Nr. 322
Traum der Valjaren Auf der Flucht vor der großen Flut von Horst Hoffmann
Sicherheitsvorkehrungen haben verhin...
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Nr. 322
Traum der Valjaren Auf der Flucht vor der großen Flut von Horst Hoffmann
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtau senden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Her ren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu set zen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah men, haben Atlan und Razamon, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Jetzt, nach der Zerstörung der Eiszitadelle und dem daraufhin eintretenden Wär meeffekt, sind die Kampfgefährten bereits zu fünft. Zusammen mit Koy, dem Tromm ler, und Gloophy, dem Antimateriewesen, flüchten sie vor den Fluten des Schmelz wassers. Dabei erfahren sie vom TRAUM DER VALJAREN …
Traum der Valjaren
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide auf dem Weg zur Dunklen Region.
Razamon, Fenrir, Koy und Gloophy - Atlans alte und neue Gefährten.
Telmten - Ein Valjare, der einen besonderen Traum träumt.
Bördo - Sigurds Sohn.
PROLOG Es konnte kein Zweifel an der Korrektheit der Nachricht bestehen, die das Wache Auge übermittelt hatte – so unglaublich sie auch klingen mochte. An der Eisküste fanden gewaltige Ab schmelzungen statt, ein Ergebnis des plötzli chen unerklärlichen Wärmeeinbruchs, der bereits vorher registriert worden war. Die FESTUNG befand sich in hellem Aufruhr. Es war nicht nur die klimatische Veränderung als solche, die die Herren Pthors alarmierte. Im Zentrum der Ab schmelzungen, in der Eiszitadelle, ruhte ein Antimateriewesen, das Pthor auf seiner Wanderung durch die Dimensionen »eingefangen« hatte. Um die Gefahr einer Katastrophe zu bannen, hatten die Herren der FESTUNG das Wesen mit einem Gravi tationsmantel umgeben und in der alten Burg der Zyklopen von der Außenwelt iso liert. Erst durch die Manipulationen der Gravitationsverhältnisse war eine regionale Eiszeit über die Nordküste hereingebrochen. Der Wärmeeinbruch schien seinen Ur sprung in der Eiszitadelle zu haben, wo die Gravitationsfelder sich konzentrierten. Das aber bedeutete, daß eine unermeßliche Ge fahr für ganz Pthor bestand, solange es kei ne Klarheit über die Ursachen der Verände rungen gab. Die Herren der FESTUNG schickten einen Zugor mit zwei Dellos zur Eisküste, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu ver schaffen. Sie mußten wissen, was bei der ehemaligen Burg der Zyklopen vor sich ging.
1.
»Du hast schon wieder diesen Schimmer in den Augen. Bleibe mir vom Leib, Gloo phy! Ich bin nicht zum Schmusen aufgelegt – und mit dir schon gar nicht!« Atlan wich ein paar Schritte zur Seite, um einen »sicheren« Abstand zwischen sich und den Bera zu bringen. Gloophy schien darin jedoch eine Aufforderung zu sehen, dem Ar koniden zu folgen. Er gab einige schrille Laute von sich und breitete die riesigen Ar me aus. Atlan sah sich hilfesuchend nach den Freunden um, aber Razamon, Koy und selbst Fenrir betrachteten Gloophys neuerli chen Gefühlsausbruch offensichtlich als willkommenen Anlaß, eine kurze Ver schnaufpause auf ihrem Marsch einzulegen. Razamon, der seit der ersten Begegnung mit dem Antimateriewesen selbst oft genug des sen »Zärtlichkeiten« erduldet hatte, stand grinsend neben Fenrir und kraulte den riesi gen Wolf im Nacken. Koy, der Trommler, blieb etwas abseits. Er litt unter Fenrirs Ablehnung. »Was steht ihr da herum?« rief Atlan, der sich ein zweites Mal mit ein paar schnellen Sätzen vor Gloophys Zugriff in Sicherheit gebracht hatte. »Lenkt ihn doch ab, oder soll er mich zerquetschen?« »Er hat dich eben gern«, lachte Razamon. »Du hast einen wahren Freund gefunden!« Atlan murmelte etwas vor sich hin, und das klang nicht sehr freundlich. Razamon amüsierte sich königlich. Gloophy schien zu glauben, daß es eine Art Spiel sei, das der Arkonide mit ihm trieb, und gab einen vergnügten Quietschlaut von sich. »Gloophy, nun ist es genug!« schrie Atlan und sah sich vorsorglich nach einer Deckung um. Sie hatten die eigentliche Eisküste hin ter sich und näherten sich dem Quellgebiet
4 des Flusses Xamyhr. Zwar war die Land schaft immer noch von kniehohem Schnee bedeckt, aber überall ragten kleine und große Felsstücke aus der weißen Decke. Au ßerdem waren vor einigen Kilometern die ersten, eichenartigen Bäume aufgetaucht, die wie dunkle Masten aus dem Schnee ragten. Atlans Worte erreichten wiederum genau das Gegenteil. Das fast zweieinhalb Meter hohe Antimateriewesen, das durch seinen Velst-Schleier befähigt war, in einer »normalen« Umgebung zu leben, machte einen Satz auf ihn zu. Atlan ließ vor Schreck die Pekto fallen und lief auf den nächsten Felsblock zu. Dabei stolperte er und fiel nur wenige Meter vor Gloophy in den Schnee. Der Arkonide sah das grünschimmernde Ungeheuer mit vor Freude strahlenden Au gen auf sich zukommen und schlug beide Hände vor das Gesicht. »Gloophy! So nimm doch Vernunft an!« »Er versteht dich nicht«, rief Razamon. »Du mußt schon warten, bis er Pthora ge lernt hat.« Atlan sah nicht hin, als er die schweren Füße neben sich im Schnee knirschen hörte. Jeden Augenblick mußte Gloophy mit sei nen »Liebkosungen« beginnen. »Schöne Freunde habe ich«, brummte At lan. Doch als Gloophy sich über den Arkoni den beugte, hatte Razamon ein Einsehen. Er ging lachend auf die beiden zu und gab dem Riesen mit aller Wucht einen Klaps auf das verlängerte Rückgrat. Ein Mann von mittler er Statur wäre einige Meter weit weg ge schleudert worden, aber Gloophy zuckte nicht einmal zusammen. »Es ist ja gut. Siehst du nicht, wie er schon zittert? Vor lauter Freude, Gloophy! Er wird bestimmt mit dir schmusen, wenn wir mehr Zeit haben als jetzt.« Atlan starrte den Atlanter an wie ein We sen aus einem fremden Universum. Auch Gloophy drehte den Kopf, der im mer wieder an einen lachenden Frosch erin nerte. Ein noch wärmerer Schimmer trat in seinen Blick.
Horst Hoffmann Razamon fuhr zurück. »Nein, Gloophy – so war das nicht ge meint. Ich …« Gloophy ließ von Atlan ab und stampfte mit ausgebreiteten Armen auf den Atlanter zu. »Gloophy, du verstehst mich falsch!« Aber alle Beteuerungen halfen ihm jetzt nicht mehr. Razamon fuhr auf dem Stiefel absatz herum und rannte wild gestikulierend davon. Gloophy gluckste vor Vergnügen und nahm die Verfolgung auf. Atlan schmunzelte und richtete sich vor sichtig auf. Der Gefühlsausbruch des Beras würde bald vorüber sein, und Razamon konnte einiges einstecken. Er achtete nicht weiter auf die beiden, sondern war mit den Gedanken bereits wie der bei dem, was vor ihnen lag. Obwohl sie das Gebiet der gefährlichen Eisverschiebungen hinter sich hatten, dräng te alles in Atlan darauf, so schnell wie mög lich zumindest das Quellgebiet des Xamyhr zu erreichen. Dort würden sie aller Voraus sicht nach Eingeborene finden, bei denen sie ihre Vorräte auffrischen konnten. Außerdem schien im Gebiet der Eisküste irgend etwas vorzugehen, das sie noch nicht übersehen konnten. Etwas, das noch gefähr licher war als die Eisverschiebungen. Fenrirs Verhalten bestätigte Atlans Ah nungen. Der Wolf war während ihres Fuß marsches immer öfter stehengeblieben und hatte sich umgedreht, als ob er etwas wittern wollte. Einige Male hatte sich sein Nacken fell gesträubt, und Fenrir hatte leise ge knurrt. Der Ausfall der Gravitationsfelder, mel dete sich der Extrasinn. Er muß eine Kata strophe unvorstellbaren Ausmaßes herauf beschworen haben. Eine exakte Aussage ist nicht möglich, da auf Pthor andere Naturge setze herrschen als auf der Erde! Wir sind auf der Erde, dachte Atlan bitter. Er mußte sich dies in letzter Zeit tatsächlich immer öfter ins Gedächtnis zurückrufen. Manchmal glaubte er, im Lauf der Zeit jede Beziehung zur »Außenwelt« zu verlieren.
Traum der Valjaren Diese Anwandlungen dauerten nie länger als wenige Minuten. Atlan war hier, um da für zu sorgen, daß die Erde nicht noch ein mal ein Opfer dieses Gebildes und seiner mysteriösen Herren wurde. Dieser Wille war auch nach den vielen Enttäuschungen, die sie bisher auf der Suche nach den Herren Pthors erlebt hatten, ungebrochen. Atlan fühlte, daß es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis sie endlich die geheimnis volle FESTUNG erreichten. Er hatte Freun de gefunden, die an seiner Seite kämpften. Dennoch machte er sich keine Illusionen. Sie standen einer Macht gegenüber, über de ren wahres Ausmaß sie allenfalls Spekula tionen anstellen konnten. Atlan wurde aus den Gedanken gerissen, als er Fenrirs Knurren hörte. Zuerst glaubte er, daß Koy dafür verant wortlich wäre. Der Trommler brauchte sich Fenrir nur bis auf wenige Meter zu nähern, und schon fletschte das Tier die Zähne. At lan hatte sich lange den Kopf über diese ihm unverständliche Reaktion des Fenriswolfs zerbrochen. Vielleicht witterte Fenrir unbewußt Koys PSI-Fähigkeit? All das war jetzt zweitrangig. Fenrir und Koy starrten beide in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aus den Augenwin keln bemerkte Atlan, daß auch Razamon und Gloophy stehengeblieben waren. Und dann hörte er das Rauschen, in das sich ferner Donner zu mischen schien. Der Arkonide hielt den Atem an. Irgend etwas Ungeheuerliches kam von der Eisküste her auf sie zu. Fenrir begann zu winseln und lief unruhig im Kreis herum, während die ungleichen Gefährten versuchten, am Horizont etwas auszumachen. Dann und wann glaubte At lan, eine vage Bewegung wahrzunehmen, die sich über die ganze Horizontlinie er streckte. Das Donnern wurde lauter. Fenrir blieb erneut stehen und starrte in die Ferne. Dann sprang er den Arkoniden an. Er biß in den Ärmel der schwarzen Pelz
5 jacke und versuchte ihn wegzuziehen, von dem Rauschen fort. Es war nicht mehr nötig, denn in diesem Augenblick erkannte Atlan als erster, was da auf sie zugeschossen kam. »Eine Flutwelle!« rief er den Freunden zu. »Eine riesige Flutwelle.« »Wir müssen hier weg!« Es waren Koys erste Worte seit vielen Stunden. Sein Blick verriet Ratlosigkeit. Atlan sah sich schnell um. Etwa einhun dert Meter entfernt standen drei große Bäu me mit starken Ästen, die den Eindruck machten, daß sie ihnen Halt geben könnten. Sie waren ihre einzige Chance. »Dorthin!« rief Atlan. Razamon und Gloophy waren bereits unterwegs. Nur Koy schien seinen Schrecken noch nicht über wunden zu haben. Atlan packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Am Horizont türmte sich die anrollende Flutwelle auf.
* Es war immer wieder der gleiche Traum: Telmten befand sich auf einem großen Floß und fuhr den Fluß hinab, bis er das Gebiet der Dunklen Region erreicht hatte. Er stieg an Land und verankerte das Floß. Vor ihm ragte die schwarze Wand der Dunklen Regi on auf. In jedem Traum fand Telmten eine andere Landschaft vor. Einmal kämpfte er sich durch einen Dschungel, dann wieder beweg te er sich durch ein finsteres Schattenreich. So unterschiedlich diese Bilder auch waren – immer hatte er gegen furchtbare Gefahren zu kämpfen, und immer blieb er am Ende der Sieger. Auch das Ende des Traumes war immer das gleiche: Telmten stand vor dem Golde nen Vlies! Unendlich langsam streckte er seine Hand aus, um danach zu greifen … Und dann war der Traum zu Ende. Telm ten glaubte sich bei jedem Aufwachen zwar noch vage daran zu erinnern, von einem gol denen Licht überflutet und eingefangen zu
6 werden, aber sosehr er sich auch bemühte, diese verschwommenen Bilder wurden nicht klarer. Die Minuten nach dem Erwachen waren die schlimmsten des ganzen Tages. Nicht nur Telmten träumte den Traum von der Dunklen Region und dem Goldenen Vlies – alle Valjaren in Florgst waren von dem Ge danken besessen, einmal in ihrem Leben ei ne Expedition dorthin zu unternehmen. Telmten war eine Ausnahme. Die meisten seiner Mitbürger hatten sich damit abgefun den, ihren Traum nie verwirklichen zu kön nen. Sie gingen ihrem Tagwerk nach und be stellten die Felder mit den von den Technos aus Zbahn und Zbohr gelieferten Geräten, um nachts von dem Goldenen Vlies träumen zu können. Telmten war anders. Lag es in der Natur der Valjaren, den größten Teil des Tages über mißmutig und wortkarg zu sein, so war Telmten ein wahres Ekel. Er taute nur auf, wenn man über das Goldene Vlies sprach. Während der Arbeit auf den Feldern aber re dete er nicht. Er brachte sein Pensum so schnell wie möglich hinter sich und lag dann stundenlang am Ufer des Flusses, um zu träumen. So auch an diesem Abend. Telmten hockte im Gras des Ufers und betrachtete das Spiel der kleinen Wellen. Die Alten beachteten ihn kaum, als sie von den Feldern kamen. Einige lachten lediglich und machten Witze über ihn, aber das störte Telmten schon lange nicht mehr. Er war mit etwas viel Wichtigerem be schäftigt – mit etwas, das er nicht verstand. Zum erstenmal seit seiner frühesten Kind heit hatte er in der letzten Nacht nicht ge träumt. Telmten suchte alle möglichen Deutun gen, aber keine erschien ihm einleuchtend. Als er eine gute Stunde im Gras gesessen hatte, sah er eine Gestalt auf sich zukom men. Die Frauen der Valjaren unterschieden sich auf den ersten Blick kaum von den Männern. Sie waren ebenso untersetzt und plump in ihren Bewegungen. Kaum ein Val-
Horst Hoffmann jare in Florgst wurde größer als anderthalb Meter. Der rundliche Kopf mit den winzi gen, zwischen zahlreichen Speckfalten lie genden Augen saß fast übergangslos auf den Schultern. Die äußere Erscheinung der Val jaren stand in krassem Widerspruch zu ih rem groben Charakter. Mellnel setzte sich ohne Begründung zu Telmten und tat so, als starrte sie gedanken versunken in den Fluß. Telmten fühlte, wie der Ärger wieder in ihm aufstieg. Er wußte ganz genau, was Mellnel zu ihm trieb. Der Valjare war noch jung und im Gegen satz zu seinen Altersgenossen noch ohne einen weiblichen Partner. Seine Eltern hat ten oft genug versucht, Telmten mit einem der Mädchen des Dorfes zu verbinden, aber er hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt. Mochte das Goldene Vlies für alle ande ren nur ein Traum sein – für Telmten war es der Lebensinhalt. Er begnügte sich nicht mit dem Traum. Eines Tages, das hatte er sich geschworen, würde er aufbrechen, und nie mand würde ihn daran hindern können. Auch Mellnel nicht. Sie war eine der drei jungen Valjarenfrauen, die ebenfalls noch ohne Partner waren. »Woran denkst du, Telmten?« fragte sie dann auch. Der Valjare war nicht zu endlo sen Gesprächen aufgelegt, deren Resultat doch immer nur das gleiche war. Mellnel verstand es, der Unterhaltung jedesmal jene Wendung zu geben, an deren Ende der Vor schlag stand, sich miteinander zu verbinden. Dementsprechend fiel Telmtens Antwort aus. »An dich ganz bestimmt nicht, Mellnel!« Die Valjaren verzog beleidigt das Gesicht. Sie musterte ihr Gegenüber eine Weile lang. Selbst ihr fiel auf, daß er heute noch ver schlossener war als sonst. »Du hast doch etwas, oder?« »Ich habe diese Nacht nicht geträumt.« Mellnel wirkte betroffen. Wie alle Valja ren, konnte auch sie sich der Faszination ih res gemeinsamen Traumes nicht entziehen. Deshalb war eine Nacht ohne den Traum
Traum der Valjaren auch für Mellnel unvorstellbar. »Was hat das zu bedeuten, Telmten?« Der junge Valjare sah auf. Mellnels Stim me verriet wirkliches Interesse. Dennoch winkte er lässig ab. »Laß mich in Ruhe, Mellnel, ich habe nachzudenken. Um dir gleich die Antwort auf die Fragen zu geben, die du gleich stel len wirst: sie lautet ›Nein!‹« Aber Mellnel ließ sich nicht so leicht ab speisen. »Im Ernst, Telmten – glaubst du nicht, daß es langsam Zeit für dich wird, die Träu me Träume sein zu lassen und endlich …« »… daran zu denken, mir ein Weib zu nehmen?« Mellnel erstrahlte über das ganze Gesicht. »Und wenn schon eine, dann meinst du si cher, daß du die richtige wärst.« Nun konnte Mellnel nicht mehr an sich halten. »Auf diesen Tag habe ich lange warten müssen, Telmten! Endlich begreifst du! Ich hätte es nicht mehr für möglich gehalten, wenn ich ganz ehrlich bin.« »Ich auch nicht«, brummte Telmten und stand auf. Er warf Mellnel einige deftige Ausdrücke an den Kopf und erklärte ihr, was er von ihr, vom Dorf und von den alten Val jaren hielt. Mellnel hatte einen hochroten Kopf be kommen. Als sie Telmten eine Reihe safti ger Flüche hinterherrief, war jeglicher Lieb reiz aus ihrer Stimme gewichen. Telmten kümmerte sich nicht mehr um sie und zog sich in die Hütte seiner Familie zu rück. Erst als er auf seinem dunklen Lager lag, kehrten die bohrenden Gedanken zu rück. Was hatte die traumlose Nacht zu bedeu ten? Wieder legte der junge Valjare sich alle möglichen Deutungen zurecht. Er verwarf sie alle – außer einer. Irgend etwas stand bevor und kündigte sich auf diese Weise an! Und in Telmtens Gedanken war nur Platz für eines. Plötzlich wußte er genau, daß er schon in
7 den nächsten Tagen, vielleicht sogar bereits morgen, aufbrechen würde, um zur Dunklen Region zu gelangen. Der Gedanke brachte ihn fast um den Verstand. Bunte Bilder begannen vor seinen Augen zu kreisen. Im Lichtschein einer Talgkerze entstand eine imaginäre Welt … Telmten merkte erst, daß er eingeschlafen war, als ein alter Valjare an seinem Arm rüt telte. »Aufwachen, Telmten! Der Fluß …« Der Jüngling hörte die Worte seines Va ters kaum. Er hatte geträumt, aber nicht den Traum vom Goldenen Vlies. Telmten hatte von Fremden geträumt, Wesen, wie sie kein Valjare jemals gesehen hatte. Einer von ihnen mußte ein sogenann ter Göttersohn sein, denn sein Aussehen ent sprach genau den Beschreibungen, die in den Legenden von ihnen gegeben wurden. Telmten fühlte einen unbändigen Drang in seiner Brust. Er spürte, daß ihn nichts in Florgst hielt, auf den Äckern und am Fluß … Was war mit dem Fluß? Telmten erhob sich und sah seinen Vater verärgert an. »Was ist?« fragte er unwirsch. Der Alte schenkte ihm einen ebenso wü tenden Blick und zeigte auf den Ausgang der Lehmhütte. »Während du träumst, ist draußen die Hölle los. Der Fluß tritt über die Ufer!« Telmten war sofort auf den Beinen. Es geht los! durchfuhr es ihn. Irgend et was wird geschehen, und das ist der Anfang! Der Valjare trat aus der Hütte. Er konnte nicht lange geschlafen haben, denn es war noch nicht dunkel. Die Dämmerung hatte gerade eingesetzt.
* Gloophy und Razamon waren als erste bei den Bäumen. Der zweieinhalb Meter große und fünf Zentner schwere Bera warf sich auf den nächstbesten der drei Bäume, der etwa
8 einen Meter über dem Schnee gegabelt war und so zwei Stämme besaß. Gloophy sprang und klammerte sich fest. Sekunden später lag er wieder im Schnee – mit dem Stamm, der mindestens dreißig Zentimeter dick war. Razamon, der sich ebenfalls bereits im Ansprung befunden hatte, hielt an. Er konnte sich nicht um Gloophy kümmern, denn die Flutwelle brauste mit ungeahnter Schnellig keit heran. Es blieben nur Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, höchstenfalls eine Minute. Die kleine Gruppe handelte, als hätte sie das alles sorgfältig einstudiert. Koy und At lan kletterten auf den nächsten Baum, bis sie in einer Astgabel in etwa drei Meter Höhe saßen. Razamon ignorierte die Flutwelle und packte Fenrir. Mit seinen Bärenkräften er kletterte er den dritten Baum, ohne den Wolf loszulassen. Atlan und Koy hatten sich bereits mit Stricken festgebunden. Razamon folgte ih rem Beispiel. Er fesselte Fenrir so an einen mächtigen, fast waagrechten Ast, daß der Wolf sich selbst durch heftiges Strampeln nicht losreißen konnte. Erst dann band der Atlanter sich selbst fest. Die Flutwelle war nur noch wenige hun dert Meter entfernt. Das Donnern hallte in den Ohren der Gefährten. Es schien, als würde überall dort, wo die Wassermassen das Land unter sich begruben, das Erdreich mitgerissen. Die Wasserwand wurde höher und kam mit atemberaubender Geschwindigkeit nä her. Noch einhundert Meter … Atlan fiel erst jetzt auf, daß der Bera nicht bei ihnen war. Er sah hinüber zu Razamon, aber der Atlanter stemmte sich mit dem Rücken gegen einen starken Ast und hatte Fenrirs Nacken umklammert. Fünfzig Meter! »Gloophy!« schrie Atlan. Der Arkonide war ebenfalls so fest an den Baum gebunden, daß er den Kopf nicht ganz drehen konnte. Doch aus den Augenwinkeln heraus glaubte er für einen Moment, schräg
Horst Hoffmann hinter sich am Boden etwas Grünes zu er kennen. Als Atlan den Kopf zurückdrehte, drohte ihm das Herz in der Brust stehenzubleiben. Wilde Panik überkam ihn, und er konnte ge rade noch einen tiefen Atemzug machen. Die Wasserwand türmte sich mindestens fünf Meter hoch vor ihnen auf und traf sie mit unglaublicher Wucht. Atlan bekam einen Schlag und wurde gegen den Stamm gepreßt. Einen Moment lang sah er Koys verzerrtes Gesicht, dann schloß er instinktiv die Augen. Er glaubte, sämtliche Kleider vom Leib gerissen zu bekommen. Die Luft anhalten! mahnte der Extrasinn, als der Arkonide die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren drohte. Die aufge peitschten Wassermassen dröhnten wie Or kane entfesselter Energien in den Ohren. At lan schluckte ein paarmal, um den Druck auszugleichen. Etwas Hartes schlug gegen sein linkes Bein. Der Schmerz lähmte alle anderen Wahrnehmungen. Nicht schreien! Die Luft anhalten! Der Arkonide glaubte, daß seine Lungen jeden Augenblick platzen mußten. Glühende Hitze breitete sich in seinem Kopf aus, und er schaffte es nur mit übermenschlicher Be herrschung, den Drang zu unterdrücken, nach Luft zu schnappen. Immer noch bra chen die Wassermassen über sie herein. Die Flut schien kein Ende zu nehmen. Sie wird vorübergehen! Halte durch! Atlan hatte bunte Punkte vor den Augen. Dann kam der Schwindel, und immer noch preßte er die Lippen aufeinander. Das Rauschen nahm ab. Alles versank in einem Meer der Schwärze und der unendli chen Leere. Atlan spürte seinen Körper nicht mehr. Von irgendwoher kam ein vertrauter Laut. Die Stimme klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Jemand rief seinen Namen. Nicht atmen! Du mußt durchhalten! Wieso sollte er nicht atmen? Was mußte er durchhalten? »Atlan!« Jetzt war die Stimme ganz nah. Der Arko
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nide erkannte sie. Gleichzeitig kehrte der Schmerz zurück. Atlan zwang sich dazu, die Augen zu öff nen. Die Luft fuhr mit ungestümer Gewalt aus seinen Lungen. Gierig sog er neue ein. Als erstes sah er Wasser – nichts als Was ser, überall um sie herum. »Atlan! Komm endlich zu dir!« Razamon! Der Kopf des Arkoniden fuhr herum, bis die Riemen im Nacken schmerz ten. Der Atlanter hatte sich von seinen Fesseln befreit und gestikulierte heftig. Das Wasser reichte fast bis zu ihren Füßen und rauschte immer noch so laut, daß es Atlan schwerfiel, Razamons geschriene Worte zu verstehen. »Koy!« hörte er dann. »Du mußt dich um Koy kümmern – er rührt sich nicht!« Erst jetzt begriff der Arkonide. Der Trommler hing wenige Meter neben ihm im Baum.
* Wäre Koy ein Terraner oder ein Arkonide gewesen, hätte die Flut ihn umgebracht. At lan selbst verdankte sein Überleben nur dem Umstand, daß sein Körper und sein Geist durchtrainiert und durch zahlreiche Aben teuer in Extremsituationen abgehärtet wor den waren. Aber Koy war kein Mensch, sondern der Sohn des Androidenpärchens Kergho und Dagrissa. Sein Metabolismus war nicht mit dem Atlans vergleichbar. Razamon und Fenrir waren ebenfalls wohlauf. Sie hatten die erste Flutwelle heil überstanden. Nur Gloophy war verschwun den. »Hast du etwas von ihm gesehen?« fragte Atlan zu Razamon hinüber. Sie saßen immer noch in den Baumkronen fest. Razamon und Fenrir befanden sich etwa zwanzig Meter weit entfernt. »Er kroch an eurem Baumstamm herum, als die Flut kam«, rief der Atlanter zurück. Im gleichen Augenblick tauchte eine grü ne Pranke aus dem schmutzigen Wasser auf.
Kurz darauf schob sich Gloophys Kopf an die Oberfläche. Der Bera stand fest auf Grund und ragte mit den Schulterblättern aus dem Wasser. »Unkraut vergeht nicht, wie eine mir be kannte Barbarenrasse zu sagen pflegt«, meinte der Arkonide. »Es wird dunkel. Wir sollten zusehen, daß wir eine bequemere Bleibe finden. Außerdem ist eine zweite Flutwelle nicht ausgeschlossen.« Razamon nickte grimmig. Dann zeigte er ein Stück in die Richtung, in der der Fluß liegen mußte. Etwa achtzig Meter entfernt ragte die Kuppe eines kleinen Hügels aus dem Wasser. »Wenn wir dorthin gelangen könnten …« »Das reicht nicht«, sagte Atlan. »Wir müssen weiter nach Südosten, zum Gebiet des Flusses. Dort finden wir mit Sicherheit Dörfer, die von der Überschwemmung ver schont geblieben sind.« »Wir müßten ein Floß bauen«, überlegte Razamon. Atlan sah aus zusammengekniffenen Au gen zu der kleinen Insel hinüber. Langsam wurde es dunkel. Wenn sie vor dem Ein bruch der Nacht noch etwas erreichen woll ten, hatten sie keine Zeit zu verlieren. Plötzlich begann der Arkonide zu grinsen. »Bist du verrückt geworden?« wollte Raz amon wissen. »Das nicht, aber ich habe eine Idee. Gloo phy wird uns helfen.« »Gloophy? Dem steht das Wasser bis zum Hals!« »Eben! Und es scheint ihm nicht viel aus zumachen.« Er beugte sich vor und tätschel te den Kopf des Antimateriewesens. »Nicht wahr, mein Lieber?« »Nih wah?« echote der Bera. Atlan und Razamon sahen sich erstaunt an. Auch Koy stieß laut die Luft aus. »Er beginnt zu lernen! In ein paar Wo chen spricht er Pthora!« »Dann kann er uns vielleicht auch verra ten, wie wir mit unseren Pelzen und in dem Eiswasser zu dem Hügel kommen«, bemerk te Razamon sarkastisch.
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Atlan sah ihn verständnislos an. »Ich dachte, das wäre längst klar – wir lassen uns von ihm tragen …« »Agen!« kam es von Gloophy. Atlan nickte. »Siehst du, er ist einverstanden.«
* Es gelang dem Arkoniden überraschend schnell, Gloophy seine Absicht klarzuma chen. Der Bera trug zuerst ihn, dann Koy und schließlich Razamon durch das Eiswas ser. Die Männer hatten einige starke Äste aus den Baumkronen geschlagen, indem sie die Spitzen ihrer Pektos als Beile verwende ten. Jeder schleppte soviel Holz mit hinüber, wie er gerade noch tragen konnte. Selbst Koy nahm, auf Gloophys Schultern sitzend, zwei dicke, knapp drei Meter lange Äste mit. Sie erreichten wohlbehalten die kleine In sel. Fenrir war neben dem Bera her ge schwommen, als Razamon mit einer ganzen Ladung kleiner Stämme als letzter den Baum verließ. Trotzdem hätten sie noch ei nige Male hin und her pendeln müssen, wäre ihnen nicht das Glück zu Hilfe gekommen. Das Wasser hatte massenweise Trümmer mitgeführt und auf der Kuppe des kleinen Hügels angeschwemmt. Nach einer kleinen Ruhepause machte sich die Gruppe an die Arbeit. Es schien fast unmöglich, aus dem vorhandenen Material in kürzester Zeit ein Floß zu bauen, das auch in der Lage war, Gloophy zu tragen, aber nach knapp vier Stunden Arbeit hatten sie es geschafft. Es war längst dunkel, nur der Mond stand hell am Himmel und spendete gerade noch aus reichend Licht. Normalerweise hätten sie bis zum Morgen gewartet, aber die Angst vor einer zweiten, noch katastrophaleren Flutwelle trieb sie im mer wieder an. Koy war noch damit beschäftigt, die ein zelnen Teile des Floßes mit zusätzlichen Seilen wieder und wieder aneinander zu be festigen, und Gloophy sah ihm interessiert
zu, als Razamon sich zu dem Arkoniden setzte. Atlan hatte die Pelzkapuze und die Hand schuhe abgelegt. »Ins Schwitzen gekommen?« fragte der Atlanter grinsend. Atlan sah auf und musterte den Freund ei ne Zeitlang. Seitdem Razamon nicht mehr unter seinen Anfällen litt, war er zugängli cher geworden. »Es war ein hartes Stück Arbeit«, entgeg nete er. »Aber deshalb habe ich die Sachen nicht ausgezogen. Hast du nicht auch das Gefühl, daß es wärmer wird?« »Das wollte ich hören«, sagte Razamon. Atlan nickte. »An der Eisküste müssen unvorstellbare Verhältnisse herrschen. Ich bin jetzt sicher, daß der Ausfall der Gravitationsmanipulie rung im Bereich der Eiszitadelle die Ursache radikaler klimatischer Umkehrungen ist. Es gibt keine andere Erklärung.« »Dann wird es bald großen Ärger geben. Die Herren der FESTUNG werden sich da von überzeugen wollen, wer für das Ganze verantwortlich ist. Und wenn sie entdecken, daß unser liebesbedürftiger Freund ver schwunden ist, wird Atlantis zu einem Toll haus werden.« »Gloophy«, überlegte Atlan. »Manchmal werde ich nicht schlau aus ihm. Er versteht unsere Sprache nicht, dennoch begriff er so fort, was wir vorhatten, als wir hilflos in den Bäumen hockten. Wenn man ihn so sieht, könnte man den Eindruck haben, es mit ei nem verspielten Giganten zu tun zu haben.« Atlan redete bereits von »seiner Sprache« und meinte damit das Pthora – die Sprache der Wesen von Atlantis. Razamon zuckte die Schultern. »Vielleicht werden wir ihn nie begreifen. Gloophy ist derart fremdartig, daß das, was wir als Verspieltheit ansehen, möglicherwei se Ausdruck einer ungeheuer komplizierten Psyche ist. Wir müssen ihn nehmen, wie er ist. Aber was wirklich in ihm vorgeht, wer den wir frühestens erfahren, wenn er gelernt hat, sich unserer Sprache zu bedienen.«
Traum der Valjaren Atlan wechselte das Thema. »Glaubst du im Ernst, daß das Floß Gloophy tragen wird?« »Ich bin sicher.« »Dann sollten wir aufbrechen. Ich nehme an, daß die Wassermassen sich in die Ebene des Xamyhr wälzen werden. Wenn wir Glück haben, sind wir im Morgengrauen auf dem Fluß, vielleicht sogar in der Nähe einer Ansiedlung. Hast du eine Ahnung, mit wem wir es dort zu tun haben werden?« »Leider nicht, Atlan. Ich weiß nur eines.« »Und?« »Wir nähern uns mit jedem Kilometer, den wir zurücklegen, der FESTUNG.« »Wir sollten uns keine falschen Vorstel lungen machen«, warnte der Arkonide. »Vielleicht ist das, was uns dort erwartet, noch viel fremdartiger als alles, was wir bis her kennenlernten. Je unbefangener wir dann sind, desto besser stehen unsere Chancen.« »Es fällt mir schwer, an eine echte Chan ce zu glauben«, murmelte der Atlanter. Er sah auf. »Aber wenn sie noch so klein wäre, At lan, ich schwöre dir, ich werde alles daran setzen, diese Verbrecher zu bestrafen. Es ist meine Welt, die sie in eine Hölle verwandelt haben. Sie haben Wesen zu Bestien ge macht, die niemals wirklich bösartig waren, denke nur an Muur-Arthos, Thalias zwei köpfigen Diener. Der Kleine hätte wahr scheinlich keiner Maus auch nur ein Haar krümmen können, wenn er nicht durch das aufgeladene Wasser des Dämmersees vergif tet worden wäre.« Atlan sah eine Weile sehr nachdenklich aus. Dann stand er abrupt auf und winkte ab. »Das hat uns im Augenblick nicht zu kümmern. Wir müssen hier weg!« Eine halbe Stunde später befanden die fünf sich auf dem Floß und trieben im fahlen Licht des Mondes auf das Quellgebiet des Xamyhr zu. Der Mond der Erde! dachte Atlan bitter. Luna! Wie viele solcher Himmel mochte At lantis während seiner Reise durch die Dimensionen bereits gesehen haben? Wie vie
11 len Welten hatte es das Unheil gebracht?
* Telmten hatte sich im Lauf der Jahre dar an gewöhnt, als Außenseiter behandelt zu werden. Er hatte sich sogar daran gewöhnt, daß er von seinen Altersgenossen mit offe ner Feindschaft betrachtet wurde. Sie haßten ihn, weil er anders war. Telm ten jedoch glaubte, daß sie in erster Linie neidisch auf ihn waren, weil er dem Sinn al len Seins näherstand als sie. Eigentlich war Mellnel die einzige, die überhaupt von sich aus kam, um mit ihm zu reden. In seiner Verblendung glaubte der junge Valjare jedoch, daß die anderen sie schickten, um ihn zu einem der Ihren zu ma chen, was für Telmten mit der totalen Ver dummung gleichkam. Er würde sich nie damit begnügen kön nen, nur zu träumen. Als der Fluß über die Ufer trat und alle Valjaren damit beschäftigt waren, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen oder Däm me zu bauen, blieb Telmten in der Lehmzie gelhütte seiner Familie und suchte sich seine Ausrüstung zusammen. Er wollte bereit sein, wenn die Fremden kamen. Telmten war sicher, daß es kein nor maler Traum gewesen war, der ihm den Göt tersohn und seine merkwürdigen Begleiter gezeigt hatte. Telmten trug gefütterte Lederbekleidung und hochschäftige Stiefel. Um seine Hüfte baumelten einige Beutel mit Lebensmitteln und kleinen Wertgegenständen, die ihm in der Dunklen Region vielleicht von Nutzen sein würden. Außerdem trug er einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen über den Schultern. Kurz vor Mitternacht erschien ein junger Valjare in der Hütte und forderte Telmten auf, bei den Dammbauarbeiten zu helfen. Die Dorfalten hatten eine Flutwelle voraus gesagt. Das plötzliche Hochwasser konnte nur von spontanen Schmelzprozessen an der Eisküste herrühren. Dann aber stand ihnen
12 das Schlimmste noch bevor. Telmten gab dem Abgesandten zu verste hen, daß er mit derartigen Banalitäten nicht belästigt werden wollte. Er verkündete, daß er sich zum Aufbruch in die Dunkle Region vorbereite. Nur von den Fremden, die er im Traum gesehen hatte, schwieg er. Zehn Minuten später war der Valjare zu rück, diesmal nicht allein. Zwei stämmige Männer befanden sich bei ihm und bauten sich vor Telmten auf. Einer von ihnen, der Wortführer, war Hol ret, Mellnels Bruder. Er und Telmten waren Intimfeinde – und das nicht nur, weil Telm ten Mellnel verschmähte. Holret hatte in der Vergangenheit oft gefordert, Telmten aus dem Dorf zu verbannen, weil er in seinen Augen ein Faulenzer war. Jetzt sah er offensichtlich die Chance ge kommen, Telmten eine längst überfällige »Belehrung« zu verpassen. Aber Telmten schwebte bereits viel zu sehr in seinen Träu men, um die Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht hätte er das Unheil sonst verhin dern können. »Du weigerst dich, uns bei der Arbeit zu helfen«, stellte der Stämmige fest. »Du willst in die Dunkle Region aufbrechen, um das Goldene Vlies zu holen, Träumer?« »Das geht dich nichts an!« preßte Telmten hervor. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die beiden anderen, die sich von Holret gelöst hatten und ihn einzukreisen begannen. Sie würden ihn nicht aufhalten! Jetzt nicht mehr! Holret entblößte eine Reihe gelber Zähne. »Es gibt eine Menge Dinge, über die wir uns einmal unterhalten sollten, Träumer. Zum Beispiel die Arbeit am Damm – oder Mellnel …« Telmten wich ein paar Schritte zurück, um die beiden anderen nicht hinter sich ge langen zu lassen. Er blieb erst stehen, als er die Wand der Hütte im Rücken spürte. In normalem Zustand hätte er gemerkt, daß Holret lediglich auf eine Rauferei aus war. Das war in den Dörfern der Valjaren nichts Ungewöhnliches. Jetzt aber geriet
Horst Hoffmann Telmten in eine Art leichte Panik. Es ging plötzlich um so vieles! Holret und seine Begleiter waren gekom men, um ihn an seinem heiligen Auftrag zu hindern! Er mußte Zeit gewinnen … »Mellnel ist selbst schuld«, sagte er, ohne einen der drei aus den Augen zu lassen. »Sie sollte mich in Ruhe lassen, außerdem hat sie einen großen Fehler.« Holret trat einen Schritt vor. »Und der wäre?« »Ihr Bruder!« Das Grinsen auf Holrets Gesicht ver schwand und machte einem anderen Aus druck Platz. Telmten hatte ihn oft genug ge sehen, bevor er Prügel von Holret und sei nen Kumpanen bezogen hatte. Jetzt aber glich die Grimasse des Stämmigen einer To desdrohung. »Bleibt zurück!« rief Telmten. »Ich warne euch – kommt nicht näher!« Holret grinste wieder. »Ich glaube, er hat vor uns Angst«, sagte er zu seinen Freunden. Es war der natürliche Umgangston zwischen den Valjaren, aber Telmten glaubte plötzlich, die Stimmen von bösen Dämonen zu hören, die gekommen waren, um ihn aufzuhalten. Holrets Begleiter begannen zu lachen! Es dröhnte in Telmtens Ohren wie Marter aus der tiefsten aller Höllen. »Zurück!« schrie er wieder und riß sich den Bogen von der Schulter. Bevor einer der Eindringlinge reagieren konnte, hatte er einen Pfeil eingelegt und zielte auf Holret. Der Stämmige blieb stehen und blickte Telmten fassungslos an. »Er zittert ja, unser Träumer! Er wird doch nicht gleich …« »Ich werde dich töten, wenn du näher kommst, Holret, das schwöre ich!« »Er meint es ernst!« sagte der Valjare, der rechts von Telmten stand. Holret schien einen Augenblick lang unsi cher. Dann besann er sich darauf, daß er einen Ruf zu verlieren hatte. Holret war der gefürchtetste unter den Raufbolden von
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Florgst. Er war gekommen, um Telmten eine Tracht Prügel zu verabreichen, und nichts würde ihn davon abhalten können. »Leg das Ding weg, Telmten. Laß uns die Sache wie Männer austragen!« »Einen Schritt, Holret, einen einzigen!« Der Stämmige streckte beide Arme als Zeichen der Friedfertigkeit von sich. Seine Kumpane wurden zusehends unruhig. Sie ahnten, daß Telmten nicht spaßte. Vielleicht wäre das Unglück verhindert worden, wenn nicht plötzlich Telmtens Vater im Eingang der Lehmhütte erschienen wäre. »Die Flut!« brüllte der Alte aus voller Lunge. »Rettet euch auf den Hügel oder auf die Dächer!« Telmten ließ sich einen Augenblick ab lenken. Das genügte Holret, um seinen Be gleitern ein Zeichen zu geben. Es war sein eigenes Todesurteil. Telmten sah zwei Schemen auf sich zukommen und ließ die Sehne los. Der Pfeil traf Holret mit ten in die Brust. Was dann geschah, erlebte er nur hinter einem dichten Schleier mit, der sich über sein Bewußtsein gelegt hatte. Zwei kräftige Arme packten ihn und schleppten ihn aus der Hütte. In der Ferne rollte dumpfer Don ner über das Land, ein mächtiges Rauschen … Telmten wurde vorwärts gestoßen. Sie trieben ihn einen Hügel hinauf, zu einer alten, verfallenen Hütte. Und dann kam die Flut und verschlang das Dorf …
* Was Atlan gehofft hatte, erfüllte sich. Im Morgengrauen des neuen Tages erreichte das Floß mit den fünf Flüchtlingen den Fluß Xamyhr. Das Schmelzwasser aus dem Nor den strömte in die Flußebene, in Richtung der im Südosten liegenden Deltamündung. Das Flußbett lag im Mündungsgebiet zwi schen zwei flachen Hügelketten, die jetzt wie Landrippen rechts und links aus dem Wasser ragten. Die natürlichen Ufer waren
überflutet. Atlans Gruppe mußte sich so lange an den beiden Landbänken orientieren, bis sie die ersten unter Wasser stehenden Dörfer vor sich sahen. Es war schwer abzuschätzen, wie weit sie bereits den eigentlichen Flußlauf herabge trieben waren. Die ersten Dörfer waren verlassen. Die Lehmziegelhütten standen bis zur Hälfte un ter Wasser. Es wurde Tag, und die ersten Siedlungen lagen hinter den Flüchtlingen, als Razamon die Hand ausstreckte und auf die rechts von ihnen aus dem Wasser ragende Landrippe zeigte. »Eingeborene«, stellte er fest. »Sie müs sen die Flut geahnt und sich auf die Hügel in Sicherheit gebracht haben.« »Wir bleiben auf dem Fluß«, entschied Atlan. »Früher oder später wird der Wasser spiegel sinken, wenn sich das Gelände zu den Seiten hin öffnet. Ich bin sicher, daß wir bald ein Dorf finden, das noch nicht aufge geben wurde.« »Die Flutwelle kam überraschend«, über legte der Atlanter. »Wie konnten sie sie früh genug erahnen, um die Dörfer zu verlas sen?« »Für uns kam sie unerwartet. Aber ich bin sicher, daß das erste Schmelzwasser in eini gen tiefer liegenden Gegenden schon vorher in den Fluß gelangte und ein Hochwasser auslöste. Es war kaum schwer für sie, den richtigen Schluß zu ziehen.« Sie trieben zwischen zwei ausgedehnten Baumgruppen hindurch, die den Fluß um säumten. Ab und zu tauchte ein Teil des Ufers auf und erleichterte ihnen die Orien tierung. Atlans Beinwunde schmerzte wieder. Ein vorbeitreibendes Trümmerstück hatte ihm die Lederhose am Oberschenkel aufgerissen, als er an den Baumstamm gefesselt war. Der Arkonide konnte von Glück reden, daß er nur eine Fleischwunde davongetragen hatte. Sie war so gut wie möglich verbunden. In der Ferne tauchten die Umrisse eines
14 weiteren, größeren Dorfes auf. Atlan hatte den Eindruck, daß das Wasser bereits nicht mehr so hoch über der Landschaft stand, die nun zusehends in eine Art Tundra überging. »Weißt du etwas über dieses Gebiet und seine Bewohner?« fragte er Koy. Der Trommler hatte während der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen. Auch jetzt wanderte sein Blick hinüber zu Fenrir, der am Rand des Floßes hockte und ihn nicht aus den Augen ließ. Koy schien zu befürch ten, daß schon die geringste Bewegung oder der Klang seiner Stimme eine Provokation für den Fenriswolf darstellen würde. »Nicht viel, Atlan«, flüsterte er. Als Fenr ir ruhig blieb, fuhr er ebenso leise fort: »Die Eingeborenen betreiben Landwirtschaft. Sie bauen alle möglichen Grundnahrungsmittel an und nennen sich, soviel ich gehört habe, Valjaren.« Das Floß trieb wieder auf eine Baumgrup pe zu. Plötzlich streckte Razamon den Arm aus. »Dort hockt etwas in einer Astgabel.« »Vielleicht ein anderer Überlebender der Flut«, vermutete Atlan. »Wir müssen daran vorbei – sehen wir uns den Burschen an.« Der »Bursche« entpuppte sich bei nähe rem Hinsehen als ein vogelähnliches Wesen mit langem Hals, auf dem ein etwa faust großer Kopf mit zwei klugen Augen saß, und ungeheuer kräftigen Beinen. Es glich ei nem jungen Strauß. Nur die Flügel fehlten – an ihrer Stelle ragten zwei zurückgebildete Stummel aus dem »Oberkörper«. Es war offensichtlich, daß das Tier nicht fliegen konnte und hilflos in dem Baum fest hing. Wenn das Hochwasser lange anhielt, würde es jämmerlich zugrunde gehen. »Wie ist es, Atlan? Nehmen wir noch Gä ste auf?« Das Wesen beantwortete Razamons Frage auf seine Weise, indem es sich, als das Floß nur fünf Meter entfernt vorbeitrieb, mit den kräftigen Läufen abstieß und zwischen den Gefährten landete. Aus den großen runden Augen sah es einen nach dem anderen an. Dann gab es ein
Horst Hoffmann paar gackernde Laute von sich und schmieg te sich an Razamons Beine. Aufgerichtet er reichte es eine Höhe von einem knappen Meter. »Das fehlte noch!« stöhnte der Atlanter. »Noch eine liebestolle Kreatur!« Atlan schien einen Augenblick ratlos. Er befürchtete, daß der neue Passagier nur Un ruhe stiften würde. Andererseits konnten sie ihn nicht einfach über Bord werfen … Das Wesen sah ihn erwartungsvoll an, als ob es erkannt hätte, daß der Arkonide der ei gentliche Anführer der Flüchtlinge war. Plötzlich geschah etwas, mit dem er am wenigsten gerechnet hatte. Gloophy, der sich bisher still verhalten hatte, stand auf und legte seine riesige Hand auf den Rücken des Vogelähnlichen. Einen Augenblick lang befürchtete Atlan, daß er ihn einfach zer quetschen würde. Aber Gloophy hatte nichts dergleichen im Sinn. Der Bera verzog das Gesicht, bis der große Mund von einem Ohr zum anderen reichte. Mittlerweile kannten die anderen das Antimateriewesen gut genug, um zu wissen, daß diese Miene Zärtlichkeit aus drückte. Gloophy hob das Wesen auf und zog es an seine Brust. Das Floß begann heftig zu schlingern, als er mit seinem neuen Freund über die Balken stampfte und sich setzte. »Ich werde verrückt!« stieß Razamon her vor. »Da haben sich die Richtigen gefunden …« Hätte er gewußt, was tatsächlich das Er gebnis von Gloophys Schmuserei sein wür de, er wäre vom Floß gefallen. »Wir nähern uns dem Dorf«, sagte Atlan und beendete damit das Zwischenspiel. »Wir haben scheinbar Glück, dort sind Leute auf den Dächern.« »Abwarten«, sagte Razamon skeptisch. Die Befürchtungen des Atlanters bewahr heiteten sich schneller, als sie sich hätten träumen lassen. Das Floß trieb langsam auf die Siedlung zu. Fast auf jedem Dach standen untersetzte Gestalten und beobachteten die Ankömmlin
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ge. Sie verhielten sich vollkommen ruhig, bis das Floß nur noch etwa fünfzig Meter von den ersten Hütten entfernt war. Atlan wollte ihnen eine Begrüßung zuru fen, als sie sich wie auf ein Kommando auf richteten und ihre bisher verborgenen Bögen zum Vorschein brachten. Im nächsten Moment ging ein Pfeilregen auf das Floß nieder. Razamon und Koy schrien gleichzeitig auf.
2. »Mellnel!« Telmten war verzweifelt. In einem kurzen Anfall von Tobsucht hämmerte er mit den Fäusten gegen die stabile Wand seines Ge fängnisses. Schlimme Ahnungen waren in ihm aufge stiegen, als die Männer den Hügel verlassen und sich wild gestikulierend in die kleinen Boote begeben hatten. Er wußte, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Aber er hatte ihre Worte im allgemeinen Durchein ander nicht verstehen können. Telmten war allein in der kleinen Hütte. Die Tür war von außen verriegelt, so daß keine Wachen benötigt wurden. Sobald das Hochwasser vorüber war, wür de man ihm die Strafe zukommen lassen, die auf Tötung eines Stammesmitglieds stand. Wenn die Technos das nächste Mal mit ih ren Zugors kamen, um Geräte und Dünge mittel zu bringen, würden sie ihn diesen Kerlen aus Zbohr und Zbahn ausliefern, und man würde nie mehr wieder von ihm hören. Telmten wußte nicht, was mit den Gesetzes brechern geschah, die von den Technos weggebracht wurden, aber unter den Valja ren zweifelte niemand daran, daß es einem Todesurteil gleichkam. Doch daran dachte Telmten nicht. Sein Leben bedeutete ihm nichts mehr, wenn das zutraf, was er befürchtete. Er mußte wissen, was auf dem Fluß ge schah! Wieder stellte der junge Valjare sich auf den kleinen Schemel und steckte den Kopf
aus dem schmalen Fenster. Der Hügel, etwa achtzig Meter vom nächsten Haus entfernt, war verlassen – bis auf eine Person. »Mellnel!« rief Telmten wieder. »Mellnel, was ist dort unten los? Was bedeutet die plötzliche Stille?« Die Valjarin hockte auf einem Stein und starrte konzentriert auf das Dorf hinab, das sich Telmtens Blicken entzog. Von seinem winzigen Fenster aus konnte er nur einige abseits gelegene Hütten sehen, die bis unter die Dächer von Wasser umgeben waren. Überall schwammen Trümmerstücke und Einrichtungsgegenstände, die die verheeren de Flutwelle aus den Hütten gespült hatte. Nur kurz dachte Telmten daran, daß er jetzt wahrscheinlich tot wäre, wenn er im Dorf auf die Fremden gewartet hätte. Aber das war im Augenblick zweitrangig. Noch immer hörte er keinen Laut. Wenn sein Verdacht zutraf … »Mellnel, so höre doch!« Endlich drehte die Valjarin sich um. Telmten zuckte unwillkürlich zusammen, als er in ihr Gesicht sah. In ihrem Blick fehlte jedes Gefühl. »Halte den Mund, Telmten! Gib dir keine Mühe, wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen!« »Mellnel – bitte!« Für einen Moment wurde Mellnel unsi cher. »Du hast meinen Bruder getötet, Telmten. Du bist es nicht wert, den Illinx zum Fraß vorgeworfen zu werden.« »Es war Notwehr, Mellnel! Ich … ich wollte es nicht!« Sie drehte sich wieder um und sah hinab ins Dorf. Irgend etwas geschah dort, und die Ungewißheit raubte Telmten fast den Ver stand. »Mellnel, bitte komm her!« Die Valjarin reagierte nicht. »Bitte, Mellnel!« Als sie aufstand und auf die Hütte zu schritt, standen ihr Tränen in den Augen. Sie mußte unter furchtbaren Qualen leiden. Telmten wartete ungeduldig, bis sie dicht
16 vor ihm stand. »Was geschieht auf dem Fluß, Mellnel? Wieso höre ich die Männer und die Frauen nicht? Es ist alles so still geworden …« Sie sah ihn lange an, als ob sie mit sich kämpfte. Aber das stumme Flehen in Telm tens Blick brach den Bann. Sie wurde zuse hends unsicherer. »Es sind Fremde auf dem Fluß …« Telm ten spürte, wie seine Hände zu zittern began nen. Ein plötzlicher Schwindel ergriff ihn, und nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten. Die Fremden! Der Traum! Telmten gelang es, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. »Sie kommen … auf einem Floß, Mell nel? Sind es große Wesen?« Die Valjarin starrte ihn an wie einen Geist. Es war offensichtlich, daß Telmten ihr unheimlich wurde. »Ja, aber … woher …?« »Was machen unsere Leute?« »Sie lassen die Plünderer so weit heran kommen, daß sie sie mit den Pfeilen errei chen können. Mirrarn, unser Ältester, ist selbst bei den Männern.« Telmten schnappte nach Luft. »Plünde rer? Sie wollen sie töten?« Mellnel nickte nur. Sie brachte kein Wort heraus. »Das dürfen sie nicht, Mellnel! Du mußt sie davon abhalten. Einer von ihnen ist ein Göttersohn!« Endlich fand Mellnel ihre Sprache wieder. Sie war instinktiv zwei Schritte vom Fenster der Hütte zurückgetreten. »Woher … woher wußtest du, daß Frem de zu uns kommen würden?« »Das spielt jetzt keine Rolle. Du mußt sie warnen! Du mußt …« »Es ist unmöglich, Telmten«, unterbrach die Valjarin die flehenden Worte des Gefan genen. »Ich habe kein Boot. Außerdem …« Sie trat noch weiter zurück und sah ange strengt zum Dorf hinab. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Was ist, Mellnel?« »Es ist zu spät, sie …«
Horst Hoffmann Mellnel brauchte nicht auszusprechen. Das Singen der Pfeile durchbrach die Stille. Und dann ertönten zwei langgezogene Schmerzensschreie. Das waren nicht die Stimmen von Valja ren! Für Telmten brach eine Welt zusammen. Er sank an der Wand herab und kippte vom Schemel auf den harten Boden. Sie waren gekommen, um ihn zu holen, davon war er felsenfest überzeugt. Seine frü heren Stammesgenossen hatten sie getötet. Telmten hatte nur noch den Wunsch zu sterben.
* Etwa zehn Kilometer flußabwärts von Florgst befand sich eine weitere Siedlung der Valjaren. Die Einwohner hatten ihr Dorf verlassen, als die Flut kam. Etwas abseits befand sich auf einer Anhö he eine kleine Hütte, deren Bewohner ge blieben waren. Die Tür war verschlossen, und durch die beiden kleinen Fenster drang nur spärliches Licht. Auf einer Liege wälzte sich ein alter Mann im Fieber. Ein etwa achtjähriger Jun ge saß an seinem Lager und kühlte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn. Nach einigen Minuten kam der Greis zur Ruhe. Er schlug die Augen auf und sah den Jungen lange an. »Willst du es mir nicht sagen?« flüsterte der Alte. Der Junge schien aus einer tiefen Trance aufzuwachen. Er starrte den Greis unsicher an. »Woher weißt du …?« »Ich sehe seit langem, daß dich etwas be schäftigt, Bördo. Sage mir, was es ist.« Der Junge schwieg einige Minuten lang. Schließlich sagte er: »Es kommt jetzt immer öfter vor …« »Was, Bördo?« Der Junge stand vom Lager des Alten auf. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
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»Mir ist, als hörte ich die Stimme meines Vaters …«
* Mirrarn hob beschwörend beide Hände. »Hört auf zu schießen!« Der Dorfälteste erntete verwunderte und mißmutige Blicke. Die Männer hatten be reits den zweiten Pfeil aus den Köchern ge zogen und erneut auf die vermeintlichen Plünderer angelegt. »Was ist in dich gefahren, Mirrarn?« frag te ein in schwarzes Leder gekleideter junger Valjare. Er war einer der beiden, die mit Holret in Telmtens Hütte eingedrungen wa ren, und ebenfalls als Heißsporn bekannt. Seit Holrets Tod war er wie besessen. Er reagierte seine Aggressionen an allem ab, das ihm in den Weg kam. Einen Mann, der Telmten verteidigt hatte, hatte er so lange verprügelt, bis es schließlich drei anderen gelungen war, ihn zu bändigen. »Ich sagte, ihr sollt aufhören – das muß genügen. Dieser blonde Mann auf dem Floß …« »Er wird genauso unter unseren Pfeilen sterben wie die beiden anderen! Sieh dir ihre Kleidung und die riesige Kreatur an. Es sind Plünderer aus dem Norden. Wenn wir sie zu nahe herankommen lassen, werden sie uns und unsere Frauen töten!« Der Älteste ballte die Hand zur Faust und schlug sie dem Schwarzgekleideten auf den Schädel. Das wirkte, die beiden Valjaren, die außer ihnen auf dem Dach der Lehmziegelhütte standen, senkten die Bögen. Auch die Män ner auf den anderen Dächern zögerten. »Der hellhaarige Fremde muß einer der Göttersöhne sein!« rief Mirrarn seinen Stammesgenossen zu. Die Valjaren starrten ungläubig zu dem Floß hinüber, das jetzt kaum noch zwanzig Meter vom ersten Dach entfernt war. Mirrarn hatte recht! Der Hellhaarige ge hörte zu keinem der bekannten Stämme, und auch die Plünderer, die dann und wann aus
dem Norden oder aus der Wüste Fylln ka men, sahen anders aus. Aber dann hatten sie sich versündigt! Zwei seiner Begleiter lagen, vom Gift der Pfeile gelähmt, auf dem Floß. Mirrarn und die anderen Valjaren warte ten, bis sie heran waren. Der Hellhaarige warf ein Seil herüber, Mirrarn fing es auf und gab den Männern ein Zeichen. Sie wickelten das Tau um den Kamin der Hütte und zurrten es fest. Der vermeintliche Göttersohn sprang mit einem gewaltigen Satz vom Floß, als es an das Dach stieß. Er beachtete die anderen Valjaren überhaupt nicht, sondern kam di rekt auf Mirrarn zu. Der Älteste begann zu zittern, als er in die Augen des Fremden blickte. Er fühlte sich von zwei kräftigen Armen an der Brust ge packt und in die Höhe gerissen. »Wenn meine Freunde sterben«, flüsterte der Hellhaarige, »dann werdet ihr es bereu en.«
* Atlan strahlte nur nach außen hin Ruhe aus, innerlich machte er sich große Vorwür fe. Sie waren leichtsinnig gewesen, gerade er hätte wissen müssen, daß sie sich nicht so ohne weiteres dem Dorf nähern durften. Es kam jetzt in erster Linie darauf an, die Gruppe zusammenzuhalten. Der Alte, der sich Mirrarn nannte, hatte sie zu einem der abseits gelegenen Hügel dirigiert, wo die Frauen und Kinder der Dorfbewohner in Si cherheit gebracht worden waren. Sie beob achteten jede Bewegung der Ankömmlinge mit großer Scheu. Kein Wunder, dachte der Arkonide, wir bieten wirklich keinen alltäglichen Anblick. Mirrarn hatte ihnen eine leerstehende Lehmziegelhütte zur Verfügung gestellt. Razamon und Koy lagen auf zwei weichen Lagern. Beide hatten das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Mit Mühe hatte Mirrarn einige Valjaren frauen dazu bewegen können, sich um die
18 Wunden zu kümmern. Gloophy saß in einer Ecke der Hütte und verhielt sich schwei gend, während Fenrir neben Razamon lag und leise winselte. Mirrarn betrat die Hütte. Atlan hatte be schlossen, seine Rolle als Göttersohn zu ak zeptieren. Der Alte unterhielt sich kurz mit den Frauen, dann setzte er sich zu dem Ar koniden. »Es wird ihnen bald besser gehen«, sagte Mirrarn. »Sie sind nur vorübergehend ge lähmt. Wir verwenden das Gift der Pfeile zur Jagd und bei besonderen Anlässen.« Atlan runzelte die Stirn. »Was verstehst du unter ›besonderen An lässen‹, Mirrarn?« »Nun, etwa bei unseren Festen, wenn die Spiele der jungen Männer stattfinden …« »Willst du mir erzählen, daß ihr euch ge genseitig mit vergifteten Pfeilen beschießt?« Mirrarn schien sich über die Frage zu wundern. »Selbstverständlich ist das Gift harmlos. Es lähmt den Getroffenen ein paar Stunden lang, und wir verhindern auf diese Weise, daß eine der beiden Parteien falsch spielt. Wenn nur noch Angehörige von einer Grup pe …« »Schon gut!« wehrte der Arkonide ab. »Aber ihr wolltet uns nicht lähmen, Mirrarn! Hätten wir weniger Glück gehabt, dann wä ren meine Gefährten tot! Ein paar besser ge zielte Pfeile …« Mirrarn senkte schuldbewußt den Kopf. »Versuche, uns zu verstehen. Wir hielten euch für gefährliche Plünderer, die sich die Flut zunutze machen wollten.« Atlan fühlte Mitleid für den Alten in sich aufsteigen. Diese Eingeborenen hatten es nicht leicht. Sie schufteten hart auf ihren Feldern, um die Früchte ihrer Arbeit schließ lich an die FESTUNG abzugeben. Auf Pthor gab es nur wenige Glückliche, die nicht in die umfassende Arbeitsteilung des Dimensi onsfahrstuhls eingegliedert waren und so et was wie Freiheit besaßen. »Erzähle mir von deinem Volk«, forderte Atlan den Alten auf.
Horst Hoffmann »Wir leben und arbeiten am Fluß«, be richtete Mirrarn bereitwillig. »Es gibt viele Dörfer. Die ganze Flußebene ist mit Feldern übersät, die nun überschwemmt sind. Jedes Dorf ist auf ein bestimmtes landwirtschaftli ches Gut spezialisiert. In regelmäßigen Ab ständen erscheinen die Technos mit ihren Zugors und liefern uns alles, was wir zur Verrichtung unserer Arbeit benötigen. Zur Erntezeit kommen sie mit großen Lasttrans portern und holen den größten Teil der Ernte ab.« Atlan nickte, als er seine Vermutungen bestätigt hörte. »Wie weit ist es bis zur Mündung des Flusses?« »Etwa achtzig Kilometer.« »Ich fürchte, daß bald eine zweite Flut welle kommen wird. Es wäre ratsam, weite re Dämme zu bauen, damit die Hütten auf den Hügeln geschützt sind.« »Du hast recht, ich werde den Männern Bescheid sagen«, meinte Mirrarn. Er wollte sich erheben, zögerte dann aber. Atlan sah, daß der Valjare etwas auf dem Herzen hatte, aber offenbar nicht den Mut fand, eine Frage zu stellen. »Was möchtest du wissen, Mirrarn?« Der Alte gab sich einen Ruck. In seinen Augen stand ein heller Schimmer, als er fragte: »Wenn du einer der Göttersöhne bist, mußt du viel mehr über unsere Welt wissen als wir. Ist es wahr, daß in der Dunklen Re gion das Goldene Vlies darauf wartet, von einem der unseren geholt zu werden?« Nur mit Mühe verbarg Atlan seine Über raschung und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Das Goldene Vlies! Wieder wurde ein Begriff aus den Sagen der alten Völker der Erde auf unerwartete Weise lebendig. Der Arkonide erinnerte sich schlagartig an die Argonautensage. Das Goldene Vlies stand symbolisch für »Sonne« – wie war das damit zu vereinbaren, daß Mirrarn von einer Dunklen Region sprach?
Traum der Valjaren In seiner Überraschung machte der Arko nide einen Fehler. »Was wißt ihr vom Goldenen Vlies, Mir rarn? Und wo befindet sich die Dunkle Re gion?« Der Gesichtsausdruck des Alten änderte sich. An die Stelle von unbändiger Erwar tung trat der Zweifel. Mirrarn wirkte plötz lich verschlossen. »Wir müssen Dämme bauen«, sagte er knapp und verließ die Hütte. Atlan wußte sofort, daß er etwas falsch gemacht hatte, aber was? Sicher hatte Mir rarn von einem »Göttersohn« erwartet, daß er über jeden Flecken Pthors Bescheid wuß te. Atlans Frage hatte ihn schockiert. Der Arkonide machte sich in diesem Au genblick keine Gedanken darüber, was ge schehen würde, wenn Mirrarn und seine Leute erkennen würden, daß er nicht der Göttersohn war, für den sie ihn hielten. Das Goldene Vlies! In der Argonautensage bezeichnete der Ausdruck das Fell eines Widders, den Her mes Nephele, der Gattin des böotischen Kö nigs Athamas, geschenkt hatte, um ihre bei den Kinder Phrixos und Helle vor den Nach stellungen und Intrigen der grausamen Stief mutter Ino in Sicherheit zu bringen. Das Fell des Widders, der die beiden Kinder durch die Lüfte über das Meer trug, war aus purem Gold. Nachdem Phrixos die rettende Küste des Schwarzen Meeres erreicht hatte, opferte er den Widder aus Dankbarkeit Zeus, der ihn auf seiner Flucht beschützt hatte, während seine Schwester Helle ins Meer gestürzt war und den Tod gefunden hatte. Phrixos machte das goldene Fell des Wid ders dem König Aietes, der ihn wie einen Sohn aufgenommen hatte, zum Geschenk. Dieser befestigte es in einem geheiligten Hain an einem Baum und ließ es von einem riesigen Drachen bewachen. Bald sprach sich die Kunde vom Goldenen Vlies in der ganzen Welt herum, und viele Helden und Fürsten trachteten nach seinem Besitz. Aber nur Jason und seinen Argonauten gelang es schließlich mit Hilfe von Medea, der Toch
19 ter des grausamen Königs, das Vlies zu rau ben und auf ihrem Schiff, der Argo, zu ent führen. Was aber verbarg sich auf Atlantis hinter diesem Begriff? Was war die »Dunkle Regi on«? Atlan ahnte, daß Mirrarn ihm keine Aus kunft mehr geben würde. Der Alte war miß trauisch geworden. Die Flüchtlinge konnten von Glück reden, wenn sie unbehelligt das Dorf verlassen konnten. Trotzdem ließ der Gedanke an das Goldene Vlies den Arkoni den nicht mehr los. Plötzlich hörte er ein Stöhnen. Er fuhr herum und sah, daß Razamon sich halb auf gerichtet hatte. Erst jetzt bemerkte Atlan, daß mit Mirrarn auch die drei Valjarinnen verschwunden waren. Der Arkonide hockte sich neben Raza mons Lager und zwang sich zu einem Lä cheln. »Alles in Ordnung?« Razamon beugte sich noch weiter nach vorne und betastete sein linkes Bein. »Die Schmerzen sind furchtbar«, preßte der Atlanter hervor. »Aber wir leben, und nur das zählt. Was ist mit Koy?« »Er ist noch bewußtlos«, antwortete At lan, während er verwundert beobachtete, wie Razamon mit der Hand über das Bein strich. Der Pfeil hatte ihn an der rechten Schulter getroffen! Der Atlanter bemerkte Atlans Blick. »Es ist nicht die Pfeilwunde, die spüre ich gar nicht, es ist der Zeitklumpen …«
* Den ganzen Tag über halfen Atlan, Raza mon und Gloophy den Valjaren beim Bau der neuen Dämme. Mit leichten Booten pen delten sie zwischen den Hügeln und den überfluteten Hütten hin und her, um Materi al zu besorgen. Atlan hatte das Floß vor sichtshalber zu ihrer Unterkunft bringen las sen, wo Koy immer noch ohne Bewußtsein lag. Der Arkonide machte sich große Sorgen
20 um den Trommler. War es möglich, daß das an sich harmlose Gift auf Koys Metabolis mus eine andere, gefährlichere Wirkung hat te als auf Razamon? Der Atlanter wuchs während der Arbeiten über sich selbst hinaus. Die plötzlich aufge tauchten Schmerzen an seinem unsichtbaren Zeitklumpen mußten unvorstellbar sein. Razamon redete kein Wort. Dann und wann zog er sich für ein paar Minuten zurück, und einmal hatte Atlan ihn hinter einem der neuen Dämme stöhnen gehört. Die Frauen und Kinder der Valjaren hat ten sich auf zwei flachen Hügeln in Sicher heit gebracht. Am späten Nachmittag waren die Dämme soweit befestigt, daß sie einer weiteren Flutwelle standhalten würden. Die Valjaren hatten die Hilfe akzeptiert – mehr nicht. Sie wirkten wieder verschlossen, und Mirrarn bemühte sich, dem Arkoniden aus dem Weg zu gehen. Gloophy hatte sich vorwiegend an Atlans Seite gehalten. Er sah bei der Arbeit zu und ahmte alles nach, was die anderen taten. Im mer wieder war er getaucht und mit großen Steinbrocken zum Vorschein gekommen. Außerdem begann er jetzt eifrig, immer kompliziertere Sprachbrocken nachzuspre chen. Manchmal hatte Atlan den Eindruck, daß er bereits versuchte, irgendwelchen Din gen oder Tätigkeiten die richtigen Begriffe zuzuordnen, um sich mit den anderen zu verständigen. Das vogelähnliche Wesen war den ganzen Tag über nicht von Gloophys Seite gewi chen. Die Valjaren schien der Anblick sehr zu erheitern, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Aber sobald Atlan oder Razamon sich nach ihnen umdrehten, verschwand das Grinsen aus ihren Gesichtern, und sie nah men ihre abweisende Haltung ein. Der Arkonide hatte den Eindruck, daß sie Schadenfreude empfanden, wenn sie sich verstohlen nach Gloophy und seinem ständi gen Begleiter umsahen. Wußten sie etwas über das Tier? Als die Dämmerung einsetzte, zogen die Freunde sich zu ihrer Hütte zurück. Koy lag
Horst Hoffmann schweißgebadet auf seinem Lager. Die Decken waren zerwühlt. »Er muß zu sich gekommen sein«, stellte Razamon fest. »Wir müssen abwarten«, sagte Atlan, als er den Gefährten untersuchte. Vorläufig wa ren sie völlig hilflos. Koy war kein Mensch, den sie mit hergebrachten Mitteln behandeln konnten. »Wo ist übrigens Fenrir?« Razamon zuckte die Schultern. »Er wird sich etwas zum Fressen suchen oder die Hütte bewachen. Für ihn scheint es nur eines zu geben: Koy oder ihn.« Atlan winkte ab. Es gab etwas Wichtige res. Der Arkonide berichtete Razamon von seiner kurzen Unterhaltung mit Mirrarn. Auch Razamon war das Goldene Vlies ein Begriff. »Es läßt dir keine Ruhe, Arkonide, ich se he es dir an.« Atlan schüttelte verzweifelt den Kopf. »Von ihnen werden wir nichts erfahren. Ich könnte mich ohrfeigen. Ich hätte wissen müssen, daß die Göttersöhne in der Sicht der Valjaren überaus mächtige Wesen sind.« »Wir wissen es besser«, meinte Razamon. »Wenn wir uns da nur nicht täuschen. Einzeln mögen sie nur noch Relikte einer einstigen Macht sein, die sich hinter der ur alten Fassade aus vergangenem Ruhm ver birgt, aber wer kann schon voraussagen, was geschehen würde, wenn sie sich eines Tages vereinigten? Ich habe mich oft gefragt, wel cher Status zwischen ihnen und den Herren der FESTUNG besteht. Sie scheinen fast ein Tabu für die Herrscher darzustellen.« »Vielleicht weiß man in der FESTUNG, daß Odins Söhne und seine Tochter nie eine wirkliche Gegenmacht zur FESTUNG dar stellen können.« Atlan schwieg, aber es war ihm anzuse hen, daß er Razamons Auffassung nicht un bedingt teilte. Die Göttersöhne stellten eines der vielen ungelösten Rätsel von Atlantis dar. Von Koys Lager erklang ein unterdrück tes Stöhnen.
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Sofort waren die beiden Männer bei ihm. Der Trommler wälzte sich hin und her. Das Gesicht war verzerrt, als ob er unter furcht baren Qualen litt. »Das verdammte Gift!« fluchte der Atlan ter. »Wenn wir nur wüßten, wie wir ihm hel fen können.« »Wir können nichts tun, vielmehr könnte jede Maßnahme das Gegenteil von dem be wirken, was wir wünschen.« Koys Körper begann zu zittern. »Er kämpft mit dem Gift«, murmelte Raz amon. Atlan dachte bereits weiter. »Ich fürchte, daß einer von uns ständig bei ihm bleiben muß, um ein Unglück zu verhindern. Wenn er unbewußt beginnt, sei ne Broins gegeneinander zu schlagen …« Er brauchte nicht auszusprechen. Die bei den fühlerartigen Broins, die aus Koys Stirn ragten, stellten eine furchtbare Vernich tungswaffe dar. Wenn sie außer Kontrolle gerieten, waren die Folgen nicht absehbar. Plötzlich war von draußen ein drohendes Knurren zu hören. »Fenrir!« flüsterte Atlan. Mit ein paar schnellen Schritten gelangte er ins Freie. Im ersten Moment sah er nur die Silhouette des Wolfes in der Dämmerung. Fenrir hörte ihn kommen und wedelte mit dem Schwanz. Dann sah der Arkonide das kleine Boot, in dem eine einzige Gestalt hockte.
3. Mellnel wußte nicht, ob sie richtig han delte. Sie wurde zwischen ihren wider sprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Die Valjarin war nicht gerade das, was man normalerweise mit dem Begriff »zartbesaitet« bezeichnete, im Gegenteil. Die Frauen der Valjaren waren ebenso grob wie die Männer, und nicht selten kam es vor, daß ihre Partner morgens mit blauen Flecken zur Feldarbeit erschienen. Das Prinzip ihres Zusammenlebens war denkbar einfach: Die Männer bestellten die Felder und verteidig ten ihr Dorf gegen äußere Feinde, während
die Frauen sich um den Nachwuchs küm merten. Jede normale Valjarin arbeitete ebenso hart wie ein Mann, wenn es ihre Zeit zuließ, und mancher Eindringling, der ge glaubt hatte, mit ihnen leichtes Spiel zu ha ben, war schnell eines Besseren belehrt wor den. Dennoch befand sich unter Mellnels rau her Schale ein weicher Kern. Sosehr sie auch versuchte, Telmten für das, was er ge tan hatte, zu hassen – sie ertrug es nicht, ihn leiden zu sehen. Und Telmten machte furchtbare Qualen durch. Mellnel hatte zu zweifeln begonnen, ob er wirklich nur der Träumer war, für den ihn alle hielten. Irgend etwas an ihm faszi nierte die Valjarin, aber gleichzeitig machte es ihr Angst. Woher hatte Telmten von der Ankunft der merkwürdigen Fremden wissen können? Die Männer, die am Abend mit den Booten ge kommen waren, um Mellnel und Telmten Nahrung zu bringen, hatten bestätigt, daß sich ein Göttersohn unter ihnen befand. Vielleicht war da schon der Entschluß in Mellnel herangereift, die Fremden aufzusu chen, als sie die Männer bat, ihr ein Boot zu rückzulassen. Darüber hinaus überredete sie sie, ihr allein die Überwachung des Gefan genen zu überlassen. Da Telmten ihren Bru der getötet hatte, schöpften sie keinen Ver dacht und erfüllten ihre Bitte. Mellnel ahnte, daß sie das, was sie jetzt tat, einmal bereuen würde. Aber irgend et was zwang sie dazu, die Hütte der Fremden aufzusuchen und mit ihnen zu reden. Sie tat es nicht für Telmten als Mann; Mellnel hatte längst alle Hoffnungen auf ihn abgeschrie ben, obwohl sie ihn wirklich liebte. Es war etwas anderes, das sie sich nicht erklären konnte. Es hing mit dem Traum zusammen. Sollte Telmten tatsächlich auserkoren sein, das Goldene Vlies zu finden und zu er obern? Mellnel sah sich immer wieder um. Sie kam sich wie eine Verräterin vor. Kein an deres Boot war in Sicht, und die Hügel, auf denen sich die Frauen und Kinder in Sicher
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heit gebracht hatten, lagen weit hinter ihr. Die Hütte der Fremden tauchte im Däm merlicht vor ihr auf und wurde größer. Mell nel legte das Paddel aus der Hand und ließ das Boot auf den Hügel zutreiben. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, sah sie das Tier. Sie hatte von den Männern gehört, daß sich außer dem grün schimmernden Riesen und dem Wesen mit den beiden Fühlern am Kopf ein Tier bei den Ankömmlingen befand, das eine ent fernte Ähnlichkeit mit den Vlorghts hatte, die im Gebiet der Flußmündung lebten und dann und wann die Dörfer der Valjaren heimsuchten. Das Knurren jagte Mellnel einen Schauer über den Rücken. Nur mit Mühe unterdrück te sie den Drang, das Boot zu wenden und zurück zu Telmten zu rudern. Plötzlich erschien eine Gestalt im Ein gang der Hütte. Mellnel konnte sie in der Dämmerung nicht genau erkennen, aber ir gend etwas sagte ihr, daß sie den Göttersohn vor sich hatte. Zwei Minuten später stand sie dem Frem den gegenüber. Ein leichter Wind war auf gekommen, und sie sah die hellen Haare um seinen Kopf flattern. Mellnel hatte Angst. Wenn der Fremde ein Göttersohn war, mußte er über unheimli che Macht verfügen. Die Valjaren hatten seine Gefährten mit ihren Pfeilen getroffen. Hieß das nicht, daß sie alle die Rache des Göttersohns zu fürchten hatten? Mellnel dachte an Telmten. Mehr denn je war sie plötzlich davon überzeugt, daß er ein Auserwählter war. Er gehörte nicht mehr zu den Männern von Florgst – Telmtens Platz war an der Seite dieser Fremden. »Ich bin Mellnel«, begann sie. »Ich muß mit euch reden.« Der Göttersohn musterte sie mit einem durchdringenden Blick, bevor er sie mit ei ner Geste dazu aufforderte, in die Hütte zu treten.
*
Atlan und Razamon hatten Mellnel schweigend zugehört. Der Arkonide war äu ßerlich ruhig geblieben, aber in ihm arbeite te es. Das Goldene Vlies ließ ihn nicht mehr los. Es hatte einen hohen Stellenwert in der terranischen Mythologie. In den Monaten auf Atlantis hatte Atlan gelernt, daß die Sa gengestalten der alten Völker der Erde eine gravierende und nicht zu unterschätzende Rolle auf Pthor spielten. Viele hatten hier ih ren Ursprung. »Und ihr alle träumt diesen Traum?« frag te er die junge Valjarin. »Jede Nacht – jeder von uns. Aber wir ha ben gelernt, damit zu leben. Manche unserer Vorfahren sind zur Dunklen Region aufge brochen, aber sie sind niemals zurückge kehrt.« »Und dieser Telmten – er ahnte unsere Ankunft?« »Er träumte sie.« »Weiß er mehr über das Vlies als die an deren Valjaren?« »Ich weiß es nicht. Es gibt nur einen Val jaren, der angeblich das Goldene Vlies gese hen hat und zurückkehrte, aber er lebt nicht in Florgst.« Atlan und Razamon wechselten einen Blick. »Wer ist es, Mellnel? Du mußt es uns sa gen!« Die Valjarin wirkte plötzlich verschlos sen. Schon befürchtete Atlan, daß sie ähn lich reagieren würde wie Mirrarn. »Versprecht ihr mir, Telmten mit euch zu nehmen?« Razamon antwortete an Atlans Stelle. »Wir versprechen es, Mellnel.« »Dann wird er euch führen.« »Aber du sagtest, daß sie ihn eingesperrt hätten, um ihn seiner Strafe zuzuführen«, warf Atlan ein. Mellnel nickte. »Sie würden ihn niemals ziehen lassen, nicht einmal mit einem Göttersohn.« »Ich glaube, es gibt Arbeit für uns«, sagte Razamon trocken.
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Atlan drehte sich um und sah hinüber zu Koys Lager. Der Trommler war wieder ohne Bewußtsein. Die Miene des Arkoniden verfinsterte sich. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, Raza mon. Du mußt mich zu Telmten führen, Mellnel.«
Razamon. Er mußte wieder an die verstohle nen Blicke der Valjaren und an ihre scha denfreudigen Gesichter denken. Irgend etwas stimmte mit dem Tier nicht, aber was? Razamon wurde aus seinen Gedanken ge rissen, als er die Schritte hörte. Im Eingang der Hütte stand Mirrarn. »Wo ist der Göttersohn?« fragte der Alte.
* Razamon blieb bei Koy und hielt Wache an seinem Lager. Die Schmerzen am linken Bein hatten zwar nachgelassen, doch da noch niemand wußte, ob Telmtens Befrei ung ohne Komplikationen verlaufen würde, war dies die beste Lösung. Der Zeitklumpen hätte den Atlanter nur gehandikapt. Razamon grübelte darüber nach, woher die plötzlichen Schmerzen kamen. Er hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Hatte durch die Geschehnisse in der Eiszi tadelle eine Entwicklung eingesetzt, die sich nicht mehr kontrollieren ließ? Stand viel leicht sogar die entscheidende Phase im Kampf gegen den unbekannten Gegner un mittelbar bevor? Was hatte sein Zeitklumpen damit zu tun? Razamon stand auf und trat ins Freie. Koy schlief jetzt tief und fest. Atlan und die Val jarin mußten inzwischen ihr Ziel erreicht ha ben. Aus der Hütte drang ein schriller Laut. Razamon fuhr herum und befürchtete, daß Koy aufgewacht sei. Als er Gloophy mit dem Vogelwesen »schmusen« sah, ent spannten sich die harten Gesichtszüge des Atlanters. Er sah schmunzelnd zu, wie das kleine Wesen seine Schultern an Gloophys Velst-Schleier rieb, der den Bera wie ein Mantel aus gebrochenem Glas umschloß. Dann und wann begann das Tier zu gackern, was offensichtlich seine Art war, seine Sym pathie für jemanden zu bekunden. Gloophy seinerseits streichelte es liebe voll und stieß die bekannten, schrillen Laute aus. »Wenn das nur gutgeht …« murmelte
* Sie befestigten das Boot an einem Baum stumpf und überzeugten sich nochmals da von, daß ihnen niemand gefolgt war. »Mirrarn scheint zwar nicht besonders gut auf uns zu sprechen zu sein, aber glaubst du nicht, daß er die Bitte eines Göttersohnes, Telmten an ihn auszuliefern, erfüllen wür de?« Atlan vermied es, Mellnel die ganze Wahrheit zu sagen. Wenn sie jetzt erfuhr, daß Mirrarn zu zweifeln begonnen hatte, würde sie möglicherweise ihren Entschluß, Telmten zu befreien, ändern. Auch Telmten war ihnen nur so lange ei ne Hilfe, wie er daran glaubte, es mit einem Göttersohn zu tun zu haben. Atlan fragte sich, was für ein Mann das war, der ihre An kunft angeblich im Traum vorausgesehen hatte. Es war ein einfaches Geschäft: Telmten würde sie zu diesem Valjaren führen, der das Vlies gesehen haben wollte, und sie würden ihn in Richtung Dunkle Region mit nehmen. Der Arkonide spürte ein gewisses Unbehagen bei dem Gedanken, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Die Valjaren wa ren abweisend – von ihnen würden sie nichts erfahren. Wenn Telmtens Entführung entdeckt wur de, mußten sie bereits aus der Nähe des Dor fes verschwunden sein. Atlan zweifelte nicht daran, daß die Valjaren andernfalls auch einen Göttersohn nicht verschonen würden – falls sie ihn überhaupt noch dafür hielten. Die Hütte tauchte vor ihnen auf. Mellnel trat an ein kleines Fenster. »Telmten!«
24 Sie erhielt keine Antwort. Nur ein leises Wimmern drang aus der Hütte. Mellnel hatte Tränen in den Augen, als sie sich zu Atlan umdrehte. »Er leidet furchtbar …« Atlan trat ans Fenster und rief nach Telm ten. Das Wimmern brach abrupt ab. Sekun den später erschien ein rundlicher Kopf im Halbdunkel des Rahmens. Das Gesicht war von den inneren Qualen des Valjaren ge zeichnet. Doch als Telmten den vermeintli chen Göttersohn erkannte, änderte sich seine Miene schlagartig. Telmten riß die Augen auf und atmete tief durch. Plötzlich trat ein wildes Feuer in sei nen Blick. Atlan mußte unwillkürlich schlucken. Dieser Mann besaß eine Aus strahlung, die den Arkoniden sofort in ihren Bann zog. »Wir sind hier, um dich zu holen, Telm ten. Wir nehmen dich mit uns, wenn du uns zu dem Valjaren führst, der das Goldene Vlies gesehen haben will.« »Kruden hat es gesehen, Göttersohn!« »Um so besser, bist du bereit? Wir haben nicht viel Zeit.« Plötzlich fiel Telmten etwas ein. »Sie ha ben auf euch geschossen – wieso seid ihr nicht tot?« »Das erkläre ich dir später, jetzt müssen wir zusehen, daß wir von hier verschwin den.« »Du brauchst mir nichts zu sagen«, flü sterte Telmten. »Göttersöhne sind unsterb lich, wie konnte ich daran zweifeln?« Atlan stöhnte unterdrückt. »Natürlich, Telmten, natürlich.« Der Arkonide drehte sich zu Mellnel um, die offenbar nicht wußte, was sie von dem Dialog zu halten hatte. »Kannst du das Schloß öffnen?« Die Valjarin nickte und holte einen primi tiven Schlüssel aus einer Seitentasche ihres Gewands. »Dann beeile dich. Wenn Telmten drau ßen ist, schließt du wieder ab und bleibst hier. So können wir die Befreiung eine Zeit lang verbergen. Wenn sie es doch ent-
Horst Hoffmann decken, kannst du sagen, jemand von uns hätte dich überwältigt, dann kann dir nie mand einen Vorwurf machen.« »Macht euch keine Sorgen um mich«, sagte Mellnel und machte sich am Schloß der Tür zu schaffen. Eine Minute später war Telmten frei. Atlan war bereits im Boot, als der Valjare noch einmal stehenblieb. Telmten nahm Mellnels Hände. Einen Augenblick lang sahen die beiden jungen Valjaren sich wortlos an. Dann drückte Telmten sie fest an sich. Ohne ein Abschiedswort löste er sich von Mellnel und stieg in das bereitstehende Boot. Atlan stieß es mit einem langen Ruder vom Ufer ab. Noch war kein anderes Valja renboot in Sicht. Es schien, daß sie Glück hatten. »Du liebst sie, oder?« fragte der Arkoni de. Telmten winkte ab. »Das bildet sie sich ein. Sie hat mir gehol fen, das ist alles.« Atlan bedachte den Valjaren mit einem merkwürdigen Blick. »Erzähle mir von diesem Kruden, Telm ten. Wo lebt er? Was ist er für ein Mann?« »Kruden lebt auf einer Anhöhe in der Nä he eines Dorfes namens Skarlotto, etwa zehn Kilometer flußabwärts. Er ist ein Greis und hat sich vollkommen von den anderen Valja ren zurückgezogen seit seiner Expedition …« Atlan hatte erwartet, daß Telmten der Fra ge ausweichen würde, um seine Position zu sichern. Aber das Gegenteil schien der Fall zu sein. Telmten hatte offensichtlich keinen Zweifel daran, daß sie ihn mitnehmen wür den. Der Valjare zeigte keine Spur von Miß trauen. Nach wenigen Minuten war Atlan über zeugt davon, daß Telmten sich für einen Auserwählten hielt. Das Unbehagen des Ar koniden wuchs. Er ahnte, daß sie mit Telm ten Schwierigkeiten bekommen würden. Vor ihnen tauchte der Hügel mit ihrer Hütte auf.
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»Es sind immer noch keine Boote zu se hen«, flüsterte Atlan, der nur dann die Ruder ins Wasser tauchte, wenn es unbedingt nötig war. »Sie haben nichts bemerkt.« Atlan konnte nicht ahnen, wie sehr er sich täuschte.
* »Ich habe es gewußt«, preßte Mirrarn her vor. »Du bist kein Göttersohn.« Atlan und Telmten standen im Eingang der Hütte. Sie hatten den alten Valjaren erst gesehen, als es bereits zu spät war. Razamon machte eine Geste der Hilflosigkeit. Bevor Atlan antworten konnte, trat Telm ten dicht vor den Ältesten und starrte ihn wild an. »Nimm das zurück, Mirrarn! Habt ihr nicht schon genug gefrevelt? Nimm es zu rück, sonst …« Der Alte wehrte Telmtens Hände ab, die sich auf seine Arme legen wollten. »Was sonst? Wirst du mich ebenso ermor den wie Holret?« »Es war Notwehr!« Mirrarn hob eine Faust und schlug sie Telmten auf den Schädel. Der Jüngling stand einen Augenblick fassungslos vor dem Ältesten, als begriffe er nicht, was gesche hen war. Dann sprang er ein paar Schritte zurück und riß ein Messer unter der Lederjacke her vor. »Halt!« rief Atlan, bevor er noch größeres Unheil anrichten konnte. Er traute Telmten durchaus zu, in seiner Verblendung auf Mir rarn loszugehen. Telmten warf Atlan einen flammenden Blick zu, aber er gehorchte der Aufforde rung des Arkoniden. »Komm mit mir hinaus, Mirrarn«, sagte Atlan. »Ich habe mir dir zu reden – allein.« Er gab Razamon hinter Telmtens Rücken ein Zeichen. Der Atlanter verstand sofort. Unauffällig postierte er sich wenige Meter neben dem Valjaren.
Nur widerstrebend folgte Mirrarn dem Arkoniden, bis sie außer Hörweite der Hütte waren. Atlan war eine Idee gekommen, wie er Mirrarn vielleicht doch noch dazu bewe gen könnte, sie in Frieden ziehen zu lassen. Es war eine plumpe und dumme Ausrede, aber vielleicht war gerade dies dazu geeig net, den Argwohn des Ältesten zu verscheu chen. »Ich will ganz offen mit dir reden, Mir rarn«, begann Atlan. Er hatte eine konspira tive Miene aufgesetzt und sah sich nach al len Seiten um, als ob er Angst hätte, be lauscht zu werden. Mirrarn sah in ungedul dig und ablehnend an. »Es ist ein Geheimnis, das ich nur dir mit teile, und gnade euch der Himmel über Pthor, wenn ich erfahre, daß du nicht den Mund gehalten hast!« Mirrarn blickte immer noch ablehnend drein. Dennoch glaubte der Arkonide jetzt eine gewisse Neugier im Gesicht des Älte sten zu erkennen. Nach einer bedeutungsvollen Pause, die die Wirkung der folgenden »Eröffnung« steigern sollte, setzte Atlan wieder die Ver schwörermiene auf und legte Mirrarn eine Hand auf die Schulter. Der Arkonide ging in die Knie, um seinem Gegenüber direkt in die Augen sehen zu können. »Was ich dir jetzt sage, Mirrarn, weiß au ßer uns und meinen Freunden kein Wesen auf Pthor. Ich bin kein Göttersohn!« »Das weiß ich!« fuhr Mirrarn ihn an. »Ein Göttersohn würde keine Fragen nach der Dunklen Region stellen und nicht heimlich Mörder befreien, um sie ihrer gerechten Strafe zu entziehen!« Atlan atmete tief durch. Mirrarn war ein schwererer Brocken, als er angenommen hatte. »Siehst du, Mirrarn«, begann er erneut und tat wieder so, als sähe er sich nach ver borgenen Mithörern um. »Auf unserer gan zen Reise haben wir viele Stämme besucht, aber wir haben niemanden getroffen, der uns wie du sofort durchschaut hat. Darum werde ich dich in das Geheimnis einweihen und dir
26 von unserer Mission berichten.« Jetzt war die Neugier des Alten nicht mehr zu übersehen. »Welche Mission? Arme Eingeborene zu überfallen, indem ihr euch als Göttersohn und seine Gefolgschaft ausgebt?« Atlan stöhnte. »Ich hätte dich für einen klügeren Mann gehalten, Mirrarn, aber ich muß mich ge täuscht haben. Du bist vor lauter Mißtrauen nicht mehr fähig, ein gerechtes Urteil abzu geben.« Er machte eine Pause und tat so, als ob er mit sich im Kampf läge. »Nein, Mir rarn«, sagte er dann, »ich glaube wirklich, ich habe mich in dir getäuscht. Du bist nicht der Mann, dem ich unser Geheimnis verra ten dürfte …« Das wirkte. Mirrarn stieß einen Fluch aus und breitete die Arme resigniert aus. »Versetze dich in meine Lage! Ich muß doch annehmen …« »Und das ist gut so«, versetzte Atlan. »Es gehört zu unserer Mission.« Mirrarn fieberte jetzt förmlich der Ant wort auf all die Fragen entgegen, die Atlan in ihm geweckt hatte. Innerlich amüsierte der Arkonide sich köstlich. »Also schön, Mirrarn, ich vertraue dir.« »Das kannst du!« beeilte sich der Valjare zu sagen. Auch er hatte nun eine finstere Verschwörermiene aufgesetzt. »Was ist das für eine Mission? Hat Telmten etwas damit zu tun?« Atlan machte eine abwehrende Geste. »Eines nach dem anderen. Meine Freunde und ich …« Atlan sah sich noch einmal nach allen Seiten um, als ob hinter jedem Fels brocken, hinter jedem dünnen Bäumchen im fahlen Mondlicht ein Spion stecken könnte, dann fuhr er flüsternd fort: »… wir sind ein Spezialistenteam mit einem Geheimauftrag von der FESTUNG …« »Von der FESTUNG?« rief Mirrarn er staunt aus. Atlan fuhr mit den Händen durch die Luft und bedeutete ihm zu schweigen. »Leise! Bist du verrückt geworden?« Mirrarn blickte sich ängstlich um. Als er wieder in Atlans Gesicht sah, war ihm deut-
Horst Hoffmann lich die Erregung anzusehen. »Von der FESTUNG?« flüsterte Mirrarn. »Genau! Wir sind ausgeschickt worden, um im Norden eine Gruppe von gefährlichen Saboteuren zu finden und unschädlich zu machen.« »Saboteure?« fragte Mirrarn so leise, daß Atlan die Worte fast nicht verstanden hätte. Ebenso leise antwortete der Arkonide: »Ganz gefährliche Burschen! Sie sind für die verheerende Flut verantwortlich. Und ih re Spur führte nach Florgst, direkt zu euch. Habt ihr in den letzten Tagen Fremde in eu rer Nähe bemerkt?« Mirrarn schien angestrengt zu überlegen. Dann fuhr sein Kopf in die Höhe. »Ja, da waren drei Valjaren aus einem an deren Dorf, die mit einem Boot kamen, um uns – die Männer des Dorfes – zu einem Wettkampf mit ihrem Stamm aufzufordern.« »Wie sahen sie aus?« Atlan hatte nicht das geringste Interesse an einer Beschreibung der Valjaren. Er nutz te Mirrarns Erklärungen, um sich den Rest seiner haarsträubenden Geschichte zurecht zulegen. »Das waren sie!« sagte er dann im Brust ton der Überzeugung. »Das ist typisch für sie, sich als Valjaren zu verkleiden. Von wo kamen sie?« »Vom Süden …« »Siehst du jetzt, wie raffiniert sie sind? Sie umgingen euer Dorf und kamen vom Sü den her, damit auch niemand Verdacht schöpfte. Ich nehme an, daß sie sich bei euch mit Nahrungsmitteln eingedeckt haben, als sie ein paar Augenblicke unbeobachtet waren.« Mirrarn murmelte etwas vor sich hin. Er war ergriffen von Atlans Eröffnungen. Sämtliche Zweifel waren aus seinem Ge sicht verschwunden. »Um uns unsere Aufgabe zu erleichtern«, fuhr Atlan fort, »gebe ich mich als Götter sohn aus, verstehst du? Nur deshalb!« »Ein sehr kluger Einfall«, sagte Mirrarn beeindruckt. »Und die drei sind wieder nach Süden ge
Traum der Valjaren fahren?« Mirrarn nickte. »Wir müssen sofort hinter ihnen her, sonst entwischen sie uns noch. Die Saboteu re stellen eine furchtbare Gefahr für ganz Pthor dar. Ihr habt noch Glück gehabt, Mir rarn. Weißt du, was sie normalerweise mit den Leuten machen, die ihnen in die Finger geraten?« »Sage es mir!« Atlan neigte den Kopf und flüsterte dem Alten etwas ins Ohr. »Nein!« stieß Mirrarn ungläubig aus. »Psst! Leise, oder willst du, daß jemand …« »Entschuldige, Herr.« Der Arkonide wußte, daß er gewonnen hatte. Mirrarn nahm ihm seine Geschichte ab. Nun fehlte nur noch eines. »Durch dich haben wir viel Zeit verloren, Mirrarn. Ich fürchte, daß man in der FE STUNG sehr böse auf euch sein wird, wenn wir die Kerle nicht zur Strecke bringen.« Der Älteste fuhr erschrocken zusammen. »Es gibt nur eine Möglichkeit, ihren Zorn zu besänftigen. Wir müssen Telmten mit nehmen. Wenn wir beweisen können, daß wir durch ihn aufgehalten wurden, richtet sich der Zorn gegen Telmten, nicht gegen euch. Und ich verspreche dir, daß ich mich für ihn einsetzen werde – in der FE STUNG!« Bei diesen Worten stieg Mirrarns Respekt vor Atlan ins Grenzenlose. »Also, Mirrarn – bist du einverstanden?« Es dauerte eine Weile, bis der Alte seine Sprache wiedergefunden hatte. »Selbstverständlich, Herr, und ich werde niemandem etwas sagen, das schwöre ich.« »Ich habe nichts anderes von dir erwar tet«, sagte Atlan mit der Situation gebührendem Ernst. »Es wäre allerdings gut, wenn ihr uns ein paar Vorräte mit auf den Weg ge ben könntet. Du weißt, wir haben Zeit verlo ren.« »Das werden wir tun, Herr!« Auf ein Zeichen des Arkoniden gingen sie wieder zur Hütte. Mirrarn konnte sich nicht
27 beruhigen. »Wenn diese Saboteure mir noch einmal in die Hände fallen würden …« brummte er und machte eine vielsagende Bewegung.
* Eine knappe Stunde später befanden sie sich wieder auf dem Fluß. Ihr Ziel war das Dorf Skarlotto, wo sie den alten Valjaren Kruden zu finden und mehr über das Golde ne Vlies zu erfahren hofften. Als die letzten Häuser von Florgst weit genug hinter ihnen lagen, berichtete Atlan Razamon darüber, wie er Mirrarn einge wickelt hatte. Sie redeten Englisch, so daß Telmten nichts verstehen konnte. Atlan und Razamon standen die Lachträ nen in den Augen, als der Arkonide seine Schilderung beendet hatte. »Hat man dir schon einmal gesagt, daß du ein Fuchs bist, Atlan?« »Tausendmal«, sagte dieser. »Das war noch einer der vornehmsten Ausdrücke, die auf den Schiffen und in den Zentralen der USO und der Solaren Flotte für mich ver wendet wurden.« Das waren die Ausdrücke! Wieder ertapp te der Arkonide sich dabei, daß er an die Er de schon wie an eine andere Welt dachte. Wie lange waren sie nun auf Atlantis und von der Außenwelt abgeriegelt? Wieviel Zeit mochte für Perry Rhodan und die Menschheit mittlerweile vergangen sein? »Hast du eigentlich keine Gewissensbisse, diese armen Kerle so hinters Licht zu füh ren?« »Arme Kerle? Ich möchte nicht wissen, was sie mit uns angestellt hätten, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihren Dorfältesten so nachhaltig zu überzeugen.« Atlan mußte bei dem Gedanken daran, daß Mirrarn ihm bis zur Abfahrt einige Dut zend Male versichert hatte, daß er nichts von ihrem großen Geheimnis verraten würde, schmunzeln. Neben dem Floß trieb ein kleines Boot, das die Valjaren ihnen mitgegeben hatten. In
28 weiche Decken eingehüllt lag Koy darin und schlief. Im hinteren Teil des Bootes befan den sich die Lebensmittel, die sie von den Valjaren erhalten hatten. Nur Gloophy und sein ständiger Begleiter, Razamon, Atlan, Telmten und Fenrir befan den sich auf dem Floß. »Es war vielleicht falsch, sich als Abge sandte der FESTUNG auszugeben. Wir soll ten diese Verbrecher nicht auch noch glorifi zieren«, meinte Razamon. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber was hätten wir sonst tun können? Es wäre zu ei nem Blutvergießen gekommen. Mirrarn hät te uns niemals mit Telmten ziehen lassen.« »Trotzdem …« Wieder glaubte Atlan, den alten Razamon vor sich zu haben. Seitdem er nicht mehr un ter seinem Berserkertum litt, war der Atlan ter in vieler Hinsicht aufgeschlossener und umgänglicher geworden. Nur wenn das Ge spräch auf die FESTUNG und ihre Herren kam, trat wieder der harte Ausdruck in sein hageres Gesicht. Telmten saß am Rand des Floßes und starrte versonnen in die Wellen. Atlan setzte sich zu ihm. »Wann werden wir Skarlotto erreichen?« »Es dauert nicht mehr lange, vielleicht ei ne Stunde. Wir sollten bis zum Morgen war ten, möglichst bevor wir Skarlotto erreichen. Vielleicht haben die Bewohner das Dorf ver lassen, andernfalls müssen wir mit Schwie rigkeiten rechnen. Sie sehen es nicht gern, wenn sich jemand zu Kruden begibt.« »Das wird das beste sein«, stimmte der Arkonide zu. Razamon klagte wieder über Schmerzen am Zeitklumpen, nachdem ihm sein Bein in den letzten Stunden Ruhe gelassen hatte. Gloophy hatte die Lust am Schmusen offen sichtlich verloren und begann wieder einzelne Worte vor sich her zu reden. Die Begriffe wurden immer komplizierter, aber noch konnte er sie nicht richtig den Dingen zuord nen. Atlan sorgte sich um Koy. Wie lange wür de der Trommler noch so vor sich hindäm-
Horst Hoffmann mern? Gab es wirklich keine Hilfe für ihn? Irgend etwas ließ den Arkoniden hoffen, daß dieser schon fast legendäre Kruden ein Mittel wußte, obwohl es keinen logischen Grund zu dieser Annahme gab. Auf Atlantis herrschte nicht die Logik. Atlan setzte sich und beobachtete Telm ten. Der Valjare hatte kurz vor ihrer Abfahrt aus Florgst einen neuen Bogen und Pfeile an sich genommen. Er war in Gedanken ver sunken. Atlan war sicher, daß er an die Dunkle Region und ans Goldene Vlies dach te. Der Arkonide machte sich den Vorwurf, den Glauben dieses jungen Valjaren für sei ne Zwecke auszunutzen. Telmten war für die Außenwelt ein Fana tiker, aber er glaubte an seine Aufgabe und kam gar nicht erst auf die Idee, daß er da durch zu Handlungen gezwungen sein könn te, die objektiv falsch und verurteilenswür dig waren. Wie würde Telmten sich verhalten, wenn er die Wahrheit über die Flüchtlinge erfuhr? Mit Sicherheit würde er kämpfen, um sein heißersehntes Ziel zu erreichen. Aber darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn es soweit war. Vorläufig zählte nur, daß sie zu Kruden gelangten. Im Licht des Mondes tauchte vor ihnen Skarlotto auf. »Der Baum dort vorne«, sagte Telmten. »Wir sollten das Floß mit dem Boot dort festbinden und die Nacht hier verbringen.« Atlan nickte. Sie steuerten das Floß auf den mit der oberen Hälfte aus dem Wasser ragenden Stamm zu und befestigten es mit ein paar Stricken. Bevor Telmten einschlafen konnte, setzte Atlan sich noch einmal zu dem Valjaren. Er hatte bemerkt, daß auch Telmten Gloophy und dem Vogelwesen immer wieder merk würdige Blicke zugeworfen hatte. Außer dem hatte Telmten jede Berührung mit dem Tier vermieden. »Was ist mit ihm los? Was weißt du über den Vogel?« Telmten sah ihn verwundert an. Schon be fürchtete der Arkonide, wieder einen Fehler
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gemacht zu haben. »Wir sprechen nicht darüber«, flüsterte Telmten. »Es bedeutet großes Glück, einen Stelzer zu finden – wenn man klug ist und sich von ihm fernhält. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, in allen anderen Gegenden Pthors gelten sie als ausgestorben, wenn man den Berichten glauben darf, die uns ge legentliche Besucher geben.« Atlan kniff die Brauen zusammen. Was war ein Stelzer? Und wieso sollte man sich von ihm fernhalten? Aber Telmten wich al len weiteren Fragen aus. »Ich kann nicht darüber reden, Götter sohn, glaube mir. Aber es wäre besser, wenn dein … dein Freund sich von ihm trennen würde. Am besten werft ihr den Stelzer über Bord.« Das Tier wurde immer rätselhafter. Es war ganz offensichtlich, daß es für die Val jaren ein Tabu darstellte. Aber wieso hatten die Männer und Frauen in Florgst Gloophys Spiel mit dem Vogel wesen so schadenfroh beobachtet? Atlan versuchte sich vorzustellen, wie Gloophy reagieren würde, wenn man ihm sein »Spielzeug« wegnähme. Und eigentlich war er ganz froh darüber, daß Razamon und er vorläufig von den Gefühlsausbrüchen des Beras verschont blieben.
* Telmten träumte: Die Dunkle Region türmte sich wie eine schwarze Wand vor ihm auf. Er war allein, nur mit seinem Bogen und dem Messer be waffnet. Wie bei jedem Mal packte ihn die Angst und drohte ihn zu übermannen und umkeh ren zu lassen, und wie bei jedem Mal über wand Telmten sie. Er gab sich einen Ruck und ging auf die schwarze Wand zu. Aus der dunklen Masse schälten sich die Grimassen von Dämonen heraus, die ihn hä misch anstarrten und ihren teuflischen Bann auf ihn zu legen versuchten. Aber Telmten schritt entschlossen aus und
erreichte die Wand. Die beschwörenden Stimmen der Dämonen hallten in seinen Oh ren und drohten ihm den Verstand zu rau ben. Telmten ging weiter, nur das Goldene Vlies vor Augen, das ihn für all seine Qua len belohnen würde. Noch einmal überschütteten die Dämonen den jungen Valjaren mit einer Flut höllischer Impulse, aber der Zauber prallte wirkungslos an Telmten ab. Die schwarze Wand schloß sich um ihn, und die Grimassen verschwanden. Telmten drang in ein Schattenreich ein. Zu beiden Seiten seines Weges türmten sich gewaltige Stämme auf. Die Bäume ragten so weit in den Himmel, daß er ihre Kronen nicht er kennen konnte. Dunkle Schemen sanken auf ihn herab und griffen ihn an. Der Valjare zückte sein Messer und wehrte sie ab. Nichts konnte Telmten auf seinem Weg aufhalten. In jedem Traum mußte er eine andere vi sionäre Landschaft durchstreifen, um zu sei nem heißersehnten Ziel zu gelangen. Und in jedem Traum stand er nach einer ganz be stimmten Strecke vor dem in goldenes Licht getauchten Vlies. Diesmal war es anders. Dort, wo sich das Goldene Vlies befinden mußte, war jetzt nur Schwärze und grenzen lose Leere. Die Welt schien sich in sich selbst aufgelöst zu haben. Telmten begann zu taumeln und fiel schreiend auf die Knie. Er trommelte mit den Fäusten auf den Boden und wand sich in schrecklichen Krämpfen. Und dann drangen die Dämonen von allen Seiten auf ihn ein. Telmten hatte nicht mehr die Kraft, sie abzuwehren …
* Der Valjare erwachte schweißgebadet. Ir gend etwas hielt ihn fest, wollte ihn er drücken, wollte ihn … Erst nach Minuten kam er zu sich. Er sah das Gesicht des Arkoniden über sich. »Du hast wie ein Verrückter um dich ge
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schlagen, Telmten«, hörte er den Hellhaari gen sagen. »Du hast geschrien, als ob tau send Teufel hinter dir her wären. War es der Traum, Telmten?« Der Valjare richtete sich auf und preßte die Hände gegen die Schläfen. »Es ist wieder gut«, flüsterte er. »Es … es war nichts.«
4. Kurz nach Sonnenaufgang näherten sie sich Skarlotto. Das Dorf war bedeutend klei ner als Florgst und offensichtlich verlassen. Telmten dirigierte das Floß in weitem Bo gen um Skarlotto herum, bis sie die Anhöhe vor sich sahen. Eine relativ große Landmas se ragte aus dem Wasser, das auch Skarlotto überschwemmt hatte. Atlan konnte eine ein zige, kleine Hütte erkennen, aus deren Ka min Rauch stieg. Es war wärmer geworden. Die Männer hatten ihre Pelzkleidung zum großen Teil abgelegt. Außerdem schien das Wasser nun nicht mehr so hoch über dem Land zu ste hen. Es hatte sich über die ganze Flußebene bis zum Delta ergossen und würde innerhalb einiger Tage abfließen. Dennoch bestand die Gefahr einer zweiten Flutwelle nach wie vor. Das Floß und das mitgeführte Boot näher ten sich langsam der Anhöhe. Koy war im mer noch nicht zu sich gekommen, aber sei ne Körperfunktionen schienen in Ordnung zu sein. Größere Sorgen bereitete dem Arkoniden im Augenblick der Valjare. Telmten grübel te mit finsterer Miene vor sich hin. Er stand unter der Wirkung eines furchtbaren Schocks, aber er schien nicht darüber spre chen zu wollen. Sie erreichten das Land. Razamon veran kerte das Floß. Das Boot mit Koy und ihren Vorräten war fest mit dem Floß verbunden und konnte nicht abgetrieben werden. Gloophy blieb mit Fenrir und dem Vogel wesen zurück. Der Wolf war die beste Wa che, die sie sich wünschen konnten.
Nur Atlan, Razamon und Telmten mach ten sich auf den Weg zur Hütte. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, wurde die Holztür von innen geöffnet. Zu ihrer Überraschung trat ein Knabe aus dem Halbdunkel. Atlan sah auf den ersten Blick, daß er es nicht mit einem »normalen« Valjarenjungen zu tun hatte. Der Knabe war schätzungswei se acht Jahre alt und machte einen intelli genten, aufgeweckten Eindruck. Er musterte die Ankömmlinge aus hellen, wachen Au gen. Auch in der Statur unterschied er sich von den Valjaren, die die Gruppe bisher zu Gesicht bekommen hatten. Er war schlank, groß für sein Alter, und fast das genaue Ge genteil von den plumpen Bewohnern des Dorfes Florgst. Telmten war beim Anblick des Jungen stehengeblieben. Atlan achtete nicht weiter auf ihn. Irgend etwas an dem Knaben weck te das Gefühl einer verschwommenen Erin nerung in ihm. Aber was war es? Der Arkonide nahm sich zusammen. Sie waren hier, um mit Kruden zu reden. Atlan wollte dem Jungen eine Begrüßung zurufen, dann fiel ihm ein, daß Telmten ihn immer noch für einen Göttersohn hielt. Und Atlan hatte das sichere Gefühl, daß der Kna be ihm diese Rolle nicht abnehmen würde. Außerdem hatte er die Nase von dem Thea terspiel voll. Er wollte Razamon auf Englisch vorschla gen, mit dem Valjaren zum Floß zurückzu gehen, als der Junge ihm die Entscheidung abnahm. »Einer von euch darf hereinkommen«, sagte er in Pthora. Die Stimme jagte Atlan einen Schauer über den Rücken. Sie paßte ebensowenig zu einem Valjaren wie alles andere an ihm. Razamon gab dem Arkoniden ein Zei chen. Atlan wußte, daß er sich auf den Ge fährten verlassen konnte. Er trat in die Hüt te. »Ich bin Bördo«, erklärte der Junge, »Krudens Enkel.«
Traum der Valjaren Bördo schloß die Tür hinter Atlan. Die Hütte war noch kleiner, als sie auf den er sten Blick gewirkt hatte. Sie bestand nur aus einem etwa vier mal sechs Meter großen Raum. Atlan mußte sich bücken, um nicht an die knapp zwei Meter hohe Decke zu sto ßen. Mitten im Raum war ein Lager ausgebrei tet, auf dem ein alter Mann lag. Atlan wußte sofort, daß er Kruden vor sich hatte. »Er ist sehr krank«, sagte Bördo. In seiner Stimme war nicht die winzigste Spur von Mißtrauen oder Ablehnung, aber auch keine direkte Freundlichkeit. Bördo redete wie je mand, der über den Dingen stand. Neben Krudens Lager befand sich ein kleineres, das offensichtlich dem Jungen ge hörte. Atlan entdeckte einige Töpfe und Lappen. »Was hat er?« fragte der Arkonide flü sternd. Er konnte sich nicht gegen ein merk würdiges Gefühl der Beklemmung wehren, seitdem er eingetreten war. Fast hatte er den Eindruck, in eine Welt eingedrungen zu sein, die nur Bördo und seinem Großvater gehörte. Was faszinierte ihn so an dem Jungen? An wen erinnerte er ihn? »Er hat hohes Fieber und ißt nicht mehr, wir haben keine Erklärung dafür.« Erst jetzt registrierte Atlan, daß Bördo ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Er trat näher an das Lager des Kranken heran. Kruden war offenbar ohne Bewußt sein. Das alte Gesicht war eingefallen und der Körper ausgezehrt. »Er wird sterben«, sagte Bördo. Obwohl er ruhig und fast etwas überakzentuiert sprach, glaubte Atlan, Wärme und Besorgt heit aus seiner Stimme herauszuhören. Er sah auf und musterte den Jungen noch mals. Bördo trug ein wollenes Wams und ei ne ärmellose Lederjacke darüber, dazu lange Lederhosen und feste Lederstiefel. Er war mit etwa 1,40 Meter schon jetzt fast so groß wie die meisten Valjaren, denen Atlan begegnet war. Welche Beziehung be
31 stand zwischen ihm und Kruden? Der Greis war ein normaler Valjare, wenn man davon absah, daß er ungewöhnlich groß war. Noch während der Arkonide ihn ansah, machte Bördo ein paar schnelle Schritte auf das Lager des Alten zu und kniete neben Kruden nieder. Der Greis hatte die Augen aufgeschlagen und Bördos Hand genommen. Sein Blick wanderte von dem Jungen zu Atlan. »Wer ist er?« fragte Kruden mit leiser Stimme. »Er kam mit Freunden auf einem Floß, Großvater.« Kruden musterte den Arkoniden aus fie berglänzenden Augen. Das Resultat schien ihn zufriedenzustellen. Genau wie Bördo kam er offensichtlich gar nicht erst auf den Gedanken, es mit Plünderern zu tun zu ha ben. »Was führt dich zu uns?« brachte Kruden mit Mühe hervor. Atlan zögerte einen Augenblick, dann ent schloß er sich, mit offenen Karten zu spie len, obwohl er insgeheim befürchtete, mit seiner Frage auf die gleiche Reaktion zu sto ßen wie in Florgst. »Wir hörten, daß du in der Dunklen Regi on warst und das Goldene Vlies gesehen hast.« Atlan hatte das Gefühl, als ob Bördo plötzlich verschlossen würde und ihn mit ei ner Spur von Mißtrauen betrachtete. Kruden aber reagierte völlig unerwartet. Auf einmal schien die Schwäche von sei nem ausgezehrten Körper abzufallen. In sei ne Augen trat ein lebendiges Feuer. »Das Goldene Vlies«, flüsterte Kruden. »Ja, ich habe es gesehen …« Wieder überlegte der Arkonide sehr lan ge, bevor er die nächste Frage stellte. Wie konnte er Kruden erklären, weshalb er sich für das Vlies interessierte? Durfte er ihm sa gen, wer und was er war und was seine Ziele waren? Wußte er denn überhaupt selbst, was er sich von dem Goldenen Vlies versprach? At lan spürte die Faszination, die sich hinter
32 diesem Begriff verbarg, aber was erwartete er im Zusammenhang mit seinem Ziel, die Macht der FESTUNG zu brechen und Atlan tis von der Erde zu verbannen? »Wirst du mir darüber berichten, Kru den?« Der alte Valjare dachte gar nicht daran, Fragen zu stellen. Er war förmlich aufgelebt, als Atlan das Goldene Vlies erwähnte. Wel che Macht verbarg sich hinter diesem Schatz? Kruden drehte sich zu Bördo um, dessen Miene nicht mehr so aufgeschlossen war wie noch vor Minuten. Es war keine Spur von Feindseligkeit im Blick des Jungen, wenn er Atlan ansah, aber es war offensichtlich, daß ihm die Wendung, die das Gespräch nahm, nicht gefiel. »Bördo«, sagte Kruden und richtete sich auf die Ellbogen auf, »hole das Pergament.« Ein wilder Funke glomm für einen kurzen Moment in den Augen des Jungen. Dann stand er wortlos auf und ging in eine Ecke der Hütte, in der einige Truhen und allerlei Gerümpel herumstanden. »Du kommst nicht aus dieser Gegend«, sagte Kruden gedehnt. Atlan wollte zu einer Antwort ansetzen, aber der Greis winkte ab. Während Bördo noch nach dem geheim nisvollen Pergament suchte, fiel dem Arko niden ein, daß Koy noch immer bewußtlos im Boot lag. Er stellte spontan eine Frage. »Das Pfeilgift der Valjaren?« wunderte Kruden sich. »Es ist unschädlich und dient nur dazu, den Gegner zu betäuben oder Nutztiere einzufangen. Es wird nach einigen Stunden vom Körper abgebaut und hat keine negativen Folgen.« »Das mag für euch Valjaren gelten. Mein Freund ist kein Valjare, sein Körper scheint mit dem Gift nicht fertig zu werden.« Kruden nickte, sagte aber nichts. Bördo kehrte mit einer speckigen Perga mentkarte zurück, die ihrem Aussehen nach uralt sein mußte. Der Knabe zögerte. »Was ist los mit dir, Bördo? Du hast dich verändert, seit …«
Horst Hoffmann »Hier!« sagte Bördo energisch, bevor Kruden weiterreden konnte. Atlan spürte wieder, daß der Junge vom Hauch eines Ge heimnisses umgeben war. Weshalb hatte er Kruden nicht ausreden lassen? Was hatte er zu verbergen? Kruden nahm das Pergament entgegen und begann damit, die Karte aufzurollen. At lan sah, wie ein feines Lächeln auf das alte Gesicht trat. Kruden schien für einen Au genblick in Erinnerungen zu schwelgen. »Ja, ich habe das Goldene Vlies gesehen«, flüsterte er dann. »Ich war in der Dunklen Region.« »Was ist das – die ›Dunkle Region‹, Kru den? Ich kann dir jetzt keine Erklärungen geben, aber es ist ungeheuer wichtig für mich und meine Begleiter, den Weg dorthin zu finden.« »Ich werde dir erzählen, wie ich vor lan ger Zeit …« Kruden riß die Augen auf und starrte auf einen Punkt hinter Atlan. Der Arkonide fuhr herum. Für ein paar Augenblicke hatte er nicht auf Bördo geachtet. Der Junge stand hinter ihm und hielt ein brennendes Scheit in der Hand, das er aus dem offenen Kaminfeuer gerissen hatte. Ehe Atlan ihn hindern konn te, war Bördo über Krudens Lager und schwenkte das Scheit über dem Greis. Kru den schrie gequält auf und verlor das Be wußtsein. »Er wird mein Erbe nicht verraten«, preß te Bördo hervor, und das Feuer warf gespen stische Schatten über sein Knabengesicht. Die hellen Augen waren weit in die Ferne gerichtet. »Nur ich werde das Goldene Vlies er obern und eines Tages zu den Göttersöhnen gehören!« In diesem Augenblick wußte Atlan, an wen ihn der Junge erinnert hatte. Bördo glich den Odinssöhnen Honir, hin ter dem sich in Wirklichkeit Thalia verbarg, und Balduur.
*
Traum der Valjaren Ehe Atlan sich fassen konnte, hatte Bördo das Pergament aus Krudens Händen gerissen und mit der Fackel angesteckt. »Ich kenne die Karte auswendig!« sagte er, während sie auf dem Lehmboden ver brannte. Atlan starrte den Knaben immer noch un gläubig an. Konnte es sein, daß Bördo der Sproß ei nes der Göttersöhne war? Hatte sich einer eine Valjarin zur Frau genommen und mit ihr den Jungen gezeugt? Als Atlan an die Erlebnisse in Florgst und die doch recht plumpen Valjarinnen zurück dachte, kamen ihm große Zweifel. Aber vielleicht glichen sich nicht alle Valjaren stämme? Auch auf der Erde gab es Pygmä en. Und im Lauf der kosmischen Expansion der Menschheit hatten sich die Zwerge von Siga und die Riesen von Ertrus entwickelt. Atlan wußte, daß er falsche Vergleiche heranzog. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht los, Bördo könnte der Sohn eines der drei männlichen Sprößlinge Odins sein. In Bördos Augen glomm wieder jenes seltsame Feuer. Manchmal schien sich etwas wie Schuldbewußtsein hineinzumischen. Atlan war nicht einmal böse auf ihn, weil er die Karte vernichtet hatte. Der kurze Mo ment, in dem er einen Blick darauf geworfen hatte, hatte genügt, um sich die Karte in sein photographisches Gedächtnis einzuprägen. Atlan würde sie jederzeit »abrufen« können. Dennoch fühlte der Arkonide Zorn gegen den Knaben in sich aufsteigen, weil Bördo ohne Rücksicht auf den kranken Kruden ge handelt hatte. Vielleicht würde der Greis den Schock nicht überleben. Ehe Atlan den Knaben zur Rede stellen konnte, hörte er vor der Hütte ein Rauschen. Er fuhr herum und sah, wie die Tür aufge stoßen wurde. Das starke Schloß flog aus der Verankerung. Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt stand im Eingang. Das Gesicht des Fremden war unter einer weiten Kapuze verborgen. Atlan erkannte ein Flugaggregat auf dem Rücken des Eindringlings.
33 Ohne auf den Arkoniden zu achten, trat die Gestalt ein und blieb vor Bördo stehen. Der Junge sah ihr mit glänzenden Augen entgegen. »Dein Vater schickt mich, um dich zu ho len. Uralte Prophezeiungen beginnen sich jetzt zu erfüllen. Du sollst in Sicherheit ge bracht werden, Bördo!« Atlan war nicht fähig zu reagieren. Ein unerklärlicher Bann hatte sich über ihn ge legt und lähmte den Arkoniden. Bördo ergriff die ausgestreckte Hand des Schwarzgekleideten. Er sah Atlan in die Au gen. »Der Ruf meines Vaters geht über alles«, verkündete der Knabe. Im nächsten Augen blick trat er mit dem Fremden aus der Hütte. Atlan schüttelte den Bann ab und rannte hin terher, aber es war zu spät. Der Schwarze hatte Bördo umklammert und vom Boden abgehoben. Sie flogen in Richtung Süden davon. Aus den Augenwinkeln bemerkte der Ar konide eine weitere Bewegung. »Telmten!« schrie er. »Bleib hier!« Aber der Valjare hörte nicht auf ihn. Er hatte den Bogen von der Schulter gerissen und rannte hinter den beiden her.
* Dies war Telmtens Stunde. Telmten wußte es in dem Augenblick, als er den schwarzen Schatten vom Himmel herabsinken und vor der Hütte aufsetzen sah. Er wußte, daß dies der Schatten war, der das Goldene Vlies in seinem letzten Traum verdunkelt hatte. Telmten spürte keine Furcht. Während der letzten Stunden hatte er alle nur denkbaren Qualen erlitten. Der Valjare glaubte, daß die anderen auf dem Floß nichts von dem ge merkt hatten, was in ihm vorging. Es war der Traum, der ihn nicht mehr losließ. Telmten fühlte tief im Innern, daß er am Ende seines gerade erst begonnenen Weges stand. Und seltsamerweise schreckte ihn die Aussicht, das Goldene Vlies niemals
34 erobern zu können, nicht mehr. Telmten hatte den Gedanken daran verlo ren, als er den Jungen sah. Immer wieder war sein Blick fassungslos zwischen dem Knaben und dem Göttersohn hin und her gewandert. Aber nicht allein die Ähnlichkeit mit dem Göttersohn faszinierte ihn. Es war etwas, das Telmten sich nicht er klären konnte. Eine Woge von wilden Ge fühlen hatte ihn überflutet, als er den Jungen zum erstenmal sah. Für einen kurzen Augenblick war das Ge sicht des Knaben von einem anderen strah lenden Bild verdrängt worden. Telmten war fest davon überzeugt, das Goldene Vlies gesehen zu haben. Die Minuten des Wartens wurden uner träglich. Telmten sah sich immer wieder nach dem großen, hageren Mann um. Er war ihm auf unerklärliche Weise unheimlich, wie auch die übrigen Begleiter des Götter sohns. Er fühlte Mitleid mit dem riesigen Wesen, das dem Stelzer zum Opfer gefallen war. Ebenso machte er sich Vorwürfe für das, was seine Stammesgenossen mit ihren Pfei len angerichtet hatten. Das Wesen mit den seltsamen Hörnern am Kopf schien zu ster ben. Plötzlich hatte der riesige Wolf zu knur ren begonnen. Ein Rauschen erfüllte die Luft. Razamon, wie sich der Begleiter des Göttersohns nannte, fuhr auf und starrte in den Himmel. Der Wolf verstummte. Nur ein leises Winseln war noch zu hören. Die schwarze Gestalt schien direkt aus dem Himmel auf sie herabzustürzen. Dann stand sie vor dem verschlossenen Eingang der Hütte. Telmten spürte den Impuls, der durch sei nen Körper strömte. Für weniger als eine Se kunde tauchte der Traum wieder auf. Binnen weniger Augenblicke wußte der Valjare, was er zu tun hatte. Er spannte die Muskeln, um loszurennen, aber Razamon hielt ihn mit eisernem Griff fest. Telmtens Gedanken überschlugen sich.
Horst Hoffmann Der Schwarze rief in ihm das Gefühl einer ungeheuren Gefahr hervor. Telmten war nicht mehr bei Sinnen. Seine Gedanken be wegten sich in Bahnen, die ihm logisch er schienen. Aber der Valjare war ein Gefange ner seiner Mikrowelt, in die er sich in den letzten Tagen und Stunden hineingesteigert hatte. Er hielt den Atem an, als die Gestalt, ohne auf Razamon, ihn und das Floß zu achten, zu einer so schnellen Bewegung ausholte, daß es unmöglich war, zu sagen, wie er die Tür aus den Angeln riß. Im nächsten Moment war er in der Hütte verschwunden. »Bitte!« flehte Telmten und riß an Raza mons Umklammerung. »Laß mich los! Ich muß …« Aber der Hagere umklammerte seinen Arm noch fester. Telmten war plötzlich der Mittelpunkt des Universums. Er war nun sicher, daß seine Berufung nicht der Dunklen Region und dem Goldenen Vlies gegolten hatte, sondern daß er hier und jetzt seine Aufgabe zu erfül len hatte. Und dann trat der Schwarze mit dem Kna ben aus der Hütte. Er umschlang den Jungen und stieß sich vom Boden ab. Wieder er klang das Rauschen. Razamon war einen winzigen Augenblick unaufmerksam, wahrscheinlich schockierte ihn das Gesehene ebenso wie Telmten. Die ser kurze Moment genügte dem Valjaren. Telmten riß sich los und stürmte auf den Schwarzen los. Im Laufen riß er sich den Bogen von der Schulter und nahm einen Pfeil aus dem Köcher. Die Gestalt war bereits einige Meter hoch in der Luft. Sie umklammerte den Jungen wie ein riesiger Raubvogel seine Beute. Telmtens Sinne waren vernebelt. Er rann te hinter ihnen her, bis er mit den Füßen im Wasser stand. Dann hob er den Bogen. Es kam ihm gar nicht erst in den Sinn, daß er den Knaben treffen könnte. Telmten ließ die Sehne los. Der Pfeil schwirrte durch die Luft und traf. Der Schwarze begann zu schlingern und unkon
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trolliert in der Luft zu kreisen, aber er flog weiter. Telmten ließ die Arme sinken. Er achtete nicht auf die Flüche Razamons. Plötzlich war nur noch die unendliche, schwarze Leere in seinem Bewußtsein, die er im Traum an der Stelle des Goldenen Vlieses gefunden hatte. Der Valjare wußte jetzt, was sein letzter Traum zu bedeuten hatte und was die Leere symbolisierte. Telmten zog langsam das Messer aus sei nem Gürtel. Dann ging er los, immer weiter, bis er bis zur Brust im Wasser stand. »Komm zurück!« hörte er die Stimme At lans hinter sich. Irgend jemand lief hinter ihm ins Wasser, um ihn zu holen. Aber Razamon kam zu spät. Als der Kör per des Valjaren sich langsam vornüber senkte, färbte das Wasser sich rot. Telmten starb in der Überzeugung, nicht umsonst gelebt zu haben.
5. Atlan und Razamon standen erschüttert im Wasser und sahen dem toten Körper nach, der schnell abgetrieben wurde. »Ich wußte es«, murmelte der Arkonide. »Ich wußte, daß er uns Schwierigkeiten be reiten würde. Und das Schlimme ist, daß ich ihm keinen Vorwurf machen kann, Raza mon.« Der Atlanter schüttelte den Kopf. »Ein verdammter Narr, der sich selbst umbringt!« »Er war ein Gefangener seines Traumes. Ich rechnete damit, daß er früher oder später die Kontrolle über sich verlieren würde, aber ich dachte nur an seinen Wahn, das Goldene Vlies zu finden. Trotzdem – ich hätte miß trauisch werden müssen, als er Bördo sah und wie versteinert stehenblieb. Der Junge hat irgend etwas in ihm bewirkt.« Atlan suchte den Himmel ab, aber die schwarze Gestalt war mit Bördo verschwun den. Der Fremde war nicht abgestürzt, als ihn der Pfeil traf, aber er hatte ganz offen sichtlich Schwierigkeiten mit dem Flug ge
habt. »Telmten schnappte in dem Moment über, als er den Schwarzen sah«, erklärte Raza mon. »Wir werden ihn wohl nie verstehen«, meinte Atlan. »Dieser Traum der Valjaren – wenn es stimmt, daß sie alle ihn träumen, dann müs sen sie auf eine uns unbegreifliche Art und Weise mit dem Vlies verbunden sein. Ich hatte aber den Eindruck, daß Telmten das Goldene Vlies vergaß, als er Bördo sah.« Die beiden Männer kehrten auf die Anhö he zurück und gingen auf das Floß zu. Atlan berichtete in knappen Sätzen über das, was sich in der Hütte ereignet hatte. »Also besteht eine Verbindung zwischen Bördo und dem Goldenen Vlies«, vermutete der Atlanter. »Telmten muß es irgendwie gespürt haben.« »Das mag sein. Ich möchte wetten, daß Sigurd oder Heimdall Bördos Vater ist.« »Wieso nicht Balduur?« Atlan warf Razamon einen ironischen Blick zu. »Balduur würde nie eine andere Frau als Opal angerührt haben, jedenfalls nicht, seit dem er sie aus der Galaxis Zuklaan mitge bracht und konserviert hatte. Und Bördo ist höchstens acht Jahre alt.« »Balduur war ein Wrack«, stimmte Raza mon zu. »Ich würde gern wissen, was aus dem armen Burschen geworden ist. Aber was ist mit Thalia? Sie ist eine Frau! Ich könnte mir denken, daß auch sie sich ziem lich einsam fühlt, und MuurArthos war ganz bestimmt nicht der Mann, der ihre Wünsche erfüllen könnte …« Atlan mußte nun unwillkürlich schmun zeln, als er an den Kleinen dachte. All das lag jetzt schon so weit hinter ihnen, als ob seit dem Aufenthalt auf Thalias Schloß be reits Jahre vergangen wären. »Thalia hat viel zuviel Angst davor, ihre wahre Identität preiszugeben.« »Bleiben also Sigurd und Heimdall. Nach dem, was Koy von seinem Zusammentreffen mit Heimdall berichtete, scheint mir der An
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tiquitätensammler auch nicht in Betracht zu kommen. Also Sigurd?« »Ich möchte zu gern wissen, was für ein Mann er ist«, sagte der Arkonide. »Der Le gende nach war er Odins Lieblingssohn.« »Ein seltsames Völkchen, unsere Götter söhne …« Atlan hatte eine Entgegnung auf der Zun ge, schwieg aber. Eigentlich wußten sie überhaupt nichts von den Fremden. Sie hat ten Honir und Balduur kennengelernt; Koy hatte berichtet, daß Heimdall ein ähnlich ei gensinniger Charakter war. Aber was würde geschehen, wenn die vier Göttersöhne eines Tages vereint wären? Noch lebten sie in strenger Isolation vonein ander. Aber wie lange noch? Was bedeute ten die Worte des Schwarzen, daß sich uralte Prophezeiungen zu erfüllen begannen? Plötzlich fiel dem Arkoniden etwas ein. »Wieso schlug Fenrir nicht Alarm, als der Unbekannte auftauchte? Ich habe nicht ge hört, daß er …« »Er begann zu knurren, aber dann wand er sich winselnd auf dem Floß«, erklärte Raza mon. Die Angelegenheit wurde immer undurch sichtiger. Immer mehr Fragen türmten sich vor den Freunden auf. Uralte Prophezeiungen beginnen sich zu erfüllen! Irgend etwas war auf Atlantis in Gang ge kommen. Hatte es etwas mit Atlans und Razamons Wirken auf Pthor zu tun?
* Atlan und Razamon standen vor dem Krankenlager des Alten. Kruden war wieder bei Besinnung und sah die beiden Männer abwechselnd an. »Bördo ist nicht mehr hier«, flüsterte Kru den. Er hatte Mühe, die Worte hervorzubrin gen. »Ich wußte seit langem, daß er gehen würde.« Atlan berichtete, was während Krudens Ohnmacht vorgefallen war. Der Greis hörte
schweigend zu und nickte immer wieder. »Er hat ihn zu sich geholt …« Bevor der Arkonide eine Frage stellen konnte, verkrampfte sich Krudens Gesicht. Er hatte Schmerzen. »Das Goldene Vlies«, hauchte er dann, »die Dunkle Region … Ja, ich war dort, und ich habe …« Wieder verstummte der Alte und bäumte sich unter Schmerzen auf. Atlan sah ein feuchtes Tuch neben dem Lager liegen und drückte es Kruden auf die Stirn. Der Greis schenkte ihm einen dankbaren Blick. Plötzlich fuhr Razamons Kopf in die Hö he. Atlan versuchte, in seinem Gesicht zu le sen, aber die Miene des Atlanters war ver schlossen. Er ging zur Tür und spähte hin aus. Dann hörte auch Atlan das Rauschen. »Die Flutwelle!« rief Razamon. »Die zweite Flut kommt!« Atlan war sofort auf den Beinen. »Lauf zum Floß und hole die anderen. Vor allem Koy muß in Sicherheit gebracht werden!« Razamon war schon unterwegs. Der Ar konide ging wieder zu Kruden. »Ich weiß, daß es zu Ende geht«, flüsterte der Alte. »Ich muß dir etwas sagen, aber die Erinnerung … es ist alles so dunkel. Ich se he dich nicht mehr …« Atlan begriff, daß das Fieber und die Auf regung immer stärker an Kruden zehrten. Bördos Verschwinden mußte ihm einen schwereren Schock versetzt haben, als er nach außen hin zeigte. »Die Dunkle Region, Kruden! Versuche, dich zu erinnern!« Das Rauschen wurde stärker. Atlan hörte, wie Razamon Gloophy lautstark zum Ver lassen des Floßes zu bewegen versuchte. Fenrir tauchte in der Tür auf und kam schweifwedelnd an Atlans Seite. »Bitte, Kruden, versuche es …« Aber der Geist des Alten vernebelte sich immer mehr. »Bördo«, flüsterte er. »Er muß aufpassen, sein Weg ist voller Gefahren …«
Traum der Valjaren »Das Goldene Vlies, Kruden!« Atlan litt darunter, dem alten Valjaren nicht helfen zu können. Statt dessen quälte er ihn womöglich noch mit seinen Fragen. Aber er spürte, daß nicht mehr viel Zeit blieb. Kruden richtete sich auf. Wieder trat jener lebendige Schimmer in seine Augen. Kruden begann wie in Trance zu reden. »Ich war allein. Meine Begleiter starben während der Reise an einer furchtbaren Seu che. Nur ich blieb am Leben. Ich verließ das Boot an der anderen Seite des Flusses und marschierte so lange, bis ich die schwarze Wand vor mir aufragen sah.« Kruden begann heftig zu zittern. Atlan be tupfte mit dem feuchten Tuch die Stirn des Valjaren. Der Alte bewegte die Lippen, aber erst nach einiger Zeit fand er die Sprache wieder. Mittlerweile waren auch Gloophy und das Vogelwesen in der Hütte. Kruden zitterte heftiger. Er drehte den Kopf und sah Atlan aus aufgerissenen Au gen an. »Ihr müßt euch vorsehen … Der Weg durch die Dunkle Region ist voller …« In diesem Augenblick schwoll das Rau schen so schlagartig an, daß der Arkonide die weiteren Worte des Alten nicht mehr verstand. Razamon tauchte in der Tür auf. Er trug Koy auf den Armen. »Es geht los, Atlan! Die Flut kommt!« Der Arkonide sprang auf und rannte zur Tür. Was er sah, ließ ihn verzweifeln. Die Flutwelle hatte Skarlotto erreicht und fegte die Lehmziegelhütten wie Spiel zeughäuser weg. Sie war so hoch, daß selbst die Anhöhe nicht verschont bleiben würde. »Haltet euch fest!« rief Atlan seinen Freunden zu. Er rannte auf Kruden zu und versuchte, den Alten aus seinem Lager zu zerren. Aber Kruden klammerte sich fest. Er starrte gebannt auf die Tür, als wüßte er ge nau, was auf sie zukam. Noch einmal bäumte er sich auf und be wegte die gesprungenen Lippen. »Die rote Truhe«, hörte Atlan. »Es ist in der Truhe …«
37 Das Rauschen und der Donner der Flut übertönten alles andere. Die Wassermassen brachen mit ungestümer Gewalt in die Hüt te.
* Nach drei Minuten war alles vorbei. Atlan hatte sich in seinem langen Leben oft genug in Situationen befunden, in denen er glaubte, am Ende seines Weges angelangt zu sein, und in denen eine unvorhergesehene Verkettung der Umstände letzten Endes doch noch zur nicht mehr erwarteten Ret tung geführt hatte. Der Arkonide hatte sich jedoch immer dagegen gewehrt, den Begriff »Glück« zu akzeptieren. Jedenfalls dann, wenn er eine Situation im Nachhinein durch dachte und zu analysieren versuchte. Jetzt aber waren seine ersten Worte: »Da haben wir noch einmal Glück gehabt. Es fehlte nicht viel …« Die ganze hintere Wand der Hütte war durch die eindringenden Wassermassen her ausgerissen und weggespült worden. Wie durch ein Wunder hatten die dicken Stütz balken, an denen sich die Freunde festge klammert hatten, der Flut getrotzt. Das schäumende Wasser war nur wenige Zenti meter unter den Gefährten durch die Hütte gebraust. Nur einige bange Sekunden lang hatte es die ganze Hütte ausgefüllt und fast gesprengt, bis die Rückwand auseinander barst. Gloophy hatte sich einfach auf dem Bo den ausgestreckt und tauchte wohlbehalten wieder auf, als das Wasser langsam abfloß. Razamon hatte Koy unter den Arm genom men und über einen Querbalken gelegt, und Fenrir konnte sich mit einem Riesensatz auf ein kleines Podest unter dem Hüttendach in Sicherheit bringen. Als das Wasser abgeflossen war, stiegen sie herab. Kruden war nicht mehr in der Hütte. Das Wasser hatte den todkranken Greis mitsamt dem Lager weggespült. Atlan ballte die Hände zu Fäusten und
38 starrte erschüttert auf die leere Stelle am Bo den. Welch grausames Schicksal hatte be stimmt, daß Atlans Weg durch Atlantis von mannigfachem Leid, von Tod und Verder ben umsäumt wurde? Wann endlich hatte das alles ein Ende? Wie würde Atlantis aussehen, wenn die Macht der FESTUNG gebrochen wäre und die Versklavung der Völker ein Ende hätte? Würde ein friedliches und sinnvolles Zu sammenleben der Stämme und Rassen mög lich sein? Die Schwarze Galaxis! Welche Beziehung bestand zwischen der mysteriösen FESTUNG und den wirklichen Drahtziehern? Würde es wirklich genügen, die Macht der FESTUNG zu brechen? Atlan ertappte sich wieder dabei, daß er sich Gedanken machte, die nicht unmittelbar mit dem einzig drängenden Ziel zu tun hat ten: die Gefahr, die Pthor darstellte, von der Erde abzuwenden. »Jetzt werden wir nie erfahren, was es mit dem Goldenen Vlies auf sich hat«, sagte Razamon mit finsterer Miene. »Wir werden es erfahren, Razamon«, wi dersprach der Arkonide. »Wir werden der Dunklen Region einen Besuch abstatten. Ich habe die Karte nur kurz gesehen, aber das genügte, um mir die wesentlichen Punkte des Weges einzuprägen.« Der Pthorer schien nicht gerade sehr er baut von der Aussicht zu sein, ihren Weg wiederum zu unterbrechen. Atlan trat an den Eingang der Hütte. Auch hier waren Teile der Wand aus der Veranke rung gerissen worden. Von Skarlotto war nicht mehr viel zu er kennen. Die Flut hatte das Dorf dem Erdbo den gleichgemacht. Allerdings war der Was serspiegel kaum gestiegen. In wenigen Ta gen würde das Hochwasser in dieser Region vorbei sein. Wie durch ein Wunder war das Floß eini germaßen heil geblieben. Es war auf die An höhe getrieben worden, aber das Seil, mit dem es an dem Baumstamm verankert war,
Horst Hoffmann hatte gehalten. Nur von dem Boot fehlte jede Spur. Außerdem waren die Pektos vom Wasser weggeschwemmt worden. »Hier hält uns nichts mehr«, meinte Raza mon. »Brechen wir also auf, wenn du es un bedingt dem guten Jason nachmachen willst …« »Rede keinen Unsinn«, wehrte Atlan ver ärgert ab. Sein Blick fiel auf Koy. »Die rote Truhe! Krudens letzte Worte waren, daß irgend etwas in einer roten Truhe sei. Vielleicht etwas Wichtiges.« Der Arkonide dachte daran, daß er den Valjaren nach einer Möglichkeit gefragt hat te, dem Trommler zu helfen. »Wir müssen nach einer roten Truhe su chen, Razamon!« »Wenn sie nicht weggespült worden ist …« »Truhen haben im allgemeinen die Eigen schaft, ziemlich schwer zu sein«, erwiderte der Arkonide. Nach kurzem Suchen fand Razamon die Truhe. Er öffnete das Schloß mit einem Messer, das er am Boden gefunden hatte. Neben verschiedenen Kleidungsstücken, Werkzeugen und einigen Ziergegenständen, die gar nicht zur spartanischen Ausstattung der Hütte passen wollten, fand Atlan schließlich einen durchsichtigen, etwa zehn Zentimeter langen Schlauch, der an beiden Enden mit einer feinen Schnur verschlossen war. In dem Schlauch befand sich eine grün lich schimmernde Flüssigkeit. Der Arkonide berichtete jetzt über jenen Teil seiner Unterhaltung mit Kruden, in dem die Sprache auf Koy gekommen war. »Es könnte ein Serum sein. Kruden hätte nicht von der Truhe gesprochen, wenn wir darin nicht etwas ungeheuer Wichtiges fin den sollten. Und da wir keinen Hinweis auf das Goldene Vlies entdeckten, bleibt nur un ser zweites Problem – Koy.« Razamon sah Atlan aus zusammengeknif fenen Augen an. »Du hast doch nicht etwa die Absicht, ihm dieses Zeug zu verabreichen?« »Wir haben keine Wahl, Razamon! Wir
Traum der Valjaren müssen das Risiko eingehen, sieh ihn dir an! Koy ist mehr tot als lebendig …« »Und wenn es ein Gift ist? Wir kennen seinen Metabolismus nicht, Atlan.« »Eben, und auch Kruden wird das gewußt oder zumindest geahnt haben. Der Körper eines Wesens mit einem Stoffwechsel, der dem unseren vergleichbar ist, baut das Pfeil gift innerhalb weniger Stunden ab, wie du an dir selbst feststellen konntest. Bei Koy ist das ganz offenbar nicht der Fall. Kruden hät te keinen Grund, uns Gift zu geben. Viel leicht neutralisiert die Flüssigkeit das Pfeil gift und bewirkt so das, was unser Körper von selbst macht.« »Wir müssen es riskieren, wie?« »Willst du zusehen, wie er stirbt?« fragte der Arkonide. Razamon biß sich auf die schmalen Lip pen. »Also gut.« Gemeinsam flößten sie Koy die grüne Flüssigkeit ein. Fenrir hatte leise zu knurren begonnen, als die beiden Männer sich über den Trommler beugten, und war aus der Hütte ins Freie gelaufen. Selbst jetzt, wo das Tier spüren mußte, wie es um Koy stand, konnte der riesige Wolf seine Abneigung nicht vergessen. »Jetzt können wir nur warten«, flüsterte Atlan, nachdem sie Koys Kopf wieder auf eine weiche Leinenrolle gelegt hatten. »Faß an, wir bringen ihn zum Floß.« Sie trugen den Bewußtlosen aus der Hütte und bereiteten ihm ein Lager auf dem Floß. Razamon band ihn mit ein paar Stricken fest. »Wo ist eigentlich Gloophy?« fragte At lan plötzlich. In den letzten Minuten hatten sie nicht auf den Bera geachtet. »Noch in der Hütte«, vermutete Razamon. Atlan marschierte noch einmal zurück, um das Antimateriewesen zu holen. Gloophy saß einsam und allein in einer Ecke und gab Töne von sich, wie der Arko nide sie noch nie von ihm gehört hatte. So unterschiedlich die beiden waren, glaubte Atlan doch, so etwas wie Trauer heraushö
39 ren zu können. Auch Gloophys Augen wa ren nicht mehr so lebendig wie sonst. Der Bera sah Atlan eintreten und hob den Kopf. Dann breitete er die Arme aus und machte eine Geste, die Atlan im ersten Au genblick nicht viel sagte. »Nih meh da«, brachte das große Wesen mit Mühe hervor. »Weh …« Jetzt endlich begriff der Arkonide. Gloo phys seltsamer Begleiter war verschwunden. Wahrscheinlich war das Vogelwesen von der Flut ebenso weggespült worden wie der alte Kruden. Atlan empfand Mitleid mit dem Riesen. Es war kaum anzunehmen, daß Gloophy den Sinn seiner Geste verstand, aber Atlan trat auf ihn zu und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Dein Freund ist weg«, stellte Atlan mit fühlend fest. »Du wirst etwas anderes fin den, aber nun komm, wir müssen weiter.« Der Bera gab einen klagenden Laut von sich. »Fre … Freund weh«, verstand Atlan. »Freund nih meh hie …« Nur mit Mühe gelang es Atlan, den Bera zum Aufstehen zu bewegen. Gloophy mach te einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß Atlan sich nicht einmal darüber freuen konnte, daß das Wesen zum erstenmal ein paar zusammenhängende, sinnvolle Worte in Pthora gesprochen hatte. Sie stiegen auf das Floß. Einige Minuten später stießen sie sich von der Anhöhe ab und nahmen wieder Kurs auf den Fluß. Koy rührte sich immer noch nicht. Irgendwo vor ihnen, jenseits des Flusses, lag ein Gebiet, das die Valjaren die »Dunkle Region« nannten. Dort lag ihr Ziel. Vielleicht erhielten sie dort die Antwort auf viele brennende Fragen …
* Zwischenspiel Der Bericht der beiden Dellos, die aufge brochen waren, um sich an Ort und Stelle ein Bild von den Vorgängen an der Eisküste
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zu machen, brachte neue alarmierende Nachrichten für die FESTUNG. Die Herren von Pthor waren längst durch das Wache Auge über die verheerende Flutkatastrophe informiert. Auch das, was die Dellos über das Abschmelzen der Eis massen berichteten, bestätigte lediglich frü here Beobachtungen und Folgerungen. Was die FESTUNG in Unruhe versetzte, war das Verschwinden der Gravitationsfel der um die ehemalige Burg der Zyklopen. Außerdem meldeten die Beobachter, daß das in der Eiszitadelle gefangengehaltene Anti materiewesen spurlos verschwunden war. Dies bedeutete eine Gefahr unvorstellba ren Ausmaßes für Atlantis. Die Herren der FESTUNG beschlossen, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu tref fen, um diese Gefahr zu bannen. Außerdem begann man sich Gedanken darüber zu machen, wer oder was für das Verschwinden des Antimateriewesens ver antwortlich war …
6. Bördo sah das Land tief unter sich vor überziehen. Sie hatten das überschwemmte Flußgebiet längst hinter sich gelassen und flogen weiter in Richtung Süden. Bördo sah fruchtbare Felder und kleine Ansiedlungen, Wälder und ihm unverständliche technische Komplexe. Der schwarze Unbekannte hatte ihn fest umklammert. Nur manchmal zuckte er zu sammen. Dann wurde der Flug unregelmä ßig, und Bördo verspürte Schwindel und Übelkeit. Der Pfeil hatte den Boten seines Vaters knapp über der rechten Hüfte getroffen und machte ihm offenbar mehr zu schaffen, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Immer öfter verlor der Schwarze die Kontrolle über den Flug. Und dann geschah das Unglück. Wieder bäumte der große Körper sich auf. Einen schrecklichen Augenblick lockerte sich der Griff, und Bördo glaubte, den Halt
zu verlieren und in die Tiefe stürzen zu müs sen. Bördo wurde herumgerissen, als der Un bekannte sich um die eigene Achse drehte und wild mit den Beinen zu schlagen be gann. Er hörte ein furchtbares Stöhnen. Der Schwarze mußte unter unbeschreiblichen Schmerzen leiden. Nach knapp einer Minute hatte er sich wieder unter Kontrolle und begann, den Flug zu stabilisieren, aber da war es bereits zu spät. Ein Schatten tauchte vor ihnen auf. Dann schälten sich einzelne Punkte heraus. Es war keine Zeit mehr, um auszuweichen. Der Un bekannte raste mit Bördo genau in den Vo gelschwarm hinein. Bördo hielt sich die Hände vors Gesicht, um sich vor den wild schlagenden Flügeln zu schützen. Er spürte ein Ziehen im Magen. Der Schwarze hielt ihn fest umklammert, aber er hatte die Kontrolle über den Flug vollends verloren. Der Knabe sah den Boden schnell auf sich zukommen. Sie stürzten ab! Sie flogen über einer weiten, grasbewach senen Landschaft. Kurz über dem Boden ge lang es dem Schwarzen noch einmal, den Sturz abzufangen. Schon wuchs in Bördo ei ne neue Hoffnung heran, aber bereits Sekun den später setzte das Geräusch der Flugma schine auf dem Rücken des Unbekannten aus. Sie sackten ab und fielen vom Himmel. Bördo schrie auf, als der Aufprall erfolg te. Der Schwarze hatte sich im letzten Au genblick herumgeworfen und Bördo mit sei nem Körper abgeschirmt. Nach kurzer Be nommenheit kam der Knabe auf die Beine. Der Schwarze lag schwer atmend vor Bördo. Bördo beugte sich über ihn, um die Kapu ze zurückzuschlagen, aber bevor er dazu kam, ergriff der Sterbende seine Hände und hinderte ihn daran. »Niemand darf den Schatten Sigurds se hen«, drang es leise unter der Kapuze her vor. »Versprich mir, mich nicht zu untersu chen, Bördo …«
Traum der Valjaren »Ich verspreche es, wenn es der Wunsch meines Vaters ist«, sagte der Knabe. »Es ist sein Wunsch, Bördo. Eines Tages wirst du verstehen …« Der Schwarze, der sich selbst »Sigurds Schatten« nannte, drehte sich auf die Seite und blieb so schwer atmend liegen. Bördo hielt drei Stunden lang neben ihm Wache. Dann waren die Qualen zu Ende. Bördo stand einige Minuten lang un schlüssig vor dem Fremden. Er kämpfte ge gen die Versuchung an, die Kapuze anzuhe ben und ins Gesicht des Toten zu sehen. Aber der Respekt vor seinem letzten Wunsch gewann schließlich die Oberhand. Bördo betrachtete das Fluggerät auf dem Rücken des Schwarzen. Es war mit Leder riemen am Oberkörper befestigt. Der Knabe sah sich um. Er konnte in die ser verlassenen Landschaft keine schnelle Hilfe erwarten. Außerdem war es fraglich, ob eventuell des Weges kommende Fremde freundliche Absichten hatten. Kruden hatte oft davon gesprochen, daß Bördo eines Ta ges die Hütte bei Skarlotto verlassen und seinen Weg antreten müßte, und er hatte ihn vor den Gefahren gewarnt, die er »draußen« vorfinden würde. Aus eigener Kraft aber konnte Bördo hier nicht fort, es sei denn, daß er den Flugappa rat nahm und lernte, mit ihm umzugehen … Er wußte nicht, wo er sich befand. Irgendwo im Süden von Skarlotto, jenseits des Flusses – aber wo genau? Der Schwarze hat te ihn zu seinem Vater bringen wollen, also mußte Bördo weiter nach Süden fliegen. Er kannte diesen Teil Pthors nicht. Krudens alte Pergamentkarte hatte nur den Weg zur Dunklen Region gezeigt – östlich und auf der anderen Seite des Flusses Xamyhr. Die Sonne stand fast genau senkrecht über der Graslandschaft am Himmel dieser Welt. Bördo spürte mit seinem kindlichen Instinkt, daß sie schon viel zu lange unter dieser Son ne weilten. Normalerweise wechselten die Himmel und die Sterne der Nacht in schnel lerer Folge. Aber Bördo machte sich keine Gedanken
41 darüber, weshalb das so war. Er untersuchte vorsichtig die Flugmaschine auf dem Rücken des Schwarzen. Dann löste er die Schnallen der Lederriemen und nahm das Gerät vom Körper des Toten. Es war leich ter, als er gedacht hatte. Die Riemen ließen sich in der Länge regulieren, so daß Bördo sich das Gerät fest auf seinen Rücken schnallen konnte. Der Knabe stand neben dem Toten und sah zum Himmel auf, bis ihn die Sonne blendete. Er atmete tief durch und ver scheuchte die Furcht. Trotzdem schlug sein Herz heftig und ließ das Blut in den Schlä fen pochen. Langsam fuhr Bördos rechte Hand zu dem einzigen Knopf, den er auf dem zylinderför migen Gerät hatte entdecken können. Direkt neben ihm befand sich eine Art Taste, die sich an beiden Enden in den Zylinder drücken ließ. Bördo erinnerte sich daran, daß der Bote seines Vaters während des Fluges einige Male mit der freien Hand auf den Rücken gegriffen hatte. Die Bewegung konnte nur der Taste gegolten haben, denn jedesmal hatte sich der Flug etwas verlang samt oder beschleunigt. Bördo drückte auf den Knopf. Sofort heulte das Gerät auf und begann zu vibrie ren. Bördo bekam einen Schrecken, aber er stand noch immer mit den Füßen auf der Er de. Seine Hand legte sich auf die Taste. Vor sichtig drückte er sie an einem der beiden versenkbaren Enden in den Zylinder. Im nächsten Moment fühlte er sich an den Schultern, wo die Riemen saßen, in die Hö he gerissen. Bördo schrie und schloß die Au gen. Als er sie wieder öffnete, war er bereits zehn Meter über dem Boden. Als er immer höher stieg, wurde er von einer plötzlichen Panik erfaßt. Bördo drück te das andere Ende der Taste, und sofort wurde er in der Luft herumgewirbelt, drehte sich um seine Körperachse und sah den Bo den schnell auf sich zukommen. Wie wild fingerte er an der Regulierungstaste herum, bis er wieder an Höhe gewann. Bördo war
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furchtbar elend zumute. Nach einigen Minuten unkontrollierten Auf und Abfliegens erkannte der Junge so etwas wie ein System in den durch die Taste ausgelösten Bewegungen. Und nach weite ren bangen Minuten konnte er seinen Flug leidlich steuern. Bördo stieg bis auf eine Höhe von etwa einhundert Meter und flog über die Ebene hinweg. Allerdings hatte er nun jegliche Ori entierung verloren. Da die Sonne im Zenit stand, gab auch sie ihm keine Möglichkeit, die Flugrichtung zu bestimmen. So war es kein Wunder, daß ihn sein Tau melflug genau dorthin führte, wo er gerade nicht hin wollte …
* Ebenfalls gegen Mittag erreichte Atlans kleine Gruppe das östliche Ufer des Xa myhr. Sie hatten einige weitere verlassene Valjarendörfer hinter sich gelassen. Atlan schätzte, daß sie mittlerweile etwa einhun dertzehn Kilometer von der Flußmündung entfernt waren. Das Ostufer ragte relativ steil auf, während die Landschaft zur Rech ten eben war. Dort hatte das Hochwasser große Teile der Flußebene überflutet. Atlan und Razamon trugen wieder ihre bunte Leinenkleidung. Sie hatten die Pelz jacken und stiefel ausgezogen, als es uner träglich warm zu werden begann. Die Tem peratur war während des Vormittags sprung haft angestiegen. Koy lag immer noch bewußtlos auf sei nem provisorisch hergerichteten Lager. All mählich begann Atlan an der Wirksamkeit des vermeintlichen Serums zu zweifeln. Gloophy verhielt sich weiterhin still, nur manchmal stieß er seltsame Laute aus. Atlan hatte den Eindruck, daß ihn etwas beschäf tigte, aber es war nicht mehr nur die Trauer um den verlorenen Spielgefährten. Der Arkonide mußte an Telmtens War nungen denken. »Aufgewacht, Atlan«, rief Razamon. Sie hatten eine Stelle am Ufer erreicht, die flach
genug war, um bequem anzulegen. Razamon sprang an Land und fing das Seil auf. Dann band er es an einem dicken Baumstamm fest. Atlan wollte ihm folgen, als Fenrir ein drohendes Knurren von sich gab. Der Arko nide und Razamon fuhren herum und er kannten augenblicklich die Ursache. »Fenrir!« rief Razamon und winkte. Der Wolf machte einen Satz und lief schweifwe delnd auf den Pthorer zu. Atlan atmete auf und beugte sich über Koy, der die Augen aufgeschlagen und sich benommen aufgerichtet hatte. Die Erleichte rung war unbeschreiblich. Koy sah sich ver stört um. »Was ist passiert, Atlan? Wo sind wir hier?« »Ganz ruhig bleiben, Koy, du bist noch schwach.« Der Trommler bewegte seine Glieder und schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht – ich fühle mich wie nach einem langen, erfrischenden Schlaf. Was ist geschehen? Ich weiß noch, daß wir auf das Dorf zutrieben und ich plötzlich einen Schmerz im Bein spürte. Aber dann …« Atlan erklärte ihm in wenigen Worten, was sie seit der Ankunft in Florgst erlebt hatten. Er verschwieg auch nicht, daß sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hätten. »Ich kann mich also nicht einmal mehr bei diesem Kruden bedanken«, bedauerte Koy. Atlan wollte ihn zurückhalten, aber der Trommler schlug die Decken zurück und war mit einem Satz auf den Beinen. Vom Ufer aus war Fenrirs Knurren zu hören. Koy machte ein unglückliches Gesicht. »Wenn ich nur wüßte, wie ich seine Freundschaft gewinnen könnte …« Der Arkonide legte eine Hand auf Koys Schulter und winkte ab. »Das wird schon werden, vielleicht braucht er nur Zeit. Wir sollten aufbrechen, wenn du dich kräftig genug fühlst.« »Vollkommen, Atlan. Ich spüre keine
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Nachwirkungen der Vergiftung, es kann los gehen!« Koy sprang ans Ufer und entledigte sich der warmen Kleidung. Er trug nun wieder seine Kunststoffkombination mit dem Janus kopf auf der Brust. Endlich war die Gruppe versammelt und marschbereit. Das Floß lag verankert am Ufer. Nur mit großer Mühe und aller Über redungskunst war es Atlan gelungen, Gloo phy zum Aussteigen zu bewegen. Ihm fiel auf, daß der Bera sich immer wieder über den linken Oberarm tastete. Ihre einzige Bewaffnung bestand nach dem Verlust der Pektos in dem Messer, das Razamon in Krudens Hütte gefunden hatte. Es war Mittag, als sich die kleine Gruppe von so unterschiedlichen Wesen nach Osten hin in Bewegung setzte.
* Nach einer guten halben Stunde erkannte Bördo zu seinem Ärger, daß er genau in die falsche Richtung geflogen war. Unter ihm breitete sich wieder die Flußlandschaft des Xamyhr aus. Zu allem Überfluß reagierte das Fluggerät plötzlich nicht mehr auf die Steuerungsim pulse. Im Gegenteil begann es, in immer häufiger werdenden Intervallen für Sekun den auszusetzen. Bördo fiel jedesmal wie ein Stein in die Tiefe, bis der Antrieb wieder einsetzte und ihn mit einem schmerzhaften Ruck in die Höhe riß. Bördo flog über dem Fluß und versuchte, dem Flug die gewünschte Richtung zu ge ben, als der Zylinder endgültig den Geist aufgab. Bördo stürzte ab. Wenige Meter über dem steil aufragenden Ufer wurde der Knabe ein letztes Mal hochgerissen und entging nur knapp dem Aufprall. Dann kam der Boden immer schneller näher. Bördo riß instinktiv die Arme vor das Gesicht und rollte sich seitlich ab. Er stürzte in ein hinter den Uferfelsen lie gendes Getreidefeld und blieb einige Minu
ten lang benommen liegen. Langsam und vorsichtig bewegte Bördo jedes einzelne Glied, um festzustellen, ob er sich etwas ge brochen hatte. Aber wieder schien ein unbe kanntes Schicksal seine schützende Hand über ihn gehalten zu haben. Bördo war un verletzt. Der Knabe stand auf und schnallte den Zylinder ab. Er schleuderte das unbrauchbar gewordene Gerät achtlos zur Seite. Vor allem mußte er in Erfahrung bringen, wo er sich befand. Vielleicht fand er eine Valjarensiedlung oder ein paar Flüchtlinge. Bördo bahnte sich seinen Weg durch das Korn, das ihm fast bis zu den Schultern reichte, bis er einen Pfad fand. Er schätzte, daß er etwa fünfhundert Meter vom Ufer entfernt war und schlug die Richtung zum Fluß ein. Er war noch nicht lange gegangen, als er die Fremden sah. Bördo machte einen Satz zurück ins Kornfeld und wartete ab, bis sie heran waren. Er hätte sie eigentlich schon beim ersten Blick erkennen müssen. Plötzlich war der Knabe ungeheuer erleichtert darüber, »Alte Bekannte« wiederzusehen. Sie würden wis sen, wohin er sich zu wenden hatte. Dennoch schrak Bördo heftig zusammen, als ein riesiger Schatten das Getreide teilte und auf ihn zusprang.
* »Komm zurück, Fenrir!« »Es ist Bördo!« stieß Atlan fassungslos hervor, als der Fenriswolf die kleine Gestalt aus dem Feld zerrte. Der Junge versuchte sich loszureißen, aber Fenrir zog ihn bis zu den anderen hin. Razamon klopfte dem Wolf beruhigend gegen die Flanken. »Nichts für ungut, Bördo«, sagte Atlan. Der Knabe hatte den Schrecken schon über wunden. Er warf Fenrir einige undefinierba re Blicke zu und bemühte sich, immer einige Meter Abstand zwischen sich und dem Tier zu haben.
44 Bördo berichtete von seinem Unglück und dem Tod des Schwarzen. »Du kannst uns begleiten«, erklärte Atlan. »Wir sind auf dem Weg in die Dunkle Regi on.« Bördo starrte ihn ungläubig an. »Du kennst die Karte nicht, ich habe sie vernich tet, bevor …« Atlan begann zu grinsen und tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich habe sie nur kurz gesehen, aber lange genug, um sie im Kopf zu haben – wie du.« Zum erstenmal stellte Bördo die Frage: »Wer seid ihr?« Der Arkonide winkte ab. »Später, Bördo.« »Ich werde mit euch gehen. Aber ich möchte euch warnen …« »Er warnt uns!« rief Razamon grinsend. »Oha!« Atlan warf dem Gefährten einen strafen den Blick zu. Er spürte, daß Bördo nicht spaßte. »Sollten wir tatsächlich das Goldene Vlies finden, so gehört es mir. Es ist mein Erbe. Wer mich hindern will, es anzutreten, wird den Zorn meines Vaters spüren!« »Den Zorn deines Vaters Sigurd?« fragte Atlan gedehnt. Bördo fuhr zusammen. »Woher wißt ihr …?« »Es war nicht schwer zu erraten, Bördo. Keine Angst, wir werden dein Geheimnis niemandem verraten, und wir haben nur in formatives Interesse am Goldenen Vlies. Niemand von uns denkt daran, dir dein Erbe streitig zu machen.« Bördo sah ihn lange an. Dann nickte der Knabe. »Ich glaube dir. Vielleicht ist es gut, euch wiedergetroffen zu haben. Auch ihr habt ein Geheimnis. Ich glaube, ihr stammt nicht von Pthor.« Atlan und Razamon wechselten einen schnellen Blick. Auch Koy war aufmerksam geworden. »Es wäre schön«, sagte der Arkonide,
Horst Hoffmann »wenn wir beide und meine Freunde die Ge heimniskrämerei aufgeben und voller Ver trauen zueinander sprechen könnten, aber noch ist es nicht soweit, Bördo. Es ist auch in deinem Interesse.« Bördo nickte erneut, und er wirkte nicht wie ein Kind, als er fragte: »Ihr glaubt also auch an die neue Zeit?«
* Der Mann hockte in einem mit wertvollen Pelzen geschmückten Sessel und wartete. Er wartete darauf, daß sein Schatten zurück kehrte und ihm seinen Sohn Bördo brachte. Nach vielen Stunden wußte er, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Er be gann unruhig im LICHTHAUS auf und ab zu gehen. Nach langem Ringen mit sich selbst war sein Entschluß gefallen. Schweren Herzens traf er die Vorberei tungen, um die anderen drei zu sich zu ru fen. Sehr lange Zeit hatte es keinerlei Verbin dung zwischen ihnen gegeben, doch nun schien die Zeit dazu gekommen. Sigurd schickte die beiden Raben Hugin und Munin los, um Honir, Balduur und Heimdall zu sich zu bitten. Die Entwicklung spitzte sich nun schnell zu. Die uralten Prophezeiungen begannen sich zu erfüllen. Alles deutete nun darauf hin, daß Rag narök kurz bevorstand, die Götterdämme rung …
7. Es war früher Nachmittag, als sie be schlossen, eine längere Ruhepause einzule gen. Bördo zeigte nun doch deutliche Anzei chen von Erschöpfung, und auch Koy hatte eine Rast bitter nötig. Fenrir nutzte den Aufenthalt, um sich in einen nahegelegenen Wald zu schlagen und auf Jagd zu gehen. Die Gruppe befand sich inzwischen in einem unübersichtlichen Ge biet, in dem sich vereinzelte Felder und
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Waldgebiete abwechselten. Sie folgte immer noch dem Pfad, der in östlicher Richtung vom Flußgebiet weg führte. Atlan hatte einige Male versucht, von Bördo mehr über dessen Vater Sigurd zu er fahren, aber der Junge schwieg beharrlich. Der Arkonide fand sich schließlich damit ab. Größere Sorgen bereitete ihm der Bera. Gloophy war wieder aufgeschlossener ge worden. Razamon beäugte ihn bereits wie der mit einer gewissen Vorsicht, als befürch tete er jeden Moment einen neuen Gefühls ausbruch des Antimateriewesens. Was Atlan jedoch nachdenklich machte, war, daß Gloo phy damit begonnen hatte, den linken Ober arm mit seiner rechten Hand zu bedecken, als ob er dort etwas an sich hätte, das kein anderer sehen durfte. Atlan erinnerte sich daran, daß dies eine der Stellen war, an die sich das Vogelwesen mit Vorliebe geku schelt hatte. Noch wußten sie eigentlich kaum etwas über den Bera. Gewisse Reaktionen zeigten allerdings, daß sie es mit einem überaus hochentwickelten Intelligenzwesen zu tun hatten. Sie würden die Wahrheit über den Bera erst erfahren, wenn Gloophy das Ptho ra endgültig beherrschte. Bördo verschwand für kurze Zeit hinter einer Dornenhecke und kehrte mit einer Handvoll dunkelroter Beeren zurück. Atlan und Razamon probierten davon und pflück ten sich selbst einige, bis sie einigermaßen gesättigt waren. Als Fenrir zurückkehrte, brachen sie er neut auf. Vor ihnen lag ein kleiner Hügel. Erst als sie die Kuppe erreicht hatten, sahen sie die Valjaren.
* Es waren mindestens dreißig Männer. Sie kamen ihnen auf dem Pfad entgegen. Schon auf den ersten Blick sah Atlan, daß sie im Vergleich zu den Einwohnern Florgsts wah re Hünen waren. Kaum einer von ihnen war kleiner als einen Meter achtzig. Atlan sah seine Vermutungen bestätigt, daß es gravie
rende Unterschiede zwischen den einzelnen Valjarenstämmen gab. Vielleicht waren die se Unterschiede sogar künstlich herbeige führt worden, je nach dem Schwierigkeits grad der für die FESTUNG zu erledigenden Arbeiten. Für Atlan stand fest, daß Bördo aus der Verbindung zwischen Sigurd und einer Val jarin – vermutlich aus Skarlotto – hervorge gangen war. Anders war Krudens Rolle als Großvater nicht zu deuten. Die hochgewach sene Gestalt des Jungen hatte ihn von An fang an daran zweifeln lassen, daß seine Mutter zu den kleinwüchsigen Valjaren ge hörte, die man in Florgst kennengelernt hat te. Die Valjaren waren stehengeblieben. Sie hatten sie ebenfalls gesehen, und für ein Ausweichen war es zu spät. »Ich kenne sie«, sagte Bördo. »Einige von ihnen kommen aus Skarlotto. Ihr werdet Schwierigkeiten mit ihnen bekommen. Sie sind gefährlich.« »Wir werden mit ihnen fertig«, murmelte der Arkonide. Razamon trat an seine Seite. »Wir haben nur das Messer, Atlan. Sieh sie dir an. Jeder von ihnen hat eine Keule oder sonst etwas in der Hand, das sich als Waffe eignet. Wieso glaubst du, daß sie Schwierigkeiten machen werden, Bördo?« »Sie kennen mich, und sie kennen Kru den. Sie betrachten uns als ihr Eigentum.« »Ihr Eigentum?« fragte Atlan. »Sie glauben, durch uns eines Tages den Weg zum Goldenen Vlies zu finden.« »Sie träumen also auch diesen Traum?« »Jeder Valjare träumt ihn.« Razamon stieß laut die Luft aus. »Also dann …« Sie stiegen den Hügel hinab, wo die Val jaren auf sie warteten. Die Männer gestiku lierten eifrig untereinander. Sie schienen sich noch unschlüssig darüber zu sein, was sie von den Fremden zu halten hatten. Als sie nur noch etwa zwanzig Meter ent fernt waren, trat einer der Valjaren vor. Er schrie so laut, daß Atlan und seine Freunde
46 jedes Wort verstanden. »Das ist Bördo!« brüllte der Valjare. »Krudens Enkel! Sie haben ihn entführt, während wir weg waren! Sie wollen ihn zwingen, ihn zum Goldenen Vlies zu füh ren!« »Schwachsinn!« stöhnte Razamon. »Vorsicht!« warnte Bördo. »Sie sind Val jaren aus Skarlotto und den benachbarten Dörfern. Sie sind mit ihren Familien vor der Flut geflohen und kehren nun, da die größte Gefahr vorüber ist, zurück. Ihr habt nur die Valjaren in Florgst kennengelernt, dumme, einfältige Burschen. Diese hier sind nicht so harmlos. Sie werden kämpfen, um mich be halten zu können.« »Du meinst, sie betrachten dich tatsäch lich als etwas, über das nur sie verfügen können? Als eine Art Schlüssel zum Golde nen Vlies?« »Ich sagte es euch bereits.« »Ich fürchte, du wirst ihnen nicht die Ge schichte von unserer geheimen Mission er zählen können«, sagte Razamon zu Atlan. »Es sieht ganz nach einer Rauferei aus.« Atlan nickte grimmig. Einen Augenblick lang wünschte er, Razamon würde noch ein mal einen seiner Anfälle bekommen. Er würde eine ganze Armee ersetzen. Die Valjaren setzten sich nun ebenfalls in Bewegung, so daß die beiden Gruppen auf halbem Wege aufeinandertrafen. »Ihr habt ihn geraubt!« rief ihnen ein stämmiger, untersetzter Mann, der offenbar der Führer der Eingeborenen war, entgegen. »Ihr seid Plünderer und glaubtet, durch die Flut ein leichtes Spiel mit uns zu haben, aber ihr habt euch verrechnet.« Atlan machte eine beschwichtigende Ge ste. »Nicht doch, Freunde, ihr seid im Irr tum.« »Hört nicht auf ihn!« rief ein anderer Val jare aus dem Hintergrund. »Bördo hätte sei nen Großvater niemals freiwillig verlassen!« »Erzählt ihnen nicht, daß Kruden tot ist«, flüsterte Bördo Atlan schnell zu, »sonst bringen sie euch um!«
Horst Hoffmann »Kannst du sie beruhigen, Bördo?« »Sie sind furchtbar erregt. Die Flut hat fast alle ihre Felder auf der anderen Flußsei te zerstört, vom Dorf ganz abgesehen. Sie müssen den Zorn der FESTUNG fürchten.« »Versuche es, Bördo, sonst fliegen hier gleich die Späne!« Der Knabe warf Atlan einen fragenden Blick zu. Er verstand die Redewendung nicht, begriff aber offenbar, was der Arkoni de ausdrücken wollte. Bördo trat vor und stellte sich zwischen die beiden sich belauernden Gruppen. Die Valjaren standen dicht beieinander in An griffsstellung, die Knüppel in der Hand. At lan machte sich keine allzugroßen Hoffnun gen auf den Ausgang des unvermeidbar scheinenden Kampfes. »Fenrir ist verschwunden«, hörte er Raza mon leise flüstern. Jetzt hob Bördo beide Hände und sah die Valjaren beschwörend an. »Diese Fremden sind weder Plünderer, noch haben sie mich entführt, um zum Goldenen Vlies zu gelan gen. Wenn ihr mir nicht glauben wollt, so geht und fragt Kruden, meinen Großvater. Er wird euch alles bestätigen.« Einen Moment lang herrschte Schweigen in der Valjarengruppe. Die Männer starrten den Knaben ungläubig an, und Atlan schöpf te bereits Hoffnung auf eine friedliche Eini gung. Er hatte keine Angst vor einem Kampf, aber er wollte um jeden Preis Blut vergießen verhindern. Es war schon genug Unheil über diese Wesen gekommen. Auch Bördo hatte dies begriffen. Atlan konnte sich vorstellen, daß es dem Jungen nicht leichtfiel, seinen toten Großvater zu derartigen Ausreden zu mißbrauchen. Bördo hielt sich tapfer und versuchte das beste aus ihrer Situation zu machen. Aber die Reaktion der Valjaren fiel anders aus als erwartet. »Sie haben dich gezwungen zu lügen!« fuhr der Anführer der Valjaren Bördo an. »Wir haben Kruden gefunden. Sein Leich nam wurde wenige Kilometer flußabwärts an Land gespült. Nun wissen wir, wer seine
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Mörder sind!« »Die sind doch verrückt!« entfuhr es Raz amon. Ehe Atlan den Gefährten zurückhal ten konnte, war der Atlanter vorgesprungen und hatte den erstbesten Valjaren an seinem Wams gepackt. Es war das Signal zum Kampf. Die Horde der Eingeborenen begann laut zu grölen und stürmte auf die Gefährten zu. Im gleichen Augenblick ertönte hinter den Valjaren ein langgezogenes Heulen. Atlan, Razamon und Koy waren ohne Chance gegen die drückende Übermacht, die noch dazu bewaffnet war. Bördo wurde von drei Valjaren zur Seite gezerrt, aber der Ar konide konnte nicht auf ihn achten. Er muß te ein halbes Dutzend Fäuste abwehren, die auf ihn und Razamon niedergingen. Es schien ein aussichtsloser Kampf zu sein, zumal Gloophy sich vollkommen zu rückhielt und Koy bereits am Boden lag. Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, seine Broins einzusetzen.
* Fenrir schoß wie ein Blitz auf die Valja ren zu und warf ein halbes Dutzend Männer auf einmal zu Boden. Er wütete furchtbar unter den Eingeborenen, die gegen ihn nicht den Hauch einer Chance hatten. Atlan stieß einen verzweifelten Fluch aus. »Nicht töten, Fenrir!« rief er dem riesigen Wolf zu. Fenrir spitzte die Ohren und lauschte einen Augenblick. Atlan rief ihm noch einmal zu, daß er die Valjaren schonen sollte. Der Fenriswolf schien ihn zu verstehen, denn er begnügte sich nun damit, die Män ner durch Anspringen zu Boden zu werfen oder zu verjagen. Aber die Valjaren waren zäh. Atlan und Razamon wehrten sich mit Händen und Fü ßen gegen die Fäuste und Knüppel. Der Ar konide war sich der Zwickmühle, in der sie steckten, bewußt. Einerseits wäre der Kampf schnell für sie entschieden, wenn Fenrir aufs Ganze ging. Das aber bedeutete den Tod
vieler Eingeborener, die letztlich aus reiner Verzweiflung und im Glauben, Plünderer vor sich zu haben, angriffen. Andererseits aber würden Razamon und der Arkonide allein niemals mit der Über macht fertig werden. Der Atlanter wütete zwar unter den Männern, aber es war nur ei ne Frage der Zeit, wann sie ihn überwältigt hatten. Spätestens dann würde Atlan den Fenrir gegebenen Befehl zurücknehmen müssen. Die Rauflust der Valjaren kannte keine Grenzen. Sie schienen durch die Prügelei erst richtig auf den Geschmack gekommen zu sein. Und das war für Atlan der Ausweg aus seinem Gewissenskonflikt und für viele Eingeborene die Rettung. Aus dem Haufen der Kämpfenden kam plötzlich eine dunkle, heisere Stimme: »Ich sehe den Knaben nicht mehr, wo habt ihr ihn hingebracht?« »Es waren drei von Mürrtelns Leuten! Sie wollen ihn für sich!« »Redet kein dummes Zeug«, grollte eine andere Stimme. »Wir müssen zuerst mit den Plünderern fertig werden, dann können wir uns streiten.« Atlan war einen Moment lang verwirrt. Das genügte einem Valjaren, um ihn mit ei nem wohlgezielten Faustschlag ans Kinn zu Boden zu strecken. Atlan sah, daß Razamon hinzusprang und ihn abschirmte, so gut es ging. Wie aus wei ter Ferne hörte er die Schreie der Eingebore nen. »Das könnte euch Burschen aus Kraltessa so passen! Während wir uns hier aufhalten, verschleppen eure Kumpane den Jungen und rauben das Goldene Vlies!« »Sag das noch einmal!« brüllte ein ande rer. Und dann war die Prügelei unter den Valjaren bereits in vollem Gang. Bald waren sie so miteinander beschäftigt, daß sie die »Plünderer« völlig vergaßen. »Komm«, flüsterte Razamon und reichte Atlan die Hand. Der Arkonide griff zu und ließ sich hochziehen. »Wir verschwinden, bevor sie ihre Mei
48 nungsverschiedenheiten beigelegt haben. Ei gentlich komme ich mir ziemlich feige vor …« »Und wenn schon«, murmelte Atlan noch ein wenig benommen. »Lieber ein ehrenvol ler Rückzug als ein halbes Dutzend zer fleischte Valjaren.« Etwa fünfundzwanzig Meter zu ihrer Lin ken begann ein kleiner Wald. Die Gefährten schlichen sich leise über das Feld, bis sie die ersten Bäume erreicht hatten. Fenrir blieb bis zuletzt im Knäuel der Kämpfenden, ohne großen Schaden anzurichten. Die Beschimp fungen der Eingeborenen waren bis in den Wald hinein zu hören. Ganz offensichtlich hatten sich zwei Gruppen gebildet, eine, die sich aus den Bewohnern des Dorfes Skarlot to zusammensetzte, und eine andere, deren Mitglieder ihre eigenen Ansprüche auf Bör do geltend machten. Aber von dem Jungen war weit und breit nichts zu sehen. »Wir sollten Fenrir loschicken, um nach Bördo zu suchen«, meinte Razamon. »Du hast recht«, stimmte Atlan dem Vor schlag zu. Sie umgingen die kämpfenden Valjaren in weitem Bogen. Fenrir ver schwand im Dickicht und kam in einigen hundert Metern vor ihnen hinter den Einge borenen wieder zum Vorschein, überquerte in gewaltigen Sätzen das Feld und den Pfad und verschwand hinter dichtem Gebüsch in Richtung Flußufer. »Diese Burschen sind tatsächlich rei zend«, brummte Razamon, als sie sich wei ter durch den Wald schlichen, immer darauf bedacht, in sicherer Deckung zu bleiben, bis sie weit genug von den Kämpfenden entfernt waren. Koy blieb dicht hinter Atlan. Nur Gloophy bereitete der Weg durch das teil weise sehr dichte Unterholz einige Schwie rigkeiten. Aber er begriff, worauf es ankam. Atlan mußte unwillkürlich schmunzeln, als er sich einmal nach dem Bera umsah. Gloo phys Bewegungen wirkten grotesk, wenn er versuchte, durch Ducken und Niederlassen auf alle viere zufälligen Blicken der Valja ren zu entgehen.
Horst Hoffmann Die Valjaren waren tatsächlich immer noch so mit sich beschäftigt, daß sie vor lau ter Ehrgeiz, dem jeweiligen Gegner auf ihre ganz spezielle Art und Weise ihren Stand punkt klarzumachen, Atlan und seine Be gleiter vollkommen vergessen zu haben schienen. Erst als die kleine Gruppe eine Anhöhe überquert und auf der anderen Seite des Waldes einen zweiten Weg gefunden hatte, der in die gleiche Richtung führte, hörten sie die zornigen Rufe der Eingeborenen, aber ihr Vorsprung war jetzt groß genug, und die Valjaren würden lange suchen müssen, um ihre Spur zu finden. »Machen wir, daß wir hier wegkommen«, sagte Atlan. »Fenrir wird uns schon finden.« Es war Razamon anzusehen, daß er gerne noch ein wenig im Knäuel der Kämpfenden »mitgemischt« hätte, aber der Atlanter folgte ohne Widerspruch.
* Es dauerte zwei Stunden, bis der Fenris wolf zurückkehrte. Er war der Spur der Gruppe gefolgt. Mittlerweile hatten die Freunde etwa fünfzehn Kilometer zwischen sich und den Schauplatz des Kampfes ge bracht. Atlan schätzte, daß sie spätestens in einer weiteren Stunde die Dunkle Region er reichen würden. Fenrir lief schweifwedelnd um Atlan und Razamon herum, als ob er versuchte, ihnen etwas mitzuteilen. »Wenn er nur reden könnte«, brummte Razamon. »Jetzt wissen wir nur, daß er Bör do nicht mehr hat zurückbringen können, aber wir haben keine Ahnung, was mit dem Jungen passiert ist.« »Fenrir hätte ihn uns gebracht, wenn er noch für ihn erreichbar gewesen wäre, das heißt: an Land. Ich nehme an, daß die drei Valjaren ihn zu einem ihrer Boote am Ufer geschleppt und über den Fluß in Sicherheit gebracht haben.« »Eine schöne Sicherheit«, brummte der Pthorer mürrisch. »Sie werden ihn ausquet
Traum der Valjaren schen, bis er ihnen den Weg zum Goldenen Vlies zeigt.« Atlan wirkte nachdenklich. »Ich möchte wissen, welche tiefere Be deutung hinter dem Traum der Valjaren steckt. Ein ganzes Volk träumt Nacht für Nacht den gleichen Traum, immer wieder, das ist unvorstellbar.« »Ist es nicht möglich, daß es das Goldene Vlies nur in ihrer Phantasie, eben in ihren Träumen gibt?« fragte Razamon. »Und die Mythologien der Menschheit? Die Valjaren sind rauhe Burschen, aber sie machen mir nicht den Eindruck, daß sie bei den Einfällen von Pthor mit den Horden der Nacht auf die Kontinente der besuchten Welten strömen und dort Tod und Vernich tung säen würden. Es ist unwahrscheinlich, daß Menschen der Erde beim letzten Besuch Pthors auf unserer Welt Kontakt mit Valja ren hatten, die ihnen von ihrem Traum er zählten. Nein, Razamon, ich bin fest davon überzeugt, daß es dieses Goldene Vlies gibt, auch wenn sich etwas ganz anderes dahinter verbergen mag, als wir aufgrund unserer Kenntnisse von den alten Legenden her an nehmen.« »Ob es etwas mit den uralten Prophezei ungen zu tun hat, die sich angeblich zu er füllen beginnen?« Atlan zuckte die Schultern. »Das werden wir erst wissen, wenn wir das Vlies gefunden haben.« Damit war das Gespräch zunächst been det. Atlan sah sich nach Koy um. »Wie geht es dir jetzt?« fragte er den Trommler. »Spürst du wirklich keine Nach wirkungen der Vergiftung?« »Immer noch nicht«, versicherte Koy. »Ich habe diese Angelegenheit längst ver gessen. Aber jemand anders scheint Schwie rigkeiten zu haben …« Koy warf Gloophy, der schweigend neben ihm hertrottete, einen bezeichnenden Blick zu. Der Bera hielt sich wieder eine ganz be stimmte Stelle am linken Oberarm zu. »Ich habe vor einigen Minuten, als er einen Augenblick unachtsam war, einen
49 Blick darauf werfen können«, flüsterte Koy dem Arkoniden zu, so daß Gloophy ihn nicht verstehen konnte. Der Bera brachte mittlerweile, wenn er einmal sein Schweigen unterbrach, immer mehr zusammenhängen de Sprachbrocken hervor. Äußerlich machte er den Eindruck, als marschierte er ohne viel Anteilnahme hinter den anderen her, aber seine Reaktionen und Worte ließen immer wieder durchblicken, daß er die Gefährten in Wirklichkeit genauestens beobachtete. Er re gistrierte jedes ihrer Worte, und es war an zunehmen, daß er vieles von dem, was sie sagten, verstand. »Und?« fragte Atlan ebenso leise zurück. »Es war nicht genau zu erkennen, aber es sah so aus, als ob sein Velst-Schleier an die ser Stelle von einem weißlichen Gespinst bedeckt wäre …« Atlan musterte Koy nun genauer. Das Ge sicht des Trommler drückte unverkennbar Unbehagen aus. »Du weißt etwas«, sagte der Arkonide oh ne Umschweife. »Hat es mit dem Vogel zu tun?« Koy schrak heftig zusammen und lief fast gelblich an – was wohl das Pendant von ei nem menschlichen Erröten war. »Ich hätte es wissen müssen, als wir den Stelzer an Bord des Floßes nahmen. Das Tier kam mir gleich irgendwie bekannt vor, aber erst jetzt fiel mir ein, woher ich …« Koy blickte den Arkoniden unglücklich an, als ob er ihn bitten wollte, ihn mit weite ren Fragen zu verschonen. Atlan tat ihm den Gefallen. Scheinbar stellten diese »Stelzer« nicht nur für Valja ren ein Tabu dar, über das man nach Mög lichkeit nicht redete. »Also schön, Koy. Nur eines: ist Gloophy in Gefahr? Ich meine, ist das, was an seinem Arm wuchert, vielleicht sogar lebensgefähr lich? Du weißt, was geschieht, wenn der Velst-Schleier gesprengt würde …« Koy wand sich hin und her, bis er sich zu einer Antwort entschlossen hatte. »Ich kann dir nichts sagen, so gern ich euch helfen würde. Auch ich weiß nur, was
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man sich dann und wann über diese Tiere er zählte. Nein, unser Freund befindet sich nicht direkt in Gefahr, aber …« Langsam riß Atlan die Geduld. »Was be deutet das ›aber‹?« »Ich befürchte, Gloophy ist … schwanger …«
* Atlan benötigte einige Minuten, um diese Auskunft zu verdauen. »Bist du sicher, daß du die Vergiftung auch wirklich gut überstanden hast? Es han delte sich immerhin um ein Nervengift, und vielleicht …« »Ich bin völlig gesund«, sagte Koy etwas zu heftig, denn sofort blieb Fenrir, der neben Razamon voranging, stehen und begann wü tend zu knurren. Koy blieb augenblicklich einige Schritte zurück. Atlan klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und vermied es, das Thema noch mals anzuschneiden. Um so mehr beschäf tigte es seine Gedanken. Schwanger? Wie konnte ein Wesen, das von einem undurchdringlichen Schleier um geben war, durch die Berührung mit einem anderen Wesen »schwanger« werden? Nach einigem Nachdenken gelangte der Arkonide zu dem Schluß, daß Koy mit dem Begriff »schwanger« etwas anderes gemeint hatte. Aber irgend etwas ging mit Gloophy vor sich. Er kam nicht mehr dazu, weitere Überle gungen anzustellen, denn plötzlich hob Raz amon die Hand und deutete nach vorne. Der Pthorer brauchte nichts zu sagen. Am Horizont schien eine schwarze Wand aufzuragen – die Dunkle Region. Atlan dachte an Bördo. Er vermißte den Jungen, und das nicht nur, weil er ihnen wahrscheinlich viele Mühen auf dem Weg zum Goldenen Vlies erspart hätte. Der Ar konide mußte an Krudens Warnung denken. In den wenigen Stunden des Zusammen seins hatte er den Knaben liebgewonnen.
Als er daran dachte, was die Valjaren nun, nach Krudens Tod, mit ihm anstellen wür den, überkam ihn eine ohnmächtige Wut. Wie würde Bördos Vater Sigurd auf das Ausbleiben seines Sohnes reagieren? Viele Fragen beschäftigten den Arkoni den, und vielleicht würde die Dunkle Region ihnen einige Antworten geben. Atlan spürte nicht nur, er war sicher, daß bald etwas Entscheidendes geschehen wür de, denn Razamon klagte wieder über hefti ge Schmerzen in seinem unsichtbaren Zeit klumpen. Der Atlanter erklärte wieder, daß er dies für ein besonderes Zeichen hielt. Sie marschierten auf die schwarze Wand zu – ins Ungewisse.
EPILOG Heimdall Der erste, dem die beiden Raben Sigurds Nachricht überbrachten, war Heimdall, Odins ältester Sohn. Heimdall zögerte keine Sekunde, dem Ruf Sigurds zu folgen. Er begann damit, seinen Bunker zu versiegeln, und legte seine Ausrü stung an. Mit finsterem Blick durchstreifte er noch einmal die Gänge und Räume des Lettro und betrachtete seine Schätze. Vor dem Gestell mit den Parraxynth-Bruch stücken blieb Heimdall eine Weile stehen und dachte über die Botschaft Sigurds nach. Nach vielen langen Jahren des Wartens schien die neue Epoche zu beginnen, die das Göttergeschlecht zu neuem Glanz führen sollte. Heimdall nahm die Khylda an sich und verabschiedete sich von Kröbel, dem »skullmanenten Magier« und einzigen We sen, das Heimdall in seinem Bunker duldete. Dann bestieg er ein kleines Kettenfahr zeug und machte sich auf den Weg. Honir Als zweiter empfing Honir die Botschaft. Auch Honir, in Wahrheit Odins Tochter Thalia, die sich hinter einer gewaltigen Rü
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stung und männlichem Auftreten verbarg, zögerte nicht, dem Ruf des Bruders zu fol gen. Honir legte die schwere Rüstung an und sorgte dafür, daß während seiner Abwesen heit niemand in das Schloß Komyr eindrin gen konnte. Dann trat er in den Schloßhof und bestieg die Windrose, jene radähnliche Konstruktion, mit der er seine Kontrollfahr ten über seinen Abschnitt der Straße der Mächtigen zwischen Zbahn und Orxeya un ternahm. Honir dachte nur kurz daran, daß die Straße der Mächtigen nun für unbestimmte Zeit ohne Schutz war. Wenn Sigurd ihn zu sich rufen ließ, mußte es sich um eine Ange legenheit von äußerster Wichtigkeit handeln. Und das, so wußte auch Honir, konnte nur die langersehnte Götterdämmerung sein … Balduur Als letzten der Göttersöhne suchten Hu gin und Munin Balduur in seinem Heim an der Straße der Mächtigen zwischen Wolter haven und Orxeya auf. Balduur vernahm die Botschaft schweigend und ohne besondere Reaktion. Immer noch litt er unter dem Ver lust seiner geliebten Opal, obwohl er seit ih rem Tod endlich seine alte Kraft und Ge sundheit zurückerlangt hatte. Balduur konn te nun auch tagsüber sein Heim verlassen, da seine Lebensenergie nicht mehr ange
zapft wurde. Aber er war nicht glücklich. Noch größere Qualen als Opals Tod be reitete ihm das Verschwinden des Fenris wolfs, der ihm seit undenkbaren Zeiten ein treuer und unersetzlicher Freund und Ge fährte gewesen war. Balduur mußte anneh men, den Wolf getötet zu haben. Aber all dies trat weit zurück, als die Ra ben die Botschaft seines Bruders Sigurd brachten. Balduur legte seine Rüstung an und versiegelte sein Heim. Dann bestieg er ein Yassel und machte sich auf den langen Weg. Auch Balduur hatte seine volle Kampf ausrüstung angelegt. Er wußte nicht mehr über Sigurds Beweggründe, nach langer Zeit Verbindung zu den anderen Göttersöhnen aufzunehmen, als ihm die beiden Raben mit geteilt hatten. Und das war nicht viel. Balduur wußte nur eines, und auch hier ging es ihm wie Honir und Heimdall, die, unabhängig voneinander, Sigurds LICHT HAUS zustrebten. Sie würden all ihre Kraft brauchen, wenn die Zeichen sich zu erfüllen begannen. Wenn Ragnarök kam, mußten sie zusam men sein, um mit vereinter Kraft den Mäch tigen der Finsternis trotzen zu können …
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ENDE