Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom Geben und Nehmen Zur Soziologie der Reziprozität
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Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom Geben und Nehmen Zur Soziologie der Reziprozität
»Theorie und Gesellschaft« Herausgegeben von .Axel Honneth, Hans Joas, Claus Offe und Peter Wagner Band 55
Frank Adloff, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Göttingen. Steffen Mau, Dr. rer. pol., ist Juniorprofessor für Sozialpolitik an der Universität Bremen.
Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom .Geben und Nehmen '
Zur Soziologie der Reziprozität
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische lnfonnation der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ /dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37757-8
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Vexwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright© 2005 Campus Verlag GmbH, F.rankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet www.campus.de
Inhalt
I. Einführung Zur Theorie der Gabe und Reziprozität..................._....~..················-················~················· 9 Frank Adlo.ffund Steifen Mall
ll. Klassiker der Ethnologie und Anthropologie Die Gabe............................................................................................................................. 61 Marcel Mauss Zur Soziologie des primitiven Tauschs ...................................................... 73 Marshall D. Sah/ins
ID. Soziologische Theorieansätze Exkurs über Treue und Dankbarkeit ........................................................ 95 Georg Simmel Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie ................................ 109 Alvin W. Gouldner Sozialer Austausch ..................................................................................• 125 Peter M. Blau Die Ökonomie der symbolischen Güter ................................................. 139 Pierre Bourdieu
Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe ..................................... 157 Alain Caille
IV. Anwendungsfelder Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen .............................. 187 Betina Holistein
Diegift economy moderner Gesellschaften ................................................. 211 Zur Soziologie der Philanthropie Frank Adloff und Steffen Sigmund
Reziprozität und Anerkennung in Arbeitsbeziehungen ........................... 237 Stephan Voswinkel
Reziprozität und Wohlfahrtsstaat ............................................................ 257 Stephan Lessenich und Steffen Mau
Die Gabe der Entwicklung ....................................................................... 277 Nathalie Karagiannis
Autorenverzeichnis .................................................................................. 297 Sachregister ....................................................................................................................... .301 Personenregister............................................................................................................... 305
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Einführung
Zur Theorie der Gabe und Reziprozität Frank Adloffund Steffen Mau
Einleitung Reziprozität - die Logik des Gebens, Nehmens und Erwidems - ist für das Problem der sozialen Integration von entscheidender Bedeutung, jedoch hat Reziprozität in den Theoriegebäuden der Soziologie selten einen zentralen Stellenwert erlangt. Entweder wird die Norm der Reziprozität als so grundlegend für das soziale Leben und als so ubiquit:ät! angesehen, dass eine intensivere Beschäftigung mit diesem »Hintergrundphänomen« als nicht lohnend erscheint. Oder, was häufiger der Fall ist, man überlässt das Feld Anthropologen und Ethnologen, da Gabe und Reziprozität in archaischen Gesellschaften strukturbildend waren, in modernen aber nicht mehr - so die Vermutung. Zu komplex, zu institutionell oder zu systemisch vermittelt erscheinen mOderne soziale Beziehungen, als dass sie auf Reziprozitätsarrangements zurückzuführen wären. Es wird darauf verwiesen, dass mit dem Übergang zur Moderne eine Ausdifferenzierung des Gabenkonzeptes stattfand: Das, was früher verschmolzen iin der Gabe vorlag, ist nun ausdifferenziert in die Sphäre des wirtschaftlichen Tausches und des Vertrags einerseits, das private Schenken (zu Weihnachten oder zum Geburtstag) andererseits. So schreibt Luhmann (1997: 650) beispielsweise: »Die Anerkennung von Reziprozitätserfordernissen ist in segmentären Gesellschaften w,hlversell verbreitet.« Reziprozität ist für ihn ein Regulativ segmentärer Gesellschaften, von Reziprozität in modernen Gesellschaften ist in der Gesellschaft der Gesellsc4tift nirgendwo die Rede. Auch Werke, die sich explizit der soziologischen Rekonstruktion der anthropologischen Theorie d~ Gabentauschs widmen, verfallen in eine ähnliche Dichotomie. Zwar machte H~lmuth Berkings 1996 erschienener Band Schenken: Zur Anthropologie des Gebens die ~eutsche Soziologie nach Jahren der sträflichen Vernachlässigung auf die Bedeu~ des Themas aufmerksam, da er der Frage nach dem anthropologischen Ursprung des Gabentauschs nachgeht und zivilisationsgeschichtlich die Bedeutungswandlungen von der Gabe zum Geschenk im Übergang zur Moderne rekonstruiert. Jedoch bat Berking (1996: 214ff.) zufolge die Gabe heute nur noch im Bereich des privaten $chenkens ihren Ort, an den Rand gedrängt von Markt, Utilita1 rismus und Tausch. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Es finden sich ver-
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streut über die letzten Jahrzehnte einige Autoren, die eine Soziologie oder Sozialpsychologie des privaten Schenkens avisiert haben (vgl. Schwartz 1967; Cheal1987, 1988; Komter 1996). Dabei gibt es in neueren sozialwissenschaftliehen Diskussionen durchaus Konzepte, die an die Reziprozitätsthematik anschlussfähig sind, man denke nur an Robert Putnams viel beachtete Atbeiten zum Sozialkapital (Putnam 1995, 1996, 2000; auch Swain 2003). Der Begriff des Sozialkapitals bezieht sich bei Putnam auf zivile Assoziationen wie Vereine, informelle Netzwerke, Religionsgemeinschaften, Selbsthilfegruppen, soziale Bewegungen usw., denen ein besonderer Stellenwert als Unterbau einer funktionierenden Demokratie eingeräumt wird Ihnen wird eine wichtige Funktion für die Generierung von Reziprozitäts- und Vertrauensnormen zugeschrieben, durch die eine bessere gesellschaftliche Handlungskoordination ermöglicht wird. Putnam behauptet zudem, dass eine Gesellschaft, in welcher Reziprozität in generalisierter Form vorkommt, wirtschaftlich wie politisch effektiver ist, als eine Gesellschaft, in der Reziprozität nur in spezifischen Subgruppen vorfindbar ist erstere beruht auf einem brückenbildenden ~>hridging<<), letztere auf einem bindenden (»bonding<<) Sozialkapital (Putnam 2000: 20ff.). Das Sozialkapital einer Gesellschaft ermöglicht soz~ale Integration durch Muster generalisierter Reziprozität, die wiederum Handlungskoordination erleichtern. Letztere gelingt auf der Grundlage von Vertrauen und gemeinsamen sozialen Verhaltenserwartungen der Wechselseitigkeit, die die Transaktionskosten der Interaktion senken, da man auf rechtliche Sanktionsmechanismen verzichten kann. Es lässt sich an diesem breit diskutierten Konzept ablesen, dass es durchaus Gründe gibt, den Normen der Reziprozität einen Modernitätsgrad zuzusprechen. Sei es inderneueren Wirtschafts-, in der Familien-, der Netzwerk-, der Dritte-Sektor- oder in der Wohlfahrtsstaatsforschung, überall finden sich Hinweise und empirische Evidenzen für die Wirkung von Gegenseitigkeits- und Verpflichtungsbeziehungen. Daher ist das Konzept der Reziprozität kein bloßes Relikt, welches an vergangene Gesellschaften erinnert, sondern ein lebendiger Bestandteil auch heutiger Beziehungen und Institutionen. Dieses Buch soll einen Beitrag zur Revitalisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Konzept der Reziprozität leisten. Ausgangspunkt ist die These, dass der Übergang zur modernen Gesellschaft zwar mit einer Ausdifferenzierung sozialer Sphären, nicht aber mit einem Verschwinden reziproker Austauschverhältnisse einhergeht. Vielmehr kann man sowohl für ökonomische Märkte als auch für soziale Großinstitutionen feststellen, dass reziproke Erwartungen und Gegenseitigkeitsbeziehungen maßgeblich für ihre Funktionsbedingungen sind Der vorliegende Sammelband bringt klassische und neuere Texte zum Thema Reziprozität zusammen. Nicht alle diese Texte zielen in ihrer Argumentation auf die von den Herausgebern vertretene These einer Zentralität von Reziprozität auch in
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modernen Gesellschaften. Dennoch stellen die Klassiker der Anthropologie und Soziologie ein wichtiges begriffliches und analytisches Instrumentarium bereit, um auch »moderne Reziprozitäten« zu erfassen. Zugleich zeigen sie, dass Reziprozität kein einheitliches Konzept ist, sondern in verschiedenen Theorietraditionen unterschiedlich aufgegriffen und gewendet wurde. In dieser Einleitung soll noch einmal dezidiert auf diese Verwendungsweisen und konzeptionellen Diskussionen im Zusammenhang mit der Gabe und Formen des reziproken Austausches eingegangen werden. Dabei werden auch die im Buch enthaltenen klassischen Texte und Autoren vorgestellt, wobei versucht wird, die von ihnen vertretenen Perspektiven in einen größeren Zusammetlhang zu bringen. Die Ausführungen dieser Einleitung beginnen mit der Rolle der Gabe in der anthropologischen und geschichtswissenschaftliehen Diskussion und ihrer Rezeption von Marcel Mauss' Essay Die Gabe (1968 [1923/24D. Der zweite und dritte Teil der Einleitung widmen sich der Weiterentwicklung gaben- und reziprozitätstheoretischer Ansätze in der Soziologie. Es haben sich in der soziologischen Diskussion zwei Arten von Erklärungskonzepten mit relativer Eigenständigkeit und skeptischer Distanz zueinander entwickelt: erstens die nicht-individualistische und nonnativistische Tradition sowie zweitens die iridividualistische Tradition (Dawe 1970; Ekeh 1974). Während die individualistische Theorietradition Handlungen des einzeln~ Individuums als konstitutiv für das Entstehen einer sozialen Ordnung anninunt und daher jede Erklärung auf individuelles Verhalten zurückführt, ist die eher kollektivistische Perspektive, am Wttken von Nonnen und Werten interessiert, die einen so' zialen Zusammenhang wesentlich bestimmen und aus Einzelhandlungen unzureichend erklärbar sind. Beide Paradigmen und ihre wichtigsten Autoren werden in ihrem Verständnis von Reziprozität vorgestellt. Danach wird der Diskussionszusammenhang einiger (vor allem französischer) Kultur- und Religionstheorien erläutert, in dem die Bedcrutung des Gebens und Nehmens für die kulturelle Reproduktion von Gesellschaften herausgearbeitet wird Abschließend werden neuere Arbeiten aus der französischen Soziologie vorgestellt, die im Anschluss an Mauss die Dichotomie von indiVidualistischen und kollektiv-nonnativistischen Theorien gabentheoretisch zu überwinden suchen, und die nach unserer Einschätzung wegweisend sind, will man Gabe und Reziprozität für die soziologische Theorie fruchtbar machen.
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Die Gabe in der anthropologischen und historischen Diskussion Det Ausgangspunkt: Mauss' Die Gabe Eine Auseinandersetzung mit den Themen Gabe, Reziprozität, Tausch, Dankbarkeit usw. kann ideengeschichtlich an vielen Stellen einsetzen. Ob man sich auf Aristoteles' Tugendlehre oder die Passagen über Dankbarkeit in Hobbes' Leviathan konzentrieren mag, der Zugänge zum Thema sind da viele. Für die modernen Sozialwissenschaften jedoch gilt, dass die Beschäftigung mit Gabe und Reziprozität mit Marcel Mauss, dem Neffen Durkheims, und seinem Essay Die Gabe aus dem Jahr 1923/24 einsetzt. Dies ist insofern-erstaunlich, als Mauss in seinem Essay nur sehr kursorisch über Gabe und Reziprozität in modernen Gesellschaften spricht; stattdessen stehen archaische oder vormoderne Gesellschaften im Zentrum der Untersuchung. Dennoch wird Mauss rituell in diesem Zusammenhang zitiert und für alle erdenklichen Interpretationen in Anspruch genommen - sei es für utilitaristische wie für normative Interpretationen, für die These, dass es eine scharfe Trennung von archaischer Gabe und moderner Tauschgesellschaft gibt, wie auch für den Versuch zu zeigen, dass Mauss die moderne Gesellschaft als von Reziprozitätsnormen durchtränkt ansah. '· Mauss' Leistung besteht vordergründig zunächst einmal darin, die anthropologischen Untersuchungen seiner Zeit - etwa die von Malinowski und Boas - zu systematisieren und in eine theoretische Form zu bringen. Seit Mauss gilt für die Ethno-
logie »that a field report would be below standard unless a complete account could be given of all transfetS, that is, of all dues, gif~ fines, inheritances and successions, tributes, fees and payments.« (Douglas 1990: xh)
Die ethnologischen beziehungsweise anthropologischen Untersuchungen zu Beginn des 20. Jalu:bunderts machten darauf aufmerksam, dass die archaischen Gesellschaften vor allem vom Gabentausch geprägt waren. Dieser regulierte die sozialen Verhältnisse über den Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern zwischen verschiedenen Parteien und innerhalb von Kollektiven. Der Austausch von Dingen und Personen steuerte die Reproduktion dieser Gesellschaften ~uf grundsätzliche Weise: Für Mauss· stellt der Gabentausch in archaischen und vormodernen Gesellschaften ein System totaler Leistungen dar, er ist ein totaler sozialer Tatbestand (jait social tota~: Geben, Nehmen und Erwidern sind die Basisaktivitäten, durch die sich
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archaische Gesellschaften sozial wie kulturell reproduzieren.1 Diese Gedanken waren prägend für die Ethnologie des 20. Jahrhunderts: Seit Mauss werden verschiedene soziale Aspekte nicht mehr getrennt voneinander analysiert, sondern in Zusanunenhängen und Zyklen des Gebens betrachtet. Der Gabentausch kann sowohl kooperative als auch agonale Formen annehmen. Im vielfach zitierten Potlatsch der Indianer der amerikanischen Nordwestküste beschenken sich konkurrierende Oans so verschwenderisch, bis ein Oan eine ethaltene Gabe nicht mehr erwidern kann. Hier geht es um Ehre und StatuS, die dem zukommen, der eine Gabe darreicht, die nicht mehr erwidert werden kann. Nicht-agonaler Gabentausch dagegen hat diese Form der Eskalation und Übertrumpfung nicht zum Ziel, sondern stiftet primär friedliche und dauerhafte Beziehungen, die etwa zum Zwecke des Austausches von Gütern genutzt werden. Anders als im Marktmodell des Tausches, bei dem es um Äquivalenz und die Abstraktion von konkreten sozialen Beziehungen geht, gelten seit Mauss archaische Ökonomien als »eingebettet« und durch soziale Beziehungen bestimmt. Das Leben der Gemeinschaft und die wirtschaftliche Organisation des Alltags sind eng miteinander verknüpft und durch Rituale, Religion und Magie getragen. Der Gabentausch hat vor allem die Funktion, soziale Beziehungen aufzunehmen oder zu bekräftigen. In diesem Sinne sind Gaben als »tie-signS« anzusehen. Mauss hat ausdrücklich auf den Kreislauf von Geben, Nehmen und Erwidern hingewiesen, in dem sich soziale Beziehungen verwirklichen. Der Akt des Gebens ist nach dieser Auffassung nicht einmalig und folgenlos, sondern zieht Verpflichtungs- und Schuldverhältnisse nach sich. Der Empfänger einer Gabe ist gehalten, diese zu erwidern. Das, was zunächst als ein rein freiwilliges Geschenk erscheint, erweist sich aus dieser Perspe~ve als Pflicht. Dies war ein Kritikpunkt Mauss' an Bronislaw Malinowskis Klassifikation verschiedener Transaktionsarten und -güter vom reinen Geschenk bis zum äquivalenten Tauschgeschäft. In .Atgonauten des westlichen P . (2001 [1922D meinte Malinowski noch, eine »reine Gabe« in den Geschenken des Mannes an seine Frau und seine Kinder entdeckt zu haben. Nachdem Mauss diesen Punkt kritisiert hatte, revidierte Malinowski seinen Standpunkt in Sitte und V erbrechen bei den Naturvölkern (1960 [1926]) und argumentierte statrdessen, dass, wenn man Transaktionen in ihrer Verkettung lange genug zurückverfolgt, Reziprozität tatsächlich die Grundstruktur archaischer Gesellschaften definiert. Reziprozität versteht er als Waffe zur Erzwin1 Mauss' Konzept des fait so&ial totalbeinhaltet mehrere Komponenten (vgl. Henaff 2002: 161ff.; Tarot 2003: 64): Der Gjlbentausch ist ein totaler sozialer Tatbestand, weil er erstens alle Dimensionen des Sozialen umfasst: das Politische, die Religion, die Ökonomie, das Recht, die Moral, die Kunst usw. ;?weitens erfasst der Gabentausch die gesamte Gesells~ Alle Individuen und Subgruppen.:sind bettoffen und engagiert. Drittens schließlich ist er total, weil er in jeder Gesellschaft vorkoinmt- in archaischen wie in modernen.
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gung von Rechten (ebd: ZT). Die Gegengabe erfolgt aus Angst vor der Repression des Gebers; alle Beteiligten befinden sich in einem Netz wechselseitiger V etpflichtungen, die aus Eigeninteresse eingehalten werden. Malinowskis Ansatz steht seit
Sitte und Verbrechen mithin für eine individualistischere Lesart von Reziprozität, als Mauss selbst sie vorgelegt hat. Mauss wurde insbesondere im angelsächsischen Raum lange Zeit durch Malinowskis Brille gelesen. Dazu trug auch die Übertragung ins Englische durch Ian Cunnison im Jahr 1966 bei, der ihr eine stark individualistische Färbung gab (vgL Parry 1986: 455). Mauss selbst stand in der französischen Tradition der Kritik des Utilitarismus, und Mary Douglas (1990: x) hat herausgestellt, dass sein Essay im Grunde von Politik und menschlicher·Solidarität handelt. Mauss war nämlich weniger an der Evolution sozialer Verkehrsformen interessiert als an Universalien, die in jeder Gesellschaft vorfindbar sind (Geary 2003: 132). Sein damals aktuelles Potenzial bezog Mauss' Essay aus der doppelten Kritik am utilitaristischen Individualismus einerseits und am bolschewistischen Staatszentrismus andererseits. Mauss ging es um ein drittes Prinzip: das der Solidarität als eine Fonn von wechselseitiger Anerkennung qua Gabentausch, welcher auf Bindungen und Verschuldungen beruht. Der Sozialvertrag, den Mauss in den untersuchten archaischen Gesellschaften, in der Edda und
im germanischen Recht erblickt, ist für ihn zugleich ein Modell für die Erneuerung des zeitgenössischen Sozialvertrags auf dem Wege der Anerkennung wechselseitiger Verschuldung. In Frankreich gab es durch daude ~vi-Strauss nicht nur die Tendenz, Mauss in diesem Sinne anti-individualistisch, sondern auch als Vorläufer und Wegbereiter des Strukturalismus zu deuten. In seiner Grundlegung des Strukturalismus verallgemeinert Uvi-Strauss den Reziprozitätsansatz und stellt die These auf, dass der Austausch (und nicht die Triade von Geben, Nehmen und Erwidern) das grundlegende Paradigma aJ:Chaischer Gesellschaften darstellt Auch die Verwandtschaftsverhältnisse führt er in Die elementaren Stmkturen der VeTWandtschtift (1981 [1949]) auf einen Austausch zurück, nämlich auf den von Frauen. Die Gabe in modernen Gesellschaften betrachtet er dagegen als ein im Schwinden begriffenes Residuum, das sich am ehesten noch in wechselseitigen Einladungen zum Abendessen und zu Weihnachten zeigt. In seiner Einleitung zu Marcel Mauss' Werk lobt Uvi-Strauss (1987 [1950]) an Mauss, dass er die strukturelle Verknüpfung einzelner Gaben zu einem Gesamtzusammenhang erkannt habe, führt dann aber aus, dass Mauss auf halbem Wege stecken geblieben sei Zu sehr konzentriere er sich noch auf das Soziale und die Verkettung von Handlungen von Individuen, wo es doch darauf ankomme, in der Analyse von Mythen grundlegende mentale Formen zu entziffern: Die Symbole und das Unbewusste sind für Uvi-Strauss grundlegender als das Soziale, welches für ihn nur eine Funktion symbolischer Operationen darstellt.
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Mauss fragt sich in seinem Essay, welcher Umstand die Erwiderung der Gabe bewirkt. Warum müssen empfangene Gaben durch eine Gegengabe erwidert werden? In Anlehnung an die Maori-Tradition spricht Mauss vom hau, vom Geist des Gebers, der in der Gabe lokalisiert ist, und den Empfänger nötigt, etwas zurückzugeben. Die Redeweise vom hau ist nach Uvi~Strauss jedoch irreführend Die Bezeichnung hau sei nur eine Mystifikation und eine bewusste Interpretation eines unbewussten Sachverhalts. Mana (Durkheim) und hau seien nichts weiter als symbolische Nullwerte und flottierende Signifikanten, die das Denken in Austauschkategorien ermöglichen, obwohl sie nichts bedeuten. So wie Uvi-Strauss das hau als eine mystifizierende Redeweise ansieht, die es aufzulösen gilt, so hat es viele Interpreten animiert, über den »Geist der Gabe« nachzudenken.2 Der Anthropologe Sahlins erblickt darin beispielsweise ein Prinzip der Produktivität, sodass seine Interpretation lautet: Mit einer empfangenen Gabe soll man keine Profite machen, deshalb muss das hau zum Geber zurückkehren (Sahlins 1972). In dem in diesem Band abgedruckten Text von Marshall Sahlins geht es allerdings nicht um den »Geist der Gabe«, sondern um eine Typologie verschiedener Arten von Reziprozität. Sahlins unterstreicht, dass Reziprozität nicht als Gleichgewicht anzusehen ist, sondern mit deutlichen materiellen Ungleichgewichten einhergehen kann. Materielle Transaktionen auf Grundlage der Reziprozitätsnorm bewegen sich auf einem Spektrum von freiwillig und selbstlos gegebener Hilfe, die an keine konkrete Rückflusserwartung gebunden ist, bis hin zu tauschähnlichen Akten, die eine Art von Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung erfordern. Er unterscheidet zwischen generalisierter RB~zjtät, bei der die materielle Seite der Transaktion von der sozialen Seite unterdrückt wird und die Erwartung von Gegenleistungen unbestimmt bleibt, ausgeglichener ~zjtät, bei der materielle Transaktionen mit der zeitverzögerten, aber verpflichtenden Rückgabe eines entsprechenden Gegenwertes verkoppelt sind, und schließlich negativer ~zftät, die Formen der Aneignung gegen die Interessen anderer beinhaltet. Für archaische Gesellschaften gilt die Faustregel, dass in den nahen Verwandtschaftsverhältnissen die Interaktionsform der generalisierten Reziprozität vorherrscht, in weiter entfernten sozialen Kreisen die ausgeglichene (m gewissem Sinne: der ökonomische Tausch) und gegenüber Fremden die negative Reziprozität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man duich Gewalt, Tücke oder List Ressourcen zu erlangen sucht, ohne etwas für diese zurückzugeben. Wichtig an diesem Konzept ist, dass Sahlins die Sphäre der Ökonomie nicht isolier;t betrachtet. Wirtschaftliche Transaktionen spielen in allen drei Varianten von Rezfprozität eine Rolle. Die Art und Weise, wie wirtschaftliche
2 V gl hierzu Godelier 19;99: 26ff. Godelier führt hier mit Uvi-Strauss eine grundsätzliche Debatte um die Frage, ob das Symbolische Vorrang vot dem Imaginären habe (was Uvi-Sttauss behauptet und Godelier. bestreitet).
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Transaktionen organisiert werden, hängt wiederum nicht von wirtschaftlichen Fraugen, sondern von kulturellen Faktoren (m diesem Fall: von den Verwandtschaftsverhältnissen) ab. Man kann diesem Text schon ansehen, dass Sahlins später auf einen cultural turn, eine kulturhistorische Theorie der Wtttschaft zusteuern wird (vgl. Sahlins 1981 [1976]; Kumoll/Schwengel2004). Grundlagentheoretisch ist an Sahlins' Interpretation (197ZJ von Mauss' Gabe interessant, dass er sie als horizontale Alternative zur Lösung des so genannten Robbesseben Problems begreift. Befriedung durch Gabentausch ist für Sahlins die Alternative zum Krieg aller gegen alle und zur Unterwerfung aller unter einen Souverän, nämlich den Leviathan. Mauss beschreibt Sahlins zufolge (ebd: 169) den Sozialvertrag archaischer Gesellschaften: Da Gaben Misstrauen abbauen und soziale Bindung~ Allianzen und Solidaritäten herstellen, verhindern sie Krieg und können als eine Art Sozialvertrag zwischen konkurrierenden Clans angesehen werden. In Thomas Hobbes' Leviathan dagegen ist Frieden nur möglich durch die Unterwerfung aller privaten Kräfte unter die öffentliche Gewalt des Staates.3 Vergleicht man diesen Klassiker des utilitaristischen Denkens mit dem normarivistischen Strang der Sozialtheorie, wie er beispielsweise von Rousseau, Durkheim und Parsons repräsentiert wird, kann behauptet werden, dass auch das Befolgen von Normen eine Art von Unterwerfung darstellt: zwar nicht unter den übermächtigen Staat, allerdings eine »Unterwerfung« unter das Reich überindividueller Werte und Normen. Mauss dagegen konzeptionalisiert den Gabentausch als eine horizontal-verbindende und nicht als eine vertikal-hierarchische Kategorie. Die durch Gaben initiierte Reziprozität löst die rivalisierenden Parteien nicht in einer höheren Einheit auf; es gibt keine dritte Partei, die über den beiden Clans steht (weder ein Staat noch Normen, die die prinzipiell vorhandene Feindseligkeit auflösen könnten). Aus diesem Grund ist für Sahlins Reziprozität eine »Dazwischen-Beziehung« ~>between relation«, ebd: 170). Dieses Modell könnte man mithin als theoretische Alternative zu Parsons' Lösung des Hobbesschen Problems (Parsons 1968 [1937]) durch die Orientierung von Akteuren an gemeinsamen Werten und Normen ansehen.
3 Die Merkwürdigkeit dabei ist allerdings, dass die Unterwerfung unter die Macht des Staates wiederum als eine Gabe aufgefasst werden kann. Das natürliche Recht auf Selbstbestimmung wird aufgegeben und auf den Staat übertragen, ohne Garantie dafür. dass es eine Gegengabe geben wird. Die Freiheit wird zunächst gegenüber dem Souverän geopfert, ohne dass die individuellen Rechte und Interessen auf diese Weise vollkommen gesichert werden können (vgl Terpstta 2000: 200).
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Reziprozität, symbolische und ökonomische Reproduktion Mauss' Verständnis vormoderner Sozialformen ist auch maßgeblich in Karl Polanyis (1978 [1944]} berühmte Untersuchung The Great Transformation eingeflossen. Polanyi hat darauf hingewiesen, dass Marktwirtschaften auf voraussetzungsvollen Bedingungen beruhen und dass eine rein marktförmige Organisation von Wirtschaft historisch gesehen ein seltenes und sehr junges Phänomen ist. Vor dem 19. Jahrhundert war die Wirtschaft sozi21 noch nicht »entbettet«, das heißt, »daß die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet« (ebd.: 75) war, während heute wngekehrt die sozialen Beziehungen in die Wirtschaft eingebettet seien. Dieser Gedanke lässt sich auch an Untersuchungen zur Moralökonomie Vot1 Gesellschaften anschließen (Mau 2005). E.P. Thompson (1979) zeigte etwa, wie traditionale Ökonomien auf Legitimationsvorstellungen beruhten, die sich aus. sozialen Nonnen und Reziprozitäten speisten, die breite Zustimmung erfuhren. 1Erst ein Verstoß gegen diese Nonnen führte zu Protest und nicht Not und Hun~er allein. Allerdings waren sie ebenso kompatibel mit sozialer Ungleichheit und P11-temalistischen Gemeinwohlvorstellungen. So hat dann auch Barrington Moore in seinem Buch Ungerechtigkeit (1982 [1978]) herausgearbeitet, wie Reziprozitätsarrangements einerseits bestimmte gesellschaftliche Ressourcen- und Statusverteilungen l~timieren können, wie aber auch andererseits ein Verstoß gegen etablierte Reziprozitätsnormen Protest.auslösen kann.4 Polanyi verweist auf zwei Prinzipien, die die archaische und vormoderne Wirtschaft konstituieren:,Redistnbution und Reziprozität. Bis zu diesem Punkt sind Polanyis Thesen auch heute noch »state of the art« und gelten als wichtige Bezugspunkte für aktuelle ~schaftssoziologische Ansätze (vgl. Granovetter 1985). Allerdings ist seine Auseinandersetzung mit Mauss, Malinowski und dem Kula-Handel auf den Trobriand-~nseln zumindest irreführend Denn Polanyi interpretiert den Kula-Handel, also den Gabentausch von Schmuckstücken, als wirtschaftliche Transaktion, »als e~orme organisatorische Leistung auf wirtschaftlichem Gebiet« (Polanyi 1978 [1944}: 81), und entwickelt anhand dessen die These, dass das Wtrt-
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4 Axel Honneth (199.2) hat diesen Gedanken anetkennungstheoretisch gewendet, dabei aber leider die Komponente der Reziprozität weitgehend aus den Augen verloren. Reziprozitätstheoretische Überlegungen finden sich im Übrigen in John Rawls' Gerechtigkeitstheorie. Soziale Kooperatioq muss sich als ein Reziprozitätszusammenhang darstellen lassen können: ))Faire Modalitäten 4er Kooperation bestimmen eine Idee der Reziprozität oder der Gegenseitigkeit: Alle, die gemäß den Forderungen der anerkannten Regeln ihren Beitrag leisten, sollen einem öffentlichen \md übereinstimmend bejahten Maßstab entsprechend ihren Nutzen genießen.« (Rawls 2003: 26) Die Gleichheit, formuliert in Rawls' Differenzprinzip, ruht grundlegend auf der Idee der Reziprozität, die moralisch gesehen zwischen Altruismus und dem gegenseitigen Vorteil ijegt (ebd.: 127).
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schaften in diesen Gesellschaften auf reziprokem Gabentausch beruhte. Diese wiederum stehe dem Tauschhandel diametral gegenüber: »ln einer solchen Gemeinschaft ist der Profitgedanke ausgeschlossen, Schachern und Feilschen sind verpönt, großzügiges Geben wird als Tugend betrachtet, die angebliche Neigung zu Tausch, Tauschhandel und Tauschgeschäften tritt nicht in Erscheinung.« (Ebd.: 79)
Diese These suggeriert, dass alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen den Bewohnern der Trobriand-Inseln diesem Muster zuzurechnen seien; dies ist jedoch nicht nur empirisch falsch, sondern auch nie von Mauss oder anderen Ethnologen in dieser Weise behauptet worden (vgl Mauss 1968 [1923/24]: 66). In aller Deutlichkeit betont beispielsweise Collins (1994) gegenüber Polanyi, dass die Gaben innerhalb des Kula-Rings die Funktion haben, eine symbolische Ordnung der Kooperation zunächst einmal herzustellen. Ist dies gelungen, setzt der eigentliche Warentausch alltäglicher Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel zwischen den Inselbewohnern ein, der auf ganz gewöhnlichen Tauschakten beruht. Ist der Frieden zwischen den Stämmen durch rituelle Gaben gesichert, kann das Feilschen und die Haltung, am eigenen Vorteil orientiert zu sein, ihren Lauf nehmen: »a social tie must always be negotiated before the bargaining for social advantage can take place« (Collins 1994: 228).s Mauss beschreibt deshalb den Kula-Ring nicht als Gütertausch, sondern als eine Form des Potlatsches, der zwar keine deutlich agonalen Züge trägt, aber von den Trobriandem als ein Substitut des Krieges betrachtet wird Neuere Beiträge zur Moralökonomie haben an Polanyi die zu starke Entgegensetzung zwischen eingebetteten und autonomen Märkten kritisiert. William James Booth {1994) hat in seiner Diskussion des moral economy-Ansatzes auf den Fehler aufmerksam gemacht, von einer völlig entbetteten W.trtschaft in der Modeme auszugehen. Im Übergang zur Modeme verliert die Ökonomie zwar ihre Unterordnung unter die humanisierenden Aspekte der Gesellschaft Aber auch wenn dieser Übergang {»The Great Transformation«) unbestreitbar stattgefunden hat, so bleibt doch unklar, was »Entbettung« eigentlich genau bedeutet, ist doch die Ökonomie weiterhin kulturell und normativ in vielfältige Regeln und Regelungen eingebunden, nur eben in andere: »The embedded/disembedded conceptual framewotk obscures the character of market society by simultaneously understating the presence of recognizable and distinct economic behavior in archaic societies and insisting on too radical a detachment of the modern economy from its sustaining institutional and normative nexus.« (Booth 1994: 662)
Dagegen ist zu betonen, dass im historischen Vergleich gesehen alle Ökonomien Moralökonomien sind und es darauf ankommt, die feinen Unterschiede im institu5 Aus dem gleichen Grund betont Marcel Henaff (2002: 149ft:}, dass die zeremonielle Gabe, wie sie Mauss beschreibt, nicht mit einer ökonomischen Gabe, aber auch nicht mit einer altruistischen moralischen Gabe verwechselt werden dart:
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tionellen und kulturellen Gefüge herauszuatbeiten.6 Ein Beispiel bietet Marcel Henaffs (2002: 351ff., 2003) Auseinandersetzung mit Max Webers These vom protestantischen »Geist« des Kapitalismus. Henaff betont, dass der »katholische Geist« des Kapitalismus theologisch wie alltagspraktisch tatsächlich vom protestantischen unterscheidbat sei. Da in der katholischen Theologie eine Erwiderung der Menschen auf Gottes Gaben möglich ist (1m Gegensatz zu einer radikalisierteren protestantischen Vorstellung von göttlicher Gnade), indem man anderen aus dem Motiv der Caritas etwas gibt, steht das soziale Leben der Katholiken stärker unter dem Paradigma von Gabe und Gegengabe als das protestantische, welches die Trennung von Gott durch eine Radikalisierung des Marktgedankens beantwortet. Von hier aus entwickelt Henaff den provokanten Gedanken, dass die gleiche wirtschaftliche Tätigkeit Unterschiedliches bedeuten kann: Ein »protestantisches Prinzip des Kredits<<, das das Ziel verfolgt, über die Verzinsung Gewinne zu erwirtschaften, kann aus katholischer Perspektive als eine Gabe gesehen werden, die aus Dankbarkeit mit einer größeren (verzinsten) Gegengabe beantwortet wird. Für die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne sind solche gabentheoretischen Analysen mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. In Auseinandersetzung mit der anthropologischen Diskussion konnte beispielsweise die Mediävistik in den letz6 Ahnlieh weisen Jonathan Pan:y und Maurice Bloch (1989) in ihrer Diskussion über die Rolle des Geldes in archaischen Gesellschaften auf eine Vielzahl falscher Dichotomien hin: Tausch und Eigennutz gab es in jeder Gesellschaft, sie sind keine modernen Phänomene. Und auch das Geld, das so sehr mit der »Entzweiung« in der Modeme in Zusammenhang gebracht wird, kann verschiedene kultw:elle Bedeutungen annehmen. Die klare Unterscheidung zwischen Ware und Gabe wird ebenfalls durch anthropologische Vergleiche schnell porös, die aufzeigen, dass eine scharfe Trennung zwischen Waren und Gaben, zwischen dem Ding und dem Sozialen unbrauchbar ist (Appadurai 1986: 13; Carrier 1991). Nur unser westliches Denken sieht die Gabe im scharfen Kontrast zum Markttausch - mit der damit verbundenen Konsequenz romantisierender Rückbesinnungen auf die Welt der Gabeangesichts einer angeblich entbetteten Ökonomie. Es gibt in jeder Gesellschaft, so betonen Pan:y und Bloch, zwei Transaktionsordnungen: eine kurzfristig orientierre, in der es um materielle Reproduktion geht und die Eigennutz zulässt, sowie eine Transaktionsordnung, die langfristiger orientiert ist und in der es um die soziale, kulturelle, religiöse und moralische Reproduktion geht. »(A]ll these systems make - indeed have: to make- some ideological space within which individual acquisition is a legitimate and even I laudable goal; but that such activities are consigned to a separate sphere which is ideok>gically articulated with the cycle of Ieng-term reproduction.« (Pan:y/Bk>ch 1989: 26) J$s stellt sich die Frage, wie in der modernen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft die beiden Transaktionsordnungen zueinander stehen. Pan:y und Bloch (ebd: 30) vermuten, dass das westliche Denken in so starkem Ausmaß die prinzipielle Trennung der zwei Ordnungen betont 1:\.at, dass wir kaum noch in der Lage sind, die Verbindungsstücke und Interaktionen zwischen il;men wahrzunehmen. Die neuere Diskussion z.B. um die so genannten »Varieties of Capitalism<< (Hall/Soskice 2001) zeigt tatsächlich tiefgreifende Unterschiede in der kulturellen Ra~ kapitalistischer Produktions-, Allokations- und Konsurntionsprozesse. Auf die Existenz yon modernen Reziprozitätsnetzwerken zwischen Firmen macht des Weiteren Colin Crouch n999: 185ff.) aufmerksam.
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ten Jahren in vielen Studien für die mittelalterliche Gesellschaft zcigen, dass die Gabe eine zentrale Rolle in der Reproduktion der sozialen Ordnung spielte (vgL Algazi u.a. 2003). So können etwa auch hierarchische Lehensverhältnisse mit Hilfe des Theorems der Gabe und den damit verbundenen Verpflichtungsverhältnissen rekonstruiert werden. ~ben sind in diesem Kontext Zeichensysteme, Träger von ldentitäten und damit Ausdruck einer (dargestellten) Individualität beziehungsweise auch des Standes und Rangs des mittelalterlichen Gebenden. Des Weiteren werden in der Mediävistik zum Beispiel Stiftungen im Anschluss an Mauss als totale soziale Phänomene gekennzeichnet, in denen sich wie beim archaischen ~bentausch rechtliche, politische, wirtschaftliche, religiöse, ästhetische und morphologische Aspekte durchdringen (Borgolre 1993). Dem Stiften steht die Pflicht einer Erwiderung in Form einer Gegengabe gegenüber: Stiftungen dienren primär dem Seelenheil; Adressaten der Stiftung waren Gott und die Menschen, welche Gebete und Memoria als Gegenleistung gaben. Zentral ist bei der mittelalterlichen Stiftung mithin die Interaktion zwischen Lebenden und Toten (Lusiardi 2000). Auch für mittelalterliche Gesellschaften gilt Geben, Nehmen und Erwidern sind die Basisaktivitäten, durch die sie sich kulturell (nicht materiell) reproduzieren. Ähnliches konnte vor kurzem Natalie Zernon Davis (2002) für die französische Gesellschaft der Renaissance zeigen, für eine Zeit also, die bis vor kutzem nicht in diesem Ausmaß mit beziehungsstiftenden Geschenken in Verbindung gebracht wurde.
Normativistische und nicht-individualistische Ansätze einer Soziologie der Reziprozität Emile Durlcheim (1988 [1893D, der Gründungsvater der Soziologie, hat seine Theorie des Wandels menschlicher Kollektivbeziehungen begrifflich mit dem Übergang von mechanischer zu organischer Solidarität auf den Punkt gebracht. Während traditionale und segmentierte Gesellschaften durch die Unterordnung des Individuums unter ein Kollektivbewusstsein geprägt waren, wandeln sich in der Folge von Arbeitsteilung die Integrationsgrundlagen von Gesellschaften. Dabei kommt es zwar zu größerer Individualisierung, aber nicht notwendigerweise zu Anomie. Im Gegenteil, Interdependenzbeziehungen zwischen Individuen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft führen dazu, dass sichVorstellungenvon Gegenseitigkeit herausbilden. Solidarität leitet sich dann aus der Interaktion von Individuen ab. Duckheims Versuch, die neue Moral der organischen Solidarität genauer zu fassen und sie von der mechanischen Solidarität zu unterscheiden, war aber alles in allem unbefriedigend, da die genauen theoretischen Zusammenhänge zwischen Arbeitsteilung, organischer Solidarität und Integration relativ unbestimmt blieben (vgL Müller/Schmid 1988).
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Später wandte sich Durkheim (1981 [1912]) dann auch dem »heißen« Konzept der Entstehung von Werten durch ritualisierte, efferveszente Gruppenprozesse unter Bedingwtgen der Kopräsenz zu. Durkheims Vorstellung. dass der Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften eine moralische Qualität zukommt, ließe sich im Anschluss an Mauss als ein makrosozialer Reziprozitätszusammenhang verstehen. Die für moderne Gesellschaften typische organische Solidarität beruht dabei nicht nur auf gegenseitigen Abhängigkeiten, die habitualisiert werden, sondern diese werden von den Gesellschaftsmitgliedern auch anerkannt. Unter Bedingwtgen distributiver Fairness kann eine Reflexion auf die habitualisierten wechselseitigen Abhängigkeiten diese für die Modeme neue Form der Solidarität kreieren. Weder bloßes Eigeninteresse noch der gemeinsame Glaube an Werte und Normen, sondern reziproke Anerkennungsverhältnisse bilden hierfür die Basis, wobei die Anerkennungsverhältnisse wiederum gabentheoretisch rekonstruiert werden können. So kommt Mauss am Ende seines Essays auf die französische Sozialversicherung zu sprechen, die als Gegengabe an die Arbeiterschaft zu verstehen sei, da die Arbeiter nicht nur Zeit und physische Kraft, sondern geradezu ihre Persönlichkeit und Seele in die Produktion der Waren eingebracht haben: »Die gesamte französische Gesetzgebung der Sozialversicherung (..•) ist von dem Prinzip durchdrungen, daß der Arbeiter sein Leben und seine Arbeit teils der Gemeinschaft, teils seinem Dienstherrn hingibt; wenn er an dem Versicherungswerk mitatbeiten soll, so sind diejenigen, die aus seinen Diensten Nutzen gezogen haben, nicht schon durch die Zahlung eines Lohfis aller Schuld ihm gegenüber enthoben; Staat, der die Gemeinschaft repräsentiert, schuldet ihm, zusammen mit seinem Dienstherm, eine gewisse Sicherung seines Lebens gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter und Tod« (.Mauss 1968 [1923/24]: 160}
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Die Arbeiter sollen also für das Geschenk, das sie der Gesellschaft überreichen, im Gegenzug symbolische' Anerkennung wie auch materielle Absicherung erhalten (vgl.
Groys 2000: 130). Ein zweiter, oft genannter Referenzpunkt für das Paradigma der Reziprozität aus der Gründungszeit der Soziologie sind die Arbeiten von Georg Sirnmel, die gleichfalls an der Entstehung von Sozialität unter den Bedingwtgen der Steigerung von Individualität int:t;ressiert sind. In seinem Exkurs über Treue und Dankbarkeit (1908, in diesem Band), kann er zeigen, wie Empfmdungen der Verpflichtung ausgebildet werden und daz~ beitragen, dass sich soziale Beziehungen weit über die Dauer der ursprünglichen ~otive fortsetzen. Der Bestand sozialer Beziehungen wird durch Verhältnisse der, Dankbarkeit abgesichert, die ein Band der Wechselwirkung und des Hin- und Hergehens von Leistung und Gegenleistung hervorbringen. Im Gegensatz zum Markt,, wo durch den Tausch gleichwertiger Güter und Leistungen weiterreichende Verpflj.chtungen ausgeschlossen werden, haben wir es in vielen sozialen Tauschbeziehungen mit Situationen der Disvalenz zu tun, die zu einem Fort-
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leben von Verpflichtungsverhältnissen führen. Dankbarkeit ist das subjektive Echo, das über den Akt des Gebens und Empfangens hinauswirkt und so eine soziale Beziehung begründet und Reziprozität erzeugt. So sehr Simmel ein Gespür für die enorme Bedeutung der Dankbarkeit für Gesellschaft überhaupt hat, so sehr sieht er die moderne Gesellschaft als einen Zusammenhang an, der durch das Geld und das Recht als zwei gänzlich unterschiedliche Mechanismen konstituiert wird (Simmel 1989 [1900D. Recht und Geld sind für ihn die Medien, die im scharfen Kontrast zur Handlungskoordination durch Geben und Erwidern auf Grund von Dankbarkeit stehen. Persönliche Bezüge zwischen den Tauschpartnern werden hier Simmel zufolge komplett ausgeblendet. Geld schafft dem modernen Individuum Freiheitsgewinne und löst es aus sozialen Verpflichtungen, kann somit aber auch zu einer Bedrohung der moralischen Ordnung beitragen. Simmel war in der frühen deutschen Soziologie nicht der Einzige, der sich mit dem Thema Reziprozität auseinandersetzte. Zuvorderst sind hier Richard Thumwald und Ferdinand Tönnies zu nennen, die sich intensiv damit beschäftigten.7 Sie verhandelten nämlich die Frage, die sich in ähnlicher Weise auch bei Simmel wiederfindet, ob Reziprozitäten nur in der ))Gemeinschaft« vorhanden sind und wirkmächtig werden oder auch in der ))Gesellschaft«.s Tönnies vertrat dabei bekanntlich die wirkungsgeschichtlich einflussreiche Sicht, dass die moderne Gesellschaft eine Tauschgesellschaft sei, in der jeder nur seinem Vorteil folge: >>Keiner wird fur den anderen etwas tun und leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einet Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet.« (fönnies 1963 [1887]: 40)
Auch wenn Tönnies nicht ausschloss, dass in der modernen Gesellschaft Gemeinschaftsbezüge durchaus Bestand haben können, zeigte er sich in seiner Einschätzung skeptischer als Durkheim, der enorme Solidaritätspotenziale auch in modernen Vergesellschaftungsformen verortete. Durkheims kollektivistisch argumentierende Analyse ist von verschiedenen soziologischen Theorieansätzen vereinnahmt worden. Der Strukturfunktionalismus Parsansscher Prägung beispielsweise, der für die Soziologie der Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich war, hat sich Fragen der normativen Integration zuge-
7 Z.B. Thumwald 1911, vgL auch Wagnet-Hasel2003: 148ff. Siehe auch jüngst den Versuch, die Beziehungslehre Leopold von Wieses fur eine Soziologie der Reziprozität fruchtbar zu machen, bei Stegbauer 2002, insbes. 140-145. 8 Intetessant in diesem Zusammenhang ist im Übrigen, dass Mauss die Debatten durchaus kannte. Thurnwald zitien er in seinem Essay des Öfteren. Dahet ist der These Gearys (2003) zuzustimmen, dass Mauss gar nicht nur über außereuropäische Gesellschaften, sondern primär auch über europäische Traditionen schrieb und sein Werk in akruellen Diskussionskontexten verankert sehen konnte- wie natürlich auch allein det Blick auf das Kapitel über das germanische Recht belegt.
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wandt und dem kollektivistisch und nonnativistisch argumentierenden Durkheim den Vorzug gegeben. In den 1960er Jahren war es Alvin Gouldner, der Reziprozität als Thema auf die Tagesordnung der von Parsons dominierten soziologischen Theorie setzte. Sein Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Reziprozität im Strukturfunktionalismus beziehungsweise in den Modellen sozialer Systeme (wie auch schon bei Durkheim selbst) keine ausgewiesene Rolle spielte. An mehreren Theorieknotenpunkten brachte Gouldner die Zentralität von Reziprozität als soziales Regulativ ins SpieL Soziale Strukturen können in ihrer Konstanz häufig dadurch erklärt werden, dass sie auf funktionaler Reziprozität beruhen: A hat Konsequenzen für B, und B hat reziproke Konsequenzen für A Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Struktur fortbesteht, ist größer, wenn sie in reziprok funktionalen Austauschbeziehungen zu anderen steht (Gouldner 1984a [1973]: 49). Systemische Interdependenzen sind also Gouldner zufolge reziprozitätstheoretisch refonnulierbar; eine Einsicht, die die neuere - luhmannianisch dominierte - deutsche Spielart der Systemtheorie fast gänzlich außer Acht lässt. Auch auf der interpersonalen Ebene führt Gouldner einige wichtige Gedanken ein. Er kritisiert an Parsons, dass dieser nicht genügend zwischen Reziprozität und Komplementarität unterscheide (Gouldner 1984b [1973): 92). Komplementarität stellt ein Recht von Ego gegenüber Alter und eine Pflicht von Alter gegenüber Ego dar beziehungsweise eine Pflicht von Alter gegenüber Ego ist zugleich ein Recht von Ego gegenüber Alter. Reziprozität dagegen ist für Gouldner ein Recht von Alter gegenüber Ego und eine Pflicht von Alter gegenüber Ego. Reziprozität bedeutet, dass jede Partei Rechte und Pflichten hat, bei Komplementarität 'sind die Rechte des einen die Pflichten des anderen (ebd: 93). Stabilere Reziprozitätsmuster etgeben sich dann, wenn jede Partei Rechte und Pflichten besitzt. Was aber sichert Reziprozitätsbeziehungen ab? Gouldner vertritt hier eine eindeutige Position: Reziprozität ist eine universelle Norm, die normalerweise von den Interaktionspartnern internalisiert wird Zwar können Arbeitsteilung und wechselseitige Abhängigkeiten 1(also: Interessen) spezifische Austauschmuster stabilisieren, doch betont Gouldner ·(mit Durkheim), dass Verpflichtungen nicht nur auf Grund der Abhängigkeiten eingehalten werden, sondern auch, weil sich die Beteiligten einer moralischen Nonn verpflichtet sehen. Die Nonn der Reziprozität besteht aus zwei Minimalforderungen: Man sollte denjenigen helfen, die einem geholfen haben, und man sollte jene nicht kränken, die einem geholfen haben (ebd: 98). Schließlich arbeitet Gouldner heraus, dass die Nonn der Reziprozität als Auslösemechanismus fungieren kann, indem sie Interaktionen initiiert. Wenn die Nonn von Alter und Ego internalisiert ist, schafft sie das Vertrauen, das Risiko der ersten Gabe einzugehen, da sie den Empfänger eines Gutes verpflichtet, es in gewisser Zeit zurück zu erstatten (ebd.: 110).
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In Erweiterung dieser klassischen Aufsätze zur Kritik der funktionalistischen Theorie und zur theoretischen Bedeutung von Reziprozität geht es in dem in diesem Band abgedruckten Text von Gouldner Etwas gegen nichts. Re~prozität und A.rymmetrie vor allem um soziale Wohltätigkeit, die nicht mit der Erwartung einer Gegenleistung einhergeht. Gouldner arbeitet heraus, in welcher Art von sozialen Beziehungen sich die Wohltätigkeitsnorm durchsetzt und welche Verknüpfungen es zwischen Wohltätigkeit und Reziprozität gtbt. Wichtig ist ihm, Motive von Wirkungen zu unterscheiden. So kann eine Handlung auf der Motivebene von Wohltätigkeit (beneftcence) geleitet sein, auf der Wirkungsebene aber den unintendierten Effekt der reziproken Gegengabe hervorrufen. Sowohl Reziprozität als auch Wohltätigkeit sind für Gouldner normativ-moralisch abgesichert und nicht auf ein Kalkül des Eigennutzes zurückzuführen. Pierre Bourdieu ist einer der wenigen zeitgenössischen Sozialtheoretiker, der der Reziprozität einen prominenten Platz in seinem Theoriegebäude - nämlich in seiner Analyse der Ökonomie symbolischer Güter (in diesem Band) - einräumt. Bourdieus Bezüge zu Durkheim, zum Strukturalismus und zu Marx geben auch in diesem Zusammenhang den Rahmen ab', in dem das Konzept der Reziprozität diskutiert wird Seine Arbeit beschäftigt sich mit der Doppelbödigkeit von Praktiken des Schenkens. In Differenz zu Uvi-Sttauss reduziert Bourdieu (1987 (1980]: 180f.) die Handelnden nicht auf den Status von Automaten, die die Zyklen der Wechselseitigkeit vollziehen. Die subjektive Perspektive, die auch als Quelle sozialer Ungewissheit fungiert (erst wenn eine Gabe tatsächlich erwidert wurde, kann man sich ihrer Erwidetung sicher sein), wird von Bourdieu zunächst durchaus ernst genommen. Soziales Schenken ist nun dadurch gekennzeichnet, dass die Tatsache des Tausches und des Zyklus von Gabe und Gegengabe verschleiert wird Wtr haben es hier mit Prozessen der kollektiven Verkennung und Verschleietung der »realen« Tatsachen zu tun, denn die Teilnehmer an der Schenkökonomie sind sozial so disponiert, dass sie die Bedingungen des »Tausches« implizit lassen und vorgeben, es gäbe keine Verbindung zwischen den einzelnen Akten des Gebens. Damit wird darauf hingewiesen, dass materielle Akte von symbolischen Konstruktionsleistungen begleitet werden, durch die sich die Teilnehmer an sozialen Tauschprozessen, obwohl sie entsprechende Verpflichtungsgefühle ausbilden und den kollektiven Reziprozitätserwartungen Rechnung tragen, über die objektive Struktur dieses Zusammenhangs in Unkenntnis setzen. Es geht Bourdieu dabei um die Abschirmung von Gabe und Gegengabe; das zeitliche Intervall zwischen beiden Akten soll sie als jeweils unverbundene Einzelhandlungen erscheinen lassen. »Tatsächlich kann man in jeder Gesellschaft beobachten, dass die Gegengabe, wenn sie nicht zur Beleidigung werden soll, zeitlich verschoben und verschuden sein muss, weil die sofortige Rückgabe eines genau identischen Gegenstandes ganz offenbar einer Ablehnung gleichkommt: der Gabenrausch steht also im Gegensatz zum >ich gebe dir, du gibst mir<, wo wie im theoretischen Modell
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der Struktur der Wechselseitigkeit Gabe und Gegengabe in denselben Augenblick zusammengepresst werden.« (Bourdieu 1987 [1980]: 193)
Auf diese Weise versucht Bourdieu »subjektive Wahrheit« und objektive Wirkungen und Effekte zusanunenzudenken. Im Habitus verankert er das Kalkül des Schenkenden, nicht zu kalkulieten. Das Feld der Philanthropie beispielsweise wäre etwa dann der Raum, .in dem uneigennütziges Handeln durch symbolisches Kapital prämiert wird Uneigennützigkeit (im Sinne einer subjektiven Illusion, einer illusio) zahlt sich also unter bestimmten Umständen aus, so die entmystifizierende Annahme des strukturalistischen Utilitarismus Pierre Bourdieus. Im Zusammenhang mit den der Gabe zugeschriebenen Eigenschaften ist auch diskutiert worden, ob die Moderne nicht der Ort ist, in der die Gabe in deutlicheren Konturen hervortritt, weil sie von anderen Funktionen befreit wird Die witkliche Gabe, so lautet das Argument, gibt es nur zwischen Fremden, die von der Verpflichtung zum Geben relativ entlastet sind Jacques Godbout erhebt die Gabe sogar zum Spezifikum der Modeme, da es hier nicht mehr unwahrscheinlich ist, dass es keine Korrelation zwischen persönlicher Nähe unter Akteuren und der Entfernung vom Äquivalenzgedanken gibt. Die Gabe ist in der Modeme nicht mehr zwangsläufig über familiäre und verwandtschaftliche Netzwerke vermittelt. Kulturell mag diese Fonn der Gabe ihre Wurzeln im religiösen (oder spezieller: im christlichen) Denken haben, doch ist dieser Motivationshintergrund bei vielen »Gebern« nicht mehr direkt auffindbar. Deshalb schließt Godbout (1998: 78): >>An unknown gift made to the unknown, where religious motivation is not essential and which encompasses all social strata: this is the world of the modern gift between sttangers, whose importance continues to grow.«
Diese These ist vielleicht. am wirkungsmächtigsten von Richard M. Titmuss (1997 [1970]) in einer empirischen Untersuchung über Blutspenden vertreten worden. In einem Ländervergleich unterschiedlich organisierter Blutspendesysteme zeigt Titmuss, dass ökonomische Anreize Blut zu spenden, die Qualität des Bluts senken, da nunmehr sozial schwache und häufig weniger gesunde soziale Gruppen Blut spenden, um sich ein wenig d,eld zu verdienen und dass die soziale Neigung zum Altruismus durch solche Anreize unterminiert würde. Entscheidender in unserem Zusammenhang ist jedoch, dass Titmuss die freiwillige unentgeltliche Blutspende als moderne Gabepar exce/Jence rekonstruiert. Der Blutspender kennt den Ernpfauger nicht, es gibt weder eint1 materielle Belohnung für die Spende noch eine Strafe, wenn man sie unterlässt; ;es gibt keine vorhersehbare reziproke Spende in der Zukunft, und man wünscht sich die Notwendigkeit einer solchen noch nicht einmal (ebd.: 127). Aus diesen Gründen charakterisiert Titmuss Blutspenden als jenen Bereich de.r Sozialpolitik modeme.r Gesellschaften, der auf Altruismus gegenüber anonymen Anderen beruht, und er fordert eine genauere Untersuchung derjenigen j
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Faktoren und Institutionenkomplexe, die ermöglichen, dass sich »the >theme of the
gift<, of generosity towards strangers« innerhalb und zwischen sozialen Gruppen und Generationen verbreitet (ebd: 292; vgl Adloff/Sigmund in diesem Band). Hier anknüpfend hat etwa Kieran Healy (2000) zeigen können, wie institutionell verschiedene Blutspenderegimes unterschiedliche Bevölkerungsgruppen erreichen und verschieden stark die Blutspendebereitschaft der Bevölkerungen aktivieren können. Nicht die Motive der Blutspender (also wie viele »Altruisten« es gtbt) unterscheiden sich von Land zu Land, sondern das institutionelle Setting - »the organization of recruitment, collection, and publicity« (ebd: 1635). Das Blutspendeverhalten kann also vom institutionellen Rahmen über das Schaffen von Spendemöglichkeiten und -verpflichtungen mitkreiert werden.
Reziprozität und das individualistische Paradigma Soziologische Austauschtheorie Reziprozität hat aber auch in den stärker akteurszentrierten Theorien einen großen Stellenwert, die daran interessiert sind, Normen oder kollektive Prozesse durch das individualistische Handeln von Menschen zu erklären (Coleman 1964). Individualistische Überlegungen spielen eine wichtige Rolle in einer ganzen Reihe von Ansätzen zur Erklärung der Mechanismen des sozialen Austauschs. Besonders einflussreich ist die US-amerikanische Tradition der Austauschtheorie, wie sie von Autoren wie George Hornans und Peter Blau entwickelt wurde. Obwohl beide sich Austauschphänomenen aus verschiedenen Richtungen annäherten - Hornans leitete eine Psychologie des instrumentellen Verhaltens aus der Analyse von Gruppenprozessen ab, Blau konzentrierte sich auf die Modi sozialen Austausches -, stimmen sie darin überein, dass sozialer Austausch als beiderseitig vorteilhafter Prozess verstanden werden muss. In Analogie zu marktbasierten Austauschprozessen gingen sie davon aus, dass bilaterale Austauschakte als strategische Interaktionen interpretiert werden können, die nur zustande kommen, wenn sich die Teilnehmer einen Vorteil davon versprechen. Mit dieser Grundannahme wurde ein zentrales Motiv ökonomischer Analyse, nämlich die Unterstellung eigeninteressierten Handelns, für die Analyse nicht-ökonomischer Austauschprozesse übernommen, zugleich aber wesentlich erweitert. So hat der Begriff »eigeninteressiert« eine soziologische Einfärbung, weil er grundsätzlich vom Vorhandensein auch sozialer Interessen und Bedürfnisse ausgeht und sich gegen Ökonomistische Verkürzungen auf materiell definierte Nurzenbegriffe wendet.
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Homans' Theorie (1961, 1964, 1972) hat eine dezidiert individualistische Perspektive eingenommen, indem er psychologische Erklärungen über das V erhalten einzelner Individuen mit der Rationalitätsannahme der Wirtschaftwissenschaften verknüpfte. Nach seiner Einsicht müssen soziologische Hypothesen im Wesentlichen psychologisch (und nicht soziologisch) sein: »Es sind Hypothesen über das Verltal.ten von Menschen, nicht über das V erhalten von Gesellschaften<< (Homans 1972: 52). In seiner Auseinandersetzung mit Durkheim und Parsans war es die kollektivistische und funktionalistische .Grundhaltung, die ihn unbefriedigt ließ, da er von dem StandpWlkt ausging, dass alles Gesellschaftliche aus dem Individuellen heraus erklärt werden sollte und nicht umgekehrt (Homans 1962: 8). Zentraler Anspruch seiner Arbeit war daher die Formulierung spezifischer Hypothesen für menschliches Verhalten unter bestimmten Bedingungen. Die Rationalitätsannahme besagt, dass Menschen von zwei alternativen Handlungsbedingungen diejenige wählen, bei denen der Wert des Handlungserfolges und die Wahrscheinlichkeit der Realisierung dieses Handlungserfolges am größten sind Anders als manche Ökonomen nimmt Hornans die Präferenzstrukturen aber nicht als gegeben an, sondern verknüpft damit eine lern~oretische Vorstellung, nach der Menschen aufgrund von Erfahrungen ihre Werte und Präferenzen verändern können. Verhaltensweisen, die Erfolg hatten, werden wiederholt und Teil eines allgemeinen Verhaltensrepertoires, während frustrierende Handlungsfolgen zum Umlenken führen. In Homans' Theorie wird eine Reihe von, grundlegenden Hypothesen formuliert, die diese Grundannahmen spiegeln: Die Erfolgshypothese besagt, dass je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, desto wahrscheinlicher die Person diese Aktivität ausführen wird. Nach der Reizhypothese neigen Menschen dazu, beim Vorhandensein von Reizen, die in der Vergangenheit lohnenswerte Handlungen begleitet haben, ähnlich zu agieren. 'Die Werthypothese prognostiziert, dass je größer die Belohnung für eine Aktivität ist, desto wahrscheinlicher wird diese durchgeführt. Nach der Entbehrungs-Sättigungshypothese wird, wenn eine Person in der Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten hat, die Attraktivität jeder zusätzlichen Belohnungseinheit geringer. Schließlich wird mit der Frustrations-Agressionshypothese ausgesagt, dass das Ausbleiben der erwarteten Belohnung zu Ärger und entsprechenden negativen Reaktionen führt. Homans' Theorie bietet mit diesen Hypothesen auch einen analytischen Apparat zum Verständnis der Entstehung und Ausbreitung reziproker Austauschbeziehungen auf der Basis einer einfachen nutzentheoretischen Psychologie. PeterBlau (1964, 1977, 1987) begreift als den Kern der Soziologie das Studium sozialer Beziehungen una menschlicher Assoziationen. Seine ersten wichtigen Arbeiten entwickelten grunasätzliche Vorstellungen von den Mechanismen des sozialen Austausches in meqschlichen Interaktionen; diese tauschtheoretische Mikrotheorie wurde in späteren Arbeiten aber immer stärker durch struktur- und un1
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gleichheitstheoretische Überlegungen erweitert und ergänzt. Damit bietet er ein reiches Repertoire für die analytische Erfassung des Verhältnisses von Mikroprozessen und der (Makro)Sozialstruktur, welche hinsichtlich sozialer Ungleichheit, Organisation und struktureller Heterogenität Parameter interindividueller Beziehungen setzt. Sozialer Austausch stellt in Blaus Theoriearchitektur eine elementare Fonn sozialer Vergesellschaftung dar, durch die dauerhafte soziale Bindungen und Kooperationen erzeugt werden. Blaus Interesse auf der Mikroebene gilt allerdings, im Unterschied zu Homans, weniger sozialpsychologisch grundierten Handlungsmotiven als der Eigenlogik sozialer Austauschverhältnisse auf der Basis kausaler und linearer Verhaltensannahmen. Er unterstellt, dass Menschen ein naturwüchsiges Interesse an anderen haben, also durch Sozialität ausgezeichnet sind, und dieses in sozialem Austausch befriedigen können. Eine weitere Annahme ist, dass sich viele individuelle Ziele nicht im Alleingang, sondern nur in sozialer Kooperation erreichen lassen. Konkrete Austauschakte kommen dann zustande, wenn diese mit entsprechenden Gratifikationen verbunden sind Blau (1964: 91) definiert sozialen Austausch demgemäß als »voluntary action of individuals that are motivated by the returns they are expected to bring«. Damit wird Eigeninteresse als das tragende Motiv sozialer Austauschbeziehungen oder sozialer Vergesellschaftung ganz allgemein angesehen. Allerdings ist dieses Interesse nicht ausschließlich auf materielle Gratifikationen, sondern zugleich auf Formen sozialer Anerkennung und positiver sozialer Bestätigung ausgerichtet. Von zentraler Bedeutung für sozialen Austausch ist die Reziprozitätsnorm, die das Wechselspiel von Geben und Nehmen und somit viel&l.tige Kooperationsformen steuert Reziprozität ist bei Blau aber weniger Ausdruck eines Werte- und Nonnenhaushalts, sondern ein emergentes Phänomen sozialer Interaktionen. Dabei ist es das Interesse an Gratifikationen und die Angewiesenheit auf Kooperationen, die dazu führen, dass Akte des Gebens und Helfens positiv beantwortet werden und Reziprozitätsverpflichtungen entsprochen wird. Undankbares oder nicht-reziprokes Verhalten beinhalten dagegen das Risiko des Abbruchs von Kooperation. Für Blau sind soziale Austauschprozesse ubiquitär und nicht auf einige soziale Randbereiche beschränkt, obwohl er auch darauf hinweist, dass nicht alle sozialen Akte darunter subsumiert werden sollten (Blau in diesem Band). Interessant an Blaus (1964: 115ff.) Arbeiten ist der Anspruch, Reziprozität nicht nur als integrationsförderoden Mechanismus zu begreifen, sondern gleichfalls als Mechanismus, der Machtungleichgewichte und soziale Asymmetrien erzeugen kann. Dies geschieht vor allem dann, wenn zwischen Interaktionspartnern aufgrund ihrer sozialen Stellung oder der verfügbaren Ressourcen dauerhafte Ungleichgewichte des Gebens und Nehmens entstehen. In sozialen Situationen, in denen es Empfängern von Leistungen oder Hilfe unmöglich ist, reziproke Gegenleistungen zu erbringen, tendiert wechselseitiger Austausch dazu, ein einseitiger oder zumindest dauerhaft
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asymmetrischer Austausch zu werden. Strukturell ungleiche Tauschverhältnisse führen zu Verhältnissen der Über- und Unterordnung, weil sie dem Leistungsgeber in einer sozialen Beziehung Macht und Autorität verleihen, während der Leistungsempfanger in eine Abhängigkeit gerät. Soweit keine alternativen Quellen von Versorgung verfügbar sind, sind die Hilfeempfanger gezwungen, sich in eine soziale Hierarchie mit deutlichen Machtdifferentialen einzufügen. Blau erklärt Macht also nicht durch die Androhung von Sanktionen oder die Wttkung physischen Zwangs, sondern durch ungleiche Tauschverhältnisse innerhalb derer der Statushöhere ein Mehr an Ressourcen einbringt und im Gegenzug Folgebereitschaft erwarten kann. Insgesamt ist Blaudarangelegen zu zeigen, dass ungleiche Tauschraten Ursprung und Legitimitätsquelle von Statusdifferenzierung sind Sowohl für Hornans als auch für Blau ist behauptet worden, dass sie unmittelbar an Simmels Fragestellungen sozialer Vergesellschaftung anschließen (Levine u.a. 1976). Blau (1%4: 12) hat diese Wurzeln mit dem Hinweis explizit gemacht, dass der Titel des ersten ~pitels (The Stnl&ture ofSocia!Assodation) seines Buches Exchange anJ Power in Social Life auf Simmels konzeptionelle Arbeiten über Die Formen der Vergesellschaftung (1 <J<.?2 [1908J) zurückgeht. Obwohl Simmel keine systematische Theorie der Gesellschaft entwickelte, beruhen seine Arbeiten doch auf Annahmen, die auch für austaus~htheoretische Perspektiven als zentral gelten können. Dana~ geht Gesellschaft auf Interaktionen zwischen Individuen zurück. Diese treten miteinander in Austausch, um soziale Bedürfnisse unterschiedlicher Art zu befriedigen. Der Prozess der Vergesellschaftung ist das Resultat verschiedener Interaktionsformen, die in Wettbewerb, Unter- und Überordnung, Strukturbildung, Integration oder auch Konflikt münden können. Allerdings, und darauf hat Hans-Peter Müller (1993: 65ff.) hingewiesen, unterscheiden sich Simmel und Blau in epistemologischer Hinsicht, weil Simmels Methode sich an Kant orientiert, während Blau ein deduktiv-nomologisches Programm verfolgt. Gleichfalls kann für das Verständnis von Reziprozität gelten, dass Blau versucht, relativ ungleichartige Phänomene mittels eines Erklärungsparadigmas zu homogenisieren, während Simmel eine große Sensibilität für die qualitativen Unterschiede formal gleicher Phänomene an den Tag legt Im Gegensatz zu Blau, der auch Liebesbeziehungen austauschtheoretisch erfasst wissen will, zeigt Sim,mel die Grenzen eines solchen Konzepts, indem er die Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit emotionaler Zuneigung hervorhebt, die sich einer eindeutigen konzeptipnellen Verortung entziehen (ebd). Hornans wie auch Blau ist zudem vorgehalten worden, dass sie sozialen Austausch zu stark durch in Aussicht stehende Gratifikationen erklären und ihre Theorieprogramme wenig Raum für die eigenständige Wirk~g sozialer Motive oder Handlungsabsichten lassen. Damit stehen sie in der Gefahr, die von Weber gemachte Unterscheidung zwischen wertrationalen und zweckrationalen Motiven zugunsten letzterer aufzuheben (Ekeh 1974: 202f.).
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Im Vergleich mit ökonomischen Theorien nehmen Theorien des sozialen Austauschs allerdings für sich in Anspruch, einen Erklärungsansatz zu bieten, dessen Anwendbarkeit weit über Marktbeziehungen hinausreicht. Tatsächlich ist es so, dass viele austauschtheoretische Ansätze in Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften entstanden sind (Schneider 1974). So ist die ökonomische Vorstellung von Märkten kritisiert worden, weil sie auf bestimmten simplifizierenden Annahmen über perfekten Wettbewerb und die Autonomie von Marktakteuren beruht. Die Austauschtheorie ist dagegen an der Rekonstruktion von persönlichen Beziehungen und sozialen Zwecken interessiert. Während sich das Erklärungsinteresse ökonomischer Theorie auf unhistorische und isolierte Transaktionen independenter Akteure bezieht, beschäftigt sich die Austauschtheorie mit der Analyse dauerhafter Bindungen und der Rolle einzelner Interaktionen in der Abfolge von Ausmusehakten (Emerson 1976). Eine zusätzliche Stärke der Austauschtheorie ist die konzeptionelle Offenheit für eine ganze Palette von »Tauschregeln« sowie die Unbestimmtheit vieler Tauschverhältnisse. Auch zeigt sie auf, dass die normative Definition einer Situation durch die Akteure entscheidend dafür ist, wie sich der soziale Austausch konkret gestaltet und welche Austauschregel angemessen erscheint (z.B. Cook 1975).
Theorien rationaler Wahl Theorien rationaler Wahl sind ein weiteres erfolgreiches Theorieprogramm, das genaue Bedingungen für das Zustandekommen und die Formen von sozialen Beziehungenerfasst (Coleman 1991). Auch auf sparsamen Annahmen über Akteursverhalten beruhend, unternimmt diese Theorierichtung eine Mikrofundierung der Sozialtheorie. Der handlungstheoretische Kem dieses Modells besteht in der Annahme, dass Akteure zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen und dass diese Wahl von ihren Präferenzen, ihren Erwartungen und Situationsdefiniti~ nen, aber auch Restriktionen hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und der Handlungssituation selbst bestimmt ist. Der >>Clou« der Theorie besteht allerdings darin, dass es nicht um den objektiv erzielbaren Nutzen sozialen Handeins geht, sondern um subjektive Nutzenerwartungen, die kognitive und evaluative Prozesse beinhalten und daher nicht zwingend transitiv sein müssen (Esser 1999: 247ff.). Gleichzeitig nimmt sich die Theorie rationaler Wahl der gesellschaftlichen Normentstehung an und postuliert sie als Ergebnis zwischenmenschlicher Abstimmungs- und Kooperationserfordemisse, also endogen erzeugt, und menschlichen Handlungen weder vorgelagert noch von außen vorgegeben. Auch hier ist der Ausgangspunkt die Neigung von sozialen Akteuren zu eigeninteressiertem Verhalten. Allerdings unterscheiden sich die Theorien rationaler Wahl danach, ob sie in ihrer
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Theoriekonstruktion von einer einmaligen Interaktion oder von einem iterativen Transaktionszusammenhang ausgehen. Im letzteren Fall sind Interaktionen in eine fortlaufende Geschichte und in einen Zukunftshorizont eingebunden, was Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit zur Defektion und die Bereitschaft zur Kooperation hat (Voss 1985, 1998}. James Coleman dagegen geht in seinem nicht-iterativen Modell von einem Wahrscheinlichkeitswert für die Vertrauenswütdigkeit eines Akteurs aus der Sicht Egos aus. Soziale Beziehungen sind gewöhnlich immer mit Risiken behaftet, die man mit der riskanten Entscheidung, jemandem zu vertrauen, beantworten kann. Diese· Entscheidung ist für Coleman eine Art von riskanter Investition, die sich kalkulieren lässt: »Wenn die Chance !(!I gewinnen relativ zu der Chance !(!I verlieren größer ist als das Ansmaß des Verlustes (falls er verliert) relativ zumAusmaß des Gewinns (falls er gewinnt), kann er mit dem Eingehen der Wette einen Gewinn erwarten. Und wenn er rational handelt, sollte er sie abschließen.« (Cole-
man 1991: 125)
Vertrauen ist für Coleman nicht ein Sprung ins Ungewisse, sondern eine rationale Entscheidung unter subjektiven Risikowahrscheinlichkeiten, die in Begriffen von Gewinn und Verlust durchgeführtwird (vgl Wenzel2001: 369;Junge 1998). Im Unterschied zu CÖleman ist für die Mehrheit der Rational Choke-Theoretiker die Zeitdimension für die Kooperationswilligkeit von entscheidender Bedeutung, denn beobachtbares vergangenes Handeln - sowohl meines als auch das des Kooperation~panners - hat Auswirkungen auf zukünftiges Handeln, weil es einen sozialen Lernprozess in Gang setZt. Wenn ich mich als vertrauenswürdiger Partner erwiesen habe, wird mir mein Gegenüber einen größeren Kredit einräumen, als wenn dies nicht der Fall ist, und mit einer tendenziellen Vertiefung der so in Gang gesetzten Kooperationsinteraktionen werden die Kooperationsgewinne nicht nur sicherer, auch der Einsatz von Vorleistungen kann lohnender sein. Allerdings ist an dieser rein auf iterative Interaktionen abhebenden Denkfigur kritisiert worden, dass die Genese stabiler normativer Verhaltensregeln so nicht hinreichend plausibilisiert werden kann, weil diese eng an die Interessenlagen der Akteure zurückgekoppelt sind Sie geht letztendlich· von einem erkennbaren Nutzen moralischer Präferenzen und Handlungsweisen aus (Schmid 2004: 206). Weitergehend sind Überlegungen, die eine sich entwickelnde moralische Disposition der Akteure als wahrscheinlich ansehen, die als allgemeiOgülti.ge Richtschnur für soziales Handeln wirksam wird und wie ein Quasi-Programm abläuft. Dies hieße, dass Akteure als Folge von Lernerfahrungen stabile normgeleitete Verhaltensmuster ausbilden, die die egoistische Verfolgung von Eigeninteressen unterbinden (Vanberg 1984, Vanberg/Congelton 1992). Den wichtigen Beitrag; der Theorie der rationalen Wahl zum Verständnis reziproker Austauschformen ~jüngst Michael Schmid (2004) noch einmal verdeutlicht. Auch seine Ausführungen! starten mit der Prämisse, dass Menschen als individuelle
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Nutzenrnehrer agieren und eine Aversion gegenüber Verlusten beziehungsweise Ausbeutungssituationen zeigen. Gleichzeitig müssen sie sich für die Erreichung ihrer Ziele in Kooperationszusammenhänge hineinbegeben und sich in diesem Rahmen um den Aufbau einer »ertragsfördedichen Zusammenarbeit« (ebd.: 221) bemühen. Reziprozität ist in seiner Darstellung ein Mechanismus für die ertragssichemde Organisation von sehr verschiedenen Arten von Tauschtransaktionen. Auch auf 'Märkten entsteht seiner Ansicht nach eine endogene Nachfrage nach Reziprozität, wenn keine vollständigen und extern kontrollierharen Verträge abgeschlossen werden (können). Soweit Tauschinteresse zwischen zwei Partnern vorhanden ist, und diese sich auf Tauschäquivalente einigen, besteht eine Schwierigkeit der Vereinbarung darin, dass die zugesagten Leistungen tatsächlich in der versprochenen Qualität erbracht werden (siehe auch Voswinkel in diesem Band). Solche Transaktionen sind mit Unsicherheit behaftet, weil nicht immer zeitgleich und am gleichen Ort getauscht wird. Für komplexe Tauschsituationen ist es sogar so, dass häufig einseitige Vorleistungen erbracht werden, für deren Erwiderung es keine Garantien gibt. Dieses Risiko, das einseitige Investitionen mit sich bringen, kann durch Vertrauensbeziehungen minimiert werden. Dauerhafte Beziehungen beispielsweise legen reziprokes Vemalten im Sinne eines wechselseitigen Akzeptierens von Rechten und Gegenrechten nahe und helfen, Gefahren der Nichteinhaltung zu kontrollieren oder zu minimieren. Über Vertrauenskumulation können Interaktionspartner das Risiko zur Vorleistung ruhigen Gewissens eingehen, weil sie der reziproken Gegengabe relativ sicher sein können. Der Wert einer Tauschbeziehung hängt daher wesentlich von ihrer Langfristigkeit und dem Tatbestand ab, dass »Akteure keinen Abbruch ihrer Beziehung vorsehen, sondern sie als >ewiges Give and Take< betrachten<< (ebd.: 228). Einige spieltheoretische Ansätze sehen das soziale Lernen als den zentralen Mechanismus der Ausbildung von Reziprozität an. Robert Axelrod hat in The Evolution
oJCooperation (1984) mit Hilfe eines groß angelegten Computerexperiments simuliert, welche Verhaltensstrategien sich in Entscheidungssituationen als vorteilhaft erweisen. Anband eines Experiments vom Typ des Gefangenendilemmas hat er unterschiedliche Vemaltensstrategien programmiert, die mit unterschiedlichen Auszahlungsergebnissen einhergingen. Dabei waren die Auszahlungsergebnisse für Spieler A bei einseitig nicht-kooperativem Vedlalten und kooperativem Vedlalten des Gegenspielers am größten, nahmen ab bei beidseitig kooperativem V ernalten und beidseitig nicht-kooperativem V ernalten und waren am niedrigsten im Falle eigener Kooperationsbereitschaft und Nicht-Kooperation des Gegenspielers. Diese Spiele wurden über mehrere Runden wiedemalt und die Strategien anband der erreichten Gesamtpunktzahl verglichen. Am besten schnitt dabei das als titfor tat bezeichnete Verhaltensmuster ab, also beim ersten Zusammentreffen ein kooperatives Vedlalten zu zeigen und dann auf kooperatives mit kooperativem V ernalten zu antworten und
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auf unkooperatives mit unkooperativem Verhalten. Durch iterative Interaktionen herausgebildete Verhaltensregeln sorgen für soziale Normierung, die es wahrscheinlicher macht, dass die Beteiligten ihre Kooperationsvorteile auch realisieren können. In realen sozialen Kontexten ist ein solcher Zusammenhang noch relevanter, weil das soziale Gedächtnis tief in die Vergangenheit hineinreicht und nicht auf wenige Sequenzen beschränkt bleibt. Zudem können auch indirekte Erfahrungen für das eigene Handeln berücksichtigt werden, wenn zum Beispiel Dritte Informationen über die Verhaltensweisen einer Person geben (Vanberg 1987). Interessante Aufschlüsse über die Robustheit und Nachhaltigkeit von titJor tat bieten auch Axelrods Ausführungen über mögliche Effekte in Folge der Invasion nicht-kooperativer Spieler. Solche Situationen können für Kooperationsformen problematisch sein, weil kooperative Spieler l~cht ausgenutzt werden können und somit Nachteile erleiden. Als Folge wären diese gezwungen, von Kooperation auf Nicht-Kooperation umzuschalten. Axelrod behauptet nun, dass kooperative Strategien »überlebensfähig« sind, wenn es ausreichende Chancen gibt, potenzielle Kooperateure zu treffen und wenn kooperative Akteure Ouster bilden, durch die sich die reziprok orientierten Individuen gegen deviante Akteure schützen. Anders als lerntheoretische Ansätze gehen evolutionsbiologisch inspirierte Arbeiten von einer Art genetischer Programmierung aus, die bestimmte Arten von adaptivem Verhalten nahe legen, um eine erfolgreiche Reproduktion zu ermöglichen (Trivers 1971, Alexander 1975). Es wird eine direkte Verbindung zwischen erfolgreichen Anpassungsstrategien und der menschlichen Disposition für kooperatives Verhalten hergestellt. Rein auf Eigennutz abhebende Strategien erweisen sich als wenig vorteilhaft, und es: gibt evolutionsbiologisch überlegene Verhaltensstrategien, die Tugenden wie Solidarität, Altruismus und soziale Großzügigkeit einschließen (Voland 1998). Insbesondere die Reziprozitätsnorm stellt einen wichtigen Mechanismus dar, um mit anderen Menschen Beziehungen aufzubauen, die Kooperationserträge sichern, aber vor Ausbeutung schützen. Schon frühe stammesgesellschaftliche Formen des Zusammenlebens waren durch Praktiken des Austausches und reziproker Verpflichtung geprägt, die wichtig waren, um Kontingenzen und Umweltrisiken zu bewältigen und somit die Überlebensfähigkeit der Gruppe zu erhöhen (Knauft 1989). Speziell Nahrungsmittel und wichtige Basisressourcen wurden in recht umfangreiche Tauschketten eingebracht, mit Hilfe derer die kollektive Versorgung aller gesichert werden konnte.9
9 Diese Einsichten haben ~eh Kad Polanyis (1978 [1944D Studie The GreatTransjormation maßgeblich beeinflusst.
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Experimentelle Wirtschaftsforschung Auch aus der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung heraus gibt es zunehmende Belege für die große Bedeutung reziproken Verhaltens. So ist mit der experimentellen Wirtschaftsforschung ein florierender Forschungszweig entstanden, der deutliche Zweifel an den Standardannahmen der ökonomischen Theorie über das Handeln und die Entscheidungsmotive von Individuen äußert. Rationale und eigennützige Entscheidungen, wie sie vom Homo OecononiiCHs-Modell unterstellt wen:len, sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen im Hinblick auf erwartete Folgen handeln und bestrebt sind, ihren materiellen Nutzen zu maximieren (Kirchgässner 1991).1° Es ist auch hervorzuheben, dass die klassische Ökonomie davon ausgeht, dass sich dieses Verhaltensmodell in jedem einzelnen Handlungsakt wieder findet, es also irrelevant ist, ob eine Handlung einer bestimmten Klasse von Handlungen zugerechnet werden kann, die allgemein wünschenswerte Folgen haben (Güth/Kliemt/ Napel2003). Bei Vorhersagen und der Modeliierung menschlichen Verhaltens wird ebenfalls nicht berücksichtigt, welche normativen Orientierungen vorhanden, noch welche kollektiven Handlungsfolgen erwartbar sind Gegen diesen Modellplatonismus hat die experimentelle Wirtschaftsforschung ein dezidiert empirisches Forschungsprogramm entwickelt, das auf der Basis von Laborexperimenten die Vorhersagekraft des Homo Oeconomicus-Konzeptes testet. Die Anlage dieser Untersuchungen erlaubt es, unter genau kontrollierten Bedingungen Entscheidungssituationen zu simulieren, und das Entscheidungsverhalten der Teilnehmer zu untersuchen. Im Gegensatz zu sozialwissenschaftliehen Umfragetechniken werden bei wirtschaftswissenschaftlichen Laborexperimenten tatsächlich monetäre Auszahlungen vorgenommen, um nicht nur Einstellungen oder hypothetisches Verhalten zu messen, sondern monetär folgenreiche Entscheidungen, die das Individuum etwas »kosten« oder Gewinne ermöglichen (siehe Kagel/Roth 1995). Ein typisches Experiment zur Untersuchung derartiger Fragestellungen ist das Ultimatumspiel, innerhalb dessen zwei Spieler einen Geldbetrag zugesprochen bekommen und nur einer von beiden das Vorschlagsrecht für die Aufteilung der Summe hat. Die Auszahlung kommt allerdings nur zustande, wenn der Vorschlag von dem Mitspieler akzeptiert wird (Güth/Schmittberger/Schwarz 1982). Im Unterschied zur Vorhersage des Homo Oeconomicus-Modells neigen die Vorschlagsberechtigten nicht dazu, ihren eigenen Anteil zu maximieren, sondern offerieren dem Mitspieler typischerweise zwischen 40 und 50 Prozent der Summe. Gleichzeitig wen:len Angebote von weniger als 30 Prozent Anteil oft zurückgewiesen, was bedeutet, dass keiner der Mitspieler eine Auszahlung bekommt (Fehr/Schmidt 1997). Andere Expe-
10 Zu prinzipiellen Problemen der Annahme rationaler und nutzenmaximierender Individuen in der ökonomischen Theorie siehe Sen (197fJ).
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rimente zum kollektiven Poolen von Ressourcen zeigen ebenfalls ein Entscheidungsverhalten an, das auf die zentrale Bedeutung von kooperativem Verhalten hindeutet (Andreoni 1995). Eine wichtige Schlussfolgerung dieser Untersuchungen ist die Beschränktheit eines engen Konzepts individuellen, auf Nutzenmaximierung ausgerichteten Ver-:haltens. Stattdessen lässt sich anband unterschiedlicher Spielsituationen zeigen, dass das Verhalten von Individuen nicht auf die unbedingte Erhöhung materieller Gewinne ausgerichtet ist, sondern sich auch an Nonnen der Fairness orientiert. Positives Kooperationsverhalten wird in der Regel belohnt, während negatives ~oope rationsverhalten mit negativen Sanktionen vergolten wird So tendieren die Teilnehmer an diesen Experimenten dazu, auch unter Inkaufoahme von Kosten jene Individuen zu bestrafen, die soziale Nonn~n verletzen und sich im Trittbrettfahren versuchen (Fehr/Gächter 1998). Solche Sanktionsneigungen können auf die tiefe Verankerung von Emotionen, die auf Wiedergutmachung abzielen, zurückgeführt werden. Insbesondere die Reziprozitätsnorm ist in diesen Entscheidungsspielen augenfällig: Menschen neigen dazu, Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem zu vergelten. Reziproke Präferenzen sorgen dafür, dass Menschen ihre Handhmgen als Teil eines sequentiellen Prozesses sehen, dass Handh.tngsfolgen zugerechnet werden und dass freundliches und kooperatives Verhalten belohnt, während unfreundliches oder unkooperatives Verhalten bestraft wird Motivational ist das Faktum sozialer Zeit entscheidend: Nicht nur der >~chatten der Zukunft«, sondern gerade auch der »Schatten der Vergangenheit« ist von Bedeutung. Ergebnisse werden also nicht nur durch die konsequentialistische Brille betrachtet - im Hinblick auf die (materiellen) Resultate -, sondern auch danach, wie sie zustande kommen (Güth/Kliemt/Napel 2003). Ökonomen unterstreichen, dass die in den Experimenten nachgewiesene Bereitschaft zu fairem Verhalten und zur sozialen Großzügigkeit nichts mit unbedingtem Altruismus zu tun hat, sondern als Fonn bedingter Kooperation· angesehen werden muss. Der Homo Redprocans ist bereit, zur Produktion kollektiver Güter beizutragen, wenn auch alle anderen Kooperationspartner ihren Beitrag leisten. Dabei ist es aber keine notwendige Voraussetzung, dass die Beiträge in gleichen Anteilen erbracht werden, entscheidend ist vielmehr, dass die Gebenden das Gefühl haben, dass alle anderen nach Maßgabe iJ:u:er Möglichkeiten beitragen und dass ihre Großzügigkeit nicht durch Trittbrettfahrer ausgenutzt wird (Bowles/Gintis 2000). Insbesondere Fragen der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates oder die Steuennoral können mit Hilfe dieser Einsichten ~esser verstanden werden (siehe Lessenich/Mau in diesem Band). So impliziert die 1 Idee der reziproken Erwartungen, dass man umso eher bereit ist, seine Steuern Zu zahlen, je mehr man den Eindruck hat, dass auch die anderen ihren »fairen<< Beitrag zur Finanzierung des Staatshaushaltes leisten. Gemäß der Reziprozitätsnorm hängt die Wahrnehmung fairer Steuerbeiträge in erster Linie
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an dem Eindruck, dass die anderen (wie man selbst) nach ihren Möglichkeiten und ihrer Leistungskraft beitragen (Falk 2001). Dies schließt auch soziale Großzügigkeit und Toleranz gegenüber Umverteilungen ein, weil die Beiträge recht unterschiedlich ausfallen können. Demgemäß findet sich eine große Bereitschaft, Transfers zugunsten von sozial Bedürftigen zuzustinunen, wenn angenommen wird, dass diese auch eigene Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Lage unternehmen (Bowles/ Gintis 2000).
Kultur- und Religionstheorien der Gabe Anthropologie und Ethnologie hörten nie auf, sich für die Logik der Gabe und der Reziprozität zu interessieren. Der Soziologie muss im Kontrast dazu insgesamt ein schwankendes und zum Teil unterentwickeltes Interesse an diesem Themenkomplex attestiert werden. Dagegen gab es im 20. Jahrhundert immer auch ein kulturtheoretisches Interesse am Gabentausch - beziehungsweise in der Religionstheorie natürlich auch an der Theorie des Opfers (vgl Hubert/Mauss 1898). In den letzten 10 bis 15 Jahren ist sogar ein regelrechter Boom an Auseinandersetzungen mit der Gabe zu verzeichnen, der nicht zuletzt durch die Schriften Jacques Derridas ausgelöst wurde.
Französische Debatten Georges Batailles Kulturtheorie, der aktuell vermehrt Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird (Karpenstein-Eßbach 2004), knüpft an Mauss' Gabentheorie an und radikalisiert den Potlatsch als soziales Grundprinzip. Neben dem Nutzen, der Produktion und Reproduktion nennt Bataille die unproduktiven Ausgaben (Luxus, Kriege, Kulte, perverse Sexualität, Spiele usw.) als Grundbestandteil menschlicher Aktivität, die er mit dem Begriff »Verausgabung« belegt (Bataille 1985 [1967]). Diese steht dem Prinzip des ökonomischen Nutzens und der ausgeglichenen Zahlungsbilanz gegenüber und beruht auf Verlusten und Vergeudungen. Produktion und Erwerb sind gegenüber der Verausgabung für Bataille allerdings sekundär, wofür er als Beleg den kostspieligen Gabentausch archaischer Gesellschaften - den Potlatsch anführt (ebd.: 17). Nur durch den Verlust an Gütern sind Ruhm und Ehre zu erlangen: Luxus und Verschwendung- Gaben, die nicht erwidert werden können- sind Ausdruck von Macht, und Leben ist Überfluss und Exzess. In der Verausgabung der reichen Klassen sieht er auch heute noch die Grundkomponenten des Potlatsch erhalten:
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»Mehr odet weniger stark hängt auch der soziale Rang vom Besitz eines Vermögens ab, abet wiederum unter der Bedingung, daß das Vermögen teilweise für unproduktive soziale Ausgaben geopfert wird wie Feste, Schauspiele und Spiele.« (Ebd: 21)
Die Nähe zu Thotstein Veblens The Theory oJthe Leisure Class (1961 (1899D ist unverkennbar. Doch ist diese Verpflichtung zur Verschwendung für Bataille auf dem Rückzug; die Bourgeoisie setze sich von der Aristokratie des anden regime dadurch ab, dass sie beschlossen habe, »nur noch für sich selbst zu verschwenden, innerhalb der eigenen Klasse, das heißt, indem sie ihre eigenen Ausgaben vor den Augen der anderen Klassen soweit als möglich verbirgt« (Bataille 1985 [1967]: 23). Dennoch: Kultur geht nach Bataille niemals ganz im Kalkül der Produktivität und Rationalität au; sie ist immer auch Arbeit an stets vorhandener und bedrohlich erscheinender >>Überschüssiger Energie« (Karpenstein-Eßbach 2004: 129). Überschreitung und »Transgression« sind die Prinzipien einer Ökonomie der Kultur, die sich dadurch aus der Sphäre des Profanen heraushebt. Den Potlatsch allerdings zum Referenzpunkt der Theorieentwicklung zu machen, ist allein schon deshalb problematisch, weil seine exzessiven und Zerstörerischen Charakteristika am stärksten unter dem Einfluss von Kolonialmächten hervortraten und damit dem indianischen Gabentausch diese Form der Vetausgabung nicht inhärent war (Henaff 2002: 158ff.). Nicht bei der verschwenderischen Gabe, sondern bei der reziproken Gegengabe I setzt J ean Baudrillards Kulturtheorie (1982 [197 6_D an. Während er hierzulande als Theoretiker der Simulation einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte und für seine Thesen vom nur simulierten Golfkrieg des Jahres 1991 heftig kritisiert wurde, sind in unserem Zusammenhang seine Überlegungen vom symbolischen Tausch zentraler, machen sie doch auf eine bedeutsame kulturelle Wandlung im Übergang zur Modeme aufmerksam, die es zumindest wert ist, genauer überprüft zu werden. Während vormoderne Gesellschaften von der L~gik von Gabe und Gegengabe durchtränkt waren und1dies auch für das Vemältnis der Lebenden zu den Toten galt (bis hin zur Logik des Opfertodes), kennt die Modeme dieses zyklische Wechselspiel zwischen Gabe und Gegengabe nicht mehr. Stattdessen durchzieht nach Baudrillard die Moderne die Log1k der Linearität und Akkumulation; eine Interaktion zwischen Lebenden und Toten findet nicht mehr statt, sodass für uns der Tod der Abbruch der sozialen Beziehung bedeutet - mit fatalen Konsequenzen wie er behauptet: »Unsere ganze Kultut ist nichts anderes als eine immense Anstrengung, Leben und Tod voneinander zu trennen und die Ambivalenz des Todes zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert und der Zeit als allgemeinem Äquivalent zu bannen. Den Tod abschaffen, das ist unset sich in alle Richtungen veiZWeigendes Phantasma.« (Ebd: 232)
DreißigJahre nach Erscheinen des Textes liegt die Parallele zu gegenwärtigen Phantasmen der Unsterblichkeit durch gen- und nanotechnologische Perfektionierungseingriffe auf der Hand Auch Baudrillards Analyse des Todes als Gabe hat durch !
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den 11. September 2001 eine erschreckende Aktualität gewonnen. Denn der Terrorismus setzt mit dem Selbstmordattentat den Tod als Gabe ein, die nicht erwidert werden kann und die auf diese Weise das »System«, das den Tod negiert, aus den Angeln hebt (Baudrillard 2002). Die der Baudrillardschen Theorie zu Grunde liegende Grundidee grenzt jedoch an kybernetische Spekulation, nämlich »dass jede freigesetzte Energie eine antagonistische Energie freisetzt, dass jede Differenz eine genauso starke Indifferenz und jede Wahrheit eine noch größere Ungewissheit auslöst- dass es von dem, was kein ökonomisches Prinzip, sondern eine symbolische Regel ist, keine Ausnahme gibt, und dass alle Systeme an der Verkennung dieser fundamentalen Dualität scheitern, die sich nunmehr in(...) einer allgemeinen urid katastrophischen Situationsumkehrung auferlegt.« (Baudrillard
2000: 141)
Die abgeschafften, überwunden geglaubten Dinge kehren angeblich immer zurück: »Die ausgeschlossene Andersheit kehrt im Hass, im Rassismus und in mörderischen Experimenten zurück« (ebd.: 65). Anklänge an Bataille sind überaus deutlich, wenn Baudrillard den Unterschied zwischen den »Primitiven« und uns herausstellt: Die Heimlichkeit und Verdrängung ist die moderne und korrumpierte Variante des »verfemten Teils<<, des gefahrliehen und überschüssigen Teils mit dem die archaischen Gesellschaften gut umzugehen wussten, weil sie zwei Tauschregister hatten: für das Nützliche und das Verschwenderische (ebd.: 144). So spekulativ diese Ausführungen Batailles und Baudrillards klingen mögen, deutlich wird doch, dass die Gabentheorie in der Lage sein kann, grundlegende kulturelle Vorstellungen von dem, was uns gegeben ist, was gegeben, genommen und erwidert werden muss, was nicht erwidert werden kann usw., aufzuklären. Auch wenn vides soziologisch unbefriedigend bleibt, so kann die Soziologie von solch einem gabentheoretischen cultural turn sicher Anregungen für die Analyse von Mustern kultureller Reproduktion beziehen. Rene Girards Theorie des Heiligen betrachtet das Heilige in seiner Funktion für das Soziale und schließt damit an die klassischen Beiträge von Emile Durkheim und Rudolf Otto an. In seinem Werk Das Heilige und die Gewalt (1994 [1972]) sieht er am Ursprung der menschlichen Gesellschaft einen Opfermord, der die Gewalt, die alle gegen alle ausüben, still stellt, indem die Konflikte einem Sündenbock zugeschrieben werden. Der Mechanismus des »mimetischen Begehrens« wird durch die Opferung des Sündenbocks unterbrochen, die Konflikte zwischen den Individuen werden besänftigt, und ein neues soziales Band wird gestiftet. Dem Opfer, das eher zufällig ausgewählt wird, werden göttliche Attribute zugesprochen; es wird geheiligt, da es als Mittel der Stillstellung von Gewalt fungierte. Diesem Opfermechanismus begegnen wir, so Girard, unentwegt in allen Mythen der Menschheitsgeschichte,
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wobei der Sündenbockmechanismus niemals offen zu Tage tritt, weil die ursprüngliche Gewalt, auf der Gesellschaft immer gründet, verschleiert werden muss. 11 Mimetisches Begehren und mimetische Rivalität stehen am Anfang der Reziprozität, die Girard vornehmlich als negative Gewaltspirale auffasst. >&bald sich ein Nachahmer bemüht, seinem Modell das Objekt ihres gemeinsamen Begehrens zu entreißen, widersetzt sich das Modell naturgemäß, und das Begehren wird auf beiden Seiten intensiver. Das Modell wird zum Nachahmer seines Nachahmers und umgekehrt.« (Girard 2002a: 439)
Menschliche Beziehungen sind für Girard durch und durch von Gegenseitigkeit geprägt Die Beziehungen können wohlwollend und friedlich oder aber feindselig und aggressiv sein, wobei sie nie den Rahmen der Gegenseitigkeit verlassen. Die Gabe gift- hat deshalb· für Girard immer auch einen vergifteten Aspekt, sie trägt Spuren der Angst und Gewalt in sich (ebd.: 446f.). Girards weit gespannte Thesen über den Ursprung der menschlichen Kultur und des Heiligen in der Gewalt sind bekanntlich umstritten; worum es uns hier aber geht, ist ein Punkt, den die Girardsche Analyse überaus deutlich macht: Geben verbindet, allerdings nicht nur im Guten. Auch Zyklen der Gewalt beruhen auf reziproken Handlungen, die zum einen eher auf dem »direkten Tausch« von Schädigungen beruhen, teilweise aber auch einen »generalisierten« Charakter der Rache annehmen können. Soziologisch interessant an diesem Komplex ist einerseits die Frage, unter welchen Umständen positive Reziprozitätsbeziehungen abgebrochen werden, wann man also anfangt, »Rechnungen aufzumachen« und die Beziehung auf reziproke beziehungsweise sich steigernde Schädigungen umstellt. Sodann steht die Frage im Raum, wie solche Negativzyklen der Schädigung unterbrochen werden (können): Man denke an unzählige Ehen vor Gericht oder an das Problem, wie es zur Einstellung von kriegerischen Kampfhandlungen kommen kann. Während· Bataille, Baudrillard und Girard an den beziehungsstiftenden, sozialen Elementen der Gabe ansetzen, interessiert sich Jacques Derrida für die nicht-sozialen Komponenten der Gabe, für das »Unsichtbar-Werdem der Gabe. Ist nämlich die Gabe als Gabe erkennbar, erheischt sie die Gegengabe, wird »verunreinigt« und verschwindet gleichsam. Eine Gabe, die eine Gegengabe evoziert, ist für Derrida keine wirkliche, keine reine Gabe. Er verschiebt damit die Gabe in das Reich des Unmöglichen: Sie ist erst dann vorhanden, wenn sie vollkommen aus freien Stücken 11 Dies ändert sich mit der jüdisch-christlichen Religion und speziell mit den Evangelien. Hier, so lautet Girards (2002b) theologisch-anthropologische These, zeige sich der gewalttätige Charakter des >>natürlichen« Heiligen: Der Opfermechanismus wird in seiner Funktion und Gewalttätigkeit endarvt und damit gleichzeitig entblößt. Christus sei kein Opferlamm, sondern wurde getötet, weil seine AufdeCkung der Ursprünge des Heiligen ein zu radikaler Affront gegen jegliche traditionellen Glaueensauffassungen war. Die Geschichte des Christentums deutet Girard als eine fortwährende Anstrengung, sich selbst von den Resten des gewalttätigen »natürlichen« Heiligen zu reinigen.
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erfolgt und keine reziproken Verpflichtungen der Erwiderung hervorrufen kann, das heißt erst, wenn sie gar nicht mehr beobachtbar und wahrnehmbar ist. »Denn eine Gabe, so könnte man sagen, wenn sie sich als sokhe in vollem Licht/am hellichten Tag zu erkennen gäbe/anerkennen ließe. eine zur Erkenntnis/Anerkennung ausersehene Gabe würde sich sogleich annullieren. Die Gabe ist das Geheimnis selbst, wenn man das Geheimnis selbst sagen kann.« (Derrida 1994: 359)
Mit dieser Idee als Hintergrundkonzept untersucht Derrida das jüdische und christliche Denken über das Leben, den Tod und die Verantwortung und kommt zu Schlüssen, die die sotfak Gabe unmöglich machen12 und eher auf Heideggersche Motive eines »es gibt« hinauslaufen. Derrida geht es um die Überwindung des ökonomischen Kalküls, um eine Polarität gegenüber dem Prinzip des Tauschs. Dies ist allerdings ihm zufolge bei der gewöhnlichen Gabe nicht der Fall: »Man sollte geben, ohne zu wissen, ohne Kenntnis noch Anerkennung, ohne Dank: ohne etwas, auf jeden Fall ohne Objekt(( (ebd: 437). Ganz im Gegensatz zu Baudrillard darf die Derridasche Gabe nicht zirkulieren und zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren (Derrida 1993: 17). Die Gabe gibt es nur, wenn der Empfanger niemals in ein Schuldverhältnis tritt; deshalb kann Derrida auch sagen, »dass selbst ein so monumentales Buch wie der Essai sur le donvon Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur nicht von der Gabe: der Essai handelt von der Ökonomie, dem Tausch und dem Verttag (do Nt des), vom Überbieten, dem Opfer, der Gabe und der Gegengabe, kurz von allem, was aus der Sache heraus zur Gabe drängt 11nd zugleich dazu, die Gabe zu annullieren.« (Fhd.: 37).
In zeitgenössischen philosophischen wie theologischen Debatten ist die »Gabe« von zentraler Bedeutung. Die christliche Hoffnung auf Gnade lässt sich beispielsweise in der Begrifflichkeit der Gabe rekonstruieren. Ausgehend von Gedanken, die Derrida in die Diskussion brachte, hat in den letzten Jahren eine intensive Debatte um die Gabe im philosophischen und theologischen Sinne eingesetzt (vgl. Caputo/Scanlon 1999). Zumeist knüpft man dabei an phänomenologische und hermeneutische Traditionen an, die maßgeblich von Husserl und Heidegger vorgeprägt wurden. Die >>
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im privaten um ein soziales »Vergessen-machen<<, das eine Fortsetzung von sozialen Beziehungen überhaupt erst ermöglicht; aber auch auf richterlicher wie politischer Ebene hat der Begriff klare Konturen. Eng damit verbunden sind beispielsweise
Konzepte wie Rehabilitation und Amnestie. Ver-Geben beziehungsweise Verzeihen sind in vielen Sprachen:mit der Gabe verbunden: pardon,perdono,fotgiving. Man gibt die Vergebung in einer vollkommenen Asymmetrie, die keine Gegengabe vom Empfangereinfordert Ricoeur sieht das Vergeben aus diesem Grund in unmittelbarerer Nähe zur Liebe als zur Gerechtigkeit, da sie nicht der Logik der Wägung und dem ausgleichenden Nutzen entspricht, sondern einer »Überfülle« entspringt (ebd.: 149).14 Verzeihen ist für Ricoeur mithin Bruch mit der Logik der Reziprozität und in diesem Sinne eine Gabe15, nämlich die Gabe, die Bedeutung einer Handlung für Gegenwart und Zukunft zu vergessen. Eine solche Gabe vermag auch, so die Vermutung des Philosophen, zu versöhnen angesichts eigentlich nicht wieder gutzumachender Schäden und Verbrechen.
Soziologische Anschlüsse Auch Taleort Parsans ging es in einigen Schriften seines Spätwerks (Parsons ua. 1999 [1972D um die religionssoziologische Rekonstruktion christlicher Gedanken. Er beschäftigt sich darin mit der jüdisch-christlichen Vorstellung des Lebens als Gabe. Parsans rekonstruiert die Idee, dass das Leben ein Geschenk Gottes und der Tod die Erwiderung dieser Gabe sei und kommt dabei auf einige Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Traditionen zu sprechen. Hans Joas (2002) stellt dagegen in seiner Interpretation der Parsanssehen Überlegungen heraus, dass der Tod. nicht als Gegengabe zum empfangenen Leben angesehen werden kann, da die Unterscheidung von Gerechtigkeit und Liebe (Ricoeur) beachtet werden müsse: Im christlichen Kontext transzendiert die Idee der Liebe die Reziprozitätserwartung, etwas zurückzahlen zu müssen. Interessant an Parsons' Ansatz ist allerdings, dass er die religionssoziologische Rekonstruktion theologischer Kategorien mit einer konkreten Analyse der Profession der Medizin verbindet. In der Modeme differenzierte sich laut Parsans die Rolle des Arztes als Hüter und Beförderet der Gabe
14 Diese Logik des Übetflusses der Gabe drückt sich für Riooeur (1995) am klarsten im christlichen Gebot der Feindesliebe aus. Diese ist für ihn das Korrektiv zur »Goldenen Regele<, die auf dem Äquivalenzprinzip beruhe und permanent Gefahr laufe, in die utilitaristische Logik des do ut tks abzugleiten. 15 John D. Caputo (2002) hat herausgearbeitet, wie die Gabenlogik des Vergebens sich immer auch an der Grenze zt\m Tausch bewegt, nämlich dann, wenn man Vorbedingungen (Reue etwa) an denjenigen stellt, dem man vergeben will. Dies ist ein Problem, das die christliche Tradition von Anfang a:n begleitet hat.
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des Lebens heraus. Sie ist die Institutionalisierung des Schutzes dieser Gabe. Mit den Möglichkeiten der Organtransplantation, der Frage nach der medizinischen Definition von Leben und Tod, der Möglichkeit der künstlichen Verlängerung des Lebens usw. stellen sich der Profession Problemlagen, die unmittelbar das existenzielle Verständnis vom Leben als Gabe (und dem Tod als Gegengabe) betreffen. Parsons' Text stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Verbindung einer Professionssoziologie der Modeme mit dem Nachweis religiös-tiefsitzender kultureller Muster in Bezug auf Leben, Gesundheit und Tod dar, die von Reziprozitätsvorstellungen durchdrungen sind. Die quasi-philosophische Diskussion um das Vergeben und um religiöse Grundvorstellungen ist für die sozialwissenschaftliche Diskussion insofern instruktiv, als sie darauf aufmerksam macht, dass eine Vielzahl sozialer Interaktionsprozesse gabentheoretisch rekonstruiert werden können. So wie man Vergebung geben kann, so geben sich Menschen permanent in alltäglichen Situationen »Dinge<<, die nicht gegenständlicher Natur sind. Unseres Erachtens finden sich die deutlichsten Anknüpfungspunkte für solch eine Perspektive in Erving Goffmans Theorie der Interaktionsrituale (1971) sowie in Fortentwicklungen dieses Ansatzes, etwa in Randall Collins' konfliktsoziologischer Ausdeutung von Goffmans Einsichten (vgl. Collins 1994, 2004). »Status group members give each other gifts in the same way that Mauss's Trobriand chiefs, only in the modern case these consist of the gifts of dinner parties, Christmas presents, and oll the &eremonial e:xchanges of everydqy politeness that Goffman anafyzed.« (Collins 1994: 229)
In Goffmans Analysen werden alltägliche Mikrosituationen als permanentes Wechselspiel gegenseitiger Gaben der Imagepflege und der Einhaltung zeremonieller Regeln der Ehrerbietung und des Benehmens rekonstruiert Normalerweise sind diese Techniken auf die Norm der Reziprozität angewiesen, durch die sich die Interaktionspartner wechselseitig ihrer Würde versichern. Wechselseitige Anerkennung durch Einhaltung der Regeln von Selbstachtung und Rücksichtnahme ist ein grundlegendes Kennzeichen sozialer Interaktionen in Kopräsenz, vor deren Hintergrund erst die Wtrkung ritueller Entweihungen verständlich wird. Takt, Höflichkeit, das-Gesicht-Wahren usw. lassen sich als Gaben rekonstruieren, die eine gemeinsame Welt sozialer Anerkennung aufbauen, aber auch - werden sie verweigert und bleiben sie aus - destruieren können. 16 Die Würde des modernen Individuums beruht Goffman zufolge auf den kleinen Opfern (1m Sinne von G~n, die nicht berechenbare oder garantierte Erwiderungen evozieren), die wir uns wechselseitig erweisen (Goffman 1971: 105).
16 Den Zusammenbruch der wechselseitigen, zeremoniellen Grundlagen der Selbstbehauptung hat Goffman ja bekanntlich ausfiilulich analysiert, etwa in seiner Untersuchung über totale Institutionen (Goffman 1972).
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Reziprozität und Vertrauen sind fundamental bedeutsam für die Kooperation von Handelnden und die Herstellung von sozialer Ordnung überl:umpt. Bricht man mit dem Parsanssehen Modell, dass eine gemeinsame Kultur- gemeinsame Werte und Normen- schon die hinreichende Bedingung für soziale Ordnung darstellt und folgt stattdessen den Überlegungen Harold Garfinkeis (1967), der nachwies, dass Regeln immer reflexiv gebraucht werden, öffnet sich der Blick auf die Bedeutsamkeit von Vertrauen und Reziprozität. Die Reziprozität von Regeln und Erwartungen muss immer erst her- und unterstellt werden (Wenzel 2001: 330), und dabei stellt Vertrauen einen zentralen Mechanismus dar, da nur so der Schritt (die Gabe?) denkbar wird, dass wir so tun »als ob zwischen uns schon eine soziale Beziehung bestünde, wir fingieren soziale Beziehung, um sie dadurch Wtrldichkeit werden zu lassen.« (Ebd.: 335f.). Harald Wenzel hat diesen Gedanken ausgeweitet und auf die Konstruktion einer gemeinsamen Welt17 durch die modernen Massenmedien bezogen. Auch hier werden soziale Interaktionsbeziehungen »fingiert« und erzeugt. Die Interaktion zwischen Produzent und Rezipient verläuft auf einer parasozialen Ebene und produziert beziehungsweise setzt generalisierte Reziprozität voraus und frei Auch ohne direktes Feedback sind solche Beziehungen als reziprok rekonstruierbar, da die Rezipienten Reziprozität immer schon unterstellen und sie beispielsweise dem Fernsehen gegenüber »Vertrauen erweisen und Vertrauen von ihm gespendet bekommen, sich :damit an die Realität anschließen und diese zugleich deuten und erzeugen« (ebd.: 169). Auf diese Weise ist die parasoziale Interaktion mit dem Fernsehen kaum zu unterscheiden von einer wirklichen face-toface Interaktion. Hier wie dort ist Vertrauen als »Gabe«- im Sinne Cailles (in diesem Band: 181) als einer geleisteten Hilfe »ohne Erwartung einer bestimmten Erwiderung und mit der Absicht, die soziale Beziehung zu nähren« - gefordert, um die Fiktion zu verwirklichen. Während Vertrauen empirisch immer auch enttäuscht werden kann, gibt es, wie Oaus Offe (2001: 254) jüngst gezeigt hat, eine moralische Reziprozitätsverpflichrung, an die der Adressat des Vertrauens durch die Vorleistung des Vertrauensspenders gebunden ist. Erwiesenes Vertrauen verpflichtet: Unabhängig vom Inhalt einer Gabe verpflichtet diese auf Grund des gegebenen Vertrauensvorschusses den Empfänger. Auf diese Weise- durch die Vorleistung des Gebens- kann Vertrauen gestiftet werden. Natürlich kann Vertrauen, das einem entgegen gebracht wird, für eigene Zwecke missbraucht werden, doch setzt dies nicht automatisch die moralische Regel außer Kraft, .erhaltenes Vertrauen nicht zu enttäuschen. Damit die Regel weiter Bestand hat, muss sie jedoch die meiste Zeit als normativ bindend oder strategisch geboten befolgt' werden. Bei nicht-reziproker Erwiderung des Vertrauensvorschusses wird das Angebot wahrscheinlich zurückgezogen. Jedoch wäre es un-
17 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Karagiannis in diesem Band.
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plausibel zu behaupten, dass Vertrauensbeziehungen wegen der Erwartung reziproker Gegenleistungen eingegangen werden (ebd.: 257). Vielmehr gilt Die Gewährung von Vertrauen und das Geben einer Gabe können genau die Verhaltensweisen erzeugen, die logisch gesehen ihre Bedingung zu sein scheinen (vgl Gambetta 2001: 236).
Soziologie der Gabe jenseits von Nonn und Eigennutz In Frankreich hat sich seit den 1980er Jahren eine intensive soziologische Diskussion um das Werk Marcel Mauss' und speziell um seinen Gabenansatz entsponnen. Insbesondere die Autoren rund um die Zeitschrift La Revue du MAUSS (»Mouvement Anti-Utilitariste dans les Seiences Sociales«) haben sich darum verdient gemacht, Mauss' Theorie weder utilitaristisch noch normativistisch zu deuten, sondern für den Zweck zu nutzen, eine handlungstheoretische Alternative zu dieser Dichotomie auf dem Gabenparadigma aufZubauen. Besonders Jacques Godbout (1998) und Alain Caille (1994) diskutieren die von Mauss für den Gabentausch herausgestellten und einander scheinbar widersprechenden Chatakteristika der Freiwilligkeit und Spontaneität auf der einen und dem sozialen Verpflichtungscharakter auf der anderen Seite. Freiwillig ist die Gabe deshalb, weil sie nicht erzwungen oder eingefordert werden kann, verpflichtend deshalb, weil die Verletzung der Gegenseitigkeitsnorm soziale Sanktionen nach sich ziehen kann. Aus ihrer Sicht wird diese Dualität zumeist nicht ausreichend erkannt. Derrida und Bourdieu zum Beispiel vertreten nach Caille und Godbout ein begrenztes und einseitiges Gabenkonzept, da sie unterstellen, dass die Gabe >>eigentlich« vom Eigeninteresse völlig separiert werden müsse. Alain Caille (in diesem Band) stellt zu Recht heraus, dass sich Derrida und Bourdieu, so sehr sie sich zunächst auch unterscheiden, in diesem Punkt ähnlich sind: Die Gabe muss beiden Autoren zufolge auf der Abwesenheit von Kalkulation und Zirkulation beruhen. Ist dies nicht der Fall, ist die Gabe eigentlich keine Gabe, sondern Tausch. Besonders deutlich tritt bei Derrida der Mangel hervor, dass er kein Verständnis für die soziale Komponente der Gabe- für (generalisierte) Reziprozität - hat, die sich nicht auf den ökonomischen Tausch reduzieren lässt. Er folgt damit der Vorstellung einer Dichotomie von Handlungen und Motiven, die das Denken der Moderne insgesamt kennzeichnen (Parry 1986: 458). Caille (in diesem Band: 157) formuliert es so: »Die Modeme beginnt tni.t der Entscheidung, dasjenige vollständig und ohne Hoffnung auf Rück-
kehr aufZuspalten, was die alten Gesellschaften mühsam zusammenhielten: das Heilige und das Profane, die Götter und die Menschen, das Politische und die Wtttschaft, Prachtentfaltung und
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Sparsamkeit, Freundschaft und Krieg, die Gabe und das Interesse. (...) Die Menschen müssen zugleich radikal egoistisch und vollständig altruistisch sein.«
Ist diese Dichotomie erst einmal zur kulturellen Selbstverständlichkeit geronnen, wird das Denken der Gabe für die Denker der (Post-)Modeme undenkbar. Die zwei Hauptparadigmen der Soziologie scheinen für Godbout (2000) nicht in der Lage zu sein, das Prinzip der Gabe angemessen zu verstehen: Auf der einen Seite steht das rationalistische und utilitaristische Modell des individuellen Akteurs, das auf der Annahme eines punktuellen Kontaktes beruht, wobei der Markt idealtypisch auf der unmittelbaren und permanenten Liquidation von Schulden fußt. Auf der anderen Seite steht das »holistische« Paradigma. das sich auf moralisches Handeln auS Verpflichtungen konzentriert. Typisch für diesen Strang der Soziologie sind für Godbout aktuell die Schriften von Etzioni (1988, 1997), in denen betont wird, dass internalisierte Nonnen und Werte das Handeln leiten und das eigeninteressierte Handeln eingrenzen. -Handeln wird dementsprechend entweder als instrumentelle Rationalität oder als Befolgung von nonnativen Regeln verstanden. und beide Paradigmen können aus Godbouts Sicht die Gabe nicht als komplexes Spiel aus Freiheit und Verpflichtung rekonstruieren. Akteure setzen sich teilweise bewusst in Distanz zum Konzept der Äquivalenz, und auch wenn eine Gegengabe erfolgt, so ist diese nicht notwendigerweise intendiert gewesen. Godbout betont den _ Unterschied zum Vertrag: Eine Gabenbeziehung enthält irreduzibel Unsicherheit, Indetenniniertheit und Risiko (2000: 32), sie tendiert dazu, in einem Zustand struktureller Unsicherheit zu verbleiben, sodass Vertrauen auf diese Weise generiert wird Da sie auf Nicht-Äquivalenz, Spontaneität und Verschuldung beruht, ist eine Gabenbeziehung weder durch den individuell utilitaristischen noch den nonnativ-holistischen Ansatz erklärbar. Als radikale Alternative zum Homo Oeconomicus bietet Godbout tentativ das Modell des Homo Donator an (ebd: 35). Auf der psychologischen Ebene, so behauptet er, gibt es so etwas wie einen »Köder der Gabe«, der eine Alternative zum »Köder des Profits« darstellt. Damit will er die Möglichkeit benennen, dass es keine ausgemachte Sache ist, dass Menschen (nur) den natürlichen Drang haben zu nehmen und zu erhalten, sondern dass es ebenfalls einen Drang gibt zu geben (ebd: 39). Für Godbout ist deshalb auch Reziprozität gegenüber der Gabe sekundär. Wie weit man dieser These auch folgen mag. es bleibt festzuhalten, dass der Gabentausch einen Mechanismus zur Erhaltung von Schulden darstellt. Im Gegensatz zum Tausch auf dem Markt werden Schulden in einer Gabenbeziehung nicht annulliert, das heißt, die soziale Beziehung ist hier von zentraler Bedeutung. Während die meisten Autoren einen radikalen Bruch zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften sehen, da nur in der Vormodeme Gabenbeziehungen als strukturbildend angesehen werden, vertreten Caille und Godbout die Position, dass es in modernen Gesellschaften neben der Zirkulation von Gütern und Diens-
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ten über Marktprinzipien oder staatliche Umverteilung auch einen dritten Bereich gibt, dessen Transaktionen auf Gabe und Gegengabe beruhen. Am typischsten sind für die beiden Autoren die Bereiche primärer Sozialität von Freundschaft und Familie auf der einen Seite und der so genannte freiwillige oder Nonprofit-Sektor auf der anderen Seite. Caille definiert entsprechend eine Vereinigung (association) als eine Verabredung, bei der zwei oder mehr Personen ihre materiellen Ressourcen, ihr Wissen und ihre Aktivität für einen Zweck poolen, der nicht primär auf materiellen Profiten beruht (Caille 2000: 52).18
Vom Geben und Nehmen Der vorangegangene Überblick über die verschiedenen Theorietraditionen hat gezeigt, dass es eine Vielzahl von Verständnisweisen des Prinzips der Reziprozität gibt. Trotz der V erwurzelung dieser Auffassungen in den Arbeiten von Marcel Mauss ist die Bestimmung der sozialen Funktionsweise und Praxis der Gabe in den jeweiligen Arbeiten recht unterschiedlich: Mal wird die Gabe unter dem Begriff des Eigennutzes und rein tauschtheoretischen Gesichtspunkten thematisiert, mal wird ihr ein ökonomisches Kalkül unterstellt, welches unausgesprochen und tabuisiert bleibt, mal gilt die Gabe als das Dritte zwischen Eigennutz und Altruismus, und mal wird die Gabe als reine Gabe ohne Reziprozitätserwartungen verstanden und damit in das Reich des Unmöglichen verwiesen. Wenn auch die Erklärungslogik sehr unterschiedlich ist, lassen sich doch erstaunliche Parallelen zwischen den nicht-individualistischen und den individualistischen soziologischen Theorien zur Reziprozität ausmachen. Sieht man von kruden Eigennutzmodellen ab, die die soziale Welt der Normen schlichtweg ignorieren, geht man in beiden Strängen von der starken Bedeutung der Norm der Reziprozität aus. Beide sehen Reziprozität als ein soziales Prinzip an, das Beziehungen stiftet und auf Vertrauen angewiesen ist beziehungsweise dieses produziert. Ein zentraler Unterschied freilich liegt darin begründet, wie nah man Reziprozitätsbeziehungen an das Prinzip des wirtschaftlichen Tausches heranrückt und wie man die Genese der Norm der Reziprozität oder der Regelmäßigkeit reziproker Verhaltensmuster erklärt. Utilitaristische Ansätze müssen entweder die lterativität von Interaktionen betonen, um das Entstehen von Reziprozität zu erklären, oder davon ausgehen, dass das in sozialen Beziehungen angelegte Vertrauen auf einer individuellen Risikokalkulation beruht.
18 In diesem Band gehen wir noch weiter, indem wir zu zeigen versuchen, dass die Logik der Gabe nicht nur in diesen zwei sozialen Sphären vorherrscht, sondern dass sie auch marktlieh und staatlich vettnittehen Sozialbeziehungen eigen ist.
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Soziologisch sind allerdings jene alternativen Ansätze - wie die Cailles und Godbouts - besonders interessant, welche die Rolle von Reziprozität für die Erzeugung und die Stabilisierung von sozialen Beziehungen und Vergesellschaftungszusammenhängen hervorheben. Dem Prinzip der Reziprozität ist eigen, dass die in sozialen Austauschakten \md Interaktionen dominierenden Motive weder auf Eigennutz noch auf Altruismus und Normenbefolgung zurückgeführt werden können, sondern eine spezifische Kombination aus beiden darstellen. Auch wenn es heuristisch von Wert sein mag, diese beiden Komponenten analytisch auseinander zu halten, ist die von Ökonomen vorgeschlagene »dual utility fnnction« (vgl. Etzioni 1988), welche den kollektiven und den individuellen Nutzen unterscheidet, keine hinreichende Annäherung an reziproke soziale Austauschbeziehungen. Reziprozität in sozialen Beziehungen entsteht gerade aus der unaufhebbaren Verbindung von Eigeninteressen und sozialen Motivationen. Es sind dabei gesellschaftlich geteilte Prinzipien der Billigkeit, Angemessenheit und Fairness, die bestimmen, welche evaluativen Standards an reziproken Austausch herangetragen werden, und weniger die Rückführung jedes sozialen Aktes auf eigeninteressierte Motive oder kollektiv-normative Ziele. Wte Caille (tn diesem Band) betont ist die Gabe eher auf der Seite des »Interesses für« etwas statt auf der utilitaristischen Seite des »Interesses an« einer Sache lokalisiert und beruht auf einer Vorleistung unter Ungewissheit. Die Gabe als Vorleistung Egos fingiert eine soziale Beziehung, obwohl diese von Alter erst noch bestätigt werden muss (vgl. Wenzel ~1: 373), wodurch dann in einem zweiten Schritt Reziprozitäten ausgelöst werden können. Daraus ergtot sich, dass Gaben und evozierte Reziprozitäten als eigenständiges Prinzip sozialen Handeins angesehen werden können, welches einen großen Platz zwischen den - im Webersehen Sinne - rationalisierten Formen rein benevolenten Handeins auf der einen Seite und eigeninteressierten Handeins auf der anderen Seite einnimmt (Silber 1998: 140). Die vorherrschende Dichotomie von utilitaristischem und narrnativistischem Denken verstellt nicht nur den Blick auf die irreduzible Eigenlogik von Gabe und Reziprozität, sie bringt dadurch auch die Ubiquität dieser Logik in modernen Gesellschaften zum Verschwinden: »Gibt es soziale Tatbestände, die man nicht sieht, weil man sie nicht benennen kann?«, ist die Frage, die sich die Soziologie zu stellen hat. Die Gabe ist Ausdruck sowohl der Freiwilligkeit als auch der Verpflichtnng, und mit ihr sind bei weitem nicht nur ökonomische Transfers verbunden: Sie ist ebenso Träger von Identität und ein »tie-sign«, ein Ausdruck und Träger von interpersonalen Bindungen wie von Vertrauen. Aus diesen Überlegungen folgt, dass in modernen Gesellschaften Gaben und Reziprozitäten eine eigene Interaktionsordnung darstellen, die es von anderen Arten
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sozialer Transfers19 zu unterscheiden gilt (Kolm 2000: 9): Dabei kann man (generalisierte) Reziprozitätsbeziehungen auf Grund von Gaben, die Verschuldungen mit sich bringen, vom Grenzfall der enttäuschungsresistenten »reinen« Gabe (Caritas bzw. Agape), die nichts will und nichts zurück bekommt, unterscheiden. Daneben begleitet das Prinzip der Reziprozität immer auch sowohl Transfers auf Grund von (staatlichem) Zwang als auch den ökonomischen, punktuellen Tausch. Was allerdings als Gabe zählt, ist Gegenstand von kulturellen und sozialen Aushandlungsprozessen und keineswegs »gegeben«. Gaben und die damit verbundene Reziprozität bewegen sich in einem Spannungsfeld von sozialer Konstruktion und universeller Geltung. Gaben verweisen mithin auf ein »Management of Meaning« (Algazi 2003: 12), da sie auf einer kulturellen Variabilität von enonnem Ausmaß beruhen. Sie können sehr Verschiedenes bedeuten, je nach ihrer Position im kulturellen Repertoire beziehungsweise vis-ii-vis anderer Austauschfonnen. Dennoch bestätigen alle Kultur- und Gesellschaftsvergleiche, dass Gabe und evozierte Reziprozität universelle soziale Tatbestände sind So gilt es in der Analyse danach zu unterscheiden, welches kulturelle Repertoire des Gabentausches besteht und wie es von sozial situierten Akteuren konkret genutzt und interpretiert wird (ebd: 13). Spricht man so über die Gabe, weitet sich das Untersuchungsfeld schnell aus, denn sie ist auch in modernen Gesellschaften ein totaler sozialer Tatbestand: Die Gabe ist verbunden mit sozialer Bindung schlechthin, mit Solidarität, aber auch mit Überund Unterordnung, Herrschaft, mit Identitäten von Personen und Gegenständen, mit Waren und Tausch, mit Zeit, Risiko, Enttäuschung, aber auch Vertrauen, mit Spontaneität, Verpflichtung und Schuld, mit Gewalt und Rache, mit dem Heiligen und dem Profanen, mit einseitigen und wechselseitigen Transaktionen, mit Personen und Sozialsystemen, mit Familie, Markt und Staat. In den nachfolgenden Teilen des Buches werden zentrale Autoren und Texte zur Reziprozitätsproblematik vorgestellt, deren Bedeutung in dieser Einleitung dargestellt wurde. Zunächst diskutieren die Anthropologen Marcel Mauss und Marshall Sah/ins die Rolle der Gabe in archaischen beziehungsweise vonnodernen Gesellschaften. Daran anschließend werden in den Texten von Geotg Simmel, Alvin W. Gouldner, Peter M Blau, Pierre Bourdieu und Alain Cai/18 wichtige begriffliche und
19 Alletdings ist nicht alles Austausch: Darübet hinaus gibt es Dinge, die weder verkauft noch gegeben werden, sondern die behalten werden müssen, also dem Austausch als Bedingung seiner Möglichkeit entzogen werden - Menschenrechte oder eine Verfassung etwa. Hierzu Godellet (2002, 1999: 18): »Es kann keine Gesellschaft geben, es kann keine Identität geben, welche die Zeit überdauert und den Individuen wie den Gruppen, die eine Gesellschaft bilden, als Sockel dienen, wenn nicht Ftxpunkte existieren, Realien, die dem Gabentausch oder dem Warentausch (vorläuf~g, aber beständig) entzogen sind.«
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konzeptionelle Klärungen aus der Perspektive einer Soziologie der Reziprozität vorgenommen. Diese laufen zwar nicht auf ein einheitliches Theorieprogramm hinaus, aber sie bieten allesamt Anknüpfungspunkte für ein weitergehendes Verständnis der Bedeutung und Wttkungsweise von Reziprozität. Der Sammelband leistet aber nicht nur Theoriearbeit und eine Zusammenführung relativ verstreuter Intetpretationen des Reziprozitätsprinzips, sondern hat auch den Anspruch, die Wttkungsweise von Mustern der Reziprozität in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern zu demonstrieren. Dieses wird im vierten Teil des Buches durch eine Reihe von Autorinnen und Autoren geleistet, die wir eingeladen haben, sich unter dem Blickwinkel der Reziprozität.an ihre jeweiligen Forschungsfelder anzunähern. Den Auftakt zu diesem Teil des Buches macht Betina Rollstein mit einem Artikel zur Reziprozität in familialen Sozialbeziehungen insbesondere zwischen unterschiedlichen Generationen. Sie weist darauf hin. dass im Gegensatz zu Diagnosen eines Verlustes familialer Solidarität auch die moderne Familie durch viel.fal.tige Austausch-, Transfer-, un
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Grundlage philanthropische Motivlagen und Handlungsmuster versterigt werden können. Insbesondere Stiftungen können dabei als von gemeinwohlorientierten Leitideen getragene Institutionen angesehen werden, die die Gabe an Fremde und damit verbundene Reziprozitäten in modernen Gesellschaften organisatorisch systematisieren und auf Dauer stellen. Im dem Artikel Stephan Voswinkels geht es um die Rolle von Reziprozität in Arbeitsbeziehungen. Da Arbeitsverträge unvollständige Verträge sind, in denen Leistung und Gegenleistung nicht en detailgeregelt sind und werden können, sind sie auf den Rückgriff von Reziprozität angewiesen, um wechselseitig vorteilhafte Tauschbeziehungen abzusichern und eine entsprechende motivationale Konditionierung der Teilnehmer vorzunehmen. In zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht sind Arbeitsverträge nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten zu verstehen, sondern schließen soziale Gegenseitigkeitsbeziehungen mit ein. Durch den kollektiven Charakter der Arbeitsbeziehungen, durch Senioritätsregeln und durch Formen der Insriturionalisierung durch Tarifverträge oder betriebliche Mitbestimmung können generalisierte Reziprozitätsverhältnisse entstehen. Über instrumentelle Motive hinaus hat die Arbeitswelt gleichfalls eine große Bedeutung für Fragen sozialer Identität und Anerkennung. Im abschließenden Teil diskuriert Voswinkel die Frage, ob es durch den Wandel der Arbeitsbeziehungen zu einer Erosion von Reziprozität kommt. Der Beitrag von Stephan Lessenich und Steffen Mau widmet sich der Rolle von Reziprozität für die Legitimität und Anerkennung von wohlfahrtsstaatliehen Ressourcentransfers. Dabei diskurieren sie zunächst, warum auch eine soziale Großinstitution wie der Wohlfahrtsstaat, welche durch einen hohen Grad an V errechtlichung und Anonymität charakterisiert ist, Ideen von Leistung und reziproker Gegenleistung inkorporiert Es wird argumentiert, dass staatliche Transfers soziale Beziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen etablieren, die auf Gegenseitigkeitsbeziehungen bezogen sind Der Artikel zeigt anband verschiedener Reziprozitätstypologien, dass in unterschiedlichen wohlfahrtstaatlichen Programmen und Systemen sehr unterschiedliche Reziprozitätslogiken wirksam werden, und dass die Zuerkennung sozialer Rechte auch immer mit einem Kampf um legitime Reziprozitätsdefinirionen verbunden ist. Schließlich wird im dem Aufsatz von Nathalie Karagiannis am Beispiel der Entwicklungshilfe das Verhältnis zwischenstaatlicher Beziehungen zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern unter dem Aspekt von Reziprozität beleuchtet. Sie startet mit dem Hinweis, dass in Entwicklungsbeziehungen Geben das konstituiert, was gegeben werden soll, nämlich Entwicklung. Für das Verhältnis von Entwicklungsländern und den reicheren Ländern, die »Entwicklung gehen«, lassen sich eine Reihe von Ambivalenzen und Spannungen ausmachen. Einerseits sind Entwicklungsbeziehungen durch die Ungleichheit zwischen den Gebenden und den
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Empfangenden charakterisiert, andererseits wird dadurch auch eine gemeinsame Welt erschaffen, welche die einseitige Abhängigkeit in Frage stellt. Innerhalb der wissenschaftlichen Deutungen der Entwicklungsbeziehungen werden auch bestimmte Vorstellungen über die Modernität oder den Entwicklungsgrad der Gesellschaften entwickelt. Karagiannis attestiert der Praxis des Gebens in Entwicklungsbeziehungen recht unterschiedliche und historisch im Wandel begriffene Logiken, welche zwischen dem Geschenk, Schuld und ökonomischem Austausch pendeln. Sie verweist insbesondere darauf, dass die Entwicklungsdiskurse selbst zur Etablierung dieser Logiken beitragen, weil dadurch Ideen über das spezifische Verhältnis von Verpflichtung und Verantwortung transportiert und politisch konstituiert werden.
* Die Idee zu diesem Buch entstand auf einer Zugfahrt von Amsterdam nach Berlin im Jahr 2001, auf der die Herausgeber das Prinzip der Reziprozität und seine Vernachlässigung in zentralen soziologischen Theorieansätzen diskutierten. Beide hatten im Zusammenhang mit der Bearbeitung ihrer Forschungsfragen ein Interesse an der Logik des sozialen Austausches gefunden. Trotz der Distanz ihrer jeweiligen Forschungsfelder und ,-interessen waren sie sich schnell darüber einig, dass es ein . lohnen~ertes Unterfangen sei, die recht verstreuten Annäherungen an das Prinzip der Reziprozität in einem Band zu versammeln. Von Anbeginn gab es für dieses Projekt große Unterstützung von Seiten der Herausgeber der Reihe »Theorie und Gesellschaft« sowie durch den Campus Verlag. Insbesondere Hans Joas, der dieses Projekt von Anfang an begleitete, Oaus Offe und Peter Wagner haben durch kritische Kommentare und Ratschläge wichtige Impulse zur Entwicklung dieses Buches gegeben. Gleiches gilt für Adalbert Hepp, der von Seiten des Campus Verlags die Aufnahme des Sammelbandes in das Verlagsprogramm befürwortete und durch zahlreiche inhaltliche 4ru"egungen sowie die Klärung der Copyrightfragen den Weg zur Veröffentlichung ebnete. Wolfgang Knöbl und Jürgen Mackert haben sich die Mühe gemacht, die Einleitung kritisch zu lesen und kompetent zu kommen#eren. Diesen Personen schulden wir - nicht nur gemäß reziprozitätstheoretischer An! nahmen - Dank. Gleiches gilt für Susanna Kowalik von der Graduate School of Social Seiences (GSSS) an der Universität Bremen, die die redaktionellen Arbeiten an diesem Buch engaglert unterstützte. Weiterhin danken wir Daniel de Olano und Nora Lindner, die als studentische Hilfskräfte an diesem Projekt beteiligt waren, und den Studenten, die mit uns das Prinzip des Gebens und Nehmens in verschiedenen Seminaren dis~tierten. Als Herausgeber hoffen wir, dass das Buch genügend Anregungspotenzial eqthält, um die Diskussion um soziale Integration und Solidarität in modernen Gesdlschaften gaben- und reziprozitätstheoretisch anzureichern und zu informieren.
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II Klassiker der Ethnologie und Anthropologie
Die Gabe* Marcel Mauss
Über die Gabe und insbesondere die Verpflichtung, Geschenke zu erwidern Hier einige Strophen aus dem Havama4 einer der alten Spruchdichtungen der skandinavischen Edda. Sie mögen dieser Arbeit als Motto dienen, denn sie versetzen den Leser unmittelbar in jenen Bereich von Vorstellungen und Tatsachen, in dem unsere Beweisführung sich bewegen wird1 39
So gastfrei ist keiner und zum Geben geneigt, dass er Geschenke verschmäht, auf Erwerb bedacht, oder so wenig dass er Gegengabe hasst2
* Aus: Marcel Mauss (1968): Die Gabe. Form und Funktion des AN!Iallsehs in arebaisehen Gesell!ehaften. Übertragung ins Deutsche von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Sul:ukamp, 15-26, 3639, 181-183. [Orig.: Essai sur k don. Forme et raison de fkhange dans ks soditis archaiqlles, in: L'Annee Sociol.ogique, seconde serie, 1923-1924]. Redaktionelle Bearbeitung durch die Herausgeber. · ' 1 Gustav Cassel hat uns auf die Spur dieses Textes gebracht: Theoretische Sozialökonomie, 3. Aufl., Erlangen-Leipzig 1923, Bd. ll, S. 336. Die skandinavischen Wissenschaftlet sind mit diesem Zug ihrer nationalen Vargeschichte verttauL 2 Die Strophe ist dunkel, vor allem wegen des fehlenden Adjektivs im vierten Vers, doch der Sinn ist klar, wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, ein Wott mit det Bedeutung »gastfrei<<, »verschwenderisch<< ergänzt. Auch der dritte Vers ist schwierig. Cassel übersetzt: »Dass et nicht nähme, was angeboten<<. Die Übersetzung, die Maurice Cahen freundlicherweise für uns besorgte, ist dagegen iWörtlich. »Det Ausdruck ist doppeldeutig<<, schreibt er uns, )>die einen verstehen darunter: Klass Geschenke zu empfangen ihm nicht angenehm war<, die anderen interpretieren: Klass ein Geschenk zu empfangen nicht die Verpflichtung beinhaltete, es zu erwidern<. Ich neige natürlich zur letzteren Erklärung.« Obwohl wir hinsichtlich det altnordischen Sprache nicht kompetent sind, erlauben wir uns eine andere lru:erpretation. Der Ausdruck entspricht qffensichtlich einem alten Splitter, etwa mit det Bedeutung »recevoir est r~. Danach würde der Vers auf jene Geisteshaltung anspielen, in der sich der Besucher und der Besuchte befindeh: von jedem wird erwartet, dass er seine Gastfreundschaft oder seine Geschenke so anbietet, als sollten sie ihm niemals vergolten werden. Dennoch akzeptiert ein jeder die Geschenke <J.:es Besuchers oder die Gegengeschenke des Gastgebers, da es Güter sind
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MARCEL MAUSS
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Mit Gewändern und Waffen der Wonne des Auges, sollen Freunde einander erfreun; Empfanger und Geber sind Freunde am längsten, wenn's das Glück ihnen gönnt.
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Dem Freunde sollst du Freundschaft bewahren, Gabe mit Gabe vergilt! Doch Hohn soll man mit Hohn erwidern und die Täuschung mit Trug.
44
Ward dir ein Freund, dem du völlig vertraust, und erhoffst du Holdes von ihm, so erschließ' ihm dein Hetz und Geschenke tausche, häufig besuche sein Haus.
45
Ist dir ein Mann bekannt, der dein Misstrauen weckt, und erhoffst du doch Holdes von ihm, doch Falsches sinne sprich freundlich zu ihm und vergilt die Täuschung mit Trug.
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Noch mehr von dem Mann, der dein Misstrauen weckt, dessen Denkart verdächtig dir scheint: verleugne den Argwohn, sprich lächelnd ihn an, Gleiches mit Gleichem vergilt.
und zudem ein Mittel zur Bekräftigung des V erttags, dessen integrierende Bestandteile sie sind Es scheint uns sogar, als sei in diesen Strophen ein noch älterer Teil zu etkennen. Ihre Struktur ist immer die gleiche. In jeder bildet ein juristischer Splitter den Mittelpunkt: >>dass er Geschenke verschmäht« (39), »Empfänger und Geber sind Frennde am längsten« (41), >>Gabe mit Gabe vergilt« (42), >>so erschließ ihm dein Herz nnd Geschenke tausche« (44), »der Geizige wird der Gaben nicht froh<< (48), »Gabe schielt stets nach Entgelt« (145) etc. Es ist eine wahre Sammlung von sprichwortartigen Wendungen. Jedes Sprichwort oder jeder Metksatz ist in einem Kommentar gehüllt, der ihn entwickelt. Wtt haben es hier also nicht nur mit einer sehr alten Fottn des Rechts, sondern auch mit einer sehr alten Fottn der Literatur zu tun.
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DIE GABE
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Glücklich lebt der Kühne, selten ficht Sorge ihn an;
der gerne spendet,
der Feige aber hat Furcht vor allem, und der Geizige wird der Gaben nicht froh.
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hn Unmaß opfern ist ärger als gar nicht beten, Gabe schielt stets nach Entgelt; verschwendet ist schlimmer als nicht geschlachtet [Eitel manch Opfer bleibt].
Programm Man sieht, worum es geht. In der skandinavischen und in vielen anderen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wttklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen. Die vorliegende Arbeit ist Teil einer umfangreicheren Untersuchung. Schon seit Jahren richtet sich unser Interesse sowohl auf den Bereich des Vertragsrechts wie auf das System der wirtschaftlichen Leistungen zwischen den verschiedenen Sektionen oder Untergruppen, aus denen sich die so genannten primitiven Gesellschaften und auch jene Gesellschaften zusammensetzen, die wir archaische nennen könnten. Es gibt hier einen großen Komplex außerordentlich vielschichtiger Tatsachen. Alles, was das eigentliche gesellschaftliche Leben der Gesellschaften ausmacht, die den unseren vorausgegangen sind - einschließlich der Gesellschaften der Urgeschichte - , ist darin verwoben. In diesen (wie wir sie nennen möchten) »totalen« gesellschaftlichen Phänomenen kommen alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische - sie betreffen Politik und Familie zugleich; ökonomische - diese setzen besondere Formen cl,er Produktion und Konsumtion oder vielmehr der Leistung und Verteilung voraus, ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, in welche jene Tatsachen münden, und den morphologischen Phänomenen, die sich in diesen Institutionen offenbaren. Von allen diesen sehr komplexen Grundthemen und der VJ.elfalt der gesellschaftlichen Dinge wollen wir hier nur einen, zwar tiefgreifenden, doch isolierten Zug näher betrachten: nämlich den sozusagen freiwilligen, anscheinend selbstlosen und spontanen, aber, dennoch zwanghaften und eigennützigen Charakter dieser Leistungen. Fast inuner nehmen sie die Form des Geschenks an, des großzügig dargebotenen Präsents, selbst dann, wenn die Geste, die die Übergabe begleitet, nur
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MAR.CBL MAUSS
Fiktion, Formalismus und soziale Lüge ist und es im Grunde um Zwang und wirtschaftliche Interessen geht. Wenngleich wir die verschiedenen Prinzipien präzise aufzeigen werden, die einer notwendigen Form des Austauschs - d.h. der gesellschaftlichen Arbeitsteilung selbst - jenen Aspekt verliehen haben, so untersuchen wir von all diesen Prinzipien im Grunde doch nur ein einziges. Welches ist der Grund-
satz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den riickständigen und archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk ~angslätifig erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie enllidert? Das ist das Problem, das uns in erster Linie interessiert. Durch eine hinreichend große Anzahl von Tatsachen hoffen wir, auf diese präzise Frage eine Antwort geben und zeigen zu können, welche Richtung ein eingehendes Studium damit zusanunenhängender Fragen einschlagen sollte. Desgleichen wird deutlich werden, auf welche neuen Probleme wir gestoßen sind: Die einen betreffen eine perennierende Form der Vertragsmoral, nämlich die Art und Weise, wie das Sachenrecht noch heute mit dem Personenrecht verknüpft bleibt; die anderen betreffen die Formen und Vorstellungen, die seit jeher, zumindest teilweise, den Austausch begleitet haben und zum Teil noch heute im Begriff des persönlichen Interesses gegeben sind Somit erreichen wir ein doppeltes Ziel. Einerseits gelangen wir zu mehr oder weniger archäologischen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Natur der menschlichen Transaktionen in den Gesellschaften, die uns umgeben oder den unseren unmittelbar vorausgegangen sind Wtt werden die Erscheinungsformen des Austauschs und des Vertrags in diesen Gesellschaften beschreiben, die nicht, wie man behauptet hat, des wirtschaftlichen Handels ermangeln - denn der Handel ist ein menschliches Phänomen, das unseres Erachtens keiner uns bekannten Gesellschaft fremd ist-, deren Tauschsystem jedoch von dem unseren abweicht. Wrr werden einen Handel kennen lernen, der schon vor der Institution des Händlers und dessen wichtigster Erfindung, der des Geldes im eigentlich Sinn, existierte; wie er funktionierte, noch bevor die Formen, man kann sagen die modernen (semitischen, hellenischen, hellenistischen und römischen) Formen des Vertrags entstanden waren. Wtt werden die Moral und die Ökonomie kennen lernen, die bei solchen Geschäften wirksam sind Und da wir feststellen werden, dass diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wbken, und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus einige moralische Schlussfolgerungen bezüglich einiger der Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wmschaft stellt, und dabei wollen wir es bewenden lassen. Diese Seite der Sozialgeschichte, der theoretischen Soziologie, der politischen und ökonomischen Praxis führt uns im Grunde nur dazu, uns in neuen Formen ein weiteres Mal alte, doch immer wieder neue Fragen zu stellen.
DIE GABE
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Methode Unsere Methode ist die des präzisen Vergleichs. Wie immer haben wir unseren Gegenstand zunächst nur in bestinunten ausgewählten Arealen untersucht in Polynesien, Melanesien, Nordwestamerika, sowie in einigen großen Rechtssystemen. Sodann haben wir natürlich nur solche Gebiete ausgewählt, bei denen wir, dank der Dokumente und der philologischen Arbeit, zum Bewusstsein der Gesellschaften selbst Zugang haben, denn es handelt sich hier um Termini und Begriffe; dies schränkte unser Vergleichsfeld abermals ein. Schließlich richtet sich jede einzelne Untersuchung auf Systeme, die der Reihe nach in ihrer Gesamtheit zu beschreiben wir bemüht waren; wir haben also auf jene fortwährende Gegenüberstellung verzichtet, bei der sich alles verwischt, die Institutionen jegliche lokale Färbung und die Dokumente ihre Würze einbüßen.
Leistung, Gabe und Potlatsch Die vorliegende Arbeit gehört zu einer Reihe von Untersuchungen, die G. Dary und ich selbst schon seit langem über die atchaischen Formen des Vertrags anstellen. 3 Eine Zusammenfassung dieser Untersuchungen ist daher notwendig. Es scheint, als hätte es niemals, weder in einer uns nahe stehenden Zeit noch in den Gesellschaften, die man schlecht und recht unter dem Namen primitive oder niedere zusammenfasst, irgend etwas gegeben, das dem gliche, was man natürliche Wirtschaft nennt. 4 In einer merkwürdigen, doch klassischen Verirrung wählte man sogar, um diesen Wtit:schaftstypus darzulegen, die Texte von Cook betreffend den Austausch und den Güterverkehr bei den Polynesiern.5 Diese selben Polynesier
3 Davy, Foi Juree; siehe die Bibliographie in Mauss, »Une forme arcluüque de conttat chez les Thraces« Revue des Etudes Grecques, XXXIV, 1921; R Lenoir, »L'Institution du Potlatch«, Revue Philosophique, 1924. 4 M. F. Somlo ~>Der Güterverkehr in der Urgesellschaft«, Travaux de l'Institut Solvay, BrüsselLeipzig 1909) hat sich mit diesen Tatsachen auseinandergesetzt und einen guten Überblick darüber gegeben; aufi S. 156 beginnt er den Weg zu betteten, den wir selbst einschlagen werden. 5 Ph F. H. Grierson (Silent Trade, Edinburgh 1903) hat bereits die zur Beseitigung dieses Vorurteils nötigen Argumente geliefert; desgleichen M Moszkowski (Vom Wirtschaftsleben der primitiven Völker, Jena 1911), der jedoch den Raub für primitiv hält und mit dem Recht des Nehmens verwechse~t Eine gute Darstellung der Verhältnisse bei den Maori findet man in W. von Brun, »Wirtschaftsorganisation der Maori«, Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, Hrsg. Kar! Lamprecht, Bd. 18, Leipzig 1912, wo ein Kapitel dem Austausch gewidmet ist. Die jüngste Arbeit über die Wirtschaft der so genannten primitiven Völker ist: W. Koppers, »Die
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wollen wir hier untersuchen, und es wird sich zeigen, wie weit sie, was Recht und Wirtschaft anbelangt, vom Naturzustand entfernt sind In den Wirtschafts- und Rechtsordnungen, die den unseren vorausgegangen sind, begegnet man fast niemals dem einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels. Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondem Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren6; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, sei es als Gruppen auf dem Terrain selbst, sei es durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch auf beide Weisen zugleich. Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, :Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen Kriegs. Wir haben vorgeschlagen, all dies das System der
ethnologische Wirtschahsforschung«, Antlu:opos, X-XI (1915/16), 611-651, 971-1097; gute Darstellung der Doktrinen, im übrigen etwas spitzfindig. 6 Seit unseren letzten Veröffentlichungen haben wir in Austtalien erste Anzeichen fiir geregelte Leistungen festgestellt, die zwischen Stämmen stattfinden, nicht mehr nur zwischen Oans und Phratrien, und zwar insbesondere anlässlich eines Todesfalles. Bei den Kakadu im Nordterritorium gibt es nach der zweiten Bestattung noch eine dritte Trauerzeremonie, während derer die Männer eine Art gerichtliche Untersuchung vornehmen, um zumindest fiktiv festzustellen, wer durch Zauberei den Tod verursacht hat. Doch anders als in den meisten australischen Stämmen wird keine Blutrache geübt. Die ~anner begnügen sich damit, ihre Speere zusammenzulegen und zu bestimmen, was sie als Gegenwert dafiir verlangen wollen. Am nächsten Tag werden diese Speere zu einem anderen Stamm gebracht, z.B. zu den Umorio, bei denen man sich über den Zweck dieser Sendung durchaus im Klaren ist. Dort werden die Speere bündelweise, je nach ihren Besitzern, angeordnet, und einem im voraus bekannten Tarif zufolge werden die gewünschten Gegenstände den Speerbündeln gegenübergelegt. Dann wird alles zu den Kakadu gebracht (Baldwin Spencer, Native Tribes of the Northem Territory, London 1914, S. 247). Spencer erwähnt, dass diese Gegenstände wiederum gegen Speere ausgetauscht werden können, eine Tatsache, die wir nicht ganz verstehen. Ihm dagegen f'allt es schwer, den Zusammenhang zwischen diesen Totenfeiern und diese Art von Austausch zu verstehen, und er fügt hinzu, dass auch »die Eingeborenen ihn nicht sehen<<. Der Brauch ist aber durchaus verständlich: er ist gewissermaßen ein geregelter Vergleich, der die Blutrache ersetzt und ursprünglich einem intertribalen Handel dient. Dieser Austausch von Sachen ist zugleich ein Austausch von Friedenspfandern und Solidaritätsgefühlen in der Trauer, wie er in Austtalien normalerweise nur zwischen Familien und Oans stattfindet, die durch Heirat miteinander verbunden und verbündet sind Der einzige Unterschied ist, dass der Brauch hier zu einem intertribalen Brauch geworden ist.
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totalen Leistungen zu nennen. Der reinste Typus dieser Institution scheint uns in dem Bündniszweier Phratrien in den australischen oder nordamerikanischen Stämmen gegeben zu sein, bei dem alles - Riten, Heiraten, Erbschaft, Rechts- und lnteressenbindungen, Militär- und Priesterränge - einander ergänzt und die Zusammenarbeit der beiden Hälften des Stammes voraussetzt. So werden z.B. besonders die Spiele von diesen Institutionen gelenkt. Die Tlingit und die Haida, zwei Indianerstämme des nordwesdichen Amerika, bringen das Wesen dieser Praktiken deudich zum Ausdruck, wenn sie sagen, dass >>die beiden Phratrien einander Respekt erwiesen«.7 In diesen beiden Stämmen jedoch, wie überhaupt in diesem ganzen Gebiet, tritt eine zwar typische, doch entwickelte und relativ seltene Form dieser totalen Leistungen in Erscheinung. Wir haben vorgeschlagen, sie Potlatsch zu nennen, wie es im übrigen die amerikanischen Autoren tun, die den Chinook-Ausdruck verwenden, welcher in die Alltagssprache der Weißen und der Indianer von Vancouver bis Alaska eingegangen ist. »Potlatsch<< bedeutet im Wesendieben »emähreß<<, »verbraucheß<<.8 Diese sehr reichen Stämme, die auf den Inseln, an der Küste oder zwischen der Küste und den Rocky Mountains leben, verbringen den Wmter in einem unaufhörlichen Fest: Bankett, Ausstellungen und :Märkte sind zugleich die feierlichen Versammlungen des Stammes. Dieser ordnet sich nach seinen hierarchischen Bruderschaften und Geheimbünden, die oftmals mit den ersteren und den Clans verwechselt wurden; und all dies - Clans, Heiraten, Initiationen, schamanistische Sitzungen und die Kulte der großen Götter, der Totems und der kollektiven oder individuellen Vorfahren - verknüpft sich zu einem unentwirrbaren Netz von Riten, rechdichen und wirtschaftlichen Leistungen, durch die politische Ränge innerhalb der Männerbünde, des Stammes oder der Stammesvereinigungen, ja selbst auf internationaler Ebene bestimmt werden.9 Bemerkenswert bei diesen Stämmen ist 7 Aurel Krause (I1inkit-lndianer, S. 234 ff.) hat den Charakter dieser Feste, Riten und Verträge sehr wohl erkannt, obzwar er sie nicht Potlatsch nennt. Boursin (11th Census, S. 54-66) und Porter (ibid., S. 33) haben den Charakter der gegenseitigen Verherrlichung beim (diesmal auch so genannten) Potlatsch erkannt. Doch J. R Swanton hat ihn am besten dargestellt (Tiingit, S. 345, passim). Vgl. unsere Bemerkungen in A.S., XI (1906-09) 207, und Davy, FoiJurc!e, S. 172 8 Für die Bedeutung des Wortes »Potlatsch« vgl C. M Barbeau. Bulletin de la Societe de Geographie de Quebec, 1911, und Davy, Foi Jurc!e, S. 162. Dennoch scheint uns die vorgeschlagene Bedeutung nicht die ursprüngliche zu sein. Pranz Boas gibt nämlich dem Wort Potlatsch- allerdings in der Kwakiud- und nicht in der Chinook-Sprache - die Bedeutung >>feeder«, Ernährer, und wörtlich »place of getting satiated«, Ort, wo man gesättigt witd (Kwa. T. 2, S. 43, Anrn. 2; vgl. Kwa, T. 1, S. 255, 517, s.v. Pol). Doch die beiden Bedeutungen von Potlatsch, »Gabe« und >>Nahrungsmittel«, schließen einander nicht aus, da hier die wesendiche Form der Leistung, zUmindest theoretisch, die des Nahrungsmittels ist. 9 Die rechdiche Seite des Podatsch ist untersucht worden von L. Adam in seinen Aufsätzen in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, 1911 ff., und Festschrift Eduard Seeler, Stuttgart 1922, sowie von Davy in FoiJuree. Die religiösen und wirtschafdichen Aspekte sind
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jedoch das Prinzip der Rivalität und des Antagonismus, das all diese Praktiken beherrscht. ~ geht bis zum offenen Kampf, bis zur Tötung der einander gegenübertretenden Häuptlinge und »Adligen«. Und andererseits geht man bis zur rein verschwenderischen Zerstörung der angehäuften Reichtümer1o, um dem rivalisierenden Häuptling, der zugleich ein Verwandter (gewöhnlich ein Großvater, Schwager oder Schwiegersohn) sein kann, den Rang abzulaufen. Totale Leistung liegt in dem Sinne vor, dass wirklich der ganze Clan durch die Vermittlung seines Häuptlings kontrahiert, für alle seine Mitglieder, für alles, was er besitzt, und für alles, was er tut.ll Doch hat diese Leistung seitens des Häuptlings einen stark agonistischen Zug. Sie trägt wesentlich den Charakter des Wuchers und des Luxus und ist vor allem ein Kampf der Adligen, der ihren Platz innerllalb der Hierarchie bestinunt, von dem letztlich wieder der Clan profitiert. Wtr schlagen vor, den Namen »Podatsch<< jener Art von Institution vorzubehalten, die man unbedenklicher und präziser, aber auch umständlicher totale Leistung vom agonistischen Typ nennen könnte. Bisher haben wir Beispiele für diese Institutionen fast nur in den nordwestamerikanischen Stämmen und denen eines Teils von Nordamerika1 2, Melanesien und Papua13 angetroffen. In allen anderen Gebieten, in Mrika, Polynesien und Malaya, Südamerika und dem übrigen Nordamerika scheinen uns die Grundlagen des Austauschs zwischen den Clans und Familien noch zu einem elementareren Typus der totalen Leistung zu gehören. In neuererZeitindessen fördern eingehendere Untersuchungen eine beträchtliche Anzahl von Übergangsformen zutage zwischen dem von erbitterter Rivalität und Zerstörung der Reichtümer geprägten Austausch wie in Nordwestamerika und Melanesien und anderen, gemäßigteren Formen, wo die
nicht weniger wichtig und bedürfen einer ebenso eingehenden Untersuchung. Der religiöse Charakter der beteiligten Personen und der ausgetauschten oder zerstörten Gegenstände ist für den Charakter der Verträge in der Tat nicht gleichgültig, eben so wenig wie die ihnen zugeschriebenen Werte. 10 Bei den Haida heißt es: den Reichtum »tÖten<<. 11 Siehe die Dokumentation von G. Hunt, in Boas, Ethn. Kwa., S. 1340; hier findet man eine interessante Beschreibung der An und Weise, wie der Oan seine Potlatsch-Beittäge an den Häuptling leistet, sowie einige sehr interessante Reden. Z.B. sagt der Häuptling: »Denn das geschieht nicht in meinem NameiL Es geschieht in eurem Namen und ihr werdet berülunt werden unter den Stämmen, wenn es heißt, dass ihr euer Eigentum für einen Potlatsch gegeben habt« (S. 1342, Zeile 31 f(). 12 Der Potlatsch reicht tatsächlich übet die Gren2en der nordwestlichen Stämme hinaus. Insbesondere bettachten wir das »Asking Festival« der Alaska-Eskimo nicht nur als eine Entlehnung von den benachbarten Indianer-StämmeiL 13 Siehe unsere Bemerkungen in A S., XI (1906/09), 101 und XII (1910/13), 372 ff., sowie in Anthropologie, XXX (1920), »Proces-verbaux de l'LFA«. R Lenoir hat auf zwei deutliche Anzeichen für den Potlatsch in Südamerika hingewiesen ~>Expeditions maritimes en Melanesie«, Anthropologie, XXXIV, 1924)
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Kontrahenten mit Geschenken miteinander wetteifern: so rivalisieren z.B. wir selbst bei unseren Weihnachtsgeschenken, Patties, Hochzeitsfeiern, Einladungen, und wir fühlen uns noch heute verpflichtet, uns zu »revanchieren«.' 4 Solche Zwischenformen haben wir in der antiken indoeuropäischen Welt, insbesondere bei den Tltrakern festgestellt.'s Verschiedene Motive -Regeln und Vorstellungen- sind in derartigen Systemen enthalten. Der wichtigste dieser geistigen Mechanismen ist ganz offensichtlich jener, der dazu zwingt, das empfangene Geschenk zu erwidern. Nirgends aber treten die moralischen und religiösen Ursachen für diese Verpflichtung deutlicher in Erscheinung als in Polynesien. Dieses Gebiet wollen wir nun näher untersuchen, und wir werden erkennen, welche Macht dazu treibt, eine empfangene Sache zu erwidern und, allgemeiner, Realverträge zu erfüllen.
(...)
Die Pflicht des Qebens und die Pflicht des Nehmens Um die Institutionen der totalen Leistung und des Potlatsch ganz zu verstehen, müssen wir nun noch die Erklärung für zwei weitere Momente suchen, die sie er-
gänzen; denn die totale Leistung bringt nicht nur die Verpflichtung mit sich, die empfangenen Geschenke zu erwidern; sie setzt auch zwei weitere, ebenso wichtige voraus: einerseits die Verpflichtung, Geschenke zu machen, und andererseits die, Geschenke anzunehmen. Die vollständige Theorie dieser drei Verpflichtungen, dieser drei Motive eines einzigen Komplexes, würde die befriedigende Klärung jener Form des Vertrags zwischen den polynesischen Oans liefern. Im Augenblick können wir nur andeuten, wie dieser Gegenstand zu behandeln wäre. Material, das die 'Pflicht des Nehmens betrifft, ist ohne Mühe in großer Anzahl zu finden. Ein Clan, eine Hausgemeinschaft oder ein Gast hat nicht die Freiheit, Gastfreundschaft nicht in Anspruch zu nehmen16, Geschenke nicht anzunehmen, 14 R. Thurnwald (Sala11HJ-lnse/n, Bel. ill, S. 8) gebraucht dieses Wort. 15 Revtlli des Billlies Grecqlllis, XXXN (1921). 16 An dieser Stelle müsste die Untetsuchung jener Vorstellungen stehen, die die Maori unter dem ausdrucksvollen Wort ))Verachtung des Tabu« klassifizieren. Das wichtigste Dokwnent findet sich bei Eisdon Best, ))Notes on Maori Mythology«, J.P.S., VIII (1899), 113. Tabu ist der ))Sinnbildliche« Nan\.e für die Nahrung im allgemeinen, ihre Personifizierung. Der Ausdruck kaHa e takahi i a Tabu, ))verachte nicht das Tabu<<, wird einer Person gegenüber gebraucht, die die ihr angebotene Nahrung ablehnt. Doch die Untersuclumg dieser die Nahrung betreffenden Glaubensinhalte bei den Maori würde hier zu weit führen. Es genügt, wenn wir sagen, dass dieser Gott, diese Hypostase der Nahrung identisch ist Init Rongo, dem Gott der Pflanzen und
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nicht zu handeln, Bluts- und Heiratsverbindung nicht einzugehen. Die Dayak haben sogar ein ganzes Rechts- und Moralsystem aus der Pflicht entwickelt, an dem :Mahl, dem man beiwohnt oder das man hat zubereiten sehen, teilzunehmen. Die Pflicht des Gebens ist nicht weniger wichtig; das Studiwn dieser Pflicht könnte Klarheit darüber schaffen, auf ~lche Weise die Menschen zu Austauschenden geworden sind. W1r können hier nur einige Fakten anführen. Sich ~igern, etwas zu geben, es versäwnen, jemand einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserldärung gleich; es bedeutet die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigem.17 Außerdem gtbt man, weil man dazu gezwungen ist, ~il der Geschenknehmer eine Art Eigentumsrecht auf alles hat, was dem Geber gehört.18 Dieses Eigentum wird als ein geistiges Band ausgedrückt und begriffen. So
des Friedens, und die Ideenassoziationen werden verständlicher: Gastfreundschaft, Nahrung, Kommunion, Friede, Austausch, Recht. 17 Das Versäumnis, zu einem Kriegstanz einzuladen. ist eine Sünde, eine Verfehhmg, die auf der Südinsel puha heißt, H. T. de Croistilles »Short Tradirions of the South Island«, J.P.S., X (1901), 76 (tahua heißt übrigens »gift offood<~. Das Maori-Ritual der Gastfreundschaft beinhaltet: eine obligatorische Einladung, die der Air kömmling nicht abschlagen dar4 um die er aber auch nicht bitten darf; er muss sich, ohne sich umzusehen, zum Empfangshaus begeben; sein Gastgeber muss ihm ein besonderes Mahl bereiten und diesem demütig beiwohnen; zum Abschied schenkt er dem Fremden eine Wegzehrung (Tregear, The Maori RIKe. S. 29). Siehe unten die identischen Riten der hinduistischen Gastfreundschaft In Wahrheit hängen diese beiden Vorschriften eng miteinander zusammen. wie die antithetischen und symmetrischen Leistungen, die sie vorschreiben. Ein Sprichwort bringt dies deutlich zum Ausdruck; R. Taylor ~>Te ika a maui«, 0/d New ZealanJ, London 1855, Nr. 60) übersetzt in Annäherung: »When raw it is seen, when cooked it is taken«, besser eine halbgare Nahrung essen (als warten, bis die Fremden da sind) als eine gare, die man mit ihnen teilen muss. Der Legende zufolge nahrn der Häuptling Hekemaru nur dann >xlie Nahrung<< an, wenn er von dem fremden Dorf, das er besuchte, gesehen und empfangen worden war. Blieb sein Zug unbemerkt und schickte man ihm Boten. die ihn und sein Gefolge baten, umzukehren und die Nahrung zu teilen. so antwortete er, »die Nahrung würde seinem Rücken nicht folgen«. Damit meinte er, dass die Nahrung, die dem »heiligen Rücken seines Hauptes« angeboten wird (d.h. wenn er das Dorf dessen Umgebung bereits hinter sich hat), fiir diejenigen, die sie ihm gäben, gefährlich wäre. Daher das Sprichwort: »Die Nahrung wird dem Rücken von Hekemaru nicht folgen« (Tregear, The Maori Race, S. 79). 18 Im Stamm von Turhoe erläuterte man Eisdon Best ~>Maori Mythology<<,J.P.S.. VIII, 1899, S. 113) diese Prinzipien: Wenn ein Häuptling von Ruf eine Gegend besichtigen muss, geht ihm sein mana voraus. Die Leute des Distrikts begeben sich aufJagd- und Fischzüge, um gute Nahrung fiir die Ankömmlinge zu haben. Sie fangen nichts- >>weil unser 1llflna uns vorausgegangen ist und alle Tiere und Fische unsichtbar gemacht hat; unser 1llflna hat sie verbannt.<< (Es folgt eine Erklärung fiir den Frost und den Schnee, fiir das 111haitiri- Versündigung gegen das Wasser -, das die Nahrung vom Menschen fernhält.) In Walu:heit beschreibt dieser etwas dunkle Kommentar den Zustand, in dem sich das Territorium eines hapu von Jägern befinden würde, dessen Mitglieder nicht das Notwendige getan hätten. um den Häuptling eines anderen Oans
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kann in Australien der Schwiegersohn, der die gesamte Beute seiner Jagd seinem Schwiegervater und seiner Schwiegermutter schuldet, in deren Gegenwart nichts verzehren, aus Angst, ihr bloßer Atem könne das, was er isst, vergiften. Wir haben bereits oben derartige Rechte des mütterlichen taonga-Neffen (Schwestersohn) in Samoa kennen gelernt, die durchaus mit denen verglichen werden können, die auf den Fidschi-Inseln dem mütterlichen Neffen (vast~) zukommen. In allen diesen Beispielen gibt es eine Reihe von Rechten und Pflichten des Verbrauchens und Zurückgebens, welche Rechten und Pflichten des Anbietens und Empfangens entsprechen. Doch diese enge Verquickung von symmetrischen und antithetischen Rechten und Pflichten hört auf: widersprüchlich zu sein, wenn man begreift, dass es sich hier vor allem um eine Verquickung von geistigen Bindungen handelt: zwis<:hen den Dingen, die in gewissem Grad Seele sind, und den Individuen und Gruppen, die einander in gewissem Grad als Dinge behandeln. Und alle diese Institutionen bringen nur eine Tatsache zum Ausdruck, ein soziales System, eine bes~te Mentalität: dass nämlich alles - Nahrungsmittel, Frauen, Kinder, Güter, Talismane, Grund und Boden, Arbeit, Dienstleistungen, Priesterämter und Ränge - Gegenstand der Übergabe und der Rückgabe ist. Alles kommt und geht, als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sachen und Menschen umfassenden geistigen Materie zwischen den Oans und den Individuen, den Rängen, Geschlechtern und Generationen.
...
( )
Die vorgeschlagene Untersuchung könnte also zu Folgerungen dieser Art führen. Die Gesellschaften h.aben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fiihig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Zuerst mussten die Menschen es fertig bringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. Und erst dann konnten sich die Leute Interessen schaffen, sie gegenseitig befriedigen und sie verteidigen, ohne zu den Waffen zu greifen. Auf diese Weise haben es die Oans, Stämme und Völker gelernt - so wie es in der Zukunft in unserer so genannten zivilisierten Welt die Klassen, Nationen und Individuen lernen werden-, einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen und zu geben, ohne sich anderen zu opfern. Dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität.
zu empfangen. Sie hätten dann ein kaipapa, eine »Sünde gegen die Nahrung« begangen und damit ihre eigene Ernte, ihr Wild und ihre FISche- ihre Nahrung zerstört.
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Es gibt keine andere Moral, keine andere Wtrtschaft, keine andere gesellschaftliche Praxis als diese. Die bretonischen Chroniques d'Arthur9 erzählen, wie König .AJ:thur mit Hilfe eines Zimmermanns aus Comouailles das Wunderwelk seines Hofs erfand, die Tafelrunde, an der die Ritter sich nicht mehr schlugen. Früher hatten »aufgrund schäbigen Neids« und törichter Scharmützel Duelle und Morde die schönsten Feste mit Blut besudelt. Der Zimmermann sagt zu .AJ:thur: »Ich werde dir einen wunderschönen Tisch machen, an dem sechzehnhundert M""anner und mehr sitzen können und von dem niemand ausgeschlossen zu wetden braucht.... Und kein Ritter kann sich hier zum Kampf emeben, denn der am höchsten Sitzende wird auf gleicher Stufe mit dem Niedrigsten sein.«
Es gibt kein »Kopfende« und folglich keinen Streit mehr. Wo immer .AJ:thur seinen Tisch hintrug, blieb seine adlige Gesellschaft fröhlich und unbesiegbar. Und so tun es auch heute die starken, glücklichen und guten Nationen. Völker, Klassen, Familien, Individuen können reich werden, doch nur dann glücklich sein, wenn sie es lernen, sich wie die Ritter rund um ihren gemeinsamen Reichtum zu scharen. Man braucht nicht weit zu suchen, um das Gute und das Glück zu finden. Es liegt im erzwungenen Frieden, im Rhythmus gemeinsamer und privater Al:beit, im angehäuften und wieder verteilten Reichtum, in gegenseitiger Achtung und Großzügigkeit, die durch Erziehung lernbar sind. Man sieht, auf welche Weise sich in bestimmten Fällen das totale menschliche Verhalten, das gesamte gesellschaftliche Leben untersuchen lässt und wie diese konkrete Untersuchung nicht nur zu einer Wissenschaft der Sitten, zu einer partiellen Gesellschaftswissenschaft führt, sondern sogar zu moralischen Schlussfolgerungen -»zivilen«, »staatsbürgerlichen«, wie man heute sagt. Durch Untersuchungen dieser Art können wir die verschiedenen ästhetischen, moralischen, religiösen und wirtschaftlichen Triebfedern aufspüren und abschätzen, die materiellen und demographischen Faktoren, deren Gesamtheit die Basis der Gesellschaft ist und das Gemeinschaftsleben konstituiert und deren bewusste Lenkung die höchste Kunst darstellt, Politik im sokratischen Sinn des Wortes.
19 Layamon's Brut, Vers 2736 ff., 9994 ff.
Zur Soziologie des primitiven Tauschs* Marshall D. Sah/ins
Die Bezeichnung »vorläufige Verallgemeinerung« ist in einer Diskussion, die anthropologische Ansprüche erhebt, zweifellos redundant, doch verlangt der vorliegende Versuch eine äußerst vorsichtige Einführung. t' Denn die Verallgemeinerungen wurden in Auseinandersetzung mit ethnographischem Material entwickelt- wovon viel in der Tylorschen Form als »lliustrationsmaterial« beigefügt ist2 - ohne dass es strengen Tests untenwarfen worden wäre. Die hieraus abgeleiteten Schlüsse stellen eher ein Diskussionsangebot an die Ethnographie dar als einen Beitrag zur Theorie, falls hier überhaupt ein Unterschied besteht. Auf alle Fälle folgen nun einige Anregungen zur Wechselwirkung zwischen Formen, materiellen Bedingungen und sozialen Beziehungen des Tauschs in primitiven Gesellschaften.
Güterströme und soziale Beziehungen Was nach bisherigen Erkenntnissen als »nicht-ökonomische« oder »exogene« Bedingungen angesehen wurde, bezeichnet in der Wirklichkeit primitiver Gesellschaften die zentrale Organisationsweise der Wirtschaft.3 Die Transaktion materieller
*Aus: BerlinerJournal für Soziologie 1999, VoL 9 (2), 149-178, hier: 149-160. Übertragung ins Deutsche von O.F. Raum. [Original: Marshall D. Sahlins (1965): The Sociclogy rfPrimitive Exchange, in: Michael Banton (Hg.): The Relevance of Models for Social Anthropology. A.S.A. Monographs 1. London: Tavistock, 139-236]. Redaktionelle Bearbeitung durch die Herausgeber. 1 Ich danke Erle Wolf für viele Anregungen zu diesem Aufsatz und dem Soda/ S&ien&e Research COIInd/ (Washington, D.C), das damit das Resultat eines großzügigen Forschungsstipendiums erhält. 2 Dieses Material ersc~eint als Anhang zu diesem Aufsatz. [Dieser wurde weggelassen, da er den Rahmen gesprengt ~tte. Aus dem selben G~d wurden einige der rein illustrativen Zitate nicht übemommen.;Anm. d Übers.] 3 Für das gegenwärtige Ziel wird »Wtttschaft<< (economy) als der Prozess angesehen, der die Gesellschaft (oder das soziokulturelle System) wersorgt<<. Keine soziale Beziehung, Institution oder Gruppe von hlstitutionen ist an sich »wirtschaftlich<<. Jede Institution, sei es Familie oder
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Lineage-Ordnung, kann in einen wirtschaftlichen Zusammenhang gestellt und als Teil des ökonomischen Prozesses bettachtet werden, sofern sie materielle Folgen für die Versorgung det Gesellschaft hat. Dieselbe Institution kann ebenso in den politischen Prozess eingebunden sein und doch auch im politischen Zusammenhang bettachtet werden. Diese Methode, Wirtschaft und Politik - oder auch Religion, Erziehung und jeden anderen kulturellen Vorgang zu betrachten, wird durch die Natur der primitiven Kultur vorgegeben. Hier finden wir keine soziale gesonderte ))Wirtschaft<< oder ))Regierung«, sandem nur soziale Gruppen und Beziehungen mit mehreren Funktionen, die wir als wirtschaftliche, politische usw. Funktionen unterscheiden. Dass die Wirtschaft sich somit als ein Aspekt der Dinge darstellt, ist wahrscheinlich allgemein akzeptietbar. Dass die Betonung auf der Versorgung der Gesellschaft liegt, mag sich nicht als so akzeptierbar erweisen. Denn wir sind nicht daran interessiert, wie Individuen an ihre Geschäfte herangehen: Die Wirtschaft wurde nicht als die Verwendung von knappen Mitteln für alternative Zwecke (seien es materielle oder andere) definiert. Die Mittel-zum-Zweck-Wirtschaft wird als eine Komponente der Kmltn' und nicht als eine Art menschlkher HanJIIIng aufgefasst, als materieller Lebensprozess der Gesellschaft und nicht als rationaler Vorgang des individuellen Verhaltens, der Bedürfnisse stillt. Unsere Absicht ist es nicht, Unternehmer zu analysieren, sondern Kulturen zu vergleichen. Im Sinn der kontroversen Positionen, die im American Anthropologist entwickelt wurden, gleicht mein Standpunkt mehr dem Daltons (1961; vgl. Sahlins 1962) als dem Burlings (1%2) oder LeClairs (1962). Ebenso erkläre ich meine Solidarität mit Hausfrauen in der ganzen Welt und mit Malinowski Firth beklagt Malinowskis Ungenauigkeit in Bezug auf eine Angelegenheit der Wirtschaftsanthropologie mit der Bemerkung: ))Dies ist nicht die Tenninologie der W1rtsehaftswissenschaft, es ist beinahe die Sprache der HausfraU<< (Firth 1957: 220). Die Tenninologie der vorliegenden Arbeitweicht in gleicher Weise von der der ökonomischen Orthodoxie ab. Dies kann als eine Notwendigkeit angesehen werden, die durch Unwissenheit hervorgerufen wird, aber manches kann auch für die Angemessenheit der Hausfrauenperspektive in einer Untersuchung übet die verwandtschaftliche Wirtschaft gesagt werden. Wirtschaft wurde als der Vorgang der (materiellen) Versorgung der Gesellschaft definiert, und diese Definition wurde derjenigen gegenübergestellt, die W1rtsehaft als menschliche Handlung zut Befriedigung von Bedürfnissen ansieht. Das große Wechselspiel des instrumentalen Tausches in primitiven Gesellschaften unterstreicht den Nutzen der ersten Definition. Zuweilen ist der Frieden stiftende Aspekt so grundlegend, dass genau dieselben Arten und Mengen von Gütern den Besitzer wechseln: auf diese Weise wird der Verzicht auf entgegen gesetzte Interessen symbolisiert. Von einet stteng formalen Sicht ist diese Transal
ZUR SOZIOLOGIE DES PRIMITIVEN TAUSCHS
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Güter ist in der Regel nur eine kurze Episode innerhalb einer dauerhaften sozialen Beziehung, die insoweit Herrschaft ausübt, als der Strom der Güter durch das bestehende Statussystem eingeschränkt wird, wenn er nicht gar ein Teil desselben ist. »Man kann die wirtschaftlichen Beziehungen der Nuer nicht als solche behandeln, denn sie bilden imnier einen Teil von unmittelbaren sozialen Beziehungen allgemeiner Art«, schreibt Evans-Pritchard (1940: 90f.), »es besteht zwischen ihnen immer eine allgemeine soziale Beziehung der einen oder anderen Art, und ihre wirtschaftlichen Beziehungen, falls sie so genannt werden dürfen, müssen sich an diese allgemeine Form des Verhaltens anpassen.« Dieser Anspruch besitzt allgemeine Gültigkeit (vgL White 1959: 242ff.). Die Verbindung zwischen Güterströmen und sozialen Beziehungen ist reziprok Eine spezifische soziale Beziehung mag eine vorgegebene Bewegung der Güter beschränken, aber eine spezifische Transaktion weist - nach demselben Grundsatz ebenso auf eine besondere soziale Beziehung hin. Wenn Freunde Geschenke machen, so machen auch Geschenke Freunde. Ein großer Teil des primitiven Tauschs, viel mehr als dies in unserem eigenen Handel der Fall ist, ist entscheidend durch diese letztere, instrumentelle Funktion bestimmt: Die Bewegung der Güter bestätigt die sozialen Beziehungen oder bringt sie erst in Bewegung. Auf diese Weise überwinden primitive Völker das Hobbessche Chaos. Denn eine der charakteristisc~n Bedingungen primitiver Gesellschaft stellt die Abwesenheit öffentlicher und souveräner Macht dar: Personen und (insbesondere) Gruppen stehen einander nicht nur mit bestimmten Interessen gegenüber, sondern mit der potentiellen Neigung und dem Recht, diese Interessen mit Gewalt zu verfolgen. Die Gewalt ist dezentralisiert, sie wird auf legitime Weise gesondert beansprucht; der soziale Vertrag muss erst aufgestellt werden, der Staat besteht noch nicht. So ist es kein sporadisches Ereignis zwischen Gesellschaften, Frieden zu schließen, sondern ein andauernder Vorgang innerhalb der Gesellschaft selbst. Gruppen müssen »die Bedingungen für eine Einigung aushandeln« - und dies beinhaltet vor allem einen materiellen Tausch, der beide Seiten befriedigt. Selbst in rein praktischer Hinsicht spielt der Tausch in primitiven Gesellschaften nicht dieselbe Rolle wie die des Güterverkehrs in modernen Industriegesellschaften. In einer vollständigen (umfassenden) Ökonomie nehmen Transaktionen einen besonderen Platz ein: Unter primitiven Bedingungen ist der Tausch von der Produktion weitgehend abgelöst, er ist weitaus weniger organisch mit der Produktion verDer Leser, der mit den aktuellen Diskussionen über primitive Verteilung vertraut ist, bemedtt, dass ich Polanyi (1944, 1959) und Polanyi et al. (1957) in diesem Punkt tiefen Dank schulde, und dass ich ebenfalls von Polanyis Terminologie und seinem Dreifach-Schema der Integrationsprinzipien abweiche. Es ist mir auch eine Freude Firth zu bestätigen, dass >~eder, der die primitive Wtttschaft erforscht, eigentlich auf den Grundlagen, die Malinowski gelegt hat, aufbaut« (Firth 1959: b4).
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bunden. Typischerweise ist er auch in geringerem Maße als der moderne Tausch in den Erwerb von Produktionsmitteln und stärker in die Neuverteilung der fertigen Güter innerhalb der Gemeinschaft involviert. Das Schwergewicht liegt auf einer Wlrtschaftsweise, in der der Nahrungsversorgung eine beherrschende Rolle zukommt, und in der der tägliche Ertrag weder von einem umfassenden technologischen Komplex noch von einer komplizierten Arbeitsteilung abhängig ist. Zudem liegt das Schwergewicht auf der häuslichen Produktionsweise: Die Produktionseinheit ist der Haushalt, in dem die Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter dominiert, die Produktion zielt auf die Familienbedürfnisse und auf einen direkten Zugang der häuslichen Gruppen zu den strategischen Ressourcen ab. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf einer sozialen Ordnung, in der das Recht, die Erträge zu kontrollieren, mit dem Recht, die Ressourcen der Produktion zu nutzen, einhergeht, und in der es nur beschränkre Rechtsansprüche oder Vorrechte auf das Einkommen aus den Ressourcen gibt. Schließlich liegt das Schwergewicht auf Gesellschaften, die primär durch Verwandtschaftsbeziehungen strukturiert sind. Die hier nur sehr allgemein gekennzeichneten Charakteristika primitiver Wirtschaftsordnungen müssen natürlich von Fall zu Fall spezifiziert werden. Sie sollen lediglich als eine Orientierungshilfe für die später folgende, detaillierte Analyse von Verteilungsprozessen dienen. Auch ist es ratsam, nochmals darauf hinzuweisen, dass sich die Bezeichnung >>primitiv<< auf Kulturen bezieht, denen es an einer politischen Organisation im Sinne eines Staatsaufbaus fehlt, und sie ist insofern nur anwendbar, als Wirtschaft und soziale Beziehungen nicht durch die historische Einführung von Staaren verändert wurden. Unter einem allgemeinen Gesichtspunkt lässt sich die Menge wirtschaftlicher Transaktionen im ethnographischen Bereich nach zwei Typen gliedern. Erstens gegenseitige (vice versa) Bewegungen zwischen zwei Parteien, die im Allgemeinen als Reziprozität bekannt sind (A B B). Zweitens zentralisierte Bewegungen: das Sammeln von Gütern der Mitglieder einer Gruppe in einer Hand und deren Neuverteilung innerhalb dieser Gruppe (siehe Abb.l).
Abbildung 1 A
c
A
.11 \D c
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Hierbei handelt es sich um Prozesse des Zusammenlegens (Pooling) und der Umverteilung (Redistribution). Von einem noch allgemeineren Standpunkt aus gesehen gehen diese zwei Typen ineinander über. Denn das Pooling bezeichnet die Organisation von Reziprozitäten bzw. ein System von Reziprozitäten- eine Tatsache von zentraler Bedeurung für die Entstehung von umfassenden Umverteilungen unter der Agide von Häuptlingen. Doch legt dieses allgemeine Verständnis lediglich nahe, sich in einem ersten Schritt auf die Reziprozität zu konzentrieren, und es bleibt den analytischen Fähigkeiten überlassen, diese beiden Vorgänge auseinander zu halten. Sie unterscheiden sich grundsätzlich hinsichtlich ihrer sozialen Organisationsformen. Gewiss können Pooling und Reziprozität in denselben sozialen Zusammenhängen vorkommen - dieselben nahen Verwandten legen zum Beispiel ihre Mittel in einer Haushaltsgemeinschaft zusammen; auch teilen Individuen Gegenstände miteinander, doch die sozialen Beziehungen bei Pooling und Reziprozität sind nicht dieselben. Die materielle Transaktion beim Pooling ist sozial gesehen eine Innenbeziehung, die kollektive Handlung einer Gn:q>pe. Reziprozität dagegen ist eine Außenbeziehung: Sie besteht aus Handlungen und Reaktionen zwischen zwei Parteien. Pooling ist daher die Ergänzung der sozialen Einheitlichkeit und, in Polanyis Terminologie, der >>Zenttalität«, während Reziprozität eine soziale Dualität und Symmetrie darstellt.' Beim Pooling besteht ein sozialer Mittelpunkt, wo Güter si~ treffen und von wo aus sie sich nach außen bewegen, und zugleich eine soziale Grenze, innerhalb welcher Personen (oder Untergruppen) kooperativ miteinander in Beziehung stehen. Reziprozität aber setzt zwei Seiten voraus, zwei unterschiedliche sozioökonomische Interessen. Reziprozität kann zwar solidarische Beziehungen herstellen, wenn die Güterbewegung Hilfe oder gegenseitigen Nutzen verspricht, aber der soziale Tatbestand der zwei Parteien ist unausweichlich. Berücksichtigt man die anerkannten Beiträge von Malinowski und Flrth, Gluckman, Richards und Polanyi zu diesem Thema, so kann ohne Übertreibung gesagt werden, dass wir die materiellen und sozialen Umstände des Pooling ziemlich gut kennen. Zu dem Wissen darüber passt das Argument, dass Pooling die materielle Seite von »Kollektivität<< und »Zentralität<< darstellt. Kooperative Nahrungsproduktion, Rangordnung und Häuptlingstum, kollektives politisches und rituelles Handeln sind einige der normalen Umstände des Zusammenlegens in primitiven Gemeinschaften. Um es kurz zusammenzufassen: Die alltägliche, gewöhnliche Art der Umverteilung ist das Pooling der Nahrung in der Familie. Das ihm zugrunde liegende Prinzip beruht darauf, dass die Produkte kollektiver Anstrengung für die Versorgung zusammengelegt werden, besonders, wenn die Kooperation Arbeitsteilung erforderlich macht. So ausgedrückt gilt diese Regel nicht nur für den Haushalt, sondern auch für eine Kooperation auf höherer Ebene, dh. für eine Kooperation von Gruppen, die größe'r sind als Haushalte und sich zur Lösung bestimmter Aufgaben bei der Beschaffung der Nahrung bilden, z.B. um Bisons in den nördlichen Plains
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zu umzingeln oder um Fische in einer polynesischen Lagune zu fangen. Mit Einschränkungen (wie z.B. wenn bestinunte Anteile mit bestinunten Verteilungen für den Aufwand der Gruppe einhergehen) bleibt das Prinzip ~uf der höheren Ebene dasselbe wie auf der niederen, der Haushaltsebene: »Güter, die auf kollektive Weise beschafft werden, werden durch das Kollektiv verteilt.« Ansprüche auf die Produkte der untergeordneten Bevölkerung ebenso wie Verpflichtungen zur Großzügigkeit ihr gegenüber sind allerorts mit dem Häuptlingsturn verbunden. Die organisierte Ausübung dieser Rechte und Verpflichtungen ist die Umverteilung: »Ich glaube, dass wir auf der ganzen Welt feststellen würden, dass die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik die gleichen sind Überall handelt der Häuptling als Stammesbankier, der Nahrungs.mittel sammelt, sie lagert und schützt und sie dann zum Nutzen der Gemeinschaft verwendet. Seine Aufgaben sind der Prototyp des heutigen öffentlichen Finanzsystems und der staatlichen Schatzämter. Wenn man dem Häuptling seine Privilegien und finanziellen Vorteile entzieht, dann leidet am meisten der ganze Stanun.« (Malinowski 1937: 232 f.)
Dieses Brauchtum »für den Nutzen der ganzen Gemeinschaft« nimmt verschiedene Formen an: die Unterstützung einer religiösen Feier, von Festspielen oder Krieg; die Förderung von Gewerbe und Handel, der Aufbau einer technischen Apparatur und die Errichtung von öffentlichen und religiösen Bauten; die Umverteilung verschiedener lokaler Erzeugnisse, Gastfreundschaft und Beistand für die Gemeinschaft (für den Einzelnen oder die Allgemeinheit) während einer Zeit der Knappheit. Noch allgemeiner gesagt: Die Umverteilung durch die Führenden dient zwei Zwecken, von denen jeder im gegebenen Fall dominierend sein kann. Die praktische, logistische Funktion, die Umverteilung, versorgt die Gemeinschaft oder die Leistung der Gemeinschaft im materiellen Sinn. Gleichzeitig oder als Alternative hat die Umverteilung eine instrumentelle Funktion: Als Ritual der Gemeinschaft und Unterordnung unter die zentrale Autorität unterstützt sie die Struktur der Gemeinschaft an sich, dh. in einem sozialen Sinn. Die praktischen Vorteile mögen problematisch sein, aber wie auch inuner: Pooling erzeugt vor allem den Geist der Einheit und der Zentralität, kodifiziert die Struktur und setzt die zentralisierte Organisation sozialer Ordnung und sozialen Handeins voraus: )~ede Person, die an der ana (ein vom Häuptling auf Tikopia organisiertes Fest) teilnimmt, wird gezwungen, sich an Formen der Kooperation zu beteiligen, welche zeitweilig sowohl über seine persönlichen Interessen und die seiner Familie hinausgehen als auch die Grenzen der Gemeinschaft erreichen. Ein solches Fest bringt Häuptlinge und ihre Clanangehörigen zusammen, die zu anderen Zeiten Rivalen sind, bereit, einander zu kritisieren und zu verleumden, sich aber nun mit dem äußeren Anschein der Harmonie versammeln. (...) Außerdem dient eine solche zweckorientierte Tätigkeit bestimmten weiteren sozialen Zielen, die ihre Gemeinsamkeit darin haben, dass jede (oder beinahe jede) Person sie bewusst oder unbewusst fördert. Zum Beispiel trägt die Teilnahme an der ana und der von ihnen erbrachte wirtschaftliche Beitrag dazu bei, das Autoritätssystem der Tlkopia zu unterstützen.« (Firth 1950: 230f.)
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Damit haben wir zumindest den Umriss einer funktionalen Theorie der Umverteilung. Die zentralen Probleme liegen nun wahrscheinlich in ihrer Ausarbeitung. in der Spezifizierung ausgewählter Umstände durch Vergleich oder phylogenetische Untersuchung. Die wirtschaftliche Anthropologie der Reziprozität ist jedoch nicht auf der gleichen Stufe angesiedelt. Ein Grund dafür ist vielleicht die populäre Neigung, Reziprozität als ein Gleichgewicht anzusehen, als bedingungslosen Tausch zu gleichen Teilen. In Bezug auf den Transfer von Gütern trifft dies jedoch auf die Reziprozität oft ganz und gar nicht zu. In der Tat erkennt man durch die Untersuchung der Abweichungen vom ausgeglichenen Tausch das Wechselspiel zwischen Reziprozität, sozialen Beziehungen und materiellen Umständen. Reziprozität um6J.sst eine ganze Klasse von Tauschhandlungen, ein Kontinuum von Fonnen. Dies trifft besonders auf den engen Kontext materieller Transaktionen zu- als Gegenstück zum sozialen Prinzip oder der sittlichen Nonn des Gebens und Nehmens. Am einen Ende des Spektrums steht die freiwillig gegebene Hilfe, die die alltäglichen Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen kennzeichnet, das ))reine Geschenk<<, wie Malinowski es nannte, wobei die offene Forderung auf eine Rückgabe undenkbar und unsozial sein würde. Am anderen Ende steht eine eigennützige Besitzergreifung, Aneignung durch Schikane oder Gewalt, die lediglich durch eine gleiche, und entgegen gerichtete Anstrengung ~f dem Prinzip der Iex talionir abgegolten wird, die ))negative Reziprozität« wie Gouldner sie nennt. Die Extreme sind positiv und negativ im moralischen Sinn. Die Abstände zwischen ihnen sind nicht einfach Abstufungen des materiellen Gleichgewichts im Tausch, es handelt sich vielmehr um Intervalle der Soziabilität. Die Entfernung zwischen den Polen der Reziprozität impliziert zugleich soziale Distanz: >>Gewinn auf Kosten anderer Gemeinschaften, insbesondere entfernter Gemeinschaft und vor allem solcher, die man als fremd betrachtet, ist nach dem Standard der heimischen Gebriiuche und Gewohnheiten nicht anstößig.« (Veblen 1915: 46)
Eine Typologie von Reziprozitätsformen Eine rein formale Typologie der Reziprozitäten ist möglich, die ausschließlich auf der Unmittelbarkeit der Rückgabe, der Gleichwertigkeit dieser Rückgabe und dem gleichen materiellen und mechanischen Umfang des Tauschs beruht. Auf der Grundlage dieser Klassifikation, kann man dazu übergehen, Subtypen der Reziprozität mit verschiedenen >>Variablen«, wie etwa der verwandtschaftlichen Entfernung der Parteien hinsichtlich der Transaktion zu korrelieren. Der Wert dieser Darstellung liegt darin, dass es wissenschaftlich ist oder zumindest so erscheint. Einer der Mängelliegt darin, dass sie ein Konstrukt ist, eigentlich nichts weiter als eine Meta-
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pher der Darstellung, keine wahre Wiedergabe dieses Phänomens. Es sollte von vornherein klar sein, dass die Unterscheidung eines Reziprozitätstyps von einem anderen mehr als nur formaler Natur ist. Die Art, wie die Rückgabe erwartet wird, sagt etwas über den Geist aus, der den Tausch bestimmt, über Berechnung und Nichtberechnung, die Unpersönlichkeit, das ihn begleitende Mitleid. Jede anscheinend formale Klassifikation beinhaltet diese Bedeutungen: Sie ist sowohl sittlicher wie mechanischer Natur. In jeder primitiven Gesellschaft, ganz zu schweigen von der primitiven Welt insgesamt, bestehen viele Arten der Reziprozität. »Gegenläufige« (vice-versa) Bewegungen umfassen das Teilen und das erwidernde Teilen nicht zubereiteter Nahrungsmittel, informelle Gastfreundschaft, zeremonielle Leistungen unter Verwandten, Leihen und Zurückgeben, die Kompensation für spezialisierte und zeremonielle Dienste, die Geschenke, die einen Friedensschluss besiegeln, das unpersönliche Feilschen und so weiter. Wir besitzen verschiedene ethnographische Versuche, die empirische Vielfalt typologisch zu bewältigen, vor allem Douglas Olivers Darstellung der Transaktionsarten bei den Siuai (1955: 229ff.; vgL \La. Price 1962: 34f.; Spencer 1959: 194f.; Marshall1961). In Crime anti Custom schrieb Malinowski ziemlich allgemein und vorbehaltlos über Reziprozität, doch in den Argonauten entwickelte er eine Klassifikation des Tauschs bei den Trobriandern unter Berücksichtigung der mannigfaltigen Variationen hinsichtlich Gleichgewicht und Gleichwertigkeit (Malinowski 1922: 176ff.). Von diesem Standpunkt aus und in Hinsicht auf die Unmittelbarkeit der Rückgabe wurde das Kontin1111m, das Reziprozität ja ist, aufgedeckt: »Ich habe absichtlich von Formen des Tauschs, der Geschenke und Gegengeschenke und nicht von Tauschhandel oder Handel gesprochen, weil es, obgleich es Formen des reinen, einfachen Tauschhandels gibt, so viele Übergänge und Grade zwischen ihm und dem einfachen Geschenk gibt, dass es unmöglich ist. eine bestimmte Grenzlinie zwischen Handel auf der einen Seite und Gabenaustausch auf der anderen zu ziehen (...). Um diese Tatsachen korrekt zu behandeln, ist es nötig, eine vollständige Übersicht aller Fonneo der Bezahlung oder des Geschenks zu geben. In dieser Übersicht wetden an einem Ende die extremen Falle reiner Geschenke stehen, das heißt Gaben für die nichts zurückgegeben wird (vgl. jedoch Firth 1957: 221f.). Über manche konventionelle Formen der Gaben oder Bezahlung, die teilweise oder unter Vorbehalt zurückgegeben werden und die ineinander übergehen, kommen wir zu Fonneo des Tauschs, bei denen mehr oder weniger eine strikte Gleichwertigkeit beobachtet witd, bis man den echten Tauschhandel erreicht.« (Malinowski 1922: 176)
Malinowskis Überblick kann über den Fall der Trobriander hinaus verallgemeinert und auf reziproken Tausch in primitiven Gesellschaften angewandt werden. Es erscheint möglich, auf abstrakte Weise ein Kontinuum von Reziprozitäten aufzustellen, das auf der »gegenseitigen« Natur des Austausches beruht, und entlang diesem die empirischen Beispiele, die in bestimmten ethnographischen Fällen vorkommen, einzuordnen. Der kritische Punkt wäre die Bedingung der materiellen Rück-
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gabe (oder weniger elegant eine »Schlagseite« des Tauschs). Hierfür gibt es objektive Kriterien wie die Tolerierung eines materiellen Ungleichgewichts und einen zeitlichen Spielraum, der Verzögerungen zulässt: Die anfängliche Bewegung der Güter von Hand zu Hand wird mehr oder weniger materiell abgegolten und auch hier gibt es diesen zeitlichen Spielraum, der für die Rückgabe zugestanden wird (vgL wiederum Firth 1957: 220f.). Anders gesagt: Die Form des Austauschs pendelt von selbstloser Rücksichtnahme auf andere durch Gegenseitigkeit bis hin zum Eigennutz. So aufgefasst kann die Einschätzung der »Schlagseite« durch ethnographische Beobachtung gestützt werden - zusätzlich zu jener der Unmittelbarkeit und materiellen Gleichwertigkeit. Die anfangliehe Übergabe kann freiwillig, unfreiwillig, vorgeschrieben oder vertraglich geregelt sein, die Rückgabe freigegeben, erzwungen oder gefordert sein, der Austausch gefeilscht oder nicht gefeilscht, Gegenstand der Abrechnung sein oder nicht, usw. Das Spektrum der Reziprozitäten, das zum allgemeinen Gebrauch vorgelegt wird, ist durch seine Extreme und seine Mitte bestimmt.
1. Generalisierte Reziprozität. Das Extrem der Solidarbeziehung
( A ..,.···-·····--··--·-·-·· B) »Generalisierte Reziprozität« bezieht sich auf Transaktionen, die vermeintlich altruistisch sind und umfasst Transaktionen auf der Linie des gegebenen und, falls möglich und nötig, des erwiderten Beistands. Der ideale Typ dieser Beziehung ist Malinowskis »reines Ge8chenk«. Andere bezeichnende ethnographische Formeln hierfür sind »Teilen«, >>Gastfreundschaft«, »freies Geschenk«, »Hilfe« und »Großzügigkeit<<.. Weniger sozial aber zum seihen Pol neigend sind »verwandtschaftliche Verpflichtungen«, »Abgaben an den Häuptling« und »noblem oblige<.<. Price (1 %2) bezeichnet diesen Typus wegen der Unbestimmtheit der Verpflichtung zur Abgeltung als »schwache Reziprozität«. Am Extrem d~ freiwilligen Essenteilens unter nahen Verwandten - oder man könnte auch wegro seines logischen Wertes in diesem Zusammenhang an das Stillen von Kindern denken - ist es ungehörig, eine direkte materielle Rückgabe zu erwarten. Diese Erwartung ist höchstens implizit vorhanden. Dabei wird die materielle Seite der Transaktion durch die soziale unterdrückt: Das offene Einfordern ' von Schulden wird, typischerweise außer Bettacht gelassen. Das heißt nicht, dass das Übergeben von ~henken in dieser Form selbst an »geliebte Menschen« keine
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Gegenverpflichtung verlangt, aber die Rückgabe wird nicht nach Zeit, Menge oder Wert festgesetzt: Die Erwartung der Reziprozität ist unbestimmt. Gewöhnlich hängen Zeit und Wert der Rückgabe nicht nur davon ab, was der Geber gegeben hat, sondern auch davon, was er braucht und wann dies der Fall ist, ebenso wie davon, was der Empfänger aufbringen kann und zu wekhem Zeitpunkt dies möglich ist. Der Empfang von Gütern beinhaltet die unbestimmte Verpflichtung, die Gabe zurückzuerstatten, wenn der Geber sie benötigt und/oder dies dem Empfänger möglich ist. Die Abgeltnng kann daher sehr bald oder auch niemals erfolgen. Es gibt Menschen, die selbst zu gegebener Zeit unfähig sind, sich selbst oder anderen zu helfen. Ein praktischer Indikator für generalisierte Reziprozität ist ein dauernder einseitiger Fluss der Gaben. Bleibt die Rückgabe aus, so veranlasst dies den Geber nicht, mit dem Geben aufzuhören, die Güter bewegen sich für sehr lange Zeit in Richtung zugunsten des Habenichts.
2. Ausgeglichene Reziprozität. Die Mitte der Skala
(A·IIIII====~B) »Ausgeglichene Reziprozität« bezieht sich auf den direkten Tausch. Bei vollständigem Gleichgewicht wird der gebräuchliche Gegenwert des empfangenen Gegenstands getauscht und erfolgt ohne Verzögerung. Vollkommen ausgeglichene Reziprozität, der gleichzeitige Tausch derselben Art von Gütern in der gleichen Menge ist nicht nur denkbar, sondern ethnographisch durch bestimmte eheliche Transaktionen (z.B. Reay 1959: 59 f.), freundschaftliche Übereinkünfte (Seligman 1910: 70) und Friedensverträge (Hogbin 1939: 79; Loeb 1926: 204; Williamson 1912: 183) belegt. »Ausgeglichene Reziprozität« kann einfacher auf Transaktionen bezogen werden, die eine Rückgabe eines entsprechenden Wertes oder Nutzens innerhalb eines begrenzten und engen Zeitraums bedingen. Vieles an >>Gabentausch<<, an »Zahlungen«, von dem, was unter der ethnographischen Rubrik »Handel« verstanden wird, und eine Menge dessen, was Kauf und Verkauf genannt wird und »primitives Geld« einbezieht, gehört zum Typus »Ausgeglichener Reziprozität<<. Ausgeglichene Reziprozität ist weniger durch persönliche Beziehungen geprägt als generalisierte Reziprozität, ihr Wesen ist von unserem Standpunkt aus »stärker ökonomisch<<. Die Parteien treten einander mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen entgegen. Die materielle Seite der Transaktion ist wenigstens ebenso entscheidend wie die soziale: Es gibt eine mehr oder weniger genaue
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Abrechnung, da die gegebenen Dinge innerhalb kurzer Zeit erstattet werden müssen. So wird die Unfähigkeit, nur von einer Seite ausgehende Bewegungen zu gestatten, zum praktischen Test der ausgeglichenen Reziprozität. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden durch ein Versagen der Rückgabe innerhalb eines bestimmten Zeitraums und Gegenwerts zerrissen. Es ist bei den meisten Arten der generalisierten Reziprozität bemerkenswert, dass die Bewegung der Güter durch die herrschenden sozialen Beziehungen getragen werden, während bei den meisten Arten der ausgeglichenen Reziprozität die sozialen Beziehungen vom Fluss der Güter abhängen.
3. Negative Reziprozität.
Das antisoziale Extrem
»Negative Reziprozität« ist der Versuch, etwas umsonst und ungestraft zu bekommen. Sie umfasst die verschiedenen Formen der Aneignung oder Transaktionen, die der reinen Nutzenlnaximierung wegen begonnen und durchgeführt werden. Bezeichnende ethnographische Begriffe umfassen etwa »Feilschen« oder »Tauschhandel<<, »Glücksspiele«, >&hikane«, »Diebstahl« und andere Arten der Inbesitznahme. Negative Reziprozität ist die unpersönlichste Art des Tauschs. In der Form des »Tauschhandels« ist sie von unserem Standpunkt aus die >>Ökonomischste« Art. Die Teilnehmer begegnen einander mit entgegen gesetzten Interessen und sind darauf bedacht, ihren Nutzen auf Kosten der anderen zu maximieren. Indem sie sich der Transaktion ausschließlich in der Absicht nähern, den größten Vorteil daraus zu ziehen, ist das Ziel der die Initiative ergreifenden Partei oder beider Parteien der unverdiente Zuwachs des Gewinns. Eine der soziabelsten Formen, die sich dem Gleichgewicht nähert, ist das Feilschen, das im Geist des »was der Handel herg1bt« geführt wird. Von dieser Form reicht negative Reziprozität über verschiedene Grade der List, des Betrugs, der Heimlichkeit und Gewalt bis hin zur Finesse eines gut geführten Raubzugs zu Pferde. Die »Reziprozität« ist natürlich eingeschränkt, eine ·Angelegenheit der Verteidigung eigener Interessen. So kann die Bewegung der Güter wiederum einseitig sein, das heißt, die Rückgabe ist abhängig vom erzeugten Gegendruck oder epensolcher Arglist. Es ist ein weiter Weg vom Säugling zum indianischen Pferderaub. Zu weit, mag argumentiert werden, die Klassifikation sei zu weit gespannt. Dennoch gehen in den
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ethnographischen Berichten »vice-versa-Bewegungen« der gesamten Spanne ineinander über. Es wäre gut, trotzdem zu berücksichtigen, dass die empirischen Tauschhandlungen häufig irgendwo in dieser Reihe vorkommen und nicht direkt in den hier beschriebenen Extremen oder der Mitte liegen. Es ergibt sich die Frage, ob man soziale oder wirtschaftliche Umstände spezifizieren kann, die die Reziprozität zu der einen oder anderen festgelegten Position drängen, d.h. zur generalisierten, ausgeglichenen oder zur negativen Reziprozität. Ich glaube, dies ist möglich.
Reziprozität und verwandtschaftliche Distanz Die zwischen tauschenden Personen bestehende soziale Distanz bedingt die Art und Weise des Tauschs. Wie schon angedeutet, ist verwandtschaftliche Distanz besonders für die Form der Reziprozität relevant. Diese neigt bei naher Verwandtschaft zum generalisierten Pol und entsprechend der verwandtschaftlichen Distanz zum negativen Extrem. Der Gedankengang ist nahezu syllogistisch. Die verschiedenen Reziprozitäten vom frei gegebenen Geschenk bis zur Schikane verlaufen endang eines Spektrums der Soziabilität, vom Opfer zugunsten eines anderen bis zum eigennützigen Gewinn auf Kosten eines anderen. Man nehme als untergeordnete Prämisse Tylors Diktum, dass Verwandtschaft (kindred) mit Güte (kindness) einhergeht, »zwei Wörter, deren gemeinsame Ableitung auf glückliche Weise einen der Hauptgrundsätze des sozialen Lebens zum Ausdruck bringt<<. Daraus folgt, dass nahe Verwandte dazu neigen zu teilen, in generalisierte Tauschhandlungen zu treten, entfernte Verwandte und Nichtverwandte hingegen dazu, mit Gleichwertigem zu handeln oder sich zu übervorteilen. Gleichwertigkeit ist entsprechend der verwandtschaftlichen Distanz obligatorisch, damit Beziehungen nicht völlig abbrechen, denn mit der Distanz vermindert sich die Toleranz in Bezug auf Gewinn und Verlust ebenso wie die Neigung, sich »ins Zeug zu legen<<. Nichtverwandten- »anderen Leuten<<, vielleicht nicht einmal »Menschen«- braucht nichts geschenkt zu werden. Die offensichdiche Neigung ist sogar: »Den letzten beißen die Hunde!« All dies scheint auf unsere eigene Gesellschaft anwendbar, aber für die primitive Gesellschaft ist es charakteristischer, denn dort spielt Verwandtschaft eine größere Rolle. Sie ist zum einen das organisierende Prinzip oder Idiom der meisten Gruppen und fast aller sozialen Beziehungen. Selbst die Kategorie der »Nichrverwandten« wird normalerweise durch sie definiert, d.h. - als ihr negativer Aspekt - das logische Extrem der Klasse des Nichtseins als ein Zustand des Seins. In dieser Ansicht steckt etwas von der Wtrklichkeit; sie ist keine logische Spitzfindigkeit. Bei uns bedeuten »Nichtverwandte« spezialisierte Statusbeziehungen von positiver Qualität
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Arzt-Patient, Polizist-Bürger, Arbeitgeber-Arbeitnehmer, Klassenkameraden, Nachbarn, Berufskollegen. Aber für die Primitiven bedeutet der Nichtverwandte vor allem die Vemeinung der Gemeinschaft (oder des Stammeswesens), und er ist oft ein Synonym für »Feind« oder »Fremder<<. Genauso tendieren dann die wirtschaftlichen Beziehungeil einfach dazu, eine einfache Vemeinung der verwandtschaftlichen Reziprozitäten zu sein, sodass andere institutionelle Normen nicht ins Spiel kommen. Verwandtschaftliche Distanz kann auf verschiedene Arten organisiert sein: was »nah« in einer Hinsicht ist, muss es nicht in einer anderen sein. Tausch kann von genealogischer Distanz abhängen (wie sie der lokalen Distanz zugeschrieben wird), das heißt vom intetpersonellen Verwandtschaftsstatus. Oder er hängt von der segmentären Distanz ab, vom Status der Abstammungsgruppe. Um ein allgemeines Modell entwickeln zu können, sollte auch die Macht der Gemeinschaft berücksichtig werden, Distanz zu definieren. Denn Verwandtschaft organisiert nicht nur Gemeinschaften, sondern die Gemeinschaft auch die Verwandtschaft, sodass ein räumlicher, das Zusammenwohnen betreffender Faktor die verwandtschaftliche Distanz und sornit:auch den Tauschmodus beeinflussL »Brüder, die zusammen lebten, oder ein väterlicher Onkel, der mit seinen Neffen im gleichen Haus wohnte, standen, soweit ich es beobachten konnte, in einem viel engerem Verhältnis zueinander als Verwandte gleichen Grades, die getrennt wohnten. Dies war leicht zu erkennen, wenn es sich um das Borgen von Gegenständen, um Beistand, oder die Übernahme von Verpflichtungen oder Verantwortung füreinander handelte.« (Malinowski 1915: 532) »Die Menschheit besteht (für die Siuai) aus Verwandten und Fremden. Verwandte sind gewöhnlich durch Blut und eheliche Bande miteinander verbunden; die meisten leben in der Nähe, und Personen, die benachbart wohnen, sind alle verwandt. (..•) Transaktionen unter ihnen sollten in einem Geist durchgeführt werden, der frei von Gewinnstreben ist und vorzugsweise aus Teilen (dh. Pooling im Sinn der vorliegenden Diskussion, MS.), aus nicht-reziprokem Geben und Vererben unter engsten Verwandten oder aus Leihgeschäften unter weiter entfernten Verwandten besteht. (.•.) Davon ausgenommen sind einige sehr entfernt verwandte Clan-Mitglieder und Personen, die weit weg wohnen, die keine Verwandten sind und deswegen nur Feinde sein können. Die meisten Bräuche dieser Leute sind für die Siuai unnötig, aber einige ihrer Güter und Verfahren sind reizvoJJ. Man verkehrt nur mit ihnen, um zu kaufen und zu verkaufen - wobei man hart verhandelt und betrügt, um den größtmöglichen Gewinn aus solchen Transaktionen zu schlagen.« (Oliver
1955: 454f.)
Dies ist ein mögliches Modell zur Analyse von Reziprozität: Ein Stammesaufbau kann als eine Reihe konzentrischer, immer umfassenderer Verwandtschafts- und Wohnorts-Sektoren angesehen werden, wobei die Reziprozität gemäß ihrer Stellung in den Sektoren zu variieren scheint. Die nahen Verwandten, die Beistand leisten, sind besonders nahe Verwandte im räumlichen Sinn: Es wird von Menschen des gemeinsamen Haushalts, Lagers, Weilers oder Dorfes Anteilnahme verlangt. da Interaktion intensiv und friedliche Solidarität wesentlich ist. Aber diese Qualität der Anteilnahme kann in den peripheren Sektoren aufgrund der verwandtschaftlichen Dis-
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tanz nicht gewährleistet werden. Sie wird im Tauschverhalten mit Mitgliedern eines anderen Dorfes deshalb unwahrscheinlicher als unter den Bewohnern eines Dorfes und noch unwahrscheinlicher im Sektor zwischen Stämmen. Aus dieser Sicht umfu.ssen verwandtschaftlich-residentielle Gruppierungen sich immer weiter ausdehnende Mitgliederkreise: den Haushalt, die örtliche Abstammung, vielleicht das Dorf, den Unterst:anun. den St:anun, andere Stämme - wobei natürlich der einzelne Aufbau variiert. Die Struktur ist eine Hierarchie von Integrationsebenen, aber von innen gesehen handelt es sich um eine Reihe konzentrischer Kreise. Die sozialen Beziehungen eines jeden Kreises haben eine spezielle Qualität - Haushaltsbeziehungen, Beziehungen aufgrund von Abstammung usw. -, und außer bei Überschneidung von Sektoren durch andere Organisationen der verwandtschaftlichen Solidarität, wie zum Beispiel durch nicht am Ort lebende Clans oder persönliche Angehörige, sind Beziehungen innerhalb eines Kreises solidarischer als die Beziehungen im nächsten, umfassenderen Sektor. Reziprozität tendiert entsprechend proportional der sektoralen Distanz entweder zu Gleichgewicht oder Schikane. In jedem Sektor sind bestimmte Modi der Reziprozität charakteristisch oder vorherrschend: Generalisierte Reziprozität dominiert in den inneren Kreisen und verflüchtigt sich in den äußeren. Ausgeglichene Reziprozität ist charakteristisch für die Zwischensektoren, Schikanen für die Außensektoren. Kurz, ein allgemeines Modell der Reziprozität kann entwickelt werden, indem man den Sektorenaufbau einer Gesellschaft auf das Kontinmun der Reziprozität überträgt (siehe Abbildung 2).
Abbildung2 Haus Abstammungssektor
Negative Reziprozität
Dorf
Stammessektor Interstammessektor
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Dieser Aufbau beruht nicht nur auf den zwei Faktoren der Sektorenunterteilung und der Formen der Reziprozität. Es sollte etwas zu dem darin ebenfalls enthaltenen dritten Faktor, der Moral, gesagt werden. »Viel mehr als wir gewöhnlich annehmen«, schrieb Firth (1951: 144), »ruhen wirtschaftliche Beziehungen auf moralischen Grundlagen<( Sicher ist das die Sichtweise dieser Menschen. >>Obgleich die Siuai verschiedene Wörter für >Großzügigkeit<, >Hilfsbereitschaft<, >Zusammenarbeit<, >Moralität< (d.h. das Festhalten an Regeln) und >Milde< haben, glaube ich, dass sie sie alle als eng miteinander verbundene Aspekte desselben Attributs von Tugend auffassen.« (Oliver 1955: 78)
Ein anderer Gegensatz zu uns ergibt sich aus der Tendenz, dass die Moralität, wie auch die Reziprozität, in primitiv~n Gesellschaften nach Sektoren organisiert ist. Die Normen sind typischerweise eher relativ und situationsabhängig als absolut und universal. Das heißt, eine gegebene Handlung ist nicht so sehr an sich gut oder schlecht, es hängt vielmehr davon ab, wer »Alter« ist. Die Aneignung der Güter eines anderen oder dessen Frau ist innerhalb der eigenen Gemeinschaft eine Sünde (>>Diebstahl«, »Ehebruch«). Dieselbe Handlung wird dagegen nicht nur entschuldigt, sondern positiv mit der Bewunderung der Genossen belohnt, wenn sie an einem Außenstehenden verübt wird Der Gegensatz zum absoluten Maßstab der jüdischchristlichen Tradition ist wahrscheinlich überzeichnet: Kein moralisches System ist ausschließlich absolut (besonders in Kriegszeiten) und wahrscheinlich ist auch keines gänzlich relativ und vom Zusammenhang abhängig. Aber situationsabhängige Maßstäbe, die oft durch die Sektorenzugehörigkeit bedingt sind, scheinen in primitiven Gemeinschaften vorzuherrschen, und dies steht in ausreichendem Kontrast zu den unsrigen, weshalb es von Ethnologen wiederholt festgestellt wurde: »Die Moralität der Navaho ist eher kontextuell als absolut. (...) Das Lügen ist nicht immer und überall verkehrt. Die Regeln ändern sich mit der Situation. Der Betrug im Handel mit fremden Stämmen ist eine moralisch annehmbare Handlung: Handlungen sind nicht an sich gut oder schlecht. Inzest (seiner Natur nach eine kontextuelle Sünde) istvielleicht das einzige Vergehen, das ohne Einschränkungen verurteilt wird Es ist ganz korrekt, Zauberpraktiken im Handel mit Mitgliedern anderer Stämme anzuwenden. (...) Es besteht ein beinahe vollständiger Mangel an absttakten Idealen. (...) In einer großen, komplexen Gesellschaft wie dem modernen Amerika, wo Menschen kommen und gehen und Geschäfte und andere Verfahren von Leuten durchgeführt weraen müssen, die einander niemals sehen, ist es funktional notwendig, abstrakte Standards zu haben, welche über die unmittelbare konkrete Situation hinausgehen, in der zwei oder mehr Personen miteinander zusammenwirken.« (Kluckhohn 1959: 434)
Das Schema, mit dem wir uns befassen, umfasst drei Dimensionen: die soziale, die moralische und die wirtschaftliche. Reziprozität und Moralität sind nach Sektoren strukturiert- die Struktur ist durch Verwandtschaft und Stammesgruppierungen definiert. Aber dieses Schema ist eine gänzlich hypothetische Angelegenheit. 1\Wl kann sich Umstände vorstellen, die die sozialen und moralischen reziproken Beziehungen, die es erfordert, ändern würden. Behauptungen über die externen Sektoren
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sind besonders anfechtbar. (Für »externen Sektor« kann man im Allgemeinen »lnterstammessektor« sagen, die ethnische Peripherie primitiver Gesellschaften; in der Praxis kann man ihn dort einsetzen, wo die positive Moral schwindet oder wo die Feindschaft zwischen Gruppen als das Normale innerhalb der eigenen Gruppe erwartet wird) In dieser Sphäre können Transaktionen in der Tat mit Gewalt oder Arglist durchgeführt werden, durch wabuwabu, um den fast onomatopoetischen Ausdruck der Bobuaner für »unsaubere Handlungsweise« zu verwenden. Doch scheint es, dass die gewaltsame Aneignung ein aus der Not geborenes Mittel darstellt, bei dem dringende Bedürfnisse nur oder am leichtesten durch militärisches Vorgehen befriedigt werden können. Friedliche Symbiose ist schließlich auch eine gebräuchliche Alternative. Bei diesen nicht gewalttätigen Konfrontationen besteht zweifellos weiterhin die Neigung zu wabuwabu- es ist sozusagen in die Sektorenstruktur eingebaut. Wenn es daher sozial tolerierbar ist- wenn ausgleichende, Frieden erzwingende Bedingungen stark genug sind - wird hartes Feilschen zur institutionalisierten externen Beziehung. W:tr stoßen dann auf gimwali, die Mentalität des Marktplatzes, den unpersönlichen Tausch (ohne Partnerschaft) von Trobriandern verschiedener Dörfer oder von Trobriandern mit andern Stämmen. Doch setzt gimwali besondere Bedingungen voraus, eine Art soziale Isolation, die verhindert, dass wirtschaftliche Reibungspunkte einen gefiihrlichen Streit entfachen. Im Allgemeinen wird Feilschen unterdriickt, besonders dann, wenn das Überschreiten der Grenze für beide Seiten kritisch ist, wo zum Beispiel verschiedene strategische Taktiken aufeinander stoßen. Trotz der Distanz der Sektoren ist dann der Tausch gerecht, utu, dh. ausgeglichen: Das freie Spiel von wabuwabu und gimwali wird im Interesse der Symbiose eingeschränkt. Die Einschränkung wird durch spezielle und sensible institutionelle Mittel ermöglicht. Diese Mittel sehen manchmal so absurd aus, dass sie von Ethnologen als eine Art »Spiel« der Eingeborenen angesehen werden, aber ihr Zweck ist es offenbar, eine wichtige gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit gegen eine grundlegende soziale Spaltung zu immunisieren (vgl. Besprechung von kula bei White 1959 und Fortune 1932). Der stumme Handel ist ein berühmtes Beispiel dafür- gute Beziehungen werden aufrechterhalten, indem man jedwede Beziehung ausschaltet. Am üblichsten sind »Handelspartnerschaften« und »Handelsfreundschaften<<. Der springende Punkt bei allen Arten dieser Transaktionen ist die soziale Unterdrückung der negativen Reziprozität. Friede ist in die Beziehung eingebaut, Feilschen verboten und der Tausch, der als eine Übertragung von gleichwertigen Gegenständen durchgeführt wird, unterstützt wiederum den Frieden. Die Symbiose zwischen den Stämmen verändert die Parameter des hypothetischen Modells. Der penphere Sektor wird durch deutlich sozialere Beziehungen, als ·in dieser Zone normal sind, durchbrochen. Den Kontext des Tauschs bildet nun ei-
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ne engere Sphäre gemeinsamer Mitgliedschaft, der Tausch selbst ist gerecht und friedlich. Die Reziprozität ist fast im Gleichgewicht. Was immer der Wert dieser Anmerkungen als Darstellung der Beziehung zwischen Reziprozität und verwandtschaftlicher Distanz ist, sie müssen dem Leser auch gewisse Grenzen der vorliegenden Perspektive andeuten. Nur zu zeigen, dass der Charakter der Reziprozität von der sozialen Distanz abhängig ist - selbst wenn dies auf unbezweifelbare Weise gezeigt werden könnte - heißt weder, sich in letzten Erklärungen zu ergehen, noch zu bestimmen, wann Tauschhandlungen tatsächlich stattfinden. Eine systematische Beziehung zwischen Reziprozität und Soziabilität an sich sagt noch nicht, wann oder bis zu welchem Grad die Beziehung ins Spiel kommt. Es wird hier nur angenommen, dass die beschränkenden Kräfte außerhalb der Beziehung selbst liegen. Die Bedingungen einer endgültigen Analyse liegen in der umfassenderen kulturellen Struktur und ihrer adaptiven Reaktion auf die Umgebung. Von diesem umfassenderen Gesichtspunkt aus ist man in der Lage, die bedeutsamen Sektorenlinien und Verwandtschaftskategorien des vorliegenden Falles und ebenso die Verteilung der Reziprozität in den verschiedenen Sektoren zu bestimmen. Wenn man zum Beispiel annimmt, dass enge Verwandte Nahrung teilen würden, braucht daraus nicht zu folgen, dass solche Transaktionen tatsächlich· geschehen. Der gesamte (kulturell-adaptive) Zusammenhang kann intensives Teilen dysfunktional machen und auf subtile Weise den Untergang einer Gesellschaft bewirken, die sich diesen Luxus erlaubt. Was das Vorkommen der Reziprozität im Speziellen betrifft, muss noch etwas berücksichtigt werden - Menschen können geizig sein. Bisher ist weder etwas über Sanktionen in Bezug auf Tauschbeziehungen gesagt worden, noch, was wichtiger ist, über Kräfte, die ihnen entgegenwirken. Es gibt Widersprüche in primitiven Wirtschaftssystemen: Die Neigung zum Eigennutz, die mit dem hohen Grad der Soziabilität, den die Sitte erfordert, unvereinbar ist, wird auch dort freigesetzt. Malinowski beobachtete dies schon früh, und Firth (1926) brachte in seiner Arbeit über die Sprichwörter der Maori den Konflikt, das subtile Wechselspiel zwischen dem moralischen Diktat des Teilens und den hedonistischen persönlichen Interessen geschickt ans Licht. Die weit verbreitete Familienproduktion, so kann man sagen, wirkt bremsend auf den Ertrag auf vergleichbar niedriger Ebene, obwohl die wirtschaftlichen Bestrebungen nach innen, auf den Haushalt, gerichtet werden. Die Produktionsweise ist demnach nicht ohne weiteres für die allgemeine wirtschaftliche Solidarität geeignet. Wird Teilen moralisch gefordert, z.B. durch die bittere Not eines Verwandten, so mögen doch alle Gründe, die Teilen gut und recht machen, einen wohlhabenden Mann keineswegs dazu bringen, es auch zu tun. Und da durch den Beistand für andere wenig zu gewinnen ist, gibt es keine festen Garantien bei solch sozialen Übereinkünften wie der Verwandtschaft:. Die traditionellen sozialmoralischen Verpflichtungen schreiben einen wirtschaftlichen Kurs vor, und die
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Öffentlichkeit des primitiven Lebens bringt die Leute dazu, diesen Kurs zu halten, indem sie das Risiko vergrößert, Eifersucht, Feindschaft und zukünftige wirtschaftliche Nachteile auszulösen. Aber zu beobachten, dass ein Volk ein System der Moralität und der Verbote hat, ist kein Beweis dafür, dass jed~r sich ihm auch fügt. Wie jeder weiß, verwandeln die Siriono Feindschaft und verborgenen Geiz in eine Lebenshaltung. Es ist interessant, dass bei ihnen trotzdem die üblichen Normen des primitiven Wtrtschaftsverkehrs deutlich werden. So etwa durch die Norm, dass der Jäger das von ihm erlegte W1l.d nicht essen sollte. Aber der Sektor, in dem de facto geteilt wird, ist nicht_nur sehr schmal, »geteilt wird auch selten ohne einen gewissen Grad von gegenseitigem Missttauen und Missverständnis; jede Person hat das Gefühl ausgenutzt zu werden<<, darum gilt: »Je größer der Fang, desto mürrischer der Jäger« (Holmberg 1950: 50, 62). Die Siriono unterscheiden sich deshalb nicht von anderen primitiven Gemeinschaften. Sie erkennen lediglich sehr deutlich die Möglichkeit, die anderswo seltener gesehen wird: jene nämlich, dass strukturelle Zwänge zur Großzügigkeit einem Härtetest nicht gewachsen sind Aber die Siriono sind eine Schar vertriebener Personen, die ihre Kultur verloren haben. Ihr gesamtes kulturelles Gerüst, von den Tauschregeln bis zur Institution der Häuptlingschaft und der Verwandtschaftsterminologie der Crow, spotten ihres heutigen elenden Zustands.
(...)
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III Soziologische Theorieansätze
Exkurs über Treue und Dankbarkeit* Georg Simmel
Die Treue gehört zu jenen allerallgemeinsten Verhaltungsweisen, die für alle Wechselwirkungen unter Menschen, die nicht nur materiell. sondern auch soziologisch verschiedenartigsten, bedeutsam werden können. In Über- und Unterordnungen wie in Gleichstellungen, innerhalb kollektiver Gegnerschaften gegen einen Dritten wie innerhalb kollektiver Freundschaften, in Familien wie dem Staat gegenüber, in der Liebe wie dem Verhältnis zum Berufskreise - in all diesen Gebilden, rein auf ihre soziologische 1Konstellation hin angesehen, wird die Treue und ihr Gegenteil wichtig, gleichsam als eine soziologische Form zweiter Ordnung. als der Träger der bestehenden und ,sich konservierenden Beziehtmgsarten zwischen Elementen; inihrer Allgemeinheit verhält sie sich gewissermaßen zu den von ihr erhaltenen so~io logischen Formen; wie diese sich zu den materiellen Inhalten und Motiven des gesellschaftlichen Daseins verhalten. - Ohne die Erscheinung. die wir Treue nennen, würde die Gesellschaft überhaupt nicht in der tatsächlich gegebenen Weise irgend eine Zeit hindurch existieren können. Die Momente, die ihre Erhaltung tragen: Eigeninteresse der Elemente und Suggestion, Zwang und Idealismus, mechanische Gewohnheit und Pflichtgefühl, Liebe und Trägheit- würden sie vor dem Auseinanderbrechen nicht bewahren können, wenn nicht alle durch das Moment der Treue ergänzt würden; freilich ist Maß und Bedeutung dieses Momentes im einzelnen Fall nicht bestimmbar,. weil die Treue, in ihrer praktischen Wirkung, immer ein andres Gefühl ersetzt, voh dem kaum je die allerletzte Spur verschwunden sein wird; was diesem, was der 'Freue zuzuschreiben ist, verschlingt sich zu einem Gesamterfolg, der der quantitativen Analyse widersteht. Wegen des Ergänzungscharakters, der der Treue zukommt, ist z.B. ein Ausdruck wie: treue Liebe - einigermaßen irreführend Wenn in einem Verhältnis zwischen Menschen die Liebe fortbesteht- wozu bedarf es dann der Treue? Wenn die Individuen nicht schon im ersten Moment durch die Treue zusammengebunden sind, sondern durch die ganz primäre, genuine Seelendisposition der Liebe- warum musste nach zehn1jahren noch die Treue alsHüterindes Verhältnisses hinzukom-
* Aus: Georg Sirnme~ Sor(jologie.
Unterstl&hung iiber die Formen der V ergese/lschtiftun& Leipzig: Duncker und Humblot, 1908j581-598 (bzw. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, 652-670).
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men, da doch, nach der Voraussetzung, jene Liebe nach zehn Jahren noch eben dieselbe ist und ganz allein von sich aus dieselbe zusammenbindende Kraft bewähren muss, wie in ihrem ersten Augenblick? Will der Sprachgebrauch die einfach dauernde Liebe als treue Liebe bezeichnen, so ist dagegen natürlich nichts einzuwenden, denn auf Worte kommt es nicht an; wohl aber darauf, dass es einen besonderen seelischen- und soziologischen- Zustand gibt, der die Dauer eines Verhältnisses noch über die Kräfte seines ersten Zustandekommens hinaus bewahrt, der diese Kräfte mit dem gleichen synthetischen Erfolge, wie sie selbst ihn hatten, überlebt und den wir nur Treue nennen können, trotzdem dies Wort noch die ganz andersartige Bedeutung: des Beharrens dieser Kräfte selbst - einschließt. Man könnte die Treue als das Beharrungsvermögen der Seele bezeichnen, welches sie in einer einmal eingeschlagenen Bahn festhält, nachdem der Anstoß, der sie überhaupt in diese Bahn geführt, vorbeigegangen ist. Es versteht sich von selbst, dass ich hier immer nur von der Treue als einer rein seelischen, von innen her wirksamen Verfassung spreche, nicht von einem rein äußeren Verhalten, wie z.B. innerhalb der Ehe der juristische Begriff der Treue überhaupt nichts Positives, sondern nur das Nicht-Stattfinden der Untreue bedeutet. Es ist eine Tatsache von der größten soziologischen Wichtigkeit, dass unzählige Verhältnisse in ihrer soziologischen Struktur ungeändert beharren, auch wenn das Gefühl oder die praktische Veranlassung, die sie ursprünglich entstehen ließen, verschwunden sind Die sonst unbezweifelbare Wahrheit: Zerstören ist leichter als Aufbauen - gilt für gewisse menschliche Beziehungen nicht ohne weiteres. Freilich fordert das Entstehen eines Verhältnisses eine bestimmte Zahl positiver und negativer Bedingungen, von denen das Ausbleiben einer einzigen sein Zustandekommen von vornherein verhindert. Allein, ist es einmal entstanden, so wird es durch den nachträglichen Ausfäll jener Bedingung, ohne die es vorher nicht erwachsen wäre, noch keineswegs immer zerstört. Ein erotisches Verhältnis etwa, auf Grund körperlicher Schönheit entstanden, kann sehr wohl deren Schwinden und ihren Übergang in Hässlichkeit überleben. Was man von Staaten gesagt hat: dass sie nur durch dieselben Mittel erhalten werden, durch die sie gegründet sind- ist nur eine sehr partielle Wahrheit und nichts weniger als ein durchgängiges Prinzip der Vergesellschaftung überhaupt. Die soziologische Verknüpftheit vielmehr, woraus auch immer entstanden, bildet eine Selbsterhaltung aus, einen Eigenbestand ihrer Form, unabhängig von ihren ursprünglich verknüpfenden Motiven. Ohne dieses Beharrungsvermögen der einmal konstituierten Vergesellschaftungen würde die Gesellschaft als ganze in jedem Augenblick zusammenbrechen oder in unausdenkbarer Weise verändert werden. Die Konservierung der Einheitsform wird psychologisch durch vielerlei Momente getragen, intellektuelle und praktische, positive und negative. Die Treue ist darunter dergeßihlsmäßige Faktor, oder auch: sie selbst in der Gestalt des Gefühls, in ihrer Projizierung auf die Ebene des Gefühls. Das hier in
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Frage stehende Gefühl - dessen Qualität nur in ihrer psychischen Wttklichkeit festgestellt werden soll, gleichviel ob man dies als zureichende Definition des Begriffs der Treue akzeptiert oder nicht -lässt sich also so bestimmen. Den Verhältnissen, die sich zwischen Individuen anspinnen, entspricht in diesen ein auf das Verhältnis gerichtt!tes spezifisches Gefühl, ein Interesse, ein Impuls. Besteht das Verhältnis nun weiter, so entsteht, in Wechselwirkung mit diesem Weiterbestand, ein besonderes Gefühl, oder auch: Jene ursprünglich begründenden seelischen Zustände metamorphosieren sich - vielfach, wenn auch nicht immer - in eine eigentümliche Form, die wir Treue nennen, gleichsam in ein psychologisches Sammelbecken oder eine Gesamtheits- oder Einheitsform für die mannigfaltigsten Interessen, Mfekte, Bindungsmotive; und über alle Verschiedenheit ihres Ursprungs hinweg nehmen sie in der Form der Treue eine gewisse Gleichmäßigkeit an, die begreiflich den Dauercharakter dieses Gefühles begünstigt. Es ist also nicht das gemeint, was man treue Liebe, treue Anhänglichkeit usw. nennt und was einen gewissen Modus oder zeitliche Quantität eines sonst schon bestimmten Gefühles bedeutet; sondern ich meine, dass die Treue ein eigfler Seelenzustand ist, gerichtet auf den Bestand des Verhältnisses als solchen, und unabhängig von den spezifischen Gefühls- oder Willensträgem seines Inhalts. Diese seelische Verfassung der Individuen, in so verschiedenen Graden sie hier auftritt, gehört zu den apriorischen Bedingungen der Gesellschaft, zu denjenigen, die diese, mindestens in ihrer uns bekannten Existenz, erst möglich machen- obgleich sie in äußerst verschiedenen Graden auftritt, die indes wohl nie bis zum Nullpunkt sinken können: Der absolut treulose Mensch, dem .der Übergang der Beziehungen bildenden Affekte in das besondere, auf die Erhaltung der Beziehung gerichtete Gefühl schlechthin unmöglich wäre, ist keine ausdenkbare Erscheinung. Man könnte so die Treue als einen Induktionsschluss des Gefühles bezeichnen. Eine Beziehung hat in dem und in dem Moment bestanden. Daraus zieht das Gefühl - in einer formalen Ahnlichkeit mit der theoretischen Induktion- den weiteren Schluss: Also besteht sie auch in einem späteren Moment; und wie man in dem intellektuellen Induktionsschluss den späteren Fall sozusagen nicht mehr als Tatsache festzustellen braucht, weil Induktion eben bedeutet, dass einem dies erspart' bleibt, so findet in sehr vielen Fällen jener spätere Moment die Realität des Gefühls, des Interesses gar nicht mehr vor, sondern er ersetzt diese durch jenen induktiv entstandenen Zustand, den man die Treue nennt. Man muss (und das gehört zu den soziologischen Grundlagen) bei sehr vielen Verhältnissen und Verbindungen der Menschen untereinander darauf rechnen, dass die bloße Gewöhnung des Zusammenseins, dass das bloß tatsächlich längere Bestehen der Beziehung diesen Induktionsschluss des Gefühls mit sich bringt. Und das erweitert den Begriff der Treue und bringt ein sehr wichtiges Moment hinzu: Der äußerlich bestehende soziol~gische Zustand, das Zusammen, kooptiert gewissermaßen die Gefühle, welche ihm eigentlich entsprechen, obgleich sie am Anfang und in Bezug
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auf die Begründung der Beziehung nicht vorhanden waren. Der Prozess der Treue wird hier gewissermaßen rückläufig. Die seelischen Motive, die eine Beziehung knüpfen, geben der geknüpften gegenüber für das spezifische Gefühl der Treue Raum oder verwandeln sich in dieses. Ist nun aus irgend welchen äußerlichen Gründen oder wenigstens solchen seelischen, die dem Sinne der Vereinigung nicht entsprechen, eine solche zustande gekommen, so erwächst dennoch ihr gegenüber eine Treue, und diese lässt die tieferen und der Vereinigung adäquaten Gefühlszustände sich entwickeln, jene wird gleichsam per subsequens matrimonium animarum legitimiert. Die banale Weisheit, die man oft gegenüber konventionellen oder aus rein äußeren Gründen geschehenden Eheschließungen hört: die Liebe käme schon noch in der Ehe - ist tatsächlich nicht immer im Unrecht. Hat der Bestand des Verhältnisses erst einmal sein psychologisches Korrelat in der Treue gefunden, so folgen dieser schließlich auch ihre Mfekte, Herzensinteressen, innere Bindungen, die statt ihrer sozusagen logischen Stellung am Anfang der Beziehung sich nun vielmehr als deren Endresultat herausstellen - eine Entwicklung, die freilich ohne das Mittelglied der Treue, des auf die Erhaltung des Vedtältnisses als solchen gerichteten Affektes, nicht eintritt. Entsprechend der psycholog1schen Assoziation, die, nachdem die Vorstellung B einmal an die Vorstellung A geknüpft ist, nun auch in umgekehrter Richtung wirkt und A in das Bewusstsein ruft, wenn B in ihm auftaucht - dieser entsprechend führt die soziologische Form auf dem angedeuteten Wege zu dem ihr entsprechenden inneren Zustand, während sonst dieser zu jener führt. Man hat in Frankreich. um die Kindesaussetzung und die Übergabe der Kinder an die Findelhäuser möglichst einzuschränken, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dort die so genannten »secours temporaires« eingeführt, ziemlich reichliche Unterstützungen an unverheiratete Mütter, wenn sie ihre Kinder in eigener Pflege behalten; und die Urheber dieser Maßregel haben auf Grund eines sehr reichhaltigen Beobachtungsmaterials zugunsren davon angeführt, dass in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle, wenn es überhaupt nur gelänge, das Kind irgend welche Zeit bei der Mutter zu halten, dann keine Gefahr mehr wäre, dass sie sich von ihm trennte. Während eigentlich das natürliche Gefühlsband der Mutter zum Kinde dazu führen sollte, dass sie es bei sich behält, wird dies offenbar nicht immer wirksam. Gelingt es aber, die Mutter aus äußerlichen Gründen, um sich den Vorteil dieser secours temporaires zu sichern, zu bewegen, dass sie das Kind auch nur eine Weile bei sich behält, so lässt dieses äußere Vedtältnis allmählich seine Gefühlsgrundlage unter sich aufwachsen. Eine besondere Zuspitzung erfahren diese psycholog1schen Konstellationen in der Erscheinung des Renegaten, an dem man eine typische Treue gegen seine neue politische, religiöse oder sonstige Partei beobachtet hat, die die Treue der von jeher dieser zugehörigen Elemente ceteris paribus an Bewusstheit und Entschiedenheit überträfe. Das geht so weit, dass vielfach in der Türkei im 16. und 17. Jahrhundert
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geborene Türken überhaupt nicht die hohen Staatsstellungen bekleiden durften. sondern dass man dazu ausschließlich Janitscharen nahm, dh. also, geborene Christen. die entweder freiwillig übergetreten waren oder Christenkinder, die man ihren Eltern geraubt und als Türken aufgezogen hatte. Sie waren die tteusten und tatkräftigsten Untertanen. Mir scheint diese besondere Treue des Renegaten darauf zu beruhen. dass die Umstände, unter denen er das neue Verhältnis eingegangen ist, bei ihm länger und nachhaltiger wirken. als wenn er sozusagen naiv und ohne Bruch mit einem andem hineingewachsen wäre. Ist die Treue, soweit sie uns hier angeht, das im Gefühl reflektierte Eigenleben der Beziehung, unter Gleichgültigkeit gegen das eventuelle Verschwinden ihrer ursprünglich begründenden Motive, so wird sie um so energischer und sicherer wirken. je länger dennoch jene Motive mitleben, je geringere Belastungsproben der Kraft der reinen Fonn, der Beziehung als solcher, zugemutet werden; und dies wird bei dem Renegaten ganz besonders der Fall sein. auf das scharfe Bewusstsein hin: er kann nicht zurück, - daraufhin, dass für ihn, wie in einer Art Unterschiedsempfindlichkeit, das andre Verhältnis, aus dem er sich unwiderruflich gelöst hat, immer den Hintergrund des jetzt bestehenden Verhältnisses bildet. Er wird gleichsam immer von neuem von dort repelliert und in das neue Verhältnis hingedrängt. Die Treue des Renegaten ist so besonders stark, weil sie· noch in sich schließt, was die Treue als Treue entbehren kann: das bewusste Weiterleben der Beziehungsmotive, das sich mit der formalen Kraft eben dieser Beziehung hier daueroder verschmilzt, als in den Fällen. denen diese entgegen gesetzte V ergangenheit und dieser Ausschluss des Zurück- und Anderskönnens abgeht. Schon die reine begriffliche Struktur der Treue zeigt sie als einen soziologischen oder, wenn man will, soziologisch orientierten Mfekt. Andere Gefühle, so sehr sie den Menschen an den Menschen binden mögen. haben dennoch etwas mehr Solipsistisches. Auch die Liebe, die Freundschaft, der Patriotismus, das soziale Pflichtgefühl, haben dodh ihre Wesen zunächst in einem Mfekt, welcher in dem Subjekt selbst und immanent in ihm vor sich geht und beharrt, wie es sich am stärksten vielleicht in dem Worte Philines offenbart: »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?« Hier bleiben also die Mfekte ttotz ihrer unendlichen soziologischen. Bedeutung zunächst Zustände des Subjekts. Sie entstehen zwar nur durch die Einwirkung von andem Individuen oder Gruppen. aber sie tun es auch, bevor diese Einwirkung in Wechselwirkung übergegangen ist, sie brauchen mindestens, wenn sie sich auch auf andre Wesen richten, doch nicht das Verhältnis mit diesen zu ihrer realen Voraussetzung oder Inhalt zu haben. Dies eben ist gerade der Sinn der Treue (wenigstens der hier fragliche, obgleich sie sprachgebräuchlich auch noch andre Bedeutungen hat), sie ist das Wort für das eigentümliche Gefühl, das nicht auf unser Besitzen des Andem, als auf ein eudämonistisches Gut des Fühlenden, auch nicht auf das Wohl des Andern, als auf eib.en dem Subjekt gegenüberstehenden objektiven Wert geht, sondern auf die Erhaltung der Beifehung zum Andem; sie stiftet diese Beziehung nicht
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und kann infolgedessen nicht, wie alle jene Mfekte, vorsoziologisch sein, sondern durchströmt die gestiftete, eines ihrer Elemente an dem andern festhaltend, als die Innenseite ihrer Selbsterhaltung. Vielleicht hängt dieser spezifisch-soziologische Charakter der Treue damit zusammen, dass sie mehr als unsre andern Gefühle, die über uns kommen wie Regen und Sonnenschein und ohne dass unser Wille über ihr Kommen und Gehen Herr wäre, - unseren moralischen Vornahmen zugängig ist, dass ihr Versagen uns ein stärkerer Vorwurf ist, als wenn Liebe oder Sozialgefühljenseits ihrer bloß pflichtmäßigen Betätigungen - ausbleiben. Diese besondere soziologische Bedeutung der Treue aber lässt sie noch eine vereinigende Rolle in einem ganz fundamentalen, die prinzipielle Form aller Vergesellschaftung tangierenden Dualismus spielen. Es ist dieser: dass ein Verhältnis, das ein fluktuierender, fortwährend sich entwickelnder Lebensprozess ist, eine relativ stabile, äußere Form erhält; die soziologischen Formen des Miteinanderumgehens, der Einheitsbildung, der Darstellung nach außen können den \1l?_andlungen ihrer Innerlichkeit, dh. der auf den Andern bezüglichen Vorgänge in jedem Individuum, überhaupt nicht mit genauer Anpassung folgen, beide Schichten haben ein verschiedenes Entwicklungstempo, oder es ist auch oft das Wesen der äußeren Form, sich überhaupt nicht eigentlich zu entwickeln. Das stärkste äußere Fixierungsmaß innerlich variabler Verhältnisse ist offenbar das rechtliche: die Eheform, die den Wandlungen des personalen Verhältnisses ganz unnachgiebig gegenübersteht; der Kontrakt zwischen zwei Sozien, der den Geschäftsgewinn zwischen ihnen halbiert, trotzdem sich bald herausstellt, dass der eine alles, der andre nichts leistet; die Zugehörigkeit zu einer städtischen oder religiösen Gemeinde, die den Individuen völlig fremd oder antipathisch wird Aber jenseits solcher ostensiblen Fälle ist es auf Schritt und Tritt bemerkbar, wie die zwischen Individuen - und auch zwischen Gruppen - sich entspinnenden Beziehungen sogleich zu einer Verfestigung ihrer Form neigen und wie diese nun ein mehr oder weniger starres Präjudiz für den weiteren Verlauf des Verhältnisses bilden und ihrerseits gar nicht imstande sind, sich vibrierender Lebendigkeit, den leiseren oder stärkeren Wandlungen der konkreten Wechselbeziehung anzupassen. Dies wiederholt übrigens nur die Diskrepanz innerhalb des Individuums. Das innere Leben, das wir als Strömung, unaufhaltsamen Prozess, Auf und Nieder der Gedanken und Stimmungen empfinden, kristallisiert für uns selbst zu Formeln und festgelegten Richtungen, oft schon dadurch, dass wir es in Worte fassen. Mag es auch dadurch zu konkreten, im Einzelnen fühlbaren Inadäquatheiten nicht oft kommen; mag in glücklichen Fällen die feste äußere Form den Schwerpunkt oder Indifferenzpunkt darstellen, um den das Leben gleichmäßig nach der einen und nach der andern Seite hin oszilliert - so bleibt doch der prinzipielle, formale Gegensatz zwischen dem Fließen, der wesentlichen Bewegtheit des subjektiven Seelenlebens und der Fähigkeit seiner Formen, die nicht etwa ein Ideal, einen Gegensatz gegen seine Wtrldichkeit, sondern gerade dieses Leben selbst aus-
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drücken und gestalten. Weil die äußeren Formen, im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, nicht fließen, wie die innere Entwicklung selbst, sondern immer für eine gewisse Zeit fixiert bleiben, ist es ihr Schema: dass sie dieser inneren Wtrklichkeit bald voraneilen, bald hinter ihr zurückbleiben. Gerade wenn überlebte Formen durch das hinter ihnen pulsierende Leben zerbrochen werden, schwingt dieses sozusagen in ein entgegen gesetztes Extrem und schafft Formen, die jenem realen Leben voraneilen und von ihm noch nicht ganz ausgefiillt werden - anhebend von ganz persönlichen Beziehungen, wo z.B. das Sie unter Freunden oft schon lange als eine der Warme des Verhältnisses unangemessene Steifheit empfunden wird, das Du dann aber ebenso oft mindestens am Anfang, als ein ganz leises Zuviel wirkt, als die Antizipation einer doch erst noch zu gewinnenden völligen Intimität; bis zu Änderungen der politischen Verfassung, die überlebte, zu unerträglichem Zwang gewordene Formen durch freiheitliche und weitere ersetzen, ohne dass doch die Wtrklichkeit der politischen und wirtschaftlichen Kräfte für diese schon immer reif wäre, einen vorläufig zu weiten Rahmen an Stelle eines zu engen setzend - Die Treue nun, in ilttem hier auseinander gesetzten Sinne, hat gegenübet diesem Schema des sozialen Lebens die Bedeutung: dass mit ihr tatsächlich einmal die personale, fluktuierende Innerlichkeit den Charakter der fixierten, stabilen Form des Verhältnisses annimmt, dass diese soziologische, jenseits des unmittelbaren Lel;lens und seines subjektiven Rhythmus verharrende Festigkeit hier wirklich zum ·Inhalt des subjektiven, gefühlsmäßig bestimmten Lebens geworden ist. Von den unzähligen Modifikationen, Abbiegungen, Verschlingungen der konkreten Schicksale abgesehen, ist die Treue die Brücke und Versöhnung für jenen tiefen, wesensmäßigen Dualismus, der die Lebensform der individuellen Innerlichkeit von der der V ergesellschaftung abspaltet, die doch von jener getragen wird; die Treue ist jene Verfassung der bewegten, in kontinuierlichem Flusse sich auslebenden Seele, mit der sie die Stabilität der überindividuellen Verhältnisform nun dennoch sich innerlich zu eigen macht, mit der sie einen Inhalt, dessen Form der Rhythmik oder Unrhythmik des wirklich gelebten Lebens widersprechen muss, - obgleich sie selbst ihn geschaffen hat - in dieses Leben als seinen Sinn und Wert aufnimmt. In viel geringerem Maße als an der Treue tritt der soziologische Charakter an dem Mfekte der Dankbarkeit unmittelbar hervor. Die soziologische Bedeutung der Dankbarkeit indes ist eine kaum zu überschätzende; nur die äußere Geringfügigkeit ihrer einzelnen Akte der aber die ungeheure Breite ihrer Wtrksamkeit gegenübersteht - scheint bisher völlig darüber hinweggetäuscht zu haben, dass das Leben und der Zusammenhalt der Gesellschaft ohne die Tatsache der Dankbarkeit unabsehbar geändert wäre. Es ist zunächs~ eine Ergänzung der rechtlichen Ordnung, die die Dankbarkeit vollbringt. Aller Verkehr der Menschen beruht auf dem Schema von Hingabe und Äquivalent. Nun Jtann für unzählige Hingaben und Leistungen das Äquivalent erzwungen werden. Bei allen wirtschaftlichen Tauschen, die in Rechtsform geschehen,
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bei allen fixierten Zusagen für eine Leistung, bei allen Verpflichtungen aus einer rech1!1ich regulierten Beziehung erzwingt die Rechtsverfassung das Hin- und Hergehen von Leistung und Gegenleistung und sorgt für diese Wechselwirkung, ohne die es keine soziale Balance und Zusammenhalt gibt. Nun bestehen aber unzählige Beziehungen, für welche die Rechtsform nicht eintritt, bei der von einem Erzwingen des Äquivalents für die Hingabe nicht die Rede sein kann. Hier tritt als Ergänzung die Dankbarkeit ein, jenes Band der Wechselwirkung, des Hin- und Hergehens von Leistung und Gegenleistung auch da spinnend, wo kein äußerer Zwang es garantiert. Die Dankbarkeit ist so_ in demselben Sinne eine Ergänzung der Rechtsform, wie ich die Ehre als eine solche aufwies. Um diese Verknüpfung in ihrer Sonderart richtig einzuordnen, muss man sich zunächst klar machen, dass die persönliche, aber an Sachen ausgeübte Aktion von Mensch auf Mensch, wie sie etwa im Raum oder im Geschenk, den primitiven Formen des Besitzwechsels, liegt, sich zum Tausch im objektiven Sinne des Wortes entwickelt. Der Tausch ist die Sachwerdung der Wechselwitkung zwischen Menschen. Indem einer eine Sache gibt und der andre eine Sache zurückgibt, welche denselben Wert hat, hat sich die reine Seelenhaftigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen herausprojiziert in Gegenstände, und diese Versachlichung der Beziehung, das Hineinwachsen ihrer in die Dinge, welche hin- und herwandern, wird so vollkommen, dass in der ausgebildeten Wtttschaft überhaupt jene persönliche Wechselwirkung ganz und gar zurücktritt und die Waren ein Eigenleben gewonnen haben, die Beziehungen zwischen ihnen, die Wertausgleichungen zwischen ihnen automatisch, bloß rechnerisch stattfinden und die Menschen nur noch als die Exekutoren der in den Waren selbst angelegten Tendenzen zur Verschiebung und Ausgleichung auftreten. Es wird objektiv Gleiches gegen objektiv Gleiches gegeben, und der Mensch selbst, obgleich er selbstverständlich um seines Interesses willen den Prozess vollzieht, ist eigentlich gleichgültig. Die Beziehung der Menschen ist Beziehung der Gegenstände geworden. Die Dankbarkeit nun entsteht gleichfalls aus und in der Wechselwirkung zwischen Menschen, und zwar nach innen hin ebenso, wie nach außen hin jene Beziehung der Dinge daraus erwachsen ist. Sie ist das subjektive Residuum des Aktes des Empfangens oder auch des Hingebens. Wie mit dem Tausch der Dinge die Wechselwirkung hinaustritt aus dem unmittelbaren Akte der Korrelation, so sinkt mit der Dankbarkeit dieser Akt in seinen Folgen, in seiner subjektiven Bedeutung, in seinem seelischen Echo herunter in die Seele. Sie ist gleichsam das moralische Gedächtnis der Menschheit, hierin von der Treue so unterschieden, dass sie praktischeren, impulsiveren Wesens ist, dass sie, obgleich sie natürlich auch rein im Inneren verbleiben kann, doch die Potenzialität neuer Handlungen ist, eine ideelle Brücke, welche die Seele sozusagen immer wieder vorfindet, um bei der leisesten Anregung, welche sonst vielleicht nicht genügen würde, eine neue Brücke zu schlagen, über sie hin sich dem Andem zu nähern. Alle Verge-
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sellschaftung jenseits ihres ersten Ursprungs beruht auf der Weiterwirkung der Beziehungen über den Moment ihres Entstehens hinaus. Mag Liebe oder Gewinnsucht, Gehorsam oder Hass, Geselligkeitstrieb oder Herrschsucht eine Handlung von Mensch zu Mensch aus sich hervorgehen lassen: Die schöpferische Stimmung pflegt sich in der Handlung nicht zu erschöpfen, sondern irgendwie in der durch sie geschaffenen soziologischen Situation weiterzuleben. Die Dankbarkeit ist ein solches Weiterbestehen im entschiedensten Sinne, ein ideelles Fortleben einer Beziehung, auch nachdem sie etwas längst abgebrochen, und der Aktus des Gebens und Empfangens längst abgeschlossen ist. Obgleich die Dankbarkeit ein rein personaler oder, wenn man will, lyrischer Mfekt ist, so wird sie, durch ihr tausendfaches Hinund Herweben innerhalb der Gesellschaft, zu einem ihrer stärksten Bindemittel; sie ist der fruchtbare Gefühlsboden, aus dem nicht nur einzelne Aktionen von Einem zum Andern hin erwachsen, sondern durch dessen fundamentales, wenn auch oft unbewusstes und in unzählige andre Motivierungen verwebtes Dasein den Aktionen eine einzigartige Modifikation oder Intensität zuwächst, ein Verbundensein mit dem Früheren, ein Hineingeben der Persönlichkeit, eine Kontinuität des Wechsellebens. Würde mit einem Schlage jede auf frühere Aktionen hin den Seelen verbliebene Dankreaktion ausgetilgt, so würde die Gesellschaft, mindestens wie wir sie kennen, auseinander fallen1• Kann man alle äußerlich-inn,erlichen verbindenden Motive~ sehen Individuen daraufhin ansehen, inwieweit sie den Tausch tragen, der die Gesellschaft zum großen Teil bildet, nicht nur die gebildete zusammenhält - so ist die Dankbarkeit eben jenes Motiv, das die Erwiderung der Wohltat von innen heraus bewirkt, wo von äußerer Notwendigkeit nicht die Rede ist. Und die Wohltat ist nicht nur ein dingliches Geben von Person zu Person, sondern wir danken dem Künstler und dem Dichter, der uns nicht kennt, und diese Tatsache schafft unzählige ideelle und konkrete, lockrere und festere Veroindungen zwischen denen, die solche Dankbarkeit gegen den gleichen Geber erfüllt; ja, nicht nur für das, was jemand überhaupt tut, danken wir ihm, sondern nur mit dem gleichen Begriff kann man das Gefühl bezeichnen, mit dem wir oft auf die bloße Existenz von Persönlichkeiten reagieren: Wtr sind ihnen dankbar, bloß weil sie da sind, weil wir sie erle1 Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funkdonen. Ohne dass in der Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird - auch außerhalb des Tausches - würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen. Denn das Geben ist keineswegs nur eine einfache Wirkung des Einen auf den Andern, sondern ist eben das, was von der soziologischen Funktion gefordert wird: es ist Wechselwirkung. Indem der Andre entweder annimmt oder zurückweist, iibt er eine ganz bestimmte Rückwirkung auf den ersteren. Die Art, wie er annimmt, dankbar Oder undankbar, so, dass er schon erwartet hat oder dass er überrascht wird, so, dass er von der Gabe befriedigt ist oder unbefriedigt bleibt, sodass er sich durch Gabe erhoben oder gede~ütigt fühlt- alles dies übt eine sehr. entschiedene, wenn auch natürlich nicht in bestimmten Begriffen und Maßen ausdrückbare Rückwirkung auf den Gebenden, und so ist jedes Geben eine Wechsel.wü:kung zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden.
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ben. Und die feinsten und festesten Beziehungen knüpfen sich oft an dieses, von allem einzelnen Empfangen unabhängige Gefühl, das gerade unsre ganze Persönlichkeit dem Andem wie aus einer Dankespflicht darbringt, weil sie auch dem Ganzen seiner Persönlichkeit gilt. Der konkrete Inhalt der Dankbarkeit nun, dh. der Erwiderungen, zu denen sie uns veranlasst, gibt Modifikationen der Wechselwirkung Raum, deren Zartheit nicht ihre Bedeutung für die Struktur unsrer Beziehungen mindert. Einen außerordendichen Nuancenreichtum erfahrt die Innerlichkeit dieser letzteren, wenn eine erhaltene Gabe der seelischen Sachlage nach nur mit einer der Art nach andern Gegengabe erwidert werden kann. So gibt der Eine vielleicht das dem Andern, was man Geist nennt, intellektuelle Werte - und der Andre zeigt seine Dankbarkeit darin, dass er Gemütswerte zurückgibt; oder er bietet einen ästhetischen oder sonstigen Reiz seiner Persönlichkeit dem Andern dar, der die stärkere Natur ist und jenem dafür gleichsam Willen infundiert, ihn mit Festigkeit und Entschließungskraft ausstattet. Nun gibt es wahrscheinlich keine Wechselwirkung, in der das Hin und Her, das Geben und Nehmen ein ganz genau gleiches Quale betrifft. Allein die Fälle, die ich hier erwähnt habe, sind die extremen Steigerungen dieser unvermeidlichen Verschiedenheit von Gabe und Gegengabe im Verhältnis der Menschen, und wo sie sehr entschieden und mit betontem Bewusstsein der Verschiedenheit auftreten, bilden sie ein ethisch wie theoretisch gleichmäßig schwieriges Problem dessen, was man die innere Soziologie nennen könnte. Vielfach nämlich hat es einen Ton von leiser innerer Unangemessenheit, dass der Eine dem Andern seine intellektuellen Schätze darbietet, ohne etwa sein Gemüt erheblich in das Verhältnis hineinzuengagieren, während der Andre dafür nichts zu geben weiß als Liebe: All solche Fälle haben etwas Fatales für das Gefühl, weil sie irgendwie an Kauf erinnern. Es ist der Unterschied zwischen Tausch im Allgemeinen und Kauf, dass bei dem Begriff des Kaufes betont wird, dass der tatsächlich vor sich gehende Tausch zwei ganz heterogene Dinge betrifft, welche eben nur durch den gemeinsamen Geldwert zusammengehalten und vergleichbar werden. Also wenn eine Handarbeit etwa in früheren Zeiten, als es noch kein Metallgeld gab, mit einer Kuh oder Ziege erkauft wutde, so waten das völlig heterogene Dinge, die aber durch den gemeinsam in beiden steckenden ökonomischen, abstrakt-allgemeinen Wert zusammengehalten und tauschbar wurden. In der modernen Geldwirtschaft ist diese Heterogenität auf den Gipfel getrieben. Denn das Geld ist, weil es das Allgemeine, dh. den Tauschwert, an allen vertauschbaren Gegenständen ausdrückt, nicht imstande,_ das Individuelle an eben diesen auszudrücken; und daher kommt über die Gegenstände, insoweit sie als verkäufliche figurieren, ein Ton von Deklassierung, von Herabsetzung des Individuellen an ihnen auf das Allgemeine, das diesem Dinge mit allen andern gleichfalls verkäuflichen und vor allen Dingen mit dem Gelde selbst gemeinsam ist. Etwas von dieser prinzipiellen Heterogenität findet in den Fällen statt, die ich erwähnte, wo
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zwei Menschen sich gegense1ttg verschiedenartige Güter ihrer Innerlichkeit darbieten, wo die Dankbarkeit für die Gabe sich gleichsam in einer ganz andern Münze realisiert nnd damit in den Tausch etwas von dem Charakter des Kaufes kommt, der hier a priori nnangemessen ist. Man kauft die Liebe mit dem, was man an Geist gibt. Mari. kauft den Reiz eines Menschen, den man genießen will, .durch die überlegene Suggestibilität nnd Willenskraft, welche er entweder über sich fühlen will oder welche er sich einflößen lassen will. Das Gefühl einer gewissen Inadäquatheit oder Unwürdigkeit kommt hier indes nur auf, wenn die gegenseitigen Darbietungen als losgelöste Objekte, die man austauscht, wirken, wenn die gegenseitige Dankbarkeit nur die Wohltat, sozusagen nur den ausgetauschten Inhalt selbst betrifft. Allein der Mensch ist doch, insbesondere in den Verhältnissen, die hier in Frage kommen, nicht der Kaufmann seiner selbst. Seine Qualitäten, die von ihm ausströmenden Kräfte nnd Funktionen liegen doch nicht nur vor ihm wie die Waren auf dem Ladentisch, sondern es kommt darauf an, sich dahin durchzufühlen, dass der Mensch, auch wenn er nur ein Einzelnes gibt, nur eine Seite seiner Persönlichkeit darbietet, in dieser einen Seite doch vollkommen sein kann, seine Persönlichkeit in der Form dieser einzelnen Energie, dieses einzelnen Attributes, wie Spinoza sagen würde, dennoch ganz geben kann. Jene Unverhältnismäßigkeit tritt nur ein, wo die Differenzierung innerhalb des Verhältnisses so vorgeschritten ist, dass, was der Eine dem Andern gibt, sich von der Gesamtheit seiner Persönlichkeit gelöst hat. Wo dies indes nicht geschehen ist, entsteht grade hier ein wundervoll reiner Fall der sonst nicht seHr häufigen Kombination, dass die Dankbarkeit die Reaktion auf die Wohltat nnd auf den Wohltäter gleichmäßig in sich schließt. In der scheinbar objektiven Erwidernng, die nur der Gabe gilt und die in einer andern Gabe besteht, ist es nur durch jene merkwürdige Plastizität der Seele möglich, die Ganzheit der Subjektivität des Einen wie des Andern sowohl hinzugeben wie hinzunehmen. Der tiefste Fall dieser Art liegt vor, wenn die innere Gesamtstimmung, die auf den Andern in der besonderen, Dankbarkeit genannten Weise eingestellt ist,,nicht gleichsam nur eine Verbreiterung der eigentlich bestimmt umschriebenen Dankesreaktion auf das Ganze der Seele ist, sondern wenn, was wir von einem Andern an Gütern nnd Dankenswertem erfahren, nur wie eine Gelegenheitsursache ist, in der ein in der inneren Beschaffenheit der Seele vorbestimmtes Verhältnis zu jenem nur verwirklicht wird. lß.er greift das, was wir Dankbarkeit nennen nnd was dieser Stimmung gleichsam nur von einer einzelnen Erweisung her den Namen gegeben hat, sehr tief herunter nnter die gewöhnliche, dem Objekt geltende Form des Dankes. Man kann sagen, dass er hier im Tiefsten überhaupt nicht darin besteht, dass die Gabe erwidert wi.td, sondern in dem Bewusstsein, dass man sie nicht erwidern könne, dass hier ~twas vorliegt, das die Seele des Empfangenden wie in einen gewissen Dauerzustand der andern gegenüber versetzt, die Ahnung der inneren
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Unendlichkeit eines Verhältnisses zwn Bewusstsein bringt, das durch eine endliche EtWeisung oder Betätigung vollkommen erschöpft oder verwirklicht werden kann. Dies berührt sich mit einer andern tief gelegenen Inkommensurabilität, die den nnter der Kategorie der Dankbarkeit verlaufenden Beziehnngen durchaus wesentlich ist. Wo wir von einemandem Dankeswertes erfahren haben, wo dieser >Norgeleistet« hat, können wir mit keiner Gegengabe oder Gegenleistung - obgleich eine solche rechtlich nnd objektiv die erste überwiegen mag - dies vollkommen erwidern, weil in der ersten Leistung eine Freiwilligkeit liegt, die bei der Gegenleistung nicht mehr vorhanden ist. Oenn zu ihr sind wir schon ethisch verpflichtet, zu ihr wirkt der Zwang, der zwar nicht sozial-juristisch, sondern moralisch, aber immerhin ein Zwang ist. Die erste, aus der vollen Spontaneität der Seele quellende EIWeisnng hat eine Freiheit, die der Pflicht- auch der Pflicht der Dankbarkeit- mangelt. Diesen Charakter der Pflicht hat Kant mit dem Gewaltstreich hindekretiert, dass Pflichterfüllung nnd Freiheit identisch seien. Er hat dabei die negative Seite der Freiheit mit der positiven verwechselt. Die Pflicht, die wir ideell über nns fühlen, sind wir scheinbar frei zu erfüllen oder nicht zu erfüllen. In Wirklichkeit geschieht nur das Letztere aus völliger Freiheit. Die Erfüllung aber erfolgt aus einem seelischen Imperativ heraus, aus jenem Zwang, der das innere Aquivalent des rechtlichen Zwanges der Gesellschaft ist. Die volle Freiheit liegt nur auf der Seite des Lassens, nicht auf der des Thns, zu dem ich dadurch, dass es Pflicht ist veranlasst bin, - wie ich zur EtWiderung einer Gabe eben dadurch veranlasst bin, dass ich sie empfangen habe. Nur wenn wir sie vorleisten, sind wir frei, nnd das ist der Grund, weshalb in der ersten, durch keinen Dank veranlassten Darbietung eine Schönheit, eine spontane Hingebnng, ein Aufquellen nnd Hinblühen zwn Andern gewissermaßen aus dem virgin soil der Seele liegt, das durch keine inhaltlich noch so überwiegende Gabe ausgeglichen werden kann. Hier bleibt ein Rest, der sich in dem- in Bezug auf den konkreten Inhalt des EIWeises of nngerechtfertigt scheinenden- Gefühl ausdrückt, dass wir eine Gabe überhaupt nicht erwidern können; denn in ihr lebt eine Freiheit, die die Gegengabe, eben weil sie Gegengabe ist, nicht besitzen kann. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb manche Menschen nngern etwas annehmen, nnd es möglichst vermeiden, beschenkt zu werden. Drehte sich die Wohltat nnd die Dankbarkeit einfach wn das Objekt, so wäre dies nnverständlich, weil man dann mit der Revanche alles ausgleichen, die innere Bindung völlig lösen könnte. In Wirklichkeit aber wirkt bei jenen vielleicht eben der Instinkt, dass die Gegengabe das entscheidende, das Freiheitsmoment der ersten Gabe nicht enthalten kann nnd man sich deshalb mit der Annahme dieser in eine nicht zu solvierende
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Verpflichtung begibt.2 Dass dies in der Regel Menschen von starkem Unabhängigkeits- und Individualitätstrieb sind, weist darauf hin, dass die Situation der Dankbarkeit leicht einen Ton von nicht lösbarer Bindung mit sich bringt, dass sie ein moralischer character indelebilis ist. Haben wir erst einmal eine Leistung, ein Opfer, eine Wohltat angenommen, so kann daraus jene nie völlig auslöschbare innere Beziehung entstehen, weil die Dankbarkeit vielleicht der einzige Gefühlszustand ist, der unter allen Umständen sittlich gefordert und geleistet werden kann. Wenn unsere innere Wtrklichkeit, von sich aus oder als Antwort auf eine äußere, es uns unmöglich gemacht hat, weiter zu lieben, weiter zu verehren, weiter zu schätzen - ästhetisch, ethisch, intellektuell - : dankbar können wir immer noch dem sein, der einmal unsem Dank verdient hat. Dieser Forderung ist die Seele unbedingt bildsam oder könnte es sein; sodass vielleicht keiner andem Verfehlung des Gefühls gegenüber ein Urteil ohne mildemde Umstände so angebracht ist, wie der Undankbarkeit gegenüber. Selbst die innerliche Treue hat nicht die gleiche Unnachlasslichkeit. Es gtbt Verhältnisse, die sozusagen von vornherein nur mit einem bestimmten Kapital von Gefühlen wirtschaften und deren Anlage es unvermeidlich mit sich bringt, dieses allmählich aufzubrauchen, sodass ihr Aufhören keine eigentliche Treulosigkeit involviert. Nur freilich, dass sie in ihren Anfangsstadienoft von den andem nicht zu unterscheiden sind, die- um im Gleichnis zu blei~n von den Zinsen leben und- in denen alle Leidenschaftlichkeit und Reservelosigkeit des Gebens nicht an dem Grundstock zehrt. Es gehört freilich zu den häufigsten Irrungen der Menschen, für Zinsen zu halten, was Kapital ist, und darum eine Beziehung so anzulegen, dass ihr Bruch zu einer Treulosigkeit wird. Aber diese ist dann nicht eine Verfehlung aus der Freiheit der Seele heraus, sondern die logische Entwicklung eines von vornherein mit irrigen Faktoren rechnenden Schicksals. Und nicht vermeidlicher erscheint die Untreue, wo nicht die sich offenbarende Tauschung des Bewusstseins, sondern ein tatsächliches Anderswerden der Individuen die Voraussetzungen ihrer Beziehung umgestaltet. Vielleicht entspringt mit die größte Tragik menschlicher Verhältnisse aus der gar nicht zu rationalisierenden und fortwährend ,sich verschiebenden Mischung der stabilen und der variablen Elemente unsrer Natur. Wenn wir uns mit der Ganzheit unsres Wesens in eine bindende Beziehung hinein gegeben haben, so bleiben wir vielleicht mit gewissen Seiten, mit den mehr nach außen gewandten, aber auch mit mancher rein innerlichen, in der gleichen Stimmung und Neigung; andre aber entwickeln sich zu ganz neuen Interessen, Zielen, Vermögen, die schließlich unser Wesen als Ganzes in neue Richtungen werfen. Damit wenden sie uns von jenen Verhältnissen ab 2 Die ist natürlich ein extremex Ausdruck, dessen Wirklichkeitsfremdheit aber in Analysen unvermeidlich ist, die die tausendfach gemischten, immerzu abgelenkten. fast nur in Ansätzen wirksamen Elemente der seelischen Wirklichkeit isolieren und für sich allein sichtbar machen wollen.
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womit natürlich nur die reine Innerlichkeit, nicht äußere Pflichtetfüllung gemeint ist -, mit einer Art Treulosigkeit, die weder ganz schuldlos ist, weil doch noch manches Band nach jenen hin besteht, das nnn zerrissen sein muss, noch ganz schuldig, weil wir nicht mehr dieselben sind, die in das Verhältnis eintraten; das Subjekt ist verschwunden, dem man die Treulosigkeit imputieren konnte. Eine solche Endastung von der inneren Wesenheit her, wie diese, tritt für unser Gefühl nicht ein, wenn nnser Dankbarkeitsgefiihl erlischt. Dieses scheint in einem Punkt in nns zu wohnen, der sich nicht wandeln darf: für den wir Beständigkeit mit größerem Rechte fordern, als für leidenschaftlichere nnd selbst tiefere Gefühle. Dies eigentümlich Unlösbare der Dankbarkeit, das selbst bei der Erwiderung mit gleicher oder größerer Gegengabe einen Rest lässt, ihn auch auf beiden Seiten eines Verhältnisses lassen kann - vielleicht zurückgehend auf jene Freiheit der Gabe, die der nur sitdich notwendigen Gegengabe fehlt-, dies lässt die Dankbarkeit als ein ebenso feines wie festes Band zwischen den Menschen erscheinen. In jedem irgendwie dauernden Verhältnis erwachsen rausend Dankgelegenheiten, von denen auch die flüchtigsten ihren Beitrag zu der gegenseitigen Bindung nicht verloren gehen lassen. Es entsteht aus ihrer Summierung, in den guten Fällen, aber manchmal auch in solchen, die mit Gegeninstanzen reichlich ausgestattet sind - eine Stimmung eines ganz allgemeinen Vetpflichtetseins (mit Recht behauptet man, dem Andern für etwas Dankenswertes »verbnnden« zu sein), die keiner Lösung durch irgend welche einzelnen Leistungen fähig ist; sie gehört zu jenen gleichsam mikroskopischen, aber nnendlich zähen Fäden, die ein Element der Gesellschaft an das andre nnd dadurch schließlich alle zu einem formfesten Gesamdeben aneinander halten.
Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie* Alvin W. Gouldner
In der vorhergehenden Arbeit1 hatte ich behauptet, dass eine grundlegende Dimension sittlichen Verhaltens, die alle jeweiligen moralischen Codes übergreift, in der Reziprozitätsnorm gesehen werden kann. In ihrer transkulturellen Variante stellt diese Norm (wie dort angedeutet wurde) zwei miteinander in Beziehung stehende Minimalanforderungen: 1. Man soll denen helfen, die einem helfen, und 2. Man soll jene nicht verletzen, die einem geholfen haben. Ich habe auch behauptet, dass die Reziprozitätsnorm ein kaum weniger allgemeines und kaum weniger wichtiges_ Element der Kultur ist als das Inzesttabu, obwohl ihre konkreten Varianten, ganz rumlieh wie bei diesem, zeitlich und räumlich variieren.
Die Schwächen der Reziprozitätsnorm Meine Arbeit über Reziprozität endete mit der Feststellung der funktionalen Begrenzungen der Reziprozitätsnotm: ))Die Reziprozität:Snonn kann freilich nicht vollständig in Beziehungen zu Kindern, älteren Leuten oder geistlg oder physisch Behinderten angewendet werden, und der theoretische Schluss ist zulässig, dass sich ihnen gegenüber andere, grundsätzlich verschiedene Arten normativer Orientierung im moralischen Code ~ntwickeln werden.«
Ich schloss dann mit dem Versprechen, dieses und ähnliche Probleme in weiteren Arbeiten zu erörtern. Was hier folgt, ist meine Bemühung, dieses Versprechen zumindest teilweise einzulösen.
* Quelle: A1vin
W. Gouldner (1984): Etwas gegen nichts. ~~tät und A!Jmmetrie. Aus: ders.: Reziprozität und Autonomie. Ausgewlihlte Aufsätze. Übersetzt von Elrnar Weingarten und Horst Ebbinghau~ Frankfurt am Main: Suhrkamp, 118-164. Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung durch ~e Herausgeber. Die in dem Suhrkamp-Band enthaltenen Aufsätze sind enmommen aus: 1)lvin W. Gouldner (1973): For Sociology. New York: Basic Books. 1 Hinweis der Her.iusgeber: Gouldner meint hier den Aufsatz Die Norm der &!(jpro&ät. Eine vorlälljige Formuliemng, in; ders. (1984): Autonomie und Reziprozität, 79-117.
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Würden Menschen in ihren Handlungen lediglich durch die Reziprozitätsnorm geleitet, so erhielten viele die Hilfe nicht, die sie benötigten, gingen zugrunde oder blieben äußerst unzufrieden. Es wird immer einige Menschen geben, die erwiesene Wohltaten nicht erwidern können. Wer beispielsweise von einer schweren Krankheit befallen ist, vermag offensichtlich solche Gegenleistungen in absehbarer Zukunft nicht zu erbringen. Kinder können es zumindest nicht in einem Zeitraum, in dem der Gebende auf eine solche Gegengabe möglicherweise angewiesen ist. Und wieder andere, wie beispielsweise geistig Behinderte, sind ganz eindeutig nicht mhig, sich überhaupt jemals reziprok zu verhalten.
(...)
Die Norm der Wohltätigkeit Wenn dieser Schluss zulässig ist, so kann erwartet werden, dass der Moralcode eines jeden relativ stabilen Sozialsystems eine zentrale Komponente enthält, die von den Menschen verlangt, mehr zu tun, als sich lediglich zur Reziprozitätsnorm konform zu verhalten und auch mehr zu tun, als von ihnen aufgrund der spezifischen Verpflichtungen, die sich aus ihrem jeweiligen sozialen Status ergeben, erwartet wi.td. Wir schlagen vor, diese (mutmaßlich) universelle Komponente die Norm der Wohltätigkeit 2 bzw. der »Güte« zu nennen. Diese Norm fordert, dass der Mensch anderen Menschen jene Hilfe zukommen lässt, die sie benötigen. Die Norm der Wohltätigkeit verlangt von einem Menschen, anderen zu helfen, ohne daran zu denken, was jene für ihn getan haben oder für ihn tun können, und die Hilfe nicht abhängig zu machen von früheren empfangenen Wohltaten oder zu erwartenden, künftigen Wohltaten. Solche Hilfe darf nur unter dem Aspekt ihrer Notwendigkeit für den betreffenden Empfänger gesehen werden. Die Wohltätigkeitsnorm ist, so wie wir sie hier auffassen, eine recht diffuse Norm, die eine Reihe konkreterer normativer Orientierungen beinhaltet wie beispielsweise >>Altruismus«, »Nächstenliebe« oder >>Gastfreundschaft«. Kurz gesagt, die Norm fordert vom Menschen zu geben, ohne zu nehmen. Derartige Nonnen lassen sich ganz offensichtlich in den unterschiedlichsten primitiven oder schrifdosen Gesellschaften finden, aber auch in »Christlichen« Kulturen, von denen gelegendich die Pflicht zur »Nächstenliebe« berichtet wird In einer Gesellschaft wie der unsrigen - mit einer Marktwirtschaft und einer stark utilitaristisch geprägten Kultur - werden solche, die etwas ohne Gegenleistung
2 Im Original »beneficence(( (Anm. det Hg.).
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haben wollen [who want something for nothing], gewöhnlich als gestörte oder nnreife Menschen angesehen, mit denen etwas nicht stimmt. Entweder sind sie habsüchtig oder naiv. So gibt es zuweilen in nnserer Einschätznng von Personen, die etwas ohne Gegenleistung haben wollen, eine auffallige Unsicherheit. Vielleicht gehören sie zu den ganz besonders Guten, vielleicht sogar Heiligen, vielleicht aber auch zu den ganz Bösen. Wer etwas ohne Gegenleistung haben will, wird entweder als unmoralischer Ausbeuter oder ,als reiner Idealist angesehen. Die negative Reaktion auf den, der etwas ohne Gegenleistung haben will, könnte sich teilweise aus dem anklagenden puritanischen Gewissen erklären, welches »weiß«, dass der Mensch für seine Freuden nnd Sünden - wenn es sich dabei nicht sogar um ein nnd dasselbe handelt - zahlen muss. Aber der Argwohn gegenüber diesem Nehmen ohne zu geben, sitzt viel tiefer als in der protestantischen Kultur oder einer kommerziellen Grundhaltung. Der asketische Strang innerhalb der westlichen Zivilisation ist viel älter als der Protestantismus nnd selbst als das Christentum. Die alte griechische Auffassnng von Vergeltung beispielsweise beruht auf dem schlichten Glauben, dass es eine zyklische Bewegung im menschlichen Dasein gebe, die darin besteht, dass das Leben den Preis für die Siege nnd Freuden, die es gewährt, auch immer einklagt. (So weit ich weiß, gab es nnd gibt es kein optimistisches Gegenkonzept, welches nns Siege als Kompensation für die erlittenen Katastrophen in Aussicht stellte, Vergeltung ist eine Einbahnstraße; nns wird lediglich versprochen, dass alles Gute seinen Preis hat, aber nicht, dass das Böse uns auch etwas Gutes einbringen werde.) Wenn die Ablehnnng des Prinzips zu nehmen, ohne zu geben, schon sehr alt ist, so ist auch der heimliche nnd sehr oft gar nicht so heimliche Versuch, das Prinzip zu realisieren, ebenso alt nnd verbreitet. Den Kuchen eines anderen zu haben und auch zu essen; die Sünden vergeben zu bekommen; »noch eine Chance« zu erhalten, wenn wir einen Fehler gemacht haben- diese nnd andere Hoffnungen nnd Phantasien bringen den Wunsch, etwas ohne Gegenleistung haben zu wollen, zum Ausdruck, ein vielfach nnterdrückter Wunsch. Unterdrückt, weil er das vertraute Gesetz der sozialen Welt, das der Reziprozität, verletzt. Unterdrückt auch deshalb, weil der Wunsch, etwas ohne Gegenleistung haben zu wollen, sich der Kritik aussetzt, entweder naiv oder unmoralisch zu sein. So wird das Prinzip des Nehmens-ohne-zu-geben zu dem Stoff, aus dem Träume nnd Phantasien gemacht sind Es ist der Brennstoff, der Aladins Wnnderlampe zum Leuchten bringt; es ist das nngeschriebene Gesetz der Utopien oder des verlorenen Paradieses. Der Wnnsch, etwas ohne Gegenleistung zu nehmen, ist so notwendig alt nnd so tief verwurzelt wie sein Verbot. Das Reziprozitätsgesetz als die Norm, die darauf besteht, dass die Menschen etwas geben müssen, wenn sie etwas erhalten haben,.kann in der Tat zumindest teilweise als Kritik, als Reaktion oder
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als Anstrengung verstanden werden, die Neigung der Menschen unter Kontrolle zu bringen, die nur zu gerne etwas ohne Gegenleistung nehmen. In seiner institutionalisierten Fonn wird der Wunsch des Etwas-gegen-Nichts lediglich als Verpflichtung !{!I geben anerkannt, nie als ein Recht dara~ etwas zu erhalten. »Nächstenliebe« kann die V etpflichtung des Gebenden sein, aber sie ist kein Recht des Empfängers. Eine Vetpflichtung muss institutionalisiert sein, weil die Neigung, für etwas keine Gegenleistung zu wollen, nicht so stark ausgeprägt ist wie die, etwas ohne Gegenleistung zu wollen; außerdem steht sie in Widerspruch zur Reziprozitätsnonn, die festlegt, dass .der Mensch nur dann ein Recht hat, etwas zu nehmen, wenn es sich um eine Gegenleistung für Erhaltenes handelt. Kurz gesagt: Die Institutionalisierung der V etpflichrung, etwas ohne Gegenleistung zu geben, setzt voraus, dass derartige Spender relativ selten und zum Geben bereit sind; andererseits weist die Eifolglosigkeit, die Vetpflichtung zu institutionalisieren, etwas ohne Gegenleistung zu nehmen, darauf hin, dass die Zahl derartiger Empfänger relativ groß ist und dass dies auch für ihre Bereitschaft zu nehmen gilt. Sie setZt voraus, dass die Menschen viel eher bereit sind, ohne Gegenleistung etwas zu nehmen als zu geben. Nicht zuletzt deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Menschen etwas ohne Gegenleistung erhalten; deshalb sind die, die es versuchen, ausgesprochen »unrealistisch«, weil jene, die diese Möglichkeit leugnen, auf dem Wege einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, in der Tat »realistisch« sind. Reziprozität ist die defensive Minimalforderung des welterfahrenen Erwachsenen, der geben kann und will oder sich zumindest mit irgendeiner Gegenleistung zufrieden gibt. »Ohne Gegenleistung« zu nehmen und zu geben, ist die Sehnsucht der »unrealistischen« Noch-nicht-Erwachsenen - des Kindes wie des Jugendlichen -, die nach etwas besserem als der Welt der Erwachsenen streben und die ohnehin für das, was sie wollen, nur wenig zu geben haben. Man könnte also erwarten, dass diese beiden Orientierungen unterschiedlich in den Altersstufen und Generationen ausgeprägt sind Reziprozität ist die Nonn der »realistischen« Welt der Arbeit. Ohne Gegenleistung zu nehmen und zu geben ist das Ideal außerhalb der Welt der Arbeit, die Welt der Phantasie und der Einbildung. Geben, ohne zu nehmen und nehmen, ohne zu geben ist der Surrealismus der Welt der Kunst, denn Belohnung im Bereich des Astherischen kann nicht buchhalterisch festgehalten werden, und es lassen sich auch nicht Erträge gegen Investitionen verrechnen. Astbetiseher Genuss ist auch ohne die Aufwendung irgendeiner Anstrengung, ohne Arbeit, ja sogat ohne Bildung möglich; ästhetische Befriedigung kann sich ganz einfach beim Anschauen, Hören und Berühren von Dingen einstellen, die wir nicht selbst gemacht haben: beim Rauschen des Ozeans und bei der Betrachtung einer Wolke.
(...)
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Interaktion von Wohltätigkeit und Reziprozität In der Tat liegt es an den nnterschiedlichen Formen, wie die Wohltätigkeitsnorm mit der Reziprozitätsnorm verwoben ist, dass sie als wirksamer Auslösemechanismus funktionieren kann. Znnächst müssen wir feststellen, dass eine bestimmte Handlung durch die Wohltätigkeitsnorm motiviert sein kann, dass jedoch die Folgen dieser edlen Handlnng sehr viel umfassender sind, als die Beziehung zu der auslösenden Norm vermuten lassen würde. Selbst wenn ein Geber seine Handlung einzig nnd allein in Begriffen der Wohltätigkeitsnorm definiert und in seinem Handeln auf keine in der Vergangenheit empfangene oder in der Zukunft zu erwartende Hilfe Bezug ninunt, so bedeutet das keineswegs, dass eine Handlung von Seiten des Empfängers so interpretiert wird, wie der Geber sie gemeint hat. Der Empfinget kann sehr wohl eine von Wohltätigkeit motivierte Handlung in Begriffen der Reziprozitätsnorm interpretieren und sich dann verpflichtet fühlen, sie zu erwidern. Dieselbe Handlung kann somit von verschiedenen Leuten nnterschiedlich verbucht werden; der Gebende verbucht sie als Wohltätigkeit, der Empflinger als Reziprozität. Selbst wenn eih durch die Wohltätigkeitsnorm motivierter Geber das Empfinden hat, dass der Empflinger nicht vetpjlichtet ist, seine Handlung zu erwidern, wird er dennoch eine solche Gegenleistung zu schätzen wissen nnd den Handelnden_dafür belohnen. Geber und Empflinger können beide der Meinung sein, dass eine gewisse Form der Dankbarkeit irgendwie zum Ausdruck kommen müsste nnd dass der Empfänger eine Verpflichtung zur Nachsicht dem anderen gegenüber hat. Das heißt, selbst wenn von einem Empfänger nicht erwartet wird, dass er verpflichtet ist, die empfangenen Wohltaten zu erwidern, so wird doch von ilun erwartet, dass er darauf verzichtet, den, der ilun geholfen hat, zu schädigen - wie das Sprichwort sagt: »Man sollte die Hand, die einen füttert, nicht beißen<<; »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing<<.. Di~ sich aus empfangener Großzügigkeit ergebende Verpflichtung kann somit reziproke Rechte auf Unterlassung und Dankbarkeit zur Folge haben, nnd hier gibt es sogar im Bereich der Wohltätigkeit das Reziprozitätsphänomen. Wohltätigkeits- und Reziprozitätsnonnen sind jedoch noch in anderer Weise miteinander verknüpft: Von irgendeinem Zeitpnnkt an- nnd Zeit ist hier der entscheidende Punkt - kann Ef!Js Hilfe für Alter wirklich in erster Linie durch die Wohltätigkeitsnorm bestimmt sein; es wird von da an keine Gegenleistung mehr erwartet, weil es klar ist, dass Alter mit keiner aufwarten kann. Jedoch kann es sein, dass zu einem spät~ren Zeitpnnkt Alter in der Lage ist, eine Gegenleistung zu erbringen, dass E!fJ auch auf seine Hilfe angewiesen ist nnd tatsächlich auch um sie bittet. Dieselbe Handlung wird dann von dem Gebenden ~chst in Begriffen der Wahltätigkeitsnorm und zu einem späteren Zeitpnnkt in Begriffen der Reziprozitätsnorm gesehen nnd interpretiert. Eine Investition, die ursprünglich nnter der Rubrik »Geschenke« verbucht: nnd als Verlust abgeschrieben worden ist, kann neu belebt und t
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unter der Rubrik >>Außenstände« neu vorgetragen werden. In diesem Sinn kann die Wohltätigkeitsnorm aufgrund ihrer Verknüpfungen mit der Reziprozitätsnorm als Auslösemechanismus fungieren und eine neue und fortdauernde Serie reziproker Tauschhandlungen auf den Weg bringen. Wie Marcel Mauss sagte, sind die Ursprünge sozialer Systeme häufig im Austausch von Geschenken zu suchen. Die Feststellung, dass ein Austausch von Reziprozitäten die Folge einer bestimmten Handlung ist, bedeutet freilich noch nicht, dass eine Handlung als durch die Reziprozitätsnorm motiviert zu intetpretieren ist. Die »irdischen« Folgen wechselseitigen Austausches können von einem »überirdischen<< Motiv einer altruistischen Wohltätigkeit in Bewegung gesetzt werden.3
3 Der Unterschied zwischen der Wohltätigkeitsnorm und der Reziprozitätsnorm und den daraus resultierenden Verpflichtungen kann genauer untersucht werden, wenn wir die alte Kontroverse zwischen Mauss und Malinowski exhumieren. Bronislav Malinowski hatte in seinen frühen Arbeiten die Geschenke, die ein Ehemann seiner Frau gtbt, als »freie« und »reine« Geschenke bezeichnet. Mauss jedoch, der Malinowskis eigene Daten erneut untersuchte, stellte fest, dass nach einer gewissen Zeit der Ehemann tatsächlich eine Gegenleistung gewärtigen konnte: Die Frauen revanchierten sich fiir die Geschenke ihrer Gatten mit sexuellen Gef'alligkeiten. Folglich, sagte Mauss, lasse sich das Geschenk des Ehegatten nicht als »freie< oder »rein« bezeichnen, da eine Gegenleistung schließlich doch erbracht wurde. In seiner eigenen Arbeit über Die Gabe (Frankfurt/M.: Sulu:kamp 1968 [1923/24D betonte Mauss, dass es eine kulturell allgemein gültige Regel gibt, dass jedet, der ein Geschenk akzeptiert, dieses irgendwann später erwidern muss. Deshalb formulierte er auch die Schlussfolgerung, dass das, was Ma1inowski als Wohltätigkeit erschien, in Wttklichkeit ein typischer Fall von Reziprozität gewesen war. Es ist interessant genug, besonders vor dem Hintergrund seiner gewöhnlich sehr defensiven Reaktionen auf Kritik, dass Malinowski den Einwand von Mauss akzeptierte, was ihm vielleicht auch deshalb leicht fiel, weil der von Mauss explizierte Fall die Genauigkeit der Feldforschungsnotizen von Malinowski anerkannte und weil Mauss sein Argument mit Malinowskis eigenen Daten entwickelte. So stimmten schließlich beide überein; der einzige Beteiligte, der unter dieser mlenle cortliale zu leiden hatte, war die soziologische Theorie. Denn hier liegt ein höchst ungewöhnlicher Fall vor, dass ein Wissenschafder solchen kritischen Einwänden gegen seine Arbeit zustimmt, die selbst fragwürdig sind und auf bestimmten Ambiguitäten beruhen, die wichtige theoretische Fragen verschleiern. Wie ist es dazu gekommen? Im Grund hat Mauss ganz richtig den funktionalen Zusammenhang zwischen Wohltätigkeit und Reziprozität gespürt; aber ihm sind die konzeptuellen Unteruhiede zwischen den beiden nicht aufgefallen, und er hat sie deshalb auch nicht herausarbeiten können. In gewisser Weise ist er seinem eigenen diffusen Begriff von »totalen« sozialen Phänomenen und der selbst auferlegten Forderung, Dinge als >>Ganzheiten« zu untersuchen, in die Falle gegangen. Insbesondere hat Mauss es versäumt, die Unterschiede zwisc1ien1 zwei Typen von Normen in der Situation des Austausches von Geschenken zu unterscheiden. Da beide Normen am gesamten HandlrmgS!Jslem beteiligt sind, unterschied er nicht jene Normen, die Leute auffordern, großzügig zu sein und unter gewissen Umständen Geschenke »freie< herzugeben, von Reziprozitätsnormen, die das Geben von Gegenleistungen abhängig machen.
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Vielleicht sollten wir diesen Abschnitt mit einer positiven Bemerkung über das Phänomen der Wohltätigkeit abschließen: Es gibt keinen sichereren Weg, einen unerträglich gewordenen Interaktionszyklus zu unterbrechen als den, dass eine Seite der anderen etwas gibt, ohne zu nehmen. Kein Geschenk wird eher die Aufmetksamkeit auf sich lenken als ein Geschenk, das angesichts unserer früheren Verschuldung, unserer zukünftigen Ambitionen und unserem gegenwärtigen Stand der Verpflichtungen nicht hätte gemacht werden müssen. Das Paradox liegt darin: Es gibt kein Geschenk, das einen größeren V orteil erbringt, als das freiwillige Geschenk - das Geschenk, an dem keine Fallstricke festgemacht sind Denn das, was die Menschen widdich freiwillig hergeben, vermag die Empfänger tief zu bewegen und belässt sie tief in der Schuld ihrer Wohltäter. Wenn Reziprozität letzten Endes die Alltagswelt zusammenhält, so ist es andererseits Wohltätigkeit, welche diese Welt zu transzendieren hilft und die Menschen Tränen der Versöhnung weinen lässt. Die Tatsache, dass solche Wunder der sozialen Interaktion höchst selten sind, ist nicht einem Mangel an Wtssen darüber geschuldet, wie solche Wunder herbeizuführen wären.
( ...)
Moralischer Absolutismus - jenseits der Wohltätigkeit Jeder der beiden bisher erörterten Aspekte - Reziprozität und Wohltätigkeit - kann als eine Möglichkeit angesehen werden, anderen Gratifikationen zu verschaffen, und jede enthält zumindest implizit eine Rechtfertigung für die Bereitstellung solcher Gratifikationen. Die Reziprozitätsnorm rechiferligt eine Verpflichtung, einem anderen deshalb zu helfen, weil er einem selbst geholfen hat oder helfen wird; die
Nur weil Wohl~eit und Reziprozität beides nonnative Orientierungen sind und die Übergabe von Wertvollem implizieren, bedeutet dies noch nicht, dass sie sonst völlig gleich sind Insbesondere hat Mauss nicht zwischen der Motivation zu wohltätigen Handlungen und ihren unerwarteten Folgen unterschieden. Er hat die Tatsache nicht gesehen, dass eine Handlung, die in Übereinstimmung mit der Wohltärigkeitsnonn initiiert witd, zu weiteren Interaktionen führen kann, die dann von der davon unterschiedenen Reziprozitätsnorm angeleitet werden. Während Mauss klar herausstellt, dass das Geben eines Geschenkes häufig genug in ein Muster reziproken Austausches mündet, sieht er dennoch nicht, dass dies nicht immer die Absicht des Gebers ist. Wenn der Geber bei seinem Geben zuf'allig von der Reziprozitätsnenn geleitet witd, werden die ,Absichten und Folgen seiner Handlung deutlicher zusammenfallen. Wenn sich jedoch der Gebende in seinem Handeln von der Wohltätigkeitsnonn leiten lässt, so kann dies tatsächlich dadurch motiviert sein, dass er einem anderen ein Geschenk machen möchte, ohne überhaupt eihe Gegenleistung vom Empfänger in Bettacht zu ziehen oder zu erwarten.
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Wohltätigkeitsnorm rechtfertigt die Verpflichtung, einem anderen zu helfen, weil der andere dieser Hilfe bedarf. Unter diesen normativen Bedingungen ist es gerechtfertigt, anderen zu helfen, entweder weil sie dir geholfen haben oder in Zukunft helfen werden oder weil sie hilfsbedürftig sind Jedoch kann jede dieser Rechtfertigungen für sich genommen bestritten werden, selbst dann, wenn die verlangten Bedingungen zutreffen. Man könnte fragen: Worom sollte ich Leuten helfen, die mir geholfen haben, und warom sollte ich den Hilfsbedürftigen helfen? So gesehen, erhalten wir einen weiteren Hinweis dafür, dass noch eine weitere wichtige Komponente des Moralcodes eingeführt werden muss. Es muss eine Grundlage geben, auf der sich Wohltätigkeits- und Reziprozitätsnormen von allein rechtfertigen. Es muss eine moralische Komponente geben, die die Notwendigkeit weiterer Rechtfertigung aufhebt und die die Gefahr eines infiniten Regresses von Rechtfertigungen beseitigt. Der Moralcode muss eine wesentliche Komponente enthalten, die dafür verantwortlich ist, dass die Durchführung bestimmter Dienste und Handlungen für andere unabhängig davon betrachtet wird, was diese für einen selbst getan haben oder tun wenien, oder unabhängig von ilirer Hilfsbedürftigkeit. Dieses zentrale Merkmal nennen wir »moralischen AbsolutismuS«. Moralischer Absolutismus als Hauptbestandteil des Moralcodes verkörpert nicht bestimmte Statusverpflichtungen - wie zum Beispiel die elterliche Aufgabe, die Familie zu unterhalten und die Kinder zu ernähren -, sondern bezieht sich statt dessen eher auf die Art und Weise, wie derartige konkrete Statuspflichten oder andere allgemeine Normen definiert und gesehen werden. Moralischer Absolutismus ist damit eine grundlegende Dimension der moralischen Ordnung, die fesdegt, wie besondere Statusverpflichtungen und andere zentrale Elemente dieser Ordnung betrachtet werden müssen. Der moralische Absolutismus ist also das »Hauptgebot« eines jeden Moralcodes. Er formuliert eine allgemeine Regel, die fesdegt, wie andere moralische Regeln angewandt werden sollen. Als allgemeine Regel sagt sie nicht mehr aus als: »Der Code muss befolgt werden.« Insofern, als jeder Moralcode aus einem Satz von Handlungsvorschriften besteht, scheint es vernünftig, dass es darüber hinaus noch eine allgemeinere, auf einer höheren Ebene angesiedelte, nonnative Orientierung gibt die Vorschrift eines »moralischen Absolutismus« -, die feststellt, dass diese Vorschriften oder Regeln befolgt werden müssen. Der moralische Absolutismus ist eine Dimension der Moralcodes, da er zwn einen ein ständig variierendes Kontinuwn darstellt; zum zweiten ist er von den anderen Hauptbestandteilen unabhängig und deutlich unterschieden. »Unabhängig« freilich nicht in dem Sinne, dass er mit ihnen nicht korrelierte, sondern dass die Korrelation, in der er mit ihnen steht, kleiner als 1 sein müsste. Vor dem Hintergrund der obigen Erörterung der anderen Basisnormen und insbesondere der in ihnen
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eingebauten Verstärkungsmechanismen, die die Befolgung der Reziprozitätsnorm sicherstellen sollen- im Unterschied zur Fragilität der Wohltätigkeitsnorm -,sollte man erwarten können, dass Wohltätigkeit positiv mit der Norm des moralischen Absolutismm ko"eliert und dass darüber hlnaus diese beiden stärker miteinander korrelieren als Reziprozität und moralischer Absolutismus. Letzten Endes ist ein generalisierter moralischer Absolutismm ein Ersatz (vielleicht sogar eine Sublimierung) der übernatürlichen Absicherung der Wohltätigkeitsnorm. Sieht man sie als eine Dimension, so variiert die Norm des moralischen Absolutismus in Abhängigkeit vom Gehorsam, der anderen Nonnen entgegengebracht werden muss. An dem einen Extrempunkt, der hier besonders interessiert, liegt jene Zone, in der der moralische Absolutismus die vollständige und bedingungslose Befolgung der besonderen Statusverpflichtungen und anderer Nonnen verlangt. Dies ist der Bereich des moralischen Absolutismus suigeneris. Am entgegengesetzten Extrempunkt liegt ein Bereich des moralischen Relativismus, wo die Forderung nach Befolgung moralischer Vorschriften vollständig abhängig von konkreten Zeitpunkten, Orten, beteiligten Menschen und ihren einzigartigen und wechselnden Umständen erscheint. Das bedeutet aber auch, dass jeder Moralcode ein bestimmtes Maß an moralischem Absolutismus erforderlich macht, obwohl sein Ausmaß von Kultur zu Kultur variieren kann, und dass es immer einige -wenn auch nur wenige- konkrete Erwartungen und allgemeine Regeln gibt, denen gegenüber eine bedingungslose Befolgung erwartet wird. Aufgrund der Norm des moralischen Absolutismus gibt es immer einige Forderungen, die legi~eise an bestimmte Personen einfach deshalb gestellt werden können, weil sie Mitglieder der gleichen Gruppe sind oder deshalb, weil sie innerhalb der Gruppe bestimmte soziale Positionen innehaben. Der moralische Absolutismus verlangt, dass man seine »Pflicht« tut, auch dann, wenn andere ihre Pflicht nicht eifiillen, wenn andere niemandem geholfen haben oder sich andere nicht in Not bifinden: Die Norm des moralischen Absolutismus erzeugt unvermeidlich bestimmte ».Außenstände an Verpflichtungen«. Diese erfüllen höchst unterschiedliche Funktionen, die letztlich auf die Erhaltung des sozialen Systems gerichtet sind. 4 4 Noch genauer: der moralische Absolutismus erzeugt aufverschiedene Weisen Außenstände an Vetpflichtungen: (1) Er begünstigt die Vermutung, dass bestimmte Erwartungen gegenüber Statusinhabern legitim sind, weil ein bestimmter Status im allgemeinen mit bestimmten Erwartungen verbunden ist, von denen normal sozialisierte Gruppenmitglieder annehmen können, dass sie prima fade Legitimität besitzen. Daraus folgt, dass es nicht der Ansprucherhebende ist, der seine Forderung rechtfertigen muss, sondern der Widersprechende, der seine Weigerung begründen muss. (2) Der moralische Absolutismus fordert, dass bestimmte Dinge unter allen Umständen getan werden müssen - beispielsweise muss man seine Versprechen einhalten und immer die Wahrheit sagen. Da solche Anforderungen bedingungslos gelten, sind sie im Fluss sozialer
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Bisher haben wir uns vornehmlich mit den Funktionen des moralischen Absolutismus beschäftigt und unterliegen damit möglicherweise der Gefahr, seine Dysfunktionen zu vernachlässigen, die sowohl theoretisch wie praktisch von entscheidender Bedeutung sind. In der Soziologie verzeichnen wir eine lang anhaltende und theoretisch angreifbare Tradition, die vielleicht größtenteils von jenem ungetreuen Jünger Saint-Simons, nämlich Auguste Comte, herrührte, der dazu neigte, den funktionalen Beitrag zu überschätzen, den allgemein verbindliche moralische Systeme für den Zusammenhang und die Stabilität von Sozialsystemen leisten. Diese Tradition erreichte in Emile Durkheims Konzept der Anomie einen Höhepunkt, da ihm zufolge sooiale Desorganisation eine Folge von Normlosigkeit ist. Die Abwesenheit moralischer Normen wird als entscheidende Ursache für die Instabilität sozialer Systeme angesehen. Diese Sicht der Dinge ist auch noch in der Soziologie Talcott Parsons' bestimmend, der die Bedeutung der Konformität mit moralischen Normen und die Notwendigkeit gemeinsamer Werte als Voraussetzung für Systemstabilität überbetont. Durkheim und andere Funktionalisten haben es gemeinhin versäumt, darauf hinzuweisen, dass nicht die Verbindlichkeiten aller oder überhaupt irgendwelcher moralischer Normen zum sozialen Zusammenhang beiträgt, sondern dass einige dieser allgemein geteilten Normen dazu einen größeren Beitrag leisten als andere. Wie viele in seiner Nachfolge stehende Funktionalisten neigte Durkheim dazu, seine Analysen auf die Funktionen anerkannter Normen zu beschränken und ihre
Interaktionen beständig wirksam, und man kann ihnen nicht ein für allemal vollständig und endgültig entsprechen. Es ist gerade der bedingungslose Charakter des moralischen Absolutismus, der dazu führt, dass die Anzahl von Situationen, in denen Verpflichtungen aktiviert werden, irruner größer wird und damit die Zahl von ausstehenden Verpflichtungen sich ebenfalls vermehrt. (3) Da die Anzahl von Versäumnissen, einet moralischen V erpfl.ichtung zu entsprechen, wahrscheinlich von der Häufigkeit der Gelegenheiten abhängt, unter denen sie erfüllt werden müssen- vorausgesetzt natürlich, dass die absolute Zahl der Versäumnisse umso höhet ist, je häufiger etwas getan werden muss-, bedeutet das Handeln unter der Vorschrift derbedingungslosen Übereinstimmung mit einer Norm, dass das Ausmaß an ))moralischem Fehlvethalten« wachsen wird. Die Zahl von Ereignissen moralischen Fehlverhaltens wird wahrscheinlich auch durch die Norm des moralischen Absolutismus erhöht werden, da dies wegen der postulierten Unbedingtheit kein Hintertürchen offen lässt und auch keine legitimen Ausnahmen anerkennt. Das Auftreten von moralischem Fehlverhalten enthüllt, wer sich dem Prinzip der »kompensatorischen Konformität« verweigert; daraus entsteht dann eine Verpflichtung zweiten Ranges, das Versäumte nachzuholen. (4) Schließlich sammelt jemand, insoweit er mit den Verpflichtungen des moralischen Absolutismus konform handelt, Guthaben auf seinem Konto an, das er später, sollten die Umstände es erforderlich machen, umwandeln kann in ))Vetbindlichkeite.tl<<, die ihm zustehen, das heißt, er kann sie umdefinieren als »Außenstände an Verpfl.ichtunge.tl<<, die andere ihm schulden. Letzten Endes ermöglicht der moralische Absolutismus ein System des )>Schuldenfinanzierens«, das bei anderen Verpflichtungen erzeugt, obwohl deren Unfahigkeit, sofurt eine Gegenleistung bereitzustellen, offenbar ist.
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Dysfunktionen zu vernachlässigen. Er richtete seine Aufmerksamkeit darauf, in welcher Weise ein Mangel an allgemein geteilten moralischen Normen soziale Desorganisation erzeugt. Dies führte dazu, dass die Frage, inwiefern ein Überschuss an Moralität (oder einiger ihrer Dimensionen) zerstörernehe Folgen haben kann, unterbelichtet, wenn auch nicht ganz unbeachtet blieb. Ein derartiges zerstörerisches Potenzial ist in jeder der drei Dimensionen des moralischen Systems enthalten - Reziprozität, Wohltätigkeit und moralischer Absolutismus -, die wir im Folgenden näher untersuchen wollen.
1. ~tät. Die Reziprozitätsnorm umfasst eine flexible Anzahl von Instruktionen für den Handelnden, die besagen oder zumindest implizieren, dass denen, die helfen, geholfen werden soll, dass die, die helfen, nicht geschädigt werden sollen und dass denen, die schädigen, nicht geholfen wenien soll. Ego wird dazu erzogen, seine früheren Handlungen zu überprüfen und zu bestimmen, ob sie ihn Alter gegenüber zu einem Schuldner oder Gläubiger gemacht haben, und dementsprechend Alter als Gläubiger oder Schuldner einzuordnen. Ego muss dann seine geplante Handlung überprüfen und sehen, ob sie mit den komplementären Rollen übereinstimmt. Das Entscheidende beim Handeln gemäß der Norm der Reziprozität besteht darin, dass es nicht einfach von konkreten, kulturell standardisierten Statusvorschriften abhängt, sondern von den Rollen des potentiellen Gläubigers oder Schuldners, die den Handelnden vorab zugewiesen werden. Man könnte sagen, dass gewissermaßen die I))Gedächtnisbank« konsultiert wird, die mir meinen gegenwärtigen Kontostand mitteilt und mich informiert, ob ich einem Gläubiger helfen muss oder mir von einem Schuldner helfen lassen kann. In diesem Bezugsrahmen erscheint das Auftreten bestimmter störender Folgeerscheinungen möglich. Diese sind: (a) eine mögliche Verletzung anderer moralischer Regeln; d.h. wenn die Hilfe für andere oder deren Schädigung davon abhängig gemacht wird, was sie in der Vergangenheit für Uns getan haben oder in Zukunft tun werden, kann es sein, dass ein Individuum sich unter der Reziprozitätsnorm auch einem sozialen ))Abweichler« gegenüber- dh. jemandem, der sich nicht bestimmten moralischen Regeln entsprechend verhalten hat -, zur Hilfe verpflichtet fühlt, weil dieser ihm in der Vergangenheit geholfen hat oder man erwarten kann, dass er in der Zukunft ihm hilft. Egp kann somit dem abweichenden Verhalten anderer Vorschub leisten. Oder ein Individuum kann sich bFrechtigt fühlen, denen, die es geschädigt haben, nicht zu helfen, obwohl es Wohltätigkeitsnormen oder bestimmte Statusverpflichtungen gibt, die vorschreiben, dass es sich hilfreich verhält. In jedem Fall unterminiert die Befolgung der Reziprozitätsnorm die beiden anderen Komponenten des Moralcodes einer Gruppe. (b) Die Reziproptätsnorm kann auch, sofern sie sich auf Vergeltung bezieht)JWer schädigt, soll geschädigt werdell<< -, ein Individuum dazu bringen, andere, die
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es geschädigt haben, zu schädigen und daraus eine moralische Berechtigung für aggressives Verhalten herzuleiten, also der Entwicklung eines Teufelskreises von sich ausbreitenden Konflikten und zunehmender Spannung Vorschub leisten. (c) Die Reziprozitätsnorm kann darüber hinaus Ego dazu veranlassen, die Geschichte seiner früheren Interaktionen mit Alter erneut zu überprüfen, die Implikationen seines künftigen Verhaltens Alter gegenüber zu betrachten und zu überlegen, ob dieser ihm selbst hilft oder nicht. Dies kann zu einer Art von Dyaden-Zentrismus (un Unterschied zum Ego-Zentrismus) führen, der zur Konsequenz hat, dass Egp die indirekten Folgen seiner Hilfe oder seiner Weigerung, Alter zu helfen, für die umgebende Gemeinschaft übersieht. Das heißt, Ego versäumt es, die weiteren Konsequenzen in Betracht zu ziehen, die sich aus der Hilfe für Alter oder der Schädigung Alters für Egps Beziehungen zu anderen (vielleicht auch zu Alters Feinden oder Freunden) oder für Alters Beziehungen zu anderen ergeben. (d) Schließlich enthält die Reziprozitätsnorm auch eine bestimmte Tendenz, ein quidpro quo durchzukalkulieren, um einschätzen zu können, wer wem was schuldet. Kurz gesagt, die Reziprozitätsnorm birgt wahrscheinlich die Tendenz, sich in Richtung eines utilitaristischen Zweckdienlichkeitsprinzips zu entwickeln, mit all den Spannungen, die sich hieraus leicht ergeben. 2 Wohltätigkeit. Die Hauptforderung besteht hier darin, dem bedürftigen anderen zu helfen oder zu geben. Bestimmte moralische Vorschriften oder deren Anwendung können hinsichdich der Folgen, die sie für die Bedürfnisse der andern haben, eingeschätzt werden. Ganz ähnlich wie Reziprozität kann auch Wohltätigkeit die Menschen dazu verleiten, bestimmte Statusverpflichtungen oder Erfordernisse des moralischen Absolutismus außer Acht zu lassen, wenn sie für andere als schädigend eingeschätzt werden. Von allen drei Grundprinzipien des Moralcodes ist jedoch die konsequente Befolgung der Wohltätigkeitsnorm wahrscheinlich der geringste gesellscht(tliche Stiitfoktor. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie in gleicher Weise funktional für alle Typen historischer Gesellschaft wäre. Man kann sich leicht vorstellen, dass in einem frühen Stadium unserer Geschichte eine strikte Befolgung der Wohltätigkeitsnormen die Entwicklung und das Funktionieren moderner Industriegesellschaften behindert oder verhindert hätte, da hierdurch Kapitalakkumulation und Handelsexpansion gehenunt worden wären. 3. Moralischer Absollllismus. Das Modell einer absoluten Moralität impliziert einen umfänglichen Satz von V erhaltensregeln; die wesendiche Forderung eines moralischen Absolutismus ist die Vorschrift, nicht )>Gutes«, sondern »das Rechte<( zu tun. Das bedeutet, dass man einen problematischen Fall betrachten muss, um zu sehen, welche Regel auf ihn anzuwenden ist, und diese dann anwenden muss. Wenn es sich um einen Fall von Z handelt, dann muss die Regel, die sich auf Z bezieht, zur An-
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wendung kommen. Der entscheidende Punkt besteht hier darin, eine Übereinstimmung zwischen Handeln und moralischen Vorschriften herzustellen. Hierin liegt das Problem derjenigen, die am moralischen Absolutismus orientiert sind Wie eine geplante Handlung mit der Geschichte vorhergehender Interaktionen verknüpft ist oder inwiefern eine' Handlung Folgewirkungen erzeugen kann, die für Alter schädlich oder schmerzlich sind, ist völlig unbedeutend Man muss zu allen Zeiten das Rechte tun - und dieses ))Rechte« wird durch besondere Normen für jeweilige Situationen vorgeschrieben. Zuweilen kann der Absolutismus die Reziprozitätsnorm abstützen. In vielen Situationen kann es das Rechte sein, auf der Grundlage vergangeuer Handlungen sich reziprok zu verhalten, zumal wenn keine besonderen Statusverpflichtungen vorliegen, die möglicherweise dem entgegenstehen. Darüber hinaus kann uns der moralische Absolutismus auch zwingen, unseren Statusverpflichtungen anderen gegenüber nachzukommen, von denen wir der Ansicht sind, dass sie sich geweigert haben, uns zu helfen, oder die im Augenblick nicht in der Lage sind, die Hilfe, die sie von uns benötigen, zu erwidern. Der moralischen Absolutismus enthält jedoch ganz augenscheinlich auch die Möglichkeit der Verletzung der Reziprozitätsnorm. Er kann uns veranlassen, jemandem Unterstützung zu versagen, der uns geholfen hat, wenn dies die Verletzung einer moralischen Vorschrift bedeuten würde, die in dieser Situation als bedeutsl!ffi angesehen wird Umgekehrt kann er uns in Übereinstimmung mit einer moralischen Vorschrift dazu verleiten, jemanden, der uns geholfen hat, zu schädigen. Dies kann sich sehr störend auf Sozialsysteme auswirken und insbesondere bittere Anschuldigungen der »Undankbarkeit« zur Folge haben. Eine solche Situation ist besonders konfliktträchtig. weil Alter für seine feindselige Haltung nunmehr zwei Gründe hat: einmal die bloße SdJiidigung, die Egos moralisch motiviertes Verhalten Alter zugefügt hat, und zweitens Alters moralische Entrüstung über diese Verletzung. weil er annimmt, dass Ego die Reziprozitätsnorm verletzt hat, auf der nach Meinung Alters die Handlungen Egos hätten grunden sollen. Eine Befolgung·der Vorschriften des moralischen Absolutismus steht zuweilen auch im Gegensatz zu denen der Wohltätigkeitsnonn. Wir stoßen hier wiederum auf eine sehr alte Weisheit. Der moralische Absolutismus verlangt, das Rechte zu tun; aber das »Rechte« ist häufig genug weit davon entfernt, auch das »Gute« zu sein. Selbst eine oberflächliche Betrachtung der Menschheitsgeschichte lässt erkennen, dass durch moralischen Absolutismus motivierte Menschen, die sich geschworen haben, immer das Rechte zu tun, gelegentlich (m den Augen der anderen) ungeheuerliche Taten begangen haben. Nicht immer sind es die »Schlechten« oder schädlichsten Menschen, die dem moralischen Absolutismus den Rücken gekehrt haben. Es ist beispielsweise keineswegs der bestechliche Politiker - der korrupte Bürgermeister, der leichtsinnig mit der Stadtkasse umgeht -, der Gaskammern und Konzentrationslager baut. Hierzu
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bedarf es rechtschaffener Menschen mit der Fähigkeit zu moralischer Entrüstung: eines Adolf Hiders, der sich bezeichnenderweise minutiös an bestimmte moralische Vorschriften hielt und dem seine Bemühungen um »Legalität« kurzfristig ja sogar den Spitznamen »Legalitäts-Adolf<< eingebracht haben. Der moralische Absolutismus enthält mehr Sprengstoff als Reziprozität und Wohltätigkeit. Der moralische Absolutismus ist im Zweifelsfall mit ungehemmtem Sadismus vereinbar und stellt damit potentiell eine größere Gefahr für das soziale System dar als das Gesetz der (reziproken) Vergeltung. Immer dann, wenn sich der Mensch rein moralisch motiviert verhält, wird er für die Interessen anderer am gefährlichsten und verhält sich den Bedürfnissen anderer gegenüber in gefühlloser Wiese indifferent. Sozialsysteme kennen nichts Verheerenderes als den wildgewordenen Vertreter einer absoluten Moral. Ihn kümmert weder das Gute, das andere für ihn irgendwann einmal getan haben, weder die gemeinsame Vergangenheit noch die Schädigungen oder Hilfen, die sich aus seinen Handlungen jetzt ergeben können. Er kann zum unpersönlichen, rächenden Schwert des Gesetzes - oder Gottes - werden, ein Calvin, Zwingli oder Luther. Es ist ganz offensichtlich, dass das »Recht« des moralischen Absolutismus durch Reziprozität und Wohltätigkeit gemildert werden muss, sollen Sozialsysteme nicht zerreißen. In seiner Analyse der Anomie stellt Durkheim fest, dass Unersätdichkeit eines der Symptome sozialer Desorganisation ist. Durkheim nimmt an, dass die Menschen, wenn sie nicht irgendwelche Normen internalisiert haben, die ihren egoistischen Appetit begrenzen, unaufhörlich nach Belohnungen streben, die nie eintreffen und sie deshalb immer ruhelos und unbefriedigt lassen werden. Ganz offensichdich ist Durkheim nicht aufgefallen, dass es Menschen geben könnte, deren Hunger nach Rechtschaffenheit nicht minder unersätdich ist und dass diese Unersätdichkeit für ein Sozialsystem keineswegs weniger gefährlich ist. Durkheim erkannte, dass einzelne Normen Menschen und Gruppen unter Druck setzen können. Er sah nicht, dass in dem Moralcode zwischen den verschiedenen Hauptkomponenten - Reziprozität, Wohltätigkeit und moralischer Absolutismus - ein Spannungsverhältnis herrscht. In gewisser Weise ist jedes dieser Elemente für das andere ein Störfaktor, auch dann, wenn es unter anderen Gesichtspunkten das andere abstützt. Ein stabiles Sozialsystem ist ohne ein Wt.rksamwerden aller drei Grundelemente des moralischen Systems unmöglich, eben weil die Spannungen, die jedes für sich erzeugt und die die jeweils anderen beiden Elemente mildem sollen, ein notwendiger Faktor sind Dennoch übt jede dieser Normen auch auf die anderen beiden Normen einen gewissen Druck aus. Es ist ganz offensichdich, dass die Rechtschaffenheit eines moralischen Absolutismus durch Reziprozität und Wohltätigkeit abgemildert wen:l.en muss, wenn soziale Stabilität sich einstellen soll. Ebenso klar ist, dass Reziprozitätsnormen die Wohltätigkeit unterminieren können und zu Hand-
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lungen führen, die im Gegensatz zum moralischen Absolutismus stehen oder ihrerseits wieder vom moralischen Absolutismus unterminiert werden können. In dieser Sichtweise ist jeder Moralcode alles andere als harmonisch und homöostatisch. In seiner Grundstruktur ist ein moralischer Code ein spannungsreiches System unsicherer Werte und schwieriger Anpassungsvorgänge, wobei Konflikte kein Nebenprodukt, sondern unvermeidlich sind
Sozialer Austausch* Peter M. Blau
Der Großteil der menschlichen Befriedigungen hat seinen Ursprung in den Handlungen anderer Menschen. Die Leidenschaft sexueller Lust oder das Wohlgefühl der Liebe verspüren, sich an intellektueller Stimulation oder erholsamer Zerstreuung erfreuen, berufliche Anerkennung oder ein glückliches Familienleben genießen, das Verlangen nach Macht oder den Bedarf an Akzeptanz befriedigen -Voraussetzung für alle diese Gefühle ist es, andere zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Der Umstand, dass viele der Belohnungen, nach denen der Mensch strebt, nur in sozialer Interaktion erzielt werden können, bildet die Grundlage der Konzeptualisierung von Interaktion als sozialem Austausch.
Grundlegende Annahme Die grundlegenden Annahmen der Austauschtheorie sind, dass Menschen neue Kontakte eingehen, weil sie sich Vorteile davon versprechen, und dass sie die Beziehungen zu alten Kontakten aufrecht erhalten und ausbauen, weil sie diese Beziehung als lohnend ansehen. Das Eingehen einer Beziehung zu einem anderen Menschen kann intrinsisch motiviert sein, wie in der Liebe oder in Geselligkeit, oder aber extrinsische Wu:kung entfalten, wie zum Beispiel der Rat von einem Kollegen oder die Hilfe vom Nachbarn. In beiden Fällen wird angenommen, da~ das Bedürfnis einen Wunsch zu befriedigen der Beziehung zugrunde liegt. Simmel (1992 [1908]: 19) formuliert dazu: »Die Vergesellschaftunk ist aloo die in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirldichende Form, in der die Individuen ~uf Grund jener - sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden- Interessen zu einer Einheit zusamrnenwacl).sen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirldichen.«
* Quelle:
Peter M Blau (1968): Sofia/ Exchange, in: David L. Sills (Hg.): International Encyclopedia of the Soäal Sciences, Volurne 7. New York und London: Macmillan, 452-457. Der Aufsatz wurde von' Daniel de Olano und Steffen Mau ins Deutsche übersetzt.
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Um eines klarzustellen: Nicht alle menschlichen Bedürfnisse oder Interessen lassen sich direkt in sozialer Interaktion befriedigen - wie zum Beispiel Hunger - und nicht jede soziale Interaktion ist in erster Linie von einem Interesse an Gratifikationen beherrscht, da irrationale Kräfte und moralische Werte auch Einfluss nehmen. Aber viele Aspekte des sozialen Lebens spiegeln ein Interesse daran wider, von sozialer Interaktion zu profitieren, und diese bilden den Fokus der Austauschtheorie. Weit davon entfernt, sich auf strikt rationale und materiellen Gewinn ausgerichtete Handlungen zu beschränken, beabsichtigt die Theorie, alles Streben nach lohnenden sozialen Erfahrungen zu umfassen, einschließlich des Strebens, humanitäre Ideale oder spirituelle Werte zu fördern, sowie der Verfolgung persönlicher Vorteile und emotionaler Befriedigung. Das Konzept der sozialen Interaktion als Austauschprozess ist die logische Folgerung aus der Annahme, dass Menschen danach trachten, Nutzen aus ihren Kontakten zu ziehen. Wenn sich also jemand zu anderen hingezogen fühlt, weil er davon ausgeht, dass sich der Kontakt mit diesen als lohnend erweisen wird, so wird er sich wünschen, diesen Kontakt auch zustande kommen zu lassen und die erwarteten Vorteile zu verwirklichen. Gleichermaßen muss für die anderen ein Interesse daran bestehen, in soziale Interaktion mit ihm zu treten. Und dieses Interesse an einem Kontakt mit ihm hängt, getreu unserer Annahme, von ihrer eigenen Erwartungshaltung ab, dass sich ein Zusammengehen mit ihm als vorteilhaft auch für sie selbst erweist. Um seinen Wunsch nach Kontakt umsetzen zu können, muss er also aufzeigen, dass sich der Kontakt auch als vorteilhaft für sie erweisen würde. Zusammengefasst: Um die erhofften Vorteile eines potenziell lohnenden Kontaktes verwirklichen zu können, muss man bei dem anderen den Eindruck eines begehrenswerten Interaktionspartners erwecken, indem man auf implizite Weise verspricht, dass der Kontakt mit einem auch lohnend ist. Wenn man Vorteile aus einem Kontakt zieht, so ist man verpflichtet, sich zu revanchieren und den anderen im Gegenzug Vorteile zu gewähren. Dabei werden nicht nur Freunden, sondern auch flüchtigen Bekannten oder gar Fremden Gefälligkeiten erwiesen und auf diese Weise soziale Verpflichtungen erzeugt. Wer der Abgeltung dieser Verpflichtungen nicht nachkommt und sich für die erwiesenen Vorteile nicht revanchiert, beraubt den anderen des Anreizes, die Freundlichkeiten ihm gegenüber fortzusetzen. Zudem besteht die Gefahr, der Undankbarkeit bezichtigt zu werden. Diese Möglichkeit der Beschuldigung indiziert, dass auch für freiwillige Gefälligkeiten eine Gegenleistung erwartet wird und fungiert als soziale Sanktionsmöglichkeit, die davon abschreckt, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Dankbarkeit, wie Simmel (1992 [1908]: 661) festhält, ist »jenes Band der Wechselwirkung, des Hin- und Hetgehens von Leistung und Gegenleistung auch da spinnend, wo kein äußerer Zwang es garantiert.«
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Durch den wechselseitigen Ausgleich der Verpflichtungen durch Gegenleistungen profitieren beide Seiten vom Kontakt, und die gemeinsame Erfahrung festigt die soziale Bindung zwischen ihnen. Eine Person, die anderen hilft, erntet deren Dankbarkeit und Würdigung; und gleichzeitig bringt man sie in eine Schuld, die einen zukünftige Vorteile erwarten lässt. Diese vorteilhafte Konsequenz des Gefallen-Tuns ist WlZWeifelhaft eine Hauptursache dafür, dass sich Menschen vielfach großen Mühen aussetzen, anderen zu helfen- und dieses auch noch geme tun. Geben ist in der Tat seliger als Nehmen, weil es angenehmer ist, bei anderen über sozialen Kredit zu verfügen, als selbst sozial verschuldet zu sein. Um deutlich zu sein: Sicherlich gibt es Menschen, die sich uneigennützig für andere einsetzen, ohne eine Gegenleistung oder gar Dankbarkeit zu erwarten, aber das sind fast schon Heilige und Heilige sind selten. Andere handeln hin und wieder ebenfalls uneigennützig, doch aus einem direkteren Antrieb: etwa der gesellschaftlichen Anerkennung für ihr uneigennütziges Handeln. Diese gesellschaftliche Anerkennung ist freilich eine bedeutsame Belohnung, nach der Menschen in sozialer Interaktion streben.
Die Definition \Ton sozialem Austausch Austauschprozesse beschränken sich nicht auf ökonomische Märkte - soziale Austauschprozesse sind allgegenwärtig. Nachbarn helfen sich gegenseitig bei Hausarbeiten, Diskutanten tauschen untereinander Ideen, Kinder Spielzeug, Freunde soziale Unterstützun~ Politiker Zugeständnisse aus. Der Neuling muss die Ansprüche der Gruppe erfüllen, um akzeptiert zu werden. Kollegen tauschen Ratschläge aus; und wenn die überlegene Kompetenz eines Einzelnen eine Gegenleistung für seine Ratschläge verunmöglicht, so wird die soziale Verpflichtung dadurch abgegolten, dass seinen Fählgk.<;iten Bewunderung und Respekt entgegengebracht wird- und so sein Ansehen steigt. Sogar der Liebende, dessen scheinbar einzige Sotge es ist, seiner Angebeteten ~gefallen, sucht ihre Zuneigung im Gegenzug für seine Hingabe zu gewinnen. Auch' Gruppen und organisierte Kollektive sind in soziale Austauschprozesse eingebunden. So fußt beispielsweise das Exklusivrecht der medizinischen Berufe medizinische Leistungen anzubieten auf der Annahme, dass im Gegenzug die gesundheitlicheJil Bedürfnisse der Gemeinschaft erfüllt werden; oder eine Partei macht in ihrem Prögramm einer Interessengruppe Zugeständnisse, um im Gegenzug deren Stimmen,in der Wahlkabine zu erhalten. Homans (1968 J1961]: 11) entwickelte die erste systematische Theorie, die auf soziales Verhalten ~bstellt als ein »Austausch von greifbarer oder nicht greifbarer, lohnender oder koStspieliger Aktivität zwischen mindestens zwei Personen.« Von besonderem IntereSse waren dabei für Hornans die psychologischen Prozesse, die
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dazu motivieren, sich an Austauschprozessen zu beteiligen; dieser Reduktionismus auf psychologische Prozesse wurde von anderen Soziologen kritisiert. Jedoch war Hornans beileibe nicht der erste W1Ssenschafrler, der den sozialen Austauschprozessen Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Anthropologen hatten bereits früher die Bedeutung und den durchdringenden Charakter des Austausches von Geschenken und Diensten in einfachen Gesellschaften erforscht. So hat beispielsweise Mauss (1923/24) eine allgemeine Unrersuchung des Gabentausches in diesen Gesellschaften vorgenommen. Aber auch die Anthropologen waren nicht die ersten, die dieses Phänomen wahrgenommen hatten. Vor dem Hintergrund der Allgegenwärtigkeit der sozialen Austauschprozesse erscheint es nicht überraschend, dass Sozialphilosophen dieses Phänomen furtwährend seit der Antike erörtert haben. Aristoteles behandelt in der Nilwmachischen Ethik (1162a34-1163a24) ausführlich den sozialen Austausch, den er vom wirtschaftlichen Austausch dahingehend abgrenzt, dass der soziale Austausch »nicht auf Abmachungen [beruht], sondern man schenkt oder leistet etwas auf Grund der Freundschaft. Man erwartet aber gleich viel oder mehr wieder zu erhalten, wie wenn man nicht gegeben, sondern ausgeliehen hätte.<<
Viele Autoren der dazwischen liegenden Jahthunderte, so wie La Rochefuucauld (1664), Mandeville (1714) und Adam Smith (1759) waren von den Austauschprozessen fasziniert, die in einem Großteil des gesellschaftlichen Lebens wahrnehmbar sind. In der jüngeren Vergangenheit finden sich Austauschkonzepre implizit in Whytes Arbeit (1943) über die Verpflichtungen eines Bandenführers; sie sind explizit in Blaus Analyse einer Besprechung von Regierungsbeamten (1955); und ein zu Grunde liegendes Element in Thibauts und Kelleys Theorie übet Zweier- und Dreierbeziehungen (1959). Der durchdringende Charakter sozialer Austauschprozesse verleiret dazu, die Fruchtbatkeit des Konzeptes zu erfOrschen, indem man es auf alle sozialen Handlungsweisen anwendet. Doch das Konzept verliert seine besondere Bedeutung und wird tautologisch, wenn jedes zwischenmenschliche Verhalten darunter subsumiert wird Denn obgleich ein großer Teil an der Erwartung einet Gegenleistung orientiert ist - sogar mehr, als für gewöhnlich angenommen wird -, gilt dies nicht für alle sozialen Handlungen. Das Konzept des Austausches lässt sich mit Hilfe der IDustration des fOlgenden Falles eingrenzen: Ein Mann gibt Geld an andere. Erstens könnte er dieses tun, weil er mit vorgehaltener Waffe bedroht wird. Man könnte diesen Vorgang als einen Austausch seines Geldes gegen sein Leben betrachten, angemessener erscheint es jedoch, Ergebnisse physischen Zwangs aus der Definition des Begriffs »Austausch« auszuschließen. Zweitens könnte er das Geld für wohltätige Zwecke spenden, weil sein Gewissen von ihm verlangt, den Armen zu helfen, ohne eine Form der Dank-
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barkeit dafür zu erwarten. Dies könnte als Austausch seines Geldes gegen die interne Anerkennung seines Über-Ichs interpretiert werden, doch ist es vorzuziehen, auch die Übereinstimmung mit verinnerlichten Nonnen von dem Begriff des »Austausches« auszuschließen. Drittens könnte ein unkontrollierbarer Impuls den Mann veranlassen,! sein Geld sinnlos zu verprassen. Ein solches von irrationalen Antrieben herbei geführtes Verhalten zielt ebenfalls nicht auf einen Austauschprozess ab. Schließlich könnte er Bettlern Almosen geben, weil er sich an ihren ehrerbietigen Dankesbekundungen erfreut, und von weiteren Almosen absehen, wenn sie die erhoffte Reaktion verweigern. Dieser letzte Fall illustriert den sozialen Austauschprozess, während die ersten drei die Grenzen des Konzeptes aufzeigen. Zusammengefasst: Das Konzept des Austausches zielt auf freiwillige soziale Handlungen ab, die von belohnenden Reaktionen anderer abhängig sind und die eingestellt werden, wenn die erwarteten Reaktionen nicht eintreffen.
Sozialer und wirtschaftlicher Austausch Der Ausdruck »Sozialer Austausch« wurde entworfen, um aufzuzeigen, dass soz~e Interaktion jenseits der ökonomischen Sphäre erhebliche Ähnlichkeiten zu wirtschaftlichen Transaktionen aufweist. Insbesondere die Erwartungshaltung, dass eine erbrachte Leistung eine Gegenleistung nach sich zieht, ist nicht bloß für wirtschaftliche, sondern auch für soziale Transaktionen charakteristisch, in denen Geschenke und Hilfeleistungen als frcigiebige Handlungen erscheinen. Darüber hinaus gilt auch das ökonomische Prinzip des fallenden Grenznutzens für den sozialen Austausch. Der Ratschlag eines Fachkollegen ist für jemanden, der Hilfe braucht, von hohem Wert, doch sobald das Problem gelöst wurde, ist weiterer Ratschlag nicht mehr von vergleichbarem Wert. Ganz gleich, wie stark zwei Freunde die gegenseitige Gesellschaft schätzen, mit zunehmender Zeit der Zusammenkunft werden sie immer weniger auf eine Fortsetzung des Zusammenseins drängen. Je länger man sich auf das Erlangen eines bestimmten sozialen Vorteils konzentriert, desto stärker dringt der Wert der Alternativen, auf die verzichtet wurde, in das Bewusstsein und mindert den Wert der angestrebten Gratifikation. Alle diese Beispiele belegen das Grenznutzenprinzip im sozialen Leben. Auf der anderen Seite existieren jedoch auch wichtige Unterschiede zwischen sozialem und strikt wirtschaftlichem Austausch. Der grundlegendste Unterschied ist, dass bei der sozialen Transaktion die anfallenden Verpflichtungen nicht exakt im Vorfeld zu spezifizieren sind. Bei der wirtschaftlichen Transaktion hingegen werden die gegenseitigen Verpflichtungen exakt und gleichzeitig von beiden Parteien gemeinsam vereinbart: Ein bestimmtes Produkt wird für einen genau bestimmten
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Preis verkauft. Beide Güter wechseln zum Zeitpunkt des Abkommens den Besitzer, oder ein Vertrag legt präzise fest, welche Verpflichtungen jede Vertragsseite in der Zukunft erfüllen muss. Im Gegensatz dazu sorgt beim sozialen Austauschprozess zunächst nur eine Seite für den Nutzen der anderen, und obwohl eine generelle Erwartungshaltung bezüglich einer Gegenleistung besteht, bleibt im Unterschied zum wirtschaftlichen Austauschprozess die genaue Ausgestaltung unspezifiziert. Tatsächlich muss die Gegenleistung auch unspezifiziert bleiben, da jeder Versuch einer exakten Festlegung im Voraus die soziale Bedeutung der Transaktion zerstören und diese in eine bloße wirtschaftliche Transaktion umwandeln würde. Jemandem einen Gefallen zu erweisen, hat eine grundsätzlich andere soziale Bedeutsamkeit als mit jemandem ein Geschäft abzuschließen. Wenn man eine Hilfeleistung für jemanden erbringt und gleichzeitig benennt, welche Gegenleistung man dafür erwartet, offenbart man, dass man diese Hilfe nicht als Gefallen betrachtet, sondern als Teil eines Geschäfts; gleichzeitig wird darauf beharrt, die Beziehung geschäftsähnlich zu halten und verweigert, eine sozialere Form des Austausches einzugehen. Ist es der Empfänger, der unverzüglich klar stellt, welche Gegenleistung er zu tätigen gedenkt, offenbart er gleichermaßen seine Ablehnung. eine sozialere Form des Austausches einzugehen. Sozialer Austausch umfasst dagegen die' Gewährung einer Wohltat, die eine diffuse Verpflichtung zur zukünftigen Gegenleistung kreiert. Dabei können über den genauen Gegenstand der Gegenleistung grundsätzlich keine Vereinbarungen im Voraus getroffen werden, er kann nicht verhandelt werden und muss somit in seiner Ausgestaltung im Ermessen desjenigen verbleiben, der die Gegenleistung zu erbringen hat. Wenn jemand eine Abendgesellschaft gibt, so erwartet er von seinen Gästen eine Erwiderung in der Zukunft. Aber er kann schwerlich mit seinen Gästen über die genaue Ausgestaltung der Party verhandeln, zu der er eingeladen werden möchte, auch wenn er sicherlich nicht erwartet, zu einem gewöhnlichen Mittagessen eingeladen zu werden, wenn er ein förmliches Abendessen veranstaltet hat. Allgemein lässt sich feststellen, dass für Gefälligkeiten anderen gegenüber Zeichen der Dankbarkeit und Wertschätzung erwartet, aber weder über die genaue Ausgestaltung der reziproken Leistung verhandelt, ·noch überhaupt eine Gegenleistung erzwungen werden kann. Jeder Versuch, eine Rückzahlung für die eigene Großzügigkeit sicherstellen zu wollen, enthüllt, dass es nicht an erster Stelle Großzügigkeit war, die das Tun bewirkt hat. Das am stärksten charakteristische Merkmal der sozialen Verpflichtung ist, dass sie unspezifisch bleibt, und der Umstand, dass soziale Güter- im Unterschied zu wirtschaftlichen- keinen genau festgelegten Preis haben, kommt dem entgegen. Da es der Begünstigte ist, der über Art und Zeitpunkt der Gegenleistung entscheidet, beziehungsweise ob überhaupt eine Gegenleistung erfolgen soll, basiert der soziale Austauschprozess auf Vertrauen in andere, während im wirtschaftlichen
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Austausch die unmittelbare Übergabe der Güter oder der förmliche, durchsetzbare Vertrag das Vertrauenserfordernis ersetzt. Typischerweise entwickelt sich eine soziale Austauschbeziehung in einem langsamen Prozess, anfangs mit kleinen Transaktionen beginnend, die wenig Risiko bedeuten und wenig Vertrauen erfordern, und in denen die Beteiligten ihre Vertrauenswürdigkeit beweisen können, um dann später ihre Beziehung auszuweiten und größere Transaktionen vorzunehmen. Das erforderliche Vertrauen für den sozialen Austausch wird somit im Verlaufe des Prozesses selbst generiert. Das Erzeugen von Vertrauen scheint eine der Hauptfunktionen des sozialen Austauschprozesses zu sein, und es bestehen besondere Mechanismen, die den Zeitraum der Verpflichtung ausdehnen und dabei die Bindungen, das In-der-Schuld-stehen einerseits und das Vertrauen andererseits, stärken. Beim zeremoniellen .Ku/a-Gabentausch unter den Bewohnern der Trobriand-Inseln zum Beispiel kann die Gegenleistung für erhaltene Gaben erst auf der viele Monate später erfolgenden Expedition erbracht werden, da die sofortige Erwiderung der Gabe allgemein verurteilt wird (Malinowski 1961 [1922]: 210f.). Ähnlich wird in unserer Gesellschaft eine zu schnelle Erwiderung eines Geschenkes oder einer Einladung als ungebührlich bettachtet Das Missbilligen übereilter Gegenleistungen fördert den Vertrauenszuwachs bei den Austauschpartnern, da somit der Zeitraum des wechselseitigen Verpflichtet-Seins verlängert wird Sozialer Nutzen lässt sich zudem weniger von der Herkunftsquelle loslösen, als dies bei wirtschaftlichen Gütern der Fall ist. Das eine Extrem bildet dabei die weitschweifige soziale Unterstützung, die aus einer Liebesbeziehung resultiert und deren Bedeutsamkeit ausschließlich von der Person abhängt, die die Quelle bildet. Das andere Extrem bilden jene wirtschaftlichen Güter, deren Wert gänzlich unabhängig vom Erzeuger ist, so wie Anteile an einer Aktiengesellschaft oder Geld. Der größte Teil sozialen Nutzens liegt zwischen diesen Extremen, mit einem Wert, der außerhalb der eigentlichen Austauschbeziehung liegt, der aber durch die Bedeutung dieser Beziehung modifiziert werden kann. Eine Person, die einen Kollegen konsultiert, ist an einem guten Ratschlag interessiert, ganz gleich von wem er stammt; aber die persönliche Beziehung zu dem Befragten macht es mehr oder weniger ei,nfach für ihn, um Mithilfe zu fragen und den Rat zu verstehen, den er erhält. (Auch wenn in der ökonomischen Sphäre die Diensdeistungen des netten Lebensmittelhändlers an der Ecke denen eines unpersönlichen Supermarktes vorgezogen werden, so beeinflussen solche persönlichen Beziehungen allgemein weniger den wirtschaftlichen als den sozialen Austausch.) Wenn man den ,wirtschaftlichen Austausch als einen Spezialfall des allgemeinen Austauschphänomens betrachtet, ist der soziale Austausch die Residualkategorie. Wenn Waren und Diensdeistungen unter den Bedingungen eines einzigen Austauschmediums einiPreis zugeordnet wird, sind wirtschaftliche Transaktionen institutionalisiert. Ihr Preis definiert den Wert von Gütern unabhängig von der besonde-
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Austauschbeziehung, trennt den speziellen Wert des Guten von anderem Nutzen, der aus der eigentlichen Austauschbeziehung noch resultiert, und ermöglicht es, genaue Angaben über die anfallenden Verpflichtungen der sozialen Transaktion zu machen. W1rtscllaftliche Institutionen wie der unpersönliche Markt wurden entworfen, um andere Erwägungen als den Preis aus den Austauschbeziehungen auszuschließen. Sozialer Nutzen hat oftmals keinen Preis, weil er - wie soziale Unterstützung - nicht auf dem Markt gehandelt wird, oder weil er nicht nach den gleichen Bedingungen gehandelt wird, wie es der Ratschlag eines Freundes im Vergleich mit dem Ratschlag eines professionellen Beraters veranschaulicht. Es gibt Vorteile, die mit sozialem Austausch einhergehen, zum Beispiel dass deren Angebot unabhängig von vereinbarten Gegenleistungen ist, obwohl eine generelle Erwartungshaltung bezüglich der Erwiderung besteht. Der Umstand, dass die Gegenleistung im Ermessen desjenigen verbleibt, der sie erbringt, gibt dem sozialen Austausch seine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung von Vertrauen und Freundschaft; und Mechanismen wie soziale Normen, die das Aushandeln der Gegenleistung oder die übereilte Erfüllung der Verpflichtung untersagen, scheinen diesen Umstand zu schützen. Die bedeutendsten Vorteile, die aus sozialem Austausch resultieren, wie zum Beispiel gesellschaftliche Anerkennung und Respekt, haben überdies keinen materiellen Wert, der sich durch einen Preis beziffern ließe.
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Austausch und Macht Ein Paradoxon des sozialen Austausches ist es, dass er nicht nur soziale Bande der Freundschaft zwischen Gleichberechtigten erzeugt, sondern auch Statusdifferenzen zwischen Menschen kreiert. Der Kula-Austausch beispielsweise, wie er von Malinowski beschrieben wird (2001 (1922): 124), sorgt dafür, ))dass jeder Beteiligte einige Freunde in seiner Nähe und ein paar freundlich gesonnene Verbündete in entfernt gelegenen, gefijhrlichen und fremden Gebieten besitzt.« Der Podatsch der Kwakiutl andererseits ist ein System des Weggebens von Gaben, in dem der ))politische Status der Individuen in den Bruderschaften und Clans sowie überhaupt jede Art von Rängen (...) durch den >EigentumSkrieg< erworben« wird, wie Mauss (1968 (1923/24]: 85) notierte. Eine bedeutende Funktion des Gabenaustausches in einfachen Gesellschaften ist nach den Worten von Uvi-Strauss (1981 (1949]: 108), >>einen Rivalen an Freigebigkeit zu übertreffen und ihn womöglich mit einer Fülle von Gegenverpflichtungen zu erdrücken, denen er, so hofft man, nicht nachzukommen vermag, so dass man ihm Privilegien, Titel, Rang, Autorität und Prestige entreißen kann.«
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Auch in der modernen Gesellschaft dient das Gewähren von Vorteilen manchmal dem Ausdruck von Freundschaft und manchmal als Mittel, eine Überordnung zu etablieren. Eine Person, die anderen wertvolle Geschenke oder wichtige Hilfsleistungen zukommen lässt, beansprucht implizit einen übergeordneten Status, indem sie die anderen verpflichtet. Ein Wohltäter ist kein Gleichberechtigter, sondern ein Übergeordneter, von dem andere abhängen. Wenn diese ihre Verpflichtungen durch adäquate Gegenleistungen erfiillen; verneinen sie seinen Anspruch auf Überordnung; und wenn ihre Gegenleistungen die Verpflichtungen überetfüllen, erzeugen sie im Gegenzug einen Anspruch auf eine eigene Superiorität. Fortgesetzter gegenseitiger Austausch stärkt die Beziehung unter Gleichen. Aber sobald es dem einen nicht gelingt, eine Gegenleistung zu erbringen, die für den anderen einen vergleichbaren Wert entfaltet, bestätigt er den Anspruch des anderen auf einen übergeordneten Status. In einfachen Gesellschaften scheinen Statusunterschiede in der institutionalisierten Bedeutung von einseitigen Wohltaten verwurzelt zu sein, während sie in modernen Gesellschaften typischerweise aus der einseitigen Abhängigkeit vom Erfüller eines Bedarfes resultieren. Die verstetigte einseitige Versorgung mit wichtigen Gütern ist eine grundlegende Quelle von Macht. Ein Mensch, der Ressourcen zur Verfügung hat, die _es ihm erlauben, die Bediirfnisse anderer Menschen zu erfüllen, kann Macht über diese ausüben, vorausgesetzt, dass vier Bedingungen erfüllt sind, wie sie in einer etwas anderen Form von Emersen (1962) vorgeschlagen wurden. Erstens dürfen die Begünstigten über keine eigenen Ressourcen verfügen, derer der Wohltätige bedarf, da sie ansonsten in direktem Austausch erlangen könnten, was sie von ihm wollen. Zweitens dürfen sie .nicht in der Lage sein, ihren Bedarf aus einer anderen Quelle zu decken, die sie von dem Wohltäter unabhängig machen würde. Drittens dürfen sie nicht willens oder nicht in der Lage sein, sich das, wonach sie begehren, mit Gewalt anzueignen. Viertens dürfen sie keinen Interessenwandel durchlaufen, der es ihnen ermöglicht, ohne die ursprünglich benötigten Güter auszukommen. Wenn diese vier Voraussetzungen zusammentreffen, haben die Bedürftigen keine andere Wahl, als sich den Wünschen und der Macht des Wohltäters unterzuordnen, um die benötigten Güter zu erhalten. Die vier Bedingungen für Folgebereitschaft sind erschöpfend, sind sie erfüllt, generiert die Versorgung mit bedeutenden Hilfen unweigerlich Macht. Unter bestimmten Bedingungen führen Austauschprozesse somit zu einer Ausbildung von Machtungleichheit. Ein Mensch, der über Güter verfügt, die von anderen benötigt werden, der zugleich völlig unabhängig von den Gütern ist, die diese anbieten, und dessen Güter jene weder anderswo beziehen noch mit Gewalt ihm wegnehmen können, kann über sie Macht ausüben, indem er die Befriedigung ihres Bedürfnisses von der Erfiillung seiner Anweisung abhängig macht. Indem sie seinen
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Wünschen nachkommen, vergelten sie die Güter, die er bereitstellt. Die Ausgewogenheit des Austausches wird wieder hergestellt, indem einseitige Leistungen durch ein Ungleichgewicht an Macht kompensiert werden. Derjenige, der wiederholt anderen benötigte Güter bereitstellt, macht diese abhängig von ihm und verpflichtet diese; ihre angesammelten Verpflichtungen wiederum zwingen sie, seinen Wünschen Folge zu leisten, damit er die Bereitstellung der Güter nicht einstellt. Thr In-derSchuld-Stehen ihm gegenüber führt zu einer Zustimmungsbereitschaft, auf die er nach seinem Ermessen zugreifen kann, wann immer er daran interessiert ist, ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Die Willfährigkeit gegenüber der Erfüllung der Wünsche des anderen und der daraus resultierenden Macht, mit der die empfangenen Leistungen vergolten werden, scheinen sich nicht von anderen sozialen Vorteilen, die in sozialen Transaktionen zur Geltung kommen, zu unterscheiden. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der Ausbildung von Machtungleichheit und gegenseitigem sozialen Austausch, so wie ein grundlegender Unterschied zwischen sozialem und wirtschaftlichem Austausch besteht. Das unterscheidende Kriterium liegt in der Antwort auf die Frage, bei wem der Ermessensspielraum hinsichtlich der Rückzahlung liegt Beim wirtschaftlichen Austausch kann keine Seite ein Ermessen über die Ausgestaltung der Gegenleistung ausüben, da die genauen Bedingungen der Rückzahlung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Transaktion festgelegt wurden. Beim gegenseitigen sozialen Austausch entscheidet derjenige über die Ausgestaltung und den Zeitpunkt der Gegenleistung, der diese vornimmt, also der Empfänger der ursprünglichen Wohltat In Machtbeziehungen hingegen erfolgt die Gegenleistung auf das Verlangen desjenigen, dem sie zusteht, also dem Bereitsteller der ursprünglichen Wohltat Angesammelte Verpflichtungen und einseitige Abhängigkeit verschieben das Ermessen über die Gegenleistung vom Schuldner zum Gläubiger und wandeln eine Austauschbeziehung zwischen Gleichberechtigten in eine Machtbeziehung zwischen Übergeordnetem und Untergeordnetem um.
SekluldärerJ\ustausch Das Studium komplexer sozialer Strukturen muss auch diejenigen emergierenden sozialen Kräfte mit einbeziehen, die nicht in direkten face-to:foce-Interaktionen beobachtbar sind Um es noch einmal klar zu stellen: Das Austauschkonzept nimmt Bezug auf die emergenten Eigenschaften sozialer Beziehungen, die sich nicht auf durch psychische Prozesse motiviertes individuelles Verhalten reduzieren lassen. Die Austauschtheorie behandelt die lnteraktionsprozesse, die dann entstehen, wenn Individuen V orteile aus sozialen Beziehungen zu ziehen trachten, ganz gleich, wel-
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ehe psychischen Einflüsse dazu geführt haben, bestinunte Vorteile erlangen zu wollen. Die Ausbildung von Machtdifferenzen in einem Kollektiv bewirkt andere soziale Prozesse in der komplexen Struktur, und diese könnten einen sekundären Austauschprozess begründen, der die ursprünglichen Charakteristika interpersonaler Beziehungen überligert. Macht ermöglicht es, seine Forderungen zu erzwingen, und diese Forderungen werden von den der Macht Unterworfenen in Bezug auf soziale Normen der Fairness beurteilt. Die faire Ausüb~g der Macht durch einen Herrscher oder eine herrschende Gruppe bewirkt gesellschaftliche Anerkennung, wohingegen ungerechte, als ausbeuterisch oder unterdrückend erlebte Forderungen gesellschaftliche Missbilligung hervorrufen. Demnach entsteht ein sekundärer Austauschprozess - Fairness in der Ausübung der Macht als Gegenleistung für die gesellschaftliche Anerkennung der Untergeordneten-, wenn sich Machtstrukturen innerhalb eines Kollektivs ausdifferenzieren. Die• gesellschaftlichen Kräfte, die durch diesen sekundären Austauschprozess erze..;tgt werden, führen einerseits zu Legitimation und Organisation und andererseits zu Widerstand und Umsturz. Kollektive Anerkennung von Macht legitimiert diese Macht. Wenn die Menschen von der Art und Weise, durch die sie regiert werden, profitieren, und sie die Forderungen, die an sie gerlehret werden, in Anbetracht der Vorteile der Herrschaft als vollständig gerechtfertigt ~eben, dann entsteht ein gemeinschaftliches Gefühl von Loyalität, da untereinander die Anerkennung der Herrschaft kommuniziert wird. Die kollektive Vetpflichtung gegenüber der Führung findet ihren Ausdruck in sozialen Normen, die die Befolgung der Anweisungen obligatorisch machen. Das Kollektiv der Untergeordneten zahlt denjenigen an der Macht die Vorteile, die sich aus der Führung herleiten, dadurch zurück, dass die Durchsetzung der Anweisungen der Herrschenden als Teil der Durchsetzung der eigenen sozialen Normen erfolgt; das heißt, die Autorität der Führung wird legitimiert. Ein ausgeprägtes Charakteristikum legitimierter Autorität ist, dass den Befehlen der Herrschenden nicht wegen der Möglichkeit der Sanktionierung, sondern wegen des unter den Untergeordneren selbst ausgeübten normativen Drucks Folge geleistet wird, ins~ondere, wenn diese normativen Auflagen institutionalisiert wurden. Autorität, im Gegenzug, befördert Organisation. Kollektive Missbilligung der Macht erzeugt Widerstand Menschen, die das Gefühl teilen, von den Herrschenden durch übennäßige Forderungen ausgebeutet und unterdrückt zu werden, sind geneigt, ihre Klagen untereinander zu kommunizieren. Der Wunsch nach Vergeltung durch den Sturz der Unterdrücker wird oft in Diskussionen entfacht,; in denen Menschen in ihrem aggressiven Empfinden soziale Unterstützung erfahren. Eine Ideologie des Widerstands könnte entstehen, die von nun an Angriffe arlf die bestehenden Machtstrukturen rechtfertigt und verstärkt. ' Aus dieser geteilten' Unzufriedenheit entstehen Widerstandsbewegungen, zum Bei-
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spiel die Bildung einer Gewerkschaft gegen den Arbeitgeber oder einer radikalen Partei gegen die Regierung. Dieser Widerstand ist ein bedeutender Katalysator grundlegenden sozialen Wandels. Einer der wichtigsten Bestirnmoogsfaktoren sozialen Handeins ist das institutionalisierte Wertesystem einer Gesellschaft: die besonderen Werte, die die Identität der Gruppe definieren; gemeinsame Standards von Moral und Leistung; die Werte, die die Regierungsgewalt und die Organisationsstrukturen legitimieren; und jene Ideologien, die hin und wieder den Widerstand gegen die Machthaber bewirken. Von diesen Werten gefiihrr, stellen Menschen oftmals eigene Interessen und Tauscherwägungen rurück; beispielsweise können die Grundsätze eines Berufes erfordern, Klienten zu helfen, unabhängig von der zu erwartenden Gegenleistung. Soziale Werte und Normen setzen dem Handeln weitgehend deutliche Grenzen, ohne jedoch Details vorzuschreiben. Innerhalb dieser Grenzen sind Menschen frei, ihre Interessen an sozialen Nutzen zu verfolgen und Erwägungen des Austausches treten auf. Während soziale Normen Lügen und Täuschen zur Erl.angung von Ratschlag verbieten, erlauben sie es, einen anderen zum Erteilen von Ratschlägen zu veranlassen, indem man ihm Respekt entgegenbringt oder durch andere unspezifizierte Mittel Soziale Handlungsweisen werden sowohl von gemeinsamen Werten als auch durch die Prinzipien des Austausches beeinflusst, und beide sollten in Untersuchungen nicht vernachlässigt werden. Von besonderer Bedeutung bei der Analyse des sozialen Lebens ist dabei der Einfluss, den soziale Werte auf die angestrebten Vorteile nehmen. Patriotische Ideale oder die des Widerstandes veranlassen Menschen oft zu großen materiellen Opfern, da diese Werte die Stärkung der gemeinsamen Sache für sie lohnender machen als materielle Gewinne. Die Austauschtheorie behandelt hauptsächlich unmittelbare Jace-toface-Beziehungen und muss folglich von anderen theoretischen Prinzipien ergänzt werden, die auf komplexe Strukturen mit institutionalisierten Werten fokussieren. Dennoch vermag die Austauschtheorie auch zur Studie komplexer Strukturen einiges beizutragen.
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Die Ökonomie der symbolischen Güter* Pierre ßourdieu
Gabe und do ut des Da ich nicht als bekannt voraussetzen kann, was ich in Sotjaler Sinn gesagt habe, will ich auf bestimmte Analysen dieses Buchs noch einmal ganz kurz eingehen und versuchen, einige allgemeine Prinzipien der symbolischen Ökonomie zu entwickeln. Beginnen will ich mit einer kurzen Darstellung der wesentlichen Merkmale des Gabentauschs. Mauss hat den Gabentausch als eine diskontinuierliche Folge von großmütigen Handlungen beschrieben; Uvi-Strauss hat ihn als eine die Tauschakte transzendierende, auf Gegenseitigkeit beruhende Struktur definiert, in der die Gabe eine Gegengabe erheischt. Ich selber habe darauf hingewiesen, dass in beic;len Analysen etwas fehlt, nämlich die entscheidende Rolle des zeitlichen Intervalls zwischen Gabe und Gegengabe, die Tatsache, dass in praktisch allen Gesellschaften stillschweigend davon ausgegangen wird, dass man die erhaltene Gabe nicht auf der Stelle erwidert - was einer Zurliekweisung gleichkäme. Ich habe dann nach der Funktion dieses Intervalls gefragt: Warum muss die Gegengabe aufgeschoben werden, warum muss sie aus etwas anderem bestehen als die Gabe? Und ich habe gezeigt, dass das Intervall die Funktion hatte, Gabe und Gegengabe gegeneinander abzuschirmen und zwei vollkommen symmetrische Handlungen als unverbundene Einzelhandlungen erscheinen zu lassen. Wenn ich meine Gabe als eine unbedingte, großmütige, keine Gegenleistung einfordernde Gabe erleben kann, dann in erster Linie deshalb, weil , wie minimal auch immer - ein Risiko besteht, dass die Gegenleistung ausbleibt (Undankbare gibt es immer), eine Spannung also, eine Ungewissheit, die das Intervall zwischen dem Augenblick, in dem man gibt, und dem Augenblick, in dem man 1bekommt, als solches überhaupt erst schafft. In Gesellschaften
*Quelle: Pierre Bourdieu (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, ~itel 6: Die Ökonomie der symbolischen Güter, 163-182. Aus dem Französischen von Hella; Beister. [Original: Raisons pratiques. Sur Ia theorie de l'action. Paris: Editions du Seuil, 1994]
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wie der kabylischen ist in Wirklichkeit der Zwang sehr groß und die Freiheit, die Gabe nicht zu erwidern, winzig klein. Die Möglichkeit aber besteht, und damit ist die Gewissheit nicht absolut. Alles spielt sich so ab, als ob das zeitliche Intervall, das den Gabentausch vom do ttf des unterscheidet, dazu da wäre, den Gebenden seine Gabe als Gabe ohne Gegengabe erleben zu lassen, und den die Gabe Erwidernden seine Gegengabe als unbedingt und von der ersten Gabe unabhängig. Diese von Levi-Strauss aufgedeckte strukturelle Wahrheit ist auch in der Realität nicht ganz unbekannt. Ich habe in der Kabylei eine ganze Anzahl von Sprichwörtern gesamrnelt,'in denen es mehr oder weniger heißt, ein Geschenk sei ein Unglück, weil man es am Ende erwidern müsse. (Dasselbe gilt für ein Ehrenwort oder eine Herausforderung.) In all diesen Fällen stellt die Initialhandlung einen Eingriff in die Freiheit des Empfangenden dar. Sie enthält eine Drohung: Sie verpflichtet zur Gegengabe, und zwar zu einer größeren; außerdem schafft sie Vexpflichtungen, sie ist eine Art, Menschen an sich zu binden, indem man sie sich vexpflichtet (Bourdieu
1987 [1980): 194-197). Aber diese strukturelle Wahrheit ist wie kollektiv verdrängt. Die Existenz des zeitlichen Intervalls ist nur zu verstehen, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass der Gebende Wld der Emp&ngende, ohne es zu wissen, gemeinsam an einer Verschleierung arbeiten, die der Verneinung der Wahrheit des Tauschs dient, jenes do ut des, das die Vernichtung des Gabentauschs wäre. Damit sind wir bei einem sehr schwierigen Problem angelangt: Wenn sich die Soziologie an die objektivistische Beschreibung hält, reduziert sie den Gabentausch auf das do ut des und beraubt sich der Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Gabentausch und Kreditgewährung. Also ist das Wichtige am Gabentausch eben diese Tatsache, dass beide am Tausch beteiligten Personen mit Hilfe des eingeschobenen zeitlichen Intervalls, ohne es zu wissen und ohne sich abzusprechen, an der Verschleierung oder Verdrängung der objektiven Wahrheit ihres Tuns arbeiten. Eine Wahrheit, die der Soziologe dann wieder aufdeckt, aber mit dem Risiko, dass er eine Handlung, die interessenfrei sein will und auch als solche genommen werden muss, also als die Wahrheit, als die sie erlebt wird Wld die vom theoretischen Modell ebenfalls zur Kenntnis genommen und erklärt werden muss, als zynischen Akt beschreibt. Damit haben wir ein erstes Merkmal der Ökonomie des symbolischen Tauschs: Hier handelt es sich um Praktiken, bei denen es stets zwei Wahrheiten gibt, die schwer zusammenzuhalten sind Diese Dualität muss man zur Kenntnis nehmen. Die Ökonomie der symbolischen Güter lässt sich, allgemeiner formuliert, nur begreifen, wenn man diese Ambivalenz ernst nimmt, die nicht im Forschenden, sondern in der Realität selbst begründet ist, diesen Widerspruch zwischen der subjektiven Wahrheit und der objektiven Realität (zu deren Erkenntnis die Soziologie durch die Statistik und der Ethnologe durch die strukturale Analyse gelangt). Möglich witd diese Dualität, und lebbar, durch eine Art se!f-deception, Selbsttäuschung. Der indivi-
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duellen se!f-deception aber liegt eine kollektive se!f-deception zugrunde, eine echte kollektive Verkennung (ebd.: 205), die in den objektiven Strukturen (in der Logik der Ehre, der alle Tauschakte- von Worten, Frauen, Morden usw. -unterliegen) und in den mentalen Strukturen (ebd: 334, zwn Ehrgefühl, nt!J verankert ist und die Möglichkeit, anders zu denken und zu handeln, ausschließt. So können die Akteure nur deshalb Täuschende- ihrer selbst und der anderenund Getäuschte zugleich sein, weil sie sich von Kindesbeinen an in einem Universum bewegen, in dem der Gabentausch sozial in den Dispositionen und in den Glaubensvorstelltmgen angelegt und aufgtund dessen nicht mit jenen Paradoxa zu fassen ist, die künstlich herauspräpariert werden, wenn man sich wie Jacques Derrida in einem neueren Buch, Passions, auf den Standpunkt der Bewusstseinslogik und der freien Entscheidung eines vereinzelten Individuums stellt. Sobald man vergisst, dass der Gebende wie der Nehmende durch die ganze Arbeit ihrer Sozialisation darauf eingestellt und dazu geneigt sind, sich ohne jede auf Profit gerichtete Absicht und Berechnung atif den großmütigen Tausch einzulassen, dessen Logik sich ihnen objektiv aufzwingt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die unbedingte Gabe nicht existiert oder unmöglich ist, denn dann sind die beiden Akteure nur als berechnende Personen denkbar, die subjektiv den Vorsatz zu dem fassen, was sie nach Uvi-Strauss' Modell objektiv ausführen, nämlich einen der Logik der Gegenseitj.gkeit unterliegenden Tausch. Und damit kommen wir zu einem weiteren Merkmal der Ökonomie des symbolischen Tauschs: das Tabu der expliziten Formulierung (deren Form par excellence der Preis ist). Wer ausspricht, woran man ist, wer die Wahrheit des Tauschs oder, wie es manchmal heißt, »die Wahrheit der Preise« verkündet, macht den Tausch zunichte (wenn man ein Geschenk macht, entfernt man das Preisschild..). Beiläufig wird deutlich, dass :ein Verhalten wie dieses, mit dem Gabentausch als Paradigma, die Soziologie, die ja per definitionem zu expliziten Formulierungen gelangen muss, vor ein äußerst heikles Problem stellt: Muss sie doch etwas ausformulieren, das sich von selbst versteht hnd, will man es nicht als solches zerstören, implizit und unausgesprochen bleiben ~muss. Eine Verifizierung dieser Analysen und ein Beleg für das Tabu der expliziten Formulierung, das in der Ökonomie des symbolischen Tauschs verborgen ist, wären in einer Beschreibung der Wirkungen zu finden, die mit der Einführung des Preises eintreten. Genauso :wie man die Ökonomie des symbolischen Tauschs als Analysator für die Ökonomie des ökonomischen Tauschs benutzen kann, so kann man umgekehrt von der Ökonomie des ökonomischen Tauschs erwarten, dass sie sich als Analysator für die Ökonomie des symbolischen Tauschs benutzen lässt. So fungiert der Preis, der das ureigenste Merkmal der Ökonomie des ökonomischen Tauschs im Gegensatz zur Ök~nomie der symbolischen Güter darstellt, als der symbolische Ausdruck jener Übereinkunft über den Wechselkurs, die mit jedem ökonomischen
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Tauschakt impliziert ist. Diese Übereinkunft über den Wechselkurs ist auch in der Ökonomie des symbolischen Tauschs vorhanden, aber ihre Klauseln und Bedingungen werden im Impliziten belassen. Der Preis muss beim Gabentausch implizit bleiben (daher die Entfernung des Preisschilds): Ich will die Wahrheit der Preise nicht wissen, und ich will nicht, dass der andere sie weiß. Alles spielt sich so ab, als ob man sich in der Vermeidung der expliziten Einigung über den .re1ativen Wert der getauschten Sachen einig wäre, in der Ablehnung jeder vorherigen Fesdegung der Bedingungen des Tauschs, das heißt des Preises (was bei bestimmten Tauschakten, wie Vtviana Zelizer anmerkt, in dem Tabu des Gebrauchs von Geld zum Ausdruck kommt - man zahlt seiner Frau oder seinem Sohn keinen Lohn, und ein junger Kabyle, der von seinem Vater Lohn verlangte, wäre ein Skandal). Die Sprache, die ich benutze, hat finalistische Konnotationen und könnte so verstanden werden, als würden die Menschen bewusst ein Auge zudrücken; im Grunde müsste man sagen, »alles spielt sich so ab, als ob«. Die Logik des Preises abzulehnen ist eine Art und Weise, Berechnung und Berechenbarkeit abzulehnen. Erst die explizite Form, die die Übereinkunft über den Wechselkurs in Gestalt des Preises erhält, macht Berechenbarkeit und Vorhersehbru:keit möglich: Man weiß dann, woran man ist Sie ist aber auch der Ruin der ganzen Ökonomie des symbolischen Tauschs, der Ökonomie der Dinge, die keinen Preis haben, in doppeltem Sinne. (Redet man, wie es mitunter zum Zwecke der Analyse sein muss (vgl. Zelizer 1987), von einem Preis der Dinge, die keinen Preis haben, führt man natürlich eine
contradictio in at!jecto ein.) Das Schweigen über die Wahrheit des Tauschs ist ein geteiltes Schweigen. Die Ökonomen, die sich im Namen einer finalistisch-intellektualistischen Philosophie des Handeins kein anderes als ein rationales Handeln vorstellen können, sprechen von common knowledge: Eine Information ist common knowledge, wenn man sagen kann, dass jeder weiß, dass jeder weiß, dass jeder über diese Information verfügt, oder wenn sie, wie man so sagt, ein offenes Geheimnis ist Man könnte durchaus versucht sein zu sagen, die objektive Wahrheit des Gabenrauschs sei in gewissem Sinne common knowledge: Ich weiß, dass du weißt, dass du, wenn ich dir etwas gebe, mir etwas wiedergeben wirst, usw. Aber die explizite Formulierung dieses offenen Geheimnisses, soviel steht fest, ist tabu. All das muss implizit bleiben. Es gibt eine Unzahl von objektiven und in jedem Akteur inkorporierten sozialen Mechanismen, die bewirken, dass schon der Gedanke, dieses Geheimnis unter die Leute zu bringen (mdem man sagt Schluss mit der Komödie, hören wir auf, den wechselseitigen Tausch als großmütige Gaben hinzustellen, das ist Heuchelei, usw.), soziologisch undenkbar ist. Aber wenn man, wie ich gerade, von common kwwledge (oder se!f-deception) spricht, argumentiert man immer noch bewusstseinsphilosophisch und tut so, als ob es in jedem Akteur ein doppeltes Bewusstsein ga"be, ein zweigeteiltes, mit sich selbst zer-
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fallenes Bewusstsein, das eine ihm sonst bekannte Wahrheit bewusst unterdrückt (Das erfinde ich nicht Man lese nur Jon Elster, U!Jsses and the Sirens.) Das ganze Verhalten der Ökonomie des symbolischen Tauschs, das doppelt ist ohne doppeltes Spiel, kann man nur erklären, wenn man sich von jener Theorie des Handeins lossagt, die das Haßdein als das Produkt eines intentionalen Bewusstseins versteht, eines expliziten Vorsatzes, einer expliziten Intention, die sich auf einen explizit als solchen gesetzten Zweck richtet (msbesondere den Zweck, den die objektive Analyse des Tauschs ans Licht brin~). Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, dass die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, dass man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muss, ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handeins ausgehen zu können (hier ist das »alles spielt sich so ab, als ob<< besonders wichtig). Das beste Beispiel für eine Disposition dürfte der Sinn für das Spiel sein: Der Spieler, der die Regeln eines Spiels zutiefst verinnerlicht hat, tut, was er muss, zu dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck setzen zu müssen. Er braucht nicht bewusst zu wissen, was er tut, um es zu tun, und er braucht sich (außer in kritischen Situationen) erst recht nicht explizit _die Frage zu stellen, ob er explizit weiß, was die anderen im Gegenzug tun werden, wie man angesichts der dem Modell des Schach- oder Bridgespielers nachgebildeten Wahrnehmung meinen möchte, die manche Ökonomen (vor allem wenn sie von der Spieltheorie herkommen) den Akteuren unterstellen. So ist der Tausch von Gaben (oder Frauen, Dienstleistungen usw.), verstanden als das Paradigma der Ökonomie der symbolischen Güter, dem do ut des der ökonomischen Ökonomie insofern entgegengesetzt, als sein Prinzip nicht ein berechnendes Subjekt ist, sondern ein Akteur, der sozial dazu disponiert ist, sich ohne Absicht und Berechnung auf das Spiel des Tauschs einzulassen. Als ein solcher Akteur lebt er in Unkenntnis oder in der Veroeinung der objektiven Wahrheit des Spiels, die der ökonomische Tausch ist. Ein weiterer Beleg wäre in der Tatsache zu sehen, dass bei dieser Ökonomie das ökonomische Interesse entweder im Impliziten belassen oder, wenn überhaupt, nur in Euphemismen formuliert wird, das heißt in der Sprache der Veroeinung. Der Euphemismus ist jene Form, die einem alles zu sagen erlaubt, indem man sagt, dass man es nicht sagt; die es einem erlaubt, das Unnennbare zu nennen, in einer Ökonomie der symbolischen Güter also das Ökonomische im gewöhnlichen Sinne des Wortes, das do ut des. Ich sage »EuphemismuS« und hätte auch »Ausformung« sagen können. Die symbolische Arbeitlbesteht darin, Form zu geben und zugleich die Formen zu wahren. Dies nämlich v:erlangt die Gruppe: dass man die Formen wahrt, dass man dem Menschsein der aru;J.eren die Ehre erweist, indem man das eigene Menschsein unter
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Beweis stellt, indem man den >>geistigen Ehrenpunkt« anspricht. Es gibt keine Gesellschaft, die dem keine Ehre erweist, der ihr Ehre erweist, indem er sich weigert, dem Gesetz des egoistischen Interesses zu folgen. Verlangt wird nicht, dass man absolut nur tut, was sich gehört, sondern, dass man zumindest Anzeichen dafür erkennen lässt, dass man sich bemüht, es zu tun. Erwartet wird von den sozialen Akteuren nicht, dass sie sich vollkommen an die Regeln halten, sondern dass sie sich an die Regeln zu halten versuchen, dass sie sichtbare Anzeichen dafür erkennen lassen, dass sie sich, wenn sie könnten, an die Regel halten würden (so verstehe ich das Wort von der Heuchelei als der »Huldigung des Lasters an die Tugend<<): Die praktischen Euphemismen sind eine Art Huldigung an die soziale Ordnung und an die von dieser Ordnung hochgehaltenen Werte, die in dem Bewusstsein erwiesen wird, dass diese so ganz ernst nicht zu nehmen sind.
Die symbolische Alchimie Diese strukturelle Heuchelei obliegt vor allem den Herrschenden, im Sinne des »Noblesse oblige«. Für die Kabylen ist die ökonomische Ökonomie, wie wir sie praktizieren. eine Frauenökonomie (Bourdieu 1987 [1980]: 337). Die Männer werden bei der Ehre genommen, die jedes Zugeständnis an die Logik der ökonomischen Ökonomie verbietet Der Mann von Ehre kann nicht sagen: »Bis die Feldarbeit beginnt, hast du das zuruckgezahlt«; er lässt im Unklaren, wann etwas fällig ist. Auch nicht: »Ich leih dir einen Ochsen und du gibst mir dafür vier Doppelzentner Weizen.« Wohingegen die Frauen die Wahrheit von Preisen und Fälligkeiten aussprechen: Sie können es sich erlauben, die ökonomische Wahrheit zu sagen, da sie sowieso (zumindest als Subjekte) vom Tausch der symbolischen Güter ausgeschlossen sind. Und das gilt auch noch in unseren Gesellschaften. In einer Ausgabe von Actes Je Ia recherche en sciences sociales, betitelt »L'economie de la Maisofl<<1, kann man nachlesen. wie oft sich Männer aus der Affäre ziehen, indem sie Frauen tun lassen, was sie selber, ohne sich etwas zu vergeben, nicht tun können, etwa nach dem Preis fragen. Die Vemeinung der Ökonomie vollzieht sich in einer Arbeit, die objektiv der Verklärung der ökonomischen Beziehungen und vor allem der Ausbeutungsbeziehungen (Mann/Frau, Erstgeborener/Nachgeborener, Herr/Knecht usw.) dient, eine Verklärung durch Worte (mit dem Euphemismus), aber: a,~ch Taten. Es gibt Euphemismen durch Praxis. Einer davon ist der Gabentausch, und zwar dank des zeitlichen Intervalls (man tut, was man tut, und scheint es doch nicht zu tun). In einer 1 »L'economie de Ia maison«, Actes de Ia rechetehe en sciences sociales 81-82 (März 1990).
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Ökonomie des symbolischen Tauschs verausgaben die Akteure einen beträchtlichen Teil ihrer Energie auf die Ausgestaltung solcher Euphemismen. (Dies ist einer der Gründe, warum die ökonomische Ökonomie so viel ökonomischer ist. Stellt man zum Beispiel aus Faulheit oder Bequemlichkeit am Ende einen Scheck aus, statt ein »persönliches«, das heißt auf den vermuteten Geschmack des Empfängers abgestimmtes Geschenk zu machen, erspart man sich die Atbeit des Suchens, die mit der nötigen Aufmerksamkeit und Sorgfalt getan sein will, damit das Geschenk der Person und ihrem Geschmack entspricht, zur rechten Zeit ankommt usw., und in seinem »Wert« nicht direkt auf den Geldwert reduzierbar ist.) Also ist die ökonomische Ökonomie insofern ökonomischer, als man sich bei ihr die symbolische Konstruktionsarbeit ersparen kann, die objektiv der Verschleierung der objektiven Wahrheit der Praxis dient. Das interessanteste Beispiel einer derartigen symbolischen Alchimie dürfte die Verklärung der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sein. Der Gabentausch kann zwischen Gleichen stattfinden und durch die Kommunikation dazu beitragen, die »Kommunion« :zu stärken, die Solidarität, die den sozialen Zusammenhang schafft Er kann aber auch zwischen Akteuren stattfinden, die aktuell oder potenziell ungleich sind, etwa beim Podatsch, das, glaubt man denjenigen, die es beschrieben haben, dauerhafte symbolische Herrschaftsverhältnisse schafft, Herrschaftsver~t nisse, die auf Kommunikation beruhen, auf Erkennen und Anerkennen (auch im Sinne von Sich-erkenntlich-Zeigen). Bei den Kabylen tauschen die Frauen kontinuierlich kleine alltägliche Geschenke aus, die zur Pflege jener sozialen Beziehungen dienen, auf denen viele wichtige, vor allem die Reproduktion der Gruppe betreffende Dinge beruhen, während die Männer für den großen, diskontinuierlichen, außergewöhnlichen Tausch verantwordich sind. Von den gewöhnlichen zu den außergewöhnlichen Tauschakten, deren bis zum äußersten getriebenes Beispiel das Podatsch ist (als Akt des jede mögliche Gegengabe übersteigenden Gebens, der den Empfangenden zum Verpflichteten macht, zum Beherrschten), besteht nur ein gradueller Unterschied. Auch bei der ganz gleichen Gabe ist der Herrschaftseffekt virtuell gegeben. Und auch die ganz ungleiche Gabe impliziert trotz allem einen Tauschakt, einen symbolischen Akt der Anerkennung der Gleichheit im Menschsein, der nur für denjenigen Geltung hat, der über die Wahrnehmungskategorien verfügt, die ihn den Tausch als Tausch wahrnehmen und ein Interesse am Gegenstand des Tauschs entwickeln lassen. Er nimmr die Decken oder die Muscheln nur dann als etwas in Empfang, das als Gabe anerkannt werden und Anspruch auf seine Erkenntlichkeit erheben kann, wenn er ein ordentlich sozialisierter Trobriander ist; wenn nicht, kann er nichts damit anfangen, interessiert es ihn nicht. Symbolische A~te setzen bei denen, an die sie sich richten, immer kognitive Akte voraus, Akte des Erkennens und Anerkennens. Soll ein symbolischer Tausch
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funktionieren, müssen beide Parteien über die gleichen WahrnehmWigS- Wld Bewertungskategorien verfügen. Und dies gilt auch für die Akte der symbolischen Herrschaft, die, wie es am Beispiel der männlichen Herrschaft gut zu sehen ist (Bourdieu 1990 [1997]), mit dem objektiven stillen Einverständnis der Beherrschten ausgeübt wird, insofern nämlich, als der Beherrschte, soll eine bestimmte Form von Herrschaft überhaupt zustande kommen, auf die Akte des Herrschenden {Wld auf sein ganzes Sein) dieselben Wahrnehmungsstrukruren anwenden muss, derer sich der Herrschende zur Hervorbringung dieser Akte bedient. Die symbolische Herrschaft (könnte man definieren) beruht auf der VerkennWlg Wld also Anerkennung der Prinzipien, in deren Namen sie ausgeübt wird. Dies gilt für die männliche Herrschaft, aber auch für bestimmte Arbeitsbeziehoogen wie diejenigen, die in den arabischen Ländern den khammes, eine Art Halbpächter, der den Fünften von der Ernte erhält, oder den Knecht (un Gegensatz zum Landarbeiter), wie ihn Max Weber beschreibt, an seinen Herrn binden. Die Teilpacht auf den Fünften kann in Gesellschaften, die die Zwänge des Marktes beziehungsweise Staates nicht kennen, nur funktionieren, wenn der Teilpächter gewissermaßen »domestiziert« ist, das heißt durch Beziehoogen gebunden, die keine rechtlichen BeziehWlgen sind Und um ihn an sich zu binden, muss das Herrschafts- Wld AusbeutWigSVerhältnis durch eine kontinuierliche Reihe von Akten, die geeignet sind, es durch EuphemisierWlg symbolisch zu verklären (sich um seinen Sohn kümmern, seine Tochter verheiraten, ihm Geschenke machen usw.), eben so verklärt werden, dass es sich in eine häusliche, familiale Beziehung verwandelt. Auch in Wlseren Gesellschaften, Wld mitten in der ökonomischen Ökonomie, findet man noch diese Logik der Ökonomie der symbolischen Güter Wld die Alchimie, die die Wahrheit der Herrschaftsbeziehoogen verwandelt, nämlich in Gestalt des Paternalismus. Ein weiteres Beispiel wäre das Verhältnis zwischen den Erst- Wld den Nachgeborenen, wie es sich in bestimmten Traditionen (den »eadets de Gascogne«) darstellt: In Gesellschaften mit Erstgeburtsrecht muss (man kann bald sagen: musste) sich der Nachgeborene Wlterordnen, Wld das heißt in vielen Fällen: entweder auf das Heiraten verzichten Wld ein, wie es zynisch heißt, »Wlbezahlrer Knecht« werden (oder, wie Galbraith über die Hausfrau gesagt hat, ein »K.ryptodiener«, crypto-servanf), der die Kinder des Erstgeborenen liebt, als wären es seine eigenen (wie ihm allseits nahe gelegt wird), oder fortgehen, zur Armee (als Musketier), zur Gendarmerie, zur Post. Die DomestizietWlgsarbeit (hier am Nachgeborenen), die nötig ist, um die objektive Wahrheit einer Beziehung zu verklären, ist Sache der ganzen Gruppe, von der sie gefördert Wld belohnt wird. Damit die Alchimie funktioniert, muss sie sich wie beim Gabentausch auf die ganze soziale Strukrur stützen können, also auf die mentalen Strukturen und auf die von dieser sozialen Struktur erzeugten Dispositionen; es muss einen Markt für die entsprechenden symbolischen HandlWlgen geben,
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es muss Belohnungen geben, symbolische Profite, die oft durchaus in materielle Profite konvertierbar sind, es muss im eigenen Interesse liegen, interessenfrei zu handeln, es muss, wer seinen Knecht gut behandelt, belohnt werden, es muss von ihm heißen: »Er ist ein honnete homme, ein Ehrenmann!« Aber diese Verhältnisse bleiben ganz ambivalent, ganz pervers: Der khammes weiß ganz gut, dass er seinen Herrn erpressen kann; geht er weg und behauptet, sein Herr habe ihn schlecht behandelt, habe sich eine Ehrverletzung zuschulden kommen lassen (»bei allem, was ich für ihn getan habe...«), fiillt die Unehre auf den Herrn zurück. Und genauso kann sich der Herr auf die Fehler und Verfehlungen des khammes, wenn sie allen bekannt sind, berufen, um ihn fortzuschicken, aber wenn er sich, weil ihm sein khammes Oliven gestohlen hat, soweit hinreißen lässt, ihn über das Maß hinaus zu demütigen, zu zerschmettern, wendet sich die Lage zugunsten des Schwachen. Diese äußerst komplizierten, außerordentlich ausgefeilten Spiele nehmen-ihren Lauf vor dem Tribunal der Gemeinschaft, das wiederum die gleichen Wahrnehmungsund Bewertungsprinzipien wie die Betroffenen anlegt.
Die Anerkennung Eine der Wtrkungen der symbolischen Gewalt ist die Verklärung der Herrschaftsund Unterwerfungsbeziehungen zu affektiven Beziehungen, die Verwandlung von Macht in Charisma oder in den Charme, der eine affektive Verzauberung bewirken kann (beispielsweise in den Beziehungen zwischen Chefs und Sekretärinnen). Die Schuldanerkenntnis wird zur Dankbarkeit, zum dauerhaften Empfinden für den Urheber des großmütigen Aktes, das bis zur Zuneigung gehen kann, zur Liebe, wie man an den Beziehungen zwischen den Generationen besonders deutlich sehen kann. Die symbolische Alchimie, wie ich sie soeben beschrieben habe, produziert als Profit für den, der die Euphemisierungs-, Verklärungs-, Ausformungsakte vollzieht, ein Kapital an Anerkennung, das es ihm gestattet, symbolische Wirkung auszuüben. Dies nenne ich das symbolische Kapital, womit ich begrifflich exakter fasse, was Max Weber mit dem Wort Charisma bezeichnet, einem rein deskriptiven Begriff, den er explizit, nämlich zu Beginn des Kapitels über die Religion von Wirtschtift und Gesellschtift, als das Äquivalent dessen ausgibt, was die Durkheim-Schule Mana nannte. Das symbolische Kapital besteht aus einem beliebigen Merkmal, Körperlo:aft, Reichtum, K.ampferprobtheit, das wie eine echte magische Kraft symbolische Wirkung entfaltet, so~ald es von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, die über die zum Wahrnehme~ Erkennen und Anerkennen dieser Eigenschaft nötigen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien verfügen: Ein Merkmal, das, weil es auf
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sozial geschaffene »kollektive Erwartungen« trifft, auf Glauben, eine Art Fernwirkung ausübt, die keines Körperkontakts bedarf. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magischer Akt. Nur scheinbar aber bildet er eine Ausnahme vom Gesetz des Ausgleichs der sozialen Energie. Damit der symbolische Akt eine derartige, ohne sichtbare Verausgabung von Energie erzielte magische Wttkung ausüben kann, muss ihm eine oft unsichtbare und jedenfalls vergessene, verdrängte Arbeit vorangegangen sein und bei den Adressaten dieses Erzwingungsund Befehlsaktes diejenigen Dispositionen erzeugt haben, deren es bedarf, damit sie, ohne dass sich ihnen die Frage des Gehorsams überhaupt stellte, das Gefühl haben, gehorchen zu müssen. Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die »kollektiven Erwartungen« stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpresst, die als solche gar nicht wahrgenommen werden. Die Theorie der symbolischen Gewalt beruht wie die Theorie der Magie auf einer Theorie des Glaubens oder, besser, auf einer Theorie der Erzeugung von Glauben, einer Theorie der Sozialisationsarbeit, die zur Erzeugung von Akteuren mit eben jenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata nötig ist, die sie dann die in einer Situation oder einem Diskurs enthaltenen Befehle wahrnehmen und mit Gehorsam beantworten lassen. Der Glaube, von dem ich spreche, ist kein expliziter Glaube, kein der Möglichkeit des Nicht-Glaubens explizit entgegen gesetzter Glaube, sandem jene unmittelbare Zustimmung, jene doxische Unterwerfung unter die Befehle der Welt, zu der es kommt, wenn sich die mentalen Strukturen des Befehlsadressaten im Einklang mit den Strukturen befinden, die in den an ihn gerichteten Befehl eingegangen sind. Man sagt in einem solchen Fall, es sei selbstverständlich gewesen, man habe gar nicht anders gekonnt. Jemand wurde bei seiner Ehre genommen und hat getan, was er musste, was ein echter Ehrenmann in einem solchen Falle tut, und er hat es auf besonders vollendete Weise getan (denn auch in der Art und Weise, einen Befehl auszuführen, gibt es graduelle Unterschiede). Wer den kollektiven Erwartungen entspricht, wer nichts zu berechnen braucht, um auf die in einer Situation enthaltenen Befehle unmittelbar eingestellt zu sein, dem fallen alle Profite des Marktes der symbolischen Güter zu. Er hat den Profit der Tugend, aber auch den Profit der leichten Hand, der Eleganz. Er wird vom gewöhnlichen Bewusstsein um so mehr gefeiert, je mehr er wie selbstverständlich etwas tut, was das einzig Richtige war, wie man so sagt, was er aber auch hätte nicht tun können. Ein letztes, aber wichtiges Merkmal: Dieses symbolische Kapital ist Gemeinbesitz aller Mitglieder einer Gruppe. Als ein Wahrgenommenwerden, das in der Relation zwischen Merkmalen - der Akteure - und Wahrnehmungskategorien existiert (oben/unten, männlich/weiblich, groß/klein usw.), die als solche soziale Kategorio/1 begründen und konstruieren (die da oben/die da unten, die Männer/die Frauen, die Großen/die Kleinen), deren Grundlage die Zusammengehörigkeit (Bündnis, Korn-
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mensalität, Ehe usw.) und Nichtzusammengehörigkeit (Berührungstabu, Mesalliance usw.) ist, ist es an Gruppen - oder Gruppennamen, Familien, dans, Stämme gebunden und ein Instrument und zugleich Objekt von Strategien, die kollektiv seinem Erhalt oder seiner Vermehrung, individuell seinem Erwerb oder Erhalt dienen sollen, wobei es sich an Gruppen anlagert, die bereits (durch Gabentausch, Kommensalität, Ehe usw.) mit ihm versehen sind, und von Gruppen absetzt, die wenig oder gar nicht mit ihm versehen sind (stigmatisierte Ethnien).2 Eine der Ausprägungen des symbolischen Kapitals in differenzierten Gesellschaften nämlich ist die ethnische Identität, ein percipi, ein Wahrgenommenwerden in Gestalt des Namens und der Hautfarbe, welches als positives oder negatives symbolisches Kapital fungiert. Da die Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen im Wesentlichen ein Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen sind, erweist sich die Struktur der Distribution des symbolischen Kapitals im Allgemeinen als sehr stabil. Und symbolische Revolutionen setzen eine mehr oder weniger radikale Revolution der Erkenntnisinstrumente und Wahrnehmungskategorien voraus (vgt Bourdieu 1999 [1992]: 243). Die vorkapitalistische Ökonomie also beruht ganz und gar auf einer Vemeinung dessen, was wir als Ökonomie betrachten, und verpflichtet dazu, bestimmte Vorgänge samt den Vorstellungen von diesen Vorgängen im Impliziten zu belassen. Ihr zweites, hiermit zusammenhängendes Merkmal ist die Verklärung der ökonomischen Akte zu symbolischen Akten, eine Verklärung, die praktisch vor sich gehen kann wie beispielSV{l:ise beim Gabentausch bei dem die Gabe aufhört, ein materielles Objekt zu sein und zu einer Art Botschaft oder Symbol wird, mit dem ein sozialer Zusammenhang hergestellt werden soll Drittes Merkmal: Bei diesem ganz besonderen Typ von Zirkulation wird eine besondere Fonn von Kapital erzeugt und akkumuliert, das ich das symbolische Kapital genannt habe und dessen Hauptmerkmal seine Entstehung in einer sozialen Beziehung ist, der Beziehung zwischen den Merkmalen eines bestimmten Akteurs und anderen, über die entsprechenden Wahrnehmungskategorien verfügenden Akteuren: Das symbolische Kapital als ein nach besonderen Wahrnehmungskategorien konstruiertes Wahrgenommenwerden setzt das Vorhandensein• von sozialen Akteuren voraus, die in ihrem ganzen Denken so konstituiert sind, dass sie erkennen und anerkennen, was sich ihnen bietet, und ihm Glauben schenken, und das heißt in bestimmten Fällen: Gehorsam, Unterwerfung.
2 VgL die Analyse ~s Funktionierens der Salons bei Proust, in Bourdieu 1987 (1980]: 255.
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Das Tabu der Berechnung Mit der Einführung der Ökonomie als Ökonomie, die in den europäischen Gesellschaften schrittweise erfolgte, ging die negative Bildung von kleinen Inseln vorkapitalistischer Ökonomie einher, die im Universum der als Ökonomie begründeten Ökonomie fortbestehen. Dieser Prozess entspricht der Entstehung eines Felds, eines Spiel-Raums, Austragungsort eines Spiels neuer Art, dessen Prinzip das Gesetz des materiellen Interesses ist. Mitten in der sozialen Welt entsteht ein Universum, in dem das Gesetz des do ut des zur expliziten Regel wird und in fast schon zynischer Manier öffentlich bekundet werden kann. Geht es ums Geschäft, sind beispielsweise die Gesetze der Familie außer Kraft gesetzt. Du magst mein Vetter sein oder nicht, du wirst behandelt wie ein x-beliebiger Käufer: keine Bevorzugung, kein Privileg, keine Ausnahme, kein Erlass. Für die Kabylen bildet die Moral des Geschäfts, des Marktes, einen Gegensatz zur Moral von Treu und Glauben, zum bu nfya (dem Mann von Treu und Glauben, von Unschuld, dem Ehrenmann), nach der es zum Beispiel ausgeschlossen ist, einem Familienangehörigen auf Zins zu lcihen. Der Markt ist der Ort der Berechnung, wenn nicht der Teufelei, des teuflischen Vergehens gegen das Heilige. Im Gegensatz zu all dem, was die Ökonomie der symbolischen Güter verlangt, werden hier die Dinge beim Namen genannt, heißt hier Zins Zins und Profit Profit. Hier ist Schluss mit der Euphemisierungsarbeit, die den Kabylen auch auf dem Markt noch selbstverständlich war: Die Marktbeziehungen selber waren in soziale Beziehungen eingebunden, embedded, wie Polanyi sagt (man treibt nicht irgendwie und mit irgendwem Handel; man umgibt sich bei Kauf wie Verkauf mit Gewährsleuten, die man unter bekannten und bekannt ehrenwerten Leuten auswählt), und die Logik des Marktes verselbständigte sich erst ganz allmählich, indem sie dieses ganze Netz der mehr oder weniger verklärten sozialen Abhängigkeitsbeziehungen gewissermaßen abschüttelte. Am Ende dieses Prozesses bildet nun umgekehrt die familiale Ökonomie die Ausnahme. Max Weber sagt irgendwo, man sei von·'Gesellschaften, in denen man die ökonomischen Angelegenheiten nach dem Modell der Verwandtschaftsbeziehungen auffasste, zu Gesellschaften übergegangen, in denen die Verwandtschaftsbeziehungen selber nach dem Modell der ökonomischen Beziehungen aufgefasst werden. Der Geist der Berechnung, der ständig verdrängt wurde (auch wenn die Versuchung zur Berechnung nie ganz verschwindet, bei den Kabylen so wenig wie anderswo), tritt in dem Maße zunehmend in Erscheinung, wie sich die für seine Betätigung und seine öffentliche Bektmtlung günstigen Bedingungen entwickeln. Die Entstehung des ökonomischen Felds zeigt die Entstehung eines Universums an, in dem die sozialen Akteure sich selbst und der Öffentlichkeit eingestehen können, dass sie sich von Interessen leiten lassen, und die kollektiv gepflegte Verkennung abschütteln; in dem sie nicht nur Geschäfte machen können, sondern sich auch eingeste-
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hen, dass sie da sind, um Geschäfte zu machen, das heißt, um sich Interessen geleitet zu verhalten, um zu berechnen, Profit zu machen, zu akkumulieren, auszubeu-
ten.3 Mit der Einführung der Ökonomie und der Verallgemeinerung des Geldverkehrs und des Geistes der Berechnung gibt die familiale Ökonomie nicht länger das Modell für alle ökonomischen Beziehungen ab. Durch die Warenökonomie in ihrer spezifischen Logik bedroht, neigt sie immer mehr zur expliziten Bekundung dieser spezifischen Logik, der Logik der Liebe. Treibt man der deutlicheren Beweisführung halber den Gegensatz auf die Spitze, so kann man der Logik des familialen sexuellen Tauschs,. der keinen Preis hat, die Logik der sexuellen Warenbeziehungen gegenüberstellen, die einen expliziten Marktpreis haben und durch Geldtausch besiegelt werden. Die zur Familie gehörigen Frauen, die keinen materiellen Nutzen und keinen Preis haben (Tabu der Berechnung und des Kredits), sind von der Warenzirkulation ausgeschlossen (Exklusivität) und sind Objekte wie Subjekte von Gefühl; im Gegensatz dazu haben die so genannten käuflichen Frauen (die Prostituierten) einen expliziten Marktpreis, der auf Geld und Berechnung beruht, sind weder Objekte noch Subjekte von Gefühl und verkaufen ihren Körper als Objekt.4 Wie man sieht, gelingt es der Einheit Familie, entgegen dem Ökonomistischen Reduktionismus a la Gary Becker, der auf die ökonomische Berechnung reduz~ert, was per definitionem die Berechnung verneint und verbietet, an ihrer ganz eigenen ökonomischen Binnenlogik festzuhalten. Die Familie als integrierte Einheit ist 3 Das Werk von Emile Benveniste (1969, insb. Band 1) wäre hier als eine Analyse des Prozesses zu lesen, in dem sich die Grundbegriffe des ökonomischen Denkens nach und nach aus dem Urgestein der nichtökonomischen (familialen, politischen, religiösen usw.) Bedeutungen herausschälen, in das sie eingebunden waren (zwn Beispiel Kauf und Wiederkauf). Wie Lukacs (1971 [1923]: 236) bemerkt, ist die allmähliche Entstehung der politischen Ökonomie als autonomer Disziplin, die die Ökonomie als Ökonomie zu ihrem Gegenstand macht, selber eine Dimension des Verselbständigungsprozesses des ökonomischen Felds. Was bedeutet, dass es historische und soziale Bedingungen der Möglichkeit dieser Wissenschaft gibt, die man explizit formulieren muss, will man nicht in der Unkenntnis der Grenzen dieser angeblich »reinen Theorie« verharren. 4 Laut Cecilie Hoigard und Liv Finstad (1992) sagen viele Prostituierte, dass sie entgegen allem Anschein die Straßenprostitution, einen rasch zwn Ziel führenden Verkauf des Körpers, der ihnen immerhin ein Art reservatio mentalis gestattet, der Prostitution im Hotel vorziehen, die insofern, als sie die freie Begegnung nachstellen soll, einen hohen Euphemisierungsgrad besitzt und eine viel, höhere Verausgabung von Zeit und Vorspiegelung erfordette, von Euphemisierung: Im ersten Falle handelt es sich um kurze, rasche Begegnungen, während derer sie an etwas anderes denken und als Objekte agieren können; die Begegnungen im Hotel dagegen, bei denen die W~de der Person scheinbar viel stärker gewahrt wird, werden von ihnen als viel stärker entfremdet empfunden, weil sie dabei mit dem Kunden reden und den Anschein erwecken müssen, ~ie interessietten sich für ihn, und weil die Freiheit in der Entfremdung, die ihnen die Möglichkeit verschafft, an etwas anderes zu denken, zugunsten einer Beziehung verschwindet, der ein wenig von der Ambivalenz der nicht-käuflichen Liebesverhältnisse anhaftet.
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durch die Logik der Ökonomie bedroht. Als eine monopolistische, dun:h die exklusive Aneignung einer bestimmten Klasse von Gütern (Boden, Name usw.) definierte Gruppe ist sie durch Eigentum geeint und zugleich durch Eigentum gespalten. Über die Logik des sie umgebenden ökonomischen Universums dringt der Wurm der Berechnung, der die Gefühle zerfrisst, auch in die Familie ein. Die Familie, vom Erbe zusammengehalten, ist der Ort, an dem eine Konkurrenz um das Erbe und um die Macht über dieses Erbe ausgetragen wird. Dieses Kapital aber droht ständig durch eben diese Konkurrenz zerstört zu werden, die die Grundlage angreift, die allein seinen Fortbestand sichern kann, nämlich Einheit, Kohäsion, Integration; und also zu einem Verhalten zwingt, das den Fortbestand des Erbes durch den Fortbestand der Einheit der über dieses Erbe entzweiten Erben sichern soll Am Beispiel Algerien habe ich zeigen können, dass die Verallgemeinerung des Geldverkehrs und die damit einhergehende Entstehung der >>Ökonomischen<< Vorstellung von der Arbeit als Lohnarbeit - im Gegensatz zur Arbeit als einer Beschäftigung oder Aufgabe, die ihren Zweck in sich selbst trägt- die Verallgemeinerung jener berechnenden Dispositionen nach sich ziehen, die die Ungeteiltheit der Güter und Aufgaben bedrohen, auf denen die Einheit der Familie beruht; und in den differenzierten Gesellschaften unterminieren der Geist der Berechnung und die Logik des Marktes in der Tat den Geist der Solidarität, sie ersetzen tendenziell die kollektiven Entscheidungen des Haushalts oder Haushaltsvorstands durch die individuellen Entscheidungen des vereinzelten Individuums und leisten der Entwicklung von getrennten Märkten für die verschiedenen Alters- oder Geschlechtskategorien (teenagers) Vorschub, aus denen der Haushalt besteht. Hier wäre an die Analyse des Systems der Reproduktionsstrategien zu erinnern, Strategien, die sich in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichem relativen Gewicht in allen Gesellschaften wieder finden und deren Prinzip der conatus ist, jener Trieb, der die Familie dazu bringt, ihren Fortbestand zu sichern, indem sie für den Fortbestand ihrer Einheit gegen alle zur Spaltung führenden Faktoren sorgt, insbesondere diejenigen, die der Konkurrenz um das die Einheit der Familie begründende Eigentum inhärent sind. Als Gruppenkörper mit esprit de corps (und als solcher dazu bestimmt, das archetypische Modell für alle Gruppen abzugeben, denen an einem Funktionieren als Corps gelegen ist - die jraternities und sororities der amerikanischen Universitäten beispielsweise) ist die Familie zwei widersprüchlichen Systemen von Kräften ausgesetzt: einerseits den Kräften der Ökonomie, die die von mir erwähnten Spannungen, Widersprüche und Konflikte in sie hineintragen, aber in bestimmten Zusammenhängen auch zur Aufrechterhaltung einer gewissen Kohäsion zwingen, und andererseits den Kräften der Kohäsion, die zum Teil damit zusammenhängen, dass die Reproduktion des Kapitals in seinen verschiedenen Formen zum großen Teil von der Reproduktion der familialen Einheit abhängt.
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Dies gilt ganz besonders für das symbolische und für das soziale Kapital, welche sich nur durch Reproduktion der sozialen Elementareinheit Familie reproduzieren können. Viele kabylische Familien etwa, bei denen die Einheit der Güter und Aufgaben aufgebrochen war, zogen es vor, nach außen hin die ungeteilte Fassade aufrechtzuerhalten, uril sich die Ehre und das Prestige der großen solidarischen Familie zu erhalten. Und auch in den großen bürgerlichen Familien der entwickelten modernen Gesellschaften, und zwar selbst in solchen Kategorien der Unternehmerschaft, die vom familialen M~dus der Reproduktion denkbar weit entfernt sind, nimmt die Reproduktion der erweiterten Familienbeziehungen, die eine Voraussetzung für die Reproduktion ihres Kapitals ist, in den ökonomischen Strategien und Praktiken der ökonomischen Akteure einen breiten Raum ein. Die Großen haben große Familien (ich glaube, das ist ein allgemeines anthropologisches Gesetz), sie haben ein spezifisches Interesse daran, ausgedehnte Familienbeziehungen und mittels dieser Beziehungen eine besondere Form der Kapitalkonzentration zu pflegen. Mit anderen Worten, trotz der auf Spaltung hinwirkenden Kräfte, denen sie ausgesetzt ist, bleibt die Familie ein Ort der Akkumulation, des Erhalts und der Reproduktion verschiedener Kapitalsorten. Die Historiker wissen, dass die großen Familien auch die Revolutionen überleben (wie unter anderem die Arbeiten von Chaussinand-Nogaret zeigbn). Eine sehr weidäufige Familie hat ein sehr diversifiziertes Kapital, sodass die Überlebenden, vorausgesetzt, der Familienzusammenhalt besteht fort, einander bei der Sanierung des kollektiven Kapitals unterstützen können. Es wird also in:der Familie selbst eine Arbeit zur Reproduktion der Einheit der Familie, zu ihrer Integration betrieben, eine von Institutionen wie der IGrche oder dem Staat geförderte und unterstützte Arbeit (zu prüfen wäre, ob nicht das Prinzip dessen, was man wesendich unter Moral versteht- vor allem unter der chrisdichen, aber auch der weldichen -, in der Wahrnehmung der Familie als einer Einheit zu suchen ist). Der Staat trägt dazu bei, die Idee der Familie als Kategorie der RealitätskonstruktionS durch Institutionen wie Stammbuch, Kindergeld und all jene zugleich symbolischen und materiellen, oft auch mit ökonomischen Sanktionen einhergehenden Maßnahmen zu begründen oder zu stärken, deren Wu:kung in der Stärkung des Interesses am Erhalt der Einheit der Familie bei jedem einzelnen Familienmitglied besteht. Diese staadiche Einwirkung ist nicht einfach, und eigendich müsste man ihr bis in die Feinheiten nachgehen, müsste beispielsweise den Antagonismus zwischen Zivilrecht- der Code dvil hat den Bearnesern eine Menge Probleme bereitet: Sie hatten größte Schwierigkeiten, in den Grenzen einer Gesetzgebung, die die Erbteilung' zu gleichen Teilen vorsieht, den Fortbestand der auf dem Erstgeburtsrecht beruhenden Familie zu sichern, und mussten sich alles mögliche einfallen lassen, um unter Umgehung des Rechts den Familienzusammenhalt trotz 5 Vgl Bourdieu 199~ [1994): »Familiensinn«, 126ft:
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der vom Recht hineingetragenen Sprengkraft zu wahren- und Soifalrecht aufgreifen, das ja bestimmte Kategorien von Familien - beispielsweise die Ein-Eltern-Familien - aufwertet oder einer besonderen Auffassung von Familie, die als »natürliche« Familie behandelt wird, mit Hilfe der Unterstützungsleistungen als universelle Regel sanktioniert. Bliebe noch die Logik des Tauschs zwischen den Generationen zu analysieren, dieses Sonderfalls der Ökonomie des symbolischen Tauschs innerhalb der Familie. In dem Versuch, zu erklären, warum sich eine zeitverschobene Zuweisung von Ressourcen nicht privatvertraglich regeln lässt, haben die Ökonomen etwas konstruiert, was sie Generationenüberschneidungsmodelle nennen: Man hat zwei Kategorien von Akteuren, die Jungen und die Alten, die Jungen zum Zeitabschnitt (I) sind zum Zeitabschnitt (t+ 1) alt, die Alten zum Zeitabschnitt (I) sind zum Zeitabschnitt (t+ 1) nicht mehr da, dafür gibt es eine neue Generation; wie nun können die Jungen einen Teil des Reichtums, den sie für ihre Konsumtion produzieren, über die Zeit transferieren, um ihn zu konsumieren, wenn sie alt sind? Das Interessante an den Ökonomen ist, dass sie das Genie der imaginären Variation im Sinne Husserls besitzen und formale Modell konstruieren, die sie leer laufen lassen, und auf diese Weise gtoßartige Instrumente liefern, um, selbst wenn man sich sehr paradox dabei vorkommt, die Evidenzen aufruhrechen und zur Infragestellung von Dingen zu zwingen, die man sonst stillschweigend akzeptiert. Die Ökonomen stützen sich auf diese Analyse der Verhältnisse zwischen den Generationen, um nachzuweisen, dass das Geld unentbehrlich ist und dass nur seine Konstanz über die Zeit dafür sorgt, dass die Jungen das Geld, das sie heute akkumulieren, nutzen können, wenn sie alt sind, weil es nämlich von den Jungen des späteren Zeitabschnitts immer noch angenommen wird Was daraufhinausläuft (wie Simiand in einem sehr schönen Aufsatz ausführt), dass das Geld immer treuhänderisch ist und dass seine Gültigkeit auf einer Kette von Zeit überdauernden Glaubensakten beruht. Damit aber der Tausch zwischen den Generationentrotz alledem weitergeht, muss außerdem nodl die Logik von Schuld als Dankesschuld gteifen und ein Gefühl von Verpflichtung oder Dankbarkeit erzeugen. Die Verhältnisse zwischen den Generationen sind der Ort schlechthin, an dem die Verklärung der Schuldanerkenntnis zu Dankbarkeit, Kindesliebe, liebe stattfindet. (Der Tausch folgt immer der Logik der Gabe- und nicht der des Kredits-, und bei Darlehen zwischen Eltern und Kindem werden keine Zinsen erhoben, ja, selbst die Rückzahlungstermine im Ungewissen belassen.) Heute, wo die philia durch das Zerbrechen der Lebens- und Wmschaftsgemeinschaften im Gefolge der arbeitsbedingten Migtationen und durch die Verallgemeinerung des (notwendig egoistischen) Geistes der Berechnung bedroht ist, hat der Staat die Nachfolge der Einheit Familie bei der Steuerung des Tauschverkehrs zwischen den Generationen angetreten, und die »Senioren« sind eine jener kollektiven Erfindungen, mit deren Hilfe die bislang
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der Familie zufallende Versorgung der Alten auf den Staat übertragen oder, genauer gesagt, die direkte Steuerung des Tauschverkehrs zwischen den Generationen innerhalb der Familie durch eine vom Staat wahrgenommene Steuerung ersetzt werden konnte, bei der dieser für die Einziehung und Umverteilung der für die Alten bestimmten Ressourcen sorgt (ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat für eine Lösung des free-rider-Problems sorgt). (...)
Literatur Benveniste, Emile (1969): Le V oeabtJaire Jes instillltions illlk-t11ropienMs. Paris: Editions de Minui.t. Bourdieu, Piette (1987 [1980D: So:(jaler Sinn. Kritik tkr theoretischen Vem11njt. Frankfun am Main: Sulu:kamp. Boutdieu, Piette (1990): La dornination masculine, in: Ades Je Ia re&herthe en sden&es sot:iaks, No. 84, 3-13; [Die männliche Herrschaft, in: lrene Dölling/Beate Krais (Hg.) (1997): Ein alltägliches SpieL Geschkmterkonslrllktion in tkr sfff(jakn Praxis. Frankfun am Main: Sulu:kamp.] Bourdieu, Piette (1998 [1994]): Praletis&he Vem11njt. Zllr Theorie Jes HanJe/ns. Frankfun am Main:
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Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe* Afain Caiffi
Die Modeme beginnt mit der Entscheidung, dasjenige vollständig und ohne Hoffnung auf Rückkehr aufzuspalten, was die alten Gesellschaften mühsam zusammenhielten: das Heilige und das Profane, die Götter und die Menschen, das Politische und die Wtrtschaft, Prachtentfaltung und Sparsamkeit, Freundschaft und Krieg, die Gabe und das Interesse. Die Reformation behauptet, dass Gott den menschlichen Werken gegenüber unempfänglich ist, dass sein Wunsch, die Menschen zu retten oder zu verdammen, ihnen Gnade zuzustehen oder sie ihnen zu entziehen, nicht durch ihre Verdienste beeinflusst werden kann. Denn wenn es anders wäre, bedeutete dies, dass es keine Trennung zwischen Ihm und ihnen gäbe, dass göttliche Gnade und menschliche Verdienste vergleichbar wären und dass also Gott nicht w~ haft Gott wäre. Der Vollzug dieser symbolischen Spaltung verdammt die Menschen zu der erschöpfenden Aufgabe, ihre Handlungen und Gedanken an zwei Serien grundlegend antithcctischer Anforderungen anpassen zu müssen. Auf der einen Seite müssen sie so effizient, aktiv und rationell sein, wie es nur möglich ist in der Ordnung der profanen Dinge. Sie müssen arbeiten, rechnen, »Geld machen« und anhäufen. Auf der anderen Seite müssen sie einem moralischen Gesetz folgen, das im Prinzip nichts vom Interesse wissen möch~ und welches verlangt, dass man ausschließlich aus Pflicht handelt. Es genügt nicht einfach, dass die linke Hand nicht weiß, was die recht~ tut; in gewisser Weise müssen die Hände sich zu verschiedenen Aufgaben bewegen! und nahezu eine gegen die andere arbeiten. Um es in ande~en Worten zu sagen, die erst im 19. Jahrhundert (mit Auguste Comte) gebräuchlich werden: Die Menschen moderner Gesellschaften müssen zugleich radikal egoisJ:isch und vollständig altruistisch sein. Diese Spannung lässt sich wunderbar in der utilitaristischen Doktrin ablesen, die zwei nur schwer zu vereinbarende Axiome Zl-1 vereinbaren sucht: 1) eine Aussage positiver Art, die besagt, dass die menschlichen Individuen als rationell Berechnende angesehen werden müs-
* Quelle: Alain Caille (1994): Don, interet et desinteressement: Bourdieu, Mauss, Platon et quelques autres, Paris: La Decouverte, 239-248,251-272 Übersetzung aus dem Französischen von Sebastian Kühn.
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sen, die nur danach suchen, ihren persönlichen Vorteil zu maximierent; 2) eine Aussage nonnativer Art, die besagt, dass jede Handlung oder Regel, die zur Maximierung des Glücks der meisten beiträgt, gerecht und daher wünschenswert ist.2 Folgt man der Logik der ersten Aussage, müssen die individuellen Subjekte nur sich selbst huldigen. Folgt man der Logik der zweiten, müssen sie alles den anderen opfern, den anderen Menschen und selbst anderen Arten, tierischen oder pflanzlichen (vgl. Peter Singer). Auffallend ist, dass die Gabe undenkbar wird, sobald diese beiden Aussagen radikal getrennt sind, denn es ist unmöglich, die Gabe sowohl von der Logik des Egoismus als auch von der des Altruismus und der Agape abzuleiten. Nehmen wir als Hauptbeispiele dieser doppelten Unmöglichkeit die jeweils zugleich antithetischen und übereinstimmenden Positionen von Pierre Bourdieu und Jacques Derrida.
Die Unmöglichkeit, die Gabe aus dem egoistischen Interesse abzuleiten Dass es logisch unmöglich sei, die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Gebens von der Berechnung des egoistischen Interesses aus abzuleiten, ist schon von Durkheim betont worden. Das scheint sich von selbst zu verstehen. Und dennoch: Werweder auf das Prinzip der Vernunft, noch auf die Sorge der Ethik verzichten möchte, sieht kaum, welcher andere Wegapriori besteht- außer dem Weg, der darin besteht, den egoistischen rationellen Individuen zu beweisen, dass sie jedes Interesse haben, altruistische Geber zu werden. Das wäre das Interesse, zur Interesselosigkeit zu gelangen. Darin besteht im Prinzip die größte Herausforderung, welche die ökonomische Theorie zu lösen versucht (und genauer: jener Teil der ökonomischen Theorie, der seine Überlegungen von der Spieltheorie ausgehen lässt und welcher von einigen Kommentatoren »neue Mikro-Ökonomie« genannt wird (Cahuc 1992)). Eine erste Möglichkeit der Annäherung an dieses Problem besteht darin anzuerkennen, dass es tatsächlich freiwillig »altruistische<< Individuen gibt (die nach einigen Schätzungen 10 bis 15 Prozent der totalen Bevölkerung ausmachen sollen), deren Freude es ist, die Freude anderer zu bewirken. Aber das ist keine wirkliche Lösung des Problems. Merkwürdigerweise führt sie dazu, den Altruismus im Egoismus aufgehen zu lassen, davon eine Nebenfonn zu bilden, die ihre egoistische Befriedigung in der 1 Diese erste Aussage bezeichne ich als Axiom des Interesses oder als Axiom des theoretischen Utilitarismus; Amartya Sen und Bemard Williams bezeichnen sie als >>welfarism<<: Sen/Williams 1982: 1-21. 2 Diese Aussage stellt das dat, was ich normativen Utilitarismus nenne und was Sen als Hauptvariante des Konsequenzialismus vorstellt.
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Freude findet, anderen Vergnügen zu bereiten. Diese Lösung vermag keineswegs den Beweis zu führen, dass die Egoisten großzügig werden müssen. Dennoch würde eine sokhe Beweisführung von der ökonomischen Theorie willkommen geheißen, und sie wäre nötig zur Rettung der Hauptprinzipien des ökonomischen Liberalismus. Die ökonomische Theorie wirft tatsächlich ein zentrales, sie besonders irritierendes Paradox auf, wekhes sie nicht zu lösen vermag. Es handelt sich um das Paradox, das ausführlich von der Literatur um das Gefangenendilemma diskutiert wird Darin wird bewiesen, dass die egoistischen rationalen Individuen mangels gegenseitigen Vertrauens in logischer Weise dahin geführt werden, wenig effektive Lösungen anzunehmen. Wenn zum Beispiel ein Gefangener die Wahl hat zwischen einer Verurteilung zu einem Jahr Haft, so er seinen Komplizen nicht verrät (unter der Bedingung, dass dieser ihn ebenfalls nicht verrät), einer Verurteilung zu drei Jahren, wenn sich beide gegenseitig verraten, und einer Verurteilung zu fünf Jahren, wenn er nicht verrät, aber verraten wird, so zeigt die Theorie, dass er die zweite Möglichkeit ergreifen und also drei Jahre im Gefängnis verbringen wird, obwohl er eigentlich nur ein Jahr hätte ertragen müssen, und sein Komplize ebenso. Die Varianten sokh klassischer Schulbeispiele sind fast unendlich. Wichtig dabei ist, dass die vielen Verfeinerungen des kanonischen Beispiels niemals die zentrale Aporie aufzulösen vermochten. Die Spieltheorie behauptet, ~s die Egoisten jedes Interesse zum Vertrauen und zur Kooperation haben, aber sie zeigt zugleich. wie das Auftauchen von Vertrauensbezeugungen und kooperativen Neigungen so lange unmöglich ist, als man in der Sphäre egoistischer, das heißt rationeller Berechnung verbleibt. Um mit den Worten von Mauss (1968 [1923/24D zu sprechen, ist das so lange unmöglich. als man sich nicht entscheidet, »aus sich heraus zu gehen<<, und das wegen nahezu tautologischer Ursachen, deren fundamentale lmplikationen untersucht werden müssen. Diese Ursachen hat Mauss übrigens wunderbar, wenn auch in ganz anderen Worten, amEndeseines Werkes Die Gabe diskutiert. Die erste Implikation ist, dass Gabe und persönliches Interesse nicht nur nicht inkompatibel sind, sondern einander bedürfen. Die zweite Implikation trifft unsere eigene, maßvolle Definition der Gabe; sie besagt, dass es Gabe gibt - eine Einführung einer vollkommen anderen Logik - sobald mit der zirkulären und geschlossenen Logik der egoistischen, rationalen Berechnung gebrochen wird Die Umkehrung ist ebenso möglich. Die dritte Implikation besagt, dass das persönliche, ja egoistische Interesse nur vollständig befriedigt werden kann, wenn es das Risiko in Kauf nimmt, sich zu opfern. Schließlich besagt die letzte Implikation, dass sowohl positiv wie normativ die egoistische Rationalität nur als hierarchisch zweite gedacht werden kann' in Bezug auf die Logik der Gabe.
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Pierre Bourdieu, das Interesse und die Interesselosigkeit Aber interessanter, als sich in der ökonomischen Theorie zu ergehen und bei den Paradoxen zu verweilen, die die Analyse der »nicht-kooperativen Spiele« hervorbringt, ist der Versuch, die Unmöglichkeit zu zeigen, von der Axiomatik des .Interesses zu einem Gedanken der Großzügigkeit zu springen, indem wir uns einem Autor widmen, der ausschlaggebend für die Sache ist, weil er wahrscheinlich am Weitesten auf dem Weg der Radikalisierung und Systematisierung der Axiomatik des Interesses gegangen ist, wobei er stark eine authentische Großzügigkeit anzustreben schien. Wtr wollen von Pierre Bourdieu sprechen. Unsere Argumentation wird zweifellos dadurch klarer sein, dass es möglich scheint, zwischen zwei Phasen des Denkens von Bourdieu zu unterscheiden. Wie die Experten zwischen einem ersten und zweiten Heidegger, einem ersten und zweiten Wittgenstein unterscheiden, so gibt es zweifellos einen ersten und zweiten Bourdieu. Und die Kehre [nn ~deutsch], die Umkehr, findet genau bei der Frage der Beziehung von Interesse und Interesselosigkeit statt.
Der erste Bourdieu Ich zögere hier sehr kurz nur die Lesart des ersten Bourdieu zu resümieren, die ich vor einigen Jahren gegeben habe (Caille 1981 und 1988), denn mir scheint, gegen diese Lesart (ohne sie zu zitieren) hat Bourdieu energisch protestiert und betont, dass er falsch verstanden wurde und dass man ihn hat sagen lassen, was er nie hat sagen wollen. Dennoch lasse ich meine Skrupel hier beiseite, denn ich halte an dem Gedanken fest, dass meine Lesart richtig war, und weil - da der zweite Bourdieu sich gegen sie richtet - ihre Erinnerung wenigstens als Einleitung zum Folgenden dienen mag. Nach dieser Lesart besteht das System des ersten Bourdieu aus einer Axiomatik des Interesses und einem verallgemeinerten Ökonomismus. Aber dieser Ökonomismus ist subtil, da er von der Überlegung ausgeht, dass die Wege der langfristigen Akkumulation ökonomischen Kapitals nicht hauptsächlich ökonomisch sind Mehr noch behauptet er - und hier wird die Diskussion Bourdieus besonders wichtig -, dass die Interesselosigkeit subjektiv möglich ist, die Interesselosigkeit des Gelehrten, die des Poeten oder die des Liebhabers guter Manieren zum Beispiel. Und je effektiver diese subjektive Interesselosigkeit ist, desto mehr trägt sie zur Befriedigung objektiver Interessen bei. Kurz, die Interesselosigkeit rentiert sich, aber wenn sie sich rentiert, zeigt das, dass es sich nicht wirklich um Interesselosigkeit handelt. Die beiden Aussagen sind systembildend und es ist möglich, sie weiter zu entwickeln, entweder von der Seite des ökonomischen Kapitals oder von der entgegengesetzten
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Seite ausgehend, die Bourdieu das symbolische Kapital nennt, dieses paradoxe Kapital, das Kapital des Prestiges, welches sich nur durch Rückzug der ökonomischen Investition akkumuliert. Wenn man von der Seite des ökonomischen Kapitals ausgeht, lässt sich zeigen, dass es sich nur reproduzieren und akkumulieren kann, wenn es sich in soziales Kapital (Gemeinsamkeit von Beziehungen), in kulturelles Kapital und linguistisches, schulisches und schließlich in symbolisches Kapital transformiert. Dieses Prestige kommt von anerkannter Interesselosigkeit. Aber um diese besondere Form des Kapitals anhäufen zu können, um in seinen eigenen Augen effektiv interesselos sein zu können, dem Gesetz seiner Berufung ohne sichtbar instrumentelle Betrachtungen hinein zu mischen folgen zu können, dazu muss man von seiner sozialen Legitimität überzeugt sein, man muss also einer Familie entstammen, die in ausreichender Menge die anderen Formen des Kapitals besitzt oder besessen hat. Ebenso und symmetrisch dazu ist diese Kongruenz des symbolischen Kapitals zu den anderen Formen des Kapitals, die schließlich erlaubt, dass es sich in soziales und dann in ökonomisches Kapital zurück verwandelt. Denn - und darin besteht der Ökonomismus, egal, was die sozialen Individuen über ihre tiefgründigen Motivationen denken- es ist sehr wohl, nach den Analysen von Bourdieu, die Akkumulation des ökonomischen Kapitals, die sich objektiv am Beginn und am Ende der Transformation der Kapitalformen befindet. Der Kulturgenuss zum Beispiel, der von Kunstwerken vor allem, ist nicht von einer Logik des ästhetischen Genusses bestimmt, sondern von dem Bestreben, seine Zugehörigkeit zur Welt der Herrschenden zu bekräftigen, indem ein Abstand zu materiellen Notwendigkeiten, zur Arbeit, zum Körperlichen und zur Funktionalität gewahrt wird Der Kulturgenuss trägt zur Reproduktion eines Sozialstatus bei, der selbst determiniert ist durch die Aufteilung der Kapitalformen. Ebenso ist die besondere Position, die ein Philosoph, Künstler oder WISsenschaftler in ihrem Wtrkungsfeld besetzt, nicht determiniert durch das Suchen nach Wahrheit oder Liebe, sondern durch die objektive Möglichkeit, einen »Profit des UnterschiedS<< zu machen, der eigenen soziologischen Laufbahn eines jeden angepasst. Die philosophischen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Inhalte sind wesentlich willkürlich. Sie haben keinen Nutzwert, sondern nur einen Tauschwert. Zusammenfassend gibt es im System des ersten Bourdieu nichts, was verloren geht und nichts, was geschaffen wird Das, was offensichtlich ohne Erwartung einer Rückgabe gegeben wird, die Gabe, die eigentlich nur den Herrschenden möglich ist, findet sich in der ~orm des symbolischen Kapitals wieder und schließlich in der Form des sozialen und ökonomischen. Zu welchem Ziel? Ein guter Teil der Frage liegt hier. Wie es ~ourdieu selbst schreibt, »weiß man nicht, wer kalkuliert« - das individuelle Subjekt, die Familie, die Sippe oder die soziale Klasse. Man weiß also nicht, wer investiert, wer die Einkünfte einstreicht oder wann. Aber Eines ist sicher: dass im Universum des ersten Bourdieu »es kalkuliert« (wie »es sprach« bei Lacan),
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dass es in dieser Berechnung kaum einen Spielraum gibt und dass konsequent die Interesselosigkeit nur lliusion sein kann.
Der zweite Bourdieu lliusion? Das Wort ist zweideutig, aber interessant, da Bourdieu jetzt vorschlägt, von illusio (oder Iibido) zu sprechen, eher als von Interesse, um Zweideutigkeiten zu vermeiden und Ökonomistischen Lesarten zu entgehen. Diese terminologische Metamorphose ist bezeichnend für die Umkehr, die Bourdieu seit dem Erscheinen von Choses Jites (1987) unternommen hat. Versuchen wir, deren Ausmaß zu erkunden, indem wir einem kleinen, wenig bekannten Text folgen, der aber direkt auf unseren Gegenstand zielt. Es handelt sich um zwei Vorlesungen, die an der Universität Lyon am ersten und achten Dezember 1988 gehalten und unter dem Titel Intmt et disinteressement gesammelt wurden (1989). Bourdieu beginnt mit der Bemerkung, dass es »Zufällig«, »unglücklich« (ergänzt er) ist, wenn er von Interesse gesprochen hat (ebd.: 3). Wenn es nicht »aus Versehen« war (ebd: 11). Tatsächlich sollte der Gebrauch des Wortes nicht so unmotiviert sein, da Bourdieu anschließend erklärt, dass er die Sozialphilosophen seiner Jugend kritisieren und »die schönen Seelen« entmutigen wollte. Er sei zudem gerechtfertigt gewesen, ergänzt Boutdieu, durch Rückgriff auf das Prinzip des zureichenden Grundes, das heißt durch die Gewissheit, nach der nichts geschieht, was keinen Grund hat (ebd: 7). Wie es auch sei: Wenn der Gebrauch des Begriffes Interesse sich als unglücklich erwiesen hat, so weil er zwei Sinnwidrigkeiten im Projekt von Bourdieu erlaubt hat. Einerseits hätten einige Kommentatoren (ich sehe nicht, welche) den Fehler begangen, zu glauben, dass Bourdieu den Schluss zog, dass es individuelle, bewusste und rationale Subjekte wären, die innerhalb des allgemeinen »es kalkuliert« kalkulierten. In Wahrheit erkennt man schlecht, wer einen solchen Lektürefehler hätte begangen haben können, wo die ganze Theorie des Habitus seit langem da ist, um das Gegenteil aufzustellen und um zu sagen, dass wenn »es kalkuliert«, es unbewusst und sehr langsam geschieht, ohne dabei zu kalkulieren. An dem zweiten Lektürefehler an Bourdieu, der darin besteht, anzunehmen, dass sein erstes System das kausale Primat des ökonomischen Kapitals bestätige, gibt es mehrere Schuldige, bei mit angefangen. Diese Lesart erscheint mit weiterhin richtig. Und umso mehr, als sie im Grunde von Boutdieu selbst teilweise bestätigt wurde. So erklärt er, dass es in der Mehrheit der sozialen Probleme drei Bewusstseinsniveaus gibt (ebd: 50). Das erste ist jenes, in dem man einen Adligen sieht, und man findet ihn adlig. Man sieht einen Priester und findet ihn fromm und so weiter. Das zweite Niveau ist das des kritischen und demystifikatorischen Bewusstseins, jenes, welches die Analysen von La Rochefoucauld, Marx oder Sartre ausdrücken, dieses, welches
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sagt, dass es hinter dem Aussehen nach Frömmigkeit, Tugend, Interesselosigkeit subtile Interessen versteckt gibt. Und dann, schreibt Bourdieu, gibt es das dritte Niveau. Und er ergänzt: »Und dorthin möchte ich gelangen; leider bin ich vorher lange auf der Stelle getreten.« Man möge uns erlauben aus dieser Erklärung, lange auf der Stelle getreten zu haben, zu schließen, dass Bourdieu den Lesarten viel Nahrung gegeben hat, die ihm gerade vorwarfen, auf dem zweiten Niveau geblieben zu sein. Aber all das wäre nur von retrospektivem Interesse, wenn uns tatsächlich das dritte Niveau das zweite zu überschreiten erlaubte. Um zu entscheiden, müsste man noch wissen, worin dieses dritte Niveau besteht, dieses Jenseits der Naivität und der falschlieh boshaften Demystifikation, von dem jeder zugestehen würde, dass es nötig und dringend ist, es zu erreichen. Bourdieu erklärt es kaum, aber es scheint, dass für ihn der Zugang zu diesem dritten Niveau über eine doppelte Distanznahme zu seinen früheren Themen führt. Zuerst scheint. es ihm fortan nötig, jede Möglichkeit zu verhindern, dass das Interesse, welches in Ausübung einer Aktivität in irgendeinem Feld der Praxis besteht, auf das ökonomische Interesse reduziert wird. »Es gibt«, schreibt er, »genauso viele libidines, genauso viele Interessen, wie es Felder gibt« (ebd.: 27). Jedes Feld bietet denen, die daran teilhaben, bestimmte Ziele, und »die Agenten, die sich um die in Aussicht gestellten Ziele schlagen, können von ihnen besessen sein (••.) bereit, für sie zu sterben unabhängig von spezifischen Profiten, lukrativen, Karriete fürdemden odet andeten.« (Ebd.: 23)
Um in einem Feld aktiv zu sein, muss man sich an das Spiel halten, der il/usio ausgesetzt sein; anders gesagt, wenn man einer erfundenen Etymologie glaubt- als solche von Bourdieu vorgestellt- muss man in ludio sein, in dem Spiel. Der Ökonomismus besteht darin, den ,Prozess der Differenzierung der Felder zu ignorieren. Schließlich und vor allem scheint sich das dritte Niveau zu öffnen über das Ernstnehmen der, Frage der Interesselosigkeit, einer »absolut kapitalen Frage«, schreibt Bourdieu.(ebd.: 51). »Existiert die Möglichkeit der Tugend in der Welt? Ist etwas wie ein reines V erhalten möglich, das nicht als Detenninanten unannehmbare Motivationen hat?« (ebd.). Die Frage ist offensichtlich gut gestellt. Und Bourdieu scheint eine Zeit lang Bestandteile einer Antwort zusammenzutragen, die sie offen und lebendig zu erhalten erlauben. »In gewissen sozialen Universen«, schreibt er, »kann das ökonomische Interesse sublimiert werden« (ebd: 47). »In gut konstituierten Gesellschaften der Ehre kann es interesselose habitus geben.« (Ebd.: 49) »Es können interesselose V ethaltensweisen existieren, die als Prinzip nicht das Kalkül der lntetesselosigkeit haben, dietals Prinzip nicht einmal die kalkulierte Intention haben, das Kalkül zu Uberschreiten.« (Ebd.)
An diesem Punkt, glauben wir, ist die Entwicklung der Gedanken Bourdieus bemelkenswert. In Le sens pratique versuchte er tatsächlich zu beweisen, dass, wenn die
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kabylischen Gesellschaften der Ehre die Ökqnomie for sich nicht kannten, sie doch durch die Ökqnomie an sich bestimmt blieben, bis dahin, dass die Zurschaustellung der Ehre nur schwierig als etwas anderes angesehen werden konnte, als das Resultat dessen, was Bourdieu als >>ein Kalkül der Interesselosigkeit« bezeichnet. Er gesteht heute zu, dass es das geben kann, oder eher geben konnte, was er »gut konstituierte Gesellschaften der Ehre« nennt. Aber die Entwicklung seiner Gedanken bleibt dennoch verhalten. Die Gesellschaften des Ancien Regime, schreibt er, waren schon nicht mehr »gut konstituiert«, was ihnen jede Möglichkeit zur Effektivität der Interesselosigkeit entzog. Und für die moderne Gesellschaft scheint die Wahl der Interesselosigkeit, wenn wir ihm glauben, ohne Hoffnung. Tatsächlich schließt Bourdieu die Frage, sobald er sie eröffnet hat. Aus soziologischem Blickwinkel, erklärt er, kann die Frage der Interesselosigkeit nur so formuliert werden: »Welches sind die sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Welten, in denen die Tugend zählt, von Welten, in denen man das Interesse hat, interesselos zu sein?« (ebd.: 51). Aber indem man die Frage so stellt, kann man nur zum System des ersten Bourdieu zurückkehren. Dieser wusste schon genau, >>dass Spiele existieren, in denen man interesselos sein muss, um Erfolg zu haben, in denen [die sozialen Agenten] ein Interesse an der lntetesselosigkeit haben, also freiwillig interesselos sein können.« (Ebd.: 24)
Gibt es nun einen zweiten Bourdieu? Einen Bourdieu nach Bourdieu? Die Sache erscheint zweifelhaft. Der erste bestand schon auf der Differenzierung der Felder. Eher von Illusion zu sprechen, als von Interesse, ist sicherlich nicht gleichgültig. Das erlaubt den Schwerpunkt darauf zu setzen, dass es interne Interessen der Felder gibt. Etwas, würde man gerne hinzufügen, das sich mit dem Vergnügen verbindet; dieses so vollkommen in den Analysen von LJ distinction abwesende Vergnügen, welches Bourdieu heute zuzugestehen scheint, wenn er von »bösartigen Karikaturen« sagt, dass sie übenrieben wären (ebd.: 62). Aber wenn nur von den internen Interessen der Felder gesprochen wird. wenn zudem nichts gesagt ist von ihrer Verbindung mit externen Interessen und schließlich mit dem ökonomischen Interessewas bleibt von der Soziologie Bourdieus, die vollkommen damit beschäftigt ist, zu beweisen, dass die internen Interessen, die er nun illusio.r nennt, nur Brechung sind. eine nur illusorische Maskierung der externen Interessen? Der zweite Bourdieu wünscht auf Distanz mit dem ersten zu gehen, indem er die Differenzierung und Unterschiedlichkeit der Felder überbetont und aufhört, die Frage der Interesselosigkeit mit dem Bann zu belegen. Aber obwohl er von dieser Frage besessen ist, obwohl er übrigens schreibt, dass eines der wesentlichsten politischen und ästhetischen Ziele die Öffnung des Zugangsweges für jeden zu Unentgeltlichkeit und Interesselosigkeit ist, vermag er es nicht zu erreichen, ohne es sogleich zu zermahlen
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und aufzulösen. Denn, schließt er, ungeschminkt der erste unveränderte Bourdieu werdend, »interesselos zu sein, ist ein Privileg der Reichen.« (ebd: 59) Ein Spalt schien sich einen Moment geöffnet zu haben im Bourdieuschen Universum des verallgemeinerten unbewussten Kalküls, im Universum des »es kalkuliert<<. Ein Spalt, !durch den die Frage der Gabe und der Interesselosigkeit schien einströmen zu können. Wenn man sich fragt, warum er sich so unvermittelt geschlossen hat, wird man sehr schnell verleitet zu fragen, ob es nicht die Art selbst ist, die Frage zu formulieren, die notwendig zur Niederlage führen musste. Rufen wir sie uns in das Gedächtnis zurück: »Ist etwas wie ein reines Verhalten möglich, das nicht als Determinanten unannehmbare Motivationen hat?<<, fragte Bourdieu (ebd: 51). Liest man in dieser Art die Frage zu stellen nicht das implizite Postulat, dass, wenn die Wohltätigkeit durch irgendeine Erwägung motiviert ist, sie daher unrein ist und nicht existiert, und dass jede Motivation durch die einzige Tatsache, dass sie Motivation ist, unannehmbar wäre? Wie wenn die Gabe vollkommen sein müsste oder sie ni
Die Unmöglichkeit, die Gabe in ihrer altruistischen Reinheit zu denken (Bemerkungen zu dem Versuch von Jacques Derrida) Die Prüfung der von Bourdieu unternommenen Versuche, die Gabe zu denken und der Logik des Kalküls und der Äquivalenz zu entgehen, erlaubt die Kraft und Originalität der Wiederaufnahme des Problems von Jacques Derrida besser zu würdigen. Indem wir schematisieren, erscheint Bourdieu als jemand, der behauptet, dass das einzige wirklich wünschenswerte Ziel das der Unentgeltlichkeit ist, aber dass dieses Ziel unerteichbar ist, da es unmöglich ist, sich der Welt des Kalküls zu entziehen. Im Gegens~tz zu Piecre Bourdieu erwägt Jacques Derrida hingegen nicht, dass die Gabe unmöglich ist, sondern dass sie das Unmögliche ist. Wtr erheben hier nicht den Anspruch in der Lage zu sein, einen ständig in Bewegung befindlichen komplexen Gedankengang zu erfassen, der in vielfältige Richtungen vordringt. Vor allem bedürfte es mehr Zeit und größerer Kompetenzen als wir haben, um den Analysen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die in Donner Je temps (Derrida 1991) die Frage der Beziehungen aufwerfen, welche die Gabe mit der Hussecisehen Gebung oder mit dem Heideggerischen es gibt (es gibt Sein, es gibt Zeit)
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[im Original deutsch) unterhält (ebd: 34). Ebenso bedürfte es mehr Zeit, um die Behauptung der Verschränkung von Gabe, Vergessen, Beziehung und Zeit gut zu verstehen (»die Gabe ist keine Gabe, sie gibt nur, soweit sie Zeitgibt<.< (ebd: 59)). Lassen wir das und beginnen wir mit der Prüfung dieser ersten von Derrida der Frage der Gabe gewidmeten Arbeit, damit, was direkten Bezug zu den Beziehungen zwischen Gabe, Interesse und Interesselosigkeit hat und auf Anhieb eine Hauptherausforderung darstellt, da Derrida den Gebrauch des Begriffes »Gabe« in einer Bedeutung verstanden wissen möchte, die nichts mit jener der Anthropologen und Soziologen gemein hat.
Zeitgeben
»Man könnte soweit gehen zu sagen«, schreibt Derrida, »dass ein so monumentales Buch wie Die Gabe von Marcel Mauss von allem außet von det Gabe redet: Es handelt von Wirtschaft, von Tausch, von Vertrag (Jo 1lf des), von Übel:bietung. Opfer, Gabe und Gegengabe - kurz: von allem, was in det Sache an die Gabe reicht und die Gabe aufhebt.« (Ebd.: 39)
Derrida vermutet, dass sich Mauss »nicht genug von dieser Inkompatibilität zwischen Gabe und Tausch [beunruhigen ließ], oder davon, dass eine getauschte Gabe nur ein Geliehenes für ein Zurückgegebenes, das heißt eine Aufhebung der Gabe ist.« (Ebd.: 55)
Und übrigens begeht Mauss den Fehler, niemals die Frage der Sprache aufzuwerfen. Denn: »wovon und von wem spricht Mauss letztendlich? Welcher semantische Zukunftshorizont erlaubt ihm, so viele Phänomene unterschiedlicher Art, die verschiedenen Kulturen angehören, sich in heterogenen Sprachen ausdrücken, unter det einzigen und vorgeblich identifizierbaren Kategorie der Gabe, unter dem Zeichen >Gabe< zusammenzunehmen?« (Ebd.: 41)
Und tatsächlich, wenn wir »das vereinigende Prinzip aller idiomatischen Ausdrücke [suchen], wo sich das Substantiv >Gabe<, das Verb >geben<, das Adjektiv >gegeben< zeigen« (ebd: 68), dann stellen wir fest, dass es kaum zu existieren scheint, dass es zweifellos unmöglich ist, »ein Wesenskonzept der Gabe hemuszulösen, das die idiomatische Verschiedenheit transzendieren würde.« (Ebd: 76). Ebenso wenig zeigt sich eine offensichtliche Einheit zwischen den unterschiedlichen Verwendungen des Wortes »Gabe« in der gleichen Sprache. Es besteht keine Beziehung zwischen »eine Stunde festsetzen<<, »einen Preis zuzuerkennen<<, »Unterricht geben«, »ein Kind gebären<<, >>jemanden hinter das licht führen« oder »zur Straße hin liegen« etc. (Ebd:
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70).3 Das Vokabular der Gabe ist unrettbar bestimmt zur Verstreuung. Zumindest schcint sich eine Teilungslinie abzuzeichnen im Zentrum des betrachteten Idioms, zwischen >xier Gabe, die etwas Bestimmtes gibt« (ebd.: 76) und andererseits >xier Gabe, die nicht etwas Gegebenes gibt, sondern die Bedingung eines Gegebenen im allgemeinen.« (Ebdi: 76) Man muss zugeben, dass an dieser Stelle diese Beobachtungen als solche kaum wirkliche Einwände hervorrufen. Es ist kaum zweifelhaft, dass cin transkultureller und translinguistischer Vergleich des Vokabulars der Gabe und der Wohltätigkeit sehr willkommen wäre. Dass in den archaischen Gesellschaften cine ständige Spannung zwischen Wohltätigkeit und Interesse, Gabe und Tausch besteht, macht das Buch von Mauss ausführlich anschaulich. Und übrigens ergänzt Derrida, nachdem er bedauert hat, dass Mauss sich nicht von der Inkompatibilität zwischen Gabe und Tausch hat beunruhigen lassen: »Wir wollen nicht sagen, dass die getauschte Gabe nicht möglich ist. Man kann nicht das Phänomen verncinen, noch das, was genau jenen einzigartigen Aspekt der getauschten Gaben ausmacht.« (Ebd.: 55) Aber man weiß, dass die Philosophen Phänomenen misstrauen. Derrida hingegen entscheidet, mit ihnen radikal zu brechen. Auf patadoxale und provokante Art schreibt er: »Selbst wenn alle Anthropologen, ja sogar die Metaphysiker der Gabe mit wlkm Recht und verniil!ftigerweise die Gabe und die Schuld, die Gabe und den Kreislauf der Wiederherstellung, die Gabe und das Geliehene, die Gabe und Kredit, die Gabe und Gegengabe wie ein System 1(!1S0111111en behandelt haben, verzichten wir hier lebhaft und deutlich auf diese Tradition. Das heißt, wir verzichten auf die Tradition selbst.« (fhd: 25)
Die Wahl ist seltsam, die gegen jene Recht zu haben entscheidet, denen man zuerkennt, dass sie Recht haben. Die Gründe dieses Wunsches, gegen die Vernunft Recht zu haben, radikal und ohne Hoffnung auf Umkehr zu vef<{jchten, sind im letzten Satz offen gelegt. Auf die Tradition selbst muss man unbedingt verzichten. Und übrigens wirft Derrida Mauss vor allem die moralischen und politischen Schlussfolgerungen vor (ebd.: 87f.). Um sie zurückzuweisen, um den humanistischen Hang zur Mäßigung von Mauss zu überschreiten, um sich zu erheben über die »oft unanständige Mittelmäßigkeit des vennittelnden Wunsches, übet diese durchschnittliche, maßvolle, messende Moral, über diese Regel zum Kompromiss und zur guten und gemäßigten Mischung von Realität und Ideal«
- wovon immer~ Derrida erklärt, dass es billig ist, darüber zu lächeln - um diese entschieden zu kleine und beengte Welt zu verlassen, muss man die Gabe auf eine ganz andere Weise denken als Mauss.
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3 Im Französischen sind diese Beispiele mit dem V erb »donner« (geben) gebildete idiomatische Ausdrücke, auf deren semantische Unvereinbarkeit Derrida hier anspielt. (A.dÜ.)
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Bis dahin, sie aufzulösen bei dem Versuch, sie vom Tausch fernzuhalten, um sie besser zu läutern und zu sublimieren? Nicht nur, schreibt Derrida tatsächlich, >>damit Gabe existiert, ist es notwendig, dass der Beschenkte nicht zurückgibt, nicht ansammelt, nicht zurückzahlt, sich nicht endedigt, nicht in den Vertrag eintritt, niemalsSchulden macht« (ebd.: 26); nicht nur, »damit Gabe existiert, ist es notwendig, dass es keine Wechselseitigkeit gibt, keine Erwiderung, Tausch, Gegengabe oder Schuld« (ebd.: 24), sondern mehr noch ist es notwendig, dass der Beschenkte die Gabe als eine solche nicht anerkennt. »Im äußersten Fall<<, unterstreicht Derrida, »sollte die Gabe als Gabe nicht wie eine Gabe erscheinen: weder dem Beschenkten, noch dem Geber.« (Ebd: 26). In der Konsequenz schließt Derrida logisch: »wenn es keine Gabe gibt, gibt es keine Gabe; aber wenn Gabe existiert, genommen und wahrgenommen als Gabe von dem anderen, dann ist es auch keine Gabe.« (Ebd: 28). Man begreift nun besser, dass die Gabe »nicht unmöglich ~st], sondern das Unmögliche. Die Form selbst des Unmöglichen.« (Ebd: 19). Denn wie könnte wohl ein Subjekt A etwas einem Subjekt B geben, wenn, damit es eine Gabe ist, es notwendigerweise kein Subjekt geben darf, weder Geber noch Beschenkten und keine Gabe?
Erste Kritiken Verhehlen wir es nicht weiter: Diese Taschenspielerei mit der Gabe betrübt uns. Die Kritik der Kärglichkeiten der gewöhnlichen Gabe ließ uns eine besser gesicherte Gabe erhoffen. Und nun gibt es überhaupt keine Gabe. Ebenso ist man versucht, um einige Brocken der Möglichkeit davon wiederzuerlangen, sich zu fragen, woran der Demdasehe Gedankengang krankt. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass er von Beginn an krankt, durch die Entscheidung, sich nicht an die Phänomene zu halten und, wenn sie auch als legitim anerkannt wird, die traditionelle Behandlung des Themas durch die Anthropologen hervorragend zu missachten. Das Hauptargument, das man am ehesten zu Gunsten dieser Wahl hervorbringen kann, ist jenes, welches der terminologischen Diskussion folgt. Derrida bestreitet nicht den Realismus der ethnologischen Beschreibungen. Er verneint hingegen, dass ihr Beschäftigungsgegenstand mit dem Wort ))Gabe« bezeichnet werden könnte. Die Diskussion erinnert an den Streit um die Blinden oder um den Daltonismus. Die Ethnologen würden zwar richtig sehen, nur benennen sie die Dinge rot, die tatsächlich grün sind Aber die Argumentation von Derrida ist geeignet, wie ein Handschuh umgestülpt zu werden. Zweifelsohne ist das semantische Feld der Gabe entsprechend der Sprachen sehr variabel. Es scheint beispielsweise im Türkischen keine Entsprechung für das Wort »Gabe« zu geben. Hingegen ist es wenig zweifelhaft, dass eine beträchtliche Anzahl an Kulturen an die erste Stelle der Tugenden die Wohltätigkeit setzen.
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Ob diese im Sinne der Interesselosigkeit gedacht wird oder nicht, ist noch eine andere Frage. Woher nimmt also Derrida seine Sicherheit, eher Recht zu haben als die Anthropologen? Von dem Idiom, welches er gebraucht und in dem er denkt. »Misstrauen wir immer«, schreibt er, »diesem semantischen Vorverständnis des Wortes >Gabe< in unserer Sprache oder in einigen vertrauten Sprachen.« (Ebd: 24) Nach diesen Exzessen an Misstrauen überrascht ein solches in die Sprache gesetztes Vertrauen. Warum sollte die Sprache, uns~re Sprache, nicht lügen? Weil sie etwa einen direkten Zugang zum Sein verschafft? Wir wären wohl privilegiert, die Hörer einer solchen Sprache zu sein. Und, wenn man darüber nachdenkt, ist dieser Zugang so direkt? Ist es wirklich möglich, von der Tatsache abzusehen, dass unsere spontane Konzeption der Gabe von 2000 Jahren Christentum und Theologie geformt wurde und dass unsere Sprache vor allem das zum Ausdruck bringt? Das Buch Die Gabe von Mauss, trotz eines starken, unvermeidlichen Restes an ethnozentristischen Projektionen, bewirkt einen durchgreifenden Effekt kultureller Dezentrierung. Unter dem Deckmantellinguistischer Kritik und eidetischer Anforderung wird von Derrida eigentlich die westliche und moderne Konzeption der Gabe als Prüfmaß und ethische Norm mit universeller Geltung in Stellung gebracht. Aber diese Konzeption macht das Begreifen der Gabe problematisch. Wenn man ihr in allen ihren Implikationen folgt, wie es Derrida ja tut, errät man wohl egal, was er dazu sagt- dass die Gabe nicht nur die Form des Unmöglichen darstellt. Sie ist einfach unmöglich. Und das, weil im Wesentlichen, wie zu Recht JeanLouis Cherlonneix in seiner Kritik schlussfolgert (1993: 127-142), >>die Dekonsttuktion d~ Traumes (...) fest a fandenne gebaut ist und nach der Opposition zwischen hier einer per de.ftnitioMm egoistischen und gei:(jgen SubjekJivität, beschränkt im Erscheinungsbild eines von sich eingenommenen, in sich zurückgezogenen, auf sich gerichteten, >ruu:zisstischen< Ich, und dort einer unmöglichen, da per de.ftniiWMm absolut interesselosen Wohltätigkeit.« (Ebd.: 136)
Wir sollten also versuchen, uns von diesem spezifisch modernen Dualismus des zynischen Realismus und unnachgiebigen Idealismus zu befreien und sollten die Umrisse eines gemäßigten, aber den gewöhnlichen Sterblichen zugänglicheren Konzepts der Gabe zeichnen.
Den Tod geben
Es empfiehlt sich jedoch vorher, sowohl die grundsätzliche Legitimität der Demdasehen Befragung, als auch ihren maßlosen Charakter besser abzuschätzen. Wir haben soeben bemerkt, dass die von Derrida ins Auge gefasste Konzeption der Gabe keine andere ist, als die von der christlichen Theologie der Agape geprägte. Aber diese Bemerkung genügt keineswegs, sie a prrori zu disltteditieren. Im Gegenteil. Tat-
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sächlich erlaubt nichts anzunehmen, dass die theologische Bearbeitung sich zufallig un4 ohne starke Gründe entwickelt hat. Das Christentum kann sehr gut als eine Art logische, historische und praktische Maschine angesehen werden, um aus der Gabe ein Axiom zu machen. Selbst unabhängig vom Christentum scheint es klar zu sein, dass es eine der wesentlichen Aufgaben aller großen universellen Religionen gewesen ist, zu einer ansteigenden Spiritualisierung der liebe und der Gabe zu gelangen und, um das zu erreichen, alle ihre narzisstischen, partikularistischen, stolzen oder berechnenden Rückstände zu jagen. Ist es nicht legitim und notwendig, die Horizontlinie, den allen religiösen Diskursen gemeinsamen Fluchtpunkt zu konzeptualisieren? Und die Derridasche Problematisierung der Gabe, so verwirrend und übertrieben paradoxal wie sie zunächst zu sein scheint, hat sie nicht gerade das Verdienst, diesen unerreichbaren Fluchtpunkt ausfindig zu machen? In jedem Fall verhielte sich Derrida dieser Art, die Fragen zu formulieren, zweifellos nicht ablehnend gegenüber. Und vor allem wäre er nicht schockiert von der Identifikation seiner Befragung mit der des Christentums. Ein anderer Text als der, den wir bisher kommentiert haben, Donner Ia mort (1992), stellt sich weitgehend wie eine Ode an das Christentum und an die jüdisch-christliche Tradition dar, inklusive ihrer tragischsten und am wenigsten erfreulichen Dimensionen. Was mit dem Christentum das Gegebene ist, schreibt Derrida, »und das wäre auch ein bestimmter Tod - das ist nicht irgend etwas, sondern die Güte selbst, die gebende Güte, das Geben oder die Gebung der Gabe.« (Ebd.: 45) »Mit dem Christentum, und nur mit dem Christentum, ist die Möglichkeit einet Verantworrung gegeben, und diese ebenso wie eine det Identität, Ander.;heit und Einzigartigkeit.« (Ebd.: 68)
Diese Möglichkeit wohnt einer Logik inne, nicht dem Ereignis einer Offenbarung. Die Philosophie besteht aus der Anatomie dieser Logik. Man erlaube uns länger zu zitieren: »Mit verschiedenen Ansprüchen und in untetschiedlichet Bedeutung teilen die Diskurse von Uvinas odet Marion, vielleicht von Ricreur, diese Situation mit dem von Patocka. Abet diese Ilste hat eigentlich keine Grenze und man kann sagen, wobei die Untetschiede wohl beachtet sein wollen, dass ein gewisser Kant und ein gewisSet Hegel, Kietkegaard ohne Zweifel, und ich würde aus Provokarion selbst wagen zu sagen, Heidegger auch, dieSet Tradition angehören, die datin besteht, ein nicht dogmatisches Doppel des Dogmas vorzuschlagen (...), das ohne Religion die Möglichkeit det Religion >wiedetholt<.« (Ebd.: 53)
Und etwas weiter: »Alles geschieht, als ob die bloße Analyse des Konzepts det V erantworrung fiihig wäre, schließlich (...) die Möglichkeit des Christentums hervorzubringen. Und ebenso umgekehrt zu schließen, dass dieses Konzept det V erantworrung durch und durch christlich ist.« (Ebd.: 53)
Das Christentum, ist man zu fragen versucht, stellte das letzte Wort des Dekonstruktivismus dar?
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Hybris und die Selbstwiderlegung der erhabenen Gabe In Honneur et baraka (1981) zeigt Raymond Jamous, wie man in den Gesellschaften des marokkanischen Rif-Gebirges, um ein »Großer« zu werden, die agonistische Gabe praktizierenlmuss, indem man bestreitet, dass die anderen, tatsächlichen oder eingebildeten Großen »genauso wohltätig in der Gabe von Worten, Gütern und Gewalt seien, wie man selbst<<. Er zeigt ebenso, wie »der Große<<, wenn er solchermaßen von der agonistischen Wohltätigkeit geformt der Beschützer der Seinen, seiner Familie und Nahen ist, dann noch mehr, und doppelt, der Erwiderung der Gewalt ausgesetzt ist. Bedroht, unter dem Schlag einer Gegenreaktion einer der von außen kommenden Großen zu fallen, läuft er mit noch größerer Sicherheit Gefahr, einem Rückenschuss zu erliegen, den einer derjenigen abgegeben hat, die er bis dahin mit seiner Wdhltätigkeit überhäufte und deren Schutz er garantierte. In diesem unerbittlichen Kreislauf der agonistischen Gabe und Gegengabe gebiert die einzige Möglichkeit, dem letztendlichen Mord zu entgehen, aus der Vermittlung einer politisch-religiösen Person, die rahig ist, mit der Gabe Gottes, der baraka, umzugehen und sie zwischen die Gaben der Menschen zu setzen. Dieses alleinige Beispiel genügt, um die wesentlichen Punkte des uns beschäfri-· genden Problems deutlich zu machen. Die Gabe, wie sie von Jacques Godbout _und mir in L 'Esprit du don definiert wird, schafft und erhält die soziale Bindung. Sie ist das bevorzugte Mittel der Allianz. Aber solange sie nicht durch eine transzendente Religion kanalisiert wird, schafft sie Freundschaft und unterhält die Einigkeit nur, indem sie Hass urid Zwist reproduziert. Diese sind sicher durch Wttk:ung der Gabe selbst gemildert, aber keineswegs beendet oder ausgelöscht, sondern immer bereit, sich wieder gegen.die Gabe selbst zu richten. Sich wie Derrida über die Bedingungen einer vollständig gereinigten, gegen ihr eigenes Gift geschützten Gabe zu befragen, eingiftohne gift sozusagen, jeden Risikos der Kontamination durch etwas anderes als sie selbst ledig, das läuft darauf hinaus - wenn wir uns vor allem auf die Seite des Empfii.ngers stellen - zu fragen, welche Gabe nicht bedrängen, erniedrigen, beleidigen, Hass und Ressentiment hervorrufen könnte. Und wenn wir uns auf die Seite des Gebers stellen, müssen wir fragen, wie man geben kann, ohne sich dem Neid, der Vergeltung und der endlosen Furcht auszusetzen. Sich zu fragen, worin wohl eine wahre Gabe, eihe Gabe ohne Antwort bestehen könnte, das heißt sich zu fragen, wie es möglich wäre, ein für alle mal die Liebe und den Hass, Krieg und Frieden voneinander zu trennen. Die im Allgemeinen von den großen Religionen und im Besonderen vom Christentum hervorgebrachte Antwort ist zweifach. Einerseits unternehmen sie die Befriedung der agonistischen Gabe, der gewissermaßen horizontal zwischen Gleichen sich abspielenden •Gabe, indem sie ihr mehr oder weniger die Verpflichtung auferlegen, die unilaterale, vertikale Gabe von Gott zu den Menschen als Modell zu
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nehmen. Andererseits und im gleichen Atemzug verzögern sie den kritischen Moment der Erwiderung des Hasses bis dahin, ihn gelegentlich unsichtbar und unverständlich werden zu lassen, indem sie die Grenzen des Nahen und Femen, des Ver15ündeten und Feindes, des Bruders und Fremden tendenziell bis ins Unendliche ausdehnen, dabei eine mehr und mehr unzählbare Gemeinschaft schaffend. Es ist schwierig, die Entwicklung eines Gefühls natürlicher Gemeinschaft und einer Solidarität zwischen einer steigenden Anzahl Menschen nicht dem Verdienst des religiösen Zivilisationsprozesses zuzuschreiben. Gleichfalls ist es auch schwierig, sich nicht zu fragen, ob die Projektion des Hasses nach und auf das Außen, ohne ihn zu beschwören, durch den Umweg seiner Verleugnung nicht dahin führt, ihn noch schwerer und mächtiger werden zu lassen, und ob nicht die den Menschen auferlegte Verpflichtung zu geben, indem sie die Götter imitieren, auf ihnen als eine niemals mögliche Mission lastet. Auf jeden Fall ist es eines der Verdienste des Radikalismus von Derrida, vor den Implikationen der erhabenen Gabe nicht zurückzuschrecken. Die reine Gabe, die einzige, die- wenn man dem modernen Gedanken Glauben schenken will- den Namen Gabe verdient, muss ihre Logik tatsächlich bis zum Entsetzen vorantreiben. Nicht nur von jedem beschmutzenden Durcheinander mit dem Interesse muss man sie säubern, sondern auch von jedem Risiko des Kompromisses mit der Pflicht und Ethik. Den Kierkegaard von Furcht und Zittern (Problema ill) kommentierend schreibt Derrida, dass, damit der Ritter des Glaubens seine Pflicht Gott gegenüber erfüllt, »es nicht nur aus Pflicht geschehen soll« (Derrida 1992: 64). Mehr noch besteht die einzige Pflicht aus einer »Pflicht zum Hass« (Lukas XIV, 26): »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.« Dieser von einem unbeugsamen Christen bekannte Hass ist das Echo des Hasses, der Abraham gestattete, seine Liebe zu Gott zu beweisen. Damit der letztgültige Beweis gegeben wird und die wahrhafte Gabe geschieht, »muss ich opfern, was ich liebe. (...) Ich muss die Meinen hassen und verraten, das heißt, ihnen im Opfer den Tod geben, nicht insofern ich sie hasse -das wäre zu einfach-, sondern insofern ich sie liebe. Ich muss sie hassen, insofern ich sie liebe. (...) Der Hass kann nicht der Hass sein, es kann nur das Opfer der Liebe für die Liebe sein. Was man nicht liebt, kann man nicht hassen, nicht im Eidbruch verraten, kann ihm nicht den Tod geben.« (Ebd.: 64f:)
Die Verdopplung und Ersetzung, durch das Opfer hindurch, des auf der agonistischen Gabe gegründeten Bundes durch den Bund mit einem Prinzip der unendlichen Gabe, der man unendlich geben und zurückgeben muss, autorisiert das Werk der Zivilisation, die Liebe der Nächsten unter die universelle Liebe stellend. Aber deren Herrschaft eröffnet eine Verschuldung und eine Angst ohne Ende. Denn sie beruht tatsächlich auf dem Prinzip, dass »jeder andere jeder andere ist/jeder andere ganz anders ist.« (Tout autre est tout autre) (ebd.: 79). (Der Utilitarismus Benthams
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sagt >~eder zählt als einer.«) Oder auch auf dem Prinzip: »jeder andere/ganz anders ist Gott«, »Gott ist jeder andere/ganz anders.« (Ebd: 83). Nun sieht man nicht mehr, in wessen Namen man mehr an diesen als an jenen geben müsste. ))Ich kann dem einen (oder dem Einem) nur antworten, indem ich ihm den anderen opfere. (...) Wie rechtfertigen Sie )ernals die Opferung aller Katzen der Welt für die eine, die Sie bei sich jeden Tag ernähren (...)? Wie rechtfertigen Sie es, dass Sie sich hier befinden, französisch sprechend, eher als dort, zu anderen eine andere Sprache sprechend (•..)?« (Ebd.: 70f.)
Es gibt keine Wahl, die nicht opfern würde. Aber angesichts der Unmöglichkeit, irgendein Opfer vernünftig zu begründen (und hier, angefangen bei dem mit dem Utilitarismus geteilten Postulat der grenzenlosen Ersetzbarkeit aller menschlichen Wesen, befindet man sich an den Antipoden des Utilitarismus), bleibt nicht mehr, als alles der Gabe selbst zu opfern. Indem Abraham seinen Sohn unter Vernachlässigung jeden Vernunftprinzips opfert, ist er zugleich der Ethischste und der am wenigsten Ethische der Menschen. Sein Beispiel illustriert, bis zum Paroxysmus, die Paradoxa, die im Raum zwischen Gabe und Interesse entstehen, um die sich unsere ganze Diskussion bis jetzt drehte. ))Von dem Augenblick an, wo sich die Gabe, so wohltätig sie se~ von dem Kalkül streifen lässt, wo sie mit der Kenntnis oder der Anerkennung rechnet, lässt sie sich von der Ökonomie einfangen: er tauscht, er gibt alles in allem Falschgeld« (Ebd.: 104)
Um sicher zu sein, von dem Kalkül nicht verunreinigt zu werden, muss man bis zum Holocaust all dessen gehen, was man besitzt und einem teurer ist als man selbst. Nur unter dieser Bedingung wird die Gabe rein. Aber merkwürdigerweise kann in diesem Moment, in einer paradoxalen Bewegung, die derjenigen nahe ist, welche Bourdieu über die Rentabilität der Tugend sprechend analysierte, Gott zurückgeben und souverän entscheiden, durch eine absolute Gabe zu geben, was stark an eine Belohnung erinnert (ebd: 91). Weil Abraham auf Lohn verzichtet hat, »indem er weder Antwort noch Belohnung erwartet, nichts, was ihm zurückgegeben würde, nichts, was zu ihm zurückkäme«, gewinnt er das Größte, was zu gewinnen möglich ist: die Liebe und den Bund Gottes (ebd.). Aber hier schaltet sich wieder der infernale Kreislauf ein, aus dem uns die Derndasche Radikalisierung herausbringen sollte. Denn entweder ruft man über die Geschichte nachdenkend aus, wie Derrida selbst schreibt: »Gut gespielt!«, da ja die absolute Gabe so in den Kreislauf eines um so transzendentaleren Kalküls wieder eingeschrieben ist, als es abwesend und unterdrückt ist Wie wenn auf die Demdasehe Sicherheit, dass es Gabe nur ohne Wissen geben kann, dass sie nur ohne Wissen des Gebers und des Empfii.ngers geschehen kann, die Schlussfolgerung antwortete, dass es ebenso nur ef~ientes Kalkül ohne jedes Wissen und unsichtbar geben kann. Oder alles schwebt in der Absurdität und im Entsetzen. Denn wenn Gott nicht zu-
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rückgeben würde - zu welch anderem Schluss könnten wir kommen, als dass Abraham wahnsinnig und Gott ungeheuerlich ist? Die Identifikation der Gabe mit der Agape und der reinen Liebe, wenn auch offensichtlich der Reduktion der Gabe auf das egoistische Kalkül gegenübergestellt, ist dieser im Grunde eng verbunden. Welche dieser zwei Arten, die Frage nach der Gabe aufzuwerfen, man den Vorzug geben möchte: Die Gabe erscheint unmöglich und unfassbar. Versuchen wir jetzt also, die Umrisse einer maßvollen Definition der Gabe zu zeichnen, die die Nachteile der Mauss'schen »Mittelmäßigkeit« hat, aber auch den Vorteil, den menschlichen Subjekten die Wohltätigkeit und einen gewissen Grad nicht rigoros verbotener Interesselosigkeit zuzugestehen.
Plädoyer für eine maßvolle Konzeption der Gabe Hoffen wir, dass aus den vorhergehenden Seiten nicht geschlussfolgert wird, wir hielten die Analysen und Diskurse, welche wir diskutiert haben, für falsch oder unbedeutend Wenn sie uns so lange beschäftigt haben, ist das im Gegenteil deshalb, weil sie leistungsfahig und in vielerlei Hinsicht unwiderlegbar sind Und übrigens, wie soll man nicht vorgeben, im ewigen Streit zwischen den Verfechtern des freien Willens und denen des versklavten Willens Schiedsrichter zu sein? Ist es nicht klar genug, dass beide Seiten Recht haben? Die Möglichkeit ist nichtsdestotrotz schwierig anzuerkennen, dass zwei gegensätzliche Annahmen zugleich wahr sind Aber wenn wir das anerkennen, bereitet uns das am meisten Probleme in der Übereinstimmung zwischen den zwei zugleich gegensätzlichen und identischen Seiten des berechnenden Egoismus und des außerhalb des Kalküls stehenden Altruismus, dass sie jedes Reststück oder jeden Entwurf eines ethischen und politischen Diskurses ebenso unmöglich werden lassen. Denn wenn die Gabe das Unmögliche ist, wenn niemand fähig ist zu geben, mit Wohltätigkeit und Interesselosigkeit belastet zu werden, dann ist alles möglich und nichts verdient besonderes Lob oder Zustimmung, vom unlauteren Geschäftsgebaren bis zur hochmütigen Askese, von der Achtung der Verpflichtung bis zum Verrat, von der Suche nach Freundschaft bis zu der nach Hass. Die entgegengesetztesten Verhaltensweisen fallen zugleich unter die Generalbeschuldigung der Niedertracht Und mehr noch, wenn behauptet wird, dass die Individuen nur im Unbewussten berechnen und nur egoistische Strategen sind und also in jedem Fall unrein sind, dann deshalb, weil, da alle gleichermaßen Sünder sind, alle ebenso verdammt und gerettet werden können, zu der Bedingung einer sehr seltsamen Gemeinschaft von (Un-)Heiligen wider Willen. Ohne hier ausführlicher wenlen zu können, halten wir in nahezu stenografischer Weise die Richtungen fest, in die man, glauben wir, die Überlegung zur Gabe, zur Wohltätigkeit,
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zum Interesse und zur Interesselosigkeit wenden müsste, damit sie nicht sofort in die Gleise vettallt, die wir gerade angedeutet haben. Die erste zu beachtende Regel könnte diejenige sein. dass es wichtig ist, am Anfang zu beginnen und nicht am Ende. Man müsste beginnen sich zu fragen, wie sich Gabe und Interesse in den Handlungen gewöhnlicher Menschen gegenseitig durchdringen, anstatt von dem übersteigerten Konzept einer gereinigten Gabe auszugehen, das nicht mehr dazu dient, die tatsächlichen Handlungen aufzuklären und zu führen, sondern sie einander gegenüber stellt. Tayloristische Zeitnehmer oder Stakhanovistische Unternehmenschefs isolierten noch vor kurzem die leistungstahigsten Arbeiter, um die von einem Einzigen erreichte und erreichbare Geschwindigkeit und Produktivität als eine allen aufzulegende Norm zu errichten. Ebenso wird in der Diskussion, der wir gerade gefolgt sind, eine Norm unbegrenzter Heiligkeit die Norm der Vlrtllosen, würde Max Weber sagen- gesucht, die es einem erlaubt, »indem er sich Schmerzen bereitet« (J. L. Cherlonneix), die ganze Menschheit zu beschämen. Versuchen wir also die Möglichkeit einer Gabe zu denken, die auf der Höhe der konkreten menschlichen Subjekte ist.
DieGabe Zuallererst scheint es legitim zu sein. von der Suche nach einer Definition der Gabe als Gabe auszugehen und logisch in diesem Sinne das herauszulösen, was ihr nicht spezifisch ist- das Interesse, der Tausch, die Verpflichtung und selbst das Vergnügen. Eine solche Vorgehensweise wirft allerdings mehrere Probleme auf. Sie scheint den Gedanken aufzudrängen, dass die Gabe ohne Interesse ist, abseits und unabhängig von diesem. Die Gabe wäre dann identisch mit der reinen Freiwilligkeit. Aber wenn es kein Interesse gibt, nichts, was man opfern könnte welche Gabe könnte es da wohl geben? Weil Derrida voraussetzt, dass die Gabe nur radikal außerhalb des Feldes des Interesses auftauchen kann, wird er zu der Schlussfolgerung gedrängt, dass, wenn es sie gibt, es sie also nicht gibt. Die Aporie verschwindet, sobald man behauptet, dass die Gabe nicht ohne, sondern gegen das Interesse definierbar ist. Die Gabe existiert und wirkt nur, weil sie als bedingte Gabe und nicht als Gabe an sich - als Gabe von etwas, und wenn es von nichts wäre immer widersprüchlich gebunden ist an anderes als sie selbst. Deshalb ist die Gabe zugleich, ohne sich darauf zu reduzieren, bedingter und unbedingter, eigennütziger und interesseloser Tausch. Sie kann eine Scheinwelt der Unbedingtheit nur bedeuten, weil sie zugleich die Möglichkeit bedeutet, jeden Moment in die reine und einfache Bedingtheit :und in das rohe Spiel des Interesses zurückzufallen. Verharren wir noch einen Momc:;nt bei dieser Frage des Interesses.
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Anzunehmen, dass die Gabe sich verflüchtigt, sobald eine Prise oder der Verdacht des Kalküls sich hinein mengt, ist eine reine petitio principii. Nehmen wir ein Individuum an. das sich in der Situation des Gefangenendilemmas befindet. & hat entweder die Möglichkeit, sich auf das vorsichtige egoistische Kalkül zu beschränken und die für ihn voraussehbaren Kosten zu minimieren, oder die Initiative zu ergreifen und zu vertrauen, ohne Gewissheit auf Rückgabe zu handeln und somit den Raum für zwei neue Möglichkeiten zu öffnen: dass er und der andere einen maximalen Gewinn erlangen - die Freiheit, oder auch, dass er allein mit der Maximalstrafe verurteilt wird, Es ist evident, dass die riskanteste Wahl zugleich Kalkül und Wohltätigkeit enthält. Hier bestehen Gabe des Vertrauens und Kalkül nebeneinander und man sieht nicht, weshalb man die eine oder andere Seite ausblenden sollte. Es ist falsch, dass allein der perfekte Idiot geben könne, derjenige, der nicht weiß, warum er gibt, der nicht berechnet und nichts voraussieht. Dieser gibt im äußersten Fall nicht, was auch immer er gibt. Und umgekehrt wäre es mit einem allwissenden Gott, der alles von allen Ursachen und allen Wirkungen wüsste. In einem gewissen Sinn könnte er ebenso wenig geben. Er könnte Quelle der Gabe sein, was etwas anderes ist, aber nicht Subjekt der Gabe. Statt anzunehmen, dass Gabe nur ohne Wissen bestehen kann, ohne Wissen des Gebers und des Beschenkten, statt zu sagen, dass die Gabe die Figur des Unmöglichen darstellt, stellen wir also die Überlegung an. dass es nur Gabe gibt, die sich als solche weiß und tahig ist, Verlust und Risiko einzuschätzen; deshalb ist die Gabe immer intelligent, die Intelligenz selbst. Was an die Verwirrung der Gabe und des Unbewusstseins reicht, enthält auch, dass, wenn der Geber weiß, dass er gibt, er hingegen nicht weiß, was er gibt, denn der Beschenkte aktualisiert den Wert der Gabe, und auch weil die Gabe, der mechanischen Aufreihung von Ursache und Wtrkung, von Kredit und Schuld enthoben, ein Feld der durch Hypothesen unbestimmten Möglichkeiten eröffnet.4
Das Interesse Der Gebrauch des Begriffes »Interesse« ist selbst einer der problematischsten. Man ·müsste seine Geschichte in Erinnerung rufen und sich fragen, ob es möglich ist, ihm eine transhistorische und interkulturelle Bedeutung zuzugestehen. Nehmen wir an. das sei der Fall. Um zu einem Minimum an Klarheit in der Diskussion zu gelangen, müsste man zwei sehr verschiedene Modalitäten des Interesses unterscheiden: erstens dasjenige, das man das Interesse an (l'interet ä), zweitens jenes, das man das Interesse flir (finteret pour) nennen könnte. Das erste ist eines der lnstrumentalität und Außerlichkeit in Bezug auf eine Tätigkeit. Man macht nicht etwas, liefert sich nicht 4 Vgl die zwei Artikel von Anne-Marie Fixot (1992, 1994).
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einer Tätigkeit aus, weil man dabei Vergnügen empfindet, man macht es, weil man
Interesse daran (intmt a) hat, es zu machen. Wenn man hingegen Interesse for (interet pour) jemanden oder für eine Tätigkeit verspürt, wird die Handlung für sich selbst ausgeübt. Sie hat in sich ihr eigenes Ziel. Der erste Interessentyp gehört zu den vermittelnden GÜtern, der zweite zu jenen, die von den Ökonomisten Finalgüter oder von Aristoteles unabhängige Güter genannt werden. Bevor der professionelle Spieler daraus seinen Broterwerb machte, hat er sich seinem Spiel zunächst aus Leidenschaft hingegeben, aus Interesse für. Es ist zweifelhaft, ob er ein guter Spieler bleibt, wenn er jeden Spaß am Spiel verliert (und selbst dann ...); aber er kann nut ein guter Profi werden, wenn er das Interesse for dem Interesse an unterordnet. Das System des ersten Boutdieu war dutch die systematische Reduktion des Interesses for auf das Interesse an charakterisiert. Das Interesse ftir erschien dort in Bezug auf das Interesse an illusorisch. Der zweite Boutdieu versteht es, dem Vorwurf des Ökonomismu~ zu entgehen (das heißt der Haltung, erstens das Interesse ftir auf das Interesse an zu reduzieren und zweitens das ökonomische Interesse an als allgemeines Äquivalent aller Interessen an anzusehen), indem er immer nut das Interesse for kennen will, das nun i/lusio oder Iibido getauft wird Er schreibt, dass man notwendigerweise,
um sich in das Spiel einzubringen, für dieses nicht ohne Interesse (desinteret) sein darf. Aber das lässt die Frage nach der Interesselosigkeit (desinteressement) noch unberührt. Ist,es möglich, in jenen Spielen, für die man Interesse empfindet, interesselos (de f~on desinreressee) zu spielen? Und allgemeiner: Ist so etwas wie eine interesselose Gabe überhaupt möglich? Die schizophrene Trennung zwischen Egoismus und Altruismus lässt eine Antwort nahezu unwahrscheinlich werden und führt uns zu dem Schluss, dass die authentische Interesselosigkeit nut in der extremsten mystischen Leidenschaft möglich ist. Aber eben diese Spaltung könnte uns genauso gut dazu anregen, umgekehrt die Hypothese aufzustellen, dass die authentische Gabe nut die Tat des Desinteresses (desinteret) sefn könne. Das bestätigen übrigens eine Anzahl von primitiven Religionen, für die die Schöpfung Tat eines ursprünglichen Gottes war, der als Jeus otiosus schon vor einfr Ewigkeit aufgehört hat, sich für die Fortsetzungen seiner anfänglichen Gabe zu interessieren. Fassen wir zusammen: Die Interesselosigkeit steht dem
Interesse an gel?ienüber (welches man vielleicht Beteiligung (interessemenf; nennen könnte), wie das ~esinteresse dem Interesse ftir gegenübersteht (welches vielleicht nichts anderes als Vet;gnügen ist). Was die Interesselosigkeit (desinteressetnent) als unmöglich oder nu~os ansehen lässt, ist unter anderem die Tatsache, dass man sie mit dem Desinteresse (desinreret) verwechselt und dass man kaum zwischen dem Opfer des Interesses an und dem V edust des Interesses for unterscheidet. Sobald man diese Verwechsl~n
Existenz
eine~
vermeidet, klären sich viele Rätsel auf. Nichts hindert uns, die authentischen Interesselosigkeit und Wohltätigkeit, die Realität einer
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Gabe anzuerkennen, sobald ein ökonomisches Interesse, oder allgemeiner ein instnunentelles Interesse, ein Interesse an, eine Beteiligung geopfert ist. Was die Diskussion hingegen komplex werden lässt, ist die Tatsache, dass Interesse an und Interesse flir nicht einander undurchsichtige und undurchdringliche W elten darstellen. Im Spiel beispielsweise ist die Tatsache, dass es einen finanziellen Einsatz gibt, einen dem Spieleinsatz externen Einsatz, die Tatsache, dass das Spiel gerade gewinnversprechend (interessee) ist - dieses ganze Instnunentarium ist dazu angelegt, das Vergnügen am Spiel zu vergrößern. Und entsprechend ist es klar, dass ein beträchtlicher Anteil dessen, was anscheinend der Sphäre des Nützlichen, Funktionellen, der Arbeit und des Instnunentellen, kurz: dem Interesse an entspringt, eigentlich in die Zuständigkeit des Interesses flir und des Vergnügens tallt. Außer wenn es sich um Verpflichtung oder Freiwilligkeit handelt »Man glaubt zunächst, man würde für sich arbeiten«, schreibt Auguste Detoeuf (1989: 85), »man vergegenwärtigt sich dann, dass man für seine Frau arbeirer- man ist später überzeugt, dass man für seine Kinder ru:beitct:; man nimmt schlussendlich wahr, dass man während der ganzen Zeit gearbeitet hat, um zu ru:beitcn.«
Die Komplexität wird noch größer, wenn man die Handlung nicht von nur zwei Motivationsserien ausgehen lässt- denen an das Interesse an (oder an die Beteiligung) und an das Interesse ftir (oder an das Vergnügen) gebundenen und denen an ihre Gegensätze, die Interesselosigkeit und das Desinteresse gebundenen -, sondern wenn man die zwei anderen Motivationstypen mit in Betracht zieht, die durch den Anfang des Essai sur Je don so überzeugend eddärt wurden, als Mauss das erste Mal die paradoxale Verpflichtung zu geben inszeniert, anders gesagt die Verpflichtung, freiwillig zu sein. Rechnen wir also der menschlichen und sozialen Handlung vier große mögliche Quellen zu: die der Verpflichtung oder die der Freiwilligkeit auf der einen Seite, die des Interesses (an) und die des Vergnügens (das Interesse für) auf der anderen Seite. Diese vier Quellen können einander nicht auflösen. Der so oft begangene Fehler besteht in der Absicht, die eine auf die andere zu reduzieren. In der Absicht zum Beispiel, wie der erste Bourdieu und ein guter Teil der in den Sozialwissenschaften vorherrschenden Theorien, die moralische Pflicht, das Vergnügen oder die Freiwilligkeit auf das alleinige Interesse an zu reduzieren. Zwischen jedem dieser Pole gibt es eine Unterbrechung. Und hypothetisch lässt sich auf konzeptionellem Niveau sagen, dass die Logik der einen Quelle in den Begriffen der Logik einer der drei anderen unverständlich ist. Die moralische Pflicht beispielsweise ist nicht denkbar in den Begriffen des instnunentellen Interesses, des Vergnügens oder der Freiwilligkeit, wie es Kam gezeigt hat, außer es handelt sich eben nicht um Pflicht. Das würde den Versuch a priori legitimieren, die Gabe unabhängig von Interesse und Pflicht zu de-
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finieren, wenn überhaupt gesichert ist, dass die Gabe mit dem Pol der Freiwilligkeit identifiziert werden kann - was keineswegs gesichert ist.
Gabe und Interesse Wenn einmal diese vier Pole der Handlung konzeptionell klar unterschieden sind, ist es möglich, sich nach ihrer wahrlich extremen VerschachteJung zu erkundigen. Ebenso, wie es - wir sagten es gerade - ein Vergnügen am Interesse, ein Interesse an und im Vergnügen geben kann, ebenso kann es sich tatsächlich als interessant erweisen,. moralisch oder freiwillig zu sein. Oder es kann auch möglich sein, freiwillig im Sinne seiner Interessen, der Moral oder des Spiels zu handeln. Die brahmanische Spekulation, die vier Pole der Handlung bezeichnet, die unseren sehr ähnlich sind, wenn sie von kama (Vergnügen) spricht, von artha {Interesse), von dharma (soziale und kosmische Verpflichtung) und von moksha (Befreiung, Zugang zur Freiwilligkeit), hat seit undenklichen Zeiten die Diskussion dieser Verflechtung unendlich verfeinert.s In diesem Gebiet ist es möglich, bis zu einem bemerkenswerten Detaillierungsgrad zu gelangen. Wenn man zum Beispiel in diesen Worten die Frage der Interesselosigkeit- des Opfers instrumenteller Interessen- reformuliert, erscheint sogleich, dass diese aus vier wohl unterschiedenen Ursprüngen entstehen können. Die Axiomatik des Interesses behauptet, dass das Opfer des instrumentellen Interesses nur ins Auge zu fassen ist, wenn es sich in den Begriffen desselben instrumentellen Interesses auszahlen kann. Man kann das Interesse an nur für das Interesse an opfern. Aber offensichtlich sind drei andere Figurenkonstellationen ebenfalls möglich. Das materielle Interesse kann der moralischen Verpflichtung, dem Vergnügen oder der Freiwilligkeit geopfert werden. Es erscheinen so drei sehr unterschiedliche Arten von Interesselosigkeit: die des Ritters der Moral, der Pflicht und/ oder der laizistischen oder transzendenten Religion; die des Spielers, des Verliebten, des Sportlers, des ehrlichen Künsders oder des Kriegers aus Vergnügen; schließlich die des Schöpfers oder des Mystikers, Vermitder einer schöpferischen Kraft, die ihn vollständig übersteigt. Diese vier Bestandteile der Handlung sind alle nötig zum Ablauf einer vernünftigen, »mittelmäßigen« und ausgewogenen menschlichen Existenz. Nichts ist erschreckender, unheimlicher, gefährlicher und ermüdender als die Fetischisten eines einzigen Gottes, als die, die nur auf die Pflicht schwören oder auf das Vergnügen, als die, die nur von Interesse reden oder die noch selteneren, die von der permanenten Inspiration heimgesucht werden oder glauben, sterben zu müssen, wenn es 5 Über diese Dial~ktik der »Ziele des Menschen« und ihrer Verflechtung vgl. Charles Malamoud (1989). Siehe ebenso, für eine Weiterführung des hier Gesagten, Caille (1989).
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so nicht ist. Melu: noch: Jeder dieser Momente erhält Sinn nur und reichert sich nur an, wenn er die Erfahrung der anderen gemacht hat. Wer nicht das Vergnügen, die Freiwilligkeit oder das materielle Interesse kennt, hat den anderen nicht viel zu opfern oder zu geben. Abraham muss sehr wohl einen Sohn haben, um ihn Jehova opfern zu können. Der hinduistische Entsagende, der arhat, muss sehr wohl dem hiesigen Leben geopfert haben, um ernsthaft nach dem Tod trachten zu können. Und Buddha, oder Sankt Franziskus von Assisi, hätten sie alles zu verlieren annehmen können, wenn sie nicht zunächst alles besessen hätten (hier befindet sich der vollkommen richtige Kern der Bourdieuschen Befragung)? Zwischen den vier Dimensionen der Handlung ist die Beziehung nicht funktionell, zweieindeutig, wie wenn alles auf das Gleiche hinausliefe. Sie ist eher spira!fdrmig. Die Bewegung des Lebens lässt die gleichen Momente, die gleichen Erfahrungen wiederholen. Aber diese gleichen Erfahrungen sind immer unterschiedlich, weil jeder der vier Momente der Handlung, da er die Erfahrung der anderen drei gemacht hat, jedesmal von dem unterschieden ist, was er zuvor war, und weil jeder durch die Tatsache erneuert ist, den anderen drei Ansprüchen ausgesetzt gewesen zu sein.
Gabe und Gebung (donation) Wenn man jeder dieser Dimensionen der Handlung eine privilegierte Erfahrung und einen bestimmten Beziehungstyp zu anderen zuerkennen würde, erhielte man walu:scheinlich etwas, das dem folgenden Überblick ähnelt. Am Pol des Interesses fände man die Arbeit und den Markt; an dem des Vergnügens die Rivalität von Wetteifer und Spiel (vielleicht); an dem der Verpflichtung die Pflicht und Teilung; an dem der Freiwilligkeit die Gebung und Gabe. Außer dem schizophrenen Zerreißen des modernen Denkens in die Sicherheit der Allgegenwart des Egoismus und die Suche nach Altruismus ist ein anderer Grund für die Schwierigkeit, die Gabe zu begreifen, der Tatsache geschuldet, dass das moderne Denken kaum zwischen Gabe und Gebung unterscheidet. Indem es die Gabe als antithetisch zum egoistischen berechnenden Interesse denken will, indem es behauptet, dass Gabe nur dort ist, wo Kalkül und Intention dahinschwinden, erlaubt es von Gabe zu sprechen nur dann, wenn etwas ohne Ursache, ohne Grund erscheint, was es vorher nicht gab, wie wenn es einer Quelle entspringt und sich aus sich selbst bewegt. Nun, dieses »aus sich selbst bewegen« oder eher dieses »einer Quelle entspringen<<, deren Hauptbeispiel das Leben selbst ist (und der Tod), gehört zweifelsohne nicht zur Gabe, sondern dazu, was dem phänomenologischen Gebrauch folgend (wenn wit ihn nicht falsch verstehen) Gebung zu nennen möglich ist. Das Deutsche sagt nicht »das ist« (tl y a), sondern es gibt (~a donne) und bezeichnet so die Tatsache, dass man immer von dem, was existiert, was da ist, die
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Ursachen suchen könnte, aber dass die Tatsache dieser Existenz, dieses Wesens, die Reihe der Gründe übersteigt und nur als eine Gabe ohne Subjekt festgestellt und akzeptiert werden kann. Vielleicht existieren für alle natürlichen Phänomene bestimmte Ursachen. Aber für uns, die wir uns an die Natur als Subjekte wenden, für uns ist sie ohne >>wa.rum«, sie en;cheint wie wir, ohne von jemandem gegeben zu sein, Selbst-Gebung und Selbstdarstellung [im Original deutsch]. Das Leben wurde uns von unseren Erzeugern »gegeben«, aber es überschreitet unendlich diese Gabe. Und dieser Exzess ist derjenige der Gebung über die Gabe. Die Behandlung der Frage nach der Gabe von Derrida ist nur deshalb so unklar, weil er von der Gabe eine Charakterisierung gibt, die unendlich mehr für die Gebung gilt, oder eher noch, die nur für sie gilt. Nur die Gebung, nur das Leben, gibt und kann ohne Ursache geben, ohne Grund und ohne Kalkül. Die von den Menschen bereiteten Gaben hingegen, wenn sie danach streben, die Bewegung des Lebens selbst zu reproduzieren und sie in Gang zu setzen (wie die Initiationsriten die Geburt imitieren), gelangen zu dieser Reproduktion nur durch die Imitation der Gebung. Während das Leben nichts anderes zum Ziel hat als das Leben, erstrebt die Gabe nicht die biologische, sondern die soziologische Reproduktion, die Herstellung und Wiederherstellung der sozialen Beziehung. Hier ist es, am Ende dieses zu langen Weges, wo wir die gemäßigte Definition der Gabe wiederfinden, auf die Jacques Godbout und ich uns gestützt haben. Was als Gabe qualifiziert werden kann, ist jede geleistete Hilfe ohne Erwartung einer bestimmten Erwiderung und mit der Absicht, die soziale Beziehung zu nähren. Aber vielleicht ist es möglich, den Weg auszunutzen, den wir gerade zurückgelegt haben, um diese Definition zu präzisieren. Die Gabe, sagten wir, befindet sich konzeptuell auf der Seite der Freiwilligkeit. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Richtung grosso modo richtig, in die sich der Versuch der Derridaschen Konzeptualisierung bewegt. Sie versagt hingegen, legten wir nahe, weil sie die Tatsache nicht ins Auge fasst, dass die Gabe von irgend etwas konstituiert sein muss, dass sie nicht einfache selbstbezogene Selbstbestätigung sein kann, wenngleich die Frage, ob sie vom Interesse, vom Vergnügen oder von der Freiwilligkeit herrührt, der Demdasehen Konzeptionalisierung keineswegs gleichgültig ist, sondern im Gegenteil wesentlich. Aber sie versagt auch aus einem anderen, subtileren und zugleich stärkeren Grund Ist es eigentlich so sicher, dass diejenigen, die empfangen, von der empfangenen Gabe vollständig gedemütigt werden müssen, verschuldet bis dahin, sich nur an der Gabe erfreuen zu können, wenn sie jene nicht als solche erkennen? Ist es ebenfalls so sicher, dass diejenigen, die geben, sich bis an das Ende der Zeit analog schuldig fühlen müssen, die Verwirrung bis dahin gestoßen zu haben, sich einen Moment menschlicher, zu menschlicher Wohltätigkeit zuzugestehen? Zum Schluss ist man geneigt zu sagen, dass es Sache von Geber und Empfänger ist, ihre Anerkennungsprobleme zu lösen, zu bestim-
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men, ob die Gabe wirklich eine war und schlussendlich wer die Gabe macht- derjenige, der sie anbietet oder derjenige, der sie empfängt (der große Vorteil des Marktes besteht darin, eine objektive Antwort auf die Frage vorzuschlagen)! Aber das Wesentliche befindet sich ohne Zweifel nicht hier. Es besteht, glauben wir, in der Tatsache, dass das, was letztlich den Wert einer Gabe über ihre materielle Nützlichkeit, über ihren Zeichenwert und selbst über ihren Wert als Bindung hinaus ausmacht, die Tatsache ist, dass sie eine Dimension der Gebung symbolisiert, dass sie eine Beteiligung am Universum des »Ohne-Ursache«, des Unbedingten, des Lebens selbst bestätigt Es ist nicht sicher, dass man auf das Christentwn warten muss, damit die Bedingung der Gabe gegeben ist - die Güte selbst. Vtel sicherer ist die Vorstellung, dass die Gabe immer von der Gabe der Gebung, von der Gabe des Lebens beabsichtigt ist, aber dass sie sich darauf nicht reduziert und sie auch nicht erreichen kann. Zumindest kann man versuchen, die Bewegung des Lebens selbst zu imitieren oder es (wieder) zu spielen. Das Unmögliche ist nicht die Gabe; das Unmögliche ist die vollständige Gleichsetzung der Gabe mit der Gebung. Alle Fehler im Konzept der Gabe führen letztlich immer auf eine Verwechslung der Gabe mit der Gebung zurück.
Schlussfolgerung Wenn diese konzeptuellen Klarstellungen einmal erfolgt sind- wobei wir uns dessen bewusst sind, dass man sie noch sorgfaltig ausarbeiten müsste -, wird es möglich zu beginnen, die schwierigsten und konkretesten Fragen zu formulieren, die hinter diesen scheinbar ätherischen und rein metaphysischen Befragungen versteckt sind. Denn die eigentliche und wirklich fruchtbare Frage ist nicht die nach der Realität der Interesselosigkeit, nach der Reinheit oder Unreinheit der Gabe, noch diejenige, was wohl die menschlichen Individuen dahin bringen könnte, zu geben. In bestimmter Hinsicht ist es zu denken erlaubt, dass jeder, der auf die Stufe der Gebung zu gelangen oder so zu erscheinen wünscht, sich zu geben drängt oder so glauben macht6, und dass das Schwierigste oft nicht ist, jemanden zu geben anzuregen, sondern ihn davon abzuhalten. .. Nein, die eigentliche Frage ist nicht die nach der unbefleckten Gabe oder nach der reinen Liebe. Die eigentliche Frage lautet: Wem geben? Im Rahmen einer kleinen, symbolisch festen Gesellschaft, wo Rollen und Stellung klar aufgeteilt sind, im Rahmen dessen, was Bourdieu eine gut konstituierte Gesellschaft der Ehre nennt, und die wir eine Personengesellschaft nennen
6 Vgl. Herui Raynal (1%5), der bewundemswen diesen Eifer eines jeden zeigt, sich als Agent oder Vermittler der Gebung aufzuspielen.
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könnten, ist die Frage einigermaßen einfach entschieden. Sobald die Identität dieser kleinen Gesellschaft verwittert, explodiert die Frage nach den möglichen Empfängern der Gabe, aufwärts und abwärts der eingerichteten Rollen. Aufwärts: Diejenigen. die kaum von privilegierten Rollen begünstigt wurden, verstehen sich eher als Individuen denn hls Personen. Hier stellt sich die Frage des Egrismus. Abwärts: Die äußeren Grenzen der Vergesellschaftung verwittern so weit, dass die Frage auftaucht, ob es nötig sein wird, jetzt jenen zu geben, die gestern noch Fremde oder Feinde waren, und jene als Brüder zu betrachten, die man gerade erst auszulöschen trachtete. Die Personen entdecken nach und nach den Menschen im anderen, erkennen die anderen und sich selbst als menschliche Gemeinschaft wieder. Die aufgeworfene Frage ist also die nach der Verfassung eines neuen kollektiven Subjekts, das jetzt auf den Trümmern des Alten errichtet werden muss, dem man zu opfern gewohnt war. Diese Frage ist zunächst nicht moralisch, philosophisch oder religiös. Sie ist die politische Frage par excellence.
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IV Anwendungsfelder
Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen* Betina Hollstei,n
Familienbeziehungen: Strukturelle oder nonnative Integration? Im Zuge gesellschaftlicher Moderoisierungsprozesse hat die Familie ihr Gesicht stark verändert: Mit dem Ausbau staatlicher Institutionen - vor allem des Bildungssystems und sozialstaatlicher Sicherungssysteme wie Arbeitslosen- und Rentenversicherung - hat sie viele Funktionen an diese abgegeben. Aufgrund demographischer und sozialer Veränderungen hat sich auch ihre Strukrur stark gewandelt (Stichworte sind: gestiegene Lebenserwartung, abnehmende Kinderzahlen, gestiegene Scheidungsziffem). Entgegen Parsons' Vennutung von der isolierten Kernfamilie zeigen jedoch neuere Forschungsergebnisse, dass zwischen Eltern und_ Kindem auch nach ~er Phase des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt umfangreiche und vielfältige Austauschprozesse stattfinden: Dazu gehören Hilfeleistungen unterschiedlichster Art, Rat und tatkräftige Hilfe bei Reparaturen ebenso wie emotionale Unterstützung und erhebliche finanzielle Transfers; auch im Falle von Pflegebedürftigkeit sind es immer noch ganz überwiegend Kinder und Schwiegerkinder, die sich um die altemden Eltern kümmern (z. B. Kohli u.a. 2000; AttiasDonfut 1995; Bien 1994; Diewllld 1991; Rossi/Rossi 1990). Die Frage ist,, wie diese unterschiedlichen Transfers in Familien zu erklären sind und welche Roll~ Reziprozität dabei spielt. Diese Frage ist weder trivial noch von bloßem akademischen Interesse: Da auf Reziprozität gegründete Transfers an Vorleistungen gebunden und über soziale Verpflichtungen strukturell abgesichert sind, kann angenommen werden, dass sie verbindlicher und stabiler sind als Transfers, die sich allein auf abstrakte Verhaltensnonnen stützen (etwa die Norm, dass man
' * Für hilfreiche Kommenrare zu ersten Fassungen dieses Beitrags danke ich Jürgen Wolf, Wer1
ner Rammert sowie den Herausgebern dieses Bandes.
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seine Eltern achten und sie nach Kräften unterstützen sollte). Die Integrationskraft letzterer ist schwächer, weil sie anfälliger für soziale Veränderungen und Wertewandd sind Anders ausgedrückt: Wenn Reziprozität in Familienbeziehungen eine Rolle spielt, dann stehen die Chancen gut, dass es um die Zukunft der Familie nicht so schlecht bestellt ist, wie es öffentliche Befürchtungen über nachlassende familiale Solidarität und erodierende Unterstützungspotentiale nahe legen. Da recht unterschiedliche Vorstellungen und Begriffe von Reziprozität kursieren (beispielsweise wird gdegentlich bereits von reziprokem Tausch gesprochen, wenn zwischen zwei Akteuren wechselseitiger Austausch festgestellt wird), werde ich zunächst kurz die Hauptkennzeichen von Reziprozität skizzieren, wie sie bei den soziologischen Klassikern diskutiert werden. Im Anschluss gehe ich darauf ein, ob und inwieweit sich in modern~ Familien sowohl Formen direkter Reziprozität als auch verschiedene Formen indirekter Reziprozität, an der mehr als zwei Akteure beteiligt sind, aufweisen lassen. Dabei konzentriere ich mich auf Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen, also vorzugsweise zwischen Eltern und Kindern.
Die Regeln der Reziprozität und Risiken von Zeit und Ressourcenverteilung Die Bedeutung von Reziprozität für das Funktionieren und die Stabilität von sozialen Beziehungen und sozialen Systemen wird von vielen Soziologen und Anthropologen betont, und die Analyse des Prinzips der Reziprozität kann man wohl als eine der elementaren Errungenschaften der Soziologie bezeichnen. Wie Marcel Mauss (1994 [1923/24]) in seinem berühmten Essay ausgeführt hat, besteht der Akt des Gebens zwischen Individuen oder Gruppen aus drei elementaren Bestandteilen oder Basispflichten: zu geben (a), die Gabe anzunehmen (b) und die Gabe mit einer Gegengabe zu erwidern (c). Wesentlich ist, dass mit einer Gabe immer Vetpflichtungenverbunden sind Dieses Verpflichtetsein ist es, was Simmel als »Dankbarkeit« bezeichnet (Simmel in diesem Band). Zu betonen ist, dass diese Verpflichtungen unabhängig von allen Intentionen und etwaigen Nutzenkalkülen der beteiligten Akteure bestehen (Bourdieu 1979). Jenseits der konkreten Motive und Beteuerungen der Akteure zwingt eine Gabe den Adressaten zu einer Reaktion. Nimmt er die Gabe an, wird der Empfanger der Gabe in spezifischer Weise an den Gebenden gebunden, und zwar solange bis er die Gabe erwidert beziehungsweise »zurückzahlt« (Gouldner 1960). Die gegebene Sache ist nicht nur Ding»an sich«. Ihr haftet die Erinnerung an die Person des Gebenden an, den Ernpfauger daran erinnernd, dass er in der Schuld des Gebers steht. Diese der Gabe inhärente Verpflichtung
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bezeichnet Mauss (1994 (1932/24D etwas mystifizierend als den »Geist der gegebenen Sache<<. Alvin W. Gouldner (1960: 170) beschreibt das gleiche Phänomen soziologisch, wenn er »beyond reciprocity as a pattem of exchange and beyond folk belief about reciprocity as a fact of life (.•.) a generalized moral norm of reciprocity« identifiziert, »which defines certain actions and obligations as repayments for benefits received.« Ob man die Verpflichtung zur Reziprozität wie Gouldner in Begriffen von moralischen Normen fasst oder:diese Verpflichtung mit Simmel und Blau allgemeiner bezeichnet als »tendencies inherent in the character of social exchange itself« (Blau 1964: 92), gemeint ist ein grundlegendes und ubiquitäres Prinzip, das als »Startmechanismus<< (Gouldner 1960) immer dann wirkt, wenn »people are thrown together, and before common norms or goals or role exf,ectations have crystallized among theril.« (Blau 1964: 92). Reziprozität formt und strukturiert sozialen Austausch und soziale Beziehungen, und zwar insbesondere in unbestimmten und unklaren Situationen, in denen andere Normen oder soziale Rollen (noch) nicht verfügbar sind Reziprozität liegt· also nicht allem Handeln zugrunde: Soziale Rollen oder Statusverpflichtungen können mit der Norm zur Reziprozität konfligieren und die Verpflichtung, Gaben zu erwidern, außer Kraft setzen (Gouldner 1960). Ist der Austausch aber an Reziprozität orientiert, stellt sich die Frage, w~ genau die Schuld abgetragen und man von der eingegangenen Verpflichtung entbunden ist. Der eingegangenen Verpflichtung kann man sich nicht durch irgendeine Gegengabe endedigen. Die Gegengabe soll äquivalent zur Gabe sein. Dabei können die ausgetauschten Dinge gleicher Art sein (homomorphe Reziprozität) oder sie können unterschiedlicher Art sein, »but should be equal in values, as defined by the actors in the situation« (heteromorphe Reziprozität; ebd.: 172). Demzufolge kann das, was ausgetauscht wird, beinahe alles sein: nicht nur materielle Güter, sandem auch Diensdeistungen, Kognitionen und Emotionen. Die Frage, ob eine Gabe tatsächlich »Zurückgezahlt« und die Schuld abgetragen ist, kann nur von den beteiligten Akteuren selbst beantwortet werden. Sie definieren den Wert der getauschten >>Güter<<. 1 Daher kann die Stärke der Verpflichtung bei gleichen Gütern ganz unterschiedlich sein. Nach Gouldner kann der Wert der Güter und somit die Schuld nach kulturellen Bewertungsregeln oder auch nach situativen Faktoren variieren - wie der Bedürftigkeit des Empfängers, den Ressourcen des Gebers ~>he gave although he could ill afford it«) oder der dem Geber unterstellten Motivlage ~>without thought of gain«) (ebd: 171). Entscheidend aber ist die Wahrnehmung der Akteure und was sie selbst bei der Bewertung der ausgetauschten Dinge berücksichtigen. Beispielsweise kann sich
1 Die Ausdrückep>Sachen«, >>Güter« etc. beziehen sich hier auf alles das, was ausgetauscht werden kann, scpmit auch Diensdeistungen, emotionale und kognitive Unterstützungsleistungen.
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der Akteur bei einem materiellen Gut einfach auf dessen Marktwert beziehen. Er kann aber auch situative Faktoren in Rechnung stellen. Gouldner folgend ist es eine empirische Frage, ob und wann man sich der Verpflichtung endedigt hat. 2 Festzuhalten ist, dass allein aus dem Vergleich der ausgetauschten Güter nicht abzuleiten ist, woran der Austausch orientiert ist. Das Interessante an der Norm der Reziprozität ist also, dass allein durch die bloße Gabe Verpflichtungen gestiftet werden, und zwar unabhängig davon, was die Geber mit der Gabe im Sinne hatten (Bourdieu 1979). Beispielsweise mag der Geber aus Wohltätigkeit handeln, die Gabe ruft trotzdem Verpflichtungen hervor, und sei es wenigstens die Verpflichtung dankbar zu sein (Simmel in diesem Band). Allerdings kann die Verpflichtung zur Reziprozität durch andere Normen, Rollendefinitionen oder Statusverpflichtungen außer Kraft gesetzt werden (auf diesen Punkt komme ich gleich noch genauer zu sprechen; für Eltern-Kind-Beziehungen spielt er eine besondere Rolle). Die Fragen, ob die Norm der Reziprozität tatsächlich am Werk ist und wann eine Gabe »zurückgezahlt« ist, lassen sich nur beantworten, wenn geklärt wird, ob und in welchem Maße sich die Empfänger durch die Gabe verpflichtet fühlen. Die erste Gabe verpflichtet jedoch nur, wenn sie auch angenommen wird. Und die Gabe anzunehmen bedeutet, nicht sofort und nicht die gleiche Sache zurückzugeben (Bourdieu 1979: 219). Wie die Leihgabe, bei der die Rückgabe vertraglich gesichert ist, stiftet auch die unmittelbare Rückgabe keine Reziprozitätsverpflichtung. Eine Gabe kann als Angebot für eine Beziehung gesehen werden, doch erst der Empfänger der Gabe definiert den Charakter der Beziehung (Simmel in diesem Band): neben der Entscheidung darüber, ob er die Gabe überhaupt annimmt, auch durch die Art der Gegengabe und die Zeit, die er zwischen Gabe und Gegengabe verstreichen lässt. Gibt er die gleiche Sache oder eine Sache mit exakt dem gleichen (Markt-)Wert zurück, definiert er den Tausch als reinen ökonomischen Akt.3 Gibt er sofort zurück, verweigert er den >>Geist der gegebenen Sache«, also die mit der Gabe verbundene Verpflichtung. Je mehr Zeit der Empfänger zwischen Gabe und Gegengabe vergehen lässt, um so mehr Verpflichtung akzeptiert er. Zugleich wird damit aber auch das Vertrauen des Gebers strapaziert. Die Zeit »dazwischen« ist bestimmt durch Unsicherheit; Vorleistungen müssen sich nicht auszahlen. Im Un-
2 Simmel (tn diesem Band) und Mauss (1994) betonen zwar, dass eine Gabe im Grunde nicht rückzahlbar ist, da der Gegengabe die Freiwilligkeit beziehungsweise >>der Geist der Freiheit« (Simmel) der etsten Gabe fehlt. Man kann die Berücksichtigung und Bewertung dieser Freiwilligkeit aber auch als Frage kultureller Standards und individueller Orientietungen auffassen -und diese können prinzipiell unterschiedlich ausfallen. 3 Hier liegt der Hauptunterschied zwischen ökonomischem Tausch und einem Tausch, det von det Norm der Reziprozität geleitet ist. Beim ökonomischen Tausch ist der Wert der Güter klar definiert und dieVerpflichtungzur Gegengabe ist vertraglich fixiert.
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terschied zu einem Vertrag liegt »im Zeitintervall zwischen Gabe und Gegengabe (...) ein Potential für soziale Strategien der Steigerung oder der Auslöschung von Verpflichtungen« (Wolf 1988: 20). So kann die Beziehung überhaupt beendet werden oder die Ressourcenausstattung der Akteure kann sich verändern. Die Zwischenzeit verpflichtet zwar den Empfanger, doch für den Gebenden ist sie riskanL4 Hiermit in Zusanunenhang steht die Frage, auf welche Weise Reziprozität in a!}IIJIIJetrischen Beziehungen wirkt. Gegengaben können zum Beispiel durch Macht ersetzt und dadurch aufgehoben werden. Oder der Empfanger hat nicht genug Ressourcen zur Rück- beziehungsweise Gegengabe. Dies kann vom Geber gerade kalkuliert worden sein, um sich statt materieller Gegengaben Dankbarkeit und Loyalität zu sichern. Die ungleiche Ressourcenverteilung kann aber auch dazu führen, dass erst gar nicht gegeben wird. Laut Gouldner mag die Reziprozitätsverpflichtung »lead individuals to estahlish relations only oc primarily with those who can reciprocate (...). [Ibe norm of reciprocity; BH] cannot apply with full force in relations with children, old people, oc with those who are mentally or physically handicapped.« (Gouldner 1%0: 178)
Gouldner war der Ansicht, dass Gaben für Kinder und für arme, ältere und behinderte Menschen, die aufgrund von gesundheitlichen Problemen oder Mangel an_ wertbesetzten Gütern noch nicht oder nicht mehr zu Gegengaben in der Lage sind, nur über die Zusatzannahme einer >>norm of beneficence« beziehungsweise eines »moral absolutism« erklärt werden können (Gouldner in diesem Band).5 Die Frage ist, ob das wirklich so ist: Wtrkt Reziprozität nicht in Beziehungen mit Kindem oder alten Menschen (von denen viele ja eigene Kinder haben)?
Direkte Reziprozität in Generationenbeziehungen Es gibt also gute Gründe anzunehmen, dass Reziprozität in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern keine wesentliche Rolle spielt.6 Sowohl Normen und Statusverpflichtungen als auch unausgeglichene Ressourcenverteilung können mit der
4 Um nicht missverstanden zu werden: Mit dieser Formulierung soll nicht unterstellt werden, dass der Geber immer eine Rückgabe intendiert hatte. Es ist ja gerade das Besondere am Reziprozitätskonzept, dass eine Gabe Verpflichtungen stiftet, und zwar unabhängig von den Kalkülen und Erwartungen der Geber (Bourdieu 1979). 5 Ähnlich argumentieren Dowd (1984), der zur Erklärung der Unterstützung von älteren Menschen auf die ))natural rnorality« (Moore) zurückgreift, und Rosenmayr und Rosenmayr, die für eine ))Überbalancierung«, )>eine gezielte und verarbeitete Ungleichgewichtigkeit im psychosozialen Austausch<<, plädieren (1978: 59f.). 6 In diesem Abschnitt rekapituliere ich Argumente, die wir an anderer Stelle (Hollstein/Bria 1998) genauer ausgeführt haben.
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B!!TINA HOLLSTI!IN
Norm zur Reziprozität konfligieren und die Verpflichtung zur Reziprozität außer Kraft setzen. Dabei stellt sich bei Beziehungen zwischen Eltern und Kindem zum einen die Frage, inwieweit überhaupt verpflichtungsbegründende Vorleistungen seitens der Eltern vorliegen. So sind Eltern ja sogar gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Kinder zu unterstützen. Anders ausgedrückt: Die Unterstützung und Sorge um die Kinder gehört heutzutage zur Rolle der Eltern. Um das Problem weiter zu verkomplizieren: Zumindest in den ersten Jahren müssen diese Gaben auch vom Kind akzeptiert werden, sonst überlebt es schlicht nicht7 Kinder können die Gaben der Eltern gar nicht ablehnen. Während der ersten Jahre der Eltern-Kind-Beziehung besteht eine asymmetrische Beziehung, in der die Eltern machtvoll sind und das Kind abhängig ist Kinder könnten sich einer Verpflichtung einfach mit den Argumenten entziehen, dass erstens die Unterstützung ihrer Eltern zu deren Rolle gehört und sie zweitens gar keine Wahl hatten, die Gabe abzulehnen. Zum anderen stellt sich die Frage der Reziprozität nicht nur am Anfang, sondern insbesondere auch am Ende der Eltern-Kind-Beziehung. Ist, wie Alvin W. Gouldner vermutete, Reziprozität in Beziehungen zu alten und ressourcenschwachen Personen ohne Bedeutung? Das heißt: Auch wenn Eltern verpflichtungsbegründende Vorleistungen erbringen, bleibt immer noch die Frage, wie lange Reziprozität witkt und ob sie auch in Zeiten hinein wirkt, die durch ein stabiles Ressourcenungleichgewicht gekennzeichnet sind. Im ersten Fallliegt das Risiko in der Zeit zwischen Gabe und Gegengabe; im Fall des stabilen Ressourcenungleichgewichts kommt hinzu, dass die Zukunft in gewisser Weise abgeschnitten ist. Wennaufgrund ungleicher Ressourcenverteilung Gegengaben in der Zukunft nicht mehr eingefordert werden können, besteht ein erhöhtes Risiko der Umdeutung und Umbewertung der Vorleistungen. Die Frage ist also, wie lange die Kinder gegebenenfalls lange zurückliegende Gaben der Eltern bilanzieren. Dabei ist, wie gesagt, zum Beispiel die Pflege der Eltern allein kein Beleg für Reziprozität: Das Handeln der Kinder braucht nicht an Reziprozität orientiert zu sein, sondern kann beispielsweise durch die abstrakte Norm, dass Kinder ihre Eltern unterstützen sollen, Wohltätigkeit oder auch durch die Antizipation einer künftigen Erbschaft motiviert sein (letzteres wäre zwar auch Reziprozität, jedoch keine Reaktion auf empfangene Leistungen, sondern ein in die Zukunft gerichtetes Kalkül einer Gegenleistung). Die Pflege der alten Eltern ist besonders interessant, weil hieran geprüft werden kann, wie lange zurück die Kinder eigentlich bilanzieren und ob Reziprozität bis in Zeiten stabiler ungleicher gesundheitlicher Ressourcenverteilung ausdehnbar ist.
7 Für den moralphil0110phischen Diskurs zu der Frage, ob man den Eltern gegenüber per se verpflichtet ist oder ob Verpflichtungenkontingent und abhängig vom faktischen Verhalten der Eltern sind, vergleiche English (1979) und Hoff Sommers (1991 ).
REZIPROZITAT IN FAMILIALEN GENERATIONENBEZIEHUNGEN
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Empirisch zeigt sich nun tatsächlich, dass sich Kinder bei der Pflege ihrer Eltern an Reziprozität orientieren und dass sie sich in ihren Argumenten zum Teil auf sehr lange zurück liegende Leistungen der Eltern beziehen (vgl. genauer die Sekundäranalyse in Hollstein/Bria 1998; Silverstein u.a. 2002). Entgegen Gouldners These ist Reziprozität offenbar auch in Zeiten wirksam, in denen zumindest gesundheitliche Ressourcen auf Dauer asymmetrisch verteilt sind Kinder verweisen dabei entweder auf Gefühle der »Dankbarkeit« oder der »Ve.tpflichtung«, wobei sie auf konkrete Vorleistungen der Eltern BeZug nelunen, nicht aber auf allgemeine und verhaltensunabhängige Nonnen familialer Solidarität (Finch/Mason 1993). Ein pflegender Sohn drückt es zum Beispiel so aus, dass er durch die Betreuung seiner Mutter die »Möglichkeit« hat, etwas von der von ihr empfangenen Unterstützung zurückzugeben. Andere Töchter und Söhne sprechen von »Wiedergutmachung«. Ist die Beziehung distanzierter oder negativ, scheint eher der »Verpflichtungscharakter« zu dominieren (vgl. Hollstein/Bria 1998).8 Allerdings muss man unterscheiden zwischen der Frage, ob Reziprozität orientierungswirksam ist, und dem Inhalt von Reziprozität, das heißt der Frage nach der konkreten Umsetzung. Wenn Kinder zum Beispiel die Hauptpflege ihrer Eltern nicht übernehmen, ist dies kein Beleg gegen Reziprozität. Keines der Kinder in von uns durchgesehenen Studien macht es sich in den Argumentationen lc;icht. Betreuungsaufgaben gleich welcher Art nicht zu übernehmen, ist in jedem Fall begründungs- und rechtfertigungsbedürftig und geht mit starken Schuldgefühlen und Gewissenskonflikten einher. Die Verpflichtungsgefühle können als Hinweis für die Orientierung an Reziprozität gewertet werden, doch sie können mit anderen Statusund Rollenverpflichtungen (wie Erwerbstätigkeit und Betreuung der eigenen Kinder) in Konflikt geraten- oder auch mit Werten der Individualisierung und Selbstentfaltung, insbesondere dann wenn die (selbst schon alten) Kinder die Endlichkeit ihrer eigenen Lebenszeit vor Augen haben. Der einzige legitime Grund, sich gegen die Pflege zu entscheiden, scheint die eigene begrenzte Zukunft zu sein, wie es ein Sohn ausdrückt, der bereits 65 Jahre alt ist: »naja, ich mach's gerne, aber nicht über Stunden hinaus, denn dazu hab ich noch 'nen eigenes Leben ... wer weiß, wie's [bei mir; BH] nach 70 aussieht« (Hollstein 1992a). Kinder fühlen sich verantwortlich. Die Orientierung an Reziprozität ist vorhanden, aber sie determiniert das Handeln nicht.
den
8 In manchen Fällen kommen auch materielle Gründe für die Übernahme der Pflege zum Ausdruck- etwa um Kosten einer Heimunterbringung abzuwenden. Diese materiellen Gründe scheinen bei der Pflege der Eltern aber nur eine zusätzliche Rolle zu spielen (Ho11stein 1992a; Schmidtke 1987) beziehungsweise nur bei einem kleinen Teil der Kinder bedeutsam zu sein (Schneekloth/Potthoff 1993). Dies lässt sich auch für die materiellen Anreize für die Pflegeübernahme in FOrm. zu erwartender Erbschaften vermuten, hier mangelt es jedoch an entsprechenden systematischen Untersuchungen.
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BETINA HüLLSTEIN
Wie repräsentative Daten zeigen, ist die Verpflichtung und die Bereitschaft zut Reziprozität offenbar weit verbreitet. Im deutschen Alters-Survey geben fast 80 Prozent der über 40-Jährigen mit lebenden Kindem als Argument für die Unterstützung von Angehörigen an: »Meine Eltern haben soviel für mich getan, dass ich ihnen auch etwas zurückgeben möchte« (Kohli u.a. 2000: 197; siehe Tabelle 3; vgL auch Cox/Soldo 2004). In fiunilialen Generationenbeziehungen scheint Reziprozität also eine wichtige Rolle zu spielen. Rekurriert wird dabei auf eine Art von Reziprozität, die man mit Gloria Wentowski (1981) als-»generalisierte Reziprozität«9 bezeichnen kann. In einer anthropologischen Studie hat sie die kulturellen Regeln untersucht, die dem »helping out« in Unterstützungsnetzwerken älterer Menschen zugrunde liegen. Sie unterscheidet drei Typen von Reziprozität, die man als verschiedene Reaktionen auf das Bourdieusche »Beziehungsangebot« auffassen kann (vgL im Folgenden Tabelle 1). Unverzügliche Rr.(jpro~tät (»immediate exchange sttategy«), die zügige Gegengabe von Geld oder Gegenständen, die einen klar zu erkennenden Marktwert haben, der äquivalent zut erhaltenen Gabe ist, wird dabei von Personen verwendet, die ihre Verpflichtungen minimieren wollen und nicht an engeren Bindungen interessiert sind Bei den getauschten Gaben handelt es sich um »occasional favors« oder »commodities« zwischen Nachbarn oder Bekannten (ebd: 603). Demgegenüber ist verzögerte Rr.(jpro~tät (>>deferred exchange strategy«) Ausdruck einer »willingness to trust and to asswne greater obligation (...). In this strategy, gifts are offered but with no stipulation as to amount and time of repayment (...). Tune can pass before a counter-gift or series of gifts needs be repaid (•..). The medium of exchange is usually personal - services or items people have produced themselves, with a monetary value difficult to fix.« (Ebd.: 604)
Dieser verzögerte Austausch von kleinen Geschenken oder Gefiilligkeiten findet sich vor allem beim Aufbau neuer Beziehungen. Beide Austauschstrategien sind Formen »ausgeglichener Reziprozität« (Sahlins in diesem Band), in denen ein Äquivalent zur erhaltenen Sache in einer überschaubaren Zeitspanne zurückgegeben wird
9 Der Begriff »genetalisierte« Reziprozität wird leider für sehr unterschiedliche Sachverhalte verwendet, so zum Beispiel für Wohltätigkeit (Sahlins in diesem Band) oder für Austausch, an dem mehr als zwei Akteure beteiligt sind In diesem Abschnitt dient der Begriff zur Kennzeichnung der Ausdehnung des Zeittaums zwischen Gabe und Gegengabe.
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REZIPROZITÄT IN FAMILIALEN ÜENERATIONENBEZIEHUNGEN
Tabelle 1: T.Jpen direkter Re~iftät in privaten Beifehlltjgen
Zeit~chen Gabet~nd
Unverzügliche Reziprozität
Verzögerte Reziprozitiit
Generalisierte Reziprozität
schnell
verzögert
u.U. sehr lange
Wert exakt bestimmbar (unpersönliche Gaben)
Wert schwerer be-
stimmbar (z.B. selbst
Wert schwer bestimmbar (z.B. Rat, Geselligkeit)
Equity
gemachter Kuchen) Equity
Bedarf-Ressourcen
nur AustauSCh
Austausch zentral
Beziehung zentral
exakt äquivalent
fast äquivalent
fast äquivalent
minimal
niedrig
höher
keine Äquivalenz wegen (a) overbenefitting Beginn und (b) schwer zu verrechnenden Gaben ())Geld vs. Gefühle<) sehrhoch
distanziert, z.B. Fremde, Nachbarn
enger.
z.B. Bekannte, Aufbau
eng, z.B.enge Freunde, Partner
eng, heutige ElternKindBeziehll!lgen
G«mHJbe Altder Gaben
Bewerlllngspri~
Polemder Algmerksamluit
~
von Gabe11nJ Gegengabe
V erpjlKhhlng Altder Be~ehtmg
neuer Beziehungen
Im Unterschied dazu ist bei >>generalisierter Reziprozität« »assistance given (...) not necessarily expected tobe retumed in exact proportion, if at alk< (Wentowski 1981: 604). Beispielsweise fühlen sich im Fall von Krankheit Verwandte oder Freunde verantwortlich und helfen nach Maßgabe dessen, was benötigt wird und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ohne eine exakte Rückzahlung zu erwarten. Angenommen wird, dass sich die Beziehungen in the /ong mn ausbalancieren (ebd.: 604). Ahnlieh bezieht sich auch das sozialpsychologische Konzept der »Support Bank« (Antonucci/Jackson 1986: 8) auf langdauernde Austauschbeziehungen und ))suggests that indivicfuals utilize a generalized accounting system in the supportive exchanges they experience. (...) A ~ental record of supports (...) provided and (...) received. (...) This cognitive
support account can be considered in an analogaus manner to a savings account maintained by
individuals at local bapks.«
Die Ausdehnung ~er zeitlichen Perspektive hat Konsequenzen für die Form und den Inhalt der Reziprozität. Bei generalisierter Reziprozität steht für die Akteure die Beziehung im Vot;dergrund, nicht so sehr das, was faktisch ausgetauscht wird Ein Ende dieser (Austausch-)Beziehung wird nicht antizipiert, und der Moment der er-
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warteten Rückgabe ist so weit verzögert, dass eine Orientierung weg von der Äquivalenz (Equity) der ausgeglichenen Reziprozität festzustellen ist hin zu einer stärkeren Orientierung an situativen Bedürfnissen und Ressourcen. Eine Orientierung an Equity besteht weiterhin, aber nur over the very long term. Dazu gehört das Vertrauen beider Seiten, dass die erhaltene Hilfe zurückgegeben werden kann, wenn sich eine Gelegenheit bietet, beziehungsweise, dass die gegebene Hilfe zurückgegeben wird, wenn man in Not ist. Für die Frage der Äquivalenz spielt im generalisierten Tausch der [Jmbolische Wert eine größere Rolle als bei ausgeglichener Reziprozität. Erstens werden die situativen persönlichen Umstände (vor allem die Ressourcenlage der Akteure) stärker »in Rechnung gestellt«, zweitens werden immaterielle Güter, für die ein Marktwert kaum oder gar nicht festgelegt werden kann, wie Diensdeistungen, Kognitionen (Respekt) und Gefühle, stärker gewichtet. Dies bedeutet nicht, dass gar nicht mehr bilanziert wird. So gehen Freundschaften häufig dann auseinander, wenn die Gaben zu lange einseitig bleiben (Argyle/Henderson 1984) - ein starker Hinweis auf die langfristige Äquivalenz- beziehungsweise Equity-Orientierung in Beziehungen mit generalisierter Reziprozität. Generalisierte Reziprozität entwickelt sich zwar auch zwischen Nicht-Verwandten, aber im Falle von Pflegebedürftigkeit, also einer Situation, in der Gegenseitigkeit in der Regel kaum noch gegeben ist, fallen Freunde im Allgemeinen aus.10 Demgegenüber fühlen sich Kinder, wie wir sahen, in besonderer Weise verpflichtet. Die starken Verpflichtungsgefühle der Kinder lassen sich in einem austauschtheoretischen Rahmen durch die besonderen Merkmale heutiger Eltern-Kind-Beziehungen erklären. Von Freundschaften oder auch der Partnerschaft unterscheiden sie sich in der Regel in zwei Aspekten (vgL Tabelle 1)11 : Erstens, sogar wenn man gar nicht in Betracht zieht, welche Leistungen Eltern für ihre Kinder in deren Kindheit und Jugend erbringen (siehe oben), weisen empirische Studien für Eltern-KindBeziehungen typischerweise eine eindeutige over-benejitting Atfangsphase nach: Auch noch lange nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus erbringen Eltern langer eine größere Vielfalt von Unterstützungsleistungen für ihre Kinder als umgekehrt Kinder für ihre Eltern (z.B. Rossi/Rossi 1990). Die Leistungen der Kinder erfolgen später und sind weniger umfangreich. Zweitens, die Gaben der Kinder erfolgen in anderer Wähmng als die der Eltern und zwar in einer, die sich deudich schlechter bilanzieren lässt: Die einzige Art der Unterstützung, die über den gesamten Zeitraum zwischen dem 40sten und dem 80sten Lehensjahr der Eltern durch10 Partner/innen pflegen natürlich auch (und in erster Linie). Als Grund für die Pflege relmrrieren sie aber nicht auf Reziprozität, im Vordergrund steht das Bestreben, (noch) möglichst viel Zeit mit dem Partner zu verbringen (z.B. Hol1stein 1992a). 11 An dieser Stelle folge ich nicht mehr der Argumentation von Wentowski. Sie erklärt die Pflege alter Eltern pauschal als Rückzahhmgsversuch für eine Gabe, die nie ganz zurückgezahlt werden könne: »the gift oflife« (Wentowski 1981: 604).
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schnittlieh von mehr Eltern als von Kindem gegeben wird, ist aufgrund ihres klaren Marktwerts langfristig am besten zu bilanzieren, nämlich finanzielle Unterstützung (ebd.; bezogen auf finanzielle Transfers in Familien spricht man deshalb von einem sogenannten ))Kaskadenmodell«, Kohli u.a. 2000; Attias-Donfut 1995). Die Währung der Kinder ist demgegenüber ))weicher«: Sie zahlen mit Gütern zurück, deren Wert kaum oder nur schwer zu schätzen (und entsprechend schwer in Rechnung zu stellen) ist: instrumentelle Hilfen, kognitive und emotionale Unterstützung.12 Daher kann man in heutigen Eltern-Kind-Beziehungen nur schwerlich von einem Äquivalent beziehungsweise von einer ))Abzahlung« der Schuld der Kinder sprechen was eine Erklärung wäre für die starken Verpflichtungsgefühle seitens der Kinder auch noch in hohem Alter. (Im Übrigen könnten viele Kinder, auch wenn sie wollten, die Schuld nicht abtragen. Denn Eltern legen durchschnittlich wesentlich mehr Wert auf eine emotional positive Beziehung zu ihren Kindem als auf deren materielle oder instrumentelle Unterstützung).13 Dass materielle Transfers besonders starke Verpflichtungen begründen, belegt indirekt eine Studie von John Henretta u.a. (1997): Die Wahrscheinlichkeit, die Eltern zu pflegen, ist bei den Kindem am größten, die verglichen mit ihren Geschwistern die umfangreichsten finanziellen Transfers von den Eltern erhalten haben.
Indirekte Reziprozität in Generationenbeziehungen In den Argumenten, die die Befragten im Alters-Survey zur Erläuterung von Transfers zwischen Angehörigen anführen, wird jedoch nicht nur auf Formen wechsel1 seitigen Tauschs Zwischen zwei Akteuren Bezug genommen. Beispielsweise wird in der Aussage ))Was meine Eltern mir gegeben haben, das möchte ich an folgende Generationen we~tergeben<< eine Art generatives Prinzip formuliert, bei der aus einer empfangenen G.ilie eine Gabe an Dritte abgeleitet wird. Ganz offensichtlich spielen in Familien also auch Austauschprozesse eine Rolle, in die mehr als zwei Akteure ))Verwickelt« sind. Kann man hierbei von Reziprozität sprechen?
12 So sind die Unterschiede in der Wahmelunung der beteiligten Akteure bei emotionaler Unterstützung gewöhnlich höher als bei materieller oder instrumenteller Unterstützung (z.B. Schütze/Holistein 1994). 13 Auf die Kinder trifft dies nicht in vergleichbarem Maße zu: Die Intimität, der Gefühlsaustausch sowie gesellige Aspekte in der Beziehung zu ihren Kindern bedeuten den Eltern durchschnittlich mehr als umgekehrt den Kindern in der Beziehung zu ihren Eltern. Dieser Umstand firmiert in der Familiensoziologie unter der Bezeichnung ))intergenerational-stakehypothesis« (Bengtson/Kuypers 1971).
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Die Antwort auf diese Frage hängt von zwei Punkten ab. Erstens von der Definition der Akteure. Sind mit Akteuren nicht nur einzelne Personen gemeint, sondern auch Parteien oder Gruppen, können natürlich bereits an Reziprozitätsbeziehungen zwischen zwei Akteuren mehr als zwei Personen beteiligt sein. Bereits UviStrauss bezog sich mit dem System des eingeschränkten Tauschs auf einen wechselseitigen Austausch zwischen zwei Verwandtschaftsgnppen, bei der die einzelnen :Mitglieder der jeweiligen Gruppe austauschbar sind (un doppelten Wortsinn). Im Folgenden wird jedoch immer vom einzelnen Individuum ausgegangen, ein Zugang, der mir bei der Betrachtung der Binnenstruktur von Familien angebracht scheint. Zweitens: Auch wenn man die Definition der Akteure auf Individuen beschränkt, können die oben beschriebenen Transfers als Reziprozitätsprozesse verstanden werden. In der französischen kollektivistischen Tradition Uvi-Strauss' und Mauss' wird davon ausgegangen, dass eine Gabe auch indirekt erwidert werden kann.14 Wie bei Reziprozität zwischen zwei Akteuren gehen die Beziehungen über reine Transaktionen hinaus: Wesentlich ist auch hier, dass die erste Gabe Verpflichtungen hervorruft. Und es kommt ebenfalls zu einer Reaktion in Form einer ~iten Gabe, auch wenn diese nicht die Person erhält, die zuerst gegeben hat, sondern ein dritter Akteur. Gemeint sind also Situationen, »whereby an individual feels obligatetl to recipro&ate a110ther's adion, not by directly rewarding his benefactor, but by benefitting another actor implicated in a social exchange situation with his
benefactor and himself.« (Ekeh 1974: 48, Hervorhebung BH)
Wie bei direkter Reziprozität sieht sich der Ernpfauger einer Gabe genötigt, eine Gabe zu erwidern: In diesem Fall aber profitiert nicht der Geber von der Verpflichtung, sondern eine dritte Person. Im Fall solcher indirekten Erwiderungen spricht Uvi-Strauss von verallgemeinertem Tausch. Um diese Tauschformen geht es im Folgenden. Dabei fasse ich den ursprünglich von Uvi-Sttauss eingeführten Begriff etwas allgemeiner und spreche von indirekter Reziprozität, wenn sich eine Person (B) verpflichtet fühlt etwas zu geben, weil eine zweite Person (A) gegeben hat. Beteiligt ist ferner mindestens eine dritte Person (q, und zwar entweder als Empfänger der Gabe von A oder als Empfänger der Gabe von B. Im Unterschied zu Wohltätigkeit oder Altruismus handelt es sich um eine bedingte, also um eine von Vorleistungen abhängige Gabe: Eine Gabe erfolgt nur, weil es zuvor eine andere gab. Generalisierter Tausch findet in der soziologischen Literatur in den letzten Jahren wieder mehr Beachtung. Insbesondere interessiert dabei die Frage nach der Evolution und Aufrechterhaltung generalisierter Tauschbeziehungen (z.B. Taka-
14 In diesem Punkt liegt der wesentliche Unterschied zwischen französischer kollektivistischer und britischer individualistischer Tradition Hornans', Blaus und Emersons. Letztere schließt Reziprozität als ein 1!111/ti-par[y·intera&tion-Modell aus. Vgt zu dieser Diskussion ausführlich Ekeh (1974).
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hashi 2000; Bearman 1997; Yamagishi/Cook 1993). Im Anschluss an Ekeh (1974) werden zwei Haupttypen von generalisiertem Tausch beziehungsweise von indirekten Reziprozitätsbeziehungen unterschieden: »Ketten-generalisierte-Reziprozität« und »Gruppen-generalisierte-Reziprozität«. 15 Mit Ketten-generalisürter-Reijproiftät (un Folgenden kurz Kletten-Reziprozität genannt) wird ein Beziehungs- oder Tauschsystem charakterisiert, in dem die Tauschaktionen wie in einer Kette miteinander verbunden sind Ein Individuum gibt einem anderen etwas, welches wiederum etwas an eine dritte Person gibt. Uvi-Strauss {1993 [1949D spricht hier von »gerichteter<< Reziprozität. Dabei kann es sich sowohl um offene Ketten als auch um geschlossene Ringe handeln (mletzterem Fall erhält der erste Geber A irgendwann auch einmal eine Gabe). Die klassischen Beispiele sind das von Levi-Strauss beschriebene System des Frauentauschs über die matrilineare Kreuzkusinenheirat und der melanesische Kula-Ring (Malinowski 1922). 16 Im Unterschied zur Ketten-Reziprozität ist Gruppen-Reifproiftät dadurch gekennzeichnet, dass das Individuum einer Gruppe gegenüber steht :(Ekeh 1974: 53). Mit Gruppen-Reziprozität sind Beziehungen gemeint, bei denen die ganze Gruppe nach und nach von jedem einzelnen Mitglied profitiert beziehungsweise jedes Mitglied nach und nach von der Gesamtgruppe. Beispiele sind Genossenschaften oder die Bridgerunde, bei der jedes Mitglied reih.; um die ganze Gruppe einlädt,l7 Unter Gruppen-Reziprozität fallen auch Fot;men des Pooling und der Redistribution, also im Prinzip Varianten des Versicherungsmodells: Ich gebe von meinen Ressourcen etwas an eine Gruppe ab, und im Bedarfsfall erhalte ich etwas von den Ressourcen der Gruppe zurück.18
15 Die Bezeichnungen werden zum Teil sehr unterschiedlich verwendet. Ekeh (1974) nennt z.B. den zweiten Typ ))netwm:k-generalized-reciprocity«, Yamagishi und Cook (1993) verwenden diesen Begriff auch, jedoch für den ersten Typ. Die Bezeichnungen der Autoren für den jeweils anderen Typ- Ketten-Reziprozität (Ekeh) und Gruppenreziprozität (Yamagishi/Cook) -halte ich demgegenüber für eindeutiger und habe sie hier übemorrunen. 16 Beim Kula-Ring,handelt es sich eigentlich um eine Kombination aus eingeschränktem und generalisierten Tausch (eine Partei erhält für eine Gabe (Armband) immer auch etwas zurück (Halsbänder)). Man kann das System auch als zwei gegenliufige Ketten beschreiben. 17 Das Genossenschaftsprinzip bezeichnet Ekeh (1974) als ))individual focused-net generalized exchange« (Formal: ABCD zu E, ABCE zu D, ABDE zu C, ACDE zu B, BCDE zu A), die Bridgerunde ist für ihn Beispiel des »gtoup focused-net generalized exchange« (Fonnal: A zu BCDE, B zu ACDE, C zu ABDE, D zu ABCE, E zu ABCD). Pooling und anschließende Redistributioo. stellen einen Zwischentyp dar. 18 Formen indirekten Tauschs wie Pooling und Redistribution fasst Marshall Sahlins (tn diesem Band) nicht mehr als Reziprozität. Seiner Ansicht nach handele es sich dabei nicht mehr um eine ))between-rJiationship« zwischen zwei Akteuren, sondern um eine ))within-relationship« innerhalb einer Gruppe. Dies trifft jedoch nur zu, wenn man die Transaktion vorn Gesamtergebnis her und aus der Perspektive der Gruppe betrachtet. Das einzelne Individuum sieht sich durchaus einem zweiten Akteur gegenüber: der Rest-Gruppe, die man als eigene Entitit behandeln kann (Ekeh 1974).
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Inwieweit sind solche Tauschformen nun in Generationenbeziehungen relevant? Überraschenderweise werden generalisierte Tauschbeziehungen in der familiensoziologischen Forschung nur sporadisch und eher im Rahmen kulturvergleichender Studien thematisiert (Agree u.a. 2001; Peterson 1993). Verschiedene Formen generalisierten Tauschs wurden bislang nicht unterschieden. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass in intergenerationellen Beziehungen drei Typen von indirekter Reziprozität eine Rolle spielen können (vgl im Folgenden Tabelle 2). Sie unterscheiden sich jeweils danach. auf welche Weise die verschiedenen Akteure in den generalisierten Tausch eingebunden sind
Tabelle 2: Typen indirekter Re!?fpro!?ftät in Generationenbe!?}ehungen (generalisierter Tausch)
Exemplariuhe Aussagen
Formalisiemng
Solidaritätsprinzip
Generatives Prinzip
Stellvenretungsprinzip
»Man soll seinen Angehörigen helfen, wenn sie in Not sindund man kann von ihnen Hilfe erwarten, wenn man selbst in Not ist«
»Was ich von meinen Eltern erfahren habe, gebe ich an meine Kinder weiter<<
»Ich betreue meine Schwiegermutteranstelle von meiner FraU<<
A A "'(1.) ""(2) BCDE BCDE
Zuon/mmg!{!l
a11JJmeinm Fotmen indireleler ~ro~t
Gruppengeneralisierte Reziprozität (Pooling und Redistribution)
»Meine Eltern haben ihre Eltern (nicht) unterstützt, nun unterstütze ich sie (auch nicht)«
A~B~C
(1.)
(2)
Ketten-generalisierte Reziprozität - vorwärtsgerichtet-
C~A~B
(1.)
(2)
Ketten-generalisierte Reziprozität -riickwärtsgericlttet -
Bereits 1979 hatte lvan F. Nye vermutet, dass verallgemeinerter Tausch für die moderne Familie von besonderer Bedeutung sein müsse. Da in modernen Eltern-KindBeziehungen die Leistungsbilanz unausgeglichen sei, wäre erklärungsbedürftig, warum sich Eltern überhaupt um ihre Kinder kümmerten (wenn sie doch weniger erhielten, als sie selbst gegeben hätten). Eine mögliche Eddärung für die Leistungen der Eltern erblickt er in generalisiertem Tausch: »The care and socializarion one received as a baby and child is now needed by others who are babies and children. Since one's actions brought these babies into the wodd, he/ she has the special responsibility for providing care and socialization for them.« (Nye 1979: 11)
Auch wenn man den Ausgangspunkt dieser Überlegungen nicht teilt (Eltern erhalten durchaus Gaben von ihren Kindern, die sie ausgesprochen wertschätzen: Respekt, Liebe, Dankbarkeit), angesprochen ist hier eine bestimmte Form des ve~-
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meinerten Tauschs, nämlich das eingangs erwähnte generative Prim(jp, das man als eine Form 4er Ketten-Reziprozität betrachten kann: »Was ich von meinen Eltern erfahren habe, gebe ich auch an meine Kinder weiter«. Dem liegt die allgemeine Vorstellung zugrunde, dass man von empfangenen Gaben auch etwas an andere weitergeben möchte. Kennet:h E. Boulding (1973) bezeichnet dies als »serielle Reziprozität<<. Im Unterschied zu der abstrakten Norm, derzufolge man für seine Kinder sorgen und sie nicht vernachlässigen soll, wird hier explizit auf die Vorleistung der Eltern Bezug genommen. Wtrd. aus dieser Vorleistung eine Verpflichtung abgeleitet, kann man von indirekter Reziprozität sprechen. Solche Vorstellungen scheinen recht weit verbreitet zu sein. Mehr als vier Fünftel der im Deutschen Alters-Survey Befragten mit eigenen Kindem vertreten die Ansicht »Was meine Eltern mir gegeben haben, das möchte ich an folgende Generationen weitergeben.« (vgl. Tabelle 3)
Tabelle 3: Motive fiir die Unterstützung von Angehörigen Angaben in%
92,3
(1) Wenn meine Angehörigen Hilfe brauchen, werde ich immer einspringen (2) Was meine Eltern mir gegeben haben, das möchte ich an folgende Generationen weitergeben** (3) Ich finde, dass ich einfach die Pflicht habe, meinen Angehörigen zu helfen (4) Meine Eltern haben soviel für mich getan, dass ich ihnen auch etwas zurückgeben möchte** (5) Wenn ich meinen Angehörigen helfe, kann ich von ihnen auch selbst Hilfe erwarten (6) Erwachsene Kinder sollten auf eigenen Beinen stehen und keine Unterstützung von ihren Eltern erwarten* (7) Wer etwas von mir etben will, sollte auch etwas dafür tun*** (8) Wen ich von meinen Angehörigen nicht mag, dem helfe ich auch nicht (9) Was soll ich in meinem Alter noch Geld sparen? Meine Angehörigen können es jetzt viel besser gebrauchen (10) kh brauche meinen Angehörigen nicht zu helfen, weil es ja genügend staatliche Hilfen gibt
83,9 81,9 78,8 70,4
70,1 51,0
37f> 36,4 17,0
f)uelk: Kohli u.a. 2000: 197, Deutscher Alters-Survey 19%, gewichtet. Fallzahlen 3295 bis "3'756. Arunerkungen: * Nur Personen mit erwachsenen Kfudem; Nur Personen mit lebenden Kindern; Nur Personen mit Haus-, Wohnungs- oder Grundstückseigentum.
***
Z~itens
**
findet sich indirekte Reziprozität auch in traditionellen Vorstellungen von Familiensolidarität In diesem Interpretationsrahmen ist Familie eine (Not-)Gemeinschaft, in der allen, die Hilfe benötigen, auch Unterstützung gewährt wird, und zwar jeweils von denet? die sie gerade geben können. Hier handelt es sich also um eine Form der Gruppt;n-Reziprozität. Wie bei der im letzten Abschnitt behandelten zeitlich generalisi~ Reziprozität besteht eine Orientierung an Bedarf und Ressourcen. Leitend ist die Vorstellung, dass sich die gegebene und empfangene Unterstützung über den Lebenslauf ausgleichen werden. Wie familienhistorische Forschun-
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gen zeigen, ist eine starke Orientierung an den »family needs« für die vormoderne Familie wie für die Familie in sich modernisierenden Gesellschaften ohne sozialstaatliche Absicherung charakteristisch. Beispielsweise wurde in den USA noch im 19. Jahrhundert frühzeitig eine Person bestimmt, die im elterlichen Haushalt verblieb und ihre Heirat aufschob oder ganz darauf verzichtete, um sich im Fall des Falles um die altemden Eltern zu künunem. »To not leave the nest empty« war Teil der Familienstrategien in der Vergangenheit (Hareven 1992). Demgegenüber ist das Timing von StatuSpassagen im Lebenslauf heutzutage kaum noch an Familienereignissen und -bedürfnissen orientiert, sondern vor allem an externen sozialen Zwängen, wie die von Bildungs- und Erwerbssystem gesetzten Altersnormen, welche an Individuen gerichtet sind (Kohli 1985; Hareven 1991). Trotzdem scheinen Vorstellungen von Familie als Solidargemeinschaft auch heute immer noch von großer Bedeutung zu sein. So sind im Alters-Survey immed:ün 70 Prozent der 40bis 85-Jährigen der Ansicht »Wenn ich meinen Angehörigen helfe, kann ich von ihnen auch selbst Hilfe erwarten« (Aussage (5) in Tabelle 3). Es ist zwar nicht auszuschließen, dass bei der Zustimmung zu dieser Aussage auch Formen direkter Reziprozität mit gemeint sind (m dem Sinne, dass man nur von denjenigen Angehörigen Hilfe erwartet, denen man selbst bereits geholfen hat), doch auf allgemeine Vorstellungen von familialer Solidarität deutet auch die mit 92 Prozent überwältigende Zustimmung zu der Aussage »Wenn meine Angehörigen Hilfe brauchen, werde ich immer helfen« (Aussage (1) in Tabelle 3).19 Schließlich könnte in Familienbeziehungen noch eine dritte Form von indirekter Reziprozität eine Rolle spielen, die sich am besten als Stellvertretung bezeichnen lässt. Auf diese Möglichkeit verweist eine Fallstudie über pflegende Angehörige, die wir Anfang der 90er Jahre in Berlin durchgeführt haben (Kohli \La. 1992). Einer der dort Befragten, Herr Rolfs, betreut seine Schwiegermutter im Grunde nur, wie er sagt, »meiner Frau zuliebe«. Seine Frau ist noch erwerbstätig und kann deshalb die Pflege ihrer Mutter, zu der sie sich verpflichtet fühlt, nur schwer realisieren. Herr Rolfs ist bereits verrentet und um seine Frau zu entlasten, kümmert er sich um seine Schwiegermutter. Die Bedingungen von indirekter Reziprozität sind erfüllt. Frau Rolfs fühlt sich aufgrund der von der eigenen Mutter empfangenen Unterstützung zur Pflege verpflichtet. Der Verpflichtung wird auch nachgekommen, jedoch an·
19 Der großen Zustimmung zu dieser uneingeschränkten Unterstützung (>>immer<~ steht allerdings entgegen, dass fast 40 Prozent der Befragten die Auffassung vertreten »Wen ich von meinen Angehörigen nicht mag, dem helfe ich auch nichl« (Aussage (8) in Tabelle 3). Die Hilfe ist also doch an bestimmte Voraussetzungen gebunden (Mögen), wobei das »Nicht-Mögen« natürlich auch auf vergangenen (schlechten) Austauscherfahrungen basieren kann.
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ihrer Stelle durch ihren Mann.2° Im vorliegenden konkreten Fall könnte es sich grundsätzlich auch um eine Form des Pooling (also wn Gruppen-Reziprozität) handeln. Das Stellvertreter-Prinzip setzt demgegenüber voraus, dass der Stellvertreter selbst in keiner Schuld steht und an ihn keine (R.eziprozitäts-)Erwartungen gerichtet sind. Andernfalls wäre er Teil einer Gruppe, in der Unterstützungsleistungen gepoolt werden. Die Stellvertretung lässt sich als eine Variante der Ketten-Reziprozität verstehen. Die beim generativen Prinzip wirksame Form könnte man als »vorwärtsgerichtete Ketten-Reziprozität« bezeichnen, die im Stellvertretungsfall wirksame als »rückwärtsgerichtete Ketten-Reziprozität<<.21 Während beim generativen Prinzip an andere gegeben wird, weil man selbst etwas von einer dritten Person erhalten hat, gibt der Stellvertreter an eine bestimmte andere Person, weil diese etwas an einen Dritten gegeben hat. Das Stellvertreter-Prinzip beruht darauf, dass ich nüch der Person, die etwas erhalten hat, verbunden fühle und deshalb ihrem Wohltäter etwas Gutes tue. Auf eine Form von negativer rückwärtsgerichteter Ketten-Reziprozität verweist das Grimmsehe Märchen »Der alte Großvater und sein Enkel«. Die Eltern behandeln den alten Großvater schlecht (er muss alleine in der Ecke sitzen und bekommt zum Essen nur einen ab:en Holznapf). Daraufhin schnitzt der kleine Enkel einen· Holzlöffel mit den Worten »Davon sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß hin<<. Empirisch zeigt sich tatsächlich, dass bei Personen nüt Kindem die Wahrscheinlichkeit, dass diese Personen ihre eigenen Eltern anrufen oder besuchen zehnmal höher ist als bei Kinderlosen (Cox/Stark 1994). Allerdings mag ein entsprechendes Verhalten der Enkel nicht Solidarität und Verantwortungsgefühlen den Großeltern gegenüber geschuldet sein (tndirekte Reziprozität), sondern kann auch auf Nachahmung der Eltern 'beruhen.22 Wie gesagt, allein am faktischen Verhalten lässt sich nicht ablesen, an welchen Prinzipien die Transfers orientiert sind.
20 In Abhängigkeit von der Definition der Akteure könnte man diesen Fall auch als eingeschränkten Tausch betrachten. Nur unter der Prämisse, dass Individuen die Analyseeinheit bilden, handelt es sich um verallgemeinerten Tausch. 21 Die Begriffe sind angelehnt an die Unterscheidung von Boyd und Richerson (1989) zwischen dbwnmeam und t/p.rtream tit-for-tat--Stratey).en. Die Autoren sprechen hier zwar auch von indirekter Reziprozität, meinen damit jedoch nur den Umstand, dass an dem Tausch mehr als zwei Akteure beteiligt,sind. Die Gründe für den Tausch, insbesondere etwaige Verpflichtungen der Akteure, bleiben unberücksichtigt. 22 Auf der Vorstellung von solchen Lern- beziehungsweise Imitationsprozessen beruht auch die These der Ökonornen Cox und Stark vom so genannten »Demonstrationseffekt« (1994; 2004). Als Motiv für die Pflege der Eltern wird hierbei unterstellt, dass man damit den eigenen Kindern zeigt, wie man selbst einmal behandelt werden möchte- und dass man darauf setzt, dass die eigenen Kinder das gezeigte (Pflege-)Verhalten übernehmen. Solidarität beziehungsweise Verantwortungsgefühle der Enkel den Großeltern gegenüber ziehen Cox und Stark als Erklirung für das Verhalten der Enkel nicht in Betracht.
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Fazit: Reziprozität, Generationenbeziehungen und sozialer Wandel Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Frage, ob und auf welche Weise Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen eine Rolle spielt. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass auf Vorleistungen gegründete und an Verpflichtungen geknüpfte Transfers strukturell abgesichert und deshalb verlässlicher sind als Transfers, die sich allein auf (variablere) nonnative Geltung stützen können. Der kurze Abriss zu Beginn des Beitrags über die Hauptkennzeichen von Reziprozität ergab, dass Reziprozität höchst voraussetzWlgsvoll ist und es gute Gründe gibt anzunehmen, dass Reziprozität speziell in Familienbeziehungen nicht selbstverständlich ist. Normen und Statusverpflichtungen können die Reziprozitätsverpflichtung außer Kraft setzen. Zusätzliche Risiken liegen in langen Zeiträumen zwischen Gaben und Gegengaben und der Veränderung der Ressourcenverteilung der Akteure.23 Dessen ungeachtet ftnden wir in Eltern-Kind-Beziehungen sowohl Formen direkter Reziprozität als auch verschiedene Formen von indirekter Reziprozität, an d~r mehr als zwei Akteure beteiligt sind. Direkte Reziprozität bedeutet in Generationenbeziehungen, dass zum Teil auf sehr lange zurückliegende Gaben Bezug genommen wird. Charakteristisch für Beziehungen in der nahen Familie ist »(zeitlich) generalisierte Reziprozität« (Sahlins in diesem Band; Wentowski 1981). Entg~en der These von Alvin W. Gouldner, der bei der Betrachtung von Reziprozität ausschließlich überschaubare Zeiträume im Blick hat, zeigt sich, dass die Verpflichtung zur Reziprozität über sehr lange Zeit wirksam sein kann (fast über den gesamten Lebenslauf). Daneben gibt es Hinweise darauf, dass Reziprozität sogar bis in Zeiten wirken kann, die durch asymmetrische Ressourcenverteilung gekennzeichnet sind Austauschtheoretisch lässt sich die starke Verpflichtung der Kinder damit erklären, dass man in heutigen Eltern-Kind-Beziehungen aufgrund der overbenefttting-Anfangsphase und der ungleichen Art von Gaben, welche sich auf Seiten der Kinder schlechter bilanzieren lassen, nur schwerlich von einem Äquivalent beziehungsweise von einer »Abzahlung« der Schuld der Kinder sprechen kann. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu vormodernen Eltern-Kind-Beziehungen: Zum einen trugen Kinder schon in jungen Jahren zur Versorgung der Familie mit bei.24 Zum anderen wurden materielle und finanzielle Gaben der Eltern, die schwerer »umzudeuten« sind als etwa instrumentelle Hilfen, auf breiter Basis erst möglich mit der
23 Bei indirekter Reziprozität kommt insbesondere das Freerider-Problem hinzu, auf das ich hier jedoch nicht eingehen konnte. Vgl Ekeh (1974), Boyd/Richerson (1989), Yarnagishi/ Cook (1993) und Takahashi (2000). 24 So vermutet Nye, dass für die vormodernen Eltern-Kind-Beziehungen im Unterschied zu heutigen >>Over the lifetime, some type of rough equilibrium existed between rewards furnished by parents and those retumed by their children« (Nye 1979: 10).
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Etablierung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme25 - wobei sich die Frage stellt, wie sich zukünftig zu erwartende Rentenkürzungen auf familiäre Transfers auswirkenwerden. Doch auch wenn die Orientierung an Reziprozität vorhanden ist und Kinder sich den Eltern gegenüber in vielen Billen sehr stark verpflichtet fühlen: Das Handeln der Kinder wird dadurch nicht detenniniert (am Beispiel der Pflegebedürftigkeit: nicht alle Kinder, die sich verpflichtet fühlen, pflegen auch beziehungsweise sind die Hauptbetreuungsperson). Zu unterscheiden ist zwischen der Orientierung an Reziprozität und dem Inhalt beziehungsweise der Umsetzung von Reziprozität. Die Bereitschaft zu Gegen-Gaben ist vorhanden, doch die Bedingungen für die Umse~ifing haben sich verändert. Soziale und demographische Veränderungen der letzten Jahrzehnte (wie gestiegene Frauenerwerbsbeteiligung, verstärkte Arbeitsmarktmobilität, Individualisierung im Alter) begründen neuartige Zwänge und Rollenkonflikte, die es erschweren, der Reziprozitätsverpflichtung nachzukommen. Vermutet werden kann eine Polarisierung von Problemlagen (zwischen verschiedenen Bildungsgruppen, zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen oder zwischen Personen mit bzw. ohne minderjährige Kinder; vgl. Hollstein/Bria 1998). In jedem Fall nruss bei der Abschätzung der jeweiligen Bedingungen genau zwischen sozialstruk-tureilen Gruppen unterschieden werden. Wie die gerontologische Forschung zeigt, sind Eltern insgesamt bestrebt, solange wie möglich zu wechselseitigem Austausch beizutragen, auch und vielleicht gerade wenn die eigene (materielle und/oder gesundheitliche) Ressolll'Cenlage dies erschwert (vgl. Antonucci/Jackson 1986). Dies kann zum einen damit begründet werden, dass aktuelle Beiträge zu gegenseitigem Austausch ein Zeichen von Autonomie darstellen tind sich positiv auf Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und soziale Anerkennung auswirken (z.B. Diewald 1991; Holistein 1992b). Zum anderen aber verweist es darauf, dass auch generalisierte Reziprozität zeitlich nicht beliebig ausdehnbar ist und Transfers nicht zu lange einseitig bleiben sollten. Neben Formen direkter Reziprozität finden wir in familiären Generationenbeziehungen auch verschiedene Formen des generalisierten Tauschs (Levi-Strauss), also von Tausch, in den mehr als zwei Akteure einbezogen sind. Diese so genannte indirekte Reziprozität wurde in der familiensoziologischen Forschung bislang kaum berücksichtigt. Hier wurden drei Typen indirekter Reziprozität identifiziert, welche in Generationenbeziehungen wirksam sein können: das Solidaritätsprinzip, das generative Prinzip und das Stellvertreter-Prinzip.
25 Generell deuten vorliegende Studien eher auf ein tr01Jiding in, also auf einen positiven Effekt wohlfahrtsstaatlicher Transfers auf familiäre Unterstützungssysteme (z.B. Kohli 1999; Künemund/Rein 1999).
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Entgegen der Vermutung von Nye (er hatte vor allem das »generative Prinzip« im Blick) lässt sich argumentieren, dass indirekte Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern schon sehr viellänger eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn »Familiensolidarität« war bereits in der Vormodeme Teil familialer Strategien. Allerdings scheinen die verschiedenen Typen verallgemeinerten Tauschs jeweils durch andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen gefördert zu werden, sodass anzunehmen ist, dass sich ihr Verbreitungsgrad und ihre Umsetzung in verschiedenen historischen Zeiten jeweils unterscheidet. Bei der »Familiensolidarität« handelt es sich. wie gesagt, um die traditionelle Fonn der Unterstützung in Gesellschaften ohne wohlfahrtsstaatliche Absicherung - auch wenn entsprechende Orientierungen auch heute noch sehr verbreitet sind Das »generative Prinzip« mag in der Tat heutzutage eine größere Rolle spielen als in vonnodemen Gesellschaften. Wie Nye kann man als Grund dafür die Schwierigkeit zur direkten Reziprozität in heutigen Generationenbeziehungen anführen, allerdings würde ich einen anderen Akzent setzen: Entscheidend ist meines Erachtens, dass Kinder die großen Vorleistungen der Eltern kaum einholen können und dann das, was sie zu geben haben, an die eigenen Nachkommen weiter geben (also eine Art Überlaufmodell). Dass Kinder die elterlichen Vorleistungen nicht einholen können, liegt unter anderem daran, dass Eltern besonderen Wert auf eine gute emotionale Beziehung zu ihren Kindem legen und sie an deren materieller oder instrumenteller Unterstützung in der Regel weniger interessiert sind Das »Stellvertreter-Prinzip<< schließlich scheint momentan noch zur Avantgarde zu gehören. Da Stellvertreter bezogen auf Unterstützungserwartungen strukturell gesehen Außenstehende sind, wird diese Fonn der Reziprozität vor allem in stark individualisierten Beziehungen zu finden sein. Zu erwarten ist, dass sie in Familienbeziehungen eher die Ausnahme und wenn, dann in modernen Familienbeziehungen von Bedeutung ist. Wie gezeigt wurde, sind in familialen Generationenbeziehungen also sehr vielfältige Fonneo von Reziprozitätsverpflichtungen Wirksam. Die Rede von der »Erosion der Familie« und von nachlassenden farnilialen Unterstützungspotentialen macht es sich zu einfach. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Familienbande auch in Zukunft noch sehr verpflichtend sind Verstärkte Aufmerksamkeit sollte insbesondere den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Möglichkeiten zur Umsetzung von Reziprozität geschenkt werden sowie den verschiedenen Fonneo von indirekter Reziprozität.
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Diegift economy moderner Gesellschaften. Zur Soziologie der Philanthropie Frank Adloffund Steifen Sigmund
Einleitung: Philanthropie in der modernen Gesellschaft Geschenkt wird nicht nur zu Weihnachten und an Geburtstagen im privaten Kreise. In modernen Gesellschaften werden zu einem beträchtlichen Teil freiwillige Leistungen - Geschenke gewissermaßen - erbracht: Man spendet Geld, engagiert sich freiwillig in Vereinen, Bürgerinitiativen, gründet Stiftungen, leistet Nachbarschaftshilfe oder unterstützt Verwandte und Freunde. Diesegift economy gerät immer dann ins Zentrum öffentlicher Betrachtungen, wenn Krisen oder Katastrophen die Solidarität der Bürger Und Bürgerinnen aktivieren und Millionen von Euro mobilisiert werden. Die Sozialwissenschaften, zumal die deutschen, haben zum Verstän~s dieses Phänomens erstaunlich wenig beizutragen. Freiwilliges Engagement und Sozialkapital sind in den letzten Jahren zwar etwas stärker auch in der Soziologie diskutiert worden, doch herrscht ein erstaunlicher Mangel an theoretischer Reflexion; es gibt keine Versuche, diese Phänomene systematisch in den Blick zu nehmen. Im Folgenden gilt es, dieses Desideratum auszufüllen und die gift economy moderner Gesellschaften theoretisch zu durchleuchten. Die Forschung zum bürgerschaftliehen Engagement verdeutlicht, dass neben Geld auch Zeit und Ideen gespendet werden können. So stellt das freiwillige Engagement eine Spende von Zeitpar exceilence dar. Neben dem Engagement im öffentlichen Raum, etwa in Vereinen, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen usw., begegnen uns in hohem Maße die verschiedenen Arten von »Spenden« auch im privaten Raum: Die eigenen Kinder, pflegebedürftige Eltern, andere Verwandte oder Freunde werden unterstützt - monetär, durch Erledigungen, Haushaltshilfe, Geschenke, Erbschaften, symbolisch vor allem durch emotionale Zuwendung oder das, was man Fürsorge oder Care nennen kann (vgl. Conradi 2001). Care, die Unterstützung und Hilfe im sozialen, gemeinschaftlichen Nahbereich, soll im Folgenden jedoch ausgeblendet werden, uns interessiert primär die »Gabe unter Fremden« (Godbout 1998: 65 ff.). Einige Zahlen mögen die Verbreitung der modernen Spende als besonderer Form der Gabe, in einem umfassenderen Sinne verstanden, erläutern. Das Spendenaufkommen lag im Jahr 2002 in den USA bei etwa 241 Milliarden Dollar (siehe
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Giving USA 2003). Über 40 Prozent der Spenden fließen dabei an Religionsgemeinschaften. Das jährliche Spendenaufkommen in Deutschland wird - je nach Berechnungsweise-auf fünfbis 15 Milliarden DM für die 1990erJahre geschätzt (Bundesverband Sozialmarketing). Das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) gibt für das Jahr 2003 an, dass allein 2,3 Milliarden Euro für soziale Zwecke gespendet wurden. Im Jahr 2002 wurden allein 350 Millionen Euro bei der Flut an Elbe und Oder gespendet, und die Spenden für die Opfer des Seebebens in Südasien stellen die bislang größte deutsche Spendenaktion für das Ausland dar.1 Für das Jahr 2002 werden für die USA fast 62.000 Förderstiftungen verzeichnet, hinzu kommen fast 3.500 operative Stiftungen (Foundation Center 2003). Das Vermögen der Förderstiftungen wird mit 480 Milliarden Dollar beziffert, ihre Ausgaben betrugen 30,3 Milliarden Dollar im Jahr 2002. Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich die Anzahl von Stiftungen in den USA mehr als verdoppelt. Die fünf größten Stiftungen- allen voran die »Bill & Melinda Gates Foundation«- vereinigen ca. 15 Prozent des gesamten Stiftungsvermögens auf sich. In Deutschland fmden sich mehr als 12.500 Stiftungen (Enquete 2002: 246). Dazu werden rechtsfähige wie auch nicht-rechtsfähige Stiftungen gezählt, Stiftungen in Körperschaftsfonn, Stiftungen, die von Privatleuten, von Unternehmen oder Vereinen gegründet oder von der öffentlichen Hand ins Leben gerufen wurden (vgl. Strachwitz 2001).2 Rankings, die den Umfang des Vermögens des deutschen Stiftungswesens angeben, erfreuen sich einer Beliebtheit, doch sind sie aus verschiedenen Gründen - anders. als in den USA - problematisch: Nur etwa ein Drittel aller erfassten Stiftungen macht Angaben zum Vermögen oder zur Ausgabenhöhe. Des Weiteren fehlen einheitliche Bewertungsvorschriften für die verschiedenen Vermögensarten, sodass es keinen Vergleichsmaßstab gibt. Der Buchwert der »Bettelsmann Stiftung« liegt beispielsweise bei etwa 660 Millionen Euro, marktorientierte Berechnungen geben jedoch einen Wert von knapp 18 Milliarden Euro an, teilweise sogar mehr (Sprengel 2001: 35). Wie in den USA stehen auch in Deutschland die großen Stiftungen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, doch setzt sich das Stiftungswesen hauptsächlich aus Stiftungen mit kleinen Vermögen zusammen. 2001lag bei knapp 50 Prozent der Stiftungen das Vermögen unter 250.000 Euro (ebd.: 38). Auch die Daten zum freiwilligen Engagement der Bürger und Bürgerinnen belegen einen eindrucksvollen Zuwachs während der letzten 30 Jahre. Etwa ein Fünftel bis ein Drittel - die Einschätzungen schwanken stark - der westdeutschen erwachsenen Bevölkerung ist, in welcher Form auch immer, ehrenamtlich tätig (Offe/ Fuchs 2001: 434; v. Rosenbladt 2000: 18). Nach dem Freiwilligensurvey von 1999
1 Siehe hierzu FAZ vom 6. Januar 2005, 7. 2 Von der Gesamtzahl ausgenommen weiden Kirchen- und Kirchenpfründestiftungen.
DIE GIPT ECONOMY MODERNER GESELLSCHAPTEN
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engagierten sich in Westdeutschland 35 Prozent der Personen ab 14 Jahren frei-
willig, in den neuen Ländern waren es 28 Prozent (Gensicke 2000: 176). Für das Jahr 2004lässt sich ein Anstieg auf 36 Prozent verzeichnen} Den größten Zuwachs zeigt dabei das Engagement älterer Menschen ab 56 Jahren, das seit 1999 um fünf bis sechs Prozentpunkte zugenommen hat. Mit der Zunahme des Engagements verbindet sich ein Formwandel: Freiwilliges Engagement wird immer weniger als eine dauerhafte Pflichterfüllung ven;tanden, sondern ist verstärkt an persöiilichen Interessen und Neigungen orientiert. Gerade bei den jüngeren Generationen nimmt die feste Einbindung in traditionellere Organisationen der sozialmoralischen Milieus ab, die »Neue Ehrenamtlichkein< dagegen zu (vgl Heinze/Sttünck 2001: 236). Wie lässt sich das Geben in modernen Gesellschaften erklären? Hinsichtlich der Motive des freiwilligen Engagements ist ein kurzer Blick auf die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung instruktiv. So verweist der im Jahr 2002 erschienene Bericht der »Enquete-Kommission zur Zukunft des bürgerschaftliehen Engagements« darauf, dass man eher von Motivbündeln sprechen sollte, zu sehr sind die jeweiligen einzelnen Motive biographisch ineinander verschränkt. So lassen sich altruistische von instrumentellen Motiven unterscheiden, moralisch-obligatorische von gestaltungsorientierten (Enquete 2002: 114). Insgesamt wird ein Wandel von pflichtbezogenen zu stärker selbstbezogenen Motiven konstatiert und herausgestellt, dass Selbstverwirklichung und Gemeinwohl nicht im Widerstreit zueinander stehen müssen. Stärker biographisch orientierte Untersuchungen (ebd.: 117 ff.) unterscheiden drei Motivkomplexe für das Engagement a) Die altruistische Pflichterfüllung des traditionellen Ehrenamtes, die religiös oder weltanschaulich verankert ist; b) das Motiv der Bewältigung individueller Problemlagen, wofür eine Selbsthilfegruppe paradigmatisch wäre; und schließlich c) wird auch das Erreichen persönlicher Ziele als Motiv genannt, wobei es hier hauptsächlich um Qualifizierungstätigkeiten geht. Offenkundig kann man - und dies ist für das Folgende zentral - die Motivlagen entweder eher dem Bereich der Eigen- oder dem der Fremdnützigkeit zuordnen. Schließlich lassen sich noch überindividuelle Absicherungs- und Ermöglichungsfuktoren des Engagements benennen, wie die Gemeinwohlorientierung der klassischen sozial-moralischen Milieus (vgl. Joas/Adloff 2002), kulturelle Werte oder politische engagementförderliche Generationenzusammenhänge - man denke an die amerikanische New Deal-9eneration oder an die DDR-Aufbaugeneration (Putnam 2000; Corsten 2002).4 3 Vgl. die ersten Erklärungen von tns infratestund des Bundesministeriums fiit Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Freiwilligensurvey 2004. 4 Aus der zunehmehd geringeren Bedeutung von das Engagement stützenden Milieuzusammenhängen ziehen BQde und Brose (1999) den Schluss, dass die neue Ehrenamtlichkeit weniger stark durch Prinzipien generalisierter Reziprozität (Sahlins in diesem Band) gekennzeichnet ist
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Die nur spärlich vorhandene soziologische Literatur zum Thema Spenden und Stiften, das im angelsächsischen Raum unter charitable giving firmiert, dichotomisiert die möglichen Motivlagen für das Geben. Hier finden sich zum einen Theorieansätze, die das freiwillige Geben von Geld als altruistische Handlung auffassen, zum anderen Ansätze, die es als eigennützig definieren (vgL Halfpenny 1999). Unseres Erachtens sind die Sozialwissenschaften zutiefst von dieser theoretischen Alternative geprägt, die allerdings eher in eine Sackgasse führt, als dass sie theoretisch wie empirisch weiterführt.
Was motiviert das Geben?- Eigennutz versus Altruismus Schon bevor sich die Soziologie als akademisches Fach um 1900 etablieren konnte, ist die Dichotomie Eigennutz versus Altruismus ideengeschichtlich anzutreffen: Sie findet sich zum Beispiel paradigmatisch in den Schriften von Thomas Hobbes und JeanJacques Roussea\L Während Hobbes für ein Forschungsprogramm steht, das die Entstehung von Regeln des Zusammenlebens aus dem intentionalen und eigennützigen Handeln der Menschen erklärt und darlegt, dass vertragliche Absprachen allein nicht ~ichen, um die Gewalt aller gegen alle einzudämmen, sondern ein souveräner Herrschaftsverband eingerichtet werden muss, baut Rousseau auf die natürliche Sozialität des Menschen. Gerade nicht der Eigennutz, sondern allgemeine Leitideen und Werte orientieren Rousseau zufolge die Gesellschaftsmitglieder und ermöglichen ein friedliches und gemeinwohlorientiertes Zusammenleben. Das individualistisch-utilitaristische Paradigma erklärt Gesellschaft aus dem Zusammenhandeln eigennutzorientierter Akteure, während der normativistische Strang der Sozialtheorie das Zusammenleben aus wirkmächtigen überindividuellen Werten und Normen erklärt, denen die Individuen folgen. An dieser theoretischen Gegenüberstellung hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, erneuert wurde sie vielmehr durch Taleort Parsons' Lösung des so genannten Hobhesseben Problems, wie soziale Ordnung möglich ist. In der Structure of Social Action (1968 [1937]) legte er bekanntlich dar, dass soziale Ordnung nur zustande kommt, wenn sich die Akteure in ihrem Handeln an Werten und Normen und nicht utilitaristisch an ihrem Eigennutz orientieren. Dieser Grundlegung folgend begab sich die Soziologie des 20. Jahrhunderts gleichsam in eine Situation der Arbeitsteilung mit der Wtrtschaftswissenschaft. Letztere untersucht unter Zugrundelegung rationalistischer und individualistischer
als durch die Erwartung, einen urunittelbareren Nutzen aus dem Engagement zu ziehen. Unseres Erachtens ist es eine empirisch noch weitgehend unbeantwortete Frage, ob man es hier tatsächlich mit einer Umstellung von generalisierter Reziprozität auf »Tausch« zu tun hat.
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Handlungsmodelle das ökonomische Handeln, während die Soziologie zu weiten Teilen einen kollektivistischen und nonnativistischen Ansatz für den nicht-ökonomischen Bereich der Gesellschaft verfolgt. Peter Halfpenny (1999) hat vor wenigen Jahren eine Gegenüberstellung von ökonomischen und soziologischen Erklärungsansätzen von charitable giving vorgenommen. Theorien der rationalen Wahl (rational choice), die vom nutzenmaximierenden Individuum ausgehen, nehmen an, dass der eigennützige Akteur keine Spende tätigen kann, ohne eine Gegenleistung zu erhalten. Geht man davon aus, dass es ökonomisch keinen Sinn macht zu spenden, man also immer höhere Ausgaben als Einnahmen hat, müsste dieses Verhalten als nicht-rational gelten und außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der neoklassischen Wirtschaftstheorie liegen (ebd.: 199). Da dies von Ökonomen als unbefriedigend angesehen wird, nimmt man in der Regel den Ausweg über die Erweiterung der theoretischen Annahmen beziehungsweise des Nutzenmodells. Entweder wird quasi-empirisch behauptet, dass die Hilfe für andere dem Geber psychologische Belohnungen (rewards) verschafft, oder es wird rein formal- der Nutzen des Dritten in die eigene Nutzenfunktion integriert. Altruistisches (Spenden-)Verhalten wäre dann Teil der eigenen Nutzenfunktion. Die Probleme einer solchen Theoriestrategie sind offenkundig: Erkennt man die Existenz nicht-rationalen Handeins an, schränkt man den Geltungsbereich ökonomischer ErklärungSansätze drastisch ein. Erweitert man das Nutzenmodell und gtbt die >>dual utility function« auf. wird die Theorie tautologisch. Wenn jegliches Handeln der Nutzenmaximierung dient- wobei der Nutzen aus Einkommen, Ansehen, moralischer Integrität, altruistischem Selbstopfer oder was auch immer bestehen kann -, ist die Theorie nicht mehr in der Lage, falsifizierend zu unterscheiden, da sie immer wahr und gleichzeitig inhaltsleer ist (vgl. Etzioni 1988).5 Es bleibt zu fragen, ob das Geben, Spenden oder Stiften analytisch oder empirisch-konkret mit dem Rationalmodell beschreibbar ist. Dies ist zu bezweifeln, gtbt es doch bei all diesen Handlungsformen ein Residuum, das nicht ökonomisch erklärt werden kann. Die Akteure ziehen zumindest in einem ökonomischen Sinne keinen klaren und eindeutigen Nutzen aus dem gemeinnützigen Spenden und Stiften.6 Nimmt die ökonomische Theorie dagegen auch die Existenz von pro-sozi5 Ein intelligentes Ausweichmanöver gegenüber dieser Kritik besteht in der Auffassung, dass die Redeweise von Nutzen- und Zweckorientierung gar keine empirische Beschreibung menschlichen Handeins anstrebe, sondern als ein nonnativ~ches Modell zu verstehen ist (vgl. Beckert 1997: Tl). Ein solches Modell kann Akteure über die Erreichbarkeit von Zielen informieren und die besten Wege dorthin aufzeigen. Erst dort, wo das tatsächliche Handeln der Rationalitätsnorm nahe kommt, kann das nonnativ-analytische Modell auch empirisch angewandt werden. : 6 Inwieweit ökonormsehe Anreize - etwa durch Steuerabzugsmöglichkeiten - auch eine Rolle dafür spielen, Geld gemeinnützigen Zwecken zu spenden, ist in der Literatur noch umstritten (vgl. Steinberg 1990; Auten u.a. 2002). Dabei befinden sich aus ökonomischer Sicht Preis- und
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alen Motiven wie Fairness, Gerechtigkeit und Reziprozität oder negative »irrationale« Motive wie Rache und Vergeltung ernst, sollte dies aus wissenschaftstheoretischen Gründen in eine zweiwertige Logik der Theoriebildung eingepasst werden. Die aktuell reüssierende experimentelle Ökonomie untersucht spieltheoretisch die Existenz dieser Verhaltensweisen und sozialen Präferenzen in standardisierten Untersuchungssettings (vgl Fehr/Schmidt 2001). Zwar verlässt sie dabei das eigennutzorientierte Paradigma der neoklassischen Ökonomie (vgl. Kohn 2000), doch ist der theoretische Status der experimentellen Ökonomie wenig eindeutig, da die einwertige Nutzenfunktion in der Regel nicht zugunsten einer dualen Logik aufgegeben wird Darüber hinaus bleibt die Frage nach der Entstehung und dem Wandel von Präferenzen und Meta-Präferenzen (vgl. Taylor 1988) völlig offen. Präferenzen erscheinen in der ökonomischen Theorie bloß als Gegebenes, als revealed priferences. Diese Einwände legen einen Blick auf die soziologischen Erklärungsansätze nahe, die nicht dem Rational Choke-Paradigma folgen. Da Philanthropen mehr tun als es das Gesetz erfordert und sie unter Umständen ökonomische Opfer bringen, ist in den letzten Jahren das Konzept des Altruismus wieder entdeckt worden - ein Konzept, das lange Jahre in Vergessenheit lag. Die >>Selbstlosigkeit« des Altruisten bildet den Gegenpol zum »Eigennutz« des Egoisten. Begriff und Idee sind Mitte des 19. Jahrhunderts von Auguste Comte in die sich herausbildende Soziologie eingeführt und dann von Durkheim aufgegriffen worden. Danach verschwand der Begriff fast völlig aus dem soziologischen Diskurs, und erst seit den 1970er Jahren erlebt die Altruismusdiskussion eine Renaissance.7 Hier waren es vor allem zwei Themenkomplexe, die die »Wlederkehr« des Altruismus befOrderten: die Forschung zu den Motiven und sozialen Hintergründen von rescuers, also Menschen, die Juden vor dem Holocaust retteten (vgl Oliner/Oliner 1988) sowie die Forschung zur »reinen Gabe« in Form von freiwilligen Blutspenden an anonyme Dritte. Der letztgenannte Strang geht auf die von Richard M. Titmuss (1997 [1970D durchgeführten Untersuchungen über die Blutspendepraxen in Groß.. britannien und den USA zurück und ist für die Forschung zum Spenden und Stiften sowie zum Nonprofit-Sektor besonders einflussreich. Inzwischen nimmt der Gebrauch des Altruismuskonzepts zum Teil inflationäre Züge an. So behauptet Clohesy (2000), dass Nonprofit-Organisationen durch altruistisches Handeln gekennzeichnet sind und geradezu durch dieses definiert seien. Dabei wird Altruismus allerdings sehr vage und breit als »eoncem for the well-being for others transcending or transforming self-interest« verstanden (ebd.: 239f.). Verdrängungseffekte im Widerstreit miteinander. Aus einet steuerpolitischen Perspektive wäre die Gewährung einer Spendenabzugsfähigkeit nw: effizient, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Preiselastizität der Spenden nonnalerweise größer als 1,0 ist (Cordes 2001: 1). 7 Über die verschiedenen Forschungsstränge aus Soziologie, Psychologie und Soziobidogie gibt der Aufsatz von Pilliavin/Chamg (1990) einen guten Überblick.
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Ebenso breit verwendet Wright (2001) den Begriff des Altruismus und erklärt beispielsweise den Unterschied im Spendenverhalten zwischen Briten und Amerikanern mit kulturellen Unterschieden: Ihr kosmopolitischer Altruismus führe dazu, dass Briten viel stärker als Amerikaner universalistisch an Organisationen wie Oxfamspenden. Eine engere und brauchbarere Definition von Altruismus entwickelt Monroe (1994: 862): »I define altruism as behavior intended to benefit another, even when doing so may risk or entail some sacrifice to the welfare of the actor.<< Hier liegt die Betonung auf dem Opfer, auf einer Verringerung des Ausmaßes der eigenen Wohlfahrt zugunsren Dritter. Die Forschung zu den Altruisten, die dem Anspruch des Selbstopfers genügen, ist zumeist entwicklungs- oder sozialpsychologischer Natur. Man bezieht sich auf Piagets und Kohlbergs Untersuchungen über die Stufen der moralischen Entwicklung (ebd.: 880) oder analysiert sozialisatorische Interaktionsbeziehungen, um herauszufinden, was den Altruisten zum Altruisten macht. So besteht beispielsweise für die Oliners (1988: 260) der entscheidende Unterschied zwischen den rescuers und den non-rescuers in den sozialen Bindungen zu anderen, in Beziehungen von Fürsü!ge und commitment. Auch die Philosophie hat sich in den letzten Jahren wieder verstärkt dem Altruismus beziehungsweise dem Konzept der Charity zugewandt (vgl. Schn~d 1996), und beide systematisch von Gerechtigkeit beziehungsweise Justice unterschieden. Allerdings sind hier unseres Erachtens noch keine maßgeblichen Erkenntnisgewinne zu veaeichnen, die die Struktur dieses Handlungstyps sozialtheoretisch aufklären könnten. Im Vordergrund der philosophischen Betrachtung steht vielmehr die Frage, ob man altruistisches beziehungsweise wohltätiges Handeln verlangen kann. Ahnlieh wie Solidarleistungen werden altruistische Handlungen als supererogatorisch aufgefasst, das heißt, sie sind lobenswert, aber nicht verbindlich (Bayertz 1998: 14). Wiewohl die philosophische Zunft niemals eine intensivere Debatte um das Konzept der Wohltätigkeit führte, werden normalerweise vier Unterschiede zwischen ]ustice und Charity angeführt (Buchanan 1987, 1996): 1. Die Pflicht zur Gerechtigkeit ist crine negative, die zur Wohltätigkeit eine positive Pfli':ht. 2. Gerechtigkeit kann durchgesetzt werden, Wohltätigkeit nicht. 3. Die Pflicht zur Gerechtigkeit ist perfekt, die zur Wohltätigkeit imperfekt. 4. Gerechtigkeit ist eine Sache des Rechts, Wohltätigkeit nicht. Auch wenn diese Dichotomie insbesondere von Allen Buchanfill in den letzten Jahren kritisiert und dekonstruiert wurde, trägt auch die stärkere Verzahnung beider Konzepte relativ wenig zur Beantwortung der Frage bei, wie es kommt, dass Menschen auch Fremden geben, wenn man nicht einfach einen altruistischen Handlungsdrang unterstellen will. Die Diskussion um Altruismus brauc~t hier nicht weiter vertieft zu werden: Unter der Voraussetzung, dass man nicht eine zu beliebig weite Definition von Altruismus zugrunde legt, sind offenkundig nicht alle Menschen, die spenden oder sich anderweitig engagieren,
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Altruisten. Festzuhalten bleibt: Weder Theorien des EigennutzeS noch Altruismustheorien geben somit eine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Motiven des Gebens und den Funktionsweisen und Strukturbedingungen der gijt econo"tJ.
Gabe, Identität und Reziprozität Es soll n~ geprüft werden, ob Theorien zur Gabe und Reziprozität in der Tradition von Marcel Mauss besser geeignet sind, das freiwillige Geben von Zeit und Geld zu erklären. Die Debatte über die Frage, ob soziales Geben besser durch Theorien rationaler Wahl beziehungsweise des Eigennutzes oder durch Norm, Kultur, Altruismus und Sozialisation zu erklären ist, kann unserer Einschätzung nach durch diese Theorietradition überwunden werden. Unsere These lauret, dass die Dichotomie von Interesse und Moral durch die Wtrkung der Gabe als Initiatorin sozialer Reziprozität transzendiert beziehungsweise ununterscheidbar wird. Dabei kann der klassische Beitrag zwn Thema, Die Gabe von Marcel Mauss (1968 [1923/24]), wesentliche Einsichten vermitteln.
Der archaische Gabentausch stellt nach Mauss ein System totaler Leistungen dar: Geben, Nehmen und Erwidern sind die Basisaktivitäten, durch die sich archaische und vormoderne Gesellschaften reproduzieren. Die beziehungsstiftende wechselseitige Präsentation von Gaben beruht zugleich auf der Freiwilligkeit und der Pflicht des Gebens, Nehmens und Zurückgebens. Mauss unterscheidet dabei zwischen agonistischenund nicht-agonistischen Gaben. Nicht-agonistischeGaben kreieren eine Sphäre gegenseitiger Verschuldungen, in der es nicht um die Akkumulation von Reichtum geht. Gaben provozieren Gegengaben, und Gaben »füttern« permanent die gegenseitigen Verpflichtungen, die auf diese Weise auch nicht abgegolten werden können. Beispielhaft ist hier der kula-Ring auf den Trobriand-lnseln. Mauss über dieses System immerwährenden Gebens und Nehmens: ))Es wird gleichsam von einem kontinuierlichen, nach allen Richtungen fließenden Strom durchflutet; einem Strom aus Gaben, die obligatorisch und aus Eigennutz, aus dem Streben nach Größe und als Entgelt für Dienste, als Herausforderung oder als Pfand gegeben, empfangen und erwidert werden.« (Mauss 1968: 70)
Die agonistische Gabe zeigt sich dagegen paradigmatisch im Podatsch beispielsweise der Völker der kanadischen Nordwestküste. Godetier (2002: 26) bezeichnet ihn als war ofwealth,· es geht um die wechselseitige Steigerung der Verteilung von Gaben, bis ein Oan oder Häuptling aus dem antagonistischen Kreislauf des immer mehr Gebens aussteigen muss, denn nur einer kann beim Podatsch gewinnen - und zwar an Status und Prestige.
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Mauss hat neben der Verkettung von Gaben zu Reziprozitätsarrangements noch auf ein weiteres Phänomen des Gabentauschs in archaischen Gesellschaften hingewiesen. Die Gabe, das heißt der gegebene Gegenstand, wird dort zumeist nicht von der Identität des Gebers abgekoppelt. Mauss fragt, was den Empfanger der Gabe motiviert, etwas zuiückzugeben und kommt in der Interpretation des Gabentauschs unter den Maori zu dem Ergebnis, dass der >>Geist des GeberS« im Gegebenen >>Sitzt« und den Empfänger zur Gegengabe zwingt: »Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk verpflichtet, kommt daher, dass die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm. Durch sie hat er Macht über den Empfänger, so wie er durch sie, als ihr Eigentümer, eine Macht über den Dieb hat.« (Ebd.: 33)
Diese Interpretation hat in der Anthropologie eine lange Debatte ausgelöst, in der es zwneist darum ging, die These von den beseelten Dingen zu entmystifizieren (vgL Uvi-Strauss 1987 [1950]; Sahlins 197'1:). Dies braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden, wichtig ist jedoch, dass Mauss' These in den letzten Jahren wieder ernst genommen und für die Sozialtheorie fruchtbar gemacht wird (vgl. Godetier 2002; Godbout 1998; Silber 1998). Es stellen sich an dieser Stelle drei Fragen: Erstens, inwieweit das zeitgenössische Geben in Reziprozitätsarrangements eingebettet ist, zweitens, ob Spenden v:on Zeit und Geld eher einen agonistischenoder nicht-agonistischen Charakter haben und drittens, inwieweit in der heutigen Gabe die »Seele« oder Identität des Gebers mit transportiert wird 1. Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft wird in der Regel die Auflösung des Mauss'schen Reziprozitätssystems von umfassenden sozialen und symbolischen Austauschverhältnissen konstatiert und auf die Herausbildung einer strikten Marktlogik einerseits und einer kulturellen Logik des Schenkens im privaten Raum andererseits hingewiesen (etwa Berking 1996). Gegen die Auffassung von differenzierungstheoretischen Ansätzen kann man allerdings zeigen, dass die Entstehung moderner Marktgesellschaften nicht zu einem Verschwinden der nicht-ökonomischen Kalküle als Teil von sozialen Austauschprozessen führte (siehe Adloff/Mau in diesem Band). Darüber hinaus lässt sich die These vertreten, dass parallel zu der Herausbildung der Ideologie vom Eigeninteresse des Menschen ala Mandeville und Smith die Ideologie des »reinen Geschenks«, das im völligen Gegensatz zum Interesse und Eigennutz steht, entstand (Parry 1986). Dass es auch in modernen Gesellschaften genügend Raum für Zwischenformen gtbt, die der Logik der Gabe und der damit verbundenen Reziprozität folgen, wurde dabei übersehen. Das Geben einer Gabe ist ein zutiefst mehrdeutiger Prozess, der nicht durch Eigennutz oder >>reines« altruistisches Geben erklärt werden kann, sondern auf einer Verschränkung von Freiheit und Verp~chtung beruht (Osteen 2002: 14; auch Caille in diesem Band). Nur ein Geschenk, das gleichsam ohne Intention, vollkommen spontan und zufällig
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geschenkt würde, wäre ein Geschenk, das der in Gang gesetzten Reziprozitätslogik entkäme - dies käme allerdings eher einem Zufall ohne Grund gleich, und dies bezeichnet zugleich die Aporie, in die Derrida mit seiner Konzeption der Gabe gerät (Derrida 1993). Die Vorstellung, dass nur eine Gabe, die sich völlig vom Interesse gelöst hat, eine wirkliche Gabe ist, hat natürlich schon christlich-religiöse Wurzeln8, doch wurde diese idealisierende Vorstellung erst unter modernen kapitalistischen Bedingungen ubiquitär (vgl Henaff 2002). Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, dass die moderne Philanthropie auf ihren Gehalt an reziproken Beziehungen zu untersuchen ist, was nicht die Unterstellung impliziert, dass hier quasi-ökonomische Tauschprozesse vorliegen. Bei der Untersuchung philanthropischer Handlungen sollte man, so kann man schlussfolgern, das Motiv des Gebens und die Wirkung der Reziprozität zunächst auseinander halten, auch wenn beide faktisch ineinander verwoben sind. So kann es der subjektiven Wahrheit des Gebers entsprechen, dass er ohne die Erwartung einer Gegengabe gtbt. Doch kann er zugleich wissen, dass er objektiv einen Zyklus der Reziprozitätsverpflichtungen in Gang setzt (Gouldner in diesem Band). Oder aber: Die Beobachtern spontan erscheinende Spende wird vom Geber als Ausdruck von Dankbarkeit empfunden - einem Krankenhaus gegenüber, in dem er sich einmal befand oder gegenüber der Gesellschaft allgemein. 2. Ilana Silber (1998) hat mit Bezug auf die zeitgenössische Philanthropie herausgestellt, dass die moderne Gabe nicht selten eine Gabe an Fremde ist. Gerade bei der nicht-agonistischen, individuellen Spende an eine Hilfsorganisation besteht keine Beziehung zwischen Geber und Empfänger, und die Erwartung einer direkten Erwiderung wird damit hinfällig. Erfährt auch kein Dritter von der Gabe, kommt sie phänomenologisch der christlichen Vorstellung von Wohltätigkeit sehr nahe. Liegt keine Verschwiegenheit in diesem Punkt vor, können Reziprozitätsketten zwischen Gebern und Empfiingern (dies können Personen wie auch Organisationen sein) in Gang gesetzt werden. Oder auch: Nicht der Empfänger der Gabe, sondern ein Dritter erwidert die Gabe: etwa die peers innerhalb einer spendenden Elite. Man versucht sich in seiner Spenden- und Stiftungsbereitschaft zu übertreffen, um Prestige innerhalb der eigenen Bezugsgruppe zu erlangen- dies wäre eine Form der agonalen Gabe, wie sie Mauss für den Potlatsch beschrieb. Außerdem drückt die
8 Historisch-vergleichende Untersuchungen zu den religiösen Vo.rstellungen, die sich nüt der Gabe verbinden, stehen noch weitgehend aus. llana F. Silber (2000) hat eine erste Systernatisierung der möglichen Fragestellungen für Untersuchungen im Bereich der drei monotheistischen Religionen Oudentum, Christentum und Islam) votgenommen. Sie schlägt vor, zwischen Gaben an Gott, an religiöse Institutionen oder Spezialisten und Gaben an die Armen und Bedfuftigen zu unterscheiden. Schließlich solle man nicht vorab entscheiden, sondern empirisch erforschen, ob diese Gaben Reziprozität evozieren sollen oder frei von der Erwartung einer Gegengabe sind.
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Gabe nicht selten eine gesellschaftliche Stellung beziehungsweise Hierarchien aus und schützt diese. Randall Collins hat darauf hingewiesen, wie wichtig es in der amerikanischen Gesellschaft ist, regelmäßig philanthropisch aktiv zu werden, um zur »guten Gesellschaft« zu gehören. Nur auf diesem Wege kann sich der ökonomische Elitenstatus auch kulturell veredeln und sozial legitimieren. Man stelle sich einmal vor - so Collins (Collins/Hickman 1991: 8) -, die Reichen und Erfolgreichen träfen sich in ihrer feinsten Kleidung zu einem rauschenden und verschwende-
rischen Fest, um sich gegenseitig ihre gesellschaftliche Stellung vorzuführen - ohne eine Fundraisingaktion für gemeinnützige Zwecke wäre ein solcher Abend kaum legitimierbar. Die Gabe ist dennoch auch desinteressiert, nicht weil es keine Gegengabe gtbt, sondern weil diese nicht kaikulierbat ist; die Gabe setzt die Regel der Äquivalenz außer Kraft (Osteen 2002: 25). Es liegt ein Moment der Spontaneität, des Überflusses und des Nicht-Kontrollierbaren in der Gabe, weshalb sie auch, mit Simmel (m diesem Band) gesprochen, höchster Ausdruck von Freiheit ist. Dies macht es unter anderem so schwer, mit kontinuierlichen Spendenflüssen zu rechnen; Spenden sind kaum kalkulierbare Einnahmen, da sie sich weder auf die Logik der Verpflichtung noch auf die des Tauschesfesdegen lassen. Auch ein Diskurs um die Frage, wie die Gabe belohnt werden kann, etwa durch Steuervergünstigungen, könnte mithin ihre symbolische und normative Basis unterminieren. Mehr zu geben, weil es weniger kostet zu geben, gleicht die Gabe der ökonomischen Logik an und unterhöhlt unter zu spezifizierenden Umständen ihre nicht-utilitarischen Wurzeln. 3. Neben der mit dem Gabenparadigma verbundenen Reziprozität gtbt es noch den weiteren wichtigen Aspekt der Verschmelzung von Gabe und Identität. Die Gabe lässt sich schlechterdings nicht von der Identität des Gebenden abkoppeln, sie ist Ausdruck und Bekräftigung von Identität (Silber 1998: 139). Gaben sind immer auch Zeichensysteme und Träger von Identitäten. Selbst iin Medium des gespendeten Geldes sind Fragen der persönlichen Bindung und Identität aufgehoben. Vielleicht sind Fragen individueller Identität heutzutage stärker mit der Gabe verbunden als je zuvor: Die Gabe ist immer auch Ausdruck einer (dargestellten) Individualität und Personalisierung. Insbesondere für Eliten scheinen Gaben ein Vehikel ihrer Identität zu sein- ein Mittel zur Selbstdefinition und Expression (ebd.: 143). Wohl nicht zurallig stammen über 80 Prozent des amerikanischen Spendenaufkommens von Individuen und nicht von Unternehmen und Stiftungen. In diesem Sinne ist die Gabe auch heute - so wie es Mauss für vormoderne Gesellschaften beschrieb - ein totales soziales Phänomen: In ihr verschmelzen ökonomische, politische, moralische, religiöse, expressive und ästhetische Aspekte. In einer qualitativen Studie zur Kultur der Elitenphilanthropie in New Y ork City har Francie Osttower (1995) diese These bestätigt gefunden. Die von ihr interviewten Eliten beschrieben die Philanthropie als eine distinkte elitäre Kultur. Philanthro-
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pie ist - so Osttower - einerseits Ausdruck einer Elitenkultur und -identität, andererseits Mittel zur Integration der philanthropischen Eliten.9 Gleichsam immobilisierte Gaben in Form von ausgestellten Kunstwerken in Museen oder eingerichteten Lehrstühlen an Universitäten sind klare Beispiele für die damit verbundene Darstellung von kulturellen wie gruppenspezifischen ldentitätsbindungen. Die Gabe stiftet und formt soziale Beziehungen und ist zugleich auf diese angewiesen. Über die Gabe wird nicht nur ein materieller Wert weitergereicht, sie stellt vor allem soziale Beziehungen her und hat, mit Jacques Godbour (1998: 173) gesprochen, einen bontling-value. Mehrere empirische Untersuchungen von Paul G. Schervish (2000; Schervish/Havens 1997, 2002) verdeutlichen diesen zentralen Punkt. Schervishs Identifikationsmodell der Erklärung von charitab/e giving beruht auf der einfachen Einsicht, dass Spender und Stifter sich häufig mit anderen Menschen vernunden sehen. Entweder fühlen sie sich kognitiv-ideologisch bestimmten Gruppen verbunden und verpflichtet, oder aber sie sind praktisch in formelle und informelle Netzwerke eingebunden. Das Spendenverhalten ist aufs Engste sowohl mit der Partizipation in bürgerschaftliehen Netzwerken und - insbesondere religiösen - Organisationen als auch mit informellen Hilfsaktivitäten im privaten Bereich verknüpft (Schervish/Havens 1997: 247).10 Die Einbindung in assoziative Netzwerke bezeugt zum einen den Willen, sich zu engagieren, zum anderen erzeugt sie genau diese Verpflichtung zum Engagement: »[O]ur conclusion is that charitable giving derives from forging an associational and psychological connection between donors and recipients.« (Schervish 2000: 10) Aus dieser Perspektive betrachtet kann man schließen, dass sich Philanthropen über die reale wie gedachte Einbindung in assoziative Bezüge immer schon in Netzwerken des Gebens, Annehmensund Erwidems befinden. Anders ausgedrückt, die moderne Gabe (an Fremde) drückt immer auch aus, mit welcher imagined community (Anderson 1996 [1983D man sich relational verbunden fühlt. Ausrichtung und Umfang des Spendenverhaltens variieren also vor allem mit dem Grad der Ausdehnung der praktisch-realen wie gedachten Einbindungen von Stiftern und Spendern in verschiedene soziale Kreise beziehungsweise communities. 9 Schon in den 1950er Jahren wurde die These einer sozialen Kultur der Philanthropie entwickelt. Aileen D. Ross (1953) zeigte zum Beispiel in einer Fallstudie, dass in amerikanischen (Klein-)Städten offenbar ein starker sozialer Druck vothanden war, sich philanthropisch zu betätigen, der auf der Einbindung in spezifische soziale Netzwerke beruhte. Wollte man weiterhin Teil des Netzwerkes aus Freunden und Geschäftspartnern bleiben, war die Beteiligung an Spendenkampagnen unabdingbar. 10 Für die Vereinigten SJMten konnte nachgewiesen werden, dass diejenigen, die in einer freiwilligen Vereinigung aktiv sind, etwa 60 Prozent mehr spenden als Nicht-Engagierte (Oares 1995: 168). Starke religiöse Bindungen und regelmäßiger Kirchenbesuch sind darüber hinaus starke Prädiktoren sowohl für freiwilliges Engagement als auch für Spendenbereitschaft (vgL Putnam
2000: 67).
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Aus diesem Gedanken hat Joseph Michalski (2003) ein einfaches Modell der Erklärung von finanziellen Transferleistungen entwickelt. Ceteris paribus gilt, dass Spenden und andere Unterstützungsleistungen eher zu den sozialen Kreisen fließen, die emotional, kulturell und normativ gesehen weniger weit von den Spendern entfernt sind als andere Gruppen. Solch ein soziologischer »moralischer Minimalismus« verweist auf Exklusionseffekte und kommt zu dem Schluss, dass bestimmte soziale Gruppen eher vom Spenden- und Unterstützungsstrom abgeschnitten bleiben, nämlich diejenigen, die weniger integriert und vertraut, unkonventioneller, kulturell entfernter, anonymer und weniger respektabel erscheinen (ebd.: 355).
Organisierte Philanthropie: Institutionalisierung und Reziprozität Mit Blick auf die theoretische Systematisierung der gift economy gilt es nun zu zeigen, inwiefern das in Reziprozitätsarrangements eingebettete Geben nicht nur soziale Beziehungen initiiert, sondern, wenn Simmels (1992 [1908]: 550) Beobachtung zutrifft, dass es sich hierbei um diejenige Interaktionsform mit der »größten Fülle soziologischer Konstellationen« handelt, auch stabilisiert und in institutionalisierter und organisierter Form auftritt. Institutionen lassen sich mit Karl-Siegbert Rehberg (1995) als Sozialregulationen bezeichnen, in denen Prinzipien und Geltungsansprüche einer Ordnung, im Sinne einer dauerhaften Strukturierungsleistung sozialer Beziehungen, symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Diese Form der Stabilisierung von Orientierungen findet ihren Ausdruck in der Ausformulierung einer institutionellen Leitidee. Institutionen strukturieren somit soziales V erhalten, indem sie es auf spezifische Wertvorstellungen beziehen. Beruht die Gabe nun, wie wir gezeigt haben, primär auf der Annahme von Reziprozitätsbeziehungen als grundlegendem Handlungsmechanismus, dann stellt sich daran anschließend die institutionentheoretische Frage, auf welcher Grundlage, unabhängig von den spezifischen Interessen und Motivlagen der Akteure, Institutionen einen Geltungsraum konstituieren können, der auf Gegenseitigkeitsvorstellungen beruht. Amold Gehlen (1986 [1956]: 45ff.) begründet dies in anthropologischer Perspektive durch den Hinweis, dass »die Reziprozität des Verhaltens formal eine ganz grundlegende anthropologische Kategorie« ist, die sich mit »den allerverschiedensten Inhalten besetzen<< kann. Die aus der Wechselseitigkeit des Verhaltens entstandenen und stabilisierten Sozialstrukturen stellen demzufolge grundlegende »Erfiillungsstellen für das Primärbedürfnis der Soziabilität« dar. ~>Die Gegenseitigkelt der Gabe ist (...) die äußere, greifbare Seite des Vet:pflichtetseins, und die Kontinuität des Gebens und Nehmens ist die In.rtiJ11tioniform, in der sich das Schon-Verständigtsein in den gegenseitigen Vet:pflichtungen am Dasein erhält.« (Ebd., unsere Hervomebung)
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Daneben bilden insbesondere Wertvorstellungen einen zentralen Referenzpunkt für die Ausbildung abgrenzbarer Geltungskontexte. Die Gründung von Institutionen hat nicht nur anthropologische oder soziale, sondern auch kulturelle Voraussetzungen. Institutionen sind von einer Gründungsidee getragen (Hauriou 1965 [1925]: 36f.) und mit Wertvorstellungen, Glaubensüberzeugungen oder Weltbildern verknüpft, die das Handeln unmittelbar und konkret orientieren. Erst Leitideen ermöglichen es, aus der Mannigfaltigkeit potentieller Orientierungsmöglichkeiten diejenigen kulturellen Vorstellungskomplexe zu extrahieren, die legitimierend und orientierend sind und im Prozess der Institutionalisierung einen eigenständigen Geltungsraum ausbilden. In diesem Sinne bedürfen Wertvorstellungen zu ihrer Realisierung sowohl spezifischer Rationalitätskriterien, das heißt »Handlungsmaxirnen mit Anspruch auf Gültigkeit« (Lepsius 1997: 58), die die Leitideen für bestimmte Situationen handlungsrelevant werden lassen, als auch besonderer Mittel wie etwa einer Satzung und einer Führungsmacht (Hauriou 1965: 35ff.) beziehungsweise- mit Weber gesprochen- einen Verwaltungsstab. Übetträgt man diese Überlegungen nun auf die Frage nach der institutionellen Infrastruktur der modernen gift economy, dann gehen wir von der These aus, dass insbesondere dem so genannten Dritten Sektor als einer institutionellen Alternative zur staatlichen oder einer profitorientierten Wohlfahrtsproduktion große Bedeutung zukommt. In institutionentheoretischer Hinsicht ist es bedeutsam darauf hinzuweisen, dass für diesen Bereich die Möglichkeit zu freiwilliger Vereinigung, die Eröffnung gesellschaftlicher Partizipationschancen, das Aufzeigen von Integrationsmöglichkeiten in ein Gemeinwesen sowie die Übernahme von Sozialisationsfunktionen und die Weitergabe von spezifischen Wertvorstellungen von grundlegender Bedeurung sind Motivational fundiert ist dies, wie Umfragen (etwa die Freiwilligensurveys von 1999 und 2004) zeigen, durch ein großes Potenzial an Gemeinsinn als normativem Bindeglied der Bürger an das Gemeinwesen, das in alle Entscheidungen zur Wahrung oder Förderung des Wohls der Gesellschaft einfließt und sich als besondere Form der Kooperation oder Solidarität manifestiert beziehungsweise in einem hohen Maß an bürgerschaftlichem Engagement niederschlägt. Die spezifische institutionelle Einbettung einzelner Organisationen hat dann weitreichende Auswirkungen auf die jeweiligen Formen, in denen gegeben wird, beziehungsweise auch auf das dadurch angestoßene reziproke Verhalten der Akteure. So zeigt etwa Kieran Healy, dass sowohl mit Blick auf das Blutspendeverhalten in der Europäischen Union (Healy 2000) wie auch auf Organspenden in den USA (Healy 2004) das institutionelle Setting von weitreichender Bedeutung für das konkrete Handeln ist: »The ability of organizations to produce contexts for giving explains a substantial amount of variation in rates of one-shot altruism.« (Ebd: 387) Die konkrete Gabe wird demzufolge in besonderem Maße beeinflusst, ermöglicht
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oder restringiert durch die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen, die die durch das Geben angestoßene soziale Beziehung im Weiteren strukturieren. Drei Institutionalisierungsformen sollen im Folgenden kursorisch und exemplarisch vorgestellt werden: die Stiftung, das Fundraising und schließlich interorganisatorische Reziproziiätsbeziehungen. 1. Eine herausragende Organisationsform des institutionalisierten Gebens stellen Stiftungen dar. Das stifterische Geben umfasst eine Vielzahl möglicher motivationaler Voraussetzungen wie etwa den Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, was man selbst von ihr bekommen hat, die Dankbarkeit einer bestimmten Personengruppe gegenüber denjenigen, die einem geholfen haben, oder aber die symbolische und demonstrative Darstellung des eigenen Reichtums. Das Reziprozitätsprinzip ist demnach konstitutiv für das Stiften ·(Sigmund 2001: 225), denn es setzt Verkettungen der Dankbatkeit nicht nur voraus, sondern meist auch in Gang. Stiften ist deshalb auch keineswegs als ein einseitiger, rein solitärer Akt der Bigenturnsübertragung zu bestimmen, sondern es initiiert und verstetigt vielmehr soziale Beziehungen auf der Basis wert- und zweckrationaler Überzeugungen. Stiftungen konstituieren somit' einen zentralen Geltungsrahmen für Gaben und reziprokes Handeln. Das Gemeinwohl als zentrale Leitidee wird in Stiftungen über den konkreten Akt der Stiftungsgründung - ganz im Sinne von Hauriou - und der Festlegung des Stiftungszwecks normiert und verhaltenswirksam umgesetzt. Insbesondere die historisch sich durchsetzende Trennung der Rechts- und Interessensphäre der Mitglieder von der besonderen Rechtssphäre der Stiftung als eines autonomen Verbandes (Richter 2001) garantiert dessen Freiheit, Aufgaben zu übernehmen, die jenseits selbst bezogener Verdienst- und Vermögensinteressen liegen und stattdessen die Reziprozität der Handlungsakte in den Mittelpunkt stellen. Der Stiftungszweck löst sich im Prozess der Institutionalisierung somit nicht nur vom Eigensinn des Stifters und wird in eine gemeinnützige Organisationsform11 transformiert, sondern er strukturiert und legitimiert darüber hinaus auch die soziale Beziehung zwischen der gebenden Institution und den jeweiligen Empfangern. Stiftungen lassen sich als intermediäre Institutionen bestimmen, da sie weder unmittelbar den obersten Gewaiten im Rahmen der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft unterworfen sind, n~h es den Stiftern möglich ist, den Stiftungszweck und die für dessen Umsetzung vorgesehene Organisationsform willkürlich zu bestimmen. Stiftungen agieren unter verfassungs- und verfahrensmäßig restriktiven Bedingungen; die ihnen zugeschriebene Handlungsautonomie schließt einen institutionellen Vertrauensvorschoss wif auch einen Vorschuss an Eigenständigkeit innerhalb des ihnen zugewiesenen Geltungsraumes ein. Die Leitidee der Gemeinwohlorientierung wird
11 Wenn dies vcm Stifter gewünscht wird; in Deutschland sind mehr als 95 Prozent aller Stiftungen als gemeinnützig anerkannt.
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in Stiftungen demnach primär über die Handlungsmaxime eines zunächst einseitigen Gebens - das sich idealtypisch aus den Erträgen eines Vermögens speist - konkretisiert, wobei der Stifter formal nicht mehr an diesem Prozess beteiligt ist. Innerhalb der gift economy fungieren Stiftungen insofern als Regulatoren, da sie sowohl auf individuelle als auch auf kollektive Akteure Bezug nehmen und mit Blick auf gesellschaftliche Teilbereiche wie auch auf die Gesamtgesellschaft wirksam werden können.12 Der Geltungsraum wie auch die Organisationale Struktur von Stiftungen werden im Zuge zivil- und steuerrechtlicher Vorgaben von der Gesellschaft her bestimmt, aber ein Großteil der tatsächlichen Funktionen und Wtrkungsmechanismen lässt sich allein hieraus nicht ableiten, sondern ergibt sich aus der eigendynamischen Konsistenz ihrer spezifischen Organisationsform, ihrer ein- und ausgeübten Verfahren wie auch ihrer Personalstruktur. Das heißt, rechtliche, organisatorisch-apparative, personelle und funktionale Kontinuität sind entscheidend für ihre Funktionalität.13 Stiftungen bürgerlichen Rechts sind rechtsförmige Organisationen, die bestimmte, durch ein Stiftungsgeschäft festgelegte Zwecke 1n der Regel mit Hilfe eines Vermögens14 verfolgen, das diesen Zwecken dauerhaft gewidmet ist. Sie sind mitgliederlos, das heißt, sie sind reine V erwaltungsorganisationen.t5 Diese Besonderheit legt es nahe, sie mit Max Weber als »Anstalten« zu bezeichnen, als gesellschaftliche Ordnungstypen, die gerade nicht dem wechselnden Willen von Mitgliedern unterliegen, sondern deren innere Organisation von externen oder für die Mitglieder nicht veränderbaren Vorgaben bestimmt ist.16 Als Stifter können dann sowohl eine oder mehrere Privatpersonen, Unternehmen, Vereine, der Staat oder ein gemischt staatlich-privater Kreis auftreten. Stiftungen nehmen also unter den Institutionen der gift economy aufgrund ihrer weitgehenden personellen und zeitlichen Autonomie eine hervorgehobene Stellung
12 Geltungsrahmen und Durchsetzungskraft des den Stiftungen inhärenten Solidaritätspotentials muss natürlich immer auch im Vergleich zu anderen institutionalisierten Handlungseinheiten der gift econo"!Y geprüft werden. Mögliche Vergleichsobjekte wären Vereine, Wohlfahrtsverbände oder aber Freiwilligendienste. Siehe etwa Enquete Kommission 2002: 233-256. 13 Vgl. zum Folgenden auch Adloff (2004) und Sigmund (2004). 14 In vielen Fällen ist die Existenz eines Vermögens, aus dessen Erträgen die Zweckverfolgung finanziert wird, nicht gegeben. Operative Stiftungen im Sozialbereich finanzieren ihre Tätigkeit zumeist über Einkünfte aus den Sozialversicherungen, Stiftungen öffentlichen Rechts bekommen häufig Zuwendungen aus den öffentlichen Haushalten, und viele kleine, zumeist unselbständige Stiftungen sind nichts anderes als Spendensammelorganisationen. 15 Unselbständige Stiftungen - beziehungsweise im angelsächsischen Raum »trusts<< - bilden hiervon eine Ausnahme; sie wetden treuhänderisch verwaltet. 16 Weber (1976: 28 und 429ff). Interessant in diesem Zusammenhang auch Richter (2001: 79f.).
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ein, wobei natürlich eine Vielzahl von Mischformen vorzufinden istP Stiftungen lassen sich als institutionelle Medien zur Vermittlung spezifischer Wertorientierongen mit der Öffentlichkeit bestimmen, innerhalb derer es gelingt, die Leitidee der Gemeinwohlorientierung über die Handlungsmaxime des Gebens zu konkretisieren, auf Dauer zu stellen 1und dieser einen Wtrkungsraum zu verschaffen, der verhaltensorientierend wirkt Hierbei zeigt sich, dass diese Koppelung von privater Initiative und öffentlichem Wohl und Nutzen konstitutiv für den Aufbau von Sozialkapital und Vertrauensbeziehungen sein kann. Damit einher gehen vielfältige Reziprozitätsbeziehungen der beteiligten Akteure, die von einer - normativ erwarteten - Pflicht zum Geben, die sich insbesondere bei Mitgliedern der höheren Ränge im gesellschaftlichen Schichtungssystem zeigt, bis hin zur unmittelbaren Dankbarkeit der Benefiziäre, insbesondere in Form symbolischer Anerkennung, reichen. 2 Während Stiftungen dauerhafte lnstitutionalisierungen des Gebens darstellen, lässt sich eine weitere (mehr oder weniger spezialisierte und formalisierte) Institutionalisierungsform im· Feld der Philanthropie beobachten, die das »Erbitten und Erbetteln« der Gabe in den Mittelpunkt stellt, nämlich das Fundraising. Auch wenn das Fundraising erst seit einigen Jahren unter dem Eindruck verstärkter Professionalisierungstendenzen in den Wahrnehmungskreis der Öffentlichkeit geraten ist, stellt es doch eine alte Sozialtechnik dar. Für Europa sind die Wurzeln des Fundraisings eindeutig im Bereich des Religiösen zu suchen: Bei den Griechen wie den Römern kamen Gläubige der Aufforderung nach, für den Kultus zu spenden, doch perfektioniert wurde das Einwerben von Geldern vom Christentum (vgl. Neuhoff 2003). Schon Paulus sammelte Spenden für die Gemeinde in Jerusalem, doch fällt die Hochzeit kirchlichen Fundraisings in die Zeit des Mittelalters ab dem 12. Jahrhundert, wo durch Sammlungen unter anderem durch die Bettelorden Mittel für vielfältige Zwecke aufgebracht wurden, etwa für den Bau von Kirchen und Klöstern, für die Orden, Kreuzzüge, den Brücken- und Wegebau oder für Anstalten und Universitäten (ebd: '16). Den weiteren historischen Verlauf des Einwerbens von Spenden vom »Allgemeinen Alrnosenkasten« über den 1841 genehmigten Kölner Dombauverein bis zur 1920 gegründeten »Notgemeinschaft der deutschen Wtssenschaft« --der heutigen »Deutschen Forschungsgemeinschaft« (DFG) - nachzuzeichnen, ist an dieser Stelle unmöglich. Von zentraler Bedeutung für unseren Zusammenhang ist zunächst, dass als Ergänzung zum Mauss'schen Zyklus aus Geben, Annehmen und Erwidern, das Erbitten beziehungsweise Fundraising eine eigenständige Verhaltenskategorie bildet, die dem Dreierzyklus voraus geht: »This act has 17 Vgl zur typologischen Vielfalt der gegenwärtigen Stiftungsrealität in Deutschland etwa Hof (1998). In den letzten Jahrzehnten entstanden darüber hinaus auch noch vereinsrechtliche und gesellschaftsrechtliche Konstruktionen wie die Stiftung e.V. beziehungsweise die Stiftung GmbH.
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now acquired an unprecedented Ievel of legitimacy and explicitness, and in fact possesses its own structures of organisanon and professionalisanon - powerful ones.« (Silber 1998: 145) Eine Vielzahl von Initiativen, Vereinen, aber auch Stiftungen sammelt Spenden - nach Angaben des DZI betreiben etwa 20.000 der gemeinnützigen Organisationen aktives Fundraising (Haibach/Müllerleile 2003: 130). Darüber hinaus wird seit den 1990er Jahren im Zuge einer einsetzenden Professionalisierung das Fundraising zunehmend auch von darauf spezialisierten Organisationen beziehungsweise selbstständigen Fundraisern betrieben. Die akquirierten Spenden stellen jedoch nur einen geringen Teil der Einnahmen der deutschen Nonprofit-Organisationen dar: Über 64 Prozent der Einnahmen stammen durchschnittlich von der öffentlichen Hand, 32 Prozent gehen auf (selbst erwirtschaftete) Gebühren zurück, und nur 3,4 Prozent der Einnahmen stammen aus Spenden (Prillet/Zimmer 2001: 30). Vergleicht man dies mit den Zahlen für Westeuropa (! ,2 Prozent) oder den USA (13,3 Prozent), stellen Spenden aus der Perspektive des internationalen Vergleichs in Deutschland tatsächlich nur eine gering ausgebaute Finanzierungsquelle dar. Am spendenfreudigsten zeigen sich dabei Frauen, ältere Menschen (ab 45 Jahren) und Einkommensstarke beziehungsweise höher Gebildete (vgl Haibach 2003). Ziel des Fundraising ist es, ein bestimmtes, historisch variables gemeinwohlorientiertes Ziel bekannt zu machen, dafür inhaltlich zu werben und konkrete Unterstützungsbereitschaft zu evozieren, die im Idealfiill in eine kontinuierliche Beziehung beziehungsweise Unterstützungsleistung überführt wird (man denke an Mitgliedschaften, Patenschaften usw.). Dabei dient die Sozialfigur des Fundraisers als Mittler zwischen dem Geber und dem Empfänger des Geldes und muss versuchen, beiderseitige Interessen, Motivlagen und Wertbindungen zu berücksichtigen. Das Fundraising in seiner institutionalisierten Form bezieht sich in seinen Wertbezügen somit unmittelbar auf die für die Empfängerorganisation konstitutive Leitidee - etwa auf die Linderung der Not in Katastrophengebieten. Im Gegensatz zum institutionellen »Zentrum« der Empfingerorganisation, das sich strikter an seiner Leitidee ausrichtet, findet Fundraising an der Organisationsgrenze statt, mit der Konsequenz, dass Reziprozität hier von unmittelbarer Bedeutung ist. Nicht selten wird zum Beispiel Spendern über die Möglichkeit einer inhaltlich gebundenen Spende ein gewisses »Mitbestimmungsrecht« eingeräumt. Die Veröffentlichung des »guten NamenS« des Spenders ist eine weitere Möglichkeit, dem Spender Gratifikationen anzubieten. Interessant in diesem Zusammenhang ist die besondere Bedeutung der Massenmedien als Fundraisinginstrumente. Im Vergleich zu anderen Medien des Fundraisings ist ihre Kapazität in Bezug auf das Agenda-Setting, die anschaulichemotionale Darstellung wie insgesamt ihre Fähigkeit zur Realitätskonstruktion von herausragender Bedeutung. Fundraising stellt somit eine weitaus flexiblere Institutionalisierungsform innerhalb der gift economy moderner Gesellschaften als das Stif-
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tungswesen dar. Eint beide Formen der Bezug auf die Leitidee der Gemeinwohlorientierung, so zeichnen sich Fundraisingorganisationen doch durch eine weitaus variablere Gestaltung des für sie bedeutsamen Geltungsrahmens und der damit verbundenen Handlungsmaxime aus, so dass sie sich immer wieder neu auf veränderte Handlungssituationen einstellen können.IB Diese kursorischen Bemerkungen machen deurlich, dass das moderne Geben ohne institutionalisierte Formen des Erbetens von Spenden schlichtweg undenkbar wäre. Es handelt sich hier um einen Markt, auf dem mit emotionalen wie moralischen Bindungen »gehandelt« wird, mit dem Ziel, individuelle Motivationen zu wecken, zu binden und auf Dauer zu stellen- und damit berechenbar zu machen.19 3. Von der Forschung bislang weitgehend ausgeblendet blieb schließlich die Frage, welche Reziprozitätsbeziehungen eigendich zwischen den Organisationen im Feld der Philanthropie bestehen. Interorganisatorische Reziprozitäten konstituieren nämlich unseres Ei-achtens immer mehr das Feld der organisierten Philanthropie, wie ein Blick auf neueste Entwicklungen im amerikanischen Stiftungs- und Spendenwesen zeigen kann. Seit den 1990er Jahren ist dort verstärkt Bewegung in den Bereich der Philanthropie, besonders in den Stiftungssektor gekommen, und überkommene Konzepte der philanthropy werden überdacht. Dies findet unter verschiedenen Stichworten statt (strategic philanthropy, effective philanthropy, venture ph~ thropy, philanthropic leverage und ähnliche), die im Kem aber auf Ähnliches hinauslaufen. In all diesen Fällen geht es darum, die Wttkungskraft und Effektivität philanthropischen Engagements zu verbessern und zwar zumeist auf dem Weg der engeren Verbindung zWischen der Stiftung oder dem individuellen Spender und der Geld empfangenden Nonprofit-Organisation, also dem Destinatär. Einige Beispiele mögen belegen, dass es sich dabei um konditionalisiertes Geben und den Aufbau intensivierter Reziprozitätsbeziehungen handelt, während in den Jahrzehnten zuvor die >>Gabe« keine so stark definierten »Gegengaben« von Seiten der NonprofitOrganisation (NPO) verlangte. Viele Geldgeber legen mitderweile sehr detailliert fest, für welche Projekte das gegebene Geld eingesetzt werden solL Häufig wird von den Organisationen im Vorfeld verlangt, zusätzliche Gelder zu akquirieren (über so genannte matehing funds), bevor die Unterstützung von der Stiftung gegeben wird. Die Aktivitäten der NPOs, so ist eindeutig der Trend, werden vermehrt über Evalu-
18 Hierbei zeigt sich eine interessante Parallele der Fundraisingorganisationen zu Vereinen. die ebenfalls durch den Einfluss ihrer Mitglieder immer wieder relativ schnell auf veränderte Umweltbedingungen J;eagieren können und die Vereinsziele entsprechend verändern und anpassen können. 19 Wolpert und Reiner (1984) geben einen immer noch interessanten Überblick über mögliche Typen von Gebern und eine Typologie unterschiedlicher Fundraisingstrategien, die an verschiedene Motivlagen von Spendern anzuknüpfen vermögen.
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ationen kontrolliert, sodass die Effektivität der eingesetzten Gelder fortwährend überprüft werden kann. Einige Geldgeber sind mittlerweile dazu übergegangen, ihre Expertise und Management-Erfahrungen anzubieten (Frumkin 2000: 44); sie sehen sich dabei immer häufiger als Consultants für die NPOs. Insbesondere das Schlagwort von der »Venture Philanthropy« hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hier wird Philanthropie in Anlehnung an den Wirtschaftssektor als »soziale Investition« verstanden; die getätigten Investitionen sollen einen sozialen Gewinn zeigen und sich gewissermaßen lohnen. Dies kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden (Frumkin 2003): NPOs sollen zu einer bestimmten Größe und einem höheren Kapitalisierungsgrad geführt werden, um die organisationeile Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Dabei werden mittlerweile durchaus auch längere Förderstrategien verfolgt: Fördererund Destinatär sollen in diesem Prozess in einen engen Dialog treten. Darin liegen große Chancen für die NPOs, Ressourcen und Kompetenzen aufzubauen, doch viele favorisieren nach wie vor das »Cut a check and run«-Konzept: Eine finanzielle Transaktion ohne daran geknüpfte Bedingungen erscheint ihnen als die beste Unterstützungsform (ebd.: 12). Schließlich ist die Evaluation der NPO-Projekte ein zentraler Punkt im Konzept der venfllre philanthropy: assessment, benchmarking und peiformance measurement sind hier die geläufigsten Schlagworte. Kritiker dieser neueren Entwicklung wie zum Beispiel Stanley Katz befürchten, dass damit eine Risikoaversität der Stiftungen einhergeht. Wenn die Empfänger der Gelder wie NPOs oder Forschungseinrichtungen unter derartig genaue Kontrollen und Effektivitätskriterien genonunen werden, kann es kaum Raum für riskantere und ungewisse Projekte und Investitionen geben, die aber unter Umständen gerade den größten »return on investment« bieten würden. Dies soll hier nicht weiter diskutiert werden, doch festzuhalten bleibt, dass es in der amerikanischen Philanthropie starke Tendenzen gibt, die NPOs von Seiten der Geldgeber einer stärkeren Kontrolle zu unterziehen und Gelder konditional von der Erfüllung klar definierter Auflagen abhängig zu machen. Eine Gabe ohne Reziprozitätserwartung liegt hier nicht vor, viel eher schon Tendenzen eines Tauschgeschäfts a Ia Jo 111 des. Hieran ist des Weiteren abzulesen, dass die Rationalitätskriterien philanthropischen Handeins historisch variabel ausdeutbar sind und dass momentan im amerikanischen Feld der Philanthropie ein interorganisatorischer Druck aufgebaut wird, die internen Leitideen der Empfängerorganisationen für die externen Rationalitätskriterien der individuellen wie organisierten Geber zu öffnen.
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Ziel des Beitrags war es, das Feld der Philanthropie für die soziologische Theoriebildung zu öffnen und dabei die unseres Erachtens unfruchtbare sozialtheoretische Dichotomie von eigennutzorientiertem und normativem Handeln zu überwinden. Es zeigt sich, dass der Mauss'sche (und über Mauss hinausgehende) Zyklus von Erbitten, Geben, Nehmen und Erwidern im »Normalfall« weder auf die eine noch auf die andere Seite der Dichotomie reduziert werden kann: »I.TJhere is no reason why not to expect philanthropic gifts (...) to range from mainly Strategie to purely altnüstic. expressive of an already existing identity or social relation, symbolic in establishing or constituting novel identities and relations, or agonistic, i.e. challenging entailed identities and relations. Or, in other words, to richly vary in the precise nature and degree of their >civili~.« (Silber 2001: 398 f.)
Altruistische wie auch strategische Geschenke schließt dies nicht aus, es ist aber eine prinzipiell empirische Frage, welche Art von (kollektiven) Identitätsbindungen in die philanthropische Gabe einfließen und ob ihr Charakter eher Ausdruck von Superiorität und Agon oder von Solidarität ist - soziale Beziehungen werden in all diesen Fällen gestiftet. Darüber hinaus eröffnet dieser theoretische Zugang die systematische Möglichkeit, den institutionalisierten Wegen philanthropischer Gaber:t nachzuspüren: Nicht nur um die Erzeugung von Motivlagen und verhaltenswirksamen Normierungen ~ diesem Feld besser zu verstehen, sondern auch um die Chance zu nutzen, anband der Untersuchung des Flusses philanthropischer Ressourcen eine soziale 'Landkarte von Bindungen, Emotionen, Solidaritäten, Status und Prestige und den damit verbundenen Reziprozitäten zu erstellen wie auch die organisatorische wie ~titutionelle Infrastruktur, die den Ressourcenfluss ermöglicht und strukturiert, zu analysieren.
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Reziprozität und Anerkennung in Arbeitsbeziehungen Stephan VoswinkeJ,
»ReziProzität<<, so heißt es bei Gouldnet, »ist die Nonn der >realistischen< Welt der Arbeit« (Gouldner in diesem Band). Demgegenüber sei es das Ideal der Welt der Phantasie, ohne Gegenleistung zu geben und zu nehmen. Wer also etwas »verdienen« will, muss etwas leisten, muss arbeiten, sich bemühen und anstrengen oder andem etwas zwn Tausch in der Wirtschaft bieten. »Reziprozität« meint hier zunächst, dass Arbeit Teil eines Tauschs ist und weder die Arbeitsleistung noch das Einkommen als reine Gabe, für die es keine Gegenleistung geben muss, betrachtet werden können. Der folgende Beitrag soll zeigen, dass die Arbeitsbeziehung eine avmmetrische Tauschbeziehung ist. Doch bereits in instrwnenteller Hinsicht entwickeln sich in ihr Reziprozitätsbeziehungen in einem generalisierten Sinne, weil sich. (tn den spezifischen Arbeitsbeziehungen in unterschiedlichem Grade) Leistung und Gegenleistung zeitlich, sachlich und sozial re1ativ entkoppeln. Reziprozität hat in der Arbeit jedoch nicht nur instrwnentellen Charakter; vielmehr prägt sie auch die normativen Fonnen sozialer Integration von Organisationen. Arbeit ist für die Identität und die soziale Anerkennung der Beschäftigten von wesentlicher Bedeutung. Der Beitrag wird erörtern, wie Anerkennung mit Reziprozität verknüpft ist und soziale Ungleichheit reproduzieren oder kompensieren kann. Dabei werde ich die These vertreten, dass sich mit den Wandlungsprozessen der Arbeit Veränderungen der Anerkennung von Arbeit vollziehen - und zwar diesseits bis jenseits der bisherigen Fonnen der Reziprozität in den Arbeitsbeziehungen.
Arbeitsbeziehung 'als asymmetrische Tauschbeziehung In den Feldern der Erwerbsarbeit, in denen die Arbeit wesentlich zum Zwecke des Erwerbs von Einkommen ausgeübt wird, handelt es sich bei den Arbeitsbeziehungen um instrwnentelle Beziehungen. Wer Arbeit leistet, tut dies, um als Gegenleistung Entgelt zu erhalten; wer eine Arbeitskraft beschäftigt, verfolgt damit den Zweck, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu erstellen beziehungsweise erstellen
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zu lassen, um damit Gewinn zu erzielen. I Der hier erfolgende Austausch unterliegt dem ökonomischen Rationalitätsprinzip, mit möglichst wenig eigener Leistung möglichst viel Gegenleistung zu erhalten. Deshalb ist der Arbeitsvertrag das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der aus der Ressourcenverteilung und dem Verhandlungsgeschick resultiert. Um die Verhandlungsbedingungen der Parteien zu verbessern, haben sich Berufsvereinigungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände entwickelt und wurden Ressourcen wie etwa die Arbeitslosenversicherung begründet, die Alternativoptionen in begrenztem Maße bereitstellen und so den unmittelbaren Druck zur Aufnahme jedweder Arbeit zeitlich strecken. Dass wesentliche Bedingungen der Arbeitsverträge aufgrund der Regulierung durch Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und staatliche Arbeitsgesetze nicht mehr als Verhandlungsergebnis deutlich werden, ändert nichts daran, dass hinter diesem Tauschgleichgewicht ein- wie es von den frühen Gewerkschaften auch verstanden wurde- ))Waffenstillstand« kämpfender, beziehungsweise feilschender Parteien steht. Mit Sahtins (vgL den Beitrag in diesem Band) könnte man vom Ergebnis eines Austauschs ))negativer Reziprozität« sprechen. In dieser Hinsicht handelt es sich also bei den Arbeitsbeziehungen um ein Terrain des Kampfs gegensätzlicher Interessen, aus dem eine ökonomisch-instrumentelle Form des Tauschs resultiert. Intentionen der Parteien werden daher auch mit Begriffen wie >>Leistungszurückhaltung«, »shirking« oder aber »Ausbeutung« charakterisiert. »Ausbeutung<< dient darüber hinaus zur Kennzeichnung der Arbeitsbeziehung als einer machtar;mmetrischen Beziehung. Auch wer diese nicht bereits wie Karl Marx als Strukturmerkmal und bewegendes Prinzip des Kapitalismus in der Mehrwertproduktion identifiziert, konstatiert doch zwischen den Unternehmen beziehungsweise dem Arbeitgeher und dem einzelnen Arbeitnehmer eine grundsätzliche Machtasymmetrie, die nur ausnahmsweise etwa im Falle seltener Qualifikationen individuell, in der Regel allenfalls durch Zusammenschluss der Arbeitnehmer gemindert werden kann. Dies ist der zweite Gesichtspunkt, der dagegen sprechen würde, die Arbeitsbeziehung als eine vom Prinzip der Reziprozität geprägte Beziehung zu betrachten. Barrington Moore weist generell darauf hin, dass »die Vorstellung der Reziprozität leicht zu einer Form der Mystifikation, zu einer ideologischen Hülle für Ausbeutung<<(1987:669)gerinne Gleichwohl werden die Austauschverhältnisse in einer Arbeitsbeziehung immer wieder als fair oder aber als unfair gewertet und offensichtlich scheinen hierfür Maßstiihe zu existieren. Sie müssen zumindest dem »Üblichen« entsprechen und faire Wettbewerbsbedingungen voraussetzen. Doch auch dann, wenn ein aus öko-
1 Andets mag dies z.B. in Non-Profit-Organisationen oder in Bereichen des öffentlichen Dienstes sein.
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nomisch-instrwnentellen Handlungsstrategien resultierendes Verhandlungsergebnis als »fair« gilt, bleibt zu prüfen, inwiefern man hier von »Reziprozität<< reden darf.
Die Instrumentalität der Reziprozität in der Arbeitsbeziehung Wenn Gouldner davon spricht, die Reziprozität sei die Norm der realisti~chen Welt der Arbeit, so meint er damit zunächst, dass man hier nichts ohne Gegenleistung bekommt. Nun haben wir gesehen, dass es andererseits dem ökonomischen Prinzip entspricht, möglichst viel Gegen- bei möglichst wenig Eigenleistung zu erhalten. Wenn sich gleichwohl ein Austauschverhältnis ergibt, das als fair angesehen wird, dann als Ergebnis des Handeins zweier im Sinne des ökonomischen Prinzips eigeninteressierter Parteien. Reziprozität in der Arbeitsbeziehung wäre insoweit nicht als Resultat der Geltung einer »generalisierten moralischen Norm der Reziprozität« (Gouldner 1984: 96) begründbar. Aber Reziprozität wird als Norm in den Arbeitsbeziehungen wirksam, wenn über den markt-und verhandlungsvetmittelten, »nicht-intendierten« Austausch hinaus und jenseits als »üblich« angesehener Leistungs- und Gegenleistungs-Verhält-_ nisse besonrkre Leistungen geboten werden. Diese fungieren als Gaben (im Sinne von Marcel Mauss) und implizieren die moralisch empfundene Verpflichtung, sich in der Folge zu revanchieren: Diese Gabentausch-Beziehung wird nun als Motivationsmedium instrwnentell eingesetzt. Insbesondere Effizienzlohntheorien2 gehen von der Annahme aus, dass Unternehmen einen Lohn zahlen, der über demjenigen liegt, der im Verständnis der neoklassischen ökonomischen Theorie geeignet wäre, alle Arbeit Suchenden in Arbeit zu bringen. Eine Variante solcher Theorien, der »Gift-Exchange«-Ansatz (Akerlof 1982), rekurriert hierbei ausdrücklich auf das Reziprozitätsprinzip. Arbeitsverhältnisse beruhen Akerlof zufolge auf dem Prinzip des Gabentauschs: Das Unternehmen zahlt über dem üblichen Niveau liegende Löhne, die als freiwillige Geschenke betrachtet werden und infolge der Wirkung der Reziprozitätsnorm Loyalität und freiwilliges Leistungsengagement der Mitarbeiter zur Folge haben. Aus dieser besonderen Loyalitätsbeziehung resultieren Produktivitätsvorteile.3 Derartige »zusätzliche« Löhne aktualisieren die Reziprozitätsnorm jedoch möglicherweise nur dann, wenn sie als Gaben angesehen werden, also als etwas, das als 2 Ein guter Übetblick in Sesselmeier/Blauermel1997, Kap.S. 3 Vertreter der neoklassischen Theorie würden allerdings auch von sozialen Schließungsprozessen der Insider gegen ,die Outsider sprechen, weil die Markträumungsfunktion der Löhne beeinträchtigt wäre. Entsprechend sehen sie auch in der freiwilligen Zahlung höherer Löhne eine Ursache der Atbeitsl~igkeit.
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freiwillige Leistung über das Notwendige und Übliche hinausgeht. Daher weisen skeptische Stimmen darauf hin, dass solche Geschenke schon bald als übliche angesehen werden, auf die man einen gewohnheitsrechtliehen Anspruch zu haben glaubt. Daher trage eine Strategie der Motivation durch Geschenke die Tendenz ständiger Selbstverstärkung in sich, weil immer wieder neue »zusätzliche« Geschenke nachgelegt werden müssten. Zwar nicht Geiz, aber doch Sparsamkeit bei der Gabenreichung sei daher angebracht. Nun wird der Gabentausch keineswegs nur von den Arbeitgebern initiiert. Die Gaben der Beschäftigten finden allerdings in den ökonomischen Theorien weniger Beachtung. Ob freiwillige, oft auch unbezahlte Überstunden geleistet werden, ob die Identifikation mit der Firma das Maß überschreitet, das einer reinen ökonomischen Geschäftsbeziehung angemessen wäre oder ob das Engagement in der Arbeit über die etwa in Stellenbeschretbungen definierten Verpflichtungen hinausgeht: Alles dies sind »Geschenke«, die Beschäftigte auch in der Erwartung machen, auf diese Weise normative Reziprozitätsverpflichtungen des Unternehmens zu aktivieren, die sich etwa in besseren Karrierechancen oder der Sicherung des Arbeitsplatzes niederschlagen. Die Skeptiker müssten dann auch hier dazu raten, mit solchen Geschenken sparsam zu verfahren, um ihnen nicht den Charakter des Unüblichen zu nehmen. Allgemeines Kennzeichen des Reziprozitätsprinzips ist es, dass der Wert der beidseitigen Leistungen Gegenstand sozialer Definition ist. Das bedeutet nicht zuletzt, dass auch die Bestimmung dessen, was als übliche und was als unübliche, zusätzliche Leistung gewertet wird, sozial bestimmt wird. Hier kommen nun gerade in den ökonomischen Arbeitsbeziehungen die Marktvethältnisse ins Spiel Die Kräfteund Knappheitsvethältnisse auf dem Arbeitsmarkt sind es insbesondere, die bestimmen, was Unternehmen von den Beschäftigten und was die Beschäftigten von den Unternehmen glauben, als übliche Leistung etwarten zu dürfen. Einfach gesagt: Dass unbezahlte Überstunden geleistet werden, erscheint bei knappem Arbeitsplatzangebot als »üblicher« als bei knappem Arbeitskräfteangebot; und dass übertarifliche Löhne gezahlt werden, in Zeiten der Vollbeschäftigung als )>Selbstverständlicher« als in solchen der Arbeitslosigkeit. Insoweit folgt die Ausfüllung des Reziprozitätsprinzips also den Marktveränderungen.
Das Transformationsproblem und die Generalisierung von Reziprozität Bislang haben wir die Arbeits- als Warenbeziehung betrachtet, in der Arbeitskraft gegen Entgelt getauscht wird und die Norm der Reziprozität in einem Gabentausch
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von Zusatzleistungen instrumentell im Sinne der Motivation wirkt. Nun müssen wir die Betrachtung jedoch erweitern, weil der Arbeitsvertrag im Unterschied zu vielen Kaufverträgen ein unvollständiger Vertrag ist. Er regelt den zeitlichen Umfang der Vennietung der Arbeitskraft und die Höhe des Entgelts; nicht genau spezifiziert sind hingegen in der Regel der genaue Inhalt, der Grad und die Qualität der vom Arbeitnehmer geschuldeten Leistung. Somi~ handelt es sich beim Tausch von Lohn und Leistung um kein exakt kommensurables Verhältnis. Und im Unterschied zum Werkvertrag regelt der Arbeitsvertrag kein genau bestimmtes Ergebnis, sondern die Zurverfügungstellung der Arbeitskraft für einen vorab im Grundsatz unbestimmten Zeitraum.4 Ein weiteres Spezifikum der meisten Arbeitsbeziehungen besteht darin,
dass die Leistungserstellung kollektiv und kooperativ erfolgt, dass sie also das Ergebnis eines arbeitsteiligen Prozesses einer Vielzahl von Beschäftigten ist, welcher nicht als die bloße Summe der Teilarbeiten betrachtet werden kann. Daher ist die Unvollständigkeit des Arbeitsvertrags »das >Einfallstor< für Momente des sozialen Austauschs jenseits des spezifizierten >do ut des< von Löhnen und Leistungen« (Bode/Brose 1999: 184). Der Tausch von Lohn und Leistung wird in dreifacher Hinsicht generalisiert: In zeitlicher Hinsicht handelt es sich um einen iterativen Tausch, der mit einer auf Dauer angelegten Perspektive und Wtederholung erfolgt und in dem bestimmte (Gegen-)Leistungen erst in unbestimmter Zukunft realisiert werden. Während Spot-Arbeitsverträge, wie sie etwa die Durchführung einer sehr kurzzeitigen Arbeitsaufgabe regeln, sich dadurch auszeichnen, dass Leistung und Gegenleistung nicht nur präzise definiert sind, sondern auch nahezu synchron erfolgen, entwickeln sich bei auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnissen auf beiden Seiten Vorleistungen: Das Unternehmen investiert in Anlernung und Weiterbildung in einer Weise, die sich erst nach längerer Arbeitsbeziehung amortisieren wird, der Arbeitnehmer akzeptiert den minderen Status von Probe- und Einarbeitungszeiten und eventuell ein geringeres Einstiegsentgelt. Beide vertrauen darauf, dass ihren Vorleistungen langfristig Gegenleistungen entsprechen (Schriifer 1988; Dragendorf/Heering 1986). In sachlicher Hinsicht ist die Erwartung an die angemessene Arbeitsleistung der Beschäftigten nicht exakt bestimmt; vielmehr bezieht sie sich auf die Bereitschaft, innerhalb (von Arbeitsvertrag und Stellenbeschreibung definierter) zumutbarer Grenzen unterschiedliche Arbeiten in loyaler und mitdenkender Weise auszuführen. Der Arbeitsvertrag begründet also eine unspezifizierte Folgebereit-
4 Die Unbestinuntheit der zeitlichen Perspektive gilt übrigens nicht nur für unbefristete, sondern auch für all die befristeten Al:beitsverträge, in denen die Möglichkeit der Fortführung des Arbeitsverhältnisses offen gehalten ist.
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schaft oder -verpllichtung. Die Mitgliedsrolle ist die )~bstraktion eines Motivationspotentials<<, sie erzeugt »Indifferenz, die dann im System durch besondere Regeln und Weisungen spezifiziert werden kann« (Luhmann 2000: 84). Auf der anderen Seite kann vom Unternehmen erwartet werden, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die Beschäftigten ihre Fähigkeiten einbringen können, ohne überfordert oder übermäßig belastet und ausgehrannt zu werden. In so!(ja!er Hinsicht schließlich ist die Arbeitsbeziehung eine generalisierte Tauschbeziehung, weil es sich auf Seiten des Arbeitgebers um eine Organisation und auf Seiten der Arbeitnehmer um ein Kollektiv, nämlich die Belegschaft als soziales Gebilde, handelt. Der Arbeitnehmer geht nicht nur ein individuelles Arbeitsverhältnis ein, sondern er wird als Beschäftigter eines Betriebs zugleich in eine betriebliche Sozialotganisation eingegliedert. Leistung und Gegenleistung sind hier gewissermaßen »kollektiv« geschuldet. Ein Teil der Leistungen des Unternehmens wird als kollektives Gut bereitgestellt, das die Belegschaft als ganze erhält. Als Beispiel seien die Kantine und der Betriebskindergarten genannt. Funktionsträger der Organisation leisten etwas stellvertretend füreinander und für die Organisation; die Belegschaftsmitglieder leisten etwas, ohne stets den Stand des jeweils individuellen »TauschkontoS<< im Auge zu haben. Zugleich werden damit interne Gerechtigkeitsbeziehungen, etwa die Angemessenheit von Entgeltstrukturen und Aufstiegsentscheidungen, zum Bestandteil generalisierter Reziprozitätsbeziehungen im Unternehmen. Auf diese Weise wird der »ökonomische Tausch« der Arbeitskraftvermietung zum )>sozialen Tausch« (Blau in diesem Band) der Arbeitsbe!{jehung. Zwar handelt es sich weiterhin um eine asymmetrische Tauschbeziehung, weil die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse und Machtrelationen keine substanzielle Reziprozität im Sinne des Tauschs gleicher Werte ermöglichen. Doch rückt diese strukturelle Asymmetrie in der Regel in den Hintergrund, sie bleibt latent. Sozialer Tausch bestimmter Leistungen wird auch dann als reziprok empfunden, wenn er auf strukturell schiefer Ebene oder zwischen oben und unten vorgenommen wird. In diesem Sinne können wir von der Entwicklung einer generalisierten Reziprozität in den Arbeitsbeziehungen sprechen. Die Logik des sozialen Tauschs ist nun gefährdet, immer wieder von den Opportunitäten ökonomischer Tauschsituationen durchbrochen zu werden. Da generalisierte Reziprozität sich nicht allein auf die normative Wirkungskraft stützen kann, wird sie institutionalisiert und organisiert. Diese Entwicklung wird von Robert Casrel (2000: 296) als »Übergang vom Kontrakt des Arbeitsverhältnisses zum Status des Lohnabhängigen<< bezeichnet. Dieser Status begründet soziale Rechte, die den Matkt in begrenztem Maße zähmen und Standards der Arbeitsverhältnisse begründen, die nicht mehr Gegenstand individueller Vethandlungen, sondern in
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kollektiven Verträgen festgelegt und teilweise staatlich garantiert sind Er setzt voraus, dass die kollektive Dimension des Arbeitsverhältnisses anerkannt ist, und bedarf starker Institutionalisierungen. Beispiele für solche Institutionalisierungen generalisierter Reziprozität sind etwa Tarifverträge, die betriebliche Mitbestimmung und der Sozialstaat (Mau 2002; Voswinkel2001: 285fT.) In ihnen wird deutlich, dass Reziprozität in der Arbeitswelt in erheblichem Maße »organisierte Reziprozität« (Bode/Brose 1999) ist. Eine weitere derartige Institutionalisierung generalisierter Reziprozität sind die Senioritätsregeln.s Sie haben sich auf der Basis moralischer Überzeugungen entwickelt, dem Alter sei statusbezogene Achtung zu erweisen und Warten müsse honoriert werden. Sie folgen zudem bei der Verteilung knapper Güter dem Prinzip, dem Zuvorgekommenen gebühre ein Vorrecht (Elster 1990: 125fT; Schmidt 1992: 6). Ihre ökonomische Funktion besteht im Anreiz zur Betriebstreue und zum Verzicht auf produktivitätsgerechte Entlohnung in jüngeren Jahren sowie in der Absicherung innerbetriebliehet Aufstiegsorientierung als wesentliehet Faktor der Arbeitsmotivation (Bellmann 1986). 'Gleichwohl haben sie sich keineswegs für alle Beschäftigten historisch ))VOn selbst« ergeben, sondern mussten für die Arbeiterschaft nicht zuletzt durch sozialpolitische Maßnahmen erst nach und nach durchgesetzt werden. Noch nach der Wende zum 20. Jahrhundert war für die Arbeiterschaft eine )>flach. dem vierzigsten Lebensjahr je nach Qualifikation mehr oder weniger stark abfallende Lebensverdienstkurve« (Mooser 1984: 96) biographisch charakteristisch.6 Der Übergang vom Kontrakt zum Status schloss an vormoderne Anerkennungsformen »harmonischer Ungleichheit« (Wagner 2004: 172ff.) an, wie sie für patriarchalische Fürsorgeordnungen charakteristisch sind Hier wurde - so Fran~is Ewald (1993: 161)- »der Gedanke der Reziprozität der Rechte vonpatronund Arbeiter (...) durch ein moralisches Band ersetzt, das ihre Beziehung als Abhängigkeits-, Unterordnungs- und Vormundschaftsverhältnis bestimmt.« Diesem Verständnis entspricht der Begriff des ))Dienstes«, der ein ehrenhaftes lJnterotdnungsverhältnis bezeichnet. Er lebt noch bis heute fort und definiert einen spezifischen Status, dessen Idealtyp der Staatsdiener ist. Er wurde strikt vom Status des Lohnabhängigen geschieden. Der Beamte wird nicht auf Basis eines Arbeitsver-
5 Entsprechend sehen manche Ökonomen hierin im Lichte ökonomischen Tauschs in kurzfristiger (und kurzsichtiger) Bettachtungsweise eine produktivitätswidrige Umverteilung, da eine Senioritätsendohnung »ältere Arbeitnehmer als überbezahlt und jüngere als unterbezahlt im Hinblick auf ihre aktuelle Produktivität ausweistc< (Knoll1997: 31). 6 Senioritätsregeln müssen schon deshalb institutionalisiert und regulatorisch befestigt werden, weil Vertrauen darauf, dass Vorleistungen in jüngeren Jahren im Alter ausgeglichen werden, nur entstehen kann, wenn gewährleistet erscheint, dass die Statusgewichtung der Seniorität auch in Zukunft sicher ist, und wenn man die Stabilität von »Normalbiographien« (Kohli 1986) und die Stabilität von Unternehmen voraussetzen kann.
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trags, sondern als Hoheitsakt auf Lebenszeit eingestellt, ihm obliegen Treuepllichten, er erhält kein Entgelt, sondern eine Besoldung, er wird nicht sozialversU-hert,
sondern ihm werden Beihilfen gewährt; und schließlich obliegt ihm ein angemessener Lebenswandel (Brose u.a. 1994: 258).7 Die Gegenleistung wurde nicht auf vertraglicher Grundlage im Sinne der Reziprozität, sondern als moralische Pflicht der Organisation oder der Gemeinschaft erwartet. Die zeitlich generalisierte Reziprozität des Senioritätsprinzips wird hier zum Laufbahnmodell radikalisiert (Wagner 2004: 223ff.).
Arbeit und Identität Bisher habe ich Arbeit als die eine Seite einer Tauschbeziehung betrachtet. In diesem Sinne setzen sich die Menschen zu ihr in ein instrumentelles Verhältnis, weil sie ihnen Mittel zum Zweck des Einkommenserwerbs ist. Darin geht die Bedeutung der Arbeit jedoch nicht auf. Vielmehr ist das soziale Prestige eines Menschen in modernen Gesellschaften ganz wesentlich auf Arbeit gegründet. Hierin unterscheiden sie sich ja gerade von anderen Gesellschaften, in denen es -wie Thorstein Veblen (1986 [1899]: 52) dies formuliert hat- gerade nicht die Arbeit, sondern der >xlemonstrative Müßiggang<< war, der Prestige begründete. Weil nun Arbeit aber wesentlich in Organisationen geleistet wird und die Zugehörigkeit zu und die Position in Organisationen daher wesentlich nicht nur den Zugang zu ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen bestimmen, sondern auch den sozialen Status der Individuen definieren, sind Organisationen für die Anerkennungserfahrungen und für die Identitätsbildung der Menschen zentral. Deshalb ist Arbeit nicht nur Element einer instrumentellen Tauschbeziehung. Indem die Beschäftigten gewissermaßen ihre Arbeitskraft in die Organisation begleiten, verbringen sie dort einen großen Teil ihrer Lebenszeit. Das Unternehmen wird zu einer Lebenswelt und ihre soziale Position in der Organisation, ihre kooperativen und kompetitiven Beziehungen in der Belegschaft und die interaktiven Erfahrungen von Anerkennung und Missaehrung von Vorgesetzten, Untergebenen und Kollegen sind wesentlich für ihre Arbeitsidentität und ihr SelbstwertgefühL Darüber hinaus ist ihre Zugehörigkeit zur Organisation ein wesentliches Element ihres Sozialprestiges außerhalb des Unternehmens. Indem sich das Ansehen des
7 Dieser Status strahlte lange Zeit auf andere Arbeitsverhältnisse aus. So wurde der Bankangestellte als »Bankbeamter« bezeichnet. Er ging nicht zur Arbeit, sondern sein Stolz gebot ihm. zum »Dienst(< zu erscheinen, wenn er etwa als Kassierer die Kasse aufschloss.
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Unternehmens ein Stück weit auf sie überträgt, bilden sich Formen der Identifikation der Besc~tigten gegenüber ihrem Unternehmen aus. Auf diese Weise entwickelt sich Loyalität, eine Bindung, bei der die Organisation in die Identität des Einzelnen integriert und ihr Teil wird Berührt ist eine Bindung des Einzelnen an sich selbst, an seine »Me«-ldentität. Dies belegt Distanzierungen, also interne oder gar externe Abwanderung, mit psychologischen Kosten (Hirschman 1974: 6Sff.). Die Bindung durch Loyalität geht über wechselseitige Verpflichtungen hinaus, insofern sie aufldentifikation beruht (Voswinkel 2001: 79f.). Deshalb fühlen sich Arbeiter »heim Daimler« stolz, wenn der Mercedes gelobt wird und deshalb persönlich angegriffen, wenn jemand den BMW als besser bewertet. Die Arbeit und der Betrieb beziehungsweise das Unternehmen sind also nicht nur der Ort von ökonomischem Tausch und Ausbeutung, sondern Teil der Lebenswelt der Arbeitenden.s Hermann Kotthoff verdanken wir, mit dem Konzept der »betrieblichen Sozialordnung« der sozialen Definiertheit der Arbeitsbeziehungen im Betrieb den Stellenwert gegeben zu haben, ohne den sie immer wieder gefährdet sind, auf ökonomische lnteressenbeziehungen, Gestaltungsformen technischer und arbeitsorganisatorischer Rationalisierung und Kontrollstrukturen reduziert zu werden. Die betriebliche Sozialordnung stellt die Bedeutung gemeinsamer (wenn auch umstrittener) Deutungen, Normen und gewachsener Loyalitäten in den Vordergrund In ihr spielen unterschiedliche Legitimationsmuster unternehmenscher Herrschaft und die Definition von Rolle und Subjektivität der Arbeitenden die zentrale Rolle. Es geht um >>eine von Deutungen, Symbolen und Affekten nicht minder als von Interessen angeleitete interaktive und kommunikative Praxis von gegenseitig abhängigen konkreten 'Personen« (Kotthoff 1994: 24), die von Herrschaft ebenso geprägt wird wie sie die Ausprägung und Legitimierung von Herrschaft bestimmt. Unterschiedliche betriebliche Sozialordnungen, so wird ·man Kotthoff verstehen dürfen, implizieren auch verschiedene Ausprägungen und Generalisierungsformen von Reziprozität. Wenn das Arbeitsverhältnis als ein Mitgliedschaftsverhältnis in einem Sozialgebilde konzipiert ist, dann resultiert hieraus die Legitimität einer sozial generalisierten Reziprozität. Wenn das Arbeitsverhältnis hingegen eher als eine individuelle Vertragsbeziehung verstanden wird, dann werden solche sozialen Generalisierungen eher als inkompatibel mit einem engen Verständnis der Reziprozität von Entgelt und Leistung gewertet. Sehen Management und Beschäftigte die Belegschaft als Kollektiv, aus deren Zusammenwirken Produktivitätseffekte resultieren, so sind sowohl Soziallohnbestandteile legitim als auch die Rücksichtnahme auf Leistungsminderungen einzelner Beschäftigter. In einer individualistischen Perspektive hingegen wird dies als Umverteilung zu Lasten der ))Leistungsträger« verstanden.
8 Immer noch wichtig, weil sie diesen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt ihrer Analyse gestellt haben: Volrnergu.a. 1986.
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Anerkennung in Arbeit und Organisation In der Regel werden Reziprozitätsverhältnisse in Unterndunen thematisiert, wenn man über Leistung und Entgelt oder über Beschäftigungssicherung reflektiert. Dann stehen finanzielle oder andere »handfeste« Befriedigungen von Interessen im Mittelpunkt, also pragmatische Gegenleistungen. Die reziproke Gegenleistung kann jedoch auch in sozialer Anerkennung bestehen. Bilden Entgelt und Arbeitsplatzsicherung die pragmatische Seite der Gegenleistung des Unternehmens für den Einsatz der Beschäftigten, so kann Anerkennung als die expressive Seite angesehen werden.9 Pragmatische und expressive Dimensionen sind nicht alternativ, sondern ergänzen einander. Daher fungiert das Entgelt auch als Symbol der Anerkennung. Man darf Anerkennung also nicht nur als einen kommunikativen Vorgang verstehen, in dem sie zum Ausdmck gebracht wird Vielmehr »materialisiert« sie sich in Strukturen und in ökonomischen Austauschbeziehungen, wenngleich sie hierin nicht aufgeht. Sie ist auch eine kommunikative und emotionale Expression, die jedoch auf Dauer an Glaubwürdigkeit verliert, wenn ihr keine pragmatischen Leistungen entsprechen. Wenn man in der Welt von Arbeit und Organisation über Anerkennung spricht, thematisiert man stets auch das Verhältnis von Anerkennung und Ökonomie. Anerkennung in Wirtschaftsorganisationen steht unter dem Vorbehalt der Ökonomie, denn, um mit Hermann Kotthoff zu sprechen, >>
9 V gi. zur Unterscheidung der pragmatischen und expressiven Dimensionen des Handeins Voswinkel2001: 31ff: 10 Nun gewinnen Ausdrucksformen der Anerkennung schnell einen zynischen Beiklang, etwa wenn der Unternehmensberater Dreibus einen Versuch der Wertschätzung bei der Endassung schildert: »Gemeinsam würdigte man sein Potenzial (...). Der Mitarbeiter erhielt zusätzliche Entwicklungsperspektiven sowie durch die wertschätzende Reflexion eine gute Basis, sich besser und passender am Arbeitsmarkt zu positionieren« (Dreibus 2004: 127).
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von wechselseitiger symmetrischer Anerkennung geprägt, weil sich die Beschäftigten nicht aus~uchen können, mit wem sie zusammen arbeiten beziehungsweise wem sie untergeordnet sind In privaten freiwilligen Beziehungen kann man Personen eher meiden, von denen man sich nicht anerkannt fühlt, und sich so ein eigenes »Anerkennungsportfblio« zusammenstellen. Das ist in Arbeitsbeziehungen11 nicht möglich. Hier ist man zu Formen der Kooperation oder zumindest Koexistenz auch mit Personen gezwungen, die man nicht anerkennt oder von denen man sich missachtet fühlt. Dies bringt einerseits Belastungen mit sich, andererseits jedoch wird man gerade hierin einen wichtigen Faktor der Bildung einer eigenständigen Identität erkennen können. Denn gerade weil man seine Umwelt nicht so komponieren kann, dass stets Bestätigung des Selbst erklingt, ist man gezwungen, die eigene Identität in A.useinandersel!(flng mit Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen zu entwickeln. Diese riflexive Anerkennungsbeziehung verleiht der Identität ihre relative Autonomie gegenüber den jeweils aktuellen Anerkennungserfahrungen. Die Arbeit in einer komplexen Gesellschaft und insbesondere in Organisationen bringt gerade jene »Kreuzung sozialer Kreise« (Simmel1992 [1908]: Kap. 6) mit sich, aus der eine individuelle Identität erwachsen kann. Drittens sind Unternehmen hierarchische Organisationen, deren Zweck - tro!Z mehr oder weniger ausgeprägter Elemente von Partizipation - nicht durch den Willen ihrer Mitglieder gesetzt wird. Die durch die Vermietung der Arbeitskraft übernommene Mitgliedsrolle beinhaltet, dass die Mitglieder innerhalb von »Indifferenzzonen« (Barnard 1972) Einschränkungen und Missachtungen ihrer Bedürfnisse und ihrer Autonomie akzeptieren. Anerkennungsbeziehungen in Organisationen sind daher strukturell asymmetrisch (Holtgrewe u.a. 2000b). Als solche begründen sie Machtrelationen. Wenn die Anerkennung von B für A wichtiger ist als die Anerkennung von A für B, entsteht hieraus eine Bezieh:ung der Abhängigkeit, die man mit Heinrich Popitz als »Autorität« bezeichnen kann: >>Autorität üben Personen aus, deren Anerkennung als besonders dringlich empfunden wird, als ausschlaggebend für die Gewissheit, überhaupt sozial angenommen, sozial ernst genommen zu werden.« (Popitz 1992: 114f.)
Asymmetrische Anerkennungsbeziehungen werden wahrscheinlicher, wenn eine Vielzahl von Akteuren eine Anerkennungsfiguration bildet, also eine Verschränkung der Anerkennungsbeziehungen einer Mehrzahl von Akteuren (Voswinkel 2001: 61ff.).t2 Denn nun zählt für den Einzelnen die Anerkennung dessen, der von vielen anerkannt wird, mehr, und damit wachsen dessen Anerkennung und Autorität.
11 Gleiches gilt auch für verwandtschaftliche Beziehungen. 12 Popitz (1992: 115ff:) hat auf den Mangel einer Anerkennungskonzeption hingewiesen, die nur die Beziehung zweier Akteure A und B in den Blick nimmt. Bereits dann, wenn ein Dritter C
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Der Vorteil der hierarchischen Autorität von Votgesetzten liegt nun darin, dass sie hierdurch in Grenzen unabhängig von der Anerkennung ihrer Untergebenen werden. Denn >xlie Autorität muss vor allem Unabhängigkeit und Selbständigkeit demonstrieren« (Sofsky/Paris 1994: 36f.). Thre Position als Vorgesetzte bietet die Chance, asymmetrische Anerkennungsbeziehungen zu etablieren, weil sie hierdurch eine zentrale Stelle in einer Anerkennungsfiguration einnehmen, sodass sich die Anerkennungsbedürfnisse der Beschäftigten an sie binden können.13 Die Autorität resultiert also nicht unbedingt aus der Anerkennung, vielmehr kann sie selbst Anerkennung und Anerkennungsbedürfnisse hervorrufen. Beziehungen von Anerkennung und Reziprozität sind für die Organisation ambivalent. Auf der einen Seite nämlich können sie die Mitarbeiter durch konsensuelle Arbeitsbeziehungen und den Ansporn des Lobs motivieren. Auf der anderen Seite stiften sie auch Verpflichtungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern und begründen Anrechte auf künftige Honorierungen. Auf diese Weise bindet sich die Organisation an die Vetgangenheit und schränkt künftige Entscheidungen und damit ihre Flexibilität ein. Flexibilität impliziert nämlich Enttäuschung von erfahrungsbegründeten Erwartungen. Die Nichtanerkennung von Leistungen ist daher eine Form organisational für notwendig erachteter Dernotivierung unerwünschter Orientierungen und Interessen der Beschäftigten.14 Aus diesem Grunde auch werden manche Aufstiegs- und Führungspositionen nicht intern, sondern extern besetzt, um gewachsene Reziprozitäts- und Anerkennungsbeziehungen zu zerschlagen und so die Strategie- und Innovationsfähigkeit der Organisation zu gewährleisten.
Die Dimensionen der Anerkennung Wenn sich die Anerkennung der Menschen in der bütgerlichen Gesellschaft wesentlich auf Arbeit gründet, so beinhaltet dies ein grundlegendes Problem. Denn nicht nur resultieren hieraus Anerkennungsprobleme derer, die keine Arbeit finden hinzutritt, beeinflusst dessen Anerkennung von A beziehungsweise B deren Anerkennungsbeziehung. Todorov (1996: 37) kritisiett deshalb auch Hegels He.tr-Knecht-Dilern.ma, weil sich das Problem, dass der Herr vom Knecht nut anerkannt wetden kann, wenn er auch den Knecht anerkennt, dann auflöst, wenn er von einem Dritten C wegen der Missachtung des Knechtes anerkannt wird Dann schließt auch gtenzenlose Unterwerfung des anderen die eigene Anerkennung nicht aus. 13 Richard Sennett (1990) hat gezeigt, dass hieraus eine Macht entsteht, die gerade dadutch wirken kann, dass die Autoritätsperson den Anerkennungsbedürftigen Anerkennung vorenthält. 14 Auch die Bedeutung des Taylorismus bestand wohl nicht zuletzt darin, dass er ein gewaltiges Programm zut Demotivation des Eigensinns und professionellen Arbeitswertverständnisses handwerklicher Facharbeit war.
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können, sondern auch die soziale Wertigkeit von Arbeiten und damit ihre Anerkennungschanc~n sind ungleich. Gerade im Feld der Arbeit werden daher immer wieder Kämpfe um Anerkennung und um die soziale Wertschätzung verschiedener Leistungen geführt. Wenn sich die Anerkennung als Wertschätzung des Beitrags für die Gesellschaft somit auf Leistung und Erfolg in der Arbeit stützt, so handelt es sich hierbei um eine kompetitive und differenzierende Form der Anerkennung. Insbesondere dann, wenn sich Anerkennung in hierarchischem Aufstieg oder der Übernahme attraktiver und angesehener Aufgaben ausdriickt, ist sie knapp. Sie ist nur für diejenigen erreichbar, die als besonders leistungsfiihig oder erfolgreich gelten. 15 Positionale Anerkennung bringt die Erfolgreichen darüber hinaus in eine Pole-Position für die effektvollere Demonstration von Leistung und Erfolg und damit für weitere Aufstiegschancen. Sie fungiert somit als Kapital. Von der WertschätZung für Leistung und Erfolg sind mit Axel Honneth (1994) jedoch andere Formen der Anerkennung zu unterscheiden, nämlich die Liebe und die rechdiche Anerkennung. Kennzeichen der Liebe ist ihre Unbedingtheit, gewissermaßen ihre Unbegründetheit. In der Welt von Arbeit und Organisation lässt sich dies reformulieren als Zuwendung im Sinne von ernst zu nehmender Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Die rechdiche Anerkennung drückt sich in der Arbeitswelt in der Institutionalisierung eines Status als Arbeitsbürger, oder, wie Thomas H. Marshall (1992) dies genannt hat, eines industrial eilzenship aus, das sich je nach nationaler und branchenkultureller Ausprägung in unterschiedlichen Institutionen niederschlägt (Holtgrewe 200Q; Wagner 2004). Beide Formen der Anerkennung sind nur lose mit bestimmten Arbeiten und mit dem Grad von Leistung und Erfolg gekoppelt. lndustrial citizenship ist ein Bürgerrecht, Zuwendung bezieht sich auf gemeinsame Zugehörigkeit. Sie beinhaltet auch Rücksichtnahme auf die nicht arbeitsbezogenen Dimensionen der Pel'Son des Mitarbeiters: auf familiäre Verpflichtungen, auf Krankheiten, auf altersbedingte Leistungseinschränlrungen usw. Und im Hinblick auf die Interaktionsformen meint sie, dass die Mitarbeiter ernst genommen werden und ihnen Chancen auf Wertschätzung gegeben werden. Wenn in Betrieben das Bild der ))Familie« bemüht wird, dann ist hiermit die normative Erwartung von Anerkennung im Sinne von Zuwendung gemeint. Zuwendung und industrial citizenship sind nicht unmittelbar an Vor-Leistungen gebunden und bieten in:gewissen Grenzen eine Kompensation für die Erfahrungen ·geringer Anerkennung für diejenigen, die keine Wertschätzung für Leistung erwerben. Doch auch bei dieser Anerkennung sind noch zwei Formen zu unterscheiden,
·15 Von anderen Faktoren iwie Beziehungsnetzwerken und mikropolitischem Geschick sehe ich hier ab.
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die dem »Prestige« und der »Dankbarkeit« entsprechen. Prestige ist eine differenzierende Form der Anerkennung, sie erfährt nur derjenige, der mehr leistet. Dankbarkeit ist hingegen eine Form, die es ermöglicht, auch normale Arbeiten und erfolglose Bemühungen anzuerkennen. Prestige bezieht sich zwar auf einen geteilten Maßstab, ist aber an Ungleichheit gebunden. Dankbarkeit stiftet beziehungsweise bestätigt soziale Verbundenheit. Thr sprach Georg Simmel (in diesem Band) eine elementare Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu, weil sie die rechtliche Verpflichtung zur Gegenleistung durch eine emotionale ergänzt. Sie honoriert Bemühungen und Opfer und kann als redProke Form der Anerkennung verstanden werden.t6 Sie re-produziert Zugehörigkeiten und verbindet sich so mit der Anerkennungsform der Zuwendung. Ich bezeichne sie als »Würdigung<<. Sie steht der »Bewunderung« gegenüber, die die Anerkennung von Überlegenheit, Erfolg und Ranghöhe zwn Ausdruck bringt (Voswinkel2001: SSff.). Zwei verschiedene Rituale der Anerkennung bringen den Unterschied von Bewunderung und Würdigung prägnant zwn Ausdruck: Die Bestimmung zum »Mitarbeiter des Monats« steht für die Bewunderung. das Betriebszugehörigkeitsjubiläum für die Würdigung.
Wandel der Reziprozität und Erosion der Würdigung Ich möchte nun die These vertreten, dass der aktuelle Wandel von Arbeit und Organisation und die Veränderungen von Arbeitsorientierungen eine Krise der Reziprozität und insbesondere der ihr korrespondierenden Anerkennungsform der Würdigung mit sich bringen. Zwei Entwicklungen möchte ich an dieser Stelle hervorheben, die für diese Krise von wesentlicher Bedeutung sind: Die Destabilisierung von Organisationen und die mit dem Begriff der >>Subjektivierung der Arbeit« bezeichneten veränderten Leitbilder und Arbeitsnormen. 1. Beziehungen generalisierter Reziprozität müssen auf Strukturen der Langfristigkeit aufbauen. Nur wenn die Akteure damit rechnen, dass ihre Zugehörigkeit zwn Unternehmen dann noch besteht, wenn sie Gegenleistungen für ihre Beiträge erwarten, kann sie sich entwickeln. So stellt etwa die Karriere eine Form dar, in der Leistung und Gegenleistung durch Aufstiegsperspektiven zeitlich entkoppelt werden. Sozial generalisierte Reziprozität ist nur möglich, wo Belegschaften in ihrer Zusammensetzung eine gewisse Stabilität aufweisen. Auch sachlich generalisierte Reziprozität erfordert die Akkumulation unterschiedlicher Qualifikationen und erfah16 Diese Dimension von Leistung ist angesprochen, wenn Matcel Mauss formuliert: »Die gesamte französische Gesetzgebung der Sozialversicherung (•••) ist von dem Prinzip durchdrungen, dass der Arbeiter sein Leben und seine Arbeit teils der Gemeinschaft, teils seinem Arbeitgeber hingibt.« (Mauss 1989 (1923/24]: 125)
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rungsgesättigter Einsatzfähigkeiten. Verkürzt sich dieser Horizont, so liegt eine strengere Rechenhaftigkeit des Verhaltens für beide Seiten, Beschäftigte und Organisation, nahe. Dies muss nicht unbedingt zur Erosion von sozialer Reziprozität führen, aber es vermindert die Sicherheit der Geltung von Reziprozitätsnormen, die auf der gegenseitigen Vertrautheit und auf Institutionalisierungen wie Karriereparcours und Sozialleistungen fußt. Ohne diese Sicherheit ist das Vertrauen in die Realisierung von Reziprozität eine riskantere Investition, eine Vorleistung ohne Sicherheit einer Gegenleistung. An die Stelle dieses Vertrauens tritt oft die Altemativlosigkeit einer Situation, die zwar nicht garantiert, dass Vorleistungen sich lohnen, aber dass ohne sie mit Sicherheit kein Lohn winkt. Wer etwa in einem befristeten Arbeitsvertrag nicht erwartungsgemäß leistet, wird keinen dauerhaften Arbeitsvertrag erhalten; wer zur Erlangung eines Auftrags keine Arbeitsproben, Entwürfe, Projektanträge ohne Honorar zu entwickeln bereit ist, wird den Auftrag nicht erhalten. Aber wenn er den Arbeitsvertrag oder Auftrag nicht erhält, muss er seine Vorleistungen schlicht als Fehlinvestition abschreiben. Unter diesen Umständen besteht die Gegenleistung in einer Chance, die man ohne Vorleistung nicht hat. Nun gehen verbreitete Diagnosen davon aus, dass wir es heute mit der Erosion dauerhafter Untemelunensstrukturen, stabiler Beschäftigung und institutionalisierter Normalerwerbsbiographien zu tun haben. Organisationshandeln werde unmittelbarer an den Markt gekoppelt, sodass sich Untemelunen flexibilisieren müssten und diese Anforderungen an die Beschäftigten in Form kurzfristigerer Beschäftigungsverhältnisse weiterreichten. Kompakte und hierarchische Organisationen dezentralisierten sich, Outsourcing führe zur Ausdifferenzierung von Organisationen und ihrer Rekombination in Netzwerkstrukturen (für viele: Castells 2004: 270ff.; Sennett 1998). Hieraus resultiere ein Kurzfristdenken, das dem Aufbau generalisierter Reziprozitätsbeziehungen entgegenstehen würde. Empirische Befunde mahnen jedoch, derartige Entwicklungen nicht vorschnell zu verallgemeinem und ein unmittelbares Durchschlagen der Vermarktlichung von Organisationen auf die Beschäftigungsverhältnisse anzunehmen. So zeigen Auswertungen der IAB-Beschäftigtenstichprobe, dass die gesamtwirtschaftliche Fluktuationsrate sozialversicherungspflichtig beschäftigter Arbeitskräfte zumindest bis 2Wll Jahre 1995 nicht ~enommen hat und die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse sogar gewachsen ist (Erlinghagen 2004). Eine andere Untersuchung zeigt allerdings in der.zweiten Hälfte der neunziger Jahre17 auf der Basis von Daten des sozioökonomischen Panels eine Zunahme zwischenbetrieblicher Mobilität bei einem Rückgang innerbetriebücher Arbeitsplatzwechsel und konstatiert als
17 Für die Phase davor bestätigen die Daten die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse.
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>>eine der markantesten Veränderungen (...) das Wegbrechen bisher garantierter Chancen eines permanenten Aufstiegs endang innerbetrieblicher Senioritätsregeln und Karriereleitern auf Basis von Erwartungen aufgeschobener Reziprozität.« (Diewald/Sill2004: 59)
Hinter derartigen gesamtwirtschaftlichen Daten dürften sich prägnante Unterschiede zwischen Beschäftigungssektoren und Arbeitskräftegruppen verbergen, sodass man nicht von einem einheitlichen Trend des Wandels der Arbeit und der Beschäftigungsverhältnisse sprechen sollte. Generalisierte Reziprozität ist in verschiedenen Segmenten der Arbeitsbeziehungen unterschiedlich wirksam. Aber selbst dann, wenn sich der Wandel nicht. als Destabilisierung der Beschäftigung zeigt, bewirkt er doch »im lnnern« der Arbeitsbeziehung Veränderungen. Hybride Mischformen von Arbeits- und Werkverträgen entwickeln sich, wie sie etwa in Zielvereinbarungen oder in projektförmiger Arbeit erkennbar sind, bei denen das Ergebnis unabhängig von der Art und von dem Einsatz zählt, mit dem es erreicht wurde (K.alkowski 2002; Schmid 2002; Bode/Brose 1999). 2. Sicherlich aber können wir von einem Wandel der gesellschaftlichen Leitbilder und Arbeitsnormen sprechen. Erstens spielt das Pflichtethos der Arbeit nur mehr eine geringe Rolle.18 Es gilt nicht mehr als Ausweis positiver Arbeitseinstellung, jedwede Arbeit anzunehmen, weil diese Haltung nun eher auf Gleichgültigkeit schließen lässt. Damit verbunden ist der Ansehensverlust einfacher, >>normaler« Arbeit, die sich nicht als besondere, qualifizierte oder gar kreative Arbeit darstellen kann. Leistungen zeigen nunmehr nur die »l..eistungsträger<<. Und drittens ist mit dem Leitbild der Selbstverwirklichung und Selbstorganisation der Anspruch einer wachsenden Zahl Beschäftigter verbunden, ihre Subjektivität in die Arbeit einzubringen, eine Erwartung, die in oft paradoxer Verbindung zur Anforderung von Unternehmen an ihre Beschäftigten steht, eben dies zu tun (Voswinkel2002; MoldaschlNoß 2002; K.ocyba 2000; Heidenreich 1996).19 Diese doppelte Subjektivierung der Arbeit bedeutet, dass Arbeit nicht mehr als Last, sondern als Aspekt von Selbstverwirklichung, ja von Spaß gewertet wird.20 Sie
18 Wenngleich die mit dem Namen >>Hartz« verbundenen Reform~ auf dem Atbeitsmatkt darauf zu zielen scheinen, diese zu reetablieren. 19 Die Subjektivierung von Arbeit ist nicht gebunden an die Destabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und die Fragmentierung von Organisationen, also auch nicht identisch mit der These vom Arbeitskraftunternehmer (Voß/Pongratz 1998), da die gewünschte und gefordene Arbeitsorientierung auch in dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen in stabilen Organisationen gefordert und von sicherheitsbewussten Beschäftigten vertreten wird (vgl die in diesem Sinne interpretierbaren Ergebnisse von Pongratz/Voß 2003). 20 Diese Haltung kommt beispielhaft in folgender Äußerung zum Ausdruck: »Ich habe meinen Spaß gehabt. Also ich muss noch dazu sagen, ich habe komplett in meinem Berufsleben meinen Spaß gehabt. Ich habe seit Jahrzehnten eigentlich, seit meiner zweiten Ausbildung immer den Standpunkt gehabt: Ich mache nur Jobs, die mir Spaß machen. Ich muss auch dazu sagen, immer wo ich mich beworben habe (...) ging es bei mir in erster Linie darum, was bringt der
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stellt damit keine Leistung im Sinne eines Aufwands, eines Opfers dar, der mit einer Gegenleis~ honoriert und gewürdigt werden müsste. Sie entzieht sich somit der Reziprozität des Gabentauschs. Hinzu kommen die Knappheitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeit zu einem wertvollen Gut machen. Sie muss nicht mehr belohnt werden, sondern ist selbst Belohnung. Subjektivierung und Knappheit von Arbeit ergänzen einander, mit der Gefahr einer (Selbst-)Überforderung der Beschäftigten (Kropf 2004: 256ff.). Wenn von Arbeitnehmern Flexibilität und Mobilität gefordert ist, dann hat das Jubiläum neuer Betriebszugehörigkeit schnell einen missachtenden Beiklang; als anetkennendes Ritual verliert es seine eindeutig positive Bedeutung. Wer Anerkennung für seine Erfahrung erwartet, kann schnell als Innovationshemmnis gelten. Vergangene Leistungen, so heißt es dann, versperren den Blick auf zukünftige Anforderungen. Auf diese Weise werden die normativen Grundlagen generalisierter Reziprozität unterhöhlt. Nunmehr zieht der »High-Performer« die Blicke der Bewunderung auf sich, deijenige, der sich als Innovator und Vermarkter seiner selbst darzustellen weiß. Die Vergangenheitslosigkeit dieser Anetkennungsform macht allerdings auch ihre Fragilität aus. Sie ist an den wiederkehrenden Erfolg gebunden und stiftet keine Bande der Reziprozität. Sie entspräche einem Übergang vom Status zum Vertrag (Streeclt 1988).
Fazit: Arbeit diesseits bis jenseits der Reziprozität Atbeitsbeziehungen werden wesentlich durch Reziprozitätsbeziehungen geprägt, befinden sich aber immer auch diesseits und jenseits der Reziprozität. Weil es sich Um eine Abhängigkeitsbeziehung handelt, werden Leistungen und Gegenleistungen gewissermaßen auf schiefer Ebene beziehungsweise zwischen oben und unten getauscht. In diesem Sinne handelt es sich nicht (nur) um eine Reziprozitäts-, sondern (auch) um eine Ausbeutungsbeziehung. Gleichwohl herrschen in Arbeitsbeziehungen Normen der Reziprozität. Aufgrund der Eingliederung der Beschäftigten in eine Organisation und in Kooperationsbeziehungen eines kollektiven Produzenten entwickeln sich Formen ihler zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung. Arbeit ist zudem nicht nur Gegenstand einer instrumentellen Beziehung zum Zwecke des Einkommenserwerbs, sondern wesentlich für die Ausbildung von Identität, sozialem Prestige und sozialer Anerkennung. In Arbeitsbeziehungen geht es daher 'hicht nur um Lohn und Leistung, sondern auch um Anerkennung (die selbst wie-
Job mit sich, was für einen Spaß bringt er mit sich, ist er interessant.« (zitiert in Pongratz/Voß 2003: 56)
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derum im Entgelt zum Ausdruck kommen kann). Organisationen brauchen einerseits Beziehungen der Anerkennung, lösen sie andererseits jedoch immer wieder auf. Reziprozität ist daher mit Anerkennungsbeziehungen verknüpft, ohne jedoch mit ihnen deckungsgleich zu sein. Die Formen der Anerkennung unterscheiden sich nach ihrem »Reziprozitätsgehalt<<. Wttd Anerkennung einseitig an Leistung und Erfolg gebunden, so reproduziert und verstärkt sie die Ungleichheitsbeziehungen in der Organisation. Nicht an entsprechende Vorleistungen gebundene Formen der Anerkennung wie Zuwendung und »industrial citizenship<< gewähren eine gewisse Kompensation ungleicher leistungsbezogener Anerkennung. In der reziproken Anerkennungsform der Würdigung werden auf der Basis gemeinsamer Zugehörigkeit auch normale Arbeit und erfolglose Bemühungen wertgeschätzt. Prozesse der Vermarktl.ichung stellen in Bereichen der Arbeitswelt die Grundlagen generalisierter Reziprozität in Frage und fördern eine Beziehung ökonomischen Tauschs von Entgelt und Leistung in Kurzfrist-Arbeitsbeziehungen >>diesseits der Reziprozität«. Die Subjektivierung und die Knappheit von Arbeit drohen der Würdigung die Legitimation zu entziehen und damit eine Entkopplung von Arbeit und Anerkennung >~enseits der Reziprozität« zu befördern. Grad und Ausgestaltung von Reziprozitätsbeziehungen in der Arbeit sind also einem Wandel unterworfen und Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen - gerade derzeit.
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Reziprozität und Wohlfahrtsstaat Stephan Lessenich und Steffen Mau
Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Reziprozität Ein großer Teil der Reziprozitätstheorie aus den Disziplinen der Anthropologie und der Soziologie hat sich auf menschliche Interaktionen unmittelbarer Art bezogen. Die Gegenstände ihres Interesses sind Stammesgemeinschaften, Familien, Freundschaftsnetzwerke oder andere stabile lnteraktionsformen, die durch Jace-toface-Be-
ziehungen charakterisiert sind. Als zentral für die Entstehung und die Aufrechterhaltung von Reziprozitätsnormen wird häufig angesehen, dass diese in relativ kleinräumige und überschaubare Zusammenhänge eingebettet sind Solche Zusammenhänge verleihen dep in Reziprozitätsnormen eingelassenen Verpflichtungs- und Wechselseitigkeitserwartungen Nachdruck, weil sie durch Vertrautheit, soziale Kontrolle und Dauerhaftigkeit der Sozialbeziehungen abgesichert werden. Deshalb ist es auch nicht vetwunderlich, dass lokale Gemeinschaften mit stark ausgeprägten Netzwerkbeziehungeri häufig das Interesse der Forscher auf sich zogen. Insbesondere Formen von familialer1 Wohlfahrtsproduktion sind durch reziproke Austauschbeziehungen reguliert, man denke nur an das Verhältnis zwischen Eltern und Kindem oder Beziehungen zwischen Ehepartnern. In diesem Kontext wird die Entstehung einer »interpersonal morality« (Miller 1994) als besonders wahrscheinlich angenommen, weil Verwandtschaftsbeziehungen quasi-natürliche Verpflichtungsgefühle gegenüber anderen Mitgliedern und ihren Bedürfnissen aufkommen lassen. Reziproke Formen der Unterstützpng sind aber auch typisch für stammesgesellschaftlic~ oder bäuerliche Gemeinschaften, die den Unwägbarkeiten der Natur ausgesetzt sind und daher relativ komplexe Hilfesysteme der Wechselseitigkeit entwickelt haben, die das Überleben der gesamten Gemeinschaft sichern (Scott 1976).1 Ehenfalls auf Gegen-
1 Darüber hiti.aus ist allerdihgs gezeigt worden, dass auch geschichts- .und bindungsanne Gemeinschaften Systeme wechselseitiger Hilfe hervorbringen können. Thomas Stones (1996) Arbeit über die Alaska-Yukon-Goldgräber im späten 19. Jahrhundert bietet einen guten Einblick, wie unter Bedingungen nicht vorhandener familiärer Bindungen und gtoßer Mobilität Formen kollektiver Risikobea.tbeitung entstehen können. In Anbetracht gtoßer Kontingenzen klimatischer und saisonaler Art, extremer Härtebedingungen und der Launen des Glücks kam es zur Ausbildung einer Norm wechselseitiger Unterstützung (Kleidung, Essen, Unterkunft) unabhängig von
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seitigkeit beruhende Unterstützungssysteme waren die in der frühen Periode der Industrialisierung entstehenden »friendly societies«, die kollektive Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft darstellten. Ganz anders sieht es bezüglich sozialer Großinstirutionen aus, deren Reichweite über das Lokale hinausgeht und die häufig auf der nationalstaatliehen Ebene organisiert sind Für diese Instimtionen kann man nicht davon ausgehen, dass sie durch soziale Nähe sozialmoralisch unterfüttert werden, denn die durch sie instirutionalisierten Sozialbeziehungen sind häufig unpersönlich, bürokratisiert und verrechtlicht. Damit fehlt ihnen jene für den sozialen Austausch so eigentümliche Kombination aus Freiwilligkeit und normativer Erwartung, die in den meisten Arbeiten zum Gabentausch hervorgehoben witd (Mauss in diesem Band). Der Wohlfahrtsstaat beispielsweise ist ein nationalstaatlich organisiertes System wechselseitiger Hilfe, das Umverteilungen zugunsren von Personengruppen in spezifischen Bedürfnislagen vornimmt. Aber anders als familiale und gemeinschaftliche Formen der Wechselseitigkeit stützt er sich nicht auf unmittelbare Verpflichrungsgefühle, sondern operiert auf der Grundlage einer rechtlich und instirutionell fixierten Ordnung. Nicht persönliche Beziehungen und damit verbundene Motivlagen prägen die Transfers innerhalb der Systeme der sozialen Sicherheit, sondern unpersönliche Beziehungen zu anderen Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens. Aufgrund seiner Verrechtlichung und Instirurionalisierung witd das wohlfahrtsstaatliche Verteilungssystem auch als Modus einer verstaatlichten und zwangsförmigen Solidarität verstanden, als »Zwangsverband, der die mitmenschlichen Unterstützungsleistungen der Mitglieder der nationalstaatliehen Gemeinschaft abgaben- \Uld steuerpolitisch erzwingt (tu1d) die lebensweltlichen Netze der privaten Hilfe durch ein bürokratisches System umfassender Zwangsmitgliedschaft \Uld gesetzlicher Umverteil\Ulg ersetzt.« (Kersting 1998: 422)
In Anbetracht dieser Eigenarten lässt sich sogar argumentieren, dass der Staat die Austauschform der reziproken Hilfeleismog unterminiert, denn monetäre Transfers werden durch staatliche und instirutionelle Vermittlung anonymisiert und von sozialen Beziehungen abgetrennt, während gleichzeitig soziale Diensdeistungen mehr und mehr von professionellen Agenturen übernommen werden, die auf die Existenz sozialer Bindungen zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfangenden nicht mehr angewiesen sind (Godbout 1998: 56ff.). Der wohlfahrtsstaatliche Versuch, ständisch-gemeinschaftliches »Sozialverttauen« in modernes lnstirurionen- beziehungsweise »Systemverttauen« zu transformieren (vgL Luhmann 1975; Göbel/Pankoke 1998; Huf 1998: 113ff.), ist in dieser Lesart auf lange Sicht wenig erfolgversprechend
den individuellen Bezieh\Ulgen \Uld Eigenschaften der Person, sodass man von einer »indiscriminate extension of interpersonal welfare entidements« (Stone 1996: 551) auf der Basis allgemeilier Reziprozität reden kann.
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Mit dem wohlfahrtsstaatliehen Instimt sozialer Rechte ist jedenfalls eine Form der Gewäh?eistung von Ansprüchen erreicht, die sich durch einen hohen Grad an Universalität auszeichnet. Die Bürger des Wohlfahrtsstaates sind Rechtsträger und keine Empfiinger von Wohltätigkeit oder altruistischer Hilfe, die Dankbarkeit oder Unterordnung nach sich zieht. In Thomas H. Marshalls (2000 (1949]) Dreierschema der sequentiellen Entwicklung von bürgerlichen Freiheitsrechten, polirischen Teilnahmerechten und sozialen Teilliaberechten gelten letztere als Errungenschaft des Modernisierungsprozesses mit dem Ziel, die materiellen Voraussetzungen der effektiven Teilliabe am politischen, sozialen und kulrurellen Leben zu schaffen. Soziale Rechte sichern dementsprechend den Zugang zu einem gesellschaftlich definierten Maß an ökonomischer Wohlfahrt, welches den Bürgern allein aufgrundihrer Mitgliedschaftsrolle zugestanden wird. Rechte verleihen einen unhintergebbaren Starus innerhalb eines polirischen Gemeinwesens, unterbinden willkürliche Herrschaft und betonen den Gedanken der substantiellen Erweiterung von persönlicher Freiheit und individuellen Handlungsspielräumen. Wie für das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung könnte man auch für soziale Teilhaberechte reklamieren, dass sie auf universeller und unbedingter Basis garantiert werden (sollten) (Van Parijs 1995). In der polirischen Philosophie und in der Rechtstheorie findet sich eine umfangreiche Kontroverse, inwieweit soziale Rechte auch ein Bestandteil verfassungsmäßig zugesicherter Rechte sein sollten (z.B. Holmes/Sunstein 1999; Epstein 1985). Damit unterscheidet sich die Idee sozialer Rechte vom traditionellen Armenrecht, weil darin nur jenen Hilfe angeboten wurde, die »ihre Niederlage erklärten und um Gnade bettelten« (Marshall 2000 (1949]: 60) und damit aufhörten, Bürger im umfassenden Sinne des Wortes zu sein. Die Gewährung von Hilfe ging häufig mit Zumutungen verschiedenster Art einher, so zum Beispiel mit der Internierung in Armenhäuser, Stigmarisierungen oder dem Verlust von Freiheitsrechten. Im Geltungsbereich der sozialen Rechte ist für derartige nach Gutdünken verfahrende Hilfegewährung kein Platz, da sie auf Statusgleichheit, nicht-arbiträrem Zugang und Rechtssicherheit aufbaut. Dies entspricht auch der von Max Weber (1947 (1920]) entworfenen Sichtweise auf den Prozess der Rationalisierung im Sinne der Durchsetzung formal rationalerer Lösungen, die durch Unpersönlichkeit und Berechenba:rkeit gekennzeichnet sind Bettachtet man die sozialen Sicherungssysteme unter diesem Gesichtspunkt formaler Rationalität, dann lässt sich durchaus behaupten, dass sie Arrangements der unpersönlichen Art sind, »die sich eher weg von der Familie, weg v:on moralischen Verpflichtungen, und hin zur Anonymität und zu normativ vergleichsweise endastenden Vertragsverhältnissen bewegen« <(Ganssmann 1993: 389);2
2 Mit dem Beschreiten des Weges von Verrechtlichoog, Bürokratisierung und Nationalisierung sozialer Solidarität rekurrierte der Wohlfahrtstaat zur Legitimation seiner Interventionspraktiken
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Angesichts der beschriebenen Charakteristika von wohlfahrtsstaatliehen Leisrungssystemen - ihrer Verrechtlichung und Entpersönlichung, der Generalisierung von Rechtsansprüchen und der Anonymisierung von Ressourcentransfers - scheint hier in der Tat für die Wtrkung von Reziprozitätsnormen wenig Platz zu sein. Zu abstrakt, zu formalisiert, zu distanziert, kurzum zu institutionalisiert erscheinen die vom Wohlfahrtsstaat konstruierten Beziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen. als dass sich der stattfindende Austausch mit Hilfe eines auf Kleingruppen abgestellten Reziprozitätskonzeptes &ssen ließe. Auch lässt sich einwenden. dass die mit dem Wohlfahrtsstaat durchgesetzten sozialen Rechte eben Ansprüche gegen staatliche Instimtionen und nicht gegenüber spezifischen Gruppen oder konkreten Individuen darstellen. Da die Gewährungspraxis staatlicher Agenmren rechtsgebunden und kocliftziert ist, entfernt sie sich stark von normativen Erwartungen hinsichtlich individueller, situativer Reziprozitätsleisrungen. So gesehen erscheint es kaum sinnvoll. die moralischen Austauschformen sozialer Gemeinschaften mit verrechtlichten und bürokratisierten Umverteilungsagenturen gesellschaftlicher Großaggregate gleichzusetzen und das Konzept der Reziprozität auf Formen instimtionalisierter, vergesellschafteter Solidarität zu beziehen
Der Wohlfahrtsstaat als Reziprozitätsarrangement Trorz dieser Spezifika wohlfahrtsstaatlicher Arrangements lassen sich gleichwohl Argumente finden. die darauf hinweisen. dass der Wohlfahrtsstaat ein instimtionell vermitteltes Reziprozitätsarrangement darstellt Marcel Mauss (1968 [1923/24]) selbst hat herausgestellt, dass sich in den modernen Instimtionen der sozialen Sicherheit der »Geist der Gabe« fortsetzt, denn auch diese etablieren Verhältnisse von Gegenseitigkeit und Verpflichtung. Die staatliche Instimtionalisierung von moralischen Verpflichtungen zur Unterstützung von sozial Schwachen und Bedürftigen kann durchaus als Übertragung vormals gemeinschaftlicher Verpflichtungsverhältnisse auf eine höhere, gesellschaftliche Ebene verstanden werden. in deren Folge sich moralökonomische Regulierung möglicherweise abschwächt, aber nicht gänzlich auflöst (Kaufmann 2002: 37ff.). Wtr werden 'im Folgenden einige Argumente für den Reziprozitätscharakter des Wohlfahrtsstaats"sammeln. um uns anschließend der Frage nach den Varianten der wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsnorm sowie zunelunend auf Ideen der Verteilungsgerechtigkeit Der Vorteil dieser Legitimationsbasis wird vielfach darin gesehen. dass enge sozialmoralische Kollektivbezüge keine notwendige Voraussetzung ffu die Zustimmung zu bestimmren gesellschaftlichen Verteilungen darstellen. Nicht affektive Bindungen sichern damit die Zustimmung zu Ressourcenttansfers, sondern die kognitive Zustimmung zu Gerechtigkeitsprinzipien (Mau 2002a).
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dem Problem ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und politischen Reproduktion zuzuwenden. Zunächst kann man darauf verweisen, dass Rechte keine abstrakten Setzungen sind, sondern oft Güter beinhalten, die innerhalb von politisch konstituierten Gemeinschaften verteilt werden. Anband der Unterscheidung zwischen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten lassen sich zudem deudiche Differenzen hinsichtlich der Reichweite, des Inklusionsgrades sowie der institutionellen, prozeduralen und materialen Voraussetzungen vOn. Rechten aufzeigen. So sind soziale Rechte nicht in dem gleichen Maße universalisierbar und institutionalisietbar wie beispielsweise bürgerliche oder politische Rechte und ihre konkrete Gestaltung ist stark von politischen und ökonomischen Faktoren abhängig. Damit stellen soziale Rechte ein in besonderer Weise umkämpftes Terrain dar, denn alle Ansprüche gegenüber staatlichen Institutionen sowie die Verteilung von Kosten und Nutzen sind letztendlid:t auf kontingente innergesellschaftliche Aushandlungsprozesse zurückzuführen. In diesen wird entschieden, "Welche Ansprüche als gerechtfertigt und angemessen angesehen werden. Im Zuge dieser Kontroversen werden auch gesellschaftliche Vorstellungen des wechselseitigen Bedarfsausgleichs entwickelt, und es werden normative Rechtfertigungen für bestimmte Leistungsansprüche bereitgestellt. Die Logik der Anerkennung von sozialen Ansprüchen folgt dem Paradigma von kooperativen Rechten und Pflichten innerhalb eines Gemeinwesens und nicht allein der Idee individueller Rechte. Obwohl der Einzelne als Rechtsperson mit sozial akzeptierten und individuell einklagbaren Ansprüchen auftritt, können diese doch erst vor dem Hintergrund einer Kollektivbeziehung und über diese vermittelt geltend gemacht werden. Diese Kollektivbeziehung ist eine notwendige Voraussetzung für die gemeinsame Haftung für individuelle Bedarfe und die Anerkennung von Ansprüchen gegenüber der Gemeinschaft: Das Risiko ist definitionsgemäß kollektiv, und die eigentliche Leistung der gemeinschafdichen Versicheruog gegen soziale Risilren »ist die Schaffung von Verhältnissen der Wechselseitigkeit« (Ewald 1989: 390). Für die Bestimmung und Anerkennung von individuellen Ansprüchen auf soziale Hilfen ist also davon auszugehen, dass es gemeinschaftlich geteilte und kollektiv realisierte Vorstellungen von Wechselseitigkeit, Angemessenheit und Fairness sind, die den Maßstab für die Gewährimg von sozialen Rechten abgeben. Dies bedeutet zugleich auch, dass soziale Rechte viel enger als Menschen- oder Bürgerrechte an die Grenzen nationalstaadich organisierter Gesellschaften gebunden sind. Ganssmann (1993) hat überzeugend gezeigt, dass die Marshallsehe Analogie von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten überzogen ist, da soziale Rechte nicht mit derselben Unbedingtheit gewährt werden können wie die anderen beiden Rechtstypen und hinsichdich ihrer Dauerhaftigkeit Einschränkungen unterworfen sind. Ein weiterer Unterschied zwischen sozialen Rechten und bürgerlichen oder politischen Rechten besteht in der Ressourcenabhängigkeit von Wohlfahrtsrechten.
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Schon Weber (1980 [1922]: 648) bat darauf hingewiesen. dass mit der Ausweitung des Rechts in die Sphäre materialer Anforderungen der formale Charakter desselben in Frage gestellt wird Materiale Rechte haben eine große Verdichtung von Anspruchsinhalten zur Folge. Das Recht auf freie Meinungsäußerung kann zum Nulltarif angeboten werden, soziale Leistungsrechte aber setzen die fiskalische Abschöpfung finanzieller Mittel voraus. Da der Staat selbst keine autonome Quelle der Ressourcen- und ReichtumSproduktion ist, kann er seine Leistungskraft nur aus den Beiträgen der Bürger gewinnen. sei es in Form von Steuern. Sozialbeiträgen oder Gebühren. So gesehen ist der Wohlfahrtsstaat in Gänze nur zu erfassen. wenn man nicht allein die Ausgaben- und Leistungsseite betrachtet, sondern gleichzeitig die Seite der Mittelaufbringung. Dann wird aus dem Leistungsgewährungsstaat ein Sozialtransferstaat, und aus der Verteilungspolitik wird Umverteilungspolitik. Das heißt konkret, dass soziale Ansprüche vor allem durch-Ressourcenumverteilung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen befriedigt werden. Wohl findet mit der zentralen Bedeutung von Geldzahlungen eine Rationalisierung sozialer Austauschakte statt, und wohl abstrahieren monetäre Austauschformen von anderen Qualitäten menschlicher Beziehungen, aber auch Geldströme konstituieren soziale Beziehungen (Zelizer 1994). Auch wenn die staatlich organisierten Verteilungsströme institutionell vermittelt sind und damit den direkten Kontakt zwischen den involvierten Gruppen aufheben. und auch wenn wohlfahrtsstaatliche Transfers einen gewissen Grad an Obskurantismus hinsichtlich der eindeutigen Identifizierung von Beiträgem und Empfangern aufweisen -im entwickelten Wohlfahrtsstaat ist praktisch jeder Bürger beides zugleich -, ergibt sich aus ihnen ein Gefüge sozialer Beziehungen, innerhalb dessen sich Individuen und Gruppen in ein Verhältnis mit anderen Individuen und Gruppen gesetzt sehen. Materielle Umverteilung findet immer auch als »Umverteilung in den Köpfen« (Prisching 1996: 282) statt, das heißt in der sozialen Wahrnehmung fließen Transferströme von (real existierenden oder bloß imaginierten) Absendern zu Empfängern. In diesem Sinne lassen sich wohlfahrtsstaatliche Arrangements als ein spezifischer Modus der Vergesellschaftung auffassen. durch den gesellschaftliche Gruppen in ein institutionell bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Die Kategorisierung und Determination dieser Gruppen ist Folge staatlicher Interventionspraktiken, die genau fesdegen. wer wann und unter welchen Umständen leistungsbezugsberechtigt ist und wer wann und unter welchen Umständen zur Beitragsleistung herangezogen wird. Zwischen diesen definierten Gruppen finden staatlich organisierte Transfers statt: Zwischen Steuerzahlern und Sozialhilfeempfängern. zwischen Gesunden und Kranken. zwischen Menschen im erwerbsfähigen Alter und der Gruppe der Rentner oder zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen. In Anbetracht dessen ist es ein unhaltbarer Reduktionismus, den Wohlfahrtsstaat analytisch auf seine Ausgabenfunktion zu beschränken und nicht seine Rolle der sozialen Rela-
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tionierung von Individuen und Gruppen zu berücksichtigen (Lessenich 1998). Marti.n Kohlis (1987) Arbeiten zur lnstitutionalisierung der Altersrente und des Rentenalters als einer distinkten Lebensphase nach dem Erwerbsleben, die mit bestinunten Ansprüchen gegenüber der Gesellschaft verbunden ist, machen auf das besondere Verhältnis aufmerksam, 'das sich durch die öffentliche Alterssicherung zwischen Erwerbstätigen und Rentnern etabliert, da von der ersten Gruppe erwartet wird, dass sie im Rahmen der so genannten Generationensolidarität für den Unterhalt der Letzteren aufkommt. Derartige institutionalisierte Formen der »seriellen Reziprozität« (Boulding 1981) sind in Analogie zu farnilialen Vetpflichtungsbeziehungen zwischen sukzessiven Generationen konstruiert, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass hier nicht Familienmitglieder, sandem altersbezogen konstruierte Großgruppen miteinander in Verbindung treten. So ist Bourdieu (m diesem Band) zuzustinunen, dass auch die staatliche Organisation des Tauschverkehrs zwischen den Generationen ohne moralökonomische Steuerung nur unzureichend zu verstehen ist (vgl. auch Hallstein in diesem Band). Ein weiterer Aspekt'reziproken Austausches lässt sich in den durch den Wohlfahrtsstaat in Szene gesetzten Verhältnissen des Gebens und Nehmens erkennen. Innerhalb der wohlfahrtsstaatliehen Leistungssysteme ist niemand nur Kostenträger und niemand ausschließlich Nutznießer, sondern Geben und Nehmen sind in einer Weise miteinander verknüpft, die den Wohlfahrtsstaat als Veranstaltung der Gegenseitigkeit erscheinen lassen. Obwohl deutlich asymmetrische Verteilungsverhältnisse durchaus möglich sind, ist die Grundarchitektur der Systeme so angelegt, dass die Kosten breit gestreut und getragen werden und der Nutzen potentiell allen Bürgern - auch den Mittelschichten (Goodin/LeGrand 1987) - zukommen kann. Deshalb kann auch herausgestellt werden, dass das wohlfahrtsstaatliche System Vorstellungen verallgemeinerter Gegenseitigkeit fördert (Kaufmann 1997: 141ff.). In der Verschränkung von Querschnitt- und Längsschnittperspektive (etwa beim umlagefinanzierten System der Alterssicherung) wird dies besonders deutlich: Was in einer Momentaufnahme als Umverteilungsmaßnahme von Gruppe A zu Gruppe B erscheint, stellt in dynamischer Sicht eine Mischung aus interpersonaler und intrapersonaler (nämlich intertemporaler) Umverteilung dar, wobei die Individuen in Gruppe A wie in Gruppe B in je unterschiedlichen Lebensphasen Nettozahler oder Nettoernpranger innerhalb des Systems sind. Das Gros der wohlfahrtsstaatliehen Leistungsangebote ist auf Risiken im Lebensverlauf ausgerichtet und erzeugt damit Sicherheitsgewinne für die breite Masse der Bevölkerung. Allerdings gibt es auf unterschiedlichen Feldern sozialpolitischer Intervention durchaus Unterschiede in der Art wohlfahrtsstaatlich vermittelter Gegenseitigkeit, zum Beispiel was die Natur des Risikos, seine individuelle Absehbarkeit und Erwartbarkeit sowie seine objektive Eintrittswahrscheinlichkeit betrifft. Während Alterung und Verrentung als Standardrisiken angesehen werden können, die Teil des »normalen<< Lebensverlaufs sind,
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müssen Krankheit Wld Arbeitslosigkeit als sozial hochgradig kontingent gelten - ein Unterschied, der für die Versicherbarkeit der Risiken Wld die soziale Akzeptanz der damit verbundenen Umverteilungen von großer BedeutWlg ist (Ullrich 2000; Hamann ua. 2001). Ein letzter GrWld, warum zutreffend von wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsarrangements gesprochen werden kann, hat schließlich mit dem motivationalen Aspekt sozialer AnerkennWlg Wld gesellschaftlicher Akzeptanz zu tWl. Eine Reihe von empirischen Studien hat belegt, dass Reziprozitätsnormen zentraler Bestandteil der individuellen Wld kollektiven Motivhaushalte hinsichtlich der Akzeptanz oder der AblehnWlg kollektiver Sicherungsarrangements darstellen (Bowles/Gintis 2000; Ullrich 1996; Mau 2003). Ähnlich wie in Situationen bedingter Kooperation kann man davon ausgehen, dass die Bereitschaft zur Produktion kollektiver Güter eng daran geknüpft ist, ob in der Wahrnehmung der Beitragszahler auch alle anderen ihre jeweiligen Beiträge erbringen. Dabei geht es weniger um eine GleichverteilWlg der Lasten oder eine nach einer festen Regel erfolgende Aufteilung der Kosten, sondern um die ErfüllWlg von ReziprozitätserwartWlgen. In einem kollektiven Arrangement ist jeder gefordert, entsprechend seiner Möglichkeiten Wld Ressourcen Beiträge zur Finanzierung Wld AufrechterhaltW1g desselben zu leisten. Ohne eine solche Zusicherung droht die Gefahr der Defektion, das heißt die Bereitschaft der Teilnehmer, an der Produktion kollektiver Güter teilzWlebmen, wird Wlterminiert. Die experimentelle WtttschaftsforschWlg hat umfangreiche Belege dafür erbracht, dass in kooperativen Kontexten reziproke Motivationen einen großen Stellenwert besitzen (Fehr/Gächter 1998; Falk 2001). Der Homo Reciprocans (Bowles/Gintis 2000; siehe auch Becker 1956) Wlterscheidet sich deutlich vom Homo Oeconomicus, weil er sein Verhalten nicht nur konsequentialistisch am erwartbaren Nutzen, sondern auch an der EinhaltWlg bestimmter Reziprozitätsnormen ausrichtet. Gleichzeitig sind reziprok motivierte Individuen auch keine Wlbedingten Altruisten, weil sie nur dann zum kollektiven Gut beitragen, wenn auch andere ihren Teil der Last tragen. Reziprozität entspringt damit auch einer Ausbeutungs- Wld Trittbrettfahreraversion, die verhindem soll, dass die eigene Beitragsbereitschaft dazu führt, dass sich andere ihren VerpflichtWlgen entziehen. Es ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass ReziprozitätserwartWlgen vor allem dann sichtbar werden, wenn sie als verletzt angesehen werden. Diese besondere Visibilität des Wtrkens von Kollektivnormen angesichtsihrer VerletzWlg hat sich auch schon Durkheim (1999 [1893]) in seiner Analyse sozialer Solidaritätsformen ZWlutze gemacht. Mit Durkheim argumentiert, wird das Wtrken von Reziprozitätsnormen vor allem ex tlßgativo deutlich, also dann, wenn Menschen die Reziprozitätsnorm verletzt sehen Wld mit moralischer Empörung reagieren. In der Interpretation dieser Befunde wird häufig auf tief sitzende psychologische Dispositionen verwiesen, von denen angenommen wird, dass sie nicht auf Interak-
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tionen in Gruppen beschränkt sind, sondern auf die Einstellungen zu Institutionen und damit zum Wohlfahrtsstaat insgesamt durchschlagen (Wax 2000). Über Gruppenexperimente hinaus lässt sich mit Hilfe von Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für einzelne wohlfahrtsstaatliche Programme nicht nur auf ihre jeweiligen Ziele wie Armutsvermeidung bezogen ist, sondern ebenso auf grundlegende Annahmen über die Ursachen von Armut und das Verhalten der 1-Iilfeempfänger. Eine große Rolle spielen dabei die Prinzipien der Eigenverantwortung und der Selbsthilfe. Die Befragten diskriminieren danach, ob die V erursachung einer Armutslage unmittelbar auf das Verhalten des Individuums (un Sinne mangelnder Anstrengungen) zurückgeführt - also als selbstverschuldet angesehen - werden kann oder ob strukturelle beziehtmgsweise schicksalhafte Gründe (soziale Diskriminierung, mangelnde Chancen, persönliches Pech) als maßgeblich angenommen werden (Mau 2003: 120ff:). Auch was die vermuteten Wttk:ungen wohlfahrtsstaatlicher Hilfe angeht, ergeben sich Effekte für die geäußerte Unterstützungsbereitschaft. Wenn Steuerzahler annehmen, dass Sozialleistungen die Selbsthilfebereitschaft der Leistungsemptanger abschwächen, oder wenn dem System unterstellt wird, dass es dazu beiträgt, dass sich Ernplanger von Leistungen auf diesen ausruhen, dann werden positive Akzeptanzurteile abgeschwächt. Befragte tendieren sogar dazu, zwischen ))würdigen« und ))unwüfdigen« Hilfeempfangern zu differenzieren - eine Unterscheidung, die sich direkt auf das Wirken von Reziprozitätserwartungen beziehen lässt (Hamann tLa. 2001 ).
Varianten der wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsnorm Die bisherigen Ausführungen geben noch keine Auskunft darüber, welche konkreten Formen der gesellschaftlichen Gegenseitigkeit die wohlfahrtsstaatliche Norm der Reziprozität nun nahe legt beziehtmgsweise erfordert. Die seit langem geübte und in jüngster Zeit auf;breitere Resonanz stoßende, konservative Kritik am Wohlfahrtsstaat suggeriert, es1 ginge vorrangig um eine ausgeglichene Bilanz von gesellschaftlicher Unterstützung und individueller Gegenleistung, um eine enge Kopplung von Rechten und Pflichten (Mead 1997). In dieser Logik verlangt die wohlfahrtsstaatliche Reziprozitätsnorm von den Ernplangern öffentlicher Hilfe im Gegenzug zuvorderst Arbeitswilligkeit und die möglichst offenkundige Bereitschaft, eigene Anstrengungen zur Wiedererl.angung von Beschäftigung beziehungsweise ))Beschäftigungsfiihigkeit« zu unternehmen. Entsprechend einer solchen Lesart wird Hilfe dann entzogen, wenn sich Hilfeemp&nger nicht gebührend verhalten und ihren reziproken Pflichten nicht nachkommen. Eine derartige Engführung der Diskussion ist allerdings keineswegs zwingend: Der Wohlfahrtsstaat stellt ein theo-
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retisch wie empirisch variables Reziprozitätsarrangement dar, das sehr nnterschiedliche Formen der Gegenseitigkeit in sich aufnehmen kann. Die neuere Literatur zur »Moralökonomie« des Wohlfahrtsstaates lässt diesen theoretisch denkbaren nnd empirisch konstatierbaren Variantenreichtum der wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsnorm deutlich werden. Vier verschiedene, im Folgenden zu präsentierende Typologisierungsversuche können zur gedanklichen Ordnung dieser Vielfalt beitragen. (1) Carsten Ullrich (2000) entwickelt auf der Grundlage von Befragungen gesetzlich Krankenversicherter in der Bnndesrepublik, die sich selbst als »Netto-Zahler« betrachten, drei Realtypen von Re:dprozitätsvorstellungen, die offenknnclig von den institutionellen Regeln des Sozialversicherungssystems bedient werden (können) nnd die individuelle Solidaritätsbereitschaft mit den »Netto-Empfängern« des Systems maßgeblich beeinflussen. Risikoreziprozität, Erwartungsreziprozität nnd generalisierte Reziprozität stellen demnach je spezifische Mischungsverhältnisse von interessengeleiteter Zustimmung nnd wertbedingter Akzeptanz versicherungsförmig organisierter Umverteilungen dar (Ullrich 2000: 65ff., 220ff.). Sie nnterscheiden sich hinsichtlich des vermuteten zeitlichen Abstands zwischen Leistnng nnd Gegenleistnng, der angenommenen Identität oder Nicht-Identität von Rezipienten nnd Reziprokatoren der eigenen Gabe nnd nicht zuletzt auch mit Blick auf die Art nnd Wahrscheinlichkeit der erwarteten Gegengabe. Die Vorstellnng einer Risikorezipro:dtät zwischen allen Mitgliedern der Versicherung weist eine dezidiert interessenrationale Struktur auf. Sie bezieht sich in erster Linie auf den reinen Risikoausgleich innerhalb einer Schutzgemeinschaft Wtrd mein Nachbar krank, dann kommt das Versichertenkollektiv ebenso für ihn auf wie es dies gegebenenfalls für mich tnn wird. Da das individuelle Krankheitsrisiko sowohl nnterschiedlich wie auch (in der Rege~ nnbekannt ist, bleibt die tatsächliche Inanspruchnahme einer Gegenleistnng für die geleisteten Beitragszahlungen ebenso nnbestimmt wie deren möglicher Zeitpunkt, nnd die personelle Identität des Empfängers meiner Zahlnng mit dem Finanzier meiner Leistnngsansprüche tritt - anders als in gemeinschaftlichen Reziprozitätskonstruktionen - für die Frage der eigenen Solidaritätsbereitschaft in den Hintergrund Am ehesten noch kann von einer solchen Identitätsannahme beim konkurrierenden Deutnngsmuster der Erwartungsreziprozität ausgegangen werden. Dieses bezieht sich vornehmlich auf die in wohlfahrtsstaatliche Versicherungssysteme eingelassenen Elemente des sozialen Ausgleichs zwischen einzelnen Versichertengruppen, insbesondere auf Formen der intergenerationeilen Umverteilnng: Was ich heute, gesnnd nnd arbeitsfahig, an Beiträgen (etwa für die kostenlose Mitversicherung von Kindern) leiste, wird mir später, wenn ich alt nnd krank bin, zurückgezahlt werden. Die biographische Distanz der Gegenleistnng, zugleich aber auch die Wahrscheinlichkeit derselben werden in diesem Fall als relativ hoch eingeschätzt. Dies gilt in noch stärkerem Maße für den dritten, umfassendsten nnd am weitesten von Motiven rationaler Interessenverfolgung sich entfernenden
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Typus der generalisierten Rr.(jprozität. Hier wird die Erwiderung der eigenen Leistungen durch die Versichertengemeinschaft allein schon deshalb als sicher angenommen, weil es keinen Maßstab für eine adäquate oder gar äquivalente Gegenleistung gibt: Der Beitragszahler sieht sich in einer vagen »Reziprozitätsschuld« gegenüber einer abstrakten Allgemeinheit, die ihm zum Beispiel sozialen Aufstieg ermöglicht hat und deswegen umgekehrt seinen Beitrag zur kollektiven Absicherung des Krankheitsrisikos erwarten darE: diesen gleichsam »verdient« hat. Sowohl die Identität der Reziprozierenden wie auch der Zeithorizont der Leistungserwiderung verlieren sich hier im Unge&hren, Unbestimmten einer verallgemeinerten gesellschaftlichen Gegenseitigkeit. (2) Dass diese Vorstelltmg einer generalisierten Reziprozität allerdings eher untypisch für den Motivhaushalt von Sozialversichertmgssystemen ist, zeigt die von Steffen Mau (2002b, 2003) entwickelte, auf international vergleichenden Untersuchtmgen beruhende Idealtypisierung von ))Reziprozitätsregimes<<. Seine Typologie gründet auf der Annahme, dass das jeweilige institutionelle Design eines Wohlfahrtsstaates mit einem je andersartigen Repertoire normativer Deutungsmuster verbunden ist. Neben den aus Ullrichs Analyse bekannten Typen der generalisierten Reziprozität und der Risikoreziprozität unterscheidet er als zwei weitere Varianten institutionalisierter Wechselseitigkeit die in Pflicht nehmende sowie die ausgeglichene Reziprozität (Mau 2002b: 354ft:). Er knüpft damit konzeptionell an die mittlerweile gängigen Typologien von »worlds of welfare« im Sinne Esping-Andersens (1990) an, setzt aber - im Kontrast zu diesen - die Struktur sozialer Beziehungen und die Normen sozialer Reziprozität als zentrales Unterscheidungskriterium von Wohlfah,rtsregimen.3, Die vier idealtypisch identifizierten Reziprozitätsarrangements unterscheiden sich in Maus Konzeption hinsichtlich der Wertigkeit und Determiniertheit der Rückgabe, der Toleranz von materiellen Ungleichgewichten und des Grades der Konditionalität von Hilfegewährung. Vorstelltmgen getMralisierter Rr.(jprozjtät sind demzufolge typischerweise mit institutionellen Arrangements kompensatorischer U mverteilung nach Art der Staatsbürgerversorgung assoziiert. Ein solch universalistisches Wohlfahrtsmodell folgt der normativ-relationalen Logik einer Solidarität zwischen den Klassen, die Deutungsmuster eines Ausgleichs von Leistungen und Gegenleistungen nur in einer imaginierten und idealisierten Gesamtbilanz zulässt. Dem klassischen, Lebensstandard sichernden und Sozialstatus reproduzierenden Sozialversicherungsmodell hingegen sind Vorstelltmgen ausge3 In seinen neuerenArbeiten unternimmt auch Esping-Andersen selbst den Versuch, seine allseits bekannten drei Regime-T.ypen im Sinne von (universalistischen, residualen beziehungsweise kotporatistischen) »Solidaritätsmodellen« zu rekonzeptualisieren (Esping-Andersen 1999: 32f(, 73ff.). Damit wird er - iri. allerdings theoretisch wenig elaborierter Weise - seinem ursprünglichen Anspruch, eine relaüonale Analyse des Wohlfahrtsstaates zu betreiben (Lessenich 1998), mittlerweile wenigstens imAnsatz gerecht.
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glichener Ri:~:dtät zu eigen, wonach institutionell - qua Äquivalenzprinzip - ein Entsprechungsverhältnis zwischen erbrachten Beiträgen und erwartbaren Leistungen her- und sicherzustellen ist. Umverteilungen sollen hier folglich weniger interpersoneller als vielmehr intertemporaler Art sein, und das Kompensatorische des Wohlfahrtsstaates bezieht sich vornehmlich auf die »deferred gratification<< einer Entschädigung für frühere Beitragszahlungen durch spätere, beitragsgerechte Leistungsansprüche. Ein drittes, subsidiäres Modell der Wohlfahrtspolitik folgt der Logik der gesamtgesellschaftlichen Haftung für soziale Risiken, deren Eintritt der Betroffene nicht selbst verschuldet hat und deren materielle Konsequenzen von diesem auch nicht selbsttätig bewältigt werden können. Dieser Typus wohlfahrtsstaatlicher Intervention bedient Vorstellungen einer Risikor~:dfät, wonach alle Gesellschaftsmitglieder gemeinsam in einem Boot4 sitzen und in ebenso konkreten wie kontingenten Situationen des Risikoeintritts in ein die Gewährleistung sozialer Minima sicherstellendes Unterstützungsverhältnis treten. Ein vierter Reziprozitätstypus schließlich findet sich in residualen, an nachgewiesener Bedürftigkeit ansetzenden und auf aktive »Resozialisierung« der Bedürftigen zielenden Wohlfahrtsregimen. Auf die britische »Poor Law«-Tradition zurückgehende, liberale wohlfahrtspolitische Arrangements weisen dem Staat keine Funktionen der Förderung klassenübergreifender Solidarität, individueller Statusreproduktion oder gemeinschaftlicher Risikovorsorge zu, sondern reduzieren dessen Aktivitäten auf die Vermeidung strenger Armut und die Befiihlgung beziehungsweise Nötigung der Hilfeempfänger zu eigenständiger, marktförmiger Existenzsicherung. Die normative Basis dieses Modells lässt sich als in Pflicht nehmentle ~:dtät beschreiben: Die Annahme sozialer Hilfen verpflichtet die Unterstützungsempfänger dazu, manifeste Anstrengungen zur Überwindung der Hilfsbedürftigkeit zu unternehmen. Hier herrscht die Vorstellung vor, dass die Leistungen der Allgemeinheit ein Schuldverhältnis etablieren, welches von Seiten des Schuldners kooperative und nonnkonforme Wiedergutmachungsaktivitäten verlangt. Wtr werden auf dieses restriktivpateroalistische Deutungsmuster wohlfahrtsstaatlicher Reziprozität noch zurückkommen. (3) Auf die Existenz von Reziprozitätskontinuen, also weniger von Typen denn vielmehr eines Spektrums der wohlfahrtsstaatliehen ~:dtätsnorm, verweisen die Arbeiten Stephan Lessenichs (Lessenich 1999: 28ff., Leitner/Lessenich 2003: 327ff.; ähnlich Kohl 2000: 135ff.). Demzufolge lassen sich real existierende Wohlfahrts-
4 Ewald (1989: 389) verweist auf die Geburt des Risiko-Begriffs und der Versicherungstechnologie aus dem Geist det Schadensabwehr in der (bis dahin) unkalkulierbaren Gefahren ausgesetzten Seehandelsschifffahrt. »Dem etymologischen Wörterbuch det französischen Sprache von Bloch und Wartburg zufolge stanunt dieser Begriff aus dem italienischen risco, >das was schneidet< (frz.: coupe), wovon sich auch Klippe (frz. ecueil) herleitet, und dann heißt es: >Risiko ist das, was eine Ware auf dem Meer eingeht<.«
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staaten nach dem Grad der Extensität und der Intensität der in sie eingelassenen Strukturen gesellschaftlicher Gegenseitigkeit unterscheiden. Die Extensität derselben bemisst sich an dem personellen Einzugsbereich wohlfahrtsstaatlicher Reziprozitätskonstruktionen und bewegt sich auf einem Kontinuum von universalistischen, partikularistisch-kategorialen und individualistischen Arrangements. Die Intensität sozialer Wechselseitigkeitsverhältnisse stellt in dieser Perspektive gleichfalls ein Kontinuum dar und wird bestimmt durch den Grad ihrer staatlichen Durchdringung, das heißt durch das Ausmaß, in dem staatliche Instanzen die konkreten Formen und Maßstäbe sozialer Relationierung autoritativ zu regulieren suchen oder aber Prozessen gesellschaftlicher Selbststeuerung überlassen. Intensitäts- und Extensitätskontinuum bilden dann gewissermaßen die Achsen eines Koordinatensystems, innerhalb dessen sich die unterschiedlichsten Reziprozitätsarrangements verorten lassen und vermittels dessen sich sozialpolitisches Handeln in seiner ganzen Bandbreite vom mehrsäuligen Alterssicherungssystem über das gegliederte Krankenversicherungswesen und den Familienleistungsausgleich bis hin zum privaten Unterhaltsrecht in seiner sozialen Relationierungsfunktion abbilden lässt. Auf das Sozialtransfersystem im engeren Sinne bezogen ist hingegen das von Leitner/Lessenich (2003: 330) identifizierte >»embeddedness spectrum< ranging from (pure) reciprocity to (pure) solidarity, or, to put it in institutional terms, from insurance to assistance«. 5 Hier wird der Grad der (vorgestellten beziehungsweise eingeforderten) Äquivalenz von Leistungen und Gegenleistungen zum entscheidenden Faktor der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Reziprozitätsarrangements. Wohlfahrtspolitische Leistungsprogramme vom Typus »Versicherung« bilden hier, im Anschluss an die Konzeption Marshall Sahlins' (in diesem Band), den Pol der ausgeglichenen Rff.dpro!(jtät, mit größtmöglicher Annäherung an das Äquivalenzprinzip und weitestgehender Minimierung von intetpersonellen Umverteilungseffekten - und entsprechender moralischer Anspruchslosigkeit (Offe 1990: 179ff.). Am Pol der generalisierten Rff.dpro!(jtät hingegen finden sich Transfetprogramme vom Typus »Fürsorge«, in denen die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung keine Rolle spielt und das Ausmaß der intetpersonell~n Umverteilung - ebenso wie der moralische Investitionsbedarf- sehr hoch ist. Im Anschluss an diese Unterscheidung lässt sich jedes einzelne Sozialleistungsprogramm nationaler Wohlfahrtsstaaten auf dem Kontinuum zwischen ausgeglichener und generalisierter Reziprozität verorten - und der vieldis-
5 Wie das Zitat deutlich macht, werden in dem Beitrag von Leitner/Lessenich (2003) der Eindeutigkeit halber die beiden Endpunkte des Spektrums moralischer Einbettung wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung mit tden Begriffen »Reziprozitäb< beziehungsweise »Solidarität« etikettiert. Im Kontext des vorliegenden Beitrages erscheint es hingegen sinnvoll, stattdessen -wie im Folgenden praktiziert- von•den beiden Polen der »ausgeglichenen« beziehungsweise »generalisierten« Reziprozität zu sprechen.
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kurierte Umbau des Sozialstaats als vielschichtige Kumulation von Bewegungen beziehungsweise Verschiebungen auf diesem Kontinuum beschreiben. (4) Eine weitere Variante zur Analyse des Variantenreichtums von Reziprozität im Wohlfahrtsstaat, neben Typenbildung und Kontinuenkonstruktion, stellt schließlich die von Robert Goodin (2002) entwickelte, komplexe Kombinatorik zur Unterscheidung von Modellen wechselseitiger Verpflichtung dar. Mit der Differenzierung verschiedener Formen der Bedingtheit (contlitiona!rry), Zeitgebundenheit (temporality) und Abgeltung (cumnq) sozialer Schuldverhältnisse, aus deren Verbindung sich nicht weniger als 45 logisch mögliche Spielarten der wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsnorm ergeben, wendet sich Goodin gegen die zunehmend Verbreitung findende Annahme, es gebe eine (und nur eine) »wahre« Realisationsform dieser Norm. Das Gegenteil ist richtig: »fair reciprocity« hat viele Gesichter. Zwar lässt sich dw:chaus argumentieren, dass das Konzept der Reziprozität untrennbar mit der Wechselseitigkeit nicht nur von Rechten sondern auch von Pflichten verknüpft ist. In jedem Reziprozitätsmodell hat Person A eine Verpflichtung gegenüber Person B, die mit einer Verpflichtung von Person B gegenüber Person A korrespondiert und umgekehrt. Doch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Einlösung der Verpflichtung vonPersonAgegenüber Person B im Sinne eines konditionierten Verhaltens abhängig ist von der Einlösung der Verpflichtung von Person B gegenüber Person A - und umgekehrt. Dass die Einlösung der Verpflichtung seitens A mit der spiegelbildlichen Aktivität auf Seiten von B steht und fällt, dass A sich also andernfalls als von seiner Verpflichtung entbunden betrachten kann, ist demnach nur ein Sonderfall sozialer Reziprozitätsbeziehungen. Die alternative Variante, wonach die Leistungsverpflichtung von A ungeachtet eines Leistungsversagens von B bestehen bleibt, ist ebenso denkbar und nicht weniger einschlägig. Wenn - um ein der klassischen politischen Philosophie des Gesellschaftsvertrags entlehntes Beispiel zu nehmen - die Armen im Gegenzug zur Verpflichtung der Reichen, sie durch Wohltätigkeit vor dem Verhungern zu bewahren, sich selbst dazu verpflichten, die Reichen nicht ihrer Güter zu berauben, so geht aus der Wechselseitigkeit der Verpflichtungen nicht notwendigerweise auch die Konditionierung der jeweiligen Pflichterfüllung hervor, derzufolge es aus Sicht der Reichen fraglos »fair« wäre, Diebe verhungern zu lassen (oder umgekehrt aus Sicht der Armen fraglos »angemessen«, Geizhälse zu bestehlen). Und dasselbe gilt für die Frage, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt einer wechselseitigen Verpflichtung nachgekommen wird: Keineswegs, so Goodin (2002: 582), »does >fair reciprocity< necessarily require that we do the same thing for one another, at the samo time as one another<<. Synchrone und äquivalente Gegenleistungen für empfangene Leistungen sind -wie die an die effektive Gegenleistung geknüpfte Bedingtheit dieser Leistungen - jeweils nur Sonderfälle in der weiten Welt wechselseitiger Verpflichtung, die als solche kei-
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ne höhere Dignität für sich reklamieren können als andere theoretisch denkbare oder empirisch realisierte Varianten.
Reziprozitätsinterpretationen und Reziprozitätspolitik Eben dies aber wird in der aktuellen Debatte um den notwendigen Umbau des Sozialstaats und die geborene Aktivierung der Sozialleistungsempfänger zunehmend suggeriert. Goodins Taxonomie von Reziprozitätsmodellen ist denn auch zugleich als Kritik an der fraglosen Gleichsetzung von institutionalisierter Wechselseitigkeit mit einer Politik der Arbeitserzwingung angelegt, wie sie beispielhaft in der australischen »Mutual Obligation Initiative« vollzogen wird. Der durch Sozialprogramme vom Typus workfare organisierte soziale Austausch von öffentlichen Transferleistungen gegen - und nur gegen - die gleichzeitige Dokumentierung individueller Arbeitsbereitschaft ist alles andere als alternativlos, wenn es darum geht, Reziprozität im Wohlfahrtsstaat sicherzustellen: »the necessaty correlativity of rights and duties does not necessarily mean that eve:ryone necessarily has exacdy the saNM duties ()t() work for a livingO and rights (>to get paid only if you work<).«
(Goodin 2002: 581)6
Und in der Tat gibt es ja, anders als für die bedürftigen Langzeitarbeitslosen, die sich verstärkt mit staatlichen >>work-for-the-dole policies« konfrontiert sehen, für zahlreiche Personengruppen durchaus Leistungsangebote des Wohlfahrtsstaates von der Ausbildungsförderung bis zur Altersrente -, die zwar ebenfalls als Tauschgeschäfte und also auf Gegenleistungen angelegt sind, diese jedoch nicht zeitgleich mit dem Leistungsempfang und in einer autoritativ festgelegten, von der Tauschbewertung der Unterstützten absehenden Form einfordern. Immerhin hatten Rentner vor und haben Studenten nach dem Empfang öffentlicher Unterstützung jedenfalls formal die Möglichkeit, qua freier Berufswahl die Umstände der Vorauszahlung von Sozialbeiträgen beziehungsweise der Rückzahlung von Steuermitteln selbst (mit) zu bestimmen. Genau dies,aber gilt beim Tausch >>Stütze gegen Arbeit« nicht, weshalb Goodin denn auch die in allen fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaaten zunehmenden Bemillumgen, aus erwerbslosen Hilfeempfängern aktive Reziprokatoren zu machen, eher einer wohlfahrtspolitischen Strategie des »humbling« denn des >>helping« zu6 Instruktiv ist in diesem 2;usarnmenhang auch die Kontroverse zwischen den Anhängern eines unbedingten Grundeinkommens und dessen Gegnern. Während die Befürwortet eines solchen Konzepts eine weite Ausdeutung von Reziprozität vornehmen oder sogar generell auf die Erfüllung der Reziprozitätsnodn verzichten wollen (Van Parijs 1997), postulieren die Skeptiker ein enges Konzept zeidich und inhaltlicher Detennination der reziproken Leistungen, welches mit der Idee eines Grundeinkommens unvereinbar erscheint (White 1997).
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rechnet: Wenn die Starken den Schwachen nur gegen sofortige und fremdbestimmte Gegenleistung helfen, dann wird die Hilfe der Starken zum Instrument der Erniedrigung und nicht nur situativen, sondern dauerhaften sozialen Unterordnung der Schwachen. »lt works by catching people when they are weak; and, by requiring them to repay immediately when they are hardly able to do so, it keeps them that way.« (Goodin 2002: 592). Der oben erwähnten, von Thomas H. Marshall systematisierten Konzeption sozialer Rechte im Wohlfahrtsstaat läuft eine derartige Reziprozitätsnorm offensichtlich diametral entgegen, weil asymmetrische Machtverhältnisse festgeschrieben und Individuen von Anspruchsinhabern zu Objekten patemalistischer Aktivierungsprogramme werden. Es gibt also viele verschiedene Formen, vermittels der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten, von Leistungen und Gegenleistungen das »Soziale Band<< zu knüpfen, und die asymmetrische Reziprozitätserzwingung nach Art der workfareProgramme ist mithin nur eine unter anderen denkbaren und praktizierten Varianten.7 Unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten und unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Programme für unterschiedliche soziale Adressatengruppen inkorporieren je verschiedenartige Reziprozitätsnormen, -erwartungen und -strukturen. Unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten und unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Institutionen in unterschiedlichen sozialen Interventionsfeldern bieten in je spezifischer Mischung Anknüpfungspunkte für Nutzenerwägungen und Wertüberzeugungen, »materielle« und »ideelle Interessen« (Weber 1947 [1920]) individueller und kollektiver Akteure (Mau 2002b: 346ff.; Ullrich 2000: 72ff.; Bode 1999: 57ff.). In diesem Sinne öffnet der moderne Wohlfahrtsstaat breiten Raum für soziale Interpretationen von institutionell organisierten beziehungsweise zu organisierenden Reziprozitätsbeziehungen einerseits und für die politische Gestaltung von gesellschaftlichen Reziprozitätsmustern und -erwartungen andererseits. Er stellt in seiner organisierten Wechselseitigkeit einen institutionalisierten Kompromiss dar zwischen »Interesse« und »Moral« - und ist die Arena einer historisch wie kulturell variablen »Politik mit der Reziprozität«. Nicht zuletzt die gegenwärtige Popularität moralökonomischer Begründungen und Rechtfertigungen einer Politik der »Akrivierung« von Sozialleistungsemplingern verweist auf die Relevanz und Aktualität einer politischen Soziologie der Reziprozität im Wohlfahrtsstaat. Gesellschaftliche Vorstellungen über die Angemessen-
7 Goodin (2002: 592) räumt allerdings zutreffend ein. dass es durchaus auch unterschiedliche Spielarten der »workfare«- beziehungsweise Aktivierungspolitik gibt: »>Goocl workfare< genuinely tries to help people out of their predicament, putting them into genuine jobs with genuine p.rospects. >Bad workfare< airns rnerely at humiliating and harassing the subordinate classes until they finally accept their inferior social starus and drop (o.r are dropped) off the welfare rolls. (...) In distinguishing >goock f.rom >bad workfare<, the US and Australia Iook >bad< whereas Scandinavia Iooks .relatively >good.<.« V gL dazu auch Walther 2003, Lessenich 2005.
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heit und Fairness sozialer Austauschprozesse sind in das Regelwerk des modernen Wohlfahrtsstaates eingegangen und werden ihrerseits durch eben dieses Regelwerk beeinflusst. Die Akzeptabilität und soziale Akzeptanz wohlfahrtsstaatlich vermittelter Gegenseitigkeitsbeziehungen wird in nicht unwesentlichem Maße durch die Konstruktionsprinzipien der öffentlichen Unterstützungsprogramme selbst, sowie durch deren wahrgenommene Effektivität und Effizienz bestimmt (Karl u.a. 1998). Beides aber, das heißt nicht nur die institutionelle Ausgestaltung und administrative Umsetzung dieser Programme, sondern auch die alltagsweltliche Einschätzung ihrer Problemangemessenheit und ihrer regelgerechten Inanspruchnahme, gewissermaßen die »gefühlte Reziprozität«, unterliegt weitreichenden politischen Einflüssen. Die Akzeptanz des wohlfahrtsstaatliehen Reziprozitätsarrangements als eine im Grundsatz wie auch in ihrer je konkreten Realisierungsform legitime Ordnung des Sozialen (Weber 1980 (1922]: 16ff.) hängt in entscheidender- und alles andere als »vormoderner« - Weise vom gesellschaftlich verbreiteten »Reziprozitätsglauben« ab, welcher wiederum durch wohlfahrtsstaatliches Handeln durchaus gestützt oder aber unterlaufen werden kann. Die gesellschaftliche Verankerung eines Bewusstseins, dass der Wohlfahrtsstaat mit seinen Institutionen für das Zustandekommen und die Einhaltung von »fair reciprocity« bürgt, stellt' die unverzichtbare Grundlage der bedingten Kooperationsbereitschaft seiner Bürgerinnen und Bürger dar. Welcher Art die gesellschaftlich vorherrschenden Reziprozitätsnormen sind und ob diese gesellschaftsweit als erfüllt oder missachtet angesehen werden, ob breite Teile der Bevölkerung auf das kooperative V erhalten der anderen vertrauen oder ihre eigene Kooperationsneigung als einseitige wahrnehmen und dementsprechend Maßnahmen gegen die »Ausbeuter« ihrer Solidarität einfonlern - all dies ist nicht zuletzt auch eine Variable des politischen Handelns, der öffentlichen Diskurse und der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Wohlfahrtsstaat. Emile Durkheim, der Theoretiker des »>ien social<<, verwies schon zu Beginn <;les vergangeneo Jahrhunderts in hellsichtiger Weise auf die Bedeutung staatlicher Institutionen und Interventionen für den sozialen Zusammenhalt der modernen, arbeitsteiligen, individualisierten Gesellschaft: »Vor allem gibt es ein Organ, von dem wir immer stärker abhängen: Das ist der Sraat. Berührungspunkte mit ilun vervielfaltigen sich genauso wie die Gelegenheiten, bei denen ilun die Aufgabe zuwächst, uns an das Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern.« (Durkheim 1999 [1893]: 285)
Die Institutionalisierung und Expansion des Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhunden hat Durkheims Diagnose eindrucksvoll bestätigt In welcher Form aber der Wohl' fahnsstaat an der gese~chaftlichen Integration mitwirkt - ob als Mentor und Motor eines Arrangement~ ausgeglichener oder generalisierter, asymmetrischer oder symmetrischer, in Pflicht nehmender oder helfender Reziprozität - war und ist
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theoretisch nicht vorentschieden, sondern ist und bleibt Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.
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Die Gabe der Entwicklung* Nathalie Karagiannis
»Ist das. was wir anzubieten haben, über was wir verfiigenwissenschaftlich-technologische V etVOllkommnungw:ü:klich irruner ein Geschenk?« Gadamer (1992)
In einer brillanten und amüsanten Beschreibung der Besuche am chinesischen kaiserlichen Hof, die britische Delegationen im 19. Jabthundert unternahmen, beleuchtet der Anthropologe Marshall Sahlins viel sagende Missverständnisse. Zwei Schilderungen sind besonders aussagekräftig: Die erste beschreibt die Konfrontation der Vorstellungen, die die Briten bezüglich der von ihnen mitgebrachten Geschenke haben, mit der chinesischen Aufnahme dieser Gaben. Die Briten - überzeugt davon, den Chinesen die herausragendsten Zeugnisse der westlichen Zivilisation präsentiert zu haben - sind sehr überrascht, als sie einige Zeit später zu einem Palast außerhalb Pekings geführt werden, in dem Exemplare von weit feinerer, komplexerer und vollendeterer Handwerkskunst aus ganz Buropa ausgestellt werden, als sie sie selbst mitgebracht hatten. Das zweite auffallende Missverständnis betrifft das Ritual des Gebens: Nachdem die langen Prozeduren des Gabenaustausches endlich abgeschlossen sind, fragt sich der darüber erleichterte britische Gesandte, wann endlich das »Geschäft« - wie Sahlins es ausdrückt - beginne. Doch es kommt zu keinem weitergehenden Geschäft, da die Chinesen bereits das als das Geschäft betrachten, was die Briten schlicht als einleitenden Austausch von Geschenken ansehen (Sahlins 2000: 421-432). Dieses Kapitel basif!rt auf der Annahme, dass in Entwicklungsbeziehungen- einem Netz aus Gabe und Geschäft - das Geben das konstituiert, was gegeben wird: Entwicklung; dass die ,»Gabe der Entwicklung« das Phänomen Entwicklung erst konstituiert. Die zentrale Position, die das Geben hinsichtlich der Entwicklung einnimmt, ist jedoch nicht frei von Mehrdeutigkeiten. Die Mehrdeutigkeiten resultieren zunächst einmal aus den Schwierigkeiten, die der Gabe an sich innewohnen. So ist die Gabe zum Beispiel nicht immer deutlich von anderen Formen des Aus-
* Der Text wurde von Da~el de Olano und Steffen Mau aus dem Englischen übersetzt.
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tausches unterscheidbar; und sie erzeugt auch nicht stets das, was wir gewöhnlich als Solidarität verstehen, sondern kann auch Widerstreit hervorrufen. Schließlich haben die Mehrdeutigkeiten, die mit der »Gabe der Entwicklung« einhergehen, auch mit dem Charakter der Entwicklung selbst zu tun sowie mit den wissenschaftlichen Vorstellungen von der »Gabe« und der »Entwicklung<<. die sie begleiten. Der erste Abschnitt dieses Kapitels argumentiert folglich, dass die »Gabe der Entwicklung« einen Diskurs und eine Praxis konstituiert, die von anderen Arten der Gabe deutlich zu unterscheiden sind Der Grund für diese Unterschiedlichkeit liegt im Kontext der Entwicklungsbeziehungen, in denen Austausch nicht innerhalb einer »einfachen« oder einer »komplexen« Gesellschaft stattfindet - welches die theoretisch am meisten diskutierten Fälle sind - sondern zwischen »komplexen« und »einfachen« Gesellschaften. Die Besonderheit dieses Kontextes führt zu einer Konzeptualisierung der ))Gabe der Entwicklung« als der Erschaffung einer gemeinsamen Welt, welche unvermeidlich Ungleichheit beinhaltet. Entwicklungsbeziehungen sind also durch eine verbindende Ungleichheit gekennzeichnet. Obwohl diese Ungleichheit auf verschiedene Weisen hinterfragt wurde, ist nur selten diskutiert worden, dass sie ihre Wurzeln in den wissenschaftlichen Anschauungen hat, die zum Entstehen eines bestimmten Diskurses über Entwicklung beigetragen haben. Deshalb betrachtet der zweite Abschnitt des Kapitels die Art und Weise, in der Anthropologie, Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften sowohl Vorstellungen über die Gabe und das Geben als auch Vorstellungen über Entwicklung behandelt haben. Die Beziehungen zwischen diesen Disziplinen sind in dieser Hinsicht sehr aussagekräftig. Im dritten und abschließenden Schritt betrachtet dieses Kapitel die spezielleren Vorstellungen und Praktiken von Reziprozität innerhalb des Entwicklungsdiskurses und die damit aufgeworfenen Fragen von Freiheit und Verpflichtung. Ursprünglich begründet in Wohltätigkeit- der Ausnahme von der Verpflichtung zur Reziprozität - kann die Geschichte der Entwicklungsbeziehungen anscheinend als eine V erschiebung hin zum Ausschluss von (sozialer) Reziprozität skizziert werden, da mehr und mehr das Schwergewicht auf wirtschaftlichen - oder marktliehen -Austausch gelegt wurde. Eine genauere Betrachtung des Entwicklungsdiskurses deckt aber auf, dass hier weiterhin verschiedene Spielarten des )~ebefiS« koexistieren, wodurch die Spannung zwischen dem Gemeinsamen und der Ungleichheit ethalten bleibt.
Die Gabe der Entwicklung Die Fülle an kanonischen Diskussionen über das Rätsel der Gabe zeigt uns, dass die Gabe- oder das »Geben« -mit der Erschaffung einer gemeinsamen Welt gleichbe-
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deutend ist. »The t:heory of t:he gift is a t:heory of human solidarity« schreibt Mary Douglas im Vorwort zut englischen Ausgabe von Marcel Mauss Die Gabe (1990 [1923/24]: x), und in der Tat gibt es unzählige Fälle, in denen Mauss starke zirkuläre Beziehungsgeflechte und die dutch die Gabe hervorgerufene Solidarität beschreibt. Diese Beispiele sind sowohl deskriptiv, so in Mauss' empirischen Befunden zu dem Bewusstsein einer gemeinsamen Welt und von Solidarität, als auch normativ orientiert, wie es in seinem abschließenden »sozialdemokratischen« Kapitel deutlich wird, in dem er sich diese BeziehUngsgeflechte auch für die französische und die europäischen Gesellschaften wünscht. Demnach hält gemäß Durkheims Neffen das Geben alles zusammen; es begründet und verfestigt soziale Integration und Kohäsion: In den zeitgenössischen und historischen Gesellschaften, die Mauss betrachtet, ist diese Kohäsion oder die Erschaffung einer gemeinsamen Welt der Ausdruck einer »Totalität«, in der »[e]verything holds toget:her, everyt:hing is mixed up toget:her<< (ebd: 46).1 Diese Mehrdeutigkeit- zwischen einem beschreibenden und einem normativen Ansatz - charakterisiert unvermeidlich jede Theorie sowie jede politische Praxis des »Gebens<<. Das Geben innerhalb einer Gesellschaft ist schon lange ein Thema. Dennoch ist die Thematik nut äußerst selten in theoretische Untersuchungen der Beziehungen zy;ischen Gesellschaften eingebunden worden. Dies gilt insbesondere für Beziehungen zwischen »einfacheren« (bzw. traditionellen oder ärmeren) und »komplexen<< (bzw. modernen oder wohlhabenden) Gesellschaften, obwohl deutliche Parallelen zwischen beiden Formen festgestellt werden können: »foreign assistance does at t:he global level what welfare institutions do at t:he domestic level<< schreibt beispielsweise Roxanne Lynn Doty (1996: 129). David Halloran Lumsdaine vertritt eine noch weitergehende Auffassung und sieht die Entwicklungshilfe im Entstehen der westlichen Wohlfahrtsstaaten verwurzelt. Er beruft sich auf Gunnar Myrdal, der den Anstieg der Auslandshilfen begründet sieht in »t:he misery of t:hose far away [havingl been brought home to t:he peoples of t:he richer countries<< (Lumsdaine 1993: 186). Dadutch, dass die >>Souffrance a distance« sukzessive in die westlichen Gesellschaften eingefü.hn wurde, kam es zu einer Entwicklung von Politiken, die eine »politique de la pitie« umfassen, sei es in der Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe.2 Dieses »Heimbringen« von Leid kann als Ausdehnung und Institutionalisierung von Gemeinschaft angesehen werden.
1 Mauss schreibt dies d~ Unf'ahigkeit einfacher Gesellschaften zum Teilen und Trennen zu, in deutlichem Kontrast zu >>modernen Gesellschaften«, die die »Kunst der Trenntmg« beherrschen. Letzter Ausdru,ck stammt von Michael Walzer (1984). Mehr zu dieser Annahme im zweiten Abschnitt dieses Kapitels. Zur Durkheimschen Sichtweise der Kohäsion siehe Gouklner 1960: 164. 1 2 »Souffrance adistanc~< und »politique de Ia pitii<< sind Ausdrücke von Luc Boltaoski 1993.
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Was hier im Mittelpunkt steht, ist die Institutionalisierung des Gebens zwischen »komplexen« oder entwickelten Ländern und »einfacheren« oder Entwicklungsländern. Auch wenn es eine Grundauffassung antlttopologischer und soziologischer Arbeiten - zumindest bis zur Veröffentlichung dieses Buches - ist, dass in »modernen« oder >>komplexen« Gesellschaften das Geben nicht institutionalisiert ist, gilt dieses nicht für die Beziehungen dieser Gesellschaften mit ihrer »Außenwelt« (Blau 1964: 106). Wenn die »Gabe der Entwicklung« Entwicklung erst konstituiert, müssen Entwicklungsbeziehungen als bedeutendes Beispiel für die Institutionalisierung von »sozialem Austausch« im weltweiten Umfang angesehen werden. Das heißt nicht, dass somit Entwicklungsbeziehungen besser zu verstehen, klarer und einfacher wären. Vielmehr bringt diese Institutionalisierung Mehrdeutigkeiten mit sich, die weder auf die Begegnung von Gesellschaften, innerhalb derer Zusammenhalt gelingt, weil alles miteinander verwoben ist, mit Gesellschaften, in denen >>Sozialer Austausch« und »wirtschaftlicher Austausch<< klar separiert sind, noch auf eine historisch-lineare Ausweitung der Nächstenliebe vom Inneren einer Gesellschaft auf ihre bedürftigen »Mitgesellschaften« zurückführbar sind Vielmehr geht es sowohl um die Aufrechterhaltung wie auch die Destruktion des Gemeinsamen durch das »Geben«. Auf der einen Seite ist das Geben wesentlich für die Beziehungen einer >>gemeinsamen Welt«, die zu errichten es anstrebt- und dies gilt insbesondere für Entwicklungsbeziehungen. Die Vorstellung von der Existenz einer gemeinsamen Welt zwischen den entwickelten und den sich entwickelnden (oder weniger entwickelten) Ländern ist in der Literatur über Entwicklungsbeziehungen nicht weit verbreitet. Diese Literatur ist entweder (und mehrheitlich) technischer Natur und setzt sich mit der Frage auseinander, wie den Sich-Entwickelnden durch die Entwickelten geholfen werden kann, oder es finden sich kritische Schriften, die genau dies in Frage stellen. Beide Striinge der Literatur sehen die Beziehungen zwischen den Entwickelten und den Sich-Entwickelnden als durch eine unüberbrückbare Kluft charakterisiert. Die Vorstellung von Entwicklungsbeziehungen als Erzeugung einer gemeinsamen Welt läuft auf die Behauptung hinaus, dass diese Kluft nicht das einzige Charakteristikum dieser Beziehungen ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint das Geben (also das Geben der Entwickelten an die Sich-Entwickelnden und die daraus resultierende Reziprozität) als mögliches Zeichen eines Strebens nach Freundschaft und als Ausdruck von Vertrauen. Allen Behauptungen über Stabilitäts- und Kohäsionssicherung zum Trotz erzeugt das »Geben« andererseits ungkiche3 und somit potentiell gefahrdete4 Gemein-
3 »To give is to show one's superiority, to be more, to be higher in rank, magister. To accept without giving in retum, or without giving more back, is to become dient and servant, to become small, to falllower (minister).« (Mauss 1990 [1923/24]: 74)
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schaften. Oder zumindest pendelt es zwischen Ungleichheit - wenn nämlich Erwiderung unmöglich ist- und dem Streben nach Gleichheit durch gleichwertige oder höherwenige Erwiderung. Bereits Georg Simmel (1908: 595) hatte eine erste grundsätzliche Ungleichheit im Gefühl der Dankbarkeit beim Empfiinger eines Geschenkes ausgemacht: J
)>Man kann sagen, dass er [der Dank] lüer im Tiefsten überhaupt nicht darin besteht. dass die Gabe erwidert wird, sondern in dem Bewusstsein, dass man sie nicht erwidern könne, dass lüer etwas v~ das die Seele des Empfangenden wie in einen gewissen Dauerzustand der andem gegenüber versetzt, eine Ahnung der inneren Unendlichkeit eines V emältnisses zum Bewusstsein bringt, das durch keine endliche Erweisung oder Bestätigung vollkommen erschöpft oder verwirlcli.cht werden kann.«S
Simmels Ansicht nach bleibt die Dankbarkeit auch nach der Erwiderung mit einem gleichwertigen oder höherwenigen Geschenk bestehen und wird aufrechterhalten. Peter M. Blau (1964: 106) stellt ferner darauf ab, dass der Austausch von Geschenken neben der Bildung von Freundschaft und Vertrauen auch dazu dient »[to] produce and fortify status differences between superiors and inferiors«. Außerdem zeigt er auf, dass das Dilemma stets beim Empfänger liegt ))A person who gives others valuable gifts or renders them important services makes a claim for superior status by obligating them to himseJ.L If they return benefits that adequately discharge their obligations, they deny lüs claim to superiority, and if theit returns are excessive, they make a counterclaim to superiority over him. If they fail to reciprocate with benefits rhat are at least as important to lüm as lüs are to them, they validate lüs claim to superior status.« {Ebd.: 108)
Das ist es, was Alvin W. Gouldner als den antithetischen Pol der Reziprozität bezeichnet: Ausbeutung. In seiner ideengeschichtlichen Analyse der Differenz zwischen diesen Polen des Gebens lokalisiert Gouldner Reziprozität in der Tradition von Comte und Durkheim, welche die Kohäsion in den Vordergrund stellt, während die Marxsche Tradition Ausbeutung thematisiert und Instabilität hervorhebt (Gouldner 1960: 167).
4 Eine ungleiche Gesellschaft ist potentiell gefährdet insofern, als die gemeinsame Welt im Extremfall (wenn die Ungleichheit groß ist) in sich zusammen fallen kann. Die Wendung der Entwicklungsbeziehungen hin zu wirtschaftlichem Austausch ist ein Schritt zur Destruktion einer ungleichen gemeinsamen Welt. die aber Ungleichheit nicht auszumerzen vermag (siehe auch den Ietzren Abschnitt dieses Kapitels). 5 Eine erneute Lektüre von Mauss würde diese Position bestreiten, da lüer unterstrichen wird, dass das Geben der Gabe gleichfalls eine Vetpflichtung darstellt. die aus der Hybris einer Überakkumulation von Gütern abgeleitet wird. Interessanterweise stellt keiner der klassischen Autoren der Anthropologie und der Soziologie auf die gesellschaftliche Instabilität und die revolutionären Anstöße ab, die aus drastischen Einkommensungleichheiten resultieren können. Ein weiterer Grund fül: den Potlatsch oder die Gabe kann also auch die Besänftigung der ärmeren Massen sein. S~e lüerzu Perikles' Begräbnisrede in Thukydides, Abschnitt 40,4, und Cicero, zitiert bei Gouldner 1960: 161.
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Diese Beobachtungen deuten auf die Dilemmata hin, welche Entwicklungsbeziehungen innewohnen. Und tatsächlich ist die gemeinsame Welt der Entwicklungsbeziehungen eine in hohem Maße ungleiche Welt. Zu unserer vorangegangenen These, dass die Kluft zwischen den Entwickelten und den Sich-Entwickelnden nicht das einzige Charakteristikum der Beziehungen zwischen beiden ist, können wir nun die These hinzufügen, dass paradoxerweise diese Kluft ebenfalls ihre gemeinsame Welt begründet. In dieser Perspektive wird eine gemeinsame Welt dadurch geschaffen, dass sehr unterschiedliche Länder, Personen und Gesellschaften anhand desselben Kriteriums (Entwicklung) beschrieben werden. Die Gleichheit dieses Kriteriums lässt ihre Unterteilung in unterschiedliche Grade (entwickeltsich entwickelnd) zu. Und jede dieser Unterteilungen bringt Verpflichtungen und Rechte mit sich.6 In dieser gemeinsamen Welt akzeptiert ein Teil der Länder, Völker oder Gesellschaften, »Hilfegeber« zu sein, und ein anderer Teil der Länder, Völker oder Gesellschaften die Position als »Hilfeempfänger«. Durch das Geben, das Mehr-Geben oder die Behauptung, mehr gegeben zu haben, werden Statusdifferenzierungen begründet und konsolidiert. In einer direkteren Sprache als sie von Anthropologen und Soziologen über die Gabe verwendet wird, lässt sich sagen: Die Gabe der Entwicklung strebt Gleichheit an und bestätigt und verfestigt gleichzeitig Ungleichheit. Offensichtlich ist die Kennzeichnung von Entwicklungsbeziehungen als konstitutiv für eine gemeinsame Welt mehrdeutig. Beginnend mit den normativen Konnotationen, die der Ausdruck haben kann, haben die »sich-entwickelnden Gesellschaften« die Bindungen mit den »entwickelten« in Frage gestellt: In dieser ungleichen gemeinsamen Welt, so eine Kritik, müssten die Sich-Entwickelnden den Diskurs von Mildtätigkeit und Almosen als Aufgabe der Entwickelten und ihr eigenes Selbstverständnis, nicht zurückgeben zu dürfen oder zu können, verwerfen. Sie sollten diese gemeinsame Welt verlassen und sich als Gleichgestellte betrachten.? Eine zweite Kritik fordert die Sich-Entwickelnden auf, die Prämissen des Austausches zu verändern, indem sie ihre Abhängigkeit von einem hegemonialen kapitalistischen Zentrum kappen, um nicht länger dessen Peripherie zu bleiben, sondern ihr eigenes Zentrum zu werden.s Eine dritte Kritik empfiehlt den Sich-Entwickelnden, die Prä-
6 Für die historische Erschaffung einer gemeinsamen Welt durch »Entwicklungsbeziehungen« zu argumentieren verweist auf Verpflichtungen, die weniger leicht erkennbar sind, wenn Differenz betont wird Alternativ kann mittels einer »historisch-kausalen ~«, die »verarmte« und >>bereicherte« Länder produziert habe, auf V erantwortlichkeiten verwiesen werden. Siehe Pate12002 7 Die Kritik verbindet sich verstohlen mit dem »Trade not aid<<-Motto. 8 Letzten Endes akzeptiert diese Kritik zu häufig die Annalunen, gegen die sie sich wendet. Beispielsweise schreibt Furtado (1982): >>eontrol of technology constitutes the cornerstone of the international power structure at the present time. In the final analysis, the struggle against
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missen des Austausches zu verändern, indem den entwickelten Staaten aufgezeigt wird, dass diese ursprünglich in der Schuld der Sich-Entwickelnden stehen, und nicht umgekehrt. Die unterschiedlichen Aspekte des Gebens gestatten unterschiedliche Konzeptualisierungen der gemeinsamen Welt der Entwicklung, die von der Forderung nach ihrer ..Nuflösung bis zur Befürwortung einer differenten Wiedergeburt reichen. In diesen Konzeptualisierungen setzten sich einige Sttänge mit den Wttkungen des Entwicklungsdiskurses auseinander, aber diese knüpften nur ausnahmsweise an dem historischen Thema der Gabe an, wie es in den sozialwissenschaftliehen Disziplinen erarbeitet wurde.
Die Disziplin des Gebens »Ich ging zusanunen mit dem Kommandanten zum Rektot der Dangan-Schule, wo wir auf einen Cocktail eingeladen waren. Ich trug das Päckchen, das er Madame Salvain zu überreichen beabsichtigte. Es ist eine traditionelle Sitte auch der Europäer, ihren Gastgebern etwas mitzubringen.«
Oyono (1990 [1960D
Die ungleiche gemeinsame Welt, welche die Entwicklungsbeziehungen charakterisiert, wurde und wird sowohl von den Vorstellungen über Entwicklung als auch von ihrer Praxis geprägt. In der Tat sind diese beiden Elemente eng miteinander verwoben, nicht nur, weil die Entwicklungstheorie ursprünglich zur inhaltlichen Unterstützung der Entwicklungspolitik geschaffen wurde, sondern auch aufgrund ihrer historischen Verbindungen zur Anthropologie und zum Kolonialismus. Zuallererst sind es die Sozialwissenschaften, die sich als Disziplinen mit dem Geben beschäftigen und gleichzeitig durch ihre Beschäftigung mit der Welt diese disziplinieren - in eben dem Sinne, in dem sich das Geben als ~vilisierentP erweist. Wenn in der Entwicklungssoziologie eine funktionalistische oder diffusionistische Vorstellung geltend gemacht "*d, dann gibt diese nicht nur eine Beschreibung darüber ab, was zwischen Gesellschaften passiert, sondern sie »macht« aufgrund ihres Einflusses auf Politik diese Gesellschaften auch ungleich. Dies gilt auch in einer historischen Perspektive: Indem die klassische Anthropologie und Soziologie das Ritual als nichts anderes betracht~n als die Disziplinierung von Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen, vermitteln sie nicht nur Informationen über die Gesellschaften, die sie untersuchen, sondern sie disziplinieren sie zugleich. Zweitens kann eine grobe, aber dennoch eindeutige intellektuelle Linie von der ersten und zweiten Welle der ko-
dependence becomes ah effort to neutralize the effects of the technological monopoly held by the centtal countties (.. J) modern technology, the key ingredient of the accumulation process.« 9 Das heißt, indem es die Menschen zur Bürgerschaft (civitas) bringt.
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lonialen Entdeckung des »Wtlderu< im 16. und 19. Jahrhundert über das Aufkommen von Ethnologie und Anthropologie im frühen 20. Jahrhundert hin zur Institutionalisierung der Entwicklungsbeziehungen und der Entfaltung einer politikorientierten Soziologie, insbesondere der Modernisierungstheorie, in den sechziger Jahren des letztenJahrhunderts10 gezogen werden: Die Konzepte, die diese Disziplinen entwickelt haben. brachten allesamt die Ungleichheit der gemeinsamen Welt mit sich. Ohne diese Ungleichheit hätte zumindest die letzte dieser Wissenschaften über keine raison d'etre verfügt. Als Sahlins anmerkte, dass »[p]erhaps French and British anthropology is especially disposed to the anxiety of anarchy and a corollary respect for order and powen<, hätte er daher hinzufügen sollen: genau wie die amerikanische Soziologie in den sechziger Jahren (Sahlins 2000: 552). Die Ungleichheit der gemeinsamen Welt wird in den Disziplinen, die sich mit Entwicklung beschäftigen, auf wenigstens drei Weisen ausgedrückt: zuerst als verbindende Kraft der Ungleichheit, übersetzt in das Leitmotiv der Beziehung zwischen Eltern und Kind, das sich in der Thematik der höheren und niedrigeren Zivilisation und Rationalität entfaltet. Zweitens die Frage der Zeit, die aufzeigt, dass die Entscheidung, ob die gemeinsame Wdt geöffnet wird oder nicht, immer von denen abhängt, die beanspruchen, bereits in ihr zu sein (Walzer 1983). Eine dritte Weise, in der die Ungleichheit im Gemeinsamen ausgedrückt wird, ist der Abstand zwischen der notwendigen Entwicklungslogik (Grad, Stufen) und dem Bedarf an Intervention. Die Metapher der Beziehung zwischen Eltern und Kind ist ein historisches Leitmotiv hinsichtlich des Gebens in den Disziplinen.11 Sie bezieht sich auf das Thema der Hierarchie von Zivilisationsstufen und von Rationalität (bzw. dem Mangel an Rationalität). Mauss (1990 [1923/24]) ist hier erneut ein gutes Beispiel, wenn er feststellt, dass die Bewohner der Trobriand-lnsdn »among the most civilised of these races« (21) sind oder dass die Indianer des amerikanischen Nordwestens über »[a] highly developed (...) industry« (34) oder »material arts (•••) of a very high order« (34) verfügen. Das Thema der Zivilisation wird von der Mauss'schen Beobachtung einer »curious incapacity to divide and define« (31) begleitet, namentlich dem »beobachteten« und kultivierten Kontrast zwischen einerseits dem Mangel dieser eitfachen Gesellschaften an instrumenteller Rationalität und infolgedessen ihrem Mangel an
10 Man sollte nicht unberücksichtigt lassen, dass Mauss' Die Gabe 1950 auf Englisch erschien, also ungefahr zur gleichen Zeit wie das Aufkonunen der Modernisierungstheorie. 11 Tzvetan Todorov (1999) und Hayden Whlte (1978) haben dies reichhaltig für anthropologische und soziologische Schriften aufgeu.igt. Auch im Entwicklungsdiskurs müssen Kinder/ die Entwicklungsländer die Überwachung durch ihre Eltern/die entwickelten Staaten bis zu einem gewissen Grade ihrer >>Entwicklung« hinnehmen. Diese Phase der Überwachung ist die der Gabe. Später läuten Revolte (Hyde 1979) oder fehlendes Engagement die Phase des Marktaustausches, Austausch unter Gleichen, ein.
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Formen der Kalkulation sowie andererseits der »constant iq, utilitarian calculation<< (76) »unserer« komplexen Gesellschaft So schreibt Mauss: »our civilizations (...) draw a strict distinction between obligations and services that are not given free, on the one band, and gifts, on the other. Yet are not such distinctions fairly recent in the legal systerns of our great civilizations? Have these not gone through a previous phase in which they did notdisplaysuch a cold, t:alculating mentality?<< (Ebd.: 47-48, Hervornebungen N.K.)
Der Kontrast zwischen warm, heiß, kalt und eisig ist das Zeichen für den Kontrast zwischen der Unfahigkeit 21.1 rationalisieren und Rationalisierung sowie zwischen dem Vermischen der Formen des Gebens und der strikten Trennung zwischen sozialem und ökonomischem Austausch. Im Entwicklungsdiskurs ist Rationalität das unbestrittene Vorrecht der entwickelten Länder: Sie gtenzt diese einerseits von den Entwicklungsländern ab und muss andererseits übergeben, unterrichtet, erklärt und angewandt werden.12 Rationalität ist auf der Seite der Effizienz, Modernität, des Ökonomischen. Sie ist zuallererst Gefühlen entgegengesetzt, deren Dominanz für die Sich-Entwickelnden als charakteristisch angesehen wird. Ein entscheidendes Thema der Problematik des Gebens und Vertrauens behandelnd, schreibt ein in der Entwicklungsarbeit tätiger Beamter der Europäischen Union: »This mutual confidence is of even greater importance in cooperation between Europeans and our. partners in Africa, the Caiibbean, and the Pacific, because human questions rnean even more ·to them than they do to us.« (European Commission 1978 :11)
Diese Unterscheidung wird auch beim Thema der Traditionen aufgegriffen, denen von den entwickelten Staaten nach den ersten problematischen Resultaten struktureller Anpassung zunehmend Respekt entgegengebracht wird, die aber zuvor als Hemmnis der Modemisierung galten. Die Handhabung von Zeit ist eine weitere Art, durch die die ungleiche gemeinsame Welt der Entwicklungsbeziehungen in den wissenschaftlichen Disziplinen gebildet wird. Zweifellos können wir mit der »Verleugnung der Gleichzeitigkeit<< beginnen, bekanntermaßen aufgezeigt von Johannes Fabian (1983). »Verleugnung der Gleichzeitigkeit« ~t die »persistent and systematic tendency to place the referent(s) of anthropology in a time other than the present of the producer of anthropological discourse« (Fabian 1983: 31). Dieses führt zu dem, was Fabian »Chronopolitik« genannt hat, eine Politik der Zeit,
12 Die Europäische GeiDeinschaft notiert beispielsweise: )00 the industrialized and the developing countries have every interest in encouraging more rational use so that, in the lang term, they both have easierlaccess to the world energy market. The industrialized world, particularly the Community, can help the developing countries (...) promote more rational ways of utili7Jltioll<< (European Commission 1978: 11).
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»consisted in casting the lateral, contemporaneous diversity upon the timescale, and so representing the different as obsolete, a relic of the past that outlived its time and now exists on a borrowed one, carrying a no-appeal death verdict carved all over its body.« {Ebd)
Dieses ist vergleichbar mit Mauss, der - seine Zielsetzungen am Anfang von Die Gabe darlegend - seine Erkenntnisse als »SSmewhat archeological<< charakterisiert (Mauss 1990 [1923/24]: 4). Wenn er von einfacheren Gesellschaften spricht, spricht er auch von »archaischen Gesellschaften« (beispielhaft, abgesehen vom Untertitel: Mauss 1990 [1923724]: 36), obwohl er es als >mnbeholfen« empfindet, sie als »primitive« (19, 47) zu bezeichnen._ In seinen Augen hat er nichts anderes getan, als eine Ausgrabung in einer (noch, aber nicht mehr lange) zugänglichen Vergangenheit vorzunehmen. Diese »Verleugnung der Gleichzeitigkeit« hat über ein Jahrhundert überlebt - trotz der gestiegenen Selbstreflexion in den Entwickhmgsbeziehungen. So schreibt Boaventura de Sousa Santos (2001): »When World Bank offleials meet with African peasants (...), the peasants' present reality is conceived by them as a past present and by the World Bank as a present past.« In Fabians Begrifflichkeit verleugnen die Weltbankangestellten Gleichzeitigkeit- das heißt, sie betrachten die Art des Lebens, derer sie Zeuge werden, als tatsächlich der Vergangenheit zugehörig, obgleich sie ausschließlich in der heutigen Zeit zugänglich ist -, während die Bauern ihre eigene Wtrklichkeit als eine altmodische Lebensart begreifen, die jetzt lebendig und drängend ist. Der Zugang zur gemeinsamen Welt der Entwicklung beruht auf denen, deren Realität als eine Art gegenwärtige Gegenwart (»present present<<) verstanden wird. Dennoch führen anthropologische Nostalgie und das Misstrauen der Disziplin gegenüber anderen Disziplinen die »Verleugnung von Gleichzeitigkeit« in ein Paradox. Zuerst einmal fühlt sich die Anthropologie berufen, das zu bewahren, was dabei ist, zu verschwinden. Die Illusion der Schlichtheit, der Nestwärme und der Großzügigkeit, die dem Gegenstand der Anthropologen zugeschrieben werden, ist so überzeugend, dass eine Rückkehr zu ihnen befürwortet werden kann: »[WJe murn, as mum we mnst, to habits of >aristocratic extravagance<. As is happening in Englishspeaking countries and so many other rontemporary societies, whether made HjJ ofsavages or high!J civilized, the rich mnst come back to considering themselves - freely and also by obligation - as the financial guardians of their fellow citizens.« (Mauss (1990 [1923/24]): 68-69, Hervorhebung N.K., s. auch ebd. 68: »Thus we are returning to a group morality« und 69: »Thus we can and must return to archaic society.<<)
Mauss' sozialdemokratische Vision ist eine Rückkehr zu einer solidarischen, redistributiven Gesellschaftsordnung, in welcher die Reichen die namenlosen Armen schützen. Der Zeitaspekt ist hier bedeutend: Einerseits ist eine Rückkehr zu dieser Art der Gesellschaft bereits im Gange, andererseits soll diese in der Zukunft stattfinden; diese zukünftige Rückkehr zur Vergangenheit geschieht ohne Unterschied
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zu allen Zeiten der Zivilisationsgeschichte, vom frühen primitiven W.tl.den bis zu den jetzigen in hohem Grade Zivilisierten. Darüber hinaus wurde die anthropologische »Chronopolirik« des frühen und mittleren zwanzigsten Jahrhunderts durch das gegenseitige Misstrauen und die Positionierung der verschiedenen Disziplinen im Reich der Wissenschaft eingefärbt. In seiner »conclusion regarding general sociolugy and morali!J<< wirft Mauss - im »wir<< der Soziologen - >>questions to historians and ethnographers« auf und schreibt, dass die Letzteren die Psychologen nachahmen sollten. Für unsere Zwecke am bedeutsamsten äußert er sich sowohl gegen die >>U!lconscious sociology« der Wtrtschafts- und Rechtshistoriker, die mit ihren modernen Ideen »forms apriori ideas of development and follows a so-called necessary logic« (ebd.: 78, 80, 81, 36, Hervorhebungen N.K.), wie auch gegen die Transitionssoziologie, die den Wandel von Tradition zu Modernität nachvollzieht. Umso mehr ist an Mauss' Misstrauen interessant, dass seine eigene, vermutlich »bewusste« Soziologie Durkheimscher Art später hauptsächlich von Anthropologen und nicht von Soziologen verwendet wurde. Ein dritter Weg, gleichzeitig auf Gemeinsamkeit und Ungleichheit in der Entwicklung abzustellen, ist die doppelte Annahme der notwendigen Logik und der erforderlichen Intervention in der Modemisierungstheorie. Obwohl das Thema des Gebens (oder seiner zentralen lmplikationen wie Reziprozität, Verpflichtung, Verschuldung) als ausdrückliches Objekt der theoretischen Erkundung insgesamt ziemlich selten in der Soziologie behandelt wird, war es als implizites, praktisches Thema eine wesentliche Konsequenz der Soziologie der Modernisierung, die in den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde. Die »Chronopolirik« der Modernisierungstheorie, um die Bezeichnung Fabians zu nutzen, war aber sehr verschieden. Sie war, wie Mauss festhielt, durch die Vorstellung von einer notwendigen Fortschrittslogik geprägt. Gesellschaften wurden anband einer Skala der Rückständigkeit (das gleiche wie Fortschrittlichkeit, aber entgegengesetzt) bemessen und von ihnen Wllrde erwartet, mit Hilfe von Interventionen zu den höheren Weihen der technologischen und wirtschaftlichen Modernität zu gelangen. Allerdings benötigten sie dafür auch eine helfende Hand Die lexikalische Konfusion zwischen der notwendigen Logik und der erforderlichen Intervention dehnte sich auf den eigentlichen Prozess und das Resultat aus, und beides waren Zeichen politischer Bequemlichkeit und philosophischer Absurdität. t3 Wte Albert Hirschman (1981) unterstrichen hat, waren die Beziehungen zwischen »Entwickelten<< und »Unterentwickelten«- wie sie damals bezeichnet wurden - durch die Verachtung des Unterschieds seitens der Entwickelten gekennzeichnet. Diese Auffassung war hauptsächlich der Entwicklungsökonomie geschuldet. Das
13 Zum philosophischen :Aspekt siehe Castoriadis 1976; zum politischen Aspekt siehe Ferguson 1990.
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gleichzeitige Streben nach Angleichung und nach einer Bestätigung der Ungleichheit, die alle Disziplinen kennzeichnete, war somit das Ergebnis des Einflusses des ökonomischen Denkens. Dennoch schreiben sowohl Anthropologen als auch Soziologen des Gebens ausdrücklich gegen die Wtrtschaftwissenschaft an - eine interessante Beobachtung, wenn man die Wtrtschaftwissenschaft als weniger unbefangen hinsichtlich deutlicher Ungleichheit und recht reserviert bezüglich des Aufbaus des Gemeinsamen ansieht. Im Widerspruch zu den klaren Thesen gegen den Reduktionismus der Wtrtschaftswissenschaften muss festgestellt werden, dass der Großteil der Schriften über Formen des Gebens eine wirtschaftsnahe Sprache verwendet. So spricht Blau (1 %4: 98) zum Beispiel über »Investitionen<(, »Nutzen<(, »Kosten<(, »Transaktionen<<. Dies ist nicht nur bezeichnend für die große- aber als solche nur spärlich kommentierte - Mfinität zwischen »Sozialem« und »wirtschaftlichem<< Austausch, sondetn mindestens ebenso bezeichnend für das Entstehen spezieller ökonomischer Unterdisziplinen, die sich mit dem Geben auseinandetsetzen. Die Subdisziplinen politische und soziale Ökonomie versuchten die gleichen Paradoxien wie Anthropologie und Entwicklungstheorie zu beantworten: Zeit und Mitgliedschaft, notwendiger Fortschritt und Intervention (Procacci 1991). Dabei trugen sie gleichetmaßen zum Errichtung eines Gemeinsamen bei, das per Definition ungleich war.
Schwer bestimmbare Reziprozität: von Ausschluss zu Umlenkung »Und dann war da noch Macartneys wiederholter Wunsch, sich an das Geschäft des Verhandeins zu machen, sobald die Borschaft feierlich durch den Kaiser entgegengenommen ist und die Geschenke ausgetauscht worden sind. Der Wunsch wurde nie erfiillt, weil, soweit es die Chinesen anging, das Geschäft bereits beendet war - die Zeremonien waren das Geschäft.« (Sahlins 2000:
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Wenden wir uns nun nach den Theorien über das Geben der Praxis des Gebens zu. Der Grund dafür, warum die Institution und die Praxis des Gebens so große Aufmerksamkeit gefunden haben, liegt in dem Phänomen der Reziprozität, das heißt, der dritten Verpflichtung, die Mauss (1990 [1923/24]: 39) in seiner Definition der »three themes of the gift« unterstreicht. Mauss bezeichnet die Reziprozität als »das Wesentliche<< des Potlatsch (ebd.: 41), und die meisten Theoretiker det Gabe und des Gebens haben darin übeteingestimmt, dass die Reziprozität im Zentrum des menschlichen Austausches dieser Art steht. In det Tat hatte bereits Simmel (1908: 590) die Beobachtung gemacht, dass »aller Verkehr der Menschen (...) auf dem
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Schema von Hingabe und Aquivalent« beruht.14 Auf ähnliche Weise betrachtete Alvin W. Gouldner (1960) die Notwendigkeit, empfangene Gaben zu erwidern, um diese weiterhin zu erhalten, als wesentliches Element für den Anstoß zum sozialen Austausch. In der Tat ist es leicht einzusehen, dass, wenn der Zweck des Geschenkegebens die Neubegründung oder Vertiefung einer sozialen Verbindung ist, das Scheitern, die Ablehnung oder das Vergessen des Überreichens eines zweiten Geschenkes zum Bruch der werdenden Verbindung führt. Diese allgemein verständliche, aber bedeutsame gesellschaftliche Entdeckung führte zu der Schlussfolgerung - die hinterfragt werden kann, auch wenn dies nicht Zweck dieses Kapitels ist15 -, dass es keine freie Gabe gibt, kein Geschenk, das ohne abgeleitete Verpflichtungen auskommt. Die Thematik von Freiheit und Verpflichtung, die man in Begriffe von Gemeinsamkeit und Ungleichheit übersetzen kann, ist zentral in jeder Konzeptualisierung der Reziprozität, in ihlem Ausschluss in SonderBillen und in ihrer Umlenkung in ökonomischen Austausch. Beispielsweise hat Simmel (1908) mit der vorher erwähnten Bezugnahme auf Dankbarkeit einen sehr starken Gegensatz zwischen dem Geber und dem Empfinget ausgemacht: »Die erste, aus der vollen Spontaneität der Seele quellende Erweisung hat eine Freiheit, die der Pflicht - auch der Pflicht der Dankbarkeit - mangelt. ( ...) Nur wenn wir sie vorl.eisten, sind wir frei.« (Ebd: 595f.). In dieser Freiheit sieht Simmel die Unmöglichkeit einer wahrhaftigen Gegengabe, da bei der Erwiderung des Geschenkes diese Freiheit stets fehlt und durch Verpflichtung ersetzt ist. Mauss (1990: 42 (1923/24J) beschreibt den »Befehl« zur Erwiderung eindeutig als Ursache einer Sklaverei aus Schuld, damit im Falle des Ausfalles klar ist, dass auf der Seite des ursprünglichen Ernpfaugers nichts außer Verpflichtung besteht. Aber auch auf der Seite des Stammesoberen oder des Reichen ist die Freiheit zu geben (tn der Entscheidung zu geben oder Wohlstand zu zerstören) beschränkt, sei dies auf Grund eines bestehenden Antagonismus oder der Notwendigkeit von Versöhnung. Infolgedessen schließt das Geschenk die Idee des Kredits ein und im Extrem auch den Begriff des ökonomischen Austausches, sodass insgesamt die Grenzen zwischen Freiheit und Verpflichtung zur Erwiderung verwischt sind
14 Die Frage danach, was genau die Gleichwertigkeit begründet, oder- in anderen Worten - ob der erwiderte Wert wirklich gleichwertig ist, war ebenfalls eine schwierige Frage für die Soziologie und Anthropologie der Gabe. 15 Derrida (1992) hat kraftvoll darauf abgestellt, aber wie Henaff (2002) anführt, spricht Derrida aus einem strikt ethisCh-individuellen Blickwinkel. während die Perspektive hier eine gesellschaftlich-symbolische ist.
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So sind die einzigen klaren Ausnahmen von der Verpflichtung zur Erwiderung der Potlatsch, Geschenke an Kinder und Alte16, Nächstenliebe oder Almosen. Bei diesen Anlässen ist das Geschenk - zumindest formal - für den Empfinget frei. In allen drei Fällen ist es offensichtlich, dass der Empfinget entweder eindeutig ann oder bedürftig ist (Nächstenliebe und Kinder) oder niema1s über so viel Reichtum wie der Geber/Zerstörer verfügen wird (Potlatsch). Die Metapher der Kinder-Eltern-Beziehung des Kolonial- und Entwicklungsdiskurses kommt einem hier sofort ins Gedächtnis, aber diese ist nicht von der historisch zentralen Frage der Nächstenliebe zu trennen. Mauss .fasst den intellektuellen Ursprung der mostemischen und christlichen Wohltätigkeit wie folgt zusammen: »Alms are the fruit of a moral notion of the gift and of forrune, on the one hand, and of a notion of sacrifi.ce, on the other. Generosity is an obligation, because Nemesis avenges the poor and the gods for the superabundance of happiness and wealth of certain people who should rid themselves of it. This is the ancient morality of the gift, which has become a principle of justice.« (Ebd.: 18)
Christliche Gerechtigkeit nahm zunächst in der Kirche eine institutionalisierte Gestalt an.17 Dann rückte die Wohltätigkeit- der »Grund« für das Geben -im achtzehnten J abthundert in den politischen Bereich. 1B Ein J abthundert nachdem sie den öffentlichen Bereich betreten hatte, wurde wiederum die institutionalisierte Wohltätigkeit herausgefordert Die Liberalen des 19. Jahrhunderts sprachen sich gegen die Ineffizienz der Verrechtlichung (der rechtlichen Kodifikation) der Caritas aus, da die Zuerkennung von Rechten an die Armen die Verpflichtung der Wohlhabenden auch verrechtlichte und damit die Institutionalisierung der Armut vorantrieb. Wie Ewald (1986) es zusammenfasst: >>tlonnez des droits aux pauvres et vous aurez des pauvres<<.19 In diesem Kontext verbleibt die Entscheidung über das Geben und seine Unterlassung im Bereich der Willkür, der die Armen ohne Möglichkeit der Anrufung von Regelungen unterworfen sind Diese Hilflosigkeit - die paradoxerweise 16 Gouldner fügt Geschenke an alte Menschen hinzu (1960: 178) und wirft somit indirekt die Problematik intergenerationeUer Solidarität auf, die derzeit so stark in den europäischen Debatten über die Rentenfinanzierung diskutiert wird 17 Jedoch, wie Arendt (1996) festhält, stand sie häufig außerhalb der etablierten Kirchenhietarchie. 18 Man beachte aber bereits die Kommunalverfassungen der Athener und der jüdischen Gemeinden: WalzeJ: (1983: 60ff.). 19 In anderen Worten: Wer effizient sein will, muss frei verantwortlich und nicht zum Geben verpflichtet sein. Wenn in diesem Fall die Verantwortlichkeit zum freien und autonomen Individuum gehört und Autonomie das Gesetz im Innem der Person verankert, wird die Position des Gesetzes, das den Schwächeren schützen soll, prekär. In Gabentheorien ist der Begriff der Autonomie unglücklicherweise untertheoretisiert. Bei Mauss findet sich eine sehr interessante Passage: »The aim of all this [exaggerated modesty fot a highly impotrant gift] is to display generosity, freedorn, and autonomous action, as well as greatness. Yet, all in all, it is mechanisms of obligation, and even of obligation through things, that are called into play.« (1990 [1923/24]: 23, Hervorhebung N.K). Im Übrigen wird immer Abhängigkeit betont.
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entsteht, wenn es genau »Hilfe« ist, die angeboten wird - ist der Grund, warum Wohltätigkeit verletzbar macht. Sie verurteilt den Empfanger von Nächstenliebe, bloßer Empfanger zu bleiben und nicht das Reich des sozialen Austausches zu betreten, da keine Verbindungen geknüpft werden können, und er somit außerhalb der Gemeinschaft verbleibt. In den kolonialen und später postkolonialen Entwicklungsbeziehungen ist die Situation mehrdeutiger. Obgleich sie die Kolonisation mit dem Postulat der Nächstenliebe unter dem christlichen Banner rechtfertigten, beuteten die europäischen Staaten den Reichtum und die Ressourcen der Kolonien skrupellos aus -und »Ausbeutung« kann hier, Gouldner folgend, als Gegenpol zu Reziprozität verstanden werden. Sobald die kontroverse Debatte über die menschliche Natur der Kolonialisierten im 16. Jahrhundert verklungen war, mussten die Wtlden zivilisiert und christianisiert werden, während zugleich die Rohstoffe in ihren Böden abgebaut und ihre Felder intensiv kultiviert wurden (fodorov 1999; White 1978). Auch heute noch ist der Entwicklungsdiskurs durch Verhandlungen über die Rohstoffe der »Entwicklungsländer« gekennzeichnet. Die Frage der Gleichwertigkeit wird weiterhin aufgeworfen, und was im Gegenzug gegeben wird. reicht von technologischem Transfer bis zum Demokratie-Training. Zum anderen sind Caritas und Almosen nur ein Modus des Gebens, der zum Zwecke der Kolonisation eingesetzt wird. die anderen sind das Tauschgeschäft und ökonomischer Austausch. Das koloniale Bild des europäischen Reisenden bder Siedlers, der seinen Fuß auf eine Insel setzt und Alkohol und Glasperlen gegen den kostbaren (aber nicht bewusst besessenen) Reichtum der exotischen Plätze anbietet, ist allgemein bekannt. Marktaustausch besteht auch im Kolonialismus, obgleich möglicherweise in einer begrenzteren Weise: Dieser bezieht sich auf die dritte Vieldeutigkeit, die in der historischen Veränderung vom kolonialen zum postkolonialen Entwicklungsdiskurs deutlich wird Unter »Entwicklungsbedingungen« kann Geben in der Tat auch als kommerzieller oder marktwirtschaftlicher Austausch aufgefasst werden. Dann wird eine stark ökonomische Logik angewandt. Der Ursprung dieser Entwicklung weg von der Wohltätigkeit kann auf der Seite des Gebers (in der Einleitung wurde das »Trade not aid«-Motto der industrialisierten Länder erwähnt) oder auch auf der Seite des Empfangers, der sich gegen Wohltätigkeit auflehnt, liegen. Wie Mauss sagt, »{c]harity is still wounding'for him who has accepted it, parti.cularly when it was accepted with no thought of returning it and the whole tendency of our morality is to strive to do away with the unconscious and injurious patronage of the rich almgiver.«20
Aber wenn der Bereich des freien Geschenks verlassen wird. kommt Reziprozität wieder ins Spiel 20 Das ist auch genau Mary Douglas' Ansatzpunkt für ihr Vorwort zur englischen Übersetzung von Du Gabe. '
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Bei aller gebotenen Vorsicht bei der Unterscheidung zwischen dem Schenken und dem ökonomischen Austausch muss angemerkt werden, dass bei letzterem Reziprozität in kürzeren Abständen erfolgt und dass sie in einer spezifizierten Verpflichtung begründet liegt. Der erste Punkt, die Frage der Zeit, ist in Pierre Bourdieus Überlegungen zum Austausch zentral Der Grundgedanke ist, dass die zeitliche Verzögerung zwischen dem Geschenk und dem Gegengeschenk wesentlich ist, wenn die zwei Geschenke zwei einzigartige und getrennte Akte der Großzügigkeit bleiben sollen.21 Blau (1964: 99) stellt ebenfalls heraus, dass »hasty reciprocation (...) is condemned as improper since it betrays a tendency towards a business relationship<<. Auf einer Skala, die vom Geschenk bis zum ökonomischen Austausch (oder donnant-donnanl) reicht, wird die Zeitspanne zur reziproken Erwiderung kürzer. Der Austausch wird gleichzeitig expliziter, was ein zweites Anzeichen für das Verlassen des Bereiches des Geschenkes ist. Im letzteren, so Bourdieu (1994), herrscht das )>Explikationstabu« über die Gabe, deren exakter Wert nicht bekannt werden darf:22 Dies erklärt auch die Rituale um die Negierung des Wertes des Geschenkes, die von Mauss beschrieben werden. Aber diese Explizitheit bezieht sich nicht nur auf den »Preis des Geschenks<<. Blau zum Beispiel sieht die größte Unterscheidung zwischen sozialem und ökonomischem Austausch in der Tatsache, dass ersterer >)\Jl}spezifische Verpflichtungen« zur Folge hat. Um sein Argument zu untermauern, zitiert er (Blau: 1964: 93) Malinowski damit, dass im sozialen Austausch: >>One person does another a favor, and while there is a general expectation of some future return, its exact nature is definitely not stipulated in advance«. Vom Ausschluss der Reziprozität in der Nächstenliebe kommen wir zur Umlenkung der Reziprozität in ökonomischen Austausch, in dem die sofortige und eindeutige Gegenleistung dazu dient, das soziale Band zu brechen. In den Entwicklungsbeziehungen ist - wieder einmal - die Situation komplizierter. Zu Beginn der postkolonialen Entwicklungsbeziehungen wird kein ausdrücklicher Bezug auf Reziprozität genommen, der Ton ist stark paternalistisch geprägt, und eine hierarchische Verantwortlichkeit wird von den »entwickelten Länder« übernommen. Dementsprechend wird die Überlegenheit der Letzteren klar herausgestellt. Jedoch ist gleichzeitig deutlich, dass die Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern und 21 Bourdieu schreibt )>le role determinant de l'intervalle temporel entte le don et le contre-don, le fair que, pratiquement dans toutes les socieres, il est tacitement admis qu'on ne rend pas sur le champ ce qu'on a ~- ce qui reviendrait a refuser.« (Bourdieu 1994: 179). Siehe auch Bourdieu (1972) und Mauss' ))reflection on time« (1990 [1923/24]: 36). In der Verzögerung sieht Mauss zuerst einmal eine praktische Notwendigkeit Historisch betrachtet, konnte ein Geschenk oft nicht umgehend erwidert werden, es musste zunächst einmal erschaffen oder erbaut werden. Austausch ))at the same time« wird seiner Ansicht nach mit dem Anstieg des Wohlstandes möglich. Eine ähnliche Ansicht findet sich bei Gouldner 1960: 174. 22 Vgl Bourdieu 1994: 181. Bourdieus Selbsttäuschungstheorie kann allerdings durchaus widersprochen werden.
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den entwickelten Staaten nicht länger durch koloniale Wohltätigkeit geprägt werden.23 Vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit und der Unabhängigkeitist das Ziel des Gebens Versöhnung: Wohltätigkeit kann nicht denjenigen angeboten werden, mit denen man eine Freundschaft begründet. Mittlerweile fahren die Verhandlungen über die Rohstoffe der Entwicklungsländer fort, jedoch werden sie heruntergespielt; im Lichte der kritischen Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsdiskurs und den Entwicklungsbeziehungen erscheint dies als grober Bruch der Gerechtigkeit. Denn wenn es sich nicht um Wohltätigkeit handelt, dann gibt es Reziprozität und das Weben gemeinsamer Bande durch Geschenk und Gegengeschenk. Aber nur das Geschenk wird erwähnt, und das Gegengeschenk der Rohstoffe wird unbeachtet gelassen. Weiterhin wird die gemeinsame Welt der Entwicklung einerseits geschaffen und verbleibt andererseits ungleich: Für diese Situation ist der Gedanke der Schulden ebenso zentral wie der der ursprünglichen Irrationalität der Idee der Entwicklung.24 Wahrend Vieldeut:igkeiten zwischen den unterschiedlichen Formen des Gebens fortbestehen, nimmt Reziprozität neuerdings immer mehr die Form des Marktaustauschs zwischen den Sich-Entwickelnden und den Entwickelten an.25 Ausdrückliche Hinweise auf Reziprozität werden immer häufiger- auf der Grundlage der Annahme, dass in den vorhergegangenen Dekaden der Austausch nicht wechselseitig war, sondern Wohltätigkeit vorherrschte.26 Im Versuch, die Geschichte der Entwicklungsbande neu zu schretben und dabei die Kolonialvergangenheit beiseite zu
23 In »The Courier«, einem Entwicklungsmagazin. das über die Beziehungen der EU mit den ACP Ländern informiert, kann man lesen: »Lastly, there are fonns of credit offered on such favourable tenns that they are tantamount to gifts. lndeed, the richu countries are beginning to give such aid as outright gifts. 1bis money goes principally to the countlies which lack the raw materials and the educational skills necessary for development. These sums go to the poorest.<< (European Commission 1979: 91, Hervorhebung N.K) 24 Comelius Castoriadis (1976) hat aufgezeigt, dass die zu Grunde liegende Irrationalität des modernen Verständnisses von Entwicklung darin liegt, dass stets neue Stufen angestrebt werden, anstatt einen Zustand der Perfektion- oder des Entwickelt-Seins- erreichen zu wollen. ·wie es das antike Verständnis von Entwicklung vorsah. 25 1995 hat dies die Europäische Union auf folgende Weise ausgedrückt: »Dans le meme temps, la cooperation au deveioppement tire les l~ du passe afin d'ameliorer son approche. Elle se detache progressivement de l'aide classique au developpement pour adopter une >approche conttacruelle<. Les relations Cutures de la Communaute sont appelees a se fonder sur un conttat de confiance aux termes obligatoires pour les deux parlies (.•.) la demarche s'applique egal.ement aux pays les plus defavorises ou l'aide sera toujours davantage liee a une obligation de resultats.« (Christopoulos 1995: 77) 26 Erneut die Europäische Union: »These economic realities are not the only reasons for the Community's cooperatibn policy, but they do demoostrate why cooperation is necessary to all those in Europe who might be tempted to regard it as nothing more than charity or even a waste of money.« (Ebd., Hervorhebung N.K)
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lassen27, tendiert der jüngste Entwicklungsdiskurs dazu, die alten Strukturen des Denkens (und des Gebens) abzulehnen, während er unvermeidbar auf ihnen aufbaut: Dies ist letztlich der Fall bei der Eltern-Kinder-Metapher, die nun benutzt wird, das »Reifen« der Entwicklungsländer zu beschreiben. Diese unvermeidbaren Mehrdeutigkeiten - Ablehnung von Nächstenliebe und hierarchischer Verantwortlichkeit durch das Argumentieren mit Wohltätigkeit oder dem Kinder-Eltern-Thema - sind, zuallererst, das Ergebnis eines komplexen Diskurses, in dem, wie anderswo, »everything is mixed up together«: Antagonismus und Versöhnung sind beide präsent, so wie Vertrauen und Misstrauen, hierarchische und egalitäre Tendenzen in den Beziehungen.28 Das heißt, alle drei Formen des Gebens- Geschenk, Schuld, Marktaustausch - sind miteinander vermischt, selbst wenn der ökonomische Austausch mit seiner unverzüglichen und »egalitären« Reziprozität dominiert. Das kontinuierliche Vorhandensein solcher Vieldeutigketten ist aber auch nur die Reflexion des Paradoxon der Entwicklung selbst, oszillierend zwischen einer progressiven, autonomen Logik und Interventionismus. Während sich die gemeinschaftliche Welt, welche die Entwicklungsbeziehungen erzeugen, nach und nach auflöst, bestehen die Probleme so akut fort, wie sie bei ihrer Gründung waren. Ungleichheit ist das fortbestehende Kennzeichen für den Austausch zwischen Gesellschaften.
Literatur Arendt, Hannah (1996): Love anti Saint.ARgHStine. Chicago: Chicago University Press. Blau, Peter M. (1964): Exchange anti P0111er in Soda/ Lift. New York: John Wiley. Boltanski, Luc (1993): La sot{france distance. Paris: Metailie. Bourdieu, Pierre (1972): Esquisse d'une theorie de Ia pratique. Paris: Seuil. Bourdieu, Pierre (1994): Raisons Pratiques. Paris: Seuil.
a
Zl 1998 erklärte die Europäische Union: >>La periode post-coloniale est revolue et Ia logique do-
a
nateur-receveur est depassie.. L'UE et les ACP ont des interets conununs developper et une opportunite sttategique a saisir. Il nous faut un partenariat revalorise sur des bases nouvelles et ambitieuses.« (European Commission 1998) 28 In einem historischen Umbau ihrer Entwicklungspolitik im Jahre 1997 verlautbarte die Europäische Union: »However, it had to be recognised that unconditional assistance did not help developing countries to become fully accountable for their policies, allowed economic dependence to continue under the guise of a convenient safety net and caused many countries to become addicted to aid.« (European Commission 1997: 4) Dieser Auszug ist sehr interessant, da er verschiedene Elemente der Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Typen des Gebens vereint: die Verurteibmg bedingungsloser Hilfe (der Gabe) und infolgedessen die Frage der Konditionierungen, die Verantwortlichkeit (egalitär individuell) der Entwicklungsländer, denen nicht »geholfen« wurde (hierarchische Verantwortlichkeit), die wirtschaftliche Abhängigkeit und das Sicherheitsnetz (Aspekte der Schuld), die Abhängigkeit von Hilfe (eine Undankbarkeit, das Ausbleiben einer erwarteten Gegenzahlung?).
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Castoriadis, Cornelius (1976): Reflexions sur le 'devcloppement' et la rati.onalite, in: Esprit, Vol. 5,
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296 White, Hayden (1978): Trupics University.
NATHALIE KARAGIANNIS
of Diseot~rse: Ess19s in Cnltural Critidsm.
Baltimore: Johns Hopkins
Autorenverzeichnis
Mauss, Marcel: 1872-1950; Neffe des Soziologen Emile Durkheim; Studium der Philosophie, Psychologie, Jura und Soziologie in Bordeaux (1890-1892), Studium der Indologie, Hebräisch, Religionsgeschichte u. a. in Paris (1892-1900, ab 1895 an der Sorbonne). Herausgeber der Zeitschriften »L'Annee sociologique« mit Emile Durkheim (1901-1912), »L'Annee sociologique. Nouvelle serie« (1923-1925) und der »Annales sociologiques. serie A-E« (1934-1942). Professor für Soziologie am College de Francein Paris (1931-1940). Veröffentlichungen (Auswahl): Essai sur Ia nature et Ia fonction du sacrifice (mit Henri Hubert), 1897/98. Oe quelques formes primitives de classification (mit Emile Durkheim), 1901/02. Essai sur le don, 1923/ 24. Les civilisations, 19,30. Les techniques de Corps, 1935. Sociologie et anthropologie (eingeleitet von Claude Uvi-Sttauss), 1950 (deutsch 1975). Sah/ins, Marsha/1: geh. 1930; Studium an der University of Michigan und der Columbia University (dort 1954 Ph.D.), Dozent an der University of Michigan und der Columbia University (1954-1973), Dozent an der University of Chicago (seit 1973), Mitglied der »American Academy of Arts and ScienceS« (seit 1976). Veröffentlichungen (Auswahl): Stone Age Economics, 1972. Culture and Practical Reason, 1976. Historical Metaphors and Mythical Realities. Sttucture in the Early History of the Sandwich Island Kingdom, 1981. lslands of History, 1985. Culture in Practice. Selected Essays, 2000. Simme~
GetPg: 1858-1918; Studium der Philosophie und Geschichte, später der Kunstgeschichte an der Universität Betlin (1876-1881), Promotion zum Dt. phil. an der Königlichen Friedrich-Wtlhelm-Universität in Betlin (1881). Privatdozent (18851900), unbesoldete außerordentliche Universitätsprofessur an der Universität in
Berlin (1900-1914), Mitbegründer der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« (1909), seit 1914 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Sttaßburg. Veröffentlichungen (Auswahl): Über soziale Differenzierung, 1890. Philosophie des Geldes, 1900. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908. Philosophische Kultur, 1911. Grundfragen der Soziologie, 1917.
298
AUTORI!NVI!RZI!ICHNIS
Gouldner, Alvin W.: 1920-1980; Studium der Soziologie an der Columbia University (dort 1953 Ph.D.), außerordentlicher Professor am Department für Soziologie an der University Dlinois (1954), Professor am Department für Soziologie der Washington University St. Louis (1959), ordentliche Professur an der Universität Amsterdam (1972), Gründer der Zeitschrift »Theory and Society« (1974). Veröffentlichungen (Auswahl): Wildcat Strike, 1954. Patterns of Industrial Bureaucracy, 1955. Enter Plato, 1965. The Coming Crisis ofWestem Sociology, 1970. For Sociology: Renewal and Critique, 1973.
Blau, Peter M: 1918-2002; Emigration in die Vereinigten Staaten von Amerika. Studium der Soziologie an der Columbia University (dort 1952 Ph.D.), Dozent an der University of Chicago (1963-1970) und an der Columbia University (19701988), Präsident der »American Sociological Association« (1973-1974). Veröffentlichungen (Auswahl): Bureaucracy in Modern Society, 1956. Formal Organizations (mit W. Richard Scott), 1962. Exchange and Power in Social Ufe, 1964. The American Occupational Sttucture (mit 0. Dudley Duncan), 1967. On the Nature of Organizations, 1974. Inequality and Heterogeneity, 1978.
Bourdieu, Pierre: 1930-2002; Studium u.a. der Soziologie und Philosophie an der Faculte des Lettres der Sorbonne und an der Ecole Normale Superieure, beide in Paris. Assistent an der Faculte des Lettres in Algier (1958-1960), Dozent an der Faculte des Lettres in Lilie (1961-1964), 1964 Professor an der Ecole Pratique des Hautes Etudes en Seiences Sociales, 1982 Berufung an das College de France. 1993 Medaille d'or des Centre National de Recherche Scientifique, Directeur desCentrede Sociologie Europeenne am College de France und an der Ecole des Hautes Etudes en Seiences Sociales in Paris (1985-2002). Veröffentlichungen (Auswahl): Esquisse d'une theorie de Ia pratique, 1972. Le sens pratique, 1980. La distinction, 1982. Les Regles de l'art. Genese et structure du champ litteraire, 1992. Raisons pratiques. Sur Ia theorie de l'action, 1994. Cai!te, Alain: geh. 1944; Professor 6ir Soziologie an der Universität Paris X Nanterre, Gründer (1981) und Herausgeber der Zeitschrift La Revue du M.A.U.S.S., Direktor der »DEA Societe, Economie et Democratie« und der >>Groupe d'Etude et d'Observation de Ia Democratie, laboratoire associe au CNR.S«. Veröffentlichungen (Auswahl): Splendeurs et Miseres des sciences sociales, 1986. Critique de Ia raison utilitaire, 1989. Don, interet et desinteressement. Bourdieu, Mauss, Platon et quelques autres, 1994. Anthropologie du don, 2000. Association, democratie et societe civile (mitJean-Louis Laville, Philippe Chanial), 2001.
AUTORENVERZEICHNIS
299
Hol/stein, Betina: geh. 1965; Studium der Medizin und Soziologie in Marburg und Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und der Universität München. Hochschulassistentin an der Universität Mannheim, seit 2003 Hochschulassistentin an der Humboldt Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Familie und sÖZiale Netzwerke, Lebenslauf-, Alternsforschung und Soziale Ungleichheit. Neuere Veröffentlichungen: Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Herausgeberschaft mit Florian Straus, 2005). Netzwerkveränderungen verstehen. Zur Integration von sttuktur- und akteurstheoretischen Perspektiven, Berliner Journal für Soziologie 13, 2, 2003, 153-175. Adloff, Fran/e: geh. 1969; Studium der Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Marburg, Jena und der Freien Universität Berlin (Diplom 1996), Promotion am John E Kennedy-Institut für Nordamerikastudien (FU Berlin, 2002), Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft, Berlin (2000-2002), seit 2002 wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Europa- und Nordamerikastudien und am Institut für Soziologie, Universität Göttingen; 2004: Theodor Heuss Lecturer an der New School University, NYC. Neuere Veröffentlichungen: Im Dienste der Armen. Katholische Kirche und ameri-_ kanische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2003. Zivilgesellschaft Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main/ New York: Campus, 2005.
Sigmund, Stdfen: geh. 1961; Dr. rer soc., Akademischer Oberrat am Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. Forschungsschwetpunkte: Aktuelle Theoriediskussion, Institutionentheorien, Soziologie des Stiftungswesens. Neuere V eröffentlichungen: Zeitgenössische amerikaaisehe Soziologie (Herausgeberschaft zusammen mit Hans-Peter Müller), 2000. Gesellschaftsbilder im Wandel (Herausgeberschaft zusammen mit Eva Barlösius und Hans-Peter Müller), 2001. Zwischen Altruismus und symbolischer Anerkennung. Überlegungen zum stiftensehen Handeln in modernen Gesellschaften, in: Roland Becker, Andreas Franzmann, Axel Jansen und Sascha Liebermann (Hg.): Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung, 2001. Das Weber-Paradigma (Herausgeberschaft zusammen mit Gert Albert, Agathe Bienfait und Claus Wendt), 2003. Solidarität durch intermediäre Institutionen, in: Jens Beckert, Julia Eckert, Martin Kohli und Wolfgang Streeck (Hg.): Transnationale Solidarität, 2004.
V oswinkel, Stephan: geh. 1952, Studium der Sozialwissenschaften an den Universitäten Marburg und qöttingen (Diplom 1978, Promotion 1982), WISsenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (1982-1984), an den
300
AUTORENVERZEICHNIS
Universitäten Göttingen (1985-1988), Marburg (1989-1992) und Duisburg (19922000). Habilitation für Soziologie und Privatdozent an der Universität Duisburg 2000-2003. Seit 2002 WISsenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main. Neuere Veröffentlichungen: Anerkennung und Arbeit, Konstanz: UVK 2000 (Herausgeberschaft zusammen mit Ursula Holtgrewe und Gabriele Wagner). Anerkennung und Reputation, Konstanz: UVK 2001. Welche Kundenorientierung? Anerkennung in der Dienstleistungsarbeit, Berlin: edition sigma 2005.
Lessenich, Stephan: geh. 1965; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Philipps-Universität Marburg (Diplom 1990), Promotion im Graduiertenkolleg »Lebenslauf und Sozialpolitik« der Universität Bremen (1993), Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent und Oberassistent am Institut für Sozialpolitik und am Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS) der Georg-August-Universität Göttingen (1994-2004), Habilitation im Fach Soziologie (2002), seit 2004 Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Neuere Veröffentlichungen: Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell, Frankfurt am Main/ New York: Campus, 2003. Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt am Main/New York: Campus, 2003 (Herausgeberschaft).
Mau, Ste.ffen: geh. 1968; Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (Diplom 1997), Promotion am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (2002), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (1997-1998) und an der Humboldt Universität zu Berlin (2001-2003), seit 2003 Juniorprofessor für Sozialpolitik an der Graduate School of Social Seiences (GSSS) der Universität Bremen, 2004 Gastdozent an der International University Bremen (lUB). Neuere Veröffentlichungen: The Moral Economy of Welfare States. Britain and Germany Compared, London: Routledge, 2003. Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main/ New York: Campus, 2004 (Herausgeberschaft zusammen mit Stefan Liebig und Holger Lengfeld).
Karagiannis, Natha!ie: geh. 1972; Maltrise in öffentlichem Recht der Universite Paris I Panthoon-Sorbonne (1995) und Diplom am Institut d'Etudes Politiques de Paris (1997), Promotion im Department of Social and Political Science am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (2002). Gegenwärtig als Marie Curie Research Fellow am European Institute der University Sussex. Neuere Veröffentlichung: Avoiding Responsibility: The Politics and Discourse of the EU Development Policy, London: Pluto, 2004.
Sachregister
Anerkennung: 14, 17, 50, 147-149,205, 237,243f.,246-250,254,261,264 .:... Würdigung: 250-254 Altruismus: 25, 46, 157f., 165, 174, 180, 198,213(,216-218,264 Äquivalenz: 13, 25, 31, 45, 101f., 189, 195-197,204,221,268( Ausbeutung: 145f., 238, 281, 291 Austausch: -asymmetrischer/Macht: 27f., 48, 132135,191f.,204,231,237-239,242 - sekundärer: 134-136 -sozialer: 27f., 127-132, 197,242, 278, 280, 288f. -wirtschaftlicher: 129-132,242,278, 280f., 288f., 292 Ausrauschtheorie: 14,26-30, 125-136 Christentwn/Religion: 19, 25, 38, 40f., 111, 169-172, 182, 2'20, 227,290 Dankbarkeit: 21, 101-108, 113, 126f., 147, 154, 188, 191, 193,201,220, 225,227,250,259,281,289 Do ut des: 40f., 139f., 143, 150, 230 Differenzierung/Ausdifferenzierung: 9f., 12, 16f., 20f., 45, 149-151, 163f., 219,251 Elue:13,144,148, 153, 163f.,243 Entwicklungsbeziehungen/Ungleichheit: 50, 277-294 Evolutionsbiologie: 33
Experimentelle Wirtschaftsforschung: 33-35,216,264 Fairness/Gerechtigkeit: 17, 21, 34f., 47, 217,260,270,273 Farnilie/Farnilienbeziehungen: 25, 49, 151-153, 187-206,257(,263 Fundraising: 225, 227-229 Funktionalismus:22f.,114,117f. -Dysfunktionen: 118-123 Gabe: - agonale: 13, 171f., 218(, 221,294 - und kulturelle/ symbolische Reproduktion: 11f:, 18f., 36-41, 142-147 -und gemeinsame Welt: 43, 278-282, 294 -Wohltätigkeit/Caritas: 19, 23f., 48, 103, 105, 107, 115, 121, 133, 165, 167,169,174,190,220,259,290-294 - Wohltätigkeitsnorm: 110-112, 113(, 191 -reine/altruistische: 13, 18, 39f., 46, 79, 81f., 114f:,172,219f.,231,237 -Pflicht (des Gebens/Nehmens): 13, 20,69-71,140, 189f., 198,218,289 - Spontaneität/Freiwilligkeit: 44f., 48, 106, 108,175,178(,181, 190,218, 221,289 -zeremonielle: 18, 42 Gebung: 40, 180-182
302 ~~21(,64,
SACHREGISTER
104,128,131,151,154,
262 Generationsbeziehungen: 49, 154f., 188, 191-206,263,290 Gewalt: 38f., 75, 148 Habitus: 24, 143, 162f. Herrschaft/Hierarchie: 135, 145(, 247f.,281 Hau/Geist des Gebers: 14( Heilige, das: 38f., 111, 150, 157 Hilfeleistung/ Crm: 43, 187, 192f., 211 E, 258,261 Identität/Gabe und Identität: 19,4750,218-223,231,237,244(,247,254 Interesse an/für: 176-180 Institutionalisierung: 10, 25,223-231, 243,258,260(,263,280 - institutionelle Leitidee: 223f., 226-229 Liebe: 29, 41, 95(, 127, 170, 172, 174, 201,290
Massenmedien: 43 Modernisierungstheorie: 284, 287 Moral/Moralischer Code/Pflicht/ ~orrnativisrnus:16,44(,47, 115117,136,191,193-197,213-215,272 ~onprofit-Organisationen:
216f., 224,
228-230,238 Opfer: 16,36-38,42, 172f., 179,250 Pooling: 77f., 199,203 Podatsch: 13, 36f., 67-69, 145,218, 221,281,288,290 Prostitution: 151 Rational Choice-Theorien: 30-33, 215 Rechte, soziale: 50, 259-262, 272 Redistribution: 77, 79, 199,258, 262f., 286 Reziprozität:
-als Auslösemechanisrnus: 23, 113f., 189 -ausgeglichene: 15, 82f., 86, 88, 194, 268-270, 274 - bedingte: 34f., 270 - gemeinschaftliche/gesellschaftliche: 22,257-260 -generalisierte: 10, 15, 81f., 84, 86, 194-196. 198, 204f., 237,240-245, 251(,254,263,266(,269( -direkte: 188, 191-198, 202, 204f. - Erwartungsreziprozität: 266 -indirekte: 188, 197-206 -in Pflicht nehmende: 268, 274 - interorganisatorische: 225, 229f. - Kettenreziprozität: 199-201, 203 - Gruppenreziprozität 199-201,203 - Komplementarität: 23 -negative: 15, 79,83(,86,88,238 - Reziprozitätsnorm: 15, 109-111, 113(, 119(,265,269,272 - Reziprozitätsglaube: 273 - Risikoreziprozität: 266, 268 -serielle:49,201,263 - universelle Geltung: 23, 48, 109 - unverzügliche: 194f. -verzögerte:194f. -und verwandtschaftliche Distanz: 8490 Risiko: 31f., 46, 139,192,261,264,268 Rituale:13,66E,277,283 Schenken (privates, zu Weihnachten o.ä.): 9f., 14, 211 Selbsttäuschung/Tabuisierung: 24, 140142, 144f., 150-155,292 Solidarität 14, 16, 20, 48, 71, 77, 145, 152(,172,201,206,224,226,231, 258,260,263,266,269,279,286,290
SACHREGISTER
Sozialkapital: 10, 20, 22, 153, 161, 211, 227 SozüUvenücherunge~21, 187,206,226, 238,264,266,269 Spenden/Blutspendelt 25, 211 f., 214, 216, 220, 222, 224f. Spieltheorie: 32f., 159 Stiftunge~ 19f., 49, 211f., 225-230 - V enture Phi/anthropy: 229f. Strukturalismus: 14f., 139-141 Symbolisches Kapital/Charisma: 147149,153,161 Tod/Tote: 37, 41, 169f. Totaler sozialer Tatbestand/totale soziale Leistung: 12, 19f., 48, 63, 66-69, 114,218,222 Treue: 95-101 Utilitarismus/Eigennutz: 10, 14, 16, 2635,44,46(,157-159, 174,180,183, 214-216,218,272,291 -Kalkül: 24, 40, 46, 165, 176 Verein(igung) /freiwilliges Engagement: 10,45,211-213,222,226-229 Vertraue~ 32, 42f., 46, 48, 159, 176, 196,251,258,280f.,294
303
Verzeihen/Vergebe~ 40-42 Verträge/Arbeitsvertrag: 31, 49f., 6365,238,241,245,251( Verwandtschaftsverhältnisse und Reziprozität: 14f.
Wechselwitkung: 21, 102-104, 126 Wirtschaft: -Ökonomisches Kapital: 161f. -Tausch/Markt/Handel: 13, 17f., 24, 29, 64, 73-76, 82f., 102-104, 141f., 150-152,190,221,238f., - eingebettete/Moralökonomie: 13, 17f., 150,266,273 Wor~re: 271f. Zeit/zeitliches Intervall/Iterativität: 24, 32(,35,46,113, 139(,144,190-192, 195,204,241,268,270,285-287,292 Zivilisierung: 283-285, 291
Personenregis ter
Abtaham 172ff., 180 Akerlof, George A. 239 Algazi, G
Bria, Gina 191, 193,205 Brose, Hanns-Georg 214, 241,243£, 252 Buchanan, Alien, 217 Burling, Robbins :M
Caille, AJain 4l-48. 157, 160, 179, 220 Cassel, Gustav 6.1 Caste~ Roben ill Castells, Manuel251 Castoriadis, Comcliu5 287, 223 Cheal, David 1.0 Checlonncbc,Jean-Louis 169, ill Ciccro, Marcus Tullius 281 Clohesy, William W. 217 Coleman,James ~ 30f. Collins, Randall !1!. 1£, 221 Comte, Augustc 1!.!!, 157. 216. 281 Cook, Karen S. JQ, ~ 199, 2lM Cox, Donald .203 Crouch, Colin 15! Dalron, George ~ 1nl! Davis, Namlie Zemon 20 Davy, Georges ~ Ci1 Denida,Jacques 16, 39f., ~ 141, 158, 165-173,175, 181,220,289 Detoeuf, Auguste 178 Diewald, Martin 205, 252 Dory, Roxanne Lyon 21!l Douglas, Mary !b ~ ~ 279, 221
306
PERSONENREGISTER
Dowd,JamesJ. 191 Durkheim, Emile 12, 15f., 20, 22ff., 26, 36, 38, 118, 122, 147, 149, 158, 216, 264,273,279,281,287 Ekeh, Peter P. 11, 29, 198ff., 204 Elster,Jon 143, 243 Emersori, Richard M. 30, 128, 133, 198 Esping-Andersen, G0sta 267 Esser, Hartmut 30 Etzioni, Amitai 45, 47,215 Evans-Pritchard, Edward E. 75 Ewald, Fran~ois 243, 261, 268, 290 Fabian,Johannes285ff. Fehr, Ernst 34f., 216,264 Finstad, Uv 151 Firth, Raymond 74f., 77f., 80, 87, 89 Fixot, Anne-Marie 176 Fnunkin, Peter 230 Furtado, Celso 282 Gächter, Sirnon 35, 264 Gadamer, Hans-Georg 277 Ganssmann, Heiner 260f. Garfinkel, Harold 42 Geary, PatrickJ. 14,22 Gehlen, Arnold 223 Gintis, Herbett 35, 264 Girard, Rene 38f. Godbout,Jacques 25, 44ff., 171,181, 211,219,222,258 Godelier, Maurice 15, 47, 218f. Goffman, Erving 42 Goodin, Robert E. 263, 270ff. Gouldner, Alvin W. 22ff., 48, 79, 109, 188-193,204,220,237,239,279,281, 289-292 Güth, Werner 34f. Halfpenny, Peter 214f. Hareven, Tamara K 202
Hauriou, Maurice 224f. Havens,JohnJ. 222 Healy, Kieran 25, 224f. Hegel, Georg Wllhelm Friedrich 170, 248 Heidegger, Martin 39f., 160, 165, 170 Henaff, Marcel12, 18[, 37, 220, 289 Henretta,John 197 Hirschman, Albert 0. 245, 287 Hobbes, Thomas 12, 16, 75,214 Hoigard, Cecilie 151 Holmberg, Allan R 90 Holtgrewe, Ursula 247,249 Homans, George 26f:, 29, 127f:, 198 Honneth, Axel17, 249 Hubert, Henri 36 Husserl, Edmund 40, 154, 165 Hyde, Lewis 284 Jackson,James S. 195,205 Jamous, Raymond 171 Joas, Hans 41, 51,213 1Can~Immanuel29,
106,170 ICatz, Stanley 173, 230 ICaufmann, Franz-Xaver 261 , 263 Kelley, Harold H. 128 Kersting, Wolfgang 258 Kierkegaard, S0ren 170, 172 Kluckhohn, Clyde 87 Knall, Leonhard 243 Kohli, Martin 187, 194, 197, 201f., 205, 243,263 Komter, Aafke E. 10 Kotthoff, Hermann 245f. Kuypers,Joseph A. 197 La Rochefoucauld, Fran~ois 128, 162 Lacan,Jacques 161 LeClair, Edward E. 74 LeGrand, Julian 263 Lep&us,M.Rainer224
PERSONENREGISTER
lkvinas, Emmanuel 170 lkvi-Sttauss, Oaude 14f., 24, 132, 139ff., 198f.,205,219 Luhmann, Nildas 9, 23, 242, 258 Lumsdaine, David Halloran 279 M.alamoud, Charles 179 Malinowski, Bronislaw 12ff., 17, 74f., 77-81,85,89,114,131f.,199,292 Mandeville, Bernard 128 Marshall, Thomas H. 249, 259, 261, 272 Marx, Karl24, 162,238,281 Mauss, Marcelll-14, 16-22,36,39-42, 44,46,48f.,61,65,114(,128,132, 139, 159,166f., 169,174, 178,188f( 198,218f.,221,228,231,239,250, 258,260,279f.,284,~292
Mead,Lawrence265 Michalski, Joseph 223 Monroe, Kristen Renwick, 217,238 Mooser, Josef 243 Müller, Hans-Peter 20, 29 Myrdal, Gunnar 279 Neuhoff, Klaus 227 Nye, Ivan F. 200, 204, 206 Offe, Oaus 43 Oliner, Pearl M. 216f. Oliner, Samuel P. 216f. Oliver, Douglas 80, 85, 87 Ostrower, Francie 222 Otto, Rudolf 38 Oyono, Ferdinand 283 Paris, Rainer 248 Parry,Jonathan 14, 18f., 44,219 Parsons, Talcott 16, 22f., 26, 41f., 118, 187,214 Patocka,Jan 170 Perikles 281 Polanyi, Karl16ff., 33, 75, 77, 150
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Pongratz, Hans J. 252f. Popitz, Heinrich 247f. Price, John Andrew 80f. Putnam, Robert D. 10, 214, 222 Rawls, John 17 Raynal, Henri 182 Rehberg, Karl-Siegbert 223 Reiner, Thomas 229 Richerson, Peter J. 203f. Ricoeur, Paul 40f., 170, Rosenmayr, Hilde 191 Rosenmayr, Leopold 191 Ross, Alleen D. 222 Rousseau,Jean-Jacques 16, 214 Sahlins, Marshall15f., 48, 73f., 194, 199, 204,214,219,238,269,277,284,288 Santos, Boaventura de Sousa 286 Sartre,Jean-Paul162 Schervish, Paul G. 222 Schmid, Michael31, 216, 243 Sen, Amartya K. 33, 158 Sennett, Richard 73,248,251 Silber, Ilana 47, 219ff., 228, 231 Sill, Stephanie 252 Simmel, Georg 21f., 29, 48, 95, 125f., 188ff.,221,223,247,250,281,288f. Singer, Peter 158 Smith, Adam 128, 219 Sofsky, Wolfgang 248 Spencer, Baldwin 66 Spinoza, Baruch 105 Stegbauer, Christian 22 Stones, Thomas 257 Streeck, Wolfgang 253 Thibaut,John W. 128 Thompson, Edward P. 17 Thurnwald, Richard 22, 69 Tinnuss, Richard M. 25, 216 Todorov, Tzvestan 248, 284, 291
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PERSONENREGISTER
Tönnies, Ferclinand 22
Ullrich, Carsten 264, 266f., 2:12 V an Parijs, Philippe 2:11 V anberg, Vlktor 31f. Veblen, Thorstein 36, 79, 244 Volmerg, Birgit 245 Voß, G. Günter 252f. Wagner, Gabriele 243f., 249 Walzer, Michael279, 290 Weber, Max 19, 29, 47, 146f., 150, 175, 224,226,259,262,272f. Wentowski, Gloria 194ff., 204
Wenze~ Harald 31, 42f., 47 White, Hayden 284, 291 White, Stuart 2:11 Whyte, William 128 Wiese, Leopold von 22 Williams, Bemard 158 · Wittgenstein, Ludwig 160 Wolf,Jürgen 191 Wolpert,Julian 229 Wright:, Karen 217
Yamagishi, Toshio 199,204