirken. Es war nur so, dass die Matratze teuer gewesen war. Dunlopillo war keine billige Marke. Er wollte das Laken in die Waschmaschine schmeißen. Er war besonders in Sorge, weil es Morgen war. Wie jeder gute Undinist weiß, riecht Morgenpisse viel strenger als Abendpisse. Nana schlug ihre unschuldigen Augen auf und schaute ihn an. »Du bist abscheulich«, sagte Moshe. Nana kicherte.
7 Ach, da fällt mir ein. Es gibt einen kurzen Roman mit dem Titel Thérése Phi– losophe. Das war das Lieblingsbuch des Marquis de Sade. Es ist um 1750 erschienen. Über den Verfasser weiß niemand etwas Genaues. Die Geschichte wird von Therese erzählt. Ein Kapitel schildert, wie sie mit ansieht, dass Mademoi– selle Eradice ihren Hintern entblößt, um von ihrem Priester, Pater Dirrag, gezüchtigt zu werden. Zuerst peitscht der Priester sie mit einem Bündel Birkenruten. Dann erklärt er ihr, er würde sie nun mit dem wahren »Strick des heiligen Franziskus« kasteien. Der wahre Strick des heiligen Franzis‐ kus ist sein Penis. Nachdem er zunächst erwogen hatte, sie
anal zu penetrieren, entschließt sich der Priester letztend‐ lich, es Mademoiselle Eradice einfach von hinten zu besor‐ gen. Hier eine Passage aus Thérése Philosophe. »Sein Kopf war geneigt und seine glänzenden Augen auf das Werk seines Sturmbocks fixiert, dessen Stöße er der‐ gestalt kontrollierte, dass er, wenn er ihn zurückzog, seine Scheide nie vollständig verließ, und wenn er wieder vor‐ wärts schoss, sein Bauch niemals in Kontakt mit den Schenkeln seiner Schutzbefohlenen kam, welche, wenn man es recht überlegt, dennoch die Herkunft des angeblichen Strickes wohl erraten haben mag. Welche Geistes‐ gegenwart!« Dieses Zitat ist wichtig. Irgendwann kommt Mademoiselle Eradice dann nämlich. Und sie interpretiert ihren Orgasmus als göttliche Be‐ lohnung. »Oh, ja, ich empfinde himmlische Glückseligkeit. Ich spüre, dass mein Geist allem Irdischen weit entrückt ist. Weiter, Pater, weiter! Merzt alles Unreine in mir aus ...« Ich sehe, worauf der Verfasser von Thérése Philosophe hin‐ auswill. Er – denn es kann nur ein Er sein – will den korrupten Klerus attackieren. Darüberhinaus will er religiöse Schriften parodieren, in denen Jungfrauen in religiöse Verzückung geraten. Er will den Anspruch der Spiritualität auf Spiritualität parodieren. Alles, was dem Mädchen fehlte, das haben wir kapiert, war ein Fick. Das alles ist mir klar. Ich finde nur, dass der Autor in sei‐ nem Bestreben, politische Sticheleien anzubringen, eine Gelegenheit verpasst hat. In meiner Neufassung wüsste Mademoiselle Eradice die ganze Zeit, dass sie von ihrem Priester gefickt wird. Und würde nur vorgeben, es nicht zu
wissen. Das wäre die entscheidende Änderung. Während es Mademoiselle Eradice in Thérése Philosophe wirklich nicht weiß. Sie wird übertölpelt. Aber ist das nicht unrealistisch? Es ist unrealistisch. Das weiß auch der Verfasser. Darum ist er so umsichtig, uns zu schildern, wie meisterhaft der Pries‐ ter die Bewegungen seines Penis kontrolliert. Deswegen streicht er so heraus, dass nur der Penis des Priesters sie be‐ rührt. In dem Bemühen, seine uninteressante Aussage an‐ zubringen, hat er die Frivolität getötet. Daher bin ich nicht überrascht, dass der Marquis de Sade, für seine Freunde Donatien, als er sich 1797 entschloss, mit der Geschichte der ]uliette seinen eigenen Politporno zu schreiben, die Thérése Philosophe als Vorbild wählte. Er nannte den Roman ein »bezauberndes Werk«. Es sei bezaubernd, weil es als einziges Buch »aufs Angenehmste Schwelgerei mit Gottlosigkeit verbindet«. Falls das etwas unverständlich ist, der kryptische Donatien meinte damit nur, dass in dem Buch fickende Mönche auftauchen. Das war das, was Donatien lesen wollte. Das ist das, was er schreiben wollte. Er wollte keine realistischen Perversionen, er wollte politische Perversionen. Der Marquis de Sade war ja auch kein Experte für Saue‐ reien. Er war zu theoretisch. Wenn es um Perversionsprosa geht, bin ich ein besserer Autor als der Marquis de Sade.
8 Aber damit genug von Nana und Moshe im Bett, zumindest für den Moment. Man muss ja auch noch an Anjali denken. Im Anschluss an den leidenschaftlichen Nachmittag mit
Nana und Trisha im Hintergrund hatte Anjali bereut. Von Reue geplagt, hatte sie Nana und Moshe eine Weile allein gelassen. Sie rief nicht zurück. E‐Mails beantwortete sie nicht. Anjali ging stattdessen neuerdings im Regentʹs Park spa‐ zieren. Denn wenn man als junge Frau allein in einem Park ist, kann man einen so schön romantischen und einsamen Eindruck machen. Die letzten Wochen, nachdem Nana sie zum Orgasmus gebracht hatte, hatte Anjali kleine Spazier‐ gänge gemacht, überschwänglich traurig, köstlich melan‐ cholisch. Es gibt zwei Dinge, über die ihr euch klar sein solltet, wenn wir uns mit Anjali beschäftigen. Anjali ist von Nana verführt worden. Das wissen wir bereits. Aber der zweite und entscheidende Punkt ist dieser: Anjali war mitunter sentimental. Meine Definition von Sentimentalität geht so: Sentimental ist, wenn man eine Empfindung um ihrer selbst willen wertvoll findet. Es ist folglich die Überschätzung der Empfindung. Ein Beispiel für diese Überschätzung ist Anjalis Großherzigkeit. Auf einer Feuertreppe unweit der Old Street hat Anjali etwas entdeckt, das eine viel größere Versuchung als Nana war. Diese größere Versuchung war Tugendhaftigkeit. Sie war ihr erlegen. Für Anjali war ihre Vorstellung von Humphrey Bo‐ gartʹscher Hochherzigkeit erregender als Nana. Deswegen blieb sie ihnen fern, spazierte sie durch den Regentʹs Park. Es war aufregender, Nana aufzugeben, als an ihr festzuhal‐ ten. Es war ganz so, wie während des Kriegs in Casablanca zu leben.
9 Aber Nana glaubte anscheinend nicht, dass sie von Nazis bedroht in Nordafrika lebte. Nana sagte: »Ich hab mich so geärgert. Ich komm gerade aus einer Vorlesung über den neuen Prada‐Shop in New York, den, den Rem Koolhaas entworfen hat.« »Rem Kohl– Arsch?«, fragte Anjali. »Genau, Rem Koolhaas«, sagte Nana. »Und dieser Kerl, dieser Kerl, dieser Kerl sagt, Prada war eine Innovation in der Architektur. In Arkitetcha. Also ehrlich. Pass auf. Willst du wissen, was Rem Koolhaas gesagt hat? »Architektur bedient nicht die Bedürfnisse der Mittelmäßigen, sie schafft kein Zuhause für das belanglose Glück der Masse. Architektur ist Sache der Elite.« Eine Sache der Elite! Was soll das heißen, Sache der Elite! Architektur ist eine Technik«, sagte Nana wütend. Wie ihr bei diesem Dialog vielleicht erraten habt, waren Nana und Anjali im Cafe der Architectural Association. Sie standen an der Theke und warteten darauf, bedient zu werden. »Ich nehm einen Eksspresso«, sagte Anjali erleich‐ tert. »Für mich nichts, danke«, sagte Nana. »Doch, ich nehm ein Mineralwasser.« »Und dann«, sagte Nana, »bringt der Kerl noch mal ein Zitat von ihm. Rem Koolhaas hat gesagt, ich fass es nicht, Rem Koolhaas hat gesagt: ›Wahre Architektur ist ein Un‐ terfangen, das bewusst von Verordnungen oder selbst von Architektur Abstand nimmt.‹ Das bewusst von Architektur Abstand nimmt! Architektur soll Abstand nehmen von Architektur!« »Mann«, sagte Anjali. »Ich glaub, das versteh ich nicht.«
»Ja, nee, genau, oder«, sagte Nana. »Brauchste auch gar nicht. Weil es Quatsch ist.« Anjali nahm Platz. Nana steckte ihren Pukk‐A4‐Block weg. Also, es stimmt zwar, dass Nana aufrichtig sauer auf ihren Dozenten war. Sie war zudem rechtschaffen empört über Rem Koolhaas. Aber dass Nana architekturmäßig das Gespräch beherrschte, lag nicht ausschließlich an ihrer Liebe zum Städtebau. Nein. Nana hatte einen Plan, einen sexuellen Plan. Aber sie wollte diesen Plan nicht unverblümt ansprechen. Es sollte ganz beiläufig wirken. Sie wollte, dass das Gespräch ganz natürlich daraufkam. Anjali machte Nana Sorgen. Sie dachte, sie sei vielleicht traurig. So erklärte sich Nana Anjalis seltsames Fernbleiben. Sie wusste nicht, dass Anjali die letzten paar Wochen in Parks verbracht hatte, um sentimental zu sein. Nana glaubte, sie hätte zu Hause gehockt und sich kummervoll durch trapezoide Packungen von Cadburyʹs Celebrations ge‐ fressen. Und das war nicht das, was Nana wollte. Sie wollte nicht, dass sich Anjali an Schokolade überfraß. Sie wollte, dass Anjali sich geliebt fühlte. Nun ja, sie wollte, dass sie sich geliebt fühlte, solange sich auch Moshe geliebt fühlte. Deswegen war Nana mit einem Plan hier in die Cafeteria der Architectural Association gekommen. Anjali fühlte sich geliebt. Sie fühlte sich zu geliebt. Sie rührte sich einfach nur Zucker in ihren Espresso. Sie fragte sich, was Humphrey Bogart wohl getan hätte.
IO Nana hatte einen Plan. Sie hatte eine weitere sexuelle An‐ regung. Die nächste Anregung war ein Dreier. Ich finde es faszinierend, was Menschen, die Sex nicht mögen, dem Sex antun können. Sie machen ihn rational, sie machen ihn moralisch. Oft sind gerade die, die nichts für Sex übrig haben, die Perversesten. Oft sind sie diejenigen, die zu allem Erdenklichen bereit sind. Und Nana war, wie wir wissen, keine Sexgigantin. Sie war nicht besonders sexbesessen. Und das machte sie, finde ich, umso perverser. Versteht ihr, Nana glaubte nicht, dass Moshe gerade den besten Sex seines Lebens erlebte, Und das stimmte, er war nicht im siebten Himmel des Sex. Aber in Wirklichkeit war Moshe damit zufrieden. Es war Nana, die mit Moshes Sexleben nicht zufrieden war. Weil sie sich schuldig fühlte, meinte sie, sie müsse sich immer neue Freuden für ihn, ihren Geliebten, ausdenken. Und ihr war etwas eingefallen. Ihr war ein Dreier eingefallen. So hatte sich Nana das gedacht: Weil er ein guter und geduldiger Junge gewesen war, hatte Moshe einen Dreier verdient. Davon träumte jeder Junge. Darüber hinaus wür‐ de sich Anjali nicht ausgeschlossen fühlen, wenn sie es zu dritt machten. Sie würde sich nicht zurückgesetzt fühlen. Und was Nana betraf, ihr war alles recht. Also musste Nana einen Dreier inszenieren. Das war die vernünftigste Lösung.
11 Aber wie schlägt man in einem kultivierten Gespräch Sex zu dritt vor? Das war die Frage, über die Nana nachdachte, während sie zusah, wie Anjali an ihrem heißen Espresso nippte. Wie bringt man Sex zu dritt zur Sprache? Nun, Nana wählte folgende Weise. Man bringt es als Witz. Man schmuggelt ihn ein. Man tut so, als sei es gar nicht ernst gemeint. Zuerst pries sie Anjalis sexuelles Geschick. Sie sagte, »Weißt du, ich fand es so toll, was wir gemacht haben. Es war echt toll. Es war echt oh himmlisch.« Das beunruhigte Anjali, weil Anjali sich geschmeichelt fühlte. Sie wollte sich nicht geschmeichelt fühlen. Sie wollte entsetzt sein. Dann sagte Nana: »Mir hat es gefallen. Mir hat es wirklich sehr gefallen.« Nana lächelte. Sie lächelte breit. Anjali fühlte sich weiterhin geschmeichelt. Sie benahm sich nicht wie Humphrey Bogart. Humphrey Bogart hätte die Lady längst am Kragen gepackt und ihr erklärt, dass es vorbei wäre. Dann sagte Nana: »Ich weiß nicht, ob wir das dürfen.« Anjali sagte: »Aber ja doch.« Sie sagte: »Aber ja doch. Ist schon gut. Natürlich war es eine einmalige Sache.« »Oh«, sagte Nana. »Oh, also nicht, dass ich es nicht möchte.« »Mmhmmm?«, sagte Anjali. Nana sagte: »Ich mein, man könnte ja zum Beispiel. Ich mein, wir könnten ja alle drei. Ich mein, wenn wir alle drei ?« »Wir alle drei? Ein Dreier?«, fragte Anjali. Sie grinste. Sie grinste breit. Ihr gefiel diese Idee. Auf die Art konnte sie sich edelmütig fühlen und trotzdem Nana wieder nackt sehen.
Nana kannte sich aus. Sie wusste, was die Menschen wollten. »War das seine Idee?«, fragte Anjali. »Äh, nein«, sagte Nana. »Meine. Er weiß von nichts.« »Wir alle drei?«, sagte Anjali. »Nun, ja«, sagte Nana. Sie grinste. Anjali sagte: »Mhmmm.« Sie war nicht abgeneigt. Sie grinste auch.
12 Da war immer noch das Problem, es dem Jungen beizubrin‐ gen. Ich würde sagen, die größte Schwierigkeit beim Organi‐ sieren eines Dreiers besteht darin, das zweite Mädchen zu überreden. Ich würde sagen, die meisten Leute stellen sich vor, dass das zweite Mädchen der heikle Punkt ist. Hat man erst mal das zweite Mädchen, kommt der Junge von ganz allein. Moshe war, wie Nana wusste, kein gewöhnlicher Junge. Er war zartbesaiteter als andere Jungs. Er hatte gewöhnliche Begierden, das stimmte, aber Moshe entsagte ihnen auch. Als Moshes Freundin konnte man ihm nicht einfach einen Dreier vorschlagen. Man konnte ihn nicht direkt fragen. Ich glaube, Moshe hätte nie geglaubt, irgendein Mädchen könnte von sich aus Sex zu dritt wollen. Er konnte nicht glauben, dass ein Dreier etwas anderes als eine egoistische Sexfantasie war, eine egoistische Sexfantasie von Jungs. Darum sprach Nana ihn indirekt drauf an, und zwar ganz raffiniert. Sie sprach beim Sex darüber. Es war einfach ir‐ gendeine Sexfantasie. Nur eine Sexfantasie. Ein paar Nächte nach ihrem Gespräch mit Anjali in der
Cafeteria der Architectural Association malte Nana ihm aus, wie es mit noch einer Frau mehr wäre. Sie fragte, ob es Moshe gefiel. Ihr wisst ja, dass Nana eigentlich kein Mädchen war, das beim Sex gerne redete. Ihr versteht also, was sie hier auf sich nahm. Moshe gefiel es. Ihm gefiel es, dass die andere Frau dabei war. Dann fügte Nana ein paar Details hinzu. Nana lag übri‐ gens auf dem Rücken. Sie zog ihre Knie an, bis an ihre Brüs‐ te, und blickte in Moshes glückliche Augen. Dabei hauchte sie sanft, lächelnd: »Und wenn es Anjali wäre?« Es war eine Sexfantasie. Sie hatten Sex. Also ließ Moshe sich auf dieses Szenario ein. Ich kann daran nichts sonder‐ bar oder falsch finden. Eine Sexfantasie muss nun mal völ‐ lig amoralisch sein. Sie hat nichts mit der Realität zu tun. Moshe grinste. Ihm gefiel es, wie Nana beschrieb, was An‐ jali mit seinen Hoden anstellte. Es hörte sich interessant an. Es hörte sich technisch sehr fortgeschritten an. Und es brachte ihn zum Kommen. Als Nana fragte: »Warum ei‐ gentlich nicht?«, nickte er nur. Als sie sagte: »Ich mein im Ernst, warum eigentlich nicht?«, nickte Moshe schwer at‐ mend und glücklich. Er sagte: »Yeah, yeah«, als Nana ihm beschrieb, wie sie auf Anjalis Gesicht saß, während Moshe Anjali leckte. Er schnaufte. Nana sagte ihm, was Anjalis Zunge machte und welche Stellung Moshe einnahm. Er schnaufte. Er sag‐ te: »Ja, sollten wir machen«, und dann kam er. Er dachte nicht, dass das ernst gemeint sei. Er dachte nicht, dass Nana das ernst meinte. Ich habʹs euch ja gesagt. Das war nicht sein Stil.
13 Im wirklichen Leben musste Moshe jedenfalls nicht mit so einem Fantasie‐Dreier zurechtkommen. Nein. Es war eher ein Anstands‐Dreier. Er hielt sich an die Etikette. Nana, die auf dem Boden lag, sah verschreckt aus. Und Anjali –weil Anjali zu diesen Mädchen gehörte, sie glaubte an Aro‐ matherapie – reichte Moshe ihren Tiegel mit dem Aveda‐ Wacholder‐Massageöl. Das mag ja auf den ersten Blick befremdlich wirken, aber ich finde es nicht befremdlich. Es war sehr intelligent. Al‐ lein im Regentʹs Park war sie vielleicht anfällig für Senti‐ mentalität gewesen, aber auf dem Fußboden in Finsbury be‐ wahrte Anjali einen kühlen Kopf. ; Beim konventionellen Bild eines Dreiers hat man meist Blondinen vor Augen, die sich um einen durchtrainierten, attraktiven Jungen schlingen. Oder um einen nicht mal durchtrainierten oder attraktiven Jungen. Zwei Blondinen, glauben die Leute, würden sich um jeden Mann mit Geld schlingen. Aber das ist eine sehr beschränkte Vorstellung vom Sex zu dritt. Sex zu dritt ist gar nicht einfach. Und be‐ stimmt nicht derart abstrakt. Man kann dabei alle erdenk‐ lichen Fehler machen. Sex zu dritt ist eine diffizile zwi‐ schenmenschliche Situation. Darum ist der Schlüssel zu erfolgreichem Sex zu dritt, darauf zu achten, dass alle ein‐ bezogen sind. Und genau das hatte Anjali bedacht. Ihr Plan sah so aus, dass sie und Moshe Nana verwöhnen würden. Sie würden sie massieren. Eine Massage war noch nicht di‐ rekt Sex, nichts Beängstigendes. Deswegen rieben Moshe und Anjali Nanas Beine und Füße mit wohltuendem Öl ein. Und es wirkte. Es entspann‐
te sie. »Das ist toll«, sagte sie und schloss wie ein Starlet die Augen, »ganz toll.« Sie hob ihr Glas Wein hoch, Ernest & Julio Gallo Cabernet Sauvignon aus Kalifornien, und der Wein lief ihr über ihr blondes, flaumiges Kinn. Anjali leckte ihn ab. Moshe starrte darauf, erregt mit angstvoll gewei‐ teten Augen. Er starrte hin. Moshe war kein versierter Masseur. Bald langweilte ihn das Massageöl. Während die geduldige Anjali mit Nanas Händen und Fingern weitermachte, begann er Nanas Bauch zu küssen. Schön, das wirkt vielleicht voreilig. Vielleicht wirkt das wie linkischer Überschwang. Und das war es auch. Aber es schien auch zu funktionieren. Nanas Erre‐ gung wuchs. Sie sagte zu Anjali: »Küss mich«, während Moshe die Innenseite ihrer Beine streichelte und kraulte. Anjali stellte das Öl auf die Fensterbank und sagte: »Okay so? Okay so?« Sie küsste Nana. Sie sagte: »Ich steh drauf, dich zu küssen.« Sie schmatzte sich runter bis zum Ansatz von Nanas Hals, von Wange zu Wange. »Das hat gekitzelt!«, kicherte Nana zu Moshe gewandt. Sie schaute an sich hinunter und grinste Moshe an. Er grinste zurück. Also ließ Nana ihren Kopf wieder nach hinten fallen. Sie küsste Anjali und schloss ihre Augen. Ich weiß, das dauert. Es hat sich noch nicht mal jemand ausgezogen. Ich weiß. Aber so ist Sex nun mal. Zum Sex gehören viele Überlegungen und Bewegungen. Anjali zum Beispiel fragte sich, warum sie so etwas noch nie gemacht hatte – Sex mit einem Pärchen. Aber dann küsste Nana sie plötzlich nicht weiter. Nana gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und schaute dann nach unten zu Moshe. Ich mag Moshe wirklich. Moshe ist wirklich süß. Er tat
sein Bestes, um das Streicheln der Innenseiten von Nanas Schenkeln als Vergnügen zu empfinden. Aber das fiel ihm nicht leicht. Es war nicht leicht, ganz bei der Sache zu sein, während ihm etwas Kummer machte. Aber er grinste. Und Anjali beugte den Nacken und grinste den glücklichen Moshe an. Sie guckte Nana an, grinsend. Und dann wusste Anjali plötzlich, was nicht stimmte. Nana machte sich Gedanken um Moshe. Sie wollte Moshe und Anjali zusammen sehen. Sie wollte nicht, dass Moshe außen vor bleiben musste. Das dachte Anjali. Das konnte sie machen, dachte Anjali. Es war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Sie hatte mit einer Nummer zwischen zwei Mädchen gerechnet, bei der Moshe nur zu‐ sah. Aber wenn es das war, was Nana wollte, dachte Anjali, würde sie ihr den Gefallen tun. Moshe war ja nicht gerade abstoßend. Wenn es das war, was Nana wollte, war Anjali dazu bereit.
14 Oh Altruismus. Moshe, zu Nanas Füßen postiert, war ein bisschen traurig. Er erwartete, links liegen gelassen zu werden. Er glaubte nicht, dass Anjali wirklich etwas für Jungs übrig hatte. Da sie sich schon mal in dieser außergewöhnlichen Lage befan‐ den, hätte er es gerne gesehen, wenn sich ein Dreier daraus ergeben würde. Es wäre am besten, empfand er, wenn jeder zu seinem Vergnügen käme. Aber er erwartete nichts. Moshe nahm einfach betrübt an, dies sei die natürliche
Konsequenz aus dem gegenseitigen Küssen und Berühren. Das kam eben davon, wenn man um fünf Uhr nachmittags Go‐Go Supreme‐Spezial‐Pizza aß. Das hatte er nur sich selbst zuzuschreiben. Versteht ihr, Moshe wusste nicht, was vor sich ging. Er glaubte, es wäre das erste Mal, dass Anjali und Nana so in‐ tim miteinander wurden. Er hatte ja nie erfahren, dass An‐ jali und Nana schon Sex miteinander gehabt hatten. Er glaubte, dieser Dreier wäre ihr allererstes Mal. Doch obwohl er sich damit abgefunden hatte, machte es Moshe, wie ihr euch vorstellen könnt, gleichzeitig sehr an. Und ich glaube nicht, dass man ihm das vorwerfen kann. Seine Freundin und ein anderes, keineswegs unattraktives Mädchen gaben sich vor seinen Augen homosexuellem Treiben hin. Unser Moshe kam sich richtig tolerant vor. Aber er fragte sich auch, wann der Abend so richtig porno‐ grafisch werden würde. Auch wenn Moshe nicht selbst mit‐ machen durfte, würde es Spaß machen zuzusehen.
15 Gerade als Moshe dachte, der Abend könnte etwas Porno‐ grafie vertragen, hob und kreuzte Anjali – zwei Seelen, ein Gedanke – die Arme, um sich ihr türkisfarbenes T‐Shirt über den Kopf zu ziehen. Dann knöpfte sie sich den BH auf. Der BH rutschte unter ihrem Busen nach vorne. Endlich etwas nackte Haut! Anjali war oben ohne. An dieser Stelle möchte ich Anjalis Busen beschreiben. Nicht, weil ich so schmierig bin. Keineswegs. Wie Anjalis Brüste aussahen, war wichtig, weil es das genaue Gegenteil
davon war, wie Nanas Brüste aussahen. Ihr erinnert euch vielleicht – Nanas Brüste waren groß und ganz blass, die Warzenhöfe nur ein zarter Hauch, und die Nippel waren ganz winzig kleine rosa Kreise. Anjalis hingegen waren kleiner, und auf jede Brust war großzügig eine Brustwarze gekleckst. Ihre Nippel waren kräftig und dunkelbraun. Ja, natürlich macht mir diese Beschreibung von Anjalis Brüsten Spaß. Aber auch das macht mich noch nicht zu ei‐ nem schmierigen Subjekt. Aus diesem Vergleich ergibt sich nämlich ein entscheidendes psychologisches Detail. Es ist von zentraler Bedeutung, dass Nana und Anjali so verschie‐ dene Brüste haben. Für Moshe stellte es einen eindeutigen Anreiz dar, und Nana hatte damit leichte Schwierigkeiten. Anjalis Brüste weckten in Nana eine vage Verunsicherung. Nana fand, Anjali sei viel attraktiver als Nana. Nana legte ihre Hände an die Seiten von Anjalis Brust‐ korb. Sie saugte an Anjalis dunkelbraunen Nippeln. Anjali beugte sich nach vorn, damit sie besser drankam. Das brachte Anjalis Gesicht ganz nahe an Moshes Gesicht. Also begannen sich Moshe und Anjali über Nanas saugendem Mund zu küssen. Jetzt war der Abend sexbestimmt. Jetzt hatten sie Sex zu dritt. Aber Moshe nahm sich für einen Moment zurück. Er fand es seltsam, seine lesbische Freundin Anjali zu küssen. Er fragte sich, ob sie das wirklich wollte. Er konnte es nicht so ganz glauben. Daher fragte Moshe: »Issas okay?« Anjali nickte, packte ihn am Nacken und zog ihn zu sich her, und Moshe sagte nein nein nein, ob das wirklich das wäre, was sie wollte. Und Anjali nickte immer noch und küsste ihn. Dann fragte Moshe Nana: »Issas okay?«, und Nana nickte auch.
16 Wäre ich Pornoschriftsteller, wäre das, was als Nächstes kommt, eine Hürde. Ich muss beschreiben, wie sich meine Figuren ausziehen. Die Auszieherei nervt Pornoschriftstel‐ ler. Doch glücklicherweise bin ich kein Pornoschriftsteller. Ich hasse Pornografie, ich hasse deren magischen Realis‐ mus. Mir persönlich liegt der Realismus des neunzehnten Jahrhunderts mehr. Ausziehen ist für mich kein Problem. Sie standen alle drei auf. Anjali zog sich ganz aus. Das dauerte nicht lange, denn mittlerweile trug sie nur noch einen Jeansrock und einen schwarzen Slip. Sie schälte beide in einem runter. Nana zog ihr Kleid und ihren BH aus und war dann zu verschämt, auch ihren Slip auszuziehen. Sie ließ ihn vorläufig noch an. Moshe hatte sein Hemd aufgeknöpft. Er stieg aus seinen Jeans und seinen Converse‐ Boxershorts. Dann kämpfte er mit seinen unwilligen Gap‐ Socken, während sich beim Runterbeugen eine sichelför‐ mige Erektion in seinen Bauch bohrte. Moshe gesellte sich zu seinen beiden Mädchen, die sich auf seinem Bett küssten.
17 Anjali saß zwischen Nanas Beinen wie ein Cello, sodass Nana sie von hinten anfassen und ihren Nacken küssen konnte. Moshe krabbelte übers Bett, legte sich auf Anjali und küsste sie. Aber das war kompliziert. Nana, die schmale Nana, wurde platt gedrückt. Also disponierten sie um. Sie gingen wieder auf den Fußboden. Auf dem Boden
war mehr Platz. Genauer gesagt, zwei von ihnen gingen wieder auf den Boden. Nana rollte sich einfach auf den Bauch und ließ ih‐ ren Kopf über die Bettkante hängen. Aus dieser Stellung beobachtete Nana, wie Moshe sich fortreißen ließ. Er küsste Anjali, er küsste sie ungestüm. Dann stieß er mit seinem rechten Knie ihre Beine aus‐ einander, sodass sein Penis vor Anjalis Vagina stand. Und als Moshe meinte, der rechte Moment sei gekommen, fasste er seinen Penis mit der linken Hand und stieß ihn in Anjali hinein. Dann begannen Anjali und Moshe mit dem eigent‐ lichen Sex. Moshe bäumte sich auf. Anjalis flach auf ihren Rippen liegende Brüste rutschten hin und her. Aber es war keine Pornografie. Es war Konfusion. Versteht ihr, Moshe war happy. Er hatte ausdrücklich er‐ laubten Sex mit einem anderen Mädchen. Und er war be‐ sonders happy, weil Anjali nicht so dünn wie Nana war. Bei der durchtrainierten und eleganten Nana war sich Moshe immer sehr gut gepolstert vorgekommen. Jedes Mal, wenn sich Moshes und Nanas Körper ineinander schlangen und wanden, schien irgendwie mehr von Moshe als von Nana da zu sein. Anjali dagegen war reine Sinnlichkeit. Anjali, dachte Moshe, war Sex pur. Sie war sinnlich und unkompli‐ ziert und üppig. Natürlich irrte Moshe. Anjali war kompliziert. Moshe war in sie eingedrungen, ohne dass sie sich dafür entschieden hatte. Anjali wusste, dass sich nicht dafür zu entscheiden nicht das Gleiche war, wie nicht damit einver‐ standen zu sein. Sie war sich nur nicht sicher, ob es ins Sze‐ nario passte, unmittelbar zum Sex überzugehen. Sie war nicht sicher, dass es Nanas Plan entsprach. Daher versuchte
sie Nana möglichst nicht anzusehen. Anjali guckte auf die Nahtstellen im Putz, wo die Decke in Magnolienwände überging. Sie ließ die Augen an den Einzelheiten des Blatt‐ werks der unteren Wandverkleidung entlangwandern. Es war komisch, ein Zimmer vom Boden aus zu betrachten. Das ließ den Raum fremdartig wirken. Bei der Heizung konnte sie sehen, dass die Farbe abblätterte. Und Anjali war ebenfalls traurig. Sie hatte mehr Einsatz von Nana erwartet. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sex zu dritt war keine unspektakuläre Nummer auf dem Fußboden. Und das hier war bloß eine Fußbodennummer. Moshe fickte sie. Es hatte eigentlich mehr Spaß machen sollen. Es hätte eigentlich behutsamer vonstatten gehen sollen. Das hier war überhaupt kein richtiger Dreier. Die einsame Anjali beschloss, das unabwendbare Ende zu beschleunigen. Und sie wusste, was da von ihr erwartet wurde. »Ooh Gott das is so geil!«, stieß Anjali hervor. »Gott. Gott im Himmel. Oh Gott, ist das gut! Das ist so. Oh Schei‐ ße Heiligemutter.« Sie nahm mit ihren Hüften Moshe in die Zange. Sie küsste die blassere Haut über den Sehnen an seinem verrenkten Hals und zog die Muskeln in ihrer Möse zusammen, um sich für den gewaltigen, sie beinah zerrei‐ ßenden Moshe enger zu machen. »Oh nein so nicht nicht oh ja so. Gott«, sagte sie. Das war die Unterhaltungsindustrie. Anjali schob ihre Füße an Moshes Rücken auf und ab, damit er tiefer eindringen konnte. Sie wollte bloß, dass er kam. Sie wollte sich bloß noch mit den ganzen objektiven Anzeichen trösten. Damit sie sich zusammenrollen und hübsch sein konnte.
Na schön, ich werde ein bisschen Pornografie schreiben. Ich schreibe einen Absatz. Als er rauszog, schloss sie ihre Möse enger um ihn, als ob sie käme und flüsterte: »Fick mich, bitte fick mich richtig durch.« Und dann spürte sie ihn, festgeklemmt und dicker werdend, darum schrie sie auf: »Oh oh oh oh oh oh. Oh.« »Ooh«, sagte sie. Er pochte erregt, und sie (»hmrnmrn«) konnte es spüren, sagte sie erleichtert zu ihm. Sie rieb ihre Wange an seinem spitzen Gesicht. Moshe fühlte sich ganz schön schwer an. Er war schwerer als Zosia. Er stieß zuckend noch ein letztes Mal seinen Penis tiefer hinein. Und Nana? Nana war traurig. Weil kollektive Sexszenen nicht funktionieren, wie ihr selbst sehen könnt. Es ist mir nicht peinlich, das auszusprechen. Der Fehler bei einem Dreier, hatte Nana entdeckt, war nicht das Kräftezehrende. Anders als sie vielleicht erwartet hatte, war der Schönheits‐ fehler nicht die Überbeschäftigung. Der Schönheitsfehler war die Beschäftigungslosigkeit. »Dreier« war ein Euphe‐ mismus. »Dreier« war ein anderes Wort für Untreue. Sie war eifersüchtig. Moshe war sehr stolz. Er fühlte sich seltsam, und er war stolz.
18 Aber was heißt Untreue ? In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1934 wurde der Dichter Ossip Mandelstam verhaftet. Ossip kennt ihr ja schon. Ihr wisst, wie er seine Frau kennen gelernt hat. Die
Geheimpolizei klopfte an die Tür, als Osip gerade auf dem Klo war, niedergeschlagen, den Rücken durchgedrückt und den Kopf in den Nacken gelegt. Er saß schon seit vierzehn Minuten auf dem Klo und versuchte zu scheißen. Als er hörte, wie die Geheimpolizei kam, wischte er sich schnell ab, obwohl er selbst in solcher Eile noch die Zeit fand, den Fleck auf dem Klopapier zu begutachten und daran zu rie‐ chen, bevor er es runterspülte. Ossip wurde verhaftet, weil er ein Gedicht geschrieben hatte, in dem er Josef Stalin folgendermaßen beschrieben hatte: Seine wulstigen Finger, wie die Würmer so feist, seine Worte so schwer wie ein Wahrheitsbeweis, überm Mund hockt als schäbiges Grinsen der Schnauz, seine Stiefel brillieren wie Spiegel – uns grautʹs.
Aber sie verhafteten Ossip nicht nur, um hässlich zu ihm zu sein. Sie wollten auch wissen, wer das Gedicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie wollten wissen, was die Leute davon gehalten hatten. Ossip wird übereinstimmend als Held betrachtet. Er war ja auch ein Held. Ich möchte nicht, dass ihr glaubt, ich würde da anders denken. Wenn Ossip Namen genannt hätte, wären die Leute, die er benannt hätte, selbstverständlich ebenfalls in Schwierigkeiten geraten. Da hat Ossip der Polizei doch sicher keine Namen genannt, oder? Er wird sie doch nicht verraten haben? Er hat sie verraten. F: Als diese Schmähschrift geschrieben wurde, wem ha‐
ben Sie sie vorgelesen und wem haben Sie handschriftliche Kopien gegeben? A: Vorgelesen habe ich sie: (1) meiner Frau; (2) ihrem Bruder Jewgenij Kasin, einem Kinderbuchautor; (3) meinem Bruder Alexander; (4) der Freundin meiner Frau, Emma Gerstein, die beim Zentralrat der Gewerkschaften arbeitet; (5) Boris Kusin vom Zoologischen Museum; (6) dem Lyriker Wladimir Narbut; (7) der jungen Schauspielerin Maria Petrowitsch; (8) der Dichterin Anna Achmatowa und (9) ihrem Sohn Lew Gumiljow. Ich weiß, dass er Angst vor der möglichen Folter hatte. Das weiß ich. Vielleicht gab es sogar nicht protokollierte Unterbrechungen dieses Verhörs. Aber seht euch Ossip an. Seht euch an, wie er noch zusätzliche Hilfen gibt – »die Freundin meiner Frau, Emma Gerstein, die beim Zentralrat der Gewerkschaften arbeitet«. Dieses Detail am Rande be‐ schäftigt mich hier. Er hatte zwar Angst vor der Folter, aber zugleich wollte er noch einen guten Eindruck machen. Ich will Ossip hier nichts vorwerfen. Ehrlich, ich mag ihn. Und weil ich ihn mag, möchte ich ihn nicht zu sehr idealisieren. Hätte ich in der Ljubjanka gesessen und wäre von Stalins Geheimpolizei verhört worden, hätte ich einfach alles verraten. Ich hätte auch Angst vor der Folter gehabt. Ich schätze, ich hätte noch viel mehr verraten als er. Wie Ossip möchte ich es immer allen recht machen. Das will jeder. Und genau das ist Untreue. Es ist der egoistische Drang, es mehr als einem Menschen recht zu machen. Untreue ist etwas ganz Natürliches. 1
19 Aber warum war Nana eifersüchtig? War sie auf Anjali ei‐ fersüchtig oder auf Moshe ? Sie war auf Anjali mit Moshe eifersüchtig. Sie war eifer‐ süchtig auf Anjalis sexuelles Können. Anjali, hatte Nana bemerkt, war sogar noch schneller als Moshe gekommen. Das machte Nana traurig. Anjali war der Traum jedes Jun‐ gen. Nicht nur das, sie war auch der Traum jedes Mädchens. Anjali war simpatico. »Das war gut war wirklich gut was?«, fragte Nana Anjali. »War toll, nee, ja, war wirklich wirklich gut«, sagte die ver‐ wirrte und verstimmte Anjali. »Ich glaub, so bin ich schon ewig nicht mehr gekommen. Es war einfach. Mir kribbelts überall. Nicht nur meine Möse, sondern der ganze Körper, ja?«, sagte sie. »Bin ich ja froh«, sagte Nana. »Hört sich toll an«, sagte sie. Arme Nana. Sie hasste Sex. Sie hasste den Wettbewerbs‐ charakter daran. Sie war froh, dass Moshe und Anjali ihren Spaß gehabt hatten. Sie war nicht sauer auf sie. Sie war sau‐ er auf den Sex. Sie wünschte, es gäbe keinen Sex mehr. Sie wünschte einfach, Moshe würde sie in den Arm nehmen. Stattdessen lag er auf dem Fußboden und machte ein glück‐ liches Gesicht. Anjali stand auf und suchte nach Papiertaschentüchern. Auf dem Boden neben dem Bett waren ein paar Kleenex. Sie krümmte die Beine und wischte sich ab, an ihren Schenkeln rauf bis zum Schamhaar. Sie brauchte ein Kleenex auf und zog ein weiteres heraus. Dann legte sich Moshe zu Nana ins Bett. Die saubere, trockene Anjali legte sich dazu. Sie rückten zusammen, zufrieden.
Eigentlich war nur Moshe zufrieden. Und selbst Moshe war nervös. Er dachte nervös daran, was als Nächstes passieren würde – wie genau zukünftige Kapriolen aussehen würden. Einmal bieten sie es dir an, dachte er, aber nur um dich bei Laune zu halten. Einmal machst du es, und nachher las‐ sen sie dich dann immer nur zusehen. Versteht ihr, Moshe war kein Dummkopf. Er brauchte weitere positive Signale.
2O Im August 2000 hörte die italienische Polizei mehrere auf Arabisch geführte Telefongespräche zwischen Al‐Kaida‐ Mitgliedern ab. Ein mutmaßliches Al‐Kaida‐Mitglied aus dem Jemen, ein Mann namens Abdulrahman, sagte zu einem in Italien lebenden Ägypter, dass er »Flugzeuge studiere«. Dann fügte er hinzu: »So Gott will, kann ich dir, hoffe ich, ein Fenster oder ein Stück von einem Flugzeug mitbringen, wenn wir uns das nächste Mal treffen.« Der italienischen Übersetzung aus dem Arabischen zufolge sagte er weiter: »Wir müssen sie nur schlagen und erhobenen Hauptes sein. Denk immer daran: die Gefahr auf den Flughäfen.« Gar nicht so einfach, Hinweise zu deuten. Auf die USA bezogen sagte Mr Abdulrahman: »Wir hei‐ raten Amerikanerinnen, die dann als Konsequenz den Ko‐ ran studieren. Sie fühlen sich wie Löwen, als Weltmacht; aber wir werden ihnen diesen Dienst erweisen, und dann wird man die Furcht sehen.« Außerdem sagte er: »Es ziehen
große Wolken am Himmel auf in dem Land, in dem das Feuer gelegt worden ist und nur auf den Sturm wartet.« Die italienische Polizei hatte zu ihrer Verteidigung zu sa‐ gen, dass solche Bilder oft das Gegenteil von dem bedeuten, was sie auszudrücken scheinen. Und ich habe viel Ver‐ ständnis für diese Carabinieri. Mr Abdulrahman klingt wirklich nicht wie ein internationaler Terrorist. Er klingt wie ein Alkoholiker. Er klingt wie meine Freunde, wenn sie viele Drogen genommen haben. Es ist nicht einfach, Hinweise zu deuten. Im Nachhinein ist alles immer so viel offensichtlicher.
8 Eine Romanze
1 Am Wochenende nach diesem allerersten Dreier war Moshe nervös. Er wollte wissen, was als Nächstes bevor‐ stand. Er wollte in Erfahrung bringen, welche sexuellen Freuden ihn erwarteten. Aber was als Nächstes kam, war kein Sex, so bedauerlich es für Moshe war. Es waren keine sexuellen Freuden. Eigentlich war es sogar das Fehlen jegli‐ cher Form von Sex. Nana fuhr in Urlaub. Sie fuhr für zehn Tage mit Papa weg. Ich weiß, jetzt ist nicht der beste Augenblick, um abzu‐ schweifen. Aber ich kann mir die Abschweifungen nicht immer aussuchen. Manche davon sind unvermeidbar. Und diese Ferien waren unvermeidbar. Nana und Papa hatten ihre Ferien im September, wie ihr euch vielleicht erinnert, schon zurzeit des Einkaufsbummels auf der Saville Row in Kapitel 4 gebucht. Das war Papas Geschenk für Nana, weil sie ihren Magister gemacht hatte. Papa hatte zwei Billigflü‐ ge nach Venedig gebucht. Das war Nanas Traumurlaub. Sie flogen nach Venedig, und in der Mitte ihres Venedig‐Ur‐
aubs würden sie eine Pilgerfahrt in ein rumänisches Städt‐ chen unternehmen. Es würde Spaß machen, Mitteleuropa per Zug zu bereisen. Denn obwohl Papa eigentlich Beni‐ orm oder Torremolinos lieber gewesen wäre, wollte Nana einen Kultururlaub. So war Nana eben. So etwas gefiel ihr. Ich kann es nicht ändern.
2 Ich weiß nicht, wie eure Vorstellungen von Urlaub aus‐ sehen. Vielleicht ist Mykonos der einzige Ort, an dem ihr je Urlaub gemacht habt. Vielleicht besteht eure Vorstellung von Urlaub darin, eine kleine Wohnung mit einem Couch‐ tisch aus Korb und einer Sammlung von Heftchenromanen zu mieten und Sex mit mindestens einem jungen pro Tag zu haben. Oder vielleicht ist ein Wintersportort das einzige Ziel, das für euch in Frage kommt. Wenn ihr nicht den gan‐ zen Tag Ski fahren und zum Mittag ein schnelles Thun‐ fischsandwich auf der Piste verdrücken könnt, ist ein Ur‐ laub kein Urlaub. Die Leute sind komisch, was ihren Urlaub angeht. Jeder hat seine eigene Auffassung von einem perfekten Urlaub. Und ich möchte nicht, dass eure Auffassung vom perfekten Urlaub eure Einstellung zu Nana und Papa beeinflusst. Ich kann mir vorstellen, dass euer Traumurlaub anders aussieht. Vielleicht fragt ihr euch deshalb, wie man Nana überhaupt mögen kann. Doch ihr dürft euch durch eure Auffassung nicht Nana und Papa verleiden lassen. Das Entscheidende an Nana und Papa auf Reisen besteht
darin, dass einzig und allein in diesem Abschnitt des Buchs wahre Liebe vorkommt. Es mag euch reizlos und affig er‐ scheinen, es mag so gar nicht wie eure Art von Urlaub aus‐ sehen, aber genau das war Liebe. Es war reiner Altruismus. Und deswegen wird in diesem Kapitel kein Sex mehr kom‐ men. Deswegen gibt es keinen Sex in der Beziehung zwi‐ schen Nana und Papa. Ihr dürft da nichts missverstehen. Nein. In diesem Buch stehen Nana und Papa für die wah‐ re Liebe. Ich möchte, dass ihr das im Kopf behaltet. Die Überschrift dieses Kapitels ist also stimmig und auch wieder nicht. Wenn eine Liebesgeschichte für euch immer auch eine sexuelle Seite hat, dann ist der Titel kein zutreffender Titel. Aber wenn eine Liebesgeschichte reine Liebe bedeutet, dann stimmt er.
3 In Venedig stolperten die beiden aus einem schwankenden Wassertaxi am Arsenale und gingen am Kai entlang zum Hotel Bucintoro. Nana hatte das Hotel auf der Website von Time Out ausgesucht. Es war klein und hatte eine ockerfar‐ bene Fassade und Zimmer mit Blick auf die Lagune. Hier hatte auch der Maler James McNeill Whistler Ende des neunzehnten Jahrhunderts gewohnt. Das sprach die bil‐ dungshungrige Nana an. Sie checkten ein und liefen dann über den rot und grün geblümten Teppich zu ihrem Zimmer. Nana setzte sich auf eines der Betten und zog sich ihre Sandalen aus, während Papa als Silhouette am Fenster stand. Er lehnte sich zufrie‐ den an den Fensterrahmen. Und Nana ging zu ihm hinüber.
Am Fenster stand ein großer Ventilator. Nana stellte ihn ab. Sie stand neben Papa und legte den Kopf an den Rahmen neben ihm, in schöner Symmetrie. Nanas nackte Füße froren auf dem billigen Terrazzoboden, einer Aspikterrine aus grauen und schwarzen Steinsplittern. Sie registrierte die Pinselspuren im Anstrich des Fensterrahmens, die einge‐ schlossenen Borsten im Lack. Sie sahen zu, wie das Wasser heller und dunkler wurde, mehrere Male. Es war wunderschön. Venedig ist wunderschön, wirklich. Manche Leute finden Venedig zu schön, was immer das heißen soll, und manche Leute finden die Stadt überhaupt nicht schön, sondern sind der Meinung, die Leute würden nur sagen, Venedig sei schön, weil es alt ist, und lägen damit völlig daneben. Venedig ist wunderschön. »Es ist wuuunderschön«, sagte Nana, »wirklich wuun– derschön.« Papa fragte, »Und was ist das da?« Sie sagte: »Das, das ist der Dogenpalast. Das ist das Zollhaus.« »Uh– huh«, sagte Papa. »Und ist das schön?« »Nein«, sagte Nana. »Das ist nicht schön. Na ja, es ist okay. Es ist o–keeeee. Es ist nicht hässlich.« »Und was ist mit dem da, was ist das?«, fragte Papa. »Das ist die Kirche, das ist Salute«, sagte Nana. »Sie ist wunderschön«, sagte Papa. »Nein, ist sie nicht«, sagte Nana. »Die ist definitiv nicht schön.« »Warum nicht?«, fragte Papa. »Ist sie eben nicht«, sagte Nana. »Aber wieso nicht?«, fragte Papa. »Du darfst mich ins Florian einladen«, sagte Nana, »und dafür erkläre ich dir dann, was schön ist.« Dann gab sie ihm einen Kuss. »Ich will eine heiße Schokolade«, sagte sie. Als sie die Treppe hinab ins Foyer gingen, vernahmen sie
die unverkennbaren Geräusche einer Urlauberin, die einen Orgasmus vortäuschte oder erreichte. Sie ignorierten beide, was sie hörten.
4 Falls ihr immer noch Bedenken habt – das bleibt der einzige Moment, in dem sich in dieses Kapitel Sex einschleicht. In diesem Kapitel kommt kein Sex vor. In diesem Kapitel ist Nana am glücklichsten. Manchmal glaube ich, dieses Buch ist eine Breitseite gegen den Sex. Manchmal denke ich, dass es prüde ist. Das könnte sein. Und wenn das stimmt, werden einige Leute, vielleicht sogar viele Leute, das nicht gutheißen. Sie werden finden, dass Prüderie unentschuldbar ist. Aber ich finde Prüderie nicht unentschuldbar. Wirklich nicht.
5 Caffé Florian ist ein Cafe am Markusplatz in Venedig. Es ist ein sehr altes Cafe. Das bedeutet, dass es heute sehr sehr teuer ist. Wenn Moshe dabei gewesen wäre, hätte ihn das aufgeregt. Da kostete ein Kaffee an die fünf Pfund. Da kos‐ tete eine heiße Schokolade an die fünf Pfund. Aber Nana und Papa würden sich über den Preis keine Gedanken machen. Sie waren im Urlaub. Sie liebten den kitschigen Charme des Florian. Entzückt setzten sie sich an ihr siebeneckiges Miniaturtischchen. »Miniatur« drückt
vielleicht unzureichend aus, wie winzig dieses Tischchen war. Es war ein Tisch aus dem achtzehnten Jahrhundert. Konzipiert worden war er unter der Prämisse, dass ein Mensch von 1,60 bereits ein Riese war. Und es sah aus wie irgendwas, dachte die 1,80 große Nana, die in unbequem gefalteter Haltung daran Platz genommen hatte. Es sah aus wie ... aber nein, sie, nein, sie kam nicht darauf. Nana blickte aus dem Fenster auf die mehrfarbigen Kup‐ peln der Kathedrale San Marco. Die Kathedrale San Marco ist das berühmteste Gebäude in Venedig. Und das machte Nana glücklich. Sie war glücklich, dass sie San Marco sehen konnte, während sie an einer heißen Schokolade aus dem achtzehnten Jahrhundert nippte. Sie war so gerne Touristin. Und hier bin ich mit Nana völlig einer Meinung. Ich bin auch begeisterter Tourist. Sie sagte: »Ich liebe diesen Dom einfach.« Sie sagte: »Ich liebe diese schönen Farben.« Sie sagte: »Ich liebe diese Konturen.« Sie goss ein wenig zäh fließende Schokolade aus einem Porzellankännchen, die in feinen Fäden von der Tülle tröpfelte, jeder in einem dicken Klümpchen endend. Sie war dunkler als Schokolade, fast schwarz. »Das ist so cool«, sagte sie. Es sieht aus wie ein Backgammonbrett!, dachte sie er‐ leichtert. Ja, das Tischchen sah aus wie ihr altes Backgam‐ monbrett. Nana war glücklich. Nana schwelgte in Nostalgie. Sie schaute Papa an und erinnerte sich, wie sie, als sie klein war, nach dem Aufstehen schlaftrunken die Treppe hinuntergegangen war. Sie konnte Papa am Telefon hören. Die Terrassentüren hatten offen gestanden. Sie stand mor‐ gens auf, und das Wohnzimmer war kalt und Nana konnte
den Lärm der Autobahn hören, den Anfang der MI in ver‐ schwommener Ferne. Sie war so gerne Touristin. Tourismus war erholsam. Tou‐ rismus war ganz wie zu Hause.
6 Das hier war beispielsweise eines ihrer Gespräche in Vene‐ dig. »Was ist das?«, fragte Papa. »Was?«, fragte Nana. »Das«, sagte Papa. »Das ist achtzehntes Jahrhundert«, sagte Nana. »Tatsächlich?«, sagte Papa. »Jau«, sagte Nana. »Das ist die Architektur des achtzehnten Jahrhunderts.« »Woran er‐ kennst du das?«, fragte Papa misstrauisch. »Weil ich, wegen der, wegen der Ziegel.« »Aber du kannst die Ziegel gar nicht sehen«, machte Papa geltend. »Doch, kann ich«, sagte Nana. »Kannst du nicht«, sagte Papa. »Doch, kann ich«, sagte Nana. »Und die sind achtzehntes Jahrhundert.« »Und was ist mit dem da?«, fragte Papa. »Das ist, das ist der Dogenpalast«, sagte Nana. »Und das ist die Seufzerbrü‐ cke.« »Das ist nicht die Seufzerbrücke«, sagte Papa. »Ich hab die Seufzerbrücke auf einer Postkarte gesehen, und das ist nicht die Seufzerbrücke.« »Stimmt«, sagte Nana. »Stimmt. Du hast Recht. Es ist die Ponte dei Pugni.« »Die was?«, fragte Papa. »Die Ponte dei Pugni«, sagte Nana. »Nie von gehört«, sagte Papa. »Ich habe im Rough Guide darüber gelesen«, sagte Nana. »Architektur, Architek‐ turgeschichte, das ist doch das, was du studierst, oder?, sagte Papa. »Das ist richtig«, sagte Nana. »Das weißt du doch.« »Nehm dich bloß auf den Arm«, grinste Papa.
Er nahm sie nicht bloß auf den Arm. Er wusste es nicht mehr. Aber ich nehme euch auch auf den Arm – wartet es nur ab. Ihr werdet später schon sehen, warum ich euch auf den Arm nehme. Papa und Nana saßen in einer Gondel in der Dunkelheit, tranken Cava demi‐sec aus der Flasche und waren glücklich miteinander.
7 Drei Tage später unterbrachen Nana und Papa ihre Studien der venezianischen Renaissance für eine Reise nach Tärgu Jiu. Tärgu Jiu ist eine kleine Industriestadt im Westen Ru‐ mäniens. Es war von Nana als besonderer Sightseeing–Le‐ ckerbissen gedacht. Nana war keine konventionelle Touristin. Im Bahnhof von Venedig nannte ihnen ein Mann an ei‐ nem Fahrkartenschalter die Zugverbindungen von Venedig nach Budapest. Das machte er, indem er die Zeiten aus ei‐ nem Raster ablas und dabei ein Lineal benutzte, das mit den Sehenswürdigkeiten der Türkei bedruckt war. Von Budapest würden sie dann einen Zug nach Craiova in Rumänien nehmen, und von Craiova nach Tärgu Jiu. Aber warum war diese unaussprechbare rumänische Stadt Nanas besonderer Sightseeing–Leckerbissen? Weil sich in Tärgu Jiu drei Statuen von Brancusi befinden. Und wer ist Brancusi? Brancusi war ein Bildhauer, Anfang des zwanzigsten Jahr‐ hunderts. Er war Rumäne, lebte aber in Paris. In Rumänien wird Brancusi »Brankusch« ausgesprochen. Aber ich glau‐
be, das ist egal. Ihn »Brankusch« zu nennen, ist ziemlich affektiert. In diesem Buch könnt ihr ihn so aussprechen, wie er sich schreibt: »Brankuuusi«. Das hier wird ziemlich kulturell, ich weiß. Aber Kultur‐ tourismus ist nun mal untrennbar mit Kultur verbunden. Da kann ich nichts machen. Hätten sich Nana und Papa Benidorm ausgesucht, dann hätte ich selbstverständlich hier nicht Brancusi ins Spiel bringen müssen. Aber sie sind nicht in Benidorm. Sie sind soeben in Târgu Jiu, einer klei‐ nen Industriestadt im Westen Rumäniens, angekommen. Na ja, und so kulturell wird es auch wieder nicht. Bran‐ cusi war ein Bildhauer aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Er war Nanas Lieblingsbildhauer. Er sollte Gegenstand ihrer geplanten Doktorarbeit sein. Mehr müsst ihr nicht wissen. Die Vorderseiten der Kioske am Bahnhof von Tärgu Jiu waren Collagen aus Werbeaufklebern. Da war Werbung für Wrigleyʹs Spearmint und für Snickers. Auch die Werbung für Marathon‐Riegel hing noch da, obwohl Marathon‐Rie‐ gel, dachte Nana, schon seit mindestens zehn Jahren vom Markt waren. Die Luft tat Nanas Haut weh. Es tat weh zu atmen. Wie ich schon sagte, war dies eine kleine Industrie‐ stadt. Ihr Kleid klebte ihr am Körper. Papa schritt die Reihe der Taxis und Taxifahrer vor dem Bahnhof ab. Er fragte nach dem Hotel Europa. Ein Fahrer lächelte. Über dem Fahrersitz hing wie ein Poncho ein Arrange‐ ment verblasster, bunter Perlen, und an der Rückseite war mit Klebeband ein filzstiftbeschriebener Zettel mit einge‐ streuten Großbuchstaben befestigt, der die Kinder des Fah‐ rers und sein unendliches Vertrauen in Gott betraf. Von sei‐ nem Gott hatte er ein holografisches Porträt. Nana blickte
aus dem verschmierten Fenster. Eine halbe Stunde später und zwanzig Pfund ärmer erreichten sie das Hotel Europa. Dieses Hotel lag an einer Hauptstraße, mit ein paar Cola‐ Sonnenschirmen auf einer schmalen Betonterrasse. Papa dankte dem Fahrer, als er sich umdrehte, während er den Koffer aus dem Kofferraum zerrte, und sah die Reklame für Spearmint und Snickers in einem Winkel von dreißig Grad auf der anderen Seite der Bahnhofsstraße. Papa versuchte, kein niedergeschlagenes Gesicht zu ma‐ chen. Er versuchte, nicht wütend zu sein. In der dunklen Lobby des postkommunistischen Hotel Europa sprach Papa, als er seine Fassung wiedergewann, Französisch. Er über‐ reichte ihre Reisepässe. Er führte Nana durch die leeren Flure. Irgendwo war ein Mopp mit dem Stiel in eine Tür geklemmt. Er fand ihr Zimmer im siebten Stock des leeren Hotels. Die Tapeten hatten Blumenmuster. Es waren kar‐ mesinrote Rosen, umschlossen von grünen Blättern. Sie stellten ihr Gepäck ab und gingen wieder. Nana und Papa gingen an der Manhattan Martini‐Bar vorbei, die rund um die Uhr Cocktail‐Hour hatte. Sie er‐ reichten den zentralen Platz. Auf dem Platz übertrugen vier Lautsprecher den lokalen Radiosender. Und Papa und Nana stolzierten auf und ab, verängstigt. Sie suchten nach dem Park. Jetzt kommt der kulturelle Teil. 1935 gab die Vorsitzende des Nationalen Frauenverbandes Rumäniens, die zufällig die Ehefrau des rumänischen Ministerpräsidenten war, ein Kriegerdenkmal bei dem berühmten rumänischen Bildhau‐ er Brancusi in Auftrag. Dieses Denkmal sollte in Târgu Jiu errichtet werden. Brancusi entwarf für dieses Denkmal ein »Tor des Kusses«, einen »Tisch des Schweigens« und eine
»Endlose Säule«. Brancusi war ein Bildhauer mit festem Repertoire. Er wiederholte sich. Er wiederholte sich mit Abänderungen. Brancusis »Tor des Kusses« stand im Stadtpark von Târgu Jiu. Das Tor sah wie ein Dolmen aus. Ein Dolmen besteht aus zwei aufrecht stehenden Steinen, auf denen ein dritter balanciert. Auch der »Tisch des Schweigens« stand in dem Park. Das war ein großer Stein, zwei Meter im Durch‐ messer, mit zwölf steinernen Stühlen. Zwölf war symbo‐ lisch. Es war die Anzahl der Monate eines Jahres und zu‐ gleich die Zahl der Gäste bei einer traditionellen rumä‐ nischen Beerdigung. Nana blieb bei dem »Tisch des Schweigens« stehen. Wenn sie am Tisch stehend zurückblickte, befand sich das »Tor des Kusses« am anderen Ende des Parks. Darunter küssten sich ein Mädchen und ein Junge. Das Haar des Jungen war seitlich gescheitelt und glänzte. Und als sich Nana um‐ drehte, war da ein stiller See mit öligem Wasser. Sie war nur ein ganz klein wenig ängstlich. Dies war ein Abenteuer, und sie liebte Abenteuer. Es war bloß, dass es langsam dunkel wurde. Und sie wollte den letzten Brancusi sehen, bevor es dunkel war. So erreichten Nana und Papa, nachdem sie an einer Bude eilig einen Hot Dog gemampft hatten, das letzte Objekt, Brancusis »Endlose Säule«, neunundzwanzig Meter hoch. Während sie dorthin gingen, erzählte Nana Papa alles über Brancusis selbst gedrehten Film über die Säule, den er gedreht hatte, als er sie in Tärgu Jiu aufstellte. Er hielt fest, erzählte Nana, wie die Wolken und das Licht die Form der Säule veränderten. Sie schienen deren Form zu verändern, erklärte sie, weil die Säule ein geriffelter Mast mit zahllosen
Einbuchtungen war. Aber als sie an der Säule ankamen, sah sie doch sehr an‐ ders aus. Die »Endlose Säule« schwankte zwischen zwei Baugerüsten. Der Kran neben ihr war höher. Sie stand auf einem Spielplatz neben einer Vorstadtstraße. Und das alles machte Nana traurig. Sie versuchte sich vorzustellen, die Gerüste wären nicht da. Es ist traurig, aber manchmal ist selbst Tourismus nicht erholsam. Papa sagte: »Nein, doch, mir gefällt das. Ich kann verste‐ hen, was das mit Architektur zu tun hat. Ich meine ich. Ich.« Er wollte nett sein. Und Nana: »Brancusi sagte, Ar‐ chitektur sei lediglich bewohnte Skulptur.« »Ja, natürlich«, sagte Papa. »Das kannst du erkennen?«, fragte Nana. »Na‐ türlich, Herzchen«, sagte Papa. »Er plante seine Werke wie ein Architekt«, sagte Nana. »Mhmmmm«, sagte Papa. »Das ist Architektur«, sagte Nana. »Es ist so geplant, dass man dadurch diese Kirche da sehen kann.« Es stimmte. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man in der Dämmerung eine kleine bronzefarbene Kuppel sehen. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Papa. »Doch, im Ernst.« Sie gingen zurück zum Hotel Europa. Papa ging in das winzige Badezimmer und schloss ab. Weil ihm die Geräusche, die er machte, peinlich waren, drehte er den Heißwasserhahn in der Badewanne auf, wäh‐ rend er pisste. Dann drehte er das Kalte auch auf, steckte die Hände durchs Wasser und drückte den nicht passenden Gummistöpsel rein. Er setzte sich auf den Klodeckel. Er stand auf und zog sich mit den Absätzen die Schuhe aus. Dann starrte er in den schmierigen Spiegel. Er hatte Kopf‐ schmerzen.
8 Für die letzten vier Tage kehrten Nana und Papa nach Ve‐ nedig zurück. Das war nun Papas Teil der Ferien. Es war sein kulturfreier Teil. Für die letzten vier Tage würden beide nur dasitzen und essen und trinken. Sie würden Kunst keines Blickes würdigen. Sie würden Architektur keines Blickes würdigen. Papa und Nana schlenderten auf der Suche nach Bars herum. Die Plätze, über die sie kamen, waren nahezu men‐ schenleer. Von Zeit zu Zeit kam ein verspäteter Bote auf ei‐ nem Waterbike vorbei. Avocados wurden kistenweise auf Gondeln verladen, überwacht von einem Mann mit einer Liste, die er mit Kuli auf die Rückseite eines Lieferscheins geschrieben hatte. An einem Büro stand ein Fenster offen, und eine Frau, die vor dem malvenfarben fluoreszierenden Gehäuse eines Apple iMac saß, hatte sich vom Bildschirm abgewandt und betrachtete Nana und Papa nachdenklich, als sie vorbeigingen. Dies ist eine Idylle. Dieses ganze Kapitel ist ein Idyll. Zum Beispiel hatte Nana Papa in der Bar Paradiso Perduto gerade beigebracht, wie man einen Joint rollte und rauchte. Sie machte ihn mit Marihuana bekannt, weil sie sich Sorgen wegen seiner Kopfschmerzen machte. Sie dachte, Hasch sei vielleicht gut dagegen. So idyllisch war es. Nana sagte: »Erinnerst du dich noch an dieses Restron, das, das, M51 Old Dutch hieß es, wohin du mich immer nach dem Zahnarzt mitgenommen hast.« Sie sagte: »Ich verstehe nicht, wieso Pfannkuchen. Und überhaupt. Jetzt leck dran. Leck an dem Papier. Jaa. Und die Pfannkuchen waren viel viel größer als die Teller, und die Teller waren schon riesig.«
Papa sagte: »Das war, als du Vegetarierin warst, deswegen bin ich auch Vegetarier geworden.« Das war es, was sie liebte, dachte Nana. Sie liebte es, an früher zu denken. Sie sagte: »Das war ein cooler Laden.« Dann gab es eine Pause. Es ist schwierig, eine Pause wie‐ derzugeben. Wiedergeben kann man sie nur durch das, was gleichzeitig geschieht. Diese Pause zum Beispiel war lang genug, dass Nana Papa dabei zusehen konnte, wie er von einem Streichholzbriefchen aus dem Paradiso Perduto ein Stückchen Pappe abriss, es als Filter hineinzuschieben ver‐ suchte und dann in zwei Hälften riss, um es schmaler zu machen. Sie sagte: »Ich überlege, ich könnte.« Sie sagte: »Ich hatte mir überlegt, ich könnte vielleicht mit Moshe zusam‐ menziehen. « Sie wollte mit Moshe zusammenziehen? Sie wollte mit Moshe zusammenziehen? Es stimmte. Sie war zu einem Entschluss gekommen. Ich habe euch das vorenthalten, damit ihr genauso überrascht sein könnt. Ihr könnt eure eigene Reaktion mit der von Papa vergleichen. Papas Reaktion war Freude. Er freute sich. Er freute sich total für Nana. Jetzt war Papa natürlich nicht Zeuge eines Dreiers gewe‐ sen. Er kannte nicht alle Fakten. Er wusste nichts von Nana und Anjali. Er wusste zum Beispiel nicht, dass Nana ange‐ fangen hatte, Gefallen an der Formulierung »ménage á trois« zu finden. Zur Feier von Nanas Glück zündete Papa, der gütige En‐ gel in dieser Geschichte, seinen fetten und schlecht ge‐ drehten Joint an und nahm einen tiefen Zug.
9 Früher, als Nana noch jung genug für richtige Weihnachten gewesen war, setzte sich Papa am Heiligabend immer zu ihr auf die Bettkante und las ihr vor. Er las ihr Als der Nikolaus kam vor. Das war ein Gedicht. Aus diesem Gedicht erfuhr Nana, welche Vorbereitungen in Lappland getroffen wurden, ehe der Nikolaus auf seine Reise ans Ende der Nacht ging, um die Geschenke auszuliefern. Nana wusste über jedes Rentier Bescheid. Sie kannte ihre Namen. Als sie älter war, konnte sie sich nur noch an Rudolph erinnern – und Dasher und Prancer und Donna und Blitzen. Es gab zwar noch mehr Rentiere, aber das waren die, an die sie sich erinnerte. Wenn Papa das Gedicht vorlas, wirkte er sehr ernst. Es war nicht bloß eine Geschichte. Er wirkte sehr engagiert und feierlich. Und Nana liebte Papas Ernsthaftigkeit. Die fand sie auch ganz angebracht. Es war die ernsthafteste Sache überhaupt – wie der Nikolaus zu Nana kommen wollte. Das war Nanas Lieblingserinnerung. Sie liebte Papas Vorlesestimme.
9 Verwicklung
1 Die ménage á trois steht traditionell für unkonventionellen Sex. Paare können obszön sein, das ist wahr, aber letztend‐ lich sind sie nur Paare. Sie sind immer noch gewöhnlich. Die ménage á trois hingegen ist Boheme. Sie kann gar nicht anders als unkonventionell sein. Falls ihr für diese unstrittige Tatsache noch Beweise braucht, seht euch den Film Cabaret an. Cabaret, in den frü‐ hen Siebzigern in New York produziert, hat so einen trashi‐ gen Glam‐Rock‐Glamour. Im Berlin der frühen Dreißiger angesiedelt, erzählt der Film die Geschichte der amerikani‐ schen Cabaret‐Sängerin Sally (gespielt von der jungen Liza Minelli) und eines englischen Schriftstellers namens Brian. Sally und Brian sind Freundin und Freund. Dann lernen sie Maximilian kennen. Maximilian ist ein deutscher Adliger. Ihr könnt euch vorstellen, was passiert. Sally verliebt sich in Maximilian. Auch Brian verliebt sich in Maximilian. Ma‐ ximilian verliebt sich in beide. Der Dreier ist das Echtheitszertifikat eines Glam‐Rock‐ Plots. Ohne ménage á trois wäre es nicht unkonventionell.
Das berühmteste Zitat aus dem Film ist beispielsweise: »Twosy beats onesy, but nothing beats three.« Der Text wird von dem geschminkten Conferencier des Kit Kat Club mit anzüglichem Grinsen gesungen, im Abendanzug, flankiert von zwei drallen Frauen. Der Dreier ist von einer virulenten Sexualität. Er ist Weimarer–Republik–Dekadenz. Er ist der personifizierte Sex. Das weiß ich alles. Ich weiß, dass viele Menschen so über die ménage á trois denken, wenn sie überhaupt darüber nachdenken. Ich finde diese Sicht der ménage einfach unge‐ nau. Sie unterschlägt so viele Details. Es war Herbst. Wie sie Papa angekündigt hatte, zog Nana mit Moshe zusammen. Sie begann ein neues Semester bei der Architectural Association und wollte mit ihrer Doktor‐ arbeit in Architekturtheorie anfangen. Für Moshe kam das Ende seines Engagements als Slobodan Milosevic in Ri‐ chard Norton–Taylors Stück Peacekeeping Force im Tricycle Theatre in Kilburn. Anjali erfüllte ihren Jahresvertrag für johnsonʹs Babypuder–Spots. Anjali zog auch irgendwie bei Moshe ein. Sie ließ sich einen Schlüssel machen. So schwirrte sie rein und raus. Sie übernachtete jedes Wochen‐ ende dort. Ich hoffe, ihr seid nun zufrieden. Ich hoffe, die Wohn–und Lebensverhältnisse sind euch nun klar. Sie waren eine zeitgenössische ménage á trois. Sie waren definitiv eine ménage á trois. Es war nicht zu leugnen. Sie hatten Sex zu zweit und zu dritt.
2 Aber eine ménage ist nicht nur eine sexuelle Sache. Sie ist nicht nur eine Sache der Weimarer‐Republik‐Dekadenz. Wie alles andere hat sie auch familiäre Seiten. Natürlich, Nana und Anjali und Moshe trieben verdorbene Sexspiel‐ chen, aber die drei gingen auch gemeinsam schwimmen. Je‐ den Samstagmorgen gingen Moshe und seine beiden Freun‐ dinnen im Oasis Pool in High Holborn schwimmen. Und ich möchte sie beim Schwimmen beobachten. Ich möchte besonders Moshe im Schwimmbecken beobachten. Schwimmen war für Moshe meistens ein reines Vergnü‐ gen. Doch es gab kleinere Komplikationen. Einige davon waren nebensächlich, eine war es nicht. Es waren folgende kleine Komplikationen: Er ärgerte sich über die getrennten Umkleideräume. Ge‐ schlechtertrennung fand er unfair. Er war ein bisschen eifer‐ süchtig. Während er seine hüfttief geschnittenen H&M‐ Jeans auszog, wobei er seine Füße trocken hielt, indem er sich auf seine Strümpfe und Schuhe stellte, hatte er nicht die geringste Ahnung, was in der Mädchenumkleide vor sich ging. Missmutig starrte Moshe auf die Penisse anderer Männer. Sie gefielen ihm nicht. Er mochte nur Brüste. Verstohlen, ohne schwul zu wirken, tat er so, als würde er sich mit einem blauen Wattebällchen Ohrenschmalz ent‐ fernen, und verglich seinen Penis mit den anderen Penissen. Er schien ihm so weit in Ordnung zu sein. Er fand ihn nicht ausgesprochen spektakulär, aber in Ordnung. Moshe stieg in seine navyblaue Adidas‐Badehose, tauchte seine Füße in dickflüssiges Desinfektionsmittel und ging nach draußen zum Becken. Er kletterte hinein, sich tapfer
an der Einstiegsleiter aus rostfreiem Stahl festhaltend. Das Becken war an seiner tiefsten Stelle drei Meter tief. Das machte Moshe ein bisschen Angst. Er kannte seine Größe nicht genau, er kannte seine Größe nicht in Metern, aber er schätzte, dass drei Meter etwa doppelt so viel waren. Es musste mindestens doppelt so tief sein, wie er groß war. Moshe sah sich um und entdeckte einen weißen Korb, der biegsame Schwimmnudeln aus Schaumgummi, bonbonfarben gestreifte Schwimmbretter und orange, aufblasbare Armflügelchen enthielt. Er fragte sich, ob es möglich wäre, diese Vielzahl von Schwimmnudeln, ‐brettern und ‐flügeln einzusetzen. Er entschied sich dage‐ gen. Es könnte ja Gott weiß wer reinkommen. Es könnte ja ein hübsches sechzehnjähriges Mädchen reinkommen. Und wenn ein hübsches sechzehnjähriges Mädchen zu ihm ins Becken kam, wollte Moshe sich nicht gerade an eine blau‐ weiß gestreifte Schwimmnudel klammern. Moshe verzog sich ins flachere Ende, den Eingang zur Mädchenumkleide im Blick. Er dachte an die Streiche, die sie ihm spielten. An einem Morgen hatten Nana und Anjali Moshe mit Schwimmflügeln ausgerüstet und ihn gezogen. Oder Nana und Anjali schwammen weg und küssten sich wassertretend im tieferen Teil. Nana und Anjali schwam‐ men viel besser als Moshe. Sie zogen ihn auf. Er stellte sich vor, wie sie sich bei der Dusche vorm Schwimmen gegen‐ seitig die Titten einseiften wie in einem Pornofilm. Davon bekam er eine Erektion in seiner engen Badehose und wusste nicht, wohin damit. Also stand er da, die Ellbogen auf die glitschigen, unebenen Kacheln gestützt, und machte ein nonchalantes und nachdenkliches Gesicht. Und er war auch nachdenklich. Er dachte an den anschließenden Kaffee
in seinem Lieblingscafé, dem Mustard Seed in Finsbury. Im Mustard Seed konnte Moshe dann Vaseline auf die chlorgeschädigten wunden Stellen und sich abschälende Haut des Ekzems an seinen Fingern schmieren. Das Mustard Seed war sein Erholungsheim, hierhin konnte er sich von der Hektik der Großstadt zurückziehen.
3 Während er wartet, dass seine Erektion abklingt, und an Cappuccino denkt, wollen wir uns Moshe näher ansehen. Wir haben uns alle kleineren Komplikationen angesehen, die Moshe seine Pflichten erschwerten. Betrachten wir nun einmal sein erotisches Naturell. Sein erotisches Naturell war die Hauptkomplikation. Es ist nämlich so, dass Moshe kein Don‐Juan‐Typ war. Wäre er der Don‐Juan‐Typ gewesen, hätte er seine derzeiti‐ ge sexuelle Situation als große Eroberung betrachtet. Zwei Mädchen auf einmal hätte er als sexuellen Triumph auf‐ gefasst. Aber Moshe sah das nicht so. Und ich kann das ver‐ stehen. Ich bin auch kein Don‐Juan‐Typ. Moshe war moralisch. Er liebte Nana. Er empfand keu‐ sche Liebe zu ihr. Und diese keusche Liebe brachte es mit sich, dass er sie nicht wirklich genießen konnte, die ménage á trois. In dem Glam‐Film Cabaret gibt es einen Streit zwischen Sally und Brian, dem ursprünglichen Paar. Brian schreit: »Oh, fick Maximilian!«, worauf Sally antwortet: »Das tue ich.« Und dann sagt Brian nach einer kleinen Pause leise: »Ich auch.«
Ich liebe diesen kleinen Gesprächsfetzen sehr. Er fasst hübsch die einer ménage á trois zugrunde liegenden Bezie‐ hungen zusammen. Die ménage, fand Moshe gerade heraus, basierte auf gegenseitiger Untreue. Ein Dreier machte drei verschiedene Paare. Und eins dieser Paare waren Anjali und Moshe. Das machte Moshe nicht besonders glücklich. Es machte ihm Spaß, der ganze Sex mit Anjali machte ihm Spaß. Er war sich nur nicht schlüssig, ob er ihn guthieß. Es war letztendlich Untreue. Moshe war kein Don Juan. Er war nicht cool. Er war ein Romantiker. Also meine Definition von einem Romantiker ist die: Ein Romantiker ist ein Mensch, der aus einer Liebes‐ affäre immer zugleich auch eine moralische Affäre machen muss. Und Moshe glaubte nicht, dass eine ménage á trois moralisch einwandfrei war. Moshe war zu nett für eine ménage á trois. ›
4 Jedenfalls kann man zwei Dinge zugleich empfinden. Ihm war nicht ganz wohl dabei, und dieses Gefühl ist wichtig» Aber Moshe war auch nur ein Mensch. Neben der Tatsache, dass ihm nicht wohl dabei war, wusste er auch die of‐ fensichtlichen Vorteile zu schätzen, die es mit sich brachte, wenn man zwei Freundinnen hatte. So gab sich die ménage im Cally Pool normalerweise fami‐ liär. Normalerweise waren es ein paar belebende Bahnen das Becken rauf und runter. Doch an diesem bewussten Samstagmorgen war sie ungezogen. Anjalis Bikinioberteil hing offen an ihr herunter. Deswegen brauchten Anjali und
Nana so lange. Sie kamen kichernd aus der Umkleide, An‐ jali hielt die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Der Verschluss sei abgebrochen, erklärte sie. Es stimmte tatsäch‐ lich. Als sie zu einem Schwimmzug ansetzte, kamen ihre Brüste zum Vorschein. Es war ein neuer Bikini, erklärte sie Moshe. Sie hatte ihn letzte Woche im Topshop gekauft. Sie hatte ihn einmal getragen, sagte Anjali mit großen Klein‐ mädchenaugen, ohne jede Probleme. Nur jetzt wäre er plötzlich hin. Sie waren ein ungezogener Dreier, und sie improvisierten. Ihr erinnert euch vielleicht – ich mag es, wenn Leute improvisieren. Anjali hielt ihre Arme dicht am Oberkörper, der kunstvoll durch zwei Schwimmflügel verdeckt war. Das ging als Bikinioberteil durch. Aber es löste nicht das Dilemma des schicklichen Morgenschwimmens. Die drei standen ratlos im Nichtschwimmerbecken beim Wasserfil‐ ter. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber das seltsame Gefühl der Enthemmung, das durch ihren nackten Busen geweckt wurde, hatte Anjali gerade auf eine Idee gebracht. Obwohl sie eine meiner Hauptpersonen ist, wollte sie gar kein schickliches Morgenschwimmen. Sie wollte plötzlich schlüpfriges Schwimmen. Sie wollte, dass Moshe im Wasser kam. Also ging Anjali, während Nana hinter ihm stand, im niedrigen Wasser etwas in die Knie und griff sich Moshes Penis in seiner Adidas‐Badehose. Selbst unter dem Gewicht eines ganzen Schwimmbeckens wuchs sein Penis. Er wuchs und wuchs. Und die umsichtige Anjali versprach Moshe, es würde nichts danebengehen. Im kritischen Moment würde sie sich runterbeugen, während Nana ihn so weit aus dem Wasser heben würde, dass sein Penis durch die Wasser‐
oberfläche käme und schon von ihrem Mund erwartet würde. Also wäre alles in Ordnung. In Moshes Augen stand Angst. Man las in ihnen die Angst vor der Polizei. Als Anjali erklärte, dass im Notfall der Wasserfilter alle anderen Beweise beseitigen würde, er‐ starrte Moshe und war verängstigt. Ich halte das für durch‐ aus berechtigt. Sie hatten sich in die Ecke eines öffentlichen Schwimmbeckens gequetscht, einer von ihnen unüberseh‐ bar nur mit einem Paar Schwimmflügel bekleidet. Das war nicht unverdächtig, überlegte Moshe. Es würde dem Bademeister wahrscheinlich nicht verborgen bleiben. Es blieb dem Bademeister nicht verborgen. Er schlenderte herbei, um dieser Gruppe von Nichtschwimmern im fla‐ chen Teil des Beckens, von denen einer Schwimmflügel be‐ nötigte, beizustehen. Der Bademeister war ein großer und ansehnlicher Mann. Alle sechs Bauchmuskelstränge waren deutlich zu erkennen. Er war sehr schön. Er war auffallend gut aussehend. Er vermittelte Moshe das Gefühl, unter‐ ernährt zu sein. Und traurigerweise fanden Anjali, Moshe und Nana nie seinen Namen heraus. Aber ich werde euch den Namen dieses Bademeisters verraten. Sein Name war Ade. Ade sagte: »Hi.« Moshe erwiderte clever: »HL« Er fragte sich, was Ade wohl sehen konnte. Ade konnte genug sehen. Ade sagte: »Alles klar mit denen?« Er sprach von den Schwimmflügeln. »Ja ja ja alles in Ordnung«, sagte Moshe, der sich fragte, was seine Verwandten wohl sagen würden, wenn der Jewish Chronicle die Geschichte aufgriff. Anjali lä‐ chelte Ade an. Nana schaute verlegen weg. Und Ade lä‐ chelte.
Seht ihr, selbst ein Bademeister lässt sich von einem Dreier entzücken. Selbst ein Bademeister betrachtete einen Dreier als den Inbegriff lüsterner Coolness. Er ging davon.
5 Vielleicht erscheint Anjalis Benehmen ungewohnt exhibi‐ tionistisch. Ich verstehe, dass dies vielleicht einer Erklärung bedarf. Die Sache ist die: Anjalis und Moshes sexuelle Begegnungen waren nicht besonders entspannt. Im Rah‐ men der ménage blieben sie immer Freunde, die unerklär‐ lichweise auch Sex miteinander hatten. Sie hatten Sex, weil es von ihnen erwartet wurde. Sie waren ja schließlich zwei Drittel einer ménage á trois. Aber Pflichtsex ist nun mal leidige Pflicht. Pflichtsex ist langweilig. Ich finde das zu schade. In mancherlei Hinsicht ist ein Dreier die ultimative sexuelle Einheit. Er ist die sozialisti‐ sche Sexutopie. Ein Vorteil eines Dreiers besteht darin, dass die sexuellen Verantwortungsbereiche gleichmäßig aufgeteilt werden können. Sexuelle Stellungen können um‐ besetzt werden. Anjali zum Beispiel hatte nie gerne ein Mädchen gebeten, bei ihr einen Dildo zu benutzen. Bei Mädchen hatte Anjali immer das Gefühl, dass es ein exzes‐ sives Interesse an Penetration verriete, wenn man es mit dem Dildo besorgt haben wollte. Aber in der ménage hatte sie natürlich keine solchen Hemmungen, Moshe zu bitten, es ihr mit dem Penis zu besorgen. Und Moshe brachte sei‐ nen Penis gerne bei ihr zum Einsatz. Eine Stellung, die Nana nun gar nicht mochte, war, wenn das Mädchen auf allen vieren stand und von hinten gefickt wurde. Sie sagte,
Moshe täte ihr dabei weh. Sie konnte ihn fast bis in ihren Magen spüren, und das tat ihr weh. Anjali hingegen war glücklich, wenn sie auf die Knie gehen konnte. Die Neuverteilung funktionierte. Sie funktionierte auf sexueller Ebene. Anjali liebte es, wenn Moshe in sie hin‐ einstieß, so richtig tief. Sie kam. Und was Moshe betraf, wenn ihn eines an seinem und Nanas sexuellen Repertoire schmerzte, dann war es die Schwierigkeit beim 69. Das ist eine Stellung für simultanen Oralverkehr, die in Nanas und Moshes Sexleben kaum vor‐ kam, da Nana 1,80 groß war. Und Moshe war es leider nicht. Um mit dieser Stellung wirklich erfolgreich zu sein, hätte Moshes Penis in die umgekehrte Richtung zeigen müssen, einwärts. Aber im wirklichen Leben sah es so aus, dass Nana sich entweder die Wirbelsäule verrenken musste, oder ihr Mund konnte lediglich innen, fast schon in Kniehöhe, an seinen Oberschenkeln saugen. Oder Moshe konnte bloß an Nanas Bauchnabel lecken. Anjali dagegen, Anjali war kleiner als Moshe. Ihr Mund war genau an der richtigen Stelle. Alles war an der richtigen Stelle. Wenn es also das sexuelle Utopia war, wieso war ein Drei‐ er dann nicht perfekt? Ich werde eine Illustration zu Hilfe nehmen, um es zu erläutern. Nun ja, eine imaginäre Illus‐ tration. Ihr werdet euch die Zeichnung denken müssen. Diese Zeichnung zeigt Anjali auf allen vieren, während Moshe hinter ihr kniet. Wenn ihr wollt, dürft ihr euch einen abstehenden Zinken vorstellen, der aus Moshes Hüfte ragt. Aber um den Zinken gehts bei dieser Skizze nicht. Es geht um die Denkblasen. Ihr wisst, was sie fühlen. Sie fühlen sich angenehm ge‐ fickt. Das Problem ist das, was sie denken. Ihr wisst bereits,
was in Moshes Denkblase stehen würde. »Nana«, würde er in dieser Zeichnung aufseufzen, »Liebling Nana.« Seine Denkblase war sentimental und romantisch. Anjalis Denk‐ blase war anders. Sie war sentimental und romantisch, das stimmt. Aber es war lesbische Romantik. Sie war voller les‐ bischer Erinnerungen. »Zosia«, dachte sie, »Zosia.« Sie musste an ihre Ex denken. Und, oh nein nein nein, gele‐ gentlich dachte sie sogar »Nana«. Hin und wieder dachte sie an lesbische Erlebnisse jüngeren Datums, wie an das eine Mal, bei dem Nana sie in der Camden Library in der Euston Road zum Orgasmus gebracht hatte, in der Abtei‐ lung für Kartenmaterial, gegen Wales und Nordirland ge‐ lehnt. Ihr seht also, Anjali war, wie ich bereits erwähnt habe, bisexueller als die meisten anderen. Und sie war ein begab‐ tes bisexuelles Mädchen. Sie hatte Talent für jede erdenk‐ liche sexuelle Permutation. Sie war begabt. Aber letztend‐ lich stand sie gar nicht auf Jungs. Jedenfalls nicht so sehr wie auf Mädchen. Anjali fickte Mädchen. Sie hatte es mit Mädchen.
6 Ihr seht also, die manage á trois war ambivalent. Sie war we‐ niger bohemistisch, als sie aussah. Ihr wisst, dass Moshe nicht sehr glücklich damit war. Und es scheint, als sei Anjali auch nicht sehr glücklich damit. Eine ménage, müsst ihr wissen, ist keine Weimarer‐Republik‐Dekadenz. In keiner Weise. Selbst die Schlafarrangements waren schwierig.
Normale Paare entscheiden sich oft für eine bestimmte Seite im Bett. In der glücklosen Beziehung zwischen Stacey und Henderson zum Beispiel schlief Stacey immer auf der linken. Aber bei einem Dreier sind die Schlafpositionen komplexer. Sie sind nicht neutral. Sie sind symbolisch. Zum Beispiel gingen Nana und Moshe und Anjali zum Essen ins Le Caprice, um das Ende der triumphalen Spielzeit von Peacekeeping Force im Tricycle zu feiern. Allerdings er‐ innern sich Nana und Moshe und Anjali nicht mehr sehr genau an ihr teures Essen. Sie waren keine Gourmets. Sie tranken. Sie wurden betrunken und redeten über sich selbst. Sie wurden betrunken und zickig. War das glamourös, dachte Moshe. Aber die Unterhaltung verlief folgendermaßen. Die Un‐ terhaltung war nicht glamourös. »Smacht euch doch nichts, wenn ich heut Nacht in der Mitte schlaf, oder?«, fragte Nana. »Nur für heut Nacht?«, fragte Moshe verwirrt. »Also, ich kann echt nicht mehr au‐ ßen schlafen«, sagte Nana. »Ich werd jeden Morgen wach, wenn die Männer die Flaschen holen kommen, und kann dann nicht mehr einschlafen, und dann stehst du auf, und ich bin den ganzen Tag unausgeschlafen. Macht dir doch nichts, oder?« Und Moshe sagte: »Nein, äh, nein, soll mir recht sein.« Ich will euch das kurz im Diagramm zeigen. Normaler‐ weise lagen sie so im Bett Nana, Moshe, Anjali. Jetzt wollte Nana: Moshe, Nana, Anjali. Dabei gab es einen subtilen Unterschied. Seht euch an,
wer neben wem lag. Und Moshe war dieser Unterschied bewusst. »Und außerdem«, sagte sie, »ist da das Fenster.« »Das Fenster?«, fragte Moshe. »Ja, na ja, ich dachte, ich würd mich dran gewöhnen«, sagte Nana. »Ich schlaf oft schlecht und vielleicht, also ich weiß nicht. Es ist eben so kalt.« »Na, dann schlafen wir doch einfach nicht mehr bei offenem Fenster«, sagte Anjali. »Ab jetzt«, sagte Anjali, »bleibt es zu. Ist mir auch lieber so.« »Oder du schläfst an der Seite und ich in der Mitte«, sagte Anjali. »Wenn du auf meine Seite kommst, bist du nicht mehr am Fenster.« In Anjalis überarbeitetem Diagramm war das Schlaf‐ arrangement so: Moshe, Anjali, Nana. Nana gefiel dieses Arrangement. Moshe gefiel dieses Ar‐ rangement überhaupt nicht. Moshe drehte sich um und grapschte nach der Weinfla‐ sche in dem silbernen Ständer hinter ihm – was ihn von Angesicht zu Angesicht mit einem Schwarz‐Weiß‐Hoch‐ glanzfoto von Elvis Costello konfrontierte. Wie sich her‐ ausstellte, war Elvis Costello Stammgast im Le Caprice. Er gehörte zur schillernden Prominenz. Moshe guckte wütend. Plötzlich hasste er Elvis Costello. Er hasste schillernde, glückliche Prominente. »Hast du nie was von gesagt«, sagte er zu Nana. »Oder doch?«, sagte er zu Anjali. »Ich möchte nicht anders schla‐ fen«, sagte er zu Nana und Anjali. Und Nana sagte: »Schön, ich kann heut Nacht ja auf dem Futon schlafen. Schlaf ich eben da.« »Auf dem Futon?«, fragte Moshe. »Wieso auf dem Futon? Warum machen wir
nicht einfach das Fenster zu?« »Wir machen einfach das Fenster zu«, sagte Anjali zu Nana. »Nein, nein, warum sollte Moshe zurückstecken?«, sagte Nana zu Anjali. »Ist ja schließlich deine Wohnung, nicht?«, sagte sie zu Moshe. »Und du hast immer gesagt, dir war zu warm, wenn das Fenster zu ist. Deswegen schlaf ich heute einfach auf dem Futon. »Hör mal«, sagte Moshe, »macht mir nix. Ehrlich nicht. Das ist kein Opfer für mich«, grinste Moshe. Nana sagte: »Was hast du gesagt?« Sie sagte: »Tschuldi‐ gung, chabs nicht mitgekriegt. Chab gedacht, mein Telefon klingelt.« Er sagte: »Das ist kein Opfer für mich.« Aber Nana sagte: »Nein nein. Ich schlaf aufm Futon.« »Und wenn ich das nicht will?«, fragte Moshe. »Ich mein, du schläfst doch nicht gern allein. Das weiß ich. Warum schläfst du nicht bei mir und Anjali im Schlafzimmer? Du bist doch nicht gern alleine.« Zwei Kellner standen neben ihnen am Tisch und kehrten Krümel weg. »Stell dich doch nicht so an«, sagte Nana. »Ich mein. Ich würde sagen, ich mein, wenn Anjali lieber das Fenster zu hat. Dann kann ich ja mit Anjali da schlafen.« »Bu bu, ich sagte doch, dass wir das Fenster zumachen können«, sagte Moshe. »Also Leute«, sagte Nana, »es ist ja nicht für ewig. Ich schlaf da einfach nicht«, sagte sie. »Sne gute Idee«, sagte Anjali. »Denn wenn du dann aufstehst, musst du dir keine Gedanken machen, dass du mich aufweckst.« »Ich wecke dich auf?«, fragte Moshe. »Ja, klar«, sagte Anjali. »Morgens. Wenn du über mich kletterst.« Nana schüttelte die kleinen Eisstückchen, die das Mine‐ ralwasser in ihrem Glas verdrängten. Moshe ging mal pissen.
An einem Tisch bei der Treppe zu den Klos saß ein Mann mit einer Frisur, die er, dachte Moshe, absichtlich so gestylt haben musste. Sie war an jenem Morgen mit einer runden, drahtigen Rosshaarbürste in kleine Wellen gelegt worden. Dieser Mann zeigte seiner Begleitung Fotos, seiner männ‐ lichen Begleitung. Sein Begleiter hatte eine gelbbraune Gesichtsfarbe, glänzendes, rot gefärbtes Haar und trug eine goldene Brille von Hugo Boss, an der oben horizontal ein Metallstreifen verlief und ein Stück überstand. Der Mann hatte eine Warze und einen Schnurrbart. Aus irgendeinem Grund stimmten die beiden Männer Moshe übellaunig. Sie stimmten ihn ausgesprochen übel‐ launig. Und auch wenn Moshe es nie zugeben würde, kann ich euch den Grund verraten. Es lag daran, dass da zwei Männer zusammen waren. Sie wirkten homosexuell. Es ist betrüblich, aber doch, eine der Hauptfiguren meines Buches ist kurzzeitig homophob geworden. Auf dem Männerklo war es jedenfalls ruhiger. Glück‐ licherweise waren keine Männer da. Die Urinale waren ein einziges langes Urinal. Dieses Urinal hatte unten einen schrägen Abschluss aus Milchglas, damit auch die letzten schwachen, abgeschüttelten Tropfen sanft abfließen konn‐ ten. Moshe beugte sich zurück und fischte seinen Penis aus seinen Boxershorts mit Paisleymuster. Er zupfte ein Scham‐ haar von seiner Vorhaut. Dann pisste er. Auf der Toilette, dachte Moshe, fühlte es sich angenehmer an, mit dem gedämpften Licht und dem weichen schwarzen Teppichbo‐ den. Er betrachtete den wiederkehrenden Schriftzug Armi‐ tage Shanks in diskreten, handgeschriebenen, grauen Kur‐ sivbuchstaben. Er beobachtete, wie sich um den Punkt, an dem seine Pisse auftraf, ein leerer Kreis ausbreitete. Er
schüttelte die letzten schwachen Tropfen ab. Dann packte er seinen Penis, er tröpfelte ein bisschen, wieder weg, zog den Reißverschluss zu und zerzauste sich mit Wasser das Haar. Das Wasser fiel dicht, weich und schäumend aus dem Hahn. Als er zurückkam, lag die Rechnung auf dem Tisch, in einer Kunstlederbrieftasche. Nana und Anjali küssten sich gerade. Sie gaben sich kleine Küsschen. Moshe, dachte Moshe, hatte ein Problem.
7 Moshes Problem glich amüsanterweise dem Problem des Dissens in einer kapitalistischen Gesellschaft. Wie viele linke Kritiker angemerkt haben, ist es sehr schwierig, dem Kapitalismus etwas entgegenzusetzen. Einer, der das zu er‐ klären versuchte, war Antonio Gramsci. Antonio Gramsci war ein italienischer Marxist. 1926 wurde er von der fa‐ schistischen Regierung verhaftet und ins Gefängnis gewor‐ fen. 1928 wurde er zu zwanzig Jahren, vier Monaten und fünf Tagen verurteilt. 1937 starb er an einem Schlaganfall. Zu diesem Zeitpunkt litt er zudem an Arteriosklerose, einer Infektion am Rücken und einer Lungentuberkulose. Aber es war nicht alles elend. Er hatte seine Gefängnishefte ge‐ schrieben. In diesen Gefängnisheften skizzierte Antonio jede Menge Theorien. Eine dieser Theorien beschäftigte sich mit der Rolle des Revolutionärs in einer kapitalistischen Gesell‐ schaftsordnung. Was die Revolution so verzwickt machte, meinte Antonio, war etwas namens »Hegemonie.«
Die so genannte Hegemonie »(...) zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehr‐ heit, wie er in den Organen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, getragen scheint (...)« Puh. Was Antonio damit sagen wollte, war, grob vereinfacht, dass kein Hahn danach krähte, wenn man den Kapitalismus anprangerte. Die Kapitalisten bogen es immer so hin, dass niemand Notiz davon nahm. Ich habe allerdings eine andere Theorie, warum sich nie‐ mand darum schert, wenn man den Kapitalismus anpran‐ gert. Man sieht nämlich immer wie ein Wichtigtuer aus. Wenn du reich bist und meckerst, halten die Leute dich für einen Heuchler. Wenn du arm bist und meckerst, unterstel‐ len sie dir Sozialneid. Und wenn Moshe sich darüber beschweren würde, ein Dreier sei nicht ideal, würdet ihr genauso denken, er wäre ein eitler Wichtigtuer. Ein erwachsener Mann, der sich dar‐ über beschwert, dass er zwei Mädchen im Bett hat. Man stelle sich vor! Aber wenn er euch am Arm packen, in eure schönen blauen Augen sehen und eindringlich darauf be‐ harren würde, ein Dreier sei wirklich nicht ideal, würdet ihr seine Einwände für pure Eifersucht halten. Wahrscheinlich wurden ihm nicht die außergewöhnlichen sexuellen Begeg‐ nungen, die zweigleisige sexuelle Aufmerksamkeit zuteil, die er sich versprochen hatte. Sexuell gesehen war Moshe arm dran.
8 Eine ménage á trois ist eine Mischung aus Ehealltag und Sex. Sie hat viel mehr Ähnlichkeit mit einer Zweierbeziehung, als die Leute meinen. Sie ist nichts weiter als eine verkom‐ plizierte Zweierbeziehung. Man muss zum Beispiel immer noch Milch kaufen. Daher gingen Nana und Anjali Samstag‐ oder sonntagmorgens immer zu dem netten Milchladen in der Amwell Street. Ich werde dieses Milchkaufen beschreiben. Es war eine bezeichnende Angewohnheit. Lloyds & Son — Dairy Farmers – First Class Dairy Products war in vergoldeter Kursivschrift auf die Ladenfront gemalt. Lloyds & Son — Dairy Farmers — First Class Dairy Products war immer voller Ehefrauen. Und er war immer voller Vä‐ ter. Nana musste darüber immer kichern. Sie musste ki‐ chern, weil sie sich vorstellen konnte, was die Ehefrauen und Väter dachten, wenn sie Nana und Anjali sahen. Zwei Mädchen, die Hand in Hand in den Laden kamen, verwirr‐ ten die Väter und Ehefrauen, dachte Nana. Und was Nana besonders gefiel, war, dass sie und Anjali, obwohl sie offen‐ kundig Avantgarde waren, obwohl sie offenkundig Bohe– miens waren, doch nur unfreiwillig Bohemiens waren. Nana fühlte sich ebenso ehefraulich wie die ganzen Ehe‐ frauen im Milchladen in der Amwell. Sie fühlte sich ganz und gar als verheiratete Frau. Nur, dass sie neben einem Ehemann auch noch eine Frau hatte. Das war der einzige Unterschied. Offenkundig dachte Anjali anders über Ehemänner und ‐frauen. Sie war wesentlich mehr an der Ehefrau interes‐ siert.
Die Ausstattung des Milchladens war ein Augenschmaus. Da standen ockergelbe Töpfe mit Colmanʹs Senf wie Zirkusakrobaten zu einer Pyramide arrangiert. Es gab ein Plakat aus den Fünfzigern mit einer hübschen, glücklichen Frau und ihrer Lieblings‐Jersey‐Milch. Ihr Haar ringelte sich um ihre perfekt gekringelten Ohren. Nana mochte diesen altmodischen Charme. Neben der Eingangsstufe war eine gekappte Zigarre von Hundescheiße sorgfältig zu einer Seite gefegt worden. Nana tätschelte den grünen Kunstrasen auf dem Innenrand der Schaufensterauslage, während sie in der Schlange wartete. Ihr gefiel die pieksige Weichheit. Ihr gefiel das Künstliche. Und Anjali? Anjali tratschte. Sie sagte: »Wissen Sie, warum sie sich getrennt haben? Ich schon. Und sie schienen so ein glückliches Paar zu sein. Ich meine, noch letzte Woche, hast du das Interview gelesen, das in Heat, wo sie sagte. Ich weiß. Nur zu wahr.« Oder: »Und anscheinend hat er gar nicht wie ein Palästinenser ausgesehen. Er sah wie, ich meine, er trug einen Anzug.« Und Anjali bat um die Milch und kramte dann nach Geld. »Ich brauch ein Pfund«, sagte Anjali, »hast du ein Pfund, ich brauch ein Pfund?« Dann gingen sie wieder, grinsend im Slalom an den Kleinkindern und Einkaufstaschen vorbei. Das war der routinemäßige Ablauf. Dann gingen Anjali und Nana über die Lloyd Baker Street zurück, die von der Amwell Street abgeht. Nana liebte es, zu den Fenstern mit Tüllgardinen und Yucca–Palmen aufzublicken, mit einem sich ablösenden »I love Washington«–Sticker oder einem Noddy aus Plastik. Und manchmal stellte sie sich ein Mäd‐ chen vor, das ein Bein über die Decke streckt, in einem Nachthemdchen von British Home Stores mit einem lästig
kratzenden Etikett. Oder ein anderes Mal sah sie eine Frau neben einem Mädchen mit Zöpfen in einem schwarzen Samtkleid, dessen Hände sich auf ein unsichtbares Klavier niedersenkten. Häuser ließen Nana an Babys denken. Sie ließen sie an Familien denken. Und Familien waren für Nana letztend‐ lich heterosexuelle Familien. Ich glaube, ich sollte das klar‐ stellen. In der Zwischenzeit waren sie ungefähr an dem Punkt ih‐ res sonntagmorgendlichen Ausflugs zum Milchholen, an dem Anjali immer sagte: »Ich liebe dich so sehr.« Deswegen war die Milch von solcher Bedeutung. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass man »Ich liebe dich« auf mehr als eine Weise sagen kann. Da gibt es das »Ich liebe dich« einer übervollen, verzehrenden Liebe. Aber es gibt auch das »Ich liebe dich« unbeschwerter, fröhlicher Freundschaft. Und Anjali benutzte die Formu‐ lierung auf diese zweite Weise. Nein, halt, sie benutzte die Formulierung anfänglich auf diese Weise. Nur wurde es ihr von Mal zu Mal ernster mit dieser Formulierung. Falls es euch entgangen sein sollte, Anjali fasste eine immer tiefere Zuneigung zu Nana. Wie sie die Formulierung »Ich liebe dich« anwendete, wurde mehr und mehr zum Beispiel für übervolle, verzehrende Liebe. Und vielleicht gab es auch noch einen anderen Grund. Anjali war sich nicht wirklich sicher, ob dieses Arrange‐ ment für sie gut ausgehen würde. Sie fühlte sich von dem zentralen Paar immer noch ausgeschlossen. Ein Dreier war immer eine unsichere Sache. Vielleicht war also ihr »Ich liebe dich«, wenn sie mit Nana allein war, auch ein Beispiel für ihre Unsicherheit. Auf diese Weise bat sie Nana, ihr ein
Gefühl der Sicherheit zu geben. Denn letztendlich, dachte Anjali, würde sie es sein, die bei dieser Geschichte verletzt wurde. Wenn irgendjemand ausgeschlossen und klein gemacht werden würde, wäre das Anjali. Niemand verliebt sich auf der Stelle. Dazu braucht es Zeit. Und manchmal entwickelt die Liebe sich aus delikaten, unbemerkten Gründen. Von Anfang Oktober bis Mitte November gewöhnte sich Anjali an dieses Milchholen mit Nana und verliebte sich gleichzeitig in sie. Aber Nana wusste davon nichts. Sie glaubte, Anjalis »Ich liebe dich« wäre einfach ein Ausdruck unbeschwerter, fröhlicher Freundschaft. Bei einer dieser Gelegenheiten war Nana von einem Mädchen mit Buggy abgelenkt, das sich mit einem anderen Mädchen mit Buggy unterhielt. Eins der Mädchen sagte gerade: »Weil ich ein Nigger bin, schwarz und stolz. Verstehst du? Wie Michael Jackson, als er jung war, als er diesen Afro hatte.« Die beiden dicken Babys lümmelten in ihren Buggys und starrten an den von Knicken durchzogenen Plastikhimmel. Und Nana senkte den Kopf und küsste sie, sie küsste Anjali in aller Öffentlichkeit. Es war Sonntagmorgen. Sie waren Milch holen. Das war so schön bürgerlich. Nana war glücklich. Sie dachte an glückliche Familien.
9 Eines Abends im Jahr 1936 war die Filmschauspielerin Renee Müller mit dem deutschen Reichskanzler allein in der deutschen Reichskanzlei. Damals hieß der Reichs‐
kanzler Adolf Hitler. Weil es spät war und sie beide alleine waren, war Renee sicher, dass Adolf Sex wollte. Und sie schien damit Recht zu haben. Er begann sie auszuziehen. Aber als sie gerade ins Bett steigen wollten, ließ sich Adolf zu Boden fallen und bettelte Renee Müller an, ihn zu treten. Zuerst erhob Renee Einwand. Es war ganz schön peinlich, den nackten Reichskanzler auf allen vieren vor sich zu sehen, der darum bettelte, getreten zu werden. Aber Adolf flehte inständig. Er sagte, er sei unwürdig, nicht mehr als ein Wurm, ein Einfaltspinsel, ein Vieh, das nichts Besseres verdient habe, als wie ein Hund behandelt zu werden, ein unartiger kleiner Junge, der gezüchtigt werden musste. Adolf kroch zu Kreuze. Im sexuellen Sinne kroch er vor Renee zu Kreuze. Das Komische an Peinlichkeiten ist, dass man am Schluss lieber das tut, was einem die ganze Zeit peinlich war, anstatt noch weiter peinlich berührt zu sein. Man bringt es hinter sich. Zum Schluss gab Renee Müller Adolf einen Tritt. Sie trat ihn ziemlich sacht, aber sie trat ihn. Und das machte Adolf an. Er bettelte um mehr. Er bettelte und bettelte um mehr. »Du Wurm«, sagte Renee, »du degenerierte Ratte.« Adolf genoss das Ganze. Er sagte zu Renee, sie sei zu gut zu ihm, er bekäme viel mehr, als er verdiene, sie dürfe ihm wirklich keine derart generöse Züchtigung angedeihen lassen. Er wäre es nicht einmal wert, mit ihr in einem Raum zu sein, sagte Adolf. Das Amüsante war, dass Renee zu diesem Zeitpunkt Ge‐ schmack daran gefunden hatte. Sie hatte zuvor noch nie die Domina gespielt, aber sie hatte Spaß daran. Weit davon entfernt, peinlich berührt zu sein, hatte die Filmschauspie‐ lerin Renee Müller die bleibende sexuelle Leidenschaft ihres
Lebens entdeckt. Sie trat ihn richtig fest. Sie begann auf Adolf einzuprügeln. Wie wenige sexuelle Permutationen es doch gibt. Der arme Adolf wollte getreten werden. Der Arme lässt Sprüche vom Stapel wie: »Ich bin es nicht wert, mit Ihnen in einem Raum zu sein.« In ihrer Unschuld äußerten weder Adolf noch Renee konkrete sexuelle Wünsche. Adolf gab keine haarkleinen Anweisungen, in welcher Folge und Stärke er getreten werden wollte. Er äußerte nur einen ganz allgemeinen Wunsch. Nach Tritten ganz allgemein. Adolf und Renee hatten gerade Bekanntschaft mit einem zentralen menschlichen Dilemma gemacht. Nämlich diesem: Sex ist unspezifisch. Er ist nicht originell. Man mag ja glauben, dass die eigenen Perversionen etwas ganz Einzigartiges sind, aber nein. Perversion ist etwas ganz Allgemeines. Perversionen sind universell. Zu etwas Spezifischem muss man sie erst machen.
IO Anjali war im Internet. Sie guckte sich kostenlose Porno‐ seiten an, während sie eines Morgens allein in Moshes Wohnzimmer saß. Sie klickte auf einer von eroticama– teurz.com bereitgestellten Thumbnail‐Galerie rum. Falls ihr noch nie von Thumbnail‐Galerien gehört habt, ein Thumbnail ist ein Bild. Es ist ein pornografisches Bild, nicht größer als ein Daumennagel. Allerdings wird es größer, wenn man es anklickt. Es ist von entscheidender Bedeutung für die Geschichte. Ehrlich. Anjali masturbierte.
Ein Mädchen mit einer schwarzen Jetthalskette und schwarzen Netzstrümpfen schob sich ihre Hand so tief in die Vagina, dass alle ihre Finger darin verschwanden. Oder man sah sie alternativ dazu vor einem Hintergrund, der wie ein Tropf‐Bild von Jackson Pollock in den Farben Schwarz und Purpur aussah, auf allen vieren über einem kastanien‐ braun und marineblau gewürfelten Kissen knien. Der Arm eines Mannes war ebenfalls im Bild. Seine Hand allerdings nicht. Sie steckte nämlich in einem weißen Operations‐ handschuh, und die Finger tauchten in sie ein. Anjali konnte nicht erkennen, wo genau sie in ihr verschwanden. Es schien ihr, als verschwänden sie im Anus des Mädchens. Es war schwer zu sagen. Nachdem die Fisting‐Bildgalerie ausgeschöpft war, wur‐ den Anjali noch angeboten: 29 Schnappschüsse von Geiles Schulmädchen lädt zum Blaskonzert in der fetzten Bank, 30 Nahaufnahmen von Supersexbombe zeigt ihre rasierte Riesen‐ fotze, 12 Clips von Fettärschige Schnecken mit wundgefickten rosa Schlitzen, 23 Blicke durchs Schlüsselloch auf Naturgeile mit engen, nassen Lustgrotten und 20 Bildern Geile Leder‐ schlampe mit Knarre in der Fotze. Diese Liste langweilte Anjali. Der Witz bei Pornografie ist, wie beim Sex allgemein, dass Fantasie dazu gehört. Man muss präzisieren. Und es ist schwierig, präzise zu sein. Man greift viel zu oft auf die Plots anderer Leute zurück. Man kommt gar nicht darum herum, auf die Plots anderer Leute zurückzugreifen. Die beliebtesten Themen waren zum Beispiel sozialer Status und Familie, soweit Anjali feststellen konnte. Es gab 28 Nahaufnahmen von Frühreifer Blondschopf lässt Mamas Liebhaber in ihren Honigschlitz. Das war Familie. 16 Aufnah‐
men von Verwegene Freizeitcowgirls reiten Stallburschen ein. Wieder sozialer Status. Oder 27 Dias von Nichten zu Besuch beim Onkel mit dem Riesenrohr oder 25 Dias zum Thema Papa packt Lieblingstochter ins Bettchen. Familie. 28 Fotos von Lu‐ xusblondinen zeigen ihren Prachtarsch, und 16 Bilder von Kar‐ rierefrauen, die nach Büroschluss mit ihrer Muschi spielen. So‐ zialer Status. Dann wiederum 16 Dias von Teenieschlampe pisst auf Schwanz, bevor sie Sexbolzen einen abkaut, das war schon ungewöhnlicher. Es war nicht Anjalis Ding – und mein Ding eigentlich auch nicht –, aber es bewies ein wenig Fantasie. Eigentlich, dachte Anjali, zeigte nur eine Beschreibung ein gewisses Potential. Und zwar 18 Impressionen von Nachbarsjunge fickt geile Oma nach dem Rasenmähen. Das Ra‐ senmähen war so gut daran. Es bewies einen anheimelnden Sinn für Milieustudien. Es hatte allerdings einen traurigen Grund, dass Anjali im Internet surfte. Aber auch einen, den man hätte vorhersagen können. Sie hatte keinen über‐ mäßigen Spaß an all den sexuellen Verpflichtungen einer ménage. Sie waren nicht ausnahmslos angenehm. Sie verspürte, anders gesagt, einen Mangel an präzisen Vorstellungsbildern in ihrem Sexleben. Und ich kenne den Grund dafür. Ihr kennt ihn auch. Sie hatte sich in Nana verliebt. Damit waren Jungs für sie gestorben, dachte Anjali.
11 Nanas Empfindungen sind bei dieser Beschreibung einer ménage á trois unter den Tisch gefallen. Vielleicht sehen ei‐ nige von euch darin ein ernsthaftes Versäumnis. Aber ich
habe Nana aus gutem Grund ignoriert. Ich wollte, dass ihr zwei Beobachtungen macht, ehe ich zu Nana komme. Die erste war: Anjali und Moshe hatten guten Sex. Körperlich gesehen hatten sie guten Sex. Das kam daher, dass Anjali ein sexuelles Naturtalent war. Aber es gab auch noch eine zweite: Weder für Anjali noch für Moshe war dieser Sex emotional befriedigend. Aus diesem Grund fühlten sich beide zu Nana hingezogen. Doch auch Nana war nicht ganz glücklich. Anfangs war Nana froh gewesen, weil sie drei so glücklich zu sein schienen. Es war zwar nicht das, was sie sich vorgestellt hatte, als sie Moshe kennen lernte, aber das, was sich ergeben hatte. Und ich kann diesen Pragmatismus nur begrüßen. Ich kann diesem Mangel an Selbstmitleid nur applaudieren. Aber es gab Sorgen. Der Sex machte Nana Sorgen. Er machte ihr zunehmend mehr Sorgen. Was für eine verkorkste ménage! Es war die sexuell auf‐ regendste Konstellation, aber keiner von ihnen war mit dem Sex ganz glücklich. Moshe hatte Schuldgefühle. Anjali war frustriert. Und wie sich nun herausstellt, war Nana nicht ganz wohl dabei. Anjali machte sie neidisch. Moshe machte sie eifersüchtig. Das hatte den Grund, dass Nana kein sexuelles Naturtalent war. Sie war in sexueller Hinsicht kompliziert. Und es machte sie traurig, im selben Raum mit Moshe und Anjali zu sein, wenn Moshe und Anjali entfesselten und geübten Sex hatten. Es wurde immer schwieriger, dazu gute Miene zu machen. Es war ein ganz schöner zwischenmenschlicher Aufwand. Aus diesem Grund wollte ich über Nanas Empfindungen
zunächst stillschweigend hinweggehen. Ich wollte, dass ihr zu würdigen wisst, wie falsch es von ihr war, besorgt und traurig zu sein. Ich wollte, dass ihr die Ironie darin erkennt. Moshe und Anjali empfanden ihr Sexleben als schwieriges Täuschungsmanöver. Nana glaubte, ihr Sexleben wäre eks‐ tatisch, kamasutrisch. Sie war besorgt und traurig. Ihre langweilige Libido deprimierte sie. Es gab noch weitere Ironien. Um ihrem Gefühl entgegen‐ zuwirken, sie sei die sexuelle Missgeburt in der ménage, wollte Nana sich zumindest willig zeigen. Sie wollte Anjali ebenbürtig sein. Allerdings nicht, indem sie einfach Sex mit Moshe hatte. Das natürlich auch, sie hatte Sex mit Moshe. Aber wichtiger war, dass sie mit Anjali experimentierte. Sie stimmte allen Vorschlägen von Anjali zu. Und Anjalis Wün‐ sche wurden immer krasser. Während Anjali immer unhe‐ terosexueller wurde, wurden ihre Wünsche immer spezieller und ausgefallener. Ich weiß nicht, einen wie ausgefallenen Eindruck Nana macht. Ich schätze, sie macht keinen besonders ausgefalle‐ nen Eindruck. Was Nana am Sex gefiel (und wir wissen alle nur zu gut, dass Sex nicht Nanas Lieblingsthema war), war Intimität. Zumindest fand sie das Gefühl schön, das jeman‐ dem etwas an ihr lag. Anjali hingegen wurde zum Tier. Da‐ bei war Nana ein wenig unwohl. Was sollte sie machen? Sie wollte nicht prüde wirken.
12 Das ist der Grund, warum eines Tages Anjalis Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger bis gerade zu den Fingerknö‐ cheln in Nanas Vagina steckten. Sie waren dick mit John‐
sonʹs KY Jelly eingeschmiert; die blaue Tube mit dem wei‐ ßen Schnippverschluss lag irgendwo in der Decke. Anjali und Nana hatten eine als Fisting bekannte Sex‐ praktik in ihr häusliches Repertoire integriert. Sie hatten Fistfucking für das traute Heim entdeckt. Und Fistfucking zu domestizieren ist schon eine Leistung, finde ich. Dafür versuchten sie sich, Anjali vorneweg, an Tipps, die sie von Pornoseiten im Internet und aus lesbischen Filmklassikern wie Sex auf High Heels und Femme II hatten. Ich will versuchen, denen unter euch, die vielleicht auch gerne experimentieren möchten oder es sich einfach nicht so richtig vorstellen können, einen Überblick zu geben. Zuerst wärmte Anjali Nana auf. Sie presste ihre Zunge langsam gegen Nanas Klitoris. Anjali leckte den Schleim von Nanas Vagina auf. Sie verteilte ihn rund um ihre ge‐ kräuselten, feuchtweichen Schamlippen. Und Nana ließ ihren Kopf zur Seite fallen und hob ihre Vulva Anjalis Zun‐ ge entgegen. Diese Geste brachte Anjali auf Ideen. Anjali fuhr mit ihrem Finger rund um Nanas Arschloch, stupste ihn dagegen, dann schob sie ihn höher und drumherum und hinein. Nana fühlte sich so eigenartig nett ausgefüllt. Und das hatte Nana gern, wie Anjali wusste. Doch un‐ glücklicherweise war Nana an diesem Morgen nicht sie selbst. Sie wand sich. Sie wand sich. Anjalis Finger bereite‐ ten ihr leichtes Unbehagen. Aber Anjali interpretierte Nanas Sichwinden nicht als Sichwinden vor Unbehagen, sondern als lustvolles Sichwinden. Das rief nach etwas Tiefergehendem, dachte Anjali. Also drang Anjali weiter ein. Sie konnte die Reste von Nanas Scheiße spüren. Nana sagte: »Aahyoourrr.« Das war ein mehrdeutiger Laut. Ich glaube nicht, dass ihr
ihn, würde ich es euch nicht sagen, als Schmerzenslaut er‐ kennen könntet. Es hätte ebenso ein lustvolles Stöhnen sein können. Aber nein, es war ein Schmerzenslaut. Anjali blickte hoch. Diese einmalige Episode lesbischen Fistings endete nur deshalb nicht vorzeitig (und zwar in einem Nervenzusam‐ menbruch), ehe überhaupt ein Fisting daraus wurde, weil Anjali immer noch einer Täuschung unterlag. Sie wusste nicht, dass Nana nicht scharf war. Sie hielt es für ein lust‐ volles Stöhnen. Sie dachte, Nana bettele um mehr. Sie glaubte, ein Finger wäre ihr zu wenig. Sie wolle es mit allem Drum und Dran. Anjali nahm ihre Tube Johnson & Johnsonʹs KY Jelly zum inneren Anfeuchten, die in ihrem Promopaket mit Qualitätsprodukten von Johnsonʹs dabei gewesen war. Sie drückte etwas Gleitcreme auf ihre Finger und schmierte Nana damit ein. Nana war, falls ihr euch fragen solltet, starr vor Angst. Sie war froh, dass Anjalis Hände die zierlichsten waren, die sie je gesehen hatte; aber es blieb dennoch beängstigend. Und da bin ich mit ihr ganz konform. Mich hätte es geängstigt. Noch beängstigender war allerdings der Artikel, der ihr gerade einfiel, war er nicht in Marie Ciaire gewesen?, der die Leserinnen darüber aufgeklärt hatte, dass man eine Faust nur durch einen Orgasmus wieder aus der Vagina frei be‐ kommen konnte. So etwas setzte ein Mädchen wie Nana unter Druck. Anjali hatte jetzt ein großzügiges Quantum KY Jelly au‐ ßen um und in Nanas Vagina verteilt. Sie hatte durchsichti‐ ge Stränge davon auf ihrer rechten Hand verstrichen. Sie genoss es sichtlich. Offen gesagt, das überrascht mich nicht.
Ein 1,80 großes, blondes Mädchen mit blassblondem Schamhaar lag schön durchfeuchtet vor sie hingegossen. Das war alles andere als ein reizloser Anblick. Mit der Handfläche nach oben, wie sie es auf ihren Foto‐ anleitungen gesehen hatte, führte Anjali zuerst den Zeige‐ finger und dann den Mittelfinger ihrer rechten Hand ein. Sie ging dabei sehr langsam vor. Mit sehr, sehr langsamen Bewegungen. Sie bekam die Finger fast bis zu den Knöcheln hinein. Gleichzeitig berührte sie mit dem zarten Zeigefinger ihrer linken Hand zart Nanas Klitoris. So ging das einige Minuten. Dann schob sie ihren Ringfinger nach. Er rutschte überraschend schnell hinein. Er rutschte so schnell hinein, dass Anjali beschloss, auch den Daumen einzusetzen. Der Daumen sollte auf den Fingern flach aufliegen, eine Haltung, die man »das Schnabeltier« nennt. Anjali formte das Schnabeltier. Nana stöhnte. Sie stöhnte, dieses Mal vor Lust. Das, dachte sie, war nun wirklich mal etwas ganz anderes. Und Anjali drängte weiter. Sie stieß langsam vor und krümmte auch ihren kleinen Finger hinein. Nach und nach und nach rutschte Anjalis rechte Hand hinein. Ihre Hand steckte bis zum Ansatz der Finger in Nana drin. Endlich fistete sie Nana. Dann kam Moshe herein. Sie machten alle weiter, als wäre nichts. Moshe setzte sich auf seinen hölzernen Schreibtischstuhl an seinen kleinen schwarzen Resopal–Schreibtisch. Er setzte sich auf den Stuhl und ergriff das erstbeste Buch – unbetei‐ ligt, eingeschüchtert, aufgegeilt. Er begann zu lesen. Das erstbeste Buch entpuppte sich als die gebundene Ausgabe der gesammelten Erzählungen von Saul Bellow, ein Lese‐ tipp aus Elle, behauptete Anjali. Moshe kaufte keine Bücher.
Er fand sie zu teuer. Er blätterte höchstens gelegentlich in einer Buchhandlung eins durch, und es sprach ihn auch an, aber dann guckte er auf den Preis, und da war dann Schluss. Dann legte Moshe das Buch wieder weg. Er schaute auf die Klappe des Schutzumschlags von Saul Bellows gesammelten Erzählungen. Zwanzig Pfund! dachte er geplättet. Zwanzig Pfund! Aber er las es. Er las etwas über den Alltag des jüdischen Mannes in Amerika. Nana, die gefistet wurde, guckte auf das Bild eines einge‐ schneiten Cadillacs in Chicago auf dem Titel von Saul Bel‐ lows gesammelten Erzählungen. Das brachte sie auf andere Gedanken. Sie stöhnte. Anjali entfaltete und ballte ihre Finger in Nanas Vagina. Und das verschaffte Nana ein ele‐ mentares Lustgefühl. Sie stöhnte. Anjali grinste beifällig. Aber Nana fand es schwer, sich zu entspannen, wenn ihr Freund zeitgenössische amerikanische Literatur las, wäh‐ rend sie gefistet wurde. Und sie machte sich Sorgen um den Orgasmus. Sie befürchtete, es wäre nicht der rechte Mo‐ ment für sie, ihren allerersten Orgasmus in geselliger Runde zu erreichen. Anjali war lustvoll, aber auch schmerzhaft. Daher entschied Nana, dass sie sich für ein Experiment bemerkenswert gut geschlagen hatten. Sie hatten ein besonderes Vergnügen entdeckt. Aber nun war es Zeit aufzuhören. »Ich glaub, das reicht«, sagte Nana. Sie stieß es hervor. Und Anjali, weil Anjali nett ist, ich möchte nicht, dass ihr etwas anderes glaubt, lächelte Nana an und nickte. Sie klemmte einen Finger ihrer linken Hand in Nanas Vagina, unten am Ansatz, unter Anjalis eigene rechte Hand. Und dann drückte sie Nanas Vagina nach unten. Das machte sie, um etwas Luft hinauszulassen. Das machte sie, um das Vakuum aufzulösen.
Moshe legte Saul Bellow hin. Er legte die Arme auf die Stuhllehnen und ließ sie dann herunterfallen, unbequem, schwer. Er ging und setzte für alle Tee auf.
13 Vor einer Weile habe ich die Surrealisten erwähnt. Ich er‐ wähnte ihre Gespräche über Sex. Vielleicht schleicht sich hier wiederum der Surrealismus ein. Eine derartige Situati‐ on – ein Junge sieht zu, wie seine Freundin von einem ande‐ ren Mädchen gefistet wird, während er Saul Bellow liest, und macht dann Tee für alle drei – wird oft als surreal be‐ zeichnet. Ein anderer Erzähler als ich würde vielleicht sa‐ gen: »Es war alles ganz surreal.« Das war sogar genau das, was sowohl Moshe wie auch Anjali dachten. Während Moshe Tee machte und Anjali sich entspannte, dachten beide ironisch, das sei doch ausgesprochen surreal. Aber war es surreal ? Der Mann, der den Begriff »Surrealismus« geprägt hat, war Guillaume Apollinaire. Guillaume war ein französi‐ scher Dichter des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Und zwar prägte er ihn im Programmheft zu dem Ballett Parade ‐ Szenario von Jean Cocteau, Choreographie Andre Massine, Bühnenbild von Pablo Picasso und Musik von Erik Satie. Sechs Wochen später benutzte er den Begriff erneut, diesmal im Programmheft zu seinem eigenen Stück Die Brüste des Teiresias. Seine Definition eines Surrealisten sah so aus: »Als der Mensch das Laufen nachzuahmen versuchte, erfand er das Rad, das gar nicht wie ein Bein aussieht. Ohne es zu wissen, war er Surrealist.«
Ich weiß nicht, ob wir mit dieser Definition weit kommen. Wenn man nach dieser Definition ging, lagen Anjali und Moshe wohl falsch. Es sieht mir nicht sehr nach der Erfindung des Rads aus – ein Junge macht Tee für seine Freundin und deren Freundin, nachdem er ihnen beim Fis– ting zugesehen hat. Das Berühmteste, das Guillaume Apollinaire neben seinen Gedichten noch geschrieben hat, war ein pornografischer Roman mit dem Titel Die elftausend Ruten. In den Elftausend Ruten werden jede Menge Leute von einer menschlichen Sexmaschine namens Mony auf psychopathische Weise vergewaltigt‐ausgepeitscht und getötet. Es ist kein besonders guter Roman. Man findet darin viele Sätze wie den: »Als er den Höhepunkt erreichte, nahm er den Säbel und schlug mit zusammengebissenen Zähnen und ohne die Sodomie zu unterbrechen den Kopf des kleinen Chinesenjungen ab, dessen letzte Zuckungen ihm eine ge‐ waltige Erektion verschafften, während Blut aus seinem Hals spritzte wie Wasser aus einem Springbrunnen.« Na, jedenfalls gibt es Leute, die meinen, dieser Porno‐ roman definiere auch den Surrealismus. Der Roman zeigt augenscheinlich, dass psychologische Motivation oder mo‐ ralische Erwägungen im wirklichen Leben nicht existieren. Er zeigt, dass wir, wenn wir authentisch wären, einsehen würden, dass die Welt ihrem Wesen nach surreal ist. Ich halte diese Leute für dumm. Hat Guillaume Apolli‐ naire etwa chinesische Knaben anal entjungfert und dann enthauptet? Nein. Und zwar deshalb, weil der ganzen Surrealismus–Debatte ein fataler Fehler innewohnt. Nämlich der: Nichts in der Realität ist surreal. Nur das »Surreale« ist surreal.
So erlitt zum Beispiel am Tag, nachdem Nana von Anjali ungestüm gefistet worden war, als die ménage etwa zwei Monate alt war, Papa einen Schlaganfall. Gut, ich kann mir denken, dass ihr damit nicht gerechnet habt. Ich kann mir denken, dass es als böse Überraschung kommt. Es ist schwer, Krankheit einzukalkulieren. Aber ich meine, man hätte das durchaus erraten können. Da waren Papas Kopfschmerzen im Urlaub. Da war der Hinweis, den ich euch in der Gondel in Venedig gegeben habe. Da war sein Schwindelanfall. Ich habe das sogar am Anfang von Kapitel 2 erwähnt. Aber was immer das auch war, es war nicht surreal. Nein. Nichts ist surreal. Guillaume Apollinaire zum Beispiel starb nicht nach einer sadistischen homosexuellen Vergewaltigung. Nein. Er starb an der Grippe.
14 »Kannst du sprechen«, fragte Nana. »Ja ja ja«, sagte Moshe. »Na ja, fünf Minuten. Hab grad Pause.« »Gut, er ist jetzt stabil«, sagte sie. »Sie sagen, er ist stabil.« »Nein, Augen‐ blick, ich kann dich nicht verstehen«, sagte er. »Augenblick. Gut, was war los?«, fragte Moshe. »Es ist vielleicht ein Tumor«, sagte sie. »Ein Tumor, Scheiße, ein Tumor?«, kreischte Moshe. »Verdammt«, sagte er. »Ja nur vielleicht«, sagte sie. Moshe sagte: »Ehrlich? Und? Aber wie lange schon?« Und sie sagte: »Das sagen die Ärzte nicht. Sie wissen es nicht. Aber ihm ging es schon eine
Weile nicht gut, hat er gesagt. Also, er hat angefangen, lauter so komische Sachen zu machen. Ich meine, das wür‐ de das zumindest erklären. Immer diese Kopfschmerzen«, sagte sie. Moshe checkte unwillkürlich, ob er Kopfschmerzen hatte. Er konnte nicht anders. Er, ja, er nein nein nein, er, nein. »Ich meine«, sagte sie, »er hat mich doch das eine Mal angerufen — hab ich dir von erzählt – und gesagt, er könnte sich keine Tasse Tee machen. Ich hab gefragt: ›Wie meinst du das?‹ Und da sagt er: ›Der Teebeutel ist weg.‹ Ich hab gesagt: ›Was meinst du damit?‹« »Wo bist du jetzt?«, fragte Moshe. »An der Chezeption«, sagte sie. »Ich sagte: ›Wie meinst du das?‹ Er hatte den Teebeutel in den Kessel getan.« Sie sagte: »Es war schon komisch, er war mehr wieder der Alte, nachdem sie ihn operiert hatten. Er war frecher. Er hatte die ganze Zeit mit einer Schwester geschäkert.« Moshe sagte: »Aber ihm gehtʹs gut.« Sie sagte: »Er ist frecher. Er beschwerte sich die ganze Zeit, dass sich die Ärztin nur für ihren Datumsstempel interessierte.« »Ihren Datumsstempel?«, fragte Moshe. »Ich weiß«, sagte sie. Er fragte: »Tja, was nun, soll ich vorbeikommen, dich ab‐ holen?« »Hör mal, du musst nicht auf mich aufpassen«, sag‐ te sie. »Hat mit Aufpassen nichts zu tun«, sagte er. »Ich möchte gerne.« »Musst du nicht«, sagte sie. »Hör mal, ich bin schließlich dein Freund«, sagte er. »Ich möchte es gern. Ich liebe dich.« Und das stimmte, dachte sie. Sie war seine Freundin. Das machte sie glücklich. Aber Nana war so ein liebes Ding. Es tat ihr für Anjali Leid, wenn sie selbst glücklich war. Also überlegte sie noch mal. Es war machbar, dachte sie, zwei
Freundinnen gleichzeitig zu sein. »Krebs also«, sagte er. »Mann. Nana«, sagte er. »Nana«, sagte er. »Nana, bist du noch?« »Jehm, ich bin hier. Also sie wissen nicht, ob es Krebs ist«, sagte sie. »Und was passiert nun?« fragte er, »Chemo?« »Ja ja ja«, sagte sie. »Also erst machen sie Bestrahlung und dann Chemo. Es ist seine Ent‐ scheidung, aber er willʹs machen. Dann machen sie die Chemo. Chmeine, wenn er nicht will, bring ich ihn dazu.« »Pass auf«, sagte er, »Mist, pass auf, ich muss los. Die sind schon alle drin, die sind schon alle wieder drin.« »Ich ver‐ steh dich nicht«, sagte sie. »Sie sind schon alle wieder drin«, brüllte Moshe. »Hör zu, ich. Hör zu, ich ruf dich an, wenn ich wieder raus bin«, sagte er. »Soll ich einfach raufkommen und dich abholen?« »Was, was meinst du?«, fragte sie. »Also soll ich? Ich kann zur Haltestelle gehen, ich kann um sechs in Edgware sein«, sagte er. »Nein, nimm die Tha– meslink«, sagte sie. »Die was?« fragte Moshe. »Die sollst du nehmen. Steig in Kingʹs Cross ein und in Elstree aus. Dann nimm dir ein Taxi«, sagte sie. »Das geht schneller«, sagte sie. »Nein, Augenblick, ich kann dich nicht verstehen«, sagte er. »Ach, frag Anjali«, sagte Nana, »sie hat gesagt, sie würde kommen.« »Was?«, fragte er. »Was was ich kann nicht«, sagte er. »Frag Anjali«, sagte Nana. Und dann legte sie auf.
15 Und zu diesem Zeitpunkt der Geschichte, am Ende von Ka‐ pitel 9, trug sich Kapitel I zu. Ungefähr eine Woche später versuchten Nana und Moshe, Analverkehr zu haben. Ihr werdet euch erinnern – ich hoffe, dass ihr euch erinnert –, dass es nicht so richtig klappte. Als Moshe versuchte, be‐ hutsam die pinkfarbenen plüschbesetzten Handschellen um die Handgelenke seiner Freundin zu schließen, bemerkte er eine winzige Falte auf ihrer Stirn. Und so weiter. Ich bin sicher, dass ihr mittlerweile all die gut gemeinten, komplizierten Gedankengänge und Kompromisse verste‐ hen könnt, die zu ihrem beiderseitigen Entschluss geführt haben, sich Bondage und Analsex hinzugeben. Und als die Episode vorüber war, auch daran werdet ihr euch erinnern, trieb Moshe seine Travestie des Jüdischseins weiter. Er sagte: »Hat dir die jüdische Nummer nicht gefal‐ len? Auf was Besseres bin ich nicht gekommen.« Deprimiert grinste Moshe. Sie schaute ihn an, stumm. Er war ein komisches visuelles Zwischenspiel. »Na?«, fragte er. Und sie grinste. Sie sagte: »Engel, du bist nur halb jüdisch.« Moshe stand vor ihr, den Körper leicht zu ihr hinwiegend. Er ließ sein Gewicht auf seinem rechten Bein ruhen, das nun in einem karierten Schlafanzug steckte. Der Fuß seines linken Beins war leicht vorgeschoben. Und seine Knie leicht gebeugt. Er stieg gerade in seinen Schlafanzug. Nana fragte sich, warum sie glücklich war, so daliegend, während nacheinander die Straßenlaternen angingen. »Du bist ja nicht mal beschnitten«, sagte sie. »Wir wollen uns doch nicht zanken«, ermahnte er sie,
während er auf der Suche nach dem linken Bein der Schlaf‐ anzughose durchs Zimmer hüpfte. Moshe war nicht glücklich. Er war deprimiert. Nana und Moshe, dachte er, funktionierte einfach nicht. Nie funktio‐ nierte etwas. Er sann und brütete über die negativen Aus‐ wirkungen nach, die eine manage á trois auf eine Beziehung hatte. Er machte sich wütende Gedanken. Er wünschte sich, sie wären wieder nur zu zweit. Wenn Nana das doch bloß gewusst hätte! Aber sie wusste es nicht. Stattdessen war Nana glücklich. Und sie hatte auch herausgefunden, warum sie glücklich war. Sie war glücklich, weil sie erkannt hatte, dass sie nicht länger ver‐ suchen musste, kamasutrischen Sex zu erleben. Sie musste nicht länger Anjali und Moshe zuschauen, die fähiger und begeisterter waren. Denn sie hatte einen edlen Entschluss gefasst. Nana würde heimgehen und bei Papa bleiben. Sie würde Moshe verlassen. Moshe brauchte sie nicht. Ohne sie wäre er besser dran. Papa hingegen brauchte sie. Also, falls ihr darüber nachgedacht habt, ob es zulässig ist, widernatürliche Sexualkontakte zu planen, während euer Vater mit Verdacht auf Hirntumor im Krankenhaus liegt, lasst euch gesagt sein, dass Papa nicht im Krankenhaus war. Sie waren wirklich nicht sicher, ob es ein Tumor war. Sie meinten, es könnte auch ein leichter Schlaganfall gewesen sein. Daher war Papa zum ambulanten Patienten erklärt worden. Sie hatten ihn nach Haus entlassen, wäh‐ rend seine Scans ausgewertet wurden. Papa saß zufrieden zu Hause und schonte sich. Gut mög‐ lich, dass er sich wieder berappelt hatte. Es schien wieder Ruhe einzukehren. Aber Ruhe war kein Grund, ihn nicht zu pflegen, dachte
Nana. Nana liebte ihren Papa. Sie vermisste es, mit Papa daheim zu sein. Daher würde sie ihm nun beweisen, wie sehr sie ihn anhimmelte. Ein Liebesbeweis – das war es, wozu Nana sich entschlos‐ sen hatte.
10 Sie entlieben sich
1 Lasst mich eines unmissverständlich klarstellen. Nana wollte raus. Sie hatte sich entschlossen, dass sie für immer rauswollte. Dafür gab es einen ganz egoistischen Grund. Sie wollte sich nicht länger an der sexuellen Leistungsschau betei‐ ligen. Sie wollte nicht länger Moshe und Anjali zusehen müssen. Nana reichte es mit der Erniedrigung. Und es gab einen altruistischen Grund. Sie wollte sich um Papa kümmern. Es war auch ein Liebesbeweis.
2 1995 sprach sich der Nobelpreisträger Sir Joseph Rotblat für einen Vertrag zwischen den Atommächten aus. Jeder Staat sollte sich verpflichten, im Falle eines kriegerischen Kon‐ fliktes nicht als erster Atomwaffen einzusetzen. Am 5. April 1995 wurde die »No First Use Policy of the Declared Nucle‐
ar Weapons States«, die Erklärung des Verzichts auf einen atomaren Erstschlag, ordnungsgemäß unterzeichnet. Ich weiß, dass Nana und Moshe und Anjali keine Länder mit Atomwaffen waren. Sie waren selbstverständlich über‐ haupt keine Länder. Daher mag das hier ein wenig melodramatisch und irrelevant erscheinen. Aber es ist nicht melodramatisch und irrelevant. Die »No First Use Policy« stützt sich auf die jederzeit mögliche gegenseitige Vernichtung, die »mutually assured destruction« also. Das Akronym dafür ist MAD, verrückt. Und das ist eine ziemlich gute Basis für einen Vertrag. Es ist die Basis für eine Menge von Verträgen. Aber sie haben eine Schwachstelle: Diese Art von Verträgen funktioniert nur, wenn jeder sich bedroht fühlt. Alles hängt davon ab, dass die Menschen der Ansicht sind, die Vernichtung sei alles in allem nicht wünschenswert. Aber sobald Menschen der Ansicht sind, dass es nicht schlimmer kommen kann, fühlen sie sich in keiner Weise mehr bedroht. Man muss das Leben schon ein klitzekleines bisschen mögen, um sich be‐ droht zu fühlen. Wenn man sein Leben überhaupt nicht mag, ist es einem egal, ob man zur Strafe atomisiert wird. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man sein Verspre‐ chen bricht, nicht als Erster Atomwaffen einzusetzen. Ab diesem Punkt hat die Vereinbarung nicht länger bindende Kraft. Vielleicht seht ihr darin keine Parallele zu Nanas Ent– schluss, aus der ménage auszusteigen. Sie ging nicht, weil sie der Ansicht war, ihr Leben sei hoffnungslos. Sie stieg aus, um Papa zu pflegen. Es war edelmütig. Aber Nana war nicht nur edelmütig. Es gab auch noch einen anderen Grund. Nämlich den egoistischen Grund.
Darin sehe ich durchaus eine Ähnlichkeit. Mir liegt be‐ sonders daran, auf ihn hinzuweisen, weil dieser egoistische Grund ein versteckter Grund war. Er war nicht offensicht‐ lich. Daher halte ich es für nötig, hier besonders auf ihn hinzuweisen. In ihren eher weinerlichen Momenten, wenn sie über sexuelle Ungleichheit nachbrütete, meinte Nana, nichts mehr zu verlieren zu haben. Ihr stillschweigendes Abkommen, zusammenzubleiben, hatte für sie nicht länger bindende Kraft. Für Nana war es nicht schlimmer, wegzugehen, als zu bleiben. In Kreisen des Foreign Office haben sie für die No First Use Policy einen Spitznamen. Sie nennen sie No FUN. MADistNoFUN. Aber unglücklicherweise war Nana im Begriff, Fun zu ha‐ ben.
3 Nana wachte auf. Sie wollte raus. Sie wollte Moshe verlas‐ sen. Sie wollte Anjali verlassen. Sie wollte beide gemeinsam zurücklassen. Das wäre das Beste für jeden. Die drei waren an diesem Morgen wie folgt angeordnet: Nana, Anjali, Moshe. Vielleicht wird die Anordnung damit nicht ausreichend deutlich gemacht. Moshe lag um Anjali gewickelt da. Er klammerte sich an sie. Als sie die beiden betrachtete, wurde Nana sehr traurig. Sie war sehr traurig und froh. Die Traurigkeit erklärte sich wohl von selbst. Es war traurig, zu sehen, wie Moshe sich an Anjali kuschelte. Es war traurig, zu sehen, wie glücklich er
mit einem anderen Mädchen war. Und es war für Nana traurig, daran zu denken, dass sie fortgehen würde. Aber wenn sie es nur versuchte, konnte sie froh sein. Sie konnte sich selbst als die edelmütige Ehefrau sehen, die ihren Mann seiner Geliebten überließ. Wenn sie es wirklich versuchte, konnte sich Nana einen anderen Schluss für Casablanca vorstellen. Bei diesem Ende spielt Nana den Part von Victor Laszlo, dem jüdischen Ehemann, Intellektuellen und Widerstands‐ kämpfer. In Nanas Version ist es Victor, nicht Rick, der Edelmut beweist. Es ist Victor, der sich aufopfert. Er steigt in sein kleines, zweimotoriges Flugzeug und überlässt die beiden Liebenden in Marokko ihrer Liebe. Bergman bleibt bei Bogey. Bei diesem Schluss ist Victor nicht egoistisch. Er ist nicht derart auf sein persönliches Glück fixiert. Moshe rollte sich wach. Er schaute auf und zu Nana hin‐ über. Nana sah ihn an. Er fragte sie, wie spät es sei. Nana sagte es ihm. Sie beugte sich über Anjali und küsste Moshe. Nana, die im Begriff war, für immer fortzugehen, sagte, sie würde Moshe einen Kaffee machen.
4 Es ist nicht einfach – Schluss zu machen. Es gibt nur äußerst selten den rechten Moment dafür. Ich wüsste wirklich nicht, wann jemals der rechte Moment dafür sein sollte. Die Tren‐ nung, um die es hier geht, fand morgens um acht statt. Das ist keine so tolle Zeit. Und Nana war nackt. Sie war in der Küche und setzte Wasser auf. Moshe war auch nackt.
Das einzig Gute war, dachte Nana, dass Anjali nicht dabei war. Zumindest schlief Anjali noch. Es ist schon schwer genug, mit einem Menschen Schluss zu machen, da braucht man nicht noch jemanden, der sich einschaltet und recht‐ fertigt. Sie sagte: »Moshe.« Und dann machte sie eine Pause. Moshe blieb still, gähnend. So sagte Nana: »Ich, äh, ich weiß nicht, ob das hier richtig ist.« Und Moshe sagte: »Hä?« Er sagte: »Hä?«, und gähnte dann wieder. Sie ging ins Schlafzimmer und suchte sich ein paar von ihren Sachen zusammen. Sie ging zurück in die Küche. Sie schmiss sie auf die Arbeitsplatte. Sie sagte: »Hör zu, Moshe. Ich liebe dich wirklich. Das heißt echt nicht, ich würde dich zurückweisen. Du darfst nicht glauben, das wäre eine Zurückweisung. Ich bin nur immer mehr zu der Auffassung gekommen, dass ich lieber bei Papa wäre. Und du und Anj ... Du und Anjali, ihr solltet zusammenbleiben.« Moshe sagte: »Wa?« Er sagte »Wa?«, und dann gähnte er wieder. Moshe war noch ganz verschlafen. Er war gerade erst aufgestanden. Um acht Uhr morgens war er intellektuell nicht auf der Höhe. Nana sagte: »Es tut mir Leid, ich meine ich, ich meine bloß, dass wir uns für eine Weile trennen sollten. Oder ich zumindest. Nur vorübergehend. Und vielleicht. Vielleicht können wir. Ich will nur nicht, dass du verletzt bist.« Sie stockte. Sie sagte: »Tut mir Leid, dass ich das tun muss.« Und Moshe sagte: »Ich versteh nicht, wieso. Ich versteh nicht, wieso. Ich versteh nicht, wieso wir das alles aufgeben müssen.« Es ist besonders schwierig – Schluss zu machen –, wenn
man es nicht wirklich will. Und Nana wollte Schluss ma‐ chen, ja, das wollte sie. Sie wollte zu ihrem Papa. Aber sie liebte Moshe immer noch. Sie fand Moshe immer noch zum Liebhaben. Nur glaubte Nana nun, dass er mit Anjali glücklicher wäre. Darum half ihr Moshe nicht gerade, indem er das Ge‐ spräch hochnotpeinlich gestaltete. Dass überhaupt ein Ge‐ spräch daraus wurde, war schon ein Problem für Nana. Es war nicht vorgesehen, dass er Pro und Contra abwägte. Es war nicht vorgesehen, dass er vernünftig war. Sie wollte raus. Sie wollte für immer weg. Sie wollte kein Gespräch. In einem Gespräch muss man Dinge erklären. Man muss sa‐ gen, dass man für immer gehen will. Und das wollte Nana nicht sagen. Das lag zum Teil daran, dass Nana ein netter Mensch war. Sie wollte niemandem Schmerz zufügen. Es lag aber auch daran, dass es nicht ganz die Wahrheit war. Das Problem beim Schlussmachen, wenn man ein biss‐ chen unsicher ist – und die Menschen sind so oft unsicher –, besteht darin, dass Schlussmachen Überzeugungsarbeit verlangt. Du musst deine oder deinen Ex davon überzeugen, dass es so das Beste für alle Beteiligten ist. Und das ist schwierig, wenn man selbst nicht voll und ganz überzeugt ist. Es ist besonders kitzlig, wenn man dabei auch noch nackt ist und zwei Tassen Kaffee macht. Nana gab Moshe einen Kaffee. Er marschierte damit ins Wohnzimmer. Und Nana ging hinterher. Sie raffte ihre Sa‐ chen zusammen und ging hinterher. »Aber ich liebe dich doch«, sagte Moshe. Ich persönlich halte das für ein sehr gutes Argument. Es klingt vielleicht etwas abgedroschen von Moshe, aber ich denke, er ist damit zum Wesentlichen vorgestoßen. Es
stimmte. Er liebte sie. Das ist ein guter Grund, um nicht mit jemandem Schluss zu machen. Er saß auf dem Futon. Er war nicht sonderlich glücklich. Er war nicht glücklich darüber, derart nackt zu sein, wäh‐ rend ein 1,80 großes und schönes Mädchen mit ihm Schluss machte. Daher breitete Moshe kunstvoll und wie nebenbei Nanas Hemd über seinen Körper. Das verbarg die Fettpols‐ ter und ‐falten, die sich zusammenlegten, als er sich hinsetz‐ te. Nana zog eine schwarze Hose an. Dann hielt sie inne. Es erschien ihr falsch, sich während dieser Krise anzuziehen. Es erschien ihr ein bisschen herzlos. Daher ließ sie es. Für den Rest dieses Abschnitts war Nana daher oben ohne und hatte den Reißverschluss offen. Das bedeutete, dass Moshe die türkisfarbene Spitze ihres Höschens sehen konnte. Ihr Höschen stammte aus dem stolzeren Preisseg‐ ment von M&S. Auf dem Tisch lag ein Taschenspiegel, und Nana klappte ihn mit dem Daumennagel auf. Der Spiegel steckte in einem Etui aus Edelstahl. Das Etui war mit dem Wort »Spiegel« bedruckt. Sie klappte ihn wieder zu. Sie sagte: »Moshe.« Er legte seine Hand um seinen hängenden Hoden, verschämt, und fühlte sich nackt. Er fühlte sich sehr, sehr nackt. Nana nahm einen neuen Lippenstift namens Moxie, den sie am Vortag gekauft hatte. Moxie war so rot wie Ruby Woo, aber leichter. Sie fand ihn im Moment nicht besonders interessant. Sie fand ihn kein bisschen interessant. Und Moshe guckte auf die Uhr, die auf einem Bastuntersetzer auf dem Wohnzimmertisch mit den herunterklappbaren Seitenteilen stand. Die Uhr hatte fluoreszierende gelbe Zeiger. Es war acht Uhr dreißig. Moshe sagte: »Du kommst zu spät.«
Sie sagte: »Das macht nichts.« Er sagte: »Doch, es ist wichtig; du solltest gehen. Wir können. Wir können später darüber reden.« Sie sagte: »Es ist doch nur ein Zahnarztter‐ min, Mosh.« Er sagte: »Ich weiß, swichtig.« Das ist jetzt keine Albernheit von mir. Er war plötzlich von ihren Zähnen besessen. Es erschien ihm plötzlich so melancholisch und so wichtig. Es schien ihm unbedingt notwendig, rücksichtsvoll zu sein. Wenn er einen rück‐ sichtsvollen Eindruck machte, dachte Moshe, würde es sich Nana vielleicht anders überlegen. Vielleicht begriff sie, wie nett er war, wenn er nett war. Moshe sagte: »Pass auf, da ist doch was, das dir Kummer macht. Erzähl es mir doch.« Sie sagte: »Nein, sieh mal, es ist wirklich nichts. Es ist sonst nichts. Ich will bloß. Ich weiß nicht.« Er sagte: »Doch, erzählʹs mir.« Das war nicht gerade die eloquenteste Aussprache, aber so war es nun mal. So geht das in solchen Situationen. Sie verlaufen selten nach Drehbuch. Moshe stand auf und trat ans Fenster. Diese frühmor‐ gendliche Szene gefiel ihm gar nicht. Was ihr fehlte, dachte er, war Eleganz. Es hätte elegant und subtil ablaufen sollen. Er musste die Situation retten. Aber er sah nicht, wie er das zuwege bringen sollte. Er war nackt. Er stand am Fenster und guckte nach draußen. Draußen ging ein Junge vorbei, der sich einen Tennisschläger über den Kopf hielt. Es war ein Wilson‐Tennisschläger. Der Plastiküberzug in Leder‐ optik war sein improvisierter Regenmantel. Moshe bedauerte diesen nass geregneten Jungen. Ach, armer Moshe. Bald, sehr bald, wird er begreifen müssen, dass Schlussmachen nicht elegant ist. Es ist nie ele‐ gant und macht auch keinen Spaß. Es ist von vielen Lügen
und Ausflüchten begleitet. Natürlich hatte diese Szene nicht die elegante Klasse der 1930er, wie er vielleicht gehofft hatte. Nein, der nackte Moshe war nur verwirrt. Da stand er – unentschlossen, niedergeschlagen, am Boden zerstört. Und Nana war genauso unentschlossen. Sie dachte wie‐ der an die abgemeldete Anjali im Schlafzimmer nebenan. Das Letzte, was Nana wollte, war, dass Anjali ins Wohnzimmer kam, um zu hören, wie Moshe und Nana über eine Trennung diskutierten. Aber andererseits, dachte sie, mussten Moshe und Nana das immer noch ausdiskutieren. Es war zu einseitig gewesen. Moshe hatte noch nichts dazu sagen können. Ach, arme Nana. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sagte: »Willst du zum Zahnarzt mitkommen?« Moshe blickte sie an. Das war nicht die Trennung, die er erwartet hatte. Na ja, eigentlich hatte er natürlich gar keine Trennung erwartet. Aber wenn man ihn gefragt hätte, wie eine Trennung vor sich geht, wäre ihm dazu sicher kein Zahnarzttermin eingefallen. Er sagte: »Zum Zahnarzt?« Sie sagte: »Na ja, wenn du nicht willst, kannst du mich ja nur bis zur U‐Bahn bringen. Nur weil. Ch will nicht, dass Anjali das mitkriegt. Ich glau‐ be, das war nicht fair.« Das war keine schlechte Idee, Moshe leuchtet es ein. Es war rücksichtsvoll. Es folgte eine kurze Unterbrechung mit komischem An‐ ziehen in zeitlupenhafter Echtzeit. Dann gingen Nana und Moshe hinaus. Ohne einen Schirm gingen sie hinaus in den Regen.
5 1920, als in Russland Bürgerkrieg herrschte, verfasste Niko‐ lai Bucharin ein Büchlein mit dem Titel Die Ökonomik der Transformationsperiode. Nikolai war Bolschewist. Daher sah er die jüngst erfolgte Revolution ausgesprochen positiv. In seinem Buch versuchte er zu erklären, warum alles liefe wie geschmiert. Er versuchte zu erklären, dass alles in bester Ordnung wäre, obwohl es so aussehen könnte, als fiele das Land auseinander. Der Revolution ging es bestens. Gut, es starben vielleicht ein paar Leute, die Arbeiterklasse starb vielleicht, aber das gehörte alles zum Plan. »Nach größerem historischen Maßstab«, schrieb Nikolai, »(...) bildet der proletarische Zwang in all seinen Formen, angefangen mit Erschießungen bis zur Arbeitspflicht, so paradox es klingen mag, eine Methode der Bildung einer neuen, kommunistischen Menschheit aus dem Menschen‐ material der kapitalistischen Epoche.« In seinem Exemplar dieses Buches notierte Lenin »ge‐ nau!« an den Rand. Aber ich bin nicht sicher, wie genau Nikolai da wirklich ist. Ich glaube, man kann noch präziser werden. Was Nikolai sagte, war, ja, ja, es wurden viele Menschen erschossen oder gezwungen, zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten. Das war nichts Schlechtes. Das war der Kommunismus. Wenn die Menschen es nur auf lange Sicht sehen wollten, dachte Nikolai, wenn sie nur nicht so egoistisch wären, dann würden sie vielleicht einsehen, wie wundervoll das Leben war. Ich bin mir nicht sicher, ob Nikolai den richtigen Titel für sein Buch gewählt hat. Die Ökonomik der Transformationspe‐
riode traf es nicht ganz. Es hätte besser Psychologie der Transformationsperiode heißen sollen. Die Psychologie der Transformationsperiode ist die: Blinder Optimismus. Man redet sich ein, dass die Dinge sich zum Besseren wenden, während sie in Wirklichkeit verfahren sind. Hier sind ein paar Zahlen aus der heroischen Phase der Großen Russischen Revolution. 1917 lebten in Petrograd 2,5 Millionen Menschen. 1920 waren es noch 700. 1913 gab es 2,6 Millionen Fabrikarbeiter. 1920 waren es noch 1,6 Millionen. 1920 stand der Nah‐ rungsmittelverbrauch bei 40 Prozent des Vorkriegsniveaus. Zwischen Januar 1918 und Juli 1920 starben 7 Millionen Menschen an Unterernährung und Seuchen. Die Sterb‐ lichkeitsziffer verdoppelte sich. Zwischen 1921 und 1928 wurden in der Ukraine 200 Juden ermordet, 300 zu Waisen gemacht und über 700 obdachlos. Nun war Moshe natürlich kein obdachloser und abge‐ schlachteter ukrainischer Jude. Diese Parallele ziehe ich nicht. Nein, ich ziehe eine andere Parallele. Moshe dachte wie Nikolai Bucharin. Mitten in einer Re‐ volution, vor dem Americana Cosmetics Store in der Pen‐ tonville Road, gab sich Moshe blindem Optimismus hin.
6 »Also ich versteh das wirklich nicht«, sagte Moshe. »Ich liebe dich.« Das hatte er schon mal gesagt, ich weiß, aber Moshe hatte kein Problem damit, es zweimal zu sagen. Das war sein zwingendstes Argument. Es war sein Totschlag‐ argument. Darum machte Moshe danach eine Redepause.
Eine effektvolle Pause. Während seiner Pause kaute Moshe zaghaft auf seiner Unterlippe herum. Nana sagte: »Ich liebe dich auch.« »Warum müssen wir uns dann trennen?«, fragte Moshe. Da klingelte Nanas Telefon. Moshe starrte darauf. Nana starrte darauf. Sie ging dran. Sie sagte: »Hi nein chbin. Nein morgen. Es ist für. Yeah definitiv. Okay cool bis dann.« Moshe sah sich die Auslage des Americana Cosmetics Store an. Es war eine Zurschaustellung wild gewordener Pharmazeutik. Und selbst in diesem kritischen Moment ließ sich Moshe von einem Angebot des Ladens ablenken: Unisex Haarmode Afro & Europäisch Moshe betrachtete die Perücken, die schlapp über Styro‐ porbüsten hingen. Da gab es Sindy und Edna und Simone und Rosa. Keine davon war hübsch. Amputierte Pferde‐ schwänze, nach Farben geordnet. Eine Plastikdose mit Echthaar‐Augenwimpern, gefärbt in allen Regenbogenfar‐ ben. Ja, selbst in kritischen Momenten hatte Moshe seine häusliche Seite. Er konnte immer wieder staunen, wofür Leute Geld ausgaben. Moshe sagte: »Aber das kann nicht sein. Ich meine. Wenn du das ernst meinst. Dann kannst du mich unmöglich noch lieben.« Und Nana sagte: »Nein so ist das nicht – ich liebe dich wirklich ich werd dich immer lieben.« »Aber das kann nicht stimmen«, sagte Moshe.
Ich bedaure Nana zutiefst. Ich bedaure alle netten Men‐ schen. Es war zu schwierig für Nana, zu erklären, warum sie gehen wollte. Es war zu schwierig, all die traurigen, un‐ glücklichen Überlegungen zu erklären. Und dann hörte der Regen auf. Das machte Moshe noch trauriger. Ihm hatte die Wirkung recht gut gefallen. Moshe gefielen die melancholischen film noir‐Konnotationen recht gut. Regen, dachte Moshe, war wenigstens das richtige Wetter für Traurigkeit.
7 O.k. Lasst mich zu Nikolai Bucharin zurückkehren. Ich spu‐ le kurz vor, von 1920 nach 1930. Anfang der 1930er machte sich Stalin ein bisschen Sorgen wegen Nikolai. Viele Leute waren der Ansicht, er bewundere Stalin nicht in dem gebotenen Maße. Sie diffa‐ mierten Nikolai als Terroristen, als Verschwörer. Natürlich regte das Nikolai auf. Daher rief er Stalin an. »Hey Nikolai, Kolya, keine Panik«, sagte Stalin. »Wir re‐ geln das schon. Natürlich halten wir dich nicht für einen Gegner.« Und Nikolai quiekste: »Wie kannst du überhaupt auf die Idee kommen, ich könnte Komplize terroristischer Gruppierungen sein?« Stalin fand das wirklich entzückend. Eine Büroklammer aufbiegend, sagte er: »Keine Bange, Kolya, keine Bange. Wir regeln das schon.« Ich muss gestehen, ich mag Stalins Umgangsformen am Telefon. Ich habe es bereits gesagt und ich sage es erneut. Der Mann war ein Genie am Telefon.
1938 machte Stalin Nikolai Bucharin wegen Landesverrats den Prozess. An dieser Stelle gibt es eine weitere Parallele zwischen dem Leben des Politikers Nikolai Bucharin und dem Leben von zweien meiner Hauptfiguren – Nana und Moshe. In seinem Schauprozess 1938 legte Nikolai ein falsches Geständnis ab. Er erklärte sich für schuldig an »den gesam‐ ten Verbrechen, die diese konterrevolutionäre Organisation begangen hat, ungeachtet der Tatsache, ob ich im Einzelfall davon gewusst habe oder nicht, ob ich direkt daran beteiligt war oder nicht.« Nikolai behauptete natürlich, es wäre kein falsches Ge‐ ständnis. Das ist das Wesen jedes falschen Geständnisses. Zuvor war Nikolai wie Moshe gewesen. Nun ist er wie Nana. Ich finde, mit jemandem Schluss zu machen ist ziemlich so, wie an einem Schauprozess teilzunehmen. Es gibt einen generellen Anschein von Gerechtigkeit und Vernunft. Und die Person, die Schluss macht, übernimmt alle Verantwor‐ tung. Er oder sie legt ein falsches Geständnis ab.
8 Vor dem Americana Cosmetics Store legte Nana ein falsches Geständnis ab. »Vielleicht. Gut, vielleicht liebe ich dich einfach nicht mehr. Vielleicht hast du Recht. Mit Anjali wärst du besser dran«, sagte sie. »Ich, ich will mit Papa zusammen sein, und es ist einfacher so. Vielleicht hast du Recht.« Mir tut Nana Leid. Wirklich. Es war nicht nett, so zu lü‐
gen. Aber Moshe tut mir noch viel mehr Leid. Mag sein, dass es zwischenmenschlich heikel und im Stillen traurig für Nana war, mit Moshe Schluss zu machen, aber zumin‐ dest war es ihre Entscheidung. Es war ihre zerquälte und ir‐ rationale Entscheidung. Moshe hingegen hatte ganz und gar nichts zu entscheiden. Moshe war nicht glücklich. Er war einsam. Er war plötzlich sehr einsam. Moshe war ver‐ zweifelt. Alles, woran er denken konnte, war Anjali. Dieser Gedan‐ ke trug nicht dazu bei, dass er sich weniger einsam fühlte. Er sagte: »Wie meinst du das mit Anjali?« Nana sagte: »Wie ichʹs gesagt hab.« Sie sagte: »Es war mein Ernst, was ich gesagt hab. Du wärst mit Anjali besser dran.« Er sagte: »Aber ich will Anjali nicht. Ich will dich.« Ein winziges dreieckiges Hautfetzchen knapp unter der Nagelhaut des Zeigefingers ihrer linken Hand blieb an ei‐ nem Polyesterfaden von Nanas Hosentaschenfutter hängen. Sie ignorierte es. Sie guckte auf die JAZZY Professional Klebepistole im Schaufenster des Americana Cosmetics Store. Sie fragte sich, wozu die wohl gut war. Nana sagte: »Nein, ich finde, du solltest mit Anjali zu‐ sammen sein.« Und Moshe sagte: »Ich will aber nicht mit Anjali zusammen sein. Ich will mit dir zusammen sein. Du hast sie doch angeschleppt. Das war nicht meine Idee. Ich binʹs nicht, der das wollte.« Moshe war zutiefst verletzt und verwirrt. »Du wolltest sie«, sagte er. »Ich bin derjenige, der ein Problem damit hatte. Ich müsste an deiner Stelle sein. Ich hätte schon vor Ewigkeiten Schluss machen können.« Natürlich hatte Moshe in Betracht gezogen, Schluss zu machen. Doch es war nie eine realistische Möglichkeit ge‐ wesen. Er liebte Nana. Er wollte auf jeden Fall mit ihr zu‐
sammenbleiben. Ich kann schon verstehen, wieso er das ge‐ sagt hat. Ich kann verstehen, warum er seine Unabhängig‐ keit erklären wollte. Er tat etwas, um sich besser zu fühlen. Er betrieb Schadensbegrenzung. Denn es ist demütigend, wenn jemand Schluss mit einem macht. Es gibt kaum ein schlimmeres Gefühl. Er sagte: »Nana ich sollte gehen, du musst zum. Du musst zum Zahnarzt.« Und obwohl Moshe edelmütig und gefasst klang, war er nicht edelmütig und gefasst. Ehrlich gesagt wusste er einfach nicht weiter. Er war sehr verstört. Er hatte keine Vorstellung, was er als Nächstes sagen sollte. In seiner Aufgewühltheit machte er sich Sorgen, dass Nana ihren Zahnarzttermin verpassen könnte. Weil es ihm immer noch wichtig war. Er war aufrichtig. Er sagte: »Ich liebe dich über alles.« Es folgte eine Pause. »Du musst jetzt gehen«, sagte Moshe.
9 Nanas Zahnarzt hieß Mr Gottlieb. Mr Gottliebs Praxis lag am Cavendish Square. Das mag nach einem Upperclass‐Zahnarzt klingen. Und er war ein Upperclass‐Zahnarzt. Seine Praxis lag direkt bei der Harley Street. Aber Nana ging nicht der Adresse wegen zu Mr Gottlieb. Mr Gottlieb hatte als unbedeutender kleiner Zahnarzt im staatlichen Gesundheitsdienst in Edgware angefangen. Dann war er zu einem Upperclass–Zahnarzt mit einer Pri‐ vatpraxis im Herzen Londons avanciert. Er hatte zugesagt,
Nana weiter zu behandeln. Er behandelte sie auch weiter‐ hin, weil er ein Freund der Familie war. Es war eine Gefäl‐ ligkeit für Nanas Papa. In Mr Gottliebs Wartezimmer gab es ein Aquarium und eine Auswahl an Zeitschriften. Nana nahm sich eine Aus‐ gabe von Take a Break von 1989. Take a Break war klebrig. Nana sah darüber hinweg. Sie begann, Take a Break zu lesen. Sehr bald fing sie an zu weinen. Nana hatte angefangen, die wahre Geschichte einer Frau namens Mandy zu lesen, die sich in einen Mann namens Alan verliebt hatte. Es stellte sich heraus, dass Alan an einer Motorneuronerkrankung litt. Diese wahre Geschichte brachte Nana zum Weinen. Sie musste weinen, weil Mandy und Alan sich entschlossen hatten, dem Tod zum Trotz ein Kind zu bekommen. Ein Kind würde immer die Erinnerung an Alan wachhalten. Und diese Geschichte gipfelte in einer Szene am Sterbebett. Ich zeigte ihm einen Briefumschlag. Ich zog eine Urkunde heraus. »Es ist ein Stern«, sagte ich. »Er ist nach dir und James benannt.« Sie hatten ihn Alan‐und‐James‐Wilson‐Stern getauft. Alan lächelte: »Du wirst ihm alles über mich erzählen, nicht wahr?«, fragte er. Ich nickte. Ich hielt seine Hand, als er sanft einschlief. Er war 48. James war 14 Wochen alt. Dann trat Mr Gottlieb ein und fand Nana laut schluchzend neben dem stummen tropischen Fisch.
Mr Gottlieb sagte: »Nina.« Er sagte: »Nina.« Nana schaute zu ihm auf und drückte sich die Innenseite ihres Hand‐ gelenks ins Gesicht. Sie sagte: »Nein es ist. Es ist.« Mr Gott‐ lieb fragte: »Alles in Ordnung?« Und sie sagte: »Oh ja, mir gehtʹs gut.« Mr Gottlieb fragte: »Und Ihrem Vater?« Und in ihrer inneren Zerrissenheit war Nana ganz entfallen, dass Mr Gottlieb nichts über die jüngste Entwicklung bei Papas Krankheit wusste. Sie weinte. Sie schluchzte. Sie versuchte zu sprechen. Sie versuchte etwas zu sagen wie: »Ich habe Angst, dass er sterben wird.« Aber es ist kein guter Moment zum Reden, wenn man gerade weint. Es trägt nicht eben dazu bei, sich verständlich auszudrücken. Mr Gottlieb war taktvoll. Er wollte Nana nicht noch mehr aufregen. Er wollte ihr keine blutigen Details entlocken. Wenn Nana so tun wollte, als wäre alles normal, dann sollte man ihr das zugestehen. Es war nur natürlich, fand er, dass Nana aufgewühlt war. Ich glaube, ihr solltet Mr Gottlieb seine Annahme, Papa wäre gestorben, nicht allzu sehr ankreiden. »Warum gehen Sie nicht nach Hause?«, fragte Mr Gott‐ lieb. Ja, er schickte das arme Mädchen heim. Für Zähne, dachte Mr Gottlieb, war im Angesicht des Todes kein Platz. Er war kein verbohrter Ideologe, Mr Gottlieb. Er maß ei‐ nem strahlenden Lächeln keinen übertriebenen Wert bei.
IO Ich werde die Geschichte hier für einen Augenblick unter‐ brechen. 1975 schrieb Andy Warhol das Buch Die Philosophie des
Andy Warhol (Von A bis B und zurück). Na gut, er schrieb es nicht. Er diktierte es. Aber egal, unter dem, was er schrieb beziehungsweise diktierte, stand auch: Sex ist die wehmütige Erinnerung an die Zeit, in der man gele‐ gentlich Lust daraufhatte. Sex ist die wehmütige Erinnerung an Sex.
Und ich glaube, das stimmt. Ich glaube, manchmal trifft es zu. Nachdem sich zum Beispiel Stacey und Henderson ge‐ trennt hatten, lernte Stacey einen Jungen namens Kwame kennen, der ihr gefiel. Kwame ging auf die Middlesex Uni– versity, wo er Environmental Theory studierte. Kwame war interessant. Er unterhielt sich mit ihr über Fische in der Nordsee. Die Nordsee war stark verschmutzt. Das bereitete dem Nordseefisch große Probleme. Unglücklicherweise war Kwame jedoch ein schmächtiger Junge, der eine Brille mit silbernem Drahtgestell trug. Daher fand Stacey, ein Mäd‐ chen, deren Geschmack eher groß und cool war, Kwame nicht besonders attraktiv. Sie hatte trotzdem Sex mit Kwa‐ me. Sie mochte ihn. Und sie dachte, Sex wäre das, was sie gerne mit Jungen machte, die sie mochte. Das, was sie auch mit Henderson gemacht hatte. Sex war für Stacey die wehmütige Erinnerung an Sex.
11 Das war nicht bloß eine kleine Ablenkung. Es sollte euch nicht bloß an der traurigsten Stelle meiner Geschichte auf‐ heitern. Ich hatte einen wichtigeren Grund. Auf eine sehr ähnliche Art wie Andy und Stacey und
Kwame lag Anjali einige Tage, nachdem Nana gegangen war, mit Moshe im Bett. Sie waren kurz davor einzuschla‐ fen. Das überrascht euch vielleicht. Vielleicht überrascht es euch, dass Moshe und Anjali immer noch zusammen sind. Vielleicht meint ihr, dass es die Beziehung der beiden Verbliebenen beeinträchtigen würde, wenn einer eine me‐ nage á trois verlässt. Es wäre dann allzu offenkundig, dass sie nicht von sich aus ein Paar waren. Sie wären nur die Überreste eines Dreiers. Und das würde ihre Paarbeziehung schwer belasten. Ich denke, in gewisser Hinsicht stimmt das. Aber es lässt ein entscheidendes Detail außer Acht. Keiner würde frei‐ willig zugeben, zwei Drittel eines Dreiers zu sein. Das ist peinlich. Obwohl ein großer Druck auf dem Pärchen lastet, würde keiner von beiden das zugeben. Keiner von beiden würde zugeben, dass diese Beziehung Schwachstellen hatte. Beide haben ihre Gründe, dazu zu schweigen. Wie sehen diese Gründe aus? Nun, am besten veranschaulicht man sie mit einer Sex‐ szene. Ja, eine Sexszene. Vielleicht reichen euch die Sex‐ szenen langsam. Ich darf euch beruhigen. Das wird die letzte Sexszene in diesem Buch. Und es ist eine angenehme Sexszene. Anders als bei vielen anderen Sexszenen in diesem Buch, gibt es bei dieser keinen Grund, ins anatomische Detail zu gehen. Es ist einfach eine nostalgische Sexszene. Und überhaupt, eine nostalgische Sexszene ist eigentlich gar keine Sexszene. Es ist kein großartiger koitaler Akt. Also. Anjali lag mit Moshe im Bett. Es gab einen ganz einfachen Grund, warum Moshe dazu
schwieg. Und zwar folgenden: Er war nicht davon überzeugt, dass Anjali ein durch und durch heterosexuelles Mädchen war. Das war der Grund, warum Moshe dazu schwieg. Konfus und verwirrt durch die jüngsten Entwick‐ lungen, hatte er beschlossen, abzuwarten, was kam. Und ich bin sicher, dass Moshe Recht hatte. Unter prak‐ tischen Gesichtspunkten war es das richtige Verhalten. An‐ jali war sich keineswegs sicher, dass sie ein durch und durch heterosexuelles Mädchen war. Aber sie war lieb. Sie konnte Moshe nicht beibringen, dass er nicht ihr Freund war. Anjali sorgte sich, dass das die ménage zu unaufrichtig gemacht hätte. Und Anjali hatte auch noch einen anderen Grund. Sie war einsam. Sie vermisste Nana sehr. Und wenn man einsam ist, ist es deutlich angenehmer, jemanden zu haben, mit dem man schlafen kann, als überhaupt niemanden zu haben. Deswegen waren Moshe und Anjali immer noch zusam‐ men. Das waren ihre Gründe dafür, über das Seltsame an ihrer Beziehung stillschweigend hinwegzugehen. Und ich glaube, da war auch noch etwas anderes. Obwohl Moshe und Anjali in der ménage nicht glücklich, sondern, im Gegenteil tieftraurig gewesen waren, war das kein Grund, warum sie nicht als Pärchen glücklich sein sollten. In einer neuen Situation können sich Gefühle sehr schnell ändern. Ich zum Beispiel finde es für zwei Menschen, die plötzlich ein Paar geworden sind, ganz natürlich, zu glau‐ ben, dass es funktionieren könnte. Es ist ganz natürlich, dass sie das Beste hoffen. Die Menschen bagatellisieren gerne. Ich glaube, sie sind von Natur aus optimistisch. Und sie waren beide optimistisch, Anjali und Moshe.
Schließlich mochten sie einander. Da wäre es doch möglich, dachten sie insgeheim, dass sie ein Paar sein könnten. Es war unwahrscheinlich, aber möglich. Warum war das jetzt eine Sexszene? Weil sich Moshe und Anjali, während ich erklärt habe, was in ihnen vorgeht, leise berührt haben.
12 Ein oder zwei Wochen später spazierten Nana und Moshe über die Hatton Garden. Hatton Garden ist die Straße der Juweliere in London. Sie ist zugleich eine sehr jüdische Straße. Was meiner Meinung nach reiner Zufall ist. Ich halte es nicht mit Snoop Doggy Dogg, der einmal das philolo‐ gische »Jew« in »Jewellery« hervorgehoben hat. Das »Jew« in »Jewellery« ist ein phonetischer Zufall. Es stimmt allerdings, dass Moshe auf der jüdischen Hat‐ ton Garden über sein Jüdischsein sprach. Während Nana und Moshe durch den Regen gingen, plauderte Moshe über die orthodoxen Juden, die mit ihren breitkrempigen schwarzen Hüten unter Plastikmarkisen Schutz gesucht hatten. Er bewundere die Chassidim, sagte Moshe. Er liebe alles an ihnen. Er liebe ihre Untersetztheit und die Locken, die vor ihren Ohren baumelten. Sie hätten ihren eigenen tadellosen Stil. Moshe wusste zu würdigen, wie stilsicher ihre Hosen über ihren schwarzen, gerippten Polyestersocken flatterten. Oder die Art, wie ihre Kapeis an dem kleinen Haarschopf auf ihrem Kopf befestigt waren. Ja, das liebe er, sagte Moshe in trauriger Stimmung. Ich hoffe, ihr wisst zu würdigen, wie gut sich Moshe hält. Er ist sehr höflich. Er ist der beispielhafte Ex‐Freund.
Denn obwohl Moshe traurig war, war er doch zugleich charmant. Es war ein zwischenmenschlich brenzliger Mo‐ ment – den Tag mit seiner Ex zu verbringen, während er mit deren anderer Ex noch zusammen war. Das war schon knifflig genug. Und zu all dem starb womöglich auch noch Nanas Vater. Deswegen, dachte Moshe, war es kein optima‐ ler Tag. Aber Moshe war kein schlechter Mensch, er war kein egoistischer Mensch. Weil es zwischenmenschlich brenzlig war, quasselte Moshe viel. Er quasselte und war charmant. Moshe sagte: »Solln wir irgendwo reingehen und was es‐ sen?« Und Nana nickte, weil sie ein Mädchen war, das ge‐ wohnheitsmäßig unvorbereitet war – in einem weißen Bo‐ den‐T‐Shirt im Januar. Irgendwo reinzugehen klang daher himmlisch. Moshe wusste schon, wo sie essen gehen würden. Das war keine unschuldige Frage. Er wollte mit Nana in die Kosher Knosherie. Also trotteten sie pitschnass zur Kosher Knosherie auf der Greville Street. Vor der Kosher Knosherie parkte das Kosher‐Knosherie‐ Taxi – für Lieferfahrten – mit einem Reifen halb auf dem Bordstein. Auf der Fahrertür des Wagens stand mit Scha‐ blone geschrieben in kräftigen purpurfarbenen Kursivbuch‐ staben Knosh Around the Clock. Hier gab es, wie Moshe ihr versicherte, das beste gepökelte Rindfleisch der Stadt. Bes‐ ser als in der Brick Lane, sagte er. Es lag grün–grau und fettig auf der Ladentheke, wo es vierundzwanzig Stunden am Tag zu sehen war. Beide setzten sich. Moshe war nervös. Nana war auch nervös.
Nana zog ihr klammes T‐Shirt von dem zarten Spitzen‐ blattwerk ihres BHs weg. Moshe sagte, er fände den Laden toll. Ich möchte nicht, dass ihr glaubt, Moshe sei plötzlich konvertiert. Es war nicht so, dass er nach der Trennung von Nana zu Jehova gefunden hätte. Nein, er war in keiner Wei‐ se frum geworden. Moshes Beziehung zum jüdischen Glau‐ ben war wie immer rein sentimentaler Natur. Die Kosher Knosherie stimmte ihn sentimental. Sie ließ ihn glauben, er möge gepökeltes Rindfleisch. Bei den sporadischen Ge‐ legenheiten, zu denen er Streifen von gepökeltem Rind‐ fleisch aus einem Bagel in der Kosher Knosherie herausriss, fühlte sich Moshe der East‐End‐Coolness jüdischer junger Männer verbunden. Ein Mann mit rotblondem Flaum auf den Ohren kaufte gerade einen Cream‐Cheese‐Bagel. »Aber am besten fand ich immer Stanley Matthews«, sagte er, die Tür aufsperrend und festhaltend. »Jau«, erwiderte der Mann hinter der The‐ ke. Der Mann hinter der Theke versuchte, einen Plastik‐ deckel auf einen Pappbecher mit Kaffee zu drücken. »Keine lange Knutscherei«, sagte der Mann, die Tür wieder zuzie‐ hend und mit der Faust gestikulierend, die seine zer‐ knautschte Bageltüte hielt. »Der machte immer nur sein Tor, Händeschütteln, Schulterklopfen, und dann ist er wie‐ der zurückgelaufen.« Moshe blickte auf die Speisekarte. Er blickte Nana an. Er sagte: »Ich hab, ich hab.« Er sagte: »Wir haben dich ver‐ misst. Wir haben dich beide vermisst.« Nana sagte: »Ich habe euch auch vermisst.« Moshe sagte: »Ich liebe dich im‐ mer noch. Weißt du. Ich liebe dich immer noch.« Und Nana sagte: »Ich weiß.«
Moshe sagte: »Erinnerst du dich noch, wie du mir gehol‐ fen hast, meinen Text für was war das noch mal, Noel Co‐ ward, zu lernen? Das war das Lustigste, was wir beide je gemacht haben.« Ich denke nicht, dass das am Thema vorbeiging. Es macht vielleicht diesen Eindruck, aber das tat es nicht. Moshe war in Nana verliebt. Er wollte, dass sie sich danach zurücksehnte. Er wollte, dass sie ihn auch vermisste. Nana sagte: »Was war das noch mal, was du als Nächstes machst?« Moshe sagte: »Ich? Ich, oh. Ach, nichts. Nächste Woche treff ich mich mit einigen Leuten. Anjali hat was am Laufen. Sie macht wieder einen Werbespot für irgend–wen. Ich komm grad nicht drauf. Aber es soll sich lohnen, es soll sich sogar ziemlich lohnen.« Nana nickte. Moshe sagte: »Und wie, wie gehtʹs deinem Vater?« Nana sagte, »Oh. Oh, dem gehtʹs gut. Oder jedenfalls durchwach‐ sen. Ich mein, mit seinem Geschmack, das ist komisch. Er kann nichts Extremes schmecken, Curry oder so. Oder er kann immer noch nicht den Unterschied zwischen Zitrone und Limone schmecken.« Moshe sagte: »Mhmm.« Und das war kein gelangweiltes »Mhmm«, nicht, dass ihr das denkt. Es war ein beunruhigtes »Mhmm«. Nana fragte: »Und weißt du, welcher Geschmack als erster wieder da war?« »Nein, was?«, fragte er. »Tintenfisch«, sagte Nana. »Tin‐ tenfisch?«, fragte Moshe. »Er aß so einen ganz tollen Tin‐ tenfisch, und den schmeckte er. Es kam nach einer Erkäl‐ tung wieder«, sagte Nana. »Er sagte, er hätte eine Erkältung gehabt und nichts mehr schmecken können, und als sie weg war, kam sein Geschmackssinn zurück und war besser als vorher. Wie kann das bloß sein?«
Moshe sagte: »Nana. Nana, mein Herz. Ich hab keine Ahnung.« Moshe griff nach der Speisekarte. Diese Aktion sollte von seinen nächsten Worten ablenken oder sie verschleiern. Er sagte: »Ich denke, es könnte was werden, mit mir und Anjali. Ich meine. Schon komisch ohne dich. Es ist traurig. Aber ich weiß nicht. Kann sein, vielleicht schaffen wirʹs.« Nun ja, ich bin ein wenig überrascht, dass Moshe so etwas sagte. Wenn er Nana zurückwollte, war es nicht gerade vernünftig, ihr zu erzählen, dass Moshe und Anjali eventu‐ ell zusammen glücklich werden könnten. Aber ich glaube, ich erkenne Moshes fehlgeleitete Gedankengänge. Letzt‐ endlich stimmte es ja irgendwie, und es gab ihm die Gele‐ genheit, höflich zu sein. Er versuchte, diesen Ausflug in die Kosher Knosherie für Nana möglichst unkompliziert zu ge‐ stalten. Darum wollte Moshe einen gefassten Eindruck ma‐ chen. Ich schätze, es freute Moshe auch, Nana zu verstehen zu geben, dass sie ihn nicht gebrochen hatte. Es war ein klitze‐ kleiner, höflicher Moment der Rache. Und Rache war es wirklich. Nana hatte Moshe gern. Sie hatte ihn mehr als gern. Es war schwierig, derart edelmütig zu sein. Sie fand es nicht schön, von Moshe getrennt zu le‐ ben. Sie war eifersüchtig auf Moshe und Anjali. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass sie am Ende glücklich miteinan‐ der werden würden. Nana nickte. Sie sah sich um. Ein Mann neben ihr matschte mit Ketchup auf seinen Pommes herum. An den Wänden hingen riesige Puzzles wie Fresken. Zu Nanas Rechten hing Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch. Das war
darunter in drei verschiedenen Sprachen angegeben, jedes Mal auf einer eigenen Trompe‐lʹœil‐Pergamentrolle. »Temptation of Saint Anthony – Tentation de Saint Antoine – La Tentazione di Antonio«. Neben dem Puzzle hing ein Schild – Größtes Puzzle »DER WELT« Über 16000 TEILE – und zu ihrer Linken hing ein weiteres Puzzle. Es zeigte ei‐ nen See. Nana fragte sich, ob es in Israel Seen gab. Sie fragte sich, ob dieser See in Israel lag. Sie schaute auf die Plas‐ tikspeisekarte in kastanienbraunem Kunstledereinband. An die Speisekarte hatten sie einen Restaurant‐Tip für die besten Pökelfleisch‐Adressen geheftet, aus dem Evening Standard kopiert. Nana bestellte einen Bagel und ein po‐ chiertes Ei. Moshe bestellte gepökeltes Rindfleisch. Und damit habt ihr Moshe zum letzten Mal gesehen. Das letzte Mal, dass ihr ihn seht, nachdem Nana mit ihm Schluss gemacht hat, ist dieser Augenblick, in dem er in der Kosher Knosherie einen Bagel mit gepökeltem Rindfleisch bestellt. Ich kann verstehen, warum Moshe hier in der Kosher Knosherie sentimentale Anwandlungen bekam. Sie verkör‐ perte die jüdischen fünfziger Jahre. In die Mitte jedes Tellers war ein fettes B gedruckt und dann rechts daneben »leib ei looms estem eefsteak«, untereinander geschrieben. Das war eine vergangene Zeit. Das war leuchtend rosa Wachstuch und vergoldete, gerundete Schnörkel an den Stuhllehnen. Es war eine bedeutend sicherere und glücklichere Welt.
Und ich kenne das Gefühl. Wenn ich dort bin, werde ich auch sentimental.
13 Aber ich werde nicht sentimental werden. Ich werde nicht wehmütig werden. Nein. Stattdessen werde ich Glück be‐ schreiben. Auch wenn ich an dieser Stelle der Geschichte keine große Auswahl habe. Ich will versuchen, Nanas Glück zu beschreiben. Edgware machte Nana glücklich. Sie lebte gerne in Edgware. Weil Papa dort lebte, und zwar ger‐ ne, fand Nana, Edgware sei cool. Vielleicht seid ihr noch nie in Edgware gewesen. Viel‐ leicht könnt ihr nicht verstehen, um welch seltsame Abart von Glück es sich dabei handelte. Edgware ist die Endstati‐ on der Northern Line, also nicht gerade pulsierende Groß‐ stadt. Es ist definitiv Vorort. Die U‐Bahn–Station wurde 1923 von S.A. Heap in gemäßigt neogeorgianischem Stil entworfen. Jedes Jahr wird auf dem Vorplatz der Station zur Feier von Chanukka ein zehn Fuß hoher Leuchter auf‐ gestellt. Wenn man aus der Station kommt und sich links hält, kommt man am McDonaldʹs und am Eingang zum Broadwalk Shopping Centre vorbei. Samstagabends, wenn der Sabbat vorbei ist, versammeln sich jüdische Jungs und Mädchen mit schwarzen und asiati‐ schen Jungs und Mädchen vor dem McDonaldʹs. Sie ver‐ kaufen sich gegenseitig Drogen. Um sich die Zeit zu vertrei‐ ben, fahren sie manchmal mit der U–Bahn nach Golders Green und stehen vor der Station Golders Green herum. Dann fahren sie wieder zur Edgware Station.
Edgware ist eine multikulturelle Oase. Wenn man am McDonaldʹs vorbeigeht, kommt man auch an einem Zeitungsstand vorbei, der vom]ewish Chronicle gesponsert wird. Draußen am Zeitungsladen hängt eine ebenfalls vom ]ewish Chronicle gesponserte Tafel. Die Tafel ist im Vertrag mit drin. Auf ihr bewerben sie ihre Titel‐ geschichten. Als Nana heimkehrte, um sich um ihren Papa zu kümmern, hieß die Titelgeschichte des Jewish Chronicle: »Gewinnen Sie Pessach‐Ferien für vier Personen auf Mallorca!« Ich fürchte, dass dies, zusammen mit dem zehn Fuß ho‐ hen siebenarmigen Leuchter, Nana traurig stimmte. Es stimmte sie sentimental. Na ja, vielleicht nicht direkt sen‐ timental. Sie war ja gar keine Jüdin. Israel war nicht ihre Heimat. Ihr gingen bloß traurige, schmerzliche und tragi‐ sche Gedanken an einen ganz bestimmten, anbetungswür‐ digen jüdischen Jungen durch den Kopf. Ihr dürft nicht vergessen: Sie liebte Papa. Aber sie liebte auch Moshe. Wenn ihr hinter dem Zeitungsladen nach rechts schaut, seht ihr das Belle‐Vue‐Kino. Wenn ihr weitergeht, erreicht ihr nach kurzem Weg das architektonisch extravagante Railway Hotel. Das Railway Hotel wurde 1931 von A.E. Sewell in wüstem Pseudotudorstil erbaut, mit Zinnenkranz und allem Drum und Dran. Und damit sind wir am Ende der Edgware High Street. Edgware ist typisch Vorort. Es ist trist, beschaulich, lie‐ benswert und kitschig.
14 Aber halt, es gab noch eine weitere Person in dieser Ge‐ schichte, die glücklich war. In gewisser Weise war sie zu diesem Zeitpunkt sogar glücklicher als Nana. Anjali saß in Moshes Wohnung und döste verschlafen. Sie saß in Moshes Wohnung und machte sich Gedanken über Nana. Sie machte sich Gedanken über Moshe. Anjali machte sich Gedanken über die Liebe. Ich möchte, dass ihr euch an Anjali erinnert. Überfliegt diese Stelle nicht einfach. Anjali musste an ihre Bollywood‐Filme denken. Der schönste aller Bollywood‐Filme, die sie gesehen hatte, war Devdas. Der Film war sehr bewegend. In der Schluss‐Szene, wenn Shah Rukh Khan vor der Pforte von Aishwarya Rais Haus stirbt, zeigt er, wie wunderbar und machtvoll die Lie‐ be ist. Er zeigt, dachte Anjali, dass die Liebe stärker als alles andere ist. Und ich glaube, da hatte Anjali Recht. Ich habe sie wirk‐ lich gern. Aber ich glaube, ich habe sie besonders gern, weil sie, obwohl sie Gedanken an das Wunder und die Allmacht der Liebe nachhing, immer noch sachlich blieb. Weil Anjali ein sachlicher Mensch war, war sie ratlos. Sie verstand nicht recht, was sie empfand. Es war nicht Liebe. Das wusste sie. Sie war einfach nur glücklich. Sie war ganz unvermittelt und überraschend glücklich.
III
11 Das Finale
1 Papa und Nana saßen auf seiner Bettdecke mit dem origi‐ nellen Muster aus kleinen weißen Löwen und Falken und Obstbäumen vor magentafarbenem Grund und unterhiel‐ ten sich über ihren netten Freund Moshe. Papa mochte Moshe. Er mochte Moshe sehr. Anjali ist nicht das Ende. Das habt ihr ja sicher gewusst. Ich höre doch nicht auf mit Anjali, die allein herumsitzt und glücklich ist. Nein. Ich habe mit einer Schlafzimmerszene begonnen und werde auch mit einer Schlafzimmerszene aufhören. »Und überhaupt, und wie gehtʹs eigentlich Moshe?«, fragte Papa. »Wann ziehst du wieder zu ihm um?« Bevor wir hier weitermachen, will ich Papas Aufmachung beschreiben. Seine Aufmachung war ungewöhnlich. Sie bestand aus einer roten Socke, einer marineblauen Socke, einer schwarzen Anzughose, an der er den Reißverschluss, aber nicht den Knopf geschlossen hatte, und einem weißen T‐Shirt mit dem Bild eines krausbärtigen Satyrs, das sich Papa 1987 auf Rhodos gekauft hatte.
So, jetzt kann ich noch mal anfangen. Ich wollte nur, dass ihr seine Tagesgarderobe vollständig erfasst. »Und überhaupt, wie gehtʹs eigentlich Moshe?«, fragte Papa. »Wann ziehst du wieder zu ihm um?« Ihr seht, Papa wusste nicht, dass Nana Moshe für immer verlassen hatte. Nana hatte es ihm nicht erzählt. Sie hatte es nicht getan, weil sie ihn nicht mit ihrem Liebesleben be‐ helligen wollte. Sie wollte, dass Papa sich von Nana ganz und gar geliebt fühlte. Und damit konnte Nana ihm nicht erzählen, dass Moshe und sie nicht mehr zusammen waren. Es würde ihren Akt reiner Liebe verkomplizieren. Er würde dann weniger aufrichtig wirken. Denn Nana handelte aus reiner Liebe. Das stimmte.
2 Ich denke, ihr solltet Nanas Stillschweigen über ihre Tren‐ nung von Moshe nicht als völlig verrückt verurteilen. Es ist sehr schwierig, gut zu sein. Es ist nahezu unmöglich, würde ich sagen. Man muss sich auf alle möglichen Verallgemei‐ nerungen und Annahmen stützen. Eine solche Verallgemeinerung ist die, dass Menschen eine edle Geste einer pragmatischen oft per se für überlegen halten. Selbst wenn sie uneffektiv und potentiell schädlich für einen selbst ist, ist und bleibt eine edle Geste edel, ist und bleibt sie moralisch überlegen. In der Sprachregelung dieses Romans ist es somit anstän‐ diger, bei Papa zu bleiben, als bei Moshe zu bleiben. Es mag selbstzerstörerisch und potentiell schädlich für Nanas künf‐ tiges Glück sein, aber es ist tugendhafter.
Einen Fürsprecher ihrer Sicht der Dinge fände Nana in dem tschechischen Dissidenten und Präsidenten Václav Havel. Am 9. August 1969, noch als Dissident, schrieb Václav einen Brief an den damaligen tschechischen Prä‐ sidenten Alexander Dubĉek. Das war ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei. Die Russen waren wegen Dubĉeks sanfterer, freundlicherer Version des Kommunismus einmarschiert. Sie hatten Dubĉek gezwun‐ gen, sein Amt als Präsident niederzulegen, ihm jedoch gestattet, seinen Sitz im Parlament zu behalten. Aber sie ließen ihm keine Ruhe. Sie wollten, dass er öffentlich seiner freundlicheren Version des Kommunismus abschwor. Václav wollte nicht, dass Dubĉek das tat. Václav wollte, dass er seinen Glauben an die freundlichere Version des Kommunismus bekräftigte, selbst wenn es für Dubĉek ge‐ fährlich war und völlig folgenlos bleiben würde. Deswegen schrieb er seinen Brief an Dubĉek, in dem er an dessen Edelmut appellierte. »Denn«, schrieb Václav, »das alles ist völlig vernach‐ lässigenswert angesichts der eminenten sittlichen und des‐ halb – bedenkt man die längerfristige Entwicklung – auch gesellschaftlichen und politischen Bedeutung, die diese Haltung für das zukünftige Schicksal unserer Völker hatte.« Václav meint, dass wir über nutzlose und selbstschädi‐ gende moralische Entscheidungen nicht lachen sollten. Es sind nicht zwangsläufig reine Showeffekte. Es sind nicht zwangsläufig leere Gesten. Sie könnten ja irgendwann noch etwas Gutes bewirken. Unglücklicherweise hatte Václavs Theorie keine Gele‐ genheit, unter Beweis gestellt zu werden. Im September 1969, einen Monat nach Václavs Brief, vertrieben die Russen
Dubĉek auch aus dem Parlament. Václav erhielt nie eine Antwort.
3 Nana beantwortete Papas Frage nicht sofort. Sie sagte ihm nicht sofort, wann sie zurück zu Moshe ziehen würde. Statt‐ dessen öffnete sie, neben Papa auf dem Bett sitzend, die Post. An diesem Morgen bestand die Post aus einer Karte. Es war eine Beileidskarte von dem Freund und Zahnarzt ih‐ rer Familie, Mr Gottlieb. Liebe Nina, Der Tod deines Vaters ist für alle ein schmerzlicher Verlust. Mit aufrichtigem Beileid Luke Gottlieb
Sie kicherte. Sie las die Karte vor. Sie beide kicherten. »Was für ein Schuft!«, sagte Papa. »So was schreibt der, wenn ich tot bin? Bloß einen Satz? Zeig mal her.« Papa las es. Er las es noch mal. »Was für ein Schuft!«, sagte Papa. Nana stellte die Karte auf das Fensterbrett. Sie wollte nicht stehen bleiben. Sie bog die Karte zurecht. Dann blieb sie stehen. Papa sagte: »Wie kommst du überhaupt dazu, ihm zu erzählen, ich wäre tot? Wieso schickt er mir überhaupt so eine Karte, das wüsste ich gern?« »Ich weiß nicht mehr«, sagte Nana. »Chab nichts gesagt. Chab nichts gesagt, Nein, chab nichts gesagt.«
Das war natürlich unwahr. Sie hatte geweint und Mr Gottlieb erzählt, sie hätte Angst, Papa könnte sterben. Mr Gottlieb musste das falsch verstanden haben. Aber Nana konnte Papa nicht sagen, dass sie Angst gehabt hatte, er könnte sterben. Nein. Dafür war Nana zu vorsichtig. Sie war zu lieb. Papa sagte: »Also. Wie gehtʹs Moshe? Das hast du noch nicht gesagt. Wann ziehst du wieder zu ihm um?« Und Nana sagte: »Ich ziehnich wieder um.« Das überraschte Pa‐ pa. Er fragte: »Wie?« Nana sagte, tja, sie seufzte und sagte: »Ich hab mich von Moshe getrennt.« Das überraschte Papa noch mehr. Es regte ihn auf. Er be‐ mühte sich, ruhig zu sprechen. Er fragte: »Du?« Nana sagte: »Wir haben uns getrennt.« Papa fragte: »Aber warum? Er war ein netter Junge. Warum hast du mit ihm Schluss gemacht?« »Ich wollte es«, sagte Nana. »Aber warum?«, fragte Papa. »Ich wollte mit dir zusammen sein«, sagte Nana. Sie dachte, sie erbrächte einen Beweis reiner Liebe. Aber Papa wollte nicht, dass sie ihm reine Liebe bewies. Und ich will es auch nicht. Er war entsetzt und verblüfft. Papa war kein selbstsüchtiger Mensch. Er war kein egoisti‐ scher Patient. Er fand, dass er Nana das keinesfalls erlauben dürfe. »Mit mir?«, fragte Papa. »Aber du gehörst zu Moshe.« Er konnte nicht zulassen, dass sie ihn pflegte, dachte Papa. Sie hatte einen Freund, sie hatte ein eigenes Leben. Er konnte nicht zulassen, dass Nana ihre Zeit mit Papa verschwendete. »Nein ich will bei dir sein«, sagt Nana. »Du gehst zurück zu Moshe«, sagte Papa. »Du gehst wieder zu ihm und sagst, dass es dir Leid tut. Du sagst ihm, du hättest deine Meinung
geändert. Du kannst nicht meinetwegen mit Moshe Schluss machen. Das ist verrückt!«, sagte Papa. »Ich meine, wie lange soll das gehen? Wie lange dachtest du denn bei mir zu bleiben?« Plötzlich war Papa müde. Er war sehr müde und traurig. Ich lebe zu lange, dachte Papa. Ihr müsst wissen, dass Papas Schlaganfall oder möglicher Tumor ein gewisses Dilemma mit sich gebracht hatte. Die Prognose war nur ein Schätzwert. Selbst wenn es ein Tumor sei, hatten sie ihm erklärt, könne Papa durchaus noch zwanzig Jahre leben. Er könne aber auch schon morgen sterben. Die mangelnde Genauigkeit der Vorhersage quälte Papa. Hätte Nana ihn nur noch eine Woche pflegen müssen, hätte er vielleicht keinen Einwand gehabt. Aber Pflege konnte sonst was bedeuten. Es konnte Jahre bedeuten. Er war verwirrt. Er dachte, dass er zu lange lebte. Sein Leben war eine Vergeudung von Nanas Leben. Er vergeudete alles. Selbst das Geld war vergeudet. Seine Pflege war kostspielig. Und Papa wollte nicht für die nächsten zwanzig Jahre Geld aufbrauchen, das seinem lieben kleinen Mädchen hätte zukommen können. Papa ist der gute Engel in dieser Geschichte. Das müsst ihr immer bedenken. Er sagte: »Pass auf, das ist verrückt. Ich brauche kein Kin‐ dermädchen. Es kommt doch jeden Tag die Schwester. Ich brauche eigentlich noch nicht mal die Schwester. Mir gehtʹs gut. Du brauchst nicht hier bei mir zu bleiben.« Das war zugleich großherzig und boshaft. Das mag wie ein Widerspruch klingen, aber es stimmt. Es war großherzig von Papa. Es war boshaft gegenüber Nana.
4 Ich denke, Václav Havels Brief an Dubĉek hatte auch noch einen weniger offensichtlichen Hintergrund. Václav rea‐ gierte damit auf eine andere, konkurrierende Theorie zum Thema Edelmut. Dieser Theorie zufolge sind solche wahr‐ scheinlich nutzlosen edlen Gesten gar nicht edelmütig. Nein, es ist nur eine Art von Exhibitionismus. Eine Hand‐ lungsweise, die auf uns edel wirkt, wäre demnach einfach egoistisch. Natürlich wäre es für Václav undenkbar, dass sich hinter edlen Taten zweifelhafte Motive verbergen könnten. Na ja, vielleicht würde er die Möglichkeit einräumen. Aber es würde für ihn nichts ändern. Unser Václav glaubt an eine alles transzendierende Moral. In einem Interview, Den Frie‐ den stören, erklärt er: »Ich glaube, dass nichts für immer ver‐ loren geht, am wenigsten unsere Taten ...» Mit Skeptikern will er nichts zu tun haben. Er wird nicht vor weniger ein‐ fach gestrickten tschechischen Dissidenten wie etwa Milan Kundera katzbuckeln. 1968, müsst ihr wissen, ein Jahr vor Václavs Brief an Dubĉek, hatten sich Milan und Václav zerstritten. Ich will euch den Streit in groben Zügen schildern. Im Dezember 1968 schrieb Milan einen Artikel unter der Überschrift »Cesky üdel«. Das heißt »Tschechien wohin?«. Darin erwies sich Milan nicht als Defätist. Er war nicht be‐ reit, sich von der russischen Invasion entmutigen zu lassen. Milan wies darauf hin, dass bislang Dubceks Reformen nicht aufgehoben worden waren. Es gab keinen Polizeistaat. Es herrschte Meinungsfreiheit. Es bestand die Chance – für Milan zum ersten Mal »seit Menschengedenken« –, einen
neuen, demokratischen Sozialismus aufzubauen. Deswegen seien diejenigen, die sich öffentlich um die sowjetische Zu‐ kunft Sorgen machten, fand Milan, »einfach Schwächlinge, die nur in einer Illusion von Sicherheit leben könnten«. Aber Václav passte dieser Essay nicht. Im Februar 1969 schrieb er einen Essay mit dem Titel »Cesky üdel?« Das heißt so viel wie »Tschechien wohin?« Er war nicht der Ansicht, dass es so schlimm sei, öffentlich Garantien ein‐ zufordern. Er meinte, es sei wichtig, die durchaus begründeten Ängste der Menschen zu zerstreuen. Milans Vision von einer Tschechoslowakei im Mittelpunkt der Weltgeschichte fand Vaclav sentimental. Als Antwort darauf schrieb Milan einen weiteren Artikel. Dieser hieß »Radikalismus a Exhibicionismus«. Das heißt »Radikalismus und Exhibitionismus«. Darin versuchte Milan zu erklären, was er hatte sagen wollen. Er meinte, dass all diese Sorgen über die Russen und den Polizeistaat nur ein Ausdruck von »moralischem Exhibitionismus« sei‐ en. Das sei es, was ihm daran missfiele. Und Václav, fand Milan, litte ebenfalls an dieser Krankheit von Leuten, die »sich darum rissen, ihre Integrität unter Beweis zu stellen«. Demnach wäre der vermeintlich so edelmütige Václav bloß ein Exhibitionist. Es interessiert mich hier nicht, wer letztendlich Recht behielt. Rückblickend könnte der ein oder andere denken, Milan sei im Unrecht gewesen. Wenn russische Panzer durch die Straßen von Prag rollen, sei nicht unbedingt der beste Moment, auf ethischen Spitzfindigkeiten herumzurei‐ ten. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass er im Unrecht war. Milan war nicht moralisch unterbelichtet. Er hat nur auf etwas sehr Wahres und Wichtiges hingewiesen. Es ist
schließlich durchaus möglich, dass eine Handlung, die altruistisch erscheint, in Wirklichkeit aus Eigennutz ge‐ schieht. Das stellt eine Komplikation dar. Im Sprachgebrauch dieses Romans zum Beispiel würde es großherzig aussehen, bei Papa zu bleiben, aber in Wirklich‐ keit wäre es eigennützig. Der augenscheinliche Edelmut von Nanas Opfer wäre nur darin begründet, dass sie nicht mehr zusehen möchte, wie Moshe Anjali zum Kommen bringt. Ich sage nicht, dass es so ist. Ich sage nur, dass es dann so wäre. Václav würde das nie zugeben. Und deswegen liebe ich Václav nicht. Aber ich liebe Milan Kundera. Ich liebe ihn sehr.
5 »Willst du nicht, dass ich bei dir bleibe?«, fragte Nana. Sie war erschüttert. Und Papa sagte: »Herzchen, natürlich möchte ich, dass du bei mir bleibst. Halt, nein, ich will nicht, dass du bleibst. Aber nicht, weil ich dich nicht hier haben will. Ich möchte, dass du zu Moshe zurückgehst. Es ist verrückt. Das ist verrückt.« Dies ist das Ende. Hier wird alles auf den Kopf gestellt. Nana sagte: »Aber ich kann nicht zurück.« »Du kannst nicht zurück«, sagte Papa. »Du kannst nicht zu Moshe zu‐ rück.« »Weil er jemand anderen hat«, sagte Nana. »Jemand anderen? So schnell?«, fragte Papa. »Er ist, er ist mit Anjali zusammen«, sagte Nana. »Ach, mein Engel«, sagte Papa. »Das tut mir Leid.« »So‐
kay«, sagte Nana. »Sokay. So kann ich bei dir sein.« »Also hat er Schluss mit dir gemacht«, sagte Papa. »Nein«, sagte Nana. »Nein, ich hab mit ihm Schluss gemacht.« »Tja, es sieht mir ganz so aus, als hätte Moshe da das bessere Ge‐ schäft gemacht«, sagte Papa. »Er scheint mir jedenfalls ganz gut weggekommen zu sein.«
6 Passt auf, ich könnte die Geschichte hier schon beenden. Und wenn ich es hier beenden würde, wäre es eine sehr traurige Geschichte. Es wäre die Geschichte von Nanas Einsamkeit. Wäre ich gemein, würde ich es wahrscheinlich so machen. Aber ich bin nicht gemein. Ich bin nett. Dieses ganze Buch ist nett. Ich vermute, ihr erwartet mittlerweile Nettigkeit von mir. Deswegen mache ich weiter.
7 »Nein, nein«, sagte Nana. »Skompliziert. Zkompliziert. Wir. Wir.« Sie stockte und stockte und stockte. »Wir haben irgendwie alle zusammen gewohnt, mehr oder weniger«, sagte sie. Sie schwieg. Okay, bevor ich fortfahre, sollte ich zu Nana und Papa und Sex etwas erklären. Sie waren kein prüdes Paar, sie re‐ deten wie Freunde über Sex. Es war vielleicht kein Dauer‐ thema zwischen ihnen, aber wenn es angesprochen wurde, dann auf lockere, unbekümmerte Art. Sex war wertneutral,
mit einem Lächeln. Aber das bedeutet nicht, dass es Nana leicht fiel, das alles zu erklären. Es war immer noch ein biss‐ chen haarig, Papa von ihren Erfahrungen mit einer ménage ä trois zu erzählen. Sie sagte: »Wir waren irgendwie ein Trio.« »Ihr wart ein Trio/«, fragte Papa. »Ich, ja«, sagte Nana. Wieder entstand eine Pause. Es gab reichlich Pausen in dieser Unterhaltung. Ich glaube, ihr müsst sie euch selbst dazudenken. Ich kann nicht die gesamten Pausen reinschreiben. »Warum hast du mir das nie erzählt?«, fragte Papa. »Weiß auch nicht«, sagte Nana. »Ich war nur. War nur. War nicht nötig, schätz ich.« »Und wie lange wart ihr zu dritt?«, fragte Papa. Da Sex ein wertneutraler Gesprächsgegenstand war, war es ein Schock für Papa – zu erfahren, dass Nana Teil einer ménage á trois gewesen war –, aber kein moralischer. Es war nicht Missbilligung. So ein Typ Vater war Papa nicht. Es war absolute Überraschung. Er wusste nicht recht, warum er sich so mit ihr unterhielt. Er redete genauso mit ihr, wie er sonst mit ihr über die Schule redete. Papa war sich nicht sicher, welche Tonart er anschlagen sollte. Schließlich war es eine nicht gerade all‐ tägliche Situation, sich mit der eigenen Tocher über ihr un‐ gewöhnliches Sexleben zu unterhalten, während man sich gerade von einem Schlaganfall beziehungsweise Tumor er‐ holte. »Ach, ein paar Monate«, sagte Nana. »Seit wir aus Vene‐ dig zurück sind.« »Ein paar Monate. Okay«, sagte Papa. Papa fühlte sich sehr müde. Er war zutiefst verwundert und müde.
8 Dies ist eine weitere Stelle in meinem Roman, an der ihr euch nicht durch eigene, private Anschauungen in der Lek‐ türe beeinflussen lassen dürft. In diesem Fall dürft ihr euch nicht durch euer Elternbild beeinflussen lassen. Es gibt jede Menge Eltern auf der Welt. Sie alle haben ihre ganz eigenen Macken. Daher glaube ich, dass es für einen Elternteil in dieser Situation mehr als nur eine vorhersehbare Reaktion gibt. Wenn dein Kind dir erzählt, dass es gerade aus einer ménage á trois ausgestiegen ist, eröffnet das viele Möglich‐ keiten. Ich will lediglich beschreiben, wie Papa reagierte. Ich will hier keinerlei allgemein gültige Regeln aufstellen. »Ich will. Ich will dich nicht ausfragen«, sagte Papa. »Nein, schnokay«, sagte Nana. »Ich, ich bin natürlich überrascht.« »Mhmmm.« »Das ist. Und das ist also jetzt vorbei?« »Tja.« Bis hierher reagierte Papa im Grunde noch gar nicht. Er versuchte nur, es zu verstehen. Er versuchte, ein paar nähere Erklärungen aus ihr herauszubekommen. »Also, was heißt das?«, fragte Papa. »Dass du in einer Dreierbeziehung gelebt hast? In einer, in so einer richtigen Dreierbeziehung?« »Tja«, sagte Nana. »Also das Ganze, das Zusammenziehen mit Moshe. Das hieß gleichzeitig auch Zusammenziehen mit Anjali?« »Na ja, irgendwie schon. Nicht direkt. Sie hatte einen Schlüssel.«
»Ah, verstehe.« »Sie war die meiste Zeit über da.« »Jesus«, sagte Papa. Nicht, dass Papa ein Patriarch war. Das war also kein er‐ zürntes »Jesus«. Es war ein verblüfftes und erstauntes »Je‐ sus«. Es war ein »Jesus« der Ratlosigkeit. »Verstehe. Verstehe. Du hast nicht mit Moshe Schluss gemacht?«, fragte Papa. »Doch. Hab ich«, sagte Nana. »Ich meine, du hast auch mit Anjali Schluss gemacht?« »Ach so, okay, mit ihr auch, ja.«
9 Papa hatte also eine ungefähre Vorstellung. Es klang nach einer klassischen ménage á trois, dachte er. Es war eine me‐ nage wie im Film. Genau wie in Jules et Jim. (Wie ihr euch erinnert, hat in diesem Roman neben mir nur Papa Jules et Jim gesehen.) Papa war am Ende seines Lateins, aber er war auch faszi‐ niert. »Wie war das so? Nein, Entschuldigung. Das hätte ich nicht fragen dürfen«, sagte Papa. »Sokay«, sagte Nana. »Aber wie war es denn nun?«, fragte Papa. Vielleicht, nur vielleicht, schockiert euch das. Nach eurer Auffassung sollte ein Vater seine Tochter nicht nach Details ihres Sexlebens fragen. Solches Nachfragen könnte einen lüstern erscheinen lassen. Tja, ich sehe das nicht so. Papa hat durchaus eine frivole Seite. Er fand es
sehr komisch Nanas irgendwie französisches und farce‐ ähnliches Liebesleben. Und Papas Sinn fürs Frivole machte ihn neugierig. Das mag so ähnlich sein, als wäre er ein alter Lüstling, aber ich glaube nicht, dass das wichtig ist. Es zeigt nur wie vertraut Nana und Papa miteinander waren. Frivolität finde ich o.k. Eine ménage ist faszinierend. Sicherlich wisst ihr das mittlerweile auch. Ich glaube nicht dass ich einen Menschen mögen könnte, der einer ménage á trois gleichmütig und unbeeindruckt gegenübersteht. »Na ja es war komisch«, sagte Nana. »Es war. Es schlief sich ziemlich schwierig.« Das war nun wirklich keine richtige Antwort. Es war nicht die Art von Antwort, die Papa wollte. Sie war viel zu soziologisch. »Ihr habt also zusammen geschlafen?«, fragte Papa. »Ich meine, ihr wart immer zu dritt im Bett?« »Äh«, sagte Nana. »Ja.« »Es war schwierig mit dem Schlafen?« »Anjali hat Albträume. Sie hat. Sie hat manchmal Alb‐ träume.« »Ahah.« »Sie lag in der Mitte.« »Okay.« »Wir müssen nicht darüber reden«, sagte Papa. »Nein, geht schon in Ordnung«, sagte Nana. »Hab ich doch gesagt.« Es war nur so, dass Papa davon ausging, dass Nana Expertin auf sexuellem Gebiet war. Er dachte, sie müsste die reinste Sexakrobatin sein. Jeder, der ein Drittel einer ménage á trois gewesen ist, dachte er, musste ein Sexakrobat
sein. Das war doch logisch. Verdrängung hatte dabei nichts zu suchen. Fragen zu stellen, war kein Problem. Aber Nana war keine Sexakrobatin. Ich gehe davon aus, dass ihr das mittlerweile ebenfalls wisst. »Ich verstehe es bloß nicht ganz«, sagte Papa. »Verstehst was nicht?«, fragte Nana. »Nun ja, ich wüsste bloß gerne. Ich wüsste.« »Bloß was?« »Gut. Habt ihr. Hat Moshe zugesehen, während du und Anjali? Oder.« »Ja, manchmal.« »Verstehe. Aber nicht gemeinsam?« »Nicht gemeinsam?« »Nicht alle drei gemeinsam. Alle gleichzeitig.« »Na, schon, manchmal.« »Ahah.« »Aber das ist schwierig.« »Oh die. Die Stellungen.« »Ja, irgendwie schon. Ja. Man muss sich so konzen‐ trieren.« »Ja natürlich. Verstehe. Klar. Die Stellungen.« »Kam das ganz von selbst?«, fragte Papa. »Was, der Sex?«, fragte Nana. »Na ja. Die, äh, Stellungen. Wusstet ihr. Wusstet ihr von selbst, wer was machen musste?« »Das war. Also das war nicht besonders schwierig.« »Tatsache ?« »Ja. Das war keine große Sache.« »Aber wie habt ihr das ausgemacht?«, fragte Papa. »Wir«, sagte Nana. »Ich mein, habt ihr vorher abgemacht, was dann passieren soll?«
»Wir.« »Ich weiß nicht. Ich. Es hört sich so kompliziert an.« »Und Moshe. Er hat auch mit Anjali Sex gehabt?«, fragte Papa. »Je. Ja«, sagte Nana. »Wenn du dabei warst?« »Ja, klar. Und auch wenn ich nicht da war.« »Und das hat dich nicht? Du warst nicht wütend?« »Warum sollte ich?« Nana versuchte, die Sexexpertin zu geben. Sie versuchte, wie eine Sexexpertin zu klingen. Und das machte sie recht gut. Aber ehrlich gesagt finde ich, dass Papa cooler als Nana war, was Sex betraf. »War das peinlich, wenn man so?«, fragte Papa. »Wenn man so was?« fragte Nana. »Zusammen war.« »Oh nein nein nein nein nein.« »Wirklich nicht?« »Oh nein.« »Ich hatte nur nicht gedacht, dass es so kompliziert war.« »Nein. War es gar nicht.« »Ich meine. Es ist schon zu zweit heikel genug.« Nana und Papa saßen zusammen auf Papas Decke mit dem innovativen Muster aus kleinen weißen Löwen und Falken und Obstbäumen auf magentafarbenem Grund und kicherten. Sie konnten gar nicht mehr aufhören. »Ich meine. Hattest du, hattest du vorher schon mal Sex mit Mädchen? Oder war es?«, fragte Papa. »Ich, äh, nein«, sagte Nana. »Nein.« »Und war das? War das dann komisch?« »Was? Mit Anjali?«
»Naja.« »Es war. Es hat Spaß gemacht. Es war anders.« »Also hat es dir gefallen?« »Mir?« »Du mochtest es, mit Anjali?« Nana wand sich. Sie drückte ihre Handfläche auf die De‐ cke, auf einen stolzen weißen Löwen. »Diese Frage beantworte ich nicht«, sagte sie. »Aha. Ich nehme an, es war Moshes Idee?«, fragte Papa. »Nein«, sagte Nana. »War meine.« »Es ward eine?« »Guck, es war von keinem die Idee.« »Die, die, wie sagt man, die ménage?« »Ja, die ménage.« »Aber wie seid ihr darauf gekommen? Wie fing das an?« »Jetzt komm aber mal, Papa.« »Okay, okay.« »Wart ihr alle betrunken?«, fragte Papa. »Musst du solche Fragen stellen?«, fragte Nana. »Ich will doch bloß. Ich. Nein.« »Ich mein, kein Problem.« »Ich muss es gestehen«, sagte Papa. »Ich hab den Jungen schon immer gemocht.« »Papa!«, sagte Nana. »Es stimmt aber. Er hat mich zum Lachen gebracht.« »Aber. Jesus«, sagte Papa. Das war ein anderes »Jesus«. Es war ein gefestigteres, ein‐ sichtigeres »Jesus«. Es war ein fasziniertes »Jesus«.
IO Papa war frivol und fasziniert. Aber er hatte auch seine lie‐ bevollere Seite. Die machte ihn fürsorglich. Die machte ihn fürsorglich und nachdenklich. »Aber. Ich bin nicht ganz glücklich darüber«, sagte Papa. »Das muss ich schon sagen.« »Du bist was?«, fragte Nana. »Ich bin nicht ganz, ich bin damit nicht einverstanden.« »Womit? Dem Schlussmachen?« »Nein, nicht dem Schlussmachen. Na ja. Mit dem Schlussmachen bin ich auch nicht einverstanden. Aber dem ganzen Arrangement.« »Isskeinarrangement. Es ist vorbei.« »Schön, aber es war ein Arrangement.« »Schön, ist es aber nicht mehr.« »War es?«, fragte Papa. »War es was?«, fragte Nana. »War es perfekt ?« »Nein, natürlich nicht.« »Ich dachte, es wäre eine gute Sache«, sagte Nana. »Eine gute Sache?«, fragte Papa. »Ich dachte, es würde ihn glücklich machen. Ich dachte, es würde sie glücklich machen.« »Aber was war mit dir?« »Ich dachte ich. Ich. Ich weiß auch nicht.« »Es ist schwierig, darüber zu reden«, sagte Nana. »Mmhmm«, sagte Papa. »Es war, na ja, für eine Weile ganz nett. Es hört sich viel‐ leicht blöd an, aber es war nett.« »Doch, kann ich mir vorstellen.«
Ich finde, in dieser Szene lässt sich eine Entwicklung bei Papas Gefühlen verfolgen. Es ist eine durchaus nachvoll‐ ziehbare Entwicklung. Erst war Papa schockiert. Auf den Schock folgte dann milde Verwunderung. Aus dieser Ver‐ wunderung ließ er sich zu amüsierter Neugier hinreißen. Daraus wurden dann Fürsorglichkeit und Besorgnis. Die Besorgnis wich nun simpler, logischer Überlegung. »Dann ist Moshe ja nicht richtig mit Anjali zusammen«, sagte Papa. »Du hast ihn bloß mit ihr sitzen lassen.« »Nein, nein«, sagte Nana, »er mag sie. Sie sind schon zusammen.« »Aber liebt er sie auch? Lieben sie sich?« »Keine Ahnung.« »Lieben sie sich?« »Keine Ahnung. Kann sein.« »Ich meine, wie lange haben sie? Ich meine. Es sind ja nur ein paar Wochen.« »Monate.« »Na gut, Monate. Mensch. Monate.« »Aber trotzdem«, sagte Papa. »Was hast du dir nur dabei gedacht, Herzchen?« Doch, Papa war intelligent, ohne Frage. »Und was ist mit dir und ihm?«, fragte Papa. »Liebt Moshe dich noch?« »Weiß ich nicht«, sagte Nana. »Das weißt du nicht?« »Na schön, vielleicht. Gut, schon.« »Also okay. So siehtʹs aus«, sagte Papa. »Du hast Moshe mit einem Mädchen sitzen lassen, das ihm Leid tut, wäh‐ rend er dich immer noch liebt. Und das hast du getan, da‐ mit du bei mir sein kannst.«
Das war nicht absolut korrekt, ihr erinnert euch. Es klang ein klein wenig selbstloser als die Wahrheit. Es stimmte, so‐ weit Papa es wissen konnte, doch Papa wusste nichts von Nanas Kummer mit dem Sex. Er wusste nicht, dass es neben dem herzallerliebsten auch einen egoistischen Grund gegeben hatte, Moshe zu verlassen. »Schön, wenn du es so sehen willst«, sagte Nana.
11 Als Nana klein war, war sie immer nach oben in ihr Bett gegangen und hatte sich dann in der Embryoposition hingelegt. Das machte sie so, weil ihr in der Schule jemand erzählt hatte, man fühle sich dann so geborgen. Also rollte Nana sich zusammen. Sie ging früh ins Bett, im letzten Ta‐ geslicht. Und dann lag sie da und wartete auf ihren Gute– nachtkuss. Sie lauschte auf das Knarren am Treppenabsatz, wenn Papa nach oben kam. Und dann tat sie so, als schliefe sie, wenn die Tür sanft aufgestoßen wurde. Dann war sein Gesicht ganz nah an ihrem, und sie kniff extrafest die Au‐ gen zu. Er küsste sie, dann ging er. Sie ging früh ins Bett, im letzten Tageslicht, und die Vorhänge machten das weiße Zimmer blau, sodass man, wenn man aus dem ersten schnellen Traum aufwachte, nicht unterscheiden konnte, ob es nun ein weißes Zimmer in blauem Licht war oder ein blaues Zimmer, das in weißem Licht erstrahlte. Wenn Nana aufwachte, tapste sie über den Flur zu Papa in seinem größeren Bett. Und wenn er auf der Seite zur Tür hin lag, dann schlüpfte sie neben ihn und legte sich ganz auf die äußerste Ecke. Sie passte auf ihn auf. Das machte sie,
indem sie bei ihm einschlummerte. Und wenn er aufstand, um zur Arbeit zu gehen, rollte sich Nana herum und landete dort, wo er gelegen hatte. Und dann beobachtete sie den Büschel seines Rasierpinsels und seinen seltsam gekrümmten Penis durch die halb offene Badezimmertür. Zweimal die Woche durfte Papa aus dem Büro früher zu Nana nach Hause, damit er beaufsichtigen konnte, wie sie am Küchentisch ihre Hausaufgaben machte. Er drückte sei‐ ne Manschettenknöpfe aus den Manschetten und machte ihr Tee. Mit Papa in der Küche, das war Nanas Vorstellung von Glücklichsein. Das war ihr Lieblingshaus. An der Straßenecke war ein Hagebuttenstrauch. Da war eine Bodenschwelle zur Ver‐ kehrsberuhigung, aus roten Steinen mit gelber Einfassung. Sie hatten ein grünes Wohnzimmer und eine gelbe Küche mit Pusteblumentapete. Und oben war ein weißer Flur mit einem hellbeigen Teppich, der immer Falten warf. Am Ende des Flurs war ein Fenster mit einer Tulpe aus buntem Glas. Auf dieser Tulpe hatte Nana einen Vogel befestigt, den sie eigenhändig aus Pappe ausgeschnitten hatte – der mit schwarzem Filzstift gezeichnete Umriss starrte von kleb‐ rigen Federn. Sie liebte das Haus. Sie liebte ihren Papa. Ich bitte euch, das nicht zu unterschätzen, jetzt, wo Papa, der liebe, prakti‐ sche, großherzige Papa, sie dazu brachte, ihre Meinung zu ändern.
12 Papa sagte: »Du musst selbstverständlich zu Moshe zurück‐ gehen.« Nana sagte: »Das kann ich nicht.« »Doch. Du gehst zurück zu Moshe.« »Aber das geht wirklich nicht.« »Warum nicht?« »Ich kann nicht zurück, weil Anjali da ist«, sagte Nana. »Herzchen, ich versteh nicht, wo das Problem mit Anjali ist«, sagte Papa. »Liebst du Anjali?« »Nein.« »Und liebst du Moshe?« »Ja.« »Also was?« »Ich kann Anjali nicht wehtun.« »Nana. Nana. Anjali ist nicht das Problem.« Natürlich wollte Nana genau das hören. Es ist das, was sie eigentlich wollte. Sie wollte Moshe zurück und ihn nur für sich haben. Aber es fiel Nana schwer, das zu tun, was sie eigentlich wollte. Es fiel ihr besonders schwer, wenn das, was sie wollte, auch noch jemand anderen verletzen würde. Aber das hier ist das Ende. Hier wird alles auf den Kopf gestellt. Und Nana würde jetzt egoistisch sein. Deswegen endet es hier. Vielleicht schließt ihr euch nicht der Auffassung an, das sei egoistisch. Vielleicht seid ihr der Auffassung, dass es kaum ein unlösbares moralisches Problem darstellt, wenn Papa doch selbst will, dass Nana geht. Aber das Problem ist nicht Papa. Na ja, nicht Papa allein. Das Problem ist Anjali.
Ich habe euch ja gesagt, ihr sollt Anjali nicht vergessen. Anjali war auf seltsame Weise glücklich. Und Nana wusste das. Moshe hatte es ihr erzählt. Zudem wusste sie, dass sie Anjali Moshe wegnehmen würde, wenn sie zurückginge. Das hatte Moshe ihr auch gesagt. Worauf ich hinauswill, ist also Folgendes: Nana wusste das alles und würde trotzdem zurückgehen. Sie würde alles tun, was nötig war. »Weißt du, ich liebe dich sehr«, sagte Papa. Und Moshe würde zu ihr zurückkommen. Natürlich wür‐ de er das. Ich weiß alles. Ich kenne Moshe sehr genau.
13 Petra, die tschechische Freundin meiner Mutter, konnte Milan Kundera nicht leiden. Sie meinte, er hätte das Land nicht verlassen dürfen. Sie meinte, er habe egoistisch ge‐ handelt. Ich besitze eine merkwürdige französische Ausgabe von Milan Kunderas zweitem Roman Abschiedswalzer. Es ist eine Ausgabe von 1979. Der Einband ist aus rotem Kunstleder mit einem aufgeprägten Muster in unechtem Gold. Zur Ein‐ leitung gibt es ein Interview mit Milan Kundera. Ich möchte einen Satz aus diesem Interview wiedergeben. »Niemand kann sich vorstellen, was es mich gekostet hat, meine Hei‐ mat zu verlassen: Mein Haar ist darüber grau geworden«, sagte Milan. Ich denke, wir sollten uns hier einige Fakten ins Ge‐ dächtnis rufen. Kundera ist 1929 geboren. Als er 1975 die Tschechoslowakei verließ, war er demnach sechsundvier‐ zig. Das ist ein ziemliches hohes Alter, um sein Heimatland
zu verlassen. Und er ging erst nach sieben Jahren, in denen er isoliert und mit Publikationsverbot belegt unter Über‐ wachung in den Wäldern bei Brunn gelebt hatte. Sieben Jahre können lang sein, wenn man sie in Isolation verlebt. Ich finde nicht, dass die Menschen eine besonders intel‐ ligente Einstellung zum Egoismus haben. Ich glaube, ihnen ist einfach nicht klar, wie moralisch integer er sein kann. Denn es ist moralisch, sich der Selbstzerstörung zu wieder‐ setzen. Das ist eine moralisch absolut einwandfreie Hal‐ tung.
14 Papa war der gute Engel in dieser Geschichte. Das habe ich euch immer wieder gesagt. Das war nicht bloß ein freundliches Bild. Es traf zu. Es war gütig, Nana zu sagen, sie solle egoistisch sein. Es war gütig, ihr zu sagen, sie solle gehen. Dass man nicht immer altruistisch sein kann. Ich glaube, manchmal ist das zu selbstzerstörerisch. Vielleicht erscheint euch das blasphemisch, vielleicht verletzt es eure persönlichen Moralvorstellungen. Aber ich habe Recht. Dieses Buch ist universell. Ich sagte es eingangs schon. Weil es universell ist, ist es ambivalent. Es hat für jeden et‐ was. Und jetzt kommt die letzte Ambivalenz. Ich bin selbstverständlich auf Papas Seite. Ich bewundere selbstverständlich seine Großherzigkeit und Liebe. Ich glaube an Großherzigkeit. Doch ich bin nicht ausschließ‐ lich auf Papas Seite. Ich bin auch auf Nanas Seite. Weil ich
Nettigkeit zu schätzen weiß. Nettigkeit ist eine ganz wun‐ derbare Sache. Was ist bloß so falsch am Egoismus? Denn manchmal ist Egoismus die einzige moralische Entscheidung.
Nachbemerkung Die Übersetzung aus den zitierten Werken folgt diesen Ausgaben: Jose Pierre (Hrsg.) Recherchen im Reich der Sinne - Die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sex, Verlag C. H. Beck 1993. Nadeschda Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe - Eine Autobiographie, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973. Li Zhi-Shui, Ich war Maos Leibarzt, Lübbe Verlag, BergischGladbach 1994.