Enid Blyton erzählt Geschichten Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt Im ...
95 downloads
926 Views
5MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Enid Blyton erzählt Geschichten Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt Im Auftrag hergestellte Sonderausgabe Alle Rechte vorbehalten © 1980 by Herold Verlag, Fellbach-Schmiden Originaltitel: My first Enid Blyton Book, My second Enid Blyton Book, My third Enid Blyton Book. Deutsch von Eve Marie Helm Umschlag von Christian Heiss Illustrationen von Christi Burggraf © by Tosa Verlag, Wien Druck Ueberreuter Print
Klickedi Klack kann zaubern Am Rande eines großen Feldes wohnte in einem hübschen kleinen Pilzhaus der Zwerg Klickedi Klack. Niemand konnte ihn leiden, noch nicht einmal die Fee Gutherz, die eigentlich jeden mochte. Und warum mochte ihn keiner? Weil Klickedi Klack entsetzlich angab. Er behauptete nicht nur, alles zu wissen und zu können, er prahlte auch damit, klüger als alle Hexen und Zauberer zu sein, und erzählte jedem, der nur ein bißchen zuhörte, daß er der stärkste Zwerg im ganzen Elfenland sei. Viele Leute glaubten ihm das sogar, aber beliebt machte ihn diese Prahlerei nicht. Eines Tages hatte Klickedi Klack frischen Honig zu verkaufen. Eine ganze Menge Leute hatte Interesse daran. Sie standen
vor seinem Haus und schwatzten miteinander.
Klickedi Klack freute sich, daß so viele Leute gekommen waren. Trotzdem konnte er es nicht lassen. Er fing wieder an aufzuschneiden. »Bald werde ich reicher sein als der reichste Mann im Königreich«, sagte er. »Ich habe eine Riesenmenge Gold versteckt.« »Besser gesund als reich«, sagte der Zwerg
Trödel. »Du siehst gar nicht gut aus, Klickedi Klack. So dünn und knochig wie du bist. Es tut mir richtig leid, daß du noch immer glaubst, du seist so klug und stark.« Klickedi Klack wurde böse. »Ich bin dünn, weil ich dünn sein möchte«, antwortete er. »Wenn ich so fett sein wollte wie du, Trödel, dann könnte ich das morgen schon sein.« »Ach, du bist ein Märchenerzähler«, quiekte das Eichhörnchen Schwätzli. »Das kann niemand.« »Ich kann alles und weiß alles!« knurrte Klickedi Klack wütend. »Dann kannst du uns sicher auch erzählen, was das für große Vögel sind, die abends noch so spät in der Luft herumfliegen«, meinte der Elf Luseleicht. »Ja, und mach doch, daß einer von ihnen zu uns herunterkommt, damit wir ihn alle sehen können«, rief Trödel begeistert. »Schau, da oben ist schon wieder einer.« Er zeigte zum Himmel, wo ein Flugzeug langsam über den Wald flog. Trödel aber hielt es für einen großen fremden Vogel, der beim Fliegen laut brummte. Klickedi Klack wußte nicht, wie er reagieren sollte. Wie konnte er diesen fremden Vogel dazu bringen, herunterzufliegen. Er konnte ja noch
nicht einmal genug zaubern, um eine Wolke herunterzuholen. Ein Trick, den schon die jüngsten Feen mit Leichtigkeit beherrschten.
Es blieb ihm trotzdem nichts anderes übrig. Er mußte einfach so tun, als könne er den Vogel wirklich zwingen, herunterzukommen. Also zeichnete er erst einmal einen Kreis um sich. Dann klatschte er dreimal in die Hände, schlug zweimal einen Purzelbaum und schrie dabei ununterbrochen unverständliche Worte, die natürlich gar nichts bedeuteten. Gerade in diesem Augenblick entschied sich der Pilot, der in dem Flugzeug saß, auf dem großen Feld zu landen. Er hatte nämlich nur noch sehr wenig Benzin, und das langgestreckte Feld schien ihm für eine Landung sehr günstig zu sein. Er begann zu kreisen und schraubte sich immer tiefer. Die kleine Versammlung von Elfen und Zwergen beobachtete das Flugzeug mit wachsender Bestürzung. Was für ein riesiger Vogel. Und welch einen Lärm er machte. Trödel bekam Angst. Er hatte das Gefühl, als ob das Monster direkt auf ihn zukäme. Auch das Eichhörnchen Schwätzli zitterte vor Furcht. So einen furchterregenden Lärm hatte es in seinem ganzen Leben noch nicht gehört. »Seht nur, unten hat es zwei Augen, die dauernd die Farben wechseln. Einmal sind sie rot, dann wieder weiß oder blau«, rief Gutherz voller Angst. »Bitte,
Klickedi Klack, sag dem gräßlichen Ding, es soll wieder zurück in den Himmel fliegen.« »Ich kann es nicht. Es geht nicht!« heulte Klickedi Klack. Seine Knie gaben unter ihm nach. »Aber sicher kannst du es«, schrie Trödel. »Du hast es doch auch heruntergeholt. Genauso kannst du es jetzt auch wieder hochzaubern.« Das Flugzeug flog immer niedriger. Klickedi Klack hatte das Gefühl, als ob es im nächsten Moment den Kamin seines Hauses streifen würde. Er konnte es nicht länger mit ansehen. Er sprang aus dem Zauberkreis heraus, in dem er noch immer stand, und rannte weg, als ob der große Vogel hinter ihm her sei. Er sauste die Straße hinunter, preschte in den Wald und wühlte sich in das nächste Kaninchenloch, das er entdeckte. Dort warf er sich, zitternd am ganzen Körper, auf den Boden und hielt sich die Ohren zu. »Warum habe ich bloß gesagt, daß ich den Vogel herunterholen könnte«, heulte er. »Und wie konnte ich wissen, daß er wirklich gehorchen würde. Damit habe ich doch gar nicht gerechnet. Dieser fürchterliche Vogel wird uns alle auffressen. Und ich werde schuld daran sein.« Den ganzen Tag lag Klickedi Klack in dem Kaninchenloch und gab keinen Muckser von
sich. Erst als der Abend kam, wagte er sich wieder heraus und kroch vorsichtig zum Feld zurück. Er schaute und schaute, aber das fremde Monster war verschwunden. »Klickedi Klack«, rief plötzlich jemand so dicht neben ihm, daß er vor Schreck in die Luft sprang. »Wohin bist du nur gelaufen? Klickedi Klack, wir haben dir nie geglaubt, wenn du behauptet hast, der klügste und stärkste Zwerg zu sein. Wir haben gedacht, du gibst nur an. Aber jetzt wissen wir, daß es stimmt: Du kannst alles.« Schwätzli hüpfte auf Klickedi Klack zu, und auch Trödel, Luseleicht und Gutherz kamen heran. »Das fremde Ungetüm landete wirklich auf unserem Feld«, sagte Trödel. »Aber dann erhob es sich plötzlich wieder und flog davon. Kannst du uns sagen, warum?« Klickedi Klack wußte es nicht. Nur der Pilot hätte es der kleinen Gesellschaft erzählen können. Als er den Boden berührt hatte, merkte er nämlich, daß er doch noch mehr Benzin hatte, als er dachte. So hob er wieder ab und flog weiter. Natürlich hatte er die winzigen Wesen, die sich so vor ihm gefürchtet hatten, gar nicht bemerkt. Er sah weder das Eichhörnchen
Schwätzli noch den Zwerg Trödel und auch nicht den Elf Luseleicht und die Fee Gutherz. Alle fanden es großartig von Klickedi Klack, daß er den großen Vogel gezwungen hatte, auf dem Feld zu landen. Und sie konnten gar nicht verstehen, warum der Zwerg so still war und nicht wie sonst mit dieser Heldentat prahlte. Aber Klickedi Klack hatte seine Lektion gelernt. Er würde in Zukunft sehr vorsichtig mit dem sein, was er sagte oder tat. »Das möchte ich nicht noch einmal erleben, daß so ein Biest vom Himmel herunterkommt und uns vielleicht auffrißt. Ich werde nie wieder behaupten, alles zu können. Sicher werden die Leute mich jetzt nicht mehr so großartig finden, aber daran kann ich nichts ändern.« Aber es war komisch. Den einfachen und bescheidenen Klickedi Klack, der nicht mehr so viel herumprahlte, mochten alle viel lieber. Sie besuchten ihn oft und feierten fröhliche Feste in seinem kleinen Pilzhaus. Aber sobald jemand anfing, von dem großen Vogel zu erzählen, wurde Klickedi Klack rot und sagte kein Wort mehr. Und keiner konnte sich vorstellen, warum. Nur Klickedi Klack wußte es. Und wir beide natürlich.
Wie die Stachelbeeren ihre Haare kriegten Es war einmal ein unscheinbarer kleiner Gnom, der davon lebte, daß er den Elfen feine Malpinsel verkaufte. Er hatte wirklich die besten Pinsel im ganzen Feenreich. Keine anderen Pinsel waren auch nur halb so gut wie seine, mit so hauchzarten und trotzdem kräftigen Haaren. »Woher bekommst du bloß die feinen Haare?« fragten die Elfen ihn immer wieder. Aber der Gnom wollte es ihnen nicht erzählen. »Das ist mein Geheimnis«, sagte er und lachte. »Vielleicht mache ich sie aus Mondstrahlen, die ich ganz lang und dünn ausziehe und dann in kurze Stücke schneide.« »Das ist nicht wahr«, riefen die Elfen. »Ach bitte erzähl uns doch, aus was für Haaren du deine Pinsel machst.« Aber der kleine Gnom hatte guten Grund, sein Geheimnis nicht auszuplaudern. Denn dann wäre es aus mit seinem Geschäft gewesen. Seine Haarlieferanten waren nämlich die Raupen, die am ganzen Körper mit feinen weichen Haaren bedeckt waren. Und die gaben ihre Haare durchaus nicht freiwillig her. Der Gnom riß sie
ihnen aus, wenn sie schliefen. Hier ein paar Haare und dort ein paar Haare, das reichte schon für eine ganze Menge feiner Pinsel. Daß die Feenkönigin mit dieser Methode nicht einverstanden gewesen wäre, das war ihm klar. In einem Frühling war die Nachfrage nach seinen Pinseln besonders groß. Den ganzen Mai über kauften Elfen und Feen andauernd neue Pinsel, und er konnte kaum Raupen genug finden, denen er unbemerkt Haare stehlen konnte. Also fing er an, jeder Raupe ein paar
Haare mehr auszureißen. Einmal nahm er sogar eine ganze Handvoll, so daß die arme Raupe quiekend aufwachte. Und eine andere schönbehaarte Raupe wachte morgens auf und sah, daß sie über Nacht kahl geworden war. Der Gnom hatte ihr kein einziges Haar gelassen, und
sie zitterte vor Kälte. Die Königin hörte von dieser Missetat und schaute sich die Raupe an. »Wer könnte dir deine Haare ausgerissen haben?« fragte sie. »Wer würde so etwas Häßliches tun?« »Ich weiß nicht, Majestät«, schluchzte die Raupe. »Auf jeden Fall ist es in der Nacht passiert, als ich schlief.« »Auch bei mir sind die schönsten Deckhaare verschwunden«, meldete sich eine andere Raupe. Und eine dritte rief: »Mir hat man mindestens zwanzig meiner langen Rückenhaare ausgerissen.« »Das ist ja unglaublich«, sagte die Königin streng. »Da muß etwas unternommen werden.« Sie rief ihre Soldaten und befahl ihnen: »Zwölf von euch bleiben jetzt hier und bewachen die Raupen. Versteckt euch dort unter der Hecke, da könnt ihr alles überblicken und sehen, wenn der Dieb kommt. Fangt ihn und bestraft ihn ordentlich. Und schlaft mir nicht ein.« Die Raupen beruhigten sich und krabbelten wieder unter ihre Blätter. Die zwölf Wachmänner suchten sich erst ein gutes Versteck und spielten dann Schnippschnapp bis zum Abend.
Sie waren sicher, daß der Dieb sich nicht blicken lassen würde, bevor es dunkel war. Die Raupen fanden das Spiel so lustig, daß sie sich dauernd einmischten und »schnapp« sagten, wenn es gar nicht richtig war, »schnapp« zu sagen. Das brachte die Soldaten ganz durcheinander. »Unterbrecht uns doch nicht immer«, sagte schließlich der Anführer. »Wir spielen, nicht ihr. Eßt eure saftigen Blätter und hört auf, uns zu stören, sonst werden wir euch allein lassen, und ihr werdet morgen früh alle ganz nackt sein.« Als die Nacht kam, zwängten sich die Soldaten in ihre Verstecke und warteten. Es war so dunkel, daß man kaum die Hand vor den Augen sah. Eine richtige Nacht für einen Dieb. Aber die Zeit verging, und kein Räuber ließ sich blicken. Es wurde zehn Uhr, elf Uhr. Noch immer kein Dieb in Sicht. Die Wachen begannen zu gähnen. Vielleicht würde der Räuber gar nicht kommen. Aber gerade in diesem Augenblick machte sich der kleine Gnom auf den Weg, um nach Raupen zu suchen. Er schaute unter den Blättern, an den Grashalmen, am Boden und an
allen anderen Plätzen nach, wo sie sich normalerweise beim Schlafen aufhielten. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Der kleine Gnom bewegte sich sehr leise. Seine Füße machten kein Geräusch, als er in der Dunkelheit umherschlich, und er bewegte kein Blättchen. »Wo sind heute nacht bloß die Raupen?« murmelte er. »Ich habe das Gefühl, sie haben sich alle aus dem Staub gemacht.« Leise huschte er von Busch zu Busch und fühlte unter den Blättern nach. Endlich fand er eine schöne haarige Raupe, die friedlich zu schlafen schien. »Wunderbar«, dachte der Gnom. »Sie hat ganz besonders viele Haare. Davon kann ich einige feine Pinsel machen.« Er packte eine Handvoll Haare auf dem Rücken der schlafenden Raupe und zog kräftig daran. Mit einem lauten Quieken bäumte sich die Raupe auf. »Iii, Iii!« schrie sie laut. Die Wachen sprangen auf und riefen einander zu: »Der Räuber ist da. Der Dieb ist gekommen.« Entsetzt rannte der Gnom davon. In seiner Hand hielt er die Raupenhaare. Die Soldaten liefen hinter ihm her, durch den Wald bis in den Palastgarten. Dort liefen sie die Wege auf und ab und suchten den Dieb. Wo war er? Wo hatte er sich verkrochen? Der kleine Gnom
hatte sich unter einen großen stacheligen Stachelbeerbusch geflüchtet. Er kringelte sich furchtsam zusammen und fragte sich: »Was
macht man wohl mir mir, wenn man mich findet?« In seiner Hand hatte er noch das Büschel Raupenhaare. Was sollte er damit tun? »Die Soldaten dürfen die Haare nicht bei mir finden«, dachte er. »Fortwerfen kann ich sie auch nicht, dann weiß jeder, daß ich es war. Was soll ich bloß mit ihnen machen?« Er streckte die Hand aus und untersuchte seine Umgebung. Als er dabei zwei oder drei dicke glatte Stachelbeeren berührte, kam ihm die rettende Idee. Er würde den Stachelbeeren die Haare aufstecken, denn sicher würde niemand daran denken, die Früchte nach Raupenhaaren zu untersuchen. Und so pikste er die Raupenhaare in die grüne Schale der Stachelbeeren. Er war kaum damit fertig, als einer der Soldaten unter den Busch leuchtete und rief: »Hier ist jemand. Ich habe ihn! Hier ist der Dieb. Schnell, kommt und nehmt ihn fest.« Der Gnom wurde herausgezogen und untersucht. Haare fand man zwar nicht bei ihm, aber in seiner Tasche hatte er zwei seiner feinen Pinsel aus Raupenhaaren. Dadurch konnte man beweisen, daß er der Dieb war. »Verprügelt ihn ordentlich«, rief der Anführer. »Und werft ihn dann aus dem Feenland hinaus. Vielleicht über-
legt er sich dann, ob sich Stehlen wirklich lohnt!« So wurde der Gnom aus dem Feenland hinausgeworfen und die Tore hinter ihm geschlossen. Er stand draußen und weinte bitterlich. Niemand hat seitdem wieder etwas von ihm gehört. Nur die Stachelbeeren haben noch immer die feinen weichen Haare auf ihrer Schale. Wenn ihr es nicht glaubt, geht hin und seht selber nach!
Der Elf, der den Mond tötete Vor langer Zeit lebte im Elfenland ein dummer kleiner Elf, der Korullchen hieß. Er dachte zwar über alles, was er sah und hörte, stundenlang nach, kam aber nie zu einem Ergebnis. Außerdem glaubte er jeden Unsinn, den man ihm erzählte. Eines Abends fiel ihm eine stachelige Roßkastanie auf den Kopf. Da lief er doch wahrhaftig herum und erzählte jedem, der zuhörte: »Mir ist ein Stern auf den Kopf gefallen. Ich hab es genau gespürt. Er hatte ganz stachelige Strahlen.« Die anderen Elfen, die genau gesehen hatten, was ihm passiert war, machten sich über ihn lustig: »Fang dir den Stern doch«, neckten sie ihn. »Er sitzt sicher noch in deinem Haar.« Und als Korullchen daraufhin in einen Teich schaute, war er ganz sicher, einen Stern in seinem Haar glänzen zu sehen. Er besorgte sich einen Kamm und kämmte sich die ganze Nacht. Und er wunderte sich sehr, daß der Stern nicht herausfallen wollte. Ein anderes Mal hörte er eine Nachtigall singen. Er war so begeistert von ihrem Gesang, daß er den Vogel bat, mit ihm nach Hause zu
kommen, bei ihm zu wohnen und ganz allein für ihn zu singen. Die Nachtigall hörte ihm gar nicht zu. Sie war so mit Singen beschäftigt, daß sie gar nicht merkte, daß Korullchen mit ihr redete. »Du mußt einen Zaun um den Busch bauen«, sagten die anderen Elfen. »Dann kann sie dir nicht mehr entkommen.« So sammelte Korullchen Äste und flocht einen wunderschönen Zaun um den Busch herum. Die Nachtigall beobachtete ihn und wunderte sich, was er da tat: :
»Warum machst du das, Korullchen?« fragte sie. »Wart's ab«, sagte Korullchen. Die Nachtigall wartete und sang inzwischen. Als der Zaun fertig war, sprang Korullchen darüber und lachte. »Hoho«, schrie er. »Jetzt hab ich dich, kleine Nachtigall. Jetzt mußt du mit mir kommen und bei mir wohnen. Ich werde dir auch zum Frühstück wilde Erdbeeren suchen und dir jeden Morgen den Schnabel blank putzen.« »Nein, dazu habe ich keine Lust«, sagte die Nachtigall. »Aber du mußt«, antwortete Korullchen. »Trilla, Trilla, Trillala«, sang die Nachtigall spöttisch. »Und wie willst du mich zwingen, mitzukommen?« »Hast du es denn nicht gemerkt«, lachte Korullchen. »Ich habe einen Zaun um den Busch gebaut, auf dem du sitzt, und jetzt kannst du nicht mehr fort. Ich werde dich fangen und mit nach Hause nehmen.« »Dann fang mich doch«, rief die Nachtigall und breitete ihre Flügel aus. Dann flog sie steil empor und verschwand im Wald. Die Elfen, die Korullchen die ganze Zeit zugehört hatten, lachten sich schief über sein überraschtes Gesicht. »Warum hast du nicht
nachgedacht, Korullchen«, riefen sie. »Du weißt doch, daß eine Nachtigall fliegen kann.«
Korullchen war wütend, aber leider lernte er nichts aus dieser Geschichte. Das Nachdenken war ihm zu mühsam. Deshalb versuchte er es erst gar nicht. Eines Tages flog über den Wald, in dem Korullchen wohnte, ein großer gelber Luftballon. Gerade über Korull-chens Haus verlor er Luft und sank so tief, daß sich seine Schnur in einem Brombeerstrauch verfing und festgehalten wurde. Korullchen aß gerade zu Abend, als er plötzlich den großen gelben Ballon über den Büschen schweben sah. Er hatte ihn nicht kommen sehen und auch kein Geräusch gehört. Entsetzt sprang er auf, so daß sein Teller krachend auf den Boden flog, und rannte heulend vor Furcht in den Wald. »Was ist denn los?« riefen die anderen Elfen und hielten ihn fest. »Der Mond ist herabgefallen. Der große, gelbe Mond. Er kam ganz plötzlich, als ich zu Abend aß, und hätte mich beinahe umgebracht.« Die Elfen dachten sich gleich, daß das eine von Korullchens Schauergeschichten war. Sie liefen zu Korullchens Haus, um nachzusehen, was wirklich passiert war. Als die den Ballon sahen, der ruhig über dem Brombeerstrauch schwebte, erstickten sie fast
vor Lachen. »Korullchen ist doch wirklich zu dumm«, sagten sie. »Er schreit einfach los, obwohl ihm noch gar nichts passiert ist. Aber wir bleiben jetzt dabei, daß es wirklich der Mond ist. Mal sehen, was er dann macht.« Das taten sie dann auch, und Korullchen erzählte ihnen immer und immer wieder, wie der Mond beinahe auf ihn gefallen sei und ihn umgebracht hätte. »Das war böse vom Mond, dich so zu erschrecken«, sagten die Elfen. »Wenn uns das passiert wäre, würden wir den Mond bestrafen.« »Aber wie denn?« fragte Korullchen. »Och, pik ihn einfach ein bißchen mit einer Nadel. Das tut dem Mond weh, er muß schreien, und du bist gerächt. Aber warte damit, bis er in der heißen Sonne eingeschlafen ist.« Korullchen besorgte sich also eine schöne lange Nadel und versteckte sich in den umstehenden Büschen, um zu warten, bis der Mond eingeschlafen war. Als die Sonne hoch am Himmel stand, glaubte er, es wagen zu können. Leise kletterte er auf einen nahe stehenden Baum und stach mit zitternder Hand die Nadel in den runden gelben Ballon. Der Ballon zerplatzte mit einem häßlichen Knall. Korullchen fiel fast vom Baum vor Schreck. Auch die Elfen, die Korullchen
beobachteten, erschraken und stolperten Hals über Kopf in die Büsche. Korullchen sprang vom Baum und rannte um sein Leben. Schließlich sprang er in ein Kaninchenloch und blieb dort, am ganzen Leib zitternd, sitzen.
»Ach du liebes Zwergenmützchen«, jammerte er. »Ich habe den Mond getötet. Er ist geplatzt. Was wird die Feenkönigin dazu sagen? Es ist schrecklich.« Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schüttelte es ihn vor Entsetzen. »Ich habe wirklich den Mond ermordet«, weinte er verzweifelt. »Es hat >peng< gemacht, und er ist geplatzt. Nur weil ich ihn mit einer Nadel gepikst habe. Wie konnte ich wissen, daß ein so kleiner Stich den Mond töten würde. Nie wieder werden wir im Mondlicht tanzen können!« Den ganzen Tag, die darauffolgende Nacht und auch den nächsten Tag über saß Korullchen in seinem Loch und wurde immer niedergeschlagener. »Das wollte ich doch nicht«, schluchzte er. »Ich wollte den Mond doch nur bestrafen, weil er mich so erschreckt hatte. Und nun ist er tot. Die Königin wird schrecklich böse auf mich sein.« Am Abend des nächsten Tages faßte Korullchen einen mutigen Entschluß. Er wollte zur Königin gehen und ihr beichten, was er getan hatte. So kroch er aus der Höhle und machte sich auf den Weg zu der Lichtung, auf der die Königin Hof hielt. Er war sehr erstaunt, als die Königin ihn so freundlich wie immer begrüßte. »Was hast du
auf dem Herzen, Korull-chen?« fragte sie.
»Eure Majestät, ich habe etwas Schreckliches
getan«, weinte Korull-chen. »Ich habe den Mond getötet.« »Den Mond getötet?« fragte die Königin erstaunt. »Wie hast du denn das fertiggebracht?« »Ich habe ihn mit einer Nadel gestochen, und es machte >peng<, und er starb.« Die Feenkönigin lachte. Dann nahm sie Korullchen bei der Hand und zeigte auf einen Hügel in der Ferne: »Sieh mal«, sagte sie. »Was meinst du, wer das ist, der da über den Hügel kommt?« Korullchen schaute und schaute. Das konnte doch nicht wahr sein. Es war der große runde Mond, der sich strahlend über dem Hügel erhob. Korullchen starrte ihn erstaunt an. Hatte er ihn wirklich nicht umgebracht? »Die anderen Elfen haben sich einen Spaß mit dir gemacht. Und ich finde, sie sind etwas zu weit damit gegangen«, sagte die Königin. »Ich werde sie dafür bestrafen müssen. Und du, Korullchen, solltest dich wirklich langsam daran gewöhnen, deinen Kopf zu benutzen und ein bißchen mehr nachzudenken. Wie wäre es, wenn du noch einmal eine Zeitlang in die Elfenschule gehen würdest? Wenn du dort tüchtig lernst, wirst du bald nicht mehr so dumm sein, daß du
auf alles hereinfällst, was dir die anderen Elfen vorschwatzen.« Korullchen war so überglücklich, dass er auf dem ganzen Heimweg sang. Und allmählich, mit der Zeit, wurde er dann auch gescheiter.
Hanky-Pank, der schnaufende Bing-Bong Es war einmal ein Zwerg namens Fifo, der sein Geld mit dem Verkauf von Kürbiskuchen verdiente. Er zog dafür ganz besonders dicke Kürbisse in seinem Garten, und der Kuchen, den er daraus machte, war wirklich ganz ausgezeichnet. Fifo hatte eine Frau und neun Kinder. Deshalb wurde er nie reich, obwohl er doch genug verdiente. Denn die Kinder hatten immer etwas nötig. Einmal verkaufte er an einem Tag sechzehn Kürbiskuchen. Das brachte ihm so viel Geld ein, daß er beschloß, sich und seiner Familie nun auch einmal einen Extrawunsch zu erfüllen. Deshalb fragte er seine Frau, was er für das Geld kaufen solle. »Ihr sollt alle etwas bekommen«, sagte Fifo und klimperte gut gelaunt mit dem Geld in seiner Hosentasche, »du und auch die Kinder. Sag mir nur, was ihr euch wünscht.« »Kauf mir zwei schöne große Bratpfannen«, sagte seine Frau und strahlte vor Freude. »Die wünsche ich mir schon lange. Und den Kindern kannst du kleine Blecheimer für den Sand und
Schaufeln mitbringen. Sie bitten mich immer wieder darum.« »In Ordnung«, sagte Fifo. »Am nächsten Markttag gehe ich in die Stadt und werde die Sachen besorgen. Und weißt du, was ich mir kaufe? Einen schönen roten Papierkorb. Den möchte ich schon lange haben.« Frau Fifo
war ganz glücklich, daß sie einen so großzügigen Mann hatte. Sobald sie mit dem Haushalt fertig war, lief sie zu ihrer Nachbarin, Frau Apfel, und erzählte ihr alles. »Stell dir vor«, sagte sie stolz. »Fifo wird am nächsten Markttag zwei Bratpfannen für mich kaufen und für die Kinder Sandeimer und kleine Schaufeln. Wie findest du das?« Mutter Apfel fand eine Menge dabei, aber das sagte sie nicht Frau Fifo, sondern sparte es sich für den Abend auf, als Vater Apfel nach Hause kam. »Warum bist du nicht so großzügig wie Zwerg Fifo?« rief sie empört. »Er wird seinen neun Kindern Blecheimerchen schenken und Schaufeln dazu. Und seine Frau bekommt zwei Bratpfannen. Du hast noch nie daran gedacht, deiner Familie mal was mitzubringen.« Dann erzählte es Mutter Apfel Frau Tickel, und Frau Tickel beklagte sich prompt bei ihrem Mann, Herrn Tickel, als der abends nach Hause kam. Herr Tickel reagierte ziemlich gereizt darauf. Frau Tickel sprach auch mit Frau Trödel darüber, und Frau Trödel erzählte die unglaubliche Geschichte ihrer Nachbarin, Mutter Weckerl. Und alle Frauen schimpften mit ihren Männern, weil sie nicht auf die Idee gekommen waren, auf dem Markt
Bratpfannen, Sandeimer und Kinderschaufeln zu kaufen. Vater Apfel, Herr Tickel, Herr Trödel und Vater Weckerl kriegten allmählich eine ziemliche Wut auf Fifo, der so ungewöhnliche Dinge vorhatte. »Was denkt er sich dabei, solche Sachen zu machen«, sagten sie. »Er macht uns damit schlecht bei unseren Frauen und Kindern, weil wir so etwas nicht tun. Wir sollten etwas dagegen unternehmen.« Sie waren wirklich arm dran, die Herren Apfel, Trödel, Tickel und Weckerl. Denn wohin sie auch gingen, überall hörten sie von dem wunderbaren Zwerg Fifo, der am Samstag auf dem Markt seiner Frau und seinen neun Kindern fantastische Geschenke kaufen würde. Schließlich hielten sie es nicht mehr aus. Sie steckten die Köpfe zusammen und überlegten, wie sie dem allzu großzügigen Fifo eins auswischen könnten. »Am besten überfallen wir ihn unten am Stürmischen Hügel und nehmen ihm einfach alle Geschenke weg, die er auf dem Markt gekauft hat. Dann kann er seiner Frau und seinen Kindern nichts mehr mitbringen, und wir haben unsere Ruhe.« Als sie also am Samstag gesehen hatten, wie Fifo sich auf den Weg zum Markt machte, trafen
sie sich und wanderten zum Stürmischen Hügel hinaus. »Es ist heiß heute«, sagte Vater Wekkerl. »Wir sollten uns auf den Gipfel des Hügels setzen. Da weht immer ein leichter Wind. Und außerdem haben wir einen guten Überblick. Wir werden Fifo schon von weitem sehen können, wenn er vom Markt zurückkommt.«
Sie stapften also den Hügel hinauf und machten es sich oben gemütlich. Trödel rauchte seine Pfeife, Weckerl kaute an einem Grashalm, Tickel und Apfel saßen einfach da und taten nichts und wurden davon ziemlich schläfrig. Plötzlich zeigte Trödel in die Ferne und sagte:
»Da kommt Fifo. Jetzt kann es losgehen.« Sie liefen schnell den Hügel hinunter und versteckten sich unten im Farnkraut. Wenn Fifo über den Hügel an ihnen vorbeiging, wollten sie sich, wie verabredet, auf ihn stürzen und ihm seine Geschenke wegnehmen. Fifo war ordentlich beladen. Er hatte zwei schöne große eiserne Bratpfannen, neun Blecheimerchen, neun Blechschaufeln und den roten Papierkorb, den er für sich selbst gekauft hatte, zu tragen. Das war alles ziemlich unhandlich, und als er die Kuppe des Stürmischen Hügels erreichte, hielt er an, um sich zu verschnaufen. Als er sich hinsetzte, sah er neben sich einen kleinen gelben Knopf liegen. »Nanu«, sagte sich Fifo, »Vater Wekkerl muß hier gewesen sein. Nur er hat so gelbe Knöpfe an seiner Jacke. Ja, dort muß er gesessen haben. Das Gras ganz plattgedrückt. Und es müssen noch mehr Leute bei ihm gewesen sein.« Neugierig geworden, stöberte er herum und fand ein rotes Streichholz. »Wer benutzt rote Streichhölzer?« überlegte er. »Mal sehen! Ja natürlich, Trödel. Er war also auch hier, und es kann noch gar nicht lang her sein. Hoi, da hat ja auch jemand
sein Taschentuch liegengelassen. Was steht darauf? - Tickel. Na so was, ist der auch hier gewesen? Dann war sicher auch Vater Apfel da, denn die vier stecken ja immer zusammen. Aber was um alles in der Welt wollten Trödel, Apfel, Tickel und Weckerl hier auf dem Stürmischen Hügel?« Er setzte sich wieder hin und dachte nach. Dann stand er auf, beschattete seine Augen mit der Hand und schaute auf beiden Seiten den Stürmischen Hügel hinunter. »Sie sind nirgends zu sehen«, sagte er. »Das ist wirklich komisch. Ob sie sich irgendwo verstecken? Und wenn sie sich verstecken, warum sollten sie so etwas Sonderbares tun?« Und plötzlich erriet Fifo, daß Trödel, Tickel, Apfel und Weckerl irgendwo auf ihn warteten, um ihn zu überfallen und ihm die schönen Geschenke für seine Familie abzunehmen. Fifo schnaufte vor Empörung. Dann grinste er. In Ordnung, er würde den Hügel hinuntergehen. Aber so, daß den Burschen die Lust vergehen würde, ihn zu überfallen. Stillvergnügt lachte er in sich hinein. Dann holte er ein paar Schnüre aus der Tasche und machte sich an die Arbeit. Zuerst band er
die neun Blechschaufeln hintereinander zusammen und hing sie sich über die rechte Schulter. Dann band er die Henkel der Eimer zusammen und hing sie sich über die linke Schulter. Zum Schluß setzte er sich den roten Papierkorb fest auf den Kopf und nahm in jede Hand eine eiserne Bratpfanne. Als alles fertig war, sah Fifo ziemlich seltsam aus, und niemand hätte ihn erkannt. »Nun los«, sagte er und lachte. Und dann rannte er, so schnell er konnte, den Hügel hinab und schrie dabei mit schrecklicher Stimme: »Hohoho, macht Platz für Hanky-Pank, den schnaufenden Bing-Bong mit seinen rasselnden, klirrenden, scheppernden Feuerfressern! Hohoho, hier komme ich, HankyPank, schnaubend und schnüffelnd, der mächtige und gefährliche Bing-Bong!« Und während er rannte und schrie, rasselten die neun Blecheimer gegeneinander, und die Blechschaufeln krachten zusammen und machten einen abscheulichen Lärm. Jedesmal, wenn Fifo in die Luft sprang, hüpfte der rote Papierkorb auf seinem Kopf auf und nieder. Und die beiden eisernen Bratpfannen, die Fifo ununterbrochen zusammenschlug, machten einen ohrenbetäubenden Krach. Er sah schrecklich aus und
machte einen Höllenlärm. Die Schaufeln rasselten und klirrten, die Eimer klapperten und schepperten, und die beiden Bratpfannen
machten einen solchen Krach, daß man glauben konnte, das Ende der Welt sei gekommen. »Hohoho, macht Platz für Hanky-Pank, den schnaufenden Bing-Bong mit seinen rasselnden, klirrenden, scheppernden Feuerfressern! Hohoho, jetzt komme ich, Hanky-Pank, schnaubend und schnüffelnd, der mächtige und gefährliche Bing-Bong!« Als Trödel, Weckerl, Tickel und Apfel den fürchterlichen Krach hörten und das entsetzliche Wesen sahen, das da um sich schlagend und kreischend mit einem riesigen roten Hut auf dem Kopf und langen klirrenden Flügeln den Hügel hinuntertobte, wurden sie fast närrisch vor Angst. »Schnell weg«, schrien sie. »Geht ihm aus dem Weg!« In ihrer Eile, dem Ungeheuer zu entfliehen, fielen sie übereinander und verhedderten sich mit ihren Beinen. Den armen Trödel traf es am schlimmsten. Er war über dem Warten eingeschlafen, und als er erwachte, sah er die furchterregende Gestalt ganz in seiner Nähe den Hügel hinunterrasen. Er war so verängstigt, daß seine Beine unter ihm wegknickten, als er fortlaufen wollte. So fiel er hin und schlug sich die Nase auf. Der Zwerg Fifo hatte einen riesigen Spaß. Er
rannte und rannte, schrie und hüpfte hoch in die Luft. Die Eimer und Schaufeln flogen wie Flügel hinter ihm her, und er schlug ununterbrochen die beiden Bratpfannen zusammen. Er konnte das Lachen kaum unterdrük-kenf als er die vier strampelnden Zwerge sah, die voller Angst versuchten, ihm aus dem Weg zu kommen. Er rannte an ihnen vorbei und sprang so hoch er konnte, während sie sich in die Büsche warfen und sich zitternd und schaudernd vor ihm duckten. Erst als er sie weit hinter sich gelassen hatte, warf er sich auf den Boden und mußte so lachen, daß ihm die Tränen die Wangen herunterliefen und er Seitenstechen bekam. »Koboldskind«, japste er, »war das ein Spaß. Ich glaube nicht, daß ich je wieder so lachen werde. Hohoho! Macht Platz für HankyPank, den schnaufenden Bing-Bong!« Dann stand er auf, nahm den Papierkorb vom Kopf und ging friedlich heim. Er gab seiner Frau und den Kindern ihre Geschenke, und sie freuten sich sehr. Dann zündete er seine Pfeife an und lehnte sich über den Gartenzaun, um auf Trödel, Weckerl, Tickel und Apfel zu warten.
Er mußte sich eine ganze Weile gedulden, bis sie bleich und verkratzt angeschlichen kamen. Immer wieder schauten sie hinter sich. »Hallo«, rief Fifo. »Was ist denn mit euch los?«
»Ach, Fifo, hast du den schnaufenden BingBong denn nicht getroffen mit seinen rasselnden, klirrenden, scheppernden Feuerfressern?« rief Trödel. »Er raste vor ganz kurzer Zeit den Stürmischen Hügel hinunter.« »Ja, wirklich, es war Hanky-Pank, der schnaubende und schnüffelnde, mächtige und gefährliche BingBong«, sagte Weckerl zitternd. »Er stampfte im Vorbeirasen auf meine Zehen. Sie sind ganz geschwollen.« »Ein schrecklicher Dämon«, sagte Apfel. »Du mußt ihn doch gesehen haben, Fifo. Er war zweimal so groß wie du und trug einen riesigen feuerroten Hut.« »Aber sicher kenne ich Bing-Bong und habe ihn auch gesehen«, sagte Fifo ernsthaft. »Er ist doch einer meiner besten Freunde. Ich kenne ihn so gut wie mich selbst, und wir mögen uns sehr. Wißt ihr denn überhaupt, weshalb er kam?« »Nein, warum denn?« fragte Trödel erstaunt. »Er kam, weil er wußte, daß böse Feinde auf mich warteten und mich überfallen wollten. Stellt euch vor, er wollte sie auffressen. Es tut mir wirklich leid, daß er euch erschreckt hat.« Trödel, Tickel, Weckerl und Apfel sahen sich entsetzt und schuldbewußt an. Konnte es
wirklich wahr sein, daß der Bing-Bong von ihrem Plan, Fifo zu überfallen, gewußt hatte? »Und wo ist er nun?« fragte Apfel ängstlich. »Hier bei mir in der Küche«, antwortete Fifo. »Soll ich euch vorstellen?« »O nein! O nein! O nein!« schrien Trödel, Weckerl, Apfel und Tickel außer sich vor Furcht. Sie drehten sich auf dem Absatz um und rannten, so schnell sie konnten, die Straße entlang zu ihren Wohnungen. Und Fifo lief ins Haus und schlug noch einmal die beiden Bratpfannen krachend zusammen. Da rannten sie noch schneller. Fifo ist jetzt überall beliebt. Kein Wunder, wo er einen so mächtigen Freund hat.
Jumbo und die roten Kobolde Vor dem Kinderzimmerfenster von Amy und Michael lebten drei kleine Elfen. Sie hießen Binks, Jinks und Grübchen. Alle Spielsachen im Kinderzimmer kannten sie sehr gut, denn sie spielten jede Nacht miteinander. Binks und Jinks waren große kräftige Elfenbengel, aber ihre kleine Schwester Grübchen war zart und anmutig. Jeder liebte sie, und sie durfte in dem hölzernen Zug, im Spielzeugauto und mit der elektrischen Eisenbahn fahren, sooft sie wollte. Auch Grübchen hatte alle lieb, nur Jumbo, den grauen Spielzeugelefanten, mochte sie nicht leiden. Er hatte ihr nämlich einmal unbeabsichtigt auf den Fuß getreten, und seitdem fürchtete sie sich vor ihm. Der große, schwerfällige Jumbo war traurig darüber, denn er mochte Grübchen sehr und wünschte sich, daß sie einmal auf ihm reiten würde. Aber Grübchen wollte nicht. Die Kinder Amy und Michael, denen die Spielsachen gehörten, hatten in der letzten Zeit fast gar nicht mehr mit ihnen gespielt. Onkel Willi hatte ihnen etwas geschenkt, was ihnen im Augenblick viel mehr Spaß machte: zwei Paar Rollschuhe. Damit
sausten sie wie der Blitz durch den Garten und hatten ungeheuer viel Vergnügen dabei. Die Spielsachen waren eifersüchtig auf die Rollschuhe. Die Kinder verstauten sie jeden Abend im Spielzeugregal und wunderten sich am Morgen, daß sie schon wieder herausgefallen waren. Das kam aber daher, daß die Spielsachen sie jede Nacht aus dem Spielzeugregal herausschubsten. »Ihr seid ganz widerliche Dinger«, sagte die kleine Negergruppe. »Ich weiß gar nicht, warum die Kinder euch
plötzlich lieber mögen als uns. Raus aus dem Spielzeugregal, ihr häßlichen Maschinen! Ihr habt hier gar nichts zu suchen.« Und dann flogen die Rollschuhe - holterdipolter - in hohem Bogen aus dem Regal heraus. Gott sei Dank lebten sie nicht, deshalb machte es ihnen nichts aus. Jede Nacht spielten die Spielsachen miteinander und freuten sich, wenn die drei Elfen sie besuchten. »Es ist schön, wenn jemand mit uns spielt«, sagte der Teddybär. »Die Kinder beachten uns gar nicht mehr.« Eines Nachts stürzten Binks und Jinks laut weinend ins Kinderzimmer. »Spielsachen, was sollen wir tun? Sechs rote Kobolde haben heute nacht unsere kleine Schwester Grübchen entführt. Wir müssen sofort hinterher, um sie wieder zu
befreien.« Die Spielsachen waren außer sich vor Zorn und Angst. Sogar die kleine Negerpuppe wurde ganz blaß. Denn die roten Kobolde waren häßliche Wesen, die mit ihren Klauen wie Katzen kratzen konnten. »Wir können die roten Kobolde niemals einholen«, sagte die Negerpuppe. »Sie sind viel zu schnell für uns.« »Und ich kann auch nicht hinterherfahren«, jammerte die Eisenbahn. »Ich kann mich ja nur auf meinen Schienen bewegen.« »Mein Schlüssel ist verschwunden«, ratterte das Spielzeugauto. »Deshalb kann ich auch nichts unternehmen.« »Niemand kann Grübchen retten«, weinten die beiden Elfen. »Armes Grübchen. Sie wird nie mehr zurückkommen.« Da meldete sich Jumbo, der große Elefant: »Ich werde gehen und diese Kobolde fangen.« »Aber lieber, alter Jumbo«, riefen alle Spielsachen. »Du bist doch so langsam und schwerfällig.« »Aber ich habe eine Idee«, sagte Jumbo stolz. »Wenn ihr die Rollschuhe holt und an meinen Füßen festschnallt, kann ich schnell genug hinter den Kobolden herrollen.« »Meine Güte, was für eine tolle Idee. Habt ihr
schon jemals so etwas Großartiges gehört? Darauf wäre ich nie gekommen.« Die Spielsachen schrien vor lauter Aufregung durcheinander und meinten, das sei die beste Idee, die je einer gehabt hätte. »Schnell, bringt die Rollschuhe«, riefen Binks und Jinks. »Wo sind sie?« Die Negergruppe fand den einen, der Teddybär den anderen, und die beiden größten Puppen schleppten das zweite Paar an. Mit vereinten Kräften schnallten sie die Rollschuhe an Jumbos dicken, plumpen Füßen fest. Als sie fertig waren, sah Jumbo ziemlich komisch aus. »Ich fahre mal eben eine Runde durchs Kinderzimmer, um zu sehen, ob ich es auch richtig kann«, sagte Jumbo und zitterte vor Aufregung. Er startete mit einem Riesengepolter, und die Spielsachen brachten sich eilig in Sicherheit. Obwohl sich Jumbo furchtbar anstrengte, mit allen vier Füßen gleichzeitig zu rollen, wollten ihm seine Beine erst gar nicht gehorchen. Sie schossen nach allen vier Seiten auseinander, so daß Jumbo nur mühsam die Richtung halten konnte. So stieß er die
Negergruppe um, daß sie auf die Nase fiel, und rollte dem Teddy über den Fuß. Die Spielsachen wußten nicht, ob sie bei seinem Anblick lachen oder weinen sollten. »Langsam, langsam!« rief Binks und sprang eilig auf einen Stuhl, als Jumbo an ihm vorbeitobte. Natürlich stieß Jumbo den Stuhl um, und Binks rettete sich mit einem Riesensatz aufs Fensterbrett. Das konnte Jumbo nicht umwerfen. Aber es dauerte gar nicht lange, da hatte Jumbo den Bogen raus. Er lernte allmählich, seine vier Beine in Einklang zu bringen, und bald konnte er ruhig durchs Kinderzimmer rollen, ohne über etwas zu fallen oder irgendwo anzustoßen. Jumbo war sehr stolz. »Jetzt kann ich hinter Grübchen und den roten Kobolden herjagen«, sagte er zu den beiden Elfenbrüdern. »Setzt euch nur auf meinen Rücken und zeigt mir den Weg.« Binks und Jinks sprangen auf seinen breiten Rücken und hielten sich dort fest. Mit einem Riesenkrach rollte Jumbo aus dem Zimmer, durch den Flur in den Garten. Ein Wunder, daß ihn niemand hörte! Draußen schien der Mond. Jumbo rollte in großartiger Form den Gartenweg hinunter. Was
machte es, wenn er mit einem Fuß manchmal noch ein bißchen ausrutschte. Er hatte ja immer noch drei andere Beine, mit denen er sich halten konnte. Jumbo erhöhte seine Geschwindigkeit. Er rollte auf die Landstraße und über den Hügel, dann durch ein großes Kaninchenloch ins Land der Kobolde. Die Straßen im Land der Kobolde waren ganz glatt und eben. Jumbo ging auf Höchstgeschwindigkeit. Krachkrachkrach machten seine Rollschuhe, und er schoß schneller dahin, als ein Auto fahren konnte. Der Wind pfiff Binks und Jinks um das Gesicht, und ihre Hüte flogen ihnen vom Kopf. »Da sind sie! Da sind sie!« schrie Binks plötzlich laut und erschreckte damit Jinks so, daß er beinahe von Jumbos Rücken gefallen wäre. Auch Jumbo sah es jetzt: eine Menge kleiner, roter Kobolde, die auf gelben Schaukelpferden ritten. Einer von ihnen hielt Grübchen im Arm. Mit krächzender Stimme trieb er sein Schaukelpferd an, schneller zu schaukeln. Jumbo trompetete und raste vorwärts, so schnell er konnte. Die Kobolde hörten den Krach der Rollschuhe und trauten kaum ihren Augen, als sie hinter sich schauten und den rollschuh-
fahrenden Elefanten sahen. Voll Entsetzen schlugen sie auf ihre Schaukelpferde ein und schrien sie an, noch schneller zu schaukeln. »Schneller, schneller! Lauft, lauft, lauft!« Die Schaukelpferde schaukelten so stark, daß es aussah, als würden sie gleich auf Nase oder Schwanz fallen. Sie kamen wirklich sehr schnell vorwärts. Aber Jumbo war noch schneller. Wie er rollte! Seine Beine waren kaum zu sehen, so rasch bewegten sie sich. »Sie bringen Grübchen in die tiefe grüne Höhle«, rief Binks. »Du mußt sie einholen, bevor sie da sind, Jumbo! Sonst sehen wir unsere kleine Schwester nie wieder.« Man sah es ganz deutlich, die Kobolde strengten sich und ihre Pferde bis aufs äußerste an, um Grübchen in die tiefe grüne Höhle zu bringen. Dorthin hätte Jumbo ihnen nicht folgen können. Jumbo sah den Berg, in dem die Höhle war, und rollte noch schneller, um ihn vor den Kobolden zu erreichen. Er schaffte es noch in allerletzter Minute. Dann begann ein Kampf, wie man ihn selten sieht. Nach allen Seiten flogen rote Kobolde, von Jumbos Rollschuhen getroffen, durch die Luft. Auch Binks und Jinks kämpften tapfer, obwohl sich die Kobolde
verbissen wehrten und wie die Katzen kratzten.
»Wir wollen die grünen Kobolde holen, damit sie uns helfen«, rief einer der roten Kobolde seinen Kameraden zu. Und dann stürzten sie alle in die tiefe grüne Höhle. Der Platz war in Sekundenschnelle wie leergefegt. Binks, Jinks und Jumbo blickten sich um und sahen Grübchen auf
der Erde liegen. »Schnell auf meinen Rücken«, rief Jumbo mit Trompetenstimme. Binks und Jinks sprangen auf und halfen Grübchen, auch hochzuklettern. Voller Angst krabbelte sie auf Jumbos Rük-ken und hatte ganz vergessen, daß sie einmal gesagt hatte, sie würde nie auf ihm reiten. Dann lief Jumbo den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er war nicht mehr zu sehen, als die roten und grünen Kobolde aus der Höhle auftauchten. Krachkrachkrach machten seine vier Rollschuhe auf den schönen, glatten Straßen. Als er das Kinderzimmer wieder erreichte, war er völlig außer Atem, aber ganz närrisch vor Glück. Er trug das liebe kleine Grübchen auf dem Rücken. Als die Spielsachen ihn alle hochleben ließen, wurde sein Rüssel ganz rot vor Freude. Die Spielsachen schnallten die Rollschuhe von seinen müden Füßen und legten sie beiseite. Der erste Hahn krähte und kündete den Morgen an. So sagten sie den drei Elfen schnell auf Wiedersehen und kletterten zurück ins Spielzeugregal, um schlafen zu gehen. Binks und Jinks klopften Jumbo liebevoll auf
das dicke Fell, bevor sie gingen. Und Grübchen schlang ihre Arme um seinen Rüssel und küßte ihn. »Du bist mein lieber tapferer Jumbo«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, daß ich
gesagt habe, du seist langsam und schwerfällig. Wenn du magst, werde ich jetzt jede Nacht auf dir reiten.« Dann lief sie ihren Brüdern nach und ließ einen sehr glücklichen Jumbo zurück.
Herrn Muffelgrumps Hut Herr Muffelgrump war der mürrischste alte Gnom in Tüdeldorf. Er lächelte nie, und wie man lachte, das wußte er anscheinend gar nicht. Außerdem war er so geizig, daß er aus den Brotkrümeln, die vom Tisch fielen, noch Pudding machte, anstatt sie den Vögeln zu geben. In Tüdeldorf mochte ihn keiner leiden. Wenn er durchs Dorf schlurfte, grüßte ihn niemand. Jeder schaute ihn nur schief an, denn keinem gefiel es, einen solchen Griesgram als Nachbarn zu haben. Herrn Muffelgrump schien das nichts auszumachen. Er lebte allein in seinem baufälligen Haus und redete nicht mit den Leuten. Deshalb merkte auch keiner, wie allein er sich fühlte. Und daß er sich oft wünschte, daß die Kinder ihn einmal so fröhlich anlachen würden, wie sie es bei der Ballonfrau oder Herrn Russig, dem Schornsteinfeger, taten. Aber sie beachteten ihn gar nicht. So nahm sich der alte Muffel-grump vor, unfreundlich zu bleiben. Er fand, daß er es wahrhaftig nicht nötig hatte, zuerst mit dem Lächeln anzufangen. Herr Muffelgrump hatte die Gewohnheit,
jeden Tag einen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Dabei trug er jahrein, jahraus dieselbe alte grüne Halsbinde und einen uralten seidenen Zylinderhut. Er tappte die Dorfstraße hinunter, schaute nicht rechts und links und grüßte niemanden. Und niemand grüßte ihn. Herr Muffelgrump konnte sich gar nicht vorstellen, daß sich das einmal ändern würde. Bis eines Tages etwas Seltsames passierte!
Herr Muffelgrump war wie gewöhnlich in die Diele gegangen, um sein Halstuch umzubinden und den Hut aufzusetzen. Es war ein ziemlich trüber Tag, und er konnte in dem dämmrigen Flur kaum etwas sehen. Trotzdem machte er kein Licht, sondern tastete im Dunkeln nach einem Halstuch und band es um. Auch seinen Hut konnte er im Finstern finden. Er lag nämlich immer auf der Truhe neben einer Lampe mit einem schönen Lampenschirm aus gelber Seide, der mit Fransen aus bunten Glasperlen besetzt war. Aber im Dunkeln passierte es! Herr Muffelgrump erwischte statt des Zylinders den Lampenschirm und setzte ihn auf den Kopf. Er merkte den Fehler gar nicht, weil der Lampenschirm sich genauso seidig anfühlte wie der Hut. Als sich also Herr Muffelgrump an diesem Tag zu seinem Spaziergang aufmachte, trug er statt seines alten schwarzen Zylinders einen hellgelben Lampenschirm auf dem Kopf, dessen Perlen beim Gehen hin- und herschaukelten. Jeder kann sich vorstellen, wie komisch das aussah. In dem Augenblick, als Herr Muffelgrump aus dem Gartentor trat, verzogen sich die Wolken. Die Sonne kam hervor, und alle Vögel begannen zu singen. Es war ein wunderschöner
Frühlingstag. Selbst Herr Muffelgrump freute sich darüber. Fast wünschte er sich, einen Freund zu haben, der sich mit ihm freuen würde. Aber da er ganz sicher war, daß er keinen hatte, schaute er so griesgrämig drein wie immer und ging die Straße hinunter. Zuerst begegnete ihm die fröhliche Ballonfrau, die schwer an ihrer Ballonlast zu tragen hatte. Als sie den gelben Lampenschirm auf Herrn Muffelgrumps Kopf sah, lächelte sie vor Vergnügen, so lustig sah es aus. Herr Muffelgrump dachte, sie würde ihn anlächeln, denn er wußte ja nichts von seiner komischen Kopfbedeckung. Er war so überrascht, daß er es gar nicht schaffte, zurückzulächeln. Ganz verwirrt ging er weiter. Es war ihm einfach unbegreiflich, warum ihn die Ballonfrau seit zwanzig Jahren zum ersten Mal freundlich angeguckt hatte. Dann traf er den Schornsteinfeger Russig. Herr Russig liebte derbe Spaße, und als er den Lampenschirm auf Herrn Muffelgrumps Kopf sah, mußte er so grinsen, daß man all seine schönen, weißen Zähne sah. Herr Muffelgrump zwinkerte überrascht. Normalerweise rief ihm der Schornsteinfeger Grobheiten nach, und gewiß
hatte er ihn noch nie angelacht. War es dieser schöne Frühlingstag, der die Leute so freundlich machte? »Das nächste Mal, wenn mich jemand anlächelt, lächle ich zurück«, sagte sich Herr Muffelgrump. Er wurde ganz aufgeregt bei diesem Gedanken. »Wenn die Leute anfangen, freundlich zu mir zu sein, kann ich ja nicht weiter den Griesgram spielen.« An der nächsten Ecke stieß er fast mit dem Landwirt Stroh zusammen, der auf seinem alten Gaul daherzuckelte. Als der Bauer den Lampenschirm sah, feixte er übers ganze Gesicht. Und als Herr Muffelgrump
daraufhin zurücklachte, wäre er fast vom Pferd gefallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Er hielt sein Pferd an und starrte Herrn Muffelgrump nach, der seinen Weg mit einem komischen, warmen Gefühl im Herzen fortsetzte. »Ich habe gelächelt«, sagte er. »Ich hatte wirklich vergessen, wie schön das ist. HoffenÜich lächelt mich bald wieder jemand an, damit ich zurücklächeln kann.« Vier kleine Rangen liefen die Straße hinauf. Als sie Herrn Muffelgrump mit dem gelben Lampenschirm auf dem Kopf sahen, schrien sie vor Freude. Herrn Muffelgrump wurde es ganz warm ums Herz. Er lachte herzhaft zurück. Die Kinder scharten sich um ihn, und eins von ihnen faßte zutraulich nach seiner Hand. Sie dachten, Herr Muffelgrump hätte den Lampenschirm aufgesetzt, um einen Spaß für sie zu machen. Herr Muffelgrump war glücklich. Am liebsten hätte er auf der Straße gesungen und getanzt. War niemand da, den er umarmen konnte? Es war einfach wunderbar, daß die Menschen plötzlich so freundlich zu ihm waren. Umständlich kramte er vier blankgeputzte Kennige aus seiner Tasche hervor und gab sie den Kindern. Die Kinder küßten ihn und rannten dann lachend und
winkend davon, um die Pfennige auszugeben. Herr Muffelgrump rieb sich entzückt die Hände. Das gefiel ihm, von den Kindern geküßt zu werden. Jetzt würde er den Leuten von Tüdeldorf einmal zeigen, was für ein feiner, großzügiger Mensch er war. Jetzt, wo sie endlich nett zu ihm waren! Beim Bäcker Krümel, der ihm mit einem großen Blech mit frischen Kuchen entgegenkam, gelang es ihm, zuerst zu lächeln. Herr Krümel ließ fast das Blech fallen, so erstaunt war er. Dann sah er Herrn Muffelgrumps lustige Kopfbedeckung und prustete lauthals los. Muffelgrump war entzückt, daß der Bäcker ihn so freundlich anlachte. »Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Ist es nicht ein wunderschöner Tag heute?« Der Bäcker nickte lachend mit dem Kopf. »Das stimmt«, sagte er. »Und der Hut, den Sie da tragen, paßt ausgezeichnet dazu.« Herr Muffelgrump ging sehr aufgeräumt weiter. »Was für ein netter Bursche dieser Bäcker doch ist«, dachte er, »daß er leinen alten Zylinderhut so lobt. Und ich dachte immer, die Leute von Tüdeldorf wären unfreundlich. Wie man sich doch irren kann.«
Von nun an grüßte er jeden, den er traf, und alle grüßten zurück. Jeder wunderte sich, warum der alte Muffelgrump plötzlich so ein komisches Ding auf dem Kopf trug. Aber niemand sagte es ihm. Die Kinder hatten einen Riesenspaß, und der alte Gnom verschenkte so viele Pfennige, daß er sogar noch mehrere Zehnpfennigstücke dafür umwechseln mußte. Als er schließlich nach Hause zurückkam, war Herr Muffelgrump ein ganz anderer Mann geworden. Er summte eine kleine Melodie und hopste sogar ein bißchen, als er durch seinen Vorgarten ging. Er war glücklich, daß die Leute so freundlich zu ihm gewesen waren. »Das zeigt doch, daß ich gar nicht so muffig und querköpfig sein kann, wie mir immer nachgesagt wurde«, sagte er. »Ich werde ein großes Fest geben und alle Leute im Dorf dazu einladen. Das wird sie ganz schön verblüffen.« Er betrat gut gelaunt seine Diele und wollte gerade seinen Hut abnehmen, als er sich im Spiegel sah. Entsetzt starrte er sich an. Was hatte er da für ein Ding auf dem Kopf? Dann begriff er. »Das war es also«, murmelte er aufgebracht. »Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben,
die Leute würden mich anlächeln. Sie haben sich nur über meine komische Kopfbedeckung lustig gemacht.« Beschämt setzte sich Herr Muffelgrump in seinen Lehnstuhl und dachte sehr lange nach. Schließlich seufzte er tief. »Wie schrecklich, wenn man erst einen Lampenschirm als Hut aufsetzen muß, damit die Leute einen anlächeln«, sagte er. »Was muß ich für ein mürrischer, alter Mann gewesen sein. Aber jetzt ist mir alles egal. Ich werde auf jeden Fall ein Fest für das ganze Dorf geben. Damit die Leute endlich lernen, mich anzulachen, weil ich so ein netter, alter Gnom bin. Gleich mache ich mich daran, die Einladungen zu schreiben.« Und das tat er dann auch, und jedermann im Dorf war sehr überrascht, als er eine Einladung zu einem Fest bei Herrn Muffelgrump erhielt. »Stellt euch vor«, sagten die Dorfbewohner zueinander. »Der geizige, alte Muffelgrump will ein Fest geben. Was ist bloß mit ihm passiert, daß er plötzlich so freundlich und umgänglich ist? Erinnert ihr euch, wie komisch es aussah, als er gestern mit dem Lampenschirm auf dem Kopf durchs Dorf spazierte?« Das Fest war ein großer Erfolg, und bald hatte
der alte Muffelgrump eine ganze Menge Freunde. Aber niemand konnte sich vorstellen, was den alten Burschen plötzlich so verwandelt hatte. Nur Herr Muffelgrump wußte es. Und er hatte nicht vor, es irgend jemandem auf die Nase zu binden. Seinen alten, gelben Lampenschirm hob er sorgfältig auf, auch als er schon ganz schmutzig und verschlissen war. Denn durch ihn hatte er wieder Lachen gelernt und Freunde gewonnen.
Fideldidi macht alles falsch Fideldidi war ein junges Heinzelmännchen. Es wohnte mit seiner Mutter im Puddinghaus und war ziemlich faul. Es hatte einfach keine Lust, irgendwas zu tun, und schon gar keine Lust, seiner Mutter zu helfen. »Bitte hilf mir, Fideldidi«, sagte seine Mutter. »Onkel und Tante besuchen uns zum Tee, und ich möchte ihnen schöne, frische Blätterteigtaschen anbieten. Sei doch so gut, geh zum Bäk-ker und hole zwölf Stück.« Fideldidi marschierte los, kaufte zwölf Blätterteigtaschen beim Bäcker und machte sich wieder auf den Weg nach Hause. Weil er auf dem Weg zurück müde wurde, nahm er den Bus. An der nächsten Station stiegen so viele Leute ein, daß einige von ihnen stehen mußten. »Darf ich auf deinem Schoß sitzen?«
fragte ein anderes Heinzelmännchen Fideldidi. »Natürlich«, antwortete Fideldidi. Er nahm die Tüte mit den Blätterteigtaschen von seinen Knien, überlegte einen Augenblick, wo er sie hintun sollte, und schob sie sich dann unter den Po. Das andere Heinzelmännchen setzte sich auf seinen Schoß. Am Ende der Fahrt bedankte es sich höflich bei Fideldidi, und beide stiegen aus. Die Tüte mit den Blätterteigtaschen sah ziemlich mitgenommen aus. Fideldidis Mutter war sehr wütend, als sie die plattgedrückten Kuchenstücke sah. »Du dummer Kerl!« schrie sie, »hast du dich auf die Blätterteigtaschen gesetzt?« »Aber ich mußte sie doch irgendwo hintun«, verteidigte sich Fideldidi. »Das andere Heinzelmännchen war viel schwerer als ich, und da habe ich gedacht, es ist besser, wenn ich mich draufsetze, wo ich doch so klein und leicht bin.« »Ja, ja«, sagte Fideldidis Mutter, »und du hast dir gar nicht überlegt, daß ihr jetzt beide auf der Tüte gesessen habt? Also wirklich, Fideldidi, du mußt besser darüber nachdenken, was du tust. Wenn ich dich das nächste Mal einkaufen schicke, bittest du den Bäcker, dir ein Tablett zu leihen. Dann kannst du die Blätterteigtaschen
auf dem Kopf nach Hause tragen, wie ein richtiger Straßenverkäufer.« »Ich denk dran«, versprach Fideldidi und nahm sich vor, es beim nächsten Mal besser zu machen. Zwei Tage später war es sehr heiß. Die Mutter gab Fideldidi Geld und bat ihn, einen Becher Eis zu holen. Fideldidi ging los und bekam auch für sein Geld eine schöne, große Portion Eis in einem Pappbecher. Er hatte den Laden gerade verlassen, da fiel ihm ein, wie sehr seine Mutter wegen der Blätterteigtaschen mit ihm geschimpft hatte. »Mutter hat gesagt, ich soll die Sachen auf einem Tablett auf meinem Kopf heimtragen«, erinnerte er sich. »Ich habe zwar vergessen, mir ein Tablett zu besorgen, aber den Pappbecher kann ich auch so ganz gut auf meinem Kopf balancieren.« Er stellte also den Becher mit Eis auf seinen Kopf und
ging vorsichtig weiter. Weil aber der Tag sehr heiß war und die Sonne direkt auf Fideldidi niederschien, schmolz das Eis bald und begann aus dem aufgeweichten Pappbecher herauszulaufen. Es lief an Fidel-didis Haar herunter und tropfte in seinen Nacken. »Komisch«, sagte Fideldidi, »mir ist richtig angenehm kühl. Der Tag scheint doch nicht so heiß zu sein, wie Mutter geglaubt hat.« Und den ganzen Weg nach Hause genoß er das kühle Eis, das in seinen Nacken lief. Als seine Mutter ihn sah, schrie sie laut. »Fideldidi!« rief sie, »was ist nur über dich gekommen, das Eis in der heißen Sonne auf dem Kopf zu tragen? Du hättest ein nasses Tuch um den Becher wickeln und ihn dann unter die Jacke stecken sollen, um das Eis kühl zu halten.« »Tut mir leid«, sagte Fideldidi, »aber das konnte ich nicht wissen. Das nächste Mal werde ich es ganz bestimmt richtig machen.« Am Tag darauf entschloß sich seine Mutter, eine Gans zu kaufen und sie zu mästen. »Dann haben wir ein feines Weihnachtsessen«, sagte sie und schickte Fideldidi zum Bauern, der gerade eine preiswerte Gans zu verkaufen hatte. Fideldidi erledigte auch alles
ordentlich und machte sich dann mit der Gans auf den Heimweg. Er war noch nicht lange unterwegs, da fiel ihm ein, wie sehr seine Mutter wegen der Eiscreme mit ihm geschimpft hatte. »Sie hat gesagt, ich soll das Eis in ein feuchtes Tuch wickeln und es unter der Jacke kühlhalten«, sagte er zu sich. »Ich muß versuchen, die Gans so zu versorgen.« An einer Wäscheleine am Rand der Straße hing ein Tischtuch, das Mutter Haube gehörte. Fideldidi nahm es herunter und tauchte es in einen Teich. Dann wickelte er die wütend zappelnde Gans in das feuchte Tuch und versuchte, sie unter seine Jacke zu stecken. Aber der Vogel war groß und stark, und alles, was Fideldidi schaffte, war, ihn festzuhalten. Endlich kam er zu Hause an. Heiß und aufgelöst, mit zerrissenem Hemd und völlig zerfetzter Jacke, denn die Gans hatte sich die größte Mühe gegeben, sich wieder aus dem nassen Tischtuch auszuwickeln. Darunter hatte auch das
Tischtuch sehr gelitten. »O du lieber Gott!« jammerte seine Mutter, als sie ihn sah. »Was hast du bloß mit Mutter Haubes schönem, neuem Tischtuch gemacht? Und sieh dir deine Kleider an. Sie sind reif für den Mülleimer. Und die arme Gans. Sie ist halb tot vor Angst.« »Aber ich habe doch nur getan, was du mir gesagt hast«, weinte Fideldidi. »Ich kann doch nichts dafür, daß die Gans nicht in dem nassen Tuch bleiben wollte, Mutter.« »Du närrischer Junge«, sagte seine Mutter. »Kann eine Gans nicht laufen? Du hättest ihr nur ein Seil um den Hals binden sollen, dann wäre sie hinter dir hergewatschelt.« »Ja, das sehe ich ein«, sagte Fideldidi und nahm sich fest vor, es beim nächsten Mal aber wirklich richtig zu machen. Eine Woche später bat ihn seine Mutter, vom Metzger ein Stück Fleisch abzuholen, das sie sich hatte zurücklegen lassen. Der Metzger gab ihm die bestellte Lammkeule. Gerade als Fideldidi sich umdrehte, um nach Hause zu gehen, erinnerte er sich daran, wie ärgerlich seine Mutter das letzte Mal gewesen war und was sie ihm gesagt hatte. Fideldidi versuchte zu überlegen. Wie konnte er
das Fleisch so heimbringen, daß seine Mutter zufrieden wäre? »Mutter hat gesagt, wenn ich der Gans einfach ein Seil umgebunden hätte, wäre sie mir gefolgt«, dachte er. »Auf jeden Fall hat dieses Fleisch ein Bein. Und ich kann ja die Schnur daran binden.« Er fand in seiner Hosentasche ein Stück Schnur und band es sorgfältig an der Lammkeule fest. Dann warf er sie hinter sich und wanderte heim. Das Fleisch schleifte hinter ihm her. Fideldidi war noch nicht lange gegangen, als alle Katzen und Hunde der Nachbarschaft das Fleisch rochen und ihm nachrannten. Als Fideldidi die Meute hinter sich herlaufen sah, bekam er es mit der Angst zu tun und fing an zu rennen. Er raste nach Hause, und das Fleisch polterte hinter ihm her. Er sauste durch die Küchentür, und alle Hunde und Katzen folgten ihm. Knurrend und fau chend zankten sie sich um die Lammkeule. »Das halte ich nicht mehr aus«, schrie seine Mutter. »Was wirst du dir als nächstes einfallen lassen. Du liebe Zeit, schau dir nur das Fleisch an. Du hast es wahrhaftig an einem Seil hinter dir hergezogen?«
»Aber bei der Gans hast du doch gesagt, daß ich es so machen soll«, sagte Fideldidi.
»Ja, aber eine Lammkeule ist keine Gans«, rief seine Mutter wütend und gab Fideldidi eins hinter die Ohren. Dann scheuchte sie die Hunde und Katzen mit einem Besen aus dem Haus hinaus. »Schert euch bloß weg«, rief sie, »sonst geht es euch schlecht. Ksch, ksch, fort mit euch!« Als alle Tiere draußen waren, wollte sie mit Fideldidi weiterschimpfen. Aber der war nicht mehr da. Er war zu Bett gegangen. Er hatte das Gefühl, daß das Bett an solch einem Tag der sicherste Ort für ihn sei. Und damit hatte er sicher recht!
Schlafbüddel bekommt Ärger Eigentlich hieß er Tippit, aber jeder nannte ihn nur Schlafbüddel, denn er war der verschlafenste und vergähnte-ste Bursche, den man sich vorstellen kann. Er gähnte wirklich unaufhörlich, und manche Leute behaupteten, er könne sogar im Laufen schlafen. Eines Tages war Schlafbüddels Dorf in heller Aufregung. Der Prinz von Heyho hatte sich angesagt, und die Zwerge wollten ihm zu Ehren ein großartiges Kostümfest veranstalten. »Es wird um fünf Uhr nachmittags beginnen«, sagte Herr Riechkolben, der Oberzwerg. »Damit auch die kleinen Kinder dabei sein können. Und jeder soll sich ein gutes Kostüm für dieses Fest einfallen lassen.« Schlafbüddel ging langsam heim und dachte nach. »Ich werde als Bär gehen«, beschloß er dann zufrieden. »Wenn ich dazu mein Bärenfell nehme, den
Bärenkopf über meinen Kopf ziehe und alles ordentlich feststecke, werde ich fast wie ein echter Bär aussehen. Das wird ein feines Kostüm, über das die Leute sicherlich staunen werden.« Als der Tag kam, an dem das Kostümfest stattfinden sollte, nahm Schlafbüd-del sein Bärenfell und warf es sich über die Schultern. Er sah fabelhaft aus, fast wie ein richtiger Bär. »Am Hals ist es ein bißchen weit«, dachte Schlafbüddel. »Das muß ich noch ändern. Wieviel Uhr ist es? Erst zwei. Da habe ich ja noch viel Zeit bis fünf Uhr.« Er holte sich eine große Nadel und starkes Garn und setzte sich hin, um den Hals des Bärenfells enger zu nähen. Es war ein warmer Nachmittag. Schlafbüddel saß bequem im Lehnstuhl und lehnte den Kopf gegen ein weiches Kissen. Es war sehr gemütlich. Er schaute
wieder auf die Uhr. »Für ein Zehn-MinutenSchläfchen reicht es noch«, entschied er. »Dann bin ich auch ganz ausgeruht auf der Party.« Er lehnte sich also behaglich zurück und schlief ein. Die Zeit verstrich. Es wurde drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr. Schlafbüddel schlief immer noch. Er träumte herrlich. Ihm war gemütlich warm, und sein Lehnstuhl war so bequem. Was für ein wunderbares Schläfchen. Die Zeit verging. Es wurde sechs Uhr, sieben Uhr, acht Uhr, neun Uhr. Das Kostümfest war vorbei, jeder ging nach Hause, und Herr Riechkolben wunderte sich, warum Schlafbüddel nicht gekommen war. Zehn Uhr, elf Uhr, Mitternacht. Das Feuer in der Küche ging aus, und alles war still und dunkel. Schlafbüddel schlief und träumte. Die Uhr tickte die Minuten in die Dunkelheit, und als die Zeiger auf fünf Minuten nach vier am Morgen standen, blieb sie stehen. Sie mußte jeden Abend aufgezogen werden, und da Schlafbüddel ja an diesem Abend geschlafen hatte, war das nicht geschehen. Danach gab es kein Ticken mehr und kein Stundenschlagen. Trotzdem: die Zeit ging weiter. Fünf Uhr, sechs Uhr, sieben Uhr, acht Uhr. Die Sonne war längst aufgegangen, und die
meisten Leute im Dorf arbeiteten schon fleißig. Schließlich rührte sich auch Schlafbüddel in seinem Lehnstuhl und streckte die Arme. Er gähnte laut und öffnete die Augen. Noch etwas dösig schaute er im Zimmer umher, und dann erinnerte er sich plötzlich an das Kostümfest. Ach du dickes Mausekind! »Wieviel Uhr ist es denn?« fragte Schlafbüddel gähnend und schaute auf die Uhr. »Fünf Minuten nach vier. Du meine Güte, und das Fest fängt um fünf Uhr an. Da muß ich mich aber beeilen. Ich habe doch wahrhaftig länger geschlafen, als ich wollte. Dreimal geschlitztes Mauseöhrchen, jetzt aber schnell!« Schlafbüddel wußte gar nicht, daß er die ganze Nacht durch geschlafen hatte. Er dachte, er hätte nur ein kleines Nickerchen bis fünf nach vier am vorigen Tag gemacht. Er war der festen Überzeugung, es sei gestern und nicht heute. Armer, verdöster Schlafbüddel! Obwohl die Sonne hell ins falsche Fenster schien, dachte er immer noch, es sei Nachmittag. Wie viele verschlafene Leute war Schlafbüddel auch ein bißchen langsam. Und da er nicht wußte, daß seine Uhr stehengeblieben war, achtete er auch nicht auf die Sonne.
»Jetzt habe ich doch keine Zeit mehr, das Bärenfell zu ändern«, sagte Schlafbüddel. »Da kann man nichts machen. Du liebe Zeit, wie hungrig ich bin. Ich werde auf der Party sicher zwanzig Kekse verdrücken. Und wenn es Würstchen im Schlafrock gibt, braucht man nur einen Teller voll davon in meine Nähe zu stellen, und ich putze sie weg wie nichts.« Er zog das Bärenfell um sich und steckte es ordentlich an allen Seiten fest. Dann zog er den Bärenkopf über seinen eigenen Kopf und befestigte ihn am Hals mit einer großen Sicherheitsnadel. Er konnte zwar kaum atmen, aber das störte ihn nicht. Er freute sich unbändig, so ein tolles Kostüm zu haben. »So, dann wollen wir mal«, sagte er schließlich und tappte auf allen vieren aus der Haustür und die Straße hinunter. Dabei brummte er ganz fürchterlich, denn er wollte die Leute auf sich aufmerksam machen. Alle sollten sagen: »Schaut doch nur, da ist jemand mit einem ganz außergewöhnlichen Kostüm.« Aber das Fest war lange vorbei, und die Leute dachten nicht mehr daran. Als sie den so echt aussehenden Bären die Dorfstraße hinuntertraben sahen, bekamen sie einen
Mordsschreck. »Hilfe«, schrien sie, »schaut das Biest an, das da kommt. Es lief aus Schlafbüddels Haus heraus. Sicher hat es ihn aufgefressen. Bringt euch in Sicherheit!« »Holt ein Gewehr und erschießt das Tier!« rief Herr Riechkolben, der fast mit dem Bären zusammenstieß, als er um die Ecke bog. Er hatte noch nie im Leben einen solchen Schreck bekommen. Schlafbüddel konnte das alles nicht verstehen. Er stellte sich auf die Hinterbeine und rief - oder versuchte durch den Bärenkopf zu rufen: »Ich gehe doch zum Kostümfest. Ihr müßt keine Angst vor mir haben.« Aber was da aus dem Bärenkopf heraustönte, hörte sich ungefähr so an: »Uh-wa-wa-wa-wa-wa-wa-wa-wa. Uhwa-wa-wa-wusch-wa-wa-wa.« Obwohl Schlafbüddel versuchte, so deutlich wie möglich zu sprechen, hörten die Leute nur ein unverständliches Gebrumm. »Hört ihr, er knurrt uns an«, rief jemand entsetzt. »Der Bär ist wütend. Er brummt ganz böse.« Der arme Schlafbüddel war nun wirklich ganz verstört. Wie konnten die Leute nur so dumm sein! Konnten sie sich nicht vorstellen, daß er ein Kostüm anhatte? Er rief ganz laut:
»Aber Freunde, ich gehe doch zum Kostümball. Versteht ihr das denn nicht?« Aber jeder hörte nur: »Wa-wu-wöö, sch-wsch-wa-wo-wa-wa. Wuwuu-sch-wa-wa.« »Er wird immer wütender«, entsetzten sich die erschrockenen Zwerge. »Herr Riechkolben holt schon sein Gewehr. Hat jemand einen Speer? Oder einen großen Stock, damit man ihm eins über den Schädel geben kann? Sonst wird er uns noch alle fressen.« Schlafbüddel bekam nun wirklich Angst. Ein Gewehr? Einen Speer? Einen Stock, um ihn auf den Kopf zu hauen? Waren die Leute denn verrückt? Er hatte ihnen doch gesagt, daß er zum Kostümfest wollte. »Am besten gehe ich jetzt zum Rathaus, wo die Party stattfindet«, sagte er sich. »Dann werden die Leute endlich merken, daß ich nur ein Bärenkostüm anhabe.« Er ließ sich also auf alle viere fallen und trabte zum Rathaus. Das ganze Dorf lief hinter ihm her. Die Leute redeten aufgeregt durcheinander und zeigten auf ihn, aber sie hielten vorsichtig Abstand. Und alle waren auf dem Sprung, wegzulaufen, sobald er nur den Kopf wenden würde. Aber Schlafbüddel drehte sich nicht um. Er ging schnurstracks zum Rathaus und kletterte
die Stufen zur großen Rathaushalle hinauf. Dort waren drei Zwerge eifrig dabei, den Dreck vom gestrigen Kostümfest wegzufegen. Schlafbüddel blieb stehen und schaute sich erstaunt um. »Wo ist die Party?« wunderte er sich. »Kein Tee, keine Kekse, keine Leute. Rein gar nichts.« Er tappte auf die drei Zwerge zu, die gar nicht gemerkt hatten, daß jemand hereingekommen war, und fragte: »Wo ist denn hier das Kostümfest?« Aber alles, was die drei verstanden, war: »Wa-wawa-schr-wöwö.« Sie kreischten entsetzt auf und schrien: »Oooh, ein wilder Bär! Er knurrt uns an. Jagt ihn raus. Fort mit ihm.« Und zu Schlafbüddels großem Erstaunen stürzten sie sich auf ihn und stießen ihn so mit ihren Besen, daß er rückwärts wieder aus der Halle herausstolperte. Wenn man bedenkt, daß sie glaubten, einen wilden Bären vor sich zu haben, war das wirklich sehr tapfer von ihnen! Der arme Schlafbüd-del schrie vergeblich: »Laßt das. Hört doch auf!« Es hörte sich nur an wie »wuff-waff-wöff« und half ihm gar nichts. Er fiel hin und rutschte - bump-bumpbumpedibump-bump - die lange Treppe vor dem Rathaus auf seinem Hinterteil herunter.
Die drei Zwerge sprangen hinter ihm her und fegten ihn in eine große Pfütze. Schlafbüddel war völlig verzweifelt. Er saß in der Pfütze und schrie laut: »Buhuhu. Buhuhu!« Diesmal hörte es sich wirklich so an, als ob er weinte, und die Leute aus dem Dorf blieben stehen und sahen sich an. »Der Bär heult«, sagten sie. »Er weint wirklich. Armer Kerl. Vielleicht bringt er eine Botschaft von irgend jemandem. Fragen wir ihn doch mal.« Herr Riechkolben näherte sich also vorsichtig dem Bären und sprach ihn an: »Warum bist du hierhergekommen? Möchtest du jemanden sprechen?« »Nein«, sagte Schlafbüddel, und es klang wie »wuff«. Herr Riechkolben schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir können dich nicht verstehen«, sagte er. Da zeigte ein kleiner scharfäugiger
Zwerg auf den Hals des Bären. »Da steckt eine Sicherheitsnadel«, rief er. »Vielleicht tut sie ihm weh.« »Wo denn?« fragte Herr Riechkolben erstaunt. Als er dann die Sicherheitsnadel sah, tat ihm der Bär sehr leid. »Wer hat bloß die Nadel dahin gesteckt? Armer Bär! Vielleicht wollte er nur, daß wir ihn davon befreien.« Als er die Nadel öffnete, fiel zu seiner großen Überraschung der Bärenkopf auf die Seite, und Schlafbüddels Kopf kam zum Vorschein - erhitzt und zerzaust und mit tränenüberströmtem Gesicht. »Es ist Schlafbüddel!« riefen alle verblüfft. »Was machst du denn in einem Bärenfell, Schlafbüddel?« »Ich w-w-wollte zum Kostümb-b-ball«, weinte Schlafbüddel, »aber ich habe es nicht gefunden.« »Aber das Kostümfest war doch gestern, Schlafbüddel«, sagte Herr Riechkolben. »Wir haben uns schon gewundert, warum du nicht gekommen bist.« »Gestern?« schniefte Schlafbüddel. »Aber ich dachte, die Party sollte am Mittwoch sein und nicht am Dienstag.« »Heute ist Donnerstag«, sagte Herr Riechkolben. »Was hast du gemacht,
Schlafbüddel? Hast du vielleicht einmal um die Uhr geschlafen oder was sonst? Heute ist Donnerstagmorgen. Oder was hast du gedacht, was für ein Tag heute ist?« »Ich dachte, es wäre Mittwochnachmittag. Ich wollte als Bär verkleidet auf das Fest gehen. Nun habe ich das Fest versäumt, bin die Treppen hinuntergestoßen worden und habe mich braun und blau geschlagen. Und alles deshalb, weil ich noch schnell ein Nickerchen machen wollte! Ich muß den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht durchgeschlafen haben. Und weil ich meine Uhr nicht aufgezogen habe, ist sie um fünf nach vier in der Nacht stehengeblieben. Und ich dummer Kerl dachte, es sei die richtige Zeit, nämlich fünf nach vier am Nachmittag vorher.« Alle fingen an zu lachen, als sie diese verworrene Geschichte hörten. Es war wirklich zu komisch. »Schlafbüddel ist einen Tag zu spät zur Party gekommen«, sagten die Zwerge grinsend. »Armer alter Schlafbüddel. Was wird er als nächstes tun? Er ist die Rathaustreppe hinuntergefegt worden und in einer Pfütze gelandet. Hohoho, hahaha! Vielleicht wird er jetzt nicht mehr so viele Schläfchen machen.« Schlafbüddel warf sein Bärenfell über die
Schultern und ging nach Hause. Er war sehr unglücklich und sehr hungrig. Er machte sich ein Brot mit Marmelade und setzte sich hin, um zu essen. Die Tränen tropften ihm die Wangen herunter auf die Marmelade, die davon ganz salzig wurde. Er hatte gar keine Freude an seinem Frühstück. »Das ist wirklich das letzte Mal, daß ich ein Nickerchen gemacht habe«, sagte er. »Nie wieder.« Aber da muß schon mehr passieren, um so jemanden wie Schlafbüddel zu kurieren. Kaum war eine Woche vergangen, da schlief er schon wieder, wo er auch ging und stand. Er war eben doch eine unverbesserliche Schlafmütze.
Die Spielzeugmaus Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Andi. Andi war immer sehr nett zu seinen Spielsachen. Er machte sie nicht kaputt, er ließ sie nicht im Regen liegen. Er paßte wirklich gut auf sie auf und hatte sie gern. Deshalb war es nur natürlich, daß die Spielsachen ihn auch gern hatten. Aber am allermeisten liebte ihn die Spielzeugmaus. Und das hatte einen besonderen Grund. Eines Tages hatte die Spielzeugmaus ihren Schlüssel verloren, so daß sie nicht mehr aufgezogen werden konnte. Sie war darüber sehr unglücklich, denn sie lief schrecklich gern herum. Aber wenn sie nicht aufgezogen war, konnte sie das nicht. Niemand wußte, wie der Schlüssel verlorengegangen war. Er war eben einfach verschwunden. Golly, die Negerpuppe, meinte, er sei auf den Boden gefallen und dann vom Staubsauger weggesaugt worden. »Und dann wurde er mit dem Abfall in die Mülltonne geworfen«, sagte der Teddy. »Und damit war er weg.« Natürlich fiel es Andi ziemlich schnell auf, daß die Maus keinen Schlüssel mehr hatte. »Wo ist denn dein Schlüssel?« fragte er. »Ich
will dich aufziehen und rennen lassen.« Die Maus guckte ihn traurig an. Sie fand es schrecklich, daß sie nicht mehr durch das Kinderzimmer sausen konnte. Andi suchte den Schlüssel überall. Aber er konnte ihn nicht finden. »Macht nichts«, sagte er. »Ich werde mir was einfallen lassen, Mausemaus. Ich seh es dir an, daß du traurig bist. Ich kann mir gut vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich nur laufen könnte, wenn jemand mich aufzieht - und dann wäre plötzlich der Schlüssel weg.« Andi gab sich wirklich alle Mühe, einen neuen Schlüssel für die Maus zu bekommen. Erst ging er in den Spielzeugladen und fragte danach. Aber dort sagte man ihm, daß sie keinen Schlüssel aus einem der anderen Tiere herausnehmen könnten. Da war also nichts zu machen. Aber dann hatte er die Idee. Er ging zum Uhrmacher und fand dort wirklich einen kleinen Schlüssel, der genau paßte. Die Maus war wie närrisch vor Freude, daß sie nun wieder herumlaufen konnte. Als Golly sie in der Nacht aufzog, sauste sie mit Höchstgeschwindigkeit im Kinderzimmer herum und quiekte vor
Vergnügen. Sie war so froh über ihren neuen Schlüssel, daß sie gar nicht aufhören konnte, Andi zu loben. »Ist er nicht ein toller Junge?« sagte sie immer wieder. »Er ist doch unglaublich nett. Was er sich für Mühe für mich leine Maus gemacht hat. Ich wüschte, ich könnte ihm auch einmal lelfen. Aber ich bin ja zu klein, um ihm in irgendeiner Weise nützlich sein zu können.« Eines Tages stürzte Andi ganz aufgeregt ins Kinderzimmer. »Stellt euch vor«, rief er, »ich darf ganz allein mit dem Bus zu meinem Vetter Oliver fahren. Schaut, hier im Portemonnaie ist das Geld für den Bus.« Die Spielsachen starrten die kleine braune Geldbörse an, in der eine glänzende silberne Mark steckte. »Ich muß nur
noch meine Schuhe anziehen, dann kann ich gehen«, sagte Er legte die Geldbörse neben sich auf Boden und fing an, seine Halbschuhe anzuziehen. Das dauerte nicht lange. »Beeil dich, Andi!« rief seine Mutter. »Sonst verpaßt du noch den Bus.« Andi stand auf und rannte aus dem Zimmer. Die Spielsachen hörten, wie er den Gartenweg hinunterlief und seiner Mutter »auf Wiedersehen!« zurief. Da sah Golly, daß er sein Portemonnaie auf dem Boden liegengelassen hatte. Er hatte es vergessen! Und darin war doch das Geld für den Bus. »Jetzt hat er kein Geld, um den Fahrschein zu bezahlen«, sagte Golly. »Und der Schaffner wird ihn deshalb nicht mitfahren lassen.« »Armer Andi«, sagte der Teddybär traurig. »Was für eine Enttäuschung für ihn«, jammerte der Clown. »Ich laufe hinter ihm her«, schrie plötzlich die Spielzeugmaus mit ihrer
hohen quiekigen Stimme. »Zieh mich schnell auf, Golly! Mach die Geldbörse auf meinem Rücken fest, Teddy! Schnell.« Während die Negerpuppe sie aufzog, schnürte der Teddy das Portemonnaie auf dem schmalen Rücken der Spielzeugmaus fest. Dann stürzte sie aus der Tür, rannte durch den Garten, den Weg entlang auf die Straße. Sie sauste nur so dahin. So schnell war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gelaufen. Weit vor ihr ging Andi. Die Maus raste vorwärts und hoffte, daß sie ihn noch einholen würde, bevor der Bus kam. Plötzlich sah sie, wie Andi stoppte und mit der Hand auf seine Hosentasche schlug. Ihm war die Geldbörse eingefallen. Er hatte sie doch wahrhaftig liegengelassen. Bestürzt sah er sich um, denn er sah den Bus um die Ecke kommen. In diesem Augenblick berührte die Spielzeugmaus seinen linken
Schuh. Andi blickte nach unten und riß erstaunt die Augen auf. Er sah sofort das Portemonnaie auf dem Rücken der Maus und knotete es ab. »Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte er dabei. »Das kann doch nicht wahr sein. Du kannst doch unmöglich mit meinem Geld hinter mir hergelaufen sein. Aber du hast es getan.« Andi hatte keine Zeit mehr, sich weiter Gedanken zu machen, denn der Bus hielt schon. Er stürzte vorwärts, und die Spielzeugmaus sah noch, wie er den Bus bestieg. Sie war sehr stolz und zufrieden. »Jetzt konnte ich Andi doch einmal helfen«, quiekte sie und machte sich auf den Weg zurück. Auf dem Heimweg hatte sie sogar noch ein richtiges Abenteuer. Eine Katze glaubte, daß sie eine lebendige Maus wäre, und sprang ihr nach. Aber die Spielzeugmaus sauste ihr davon. Sie schaffte es gerade noch, durch den Garten bis zur Haustür zu kommen, dann war ihr Uhrwerk abgelaufen. Doch Golly wartete schon auf sie und zog sie wieder auf. So konnte die Maus ins Kinderzimmer laufen und dort keuchend und aufgeregt von ihrem großen Abenteuer erzählen. Jeder lobte sie, und alle machten einen großen Wirbel um die kleine
Spielzeugmaus. »Du solltest eine Medaille oder etwas ähnliches bekommen«, meinte Golly. Sie bekam auch eine. Andi brachte ein kleines rotes Band mit und band es ihr um den Hals. »Das soll allen zeigen, daß du die beste Spielzeugmaus auf der Welt bist«, sagte er. Du liebe Zeit, war die Spielzeugmaus stolz! Sie hat das Band immer noch. Wenn du sie mal triffst, frag sie doch, warum sie es bekommen hat. Sie wird es dir sicher erzählen.
Das Haus, das laufen konnte Wäre nicht Pinscher gewesen, der kleine Welpe, dann hätten Ilka und Tobias das ganze Abenteuer gar nicht erlebt. Es fing an, als sie mit dem kleinen Hund einen Spaziergang in den Kuk-kuckswald machten. Pinscher war ganz närrisch vor Freude. Er sprang hierhin und dorthin und bellte alles an, was ihm über den Weg lief. Besonders komisch war es, wenn er vor lauter Vergnügen Purzelbäume schoß und durch das Gras rollte. Er war so ein niedlicher, dicker, kleiner Hund, und Ilka und Tobias liebten ihn sehr. Und dann krabbelte Pinscher unter einen Brombeerbusch, und als er wieder auftauchte, hatte er eine lange Schnur mit winzigen Würsten im Maul. »Wo hat er die denn her?« fragte Ilka erstaunt. Sie erfuhr es sofort, denn aus dem Gebüsch sauste mit wutverzerrtem Gesicht ein kleiner Bursche, der nicht viel größer als der junge Hund war. Er trug eine rote Jacke, eine gelbe Hose und hatte eine spitze Mütze auf dem Kopf. Dafür, daß er so klein war, besaß er eine beachtlich laute Stimme. »Du unnützer Köter!« schrie er. »Du hast mir die Würste gestohlen, die
ich für mein Mittagessen gekauft habe. Bring sie sofort zurück, sonst verwandle ich dich in eine Maus.« Pinscher kümmerte sich nicht im geringsten um das Geschrei. Er galoppierte mit den Würsten herum und amüsierte sich sehr dabei. Dann setzte er sich bequem ins Gras und fing an, die Würste aufzufressen. Das war zuviel für den kleinen Kerl. Er stürzte auf Pinscher zu und schlug ihm mit einem kleinen Silberstock auf die Nase. Dabei rief er eine ganze Menge unverständlicher Wörter, bei denen es Ilka und Tobias ganz kalt den Rücken herunterlief. Sie wußten sofort, daß es Zauberwörter waren, obwohl sie sie nie zuvor gehört hatten. Und dann wurde Pinscher vor ihren Augen immer kleiner. Er schrumpfte und schrumpfte, bis er zuletzt so winzig wie eine Maus war. Pinscher hatte keine Ahnung, was mit ihm geschah. Er sprang an Ilka und Tobias hoch und bellte sie mit einer ganz komischen hohen Quiekstimme an. Die Kinder waren ganz verstört. Sie nahmen die winzige Maus hoch, die einmal Pinscher gewesen war, und streichelten sie. Dann schauten sie sich nach dem aufgebrachten kleinen Mann um, um ihn zu bitten, Pinscher doch wieder in einen Hund zu verwandeln. Aber der kleine Bursche war ver-
schwunden. Weder er noch seine Würste waren irgendwo zu sehen. Tobias kroch tief unter den Brombeerstrauch, aber da gab es nichts als Erde und welke Blätter. »Was machen wir jetzt bloß«, sagte er zu Ilka. »Wir können Pinscher doch nicht so mit nach Hause nehmen. Niemand würde glauben, daß es Pinscher ist. Außerdem würde ihn sofort die Katze fangen.« Ilka begann zu weinen. Sie hatte ihren kleinen Pinscher so gern, und die Vorstellung, daß er jetzt nicht mehr der ausgelassene, nudeldicke, kleine Hund war, sondern eine Maus, war schrecklich. »Das muß ein Zwerg oder ein Heinzelmännchen gewesen sein«, sagte sie und rieb sich die Augen. »So geh ich mit Pinscher nicht nach Hause. Laß uns tiefer in den Wald gehen. Wo ein Zwerg ist, sind auch noch andere vom
Feenvolk. Wenn wir jemanden treffen, werden wir ihn um Hilfe bitten.« Sie gingen auf dem schmalen kurvenreichen Pfad weiter, der tief in den Wald führte. Tobias trug Pinscher in seiner Tasche. Dort war genug Platz für ein Tier, das nicht größer war als eine Maus. Plötzlich blieb er stehen. Er packte Ilka am Arm und zeigte auf ein kleines Haus, das ihnen die Rückseite zuwandte. Das Haus hatte zwei Beine. Nie zuvor hatten die Kinder ein Haus mit Beinen gesehen. »Schau dir das bloß an!« rief Ilka und blieb verblüfft stehen. »Es hat Beine. Das Haus hat Beine!« Als das Haus Ilkas Stimme hörte, machte es einen Luftsprung - so als ob es sich erschreckt hätte - und fing an zu laufen. Es rannte davon und verschwand wie der Blitz hinter den Bäumen. Die Kinder waren so überrascht, daß sie zunächst gar nicht
daran dachten, hinter dem Haus herzulaufen. Sie standen nur regungslos da und guckten ihm nach. »Das ist vielleicht ein eigenartiger Teil vom Kuckuckswald«, meinte Tobias. »Hier waren wir noch nie. Schau dir das an, da sind noch mehr Häuser mit Beinen.« Ilka sah es auch. Auf einer kleinen Lichtung standen noch ungefähr sechs andere Häuser. Jedes von ihnen hatte zwei Beine, und sie trugen große Schuhe an den Füßen. Manche trampelten ein bißchen hin und her, andere standen zeitweise auch nur auf einem Bein, was ganz verrückt aussah. Auch diese Häuser ergriffen die Flucht, als sie Ilka und Tobias sahen. Sie rannten weg, so schnell sie konnten. Die Kinder liefen ihnen nach. Aber sie konnten nicht so schnell rennen wie die kleinen Häuser. Ganz außer Atem wollten sie schon aufgeben, da sahen sie, daß eins der Häuser stehenblieb. Als es dann weiterging, hinkte es stark. »Du, das Haus können wir vielleicht einholen«, sagte Ilka. »Schnell, Tobias.« Sie sausten wieder los und hatten das kleine humpelnde Haus auch in ein paar Minuten erreicht. Als sie näher kamen, sahen sie, wie sich
die Haustür öffnete und eine wirklich wunderhübsche Fee mit lockigen goldenen Haaren und spinnwebfeinen Flügeln herauskam. »Was ist los, kleines Haus?« fragte sie. »Warum hinkst du?« Dann sah sie die beiden Kinder und sagte freundlich: »Jetzt verstehe ich auch, warum unsere Häuser plötzlich geflüchtet sind. Ihr habt sie erschreckt. Aber ich bin ganz froh, daß ihr da seid. Ihr könnt mir helfen. Ich glaube, mein Haus hat einen Stein im Schuh, und es ist zu schwer für mich, ihn allein herauszuholen.« Das war ein Erlebnis! Tobias stemmte eine Seite des Hauses hoch, und das Haus hob seinen Fuß, um den Schuh auszuziehen. Die Fee und Ilka fanden tatsächlich einen dicken Stein darin. Sie schüttelten ihn heraus, und das Haus zog seinen Schuh wieder an. Dabei machte es ein knarrendes Geräusch, das sich fast wie »Danke schön« anhörte. »Das ist aber ein lustiges Haus, das du da hast«, sagte Ilka zu der Fee. »Was ist daran lustig?« fragte die Fee überrascht. »Es ist das gleiche Haus, wie es auch meine Freunde haben.« »Aber es hat Füße«, sagte Tobias. »Da, wo wir herkommen, haben Häuser keine Füße. Sie stehen fest auf dem Boden und bewegen sich
nicht mehr, wenn sie einmal aufgebaut sind.« »Das ist aber eine dumme Art von Häusern«, meinte die Fee. »Und wenn nun ein Feind kommt? Dann kann euer Haus doch gar nicht weglaufen. Ich finde meine Sorte Haus viel angenehmer als eure.« »Ich auch«, meinte Ilka. »Ich würde auch viel lieber in einem Haus wohnen, wie du es hast. Das müßte toll sein: Ich gehe abends schlafen, und wenn ich morgens aufwache, bin ich ganz woanders. Einfach, weil mein Haus in der Nacht Lust hatte, ein paar Kilometer weiterzuwandern.« Tobias hatte die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt holte er die kleine Maus, die einmal Pinscher gewesen war, aus der Tasche und sagte: »Kannst du uns vielleicht helfen, liebe Fee? Schau dir das an! Das war noch vor kurzer Zeit unser kleiner Hund. Ein wütender Zwerg hat ihn in eine Maus verwandelt. Bitte zaubere ihn doch zurück!« »Das tut mir leid«, sagte die Fee. »Aber das kann ich nicht. Dazu braucht man einen sehr starken Zauber. Ich kenne eigentlich nur eine Person, die eure Maus wieder in einen Hund zurückverwandeln kann, und das ist der Riese
Hochhut.« »Und wo wohnt er?« fragte Ilka schnell. »Ziemlich weit von hier«, sagte die Fee. »Im Wolkenschloß auf dem Regenbogen.« »Du liebe Zeit, wie sollen wir da hinkommen!« rief Ilka. »Wir haben ja keine Flügel, so wie du.« »Dort, wo der Regenbogen den Boden berührt, hat der Zwerg Dumpy sein Haus. Er züchtet fliegende Schweine. Sicherlich wird er euch zwei leihen. Aber ich weiß nicht, ob der Riese Hochhut euch überhaupt helfen wird. Er ist nämlich ein querköpfiger Bursche, und wenn er schlechte Laune hat, kann man nicht auf ihn zählen.« »Trotzdem müssen wir es versuchen«, sagte Tobias. »Und wo berührt der Regenbogen die Erde?« »Das ist ganz verschieden. Es hängt davon ab, wo gerade ein Regenbogen steht«, antwortete die Fee. »Am besten weiß mein Haus, wo gerade einer ist. Ich werde es bitten, uns hinzubringen.« Die Kinder waren ziemlich aufgeregt, als sie das Feenhaus betraten. Tobias trug Pinscher gut verwahrt in seiner Tasche. Der kleine Hund hörte nicht auf, mit seinem quiekigen Stimmchen zu bellen. Er konnte einfach nicht begreifen, warum Ilka und Tobias plötzlich so
riesig und er so klein geworden war. Die Fee schloß die Tür und sagte den Kindern, daß sie sich hinsetzen sollten. Als sie sich umsahen, merkten sie, daß das Feenhaus auch innen anders war als andere Häuser. Es sah fast wie eine Schiffskabine aus: Rundherum an den Wänden entlang lief eine Sitzbank. Der Tisch in der Mitte des Zimmers war am Boden festgeschraubt, und auch der Kohleofen, der in einer Ecke bullerte, war mit zwei Eisenstäben an der Wand befestigt. In einer anderen Ecke tickte eine große Standuhr, die ebenfalls zwei Füße hatte, genau wie das Haus. Die Kinder bekamen einen gehörigen Schreck, als die große Uhr plötzlich aus ihrer Ecke herausspazierte, sie genau betrachtete und dann wieder zurückschlurfte. »Macht euch nichts daraus«, sagte die Fee. »Die alte Uhr hat keine Manieren. Wollt ihr eine Tasse Kakao und ein paar Narzissenbiskuits?« »O ja, bitte, gern«, sagten die Kinder und überlegten, wie Narzissenbiskuits wohl aussehen würden. Die Fee machte eine große Kanne voll Kakao und legte ein paar lockere gelbe Plätzchen auf einen Teller, die wie Narzissenblüten geformt waren und auch so dufteten. Sie schmeckten fabelhaft,
auch der Kakao war ausgezeichnet. Er schmeckte gar nicht wie gewöhnlicher Kakao, sondern wie eine Mischung von Limonade und Schokolade. Gleich nachdem sie eingestiegen waren, hatte die Fee zu ihrem Haus gesagt: »Bring uns bitte zum Ende des Re-genbogens. Sei so lieb und beeil dich.« Sogleich setzte sich das Haus - zum Entzücken der Kinder - in Bewegung. Sie hatten das Gefühl, auf einem Schiff zu sein oder auf einem Elefantenrük-ken zu reiten, denn das Haus schwankte von einer Seite zur anderen, als es davontrabte. Ilka schaute aus dem Fenster. Bald waren sie aus dem Wald heraus und kamen in eine Stadt. »Tobias, schau nur, überall Zwerge, Heinzelmännchen, Elfen, Feen und Kobolde!« rief Ilka aufgeregt. Es war wahr, die ganze Stadt wimmelte von kleinen Leuten. Sie gingen einkaufen, schwätzten miteinander und schoben kleine Kinderwagen mit niedlichen Feenbabies vor sich her. Die alte Standuhr kam auch heran und schaute aus dem Fenster. Dabei trat sie Ilka auf den Fuß, entschuldigte sich aber nicht. Als die Kinder dann in der Ferne einen großen
Regenbogen leuchten sahen, waren sie fast traurig, denn damit war ihre aufregende Reise erst einmal zu Ende. Das Haus blieb stehen, die Kinder kletterten hinaus und schauten bewundernd auf den Regenbogen. Er war ungeheuer breit, viel breiter als eine Straße, und seine Farben leuchteten und glitzerten so stark, daß sie gar nicht lange hinsehen konnten. »Der Riese Hochhut wohnt dort oben«, sagte die Fee und zeigte den Regenbogen hinauf. »Kommt, wir werden Dumpy fragen, ob er zwei fliegende Schweine für euch hat.« Sie führte die Kinder zu einem niedrigen Haus, gar nicht weit weg von der Stelle, an der der Regenbogen die Erde berührte. Es stand in einem großen Hof, in dem grunzend und quiekend eine ganze Menge dicker hellrosa Schweine herumliefen, die so sauber aussahen, als hätte man sie eben erst geschrubbt. Jedes von ihnen hatte ein Paar glänzende rosa Flügel auf dem Rücken. Komisch sah das aus! »Hallo, Dumpy, bist du zu Hause?« rief die Fee. Die Tür zum Haus öffnete sich, und ein behäbiger Zwerg spähte mit funkelnden Augen hinaus. »Ja, ich bin zu Hause«, krähte er. »Was kann
ich für dich tun?« »Diese Kinder wollen zu Hochhut. Aber sie haben keine Flügel. Kannst du ihnen zwei deiner Schweine leihen?« »Das kann ich schon«, sagte Dumpy, »aber nur, wenn sie versprechen, nett zu ihnen zu sein. Schweine sind nämlich sehr empfindliche Wesen. Wenn man grob zu ihnen ist, verlieren ihre Schwänze den Kringel!« »Die Kinder sind nett, Dumpy. Sie haben mir geholfen, als mein Haus einen Stein im Schuh hatte. Du kannst ihnen trauen. Welche Schweine können sie haben?« »Dieses da und das da«, sagte der dicke Zwerg und schob den Kindern zwei stämmige Schweine hin. »Haltet euch am Hals fest«, sagte er. »Und seid ja freundlich zu meinen lieben Rosaschnäuzchen, ganz gleich, was passiert. Ich
möchte nicht, daß ihre Schwänze traurig herunterhängen, wenn ich sie zurückbekomme. Es macht sehr viel Mühe, sie wieder frisch zu kringeln.« Ilka und Tobias kletterten auf die geflügelten Schweine. Es war gar nicht so leicht, denn die Schweinerücken waren ziemlich rutschig. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie einen festen Halt gefunden hatten. Dann schlugen die dicken, kleinen Tiere ein paarmal mit ihren rosigen Flügeln, erhoben sich in die Luft und flogen direkt in den glänzenden Regenbogen hinein. Dabei unterhielten sie sich mit lautem Quieken. Die Kinder kratzten sie zart hinter den Ohren, und die Schweine grunzten zufrieden. Nach
einer Weile erreichten sie ein burgartiges Schloß, das aus polierten schwarzen Steinen gebaut war, in denen sich die Regenbogenfarben widerspiegelten. Die Schweine hielten an, und die Kinder sprangen ab. »Bitte wartet hier auf uns, bis wir zurückkommen«, sagte Tobias zu ihnen. Die Kinder stiegen nun die lange Treppe hinauf, die zum Schloßtor führte. An der Tür war ein großer Türklopfer. Als Tobias damit gegen die Tür schlug, dröhnte es so laut, daß die Kinder Angst bekamen. »Herein«, rief eine tiefe Stimme. Tobias stieß die Tür auf, und sie betraten eine große Halle, die von einem blassen silbrigen Licht erfüllt war, das wie Mondlicht aussah. An einem Tisch saß mit gerunzelter Stirn ein Riese. Er war so groß, daß Ilka sich überlegte, ob er überhaupt in der riesigen Halle aufrecht stehen könnte. Er biß auf einem Bleistift herum und schaute mißmutig in ein Buch, das vor ihm lag. »Guten Morgen«, sagte Tobias höflich. »Das ist überhaupt kein guter Morgen heute«, antwortete der Riese bissig. »Es ist sogar ein ganz schlechter Morgen. Man kann gut sagen, es ist einer von den schlechtesten Morgen, die ich
bisher erlebt habe. Ich bekomme diese Rechenaufgaben nicht heraus.« »Na gut, dann ist es eben ein schlech ter Morgen«, sagte Ilka. »Aber wir brauchen deine Hilfe.« »Ich helfe heute niemandem«, knurrte der Riese. »Ich sagte es euch doch schon, ich habe genug Ärger mit diesen Aufgaben. Macht, daß ihr wegkommt.« »Er muß uns helfen«, flüsterte Tobias. »Wir müssen es weiter versuchen.« »Was sind das denn für Aufgaben?« fragte Ilka. Zu ihrem großen Entsetzen langte der Riese mit seiner großen Hand nach ihr und hob sie auf den Tisch, so daß sie in das Buch sehen konnte. Als sie die Aufgaben sah, hätte sie beinahe laut gelacht. Es waren wirklich ganz super-
leichte Rechenaufgaben, die der Riese vergeblich zu lösen versuchte. Zum Beispiel: Wenn zwei Hühner, vier Hunde und ein Riese miteinander Spazierengehen, wieviel Beine siehst du? »Das kann ich dir sagen«, rief Ilka. »Es sind zweiundzwanzig Beine.« Der Riese schlug das Buch hinten auf und sah bei den Lösungen nach. »Das stimmt«, brummte er erstaunt. »Woher hast du das gewußt? Rechne mir jetzt bitte eine andere Aufgabe aus.« Ilka löste alle Rechenaufgaben. Sie waren wirklich kinderleicht. Der Riese schrieb die Antworten in riesigen Zahlen auf und lutschte an seinem Bleistift, wenn Ilka die nächste Aufgabe ausrechnete. Tobias blieb ganz still. Aber als Ilka alle Aufgaben gelöst hatte, sagte er: »Jetzt hilfst du uns sicher, lieber Riese. Wir haben dir doch auch geholfen.« »Ich habe euch doch gesagt, das ist einer von meinen schlechten Tagen«, antwortete der Riese gereizt. »An solchen Tagen helfe ich nie. Seht also zu, daß ihr fortkommt, und macht die Tür leise hinter euch zu.« Ilka und Tobias starrten ihn verzweifelt an. Was für ein garstiger Riese er doch war! Wo Ilka ihm so geholfen hatte. Es war wirklich
gemein. »Ich glaube, du kannst gar nicht zaubern«, sagte Ilka listig. »Du bist ein großer Schwindler. Du kannst ja noch nicht einmal die einfachsten Aufgaben ausrechnen.« Der Riese zog seine Brauen so zusammen, daß die Kinder kaum noch seine Augen sehen konnten. Dann sprang er zornig auf. Peng, stieß er mit dem Kopf oben an die Decke. Ilka hatte es ja gleich gedacht. Etwas benommen setzte er sich wieder und brüllte: »So, unverschämt wollt ihr werden? Das soll euch schlecht bekommen. Im Handumdrehen werde ich euch in zwei Marienkäfer verwandeln. Aber vorher werdet ihr ein Jahr lang vor mir sitzen bleiben und mir sagen, was ich zaubern soll. Ich werde euch meine Macht schon zeigen.« Ilka und Tobias wurden ganz blaß. Sie sahen sich schon als winzige Marienkäfer herumfliegen. Dann holte Tobias hastig die kleine braune Maus aus seiner Tasche und rief mit zitternder Stimme: »Wetten, daß du diese kleine Maus nicht in einen jungen Hund verwandeln kannst?« Der Riese schnaubte und schlug krachend mit der Hand auf den Tisch. »Homini, tinkaburallibi, juterai bom!« schrie er, und sobald diese Zauberworte ausgesprochen waren, wurde die Maus
größer und größer, und auf einmal stand der kleine Welpe Pinscher wieder vor den Kindern, lebensgroß und voller Freude darüber, daß er wieder rennen und herumspringen konnte. Doch der Riese ließ den Kindern keine Zeit, sich darüber zu freuen. »Der nächste Wunsch, aber fix!« schrie er. »Ach, scher dich doch zum Mond und zurück!« rief Ilka verzweifelt, nur um etwas zu sagen. Im Handumdrehen hatte sich Hochhut in Luft aufgelöst und war verschwunden. »Der läuft jetzt wirklich zum Mond«, rief Ilka erstaunt. »Komm, Tobias, wir müssen weg, ehe er wieder zurückkommt.« Sie rannten aus dem Schloß, und Pinscher fegte hinter ihnen her. Die beiden fliegenden Schweine warteten noch geduldig am Fuß der Schloßtreppe. Tobias nahm Pinscher auf den Arm, und die Kinder stiegen auf. Die Schweine erhoben sich grunzend in die Luft und flogen wieder zum Ende des Regenbogens hinunter. Gerade als sie landeten, hörten sie hoch oben auf dem Regenbogen ein donnerndes Geräusch. »Das ist sicher der Riese, der vom Mond zurückkommt«, sagte Ilka. »Hör dir das an, was
der für einen Krach macht. Ein Gewitter ist nichts dagegen.« Die Fee lief ihnen entgegen. »Ist das Hochhut, der da solchen Lärm macht?« fragte sie. »Dann seht zu, daß ihr Dumpy die Schweine schnell zurückgebt, und kommt in mein Haus. Wir sollten lieber fort sein, ehe Hochhut auf die Idee kommt, den Regenbogen herunterzurutschen, um euch zu fangen. Er scheint ganz üble Laune zu haben.« Dumpy bekam seine Schweine zurück, und dann ließen sich die Kinder und Pinscher wieder von dem kleinen Haus davontragen. Es lief sehr schnell, viel schneller als auf dem Herweg. Pinscher war das unangenehm, und er fing an zu bellen. Da schlappte plötzlich die alte Standuhr wieder aus ihrer Ecke und gab ihm eins hinter
die Ohren. »Entschuldigt bitte«, sagte die Fee. »Die Uhr regt sich sehr leicht auf. Ich behalte sie auch nur, weil sie schon so viele Jahre in der Familie ist. Sagt mir jetzt, wo mein Haus euch hinbringen soll.« »Bitte laß uns nach Hause bringen«, sagten die Kinder. Gerade als sie das sagten, hörte man einen gewaltigen Rumpier. Die Erde ringsum bebte und zitterte. »Das ist der Riese Hochhut«, sagte die Fee. »Der ist wirklich ganz schön wütend, der alte Krachmacher!« Das Haus lief und lief, und dann rief die Fee ganz unerwartet: »Ihr seid zu Hause, Kinder!« Sie öffnete die Tür, und die Kinder sahen, daß sie in ihrem Garten hinter dem Haus angekommen waren. Sie sprangen heraus und drehten sich um, um Pinscher zu rufen, der wieder ganz aufgeregt bellte. Da kam die Standuhr doch wahrhaftig noch einmal aus ihrer Ecke und gab Pinscher wieder kräftig eins hinter die Ohren. »Tut mir leid, ihr Lieben!« rief die Fee und lachte spitzbübisch. »Ihr wißt ja, sie hat keine Manieren. Vielleicht sehe ich euch einmal wieder. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«
Die Tür schloß sich, und das kleine Haus rannte schnell davon. Die Kinder schauten ihm nach. Sie konnten kaum glauben, daß sie so ein fantastisches Abenteuer erlebt hatten. Am schönsten war es aber, daß Pinscher keine Maus mehr war, sondern wieder ein frecher, munterer, kleiner Hund. »Komm her, Pinscher«, rief Tobias. »Komm, wir wollen Mutter erzählen, was wir erlebt haben. Die wird staunen!« Und dann gingen die drei ins Haus.
Das Pony Tripptrapp Es war einmal ein kleines braunes Pony, das Tripptrapp hieß. Es gehörte der alten Frau Schneider. Früher hatte sie es oft vor ihren Wagen gespannt, um auszufahren. Aber das tat sie jetzt kaum noch. So hatte Tripptrapp viel Zeit und fühlte sich manchmal ziemlich allein, wenn es auf der Weide herumtrabte. Tripptrapp hatte einen Freund. Das war Rudi. Jeden Morgen, wenn Rudi zur Schule ging, und mittags, wenn er wieder zurückkam, blieb er bei dem Pony stehen und unterhielt sich mit ihm. »Hallo, Tripptrapp«, sagte er. »Wie geht es dir heute? Schmeckt das Gras gut? Ich habe dir den Apfelbutzen von meinem Apfel aufgehoben, magst du ihn?« Tripptrapp mochte Rudi sehr gut leiden. Manche Jungen mochte er nämlich gar nicht. Zum Beispiel Leonhard. Er warf immer Steine nach ihm. Und diesen garstigen großen Jungen, der Harry hieß, hätte er am liebsten einmal gebissen. Dieser Kerl versuchte dauernd, auf Tripptrapp zu reiten. Tripptrapp hätte ihn ja vielleicht reiten lassen, wenn er nicht immer diesen großen Stock bei sich hätte. Aber
Stockschläge, nein, die mochte Tripptrapp nicht. Rudi war wirklich der netteste Junge von allen. Er war immer freundlich zu Tripptrapp und brachte ihm manchmal sogar eine saftige Karotte, einen Apfel oder ein Stück Zucker mit. Er war wirklich ein Freund. Tripptrapp hätte gern einmal etwas für Rudi getan. Eines Tages, als Rudi gerade am Gatter stand und mit Tripptrapp schwätzte, kam der große Harry vorbei. »Hallo, Rudi«, sagte er. »Hast du Geld bei dir? Im Spielzeugladen haben sie tolle bunte Glasmurmeln zu verkaufen.« »Ich habe drei Fünfziger und zwei Zehner«, sagte Rudi. »Aber die muß ich sparen. Ich will meiner Mutter davon ein Geburtstagsgeschenk kaufen.« »Ach, komm, Rudi«, bettelte Harry. »Leih mir das Geld doch bis
Samstag. Ich will mir die Murmeln kaufen.« »Nein«, sagte Rudi. »Ich habe dir schon letzten Monat fünfzig Pfennig geliehen, und die hast du mir immer noch nicht zurückgegeben.« »Was, du verflixter Krabbe, du willst mir das Geld nicht leihen?« schrie Harry böse. »Das werden wir gleich haben. Mit so einer halben Portion werde ich sehr schnell fertig.« Und bevor Rudi etwas tun konnte, hatte ihn Harry gegen das Gatter gepreßt und ihm die Geldbörse aus der Tasche genommen. Er nahm das Geld heraus und steckte es in seine Tasche. Dann warf er Rudi die leere Geldbörse vor die Füße und ging pfeifend davon. Rudi starrte wütend hinter ihm her und fühlte sich miserabel. Er sah absolut keine Möglichkeit, das Geld wiederzubekommen. Harry war sehr groß und stark und überall als wilder und unfairer Kämpfer bekannt. Tripptrapp hatte alles mit erstaunten Augen beobachtet. Rudi schniefte ein bißchen und streichelte traurig die weiche Nase des Ponys. »Ach, Tripptrapp«, weinte er. »Das Geld sehe ich nie wieder. Und ich habe dreieinhalb Wochen gebraucht, um es zusammenzusparen.« Rudi wunderte sich, daß Tripptrapp plötzlich das
Gatter verließ und in großen Sprüngen über die Weide jagte. Auf der anderen Seite des Feldes war eine Lücke im Zaun. Tripptrapp preßte seinen runden, kleinen Körper durch das Loch und stellte sich auf den Fußweg, der an der Wiese vorbeiführte. Nach einer Weile kam Harry zufrieden pfeifend anspaziert. Als er Tripptrapp sah, blieb er stehen. »Hei, Tripptrapp, altes mistiges Pony«, sagte er. »Wie bist du denn aus deiner Weide
herausgekommen? Läßt du mich jetzt mal reiten, ja?« Normalerweise rannte Tripptrapp weg, wenn Harry kam, aber diesmal blieb er stehen und ließ den Jungen auf seinen Rücken klettern. »Hühott«, sagte Harry und schlug das Pony mit dem Stock, den er immer bei sich hatte, auf den Bauch. Das Pony trottete auf die andere Seite des Weges, wo die Wiese in lehmigen Morast überging. Dort stoppte es ganz plötzlich und machte einen Satz zur Seite. Klatschend landete Harry im Dreck. Tripptrapp wieherte. Dann senkte er den Kopf und faßte Harry mit seinen großen Zähnen am Gürtel. Harry kreischte entsetzt. Er dachte, das Pony würde ihn beißen. Aber Tripptrapp hatte etwas ganz anderes vor. Er zog den um sich schlagenden Jungen den Weg hinunter zu dem Gatter, wo Rudi immer noch stand. »Hrrrrempf«, sagte Tripptrapp und hielt Harry fest am Gürtel. Es sah ganz schön komisch aus, wie Harry da im Maul des Ponys baumelte und schrie. Rudi fing an zu lachen. »O Tripptrapp«, sagte er. »Du bist vielleicht ein gescheites Pony. Du meinst sicher, daß ich mir mein Geld nun gefahrlos zurückholen kann. Das
werde ich sofort tun.« Rudi holte sich das Geld zurück, das Harry ihm weggenommen hatte, und tat es wieder in sein Portemonnaie. Nun öffnete Tripptrapp sein Maul und ließ Harry auf den Weg fallen. Sowie Harry fühlte, daß er wieder frei war, sprang er auf und raste mit Höchstgeschwindigkeit den Weg hinunter. Als er um die Ecke bog und verschwand, seufzte Rudi erleichtert auf. »Danke, Tripptrapp«, sagte er. »Du bist wirklich der beste Freund, den ich habe.« »Hrrrrempf«, schnaubte Tripptrapp und rieb seine Nase an Rudis Arm. Rudi wußte genau, was das Pony damit meinte. Es wollte damit sagen: »Und du bist mein bester Freund, Rudi.« Dann öffnete Rudi das Gatter, damit Tripptrapp wieder auf seine Weide konnte.
Der Angeber Michael hatte dauernd Streit mit den anderen Kindern. Und nur deshalb, weil er ein schrecklicher Angeber war. Er sagte zum Beispiel: »Ihr solltet mal meinen neuen Drachen sehen. Er ist größer als alle anderen Drachen und fliegt höher als alle eure Drachen zusammen.« Und als Georg sein neues Auto mit in die Schule brachte, um es allen zu zeigen, sagte Michael: »Bäh, das ist ja nur ein Auto zum Aufziehen. Ihr solltet meins sehen, das geht elektrisch.« Georg sagte zwar: »Gib nicht so an!« Aber er hatte plötzlich das Gefühl, daß sein Auto doch nicht so toll war, wie er gedacht hatte. Michael konnte das Prahlen einfach nicht lassen. »Ich kann schneller rennen als irgendein anderer Junge in der Schule«, sagte er zu seinem Vater.
»Und ich kann in einer halben Stunde mehr Rechenaufgaben lösen als irgendein anderes Kind in meiner Klasse. Ich kann auch viel besser schreiben als der Lehrer.« »Dann ist es traurig, daß deine Zeugnisse nicht besser sind«, sagte sein Vater.
»Hör also auf, so anzugeben, und arbeite zur Abwechslung mal was. Dann kann ich dir auch wieder glauben.« Michael wäre wohl sein ganzes Leben ein
Angeber geblieben, wenn er nicht eines Tages ein ganz verrücktes Abenteuer erlebt hätte. Es fing ganz harmlos an: Michael ging von der Schule nach Hause, als er ein ganz ungewöhnliches Taschenmesser fand. Es war hellgelb mit blauen Streifen, und als Michael es öffnete, sah er, daß die Klingen aus grünem Stahl waren. Er schaute das Messer an und überlegte, wer es wohl verloren haben könnte. Und weil er ein ehrlicher Junge war, guckte er sich um, ob er nicht den Eigentümer finden könnte. Und wirklich, nicht weit von ihm schaute sich eine kleine Gestalt suchend auf dem Boden um. »He, Junge«, rief Michael, »hast du ein Messer verloren? Ich habe eins gefunden.« Der kleine Bursche guckte hoch. Er war etwa so groß wie Michael und sah doch eher aus wie ein Erwachsener. Außerdem war er ganz komisch angezogen. Er trug einen grünen Umhang und lange Strümpfe, dazu einen spitzen Hut mit einer kleinen Glocke oben dran. »Das ist fein, daß du mein Messer gefunden hast«, sagte der kleine Kerl. »Ich heiße Smink. Und wie heißt du?« »Michael«, sagte Michael. »Das ist aber ein komisches Messer. Ich habe zu Hause auch eins. Es ist viel besser als deins, viel schärfer. Ich kann
damit Holz schneiden wie durch Butter.« »Aber meins ist noch schärfer«, sagte Smink. »Ich kann damit durch einen Baumstamm schneiden wie durch Butter.« »Du Aufschneider«, sagte Michael. »Du gibst ja an!« »Na, du doch auch«, antwortete Smink. »Aber der Unterschied ist, ich sage die Wahrheit und du nicht. Sieh nur her.« Und zu Michaels großer Überraschung ging Smink zu einer Birke, zog sein Messer gerade durch den Stamm und schnitt den Baum durch. Krachend stürzte die Birke auf den Boden. Michael sprang auf. »Mann, dein Messer ist wirklich scharf. Aber du wirst Ärger bekommen, wenn du so einfach Bäume abschneidest.« »Ich wollte dir ja nur zeigen, wie gut mein Messer ist«, sagte Smink. Er hob den kleinen Baum auf, nahm
eine Tube Klebstoff aus der Tasche und schmierte sorgfältig den abgeschnittenen Baum und den Baumstamm damit ein. Dann setzte er den Baum wieder auf den Baumstamm. Er stand aufrecht da und sah aus wie zuvor. »Er wird ohne Schaden weiterwachsen«, sagte Smink. »Ich habe ihn mit Wachstumsleim bestrichen. Der ist stärker als jeder Klebstoff, den du jemals benutzt hast.« - »Ach, weißt du, zu Hause habe ich auch eine Tube mit Klebstoff, mit dem kann
ich alles, was zerbrochen ist, wieder zusammenkleben«, antwortete Michael und fing sofort wieder an, aufzuschneiden. »Ich kann damit Beine an den Tisch kleben, Stuhlrücken an Stühle und...« »Du Angeber«, sagte Smink. »Du hast ja gar keinen Klebstoff, mit dem du das fertigbringen würdest. Aber mein Klebstoff ist so stark, daß ich sogar dich damit am Boden festkleben kann.« »Jetzt gibst du aber wirklich maßlos an«, sagte Michael. »Ich sollte dir gar nicht zuhören.« »Also gut, ich beweise es dir«, sagte Smink und gab Michael blitzschnell einen Schubs, daß er hinfiel. Geschwind tupfte er dann ein bißchen Klebstoff auf die Sohle jedes Schuhs. Michael sprang zornig in die Höhe und wollte sich auf Smink stürzen. Aber -verflixt nochmal - der kleine Bursche hatte die Wahrheit gesagt: Michaels Füße klebten fest am Boden! Er konnte keinen Schritt tun. »Meine Füße sind festgeklebt«, schrie er. »Mach sofort deinen blöden Klebstoff wieder weg.« »Kann ich nicht«, sagte Smink grinsend. »Du mußt deine Schuhe ausziehen und auf Strümpfen gehen.« Michael blieb gar nichts anderes übrig.
Er schlüpfte aus den Schuhen und rannte Smink in Socken nach. »Paß nur auf, wenn ich
dich erwische«, schrie er. »Ich bin der stärkste Junge in meiner Klasse.« Aber Smink war schnell wie der Wind. »Glaub ja nicht, daß du mir fortrennen kannst«, keuchte Michael. »Ich renne schneller als irgendein anderer Junge in meiner Schule. Ich werde dich gleich haben.« - »Aber ich renne schneller als jeder Junge auf der Welt«, kreischte Smink. Und das tat er wirklich. Michael konnte ihn nicht einholen. Schließlich ließ sich Smink ins Gras fallen und wartete, bis Michael ihn außer Atem eingeholt hatte. »Ich warne dich, falls du vorhast, mich zu schlagen«, sagte Smink. »Sicher bist du der Meinung, daß du fester zuschlagen kannst als irgend jemand sonst in deinem Dorf. Aber ich schlage fester zu als irgendein anderer Junge. Also, sieh dich vor.« Aber Michael dachte nicht daran, sich vorzusehen. Er rannte auf Smink zu und schlug auf ihn ein. Da sprang Smink auf und gab Michael eine solche Ohrfeige, daß er hinfiel und sich dreimal überschlug. »Mann! Was hat mich denn da geschlagen?« murmelte Michael, als er wieder zu sich kam. »Das war ich«, sagte Smink. »Ich hatte dich doch gewarnt.« »Das sage ich meinen Eltern«, sagte
Michael und fing an zu weinen. »Dann wird es dir noch leid tun, daß du mich nur angefaßt hast. Meine Mutter und mein Vater sind sehr groß und stark und werden dich ganz fürchterlich verhauen.« »Mein Vater und meine Mutter sind auch groß und stark«, sagte Smink grinsend. »Da kommen sie gerade. Möchtest du erleben, was sie mit so
gräßlichen kleinen Jungen, wie du einer bist,
machen?« Michael schaute in die Richtung, in die Smink zeigte, und sah zu seiner Überraschung zwei sehr große, finster blik-kende Leute durch den Wald auf sich zukommen. Sie waren so groß, daß Michael das Gefühl hatte, sie müßten Riesen sein. Er entschied sofort, daß er nichts mit ihnen zu tun haben wollte. »Du brauchst sie nicht zu rufen«, sagte er schnell zu Smink. »Ich sehe schon, daß sie sehr groß und stark sind, ohne daß sie näher kommen müssen. Wo wohnst du denn?« »In diesem Wald«, antwortete Smink. »Und du?« »Im Dorf«, sagte Michael. »Wir haben das größte Haus und den schönsten Garten. Und unseren Teich solltest du mal sehen. Er ist riesig.« »Ich wohne in einem Schloß«, sagte Smink. »Unser Garten ist so groß, dass wir fünfzig Gärtner beschäftigen müssen. Und wir haben einen See mit einem Dampfer darauf.« »Du bist wirklich ein schlimmer Prahlhans«, sagte Michael ziemlich geschockt. »Ich hau dir noch eine runter, wenn du mich noch einmal Prahlhans nennst«, schrie Smink. »Ich schneide nicht so auf wie du. Was ich sage, ist immer wahr. Komm nur mit, dann werde ich
es dir zeigen.« Er zerrte Michael am Arm hoch und zog ihn hinter sich her. Nach ein paar Minuten erreichten sie zu Michaels großer Überraschung eine hohe Mauer, in der ein hölzernes Tor war. Smink stieß es auf, und in einem herrlichen Park lag wirklich ein echtes Schloß mit Zinnen und Türmen und allem, was sonst noch zu einem Schloß gehört. Im Garten arbeiteten so viele Gärtner, daß Michael dachte, es müßten mehr als fünfzig Leute sein. »Da ist ja wirklich ein See mit einem Dampfer drauf«, sagte er verblüfft. »Herrje, mußt du glücklich sein. Hast du auch ein Fahrrad oder ein Dreirad? Ich habe ein tolles Dreirad zu Hause. Ich bin sicher, es ist das schönste Dreirad der Welt. Es hat eine so laute Klingel, daß jeder gleich zur Seite springt, wenn er sie hört.« »Ich kann dir mein Dreirad ja mal zeigen«, sagte Smink und ging zu einem Schuppen in der Nähe. Er öffnete die Tür und rollte ein ganz wunderbares Dreirad heraus. »Es ist aus Gold«, sagte er lässig und schwang sich in den Sattel. »Mach Platz, Junge, ich sause jetzt los.« Er fuhr auf Michael zu und klingelte. So eine laute Klingel hatte Michael noch nie
gehört. Es hörte sich an, als ob hundert Glocken durcheinander läuten würden. Michael hielt sich die
Ohren zu und sprang zur Seite. »Hör auf zu klingeln«, schrie er. »Bitte, hör auf. Ich werde ja ganz taub davon.« Smink hörte auf zu klingeln. Er stieg vom Rad und lachte. »Möchtest du noch etwas sehen?« fragte er. Michael fühlte, daß er
für heute durchaus genug gesehen hatte. »Ich muß jetzt nach Hause«, sagte er. »Mein kleiner Hund wird mich schon vermissen. Ich wette, du hast keinen Hund, der auch nur halb so niedlich ist wie meiner. Er bellt so fürchterlich, daß alle Einbrecher Angst vor ihm haben, und seine Zähne sind so scharf, daß er alles damit zerkauen kann. Und rennen kann er. Das solltest du sehen. Er würde es glatt mit dir aufnehmen.« »Ich habe auch einen kleinen Hund«, sagte Smink. »Der bellt ganz großartig. Und seine Zähne sind so scharf wie Messer. Als er sich gestern über den Rasenmäher geärgert hat, hat er ihn wie nichts zerbissen. Wenn er rennt, kannst du seine Beine nicht sehen, so schnell bewegen sie sich.« »Ach, gib doch nicht so an«, sagte Michael angewidert. Aber das ließ sich Smink nicht sagen. Nicht von Michael. Er ging zu einem großen Hof und öffnete ein Tor. Dann pfiff er, und aus der Hundehütte kam ein enorm großer junger Hund auf ihn zugerannt, der sich vor Freude fast überschlug. Er bellte, und es hörte sich an wie Kanonendonner. Er knurrte, und man dachte, ein Gewitter zieht auf. Als er seine riesigen Zähne zeigte, schüttelte sich Michael vor Furcht. Er war überzeugt davon, daß dieser
junge Hund ohne Anstrengung einen Rasenmäher zerbeißen konnte. Michael fing an zu laufen. Er hatte Angst. Er wollte nach Hause. Der Hund galoppierte fröhlich hinter ihm drein. Michael rannte schneller. Der Hund schnappte spielerisch nach seinen Knöcheln. Michael fürchtete sich immer mehr. Ihm war klar, daß dieser Hund ihn genauso leicht zerkauen könnte wie sein Hund daheim Vaters Pantoffeln. Armer Michael. Er mußte auf Strümpfen nach Hause rennen, und die ganze Zeit schnappte der junge Hund hinter ihm nach seinen Fersen. Endlich war er daheim. Mit letzter Kraft knallte er die Tür hinter sich zu und warf sich erschöpft auf das Sofa. Seine Füße taten ihm
weh, und seine Socken waren voller Löcher. Als er seiner Mutter erzählte, was passiert war, wollte sie ihm kaum glauben. »Wenn es wirklich so war, Michael«, sagte sie schließlich nachdenklich, »dann würde ich an deiner Stelle nie mehr im Leben angeben. Du hast ja erlebt, was passieren kann, wenn man auf so einen Smink trifft.« Ich bin sicher, Michael hat die Prahlerei aufgegeben. Aber ich glaube auch, dieser Smink hat ihm ganz schön was vorgezaubert. Oder? Was meint ihr?
Der Schwanz der Koboldkatze Es war einmal ein Mädchen, das hieß Beate. Es lebte mit seinen Eltern in einem kleinen Haus am Rande eines großen Waldes. Sein Vater arbeitete auf einem Bauernhof in der Nähe. Manchmal besuchte ihn Beate, am liebsten dann, wenn es neugeborene Kälbchen oder Küken zu sehen gab. Beate hatte leider eine ganz häßliche Angewohnheit. Sie konnte einfach an keinem Tier vorbeigehen, ohne es am Schwanz zu ziehen. Sie packte die Katze Schnurr am Schwanz, wenn sie vorbeispringen wollte, und zog Bingo manchmal so fest an seinem langen buschigen Schwanz, daß der Hund vor Schmerzen aufjaulte. Auch das Pony hatte unter ihr zu leiden. Und sie verschonte noch nicht einmal den schönen bunten Schweif des Hahnes Du-deldu, der mit seinen braunen Hennen im Hof hinter dem Haus herumscharrte. Dabei machte Beate das nicht aus Bosheit. Sie war kein grausames Kind. Sie vergaß zum Beispiel nie, ihre Kaninchen zu füttern, und achtete auch immer darauf, daß Bingo frisches Wasser im Napf hatte. Sie hatte eben Spaß daran, die Tiere zu necken und zu ärgern, und
überlegte sich nicht, daß sie ihnen weh tat. Ihre Mutter ärgerte sich sehr über diese dumme Angewohnheit. »Irgendwann wird etwas geschehen, so daß du ein für allemal die Lust daran verlierst, die Tiere am Schwanz zu ziehen«, sagte sie. Aber Beate lachte nur und rannte zur Haustür hinaus. Natürlich zog sie vorher noch einmal kräftig am Sehwanz von Schnurr, so daß sie laut miaute. An einem wunderschönen Sommertag wollte Beate auf eine längere Erkundungsreise gehen und nahm das Mittagessen in einem Korb mit. Fröhlich pfeifend folgte sie dem kleinen gewundenen Pfad, der in den Wald führte. Ab und zu schaute sie nach, ob schon wilde Erdbeeren reif waren. Aber es waren noch keine zu sehen. »Sicher sind im Wald welche«, dachte sie und lief auf dem Weg weiter, der zwischen den großen schattigen Bäumen tief in den Wald führte. Dort fand sie auch massenhaft kleine, sehr süße Walderdbeeren und aß eine Menge davon. Auf einmal entdeckte sie einen kleinen gebeugten Mann, der auch Erdbeeren sammelte. Er trug einen grünen Anzug, grüne Schuhe mit hochstehenden Spitzen und hatte einen Bart, der bis zur Erde reichte. Beate schaute ihn verdutzt
an. »Das muß ein Zwerg sein«, dachte sie aufgeregt. »Wo er wohl wohnt? Ich werde mich hinter den Bäumen verstecken und aufpassen, wo er hingeht.« Sie mußte eine ganze Weile warten, bis der Korb des kleinen Mannes endlich gefüllt war. Als er dann zwischen den Bäumen fortging, folgte ihm Beate vorsichtig. Sie war sehr aufgeregt, denn einen Zwerg trifft man ja nicht alle Tage. Der Pfad wurde allmählich breiter und mündete dann in eine kleine Straße. Am Ende der Straße stand ein winziges weißgetünchtes Häuschen mit blauen Fensterrahmen, in dem der Zwerg anscheinend wohnte, denn er ging hinein und schloß die Tür hinter sich. Um den Garten lief eine rote Ziegelsteinmauer, auf der ein dicker schwarzer Kater mit rotem Schnurrbart saß. Beate dachte: »Das ist sicher eine Koboldkatze«, denn sie sah irgendwie anders aus als normale Katzen. Sie beobachtete, wie der Schwanz der Katze auf der Mauer hin und herzuckte, und ganz automatisch tat sie das, was sie immer mit Schwänzen tat: Sie zog daran. Da passierte etwas ebenso Schreckliches wie Überraschendes. Der Schwanz riß ab! Beate hielt ihn in der Hand. Die Katze sprang laut
miauend durch ein offenes Fenster ins Haus. Und Beate stand da, hielt den Schwanz in der Hand und war mindestens ebenso erschrocken wie die Katze. Die Tür des Hauses flog auf, und der kleine grüne Zwerg stürzte wutentbrannt heraus. Er sprang auf Beate zu und kreischte: »Du bösartiges Gör! Du grausames, ekelhaftes, herzloses Mädchen! Was fällt dir ein, meiner Katze den Schwanz auszureißen?« »Das wollte ich nicht«, sagte Beate mit Tränen in den Augen. »Wirklich, ich wollte es nicht.« »So, du wolltest es nicht. Dabei bist du überall bekannt dafür, daß du die Tiere am Schwanz ziehst. Alle Tiere und Vögel haben sich schon darüber beklagt. Du bist eine richtige Plage, du Tierquä-lerin.« »Was soll ich denn jetzt mit dem Schwanz machen?« weinte Beate. »Kannst du ihn nicht an deine Katze zurückzaubern?« »Nein, das kann ich nicht«, sagte der Zwerg. »Außerdem wächst meiner Katze innerhalb eines Jahres sowieso ein neuer Schwanz. Die Schwänze von Koboldkatzen gehen ebenso leicht ab wie sie nachwachsen. Das solltest du wirklich gewußt haben.« »Aber ich habe es bestimmt nicht gewußt«, schluchzte Beate, »sonst hätte ich doch nicht an dem Schwanz
gezogen.« »Weißt du was, du kannst den Schwanz behalten«, sagte der Zwerg und grinste dabei ganz hinterhältig.
»Ich schenke ihn dir.« Blitzschnell riß er den Schwanz aus Beates Hand und warf ihn durch die Luft. Der Schwanz blieb an Beates Rücken
hängen und - wuchs dort an! Beate hatte nun wahrhaftig einen langen Katzenschwanz an ihrem Hinterteil hängen. Der Zwerg fing an zu lachen. Und wie er lachte! Er hielt sich die Seiten und brüllte vor Lachen. Die Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Dann beruhigte er sich wieder, schnappte nach Luft und zog eine kleine Pfeife aus der Tasche. Als er darauf blies, kamen aus allen kleinen Häusern in der Nähe Elfen, Zwerge und Heinzelmännchen heraus. Als der grüne Zwerg ihnen erklärte, um was es ging, und als sie Beate mit dem wedelnden Katzenschwanz sahen, fingen auch sie schallend an zu lachen und drängten sich kichernd um das Mädchen. Beate weinte. Sie versuchte, den Zwerg zu fragen, wie sie denn den Schwanz wieder loswerden könne. Aber alle lachten so laut, daß niemand sie hörte. So drehte sie sich um und lief fort, so schnell sie konnte. Sie konnte das Koboldgelächter nicht mehr ertragen. Am Waldrand setzte sie sich hin, um zu verschnaufen. Sie zerrte an dem Schwanz, aber der saß ganz fest. Und es tat ihr weh, wenn sie fest daran zog. Es war schrecklich! Als sie aufstand und weiterging, wedelte der lange
schwarze Katzenschwanz hinter ihr her. Beate war so unglücklich wie noch nie in ihrem Leben. Als ihre Mutter den Schwanz sah, schrie sie entsetzt auf: »Wo um alles in der Welt hast du denn das Ding her?« Beate erzählte ihr alles. Die Mutter nahm sie in den Arm und sagte sehr ernst: »Erinnerst du dich, daß ich dir gesagt habe, daß eines Tages etwas passieren wird, wenn du mit deiner dummen Angewohnheit nicht aufhörst. Das einzige, was du jetzt tun kannst: Zieh an keinem Schwanz mehr! Vielleicht wird dein Schwanz dann allmählich kleiner und verschwindet irgendwann wieder.« Beate zog kein einziges Tier mehr am Schwanz. Aber als die Katzen, Hunde, Esel, Pferde, Hennen, Hähne, Enten und alle anderen Tiere in der Gegend sahen, daß Beate einen Schwanz besaß, hatte sie keine ruhige Minute mehr. Die Tiere lauerten ihr auf, wo sie nur konnten. Es machte
ihnen unheimlichen Spaß, Beate am Schwanz zu ziehen. Jetzt merkte das kleine Mädchen, wie unangenehm es ist, am Schwanz gezogen zu werden. Sie hüpfte jedesmal vor Schmerz in die Luft, und die Tiere lach ten darüber. Der Hund Bingo gewöhnte sich daran, an den Ecken auf sie zu warten und kräftig an ihrem Schwanz zu ziehen. Die Katze krallte sich daran fest, und die Hühner hackten nach ihm. Es war fürchterlich, einen Schwanz zu haben. »Jetzt merke ich erst, wie ekelhaft es für die Tiere war«, dachte Beate. »Hätte ich es doch nie getan. Und hätte ich doch bloß nicht den Schwanz der Koboldkatze angerührt.« Wochenlang schleppte Beate den Schwanz der Koboldkatze hinter sich her und wurde viele Male am Tag daran gezogen. Sie versuchte, das Ende des Schwanzes in die Tasche zu stecken, aber es blieb nicht darin. Der Schwanz führte ein Eigenleben und hielt nie still. Beate mußte damit leben! Hundert Mal am Tag sagte Beate: »Ich werde nie wieder an irgendeinem Schwanz ziehen, nie wieder.« Aber es half nichts. Der Schwanz blieb, wo er war.
»Ich habe gar nicht das Gefühl, daß dein Schwanz allmählich kleiner wird«, sagte ihre Mutter besorgt. »Ich sollte jetzt wirklich mal an den kleinen grünen Zwerg schreiben und ihm mitteilen, daß du dich gebessert hast. Vielleicht wird er dir den Schwanz dann wieder abnehmen.« So schrieb sie an den Zwerg, daß Beate nun ein sehr braves Kind sei, und daß er doch bitte kommen möge, um den Schwanz wieder abzunehmen. Aber es war vergeblich. Der Zwerg kam nicht. Aber eines Tages passierte etwas. Gerade, als Beate den Wassernapf von Bingo füllte, begann sich der Schwanz hinter ihr auf ganz komische Art zu winden und zu drehen, gerade so, als ob er sich selbst abdrehen wollte. Dann schoß er steil in die Luft, tanzte dort noch eine Weile wie ein kurzes schwarzes Seil und fiel wieder auf den Boden. Dort kringelte er sich zusammen wie eine Schlange und verschwand. Beate schaute aufgeregt zu. Sie war so froh, den Schwanz los zu sein, daß sie laut losheulte. Sie stürzte ins Haus, und als ihre Mutter sah, daß der Schwanz fort war, seufzte sie erleichtert und sagte: »Jetzt fang aber nicht wieder an, die Tiere am Schwanz zu ziehen. Sonst kann es sein,
daß er ganz schnell zurückkommt.« »Da kannst du wirklich beruhigt sein, Mutter«, rief Beate. »Das mache ich nie, nie mehr, so lange ich lebe.« Niemand sah den seltsamen Koboldkatzenschwanz wieder. Aber man erzählt sich, er liege irgendwo auf der Lauer, und warte nur darauf, an einem anderen Mädchen oder Jungen anzuwachsen. Man kann nur hoffen, daß es niemanden von uns trifft!
Die langsame Tina Tina war ein nettes Mädchen; ziemlich artig, selten schlecht gelaunt. Sie vertrug sich gut mit allen Kindern. Aber sie war entsetzlich langsam. Man mußte erlebt haben, wie sie sich morgens anzog. Erst einmal brauchte sie fünf Minuten, um einen Strumpf zu finden. Dann hatte sie fünf Minuten zu tun, um ihn anzuziehen. Anschließend verbrachte sie weitere fünf Minuten damit, ihn wieder auszuziehen, denn sie hatte ihn verkehrt herum an. In der Zeit, in der sie sich anzog und hinunterging, waren die anderen mit ihrem Frühstück längst fertig. Beim Frühstück war sie genau so träge. Es war wirklich sehenswert, wie sie ihr Müsli aß. Erst saß sie nur da und starrte auf ihren Teller. Dann streute sie sehr, sehr langsam und sehr, sehr vorsichtig Zucker auf die Haferflocken. Nun goß sie bedächtig und sehr langsam Milch darauf. Jetzt rührte sie den Brei langsam herum und herum und herum. Und dann begann sie schließlich bedächtig zu essen. Sie brauchte dafür meistens über eine halbe Stunde, so daß sie fast immer zu spät in die Schule kam. Und die Zeit, die sie dann in der Schule brauchte, um
ihren Mantel auszuziehen. Und die Zeit, die sie brauchte, um Bleistift, Radiergummi und Hefte herauszuholen. Wenn Tina endlich soweit war, mit der Arbeit zu beginnen, war die Stunde schon zu Ende. Ihre Mutter nannte sie nur »Schlafmütze«, und der Lehrer sagte »Schildkröte« zu ihr. »Tina, du hättest als Schildkröte zur Welt kommen sollen«, seufzte er, wenn sie ihm mit ihrer Trägheit auf die Nerven ging. »Dann würdest du sicher sehr glücklich sein. So als Schildkröte langsam und bedächtig herumzukriechen, das würde dir sicher gefallen.« »Manchmal wünschte ich mir wirklich, im Schildkrötenland zu leben«, sagte Tina zornig. »Wie mir dieses ewige >Beeil dich Tina!< >Beeil dich, Tina!< auf die Nerven geht. Ich würde gern bei den Schildkröten leben. Die würden mich sicher nicht so herumhetzen, wie es hier jeder tut.« In diesem Augenblick, als Tina das sagte, änderte der Wind seine Richtung. Jeder weiß, daß merkwürdige Dinge geschehen, wenn der Wind sich dreht. Manchmal geht dann sogar ein Wunsch in Erfüllung. Und genau das war es, was Tina passierte. Ihr Wunsch ging in
Erfüllung. Alles um sie herum wurde plötzlich schwarz, und ihr wurde schwindlig. Sie streckte die Hand aus und fand auch etwas, woran sie sich festhalten konnte. Die Dunkelheit verschwand. Tina blinzelte überrascht. Sie saß nicht mehr im Klassenzimmer unter ihren Schulkameraden. Sie stand auf einer kleinen Dorfstraße. Die Sonne schien, und um Tina herum standen lauter lustige kleine Häuser mit ziemlich großen ovalen Türen. Erstaunt merkte sie, daß sie sich an eine Schildkröte klammerte, die auf den Hinterbeinen stand, einen blauen Mantel, kurze gelbe Hosen und einen blauen Hut trug und fast so groß war wie Tina. »Laß mich doch endlich los«, sagte die Schildkröte mit tiefer Stimme zu ihr. »Willst du mir den Panzer vom Rücken reißen? So laß doch, bitte, endlich los.« Tina starrte die Schildkröte verwirrt an. »Wer bist du?« fragte sie. »Ich bin Herr Hornbein!« antwortete die Schildkröte. »Würdest du mich jetzt, bitte, loslassen.«
Tina ließ los. »Und wo bin ich?« fragte sie.
»Im Schildkrötendorf«, sagte die Schildkröte. »Jetzt erkenne ich dich auch. Du bist doch das kleine Mädchen, das die Menschen immer >Schild-kröte< nennen. Stimmt's? Du hast dir gewünscht, bei uns zu leben. Dann kommst du am besten mit zu mir. Meine Frau wird sich um dich kümmern.« »Ich möchte nach Hause«, sagte Tina. »Das geht nicht«, antwortete Herr Hornbein. »Jetzt bist du hier und bleibst auch hier. Da ist nichts zu machen. Sei doch froh, daß dein Wunsch in Erfüllung ging. So ein Glück hat nicht jeder. Aber meine Liebe, geh doch nicht so schnell. Ich kann unmöglich mit dir Schritt halten.« Tina ging wirklich nicht schnell. Sie ging immer sehr langsam. Aber die alte Schildkröte brauchte mindestens eine Minute, um fünf Zentimeter vorwärts zu kommen. »Geh doch etwas schneller«, drängte Tina schließlich. »Ich kann einfach nicht so langsam gehen. Wirklich, es geht nicht.« »Mein liebes Kind, man hat dich in der Schule >Schildkröte< genannt, also mußt du sehr langsam gewesen sein. Aber wir sind ja schon da. Da an der Tür steht Frau Hornbein.« Es war alles sehr merkwürdig für Tina. Sie waren an
vielen Schildkröten vorbeigekommen, großen und kleinen. Alle trugen Kleider und sprachen ganz langsam miteinander. Auch die Schildkrötenkinder bewegten sich sehr langsam. Keines von ihnen rannte. Frau Hornbein ging Herrn Hornbein bedächtig entgegen. Sie war gar nicht erstaunt, Tina zu sehen. »Dieses kleine Mädchen will jetzt bei uns im Schildkrötendorf wohnen. Sie muß ja irgendwo bleiben, deshalb habe ich sie mitgebracht.« »Willkommen«, sagte Frau Hornbein und patschte Tina leicht mit ihrer schuppigen Tatze auf den Rücken. »Du bist sicher hungrig. Setz dich hin und ruh' dich ein wenig aus. Ich werde inzwischen das Mittagessen fertig machen. Tina setzte sich und sah zu, wie Frau Hornbein eine Tischdecke holte. Sie brauchte sehr lange, um die Schublade zu öffnen. Sie brauchte noch länger, um die Decke auszuschütteln. Und sie brauchte einfach Jahre, bis sie sie auf den Tisch gelegt hatte. Dann begann sie, den Tisch mit Messern, Gabeln und Löffeln zu decken. Sie brauchte dafür über eine halbe Stunde, und die arme Tina wurde immer hungriger und hungriger. »Laß mich die Teller und die Gläser
herausholen«, sagte sie schließlich ungeduldig und sprang auf. Sie ging mit schnellen Schritten um den Tisch herum. Das Geschirr klapperte, als sie es hinstellte. Frau Hornbein sah ihr zu und sagte dann ärgerlich: »Mein liebes Kind, rase doch nicht so schrecklich hin und her. Das schickt sich nicht für Schildkröten. Außerdem ist es ungesund, wenn man außer Atem kommt und das Gesicht rot wird.« »Aber ich bin keine Schildkröte«, sagte Tina patzig. »Das mußt du nicht so schwer nehmen, Liebes. Bald wirst du ja eine sein. Du mußt nur einige Zeit bei uns wohnen«, sagte Herr Hornbein, der sich die ganze Zeit damit beschäftigt hatte, einen seiner Schuhe auszuziehen und einen Hausschuh anzuziehen. »Du wirst es schon merken. Deine häßlichen Haare werden ausfallen, und du wirst so hübsch kahl wie wir. Dein Hals wird sich in anmutige Runzeln legen, und es wird dir eine feine, harte Schale wachsen.« Tina starrte ihn voll Abscheu an. »Ich will aber keine Schildkröte werden«, schrie sie. »Ich finde euch gar nicht schön.« Herr und Frau Hornbein sahen Tina entrüstet
und ungläubig an. »Du bist aber ein sehr schlecht erzogenes kleines Mädchen«, sagte Frau Hornbein. »Geh jetzt und wasch deine Hände. Herr Hornbein wird sich auch seine Hände waschen und dir zeigen, wo das Waschbecken ist.« Herr Hornbein brauchte fünf Minuten, um zum Waschbecken zu gehen. Er brauchte zehn Minuten, um sich zu waschen und abzutrocknen. Aber während dieser Zeit hatte Frau Hornbein tatsächlich das Mittagessen auf den Tisch gebracht. Tina war so hungrig, daß sie sich die Hände schneller wusch, als sie es je in ihrem Leben getan hatte. Herr und Frau Hornbein brauchten unendlich lange, um ihre Suppe zu essen. Tina war schon fertig, ehe die Horn-beins ihre auch nur halb aufgegessen hatten. Dann mußte sie dasitzen und warten, bis die beiden fertig waren. Sie rutschte so ungeduldig auf ihrem Stuhl herum, daß Frau Hornbein tadelnd sagte: »Du bist ja ein schrecklich nervöses Kind. Zappel doch nicht so. Du mußt wirklich lernen, langsamer zu sein. Du hast dir doch gewünscht, bei uns zu leben. Also dann benimm dich auch ordentlich: sei geduldig, langsam und be-
dächtig.« Das Mittagessen war nicht vor vier Uhr zu Ende. »Beinah Teezeit«, sagte Tina. »Es ist einfach furchtbar. Jetzt kann ich mir auch vorstellen, wie langweilig es für alle gewesen sein muß, wenn ich zu Hause oder in der Schule so getrödelt habe. Es hat sie sicher genauso nervös gemacht, wie ich es hier bin.« »Wenn ich fertig bin, werden wir einen Spaziergang machen«, sagte Frau Hornbein. »Auf dem Marktplatz ist ein Zirkus. Vielleicht möchtest du ihn sehen?« »O ja, dazu hätte ich Lust«, rief Tina. »Bitte beeil dich doch, Frau Hornbein, sonst ist der Zirkus vorbei, ehe du deinen Hut aufgesetzt und deinen Schal umgelegt hast.« »Im Schildkrötendorf gilt es als äußerst unfein, >beeil dich< zu sagen«, korrigierte Frau Hornbein mißbilligend. »Gut erzogene Leute sind langsam. Man
braucht eben seine Zeit für alle Dinge. Du mußt wirklich lernen, langsamer und ruhiger zu werden, liebes Kind.« Es wurde wirklich sechs Uhr, bis Frau Hornbein ihren Hut aufgesetzt, die Schuhe gewechselt und einen Schal umgelegt hatte. Tina dachte, daß sie noch nie, nie in ihrem Leben jemanden gesehen hatte, der so langsam war. Manchmal hörte Frau Hornbein sogar auf, sich anzuziehen. Sie saß einfach da und starrte Löcher in die Luft. »Träum doch nicht«, rief Tina. »Beeil dich doch!« Und sofort erinnerte sie sich daran, wie oft ihre Eltern und die Lehrer diese Worte in dem gleichen gereizten und ungeduldigen Ton zu ihr gesagt hatten. »Was muß ich für ein lästiges Kind gewesen sein«, dachte sie. »Wenn ich daran denke, wie unangenehm ich es fand, mich zu beeilen. Aber so langsam zu sein wie diese Schildkröte hier, finde ich noch viel, viel schlimmer.« Der Zirkus schloß gerade, als sie den Marktplatz erreichten. Das Karussell startete zum allerletzten Mal. Tina weinte fast vor Enttäuschung. Sie stieg auf ein Pferd, und das Karussell begann sich zu drehen. Es drehte sich entsetzlich langsam. Tina schaute die faltigen, schrumpeligen Schildkröten an, an denen sie vorüberschwebte, die alle so
feierlich und ernst aussahen. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen! »Ach, ich wünschte, ich wäre wieder zu Hause!« rief sie. »Ich werde auch nie wieder langsam sein, nie wieder.« Das Karussellpferd, auf dem sie ritt, wieherte plötzlich laut. Es hob seinen Kopf und schaute sie an. »Ich bin ein Wunschpferd«, sagte es. »Du solltest vorsichtig mit deinen Wünschen sein.« Das Karussell lief schneller, schneller, schneller. Es wurde rasend schnell. Dann hielt es an. Ganz benommen schaute Tina um sich. Sie schrie vor Freude: Sie war nicht mehr im Schild226
krötendorf, sondern auf einer Wiese, die vor dem Garten ihrer Eltern lag! Sie sprang vom Pferd und rannte zu dem Gartentor in der Hecke. Dann erst schaute sie zurück. Das Karussellpferd löste sich langsam in Dunst auf und verschwand.
Tina sauste den Gartenweg hinauf. Sie raste die Treppe zum Kinderzimmer hoch. Ihre Mutter starrte sie verblüfft an. Sie hatte Tina noch nie in einer solchen Eile gesehen. »Was ist los mit dir?« fragte sie. »Bist du krank? Du bist ja auf einmal so schnell.« »Ich war im Schildkrötendorf bei den Schildkröten«, rief Tina. »Aber nun bin ich wieder da. Und ich werde nie mehr eine Schlafmütze oder eine Schildkröte sein. Nie, nie, nie wieder!« Es hat geklappt. Tina ist kein Wirbelwind geworden, aber sie ist auch nicht mehr so langsam wie vorher.
Die Elfenbäcker Früher hatte Georg mal ein Spielzeugauto gehabt, das man mit einem Schlüssel aufziehen konnte. Es war ein gelbes Auto gewesen, mit einem Zinnsoldaten als Fahrer und einem Tier aus der Arche Noah als Fahrgast. Eines Tages wollte Georg mit dem Auto im Garten spielen. Aber auf dem Gras fuhr es einfach nicht, so sehr er es auch aufzog. Also ließ er es liegen und ging hinein, um sich ein anderes Spielzeug zu holen. Als er im Haus war, fing es an zu regnen. Seine Mutter rief, er solle im Kinderzimmer spielen, bis die Sonne wieder scheinen würde. So vergaß Georg sein Spielzeugauto, und es blieb draußen im Garten liegen. Es regnete darauf. Spinnen krabbelten
drüber weg. Ein Ohrwurm machte es sich unter der Motorhaube gemütlich, eine große Fliege leistete ihm Gesellschaft. Georg dachte nicht mehr daran, daß er das Auto draußen hatte liegen lassen. Er suchte es ein paarmal im Spielzeugschrank. Georg fand es schade, daß das kleine Auto verschwunden war, denn er hatte gern damit gespielt. Beim nächsten Regen verlor das Auto seine gelbe Farbe. Es bekam Rostflek-ken. Der Schlüssel fiel ins Gras, und der kleine Zinnsoldat am Steuer zersprang in zwei Hälften. Dann löste sich eines der Räder. Das Spielzeugauto war wirklich in einem sehr schlechten Zustand. Eines Morgens liefen zwei winzigkleine, kaum fingerlange Männer
mit Körben daran vorbei. Es waren die Elfenbäcker Hörnchen und Zwieback. In ihren Körben trugen sie Brot und Kuchen, das sie an das kleine Volk verkaufen. Plötzlich sahen sie das Spielzeugauto und blieben überrascht stehen. »Was ist denn das?« fragte Hörnchen. »Das ist ein Auto«, antwortete sein Bruder Zwieback. »Ein altes Spielzeugauto. Ob es wohl noch läuft?« Sie schoben es an, und das Auto bewegte sich auf seinen vier rostigen Rädern ein kleines Stück vorwärts. Das eine Rad wackelte bedenklich, weil es lose saß. »Es fährt«, sagte Hörnchen. »Ich möchte wissen, wem es gehört.« »Wahrscheinlich dem Zinnsoldaten, der am Steuer sitzt«, meinte Zwieback. »Aber er ist zerbrochen und kann nicht mehr fahren. Stell dir vor, Hörnchen, wenn das unser Auto wäre. Dann könnten wir unsere Backwaren damit transportieren. Die Körbe sind manchmal so schwer, und wenn es regnet, wird immer alles naß. Aber wenn wir ein Auto hätten ...« »Weißt du, Zwieback, wir nehmen es uns einfach«, sagte Hörnchen. »Wir tragen jetzt schnell die bestellten Sachen aus, dann schauen wir uns das Auto einmal an, ob es noch zu retten ist. Hier fällt es nur in Stücke.« Als die beiden
kleinen Bäcker von ihrer Arbeit zurückkamen, schoben sie das Auto zu ihrem winzigen Haus unter dem Haselbusch und schauten es sich genauer an. »Es braucht eine neue Lackierung«, sagte Hörnchen. »Das Rad muß wieder festgeschraubt werden«, meinte Zwieback. »Der Schlüssel ist nicht mehr da«, stellte Hörnchen fest. »Wo der wohl geblieben ist?« »Das macht nichts, wir reiben einfach die Räder mit Rollzauber ein, dann fährt es auch so«, sagte Zwieback ganz aufgeregt. Die beiden Elfenbäcker machten sich eifrig an die Arbeit. Sie zogen den Zinnsoldaten hinter dem Steuer hervor und schleppten ihn unter den Haselbusch. Sie schraubten das lose Rad wieder an. Sie kauften eine Dose rote Farbe und lackierten das ganze Auto leuchtend rot. »Die Räder sollten wir gelb streichen, nicht rot«, meinte Hörnchen. »Das würde viel lustiger aussehen.« Also strichen sie die Räder gelb an. An beide Seiten des Autos malten sie in großen gelben Buchstaben ihre Namen und ihren Beruf: »Zwieback u. Hörnchen. Elfenbäcker«. Als sie das alles geschafft hatten, sah das kleine Spiel-
zeugauto wieder wie neu aus. »Jetzt noch ein bißchen Rollzauber auf die Räder, dann kann es losgehen«, sagte Zwieback. Sie holten den Rollzauber und rieben jedes der vier gelben Räder tüchtig damit ein. Dann stie gen sie ein und fuhren los.
Fantastisch, wie schnell das Auto fuhr. Sie rasten den Gartenweg entlang. Das ganze kleine Volk kam staunend herbei, um sie zu sehen. Am nächsten Tag luden sie Brot und Kuchen in das
Auto und fuhren los, um ihre Kunden zu beliefern. Sie brauchten dafür viel weniger Zeit als sonst und freuten sich sehr darüber. Später kauften sie eine winzige Hupe für das Auto, die sie immer übermütig »huuk-huuk« schreien ließen, wenn ein Käfer oder ein Wurm ihren Weg kreuzte. Dieses »huuk-huuk« hörte Georg, als er draußen im Garten beim Haselbusch spielte. Er schaute sich nach dem komischen Geräusch um. Plötzlich entdeckte er das kleine rotgelbe Auto, in dem Hörnchen und Zwieback saßen. Zuerst war er so überrascht, daß er kein Wort herausbrachte. Dann rief er: »He, he, stoppt doch mal. Wer seid ihr denn?« Das Auto hielt an. Hörnchen und Zwieback grinsten zu Georg hinauf. Georg starrte zu ihnen hinunter. Das Auto sah fast aus wie das, das er verloren hatte. Nur daß dieses hier rot war mit gelben Rädern und seins war ganz gelb gewesen. »Ihr habt aber ein hübsches Auto«, sagte er. »Wo habt ihr das her?« »Wir fanden es dort drüben im Gras«, sagte Zwieback. »Es gehörte einem Zinnsoldaten. Er saß am Steuer und war in zwei Teile zerbrochen. Deshalb haben wir das Auto genommen und es wieder hergerichtet. Ist es nicht toll?«
»Eigentlich gehört das Auto mir«, erklärte Georg. »Ganz bestimmt. Ich muß es im Garten liegengelassen haben.« Hörnchen und Zwieback sahen ihn bestürzt an. »Ist es wirklich dein Auto? Das ist schlimm. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nützlich es für uns ist. Früher mußten wir unsere Brote und Kuchen immer in Körben zu unseren Kunden schleppen, jetzt können wir alles im Auto transportieren. Aber natürlich, wenn es dir gehört, müssen wir es dir zurückgeben.« Sie hüpften aus dem Auto und sahen ihn traurig an. Georg lachte: »Aber ich werde euch doch das Auto nicht wegnehmen. Ich habe es ja damals im Garten liegen und verkommen lassen. Und es sieht jetzt so schön aus mit der neuen Lakkierung und euren Namen auf beiden Seiten. Ich lasse es euch gern. Ihr müßt mir nur versprechen, immer zu hupen, wenn ihr an mir vorbeifahrt. Tut ihr das?« »Aber klar machen wir das«, sagten die Elfenbäcker glücklich und kletterten zurück ins Auto. »Du bist wirklich ein anständiger Junge. Nicht jedes Kind würde uns so einfach ein Auto schenken, auch wenn es kaputt war. Vielen
Dank!« Sie fuhren weiter und hupten kräftig »huukhuuk.« Jetzt besaßen sie wirklich ein eigenes Auto. Sie konnten weiter als »Zwieback u. Hörnchen. Elfenbäcker« herumfahren und mit ihrer Hupe Ohrwürmer und Käfer aus dem Weg scheuchen. Manchmal findet Georg eine kleine Tasche auf dem Gartenstuhl, gefüllt mit winzigen Zuckerkuchen. Er weiß, woher sie kommen. Sie sind ein Geschenk von Hörnchen und Zwieback und schmecken so gut, daß man es gar nicht beschreiben kann - wie Elfenge-
bäck eben.
Viele Kinder haben schon versucht, das Auto der Elfenbäcker zu entdek-ken, wenn sie Georg besuchen. Aber sie hören nur manchmal ein leises »huuk-huuk«. Sehen kann es nur Georg. Eigentlich schade!
Das Smickelsmockel Zum Geburtstag hatte Anna von ihrer Tante eine Schachtel mit Knetmasse bekommen. Anna freute sich sehr darüber und rannte gleich ins Kinderzimmer, um es ihren Spielsachen zu zeigen. »Ihr denkt sicher, es wären nur farbige Stangen«, sagte sie. »Aber ich kann tolle Dinge damit machen. Paßt nur auf.« Sie nahm ein Stück rote Knetmasse in die Hand und wärmte sie an. Dann begann sie die Masse zu drücken und zu formen, bis ein runder Ball daraus geworden war. Sie rollte ihn über den Kinderzimmerboden. »Da, seht ihr«, sagte sie. »Aus der roten Knete habe ich einen Ball gemacht. Nun paßt auf, was ich aus dem nächsten Stück Knetmasse machen werde.« Sie nahm ein gelbes Stück, drückte es ganz flach, schob dann die Seiten hoch und glättete es. »Jetzt mache ich eine Tasse, aus der man richtig trinken kann«, erklärte sie dabei ihren Puppen. »Nun noch der Henkel, dann ist sie fertig. Schaut, ist sie nicht süß?« Es war wirklich eine niedliche kleine Tasse, die auch kein Wasser durchließ. Die Spielsachen
beobachteten Anna mit großen Augen. Golly, die Negerpuppe, lachte verschmitzt in sich hinein. Das würde ein Spaß werden heute nacht, wenn sie endlich auch mit der Knetmasse spielen konnte. Sie würde ganz wunderbare Sachen herstellen. In der Nacht, als Anna fest schlief, holte sich Golly die Schachtel mit der Knetmasse und machte sie auf. Sie überlegte lange. Was sollte sie zuerst machen? Die Spielsachen kamen und gaben ihr gute Ratschläge. »Mach einen Ball«, sagte das rosa Kaninchen und schaute Golly mit seinen großen Glasaugen an. »Dann werde ich damit spielen.« Das rosa Kaninchen war ein schüchternes kleines Ding, und Golly bekam plötzlich Lust, es zu ärgern. »Nein, ich mache einen Tiger, der wird dich durchs Zimmer
jagen«, sagte sie. Das Kaninchen quiekte. »Dann werde ich fortlaufen und nie wiederkommen.« »Dann mache ich einen roten Fuchs mit buschigem Schwanz und solchen Augen«, sagte Golly und machte ganz große Augen, mit denen sie das Kaninchen anstarrte. »O bitte, schau mich nicht so an«, sagte das Kaninchen und wich zurück. »Tu's nicht! Ich kriege Angst. Mach keinen Fuchs. Ich fürchte mich vor ihm.« »Gut, dann mache ich eine Eule. Eine große heulende Eule«, sagte Golly und amüsierte sich prächtig. »Eine mit groBen Klauen, die kleine Kaninchen greifen können und die immer ruft: Schu-huhuhuhuhuhuhu!« »Seht, seht«, sagte der große Teddybär. »Wenn du weiter so schuhuhust, wirst du Anna aufwecken, du dummes Ding. Sei still. Und trau dich ja nicht, einen Tiger zu kneten, oder einen Fuchs oder eine Eule. Du sollst das Kaninchen nicht immer so ängstigen.« Als Golly wie eine Eule geschrien hatte, war das Kaninchen bis zum anderen Ende des Kinderzimmers gelaufen. Es war in den Papierkorb gekrabbelt und hatte sich unter dem Papier versteckt. Golly grinste. »Ich mache keinen Tiger, keinen roten Fuchs und
auch keine Eule«, sagte sie zum Teddy. »Ich mache etwas ganz anderes. Zufrieden?« Dann fing sie an, hinter der Tür vom Spielzeugschrank zu arbeiten. Es entstand ein ganz eigenartiges Tier. Es hatte einen kleinen Kopf, riesige Ohren, einen langen Hals, einen ganz runden Körper mit Flügeln und einen Fischschwanz. Vorn hatte es drei Füße und hinten etwas, das wie ein Rad aussah. Es war wirklich ein merkwürdiges Wesen. »Was ist das?« fragte der Bär. »Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen.« »Das ist ein Smickelsmockel«, sagte die Negerpuppe grinsend und verpaßte dem komischen Ding noch ein paar Schnurrbarthaare. »Es ist nicht sehr hübsch«, meinte der Teddy und ging dann weg, um mit den anderen Spielsachen Ball zu spielen, bis das Tageslicht durch die Kinderzimmerfenster fiel. »Der Tag kommt«, sagte er dann. »Es ist Zeit, in den Spielzeugschrank zurückzugehen. Golly, ruf das rosa Kaninchen. Es sitzt im Papierkorb, und wenn es nicht herauskommt, wird es noch im Mülleimer landen.« Golly ließ erst alle Spielsachen in den Schrank zurückgehen, dann rief sie das rosa Kaninchen. »Komm heraus. Die Sonne kommt bald, und wir
müssen schlafen gehen.« Das rosa Kaninchen streckte die Ohren aus dem Korb. Es konnte weder einen Tiger noch einen Fuchs oder eine Eule sehen. Also sprang es heraus und rannte über den Teppich. »Ich muß dir noch etwas zeigen«, sagte die Negerpuppe und zog es hinter die Tür des Spielzeugschranks. Da stand das Smickelsmockel und sah sehr wütend aus, denn Golly hatte ihm zwei rotköpfige Stecknadeln als Augen ins Gesicht gesteckt. »Ooooooh, was ist das?« fragte das rosa Kaninchen zitternd. »Es ist ein Smickelsmockel«, antwortete Golly. »Sieht es nicht böse aus?« »Was frißt es?« fragte das arme rosa Kaninchen und bebte so heftig, dass ihm der Schwanz fast abfiel. »Es frißt rosa Kaninchen«, sagte die garstige Golly. Das Kaninchen quiekte laut und sprang so hastig in
den Spielzeugschrank, daß es auf die Spielzeugmaus trampelte und ihr den Schlüssel herausriß. Es krabbelte in die hinterste Ecke und kauerte sich dort zitternd nieder. »Das Smickelsmockel will mich fressen«, schluchzte es. »Ganz bestimmt, das will es!« »Golly ist gemein, daß sie dich so ärgert«, sagte der Bär. »Golly, tu die Knetmasse weg und komm in den Schrank. Und etwas plötzlich, wenn ich bitten darf!« Golly baute das Smickelsmockel schnell wieder auseinander und preßte die Knetmasse wieder in lange Stücke. Sie legte alles ordentlich in die Schachtel auf ein Schrankbrett. »Ich habe das Smickelsmockel in die Schachtel getan«, sagte sie und lachte spitzbübisch. »Ich hoffe, es kann nicht heraus.« »Uiiijijijijij! leg die Schachtel nicht in den Schrank«, kreischte das rosa Kaninchen und versuchte, sich im Baukasten zu verstecken. »Wenn es herauskommt, wird es mich fressen.« »Es kommt nur heraus, wenn es ganz in der Nähe rosa Kaninchen riecht«, sagte die gemeine Golly. Da wurde das rosa Kaninchen ganz wild vor Angst und raste laut fiepend im Schrank herum. Alle wurden schließlich ärgerlich.
»Du hast mir aufs Gesicht getreten«, sagte die blaue Katze. »Und mir bist du schon zweimal über den Schwanz gelaufen«, beschwerte sich der Affe. »Leg dich hin und schlaf, dummes Ding. Golly, mach die Schachtel mit der Knetmasse auf, damit das Kaninchen sieht, daß kein Smickelsmockel drin ist.« »Mach die Schachtel nicht auf, mach die Schachtel nicht auf!« quiekte das Kaninchen. »Wenn du das tust, wird das Smickelsmockel sich sofort auf mich stürzen.« Golly begann, den Deckel anzuheben. Das rosa Kaninchen sprang mit einem Satz aus dem Schrank heraus und kroch hinter die Heizung. Und da mußte es bleiben, denn inzwischen war es Tag geworden, und die Spielsachen durften sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Am anderen Morgen fand Anna das rosa Kaninchen hinter der Heizung. Es war ganz staubig. Sie mußte es waschen und zum Trocknen auf die Leine im Garten hängen. Das war sehr unbehaglich, denn die Klammern zwickten ihm die Ohren ein. Aber als es in der Nacht zu den Spielsachen zurückdurfte, und der Teddy es freundlich begrüßte, fing es wieder an, wie verrückt zu heulen. »Ich will nicht in die
Nähe der Schachtel, in der das Smickelsmok-kel ist!« schrie es. »Dann werde ich sofort wieder hinter die Heizung kriechen. Ich tu's ganz bestimmt. Ich tu's!« »Jetzt langt's aber wirklich«, sagte der Bär ärgerlich. »Golly, das ist alles deine Schuld. Nun überleg dir auch, wie du das Kaninchen wieder beruhigen kannst. Es hat ja einen richtigen Schock.« »Wirklich Golly, du mußt das unbedingt wieder in Ordnung bringen«, sagten auch die anderen Spielsachen, so verärgert, daß Golly ganz bestürzt dreinschaute. Es gefiel ihr gar nicht, daß jetzt alle gegen sie waren. Sie überlegte lange angestrengt, und endlich fiel ihr etwas ein. »Jetzt mache ich grünen Salat, rote Karotten und gelbe Zwiebeln«, sagte sie fröhlich. »Schaut her!« Alle schauten zu. Sie war wirklich sehr geschickt. Sie nahm das grüne Stück Knete und machte einen feinen Salatkopf daraus. Dann knetete sie drei rote Karotten und fünf niedliche Zwiebeln. Alles sah richtig echt aus. »Hier, rosa Kaninchen«, sagte Golly. »Das ist besser als ein Smickelsmockel, nicht wahr? Da habe ich ein feines Freßfest ganz für dich allein gemacht.« Das kleine rosa Kaninchen war so glücklich, daß
es wie der Blitz zu dem Knetgemüse rannte und den Salat, die Karotten und die Zwiebeln mit einem Haps herunterschluckte. Da es innen nur mit Sägemehl gefüllt war, war es nicht wahrscheinlich, daß die Knetmasse seinem Magen schaden würde. »Du dummes Ding«, schrie Golly entsetzt. »Du hast Annas rote, gelbe und grüne Knetmasse aufgefressen. Jetzt ist nur noch die blaue und die orangefarbene übrig. Was wird sie sagen?« Es war ein ziemlicher Schock für die Spielsachen, besonders für Golly. Über die Hälfte von Annas Knetmasse war im Magen des rosa Kaninchens verschwunden. »Du mußt
wieder welche kaufen«, sagte der Bär. »Aber wo?« fragte Golly mit Tränen in den Augen. Niemand wußte, wo man Knetmasse kaufen konnte. So mußte die Negerpuppe ihre kleine Spardose ausleeren und das Geld in die halbleere Schachtel mit Knetmasse legen. Was würde Anna wohl sagen, wenn sie statt der Knetmasse Geld in der Schachtel finden würde? »Golly wird es sich jetzt besser überlegen, ehe sie jemanden ärgert«, meinte der Teddybär. »Sie kann sich nun eine ganze Zeit kein Eis mehr kaufen, weil sie kein Geld mehr hat.« 256
Das war ziemlich traurig für die kleine Negerpuppe. Drei Nächte mochte sie gar nicht mehr lachen und lief mit trübseligem Gesicht umher. Als dann endlich wieder das fröhliche Grinsen auf ihrem Gesicht erschien, waren alle froh.
Das Tapetenmuster Peter war eigentlich ein sehr guter Schüler, nur eins konnte er einfach nicht: Er konnte nicht zeichnen. Der Zeichenlehrer sagte oft ganz verzweifelt zu ihm: »Also ich weiß nicht, Peter, hast du da einen Mülleimer, ein Haus, einen Elefanten oder eine Banane gezeichnet? Kannst du es wirklich nicht besser? Versuch es doch noch mal.« In dieser Schule mußten die Kinder in der Zeichenstunde oft Muster zeichnen, die sie dann bunt ausmalten. Manchmal waren es ganz einfache Muster, z. B. so: O-OO-O-O-O-O-O-OO-O-O-O-O, aber auch schwierigere wie dieses: ooo + + ooo + + ooo + + ooo + + ooo Den Kindern machte es Spaß, immer neue Muster zu erfinden. Sie nahmen Buchstaben dafür oder Zahlen oder
irgendwelche anderen Zeichen und Figuren. Für so einen Musterbogen konnte man praktisch jede Vorlage verwenden, wenn sie nur ein hübsches oder originelles Muster ergab. Nur Peter haßte das Musterzeichnen. Ihm fiel einfach nie etwas ein. Und wenn er wirklich mal eine Idee hatte zum Beispiel ein Muster aus lauter Flugzeugen dann sahen die Flugzeuge aus wie Vögel ohne Kopf mit zwei Schwänzen. Einfach scheußlich. Eines Tages gab ihnen der Lehrer übers Wochenende eine Hausaufgabe. »Denkt euch ein schönes Tapetenmuster aus«, sagte er. »Eine Tapete, die ihr selbst gern an eure Wand haben möchtet. Zeichnet es auf, und wenn ihr wollt, könnt ihr es auch anmalen.« Armer Peter! Er kam nach Hause und zerbiß fast seinen Bleistift, so angestrengt versuchte er, sich ein Muster auszudenken. Aber es fiel ihm nichts ein. Wirklich gar nichts! »So etwas Blödes«, dachte er und legten den Kopf auf die Arme. »Im Rechnen bin ich gut. Geschichte kann ich und lesen und Diktate schreiben, aber so etwas Einfaches, wie einen Musterbogen zeichnen, das schaffe ich einfach nicht. Mist!« »Sitz nicht so trübselig herum, Peter«, rief
seine Mutter. »Zieh dich an und spiel ein bißchen draußen im Schnee. Die Sonne scheint so schön. Das wird dich aufmuntern.« Peter zog schnell Gummistiefel an, eine dicke Wolljacke und setzte eine Pudelmütze auf. Ganz automatisch ging er zu seinem Lieblingsplatz im nahen Wald. Da stand doch wahrhaftig mitten im Schnee ein kleines Schneehaus mit Schneewänden und einem Schornstein aus Schnee! Die Fenster waren aus dünnem Eis, und statt einer Tür hatte das Haus vorn nur eine Öffnung. »Das ist aber ein hübsches Haus«, dachte Peter. »Ob darin jemand wohnt?« Er schaute durchs Fenster, konnte aber durch die Eisscheiben nichts erkennen. Dann ging er zur Türöffnung und blickte vorsichtig hinein. Das konnte doch nicht wahr sein! Drinnen war ein langbärtiges Heinzelmännchen geschäftig dabei, die Wände seines Hauses zu tapezieren. »Ich glaub, ich spinn«, sagte Peter. »Bist du wirklich ein Heinzelmännchen? Ich habe immer geglaubt, Heinzelmännchen gibt es nur in Büchern. Ehrlich, bist du echt?« »Du hast wirklich eine entzückende Art, einen anzureden«, erwiderte das Heinzelmännchen
erbost. »Du bist vielleicht komisch. Seh ich etwa aus wie ein Geist oder so etwas?« »Warum nicht, könnte doch sein«, meinte Peter. »Du hast aber eine hübsche Tapete. Wo hast du sie her?« »Die habe ich selbst gemacht«, sagte das Heinzelmännchen. »Auch das Muster habe ich selbst entworfen. Gefällt es dir?« »Es ist ein klasse Muster«, sagte Peter. »Wie bist du darauf gekommen? Mir fallen nie Muster ein.« »Das ist ganz einfach«, antwortete das Heinzelmännchen, und seine grünen Augen funkelten, als es Peter anschaute. »Ich gehe einfach hinaus und sehe mich nach Mustern um.« »Sich nach Mustern umschauen«, rief Peter. »Du willst mich wohl verschaukeln! Und wo liegen, bitte sehr, die Muster herum, nach denen du dich umsiehst?« »Im letzten Sommer, zum
Beispiel, habe ich ein niedliches Muster aus Gänseblumenköpfchen gefunden«, sagte das Heinzelmännchen. »Es war ganz leicht zu machen. Einfach ein kleiner Kreis in der Mitte und die Blütenblättchen rundherum. Es wurde eine sehr schöne Tapete. Auch die gefiederten Blättchen von ganz jungem Farn habe ich mal als Vorlage für einen Musterbogen genommen.« »Darauf wäre ich nie gekommen, daß man auf diese Weise Muster finden kann«, staunte Peter. »Aber diese Tapete hier hat kein Muster aus Gänseblümchen oder Farnkraut. Das ist überhaupt kein Blumenmuster. Was ist es? Das hast du dir doch sicher ausgedacht?« »Das habe ich nicht«, antwortete das Heinzelmännchen verschmitzt. »Das ist ein Schneemuster.« Peter schaute es überrascht an: »Aber solchen Schnee habe ich noch nie gesehen.« »Du hast dir eben die Schneekristalle noch nicht aufmerksam angeschaut«, erwiderte das Heinzelmännchen. »Jeder Schneekristall ist ein kleines Muster für sich. Hast du das wirklich noch nie gesehen?« »Nein«, sagte Peter. »Ich verstehe auch gar nicht, was du meinst.« »Was lernt ihr bloß in der Schule«, seufzte das
Heinzelmännchen und verdrehte die Augen. »Dann muß ich es dir wohl erklären. Was Schneeflocken sind, weißt du hoffentlich.« »Na klar«, sagte Peter empört. »Ich bin doch nicht blöd. Es schneit ja wieder wie närrisch.« »Jede der Schneeflocken, die du da fallen siehst, ist aus vielen einzelnen Schneekristallen zusammengesetzt«, sagte das Heinzelmännchen in belehrendem Ton. »Obwohl keiner dieser Schneekristalle dem anderen gleicht, haben sie doch alle etwas Gemeinsames. Sie sind alle sechseckig. Aber was soll ich viel reden. Wir legen jetzt einfach eine Schneeflocke unter mein Vergrößerungsglas, dann wirst du schon sehen, was ich meine.« Der Schnee fiel sehr dicht. Das Heinzelmännchen holte ein Stück schwarzen Samt und ließ eine Schneeflocke darauf fallen. Dann holte es ein Vergrößerungsglas hervor und ließ Peter die Schneeflocke durch das Glas anschauen. Das war herrlich! Der Junge sah zu seiner größten Überraschung, daß die Schneeflocke wirklich aus vielen ganz verschieden geformten Schneekristallen bestand und daß jedes dieser sternartigen Gebilde sechseckig war. Sie sahen schön und zart aus, wie sie da auf dem Samt lagen und glitzerten.
»Die sind ja toll«, rief Peter bewundernd. »Die gefallen mir. Schau mal, hier ist ein Sechseck, das fast wie die Vorlage für dein Tapetenmuster aussieht. Aber es ist doch anders. In dieser einen Schneeflocke sind ja Dutzende verschiedener Muster versteckt.« »So ist es«, sagte das Heinzelmännchen. »Morgen werde ich ein anderes Muster aufzeichnen und damit die andere Wand in meinem Schneehäuschen tapezieren. Das wird sicher interessant aussehen.« »Das glaube ich auch«, meinte Peter. »Aber du hast mich da auf eine tolle Idee gebracht. Ich male ein Schneekristallmuster. Dann werde ich endlich einmal eine gute Note in Zeichnen
bekommen.« »Na, tschüs, denn«, sagte das Heinzelmännchen und ging wieder in sein Haus zurück. »Ich werde jetzt weiter tapezieren. Wenn du magst, komm doch Montagabend vorbei und erzähl mir, wie dir's ergangen ist.« Peter rannte nach Hause. Er platzte ins Wohnzimmer und erzählte seiner Mutter die Geschichte von dem Heinzelmännchen und seinem Vergrößerungsglas. »Ach, zu dumm«, rief er und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Hätte ich es nur gefragt, ob es mir das Glas leiht. Dann könnte ich mir noch einmal angucken, wie die Schneekristalle aussehen. Ich erinnere mich gar nicht mehr so genau an alle Einzelheiten.« »Da kann ich dir helfen«, sagte die Mutter. »Wir haben auch ein solches Vergrößerungsglas.« Die Mutter holte das Glas. Peter fing auf seinem Jackenärmel eine Schneeflocke und schaute sie durch das Vergrößerungsglas an. Wie Sterne oder Blumen sahen die Kristalle aus, wunderschön und ganz vollkommen, obwohl sie so klein waren. Peter schaute sich einen der Kristalle besonders auf-
merksam an, um ihn im Gedächtnis zu behalten. Dann lief er hinein und zeichnete eine ganze Reihe dieses Kristalls auf sein Papier und dann noch eine Reihe und noch eine, so lange, bis das ganze Blatt voll war. Stolz zeigte er den Musterbogen seiner Mutter. »Das ist wirklich das hübscheste Muster, das du jemals gemacht hast«, sagte sie bewundernd. »Eine Tapete mit diesem Muster würde mir auch gefallen.« Zum ersten Mal in seinem Leben bekam Peter eine gute Zensur für ein Bild. Der Lehrer hängte es sogar auf, damit alle es sehen konnten. Gleich nach der Schule rannte Peter in den Wald, um dem
Heinzelmännchen diese fabelhafte Neuigkeit zu erzählen. Aber das Schneehäuschen war weg. Die Sonne hatte es weggeschmolzen. Nur ein nasser Pfahl stand noch da, an dem ein Stück Papier flatterte: die Schneemustertapete des Heinzelmännchens. »Armes kleines Heinzelmännchen«, dachte Peter. »Sein Haus hat nicht lange gehalten. Ich hätte mich so gern bei ihm für die Idee bedankt, in der Natur nach Mustern zu suchen. Das war ein unglaublich guter Tip!«