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TÖDLICHE BEZIEHUNGEN Kriminal-Erzählungen
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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TÖDLICHE BEZIEHUNGEN Kriminal-Erzählungen
DIANA VERLAG ZÜRICH Printed in Austria © 1984 by Diana Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Graupner & Partner GmbH, München Satz: Compusatz GmbH, München Druck und Bindung: C. Ueberreuter Druck und Verlag M. Salzer AG, Wien ISBN 3-905.414-08-2
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Friedhelm Werremeier Der Freispruch Der Fahrer des grünen Opel Rekord war völlig außer sich, als er den ersten und vermutlich einzigen Mord seines Lebens beging. Er war vor allem stark angetrunken, wenn nicht sogar total hinüber, als er – hinter dem Steuer des auf einem einsamen Waldparkplatz bei Hamburg-Rietbrook abgestellten Wagens sitzend – die behandschuhten Hände um den Hals seines neben ihm kauernden Opfers legte und wie einen Schraubstock zusammenpreßte. Das Opfer, im übrigen, war eine sechsundzwanzigjährige, ebenfalls angetrunkene Dirne namens Karin Bolt, ein zierliches, strohblondes Mädchen mit ziemlich frechen Gesichtszügen, das er zuvor in der Nähe des Steindamms aufgegabelt hatte – weit nach Mitternacht, als alle anderen Freier und Huren schon weg waren. Das Mädchen zappelte und schlug um sich, kratzte, biß und versuchte in seiner Todesangst, bis zuletzt vergeblich, um Hilfe zu schreien… es hatte gegen den kräftigen, durchtrainierten Mann vom ersten Moment an nicht die geringste Chance. Und ob nun in erster Linie ein Streit um den sogenannten Liebeslohn diesen grausamen, tödlichen Kampf provoziert haben mochte oder, wie so oft bei Prostituiertenmorden, eine unbedachte, höhnische Bemerkung des Mädchens zum falschen Zeitpunkt – das, im Endeffekt, hätte wahrscheinlich nicht mal mehr der Mörder selbst sagen können, als er erkannte, was er angerichtet hatte. Zeugen der brutalen Tat gab es nicht. Ein gewisser Erich Munkhaus indessen – Frührentner mit achtundfünfzig, ein etwas spinnerter Naturfreund in Bundhosen und grauem Lodenmantel, der regelmäßig Nachtwanderungen mit dem Fernglas machte – erreichte den Tatort genau in dem Moment, als der Fahrer des grünen Opel Rekord sein Opfer rechts aus dem Wagen warf. Die Tür wurde wieder zugeknallt, und mit quietschenden, durchdrehenden Rädern erreichte der Wagen die Straße und raste davon. »O Gott, o Gott« stammelte Munkhaus, als er sich über die Frau beugte und auf den ersten Blick feststellte, daß sie tot war. Sie trug
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schwarze Stiefel, einen Wolfspelz und dicke Handschuhe; ihre Augen standen weit offen. Mit zitternden Händen kramte Munkhaus einen Kugelschreiber und einen Block aus der Wandertasche, auf dem er sich im allgemeinen die Flugzeiten irgendwelcher Waldkäuze notierte, und schrieb die Autonummer auf, soweit er sie innerhalb dieser wenigen Sekunden erkannt hatte: Zweimal H wie Heinrich, also ein Auto aus Hamburg. Ein K wie Konrad und noch ein weiteres K. Und dann – todsicher – die Ziffern eins und drei. Die allerletzte Ziffer oder die beiden letzten Ziffern des Kennzeichens hatte Erich Munkhaus allerdings nicht mehr ganz so todsicher ablesen können – der Opel war einfach zu schnell in die nächste Kurve gegangen. Und ausschließlich dadurch bekam die Geschichte dann einen Dreh, mit dem normalerweise – wenn das Wort hier angebracht ist – nie zu rechnen gewesen wäre. Marianne Legiehn war beim Bäcker in der Nähe des Fahrenkrön, um frische Brötchen zu holen, als es – um 9 Uhr 15 an diesem Donnerstag, dem 19. November – an der Wohnungstür in der unteren Bramfelder Allee Sturm schellte. Kurt Legiehn, achtunddreißig Jahre alt, ein Hüne von Mann, kam mit wahnsinnigen Kopfschmerzen aus tiefsten, wirren Träumen; er wäre fast aus dem Bett gefallen, wankte nach dem zehnten oder zwanzigsten Klingeln im blau-schwarz-weiß gepunkteten Schlafanzug zur Tür und riß sie auf. »Was is los, verdammt?« Zwei Männer etwa in seinem Alter, vielleicht etwas jünger, beide ebenfalls an die einsachtzig, standen auf den obersten Treppenstufen – einer mit Rollkragen und Lederjacke, der andere im Trenchcoat. »Guten Morgen«, sagte der mit dem Rollkragen, »Herr Legiehn?« »Ja. Und?« Da hielt ihm der Mann eine messingfarbene, ziemlich abgegriffene Metallmarke unter die Nase. »Below… Kriminalpolizei Hamburg…« »Siebert!« sagte der andere. »Haben Sie was dagegen, wenn wir mal reinkommen?«
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Die üblichen Sprüche. Genau die grauenhafte Szene, von der Schuldige und Unschuldige immer mal träumen. Halb blind, mit total verklebten Augen sah Legiehn die bulligen Typen an. »Wa-warum?« »Bitte, Herr Legiehn!« mahnte Below. »Ihre Nachbarn müssen doch nicht alles mitkriegen…« »Also, wirklich – ich glaube, ich spinne!« sagte Legiehn hilflos, als er den Eingang freigab. Innen postierten sich die Beamten sofort rechts und links neben ihn. Below führte wieder das Wort, nach wie vor. »Sind Sie der Eigentümer des grünen Rekord Ha-Ha Strich Ka-Ka eins-drei-drei?« »Ja. Aber nu sagen Sie mir endlich…« Below ließ ihn nicht ausreden. »Wo waren Sie heute nacht zwischen null und fünf Uhr früh?« Kurt Legiehn schüttelte wie in Zeitlupe, aber dennoch mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. »So nicht, Leute… und nu zieh ich mir erst mal was an!« Sie ließen ihn gehen – bis jetzt war’s ihnen offenbar noch ziemlich egal. Er ging ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken voll auf, riß sich dabei den Nagel am rechten Zeigefinger ein und hielt das Gesicht in den kalten Strahl. Dann trocknete er sich ab, tastete nach einer Schere und schnitt den Nagel unterhalb des nicht sehr tiefen Risses gerade; da er einmal dabei war, schnitt er gleich auch noch ein paar andere schartige Fingernägel zurecht. Er zog seinen Morgenmantel aus Kaschmir an, normalerweise stets ein feiner Pinkel, fuhr sich mit der Bürste durch das wirre, im Moment ziemlich strähnige Haar und sah sich im Spiegel in die rotgeränderten Augen… Er sah zur Tür, die nur angelehnt gewesen war und mit einem Male halb offen stand. Below und Siebert schauten ihm zu, plötzlich mit äußerst wachsamen, angestrengten Gesichtern, total verändert. »Was machen Sie denn da?« fragte Siebert. »Ich wasch mich!« antwortete Legiehn brüsk. »Aha… müssen Sie heute eigentlich nicht arbeiten? Sie sind doch Baumensch, oder?« »Bin krank!« behauptete Legiehn. »Sehnse doch… meine Frau hat mich schon entschuldigt…«
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»Gestern auch schon?« »Seit gestern nacht – wie angeflogen…« »Was, Herr Legiehn«, fragte Siebert verdächtig beiläufig, »haben Sie gestern nacht eigentlich angehabt?« »Meinen Schlafanzug. Den hier – was sonst?« Er zeigte auf seinen Bauch. »Und davor?« »Da war ich nackt!« sagte Legiehn gehässig. Er zog sich den Gürtel fest und ging zurück ins Wohnzimmer; die Beamten folgten ihm. Below setzte sich unaufgefordert hin, und auch Legiehn suchte sich schleunigst den nächsten Sessel; irgendwie zitterten ihm plötzlich scheußlich die Beine. »So… bevor ich Ihnen jetzt noch ein einziges Wort sag, will ich genau wissen, was hier läuft!« Siebert sah Below an, und Below zuckte resignierend die Schultern und nickte – in Richtung Legiehn. »So gesehen, Herr Legiehn, läuft hier ‘ne Beschuldigtenvernehmung… Sie sind dringend verdächtig, letzte Nacht die Prostituierte Karin Bolt gewaltsam getötet zu haben. Es steht Ihnen nach dem Gesetz selbstverständlich jederzeit frei, einen Anwalt Ihres Vertrauens…« »Ich?« unterbrach Legiehn fassungslos. »Sie haben doch wohl… ich bin – was bin ich?« Niemand hatte mitgekriegt, daß Marianne Legiehn zurückgekommen war und von der Diele aus entgeistert zuhörte. Die Brötchen hatte sie noch in der Hand. »Es steht Ihnen frei, einen Anwalt Ihres Vertrauens zuzuziehen!« wiederholte Below. »Sind Sie übrigens öfter mal mit Nutten unterwegs?« »Nie!« schrie Legiehn. Er schien den vollen Ernst der Lage endlich begriffen zu haben. »Is ja momentan auch egal!« sagte Siebert. »Aber wenn ich nochmals fragen darf – wo waren Sie heute nacht zwischen null und fünf Uhr früh?« »Da war er zu Hause im Bett!« sagte Marianne Legiehn. Sie trat ins Zimmer; Below sprang auf, und er und Siebert, aber auch ihr Mann starrten sie überrascht an. Eine schlanke, unscheinbare graue Maus,
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dachte Siebert, Anfang Vierzig, sieht aber älter aus. Nicht häßlich, dachte Below, aber verhärmt bis auf die Knochen. »Wo kommst du denn her?« fragte Legiehn verstört. Below murmelte seinen Namen und Dienstgrad und den seines Kollegen. »Frau Legiehn?« Sie nickte. Legiehn indessen, offensichtlich seltsam erleichtert, lief zu ihr hin und sagte: »Das sind Bullen, Marianne… die sind verrückt.« Sie legte die Brötchentüte aus der Hand und faßte seinen Arm an – eine merkwürdige, nahezu mütterliche Geste. »Was wollen sie denn von dir?« Siebert räusperte sich. Also noch mal dasselbe, sagte sein müdes Gesicht, in der neuen Besetzung. »Ein Zeuge hat letzte Nacht einen grünen Opel Rekord an der Stelle gesehen, an der eine ermordete Frau gefunden worden ist. Wir haben Grund zu der Annahme, daß es sich um den Wagen Ihres Mannes gehandelt hat. Insofern…« »Wo denn?« fragte Marianne Legiehn, immer noch zu Tode erschrocken. »Am Rande des Forstes Rietbrook…« »Aber das ist doch mindestens eine Stunde von hier!« Sie zögerte – ganz offensichtlich. »Außerdem hab ich zufällig kurz vor vier auf die Uhr geguckt – da lag mein Mann neben mir und schlief! Irgendeiner muß sich da irren – das kann gar nicht stimmen!« »Ausgerechnet gegen vier haben Sie auf die Uhr geguckt?« höhnte Below, zum ersten Mal aggressiv. »Haben Sie auch nach seinem Auto geguckt?« »Natürlich nicht!« antwortete sie tapfer. »Das steht normalerweise in der Garage, ich hab’s jetzt auch nicht gesehen, als ich einkaufen war… ist das etwa verdächtig, daß ich mitten in der Nacht nicht aufsteh und zum Fenster gehe und rausgucke?« »Natürlich nicht!« sagte Siebert besänftigend. »Aber noch mal ‘ne andere Frage; wollte ich vorhin schon fragen… Sie haben da doch vorhin Maniküre gemacht, als Sie im Bad waren, Herr Legiehn?« Legiehn schaute unwillkürlich seine Hände an. »Was soll das nu wieder?«
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»Machen Sie das regelmäßig morgens, wenn Sie einer aus dem Bett holt?« »Das mach ich dann, wenn’s nötig ist!« sagte Legiehn störrisch. »Und vorhin war’s mal nötig, wenn Sie Ihre Augen aufgesperrt hätten – wollen Sie auch noch wissen, ob ich mir in der Nase gebohrt hab?« Siebert blieb friedlich. »Die Sache ist die. Wir haben an der Armbanduhr der toten Frau ein Stück Fingernagel gefunden, das möglicherweise von demjenigen stammt, der sie umgebracht hat. Da ist es erstens sehr merkwürdig, nachdem Sie sowieso schon verdächtigt sind, daß Sie sich ein paar Stunden später die Nägel saubermachen. Aber zweitens seh ich da auch die Chance, Sie zu entlasten, wenn Sie es nun doch nicht gewesen sind… kapiert?« Legiehn verstand kein Wort. Seine Frau jedoch hatte anscheinend sofort begriffen, was er gemeint hatte. »Sie wollen einen Fingernagel von ihm?« »Ja – ein winziges Stück! Wenn wir das mit dem gefundenen Stück vergleichen und feststellen, daß die eine Probe mit der anderen nicht identisch sein kann, ist Ihr Mann ein für allemal aus dem Schneider!« »Und wenn’s zufällig doch zusammenpaßt?« fragte sie kopfschüttelnd. »Dann sagt das auch noch nichts!« behauptete Siebert. »So ganz hundertprozentig konnte man Fingernägel bisher noch nie miteinander vergleichen!« Marianne Legiehn war unschlüssig. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er hier gewesen ist… ich weiß also wirklich nicht, was das…« Below kam seinem Kollegen zu Hilfe. »Ist doch reine Routine, Frau Legiehn! Sie werden doch einsehen, daß wir das Alibi eines Menschen überprüfen müssen… erst recht, wenn’s mit seiner Ehefrau steht und fällt!« Siebert, so schien es, hielt den Atem an. Wahrscheinlich war er heilfroh, daß niemand die nächstliegende Frage stellte – warum man überhaupt einen Vergleichstest ins Auge faßte, wenn brauchbare beziehungsweise sichere Ergebnisse nicht zu erwarten sein würden. »Wir könnten uns jederzeit einen richterlichen Beschluß besorgen, Herr Legiehn – dann müßten Sie sich diese… diese Entnahme gefal-
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len lassen! Wär doch viel einfacher, wenn Sie uns das ersparen; Sie sparen doch auch Ihre eigene Zeit…« »Also gut!« sagte Frau Legiehn. Dabei sah sie ihren Mann allerdings geradezu furchtsam von der Seite an – sie schien es, alles in allem, nicht gewöhnt zu sein, ihm Verhaltensmaßregeln zu geben. »Du hast doch nichts zu verbergen, Kurt… mach’s doch!« Er sagte nichts mehr. Und wie ein Delinquent vor der Hinrichtung sah er zu, wie seine Frau ihre Handtasche aus der Diele holte und ein Etui mit Feilen und Scheren hervorkramte… »Komm – tu ihnen den Gefallen!« In Legiehns Augen stand die nackte Angst, als er sich ein Stück Nagelschnipsel vom linken Daumen abzwickte; er sah aus, als sei er das Opfer einer grauenhaften Körperverletzung. »Scheißzirkus!« knurrte er. Und gleich nochmals, viel lauter: »So ein Scheiß!« Siebert nahm ihm die Nagelprobe behutsam ab und steckte sie in ein Plastiktütchen. Dieses beschriftete er sorgfältig und steckte es, nachdem er es Below gezeigt hatte, in seine Kollegmappe. »Danke, Herr Legiehn… wir brauchen dann allerdings auch noch mal Ihr Auto. Und natürlich Sie selber auch… wenn Sie für alle Fälle doch noch mal kurz mitkommen könnten…« Da nahm Marianne Legiehn, bevor ihr Mann antworten konnte, ihren ganzen Mut zusammen. »Nun reicht’s!« sagte sie mit heller, bebender Stimme. »Ich kann Ihnen die Garage zeigen, und dann können Sie den Wagen mitnehmen… sehen Sie allerdings bloß zu, daß er so schnell wie möglich wieder da ist, weil wir ihn nachher noch brauchen! Aber er nicht – er kommt nicht mit!« »Ich bleib hier!« bestätigte Legiehn. »Aber es geht doch nur um eine routinemäßige Blutprobe!« sagte Below kopfschüttelnd. »Wirklich – nur für alle Fälle! Sie haben doch gestern offenbar ziemlich heftig gebechert, Herr Legiehn – oder?« »Ich kann soviel saufen, wie ich will!« zeterte Kurt Legiehn wütend. »Tja – kommt drauf an!« sagte Siebert nachdenklich. »Kommt drauf an?« schrie Legiehn. »Sie – das ist Terror, was Sie hier machen! Hängt Ihnen Ihr Job nicht allmählich selber zum Hals raus?«
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Schimpfend wie ein Rohrspatz – weil er nicht mal in Ruhe Tee trinken durfte und in Hetze nichts essen wollte – kam Legiehn schließlich doch noch freiwillig mit zum Institut für Rechtsmedizin. Dort mutete ihm ein Arzt eine weitere schwere Körperverletzung zu, indem er ihm ein Röhrchen Blut abzapfte. Alkoholbeeinflussung mindestens mittelgradig. Deutlicher Tremor, beidseitig, vor allem an den Händen, schrieb der Arzt auf das Begleitformular. Siebert ging zwischendurch mal für fünf Minuten weg in den Obduktionsraum, wie er signalisierte; Below blieb in Legiehns Nähe. Und Marianne Legiehn bewachte ihren Mann die ganze Zeit über wie eine Glucke auch dann, als sie anschließend alle zusammen im zivilen Polizeiwagen wieder in die Bramfelder Allee fuhren. Siebert und Below hatten der Einfachheit halber zwei Beamte von der Spurensicherung in die Tiefgarage bestellt, in der Legiehn – ein paar Häuser von seiner Wohnung entfernt – einen Stellplatz besaß; dort trafen sie sich, und die Techniker gingen ans Werk. Selbst hier ließ Frau Legiehn ihren Kurt nicht von ihrer Seite; sie überwachte mit Argusaugen jeden Handgriff, den die Polizeimenschen taten. Dabei lief das Ganze ohne jeden ungewöhnlichen Aufwand ab; ein paar Leute, die in der Zwischenzeit ankamen oder abfuhren, sahen gleichgültig zu ihnen herüber. Kurt Legiehn, unrasiert, ohne Frühstück und vor allem unheimlich schlecht gelaunt, paßte ins Bild – es sah, alles in allem, ganz so aus, als habe eine größere Gruppe vor dem Start eine Panne entdeckt und die Mechaniker gleich herkommen lassen. Siebert und Below waren – so, wie’s bisher gelaufen war – ziemlich frustriert; sie hatten, unabhängig voneinander, ununterbrochen darüber nachgedacht, wie sie Legiehn und sein mieses Alibi knacken könnten, obgleich ihnen die Hände gebunden waren. Denn daß es sich hier um ein falsches Alibi handelte – davon waren sie, mit all ihrer Erfahrung aus hundert Mordfällen, so überzeugt wie der Papst von der Existenz des Leibhaftigen. Zugleich aber wußten sie ja auch, daß sie weiß Gott nicht das einzige Team der Mordkommission waren, das die Besitzer grüner Opel mit dem unvollständigen Kennzeichen HH-KK 13… unter die Lupe nahm: Genau gesagt kamen sechsundzwanzig in Frage, seit dieser Lodenmensch und Nachtwanderer
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Munkhaus noch vor Tagesanbruch den Leichenfund gemeldet und seine Beobachtungen zu Protokoll gegeben hatte. Nach einem ersten Check durch den Leiter der Kommission waren acht dieser Wagen mit drei- und vierstelligen Kennziffern hinter den Buchstaben KK in die engere Wahl gekommen – und zwei davon hatten Siebert und Below, von 7 Uhr 30 an, im nordöstlichen Hamburg selbst überprüft… Irgendwann gingen die beiden Hauptmeister, die seit dem Betreten der Wohnung Legiehns kaum Gelegenheit gehabt hatten, ein Wort unter vier Augen zu reden, ein paar Meter zur Seite. »Die Autopsie war vorhin noch im Gange«, berichtete Siebert, »aber sie wußten schon, was los ist… Bruch des Zungenbeins, sagt der Obduzent, also tatsächlich Erwürgen oder Erdrosseln – das übliche. Diesen Legiehn hätt ich ja zu gern mal mitgenommen vor die Leiche – mal sehen, was er dann von sich gegeben hätte!« »Und?« fragte Below. »Warum hast du es nicht getan?« »Weißt du doch selbst! Dürfen wir nicht… was dürfen wir überhaupt noch? Wenn wir denen die Wohnung auseinandernehmen dürften, hätten wir bestimmt was gefunden… das ist der Täter, darauf kannst du Gift nehmen! Aber nein, erst muß einer zugeben, daß er es gewesen ist, bevor wir ihm nur mal an die Wäsche dürfen – macht doch längst keinen Spaß mehr, wenn du mich fragst!« »Sicher«, sagte Below, »die Ehefrau ist so und so nicht koscher. Aber deshalb gleich zur Verhaftung schreiten… sei doch froh, daß du die wenigstens mal mit den Fingernägeln aufs Kreuz gelegt hast! Freiwillig hätten wir von ihm nie was gekriegt…« »Ich?« fragte Siebert schaudernd. »Ich die Alte aufs Kreuz gelegt?« »Nu ja – von wegen, daß wir mit Fingernägeln bisher noch nie was anfangen konnten. Die wird sich doch hoffentlich noch schrecklich wundern…« Das Gespräch drehte sich im Kreise – wie immer in solchen Situationen. Siebert sah vorsichtig zu den Legiehns herüber, die ihr Auto nicht aus den Augen ließen, sich momentan allerdings offenbar nichts zu sagen hatten. »Bisher stimmt ja auch. Und wenn sie nun mal nicht die Schlaueste ist… sag mal, übrigens, hast du nicht auch
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das Gefühl, daß die beiden irgendwie überhaupt nicht zusammenpassen? Dieser Windhund – und dann diese graue Gattin…« »Doch, doch«, stimmte Below zu, »älter als er ist sie sowieso… ich könnt mir schon vorstellen, daß die sowieso alles tut, damit sie ihn nicht los wird. Ein Alibi mehr oder weniger – das spielt da sicher kaum ‘ne Rolle…« »Ja, aber auch sonst! Dieser Legiehn ist doch genau der Typ, der bei jeder Gelegenheit rumbumst! Und wenn er nichts hat zum Fremdgehen, geht er ins Puff oder holt sich nachts eine vom Strich!« Below war nach wie vor einen Tick skeptischer. »Glaub ich ja auch – bloß ist das ja noch lange kein Beweis dafür, daß er dann immer gleich eine totmacht…« »Von immer redet kein Mensch!« sagte Siebert. »Aber diesmal hat’s geknallt… diesmal ist ihm das Ding abendfüllend durchgebrannt! Wenn der Munkhaus wüßte, daß die letzte Zahl von der Autonummer ‘ne Drei war, wär er mit und ohne Alibi dran. Und ohne Alibi wär er mit und ohne Munkhaus dran – ist doch lächerlich! Eins so dünn wie das andere! Der war doch fix und fertig, bevor die Frau Gemahlin kam und ihn in den Arm genommen hat!« Die Spurensicherer waren fertig und packten ihre Gerätschaften ein. Der grüne Opel sah aus wie frisch vom Händler gekommen – besser als vorher. »Und?« fragte Below leise. Einer der Experten schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Nicht die kleinste Wollfaser. Nirgendwo Blut. Macht euch da besser erst gar keine Hoffnung!« Als Marianne Legiehn mit ihrem Mann endlich allein war, sagte sie drängend: »Jetzt sag doch mal, was los war!« Sie saß im Sessel und beobachtete nervös, wie sich Kurt – immer noch ohne einen Bissen im Magen – zwei Mariacron nacheinander einschenkte und jeweils in einem Zug austrank. »Ich war’s nicht!« sagte Kurt, die Flasche noch in den Händen. »Aber ich muß…« »Nichts aber! Natürlich war ich’s nicht! Ist doch Schwachsinn… würdest du mir so was zutrauen?«
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Am liebsten – und um ein Haar – hätte sie ja gesagt, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. »Trink doch nicht schon wieder soviel!« sagte sie statt dessen, als er sich den dritten Schnaps einverleibte. »Ich geh jetzt duschen!« verkündete Kurt. »Bin völlig zugeklebt, vor allem nervlich. Wenn wieder so’n Heini kommt – ich bin nicht zu sprechen!« Er ließ sie allein – wieder mal. Wie letzte Nacht und sicherlich tausend Nächte davor. Durch die dünnen Wände der ehemaligen Sozialwohnung, die Kurt – als Maurerpolier zugegebenermaßen sehr geschickt und gekonnt – in eine Art Luxuswohnung verwandelt hatte, drang das Rauschen des Wassers. Und Marianne Legiehn, die sonst nie rauchte, zündete sich eine von Kurts Camel-Filter an. Ohne alle Rührseligkeit dachte sie: Im Grunde bin ich eigentlich ein verdammt armes Schwein! Sie war nichts Besonderes, als sie Legiehn zum ersten Mal traf, aber sie war zufrieden. Und auf ihre Weise happy… Im TuS Bramfeld gab’s zwar erheblich bessere Leichtathletinnen als sie, aber keine, die besser rechnen konnte: die gelernte Buchhalterin Marianne Rosenbauer war nach drei Jahren Vereinszugehörigkeit Kassenführerin und Mitglied des Gesamtvorstandes, Delegierte bei der Hamburger Sportkonferenz, Kalkulatorin für die Ausrichtung der Mehrkampfmeisterschaften der Hamburger Ostbezirke. Legiehn war damals – vor zwölf Jahren – Absolvent der Hanseatischen Baugewerbeschule und ein trinkfester Kumpan des Vizepräsidenten von Concordia Wandsbek, der ihn überall mit hinschleppte. Sie lernten sich näher kennen auf einem Silvesterball der Bramfelder Fußballabteilung in der Grünen Eiche. Marianne Rosenbauer war verknallt in Legiehn wie noch nie in einen Mann während ihres bisherigen Lebens, als der Alt-Jahrescountdown im Fernsehen anfing; sie hatten getanzt und geredet, hatten festgestellt, daß sie beide schon früh Vollwaisen geworden und total ohne Anhang und familiäre Bande waren – und vor allem hatten sie einander immer wieder versichert, daß man sich künftig doch mal öfter sehen müsse. Und mit dem Glockenschlag eins des neuen Jahres griff sich Marianne den
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Typ, der wenige Monate später ihr Ehemann wurde, wie eine überfällige Beute… Das erste und einzige Mal. Ich hätte es besser unterlassen! dachte Marianne Legiehn. Zwei Jahre ging’s prima – Kurt schien tatsächlich froh zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben. Und weitere drei Jahre ging’s – immerhin noch mäßig… man wurde ja nicht jünger und schöner. Dummerweise hatte Marianne auf Kurts Drängen hin nicht nur ihren Job aufgegeben, als er Polier und Bauführer bei Hansa KG. HochTief wurde, sondern auch noch ihre Versicherungen gekündigt: Kinder hatten sie nicht, argumentierte Kurt, würden sie auch nicht mehr kriegen – warum also das Geld nicht auf den Kopf hauen? Warum an Zukunftssicherung denken, wenn der Mann sowieso gut versichert war und damit auch die Frau, sofern sie ihn, was gar nicht sicher war, überhaupt überlebte? Dumm genug! dachte Marianne. Sie geriet in eine immer größere Abhängigkeit und verlor den letzten Rest ihrer Selbständigkeit. Und Kurt machte spätestens vom sechsten Ehejahr an, was er wollte: Saufen. Zocken. Fremde Frauen – Kolleginnen aus dem Lohnbüro und dem Sekretariat seiner Firma und noch Schlimmere, nicht aus der Firma. Und dann alles noch mal von vorn, womit jeweils die Woche rum war. Sie saß zu Hause, starrte abwechselnd ins Erste und Zweite Fernsehprogramm und wußte am nächsten Morgen nichts mehr – geschweige denn, wo ihr der Kopf stand. Ein einziges Mal hatte sie einer früheren Kollegin ihr Herz geöffnet. Aber die hatte abgewinkt… Sieh mal, Kurt sieht gut aus, da bleibt das nicht aus, daß ihm mal eine Avancen macht! Das ist es ja nicht, hatte sie gesagt, ich frag mich bloß, ob ich nicht besser bin als irgendwelche Huren, mit denen er rumzieht! Aber ich bitte dich, Marianne! Männer kommen manchmal früh in die Midlife Crisis – die machen dann diesen Blödsinn! Er muß ja auch arbeiten wie ein Tier – und wenn du mir dann noch sagst, daß er eine freudlose Jugend gehabt hat… Nachholbedarf ist das! Wetten, daß sich das von alleine gibt? Marianne Legiehn hatte nicht wetten wollen – sie war immerhin ein paar Wochen der guten Hoffnung, die große Krise sei vorübergehen-
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der Natur. Dann aber kam der Jammer zurück, schlimmer als je zuvor… Was, bitte schön, hatte sie denn davon, wenn Kurt wie ein Tier arbeitete und anschaffte, im Akkord und auch noch schwarz, nur um das klotzige Geld dann in einer Nacht zu verjuxen? Wenn man ihn zu Hause nicht mal ansprechen durfte? »Ich bring mich um!« sagte sie irgendwann. »Macht doch nichts!« tröstete er – herzloser ging’s nicht mehr. »Die Sterbeversicherung kommt für alles auf – sogar für die Todesanzeigen!« Später drohte sie mehrfach: »Ich laß mich scheiden!« »Also, das würde ich mir dreimal überlegen!« mahnte Kurt dann regelmäßig und stereotyp, wenn er nicht gerade blau war und überhaupt nicht mehr reagierte. »Denk doch mal an die vielen Arbeitslosen – meinste, dich nimmt noch wer mit deiner fehlenden Praxis als Buchhalterin oder sonstwo im Büro?« Sie hatte ja zunächst noch Oberwasser gehabt, wie sie albernerweise glaubte; schließlich las sie ja Zeitung – eins der wenigen Hobbys, zu denen sie sich noch aufraffen konnte. Und da stand alle nasenlang was Neues drin über die neuen Rechte der Frau nach dem inzwischen auch nicht mehr ganz neuen Scheidungsrecht. »Du mußt für mich aufkommen, du mußt zahlen… außerdem hab ich jederzeit vollen Anspruch auf Versorgungsausgleich!« »Red doch nicht!« sagte er unwirsch. »Du bist kerngesund – da sagt dir jeder, daß du für dich selber aufkommen mußt bei der Wirtschaftslage! Meinste, der Staat hat zuviel Geld? Oder ich – als Steuerzahler? Wenn du nicht als Buchhalterin oder Büromieze unterkommst, wirste umgehend umgeschult – das wirste!« »Als was denn?« »Als Putzfrau!« sagte er. »Prost!« Deprimierend! dachte sie. Entwürdigend! Wenn ich bloß die Energie hätte, mich da mal richtig reinzuhängen! Wahrscheinlich spinnt er in manchen Punkten – wahrscheinlich bin ich besser dran, als ich glaube… Sie haßte ihn zehn Tage hintereinander und fiel jeweils am elften Tag wieder auf ihn rein, wenn er mal gerade seine guten fünf Minuten hatte. Natürlich sah er gut aus – natürlich war sie stolz gewesen,
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daß er gerade auf sie verfallen war und nicht auf Anneliese Superstar oder Rita Beyer, die Königinnen der Bramfelder Aschenbahn. Vor allem aber war er ja auch schlau – und irgendwas war schon dran an seinen Sprüchen; sie mußte sich da kolossal vorsehen, durfte sich nie eine Blöße geben. Er joggte, wenn er mal nichts anderes vorhatte – sie war anfangs mal mitgelaufen, aber er war ihr weggelaufen und hatte nur höhnisch gegrinst. Er arbeitete mit Expandern im Bad, schaffte es irgendwie immer noch, trotz seiner Sauferei die Figur zu halten – und sie wurde immer grauer. Und fett um die Hüften sowieso… Inzwischen war es so weit gekommen, daß sie seit mindestens drei Jahren keinen Besuch mehr hatten und so gut wie keine Kontakte, nicht mal mit den Leuten im Haus. Sie gingen nie gemeinsam vor die Tür, es sei denn, sie fuhren mal zum Einkaufen zum Ankauf-Markt – und wenn Marianne nicht dreimal oder viermal ins Kino gegangen wäre, hätte sie kaum noch gewußt, wie die City aussieht. Alle sechs oder acht Wochen ging Kurt mit ihr ins Bett, meist betrunken und ohne jedes Vorspiel; er sagte weder vorher noch hinterher danke oder bitte oder sonstwas. Durch seine viele Schwarzarbeit hatte er regelmäßig die Taschen voll Geld – sie konnte immerhin froh sein, daß er ihr wenigstens ausreichend Haushaltsgeld gab, und es wäre ihr deshalb nie in den Sinn gekommen, ihn um eine einzige Mark mehr zu bitten – für sich. Jedenfalls war sie seit langem heilfroh, wenn er nicht da war – gleichgültig, wo er war. Sie wollte es nicht mehr wissen. Tausend Einzelheiten. Tausend beschämende, bittere Einzelheiten. Er redete von Scheidung, nachdem sie damit aufgehört hatte. Mecker doch! sagte er provozierend. Ich bin froh, wenn ich dich los bin! Sie meckerte nicht. Hau doch ab! Ja, sicher, aber wie und wohin? Das letzte kurze Gespräch, bei dem Marianne Legiehn andeutungsweise aufgemuckt hatte, war am vorvorigen Heiligen Abend gelaufen. Abends zwischen neun und zehn, quasi zwischen zwei Besäufnissen. »Ich hab mir eins überlegt, Kurt – glaubst du nicht, daß es besser wäre, wenn ich mir irgendwo eine kleine Wohnung nehmen würde?«
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Er sah sie an wie jemanden, der gerade den Verstand verloren hat. »Wer soll das bezahlen?« »Ich kann mich ja einschränken«, sagte sie zaghaft, »das ist vielleicht gar nicht mal so teuer… sicher nicht viel mehr als das Haushaltsgeld…« »Und wer kocht hier?« »Du könntest in der Kantine essen… oder eine von deinen Freundinnen…« »Und wer gibt mir die Flöhe dafür?« Natürlich der springende Punkt. »Also, etwas einschränken müßten wir uns wohl beide…« Er tobte nicht, wie sie befürchtet hatte, und er flippte auch sonst nicht aus. Den Ton seiner Rede hätte man sogar noch als vernünftig bezeichnen können, wenn die Aussage als solche nicht so hoffnungslos gewesen wäre. »Ich will dir mal eins sagen, Schätzchen – das schlag dir mal ganz schnell aus dem Kopf! Ich fühl mich wohl hier, weil du einsiehst, daß ich so bin, wie ich bin – ich denke nicht im Traum dran, dir ‘ne eigene Wohnung zu finanzieren, damit du auch noch andere Kerle bei dir pennen lassen kannst? Nee, nee, du… entweder nimmste mich so, wie ich bin, und bist vernünftig – oder ich laß dich verhungern!« Das Schlimme ist, dachte Marianne Legiehn, daß ich wahrscheinlich ja nicht die einzige bin, die auf diese Weise in die Falle gegangen ist! Wahrscheinlich gibt’s sogar noch viel Schlimmere als Kurt… Ja – Moment, dachte sie. Das stimmt ja gar nicht mehr seit gestern nacht! Der Schock von heute morgen, der Marianne Legiehn buchstäblich erst in diesem Moment voll bewußt wurde, war fürchterlich. Kurt Legiehn, der Mörder… sie griff sich an den Hals, drohte zu ersticken, hätte fast losgeschrien vor Ekel und Entsetzen… Sie saß kalkweiß im Sessel, als Kurt – adrett mit grauer Hose und schwarzem Pullover mit V-Ausschnitt zum hellblauen Hemd – ins Wohnzimmer zurückkam. Frisch rasiert, die nassen Haare angeklatscht und gescheitelt. Das Gesicht allerdings düster – die Augen immer noch rot.
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»Willste heute nicht kochen?« fragte er. Sie nahm sich zusammen. »Ich kann Linseneintopf mit Einlage machen… ‘ne Dose…« »Besser als nichts!« sagte er. Er setzte sich auf die Couch, schielte am Mariacron vorbei, ließ die Flasche jedoch erst mal stehen. »Is was?« »Ja!« sagte sie fest. »Ich muß wissen, was heute nacht los war!« Eine endlose Weile später sagte er bedrückt: »Also, Blödsinn gemacht haben wir tatsächlich… deshalb isses schon gut, daß du mir geholfen hast…« Sie starrte ihn an und sagte nichts. »Auf der Baustelle haben wir gestern ziemlich einen saufen müssen gegen Feierabend, das übliche… ausnahmsweise ist es dann der eine oder andere Schnaps mehr geworden…« »Aha«, sagte sie bitter, »ausnahmsweise!« »Ja, und? Kommt ja mal vor!« Er hustete. »Jedenfalls mußten sie dann unbedingt noch einen draufmachen… und ich als Boß, ich sag noch, nee, is nich… ja, aber dann bin ich mit Gustav und einigen anderen irgendwann doch auf Sankt Georg – man kann ja nicht immer nein sagen! Irgend ‘ne schräge Spelunke im Keller…« »Wer ist denn gefahren?« »Ja, ich!« sagte Kurt schuldbewußt. »Leider! Wieder mal viel zu gutmütig…« »Und?« fragte Marianne. »Ja, ja, ja – und, und, und! Irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren – ich muß zugeben, ich hab mich dann tatsächlich noch von so ‘ner Königin der Nacht von der Seite anquatschen lassen…« »O Gott!« sagte sie. »Nix Gott! Red doch keinen Stuß, wenn ich schon mal die Wahrheit sag! Jedenfalls bin ich mit der Ziege irgendwann auch im Auto… aber ehrlich, Mädchen – ich war doch längst jenseits! Ich bin einfach bloß losgedonnert und hab se irgendwo rausgelassen!« »Am Rietbrooker Forst? Tot?« »Gottverdammt, nein! Glaub’s mir doch – quicklebendig! Irgendwo neben so Kleingärten Richtung Langenhorn, in ‘ner ganz anderen
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Richtung! Ich hab das Girl nicht mal angefaßt, ich weiß nicht mal mehr, wie sie aussieht – ich schwör’s!« »Laß es lieber!« sagte sie. Dann, wieder angstvoll: »Und du hast sie bestimmt nicht gewürgt?« Legiehn wirkte erschöpft. »Wieso denn das?« »Hast du das vergessen?« fragte sie leise. Er tat so, als denke er nach. »Ach so… diese Sumpfblüte! Aber das ist doch bald zehn Jahre her, Marianne – das kann man doch nicht damit vergleichen! Außerdem wird man ja älter und reifer, selbst ich – nee, du, diese Spielchen sind lange passé!« Sie sah wie durch einen Schleier, daß er aufstand und in die Küche ging. Das Würgen! dachte sie in neuer, panischer Angst. Ein paarmal hatte er ihr die Hände um den Hals gelegt und ganz leicht zugedrückt, bis sie sich diese… diese Unart im Bett, wie sie meinte, verbat. Aber dann diese Horrorgeschichte, die er ihr gebeichtet hatte, weil er Angst haben mußte, daß noch was nachkam – auf Montage in Düsseldorf, ein Callgirl im Hotel, mit dem er aneinandergeraten war… Zweitausend Mark hatte er ihr gezahlt, damit sie ihn wegen seiner brutalen Attacke nicht anzeigte… Kurt kam zurück mit einer Flasche Bier. »Wollen die harten Sachen heute mal weglassen«, sagte er mit schüchternem Feixen, »ist doch sicher in deinem Sinn, oder?« Marianne schwieg. Er stellte die Buddel ab, nachdem er sie in einem Zug bis zur Hälfte leergetrunken hatte, und versuchte, Marianne zu umarmen. Aber er ließ sie in Ruhe, als sie ihn abwehrte, und trank weiter. »Wenn ich an all das Geld denke, das du in dieser ganzen Zeit verplempert hast«, sagte sie bedrückt, »also, mir wird ganz schlecht!« »Ich hab’s doch!« sagte Kurt. »Biste in der Hinsicht jemals zu kurz gekommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Was dich überhaupt zu diesen… diesen Frauen treibt…« »Oh, meine Nerven!« klagte Kurt; seine Stimme war voller Selbstmitleid. »Ein einziger Rückfall, und dann dieses Theater! Ich mach doch längst nix mehr in der Hinsicht – ich hab keinen Pfennig bezahlt letzte Nacht!«
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»Aber es war schon vorher zuviel«, sagte Marianne, »deine ständigen Saufereien… ein Wunder, daß sie dir nie den Führerschein abgenommen haben – deine Weibergeschichten interessieren mich schon lange nicht mehr… ich halt das nicht mehr aus, Kurt!« Da wurde er aggressiv. »Warum gibst du mir dann trotzdem dieses Alibi?« »Das frag ich mich auch!« sagte sie bitter. »Ich kann’s dir ja sagen«, erklärte er gehässig, »weil du sofort aufgeschmissen wärst, wenn sie mich einbuchten!« Er unterbrach sich hastig. »Ich mein, wenn sie mich zu Unrecht einsperren würden… Wovon willste denn dann leben? In deinem Alter – wer nimmt dich denn noch?« Wie gehabt! dachte Marianne Legiehn. Das schwarze Loch… die Zukunft, die keine war. Er hatte sie in der Hand, und er wußte es – sie war ihm ein für allemal ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. »Laß uns noch mal überlegen, Kurt«, hörte sie sich sagen, wie von fern, »du warst also mit einem Mädchen zusammen?« »Ja… sag ich doch!« »Wann hast du dich von ihr getrennt?« »Ach, irgendwann nach Mitternacht… ich hab dann erst mal im Auto gepennt…« Marianne Legiehn dachte nach. »Wenn dich unterwegs noch wer gesehen hat, dich oder dein Auto… Kurt, ich meine, du solltest schon damit rechnen, daß die Kripo noch mal wiederkommt! Ausgeschlossen ist es sicher nicht, daß sie dich dann auch für länger mitnehmen!« »Für länger?« fragte er bestürzt. »Ja – wenn, dann für länger! Wär ja nicht das erste Mal, daß sie jemand verhaften, der unschuldig ist. Und daß der dann auch vor Gericht kommt…« »Hirnverbrannt!« Er lief dreimal im Zimmer auf und ab, bis er vor der Bierflasche stoppte und sie leer trank. »Gut, Mädchen!« sagte er dann theatralisch. »Hauptsache, daß du an mich glaubst! Ich hab jedenfalls ein absolut reines Gewissen… und ich sag dir, ich werde das bis zuletzt durchstehen – so oder so!« »Hoffentlich ich auch…« sagte Marianne.
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Sofort war er wieder mißtrauisch. »Willste mir etwa nicht mehr helfen?« Sie zuckte die Schultern – plötzlich total hilflos und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Natürlich hilfste mir!« sagte er mit Nachdruck. »Kannst ja gar nicht anders, hab ich dir ja nu oft genug gesagt! Und nu geh endlich und mach deine Linsen!« Eine Woche lang ließ die Polizei Kurt Legiehn dann noch in Frieden – eine Woche lang ging er pünktlich seiner Arbeit nach, kam abends regelmäßig nach Hause und benahm sich auch dort ungewöhnlich zivil für seine Verhältnisse, indem er zwar stumm und steif, aber mit nicht allzuviel Alkohol vor der Glotze saß. Gott sei Dank – so empfand es Marianne – kam er nicht auf die Idee, sie anzufassen. Die Polizei hatte in dieser Zeit auch gar keine Veranlassung, Legiehn härter anzupacken: in seinem Auto waren, wie die Mordkommission schon erwartet hatte, weder Haare oder Textilfasern noch andere Mikrospuren gefunden worden. Ebensowenig hatten sich Fingerabdrücke der toten Karin Bolt sichern lassen – wenn sie jemals in dem grünen Opel gewesen war, hatte sie entweder nichts angefaßt oder ihre Handschuhe nicht ausgezogen. Am achten Tag nach dem Mord aber rief eine Sekretärin vom Institut für Spektrometrie an der Universität Hamburg bei der Kripo an und schlug vor, einer der Herren Sachbearbeiter möge mal zu Herrn Professor Weininger kommen – es gebe was Neues. Below, der gerade da war, fuhr sofort hin. Und wenig später saß er mit gespannter Erwartung in einem Raum, in dem ein nervtötendes Summen hing und der durch zahlreiche Bildschirme in ein gespenstisches Zwielicht getaucht wurde. Kurven und Zacken und rätselhafte Computerschriftzeichen flimmerten über die Monitore und markierten sogenannte Elementbilder, wie Weininger ihm erklärte. »Hier – der erste Schirm!« sagte der Professor – ein hagerer, ziemlich kleiner, scheinbar blutloser und spitznasiger Mensch mit gelichteter Stirn, etwa um die Fünfzig. »Probe eins… Sie sehen, daß sich das Bild deutlich von Probe zwei unterscheidet…« Below sah es zwar erst bei sehr genauer Betrachtung. Er verließ sich jedoch voll und ganz auf den Fachmann – der, so dachte er,
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würde seine Sache gegebenenfalls ja auch vor einem sachverständigeren Gremium zu vertreten haben. »Probe drei… wiederum deutlich unterschieden von eins und zwei! Probe vier – dasselbe Ergebnis…« Er machte es spannend. Sieben Fingernagelproben, die von sieben Opelbesitzern stammten, führte er Below der Reihe nach vor – beziehungsweise die Elementbilder der Proben, die über den Spektralapparat auf den Schirm übertragen worden waren. Und dann erst zeigte er auf die nebeneinanderstehenden Bildschirme acht und neun. »Die sehen Sie sich mal genauer an – fällt Ihnen da nicht sofort was auf?« Below erkannte diesmal tatsächlich sehr deutlich, daß sich die Bilder ähnlich sahen wie ein Ei dem anderen. »Dieselbe Probe – oder?« »Eben nicht!« sagte der Professor befriedigt. Er zog eine goldgefaßte Brille aus der Tasche seines weißen Laborkittels. »Das eine ist das Spektrum des Fingernagelstückchens, das bei der ermordeten Frau gefunden wurde, wie mir Ihr Kollege sagte. Und das hier« – er deutete auf den letzten Monitor – »ist das Spektrum der Nagelprobe Ihres Tatverdächtigen! Beide Proben unterschiedlicher Herkunft stammen also eindeutig von demselben Menschen – gerade, weil es so augenfällig ist, habe ich Sie ja hergebeten…« »Ungeheuer!« sagte Below. Er war seltsamerweise weit davon entfernt, in Jubel auszubrechen. »Ja. Meine Methode! Absolut narrensicher, populär ausgedrückt! Bisher wurden beim Vergleich entsprechender Proben lediglich bis zu maximal vierzehn Elemente nachgewiesen, was zu verhängnisvollen Fehldeutungen führen konnte. Nunmehr jedoch sind da keine Grenzen mehr gesetzt – ich erfasse effektiv alle!« »Tatsächlich?« staunte Below. »Tatsächlich alle neunzig oder hundert Elemente?« »Mit Sicherheit alle Metalle!« sagte Weininger. »Also zweiundsiebzig Peaks, ein Peak für jedes Metall – das sind die Zacken, die Sie hier auf den Schirmen sehen. Sie führen in ihrer Gesamtheit zu einem nicht mehr zu widerlegenden Ergebnis – die Richtigkeit der Analyse stützt sich auf zweiundsiebzig Faktoren!« »Gratuliere!« sagte Below.
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»Oh, gern – ich Ihnen auch!« Trotzdem, dachte Below, diese neuen Methoden haben ja vor Gericht gelegentlich ihre Tücken. »Sie meinen, daß Ihnen da eines Tages auch das Schwurgericht folgen muß?« »Aber darauf können Sie guten Gewissens Gift nehmen, Herr Below!« versicherte Weininger. »Meine Ergebnisse, möchte ich frank und frei behaupten, sind sicherer als ein Vergleich von Fingerabdrücken! Sie dürften in aller Kürze international Furore machen… nicht zuletzt deshalb, Herr Below – Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, daß ich meine Methode endlich mal an einem Fall der kriminalistischen Praxis demonstrieren kann!« Below nickte. »Ohne Ihre Hilfe würde es uns sehr, sehr schwerfallen, dem betreffenden Tatverdächtigen den Mord nachzuweisen…« »Aber jetzt haben wir ihn ja!« sagte der Professor. Offenbar ganz und gar nicht ohne Absicht sagte er wir – und er war offensichtlich nicht nur stolz, sondern auch richtig glücklich. So wurde Legiehn gleich am nächsten Tag für länger eingesperrt – ganz, wie es seine Frau vorausgeahnt hatte. Sein junger Verteidiger – ein alerter, angeblich schon ungewöhnlich erfolgreicher Anwalt namens Zobel, den ihm sein Chef empfohlen hatte – war in der Folgezeit der Meinung, er möge zunächst uneingeschränkt kooperativ sein und vor allem bei der vom Gericht angeordneten psychiatrischen Untersuchung aktiv mitwirken. In der Hauptverhandlung, zu der es mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen werde, mache sich das bestimmt noch bezahlt. Ein Punkt allerdings ärgerte Zobel sehr, als das schriftliche Gutachten des Psychiaters Professor Haste vorlag: Legiehn hatte sich leider auch den Zwischenfall mit jenem Madchen aus Düsseldorf aus der Nase ziehen lassen, jenem Callgirl; hier, meinte Zobel, habe Legiehn die Kooperation wohl doch etwas zu weit getrieben. Befriedigt hingegen war der Anwalt über die Promillerechnung, die Haste aufgemacht hatte: Ausgehend von immerhin noch 2,3 Promille zum Zeitpunkt der Entnahme der Blutprobe – sechs bis acht Stunden nach dem Todeszeitpunkt von Karin Bolt –, sei Herr Legiehn in der Nacht zuvor mit schätzungsweise 3 Promille sicherlich volltrunken gewesen; für den Fall also, daß das Gericht ihn als Täter überführen wür-
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de, müsse ihm mindestens eine stark eingeschränkte Schuldfähigkeit bescheinigt werden. Dies, meinte Zobel, sei für alle Fälle doch eine sehr wertvolle Rückversicherung, wenngleich er hoffe, sie gar nicht erst in Anspruch nehmen zu müssen. Legiehn war am Morgen seines ersten Verhandlungstages also recht frohgemut, sofern ein Mensch, der behauptet, völlig zu Unrecht vor Gericht zu stehen, überhaupt in der Lage ist, frohgemut zu sein. Als er indessen mit eigenen Ohren hörte, was im einzelnen ihm in der Anklageschrift und im Eröffnungsbeschluß zur Last gelegt wurde, flippte er doch fast aus… »Herr Legiehn«, sagte der Vorsitzende, »Sie heißen Kurt Legiehn, sind achtunddreißig Jahre alt, verheiratet, von Beruf Bauhandwerker, geboren und wohnhaft in Hamburg, Ihre Ehe ist kinderlos… Herr Legiehn, Sie wollen Aussagen zur Person und zur Sache machen…« »Nein!« sagte Legiehn. »Nein?« wiederholte der Vorsitzende erstaunt; bisher hatte er’s anders gehört. »Da den glaubwürdigen Aussagen meiner Frau und mir sowieso nicht geglaubt wird, sag ich überhaupt nix! Ich bin unschuldig, und daß ich hier steh, halt ich für die größte Sauerei der…« Sein Verteidiger hatte sich zu ihm umgedreht und den Kopf geschüttelt; Legiehn hielt mitten in der Tirade inne. »Also gut!« sagte der Vorsitzende achselzuckend. »Es ist Ihr gutes Recht – wie Sie wollen!« Nach Lage der Dinge dauerte es dann nicht mehr allzu lange, bis der Zeuge Erich Munkhaus aufgerufen wurde, der nervös – diesmal in Tweed – draußen wartete. Als er den Saal betrat, sagte Siebert zu Below, der neben ihm in der Reihe der bereits vernommenen Zeugen saß: »Das ist ja ein unheimliches Tempo!« »Hoffentlich geht’s nicht zu schnell!« antwortete Below leise und mit zusammengebissenen Zähnen. Siebert nickte. Er sah Munkhaus, der sich im Zeugenstand aufbaute, nachdenklich an. »Ich denk immer noch, den hätten wir besser präparieren können…« »Is ja nun mal verboten!« sagte Below lakonisch.
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Munkhaus schilderte, wie er seinerzeit den Parkplatz in Rietbrook erreicht hatte, fast am Ende seiner damaligen Wanderung – und wie ihm dann der Opel aufgefallen war, dessen Innenbeleuchtung kurz brannte, bevor ein Körper herausgeworfen wurde. Die Scheinwerfer hätten zunächst nicht gebrannt, meinte er auf Befragen, die seien erst angestellt worden, als der Wagen davonraste… Daß er zumindest mittelbar Zeuge eines schrecklichen Verbrechens geworden sei, erklärte er, sei ihm jedenfalls erst zu Bewußtsein gekommen, als er vor der toten Karin Bolt gestanden habe. »Wieso das?« fragte der Vorsitzende. »Normalerweise schmeißt doch niemand einen Menschen einfach aus dem Auto…« »Ach – da sind öfter Autos mit Liebespärchen… und besoffen sind die Leute auch öfter!« antwortete der Zeuge. »Da wundert man sich erst mal über nix mehr!« Nach einigem weiteren Hin und Her hatte Verteidiger Zobel das Wort – sein erster wichtiger Auftritt in diesem Prozeß, in dem es für seinen Mandanten um alles oder nichts ging, um Freispruch oder lebenslang, letzteres allenfalls gemildert auf fünfzehn Jahre wegen eines Vollrausches. »Herr Munkhaus«, sagte er eindringlich, »Sie müssen sich nun wirklich entscheiden, ob Sie nun das Auto des Angeklagten gesehen haben oder nur ein ähnliches Auto… ich habe gehört, Sie sind ein Mann mit ungewöhnlich scharfen Augen…« Eigentlich keine Frage, schien der Vorsitzende zu überlegen; er runzelte, anscheinend ungehalten, die Stirn, sagte aber zunächst noch nichts. »Also, ich mach seit bald zehn Jahren diese Nachtwanderungen«, erklärte Munkhaus, »ich seh da wirklich jede Eule und jede Bewegung…« »Eben!« sagte Zobel. »Und das Auto, das Sie gesehen haben, war ein grüner Opel?« »Eindeutig ein grüner Rekord!« »Und das Kennzeichen?« »Aber, Herr Rechtsanwalt, das hatten wir doch schon!« unterbrach der Vorsitzende. »Bitte, versuchen Sie, Ihre Fragen zu präzisieren!« »Und das Kennzeichen?« wiederholte Zobel ungerührt, an Munkhaus gewandt.
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»Das war eindeutig Hamburg und zweimal K wie Konrad und dann ‘ne Eins und ‘ne Drei!« »…und?« fragte Zobel lauernd. »Ja, und dann wahrscheinlich noch ‘ne Drei… aber die allerletzte Zahl, und ob dann noch eine oder zwei Zahlen kamen, das kann ich nicht beschwören, wenn ich hier vereidigt werden soll! Das hat doch damit nichts zu tun, daß ich nicht gucken kann!« »Danke!« sagte Zobel brüsk. Er sah den Richter an. »Herr Vorsitzender, es ging mir hier in allererster Linie darum, noch klarer als bisher deutlich zu machen, daß der Zeuge sich in diesem Punkt nicht klar genug erinnert! Insofern hätte ich nichts dagegen, wenn wir ihn mit seinem Einverständnis einer Befragung unter Hypnose unterziehen würden – es soll da ja manchmal wahre Wunder geben, wenn es um eine Auffrischung des Gedächtnisses geht…« »Ist das ein Antrag, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Vorsitzende ziemlich perplex. »Ja!« sagte er fest. »Ich werde den Text noch schriftlich nachreichen!« Der Richter sah Munkhaus an. »Wären Sie denn mit einer solchen Befragung einverstanden?« Munkhaus war unsicher. »Tja – ich weiß nicht… ist das denn nicht gefährlich?« »Sicher nicht, Herr Munkhaus… gefährlich ist es sicher nicht…« »Ja, denn – also gut!« Der Vorsitzende sah den .Anklagevertreter an. »Herr Oberstaatsanwalt?« »Ich würde vorschlagen«, sagte Oberstaatsanwalt Linde, indem er sich erhob, »den psychiatrischen Sachverständigen, Herrn Professor Doktor Haste, um seine Meinung zu bitten – dieser würde ich mich anschließen!« Der Blick des Vorsitzenden ging zur Bank der Sachverständigen, auf der Haste neben Weininger saß. Haste machte ein etwas mißmutiges Gesicht, als er aufstand. Linde lächelte, als er sich wieder setzte… »Vom juristischen Standpunkt aus möchte ich mich dazu gar nicht äußern«, sagte der Psychiater, »aus medizinischer und sicherlich
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auch psychologischer Sicht wäre der Gedanke des Herrn Verteidigers nicht unbedingt abwegig. Ich könnte nicht ausschließen, daß es der Wahrheitsfindung dient!« Der linke Beisitzer tuschelte mit dem Vorsitzenden. Der nickte nachdrücklich. »Gut«, verkündete er schließlich, »das Schwurgericht wird beraten. Die Verhandlung ist unterbrochen…« Als sich der Saal leerte, ging der Oberstaatsanwalt zum Verteidiger. »Sie sind ja ungewöhnlich risikofreudig, Herr Zobel – alle Achtung!« »Glaub ich nicht!« sagte Zobel gleichmütig. »Außerdem haben wir ja nichts zu verbergen. Ich glaub leider nur, daß unsere Kammer neuen und ungewöhnlichen Untersuchungsmethoden nicht gerade uneingeschränkt positiv gegenübersteht, wenn mich mein Gefühl nicht täuscht…« Der Ankläger war plötzlich mißtrauisch. »Meinen Sie damit nur die Hypnose?« Zobel grinste. »Sie sind ein kluger Mensch, Herr Linde… aber Sie erwarten sicher nicht, daß ich Ihnen diese Frage beantworte!« Marianne Legiehn hatte ihren Mann seit seiner Verhaftung, die inzwischen drei Monate zurücklag, regelmäßig und pflichtgetreu in der Untersuchungshaftanstalt besucht; unter den Augen der Aufsichtsbeamten waren zwischen den Eheleuten allerdings nur sehr belanglose Dinge zur Sprache gekommen. Am späten Nachmittag dieses ersten Verhandlungstages, der tatsächlich mit der Ablehnung des »Hypnoseantrags« zu Ende gegangen war, erschien sie indessen bei Zobel – bedrängt von tausend quälenden Fragen, die immer wieder auf die eine Frage hinausliefen: war sie nun mit einem Mörder verheiratet – oder war sie es, was sie inständig hoffte, nicht? Zobel schien den Druck, unter dem sie stand, gar nicht zu bemerken; er erklärte ihr zunächst lang und breit seine bisherige und künftige Prozeßstrategie. »Selbst wenn das Gericht«, erklärte er zufrieden, »meinem Vorschlag gefolgt wäre – was, Frau Legiehn, hätte passieren können? Der Zeuge Munkhaus hätte sich unter der Hypnose möglicherweise an die vollständige Autonummer erinnert, von mir aus auch an die
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letzte Drei, die Nummer Ihres Mannes – na und? Ein Beweis wäre das nie gewesen… erstens gibt es viel zu viele grüne Opel Rekord mit ähnlicher Nummer, zweitens ist von dieser ominösen Drei soviel die Rede gewesen, daß das Unterbewußtsein dieses Herrn auch von daher beeinflußt gewesen sein könnte! So hätte ich jedenfalls argumentiert, wenn was schiefgegangen wäre, Frau Legiehn… Insofern wußte natürlich auch das Gericht, daß es auf ein eventuell positives Ergebnis der Hypnosebefragung kein Urteil hätte stützen können – also mußte es, aus Gründen der Prozeßökonomie, meinen Antrag ablehnen! Sehen Sie das nicht auch so?« Marianne Legiehn nickte. »Warum haben Sie den Antrag dann trotzdem gestellt?« »Aber, Frau Legiehn!« sagte Zobel wie zu einem begriffsstutzigen Kind. »Warum wohl? Um einen Präzedenzfall herbeizuführen – deshalb! Sehen Sie doch mal folgendes… die Anklage gegen Ihren Mann steht im Grunde auf zwei Beinen. Einmal auf der Aussage von diesem Munkhaus, aber die haben wir jetzt ja so gut wie vom Tisch. Dann aber, was viel gefährlicher ist, auf dem Gutachten von diesem Professor Weininger, die Fingernagelprobe Ihres Mannes und das bei der Toten gefundene Nagelstück seien identisch… da würden wir normalerweise ganz schön dumm aussehen. Können Sie mir wenigstens in dieser Hinsicht folgen?« »Ich glaube, ja…« sagte Marianne Legiehn. Eine Sekretärin kam herein und brachte Kaffee für den Meister und die Frau des derzeit wichtigsten Mandanten. Zobel stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu wandern… Ohne Rücksicht auf die Unterbrechung fuhr er mitten im Satz fort. »Gut, Frau Legiehn. Nun hat aber das Gericht bei der Ablehnung meines Antrags klipp und klar entschieden, die Hypnose sei wissenschaftlich nicht genug gesichert, um einen Beweis zu stützen. Und nun frage ich Sie, Verehrteste – wenn da nicht mal die hundert oder wieviel Jahre alte Hypnose wissenschaftlich gesichert ist… wie kann dann Weiningers soeben erst erfundene Fingernagelvergleichsmethode wissenschaftlich gesichert sein?« Marianne Legiehn war jetzt doch beeindruckt. »Das ist ja toll, was Sie da sagen! Das muß doch auch das Gericht begreifen…«
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»Und ob es das begreift!« sagte Zobel grimmig. »Da bleibt ihm gar nichts anderes mehr übrig!« Als er sich setzte und einen Schluck Kaffee trank, kam Marianne Legiehn endlich auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen. »Ich wollte Sie mal was fragen, Herr Rechtsanwalt… Sie haben inzwischen so oft mit meinem Mann geredet – glauben Sie denn, daß er diese Frau wirklich nicht ermordet hat?« »Daß er unschuldig ist, meinen Sie?« Zobel sah sie verwundert, wenn nicht sogar leicht verärgert an. »Frau Legiehn – ich habe nicht die geringste Veranlassung, an seinen Erklärungen mir gegenüber zu zweifeln, daß er ein reines Gewissen hat!« »Aber was der… der Herr Psychiater geschrieben hat?« »Der Haste?« sagte Zobel kopfschüttelnd. »Gott bewahre, Frau Legiehn – ich bitte Sie! Hat rausgekriegt, daß Ihr Mann früher mal ein Callgirl tätlich angegriffen hat… meine Güte, das ist zehn Jahre her, da ist nicht mal ermittelt worden! Ihr Mann ist weder vorbestraft noch jemals auffällig gewesen, das sagt Haste doch auch – nee, nee, da machen Sie sich bloß keine Kopfschmerzen!« »Ja, aber das mein ich eigentlich nicht…« sagte Marianne zaghaft. »Ja, was denn?« »Ich meine, wo der Professor schreibt, daß Kurt… daß mein Mann seit längerem sexuelle Schwierigkeiten haben soll und daß er deshalb ein Frauenmörder sein könnte… ich meine, mir hätte da doch sicher zuallererst was auffallen müssen…« »Ach – jetzt versteh ich Sie!« sagte Zobel. »Aber da haben Sie vollkommen recht, Frau Legiehn – das ist wirklich ein starkes Stück! Schleichende psychopathologische Entwicklung, neurotische Sperren bei der Hinwendung zur Frau als solcher – ich hab wirklich auch nur entsetzt mit dem Kopf schütteln können! Aber das machen gerade unsere Schwurgerichte leider immer wieder, daß sie den Psychiater fragen, ob dem Angeklagten die Tat charakterlich zuzutrauen ist… dagegen müßte man endlich mal angehen! Welchem Menschen ist welche Tat nicht zuzutrauen, frage ich Sie? Herr Professor Haste hat mir heute vormittag allerdings selbst gesagt, daß ihm gerade durch den Fall Ihres Mannes endgültig die Augen aufgegangen sind… er empfindet es als Zumutung und Überforderung, auf diese Weise zum
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Büttel des Gerichts gemacht zu werden! Und er wird sich künftig mit Händen und Füßen dagegen wehren… nee, nee, Frau Legiehn – da wird Haste in seinem mündlichen Gutachten selbst schon einiges klarstellen, wenn’s an der Zeit ist! Da stellt er sich selber richtig, sozusagen – alles in allem, Frau Legiehn, dieser Fall ist für mich schon gelaufen!« Marianne Legiehn starrte auf ihre Fußspitzen. »Für mich noch nicht…« sagte sie leise. »Sie meinen – ich schaffs nicht?« fragte Zobel ungläubig und zutiefst erstaunt. »Ob ich es schaffe, meine ich…« erklärte sie. »Ach, so meinen Sie… tja, wissen Sie, da entstehen natürlich immer Probleme, wenn ein Ehepartner so mir nichts, dir nichts unter Mordanklage gerät; das ist sicher zwangsläufig, aber erfahrungsgemäß renkt sich das dann doch sehr schnell wieder ein!« Er trank seinen Kaffee aus und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten anderer Fälle, die tagsüber eingelaufen waren. Marianne Legiehn indessen blieb sitzen. »Sie sind eigentlich der einzige«, sagte sie unvermittelt, »der mich nie gefragt hat, ob ich meinem Mann nicht doch ein falsches Alibi gegeben habe…« Da reagierte Zobel allerdings sehr vorwurfsvoll. »Ja, wieso? Wieso hätt ich das denn tun sollen? Ausgerechnet eine Frau wie Sie, die sich bisher derart tatkräftig für Ihren Mann eingesetzt hat?« »Ja, eben«, meinte sie fast unhörbar, »bisher schon! Aber das ist doch alles wie ein böser Traum, ich weiß doch inzwischen nicht mehr, wo…« »Aber da gibt’s doch kein Aber, Frau Legiehn!« sagte Zobel. »Ihr Alibi steht doch nicht etwa gegen eine Mauer von Indizien – das paßt doch nahtlos mit den übrigen Ergebnissen der Ermittlungen zusammen! Was liegt denn konkret gegen Ihren Mann vor? Beziehungsweise, umgekehrt gefragt – können Sie sich vorstellen, Frau Legiehn, daß die Kripo mit all ihren supermodernen technischen Hilfsmitteln in einem Wagen, in dem wenige Stunden zuvor jemand ermordet worden ist, absolut nichts, aber auch gar nichts findet? Keinen noch so winzigen Blutstropfen auf dem Sitz, keine Wollfluse? Können Sie
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sich das wirklich vorstellen? Also – ich nicht, Frau Legiehn! Meine Phantasie reicht dazu nicht aus!« »Er ist also wirklich unschuldig?« fragte sie, plötzlich erfüllt von neuer Hoffnung. »Lassen Sie unserem Recht seinen Lauf!« tönte er. »Gehen Sie davon aus, daß ich das meine tun werde… ganz unter uns, Frau Legiehn, dem Weininger werde ich seine Fingernägel noch einzeln ziehen! Und dann kann die Sache nur gut ausgehen – da möchte ich Sie doch wirklich bitten, erst mal ganz getrost heimzugehen!« Er war aufgestanden, und notgedrungen erhob sie sich ebenfalls. Er geleitete sie zur Tür und gab ihr lange und herzlich die Hand. Trotzdem, dachte sie, bis zuletzt hat er mich überhaupt nicht verstanden! Weiningers Waterloo fand dann tatsächlich direkt im Anschluß an die Erstattung seines Gutachtens statt, als Zobel ihn in die Zange nahm. Er lief dem Verteidiger in einer Weise ins offene Messer, daß erfahrene Prozeßbeobachter nur noch den Kopf schütteln konnten. Zobel fragte den Professor nach den technischen Voraussetzungen seiner Arbeit – eine Frage, die Weininger spontan in helles Entzükken zu versetzen schien. »Ich benutze den Zeiss-Spektrographen Qu vierundzwanzig römisch zwo«, erklärte Weininger, »man hat ihn, schon bevor ich ihn vervollkommnete, das Wunder der Spektralanalyse genannt. Heute kann ich mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Milliarde sagen, ob zwei Vergleichsstücke, also zum Beispiel Fingernagelproben, denselben Ursprung haben. Ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit gilt dann allerdings als allerletzte Sicherheit, Herr Verteidiger – die beiden Nagelstückchen, um die es hier geht, sind identisch insofern, als sie von ein und derselben Person stammen!« »Wirklich erstaunlich!« sagte Zobel scheinheilig. »Aber was ich mal fragen wollte, Herr Professor… trifft es zu, daß Ihre Forschungen seit längerem vom Bundesinnenministerium finanziert werden – praktisch aus Mitteln zur Bekämpfung des Terrorismus?« »Zum Teil ja«, antwortete Weininger bereitwillig, »abgesehen von unseren normalen Etatmitteln…« »Und warum?« fragte Zobel.
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»Das hängt mit dem heutigen Trend zum Sachbeweis zusammen!« erklärte der Professor. »Sehen Sie, Herr Rechtsanwalt, das wissen Sie doch sicher besser als ich – Terroristenprozesse sind sehr häufig Indizienprozesse, und die Täter können oft nur dann verurteilt werden, wenn sie durch den Sachbeweis überführt worden sind… in erster Linie mit den Möglichkeiten der Naturwissenschaft…« »Interessant!« nickte Zobel. »Sie sprachen von Indizienprozessen…?« »Ja. Jedenfalls kommt auf diese Weise das Geld für die Forschung – also auch das, was ich vom Bundesinnenministerium erhalte – unmittelbar und auf kürzestem Wege der Justiz zugute!« »Aha. Wie viele Terroristen haben Sie denn schon überführen können?« Weininger schüttelte nachsichtig den Kopf. »Irgendwann muß man ja mal anfangen. Dies ist der erste Prozeß, der sich meiner Methode bedient…« »Der erste?« unterbrach Zobel erschrocken. Er sah, mit gerunzelter Stirn, den Vorsitzenden an. »Da frage ich mich allerdings spontan, ob wir da noch ohne einen weiteren Sachverständigen auskommen!« »Aber das geht gar nicht!« sagte Weininger, bevor sich der Richter äußern konnte. »Wieso denn nicht?« fragte Zobel. »Das Spurenmaterial ist verbraucht worden – ich hatte doch nur wenige Milligramm…« »Nein!« schrie Zobel. »Das darf nicht… sagen Sie das noch mal!« »Das Material ist verbraucht worden!« wiederholte Weininger verständnislos. »Warum schreien Sie denn so? Das ist doch ganz normal – bei derartig geringen Mengen geht das gar nicht anders!« Zobels Entsetzen war entweder echt oder – was sicherlich wahrscheinlicher war – seine bisher reifste schauspielerische Leistung. »Herr Professor Weininger!« grollte er. »Sie wollen hier allen Ernstes sagen, daß eine Kontrolluntersuchung nicht mehr möglich wäre?« »Ja, und?« fragte Weininger achselzuckend. »Ich habe diese Methode allein entwickelt, in mehr als zehnjähriger Arbeit. Also bin ich
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sowieso der einzige, der sie auch anzuwenden versteht… abgesehen davon, daß es nie eine bessere Methode geben wird…« Zobel, immer noch zutiefst verzweifelt, schüttelte den Kopf. »Als hätt ich’s geahnt…« stöhnte er. Dann nahm er ein offenbar bereits vorbereitetes Schriftstück aus seinen Akten und entfaltete es. Er strich es, jetzt ganz deutlich Zoll für Zoll ein routinierter Schauspieler, glatt und las es vor: »Hohes Schwurgericht, ich stelle dann folgenden Beweisantrag. Zum Beweis dafür, daß die von Professor Weininger entwickelte Methode des Vergleichs von Fingernagelproben mit den Mitteln der Spektralanalyse wissenschaftlich noch nicht fundiert genug, wenn nicht umstritten ist, ist Herr Professor Doktor Doktor Johannes Reimann, Ordinarius für Spektrometrie an der Technischen Hochschule Braunschweig und anerkanntermaßen der führende Vertreter seines Fachgebiets, als weiterer Sachverständiger zu beauftragen. In einer Frage, in der es schicksalhaft um die Existenz eines Menschen geht, ist es unerläßlich, hier einen Obergutachter hinzuzuziehen… Professor Doktor Doktor Reimann verfügt über die überlegenen Forschungsmittel und wird dem Gericht auch die dringend erforderliche Aufklärung geben können…« Zobel setzte sich. Sein Gesicht drückte aus, daß er felsenfest davon überzeugt war, das Gericht in letzter Sekunde vor dem Sturz in den gähnenden Abgrund eines schrecklichen Justizirrtums bewahrt zu haben. Einmal mehr unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung und zog sich mit seinen Kollegen zur Beratung zurück. Der Kriminalbeamte Below, der auf Wunsch des Gerichts für den Fall eventueller Rückfragen durchgehend dem Prozeß beiwohnte, stand nachdenklich auf und ging nach draußen; ehrlichen Herzens mußte er sich eingestehen, daß er maßlos enttäuscht und verärgert war. Auf dem Flur traf er seinen Kollegen Siebert, der gerade mal für einen Sprung rübergekommen war und nun ausgerechnet die Pause erwischt hatte. »Wie war’s?« fragte Siebert.
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»Beschissen!« sagte Below bedrückt. »Wieso?« »Es ist schiefgelaufen«, erklärte Below, »der Advokat hat doch tatsächlich den Weininger fertiggemacht! So was von abgeschossen – also, du machst dir keine Vorstellung, wie der untergegangen ist!« »Den Weininger?« fragte Siebert überrascht. »Diesen blutleeren Typ?« Below nickte. Der blutleere Typ strebte gerade an ihnen vorbei dem Ausgang zu, knallrot im Gesicht und mit fest zusammengepreßten Lippen. »Leider!« sagte Below, als er weg war. »Die Fingernägel können wir vergessen. Und so dünn, wie wir sonst sind – damit ist Legiehn so gut wie draußen! Mit dem Alibi von seiner Alten… du, das ist jetzt nur noch ‘ne bessere Formsache!« Marianne Legiehn erlebte die Formsache von ihrem Stammplatz in der Mitte der zweiten Zuschauerreihe aus. Sie war dabeigewesen, als der vom Gericht eilig herbeizitierte weißhaarige Professor Reimann aus Braunschweig eindringlich versichert hatte, es gebe tatsächlich und beim besten Willen keinen Anlaß zu jener nahezu apodiktischen Zuversicht, wie sie sein Kollege Weininger in bezug auf seine Ergebnisse geäußert habe – Weiningers Methode könne und dürfe noch nicht als der Weisheit letzter Schluß bezeichnet werden. Und auch Marianne hatte begriffen, daß damit der Weizen des Verteidigers aufgegangen war… Zobels markiges Plädoyer und der äußerst dünne Schlußvortrag der Anklage hatten auch dem letzten im Saal klargemacht, daß von der Möglichkeit der verminderten Schuldfähigkeit gar kein Gebrauch gemacht werden würde. »Im Namen des Volkes«, hörte Marianne Legiehn die Stimme des Vorsitzenden, »der Angeklagte Kurt Legiehn wird freigesprochen. Der Haftbefehl gegen den Angeklagten wird aufgehoben. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse…« Das Gericht setzte sich, und die übrigen Anwesenden ebenfalls. Marianne Legiehn merkte erschrocken, daß sie als einzige noch stand – für einen winzigen Moment hatte der Blick des Richters sie gestreift. Sie nahm schnell Platz. In ihren Ohren dröhnte es. Eine Stunde lang wog der Richter in seiner mündlichen Urteilsbegründung das Für und Wider dieses Freispruchs gegeneinander ab.
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Ein beispielhaft ausgewogenes Urteil, hieß es später in den Zeitungen, ein Urteil der Vernunft… Marianne Legiehn erinnerte sich immer nur an die allerletzten Sätze – an die allerdings gestochen scharf. »In achttägiger Verhandlung ist es der Schwurgerichtskammer nicht gelungen, die Täterschaft des Angeklagten Legiehn mit der für eine Verurteilung notwendigen zweifelsfreien Sicherheit festzustellen. Nachdem ich dies im einzelnen anhand der Ergebnisse der Beweisaufnahme erläutert habe, möchte ich zwei Dinge herausstellen. Nachdem das Gutachten des Sachverständigen Professor Weininger hinsichtlich der sogenannten Fingernagelprobe, eine der Säulen der Anklage gegen Kurt Legiehn, durch das Gutachten des Sachverständigen Professor Reimann nicht bestätigt werden konnte, war es der Kammer unmöglich, bei der Beweiswürdigung vom Gutachten Weininger Gebrauch zu machen. Nach dieser Sachlage aber mußte die Kammer ebenso ihre erheblichen Zweifel an dem Alibi, das die Ehefrau Legiehn ihrem Mann für die Tatzeit gegeben hatte, zurückstellen… Es mußte demnach nach dem Grundsatz Im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden!« Kurt kam dann auf sie zu. Kurt umarmte sie, und plötzlich standen sie mitten in einem irrsinnigen Blitzlichtgewitter. Sie spürte seinen Kuß auf ihren Lippen, legte automatisch die Hände um seine Schultern und gab sich alle Mühe, nicht laut zu schreien… »Bist du mit dem Auto da?« fragte Kurt. Sie machte sich los von seinen Händen; die Blitzlichter wurden weniger. »Ja!« sagte sie. Zobel stand neben ihnen, lächelte ergriffen und faßte ihrer beider Hände; die Blitzlichter flammten vermehrt wieder auf. »Alles Gute, ihr beiden«, sagte Zobel laut, »ihr habt’s euch redlich verdient!« Anschließend mußte Kurt in der Haftanstalt noch seine Sachen holen und die notwendigen Formalitäten erledigen. Als sie nach Hause fuhren, überließ er ihr großmütig das Steuer, was er sonst nie getan hatte, wenn sie überhaupt schon mal gemeinsam weggefahren waren. »Du bist ja gar nicht gefahren die ganze Zeit!« wunderte sich Kurt, als er auf den Tacho sah. »Ach, ich fahr doch nicht gern…« sagte Marianne. Sie versuchte zu lächeln. »Du bist mir viel zu pingelig mit deinem Auto!«
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Pingelig! fiel’s ihr im selben Moment ein. Kurt war tatsächlich derart pingelig, daß er sein Auto immer nur mit Schonbezügen fuhr – mit billigen Plastikhüllen über den Sitzen, um sie zu schonen, wenn er vom Bau kam! »Kannst ja nächstens mal öfter fahren!« sagte Kurt gönnerhaft. »Dahinten mußt du rechts abbiegen – tu doch den Blinker raus! Einordnen! Haste schon alles verlernt?« Sie zitterte am ganzen Körper. »Was ist denn?« fragte Kurt. »Soll ich?« Die Schonbezüge! dachte sie. Sie riß sich zusammen. Bloß nicht fragen… aber das kann doch kein Zufall sein! Einen Tag vor seinem schrecklichen Besäufnis, anderthalb Tage, bevor damals die Kripo kam, war sie mit Kurt in dem Allkauf gewesen – Bier holen, Waschpulver und Kartoffeln bei der Gelegenheit und natürlich auch Schnaps, jede Menge. Sie waren mit dem Wagen gefahren, der war anschließend proppenvoll… und sie sah’s deutlich vor sich: auf den Sitzen hatten die Schonbezüge gelegen! Aber als dann das Auto untersucht wurde, waren sie nicht mehr dagewesen – also hatte Kurt sie in der Zwischenzeit entfernt! Und warum? Warum ausgerechnet in der Zeit, in der er verdächtig war, dieses Mädchen umgebracht zu haben? Marianne Legiehn schaffte es, wenn auch mit Ach und Krach, den Opel in die Garage zu steuern. Kurts Köfferchen ließen sie im Wagen liegen – er wollte es abends holen, schlug er vor, wenn’s dunkel war und niemand Lucki-lucki machte. Sie gingen in ihre Wohnung, und Kurt wanderte durch alle Räume: er war gelöst und glücklich wie seit Jahren nicht – ein Mann, der schreckliche Sachen erlebt hat und endlich heimkehrt. Sie stellte Bier auf den Tisch und trank ausnahmsweise selbst eins mit – nur den Weinbrand ließ sie weg, mit dem er seine Rückkehr zusätzlich feierte. Sie dachte an Zobel, während sie die Steaks grillte, die sie morgens früh schon aus der Kühltruhe geholt hatte. Können Sie sich vorstellen, Frau Legiehn, daß die Kripo mit all ihren supermodernen Hilfsmitteln in einem Wagen, in dem wenige Stunden zuvor jemand ermordet worden ist, nichts, aber auch gar nichts findet? Keinen noch so kleinen Blutstropfen auf dem Sitz, keine Fluse, dort, wo einer ge-
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sessen hat und gestorben ist? Können Sie sich das wirklich vorstellen? Also – ich nicht, Frau Legiehn! Jetzt ja! dachte sie in ihrer Panik. Jetzt kann ich’s mir vorstellen – sehr gut sogar! Die Plastikhüllen haben alles aufgefangen und von den Polstern ferngehalten, alle Blutstropfen und alle Flusen; und das hatte Kurt natürlich sogar in seinem benebelten Kopf begriffen… deshalb hat er, bevor er in der Nacht nach Hause gefahren ist, das Plastikzeug rausgenommen und irgendwo hingeschmissen, wo es niemand finden kann! Mein Mann, der Mörder! dachte Marianne Legiehn. Der freigesprochene Mörder; drüben sitzt er und feiert – aber Mörder bleibt Mörder. Wenn ich ihn darauf anspreche, drückt er mir wahrscheinlich auch noch den Hals zu. Aber kann ich auch nur noch einen einzigen Tag mit ihm zusammenleben, wenn ich ihn nicht frage? Beim Essen – es gab Bratkartoffeln und Eissalat mit French Dressing zum Fleisch – fragte sie beiläufig, so wie sie es sich vorgenommen hatte: »Gehst du morgen eigentlich gleich wieder arbeiten?« »Na klar!« sagte Kurt. »Arbeit adelt – was meinste, was ich mich darauf gespitzt hab!« »Du mußt dann aber neue Plastikbezüge aufziehen«, meinte sie, »kriegst du die denn so schnell?« »Kein Problem!« sagte er arglos. »Der Opelhändler schmeißt die zu Dutzenden weg, wenn er neue Autos kriegt – der verwahrt sie mir immer. Die hol ich mir morgen auf dem Weg zur Baustelle – dauert fünf Minuten!« Sie nickte. Noch war der Verdacht nicht ausgeräumt. »Du wechselst die Bezüge also öfter aus?« »Ja, sicher«, sagte er stirnrunzelnd, »haste das noch nie mitgekriegt?« Es gelang ihr gerade noch, das Thema abzubiegen. »Jetzt, wo du es sagst – natürlich! Hat’s geschmeckt?« Kurt schob seinen Teller von sich und strahlte. »Super, nach dem Fraß im Knast – kochen kannste! Was meinste… ich hab seit vier Uhr früh die Augen offen – ob ich nicht mal ‘n Stündchen mein Heiabett ausprobieren soll?«
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Der nächste Schreck. »Na klar doch… bloß, ich bin überhaupt nicht müde…« Er grinste. »Was heißt hier müde?« »Kurt, ich…« Aber er stand schon hinter ihr und preßte sich sekundenlang fest an sie. »Hat doch Zeit!« sagte er, als er sie losließ. »Meinste, ich bin ‘n Unmensch?« Dann verschwand er im Schlafzimmer; sie hörte, wie er die Tür fest hinter sich zumachte. Sie räumte das Geschirr weg und die Küche auf, und irgendwann später saß sie in einem Sessel und schluchzte, scheinbar ohne jeden Grund, hemmungslos vor sich hin. Auf den Tag genau drei Wochen nach Kurt Legiehns Freispruch legte der Fahrer eines Mittelklassewagens – Farbe und Marke wurden diesmal ebensowenig erkannt wie ganz oder teilweise das Kennzeichen – seine Hände wie einen Schraubstock um den Hals einer Prostituierten und drückte zu, bis sie erschlaffte. Das Opfer war diesmal eine zweiunddreißigjährige Frau namens Petra Scholl, die nur zwanzig Minuten zuvor in das Auto eingestiegen war… Der Täter warf ihren leblosen Körper rechts aus dem Fahrzeug, raste davon und wurde nicht mehr gesehen. Die Tatzeit des neuen Mordes war 23 Uhr 17, der Tatort ein düsterer Parkplatz zwischen dem Rostocker Weg und dem Grützmachergang im Hamburger Stadtteil St. Georg – dem kleinen St. Pauli. Eine Stunde danach wurde Petra Scholl von ihrer Kollegin und Freundin Annette Becker, die sich Sorgen um sie gemacht hatte, gefunden. Und wenig später standen, im flackernden Schein rotierender Blaulichter, Siebert und Below, die ausgerechnet an diesem Abend Bereitschaftsdienst hatten, vor der Leiche. »Also, nun mal der Reihe nach!« sagte Siebert zu Annette Becker. »Hilft ja nichts – hörn Sie mal auf zu flennen und erzählen Sie mal!« Das Mädchen schneuzte sich geräuschvoll und sah immer wieder verstohlen zu ihrer Freundin, die derzeit von allen Seiten fotografiert wurde. »Ich war gerade drei Meter weggegangen, als der Freier neben ihr hielt… hab gerade noch gesehen, daß sie eingestiegen ist – mehr weiß ich nich! Ich hab mir dann nur gedacht, wo bleibt sie
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denn, und bin sie suchen gegangen… Wir sind öfter hier auf dem Platz – und da hab ich sie dann gleich liegen sehen…« »In was für einen Wagen ist sie eingestiegen?« erkundigte sich Below. Sie überlegte. »Grün, blau… ganz sicher kein schwarzer oder ganz weißer…« »Welcher Typ?« »Weiß nicht! Hätt ich doch bloß…« »Mercedes?« »Nee – kleiner…« »Ford? Opel? Renault?« »Opel könnt sein«, sagte sie zögernd, »Scheißspiel… wer denkt denn an so was?« Zu Belows Überraschung nahm Siebert ein Foto aus der Innentasche seiner Jacke – ein dreiteiliges Foto von Kurt Legiehn. »Würden Sie den Freier wiedererkennen?« fragte Siebert. »Den mit dem Opel oder so?« »Weiß nicht!« sagte Annette Becker. Da hielt er ihr das Foto hin. »Kann er das vielleicht gewesen sein?« Annette sah sich die Porträts – en face, linkes Ohr, rechtes Ohr – gründlich an. »Also, ausschließen könnt ich’s eigentlich nicht… ich mein, ich hab ihn ja kaum gesehen in seiner Karre – so’n Zug um den Mund hat er gehabt…« »Okay«, sagte Siebert, »das war’s im Moment. Aber sehen Sie zu, daß Sie die nächste Zeit zu erreichen sind!« Sie ließen die Frau stehen und gingen ein paar Schritte zur Seite. »Grünes Auto, jedenfalls kein schwarzes oder weißes… Opel könnt sein«, sagte Below, »so’n Zug um den Mund hat er gehabt…« »Lange genug draußen ist er!« murmelte Siebert. »Über den Weg getraut hab ich ihm nie…« Below nickte und zündete sich mit klammen Fingern eine Zigarette an. »Bloß – glaubst du an den Weihnachtsmann?« »Sicher nicht!« sagte Siebert. »Aber was hilft’s? Komm – hilft gar nix!« So zogen sie los – in Richtung Bramfelder Allee. Sie ahnten, daß sie wahrscheinlich die Pferde scheu machen, aber nichts ausrichten
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würden – nichts jedenfalls, was die Aufklärung dieses Mordes in irgendeiner Weise beschleunigen konnte. Wie sehr sie allerdings tatsächlich ins Fettnäpfchen treten würden, hätten sie sich letztlich auch nicht in ihren schwärzesten Träumen ausmalen können: sie gaben der Geschichte nun auch jenen allerletzten Dreh, mit dem normalerweise nie zu rechnen gewesen wäre. Kurt Legiehn hatte es wissen wollen, ob er, wie er sagte, Männchen oder Weibchen war – ausgerechnet an diesem Abend. Die ganzen drei Wochen lang war er friedlich gewesen, was das anbetraf, hatte immer wieder nur davon geredet, daß der Mensch ein Sexualleben brauche, war aber nie massiv geworden… und Marianne dankte ihrem Schöpfer jeden Abend, wenn sie seine regelmäßigen Atemzüge hörte und erkannte, daß er schlief; sie wurde allerdings auch jeden Morgen mit dem Gefühl wach, heute sei die Galgenfrist abgelaufen. Sie redete wieder viel mit sich selbst – mit wem sonst hätte sie reden können? Was soll’s im Grunde? sagte sie sich, vielleicht macht’s mir sogar wieder mal Spaß… vielleicht wird’s hinterher besser als früher! Kurt in der Zelle, worüber er nie redete, ausgerechnet einer wie er – in solchen Momenten war’s ihr fast schon egal, ob er wirklich unschuldig war oder nicht. Aber dann wieder die Grübeleien. Sie vermißte ein Paar von seinen Handschuhen – diejenigen, die er normalerweise beim Autofahren trug… paßte das nicht haargenau damit zusammen, daß sie an der Leiche dieser toten Frau keine Fingerabdrücke gefunden hatten? Quatsch! überlegte sie im nächsten Moment – Fingerabdrücke an Leichen ließen sich wahrscheinlich so und so nicht feststellen; und wenn er die ganze Zeit Handschuhe angehabt hätte, wäre ihm ja wohl kaum der Fingernagel abgebrochen… Trotzdem. Ich kann’s nicht! sagte ihr Körper. Die Sperre – sobald es auch nur annähernd ernst wurde. Soll er hingehen, wohin er will, dachte sie – mir ist’s gleichgültig; soll er wieder zu den Huren gehen! Hauptsache, er läßt mich in Ruhe! Mehr und mehr allerdings häuften sich die positiven Stimmungen, sozusagen die zugunsten von Kurt – und heute, wie gesagt, lag’s seit Stunden in der Luft. Sie hatte Kreuzworträtsel gelöst – die schiere
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Sucht seit einiger Zeit, ihr liebstes Mittel gegen die meist ebenso endlosen wie trostlosen Stunden zu zweit vor dem Fernseher. »Nicht mal Mensch ärgere dich nicht haben wir miteinander gespielt, seit ich wieder da bin!« sagte Kurt mitten im Western. »Irgendwie geht das so nicht mehr weiter!« Sie füllte siebzehn waagerecht aus, Stadt in der CSSR mit sechs Buchstaben – P, I, L, S, E, N. Elf senkrecht, Lebensbund mit drei Buchstaben, den beliebten Füller zwischen zwei langen Ketten, ließ sie unausgefüllt. »Hörste?« knurrte Kurt. »Nein, entschuldige – was ist?« »Das ist!« sagte er düster und mit Betonung. »In der Zelle war’s gemütlicher als hier – das is!« Sie sah ihn nachdenklich an. Er arbeitete derzeit mehr als früher, vor allem viel schwarz, um »einiges nachzuholen«, wie er sagte – und er lief und trainierte wie der Teufel, um seine während der Haft etwas schwammig gewordene Figur wieder hinzukriegen. Er hatte sich irgendwie tatsächlich gebessert, wenngleich sie nie ein Wort darüber gesprochen hatten… Im Augenblick schenkte er sich zwar den vermutlich achthundertzwanzigsten Doppelten ein, seit er entlassen worden war, aber volltrunken war er nicht ein einziges Mal gewesen, im Gegensatz zu früher… »Prost!« sagte Marianne und ärgerte sich, daß es gehässiger klang, als sie gewollt hatte. Sie gingen ins Bett, miteinander und letztendlich doch wieder nicht miteinander – ganz war ihre Abwehrbereitschaft schließlich doch noch nicht abgebaut. Kurt beugte sich über sie und versuchte, sie zu streicheln – aber sie drückte ihn sanft und entschieden zurück und wunderte sich mehr denn je, daß sie eine wenn auch noch so negative Verfügungsgewalt über ihn besaß, was ihr früher, vor seiner Verhaftung, nie bewußt gewesen war. Marianne löschte das Licht. Die Bettlampe an Kurts Seite brannte weiter. Einfach war’s sicher nicht, dachte sie wieder mal, monatelang im Knast zu hocken und dann in dieser Anklagebank… spurlos bleibt das sicher nicht in den Kleidern hängen! Eine Welle von Mitleid überflutete sie – wahrscheinlich, überlegte sie, ist er ja tatsäch-
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lich unschuldig; was heißt das schon, diese zufällig ausgewechselten Plastikbezüge und der Fingernagelvergleich und die Handschuhe und all diese anderen sogenannten Indizien? Heute hätte es klappen können. Wenn er bloß auch das Licht ausgemacht hätte! Wenn seine Hand verstohlen ihre Hand gesucht hätte! Wenn, wenn, wenn! Statt dessen sagte er grimmig: »Ich will dir mal in aller Ruhe eines sagen – du wirst dich sehr bald entscheiden müssen! Glaub jedenfalls nicht, daß du mich hier noch lange verhungern lassen kannst!« Verhungern! Das war’s! dachte sie – alles war mit einem Male wieder lebendig. Kaputt die Stimmung, kaputt die ganze trostlose Ehe – endgültig! Nee, nee, du… entweder nimmste mich so, wie ich bin und bist vernünftig – oder ich laß dich verhungern! Seine Worte, als er noch der großkotzige Zocker und Fremdgänger war. Ich bin froh, wenn ich dich los bin! Bring dich doch um, die Sterbeversicherung zahlt sogar die Todesanzeigen! Herzloser geht’s nicht – und so was sollte sich ändern können? »Ich hab dich was gefragt!« sagte Kurt. »Ja, ja, sicher… aber du kannst doch nichts erzwingen, Kurt! Das braucht doch seine Zeit – sei doch vernünftig, laß mir doch die Zeit!« »Und wie lange noch?« »Weiß ich nicht…« sagte sie zögernd. »Dann sag mal gelegentlich Bescheid!« sagte er mit ätzendem Hohn. Pause. Dann, unvermittelt wehleidig: »Ich glaub, du glaubst mir immer noch nicht…« »Laß es doch!« bettelte sie. »Laß uns doch nicht schon wieder davon reden!« »Doch! Ich muß davon reden – jetzt sofort! Glaubste mir, oder glaubste mir nicht?« Pause. Der Verkehrslärm, der sonst immer nur wie ein auf und ab schwellendes Summen im Schlafzimmer hing, wurde fürchterlich laut. »Zu neunundneunzig Prozent…« sagte Marianne Legiehn leise. »Aha. Neunundneunzig Prozent…«
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»Kurt!« flehte sie. »Sieh das doch ein… das hat sogar dein Verteidiger zu mir gesagt, daß wir da Probleme haben werden, bevor sich das einrenkt…« »So!« sagte er. »Nu reicht’s! Morgen am Tag schmeiß ich die Klamotten hin und kündige! Und ob ich dann Arbeitslosengeld krieg oder nicht, ist mir völlig schnuppe! Haushaltsgeld kriegste keins mehr – und dann kannste dich scheiden lassen und sehen, wo du bleibst! Kannst als Putze gehen oder auf ‘n Strich – kannst ja mal sehen, was da für Penner rumlaufen…« Er machte das Licht aus und warf sich im Bett herum, daß die Sprungfedern krachten. »Mann, was bist du gemein…« sagte Marianne. Da klingelte es. Einmal, dreimal – Sturm. »Na warte!« zischte Kurt. Er machte das Licht wieder an und sprang aus dem Bett. Wie ein angestochenes Kalb – ein Verrückter… Marianne lief zur Tür, die einen Spalt offengeblieben war, und horchte. »Entschuldigen Sie die späte Störung, Herr Legiehn«, sagte eine Stimme, die sie kannte, »aber wir müssen…« »Sind Sie wahnsinnig?« schrie Kurt »Können wir mal reinkommen?« sagte eine andere Stimme, die ihr ebenfalls bekannt vorkam. Sie hielt den Atem an. Schritte in der Diele – die Wohnungstür wurde geschlossen. »Wir müssen leider wissen, wo Sie heute abend zwischen zwanzig Uhr und null Uhr gewesen sind!« sagte die erste Stimme ruhig. »Das geht Sie gar nix an!« sagte Kurt böse. »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Halb zwei… aber wir müssen trotzdem wissen, ob Sie… ob sie wieder ein Alibi haben!« Eine Weile war’s still. Dann sagte Kurt: »Ich werd verrückt – soll ich vielleicht schon wieder eine ermordet haben? Wieder ‘ne Nutte?« Pause. Dann: »Ob Sie es gewesen sind, wissen wir nicht… aber ‘ne Leiche gibt’s wieder…« »Ach nee«, höhnte Kurt, »is ja irre! Wollen Sie künftig bei jeder Leiche bei mir klingeln? Mein lieber Herr… Herr Seibert…«
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»Siebert!« sagte die erste Stimme. »Mein Kollege Below… Sie müssen uns da verstehen…« »Klar«, unterbrach Kurt, »einmal verdächtig, immer verdächtig! Und wenn ich nu mal gerade nicht mit meiner Frau im Bett…« »Waren Sie’s denn?« fragte Below. »Komm mal her, Marianne!« rief Kurt. Sie steckte – halb nackt, wie sie war – nur den Kopf durch die Tür. »War ich bis gerade mit dir im Bett oder nicht?« »Mein Mann war den ganzen Abend zu Hause!« sagte Marianne mit versteinertem Gesicht. Sie zog den Kopf wieder zurück, und die Tür klinkte sie zu… »Also!« giftete Kurt; sie hörte es nur noch undeutlich. »Sie haben es gehört, und nun schmeiß ich Sie raus und geh sofort wieder ins Bett! Keine Silbe mehr kriegen Se von mir zu hören…« Sie hatte mit fahrigen Händen ihr Nachthemd über den Kopf gestreift und das nächstbeste Kleid übergezogen auf die bloße Haut; sie riß einen Koffer vom Schrank und stopfte wahllos Kleider und Wäsche und Schuhe hinein… »Wir können Sie jederzeit richterlich vernehmen lassen, Herr Legiehn…« sagte – undeutlich – Belows Stimme. »Machen Sie doch!« schrie Kurt. »Machen Se zu… raus jetzt, los… raus, raus, raus!« Marianne Legiehn griff sich das Telefon, das auf Kurts Nachttisch stand, verwählte sich und wählte neu. »Bitte ein Taxi, Bramfelder Allee sechsundvierzig… Legiehn… ja, ja, ich komm runter…« Viel zu laut für die späte Zeit fiel die Wohnungstür ins Schloß. Marianne griff sich den Koffer und öffnete die Schlafzimmertür. Vor ihr stand ihr Mann, in der einen Hand eine Flasche, in der anderen ein Glas. »So ‘ne Sauerei!« sagte er wütend. Dann sah er, daß Marianne angezogen war und einen Koffer in der Hand hatte. »Was… was soll das?« »Ich geh weg!« sagte sie. »Laß mich vorbei… du hast selber gesagt, ich soll mich scheiden lassen…« »Aber das war doch nur… Herrgott, seid ihr denn alle besoffen?«
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»Laß mich vorbei!« bat sie. »Bitte… das kann so nicht weitergehen…« »Aber diesmal… diesmal kann ich’s doch gar nicht gewesen sein…« stammelte Kurt. Sie starrte ihn entgeistert an. »Diesmal?« Pause. »Also doch, Kurt…« Legiehn begriff, daß sie so und nicht anders reagieren mußte. »Du bist verrückt!« brüllte er. »Ist doch Quatsch… du kannst doch jetzt nicht – Marianne!« Glas und Flasche fielen klirrend zu Boden; er packte Marianne an den Schultern und dann am Hals. »Du kommst mir hier nicht raus, das sag ich dir, eher bring ich dich…« Sie rang nach Luft unter dem Würgegriff. Aber plötzlich ließ er sie los, sank auf die Knie – und wimmerte. »Marianne, entschuldige… bleib hier, Marianne – bitte, verzeih mir…« Sie nahm den Koffer auf, der ihr aus der Hand gefallen war, ging an ihm vorbei zur Tür, öffnete sie und ging ins Treppenhaus. In der Nachbarwohnung rumorte es, als sie die Tür leise schloß… Durch das Fenster auf der ersten Halbetage sah sie, daß das Taxi gerade ankam. Die Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. jur. Pferdsticker war weit weniger geräumig und komfortabel als die seines Kollegen Zobel. Aber dafür machte Pferdsticker – blauäugig, klein, verhutzelt und mit vielen Lachfältchen im Gesicht – einen ungewöhnlich vertrauenerweckenden Eindruck. »Sie sind also gestern nacht von sich aus weggegangen«, resümierte der Anwalt, »haben die eheliche Wohnung auf eigenen Entschluß hin verlassen und damit die Wohngemeinschaft gekündigt… Wo haben Sie denn inzwischen Ihr müdes Haupt zur Ruhe gelegt, Frau Legiehn?« Marianne trug nach wie vor das grauschwarze Kleid, das sie in der Eile angezogen hatte, wirkte indessen ungewöhnlich frisch. »Der Taxifahrer hat mir ein Hotel hinter dem Bahnhof genannt – etwas laut, aber ganz angenehm. Das klappte sehr gut…«
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Pferdsticker nickte. »Ja, ja – irgendwas findet sich immer. Und wie wollen wir nun Ihren Auszug und überhaupt alles in der Scheidungsklage begründen?« »Meine Ehe war die Hölle!« sagte Marianne Legiehn. Er nickte verständnisvoll. »Sicher… allerdings ist das etwas allgemein formuliert…« »Allgemeine Zerrüttung!« sagte sie. Er lächelte. »Sie kennen sich aus, Frau Legiehn. Nur ist das möglicherweise auch noch nicht ganz das Wahre… nach dem, was Sie in dieser Hinsicht an Details geschildert haben, könnte es im Hinblick auf die künftigen Unterhaltszahlungen vielleicht noch einen konkreteren Ansatzpunkt geben. Körperliche Gewalt gegen Sie, seelische Grausamkeit, unzumutbare körperliche und geistige Gebrechen – es gibt da einen ganzen Katalog…« »Seelische Grausamkeit!« sagte sie. Er war jetzt sehr ernst. »Wollen Sie mir nicht vielleicht doch einen handfesten Hinweis geben? Sozusagen den… den wahren Grund?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein!« »Aber es gibt ein Anwaltsgeheimnis« meinte er nachsichtig, »eine Schweigepflicht sogar…« »Nein!« wiederholte sie heftig. Gleich darauf wurde sie ruhiger. »Entschuldigen Sie…« »Bitte, bitte!« Er wartete ab. »Mein Mann stand unter Mordverdacht«, sagte sie zögernd, »er ist freigesprochen worden…« Pferdsticker wartete ab, bis er sicher war, daß sie nicht weitersprach. »Ich kenne den Fall«, sagte er dann, »natürlich nur aus der Zeitung. Beziehungsweise aus Gesprächen unter Kollegen…« »Ich werde nicht damit fertig, daß er… daß er…« Wieder schwieg sie. Und er kam anscheinend zu der Überzeugung, daß es besser sein könnte, diesen Punkt der sich anbahnenden Ehesache Legiehn gegen Legiehn tatsächlich nicht weiter zu verfolgen. »Gut, Frau Legiehn! Sie werden nicht mit der Tatsache fertig, daß Ihr Mann häufig Umgang mit anderen Frauen hatte, äußerst zweifelhaften Frauen… das, immerhin, ist ja in dem Verfahren gegen ihn
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deutlich geworden, soweit ich mich erinnere. Und das ist ja einiges… da wird uns dann schon noch was einfallen…« »Danke!« sagte Marianne Legiehn aufatmend. »Aber nun mal zur Höhe der Unterhaltszahlungen… Ihr Mann verdient dreitausend netto im Monat, sagen Sie, rund gerechnet…« »Ja. Dreitausend!« Einen winzigen Augenblick lang hatte sie Gewissensbisse, weil sie ihm heimlich an die Brieftasche gegangen war – weil sie gleich nach der letzten Lohnüberweisung seine Abrechnung kontrolliert hatte. Kriegte er eigentlich regelmäßig dreitausend? Der Anwalt machte sich Notizen und rechnete. »Kinder haben Sie nicht… zwei Fünftel bis drei Siebtel könnten Sie nach der sogenannten Düsseldorfer Unterhaltstabelle beanspruchen… also zwölfhundert – gehen wir mal von tausendzweihundert aus!« Er sah auf. »Allerdings könnte die Gegenseite verlangen, daß Sie eine Arbeit annehmen… der Unterhalt könnte dann theoretisch ganz entfallen…« »Nein!« sagte sie fest. »Verlangen Sie zweitausend!« »Wieviel?« fragte er ungläubig. »Zweitausend! Mindestens!« Er schüttelte den Kopf. »Damit, Frau Legiehn, kämen wir sicher nicht durch…« »Doch!« behauptete sie. »Er zahlt!« »Bitte – denken Sie doch mal nach…« Und das tat sie dann auch. Noch mal ganz von vorn… dasselbe wie in den schlaflosen Stunden letzte Nacht im durchgelegenen Hotelbett hinter dem Bahnhof. Erstens, dachte sie in aller Ruhe, war Kurt ein Mörder; wahrscheinlich war er mit seinen sexuellen Schwierigkeiten – seiner schleichenden psychopathologischen Entwicklung oder was der Psychiater da sonst noch gesagt hatte – vom Schwurgericht eben doch zu Unrecht freigesprochen worden; aber was soll’s noch? Zweitens nämlich interessiert mich das in einer Hinsicht überhaupt nicht mehr die Bohne, nachdem ich nun endgültig von ihm los bin: wenn er freigesprochen worden ist, obgleich er schuldig ist, kann er ja auch verurteilt werden, wenn er unschuldig ist – das gleicht sich aus; kommt aufs selbe raus! Kurt hat wahrscheinlich gedacht, ich hätte allein wegen dem Besuch gestern nacht die Nerven verloren – aber denkste! Die haben mir das bloß mal so richtig klargemacht – die
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warten doch nur darauf, daß sie ihn noch kriegen, egal, wie und durch wen! Kurz und gut also: spätestens in dem Moment, in dem ich ihm klipp und klar sage, daß ich die Wahrheit sagen werde und ihm das Alibi entziehe, muß er klein beigeben… ohne Alibi ist er dran, schuldig oder unschuldig, lebenslänglich wahrscheinlich – das kann er sich leicht an zehn, ach, an drei Fingern ausrechnen! Sie schaute auf. Der nette, verhutzelte Dr. Pferdsticker, den sie für kurze Zeit fast vergessen hatte, sah sie abwartend und geduldig an. »Nun?« fragte er freundlich. »Es bleibt dabei!« sagte sie. »Zweitausend!« »Aber« – er verzweifelte jetzt doch allmählich – »er hätte dann kaum das Allernötigste zum Leben, für sich selber! Es geht hinten und vorn nicht!« »Doch! Er macht immer was nebenbei…« »Schwarzarbeit?« fragte Pferdsticker, plötzlich sehr interessiert. Er beugte sich vor. »Ja. Ziemlich viel…« »Ja, also – damit sieht die Sache natürlich ganz anders aus!« sagte er nachdenklich. »Ein bißchen Druck dahinter kann ja sicherlich gar nicht schaden… von Erpressung oder Nötigung« – er lächelte schwach – »kann man hier ja vermutlich so und so nicht reden! Also, jedenfalls – das ist es, Frau Legiehn! Das dürfte Ihnen tatsächlich die Zuversicht geben, daß Ihr Mann nicht, was eigentlich zu erwarten wäre, mit allen rechtlichen Mitteln gegen Ihre Unterhaltsforderungen und natürlich den Versorgungsausgleich in vollem Umfang angeht, sondern sich arrangiert…« Ein letzter, leiser Schmerz stieg in ihr hoch; zehn, nein – elf Jahre Ehe gingen zu Ende… man ist plötzlich sehr allein und hat Angst, wenn auch nur für Sekunden. Es bleibt nicht aus. Aber dann nickte sie. »Ja. Das ist es!« sagte Marianne Legiehn. Ist es nicht egal, ob es das ist oder was anderes? Wenig später unterschrieb sie die Zivilprozeßvollmacht für Dr. Pferdsticker und eine Honorarverpflichtung für alle Fälle, wie er betonte – eine Verpflichtung, der sie kaum jemals würde nachkom-
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men müssen. Denn Kurt Legiehn zahlt alles, dachte sie, alles – denn er soll büßen, für was auch immer.
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Felix Huby Äpfel für Costa Rica Warum hatte er bloß nachgegeben? War er nicht der Chef? Er hätte Gächter schicken können oder Haußmann. Der Fall war unattraktiv. Routine. Bienzle hatte seinen Wagen am Dorfeingang abgestellt. Wann immer es sich machen ließ, ging er zu Fuß. Jetzt stapfte der schwere Mann durch ein schmales Sträßchen, das steil zwischen häßlichen Häusern den Berg hinaufführte. Der Asphalt war an vielen Stellen aufgebrochen. Im Herbst war Wasser eingesickert in die Straßendekke. In der Kälte war es zu Eis geworden und hatte in den Belag Risse gemacht. Als der Mord gemeldet worden war, hatten sie alle ganz still dagesessen, keiner hatte geredet, jeder hatte sich angelegentlich mit etwas anderem beschäftigt. Gächter, Gollhofer, Haußmann – keiner hatte reagiert. Schließlich hatte der Kollege Gächter doch kurz aufgeschaut und mit dem Zeigefinger auf das Fernschreiben geklopft. »Anton Hägele, Eisendreher, Nebenerwerbslandwirt, geboren in Eichenbach, wohnhaft in Eichenbach. Ein Landsmann von dir, Ernst.« Als ob das eine Rolle gespielt hätte. Ernst Bienzle stieß mit dem rechten Fuß gegen ein loses Asphaltstück. Warum hatte er sich bloß auf diese Diskussion eingelassen? Das hatte er nun davon. Eichenbach war ein Dorf ohne Gesicht. Bienzle ärgerte sich, daß er einen Mantel angezogen hatte. Die Sonne schien warm – viel zu warm für diesen späten Märznachmittag. Vor dem schmalbrüstigen Haus stand ein Polizeiwagen. Bienzle blieb stehen und schaute sich den Vorgarten an. Schneeglöckchen blühten und bunte Krokusse und gelbe Primeln, die offensichtlich frisch eingesetzt und angegossen worden waren. Um die schmächtigen Stengel und Blätter hatten sich kleine, kreisrunde feuchte Höfe gebildet.
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»Ich kenn Sie, Herr Kommissar.« Der junge Uniformierte strahlte. Das hatte man davon, daß man als Schulmeister auf Fortbildungslehrgängen herumgereicht wurde. »Dann zeigen Sie mir mal, was passiert ist«, brummte Bienzle. Die Leiche schwamm, Rücken nach oben, in einem Heizöltank. Bienzle war auf eine Bockleiter gestiegen, um in den Tank hineinsehen zu können. Der Deckel lehnte an der Wand. Der Tote trug einen blauen Overall. »Wir haben alles gelassen, wie es war«, sagte der junge Beamte eifrig. »Na, hoffentlich war er da schon tot«, brummte Bienzle. »Aber sicher, wenn er schon seit drei Tagen drinliegt.« »Woher wissen Sie das?« »Solange fehlt der Herr Hägele schon.« »Sagt wer?« »Die Frau Hägele!« »Ist Ihnen etwas aufgefallen, Herr Kollege?« »Nein!« »Nichts?« Bienzle fixierte den jungen Beamten der Schutzpolizei. »Was soll mir denn aufgefallen sein?« fragte der unsicher. »Zum Beispiel alles, was außer der Leiche noch da drin rumschwimmt.« »Häh?« »Holen Sie mal eine Lampe!« Der Uniformierte sah Bienzle ratlos an. »Im Zweifel den Suchscheinwerfer aus Ihrem Dienstwagen, verdammt noch mal.« Im Licht des Suchscheinwerfers erkannten sie ein paar Holzstiftchen und eine Art Schlauch. »Rausholen«, kommandierte Bienzle. Die Holzstiftchen erwiesen sich als Streichhölzer. Der Schlauch war aus Plastik und ungefähr einen Meter lang. Bienzle drehte zwei Streichhölzer in der Hand. »Die sind angebrannt worden. Wenn einer den Hägele da drin verbrennen wollte, hat er’s saudumm angstellt.« Er stieg von der
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Leiter. »Lassen Sie die Leiche bergen. Das Zeug da kriegt die Spurensicherung.« Bienzle stapfte die Kellertreppe hinauf. Hinter einer Tür im Erdgeschoß hörte er Stimmen. Er ging hinein, ohne anzuklopfen, und kam in eine gemütliche Küche. Auf einer Eckbank saß eine etwa dreißigjährige Frau und putzte Gemüse. Ihr gegenüber stand, an ein altes Küchenbüfett gelehnt, ein älterer uniformierter Beamter. Die Frau lächelte, was Bienzle irritierte. »Grüß Gott«, sagte der Kommissar, »Bienzle mein Name. Ich komm vom Landeskriminalamt.« »Gutbrod«, stellte sich der Beamte vor. »Frau Hägele?« Die Frau nickte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Wir bergen die… ich mein, Ihren Mann. Sie sollten dann mitkommen.« Die Frau schüttelte den Kopf. Bienzle setzte sich. »Wir müssen ihn aber identifizieren.« »Ich hab ihn schon gsehen.« »Haben Sie ihn selber entdeckt?« »Ja.« »Und dann?« »Ich weiß nicht so genau.« »Sie hat uns angerufen«, sagte Gutbrod. »Wann war das?« »Vierzehn Uhr dreißig.« Bienzle schaute auf die viereckige Küchenuhr, die über der Tür hing. »Vor zwei Stunden also.« Bienzle betrachtete die Frau. Sie war klein, zierlich und hatte ein glattes, rundes Gesicht, wie eine Puppe. Sie wirkte wenig beeindruckt. »Hatte Ihr Mann keine Arbeit, oder warum war er zu Hause?« fragte Bienzle. »Er schafft Schicht. Zur Zeit nachts.« Bienzle sah die Frau einen Augenblick sprachlos an. Dann sagte er: »Ich denk, er fehlt seit drei Tag!« »Ja, schon!«
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»Aber…« Ihm fiel dazu im Augenblick nichts ein. »Das war nix Bsonders.« »Ach, so ist das!« »Ja, so ist das!« Sie warf das geputzte Gemüse in ein Sieb, stand auf und ging zum Spülbecken. Draußen waren Stimmen zu hören. Dann schwere Schritte. Eine Männerstimme rief aufgebracht: »Was soll denn das alles?« Die Tür wurde aufgerissen. Die Frau drehte sich um. Auch Bienzle wandte den Kopf zur Tür. Auf der Schwelle stand ein grobschlächtiger Mann, die Klinke noch in der Hand. Er trug einen blauen Overall. »Anton!« Frau Hägele hatte den Namen ganz leise ausgesprochen. »Was tut die Polizei hier?« brüllte der Mann. Und als niemand antwortete: »Ich will eine Antwort, und zwar sofort! Und wer sind Sie?« schrie er Bienzle an. Bienzle lächelte: »Herr Hägele?« »Ja, wenn Sie nix dagege habet – und das hier ist mein Haus!« »Aber Anton, du bist doch…« Die Frau hielt inne und legte die Hand auf den Mund. »Wir dachten, Sie seien tot!« sagte Bienzle ruhig und wurstelte seine Ausweiskarte aus der Manteltasche. Hägele grinste und sagte zu seiner Frau: »Das hättest wohl gern, was?« »Anton, bitte!« Frau Hägele begann das Gemüse zu waschen. Der Polizist Gutbrod sagte: »Also, ich versteh gar nichts mehr.« »In Öl eingelegt!« Professor Dr. Hahnisch vom Gerichtsmedizinischen Institut schüttelte den Kopf. »Also so hat man mir noch nie eine Leiche gebracht, Herr Bienzle.« Bienzle antwortete nicht. Er starrte die nackte Gestalt an. »Was haben Sie denn? Sie gehören doch nicht zu denen, die gleich umfallen!« »Christian Maria Herget!« sagte Bienzle. »Wie bitte?« »Ich kenn den da!« »Ach ja?« Hahnisch hob den Kopf. »Ein Kunde von Ihnen?«
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»Kann ich mal…?« Bienzle zog den Telefonapparat zu sich her und wählte. »Den hab ich selber auf Nummer Sicher gebracht vor… warten Sie mal…«, dann sprach er in den Hörer: »Gächter, die Leich in Eichenbach, das ist der Herget… ja, Christian Maria. Hast du was ghört, daß der… ja, warum sagt mir das denn keiner!« Er warf den Hörer auf die Gabel. »Na?« fragte Hahnisch. »Ausgebüchst, wie mein Kollege das nennt – vor drei Wochen!« »Und wofür hat er gesessen?« Bienzles Laune wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter: »Ha, für Handtaschendiebstahl bin i ja net zuständig.« Hahnisch war wenig beeindruckt. »Mord also!« »Sie haben eines der Opfer selber in Ihre Finger ghabt.« Der Professor versuchte sich zu erinnern, gab es aber schnell auf. »Mann oder Frau?« »Frau. Ich hör Sie doch noch, Professor: ›Selbst im Tode noch eine Schönheit. Ein solcher Mord wiegt doppelt schwer‹, wörtlich haben Sie das gesagt.« »Gabriele Wiedemann.« »Richtig. Gabriele Wiedemann – Mutter von zwei Kindern, alleinerziehend, wie das jetzt heißt. Nicht reich, aber gut versorgt. Mann, Mann, war ich froh, als ich den Herget gehabt hab! Obwohl – den Kindern hat das auch nicht geholfen. Zwei Banken hat er außerdem überfallen und den Kassenboten eines Kaufhauses – den hat er übrigens auch erschossen.« Bienzle ging in dem kahlen gekachelten Raum auf und ab und blieb schließlich vor dem Professor stehen. »Wie kommt Christian Maria Herget, der schöne Christian – wie kommt der ausgerechnet nach Eichenbach in den Wiesenweg Nummer sieben zu einem Eisendreher, der am Feierabend seine kleine Landwirtschaft betreibt und am Wochenende seine Frau betrügt. Der Hägele sagt, er kennt ihn nicht, und die Frau Hägele sagt gar nix.« »Vielleicht hat sich der Herget im Keller versteckt, ohne daß die Hausbewohner etwas bemerkt haben.«
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Bienzle schüttelte den Kopf. »Die lügen beide, aber fragen Sie mich nicht, warum, Professor.« »Sie werden schon noch dahinterkommen, Herr Bienzle.« »Oder auch nicht.« Bienzle stapfte Richtung Tür. Der Professor sagte: »Der Tod ist gegen elf Uhr dreißig eingetreten. Mich irritiert dabei allerdings etwas.« Bienzle blieb stehen, ohne sich umzudrehen. »Nämlich?« »Der Mann muß viel länger im Öl gelegen haben.« »Was?« Jetzt drehte sich der Kommissar noch einmal um. »Sagen Sie das noch mal.« »Einmal reicht. Sie sind doch nicht begriffsstutzig, Bienzle!« Mit der Dämmerung hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Bienzle stand unschlüssig vor dem Haus des Ehepaares Hägele. Nur das Küchenfenster war erleuchtet. Bienzle ging ein paar Schritte darauf zu, blieb dann aber stehen, kehrte schließlich um und lehnte sich an einen Baum am Straßenrand. Ein Routinefall, hatte der Kollege Gächter gemeint. »So nach dem Muster, Ehefrau bringt untreuen Mann um.« Bienzle lachte leise. Der Regen nahm zu. Wind kam auf. Bienzle fröstelte und zog den Mantel enger um seine Schultern. Wenn er so auf der Lauer lag, verlor er das Gefühl für die Zeit. Er stellte sich selbst ruhig, wie er das im stillen nannte. Er dachte an nichts Bestimmtes. Vor allem versuchte er, sich nicht mit dem laufenden Fall zu beschäftigen. Als das Licht im Flur anging, wußte der Kommissar dennoch, daß es fast genau zehn Uhr war. Die Tür ging auf. Hägeles massige Figur erschien in dem hellen Rechteck. Bienzle zog sich einen Schritt weiter hinter den Baumstamm zurück. »Du hättest dich krank schreiben lassen können«, hörte er Frau Hägele sagen. »Warum denn?« antwortete ihr Mann. »Nach allem, was passiert ist!« »Ist ihm doch recht geschehen!« Der Mann wandte sich der Straße zu.
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»Du gehst ja gar nicht ins Geschäft«, protestierte die Frau. »Ach halt doch dein ungewaschenes Maul«, schrie der Mann zurück und bückte sich nach einem Stein. Die Frau warf die Türe zu. Gerade noch rechtzeitig. Der Stein prallte vom Holz zurück. Anton Hägele ging mit langen Schritten den Wiesenweg hinunter. Bienzle folgte ihm lustlos. An der nächsten Kreuzung wartete ein Wagen auf Hägele. Bienzle bückte sich, um zu erkennen, wer am Steuer saß. Es war ein Mann mit langen blonden Haaren, der wie Hägele einen blauen Overall trug – offensichtlich ein Arbeitskollege, wie Hägele auf dem Weg zur Nachtschicht. Bienzle ging zurück und klopfte an die Tür. Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. »Was ist?« Bienzle fiel jetzt erst auf, daß Frau Hägele eine Stimme hatte, die überhaupt nicht zu ihrem Äußeren paßte – grell und scharf. »Ich hab noch ein paar Fragen – Bienzle!« »Jetzt noch?« »Sag ich doch!« Die Frau seufzte und schloß das Fenster. Bienzle schob sich auf die Eckbank. Frau Hägele stellte wortlos eine Flasche Bier und ein Henkelglas vor ihm auf den Tisch. »Warum meint Ihr Mann, es wär ihm grad recht geschehen?« fragte er unvermittelt. »Ach, mein Mann – der sieht doch Gespenster!« »Ach ja – was für welche denn?« »Er meint, ich hätt einen Liebhaber gehabt.« »Und?« »Was und?« »Habet Sie ein ghabt?« »Nein!« sagte sie trotzig. »Christian Maria Herget war bekannt dafür, daß er Frauen… na ja, daß er bei Frauen gut ankam.« »Ist das der Tote?« Bienzle ging auf die Frage nicht ein.
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»Ich frag mich bloß, wie kommt der schöne Christian hierher – also nix gege Eichenbach, aber der Herget hat’s immer lieber städtisch ghabt. Haben Sie immer schon hier glebt?« »Ich komm aus Stuttgart.« »Ihr Mann hat eine Freundin?« »Eine…?!« Sie lachte bitter auf. Bienzle blinzelte. »Und das bei so einer Frau!« Sie lächelte geschmeichelt. »Er liebt halt die Abwechslung. Dem Anton kommt’s gar nicht drauf an, wie eine aussieht oder wie sie ist, der ist bei Frauen ein Vielfraß und ein Allesfresser.« »Wie lang war der Christian Herget schon im Haus, ohne daß es Ihr Mann gemerkt hat?« Bienzle hatte aufs Geratewohl gefragt, aber die Wirkung schien ihm recht zu geben. »Was wissen Sie? Waren Sie bei meinem Vater?« Bienzle wiegte den Kopf hin und her, was man durchaus als Zustimmung hätte werten können. »Also?« »Ich sag nix!« Bienzle nahm einen kräftigen Schluck. »Haben Sie keine Kinder?« Frau Hägele schüttelte den Kopf. »Warum bleiben Sie dann bei dem Mann?« »Er hat ja nicht nur schlechte Seiten!« »Erzählen Sie doch einmal von seinen guten!« Sie sah auf. »Es gibt Tage, da kommt er mit Blumen oder Pralinen heim. Oder mal mit einer neuen Schallplatte – Tanzmusik meistens. Und dann hat er oft auch eine gute Flasche Wein gekauft. Dann sitzen wir zusammen, reden und lachen, und zum Schluß tanzen wir meistens sogar noch ein bißchen. Er tanzt wirklich gut – das sieht man ihm gar nicht an.« Sie sah verträumt auf ihre Hände. »Ja, und das sind dann auch die Abende, wo wir, oder die Nächte halt… Sie wissen schon.« Frau Hägele wurde ein wenig rot. »Und wie war’s mit Christian Maria Herget?«
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»Sie lassen nicht locker, gell?« Frau Hägele ging zum Kühlschrank, holte eine neue Flasche Bier für Bienzle, obwohl er die erste Flasche noch gar nicht ausgetrunken hatte. Bienzle nickte. Frau Hägele setzte die Flasche hart auf, ging zum Küchenbüfett, entnahm einer Schublade eine Zigarrenschachtel, kramte darin und förderte schließlich einen Ausweis zutage. Sie blätterte und reichte ihn dann Bienzle aufgeschlagen. »Annemarie Hägele, geborene Meier«, las Bienzle. »Geschiedene Herget!« vollendete die Frau. »O du liabs Herrgöttle von Biberach«, entfuhr es Bienzle. Er kratzte sich in seinem unordentlichen Haarschopf. »Ihr erster Mann also!« Sie nickte, und Tränen traten in ihre Augen. »Die finden mich nie – nie finden mich die Bullen, hat er immer gesagt und gelacht dabei, ich habe ein Versteck, da kommt nicht mal der Bienzle drauf – daher kenn ich übrigens Ihren Namen.« Bienzle gab einen unartikulierten Laut von sich. »Er hat es jeden Tag geübt. Eine Riesenschweinerei, sage ich Ihnen. Untergetaucht ist er und hat durch den Plastikschlauch geatmet – Schnorcheln hat er’s genannt.« »Da hätte ihn tatsächlich keiner gsucht, und selbst, wenn man den Deckel aufgemacht hätte, wäre wohl niemandem was aufgefallen.« »In unserer Dusche hat’s gestunken, Sie glauben’s nicht.« »Das glaub ich schon«, sagte Bienzle. »Weniger glaub ich, daß Sie ihn so ohne weiteres aufgenommen haben – und vor allem, daß Ihr Mann – Ihr jetziger, meine ich – damit einverstanden war.« »Ach, der!« »Sie meinen, dem war’s egal?« »Ich weiß es nicht, wirklich nicht, ich hab keine Ahnung. Eigentlich sollte man doch denken – und am Anfang hat er auch getobt, aber dann war alles plötzlich ganz anders. Mit einem Mal waren die zwei dicke Freunde, steckten die Köpfe zusammen – wahrscheinlich haben sie über mich geredet.« Bienzle stand auf, eine seltsame Erregung hatte ihn plötzlich gepackt. Christian Maria Herget hatte Beute gemacht. Und nicht zu
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knapp. Vor allem nicht allein – ihm war zuzutrauen, daß er seinen Anteil auf besonders intelligente Weise versteckt hatte. Und womöglich auch den seiner Komplizen. Er hätte einen Boten gebraucht, um an den Schatz heranzukommen – Hägele zum Beispiel. »Was denken Sie?« fragte Frau Hägele. »Ich glaube nicht, daß die beiden über Sie geredet haben.« »Sondern?« »Über Geld zum Beispiel.« »Wieso Geld?« Bienzle ging zum Kühlschrank und holte sich, ohne lange zu fragen, noch eine Flasche Bier. »Wer hat noch gewußt, daß Herget bei Ihnen Unterschlupf gefunden hatte?« »Niemand.« »Gelogen!« sagte Bienzle ganz ruhig. »Ihr Vater hat es gewußt, Sie haben’s vorher praktisch selber gsagt.« Frau Hägele senkte den Kopf. »Sie sollten auch was trinken«, sagte Bienzle freundlich. »Ich mag kein Bier!« Bienzle hatte im Kühlschrank eine Flasche Obstler mit einem handgeschriebenen Etikett gesehen. Die holte er jetzt. Dann entnahm er dem Büfett zwei Schnapsgläser und goß ein. Frau Hägele trank hastig und schob das Glas zurück. Bienzle goß noch mal ein. »Wie war das zwischen Herget und Ihnen?« »Ich verstehe nicht.« »Hat er Sie verlassen, oder sind Sie von ihm weg?« Frau Hägele sah an Bienzle vorbei und schwieg. »Also, er hat sich abgesetzt«, sagte Bienzle. »Und wie war’s jetzt, als er plötzlich wiederkam – Ihr Mann hatte Nachtschicht, nicht wahr?« Jetzt sah sie ihn an. »Wahrscheinlich hätte er mich immer rumkriegen können – aber nicht hier in unserem Haus.« »Hat er’s probiert?« »Natürlich!« Bienzle nickte. »Aber Anton kam dazu.«
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»Anton hat eine dreckige Bemerkung gemacht. Und dann ist er gleich mit mir ins Bett. Irgendwie hat ihn das…« »Tja, so was soll’s geben!« sagte Bienzle. »Hatte er denn in jener Nacht keine Schicht gehabt?« »Ich glaube nicht, daß er überhaupt noch arbeiten geht.« »Ich hab ihn vorhin mit einem Arbeitskollegen wegfahren sehen. Vorne an der Kreuzung.« »Na und? So einer wie Anton würd’s nicht zugeben, wenn er arbeitslos ist – der doch nicht. Der würde ewig so tun, als ob er zur Arbeit geht, aber in Wirklichkeit tat er sich bloß rumtreiben.« »Na ja, das würden Sie aber doch merken. Und Sie könnten sich ja auch vergewissern.« Sie fuhr auf. »Ich – meinem Mann nachspionieren?!« »Es kann Situationen geben…« »…vor denen man sich nur fürchten kann. Ja!« Sie hielt das Schnapsglas fest in der Hand, und plötzlich schlug sie es flach auf die Tischplatte. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor – Splitter tanzten über den Tisch. »Waschen Sie’s aus«, sagte Bienzle sachlich. Vom Wasserhahn her sagte sie erstaunlich ruhig: »Ich leb wie in einem Raum ohne Licht und Luft. Ich glaub, kein Mensch ist mir so fremd wie mein eigener Mann. Was soll ich denn tun? Ein Tag ist wie der andere, nur daß es mir immer enger wird. Ich hab das Gefühl, die Wände und die Decke wachsen auf mich zu. Ganz langsam, aber unaufhörlich. Dann denk ich, ich muß ersticken, dann brauch ich Luft, Luft, Luft.« Sie rannte quer durch die Küche und riß das Fenster auf. »Weg, weg, geh weg, verschwinde!« schrie sie. Bienzle erhob sich, obwohl er ganz sicher war, daß sie Halluzinationen hatte. Aber der Mann vor dem Fenster war keine Erscheinung. »Beruhige dich doch, Annemarie!« sagte er. Die Stimme klang ruhig und tief. Das Licht, das aus dem Fenster fiel, ließ das Gesicht des Mannes zwar verschwommen erscheinen, aber der Kommissar war sich dennoch sicher, daß der Mann da draußen alt war – eher siebzig als sechzig. »Wen hast du bei dir?« fragte der Mann.
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Bienzle antwortete selbst: »Mein Name ist Bienzle, Ernst Bienzle. Ich bin vom Landeskriminalamt und untersuche einen Todesfall.« »Komm doch rein, Vater«, sagte Annemarie Hägele. »Du weißt, das Haus betret ich nicht – niemals!« Er wandte sich zum Garten. Bienzle schwang mit erstaunlicher Behendigkeit die Beine über den niedrigen Fenstersims. »Der Garten ist doch auch ein Teil des Hauses, oder?« Der alte Mann schritt den schmalen Gartenweg hinunter. Bienzle folgte ihm. Er hörte noch, wie hinter ihm die Fensterflügel zugeworfen wurden. Am Gartentor holte Bienzle den anderen ein. Auf dem kurzen Weg hatte er sich den Kopf zerbrochen: Wie hieß der Vater von Annemarie Hägele, was war sie für eine Geborene? Irgendein Allerweltsname. Er ging neben dem Alten her. »Ich heiße Meier«, sagte Annemaries Vater nach einiger Zeit. »Mhm«, machte Bienzle. Er hatte Zeit und konnte warten, die Nacht war sowieso angebrochen, ein Zimmer hatte er nicht gesucht. Da konnte er mit der Rückfahrt auch bis zum Morgen warten. »Was weg ist, brummt nimmer«, hatte sein Vater immer gesagt. Der Spruch war ihm, wie alle anderen goldenen Worte seines Vaters, im Gedächtnis geblieben. »Die besten Händel sind nix nutz«, zum Beispiel, oder: »Wenn du einen rußigen Hafen anlangst, kriegscht schwarze Händ.« Da fiel ihm ein Spruch seiner Mutter ein, den sie unweigerlich brachte, wenn er sich mit seinem Bruder einst gestritten hatte. »Da wird der eine ‘s Schüssele verschüttet habe und der andere ‘s Häfele!« »Was habet Sie denn?« fragte der alte Meier. »Ja, ja«, sagte Bienzle zu sich selbst, »der eine hat das Schüssele verschüttet und der andere ‘s Häfele.« »In dem Fall net!« sagte der alte Meier scharf. »Sondern?« Sie gingen noch immer dicht nebeneinander. »Der Christian hat alles auf em Gewissen!« »Und Hägele?« »Ein Taugenichts und Tunichtgut, weiter nix. Aber meine Annemarie hat mit den Männern nix als Pech.«
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Bienzle hätte gerne gesagt, daß dazu immer zwei gehören. Nach einer Weile blieb er stehen. »Haben Sie Feuer?« fragte er den alten Mann und bot ihm auch ein Zigarillo an. »Danke.« Meier bediente sich und riß ein Streichholz an. Zum ersten Mal konnte der Kommissar das Gesicht des Alten genauer sehen. Es gefiel ihm – ein schmales Gesicht, ernst. Tiefe senkrechte Furchen liefen in gerader Linie von der Stirn zum Kinn. Die Augen waren dunkel und wirkten traurig. »Ziehen Sie doch!« sagte Meier. Das Streichholz verlosch. Bienzle sagte: »Haben Sie gewußt, daß sich Herget bei Ihrer Tochter versteckt?« Meier antwortete nicht. »Sie haben’s also gewußt?« »Ja, seit drei Tagen.« »Gibt’s hier irgendwo eine Wirtschaft, wo man noch a Viertele kriegt?« »Ich hab en Moscht im Keller!« »Des isch besser – viel besser!« sagte Bienzle. Das kleine Bauerngehöft lag ein Stück außerhalb. Die beiden Männer hatten nicht gesprochen, bis sie es erreichten. Dann sagte Bienzle: »Ich hab gedacht, Sie sind nicht vom Land.« »Das stimmt auch. Wir sind erst vor acht Jahren hierher. Ich hab mit sechzig aufgehört und mir einen alten Traum erfüllt: die eigene Landwirtschaft.« Bienzle nickte. Das verstand er. »Wohnen Sie allein hier?« »Meistens, ja – auf dem Feld habe ich eine Hilfe – aber nur tagsüber, ich mein, abends geht der Gregor heim.« »Hilft denn Ihr Schwiegersohn manchmal?« »Daß der meinen Betrieb au noch kaputtmacht? ‘s langt, wenn der sich selber ruiniert.« Die Küche war ganz ähnlich eingerichtet wie bei den Hägeles. Bienzle sagte denn auch: »Das hat Ihre Tochter eigrichtet, gell?«
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Meier nickte und holte einen Steinkrug aus einem alten Küchenschrank. Er hatte schon die Tür erreicht, als Bienzle fragte: »Ihre Frau lebt nicht mehr?« »Nein.« Meier ging hinaus. Bienzle hörte die Schritte auf der Holztreppe, die unter jedem Tritt ächzte. Was soll ich eigentlich weiter ermitteln? fragte sich der Kommissar. Herget hat sein Versteck ausprobiert, und dabei ist er erstickt – basta. Andererseits: Wenn der Atemschlauch sich so gedreht hatte, daß er unter die Oberfläche geraten war – warum war dann der Herget nicht einfach hustend und prustend herausgestiegen und unter die Dusche gegangen? Schwer vorstellbar, daß er ohne fremde Einwirkung im Heizöl erstickt sein sollte. Meier kehrte zurück und goß Apfelmost in zwei dickwandige hohe Gläser. Bienzle sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. »Eigentlich Zeit fürs Bett«, sagte Bienzle. »In meim Alter braucht man nicht mehr viel Schlaf.« Meier trank ihm zu. Bienzle versuchte, den Blick des Alten aufzufangen, aber Meier starrte in sein Glas. »Oft sitz ich bloß da und guck zu, wie die Zeit vergeht«, sagte der Alte leise. »Als wir damals hierhergezogen sind, hab ich gedacht, auf so einem Dorf ist man weniger allein, weil halt alles kleiner und überschaubarer ist, weil man sich kennt und miteinander redet. Aber ich glaub, das gilt nur für die, die schon immer hier gewohnt haben.« Er nahm einen großen Schluck. »Ich kann den Leuten nicht nachlaufen.« »Jeder ist für sich allein«, sagte Bienzle. »Schöner Trost.« »Ich bin Polizist und kein Pfarrer – übrigens, Ihr Most ist gut. Man spürt, daß der sauber ist und daß Sie mit dem Wasser gspart haben.« »Wasser ist gar keins drin.« »Wer hat wohl den Herget umgebracht?« fragte Bienzle unvermittelt. »Als ob das wichtig wär.« »Natürlich ist’s wichtig. Wir können nicht damit anfangen, einen Mörder frei rumlaufen zu lassen, nur weil wir das Opfer nicht mögen oder vielleicht sogar hassen.«
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»Hättet ihr ihn net laufe lasse!« sagte der alte Meier trotzig. »Vorhin schon sind mir ein paar Sprüch von meinem Vater eingfalle – der war Schulmeister in einem Dorf wie Eichenbach. ›Bloß wer nix schafft, macht keine Fehler‹, hat er immer gsagt.« Bienzle setzte sich aufrechter und sah dem alten Meier ins Gesicht. »Jetzt mal ganz ehrlich. Sie habet in letzter Zeit das Haus Ihrer Tochter nicht betreten?« »Nein!« »Den Keller auch nicht?« »Der Keller ghört auch zum Haus!« Meier hob endlich den Kopf. Er sah Bienzle an. »Ach, Sie denket, ich könnt’s gewesen sein?« »So, wie’s im Augenblick aussieht, kann’s jeder gewesen sein, dem ich bis jetzt begegnet bin: Sie, Ihre Tochter, Anton Hägele. Jeder hätt ein Motiv ghabt, net wahr?« Meier fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. »Der Christian hat doch zwei Banken ausgraubt und den Kassier vom Supermarkt überfallen, den er dabei erschossen hat. Das Geld muß doch irgendwo sein, oder?« Bienzle lächelte. Er wußte, worauf der Alte hinauswollte. »Richtig, Herget hatte mindestens einen Komplizen. Wir nennen ihn ›den Fahrer‹, weil er bloß Schmiere gestanden ist und das Auto gefahren hat.« »Also noch einer, der ein Motiv hat, oder?« »Ja, sicher. Nehmen wir an, der Fahrer hat die ganze Beute an sich gebracht, dann muß er ein Interesse daran haben, daß Herget nicht wieder auftaucht.« Für einen Augenblick sah Bienzle wieder die Leiche auf der braungrünlich schimmernden Öloberfläche schwimmen. Aber dann hatte er eine andere Assoziation. »Hat Anton Hägele ein Auto?« »Das würd ihm wenig nützen – er hat kein Führerschein mehr.« »Drum, ich hab ihn um zehn heut… also, das isch ja schon gestern gewesen – also gegen zehn isch er in einen Wagen gestiegen, wahrscheinlich, um zur Schicht zu fahren.« »Ach was, der Anton fährt mit dem Fahrrad ins Gschäft – es sind ja bloß zwei Kilometer.«
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Bienzle war nun sehr aufmerksam. »Es war ein kleiner Wagen – ziemlich alt. Ich glaub, ein Fiat 600.« »So einen fährt der Gregor.« »Der, der Ihnen bei der Feldarbeit hilft?« »Mhm.« »Ist der Gregor mit dem Hägele befreundet?« »Der kann ihn nicht ausstehen.« »Und warum net?« »Weil er’s genaue Gegeteil isch, der Gregor – fleißig, anständig, sparsam, freundlich.« »Oh, Jessas!« sagte Bienzle. »Wie alt?« »Der Gregor? Vierundzwanzig.« Bienzle hatte eine Idee. »Und er ist verliebt in Ihre Annemarie?« »Auf jeden Fall wär mir der Gregor am Arsch lieber als der Hägele im Gsicht!« »Vom Herget ganz zu schweigen, was?« »Sie sagen es!« Bienzle nippte an seinem Glas und beobachtete den alten Meier dabei. »Dann hätten wir gleich noch einen Verdächtigen. Eifersucht ist ein starkes Motiv. Aber warum fährt er mit dem Anton Hägele nachts durch die Gegend – vorausgesetzt, er war überhaupt der Mann am Steuer!« »Da fraget Sie mich zuviel, Herr Kommissar.« »Schprechet Se mich lieber mit meim Name an, bitte.« Bienzle schob das leere Glas über den Tisch und ließ sich nachgießen. »Hat der Gregor den Herget gekannt?« »Ja, freilich. Der Gregor hat den Christian vom ersten Tag an bewundert. Am Anfang kamen die zwei fast jedes Wochenende zu mir raus. Sonst ist der Gregor nie am Samstag oder Sonntag hier auftaucht, aber das war auf einmal anders. Ich hab immer net gwußt, kommt er wegen der Annemarie oder wegen dem Christian. Dabei war der Herget gar nicht freundlich zu ihm – eher abweisend. Über-
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haupt hat er so eine geschäftsmäßige Art ghabt, mit Menschen umzugehen.« Bienzle nickte. »Ich weiß, ich hab ihn stundenlang verhört – letztes Jahr nach seiner Festnahme. Könnte es denn sein, daß dieser Gregor der ›Fahrer‹ war?« Meier wiegte den Kopf. »Der Gregor ist schwach, und der Christian hat ihm imponiert.« Bienzle stand auf. »Wo wohnt der Gregor?« Meier goß ein wenig Most auf den Tisch und zeichnete in feuchten Spuren den Weg auf. Das Haus, das Meier ihm beschrieben hatte, lag dunkel vor ihm. Im schwachen Licht einer Straßenlaterne wirkte es noch häßlicher, als es am Tage wohl war – eine einfallslose Fassade, zu schmale Fenster und zu kleine Balkone, dicht beieinander. Eineinhalb, höchstens Zweizimmerappartements, dachte Bienzle. Gregor wohne Hochparterre, rechts, hatte Meier gesagt, sein Auto stehe normalerweise auf dem hauseigenen Parkplatz direkt davor. Der Platz war leer. Bienzle ging um das Haus herum. Eine schmale Treppe führte zu einem Umgang, von dem aus die Türen zu den Appartements führten. Der Kommissar drückte den Knopf des Zweiminutenlichts. An der zweiten Tür stand auf einem unordentlich abgerissenen Stück Packpapier, das mit Klebestreifen festgemacht war, Gregor Keller. Bienzle klingelte lang und anhaltend. Hinter der Tür rührte sich nichts. Das Licht erlosch. Bienzle drehte am Türknauf. Da hörte er plötzlich ein Geräusch. Er trat einen Schritt zurück. Hinter einer schmalen, schmutzig-gelben Scheibe in der Tür flammte ein Licht auf. Dann meldete sich eine verschlafene weibliche Stimme: »Issen los da draußen?« »Ich möchte zu Gregor Keller«, rief Bienzle. »Nicht da!« »Machen Sie bitte mal auf!« Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Bienzle sah in ein junges, bleiches Gesicht hinter blonden Haarsträhnen. Mit einer unsicheren Bewegung strich das Mädchen die Haare zur Seite. »Tut mir leid«, sagte Bienzle. »Aber ich muß Herrn Keller dringend sprechen.«
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»Ich auch!« sagte das Mädchen. »Wollen wir dann vielleicht gemeinsam warten?« Das Mädchen hob die Schultern und ließ die Tür vollends aufschwingen. Der Kommissar trat ein. Dumpfe, verbrauchte Luft schlug ihm entgegen. Der kleine Korridor führte an zwei offenen Türen, die offensichtlich zu Küche und Bad gehörten, vorbei, geradeaus in ein Zimmer, das Keller durch ein Regal unterteilt hatte. Gleich neben der Tür stand ein zerwühltes Bett, hinter dem Regal hatte sich Gregor Keller einen Arbeitsplatz eingerichtet. Das Mädchen schlüpfte wieder unter die Decke und rollte sich zusammen. »Hat er gesagt, wann er wiederkommt?« fragte Bienzle. »Ich war nicht da, als er wegging. Ich hab ‘nen eigenen Schlüssel!« »Sind Sie Gregors Freundin?« Das Madchen lachte glucksend. »Ne, ne – ich bin seine Schwester.« »Wohnen Sie hier?« »Nur manchmal.« Bienzle stand unschlüssig im Zimmer herum. Er zog den Mantel aus und warf ihn aufs Bett. Das Mädchen reagierte mit einer unwilligen Geste. Bienzle ging um das Regal herum und setzte sich an den Arbeitstisch, auf dem sich Notizen, Zeichnungen, Bücher und Hefte stapelten. Er kramte ziellos herum und zog schließlich ein Schulheft zu sich heran. Er blätterte beiläufig darin, während sein Blick immer wieder durch die Glastür fiel, die auf den Balkon hinausführte. Es hatte wieder zu regnen begonnen, gleichmäßige, schmale schräge Streifen schraffierten das trübe Licht. »Ihr Nein klingt jedesmal wie ein nur mühsam verdecktes Ja«, las Bienzle. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und las weiter in dem Schulheft. »Ein Ja ist immer nur ein Ja, wenn es hätte auch ein Nein sein können. Aber wie frei ist ein Mensch? Ist er frei genug, das selber zu entscheiden? Es gibt Abhängigkeiten – überall Abhängigkeiten. Sie muß es recht machen, das ist einzusehen. Aber wem? Ihrem Vater? Ihrer Herkunft? Ihrer Erziehung? Ich weiß, sie hätte lieber ja gesagt.« Bienzle klappte das Heft zu.
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»So eine Art Philosoph!« sagte er. »Was ist los?« kam es vom Bett her. »Ihr Bruder, was macht er beruflich?« fragte Bienzle in Richtung Schlafnische. »Er ist arbeitslos. Das sind viele hier.« »Und vorher?« »Er hat eine kaufmännische Lehre gemacht!« »Kennen Sie Anton Hägele?« »Ja, aber jetzt will ich schlafen.« »Gut – ich meine, kennen Sie den Hägele gut?« »Ziemlich gut.« »Lieben Sie ihn?« Wieder ihr glucksendes Lachen. Sie schien sich königlich zu amüsieren. »Den Anton? Liebe! So ein Wort nehm ich gar nicht in den Mund.« »Wie alt sind Sie?« »Neunzehn, warum?« »Nur so!« Bienzle blätterte wieder in dem Heft. »Ihr Bruder nimmt das Wort ›Liebe‹ aber schon mal in den Mund, oder?« »Ach, der ist doch ein hoffnungsloser Fall.« Der Kommissar hatte eine neue Seite aufgeschlagen. Da waren ein paar Noten hingemalt. Darüber stand »Anatevka – Milchmann Tevje«, und unter den Noten las Bienzle den Liedanfang »Wenn ich einmal reich wär, didel-didel-didel-dumm«. Er summte die Melodie leise, blätterte um und hielt inne. Denn auf der nächsten Seite fand er eine penible Zahlenaufstellung: DB – Filiale S Raiffeisenkasse Tü Kasse Kaufhaus RT An Anton Fluggeld 2 Pers. Grundstück Haus Sonstiges Rest Zinssatz 9,5 % jährlich
150.000,190.000,94.570,434.570,250.000,6800,117.000,12.000,125.200,-
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pro Jahr also 11.894,- pro Monat 991.17 Es war für Bienzle kein Problem, die Rechnung zu entschlüsseln. Herget hatte nacheinander eine Deutsche Bank-Filiale in Stuttgart, die Raiffeisenkasse in Tübingen und eine Reutlinger Kaufhauskasse ausgeraubt. Der Kaufhauskassierer hatte idiotischerweise Widerstand geleistet und mit seinem Leben dafür bezahlt. Auch der zweite Teil war leicht zu verstehen. »Er hat das Fell des Bären verteilt«, murmelte Bienzle, »die Frage ist – hat er es schon?« »Ich versteh nicht«, sagte das Mädchen schläfrig. »Wohin will Ihr Bruder?« »Sie meinen auswandern?« »Mhm.« »Nach Costa Rica – ein tolles Land. Auf dem Hochplateau ist das Klima gemäßigt. Es gibt keine Armee dort und mehr Lehrer als Polizisten. Sein Geld kann man in Dollar anlegen. Und wenn man nur genug hat, kann man gut von den Zinsen leben.« »Hat er denn Geld?« »Ach, der Gregor ist einer, der ganz sicher weiß, daß er mal im Lotto gewinnt.« Bienzle klappte das Heft behutsam zu und steckte es in seine Brusttasche. »Was will er denn machen in Costa Rica?« »Landwirtschaft – Obst und Südfrüchte, was weiß ich. Er lernt ja richtig beim alten Meier. Sie züchten eine neue Apfelsorte.« »Interessant.« »Find ich nicht. Mann, Sie klauen mir meinen Schlaf.« Bienzle schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. »Wenn eine bestimmte Zeit überschritten ist, ist schon alles egal – the point of no return, sagen die Amerikaner. Der Punkt, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Jetzt brauch ich bloß noch zu warten.« »Warten worauf? Was sind Sie überhaupt für einer?« Das Mädchen hatte sich aufgesetzt und die Beine über den Bettrand geschwungen. Erst jetzt wurde Bienzle bewußt, daß sie außer einem Herrenhemd nichts anhatte.
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»Ich bin Kriminalbeamter und untersuche den gewaltsamen Tod des Christian Maria Herget«, sagte Bienzle gestelzt. »Scheiße, ‘n Bulle.« »Haben Sie diesen Herget gekannt?« »Durch den bin ich meine Jungfernschaft losgeworden, und zwar auf ausgesprochen fröhliche Art«, sie lachte ihr glucksendes Lachen. Bienzle wurde es unbehaglich, zumal sich das Mädchen nun im Schneidersitz auf dem Bett niedergelassen hatte. »Aber jetzt ist er tot«, sagte Bienzle. »Der Christian hat sich immer überschätzt, das war sein Fehler.« Gregors Schwester stand auf, ging in die kleine Küche und füllte Wasser in die Kaffeemaschine. »Ich hab ihn gekannt«, sagte Bienzle, der dem Mädchen nachgegangen war und nun am Türrahmen lehnte. »Gregor hat im kleinen Finger mehr Verstand als Christian in seinem ganzen Hirn.« »Trotzdem war er ja wohl ein bißchen abhängig von Herget.« »Ein bißchen? Total! Aber das passiert anderen auch. Annemarie zum Beispiel, Hergets geschiedener Frau. Der hatte so was – wie ein geheimes Glockenspiel. An ihrem 26. Geburtstag zum Beispiel erschien er mit 26 stinkteuren Baccara-Rosen und 26 Flaschen Sekt. Der Hägele war schon nach zwei Stunden so blau, daß man ihn einfach vom Stuhl kippen konnte. Wenn’s was umsonst gibt, säuft der im Akkord. Mein kleiner Bruder saß die ganze Zeit nur da und glotzte die Annemarie an. Der denkt immer, er braucht seine Liebe nur zu zeigen, und irgendwann wird der Zauber überspringen. Aber sie hatte nur Augen für Herget. Mann, o Mann, gingen die ran! Die hatten uns ganz schnell vergessen. Und ich hab nachher Mühe gehabt, meinen guten Gregor daran zu hindern, von der Brücke zu springen.« Sie drückte Bienzle zwei Tassen in die Hand. »Warum erzählen Sie mir das alles so freimütig?« wollte der Kommissar wissen. Das Mädchen stellte die Kaffeekanne ab. »Kennen Sie das Gefühl, wenn man irgendwie nicht mehr atmen kann – keine Luft mehr kriegt? Wenn alles so dumpf ist. Da denkt man dann, es müßte ein Gewitter kommen. Blitz und Donner und
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ganz kalter, frischer Regen. Gedonnert hat’s nun zum ersten Mal, als Herget starb, aber das richtige Gewitter fehlt noch – das Gewitter, das reinigt, verstehen Sie. Das wäre toll, wenn mit einem Schlag die ganze Verlogenheit aufgedeckt würde und Lügen und ein paar Wahrheiten ans Licht kämen.« »Welche zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Lüge, daß der Anton und die Annemarie noch immer so tun, als wären sie ein Paar. Oder die Wahrheit, daß der alte Meier ein rücksichtsloser, egoistischer Spießer ist. Gregors Luftschlösser gehören auch dazu. Costa Rica! Annemarie und das einfache Leben! Der reine Schwachsinn! Und dann: Halten Sie’s denn für normal, daß einer arbeitslos ist und trotzdem immer so tut, als ob er zur Arbeit geht?« »Sie meinen Anton Hägele?« »Wen denn sonst?« Das Mädchen ging dicht an ihm vorbei ins Zimmer zurück. Bienzle atmete ihren Geruch ein. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte nach ihrer Schulter gefaßt, um sie an sich zu ziehen. Er räusperte sich und stellte die Tassen auf einen niedrigen Tisch vor dem Bett ab. »Derjenige oder diejenigen, die den Herget ins Öl gedrückt haben, um ihn auf diese viehische Weise umzubringen, müssen dafür bezahlen«, sagte er grimmig. »Das war ein geplanter Mord, und der bringt den Täter ein halbes Leben hinter Gitter – mindestens!« »Na und?« »Und wenn’s Ihren Bruder träfe?« Das Mädchen lachte hell auf. »Gregor? – Ausgeschlossen!« Bienzle setzte sich auf einen wackligen Korbsessel. »Ich bin jetzt – mit Unterbrechungen – vierzehn Jahre beim Mord. Und wenn ich in der langen Zeit eins begriffen habe, dann das, daß jeder zum Mörder werden kann – jeder!« »Wann ist es passiert?« »Gestern gegen elf Uhr.« »Da war Gregor draußen in den Heckenäckern – pflügen. Der alte Meier hat dort drei Felder.« »Und wo waren Sie?«
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»Supermarkt Billigland, Stand für Dekorationsstoffe und Vorhänge – da arbeite ich nämlich.« »Also wissen Sie nur vom Hörensagen, daß Ihr Bruder zur fraglichen Zeit auf dem Feld war?« »Hörensagen! Bullensprache!« Bienzle nippte an seinem Kaffee. »Der weckt ja Tote auf!« sagte er und merkte erst Sekunden später, daß der Spruch jetzt gerade vielleicht nicht so angebracht war. Vor dem Haus war ein Automotor zu hören. Scheinwerferlicht wischte über das verschmierte Glas der Balkontür. »Das wird er sein«, sagte das Mädchen und kroch wieder unter die Decke. Kurz darauf ging die Tür auf. Ein hagerer junger Mann in Jeans und einem blauen Pullover kam herein. Er hatte sehr lange Haare und einen schmalen Kinnbart. Der Körper wirkte sehnig und durchtrainiert. »Rück ein Stück«, rief er, noch bevor er ganz im Zimmer war, »ich bin hundemüde.« Er zog den Pulli über den Kopf. »Hey, wir sind nicht allein«, rief seine Schwester. »Was ist los?« Bienzle trat hinter dem Regal hervor. »Na, alles klar mit dem Geld?« Gregor Keller hatte fast im gleichen Augenblick ein Messer in der Hand und die Art, wie er es – Spitze nach vorne – auf der flachen Handfläche wog, zeigte deutlich, daß er damit umzugehen verstand. Bienzle lächelte gequält. »Der Mann, der keiner Fliege was zuleide tun könnte.« »Wer sind Sie?« zischte Gregor. »‘n Bulle!« rief das Mädchen vom Bett her. »Hat er dir was getan?« Wieder das lustige, glucksende Lachen. Die Spitze des Messers war noch immer auf Bienzle gerichtet. Der Kommissar fror an den Händen. Das war bei ihm immer so, wenn er Angst hatte. Bienzle war – wie meistens – unbewaffnet, und er stand mit dem Rücken zur Wand.
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Er hätte Gregor Keller festnehmen können, denn er war sich ziemlich sicher, daß Hergets »Fahrer« vor ihm stand. Die sauberen Eintragungen in dem Schulheft hätten den »hinreichenden Tatverdacht« untermauert. Zudem: Die wilde Entschlossenheit, die der junge Mann an den Tag legte, ließ sich durchaus so interpretieren, daß er kurz vor dem Ziel seiner Wünsche stand, und das hieß, daß er das Geld hatte oder doch wußte, wo es zu holen war. Bienzle sagte: »Na, dann werde ich mal gehen, wenn ich hier so unerwünscht bin.« Gregor veränderte seine Haltung nicht. Bienzle ging zum Bett und holte seinen Mantel. Das Mädchen steckte den Kopf unter der Decke hervor. Bienzle sagte: »Wie heißen Sie eigentlich?« »Sibylle – Sibylle Keller!« »War nett – und vielen Dank für den Kaffee!« sagte Bienzle und ging Richtung Tür. »Gute Nacht, schlafen Sie gut!« rief das Mädchen. »Heut nacht werd ich wohl kaum mehr schlafen!« Bienzle sah Gregor einen Augenblick an. An der Tür blieb er noch einen Augenblick stehen und schaute in das Zimmer zurück. »Daß Sie mich bedroht haben, ist Ihnen ja sicher klar, und daß ich Ihnen daraus einen Strick drehen kann, auch. An Ihrer Stelle wäre ich von jetzt an äußerst vorsichtig. Keine falsche Bewegung, junger Mann, und das gilt nicht nur, wenn Sie ein Messer in der Hand haben.« »Aprilwetter im März!« knurrte Bienzle und schlug den Mantelkragen hoch. Er warf noch einen Blick zu der erleuchteten Balkontür hinauf, dann ging er in die naßkalte Nacht hinein. Aber nur ein paar Schritte, da hörte er ein metallisches Klirren und einen leisen Fluch und fuhr herum. Im gleichen Augenblick verlöschte das Licht, das durch die Balkontür fiel. Bienzle bildete sich ein, bei dem kleinen Auto eine Gestalt gesehen zu haben. Aber er ging weiter die Straße hinunter und pfiff laut vor sich hin: »Wenn ich einmal reich wär…« Er bog in die nächste Straße ein, blieb stehen, pfiff immer leiser, hörte dann auf und pirschte sich zur letzten Hausecke zurück. Inzwischen hatten sich seine Augen so gut an die Dunkelheit gewöhnt, daß
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er sehen konnte, wie die massige Gestalt an dem Auto hantierte. Der Größe und der Figur nach konnte es Anton Hägele sein. Vorsichtig ging der Kommissar näher heran. Der Mann im Dunkeln machte sich nacheinander an allen vier Rädern zu schaffen. Achtlos warf er danach den Schraubenschlüssel in den kleinen Kofferraum und drückte die Haube leise zu. Er schlug die Hände gegeneinander und machte sich auf den Weg, wobei er direkt auf Bienzle zukam. Der Kommissar ging hinter einem Müllcontainer in Deckung. Es war tatsächlich Anton Hägele. Bienzle ließ ihn passieren. Er wartete noch zwei Minuten, kam dann hinter der Mülltonne hervor und schlich sich zu dem Auto. Der Kofferraum ließ sich leicht öffnen. Bienzle griff sich den Kreuzschlüssel. Nacheinander kontrollierte er die vier Räder. Alle Schrauben waren abgedreht und nur lose wieder auf das Gewinde gesteckt. Bienzle zog sie nacheinander wieder fest. Dann folgte er Anton Hägele. Er hörte ihn, lange bevor er das Haus im Wiesenweg erreichte. »Mach auf, du verdammte Hure!« brüllte Hägele. Klirren und Splittern von Glas war zu hören. Bienzle stieß das Gartentor auf. »Morgen, Herr Hägele!« »Was? Wie? Was ist los?« »Darauf pflegte mein Vater zu sagen: ›Alles, was net festgmacht isch!‹« »Meine Frau hat den Schlüssel gsteckt – von innen!« »Sie wird ihre Gründe haben!« »Saudumms Gschwätz.« Er donnerte mit dem Fuß gegen die Tür. »Wo waren Sie heute nacht?« fragte Bienzle. »Was ist los?« »Wo Sie waren, in den letzten vier Stunden – die Frage ist doch leicht zu beantworten, oder?« »Das geht Sie gar nichts an!« »Da wär ich an Ihrer Stelle nicht so sicher, Herr Hägele.« »Ach, lasset Sie mich doch in Ruh!« Jetzt ging im Haus ein Licht an. Aus dem Treppenhaus waren leichte Schritte zu hören. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür öffnete sich. Annemarie Hägele, geborene Meier, geschiedene
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Herget, stand vor ihnen. Sie hatte einen Trenchcoat über die Schultern gehängt. Darunter trug sie ein zartgrünes Nachthemd. Hägele holte aus. Aber er kam nicht dazu, nach ihr zu schlagen. Bienzle war ihm rechtzeitig in den Arm gefallen. »Komm halt rein, Schatz«, sagte Annemarie Hägele. Bienzle massierte sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Plötzlich war die Müdigkeit doch über ihn gekommen. Er hatte den Hägeles eine gute Nacht gewünscht und dem Mann mit den möglichen Konsequenzen gedroht, falls er gewalttätig würde gegen die eigene Frau. Wortlos hatte Hägele die Tür zugemacht. Bienzle war ein paar Schritte gegangen und hatte sich an einen Straßenbaum gelehnt. Offensichtlich lag das Schlafzimmer der beiden im ersten Stock. Einen Augenblick lang waren beide als Schattenrisse zu sehen. Und wenn das Bild nicht trog, umarmten und küßten sie sich. Annemarie trat ans Fenster und öffnete es einen Spalt weit. Sie war nackt. Antons Hände umfaßten sie. Der Mann stand hinter ihr, streichelte ihre Brüste und ihren flachen Bauch. Bienzle fühlte sich wie ein Spanner und zwang sich, wegzuschauen und sich abzuwenden. Kopfschüttelnd ging er den Weg hinunter. Im Zentrum des Dorfes fand er eine Telefonzelle. Er schaute auf die beleuchtete Rathausuhr und lächelte zufrieden. Es war kurz vor vier Uhr. Er ließ es lange klingeln, legte dann auf, wählte die gleiche Nummer noch mal und zählte geradezu genüßlich die Freizeichen. Nach dem zwölften Mal hob sein Kollege Gächter ab. »Morddezernat – Gäch… ach Blödsinn, Gächter privat!« meldete er sich. »Ja, hier Bienzle im Dienst.« »Sag mal, weißt du, wie spät es ist?« »Auf der Rathausuhr von Eichenbach ist es drei Uhr siebenundfünfzig.« »Mensch, du holst mich aus dem tiefsten Schlaf!« »Ich hab noch überhaupt nicht geschlafen, und ich red mit dir jetzt auch nur so lang, weil ich hoff, daß du dabei wach gnug wirst, alles mitzukriegen. Also paß auf…« Und dann schilderte er den Fall, wie er sich zu diesem Zeitpunkt für ihn darstellte, in allen Einzelheiten. Für solche Dienstgespräche hatte Bienzle – wie Gächter wohl wußte
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– immer genügend Münzen in der Tasche, obwohl die von der Kasse jedesmal Theater bei der Abrechnung machten. »Ich weiß auch was Neues«, sagte Gächter schließlich, »der Leichen-Hahnisch hat am Abend angerufen. Der Herget ist mit einem schweren stumpfen Gegenstand aufs Haupt geschlagen worden, bevor man ihn im Öl ersäuft oder erstickt hat. Wahrscheinlich war er bewußtlos.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Bienzle, »einen Unfall hab ich von vornherein ausgeschlossen.« »Und wer hat den Herget nun auf dem Gewissen?« fragte Gächter. »Das erfahren wir hoffentlich morgen. Also, du kommst und bringst den Haußmann mit und möglichst auch gleich einen Staatsanwalt. Lokaltermin neun Uhr. Und alles wie besprochen.« Bienzle hängte den Hörer schnell ein. Was Gächter jetzt noch zu sagen wußte, kannte er längst. Der Horizont wurde schon ein wenig heller. Bienzle ging langsam. Die Müdigkeit hatte sich in jedem Muskel seines Körpers eingenistet. Ein paar Minuten war er an seinem Dienstwagen gestanden und hatte überlegt, ob er auf dem Beifahrersitz ein wenig schlafen sollte. Aber dann war er doch weitergegangen, den Kopf tief zwischen den Schultern, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Der kleine Hof des alten Meier lag im Dunkeln. Bienzle ging ums Haus herum und kam zur Scheune. Die Tür war nicht verriegelt. Es roch herrlich nach Heu hier drin. Und der Kommissar spürte nicht einmal mehr das Kitzeln der Halme, die sich leise vor Mund und Nase in der Heuluft bewegten, so schnell war er eingeschlafen. Geweckt wurde er durch einen erstaunten Ausruf. Er blinzelte und sah als erstes drei metallisch blinkende Zinken einer Heugabel direkt vor seinem Gesicht. Der alte Meier lachte. Breitbeinig stand er über dem Kommissar, den Gabelstiel fest in beiden Händen. »Da hätt ich Sie doch um ein Haar aufgespießt und meinen Kühen zum Fresse vorgworfe!« »Wie spät ist es?« fragte Bienzle. »Dreiviertel sieben!« Der Kommissar rappelte sich auf und klopfte das Heu und den Staub aus seinen Kleidern.
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»Um halb neun müssen wir los.« »Wer wir, sind Sie nicht allein?« »Wir zwei – Sie und ich. Lokaltermin.« »Wo?« »Bei Ihrer Tochter im Haus.« »Ohne mich!« Der Bauer stieß die Gabel tief ins Heu. Bienzle kramte in seinen Taschen herum. Kleine Staubwolken stiegen auf. »Wenn Sie’s offiziell haben wollen, schreib ich eine Vorladung aus.« Der alte Meier sah ihn aus schmalen Augen an. »Also gut!« Er riß mit der Gabel eine mächtige Ladung Heu heraus und schulterte sie. »Ein Glück, daß der, den Sie suchet, net gwußt hat, wo Sie heut nacht schlafet.« »Warum?« »Ha, ein Streichholz hätt ja genügt, die Scheuer mit allem, was drin ist, anzuzünden.« Bienzle sah Meier nachdenklich nach. Der rief über die Schulter zurück, ehe er den Kuhstall betrat. »Mei Dusche isch glei hinter der Küche. Handtücher sind im Weißzeugschrank, und der steht im Gang.« Damit verschwand er im Stall. Am Frühstückstisch trafen sie sich wieder. Bienzle hatte geduscht und fühlte sich erstaunlich frisch. Eine leichte Erregung hatte ihn erfaßt. Er kannte dieses Gefühl, das ihn regelmäßig packte, wenn ein Fall in die entscheidende Phase trat. Meier hatte alles aufgeboten, was Küche und Keller hergaben: Eier, Schinken, Käse, selbst eingekochte Marmelade, Hausmacherwurst und ein köstlich duftendes Holzofenbrot. »Eine richtige Henkersmahlzeit«, sagte er, als Bienzle den reich gedeckten Tisch inspizierte. Sie aßen schweigend und ohne jede Hast. Erst als sich der Kommissar mit der rot-weiß karierten Serviette den Mund abwischte, sagte er: »Habet Sie des scho gwußt, daß der Gregor auswandern will?« »Ja freilich, nach Costa Rica. Kommet Se mal her.« Meier führte Bienzle zu einem Fenster.
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»Sehet Sie den Pflanzengarten dort drübe?« Bienzle nickte. »Spalierobst, gell?« »Richtig – ich hab lang rumgekreuzt, aber jetzt habet mir eine enorm widerstandsfähige Sorte Äpfel, die mit wenig Feuchtigkeit auskommt und trotzdem richtig saftig wird.« »Gratuliere!« »Die Stauden sind für dem Gregor sei Plantage in Costa Rica.« Bienzle fiel die Geschichte von dem weitgereisten Schwaben ein, der in Australien ein Zweigwerk inspizierte und den letzten Flug verpaßte. Der Mann mußte das Wochenende in Sidney verbringen, weil der nächste Flug erst am Montag ging. Später hatte sich der gute Schwabe bei Freunden beklagt: »Da bin i’s ganze Wochenende in Sidney ghockt, ond dahoim hätt mr d’ Bäum spritze müssa!« Er wollte die Geschichte Meier erzählen, aber der kannte sie schon. »Noch a Gläsle Moscht«, fragte Meier, »für die Verdauung?« »Da sag ich net nein!« Bienzle sah auf die Uhr. »Aber dann müsset mir los!« Plötzlich war es sehr warm geworden. Ein lauer Wind hatte die Wolken vertrieben. Die Sonne schien weißlich und stechend vom Himmel. »Das Wetter schlägt bald wieder um!« sagte Meier, als er an der Seite Bienzles auf das Haus seines Schwiegersohns zuging. Das Gartentor stand offen. Auf einer Bank neben der Haustür saß Hägele und schnitzte an einem Stock herum. Erstaunt sah er seinen Schwiegervater an. »Grüß Gott, Hägele«, sagte Meier. »Ja, jetzt kann ich gar nimmer. Annemarie, heh, Annemarie!« Er stand auf, ging ums Haus und stieß das Küchenfenster auf. »Dein Vater!« Frau Hägele kam aus der Haustür. Sie wischte die Hände an ihrer Schürze ab. Die ersten Schritte rannte sie, stoppte dann aber plötzlich und ging nur zögernd weiter. Dann sah sie Bienzle an. »Was bedeutet das?« »Er werden gleich noch ein paar Leute kommen«, sagte Bienzle, »ich hoffe, daß wir den Fall heute abschließen können.« »Wer kommt denn noch?« fragte Anton Hägele.
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»Ein Kollege von mir, der Staatsanwalt vermutlich und Gregor Keller mit seiner Schwester Sibylle.« »Und das alles wegen dem Selbstmörder?« Bienzle schüttelte den Kopf. »Heute nacht hat ein Kollege von mir, der am späten Abend noch mal mit dem Gerichtsmediziner gesprochen hatte, eine ganz interessante Information weitergegeben. Christian Maria Herget war bewußtlos, als das Öl in seinen Magen und in die Lunge eintrat. Er sei mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden. Der Täter muß ihm den Kopf ins Öl gedrückt haben. Der Versuch, das Öl anzuzünden, ist dann gescheitert, wie wir wissen.« »Aber wer hat denn überhaupt ein Interesse am Tod von dem Christian gehabt?« fragte Hägele. »Na, Sie zum Beispiel.« »Ich?« »Der Herget hat mit seinen Überfällen viel Geld gemacht. Fast eine halbe Million. Nur, wie wollte er jetzt rankommen? Der Herget wußte doch ganz genau, sobald er die Nas rausstreckt, erwischen wir ihn. Also brauchte er einen Boten, einen Mann seines Vertrauens. In seiner prekären Situation konnte er freilich nicht wählerisch sein. Aber er hatte natürlich schnell raus, daß Sie arbeitslos sind, Ihrer Umwelt aber vormachen, Sie seien weiter in Lohn und Brot.« Bienzle hob beide Hände, als Hägele protestieren wollte. »Ich hab volles Verständnis dafür, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber Herget, der schon immer ein ausgesprochen durchtriebener Mann war, konnte da den Hebel ansetzen. Er brauchte vor allem eine Verbindung zu Gregor Keller, dem Mann, der ihm bei seinen Überfällen assistiert hat.« »Was, der Gregor, das glaub ich nie!« rief der alte Meier. Bienzle nickte ein paarmal. »Sie können’s mir ruhig glauben. Der Gregor hat zwar nie direkt an den Überfällen teilgenommen, aber er saß im Wagen, beobachtete die Gegend und brachte Herget immer geschickt aus der Gefahrenzone. Ein äußerst talentierter und beherrschter Autofahrer.« In diesem Augenblick kam Gregors kleiner Fiat den schmalen Weg heraufgeschossen. Hägeles derbe Hände umfaßten zwei Zaunlatten.
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Bienzle beobachtete ihn genau und registrierte zufrieden, wie konsterniert Anton Hägele war. Der Kommissar trat neben Hägele: »Es gibt Autofahrer, die fahren sogar noch sicher, wenn alle Radmuttern gelöst sind.« »Aber das ist… das ist doch…« »Unmöglich, wollten Sie sagen. Das ist es aber keineswegs, wenn ein freundlicher Mitmensch den Schaden klammheimlich wieder behebt.« Hägele fuhr herum. »Sie?« »Tja, manchmal lohnt sich’s, nachts lang aufzubleiben.« Der Fiat stoppte vor dem Gartentor. Der lange Gächter stieg auf der Beifahrerseite aus, und es schien, als ob er sich für dieses Vorhaben eigens auseinanderfalten müßte. »Mein Kollege Gächter«, stellte Bienzle vor. Gächter versuchte, seinen zerknitterten Anzug glattzustreichen, gab es aber bald auf. »Der Staatsanwalt ist unterwegs«, rief er zu Bienzle herüber, »und Haußmann operiert wie besprochen.« Bienzle verzog das Gesicht. So konnte man auch sagen, wenn einer für alle Fälle im Auto sitzen blieb, um eventuell eine notwendige Verfolgung aufzunehmen – »operiert wie besprochen«. Sibylle Keller stieg als letzte aus. Sie trug ein duftiges Sommerkleidchen und einen bezaubernden kleinen Hut. Bienzle räusperte sich. »Bevor wir zum Tatort gehen, will ich noch schnell mit Herrn Hägele ein paar Sätze unter vier Augen sprechen.« Er hakte den massigen Mann unter und ging im Gleichschritt mit ihm in den hinteren Teil des Gartens. »Also«, sagte Bienzle, »das heute nacht war ein Mordversuch. Ich war Zeuge, und Sie Dackel habet sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, Handschuhe anzuziehe, es wird also gar kein Problem sein, Ihre Fingerabdrücke nachzuweisen. Ein Dilettant sind Sie!« »Verhafte Sie mich halt!« sagte Hägele trotzig. »Man soll nie den zweiten Schritt vor dem ersten tun, hat mein Vater immer gsagt. Wer war gestern im Haus?« »Alle, außer meim Schwiegervater.«
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Bienzle blieb stehen. »O du liabs Herrgöttle von Biberach!« »Der Gregor war schon da, als ich heimkam – ich mein, am Morgen.« »Von der Schicht?« »Sie wissen ja jetzt, daß das mit der Schicht nicht stimmt.« »Eine Frau also?« Hägele nickte und schaute auf den Boden. »Gut, das geht mich nichts an. Was wollte Gregor Keller?« »Ich hab ihn selber herbestellt – das heißt, eigentlich war’s der Christian; er wollte mal wieder einen von seinen großen Auftritten.« »Gregors Schwester war auch mit von der Partie?« »Sie hat mich hergefahren.« »Ach so!« »Nein, net so. Sie war auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Da hat sie mich aufglese und mitgnomme. Aber dann hat sie das Auto von ihrem Bruder stehen sehen und ist schnell mit reingekommen – allerdings nicht lang!« »Und dann kam also Hergets große Rede, ja?« »Ja, er hat gesagt, er wisse genau, daß wir’s alle bloß auf sein Geld abgesehen hätten. Natürlich haben wir alle widersprochen.« »War da die Sibylle noch dabei?« »Nein!« »Und weiter?« »Nichts weiter.« Bienzle blieb erneut stehen und fixierte Hägele. Sie waren beide ungefähr gleich groß, aber Hägele wirkte athletischer, stärker. Über den Oberarmen spannte das Hemd, ebenso über der breit gewölbten Brust. Dennoch sah Hägele für einen Augenblick so aus, als ob er ängstlich zu Bienzle aufschauen würde. Bienzle sagte: »Sie wissen ganz genau, daß ich Sie in der Hand habe, Herr Hägele. Ich biete Ihnen ein Geschäft an, bei dem allerdings ich allein die Bedingungen stelle. Also!« , Hägele wand sich. »Na ja«, sagte er schließlich, »richtig aufregend ist’s geworden, als er dem Gregor gesagt hat, er wolle sich anschließen…«
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»Anschließen, wobei, doch nicht etwa… sagen Sie das noch mal: Herget hat mit nach Costa Rica gewollt?« »Ja, das hat er.« »Und wie hat Gregor darauf reagiert?« »Ziemlich gelassen. Bloß meine Frau, die ist plötzlich ausgeflippt. ›Du willst dem Jungen sein Leben versauen, das willst du‹, hat sie geschrien. Und ein Glas hat sie nach ihm geschmissen. Also ehrlich, ich hab gedacht, ich spinn. Kann ihr doch egal sein. Ich wollte für das, was ich für den Christian getan hab, mein Pulver und dann meine Ruhe.« Bienzle sah Hägele ins Gesicht. »Und warum haben Sie dann den Gregor heut nacht umbringen wollen?« Hägele lachte: »Umbringen! So’n Stuß. Einen Denkzettel sollte er kriegen.« »Gelogen!« sagte Bienzle. »Ich probier’s mal mit meiner Version: Sie wollten Gregor Keller zwar nicht umbringen, aber aktionsunfähig machen. Dabei sind Sie aber ein viel zu hohes Risiko eingegangen. Heut nacht habt ihr’s ausbaldowert, wie ihr ans Geld rankommt. Vielleicht seid ihr gestört worden, was weiß ich. Heut abend soll’s weitergehen – aber da wären Sie dann gern allein – nicht wahr?« Bienzle legte die Hände auf dem Rücken zusammen und stellte sich auf dem Gartenweg vor Hägele auf. »Sie sind kein Krimineller, ebensowenig wie Gregor, Sibylle oder der alte Meier. Sie haben sich auf etwas eingelassen, das viel Verstand, kühle Berechnung und taktisches Geschick verlangt. Deshalb kann man euch ja auch innerhalb von vierundzwanzig Stunden überführen. Ihr habt an viel zuviel nicht gedacht und viel zu spontan gehandelt, aber das ist Gift für jedes kluge Verbrechen.« »Sie reden grad so, als hätten wir Sie um was bschissen?« »So ähnlich ist’s ja auch! Christian Maria Herget, der einzige mit ausgeprägter krimineller Energie und Intelligenz, hatte – a) einen Plan, wie er an seine Beute kam, und b) eine Idee, wie er sich aus dem Staub machen konnte. Beim Punkt a) solltet ihr euch gegenseitig bewachen – Sie und Gregor. Bei Plan b) wollte sich unser toter Freund einfach anhängen – vielleicht wollte er aber auch an die Stel-
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le von Gregor treten. Das Flugticket liegt vermutlich vor, es lautet auf Gregor Keller… und eine Frau halt. Nehmen wir an, Christian Maria wollte Gregor beseitigen, seinen Paß an sich bringen, das Bild austauschen, was immer noch der einfachste Weg einer Fälschung ist – und ab nach Costa Rica! In ein Land, in dem es weniger Polizisten als Lehrer gibt und keine Armee, wie ich grade gelernt habe.« »Dazu wäre der imstand gewesen!« sagte Hägele. »Na, dann lassen Sie uns mal zu den anderen gehen.« Niemand wäre auf die Idee gekommen, daß in diesem Haus vor noch nicht ganz vierundzwanzig Stunden ein Verbrechen begangen worden war. Friedlich plaudernd standen der alte Meier, seine Tochter und die Geschwister Keller in dem bunten Frühlingsgarten. Gächter lehnte am Balken des Gartentors und drehte Zigaretten auf Vorrat. Ein schwarzer Mercedes fuhr vor. Ihm entstieg der Staatsanwalt Dr. Keilmeier – ein Mann, von dem erzählt wurde, er schreibe in seiner Freizeit heimlich Kriminalromane unter Pseudonym. Er sah anders aus, als man sich allgemein einen Vertreter der Anklage vorstellte: Klein, stämmig, sportlich, mit O-Beinen und einem wild gekräuselten schwarzen Haarschopf. Er war jünger als Bienzle, und der Kommissar spielte gerne seine größere Erfahrung und seine Ermittlungsroutine gegen den »jungen Spund« aus. »Na, da wollen wir doch mal zum Tatort schreiten«, rief Keilmeier aufgeräumt. »No nix Narrets, wenn’s pressiert«, sagte Bienzle. »Wieder mal eine Weisheit Ihres Vaters?« fragte der Staatsanwalt fröhlich. »Noi, der hat in so einem Fall gsagt: ›Gehe langsam und lächle‹, und das stammt nicht aus dem Schwäbischen, sondern von Haiti.« Obwohl Bienzle und der Staatsanwalt herumflachsten, lag eine seltsame Spannung in der Luft. »Wie weit ist denn nun die Weisheit in diesem Fall vorangeschritten?« fragte der Staatsanwalt Dr. Keilmeier. »Nun«, hob Bienzle bedächtig an, »wir wissen: bei dem Toten handelt es sich um Christian Maria Herget, zweiunddreißig, gebürtig in Karlsruhe, zweimal vorbestraft, geschieden – übrigens von der jetzigen Frau Hägele. Der Mann hat zwei Banküberfälle, einen Mord und
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einen Raubmord begangen, wurde letztes Jahr im September von unserer Abteilung gefaßt, er saß in Stammheim bis zu seiner Verurteilung – lebenslänglich – und wurde dann nach Bruchsal verlegt – in ein ausbruchsicheres Gefängnis, wie’s heißt. Er hat es geschafft, einen toten Wandschacht ausfindig zu machen, und hat sich durch diesen Schacht bis in den Heizungskeller hinuntergearbeitet. Dort hat er vermutlich die Methode ausprobiert, in Öltanks zu überleben – mit einem einfachen Schnorchelschlauch. Als längst niemand mehr glaubte, er könne im Bruchsaler Knast sein – immerhin waren sechs Tage seit seinem Verschwinden vergangen –, schlug er den Hausmeister nieder, borgte sich dessen Kleider und Schlüssel und verließ als freier Mann das Gefängnis.« Bienzle wandte sich an Hägele. »Da können Sie sehen, was Kriminelle leisten, wenn sie taktisch geschickt und intelligent sind.« Der Staatsanwalt hob den Kopf: »Wie war das?« »Wir wollen nicht abschweifen«, sagte Bienzle, »das war nur ein kleiner Privatexkurs. Herget kam schnurstracks hierher nach Eichenbach. Wir wollen nicht untersuchen, warum niemand bei seiner Exgattin nachgeforscht hat« – wieder zu Hägele gewandt –, »auch bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft gibt’s nicht nur strategische Genies. So weit, so gut. Jetzt fing das Drama nämlich erst an. Herget wußte, hier würde er auch seinen Komplizen treffen, den Mann, den wir in unseren Akten den ›Fahrer‹ nannten, weil er immer nur Schmiere stand und Herget nach der Tat fuhr. Ungeklärt ist für uns bis jetzt noch, wo das Geld geblieben ist. Aber das wird sich finden. Herget schickte Hägele zu dem Fahrer. Er konnte und wollte dabei nicht in Erscheinung treten. Also machte er aus dem zweiten Mann seiner geschiedenen Frau und dem Fahrer ein Tandem – ein Team, wobei sich die beiden gegenseitig mißtrauisch belauerten, was Herget mit einkalkuliert hatte. Vermutlich hat er beide nur mit so viel Teilwissen ausgestattet, daß einer ohne den anderen niemals weitergekommen wäre.« Hägele nickte zustimmend. »Aber auch der kluge Christian Maria Herget hatte einen wesentlichen Faktor übersehen«, fuhr Bienzle fort. »Die starke Zuneigung,
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die der Fahrer zu Annemarie Hägele, geborene Meier, hegte. Annemarie Hägele schenkte dem Werben des jungen Mannes zunächst keine Beachtung. Das änderte sich aber schlagartig, als der ›Fahrer‹ sie in seine Zukunftspläne einweihte, in denen sie – zu ihrer eigenen Überraschung – eine entscheidende Rolle spielte.« »Das ist doch Unsinn«, knurrte Hägele. Und der alte Meier sagte: »Das kann ich mir aber nicht vorstellen!« Der Staatsanwalt stand mit verschränkten Armen auf einem Rasenstück. Gächter lehnte unverändert am Zaun, hatte aber vergessen, die Zigarette, die er sich zwischen die Lippen gesteckt hatte, anzuzünden. »Wer ist denn nun der geheimnisvolle Fahrer?« fragte Annemarie Hägele schnippisch. Bienzle schaute die Frau verwundert an. Soviel Kaltschnäuzigkeit hatte er ihr nicht zugetraut. »Na, der da!« polterte Anton Hägele los, »der Apfelbaumpisser!« Bienzle hob die Hand. »Zum Streiten gibt’s noch Gelegenheit genug. Es gab da einen denkwürdigen Abend, Ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag, Frau Hägele. Sie erinnern sich?« »Ich will mich nicht erinnern.« »Aha. Es ist auch unerheblich, wichtig ist mir nur, daß Sie wissen, daß ich’s weiß! Nun – eines Abends eröffnet Christian seinem Fahrer, daß er sich ihm anschließt, wenn er auswandert. Damit brach eine Welt zusammen – vor allem für Annemarie Hägele. Sie hatte nämlich wirklich geglaubt, allem, was sie bedrückte, auf einmal entrinnen zu können: dem Mann, der sie quälte und den sie schon lange nicht mehr liebte, dem isolierten Leben, der dumpfen Eintönigkeit ihres Alltags. Vielleicht auch dem immer vorwurfsvollen Vater. Daß sie Gregor Keller nicht liebte, war wohl nicht entscheidend. Er war… entschuldigen Sie, er ist ein angenehmer junger Mann, war nie wirklich aufdringlich, und – was das allerwichtigste war – er hatte eine Perspektive. Plötzlich war für Annemarie Hägele die Welt offen, ein neues Leben konnte beginnen, mit ganz neuen, unerwarteten Chancen. So war’s doch, oder?« Annemarie Hägele biß sich auf die Lippen. Ihre schmalen Hände hatte sie zu Fäusten geballt.
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»Jetzt reifte der Plan«, Bienzle schaute einen Augenblick einem Rotkehlchen zu, das dicht bei ihm in einem Busch saß und das Gefieder putzte. »Mit Glück und Geschick konnte Gregor an das ganze Geld kommen – und das nahezu gefahrlos, wenn man Christian Maria Herget beseitigte und Anton Hägele abfand.« Bienzle griff in seine Brusttasche und holte das Schulheft heraus. Er schlug die Seite mit Gregors Zahlenspiel auf, reichte das Heft dem Staatsanwalt und sagte: »Eines unserer Beweismittel. Ich behaupte: Den Mord an Christian Maria Herget haben Annemarie Hägele und Gregor Keller gemeinschaftlich begangen.« Bienzle machte eine Pause und fügte dann noch ganz leise hinzu: »So leid’s mir tut.« Es entstand plötzlich eine hektische Unruhe in dem schmalen Vorgarten. Alle redeten durcheinander. Anton Hägele wollte Gregor Keller an den Kragen. Sibylle Keller warf sich dazwischen und verkrallte sich im Arm Hägeles. Annemarie Hägele hatte sich in die Arme ihres Vaters geworfen. Und Gächter fand endlich Zeit, seine Zigarette anzuzünden. Plötzlich aber übertönte die Stimme des alten Meier das Stimmengewirr. »Das ist doch alles Unfug. Der Gregor war bei mir zum Pflügen, gestern den ganzen Tag.« »Waren Sie denn immer da?« fragte der Staatsanwalt. »Immer außer zwischen halb elf und halb zwölf, da war ich nämlich hier.« Dr. Keilmeier reckte sich in den Schultern. »Das ist ja äußerst interessant.« »Ich glaub kei Wort«, sagte Bienzle. »Erzählen Sie mal, Herr, äh, Meier – Und Sie, Herr Bienzle, darf ich sicher bitten, sich ein wenig zurückzuhalten«, sagte der Staatsanwalt. Bienzle sah zu Gächter hinüber, aber der zuckte nur mit den Achseln. »Also, schießen Sie los!« sagte der Staatsanwalt zu Meier. »Ich hab ja gwußt, wie unglücklich die Annemarie ist. Und ich hab nie ein Geheimnis daraus gmacht, daß es mir viel besser gfallen hätt,
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wenn sie sich hätt mit dem Gregor anfreunde könne. Der Gregor ist einer, der hat eine Hand für alle Pflanzen. Und so oiner isch kein schlechter Mensch.« »Und weiter?« drängte der Staatsanwalt. Meier warf Bienzle einen hilfesuchenden Blick zu, aber der Kommissar starrte nur wütend zurück. »Na ja, eines Tages hat mich der Gregor eingeweiht. Er hat mir alles gestanden.« »Was gestanden?« fuhr Bienzle dazwischen. »Alles halt. Also ich hab ihm versichert, weil, der Herget hat ihn ja bloß neizoge! Net wahr, Sie wisset, was i mein.« Der Staatsanwalt nahm schnell das Wort, um Bienzle zuvorzukommen. »Alles für das Glück Ihrer Tochter, nicht wahr?« Bienzle drehte die Augen zum Himmel und stapfte zu Gächter hinüber. Meier fuhr fort. »Ich bin hierher – gestern. Kurz vor elf war ich da. Von Gregor hab ich gwußt, daß der Herget um diese Zeit seine – wie soll ich sage – seine Übungen macht. Ich bin runter, hab vorher einen Stein aufgehoben – dort drüben an der Mauer. Und dann ist alles wie im Traum gegangen. Ich hab zugschlagen, als er grad raus wollen hat aus dem Tank. Er ist rücklings reingfallen. Ich hab sein Kopf nunterdrückt in des Öl. Furchtbar war das. Und dann bin ich wegglaufen – so war’s.« »Ein Geständnis!« jubelte der Staatsanwalt. »Aber ein falsches!« sagte Bienzle. Er ging zu dem alten Meier hinüber. »Mit welcher Hand haben Sie den Herget nunterdrückt?« »Mit der da!« Meier lächelte. Bienzle sah die schwarzen, ölglänzenden Ränder auf dem Fingernagelbett. »Aber heut morgen beim Frühstück…« Er sprach nicht weiter und ließ die Hand des alten Mannes sinken. Einen Augenblick lang hatten sich ihre Augen getroffen. Gächter stieß sich vom Zaun ab und warf seine Kippe achtlos in ein Blumenbeet. »Wenn Sie den Herget loswerden wollten, Herr Meier, warum haben Sie da nicht einfach die Polizei benachrichtigt?«
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»Der wär ja doch wieder ausgebrochen.« »Und wo ist der Stein, mit dem Sie zugeschlagen haben?« »Der ist in den Tank gefallen.« Gächter wandte sich ärgerlich ab und sagte zum Staatsanwalt: »Sollen wir nach dem Stein suchen?« »Das hat Zeit, der Raum ist ja versiegelt. Nehmen Sie den Mann fest, belehren Sie ihn über seine Rechte und machen Sie mir nur recht schnell Ihren Bericht.« Der Staatsanwalt wußte nur zu genau, wie ungern Bienzle Berichte schrieb. Gächter nahm Meier am Arm. »Handschellen brauchen wir bei Ihnen ja sicher nicht.« Bei Bienzle blieb Meier kurz stehen. »Sie könntet a Faß von dem Moscht habe.« Bienzle schüttelte den Kopf. »Erst, wenn Sie wieder drauße sind, denn daß Sie’s net waret, isch so sicher wie’s Amen in der Kirch.« Dann trat er zu Annemarie Hägele. »Richten Sie Ihrem Vater das Wichtigste zusammen, dazu wird’s ja wohl noch reichen.« Diesen Augenblick nützte Gregor Keller. Mit einem Satz war er über den niedrigen Zaun. Den Fiat hatte er so geparkt, daß er nicht wenden mußte. Gächter hatte gerade seine Pistole gezogen, als der kleine Wagen startete. »Laß das«, sagte Bienzle, »der kommt net weit, und auf keinen Fall bis Costa Rica!« Gächter ließ die Waffe sinken. Annemarie verschwand mit hochrotem Gesicht im Haus. Anton Hägele stand mit herunterhängenden Armen im Garten, während Gächter den alten Meier auf den Rücksitz des staatsanwaltlichen Wagens schob. »Und was wird jetzt aus mir?« fragte Anton Hägele mit kläglicher Stimme. Bienzle hatte keine Kraft mehr für Mitleidsgesten. »Ihne zahlt der Keller eine Ablösesumme von zweihundertfünfzigtausend Mark.«
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»Was – ehrlich?« »Also ehrlich auf keinen Fall!« Bienzle schritt müde den Gartenweg hinunter und stieß das angelehnte Tor mit einem Fußtritt auf. Langsam ging er das steile Sträßchen hinunter. Plötzlich war Sibylle Keller neben ihm. »Was werden Sie jetzt machen?« »Jetzt steig ich in mein Auto, fahr nach Stuttgart, lieg ins Bett und ärger mich.« Bienzles tüchtiger Assistent Haußmann folgte dem kleinen Fiat. Er war ganz sicher, daß der junge Mann in seiner Nuckelpinne ihm nicht entkommen konnte. Aber in Eichenbach gab es zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen einen schmalen Durchlaß zwischen zwei alten Häusern. Gregor Keller, der es schon als Fahrer des schönen Christian immer geschafft hatte, der Polizei zu entkommen, nahm die Einfahrt fast im rechten Winkel. Ein paar Hühner flatterten auf. Der rechte Seitenspiegel blieb an einem herausstehenden Backstein hängen. Aber nach drei Sekunden bog Keller in die andere Fahrstraße ein und preschte davon. Haußmann kollidierte bei dem Versuch, dem kleinen Wagen zu folgen, mit der Hausecke. Sein Auto hätte ohnehin nicht durch die Gasse gepaßt. Anderntags fand man im Öltank keinen Stein, dafür trieb Gächter gleich zwei Bauern auf, die dem alten Meier zwischen elf und zwölf Uhr auf den Feldern begegnet waren. Gregor Keller aber hatte niemand beim Pflügen beobachtet. Und auch jetzt schien der Junge wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Er hatte zwar zwei Flugtickets gebucht, aber nicht benutzt. Annemarie Hägele hatte er einen Brief geschrieben, der Preis sei ihm zu hoch, außerdem habe er sich für ein ganz anderes Land entschieden. Seinen Fiat fand man, mit einem gestohlenen Nummernschild versehen, Wochen später im Hamburger Hafen. Der alte Meier kam wieder frei. Es war schon Sommer, als Bienzle endlich seiner Einladung nachgab. Sie tranken und redeten. Meier führte Bienzle durch seinen gepflegten Bauerngarten.
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Das Spalierobst fehlte allerdings. »Ich hab’s verkauft«, sagte der alte Mann, »an einen Fachhändler. Der hatte einen Interessenten dafür.« Bienzle ließ sich den Namen des Händlers geben. Später kamen Anton und Annemarie Hägele. Sie fuhren in einem neuen Wagen vor und wirkten in ihren gediegenen Kleidern ziemlich fremd. »Anton muß manchmal nach Zürich«, sagte die puppige Annemarie Hägele, »da fahr ich dann manchmal mit, und wir kaufen gleich ein.« »Wo hatte der Herget nun eigentlich das Geld versteckt?« fragte Bienzle im Plauderton. Aber Anton hatte dazugelernt. »Ach wissen Sie«, sagte er, »wer kein taktisches Geschick und keine ausreichende Intelligenz hat, sollte sein Maul halten.« »Der Spruch könnt von meim Vater stammen«, sagte Bienzle und trank seinen Most. Als er spät am Abend zu seinem Wagen ging, warf er den Zettel mit dem Namen des Pflanzenhändlers auf den dampfenden Misthaufen hinter Meiers Haus.
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Irene Rodrian Platz für Seifenblasen So eine Nacht. Warm und weich wie dunkelblauer Samt. Die Straßenbahn hielt, klingelte und fuhr weiter. Fast leer um diese Zeit. Ein goldgelber Lichtkäfig. Die roten Bremslichter der Autos, eine blaue Bierreklame und grasgrün der Name eines Chinarestaurants. Das Neonweiß der Straßenlampen. Man hatte gesprengt, es roch nach feuchtem Asphalt und Benzin. Und wenn man nur fest dran glaubte, konnte man auch das Grün der Alleebäume riechen und den nahen Sommer. Jutta atmete tief durch, hustete, holte noch einmal Luft. Sie fühlte sich wie ein Schulkind, das unerwartet zwei Stunden früher heim darf. Einer der Türken, die wie immer in Pulks vor den Billigläden und Sexshops herumhingen, quatschte sie an. Sie lächelte zurück und wäre bereit gewesen, mit ihm und seinen Freunden über die Liebe, das Leben, den Tod zu diskutieren, Bier mit ihm zu trinken, ja sogar, ihn zu umarmen. Er verstand sie wohl falsch, sie konnte gerade noch vor der nächsten Straßenbahn über die Straße hechten. Verschwand im Koffergewühl vor dem Bahnhof und beschloß, noch etwas einzukaufen. Frisches Brot, französischen Käse, Radieschen, Leberpastete, eine Flasche Sekt und sündhaft teure Weintrauben. Sie freute sich schon auf das Gesicht von Uwe. Es war so warm, daß sie vielleicht sogar auf dem Balkon sitzen konnten. Wie damals in Antibes, beim ersten Urlaub. Jutta spielte kurz mit dem Gedanken, ein Taxi zu nehmen, aber da schien gerade ein Intercity angekommen zu sein, vor dem Taxistand stand eine drängelnde Schlange. Jutta rannte mit ihren Einkaufstüten zur Straßenbahninsel zurück. Es war auch billiger. Sie setzte sich ans Fenster. Lichtergeglitzer. Wie Ferien und Weihnachten auf einmal. Uwe war sauer gewesen. Enttäuscht, weil sie ausgerechnet an ihrem ersten Abend ohne Susi Überstunden machen mußte. Susi. Susi ging es gut. Susi war acht Jahre alt und liebte ihre Großeltern, die sie ständig verwöhnten, und es war ihre erste Ferienreise ohne die Eltern. Es war idiotisch, sich die Stimmung durch völlig überflüssige
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Muttersorgen kaputtzumachen. Es waren wirklich Ferien. Jutta hätte Susi doch nie allein weggelassen, wenn diese eilige Produktion nicht dazwischengekommen wäre. Aber jetzt war alles verschoben, und sie hatte frei. Sie stieg aus und ging an den erleuchteten Schaufenstern der Möbelgeschäfte, Boutiquen und Antiquariate entlang auf das Haus zu, in dem sie wohnte. Kaum noch Autos, von dem kleinen Park her roch es nach Flieder. Die drei hellen Fenster der Dachwohnung. Uwe war zu Hause. Jutta ging etwas schneller, die unhandlichen Plastiktüten schlugen gegen ihre Knie, die Handtasche rutschte von der Schulter. Sie liebte dieses Stück Straße. Das Heimkommen. Im Winter war es noch schöner. Wenn sie rotgefroren die Tür aufschloß, und sich Jacob, der fette Tigerkater, jubelnd maunzend auf sie und die Einkaufstüten stürzte. Dann erst kam Susi, als letzter Uwe. Sie lächelte. Die Lampe im Hausflur war noch immer nicht ersetzt, Jutta stellte die Tüten ab und fummelte Schlüssel und Feuerzeug aus der Tasche. Als sie den Schlüssel grade im Schloß hatte, wurde die Haustür von innen aufgezogen. Die alte Frau Stadier mit ihrem Pudel Michi. Sie hielt ihr die Tür auf und half ihr mit den Tüten. Ein nichtenden wollendes Schwätzchen über das herrliche Wetter und die Preise und den neuen Hausmeister. Jutta blieb freundlich. Hastete die Treppe in den ersten Stock hoch und wartete erst dort auf den Fahrstuhl. Er kam. Das war wirklich wie Weihnachten. Sie drückte auf den Knopf mit der 7 und überlegte, was sie sonst noch für so ein Festmahl im Kühlschrank hatte. Orvieto war noch da, Krabben in der Dose, Mayonnaise und Knoblauch, ein Rest Heringssalat. Genug für ein echtes Ferien-Supermenü. Uwe hatte bestimmt nichts gegessen. Er hockte an seinem Schreibtisch und brütete über irgendwelchen Formeln und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er rechnete nicht mit ihr. Er hatte sich auf Darben und Arbeiten eingestellt. Es würde einige Zeit kosten, ihm klarzumachen, daß Ferien waren, daß für heute die Arbeit zurück in die Mappe mußte, daß heute die Big Fiesta stattfand. Diese albernen Probleme und Problemchen. Bloß, weil sie nie Zeit füreinander hatten. Und natürlich immer Susi. Die Schule und die Hausaufgaben. Habakuk braucht eine neue Hose. Max spielt mit Otto. Das ist mein
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Ball. Eva hilft der Mutter. Der Vater kommt von der Arbeit. Er bringt Eis mit. Kreischen, Knarzen, Ruck. Der Fahrstuhl hielt so heftig, daß die Tüten hochsprangen. Im Gang brannte das Licht. Jutta schloß die Tür auf. Auf dem rauchblauen Lack ein ovaler Sticker: Vorsicht: Kinder! Jutta stolperte über einen roten Gummistiefel, Jacob strich ihr maunzend und vor Wonne sabbernd um die Beine. Aus dem Wohnzimmer Fleetwood Mac in voller Lautstärke. Coming your way. »Huhu«, rief sie, »ich bin’s!«, trug die Tüten in die Küche und begann auszupacken. In der Spüle stapelten sich schmutzige Teller, auf dem Kühlschrank stand ein Brettchen mit angeschnittener Salami, auf dem Tisch der Brotkorb, Krümel und eine ölige Salatschüssel. Zwiebelringe und zusammengeknülltes Käsepapier. »Uwe?« Sie ging ins Wohnzimmer. Feuchte Glasringe und ein voller Aschenbecher. Überlaut Rattlesnake Shake. Die Tür zu Uwes Arbeitszimmer war geschlossen. Jutta stellte den Recorder leiser und ging zum Schlafzimmer, um sich erst mal umzuziehen. Als erstes nahm sie den Geruch wahr. Eine Mischung aus Zigarettenrauch und Patchouli. Erst dann sah sie zum Bett, und selbst dann noch weigerte sich ihr Gehirn, die Informationen, die es von den Augen bekam, zu akzeptieren. Uwe mit hochstehenden Haaren, schweißnaß, starrte sie an, griff nach dem Laken, um es hochzuziehen, ließ es, grinste dümmlich. Das Mädchen neben ihm stieß einen kleinen Schrei aus und rollte sich von ihm weg. Versuchte nicht, sich zu verstecken, schaute ernst, fragend. Sah aus wie höchstens siebzehn. Streichholzkurzes Haar und brettmager. Jutta spürte aufsteigende Übelkeit, war aber nicht fähig, sich zu bewegen. Sah immer nur die zerknautschte Bettwäsche. Grünblaue Dschungelranken. Pflegeleicht. Hatte sie von ihrer Mutter zum letzten Geburtstag bekommen. Heute früh vor der Arbeit frisch bezogen. »Was hast du denn erwartet?« Uwe griff sich die Zigarettenpakkung vom Nachttisch und tastete nach dem Feuerzeug. »Daß ein normaler Mann jahrelang mit so einer frigiden Zicke wie dir zusammenhockt, ohne überzuschnappen?« Er steckte die Zigarette an, zog das Kopfkissen hoch und lehnte sich zurück. Sog den Rauch ein und
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stieß ihn durch die Nase wieder aus. Grinste. Jutta wandte sich um und stürzte hinaus. Schlug sich das Knie an einem Stuhl an und streifte den Türrahmen. Hockte sich an den Küchentisch und glotzte auf das weißblaue Wachstuch. Ich darf nicht heulen, nicht auch noch das! Sie schlug mit einer heftigen Bewegung die Salatschüssel vom Tisch. Das Band war zu Ende, und das Klirren der Tonscherben hallte in der plötzlichen Stille nach. Jutta ertappte sich dabei, den Atem anzuhalten und nach drüben zu lauschen. Nichts. Flüstern? Tappende Schritte. Warum hatte sie die Küchentür nicht zugemacht. Aufstehen, wegrennen, irgendwohin. Das Mädchen stand in der Tür. Zögerte, kam herein. Sie war jetzt angezogen, Jeans und Mickymaus-Sweatshirt. »Es tut mir leid. Ich hab das nicht gewußt.« Jutta sah hoch. Wollte etwas sagen, brüllen, schreien. Spätestens als sie in die Wohnung kam, mußte sie doch gesehen haben, daß der Mann verheiratet war und daß auch ein Kind hier lebte. Sie sah nur die Sektflasche und die Tüten und Päckchen aus dem Delikatessengeschäft. Konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte in Krämpfen. Das Mädchen war plötzlich dicht neben ihr. Der Geruch von Uwes Rasierwasser. Umarmte sie, ließ sich nicht abschütteln, hielt sie fest an den mageren Kinderkörper gepreßt. »Er hat mir gesagt, ihr lebt getrennt. Daß das okay wär und er allein hier lebt. Ich find das so widerlich, wenn ich das gewußt hätte, wär ich doch nie mitgegangen. Glaub mir das, bitte!« Wieder wollte Jutta etwas sagen, aber das Mädchen hielt sie so fest, daß sie, an das Mickymaushemd gepreßt, keine Luft mehr bekam. Spürte Lachreiz. Das Mädchen rieb unbeholfen auf ihrer Schulter herum. »Das ist so fies! Er wollte dich provozieren! Er hat mich ja auch nur benutzt!« Jutta gelang es endlich, sich freizumachen. Lachte hysterisch und wurde wieder ernst. Schluckte. Das Mädchen gab ihr ein nicht ganz sauberes Taschentuch, sie putzte sich die Nase. »Das sieht nur so aus. Er wußte nicht, daß ich früher heimkomme.« »Er ist ein ganz mieses Schwein!« Das Mädchen zog den zweiten Stuhl herüber und setzte sich neben Jutta. »Ich begreif nicht, wie man mit so was zusammenleben kann!«
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»Oder ins Bett gehen.« »Das ist doch was ganz anderes…« Sie brach ab, beide lauschten. Schritte, Knacken. Eric Burdon. Blues for Mr. Slim. Das Mädchen sprang auf, rannte zur Tür, schloß sie und drehte den Schlüssel um. Er klemmte, er war noch nie benutzt worden. Als sie zum Tisch zurückkam, lächelte sie, setzte sich so, daß sie die Tür im Auge behalten konnte, und sprach leise weiter. »Er saß in der Kneipe am gleichen Tisch, und er war charmant und witzig. Und ich häng im Moment rum. Was soll’s. Das hat doch damit nichts zu tun!« »Wie alt bist du eigentlich?« fragte Jutta und wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang. »Dreiundzwanzig. Warum?« »Ich war zweiundzwanzig, als ich ihn getroffen hab. Und blöder als du. Oder sein Charme war damals noch frischer. Und es war so verdammt schwer, eine Wohnung zu bekommen, ohne verheiratet zu sein.« »Ich hab eine.« Jutta hörte nicht zu. »Und dann kam Susi. Und ich dachte, das ist alles ganz normal.« »Scheiße. Wie alt ist das Kind jetzt?« »Acht. Sie ist bei seinen Eltern über die Ferien.« Das Mädchen wollte etwas sagen, erstarrte. Die Türklinke senkte sich lautlos, ging hoch, senkte sich wieder. Kurz darauf begann im Bad das Wasser zu rauschen. Sie sahen sich an. Das Mädchen hieß Nicole und lud Jutta zu sich in ihre Wohnung ein. Jutta stand auf. Sie holte das letzte Haushaltsgeld aus der Keksbüchse und packte die Sachen, die sie eingekauft hatte, wieder in die Tüten zurück. Planmäßig, ruhig und gezielt. Wasserrauschen im Bad und das Gefühl, die Schule zu schwänzen. Auf der Straße unten verflog das übermütige Kindheitsgefühl. Verlegenheit. Schweigen. Nicole hatte die Tüten getragen, sie gab sie jetzt Jutta zurück, sie hatte ein Fahrrad dabei. Sie schloß es auf, nahm die Tüten wieder und hängte sie an den Lenker. Schob das Rad auf dem Gehsteig neben Jutta her. Schweigen. Jutta wußte nicht, was sie hier sollte und wohin sie überhaupt ging. Alles unwirklich. Die hellen Schaufenster. Junge Leute, die aus Kneipen kamen oder in Kneipen
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gingen. Paarweise. In Cliquen. Mopeds, ein offener Sportwagen mit zwei Typen. Nicole streckte ihnen die Zunge raus. Blieb vor einem Fenster voll mit geblasenen Glastierchen stehen. Ihre Begeisterung war so kindlich und unschuldig, daß Jutta ihr, wäre der Laden offen gewesen, sofort so eine kleine Giraffe oder einen Löwen gekauft hätte. Sie mußten fast eine halbe Stunde laufen. Sprachen immer noch nicht, aber die Empfindungslosigkeit löste sich auf und machte einer körperlichen Intensität Platz. Lichter, Dunkelheit, der Geruch von blühenden Bäumen über Abgasen, die Bewegung. Juttas Schuhe waren zu eng, sie bekam eine Blase. Das Haus war ein häßlicher Neubau mit einem Kino unten drin. Sie mußten zuerst das Fahrrad in den Keller bringen, fuhren dann im Lift hoch. Zement. Metall. Enge. Endlos lange Flure mit unzähligen Türen wie zu Gefängniszellen. Die Wohnung war eine Überraschung. Ein großes Ein-ZimmerApartment mit Südloggia und dem Flair von Kino. Matratzen auf dem Boden, marokkanische Decken, Lacktischchen, weiße Felle und bunte Kissen. Teppiche an den Wänden und bodenlange Samtvorhänge. Tiffanylampen und ein Negerknabe aus Porzellan, eine Schale mit Plastikblumen auf dem Kopf balancierend. »Bekannter von mir«, Nicole wischte die Wohnung mit einer Handbewegung weg und knipste überall das Licht an. Frank Sinatra und Bing Crosby. »Nur für ein halbes Jahr oder so geleast.« »Geleast?« Jutta stellte die Tüten auf der Küchenbar ab. »Filmheini. Dreht grad in Afrika. Kein Bock auf Weiber. Ich putz hier und schick ihm die Post nach. Statt Miete zahlen.« Sie holte Gläser und Teller und deckte einen von den kleinen Ziertischen zwischen den Matratzen. Brachte eine kalte Flasche Champagner und ließ den Korken gegen die Decke knallen. Jutta hätte gern gefragt, was Nicole sonst so machte, wagte es aber nicht, um die fragile Stimmung nicht zu zerstören. Sie hockten auf den Matratzen und aßen Weißbrot mit Käse und Krabbensalat und tranken den französischen Champagner und hinterher den Bahnhofssekt. Sie quatschten über Bücher und Politik und waren sich einig, sie konnten sogar schweigen, ohne sich verlegen zu fühlen, und fan-
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den die Musik schön. Es gab kein Gestern und kein Morgen, es gab nur diesen Moment. Nicole rollte einen Joint, und Jutta begann sich betrunken und taumelig zu fühlen. In einem Schränkchen war das Bettzeug von Nicole, zusammengerollt. Sie warf es mit einem Schwung auf eine der Matratzen, es war zu spät, noch ein weiteres Bett herzurichten. Jutta zog sich aus und ließ sich fallen, Nicole kam dazu, drängte sie an die Wand und kuschelte sich an sie wie eine kleine Katze. Jutta wußte nicht, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Es roch nach Patchouli, Wein und kaltem Zigarettenrauch. Ein Stück neben dem Kopfkissen gleich der Fußboden. Flauschteppich. Geschirrklappern und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Sie öffnete vorsichtig die Augen. Rötlich gefiltertes Sonnenlicht auf einem seidenen Wandteppich mit goldenen Papageien. Nackte Mädchenfüße mit Knubbelzehen und knochige Knie. »Hey, guten Morgen.« Ein Tablett neben der Matratze mit Kaffee, Orangensaft, Toast, Butter und einem Teller mit Leberpastete und Serranoschinken. Jutta nahm den Saft und trank das Glas auf einen Zug aus. Überlegte krampfhaft, wie das Mädchen hieß. Es hatte ein weißes T-Shirt an und dunkelblaue Jogginghosen. Lächelte. Nicole. Bestrich einen Toast mit Butter und legte zwei Röllchen Schinken drauf. »Alles okay?« Wieder dieses Kinderlächeln. Jutta nahm sich die Kaffeetasse und suchte nach ihren Zigaretten. Nicole schob ihre Hand weg und zwang ihr das Schinkenbrot auf. »Du mußt erst was essen.« Jutta nahm das Brot und aß. Sie puschte sich das Kissen gegen die Wand, lehnte sich zurück und begann die von Zeit und Raum losgelöste Fürsorglichkeit zu genießen. Schämte sich nicht ihrer Nacktheit, machte nicht einmal den Versuch, ihre Bauchfalten unter dem Laken zu verbergen. »Du hast so schön geschlafen«, Nicoles Stimme klang unsicher, »ich wollte dich eigentlich nicht wecken. Aber vielleicht mußt du zur Arbeit?« Jutta trank noch einen Schluck Kaffee. Er war gut und sehr stark. Ferien. Die Produktion war verschoben, das hieß, bis spätestens Mittwoch mußte sie sich im Büro nicht sehen lassen. Susi war auch nicht da, niemand wollte etwas von ihr, niemand konnte sie telefo-
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nisch erreichen, in der Sahara hätte sie sich nicht freier fühlen können. Sie legte das Brot aus der Hand und griff nach den Zigaretten. »Weiß Uwe, wo du wohnst?« »Natürlich nicht!« Nicole war fast beleidigt. Brachte einen Aschenbecher, nahm Jutta die Zigarette aus der Hand und gab ihr das Brot wieder. Machte einen Becher Fruchtjoghurt auf. Erzählte etwas von einem Flohmarkt, zu dem sie wollte, und zeigte auf zwei Kisten mit allerlei Kram. Jutta fragte nicht, wem das Zeug gehörte, sie fragte auch nicht nach, als Nicole ihr ein Paar Jeans und ein Sweatshirt mit Florida-Aufdruck brachte. Sie stand auf, duschte und zog sich an. Betrachtete sich im Spiegel. »Du siehst echt gut aus«, sagte Nicole, und Jutta konnte hören, daß sie es auch so meinte. Sie fühlte sich aktiv und unternehmungslustig, und kein Uwe war da, der gemeine Bemerkungen über ihren Arsch – du kannst nie im Leben Jeans anziehen! – oder ihre Schenkel – an dir ist ein Ackergaul verlorengegangen – oder über ihre Schultern – noch ein paar Jahre weiter so krumm, und ich schenk dir eine Kräuterkiepe zu Weihnachten – machen konnte. Sie drehte sich etwas zur Seite. Na gut, zugegeben, hinten war sie breiter als Nicole, dafür hatte sie aber auch mehr Busen, verdammt! Nicole brachte ihr einen Gürtel und half ihr, ihn durch die Schlaufen zu ziehen. »Du hast eine Figur wie Marylin Monroe, super!« Jutta dachte an River of no return. Himmel noch mal, sie war doch erst knapp dreißig! Sie packte die eine der Kisten, setzte sie wieder ab, um etwas Geld aus ihrer Handtasche in die Jeans zu stopfen. Wem immer sie gehörten, sie sahen teuer aus, und Jutta würde sie an völlig neuen Stellen ausleiern. Die Sonne schien zwischen ein paar weißen Wattewolken maiwarm auf die Straßen und ließ die Häuser und Dächer aufblinken. Auf dem Platz herrschte schon hektisches Gewimmel. Tische und Stände, Asterixhefte und Nachttöpfe, Kupferkannen und alte Anzüge, Kerzenhalter, Kleiderbügel und bestickte Sofakissen. Nicole teilte ihren Stand mit zwei Freunden, die schon warteten. Peer und Sabine. Mitte Zwanzig, Zottelhaar und Indienfummel. Berge von Emailletellern, Tassen und Schüsseln. Petroleumlampen, Eierbecher, Blechbesteck, Schucoautos und alte Krimis. Jutta half Nicole, die Kisten auszupakken und die Sachen zu dekorieren. Keramiklöwen, afrikanische Mas-
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ken, Teflonpfannen und ein Dutzend Stanzgläser, ein Duschvorhang aus grellbuntem Plastik, eine Rolle alter Kinoposter und ein Stapel Ziegenfelle. Je mehr sich Jutta über die Herkunft dieser ganzen Waren sicher zu sein glaubte, desto übermütiger wurde sie. Sie hatte noch nie in ihrem Leben gestohlen. Sie hatte nicht die Nerven dazu. Uwe würde so was auch nie dulden. Der Platz füllte sich. Türken, Rentner, junge Leute. »Hereinspaziert, meine Damen, meine Herren, so billig kriegen Sie’s nie wieder! Nostalgie grad wie neu!« Nach zwei Stunden hatte Jutta fast den ganzen Stand leerverkauft. Peer und Sabine betrachteten Juttas Marktschreierei mit distanziertem Mißtrauen, dann zischelte ihnen Nicole etwas zu, und sie wurden freundlicher. Jutta ließ sie allein und schlenderte über den Platz. Kaufte eine mottenzerfressene Pelzjacke, zwei angeschimmelte Bände Zola auf französisch und eine Puppenwiege. Sie war sich klar darüber, daß sie die Sachen nie mit heimbringen konnte, es war ihr egal. Hinter einem Tisch standen drei kleine Jungen, kaum älter als Susi. Sie verkauften Mickymaus und Donald Duck, eine elektrische Eisenbahn in Originalverpackung, Salz- und Pfeffermühlen und ein Gewürzregal mit vollen Gläsern. Stapel von Plüschgetier und einen überdimensionalen batteriebetriebenen Bagger. »Alles okay?« Plötzlich stand Nicole hinter ihr. Jutta nickte glücklich. Nicole sah sie an. »Warum fragst du nie?« »Was soll ich fragen?« »Wo all das Zeug herkommt. Die Eisenbahn zet Be. Die ist locker paar tausend Em wert.« Auf dem in krakeliger Kinderschrift ausgezeichneten Zettel stand DM 45,-. Für Kinder ein Vermögen. Die drei kleinen Jungen sahen aus wie Tick, Trick und Track. Warteten stoisch. Einer von ihnen wandte sich unter Juttas Blicken endlich ab und schüttelte Kilos von Glasmurmeln in eine Schüssel. »Wenn das nun deine Susi wäre, die da Uwes Eisenbahn und deine Kräutersammlung verhökert. Wie würdest du dann reagieren?« »Abbusseln würd ich sie«, murmelte Jutta und kaufte einen dickbäuchigen Plastikbären für fünfzig Pfennig. Schraubte den Kopf ab und zog die Lasche heraus. Blies. Ein Schwall schillernder Seifenblasen schwebte hoch und platzte über den Köpfen von Tick, Trick und Track. Grün – gelb – rot – lila – golden. Noch einmal. Die größ-
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te blieb auf Nicoles Haar sitzen und hielt sich da sekundenlang. Wabernd, schimmernd, die ganze Welt umfassend. »Weil ich dann wüßte, daß sie frei ist, daß ich sie nicht ganz habe verhunzen können.« Platsch. Weg. Nicole umarmte sie plötzlich und gab ihr einen Kuß. »Komm!« Sie rannten zwischen den Tischen und Ständen hindurch. Lachten, schrien, pusteten Seifenblasen über alles und jeden. »Platz da! Platz für Seifenblasen!« Stürzten über einen Tisch mit einer Pyramide von Dosen, Jutta warf dem Türken einen Geldschein hin, fühlte sich high. Sang, tanzte. War nicht mehr allein. Hinter ihnen eine ganze Schlange von jubelnden Kindern. Platz für Seifenblasen! Sie gab den Seifenbär weiter, aber es gab kaum noch Flüssigkeit in dem gelben Gummibauch. Die Kinder drängten sich immer näher, Dutzende, Hunderte. Ein kleines Mädchen stand etwas abseits. Weiß-blaue Latzhosen, rotes T-Shirt. Dunkle Ponyfransen über großen grünen Augen und einer Stupsnase. Susi. Der Schock fuhr Jutta wie ein Messer mitten durch den Bauch. Sie glaubte zu schreien. Rannte los. Kinder wuselten ihr um die Beine, lachende Gesichter, ein Stand mit bestickten Kissen. Das kleine Mädchen drehte sich weg. Susi! Die spitzen Schultern hochragend durch die in die Hosentaschen gebohrten Fäuste. Das Mädchen begann zu laufen. Verschwand in dem Gewühl. Jutta rannte fast eine alte Frau mit Krücke um. Bunte Farbkleckse. Jemand hielt sie am Arm fest, sie riß sich los. Das vorher noch so fröhliche Gewimmel bekam etwas Drohendes. Feindliche Blicke. Knüffe, Stöße. Enge. Stimmenlärm. Von irgendwoher Musik. Johnny Cash. Das Mädchen stand beim Eisstand und lutschte an einer Riesenwaffel mit rosaglänzendem Softeis. Zog genüßlich die Spiralspitze in den Mund. »Susi!« Das Mädchen hob den Kopf und erschrak, als es Juttas Gesicht sah. Lief weg. Es war nicht Susi. Jutta blieb stehen und starrte ihr nach. Plötzlich kam es ihr so vor, als wäre alles um sie herum verstummt. Keine Musik, keine Stimmen. Die Tische und Stände wirkten primi-
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tiv und schmutzig. Abfälle, Zigarettenkippen, flatternde Papierfetzen. Grauer Staub. Jemand legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich hab dich gesucht.« Nicole. Jutta machte sich mit einer heftigen Bewegung los und arbeitete sich durch die Menge zur S-Bahn-Station hinüber. Nicole blieb bei ihr. »Was ist denn los? Was hast du?« »Ich muß heim!« Durch das streifige Busfenster sah sie Nicole. Dünn und verloren in der immer dichter werdenden Mittagsmenge. Schon als sie die Wohnungstür aufschloß, hörte sie Fernsehlärm. Wumm, knall, peng! Uwe lag auf dem Sofa, neben sich eine Flasche Bier, kein Glas. Er sah nicht auf. In Ö III lief keine Pfingstsendung, da sang kein Knabenchor, da erklärte niemand die faszinierende Welt der Amöben, da schossen ein paar Ledercowboys für ein Halleluja. Auf ein flaches Band gepreßte Breitwand. Vergilbte Farben, die Öde von Texas oder wo das war, gelblicher Staub und rotierende Flimmerstreifen von der kaputten Antenne. Einer schrie auf. Großaufnahme. Blut quoll unter dem bügelfrischen Leinenhemd hervor, Glotzaugen, langsames und sehr malerisches Zurücksinken. Flimmern. Jutta mußte über Uwes ausgestreckte Füße steigen, um zum Gerät zu kommen. Schaltete es aus. Uwe sagte nichts. Fuhrwerkte nur mit der Fernbedienung herum, Jutta stand im Weg. Sah ihn an. Kein Ausdruck in seinem Gesicht. Nur diese Fernsehleere und ein etwas angespannter Zug um den Mund. Dann reagierte er. Warf den kleinen Bedienungscomputer nach ihr und die Bierflasche. Ohne sich umzudrehen, konnte Jutta den feuchten Bierfaden sehen, den die Flasche auf der Tapete hinterließ. Ein dumpfes Plopp, als die Flasche auf den Teppichboden fiel, ein leichtes Klirren, als sie gegen ein Tischbein rollte. Stille. »Ich wollte mit dir reden.« Er brüllte los, bevor sie ausgesprochen hatte. Schrie, geiferte, hatte Tränen in den Augen. »Hure! Alte Schnalle! Scher dich raus! Bleib, wo du hergekommen bist! Wie heißt der Kerl?! Du hast ja sogar seine Hosen an! Hier gibt’s nichts zu holen für dich! Aus und En-
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de!…« Er kreischte noch weiter, als sie schon in der Küche war und Kaffee aufbrühte. Sie ging zurück. Er warf einen Stuhl nach ihr. Berstendes Holz an der Küchentür. Sie ging trotzdem weiter. Auf ihn zu. Er sah ihr entgegen, machte einen Schritt, stieß gegen die Bierflasche, hob sie auf. Schlug am Couchtisch den Boden ab. Hielt ihr den gezackten Glasrand entgegen. Lächelte. Fremd. Völlig fremd. Kam näher. Jutta rannte schreiend aus der Wohnung und die Treppen hinunter. Kurz vor der Haustür holte er sie ein. Packte sie und riß sie zurück. Mit leeren Händen. Tränen. »Bitte! Nicht so! Bitte, es tut mir so leid. Komm zurück!« Flüstern fast. Sie ging mit ihm zurück die Treppen nach oben. Die Türen rechts und links schlossen sich lautlos vor ihnen. Sie aßen am Küchentisch. Spaghetti mit Fertigsoße. Er hatte offensichtlich schon ziemlich viel Bier getrunken, stieg jetzt auf Wein um. Blieb ruhig. Lobte den Fraß und erwähnte die seltsame Kleidung nicht mehr. Lächelte wieder. Jutta trank zuviel. Sie hatte die erstbeste Flasche aufgemacht, einen viel zu schweren Rotwein. Bekam das Essen nicht runter, rauchte statt dessen. Erinnerte sich später nur daran, daß sie miteinander gesprochen hatten, aber nicht mehr daran, worüber. Sie hatten miteinander geschlafen. Oder vielmehr, er hatte versucht, mit ihr zu schlafen. Ihr beizuwohnen. Den ehelichen Geschlechtsverkehr auszuüben. Es war sein Recht, er hatte sich doch auch bei ihr entschuldigt – oder etwa nicht? Hatte auf sie eingeredet und immer hastiger an ihr herumgefummelt. Sie hatte sich Mühe gegeben, es wäre wichtig gewesen. Stöhnen, Leidenschaft. Alles in ihr war verkrampft. Er hatte ihr nur einen Zipfel der Decke übriggelassen und schnarchte neben ihr. Graues Regenlicht schob sich durch das Fenster. Das Bett roch immer noch nach Patchouli. Beim Frühstück tat er so, als wäre nichts gewesen. Las die Zeitung, während er blind nach der Kaffeetasse und der Schinkensemmel griff. Sie war schon unten beim Bäcker gewesen. Knusprige Butterbrezen und Kissinger Hörnchen. Hatte den Tisch gedeckt und Oran-
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gen ausgepreßt. Der weite Cordrock mit Westchen und der Bluse aus Bulgarien. Er trug graue Flanellhosen und einen blauen Shetlandpulli. Weißer Kragen. Sie sahen aus wie eins von diesen glücklichen Margarine- oder Kaffee-Ehepaaren in der Fernsehwerbung. Jutta warf ihr angebissenes Hörnchen auf den Teller zurück und steckte sich eine Zigarette an. »Nutzlos und sinnlos!« Er sah auf, lächelte abwesend, vertiefte sich wieder in die Zeitung. Las ihr einen kurzen Bericht über Spanien und die EG vor. Nuschelte. Zog sich beim Lesen mit der Zunge Schinkenstreifen aus den Zähnen. Jutta stand auf und räumte den Tisch ab. Als sie auch nach seiner Tasse greifen wollte, hielt er sie fest. »Bist du so lieb und machst mir noch eine Kanne. Ich will etwas arbeiten.« Er nahm die Zeitung und die halbvolle Kaffeetasse mit hinüber in sein Arbeitszimmer. Als Jutta mit der frisch gefüllten Thermoskanne rüberkam, hatte er bereits Formblätter und Schaltpläne vor sich ausgebreitet und brütete über Zeichen und Zahlenkolonnen. Sie war schon wieder fast an der Tür, als er aufsah. »Ach, übrigens«, sie kam zurück, »ich hab da eine Versicherung abgeschlossen, zusätzlich.« Er erklärte etwas von Steuerersparnis und Altersversorgung, auch Susi erwähnte er. Reichte ihr einen Kugelschreiber und zeigte auf die gepunkteten Linien, auf denen sie unterschreiben sollte. Ihre Schrift wurde etwas krakelig, weil sie im Stehen schrieb, vier Durchschläge, er hielt die Blätter mit der einen Hand zurück und zeigte mit der anderen, wo ihr Name hinkommen sollte. Nickte nur, als sie sagte, daß sie noch einkaufen wolle, und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Nicole schien auf sie gewartet zu haben. Riß die Tür auf, als Jutta eben auf die Klingel drückte, umarmte sie und zog sie in die Wohnung. Sie hatte aufgeräumt, sogar frische Blumen standen auf einem Tischchen. »Das Spießerzeug steht dir nicht, macht dich alt und bieder.« Sie gab Jutta die Tragtüte mit den geliehenen Jeans und dem Sweatshirt zurück. »Der hat doch Tausende davon, der merkt das nicht.« Brachte ihr auch noch eine hellrote Velourslederjacke und ein Paar Socken. Es war kühl heute. Jutta zog sich um und packte dann ihre Alibi-Einkäufe vorsorglich in den Kühlschrank. Kalbsschnitzel, Filetsteaks, Nierchen für Jacob und eine Schachtel mit frischen Erdbeeren. Das andere Zeug konnte in den Tüten bleiben.
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Sie hockten auf den weichen Fellkissen im abgedunkelten Wohnzimmer, das für trübe Maitage geradezu geschaffen schien, tranken Sekt mit Orangensaft und knabberten fettige Cashewnüsse dazu. Auf dem Plattenteller swingten Glenn Miller und Artie Shaw, Count Basic, Harry James und Fats Waller. Nicole liebte diese Musik, diesen Sound, diesen romantischen Swing, das war stark. »Und nicht nur, weil das jetzt grad wieder in ist. Ich mein, ich hab das als Baby in den Windeln täglich und nächtlich hören müssen, meine Alten sind da voll drauf abgefahren, nein, trotzdem. Weil’s echt heavy ist.« Duke Ellington gut zu finden, war für sie also eine Art Emanzipation, Jutta verkniff sich das Lächeln, wippte mit dem fremdbesockten Fuß und ließ Nicole reden. »Frankie ist der Größte! Oder Bing Crosby, kennst du die?« Sie legte eine andere Platte auf. Ihr Vater war heute Versicherungsagent, damals war er ein aktiver 68er gewesen, die Mutter hatte Soziologie studiert, die war schon in Ordnung. Sie hatte noch vier Geschwister. Die waren alle jünger. Sie war noch in einem Kinderladen aufgewachsen, die anderen kamen in so einen von der evangelischen Kirche. Aber echt progressiv, verstehst du. Sie hatte das Abitur und dann noch zwei Semester auf der Akademie rumgepinselt. Nein, zu Hause hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie war mit so einem Typen nach Indien getrampt, aber der war ein Gurufucker-Arschloch. Die Rückfahrkarte hatte sie in einer Bar abgejobbt. Ab und zu mal Beine breit, geht schneller. Sie lachte ihr unschuldiges Susilachen. In New York war sie auch schon gewesen, in San Francisco, in Irland und auf den Malediven. »Das war vielleicht ein Knacker. Stank vor Geld, Superyacht und Servants von vorn bis hinten, und wir waren bloß fürs Image eingeladen, nix bumsi-bumsi, der stand auf Männer.« »Hat dir das denn Spaß gemacht?« Jutta versuchte, den Tadel in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Spaß? War halt ein cooler Job. Saufen, Fressen, Rauchen und Dach überm Kopf, alles franko und noch die große weite Welt als Beigabe dazu.« »Und?« Jutta ertappte sich dabei, das Mädchen zu beneiden, das schon so viel erlebt hatte und alles so lässig erzählen konnte. Nicole hob die Schultern.
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»Was und?! Nichts wie Motherfuckers, wo immer du hinschaust. Money, Kies und Kohle, Kaufen und Verkauft werden, alles eins. Sonne und Palmenstrand machen da keinen Unterschied, das schwör ich dir.« »Aber du mußt doch auch andere Leute kennengelernt haben.« Jutta sah ihr eigenes Leben und hatte Angst davor, daß auch die Hoffnung, die phantastische Möglichkeit zu einem anderen Leben von diesem Mädchen zerstört wurde. Nicole schenkte Sekt nach. Orangenschnipselchen blieben am Glasrand kleben. »Na ja, die Tramper, die Rucksacktypen. Heute hier und morgen da. Nie einen Tag zu lang, immer auf der Suche. Leih mir paar Pesos, ich geb dir ‘nen Joint dafür. Stoff und Körner, Gurus und ein Schlafsack. Und Loch ist Loch, genauso wie in Frankfurt oder Castrop-Rauxel, und wenn der Yachtkerl besser zahlt, meine Güte, hör bloß auf mit denen!« »Und?« Jutta hörte aus dem einen Wort ihre Mutterstimme heraus, griff nach dem Glas. »Ich mein, was willst du machen?« Nicole lachte, stand auf und drehte die Platte um. »Weitersuchen, was sonst? Vielleicht find ich was, bevor die Bombe fällt oder das nächste KKW heißläuft.« Jutta wollte etwas sagen, wußte aber, was immer sie sagen würde, es könnte Nicoles Redefluß stoppen. Steckte sich eine Zigarette an. Nicole drehte sich braune Krümel aus einem Alupäckchen in ihre Bison-Halfzware hinein. Weihrauchduft breitete sich aus. Nicole beugte sich vor und gab Jutta die Zigarette. Das Mundstück war feucht. Jutta versuchte zu inhalieren, hustete, sog noch einmal. Gab den Joint zurück. Uwe sah im Drogenproblem die eigentliche Geißel der Neuzeit. Er machte keine Unterschiede zwischen Pot, Heroin und Kokain, alles waren für ihn nur Fluchtmöglichkeiten für labile Typen. Sie machten passiv und abhängig. Bier, Korn und Wein waren okay, die machten aktiv und törnten an. Ihn jedenfalls. Nikotin hielt er zwar für gesundheitsschädlich, aber ansonsten für harmlos. Er gewöhnte sich das Rauchen jedes Jahr ein paarmal ab. Drei, vier Wochen, dann begann der Gürtel seiner Hose zu kneifen, und er fing wieder an. Sie sog noch einmal, behielt den Rauch länger in der
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Lunge und wartete auf eine Reaktion. Eine leichte Benommenheit, sonst nichts. Nicole beobachtete sie lächelnd. »An was denkst du?« »An nichts.« »Das ist gut.« Nicole lehnte sich zurück und schloß die Augen. Entspannt, jung. Ich bin kaum zehn Jahre älter, dachte Jutta, und fühl mich, als könnte ich ihre Mutter sein. Mutter. Ab und zu träumte sie von ihrer Mutter, tagsüber dachte sie kaum an sie. Solang sie sich erinnern konnte, hatte die Mutter immer gearbeitet. Auch wenn es nichts zu tun gab, war sie ständig in Bewegung. Räumen, kochen, nähen, putzen, Unkraut jäten oder schon im Sommer Weihnachtsgeschenke basteln. Wer rastet, der rostet. Fernsehen mochte sie nicht, vielleicht, weil sie kurzsichtig war und sich weigerte, eine Brille zu tragen. Eine Frau muß immer feminin und anziehend bleiben, auch im Alter. Ihr Vater war gestorben, als sie zwölf war. Herzinfarkt. Die Traueranzeige, die seine Firma in die Zeitung setzte, war doppelt so groß wie die von der Familie. Das hatte die Mutter mehr als alles andere getroffen. Sie weigerte sich, in der billigen Firmenwohnung zu bleiben. Konnte sich von der Rente nur eine winzige Zweizimmerwohnung leisten. Die Enge war unerträglich. Jutta durfte nie Freunde mitbringen, die machten zuviel Dreck und Krach. Sie begann neben der Handelsschule zu jobben und die Nächte über wegzubleiben. Als sie Uwe kennenlernte, fand sie ihn langweilig und hatte keine Lust, mit ihm ins Bett zu gehen. Er war hartnäckig. Als er ihre Mutter kennenlernte, bat er um ihre Hand. In aller Form. Jutta machte ihm Vorwürfe, er hätte sie immerhin vorher fragen können. Aber sie war auch geschmeichelt. Noch nie hatte einer sie heiraten wollen. Darüber machte man höchstens blöde Witze. Trotzdem zögerte sie. Den Ausschlag gab das veränderte Verhalten ihrer Mutter. Sie hatte schlagartig aufgehört zu nörgeln und an ihr herumzukritteln, sie war plötzlich wie ausgewechselt. Lieb, zurückhaltend, fast unterwürfig. Als Uwe eines Tages ankam und eine preiswerte Wohnung an der Hand hatte, für die ein kinderloses Ehepaar gesucht wurde, sagte sie zu. Sie kam sich frei und erwachsen vor, sie war nicht länger Tochter, sie war Frau.
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Inzwischen hatte sie schon ein paarmal mit Uwe geschlafen, es war nicht gerade aufregend gewesen, aber er selbst war so unsicher, daß sie das rührte. Die Mutter nähte ihr ein taubenblaues Jackenkleid für die Feier und richtete ein kleines Essen für den engsten Familienkreis. Zwei Studienkollegen von Uwe, die die Trauzeugen gespielt hatten, waren die einzigen in dunklen Anzügen. Die Mutter umarmte sie und küßte Uwe, nannte ihn »mein Sohn«. Er bosselte an seiner Doktorarbeit, Jutta verdiente das Geld. Zuerst als Großraumtippse. Lernte nebenbei Französisch und vertiefte ihr Englisch und Spanisch. Uwe arbeitete bis spät in die Nacht, er vertrug keinen Lärm. Sie hätte es unfair gefunden, abends allein auszugehen. Es war ein trauliches Bild, wenn sie zusammen in dem winzigen Wohnzimmer über ihren Büchern hockten und abwechselnd den Tee aufbrühten. Jutta hielt sich für glücklich, aber erst, als sie schwanger war, merkte sie, daß etwas gefehlt hatte. Sie waren sich von Anfang an einig, sie wollten das Kind behalten. Erst dann würden sie eine richtige Familie sein. In dieser Zeit war Jutta wirklich glücklich. Wenn sie vom Büro heimkam, war der Mülleimer geleert und das Essen vorbereitet, der Teppich gesaugt und der Kühlschrank gefüllt. Uwe paßte auf, daß sie nichts Schweres trug und sich nicht zuviel bückte. Las Bücher über Schwangerschaft und die richtige Ernährung. Es gab viel Vitamine und Eiweiß und keinen Alkohol. Abends im Bett küßte er sie nur sanft auf die Stirn, als wäre sie aus Glas. Sie empfand das als Erleichterung, denn seit sie verheiratet waren, hatte er immer seltsamere Ansprüche gestellt. Liebte es, wenn sie statt der bequemen Strumpfhosen Strapse trug, und fand es aufregend, sie ein bißchen zu fesseln. Sie hatte mitgemacht, sie wollte nicht spießig erscheinen. Die Geburt war leicht und unkompliziert, und Jutta genoß es, der Mittelpunkt zu sein. Uwe kam täglich mit frischen Blumen, die Schwestern im Krankenhaus liebten ihn. Die Mutter brachte eine komplette Erstausstattung, von der Familie kamen Päckchen mit Strampelhosen, Hemdchen und Wolljäckchen. Susanne ist ein schöner Name. Mutters verstorbene Schwester hieß Susanne. Uwe fand den Namen auch schön. Und den Stammhalter nennt ihr dann Martin, nach dem Großvater. Uwe war einverstanden.
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Er konnte nicht genug betonen, daß er die einzige nette Schwiegermutter auf der ganzen Welt erwischt habe. Sie waren sich einig. Jutta hatte an andere Namen gedacht. Daniela fand sie schön, oder Hanna oder Beate. Sie ließen sie kaum aussprechen. Du brauchst Ruhe. Sie schraubten ihr Bett flach und brachten ihr Johannisbeersaft zur Blutbildung mit. Als Uwe sie aus der Klinik abholte, machte er ein geheimnisvolles Gesicht. Er trug den Korb mit dem Baby und die Tasche mit ihren Sachen, stützte sie liebevoll am Ellbogen. Nein, wir brauchen kein Taxi. Auf dem Parkplatz stand ein olivgrüner VW-Kombi. Fast neu. Kindergitter hinten, Stereoanlage, Fußmatten. Sie wollte Fragen stellen, er blieb geheimnisvoll. Fuhr nicht zu der alten Wohnung. Das war der Clou. Er hatte einen Job bekommen, eine neue Wohnung gemietet. Da stand es über dem Klingelknopf: Dr. U. Behling. Er hatte seinen Doktor durch. Sie waren oben. Ein quadratischer Flur, zwei große Zimmer, eine helle Kammer. Märchentapeten, Bauklotzregale, Plüschtiere und ein Gitterbettchen mit weißem Tüllhimmel. Auf der Badewanne ein selbstgebautes Wickelbrett, ein Regal mit allem, was man brauchte, ein Fach voller Windeln und Höschen, zwei Packungen Pampers. Uwe hatte an alles gedacht. Im Kühlschrank standen Champagner und Krabbensalat aus dem Feinkostgeschäft. Uwe legte Mozart auf und zündete die Kerzen an. Jutta warf sich auf den nächstbesten Sessel und heulte los. Uwe umarmte sie und tröstete sie. Auch über postnatale Depressionen hatte er gelesen. Er verstand nicht, weshalb sie wieder arbeiten wollte. Er begriff nicht, warum sich eine fremde Frau um das Kind kümmern sollte, wenn es doch eine eigene Mutter hatte. Und wenn es auch nur halbtags war, ein Kind braucht seine Mutter. Jutta nahm heimlich die Pille. »Du hörst gar nicht zu!« Nicoles Stimme klang leicht verschwommen, vorwurfsvoll. »Ich hör alles. Du bist in Bangkok, flohzerstochen und keinen Dollar in der Tasche.« »Mali!« »Sag ich doch.«
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»Jedenfalls kam da der Kerl und bot mir ‘nen Job in seiner Bar an. Ich denk, servieren und Drinks mixen, okay, aber weißt du, was das war?! Das war doch echt so eine von diesen beknackten schwülen Oben-ohne-Pinten. Das einzige, was man da zum Anziehen bekam, das war so eine Flitterkrawatte um die Hüften. Und ‘ne silberne Plastikrose auf den Bauchnabel, das war das Markenzeichen. Und entweder der Scheiß klebte nicht, oder doch, und du hast den ganzen Nabel voll mit Kleister…« Da war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Der Job, dann schnell einkaufen und heim, die Leihoma löhnen, Susi trösten, weil sie ihr nachweinte, Essen machen, Wohnung putzen, Mutter anrufen, mit Susi spielen, alles wieder wegräumen, Abendessen vorbereiten, Susi waschen und niedlich anziehen, ins Bettchen legen, sich selbst ein bißchen zurechtmachen und ganz relaxed und entspannt bei Kerzenschein auf Uwe warten. Uwe kam immer seltener pünktlich heim, oft war es weit nach Mitternacht, und er war betrunken. Ließ sich nicht davon abhalten, Susi wachzuküssen, wich zurück, wenn sie dann zu schreien anfing, suchte im Fernseher nach einem Nachtwestern. Trank weiter und warf Jutta aufs Bett. Meistens war er zu betrunken. Dann wurde er gemein und beschimpfte sie, nur um am nächsten Tag besonders zärtlich und liebevoll mit Susi zu spielen. Oder er war nicht völlig blau, aber sie ekelte sich vor ihm. Dann schlug er sie. Nicht gezielt, einfach nur wütend. Damals. Es war Winter, und sie schämte sich. Sie trug eine dicke Schicht Make-up auf und nahm eine Sonnenbrille. Das Auge schwoll so zu, daß es gegen die Brille stieß, sie vertippte sich dauernd. Später wurde sie geschickter, lernte auszuweichen, Ausreden für die anderen zu erfinden und damit zu leben. Sie wußte, daß sie nicht die einzige Frau war, die von ihrem Mann geschlagen wurde, aber sie wollte es nicht zugeben. Klammerte sich nach außen hin an ihrem Tchiboglück fest und nahm sich immer wieder vor, sich beim nächsten Mal von ihm zu trennen. Susi. »Das ist unvorstellbar. Vollkommen irr. Kannst du dir das vorstellen, die Bullen sperren den Strand ab, weil dich sonst die bettelnden
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Kinder überfallen würden. Schwärme, verstehst du?! Unzählige. Wie die Ameisen. Zerlumpt und braun und dünn wie die Zaunlatten. Riesenaugen. Du darfst ihnen keine Münze, keinen Bonbon geben, sonst vermehren sie sich zu Millionen.« Nicole kicherte. »Ich hab immer extra die Münzen gespart und ihnen hingeworfen. Das konnte der nicht verdauen, da wurde der echt wahnsinnig. Der in seinem Fett, alles rosa platzende Blasen, und um uns rum und über uns diese Millionen von dünnen braunen Kindern. Der hat voll durchgedreht…« Susi war ein niedliches, intelligentes Kind. Sie schätzte die Situation immer richtig ein, war lieb zu Papi oder sanft mit Mami. Hatte Charme. Kam mit allen gut zurecht, ging gern in den Kindergarten, später ebensogern in die Schule, fand überall sofort Freunde. Susi war der Mittelpunkt, das absolute Zentrum, die Kraft, die alles zusammenhielt. »Ich muß heim.« Es klang nicht sehr überzeugend, und Nicole ging nicht darauf ein. Sie saßen im Biergarten und tranken eine Radlermaß zusammen. Die Kastanien strotzten in saftigem Maigrün, die Sonne ließ helle Lichtflecken auf den Holztischen aufbrennen. Familien und Cliquen, karierte Tischtücher und Berge von Brezen, Würsten, Broten und Radieschen. Bernsteingelbe Bierkrüge, Stimmen, Lachen, duzende Verbrüderung über die Tische hinweg. Kinder, Hunde, Spatzen und eine zerfledderte Dixieband auf der Wiese nebendran. Pfingstmontag. »Ich muß heim«, sagte Jutta noch einmal, aber so leise, daß Nicole es gar nicht hören konnte. Morgen früh würde sie im Büro anrufen, aber sie war ziemlich sicher, daß sie die ganze Woche frei haben konnte. Susi war auch noch nicht da. Uwe zu sehen, fürchtete sie sich. »Ich muß heim.« »Der kommt zurück«, sagte Nicole plötzlich und griff nach dem Bierkrug des Nachbarn. Trank, wischte sich den Schaum vom Mund. »Der Typ, dem die Wohnung gehört.« Stellte den Krug zurück, gab dem Mann ein Küßchen und lächelte der Ehefrau mechanisch zu. Starrte vor sich hin, wandte sich plötzlich Jutta direkt zu. »Verdienst du viel?« Jutta schwieg, aber Nicole schien auch keine Antwort zu erwarten. Als Susi in den Kindergarten kam, war der Tag für Jutta lang und
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leer. Sie hörte von einer Kollegin, daß eine Produktionsfirma eine Fremdsprachensekretärin suchte, und stellte sich vor. Sie war eingestellt, noch bevor sie ihren Namen, geschweige denn ihre Gehaltsforderung aussprechen konnte. Es war das absolute Chaos. Ständig rannten irgendwelche Leute aufgeregt schreiend hin und her, und mindestens drei Telefone läuteten zur gleichen Zeit. Jutta wurde mit Worten und Ausdrücken bombardiert, die sie in ihrem Leben noch nie gehört hatte, und fand niemand, der sie ihr erklären konnte. Aber sie lernte schnell und konnte nach einer Woche bereits so tun, als kenne sie sich aus. Ihr Kaffee war berühmt, und sie sprang überall ein, wo jemand gebraucht wurde. Nach zwei Wochen nahm sie der Chef zum erstenmal wahr. Sie würde mehr als das Doppelte verdienen und, wenn sie blieb, Ende des Jahres an der Gewinnausschüttung beteiligt werden. Sie könnte sich einarbeiten, sie könnte sogar Produktionsassistentin werden. Uwe drehte durch. Es kam immer wieder vor, daß er sich sein Essen allein machen mußte, ja sogar, daß er Susi vom Kindergarten abholen mußte. Jutta versuchte, beides richtig zu machen. Bekam immer wieder mal einen Tag frei, putzte, kaufte ein, kochte etwas Besonderes. Aber Uwe maulte auch dann. Er verdiente doch weiß Gott genug. Er hatte verdammt noch mal ein Recht auf seine vorgewärmten Ehepantoffeln. Oft war Jutta nah dran, den Job hinzuschmeißen. Dann kam wieder so eine Nacht, ein unerwarteter Termin, alle blieben in der Firma, und alle machten alles. Ein Redaktionsgespräch, es ging um eine Serie. Jutta besorgte Wein und kalte Platten, kochte Kaffee und Tee und leerte die Aschenbecher. Stenographierte das Protokoll. Die Sitzung ging bis kurz nach eins, die französischen Co-Partner wollten noch etwas von der Stadt sehen. Aber morgen früh mußte das Protokoll fertig sein. Sie tippte, während in der Küche der Chef das Geschirr spülte. Der Produktionsleiter trocknete ab, die anderen waren schon in eine Bar vorausgegangen. Es war kurz vor vier, als sie heimkam. Uwe wachte sofort auf. Beschimpfte sie und drohte mit Scheidung. Jutta zog sich mit den eckigkonzentrierten Bewegungen völliger Übermüdung aus und legte sich neben ihn ins Doppelbett. Teilte ihm akzentuiert mit, daß sie nie,
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aber auch niemals diesen Job aufgeben würde und daß sie mit einer Scheidung jederzeit einverstanden sei. Dann schlief sie ein. Als der Wecker läutete, war Uwe schon weg. Die Küche war aufgeräumt, Susi war im Kindergarten, der Frühstückstisch gedeckt. Neben dem Teller ein Zettel mit von Susi gemalten Blümchen. Love. Uwe änderte sich. Er sprach nie wieder davon, daß sie den idiotischen Job aufgeben solle, im Gegenteil, er las Frauenartikel in den Zeitschriften und laberte am Biertisch von Emanzipation. Zwar war nach drei Tagen der Mülleimer wieder zum Platzen voll, die Küche ein Abfallplatz und der Kühlschrank ein Vakuum, aber er sprach nicht mehr davon. Er ließ es laufen, kaufte einen neuen Volvo und einen Farbfernseher. Im Sommer machten sie Ferien in Fuerteventura, in einem Bungalow, den sie durch Kollegen etwas billiger mieten konnten. Sonne, Meer und lustige Kneipen. Kein Gestern, kein Morgen. Sie lagen nackt am Strand, rauchten, schliefen, aßen Tomaten, Käse und harte Eier und tranken lauwarmen Rotwein aus der Lederflasche dazu. Susi war nach einer Woche dunkelbraun und spielte mit den anderen Kindern, Uwe bekam einen grausigen Sonnenbrand und ließ sich genüßlich ächzend von Jutta mit After-Sun einmassieren. Er brachte ihr abends Alka-Seltzer ans Bett und holte morgens das frische Brot. Er baute für Susi und die anderen Kinder eine große Sandburg und trocknete Seesterne für sie. Der spanische Kellner in ihrem Lieblingslokal brachte extra Kinderportionen für Susi und flirtete mit Jutta. Uwe genoß sogar das, sie wurden immer als erste bedient. Als sein Sonnenbrand abgeheilt war, schliefen sie auch wieder miteinander, er war lieb und relaxed. Jutta dachte dabei an den Kellner, schämte sich und hatte gleichzeitig ein angenehm unverbindliches Prickelgefühl. »Weil ich eine Wohnung wüßte«, sagte Nicole. »Nicht zu teuer, 580 und die Nebenkosten, das ist doch heute geschenkt. Zwei Zimmer und Loggia, keine zehn Minuten von hier. Super!« Jutta sah sie an, nahm jetzt erst den angespannten Ausdruck in ihrem Gesicht wahr und dachte an den ganzen Kram, den sie auf dem Flohmarkt verhökert hatte, die Jeans und das Sweatshirt, die sie immer noch trug.
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»Ich muß heim«, sagte sie, laut diesmal, stand auf. Nicole schaute zu ihr hoch, verloren und resigniert, nickte. »Tschau.« Im Treppenhaus roch es nach Putzmittel, die Fenster auf den Hof blitzten. Neben dem Lift die Hausordnung hinter durchsichtigem Plastik. Rot. Grün, die Stahltür öffnete sich quietschend. Die jugoslawische Familie aus dem dritten Stock. Die Oma, ganz in Schwarz, und das Kind, in einem rosa-weißen Pepitakleidchen, grüßten, die Eltern schauten starr an Jutta vorbei. Die Oma mußte einen Satz machen, weil sich die Tür schon wieder schloß. Der Teppichboden im Flur war erst im letzten Jahr erneuert worden. Jutta schloß die Tür auf. Sauber. Das war der erste Eindruck, sauber. Überall Licht und aus dem Wohnzimmer leise Musik. Errol Garner oder so was. Uwe sprang auf, kam ihr entgegen, küßte sie auf beide Wangen und stellte sie vor. »Da bist du ja. Jutta, darf ich dir meine Freunde vorstellen, Brigitte und Konny.« Jutta gab artig Pfötchen. Die beiden waren etwa dreißig, sie trug eine Brille und war lang und dünn, er etwas kleiner, untersetzt mit einem dunklen Kinnbart und freundlichen braunen Augen. Konny, Jutta erinnerte sich, ein Kollege von Uwe, er hatte sich immer über ihn und sein spießiges Familienleben lustig gemacht. Jede Menge Kinder. Richtig, Brigitte hieß die Frau. Müßte sich mal die Zähne richten lassen. Schenkte Jutta vom Wein ein, als wäre sie hier die Hausfrau. »Ich hab schon so viel von Ihnen gehört. Ich bewundere Sie, ehrlich. Wie Sie das schaffen, Kind und Beruf!« Kurzer Blick zu Konny, der mit Uwe über Computer und Computerprogramme sprach, kurzes Lachen, »Bevor ich überhaupt wußte, wie das geht und was los ist, da hatte ich ja schon vier. Zwei Jungen, zwei Mädchen, da kommt man zu nichts mehr, das sage ich Ihnen, Sie haben ja Glück mit Ihrem Mann.« Wieder kurzer Blick zu Konny. »Heute abend ist die Tochter vom Nachbarn bei uns. Da läuft was im Fernsehen. Ich bin ganz sicher, die steckt die Kinder erst ins Bett, wenn sie unser Auto hört.« Wieder dieses perlende Gluckenlachen. »Ist ja richtig schade, daß Ihre Susi jetzt nicht hier ist, sie ist grad so
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alt wie unser Zweitjüngster. Florian, der ist acht.« Lachen und noch immer keine Alarmglocke. Jutta empfand nur die segensreiche Pause, die ihr dieses unerwartete Geschwätz verschaffte. Eigentlich war doch diese Brigitte eine ganz patente Frau. Meine Güte, vier Kinder! Sie schenkte sich und ihr nach und lächelte. Schiefe Braunzähne. »Aber so sehr die Bande mir ja auch den letzten Nerv tötet, ganz trennen könnte ich mich nicht von ihr.« Frage im Blick. Wovon redet die Frau eigentlich??? »Obwohl, Ihr Mann hat ja versichert, daß sich Susi bei ihren Großeltern sehr wohl fühlt. Und Sie haben ja Ihre Arbeit. Meine Güte, wenn man denkt, wissen Sie, ich hab nämlich Kunstgeschichte studiert.« Brigitte und Konny sahen sich an. Tiefes Einverständnis, kleine Zeichen ohne Worte. Standen fast gleichzeitig auf. Verabschiedeten sich. Gegeneinladung. Meine Frau macht das beste Irish Stew außerhalb Irlands, haha. Sie waren wirklich ungemein nett und freundlich, alle beide. Uwe brachte sie sogar zum Lift, ein Schulterschlag für Konny, ein Handkuß für Brigitte. Jutta wartete in der offenen Wohnungstür auf ihn, bereit, über ihn herzufallen und ihn zu zerfleischen. Er kam zurück, schob sich mit dem unverändert heiteren Gentlemanlächeln an ihr vorbei, ging ins Wohnzimmer, trug die schmutzigen Gläser und Aschenbecher in die Küche. »Was soll das heißen?« Ihre Stimme klang, so glaubte sie, kühl und beherrscht. Er wollte durch die Tür, sie stemmte beide Hände gegen den Rahmen. »Was das heißen soll, verdammt noch mal! Daß du mit wildfremden Menschen über uns und Susi sprichst!« »Konny ist ein Kollege, und die beiden sind meine besten Freunde«, er schob sie wie einen Vorhang zur Seite. »Er hat mir ein paar Unterlagen mitgebracht, die möchte ich gern noch durchsehen.« Ging zu seinem Arbeitszimmer. Jutta schrie. Konnte das hysterische Überkippen ihrer Stimme nicht mehr verhindern, rannte hinter ihm her, riß ihn am Hemdkragen. Er schlug ihre Hand weg, wie man einen jungen Hund klapst, traf mit der Handkante ihren Knöchel, der Schmerz zuckte bis in den Ellbo-
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gen hinauf. Sie erstarrte, er lächelte immer noch, sein Mund bewegte sich lautlos, es schien ihr Stunden zu dauern, bis die Worte ihr Ohr und ihr Gehirn erreichten. Die Tür schloß sich hinter ihm. Sie ging in die Küche, wusch das Geschirr, räumte auf, ging ins Wohnzimmer, schaltete die Tagesschau ein, rauchte, leerte den Aschenbecher, trank einen Rest Wein im Stehen aus der Flasche. Steckte eine neue Tüte in den Mülleimer. Sah durch die Tür Uwe zum Schlafzimmer gehen und mit Laken und Kissen und Decke wieder in seinem Arbeitszimmer verschwinden. Hörte das Wasser im Bad rauschen, seine nackten Schritte und das Klicken des Schlüssels, als er sich in seinem Zimmer einschloß. Als ob sie ihn vergewaltigen wollte. Der plötzlich aufsteigende Lachreiz verwandelte sich ebenso plötzlich in einen Weinkrampf. Er hatte Susi von der Schule abgemeldet und, wie immer er das trotz der Feiertage geschafft hatte, in der Stadt, in der seine Eltern wohnten, angemeldet. Er hatte mit Susi am Telefon gesprochen, sie verstand, daß die Mutter arbeiten mußte, sie würde sie bald besuchen. Es war nur ein Übergang. Er wollte seinem Kind die unangenehmen Scheidungsdiskussionen ersparen. Auf dem Schnittbrett neben dem Kühlschrank lag das große Brotmesser. Der rötliche Griff schimmerte weich – faß mich an, nimm mich in die Hand –, die gezackte Klinge funkelte scharf unter der hellen Küchenlampe. Jutta stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie zog sich um und packte wahllos ein paar Klamotten in eine Reisetasche. Legte eins von Susis Plüschtierchen obendrauf und zog den Reißverschluß zu. Sie hatte Angst, aber noch war das Gefühl irgendwo draußen und nicht faßbar. Sie läutete zum dritten Mal. Nicole mußte da sein, sie sah den Lichtstreifen unter der Tür, wenn die automatische Flurbeleuchtung ausging, und sie hörte Musik. Chopin. Klavierkonzert. Sie läutete Sturm. Die Tür wurde so heftig aufgerissen, daß Jutta erschrak. Der Mann war etwa Mitte Dreißig und hatte nur eine winzige Unterhose an. Dunkelbraun gebrannt. »Sorry«, sagte er, als er mit Fluchen fertig war und Juttas lahme Erklärungen in sich aufgenommen hatte, »Nicole wohnt nicht mehr hier, und sie braucht sich hier auch nicht mehr
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blicken zu lassen, Scheißkuh!« Er wollte die Tür wieder zuschlagen. Jutta war mit ihrer Reisetasche schon fast beim Fahrstuhl. »Hey«, sie blieb stehen, und er nannte ihr eine Kneipe, in der sie Nicole vermutlich antreffen würde. Nicole war weder da noch in der nächsten, die ihr der Barkeeper so freundlich genannt hatte. Es war egal, Jutta trottete mit ihrer Reisetasche durch die Straßen und Pinten und traf immer Leute, die Nicole gerade gesehen hatten. Sie fand sie Stunden später, rein zufällig, vor einer Pizzeria, auf den Stufen hocken. Sie schien nicht überrascht zu sein. Stand nur auf, nahm ihr die Tasche ab und ging voraus. Jutta lotste sie mit in ein Bierlokal und bestellte ihr ein Essen. Sie aß hungrig, aber abwesend. Sprach kaum. Brachte sie danach zu einem halbverfallenen kleinen Gartenhaus am Rand der Stadt – Jutta zahlte das Taxi –, in dem sie auf feucht verschimmelten Matratzen schlafen konnten. Der Schlüssel lag in der Dachrinne, die Petunien und Geranien im Vorgarten waren vertrocknet, Nicole drehte den Gartenschlauch auf. »Gehört Freunden«, sagte sie vage, »wenn wir von innen abschließen, kommt keiner rein.« Viel mehr sprach sie an diesem Abend nicht mehr. Jutta schlief kaum. Beobachtete den langsam auf den Holzboden runterbrennenden Kerzenstummel, den Nicole achtlos neben ihre Matratze geklebt hatte, und löschte ihn im letzten Moment. Schimmelmief. Das Rascheln von Mäusen oder Ratten im Gebälk. Irgendwann schlief sie ein. Platschender Regen weckte sie auf. Nicole stand splitternackt vor der Glastür und nahm eine Naturdusche. Kicherte. Trocknete sich mit einer alten Wolldecke ab, die sie danach in eine Ecke warf. Schien es eilig zu haben, Jutta ließ sich anstecken. Sie liefen durch den Regen. Fast eine Stunde bis zur nächsten Bushaltestelle. Fuhren in die Stadt und tropften ins erstbeste Café. Zogen sich nacheinander aus Juttas Reisetasche um und bestellten Frühstück. Sahen sich an, lachten, aßen, bestellten nach dem Kaffee Sekt. Jutta fragte nach der Wohnung. »Klar, die ist noch zu haben. Ich kenn die Leute.« Keine Frage, kein Warum. Jutta nickte nur, stand auf, ging zum Telefon und rief ihren Chef an. Das Projekt war verschoben, eine Wo-
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che Urlaub oder auch zwei, wenn sie wollte. Vorschuß okay. Sie fuhren mit dem Taxi vor. Die Wohnung war gräßlich. Düster, feucht und eng. Anderthalb Zimmer von einer vormaligen Herrschaftswohnung abgetrennt, zerfledderte Tapeten, blutrote Ölfarbe im sogenannten Bad, die Parkettböden mit Linoleum zugedeckt. Schmale und viel zu hohe Fenster auf einen trüben Betonhinterhof voller Autos. Mülltonnen. Um den Himmel zu sehen, mußte man sich auf den Boden legen. Jutta sah Nicole zu, die strahlend wie eine Katze vor dem Sahnetopf durch die Wohnung strich und sie in Gedanken schon einrichtete. Zwischendrin dem Hausmeister zulächelte, von dem sie die Wohnung bekommen sollte, und der, wie sie Jutta zuflüsterte, dafür ein paar Scheine extra erwartete. Jutta zückte ihr Scheckbuch. Die Plastikmappe war noch prall von ungenützten Euroschecks. Sie fingen sofort mit der Arbeit an. Rissen das Linoleum raus und die Tapeten runter. Bestellten und kauften ein, Betten, Sofas, Stühle, Tische, Lampen, Regale. Wasserfeste Bahamatapeten fürs Bad. Eimer voll Farbe und Kleister. Nicole arbeitete wie ein Kerl. War wie umgewandelt. Kochte Tee und kaufte Brotzeit ein. Von irgendwo kamen wie durch Zauberhand Freunde dazu, ein Peter, ein Klaus, ein Ralf und eine Isolde. Einer von ihnen hatte einen VW-Bus, Werkzeugkästen, Bierkästen, alte Vorhänge. Teppichfliesen wie neu. Nach weniger als einer Woche sah die Wohnung wirklich aus wie eine Wohnung. In der Küche konnte man essen, leben und wohnen, der Kühlschrank (von Ralf?) war gefüllt, auf dem Balkon standen ein Kasten Bier, einer mit Selters und zwei Korbflaschen mit Wein. Das große Zimmer war Juttas, in ihm standen der Fernseher und das Sofa, das kleine war Nicoles und vorläufig Abstellkammer. Die graue Betonwüste blieb hinter Rolläden und Vorhängen verborgen. Jutta saß mitten zwischen ihnen. Rauchte Joints zwischen ihren Filterzigaretten und trank offenen Wein. Jemand drückte ihr eine Schüssel mit Chili con carne in die Hand, einen Löffel. Die Namen konnte sie sich nicht merken. Sie waren alle lieb und freundlich, und keiner gab ihr das Gefühl, zehn oder sogar fünfzehn Jahre älter zu sein. Johnny Cash. Fleetwood Mac war out, Oldies waren in. Als
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sie den Sekt vom Balkon holte, schrien und johlten alle. Hielten Biergläser und Keramiktassen hin. Jutta ging davon aus, daß die ganze Bande sich hier für immer und ewig einnisten würde. Aber am nächsten Morgen waren sie alle verschwunden. Jutta schlief fest und friedlich. Wurde vom Summen des Staubsaugers (von Klaus?) wach, hörte Geschirrklappern in der Küche. Quälte sich quelläugig ins Bad und wusch sich unter den Palmen von Haiti (oder Bahamas). Putzte sich die Zähne vor einem englischen Werbespiegel und tupfte sich Patchouli hinters Ohr wie 4711. Nicole hatte aufgeräumt und abgewaschen. Jutta wischte ein bißchen nach, umarmte Nicole und gab ihr Geld, um frische Semmeln zu holen. Das erste richtige Frühstück. Die Sonne spiegelte sich in einem Fenster am Haus gegenüber und schickte einen Sonnenstrahl über die Tischdecke (von Isoldes Mutter!). Earl Hines sang aus dem großen Zimmer. Sie hatten eine Wohnung, sie hatten Ferien, alles andere würde sich finden. Sie hatten Zeit. Nicole biß herzhaft in die dritte Schinkensemmel und schlug einen Stadtbummel vor. »Du hast doch noch bißchen Geld über, oder?« Teppiche, Rahmen für die selbstgemalten Bilder, und ein Schaukelstuhl, das war schon immer mein Traum. Sie zogen los, kamen an einer Boutique vorbei, Freunde von Nicole, kleideten sich neu ein, kauften noch ein paar Fummel im Kaufhaus dazu und gingen dann im Terrassencafé essen. Mit allem Drum und Dran. Brauchten ein Taxi zum Heimfahren. Dann kam auch noch der Mann von der Post und schloß das Telefon an. Jutta Behling. Sie gab ihm ein Trinkgeld, und Nicole zeigte ihr den Trick, kostenlos mit Japan zu telefonieren. Susi und die Schwiegereltern rief sie an diesem Tag nicht mehr an. Die angeblich verschobene Produktion mußte plötzlich in ein Programmloch springen. Das absolute Chaos. Jutta kam kaum noch zum Schlafen, geschweige denn zum Nachdenken. Die Bücher mußten umgeschrieben werden, der Regisseur machte nicht mehr mit, der neue hatte ganz andere Vorstellungen, einige der Drehorte waren schlecht recherchiert, die Sitzungen wurden immer hektischer und dauerten oft bis in die Nacht hinein. Jeder mußte alles machen, und
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Jutta genoß die Turbulenz und das intensive Teamgefühl, das sich dabei einstellte. Wenn sie heimkam, war die Wohnung aufgeräumt, der Kühlschrank gefüllt, Abendessen oder ein Imbiß vorbereitet. Wenn Nicole noch wach war, freute sie sich, sie zu sehen, stellte keine Fragen, ging auf ihre erschöpfte Euphoriestimmung ein. Manchmal waren Freunde da, es gab spontane Parties, aber Jutta wurde respektiert, sie mußte arbeiten, sie mußte früh aufstehen, wenn sie müde wurde, verzogen sich die anderen unauffällig. Von Uwe hörte sie nichts. In der Firma wurde sie inzwischen zu allen Fragen hinzugezogen, sie machte die Produktionspläne, sollte demnächst mit zum Drehen und später auch zu Verhandlungen ins Ausland. Für die reinen Schreibarbeiten gab es eine neue Sekretärin. Jutta war jetzt Produktionsassistentin und verdiente sehr gut. Aber das war es nicht einmal. Sie merkte, wie dieses neue Leben ihr gefiel, eine bisher ungeahnte Befriedigung. Bestätigung. Glück. Und je mehr sie arbeitete, desto entspannter und aktiver wurde sie. Eines Abends kam sie heim und fand auf dem Küchentisch einen Zettel von Nicole. Bin in Bobbys Bar. Jutta lächelte. Duschte, zog sich Jeans, Hemd und Westchen an und zog los. Da Nicole nichts zum Essen vorbereitet hatte, vermutete Jutta eine Art Party bei Bobby. Die Kneipe war seit einiger Zeit in, man konnte dort Comics leihen oder Spiele, Platten mitbringen oder selber auf dem Klavier klimpern. Eine der letzten Kneipen, die noch nicht vom nüchternweißen Neon-Kachelbad-Look eingeholt worden waren. Goldgelbes Tiffanylicht gab einem auch mit dreißig noch das Gefühl, wie achtzehn auszusehen. Und obwohl sich hier Grüne und Ökos trafen, war die Gesundheits- und Körnerwelle noch nicht militant reingeschwappt, dazu war Bobby, der dicke Boß, viel zu sehr Genießer. Jutta schob die Tür auf. Schwaden von Zigarettenrauch mit einem süßlichen Hauch von Marihuana. Alle Tische voll. Sie ging an die Bar. Nicole gab gerade drei Portionen Filetspießchen mit Endiviensalat aus. Zapfte Bier und füllte Wein ab. Zwinkerte Jutta zu, arbeitete. Sie machte den Job cool und lässig und konnte auch mit Bobby gut umgehen, der nach dem dritten Korn geil und aufdringlich grob wur-
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de. Jutta freute sich, hielt das alles aber für eine kurzlebige Weekendgeschichte. Aber nach vier Wochen arbeitete Nicole immer noch bei Bobby. Sie hatte von sechs Uhr abends bis zwei Uhr früh warme Küche, und die Bude war immer gerammelt voll. Wenn Nicole Zeit hatte, sang sie alte Schnulzen von Frank Sinatra oder Ella Fitzgerald, die Leute johlten vor Wonne. Wenn Jutta einen freien Tag hatte, hockten sie zusammen auf dem Balkon, hörten Musik, tranken Sekt und knabberten die Leckereien, die Jutta mitgebracht hatte. Einmal war es eine ganze Schüssel voll Kaviar, die von einem Produktionsfest übriggeblieben war. Zuerst aßen sie ihn mit vollen Löffeln pur, dann legten sie Buttertoast drunter, am Schluß verfremdeten sie ihn sogar mit fein gehackten Zwiebeln. Kauften Champagner dazu und fühlten sich unheimlich high und snobby. Uwe konnte nicht richtig genießen. Für ihn war ein Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat das höchste, Jutta lebte immer mehr auf. Dann kam der Brief. Stempel, offiziell, Anwalt. Gericht. Uwe hatte die Scheidung eingereicht. Das war zu erwarten gewesen. Jutta bekam trotz allem einen Schock. Zeigte den Brief ihrem Firmenanwalt. Der telefonierte ein paarmal. Sah sie danach an, als wäre sie aussätzig. Bisher hatte sie ihn für einen ganz offenen und progressiven Typen gehalten. Sie verstand nur die Hälfte. Uwe wollte die Scheidung. Das war klar und heute kein Problem mehr. Es ging um Susi. Und nicht mal um den Unterhalt, dafür war Uwe zu clever. Jutta hatte die eheliche Wohnung verlassen, sie wohnte in eheähnlicher Gemeinschaft mit einer anderen Frau, dem allem durfte Susi nicht ausgesetzt werden. Jutta versuchte einige Male, mit Susi zu telefonieren, meistens waren die Schwiegereltern am Apparat und blockten ab, einmal erwischte sie Susi, sie weinte. Die Schwiegermutter nahm ihr den Hörer weg und erklärte Jutta, daß Susi krank sei. Die Frau im Kramladen nebenan erzählte, daß sich so ein seltsamer Mensch nach Jutta erkundigt habe. Uwe hetzte ihr Privatschnüffler auf den Hals. Der Briefwechsel zwischen den Anwälten schwoll an. Immer mehr schmutzige Wäsche. Obwohl das doch nun nach dem
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neuen Scheidungsgesetz alles ausgeräumt sein sollte. Jutta hätte sich nie richtig um ihr Kind gekümmert, sie war eine lesbische Karrierefrau, die ihre Nächte in Bars verbrachte. Kein ordentlicher deutscher Richter würde ihr das Kind zusprechen. Soviel war klar. Nicole und ihre Freunde rieten Jutta zu kämpfen. Uwe hatte sie geschlagen, er war der erste gewesen, der sein Bett in einem anderen Zimmer aufgeschlagen hatte, er war doch der, der mit Nicole gebumst hatte, während Jutta das Geld für Familie und Kind verdiente. Jutta dachte an Susi, und daß sie das Kind womöglich als Zeugen befragen würden. Sie hatte keine Kraft für diese Art von Kampf. Die Auslandsreise wurde verschoben, Jutta bekam wieder mehr Schreibtischarbeiten. Die Scheidungsgeschichte erwähnte niemand, aber es hatte sich so etwas wie ein gläserner Ring um Jutta gebildet. Sie nahm wieder Stenogramme auf, kochte Kaffee und tippte Protokolle oder Drehbücher ab. Alle waren nach wie vor freundlich zu ihr, aber es war diese professionelle, nichtssagende Höflichkeit, die man auch lästigen Bittstellern entgegenbringt. Sie mußte nicht einmal mehr Überstunden machen. Sie fuhr unangemeldet zu ihren Schwiegereltern. Susi war nicht da. Sie war in einem Kinderheim. Zur Erholung, sagten sie. Nein, nichts Ernstes, nur so allgemein der Kreislauf. Sie waren nett und freundlich und boten reichlich zu essen an. Als unerwartet eine junge Nachbarin vorbeikam, saßen sie wie auf der Lauer. Offensichtlich erwarteten sie von Jutta, sich so wie eine Art weiblicher Jack the Ripper aufzuführen. Jutta tat es fast leid, sie enttäuschen zu müssen. Sie fuhr mit dem Nachtzug wieder heim, sie weigerte sich, Susi nun auch durch Privatdetektive suchen zu lassen. Sie glaubte an Gerechtigkeit. Das Verhandlungszimmer sah aus wie in Ehen vor Gericht. Nüchtern, klein, hell. Lackiertes Fichtenholz und flimmernde Spätsommerhitze hinter den breiten Fenstern. Jutta war enttäuscht, sie hatte einen düsteren Gerichtssaal mit dunkel glänzenden Mahagonipaneelen erwartet, wie in einem alten englischen Kriminalfilm. Uwes Anwalt hatte Brandlöcher in seiner Kutte. Sie mußte kichern, versteckte sich hinter einem viel zu lauten Hustenanfall. Sie hatte ein Weißbier getrunken, um den Magen zu beruhigen, dann hatte Nicole ihr noch
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ein Valium gegeben. Irgendwie vertrug sich das Zeug nicht. Sie fühlte sich benebelt und abwesend, sah gleichzeitig Kleinigkeiten überdeutlich und kämpfte ständig gegen hysterischen Lachreiz. Ihr Anwalt sah wenigstens seriös aus. Graumeliertes Haar über einer makellosen Robe mit Satinkragen. Einer der Beisitzer gähnte, der Richter hatte tiefe Falten neben den Mundwinkeln, Magengeschwüre vermutlich. Auf die Anhörung von Susi wurde verzichtet. Eine Kinderpsychologin und ein Gutachter vom Jugendamt redeten über Susi wie über einen fremden Menschen. Susanne Behling. Sie fühlte sich wohl bei ihren Großeltern, Integration, Geborgenheit. Die schulischen Leistungen waren hervorragend, sie hatte Freunde und vermißte nichts. Dann fing der Brandlöchrige an, über Juttas Verfehlungen zu sprechen, sie hatte die Familie verlassen, sie war eine schlechte Mutter. Der Beruf war ihr wichtiger als das Kind, obwohl ihr Mann mehr als ausreichend verdiente. Das Schuldprinzip war abgeschafft, aber hier mußten einige Tatsachen aufgedeckt werden, da es um das Wohl des Kindes ging. Ein unschuldiges kleines Mädchen in den Fängen von zwei verantwortungslosen Lesbierinnen. Unvorstellbar. Sie hatten sogar Bobbys Vergangenheit durchleuchtet, wie die von Nicole und ihren anderen Freunden. Aufwiegler, Demonstranten und Hausbesetzer, wenn nicht Schlimmeres. Jutta hatte hinter dem zweiten Fenster von vorn eine Baumkrone entdeckt. Es mußte ein sehr alter Baum sein, wenn seine Krone bis hier herauf in den dritten Stock reichte. Aber das Faszinierende daran war, er war halb Linde, halb Buche. Jutta konzentrierte sich darauf, nicht zu vergessen, nachher beim Rausgehen nachzusehen, ob es ein oder zwei Bäume waren. Jetzt war ihr Anwalt dran. Er sah wirklich toll aus, und sie erwartete ein flammendes Plädoyer à la Perry Mason. Nichts davon. Wieso war ihr früher nicht aufgefallen, daß er eine Fistelstimme hatte. Mit so einer Stimme hätte er doch nie Anwalt werden dürfen. Der Richter fragte sie etwas. Sie stand ungeschickt auf, setzte sich wieder. Was sollte sie denn nur sagen. Ich liebe meine Tochter, Susi ist für mich immer das Wichtigste im Leben gewesen. Ich wollte sie dazu erziehen, frei zu sein, sich nicht immer nur zu ducken und zu gehorchen,
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hinter dem stehen zu können, was immer sie tat. Ich liebe sie mehr als mein Leben. Der Richter sah sie gar nicht mehr an. Sprach. Klappte seine Akten zu. Der Gerichtsdiener öffnete die Tür. Haffmann gegen Haffmann. Sie standen auf und gingen hinaus. Behling gegen Behling war geschieden. Der Flur kahl, grünlich-weiß gestrichen. Von den Bänken standen die Haffmanns auf. Uwe stand neben seinem Anwalt, der gerade seine brandlöchrige Robe in einer bauchigen Aktentasche verstaute. Karohemd und Cordhose darunter. Uwe hatte sich feingemacht. Schwitzte in grauem Flanell. Der Satinschwarze blieb neben ihr stehen. »Tut mir leid, aber Sie wollten es ja nicht anders.« Kaum verhohlene Abneigung im Blick. Roch sie nach dem einen Bier? Hatte er was gegen weite Röcke und Stiefel? Signalisierte ihre Bluse Sex und ihr Westchen lockeren Lebenswandel? Jutta rannte blind davon, um keinen ihre Tränen sehen zu lassen. Sie warteten auf der Straße auf sie. Nicole, Bobby, sein Bruder Ralf und noch ein paar. Jubelten, umarmten sie und beglückwünschten sie. Feierten die Scheidung wie eine Hochzeit. Hatten eine Party vorbereitet. Zogen los. Jutta wollte wegrennen, Nicole packte sie, zog sie weg von den anderen. »Ich hab eine Überraschung für dich.« Schubste sie zum Parkplatz. Ein nachtblauer Alfa Romeo Spider mit Schlafzimmeraugen und weißen Fellsitzen. Gebraucht, aber wie neu. »Dafür hab ich gespart! Freust du dich? Toll, was?« Nicole startete, wendete und fuhr hinter der Kolonne der anderen her. Jutta heulte während der ganzen Fahrt. Sie haben mir Susi weggenommen. Am liebsten hätte sie Nicole mit ihrem blöden Geplapper über Pferdestärken, Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung und Benzinverbrauch erwürgt, erschlagen und erschossen. Nicole schien etwas zu spüren und schwieg mitten im Satz. Parkte gekonnt in einer Minilücke, wartete einen Moment, umarmte Jutta und ließ sie sich ausheulen. Hielt sie nur fest. Schwieg. In Bobbys Bar waren die Tische anders gestellt, ein Riesenbüfett aufgebaut. Bier und Champagner. Jutta betrank sich planmäßig. Nicole brachte ihr einen liebevoll zusammengestellten Teller mit Krabbencocktail, Roastbeef, Maissalat und frischem Knoblauchbrot. Jutta konnte nichts essen, nahm statt dessen den Eiskübel mit der Cham-
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pagnerflasche. Drehte auf. Badete sich in dem warmen Gefühl von Freundschaft und Zugehörigkeit. Ein paar kamen danach noch mit in die Wohnung. Jutta lümmelte sich auf das Sofa und verlangte mehr Champagner und Frank Sinatra. Alle waren lieb zu ihr, alle taten, was sie verlangte. Als sie sich ein Alka-Seltzer holen wollte, überraschte sie Ralf und Nicole im Clinch auf dem Badewannenrand. Sie machten jetzt die Kneipe zu dritt, waren gleichberechtigte Partner, und Jutta zog sich taktvoll zurück. Legte Fleetwood Mac auf und begann zu tanzen. Wachte irgendwann in der Nacht auf, und die Wohnung war leer. Sie trank ein Glas Wasser mit Alka und zwei Selters hinterher, öffnete leise die Tür zu Nicoles Zimmer. Nicole schlief fest und tief. Und allein. Jutta schloß die Tür wieder. Fühlte sich schuldig wie ein schmutziger Schnüffler, war auch nicht besser als die anderen alle. Nahm eins der schmuddeligen Gläser vom Boden und goß sich einen Rest Cognac hinein. Erinnerte sich voll masochistischer Detailgenauigkeit an alle die Momente, in denen sie es genossen hatte, frei zu sein, für kein Kind sorgen zu müssen, nicht mehr angreifbar zu sein. Tage, Nächte, Arbeit oder Saufen, die Zeit gehörte ihr und nur ihr allein. Kein Anlaß für Schuldgefühle. Jutta fand keinen Cognac mehr, trank noch ein Glas Wodka, bevor sie tränenverkrustet einschlief. In der Firma waren sie freundlich-chaotisch wie immer. An die etwas abgekühlte Distanz hatte sich Jutta inzwischen gewöhnt, sie arbeitete mehr als je zuvor; es half. Nicole sah sie selten. Sie machte jetzt mit Ralf zusammen den Einkauf für Bobbys Bar und mußte schon früher raus. Sie hatten die Kneipe etwas umdekoriert, die Gäste wurden immer jünger. Abends saß sie meistens vor dem Fernseher. Einmal läutete es, Jutta rannte zur Tür und machte auf. Es war Uwe. Sie erschrak, ließ sich aber nichts anmerken, bat ihn rein. Er war betrunken und unrasiert, sein Hemd hatte Weinflecken. Er wollte einen starken Kaffee. Sie ging in die Küche und beobachtete ihn, wie er neugierig durch die Wohnung schlich. Sah mit seinen Augen den ungesaugten Teppich, die staubigen Bücherregale, die vollen Aschenbecher und zerwühlten Betten.
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Er trank den Kaffee, erzählte von Susi und davon, wie leid ihm alles tat. Susi ging es gut, die Eltern vergötterten sie, und sie war mächtig gewachsen. Du würdest sie nicht wiedererkennen. Er hatte eine Freundin, eine Programmiererin aus seinem Laden, er überlegte, sie zu heiraten. Er vermißte Susi. Er war noch jung, er wollte auch einen Sohn haben. Jutta wurde wütend und bat ihn zu gehen. Er stand widerspruchslos auf. In der Tür versuchte er sie zu küssen. Laß uns alles vergessen, laß uns neu anfangen. Ganz von vorn. Er sah kaputt aus und alt. Die alten Zeiten. Glück und Tchibo. Jutta hob beide Arme, um ihn zu trösten, konnte sein Gesicht mit den dunkel umrandeten Augen kaum noch ertragen, verstand seinen Schnapsatem als Zeichen tiefster Verzweiflung. »Ich verzeihe dir«, sagte er leise und sehr ernst, »ich gebe mir wirklich Mühe, alles zu vergessen.« Jutta knallte ihm die Wohnungstür voll auf die Schnauze, hörte von innen, daß er aufschrie und fiel. Wartete, bis sie ihn fluchend davonstolpern hörte. Räumte die Wohnung auf, putzte, saugte Staub und wusch das Geschirr, das sich seit Tagen in der Küche stapelte. Weichte die Vorhänge in der Badewanne ein und war gerade dabei, die Fenster zu polieren, als kurz vor halb vier Nicole heimkam. »Hey, ist bei dir da oben noch alles klar?« Jutta bekam einen hysterischen Wutanfall. Schrie, kreischte, warf Möbel und Geschirr durcheinander, schlug Nicole, entlud sich. Konnte nicht mehr aufhören. Brüllte noch weiter, als Nicole sich längst in ihrem Zimmer verriegelt hatte und die Nachbarn von allen Seiten an die Wände hackten. Es war kalt. Ein violettdunkler Dezemberhimmel, winzig gefrorene Schneekrümel in der Luft und die anheimelnd gleißenden Schaufenster der Fußgängerzone. Jutta hatte schon vier Tüten mit neuen Schuhen, Blusen, Pullovern und einem Rock-Hosen-Kostüm aus Alcantara bei sich. Zwei sündhaft teure Seidentücher und ein weiter Rock, der noch geändert werden mußte. Ein kleines Geschäft in der Nebengasse, in der Ledersachen nach Maß angefertigt wurden. Jutta dachte an dunkle Samthosen zu ihren neuen hellen Lederstiefeln und dazu einen knappen Fellblouson. Pluderärmel, sonst eng, bis auf die Hüften. Im Fenster lagen und hingen einige Modelle, buntes Patchwork, da-
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zwischen kleine kuschelige Robben mit Glasaugen. Das ging natürlich nicht. Die patschigen Winterstiefel aus Seehundsfell zog sie auch nicht mehr an. Aber es war der einzige Laden, der nach Maß anfertigte und dessen Preise sie bezahlen konnte. Und dann nach Kanada. Es war keine sehr wichtige Reise, aber für sie war es die erste. Die anderen hatten alle Termine, sie war der Lückenbüßer, aber es war ihre Chance weiterzukommen. Sie konnte Englisch und Französisch, sie mußte die Kanadier davon überzeugen, daß sie ihr Geld in ein Superprojekt investierten. Sie mußte was darstellen, sie trat als Repräsentantin der Firma auf. Seidenlamm wäre ja auch möglich. Mit gefärbtem Leder. Jutta merkte, daß neben ihr ein Mädchen stand, das sie dauernd anstarrte. Zuerst durch die spiegelnde Fensterscheibe, dann direkt. Fast so groß wie sie, breitflächiges Gesicht unter dunklem Punkhaar, Cordhosen und Lammfelljacke betonten eher noch das leichte Übergewicht. Die Schuhe waren schiefgetreten. Und die Augen. Das war die Ähnlichkeit mit Susi. Und dann sah Jutta im Handarbeitsladen nebendran Uwes Mutter. Es war Susi. »Susi?« Geflüstert nur, das Mädchen nickte kaum wahrnehmbar und hielt ihr eine Handschuhhand hin. Jutta wollte das Mädchen umarmen, es wich aus. Sie hielt nur die klobigen Fellfinger in der Hand. Sie mußte etwas sagen, etwas tun. Das Mädchen schaute immer wieder nervös zu dem Fenster des Woll- und Strick-Ladens hinüber. Ich liebe dich! Susi zwinkerte mit den Augen, eine Schneeflokke. »Hey, wie geht’s dir so?« »Gut. Und dir?« »Super. Danke.« Uwes Mutter kam aus dem Laden, sah sich kurz suchend um und entdeckte sie. Susi wich zurück. »Ruf mich mal an«, flüsterte Jutta, aber sie wußte nicht, ob Susi sie verstanden hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie begrüßte Uwes Mutter und wechselte mit ihr die höflich-feindlichen Worte, die sich bei so einem Anlaß nicht vermeiden ließen. Erfuhr dabei, daß Susi eine Blinddarmoperation hinter sich hatte und in der Schule schwer nachließ. Uwe wollte wieder heiraten, das war ja bekannt. Wir sind auch nicht mehr die Jüngsten.
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Jutta fuhr im Taxi heim und kaufte an dem Tag nichts mehr. Es war ihre Schuld, alles war ihre Schuld. Warum hatte sie nicht mit den beiden gesprochen, sie in ein Café eingeladen, das hätten sie ja schlecht ablehnen können. Sie kurbelte das Fenster herunter und ließ die feuchtkalte Winterluft auf ihrem Gesicht frieren, bis der Fahrer sich beschwerte. Es hätte sowieso nichts mehr genützt. Sie hatte ihr Kind nicht wiedererkannt. Susi hatte sie erkannt. Wenn Susi sie nicht so lange angestarrt hätte, dann wäre sie an diesem großen Mädchen vorbeigegangen wie an irgend jemand, den sie noch nie gesehen hatte. Die Wohnung war unaufgeräumt und schmuddlig. Es roch nach Patchouli und Gras, und FSK grölte unverständlich deutschen Rock. Ralf lag auf ihrem Sofa, Nicole hockte auf dem Teppich neben ihm. Die Art, wie er nervös aufsprang, und Nicoles verlegenes Lächeln verschafften ihr für einen Moment ein gewisses Zufriedenheitsgefühl. Sie warf ihre Tragtüten in einen Stuhl, stellte die Musik aus und öffnete ein Fenster. Die Kälte konnte zwar den Mief nicht vertreiben, aber wenigstens Ralf. Jutta hörte die beiden im Gang flüstern, dann klappte die Wohnungstür. Sie trug Gläser und Aschenbecher in die Küche. »Was hast du?« Nicole stand in der Tür, machte nicht einmal Anstalten, ihr zu helfen. »Nichts.« »Komm, rück’s schon raus, ich seh dir’s doch an.« Jutta warf den vollen Aschenbecher an die Wand. Er zerbrach nicht, Asche und Stummel fielen in den Kartoffelkorb. Nicole hatte sich nicht gerührt. Ihre Haut war unrein, das Gesicht aufgeschwemmt von den durchsoffenen Nächten, das Make-up verschmiert. »Du siehst zum Speien aus.« »Jutta, bitte nicht so.« Nicole ließ sich nicht anmerken, ob sie getroffen war. »Laß uns reden, ja. Wir sind doch Freunde.« »Freunde! Was für ein entzückend geschlechtsloses Wort! Weißt du, wie lange wir hier schon zusammenhocken? Fast drei Jahre! Ich habe heute meine Tochter getroffen. Kannst du dir vielleicht vorstellen, was die für ein Gesicht gemacht hätte, wenn ich sie in diesen stinkenden Saustall mitgebracht hätte?!« Der Luftzug ließ die Tür
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zum großen Zimmer zuknallen. »Und vielleicht bist du auch mal so nett und verrätst mir, wieso ich die Scheißmiete und den Strom und den Fraß immer allein zahlen muß. Für das Geld könnte ich mir drei Putzfrauen mieten!« Na, endlich, tropf, tropf, die Tränchen, blaurote hektische Flecken vom Hals bis unter die Augen. Sie kam auf sie zu, machte Anstalten, sich ihr an den Hals zu werfen. Jutta schlug Nicoles Hände weg. »Faß mich nicht an!« Ging in ihr Zimmer und begann mit wütender Verbissenheit aufzuräumen und zu putzen. Sie sprachen eine Woche lang nicht miteinander. Am Anfang machte Nicole noch zaghafte Versuche, aber Jutta ging nicht darauf ein. Genoß ihre Stärke und Überlegenheit. Wenn sie abends von der Arbeit heimkam, war die Wohnung einigermaßen aufgeräumt, zumindest sah man, daß Nicole sich Mühe gegeben hatte. Einmal stand ein großer Topf mit Risotto in der Küche, so als hätte Nicole aus Versehen zuviel für sich gekocht. Jutta liebte Risotto, vor allem so schön scharf, wie Nicole es kochte. Sie begnügte sich mit ein paar Kräckern und Käseecken, ließ die Brösel absichtlich auf dem Kühlschrank liegen. Besuch kam in der Zeit keiner, zweimal blieb Nicole über Nacht weg. Am Samstag vormittag stand Nicole erstaunlich früh auf und blieb ungewöhnlich lang im Bad. Jutta deckte sich einen üppigen Frühstückstisch mit weichem Ei, frischem Räucherlachs, Schinken und französischem Camembert. Ließ die Küchentür offen, um alles unauffällig beobachten zu können. Die Kaffeemaschine blubberte, der Duft mischte sich mit den Chemiedämpfen aus dem Bad, als Nicole herauskam. Sie verschwand in ihrem Zimmer, rumorte, ließ das Radio laufen. Kam wieder raus und ging zur Wohnungstür. Wattierte Hosen, Moonboots, Norwegerpullover und Anorak. Jutta räusperte sich. »Willst du nicht vorher noch frühstücken?« »Nein, danke.« Frostig. »Ist aber genug da.« »Danke, nein«, sie ging weiter zur Tür, und Jutta sah sich plötzlich das ganze lange Wochenende allein in der Wohnung. »Wohin gehst du?!« Nicole blieb stehen und schaute zurück. Müde, unausgeschlafen und nicht geschminkt. »Zu Lisa und Ernst.« Höflich.
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»Wer sind Lisa und Ernst?« »Kennst du doch, Freunde von Bobby, haben sich mit noch ein paar Leuten ein altes Bauernhaus hergerichtet.« Immer noch mit milder Geduld. Sie wandte sich wieder zur Tür, und Jutta hielt es nicht länger aus. »Es tut mir leid.« »Was?« Kaum hörbar. »Alles.« Nicole kam langsam zurück, blieb zögernd stehen und schien auf einen neuen Angriff zu warten. Das ängstliche Mißtrauen in ihrem Gesicht verletzte Jutta, sie sprang auf. Sie umarmten sich, klammerten sich minutenlang aneinander fest, heulten, lachten. Nicole zog den Anorak und die Stiefel wieder aus, sie frühstückten, packten die Reste ein und fuhren dann zusammen los. Es wurde spät, und die Straßen waren vollgestopft mit Skifahrern, die in die Berge wollten. Die Heizung funktionierte nicht richtig, und das rechte Seitenfenster schloß nicht ganz. Nicole fuhr nervös und aggressiv. Überholte einen BMW mitten auf der Kreuzung. »Wir haben Zeit.« Nicole antwortete nicht, hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und gab Gas, sobald sie aus der Stadt raus waren, wich einem Taxi aus und blieb auf der linken Spur. Der Himmel war perlmuttfarben gemasert, ab und zu kam die Sonne durch. Mit den verschneiten Dächern und Fensterbrettern sahen sogar die grauen Mietshäuser am Rand der Ausfallstraße fast romantisch aus. Zwei wegradierte Reifenspuren glitzerten auf dem vereisten Asphalt. Hinter den Leitplanken die ersten Felder und Gehöfte. Vom Auto aus wirkte der Schnee frisch gefallen und unberührt sauber. Nicole nahm nicht die Autobahn, sondern eine kaum befahrene Bundesstraße. Tief verschneite Wälder mit modernen Siedlungen dazwischen. Schneeverwehungen, es ging deutlich bergauf. »Könntest du bitte etwas langsamer fahren?« Keine Reaktion. Kurve. Ein entgegenkommender Traktor. »Würde es dir sehr viel ausmachen, etwas weiter rechts zu fahren?«
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Schweigen. Jutta kontrollierte ihren Gurt und klammerte sich an ihrem Sitz fest. Sah aus dem Augenwinkel, daß Nicole schon wieder verdächtig feuchte Augen hatte, mit der rechten Hand im Handschuhfach nach den Zigaretten kramte. Schlug ihr die Klappe auf die Finger. »Doch nicht beim Fahren!« Nicole stellte das Radio an. Ihr Mittelfinger rötete sich und schwoll an. »Bitte, fahr nicht so schnell!« »Hör auf!« Nicole schrie, verriß das Steuer, der Wagen rutschte sofort und drehte sich. Sie tippte die Bremse vorsichtig, fing ihn wieder und bekam ihn auf die rechte Fahrbahnseite zurück. Gab sofort wieder Gas. Jutta schnaufte auf. Nicole stellte das Radio lauter. Ein bißchen Frieden – Jutta stellte es wieder leiser. Die Straße wand sich halb vereist höher in die Berge. Nicole drehte das Radio voll auf. Werbung. Haribo macht Kinder froh. Ging viel zu schnell in eine abgeflachte Linkskurve. »Nicole!« Ihr Gesicht war völlig verspannt, unter der Backenhaut zuckten kleine Muskeln, die Augen waren starr auf die Straße gerichtet. Jutta sah auch nach vorn. Ein schneeverwehtes Warnungsschild, dahinter ein Baum. Breit und wuchtig ausladend, narbig von Jahrhunderten. Sah wieder zu Nicole. Ihre Hände auf dem Lenkrad hätten längst nach links steuern müssen. Hielten es fest. Geradeaus. Jutta schrie, aber das Radio war lauter. Auf Nicoles Gesicht so eine Art zufriedenes Lächeln. Jutta konnte den Eckzahn sehen. Schrie weiter. Der Baum. Nah und hausgroß. Größer. Schwarz mit weißen Borken. Das Bersten von Metall und neben dem Fenster das durch die Luft wirbelnde Verkehrsschild. Weiß – weiß. Bodenlos. Der Krach, wie durch Zeitlupe verzögert. Plötzliche Stille. Ein kurzer Moment absoluter Ruhe. Grauenhafte Schmerzen in Brust und Gesicht, Rotieren im luftleeren Raum, alles war rot. Endlich schrie auch Nicole, aber ihr Schrei ging im Krachen des explodierenden Benzintanks unter.
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Jutta versuchte, den Sicherheitsgurt aufzuhaken, konnte sich aber nicht bewegen. Sah durch rote Schleier Nicoles aufgerissene Augen, Blut im Mundwinkel. Der Bauer, der die grelle Stichflamme von seinem drei Kilometer weit entfernten Hof aus gesehen hatte, fand nur noch einen rauchenden Schrotthaufen vor. Die verkohlenden Trümmer hatten einen fast makellos runden Kreis in den Schnee gebrannt.
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Richard Hey Martinssons Fall Vom Garten kam kühler Abendwind. Die Terrassentür stand offen. Die beiden Männer, die in der Wohnhalle vor dem Kamin saßen, blickten auf, als ganz nah eine Amsel anfing zu singen. Sie wippte einen Moment über die weiße Brüstung der Gartentreppe, flog dann zum Kirschbaum. Die beiden Männer betrachteten wieder die Pistole und den groben Packpapierumschlag auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen. Sie hatten die Jacketts abgelegt und die Krawatten gelockert. Der ältere trug goldene Manschettenknöpfe im Seidenhemd. Er schlang seine Finger ineinander, bis sie knackten. Er war Ende Vierzig, und trotz zierlicher Statur wirkte er zäh und durchtrainiert. Das schmale Gesicht unter den straff gescheitelten graublonden Haaren schien vorsätzlich ausdruckslos, als solle es die Unruhe der sehr hellen Augen verbergen. Er nahm die Finger auseinander und schob Waffe samt Umschlag dem andern über den Tisch. Der war kräftiger, robuster, hatte die Ärmel seines roten Leinenhemds hochgekrempelt und trug breite elastische Hosenträger. Dichte dunkle Locken wucherten ihm wild um ein unrasiertes Gesicht mit scharfen Längsfalten, die entzündeten Augen hielt er halb geschlossen. Ohne sie zu öffnen, beugte er sich vor und schob Pistole und Umschlag zurück zu den goldenen Manschetten. »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht.« Er sprach rauh, trotz kindlich klingendem skandinavischem Akzent. »Du hast wieder Schmerzen«, sagte der andere ruhig. Der Jüngere lehnte sich zurück, antwortete nicht. Der Ältere stand auf, ging um den Tisch herum zu ihm. »Ich massiere dich.« Er streifte ihm die Hosenträger von den Schultern, löste die gelborange gepunktete Krawatte und knöpfte das Hemd auf. Dann trat er hinter ihn, zog das Hemd herunter. Zwischen den Schulterblättern des Jüngeren und parallel zur Wirbelsäule verliefen tiefe Narben. Behutsam legte ihm der Ältere die Hände auf die Schultern und begann, mit gleichmäßig kreisenden Bewegungen, die Zirkulation anzuregen.
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Der Jüngere ließ es geschehn, atmete tief ein und aus. »Bin müde«, murmelte er. »Fünfzehn Stunden gefahren. Sehr müde.« Er horchte auf das entfernte Geräusch des Autobahnzubringers. Weit jenseits der Gartenmauer kehrten die Frankfurter zurück vom Karfreitagsausflug in den Stadtwald. Die Amsel sang nicht mehr. »Du kannst ja jetzt erst mal ausschlafen«, sagte der Ältere. »Und dann?« fragte der Jüngere. Ihm war, als sei er ein paar Sekunden ohne Bewußtsein gewesen. Der Ältere massierte ihn nicht mehr, kniete neben ihm und schrieb mit goldenem Füllfederhalter etwas auf einen der herabhängenden Hosenträger, den er über den Tisch gebreitet hatte. Der Jüngere wollte ihm mit einer Bewegung den Hosenträger aus den Händen ziehen. Aber er war zu schwach. »Notizzettel wirst du verlieren, das kenn ich schon«, meinte der Ältere, während er schrieb. »Hier die beiden Adressen. Wirf die Hosenträger hinterher in irgendeinen Mülleimer. Egal wo. Schmeiß noch was drauf. Im Motel Siegmund hast du ein Zimmer vorbestellt. Verstehst du? Nicht ich hab es vorbestellt. Du hast es vorbestellt. Du hast mich über Ostern besuchen wollen. Leider mußte ich plötzlich dringend geschäftlich verreisen.« Der Jüngere sah auf dem Beistelltisch fürs Telefon ein Blatt Papier, halb unter das Telefon geklemmt. Auf dem Blatt stand: Pension Palmengarten. Und dann eine Nummer, dick unterstrichen. Er konnte sie lesen, obwohl es allmählich dunkel wurde. Unter dem Beistelltisch stand ein kleiner Damenschuh. Der zweite lag umgekippt vor dem Kamin. Wieder mußte er eingeschlafen sein. Im Licht der Stehlampe neben ihm bemerkte er, daß sein Hemd zugeknöpft, die Krawatte wieder korrekt gebunden und der Hosenträger geordnet worden war. Über seinen Knien lag sein braunes Jackett, und er sah zu, wie der Ältere die Pistole mit einem Papiertaschentuch umwickelt in den Umschlag gleiten ließ und diesen in die linke Seitentasche des Jacketts. »Ich bin nicht deiner Meinung«, erklärte der Ältere. »Was habe ich gesagt?«
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»Daß du fürchtest, hinterher für mindestens zehn, zwölf Jahre eingesperrt zu werden.« »Wann ich habe das gesagt?« »Gerade eben. Weißt du das nicht mehr?« »Bin müde«, murmelte der Jüngere. Der Ältere kniete wieder neben ihm, flüsterte auf ihn ein: »Hör zu. Du trinkst jetzt einen Whisky. Dann kannst du fahren. Und was deine Frage betrifft: ich hol dich raus. Falls man dich überhaupt erwischt. Legal natürlich. Ich kenne mich aus. Verbindungen jede Menge. Du hast nicht mehr gewußt, was du tust. Du bist hier angekommen mit wahnsinnigen Schmerzen. Ich hab dir Beruhigungsmittel gegeben. Die haben dich kippen lassen. Ich habe nicht bedacht, daß du anders als andere darauf reagieren könntest. Du bist in einen deiner Zustände geraten. Die sind bekannt. Deine Ärzte können das bestätigen. Jedenfalls, du weißt nicht mehr, was du getan hast. Du weißt nur noch, daß du den Grund für meine Qualen beseitigen wolltest. Wenn du dabei bleibst…« »Hör auf, bitte«, murmelte der Jüngere. »Ist es denn nicht wahr? Oder wäre dir gleichgültig, daß ich leide?« »Nein.« »So habe ich noch nie gelitten. Noch nie.« Der Ältere verlor für einen Augenblick die Selbstbeherrschung, legte seinen Kopf an die Schulter des Jüngeren, umarmte ihn. Er zitterte. Ein Manschettenknopf fiel zu Boden. Die Haut seines Unterarms wurde sichtbar. Sie war verunstaltet durch wulstige Brandnarben. Sein Gesicht, so dicht vor dem des Jüngeren, schien sich in dunkle Höhlen und helle Flecke aufzulösen. Sofort stand er auf, knetete seine Finger, hatte sich wieder unter Kontrolle. »Hilf mir«, sagte er leise. »Ja«, sagte der Jüngere und stand ebenfalls auf, zog sich umständlich das Jackett mit dem ungewohnten Gewicht in der linken Tasche über, ging langsam auf die Terrasse zu. Er trug, trotz der Hitze tagsüber, schwere geschnürte Halbstiefel. Sie knarrten bei jedem Schritt. »Der Whisky.« »Brauch ich nicht.« »Ich werde dir das nie vergessen. Du bist mein einziger Freund.«
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Der Jüngere, schon auf der Terrasse, drehte sich noch einmal um. »Ist sie sehr schön?« Der Ältere, neben der Stehlampe, fing wieder an zu zittern. Schnell setzte der Jüngere hinzu: »Wann geht das Flugzeug für dich?« »In zwei Stunden.« »Du mußt dich beeilen.« Der Ältere antwortete nicht, nickte nur, blieb regungslos stehn. Der Jüngere ging über die Treppe in den dunklen Garten, aus dem der Duft von frisch geschnittenem Gras aufstieg, und über den Kiesweg nach vorn zum schmiedeeisernen Tor. Es war noch halb geöffnet. Er hatte es nicht hinter sich geschlossen, als er angekommen war. Jetzt schloß er es, bevor er zu seinem Auto ging. Die Villenstraße lag völlig ruhig, beleuchtet von kleinen Laternen zwischen alten Bäumen. Das Abendrot über den Dächern wurde grau. Die Häuser schienen verlassen. Er fuhr in die Stadt hinein und über den Fluß, umsichtig, ohne Fehler zu machen. Dabei hatte er Autofahren zu einer Zeit gelernt, als in Schweden noch Linksverkehr war, und er steuerte halb bewußtlos, nur noch mit seinen Reflexen. Zweimal verfuhr er sich, kurvte durch enge Betonschluchten zwischen Hochhäusern und um verfallende Altbauten herum, eingezwängt in Verkehrsströme, denen er nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Dann fand er die große Straße, die ihn aus dem Zentrum der Stadt hinausbrachte, fand hinter einer Tankstelle das Motel. Das Zimmer ging auf einen dunklen Park, dessen Gehweg schwach von kleinen vergitterten Leuchten in Kniehöhe erhellt war. Er hörte den Lärm der Straße nicht mehr. Durch schwarze Zweige vor seinem Fenster sah er gegenüber auf einer Bank, halb von unten beleuchtet, halb verborgen von Sträuchern, ein Liebespaar sitzen. Die beiden hielten sich eng umschlungen, weißes Gesicht an schattigem Gesicht, schweigend. Während er den Vorhang vors Fenster ziehen wollte, schlief er ein. Er konnte seinem Körper nur noch die notwendige Drehung geben, daß er nicht neben dem Bett zusammensackte, sondern aufs Bett fiel. Als er aufwachte, dämmerte es. Er blickte auf die Armbanduhr, brauchte einige Zeit, bis er begriff, daß es sich nicht um eine Morgendämmerung, sondern um die nächste Abenddämmerung handelte.
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Er hatte einen ganzen Tag lang geschlafen. Er zog sich aus, duschte, rasierte sich, bemerkte, daß er seinen Körper zweifach gespiegelt sehen konnte, wenn er vor dem Toilettenbecken stand. Aber er sah nicht hin, prüfte nur, ob seine Augen noch entzündet waren. Sie schienen ihm gebessert. Er zog an, was er gestern angehabt hatte, betastete, was die linke Tasche des Jacketts ausbeulte, verließ das Zimmer. Sein Auto beachtete er nicht. Die schwedischen Kennzeichen waren fast unleserlich geworden unter Staubschichten und Insektenleichen. Vor Hunger und Durst fühlte er sich so schwach, daß er sofort in die Kneipe neben der Tankstelle ging. Er aß ein blasses Huhn, trank vier Flaschen Bier und nahm eine Taxe. Irgendwo in der Bahnhofsgegend stieg er aus, irrte durch Lokale, Bier, Whisky, Wein in großen Mengen durcheinandertrinkend, floh aus einer Stripteaseshow in eine Transvestitenshow, wollte bleiben, kam sich abhanden, fand sich im finsteren, stinkenden, mit Abfällen überhäuften Hinterhof eines verwahrlosten Hauses wieder, inmitten von dunkelhäutigen halbnackten Kindern, die im Dreck spielten, kam sich abermals abhanden, saß in einer Taxe, stand schließlich vor der Gepäckaufbewahrung des Flughafens, Terminal B, und schob den Packpapierumschlag über die Rampe. Er hoffte, jemand werde den Umschlag jetzt gleich vor seinen Augen öffnen und die Pistole finden. Aber das geschah nicht. Der Umschlag wurde von einem schläfrigen jungen Mann ordnungsgemäß zwischen Koffern und Taschen deponiert. Es war noch früh am Abend; er würde bequem ein Flugzeug erreichen. Wenige Meter entfernt kam er zu sich. Er stand auf einer Rolltreppe. Und war überrascht, daß er nicht nach oben rollte, zu den Schaltern und Flugsteigen, sondern hinunter, zurück zur Gepäckaufbewahrung. Unten blieb er vor einem Eingangstor stehen. Draußen war es hell, früher Morgen, die Sonne schien. In langer Reihe warteten Taxen auf die ersten Fluggäste. Sie kamen hinter ihm die Treppe herunter, gingen an ihm vorbei nach draußen. Eine alte Dame in violettem Cape und mit violettem Hütchen über blauweiß getönten Haaren winkte ihm zu. Sie trug Spitzenhandschuhe und eine leichte Reisetasche.
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»Vielen Dank für den Tip, und schöne Feiertage noch in Frankfurt«, sagte sie. In der Hand hielt er einen Flugschein. Berlin-Frankfurt einfach. Abflug sechs Uhr dreißig. Er stopfte ihn in die Hosentasche zu den Geldscheinen und Münzen. Wie war er gestern abend nach Berlin gekommen? Wie war er heute zurückgekommen? Wo war er in Berlin gewesen? Und welchen Tip hatte er der alten Dame gegeben? Seine Stiefel waren lehmverschmiert. Zögernd näherte er sich dem Gepäckschalter, suchte im Jackett den Aufbewahrungszettel, hoffte, er habe ihn verloren. Aber er fand ihn in der Innentasche des Jakketts. Dabei entdeckte er, daß ihm die Hosenträger fehlten. Er suchte in allen Taschen, vergebens. Er zog die Hose, die schon auf dem Boden schleifte, höher, schnallte den Gürtel enger, gab ein paar Münzen, empfing den unversehrten braunen Packpapierumschlag. Wenige Augenblicke später saß er wieder in einer Taxe. Am Bahnhof stieg er aus, eilte durch die leeren abfallbedeckten Straßen, in denen er gestern abend von überfülltem Lokal zu überfülltem Lokal gezogen war. Sie waren alle geschlossen. Düstere Figuren standen in Hauseingängen, musterten ihn. Eine erschöpfte ältere Frau mit grellroten Lippen und teigiger Haut hockte neben einem Müllcontainer am Rinnstein und pißte, warf den Kopf mit den wirren Haaren hin und her, winkte ihm zu. Er sah plötzlich ein Straßenschild, das ihn beunruhigte, Taunusstraße. Gegenüber war eine Telefonzelle. Er lief hin, drehte die Nummer, die er ebensowenig vergessen hatte wie die beiden Adressen auf dem verschwundenen Hosenträger. »Pension Palmengarten, frohe Ostern«, meldete sich eine grämliche Altmännerstimme. »Ich war in Berlin«, sagte er. »Wer spricht?« »In Berlin. Hab ihn da gelassen. Hosenträger. Bei Bullauge.« »Junge, ei bei mir kannste aach kaan kriesche. Da mussde schon bis Dienstag wadde, gell. Geh haam, schlaf deinen Rausch aus.« Er fand ein Lokal, das noch oder schon geöffnet hatte. Er stand an der Theke, trank Bier, stand auf der Straße, redete mit einem Mann, der ihm bekannt vorkam, stand an einer anderen Theke, trank Whisky, saß schon wieder in einer Taxe, lag im Hotelbett.
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Gegen ein Uhr mittags wachte er auf. Wieder zog er sich aus, duschte, rasierte sich, zog sich an, ging wieder in die Kneipe neben der Tankstelle, aß wieder ein blasses Huhn, trank Mineralwasser. Dann stieg er in sein Auto, suchte auf dem Stadtplan eine Straße heraus. Ohne besondere Eile fuhr er dorthin. Es waren nur wenige Kilometer. Er hielt vor einer Villa, dicht an der Garagentür, neben den Mülleimern in der Zufahrt. Er nahm die Pistole ohne Papiertaschentuch aus dem Umschlag und wartete. Er wartete lange, fast zwei Stunden. Endlich öffnete sich die Haustür. Ein Mann kam heraus, ging quer über den Vorgartenrasen. Er trug ein großes goldenes Papposterei mit rosa Schleife. Eine alte Frau mit blauweißen Haaren und einer ähnlichen rosa Schleife darin stand in der Tür und blickte hinter dem Mann her. Die Haare erinnerten den Schweden an die nette alte Dame vom Flughafen. Sonst gab es keine Ähnlichkeit zwischen den beiden. Sie schloß die Haustür erst, als der Mann neben den Mülleimern angelangt war. Er schien zu überlegen, ob er das Ei nicht in den Mülleimer werfen sollte. In diesem Augenblick schoß der Schwede durchs Autofenster. Die Scheibe splitterte, der Mann taumelte, das Osterei rollte über den Rasen. Der Schwede fuhr sofort zurück zum Motel, ließ das Auto unverschlossen stehen, die Scheibensplitter über Beifahrersitz und Fußmatte verstreut, Pistole, Papiertaschentuch und Umschlag im offenen Handschuhfach. Er lag regungslos auf dem Bett und starrte zur Zimmerdecke, als eine Stunde später vier Polizisten die unverschlossene Tür gegen die Wand traten. »Fertig?« fragte der Kommissar. »Lassen Sie sehn.« Er saß in Hemdsärmeln hinter dem Schreibtisch, grauhaarig, untersetzt, nahe der Pensionierung. Er schwitzte. Hilfesuchend blickte er kurz zum Bürofenster. Aber er hatte es vorhin selbst geschlossen, weil die Hitze draußen noch drückender war als drinnen. Das Fenster ging zum Innenhof. Nichts war von dort zu hören, auch in den Korridoren der verschiedenen Flügel des riesigen Gebäudes war es feiertäglich still, bis auf ein Türenschlagen zehn Zimmer weiter, Schritte, die sich entfernten. Der Kommissar betrachtete die beiden Männer vor sei-
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nem Schreibtisch, den Blassen, Nervösen im dunklen Anzug, der eine Zigarette nach der andern rauchte, und den andern, den Ruhigen im roten Leinenhemd, und er horchte auf die Dreifingeranschläge des jungen Beamten, der schräg hinter ihm unsicher in die alte Maschine hackte. »Nun?« sagte der Kommissar. Der junge Beamte stand ungeschickt auf, zog den Bogen aus der Maschine und reichte ihn dem Kommissar. Der überflog den Text. »Ja«, sagte er. »Aber Martinsson mit Doppel-s, bitte.« Der junge Beamte nahm den Bogen, spannte ihn wieder ein, hantierte mit der Leertaste, tippte einmal kurz, saß dann schwitzend und abwartend da. »So weit die persönlichen Daten.« Der Kommissar lehnte sich zurück. »Jetzt zum eigentlichen Tathergang.« Der Mann im dunklen Anzug drückte die Zigarette aus und wendete sich an den Mann im roten Leinenhemd: »Så långt personliga fakta. Nu skall wi tala om själva händelseförloppet.« Der andere fuhr sich plötzlich mit beiden Händen durch die dichten dunklen Locken, atmete tief ein und aus, saß dann wieder ruhig, sagte rauh: »Det är överflödigt att översätta till mig. Jag förstår tyska så pass, även om min tyska är dålig.« Der Mann im dunklen Anzug wendete sich an den Kommissar: »Herr Martinsson bittet mich, noch einmal darauf hinzuweisen, daß er Deutsch zwar nicht gut spricht, aber gut versteht. Er hält es für überflüssig, daß Ihre Fragen von mir übersetzt werden. Er möchte, daß nur seine Antworten von mir übersetzt werden.« »Wenn er meint«, sagte der Kommissar. »Ja, wie war das nun, Herr Martinsson?« »Verzeihung«, unterbrach ihn der Dolmetscher und zündete sich eine neue Zigarette an. »Es ist nur, ich wüßte gern, wie lange ich hier wohl noch benötigt werde. Meine Frau und ich sind zu einer Hochzeit eingeladen. Glauben Sie, es ist möglich… ich meine…« »Lieber Herr Seibert«, sagte der Kommissar, »man hofft ja immer, wenn man Feiertagsdienst hat, nicht wahr, daß nichts passiert. Ja, das hofft man. Bedenken Sie, wir haben Sie gestern nicht behelligt. Sie hatten einen schönen Ostersonntag.«
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Der Dolmetscher nickte ohne Überzeugung, rauchte, entschloß sich dann zu einem Lächeln. »O. K.«, sagte er. Martinsson blickte vor sich hin, schien nicht zuzuhören. Der Kommissar beugte sich ein wenig vor: »Herr Martinsson. Sie wollten also Heinrich Lodemont töten. Warum?« »Nein«, sagte Martinsson. »Nein?« »Wollte nicht.« »Nicht? Aber Sie haben doch gestern gestanden, daß Sie auf ihn geschossen haben.« »Mußte.« »Unsinn. Niemand hat Sie gezwungen zu gestehen.« Martinsson antwortete nicht. »Ingen har tvingat er att erkänna«, übersetzte Seibert. »Mußte schießen«, sagte Martinsson. »Wollte nicht. Und töten wollte ich auch nicht.« »Wenn Sie das mal erklären würden, Herr Martinsson.« Martinsson zuckte die Schultern, schwieg. »Om ni ville förklara det dar, Herr Martinsson«, sagte Seibert. Martinsson sah aus dem Fenster. Der Kommissar lehnte sich zurück. Er fühlte, wie ihm ein Tropfen in den Kragen rann, wischte ihn mit dem linken Mittelfinger weg. Dann fing er wieder an: »Sie sind also zweiunddreißig Jahre alt und von Beruf Nachtportier im Hotel«, er wendete sich an den jungen Beamten hinter ihm, »wie heißt das Hotel in Malmö?« »Nöjd«, las der ab vom Blatt in der Schreibmaschine. »Nöjd«, verbesserte Seibert. »Hat er doch gesagt, Nöjd, oder?« »Aber die korrekte Aussprache ist Nöjd.« »Nöjd?« »Ja.« »Hab ich es also richtig ausgesprochen?« »Ungefähr.« »Nöjd, ja«, sagte Martinsson und sah den Kommissar an. »Stimmt auch. Bin zufrieden.« »Ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
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»Nöjd bedeutet auf schwedisch ›zufrieden‹«, erklärte Seibert. »Ach so. Hotel Zufrieden. Nun ja, wenn nicht nur die Angestellten des Hotels zufrieden sind, sondern auch die Gäste…« »Leute heißen so«, sagte Martinsson. »Nils und Gunhild Nöjd.« »Aha. Und da sind Sie nun seit vier Jahren Nachtportier. Was haben Sie vorher gemacht?« Martinsson betrachtete die Papiere auf dem Schreibtisch, schwieg, »Och där hat ni varit nattportier nu i fyra aar«, sagte Seibert. »Vad har ni gjort innan?« »Innan?« murmelte Martinsson. »Haben Sie Herrn Dr. Rudolf Prehl in diesem Hotel kennengelernt? War Dr. Prehl Gast des Hotels?« Martinsson schüttelte den Kopf. »Nöjd är ett litet hotel vid hamnen… Dr. Prehl hade större pretentioner… han brukade ta in på ›Kung Karl‹ när han kom i affärer till Malmö.« »Nöjd ist ein kleines Hotel am Hafen«, sagte Seibert. »Dr. Prehls Ansprüche – Dr. Prehls Ansprüchen würde es nicht genügen. Er ist immer im ›König Karl‹ abgestiegen, wenn er geschäftlich nach Malmö kam.« »Wo haben Sie Dr. Prehl kennengelernt?« fragte der Kommissar. Und nach ein paar Sekunden, als wieder keine Antwort kam, setzte er ruhig hinzu: »Herr Martinsson.« »På sjukhuset«, antwortete Martinsson plötzlich. »Han hade slagit runt med sin bil vid en… panikbromsning. För att undvika köra över ett barn. Han… fick en hjärnskakning.« »Im Krankenhaus«, sagte Seibert. »Sein Auto hatte sich überschlagen, als er scharf bremste, um ein Kind nicht zu überfahren. Er hatte eine Gehirnerschütterung.« »Und Sie, Herr Martinsson? Weshalb waren Sie im Krankenhaus?« »Auch ein Unfall.« »Was für ein Unfall?« »Varför vill ni veta det?« »Er fragt, warum Sie das wissen wollen.« Der Kommissar seufzte. »Ich bin verpflichtet, nicht nur Tatsachen festzustellen, die Sie belasten, sondern auch solche, die Sie entlasten könnten.«
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»Vad skall det finnas för förmildrande ömständigheter?« murmelte Martinsson. »Was soll es da zu entlasten geben?« sagte Seibert. »Überlassen Sie das dem Gericht.« Martinsson nickte. Dann erklärte er: »Jag föll.« »Er ist abgestürzt.« »Wovon oder womit sind Sie abgestürzt? Waren Sie Flieger? Dachdecker? Bergsteiger?« Martinsson lachte. Es war ein unerwartetes kurzes trocknes Lachen, das wie ein Aufbellen klang. Der Kommissar, der Dolmetscher, der junge Beamte sahen Martinsson an. »Den handlar om en kran… en stör byggnadskran«, sagte Martinsson. »Jag var kranmontör. För sju år sedan.« »Es handelt sich um einen Kran, um einen großen Baukran. Ich war Kranmonteur, vor sieben Jahren.« »Jag höll på att montera utliggaren… Tvärarmen… En bult hade lossnat…« Martinsson sprach stockend, aber zwischen den Stockungen schnell, leise, monoton, und während er sprach, blickte er angespannt auf die Papiere, die den Schreibtisch des Kommissars bedeckten. Es schien, als hörte er nicht, was Seibert neben ihm übersetzte. Zumindest achtete er nicht darauf, redete einfach weiter: »Den hade inte fästs riktigt.« »Ich war dabei, den Ausleger zu montieren. Den Querarm. Da hat sich ein Pflock gelöst.« »Kranarna måste säkras… genom bultar.« »Der war nicht richtig befestigt worden. Die Kräne müssen durch Pflöcke…« »Kranen svajade… och vek sig.« »…durch Pflöcke gesichert werden. Der Kran schwankte und…« »Jag tappade balancen och halkade… nedför kranarmen.« »…schwankte und neigte sich zur Seite. Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte ab, über den Ausleger hinunter.« »Första tiden künde jag hålla mig… med händerna.« »Zunächst konnte ich mich noch festhalten, mit den Händen.« »Men brandkåren kom inte med brandseglet.«
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»Aber die Feuerwehr kam nicht mit dem – mit dem Sprungtuch.« »Så… jag hängde dar ett… ett par minuter uppe i lüften.« »So – so hing ich da oben, da oben ein paar Minuten in der Luft.« »Wie hoch?« wollte der Kommissar wissen. »Fünfzehn Meter«, sagte Martinsson. »Fünfzehn Meter?« Martinsson zeigte auf die Papiere. »Ja. Da.« Und redete weiter in seinem stockenden, hastigen, teilnahmslosen Schwedisch, dem der Dolmetscher manchmal nur mit Mühe folgen konnte: »Unter den Papieren, die man mir bei meiner Verhaftung abgenommen hat, sie liegen dort auf Ihrem Schreibtisch, befindet sich auch ein Dokument, eine Bescheinigung des Krankenhauses von Malmö. Und ein Foto. Einer hat mich von unten fotografiert. Sie konnten ja nichts machen. Ich auch nicht. Das Metall war glatt. Ich durfte mich nicht bewegen. Ich rutschte trotzdem ab. Meine Finger hatten keine Kraft mehr. Ich sah hinunter, sah, wie die Feuerwehr… sah die Feuerwehr auf den Platz einbiegen. Ich sah, wie ein paar Kollegen Matratzen aus Nachbarhäusern heranschleppten. Zu spät. Mein Glück war, daß ich auf den Füßen ankam. Senkrecht. Im Stehen.« »Kopf heil«, sagte Martinsson. »Kaputt alles andere.« »Sie tragen dies Foto und diese Bescheinigung immer bei sich?« fragte der Kommissar. »Immer.« »Sie haben unglaubliches Glück gehabt.« Martinsson lachte wieder sein kurzes bellendes Lachen. »Was haben Sie gedacht, während Sie in die Tiefe stürzten?« »Nichts.« »Waren Sie bewußtlos?« »Nein.« Der Kommissar nahm den Blick von dem winzigen Menschen, der mit verzweifelt an den Körper gekrümmten Beinen in großer Höhe unter einem Stück Eisen hing, in das er sich, wie es schien, mit den Fingernägeln zu krallen versuchte. Der Kommissar schob das Foto beiseite und betrachtete das Gesicht vor ihm, die scharfen Längsfalten, die vielen kleinen Falten um die weit auseinanderstehenden grauen Augen, die keine Lachfältchen waren, die etwas groben, aber
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ursprünglich schön geschwungenen Lippen, die wie ausgeblutet wirkten, wie jahrelang zerbissen. Er gab sich keine Mühe mehr, in den schwedischen Lauten, die Martinsson jetzt wieder starr zu ihm hinübersprach, irgend etwas zu entdecken, das ihm vertraut oder bekannt sein könnte. Die Sprache blieb ihm fremd, unzugänglich, ermüdete ihn, und er konzentrierte sich ganz auf die heisere Raucherstimme des Dolmetschers, die Martinsson zögernd folgte. »Nicht einmal – nicht einmal, als ich aufprallte, verlor ich das Bewußtsein. Dieser wahnsinnige, entsetzliche, dieser ungeheure Schmerz, das Knirschen im Kopf, als wollte mir jemand, mir jemand von unten das Gehirn durch die Schädeldecke pressen, nach draußen, aber ich blieb stehn. Erst als ich, als ich meine Stiefel sah, meine Füße in den Stiefeln, ich stand neben meinen umgekippten Füßen… Die Knochen von meinen Beinen hatten sich durch die Stiefel in den Lehmboden gebohrt, so stand ich auf zersplittertem Schienbein und Wadenbein, ohne Füße. Die hingen nur noch mit ein paar Sehnen am Bein. Erst da bin ich ohnmächtig geworden. Als ich das sah.« »Wie lange waren Sie anschließend im Krankenhaus?« Gleichmütig gab Martinsson Antwort, und auch Seibert bemühte sich, keine Emotionen zu zeigen. Aber unwillkürlich wurde seine Stimme leiser. »Zwei Jahre. Die Wirbelsäule war gestaucht, alle Knochen gebrochen, der Brustkorb auf den Rücken verschoben. Der Kiefer… die Zähne… ein Stück Zunge… wurde angenäht. Dann noch siebenundzwanzig Operationen. Aber ich fühlte nichts. Querschnittlähmung. Trotzdem hatten sie mir auch die Füße wieder angenäht. Und nach drei Monaten plötzlich noch mal dieser wahnsinnige Schmerz, ich konnte auch einen Zeh bewegen. So fing es an. Das war, ich war sehr glücklich. Wenn auch die Schmerzen, ich konnte nicht schlafen, monatelang nur zwei, drei Stunden. Das ist so geblieben. Auch heute, wo die Schmerzen nicht mehr so, im Vergleich zu früher spüre ich ja fast nichts mehr. Meistens. Aber ich kann nur vormittags zwei Stunden schlafen. Und nur, wenn ich starken Kaffee vorher getrunken habe. Man hat mir im Krankenhaus so viele Betäubungsmittel gespritzt, und ich bin trotzdem wach geblieben, vielleicht hat sich da was umgedreht. Manchmal auch…«
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»Ja?« »Manchmal alle zwei, drei Wochen, mit Alkohol, schlafe ich dreißig Stunden.« »Und wann innerhalb dieser zwei Jahre haben Sie Dr. Prehl kennengelernt?« »Inte under dessa två år«, murmelte Martinsson. »Nicht in diesen zwei Jahren«, sagte Seibert. »Nicht?« »Nein«, murmelte Martinsson. »Aber Sie sagten doch: im Krankenhaus.« »Später.« »Wann?« Martinsson antwortete wieder schwedisch, noch hastiger, noch stockender als zuvor. »Ich muß… ich muß jedes Jahr sechs Wochen zurück ins Krankenhaus.« Seibert steckte sich die nächste Zigarette an. »Immer wenn die Schmerzen wiederkommen. Wenn die Wirbelsäule wieder zusammensackt, weil sie das Gewicht nicht tragen kann. Dann strecken sie mich, sie strecken mich im Krankenhaus. Sie hängen mich an Gewichte, die mich auseinanderziehen.« »Und bei einer solchen Gelegenheit haben Sie Dr. Prehl kennengelernt.« »Ja«, sagte Martinsson. »Wann?« »Vor drei Jahren. Im Sommer. Sprach mit mir. Gab mir Bücher.« »Was für Bücher?« »Weiß nicht. Habe nicht gelesen. Han var snäll mot mig.« »Er war gut zu mir«, sagte Seibert. »Sie haben keine Eltern mehr?« »Nein.« »Sie sind nicht verheiratet?« »Nein.« »Haben Sie eine Freundin?« »Nein.« »Haben Sie Freunde?«
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Martinsson murmelte Unverständliches. Dann stieß er hervor: »Kollegen. Früher. Nicht Freund.« »Dr. Prehl würden Sie nicht als Ihren Freund bezeichnen?« Martinsson wollte antworten, zögerte, lehnte sich zurück. Dann erst sagte er: »Ich weiß nicht.« »Aber er war doch Ihr Freund?« Martinsson schwieg. »Wie oft haben Sie Dr. Prehl gesehen?« »Kam viermal nach Malmö.« »In drei Jahren viermal?« »Ja.« »Sie leben also allein.« »Ja. Immer.« »Warum? Sie sind, trotz Ihres Unfalls, ein gutaussehender Mann, Sie könnten…« Martinsson schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, daß die Schreibtischlampe klirrte, und schrie den Kommissar an: »Fan också!« Das war so überraschend gekommen, daß sich zwei Sekunden niemand rührte. Dann bückte sich der Dolmetscher, hob die Zigarette auf, die ihm aus den Fingern gefallen war, und redete dabei leise auf Martinsson ein: »Ta det nu lugnt!« »Låt mig vara i fred!« schrie Martinsson. »Herr Martinsson«, sagte der Kommissar nun, ruhig wie zuvor, entfaltete ein Taschentuch und wischte sich das Gesicht. »Herr Martinsson!« wiederholte Seibert, als sei ihm damit die Übersetzung eines schwierigen Begriffs gelungen. »Jaja«, murmelte Martinsson. »Jag har skjutit, det har jag sagt. Punkt och slut.« »Ich habe geschossen, das habe ich gesagt und fertig.« »Jag vill inte bli plagad. Jag vill inte, jag vill inte.« »Ich will nicht gequält werden, ich will nicht, ich will nicht.« Während Seibert übersetzte, redete Martinsson schon weiter, ohne Bewegung, und es kümmerte ihn nicht, daß er den Dolmetscher schockierte. Der hustete.
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»Das ist nämlich so… kein Gefühl mehr da, wo man es braucht. Nur noch im… im Arsch. Geht nur noch Arsch hinhalten. Wenn Sie jetzt begreifen.« »Zunächst möchte ich sagen«, meinte der Kommissar und steckte das Taschentuch wieder weg, »daß ich nicht vorhabe, Sie zu quälen. Es geht um…« »Fakta, jag vet«, murmelte Martinsson. »Tatsachen«, sagte Seibert. »Eben. Vielleicht sollten Sie sich doch entschließen, einen Anwalt beizuziehn. Es ist Ihr Recht.« »Kein Anwalt«, sagte Martinsson. Der Kommissar seufzte. »Und was nun das soeben von Ihnen geschilderte Verhältnis zwischen Ihnen und Dr. Prehl anlangt…« »Jag har inte skildrat mit förhållande till Dr. Prehl.« »Ich habe nicht mein Verhältnis zu Dr. Prehl geschildert.« »Nicht?« »Nein. Sa dar är det med andra… Med gäster på Hotell Nöjd. De betalar… och är nöjda.« »So ist es mit andern. Mit… mit Gästen des Hotels Nöjd. Sie zahlen… und sind zufrieden.« »Martinsson, ich glaube Ihnen nicht, daß Sie ein Strichjunge sind.« »Nicht?« Martinsson lächelte. Sein Lächeln kam ebenso unerwartet wie sein Faustschlag. Es war ein sanftes schüchternes Lächeln. »Ich glaube auch nicht.« »Wie war es nun mit Dr. Prehl?« »Anders.« Geduldig insistierte der Kommissar: »Wie?« »Mina ärr, dorn… smekte han. Han hade också ärr… på båda armarna. Jag smekte hans ärr.« »Er hat meine Narben… gestreichelt. Er hat auch Narben… an beiden Armen. Ich habe seine Narben gestreichelt.« »Narben gestreichelt«, sagte der Kommissar nach einer Pause. »Ja«, sagte Martinsson. »Er war Rennfahrer, früher. Sein Rennwagen hat gebrannt.« »Warum sind Sie am Gründonnerstag nach Frankfurt gefahren?« »Ich wollte Rudolf besuchen.«
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»Warum?« »Er war traurig. Er hat angerufen. Er sagte: Sven, ich brauche dich.« »Wußten Sie, daß Dr. Prehl seit drei Jahren ein Verhältnis mit Frau Lodemont hatte? Daß sie bei ihm wohnte?« Martinsson atmete tief ein, schwieg. »Visste ni att Dr. Prehl…« fing Seibert an. Martinsson unterbrach ihn. »Nein. Wußte nicht.« »Hat er es Ihnen hier erzählt?« »Ja.« »Auch, daß Frau Lodemont vor etwa sechs Wochen das Verhältnis beendet hat?« »Ja.« »In seinem Telefongespräch hat er nichts davon erwähnt?« »Nein.« »Das hat genügt? Daß Prehl anrief und sagte: Sven, ich bin traurig, und Sie sind gefahren.« »Ja. Hat genügt.« »Und Sie können über die Feiertage, wo es doch viel Arbeit gibt, nicht wahr, einfach so aus dem Hotel verschwinden?« »Krankenhaus. Ich war wieder im Krankenhaus.« »Die lassen Sie, während Sie gestreckt werden, nach Frankfurt fahren? Und noch mit dem Auto?« Der Kommissar kannte nach zwei Tagen Martinssons Gesicht. Er wußte, wie es sich veränderte, wenn Martinsson wieder ins Schwedische fiel. Er beobachtete die Veränderung, versuchte sich zu erinnern, wo er in letzter Zeit einem ähnlichen Gesichtsausdruck begegnet war, und hörte Seibert nicht mehr sehr konzentriert zu. »Man kann Urlaub über Ostern bekommen. Ich habe gesagt, ich will nach Stockholm zu meiner Freundin fliegen. Fliegen, das dauert von Malmö knapp eine Stunde. Aber ich würde nie fliegen. Der Flugplatz von Malmö ist falsch angelegt… Da ist immer Nebel. Jedenfalls, sie haben es geglaubt, und ich bin noch Donnerstagabend mit der Fähre nach Dänemark. Dann die Nacht durchgefahren. Und Freitagmittag war ich hier. Dienstagfrüh muß ich zurück sein.«
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»Ja, das wird sich wohl kaum machen lassen«, sagte der Kommissar und gab es auf, in seiner Erinnerung zu forschen. »Aber ich muß morgen zurück sein.« »Martinsson. Dann hätten Sie die Finger von dieser Pistole lassen sollen. Warum haben Sie auf den Mann von Frau Lodemont geschossen?« Martinsson sah an ihm vorbei auf den Kalender an der Bürowand. »Woher haben Sie die Pistole?« Martinsson sah den Kommissar an. »Ist es Ihre?« »Nein«, sagte Martinsson. »Bei Ihrer ersten Vernehmung am Ostersonntag, also gestern, haben Sie angegeben, Frau Lodemont habe Ihnen die Pistole gegeben. Aber Frau Lodemont hat inzwischen glaubhaft versichert, sie habe Sie nie gesehen. Und Sie waren außerstande, Frau Lodemont zu beschreiben. Hat nicht Dr. Prehl Ihnen die Pistole gegeben?« Da Martinsson nicht antwortete, fing Seibert an, zu übersetzen, was der Kommissar gesagt hatte. Aber Martinsson winkte barsch ab. Und der Dolmetscher verstummte nach einem fragenden Blick auf den Kommissar. »Martinsson, hat Dr. Prehl Ihnen die Pistole mit dem Auftrag übergeben, Heinrich Lodemont zu töten? Ja oder nein?« »Pistole übergeben, ja«, sagte Martinsson. »Um Lodemont zu töten?« Martinsson schwieg. »Haben Sie Schmerzen, Martinsson?« Martinsson nickte teilnahmslos. »Wir werden nachher den diensttuenden Arzt verständigen. Inzwischen wollen wir mal zusammenfassen.« Der Kommissar wendete sich an den Beamten hinter ihm und begann zu diktieren: »Zur Tat selbst äußere ich mich wie folgt.« Der Beamte hackte in die Maschine. »Im Sommer des Jahres 1980 machte ich…« »Neunundsiebzig«, verbesserte Martinsson erschöpft und sah auf seine Hände.
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»1979 machte ich in einem Krankenhaus von Malmö – wie hieß das Krankenhaus?« »Städtisch«, murmelte Martinsson. »Im Städtischen Krankenhaus Malmö die Bekanntschaft von Dr. Rudolf Prehl, der wegen einer Gehirnerschütterung, stimmt doch? Gehirnerschütterung?« Martinsson blickte auf. »Um Lodemont zu töten, ja«, sagte er plötzlich. Die Frau saß an einem niedrigen Tisch vor dem geöffneten Mansardenfenster und ließ ihre Finger über die Tasten einer elektrischen Schreibmaschine gleiten. Außer den leisen Geräuschen der Maschine und dem Tschilpen von Spatzen in den Baumkronen unter dem Fenster war nichts zu hören. Die Sonne schien schräg zwischen zwei Hochhäusern in die verwohnte Kammer und auf das Gesicht der Frau. Der machte die Hitze nichts aus. Im Gegenteil, sie schien sie zu genießen. Sie hatte nur einen Slip an und eine elastische Binde um den linken Knöchel. Die mit einem Samtband locker zusammengebundenen rotbraunen Haare hingen ihr über den weißen Rücken. Rotbraun schimmerten auch ihre Fingernägel und ihre Lippen, selbst die Augen schienen die gleiche Farbe zu haben. Gelegentlich blähte sie die Flügel ihrer etwas zu breiten Nase, oder sie kratzte sich, den Blick auf die Papiere neben der Maschine gerichtet, mit einer Hand zwischen den Brüsten, während die andere weiterschrieb. Vielleicht hatte sie das Klopfen überhört, auch das diskrete Türöffnen und -schließen. Das schwere Atmen hinter ihr war nicht zu überhören. Schon gar nicht die asthmatische Stimme. »Frau Gerlinde Lodemont? Verzeihn Sie, daß ich hier so einfach…« Sie schrieb weiter. »Frau Lodemont.« Sie blickte auf. Zwischen Tür und Waschbecken stand ein etwa fünfzigjähriger, fast kahlköpfiger Mann, hager, dennoch schwitzend im hellen, sehr teuren Sommeranzug. Er stützte sich aufs Waschbekken und versuchte ein Lächeln, während er mit grauem Gesicht nach Atem rang. Sie beugte sich wieder über die Papiere, schrieb.
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»Ich weiß«, sagte sie dabei in die Maschine, »der Portier ist bestechlich, und der Aufzug funktioniert nicht. Waren schon zwei vor Ihnen da, jünger als Sie, den Stimmen nach. Glücklicherweise hatte ich abgeschlossen. Die sind umsonst rauf gehechelt. Und auch Sie haben Ihr Herz umsonst angestrengt, indem Sie fünf Stockwerke hochgekrochen sind. Sowie Sie anfangen, Fotos zu machen, werf ich Sie die Treppe runter. Ich bin kräftiger als Sie.« Er nahm den moosgrünen Morgenrock vom Türhaken, näherte sich ihr. Sie schrieb weiter. Er legte ihr den Morgenmantel behutsam über die Schultern. »Ich bin nicht gekommen, um Fotos zu machen«, antwortete er, und sein Atem ging ruhiger. »Ich bin der Anwalt von Dr. Rudolf Prehl. Hier, meine Karte.« Er zog die Karte aus der Reverstasche und legte sie neben die Schreibmaschine. Sie schüttelte den Morgenrock von den Schultern, während sie weiterschrieb. »Ich will nicht gestört werden.« Sie warf den Morgenrock an ihm vorbei aufs Bett. »Und ich habe nicht vor, für Prehls Anwalt mein Leben auch nur eine Sekunde zu ändern. Wenn meine Brüste Sie stören, verschwinden Sie. Ich habe zu tun.« Er wich einen Schritt zurück, lehnte sich an den Schrank. »Ja, Sie tippen Bewerbungsschreiben.« Der Schrank knackte. »Aber von einer Chefsekretärin wird der Nachweis kontinuierlicher Büropraxis verlangt.« »Raus«, murmelte sie, ohne mit Schreiben aufzuhören. »Und die haben Sie, wenn ich richtig unterrichtet bin, nur sehr begrenzt. Als Kindergärtnerin, vor Ihrer Verehelichung mit Heinrich Lodemont, konnten Sie sie wohl kaum erwerben. Und während Sie sich umschulen ließen zur Bürohilfe, um Ihrem Mann in schwieriger Aufbauzeit beim Entwickeln des Geschäfts zu helfen, erfolgte ein so rasanter Aufschwung der Lodemont KG, daß Ihre Hilfe zwischenzeitlich nicht mehr nötig war.« »Raus!« »Jetzt hingegen könnten Ihre Fähigkeiten in der Lodemont KG voll zum Tragen kommen. Ihr Mann hat Ihnen verziehen.«
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Die Frau nahm die Hände von der Schreibmaschine, sah den Anwalt an. »Was hat er?« »Ihnen verziehen.« Die Frau lachte. Ihre rosigen, kindlich wirkenden Brustspitzen zitterten. »Frau Lodemont.« »Er hat mir verziehen!« »Ja.« Der Anwalt bemühte sich, seine Augen nicht abirren zu lassen. »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Es geht Herrn Lodemont sagen wir: den Umständen entsprechend. Das Geschoß ist aus der Schulter entfernt worden. Keine Lebensgefahr mehr. Er würde sich über Ihren Besuch freuen. Er möchte über Ihr künftiges Aufgabengebiet innerhalb der Lodemont KG mit Ihnen sprechen.« »Über mein künftiges Aufgabengebiet«, murmelte sie und wendete sich wieder ihren Papieren zu, nahm das Blatt aus der Schreibmaschine. »Ja. Sein Haus in Kronberg steht Ihnen offen. Es wartet, sagt er, auf seine Herrin.« »Sein Haus in Kronberg.« »Ja.« »Wartet.« »Ja.« »Auf seine Herrin.« »Das waren seine Worte.« Die Frau legte das Blatt beiseite. Plötzlich redete sie frankfurterisch. »Mach Sache. Ei mir dut ja gleich des Wasser in die Aache hippe.« Sie spannte einen neuen Bogen ein. »Wessen Anwalt sind Sie? Lodemonts oder Prehls?« »Dr. Prehls, wie ich schon erwähnte. Aber das schließt ein Gespräch mit Dr. Lodemont nicht aus. Zumal es, selbstverständlich, in Gegenwart des Anwalts von Dr. Lodemont stattfand.« »Und da seid ihr drei euch einig geworden.« »So kann man es nennen.« »Ihr vier. Wenn man Ihren Klienten dazuzählt.«
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»Wenn Sie so wollen, ja. Dr. Prehl befindet sich zwar zur Zeit nicht in der Bundesrepublik. Aber wir stehen in Verbindung.« »Na klar«, murmelte sie. »Na sicher.« Sie drehte sich nach ihm um. »Weshalb sind Sie hier? Denn dieser Schwachsinn mit Haus und Firma, die auf mich warten, das hab ich ja begriffen, das ist der drekkige Köder.« »So möchte ich das nicht verstanden wissen.« »Ach nein. Aber Sie wollen doch was von mir, oder?« Die Frau stand auf, ging an ihm vorbei zum Bett, ignorierte seine Blicke, sein rasselndes Luftholen und zog sich den Morgenrock über, schloß ihn sorgfältig. Dann setzte sie sich aufs Bett, zeigte auf den Stuhl, der sinnlos im Zimmer herumstand, seit sie den Tisch und den zweiten Stuhl ans Fenster gerückt hatte. »Wenns Ihnen zu warm wird, ziehn Sie aus, was Sie stört«, sagte sie. »Aber das ist keine Einladung, sich hier breitzumachen.« »Sehr liebenswürdig.« Der Anwalt ließ sich umständlich auf dem Stuhl nieder und lockerte seine Krawatte. »Danke.« »Also?« »Als Anwalt muß ich alles bedenken. Das werden Sie verstehn. Zwar gibt es bisher keinen Beweis dafür, daß Dr. Prehl Herrn Martinsson aufgefordert hat, Dr. Lodemont zu töten. Und ohne einen solchen Beweis bleibt alles, was dieser Martinsson eventuell aussagt, Geschwätz. Zum Beispiel auch, sollte er auf die Idee kommen, zu behaupten, er habe von Dr. Prehl eine Pistole erhalten. Dr. Prehl hatte nie eine Pistole. Oder haben Sie je eine Pistole bei Prehl gesehn?« Die Frau antwortete nicht. »Aber gesetzt nun, es gäbe einen solchen Beweis…« »Wenn ich ihn hätte, diesen Beweis, ich würd ihn sofort dem Staatsanwalt vorlegen!« unterbrach ihn die Frau heftig. Der Anwalt sah sie an und hob ein wenig die Hände. »Würden Sie«, fragte er langsam, »würden Sie vor Gericht aussagen, daß Sie Dr. Prehl gegenüber geäußert haben, Sie verließen ihn, um zu Heinrich Lodemont zurückzukehren?« »Nein.«
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»Dr. Prehl ist der festen Überzeugung, daß Sie ihn nur aus diesem Grund verlassen haben.« »Seine Sache.« »Ich muß, gegebenenfalls, meine Verteidigung darauf stützen, daß ein anderer Grund für Dr. Prehl nicht vorstellbar war. Daß er deshalb den Kopf verlor.« »Ihre Sache. Im übrigen hat Prehl seinen Kopf noch. Aber er benutzt ihn nur, um sich Sachen auszudenken, mit denen er sich belügen kann.« »Frau Lodemont.« »Hören Sie.« Die Frau suchte auf dem Nachttisch nach Zigaretten. »Ich hab in meinem Leben zwei große Fehler gemacht. Den ersten, als ich Lodemont heiratete, den Jammerlappen, das Muttersöhnchen. Den zweiten, als ich zu Prehl zog, weil ich blödes Huhn ihn für einen Kerl hielt. Ein ehemaliger Rennfahrer! Ein Doktor beider Rechte! Ein enormer Geschäftsmann! Aber er ist auch bloß ein Jammerlappen, nur ausgekochter. Soll ich, wenn ich das endlich begriffen habe, jetzt von Jammerlappen zu Jammerlappen zurückgehn? Auf so eine Idee kann nur ein Mann kommen.« »Frau Lodemont.« Der Anwalt hob wieder beschwörend die Hände. »Zurück zu Lodemont! Zurück zu seiner Mutter, die mir die Löffel in die Schublad zählt und die Slips auf den Arsch. Ei was, das glaub ich, daß Lodemont da mitmacht. Triumph von einem Affen über den anderen: Du hast mir die Frau weggenommen, jetzt hab ich sie wieder. Und ich verzeih ihr. So großzügig bin ich. Diese Affen.« Der Anwalt ließ die Hände sinken. »Wir sollten das Gespräch vielleicht fortsetzen, wenn Sie den Ereignissen weniger emotional…« Plötzlich stand die Frau auf, begann, hin und her zu gehen. »Wissen Sie, was mir die Mutter gesagt hat, als der Heiner mich ihr vorstellte? Da waren wir beide neunzehn, und das Reff, die krumme Schaufel, vor ihren Picassos saß sie und vor den alten Holländern, bei Kerzenlicht, und sie sagte, als der Heiner einen Moment draußen war: Mein Kind, sagte sie, es ist ja gut, daß Sie Kindergärtnerin sind, ich wünsche mir für den Heiner selbstverständlich ein sauberes Mädchen, bis er nach Boston geht zum Studieren, aber wenn Sie dann
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einen braven Mann heiraten wollen, soll es an meiner Hilfe nicht fehlen.« Die Frau zündete sich im Hin-und-her-Gehen die Zigarette an. »So hat sie gesprochen, 1962. Als wär noch neunzehntes Jahrhundert. Und ich bin rausgerannt aus der feinen Villa am Holzhausenpark, wo der alte Lodemont sich fünfundvierzig unterm unzerstörten Renaissancedach aufgehängt hatte, als die Amis ihn rausschmissen, aber davon wurde natürlich nie geredet. Auch nicht, als ich dann doch ihre Schwiegertochter wurde, ich Gans, aber ich liebte den Heiner, und er hatte sich wirklich, zum ersten und einzigen Mal, bei Mutteli durchgesetzt, er ging nicht nach Boston, er heiratete seine Gerlinde. Aber nun gings los, nun wurde ich von Mutteli erzogen, gleich am ersten Tag, als ich was Gutes über die Köchin sagte, weil mir schmeckte, was die kochte, mit Wonne hab ich da zugeschlagen, da sagte sie: Man lobt ein Essen nicht. Man setzt voraus, daß es gut ist. Dieser verdammte Calvinismus, da ist die Familie ja auch her, irgendwo aus der französischen Schweiz, Wasser vom Berg oder wie der Name ursprünglich geheißen haben soll, l’eau de mont, falls Sie französisch können, und diese Lodemonts, diese Calvinisten, die benehmen sich, nach zwei Weltkriegen, Nazis und während überall auf der Erde Millionen vor Hunger verrecken, noch immer wie die bekacktesten Großbürger, raffen mit zusammengebissenen Lippen drei Generationen lang Geld zusammen – und genießen es nicht mal! Ah, ich hab die Alte gleich gehaßt. Aber ich dachte, ich kann dem Heiner helfen, der Heiner wollte sich ja selbständig machen, ich wollte schuften, mit ihm zusammen, für ihn, damit wir von Mutteli wegkommen, aber als er sie dann hatte, seine Firma, saß Mutteli doch drin und kommandierte, sie hatte von Anfang an das Geld gegeben. Bloß daß wir jetzt eine eigene Wohnung hatten. Aber die bezahlte sie ja auch. Und als ich schwanger wurde, mußte ich zu einem aufgeblasenen Quacksalber, der fingerte mit fetten Händen an mir rum, schüttelte meine Pisse in Reagenzgläsern, sah mir tief ins Auge und verkündete dann: Es wird ein Mädchen. Da mußte ich nach London fliegen und abtreiben. Ja!« Die Frau schrie den Anwalt an. »Ja! Mutteli wollte kein Mädchen. Sie wollte einen männlichen Erben. Und sie schwor auf den Quacksalber. Und ich Kuh, immer noch vor Liebe blind, ich dachte, wenns
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dem Heiner nur hilft. Ich fliege also mit ihm nach London, und er säuft sich prompt durch die Pubs und Clubs und steigt hinter den Bienen auf der Carnaby Street her, das ging ja gerade los damals mit Mini und Beat. Und ich laß das mit mir machen. Dabei wärs ein Junge gewesen. Hinterher sah mich Mutteli an, als wärs meine Schuld. Und der Quacksalber schwor, er hätte sich noch nie geirrt, es müsse an mir liegen. An meiner Bosheit, meinte er natürlich. Um die Zeit wollte Heiner Mutteli erwürgen, ernsthaft, statt dessen fing er an, mich zu schlagen. Ich schlug dann aber zurück, da gingen Spiegel und gotische Madonnen in Stücke, einmal saßen wir erschöpft auf dem Perser und sahen eins dem andern zu, wies blutete. Wie das Blut aus Gesicht und Ellbogen in den Perser tropfte. Dazu die üblichen Versöhnungen, ich wurde wieder schwanger, hatte immer noch Hoffnung, ach was war ich bekloppt. Sogar den Quacksalber ließ ich wieder an mich ran. Diesmal: Wird ein Junge, sagte er. Sicherheitshalber wahrscheinlich. Aber Mutteli mußte Skifahren in St. Moritz, das heißt, sie mußte im Café sitzen, wo man im Winter sitzt, und Heiner mußte sie begleiten ins Café von St. Moritz. Bleib du zu Haus und schon dich, sagten sie, und sie meinten damit, daß ich ja doch nicht Skilaufen kann, wegen dieser Bänderschwäche am linken Fuß, hab ich mir als Kindergärtnerin geholt. Also, sie fuhren weg und vergaßen, mir Wirtschaftsgeld dazulassen. Da flog ich nach London mit tausend Mark, die ich heimlich vom Wirtschaftsgeld gespart hatte, und ließ den Jungen wegmachen. Ja, das hab ich getan.« Die Frau stand vor dem Anwalt, stieß Zigarettenrauch aus, und die Stimme brach ihr. Aber gleich rannte, rauchte und redete sie weiter. »Es war wirklich ein Junge. Wenn Sie sich vorstellen können, in welcher Verfassung ich war, ich bin ja auch nicht mehr in Lodemonts Wohnung zurück, ich wollte keinen von denen mehr sehn, ich wollte allein sein. Hier in diesem Zimmer hab ich gewohnt, ich war verschwunden, als Mutteli mit Heiner zurückkam, und während er mich überall suchte, bei Freunden und in Kneipen, stand ich bei den Mülltonnen hinter den Büschen vom Gartentor von Muttelis Villa, nachts, mit einer Zweiliterflasche in der Hand, voller Hoffnung, Mutteli kommt noch mal raus in den Garten, nach den Anstrengungen
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der Reise, aber sie kam nicht, glücklicherweise, sonst säß ich schon lang da, wo der Schwede bald sitzen wird. Ich wartete in der Kälte bis nach Mitternacht, bis alle Lichter ausgingen im Haus. Und auf dem Weg zurück ins Hotel bin ich umgekippt, in irgendeiner kleinen dunklen Straße, die ich sonst nie geh, und vor Prehls Auto. Wies so kommt. Und jetzt soll ich wieder zurück zum Heiner und zum Mutteli? Ich wär bescheuert, geben Sies zu. Vom Mutteli hab ich in der ganzen Zeit nur einen einzigen menschlichen Ton gehört, das war im ersten Jahr, als sie beim Kontrollieren der Gedecke für zwanzig Abendgäste, Silber, Meißener, Damast, Kristallvasen und so weiter, als sie da plötzlich furzte. Ich hab so gelacht, ich konnte mich zwei Stunden nicht beruhigen. Sie war natürlich beleidigt. Aber heute, da bin ich sicher, heute kriegte sie nicht mal mehr einen Furz hin.« Ebenso plötzlich, wie die Frau vom Bett aufgesprungen war, um hin und her zu rennen, ließ sie sich auf den Stuhl vor der Schreibmaschine fallen und schwieg. Der Anwalt, der mehrere Male vergeblich versucht hatte, sie zu unterbrechen, schwieg auch. Er wartete, bis die Frau die Zigarette auf einer Untertasse neben der Schreibmaschine ausgedrückt hatte. Dann sagte er vorsichtig: »Sie bräuchten ja nicht wirklich zu Lodemont zurückzugehn.« »Ach«, murmelte die Frau. »Auf einmal nicht.« »Es würde genügen, wenn Sie vor Gericht aussagten, daß Sie Dr. Rudolf Prehl gegenüber Ihre feste Absicht geäußert hätten, zu Heinrich Lodemont zurückzukehren. Es würde genügen.« »Wär gelogen.« »Nun, vielleicht, wenn Sie alles noch mal sorgfältig überlegen… sich genau erinnern…« »Ich erinnere mich«, sagte die Frau und betrachtete die Zigarettenreste auf der Untertasse, »daß ich vor etwa sechs Wochen, morgens, beim Frühstück, Prehl war schon ins Büro gefahren, aus Versehen einen Brief aufriß, der an Prehl adressiert war. Aber die Anrede war: lieber Gerlind. Nicht: liebe Gerlinde. Sondern: lieber Gerlind. Unterschrift: Dein Rudolf. Natürlich machte mich das neugierig. Ich dachte, vielleicht ist der Brief doch für mich. Und er ist von Prehl, der mich überraschen will. Aber er kam aus Malmö. Und auf dem Umschlag stand als Absender: Sven Martinsson. Der rührende Brief
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eines jüngeren Mannes an einen älteren, sehr verehrten, sehr bewunderten Freund, voller Fehler, aber aufrichtig, ganz offen. Da war die Rede von einem Schwulentreff in West-Berlin, an einem See in irgendeinem Wald, hab vergessen, wie er heißt, immer im Sommer, bei schönem Wetter, da ist der Martinsson manchmal aus Malmö rübergefahren, zu diesen Schwulen, denen er merkwürdige Namen gab, Ankerwinde, Halbmastschoner, die weiß ich noch, hörten sich aber alle so ähnlich an, nach Seemannssprache, ich hab das erst gar nicht begriffen. ›Das brauch ich jetzt nicht mehr‹, schrieb dieser Sven Martinsson alias Rudolf an Rudolf Prehl alias Gerlind und dankte ihm, verwirrender gings nicht. Ich wußte ja, ich war so ungefähr die erste Frau in Prehls Leben. Aber von einem Martinsson, der als Rudolf einem Gerlind schrieb, wußte ich nichts. Ich glaube, ich war mehr neugierig als eifersüchtig. Ich wußte nicht, wie verklemmt er war, wie feige, wie arm. Das begriff ich erst jetzt. Bis zu diesem Augenblick war er behutsam, zart, liebevoll zu mir gewesen. So wie nur ein Schwuler einer Frau gegenüber sein kann. Glaubte ich, ja. Jetzt riß er mir den Brief aus der Hand und schlug mir zweimal ins Gesicht, ritschratsch, erst Finger, dann Handrücken, war ich überhaupt nicht drauf gefaßt, ich hab geblutet wie ein Schwein, meine Nase war wochenlang blau und grün, und ich hatte den Abdruck seiner Finger im Gesicht. Ich verstehs heute noch nicht. Aber das ist es, woran ich mich erinnere, wenn ich alles noch mal sorgfältig überlege. Und ich erinnere mich, daß ich nichts mehr sagte, sondern in die Küche ging, wo in der Kaffeedose tausendsechshundert gesparte Mark vom Wirtschaftsgeld lagen. Die nahm ich, warf ein paar Stück Wäsche in meine Reisetasche und flog nach Mallorca. Prehl hat nicht gewagt, mich daran zu hindern. Das werde ich vor Gericht sagen. Da Sie Prehls Anwalt sind, könnten Sie veranlassen, daß mir gelegentlich meine Kleider und Schallplatten hierhergeschickt werden.« »Dr. Prehl vermißt einen grauen Flanellanzug, seit Sie die Wohnung verlassen haben.« »Wenn das alles ist, was er vermißt.« »Sie haben drei Jahre mit Rudolf Prehl gelebt«, sagte der Anwalt nach einer Pause. »Drei Jahre zu lang.«
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»Von ihm gelebt.« Die Frau sah den Anwalt offen an. »Von seinem Geld, meinen Sie. Nicht von ihm. Aber er, er hat von mir gelebt. Und von dem Schweden. Von dem wohl auch. Ja, wir beide haben einen verklemmten armseligen Erfolgsmensch und Rennfahrerkrüppel am Leben erhalten. Und waren ihm noch dankbar dafür!« »Sie lieben ihn noch. Insgeheim haben Sie auf Nachricht von ihm gewartet. Vielleicht sogar auf ihn selbst. Deshalb war Ihre Tür nicht abgeschlossen.« »Ja, das hätten Sie gern. So eine triefäugige Freudsche Kuh möchten Sie vorführen während der Verhandlung. Ich mußte mal raus, aufs Klo, das ist alles. Und hab dann nur noch an meinen nächsten Bewerbungsbrief gedacht.« »Sie haben eben den Brief des Schweden rührend genannt. Ist es nicht auch rührend, daß Prehl sich von Sven Martinsson mit Ihrem Vornamen anreden ließ?« Die Frau lachte. Der Anwalt gab noch nicht auf. »Zeigt das nicht, daß Prehl Sie brauchte, mehr als er bereit war, zuzugeben? Vielleicht mehr, als er wußte. Er hat nichts im Haus verändert, seit Sie weggegangen sind. Ihre Kleider, Ihr Parfüm, Ihre Schuhe – alles dort, wo Sies gelassen haben.« »Er ist nicht sanft«, sagte die Frau ernst. »Er ist bequem. Auch im Sex übrigens. Ich hab das mit Unaggressivität verwechselt. Das war mein Irrtum.« »Aber der Anzug«, sagte der Anwalt. »Nun mal ehrlich. Sie wollen doch, daß er sich den Anzug holen kommt, oder?« »Vielleicht«, sagte die Frau. »Bloß ich möcht ihm nicht raten, daß er kommt. Ich möchts ihm ganz und gar nicht raten.« »Frau Lodemont.« Der Anwalt stand zögernd auf. »Ich werde nächstens, durch Gerichtsbeschluß, wieder meinen Geburtsnamen tragen dürfen«, sagte die Frau. »Römer.« »Gerlinde Römer, hübsch«, murmelte der Anwalt und zerrte seine Krawatte enger. Die Frau drehte ihm den Rücken zu. »Ich muß noch fünf Bewerbungen schreiben.«
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»Frau Römer. Könnten Sie Rudolf Prehl verzeihen, daß er Sie geschlagen hat?« »Unwichtig, ob ich ihm verzeihe oder nicht.« Die Frau zog den Morgenrock fester um sich, begann zu schreiben. »Ich hab nichts mehr mit ihm zu schaffen. Ich muß endlich auf eigenen Füßen stehn, trotz Flaute und Rezession.« »Auf eigenen Füßen?« Der Anwalt verzog sein graues Gesicht wieder zu einem Lächeln. »Als Sekretärin?« Sie achtete nicht auf das Lächeln. »Fragen Sie den Schweden, ob er Prehl verzeiht«, sagte sie und schrieb weiter, kümmerte sich nicht mehr um ihn, nahm kaum wahr, wie er das Zimmer verließ. »Was taten Sie, nachdem Sie von Dr. Prehl die Pistole erhalten hatten?« Der Kommissar war so erschöpft wie Martinsson und der Dolmetscher. Er fühlte, wie feucht sein Gesicht war, und er wußte, es war gerötet und fleckig. Der junge Beamte hatte zwischendurch lauwarmen Kaffee und kaum gekühltes Mineralwasser aus dem Automaten gebracht; jetzt standen sechs halbgeleerte Plastikbecher zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch. Martinsson antwortete so leise, daß der Dolmetscher nachfragen mußte. Aber unwillkürlich richtete er sich beim Übersetzen nach Martinsson, und ihr versetztes schwedisch-deutsches Gemurmel kam gegen das Hitzeklingeln nicht an, das der Kommissar im rechten Ohr hatte. »Bißchen lauter, wenn ich bitten darf, Herr Seibert.« »Ich fuhr ins Motel Siegmund. Da hatte Dr. Prehl für mich ein Zimmer bestellt. Ich wollte nichts als schlafen. Ich war eine ganze Nacht mit dem Auto gefahren. Ich hatte – hatte vier Stunden lang nein zu Rudolf gesagt. Ich war so müde, daß ich kaum gemerkt hatte, wie er mir, wie er mir die Pistole und das Geld zugesteckt hatte.« »Wieviel Geld?« »Tausend Mark«, murmelte Martinsson. »Für die Ausführung des Auftrags?« »Für Hotel und Reisekosten.« »Tausend Mark?« Martinsson antwortete wieder schwedisch.
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»Ich bin kein Killer«, sagte der Dolmetscher heiser. »Ich kann nicht für Geld auf Menschen schießen. Ich habe überhaupt noch niemals geschossen.« »Immerhin, tausend Mark«, knurrte der Kommissar. »Großzügiger Spesensatz.« »Hatte selber noch ungefähr neunhundert Mark. Mein Geld. Brauchte keins.« »Warum haben Sie geschossen?« In Martinssons Gesicht zuckte es, als er kaum hörbar antwortete. Der Dolmetscher mußte wieder nachfragen, ehe er übersetzte. »Ich habe nur ja gesagt, weil ich so müde war. Weil er soviel geredet hat… Weil er so traurig war. Ich hätte nicht ja sagen dürfen.« »Ich wiederhole meine Frage, Herr Martinsson. Wenn Sie selbst schon finden, Sie hätten nicht zustimmen dürfen: Warum haben Sie trotzdem auf Heinrich Lodemont geschossen?« »Weil ich ja gesagt habe«, murmelte Martinsson. Der Kommissar seufzte tief auf. »Was taten Sie im Motel Siegmund?« »Ging ins Bett. Schlief.« »Wann war das?« »Etwa sieben.« »Also neunzehn Uhr.« »Neunzehn, ja.« »Wie lange schliefen Sie?« »Ganzen Tag. Bis nächsten Abend. Wachte auf, sah Pistole, hatte Angst. Ich bin zum Hauptbahnhof gefahren. Auf Taxe. Mit Pistole.« »Warum mit der Pistole?« »Ich wußte nicht, wo im Hotelzimmer verstecken.« »Was taten Sie am Hauptbahnhof?« »Getrunken. Whisky… auch anderes scharfe Sachen. Dazwischen Rotwein. Bin von ein Lokal in anderes gegangen, weiß nicht mehr, wie sie hießen, wo ich war.« Der Kommissar blätterte in den Papieren. »Sie haben in der Adonis-Bar einem als Barfrau arbeitenden Transvestiten die Pistole gezeigt und erklärt, damit bringe ich mich um.« »Erinnere nicht.«
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»Der Transvestit behauptet, er habe geantwortet: Geh, du mit deinem Gummirevolver.« »Erinnere nichts.« »Warum sind Sie dann plötzlich nach Berlin geflogen?« »Weiß nicht.« »Sie haben den Umschlag mit der Waffe in der Gepäckaufbewahrung deponiert.« »Ja.« »Und haben dann die letzte Abendmaschine genommen.« »Muß wohl.« »Was heißt: muß wohl?« »Heißt, daß ich nicht weiß.« »Sie haben in Frankfurt einen Hin- und Rückflug gebucht. Und am nächsten Morgen in Berlin einen einfachen Flug nach Frankfurt. Offenbar haben Sie den Hin- und Rückflugschein in Berlin verloren. Wo waren Sie die Nacht über?« »Weiß nicht.« »Martinsson.« »Mit viel Alkohol ist manchmal bei mir so: entweder ich schlafe. Oder ich lebe, mach alles wie andere. Aber ich weiß nicht, daß ich lebe. Weiß nicht, was ich mach.« »Bequem, nicht?« brummte der Kommissar. »Nein, sehr unbequem«, sagte Martinsson. »Ärzte in Malmö können bestätigen.« »Werden Sie mir jetzt erzählen, daß Sie nicht mehr wissen, ob Sie auf Heinrich Lodemont geschossen haben oder nicht? Ja?« »Nein. Weiß ich. Hab geschossen. Aber wollte nicht.« »Geschenkt.« »Wollte nicht.« Der Kommissar wartete, betrachtete eine Fliege auf dem Schreibtisch, die langsam über seinen Kugelschreiber hinwegkletterte. Alte Fliege, dachte er, sehr alte Fliege. »Einmal«, begann Martinsson wieder, »einmal, früh am Morgen, ich habe gelesen: Taunusstraße.« »Wo? In Berlin? In Frankfurt?« »Frankfurt doch, oder?«
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Der Kommissar lehnte sich zurück, trank den Rest warmes Mineralwasser aus seinem Plastikbecher, warf den Becher in den Papierkorb. »Bitte weiter, Herr Martinsson. Also Sie haben gestern früh gelesen: Taunusstraße.« Er sah schon, jetzt würde es wieder schwedisch weitergehn, sah, wie sich ihm das blasse Gesicht Seiberts beflissen entgegenneigte, und er horchte voller Sorge auf das Klingeln in seinem rechten Ohr, das ihm lauter vorkam als zuvor und sich mit der undeutlichen rauhen Stimme des Schweden, der brüchigen heiseren des Dolmetschers und dessen Geräusper und Gehuste vermischte. »Taunusstraße, ja. Da fiel mir ein, weiß ich noch, daß ich sollte… ich sollte am nächsten Morgen nach Kronberg fahren, zum Haus von diesem Mann. Lodemont. Und Kronberg, hatte Rudolf gesagt, liegt am Taunus, er hat mir beschrieben, auf einer Karte gezeigt… Es ist so, ich wollte nicht an Kronberg denken, nicht, daß ich ja gesagt hatte.« »Warum sind Sie nicht einfach in Ihr Motel zurückgefahren, nachdem Sie die insgesamt tausendneunhundert Mark durchgebracht hatten? Daß Sie ja gesagt hatten zu einem von Dr. Prehl geplanten Verbrechen, mein Gott, das konnte Sie doch wirklich nicht zwingen, dies Verbrechen nun auch auszuführen.« »Doch«, sagte Martinsson ruhig. »Martinsson«, murmelte der Kommissar wieder. »En gang ville jag ju…« »Einmal wollte ich ja…« sagte der Dolmetscher. »Was wollten Sie?« »Pistole wegschmeißen, zum Motel fahren, Auto nehmen, zurück nach Malmö. Vierhundert Mark hatte ich noch. Ich stand schon draußen, mir war nicht gut, ich lehnte an einem Auto. Da kam einer vorbei, sah aus, wie Hafenarbeiter bei uns in Malmö aussehen, der sagte, Mensch, Kumpel, in dem Zustand kannst du doch nicht, kannst nicht Auto fahren, trink erst mal was mit mir. Da bin ich mit dem wieder in die Bar gegangen. Dann weiß ich nichts mehr von ihm. Um zehn, glaube ich, um zehn, ja, schmissen die mich raus auf die Straße, da waren auch die vierhundert Mark weg. Ich bin zurück ins Mo-
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tel, habe geschlafen. Ich sollte aber um halb elf in Kronberg sein. Jeden Sonntag um halb elf fährt der Mann von Kronberg nach Frankfurt zu seiner Mutter. Ich sollte im Gebüsch vor der Garage stehn und ihn erschießen, von hinten, während er das Garagentor öffnet.« »Es stimmt also? Sie sollten ihn wirklich töten?« »Ja.« »Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie mit dieser Bestätigung Ihrer Aussage von vorhin Dr. Prehl schwer belasten?« »Ja.« »Sagten Sie nicht, er ist Ihr Freund?« »Als ich hier in Ihr Büro, als ich hier hineingeführt wurde, als Sie angefangen haben, mich zu fragen, da habe ich immer versucht zu denken, daß Prehl, trotz allem, noch mein Freund ist. Aber dann dachte ich auf einmal, es ist sicher, er ist es nicht mehr.« »Warum dachten Sie das auf einmal?« »Er war nie«, sagte Martinsson und blickte wieder auf den Kalender an der Wand neben dem Kommissar. »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« »Kein Antwort«, murmelte Martinsson. »Nein, keine Antwort.« Der Kommissar sah eine Weile dem Dolmetscher zu, der voller unterdrückter Unruhe seine Armbanduhr kontrollierte. »Sie sind also nach Kronberg gefahren, Herr Martinsson«, sagte er schließlich. Martinsson nahm den Blick vom Kalender. »Nein. War doch zu spät. Bin auch spät aufgewacht. Bin zur Villa von der Mutter gefahren. Adresse ebenfalls von Prehl. Dort im Auto vor der Gartentür ich habe gewartet, bis der Mann herauskam.« »Wann war das?« »Drei Uhr vielleicht. Han bar ett stört gyllenet pappaskägg med en skär rosett…« »Er trug ein großes goldenes Osterei«, redete Seibert hinter Martinsson her, und das Klingeln im Ohr des Kommissars nahm abermals zu, »Osterei mit rosa Schleife. Eine alte Frau mit blauweißen Haaren und einer ähnlichen rosa Schleife darin sah scharf hinter ihm her. Ich dachte… ich dachte sofort, das ist seine Mutter. Ich erinnere mich genau an diese beiden rosa Bänder. Ich glaube, ich habe nichts
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anderes richtig gesehen. Sie schloß die Haustür erst, als er an der Gartentür war. Er blieb bei den Mülleimern neben der Gartentür stehn. Ich sah ihm an… ich glaube, er überlegte, ob er das Osterei, ob er das Ding nicht gleich in den Mülleimer… In diesem Moment schoß ich, aus dem Auto, durchs Fenster. Ich hatte auf das Osterei gezielt. Aber er, er machte eine Bewegung. Und ich bin ja nicht geübt im Schießen, ich zitterte mit den Händen. Ich wollte ihn nicht töten… wollte ihn nicht treffen. Ich, ich schoß und fuhr sofort weg, zurück ins Motel. Da habe ich, auf dem Bett habe ich gelegen. Bis die Polizisten kamen.« »Sie haben nicht versucht, zu fliehen, sich zu verbergen?« »Nein.« »Sie haben auf die Polizei gewartet?« »Ich dachte nicht an die Polizei.« »Woran dachten Sie?« »Ich hatte Angst, mich zu bewegen. Es war ein Gefühl wie damals, als ich… als meine Finger von dem Eisenträger abrutschten, als ich stürzte… als ich neben meinen Füßen stand. So war das.« Martinsson hielt den Kopf schräg geneigt und blickte auf seine immer noch lehmbeschmierten Schnürstiefel, während er zuhörte, wie Seibert hustend übersetzte. Die Längsfalten in seinem Gesicht waren schärfer geworden, und die dunklen Locken, das fiel dem Kommissar erst jetzt auf, hatten einen rötlichen Schimmer. Er sah einen andern schräg geneigten Kopf vor sich und lange rotbraune Haare, hörte die leise Stimme der Frau, mit der er gestern abend gesprochen hatte, und begriff, der Schwede erinnerte ihn an die Frau, schon die ganze Zeit, obwohl beide sonst keine Ähnlichkeit miteinander hatten. Was hatten sie also gemeinsam, außer unterschiedlich intensiven Rotanteilen in den Haaren und dieser Kopfhaltung beim Zuhören? Leiden, untilgbar, und Aufrichtigkeit, chancenlos – er wußte, das hatte er vor langer Zeit gelesen, vor Jahrzehnten, aber er kam nicht mehr auf das Buch, den Zusammenhang, und die Formulierung half ihm auch kaum weiter. Aber daß er sich in diesem Augenblick an sie erinnerte, irritierte ihn. Er hätte jetzt gern mit Prehl gesprochen. Langsam wischte er sich wieder das Gesicht, steckte das Tuch in die Innentasche des Jacketts zurück und stand schwerfällig auf, riß das Oster-
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montagsblatt vom Kalender. Morgen würde er frei haben. Und außer ihm riß hier niemand Kalenderblätter ab. Noch siebzehn Monate und vier Tage bis zur Pensionierung. Er könnte noch was haben vom Leben. Er stellte sich hinter den jungen Beamten, der inzwischen halb eingedöst war und nun betont dienstbereit zu ihm aufsah. »Ja, dann wollen wir das mal wieder für das Protokoll ein wenig zusammenfassen«, begann der Kommissar und diktierte: »Nachdem mir von Dr. Prehl die Pistole ausgehändigt worden war, mit dem Auftrag…« Der Kommissar legte dem Beamten, der schon lostippte, die Hand auf die Schulter. »Warten Sie.« Einen Moment war es völlig still im Zimmer. Auch von den Fluren und vom Innenhof kam kein Geräusch. Der Dolmetscher, der gerade erleichtert die Zigarettenschachtel in die Jackentasche gesteckt hatte, hielt resigniert den Atem an. »Herr Martinsson«, sagte der Kommissar. »Sie mußten sich das doch überlegt haben, nicht wahr? Egal wies ausläuft, mußten Sie sich sagen, wenn ich auf Lodemont schieße, verlier ich früher oder später Prehl. Oder?« Martinsson hob den Blick. »Wenn ich nicht schieße, auch«, murmelte er. »Und sofort.« Und er betrachtete wieder seine Stiefel. Gegen Abend, als die heiß und staubig zwischen den Hochhäusern stehende Luft von einem leichten Wind bewegt wurde, verließ die Frau die stickige Mansarde. Das Leinenkostüm, das sie anhatte, und die Bluse in der Farbe ihrer Haare hatten zu lange in der Reisetasche gelegen; die Sachen waren verknautscht. Aber das störte sie nicht. Die Haare hatte sie hinten zu Zöpfchen geflochten und aufgesteckt. Das tat sie nur, wenn sie zuversichtlich war. Langsam, die mit Bewerbungsbriefen gefüllte Handtasche am Tragriemen schwenkend, folgte sie dem schäbigen Korridorläufer zur Treppe und ging hinunter, vorbei am Aufzug, der zwischen dem dritten und vierten Stockwerk hängengeblieben war. Die Pension erstreckte sich über mehrere Stockwerke, aber der Altbau war schmal zwischen die Nachbarhäuser gepreßt, pro Etage gabs nur wenige Zimmer. Unten im Frühstücksraum saß ein kleiner alter Mann vor dem dröhnenden Fernseher. Es sah aus, als hörte er dem Klavierkonzert zu. Aber er schlief. Sie mochte ihn nicht nach Briefmarken fragen; er
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schien erschöpft von der Hitze, atmete schwer, hatte tiefe Schatten um die Nasenflügel. Sie ging hinaus und schloß leise die Tür. Sie war gerade auf den untersten Stufen vor dem Hausportal, da hörte sie hinter sich Klaviertriller. Der alte Mann stand in der offenen Tür vom Frühstücksraum und rief mit dünner Stimme: »Was wollte Sie dann? Warum hawwe Sie mich geweckt?« »Tut mir leid«, sagte sie. »Des sinn vielleicht verrickte Ostern, sach isch Ihne, des fing ja schon am Ostersonndach frieh aa, da wusst isch Bescheid, des werd nix mehr, als dieser besoffene Knallkopp aagerufe hat, dieser Snäggdaggög, Hosenträger in Berlin, bei Bullauge, von da an haww ich kaa Ruh mehr gehabt.« »Hosenträger?« sagte sie. »Bullauge?« »Un es is ja auch gleich losgange, Prügelei auf Zimmer fünf, da hawwe sisch zwei Weiber un ein Kerl gekloppt, dann wollt doch die meschuggenen Sängerin von Zimmer zehn die Rechnung net zahle, dann mußt isch als renne un Sie ans Telefon hole, dann is dieser Kommissar gekommen, kaa Ruh mehr.« »Ein Snäggdaggög?« fragte sie. »Ein Schwede, ja?« »Un heut die Zeitungsheinis, die nuff wollte zu Ihne. Wisse Sie, jeder Gast is heilig, un Sie könne hier tun un lasse, was Sie wolle. Awwer mit der Polizei un mit Zeitungen, dadermit wolle mir nix zu schaffe hawwe, nehme Sies mer net übel. Was kann ich tun für Sie?« »Ich braucht eins von Ihren Oberhemden«, sagte sie. Der alte Mann sah sie an, und die Schatten in seinem Gesicht schienen sich auszubreiten. »Nur geliehen. Bis morgen. Und einen Schlips.« »Was is Ihne?« fragte der alte Mann besorgt. »Hawwe Sie plötzlich Fieber?« »Ja. Hab ich.« Sie wartete. Der Zwanzigmarkschein, den sie in der Hand hielt, zitterte. Der alte Mann schlurfte schweigend weg, brachte ihr schweigend ein weißes Hemd und einen blauen Schlips, begab sich schweigend mit dem Zwanzigmarkschein zurück zu seinem lärmenden Klavierkonzert, schloß nachdrücklich die Tür. Außer Atem probierte sie das Hemd an, holte Prehls Anzug aus dem Schrank. Das Hemd paßte. Prehls Hose war etwas zu lang und
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in der Taille zu weit. Sie warf die Sachen in die Reisetasche, dazu einen Gürtel, Stiefeletten mit flachen Sohlen und den einzigen Hut, den sie besaß, einen dunklen breitrandigen Herrenhut. Dann entfernte sie die Farbe von Lippen und Fingernägeln. In einer halben Stunde war sie am Hauptbahnhof, gab die Bewerbungsschreiben auf, fuhr mit der Bahn durch die Dämmerung zum Flughafen. Die letzten beiden Maschinen nach Berlin waren ausgebucht. Sie ließ sich auf die Warteliste setzen, las geduldig drei Zeitschriften durch, bekam als vorletzter Passagier in der letzten Maschine einen Platz. Um Berlin standen Gewitter. Sie sah die fernen Blitze, bevor das Flugzeug landete, und die gegen den Mond ziehende Finsternis am halben Nachthimmel. Es gelang ihr, durch das Gewimmel von Ankommenden und Wartenden unbemerkt eine Herrentoilette zu erreichen. Da zog sie sich um. Sie entfernte die elastische Binde vom Knöchel und wickelte sie, ihre Brüste flach pressend, um den Oberkörper. Die Haare flocht und steckte sie unter dem Hut zusammen, wobei sie darauf achtete, daß im Nacken kürzere Haare aus dem Hut nach unten hingen. Nachdenklich betrachtete sie im Waschraum das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah. Der junge Mann im hellen Flanell mit dem breiten dunklen Hut mißfiel ihr. Aber sie fand ihn glaubhaft, obwohl er schwitzte. Sie stopfte die Reisetasche in ein Schließfach, das zufälligerweise nicht außer Betrieb war, und als sie das Gebäude verließ, machte sie größere und langsamere Schritte als sonst. Beim Einsteigen in die Taxe bemühte sie sich, ihre Stimme tief und unaufgeregt zu halten: »Zum See, wo sich die Schwulen treffen.« Der dicke grauhaarige Mann am Steuer sah ihr kurz ins Gesicht, bevor er die Zeitung zusammenfaltete und die Innenbeleuchtung ausschaltete. Fünfzehn Minuten später ließ er sie nach den letzten Baracken einer Schrebergartensiedlung aussteigen. Hier gab es keine Straße mehr, nur noch einen Feldweg. Zögernd ging sie den Feldweg weiter, gewöhnte sich allmählich an die Dunkelheit. Sie war nicht allein auf dem Weg. Ein paar Männer kamen ihr entgegen. Andere gingen vor ihr. Niemand redete. Zwischen schwarzen Baumstämmen glitzerte Wasser. Sie war am lehmi-
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gen Ufer, inmitten schweigender Männer, die halbnackt, soviel konnte sie im Mondlicht erkennen, auf dem Boden kauerten, an Baumstämmen lehnten, allein, wartend, wobei sie schüchterne, auch deutliche Zeichen machten, oder schon paarweise miteinander beschäftigt, einige flüsternd, keuchend; aber die meisten schienen ihr gänzlich ohne Atem, sie bewegten sich lautlos und in großer Eile, als müßten sies unbedingt rasch hinter sich bringen, um wieder Luft holen zu können. Unsicher bewegte sie sich zwischen Wasser und Bäumen, versuchte, im Schein der fernen Blitze den Männern auszuweichen und zugleich näher zu kommen, traute sich nicht, nach Bullauge zu fragen. Jemand stand plötzlich neben ihr, flüsterte. Unwillkürlich machte sie eine abwehrende Gebärde, der andere trat demütig zurück ins Dunkel. Jetzt blinkte nicht weit von ihr in regelmäßigen Abständen eine Taschenlampe auf. Sie beleuchtete eine offene Hose und ein waagerecht von ihr abstehendes Glied. Näherte sich jemand, hielt der Gliedbesitzer schnell eine Hand schützend vor das, was er selbst in immer rascherem Rhythmus anstrahlte. Neben ihm stand einer, der war ohne Hose. Er hatte ein kleines halbgeschlossenes Auge und ein riesengroß geöffnetes, das sie starr anblickte. Um Hoden und Penis waren Gummischlaufen geschlungen. »Machs mir«, flüsterte er, »ich lutsch dir dann auch einen.« Sie wich zurück, begriff zugleich, daß sie nicht gemeint war, stolperte, fiel. Sie sah noch, wie der mit der Taschenlampe sich dem Starrauge mit den Gummischlaufen näherte, wie er sich die Taschenlampe in den Mund steckte und mit beiden Händen rhythmisch an den Gummischlaufen zu ziehen begann, wobei er sie immer wieder losließ, daß sie gegen die empfindlichen Teile schnellten. Der andere zuckte und stöhnte, wand sich, flüsterte von Sinnen: »Weiter! Ja! Weiter!« Sie war über seine Hose gestolpert, hatte sich in breiten elastischen Hosenträgern verfangen. Sie achtete auf nichts mehr, knüpfte und riß die Träger von der Hose, stürzte davon, den Feldweg zurück, die Straße vor den Schrebergärten entlang, zerrte sich, während sie rannte, die Binde von den Brüsten, zerriß dabei das Hemd des Portiers, verlor den Schlips, fand schließlich eine Taxe.
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»Is ja wohl hoch hergegangen heute«, sagte der Fahrer nur. Sie hatte Glück, in Tegel wurde noch ein verspätetes Charterflugzeug erwartet; sie konnte die Reisetasche holen und unbemerkt in einer Damentoilette verschwinden. Erst als sie wieder Gerlinde geworden war, betrachtete sie die Hosenträger. Auf einem der beiden Bänder fand sie etwas, das aussah wie schweißverwischte Buchstaben, die sie nicht entziffern konnte. Sie betrachtete sie lange, zuckte die Schultern. »Na?« sagte sie ein paar Minuten später in das blasse Gesicht unter strähnigen braunroten Haaren, das sie aus dem Spiegel des Waschraums prüfend ansah, »was hast du erwartet, du verrückte Ziege? Hat dich mehr gekostet als eine Woche Mansarde, oder?« Sie hatte die Hosenträger über den Türgriff der Klokabine gehängt. Als sie den Waschraum verließ, sah sie nicht mehr hin.
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Herbert Lichtenfeld Der rote Faden An einer besonders feierlichen Stelle in der Rede von Helmut Ludewig, dem neuen Fraktionschef der PFC, hat Parteisekretärin Lisa Braun plötzlich eine Vision. Sie stellt sich vor, das kleine Fernsehgerät am Fußende ihres Bettes sei eine Kamera und übertrage die Idylle in ihrer Zwei-Zimmer-Appartementwohnung in den Plenarsaal des Landesparlaments, wo derselbe Ludewig gerade mit kämpferischer Attitüde das Rednerpult umarmt und seine Thesen zum Schutz der verheirateten Frau in der Gesellschaft verkündet. Ein köstlicher, aber auch sehr indiskreter Gedanke, daß die Abgeordneten der drei Parteien, die Zuschauer auf den Rängen und ein paar Millionen Zuschauer des Regionalprogramms Zeuge werden, ganz live sozusagen, wie er sich in ihren Kissen räkelt, Hose, Strümpfe und Unterwäsche auf dem Stuhl vorm Bett, eine Hand auf ihrem jugendlichen Busen, die andere das Cognacglas umfassend, den Blick jedoch auf die Mattscheibe, auf sich selbst gerichtet, denn in erster Linie ist er natürlich Politiker im Aufwind, er will sich einen Eindruck verschaffen, wie das ankommt, was er sagt zum Schutz der verheirateten Frau und der Familie, und da spreizt er sich gegen jede Ablenkung von außen, gegen ihr plötzliches Lachen und gegen die Hand, die sich dafür entschuldigen will, und vor allem spreizt er sich gegen jede spießige Verdächtigung, seine politischen Thesen dürften gemessen werden an dem, was er gerade tut. Das begreift schließlich auch Lisa. Bei passender Gelegenheit wird sie sich dafür entschuldigen, kurz und spontan aufgelacht zu haben, gerade als er, eine kecke Blondlocke aus der Stirn verweisend, darauf bestand, daß Schluß sein müsse mit der Diskriminierung der NurHausfrauen und Nur-Mütter. Er gibt jetzt ein Interview vor dem Parlamentsgebäude. Ob er, will der Fernsehreporter wissen, den Kurs seines Vorgängers im Amt fortzusetzen gedenke, der ja nicht ganz so freiwillig von seinem Posten zurückgetreten sei, wie man das glauben machen möchte. Dr. Helmut Ludewig ist so ein Neuling auf der politischen Szene nicht, daß er eine falsche Tatsachenbehauptung, in eine Frage eingewickelt, schluckt. Er verwahrt sich gegen die unkor-
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rekte Feststellung, weil Partei und Fraktionsvorstand im Einvernehmen mit Ludewigs Vorgänger beschlossen haben, eine korrekte Feststellung als unkorrekte Feststellung zurückzuweisen. Der Fernsehreporter kennt dieses Spielchen und huscht mit einem Anflug von Lächeln, das es besser weiß, zur nächsten Frage, die aber einer Tonstörung zum Opfer fällt. Helmut Ludewig richtet sich im Bett seiner Geliebten auf. Wird wenigstens seine Antwort kommen, die beste Antwort, die er je gegeben hat? Nein, die Antwort kommt nicht, es kommt für eine Minute gar nichts mehr, auch kein Bild, keine Entschuldigung für die Störung, sondern eine glückliche Hausfrau, die sich dank des richtigen Putzmittels in den Fliesen ihres Badezimmers spiegelt. »Das kann an meinem Apparat liegen«, beschwichtigt Lisa, »er streikt manchmal.« Aber Helmut ist schon aus dem Bett gesprungen, er will es genau wissen, trotz aller Eile weiß er jedoch, was sich gehört. Er zieht sich die Hose an, bevor er seine Frau anruft. »Ich bin hier in meinem Fraktionsbüro, Schatz, und hatte plötzlich erst Ton- und dann auch Bildausfall. War das bei dir auch so?« Seiner erfreuten Miene ist zu entnehmen, daß die beste Antwort, die er je gegeben hat, über die Sender gekommen ist. Das freut auch Lisa, weil Helmut, wenn er frustriert ist, nicht zärtlich sein mag. Nur wenn Bestätigung und Harmonie auf ihn zuströmen, kann er sich des Lebens und der Liebe freuen. Schon deshalb versagt sich Lisa jede plumpe Vertraulichkeit und kumpelhafte Anspielung angesichts seiner Behauptung, sich im Fraktionsbüro zu befinden. Auch verursacht sie keine Geräusche, die diese Behauptung widerlegen könnten, wie das Anstellen eines Plattenspielers zum Beispiel oder das geräuschvolle Einlassen von Teewasser. Die Parteisekretärin Lisa Braun wartet, bis der frischgebakkene Fraktionsvorsitzende das Gespräch mit der Ehefrau beendet hat und der Geliebten zwecks Umarmung näher rückt. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. An diese Devise hält er sich. Wenn die Pflichten erfüllt sind, hat er auch Humor. »Warum hast du gelacht – mitten in meiner Rede? Was war daran so komisch? Befürchtest du nicht, daß ich dich auffresse, wenn du mich als Fraktionsvorsitzenden nicht ernst nimmst?«
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»Verzeih«, sagte sie, als könne ihr eine kleine erotische Bestrafung nur recht sein. »Warum du gelacht hast, will ich wissen.« »Ich habe mir plötzlich vorgestellt, mein Fernsehgerät sei eine Kamera und unsere Zweisamkeit werde in den Plenarsaal und in alle Welt übertragen.« »O Lisa«, sagte er und begann zu lachen, laut, lange und herzlich, wie einer, der sich zur rechten Zeit ganz gern mal über sich und seine Schwächen amüsiert, »du hast vielleicht eine Phantasie! Was ist denn so schlimm daran, daß meine Worte um so vieles besser sind als ich? Ich kenne mich aus im Dschungel der Familienpolitik; meine Analysen sind, wenn ich das einmal so sagen darf, brillant, und sie werden in ihrer Tendenz von der Mehrheit der Partei und der Wähler getragen – und darauf kommt es doch an, oder? Wäre dir ein treu-biederer Familienpapa, der noch nicht einmal in Gedanken in Versuchung geführt wurde, aber weniger gut formulieren und argumentieren kann, als Redner lieber gewesen?« »Nein«, erwiderte Lisa und lachte über seinen Aufwand an Ernst und verstiegener Rechtfertigung. »Als treu-biederer Familienpapa wärst du ja nicht hier bei mir.« Einmal in Fahrt, entging Dr. Helmut Ludewig der flapsigverführerische Ton seiner Geliebten, mit dem sie sich über ihn lustig machte. Obwohl sie inzwischen mit einem Nichts von schwarzem Höschen auf dem Bett lag und die Arme einladend ausstreckte, mußte er noch ein paar Beispiele bemühen, die den Widerspruch zwischen Schein und Sein, politischer Glaubwürdigkeit und persönlichem Handeln vollends in den Bereich niederer Denkungsart verwiesen. »Ich kenne einen Lungenfacharzt, der raucht. Disqualifiziert ihn das, in der Öffentlichkeit vor der Krebsgefahr durch Nikotingenuß zu warnen? Oder der Margarinefabrikant – darf er keine Butter essen? Nur weil er fordert: Eßt Margarine! Es gibt eine höhere Gültigkeit, Lisa, einen ethisch-moralischen Anspruch, der auch dadurch nicht zu entkräften ist…« »…daß der Verkünder dagegen verstößt!« »Richtig! He, was ist los?« Sie kicherte in die Kissen.
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»Nimmst du mich nicht ernst?« »Nein! Du bist wirklich zuuu komisch! Warum erzählst du mir das alles?« Sie fing sich nicht wieder vor Lachen. »Das kannst du dir doch für den Augenblick aufheben, wo deine Frau hinter unser Verhältnis kommt und wissen will…« »Lisa, bitte – das ist zu platt«, beschwerte er sich, von ihrem Gelächter allerdings schon angesteckt. »…wie du das vereinbarst, wie du das – platt oder nicht platt – miteinander vereinbarst – O Gott, ich ersticke noch vor Lachen – im Bett der Geliebten voller Ergriffenheit den eigenen Thesen zu lauschen… und wie du sagst: ›Lisa, bitte, das ist zu platt!‹« Sie beruhigte sich wieder und sah ihn aufgelöst und unschuldig an. »Jetzt kannst du dich aber auf was gefaßt machen«, sagte er und legte sich zu ihr. Sie nickte. »Ich freue mich schon drauf. Musik?« »Ja.« Sie wälzte sich zur Seite und legte den Tonarm auf die VivaldiPlatte. »Hör mal zu«, sagte er, »bis jetzt bist du die Sekretärin, die mal für diesen, mal für jenen Abgeordneten Briefe oder Berichte tippt. Wenn du die Sekretärin des Fraktionsvorsitzenden werden willst, mußt du alle Hemmungen fallenlassen.« »Habe ich denn welche?« »Das hoffe ich doch.« »Eine interessante Konversation. Gehst du jetzt Punkt für Punkt der Tagesordnung durch wie vor einer Parteiversammlung?« »Daß du dich nicht fürchtest!« »Vor wem? Vor dir?« Sie angelte sich eine Praline aus der Schachtel auf dem Wandregal und aß sie gelangweilt. »Vor wem denn sonst? Du weißt doch, wie ich deine Frechheiten zu beantworten pflege.« »Dann will ich mal nicht noch frecher werden, sonst überlebst du es womöglich nicht.« Das reichte ihm. Zu einem Zeitpunkt, wo er nur noch vier Stunden zu leben hatte, fiel er mit seiner ganzen Gesundheit über sie her. Es war ja auch nicht Lisa, die ihm nach dem Leben trachtete. Der Mör-
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der, der noch keiner war und eigentlich auch keiner werden wollte, saß auf einer Bank in den Grünanlagen und ließ den Eingang zu dem großen Appartementhaus nicht aus den Augen. Es war ihm recht, wenn es dunkler wurde, ehe Ludewig zurückkam und zu seinem Wagen ging. Jetzt waren noch zu viele Menschen unterwegs. Zu den Menschen, die noch unterwegs waren, gehörte die fünfzehnjährige Christa Ludewig, die mit ihrer Freundin von einem Schulsportfest kam und ihr Fahrrad abbremste, weil sie das Auto ihres Vaters vor dem Appartementhaus parken sah. »He, warte mal!« rief sie ihrer Freundin zu. »Was ist denn?« »Das Auto meines Vaters!« »Na, und?« »Was macht er denn hier?« »Du bist gut. Wie soll ich das denn wissen? Außerdem dürfte dein Vater wohl nicht der einzige sein, der einen schwarzen Saab-Turbo fährt!« »Aber der einzige mit dem Kennzeichen eins-zwei-drei-vier, du Intelligenzbestie.« Christa stellte ihr Fahrrad ab, ging zu dem Wagen und prüfte, ob er abgeschlossen war, was mit einiger Verwunderung auch von dem jungen Mann, der auf der Bank in den Grünanlagen saß, zur Kenntnis genommen wurde. Christa dagegen nahm zwar das Motorrad zur Kenntnis, das ein Stück vom Wagen ihres Vaters entfernt abgestellt war, aber nicht den jungen Mann, dem es gehörte. Sie ging zu ihrer Freundin zurück. »Glaubst du, dein Vater schließt nicht ab?« fragte die Freundin, vom sportlichen Wettkampf noch verschwitzt. »Doch. Aber ich dachte, das Auto sei ihm vielleicht geklaut worden, weil es hier steht.« »Vom Parkplatz der Landesregierung?« »Na ja, schon gut, ist ja auch egal.« So egal war es Christa aber nicht, daß sie nicht gleich nach der Bekanntgabe des 11:9 Handballsieges die Information hätte loswerden müssen, sie habe Papas Auto vor dem Hochhaus an der Kärtnerstraße gesehen.
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»Dann wird er wohl dort in der Nähe zu tun haben«, erwiderte Frau Ludewig, die sich natürlich leicht ausrechnen konnte, daß ihr Mann in der Dreiviertelstunde, die seit seinem Anruf vergangen war, nicht vom Parlament, das außerhalb der Stadt lag, zur Kärtnerstraße gefahren sein konnte. »Wie hat er denn abgeschnitten?« »Sehr gut, zwei Gegenstimmen, eine Enthaltung. Wasch dich, wir essen gleich, du bist ja ganz verschwitzt.« »Geht er fremd?« »Was?? Spinnst du, sag mal?« »Er sieht gut aus und ist erfolgreich. Da soll so was öfters vorkommen. Was macht er denn in der Kärtnerstraße?« »Frag ihn selbst, aber nerve mich nicht mit deinen Albernheiten, ja? Ich muß das Baby versorgen.« Während Frau Ludewig ihr Baby, den Nachzügler, den sie mit achtunddreißig noch bekommen hatte, versorgte und Christa nebenan unter der Dusche stand, faßte sie den Entschluß, zur Kärtnerstraße zu fahren, obwohl das eigentlich sinnlos war. Daß er sie betrog, wußte sie, seitdem sie seine Strümpfe mit einem Wollfaden markierte; mehr als einmal war der Faden früh rechts und abends links gewesen, was plausibel zu erklären ihm sicher schwergefallen wäre, wenn sie ihn darauf angesprochen hätte. Sie verzichtete darauf. Ihr Trick war so würdelos wie seine Abenteuer. Und wenn sie ihn jetzt in einer eindeutigen Situation ertappte, lief sie nur Gefahr, das, was sie wußte, aber eigentlich nicht wissen wollte, nicht verkraften zu können. Sie beauftragte Christa, für eine Stunde das Baby zu hüten, und fuhr trotzdem. Daß es – wenn überhaupt – nur unangenehme Folgen haben konnte, wußte sie. Unschlüssig stand sie vor dem Wagen ihres Mannes und tat – zum Erstaunen des Mörders, der hinter den Büschen der Grünanlage saß – dasselbe wie vor zwei Stunden ihre Tochter: sie prüfte, ob die Türen verschlossen waren. Erst dann ging sie, einer Eingebung folgend, zur Haustür und studierte die Namenschilder. Er war also bei Lisa Braun, seiner Sekretärin. Lisa Braun, das wußte sie von Helmut, war mit dem Vorsitzenden der PFCJugendorganisation verlobt; möglich, daß sie zu dritt oben saßen, zu dritt, viert oder fünft, es standen noch andere gewichtige Autos auf
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dem Vorplatz. Frau Ludewig beeilte sich, die Stätte, die ihr ein schlechtes Gewissen verursachte, schnell wieder zu verlassen, sie setzte zurück, streifte um ein Haar ein in der Dunkelheit abgestelltes Motorrad – der junge Mann in der Grünanlage sprang entsetzt auf – und fuhr wieder nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt stand der Fraktionsvorsitzende unter der Dusche in Lisas Badezimmer und summte ein albernes Lied. Lisa kam herein und fragte, was es mit dem roten Wollfaden in seinem Strumpf auf sich habe. Er lachte nur. »Du, vielleicht will dich deine Frau testen! Wenn du keinen Ärger haben willst, ziehe Schuhe und Strümpfe besser aus, wenn sie nicht dabei ist!« »Jaja«, schnaufte er desinteressiert unter dem Strahl der Dusche, als ahne er schon, daß er nicht mehr dazukommen würde, Schuhe und Strümpfe wieder auszuziehen. Karsten Lehn – so hieß der angehende Mörder in der Grünanlage – befürchtete zu diesem Zeitpunkt schon, Dr. Helmut Ludewig werde in dieser Nacht gar nicht mehr zu seinem Wagen zurückgehen, er wohne womöglich hier und werde erst bei Tageslicht, wenn die Straße voller Menschen war, wieder auftauchen. Er blickte auf die Uhr und beschloß: Noch eine halbe Stunde, aber nicht länger. Achtundzwanzig Minuten dieser halben Stunde waren vergangen, als oben im achten Stock Dr. Helmut Ludewig Abschied von seiner Geliebten nahm und sich den Hausschlüssel geben ließ, den er dann unten in ihren Briefkasten warf; Lisa schätzte es nicht, sich noch einmal anziehen zu müssen, nur um ihn zur Haustür bringen zu können. Gegen ihre sonstige Gewohnheit betrat sie diesmal nicht einmal den Balkon, um ihm nachzuwinken, denn der hing voller Wäsche, die sie vergessen hatte abzunehmen. Eine derartige Banalität war es, die sie daran hinderte, Zeuge der Entführung zu werden und die Polizei anzurufen. Es ging allerdings auch sehr schnell und undramatisch. Karsten Lehn kam wie ein zufälliger Passant aus der Dunkelheit, als Ludewig seinen Wagen aufschloß, hielt ihm einen Revolver unter die Nase und zwängte sich auf den Rücksitz. »Los, abfahren, keine Zicken,
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sonst knallt’s!« befahl er, und in seiner Stimme war mehr Angst als in der von Ludewig, der zurückfragte: »Was soll denn der Unsinn?« »Immer geradeaus.« »Kenne ich Sie?« »Klappe halten. Die nächste rechts.« »Ich kenne Sie, aber ich weiß nicht gleich, woher. Na, das fällt mir sicher noch ein.« Angesichts der Situation, in der Ludewig sich befand, war das keine sehr kluge Bemerkung. Aus Angst, überführt zu werden, könnte der Mann, der vielleicht nur ein Auto oder Geld brauchte, sich zu einer Gewalttat provoziert fühlen. Ludewig korrigierte sich eilig: »Nein, Irrtum! Ich kenne Sie nicht!«, aber das war schon mehr ein Ausdruck seiner Verzweiflung als glaubhaft. Gehorsam schwenkte Ludewig nach rechts ein, in eine schwach beleuchtete Industriestraße, die zu einem stillgelegten Güterbahnhof führte. »Anhalten. Licht machen.« Ludewig hielt und schaltete die Innenbeleuchtung ein. »Na, und jetzt?« »Was jetzt?« »Wissen Sie jetzt, woher Sie mich kennen?« »Nein.« »Ich hab Sie bedient, vorige Woche, beim Ortsvereinsfest in der ›Eiche‹ in Willschau.« »Ja«, entfuhr es Ludewig erleichtert, »mein Gott, was ist denn los mit Ihnen! Sie werden sich doch nicht unglücklich machen wollen?« »Wieso das denn? Ich poliere Ihnen nur die Fresse, und wenn Sie mich anzeigen, werden Sie unglücklich, nicht ich. Vor Gericht würde ich nämlich mit Sicherheit gefragt, warum ich Sie verdroschen habe.« »Und was würden Sie dann antworten?« fragte Ludewig mit trokkener Zunge und trockenem Gaumen. »Bella«, antwortete der Dicke im Fond. »Bella?« »Ja, Bella, meine Braut.« »War das die Bedienung, die die Getränke…« »Ganz richtig, du alte Sau.« »Dann kann ich ja nur hoffen, daß sie zugegeben hat, daß ich…«
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»Was?« »…daß ich sie weder vergewaltigt noch überhaupt die Initiative ergriffen habe – und daß ich auch nicht wissen konnte, daß sie in festen Händen ist… Sie war, na ja, sie war einverstanden!« »Was erzählst du da, du alte Drecksau? Einverstanden! Bella und einverstanden?« Ludewig beging seinen zweiten Fehler. Er bestand darauf, daß es so gewesen war. »Wie hätte ich denn ihr Zimmer finden sollen, wenn sie mir im Vorübergehen nicht zugeflüstert hätte: Oberes Stockwerk, erste Tür links, hm?« »Steig aus.« Ludewig tappte in die Dunkelheit. An Flucht dachte er nicht einmal. Er war wie gelähmt. Außerdem vertraute er seiner politisch geschulten Fähigkeit, Sachzusammenhänge klarzustellen und unrichtige Gedankenketten per Logik in die richtige Reihenfolge zu bringen. Daß er bei einem schlichten Gemüt wie Karsten Lehn damit an der falschen Adresse war, dämmerte ihm erst, als dieser mit erhobener Waffe auf ihn zukam. »Mann!« schrie er entnervt, »sie hat mich eingeladen, verstehst du? Wer bin ich denn, daß ich dir eine Kellnerin wegnehme? Das ist doch keine Frau wert, daß man sich…« Zwei Schüsse beendeten seine Argumente. Karsten Lehn war selber erstaunt, daß ein Erschossener nicht weiterreden konnte; noch erstaunter war er, daß er überhaupt geschossen hatte. Dann fiel es ihm jedoch wieder ein. »Daß ich dir eine Kellnerin wegnehme«, hatte er gesagt, und daß keine Frau es wert sei, daß man sich – was??? So aufregt? So leidet? »Erst zu ihr ins Bett kriechen und dann auch noch beleidigen«, beklagte sich Karsten Lehn bei dem Erschossenen, der mit dem Gesicht in einen Wassergraben gefallen war. Dann benutzte er dessen Wagen, um wieder zur Kärtnerstraße zurückzufahren. Dort stand ja noch sein Motorrad. Wäre er auch nur eine Minute früher auf dem Platz vor dem Appartementhochhaus eingetroffen, wäre es zu einer dramatischen Begegnung mit ungewissem Ausgang gekommen. Frau Ludewig war nämlich zum zweiten Mal zu dieser Stelle gefahren, weil sie unruhig geworden war; später als Mitternacht pflegte ihr Mann nie nach Hau-
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se zu kommen, ohne ausdrücklich Bescheid zu sagen. Da der Wagen weg war, wähnte sie ihren Mann inzwischen zu Hause. Da war er aber nicht. Nachdem sie sich von dieser Überraschung erholt hatte, fand sie einen einleuchtenden Vorwand, bei Lisa Braun anzurufen. Ihr Mann sei nicht nach Hause gekommen, ob innerhalb der Fraktion vielleicht noch irgendwo gefeiert werde. Lisa Braun war jedoch inzwischen nach unten gefahren, um sich noch eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen. Bei dieser Gelegenheit sah sie zu ihrem großen Erstaunen Ludewigs Wagen stehen, der inzwischen von Karsten Lehn zurückgebracht worden war. Er war abgeschlossen und unbeschädigt. Wenn sie ihn sich genauer angesehen hätte, wäre ihr aufgefallen, daß er stark verschmutzt, inzwischen also gefahren worden war, und sie hätte sich nicht so schnell mit der Vermutung zufriedengegeben, Ludewig habe das Fahrzeug nicht in Gang bekommen und ein Taxi benutzt oder aber eine in der Nähe gelegene Kneipe aufgesucht und das Auto inzwischen hier stehenlassen. Frau Ludewig anzurufen, weil ihr trotz aller plausiblen Erklärungen nicht ganz wohl war, verwarf sie wieder, weil sie befürchtete, ganz unnötig und von falschen Voraussetzungen ausgehend eine Familientragödie zu inszenieren. Frau Ludewig wiederum hatte einfach genug von ihren sinnlosen nächtlichen Unternehmungen; da der Wagen weg war und Lisa Braun sich nicht meldete, folgerte sie, sie seien zusammen weggefahren, wollten das Wochenende gemeinsam verbringen. Wenn er, wann auch immer, zurückkam und nicht mit der Mitteilung herausrückte, daß er sich scheiden lassen wollte, würde sie es ihm vorschlagen. Sie war nicht bereit, sich noch länger seelisch mißhandeln zu lassen. »Warst du bei einer anderen?« erkundigte sich Bella mit fröhlicher Tücke, als Karsten das Licht anknipste. Sie lag in seinem Bett, lutschte Lakritzbonbons und machte ganz den Eindruck, als wolle sie seine Antwort, ganz gleich, wie sie ausfiel, einem praktischen Test unterziehen. »Ja, verschwinde, ich bin hundemüde«, knurrte er und zog seine Motorradkluft aus. »Was willst’n überhaupt hier?« »Dreimal darfst du raten. Wenn du jetzt bei einer andern warst, ist doch alles wieder okay zwischen uns. Oder schaffst du es nicht?«
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»Mit gefällt dein Gequatsche nicht. Gehört sich nicht für ein anständiges Mädchen.« Sie lachte aufreizend. »Wenn du jetzt bei einer anderen warst, bist du ja auch kein anständiger Kerl. Das gleicht sich aus. Irgendwie macht mich das sogar an. Dich nicht? Ich weiß ja sowieso nicht, was Anständigkeit im Bett zu suchen hat.« Er kickte einen Stiefel wütend gegen die Kommode. »So redest du nicht mit mir, klar? Meine Kinder sollen dich mal ansehn können als Mutter. An meiner Frau, wenn du die mal werden willst, ist nichts Fieses, nichts Nuttenhaftes, eher was Heiliges.« »Soso«, erwiderte sie, tiefe Nachdenklichkeit vortäuschend, »und wie geht es nun weiter? Bumst du mich oder hast du mich schon heiliggesprochen?« »Du weißt ja nicht, was du sagst«, erwiderte er kläglich und dachte an den Toten, der mit dem Gesicht im Wassergraben lag. Seltsamerweise war es Karsten gelungen, sich einzureden, Dr. Ludewig habe seine Bella vergewaltigt. Jetzt fiel ihm ein, daß Bella vor hysterischer Begeisterung gelacht hatte, als er in einfältiger Ahnungslosigkeit die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen hatte, um nachzusehen, was das Gestöhne zu bedeuten hatte. Genaugenommen verdiente es Bella, mit dem Gesicht in einem Wassergraben zu liegen. Aber weil er glaubte, sie liebe ihn, hielt er es für eine härtere Strafe, sie seinerseits zu betrügen. Das hatte er ihr auch angekündigt, aber nicht vollziehen können. Mord ja, Bella betrügen nein. Das einzugestehen, hielt er freilich für unmännlich. »Willst du auf deinem Stuhl einschlafen?« fragte Bella. »Ich liebe dich doch«, erklärte Karsten weinerlich. »Da kann ich es nicht verstehen, wenn du so ordinär daherredest. Und du müßtest auch traurig sein, daß ich jetzt bei einer anderen war. Ich bin nämlich selber traurig. Du und ich – das reicht doch.« »Wenn es öfter passiert, sicher.« Seine Unschuld hatte – im Gegensatz zu Bella – keinen doppelten Boden. Einen Menschen zu erschießen – zumal einen Menschen, der sein Gesicht in Bellas Schoß vergraben hatte – erweckte in ihm nicht annähernd so viele Schuldgefühle wie die bloße Aussicht, eine Frau sexuell zu überfordern und damit zu erniedrigen. »Du – du möchtest
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öfter? Das habe ich nicht gewußt… Ich möchte ja auch öfter, aber ich bin ja auch ein Mann.« Bella lachte. »Na gut. Nun haben wir das ja richtiggestellt. Du brauchst zu keiner anderen zu gehen und ich mir keinen Gast anzulachen. Was ist denn das für ein Autoschlüssel?« »Wo?« »Na, in deiner Hand.« So ein leichtfertiger Dummkopf war er nun. Wurde rot und lachte dämlich, stammelte: »Hat ein Gast verloren. Unten auf dem Parkplatz.« »Und den Koffer auch?« fragte Bella. »Was für einen Koffer denn?« »Na, den kleinen Lederkoffer, den du in den Schuppen gebracht hast, bevor du ins Haus gekommen bist.« »Hast du am Fenster gestanden?« »Na klar, ich hab doch voll Ungeduld auf dich gewartet. Hast du deiner neuen Freundin als erstes gleich die Autoschlüssel und einen Koffer geklaut? He he, das ist doch Spaß, da brauchst du doch nicht gleich rote Ohren zu bekommen, sonst muß ich ja glauben, ich habe unfreiwillig ins Schwarze getroffen.« »Hast du«, keuchte er. »Ich kann damit sowieso nicht alleine fertig werden. Er ist tot.« »Wer?« »Der Kerl. Der bei dir war. Der Politiker. Ich wollte ihn nur verprügeln, aber er hat dich beleidigt.« Sie sah ihn keineswegs so entsetzt an, wie er befürchtet hatte. »Das ist ja stark«, murmelte sie. »Weil er mich beleidigt hat, bringst du ihn gleich um!« »Eine Kellnerin hat er gesagt. Weil du eine Kellnerin bist, ist die ganze Aufregung überflüssig. Jemand anderes, ja, für eine Dame oder den Teufel weiß was, da hätte ich ihn zur Rechenschaft ziehen können, aber nicht für eine Kellnerin. Und dann hat er gesagt, es sei von dir ausgegangen.« Er schien nicht darauf zu bestehen, daß sie das dementierte. Es war ihm jetzt wohl egal, wer wen zum Beischlaf ermuntert hatte. Daß er
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bis aufs Blut gereizt worden war, darauf kam es ihm an. Daß er, so oder so, Anlaß gehabt hatte durchzudrehen. »Das ist echt stark«, wiederholte Bella, »das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Und wieder klang es eher nach Anerkennung als nach Tadel. »Dann mußt du ja wirklich verdammt viel für mich übrig haben.« »Hab ich auch. Ich bereue es auch nicht. Nicht sehr jedenfalls. Und deine Reaktion ist prima, muß ich ehrlich sagen. Gefällt mir. Weil er dir nicht leid tut. Hätte ja auch sein können, daß eine gewisse Zuneigung im Spiel war deinerseits. So aber habe ich es auch für dich getan, weil du eine Schande nicht auf dir sitzen läßt.« »Ja«, murmelte Bella, »und es hat auch niemand was bemerkt? Es hat dich keiner gesehen?« »Nein. Nicht direkt. Und du würdest ja auch sagen, daß ich den ganzen Abend mit dir zusammen war.« »Sicher tu ich das. Besonders wenn du mich heiratest und ich mal aus dem Schlamassel rauskomme. Das hast du ja ganz richtig erkannt, daß ich keine gewöhnliche Kellnerin bin, sondern eine angehende Chefin. Sag’s auch deinem Vater, damit er das notariell regelt, wegen der Erbschaft und so. Das Gasthaus gehört zur Hälfte dir und zur Hälfte mir. Das ist dann eine richtige unauflösliche Gemeinschaft.« »Ja«, sagte Karsten und kroch zu Bella ins Bett, zufrieden, ahnungslos und sehr müde. Am nächsten Morgen glaubte Ingrid Ludewig nicht mehr, daß ihr Mann mit Lisa Braun zu einem anonymen Wochenendvergnügen gefahren war, denn innerhalb weniger Minuten fragten zunächst PFC-Parteisprecher Mühlmann, später der Landesvorsitzende Sigmund Vogt höchstpersönlich telefonisch an, was Helmut Ludewig daran hindere, zu der vereinbarten interfraktionellen Besprechung zu kommen. »Ich weiß es nicht«, antwortete Ingrid Ludewig wahrheitsgemäß. »Was heißt das denn, Sie wissen es nicht? Ist er über Nacht denn nicht zu Hause gewesen?« »Nein.«
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Die Pause, die Vogt einlegte, konnte nur als Fassungslosigkeit verstanden werden – oder als Zweifel an Ingrids geistiger Präsenz. »Und da haben Sie sich keine Sorgen gemacht?« »Doch.« »Aber?« Ingrid fand einen respektablen Weg aus ihrem Dilemma. »Helmut rief mich gestern abend an und teilte mir mit, daß im kleinen Kreis bei seiner Sekretärin gefeiert werde. Vielleicht kann Frau Braun Ihnen weiterhelfen.« »Ja, gut.« Vogt legte auf und rief nach fünf Minuten zurück. »Bei Frau Braun war er bis gegen dreiundzwanzig Uhr, dann ist er abgefahren. Sein Wagen steht aber jetzt noch vor der Haustür.« »So.« »Entschuldigen Sie, Frau Ludewig – aber beunruhigt Sie denn das alles gar nicht?« »Der Wagen stand gegen Mitternacht nicht mehr vor der Haustür.« »Nein?« Pause. Getuschel. »Hören Sie, Frau Ludewig, Frau Braun ist kurz nach Mitternacht zum Zigarettenautomaten gegangen, da stand der Wagen aber noch da.« »Dann stand er wieder da, nicht noch.« Vogt begann sich aufzuregen. »Noch oder wieder – was spielt das schon für eine Rolle. Jetzt steht er jedenfalls noch da. Stark verschmutzt. Frau Braun hat ihn inzwischen bei Tageslicht gesehen. Warum sollte Ihr Mann eine Spritztour durch eine schlammige Gegend unternehmen, den Wagen zur Kärtnerstraße zurückfahren und sich dann in Luft auflösen?« »Ich weiß es nicht.« Vogt stöhnte. »Verzeihung, Frau Ludewig, Sie haben mir zunächst auf eine recht merkwürdige Art verschwiegen, daß Sie in der Kärtnerstraße gewesen sind. Wenn es stimmt, daß Sie den Wagen Ihres Mannes nicht gesehen haben, warum haben Sie dann nicht uns oder die Polizei alarmiert? Wo sollte Ihr Mann um diese Zeit denn noch hingefahren sein?« »Ich rief Frau Braun an. Sie war nicht da. Daraus können Sie folgern, was ich gedacht habe.«
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»Ja. Aber es ist eine verkehrte Folgerung. Frau Braun war die ganze Nacht da – bis auf die zwei, drei Minuten, wo sie zum Zigarettenautomaten gegangen ist. Frau Braun ist übrigens inzwischen hier eingetroffen und nickt mir zu. Wenn ich Sie also bitten dürfte, sich nicht in falsche Vermutungen hineinzusteigern, die dem Ernst der Lage nicht angemessen sind.« »Ach Gott«, seufzte Ingrid deplaziert – und korrigierte sich konfus: »Und ich dachte, ich bin besonders taktvoll.« »Schon gut. Ich verstehe, jaja, doch, ich verstehe das gut. Wir bleiben in Verbindung, ja?« Ingrid sah sich mit ihrer Tochter konfrontiert, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie war noch vom Schlaf verstrubbelt, biß in einen Keks und fragte: »Wo ist denn Papa?« »Wenn ich’s nur wüßte.« »Du bist in der Nacht noch mal zur Kärtnerstraße gefahren, nicht wahr?« »Ja. Aber da war er weg. Zumindest sein Auto war weg. Jetzt steht es aber wieder dort, nur von Papa fehlt jede Spur.« »Machst du dir Sorgen?« »Ja. Die Partei läßt er ohne Not nie im Stich, und schon gar nicht am Tag nach seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden. Der Parteichef hat eben angerufen, weil Papa nicht zur Besprechung erschienen ist.« Ingrid nahm das schreiende Baby auf den Arm, setzte sich, öffnete ihre Bluse und gab ihm die Brust. Christa mußte lachen, weil es so schmatzte. Sie hörte aber auf zu lachen, als sie die Tränen auf den Wangen ihrer Mutter sah. Ingrid weinte lautlos, und lautlos weinend und mit dem Baby an der Brust ging sie auch zum Telefon, als es wieder läutete. Es war wieder Vogt, diesmal ohne Gereiztheit in der Stimme. »Können wir einen Wagen vorbeischicken, Frau Ludewig? Wir möchten Sie gerne abholen lassen.« »Im Parteibüro kann ich doch auch nichts ausrichten.« »Wir fahren alle zum alten Industrieweg, Frau Ludewig. Dort ist ihr Mann gefunden worden… Sehen Sie, ich bin selber nicht gefaßt und muß Sie bitten, gefaßt zu sein.« »Er ist tot?«
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»Ja. Erschossen. Ein Attentat. Kommen Sie?« »Ja.« Sie hatten dem Toten die Schuhe ausgezogen, und nun – es war unverzeihlich, starrte sie immer nur auf den roten Wollfaden am Strumpf seines rechten Fußes. Dort hatte er nichts zu suchen. Gestern früh hatte sich dieser Strumpf an seinem linken Fuß befunden. Ingrid war, von einem ganzen Rudel von Polizeibeamten abgesehen, die einzige, die überhaupt so nahe an die Leiche heran durfte, und auch das nur auf einem provisorisch ausgelegten Brett, weil sonst Spuren verwischt werden konnten. Ingrid Ludewig sagte: »Ja, das ist mein Mann!«, weil nur sie berechtigt war, ihn zu identifizieren; die anderen Herren von der Partei, die ihn ja auch ganz gut kannten, und Lisa Braun, die unaufhörlich in ein Taschentuch schluchzte, waren nicht berechtigt, die Feststellung zu treffen, daß dieser Tote der PFCFraktionsvorsitzende Dr. Helmut Ludewig war. Ingrid Ludewig aber konnte ihn immerhin sogar auf Grund eines roten Wollfädchens an der Socke identifizieren, sie brauchte nicht in sein Gesicht zu blikken, das im Wasser gelegen hatte und zur Grimasse aufgedunsen war. Die Trauer orientiert sich gern am Ausmaß der Zuwendung, die ein Verstorbener zuletzt dahin oder dorthin verschwendet hat, und so ist es kein Wunder, daß Lisa Braun herzzerbrechend weint und schluchzt, während die Ehefrau reichlich belämmert dasteht mit ihrem zusammengeschmolzenen Vorrat an Fähigkeit zum Herzeleid. Natürlich, natürlich, die Herren von der Kriminalpolizei und vom Staatsschutz nehmen solche Unterschiede durchaus zur Kenntnis, deshalb gehen sie ja auch in allen Kriminalromanen und -filmen so gern zur Beerdigung; wer am meisten weint, war es nicht. Im Augenblick streiten sich Kripochef Schell und Staatsschutzchef Merck allerdings noch um die Kompetenzen, um die Zuständigkeit hinsichtlich der Spurensicherung, der Ermittlungsarbeit und der Fahndung. Partei-Landeschef Vogt und sein Anhang favorisieren den Staatsschutz, nicht unbedingt, weil dieser die besseren Beamten hat, sondern weil alles andere als ein politisches Attentat für sie nicht in Frage kommt. Kripochef Schell meldet – diskret natürlich, denn eine Familienangehörige ist ja noch am Tatort – Bedenken an. »So arbeiten doch keine Profis aus der terroristischen Szene. Weder in der
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Methodik noch in der Ausführung. Allein die Tatsache, daß der Wagen zur Kärtnerstraße zurückgefahren wurde, beweist einen Schwachsinn, den sich selbst terroristische Anfänger nicht zuschulden kommen lassen. Hier liegt eine Beziehungs- oder Raubtat vor. – Was fehlt denn eigentlich?« »Ein Koffer mit Parteipapieren, ziemlich geheim«, antwortete PFCChef Vogt zerknirscht. »Na also, da haben Sie es«, trumpfte Staatsschutzchef Merck auf. »Wer raubt denn geheime Parteiakten, wenn nicht der politische Untergrund? Okay, okay, ermitteln wir vorerst gemeinsam, bis sich Konturen abzeichnen, und dann soll der Justizminister entscheiden.« Merck ging dabei davon aus, daß der Justizminister schon die richtige Entscheidung treffen werde; er gehörte, wie Merck selbst, der PFC an. Gerüchte um Ludewigs Frauengeschichten, die allen in der Parteispitze schon zu Ohren gekommen waren, galt es dabei herunterzuspielen, wenn nicht alles in ein parteischädigendes Fahrwasser geraten sollte. In zwei Monaten waren Landtagswahlen. Ein Attentat konnte nützen, ein privater Racheakt, womöglich aus dem Trivialbereich der Leidenschaften, schaden. Bevor Ingrid Ludewig die Heimfahrt antreten konnte, wurden in einem Polizeifahrzeug ihre Fingerabdrücke abgenommen. Das fand sie beinahe erheiternd. Bis der Beamte ihr erklärte, daß es sich nur darum handelte, aussortieren zu können, wenn im Auto ihres Mannes die große Spurensuche begann. »Was für eine Erleichterung für mich«, spottete sie aus einer für sie selbst unergründlichen Gemütslage. »Ich befürchtete schon, ich werde verdächtigt, meinen Mann vor der Kärtnerstraße aufgelauert, überwältigt und am Güterbahnhof erschossen zu haben.« Der Beamte fand das gar nicht lustig und reagierte verständnislos. »Ich hab da vorhin so etwas von Beziehungstat aufgeschnappt«, erläuterte Ingrid. »Wir wissen noch gar nichts, Frau Ludewig«, erwiderte der Beamte verstimmt. »Die Vernehmungen beginnen ja erst, und dann können Sie sich, wenn es Ihnen Spaß macht, mit solchen Bemerkungen auch selbst belasten.«
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»Sie sind ein Idiot«, sagte Ingrid Ludewig zu ihrem eigenen großen Erstaunen. Der Beamte schluckte nur, meldete aber alles seinem Vorgesetzten, dem Kripochef Schell. Am Nachmittag kamen Parteichef Vogt, Sprecher Mühlmann und zwei höhere Staatsschutzbeamte – unter ihnen Merck – und überreichten, nunmehr offiziell, Blumen und Mitgefühl. Der Vorgang entbehrte nicht einer gewissen Komik, weil das Baby schrie, und Politiker können mit Babys erstaunlich wenig anfangen, wenn sie nicht gerade auf Volksfesten als Sympathiebeweis dargereicht und launig betätschelt werden können. Mangels einer freien Hand – in der anderen hatte Ingrid eine Windel – legte Vogt die Blumen auf den Küchentisch, stammelte etwas von den peinlichen Unannehmlichkeiten, die den tragischen Todesfall begleiteten, und kam zur Sache: Helmut Ludewigs Schreibtisch wünschten die Herren zu inspizieren. »Weil«, erklärte Mühlmann, »Parteiunterlagen darin vermutet werden können. Es gilt, Aufschluß zu bekommen, was alles in dem Aktenkoffer war, den er bei sich hatte und der gestohlen wurde. Sie dürfen natürlich dabei sein.« »Danke. Wenn ich nicht muß, lieber nicht.« Merck dünkte diese Haltung ungewöhnlich. »Sehen Sie, Frau Ludewig, in einem Schreibtisch können sich ja auch Dinge aus dem privaten Bereich befinden und…« »Das ist ja gerade der Grund, weshalb ich nicht dabei sein möchte. Ich habe es für richtig gehalten, das auszusortieren. Pornographische Literatur und Bildwerke, auch einige Privataufnahmen mit Polaroidkameras, leicht oder gar nicht bekleidete Freundinnen darstellend, befinden sich alle im unteren Schubfach… zum Schutz der Familie, wenn ich das in meiner ungeschickten Anzüglichkeit so sagen darf. In Wirklichkeit will ich natürlich nur nicht, daß Sie erschrecken. Weil auch ein paar Aufnahmen von Lisa Braun dabei sind. Recht hübsch sogar. Sie werden das ja zu untersuchen haben, weil es für die Ermittlungen wichtig sein kann. Nur bin ich, wie gesagt, nicht gern dabei. Ich traue Ihnen jedoch vollkommen. Ich meine, es wird nichts in falsche Hände gelangen, weil sonst die Partei nur Schaden nähme.«
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Das Baby, immer noch auf ihrem Arm, hatte längst zu weinen aufgehört. Jetzt gluckste es vor Vergnügen, als genieße es freudig die allgemeine Betretenheit der vier gewichtigen Männer. »Frau Ludewig«, sagte Mühlmann im Tonfall eines Nachrufs, »im ersten Schmerz neigt man leicht zu extremen Reaktionen, zu Überbewertungen. Nicht nur die Partei soll keinen Schaden davontragen, auch Sie nicht. Es ist uns ja allen mehr oder minder Menschliches nicht fremd. Versagen wir uns kleinliche Denkungsweisen doch angesichts des Todes eines unstrittig bedeutenden Menschen!« »Ach ja, das geht auch«, erwiderte Ingrid, die seelisch irgendwie immer noch von der Rolle war. »Möchten Sie einen Kaffee?« »Danke, nein«, antwortete Vogt, der Ingrid Ludewigs kindische Euphorie noch am ehesten als Signal eines nicht überwundenen Schocks zu diagnostizieren wußte. »Falls Sie wegen der vielen Formalitäten und Belastungen Hilfe brauchen, wird die Partei sie Ihnen geben. Dürfen wir jetzt…?« Ingrid nickte und führte die Herren ins Arbeitszimmer ihres Mannes, wo der Schreibtisch stand, dessen Inhalt es zu inspizieren galt. Nach zehn Minuten kamen sie unverrichteterdinge zurück, ohne etwas konfisziert zu haben, und sie verabschiedeten sich, außer Merck, der noch um eine Befragung bat. Er stellte zunächst klar, daß nichts mitgenommen worden war, auch nicht aus Helmuts Intimsphäre. »Nein?« wunderte sich Ingrid. »Lassen sich denn aus diesem oder jenem Foto nicht Rückschlüsse auf den Täter ziehen?« »Danach sieht es nicht aus«, erwiderte Merck ein wenig verunsichert. Und fast ein wenig ärgerlich fügte er hinzu: »Wir wollen das Privatleben Ihres Mannes nicht unnötig auseinandernehmen. Dieser Mordanschlag hat ein anderes Niveau. Ich hoffe, daß das sowohl Ihnen ganz privat wie auch dem Staat und seinen politischen Organisationen gleichermaßen nur recht sein kann. Die Dinge, die Sie vorhin als einigermaßen peinlich erwähnten, werden ja durch Sie nicht in falsche Hände kommen.« »Gewiß nicht. Ich habe eine Tochter von fünfzehn, für die ihr Vater ein feiner Mensch war.«
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Merck ignorierte verdrossen die Ironie und Bitterkeit, die in solchen Sätzen mitgeliefert wurde, und fragte nach dem Motorrad, das sie beim Wenden vor dem Hochhaus Kärtnerstraße beinahe angefahren hätte. »Ein Motorrad?« »Ja, dem Hausmeister ist ein Motorrad aufgefallen, das vom späten Nachmittag bis gegen Mitternacht auf dem Vorplatz gestanden hat. Einem Hausbewohner, meinte er, gehörte es nicht, vielleicht einem Besucher. Frau Braun ihrerseits kann sich erinnern, daß ein Motorradfahrer mit einer schweren Maschine auf den Vorplatz eingeparkt war, kurz nachdem sie mit Dr. Ludewig dort angekommen war.« »Ja, an ein Motorrad kann ich mich auch erinnern«, bekannte Ingrid. »Ich hätte es beim Wenden beinahe gestreift. Fragen Sie mich aber bitte nicht nach dem Kennzeichen.« »Das wollte ich aber«, erwiderte Merck enttäuscht. »Der Hausmeister und Frau Braun haben nämlich auch nicht darauf geachtet.« »Es war dunkel, und ich hatte keinen Anlaß, mir das Kennzeichen zu merken.« »Auf dem Tank klebte ein Orden.« Merck blickte die Fünfzehnjährige, die aus dem Garten über die Terrasse hereingekommen war, überrascht an. »Ein Orden?« »Ja, so was wie ein Karnevalsorden. Bunt. Kitschig.« »Warst du denn auch in der Kärtnerstraße? Entschuldige, Merck ist mein Name, ich bin von der Polizei.« »Ich bin, als ich vom Sportfest kam, da vorbeigefahren. Irgendwo am Lenker vorn war auch so was wie ein Wimpel, ein Fähnchen. Auf mehr hab ich aber nicht geachtet.« »Auch nicht auf das Kennzeichen?« »Nein.« Sie dachte nach. »Nein, keine Ahnung. Ich hatte ja eigentlich nur Augen für den Wagen meines Vaters und dachte: ›Was macht der denn hier?‹« »Inzwischen wissen wir, daß er seiner Sekretärin noch Briefe und Berichte diktiert hat«, schwindelte Ingrid pädagogisch eindrucksvoll. »Auf jeden Fall eine BMW!«
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Merck atmete tief durch. »Na, bitte, das ist doch schon was. Bekanntlich benutzen Terroristen gern Motorräder. Mit diesen Informationen können wir unsere Computer schon gezielter füttern.« Bella putzte die Theke, spülte Gläser und fertigte einen Likörlieferanten ab. Dann setzte sie sich mit einem Kaffee an den Stammtisch und blätterte in der Zeitung. Es war Vormittag, das Lokal noch geschlossen. Hin und wieder warf sie einen Blick durchs Fenster. Der alte Lehn, Karstens Vater, harkte den Parkplatz, hob Unrat und Papierfetzen auf. Durch die Küche kam Karsten, noch im Bademantel, unrasiert und ungewaschen. »Willst du nicht staubsaugen, bevor du dich zum Kaffeetrinken niederläßt?« Sie sah ihn nur gelangweilt an und erwiderte: »Kratz die Aufkleber von deinem Motorrad.« »Wie kommst du denn darauf?« »Da, lies. Die haben eine Beschreibung von deinem Motorrad.« »Na schön, dann haben sie eben eine. Motorräder mit Aufklebern gibt’s wie Sand am Meer. Hat aber nichts damit zu tun, daß du hier faul rumsitzt, oder?« »Zum Staubsaugen und Putzen wirst du eine Kraft extra engagieren.« »Ach nee!« »Ach ja! Und wenn’s geht, fang mit dem Putzen bei dir selber an, eh du hier große Reden hältst. Du bist nämlich kein erfreulicher Anblick. Und wasch dich gefälligst auch abends, eh du zu mir ins Bett kriechst.« »Du willst nicht zufällig ein paar gescheuert?« fragte er mit einer Güte, die schon wieder gefährlich wirkte. »Du kannst es ja mal versuchen. Hast du mit deinem Vater gesprochen?« »Ja. Er will nicht. Weder will er mir den Gasthof überschreiben, noch will er, daß ich dir die Hälfte abtrete.« Sie ließ die Zeitung sinken und sah ihn amüsiert an. »Hat er denn eine Wahl?« fragte sie. »Du bist doch soundso sein Erbe und ich in Kürze deine Frau. Du liebst mich und würdest mir infolgedessen sowieso geben, was mir zusteht. Muß man ihm erst drohen?«
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»Drohen? Womit denn?« »Na, mit der Polizei, womit denn sonst? Ich hab den Revolver.« »Du hast…???« Er stürzte blindwütig hinaus, verlor auf der Höhe seines Vaters, der Zigarettenstummel auflas, einen Filzpantoffel, schlüpfte wieder hinein, lief in den Schuppen, stellte alles auf den Kopf, zertrampelte Kartons und Plastikbehälter und kam nach ein paar Minuten totenbleich zurück. »Wo ist er?« fragte er atemlos. »Wo ihn niemand findet. Bevor du dich jetzt aufregst, bedenke, daß ich keinen Anlaß habe, meinen Ehemann zu denunzieren.« »Warum hast du dann…« Er konnte vorübergehend gar nicht sprechen. »Warum hast du dann den Revolver überhaupt weggenommen?« »Du bist doof, mein Süßer. Für den Fall, daß es nichts wird mit unserer Ehe und meinem Erbanteil. Wovon reden wir denn die ganze Zeit? Und weil du mich gerade so anguckst, wie ich mir vorstellen kann, daß du den Ludewig angeguckt hast, bevor du ihn abgeknallt hast, möchte ich dir noch was sagen: Wenn mir was zustößt, erfährt die Polizei automatisch alles. Alles, verstehst du. Da du mich aber liebhast und heiraten willst und dabei auch immer ganz gut fahren wirst, wenn du dir regelmäßig die Füße und den Arsch wäschst, versteh ich deine ganze Aufregung nicht. Es geschieht doch nur, was wir sowieso immer wollten.« »Was aber mein Vater nicht will«, brummte Karsten selbstmitleidig und völlig überfordert von ihrem Gemisch aus Drohung, Bösartigkeit und Verlockung, »ich hab doch mit ihm geredet.« »Dann hast du eben nur blabla gesagt und nicht, worum es geht.« Karsten nickte bekümmert. »Das stimmt. Aber was ich getan habe, das kann ich selber noch gar nicht richtig glauben… es meinem Vater zu sagen, wie stellst du dir das vor?« »Möchtest du es denn lieber vor der Polizei gestehen?« »Das ist ja doch eine Drohung«, beanstandete Karsten weinerlich. »Doch nicht von mir an dich. Von uns an die Adresse deines Vaters. Natürlich muß das Herumgemaule aufhören. Du kannst nicht um neun aus den Kissen kriechen und beanstanden, daß ich nicht staubgesaugt habe. Du mußt loben, daß ich die Theke geputzt, Gläser
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gespült und einen Lieferanten abgefertigt habe. Und natürlich mußt du deinem Vater beibringen, daß er mich nicht wie den letzten Dreck behandelt. Der hat nämlich dieselbe Nummer drauf wie du.« »Jaja, das sag ich ihm schon. Du sollst es ja gut haben als meine Frau. Ich hab dich nämlich wirklich lieb. Na ja, dann werd ich jetzt mal in die Garage gehen und die Aufkleber vom Krad kratzen. Gut, daß du so aufmerksam bist.« »Ja, gieß mir aber vorher noch einen Kaffee ein, ja?« Er stutzte kurz, dann tat er es. Irgendwie schien er doch zu kapieren, daß der Wind sich gedreht hatte. Die obersten Ermittlungsbehörden waren der Auffassung, daß Kripo und Staatsschutz weiterhin in Arbeitsgemeinschaft zu fahnden hatten, weil die Frage: politischer Mord oder nicht? nicht so ohne weiteres zu klären war. Merck hatte jedoch, vom Dienstrang und vom technischen Apparat her, die größere Kompetenz und Weisungsbefugnis; seinen Richtlinien hatte sich auch Kripochef Schell zu fügen. Daß er es – weil er an einen Mord im Bereich privater Beziehungen glaubte – teilweise nur zähneknirschend tat, konnte Merck nur amüsieren. Schell, der dieser Partei nicht angehörte – er gehörte gar keiner an –, fand es geradezu unverantwortlich, daß Fakten aus dem privaten Bereich (die Fotos der leicht oder gar nicht bekleideten Freundinnen von Ludewig) für die Ermittlungen nicht herangezogen wurden, daß weder die Angaben von Ingrid Ludewig über ihre unzulänglich motivierten Autofahrten in der Mordnacht noch Lisa Brauns Verhaltensweisen ernsthaft geprüft wurden. »Was wissen wir denn überhaupt von den beiden Frauen und was sich zwischen ihnen abspielte?« fragte Schell. »Halten Sie eine Eifersuchtstragödie denn für völlig ausgeschlossen? Sowohl Frau Ludewig wie auch Lisa Braun können – theoretisch jedenfalls – mit Ludewig zum alten Güterbahnhof gefahren sein und ihn dort erschossen haben.« »Dann müßten sie sich vorher allerdings Herrenstiefel mit der Größe fünfundvierzig besorgt haben«, lachte Merck, »denn so sehen die Fußabdrücke des Täters am Tatort nun einmal aus. Und warum sollten sie das Aktenköfferchen mitgenommen haben? Und den Wagen zur Kärtnerstraße zurückfahren?«
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»Ich hab dann noch Hajo Schult auf meiner Liste«, hakte Schell nach, »den Vorsitzenden der PFC-Jugendorganisation, der mit Frau Braun verlobt ist. Er sitzt zugegebenermaßen ein paar hundert Kilometer entfernt in Bonn, aber es haben ja noch nicht einmal Recherchen stattgefunden, wo er sich in der Mordnacht aufgehalten hat.« »Nein, auch die Alibis anderer führender PFC-Politiker bis hin zum Bundesvorstand haben wir noch nicht überprüft, stellen Sie sich das mal vor«, höhnte Merck, »von der Opposition ganz zu schweigen. Dagegen haben wir vor einer halben Stunde, wie es dieses Telex beweist, Edgar Schuh festgenommen.« »Und wer ist das?« »Schuh ist dringend verdächtig, terroristischen Randgruppen 1979 Sprengstoff und Waffen geliefert zu haben. Es kommt aber noch schöner: Schuh fährt ein schwarzes BMW-Motorrad und war in seiner Studentenzeit Verfasser eines Flugblatts, in dem aufgefordert wird, Ludewig als ›Gewalttäter‹ zu verurteilen, weil er die Isolationshaft für Terroristen befürwortete.« »Aha.« »Das gefällt Ihnen wohl nicht? Möchten lieber im kleinbürgerlichen Sumpf herumwaten, was?« »Und Sie möchten der Partei einen Märtyrer schenken – lassen wir das. So hat jeder seine Schwerpunkte bei der Arbeit. Ich befrage diesen Hajo Schult einmal, wenn’s recht ist – natürlich mit aller gebotenen Diskretion.« »Keine Einwände. Sie brauchen nicht einmal nach Bonn zu fahren. Schult kommt heute zu einer Parteiversammlung. Wahrscheinlich treffen Sie ihn bei seiner Verlobten Lisa Braun an.« Hajo Schult entschuldigte sich wegen des Gepäcks. »Es hat keine Bedeutung. Ich komme direkt vom Flughafen und kann mir noch ein Hotelzimmer buchen, wenn du darauf bestehst.« Lisa seufzte und bat ihn in ihre Appartementwohnung. Nicht nur sein Gepäck, auch er kam ihr ungelegen. »Ich erwarte jeden Augenblick Frau Ludewig. Ich weiß nicht, was sie will, aber sie möchte mich unter vier Augen sprechen. Sobald sie eintrifft, muß ich dich in mein Schlafzimmer bitten.«
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»Da war ich ja mal zu Hause«, entfuhr es ihm. »Nimmst du mir die Blumen ab?« »Ja. Danke. Sie sind sehr schön.« Weil es in diesem Augenblick schon läutete, schob sie Hajo samt Gepäck in ihr Schlafzimmer und ging, die Blumen noch in der Hand, die Wohnungstür öffnen. »Das war aber nicht nötig«, sagte Ingrid Ludewig mit einer gewissen Bereitschaft, auf allzu dramatische Feindseligkeiten zu verzichten, und weil Lisa Braun sie nicht gleich verstand, zeigte sie auf die Blumen. »Ach so, ich wollte sie gerade in eine Vase tun. Kommen Sie herein. Tee? Kaffee?« »Nein, nein, danke, ich will mich nicht lange aufhalten.« Sie sah sich flüchtig um, als trachte sie beiläufig danach, etwas zu finden, was an Helmuts Besuche erinnerte, nahm Platz und überreichte Lisa ein Kuvert. Lisa sah sie, ohne es zu öffnen, überrascht an. »Es sind Fotos«, erklärte Ingrid. »Vielleicht hängen Sie daran.« Ingrids Verzicht auf jeden hämischen Zwischenton ermutigte sie, das Kuvert zu öffnen. »Die Bilder stammen offensichtlich vom Parlamentarierbesuch voriges Jahr in Spanien.« »Ja«, sagte Lisa und legte das Kuvert zur Seite. »Ich habe noch Fotos von anderen Frauen. Ich kenne sie nicht. Würden Sie mir helfen, sie zu identifizieren?« »Nein.« »Nein? Warum nicht? Andere hatten ihn vielleicht auch recht gern und möchten ein Andenken.« Schlagartig wurde Lisa klar, daß Frau Ludewigs Verzicht auf beleidigende Zwischentöne nur als Arroganz zu verstehen war. »Ich nehme Ihnen Ihre Fairneß nicht ab. Sie wollen mich nur fühlen lassen, daß ich eine von vielen war. Gut. Angekommen. Und wie nun weiter?« Ingrid lehnte sich zurück, Wohlwollen und Erstaunen im Blick. »Na so was! Auch noch intelligent. Das bringt mich ja ganz aus dem Konzept. Falls Sie ihn geliebt haben, möchte ich Ihnen mein Mitgefühl aussprechen, wenn es Ihnen nicht merkwürdig vorkommt.«
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»Es kommt mir merkwürdig vor!« »Ja. Na gut. In extremen Situationen stimmt halt keine der üblichen Höflichkeitsfloskeln. Dabei war es ehrlich gemeint.« Sie lächelte entschuldigend. »Ich hatte gehofft, Sie wären mir unsympathischer. So aber habe ich fast den Mut, Sie etwas zu fragen. Haben Sie Helmut umgebracht?« »Nein. Sie?« »Nein, auch nicht… Ich hätte ihn, wenn er es gewollt hätte, an Sie abgetreten.« »Er hätte es mit Sicherheit nicht gewollt. Zwischen ihm und mir ging es deshalb so gut, weil wir irgendwelche Konsequenzen beide nicht im Sinn hatten. Allerdings…« »Allerdings?« »…wußte ich von anderen Beziehungen nichts. Ich hätte sie mir mit Sicherheit nicht gefallen lassen.« Ingrid lachte. »Mich aber haben Sie immerhin akzeptiert? Woran mag das liegen? Hauptfrau und Nebenfrau – in Ordnung, das ist fast schon ein gesellschaftliches Ritual – aber jede Dritte und Vierte verstößt gegen das Selbstwertgefühl der Frau!« »Sie haben vorhin meine Intelligenz gelobt. Das war vielleicht voreilig. Ich denke über viele Sachen nicht nach. Auch nicht über diese. Manche Dinge im Leben nimmt man, wie sie kommen, andere plant man.« Ingrid erhob sich. »Ich will schnell gehen, bevor Sie mir noch sympathischer werden. Es verstößt gegen die Regeln des guten Geschmacks und der modernen Tragödie, daß sich Ehefrau und Geliebte menschlich näherkommen. Leben Sie wohl!« Lisa Braun blieb, nachdem Ingrid Ludewig gegangen war, minutenlang selbstvergessen auf dem kleinen Flur stehen und dachte über dieses merkwürdige Gespräch nach. Zwei Fragen beschäftigten sie außerordentlich: Hätte sie mit Ludewig ein Verhältnis haben können, wenn sie seine Frau früher kennengelernt hätte? Ihre Antwort lautete: Nein! Die zweite Frage: Was hatte Ludewig an ihr gefunden, was er nicht auch von seiner Frau hätte haben können? Der Versuch, sich darauf eine Antwort zu geben, ging in der plötzlichen Erkenntnis unter, daß Hajo in ihrem Schlafzimmer saß.
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Sie ging hinüber und sagte: »Entschuldige.« »Was?« fragte er. »Bitte?« »Na ja: was ich entschuldigen soll«, wiederholte er und legte die Frauenzeitschrift, in der er geblättert hatte, auf den Fußboden. »Daß ich dich, kaum daß du zur Tür herein bist, vernachlässigen mußte, was denn sonst?« Er lachte. »›Was denn sonst?‹ ist gut! Na, zum Beispiel, daß du mich mit Ludewig betrogen hast!« Sie war so fassungslos, daß sie eine Weile den Mund nicht wieder zu bekam. »Na, das ist ja vielleicht eine Eröffnungskonversation«, staunte sie und ließ sich in einen Knautschsessel fallen. »Ich habe dich mit Ludewig betrogen… Da weiß ich vor Schreck gar nicht, was ich sagen soll!« »Das ist in solchen Situationen üblich. Was sollst du da auch sagen? Es ist mir schon von Parteifreunden zugetragen worden, und jetzt habe ich es durch Frau Ludewig bestätigt bekommen. Ich kann nichts dafür, daß deine Wände so dünn sind!« »Ich habe dich mit Ludewig betrogen«, wiederholte sie, teils von theatralischer Heiterkeit, teils von Empörung geschüttelt. »Diesen Vorwurf muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das ist einfach zu herrlich. Du bist, seitdem du in Bonn hockst, zweimal hier gewesen – zweimal in zwei Jahren –, einmal anläßlich einer Zwischenlandung für eine halbe Stunde im Flughafenrestaurant, und einmal für eine Nacht auf dem Bett, auf dem du jetzt sitzt. Hast du mich mal nach Bonn eingeladen? Zu einem gemeinsamen Urlaub? Hätte ich hier verblöden sollen, bis du mir in zwanzig oder dreißig Jahren mitzuteilen geruhst, daß ich unser Verlöbnis als aufgelöst zu betrachten habe? Ich habe dich mit Ludewig betrogen! Sag’s noch einmal und ich schmeiß dich samt Koffer und Blumen zum Fenster hinaus!« Hajo Schult schluckte und sagte: »Das war ja direkt bühnenreif.« »Aber nur der erste Akt! Deine Othello-Inszenierung ist nämlich nicht überzeugend, und ich will dir auch sagen, warum. Du hast diese Entwicklung stillschweigend akzeptiert, weil Ludewig zu deinen Gönnern und Förderern gehört hat. Durch seine Protektion, hast du
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dir gesagt, komme ich mal noch in den Bundes- oder Landesvorstand, deshalb will ich mal lieber so tun, als wäre alles in Ordnung. Wenn er noch lebte und dich weiter protegieren könnte, würdest du auch noch deine nächste und übernächste Freundin an ihn abtreten.« »Klassevorführung. Erspare mir aber den dritten Akt, ja? Ich hätte da selber einen Vorschlag. Nach der Parteisitzung heute abend gehen wir zusammen essen.« »Nein, danke.« »Ich sagte essen, nicht schlafen.« »Nimm deinen Koffer und zisch ab.« »Sag mal – weißt du eigentlich, warum ich hier bin?« »Nein, ich will es auch nicht wissen.« »Ich werde vielleicht neuer Fraktionschef. Willst du, nachdem du nun Dampf abgelassen hast, nicht etwas liebenswürdiger sein? Sieh mal, ich kann meine Sekretärin aus Bonn nachkommen lassen und ich kann…« »O Gott ja, bin ich schwer von Begriff. Soll ich mich gleich ausziehen oder darfs nach dem Abendessen sein?« Das Telefon läutete. Sie nahm ab und gab ihm den Hörer. Die Nachricht, die durchgegeben wurde, schien ihn zu amüsieren. Er teilte ihr auch mit, warum. »Stell dir vor, da hat eine Behörde nachgeforscht, ob ich in der Mordnacht in Bonn gewesen bin.« »Warst du?« »Nein.« Eine wirkungsvolle Pause. »In Brüssel. Zusammen mit dem Bundesvorsitzenden. Ob die den als Zeugen akzeptieren? Okay, ich sehe, du bist überanstrengt. Ist ja auch verständlich. Soll ich nun über den Balkon absteigen, oder läßt du mich durch die Tür?« »Bleib von mir aus vorerst noch hier«, murmelte Lisa konfus und müde. »Ich koch uns einen Tee. War ja wohl wirklich alles ein bißchen zuviel auf einmal.« Einen Tag nach der feierlichen Beisetzung Dr. Helmut Ludewigs und dem damit verbundenen Staatsakt – nicht nur politische Freunde, sondern auch die Opposition bescheinigte dem Verstorbenen menschliche Integrität und Redlichkeit – erhielt Ingrid Ludewig den Besuch zweier Männer. Der eine, Görres, kam zur Mittagszeit eigentlich sehr ungelegen, weil Ingrid, von ihrem Halbtagsjob aus der
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Stadtbücherei zurückgekehrt, das Baby und die halberwachsene Tochter zu versorgen hatte (das Baby nahm sie einfach immer mit in die Stadtbücherei), aber Görres hatte sich als »alter Freund« Ludewigs angesagt, und sie meinte, als solcher werde er auch in Kauf nehmen, wenn ihre Zeit und Aufmerksamkeit beschränkt war. In der Tat schien Görres vor Jahren einmal privaten Kontakt mit Helmut gehabt zu haben, trotzdem benutzte er ihn nur als Vorwand, überhaupt vorgelassen zu werden, weil Ingrid keine Interviews geben wollte. Er war nämlich Reporter, und zwar bei einer Zeitung, die der PFC keineswegs nahestand. Als er nach einer gefühlvollen Einleitung die Katze aus dem Sack ließ: »Schreiben Sie, Frau Ludewig, schreiben Sie, was Sie wollen!«, sah sie ihn erstaunt an, legte das Baby schlafen und fragte: »Wozu?« »Wozu?« Görres, der groß, dünn und unverzeihlich lustig war, nannte die Gründe: »Erstens um der Wahrheit willen, zweitens, weil es Geld bringt. Ich bin autorisiert, Ihnen fünfzigtausend Mark für zehn Folgen à zehn Schreibmaschinenseiten vorzuschlagen. Die SLZ zahlt gut.« »Aber die SLZ liebt die Partei, der mein Mann angehörte, doch nicht gerade, oder irre ich mich da?« fragte Ingrid unschuldig. »Nun, Frau Ludewig, wir erwarten ja auch keine politischen Beiträge von Ihnen – mehr, sagen wir mal, den Alltag Ihrer Ehe.« Ingrid bat Christa mit einer Handbewegung, wieder hinauszugehen. »Sehen Sie, Frau Ludewig, Helmut und ich sind im Laufe der Jahre zwar politisch etwas auseinandergedriftet, aber im Menschlichen sind wir Kumpel geblieben… und so gesehen, war uns auch nichts Menschliches fremd. Ich hatte sein Vertrauen.« »Das Sie nun enttäuschen wollen?« »Bitte?« Er begann ungefragt zu rauchen. »Nein, ich werde gar keine Meinung haben. Sie schreiben ja. Was er für ein Mensch war, wie sein Privatleben aussah – na ja, eben alles! Wenn es für Sie persönlich ein Akt der Befreiung, so was wie ein erlösender Aufschrei ist, soll es uns nur recht sein.« »Ja?« »Ja.«
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»Helmut«, log Ingrid mit Genuß, »war ein liebevoller Vater, ein treuer, einfühlsamer Ehemann und ein Mensch voller Selbstachtung und Würde.« Das warf den guten alten Freund von Helmut beinahe um. Erst einmal scheiterte sein Versuch, die brennende Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Er verbrannte sich den Finger. Dann suchte er einen Aschenbecher. Ingrid nahm einen aus dem Wandschrank. Die Heftigkeit, mit der sie ihn auf den Tisch stellte, war fein dosiert. Görres beachtete solche Nuancen der Feindschaft nicht. Er reizte seine materiellen Möglichkeiten aus. »Für einen wirklichen Tatsachenbericht«, erklärte er, »darf ich auf siebzigtausend gehen.« »Und was ist ein wirklicher Tatsachenbericht?« »Ein wirklicher Tatsachenbericht wäre…« Er brach verzweifelt ab. »Helmut und ich haben uns vor ein paar Monaten in München getroffen. Zufällig. In einer Bar. Wie das manchmal so ist, der eine hat eine zuviel am Kragen, der andere hat gar keine.« Er lachte dümmlich. Ingrid nahm die Visitenkarte, die er ihr anfangs überreicht hatte. Sie enthielt auch seine private Telefonnummer. Ingrid ging zum Telefon und wählte. Und dann hörte er sie sagen: »Frau Görres? Ja, hier ist Frau Ludewig. Ihr Mann ist bei mir und möchte Ihnen einen herzhaften Schwank aus seinem Leben erzählen. Ich übergebe.« Ingrid hielt Görres den Hörer hin. Görres, völlig überrumpelt und in seinem Glauben an die Menschheit erschüttert, knallte den Hörer auf die Gabel und schrie: »Sie sind wohl nicht ganz zurechnungsfähig??!! Mann o Mann, jetzt kapier ich so manches, wovon mir Helmut erzählt hat… der mußte ja fremdgehen, wenn er nicht verrückt werden wollte!« Der zweite Besucher erwies sich als kultivierter und feinfühliger, was allerdings auch mit seinem Auftrag zu tun hatte. Dr. Pohl war Pressereferent der Landesregierung und als solcher verantwortlich für die Herausgabe der Wahlpostille. Er kondolierte höflich und setzte als gegeben voraus, daß Frau Ludewig über den tragischen Tod ihres Mannes hinaus ein geradezu euphorisches Bedürfnis haben müsse, sein Andenken zu festigen, und zwar in Form eines Nachrufes mit Herz. Ingrid Ludewig holte tief Luft und erklärte: »Lieber
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Herr Doktor Pohl, ist es nicht schon anerkennenswert, daß ich der PFC etliche tausend Wählerstimmen dadurch erhalten habe, indem ich es vor knapp einer Stunde abgelehnt habe, einen Tatsachenbericht für die SLZ zu schreiben? Sehen Sie, mein Mann war offensichtlich beides: Mensch und Unmensch – er hatte, wie man so zu sagen pflegt, zwei Gesichter. Wenn Sie etwas über den Menschen erfahren wollen, müssen Sie Lisa Braun, seine Sekretärin, befragen. Ich habe vorwiegend den Unmenschen kennengelernt.« Dr. Pohl war nicht weniger in seinem Glauben an die Menschheit erschüttert als vor einer Stunde Görres, aber seine Fassungslosigkeit hatte beinahe etwas Bemitleidenswertes. Es kam Ingrid vor, als habe er von Ehen, die nur an der Oberfläche funktionierten, noch nie etwas gehört, und als müsse er erst einmal über Partnerschaften und deren Konflikte grundsätzlich informiert werden. Seine Ratlosigkeit, sein Schweigen zwangen sie, sich zu entschuldigen. »Das ist nicht gegen Sie gerichtet, verstehen Sie? Ich werde noch lange brauchen für die seelische Aufarbeitung. Deshalb kann ich nichts sagen. Und ich habe es so kurz gemacht, weil ich mit meinem Baby noch zur Schluckimpfung muß, weil ich den Englischaufsatz meiner Tochter noch nicht durchgelesen habe, noch einkaufen gehen muß, eine Unmenge Kondolenzpost zu beantworten habe und darüber hinaus in einer halben Stunde bei meinem Notar sein möchte.« Daraufhin entschuldigte sich Dr. Pohl, überhaupt gekommen zu sein. Manchmal kommen polizeiliche Ermittlungen wochenlang nicht von der Stelle, und dann kann ein Hinweis, eine Beobachtung, eine unerwartete Zeugenaussage wie eine Lawine alles ins Rollen bringen. Der erste Hinweis erschien in Gestalt eines Forstverwaltungsangestellten, dem gewiß nicht unterstellt werden konnte, Sympathisant eines einsitzenden Randgruppenterroristen zu sein. Hufnagel, so hieß der Mann, hatte am Nachmittag vor der Ermordung Ludewigs im Landwirtschaftsministerium zu tun gehabt, das sich in unmittelbarer Nähe des Landesparlaments befand. »Ich trug diesen grünen Dienstanzug«, berichtete er Merck und Schell, die ihn gemeinsam empfangen hatten, schnörkellos und Pro-
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tokollreif, »und Sie werden gleich merken, daß ich das nicht nur so nebenbei erwähne. Ich wurde nämlich von einem jungen Mann auf einem Motorrad, als ich zum Parlamentsgebäude rüberging, offensichtlich für einen Pförtner oder so etwas Ähnliches gehalten, denn er fragte mich, ob die von der PFC alle noch drin sind. Das wußte ich nicht, aber die Frage beantwortete sich auch von selbst, denn im gleichen Augenblick strömten die Abgeordneten aus dem Parlament, und der Motorradfahrer, ein junger, kräftiger Mann von etwa Dreißig, drehte einige Kurven um den Platz. Inzwischen waren Fernsehteams und Passanten erschienen, die zuguckten, wie Politiker interviewt und gefilmt wurden, und ich verlor den Motorradfahrer aus den Augen. Ich wurde dann jedoch wieder aufmerksam, weil sich ein Toningenieur bei ihm beschwerte, er solle den Motor abstellen oder ein Stück wegfahren. Er fuhr ein Stück weiter. Als dann alles vorbei war, habe ich gesehen, wie der Motorradfahrer sich einfädelte, zwischen die Autos der Abgeordneten sozusagen. Das waren Dienstautos und private, alles durcheinander.« Merck sah Schell vielsagend an, dann reichte er dem Forstbeamten ein Foto von Edgar Schuh. »Nein, der war es mit Sicherheit nicht«, sagte Hufnagel entschieden, was Schell einigermaßen freute, weil sich Merck auf Schuh festgebissen hatte. Daß Edgar Schuh seit über zwei Wochen festgehalten wurde, verdankte er allerdings nicht nur der Sturheit des Staatsschutzbeamten, sondern auch sich selbst: er war zur Tatzeit, wie sich später herausstellen sollte, bei einer konspirativen Vereinigung in der Schweiz gewesen, hatte dieses Alibi jedoch nicht angeben wollen, um die im Entstehen begriffene Gruppe nicht zu gefährden. Edgar Schuh wurde noch am selben Tag aus der Haft entlassen. »Sicher haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie mit Ihrer Beobachtung erst heute herausrücken«, wandte sich Schell an Hufnagel. Hufnagel hatte sogar Unterlagen für seine Erklärung. Reiseunterlagen. »Ich war mit meinem Sohn in Nordfinnland. Von See zu See. Mit einem Boot. Am Abend des Tages, an dem ich meine Beobachtungen machte, sind wir aufgebrochen, gestern abend zurückgekehrt.«
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»Das Kennzeichen, Herr Hufnagel«, drängte Merck, »Sie haben das Kennzeichen des Motorrads nicht erwähnt. Wissen Sie es noch?« »Dann hätte ich es schon erwähnt. Ich weiß es nur noch unvollkommen. Es fing mit Ö an.« »Mit Ö – dann kann es doch nur der Landkreis Öwe gewesen sein«, jubelte Merck. »Und in einem kleinen Nest in der Nähe von Öwe war Ludewig doch vor ein paar Wochen bei einer Ortsvereinsfeier, oder?« Schell nickte. »In Willschau war das!« »Das Motorrad war mit alten Orden und Ehrenzeichen verziert, dazwischen Mickymäuse und anderer Kitsch«, vervollständigte Hufnagel seine Aussage. Das deckte sich in etwa mit der Beobachtung, die Christa Ludewig gemacht hatte. Nachdem Hufnagel mit dem Lob, er sei ein vorbildlicher Staatsbürger, verabschiedet worden war, begann der technische und personelle Apparat auf Hochtouren zu laufen. Christa konnte sich nun auch an das Ö erinnern. Der zweite Toningenieur des Fernsehteams, das Ludewig interviewt hatte, bestätigte Hufnagels Beobachtungen, ohne allerdings wesentliche Details hinzufügen zu können. Der Computer der Kraftfahrzeugzulassungsstelle informierte, daß im Landkreis Öwe achtundzwanzig schwergewichtige BMWMotorräder registriert waren; Diebstahlsanzeigen lagen nicht vor. Von den achtundzwanzig Kradbesitzern waren fünfundzwanzig strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten, einer war wegen Scheckbetrugs vorbestraft, einer wegen Körperverletzung (Karsten Lehn), einer wegen Fahrerflucht; alle Fälle lagen etliche Jahre zurück. Die berufliche Statistik sah folgendermaßen aus: Kaufmännische Angestellte: 3 – Kfz-Schlosser: 3 – Landwirte: 3 – Bauhandwerker: 3 – Metallverarbeitende Berufe: 3 – Selbständige Unternehmer: 2 – Fleischereihandwerk: 2 – Tischler: 1 – Friseur: 1 – Hundezüchter: 1 – Monteur: 1 – Fliesenleger: 1 – Sparkassenangestellter: 1 – Berufsfahrer: 1 – Gastwirt: 1 – ohne Beruf: 1.
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Auf den Gastwirt, der eigentlich ein Gastwirtssohn war und Karsten Lehn hieß, fuhr Merck sofort ab. Nicht nur, weil das BKA meldete, daß dieser zwischen seinem siebzehnten und zwanzigsten Lebensjahr einer rechtslastigen Jugendorganisation angehört und als »Zeugwart« sogar einen gewissen Rang eingenommen hatte, sondern vor allem, weil dieser Karsten Lehn jene Gastwirtschaft betrieb, in der vor knapp vier Wochen Dr. Helmut Ludewig als Gratulant der Landespartei bei der Feier des PFC-Ortsvereins in Erscheinung getreten war. »Wie gehen wir vor?« fragte Kripochef Schell. »Eine frontale Konfrontation wird wenig Sinn haben, denn der Täter hatte ja genug Zeit, alle möglichen Spuren zu beseitigen.« Merck nickte. Dann sagte er: »Wir nehmen Hufnagel mit!« »Hufnagel?« »Ja. Und den Toningenieur. Wir gehen sozusagen ganz privat, essen und trinken was. Wenn uns Hufnagel und der Toningenieur, die ihn ja auch ohne Helm und Gesichtsschutz gesehen haben, zu verstehen geben, daß er es nicht war, können wir ohne Prestigeverlust wieder abziehen. Eine voreilige Festnahme wäre peinlich, nachdem wir uns schon mit Edgar Schuh so geirrt haben.« »Sie haben sich mit Edgar Schuh geirrt, nicht ich«, stellte Schell richtig. »Für mich stand schon bei der Tatortbesichtigung fest, daß Linksextremisten so nicht zu Werke gehen.« Merck machte eine Handbewegung, die besagen wollte, daß dies Schnee von gestern sei. »Wenn sie ihn dagegen identifizieren«, fuhr er fort, »wird sich auch dieser – wie heißt er gleich?« »Karsten Lehn.« »Ja, wird sich auch dieser Karsten Lehn an die Gesichter erinnern, in Panik geraten und hoffentlich etwas tun, das für uns zu einer Verhaftung ausreicht.« Mit dem alten Gustav Lehn war nicht mehr zu reden, seitdem er mit Sohn und angehender Schwiegertochter beim Notar gewesen war. Haus und Gaststätte waren nun auf den Namen des Sohnes eingetragen, die Hälfte von Liegenschaften und Vermögen gleichzeitig als Schenkung auf Bella übertragen worden, bis sie als Ehefrau in Gü-
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tergemeinschaft – die Hochzeit sollte in Kürze sein – ganz offiziell als Miterbin registriert werden sollte. Gustav hatte kapituliert, verstanden hatte er nichts. Natürlich spielte es keine große Rolle, ob Karsten heute schon oder erst nach Vaters Tod als Besitzer im Grundbuchamt eingetragen war; aber gerade deshalb, hatte Gustav gemeint, hätte man auch bis zu seinem Ableben warten können. Die Schenkung dagegen und die eilige Hochzeit hatte ihm Karsten nur mit seiner riesengroßen Liebe zu Bella und mit seiner Angst, sie sonst zu verlieren, erklären können. Das war in seinen Augen ein unverzeihlicher Blödsinn. Bella war eine fixe und aufmerksame Kellnerin, sonst nichts. Rein menschlich mußte man schon wegen ihrer Launen mißtrauisch sein. Mal glühte sie vor Zuneigung zu Karsten, ein andermal schikanierte sie ihn. Nach Gustav Lehns Lebensauffassung durfte aber nur ein Mann eine Frau schikanieren, nicht umgekehrt. Und wenn sie es doch tat, mußte sie einen Denkzettel bekommen. Karsten aber duckte sich und grinste blöd, wenn sie ihn zur Arbeit antrieb. So mußte er jetzt zum Beispiel die Gaststätte und den Nebenraum staubsaugen und putzen, was vorher ihre Aufgabe gewesen war. Den Koch und seine Gehilfin behandelte sie liebenswürdiger, und die Gäste sowieso. Irgendwie trat sie schon wie die Chefin auf, obwohl es ihr andererseits an einer gewissen Selbstachtung fehlte. Ein Gast, der eine hohe Zeche machte, durfte ihr schon einmal in den Po kneifen, bevor sie ihm lachend auf die Hand patschte. Es gab keine Erklärung dafür, daß Karsten so was sah und nichts unternahm. Ihn, Gustav, trachtete Bella bei Laune zu halten. Zu ihm war sie nie pampig, sie sagte danke und bitte und lachte ihn an mit ihren schönen, falschen Augen. Das tat ihm natürlich gut, weil er es für angebracht hielt, respektvoll behandelt zu werden. Trotzdem blieb er ihr gegenüber wortkarg und reserviert, weil er nicht wußte, was gespielt wurde. Ein gutes Ende konnte es seiner Meinung nach nicht nehmen. Wie nahe das Ende schon war an diesem verregneten Frühherbsttag, ahnte allerdings auch er nicht. Kurz nach Lokalöffnung um 17 Uhr fuhren zwei Autos mit je zwei Männern bei der Gaststätte vor. Sie kamen von auswärts, und das war werktags selten. Ausflügler verirrten sich eigentlich nur am Wo-
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chenende hierher. Obwohl die Wagen im Abstand von einer Minute vorfuhren und die Insassen – Merck und Schell einerseits, der Forstbeamte Hufnagel und der Toningenieur Hattke andererseits – keinen sichtbaren Kontakt zueinander aufnahmen, hatte Karsten, der am Küchenfenster stand, gleich das Gefühl, daß sie irgendwie zueinandergehörten. Drei Autos mit jeweils vier Staatsschutz- bzw. Kripobeamten konnte vom Gasthaus aus niemand sehen; sie parkten in einer Entfernung von etwa einem Kilometer an den Ausfallstraßen und sollten notfalls eine Sperre bilden – angesichts der geographischen Verhältnisse eine ziemlich schwachsinnige Vorsichtsmaßnahme, die aber am glücklichen Ende der Aktion nichts ändern sollte. Hufnagel und Hattke, die erst vor zwei Stunden miteinander bekannt gemacht worden waren, sollten Karsten Lehn, wenn es sich so ergab, mit Fragen wie ›Na – haben Sie die PFC-Abgeordneten damals denn noch angetroffen?‹ und – falls das Motorrad sichtbar und jetzt ohne Aufkleber war – ›Wo sind denn die schönen Sticker an Ihrem Krad geblieben?‹ verunsichern. Das klappte nicht. Karsten sah schon durchs Fenster, wie aufmerksam sich die beiden Männer das Motorrad ansahen, das vor der Garage stand. Den einen, der eine portierähnliche Kluft trug, erkannte er sofort, den anderen erst später, nachdem sie alle in der Kneipe Platz genommen hatten. Hufnagel und Hattke setzten sich in eine Ecke am Fenster, Merck und Schell zwei Tische entfernt in die Nähe der Tür. Drei Landwirte am Stammtisch setzten ihren Disput über Maisanbau fort, nachdem sie beiläufig zur Kenntnis genommen hatten, daß Fremde gekommen waren. Merck brach gleich wieder auf und fragte Bella nach der Toilette. Sie sagte es ihm, und Karsten konnte den Eindruck nicht loswerden, daß der Mann nur die Räumlichkeiten und Nebenausgänge erkunden wollte. Er blieb lange weg. Als er zurückkam, Bella hatte ihnen allen inzwischen je ein Bier und einen Schnaps gebracht, zischte Karsten Bella durch die Durchreiche zu, in die Küche zu kommen. »Wo hast du den Revolver?« »Warum?« flachste sie. »Willst du dich erschießen?« »Die zwei da in der Ecke kenne ich!« »Ja? Ich nicht.« »Die waren vorm Parlament. An dem bewußten Tag.«
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»Ach so – und nun willst du die erschießen?« »Quatsch doch nicht dämlich. Ich weiß nicht, ob sie zufällig hier sind oder was sie vorhaben. Den Revolver jedenfalls darf niemand finden. Deshalb frag ich. Sie haben sich schon mein Motorrad so interessiert angeguckt.« »Den Revolver findet niemand.« »Ich fahre nach Öwe rüber. Zu Karl in die Kneipe. Wenn die hier wieder weg sind, rufst du mich an. Die beiden an der Tür gehören anscheinend auch dazu.« »Und du meinst, wenn sie dich auf dem Kieker haben, lassen sie dich einfach wegfahren?« Sie ließen ihn wegfahren, weil er im Leerlauf den abschüssigen Weg zur Straße hinunterfuhr und erst dort Gas gab. Es dauerte allerdings gar nicht lange, bis er sah, wie sich ein Viertürer quer zur Fahrbahn stellte. Rotlicht. Stopzeichen. Karsten schwenkte nach rechts in einen Feldweg ein, durchfuhr einen kleinen Birkenhain und erreichte eine Landstraße, die wegen Bauarbeiten halbseitig gesperrt war. Er mißachtete ohne Folgen das Rotlicht, erkannte die zweite Polizeiabsperrung und umfuhr sie waghalsig über einen Schotterweg, der parallel zur Straße verlief. Im Rückspiegel sah er die verdutzten Beamten den Wagen wenden und einsteigen, aber er sah nicht die Kuhfladen, die ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug von seinem Anhänger verloren hatte, sonst wäre er nicht mit hundertdreißig in diese Schräge gegangen. Wie ein Geschoß flog sein schwerer Körper durch die Luft, nachdem die Maschine von einem Markierungsstein gestoppt worden war, und krachte gegen eine Streusandkiste. »Er ruderte noch mit den Armen«, sagte einer der Verfolger in dem Polizeifahrzeug aus, »so als ob er hoffte, fliegen zu können.« Als die Nachricht über Funk eintraf, standen Merck und Schell beim alten Lehn, der leere Bierfässer aus einer Kellereinfahrt rollte und die Frage, wohin sein Sohn so plötzlich gefahren sei, nicht beantworten konnte oder wollte. Nun wußten sie es ja; in den Tod war er gefahren. Lehn, der den Funkspruch: »Flüchtender Motorradfahrer tödlich verunglückt« mitgehört hatte, setzte sich auf eine Holzkiste
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und schüttelte den Kopf. Unentwegt. Es sah aus wie eine Schüttellähmung. Erst als Bella aus dem Haus kam und fragte, was passiert sei, hörte er auf, erhob sich, ging zehn Schritte vorwärts und blieb einfach stehen. Von seiner Hutkrempe tropfte der Regen. »Was ist denn nun passiert?« wiederholte Bella ihre Frage an die beiden Männer, und weil sie das Funkgerät in der Hand des einen sah, fügte sie hinzu: »Sind Sie von der Polizei?« »Ja«, sagte Merck und zeigte seinen Ausweis. Dann wies er auf den alten Lehn: »Sein Sohn ist gerade tödlich verunglückt. Gehören Sie zur Familie?« Bella schüttelte den Kopf. »Aber wir wollten heiraten. In der nächsten Woche.« Dafür, fand Merck, hielt sich ihr Entsetzen eigentlich in Grenzen. Aber manchmal kam der Schock ja auch später. Es war ihm ganz recht, daß Bella ansprechbar blieb, da konnte er die Fragen stellen, die durch Karstens Tod ja nicht gegenstandslos geworden waren. »Wir hatten eine Überprüfung in einer ganz bestimmten Sache vor«, erläuterte Merck. »Sieht so aus, als ob er es mitbekommen und die Flucht angetreten hat.« »In was für einer Sache denn?« wollte Bella wissen und sagte: »Gehen wir doch hinein. Hier regnen wir ja völlig ein.« Als sie in einem kleinen Zimmer hinter dem Schankraum angelangt waren, einer Art Wohnküche, hatte sich Bella etwas mehr persönliche Betroffenheit zugelegt. Ganz gleichgültig schien ihr Karstens Tod doch nicht zu sein. Ein paar Tränen kullerten. Ihr wacher Verstand aber funktionierte. Du weißt von gar nichts, signalisierte er ihr, sonst unterstellen sie dir womöglich Mitwisser- oder Mittäterschaft, zu guter Letzt bist du die Anstifterin. »Hat er denn was ausgefressen?« fragte sie. »Haben Sie von dem Tod des PFC-Fraktionsvorsitzenden gehört?« wollte Schell wissen. »Na ja, durch die Zeitungen. Hat Karsten damit denn zu tun?« Ein Beamter steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Hufnagel und Hattke haben ihn identifiziert«, so daß Merck antworten konnte: »Ja, damit hatte er zu tun. Ist das eine Neuigkeit für Sie?« »Ja.«
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»Nichts gemerkt? Nicht mal in seinem Verhalten und so? War er wie immer in den letzten Tagen?« »Wie immer war er nicht. Gereizt und ängstlich war er.« »Können wir sein Zimmer sehen?« »Sicher, das ist gleich nebenan.« An der Wand hing das vergilbte Foto eines Ritterkreuzträgers der deutschen Wehrmacht, darunter, auf einer Kommode, lagen Landserhefte, in einer Pappschachtel Orden und Ehrenzeichen des letzten Krieges. Merck öffnete eine Lade und fand ein zerfleddertes Beitragsmarkenheft einer Wanderbewegung, die sich vor zehn Jahren selbst aufgelöst hatte und damals als getarnte nazistische Nachfolgeorganisation registriert worden war, ein Hitlerjugend-Fahrtenmesser, einen SA-Ehrendolch und Videokassetten mit Aufzeichnungen alter deutscher Wochenschauen, beschriftet und nach zeitlicher Reihenfolge geordnet. Nur die Mordwaffe fand Merck nirgends. »Wer ist denn das auf dem Foto?« fragte Schell. »Sein Vater, als er noch jung war.« Und zu Merck, der in den Orden herumwühlte und verstaubte Propagandaschriften der NPD aus einem primitiven Geheimfach des Schreibtisches hervorkramte, sagte sie: »Das ist doch alter Kram!« »Alter Kram kann auch inspirieren«, erwiderte Merck und sah Bella jetzt ganz dienstlich an. »Und davon wollen Sie nichts gewußt haben?« »Was heißt denn hier nichts gewußt haben? Keine Bedeutung habe ich dem beigemessen. Wenn das politisch irgendwie belastend ist, kann ich das nicht in Abrede stellen, weil ich mir auch keinen Vers darauf machen kann, warum er den Politiker erschossen haben sollte, aber gesagt hat er nie was.« »Auch nicht nach der Versammlung des PFC-Ortsvereins hier vor ein paar Wochen?« hakte Merck nach. »Da hat Dr. Helmut Ludewig nämlich gesprochen.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das weiß ich alleine. Als ich das Bild in der Zeitung sah, habe ich gleich zu Karsten gesagt: ›Du, guck mal, der Typ, der neulich bei der Parteifeier gesprochen hat, ist erschossen worden.‹«
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»Und?« »Nichts und. Ich hab nur… Aber das war später und hat sicher keine Bedeutung.« »Sagen Sie es trotzdem!« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich hab im alten Hühnerstall ein Loch entdeckt…« »Ein Loch?« »Ja, so etwas Ausgegrabenes und wieder Zugetrampeltes.« »Und was war da drin?« »Das weiß ich nicht, ich hab nicht nachgesehen.« »Dann machen wir das gleich mal.« Die anderen Einsatzwagen waren inzwischen auf den Platz vor die Gastwirtschaft gefahren. Merck gab kurz ein paar Informationen und nahm einen Beamten zum Ausgraben mit in den alten Hühnerstall. Wenn Bella das ehemalige Loch nicht selber ausgegraben hätte, hätte sie es wahrscheinlich auch nicht so schnell gefunden. Einer der Beamten nahm einen Spaten. Schon nach einem kräftigen Stich kam eine Plastiktüte mit einem Revolver zum Vorschein. Wie sich bei der späteren Untersuchung der Waffe ergeben sollte, war Bella vorsichtig zu Werk gegangen: Es wurden nur Karsten Lehns Fingerabdrücke gefunden. Auch Ludewigs kleiner Aktenkoffer trug – von Ludewigs eigenen Abdrücken abgesehen – nur Karstens Spuren. Er wurde in einem Bodenraum hinter Gerümpel entdeckt. Die geheimen Parteipapiere waren vollständig erhalten, was die PFC-Partei-Leitung außerordentlich freute, denn Schells These, ein richtiger politischer Attentäter hätte die hochbrisanten Akten nicht einfach mißachtet, konnte niemanden in große Verlegenheit bringen. »Was heißt das schon: ein richtiger politischer Attentäter«, belehrte Merck seinen Kollegen von der Kripo. »Es gibt straff organisierte Gruppen von Profis und dilettantische Einzelgänger, die nicht analytisch, sondern emotional vorgehen. So einer war Karsten Lehn, da gibt es doch gar keinen Zweifel.« »Ich habe in der politischen Kriminalität nicht Ihre Erfahrungen«, erwiderte Schell süffisant. »Das merke ich schon daran, daß ich an-
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gesichts ein paar alter Kriegsorden und Landserhefte gar nicht auf den Gedanken käme, einem Täter politische Motive zu unterstellen.« Merck lachte. »Was denn für welche?« »Persönliche. Was für welche, könnte ich erst feststellen, wenn man mit der Untersuchung noch mal bei Null anfinge. Diese Erbschaftsregelung, vor allem aber diese Schenkung zugunsten der Kellnerin, könnte ein Ansatz zu völlig andersgearteten Überlegungen sein. Allerdings gebe ich zu, daß der Partei mit Ihrer Lösung besser gedient ist.« »Jetzt sind Sie aber zynisch, lieber Schell!« »Nein, nein, bin ich gar nicht. Frau Ludewig wird mit dieser Version auch besser leben können. Ich möchte aber nicht wissen, was uns Karsten Lehn über seine Motive zu sagen hätte, wenn er noch lebte. Wenn ich wirklich ein Zyniker wäre, würde ich sagen, die Partei hat seinem Tod viel zu verdanken.« An einer besonders feierlichen Stelle in der Rede von Hajo Schult, dem neuen Fraktionsvorsitzenden der PFC im Landtag, hat Parteisekretärin Lisa Braun plötzlich eine Vision, die sie nicht ertragen kann: Amtsvorgänger Dr. Helmut Ludewig läuft nach vorn ans Rednerpult und haut seinem Nachfolger eine runter mit den Worten: »Und was machst du im Bett meiner Freundin?« Lisa stürzt ins Bad. »Was ist denn los mit dir?« schreit Hajo hinterher, ohne den Blick vom Fernsehgerät zu wenden. Erst als ein Kollege von der Opposition vorn ans Rednerpult tritt, geht Hajo Schult nachsehen. Lisa sitzt auf dem geschlossenen Klodeckel und trommelt sich mit den Fäusten auf die Schenkel. »Was hast du denn?« »Nichts«, schreit sie ihn an. »Nichts! Geh raus und hör weiter zu!« »Die bringen jetzt die Beiträge von der Opposition«, murmelt Hajo beunruhigt. »Aber in ein paar Minuten kommt das Interview mit mir. Willst du nicht zuhören, falls es dir bessergeht?« »Nein. Ich will dir nicht zuhören. Hör dir selber zu. Geh raus, du könntest was verpassen!« »Soll ich einen Arzt…?« »Nein, es wird schon wieder besser. Geh!«
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Da geht er, knotet den Bademantel neu, steckt sich eine Zigarette an und nimmt im Knautschsessel Platz. Hysterische Attacken haben ihm gerade noch gefehlt nach diesen arbeitsreichen Wochen. Er schließt die Badezimmertür, weil Lisa angefangen hat, Wasser in die Wanne laufen zu lassen, und er sein eigenes TV-Wort nicht verstehen kann. Der Moderator leitet schon über. »Herr Schult, Ihr Vorgänger ist am Tag seiner Amtseinführung auf tragische Weise einem Attentat zum Opfer gefallen. Belastet das einen Nachfolger?« »Natürlich belastet es ihn«, lauscht Hajo ergriffen seinen Worten. »Zumal Doktor Ludewig auch mein persönlicher Freund war. Ich will die Rede, die ich im Parlament gehalten habe, nicht wiederholen, aber ein Satz verdient vielleicht doch, noch einmal hervorgehoben zu werden: Ich hätte lieber noch von ihm gelernt, als schon in die Pflicht genommen zu werden. Andererseits ist es ein Ansporn, ihm nachzueifern.« »Ein Wort zu dem Attentäter?« »Er widerlegt auf erschütternde Weise die These, unsere Partei drifte nach rechts ab.« »Vielen Dank, Herr Schult!« Lisa kommt aus dem Bad, ein zerknirschtes, um Verzeihung bittendes Lächeln um die Mundwinkel. Das ermuntert ihn zu sagen: »Ich glaube, ich war ganz gut!« »Natürlich warst du gut. Ludewig war auch gut. Alle in der PFC sind gut.« »Wenn es dir nur bessergeht. Dann will ich die Ironie gern überhören.« Er ist ein Kamel, durchfährt es sie, ein völlig phantasieloses Wesen. Daß Helmut auch einmal in diesem Bett gelegen und seinen eigenen Interviews gelauscht haben könnte, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Es fehlt nur noch, daß er verheiratet wäre und auch einen Wollfaden in der Socke hätte. »Ich hätte lieber noch von ihm gelernt!« Was denn zum Beispiel? Große Reden schwingen und persönlich nichts davon einhalten? Warum hat sie mit ihm geschlafen? Weil sie einsam, weil kein anderer da ist? Weil von erfolgreichen Männern etwas Faszinierendes
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ausgeht? Weil sie lieber Sekretärin eines Fraktionsvorsitzenden ist als die eines einfachen Abgeordneten? Wegen allem ein bißchen? Während sie in der Wanne liegt, zieht er sich an. Er muß noch einmal nach Bonn zurück. Eine Entführung und Ermordung auf der Fahrt zum Flughafen ist unwahrscheinlich, denn die Partei hat inzwischen dazugelernt. Fraktionsvorsitzende haben jetzt unmittelbar nach Amtseinführung Leibwächter. Diese sitzen unten im Auto und lösen Kreuzworträtsel. Wenn Ludewig auch schon Leibwächter gehabt hätte, könnte er es immer noch sein, der im Knautschsessel sitzt und ihr beim Verlassen des Bades zuflüstert: Riechst du aber gut! So ist es Hajo, der sagt: »Riechst du aber gut!« Und siehe da: Sie freut sich trotzdem, kocht einen Tee zum Abschied, setzt sich auf die Bettkante und sieht ihn lieb an und stört sich nicht an den Aktennotizen, die er zu machen hat. Erst als er aufblickt, fragt sie: »Glaubst du wirklich, daß der Täter politische Motive hatte?« »Was denn sonst für welche«, erwidert er und schaut auf die Uhr. »Für eine persönliche Aversion gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte. Wie sollte ein privater Kontakt angesichts dieser Niveauunterschiede auch jemals zustande gekommen sein? Ja, ich muß gehen, mein Schatz. Wenn du mir, wie früher, den Haustürschlüssel mitgibst, kann ich ihn wieder in den Briefkasten werfen, und du brauchst nicht mit nach unten.« Lisa sieht keinen einleuchtenden Grund, warum es nicht auch mit dem Haustürschlüssel mit Hajo wieder so funktionieren sollte, wie es zwei Jahre lang mit Helmut funktioniert hat. »Zum Wochenende bin ich wieder da!« »Ja, tschüs. Paß gut auf dich auf!« Auf dem Balkon hängt diesmal keine Wäsche, sie kann sehen, wie er unten aus dem Haus kommt. Die Leibwächter legen ihre Illustrierten weg, kleiner Wortwechsel, Start. Der Wagen ordnet sich in den fließenden Verkehr ein. Zum Flughafen, meine Herren, nicht etwa zu dem alten Güterbahnhof! In den Abendnachrichten kann Lisa das Interview mit Hajo dann noch einmal in aller Ruhe anhören. Jetzt, ohne Hajo auf dem Bett,
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hat sie keine albernen Visionen. Und schlecht ist das Interview wirklich nicht, da hat Hajo recht! »Ich hätte lieber noch von ihm gelernt, statt schon in die Pflicht genommen zu werden« – das ist bei aller Schlichtheit ergreifend. Und dann ruft er auch noch einmal an! Vom Flughafen aus. »Du störst! Ich sehe fern!« »Na hör mal!« »Das Interview mit dir. Es kommt gerade in den Abendnachrichten!« »Du bist eine süße Verrückte. Alleine: ja, aber mit mir zusammen nicht.« »Die Freundin eines bedeutenden Mannes zu sein, führt halt zu den merkwürdigsten seelischen Ausfallerscheinungen. Es wird nicht wieder vorkommen.« »Um so besser. Du, meine Maschine wird aufgerufen. Schlaf gut. Küßchen.« »Ich küsse dich auch.« In den Nachrichten kommt jetzt eine Stellungnahme des Generalstaatsanwalts zur Täterschaft des tödlich verunglückten Gastwirtssohns Karsten Lehn und über seine Motive. Sie seien, sagt er, zweifellos politischer Natur und dem Terrorismus zuzurechnen. Der Mangel an intellektueller Präzision entkräfte das nicht, die Geschichte kennt sehr viele Beispiele politischer Triebtäterschaft. Das klingt überzeugend, genauso überzeugend wie das Interview, das Hajo gegeben hat. Lisa Braun geht auf den Balkon und schüttelt die Bettwäsche aus.
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Michael Molsner Und willst du nicht mein Bruder sein Neuer Job, neue Mark. Aber ich hatte den Job noch nicht. Um meine Nervosität vor dem Vorstellungsgespräch loszuwerden, trainierte ich nachmittags zwei Stunden in unserem Center; ich kann da jederzeit rein, hab meinen eigenen Schlüssel. Für den Heimweg ließ ich mir Zeit, bog von der Schnellstraße zum Main ab und schaute eine Weile der Fähre zu. Sie tuckerte gerade vom andern Ufer herüber. Nur wenige Fußgänger sprangen auf den Kai und verschwanden zwischen den Fachwerkhäusern, in denen früher mal Fischer gewohnt haben sollen. Der Fährmann qualmte aus einer kurzen Pfeife, seelenruhig wartete er auf neue Passagiere. Kamen keine, fuhr er nicht. Unglaublich, daß es solche Jobs überhaupt noch gab. Rundum die qualmende Riesenstadt mit ihrem ewigen Gibst-du-mir-nichts-Geb-ich-dir-nichts… Und da verbrachte einer sein Leben damit, nach Bedarf von einem Ufer zum andern zu pendeln. Und sah ganz zufrieden aus. Ob er ein bißchen verkalkt war, dieser Pfeifenraucher? Weich im Keks? Wir hatten eine elektrische Uhr in unserer Tiefgarage. Kurz nach fünf erst. Ich stellte den Wagen auf dem weißen Rechteck ab, das mit der Nummer meiner Wohnung gekennzeichnet war. 14 E – vierzehnter Stock, die fünfte Wohnung. Es waren eineinhalb Zimmer; für Miete, Heizung und Telefon arbeitete ich zwei Wochen. Was ich in den restlichen zwei Wochen verdiente, ging für die Möbelraten drauf. Für Essen, Kleidung und so fort arbeitete Helga. Das Telefon klingelte, als ich aufschloß. Ich verstaute noch die Trainingstasche im Einbauschrank, bevor ich abhob. »Kaj Wulff.« »Ich bin’s, Schatz, du, bei mir dauert’s ein bißchen länger. Ich muß noch zwei Briefe fertigmachen und zur Post bringen.« Ich lächelte. Ein Reflex. Ich lächelte immer, wenn ich Helga zuhörte, wie sie viel zuviel auf einmal sagen wollte. Oder wenn ich sie sah. Egal, wie ich sonst gelaunt war. »Ich trete doch erst um acht zum Vorstellen an. Wenn du bis sechs hier bist, können wir noch bequem zusammen essen. Vor sieben fahr ich nicht los.« »Sieben ist zu früh. Aber…«
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»Ich kenn die Strecke nicht, vielleicht muß ich ‘ne Umleitung fahren.« »Aber hast du nicht noch ‘ne Verabredung vorher?« »Ich?« Sie lachte. »Du siehst, ich weiß alles. In einer Stunde?« »In einer Stunde ist es sechs, da treffen wir uns.« »Es war ein Mann. Er hat gefragt, ob ich dir was ausrichten kann, und ich hab gesagt, klar… Da hat er gemeint, du sollst die Verabredung vom vorigen Mal heute einhalten. Um sechs heut abend in der gleichen Beize.« »Beize?« Den Ausdruck kannte ich aus Süddeutschland. »Ich weiß nicht, um was es geht. Hat er seinen Namen genannt?« »Ich hab ihn danach gefragt. Er hat gelacht und gemeint, du würdest es schon erraten. Aber…« »Keine Ahnung!« »Aber wenn nicht, soll ich ausrichten, das Vögelchen braucht ein bißchen Futter. Dann wüßtest du schon.« »Du machst doch ‘nen Witz?« »Ich hab auch gelacht. Und war eifersüchtig, Kaj. Vögelchen klingt nach einer Frau! Aber…« »Jetzt halt mal die Luft an.« »Aber es war ein Mann. Schwabe, dem Akzent nach.« »Irgendwer verkohlt dich. Jetzt mach deine Briefe fertig und komm heim. Eingekauft hast du doch?« »Klar.« »Okay, essen wir zusammen. Bis dann.« Ich hielt mich nicht für dumm. Wußte allerdings, daß ich manchmal zu langsam dachte. Scharf genug für meine Zwecke – nur langsam. Schnell sind meine körperlichen Reflexe. Ich hatte bereits geduscht und war dabei, in meinen sandfarbenen Sommeranzug zu steigen, als Helgas Information, die in meinem Kopf herumschoß wie eine Flipperkugel, auf den richtigen Kontakt traf. Wie ein neues Bild auf dem Fernsehschirm, wenn man den andern Programmknopf drückt, war die Erinnerung da.
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Ihr seid wie die Vögel im Käfig, Jo. Die wollen auch immer raus. Und vergessen ganz, daß sie im Käfig immerhin gefüttert werden. Draußen gibt ihnen keiner was. Da war ich gerade arbeitslos geworden. Jo grinst mich durch das Gitter an, das die Häftlinge von den Besuchern trennt. »Auch das schrägste Vögelchen will mal fliegen, Kaj.« Das Herz pumpte schwerer in meiner Brust als heute nachmittag nach dem Intensivtraining. Schwerer als nach so manchem Kampf. Ich fuhr schon im Lift nach unten, als mir einfiel, daß ich Helga nicht mal einen Zettel hinterlassen hatte. Ich wäre umgekehrt und wieder raufgefahren. Aber als der Lift an der Erdgeschoßebene vorbeisank, sah ich durch die Sichtscheibe Besuch für mich. Er war nicht allein. Sie kommen ja immer zu zweit. Diesmal hatte er eine junge Frau bei sich. Obgleich er sein Gesicht abgewandt hielt – ein paar Rockertypen mit Bierdosen kamen die Treppe runter und machten Krach dabei –, erkannte ich ihn sofort. Es war Borowik von der Offenbacher Mordkommission. Nur zwei Jahre hätte Jo noch abzusitzen gehabt. Mit der »Beize«, in der wir uns das letzte Mal verpaßt hatten, konnte er nur den Coffee Shop meinen. Vor dem Lokal gab’s keine Abstellplätze; ich fuhr langsam vorbei und hielt durch die Scheiben Ausschau nach meinem Bruder. Erkannte aber nur Umrisse von Köpfen, keine Gesichter, und mußte dann schon zum Parkhaus abbiegen. Mein Kopf wurde zum Videogerät, ich starrte in lauter alte Filme rein. Der Meister zeigt auf sein Glaskabaus am Beginn des Montagebands und schreit mir ins Ohr: »Telefon!« Kann nur eine Familienangelegenheit sein, und zwar eine unerfreuliche… Jos Stimme ist auch bei dem Krach unverkennbar: »Kaj, sorry Mann, aber ich sitz in der Scheiße.« »Was is denn passiert?« »Ich sag’s dir grad raus – ein Kumpel und ich, wir haben bei einer Bank Geld abheben wollen. Größeren Betrag. Ohne Scheck, verstehst schon.« Sein Lachen ist warm, ansteckend.
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Mein Bauch verwandelt sich in einen Eisklumpen, als ich ihn diesen Ton anschlagen höre. »Jo…« Der Meister schaut mich scharf an. Wenn der Anlaß nicht ernst genug ist, wird er Stunk machen. Ich versuche, die richtigen Formulierungen zu finden. »Also ein Unfall. Wie schwer? Hat es Tote gegeben?« »Bist nicht allein, Kaj?« »Red schon.« »Ich schwör dir, ich hab den Bumbatsch bloß zur musikalischen Untermalung mitgenommen. Hab mir halt dacht, wenn ich’s knallen laß, dann entschließen die Bankleut sich schneller, weißt? Verlieren nicht ihr Gesicht, wenn sie mir die Blauen rüberschieben…« »Wie kam der Unfall zustande?« »Ha… Muß doch so ein Obergscheitle nach meim Lauf patsche. Ich hab vor lauter Schreck noch amal abdrückt. Kannst dir denke…« »Was sagt die Polizei?« »Ja, also das möcht ich lieber aus der Zeitung erfahre. Kaj – ich brauch a bißle Kleingeld.« »Du hast nichts – eh, abheben können auf der Bank?« Ich schaute nach dem Meister, doch er hatte sich schon weggewandt. »Kaj, versteh mich doch… Wie der da so blöd seine Auge verdreht und ich glotz genauso blöd den rote Fleck auf seim suwaweiße Hemd an… Du, da isch mir ganz anders worde. Ich hab mich g’fühlt wie vor Gottes Thron, kann i dir sage.« »Gut, ich komm. Ich bring auch Geld mit. Wo treffen wir uns?« »Kennsch du eine Beize namens Coffee Shop?« Es war sonderbar, jetzt wieder darauf zuzugehen. Die Fenster: breite Rundbogen, dahinter – von der Straße aus deutlicher sichtbar als die Gäste – Palmwedel. Ich schaute von außen rein, es war eine wasserklare Scheibe, aber von Jo sah ich nichts. Drei Stunden hatte ich damals gewartet. Ich konnte ja nicht wissen, daß er bereits verhaftet war. Sein erster Toter, hatte ich immer wieder gedacht. Bevor ich diesmal reinging, schaute ich mich auf der Straße noch mal um. Kein Jo. Eine Viertelstunde später kam er ganz munter, als wenn er nicht ausgebrochen und auf der Flucht wäre, durch die Drehtür herein und
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mit seinem nettesten Grinsen auf mich zu – Arme ausgebreitet, er schlug sie hinter mir zusammen wie einen Kittel. »Gut siehst aus. Das hält dich echt jung, dein Karatekatzbalgen!« »Siehst selber gut aus, Jo. Gar nicht käsig.« »Ich war doch der Volleyballstar in der Anstalt. Die große weiße Hoffnung vom süddeutsche Vollzug.« Wir traten nebeneinander an den Tresen. »Entschuldigst schon, daß ich a bißle spät komm… Aber ich hab schaue müsse, ob du unfreiwillige Begleitung mitbringsch. Bist aber clean.« Unwillkürlich schaute ich durch die wasserklare Scheibe raus. Als ob ich außer Borowik jemand erkannt hätte, falls wir beschattet worden wären. Woran erkennt man Kripo? Ich weiß es nicht. »Großes Pils«, sagte Jo. »Und habe Sie noch die guten T-Bones vom Grill? Okay, dazu Backkartoffel, zwei – und frische Pfifferling gibt’s auch? Prima. Mit Peterling und Butter für mich. Wie klingt des, Kaj, alter Katzbalger?« »Bedrohlich. Ich hab bloß zwei Fuffziger dabei.« »Mit eim zahlst, den andern gibst mir dann mit.« Ich dachte an mein Vorstellungsgespräch in Maiwald, hundert Kilometer hatte ich zu fahren, und nicht mehr als zehn Liter im Tank. Das könnte knapp werden… Jo stieß sein Pilsglas prostend gegen meine Limoflasche: »Auf bessere Zeite!« »Warum bist du ausgebrochen?« fragte ich, als wir getrunken und uns die Lippen abgewischt hatten. »Hä – ich hab doch nix anders mehr im Kopf ghabt die letzte Zeit!« »Hättst nur noch zwei Jahre aushalten müssen. Weniger bei Straferlaß.« »Weißt du, wie lang zwei Jahr sind?« »Wenn sie dich jetzt wieder einfangen, gibt’s keinen Erlaß und noch was dazu.« »Und net wenig, Kaj.« Er grinste und sagte in dem vertraulichen Ton, der sonst bei der Weitergabe erotischer Erfahrungen gebraucht wird: »Es war ein bewaffneter Ausbruch. Mit’m Pröll auch noch.« Der Magen ist das Organ, mit dem ich auf Jo reagiere. Er zuckte wieder und begann weh zu tun.
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Ich versuchte, ruhig zu bleiben, aber er ließ sich nicht täuschen: »Jetzt guck net so, du kommst da net naus, wenn du net en Wachtel als Geisel nimmst. Und da brauchst halt an Bumbatsch.« Wir aßen und tranken langsam. »Und den hatte Pröll?« »Genau.« »Wo ist er jetzt?« »Ich glaub, er will in den Süden, Richtung Schweiz, Südfrankreich. Er hat so was andeutet.« »Und du?« »Fährst mich über die Grenz? Ich will nach Paris und dann auf Wiedersehn Europa, am liebsten wär mir Mittelamerika, vielleicht sogar nüber übern Pazifik bis Neuseeland oder Australien. Aber zuerst brauch ich gute Papiere, und die krieg ich am eheste in Paris, also zuerst muß ich über d’ Grenz nüber. Wie isch’s damit, Kaj, alter Katzbalger?« Ich sah auf meine Uhr. Fast sieben. Schon mal hatte ich wegen ihm meinen Job verloren. Der Job, um den es heute abend ging, war mir noch wichtiger. War interessant, sogar finanziell. Könnte meine Zukunft verändern. Jo dagegen hatte keine Zukunft mehr, er wußte es bloß nicht, träumte noch vom Entkommen in pazifische Paradiese. Blödsinn: Leute wie Jo wurden an jeder Grenze dutzendweise geschnappt. Sich selber konnte er ohnehin nicht entkommen. Das allein brachte ihn um jede Chance. Er war sein eigener, schlimmster Feind. »Ich kann nur eins für dich tun, Jo.« Ich zog mein Adreßbuch heraus, blätterte, riß das entsprechende Blatt ab. »Pierre Lhoret, auf dem Montparnasse… Ich hab zweimal gegen ihn gekämpft, und wir haben unsere Adressen ausgetauscht. Dahin schick ich dir Geld.« »Wieviel hast denkt?« »Mehr als tausend kann ich nicht entbehren. Und noch was, Jo. Das ist das letzte, was ich dir gebe. Ich meine nicht bloß, das letzte Geld. Sondern daß ich von jetzt ab in gar keiner Weise mehr für dich… aktiv werden möchte: Geld geben oder Autos fahren oder Beamte anlügen oder Magenschmerzen haben will. Es ist aus.« Ich lächelte
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ein bißchen. »Ich mach Schluß mit dir – würde ich sagen, wenn du ein Mädchen wärst.« Auch er lächelte, aber seine Augen wurden wachsam und kalt. Er drehte das Bierglas – es war das dritte – zwischen Daumen und Zeigefinger. Er schien verletzt. Egal. Ich mußte lernen, es gleichgültig zu finden, ob er verletzt war oder nicht. »Es ist keinem was gschehn bei dem Ausbruch. Wir ham es in aller Früh gmacht, mit am Wachtel als Geisel sind mir zum Tor, die Torwachtel habe mir eingschlossen, mit’m Privat-Pkw vom Oberschließer – also vom Direx – sind mir nach Ulm… Es ist alles glattgangen.« »Pröll hat vier Leute umgebracht. Du weißt, daß er pervers ist. Ein Lustmörder.« »Ha – ich hab doch selber den großen Tatterich ghabt, daß er unsern Wachtel niederbafft mit seim Bumbatsch. Aber nix is gschehn. Also was nimmst krumm?« »Ich kann’s dir nicht klarmachen. In deinem Motor fehlt halt ein Teil, der bei andern eingebaut ist.« »Was meinst eigentlich?« »Soll ich dir erklären, daß jeder normale Mensch ein Gefühl hat, ein Mitleiden für den Schmerz des andern?« »Ja glaubst du mir nicht, daß nix passiert ist?« »Jo… Dieser Justizvollzugsbeamte hat doch Todesangst ausgestanden, als ausgerechnet der vierfache Mörder Pröll ihm die Pistole vorhielt! Vielleicht zittert er jetzt noch.« »Berufsrisiko.« »Der Mann hätte vor Angst sterben können!« »Das war wieder unser Risiko!« Ich sah auf die Uhr. »Ich muß los. Mach’s gut – so gut du kannst. Von jetzt ab hab ich nichts mehr mit dir zu tun. Bitte respektier meine Entscheidung.« Er kicherte plötzlich. »Ha, du redst echt, wie wenn ich dein Verhältnis wär und net dein kleiner Bruder. Wann kann ich des Geld haben?«
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»In drei Tagen bei Pierre in Paris. Und, Jo, Pierre ist ein guter Kämpfer. Ich hab gegen ihn verloren. Also probier lieber nichts bei ihm.« »Ich?!« »Nicht daß du ihm auch so einen Bumbatsch vorhalten willst und er dich im ersten Schreck umbringt.« »Jetzt spinn nicht. Ja sag, traust du mir eigentlich alles zu? Ich bin doch kein Pröll!« Auf der Fahrt nach Maiwald versuchte ich cool zu bleiben. Es ist immer das gleiche zwischen Jo und mir: Er will mich schockieren, und ich mag mich nicht schockieren lassen. Schon als Kinder haben wir dieses Spiel gespielt. »Du hast ja zerschnittene Hände, Jo.« »Ja weisch, mir hen so a Schaufenster eingschlage, da isch ‘s passiert. Was muß des blöde Glas au so splittere!« »Und was hast du davon, wenn du Schaufenster einschlägst?« »Zigarette und Schnaps. Kaufe jetzt, zahle später – haha!« Und er hat ja auch immer dafür bezahlt, der blöde Hund. Früher oder später. Ich fuhr zu verkrampft, das merkte ich. Zu aggressiv für die schmale Landstraße. Es hatte keinen Sinn, die Kurven zu schneiden – entgegenkommende Fahrer schnitten sie auch, so entstanden zweimal kurz hintereinander gefährliche Situationen. So eine Wut im Bauch kann weh tun wie ein Geschwür. Ich habe kein Geschwür. Sagt der Sportarzt. Dieser Schmerz im Magen, den ich manchmal auch vor schweren Kämpfen spüre – manchmal nach schweren Kämpfen, besonders wenn ich verloren hab –, ist nervös bedingt. »Du schluckst zuviel Frust runter«, sagt der Sportarzt. Aber Rumschreien ist nicht meine Art. Vor Maiwald rückten die dunklen Fichtenfronten links und rechts bis an die Straße vor, Nebel kam auf, und dämmrig wurde es sowieso. Ich schaltete die Scheinwerfer ein. Daß ich die Katze überfuhr, war nicht meine Schuld. Hätte jedem passieren können. Das Tier saß genau unter dem gelben Ortseinfahrtsschild und äugte mir mit hochgestellten Ohren entgegen. Ich hatte noch nicht vom vierten auf den dritten Gang zurückgeschaltet, was ich vielleicht hätte tun können. Die Katze saß aber nicht
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auf der Straße – sonst hätte ich zu bremsen versucht, sie saß neben der Straße auf der begrasten Böschung. Und wer denkt schon daran, daß das dumme Vieh ein herankommendes Auto sieht und trotzdem auf die Fahrbahn springt? Es holperte weich und dumpf, als mein linkes Hinterrad über sie wegrollte. Ich fuhr weiter bis zur Parkbucht für den Autobus. Dort hielt ich an. Schaltete die Warnblinkanlage ein und ging zu Fuß zurück. Es war kein Blut auf der Straße, und die Katze war weg. Ich kletterte links und rechts die Böschung hoch und schaute unter den Bäumen nach. Aber da war Unterholz, dunkel wurde es auch schon, und obgleich ich horchte, hörte ich keine Klagelaute. Als ich zum Auto zurückging, merkte ich, daß ich plötzlich viel ruhiger war. Das nächste Opfer könnte ein Mensch sein. Ich selber könnte das nächste Opfer sein – wenn ich mich von Jo zu sehr beeindrucken und in meinen Reaktionen beeinträchtigen ließ. Von der Katastrophe, die er aus seinem Leben machte. Wäre die Wut auf ihn nicht gewesen, diese schmerzende Wut im Bauch, ich hätte hundert Meter vor dem Ortsschild vom vierten auf den dritten Gang runtergeschaltet. Das ist nämlich sonst meine Gewohnheit. Ich war für acht angesagt – jetzt war’s erst Viertel vor. Machte vermutlich keinen guten Eindruck, zu früh zu kommen. Ich setzte mich also ins Auto und rauchte langsam eine von den zehn Filterzigaretten, die ich mir pro Tag genehmigte. Und horchte in den Wald. Das Zwitschern der Vögel am Abend ist eine Musik, die man in der Stadt leicht überhört. Kurz vor acht fuhr ich weiter. Kein Mensch war vorbeigefahren. Abgelegenes Fleckchen, dieses Maiwald. Das Haus lag, wie von Dr. Plüttner angekündigt, am Ortsende. Es war dreiseitig von Wald umgeben; aber auch von der Straßenseite her sah ich mehr Bäume als Haus: eine Fichtenzeile schirmte das Grundstück gegen Neugierige ab. Ich stieg aus und klingelte. »Ja bitte?« Dr. Plüttners Stimme aus der Sprechanlage. »Guten Abend. Kajetan Wulff.«
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»Guten Abend.« Ein Summen. Ich drückte die sehr schwere Gittertür auf – sie hing in einem Stahlrahmen – und ging zwischen blühenden Ziersträuchern und bunten Blumenpolstern zum Haus. Da auch auf dem Grundstück mehrere Fichten standen, machte das Anwesen insgesamt einen überraschend düsteren Eindruck. Dafür roch die Luft würzig und frisch; wie sie in der Stadt nur sehr früh morgens riechen kann. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Herr Wulff.« Ich nickte, grinste, gab Händchen und folgte Dr. Plüttner ins Haus. Nach der Düsterkeit des Grundstücks fand ich jetzt auch die Diele irgendwie unfroh und überladen. Der Brunnen in der Mitte war mit Muscheln besetzt wie ein selbstgemachter, nicht protzig, aber klotzig. Nett fand ich die Goldfische im Becken. Wenn auch altmodisch. Beim Eintreten ins Wohnzimmer fiel eine Riesenholzfigur auf. Zimmerhoch stand das Ding vor der Rückwand, eine indische Göttin mit vielen Armen, die rätselhaft lächelte. Drei lebendige Frauen waren auch da, lächelten aber nicht. Sie saßen um den Kamin herum und musterten mich aggressiv – so zwischen spöttisch und abwehrend lagen ihre Blicke. Angezogen waren sie wie Studentinnen, obwohl sie übers Studieralter hinaus waren. Keine trug einen Büstenhalter – auch Dr. Plüttners schwere Brüste wippten lose unter der leichten Sommerbluse, als sie sich gezierttänzerisch erst zu mir und dann wieder zu den drei andern Frauen umdrehte. »Also das ist er. Was sagt ihr? Herr Wulff, ich hoffe, es stört Sie nicht, daß Sie von meiner Weibergruppe begutachtet werden. Ich geb sehr viel auf das Urteil der Damen.« »Begutachten Sie nur«, sagte ich zu dem Trio und blieb stehen. Es machte mir nichts aus. Unsere Kämpfe sind auch oft öffentlich, ich hatte mich längst daran gewöhnt, von Fremden angestarrt zu werden. Ein Sportler, der auf so was empfindlich reagiert, ist arm dran. »Aber Sie dürfen sich doch um Gottes willen selbstverständlich hinsetzen!« rief Dr. Plüttner. Ihre Blicke und ihr Lächeln wirkten auf mich etwas zu lebhaft, um ganz echt zu sein – sie tat munter wie ein kleines Mädchen, das sich wichtig macht. Etwas affig steckte sie sich eine Zigarette an und hielt sie nach dem ersten Zug von sich ab wie
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einen Joint, bevor man ihn weitergibt. »Oh, Verzeihung«, sagte sie dann plötzlich, als ich den freien Sessel besetzt hatte, »Sie wollen vielleicht auch rauchen?« »Ich rauche sehr wenig, danke nein.« »Einen Drink? Sherry, Whisky, Wodka, Bier?« »Alkohol überhaupt nicht, aber wenn Sie Cola hätten? Oder Mineralwasser?« »Selbstverständlich.« Sie flatterte in die Küche, und ich hörte sie klappern. Eine wenig angenehme Person, mit Mitte Dreißig zog sie eine Schau ab wie ein Teenager. Mir kam es aber auf den Job an, nicht auf den Boß. Alle Bosse haben ihre Eigenheiten, wer sich daran schon reibt, sollte lieber gleich Stütze beantragen. Die Freundinnen, denen das Theater gelten mußte (denn warum hätte sie mir was vorspielen sollen), stellten die üblichen Fragen. Problemlos hergefunden? Dichter Verkehr noch in der Stadt? Wirklich nie Alkohol? Dann kam Dr. Plüttner aus der Küche zurück, servierte mir das Tablett mit Colaflasche, Glas und Eisschale schwungvoll wie eine Kellnerin und rief: »Kein Alkohol, da seht ihr’s, so ernst nimmt Herr Wulff seinen Sport!« Ob ich so ehrgeizig sei, fragte die Jüngste und legte die Hand zwischen ihre nackten Schenkel; sie trug sehr knapp abgeschnittene Jeans als Shorts. Nun ist es beim Karate so, daß es nicht bloß auf die richtigen Griffe ankommt; die kann jeder lernen, der lange genug übt. Wenn man sportlich was darstellen, also Gürtel haben will, dann darf man diese Griffe nicht eigentlich »machen« – man muß so weit kommen, daß die Griffe sich sozusagen von selber ergeben, ohne daß man lang überlegt. Ich erklärte das und fügte hinzu, das wichtigste seien schnelle Reflexe, ungefähr wie bei einem Fußball-Torwart. »Und da ist Alkohol Gift. Leider.« »Leider, sagt er! Also Sie möchten schon!« rief Dr. Plüttner mit einem irgendwie schelmischen Lächeln und sah zu den andern, als erwarte sie Beifall.
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»Na Gott, ein schönes kühles Weizenbier an einem Sommernachmittag, wenn die Sonne runterknallt – das ist doch einer von den größten Genüssen.« »Und diesen Genuß versagt er sich!« rief sie zufrieden. »Das ist Disziplin.« »Ich weiß nur, was ich will.« »Weizenbier wird doch mehr in Süddeutschland getrunken?« fragte die Junge in den Hot pants. »Wir haben früher in Süddeutschland gelebt. Meine Familie, meine ich.« Es trat nun, wie es manchmal so geht, eine Verlegenheitspause ein. Ich dachte schon, die Begutachtung sei beendet und man könne endlich zur Sache kommen – nämlich zu dem Geld, das ich verdienen sollte (alles andere war mir erst mal egal)… Da fragte die Älteste mich in schroffem Ton: »Wieso sind Sie eigentlich ausgerechnet auf Karate gekommen, Herr Wulff? Gut, Sie mögen Sport, das versteh ich – aber warum nicht was Friedliches wie Wasserball oder Tischtennis?« Ich war ihr von Anfang an unsympathisch gewesen. Eine hagere Person mit kurzgeschorener grauer Drahthaarbürste. »Oh, Senta, das betrifft seine Intimsphäre, das gilt nicht!« rief Dr. Plüttner. »Sie müssen nicht antworten, Herr Wulff!« »Wieso, es ist ein Vertrauensposten. Wenn ich Ihr Bodyguard sein und sogar in Ihrem Haus wohnen soll…« »Es ist eine schöne Einliegerwohnung mit Küche und Bad und separatem Gartenausgang!« »…dann können Sie das ruhig wissen. Ich bin nicht groß, das sehen Sie ja, nur einsvierundsiebzig. Und auch nicht besonders massiv. Zweimal bin ich zusammengeschlagen worden. Seit ich Karate kann, ist das nicht mehr passiert. Das war der Grund.« Sie wollte nicht, daß ich den Job kriegte, die alte Hexe. Sie sagte, sie sei froh, in einem Milieu zu leben, wo die Menschen ihre Streitigkeiten ohne Gewalt austrügen. Aber die andern lachten und meinten, sie sei naiv, und Dr. Plüttner sagte sehr ernst – geziert ernst, theatralisch: »Nein, Senta, ich laß mir Herrn Wulff nicht ausreden, dieser Überfall in Moorweiler drüben, der hat mir wirklich den Rest gegeben, ich fühl mich nicht mehr sicher, ich brauch einen Schutz
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hier, so abgelegen, wie das Haus ist. Und denk an den netten Beamten von der Wache – Sie brauchen einen Schutz hier draußen, hat er nachdrücklich gesagt. Sehr nachdrücklich, Senta…« Als ich um zehn meinen Diener machte, hatte ich den Job. Weil sie sich mittags eher Zeit nehmen konnte, rückte ich am hellen Mittag zum Arbeitsantritt an, und sonderbar – auch jetzt, als die Sonne senkrecht über uns stand, wirkte das Grundstück düster. Die vielen Fichten machten es. Warum keine Laubbäume? Ich stellte ihr die Frage, und sie erklärte: »Mit Nadelbäumen hat man auch im Winter Grün um sich… Das meinte jedenfalls mein Vater, der hat hier alles geplant und eingerichtet. Oder glauben Sie etwa, ich hätte mir so einen Muschelbrunnen in die Diele gesetzt?« Sie hatte im Bikini auf der Terrasse gelegen, als ich angekommen war – da gab’s allerdings Licht und Sonne genug. »Sonst lieg ich hier oben ohne.« Ich drehte mich zur Straße um und sah, daß es möglich war: die eng nebeneinander gepflanzten Fichten bildeten eine undurchsichtige grüne Mauer. Ich sagte, sie solle sich meinetwegen keine Unbequemlichkeiten machen. »Oh, ich will Sie doch aber nicht – na, in unziemlicher Weise aufreizen!« »So schnell werd ich schon nicht zum Tier.« Ich fing an, mir ein bißchen Sorgen zu machen. Ich setzte auf diesen Job. Wenn sie sich in meiner Gegenwart unbehaglich fühlte, gehemmt, dann würde ich nicht mal die Probezeit überstehen. Sie sollte sich nicht unsicherer fühlen durch mich, sondern sicherer – dafür bezahlte sie mich schließlich. Die Einliegerwohnung, die sie mir schon am ersten Abend kurz gezeigt hatte, sah am Tag noch besser aus. Diele, Küche, Bad, ein geräumiges Wohnzimmer. Und zwei kleinere Räume; einer sollte unser Schlafzimmer werden, aus dem andern wollte ich zunächst eine Art Hobbyraum machen. Dr. Plüttner führte mir noch mal alles vor: die Küche mit kombiniertem Kühl- und Gefrierschrank und einem modernen Herd einschließlich Grillvorrichtung. Das Bad mit Duschecke. Vor allem auch den Wohnraum mit separatem Garteneingang. »Selbstverständ-
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lich können Sie diesen hinteren Teil des Gartens jederzeit für sich nutzen«, sagte sie. »Und wenn nach Ablauf der Probezeit Ihre Frau hier mit einzieht, kann sie gern auch ein Küchenbeet für sich anlegen, ich hab nichts dagegen.« »Falls Helga zum Gärtnern Zeit bleibt, Frau Plüttner. Sie will ja noch ein, zwei Jahre weiterarbeiten, bevor wir an Kinder denken.« »Ich verstehe.« Und wirklich, sie machte einen verständigen, freundlichen Eindruck an diesem Mittag. Offenbar gehörte sie zu den Leuten, die in Gesellschaft von Freunden angeben müssen – aber plötzlich normal werden, wenn man mit ihnen allein ist. Für unsere Führung durchs Haus hatte sie sich einen Bademantel umgeworfen. Nicht ohne Grund: Der Nachteil dieser Einliegerwohnung bestand darin, daß sie nach hinten, nach Norden hinaus gelegen war und nie direkte Sonneneinstrahlung bekam. Aber weil Helga und ich tagsüber arbeiteten und sonntags den Garten benutzen konnten, schien mir das keine Rolle zu spielen. Ohnehin konnte ich mich überall zu Hause fühlen, wo Helga wohnte. Als wir wieder auf die Terrasse zurückkamen, legte Dr. Plüttner den Bademantel zur Seite, und da sie zu zögern schien, grinste ich sie ermunternd an: »Sie dürfen mir jetzt nicht das Gefühl geben, daß ich Sie irgendwie beeinträchtige, Frau Plüttner. Ich kann mich nur wohl fühlen, wenn ich sozusagen mit zum Inventar gehöre.« »Sehr gescheit. Ich bin ganz zuversichtlich, daß wir gut miteinander auskommen.« Trotzdem lachte sie etwas verlegen auf, als sie das Oberteil des Bikinis abnahm. Ich kann nicht sagen, daß der Anblick ihrer recht schweren, länglich-melonenförmigen Brüste mich besonders aufgeregt hätte. Ich steh auf kleine Busen, wie Helga einen hat. Ich schaute einen Augenblick ganz offen hin, dann grinste ich und sagte: »So, das hab ich nun also auch gesehen. Wenn’s Ihnen recht ist, guck ich mir anschließend dieses Maiwald mal genauer an.« Sie war, wie mir schien, rot geworden. Das konnte aber auch von der Sonne kommen. »Ihre Schlüssel.« Sie legte sie neben sich auf den Gartentisch, und von dort nahm ich sie herunter. »Fürs Gartentor und die Garage, dann die vordere Haustür, Ihre Gartentür und den Keller.« »Danke.«
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»Ersatzschlüssel finden Sie im Sicherungskasten, falls Sie mal einen verlieren.« Aber sie hingen alle sicher an einem kleinen Stahlring mit Verschluß. Was immer sie für Fehler haben mochte – ich hatte ihr zickiges Auftreten im Kreis ihrer Freundinnen nicht vergessen –, organisieren konnte sie. Kein Wunder eigentlich, sondern selbstverständlich bei einer Unternehmerin, die den ererbten Betrieb schon seit zwei Jahren selbständig leiten und fast zwanzig Mitarbeiter führen mußte. Mit dem Gefühl, daß ich die Situation doch letztlich gut gemeistert hatte, wie ein erfahrener Mann und nicht wie ein Halbstarker, zog ich das Gartentor hinter mir ins Schloß. Die Straße roch sommerlich nach aufgeheiztem Staub. Ein angenehmer Eindruck. Leider dauerte er nicht lange genug. Ich hörte das Klicken, mit dem eine Autotür aufgeht. Unmittelbar hinter meinem Wagen und teilweise von ihm verdeckt stand ein zweiter. Ich ging darauf zu. Durch die Windschutzscheibe sah mich Borowik an. Hauptkommissar Karl Friedrich Borowik von der Mordkommission Offenbach – eine der Bekanntschaften, die ich Jo verdanke und auf die ich lieber verzichtet hätte. Seine Lederjacke verhakte sich an der Autotür, als er ausstieg. Für einen Augenblick, der mir allerdings sehr lang vorkam und in der Erinnerung sogar noch länger scheint, sah ich den Griff seiner schmalen Pistole. Er trug sie in einem Lederholster an der Hüfte, aber nicht tief wie ein Westernheld, sondern hoch am Gürtel. Ich fragte mich, wie schnell er sie greifen könnte, im Ernstfall. Was er wohl für Trainingszeiten haben mochte. Die trainieren das doch, diese Kerle. An der andern Seite des Wagens stieg eine junge Frau aus. Schmal und flott, kluge helle Augen, blonde Windstoßfrisur. Da Borowik und ich uns zur Genüge kannten, stellte er nur sie vor: »Meine Kollegin Anne Brück, Kriminalkommissarin .« »Zur Anstellung«, sagte sie. »So heißt bei uns die Probezeit.« Ich entspannte mich etwas. »Ich hab auch grad ‘ne Probezeit angefangen. In dieser Minute. Und da kommen Sie daher und bringen mich ins Gerede.«
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»Wir könnten doch Freunde von Ihnen sein.« »Dann verstecken Sie Ihre Knarre besser.« Er wechselte das Thema: »Sie arbeiten jetzt für Frau Dr. Plüttner, richtig?« »Woher wissen Sie das?« Er lächelte bloß, nicht mal unfreundlich. Es machte mich trotzdem wütend. »Ich will das wissen. Haben Sie Dr. Plüttner angerufen und mich – ja: schon von vornherein in Mißkredit bei ihr gebracht?« »Nein. Jetzt seien Sie nicht gleich aufgebracht…« »Was wollen Sie von mir?« »Der macht Witze«, sagte Borowiks Begleiterin. So nett und jung sie aussah, so unfreundlich und abgebrüht klang diese Bemerkung. Für den Moment war ich sprachlos. »Gehn wir doch in den Schatten und trinken wir was.« Borowik wies mit einer Kopfbewegung zu den Stühlen und Tischen hinüber, die vor dem Wirtshaus unter einer Kastanie standen. Ich zögerte. Er lachte. »Und selbst wenn irgendein Schlaukopf uns als Kripo erkennt, was macht’s? Als Sicherheitschef von Frau Plüttner gehört der gute Kontakt zur Polizei doch zu Ihren selbstverständlichen Pflichten.« Er hatte recht. Und ich hatte Durst. »Also gut. Tragen Sie eigentlich immer Eisen, wenn Sie mittags zum Kaffeetrinken fahren?« »Sie werden lachen, ich hab meine Waffe auch griffbereit«, sagte die Kommissarin patzig. »So machen wir das immer, wenn wir hinter ausgebrochenen Killern her sind.« »Mein Bruder ist doch kein Killer!« »Killer ist die juristisch nicht näher qualifizierte Bezeichnung für einen Menschen, der einen andern Menschen rechtswidrig ums Leben gebracht hat.« Ich weiß nicht, wie ich sie angeschaut habe, vielleicht etwas dumm – denn sie fragte: »Soll ich die Definition wiederholen?« Ich wandte mich an Borowik: »Sie wissen, daß Jo den Kassierer nicht absichtlich erschossen hat. Es war ein Unfall.«
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»Verurteilt ist Ihr Bruder aber nicht wegen Unfallflucht, sondern wegen schwerem Raub«, sagte Borowik. »Glauben Sie wirklich, daß Sie es hier aushalten?« »Ich hab nichts gegen Ruhe. Außerdem ist man schnell in Frankfurt, wenn man mal einen drauf machen will.« Auf der Speisekarte standen verschiedene Pizza- und Spaghettigerichte, aber mir war der Appetit vergangen. Ich bestellte bloß Kaffee bei der jungen Italienerin. Sie machte einen freundlichen, etwas verschlafenen Eindruck. Das gleiche hätte man von ganz Maiwald sagen können. Die Ortschaft bestand aus Dr. Plüttners Bungalow, von dem wir aber nur die Fichtenzeile und dahinter ein Stück vom Walmdach sahen… Und aus den Reihenhausblocks vor und hinter der Kneipe. Es waren sechs Blocks zu je drei Wohneinheiten. Ich zählte sie, weil ich nicht gern im Zorn herausplatzte; ich wollte mich beruhigen. Hinter der Straßenbiegung, an der Dr. Plüttners Bungalow lag, ragte ein Schornstein über die Fichten hoch. Der gehörte zu ihrer Kunstdruckerei. Als die Getränke auf dem Tisch standen, hatte ich meinen Ärger wieder unter Kontrolle; ich konnte in ruhigem Ton vorbringen: »Sie wissen ganz genau, daß mein Bruder nicht wegen vollendetem, sondern bloß wegen versuchtem schwerem Raub verurteilt ist – er hat den Versuch bekanntlich abgebrochen, als der Schuß sich gelöst hatte. Wenn Sie das jetzt absichtlich in einem andern Licht erscheinen lassen, dann kann das doch nur einen Sinn haben. Sie wollen mich einschüchtern.« »Gleich sagt er, sein Bruder ist ein Opfer der Justiz!« rief die Kommissarin erstaunt. »Ich kann Ihnen zu Jo nichts sagen. Ich will auch nichts sagen: Sie wissen ganz genau, daß ich nicht mal vor Gericht gegen meinen eigenen Bruder aussagen muß.« »Sie dürfen, wenn Sie es für richtig halten«, schob Frau Brück schnell ein. »Ich halte es aber für falsch, und außerdem weiß ich sowieso nichts.«
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»Ihr Bruder hat keinen Kontakt mit Ihnen aufgenommen?« fragte sie. Jetzt platzte mir doch noch der Kragen. »Verstehen Sie kein Deutsch? Ich hab ein Zeugnisverweigerungsrecht als Verwandter ersten Grades, und von diesem Recht mache ich Gebrauch.« Borowik trank sein Bier aus und stand auf. »Okay. Wir wollen Ihnen nicht zumuten…« Er unterbrach sich und beugte sich zu mir herunter. »Ihr Bruder hat den Ausbruch nicht allein gemacht, das wissen Sie.« »Ich weiß bloß, was in der Zeitung steht und weiter nichts.« »Kennen Sie Pröll?« »Persönlich? Nein. Woher auch.« »Das ist nun wirklich ein Killer. Und zwar ein Typus von Killer, der Gott sei Dank selten vorkommt. Absolut asozial. Er hat schon vier Menschen erschossen, einen wegen nur fünfzig Mark, und mehr als Lebenslang kann er nicht kriegen… Wir befürchten, der schießt wieder. Wir sind sehr beunruhigt darüber. Können Sie das verstehen?« »Na klar, ich finde das selbst beunruhigend. Aber es ist doch nicht mein Job, diesen Pröll einzufangen!« »Falls Ihr Bruder doch noch Kontakt mit Ihnen aufnimmt«, sagte Borowik, »würden Sie ihm von mir was ausrichten?« »Was kann denn mein Bruder von mir wollen? Sie machen sich ganz falsche Hoffnungen.« »Sagen Sie ihm, es kommt uns auf Pröll an – nicht auf ihn. Wer uns hilft, Pröll zu fassen, der kann mit unserer Dankbarkeit rechnen.« »Und das heißt konkret?« Das plötzliche Lächeln Borowiks wirkte freundlich – als ob er entdeckt hätte, daß er mich sympathisch fand. Er legte mir sogar die Hand auf die Schulter. »Ihr Bruder weiß schon, was das konkret heißt.« Ich sah ihnen zu, wie sie wegfuhren. Borowik war an sich in Ordnung; jedesmal, wenn er mich verhören mußte, merkte ich, daß es ihm leid tat. Aber er tat es trotzdem.
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Ich hätte aufspringen und laut in diese verschlafene Siedlung hineinbrüllen mögen: Ich will doch nichts weiter als ruhig und normal leben! Die junge Italienerin kam wieder raus, räumte ab und fragte, ob ich noch einen Kaffee wolle. Ich sagte, nein, aber was zu essen, nur keinesfalls Pizza, was denn sonst noch im Haus sei? Schnitzel gab es. Auch vom Kalb? Da mußte sie erst fragen. Sie tat es und kam zurück mit der Auskunft, ich könne Kalbsschnitzel haben. »Dann sagen Sie dem Koch, er soll schon mal anfangen. Ich schau mich noch einen Moment um.« Sie glubschte mich derart zweifelnd an, daß ich präzisierte: »In der Siedlung.« »Hier? Ist nicht viel zu sehen.« Da könnte sie recht haben. Nach hinten raus wirkten die Reihenhausblocks noch schäbiger als an der Straßenfront. Wandverputz mußte Mangelware sein, ich kam mir vor wie in Magdeburg. Und den Gärten sah man an, hier sparten die Hausfrauen noch: Nicht auf Blumen hatten sie es abgesehen, sondern auf Gemüse. Abfälle kamen auf den Komposthaufen neben dem Hasenstall. Wer sich schlapp fühlte, konnte den Neckermann-Perser über die Teppichstange werfen und sich Bewegung verschaffen. Diesmal trat ich durch den hinteren Eingang ins Restaurant ein. Die Küchentür, vom Flur abgehend, stand offen – ich sah rein zu einer alten Frau, die am Herd werkte. Sie nahm sich die Zeit, mich anzulächeln. »Ich bin der mit dem Schnitzel.« »Gleich fertig, gleich fertig. Äh – hallo…!« »Ja?« Ich drehte mich wieder um. »Bratkartoffel oder Gemüse?« Wenn man schon italienisch ißt, dann richtig. »Gemüse bitte.« »Kommt gleich!« Sie hatten auch bereits für mich gedeckt, und zwar nicht im Garten, sondern drinnen. Hinter meinem Tisch ging eine Tür zum Nebenraum ab. Ich hörte das Klicken von Billardbällen.
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Wenn ich abends mal keine Lust zum Fernsehen oder Radiohören oder Lesen hatte, könnte Pool-Billard meine Rettung werden. Ich trat also ein. Der Spieler stand mit dem Rücken zur Tür. Er machte noch einen Stoß, und ich sah den weißen Ball seinem Loch entgegenrollen. Klack – da war er drin. »Guter Stoß«, lobte ich. Der Spieler drehte sich um. »Lang geübt isch halb gewonnen«, sagte Jo in seinem freundlichen, gar nicht so breiten Schwäbisch. Der Kaffee in meinem Magen wurde zur Säure, die sich in meine Schleimhäute einfraß. »Jetzt komm«, lachte er, »steh net so da, riskier halt au a Stößle.« »Ich hab Essen bestellt. Setz dich doch dazu.« Wir gingen in die Gaststube zurück. Jo hatte sich nicht mehr rasiert seit dem Ausbruch – schon im Coffee Shop war er unrasiert erschienen. Und er trug eine getönte Brille. Wer nicht ein geschultes Auge hatte, konnte ihn nach den Zeitungsfotos nicht erkennen. Ohnehin war sein Bild nur klein erschienen, neben dem großen von Pröll. »Gibsch mir an Frascati secco aus?« Ich sah zu der jungen Italienerin hinüber, und als sie meinen Blick auffing, sagte ich: »Einen Frascati secco bitte.« »Und ein Mineralwasser extra«, rief Jo lächelnd. Immer wieder überraschte mich seine freundliche, fast herzliche Art, mit fremden Menschen umzugehen. Seine dunklen Augen wirkten dann warm und schmeichelnd, sein Lächeln offen, seine Stimme jungenhaft und fröhlich. Verfehlte seinen Eindruck auch nicht auf die verschlafene Haustochter – sie lächelte, daß ihre hübschen Zähne blitzten, und bewegte sich schneller, graziler als zuvor. Als Verkäufer oder Kellner hätte Jo Karriere machen können mit seiner kontaktfreudigen Art. Ich zwang mich zum Essen. Ich war sonst nicht so verkrampft gegenüber Menschen – selten gab ich mir Mühe, mich anders zu verhalten als mit zumute war. Aber Jo, ich weiß nicht warum, drängte mich durch seine bloße Gegenwart in die Rolle eines coolen Pokerspielers, der sich nichts anmerken ließ.
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»Wie hast du mich gefunden?« »Hab deinen Trainer angrufen und gsagt, ich müßt dich dringend sprechen wegen einem Gschäft. Er hat gmeint, ab heut mittag wärst hier zu erreichen, per Adresse Dr. Plüttner.« Ich ließ die Gabel mit einem Bissen des gegrillten Kalbsschnitzels wieder sinken. Ich konnte einfach nichts runterbringen. »Laß Dr. Plüttner aus dem Spiel.« »Puh!« Er verdrehte lustig die Augen. »Ich unterlaß überhaupt alles, was dich ärgern könnt.« »Warum bist du dann nicht nach Frankreich gefahren? Ich hab die tausend Mark angewiesen, sie liegen jetzt bei Pierre, mußt sie nur abholen.« »Laß dir doch net den Appetit verderben, Brüderchen. Schau, ich wollt ja rüber. Aber hast gsehen, wie sämtliche Medien diesen Ausbruch hochspielen? ‘s Fernsehen sogar.« »Diese Publicity verdankst du deinem Kumpel Pröll.« »Freilich. Aber was soll ich mache? Mich hinsetze und in Träne ausbreche? Ich muß jetzt einfach noch a paar Tag warte, bis ich rübermach.« Er beugte sich vor und sagte leise: »Ich hab wenigstens dich. Aber der Pröll hat niemand drauße. Bloß sein Bumbatsch hat er. I denk mir, er probiert’s bei einer Tankstell oder in em Supermarkt. Er muß ja gucke, daß er flüssig wird!« »Du rechnest damit, daß er jeden Moment einen Überfall riskiert?« »Er muß. Und dann konzentriere die Fahnder sich ganz auf ihn. Verstehst mich? Ich wart, bis er die Großfahndung auf sich zieht – dann mach ich rüber. Wer guckt noch nach dem kleinen Wulff Josef, wenn der Pröll wieder…« Er lachte auf: »Eine Blutspur durchs Land legt – diese Fernsehansager! Blutspur durchs Land, hat er ganz dramatisch gsagt gestern abend. Das fürchte die, davor hent se Schiß.« »Du nicht?« Ich schob ihm meinen Teller hinüber. »Willsch wirklich nimmer? Also dann, bevor’s umkommt…« Er machte sich mit bestem Appetit über meinen Teller her, streckte zwischen zwei Bissen die Hand hoch: »Könnt ich noch so an Frascati kriegen, schöne Signorina?« Sie kicherte und schoß einen animierten Blitzblick herüber, bevor sie eingoß.
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»Ist dir eigentlich klar, daß ich überwacht werde?« »Der gute Borowik.« Jo grinste. »Seine Kollegin war gar net uneben, wenn man sie mager gern hat.« »Du hast gesehen…?« »Ha, i bin doch scho heut früh hergfahre. Wollt mich a bißle auslüfte nach dem Großstadtmief. Die Maiwalder Luft hat ja wirklich Kurortklasse. Hab mir d’ Füß vertrete. Und dann a bißl Billard gspielt. Hab mir halt denkt, irgendwann erwisch ich dich schon.« Er tunkte mit einem Stück Weißbrot die Soße vollends auf, kaute vergnügt und sagte: »Eventuell hätt ich drüben gschellt und mich als Freund von dir vorgstellt.« »Gib mir auch eine«, sagte ich, als er sich eine Zigarette anzündete. Irgendwas mußte ich für meine Nerven tun. »Jo«, sagte ich, als ich mich wieder einigermaßen gefaßt hatte, »ich verpfeif dich an Borowik, wenn du mir bei Dr. Plüttner dazwischenfunkst.« »Meinsch des ernst?« »Todernst. Dieser Job ist die beste Chance, die ich seit Jahren gekriegt hab. Vermassel sie mir, und du bist dran.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Dieses ungewisse, geschmerzte Lächeln kannte ich. Kalt und hart sah ich ihm in die Augen, bis er den Blick abwandte. »Tut weh«, sagte er nach einer Weile. »Wen hab ich denn außer dir? Der Vater schreibt überhaupt nimmer…« »Scheiß doch auf den Vater! Du bist kein Kind mehr, was brauchst du einen Vater? In deinem Alter könntest du schon selbst einer sein, wenn du nicht…« »Hat er dir geschrieben?« »Vor einem Jahr kam mal ‘ne Karte. Aus Libyen. Wieder so eine Großbaustelle. Die dumme Sau hat doch tatsächlich geschrieben: Hab jetzt auch in Libyen einen Sprößling, kaffeebraun, aber sonst wohlgeraten wie ihr… Ich hab die Karte zerrissen und ins Klo gespült.« Jo schüttelte lachend den Kopf. »Des is schon einer. Macht überall Kinder, wo er auf Montasch ist. Eigentlich ganz flott. Der Pröll hat gmeint…« »Was hat dein Freund Pröll dazu gemeint?«
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»Unser Vater tät halt sein Leben genießen und rausholen, was drin ist.« »Und das hat Pröll imponiert?« »Irgendwie imponiert’s mir ja selber, Kaj.« »Dann bewunderst du deinen schlimmsten Feind.« »Ach komm, er meint’s sicher gar net bös. Er will halt kei Familienleben, mit Glück im Reihenhaus und dem Gartenzwerg nebe der Tür. Kann ich durchaus verstehe. Will ich auch net.« Jo ist, finde ich, auf eine ganz besondere Art dumm. Seine Dummheit ist gerade das, was er für seine Schlauheit hält. »Aber ich will so ein spießiges Reihenhausglück! Und hier in Maiwald kann ich es mir vielleicht schaffen, und wenn du dazwischenkommst, dann heb ich den Telefonhörer ab und sorge dafür, daß Borowik dich abholt und einkastelt.« Noch mal sah ich ihm fest in die Augen, um klarzustellen, daß ich es ernst meinte. Todernst, wie ich gesagt hatte. Er schwieg eine Weile. Sein Blick wirkte herzlich und sogar liebevoll. Jo konnte schon immer aussehen, wie er wollte. Immer so, daß er erreichte, was er für wünschenswert hielt. Er stand auf. »Okay, Bruderherz. Ich hab schon verstanden. Aber ich muß jetzt diese Zeit überbrücken, bis die Fahndung nachläßt. Das verstehst doch, oder?« Ich sah in meiner Brieftasche nach. »Mehr als zweihundert Mark kann ich dir beim besten Willen nicht geben. Ich kann es einfach nicht. Herrgott, eigentlich nehme ich jede Mark der Helga weg!« Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, daß mir die Tränen in die Augen schossen – Tränen des Selbstmitleids. Ich kam mir ausgenutzt, hintergangen und betrogen vor. Wenn Jo etwas von den Tränen merkte, ließ er das nicht erkennen. »Ich schreib dir, wenn ich sicher aus Europa raus bin.« »Schreib mir nicht! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Halt dich gefälligst raus aus meinem Leben. Es könnt ein gutes Leben sein, wenn nur du nicht wärst…!« Ich hatte wohl zu laut gesprochen, vielleicht beinahe geschrien – die Italienerin sah bestürzt und neugierig herüber. Jo lächelte sie an. »Er meint das nicht so. Nur ein kleiner Streit.« Er wandte sich wieder an mich: »Also dann, zum letztenmal…«
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Ich nahm seine ausgestreckte Hand. Warum, weiß ich selbst nicht. An der Tür drehte er sich noch mal um. »Weiß dei Braut eigentlich, daß dein Dr. Plüttner eine vollbusige Blondine isch…?« Ich sah ihn nur an. Er lachte. »Mach’s gut, und laß nix anbrennen, sonsch denksch später im Seniorenheim, du hasch’s Beschte verpaßt! Servus!« Ein letztes Lächeln für die Bedienung, dann war er endlich weg. Ich blieb am Fenster stehen, bis ich ihn vorbeifahren sah. In einem cremefarbenen BMW. Geborgt oder geklaut? Aber was ging mich das noch an. Nachmittags hatte ich Dr. Plüttner in einem schwingenden Folklorerock gesehen, der ihr gar nicht übel stand. Aber dann regnete es, und die Luft kühlte ab – vielleicht fror sie in ihrem Rock. Jedenfalls erschien sie zum Empfang ihrer Weibergruppe – die rückte offenbar einmal pro Woche an – in einer Hose, die hauteng anlag wie Jeans. Pinkfarben. Und wieder spielte sie sich so kindisch auf. Sie ging nicht, sie hüpfte oder tänzelte ihren Freundinnen entgegen. Die lederhäutige Hagere war die erste, die ankam. »Ach!« rief Dr. Plüttner, breitete die Arme aus, warf den Kopf zurück und schaute verzückt in den dunkler werdenden Himmel. »Ist das nicht ein herrliches Lüftchen! Spürst du auch diesen ersten Biß von kühlem September in diesem Brischen, Senta? Liebst du diesen Duft auch so, wenn der Sommer noch gar nicht zu Ende ist? Komm rein, Schatz, aber lob zuvor meinen Herrn Wulff – ist er nicht fleißig?« Ich spaltete Holz für den Kamin. Nicht daß es zu meinen Aufgaben gehört hätte, Hausarbeiten zu erledigen; war auch gar nicht nötig – jeden zweiten Vormittag kam eine Zugehfrau und machte sauber, und in regelmäßigen Abständen – je nach Arbeitsanfall – tauchte ein Gärtner auf, der sich um die Blumen und Zierbüsche kümmerte. Aber ich hatte mir gedacht, die Damen wollten vielleicht gern am offenen Feuer sitzen; und der Gärtner, der sonst das Holz machte, hatte es diesmal nicht geschafft. Warum also nicht selber Hand anlegen? Da brach mir kein Zacken aus der Krone. Senta nickte mir zu und ließ sich von Dr. Plüttner ins Haus komplimentieren.
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»Ach Ilselein!« rief sie der Jüngsten entgegen, die beim ersten Treff Hot-pants getragen hatte – »ist das nicht ein herrlich würziger Indian-summer-Abend?« Sie drehte sich um sich selbst und schien gar nicht zu merken, wie unvorteilhaft sie wirkte: Immerhin hatte sie ihren fünfzehnten Geburtstag schon seit zwanzig Jahren hinter sich. »Bea, mein Schätzlein!« rief sie, als die dritte eintraf, die mit den schwarzen Haaren – lang um den Kopf flatternd wie Dr. Plüttners blonde –, »komm rein und genieß mit uns diesen herrlichen Abend zwischen Spätsommer und Frühherbst. Und bedank dich bei meinem enormen Herrn Wulff, wenn du am Feuer sitzen kannst.« Bea schien diese auftrittsgeile Art genauso auf die Nerven zu fallen wie mir; sie blieb stehen und sagte scharf zu ihrer Freundin: »Ich denke, er soll gar nicht Hausmeister sein! Sondern dein Bodyguard.« »Ich arbeite mich ganz gern mal aus«, sagte ich. »Ein Ventil für den Triebstau, den er hier aufgebaut hat!« rief Dr. Plüttner kehlig. Das war mir nun unangenehm. Ich überlegte, ob ich in die Stadt zu Helga fahren sollte. Aber wir hatten ausgemacht, daß ich gerade die ersten Tage hier draußen verbringen sollte – um zu testen, wie ich mich dabei fühlte. Weil sie inzwischen nicht allein zu Haus sitzen wollte, hatte Helga ihre Mutter in unsere anderthalb Zimmer mit einquartiert, für mich war da wirklich kaum noch Platz. Außerdem, wenn ich jetzt das Holz nicht reintrug, verhielt ich mich eigentlich genauso unnatürlich wie sie. Ich wollte mich nicht anstekken lassen von dieser falschen, unguten Art. Also packte ich den Korb voll und trug ihn rein. Sie hatten wohl über mich gesprochen, denn sie brachen das Gespräch ab. Nach einem Verlegenheitsmoment lachte Dr. Plüttner klingend und rief: »Ich sag grade, Herr Wulff – Sie haben sich zwar mannhaft beherrscht, aber große Augen haben Sie schon bekommen, als ich so ganz ohne auf der Terrasse lag!« Sie ging hüftschwenkend zum Kamin, kauerte sich daneben und streckte mir in einer Art, die anmutig sein sollte, die Hände entgegen. Ich legte zwei Holzscheite hinein. Dr. Plüttner wollte gefallen mit mädchenhafter Lebhaftigkeit. Aber sie war kein Mädchen mehr. Die Lebhaftigkeit war nicht echt, ver-
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mutlich steckte Unsicherheit dahinter. – Was für einen Grund konnte sie haben, sich unter Freundinnen unsicher zu fühlen, die sie doch vermutlich selbst ausgesucht und eingeladen hatte? Sie fühlten sich verpflichtet, mir eine Tasse Tee aufzudrängen und Konversation zu machen. Wie ich mich eingelebt hätte. Dazu sei ich doch viel zu kurz da, fauchte Senta. Die schwarzmähnige Bea fragte: »Was ist das für ein Gefühl, plötzlich mit lauter Elektronik um sich herum?« »Wie meinen Sie, Gefühl?« »Kommen Sie sich nicht vor wie in einem Knast?« »Wieso, ich find’s gut, daß das Haus gesichert ist.« Die Klingel am Gartentor draußen erlöste mich. »Ich mach auf, wenn’s recht ist«, sagte ich schnell und verschwand. Es war Angela, aus dem Italo-Restaurant. Sie brachte Antipasti, Weißbrot und Wein. Zurückhaltend – ohne ein Wort, nur mit einem knappen Lächeln – ging sie an mir vorbei ins Haus. Es war wohl so, daß Dr. Plüttner, wenn sie Zeit hatte, selbst den Imbiß für ihre »Weibergruppe« herrichtete. Heute hatte sie keine Zeit gehabt, denn vormittags war eine ganze Fuhre von Ölbildern und Grafiken abgeladen worden. Originale, die in der Kunstdruckerei reproduziert werden sollten. Dr. Plüttner hatte sich den ganzen Tag mit den Bildern beschäftigt. Angeblich stellten die Dinger einen in Geld kaum ausdrückbaren Wert dar, und die Gesamtladung einen Versicherungswert von fast zwei Millionen. »Das ist auch der Grund, warum die Versicherung darauf bestanden hat, daß ich hier im Haus und bei Einkaufsreisen einen – na ja, einen Sicherheitsbegleiter dabei habe.« Das hatte sie mir offen und geradezu erklärt. »Sie brauchen sich also bitte niemals Gedanken darüber zu machen, ob sie vielleicht genug arbeiten für Ihr Geld oder ähnliches. Die Einstellung eines Guard ist Bestandteil meines neuen Versicherungsvertrags.« Ich wartete am Gartentor, bis Angela wieder rauskam. »Buona notte.« »Gut Nacht«, antwortete sie schüchtern, mit einem nur kurzen Lächeln im Vorbeigehen. Zum ersten Mal bemerkte ich eine Perle in ihrem Ohr; im linken.
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Für meine Streifzüge durchs Gelände hatte ich mir eine topographische Karte des Hessischen Landesvermessungsamts gekauft. Als Wanderkarte hätte sie nicht viel getaugt, der Maßstab war zu klein, 1:5000; innerhalb von zwanzig bis dreißig Minuten verließ man ihren Bereich, egal, in welcher Richtung man marschierte. Aber ich wollte ja auch nicht Spazierengehen, sondern mir die unmittelbare Umgebung einprägen. Falls jemand mal an einen Überfall denken sollte, würde er nicht gerade auf der Landstraße Frankfurt-Maiwald daherkommen, nahm ich an. Zweimal entdeckte ich bei diesen Ausflügen Autos, die nicht nach Maiwald gehörten und auch nicht hierher paßten. Einmal war es ein BMW der 700er-Serie, einmal ein Audi Quattro. Sicher, es konnten Spaziergänger sein, die in der Mittagspause mal rasch aufs Land düsten, um sich im Ozon die Beine zu vertreten und abends über das Baumsterben im sauren Regen zu lamentieren. Andererseits kannte ich meinen Bruder Jo. Er klaute Autos nicht gern, er borgte sie – »hab mir halt wieder eins ausgliehe«, sagte er in solchen Fällen. Er holte sie vormittags vom Laternenparkplatz und brachte sie abends vor Büroschluß wieder zurück – wenn er es für ungefährlich hielt, sogar an die alte Stelle. Die Eigentümer, glaubte er, merkten in den meisten Fällen gar nicht, daß ihr Prunkstück untertags bewegt worden war. Ich horchte mich also bei unserm Italiener um, ob Besuch für mich dagewesen sei. Ich schaute auch ins Billardzimmer. Aber keine Spur von Jo. Es mußten doch wohl Spaziergänger gewesen sein. Abgesehen von dieser Irritation fühlte ich mich wie im Urlaub und gratulierte mir zu meinem idealen Job. Daß ich um sechs Uhr früh aufstehen mußte, machte mir nichts aus; das war ich gewöhnt. Ich stieg mit dem Meister der Kunstdruckerei in den Tresorraum unseres Bungalows runter, er suchte die Gemälde oder Grafiken aus, die an diesem Tag reproduziert werden sollten, und wir schoben die Ladung in einem gummibereiften Handwagen zur Druckerei. Abends hatten wir die Originale wieder abzuholen und in den Tresorraum einzuschließen. »Umständlich, Herr Wichtup«, sagte ich.
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»Der Alte hat sich wohler gefühlt, wenn er die Bilder nachts in seiner Nähe hatte.« »Die Gemälde sind doch aber versichert?« Scharfer Blick auf mich. »Richtig versichern kann man bloß materielle Werte, nicht künstlerische.« »Alles hat seinen Preis, oder?« »Sie kennen doch die Mona Lisa?« »Klar. Eine Frau, die grient.« »Genau. Das Bild gehört dem französischen Staat. Jetzt mal angenommen, einer klaut es, dann kriegt Frankreich von der Versicherung – sagen wir – zehn Millionen Dollar. Aber ist die Mona Lisa damit ersetzt? Wenn jemand Ihren Ford klaut und Sie kriegen zwanzigtausend Mark von der Versicherung, dann ist der Ford absolut ersetzt. Aber die Mona Lisa ist ein Unikat.« Er sah meinen fragenden Blick und sagte selbstzufrieden: »Es gibt sie nur einmal. Was es nur einmal gibt, ist durch Geld nicht ersetzbar, weil man eben kein Ersatz-Exemplar kaufen kann. Alles klar?« Er freute sich, daß es mal wieder einen gab, der weniger wußte und belehrt werden konnte. »Jaja, der Alte – das war schon ein toller Hecht«, informierte er mich abends beim Bier unter der Kastanie des Italieners. »Noch mit sechzig Jahren hat der sich jeden neuen Porsche gekauft. Jedes neue Modell, sowie es rauskam, stand da drüben.« Er wies mit einer Kopfbewegung zum Bungalow. »Und immer in Silbermetallic, nichts anderes.« Mit zufriedener Miene schluckte er sein Bier. Als wär es ihm eine Genugtuung, daß Dr. Plüttners Vater noch im Opaalter dauernd neue Porsches in Silbermetallic gefahren hatte. »An was ist er gestorben?« »Infarkt am Steuer. Bei hundertundachtzig auf der Autobahn gibt’s da überhaupt nichts mehr.« »Dann ist Dr. Plüttner ja sehr überraschend zu der Betriebsleitung gekommen.« »So was geht über Nacht.« »Was hat sie eigentlich vorher gemacht?« »Studiert. Doktor gebaut.« »Doktor in was?«
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»Kunstgeschichte«, sagte er erstaunt. Vermutlich zweifelte er an meinem Verstand. Weil ich den schlechten Eindruck wettmachen wollte, zahlte ich für ihn mit und begleitete ihn zum hintersten der drei Reihenhausblocks. Da wohnte er, genau vor dem Wald; manchmal kämen die Rehe bis in seinen Gemüsegarten, behauptete er. Aber für den Wildbestand interessierte ich mich weniger. »Wer hat eigentlich den Betrieb gegründet?« »Der Alte selber. Sie hat ja nur geerbt.« »Und wie hat er das gemacht?« »Mit Köpfchen.« »Mit…?« »Angefangen hat er wie ich, als Kunstdrucker. Aber der eine macht bloß Kinder, der andere seinen Ingenieur. Ja, und irgendwann hat er dann sein neues Computerdruckverfahren beim Patentamt anmelden können. Von dem leben wir jetzt alle. Deine Chefin in ihrem Luxusschuppen, und auch wir in unsern Reihenställen.« Seinem Ton nach war ich in seiner Achtung gesunken. Vielleicht hatte er sich unter dem neuen Sicherheitsfachmann einen härteren Burschen vorgestellt – nicht einen, der bloß freundliche Fragen stellte. Ich schlug selbst einen härteren Ton an: »Soll ich Dr. Plüttner ausrichten, daß Sie mit den Wohnverhältnissen unzufrieden sind?« »Das hab ich schon selber getan. Als sie die Miete erhöht hat.« Er grinste mir ins Gesicht. Egal. Ich war inzwischen ziemlich sicher, daß ich mich gut einleben und mit den für mich wichtigen Leuten auch auskommen würde. Notfalls mußte ich mir in der Siedlung Achtung verschaffen, indem ich mal Freikarten für einen Kampf verteilte. Wenn die mich in Aktion sahen, würden sie schnell überzeugt sein, daß ich der richtige Mann für den Job war. Auf dem Rückweg schaute ich, wie jeden Tag, noch mal in die Gaststube und, weil ich Bälle klicken hörte, ins Billardzimmer. Kein Jo. »Besuch für mich?« fragte ich zur Sicherheit noch Angela, die mit Weinkaraffe und Gläsern an mir vorbei wollte.
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»No, no.« Ein verhuschtes Kind! Sie hob nicht mal den Blick. Lippenrot trug sie heute. Glimmer-Pink. Die beste elektronische Sicherung mit Außensirene und Rundumbeleuchtung nützt wenig, wenn es nicht Leute gibt, die den Alarm auch aufnehmen. »Wo ist das Problem? Sie sind doch jetzt da«, meinte der junge Polizeimeister auf der acht Kilometer entfernten Wache in Moorweiler. »Schon. Aber ich soll übermorgen mit Dr. Plüttner nach Zürich fahren. Dann steht der Bungalow mindestens vier Tage leer.« »Wie ist es denn bisher gehandhabt worden?« »Dr. Plüttner hat sich mehr oder weniger drauf verlassen, daß der Alarm in der Siedlung gehört wird.« »Sind das nicht sogar ihre eigenen Arbeiter und Angestellten, die da wohnen?« »Eben drum hat sie immer angenommen, daß die sich mit Löwenmut und bloßen Händen auf jeden Einbrecher stürzen.« »Das tun die auch. Die schon.« »Und wenn mal ‘ne ganze Bande kommt? Bewaffnet?« »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand«, sagte der junge Beamte erschrocken. Er besann sich. »Der eine oder andere in der Siedlung wird doch Telefon haben. Ich meine, da könnte ja dann sofort zu uns durchgerufen werden.« »Haben Sie überhaupt genügend Leute hier? Nachts zum Beispiel.« »Wir könnten gegebenenfalls Verstärkung anfordern.« »Das dauert seine Zeit.« »Ja, wissen Sie – so ein Elektronikschutz bringt in der Stadt mehr als hier aufm Land. So ist das eben.« »Und warum?« »Weil Sie in der Stadt einen Wach- und Schließdienst zuschalten können. Das kost natürlich Geld, aber die kommen auch sofort.« »Und hier draußen?« »Sind Wachdienste seltener vertreten.« »Und wenn wir unsere Elektronik direkt mit Ihrer Wache zusammenschalten?« Ich lächelte ihn nett an. Er wurde aufgeregt. »Also soviel ich weiß, dürfen bloß Behörden und Banken direkt auf uns schalten. Privatleute nicht. Wir können
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regelmäßige Funkstreifenpatrouillen fahren, das geht. Kostet aber auch. Ich glaub – so bei fünfhundert Mark im Monat. Das müßt ich nachschauen. Oder noch besser, kommen Sie doch heut nachmittag wieder. Da wär der Behördenleiter da, der kann es Ihnen genau sagen.« »Wo ist er denn jetzt?« »Schwerer Unfall, drei Verletzte – Sie sehen ja, ich halt als einziger die Stellung.« In mäßigem Tempo joggte ich durch den Wald zurück. Ich hätte die Polizeiwache Moorweiler zwar auch mit dem Auto erreicht, aber einen Riesenumweg machen müssen. Der Weg zu Fuß war bedeutend kürzer, und da ich ohnedies Trainingsrückstände hatte, war ich in meinen Jogginganzug gekrochen und hatte mich zu Fuß auf den Weg gemacht. Jetzt auf dem Rückweg sah ich die Lage weniger rosig. Kein Mensch hatte bisher das Sicherheitsrisiko vernünftig durchkalkuliert. Auch wenn man wie Dr. Plüttner an die zehntausend Mark springen läßt: Elektronik allein ist kein Schutz gegen eine Gruppe von entschlossenen Männern, die ihre Waffen gebrauchen, wenn es ernst wird. Und dann dieser angebliche Tresorraum. Alle nannten ihn so, Dr. Plüttner, die Drucker – ich hatte es mir auch schon angewöhnt. In Wirklichkeit war es bloß ein temperiertes Kellerabteil mit einer ganz normalen Eisentür, wie man sie als Feuerschutz vor Heizungsräumen anbringt. Mag sein, daß so eine Tür die Flammen eine Zeitlang aufhält, wenn der Kessel explodiert – aber falls zum Beispiel einer wie Pröll daherkam, was dann? Und angenommen, er hätte Jo dabei – Jo hatte schon immer ein Händchen für Schlösser. Auf halbem Weg zwischen Moorweiler und Maiwald kreuzte mein Waldpfad einen landwirtschaftlichen Privatweg. Die paar Bauern, die es hier noch gibt, steuern ihre Traktoren da entlang, ansonsten ist der Weg gesperrt. Mir fiel deshalb auf, daß ein Peugeot 504 seitlich zwischen den Büschen stand. Die Büsche tarnten ihn; ein Bauer, der vorne vorbeigetuckert wäre, hätte den Wagen von seinem Sitz aus nicht gesehen.
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Ich joggte vorbei. Nur keine übertriebene Ordnungswut, jeder von uns hat schon mal falsch geparkt, und ich bin nicht der Typ, der Autonummern aufschreibt und an die Polizei durchgibt. Dann machte ich aber doch halt und ging langsam zurück. Wenn ich meine topographische Karte richtig gelesen hatte, mußte einige hundert Meter weiter der Wald eine Einbuchtung haben, und auf dieser Halblichtung mußte irgendein landwirtschaftliches Nutzgebäude stehen. Es war eine Scheune. Für das Gras bestimmt, das auf allen möglichen Lichtungen wuchs und von den Bauern als Viehfutter geschnitten wurde. Nach dem zweiten Schnitt dieses Jahres war die Scheune voll. Aus der Tenne herunter hörte ich eine Frau lachen. »No – prego no«, sagte sie mit sanfter Stimme. So sanft, daß man das No nicht ernst nehmen konnte. »Jetzt komm – du willsch doch net als Jungfrau sterbe, oder?« Nach einer Weile: »Wie tut des? Gut, gell?« »Okay.« Sie lachte. »Und des?« Plötzlich schrie sie auf. Ich zuckte zusammen, wollte schon rein – aber dann lachte sie wieder. »Du musch entspanne, Schätzle. Schau, ich mach’s ganz zart, ganz langsam. Da brauchsch doch koi Angst habe. Entspann dich. Ich bin ganz vorsichtig.« Wieder schrie sie leise auf. Ich trottete zum Waldweg zurück. Es geht mich nichts an, wo Jo sich rum treibt und mit wem, dachte ich. Aber mein Magen fühlte sich an wie ein hautloses Tier auf einem Nagelbrett. Der sicherste Schutz für Hauseigentum ist immer noch der von Opa – der mechanische. In den paar Tagen, die mir bis zur Reise nach Zürich blieben, konnte ich keinen perfekten Job abliefern, bildete mir das auch gar nicht ein. Immerhin sicherte ich die drei Eingangstüren zum Bungalow – Haustür, Terrassentür und die Tür zu meiner Einliegerwohnung – mit Hintergreifhaken. Das hatte Sinn, weil die Türrahmen fest im Mauerwerk verankert waren und selbst einen stabilen
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Eindruck machten. Jedenfalls könnte kein Jo und kein Pröll die Türen jetzt einfach aus den Angeln heben oder stemmen. Nicht in zwei Minuten, vielleicht nicht mal in zehn. Die Zylinderschlösser verstärkte ich durch Beschläge, die außen bündig abschlossen und innen verschraubt waren. Wer mit einer Rohrzange daherkam und überstehende Schließzylinder in Sekundenschnelle herausdrehen wollte, oder wer hoffte, Außenverschraubungen blitzschnell ablösen zu können – der hatte sich geprellt. An den leicht erreichbaren Erdgeschoßfenstern brachte ich abschließbare Griffe an, und die Rolläden sicherte ich gegen Vorziehen oder Hochschieben durch fest verankerte Führungsschienen. Ich schaffte wie ein Tier. Und je mehr ich in der kurzen Zeit fertigbrachte, desto friedlicher wurde mein Magen. Zweimal jeden Tag, mittags und abends, schaute ich beim Italiener rein. Angela sei in der Stadt, hieß es gelegentlich. Zur Scheune ging ich nicht noch mal. So genau wollte ich es gar nicht wissen. Eine Italienerin, mein Gott! Jeder weiß, wie die Italianos reagieren, wenn man ihre Frauen anmacht. Aber Vernunft und Selbstdisziplin waren nicht Jos Stärke. Die gesicherten Rolläden waren alle unten, als wir losfuhren. Auch die Türen würden nicht leicht zu knacken sein. Wer es versuchte, mußte im Scheinwerferlicht arbeiten und sich das Jaulen der Sirene anhören, die losdröhnte, sowie jemand am Haus stieß, hämmerte, bohrte, Glas zerbrach. »Sie haben phantastische Arbeit geleistet.« Dr. Plüttner machte es sich auf dem Beifahrersitz des Mercedes bequem. »So sicher hab ich mich noch nie gefühlt, wenn ich auf Dienstreise ging.« Innerlich gab ich ihr recht. Sie hatte ihre Bluse aufgeknöpft, jetzt nahm sie ihren Rock mit beiden Händen von den Knien und fächelte ihren Beinen Kühlung zu. Sie sah meinen Blick und lachte: »Sie haben gesagt, ich soll mir keinen Zwang antun.« »Das sage ich immer noch.« Aber irgendwas schien an ihr zu nagen. »Kaj…« Es war das erstemal, daß sie mich beim Vornamen nannte.
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Ich reagierte nicht weiter darauf, steuerte umsichtig, hielt mich an jede Geschwindigkeitsbegrenzung. »Ich hab einen guten Bekannten in Zürich. Einen Freund. Mit dem möchte ich viel zusammen sein.« Was sie nur hatte? »Früher sind wir viel mit dem Taxi rumgefahren. Er ist Maler, er hat keinen eigenen Wagen. Aber jetzt, wo Sie eigens den Mercedes für mich nach Zürich bringen…« »Ich fahr Sie gern in Zürich rum, ist doch klar.« Wollte sie Taxikosten sparen? »Es ist nur so, Kaj – wenn er mich lange nicht gesehen hat, und wir trinken abends ein bißchen in einem Lokal und fahren dann heim… Ich kenn Uli, er kann ausgesprochen zudringlich werden auf einem Autorücksitz.« Ich verstand überhaupt nichts mehr. »Ich meine – nur daß Sie nicht in Verlegenheit geraten, wenn er mich küßt oder auch zärtliche Sachen sagt…« »So tolerant wie ein Schweizer Taxifahrer bin ich allemal.« »Kaj – ich möchte nur nicht, daß Sie sich provoziert und ausgenutzt vorkommen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Falls ich mir mal so vorkomme, sag ich es gleich – okay?« Ich konnte direkt am Flughafen parken und half ihr noch mit dem Gepäck. Als sie zur Waffendurchsuchung in der Kontrollkabine verschwand, ging ich zum Kiosk und kaufte mir eine ABENDPOST. Pröll war noch immer nicht gefaßt, und auch von Jo stand nichts drin. Meine Anweisungen waren klar. Ich sollte in den Mercedes steigen und nach Zürich fahren. Jetzt. Andererseits brauchte Dr. Plüttner mich erst morgen früh. Vor Mitternacht mußte ich nicht losfahren, um gegen zehn am Hotel BAUR AU LAC zu sein. Ich hatte, als ich nach Maiwald zurückfuhr, ungefähr folgenden Gedanken: Ich wollte Jo suchen – in der Scheune. Ich wollte ihm sagen, daß zwar das Haus leer stand, daß er sich aber keine Illusionen machen durfte. Daß das Haus einbruchssicher präpariert war.
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Daß er auch mit Pröll zusammen keine Chance hatte. Daß er nur eins schaffen würde: mich um einen guten Job zu bringen. Ich stellte den Mercedes in Moorweiler ab und näherte mich der Scheune zu Fuß. Einen abgestellten Wagen konnte ich diesmal nirgendwo entdecken, und als ich – sehr langsam und vorsichtig – das Holztor öffnete, fand ich Scheune und Tenne leer. Vielleicht kam Jo ja doch noch. Auf einem Stapel Heu lag eine Decke, nicht ausgebreitet, sondern sauber zusammengefaltet. Angela mochte das getan haben; Jo war noch nie einer, der gern hinter sich aufräumte. Das überließ er andern. In einer Ecke, unter einem Stein versteckt, fand ich gebrauchte Präservative. Wahnsinn! Angela nahm also nicht mal die Pille. Das machte Jos Verhalten noch verantwortungsloser. Ein Gummi kann reißen, verdammt noch mal. Wußte er denn das nicht? Er wußte es, und es war ihm egal. Wie alt mochte Angela sein? Sie sah aus wie siebzehn – doch bei den Italienerinnen weiß man das nicht so genau. Sie konnte genausogut erst fünfzehn, sechzehn sein. Im Heu bumsen ist ja ganz schön. Aber mit fünfzehn? Ohne Pille? Und mit einem Mann, der grade aus dem Knast kommt und auf dem besten Weg zurück in den Knast ist? Um mir die Zeit zu vertreiben und meine Magenschmerzen zu betäuben, trainierte ich ein bißchen in dieser Scheune. Das erschöpfte mich mehr, als ich erwarten konnte. Ich legte mich hinten ins Heu und wollte schlafen. Aber der Schlafkünstler in der Familie ist Jo. Er poft, wenn man ihn nicht weckt, bis in den Nachmittag rein – egal wann er ins Bett geht, auch wenn es mal nicht zu spät ist. Ich dagegen wache jeden Morgen kurz vor sechs auf. Malochergewohnheit. Und mittags hab ich sowieso noch nie einschlafen können, außer ich war krank. Oder besoffen. Ich entschloß mich trotzdem liegenzubleiben. Hier in der Scheune hatte ich die beste Chance, Jo abzufangen.
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Es wurde eben dunkel, als ich mich Dr. Plüttners Bungalow von hinten näherte. Ich ging unter den Fichten an der Umzäunung entlang. Alles schien in Ordnung. Als ich vorn das Gartentor auf schloß, schaltete ich damit automatisch die Schleife EINS der Außenhautsicherung aus dem Alarm: Gartentor und Haustür. Mit dem Aufschließen der Haustür war die Raumsicherung abgeschaltet: Das sind Sensoren, die Ultraschall senden und empfangen; die geringste Störung des Ultraschallfelds löst Sirenengeheul aus, wie bei einer Alarmanlage für Autos. Ich machte die Haustür wieder zu, trat an den Sicherungskasten und schaltete die Schleife EINS der Außenhautsicherung wieder ein. Jetzt konnte ich mich frei im Haus bewegen. Aber niemand konnte herein, ohne Alarm auszulösen. Rechneten Jo und Pröll mit dem Aufjaulen der Sirene? Waren sie darauf vorbereitet? Ich nahm es an. Jedem in der Siedlung war bekannt, daß der Bungalow gesichert war. Über Angela hatte es sicher auch Jo erfahren. Glaubte er, den Alarm stillegen zu können? Traute er es Pröll zu? Das konnte ich nicht wissen. Und Jo konnte nicht unbedingt wissen, daß der elektronische »Zaun« sabotagegeschützt war: Schnitt jemand die elektrische Leitung durch, die vom Mast zum Haus lief, so tötete er nicht etwa den Alarm, sondern löste ihn gerade dadurch sofort aus. Aber vielleicht war es den beiden egal; vielleicht hatten sie vor, den Alarm kaltblütig durchzustehen und zivile Störer aus der Siedlung oder beamtete von der Polizeiwache Moorweiler mit Prölls »Bumbatsch« abzuschrecken… Bis sie mit ein paar Gemälden auf dem Rücksitz davon waren. Mit einer Coladose in der Hand hockte ich in Dr. Plüttners Wohnzimmer und überlegte hin und her, wie sie es wohl machen würden. Ich versuchte so intensiv, mich in ihre Köpfe reinzuversetzen, daß ich meine eigenen Interessen darüber vergaß. Es war schon gegen zehn, als mir einfiel, daß ich nicht nur den Einbruch verhindern wollte, sondern auch Jos Verhaftung. Ich konnte sie nicht wollen. Mein eigener Bruder als Einbrecher? Das hätte
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mich den Job gekostet: Wer will sein Haus und seine Habe einem Mann anvertrauen, dessen nächster Verwandter kriminell ist, ein Knacki? Ich konnte mich kaum dazu überwinden… dann tat ich es doch: Ich schaltete nach der Raumüberwachung auch die Außenhautsicherung ab. Das Haus schien mir plötzlich stiller geworden zu sein. Einbildung. Schon vor einer Stunde hatte ich die Leuchten ausgeknipst. Jetzt hielt ich die Dunkelheit nicht mehr aus, diese absolut stille Dunkelheit – knipste also wenigstens im Flur das Licht an. Die Rolläden waren unten. Falls trotzdem Licht durchfiel, würden sie vielleicht denken, wir hätten es zur Abschreckung brennen lassen. Ich wollte nicht, daß sie von Fremden geschnappt wurden. Ich wollte sie aber auch nicht abschrecken. Wenn sie den Coup planten, dann sollten sie ihn jetzt durchziehen, heute nacht. Solange ich noch da war. Ich merkte, daß ich nah am Durchdrehen war. Warum, wußte ich nicht. Vielleicht, sagte ich mir, ist doch auch Angst dabei. Nicht vor Jo. Aber vor diesem Pröll. Es gibt keine Karategriffe gegen Kugeln, wenn sie mal abgefeuert sind. Um mich zu entspannen, machte ich einen Rundgang durchs Haus. Der Keller war nur vom Erdgeschoß aus zugänglich, also eigentlich kein Problem – seine Fenster waren vergittert. Im Erdgeschoß waren alle Türen und Fenster dicht, die Fenster zusätzlich durch die Rolläden gesichert. Wenn sie kamen, mußten sie also schon die Tür knacken. Wie sie das machen wollten, darauf war ich gespannt. Oder würde Jo die Frechheit haben, durch die Tür zu meiner Einliegerwohnung zu kommen? Aber auch die hatte ich durch Hintergreifhaken gesichert. Im Obergeschoß lagen zwei große Räume, jeweils mit Bad. Der kleinere war das Gästezimmer; seit ich hier war, hatte es noch keiner benutzt. Das größere war Dr. Plüttners Schlafzimmer. Auch hier hatte ich die Fenstergriffe durch neue, abschließbare ersetzt und selbst abgeschlossen. Ich kannte das Schlafzimmer also. Auf den Spiegel hin-
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term Doppelbett hatte ich in Dr. Plüttners Gegenwart allerdings nur einen flüchtigen Blick geworfen. Jetzt hatte ich Zeit, ihn mir genauer anzusehen. Ein Riesending. Der Rahmen sah teuer aus. Indirekte Beleuchtung. Ich knipste sie an und aus. Und das Bett war ein Wasserbett. Ich studierte den Mechanismus. Mit irgendwas mußte ich mich beschäftigen. Ich konnte nicht bloß da unten hocken und warten. Ich öffnete die Schränke. Pelze. Kleider. Schuhe. Nicht übel. Ob sie auch Schmuck hatte? Anzunehmen. Vielleicht waren Jo und Pröll mehr auf den Schmuck aus als auf die sicher schwer absetzbaren Gemälde im Keller? Ich öffnete die Schubladen. Irgendwo mußte die Schmuckkassette ja stehen. Ich verfluchte mich, daß ich Dr. Plüttner nicht danach gefragt hatte. Aber sie hatte immer nur von der Sicherung der Gemälde im Keller gesprochen. Nie von Schmuck. Ich hatte selbst auch nicht dran gedacht, daß etwas anderes gefährdet sein könnte als die Kunst im Keller. Zehn Schubladen hatte ich aufgerissen. In der letzten lagen nur Höschen. Fast alle klein, dreieckig. Aus Spitze, aus Seide, durchbrochen gemustert, in mehreren Farben – aber vor allem in Schwarz. Wenn ich mit Helga Wäsche kaufen ging, entschied sie sich immer für die schlichten, weißen Stücke, die man in Kaufhäusern für ein paar Mark bekommt. Ich blieb manchmal stehen und schaute die Spitzenwäsche an: »Wär das nicht was?« »Mit dem passenden Hemdchen hundertvierzig Mark, Kaj! Ich glaub, das Erlebnis heben wir uns auf bis zum ersten Lottogewinn.« Hier gab es das nun alles. Nicht nur die passenden kurzen Hemden dazu, auch Büstenhalter (trägt Helga nie, braucht sie nicht) und sogar Strapsgürtel. Ganze Schubladen voll. Ich bin sonst ein normaler, besonnener Mensch. Aber meine Nerven waren gespannt wie bei einem Irren, kurz bevor er losbrüllt. Den ganzen Tag schon war mein Magen so sauer gewesen, als hätte ich Essig reingekippt. Ich glaube, ich drehte durch – aber ich weiß nicht, warum.
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Ich riß all die Höschen und Hemdchen und Büstenhalter und Strapsgürtel aus den Schubladen, warf sie aufs Bett und vergrub mein Gesicht in dem Seidenhaufen. Ich weiß nicht, wieso ich mir selber so leid tat. Es ging mir doch gut. Ich hatte doch alles. Den Augenblick suchten sie sich aus, um reinzukommen. Wer so viele Jahre den Kampf Mann gegen Mann trainiert hat wie ich, der überlegt nicht mehr, wenn die Situation da ist – der handelt. Ich verließ mich auf den unbewußten, gedanklich nicht gesteuerten Ablauf von Reflexen. Der vordere konnte nur Pröll sein: kurzbeinig, stämmig, breiter Kürbiskopf, den berühmten »Bumbatsch« in der Pratze. Bevor er abdrücken konnte, hatte ich ihm den Arm und (mit dem Knie) die Nase gebrochen. Ein Spezialgriff zur Abwehr bewaffneter Angriffe auf Leib und Leben. Ich hörte ihn nicht schreien, oder nur wie aus einer anderen Welt. Meine ganze Konzentration galt Jo. Er wich zurück. Gut für ihn. Aber dann fuhr seine Hand hoch, und es war ein Totschläger darin. Am Frankfurter Hauptbahnhof kriegt man die Dinger in jedem Eckladen. Treffen sie die Mittelknochen der Hand, kann auch der beste Karatekämpfer seinen Sport vergessen. Die Antwort auf diese Bedrohung ist nicht der Handkantenschlag – nicht in der Position, wie wir jetzt gegeneinander standen. Es gibt nur zwei sichere Abwehrbewegungen: die mit der Fußspitze zum Unterleib, die zu schweren Verletzungen führen kann, oder den geraden Stoß mit steifen Fingern zu einer Stelle des Körpers, die jeder kennt, der den schwarzen Gürtel hat. Es gibt einige Körperstellen, die nur wir kennen, und von denen wir nur geprüften, seriösen Sportsleuten erzählen. Defensivbewegungen auf diese Körperstellen trainieren wir ausschließlich mit Kameraden, bei denen wir absolut sicher sind, daß sie ihr Wissen niemals mißbrauchen, sondern nur in unmittelbarer Todesgefahr abrufen würden.
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Ein erhobener Totschläger stellt für einen ausgebildeten Karatekämpfer noch keine unmittelbare Todesgefahr dar. Warum ich trotzdem den tödlichen Fingerstoß gewählt habe, weiß ich nicht. Ich weiß es nicht. In einem Zustand beherrschter Ruhe – wie wenn ich mich nach einem Kampf diszipliniert vor dem Publikum verbeuge – ging ich die Treppe runter zum Telefon. Die Karte Borowiks steckte in meinem Geldbeutel hinter der Scheckkarte. Ich wählte die Nummer. Die Kriminalbereitschaft meldete sich. Ich verlangte Borowik. Der sei nicht mehr da, um was es denn gehe. Ich meldete einen Schwerverletzten und einen Todesfall und die Adresse. Ich solle beim Telefon warten, hieß es, Borowik werde benachrichtigt. Ich war mir nicht bewußt, daß ich einen Schock hatte. Das wurde mir erst klar, als es klingelte und zwei Schutzpolizisten vor der Tür standen… Mir schien nämlich keine Zeit vergangen zu sein, offenbar war ich neben dem Telefon zeitweise weggetreten. Ein Schupo ging rauf, der andere runter. »Sie sind durch den Kellerrost eingestiegen«, sagte er. »Durch welchen Kellerrost?« Ich hatte nicht gewußt, daß es einen gab. Die zum Gartenmobiliar gehörende Truhe stand drauf und verdeckte ihn. Trotzdem meine Schuld: Warum hatte ich mir nicht die Baupläne zeigen lassen. Borowik erschien mit der jungen Kommissarin Brück und andern, die alle sofort im Haus ausschwärmten. Nur er blieb bei mir stehen. Ich sagte: »Pröll, nehm ich an. Und mein Bruder. Mein Bruder ist tot.« Borowik sagte irgendwas und ging nun auch rauf. Es wurde unnatürlich hell oben, sie bauten wohl Scheinwerfer auf. Das Telefon klingelte, und ich nahm an, daß es vielleicht Dr. Plüttner war – sie mochte beim Pförtner erfahren haben, daß ich mein Hotelzimmer noch nicht bezogen und mich auch nicht gemeldet hatte… »Wulff bei Dr. Plüttner.« »Jetzt kipp net gleich aus deine Fernsehschlappen, Brüderchen – ich weiß, es isch spät. Aber wir sitze hier grad so gemütlich beisamme, der Pierre und sei Frau und ich, da hab i mir denkt, jetzt ruf i
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durch und sag dir, wie der Eiffelturm in einer warmen Spätsommernacht aussieht. Hallo, bisch no da?« »Ja.« Für einen Augenblick hatte ich gedacht, ich würde wahnsinnig. Vielleicht war ich es auch. Aber wie immer, wenn ich Jo in seiner verantwortungslosen Art »babbeln« höre, wurde ich sofort cool und ließ mir keine Gemütsregung mehr anmerken. »Kann ich Pierre mal guten Tag sagen?« »Augenblick. Pierre!« Und wirklich hörte ich dann meinen Sportsfreund am Apparat, er sagte, Jo sei heute nachmittag plötzlich vor der Tür gestanden, das Geld habe er ihm schon gegeben, nachher wolle man noch rübergehen zum Montparnasse und in einem der Straßencafés die warme Nacht genießen. Und hier sei mein Bruder noch mal. »Kaj?« »Ja.« »Danke für alles.« »Du meinst, für das Geld.« »Geld isch ja auch alles im Leben, oder? Wie’s Wasser für d’ Fisch.« »Soll ich Angela einen Gruß ausrichten?« Kurze Pause, dann verlegenes Lachen. »Hat se sich beschwert?« »Nein.« »Isch auch net zu erwarte.« Er hängte ein. Borowik stand hinter mir, als ich auflegte. Er sah mich aufmerksam an. Eben wurde hinter ihm auf einer Bahre der Verletzte rausgetragen. Er schrie nicht mehr; seine Augen hatten einen stumpfen Ausdruck. Betäubungsspritze, nahm ich an. »Das ist nicht Pröll«, sagte Borowik. »Nicht?« »Und Ihr Bruder ist eine Schwester, kommen Sie mal mit.« Ich folgte ihm die Treppe rauf. Die junge Kommissarin stand neben dem Arzt, der sein Stethoskop aufs Herz der Leiche drückte. Genau unterhalb eines deutlich sichtbaren, wenn auch nicht großen Busens. »Wollen Sie im Ernst behaupten, Sie hätten diese Frau für Ihren Bruder Josef gehalten?«
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»Die Statur – muß genau die gleiche sein. Jo ist einsachtundsiebzig. Dazu die Schulterbreite. Auch der Haarschnitt.« Die Kommissarin hatte bereits ein Zentimetermaß an die Leiche gelegt. »Einsachtundsiebzig – stimmt schon, ungefähr.« Borowik starrte mich sonderbar an. »Und am Gesicht haben Sie keinen Unterschied bemerkt?« »Bemerken Sie am Gesicht irgendwas?« Er beugte sich darüber. »Was meinen Sie?« fragte er den Arzt. »Der gleiche Schmotz, mit dem Leute sich fürn Faschingszug ein Mohrengesicht schminken.« »Können Sie sie mal abschminken?« »Mit Alkohol, sicher.« Er holte das Fläschchen aus seiner Tasche, betupfte einen Wattebausch und rieb. Die Kommissarin hielt den Kopf der Leiche, damit der Arzt beim Säubern des Gesichts keine Schwierigkeiten hatte. Die nußbraune Schminke ging problemlos ab. Daran, daß ich mich abwandte, merkte Borowik, daß ich die Frau erkannt hatte. »Wer ist es?« »Eine aus – aus der sogenannten Weibergruppe von Frau Dr. Plüttner. Vorname Senta. Den Nachnamen weiß ich nicht oder hab ihn vergessen.« »Wo ist Frau Dr. Plüttner jetzt?« Ich gab ihm die Nummer des BAUR AU LAC; er rief sofort durch und bekam sie auch an die Strippe. Unterdessen erklärte ich der Kommissarin, ich hätte auf meinem Bett gepennt und sei durch irgendein Geräusch wach geworden. Ich sei rausgekommen in die Diele und hätte Schritte im Schlafzimmer von Dr. Plüttner gehört. Leise sei ich die Treppe rauf gelaufen – und an der Schlafzimmertür in dem Augenblick angekommen, als die zwei heraus wollten beziehungsweise die Tür aufmachten. Der eine habe sofort die Pistole gezogen, ich hätte ihn für Pröll gehalten und entsprechend reagiert. Dann sei der zweite mit dem Totschläger gekommen, und obwohl oder weil ich ihn für meinen Bruder gehalten hätte, seien meine Abwehrbewegungen trainingsbedingt reflexhaft abgelaufen. In Hundertstelsekunden. Ohne eine bewußte Willensentscheidung meinerseits.
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Mit kaltem, abweisendem Blick hörte sie sich das an, musterte das Zimmer – die herausgezogenen, ausgeräumten Schubladen, den Wäschehaufen auf dem Bett. »Was haben die im Schlafzimmer gesucht?« »Schmuck vielleicht?« »Warum sind sie dann ohne den Schmuck wieder herausgekommen? Wir haben keinen Schmuck bei ihnen gefunden.« »Einer lebt ja noch. Fragen Sie ihn.« »Das werden wir schon.« Ihr Ton verriet, daß sie mir nicht glaubte. Aber bevor sie weiterfragen konnte, kam Borowik rein. Er sah sich gründlich um und sagte nach einer Weile: »Senta Wurek. Eine Lesbe. Angeblich leidenschaftlich verliebt in Frau Dr. Plüttner.« Wir schauten alle den Wäschehaufen auf dem Bett an. Die Kommissarin wurde unsicher. Sie warf mir einen Blick zu, der entschuldigend wirkte. »Eine Wäschefetischistin?« »Warten wir’s ab.« »Das würde erklären, warum die Höschen und BHs rausgekramt sind und nicht die Schmuckkassette.« Im Fernsehen werden sie immer als sehr schlau hingestellt, die Jungs von der Mordkommission. So schlau sind die aber gar nicht. Ich hatte meine Version des Ablaufs im Moment an Ort und Stelle erfunden – und eigentlich nicht angenommen, daß man mir glauben würde. Aber die Darstellung hielt vor Gericht stand. Der Komplize von Frau Wurek sagte nämlich nicht aus. Das war auch besser für ihn: Wenn er zugegeben hätte, daß er mit der Lesbe hinter dem Schmuck her gewesen war, hätte er eine hohe Strafe bekommen. Als Komplize einer liebesverrückten Fetischistin, die bloß an die Wäsche der Angebeteten wollte, bekam er mildernde Umstände und wurde noch aus der U-Haft entlassen. Zu diesem Zeitpunkt saß Jo bereits wieder ein (beim Grenzübertritt aus Frankreich erkannt und ohne Gegenwehr festgenommen). Pröll war nach einem Feuergefecht mit Polizisten in Kiel erschossen worden. Für mich wäre jetzt also alles in Ordnung gewesen. Ich hatte einen angenehmen Job, eine verständnisvolle Chefin, die mich als Helden bewunderte, und ich hatte Helga.
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Was nicht mitspielte, war mein Magen. Oft konnte ich tagelang kein Essen bei mir behalten. Ich verlor Kampfgewicht und Kondition; der Sportarzt verzweifelte und überwies mich an einen Psychosomatiker. Der legte mich auf seine Couch und sagte: »Spucken Sie nicht ihr Frühstück aus… Sondern das Erlebnis, das Sie nicht verdauen können.« Ich hatte mich auf die Sitzung vorbereitet. Klar – ich wollte wieder gesund werden. Ich wollte alles sagen, aber was war das: alles! Ich hatte nachgedacht und in meinem Unterbewußtsein gegraben… Aber dann, auf der Couch, war das weg und ein paar einfache Szenen gingen mir durch den Kopf, deutlich wie im Kino. Jo und ich gehen die Straße entlang. Am Kiosk vorbei. »Kaufst mir eine Cola?« fragt er. »Du weißt doch, daß ich kein Geld hab, Jo.« »Andere kriegen Taschengeld, warum wir nicht?« »Frag nicht so blöd.« Plötzlich hebt er einen Stein auf und schleudert ihn nach dem Kiosk. Das Glas des Schaukastens splittert. Jo rennt. Und ich steh allein da. Der Kioskbesitzer kommt herausgeschossen und auf mich zu. »Saubub dreckiger.« Er schlägt mich links und rechts ins Gesicht. Ich sage: »Es war mein Bruder. Ich weiß, ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen, es tut mir leid. Ich will es wieder gutmachen.« »Geld will i sehe! Wo bischn du her?« »Ich heiße Kajetan Wulff. Unser Vater ist auf Montage. Meine Mutter arbeitet nur unregelmäßig, sie hat kein Geld, und versichert ist sie auch nicht. Es tut mir leid. Aber vielleicht kann ich den Schaden abarbeiten.« Schon als Kind hab ich nicht Schwäbisch gesprochen. Er wird unsicher. »Ich hab vielleicht zu fest zugehauen. Es war die Wut.« »Wann kann ich mit der Arbeit anfangen?« »Kommsch halt morge mittag, da krieg ich die Getränke. Kannsch ablade helfe. Oder hasch noch Schul so um halb zwei rum?« »Die Schule ist um eins aus.« »Was hat denn dei Bruder wolle? Bloß Scherbe mache?« »Eine Cola.«
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»Hilf ablade, dann kannsch du Cola saufe, bis dir übel wird.« »Also ein Erfolgserlebnis für Sie«, sagte der Psychosomatiker. »Ja, sieht so aus.« »Sie sind doch angetreten zum Abladen?« »Ja, und hab meine Colas gekriegt. War ein freundlicher Mann. Viel Verständnis.« Der Arzt wartete. »Ich bin immer angetreten«, sagte ich. »Und Jo ging ins Schwimmbad. Ich hab recht behalten mit meiner Art, und Jo unrecht. Drum hab ich jetzt auch mein Auskommen, und er sitzt im Knast.« Ich wollte, es wär umgekehrt, dachte ich. »Was denken Sie?« fragte er scharf. »Daß Jo ein besseres Leben gehabt hat.« »Ein leichteres, meinen Sie.« »Ist das so wichtig, wie man dazu sagt?« Er sah eine Weile aus dem Fenster. »Ich versteh schon, Herr Wulff. Also gut, fangen wir an mit unserer Arbeit.«
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-ky Ein seltener Fall von Witwenverbrennung »Und wir kommen doch nicht weiter! Und das Lebensrätsel bleibt…« Diese Schlußverse aus einem der kleineren Gedichte Theodor Fontanes, kaum weiter bekannt, wollten und wollten mir nicht aus dem Kopfe gehen, wurden mir mit jedem neuen Glockenschlage stärker eingehämmert; und lange suchte ich, anstatt des teuren Toten zu gedenken, den Titel, den es trug, verschüttet wie er war, aus dem Gedächtnis abzurufen, bis er mir dann endlich einfiel – ganz schlicht: Umsonst. Während wir in langer Schlange darauf warteten, zu Conradin ans Grab zu treten, Erde zu Erde, Staub zu Staub, und Armgard unser Beileid auszusprechen, vielleicht auch kühn die Gelegenheit nutzend, sie endlich einmal zu umarmen, da wurde unter den Trauergästen auch vieles geflüstert und mehr noch gedacht, was gemein und schäbig war, zumindest aber wenig schicklich, doch nach Lage der Dinge auch wiederum nur allzu verständlich. »Ich glaube immer noch, daß die den aufm Gewissen hat…« »Das war doch nie und nimmer ‘n Unfall!« »Jetzt hat sie ja alles für sich alleine…« »Mal sehen, welcher der edlen Herren jetzt in den Genuß ihres freudenspendenden Leibes gelangt; die möglichen Nachfolger sind ja allesamt schon angetreten…« »Die potentiellen oder die potenten?« »Wie auch immer, es ist wohl eine ziemliche Leichenfledderei hier und heute.« »Die Kripo sollte sich einmal ein bißchen mehr darum bekümmern; so ganz astrein scheint mir das ja auch nicht gewesen zu sein, wie unser Conradin da plötzlich verschwunden ist, im ruhigsten Gewässer…« »…wie die Drohnen: wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, müssen sie sterben.« »Wobei aber Conradins Schuldigkeit nicht in der Ablieferung seines Samens bestanden hat, sondern in der Vererbung seines Vermögens…«
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»Nie waren die Conradins so wertvoll wie heute!« Mochte sich die Verwunderung darüber, daß Conradin schon nach gerade dreiwöchiger Ehe so plötzlich und unerwartet abberufen worden war, noch in Grenzen halten, da Badeunfälle hierzulande ja durchaus nicht als so außergewöhnlich zu gelten haben, so waren die Spekulationen darüber, wer wohl nach ihm an Armgards Seite treten würde, maßlos in ihrem Phantasiegehalt und ausufernd. Doch diejenigen, die Armgard etwas genauer kannten, wußten wohl, wie schon im Ansatz verfehlt diese Frage war und das Wesen der jung Verwitweten völlig verkannte. Wir fünf – Ruth, Berthold, Roderich, Timon und ich –, wir wären hier zu ganz anderen Kommentaren fähig gewesen und hätten da mit dem Tiefenlot gearbeitet, wo andere nur den Finger kurz ins Wasser tauchten, denn es gab Leute, die es sich, zwangsneurotisch oder besessen davon, wie immer man wollte, zur ewigen Aufgabe gemacht hatten, beispielsweise den Überweisungscode amerikanischer Großbanken zu knacken, das Geheimnis der mysteriös-ungewissen Atlantisinsel zu ergründen oder die möglichen Botschaften extraterrestischer Intelligenzen herauszufiltern aus dem allgemeinen Weltraumrauschen, so war Armgard von einer Reihe von Menschen umgeben, die mit der gleichen Absolutheit nichts weiter erstrebten, als sie und ihre Psyche zu entschlüsseln. Armgard als der Mittelpunkt unseres Lebens, als unser Sinn, als das Glück, einer zurückgekehrten Göttin dienen zu dürfen, das war es wohl, und dies im Jahre 1982, oder vielleicht auch gerade deswegen, weil in diesen Zeiten so schwer etwas zu finden war, für das es sich zu leben lohnte. So waren wir ihr zugelaufen, weil wir von ihr erhofften, daß sie unsere Schmerzen linderte und uns voranbrachte im langen Prozeß, unser eigentliches Ich zu finden, andererseits aber hatte sie uns eingefangen, weil sie uns zur eigenen Reifung brauchte. Doch darüber später mehr. Nun, gleichviel, aber wenn einer, insbesondere lange vor allen Journalisten, die sich auch darum bemühen, wirklich berufen ist, derart über Armgard Diehms Schicksal zu berichten, daß die höchstmögliche Teilnahme des Lesers gesichert wird, dann ich, denn seit mehr als dreißig Jahren verfolge ich ihr Leben und befinde mich im
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Zustand innerer Abhängigkeit von ihr, fast schon ist es eine Sucht. Das begann an dem Tage, da sie in der siebten Klasse unseres alten Gymnasiums auf den Platz unmittelbar vor mir eingewiesen wurde. Stunde um Stunde konnte ich mich nun dem Genuß hingeben, sie in mich aufzunehmen, aufzusaugen, mit allen Sinnen für mich zu haben – ohne sie indessen je zu berühren, von Zufällen einmal abgesehen. So wild der Durst auch wurde, ich blieb ein Tantalus, doch das gerade ist es ja, man denke an die wahre Minne, was recht eigentlich nur zählt. Ein verloren im All herumirrender Planet war von einer Sonne eingefangen worden, nur – so die Gesetze unseres Kosmos – verschmelzen mit dieser Sonne konnte er nicht, ebenso wie er ihr niemals wieder zu entfliehen vermochte. Offenbar ist es mein Schicksal wie meine Berufung, zu keinem anderen Zwecke auf dieser Welt zu sein, als die Chronik der Armgard Diehm zu schreiben. Nun denn! Armgards Mutter, und zumindest mit dieser werde ich wohl beginnen müssen, war eine von vielen Kontokorrentbuchhalterinnen des großen Hauses Siemens, ihrer Arbeit weithin entfremdet und schlecht bezahlt, aber mit einem Hang zum Höheren, wie man das in Berlin zu nennen pflegte, also zur Kunst, Musik und Literatur, und in ihren nie abreißenden Tagträumen war sie immer auf der Flucht aus der sterilen Welt ihres Großraumbüros. Und ihre bevorzugte Zufluchtsstätte war Theodor Fontanes märkisch-preußische Welt, waren die Schlösser und Orte der erfüllten Ruhe und des wunderbaren Gleichmaßes aller Erdentage, wie sie sie in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg fand, vor allem aber in seinen vielen Romanen, bei Frau Jenny Treibel etwa oder Schach von Wuthenow, sogar noch Irrungen Wirrungen und L’Adultera taten ihr wohl, ganz oben aber in ihrer Prioritätenliste stand Der Stechlin. Seiner Lektüre nun verdankte dann Armgard auch ihren nicht gerade eben häufigen Namen. Wir erinnern uns: Armgard, die jüngere Tochter des Grafen Barby, eine Berlinerin schweizerisch-englischer Abkunft, wird die Frau des jungen Woldemar von Stechlin, ist aber innerlich noch viel mehr ihrer kompliziert-geheimnisvollen Schwester Melusine verbunden, zugleich aber mit ihrer gradlinig-schlichten Art in auffälligem Gegensatz zu ihr stehend, wobei als weitere Wirrnis hinzu-
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kommt, daß man dem jungen Stechlin doch wohl eher die melancholisch-kapriziöse Schwester wünschte, auch des eigenen Vergnügens beim Nachvollziehen ihres Lebens wegen, wie er auch selber lange zwischen beiden geschwankt hat. Sicher, man liebt die Melusine, wie sie das Glück der jüngeren Schwester teilt, überaus achtbar das alles, aber ist nicht doch ganz leiser Zweifel anzumelden? Wird das auf Dauer auch so bleiben und ist nicht vorstellbar, daß sie, Melusine, die den Woldemar liebend gern für sich besessen hätte, nicht später doch einmal auf Rache sinnt? Wie dem auch sei, es ist an der Zeit, wieder zur realen, zu unserer Armgard zurückzukehren, zum kurzen Abriß ihrer bis dahin nicht einmal sehr aufregenden Biographie. Bliebe zunächst noch ihr Vater, über den aber nicht mehr zu berichten ist, als daß er schon vor ihrer Geburt bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, lange bevor über ihren Namen endgültig entschieden worden war, ganz sicher aber als handfest-unpoetischer Programmierer – FORTRAN und COBOL – sein Veto gegen Armgard eingelegt hätte. So jedenfalls wird das gesund auf die Welt gekommene Mädchen auf den von der Mutter gewünschten Namen getauft und in den Akten des Standesamtes Berlin-Charlottenburg, Alt-Lietzow 28, ordnungsgemäß registriert, in einer prächtigen spätklassizistischen Villa mit einem Relief von Daniel Christian Rauch, das drei Einzelszenen aus dem Leben Friedrichs des Großen zeigt. Weder die Krankenschwestern noch der Pfarrer oder der Urkundsbeamte sahen sich dabei veranlaßt, irgendeine abfällig-hämische Bemerkung über ihren Vornamen zu machen, denn Armgard, ja eigentlich Armgard Kaminski, hatte schon von Anbeginn an etwas an sich, das alle Spötter zum Verstummen brachte und die empfindsamen Gemüter fast in Anbetung verfallen ließ. Mit dieser Namensgebung war, sieht man es rückblickend, recht eigentlich Armgards biographische Programmierung vollzogen worden, denn schon bald merkte sie, verglich sie sich mit ihren Spielgefährten, daß ihr Vorname ganz gehörig aus dem Rahmen fiel, aus einem Rahmen, der mit den Namen Stefan und Sabine, Monika und Uwe so etwa zu umreißen war. Und im Sinne einer selffulfilling prophecy (den Begriff selber sollte sie erst zwanzig Jahre später auf
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der Uni lernen), einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung also, begann sie nun, die zu werden, die ihr Name ihr vorgab. Natürlich war auch sie, kaum des Lesens fähig, den Werken Fontanes verfallen; was Wunder bei dem hohen Grade an Verehrung, die dieser von seiten ihrer Mutter erfuhr. Die Menschen werden, das wissen wir, nicht in wenigen traumatischen Sekunden geformt, was ich auch, trotz aller Theorien über den Geburtsschock und dergleichen, an dieser Stelle zu schreiben wage, sondern in jahrelangen, für sich allein winzig-unbedeutenden Handlungen und Erlebnissen, und wer über bald dreißig Jahre hinweg Tag für Tag in die Fontaneschen Welten versinkt, der wird, so ihn nicht andererseits ganz gewaltige Kräfte und Zwänge ins reale Jetzt zurückzustoßen vermögen, allmählich nichts weiter im Sinne haben, als so zu leben wie die glorifizierten, die mystifizierten Figuren seiner Romane. Konkret hieß das für Armgard nichts anderes, als eine Möglichkeit zu finden, die es ihr gestattete, nach Art einer Komtesse der Jahrhundertwende zu leben, also frei zu sein von allen lästigen Pflichten, wie sie Berufstätigkeit und Hausfrauendasein heutzutage mit sich bringen, Muße zu haben und einen Salon zu führen nach Altberliner Vorbild, man denke nur an die Henriette Herz, die Rahel Varnhagen oder die Bettina von Arnim. Geld zu haben, hieß das und damit die Zeit, ohne Vorgesetzte und Termine am Fenster zu stehen, nur einfach so, und den Regentropfen zuzusehen oder den Schneeflocken, sich hinwegtragen zu lassen von wohlig-bunten Gedanken lichtjahreweit in die Märchenwelten der Kindheitstage oder die der fernen Sterneninseln, Menschen um sich zu scharen, die Geschichten zu erzählen wußten und mit ihren turbulentbewegten, wirren Lebensläufen selber schon Romane waren, Zeit zu haben, zu malen und zu musizieren, Gedichte zu schreiben, Zeit zum Wandern und zum Reiten. Dies alles war es, was für Armgard Leben hieß, eigentliche Existenz, richtiges Menschsein. Nicht verbraucht zu werden für die Zwecke anderer, verschlissen von Organisationen und Institutionen, sondern für sich selber dazusein, das exemplarisch zu vollenden, was der kosmische Schöpfungsplan für seine höchstentwickelten Lebewesen letztendlich doch wohl vorgesehen hatte.
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Um dieses Lebensziel zu erreichen, bedurfte es zweierlei: eines erfolgreich absolvierten Studiums der einschlägigen Künste – Theaterwissenschaft, Literatur, Malerei, Architektur und anderer, angrenzender Disziplinen – wie, und dies vor allem, der Gewinnung finanzieller Ressourcen. Obwohl sie sich, da ohne Vater, Bruder und andere männliche Verwandten aufgewachsen, im Kreise vertrauter Frauen viel wohler fühlte als inmitten von Männern, deren stets immer erst zu sublimierender Begattungstrieb sie erheblich ängstigte, war ihr bald bewußt geworden, daß sie, es war eine ganz nüchterne Wahrscheinlichkeitsrechnung, den gesuchten Mäzen nur in der Form eines Mannes und über leibliche Gegenleistungen würde gewinnen können. Weil die höheren Positionen, die Pfründen und die Sinekuren in Bundesdeutschland, das wußte sie natürlich, nahezu ausschließlich von Männern in Anspruch genommen und verwaltet wurden und ihr mangels ausreichender Begabung Karrieren im Showgeschäft, aber auch auf der Bühne und im Literaturbetrieb vermutlich verwehrt waren, es darüber hinaus auch nichts Wesentliches zu ererben gab, blieb ihr nur, sich anzukoppeln an jemanden, der ihr das gelobte Land verfügbar machen konnte, sich selber dafür eintauschend, ohne sich dabei aber zu verlieren. Aus amerikanischen Büchern, Die Clique etwa, aber auch aus deutschen Fernsehproduktionen erfuhr sie, wie ein Mädchen der oberen Mittel- und der Oberschicht beschaffen sein mußte, um für die Unternehmersöhne und die Jungmanager von ausreichendem Gebrauchswerte zu sein, und sie baute dies alles mit ziemlicher Akribie in ihren Lebensplan ein. Tennis natürlich, ein wenig Ballett und Mannequinschule, auch Schauspielunterricht und das Besingen einer kleinen Schallplatte, an alles ward gedacht, selbstverständlich auch an fremde Sprachen, bis hin zum Spanischen. Und da ihr die Natur auch genügend körperliche Attraktivität gegeben hatte, war sie am Ziel, ehe sie auf die Dreißig zuging. Er hieß Konrad Diehm, handelte mit Lederwaren aller Art, en gros natürlich, und wurde, da er am Telefon seinen Namen oft nur nuschelnd hervorstieß, von allen liebevoll nur Conradin genannt. Conradins Gründe, Armgard zu heiraten und damit – alle Vorfahren als mögliche Anspruchsberechtigte waren schon lange aus dieser
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Welt gegangen – zur Alleinerbin zu machen, schienen uns allen nicht ganz verständlich, aber bei Lichte besehen bleibt es ja bei jedem Paare ein wenig rätselhaft, warum die beiden glauben, gerade mit diesem Partner und mit keinem anderen den Sprung zur höheren Lebensqualität zu schaffen, die sich ergeben soll, wenn und falls ihre Körper und ihre Seelen miteinander verschmelzen. Conradin, direkt befragt und wissend, daß dieser kosmischen Programmierung, sich einmal paaren zu müssen, wie im Einzelfall auch immer, kaum zu entrinnen ist, hätte denn auch ganz lakonisch geantwortet: »Is ja langsam auch mal Zeit geworden…« Und warum nun gerade Armgard? Viel lieber als Geschäftsmann, dazu hatte ihn der Vater gezwungen, wäre er, phantasievoll wie er war, seine Exkursionen nach Indien beweisen das, wohl Buchhändler oder gar Verleger geworden, und der damals verdrängte Teil seines Wesens brach nun offenbar wieder hervor in dem Gedanken, einmal einen Sohn zu haben, der diesen Wunschtraum in Leben umsetzen konnte – wozu eine Mutter wie Armgard die besten Voraussetzungen zu bieten schien. Einfach in allem, so mußte er glauben, war sie als Idealbesetzung für jene Rollen anzusehen, die auf seiner Bühne für sie vorgesehen waren. Sogar bettmäßig, wie er das ausdrückte, gefiel sie ihm über alle Maßen. Da sie ihre Faszination auch dem fortwährend erzeugten Hauch der Unnahbarkeit verdankte, ihrer aufreizenden Schläfrigkeit, hatte er hier eher Frigidität und Einfallslosigkeit vermutet, war aber in der Probenacht aufs angenehmste überrascht worden, hatte sie sogar in Anbetracht seiner chronischen Herzrhythmusstörungen auf eine weitere Gelegenheit vertrösten müssen (auch dies war ein wichtiger Punkt in Armgards Vorbereitungsprogramm gewesen). Erst als er die entscheidende Unterschrift vollzogen hatte, mochte Conradin Anflugsweise der Gedanke gekommen sein, von Armgard vornehmlich als Instrument gesehen zu werden; immerhin war er schon einundfünfzig Jahre alt, und das Grundstück in Berlin, mitsamt der vielzimmrigen Villa, die schon mehr ein Herrensitz war, mochte seine anderthalb Millionen Mark wert sein, von seiner Fabrik in Indien und den anderen Vermögenswerten nicht einmal zu reden.
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Doch Armgard, so ließ er immer wieder hören, wäre ihm jeden Preis wert gewesen, denn – den weiteren Text summte er als Schlager – »das kann das Leben nur einmal geben…« Zwei Tage später, auf den Klippen von Cornwall, war es dann auch zum entscheidenden Dialog zwischen ihnen gekommen. »Liebst du mich wirklich?« »Wirklich und hundertprozentig…« »Hundertprozentig, Armgard, das heißt: du würdest mir augenblicklich hinterherspringen, wenn ich jetzt hier in die Tiefe stürzte…?« »Ja, würde ich!« Damit war für ihn klar, daß das, was sie verband, durchaus die Bezeichnung Liebe verdiente, und das stimmte ihn glücklich. Seine vormaligen Befürchtungen hatten sich, das stand nun fest, als absolut gegenstandslos erwiesen. Es wurde eine große Feier, und Armgard hatte allen Grund dazu, denn Conradins Vermögen garantierte ihr, sofern keine Weltkatastrophe dazwischenkam, lebenslang das, was sie immer erträumt und begehrt hatte: Muße und Menschen; Menschen, die um sie kreisten. Ihr Salon war gesichert, und er, zentral wie er ist, bedarf noch einiger erläuternder Zeilen mehr, bevor mit der Schilderung aller weiteren Ereignisse fortgefahren werden kann. Schon lange vor der Conradin-Zeit hatte Armgard begonnen, einen Kreis ihr ergebener Menschen um sich zu scharen, zuerst in ihrem kaum mehr als zwölf Quadratmeter messenden Jungmädchenzimmer, um dann, nach dem Tode ihrer Mutter, deren ganze Neubauwohnung für diesen Zweck zu nutzen. Zwar war die Fahrt ins Märkische Viertel, der größten der Berliner Trabantenstädte, nördlich vom Zentrum gelegen, recht zeitaufwendig, insbesondere für diejenigen, die keinerlei Fahrzeug besaßen, doch Armgard brauchte über mangelnden Zulauf dennoch nicht zu klagen. Wenn sie einen jeden von uns, kaum daß wir beim Kaffee saßen, mitfühlend danach fragte, wie es ihm denn gehe, dann hatte das allein schon eine ungemein heilsame Wirkung. In unnachahmlicher Weise verbanden sich bei ihr die Kräfte und die Attitüden von Menschen und Berufen, die uns das Überleben erst ermöglichen, indem
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sie unsere Psyche entlasten und gesunden lassen. Sie war Madonna und Ärztin zugleich, Seelsorgerin und Psychotherapeutin, Geliebte und Mutter – und konnte dies alles zusammenhalten durch die seltene Gabe, noch so richtig im alten Stile plaudern zu können. Was sie wahrhaft auszeichnete, eben, das war die Fähigkeit zur Causerie, wie Fontane das nannte, mit wenigen Worten eine anheimelnde Atmosphäre zu schaffen und zu erreichen, daß die Menschen wieder zur Ruhe kamen. Man vergaß die Zeit bei ihr, sein eigenes Leiden; eingefangen und verzaubert von ihrer Kunst, Kleinigkeiten, ja Nichtigkeiten zu Mysterien werden zu lassen. Die Binsenweisheit, daß jeder Mensch eine einmalige und wunderbare Schöpfung des Kosmos sei, verstand sie umzusetzen in ein spezielles, fast Euphorie zu nennendes Lebensgefühl, das die Niedergedrückten wieder aufrichtete, in Überlebenskraft. Gelang es, und dies Beispiel soll für viele stehen, dem Kinde einer Freundin etwa, nach längerem Bemühen seinen ersten Buchstaben zu schreiben, so war das für Armgard nicht das ganz Normale und, da ja schon milliardenfach vorher geschehen, eine sehr gewöhnlich-routinehafte Sache, sondern ein Ereignis von einmaliger Bedeutung und Größe, das es gebührend zu bejubeln galt. Das tat sie dann fast in der Manier einer Missionarsgattin, die vor den aufgereihten Heidenkindern leuchtenden Auges ausruft: »Euch ist der Heiland geboren!« Auch wenn das alles durchschaubar war in seiner Machart wie in seiner Funktion, so war es genau das, was Armgards Salon so anziehend machte. Hier wurde ein trüber Tag nicht bejammert, sondern als willkommene Gelegenheit begrüßt, viele Kerzen zu entzünden und sich an ihrem Glanze zu erfreuen, das Eis wieder abzuschmelzen, mit dem wir alle überzogen waren; es war ja Eiszeit draußen. So war es nur logisch, daß sich um Armgard herum in den ersten Phasen ihres Salons ausschließlich Männer und Frauen versammelten, jeden Alters übrigens, die irgendwie gehandicapt waren, im Leben zu kurz gekommen, so oder so Behinderte oder Gescheiterte. Da war zunächst Berthold, von Anfang an als Rechtsberater und organisatorischer Großmeister der Gruppe fungierend, ein Pianist und Musikwissenschaftler, der bei einem Unfall in der Berliner UBahn, bei Abfahrt des Zuges von den selbsttätig schließenden Türen
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eingeklemmt und bis in den beginnenden Tunnel mitgeschleift, den linken Arm verloren hatte und nun an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege mit dem Ziel studierte, Beamter der allgemeinen nichttechnischen Verwaltung zu werden. Dann Timon, der trotz seiner nunmehr zweiunddreißig Lebensjahre noch immer bei seiner Mutter, seinem Mütterlein, wohnte, jungenhaft wie eh und je, im wohl schon zwanzigsten Semester Germanistik studierte und Monat für Monat Gedichte, Hörspiele, Kurzgeschichten und ähnliches schrieb, dafür zwar niemals einen Abnehmer fand, sich aber über seine vielen kleinen Niederlagen stets mit Armgards Argument hinwegtröstete, dies alles seien ja nur Fingerübungen für seinen großen Berliner Familienroman, Die Familie Bulgrin, dessen Aufriß allein schon ein Ereignis sei. Vom Dienstalter her der dritte war Roderich, ein Frührentner mit einem Herzklappenfehler, der als Medizinstudent begonnen hatte, dann, weil der lange Weg zum Gynäkologen zu aufreibend für ihn geworden war, einen Platz in der Hauptverwaltung der Berliner Verkehrsbetriebe gesucht und gefunden hatte, um jetzt voll und ganz seinen Neigungen zu leben, und die hießen Kunst und Kunstgeschichte, einschließlich eigener Malversuche. Dann kam Ruth, Armgards hochbegabte und geheimnisvollverschlossene Cousine, etwa im gleichen Alter wie sie, inzwischen Psychologin geworden, nicht zuletzt auch, um ihre eigenen Neurosen besser begreifen zu können, und nun, nach einer Zusatzausbildung in klinischer Psychologie, die Fachzeitschriften mit originären Vorstellungen über eine neue und ganzheitliche Therapie füllend; doch nirgendwo wollte sich eine adäquate Stelle für sie finden lassen. Zu guter Letzt darf ich mich selber nennen, nicht ohne zu erklären, daß ich nach der Veröffentlichung meiner ersten Kriminalromane nur deshalb in Armgards Kreise verbleiben durfte, weil in ihrem Verständnis, und in dem der anderen auch, ein Krimischreiber kein richtiger Schriftsteller war, kein Literat, dem dann auch die Hochachtung aller gegolten hätte, sondern lediglich jemand, der auf dem Wege, ein solcher zu werden, tief im Trivialen steckengeblieben war. Ohne Zweifel hielt sich Armgard ihren Salon aber auch, wenn nicht sogar vornehmlich, aus einem nicht eben altruistisch zu nennenden
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Grunde: nämlich um Macht über andere Menschen auszuüben, wie ja jede Hilfeleistung und jede Wohltätigkeit zugleich immer auch eine Demonstration der eigenen Überlegenheit dem Schwächeren gegenüber ist, dem Empfangenden. Da hatte sie einen Mikrokosmos, in dem sie königinnengleich herrschen konnte, bewundert wurde und verehrt. Hatte einer ihrer Dauergäste entgegen jeder Vorhersage doch einmal beruflichen Erfolg oder schaffte es, die Gründung einer eigenen Familie zuwege zu bringen, so konnte er sich fortan als ausgeschlossen betrachten. Armgards Macht über Menschen, Armgards Magie wirkte nur bei denen, die da, das läßt sich mit den Worten der Bibel am besten sagen, mühselig und beladen waren; bei allen anderen, da versagte sie. Selbstverständlich waren ihr, seit sie Conradin kannte, nach und nach auch andere Zirkel zugewachsen, sich ebenso aus der neuen Nachbarschaft, der Villenkolonie Grunewald, rekrutierend wie aus den Reihen der wichtigsten Geschäftsfreunde ihres Verlobten und späteren Ehemannes, doch Armgard legte großen Wert darauf, daß auch der alte Kreis zusammenblieb, jetzt erst recht, wo es ihr gelungen war, den lang erträumten Thron zu besteigen. So waren wir fünf vom Ur-Salon, wie übrigens an jedem Samstagabend, auch knappe vierzehn Tage nach Conradins Beisetzung wieder auf dem Wege zum Johannaplatz, Berlin-Grunewald, diesmal in Ruths altgedientem Käfer anreisend. Conradins Villa, ein reich gegliedertes Werksteinhaus im Stile der deutschen Renaissance, reichte mit seinem langgestreckten Garten noch hinunter bis zum Herthasee. Hier war der Ort, wo Geschäftsleute und Industrielle von höchstem Karat sich angesiedelt hatten, um die Lücken zu schließen, von denen nach dem Ausfall des Adels die deutsche Elite gekennzeichnet war, im Berliner Raum zumindest. Da Armgard uns in einem Raume empfing, der der Gemäldegalerie im Stadthause van der Straatens bis ins letzte Detail hinein nachgestaltet worden war, darf ich, ehe meine eigene Feder sich vergeblich müht, seine Atmosphäre angemessen einzufangen, gleich aus Fontanes L’Adultera zitieren, seinem ersten großen Gesellschaftsroman: »Jeder der Eintretenden war an dieser Stelle zu Haus und hatte keine
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Veranlassung mehr zum Staunen und Bewundern. Wer aber zum ersten Male hier eintrat, der wurde sicherlich durch eine Schönheit überrascht, die gerade darin ihren Grund hatte, daß der als Speisesaal dienende Raum kein eigentlicher Speisesaal war. Ein reichgegliederter Kronleuchter von französischer Bronze warf seine Lichter auf eine von guter italienischer Hand herrührende, prächtig eingerahmte Kopie der Veronesischen ›Hochzeit zu Cana‹, die von Uneingeweihten auch wohl ohne weiteres für das Original genommen wurde, während daneben zwei Stilleben in fast noch größeren und reicheren Barockrahmen hingen. Es waren, von einiger vegetabilischer Zutat abgesehen, Hummer, Lachs und blaue Makrelen, über deren absolute Naturwahrheit sich van der Straaten in der ein für allemal gemünzten Bewunderungsformel ausließ, ›es werd ihm, als ob er Taschentuchlos über den Cöllnischen Fischmarkt gehe‹. Nach hinten zu stand das Büffet, und daneben war die Tür, die mit der im Erdgeschoß gelegenen Küche bequeme Verbindung hielt.« An diesem verregneten Juliabend, dessen niedrige Temperaturen ein längeres Verweilen im Garten kaum zuließen, nicht einmal unter der überdachten Terrasse, waren neben uns fünfen noch drei andere Gäste geladen, von denen die beiden älteren dieser Soiree ein geradezu exotisches Gepräge gaben. Herr Chatterjee und Herr Maljumdar, beide, wie aus ihren Namen unschwer zu schließen, aus dem fernen Indien stammend, waren Conradin seit langem als schätzenswert zuverlässige Geschäftspartner eng verbunden gewesen, ersterer als Leiter des kleinen Betriebes in Ajanta, im indischen Bundesstaate Mahar Ashtra, an die vierhundert Kilometer von Bombay entfernt, und letzterer als Einkäufer der Ambo-Export-Import, deren Aufgabe darin bestand, von billigen indischen Arbeitskräften Schuhoberteile nähen zu lassen und diese dann nach Deutschland zu verbringen, wo sie in den entsprechenden Fabriken nur noch mit Absätzen und Sohlen versehen und in den Vertrieb gegeben wurden. Auch der hiesige Prokurist des Conradinschen Unternehmens war heute zugegen, ein gewisser Herr Gerstenberger, der, was sich nun für Armgard als wahrer Segen erweisen sollte, in seiner Profession sehr kompetent und tüchtig war und auch mit seinen pointenreichen Erzählungen über
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große und kleine Eisenbahnen, seinem einzigen Freizeitvergnügen, durchaus zu gefallen wußte. So begann er auch, als wir eben Platz nehmen wollten, den Abend mit einer diesbezüglichen Entschuldigung zu eröffnen, nämlich der, nicht im eigenen Mercedes und dadurch leider ein wenig nach der Zeit gekommen zu sein, sondern, wie sich das bei seinem jetzigen Wohnsitz Frohnau ja geradezu aufgedrängt habe, mit der S-Bahn, einem Genuß für nur einhundertachtzig Pfennige, der auf der ganzen Welt seinesgleichen suche; und zwar sei er bis zum exterritorialen Bahnhof Friedrichstraße, DDR-Gebiet ja schon, mit einem alten Halbzug der Baureihe 275 gefahren, dem allbekannten »Stadtbahnwagen« mit seinen wundervollen Nietenreihen, und dann mit einem sogenannten »Olympiazug« der Baureihe 276 bis hin zur Station Charlottenburg, um sich dort einer Taxe anzuvertrauen. »Nun, sicher ist das ein Erlebnis«, sagte Berthold, »die schönste Museumsbahn, die man sich nur denken kann. Wie sie bei ihrer seltsam singenden Fahrt auf märkischem Sand, auf Viadukten und unter der Erde, wie sie da Deutschlands Geschichte vor uns Revue passieren läßt, vom Glanze des Kaiserreichs bis zum Elend hin, das die Nationalsozialisten uns allen hinterlassen haben, die deutschdeutsche Teilung allem voran, das ist schon in höchstem Maße bewegend; der preisgekrönte Film von Alfred Behrens beweist das ja am besten, dieser unsagbare Reiz des Verfalls; anzuschauen, wohin jeder Größenwahn führt, die Kriegslust: Gras über den Ruinen Berlins; aber immer noch nicht und Gott sei Dank Karthago.« »S-Bahn – für mich sind das eher Kindheitserinnerungen«, sagte Armgard, »Fahrten ins Grüne, Fahrten zu Verwandten; die Züge übervoll von dampfenden Menschenleibern, wenn draußen mal der Regen fiel…« »Ich kann mich noch erinnern«, sagte Timon, »da war ich keine zehn Jahre alt, als wir eine geerbte Nähmaschine – Hedwig, hieß die Tante: Hedwig, deine Nähmaschine näht nicht! –, als wir eine ererbte Nähmaschine aus dem Osten zu uns nach Berlin-West hinüberschaffen wollten, ein wunderschönes Stück, so ganz die alte Gußeisenform der Firma Singer, wißt ihr, aber keine offizielle Erlaubnis dazu bekommen konnten. Da haben wir dann die dickste Kette genom-
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men, die wir auftreiben konnten, und die Maschine in Ost-Berlin auf einem der dortigen Ringbahnhöfe, Leninallee wohl, schnell in den haltenden Zug gehoben und kunstvoll an einem der sehr stabilen Sitze befestigt, am Fuße unten. Bei der Kontrolle auf dem Bahnhof Treptow dann, östlicherseits, versteht sich, rüttelten und rissen die Uniformierten dann, ganz außer sich, an dieser Riesenkette, ohne aber eine Chance zu haben, sie zu sprengen oder gar jene Sitzbank aus ihrer Verankerung zu reißen. Auf die wiederholt und immer lauter gestellte Frage, wem dieses Dings denn eigentlich gehöre, gaben wir, zumal das alles immer bedrohlicher zu klingen begann, natürlich keinerlei Antwort, starrten nur völlig desinteressiert auf die Spree hinunter, wie übrigens alle Passagiere dieses Waggons. Wie sollten die armen Grenzorganisationsangehörigen, ich frage euch, ich frage Sie, in der Eile nun entscheiden? Den damals noch sehr dichten Zugverkehr nachhaltig stören, den Nähmaschinenzug gar aufs Abstellgleis beordern, bis eine Eisensäge herangeschafft war – oder uns mit dem ererbten Stück, sozialistischem Volkseigentum also und damit Diebesgut im streng rechtlichen Sinne, schrecklicher Gedanke, einfach so entkommen lassen? Nun, nach vielem Hin und Her durfte unsre brave S-Bahn dann, nicht zuletzt deswegen auch, weil der Fahrer vorne schon zorniges Signalgetute hören ließ, in den Westen weiterrollen.« Während auch die anderen, mit Ausnahme der beiden Inder natürlich, vergnüglichste S-Bahn-Geschichten vortrugen und beredt für den Erhalt dieser Institution eintraten, die uns allen so ans Herz gewachsen war, ließen wir uns bereits schmecken, was Armgard alles an Delikatessen aus dem KaDeWe hatte kommen lassen, Taubeneier unter anderem, geräucherte Forelle, Kaviar, Lachs und diverse Salate, doch das Thema, das dann nach den S-Bahn-Episoden unsere weitere Unterhaltung beherrschte, war weniger dazu angetan, das übliche Wohlbehagen aufkommen zu lassen – ganz im Gegenteil. Ruth hatte, gleich nach dem Aperitif, es war eigentlich kaum zu verzeihen, an Armgard die Frage gerichtet, ob die Kriminalbeamten noch einmal bei ihr gewesen seien, angetrieben vom verinnerlichten Mißtrauen ihres Berufsstandes und davon ausgehend, daß Millionäre unmöglich auch eines natürlichen Todes sterben könnten.
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Armgard ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Ja, es spukt da, als Folge ihrer deformation professionelle wohl, du sagtest es, ein sehr häßlicher Gedanke in ihren beamteten Köpfen: ich hätte Conradin unter Wasser gedrückt, bis er…« »Das ist doch…!« Timon begann sich zu erregen. »Das reicht ja schon bald für eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Die Herren vergessen mitunter, wen sie vor sich haben.« Berthold, schon werdender Beamter durch und durch, versuchte, die Sache anders zu sehen. »Sie tun nur ihre Pflicht: das Wissen, daß unsere Kriminalpolizei jeden Todesfall mit Akribie verfolgt und sich seine Ursachen offenzulegen alle Mühe gibt, ist doch sicherlich auch der allerbeste Schutz für uns alle, etwaigen Anschlägen auf unser eigenes Leben zuvorzukommen.« Roderich und Herr Chatterjee stimmten ihm zu, während Herr Maljumdar vom Übereifer der deutschen Polizei weniger angetan war, und Ruth zu bedenken gab, daß zwar, so Lenins oft zitierter Satz, Vertrauen gut, Kontrolle jedoch besser sei, dies schon, aber nur in einem Untertanenstaate, in dem jeder Bürger nichts weiter sei als ein potentieller Abweichler und Verbrecher, den man wegen permanenter Normenverstöße eigentlich in jeder Sekunde überführen könne, wenn man nur wolle. Arragard stand auf, schritt hinüber zur deckenhohen Bücherwand, die sich mit Hilfe einer kleinen hölzernen Leiter voll erobern ließ, und fand mit schnellem Griffe in Theodor Fontanes Gesamtwerk jene Stelle, wo er in seinem Gedichte Fester Befehl zu diesem Thema Stellung nahm: Und das Klügste, das Beste, Bequemste, Das auch freien Seelen weitaus Genehmste, Heißt doch schließlich, ich hab’s nicht Hehl: Festes Gesetz und fester Befehl. »Da triffst du’s freilich!« lachte Ruth, und die Eingeweihten wußten, daß sie diesen Ausruf aus Quitt entliehen hatte, Fontanes zwischen Schlesien und den USA pendelnder Kriminalerzählung, wo eine andere Ruth dies sagt, eine gewisse Ruth Kaulbars aus der Mennoni-
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tensiedlung Nogat-Ehre. Es war eine ihrer stehenden Redensarten geworden. Armgard, die entsprechende Passage ward im Handumdrehen gefunden, fiel, merkwürdig vom Übermute getragen, alsbald mit ein: »Du bist so still, Ruth. Hast du mir nichts zu sagen?« Dann aber stockte sie plötzlich, jäh errötend. »Nur weiter!« rief Timon und griff ihr, als sie den fraglichen Band mit schneller Drehung an seinen angestammten Platz zurückstellen wollte, ans Handgelenk. »Gib her und laß mich weiterlesen!« Armgard suchte ihn nach Kräften zu hindern. »Nein!« Nach kurzem Ringen, so was hatte in diesem Kreise bis heute als völlig undenkbar gegolten, gelang es Timon dann doch, auch die nächstfolgenden Zeilen zu lesen, die erste dabei noch einmal ins Bewußtsein rufend. »Du bist so still, Ruth. Hast du mir nichts zu sagen?« »Nein. Oder doch nur das eine, das du längst weißt, daß ich glücklich bin und dich liebe.« »Und bist du glücklich?« »Ja.« Berthold lachte. »Honi soit qui mal y pense! Gemeint ist doch nur der Lehnert beziehungsweise Lionheart Menz aus Wolfshau bei Krummhübel in Schlesien, kein anderer.« Dieser Einwurf nun, weil er so überflüssig war, ließ unsere Gedanken erst recht in eine Richtung wandern, die bislang wohl niemand so recht im Auge gehabt hatte. Ruth nämlich galt als vortreffliche Schwimmerin, ja hatte es sogar gelernt, mit Hilfe von Sauerstoffflaschen professionell zu tauchen, so daß Conradins plötzliches Verschwinden im grün blühenden Havelgewässer von daher durchaus eine andere Deutung erfahren konnte, nahm man die Beziehung zwischen Ruth und Armgard als so eng-erotisch an, wie es eben angeklungen war. Timon, höchst erschrocken, suchte abzuwiegeln. »Es ist beängstigend: jeder Deutsche schon ein Kriminalbeamter und immer auf der Jagd«, sagte er, sich mit einer knapp angedeuteten Verbeugung bei Armgard und Ruth entschuldigend.
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»Gleichviel«, sagte ich, bemüht, dem Gespräch seine alte Leichtigkeit zurückzugeben, »mir ist die Kripo sehr ans Herz gewachsen, wie ich ja generell jedes déviante und delinquente Verhalten eigentlich hochschätzen müßte, denn ohne dem wären ja Kriminalromane platterdings nicht möglich.« »Und noch weiter«, auch Berthold wollte weg vom kritischen Punkt, »ganze Berufsgruppen wären ohne permanent begangene Verbrechen und Vergehen ja gänzlich arbeitslos und überflüssig: Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Justizvollzugsbeamte – Hunderttausende an der Zahl!« Armgard dankte ihm dafür, nicht als willkommene Ablenkung vom möglicherweise Wesentlichen, sondern, so sagte sie im alten Plaudertone wieder, für die Darbietung einer einmal anders gewendeten Weltsicht, dankte ihm mit einem erhobenen Glase. »Zum Wohle! Wäre also allen denen herzlich zu danken, die uns auf ihre ganz spezielle Art und Weise die knappen Arbeitsplätze sichern helfen, ja, vielleicht empfiehlt es sich sogar, einen Teil unserer Arbeitslosen so zu schulen, daß sie bestimmte Verbrechen begehen – namentlich solche natürlich, die ohne Vernichtung von Hab und Gut und ohne Verlust von Menschenleben einen größtmöglichen Einsatz von Polizisten et cetera nötig machen; darüber wäre einmal nachzudenken, vielleicht vom Aspen-Institut oder dem Wissenschaftszentrum, damit mir endlich nun einginge, wozu diese denn recht eigentlich von Nutzen sind.« »Das bedarf doch wohl keiner besonderen Schulung«, ergänzte beziehungsweise widersprach ich, »das geschieht doch alles schon von selbst, und die neue Bundesregierung wird es noch nach Kräften fördern.« »Das sind eben die berühmten Selbststeuerungsmechanismen einer gesunden Gesellschaft«, fügte Timon hinzu. Worauf sich Ruth wie auch Herr Gerstenberger vehement gegen den Verlauf wandten, den unser Gespräch mit diesen ebenso wahren wie zynischen und satirischen Beiträgen in den letzten Minuten unmerklich genommen hatte. Ruth wohl aus dem Streben und Hoffen heraus, daß die Welt doch noch reparabel sei, und uns beschuldigend, mit jener heiteren Dekadenz, wie wir sie an den Tag gelegt
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hätten, nichts anderes zu tun, als den Totengräbern aller Reformen behende Schützenhilfe zu leisten; Gerstenberger hingegen verspürte ein hohes Maß an Unbehagen, weil man seiner Meinung nach mit diesen Dingen einfach nicht spaßte, sie seien viel zu ernst dazu. Er war es dann auch, der unsere Erörterungen wieder zum konkreten Falle zurückführte, indem er mich fragte, ob sich denn Conradins »Untergang«, so wörtlich, nicht irgendwie für meine künftigen Romane ausschlachten ließe…? Ich überlegte vergleichsweise lange. Sicherlich nicht, wenn Armgards Aussage der Kriminalpolizei gegenüber die volle Wahrheit widerspiegelte. Danach hatte sie beim Schwimmen in der Havel, auf der Heckeshorner Seite, etwa zweihundert Meter vom Ufer entfernt und schon weit in der abendlichen Dämmerung, mit Conradin gewettet, daß sie bereits abfrottiert und wieder angezogen sei, ehe er den Strand überhaupt erreicht habe, so groß würde ihr Vorsprung werden. Er habe den Wettkampf begrüßt und sogar noch das Startzeichen gegeben, worauf sie dann losgekrault sei, ihn bald um viele Meter hinter sich lassend. Erst als sie schon wieder Boden unter den Füßen hatte, habe sie sich nach ihm umgedreht, und, als er nicht mehr zu erblicken gewesen sei, an einen Scherz von ihm geglaubt, an ein schnelles Wegtauchen, um sie zu irritieren, an eine Finte, sie zu einem Umweg zu verleiten. Erst allmählich, dann aber mit jähem Erschrecken, sei ihr der Gedanke gekommen, daß er, der ihr gegenüber bislang noch nie über ernst zu nehmende gesundheitliche Beschwerden Klage geführt habe, möglicherweise lautlos in der Havel versunken sein könnte. Die Ärzte hatten dann auch, als der Leichnam am nächsten Vormittag im Schilf an der Pfaueninsel geborgen und untersucht werden konnte, einen Herzschlag konstatiert. Alle Rettungsaktionen nach schneller Alarmierung von Polizei und Wasserwacht waren vergeblich gewesen; Armgard selbst war bis zur völligen Erschöpfung immer wieder getaucht, getragen von der Hoffnung, ihn doch noch zu finden. Das alles hatte sich zugetragen an einer Stelle der Havel, die sie ganz besonders liebte und genauestens kannte, nicht zuletzt deswegen, weil Fontane sie im dritten Bande seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg, im Teil Havelland nämlich, liebevoll-
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ausführlich beschrieben hatte, in Zeilen, die sie nahezu auswendig hersagen konnte: »Pfaueninsel! Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs; Papageien kreischen; Pfauen sitzen auf hoher Stange oder schlagen ein Rad; Volieren, Springbrunnen, überschattete Wiesen; Schlängelpfade, die überall hin führen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark.« Der Pfaueninsel gegenüber war Conradin gestorben, und war wirklich Absicht im Spiele gewesen, dann hätte Armgard ringsum keinen Platz finden können, der passender gewesen wäre. »Der Abend kommt, die Nebel steigen, die Kühle mahnt zur Rückfahrt, und unser Boot schiebt sich durch das Rohr hin und in die freie Wasserfläche hinaus. Hinter uns, die verschleierte Mondsichel über den Bäumen, versinkt das Eiland. Mehr eine Feen- als eine Pfaueninsel jetzt!« In einer solchen Stimmung war Conradin mit ihr hinausgeschwommen, ohne düstere Vorahnungen ganz sicher, und die Aussagen der Bootsfahrer, einige nur knappe hundert Meter entfernt, waren allesamt so geartet, daß sie Armgard nicht im allergeringsten belasteten; doch gut war die Sicht nicht mehr gewesen. »Und an deinen Ufern und an deinen Seen, Was, stille Havel, sahst all du geschehn?!« So bei Fontane nachzulesen, und so weit schien Armgard nun gewißlich keine Schuld zu treffen, zumal es ja, dies sei immer wieder unterstrichen, keinerlei Zeugen gab, die gesehen haben wollten, daß sie Conradins Kopf unter Wasser zu drücken versucht hatte; doch was war mit dieser Herausforderung zum Wettschwimmen? Sie hätte doch bedenken müssen, daß Conradin gerade erst am Abend zuvor aus dem fernen Indien zurückgekehrt war und die klimatische Umstellung für einen Mann seines Alters nicht eben einfach sein konnte.
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Und wie ich von Gerstenberger wußte, der am Vormittag ungeduldig ans Fenster ihres Schlafzimmers geklopft hatte, um unaufschiebbare geschäftliche Dinge zu besprechen, aber als voyeuristischer Störenfried abgewiesen worden war, hatte sie ihn trotz des langen Fluges im Bett nicht zur Ruhe kommen lassen. Folgte dann, vor dem tödlichen Badeausflug, ein Tag voller Termine und Streß, dabei auch ein Arbeitsessen im Kempinski mit viel Alkohol und Speisen, die den Magen noch stundenlang belasteten. Und sollte ihr Conradin wirklich verschwiegen haben, daß sein Internist beim letzten EKG doch recht besorgt gewesen war? Armgard wollte dies beschwören, und es läßt sich leicht bejahen, denn er war eitel und über alle Maßen bemüht, frisch und dynamisch zu wirken; aber auch mit Nachdruck verneinen, denn schließlich hatte er auch deswegen, vielleicht sogar vor allem, so spät noch geheiratet, um ständig umsorgt und bemuttert zu werden. Wer erinnert sich nicht an ein weiteres Fontane-Gedicht – Frühling –, das Timon in seiner Enttäuschung und schon angetrunken zur Hochzeit aufsagen wollte, von uns nur teilweise dran gehindert: Nun ist er endlich kommen doch In grünem Knospenschuh; »Er kam, er kam ja immer noch« Die Bäume nicken sichs zu. Sie konnten ihn all erwarten kaum, Nun treiben sie Schuß auf Schuß; Im Garten der alte Apfelbaum Er sträubt sich, aber er muß. Dies alles begleitet von einem Grinsen, das man schon als obszön bezeichnen mußte, aber wiederum auch nicht zu scharf verurteilen durfte, denn schließlich hatte Timon über zehn Jahre hinweg vergeblich um Armgard geworben.
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O schüttle ab den schweren Traum Und die lange Winterruh, Es wagt es der alte Apfelbaum, Herze, wags auch du. Conradin, im zweiundfünfzigsten Lebensjahre schon, aber der Sieger, hatte nur gelacht. Nicht lange, wie wir nun wissen, doch sicherlich war es kein juristisch faßbarer Tatbestand, den es da möglicherweise festzustellen galt, kein Mord und kein Totschlag, wie sie ihn im Strafgesetzbuch beschrieben hatten, doch Armgard wäre als Alleinerbin seines Vermögens viel weniger angreifbar gewesen, wenn Conradin etwa bei einem Flugzeugabsturz in Bombay ums Leben gekommen wäre. Gab sich Armgard an diesem Abend noch weithin unerschüttert, so sollte sich das alsbald entscheidend ändern. Nachdem wir sie über ein Jahrzehnt hinweg als allzeit beherrscht und souverän erlebt hatten, immer über den Dingen stehend, fast erhaben, waren wir nun doch außerordentlich verwundert über das hohe Maß an Leiden, das sie nach Conradins Tod erkennen ließ; so etwas hätten wir wohl von einer Mutter beim Verlust ihres einzigen Kindes erwartet, nicht aber von einer Frau, die nichts weiter zu ertragen hatte als das unbequeme Abbuchen eines männlichen Gebrauchsgegenstandes und dafür das gelobte Land ganz für sich allein gewann. Wie auch immer, Armgards Trauerreaktionen erschienen uns allen übertrieben, einfach unangemessen, wenn man den Entwurf ihres Lebensplans genauer kannte. Nicht nur, daß sie ständig seufzte und immer wieder zu weinen begann, sie sprach von nichts anderem mehr als von ihrem Conradin – kein Wort mehr von alldem, was sonst ihr Thema war: Kunst und Literatur, Tanz und Theater, Musik und Ballett; mit einer Ausnahme allerdings, Theodor Fontanes Causerien über Theater, die, neben der Mathilde Möhring den Band 14 der Nymphenburger Taschenbuch-Gesamtausgabe füllten. Nach einer kurzen Bemerkung Armgards, daß ihr »Lebenslenker«, wie sie mitunter selbstironisch meinte, auch als Theaterkritiker unübertroffen sei, fand ich dann per Zufall in einer ihrer Bücherlandschaften das besagte Werk mit einer von wilden Unterstreichungen markierten Passage, wo Fontane auf
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die Berliner Aufführung von Henrik Ibsens Gespenster eingeht, und die ich, ihrer eminenten Wichtigkeit willen, in ihren bedeutungsvollsten Teilen hier wiedergeben möchte: »Was will Ibsen? Es sind zwei Sätze, die, wenn ich sein Stück recht verstanden habe, von ihm wie Thesen an seine neue Wittenberger Schloßkirche geschlagen werden. Erste These: Wer sich verheiraten will, heirate nach Neigung, aber nicht nach Geld. Zweite These: Wer sich dennoch nach Geld verheiratet hat und seines Irrtums gewahr wird… beeile sich, seinen Fauxpas wiedergutzumachen, und wende sich, sobald ihm die Gelegenheit dazu wird, von dem Gegenstande seiner Mißverbindung ab und dem Gegenstande seiner Liebe zu. Bleiben diese Thesen unerfüllt, so haben wir eine hingeschleppte, jedem Glück und jeder Sittlichkeit hohnsprechende Ehe, darin im Laufe der Jahre nichts zu finden ist als Lüge, Degout und Kretinschaft der Bünder… So die Thesen, die das Ibsensche Drama, dessen Kunst und Technik ich rückhaltlos bewundere, zur Anschauung bringt. Sind diese Thesen richtig? Ich halte sie für falsch. Solange die Welt steht oder solange wir Aufzeichnungen haben über das Gebaren der Menschen in ihr, ist immer nach den ›Verhältnissen‹ und nur ausnahmsweise nach Liebe geheiratet worden. (…) …alles ist Pakt und Übereinkommen. ›Die Liebe findet sich‹, und wenn sie sich nicht findet, so schadet es nicht. (…) Beaconsfield, befragt, weshalb er nach Geld geheiratet habe, gab zur Antwort: ›Um Ruh und Friedens, also um Glückes willen‹, denn alle ›aus Liebe‹ geschlossenen Ehen habe er mit Tätlichkeiten oder Untreue enden sehen.« In Armgard also arbeitete es, tobten, so schläfrig-gelassen sie nach außen auch weiterhin wirkte, die heftigsten Stürme, und stundenlang konnte sie nun in ihrem Parke sitzen, auch nachts, wenn ihr, trotz niederdrückender Müdigkeit, der Schlaf wieder einmal versagt geblieben war, und hinausstarren auf den See, Anfälle von Gram erlei-
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dend. Ohne Appetit, unfähig zur Verrichtung gewohnter Arbeiten, mal von Obstipation, mal von sie würdelos machender Diarrhöe geplagt, von Atembeschwerden, Herzängsten und Kopfschmerzen heimgesucht, eben noch frierend und dann in der nächsten Sekunde schon wieder heftig schwitzend, litt sie von Tag zu Tag mehr und verfiel zusehends. So ging das über beinahe fünf Wochen hinweg, und wir waren uns einig darin, daß sie an Conradins Tod doch mehr Schuld zu tragen schien, als es die staatlichen Instanzen in ihren Archiven festgehalten hatten. Doch hinter den wahren Grund ihrer Zerrüttung kamen wir erst, als bei einer unserer Zusammenkünfte Mitte August Herr Gerstenberger beim Anzünden einer Kerze das Malheur hatte, diese umzustoßen und eine zufällig danebenliegende Zeitung kurz in Brand zu setzen. Kein Grund zur Panik, denn die Flammen waren schon im Handumdrehen wieder erstickt, und dennoch lief Armgard mit einem entsetzt-hysterischen Aufschrei in den Garten hinaus und warf sich, als würde sie selber lichterloh brennen, in den rotierenden Sprühstrahl eines ihrer Rasensprenger. Im Gespräch danach, als sie sich wieder gefangen hatte und bereit war, sich zu öffnen, erfuhren wir dann den wahren Grund ihrer plötzlichen Aufwallung wie ihres Leidens überhaupt. »Dies«, sagte sie, aus einem Schubfach einen Packen Conradinscher Briefe herausziehend und ihm ein einzelnes Schriftstück entnehmend, »habe ich unter Conradins Sachen gefunden – ein Brief ist es an Herrn Chatterjee, den er aber nicht mehr abschicken konnte. Bitte, lies ihn einmal vor…« Diese Aufforderung war an mich ergangen, und ich sah keinen Grund, ihr nicht Folge zu leisten, zumal es sich um Maschinenschrift handelte. Berlin, den 24. Juni 1982 Lieber Raman, leider habe ich Sie vor meinem Rückflug nach Deutschland im Natural in Bombay nicht mehr angetroffen; Sie waren schon nach Ajanta zurückgefahren.
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Ich hoffe sehr, daß die Arbeiter nun wieder ruhig geworden sind. Ich habe in Bombay bald einen Tag lang mit Sikander Srirangam verhandelt und bin dann schließlich nach Bezahlung einer ziemlich hohen »initiation fee«, wie sie das nennen, Mitglied seiner Anathapindika-Sekte geworden. Einerseits war ich dazu gezwungen, weil Srirangam und die AnathapindikaLeute unsere Arbeiter ja immer mehr kontrollieren und wir ohne ihr Wohlwollen unseren Betrieb gleich schließen könnten, zum anderen aber schätze ich einige ihrer alten Sitten und Bräuche sehr, zum Beispiel Sati, die Witwenverbrennung, die sie bei den hinterbliebenen Frauen ihrer Anhänger wieder einführen und durchsetzen wollen, sogar mit einer Art »Zwangsvollstreckung« im Weigerungsfalle seitens der Damen, denn für mich ist der Gedanke unerträglich, daß die Frau, die ich von ganzem Herzen liebe, einmal einem anderen angehören könnte und mich im nachhinein mit ihm betrügt – und daß sich diese beiden Ehebrecher dann mit meinem schwer verdienten Gelde ein schönes Leben machen, während mich die Würmer fressen. Sie kennen ja meine Devise: Wenn schon, denn schon! Das wäre das Wichtigste in aller Kürze. Das andere, was das rein Geschäftliche angeht, dann alsbald wie üblich per Telex. Mit herzlichen Grüßen aus Berlin Ihr Konrad Diehm »Das war’s«, sagte ich, den Brief wieder zusammenfaltend, in die bedrückende Stille hinein. Ruth war die erste, die zu einem Kommentar ansetzte, sehr spontan. »Witwenverbrennung, so’n Quatsch, das gibt’s doch gar nicht mehr?!« Es war ein Ausruf und eine Frage zugleich, da sie dabei Armgards indische Gäste ansah. »Doch«, antwortete Herr Maljumdar ohne zu zögern, »zwar ist die Witwenverbrennung von den Briten bereits 1829 verboten worden, aber wir müssen immer wieder registrieren, daß dieser alte Brauch entgegen allen einschlägigen Verboten auch im modernen Indien gelegentlich eine Wiederbelebung erfährt, propagiert und auch durchgesetzt von ultrakonservativen Gruppen, die hinterbliebene
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Frauen zwingen, sich lebend auf den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Mannes zu werfen.« Armgard schien bei diesen Worten in einen tranceähnlichen Zustand zu verfallen, begann, wächsern im Gesicht, zunehmend einer Statue zu gleichen. Herr Chatterjee beeilte sich, die Worte seines Landsmannes zu ergänzen. »Was den Satibrauch beziehungsweise den freiwilligen Opfertod der Witwen betrifft, so findet sich in der vedischen Literatur kein Hinweis darauf; auch die Grhya Sütras, die die wichtigsten Zeremonien des häuslichen Lebens beschreiben, berichten nichts darüber, und dennoch haben ihn einige Epochen unserer Geschichte hindurch die Angehörigen der fürstlichen Schicht eifrig praktiziert – und natürlich Nachahmer in der übrigen Bevölkerung gefunden, wie auch anders.« »That’s correct«, bestätigte Herr Maljumdar, »so erwähnt das Mahäbhärata einige Fälle von Sati: Mädri zum Beispiel opferte sich auf dem Scheiterhaufen ihres Gatten Pändu und die Frauen Vasudevas verbrannten sich zugleich mit der Leiche ihres Herren. Auch Visnusmrti empfiehlt die Witwenverbrennung; andererseits verwerfen sie so einflußreiche Männer wie Bäna, in seinem Kädambari, oder Madhätithi, ein Kommentator Manus…« »Scheint mir eine sehr ausgeprägte Form von Unterdrückung zu sein«, sagte Timon, »unfreier und rechtloser kann ja eine Frau kaum sein: ein bloßes Anhängsel des Mannes, bis über den Tod hinaus…« »So fremd, wie sich dies im ersten Augenblick darstellen mag, ist der Sati-Gedanke unserer eigenen Kultur nun auch wieder nicht«, sagte Berthold, »man denke nur an die Hexenverbrennungen des Mittelalters, von der ja auch bevorzugt die attraktivsten und von der Erotik her gefährlichsten unter den Frauen betroffen waren…« Dies wollte er als Kompliment Armgard gegenüber verstanden wissen, wie auch als Versuch, das Ganze ins Scherzhafte hinüberzuziehen, doch mit wenig Erfolg. »Weniger die hübschesten Frauen«, wandte Ruth ein, »sondern eher diejenigen, die das Patriarchat bedroht haben!« »Dies sicher auch«, sagte Timon, Armgard dabei anblickend, »aber wenn ihr es einmal weniger verbissen sehen wollt, worum ich euch
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herzlich bitten möchte, dann ist doch der Gedanke schon überaus faszinierend, der in dem Worte steckt Bis daß der Tod euch scheidet. Das Glück, nicht mehr allein und verloren zu sein, und der Trost, überallhin begleitet zu werden, auch auf dem letzten Gang, den wir alle gehen müssen… Ist es nicht ganz einfach schön, wie Hero, die Priesterin der Aphrodite in Sestos, sich ins Meer stürzt, als ihr Leander darin ertrinkt! Wie anders kann man sich höchste Liebe vollendeter vorstellen? Und ob nun Wasser oder Feuer, es bleiben die Urelemente…« Berthold bat uns, einmal zurückzudenken an Conradins Stimmung zu Zeiten seiner Flitterwochen, und zitierte dann den Ibykos, jenen Dichter, den wir bis dahin nur als Protagonisten bei Schiller in den Kranichen kennengelernt hatten: »Doch nie will die Liebesqual, sommers nicht, Winters nicht, schlafen in meinem Herzen. Flammend von Blitzen, dem Nordsturm gleich, Bricht sie herein, von der Göttin selbst, Von Aphrodite gesandt, ohne Züchtigkeit, Dörrend, verfinstert, voll Wahnsinn.« »Voll Wahnsinn«, wiederholte Berthold, »das könnte auch begreiflich machen, warum Conradin der Anathapindika-Sekte der von ihr praktizierten Witwenverbrennung wegen beigetreten ist. I’m married in a feaver…« »Ja, das Fieber«, sagte ich, »die Liebe, das Feuer, die Blitze, die Flammen – unser Conradin war wohl alles andere als der eiskaltalerte Geschäftsmann, als der er sich ausgab, da mag sich der eine oder andere in unserem Kreise hier – ich merke keinen Widerspruch! – doch wohl ganz entscheidend getäuscht haben. Ich weiß, daß er Goethe mochte, sehr sogar, und in einem seiner hinterlassenen Bücher fand ich – es muß ja nicht immer Fontane sein – folgendes Gedicht, Selige Sehnsucht, dick angestrichen:
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Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebendige will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du Schmetterling verbrannt. Soweit Goethe, und es scheint mir eindeutig genug, uns zu zeigen, daß Conradin durchaus in gewisser Affinität zum Sati-Gedanken gestanden haben dürfte.« Somit war das Thema, wie es Brauch war in Armgards Salon, hin zu kosmopolitischer Fülle ausgeweitet worden und zu poetischer Höhe und Überhöhung geführt, und Herr Chatterjee konnte zum Ausgangspunkte zurückkehren. »Nach alter hinduistischer Sitte durfte die Witwe nicht wieder heiraten, sondern mußte den Rest ihres Lebens mit geschorenem Haar trauernd und unter Bußübungen im Hause verbringen«, sagte er, »die Witwenverbrennung selbst darf nur als Extremfall angesehen werden.« »Und gerade Conradin sollte zu einem solchen Extrem geneigt haben?« gab Ruth zu bedenken. »Doch – hören Sie mal…!« Herr Gerstenberger, wie viele der Emporkömmlinge unter den leitenden Angestellten manchmal doch wieder in eine etwas ungehobelte Art zurückfallend und dann recht unsensibel gegenüber empfindsameren Menschen, eilte zum Plattenspieler, um Conradins Lieblingsschlager seiner letzten Lebenswoche aufzulegen, das Lied Felicita, zu dem anzumerken ist, daß dieses Wort am ehesten wohl mit Glückseligkeit zu übersetzen ist. Und so hörten wir dann, in der deutschen Fassung, alsbald die Strophe »…mit dir zu verbrennen, heißt felicita…« Während Berthold seiner Meinung Ausdruck gab, daß Conradin sehr wohl durch dieses Felicita auf seine im Briefe an Herrn Chatterjee geäußerten Gedanken gekommen sein könne, verließ Armgard lautlos den Raum, um sich in ihrem Schlafzimmer einzuschließen.
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Wir unterließen es, ihr zu folgen, sie sollte erst einmal aus eigener Kraft ihre Contenance zurückgewinnen, und diskutierten statt dessen über die von Conradin erwähnte Sekte, deren Namen auszusprechen uns allen, die beiden Inder selbstverständlich ausgenommen, erhebliche Mühe bereitete. Zwar wollte Herr Maljumdar nicht gewußt haben, daß die streikähnlichen Störungen des geregelten Betriebsablaufes in Atanja auf eine solche Sekte zurückzuführen waren, erläuterte uns dann aber doch, wo ihr Ursprung zu vermuten war. »Anathapindika war der Name eines reichen Kaufmannes, der dem Buddha das Jetavana-Kloster in Srävasti gestiftet hat, den Boden des Geländes dabei mit Goldstücken bedeckend. Es ist nicht auszuschließen, so meine ich, daß sich nun einige indische Kaufleute ultrakonservativen Denkens und mafiosen Zuschnitts unter diesem Namen zusammengeschlossen haben, um wohlhabenden ausländischen Geschäftsmännern Schutzgebühren abzupressen.« Herr Chatterjee ließ uns noch einige Aufklärung über die Ruinenstätte Saheth-Maheth zuteil werden, die siebzehn Kilometer von Balarämpur am Rapti-Fluß gelegen war, bezeichnenderweise also in einem Gebiete des Bundesstaates Uttarpradesh, in dem Conradin seine zweite indische Fertigungsstätte zu errichten geplant hatte. »Saheth-Maheth ist 1863 von Cunningham gefunden worden, und zwischen 1907 und 1911 hat man es ausgegraben, als einen der Mittelpunkte von Buddhas Erdenwandel. Im heutigen Maheth, dies sei hinzugefügt, liegt Srävasti, wo Buddha einige seiner berühmtesten Wunder vollbracht hat. Eines der Wunder war die Bekehrung des Räubers Angulimäla, als das Große Wunder von Srävasti aber gilt ein anderes: Während der Meditation schlugen aus Buddhas Schultern Flammen…« »Flammen, immer wieder Flammen!« stöhnte Timon. »Ich bitte um Themenwechsel, aber um sofortigen!« Auf meine für den Gesamtzusammenhang ja nicht ganz uninteressante Frage, ob denn das Kamasutram, das Conradin, wie jeder sehen konnte, in vielerlei Ausgaben richtiggehend gesammelt hatte, die Witwenverbrennung irgendwie abhandele, reagierte Herr Maljumdar nur mit einer knappen Verneinung, um dann nach kurzem Nachden-
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ken noch hinzuzufügen: »Doch, an einer Stelle ist von Flammen die Rede, die Geschichte heißt auch Ein Feuer zuviel, wo eine liebestolle Kaufmannsfrau eine Freundin dazu anstiftet, das Haus ihres Mannes in Brand zu stecken, um dessen Wächter dadurch abzulenken und sich in einem Tempel zu einem Stelldichein mit ihrem Geliebten treffen zu können; aber das ist ja ganz etwas anderes als bei uns hier…« Nachdem wir uns also solchermaßen über Indien und den Brauch der Witwenverbrennung kundig gemacht hatten, suchten wir Armgard, die inzwischen wieder, die eingenommenen Beruhigungsmittel waren von schneller Wirkung gewesen, in unserer Mitte Platz genommen hatte, mit einer Fülle rationaler Argumente zu trösten. »Wir sind doch hier in Deutschland und nicht in Indien«, betonte Timon, »und wir schreiben das Jahr eintausendneunhundertzweiundachtzig, und wenn Conradin da wirklich ein wenig schwarzen Humor entwickelt hat, so heißt das doch noch lange nicht, daß er auch einen Killer bezahlt hat, dich in Brand zu stecken…« Allen fiel es schwer, bei diesen Worten nicht die beiden Inder anzusehen, Herrn Maljumdar, Herrn Chatterjee, die schweigend ihren Tee umrührten und dann, die Sache eher noch peinlicher machend, wie aus einem Munde beteuerten, von besagter Anathapindika-Sekte noch nie zuvor etwas vernommen zu haben, geschweige denn, ihre Mitglieder oder gar Testamentsvollstrecker zu sein. Armgard sah auf den See hinaus. »Man kann, so heißt es, alles erreichen im Leben, man muß nur bezahlen dafür… Quod erat demonstrandum!« Interpretieren wir ihre Worte richtig, so war sie offensichtlich überzeugt davon, daß Conradin sehr wohl bemerkt hatte, wie er nichts weiter geworden war als bloßes Mittel zum Zweck, ein Vehikel, und wie er ihr, mit seinem Eintritt in die nicht anders als archaisch zu bezeichnende Sekte und seinem diesbezüglichen Briefe, das Leben als lustige Witwe gehörig hatte vergällen wollen, vielleicht sogar mit der Absicht, sie derart im Innersten ihrer Seele zu schrecken, daß sich ihr Sarg alsbald dem seinen hinzugesellen mußte. Nun, diese Rache eines alternden Mannes, der sich zum Werkzeug erniedrigt gefühlt hatte, nicht seinetwegen begehrt, sondern des ho-
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hen Lebensstandards, des Salons eben, den er ihr garantierte, sie war uns allen nur allzu verständlich, zumal wir Conradin seiner konziliant-kosmopolitischen Manier wegen außerordentlich gemocht hatten, und dennoch empfanden wir es als unsere selbstverständliche Pflicht, Armgard in ihrer Not und aus ihrer Not zu helfen, ihretwegen, und weil wir ihr alle vielerlei Dankbarkeiten schuldeten, sicherlich aber auch aus dem selbstbezogenen Gedanken heraus, mit ihr denn auch den Mittelpunkt unseres Lebens zu verlieren; die, die uns nährte mit Zuwendungen aller Art, das Objekt einer Anbetung, wie wir sie als das nötige Opium unseres Lebens eben brauchten. Was Roderich, Timon und Berthold betraf, so ließ sich darüber hinaus noch ein weiteres Motiv unschwer erkennen: ihre über Jahre hinweg ebenso gepflegte wie mehr oder minder beiseite gedrängte Hoffnung, Armgard doch noch für sich gewinnen zu können, als Kleinod und Trophäe gleichermaßen, als letzte und einzige Möglichkeit, auch dort Erfüllung zu finden, wo sie sich bislang, in Treue und den Gesetzen der Minne folgend, mönchische Askese auferlegt hatten, Sublimierung. Nun, da Armgard ja durch Conradins hinterlassene Ressourcen eine reiche Frau geworden war und bei der Auswahl ihres Mannes – oder: ihrer Männer – auch nach ganz anderen Gesichtspunkten verfahren konnte, sahen sie ihre Chancen erheblich steigen, und ihre Gesichter verformten sich zu Masken, denn einerseits waren sie frohen Mutes und mußten versuchen, Armgard von ihren tiefen Depressionen abzulenken, indem sie sich leicht und heiter gaben, doch andererseits war dieses Warten und Lauern, das nun einsetzte, auch denkbar überaus anstrengend und nervte sie sehr. Mögen also die Beweggründe jedes einzelnen von uns auch unterschiedlichster Art und allesamt sehr diffizil gewesen sein, es bleibt festzuhalten, daß wir mit hohem Zeitaufwand bis weit ins neue Jahr hinein Armgard zu therapieren versuchten, um ihrer Pyrophobie, wie Ruth ihre Krankheit fachkompetent bezeichnet hatte, langsam beizukommen, was sich aber als außerordentlich schwierig erweisen sollte, da Armgards Bindung an Conradin, allen vorherigen Annahmen zuwider, zumindest unterschwellig und unbewußt, doch eine sehr enge gewesen sein mußte, vielleicht auch erst nach seinem Tode von ihr als eine solche interpretiert und aufgewertet worden war. Vieles
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sprach ja dafür, daß sie in ihm auch und gerade den Vater gesehen hatte, den Vater, den sie zeit ihrer Kindheit und Jugend so schmerzlich hatte entbehren müssen. Gleichviel, als Folge der nun erlebten und erlittenen Situation des Alleinseins, gegen das auch ihr Salon nicht wahrhaft half, litt sie nun auch unter herzphobischen Entwicklungen, das heißt, unter permanenter Herzstillstandsangst. Gekoppelt mit ihrer Angst vor Feuer jeder Art, brachte das überaus qualvolle Tage und Nächte für sie. Es sah schlimm aus mit Armgard. Brennende Kerzen, aufflammende Streichhölzer oder Feuerzeuge, herauszischende Gasflammen, die züngelnden Grillkohlen auf der Terrasse draußen oder die lodernden Buchenscheite im Kamin drinnen – alles war dazu angetan, Schweißausbrüche bei ihr auszulösen, ein Zittern der Glieder, stoßweises Atmen und wahnsinniges Herzjagen. »Als die junge Frau in den Trümmern ihres Hauses gefunden wurde, war ihre Bauchwand so stark verbrannt, daß der Inhalt schon heraustrat. Die anderen Teile der Leiche waren geschrumpft und verkohlt, bis auf einige Stellen ihres Rückens, die nur wenig mit den Flammen in Berührung gekommen waren und so aufgeplatzt wirkten, als wären dem Opfer vorher noch Messerstiche beigebracht worden. In den zutage getretenen, teilweise pfenniggroßen Brandblasen wurden neben einer eiweißreichen Flüssigkeit auch Ansammlungen von weißen Blutkörperchen entdeckt, so daß die Kriminalpolizei bis jetzt davon ausgeht, daß die Brandeinwirkungen noch zu Lebzeiten des Opfers stattgefunden haben, was auch durch das Auffinden von Rußpartikeln in den Lungenbläschen bewiesen wird.« Wenn Armgard solche und ähnliche Berichte in den Zeitungen und Illustrierten las, war ein jedesmal der Notarzt herbeizurufen, um sie mit den entsprechenden Medikamenten im notwendigen Maße wieder ruhigzustellen. »Sie gibt sich«, sagte Ruth, »die Schuld an Conradins Tod; sein Tod ist die Aufdeckung ihrer inneren psychosomatischen Situation und ihrer latent vorhandenen Tötungsphantasien ihm gegenüber – sie hat ja wohl seinen Tod zumindest gewollt, gewollt, um das Leben
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führen zu können, das sie sich immer erträumt hat: absolut frei, nur sich selbst gehörend.« Armgard, darin bemitleidenswerter von Tag zu Tag, fühlte sich derart verfolgt von jeglichem Feuer, daß sie es mitunter nicht einmal mehr ertragen konnte, den Sonnenstrahlen ausgesetzt zu sein, den Boten des mächtigsten Feuers in unserer Nähe, und ihre Ausgänge auf wolkenreiche und verregnete Tage verlegte. Sogar der Gedanke, daß unter der vergleichsweise dünnen Kruste eine unvorstellbare Glut das ganze Erdinnere füllte, konnte sie entsetzlich erschrecken, und in ihren Alpträumen sah sie sich immer wieder durch einen endlos langen Schacht dort hinunterstürzen. Mit uns darüber zu sprechen, entlastete sie gewiß für Stunden, doch kaum wieder allein, kamen die Ungeheuer zurück, sie zu verschlingen. Sie begann, mit unsichtbaren Fäden an ihr völlig unbekannten Menschen zu hängen, und erlebte deren Schicksal, wenn sie bei Unfällen in Automobilen, Eisenbahnwaggons, Schiffen oder Flugzeugen verbrannten, in einer depressiv-symbiotischen Participation mystique derart heftig mit, daß ihr der Arzt dann wieder Diazepam enthaltende Mittel injizieren mußte, um ihren völligen Zusammenbruch zu verhindern, das heißt, psychische Zustände, die den sofortigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik notwendig gemacht hätten. Um ihren Schreckensbildern und ihrer Selbstfolterung zu entgehen, begann Armgard dann, übermäßig zu trinken, was wiederum neue Ängste erzeugte, so daß ihre Lage sich, derart rückgekoppelt, permanent verschlechterte. In ihrer vielräumigen Villa gab es ja eine ganze Reihe potentieller Brandherde – Gasrohre zogen sich überall entlang, alte elektrische Leitungen waren da mit dauernder Kurzschlußgefahr, und vielerlei Geräte aller Art, die jederzeit defekt werden konnten, implodierende Fernseher etwa –, und wenn sie es gar nicht mehr ertragen konnte, dann flüchtete sie sich in ihr kleines Ruderboot, so kalt es im beginnenden Frühling auch war, und fuhr auf den See hinaus, darauf vertrauend, daß Wasser die elementarste Gegenkraft des Feuers war. Kaum noch verließ sie ihr Grundstück, schon gar nicht im Auto, höchstens zu Fuß oder auf dem Fahrrade. Und ihres erträumten Lieblingsvergnügens, dem Ausritt zu Pferde, wie ihn viele ihrer Fontaneschen Vorbildsfiguren so über alles geschätzt oder doch wenigstens
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tagtäglich praktiziert hatten, man denke nur an Rex und Czako im Stechlin oder den flachbrüstigen Leopold in Frau Jenny Treibel, dieses Vergnügens nun mußte sie trotz der so nahen Reitwege vollends entraten, denn an jeder Weggabelung warnten ja flammentragende Schilder vor der furchtbaren Waldbrandgefahr, insbesondere in denjenigen Jagden des Grunewalds, in denen die Kiefernbestände vorherrschten. Sie wurde auch zunehmend menschenscheuer, denn jeder Besucher konnte ja einer sein, den Conradin vorab gedungen hatte und bezahlt, Feuer in ihr Haus zu tragen; je biedermännischer die Maske, desto wahrscheinlicher die Brandstifterfunktion, so fürchtete sie. Insbesondere die beiden indischen Geschäftsfreunde ihres Mannes, die uns ja wohlbekannten Herren Chatterjee und Maljumdar, durften sich bei ihr kein Stelldichein mehr geben, witterte sie in ihnen doch die berufensten Testamentsvollstrecker ihres indophilen Mannes; beide ganz sicher, obwohl, oder gerade weil sie dies so überaus dezidiert abgestritten hatten, heimliche Unterführer der Anathapindika-Sekte. Andererseits war ihr Alleinsein, insbesondere des Nachts, voller unsagbarer Schrecken, denn vor allem wenn sie schlief war sie ja den zu erwartenden Brandstiftern hilflos ausgeliefert. So entschieden wir auch, daß Ruth immer dann, wenn Armgards Zustand sich dramatisch verschlimmert hatte, als Brandwache bei ihr bleiben sollte. Als Cousine wie als Psychologin fiel ihr diese Aufgabe auch fast von selber zu, zumal sie ja als Frau, so schien es uns, nicht das bei Armgard induzieren konnte, was sich nun auch noch als eine Art Vergewaltigungsangst bei ihr herauszustellen begann, vielleicht eher aber eine Art Orgasmusangst, das heißt konkret, ihre Befürchtung, beim Liebesakt die Kraft ihres Herzens zu überfordern. Dies ließ es auch unmöglich werden, Bertholds gar nicht mal nur unernstem Vorschlage zu folgen, einer von uns männlichen Salonbesuchern – Timon, Roderich oder er – solle sie doch auf der Stelle heiraten und mit ihr die Ehe vollziehen, denn damit wäre sie ja logischerweise keine Witwe mehr und solchermaßen auch nicht verbrennungsbedroht. Als einmal nebenan in ihrer Villenkolonie ein Landhaus bis auf die Grundmauern niederbrannte und Armgard dies natürlich als eine Art
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letzter Warnung ansah, verschlimmerte sich ihr Zustand derart, daß wir sie in ein Krankenhaus einliefern mußten, und zwar gar nicht mal der üblichen Symptome wegen, ihrer Herz- und Kreislaufattacken, sondern weil sie davon zu reden begann, mit dem Flammenfreitod, dem jauhar, wie ihn früher die stolzen Rajputenfrauen praktiziert hatten, um der Gefangennahme durch Feinde zu entgehen, mit einem jauhar also den von Conradin ausgesandten Jägern ein Schnippchen zu schlagen. Das zweite Mal kam sie in eine Klinik, als sie nach der eher zufälligen Wiederholungslektüre eines ihrer weniger geliebten und beachteten Fontane-Romane zusammengebrochen war, nach dem Blättern in der altmärkischen Chronik der Grete Minde; als Grete gerade auf den Turm der Kirche Sankt Stephan gelaufen war: »Und nun trat sie rasch an die Schallöcher, die nach der Stadtseite hin lagen, und stieß die hölzernen Läden auf, die sofort vom Winde gefaßt und an die Wand gepreßt wurden. Ein Feuermeer unten die ganze Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden, und dazwischen ein Rennen und Schreien, und dann wieder die Stille des Todes. Und jetzt fielen einige der vom Winde herauf gewirbelten Feuerflocken auf das Schindeldach ihr zu Häupten nieder, und sie sah, wie sich vom Platz aus aller Blicke nach der Höhe des Turmes und nach ihr selber richteten. Unter denen aber, die hinaufwiesen, war auch Gerdt. Den hatte sie mit ihrer ganzen Seele gesucht, und jetzt packte sie seinen Knaben und hob ihn auf das Lukengebälk, daß er frei dastand und im Widerscheine des Feuers von unten her in aller Deutlichkeit gesehen werden konnte. Und Gerdt sah ihn wirklich und brach in die Knie und schrie um Hilfe, und alles um ihn her vergaß der eigenen Not und drängte dem Portal der Kirche zu. Aber ehe die vordersten es erreichten oder gar die Stufen der Wendeltreppe gewinnen konnten, stürzte die Schindeldecke prasselnd zusammen, und das Gebälk zerbrach, an dem die Glocken hingen, und alles ging niederwärts in die Tiefe.«
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Diese Geschehnisse alle waren auch für Ruth eine derart starke Belastung, daß sie für zwei Wochen mit einer Nervenlähmung, die rechte Gesichtshälfte war fratzenhaft verzerrt bei ihr und völlig unbeweglich, ihre Nachtwache aufgeben mußte. Zwei Nervenärzte, Kapazitäten, wie man uns sagte, wurden für Armgard verpflichtet, aber ihre Bemühungen versprachen höchstens längerfristige Erfolge. Da Armgard außer Ruth niemand anders über mehrere Stunden hinweg und insbesondere die Nacht hindurch in ihrem Hause duldete, und auch ihren inzwischen vielfach angeschafften Tieren – Hunde, Katzen, Sittiche – nicht vollkommen vertraute, was deren Warninstinkte anging, ließ sie sich von allen möglichen Firmen eine Reihe von Brandmeldern installieren, ohne aber ganz sicher zu sein, daß diese modernste Technik im Notfalle auch wirklich funktionierte. Zwei Tage vor Pfingsten, es ist in den Nächten noch ziemlich kühl, bekommt Armgard nun ihren neuesten Brandmelder, jetzt auch für den Heizungskeller, weil dort in Form von Öl, diversen Farben, Lösungsmitteln und dergleichen die Gefahren kumuliert eingelagert sind. Mißtrauisch gegenüber den Monteuren, auch sie könnten ja gekauft worden sein, sie gerade, will sie eine Probe machen und entzündet, sich gleichermaßen überwindend wie in qualvollem Genusse von der aufschießenden Flamme gebannt, das zu ertragen hatte sie in den beginnenden Therapiewochen bereits wieder gelernt, ein Streichholz und steigt auf einen alten Hocker, es direkt an das Gerät zu halten, das man ihr vor Stunden in die Decke eingelassen hatte. Vom plötzlichen Aufheulen des Alarmtons furchtbar erschreckt, verliert sie den Halt, stürzt von ihrem Schemel herunter und schlägt lang hin auf den steinernen Boden, dabei mit der Stirn auf den kantigen Ölbrenner prallend, und kann, für Augenblicke das Bewußtsein verlierend, nicht mehr verhindern, daß das nur langsam verglimmende Streichholz in einen offenen Behälter fällt, in dem sich Terpentinersatz befindet. Mit einer kleinen Explosion sprüht Feuerregen durch den Raum, setzt anderes in Brand, was leicht entzündlich ist, so auch ihr Kleid. Alle Melder heulen auf, doch so nah die nächste Feuerwache auch ist, eh die ersten Löschzüge herangerast sind und ihre Arbeit beginnen, sind Keller wie Parterre der Conradinschen Villa schon ein
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Raub der Flammen geworden. Bei den Aufräumungsarbeiten wird dann auch Armgards Leichnam entdeckt. Genauso ist es im Bericht des Brandmeisters wie auch in den meisten Tageszeitungen noch einmal nachzulesen, und an der Richtigkeit dieser Darstellung kann es meines Erachtens nicht den geringsten Zweifel geben. Alle Türen waren fest verriegelt und verschlossen, von einem möglichen Eindringling keine einzige Spur, und alle Personen, die an Armgards Tod irgendein Interesse gehabt haben konnten beziehungsweise als Conradins posthume Erfüllungsgehilfen auch nur in Frage gekommen wären, befanden sich zum fraglichen Zeitpunkt viele Kilometer vom Brandherd entfernt, wie Kriminaloberkommissar Mannhardt in seinen Protokollen nachdrücklich und unbezweifelbar betont. Unser Zentralgestirn war also erloschen, doch wir Planeten kreisten weiter auf gewohnter Bahn, mit einer Ausnahme allerdings: Ruth nämlich; die hatte in den Wochen nach Armgards Feuertod anderes zu tun als beim Tee zu sitzen und zu plaudern. Die vorgeschriebene Erbauseinandersetzung war schnell erledigt, ihr allein fiel alles zu, und sie machte sich mit aller Kraft ans Werk, die Conradinsche Villa zu dem werden zu lassen, was ihr schon so lange vorgeschwebt hatte, zu einer modern eingerichteten psychiatrischen Klinik, in der sich die von ihr erdachten Behandlungsmethoden in der Praxis erproben und fortentwickeln ließen, finanziert von der extra zu diesem Zwecke ins Leben gerufenen Armgard-Diehm-Stiftung, wozu nicht nur endlose Unterhandlungen mit den Behörden und den Baufirmen nötig waren, sondern auch schwierige finanztechnische Aktionen, um Conradins Vermögen weithin dort einzubringen und solchermaßen zu erhalten. Ruth also war entschuldigt, als wir uns an diesem Samstage, in Conradins Villa herrschten schon die Leute vom Bau, in meiner Wohnung trafen, Berthold also, Timon, Roderich und ich. Unsere Trauer um Armgard bekam, kaum daß sich ein jeder in seiner Polsterecke so richtig eingerichtet hatte, sehr schnell eine aggressive Wendung, als nämlich im beiläufig eingeschalteten Radio, auch noch in der deutschen Version, wieder einmal jener ominöse Schlager abgespielt wurde, dessen eine Zeile uns nun doch sehr zynisch anmuten mußte: …mit dir zu verbrennen, heißt felicita…
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»Wenn das also Conradins Rache war«, sagte Timon, »dann wäre das sozusagen der klassische Fall eines posthum ausgeführten psychischen Mordes, das Paradebeispiel eines psychogenen Todes…« »Mir alles wenig erklärlich«, bemerkte Roderich, »so daß ich den Herrn Kriminalschriftsteller um fachkundige Belehrung bitten möchte.« Glücklicherweise befanden wir uns ja bei mir zu Hause, und ein längerer Griff ins Regal genügte, das Heft 6/82 der Fachzeitschrift Kriminalistik zutage zu fördern und den Freunden mit Hilfe eines Artikels von Wolf Middendorff Erkenntniszuwachs zu verschaffen. Zuerst beschränkte ich mich aufs Zitieren: »…welchen Beweis kann z.B. eine Obduktion liefern, wenn keinerlei physische Einwirkung auf das Opfer stattgefunden hat. Überlegungen von potentiellen Tätern kreisen deshalb um drei Formen des perfekten Mordes ohne äußerliche Gewaltanwendung: 1. um Handlungen und Unterlassungen, durch die das Opfer veranlaßt wird, sich selbst in eine lebensgefährliche Lage zu bringen, 2. um Veranlassung oder Förderung des Selbstmordes, und 3. um direkte psychische Einwirkung mit der Absicht der Tötung. Taten zu 1. und 2. kann man nach amerikanischen Vorbildern indirekten psychischen Mord, solche nach 3. direkten psychischen Mord nennen.« »Fall 1 hätten wir dann wohl bei Armgard«, unterbrach mich Roderich, »wie sie Conradin, von seiner Herzinsuffizienz wissend, zum Schwimmwettkampf herausgefordert hat…?« »Vielleicht; vielleicht auch nicht… Unser Leben ist nichts weiter als eine Kette von Spekulationen, insbesondere dann, wenn andere es zu deuten haben.« »Fall 3 aber fände dann in Conradin ein passendes Beispiel«, fuhr Timon dennoch fort, »denn mit der Witwenverbrennung zu drohen, und dies in Kenntnis von Armgards hoher Sensibilität, ist ja nichts anderes als das, was die Medizinmänner naturhafter Völker tun, wenn sie einen Gegner so wirkungsvoll verfluchen, daß der dann tatsächlich stirbt, ohne jede äußere Gewaltanwendung; regelrecht eingeht wie eine vergiftete Pflanze.«
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Ich schickte mich an, eine weitere Passage aus besagtem Artikel den anderen vorzutragen: »Der psychogene Tod ist der Extremfall eines psychosomatischen Geschehens, es ist eine Regression in sich selbst, es ist Resignation, ein Aufgeben aller Hoffnungen. Jede motorische Aktivität entfällt, und es werden keine Gedanken mehr auf eine Rettung verwendet.« »Das klingt ja so, als hätte Armgard schließlich selbst den Feuertod gesucht«, fiel Timon ein. »Das ist das eine«, fügte ich hinzu, »zum anderen aber sollen Phobiker, wie ich inzwischen nachgelesen habe, von angstbesetzten Gegenständen und Situationen zuweilen mit geradezu magischen Kräften angezogen werden – was dann auch erklärt, warum Armgard, einem inneren Zwange folgend, mit Feuer und Flamme herumspielen mußte, ihr wißt, was ich meine: ihr Herumexperimentieren am Brandmelder im Keller.« »Conradin hat sie also wirklich geliebt und auch nach dem Tode bei sich haben wollen«, sagte Roderich, der es als einziger in unserem Kreise mitunter wagte, das, was alle dachten und fühlten, in seiner ganzen Trivialität auch auszusprechen. »Nein!« So erregt war Berthold, daß er aufsprang. »Was seid ihr doch allesamt für verdammte Narren, daß ihr die Wahrheit nicht erkennt!« »Die Wahrheit…?« Voller Erstaunen blickten wir in seine Richtung. »Ja…« Er zog heftig an seiner schön geschnitzten, altbayerischen Tabakspfeife. »Begreift ihr denn nicht: Melusine hat Woldemars Irrtum kunstvoll korrigiert!« »Willst du damit sagen, daß…?« »Ja, Ruth ist Armgards Mörderin – Fall 3!« Die Eröffnung, daß er, der medizinische Beweis liege inzwischen vor, der erste Mann der Erde sei, der sich selber eines gesegneten Leibes erfreue, sie hätte uns kaum stärker in Verwirrung gestürzt als diese ungeheuerliche Behauptung, Ruth betreffend. Wir starrten ihn an und warteten voller Spannung auf die innere Schlüssigkeit seiner
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Beweise, uns seine Formel erst langsam klarmachend: Ruth gleich Melusine, Cousine gleich Schwester, Conradin gleich Woldemar; der ganze Stechlin war kurz zu repetieren. Berthold ließ sich Zeit, endlich begann er: »Conradin hatte doch lange, wie ihr euch erinnern werdet, zwischen Ruth und Armgard hin und her geschwankt, zwischen Melusine also, nehmen wir den Stechlin als Ausgangspunkt, und Armgard – letztere, hier wie dort, mit demselben Namen ausgestattet, was ja bekanntlich auch ihr Schicksal war. Bei uns nicht die Schwestern Barby, sondern nur Cousinen, doch was tut’s? Während unsere Armgard in fast übersteigerter Reinheit ichbezogen war, narzißtisch, egoistisch, egozentrisch, ganz wie ihr wollt, so haben wir in Ruth einen Menschen vor uns, der ebenso wie sie nach Macht und Einfluß strebt, dieses aber nicht als Endzweck sieht, der garantierten Muße wegen, sondern als Mittel zum Zweck, zum Zwecke, anderen zu helfen, in diesem speziellen Falle den psychisch Kranken hier im Lande – fünfzigtausend und nicht nur fünf, womit ich uns meine, selbstredend! Jetzt, als Conradins und Armgards Erbin, hat sie endlich die Mittel dazu, vorher war sie nur eine von vielen tausend arbeitslosen Psychologen…« Das war schon ein Motiv, in der Tat, und ich sah Berthold an, ihn bestätigend. »Dann hat Ruth Armgard also geopfert, um viele andere Opfer erlösen zu können…« »Ja! Die Anathapindika-Sekte, dessen bin ich absolut sicher, dürfte nirgendwo anders existieren als in ihrer, in Ruths ausgeprägter Phantasie. Sie hat sich die Geschichte mit Conradins Sektenbeitritt und dem angeblich wiederauflebenden Brauch der Witwenverbrennung, angeregt wohl durch Conradins indische Ader, nur ausgedacht, um den fraglichen Brief dann gekonnt zu fälschen und ungesehen zu verstecken in Conradins unterlassenen Papieren.« »Die sind doch alle mitverbrannt!« rief Roderich, dabei nun ebenfalls aufspringend und sich stärker echauffierend, als sein angegriffenes Herz ihm eigentlich erlaubte. »Der Brief mit dem Sekteneintritt, der existiert doch nicht mehr!« »Eben! Das gehörte ja zu Ruths Kalkül. Die Giftmischerin von heute braucht keine Kräuter und Essenzen mehr, der genügen zwölf Semester Psychologie…«
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»Mit dem Verbrennen des gefälschten Briefes«, sagte Timon, »wird sie doch auch von den besten Detektiven dieses Erdballs kaum mehr zu fassen sein, und von normalen Kripoleuten nie und nimmer.« »Wir alle haben diesen Brief gesehen«, sagte Berthold, »und es gilt nun nachzuweisen, daß die indischen Gruppen und Bräuche, von denen dort die Rede war, vor allem diese Sekte, wirklich frei erfunden worden sind, was doch möglich sein dürfte!« Er stieß, weiterhin überaus erregt, mächtige Dampfwolken aus. »Wenn nun Ruth tatsächlich überführt werden sollte, wer könnte das denn verantworten: Conradins Vermögen fiele womöglich dem Staate anheim, der dafür nur neue menschenvernichtende Waffen ankaufte, und diejenigen, für die Ruths ausgezeichnete Methoden fast die Garantie ihrer Heilung darstellen, blieben ohne dieses Therapiezentrum das, was sie sind: Verlorene!« Roderich sank, schwer atmend, auf seine Lederpolster zurück und schien einem Kollaps nahe, als Timon, wenn auch nur in Form eines kleinen Scherzes, seiner Vermutung Ausdruck gab, er habe wohl einen Verehelichungsakt mit Ruth in petto. Berthold ließ nicht ab von seinem fanatischen Plädoyer gegen Ruth. »Sie hat Armgard auf dem Gewissen, und sie wird dafür büßen müssen!« »Beim heiligen Chandler«, sagte ich, »warum denn gerade unsere Ruth?! Als Kriminalschriftsteller sehe ich mich zunfteshalber zu einem kleinen Einwand verpflichtet, den ich entsprechend ernst zu nehmen bitte, dahingehend nämlich, daß doch theoretisch ein jeder von uns der Schreiber dieses Briefes sein könnte; auch Conradin, gleichviel, ob diese Sekte Anathapindika nun wirklich real existent ist oder nur eine Erfindung von ihm, Armgard zu schrecken – und sogar Armgard selber möchte ich keinesfalls ausschließen, da es auch eine Art von Buße sein könnte, die sie sich auferlegt hatte, ihre Schuld an Conradins Versinken zu sühnen. Warum also Ruth ausschließlich?« »Weil sie allein die Erbin Armgards ist!« beharrte Berthold. »Das ist doch der für uns alles entscheidende Punkt.«
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Von da an begann sich unsere Diskussion im Kreise zu drehen, und ich darf darum auch an dieser Stelle abbrechen mit meiner Berichterstattung. Soweit also der Stand der Dinge, wobei noch hinzuzufügen wäre, daß Berthold vom Gang zur Staatsanwaltschaft nicht mehr abzubringen war, und Ruth bei ihren ersten Vernehmungen durch Oberkommissar Mannhardt alles sogleich in Abrede stellte, ebenso selbstsicher wie empört. Meine Aufgabe ist es nicht, mit dieser Arbeit hier zu richten und irgend jemanden schuldig zu sprechen, ich habe auch nicht die dazu berufenen Damen und Herren in ihrer Urteilsfindung irgendwie beeinflussen wollen, ich habe nur eines angestrebt: Armgard ein bescheidenes Denkmal zu setzen. Alles ist unwiederbringlich, und da ihr Leben geprägt war durch die Gedankenwelt Theodor Fontanes, so mögen dessen Verse diesen imaginären Gedenkstein auch zieren; gleichermaßen als Resümee wie als Schlußpunkt: Gib deinem Wunsche Maß und Grenze, Und entgegen kommt das Ziel.
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Die Autoren vorgestellt von Rudi Kost
Friedhelm Werremeier Friedhelm Werremeier ist ein in der Wolle gefärbter Reporter. Jahrzehntelang hat er für große Illustrierte gearbeitet, und nach wie vor zählt er zu der Handvoll Gerichtsreporter, die in Deutschland wirklich einen Namen haben. Seine Bücher und Fernsehspiele sind wie Reportagen: bis ins Detail genau recherchiert, hartnäckig auf der Suche nach der Wahrheit. Mit dem Spürsinn des geschulten Reporters ist Friedhelm Werremeier immer wieder auf brisante Themen gestoßen, noch ehe diese ihren Zug durch die Schlagzeilen der Gazetten angetreten haben: Entführungen (»Ohne Landerlaubnis«, 1971; »Trimmel und der Tulpendieb«, 1974), Geschäfte mit Organtransplantationen (»Ein EKG für Trimmel«, 1972), Fußballmanipulationen (»Platzverweis für Trimmel«, 1972), Umweltskandale (»Trimmel macht ein Faß auf«, 1973). Und immer wieder fasziniert ihn die Psychiatrie mit ihren Möglichkeiten und Grenzen, die Grauzone zwischen echter Hilfe und selbstsüchtiger Eigenmacht, die Kungelei mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung (»Der Richter in Weiß«, 1971; »Trimmel hält ein Plädoyer«, 1976; »Trimmel hat Angst vor dem Mond«, 1977); auch in Sachbüchern hat er sich dieser Problematik angenommen (»Bin ich ein Mensch für den Zoo? Der Fall Jürgen Bartsch«, 1968; »Der falsche Chefarzt von Berlin«, 1968). Friedhelm Werremeier deckt schonungslos auf, doch ohne jedwede indoktrinatorische Absicht: er läßt die Fakten sprechen. Als Heilsbringer wäre sein Hauptkommissar Paul Trimmel auch nicht das geeignete Medium, dessen ruppige Schale eine überaus empfindsame Seele nur mühsam verdeckt, der gewiß und mit gutem Gewissen für Recht und Ordnung eintritt, aber nur zu gut weiß, daß Recht nicht unbedingt Gerechtigkeit, Ordnung oft nur Vertuschung bedeuten und der deshalb eigensinnig seine Wege geht, mitunter hart am Rande der
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Legalität, manchmal mit fatalen Folgen – die Erfahrungen des Gerichtsreporters sprechen daraus. Friedhelm Werremeier, der 1930 in Witten geboren wurde und heute in Bad Bevensen lebt, zählt zu den neuen deutschen KrimiAutoren der ersten Stunde, und unter den ersten war er der allererste, der sich auf das Wagnis einer Serienfigur eingelassen hat und auch der erste, der den Polizeiroman in Deutschland einführte; mit einem Trimmel-Roman, »Taxi nach Leipzig«, eröffnete die ARD 1970 ihre »Tatort«-Reihe, und Trimmel ist einer der wenigen Fernsehkommissare, der die Jahre überdauert hat: elf der bislang zwölf TrimmelRomane wurden als »Tatort« verfilmt, und eine neue Serie mit dem Hamburger Hauptkommissar ist in Vorbereitung. Das Fernsehen ist sozusagen das Standbein des Autors Werremeier: viele andere Spielfilme und Serienbeiträge hat er geschrieben. Das Buch, der Kriminalroman ist indessen, um im Bilde zu bleiben, das Spielbein geblieben, und erneut hat Friedhelm Werremeier sich dabei auf etwas Neues eingelassen. Als er 1982 von Rowohlt zu Heyne wechselte und seine früheren Bücher dort wieder aufgelegt wurden, hat er sie nochmals überarbeitet, sie stilistisch und inhaltlich ausgefeilt. Daß er, wieder mal, der erste Krimi-Autor ist, der das macht, braucht eigentlich gar nicht mehr hinzugefügt zu werden.
Felix Huby Ihre schwäbische Abkunft wollen weder Felix Huby noch seine Figuren verleugnen. Es ist nicht zu übersehen, daß den Stuttgarter Hauptkommissar Ernst Bienzle mancherlei mit seinem Schöpfer verbindet. Die Zuneigung zu einem Viertele guten Trollingers beispielsweise. Die grummelnde Art, hinter der sich eine gehörige Portion Nachdenklichkeit verbirgt, aber ebenso Empfindsamkeit und allen irdischen Freuden zugetane Gemütlichkeit. Und auch ein Dickschädel, der so schnell nicht klein beigibt. Dem Kommissar Bienzle bescherte das beträchtliche Erfolge, aber auch eine Strafversetzung, weil er allzu hartnäckig den Intrigendschungel aus Wirtschaft und Politik lichten wollte (»Sein letzter Wille«, 1979). Felix Huby verhalf es unter seinem bürgerlichen Na-
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men Eberhard Hungerbühler zu einer Journalistenkarriere, die als Stuttgarter Büroleiter des »Spiegel« endete, ehe er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Der Schriftsteller Felix Huby freilich setzt nur mit anderen Mitteln fort, was den Journalisten Eberhard Hungerbühler umtreibt. Ob es um die kriminellen Energien der Kernkraft geht (»Der Atomkrieg von Weihersbronn«, 1977), um krumme Geschäfte mit der Altstadtsanierung (»Sein letzter Wille«) oder um organisierte Kriminalität in der Provinzhauptstadt Stuttgart (»Schade, daß er tot ist«, 1982): mit Hilfe der Fiktion setzt der Schriftsteller über die Mauern, die sich dem Journalisten als unüberwindbar entgegenstellten. Aus dem konkreten Einzelfall, von dem Journalisten einst recherchiert, wird ein Modellfall, der stellvertretend steht für ähnliche Ereignisse, und davon gibt es mutmaßlich viele. Eberhard Hungerbühler kam 1938 in Dettenhausen bei Tübingen zur Welt, in einer Ecke also, wo die Schwaben besonders schwäbisch, die Schädel bockelhart sind. Felix Huby ist indes kein »Berufsschwabe«. Aber er weiß um die Mentalität und die Verwurzelung der Menschen. Genüßlich und, zumindest für die Eingeborenen erkenntlich, auch mit feiner Ironie, die Verbundenheit ausdrückt, nimmt Felix Huby sich dieses Schwaben an, wo die Landsleute wie die Landschaft sind: ruppig wie die Schwäbische Alb, sanftverschlossen wie der Schwäbische Wald. Huby verwendet viel Sorgfalt auf seine Figuren, die meiste natürlich auf Ernst Bienzle. Der ist nicht bloß Funktionsträger, er ist genauso auch Mensch, und der steht dem Polizisten manchmal im Wege. Die Figur mit ihren Eigenheiten und Schwächen, ihren privaten Nöten und Freuden voranzutreiben, dienen vor allem jene Romane, deren Geschichte eher konventionellen Mustern folgt (»Tod im Tauerntunnel«, 1977; »Ach wie gut, daß niemand weiß…«, 1978; »Bienzle stochert im Nebel«, 1983). Bei aller Atmosphäre verlieren Ernst Bienzle und sein Autor dennoch nicht ihren kritischen Blick auf das Geschehen und die Menschen um sie herum; die moderat eingebrachten Dialektpassagen sind das hinterhältige Mittel, die Meinungen auf den Punkt zu bringen. – Obschon Felix Huby mit seinen Bienzle-Romanen bekannt geworden
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ist, soll nicht vergessen werden, daß auch anderes aus seiner Feder stammt: Kinder- und Jugendbücher, Fernseh- und Hörspiele und, unter seinem richtigen Namen, Sachbücher.
Irene Rodrian Krimis sind offenbar Männersache. Irene Rodrian hat das bei ihren Anfängen als Krimi-Autorin am eigenen Leib erfahren: für das bewußt »männlich« geschriebene Manuskript »Tod auf St. Pauli« erhielt sie 1967 den Edgar-Wallace-Preis, das gleichzeitig eingereichte »Bis morgen, Mörder« (1969), »das Buch, das mir gefallen hat«, wurde hingegen zunächst abgelehnt. Lange Zeit war Irene Rodrian die einzige Krimi schreibende Frau unter lauter Männern, und trotz auch weiblicher Konkurrenz mittlerweile ist ihre Spitzenstellung nicht gefährdet. Weil die Männerdominanz ja unbestreitbar eine Realität unserer Gesellschaft ist, verwundert es nicht weiter, daß Irene Rodrian sie zum Thema ihrer Romane und Erzählungen macht. Doch schreibt sie nicht, wie zu vermuten wäre, kämpferisch-emanzipatorische Bücher, im Gegenteil: Irene Rodrians Frauenfiguren lassen sich treiben, von anderen – eben zumeist Männern – beherrschen und ausnutzen. Daraus erwachsen Konflikte, die schnell in Ausweglosigkeit münden – Mord erscheint da oft nur als unausweichliche Folge, als einzig mögliche Lösung aus der Abhängigkeit. Allerdings versteht Irene Rodrian solche Situationen nicht allein geschlechtsspezifisch. Vielmehr spiegeln sie allgemeines Rollenverhalten wider – auch viele Männerfiguren sind bei ihr keineswegs die Starken, Entschlossenen, trotz ihrer scheinbaren Dominanz. Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, in München lebend, von Hause aus Werbeberaterin und Grafikerin, gilt nicht zu Unrecht als die deutsche Patricia Highsmith. Harmlose Alltagssituationen steuern unaufhaltsam auf die Katastrophe zu, weil die Schwachen, Mutlosen sich nicht – oder nur falsch – zu wehren wissen (»Die netten Mörder von Schwabing«, 1975; »Küßchen für den Totengräber«, 1974), weil dem Geschehen durch die Passivität der Beteiligten nicht Einhalt
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geboten wird (»Finderlohn«, 1971; »Ein bißchen Föhn und du bist tot«, 1975). Schwelende Konflikte, durch Konventionen verdeckt, aufgestaute Aggressionen brechen sich dann Bahn, Partnerschaften erweisen ihre Brüchigkeit, Harmonie zeigt sich als Haß (»Wer barfuß über Scherben geht«, 1970; »…trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, 1978). Extremsituationen lassen Verhaltensweisen stärker als sonst zutage treten – Irene Rodrian hat ein treffendes Bild dafür gefunden: Mord sei wie ein Vergrößerungsglas, das menschliche Beziehungen schmerzhaft scharf heraushebt. Indessen wirken die Katastrophen auch reinigend: erst durch ihre schlimmen Erfahrungen sind die Figuren Irene Rodrians in der Lage, zu sich selbst und zu einem eigenen, unabhängigen Standpunkt zu finden. Ein Lernprozeß ist in Gang gekommen, dem allerdings andere zum Opfer gefallen sind – wäre das nicht vermeidbar gewesen? Ein Gedanke, den Irene Rodrian auch in ihren Kinder- und Jugendbüchern und Fernsehspielen verfolgt. In jüngster Zeit hat Irene Rodrian sich zunehmend von den Strukturen des Kriminalromans gelöst. »Schlaf, Bübchen, schlaf« (1980), »Hausfrieden« (1981), »Vielliebchen« (1982) und »Schlagschatten« (1983), die schon in ihrer Titelwahl alles Spektakuläre vermeiden, sind noch stärker psychologische Romane als ihre früheren Bücher.
Richard Hey Nur vier Kriminalromane hat Richard Hey geschrieben: »Ein Mord am Lietzensee« (1973), »Engelmacher & Co« (1975), »Ohne Geld singt der Blinde nicht« (1980), »Feuer unter den Füßen« (1981), dazu einige Erzählungen; aber sie haben der Krimi-Kultur hierzulande wichtige Anstöße gegeben. Wichtig war allein schon die Person: ein anerkannter Autor (Jahrgang 1926), dessen Hörspiele, Theaterstücke und Fernsehspiele weite Beachtung gefunden hatten und mehrfach mit Preisen bedacht wurden (1955 Schiller-Preis, 1960 Gerhart-Hauptmann-Preis, 1965 Hörspielpreis der Kriegsblinden), bekannte sich ausdrücklich zum mißachteten Krimi.
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Er, der Mann, wählt sich als Hauptfigur eine Frau, die Berliner Kommissarin Katharina Ledermacher (die im vierten Roman von der Mainzer Kommissarin Buchmüller abgelöst wird) und beweist erstaunliches Einfühlungsvermögen dabei. Und er demonstriert, wie man Gesellschaftskritik betreiben kann, ohne deswegen auf Spannung verzichten zu müssen. Seine Romane enthalten sich aller formalen Experimente, sie sind straff und geradlinig erzählt, süffig zu lesen und leben von originellen Figuren und dichter Atmosphäre. Richard Hey benutzt so ein gewohntes Muster für seine aufklärerischen Absichten. Sein Thema ist nichts weniger als die Bundesrepublik der Gegenwart. Randgruppen der Gesellschaft: Rocker und Rentner; skrupellose Geschäftemacher: Abschreibungs- und Abtreibungsfirmen; Drogenhandel, bei dem der Staat kräftig mitmischt; politische Vertuschungsaffären – Richard Hey deckt erbarmungslos Mißstände auf. Ihr heftigster Kritiker ist ausgerechnet eine Kriminalbeamtin, die in jeder Hinsicht außergewöhnliche »Ledermacherin«: eine lebenslustige, warmherzige Frau, die mit einem politisch verdächtigen Lehrer in wilder Ehe lebt, deren eigene Tochter sich den Aussteigern und Hausbesetzern anschließt und dabei die Sympathien ihrer Mutter hat, eine Kommissarin, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält. Das bringt sie mehr und mehr in Konflikt nicht nur mit ihren Vorgesetzten, auch mit sich selbst. Sie muß miterleben – hier knüpft Richard Hey an die Schweden Sjöwall/Wahlöö an –, wie die staatlichen Organe, Polizei, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz, sich immer deutlicher in Mißkredit bringen. Man muß, so Richard Heys literarisch zugespitzte These, die Bürger vor dem Staat schützen. Der Staat ist nicht mehr moralisch über jeden Zweifel erhaben. Er verfolgt die kleinen Kriminellen, die armen Würstchen, die ohnehin schon Diskriminierten unnachsichtig, aber er läßt die Großen nicht nur laufen, er leistet ihrem kriminellen Tun sogar Vorschub. Und: er ist mit seinen Methoden abseits der Legalität, mit seiner Rechtfertigung zweifelhafter Mittel korrupt, schon längst selber kriminell geworden. Für kritische Geister ist da kein Platz mehr, wenn sie nicht die Achtung vor sich selbst verlieren wollen. Im dritten Roman nimmt Ka-
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tharina Ledermacher ihren Abschied von der Polizei. Nicht länger mehr will sie Handlanger sein und schützen, was sie eigentlich verabscheut. Viele von Richard Heys Lesern haben diesen Schritt bedauert; aber er ist nur eine konsequente Folge seiner scharfen Gesellschaftsanalyse.
Herbert Lichtenfeld Wenn es einen charakteristischen Berufsweg für Krimi-Autoren gibt, dann diesen: man beginnt bei irgendeiner Zeitung als Journalist, spezialisiert sich als Polizei- und Gerichtsreporter, und irgendwann ist dann einmal, nach anderen literarischen Versuchen, der erste Krimi fällig, der, weil er Erfolg hat, zwangsläufig andere nach sich zieht. Bei Herbert Lichtenfeld, 1927 in Leipzig geboren (und seit 1951 in der Bundesrepublik lebend), war allerdings, eher untypisch, ein Musikstudium vorgeschaltet. Geiger in einem Orchester, wie er sich’s erträumte, ist er nicht geworden. Statt dessen teilt er das Schicksal jedes Konzertmeisters: ohne ihn geht nichts, aber so recht bekannt ist er eigentlich nur den Eingeweihten. Denn Herbert Lichtenfeld ist vornehmlich Funk- und Fernsehautor. Bücher, auf denen unübersehbar sein Name prangt, hat er nur wenige veröffentlicht: einige Jugendbücher, zwei Kriminalromane (»Die Stunde des Löwen«, »Nachtaufnahme«), dazu viele Erzählungen. Ansonsten taucht »Herbert Lichtenfeld« nur kurz in Vor- und Abspännen auf und geht meist am Auge des Publikums vorbei, das eher auf Dirigenten (die Regisseure) und Solisten (die Schauspieler) achtet. Etwa zwei Dutzend Hörspiele hat er seit 1965 geschrieben, darunter preisgekrönte wie »Herr Print erkennt sich selbst« (1967, Prager Rundfunkpreis) oder »Die Verbände distanzieren sich« (1978, Preis der Akademie der Darstellenden Künste Darmstadt). Sein Fernsehfilm »Die Deutschlandreise« (1971) wurde mit dem Adolf-Grimme-Preis in Silber bedacht; die von ihm geschriebenen Episoden für das »Traumschiff« erhielten zwar keine Auszeichnung, dafür die für einen Autor immer noch wichtigste Anerkennung, nämlich das Interesse von mehr als 20 Millionen Fernsehzuschauern.
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Das Schwergewicht von Herbert Lichtenfelds literarischer Tätigkeit liegt beim Kriminalfilm – zwei Dutzend Drehbücher stammen aus seiner Feder, die meisten davon für die »Tatort«-Reihe. Herbert Lichtenfeld war beim »Tatort« von Anfang an dabei und zählt inzwischen zu den Stammautoren. Mit »Blechschaden« (1971) begann er, und als Regisseur hatte er einen Mann zur Seite, der damals ebenfalls noch am Anfang seiner Karriere stand: Wolfgang Petersen. Zusammen mit ihm war er für »Tatort«-Filme verantwortlich, die allemal aus dem Rahmen fielen, »Strandgut« (1972), »Jagdrevier« (1973) zum Beispiel, »Nachtfrost« (1974), »Kurzschluß« (1975), »Reifezeugnis« (1977 – mit dem Film begann Nastassja Kinski ihren Aufstieg); »Beweisaufnahme« (1981), unter der Regie von Peter Keglevic, riß sogar die gestrenge FAZ zu Lobeshymnen hin (»außergewöhnlicher Glücksfall«) und wurde beim Prix futura prompt als bester Film gewertet. »Ich möchte das Brüchige im Menschen zeigen«, sagt Herbert Lichtenfeld von sich selbst, und wie das gemeint ist, zeigt etwa sein (auch verfilmter) Roman »Die Stunde des Löwen«. Der perfekt geplante, narrensichere Coup bekommt eine andere Richtung, weil alle Beteiligten unter dem Druck der Situation neue Seiten an sich entdecken und zu Verhaltensweisen fähig sind, die ihr Leben von Grund auf ändern; Harmonie könnte die Folge sein, würde die Strafe sie nicht doch noch einholen.
Michael Molsner Gleich vielen anderen Autoren kommt Michael Molsner, 1939 in Stuttgart geboren, in Ostpreußen, Aalen/Württ. und München aufgewachsen, aus dem Journalismus und verdankt seinen Erfahrungen als Gerichtsreporter bei Boulevardzeitungen gleichsam schriftstellerische Urerlebnisse. Er erlebt die Absonderlichkeiten menschlichen Fehlverhaltens und die Kaltschnäuzigkeit, mit welcher der Boulevardjournalismus, angeblich am »gesunden Volksempfinden« orientiert, darauf reagiert – seine ersten drei Romane »Und dann hab ich geschossen« (1968), »Harakiri einer Führungskraft« (1969) und »Rote Messe« (1973) sind von diesen Eindrücken geprägt und eingestan-
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denermaßen auch eine Aufarbeitung eigener Erlebnisse und persönlicher Betroffenheit. Sie spielen, wie auch einige Erzählungen, die nach Hörspielen entstanden sind, in der schwäbischen Kleinstadt Ährenfurth, und sie erzählen von Abhängigkeit- und Herrschaftsverhältnissen, von tief verwurzelten Traditionen, von autoritärem Denken und Handeln, davon, wie die Massen manipuliert werden können, wie das »Volksempfinden« politisch ausgenutzt werden kann. Michael Molsner kommt es nicht auf vordergründige KrimiSpannung an. Er will unsere Wirklichkeit ausloten, erfahren, was jemanden zum Verbrecher macht. Er benutzt den Unterhaltungswert zur Gesellschaftsanalyse, die fast zwangsläufig in harscher Kritik an den bestehenden Verhältnissen mündet – seinem »Tatort«-Krimi »Tote brauchen keine Wohnung« (1980 als Roman erschienen) über einen Kaputtsanierer beispielsweise brachte das erhebliche Schwierigkeiten ein. Aber Molsner beschreibt die Strukturen nicht abstrakt; immer treten sie im Verhalten der Menschen zutage. Den Menschen gilt sein Interesse, und obschon er kein Hehl aus seinem parteiischen Standpunkt macht, stemmt er sich doch entschieden gegen Schwarzweißmalerei und gegen das gewohnte Täter-Opfer-Schema. Bei Molsner ist der Täter auch Opfer – eines gesellschaftlichen Systems, dessen Bedingungsgeflecht er sich nicht entziehen kann, und auch ein Opfer seiner selbst, weil er sich um der eigenen Bequemlichkeit willen treiben läßt, keinen Widerstand leistet. Aber damit entschuldigt er den Täter nicht. Er greift diese Haltung an und zeigt dennoch zugleich Verständnis. Denn die Menschen, mögen sie sich auch noch so falsch verhalten, wie etwa sein Kommissar Sommerfeld in den Ährenfurth-Romanen, ein rechtes Ekelpaket, sind Produkte und Gefangene des Systems. Von seinen kämpferischen Anfängen indes hat sich Molsner mehr und mehr gelöst. Zunehmend beurteilt er die Dinge und die Menschen differenzierter und zeigt die Welt in all ihrer Widersprüchlichkeit – »Eine kleine Kraft« (1980), »Das zweite Geständnis des Leo Koczyk« (1979), vor allem seine jüngsten Romane »Die Schattenro-
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se« (1982) und »Aufstieg eines Dealers« (1983) um den unkonventionellen Kommissar Borowik sind Beispiele dafür. Die Leser sind zur Auseinandersetzung aufgefordert, nicht zur vorschnellen Parteinahme. Molsner bedient sich dazu ausgefeilter literarischer Techniken. Er erzählt aus dem Blickwinkel seiner Figuren, und statt Klärung handelt sich der Leser zunächst Verunsicherung ein: es bedarf des Mitgehens, Mitdenkens, um das Chaos zu durchschauen.
-ky Nicht allein diesem ominösen Kürzel -ky und dem werbewirksamen Versteckspiel, das mit ihm jahrelang getrieben wurde, verdankt der Berliner Soziologieprofessor Dr. Horst Bosetzky seine überaus große Popularität. Mit seinen ersten beiden Romanen »Zu einem Mord gehören zwei« (1971) und »Einer von uns beiden« (1972) erschien auch die Ahnung von etwas Neuem in der deutschen Kriminalliteratur. -ky wurde geradezu zum Inbegriff des »Sozio-Krimis«, der die Leichen nicht zur gefälligen Abendunterhaltung liefert, sondern mit ihnen ausdrücklich aufklärerische Absichten verbindet, -ky untersucht die sozialen und politischen Zustände in diesem Land und die daraus folgenden psychischen Verletzungen der Menschen. Dabei verleugnet er nicht seinen eigenen politischen Standort, seine Distanz zum herrschenden System. Dessen ungeachtet sind seine neun Romane und drei Kurzgeschichtensammlungen keine Lehrbücher. Die sozialen Analysen und politischen Exkurse sind eingebunden in eine rasante Handlung, die mit Action-Szenen, zynischen Wortwitzen und grotesk überdrehten Situationen gespickt sind – was ihn auch für das Kino attraktiv gemacht hat: »Einer von uns beiden« (1972) und »Kein Reihenhaus für Robin Hood« (1979) wurden verfilmt. Ein anderes Merkmal des Schriftstellers -ky konnten die Filme freilich nicht transportieren. Es ist sein Unbehagen an glatt erzählten Geschichten. Er bricht die Handlung auf, mehrere Erzählebenen
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spiegeln verschiedene Bewußtseinsstufen wider (am extremsten der Briefroman »Die Klette«, 1983). Die Verwirrung des Lesers folgt aus dem Zusammenprall unterschiedlich erlebter Standpunkte, nicht aus der Unsicherheit über den Täter. Der ist manchmal gar nicht zweifelsfrei dingfest zu machen: in »Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen« (1972) offeriert -ky gleich mehrere Möglichkeiten. Die Rebellion gegen die traditionellen Krimi-Muster in formaler Hinsicht steht in Einklang mit der Auflehnung gegen die üblichen Inhalte, -ky’s Figuren zerbrechen am Daseinskampf; die sie umgebenden Realitäten verhindern ein Leben nach eigenen Vorstellungen. Es sind Außenseiter, von ihrer Umwelt in die Isolation und in Tagträume getrieben, ihre kriminellen Aktionen psychische Amokläufe: Rache an den Peinigern (»Ein Toter führt Regie«, 1974; »Es reicht doch, wenn nur einer stirbt«, 1975), verzweifelte Fluchtversuche aus den Normierungen des Alltags (»Stör die feinen Leute nicht«, 1973; »Einer will’s gewesen sein«, 1978). -ky bedient sich dazu gegensätzlicher Umfelder. Einmal ist es die Großstadt Berlin, seine Heimatstadt (hier wurde er 1938 geboren, hier lebt er heute), mit ihrer Anonymität, die Träume vom besseren Leben geradezu provoziert; auch der Kriminalkommissar Mannhardt ist davon nicht ausgenommen. Zum anderen ist es die fiktive Kleinstadt Bramme; zwar überschaubar, doch festgefahrene soziale Strukturen und politische Intrigen ersticken alle Ansätze zur Individualität im Keim, ja machen selbst das Bemühen um Wahrheit unmöglich: die scheinbare Geborgenheit der Kleinstadt erweist sich als Gefängnis. Sogar der dortige Kommissar Kämena, die Karikatur eines Kriminalbeamten, erscheint nur als hypochondrische Marionette der Herrschenden.
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