Unvermittelt brach die physische Kraft über sie herein. Der Widerstand des Jungen war stärker als der seiner Kameraden...
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Unvermittelt brach die physische Kraft über sie herein. Der Widerstand des Jungen war stärker als der seiner Kameraden. Er stieß sich ab und richtete sich halb auf, doch dann fiel er wieder zurück und krümmte sich am Boden. Seine Augen öffneten sich, blinzelten und schlossen sich wieder. Zuckungen durchliefen seinen Körper, als die Muskeln versuchten, einem zerstörten Gehirn zu folgen. Die anderen Besatzungsmitglieder taumelten unter dem bisher schwersten Schlag. Andri fiel, aber er richtete sich mühsam wieder auf. Jocleyn starrte blind in das Durcheinander. Sie hörte den Lärm, spürte den Angriff, konnte aber nichts sehen. Ein Klappern, und Ruthe Ogan stürzte aus ihrem Sitz. Channen, den es nicht so schlimm erwischt hatte, beeilte sich, ihr zu helfen ...
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31028 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/Main – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE WANDERING WORLDS Aus dem Englischen übersetzt von Roland Rosenbauer und Christoph Sandek Deutsche Erstausgabe Umschlagillustration: DELL/Göllnitz Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1976 by Terry Greenhough Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31028 1 Juli 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Greenhough, Terry: Wandernde Welten: Roman / Terry Greenhough. Hrsg. von Walter Spiegl. Mit e. Nachw. von Michael Nagula. [Aus d. Engl. übers. von Roland Rosenbauer u. Christoph Sandek]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31028: Ullstein 2000: Science-fiction) Einheitssacht.: The wandering worlds «dt.» ISBN 3-548-31028-1 NE:GT
Terry Greenhough
Wandernde Welten Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
Mit einem Nachwort von Michael Nagula
Science Fiction
Für Bill, mit Freude
1 Schon wieder wimmerte das Mädchen. Van Channen eilte aus dem Kontrollraum zu ihr hinüber. Verzweifelt verharrte er an ihrer Liege und blickte auf sie hinunter. Was auch immer sie verletzt haben mochte – er haßte es! Nach Auskunft der Basis war das dort unten ein unbewohnter Planet. Sie hatte sich geirrt, und so hatten sich zwei Tragödien abgespielt. Seine Finger tasteten nach ihrem Handgelenk, fanden den Puls – er ging langsam. Die Kleine lag noch im Koma. Gelegentlich zuckten ihre Wangen. Schweiß bedeckte ihr Gesicht. Als Channen ein Geräusch hinter sich vernahm, drehte er sich rasch um. In der Tür stand Andri, der schweigsame Franzose. Unter dem kurzgeschnittenen Haar, das durch seine Leiden stark gelichtet war, stachen seine Augen stärker als sonst hervor. »Die Kleine ist dem Tode nahe, nicht wahr?« Stumm nickte Van Channen. Erneuter Haß erfüllte ihn und ließ seine Worte bitter klingen. »Sie ist noch ein Kind, Andri; gerade zwei Wochen im All, und nun das!« Er versuchte ihr etwas Flüssigkeit einzuflößen. Sie tropfte über die ausgetrockneten Lippen und rann ihr über das Kinn. »Seit fünf Tagen nimmt sie nichts zu sich. Viel län-
ger wird sie es nicht aushalten.« Andri stimmte ihm zu. Dabei wischte er ihr den Saft aus dem hübschen Gesicht. »Das Leben ist grausam, mon ami – so grausam wie der Tod, glaube ich.« Channen schüttelte sich. Philosophie hatte ihren Platz, aber der war nicht hier. Ein Hinweis auf die Ursache des Problems hätte eine größere Hilfe bedeutet. Der Integrator hielt seine Stimme ruhig, schluckte die Antwort hinunter. »Erinnerst du dich an den Einsatzbericht der Gesellschaft? Keine fremden Intelligenzen – keine Gefahr? Schön, hiermit hätten wir das Gegenteil bewiesen!« Ein Alarm ertönte. Andri wandte sich um. »Das ist für mich.« Der Alarm wurde auf drei Ebenen gegeben: Für das Auge war er schwach, für das Ohr fast unhörbar, jedoch überdeutlich für den Fühler. Das war Andri. Sofort verließ er die Krankenstation. Van Channen hörte ihn zu seinem Posten rennen und in die Simulatorhandschuhe schlüpfen. Keine Rufe. Demnach kam er allein zurecht. Nachdem Channen die Bettdecke gerichtet hatte, wandte er sich dem anderen Kranken zu, einem achtzehnjährigen Jungen. Seit zwei Tagen war er schon krank und hatte seitdem keinerlei Nahrung zu sich genommen. Van Channen mußte an die beiden heftigen Stiche
mentaler Energie denken, die die beiden jungen Menschen urplötzlich außer Gefecht gesetzt hatten, sie in einem einzigen Augenblick von normalen Menschen in Wracks verwandelten. Selbst er hatte etwas gespürt, ein feindseliges Stechen in seinem Kopf, das nach einem Weg suchte, sein Bewußtsein zu zerschlagen. Alle anderen hatten es auch gespürt, aber ihre unempfindlicheren Gemüter waren an dem Schock nicht zerbrochen. Ein Stolpern und ein Keuchen mitten im Wort, das war alles gewesen. Seitdem versuchten sie verzweifelt die Opfer wiederzubeleben. Vergeblich. Er hoffte, daß sich die Situation nicht noch zuspitzte, aber durch seine beinahe unfehlbare Intuition wußte er, daß es doch geschehen würde. Ein verstärkter Angriff, und auch die erfahreneren Männer und Frauen der Besatzung würden untergehen – und möglicherweise er, der zäheste und widerstandsfähigste von ihnen allen, mit ihnen. Sein außergewöhnliches Gehirn war selten unter den Menschen und an Bord der EG 13 einzigartig, aber das machte ihn nicht völlig unverwundbar. Er trocknete den kalten Schweiß auf der Stirn des Mädchens und murmelte grimmig. »Fünfzehn Jahre alt, armes Kind! Und du wirst nicht lange genug leben, um sechzehn zu werden!«
Das Schiff bewegte sich schnell, aber kaum wahrnehmbar in der sternenübersäten Dunkelheit, ein winziger Punkt in der Unendlichkeit. Seine Hülle war sphärisch, ein stumpfgrüner Ball, der vom Schein entfernter Sterne und der unvermeidlichen kosmischen Schwärze eingehüllt war. Von den zehn äußeren Anhängseln arbeiteten nur zwei, ein Paar verlängerter dreigelenkiger Metallarme, die den Anweisungen gehorchten, welche über Andris Simulatorhandschuhe vermittelt wurden. Jeder Arm endete in einer künstlichen Hand: einem Schweißgerät, einem Schweißbrenner, einem Bolzenschußapparat. Die Hände des Fühlers waren damit beschäftigt, ein winziges Meteoritenloch zu versiegeln, das von einer der zahllosen Sensorzellen gemeldet worden war. Der Name der Eigentümer des Raumfahrzeugs schimmerte in goldenen Buchstaben: FAR SEARCH, GANYMEDE. Darunter sein Erkennungscode: EG 13, Explorer Globe 13. EG 13 – ein Schiff von hundert anderen, die von einem Dutzend Unternehmen überall im bekannten Universum betrieben wurden – folgte einer vorausberechneten, unabänderlichen Bahn durch das Neun-Planeten-System einer großen blauen Sonne. Selbst auf neueren Sternkarten war sie nur als kurze Ziffernfolge eingetragen. Far Search suchte weitab der bekannten Gebiete. Die Bahn hatte das Schiff um die drei äußeren Wel-
ten geführt, und unaufhaltsam trieb es in sechs weitere Orbitbahnen, ehe es das System wieder verlassen konnte. Im Falle eines wertvollen Fundes sollte ein kleines Erkundungsschiff auf dem betreffenden Planeten landen und die Richtigkeit der Daten entweder bestätigen oder berichtigen. Nach dem Start nahm das Mutterschiff es an einem geeigneten Punkt wieder auf. Später traf dann ein gewaltiges Minenschiff der Gesellschaft ein, das die nötige Ausrüstung besaß: riesige Bohrgeräte und fahrbare Schürfmaschinen. Zurück würde ein weiterer Planet bleiben, den der ständige Hunger des Menschen nach Bodenschätzen oder nach neuen Kulturen ausgelaugt hatte. Die Chancen des Schiffes, einer unvorhergesehenen Kollision zu entgehen, waren gering. Es besaß nur ein Minimum an Eigenantrieb, einige schwache Raketenmotoren für Notfälle. Größeren Hindernissen konnte damit niemand ausweichen. Hier draußen war der Kontakt zur Basis oder zu anderen Schiffen der Gesellschaft nutzlos. Häufig kam es vor, daß der Kontakt urplötzlich abbrach und Nachrichten in der Leere des Raums verlorengingen. Dann war die Kapsel ganz auf sich allein gestellt, ohne Hilfe, bis das nächste Schiff mit der Ablösung eintraf. Die neue Besatzung für EG 13 wurde in elf Wochen erwartet, was dem üblichen Verfahren entsprach.
Andris metallische Außenwerkzeuge polterten gegen die Oberfläche des Fahrzeugs. Es näherte sich mit rasender Geschwindigkeit der vierten Welt auf seinem unabänderlichen Expeditionskurs – der vierten Möglichkeit, einen lukrativen Fund in einem System zu machen, das man für unbewohnt und sicher gehalten hatte und das offenkundig weder das eine noch das andere war. Andri arbeitete umständlich daran, das Meteoritenloch zu schließen. Tief über einen Schirm gebeugt, verfolgte er die Fortschritte der Außenarme. Die SimulatorHandschuhe verbargen seine muskulösen Arme bis zu den Ellbogen. Kleine Vertiefungen in den Fingerspitzen übertrugen die Bewegungen der Finger auf die schlanken Greifwerkzeuge draußen. Ein kurzes Zucken seiner Finger, und deren Greifer zuckten ebenso. Ein wenig Druck auf das richtige Pedal, und sie bewegten sich um eine zweite Ebene, rechtwinklig zu der ersten, unmöglich für einen Menschen, diese Bewegung nachzuahmen. Mit seinen Daumen konnte er Anweisungen an die beiden unbeholfenen Reparaturwerkzeuge geben. Das rote Licht erlosch, und die Öffnung war versiegelt. Er brachte die beiden Greifer in Ruheposition und schlüpfte aus den Handschuhen. Eifrig hielt er jedes Detail des Vorfalls auf dem Band des Fahrtenschrei-
bers fest. Dann wartete unbedrucktes Papier auf weitere Daten. »Finis!« Unbemerkt verschwand das Band in einer besonders verstärkten Zelle im sichersten Teil des Schiffes. Deren Konstruktion sollte sicherstellen, daß das Band erhalten blieb, selbst wenn das Schiff explodieren sollte. Möglicherweise wurde ein anderes Schiff der Gesellschaft auf die Funkimpulse aufmerksam und konnte die Überreste der Information aufsammeln. Das Personal war ersetzbar, die Informationen nicht. Channen, der aus dem Kontrollraum kam, bemühte sich, nicht an Andris dunkle Vergangenheit zu denken. Nur er und der Franzose wußten Bescheid, und sie hüteten das Geheimnis. Er sah zu, wie sich der Fühler zurückzog. Sein faltiges Gesicht lächelte, und dann war er fort. Eine Tür schlug hinter ihm zu. Ein unterdurchschnittlicher Fühler, dachte Channen – kaum verwunderlich, wenn man die Umstände bedachte, unter denen er in dieses Geschäft eingestiegen war. Als er allein war, betrachtete er seine eigene Situation bei dieser Mission: Integrator; er stellte alle Berichte von Ohr, Auge und Fühler in einen Zusammenhang; er war der Führer der Gruppe; seine Entscheidungen wurden mit uneingeschränkter Autorität gefällt. Manchmal ergaben sich unangenehme Situationen, aber seine starke Persönlichkeit sorgte dafür, daß Konflikte für gewöhnlich in seinem Sinn ge-
löst wurden. Er war nicht sonderlich erfreut über den Job, aber er wurde gut bezahlt. Der Integrator war immer ein Mann mit dem sechsten Sinn wie Channen, ein Mann oder eine Frau mit außergewöhnlichen, jedoch durchaus begrenzten zerebralen Fähigkeiten. Gelegentlich entzog sich eine Ausstrahlung von draußen den hochgezüchteten Instrumenten und wurde nur von einem fein eingestimmten Gehirn empfangen. Die meiste Zeit verbrachte er in tiefer Meditation und fühlte das System in einer viel subtileren Art als der Fühler. Eifrig untersuchte er die Umgebung, aber er erhielt nur selten einen schwachen Schimmer von ihr, eine unerklärliche Bewegung, die Leben statt Verwüstung bringen konnte. Er seufzte. Noch vier oder fünf Reisen, und er würde seine Lizenz abgeben. Viele seiner Kollegen hatten ihm Vorwürfe gemacht wegen seiner gemächlichen, zurückgezogenen Lebensweise, aber die Arbeit eines Integrators war in Wirklichkeit hart. Er gab sich vagen Träumen von einer Heimat auf einem blühenden Kolonial-Planeten hin: einer guten Frau, einer Familie, Ruhe, weniger Sorgen. Während er sich umsah, beklagte er sich innerlich über die karge Einrichtung des EG 13. Die Türen führten in unzureichende Erholungsräume und die Warenlager. Dahinter lag eine Küche mit einer riesi-
gen Gefrieranlage, in der Vorräte an Nahrungsmittelkonzentraten und Getränke für ein Jahr eingelagert waren. Man schlief in beengten Schlafräumen, die nach Geschlechtern getrennt waren. Keek hielt sich irgendwo in diesen Räumen auf. Isoliert von den anderen Räumen, in der Krankenstation, dämmerten deren beide Bewohner dem Tod entgegen. Der Kontrollraum war zentral gelegen, und damit war der bewohnbare Teil des Schiffes auch schon erschöpft. Zwischen der inneren und der äußeren Haut summten und klickten die Maschinen in unaufhörlicher Anstrengung und speicherten sorgfältig auch das unwichtigste Ereignis. Wenn sich irgend etwas Unvorhergesehenes oder Außerplanmäßiges ereignete, rief ein Alarm die jeweiligen Empfänger auf ihre Stationen. Das ist EG 13, schmunzelte Channen, ein stählerner Ball, der Gnade der Unendlichkeit ausgeliefert. Er hatte auch schon auf andern Schiffen gearbeitet, einige waren besser gewesen als dieses, andere schlechter. Letztendlich war dieses hier ganz gemütlich in seiner spartanischen Ausstattung. Und schließlich war er mit diesem hier verbunden, fast wie ein Gefangener, bis die Ablösung eintraf. Er fragte sich, ob die Ironie dieses Schicksals Andri jemals berührt hatte. Abrupt beendete er seine Selbstbetrachtungen. Er
hatte mit offenen Augen geträumt. Far Search hatte exklusive Erkundungs- und Abbaurechte gekauft, und er mußte hingehen, wohin sie ihn schickten. Er dachte an den Erfolg des Schiffes auf seiner gegenwärtigen Mission. Ein Fund würde die Gesellschaft euphorisch werden lassen, und man rechnete mit phantastischen Summen. Oder würde es sich als ein Fehlschlag erweisen? Würde die Reise vergebens sein? Als der Alarm gegeben wurde, runzelte Ruthe Ogan die Stirn. Mühselig kam sie auf die Beine. Sie betrachtete den menschlichen und den nicht-menschlichen Körper im Erholungsraum mit unverhohlenem Widerwillen, dann bewegte sie sich schwerfällig über den metallischen Boden und betrat die Kontrollstation. Channen verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er ihre Häßlichkeit sah: breite Männerschultern, große herabhängende Brüste, graues Kraushaar und ein Gesicht, auf dem ein Leben voller Zynismus und Bosheit deutliche Spuren hinterlassen hatte. Religiöser Fanatismus glitzerte in ihren irren Augen. Keiner konnte sie ausstehen, aber er mußte zugeben, daß sie ein vergleichsweise gutes Auge war – weit besser als der Fühler von EG 13, aber sicher nicht dieselbe Klasse wie das hervorragende, hübsche Ohr des Schiffes. Ruthe setzte sich mühsam auf den ungemütlichen
Sitz. Vor ihr zeigte ein großer Bildschirm den Raum, schwarze endlose Tiefe übersät mit massiven Gesteinsbrocken. Er spürte den wilden Eifer, mit der sie die glorreiche Schöpfung Gottes verehrte. Wie immer durchdrang ihre chronische Melancholie den Glanz. Channen grinste und dachte daran, daß sie eine Närrin war, mürrisch und übellaunig, ausgenommen in Situationen wie dieser. Sie liebte die Alarmsituationen, die ihr den Kontakt mit der Welt außerhalb des Schiffes vermittelten, dem göttlichen Meisterwerk. Mehr als einmal hatte er sie erwischt, wie sie auch während der Entwarnungszeiten vor dem Bildschirm gesessen und die Sterne angestarrt hatte. Sie hatte ihm niederträchtige Verachtung entgegengeschleudert, als er den Bildschirm ausschaltete. Dann war sie in ihre Koje gegangen, um die Zeit bis zum nächsten Alarm mit Schlaf zu verbringen. Er grinste wieder. Ein rotes Licht schien eindringlich in der Kabine des Auges, aber es beunruhigte ihn nicht so sehr, daß er hinüberging. Ogan würde ihn rufen, wenn es sich als nötig erweisen sollte. Ein Junge von siebzehn Jahren kam herein, wahrscheinlich aus dem Schlafraum, und beobachtete jede ihrer Bewegungen: einer von den Nachwuchskräften auf seinem ersten Raumflug, der von einem erfahrenen Auge lernen sollte. Channen hoffte, daß ihre Behandlung ihn nicht verderben würde, sondern daß er nur seinen Beruf erlernte. Er
fragte sich, wie sich der Bursche fühlte, da er wußte, daß seine beiden Kameraden am Rande des Todes waren. Es schien ziemlich sicher zu sein, daß er der dritte sein würde, dem es ähnlich erginge. Das war nur gut so. Das Schiff konnte sich keine Ausfälle unter den erfahrenen Leuten leisten. Es war auf die volle Funktionsfähigkeit von Auge, Ohr und Fühler sowie des Integrators angewiesen. Andernfalls wäre es teilweise gestört. Channen dachte an den Mangel an Leuten, die über den sechsten Sinn verfügten. Die Mehrzahl aller Schiffe mußte mit völlig unausgebildeten jungen Integratoren auskommen. Beinahe wünschte er sich, daß Ruthe Ogan zusammenbräche. Obwohl daraus eine Schwächung der Besatzung resultierte, war der Gedanke, sie aus dem Weg zu haben, reizvoll. Er hatte versucht, ihre Aufnahme in das Team zu verhindern, als er davon hörte – ein Recht, das man dem Leiter einer Expedition gelegentlich einräumte –, aber die Personalstelle war hart geblieben. Man hatte ihm erlaubt, sich sein Ohr, die Auszubildenden und Keek auszusuchen. Dann hatten sie ihm Andri als zusätzliche Bürde mitgegeben. Er war sehr froh gewesen, daß er Jocelyn als Ohr bekommen hatte. Die Nachwuchskräfte waren ein unauffälliger Haufen, bis der Überfall gekommen war. Zwei von ihnen hatte es schon erwischt, und einer würde noch folgen ...
»Van!« Ruthes Stimme war ein kehliges Knurren, sehr männlich. Er wußte, daß sie es verabscheute, ihn beim Vornamen zu nennen. Ein Augenblick, und er stand in ihrer Zelle. Der junge Mann wich ihm erschrocken aus. »Was ist los?« Channen starrte auf den Bildschirm, aber er konnte nichts Ungewöhnliches sehen. Unten links loderte der Stern des Systems in grellem bläulichem Licht. Einige Planeten waren plastisch auf dem Schirm zu sehen. Sein Gesicht verzerrte sich, und er packte Ruthe verärgert am Arm. »Drück das aus!« Sie warf die glimmende Zigarre auf den Boden. »Wenn der Alarm vorbei ist, wischt du das weg!« Der Auszubildende schielte auf das Schild über den Kontrollpulten: DAS RAUCHEN IN DEN KONTROLLRÄUMEN IST UNTERSAGT! Eine Anweisung, deren Einhaltung von Channen diktatorisch erzwungen wurde. Er war ein guter Integrator, aber mit ihm zu streiten war nicht ratsam. Ogan hatte es versucht und war wiederum gescheitert. Sie saß starr da und kochte vor Wut, als er ihren Arm losließ. »Schwierigkeiten?« fragte er. »Ich – bin mir nicht sicher.« Dieses ungewohnte Eingeständnis kam nur mühsam über ihre Lippen. Mit dem, was sie zu den Beobachtungen zu sagen hatte, war sie ebenso unbeugsam und dogmatisch wie mit religiösen Aussagen.
»Die natürliche Kraft zwischen mechanischer und optischer Ortung. Und dann, nun, ich sah, wie sich etwas bewegte. Ich konnte nicht feststellen, was es war, aber es war da.« »Bewegte es sich schnell oder langsam?« »Eher langsam.« Er versuchte es weiter, aber er konnte nichts entdecken. »War es künstlich oder etwas anderes?« »Ich kann es nicht sagen.« Sie zuckte mit den breiten Schultern. »Kann sein, daß es beides ist!« »Das ist offenkundig!« sagte er hart, während er weiter suchte und nichts fand. »Wo zum Teufel ist es jetzt?« Ein Lächeln huschte über die fleischigen Wülste ihres Gesichtes. »Hinter diesem Planeten.« Sie deutete auf das Bild. »Es verschwand, als ich rief. Und wenn es künstlich ist und mitgekriegt hat, daß wir es geortet haben, dann wird es auch dort bleiben.« Die Schärfe in ihrer Stimme störte ihn. Eine Aufforderung zum Streit. Aber er ging nicht darauf ein. Er wog Fakten und Vermutungen gegeneinander ab. Ein fremdes Raumfahrzeug? Warum nicht? Fremde existierten in dem System, und sie hatten wahrscheinlich auch Schiffe. Hatte Ogan eines von ihnen gesehen? Wenn dem so war, hatte sich recht; es würde sich hinter dem Plane-
ten verbergen, vorausgesetzt, die Besatzung ahnte, daß sie entdeckt war. Falls nicht, könnten sie wieder zum Vorschein kommen. Und wenn eines da war, konnten es auch mehr sein. Wie viele? Und wo genau. Er fällte eine Entscheidung. »Wir senden einen Wettersatelliten zu dem Planeten. Ich denke, wir können davon ausgehen, daß es Freunde hier hat.« Er verließ die Zelle und machte Eintragungen in das Logbuch. Daten wurden in den Sicherheitsraum gebracht. »Was tun wir, Van?« fragte der Junge zaghaft. »Wir rechnen damit, daß es noch andere Fremde gibt. Einige von ihnen sind vielleicht nicht so gut versteckt. Wir setzen darauf, daß sie sich in diesem System befinden oder zumindest in der Nähe. Und wir werden sie finden.« Er sah sämtliche Sensorsysteme prüfend durch. Schließlich schien er zufrieden und entspannte sich. »Allgemeine Aufmerksamkeit! Wir werden uns um jeden Quadratzentimeter kümmern, den wir mit unseren Instrumenten oder unserem Verstand erfassen können. Und wir werden keinen Trick unversucht lassen.« Er sah den Jungen an. Leise gab er seine Anweisungen. »Ich will, daß sich jede dienstfähige Person hier einfindet – und zwar sofort.«
2 Für Jocelyn war der Erholungsraum identisch mit jeder anderen Umgebung, völlig unsichtbar. Beißender Zigarrenrauch verpestete die Luft, ein Werk von Ruthe Ogan. Jocelyn seufzte. Sie war froh, daß die Alte fort war. Sanft umgaben sie die mit Rauch vermischten Körperausdünstungen von Keek. Keek selbst lag auf ihren Füßen. Sein Gewicht bemerkte sie kaum. Seine ständige, aber nicht aufdringliche Hingabe umschmeichelte ihre Sinne. Die Behaglichkeit endete, als er sich auf den Boden rollte und der physische Kontakt abbrach. Schwarze Leere umgab sie, und sie tastete erschreckt nach ihm. »Keek? Keek? Wo ...« »Hier, Jocelyn, hier.« Er eilte zurück und legte zärtlich eine schlanke dreifingerige Hand auf ihr Gelenk. Seine Gedanken drangen in ihr Gehirn. »Danke. Es erschreckt mich immer, wenn der Kontakt ohne Vorwarnung abbricht. Die Berührung ist fort, und dann der geistige Kontakt und ...« »Ich weiß ja, Jocelyn. Es tut mir leid.« Vorsichtig stand er auf, wobei er den Kontakt sorgfältig aufrechterhielt. Er war ein schlanker Zweibeiner, nicht ganz einen Meter groß. Schmerz bewegte sein flaches Gesicht, als er voller Zuneigung in ihre offenen Au-
gen sah, die seit zwanzig Jahren erblindet waren. Das Leben hatte ihr vier Jahre lang das Augenlicht gelassen, dann hatte es ihr unerbittlich das ungetrübte Blau des Sommerhimmels und das vielfarbige Wunder der Sonnenuntergänge genommen. Unheilbare Blindheit hatte sie befallen, eine Nacht ohne Ende. Es erschien Keek nicht fair, aber sie trug ihr Schicksal, ohne sich zu beklagen. Reiner Altruismus und Selbstaufopferung hatten sie zu dem Unternehmen gebracht, wo sie eine nützliche Tätigkeit ausüben konnte, indem sie den schärfsten ihrer verbleibenden Sinne einsetzte. Seine dünnen Lippen murmelten einen stillen Dank an eine fremdartige Gottheit dafür, daß er auf den letzten Reisen zu derselben Station gehört hatte wie Jocelyn: als ihr ständiger Führer, Ratgeber und Vertrauter. Mit seinem typischen trokkenen Humor fügte er die Bitte hinzu, daß Ruthe Ogan nicht auf seinem nächsten Schiff sein würde. Dann vollführte er eine Reihe von Sprüngen und akrobatischen Verrenkungen. Seine Beweglichkeit und sein Frohsinn erheiterten die anderen in den langweiligen Augenblicken am meisten. Doch dann wurde er sich klar, daß Jocelyn ihn ja nicht sehen konnte. Eilends kehrte er zu ihr zurück, und sie tauschten ihre Gedanken aus. Sie war erleichtert. Seine Augen wurden feucht, als er ihre Abhängigkeit mit ansehen mußte. Er vermutete, daß sie sich nur
teilweise an eine Welt angepaßt hatte, die es für sie nicht gab. Sein Zusammentreffen mit ihr hatte eine Lücke gefüllt. Jocelyns fast unglaublich scharfes Gehör – das sie zum begehrtesten Ohr des ganzen Konzerns gemacht hatte, und um das sich alle Integratoren rissen – vernahm die Geräusche, die aus dem Kontrollraum kamen: Das Knarzen des Sessels, von dem sich Ruthe Ogan erhob, das nervöse Atmen des Jungen, der sie beobachtete, Channens entspannter Atem. Schrecken erfüllte sie, als sie an die beiden anderen dachte, die ihre eigene Dunkelheit erlebten. Eine Blindheit, die wohl wesentlich schlimmer war als ihre eigene, die sie durch die Entwicklung eines hervorragend ausgebildeten Gehörs zu kompensieren gelernt hatte. Die beiden jungen Leute konnten weder sehen noch hören, noch sonst einen ihrer Sinne benutzen. Sie lagen einfach unbeweglich da, während der Schatten des Todes darauf lauerte, zu beenden, was das Koma begonnen hatte. Wie lange mochte es dauern, bis ein weiteres Mitglied der Besatzung zum Opfer wurde? Und wie lange wohl, bis es die gesamte Besatzung war? War EG 13 dazu bestimmt, ein Leichenhaus im All zu werden, eine Kapsel auf ihrem Weg durch die Unendlichkeit, die eine schauerliche Besatzung aus Skeletten und Staub trug? »Hör auf damit, Jocelyn!« Keek ermahnte sie laut.
Erregung begleitete seine Worte. »Wir werden es schaffen, hab keine Angst.« Aber während er sprach, empfing sie seine Angst, eine fremdartige Form der Angst, die in menschlichen Gefühlen nicht auszudrücken war. Ein Ruf ertönte: »Van!« Es war Ruthe Ogan, aus dem Kontrollraum. Eine Unterhaltung folgte, und Keek bemühte sich, ihr nicht zuzuhören. Er versuchte das seltsame Schwingen in der Stimme des Auges nicht zu hören. Statt dessen beschäftigte er sich mit den harmlosen, alltäglichen Gegenständen des Erholungsraumes: ein Schachbrett, Bücher, persönlicher Schmuck, der entgegen den Vorschriften eingeschmuggelt worden war. Ein Notizbuch, gefüllt mit Channens amateurhaften Versuchen, sich die Zeit mit Schriftstellerei zu vertreiben. Ein Routinetag verlief tödlich langweilig, und die Besatzung vertrieb sich die Zeit mit dem Lesen von Romanen oder Gedichten, manchmal diskutierten sie über metaphysische Themen, vorausgesetzt, Ruthe Ogan war nicht anwesend, oder man lachte einfach über Keek und seine Späße. In den Quartieren zählte weder Größe noch Komfort, aber er fühlte sich trotz der beengten Umgebung geborgen; draußen war es schlimmer. Jocelyn richtete sich langsam auf, als sie den Trend des Gespräches erkannte. Sie fürchtete eine plötzliche
Unterbrechung des Kontaktes. Keek blieb bei ihr. Er verehrte sie auf seine Weise. Auf ihre offenkundige, jedoch selten gezeigte Zuneigung zu Andri, dem Fühler, war er nicht eifersüchtig. Mit ihrem scharfen Gehör nahm sie Geräusche wahr, die niemand sonst gehört hätte. Motoren summten hinter der inneren Metallwandung. Frische Luft strömte aus der Umwälzanlage; Papier raschelte im Luftstrom. In dem Augenblick, in dem der Junge eintrat, war sie auf den Füßen. »Verstärkte Suche wurde angeordnet, wir haben irgend etwas Lebendiges geortet! Van will, daß alle sofort in den Kontrollraum kommen.« Keek lehnte seinen eiförmigen Kopf mit einem Ausdruck des Erstaunens an ihren Schenkel. »Ich auch?« Er dachte an seine Dienstbotentätigkeit an Bord des EG 13: kochen und waschen; er war verantwortlich für die allgemeine Sauberkeit und das Wohlbefinden der Besatzung. »Ich kann nicht viel tun, fürchte ich.« »Vielleicht nicht, aber wenn Channen sagt, alle ...« »Ja, ich komme wohl besser. Er sagt nichts, was er nicht auch so meint. Daß mir niemand über unseren Integrator lästert.« Keek sprach ohne jede Abneigung, ja sogar mit Stolz. Einige Leute wurden von Channens harter Art, Probleme anzugehen, irritiert, aber Keek bewunderte ihn um so mehr.
Der Junge lief in den Schlafraum A, um Andri zu holen. »Fertig, Jocelyn?« Eine Hand glitt an ihrem Bein hinauf. Die Bewegung entbehrte jeden sexuellen Hintergedankens. Es war ein ständiger Kontakt ihr zuliebe. Ihre Finger schlossen sich fest um die seinen, und er führte sie behutsam in den Kontrollraum. »Bis in den letzten Winkel, den wir erreichen können!« sagte Channen streng. Entschlossen hob er den Kopf. Die anderen hörten ihm aufmerksam zu; das war Van Channen in seiner äußersten Kompromißlosigkeit. »Irgendwo in diesem System sind Fremde. Mindestens eines ihrer Schiffe versteckt sich hinter dem Planeten Nummer Vier, nach unserer Rechnung.« Er machte sich klar, daß sie bald selbst dahinter sein würden. Die Bahn ihres Schiffes sorgte dafür. Würden die Fremden noch da sein? Und wenn ja, was würde geschehen? »Vielleicht sind noch andere da. Wir werden die Augen offenhalten. Und wir werden sie finden.« Keek fragte unschuldig: »Angenommen, wir finden sie; und nehmen wir weiter an, wir kommen nahe genug heran, um zu sehen, wer uns angegriffen hat. Was machen wir dann?« Channen sah ihn verdutzt an. Keek hatte die beunruhigende Eigenschaft, Probleme anzuschneiden, Stunden bevor jemand anderer daran dachte.
»Eine gute Frage. Wir werden uns damit befassen, sobald dieser Fall eintritt.« Er hoffte, daß es nicht zu sehr nach Ausflüchten klang, denn das waren keine; nicht mehr als die Anerkennung von Keeks Mißtrauen und die einfache Feststellung, daß sie keine Pläne schmieden konnten, um das Unbekannte anzugreifen. Er dachte über die Kontakt-Telepathie des kleinen Wesens nach. Oft empfing Channen das Wispern seiner Gedanken, jedoch ohne Berührung. Ein Privileg, oft aber auch eine Last des Mannes mit dem sechsten Sinn. Im Augenblick sendete Keek ein wirres Gedankenmuster: Angst, die rührende Entschlossenheit, Jocelyn zu beschützen, Erregung und teilweise unerklärliche Gefühlsregungen. Die Empfänger hatten sich auf ihre Posten begeben, bereiteten sich auf das Kommende vor. Andri bewegte sich müde und linkisch. Ruthe Organ bediente ihre Geräte geschickter. Jocelyn schien perfekt eingestimmt, alle Instrumente waren klar. Keek und der junge Mann saßen auf dem kalten Boden neben einem Stoß Papier, die Schreibgeräte waren gezückt. Channen beaufsichtigte sie. »Wir haben keine Zeit, alles ins Logbuch zu schreiben. Von jetzt an seid ihr beide das Logbuch.« Er deutete auf Jocelyn, Ruthe und Andri. »Die da werden zu beschäftigt sein, um nebensächliche Informationen und Sichtmeldungen oder was auch immer zu verkünden.
Schreibt es auf, egal, was für einen Code oder welche Kurzschrift ihr dafür improvisiert. Aber laßt keine verdammte Silbe aus!« Es war eine Warnung. »Keek, du achtest auf Jocelyn, und Ruthes Lehrling wird sich um sie und Andri kümmern. Das Einspeisen der Daten besorgen wir nachher.« Eine letzte Kontrolle, dann schlug er die Beine übereinander. »Noch irgendwelche Fragen? Dann wollen wir die Sache angehen.« Er sandte die Schwingungen seines Bewußtseins aus, tastete überall umher, um etwas zu finden: Einen Hinweis, einen Wink, irgend etwas. Es gab keine Hinweise, keine Winke, gar nichts. Und doch erschien ihm die Umgebung wirklich nicht in Ordnung – etwas Ungewohntes, eine Lücke in der Normalität, eine bestimmte Schwingung, die Leben und Intelligenz verriet. Er konzentrierte sich auf diese Schwingung, versuchte sie zu lokalisieren, sie festzunageln, sie zu erklären. Es gelang ihm nicht. Und gleichzeitig beobachtete er die drei Sensoren, steuerte und verglich ihre Aktionen. Andri hatte die Simulatorhandschuhe nicht angelegt, das war im Augenblick nicht nötig. Die Gefahr, daß eine nichtpsychologische Waffe um den Planeten herum genau ins Ziel traf, war gering, falls der Feind nicht über ausgeklügeltere Waffensysteme verfügte, als Channen sich vorstellen konnte. Und falls doch,
würden die Tentakel alle Hände voll zu tun haben, um mit den Zerstörungen fertig zu werden. Aber Andri und die gesamte Besatzung konnte da schon tot sein, warum also sich sorgen? Seine Hände waren flach auf hochempfindliche Platten gelegt, die ihn mit Zellen auf der Außenhaut verbanden. Diese waren in der Lage, tödliche Strahlung zu empfangen. Alles, was er im Moment tun konnte, war, wie ein Radargerät die Leere des Raums nach den wiederkehrenden Impulsen abzutasten. Von links nach rechts, auf und nieder. Er fühlte den Raum. Er sah gelangweilt, ja ungehalten drein. Ein Stuhl quietschte, als sich Ruthe Ogans fetter Körper darauf herumdrehte. Ihr Bildschirm schimmerte in mattem Licht. Sterne trieben vorbei wie verwaschene Flecken. Planeten und ihre Satelliten waren in der Ferne zu sehen, dann plötzlich ganz nahe. Sie wurden etwa eine Minute lang überwacht, ehe sie wieder verschwanden. Sie beobachtete das All zwischen den Planeten und gab dazu ständig ihre Kommentare. Auf einem ihrer kleinen Bildschirme, den sie auf den vierten Planeten fixiert hatte, kontrollierte sie ständig die Situation. Würde sich ein fremdes Raumschiff zeigen? Jede Kontrolle führte zu derselben Meldung: »Planet Vier – keine Anzeichen.« Der Junge schrieb eifrig alles mit. Er war dankbar, daß Andri nicht unnötig Worte verschwendete. Seine
Äußerungen, gepaart mit Ogans grober Einsilbigkeit, machten es leicht, Protokoll zu führen. Jocelyn gab ähnlich kurze Meldungen, aber für Keeks dreifingerige Hand war es sehr schwer, den Stift zu halten und damit zu schreiben. Er beschwerte sich bitter bei seinen Göttern über den Geiz gewisser Leute. Ein Diktiergerät konnte doch nicht so teuer sein. Schließlich konnte er sich keinen Daumen wachsen lassen. Van Channen hatte eine dreifache Aufgabe: Er mußte die verdächtige Umgebung absuchen, die Sensoren überwachen und andererseits das, was sie meldeten, so schnell in Verbindung miteinander bringen, wie es die beiden Helfer niederschrieben. Er fluchte lästerlich. Dieser lächerliche Berg von Papier war purer Unsinn, aber auf Ganymed-Basis würde es eine Untersuchung geben, wenn nicht jedes offiziell während der Reise gewechselte Wort belegt werden konnte. Verglich man die Eintragungen auf den Bändern mit den Alarmmeldungen, die in der Datenbank gespeichert waren, so konnten sich Abweichungen ergeben: eine geringfügige Lücke, die der unvermeidbaren Vergeßlichkeit zuzuschreiben war. Fügte man einen Beamten mit einem Hang zum Sadismus hinzu, so konnte das Fehlen eines winzigen Vorfalls auf den Bändern – der von scheinbar idiotensicheren Geräten aufgezeichnet worden war – zu einem strengen Verweis für den Integrator führen. Channen hatte einen harten Job.
Die Kopfhörer waren straff an Jocelyns Ohren befestigt. Glattes schwarzes Haar floß auf ihre Schultern herab, und ihre Hände glitten behende über die Kontrollen. Das spiralförmige Kabel verlor sich in ihren Haaren. Es lief an ihrem Rücken herab um ihre Hüften und verschwand in der Konsole: Die Verbindung zwischen ihr und den akustischen Empfängern im Rumpf des Schiffes. Eifersucht, nur schwach, aber unüberhöhrbar, schüttelte ihn, als er an ihre Liebe zu dem großen, zurückhaltenden Andri dachte. Zu einem Mann, den sie niemals gesehen hatte; zu einem Mann, dessen Image er in ihrer Vorstellung mit einem einzigen boshaften Satz zerstören konnte, mit einer vage Andeutung der Wahrheit hinter dem Fühler. Er zwang sich, seine Gedanken auf seine Aufgabe zurückzulenken, dennoch blieben Fetzen seiner Gedanken bestehen. Eine Suche nach mineralischen Schätzen, nach materiellem Gewinn für das Unternehmen, oder weitaus weniger wahrscheinlich, der kulturelle Austausch mit freundlich gesinnten Fremden hatte sich verwandelt in einen Überlebenskampf mit einem unsichtbaren Gegner. Die Verwundbarkeit von EG 13, ihr eintöniges Leben, das nur durch Keeks unterhaltsame Anwesenheit aufgelockert wurde, war auf schreckliche Weise einer Bedrohung ausgesetzt worden, deren Präsenz weder bestätigt noch widerlegt werden
konnte. Channen fühlte sich plötzlich klein und hilflos. Er spürte die unerklärliche Fremdheit des Systems, eine schwache Ahnung, daß es für den Konzern keinen finanziellen Gewinn geben würde und für das Schiff selbst möglicherweise keine Rückkehr zur Ganymed-Basis. Channen ging in die Funkstation. Er stellte die Frequenz von Far Search-Schiffen ein und versuchte EG 4 oder EG 37 zu erreichen, die in nahe gelegenen Systemen operierten. »Hier spricht EG 13. Ist jemand auf unserer Welle?« Niemand antwortete. Vielleicht sendete das Funkgerät, konnte aber nicht mehr empfangen. »Hallo! Hier ist EG 13. Wir haben Schwierigkeiten!« Wieder keine Antwort. Er war sich darüber im klaren, daß EG 4 und EG 37 nicht viel helfen konnten. Ihre Bahnen waren so unabänderlich wie die der EG 13, aber sie konnten eine Nachricht an die Basis weiterleiten – falls sie ihn hörten. Detailliert beschrieb er ihre Situation. Er entschied sich dafür, diese Prozedur halbstündlich zu wiederholen. Schließlich beschrieb er nochmals die Position des Schiffes, allerdings ohne viel Hoffnung. Es gab keine Antwort, nicht ein einziges Wort. Was mochte das bedeuten? War das Funkgerät gestört, oder konnten EG 4 und EG 37 nicht antworten?
War das Grauen auch in den Nachbarsystemen aufgetaucht? Er fühlte sich noch kleiner und schwächer. Er warf sich auf die Liege, fühlte sich elend. Keek und der Junge beschrieben Blatt um Blatt. Channen fluchte, daß man der Information mehr Wert zumaß als der Besatzung. Er grinste zynisch, als er Ruthe Ogans Ausdrücke hörte. Hinter ihrer steinernen Fassade schien sie sich über die Konfrontation mit der Schöpfung zu freuen. Eine Sirene heulte. Channen hatte bereits Alarm ausgelöst. Er erkannte, daß technische Unvollkommenheiten die Ganymed-Basis in Verwirrung stürzen konnten. Es war geradezu lächerlich; der Alarm galt Leuten, die bereits auf ihrem Posten waren. Die Instrumente waren einfach nicht darauf programmiert, einen Alarm zu registrieren, den der Integrator ausgelöst hatte. Channen dachte nicht daran, sich deswegen graue Haare wachsen zu lassen. Er würde im Logbuch genau angeben, wer den Alarm ausgelöst hatte und aus welchem Grund. Das Heulen der Sirene mußte als überflüssig dargestellt werden. Er hörte den Kommentaren zu, die die Sensoren abgaben. »Planet acht gesichtet. Nichts. Planet vier – keine Anzeichen.« »Verschiedene Geräusche. Aus verschiedenen Richtungen – Entschuldige, Keek! Es ist nur eine Verstärkung von Alphecca.«
»Keine weiteren Impulse.« Channens Augen verengten sich. Wollten die Narren in der Basis wirklich jedes einzelne Wort gespeichert haben? Ein weiterer Versuch, mit EG 4 und EG 37 Kontakt aufzunehmen, schlug fehl. Dann ein weiterer und noch einer. Die falschen Alarme hielten an und verbrauchten Papier, während sein Zorn wuchs. Fünf Stunden angestrengter Suche ergaben nichts. Zornig sprang er auf. »Okay, wir schalten ab! Das führt zu nichts!« Die Sensoren entspannten sich; Keek massierte seine schmerzenden Finger. Der Junge stand auf und seufzte. Nach zehn Minuten hatte sich die Spannung gelegt, und alle schienen wieder ruhig zu sein. Glühende geistige Energien brachen aus der Dunkelheit über sie herein. Der Junge brach mit einem schrecklichen Schrei zusammen.
3 Sein Widerstand war stärker als der seiner Kameraden. Er stieß sich ab und richtete sich halb auf, doch dann fiel er wieder zurück und krümmte sich am Boden. Seine Augen öffneten sich, blinzelten und schlossen sich wieder. Zuckungen durchliefen seinen Körper, als die Muskeln versuchten, einem zerstörten Gehirn zu folgen. Die anderen Besatzungsmitglieder taumelten unter dem bisher schwersten Schlag. Andri fiel, aber er richtete sich mühsam wieder auf. Jocelyn starrte blind in das Durcheinander. Sie hörte den Lärm, spürte den Angriff, konnte aber nichts sehen. Ein Klappern, und Ruthe Ogan stürzte aus ihrem Sitz. Channen, den es nicht so schlimm erwischt hatte, beeilte sich, ihr zu helfen. Sie flüsterte ein tonloses: »Danke.« Es klang unpassend. Ein Wort der Dankbarkeit inmitten einer bizarren Auseinandersetzung. Keek schüttelte sich nur, wie in einem eisigen Wind. Es ist wie eine Form der Immunität. Er rannte zu Jocelyn und berührte sie. Sie war über das Schlimmste hinweg. Gelobt seien die Götter! Er berührte sie weiterhin, um ihr Halt zu geben. Der Junge war bewußtlos geworden. Eine kleine Bewegung seiner Kleidung zeigte, daß er noch lebte.
Die Stiche verschwanden, als sich Channen neben ihn kniete. »Hier, Andri.« Die mächtigen Muskeln des Fühlers spannten sich, als er und Channen den jungen Mann in die Krankenstation trugen. Ruthe Ogan folgte ihnen. »Sieh nach den anderen, Ruthe.« Sie betastete ihre Handgelenke und beugte sich vor, um die Atmung zu prüfen. »Bitte, Vater, hilf ihnen! Es geht ihnen schlechter, Gott möge sie beschützen.« »Er wird es nicht tun, und er kann es nicht!« Van und Andri legten den leblosen Körper auf das letzte Bett. »Für den nächsten von uns ist keins mehr übrig. An Ausfälle in dieser Größenordnung hat man wohl nicht gedacht. Wenn noch jemand zusammenbricht ...« »Hör auf!« unterbrach ihn Andri hitzig. »Die letzten Jahre sind für alle von uns Überlebenden schwer gewesen. Wir sind durch dick und dünn gegangen, und wir werden auch das überstehen.« Channen grinste spöttisch. »Indem wir gegen dieses Meer von Problemen zu den Waffen greifen? Das Meer ist verdammt groß, und die Schwierigkeiten verstecken sich. Und was die Waffen betrifft –« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, suchte einen Schlüssel und hielt ihn Andri hin. Für den Fall interner Notfälle wie etwa Meuterei hatte EG 13 zwei Gewehre an Bord.
Andri schob den Schlüssel zurück. »Mais non! Ich beende das Programm.« Van sah auf die drei Nachwuchskräfte. Ihre Körper waren wie Wachspuppen, die man abgebaut hatte und zum Verkauf anbot. »Es gibt nichts mehr zu tun. Stehen wir nicht länger herum.« Im Kontrollraum überprüfte er den Weltraum nochmals im Bereich des vierten Planeten. Wenn die vergebliche Suche nach anderen Schiffen bedeutete, daß es keine anderen Schiffe gab, hieß das, daß die Angriffe nur von der Rückseite des Planeten kommen konnten. Die Fremden können nur dort sein! Er konnte sie nicht entdecken. Kurzzeitig sehnte er sich nach einem siebenten oder achten Sinn, vielleicht auch nach einem neunten. Eine kleine Hand berührte sein Knie. Keeks Gedanken drangen in sein Gehirn. »Wir werden sehr bald wissen, was gespielt wird. Denk an die Bahn. Wir erreichen den Planeten in einigen Standardtagen. Wir können unser Schiff nicht anhalten.« »Anhalten? Ich würde es beschleunigen, wenn ich könnte. Alles würde ich tun, um endlich zu einer Auseinandersetzung mit den Fremden zu gelangen.« Auseinandersetzung? Mit zwei Gewehren? Sei kein Narr, Channen! Er lachte zynisch in sich hinein. »Wenn die Struktur dieser Schiffe es erlauben würde, Waffen
einzubauen, es gäbe eine Menge Leute, die sich selbst welche einbauen würden, meinst du nicht?« »Das ist unser Berufsrisiko, Van, und – sie gaben uns Hände, Augen und Ohren und ein Gehirn.« Keek lächelte. »Aber keine Zähne. Ein rein struktureller Entwurf –« Er war sich klar, daß sie jedes Kilo unwichtiger Ausrüstung hatten weglassen müssen. »Darauf kommt es nicht an«, sagte Channen. »Egal, die Firma würde doch nichts tun. Sie setzt lieber unser Leben aufs Spiel und baut noch ein paar Maschinen ein.« »Unser Leben, ja! Nett von ihnen!« Unverhohlener Ärger verzerrte Keeks doppeltes Geruchsorgan. »An die Arbeit!« Channen deutete auf den Stapel Papier. »Das da muß alles in die Datenbank eingespeist werden. Eine verdammte Zeitverschwendung.« Er trug Keek zur Tür und deutete in Jocelyns Richtung. »Ihr beiden könnt euch ausruhen. Andri, du bleibst bitte hier. Und du auch, Ruthe.« Sie wollte protestieren. »Der Alarm ist aufgehoben. Ich kann doch nicht –« »Ich bat dich zu bleiben. Also bleibst du! Andri braucht einen Zeugen.« Verblüfft ließ sie sich in ihren Sitz fallen, während Keek Jocelyn in den Erholungsraum führte. »Andri, wir werden die Bänder durchsehen, bevor –«
»Durchsehen?« fragte er erstaunt. »Ja, bevor wir sie einspeichern. Das meiste darauf ist völlig irrelevant.« »Na gut, aber die Vorschriften ...« »Die Regeln, Van!« »Hört auf, ihr Barbaren!« Ogans autoritäre Stimme beendete den Streit im Ansatz. »Wir können es uns nicht leisten –« Ein Alarm lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. »Van!« Er und Andri starrten verwirrt über ihre Schulter. Planet vier; ein winziger Lichtpunkt bewegte sich aus dem Schlagschatten heraus. »Viel zu weit entfernt, um Details zu erkennen, aber ich glaube, es ist gesteuert. Das sind keine planetaren Trümmer.« »Die Fremden!« Channen versuchte gerade, das Gesehene zu verarbeiten, als ein Alarm an der oberen Grenze der Hörbarkeit das Ohr rief. Keek und Jocelyn stürzten herein, und sie setzte die Kopfhörer auf. Integrator und Fühler wurden nervös. Sie waren frustriert von dem Lärm, den sie nicht verstanden. Sie beobachteten das Schiff, das bewegungslos im Raum hing. Was nun? Es bot ein perfektes Ziel. Wenn EG 13 doch nur bewaffnet wäre ... Jocelyn lauschte angestrengt: Das Summen der Maschinen, das weiter absank, als das fremde Schiff
stoppte – dann ein metallisches Geräusch – wie Gleiten. »Es klingt, als ob jemand eine große Tür öffnet, Van.« »Türen? Kommen die Ungeheuer heraus? Ruthe, maximale Vergrößerung!« »Unmöglich! Wir sind bereits auf Maximum.« Zum Teufel. Ich schiele schon wieder. »Dann genügt Maximum eben nicht. Was sollen wir mit dem Lichtfleck? Wir brauchen ein identifizierbares Bild!« Während er sich aufregte, wurde ihm klar, daß das Bild nicht weiter vergrößert werden konnte. Ein Lichtfleck würde es bleiben, auch wenn es nicht ausreichte. Er konnte noch nicht einmal seine Form ausmachen. »Keine Veränderungen im sichtbaren Bereich. Wie steht es bei dir, Jocelyn?« »Ein Klicken. Sie haben etwas geöffnet. Und jetzt – Oh, Gott, nein! Du wirst es gleich sehen!« Andri sah es zuerst und rannte in seine Kabine. Seine Arme schlüpften in die Simulatorhandschuhe, und er sagte leise: »Ich fürchte, ich werde eine Menge zu tun bekommen!« Dann erkannte auch Channen etwas. Eine schnelle Bewegung, die von dem Schiff ausging. Sie kam ihm sehr vertraut vor. Zuerst eine Krümmung nach außen, als sie Geschwindigkeit aufnahm, dann eine
nach innen, als sie auf EG 13 zusteuerte. Er erkannte die Maßnahme, aber er konnte die Rakete nicht näher bezeichnen. Zahlreiche Erlebnisse aus seiner Militärzeit schossen ihm durch den Kopf: fremdartige Waffensysteme, Geschosse, Nervengasbomben. Was davon war dieses? Woher kam die flüchtige Erinnerung? Die Arcturus-Affäre? Der blutige Aufstand im RIM-Sektor neunzehn? Oder vielleicht –? Die geistige Attacke traf ihn wie ein Peitschenhieb. Sein Kopf schmerzte, und er konnte die Reaktionen der anderen kaum sehen: Ruthe brüllte wie eine Löwin, während Jocelyn schluchzte. Andri fluchte auf französisch, während Keek kaum berührt schien. Die Schläge dauerten an, aber die Besatzung überstand sie. Ruthe und Jocelyn verstummten. Andris Ausbrüche gingen in ein leises Gebrummel über. Channen zwang sich, auf den Bildschirm zu sehen. Der Torpedo steuerte sich auf das Schiff ein. Das Sprechen fiel schwer. »Er wird uns treffen – ganz klar – so wie ein – « Seine Zunge war trocken, schien den Mund zu verstopfen. Er konnte nichts sagen, obwohl er sich ungeheuer anstrengte. In seinem Unterbewußtsein beschäftigte ihn die vertraute Flugbahn der Rakete. Wo? Wann? Er erinnerte sich an keinen Fall, in dem feindlich gesinnte Fremde psychologische Angriffe geführt hatten. Aber woher kannte er den Bogen nach außen, die Kurve
nach innen? Die verrückte Idee kam ihm, daß Andri die Rakete mit seinen Greifern abfangen könnte. Er sagte nichts, weil er wußte, das es völliger Unsinn war. Planet vier schwebte in der Dunkelheit. Das Schiff hatte sich zurückgezogen. Das Geschoß näherte sich. Ruthe konnte es sehen, Jocelyn hörte es, aber keine von beiden sagte etwas. Channen starrte es an, als es größer und größer wurde und schließlich den Schirm ganz ausfüllte. Es füllte den Schirm. Es schlug ein. Das Schiff schüttelte sich heftig. Der Boden neigte sich. Papier flatterte geisterhaft umher. Keine Explosion. Das Ächzen des gequälten Stahls erstickte Jocelyns Schrei: »Es ist raus! Es weicht vom Kurs ab.« Gott sei's gedankt! dachte Channen, aber er hütete sich, es laut zu sagen. Der Widerhall ertönte im Kontrollraum, und Ruthe Ogan saß viel zu nahe. Sie verfolgte die Rakete auf dem Bildschirm. Sie verschwand immer tiefer im All. Dann explodierte sie. Eine glühende Feuerblüte öffnete sich, schillerte in allen Farben, so grell, daß die Augen schmerzten. Kurzzeitige Erblindung fesselten Ruthe und Channen aneinander, ein taumelnder Haufen. Er erholte sich schnell wieder, sie sich dagegen nicht. Jocelyn stöhnte auf bei
dem verstärkt übertragenen Explosionslärm, und Keek konnte nichts tun, um ihr zu helfen. EG 13 bockte wie ein Pferd unter den Einschlägen der Splitter. Channen grinste, als er an den geistigen Angriff dachte; ein fehlerhafter Torpedo hatte sein tödliches Werk beim Einschlag nicht verrichten können. Also waren die Fremden nicht unüberwindlich, nur stark. »Wir sind es auch!« Er sprach leise zu sich selbst. Es war noch zu früh, Optimismus zu verbreiten und falsche Hoffnungen zu wecken. Andri fiel beinahe. Nur die Handschuhe hielten ihn aufrecht, als der Einschlag kam. Mit mechanischer Sturheit heulte der Alarm. Er ignorierte ihn und studierte die Kapsel, die sich links von seinem Knie befand. Es war ein Modell der EG 13. Für jede Sensorengruppe gab es einen erleuchteten Sektor. Die Mehrheit der Lichter waren grün, wie es sich gehörte. Aber einige von ihnen blinkten rot auf – Gefahr. Einige waren transparent. Das ließ nichts Gutes vermuten. »Verfluchte Zellen!« Kopfschmerzen behinderten ihn, als er das ganze Ausmaß des Schadens erkannte. Er sah sich um: Keek und Channen waren bei Bewußtsein, die beiden Frauen nicht. Hatten die geistigen Angriffe diesmal einen doppelten Sieg errungen? »Jocelyn –!« Er wog die Prioritäten gegeneinander ab. Die Gefahr, die dem Schiff drohte, überwog ihre Bewußtlosigkeit. »Van! Schnell!«
Keek und der Integrator eilten herbei. Andri deutete auf die beschädigte Zone auf dem Modell. »Nicht da!« stöhnte Channen, während Keek mit den Zähnen klapperte. »Warum mußte es uns ausgerechnet hier treffen? Und da prahlen sie mit idiotensicheren Schiffen. Wie schlimm ist es?« »Ziemlich. Vor allem weil es sich am blinden Fleck befindet.« »So mußte es ja kommen, nicht wahr? Der einzige Punkt, den du nicht erreichen kannst, unser verwundbarster Punkt. Zur Hölle mit den idiotensicheren Schiffen! Das Glück, das wir mit der Rakete hatten, war zu schön, um wahr zu sein. Ich nehme an, wir sind durchlöchert?« »Zum Glück noch nicht – aber wir stehen ziemlich unter Druck. Die dünne Metallschicht mit den vielen versiegelten Meteoritenlöchern ... es wird nicht lange dauern, bis –« »Vielleicht sind wir auch aus der Bahn geworfen worden, obwohl ich das bezweifle. Nun, das bedeutet, daß jemand hinaus muß, auf die Oberfläche, und es von Hand repariert.« »Oui!« Andri runzelte seine Stirn. »Noch dazu unter diesen Umständen ... Ist es überhaupt zu machen?« Channens Kiefer zuckten entschlossen. »Hol meinen Raumanzug, Keek, ich gehe auf eigene Verant-
wortung.« Er war nicht sehr erfreut darüber. Die betäubenden Strahlen der Fremden mochten durch den stählernen Rumpf abgehalten worden sein. Es konnte den Tod bedeuten, hinauszugehen. Ein Zucken, die lachhafte Komödie des Widerstandes. Für einen Menschen konnte es innerhalb von Minuten die Auslöschung bedeuten. Keek fing seine Gedanken auch ohne körperlichen Kontakt auf. Er sagte: »Ich werde gehen.« Er spürte die geistigen Attacken kaum. Er bemerkte ein gelegentliches Stechen, eher lästig, als ein wirklicher Schmerz. Draußen war es etwas schlimmer als drinnen. Vielleicht wurden die Schwingungen tatsächlich durch die beiden Stahlhüllen und die kompakte Maschinenanlage gedämpft. Der vierte Planet schwebte zur Linken über ihm. Er schien nahe genug zu sein, um die Hand auszustrecken und ihn vom Himmel zu fegen. Er warf mißtrauische Blicke nach der matten Scheibe. Das fremde Schiff brauchte nur noch einmal zu erscheinen und ein zweites Geschoß abfeuern. Er hoffte, daß das nicht geschehen mochte. Ein erneuerter Angriff würde das Schiff zerreißen. Nur bei einem völligen Versager könnte das Expeditionsschiff überleben. Keek würde wahrscheinlich in beiden Fällen nicht davonkommen. Ein Volltreffer würde über seinem
Kopf einschlagen, und die Explosion würde ihm übel mitspielen – sie würde ihn an die Schiffshaut quetschen oder in die Unendlichkeit schleudern. Auch seine magnetischen Schuhe und die Sicherheitsleine würden ihm nicht helfen. Es gab dann kein Metall mehr, an das er sich klammern konnte, und nichts, woran ihn die Leine binden würde. Er selbst konnte in tausend Fetzen zerrissen sein, so daß es nicht viel ausmachen würde. »Es macht mir doch etwas aus!« sagte er zu sich selbst. »Wie?« »Entschuldige, Van, ich habe mit mir selbst geredet. Ich dachte nicht an den Sprechfunk.« »Schon gut, macht nichts!« Er stampfte über die Hülle, beladen mit Werkzeug, das er am Gürtel befestigt hatte. Es waren unhandliche, schwere Dinger. Sie waren für dreimal größere Menschenhände gemacht, die darüber hinaus noch einen Finger mehr und außerdem noch einen Daumen besaßen. Es würde nicht einfach werden. Er bat seine Schutzgottheit, die Liebesgöttin, um Hilfe. Er erreichte die zerstörten Rumpfteile. Ausgezackte Stahlzähne, Blech, das wie Papier zusammengeknüllt war, verbogene Stahlträger ragten ins All. »Es ist schlimm, Van, ich kann es nicht allein reparieren. Ich brauche eine neue Platte, Größe BB!« Keek hörte Stimmen aus dem Kopfhörer. Einer der Tenta-
kel näherte sich, so weit es der Maschine möglich war. Dann näherte sich ein Arm mit der Platte, mächtig und drohend. Sie hielt wenige Meter entfernt an. »Danke, Andri, sie ist jetzt über mir.« Er legte einen Schalter an dem Gürtel um. Eine Drehung mit den Füßen, und er schwebte auf die Platte zu, ergriff sie und befestigte sich daran. »Größe BB!« bestätigte Andri. Keek schwebte mit der Platte auf den Rumpf zu. Mit einer magnetischen Klammer befestigte er sie über dem Leck. Er fragte sich, ob er einige von Andris Sensorzellen zerstört hatte. Die mentalen Attacken hielten an. Wie hart mochten sie für die Menschen sein? Würde Jocelyn von ihrer Bewußtlosigkeit geschützt sein? Keek wußte es nicht. Er arbeitete hart. Drinnen kämpfte Channen einen harten Kampf gegen seine Kopfschmerzen und versuchte, wieder klar zu denken. »Wir sollten in der Lage sein, zurückzuschlagen, Andri. Wenigstens zeigen, daß wir uns wehren können.« »Wir könnten eine Leuchtrakete abschießen. Vielleicht können wir sie täuschen und so tun, als ob wir Zähne hätten.« »Das ist eine gute Idee!« Er wandte sich um und ging an den Rechner, um eine Flugbahn zu berechnen. Dann kehrte er zum Funkgerät zurück.
»Keek? Ich werde in Kürze eine Leuchtrakete abfeuern.« »Warum? Ich verstehe es nicht.« Die Leuchtraketen waren nur für den äußersten Notfall vorgesehen, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft waren. »Wem sollten wir ein Signal geben?« »Ich wollte dich nur warnen. Erschrick nicht, wenn du sie siehst. Es soll wie eine Waffe aussehen.« Channen warf Andri einen verschmitzten Blick zu. »Wenn wir den Schub etwas reduzieren, schwenkt die Rakete in eine Bahn um Planet vier ein und explodiert auf der Rückseite ...« »Phantastisch. Und die Explosion wird wirkungsvoller aussehen als die ihrer Rakete.« Channen tippte die Entfernung, das Gravitationspotential des Planeten und die Abschußrichtung in den Rechner. »Winkelverteilung und reduzierter Schub. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, wird sie von Planet vier angezogen.« Er verließ die Kabine des Fühlers. Nachdem er einen Hebel gedrückt hatte, ging er in den Kontrollraum. Ruthe Ogan beschwerte sich, als er ihren Bildschirm neu justierte. Eine orangefarbene Flamme durchzuckte die Schwärze der Nacht. Ihre gekrümmte Bahn führte zum vierten Planeten. Halb verdeckt von seiner Scheibe explodierte ein Feuerwerk.
»Verdammt! Sie ist zu früh hochgegangen.« Ein lebhaftes Karmesinrot bezeichnete den Punkt, an dem sich der Kern des Leuchtgeschosses befand. Silberne Dolche blendenden Lichts schossen in den Raum hinaus. Sie schmerzten Channens Augen, als sie über und um den vierten Planeten in brillanten Farben erleuchteten. »Nicht gerade im Ziel, Andri, aber ganz schön eindrucksvoll! Ich hoffe, Keek hat sich über das Schauspiel gefreut.« Das war nicht der Fall. Er war überrascht worden, denn er hatte Channens Warnung in der Zeit zwischen der Meldung und der Explosion vergessen. Er war gerade damit beschäftigt, die stählerne Platte mit dem Rumpf zu verschweißen, als der Lichtregen des Blitzes ihn von hinten traf. Er drehte sich erschrocken um. Wärme durchdrang seinen Raumanzug, weder schmerzhaft noch angenehm. Er murmelte ein hastiges Abschiedsgebet, und dann begriff er endlich, was geschehen war. Er lebte noch, und Channen hatte Vorstellungen geäußert, daß der Lichtblitz die Fremden mit einem Schlag zerstören würde. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Er sah dem Feuerwerk zu. Das lenkte seine Gedanken auf das System im allgemeinen: eine eintönige kleine Gruppe von Welten, so wenig aufregend wie
die meisten anderen, in denen er gearbeitet hatte; ein weiteres System ohne jeden Wert, eine vergebliche Reise. Sie würden mit leeren Händen nach Hause kommen – falls sie nach Hause zurückkehren würden. Möglich, daß sie es diesmal nicht schafften. Er rümpfte die Nase und machte sich erneut ans Werk. Dabei betete er, daß die Menschen durchhalten würden, und bemerkte nicht, wie die Angriffe auf geistiger Ebene aufhörten. Die Werkzeuge an seinem Gürtel klapperten. Die Tentakel hingen drohend über ihm, als ob sie nach etwas greifen wollten, das nicht für sie bestimmt war. Keek beendete die Arbeit. »Geschafft, Van. Sieht so schrecklich aus wie der Rest des Schiffes, in jeder Beziehung. Wie ein gestreiftes Straußenei.« »Ich weiß. Das Schiff ist reif für eine Generalüberholung, wenn wir die Basis erreichen.« »Wenn!« antwortete Keek lakonisch. Wenn es nicht vorher zerreißt! Nachdem er sich aus dem Raumanzug gearbeitet hatte, legte er seine Hände auf Jocelyns reglosen Körper und drang in die entferntesten Ecken ihres betäubten Geistes. »Sie wird sich wieder erholen, aber – sagt ihr nichts von –« Er deutete auf die Schiffshülle. »Sie würde mich beschimpfen, wegen des Risikos.« Wir sind, wo wir waren, dachte Channen grimmig. Er hatte Jocelyn in den Schlafraum B getragen, wäh-
rend Keek in der Nähe ihrer Koje schlief. Wir haben schon wieder eine Vorschrift verletzt, dachte er. Andri und Ruthe Ogan blieben zurück. Sie hatte sich genügend erholt, um ihr gewöhnlich bissiges Gesicht zu machen, ständig bereit, mit dem Fühler sich gegen ihn zu stellen, zwei gegen einen. Wie nahe mochte Andri einer völligen Befehlsverweigerung sein, was Befehle betraf, die mit den Vorschriften nicht in Übereinstimmung waren? Würde ihn Far Search unterstützen, wenn er sich weigerte zu gehorchen? Völlig klar, daß Ruthe Ogan einen genauen, aber keinesfalls unvoreingenommenen Bericht liefern würde. Channens Karriere stand auf dem Spiel. Er stellte fest, daß er eine Kündigung gelassen hinnehmen konnte. Fünf ereignislose Tage krochen in die Unendlichkeit. Auf der Wache starrte Channen auf die Schirme. Der vierte Planet war keine Scheibe mehr. Die Ecken der Monitore zeigten seine Rundungen. Die Station schien sich jedoch auf der anderen Seite zu befinden. Und das Empfangskomitee, das dort mit noch mehr Torpedos wartet. Das scheinbar Alltägliche an dem letzten Torpedo beunruhigte ihn. Irgendwo war er schon einmal mit diesem Waffentyp konfrontiert worden, auch wenn die Außerirdischen absolut unbekannt sein mochten – mehr eine intuitive, denn eine logische Behauptung, aber er war davon überzeugt.
Aber wenn das eine neue Spezies war, warum benutzten sie dann solche Waffen? Hatten sie keine eigenen? Brauchten sie sie überhaupt, da doch jene mentalen Attacken ohnehin jede Besatzung dezimierten. Das Bekannte an der Waffe suggerierte eine bekannte Rasse, während Intuition das Gegenteil annehmen ließ. Die Rassen, gegen die er gekämpft hatte, waren alle befriedet worden. Es war wohl kaum anzunehmen, daß illegale Waffenhändler unter ihnen waren. Irgendeine inoffizielle, an keine ethischen Gesetze gebundene Organisation mußte die Quelle dieser Mittel sein. Es gab immer jemanden, und unzweifelhaft würde es auch immer jemanden geben, der so etwas tat. Er starrte auf den vierten Planeten, dessen Nähe nun einen klaren Blick auf ein verwüstetes Terrain gestattete. Gleich sind wir da, gleich umrunden wir ihn, gleich ... Er warf einen flüchtigen Blick auf den Hauptschirm, auf dem ein niedriger Vergrößerungsgrad eingestellt war. Nicht weit hinter dem vierten Planeten konnte er den fünften mit seinen drei Monden erkennen; keine besonders große Welt, auch wenn sie wegen der Trabanten, die sich dicht an sie drängten, etwas größer wirkte. Er richtete sich auf eine interessantere Wachperiode ein. Statt sich an den Kontrollen ausruhen zu können – gewöhnlich auf der Couch des Integrators –, mußte
jeder seine Pflicht tun und auf den Alarm vorbereitet sein, sobald sich auf dem vierten Planeten irgendwelche Aktivitäten ausmachen ließen. Ein Husten ertönte. Es klang unecht, fast schon entschuldigend. Er drehte sich um. »Kann ich was für dich tun?« »Nichts. Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist, und –« Ruthe Ogan zuckte die Achseln, dann sagte sie matt: »Es ist das Mädchen. Sie ist tot.«
4 »Ist das denn möglich? Sie müssen doch hier sein!« Aber Channen sah, daß dem nicht so war. »Warum flüchten sie, wenn sie uns fertigmachen könnten? Etwas mehr Beharrlichkeit, und sie hätten uns spielend vernichten können.« Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie unsichtbar gewesen wären. Nein, das war dumm; immerhin hatten sie sie schon gesehen. Aber angenommen, sie besaßen eine Art von Unsichtbarkeit, die sie einfach einund ausschalten konnten? Das war noch dümmer. Selbst wenn sie etwas besaßen, aus welchem Grund hätten sie sich dann bei der ersten Begegnung sehen lassen sollen? Warum legten sie einen Hinterhalt, ohne schließlich selbst rechtzeitig zur Stelle zu sein! Bestimmt gibt es da einen Faktor, den ich übersehen habe. Aber welchen? Die Antwort hing irgendwo in seinem Gehirn, so durchsichtig und unkompliziert, so einladend und umfassend, so absolut offensichtlich. Und so schwer faßbar. Channen fühlte, daß es etwas gab, aber er kam nicht dahinter. Vergebens durchforschte er seine Gedanken, bis Andri eine Möglichkeit in Betracht zog: »Wenn sie ihre Bahn um den Planeten weitergezogen haben, vielleicht kriechen sie hinter uns her –«
Irgendwie klang das nicht plausibel. »Das bezweifle ich. Was sollten sie damit beabsichtigen? Sie werden kaum eine bessere Gelegenheit finden als die, die sie verpaßt haben.« Aber es war ein Gedanke, und er wies auf einen anderen Mangel ihres Schiffes hin: das Fehlen eines Panoramaschirmes. Nur das Radar und einiges an Zubehör vermochten sie vor einem Angriff von hinten zu warnen. Jedenfalls waren die Außerirdischen ein seltsames Pack. Wie fremdartig mochten ihre Denkvorgänge ablaufen? Mochten sie solch eine Bewegung geplant haben? Beabsichtigten sie, sich erst in jenem Augenblick ins Gesichtsfeld zu drängen, wenn am wenigsten damit gerechnet wurde? Würden sie dann einen Torpedo abfeuern? Channen besaß keinerlei Anhaltspunkte, welche als Entscheidungshilfen dienen konnten. Er besaß nur den schwachen Anschein eines Gedankens, einer Wahrheit, die so einfach war, daß er sie nicht mit einzubeziehen vermochte. Dazu kam die undeutliche Erinnerung an eine bekannte Waffe. Aber er hatte nichts Konkretes, nichts Positives, nichts Echtes. Er richtete seine Verwirrung gegen sich selbst. Wer ist hier eigentlich der Integrator? Wer ist dieser seltene Mann mit dem sechsten Sinn? Der Mann, von dem erwartete wird, daß er die Bedrohungen vorhersieht, die Andeu-
tungen, die ungewissen Fakten, die Vermutungen, und daß er sie zu einem Ganzen zusammenfügt? Wer ist der Mann mit Intuition, der Zauberer, der wunderbare Löser aller Rätsel? Das bin ich! Gut, aber warum gelingt es mir dann nicht, dieses Rätsel zu lösen? Weil es mir nicht möglich ist, nach dem Echo dieser kleinen Wahrheit zu graben, und weil ich es nicht lauter hallen lassen kann! Es flüstert ja nicht einmal. Vielmehr geisterte es irgendwo durch seinen Schädel, leise wie in einer Kathedrale, wo es von Wand zu Wand hüpfte, von Zelle zu Zelle, den Chorgang hinunter, die Korridore entlang, ein zerlumptes Fragment in seinem Geist, unaufspürbar. Er jagte es. Es rannte. Er jagte schneller. Es rannte schneller. Es wollte nicht auf ihn warten. Es war ein Teil von ihm – aber zu flink, zu agil, zu lebhaft, zu koboldartig. So gab er den Versuch als sinnlos auf. Seine Gedanken wanderten ins Uferlose. Laß die Dinge laufen wie sie kommen. Ich habe keine Wahl, außer mich im Kreise zu bewegen und darauf zu vertrauen, daß etwas kommt. Er ordnete die Lethargie einer gewissen Planmäßigkeit unter. »Irgendwie kommen wir entweder heil hier heraus oder nicht – dann können wir uns nur noch in die Hand der –« »Götter begeben«, ergänzte Keek treffend. »Könnte sein, auch wenn es nicht das war, was ich
sagen wollte. Wir haben viel zu tun. Ein Planet muß analysiert werden.« Er mußte zugeben, daß es ihn vor diesem Planeten graute. Andri stützte seine Ellbogen auf das Kontrollbord. »Luken«, sagte er. Sofort öffneten sie sich. Eine Barriere aus Schwärze erschien über dem Erkundungsschiff, ein sternpunktiertes Rechteck. »Klammern!« Sie fuhren heraus, und metallene Arme verschoben das Fahrzeug nach oben zwischen die beiden Hüllen der Sonde. »Loslassen!« Sie ließen los und gaben ihm einen sanften Schubs. Es glitt durch eine Masse aus Zubehör hindurch und bewegte sich weg von der 13, hinaus ins Leere. Weit genug! Er zog an einem Hebel. Die Nase schloß sich, sobald die Maschinen ansprangen. Der Scout flog zum vierten Planeten hinunter. Er streckte sich. Relativ gesehen ist hier mehr Platz als auf der ganzen Station! Dabei wurden sie bestimmt nicht zur Bequemlichkeit gebaut! Er sonnte sich in diesem wunderbaren Gefühl der Freiheit, dem Ende dieses unerträglichen Eingeschlossenseins aller in der Kugel. Er wußte, wie lange er auf einen Ausflug wie diesen hier hatte warten müssen. Channen hätte selbst fliegen können, oder Keek oder Ogan dazu bestimmen können, jeden außer Jocelyn. Statt dessen fragte er
Andri – fragte, nicht befehligte –, und damit hatte er sich seine Sympathie zugezogen. So wie er meine Vergangenheit verheimlichte, seit wir die Basis verließen, außer bei wenigen Anlässen, wo die Eifersucht ihn zu – Nein, das ist vorbei! Danke, Van! Andri steuerte das Schiff durch die Wolken. Die Reibung der Atmosphäre verlangsamte es. So fiel es aus dem Himmel, dem Planeten entgegen. Der Scout verringerte seine Geschwindigkeit in Flammen gehüllt, und Andris Hände bereiteten eine gute Landung vor – trotzdem war es bei weitem nicht die Landung eines Spezialisten. Nicht schlecht für einen Mann, der die Ausbildung nicht geschafft hat, der weit entfernt davon war, die Prüfung abzulegen, und der sich alles hatte selbst beibringen müssen! Er fühlte einen ungewöhnlichen Stolz auf seine Leistung. Doch dann vibrierte jeder einzelne seiner Nerven. Während des Fluges hatte er die Außerirdischen vergessen, doch dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke, und er erinnerte sich wieder an sie. Aus dem Weltraum waren sie verschwunden. Er und Van hatten sich gefragt, wohin sie sich wohl gewendet haben mochten – weg, ins Geheimnisvolle, um eine bessere Gelegenheit abzuwarten, auch wenn sie keine bessere mehr bekommen konnten. Oder umrundeten sie den vierten Planeten, um EG 13 von hinten anzugreifen? Oder waren sie etwa auf dem Planeten gelandet?
Würde er 13 je wiedersehen? Und dich, süße blinde Aphrodite? Andri wünschte, er hätte ein Gewehr. In kindischer Wut stapfte Ruthe Ogan durch den Korridor, ihr Gesicht war gerötet. »Du ausgekochter Schuft, Channen!« »Mein Name ist Van, Ruthe.« Ihre maßlose Höflichkeit war dahin. »Wenn all unsere Instrumente anzeigen, daß kein Grund für eine Bodenprobe auf dem vierten Planeten besteht, warum ordnest du dann eine an?« Er lehnte sich aus seinem Sessel. Urplötzlich wurde es still. »Nur der Integrator, Ruthe! Nur der Chef!« Würde sie das auch zu entkräften versuchen? Dieses Argument war vorhin schon im Kontrollraum aufgekommen, ehe Andri hinuntergeflogen war. »Aber wie begründest du deine Motivation?« warf sie rasch ein. »Gegen elektronische Beweise –« »Beweise? Fahr zur Hölle! Was lobst du die Elektronik, wenn uns die Berichte versichern, daß wir von einem unbewohnten System umgeben sind? Ich ordnete die Landung gegen die – Beweise – an, weil ich das bin, was ich bin: der Integrator, jener, der hier den sechsten Sinn besitzt.« Er fuhr sich über den Kopf. »Intuition, aber ich nehme an, du denkst, ich rede mir das nur ein. Aber ich sage dir, dort unten ist
etwas, lebend und intelligent. Vergiß nicht, daß unsere Geräte keine neuen Metalle oder so was feststellen konnten. Aber wenn wir uns nicht auf einen möglichen kulturellen Kontakt vorbereiten, dann haben wir in unserem Beruf versagt.« Die Hexe. Ich weiß nicht, was ihre kleinen Apparate gemeldet haben, aber ich sage etwas anderes! Van hatte sich schon oft auf seine abnormalen Kräfte verlassen. Er konnte darin eine hohe Erfolgsquote verzeichnen. Sie hatten ihm nicht geholfen, die verschwundenen Außerirdischen auszumachen, aber – »Intuition!« höhnte sie. »Von was genau?« Ihr eisiger Ton regte ihn auf. »Von – so einigem: vom Leben! Ich kann nichts Genaues sagen, weil ich nichts weiß!« »Ich denke, vielleicht weißt du doch etwas«, sagte sie mit veränderter Stimme und leicht zurückhaltend. Es erinnerte ihn an die Stille der Luft über der Erde, an jene absolute Ruhe, während am Sommerhimmel die Gewitterwolken aufziehen. Dann bezwang sie sich selbst, und der Sturm brach los. »Bei diesem Beispiel glaube ich an deine Intuition, Channen; ich glaube dir, daß du Leben auf dem vierten Planeten spüren kannst. Und ich zweifle auch nicht an dem Grund, weswegen du den Franzosen hinuntergeschickt hast! Oh, glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du seine Freundin immer ansiehst, du lästerlicher –«
Wut brandete in ihm auf: »Was hat das damit zu tun, selbst wenn es zutreffen sollte?« Sie lächelte. So etwas hatte er noch nie bei ihr gesehen. »Nur das: Was du dort unten spürst – oder was du dort zu spüren glaubst – sind die Fremden! Es würde dir gut passen, wenn dein Fühler nicht mehr zurückkehrte, damit du –« Channen war aufgestanden und mußte sich beherrschen, daß er sie nicht erwürgte. »Damit ich – was? Nein, du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich möchte nicht in dein schmutziges, verwirrtes Gesicht blicken!« Er zwang seine Hände hinunter. »Nichts gegen dich, Ruthe«, sagte er fest. »Aber du machst mich krank!« Da! Mir kommt es vor, als wartete ich seit einem Menschenalter darauf, so etwas sagen zu können! Er grinste über ihren geöffneten Mund, ihre weiten Augen. Nie hätte ich gedacht, je dazu die Gelegenheit zu bekommen! »Du entschuldigst mich sicher, wenn ich jetzt kotzen gehe!« Er achtete nicht auf ihre Bestürzung und verließ den Kontrollraum, um sich in Schlafraum A hinzulegen. Es gab vieles, worüber er intensiv nachdenken mußte. Waren die Außerirdischen auf dem Planeten? Es hatte nicht den Anschein auf ihn gemacht. Ergab sich daraus eine Gefahr für Andri? Und wenn es so war, würde Andri sich die Dinge dann ebenfalls so zusammenreimen, wie Ogan es getan hatte? Sicher
war er klüger als sie, um die Situation so melodramatisch zu sehen und zu solch einem irrigen Schluß zu gelangen. Channen fluchte innerlich. Wenn er Andri in den Tod geschickt haben sollte, dann gewiß in absoluter Unwissenheit. Doch Ogan würde nicht zögern, es als Mord hinzustellen. Er hatte Andri gefragt, ob er den Ausflug für die beste der gegebenen Möglichkeiten hielt, und Andri hatte unbedingt fliegen wollen. Selbst wenn die Außerirdischen auf dem Planeten waren ... Planet vier war groß. Channen suchte einige Fakten, um sich zu beruhigen. Selbst wenn sie da waren, standen Andris Chancen gut, ihnen überhaupt nicht über den Weg zu laufen. Wenn es zu einer Begegnung kommen sollte, blieben Andri nicht viele Chancen. Aber das würde nicht geschehen. Oder doch? Van hätte die Sache selbst erledigen können, ein routinemäßiges Suchen nach der Ursache seiner Eingebung. Nur aus Gründen des Anstandes – ein bißchen Wille zur Wiedergutmachung war wohl auch dabeigewesen – hatte er es Andri machen lassen. Der wußte es zu schätzen. Channen war sich sicher, daß Andri es zu schätzen wußte. War die Traurigkeit nicht sofort aus seinen Augen verschwunden? Ja! Bestimmt hatte der Franzose Channens Mitleid bemerkt. Van betrachtete es als ein starkes Stück, wenn eine Person ihren Minderwertigkeitskomplex damit
zu kompensieren versuchte, indem sie andere Leuten beschuldigte. Verdammte Ogan! Er fühlte, daß der Schlaf ihn übermannen wollte, aber dafür hatte er keine Zeit; vielmehr keine Neigung dazu; es gab zuviel zu bedenken. Er ging davon aus, daß die Außerirdischen nicht auf dem vierten Planeten waren, dann blieb bei allen Anstrengungen immer noch die eigentliche Frage: Wo waren sie dann? Vermutung: Die Fremden waren nicht auf Vier. Akzeptiert. Aber was war es? Etwas in seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten sagte ihm, daß dort unten etwas war – etwas Lebendes! Die Basis hatte keine Intelligenzen festgestellt, und Ogans elektronische Beweismittel verneinten die Existenz irgendeines Minerals, das eine Suche gerechtfertigt hätte. Channens Verstand versuchte vom Gegenteil auszugehen, keine Folgerungen zu ziehen, sondern direkt in etwas anderes einzusteigen, in Wissen? Oder eine Vermutung? Er gestand sich ein, daß es eine Vermutung war, doch eine Vermutung konnte weder richtig noch falsch sein, gut oder schlecht, nahe am Ziel oder Lichtjahre davon entfernt. Tatsache: Er nahm an, daß – etwas – auf dem Planeten vier existierte. Selbst wenn es unwahrscheinlich schien – es lebte! Wenn es nicht die Außerirdischen waren, was war es dann? Vielleicht ein niedriges Lebewesen, das nicht unter dem Begriff intelligent ein-
zuordnen war? Möglich! Es würde erklären, daß er die Anwesenheit von etwas Lebendigem spürte. Unwahrscheinlich wurde es erst, wenn er jene Hunderte von Welten berücksichtigte, die er schon umkreist hatte, und die von Tieren bewohnt waren. Dort hatte er nämlich auch nichts gespürt. Es mußte etwas mit einer speziellen Ausstrahlung von Leben und Intelligenz zu tun haben, nicht mit Instinkt. Was für Leben? Welch eine Art von Intelligenz? Es konnten die Fremden sein, oder – Handelte es sich um etwas absolut Neues? Die Intuition sagte ihm nicht, was es war. Unter seiner Koje bewegte sich etwas: Keek. Er schüttelte seinen Kopf und erwachte sofort. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich hingelegt zu haben, aber das war nicht ungewöhnlich. Wenn er müde war, schlief er, und wenn nicht, dann nicht. Es machte keinen Unterschied, wo er schlief, und meistens erwachte er ohne die kleinste Erinnerung daran, wo er sich gerade aufgehalten hatte, als die Schwere ihn überwältigte. Wenn er es fühlte, stahl er sich oft davon, um sich vor Jocelyns Bett zu legen. Manchmal klappte es, manchmal nicht. Channens Augen waren geöffnet, aber seine Gedanken waren weit entfernt.
»Van?« Keek berührte ihn. Keine physische Erwiderung, sondern ein Gemisch aus Gedanken ging von ihm aus. Die Sorgen dominierten, eine Schar einzelner Ängste, vermischt mit kleineren Impulsen der Verwirrung. Die Hauptprobleme kreisten neben Routineangelegenheiten. Andri war angehalten worden, alle drei Stunden einen Bericht abzuliefern; Andri konnte tot sein. Ein leichtes Schuldgefühl formte eine zerbrechliche Verbindung. Die Geschwindigkeit der Station hatte sich automatisch an die eingeschlagene Umlaufbahn angepaßt, das erlaubte eine Untersuchung, die nicht von Eile und Hast gestört wurde. Vielleicht mochte die Station von einem Feind aus dem Raum geblasen werden. Von einem Gegner, der sich überall aufhalten konnte – auf dem Planeten, im System, außerhalb davon, überall. Möglicherweise auf Vier – ein großer Planet. Würde er groß genug sein, eine Gefahr von Andri abwenden zu können? Wenn die Fremden nicht gelandet waren, was dann? Viel Neues, viel Unbekanntes. Keine Metalle, keine Tiere, nur etwas Neues, etwas Unbekanntes. Neid auf Andri – Das schockierte Keek leicht, aber es erklärte sich von selbst. Jocelyn konnte kaum eingerechnet werden. Van hatte sie gesehen und zu sich selbst gesagt: Nein, das ist vorbei! Er wunderte sich, woher seine Gedanken kamen. Vielleicht lagen sie in der Luft, als Reflexion der Gedanken eines anderen. Wessen?
Neid auf Andri – Van beneidete ihn darum, daß er der Monotonie hier entfliehen konnte, befreit war von Ogans unausstehlicher Zunge. Er hätte den Ausflug selbst unternehmen wollen, aber aus guten Gründen hatte er ihn an Andri vergeben. Das bedauerte er nicht. Nur sein Gewissen quälte ihn, wenn er sich den Planeten vorstellte, die Möglichkeit der Fremden, und vor allem die Möglichkeit, daß Andri tot sein könnte. Und etwas Neues, etwas Unbekanntes! Keek verließ den Schlafraum. Die Sorgen hatten ihn angesteckt. Hier und jetzt gab es einfach keinen Platz für irgendwelche Ängste. Das war vorbei. Andri vergaß seine Aufgabe. Er lief tausend Meter, nur um das Vergnügen zu haben, tausend Meter gelaufen zu sein. Dann tausend zurück. Dann – »Pack es an, Mann!« Er gab sich das Kommando selbst. Es minderte nicht die Euphorie, das wunderbare Hüpfen seines Herzens, das Zittern des Glücks in seinem Blut. Sein Gehirn war verblendet von verrückter Heiterkeit, seine Fröhlichkeit grenzte fast schon an Hysterie, mit der schrecklichen Explosion eines einzigen übermächtigen Begriffes: Freiheit! Die Freiheit, zu wandern, zu rennen, zu rufen, zu
lachen, seinen eigenen Gesetzen unterworfen zu sein, zwar nur für einen Augenblick, aber das genügte schon! Alles abzulegen, was ihm nicht paßte. Die Freiheit von Regeln, Vorschriften, Anweisungen! Die Freiheit von der Zensur, von der Disziplin, von der Strafe. Die Freiheit von – Nicht EG 13. Das Gefängnis aus Titan! Er erinnerte sich an den untergründigen Horror von Zellen, Speiseräumen, Beugungs-Blöcken, die Krankenstationen, wo die Zerschlagenen wieder zusammengeflickt wurden, die unheilbare Krankheit, der Wahnsinn. Die meisten hatten das Gefängnis mehr oder weniger wahnsinnig betreten. Er erinnerte sich an die Wärter mit ihren Muskeln und kleinen Gehirnen. Diese Quälgeister waren schlimmer als viele der Gefangenen. Er erinnerte sich an die bewaffneten Arbeitsgruppen, das Methan, die Krankheit, tränende Qual. Mehr Männer starben als zurückkehrten. Er erinnerte sich – Warum habe ich diese frühen Jahre überlebt? Gegen das Ende zu versuchte ich mich zu schulen. Dann diente er seine volle Frist ab. Jahre waren vorübergezogen. Dies war die erste Welt, die er betrat, seit er sein Absturztraining auf Ganymed absolviert hatte. Kein anderer Integrator erlaubte ihm je, einen Erkundungsflug in die Einsamkeit zu unternehmen. War das etwa
als Auszeichnung zu verstehen? Er war sich sicher, daß es als Auszeichnung gemeint war. Fester Grund, sicheres Land. Der Anblick war nicht unbedingt überwältigend: Kahle Felsen, treibende Staubwolken, niedrige Abgründe. Sein sonniges Gemüt fügte der Einöde etwas Schönes hinzu: Farben, die fehlten, und die Staubwolken verwandelten sich in leuchtende Nebelbänke, die von der bläulichen Sonne angestrahlt wurden. Es machte ihm nichts aus, allein zu sein. Er war lange Zeit zuvor einsam gewesen. Nach und nach kämpfte Andri seine ausufernden Phantasien nieder, das Gift der Freiheit. Nüchtern begann er den Boden sorgfältig abzusuchen. Die Chance, etwas zu finden, war gering, aber sie bestand. Er wußte nicht einmal, wonach er eigentlich suchen sollte, ausgenommen, daß es etwas Lebendiges war. Sicherlich nicht hier unten, dachte Andri voller Zweifel; nicht hier zwischen den ausgetrockneten Steinreihen einer Welt, die schon lange tot war. Wenn es irgendeine Spur von Leben gab, hier auf Vier, dann mußte es – Er schauderte bei dem Gedanken an die Fremden, und er wünschte sich erneut, eines der Gewehre mitgenommen zu haben. Er prüfte das Terrain sorgfältig. Schweiß lief ihm
über das Gesicht, obwohl es nicht heiß war. Er war sich der leichten Struktur seines Raumanzuges bewußt, desgleichen seiner Stiefel, die es ihm ermöglichten zu rennen, falls es notwendig werden sollte. Die schweren Raumanzüge mit ihren magnetischen Schuhen würden ihm nicht erlauben, weit genug oder schnell genug zu laufen. Er wußte, daß er auch mit den Kleidern, die er trug, nicht entkommen würde. Er sah sich um und stellte fest, daß er nicht darauf erpicht war, die Fremden zu finden. Aber er irrte sich. Sie würden seine Gedanken nicht loslassen. Wenn sie da waren, wie weit waren sie entfernt, oder wie nahe waren sie? Und wenn sie nicht da waren, was dann? Nichts, entschied er, nichts Lebendes. Und dennoch, Van hatte eine hervorragende Spürnase als Integrator. Hatte er diesmal einen Fehler gemacht? Es sah so aus. Aber er mußte volles Vertrauen in seine intuitiven Ahnungen gehabt haben, sonst hätte er nicht das Beiboot losgeschickt, um zu erkunden. Vor allem, wenn man Ogans Feindseligkeit berücksichtigte. Er hatte sich mit Freuden ihrer Gehässigkeit entgegengestellt und sich durchgesetzt. Was mochte sich die Kuh wohl von ihrem Widerstand gegen Vans Autorität versprechen, den sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Tag legte? Glaubte sie etwa, ihre Frömmigkeit gab ihr Immuni-
tät vor den Herrschenden? Sie war eifrig genug gewesen, Andri zu decken, als es um die durchgesehenen Logbänder gegangen war. Dann hatte sie sich mit den Vorschriften abgefunden, und jetzt, trotz Channens Befehl – Zugegeben, sie schien recht zu behalten mit ihren Ansichten über den vierten Planeten, aber es war der Integrator, der die Entscheidungen fällte. Ihre letzte Mißachtung seiner Entscheidung war offener Aufruhr. Sie würde sich eine Menge Ärger einhandeln, wenn sie nicht aufhörte, Channens Autorität zu untergraben. Andri beschloß, Van zu unterstützen – selbst wenn er lügen müßte –, falls Ruthe wegen der Bänder irgendwelchen Ärger hervorrufen sollte. Sicher, Van hatte die Regeln selbst gebrochen, aber in seiner Position hatte er gewisse Vorrechte. Sie beide, Ruthe und Andri, hatten die Regeln verletzt, indem sie gegen ihn opponiert hatten. Channen war der Führer – und Andri hatte es auf die harte Art gelernt, Führern zu folgen. Besonders jenen, die die Macht hatten, sein Verhalten zu korrigieren. Die Wochen im Schwarzen Loch, die Rationen, die kaum ausreichten, einen Hund zu ernähren, endlose Tage bei den Arbeitsgruppen, mit einem riesigen Gewicht auf seinem Sauerstofftank ... Er versuchte das Titan-Strafgefängnis zu vergessen.
Er versuchte die Außerirdischen zu vergessen. Er konnte sich keiner der beiden Erinnerungen entziehen. Als er sich an die Suche machte, erwartete er nicht, irgend etwas zu entdecken. Selbst wenn Van recht hatte, selbst wenn es Leben auf Vier gab, konnte er, Andri, Hunderte von Kilometern von ihm entfernt sein. Aber er suchte weiter. Er erwartete nicht, etwas zu finden. Und er fand nichts. Ein Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, und er rannte zurück zum Schiff. Es war Zeit für den Funkkontakt. Er war einige Minuten zu spät, aber er sorgte sich noch nicht. Er ging ans Funkgerät, während er sich über die kärgliche Einrichtung des Beibootes beschwerte: ein Schirm, zwei Schleusen, einfach unzureichend. »Hallo! Hallo! Jemand soll bitte Van ans Gerät holen!« »Hier ist Channen, Andri. Wie ist es unten?« Anspannung und Ungeduld klangen aus seiner Stimme. »Es ist ganz schön leer hier unten.« »Kein Zeichen von – Leben?« Jetzt waren es Gier und Erregung. »Überhaupt nichts, Van. Vier ist ziemlich tot.« Andri konnte es fast hören, wie die Fragen durch das Gehirn des Integrators schossen: Kein Leben? Warum nicht? Habe ich mich geirrt?
Und Unwillen und Enttäuschung. »Hier gibt es nur mich«, sagte Andri, »und – ich bin erstaunt über die Fremden.« »Ich ebenfalls. Ich denke, du solltest zurückkommen. Zum Teufel mit meiner Intuition.« Der Fühler machte eine Pause, bevor er antwortete. Ein wenig Unabhängigkeit leuchtet in ihm auf, die sich durch die jahrelange Gefangenschaft hindurch gehalten hatte. »Wenn das ein Befehl ist, komme ich sofort, aber ich bin oben möglicherweise auch nicht sicherer. Hier unten muß noch ein großes Areal abgesucht werden. Sollte ich nicht noch bleiben und mich ein bißchen umsehen?« »Ich fühle mich nicht wohl dabei, aber – okay. Sei nur vorsichtig. Sobald sich eine Gefahr auch nur zeigt, verschwindest du.« »Ich verspreche es dir. Wie ist es oben bei euch?« »Man kann es aushalten.« Channen lachte gehässig. »Ich hole Jocelyn ans Gerät. Ich kann mir vorstellen, daß dir das Freude macht.« Seine Worte verhallten.
5 Keek beobachtete, wie Channen zum Funkgerät ging und den Anruf entgegennahm. Während Channen und Andri sich unterhielten, ging er, um Jocelyn zu holen. Van wollte sie mit Andri reden lassen. Er führte sie in den Kontrollraum. »– kann mir vorstellen, daß dir das Freude macht – « Und dann, als er aus dem Funkraum sah, schlug er die Hände an den Kopf. Jocelyn taumelte, stöhnte und sank auf die Knie. Schon wieder! dachte Keek. Er selbst spürte nicht viel. Es war etwas unbehaglich, aber keinesfalls schmerzhaft. Seine Gefühle wurden aufgewirbelt, als er sah, wie Jocelyn ausgestreckt auf dem Boden lag. Ihre Hände griffen ins Leere. Sie schrie und keuchte vor Schmerz, aber keine Träne lief über ihr Gesicht. Er vermutete, daß ihre Tränendrüsen versiegt waren, als sie das Augenlicht verloren hatte. Warum mußte das ausgerechnet einem so hübschen Mädchen passieren? Keek konnte ihr physisches Aussehen nicht beurteilen, aber er wußte, daß Channen und Andri ihre Schönheit anerkannten. Aber für ihren großartigen Geist – Van schrie, als unelastische Bodenplatten gegen seinen Rücken prallten. Wie ein glühender Draht zog
sich der Schmerz durch sein Gehirn. Schon wieder! dachte er. Seltsamerweise empfand er mehr Wut auf seine Auftraggeber als auf die Fremden. Dieser falsche Einsatzbericht – Er war sich klar darüber, daß es nicht vernünftig war, aber er bemerkte verrückte Verdächtigungen, die an seinem Verstand nagten: ein Feind, der auf Ganymed-Basis einen irreführenden Bericht über das System präparierte und dabei eine ganze Besatzung einer Gefahr aussetzte. Ein Integrator machte sich im Verlauf der Jahre viele Feinde. Männer und Frauen, die er entlassen, Vorgesetzte, die er vor den Kopf gestoßen hatte. Wenn einer von ihnen ... Er konnte sich nicht gegen eine Vielzahl von Eindrücken aus der Vergangenheit wehren: Da gab es ein Auge, daß er zur Entlassung oder neuem Training vorgeschlagen hatte. Far Search hatte den Mann entlassen. Eine Episode nahe bei Capella, als ein Rekrut ihn in einen Kampf verwickelt hatte und mit einem gebrochenen Kiefer und der Erfahrung, daß Größe und Gewicht nicht alles bedeuten, zurückgekehrt war. Ein gewissenhafter Fühler hatte alle Details des Vorfalles festgehalten, und der Junge war hinausgeworfen worden. Ein kleiner schüchterner Telepath – einer der wenigen schlechten Kerle aus Keeks Rasse – der ... Er konnte sich nicht mehr erinnern. Egal, Far Search hatte das eine oder andere getan. Oder war
das bei Clemence Mineral Corporation, oder ...? Nein, er hatte für Clemence gearbeitet, lange bevor er das Integratoren-Examen abgelegt hatte. Es war auf Ganymed gewesen. Ganymed? Richtig, da war diese alte Vettel, mit der er im Personalbüro über die ethische Seite der Ausbeutung fremder Planeten gestritten hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Sie winden mein Gehirn aus. Sie drehen das Innerste nach außen! Sein Verstand verdunkelte sich unter der geistigen Attacke der Fremden. Er konnte seine eigene Art zu denken nicht fortführen. Verzweifelt suchte er nach einer Realität, an die er seine Gedanken knüpfen konnte. Andris Name half ihm. Channen rappelte sich auf, fiel aber gleich wieder hin. Langsam drehte er sich auf die andere Seite. Das kalte Metall berührte seinen Bauch. Er wälzte, wand sich mit letzter Willenskraft über den Boden. Irgendwie bewegte er sich, schlangenhaft, wie ein Tier. Die Funkkabine näherte sich, dann verschwand sie erneut. Bei Gott, ich bewege mich rückwärts. Sein Gehirn zog ihn vorwärts, und ein anderer Teil seines Gehirns zog dagegen, und irgendwie bewegte er sich nun doch langsam auf die Funkkabine zu. Die Funkkabine umgab ihn. Er war drinnen. Andri – Als er sich aufrichtete, fühlte er sich elend. Er brach
über der Konsole zusammen. Das Funkgerät brüllte. Er lag noch immer hilflos keuchend da. Irgendeine Stimme drang durch den Kontrollraum. »Van, was ist los? Ich – heilige Maria! Van!« Channen erfaßte die Stimme nur mühsam. Dann erkannte er sie: Andri! Er kratzte sich, Blut sickerte über seine Wange, als ein Hebel ihn ins Gesicht traf. Es lief über das Gerät. Vielleicht war sein Mund nahe genug. »Andri! Wir sind – getroffen!« Er mußte eine Pause machen, um Atem zu holen. »Bleib auf Empfang!« »Ich komme und helfe euch!« Er machte eine Pause, ehe er fortfuhr. »Ich bin hier unten unberührt, also kann ich ...« »Bleib – auf Empfang, wir haben hier oben genug.« Channen wußte, daß niemand in der Lage sein würde, das Erkundungsboot aufzunehmen, aber ihm fielen nicht die richtigen Worte ein, um es zu sagen. »Nur –« »Ich bin schon auf dem Weg!« sagte Andri. »Bleib – wo du bist, verdammt! Ein Befehl!« Angriff! Schlag zurück – hart! Wenigstens konnte er noch wütend werden. Noch hatten sie ihn nicht vernichtet. Und es würde ihnen auch nicht gelingen. Er lag still da, glaubte daran. Das Funkgerät verstummte. Eine Gestalt erschien in der Öffnung der Tür: Ruthe Ogan, eine Skulptur aus Furchen, Ecken
und Ebenen, die geschwungenen Linien mächtiger Brüste und ihrer eckigen Schultern. Ein Buch über altertümliche Poesie hing schlaff in ihren Fingern. Ihr Gesicht war so regungslos wie ein Gebirge: stumpfe Augen, buschige Brauen, die Lippen verzerrt vor Schmerz. Er war sehr erstaunt, daß sie nicht fiel. Dann fiel sie doch. Eine Faust krachte auf den Boden, dann entspannte sie sich. »Bastarde!« kreischte sie. »Bastarde!« Sie tobte und schrie, als ob sie die Fremden dadurch zurücktreiben könnte. »Bastarde!« Es war eine ständige Wiederholung, ein Schreien voller Haß und Abwehr. Sie schlug immer weiter um sich, um zu verhindern, daß sie niedergeschlagen werden konnte. Aber sie taten es nicht. Keek bezweifelte, daß sie es konnten. In ihren Augen sah er ein gefährliches Leuchten. Er versuchte ihr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen, während das Echo ihrer Schreie durch den Kontrollraum hallte. »Bastarde! Bastarde!« Du bist selber einer, dachte Channen mühsam, aber so will es Gott! Keek sprang zur Seite, als sie herankam. Er zog Jocelyn in eine Ecke und spürte, wie ihr Geist sich bei seiner Berührung erholte. Sie empfing von ihm alle wohltuenden Gedanken, die er aufbringen konnte: Gedanken an grüne blühende Landschaften, an traumlosen Schlaf, an ein Zuhause, an Liebe, an Andri.
Ogan hatte aufgehört zu brüllen, aber ihre Füße machten noch genug Lärm. Channen versuchte aufzustehen. Es gelang ihm. Keek beschirmte Jocelyn, sein Gemüt legte sich um ihres, während er ihre Finger umschlossen hielt. Er hielt ihre Hand und ihr Bewußtsein, kämpfte für sie und mit ihr gegen – Was? Er wußte nicht, gegen was, aber er ließ nicht ab zu kämpfen. Ruthe Ogan war dem Zerfall ihrer Persönlichkeit bedrohlich nahe. Hirnlos brabbelte sie irgendwelche Gedichte. Zitate aus der Bibel erfüllten den Raum. Sie marschierte, drehte sich, marschierte, drehte sich, marschierte. Ihre Stimme bellte Verse und Auszüge aus der Bibel. Ihre Füße klapperten wild auf den Bodenblechen. Sie marschierte, drehte sich, marschierte, drehte sich und – Der Angriff hörte auf. Warum sollte ich mich an einen Suchplan halten, der so unbeugsam war wie der von EG 13? Das war die Frage, die Andri sich stellte, als er erwachte. Fast zwölf Stunden waren vergangen, seit der Angriff stattgefunden hatte. Er hatte eine kreisförmige Fläche von zweihundert Metern im Durchmesser mit dem Beiboot im Zentrum abgesucht. Er
hatte methodisch gesucht, vom Schiff zum Rand des Kreises und zurück. Gefunden hatte er nichts. Er hatte eine Pause zwischen seinem vierten und fünften Funkruf eingelegt. Nach dem fünften Anruf ging er hinaus. Die Steine und der Staub flogen zur Seite, als er geradlinig voranging, entschlossen, seinen Weg beizubehalten. Wozu sollte man überhaupt ein Suchschema einhalten, wenn es sowieso nur Glückssache war, wenn man etwas fand? Bei aller Wahrscheinlichkeit hatte sich Van geirrt, und der vierte Planet war so öd und leer, wie er ausgesehen hatte. Und er sah gewiß verödet aus: leblos, leer, verloren. Ich bin allein. Obwohl die Fremden – Er marschierte. Einen Trost haben wir trotzdem. Wir wissen, daß die Angriffe nur auf EG 13 gerichtet sind, nicht nur ein allgemeiner Effekt, der den umgebenden Raum heimsuchte. Oder haben wir es nicht die ganze Zeit gewußt? Ich denke doch. Sie sind hinter uns her, mehr als hinter allen anderen Wesen, die ihnen über den Weg laufen. Über ihren Weg? Was wollen sie nur? Dasselbe wie wir? Alles tun, was Far Search Profit bringt? Bon! Aber wie trachten die Fremden nach Profit? Andri fragte sich, ob die Tatsache, daß er auf Vier keinen Angriffen ausgesetzt war, bedeutete, daß die Angriffe nicht von Vier ausgingen. Ein Gedanke, der
seine Angst wie ein Bunker abhielt. Aber der Bunker brach innerhalb einer Minute zusammen. Ein Stich der geistigen Kraft – etwas wie ein dünner Strahl – mochte von den Felsen vor ihm abgefeuert werden. Sie ragten vor ihm auf wie die ungebrochene Reihe eines mit monströsen Zähnen besetzten Kiefers. So weit mit meinem Plan! Ich werde meinen geraden Weg nicht fortsetzen können. Wenn ich sie umrunde, werden wir sehen, was sie verstecken. Fremde oder – Er marschierte weiter. Van war nicht in optimistischer Stimmung, eher ein bißchen entmutigt. Der letzte Angriff war der bisher heftigste gewesen, aber jeder hatte überlebt. Er fühlte, daß er Ogan wieder neu respektierte, vor allem wegen der Art, wie sie Widerstand leistete. Es war ihm wie eine Vorstufe des Wahnsinns vorgekommen – dieses Umherrennen, das Schreien, die Zitate und Gesänge –, aber er konnte nicht über eine Tatsache hinwegsehen: Sie hatte überlebt. Hieß das etwa Feuer mit Feuer bekämpfen? Nein. Es bedeutete vielmehr, geistige Verwirrung mit einem verwirrten Geist bekämpfen. Vielleicht war es in einigen Fällen besser, unausgeglichen zu sein, als stabil. Gewiß, sie war die Unausgeglichenste von ihnen, aber sie hatte ebenso gewiß den besten Widerstand geleistet.
Und Jocelyn? Sie schien die schwächste zu sein, aber war sie das wirklich? Konnte Blindheit ein Vorteil sein? Sie war weniger den Ablenkungen ausgesetzt, es gab nichts zu sehen, nichts, was ihre Abwehr schwächte. Sie konnte sich mehr auf den Widerstand konzentrieren. Dennoch war sie sofort zusammengebrochen. Hatte Keek ihr geholfen? Überhaupt nicht oder verdammt viel? Verdammt viel! Es mußte etwas Schönes sein, einen Freund wie Keek zu haben, eine Säule, an die man sich lehnen konnte, einen Geist, in dem man sich verstecken konnte. Wenn es darauf ankommt, Keek, bist du nicht so zerbrechlich, wie du aussiehst. Wie Andri schon sagte, du bist nicht der geringste von uns. Ich wünschte, du würdest nicht dieser schleimigen Kröte ähneln, an die ich früher gedacht habe. Physisch meine ich, sicherlich nicht charakterlich. Nun, selbst unter den besten Rassen findet man Flecken. Channen sah seine Besatzung als stark an. Sie waren aus guten, wenn auch unterschiedlichen Gründen zu ihrem Beruf gekommen: Ruthe Ogan wegen ihrer Sehnsucht nach Gott, Jocelyn wollte tun, was sie konnte mit ihren blinden Augen, und Andri ... Nun, Andri hatte unter den gegebenen Umständen keine große Wahl gehabt. Zum Glück hatte er Hartnäckigkeit mitgebracht, bemerkenswerte Unabhängigkeit – ständig den Strafkomplex im Gedächtnis – und einen starken Körper. Dazu einen Verstand, der
einfach robust sein mußte, da er all die Unterdrükkung und Bestrafungen ertragen hatte. Laß dich dort unten nicht umbringen, Andri! Bitte! Mein Gewissen würde mir keine Ruhe lassen für den Rest meines Lebens! Nicht, daß ich irgend etwas getan hätte; ich habe dich in deinem eigenen Interesse nach Vier geschickt, du weißt das. Aber mit dieser verrückten Bibelfresserin, die nur darauf brennt, mich zu vernichten! Und mit den Fremden. Und mit etwas – mit etwas Lebendigem, das ich nicht fassen kann! Laß dich nicht umbringen. Ja, seine Besatzung war stark. Van hoffte, daß sie stark genug war. Es würde so sein. Berichtigung: es könnte so sein. Es war der ärgste Schlag bisher gewesen, und sie waren durchgekommen. Haben dir deine Götter geholfen, Keek? Hat dir dein Gott geholfen? Ruthe? Wer hilft mir? Das wissen die Götter! Channen lächelte. Frage: Was hatte es zu bedeuten, daß die Intensität der Angriffe zunahm? Treiben wir näher an die Quelle heran, oder verstärken sie ihre Angriffsleistung? Zwei Drittel des Weges um Vier sind hinter uns. Hat das etwas zu bedeuten? Irgendein Hinweis darauf, wo sie sich verstecken? Auf Vier oder irgendwo anders? Und was fühle ich da unten? Was ist immer noch da unten? Geht es Andri gut? Channen wußte es nicht.
Andri! Immer und immer wieder dachte Jocelyn an seinen Namen, so als ob sie mit ihrer Leidenschaft zu ihm durchdringen könnte. Als ob sie die Entfernung verkürzen und ihn durch ihre Liebe stützen könnte. Sie konnte nicht! Sie schloß die Augen. Eine sinnlose instinktive Konzentrationshilfe, die sie sich angewöhnt hatte. Die Dunkelheit, die sie umschloß, wurde dadurch weder heller noch dunkler. Sie blieb dieselbe, die sie schon so viele Jahre hindurch gewesen war. Jetzt hinderten sie ihre Gedanken ebenso wie ihre Visionen. Sie umhüllte ihren Verstand, und sie verlor sich selbst in völliger Verwirrung. Gedanken wirbelten herum, ein Durcheinander ohne Ordnung. Verborgene Feinde – im Moment waren sie sogar für die unsichtbar, die sehen konnten. Sie waren nur zweimal aufgetaucht, flüchtig nur – heimtückisch, unbemerkt hatten sie Panik verbreitet. Wo waren sie? Was waren sie? Warum taten sie, was sie taten? War Andri ihnen über den Weg gelaufen? Er war auf dem vierten Planeten. Wenn man annahm, daß sie ebenfalls auf dem Planeten waren ... Fremde Intelligenzen? Wie ähnlich waren sie den Menschen? Wie unähnlich? Wenn die Rakete beim Aufschlag detoniert wäre?
Wenn Van ihn nicht gebeten hätte, nach Vier zu fliegen? Wenn Keek sie nicht während des letzten Angriffs beschützt hätte? Wenn ...? Sie weinte, ohne Tränen zu vergießen. Sei wünschte nichts sehnlicher, als richtig weinen zu können. Die Beklemmung könnte sie mit den Tränen verlassen. Aber sie konnte nicht richtig weinen. Es gab keine Tränen und die Beklemmung blieb. Das Durcheinander verschwand, zurück blieb tiefste Verzweiflung. Ihr Bewußtsein wurde hin und her geschleudert; in der sich anbahnenden Auflösung brannte ein einzelner Gedanke in hellem Licht. Andri! Eine Entscheidung bahnte sich in Ruthes Verstand an. Offenkundig mußte sie es bald tun, warum also nicht jetzt? Keiner konnte sagen, wie oft sie diese quälenden Attacken noch ertragen konnten. Es gab kein Anzeichen dafür, daß die Angriffe aufhören würden. Alles sprach dafür, daß sie anhalten würden, bis sie alle tot waren oder so krank wie die beiden Jungen in der Krankenstation. Sie war sich darüber klar, sie würde den Tod dem Koma vorziehen. Wie schnell ich ihm nahe gekommen war! Die Flucht in den Selbstmord war so verlockend! Bei der
nächsten Versuchung, nun? Nur ein oder zwei Schritte, und ich war bereit, mich in die endlose Leere des Todes zu stürzen – und in das, was dahinter wartet. Sie runzelte die Stirn, suchte wahren Glauben in sich. Er würde sich nicht so leicht zeigen. Was dahinter wartete. Weiß ich das wirklich nicht? Ist es nur etwas Künstliches, eine fromme Fassade, ein Bollwerk, daß ich gegen die rauhe Wirklichkeit aufgebaut habe? Wie schwer ist es doch, sicher zu sein. Drei Worte drängten sich auf: »Erkenne dich selbst!« Oh, wenn ich das nur könnte! Manchmal scheint es, als könnte ich es, so richtig von Herzen: wenn ich die Sterne ansehe, ihre Schönheit betrachte, die seelenerschütternde Komplexität des Ganzen. Seine Größe, das Design! Dann, ja, dann kenne ich mich selbst! Aber manchmal – Heimlich sah sie Channen und Keek an. Was würde dieses feine Paar sagen, wenn sie meine Zweifel kennen würden? Sie würden mich in die Ecke zurückdrängen: wankelmütiges Weib, Lebenslüge, versteckt sich hinter einer Befestigung, die es nicht einmal wert ist, daran zu glauben. Und so unbeweglich, daß sie niemals einen Riß in der Fassade zeigt, einer Fassade, die sie zwar selbst errichtet hat, aber der sie niemals traut. Ja, das würde das Ende für mich bedeuten, und ich würde die paar Schritte gehen und ... Sie nahm Zuflucht zu ihrer Entscheidung, den verräterischen Gedankenstrom anzuhalten. Sie mußten es bald tun, also warum nicht jetzt gleich?
Sie sagte es nicht wie einen Vorschlag, eher wie eine Versicherung: »Wir müssen mit den Fremden Kontakt aufnehmen! Wir müssen herausfinden, warum sie uns angreifen, und uns mit ihnen über unsere Differenzen aussprechen.« Keek schien erstaunt. »Eine exzellente Idee, verrückte Ruthe!« Er sprach mit leutseliger Stimme. »Sag mir nur wie, und ich tue es sofort. Mit dem Funkgerät vielleicht? Auf welcher Wellenlänge sind sie zu erreichen, und unter welchem Zeichen?« Sie beherrschte sich und stöhnte, anstatt zu keifen. Channen zuckte zusammen, als sie das Funkgerät erwähnte. Andri! Nun hat er bereits drei Rückmeldungen verpaßt, das sind neun Stunden ohne Nachricht! Er fühlte sich schuldig, obwohl kein Anlaß dazu bestand. Ogan starrte ihn an. Dachte sie etwa an ihre Anklage? Van beschloß, den Gedanken nicht zu Ende zu denken, denn er bedeutete, daß Andri nicht zurückkehren würde. Neun Stunden ohne Meldung, und neun Stunden auf einem Planeten, der möglicherweise von den Fremden besetzt war. Keine Wiederkehr – Die Schuldgefühle nahmen zu. Ebenso seine Besorgnis. Bitte, Andri! Noch ein bißchen länger, und er würde die beste Gelegenheit verstreichen lassen, zum Mutterschiff zurückzukehren. Sie war nicht die end-
gültig letzte, aber jede andere Möglichkeit war unbequem und bedeutete eine längere Reise für das Erkundungsboot. Es war noch fast voll betankt. Ein paar tausend Kilometer mehr würden nichts ausmachen. Ist er tot? Dein Wort in Gottes Ohr, Hexe! Sie sagte: »Ich glaube ja nicht –« »Gütiger Gott, sie gibt es also zu!« Sie seufzte erneut: »Ich glaube nicht, daß es leicht wird. Es ist vielleicht sogar unmöglich. Aber es dürfte doch wohl klar sein, daß wir ein bißchen über unsere Kommunikationsprobleme nachdenken müssen!« Channen hatte seine eigenen Kommunikationsprobleme. Von EG 4 und EG 37 keine Antwort, ebensowenig wie von Andri. »Es wird unmöglich sein! Wie verständigen sie sich denn untereinander? Wie lokalisieren wir sie? Nein, da gibt es keine Chance für uns.« Und für Andri? »Haltet die Augen offen. Das ist alles, was ich von euch verlange. Vielleicht fällt jemandem etwas auf!« Haltet die Augen offen? Vielleicht fällt jemandem etwas ein? Das war doch Channens Aufgabe, und vielleicht hatte er Andri damit in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Sie konnte nicht entscheiden, was aus der Angelegenheit werden würde, wenn Andri nicht zurückkehrte; und wenn EG 13 nicht zurückkehrte. Was, wenn Channen ihre Gedanken erriet? Wenn er den inneren Konflikt erkannte? Sein Einfüh-
lungsvermögen war erstaunlich. Konnte er die Zweifel sehen? Er sah sich um. Konnte er sie sehen? Nein, er würde mit Worten über sie herziehen. Fast wünschte sie, er würde es tun. Sie sehnte sich nach dem Schlag, der ihr das Aus brachte. Ich hätte die Wahl, in die eine oder andere Richtung zu gehen: ich könnte den Tod wählen oder versuchen, ein bißchen Heil im Leben zu finden. Und ich glaube, ich würde das Angebot abschlagen; ich würde dem Leben abschwören und meinen Weg gehen. Und diesmal würde es keine Stimme geben, die mich zurückhält. Ungläubiger Thomas! Verschwinde, Satan! Los, Ruthe, über den Abgrund! Man hat dir den Weg gezeigt, aber du könntest ihn nicht gehen! Entlarve mich doch, Van! Masochistin! Sie weinte innerlich. Sie wünschte, sie könnte wirklich weinen. Ihr Image würde es nicht erlauben. Also weinte sie nicht wirklich. Sie stand da und stieß mit dem Arm gegen die Lehne des Stuhls. Ein Schmerz machte sich in ihrem Magen bemerkbar. Sie verlor die Kontrolle; Channens schiefer Blick wurde unerträglich. Konnte er sie sehen? Konnte er sie wirklich sehen? Müde – so müde, müde, müde – suchte sie ihren heiligen Erholungsraum, die Zufluchtsstätte der Poesie, des Reimes und der Metrik vergangener Zeiten. Keek schwitzte. »Die Götter sind gelegentlich gnädig!«
Channen war nicht nach Witzeleien zu Mute. Entweder ignorierte er Keek, oder hörte ihn gar nicht. »Ich sorge mich um ihn, Keek!« Die letzte Erklärung, die er für Andris Schweigen aufbringen konnte, war, daß er unter einem plötzlichen Anfall von Freiheitsrausch Amok lief. »Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber ...« Warum habe ich ihn geschickt? Warum habe ich überhaupt jemanden geschickt? »Wenn ich auf die Instrumente geachtet hätte, anstatt auf meine Intuition –« »Du hast richtig gehandelt! Du hast den sechsten Sinn, und du hast richtig gehandelt!« »Ich bin froh, daß jemand so denkt!« Es war erfrischend, Keek um sich zu haben. Es linderte Depressionen, schürte Hoffnungen, linderte die Monotonie. Es war seltsam, daß der schärfste Verstand an Bord des Schiffes den niedrigsten Rang einnahm, die schlechteste Bezahlung erhielt und entwürdigende Arbeit machen mußte. Nicht daß sich Keek nach Ruhm sehnte. Es genügte ihm, für Jocelyn zu sorgen. Er war nicht würdelos, sondern stolz, nicht arrogant, sondern stolz. Van beglückwünschte sich. Er hatte sich den Besten aus Keeks Rasse herausgesucht. Ein Buch krachte auf den Tisch des Erholungsraumes. Man konnte Ruthe Ogan wüten hören, brabbeln in ihrer melancholischen Art. Eine Tür klapperte.
Channen fühlte sich betroffen; Andris Schicksal lastete schwer auf ihm. Würde er das Rendezvous einhalten können? Würde er gezwungen sein, einen längeren Raumflug mit dem Beiboot durchzuführen als nötig? Und wenn es so war, besaß Andri genug Fertigkeiten, um das Boot im interplanetaren Raum zu steuern? Eine Landung auf einem Planeten war nicht schwer. Lebte er überhaupt noch, um irgend etwas zu steuern? Oder war er auf etwas gestoßen, was kein Mensch verkraften konnte? »Die Menschenfresserin ist nicht gerade glücklich!« beobachtete Keek. Eine Tür klapperte. Schritte waren hörbar. Van erkannte eine gewisse Leichtfertigkeit in ihrem Schritt. »Wärest du glücklich, wenn du in den Spiegel sehen würdest und das siehst, was sie sieht?« »Nicht im geringsten!« Beide lachten. Man hörte ihre Schritte. Keek und Van drehten sich um. Ruthe trat ein. Sie trug einen Leichnam. Die Klippe näherte sich. Wieder beeindruckte ihn die Ähnlichkeit mit fletschenden Zähnen. Zähne beißen. Gab es auf dem Planeten etwas, das fähig war zu beißen? Und wenn, konnte er zurückbeißen? Er nahm an, daß er es konnte.
Seine Vorstellungskraft war nie allzu groß gewesen. Er hielt sich für einen Mann, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stand. Nein, nicht ganz so. Er war unerschütterlich, aber nicht phantasievoll. Warum sollte er sich also vor allzu irrealen Vorstellungen fürchten, die plötzlich in sein Gehirn dringen könnten? Gedanken über unvorstellbare Fremde, über ein Etwas, daß Van unter Umgehung der Instrumentenanzeigen erahnt hatte, über Leben, daß nach Channens Instinkt auf diesem Planeten nicht existieren konnte, von Gefahren, die offenkundig nicht sichtbar waren. Ein Frage- und Antwortspiel, daß man mit ihm veranstaltete. Das sind Hirngespinste, Andri. Befasse dich nicht weiter damit! Dann siegte sein Realitätssinn. Ich kann sie nicht verdrängen! Ich bin einfach nicht überzeugt, nicht hier, wo alles so phantastisch ist! Er wandte sich nach links. Er mußte weiter ausweichen, als er sich vorgestellt hatte. Er zählte die Schritte nicht. Als er die Klippe umrundete, war er voller Vorahnungen. Angst? Nein, das ist keine Angst. Ich habe die Angst kennengelernt, oft zuvor, und dies hier ist keine Angst. Was also ist es dann? Er näherte sich dem Punkt, an dem er sich nach rechts wenden mußte und sehen würde, was die Klippe verbarg. Er beschleunigte seinen Schritt. Dummkopf! Nur Verrückte rennen in ihr Unglück! Er wollte nicht langsamer gehen, aber plötzlich stand er still.
Warum? Er wußte es nicht. Die Klippe wartete darauf, umrundet zu werden. Was sonst noch? Irgend etwas? Oder gar nichts? Da ist wieder dieses Gefühl. Was ist es? Diese seltsamen Gedanken! Er sagte sich, daß er schon zu alt sei, um noch ein Feigling zu werden. Er ging vorwärts, und dann waren es plötzlich nur noch wenige Meter. Er spürte das Gefühl. Es war Angst. Er verstand nichts. Er tat alles zugleich: er fühlte die Angst vor dem Unbekannten, ein urtümliches, unheimliches Würgen. Es gab deutliche Unterschiede, tieferer, schwärzerer, unbewußterer Angst vor dem Terror des Gesetzes, des Gerichtsverfahrens, der Bestrafung, der Korrektur, dem Schwarzen Loch, der knappen Nahrung und den argwöhnischen Wachen. Diese Angst, die er jetzt spürte, war wie die Angst, die man im Dschungel hatte. Er umrundete den Vorsprung, trotz seiner Angst, und sah nichts. Er entspannte sich. Leben, du bist ein verdammt schlechter Scherz. Wer lacht da so schäbig? Danach schien alles einfach zu sein: eine geradlinige Suche, die Blicke auf den Boden geheftet: Staub, Steine, Ödland. Der Wind raschelte leise, aber es gab hier keinen Strauch oder Baum, in dessen Blätter er fahren konnte. Entfernte Gebirge ragten schweigend am Horizont auf. Andri ging weiter, den Blick auf den Boden gerichtet.
Ein Wort drängte sich leise in seine Gedanken: Funkgerät. Er wußte, es war wichtig, dennoch nahm er keine Notiz davon. Funkgerät? Vergiß es! Mach weiter! Dann ein anderes Wort: Zeit. Zeit? Nein, es bedeutete weniger als nichts. Zeit? Das Wort suggerierte Hast, Dringlichkeit, Vorsicht. Hast? Hier, wo sich sogar die Winde Zeit lassen? Dringlichkeit? Warum, die gibt es nicht auf dieser Welt; sogar der Staub läßt sich nicht drängen. Und Vorsicht? Ich habe die Klippe der Angst umrundet. Wozu noch Vorsicht? Dennoch hallten die Worte in seinem Gehirn wider: Funkgerät, Zeit, Hast, Dringlichkeit, Vorsicht. Dazu die schwach dämmernde Erkenntnis: Du brauchst genauso lange auf dem Weg zurück, wie du bis hierher gebraucht hast. Aber er konnte nicht sagen, wohin genau er ging. Deshalb verschwand die Wahrnehmung aus seinem Bewußtsein, wurde unwichtig – mit der Ausnahme, daß sie sich mit den Begriffen Funkgerät, Zeit, Hast, Dringlichkeit, Vorsicht verband. Andri suchte weiter. Staub entstand wie von selbst, als sich die blaue Sonne dem Untergang zuneigte. Die Schatten wurden länger. Die Schatten von Felsen, Trümmern und eines Mannes. Was suche ich eigentlich? Die Früchte von Vans Intuition; hängen denn welche am Baum seines übersinnlichen Gehirns? Wie sollte das
auf diesem toten Planeten möglich sein? Aber seine früheren Erfolge – Hat Van wirklich etwas Ungewöhnliches erspürt? Andri suchte, ohne zu wissen, was er suchte, und vergaß dabei den sich verdunkelnden Himmel, die Schatten und die hereinbrechende Nacht. Sie stahl sich über das Land, wie sich eine gefährliche Verantwortungslosigkeit über seinen Verstand stahl. Plötzlich hielt ihn ein eisiger Schreck an.
6 Sie hielt den Körper, als ob sie sein Gewicht nicht spürte. Starke Arme preßten ihn an sie, und das Gesicht war verborgen, wie zum Schutz an ihre üppige Brust gedrückt. Ein enttäuschter mütterlicher Instinkt? Enttäuschte sexuelle ...? Wie auch immer, enttäuscht! Leblose Hände hingen herab. Langes schwarzes Haar fiel über ihren Arm. Keek erstarrte. »Jocelyn!« »Nein, es ist Andris Rekrut«, sagte sie mit mürrischer, aber dennoch triumphierender Stimme. Ein kalter Schauer überlief ihn und hinterließ eine unangebrachte Hochstimmung im Angesicht des Todes. Besonders wie sie ihn angesehen hatte, die furchtbarste Möglichkeit angedeutet und sie für einen Augenblick hatte wahr werden lassen, bevor die Wahrheit zum Vorschein gekommen war, ließ ihn erneut erschauern. Ein weiterer Blick ließ ihn die Unsinnigkeit erkennen, Jocelyns Namen mit einem Bündel schwarzer Haare und dem Tod in Verbindung zu bringen. Ruthe ließ den Toten zu Boden fallen. Gott! Warum bin ich so unwiderstehlich zum Tod hingezogen? Mußte ich gehen und nach dem Mädchen sehen? Und nach den beiden Jungen? Zuerst finde ich ein totes Mädchen, dann einen toten Jungen!
»Sicher nicht in die Gefrierkammer, Van? Sie ist überfüllt. Ich dachte –« »Keine Frage. Ich bin einverstanden.« Channen wandte sich zum Schrank, in dem sein Raumanzug hing. »Ich kümmere mich schon darum.« Ogan zog sich an und hob den Körper mit Leichtigkeit auf ihre Schultern. Van beobachtete sie und erinnerte sich an seine Sentimentalitäten gegenüber dem Mädchen, dem Kind. Der junge Mann war etwas anderes. Aber warum? Er schüttelte sich. Er wußte keine Antwort. Es war einfach so. Auf der Schulter Ruthe Ogans lag ein Toter, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein Ding, keine Persönlichkeit mehr. Zu Keeks Erleichterung trug sie ihn hinaus. Er hoffte, daß ihr Geist dem Leichnam folgen würde. Draußen auf der Rumpfhülle befreiten sich ihre Gedanken. Hier war sie fest im Glauben. Sie sah den Himmel, ein dramatisches Bild blitzender Sterne auf schwarzem Samt, ein farbiges Wunderwerk. Sonnen brannten für immer. Meteore blitzten gelegentlich auf. Himmlische Strahlung badete sie in wildem Licht. Ja, ich habe eine Seele! Ich glaube! Ich glaube! Hier und jetzt wenigstens! Aber – Sie weigerte sich, an die Stunden voller Zweifel, die Zeit des ungläubigen Thomas zu denken. Sie war fähig zu glauben!
Mit feurigen Gebeten stieß sie den Leichnam in sein kosmisches Grab, jenes Gewölbe, dessen Wände niemand je gesehen hatte. Er trudelte in die endlose Finsternis. Bald war er ein Punkt, dann kein Punkt mehr, dann nur noch nichts. »Amen!« sagte sie und starrte entrückt auf die göttliche Schöpfung in ihrem ewigen Glanz. Ich glaube! Sie glaubte. Drinnen beobachteten sie Van und Keek über Andris Schirm: Andri, der vielleicht nie zurückkommen würde, der vielleicht schon so tot wie der Junge war. Channen fühlte bitteren Zorn, als er den Körper abtreiben sah. »Das hätten wir also! Der junge Fühler ist fort, und unser Fühler ...« Er konnte den Satz nicht beenden. »Wenn Andri ... du weißt, was ich meine. Wer übernimmt dann seinen Job?« »Wie haben wenig Auswahl!« Keek setzte sich, machte sich mit den Kontrollen vertraut. Sie schienen einfach zu bedienen zu sein. Er glaubte, daß er damit zurechtkommen würde, falls Andri tatsächlich nicht zurückkehren sollte. »Keek, es wird nicht gehen!« Channen verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als der Fleck auf dem Schirm verschwand. Andri, bist auch du verschwunden? Natürlich, Andri, aber ich hoffe, nicht so unwiederbringlich wie dieser Junge! Der Schirm zeigte nun nur noch Ogan und das All.
»Versuch mal die Simulatorhandschuhe, Keek!« »Was soll ich? Oh, ich verstehe.« Keeks Hand würde die sensitiven Fingerkuppen nicht erreichen können. »Könnten wir sie nicht kürzen?« »Das werden wir tun müssen, wenn es nötig werden sollte. Aber wir werden trotzdem Schwierigkeiten bekommen.« Keek zählte seine Finger. »Ja, ich habe nur drei Finger!« »Und du vergißt das Schweißgerät und den Greifer!« »Und meine physischen Unzulänglichkeiten.« Er rümpfte die Nase. »Ruthe wird hier einspringen müssen, und du kümmerst dich um die Sichtschirme.« Bei Gott! Ich mache schon Pläne für den Fall, daß er nicht zurückkehrt. Ich habe ihn bereits aufgegeben. Um sich selbst davon zu überzeugen, daß er zu pessimistisch dachte, fügte er hinzu: »Es ist eine zeitlich begrenzte Maßnahme, bis er wieder da ist. Und nur für den Fall eines großen Alarms, bei dem alle Sensoren benötigt werden.« »Oh, natürlich«, sagte Keek leichthin. »Er wird zurückkommen.« Van streckte die Hand aus, um Keek zu berühren und festzustellen, ob seine Zuversicht gespielt war oder nicht, als die Luftschleuse zischte und Ruthe zurückkehrte.
Sie legte den Raumanzug ab. Ihr Gesicht drückte tiefe Ruhe und Zufriedenheit aus. Innerlich fragte sie sich, wie lange wohl diese spirituelle Wärme anhalten würde. Wie lange es dauern würde, bis die Ereiferung nachließe und die eisige Luft die Zweifel mit sich brächte. Es war erfrischend da draußen gewesen, fast ekstatisch, aber es würde nicht so bleiben. Tiefe Furchen beherrschten ihr Gesicht, und sie setzte ihre Maskerade fort. »Du hast eine unerfreuliche Aufgabe erledigt, Ruthe. Danke!« Sie starrte in Channens Gesicht. Konnte er durch sie hindurchsehen oder gar in sie hinein? »Es war – eine Erfahrung.« Das war irreführend, und es war eine Untertreibung! Ja, es war wirklich eine Erfahrung gewesen: Sie stand allein mit Gott in Seinem Königreich, ein wahrhaft erhebendes Gefühl. Nun war sie wieder innerhalb des Schiffes und fühlte sich schlecht. Bitte, schicke mir einen Alarm, eine Droge für einen Süchtigen, der sie dringend und für immer benötigt! Einen, der sich unheilbar krank stellt und der nicht geheilt werden möchte! Keek verpackte ihren Raumanzug und räumte ihn weg. Sie beobachtete seine Bewegungen und dachte über ihn nach. Fühlte er sich sicher mit seinen Grundsätzen, sei-
nen Glaubensartikeln, seinen vielfältigen Göttern? Waren seine fremdartigen Gottheiten so wirklich wie ihr Gott oder ebenso unwirklich? Suchten sie beide die Wahrheit und interpretierten sie nur unterschiedlich? Gab es überhaupt eine unveränderliche Universelle Wahrheit, dieselbe für jedermann und auch für Mißgeburten offen? Was erwartete Keek nach seinem Tode? Tod? Jetzt weiß ich, was mich so fasziniert: Ich habe gezittert, als ich vor ihm stand, aber vielleicht suche ich ihn, obwohl ich ihn fürchte! Und Keeks seltsame Mythen und Legenden? Daran konnte er doch nicht wirklich glauben. Das war doch nur Zeitvertreib, erfundene Geschichten, Anekdoten, mit denen man beschränkte Geister amüsiert. All das war fiktiv, schlau ausgedacht, aber unglaublich, genial, aber erfunden, völlig irreal. Es waren Geschichten, die zur Unterhaltung dienten. Sie lächelte beinahe. Ein Vergleich kam ihr in den Sinn. »Eitle Geschichten, um eitle Stunden zu füllen.« Es ist verrückt! Wandernde Welten – »Mein Gott!« Er schluckte und ließ sich zu Boden fallen. Wie im Fieber kratzten seine Hände den Staub beiseite. Er schwebte langsam über einen Riß im Boden davon. Irgend etwas funkelte und glitzerte ma-
gisch in der zunehmenden Dämmerung. Andris Hände stürzten sich darauf und gruben Dutzende von Edelsteinen aus. Ein glitzernder Wasserfall ergoß sich zwischen seinen zitternden Fingern, ein Strom purzelnder Juwelen, Feuerschauer, die nicht brannten. Wenn es das ist, wofür ich es halte – Er seufzte, dann stöhnte er einen Namen in schier unglaublicher Verwunderung. »Hyperdiamant!« Es konnte nicht sein, und doch sah es genauso aus. Wenn es kein Hyperdiamant war, dann doch ein Stoff, der sehr ähnlich sein mußte. Es lebt nicht, Van, aber es ist trotzdem fabelhaft! Er hatte die Substanz noch nie gesehen, außer auf Bildern oder ab und zu am Hals einer reichen Frau. Was für ein gewaltiger Profit für Far Search! Aber nicht genug, um mich loszukaufen! Konnte er seinen Fund präzise genug lokalisieren? Es würde schwierig sein, aber möglich. Er zählte die Schritte, die er zurück ging, dann kam die Klippe und das Erkundungsschiff. Auf EG 13 würde ein Band aufgezeichnet haben, wo er niedergegangen war. Es sollte leicht sein. Bis auf drei Haken war die Sache klar: Er mußte die richtige Richtung finden, er mußte geradeaus laufen, und er mußte die Klippe finden. In der mondlosen Nacht konnte er sie alle verfehlen. Falls er sie verfehlte, würde er loslaufen, bis er vor Erschöpfung umfiel.
Dann mußte er auf den nächsten Tag warten und wieder ganz zurückgehen, um es erneut zu versuchen. Das konnte eine langweilige Prozedur werden. Er steckte zwei Steine in seine Tasche. Das Tageslicht war endgültig verloschen, und er legte sich flach auf den Boden. Heilige Mutter Gottes. Ein gewaltiges Vorkommen schien tief in den Felsen hinabzureichen. Unter den zerbröckelnden Edelsteinen lag eine metertiefe Schicht, die massiv und ungebrochen war. Sie glitzerte in schwachem Leuchten. Ist es Hyperdiamant? Es muß welcher sein! Aber es ist niemals in solch ungeheuren Mengen gefunden worden. Andri kratzte sich am Kopf, voller Zweifel, voller Mißtrauen. Wenn es kein Hyperdiamant war, was war es dann? Und wenn es welcher war, dann verwirrte ihn allein der Versuch, bei einer solch unerwartet großen Menge den Wert zu berechnen. Es gelang ihm nicht. Er konnte sich eine so enorme Zahl einfach nicht vorstellen. In seiner Tasche steckte der Wert eines Dreijahresgehaltes eines Integrators. Er drehte die beiden Stücke mit Daumen und Zeigefinger. Das Dreijahresgehalt eines Integrators! Leute von Vans Kaliber verdienten viel Geld. Nicht, daß sie es nicht verdienen. Taugenichtse wie ich, wir verdienen nichts. Das heißt, wir verdienen es schon, aber wir bekommen es nicht ausgezahlt! Es war Nacht.
Er tastete nach der Tasche. Die Juwelen klapperten. Wie konnte dieses schwache Klappern nur so viel wert sein wie Van Channen auf sieben oder acht anstrengenden Reisen? Ob es nun lächerlich war oder nicht, es war so – falls es sich wirklich um Hyperdiamant handelte. Und wie war das mit jenem gewaltigen Block, der möglicherweise tief in den Boden hinabreichte – wie tief? – einen Meter, zwei, zehn, fünfzig? Nein, so weit sicher nicht! Und wenn es nun doch kein ...? Aber es mußte einfach so sein. Warum nur leuchtet es in der Dunkelheit weiter? Dieser Felsspalt wurde von einem Leuchten erhellt, das mehr war als Tageslicht. Phantasien, Andri! Das ist kein wirkliches Licht! Warum aber scheint es dann so? Es ist bestimmt kein natürliches Licht, auch kein reflektiertes! Er starrte in den Himmel: Kein Mond, viele Sterne, aber nicht genug Licht. Es war kein reflektiertes Licht! Es konnte auch nicht natürlich sein! Oder etwa doch? Ja, wenn es kein Hyperdiamant war. Es war aber Hyperdiamant, oder? Er drehte sich um, um sich zu orientieren. Es blieb ihm nicht viel übrig, als zu raten. Er suchte sich eine Richtung aus und bestand darauf, daß es keine zufäl-
lige Wahl war. Er kam schnell voran, immer in der Hoffnung, Glück gehabt zu haben, die Klippen und das Erkundungsschiff zu finden. Er stapfte über die Steine. Vorwärts! Hoffe! Worte schossen ihm durch den Kopf: Funkgerät, Zeit, Hast, Dringlichkeit, Vorsicht. Er fragte sich, warum er nur zwei Edelsteine mitgenommen hatte. Er hätte sich die Taschen füllen sollen, um einige davon Van zu geben. Den Rest hätte er behalten sollen. Warum sollte er nicht sein Glück machen, wenn er ein freier Mann war? Ich bin ein Ehrenmann. Er lächelte humorlos. Und ein Krimineller! Schwarze Blindheit umgab ihn, und er dachte an Jocelyn. Schwarze Blindheit umgab ihn, und er dachte an die Nacht, die ihn umgab. Was verbarg sie? Einen Mann, der verzweifelt daran glaubte, daß er sich nicht verlaufen hatte? Und was sonst noch? Ein Bekken voll Licht in einer trostlosen Ebene? Und was sonst noch? Nichts; nur ein Mann und ein bißchen Licht in einer Ebene. Ja, sie ist trostlos. Trostlos und unfruchtbar. Du hast ein feines Gespür, Van, aber es war nicht genau. Dies Zeug lebt nicht. Ich wünschte, ich könnte das glauben. Das Nachdenken half nicht viel. Vielleicht war Reden besser. Er sprach laut vor sich hin, um Gespenster zu verjagen.
»Kann sein, daß meine geringe Erfahrung mit dem Zeug dazu führte, daß ich nicht erkannte, daß es eine Art Eigenleben hat. Nein, kein Leben, eher einen gewissen Glanz.« Er marschierte durch die Dunkelheit. »In meiner ärmlichen Welt hat man keine Vorstellungen von dem Zeug. Nur bei den Reichen, den Bossen, die das Zeug benutzen, nur bei diesen glücklichen Bastarden, die reich sind, weil sie den richtigen Vater haben.« Ressentiments kamen auf, als er an königliche Diademe, Armbänder und Halsketten dachte, die im Licht des Hyperdiamanten erstrahlten. Und er dachte an seine Verwendung bei den reichen planetengebundenen Konzernen: Diamantbohrer und Sägeblätter. Es lebt nicht, Van. Wen versuche ich eigentlich zu überzeugen? Er wußte die Antwort nur zu gut. Van irrte sich nicht oft. Er hatte einen guten Ruf. Er hatte Leben auf Vier gespürt. Konnte es sich in seiner Tasche befinden? War es das, wonach die anderen aus waren? Und wenn es so war, warteten sie auf Vier? Und wenn, wo? Andri stolperte durch die schweigende Finsternis, tastete blind nach nicht existierenden Hindernissen. Während er so dahinlief, öffnete er seine Tasche und holte die Steine heraus. Ungläubig starrte er sie an. Sie leuchteten.
Keek lag flach ausgestreckt auf der Liege des Integrators. Die Augen hielt er geschlossen. Er würde jeden Alarm hören. Es gefiel ihm, daß Van seine Befehle bezüglich der Wache vor den Bildschirmen entschärft hatte. Er fühlte sich wohl auf der Liege. Er öffnete die Augen. Wenn er den Kopf ein wenig drehte, konnte er den Hauptschirm sehen. Der fünfte Planet war nun schon recht groß. EG 13 ließ Vier hinter sich – und mit ihm Andri! – bei seiner unveränderlichen Schleife um eine andere Welt. Drei Satelliten umkreisten Fünf, zwei davon waren sichtbar. Einer von ihnen war eine Kugel. Sie würden abgesucht werden, sobald EG 13 den Mutterplaneten erreicht hatte. Die kleine Planetenscheibe und ihre kleine Familie wurden beinahe zusehends größer. Und dahinter wartete Planet Sechs auf seine Untersuchung. Keek sorgte sich um den Fühler. Er hatte zehnmal den Funkkontakt verpaßt. Dreißig Stunden und keine Nachrichten, wie es ihm ging, oder ob er überhaupt noch existierte. Keek stellte sich vor, wie der Stab auf Ganymed wohl auf seine lange Abwesenheit reagieren mochte. Channen: Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck trug mehr in sich als nur die Tatsache, daß das Erkundungsschiff die besten Rückkehrgelegenheiten verpaßt hatte. Dies und eine ständige Angst.
Jocelyn: Die Bestürzung hatte ihr hübsches Gesicht entstellt, ihre Lippen bewegten sich ständig, ein Zittern und der nutzlose Versuch zu weinen. Kurz, auch sie hatte unter ständiger Angst zu leiden. Ogan: Nichts, mit Ausnahme anklagender Blicke auf Van. Keine äußeren Anzeichen von Angst. Keek schloß seine Augen erneut. Das Funkgerät brüllte los, Andri meldete sich: »Hallo, wer immer am Apparat ist, hol Van!« »Andri! Gelobt seien die Götter! Geht es dir gut?« »Ja, ja!« antwortete die Stimme voll Ungeduld. »Hol Van, mach schon!« »Bin schon unterwegs!« Er schüttelte Channen, bis er aufwachte. »Andri? Gott sei Dank! Alles klar?« Was für eine Erleichterung! Ich habe mich schon wie ein Mörder gefühlt. Reiner Blödsinn, aber so kann es einem ergehen. »Ich lebe noch, danke! Ich hatte Schwierigkeiten, das Boot wiederzufinden. Ich verlor mich in der Zeit!« Channen konnte ihm keine Vorwürfe machen. Andri war unverletzt, und das zählte in erster Linie. »Und vielleicht ist meine Irrfahrt nicht ungerechtfertigt, wenn man zurückblickt. Ich habe etwas gefunden!« »Was? Was hast du gefunden?« Ha, ich bin gerächt! Verlaßt euch getrost auf meine Intuition! Ich habe gesagt, da unten ist etwas Lebendiges. »Etwas Lebendiges?«
»Nein!« Andri machte eine seltsame Pause. »Ich glaube es zumindest. Oder besser gesagt, ich weiß nicht, was ich glauben soll.« »Das klingt etwas verworren. Versuch's noch mal!« Es muß leben! Irgend etwas lebt da unten! »Nun, da könnte – ich wiederhole: könnte – sich ein unschätzbar großes Lager von Hyperdiamant befinden!« Channen preßte die Hände an die Konsole. Hyperdiamant? Der wertvollste aller bekannten Edelsteine? Der dekorativste, meistgesuchteste und doch der seltenste von allen? »Du sagtest ›unschätzbar‹. Übertreibst du nicht ein bißchen?« Er erinnerte sich, daß man ihm mal ein winzig kleines Stückchen gezeigt hatte. Angeblich konnte man ein ganzes Stadtviertel damit kaufen. »Wenn es ist, was es sein könnte, gewiß nicht! Ich habe zwei Stücke mitgebracht, und es sind noch Hunderte mehr dort!« »Dann könnte es ratsam sein, unten zu bleiben und alle aufzusammeln. Das würde den großen Schiffen eine lange und kostspielige Reise ersparen. Andererseits vielleicht auch nicht. Es könnte noch andere Lagerstätten geben. Ich würde sagen, du bleibst unten und sammelst alles auf, was du tragen kannst. Ist es weit bis zum Erkundungsboot?« »Nein, weit ist es nicht, aber dennoch unmöglich!
Hier ist das Unglaubliche: Da ist ein massiver Block, vielleicht einen Quadratmeter groß, der, ich weiß nicht, wie weit, in den Fels hineinreicht. Vielleicht nur ein paar Zentimeter, aber es wäre immer noch gigantisch im Vergleich zu jedem anderen bekannten Stück. Und es kann ebensogut noch viel tiefer reichen!« »Nicht, wenn es Hyperdiamant ist. Das kann einfach nicht sein. Es kommt nicht in so großen Stücken vor!« Und es lebt nicht. Was zum Teufel ist los auf Vier? »Ich verstehe, Van, aber –« Ein schwaches Klappern drang aus den Lautsprechern. Für Van Channen bedeutete es nichts. »Aber das hier verstehe ich nicht! Sag, ist es selbstleuchtend in der Nacht?« »Ich habe es nur bei Tageslicht gesehen. Wahrscheinlich ist es reflektiertes Licht!« »Hier gibt es kein Mondlicht! Alles ist so finster wie Ogans Herz! Es ist sicher kein reflektiertes Licht, aber dennoch leuchtet es! Wie mir scheint, habe ich deine Intuition in Schwierigkeiten gebracht. Ich habe nie zuvor Leben in solcher Form gesehen. Ich glaube nicht, daß es Hyperdiamant ist, Van, jetzt nicht mehr!« Auch Channen tat es nicht. »Ich bin jetzt abhängig von deiner Beurteilung, Andri: sieht es irgendwie gefährlich aus? Wenn ja, sieh zu, daß du das Zeug los wirst!«
»Das kann nicht sein! Es sieht nicht so intelligent aus, als daß es Feindseligkeit aufbrächte! Möglicherweise lebt es auf dieselbe dumpfe Art wie ein Wurm oder eine Schnecke. Oder wie eine Pflanze.« »Mag sein!« sagte Channen widerstrebend. Ich schwöre, ich habe mehr als das erahnt! Leben und Intelligenz! Aber wie kann ein Stein intelligent sein? Ich muß es riskieren. Wenn es Hyperdiamant ist, und wir lassen ein Vermögen da unten liegen, wird eine gewisse Person sicher dafür sorgen, daß es auf die Bänder kommt, sobald sie es erfährt. Er wußte, wie schwer es war, ein Geheimnis an Bord eines Schiffes zu bewahren. »Ich bringe es mit hinauf, Van!« »Warte eine Minute!« Channen überlegte hastig. »Hör zu, wir sind auf halbem Weg nach Fünf, wir werden den Orbit bald erreichen!« Der interplanetare Abstand ist kurz ... »Selbst mit den Extra-Triebwerken und der Beweglichkeit des Erkundungsbootes wirst du uns nicht erreichen, ehe wir auf der Rückseite des fünften Planeten sind. Du müßtest uns nachjagen!« Er verstummte, versuchte eine Entscheidung zu treffen, wie das Boot am besten wieder mit EG 13 vereint werden könnte. Andri schlug den offenkundig sinnvollsten Plan zuerst vor. »Was hältst du davon? Ich starte sofort nach Fünf, tauche in einen anderen Orbit ein und treffe euch auf
der Vorderseite. Ich kenne eure Bahn, das sollte kein Problem sein. Und ich denke, ihr werdet nicht in Eile sein.« Van bestätigte seine Vermutung mit einem Lachen. Er vermied es absichtlich, die Fremden zu erwähnen. Andri beabsichtigte, sofort zu starten, und der Funkkontakt brach ab. Als Van sich umsah, stand Ruthe hinter ihm. Keek hatte sich wieder auf der Liege zusammengerollt. Sie starrte ihn an, ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Narr! Untersagt oder nicht, ich werde die Bildschirme für meine Zwecke verwenden, ich muß einfach! Van biß sich auf die Unterlippe. Wieviel hatte sie gehört? Warum starrte sie Keek so an? Sie setzte sich zwischen die Liege und den Hauptbildschirm, und Keek schrak auf. Seine Wache dauerte noch vier Stunden, aber er kümmerte sich nicht darum, ob sie stehenblieb, bis sie Wurzeln schlug. Er konnte die Augen jederzeit schließen oder um sie herumgehen. Er schüttelte sich uninteressiert und drehte sich um. Die Wand war Ruthes Rücken vorzuziehen. Der Integrator hatte verlangt, den Bildschirm auszuschalten. Nein, es war besser, sie hinaussehen zu lassen. Keek konnte sich an ihn wenden, wenn sie noch lästiger wurde. Dann begab er sich in den Schlafraum A, um seinen unterbrochenen Schlaf nachzuholen. Seine Gedanken waren mit unbeant-
wortbaren Fragen beschäftigt, was für eine seltsame Substanz der Fühler entdeckt haben mochte. Er drückte den falschen Schalter, und das Erkundungsboot begann gefährlich zu schwanken. Feuer schoß aus zwei der Düsen, es gab einen ungleichmäßigen Schub. Die anderen Düsen feuerten, als er mit ungeschickten Fingern seinen Fehler korrigierte. Er ermahnte sich selbst, an sein Training zu denken. Es war hastig absolviert worden, aber vermutlich dennoch nützlich. Es war nicht leicht, an etwas anderes zu denken als an die Fremden und die Juwelen in seiner Tasche. Schwerfällig erhob sich das Schiff und verließ den Planeten. Zuerst war er vor Freude überwältigt gewesen, darüber, daß er auf Vier landen durfte. Dann, nach der Euphorie, hatte er eine neue Art von Furcht kennengelernt. Dann folgten Aufregung, als er die Edelsteine entdeckt hatte, und Anspannung auf der Suche nach dem Schiff. Jetzt, beim Rückflug, empfand er Freude. Das System des fünften Planeten schwebte deutlich vor seinen Augen: die Hauptwelt, ein kleiner Mond und die sichtbare Hälfte eines zweiten; den dritten konnte er nicht sehen, aber er wußte, er war da. »Zufall!« sagte er laut. Er mußte die Anziehungskräfte aller vier Welten abwägen, die des Mutterplaneten und
seiner drei Sprößlinge. Das bedeutete präzise Berechnungen, genaue Einstellung der Kontrollen, schnelles Denken, Handsteuerung, wahrscheinlich einige blitzartige Korrekturen, plötzliche Entscheidungen. Er fühlte kein Vertrauen in sich. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihm einen winzigen glänzenden Punkt: EG 13, das Mutterschiff auf dem Weg zu Fünf. Es bewegte sich langsam, aber es hatte schon drei Viertel der Distanz zurückgelegt. Das Erkundungsboot war nicht schnell genug, um es einzuholen. Dann fliegen wir ihm eben entgegen. Er grinste und änderte den Kurs. Dieser Versuch würde nicht leichter sein! Eine abrupte Verzögerung, dann mußte er sich vorsichtig treiben lassen, bis er das Andockmanöver vollziehen konnte. Van konnte weder die Geschwindigkeit von EG 13 ändern, noch deren Bahn. So blieb die schwierigste Arbeit an Andri hängen. Er hatte kein Vertrauen in sich. Das System schien sich auf ihn zu stürzen, als er sich in die Umlaufbahn begab. Einer der Satelliten schien nun größer zu sein als der Planet selbst. Die verschiedenen Anteile der Gravitation waren kaum zu spüren. Ich träume! Aufmerksam widmete er sich den Kontrollen. Keine Ungeschicklichkeiten jetzt! Nun kannst du zeigen, was du kannst! Schließlich hast du den Strafkomplex auch überlebt!
Er bemerkte, daß er sich über sich selbst freute, über die Unberechenbarkeit, über die Unabhängigkeit, darüber, daß er sich auf sich selbst verlassen mußte, über die Herausforderung. Er dachte daran, bei Far Search zu bleiben, wenn er seine Strafzeit abgedient hatte und endlich wieder ein freier Mann war. Der Alarm ertönte. Der fünfte Planet war in der Mitte des Bildschirms zu sehen, oben und unten hielt er einen Satelliten in der Hand seiner Schwerkraft. Planet sechs war ein winziger Fleck weit draußen. Ruthe kümmerte sich nicht um ihn. Er konnte warten. Was sie auf dem Bildschirm sah, war wichtig. »Channen!« Es war dringlich, zu dringlich. »Van, bitte schnell!« wiederholte sie ungeduldig. Er war bereits in der Kontrollstation. »Was ist los? Doch nicht schon wieder?« »Ich fürchte es! Die Geschichte wiederholt sich!« Nur ein schmaler Zwischenraum trennte den oberen Mond von der Scheibe des Planeten. Ein unendlich kleiner glitzernder Punkt glitt über diese Lücke; es war ein Schiff! »Die Fremden! Sie haben sich die ganze Zeit hinter diesem Mond versteckt.«
Van wurde klar, daß seine Annahme, die Fremden seien hinter Vier versteckt, nicht zutreffend gewesen war. Dann erinnerte er sich. Der Hyperdiamant. Der Pseudo-Hyperdiamant, besser gesagt! Ich habe nicht sie gespürt, sondern diese Steine. Aber wie kann ein kalter Stein die Intelligenz haben, die ich gespürt habe? Da steckt mehr dahinter, als ich auch jetzt noch ahne! Er fühlte sich plötzlich klein und winzig. Seine Haare sträubten sich bei der Erkenntnis, daß er einfach nicht genügend Informationen besaß. »Ruthe, bilde ich es mir nur ein, oder ist das Schiff größer als beim letzten Mal?« »Ein bißchen, vielleicht. Aber vergiß nicht, daß wir dieses Mal ein bißchen näher dran sein könnten.« Irgend etwas stimmte nicht. »Kann sein!« antwortete er reserviert. »Wenn es sich nicht um ein anderes Schiff handelt, einen anderen Fremden. Ich hatte früher den Eindruck gehabt, daß sich mehr als nur einer hier herumtreibt.« Oder haben wir zufällig das eine Schiff dreimal getroffen? Oder sind es drei Schiffe, und wir sahen jedes Mal ein anderes? »Eines genügt jedenfalls für uns! Betet, mehr können wir nicht tun!« Ogans Gesicht drückte innere Agonie aus. Van studierte den winzigen Punkt, aber er konnte keine Details erkennen. Es war und blieb nur ein winziger Fleck, ein Schiff, unidentifizierbar. In seinen
Gedanken kämpfte die Beruhigung über die Entdekkung mit der Überzeugung, einen lebenswichtigen Faktor außer acht gelassen zu haben. Er konnte aber nicht feststellen, was für einen Faktor er übersehen haben könnte. Seine Gedanken wandten sich wieder dem vierten Planeten zu. Hatten sie eine neue Lebensform übersehen, die neben den Edelsteinen existierte? Die Edelsteine? Konnte man behaupten, daß sie lebten? Andri meinte, sie stünden höchstens auf der Stufe von Würmern und Schnecken. Leben, vielleicht. Aber so fortgeschritten, um Feindseligkeit zu entwickeln, niemals! Die Steine konnten nicht gefährlich sein, und vielleicht stellten sie sich am Ende als echte Hyperdiamanten heraus. Und doch könnte es anders kommen! Er wünschte, er hätte die Gewißheit, daß die Steine doch ungefährlich waren. Der Punkt verschwand hinter dem fünften Planeten. Nun, wenn Andri glaubt, sie sind in Ordnung, mir soll es recht sein. Echter Hyperdiamant oder nicht, er war sicher, daß er das Richtige getan hatte, als er Andri befohlen hatte, die Steine mitzubringen. Er vertraute auf Andris Meinung und – Die Rückseite! »Ruthe, warne Andri! Sieh nach, ob er auch nur die geringste Chance hat, seinen Kurs zu ändern, bevor er die Rückseite von Fünf erreicht!« Er rannte zum Funkgerät und wußte, wie groß die
Chance war. Er beugte sich über das Gerät. »Andri? Hallo, Andri!« Stille. »Andri!« Er bekam keine Antwort. Na los, komm schon! Er versuchte es erneut und hörte das Rauschen der Statik, aber keine Stimme. Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu. Man sah nichts außer dem unteren Viertel von Fünf, einen der Monde, das schwarze All und die Sterne. Kein Erkundungsboot. Ogan schien plötzlich betroffen. »Er könnte sonstwo sein, vielleicht schon hinter Fünf, oder verdeckt von dem Mond. Vielleicht würden wir ihn nicht sehen? Er ist –« »Wir würden wohl einen winzigen Fleck sehen, denke ich!« Das war nur eine Geste. Er war verloren in dem Augenblick, in dem er den Planeten verließ. Ich belüge mich selbst, wenn ich mich einem unmöglichen Traum hingebe. Dann folgte ein anderer irrationaler Gedanke: Es war seine eigene Idee, um Fünf herumzufliegen, und doch fühle ich mich wie ein Mörder!
7 Andri kämpfte mit dem Boot, und das Boot schlug zurück. Ungeübte Hände glitten über die Kontrollen, wollten einen Schalter betätigen und erwischten seinen Nachbarn. Wo ist die Geschicklichkeit geblieben? Welcher Narr sagte, daß du es schaffst, wenn du mußt? Der Mond stand drohend vor ihm auf dem Bildschirm, und er hatte den Annäherungswinkel falsch eingeschätzt. Du hast es schon einmal geschafft, Mann! Denk an den Strafkomplex! Er betätigte einen Hebel; der daneben liegende Hebel kippte. Das Boot erzitterte, schüttelte ihn in seinem Sitz hin und her, dann stürzte es sich auf den Satelliten. Leder verbiß sich in seiner Brust, ein Zeichen, daß er seine ersten Lektionen noch nicht ganz vergessen hatte: Zuerst anschnallen! Sein Blick huschte über die Konsole, verzweifelt versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, welche Anzeige welche Funktion anzeigte. Er betätigte Schalter, manchmal die richtigen, aber ebenso oft die falschen. Die Gurte zogen sich zusammen, seine Arme wirbelten durch die Luft, als das Schiff abtrieb. Seine Fäuste hämmerten heftig auf das Metall der Konsole, nicht aus Wut, sondern weil er das steuerlose Schiff nicht unter Kontrolle bekam. Du schaffst es, Andri! Denk an den Komplex! Dann wurde
ihm klar, daß er auf dem falschen Weg war. Vergiß den Komplex! Konzentriere dich darauf, am Leben zu bleiben! Das tat er. Er stöhnte vor Anstrengung und konzentrierte sich darauf, am Leben zu bleiben. Schrittweise wurde der Mond kleiner, aber seine Schwerkraft versuchte nach wie vor, ihn in seinen Bann zu schlagen. Andri wußte, daß er noch nicht frei war! Er betätigte einige Schalter, diesmal die richtigen. Irgendwo piepste eine Stimme: »Andri? Hallo Andri?« Er hatte keine Zeit zu antworten. Das Mikrofon hing vor ihm am Instrumentenpult, war aber nicht eingeschaltet. »Andri!« Sekunde, Van! Ich hab nur zwei Hände! Er beugte sich vor, stemmte sich gegen die Gurte, bis sein Kinn den kalten Stahl berührte. Seine Zähne umklammerten die Leitung, und er warf den Kopf nach hinten. Das Mikrofon fiel krachend auf die Instrumente. Eine Lampe zersplitterte, und eine Anzeige zersprang in lauter kleine Stücke. Zwei Dinge weniger, um die ich mich sorgen muß! Seine Hände waren weiterhin mit den Kontrollen beschäftigt. Aber das Funkgerät war nahe genug. Er lehnte sich zurück, blickte jedoch immer wieder auf den Schirm, auf dem der Mond immer kleiner wurde, während der fünfte Planet heranjagte, um seinen Platz einzunehmen.
»Ja, Van, ich kann dich hören!« Schritte klapperten über die Bodenplatten von EG 13. Das Funkgerät dort übertrug sie getreulich. »Andri? Hör zu, hast du irgendeine Chance, und sei sie noch so klein, den Kurs, den du um Fünf herum nehmen willst, zu ändern? Es ist egal, wie gering sie sein mag!« »Nicht die allergeringste, Van, du weißt es so gut wie ich. Warum?« »Die Fremden werden dir entgegenkommen! Du triffst sie noch vor uns.« »Das ist schlimm! Aber so ist das Leben! Oder der Tod!« Er lachte. »Andri, sei ernsthaft! Es ist nicht nötig, daß wir das Rendezvous zum erstbesten Zeitpunkt durchführen, der möglich ist. Wir haben auch noch später Zeit. Laß mich nachdenken. Wenn du deinen derzeitigen Kurs verläßt und auf unsere Bahn gehst, dann sind wir wenigstens zusammen, wenn –« »Das ist nicht gut, Van. Ich kann die Bahn nicht mehr verlassen. Ich hatte eben zu kämpfen, um sie zu halten und nicht auf Fünf landen zu müssen!« Kurz erklärte er, was vorgefallen war. Der Mond glitt aus dem Bild, während der Planet immer größer wurde. Er floh vor einer Welt, während die andere bedrohlich näher kam. Und während er sich mit dem Mutterschiff unterhielt, kämpfte er um eine stabile Bahn.
»Wo genau bist du? Wir können dich nicht sehen!« Andri schätzte die Position des Mutterschiffes. »Hinter einem dieser Monde. Von euch aus gesehen auf der Rückseite. Die Bücher sagen, daß Fünf ein kleiner Planet ist, aber er sieht von hier verdammt groß aus!« Er starrte auf Fünf, als sei er hypnotisiert worden. Ein anderer Mond lugte über den Rand. »Ich sehe eben, daß ich mit einem weiteren Mond zu kämpfen haben werde!« Ruthe Ogans tiefe Stimme ertönte. Unnötigerweise gab sich Channen Mühe, höflich zu sein: »Entschuldige mich einen Augenblick!« Andri konnte hören, wie er sich zum Hauptbildschirm begab. Ogan konnte nirgendwo sonst sein. Nach kurzer Zeit war er zurück. »Wir haben dich jetzt auf dem Bildschirm. Du kommst hinter einem der Monde hervor und bewegst dich auf –« Er zögerte. »Nur zu, sag es ruhig! Es ist zu spät, ich sitze ganz schön in der Tinte. Nun, dann auf Wiedersehen oder Lebewohl!« »So etwa!« gab Channen widerstrebend zu. Er ertappte sich dabei, wie er seiner Stimme einen pathetischen Klang geben wollte, aber es kam nichts dabei heraus. »Es gibt wohl keine Hoffnung – den Kurs zu än-
dern, meine ich. Wir müssen unseren Weg gehen, beide um Fünf herum, aber aus entgegengesetzter Richtung.« »Es ist, wie ich schon sagte: C'est la vie! Möglicherweise hat die Sache einen Vorteil. Sie müssen uns gleichzeitig bekämpfen.« »Ich wünsche dir viel Glück; und uns. Wir haben nichts, womit wir zurückschlagen könnten. Nun gut, machen wir Schluß. Halte uns auf dem laufenden, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht.« Andri lachte leise. Ich habe den Komplex überlebt, ich werde auch das hier überstehen! »Es wird nichts Unvorhergesehenes geschehen!« antwortete er. »Ich denke, ich kann alle möglichen Ereignisse voraussehen, und sie werden alle katastrophal sein!« Er lachte erneut, als das Funkgerät verstummte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Kontrollen zu und dem massigen Körper des Planeten. Schrecken und Angst schüttelten Jocelyn unaufhörlich. Angst um Andri, das Schiff und schließlich um sich selbst. Das Universum bestand aus nackter Angst, die tief in ihrem Herzen und in ihren Augen steckte. Die Aussicht auf einen schrecklichen Tod erfüllte sie zusätzlich mit Schrecken, und sie wußte, daß sie ohne Keeks Fürsorglichkeit in einen Ozean verworrener Schreckensvisionen gestürzt wäre.
Er war immer da, wenn man ihn brauchte, wohlwollend, freundlich, optimistisch, vertrauensvoll. Du hast mir in der vergangenen Stunde wahrscheinlich ein gutes Dutzend Lügen aufgetischt, du kleiner Schurke! Manchmal kann eine Lüge wichtiger sein als die Wahrheit. Und ich liebe dich nicht weniger dafür! Sie streichelte ihn zärtlich, wie er da lag, über den Tisch gebeugt. Sie verließ den Raum und tastete sich zum Kontrollraum. Keek schlief nur selten, aber gerade jetzt war er in seiner Zelle eingenickt. Er wäre wohl entsetzt, wenn er hörte, daß sie ihn nicht weckte, aber das mußte riskiert werden. Sie sagte sich selbst, daß sie sich mehr um Unabhängigkeit bemühen mußte; sie würde nicht immer das Glück haben, mit Keek zusammen reisen zu können. Auf sechs Flügen hintereinander war sie mit Keek zusammengewesen, aber der nächste Kontrakt – wenn es je einen gab – konnte sie trennen. Oder war es mehr als nur Glück gewesen? Konnte eine bestimmte Person auf der Ganymed-Basis etwas arrangiert haben? Van war eine einflußreiche Persönlichkeit und hatte vielleicht Andeutungen bei den richtigen Stellen gemacht. Sogar Keek konnte das getan haben. Er war hochgeschätzt bei jedermann, mit dem er zusammengearbeitet hatte. Vielleicht war das Leben doch nicht so grausam. Sie hörte Channen, der im Kontrollraum hin und
her ging. Er geleitete sie zum akustischen Sensor, obwohl kein Alarm gegeben war. Er weiß, was ich möchte: nur horchen, hoffen, an Andri denken, der da draußen zwischen dem Rauschen der Sterne ist. Und er hilft mir. Ja, er konnte durchaus etwas für mich getan haben. Danke, Van! Sie brauchte nichts sagen. Sie drückte dankbar seinen Arm, und er zog ihn fast ruppig weg. Die Kopfhörer brachten ihre Haare in Unordnung. Dumpfe Geräusche drangen herein. Zwischen ihnen schien jemand Andris Namen zu flüstern, während er selbst eine haarsträubende Irrfahrt zwischen Fünf und seinen Satelliten durchstehen mußte. Es war herrlich gewesen, seine Stimme zu hören, und sie hatte sich regelrecht gefürchtet, als sie von seinen Schwierigkeiten gehört hatte. Er hatte sich auf das Rendezvous vorbereitet und steuerte nun einem anderen entgegen, das er sich nicht gewünscht hatte und dem er vielleicht nicht entkommen konnte. Das Erkundungsboot raste über die Scheibe des zweiten Mondes. Eine Scheibe über der Scheibe des fünften Planeten. Wie zwei Münzen. Wie lange ist es her, daß ich Geld ausgegeben habe? Plötzlich sank die Geschwindigkeit rasch ab, das Boot verzögerte enorm, machte ihn benommen. Das Trägheitsmoment zerrte ihn vorwärts, und die Sicherheitsgurte rissen. Er versuchte sich irgendwo abzustützen. Ein glühender
Draht schlug ihm ins Gesicht, als die Instrumentenkonsole zerbarst. Glas und Metallsplitter rissen ihm das Gesicht auf. Er schrie vor Schmerz. Meine Augen, Gott sei Dank, sie sind unverletzt! Die Kiste war dafür nicht gebaut, und ich auch nicht, oder doch? Drei Kräfte zogen an dem kleinen Schiff. Die eigenen Maschinen stießen einen Feuerstrahl aus, als Andri mit dezimierten Kontrollen versuchte, das Schiff auf Kurs zu halten. Der Planet und sein Mond zerrten mit ihrer Gravitation und verringerten die Geschwindigkeit. Das Erkundungsboot stoppte. Einige Platten der Hülle wurden eingedrückt. Andris Schultern krümmten sich, zogen seine Hände von den Haltegriffen. Der Anprall stieß ihn erneut gegen die Konsole, und einen erschreckend langen Augenblick herrschte kosmisches Gleichgewicht. Das Boot blieb einen Herzschlag lang ohne Bewegung, und dann endete die Balance in dem Moment, in dem sie begonnen hatte. Andri war frei, und das Boot bewegte sich aufwärts. So ungefähr auf der Bahn von EG 13! Und auf der der Fremden! Er stieg noch immer, während er sich nach Verletzungen absuchte. Keine Brüche zum Glück, aber heftige Schmerzen von den Dutzenden von Schnitten, die alle genäht werden mußten. Er nahm ein Tuch und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Die Agonie endete, er warf das Tuch weg, es
war rot und naß. Das einzige, was er erreicht hatte, war, daß er sich noch mehr Splitter in die zahllosen Wunden gerieben hatte. Er würde sich einer ausgedehnten Behandlung unterziehen müssen, wenn er auf EG 13 zurückkehrte. Falls er zurückkehrte! Er starrte auf den Schirm und versuchte, die Schmerzen nicht zu fühlen. Er fühlte sie doch, aber das Bild von Jocelyn wurde zwischen ihnen sichtbar. Warum liebte sie ihn? Keine Antwort. Würde sie es noch tun, wenn sie die Wahrheit über ihn erfuhr? Wenn ich in ihren Gedanken lesen könnte, ich würde es tun! Und wenn sie in mir lesen könnte! So könnte ich sie prüfen! Er war sich klar darüber, daß das unmöglich war, und sofort wußte er auch, daß es nicht stimmte. Er dachte an Keek, das Dreieck der Liebe, die schwindelerregende Spirale der Gefühle, der Austausch und die transzentrale Einstimmigkeit, die ihn durch ihre Seligkeit und durch ihre Ausmaße ins Taumeln gebracht hatte. Lieber Gott, welch ein unglaubliches Ausmaß gegenläufiger Gedanken, die sich öffneten! Welch eine Quote an Gefühlen, Erwartungen, Träumen, Erfahrungen, Erinnerungen! Welch ein wunderbares Königreich aus kommunizierender Freude! Wenn Mann und Frau sich durch Keek gegenseitig durchdringen konnten, dann – Sexuelle Phantasien tanzten in seinem Gehirn. Eine
absolute Bindung zwischen Mann und Frau schwebte ihm vor, von Geist und Körper, Seele zu Seele, Herz zu Herz, Fleisch gegen Fleisch und Geist vereinigt mit Geist, eine Union von Körper und Gehirn und – Ein Punkt erschien. Himmlische Gnade, die Fremden! Heuchler, du glaubst diesen Schwachsinn nicht! Denk nicht nach, woher jetzt Hilfe kommen könnte; hör auf, eingebildete Nichtwesen zu rufen! Du bist auf dich allein gestellt, Andri. Verlaß dich auf deinen Verstand, nicht auf Aberglauben! Der Schock, dieses Schiff zu sehen, ließ ihn erstarren. Doch der tiefere Schock war auf seine Art weniger schmerzlich. Unmöglich zu verarbeiten, war er in die unteren Regionen seines Gehirns gesunken, blieb dort stumm und bewegungslos liegen. Unruhig wartete er dort, unfähig, hinauf an die Oberfläche zu schwimmen. Zusammen ließ sich daraus der Sinn oder Unsinn des Ganzen ableiten. Aber er vermochte es nicht. Der Fleck kreuzte die Sphäre des fünften Planeten, weit unter ihm, doch nah genug, um ihn einige alarmierende Fakten erkennen zu lassen. Es glitt auf einer kleineren Bahn als 13 dahin. Andri wußte, daß es die Sonde abfangen konnte und möglicherweise von hinten angriff. Er berechnete die Geschwindigkeiten und fand heraus, daß er 13 mehr oder weniger zur gleichen Zeit erreichen dürfte, vorausgesetzt, es wurde
ihm noch gestattet. Er hielt nach Raketen Ausschau, aber keine kam. Verwirrend ist das! Warum pusten sie mich nicht aus, wenn ich schon hier bin? Er zuckte die Schultern und suchte dabei unter Trümmern der Konsole das Radio. Gebogener Stahl traf auf seine Haut, bedeckt mit pulverisiertem Glas und einem Wirrwarr von Plastik. Einer der Kristalle schien aus der Mitte des Wirrwarrs heraus. Welche Beziehung mochte es zwischen dem Schiff und den mentalen Angriffen geben? Wie konnte er leben? Er wußte, daß es nicht sein konnte, und gleichzeitig wußte er jedoch auch, daß es so war. Keiner dieser Anfälle! Ich verstehe kaum die Hälfte davon, nicht einmal ein Viertel! Vergiß es; finde lieber das Radio! Setze deine Prioritäten richtig und warne 13; finde das Radio! Nicht daß sie auch nur das geringste unternehmen könnten, aber wenigstens müssen sie gewarnt werden; finde das Radio! Er fand es. Es war still. Manches mußte geschehen. Channen wußte es intuitiv, und der Rest der Mannschaft wußte es ebenfalls, einfach weil es so offensichtlich war. Dazu wurden keine speziellen Fähigkeiten benötigt; es war klar. Etwas mußte geschehen. Keiner sprach. Das Schweigen drohte. Erwartung schwang dazwischen.
Keiner bewegte sich. Die Stille drohte. Die Besorgnis wuchs. Keiner schlief. Die Rastlosigkeit drohte. Angst setzte sich fest. Etwas mußte passieren. Gemeinsam hielten sie sich im Erholungsraum auf. Dabei nahmen sie die verschiedenartigsten Positionen ein, doch keine davon war bequem, keiner von ihnen entspannte. Ruthe stand steif in der Mitte des Fußbodens, unnahbar und imposant, die Arme gefaltet, mit grimmigem Gesicht. Jocelyn saß aufrecht, den Rücken gestreckt. Ihre Augen starrten gegen die Wand, ohne etwas zu sehen. In Gedanken forschte sie vergeblich nach Andri. Noch immer gab es keinen Kontakt mit der abgewandten Seite des fünften Planeten, nur das schreckliche Wissen, daß er dort zusammen mit den Fremden weilen mußte. Sie versuchte zu weinen. Ein Ohr-Alarm schrillte. Jocelyn sprang auf. Keek führte sie zu den Kontrollen, und sie schaltete die Geräte ein. Überrascht rief sie: »Es ist –« Ein Auge-Alarm brummte. »Übernimm das, Keek!« Van ignorierte Ogan. Die Erwartung schlug sich erneut nieder, und Channen fühlte, daß etwas passieren mußte. »Ich bin das Auge der Sonde, Channen!« Du stehst
zwischen mir und der Außenwelt, und du kannst nicht wissen, was das für mich bedeutet! Oder wußte er was? Sie wunderte sich, daß er zu solcher Bosheit fähig war. »Nein, jetzt bist du das nicht!« Keek war der nächste. Außerdem konnte er mit optischen Geräten umgehen. Rechne ich Andri schon zu den Toten? Wir haben keinen Fühler! So geht es, wenn – Der Fühler-Alarm lärmte los. »Das ist für dich, Ruthe!« So ergab alles einen Sinn. Keek vermochte das Ende der Handschuhe nicht zu erreichen, und sie konnte es. »Ich sagte, daß das deine Aufgabe ist! Mach schon!« Sie öffnete ihren Mund in aufwallendem Zorn, aber dann schlurfte sie doch an die Anlage. Das Weib ist unfähig zur Logik! Warum kapiert sie die Improvisation nicht? Er folgte ihr und bedachte die Situation. Ogan hatte sich hingesetzt, die Hände auf die Platten gelegt. Die Lichter der Miniaturkugel leuchteten in Grün-Bereitschaft, mit Ausnahme jener, deren Transparenz ungebrauchte Zellen anzeigte. Es müssen Radarimpulse aus irgendeiner Richtung sein. Nie wird sie das richtig erkennen können! Keine Zerstörungen irgendwelcher Art. Sie hoffte nur, daß sie die Zubehörteile nicht einsetzen mußte; hierfür war sie viel zu plump. Keek sah etwas Treibendes auf dem Hauptschirm, und Jocelyns Schrei erklärte, was es war. »Andri! Der
Scout!« Er kam ständig näher, und Channen seufzte befreit auf. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit vom unteren Teil des Schirms angezogen. »Oh, nein!« Verarbeite das, Integrator! Vorausgesetzt, du kannst schnell genug denken! »Hol den Scout auf den Monitor, Keek!« Keek schaltete, und der Eindruck flimmerte dort auf. Van übernahm die Kontrolle über den Hauptraster und richtete die Sicht aus. So wurde der untere Teil nun zur Mitte. Ein weiteres Schiff tauchte auf, entfernt, aber nähergleitend. Jocelyn keuchte. »Es klingt wie –« Sie schüttelte ihren Kopf, als wollte sie damit die Tatsachen wegschütteln. »Noch kein Geräusch von sich öffnenden Schotten.« Ein Wirrwarr von Gedanken erfüllte Vans Gehirn: eine bekannte Rakete, ein Funkeln von Juwelen, Leben auf dem vierten Planeten, Außerirdische, Todeskämpfe, Tod. Ruthe Ogan brummte: »Zum Teufel mit diesen Platten!« Ihre Finger huschten über sie. »Ich weiß nicht, was sie mir sagen wollen. Ich bin ein Auge, vergiß das nicht!« Wütend blickte sie zu ihrer eigenen Sektion hinüber. Was ist passiert! Ich sitze im Finstern! Ein schadenfrohes Lächeln galt Jocelyn. »Halte die beiden Schirme, wie sie sind, Keek.«
Channen drehte sich um, dann berichtigte er den Befehl. »Es sei denn, irgend etwas Neues erscheint! Dann mußt du selbst entscheiden.« Er bewegte sich auf die Ohr-Anlage zu. »Wie klingt es!« »Gut und schlecht. Er kommt näher, aber auch die Fremden.« »Danke.« Er rannte zu den Funkgeräten und versuchte, Andri zu erreichen. Keine Antwort. »Monitor-check«, sagte Keek. »Er ist beinahe daheim. Ich nehme an, er wartet nur noch auf das Andockmanöver.« Er wußte, daß ein Andocken unmöglich war, ehe nicht der Alarm aufgehoben war. »Der Scout befindet sich in einem bedrohlichen Stadium, aber er macht ganz hübsch Dampf auf. Er ist nicht –« Hastig entschied Keek sich dagegen, das Wort auszusprechen, das ihm auf der Zunge gelegen war. Jocelyn weinte vor Glück, aber ohne Tränen zu vergießen. Dann hielt sie beunruhigt inne. Andri, flieg zurück, du Narr! Umrunde den fünften Planeten! Irgendwie, aber dreh um. Du darfst nicht hier sein, wenn diese Mikrofone das Geräusch sich öffnender Schotten auffangen! Bitte geh! Aber das machte er nicht. Er blieb. Channen versuchte es noch mal ohne Erfolg, dann legte er das Mundstück ab und blickte auf die Schirme. Das Schiff war größer geworden, und es wuchs weiter, immer schneller herbeigleitend. Das ist es, das Rendezvous, das wir verhindern wollten! Verschwinde, so-
lange es dir noch möglich ist, Andri! Die Sonde kann nicht flüchten, aber du bist dazu in der Lage! Doch der Scout blieb. Van legte eine Hand auf Keeks Schultern. »Sie werden die Bahn spät verlassen. Im Augenblick behalten sie Kollisionskurs bei. Bald werden wir Einzelheiten erkennen.« »Es wird interessant sein, sie zu identifizieren, Van. Hübsch, aber sinnlos.« Ich möchte wissen, wer mich umbringt, ehe sie es tun! Der Gedanke flatterte von Keeks Gehirn in das von Channen. »Ich höre dich nicht beten, Ruthe!« Das Schiff wuchs auf eine sichtbare Größe. Es fuhr in den Raster, größer und wachsend, größer und wachsend, größer und – Einzelheiten wurden sichtbar: Umriß, Farbe, wahre Größe. Channen murmelte: »Außerirdische –« Zu weiteren Worten war er nicht fähig. Es gab zu viel zu sagen, und es gab nichts, womit das alles auszudrükken war. Es ließ sich einfach nichts hinzufügen. Keeks erstaunte Gedanken flatterten: Eine andere Sonde!
8 Channens Gedanken drehten sich in schwindelerregender Weise. Wer waren die Fremden? Waren es überhaupt Fremde? Konnte die andere Sonde überhaupt für die drei Ausfälle verantwortlich gemacht werden? Sicher für die Rakete, das ja, aber möglicherweise nicht für die beiden Toten. Doch allein der Abschuß des Torpedos hinterließ Zweifel und Fragen. Garantierte die Anwesenheit des Fremden die Klärung des einen oder anderen Geheimnisses? Ihre schnelle Überfahrt hatte sie unsichtbar für die 13 aus der Umlaufbahn des vierten Planeten gebracht. Die kurze Kluft zwischen den Welten hatte es ihnen ermöglicht, sich hinter dem Mond des fünften Planeten zu verbergen, ehe 13 sie sehen konnte. Aber ihre Überfahrt wirkte träge. Warum hatten sie nicht hinter Vier gewartet, um die Raketen abzufeuern? Antwort: Weil sie es nicht konnten. Doch wer hatte es dann getan? Antwort: ihr Scout. Er wunderte sich darüber, daß sie einen größeren Scout als Waffenträger benutzten, wo diese Schiffe doch normalerweise eine riesige Ausrüstung an Sensoren mit sich zu schleppen hatten. Das konnte nur bedeuten, daß sie glaubten, ohne das auskommen zu können, und das bedeutete wiederum, daß sie schon
vor dem Eindringen in das System gewußt haben mußten, was sie hier erwartete. Das bedeutete aber eine noch kompliziertere Umlaufbahn als die der 13. Waren sie hinter Hyperdiamanten her! Channen hoffte es, aber es schien sich alles ganz anders zu verhalten. Was war mit Hilfe der Elektronik herauszufinden? Welche Chance hatte die Intuition? Augenscheinlich rechneten sie damit, verfolgt zu werden, wenn sie schon auf Zerstörung eingerichtet waren. Rechneten sie damit, Hyperdiamanten zu finden? Van lächelte leicht. Sie hatten sie nicht gefunden. Die Amüsiertheit schwand, als er die andere Station näher kommen sah, ein wenig niedriger und schneller als 13. Sie waren nahe genug, um zu feuern, aber das taten sie nicht. Er begriff, daß sie es nicht wagten, ehe sich ihre Bahnen nicht nahezu schnitten, weil sie sonst möglicherweise selbst in das Strahlenfeld gerieten. Hatte Andri das erkannt? Wenn nicht, warum wartete er dann, wenn er sich mitten in der Schußlinie befand, dem scheinbar unvermeidlichen Untergang ausgesetzt. Hatte er einen Plan, oder war er –? Van eilte zu den Kommunikatoren, aber er erhielt keine Erwiderung. Bewege dich hinweg, Mann! Sie geben uns den Rest, sobald sie vorbeigetrieben sind, auf den sechsten Planeten zu; dann werden sie ihren Scout losschicken! Aber Andri blieb hartnäckig stehen, oder
hilflos? Im Selbstgespräch murmelte Van eine Frage: Weshalb hatten sie die Sonde nicht vernichtet, ehe Ogans flüchtiger Blick sie erspäht hatte – als sie die abgewandte Seite des Planeten vier verließen? Keek antwortete. »Ich würde sagen, daß sie dachten, Hyperdiamanten gefunden zu haben – vielleicht mit Instrumenten, die ebenso genial wie nutzlos waren –, während sie sich nur um den vierten und den fünften Planeten kümmerten. Den sechsten fliegen sie jetzt an. Sie drangen aus einer anderen Richtung als unserer in das System ein, ohne sich um die ersten drei Welten zu kümmern.« »Klingt plausibel. Wenn sie nun zu Planet sechs fliegen, dann befindet sich das Zeug dort; wenn nicht, dann ist ihr Auftrag erledigt. Als Zugabe blasen sie uns aus dem Raum, um keinen Konkurrenten beim Rennen um den Claim auf dem Hals zu haben! Ich nehme an, so hast du dir das bis jetzt zusammengereimt?« »Ja.« Es mußte sich um eines der PiratenUnternehmen handeln, die ein lukratives Geschäft daraus machten, in Systemen ›herumzustrolchen‹, deren Rechte längst vergeben worden waren. Als Entschuldigung gaben sie mechanische Fehlfunktionen als Grund für ihr Eindringen an. Es handelte sich um unehrbare Firmen, die viel Zeit für Diebstähle und andere Industrievergehen aufbrachten. Wenn die
Schiffe ihre Basen verließen, waren sie vom Gesetz entbunden. Allerdings wurden sie argwöhnisch von den legitimen Unternehmen beobachtet. Ihre Besatzungen waren gefährlich und verwegen: Strolche, schlechte Menschen, Gesindel, das von Far Search und den anderen abgewiesen worden war. Keek war sich sicher, daß Van recht hatte: Sie würden die 13 auslöschen. Warum drehte Andri nicht ab? Doch Andri blieb. Ruthe Ogan kam zum Bildschirm. »Coleridges bemaltes Schiff auf einem farbigen Ozean. Welch ein wunderbarer Ozean!« »Welch wunderbares Schiff!« murmelte Keek. Schick sie an ihren Stand zurück, Van. »So wunderbar, daß es sich anschickt, dich in den Himmel zu blasen. Nur ein Knopfdruck, und es ist passiert.« »Das berücksichtige ich gar nicht. Es sieht aus wie ein Ringen auf drei Ebenen: die da, dann die Außerirdischen und wir.« 13 schickte sich an, in eine Umlaufbahn um den fünften Planeten einzuschwenken, und Van schwor sich etwas: »Nun bilden wir das schönste Ziel, langsam und waffenlos! Da stellt man sich darauf ein, mit Außerirdischen konfrontiert zu werden, und nun sind es Piraten – das macht mich verrückt!« Wo befand sich das Schiff oder die Schiffe der Außerirdi-
schen? Waren die Wilderer tatsächlich auf der Suche nach Hyperdiamanten? Hatten ihnen ihre Instrumente ein Vorkommen angezeigt, als sie noch außerhalb des Systems waren? Suchen wir alle drei das gleiche? Seiner Ansicht nach war das unwahrscheinlich. 13 suchte nach allem, was der Boden hergab, und hatte eine Abart der Hyperdiamanten gefunden. Die Piraten mochten hinter Hyperdiamanten her sein und daran glauben, daß sie sie auch finden würden – aber noch hatten sie sie nicht. Und die Außerirdischen –? Er seufzte in tiefer Verwirrung. Da gab es keine Vermutung, was sie wollen konnten, wo, was, wer und wie sie waren. Er seufzte noch mal, von tiefer Frustration geplagt. Würde das gigantische Expeditionsschiff der anderen Firma, das dort flog, einem falschen Kurs folgen, nur weil es erwartete, Hyperdiamanten zu finden, statt dessen aber etwas gänzlich anderes entdeckte – etwas Lebendes? Er hoffte, daß ihnen das blühte. Es war kein Wunder – schließlich verließen sie ihre Basen ohne festen Auftrag, ohne festes Ziel, weil sich das erst auf dem Flug ergab. Er schauderte. Hier gab es nichts zu kämpfen, weder Angriffs-, noch Verteidigungswaffen. Blieb nur ein scheinbar endloses Warten, das in Kürze enden würde. Er mußte zugeben, daß es bisher keine Anhaltspunkte gab, welche auf die Existenz einer zweiten
Sonde hingewiesen hatten. Seine Fähigkeiten hatten hier nicht funktioniert. Du bist nicht allmächtig, Channen! Er überlegte, ob es die Außerirdischen vielleicht gar nicht gab. Nein, es waren die Piraten, die wir nicht einbeziehen konnten. Für uns sind sie mächtig genug, obwohl – Sind die das auch für die Außerirdischen? Er wußte es nicht und wollte sich auch nicht weiter darüber den Kopf zerbrechen. Die andere Station schwebte auf den sechsten Planeten zu. Er verfluchte sich selbst, daß er unter all den möglichen Lebensformen das menschliche Leben nicht mit seinen Sinnen geortet hatte. Dieser Gedanke ließ ihn wieder an die ungelösten Fragen denken – wo die Außerirdischen waren und was es mit den Kristallen auf sich hatte. Wer waren die Außerirdischen? Er war nahe daran, alles lächerlich zu finden. Da hatten sie massenhaft Gelegenheit, Andri zu erwischen oder zu töten, doch – Seit einiger Zeit hatte er weder gesprochen, noch sich vom Fleck bewegt. Der Schmerz wollte nicht nachlassen, und Müdigkeit schleppte sich durch seinen Körper. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre auf den Fußboden, direkt in die Wrackteile gerutscht. Hart kämpfte er dagegen an, verkrallte sich in den Sitz, um nicht bewußtlos zu
werden. Außerdem wollte er verhindern, daß er sich übergab. Ein Juwel glänzte. Er klammerte sich an gerissenes Leder und richtete sich auf. Dabei studierte er den Bildschirm. Die gegnerische Sonde tauchte auf, glitt langsam auf 13 zu. Seit dem Zusammentreffen hinter dem fünften Planeten hatte sie nicht geschossen – ein Faktor, den er bisher noch nicht begriff –, aber sicher würde sie es tun. Nicht jetzt, aber bald würden sie einen gewaltigen Wirbel an Zerstörung hinter sich lassen. Er sank zurück. Halte dich aufrecht! Du kannst den Schmerz nicht fühlen! Doch er fühlte ihn. Das Gedächtnis erinnerte ihn an einen schlechten Tag im Strafkomplex. Sie benötigten fünf Wächter, um dich zu bezwingen, Andri: der gleichmäßige Keulenschlag, eine Wand hinter deinem Rücken, ihre Stimmen. »In die Ecke getrieben, Ratte!« Ja, vielleicht war ich damals eine Ratte; jedenfalls war ich in die Enge getrieben. Er erinnerte sich an Fäuste, die seinen Kopf trafen, Schläge trommelten gegen den Bauch, Finger stocherten in seinen Augen. Und sie schlugen dich über eine Stunde lang – die beiden, die noch auf ihren Füßen standen! Er stellte sich ein Trio von unförmigen Körpern vor, Uniformen, blutbefleckt, eine gebrochene Nase, ausgeschlagene Zähne, eine Schädelfraktur, als er einen Mann hart gegen den Boden geschlagen hatte. Unter den Gefangenen warst du für einen Monat ein Held!
Im Rückblick erschien ihm das ganze mehr die Aktion eines Narren, denn die eines Helden gewesen zu sein. So beschloß er, auch jetzt wieder in diese Hartnäkkigkeit zu verfallen. Er sagte sich, daß die Rückenlehne seines Sitzes eine Wand war, das Blut auf seinem Gesicht das Produkt eines gnadenlosen Sadismus. Er sagte sich, daß er durchhalten mußte, und das war die Wahrheit. Er mußte es schaffen, denn die Begegnung mit 13 hing davon ab. Der Plan hielt sich ständig und fertig in seinem Geist. Der Kampf der Schmerzen riß und zog daran, vermochte ihn aber nicht auszulöschen oder seine Logik zu durchbrechen. Er wollte kein Held sein, aber er wollte auch nicht sterben, auch wenn beides irgendwie zusammenhing. Nein, das ist kein Heldentum, sondern blanke Notwendigkeit. Wenn er seinen Plan nicht erfolgreich durchführen konnte, würde 13 vernichtet werden. Die andere Sonde zog vorbei, ein Gigant auf dem Bildschirm und sehr nahe. Andri blickte in den Raum, als erwarte er, daß es das letzte Mal sein würde, der letzte Blick. Er sah Fünf, seine Satelliten, den entfernten Orbit des Nachbarplaneten Sechs, die Station, die auf ihn zutrieb. Das nutzlose Mundstück lag auf dem Boden, wohin er es in seinem Ärger geschleudert hatte – ein
Stück Müll inmitten weiterer Mülltrümmer. Ein Edelstein leuchtete. Er lachte darüber und fürchtete es. Welch seltsamer Zufall, daß ausgerechnet das Radio zerstört worden war. Es schien Andri vor Channens letztem Befehl bewahren zu wollen: Verschwinde! Oder würde er ohne diesen Notfall ein ähnliches Kommando gegeben haben? Ja, vorausgesetzt, daß seine primitiven Instinkte dieselben waren wie die von Andri: Verschwinde und schleudere diese Steine weg! Es sind keine Hyperdiamanten, und mich interessiert es nicht, wenn Ogan sagt, daß es welche sind. Ich wäre bereit, loszufliegen und diese Steine zu vernichten – wirf sie weg! Andri hörte damit auf, sich mit Befehlen zu verwirren, die nie gegeben werden würden, und begann mit einigen theoretischen Überlegungen: Was dehnst du dein Gehirn so, Idiot? Schließlich wurde es vorher niemals so beansprucht, und viel länger wird es das wohl auch nicht aushalten! Er dachte an die Sonde der Piraten und versuchte sich ihre Ausrüstung vorzustellen, die sie auf ein Minimum beschränkt haben mußten, um Waffen mitnehmen zu können. Sicher würde das Schiff unter diesen Bedingungen nicht einsatzfähig sein. Vermochten sie mit reduzierter Mannschaft, limitierten Wohnräumen, diesem absoluten Minimum überhaupt richtig zu arbeiten? Wenn es so war, dann nahmen sie schlimme Risiken auf sich und der Ein-
satz war hoch – auf Kosten eines zu niedrigen Sicherheitsfaktors. Ein Kristall funkelte, und er bemerkte es. Oui, der Einsatz ist hoch! Es sei denn, sie wissen gar nicht, worauf sie sich da eingelassen haben! Er stellte sich ein größeres Scout-Schiff vor, dessen ganzer Komfort zusammengedrückt worden war, um Abschußrohre für Raketen zu installieren. Es schien möglich zu sein. Doch plötzlich war er sich sicher, daß es sich so verhielt: Innerhalb der Sonde war Raum geschaffen worden, der auf Kosten der Instrumentierung oder der Mannschaft ging. Dafür hatten sie den größtmöglichen Scout dabei, in welchen Abschußrohre und Torpedos eingebaut waren. Die Luken klappten nach außen, und – »Voila!« sagte er laut. Nun begriff er, warum sie ihn auf der Rückseite des fünften Planeten nicht vernichtet hatten: Sie besaßen zu wenig Torpedos, nicht genug, um einen davon an einen Scout zu verschwenden. Es war 13, die sie zu vernichten trachteten, und es war 13, die sie zerstören würden. Selbst wenn sie nur noch eine einzige Rakete zu verschießen hatten, würden sie es tun. Andri kümmerte sich um die Kontrollen. Der Pirat schien im Raum eine Pause eingelegt zu haben. Einbildung, Narr. Er bewegt sich langsam weg, auf den sechsten Planeten zu, und bald wird einiges mit
uns passieren. Schnell wird es gehen! Seltsamerweise fühlte er keine Panik, eher Bedauern. Das Leben war weder sehr gut zu ihm gewesen, noch hatte sich eine Wende zum Besseren hin abgezeichnet. Der Überlebenswille stieg in ihm auf, doch er unterdrückte ihn. Wie der Wächter, wie? Du brauchst gar nicht auf ein Überleben zu hoffen, du schaffst es auch so, dafür erwischt es 13! Stechendes Selbstmitleid krallte sich an ihm fest. Erinnerungen wucherten: Kindheit, ein streitsüchtiger Halbwüchsiger, Titan, die Strafkolonie, die Jahre bei Far Search. Gesichter schwammen in seinem Geist: Familie, Freunde, Gefängnisgenossen, verhaßte Wächter, Jocelyn, Keek, Van, die toten Lehrlinge und der Junge im Koma – selbst Ruthe Ogan. Seltsamer Humor wallte in ihm auf. »Nom d'un nom! Eine wird unsterblich, wenn alles überstanden ist. Noch vor dem Ende!« Er lachte. Ein irisierendes Blinken erhaschte seinen Blick, und er schauderte, dann – ganz abrupt – lachte er wieder. Die Juwelen konnten ihn nicht mehr verletzen. Ihr funkelndes Geheimnis würde zusammen mit Andri und dem Scout atomisiert werden. Ignoranter Prometheus! Vielleicht hättest du deiner Spezies noch etwas Schlimmeres als Feuer gebracht? Er bereitete sich darauf vor, das Schiff zu bewegen. Einige Zeit später hatten sie noch immer nicht gefeuert. Er wartete, plötzlich vom Schmerz befreit; die
Gesichter, die Erinnerung und das Bedauern – alles wartete auf den Torpedo. Er wartete mit einer Haltung auf den Tod, die bar jeglichen Grimms war. Welch eine überwältigende Aufgabe für den geschlagenen Scout, eine letzte Chance, Ruhm zu ernten, ein letzter Glanz, die explosive Show aus Geschwindigkeit. Es mußte leicht sein, den Scout auf die richtige Weise in die Schußbahn der Rakete zu setzen, irgendwie in eine sichere Entfernung zu 13, um die Explosion selbst zu absorbieren. Er berechnete die Summe des Raums, die sie dort in der Piratensonde und im Scout belassen hatten, und betete, daß nicht mehr als gerade der Platz für zwei Raketen zur Verfügung stand. Eine hatten sie bereits verschossen. Außerdem riskierten sie keinen Schuß auf ihn. Doch andererseits war es nicht gerade einfach, innerhalb einer Sonde Raum zu schaffen. Er wartete, die Hände an den Kontrollen. Die Minuten verflossen, eine subjektive Unendlichkeit, und – Keine Rakete kam, aber plötzlich geschah etwas anderes: Ein schmerzhafter Krampf in seiner Hand, eine Psychoattacke, Rettung! Die andere Station konnte dem nicht entronnen sein. Das absolut Fremde griff nach ihnen, erreichte den zerreißbaren Faden, dessen
Zurückschnalzen Verwirrung auslösen würde. Die anderen mußten es auch so erfahren; vielleicht waren sie näher daran gewesen, die Raketen abzufeuern, als er mit dem Abfangen. Ich lebe! Ich werde weiterleben! Du, das du uns zu vernichten suchst, du Wesenheit, von der wir nichts kennen außer deiner Feindschaft – Dank dafür! Er lachte in sich hinein, als er daran dachte, daß die unsichtbaren Feinde sie unbewußt von den sichtbaren gerettet hatten. Andri konnte diesen Zwischenfall kaum glauben. Er setzte irgendeine Absicht voraus, etwas, das hinter diesem Angriff stecken mußte. Irgendwie hatte es zu lange gedauert, aber er begriff nicht, weshalb das so war. In den Angriffen bebte etwas Intelligentes mit, das sie begleitete, eine fremdartige Intelligenz, deren Existenz keiner Nachprüfung mehr bedurfte. Nur der Aufenthaltsort der Fremden lag im Dunkel. Er erkannte, daß sie den Strahl ausgefächert hatten, diese Welle mentaler Kraft – oder was immer es sein mochte –, um beide Schiffe einzuschließen. Möglicherweise wußten sie gar nichts über die gegenseitige Feindschaft ihrer Gegner. Die Piraten mußten von der gleichen Agonie gequält worden sein wie er selbst auch. Zungen aus Schmerz leckten in seinem Gehirn. Etwas versuchte seinen Verstand auszusaugen. Ein Juwel leuchtete.
Glänzender! Gott, es scheint noch glänzender zu werden! Der Schock ließ Andris Augen sich weit öffnen. Der Kristall schien plötzlich noch brillanter. Er funkelte, blitzte in wild wirbelnden Strahlen aus prächtigem, erschreckendem Licht. Ja, Van, es lebt! Das ist kein Hyperdiamant! Noch schlimmere Krämpfe tobten und brummten in seinem Kopf, eine außergewöhnliche Qual aus brennender, summender, strahlender Kraft, stärker werdend, dann schwächer, erneut ansteigend zu einer kreischenden Marter drohenden Wahnsinns. Trotz der Marter fiel ihm die Parallele des Angriffs zur Aktivität der Kristalle auf. Die Juwelen funkten auf der gleichen Wellenlänge: steigend, fallend, noch höher steigend, bis ein kreischender Wirbel blendender Farbe Wahnsinn drohen ließ. Andri sank in seinem Sitz zusammen und preßte die Hände an seinen berstenden Schädel. Die Agonie pulsierte, und die Farben pulsierten, begleiteten sich gegenseitig, steigend und fallend – strahlend, erhitzend, quälend – gemeinsam in einer gräßlichen Gleichförmigkeit aus Geheimnis und Qual. Schwer fiel Andri auf den splitterübersäten Boden. Innerhalb der 13 schwitzte Channen. Die Attacke hatte ohne Folgen geendet. Es war das gleiche gewesen wie bei den vorhergehenden Angriffen: Ruthe Ogan
kreischte und gebärdete sich wie ein Dämon. Jocelyn taumelte nach hinten, doch Keek half ihr, alles zu überstehen. Channen selbst hatte seine Zähne aufeinandergepreßt und sich dabei geistig soweit abreagiert, daß er den Fremden all seinen aufgestauten Haß entgegenschleuderte. Noch immer fragte er sich, wo sie sein mochten. Im System oder außerhalb? Nahe oder weit weg? Das Wissen, daß die Kristalle in der Nähe waren, beunruhigte ihn. Das Wissen, daß die Piraten weg waren, ließ ihn aufatmen. Sie waren nur noch ein kleiner Fleck auf dem Hauptschirm. Ohne Schaden anrichten zu können, waren sie in den kleinen Orbit des sechsten Planeten eingeschwenkt. Es war ungünstig, jetzt noch einen Torpedo abzuschießen. Er hätte mit absoluter Präzision geleitet werden müssen, und kein Fehler hätte sich einschleichen dürfen. Die Kräfte verschoben sich hier verhältnismäßig schnell mit den drei Satelliten des fünften Planeten, gerade so, wie sie ihn umkreisten. Die 13 würde nur noch als ein Punkt zu sehen sein, als ein Punkt über der Planetenoberfläche, ebenso wie ein Punkt in einem Wirrwarr von Monden. Van wertete die Tatsache, daß keine Rakete abgeschossen worden war, als Beweis dafür, daß das Piratenschiff nichts mit der psychologischen Offensive zu tun gehabt hatte. Vermutlich wurde ihre Mannschaft
ebenso getroffen und geschüttelt wie die der 13. Schlimmer vielleicht! Ich hoffe es! Es schien möglich, da sie näher an der Quelle gewesen waren. Immerhin hatte es so ausgesehen, als lag diese auf dem sechsten Planeten. Sie sind da, noch ehe wir ankommen; das könnte uns helfen. Keek stimmte zu. Sein Fuß berührte Channen. Ein Schimmer auf dem Monitor holte den Scout zurück. Gemächlich glitt er herbei. Er hatte sich vorhin etwas bewegt, eine kontrollierte Bewegung gegen den Angriff – das bedeutete, daß die Möglichkeit bestand, daß Andri noch lebte. Trotzdem bangte Channen um ihn, um den Scout selbst, und außerdem fürchtete er die Kristalle. Das Schiff brauchte einige Reparaturen, aber er konnte es nicht anfunken. Von dem leichten Abgleiten abgesehen, hatte es sich in der letzten Zeit nicht mehr bewegt. Hieß das aber, daß Andri tot war? Vielleicht bewußtlos? Möglicherweise versuchte er aber auch, die Sonde zu erreichen. Und die Kristalle? Van zuckte mit den Schultern. Im Augenblick fehlte ihm die Übersicht. Er drängte die Gedanken beiseite. »Wir versuchen ihn so bald wie möglich zurückzuholen, sobald die Entfernung gering genug ist, daß einer es an der Halteleine versuchen kann, hinüberzuschweben.« Aber wie? Wenn Andri lebte, hatte er genug damit zu tun, den Scout zu steuern. Außerdem vermochte keiner
das Schiff zu betreten, ohne daß dabei die Luft entwich. »Dein Gehirn funktioniert nicht richtig!« Er blickte hinunter und sah Keek. »Warum?« »Ich weiß nicht, warum, aber es ist nicht so, wie du denkst.« Der Nichthumanoide knallte die Ellbogen zusammen. »Er besitzt einen Raumanzug, vergiß das nicht. Die Frage ist nur, wie wir ihn dazu bringen, ihn anzuziehen. Wenn er sich weiterhin nicht rührt, dann dringen wir ein!« Keek holte seinen eigenen Raumanzug und zog ihn an. »Ich werde es tun, Keek!« »Nein, ich will gehen!« Entschuldige, Van, das ist Befehlsverweigerung, nicht wahr? »Ich habe einen guten Grund dafür. Diese Lebenserhaltungssysteme sind schnell kaputt. Wenn wir dich verlieren, wer soll dann das Kommando übernehmen?« Das ist doch klar: die Hexe! Ich möchte es nicht erleben, wenn sie am Ruder sitzt! Channen nickte, und Keek zog sich fertig an. »Noch haben wir keinen Grund dafür, den Scout zu docken. Die Reparaturen müssen außen erledigt werden, weil in der Schleuse kein Platz ist. Ich werde ihn hereinbringen, und du kümmerst dich um den Greifer.« Ein weiterer Grund, siehst du? Du bist der einzige, der damit umgehen kann. Jocelyn ist dazu nicht fähig, und Ogan schmettert den Scout möglicherweise gegen die
Hülle und löchert uns so, daß es nichts mehr zu reparieren geben wird! »Klingt logisch, Keek. Du bist besser dafür geeignet, nicht ich.« Van drehte am Einsteller der optischen Anlagen und holte den Eindruck des Schiffes vom Monitor auf den Hauptschirm. »Ich gehe an den Fühler und warte. Wenn du in Position bist, setze ich den Greifer ein.« Die verrückte Hexe möchte es tun. Sie sieht verwirrt aus. Am liebsten möchte sie mir meine Autorität streitig machen, aber hier kann sie sich nicht einmischen! »Sei vorsichtig.« Für die Frau, die dich braucht. Jocelyn starrte ins Dunkel und weinte ohne Tränen. Keek ging hinaus. Der Scout wurde kleiner. Die aufgewickelte Halteleine lag zu Keeks Füßen. Magnetische Sohlen hefteten sich am Boden fest. Ein leichter Stoß, und er hob ab, frei, allein, treibend. Leere umgab ihn und schien in ihn eindringen zu wollen. Ein hohles Gefühl erfüllte seinen Magen. »Ich bin unterwegs.« »In Ordnung. Du bist gut zu hören. Allerdings befindest du dich optisch im toten Winkel. Viel Glück.« »Danke.« Hinter ihm schlug die Leine aus. Er blickte auf die riesige Maschinerie des Greifers. Das Zubehör erschien ihm wie ein Wald aus skelettiertem Stahl. Nun verließ er diesen Wald. Er sah nicht zurück, weil er wußte, daß es seine
Einsamkeit hier nur vergrößert hätte, wenn er die 13 schrumpfen sah. Das Plastik spulte sich langsam ab. Irgendwie hatte es Symbolcharakter. Physikalisch verband ihn die Leine mit der Sonde. Geistig bedeutete das aber auch den Kontakt mit Van und Jocelyn. Der Scout wuchs. »Schon da, ein perfektes Ziel.« Er brauchte nicht einmal seine Flugrichtung zu korrigieren. »Noch eine Minute oder so.« Einsam segelte er darauf zu. Aber kein Gedanke an diese Einsamkeit stieg in ihm auf. Für ihn zählte nur, daß er Andri näher kam. Keek fragte sich, ob das ein schlechtes Omen war. »Achtet auf das Aufsetzen!« Er setzte auf. Das aufgerissene Metall bot einen guten Halt, und so kletterte er über die Hülle nach vorn. Eine durchsichtige Scheibe von einem halben Meter Durchmesser ruhte in seiner Halterung: die äußere Optik des Rasters. Auf einer Seite konnte sie über neunzig Grad bewegt werden. Das reicht nicht. Ungenügende Sicht wie in den Explorer-Globen. Die ganze Far Search-Flotte gehörte modernisiert. So wie sie ist, ist sie einfach nicht sicher genug! Für einen Augenblick mußte er an die gewaltige Ausrüstung denken, die es ermöglichte, Hyperdiamanten von den Außenwelten einzubringen. Dann ein neuer Gedanke: Vielleicht nicht. Für Far Search zählt nur das Geld. Schwierigkeiten werden
nicht in Betracht gezogen. Ich vertraue Van mehr als dem besten technischen Zubehör, mag es noch so großartig sein! Er schob sich von der Optik weg. »Ich versuche jetzt einzudringen. Wenn er noch le –« Keek hielt hastig den Mund. Jocelyns Hörfähigkeit würde das kleinste gesprochene Wort auffangen. Sorgfältig mußte er seine Worte wählen, vor allem durfte er nicht so viel Pessimismus durchklingen lassen. Nicht, daß ich sie hinters Licht führen möchte; sie blickt durch. Aber ist es schlecht, wenn ich sie schonen will? Er wußte, daß es zu ihrem Schutz sein mußte. »Wenn es nötig ist, verlasse ich mich auf das, was ich von seinen Lippen ablese. Ich sage ihm, daß er aushalten und zurückfliegen soll. Oder daß er mich an die Kontrollen läßt, damit ich es tue.« Und was, wenn die Notwendigkeit nichts diktiert, du Wortkünstler? Gut, ich öffne den Einstieg und lasse das Vakuum hinein. Andri wird nichts dagegen einzuwenden haben. Ich hoffe, daß er das tut, was ihm die Situation erlaubt. In der Nähe gab es eine zerstörte Lukenöffnung. Sie erlaubte ihm, ins Innere zu sehen, wohin die Optik nicht blicken konnte. Er muß mich durch die Linsen erspäht haben. In diesem Fall habe ich garantiert seine Aufmerksamkeit erregt. Wenn mein häßliches Aussehen seinen Schirm erfüllt hat – verleitete es ihn dann – Keek spähte hinein.
Zähne klapperten. Andri lag auf dem Bauch mitten in den Wrackteilen, blutbedeckt, von Schmerzen geplagt, unfähig, sich aufzurichten. Keek konnte nicht verhindern, daß er mit seinen folgenden Worten Pessimismus verbreitete: »Van?« Er flüsterte so leise er konnte und hoffte, daß Jocelyn ihn nicht hören konnte. »Er ist eine blutende Masse, wirklich! Sein Gesicht ist zerschnitten, aber er lebt. Lebensgefahr besteht nicht.« Channens Stimme begann plötzlich eine gespielte Freude auszudrücken, nur damit Jocelyn sich nicht mehr beunruhigte. »Lebend und keine Lebensgefahr. Er ist zu kräftig, als daß er diese Verletzungen nicht überstehen würde.« »Nein, das stimmt nicht«, hauchte Keek, kaum hörbar. »Hier muß die Hölle losgewesen sein. Das hier und der Angriff haben ihm übel mitgespielt. Ein totales Durcheinander herrscht hier. Ich denke, er war nahe daran, aufzugeben. Das Radio ist zerschmettert.« Andri krümmte sich. »Wenn er mich bemerkt, werde ich alles tun, um ihn aufzurichten. Mir ist es unmöglich, hineinzugehen. Sein Anzug ist voller Splitter, seine Maske zerschmettert. Sie liegt über ihm. Sieh hierher, Andri! Hierher! Sieh –«
Er blickte auf. Feuchte Röte lief aus seinem verzerrten Lächeln. Keek geriet in Katastrophenstimmung. Bei allen Göttern, mach das nicht! Du siehst schlecht aus. Weit weg scheinst du gewesen zu sein, als du lächeltest; du müßtest tot sein! Keeks Mund formte eine lautlose Frage: »Kannst du die Kontrollen erreichen und uns zur 13 zurückbringen?« Andri nickte. Siebzehn Standard-Minuten benötigte er, um die Kontrollen zu erreichen. Geronnenes Blut fiel auf die Konsole, als er sich in den Sitz sinken ließ. Seine Augen glühten fiebrig, als sie den Bildschirm suchten und fanden. Keeks Mund bewegte sich: »Das machst du großartig! Gleich werde ich dir genauere Anweisungen geben. Wirst du es schaffen?« Farblose Lippen formten ein »Ja«. Zwei weitere Worte folgten: »Wächter. Wände.« Keek versuchte sie zu interpretieren, aber er vermochte es nicht, weil er nichts verstand. »Wirst du die richtigen Hebel und Knöpfe finden?« »Es sind nicht mehr viele intakt, daß ich noch groß wählen könnte.« Die Röte splitterte, und Keek fühlte sich krank. Der Verdacht, daß sich ein Aspekt in diesem Einsatz verändert haben könnte, keimte in ihm auf. Als er sich mit Channen abgesprochen hatte, wie Andri gerettet und der Scout zurückgebracht werden
könnte, schien alles sehr schwammig und unwahrscheinlich gewesen zu sein. Etwas hatte sich verändert, aber er wußte nicht, was. Sein Magen rumorte, als blutige Lippen sich über zerschlagenen Zähnen öffneten: »Ich glaube, es ist besser, wenn du vom Fenster verschwindest; dein scheußliches Gesicht verwirrt mich.« Das schreckliche Grinsen erblaßte. »Gut, aber halte durch und mach alles richtig. Denk daran, daß ich hier außen klebe.« Der Mann ist aus Stein, unzerstörbar. Keek heftete sich an einen Stahlträger und betete zu seinen Göttern, daß das Ding seinen Raumanzug nicht aufschlitzen möchte. Er stemmte seine Füße gegen eine wellige, aber noch feste Platte. Geschmeidig und leicht, mit geringster Geschwindigkeit, kehrte der Scout zur 13 zurück. Er ließ eine Hand frei und wickelte die Halteleine darum. Rasch bildete sich ein Knäuel. Er durfte nicht riskieren, daß die Leine an einer scharfen Metallkante riß oder daß sie sich um das Schiff zu wickeln begann. Wenn die Leine gerissen war und Andri dann eine ungeschickte Bewegung machte, würde es ihn hinaus – Keek dachte über die undurchschaubaren Wege der Götter nach. Immer hatte er ihnen treu gedient, aber trotzdem konnten sie seine Loyalität mit dem Tode belohnen. Nachdem er Andri geholfen hatte,
konnten sie seine Anstrengungen damit honorieren, daß sie ihn ins All hinausstießen, auf einen langen Weg ins Nirgendwo. Er stellte sich vor, wie er durch das Nichts ins Nichts fiel. Weder der Scout noch der Franzose wären fähig, ihn zurückzuholen. Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte, so wäre er doch unfähig, an Bord zu gehen, denn – Weswegen? Jener veränderte Aspekt fiel ihm wieder ein, aber es war nur der Hauch einer Ahnung. Er wußte, daß es da etwas gab, aber er hatte keine Ahnung, was es war. So entschied er sich dafür, daß die einzige Möglichkeit, nicht darüber nachzudenken, jene war, daß er über etwas anderes nachdachte. Das Geräusch klappernder Zähne zog sich durch seinen Helm. Zurück an die Arbeit, Keek: Der Scout muß an den Greifer, ich zurück in die 13, Andri muß verarztet werden. Er glaubte daran, daß Andri stark genug war, das Schiff zum Greifer zu bugsieren, aber die wirklichen Andockarbeiten waren wohl zuviel für ihn: die genaue Justierung, das abgestimmte Spiel mit den Kontrollen, die notwendige genaue Zeiteinteilung. »Alles vorbereitet, Van«, sprach Keek ins Mikrofon. »Ich nehme an, daß du uns auf dem Raster hast?« »Schön und in der Mitte. Gut gemacht!« »Keine große Sache, das zu machen, wirklich.« Er senkte die Stimme. »Am besten bereitest du schon die
Erste-Hilfe-Maßnahmen vor. Er sieht aus wie ein Fall fürs Hospital, aber wir werden ihn schon wieder herrichten, soweit es unsere Mittel erlauben.« »Es ist alles vorbereitet. Vergiß den Greifer. Wahrscheinlich hat er ihn längst gesehen, aber sobald er darauf zusteuert, mußt du ihm signalisieren, daß er anzudocken hat. Es ist wichtig für ihn, daß er so rasch wie möglich ins Dock kommt.« Diese Anordnung verwirrte Keek. Warum sollte Andri den Greifer auslassen? Warum sollte er andokken? »Das verstehe ich nicht, Van.« »Dann funktioniert dein Gehirn nicht richtig.« Channen lachte, angespannt und ernst – eine Befreiung von der Besorgnis, nun, da Andri so nah war. »Warum muß er den Scout andocken? Was ist falsch, wenn er den Greifer nimmt?« »Nichts.« Amüsiertheit schwang in Vans Stimme mit, aber sie konnte den Ernst nicht verbergen. »Nur, daß du wohl kaum erwarten kannst, daß er vom aufgebockten Scout ohne Raumanzug zur Luftschleuse schweben kann!« Demütig murmelte Keek: »Mein Gehirn funktioniert nicht richtig.«
9 Andri dockte an; nicht schnell, nicht sanft, nicht leicht – aber er dockte an. Er knickte eines der Zubehörteile, als er hereinkam. Der Scout bockte, und der Arm brach ab wie ein Stück Holz. Sechs Meter Metall taumelten ins Leere, ohne eine Chance der Rückkehr. Keek verlor beinahe seinen Halt. Die Intensität seiner Gebete überraschte ihn selbst. Wild schlug das Schiff gegen 13. Auf der Miniaturkugel innerhalb der Sonde erloschen einige der winzigen Glühbirnen: noch mehr abgetötete Wahrnehmungszellen. Keeks Halteleine riß, und er klammerte sich fest. Sein Kopf schmerzte vor Konzentration, die er für das Klammern brauchte. Er saß fest. Das Schiff fiel auf seinen Liegeplatz zu. Der Andockmechanismus schnappte zu, ließ los, schnappte erneut zu und rastete ein. Er brachte das Schiff zur Ruhe, und Klammern sicherten es. Keek löste sich von seiner Stellfläche und brach ausgepumpt zusammen. Über ihm schlossen sich die Luken. Der Scout war wieder da, wo er hingehörte. Ruhig starrte Jocelyn ins Dunkel und horchte. Ruthe Ogan stand mit geöffnetem Erste-Hilfe-Kasten
daneben. Van sprach nicht mehr in das Radio. Er hatte versucht, Keek zu erreichen, seit die Luken sich geschlossen hatten. Aber nur keuchende Atemzüge waren zu hören, keine Worte. So verließ er die Kontrollen und bereitete die Leiter vor, die in die Hangarsektion führte. Ogan folgte. Dabei trug sie den schweren Kasten ohne sichtbare Anstrengungen mit sich. Schockiert hielten sie inne. Keek konnte nicht mehr laufen – aber Andri! Er kehrte ihnen den Rücken zu, und ein ein Meter langes Bündel hing über seinen Schultern. Er legte es auf den Fußboden, wo es keuchend liegenblieb. Andri drehte sich um, eine blutige Fratze, ein Körper, der nur von dem Willen, nicht zu stürzen, gehalten wurde. Van stieß einen erschreckten Ruf aus, aber Ogans Zischen brachte ihn zum Schweigen. »Still!« Sie blickte hinüber auf die Kontrollen. »Das Mädchen. Sie hört es.« »Genau richtig.« Jocelyn erschien auf dem Korridor. Ihre blinden Augen richteten sich auf Andri. Der bizarre Effekt erschütterte Keek. Er sprang auf und stürzte zu ihr, aber er berührte sie nicht. In seinen Gedanken gab es etwas, was sie nicht zu wissen brauchte: Gottlob ist sie blind! Er blickte auf Andri. Blut tropfte, rötete den Fußboden um ihm herum. Sie könnte es hören und bemerken! Götter, laßt dieses schreck-
liche Geräusch aufhören! Keek bildete sich ein, selbst etwas zu hören: Plätschern-Pause-Plätschern, Plätschern, Pause, Plätschern – ein monotones Geräusch vom Auslaufen des Lebens. Er berührte sie und fütterte sie mit beruhigenden Lügen. »Krankenstation«, ordnete Ogan brüsk an. »Ich bin sicher, daß es nicht halb so schlimm ist, wie es aussieht.« Verdammt! Sie hatte Jocelyn helfen wollen, doch nun schienen die Worte genau die falschen gewesen zu sein. Sie mußte zugeben, daß es sehr schlecht aussah. Würde die jüngere Frau beruhigt sein, oder würde sie sich noch mehr um ihn sorgen? »Gib ihm eine Hand, Van!« Channen riß sich aus seiner Starre. Eine Hand sollte er ihm geben? Er erkannte, daß er rasch etwas tun mußte, anstatt nur herumzuglotzen. Arbeitete sein Gehirn wirklich nicht so wie es sollte? Hatten ihn diese Psychoangriffe in Mitleidenschaft gezogen? Erst Keeks plötzliches Handeln wischte den Schatten der Reglosigkeit beiseite. So eilte er vorwärts und griff dem Franzosen mit seinen Händen unter die Arme. »Gehen wir, Andri. Du hast deine Aufgabe erledigt. Und mehr als das.« Andri sackte zusammen. Die Willenskraft hatte ihn plötzlich verlassen. Eine überwältigende Schwere befiel ihn und drückte seine Muskeln in Channens Ar-
me. Verwirrt dachte er wieder zurück und begann ein unverständliches Gemurmel: »Wächter, Wände. Held. Will ich nicht sein!« Van dirigierte ihn zur Krankenstation. Das Geräusch seiner Schritte alarmierte Jocelyn. Sie drehte den Kopf, hielt ihn leicht seitlich wie ein Spatz und lauschte intensiv. Keek begann fröhliche Gedanken in ihr Gehirn zu pumpen, um die Unsicherheit und Angst davonzuspülen. Ogan blickte sich um und nahm etwas wahr. Sie stellte den Kasten ab und packte Andris Füße, damit das Geräusch aufhörte. »Alles in Ordnung, Kind. Er ist stark. Bald wird er wieder der alte sein.« So trugen sie ihn in die Krankenstation hinüber. Keek unterbrach seine Berührung. »Bleib hier, Jocelyn. Ich muß für einen Augenblick weg.« Verarzte ihn gut, Kräuterhexe! All dieses Blut! »Ich bin zurück, ehe du es merkst.« Sie lehnte sich gegen die Korridorwand, und Keek trug den Sanitätskasten dorthin, wo er gebraucht wurde. Er glitt über rote Flecken. Nun gestattete er sich jene Gedanken, die er während des Kontakts zurückhalten mußte. Das verwirrendste war dieses allgegenwärtige Karmesinrot. Als er den ErsteHilfe-Kasten herbeitrug, sah er den letzten überlebenden Lehrling: Bleich, ruhend, mit eingefallenen Wangen. Lange wird er es nicht mehr tun. Nichts können wir für ihn machen. Aber für Andri, obwohl –
»Danke.« Ruthe griff in den Kasten und stellte Verbände her, schmerzstillende Mittel, eine Spritze, ein rascher Stich. »In die Küche, Keek. Ich brauche eine Menge Tuch. Und sauber muß es sein. Ich kann nichts machen, ehe das Blut nicht beseitigt ist.« Er eilte mit dem Auftrag davon und war gleich wieder zurück. Andri lag ruhig auf der Liege. Seine Blicke fixierten die Zimmerdecke. »Verschwinde, Ruthe. Ich bin mein eigener Arzt. Schmerz ist mir nicht fremd.« Das Fieber schien verschwunden zu sein. Nun mußte er die Realität hinnehmen. Das könnte sie verletzen, aber warum? Ihr wird nachgesagt, daß sie in solchen Fällen eine sanfte Hand besitzt. Manche sagen, daß sie früher Ärztin war. Er wunderte sich, weshalb sie dann diesen Zweitberuf ergriffen hatte, um die Wagnisse des Weltraums auf sich zu nehmen. Ihr Eindruck schloß keine Geheimnisse aus. Mit einer gewissen Zärtlichkeit tupfte sie das Blut weg, behandelte ihn schon beinahe mütterlich. Fasziniert sah Van zu und bewunderte sie. Aber warum konnte sie nicht immer so sein? Warum sah man diese gute Seite von ihr so selten? Warum verbarg sie das alles hinter ihrer grimmigen Fassade? »Prima Voraussicht, Keek.« Sie warf einen tropfenden roten Splitter in den Kübel, den er bereitgestellt hatte. Dann fuhr sie mit dem Wegwischen des Blutes
fort. Andri starrte weiter nach oben, gerade so, als befahlen seine Gedanken diese Starre. Ruthe richtete alles her, als er endgültig gesäubert war. Andri, du hast gebüßt – nicht nur hier, sondern über Jahre hinweg hast du eine Menge erlitten. Zu Beginn dieser Reise sagte er mir, du seist ein gottloser Mann; ich glaube, du hast deine Sünden abgetragen, seit du tatest, was du tatest. »Jetzt muß ich dich rauher anfassen, Andri.« Sie griff in den Kasten, um einige Pinzetten zu holen. Dabei studierte sie sein verformtes Gesicht: Schrammen, tiefe Schnitte, ein blutiges Gewirr von offenem Fleisch. Glasfragmente glänzten, metallene Splitter ragten heraus. »Ich muß diese Dinge entfernen.« Eine Wange war aufgerissen. Dort, wo das Rad ihn getroffen hatte, leuchtete das Weiß seiner Zähne hervor. »Mehr als nur einige Stiche, Andri, fürchte ich.« Sie griff nach der Spritze. »Es ist besser, wenn ich dich örtlich betäube.« Er schüttelte den Kopf und zuckte zurück. »Laß mich damit in Ruhe. Keiner von euch kennt den Stoff, aus dem ich geschaffen bin. Mach weiter.« Fragend blickte sie zu Channen, und er nickte. »Mach, was er sagt, bitte. Er wird bald wieder in Ordnung sein.« Innerlich mußte er lächeln. Womöglich würde Andri noch aus dem Bett springen, wenn sie ihn festhielten. Bei ihm ist es eine Sache des Stolzes. Er gehört zu dieser Sorte von Männern. »Na schön.«
Ogan zuckte die Schultern. »Bist du deiner Sache sicher, Andri?« »Mehr als du dir vorstellen kannst.« Noch mal zuckte sie die Schultern. Wir haben alle unseren dunklen Punkt! »Wie du willst.« Ruthe arbeitete langsam und vorsichtig. Gründlich entfernte sie das Glas und den Stahl. Fragmente klirrten, als Keek sie mit dem Kübel auffing. Er ließ seine Blicke herumwandern und war froh darüber, daß Jocelyn nicht anwesend war, um etwas von der Operation zu hören. Wie hätte sie darauf reagiert? Andri hüllte sich in stoisches Schweigen. Seufzend entfernte Ruthe den letzten Splitter. »Nun wird es noch härter.« Sie hielt die Nadel über ihn. »Jetzt muß ich aber wirklich auf einer Betäubung bestehen –« »Mach weiter, Frau!« Seine Stimme klang scharf, aber irgendwie hatte sie ihre Schärfe verloren. »Tut mir leid, diese Behandlung verdienst du nicht. Ich bin gezwungen, die Entscheidung des Arztes zu akzeptieren, aber – nenne es ein persönliches Prinzip oder Dummheit.« »Ich sehe es als Prinzip.« Sie stach zu, geübt und vorsichtig. Er schrie nicht, kreischte nicht auf, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Von Zeit zu Zeit stoppte sein Atem oder pfiff unsanft auf. Das war alles. Still lag er da, stoisch, mutig. »Fertig«, sagte sie. »Ich
nehme fast an. Er vergaß dir Nerven einzusetzen, als er dich schuf.« Bleib aufrecht! Das war beinahe ein Witz und Blasphemie! Welchen Eindruck hinterläßt das?! »In Anbetracht deines Aussehens und der Schwere deiner Verletzungen würde ich die Einnahme eines Schlafmittels empfehlen.« Sie sah Van an. »Aber das ist deine Entscheidung, nicht meine.« Autoritär lehnte er ab. »Nein, das bleibt dir überlassen. So etwas fällt nicht in mein Gebiet. Wenn du es empfiehlst, dann segne ich es ab. Irgendwelche Einwände, Andri?« »Schlaf könnte ich gebrauchen, aber was passiert im Notfall?« Er versuchte sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht. »Wenn Fühler-Alarm gegeben wird?« »Dann befehle ich dir den Schlaf erst recht! Du hast ihn nötig.« Trotz seines Zustandes grinste Andri. Sie rollte seinen Ärmel hoch und bereitete die Droge vor. Nicht mehr als eine Minute verstrich, und seine Augen schlossen sich. Schwer streckte sich sein Körper aus, dann schlief er. Unbefangen kleidete sie ihn aus und warf Keek die blutigen Kleidungsstücke für den Müll zu. Van half ihr. Sie warf eine Wolldecke über den Patienten und sagte: »Das Mädchen sollte auch etwas einnehmen. Sie hat viel Herzensschmerz erlitten. Seine Rückkehr in diesem Zustand wird das nicht gerade verbessert haben. Eine kleinere Dosis, aber –«
»Gut. Obwohl wir ein Risiko eingehen, wenn zwei Sensoren ausfallen. Jocelyn braucht den Schlaf so nötig wie er.« In Gedanken überlegte Channen die Pflichten, die sich aus dieser Situation ergaben: Ruthe als vorübergehenden Fühler, Keek als Auge. Allerdings mußten sie ohne Ohr auskommen. Notfalls kann ich dafür einspringen, wenn wir in Schwierigkeiten geraten. Er wußte, daß Andri ruhen mußte, das war unvermeidbar. Und Jocelyn würde nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit funktionieren, wenn sie nicht eine kleine Ruhepause erhielt. Ruthe bereitete die Spritze vor. »Würdest du es ihr erklären, Keek? Ich kann es nicht.« »Ja. Ich bringe sie in ihre Kabine, und dann gehört sie dir, vorausgesetzt, sie läßt es zu. Wenn nicht, dann muß Van ihr eben sagen, daß es nötig ist.« Channens Reaktion war heftig: »Sie muß, Risiko oder nicht. Das ist ein weiterer Befehl!« »Ich versuche es.« Keek zog eine Grimasse, als er in den Abfalleimer sah, und ging in die Küche. Eine Stimme hielt ihn auf. »Entschuldige, Keek. Ich bin völlig ausgelaugt.« Bewegungslos stand Jocelyn vor der Krankenstation. Sie sah mitgenommen aus. »Ich habe alles gehört. Ich konnte mich nicht absondern, oder?« »Ich denke nicht.« Er sprach ohne Betonung, dann stellte er die Kleider und den Eimer ab und nahm ih-
ren Arm. »Komm mit. Sie will nur das Beste für dich, und sie gab ihr Bestes für Andri.« »Wird er wirklich wieder ganz gesund werden? Ist er tatsächlich auf dem Weg der Besserung?« Plötzlich unterbrach er die Berührung. »Ich – einen Augenblick, Jocelyn. Ich muß noch ein paar Dinge erledigen.« Er rannte zur Küche. Ihre Frage störte ihn. Ob Andri tatsächlich auf dem Weg der Besserung war? Ja, er regeneriert sich wieder, aber der alte wird er nie wieder werden. Wer von uns bleibt schon das, was er war? Er hat schreckliche Narben bekommen. Dazu kommen noch die in seinem Geist, nehme ich an! Keek leerte die roten Überreste aus und kehrte zu ihr zurück. Sie sagte nichts wegen seiner Doppelzüngigkeit. Dafür schluchzte sie ein wenig, ganz still. Er geleitete sie in den Schlafraum und half ihr beim Hinlegen. Dann rief er Ruthe herbei, und zusammen mit Van betrat sie den Raum. Nach der Injektion fiel Jocelyn in den tiefen Frieden des Schlafes. »Ich gab ihr weniger als Andri. Trotzdem wird sie ungefähr zwanzig Stunden schlafen.« »Das klingt gut«, sagte Van zuversichtlich. »Bis jetzt scheint mir Planet fünf ohne –« Er spreizte seine Hände. »Hyperdiamanten? Nein, keine Hyperdiamanten!« Der erwartete Einwand von Ogan kam nicht. »Irgendwie ohne Leben zu sein. Das meine ich, weil ich nichts spüre. Bei Vier war das anders.«
»Wir müssen unsere Instrumente überprüfen – soweit es Mineralien betrifft!« Ihr Ton war kalt. »Selbstverständlich, Ruthe.« Es wird nicht mehr lange dauern, dann bricht ihre andere Persönlichkeitsseite wieder aus! »Mir geht es um folgendes: Fünf ist so klein, daß wir ihn umrundet haben werden, während die beiden noch schlafen. Sie werden die Wirkung der Drogen erst abgeschüttelt haben, wenn wir den Orbit verlassen und auf Sechs lossteuern.« Und deshalb rechne ich mit Schwierigkeiten! Natürlich ist es wieder Intuition, aber ich will sie nicht ignorieren! »Ich glaube, wir können uns auf einen Routineorbit um Fünf einstellen.« Aber nicht beim sechsten Planeten. Bestimmt nicht bei Planet Sechs! »Die Piraten sind auf den sechsten Planeten zugeflogen. Sie sind hinter einer Substanz her, die nicht das ist, was sie in ihr vermuten. Es ist der Sprung von Fünf nach Sechs, wo jeder wieder einsatzfähig sein muß. Deshalb sind zwanzig Stunden perfekt.« »Das sehe ich ein.« Ogan bemerkte, daß sie noch ihre Hände waschen mußte. »Eine gräßliche Aufgabe.« Ein Lächeln versuchte ihr hartes Aussehen zu durchbrechen, aber es klappte nicht. »Jetzt muß ich erst mal das in Ordnung bringen.« Sie verließ den Schlafraum, ohne den Blick von ihren blutigen Fingern abzuwenden. Channen wartete, bis die Tür sich schloß. »Welch
fremdartige Frau. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll!« »Mir geht es ebenso, aber ich habe nichts mehr gegen sie, seit Andri und ich zurückgekehrt sind. Die Art, wie sie ihn pflegte, die Einstiche, die Schlafmittel –« Plötzlich unterbrach sich Keek. »Die Schlafmittel!« Er keuchte. »Ich sehe ein, daß sie sich nicht umgehen ließen, aber nun sind wir verwundbarer denn je. Und dann zwei –« »Wo liegt da das Problem? Wir können ohne Fühler auskommen, und für den Augenblick auch ohne Ohr. Noch können uns die Piraten nichts anhaben.« »Zugegeben, aber die Psychoangriffe können es!« »Was hat das mit unserer Verknappung der Sensoren zu tun? Wir brauchen die Mannschaft doch nur dann in Alarmzustand zu versetzen, wenn eine Rakete auftaucht! Ich habe das Risiko berechnet, und ich glaube, es ist gerechtfertigt. Die geistigen Attacken haben auf die eine oder andere Weise nichts mit der Anzahl der Sensoren zu tun.« »Gebe ich auch zu, aber sag mir mal, weshalb wohl die Auszubildenden starben?« Channen war verwirrt. »Wahrscheinlich reichte ihre Widerstandskraft nicht aus. Darauf folgt der Tod. Vielleicht sind sie verhungert.« »Möglich, und vielleicht auch nicht. Nehmen wir einfach mal an, jede erfolgreiche Attacke – traf sie
hart, während sie bewußtlos dalagen, geschwächt – verlagerte ihr Gewicht auf ihre Gehirne. Sie waren weggetreten, unfähig zurückzuschlagen – obwohl sie es auf eine gewisse Art miterlebten.« Nun war Channen nicht länger verwirrt. Keeks Zähne klapperten. »Jocelyn und Andri sind nun ebenfalls weggetreten, sie schlafen. Nimm an, ein Angriff erfolgt, und sie können ihm nicht widerstehen. Und nimm einmal an, daß es sie erst recht wegtreten läßt, aber nicht in Schlaf, sondern ins Koma!« Langsam umrundete 13 den fünften Planeten. Die Instrumente meldeten eine Atmosphäre, die reich genug an Sauerstoff war, um für Menschen atembar zu sein. Das Klima war erträglich, und Channen nahm den Planeten als eine Welt auf die Logbänder auf, die möglicherweise kolonisiert oder näher erforscht werden könnte – aber das war für die Regierung und hatte mit Far Search nichts zu tun. Trotzdem schrieb er seinen Bericht mit größter Sorgfalt. Nichts Ungewöhnliches oder Aufregendes passierte im Hinblick auf die natürlichen Reserven dieser Welt. Channen spürte kein intelligentes Leben. Er notierte Fünf als einen Planeten, der ein Geschenk für die Menschen sein konnte, aber daraus ergaben sich keinerlei kommerzielle Vorteile für die Firma. Jocelyn und Andri schliefen weiter. Inzwischen
hatte Ogan erklärt, daß die Wirkung der Droge irreversibel war, es sei denn, andere Medikamente, die nicht an Bord waren, würden hinzugemischt. Van war wütend. Ruthe glitt zurück in ihre Schale aus Zynismus, was der scheinbaren Tatsache Bedeutung verlieh, daß sie diese Schale überhaupt nie abgestreift hatte. Van versuchte zur anderen Sonde Kontakt aufzunehmen. Er wußte nicht, warum, aber er versuchte es. Das Radio schien zu funktionieren. Die Sonde verweigerte die Antwort. Widerwillig rümpfte er die Nase. »Ich glaube nicht, daß sie uns antworten wollen. Sie ziehen es gar nicht erst in Erwägung, mit uns zu sprechen, weil sie vorhaben, uns zu eliminieren.« Ein guter Aspekt der bisher so sehr kritisierten Bänder fiel ihm ein: Falls 13 vernichtet würde, war es möglich, daß die Datenbänke überlebten. Die Firma konnte sie zurückerhalten, und dann wendete sich das Blatt gegen die Piraten. Die Techniker von Far Search konnten sie identifizieren, die Bänder würden über den Raketenangriff Auskunft erteilen und über die Sichtung einer Piratensonde in einem System, daß Far Search gehörte. Gehören? Nein, es gehört uns nicht! Wem gehört es denn? Ogans Schöpfer? Keeks Göttern? Oder den Außerirdischen? Er wunderte sich darüber, daß sie die Gegenwart von Außenseitern übelnahmen, falls es sich um Eingeborene handelte. Wenn es
so war, hatte es die Firma dann nicht geschafft, ihnen auf die Spur zu kommen, ehe 13 die Basis verließ? Vielleicht handelte es sich bei ihnen aber auch um Reisende aus einem anderen System, die hier etwas suchten. Aber was? Doch sicher keine Hyperdiamanten? Oder falls es so war, dann irrten sie. Er überlegte, daß die Möglichkeit bestand, daß die Fremden genau wußten, was diese Pseudo-Hyperdiamanten waren, und daß sie sich überhaupt nicht geirrt hatten. Wie immer die Antwort auch ausfallen mochte – im Augenblick fühlte er, daß sie in der Nähe des sechsten Planeten waren. Ein Funkeln auf dem Raster, und er sah eine entfernte Kugel. Kein fremdes Schiff. Was war es? Lagen die anderen jetzt auf der abgewandten Seite des sechsten Planeten im Hinterhalt – verhielt es sich diesmal tatsächlich so? Warteten sie am Boden? Überall innerhalb oder außerhalb des Systems konnten sie sein, doch seine Intuition richtete sich wiederum auf Sechs. Die Tatsache, daß sie an Sechs gebunden waren – egal, ob sie den Fehler nun bemerkt hatten oder nicht –, bedeutete, daß das, was sie suchten, ebenso auf Sechs existierte wie auf Vier. Was wieder auf PseudoHyperdiamanten schließen läßt, aber keiner der Piraten war auf Vier gewesen. Und wenn die Außerirdischen darauf aus sind, dann werden sie Sechs umrunden. Sie waren nicht auf Vier, aber das könnte bedeuten, daß sie das Sy-
stem von der Gegenseite aus auf uns zu erkunden. Dem ersten, den sie auf Sechs treffen, werden sie einen heißen Empfang bereiten. Aber dem zweiten auch! Soweit sind wir, wenn – »Einer von uns sie erreicht.« Keek schaltete sich in den Gedankengang ein, weil er mit seiner Schulter an Channens Knie lehnte. »Ich empfehle dir, dieses Spekulationen abzubrechen. So was schafft nur Knoten im Gehirn. Findest du nicht, daß wir uns an die Reparaturen machen sollten?« »Das drängt nicht. Wir landen mit dem Scout nicht auf Fünf, selbst wenn ich zugestehe, daß wir das könnten. Und wenn wir ihn auf Sechs hinunterschikken müßten, dann geht das eben einfach nicht! Keine Eile!« »Ich meinte nur, im Hinblick auf das, was du über den Sprung von Fünf nach Sechs sagtest, daß wir jeden benötigen –« »Wir können nicht so tun, als befänden wir uns in einem relativ sicheren Sektor. Also gut, fangen wir an. Hole den Scout aus dem Dock, und ich kümmere mich um den Greifer. Allerdings wird es nur eine Sichtverständigung geben, keinen Sprechkontakt.« Innerhalb des Scouts mußte er sich erst mit den Kontrollen vertraut machen. Er hatte niemals vorher selbst ein Schiff gesteuert, weil seine Körpergröße zu minimal war. So mußte er auf dem Sitz stehen und
praktisch über der Steuerkonsole liegen. Getrocknetes Blut bildete schreckliche Flecken unter ihm. Ein Kristall funkelte. Das nutzlose Mundstück und sein Kabel formten eine Traube aus Müll. Ohne Verbindung rezitierte er das Ausschleusritual. »Luken, Klammern. Los.« Wenige Minuten später glitten die Luken auf. Die Klammern lösten sich, und Arme schoben den Scout in die ewige Nacht. Die Arme ließen los und sanken zurück. Keek trieb hinaus. Er schaltete die Triebwerke ein, stieß hinaus, wendete und näherte sich vorsichtig wieder. Mit geringster Geschwindigkeit brachte er das Schiff auf der Hülle zum Stehen. Channen hielt es mit dem Greifer fest. Keek schaltete die Motoren ab, riß sich los und bewegte sich auf die Luftschleuse zu. »Eine Unmenge an Reparaturen ist hier zu erledigen. Ich glaube kaum, daß wir damit fertig werden, ehe wir diesem System den Rücken kehren.« »Das macht nichts. Ich habe nicht vor, das kaputte Ding noch mal einzusetzen, es sei denn in Notfällen. Das meinte ich auch damit, als ich sagte, daß ich es nicht auf Sechs landen lassen werde!« Wenn er an den Planeten dachte, bereitete sich stets ein mulmiges Gefühl in seinem Magen aus. Eine Ahnung der Gefahr lag in seinem Kopf, wann immer ein Gedanke daran aufkam. Unterschwellige Vermutungen peinig-
ten ihn: Gefahr, Gefahr, Gefahr! Die Außerirdischen mußten dort sein. »Ich kümmere mich zunächst um das Innere. Als erstes beseitige ich den Dreck.« Keek kehrte zum Scout zurück. Dort wühlte er sich durch die Zerstörungen und ordnete alles auf zwei Haufen: Verwertbare Trümmerstücke und Müll. Den Abfall stieß er ins All hinaus; ein Haufen Scherben verschwand in der Finsternis – neue Meteoriten. Er rettete, was zu retten war, und band es zusammen. Viel war es nicht. Nachdem er Andris Blut aufgewischt hatte, kehrte er in die Station zurück. Er nahm etwas aus dem Bündel geretteter Materialien heraus und zeigte es Van. »Hier. Sie sehen harmlos aus, nicht wahr?« Channen nahm die Kristalle vorsichtig an sich: zwei scheinbar unschädliche Kristalle, schön, klar, strahlend, erschreckend. »Sie beunruhigen mich, Keek. Ich weiß nicht, was sie sind, und deshalb beunruhigen sie mich. Ich weiß nur, was sie nicht sind.« Er bildete sich ein, sie neben dem Stahl böse glühen zu sehen. Die Uhr störte Keek. Sie ließ seine Augen immer wieder von seinem Buch aufsehen. Wegen ihr wand er sich auf der Couch im Erholungsraum hin und her. Zusammen mit Ruthes Atmen erzeugte das Ticken
eine Fülle schrecklicher Gedanken. Ruthe war wach und an den Kontrollen. Andri und Jocelyn atmeten noch immer auf der Krankenstation und im Schlafraum B. Hoffe ich! Er schloß das Buch. Unermüdlich tickte die Uhr. Van hatte ein paar Sensorzellen repariert und schlief nun. Keek betete, daß die Zeit schnell verrinnen möge, die vier Stunden, die es noch dauern mußte, bis Jocelyn und Andri erwachten. War er zu pessimistisch gewesen? Waren sie in ihrem jetzigen Zustand wirklich verletzbarer als sonst? Er war sich sicher, daß an seiner Theorie etwas war, aber kein Angriff hatte bisher etwas erbracht, das sie bestätigte oder zerstreute. In vier Stunden wußte er mehr. Jocelyn würde aufstehen können und regeneriert sein. Andri auch – jedoch würde er nicht der alte sein, aber immerhin ging es ihm dann besser als vorher. Zumindest hoffe ich das! Keek mußte wieder nachsehen. Er wollte in die Krankenstation und in den Schlafraum blicken. Alle halbe Stunden machte er das, und nun war es wieder soweit. Aus freiem Willen tat er das, aber es war auch eine Aufgabe, die ihn ständig und unausweichlich zur Pflicht rief. Er stand auf und begab sich auf den Weg zur Krankenstation. Er sah zu Andri hinein. Er keuchte schrecklich, und das Klappern seiner Zähne schien das Universum
auszufüllen. Götter! Das ist eine ganz neue Entwicklung! Er raste zum Schlafraum B und wußte schon vorher, was es dort zu sehen gab. Genau das sah er. Zähne klapperten. Seine Nasenflügel bebten vor Erregung. Sein Herz flatterte, überschlug sich fast. Schon rannte er zu Van. Die Tür zum Männerschlafraum wurde aufgerissen, und dort gewahrte er die Konturen von Channen. Heftig rüttelte er ihn wach. Augen blinzelten, und eine Stimme murmelte. »Was –?« »Wir werden angegriffen, ein Psychoangriff! Bewege dich!« Van rollte aus seiner Koje. Er griff nach seinem Kopf und sah befremdet drein. »Psychoangriff? Ich spüre gar nichts.« »Ich auch nicht; vielleicht spürte ich nicht einmal was, wenn ich humanoid wäre. Ich glaube auch, daß es Ogan gutgeht. Komm mit!« Energisch drängte Keek ihn aus dem Raum. »Ein subtilerer Angriff. Eine neue Strategie.« Unterwegs sah er Ruthe an ihren Kontrollen sitzen, dann rannte er weiter auf Schlafraum B zu. Drei von uns sind unverletzt. Aber nicht Jocelyn und Andri! »Hier ist es. Ich weiß nicht, was du spürst, aber ich sage, daß es sich um einen Angriff handelt!« Schon öffnete Keek die Tür.
10 Als sie sich öffnete, rieb Van seine Augen. Schlaf lastete auf seinem Körper, und sein Gehirn arbeitete nicht schnell genug. So verstand er auch nicht, was Keek meinte. Ein Angriff? Warum war er selbst dann immun dagegen? Warum verhielt sich Ogan dann nicht wie sonst und starrte blicklos in die Gegend? Warum glaubte Keek, daß er auch dann nichts bemerkte, wenn er menschlich wäre? Die zwei Sätze Keeks ließen ihn nicht mehr los: »Ein subtilerer Angriff. Eine neue Strategie.« Eine neue, subtilere Art von Gedanken-Anschlag? So mußte es sein, auch wenn er es nicht verstand. Die Tür öffnete sich vollständig, und plötzlich verstand er. Schlafraum B hatte sich verändert, ebenso Jocelyn. Die Decken bedeckten den Fußboden. Ihr Hin- und Herwinden hatte sie aus dem Bett geschleudert. Aus ihrem Gesicht war der friedliche Ausdruck gewichen. Statt dessen zeigte er Schmerz. Sie verhielt sich, als kämpfte sie mit einem schrecklichen Alptraum. Ihre Lippen bewegten sich. »Geht es Andri genauso?« wollte Van wissen. »Mehr oder weniger. Außerdem wird der Auszubildende davon geplagt. Der Junge ist so gut wie tot!«
Keek blieb in der Tür stehen, während Channen zur Krankenstation hastete. Andris Körperhaltung erinnerte sehr an die von Jocelyn: ein Peitschen der Glieder, ein gekrümmter Rücken, Hände, die ziellos in die Luft klatschten. Seine Augen waren geschlossen, sein Schlaf zweifellos alptraumzersetzt. Die wilden Zuckungen seines Körpers hatten einige der Stiche aufbrechen lassen. »Siehst du irgendeine Möglichkeit, wie wir helfen können, Keek?« Von dem Nichthumanoiden kam nur eine verneinende Geste, als Ruthe Ogan aus dem Kontrollraum herangerast kam. Schwerfällig ging sie von einer Tür zur anderen. Channen wiederholte seine Frage und stellte sie ihr: »Können wir helfen?« »Kaum. Es sei denn, wir verabreichen ihnen sofort eine stärkere Dosis des Schlafmittels.« »Das ist indiskutabel. Wahrscheinlich wirkt sich das nur am Anfang aus.« Van erklärte Keeks Vermutung. Sie nickte. Der Gedanke, daß es so kommen könnte, hatte auch sie befallen, aber leider zu spät. So erkannte sie, daß zusätzliche Medikamente vielleicht im Augenblick von Nutzen sein mochten, aber später würden sie die Patienten mehr oder weniger der Gnade der Außerirdischen ausliefern. Sie sagte: »Wir können nur wachen und warten.« Und beten, jene von uns, die wissen, wie das geht. Und je-
ne, die wissen, wo ihr Glaube liegt. Im Augenblick wünschte sie sich selbst, sicher zu sein. Keek kehrte in den Schlafraum zurück. Van blieb in der Krankenstation. Ruthe war einmal da und einmal dort. Die unsichtbare Attacke setzte sich fort. Channen hoffte, daß die Kugel des fünften Planeten einen Teil der Kraft abhielt. Der sechste Planet lag hinter ihr. Vermute ich richtig. Liegt dort ihr Ursprung! Seiner Ansicht nach war dieses unheimliche Schweigen im Augenblick das Schlimmste: Keiner von Ruthes plötzlichen Ausbrüchen, ihre Schreie, kein Weinen von Jocelyn, keine eigensinnigen Untertöne von Andri. Eine furchtbare Stille begleitete die Verwüstung menschlichen Geistes, eine Bestrebung, die versichern sollte, daß die Schläfer den nächsten Morgen nicht mehr sehen würden. Die Widersinnigkeit des Gedankens störte ihn. Morgen? In einer Sonde? Trotzdem mochte er nicht darüber lächeln. Keeks Stimme wurde laut: »Wir sind dabei, etwas über sie zu lernen. Manche der Strahlen mußten heftig gewesen sein, andere waren dagegen genau darauf abgestimmt, uns zu einem Zeitpunkt zu treffen, wo wir am wenigsten imstande waren, zu widerstehen. Wie damals, als wir alle Hände voll zu tun hatten, den Raketenangriff der Piraten abzuwehren, oder vor einigen Stunden bei dem Zusammentreffen, ehe wir in diesen Orbit einschwenkten. Oder dann, wenn
ein Individuum am schwächsten ist: Jocelyn und Andri in diesem Drogenschlaf.« »Und die beiden Auszubildenden, die gestorben sind«, setzte Van hinzu. »Sie lagen im Koma. Die Außerirdischen scheinen genau zu wissen, was hier in der 13 vorgeht. Wieso sollten sie diese unspürbaren Strahlen nicht auch in das Gehirn eines der Lehrlinge geschickt haben. Nach und nach vernichteten sie es dann. Ergebnis: Wir glauben, daß alles Zufall war, aber so ist es nicht.« Er blickte auf den überlebenden Lehrling: keine Bewegung, nur ein ganz schwach schlagender Puls. Plötzlich zuckte der Junge. »He, dieser Bursche zeigt einen Kampf! Ganz leicht.« »Kampf?« echote Keek. »Er machte das schon, während ich hier war, aber das ist kein Kampf; das sind nur die letzten Zuckungen vor dem Ende. Er war der stärkste der drei und litt am längsten.« Seine Nasenlöcher blähten sich auf. »Aber nun kannst du ihn vergessen; er ist längst weggetreten!« Van wußte nichts zu sagen. Das Bild wurde auf alarmierende Weise deutlich. Die Außerirdischen wußten, was innerhalb der Sonde geschah, vielleicht kannten sie sogar das, was in den Köpfen der Mannschaft vorging. Sie waren fähig, dort zuzuschlagen, wo und wann es am schlimmsten verletzen konnte. Ihre mentalen Energien spalteten sie auf, um zwei Sonden zu kontrollieren; womöglich konnten sie dort
sogar genau jenes Gehirn durchlöchern, das sie durchbohren wollten. Zuerst versuchten sie uns zusammen zu überwältigen, doch dabei hatten sie nur geringen Erfolg. Unterschätzten sie uns! Beabsichtigen sie nun, uns einzeln zu übernehmen? Vielleicht, mag es auch so aussehen, als wären sie dazu gar nicht fähig. Jedoch sind sie uns von der Macht her eindeutig überlegen! Ärgerlich wischte er seine Gedanken beiseite. Das einzige, worüber er sich noch wunderte, war, weshalb sie es den Piraten nicht gestattet hatten, die 13 zu vernichten. Damit hätten sie sich doch eigene Angriffe erspart. Ohne etwas zu tun, hätten sie sich zurücklehnen können, während eine Raketenexplosion ihre Feinde auf einen einzigen reduzierte. Hatten sie überhaupt bemerkt, daß es zwischen den beiden Sonden eine Feindschaft gab? Vielleicht wußten sie das nicht. Wenn sie alles nur intuitiv taten? »Van!« Es war Keeks Stimme. »Es läßt nach! Jocelyn wird langsam wach!« Channen sah sich um. »Andri geht es genauso.« Der Körper des Franzosen zitterte. Eine letzte Zukkung, dann sank er in die Decken. Der Lehrling sah zu ruhig aus, aber noch lebte er. »Es ist vorbei. Sie sind befreit.« Vans Freude wurde von Ogan zerstört. »Vielleicht sind sie befreit, weil diese Macht mit ihnen fertig ist!« Sie griff nach Andris Handgelenk. »Puls normal; er ist in Ordnung.« Um den Lehrling
stand es schlecht. »Zu langsam. Keine Hoffnung mehr.« Dann eilte sie in den Schlafraum B, um Jocelyn zu untersuchen. »Der Puls rast. Ihr geht es schlechter als Andri, aber entschieden besser als dem Burschen. Ich kann nichts sagen.« Ihre Schultern hingen herab. »Wir müssen warten. Bald werden sie erwachen.« Andri erwachte sehr früh. »Die Reparaturen«, sagte Andri. Er stand in der Zentrale und sah ausgeruht aus. Keinerlei Anzeichen wiesen auf seine letzten Leiden hin, auch nicht auf seine ganz alten Probleme. »Ich werde hinausgehen und einige davon erledigen.« »Nein, das wirst du nicht!« Van hielt seine Hand hoch, in der Absicht, das Vorhaben des anderen zu verhindern. »Zwei Stunden, und wir verlassen die Umlaufbahn. Das ist eine schlechte Voraussetzung, um Reparaturen zu unternehmen, außerdem ist Keek jetzt draußen. Es ist zu riskant für uns.« Er deutete auf das Regal, das die Waffen enthielt. »Es ist genauso riskant, diese Kristalle hier so nahe bei uns zu haben. Ich fühle etwas wie Klauen, die nach meinem Rücken greifen, immer wenn ich dieses Regal ansehe. Es klingt verrückt, aber tatsächlich würde ich mich nicht wundern, wenn diese Juwelen die Außerirdischen wären. Das zeigt, wie sehr sie mich beunruhigen!«
»Sie können nicht sein, was du befürchtest; das ist unmöglich. Eher sind sie ein Teil der Bedrohung. Den Beweis dafür sah ich.« Andri erzählte von seinem letzten Eindruck, ehe er in dem Scout das Bewußtsein verlor. »Der Angriff kam, und einen Augenblick später bemerkte ich, daß einer davon sein Leuchten verstärkt hatte, so daß er aussah, als –« Er legte eine Pause ein, um den Eindruck wirken zu lassen. »Als würden sie den Außerirdischen helfen, den Strahl zu verstärken.« »Zweifelhaft. Ich neige eher zu der Annahme, daß es sich hier um eine Spezies mit großer geistiger Macht handelt, nicht um irgendeine technische Vorrichtung. Strahlverstärker klingt irgendwie nicht richtig.« »Wer weiß? Irgendwie funkelte es stärker. Von der Farbe her drehte das Ding völlig durch!« Er beschrieb das Blitzen und Funkeln. »Als der Schmerz nachließ, wurde es noch ärger. Die Variationen des Angriffs deckten sich exakt mit dem Leuchten des Kristalls. Irgendwie gehören sie zusammen.« Channen zuckte die Schultern. »Versuchen wir das für eine Weile zu vergessen. Keek sagte mir, daß man alles früh genug lernt. Ich nehme an, wir lernen alles früher als wir wollen!« Er blickte auf den Raster. »Welch endlose Nacht. Die Straßenlampen sind so weit entfernt, daß wir die Straßen nie katalogisieren kön-
nen. Unsere Existenz muß diesem Planetenkollektiv absolut fremdartig erscheinen!« Ist es das, weshalb die Basis unsere Probleme nicht erkennt und zuviel von uns erwartet? »Kaum überraschend, daß es die Menschen verrückt macht. Wir sind hier eingepfercht wie –« »Gefangene«, unterbrach Andri. »Ja, wir sind alle in einem Gefängnis hier draußen, du nicht weniger als ich!« Nur daß du heimgehen oder nach jeder Reise aufhören kannst. Du wirst nicht genötigt, von Station zu Station zu fliegen, ehe du endgültig frei bist – irgendwann, eines Tages! Aber in ihm erwuchs kein Neid gegen Van. Letztlich waren die Sonden trotz allem eine Form der Freiheit, besser als die Strafkolonie. Vielleicht ertrage ich es sogar leichter als er. Er wurde auf das hier vorbereitet, aber mein Training war von einer härteren Art! Keeks Nachtwache schien die Unendlichkeit zu verbrauchen. Er stand im Schlafraum und wartete unermüdlich auf das kleinste Anzeichen, das auf ein Erwachen hindeutete. Doch da gab es nichts. Ihr Gesicht war immer noch bleich, und diese Blässe erinnerte ihn an den Tod. Sie schien zu hell zu sein. Wiederholt fühlte er ihren Puls, aber er wußte nicht, ob das Ergebnis nun gut oder schlecht war. »Keine Veränderung?« Andri trat ein und setzte sich neben sie auf die Koje.
»Nein. Sie könnte genauso gut im Schlaf wie im Koma sein; ich kann es nicht sagen. Die zwanzig Stunden sind längst um. Addieren wir noch eine Zeit hinzu, und Jocelyn erwacht, dann ist alles in Ordnung. Wenn nicht – dann liegt sie im Koma.« Andri hielt ihre Hand. »Bitte schlafe nur. Das mag dumm klingen, aber –« Er sah, daß Keek verstand. Jocelyn, du bist das erste Licht in all den Jahren der Finsternis. Konnte ich für dich irgendwie das gleiche sein? Ich wünschte, wir wären normale Menschen und könnten dieses Geschäft einfach verlassen, sobald wir zurück auf der Basis sind. Er erkannte, daß seine Gedanken wucherten. Er würde nicht zur Basis zurückgehen. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde die ganze Sonde nicht zurückkehren. Er träumte von einem freien Leben mit Jocelyn. Betrüge dich nicht selbst! Das wird es nicht geben! Bestimmt nicht jetzt, vielleicht nie! Er konnte die Außerirdischen ebensowenig aus seinen Gedanken verbannen wie die Strafkolonie. Keek lief um die Koje herum, um nach ihrer anderen Hand zu greifen. Die Gedanken an die Strafkolonie wollten nicht verschwinden: der Sadismus, der Schmutz, der Schmerz. Seine Gedanken glitten in die Kindheit zurück und begannen eine plötzliche Wiederholung eines gelebten Lebens: Hunger, die Vernachlässigung, die die Eltern dem Kind entgegenbrachten, Diebstäh-
le, kleine kriminelle Delikte, die schließlich in einem großen endeten. Keek ergriff die Hand behutsam und sprang zurück. Er starrte benommen auf Andri, völlig verwirrt. »Mörder?« »Ja, Mörder. Nicht so schrecklich, wie Mörder sind, aber dennoch ein Mörder.« Andri lächelte nicht wegen Keeks komischer Inkonsequenz. »Es begann als Streit zwischen Betrunkenen, und – tja, ich bin ein starker Mann. Leider lernte ich meine volle Stärke zu spät kennen! Dann kam die Strafkolonie auf dem Titan. Dort lernte ich die Grenzen meiner Stärke kennen.« »Wie lang –« Götter, ich vernahm Geschichten über diesen Ort! Das hat er alles durchgemacht! »Wie lang mußtest du abbüßen?« »Ich büße immer noch ab. Zwanzig Jahre war ich auf Titan. Als ich entlassen wurde, blieben mir noch fünf, um das Urteil abzubüßen. Sie haben da so ein Angebot für musterhafte Sträflinge.« Musterhaft? Andri schauderte. »Ich fing langsam an. Das brachte mir eine schlimme Dekade ein, in der ich meine Lektionen lernte. Ein zweites Jahrzehnt verstrich friedlicher für mich, und sie unterbreiteten mir dieses Angebot. Ich hatte die Wahl: Entweder überstand ich noch fünf Jahre auf Titan, oder sieben in einem harten Beruf wie diesem hier. Seit drei Jahren bin ich bei Far
Search, und außer auf Ganymed fühlte ich nie mehr festen Boden unter den Füßen. Die einzige Ausnahme bis jetzt bildete der vierte Planet dieses Systems hier.« Die Beschleunigung der Sonde war nicht zu bemerken, aber Keek und Andri spürten es trotzdem, bedingt durch lange Erfahrung. Beide wußten, daß der fünfte Planet nun nach hinten abfiel. Die zwanzig Stunden waren vorüber. Keeks Zugabe verstrich ebenso: eine Stunde, zwei, drei, vier – Keine Bewegung auf dem Bett, kein Erwachen. Jocelyn blieb so friedlich wie tot, schön und bedauernswert. Eine gewisse Schärfe lag in den vier wachenden Augen: Bitterkeit, unvergossene Tränen – nicht geweint, zurückgehalten, glitzernde Salzkristalle. Leise sagte Andri: »Das – ist kein Schlaf.«
11 »Nicht die Krankenstation«, entschied Van. »Ich halte es für besser, wenn sie nicht dort ist. Immerhin werden wir dort bald wieder eine Leiche liegen haben.« Keeks Ausbruch war von Bedauern erfüllt, und Van bemühte sich um die Wahl der richtigen Worte. »Ist es dir recht, Ruthe, wenn sie im Schlafraum bleibt? Wenn nicht, mußt du es sagen. Du bist diejenige, die den Raum mit ihr teilen müßte.« Als ob einer von uns das vergessen könnte. Zuletzt störst du sie noch mit deinem Schnarchen oder deiner Schlaflosigkeit! Er beschloß, diesen sinnlosen Gedankenfluß zu unterbinden. Wenn Keek ihn berührte, wäre er sicher erschrocken. Der sechste Planet leuchtete vom Raster. Van wußte, daß er zuletzt einige Fehler begangen hatte: geistige Fehlschlüsse, falsche Worte. Hatte der Rest der Mannschaft das gleiche gemacht, ohne etwas davon zu wissen? Fraßen sich die psychologischen Anschläge weiter in ihre Gehirne? Vielleicht seit 13 sich immer schneller auf ihr Versteck zubewegte, das er noch immer nicht hatte lokalisieren können? Ruthe hatte keine Einwände. »Laß sie, wo sie ist, Van.« »Schön.« Das Bedauern in Andris Augen fiel ihm auf, dann drehte er sich um. Ein Geräusch an den
Kommunikatoren hatte ihn aufmerksam werden lassen: Ein Brummen aus dem Radio. Jemand rief sie, und an sich konnte es nur die andere Sonde sein. Der Brummton erstarb, und eine Stimme begann schwach zu sprechen. »Hallo, Far Search; hört ihr uns?« Van bestätigte und wartete. »Wir sind in Schwierigkeiten.« Das überrascht mich nicht! Nun bettelt ihr um Unterstützung, nicht wahr? »Diese Welt ist so unheimlich, daß es schon unmöglich ist! Gräßlicher als ich mir je vorstellen konnte!« »Das glaube ich. Und jetzt?« Plötzlich bedauerte er seinen Tonfall. Der Fremde war menschlich, ein potentieller Freund, ungeachtet der letzten Vorfälle. »Wahrscheinlich Außerirdische. Können wir helfen?« »Du weißt, daß ihr das nicht könnt. Da frage ich gar nicht erst!« Widerspenstige Bastarde! Nun kriecht ihr auf eueren Knien! »Seht, wir haben einen gemeinsamen Feind, und wenn wir uns verbünden –« »Fahr zur Hölle! Ich wollte euch nur folgendes sagen: Wir sind in Schwierigkeiten und kommen vielleicht nicht mal mehr zur von euch abgewandten Seite des Planeten. Wahrscheinlich können wir den Planeten nicht mehr umrunden. Aber wenn wir es schaffen, dann seid ihr ebenfalls in Schwierigkeiten! Wenn wir den Sprung nach Hause schaffen, dann bleibt ihr
zurück! Wir sind etwas explosiv, wenn wir es mal so ausdrücken wollen!« Van erbleichte vor Fassungslosigkeit. Warum konnte dieser Mann die menschliche Feindschaft nicht beiseite legen und sehen, wo der wirkliche Feind war? 13 konnte ihm nichts anhaben, wohl aber die Außerirdischen. Für Channen schien die Lösung einfach. Sie mußten ihre Auseinandersetzungen einstellen und sich gegen die schwer faßbaren Außerirdischen verbinden. Es mochte sein, daß sie die Fremden gar nicht fanden, aber letztlich konnten die Menschen ihre Kräfte verstärken, statt sich zu bekämpfen, während die Fremden nur darauf warteten, sie zu vernichten. Es war die uralte menschliche Dummheit, die wieder zu gewinnen schien. »Hör mal, Mann –« »Nein, danke. Ich verhalte mich fair. Ich habe euch diese Warnung erteilt.« Der Fremde lachte. Andri kam durch den Kontrollraum und schob Van vom Mikrofon weg. Er dachte an den Augenblick zurück, als er die Rakete hatte abfangen wollen. Wie viele davon mochte die andere Station besitzen? Waren es nur zwei, dann hatte 13 eine Chance. »Du hast etwas vergessen. Nimm einmal an, du müßtest mit deiner letzten verbleibenden Rakete ein Schiff der Fremden abwehren.« »Die letzte? Woher –« Der Fühler grinste.
»Ich ahnte es, aber jetzt weiß ich es.« »Kluges Bürschchen! Obwohl dich das nicht retten wird. Wir nehmen kaum an, daß wir sie für die Fremden benötigen werden. Nur Christus weiß, wo ihre Schiffe sein mögen. Jedenfalls sahen wir nicht ein einziges.« Channen fragte sich, wo sie sich verbargen. Kein einziger hatte sie gesehen, aber jeder wußte genau, daß die Fremden im oder nahe dem System existieren mußten. Die größte Wahrscheinlichkeit war, daß sie auf Planet Sechs lebten; er war ziemlich sicher, daß es sich so verhielt. Aber warum hatte sie keiner gesehen? Er wandte sich über das Radio an den Fremden: »Ich mache kein Geheimnis daraus, daß wir in einer schlechten Lage sind. Euch muß es ähnlich ergehen. Berichte uns vom Ernst euerer Lage, und mein Angebot bleibt bestehen. Wir können so manches schaffen, wenn wir zusammenhalten.« »Wir helfen euch heim, und ihr helft uns ins Gefängnis? Nein! Wir schaffen es allein. Wir haben vier Tote, zwei sind ausgefallen und zwei von uns noch auf dem Posten. Das genügt, um einen Torpedo abzufeuern.« Eine volle Besetzung? Dann können sie nicht viel von der Ausrüstung behalten haben, es sei denn, ihr Außensystem ist besser instrumentiert als unseres. Van erinnerte sich an Keeks Worte: »... eine Instrumentierung, die
so großartig wie nutzlos ist.« Er grinste. »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, hier Hyperdiamanten zu finden?« »Das dachten wir zuerst, aber nun nicht mehr.« »Das bedeutet, daß ihr keinen Profit auf dieser Reise hattet. Seid vernünftig und kooperiert mit uns. Warum bekämpft ihr uns wegen wertloser Steine?« »Kein finanzieller Erfolg, keine Hyperdiamanten; ich verstehe. Aber mir genügt schon der Erfolg, nicht ins Gefängnis zu kommen.« Die Stimme des Mannes klang unbeugsam, und Van erkannte, daß der ZweiFronten-Krieg bestehen bleiben würde: Die andere Station würde hinter dem sechsten Planeten hervorkommen; ihr Scout war bereit, die Rakete abzufeuern. Er fluchte über diesen Wahnsinn. Wenn sie sich zusammengetan und die Außerirdischen besiegt hätten, wäre er bereit gewesen, nichts über das Piratenschiff verlauten zu lassen und sämtliche Aufzeichnungen darüber auf den Bändern zu löschen. Die Stimme des Fremden unterbrach seine Gedanken, sie klang jetzt heftiger: »Haltet nach uns Ausschau, wenn wir um den Planeten kommen. Mehr werdet ihr nicht mehr sehen. Nur einen heranrauschenden Mondbrecher, und dann nichts mehr!« Ein Mondbrecher? Ja. Van erinnerte sich daran: eine überlegene Waffe. »Ein Mondbrecher? Ich gestehe zu, daß es sich hier um eine tödliche Waffe handelt.«
Er hoffte, daß seine Worte ruhig klangen. »Aber sie funktionieren nicht immer, nicht wahr? Mein Angebot gilt nicht mehr; seht zu, wo ihr bleibt!« Wütend unterbrach er die Verbindung. Es kam von den Außerirdischen: eine ganz gewöhnliche Psychoattacke – nichts Spezielles, keine neuen Winkelzüge oder Angriffe, nur ein Großangriff, der jeden in der Sonde einbezog. Es wählte nicht aus, und es griff nicht in die persönliche Krisensituation irgendeines Menschen ein. Es kam einfach sehr heftig. Channen fragte sich, weshalb sie nicht mit diesen innerlichen Angriffen fortfuhren, die keiner von ihnen würde überstehen können. Uferte das nun endgültig in diese brutalen Schläge aus, vielleicht weil sie annehmen mußten, daß sie – die Menschen – die subtileren Psychoangriffe mit etwas Übung absorbieren konnten? Oder war es das Gegenteil: Hatten sie Jocelyn endgültig innerlich zerstört? War nun der Rest dran? Oder reagierte er selbst schon wieder viel zu pessimistisch? Keek stand niedergeschlagen im Schlafraum B und warf seinen Körper auf den Jocelyns. Instinkt! Ich versuche sie physisch zu schützen, obwohl es kein körperlicher Angriff ist! Er kroch von ihr und kniete sich neben die Koje, eine umfassende Berührung, die Finger ineinandergewunden. Jede Berührung konnte nützen.
Wenn er imstande war, sie im wachen Zustand zu beschützen, warum sollte das dann nicht auch in diesem Fall möglich sein? »Keine Aufregung, Jocelyn; ich bin da.« Narr! Sie ist weggetreten! Sie antwortete nicht. Nicht der kleinste Schimmer von Erkennen schien durch das gleichmäßige Grau ihres stummen Geistes. Keek quetschte ihre Finger, betete. Durch die Qual vernahm er die Reaktionen der anderen: Ogan intonierte liturgische Kirchengesänge wie eine Zauberin, Andri murmelte. Weder der Lehrling noch Channen ließen etwas von sich hören. Der eine konnte nicht, und der andere war einfach stumm. Van schlug gegen den Rand der Konsole, hielt sich aufrecht, während in seinem Kopf Gedanken wüteten, obwohl er doch gegen dieses Wüten von außerhalb ankämpfen wollte. Er wußte, wer der Stärkere war, und das war nicht er. Jocelyns Finger erwiderten keinen Druck; sie waren schlaff und kalt. Keek knetete sie heftiger. »Ich bin hier; ich bin hier«, murmelte er andauernd und überflüssigerweise. Dann betete er mit verstärkter Inbrunst um Jocelyn, Van, Andri, Ruthe und um sich selbst, daß dieser Angriff doch bald enden möchte, diese Attacke, von der er nichts spürte. Aber andere fühlten es, und Selbstsucht war Keek fremd. Deshalb betete er. Die einzige Weise, wie ich ihnen helfen kann, ganz egal, ob sie das nun glauben oder nicht, was ich glau-
be. Er wußte, daß keiner diesen Glauben besaß, aber trotzdem setzte er seine Fürbitte fort. Ich kann sie nicht schützen, es sei denn durch – Berührung! Das war eine Antwort, eine Eingebung. Warum dachte ich nicht früher daran? Es ist nicht das absolute Gegenmittel, aber hier mag es sich um eine Möglichkeit handeln! Er bedankte sich überschwenglich bei seinen Göttern, dann rief er: »Jeder soll sofort in den Schlafraum kommen! Schnell!« Ob sie kapierten, daß er eine Lösungsmöglichkeit gefunden hatte? Würden sie seiner Stimme folgen? Konnten sie es überhaupt noch? Sie hatten keine große Wahl. Unter Schwierigkeiten konnten sie das auch. Und sie kamen. Ogan wankte herein. Andri folgte, ein zerstochenes und wieder hergerichtetes Horrorgesicht, auch er interessiert. Dann kam Van, der bereits etwas zu hören schien. »Schnell! Faßt euch an den Händen! Schließt Jocelyn mit ein, denn wenn ich jemanden berühre –« Sie verstanden. So schnell es ging, bildeten sie einen Kreis um die Koje, drei Menschen außen, Jocelyn innen. Keek hielt sich zwischen ihnen. »Das mag leichter sein, als wenn ihr euch gegenseitig berührt. Es genügt, Jocelyn anzufassen. Ich kann nicht sagen –« Kann ich mich in vier Richtungen ausbreiten? Ich muß mich vorsichtig vorantasten! Hände, Arme, Füße, Beine bewegten
sich. Knie berührten Handgelenke; Handgelenke berührten Knöchel; Knöchel berührten Ellbogen. Nun war der Kontakt so hergestellt, wie Keek ihn haben wollte. Jocelyn lag neben einem Knäuel von Körpern, neben dem Schmerz des Gewichts, schlafsüchtig. Keek bildete die Spitze des Haufens. Auf wunderbare Weise gelang es ihm, jeden zu berühren. Nun breitete er sich aus. Geistesinhalte vermengten sich, flossen zusammen, Gedankenflüsse verloren sich in einem Ozean aus wirbelnden Zerebralfunktionen. Zusammentreffende Erinnerungen gingen in einer brüllenden Welle der Selbstfindung auf: Das Spektrum reichte von schmutzigen Erinnerungen, über Ecken und Kanten, über einen Lehrling, der in der Nähe der Capella seinen Kiefer brach, bis hin zu den heimatlichen Erlebnissen der Kindheit. Ehrgeiz befleckte die Wellenkämme wie sprühende Gischt; nun endlich frei zu sein, wahren Glauben zu finden, sich vom Charakterspiel der Sonde zurückziehen zu können, ein gutes Leben führen zu können und ehrfürchtig gegenüber den Göttern und einem blinden Mädchen zu sein. Erfahrungen tanzten wie Wassertropfen, schmerzhafte und schöne, beschämende und erhabene. Die Stunde des Gruppenzusammenhaltes war gekommen, der Höhepunkt, gleichzeitig ein Test und eine Prüfung. Einige Geheimnisse waren beiseite geschafft.
Für jeden dieser verschiedenartigen Menschen war es ein anderes Erlebnis von unterschiedlicher Bedeutung. Für Andri: die Sympathie und Gemeinschaft, die er immer ersehnte, artete nun in ein Extrem aus, welches er sich nie so zu erträumen gewagt hätte. Für Ogan: der Schluß, daß sie schon immer und unbestreitbar eine absolut menschliche Persönlichkeit gewesen war, ohne Zweifel eine spirituelle Zinne in einem unglücklichen Leben. Für Van: die absolute menschliche Harmonie, wenn auch unter dem Zwang der Außerirdischen geschaffen, ließ ihn bedauern, daß es so etwas nicht mit der gesamten Menschheit gab. Aber das war nur eine grandiose Theorie und eine Unmöglichkeit. Und für Jocelyn: Nichts von alldem, nicht einmal ein schwaches Aufflackern in diesem ewigen Grau. Die Vereinigung war zu komplex, um lange aufrechterhalten werden zu können. Sie verwirrte den Geist. Doch solange sie bestehen blieb, hielt sie die Außerirdischen auf Distanz. Psychologische Angriffe prallten gegen eine starke mentale Mauer und wurden zurückgeworfen. Die Bestürmung setzte sich fort, doch das geistige Bollwerk hielt stand. Keek wußte, daß er die Barriere bald aufheben mußte, sonst würden die Menschen unter dem Gewicht der Gedanken der anderen zusammenbrechen. Noch machte er wei-
ter, und unvermittelt brach der Angriff ab. Er entspannte sich. Dankbar sanken die Menschen auf den Fußboden, erschöpft und entkräftet. Nun waren sie sicher. Bis zum nächsten Mal. Auf Keek wirkte es nicht wie ein Angriff. Er wußte, daß es einer gewesen sein mußte, auch wenn er glaubte, daß es falsch war. Es war nicht das gleiche. Die Symptome waren unterschiedlich, weniger ausgeprägt, vage und auf eine schädliche Weise verändert. Alles schien normal zu sein, doch er wußte, daß es sich um einen Angriff handelte: um einen neuen Typ einer Attacke, den er da lokalisierte. Eine Veränderung ergab sich nur in der Richtung und in der Heftigkeit des Angriffs. Ogan schnarchte, ungestört, laut und gleichmäßig. Andri saß im Erholungsraum und ruhte sich aus. Jocelyn war noch immer bewußtlos, nicht so tief wie der Junge, aber dennoch bewußtlos. Alles erschien normal – nur Channens Verhalten nicht. Das beunruhigte Keek, denn es ließ den Schluß auf einen ganz speziell geführten Angriff zu: auf das Gehirn der 13, auf ihr Herz, auf ihren Integrator. Er stand in der Mitte des Kontrollraums, still und in sich versunken – zu still und versunken. Sein Blick saugte sich am Bildschirm fest und Eindruck des sechsten Planeten. Er sah schwach, müde und ermat-
tet aus. Seine Hände hingen herab, und seine Knie zitterten. Gebückt stand er da. Keek glaubte, daß er nahe am Umfallen sein mußte. Sein Eindruck schloß Müdigkeit, Verwirrung und die leichten Anzeichen einer sich abzeichnenden Entscheidung in sich ein. Zweifelnd sprach ihn der Nichtmenschliche an: »Ist alles in Ordnung, Van?« Welch eine kindische Frage! Natürlich ist es das nicht! Haben sie sich nun auf ihn konzentriert? Wenn sie ihn besiegen, dann ist ihnen der absolute Sieg über uns gewiß! »Van? Ich fragte, ob alles in Ordnung ist?« Channen schien aus einem Traum zu erwachen. »In Ordnung? Ich denke schon. Warum?« »Du sahst so abwesend aus. Wie – bei einem Angriff. Ich wunderte mich –« »Nein, das ist es nicht.« Er strahlte. Die Verwirrung erstarb, wurde von dem Ausdruck plötzlicher Frische unterjocht. Sein Körper streckte sich. »Neuer Großalarm. Ich will, daß jeder in Form ist. Hol sie her, Keek. Hier geht etwas Sonderbares vor.« Keek weckte Ogan, überbrachte Andri die Nachricht, und die Mannschaft versammelte sich im Kontrollraum: Van, Keek, Ruthe, Andri. »Nur vier von uns, Van. Eine traurige Mannschaft.« »Nicht so traurig wie die der Piraten. Sie verbringen ihre Zeit damit, um den sechsten Planeten zu kommen; ich nehme an, daß sie noch Stunden damit
zubringen werden. Aber das ist ihr Problem, nicht unseres. Noch nicht!« Was geschah mit ihnen? Was wartet auf der anderen Seite auf uns? Er verteilte die Pflichten und gab seine Anweisungen. Ogan durfte an ihr Augengerät, was sie sehr überraschte. Sie lächelte beinahe. Andri setzte sich vor seine Kontrollen; Keek verzog das Gesicht, als er Jocelyns Platz einnahm. Tut mir leid! Ich weiß, daß diese Mikrofone nur halb so gut sind, wenn sie nicht von dir bedient werden, aber wir haben keine andere Wahl. Van blickte über Ruthes Schulter auf den sechsten Planeten, der nun entschieden größer geworden war. »Das ist das Ziel. Dort gibt es alles, was wir schon hatten. Auch dort spüre ich Leben, nur viel stärker. Und etwas anderes: verschiedenartiges intelligentes Leben, so vielfältig, daß es mich verwirrt.« Er blickte auf den Schirm, Planet sechs erschien harmlos; eine Kugel, bedeckt von ineinanderfließenden Wolkenschichten, zu dick, um den Boden erkennen zu lassen. Van wußte, daß diese Welt alles andere als harmlos war. Dahinter hielten sich die Piraten auf; vielleicht waren sie aufgehalten worden. Sie waren spät dran. Channen schwankte zwischen der Erleichterung darüber, daß die eine Bedrohung vorübergehend verschwunden war, und der Angst davor, was nun eigentlich verschwunden sein mochte. »Haltet nach allem Ausschau. Wahrscheinlich nichts, nehme ich an. Aber etwas ist hier!«
Ruthe brachte Sechs auf die höchste Auflösung und analysierte ihn. Andri tastete den Planeten mit Radar und anderen Instrumenten ab. Keek lauschte. Das Ergebnis war negativ: Kein feststellbares Leben. »Ich erwarte nicht, daß unsere Ausrüstung ausreicht, es aufzuspüren«, meinte Van. Auch auf Vier war das nicht geschehen. Die Instrumente hatten die Kristalle nicht angezeigt. So unterstellte er, daß es auf Sechs nicht anders sein würde. Dennoch waren sie da, und in einer Anzahl, die ihn bestürzte. Er blickte auf das Regal und dachte an die beiden Kristalle. Andris großes Mitbringsel von Vier war nicht zu vergleichen mit der Unzahl, die Van auf Sechs spürte. Das ist lächerlich. Der ganze Planet lebt durch sie! Ein schlecht gewählter Gedanke, verdammt! Der Stoff ist überall; ich brauche den Boden gar nicht erst zu sehen, um zu wissen, wie er beschaffen ist: kristallin, funkelnd, lebend, mit Farben und überhaupt irgendwie lebend! Er konnte die Idee nicht verarbeiten, so überwältigend war sie. Der Gedanke an diese andere reiche Intelligenz war überhaupt faszinierend. Empfindungen schlugen in einer heftigen Welle über ihm zusammen, und sein Kopf schien durch ihre Kraft und ihre Größe zerspringen zu wollen. »Versucht es. Vergeßt den Boden; konzentriert euch auf den Raum um den Planeten.« Er wunderte sich, weshalb er ihnen geraten hatte, den Boden zu ignorieren. Er vibrierte phantastisch,
zusammen mit der Intelligenz der Nicht-PseudoHyperdiamanten. Er nahm an, daß sich die Juwelensteine weit über der Kruste des Planeten befanden, und daß die eigentliche Intelligenz bei ihnen war. Demnach mußten sie den nahen Weltraum erfüllen, die Welt umrundend, sich ausstreckend. Gott, bald werden wir mitten unter ihnen sein! Die Piraten sind es längst! Es sieht nicht so aus, als kämen sie je wieder heraus! Entschlossen sagte er: »Tastet den Weltraum ab. Da existiert Leben, das den sechsten Planeten wie eine Atmosphäre umrundet.« Andri schaltete sich ein: »Die Atmosphäre zeigt Sauerstoff, genau wie bei Fünf.« »Allerdings dürfte das die einzige Ähnlichkeit bleiben. Nichts sonstwie Erdähnliches gibt es hier.« Er erkannte, daß der sechste Planet nicht zu kolonisieren war. Er war feindlich, fremd, todbringend. Er erinnerte sich an die Worte des Piraten, der ihn beschreiben wollte: unheimlich, unmöglich. Ja, und mehr! Ich stimme dir in einer Hinsicht zu: es ist verdrehter als alles, was ich mir je vorstellen konnte! Seine Fremdheit überwältigte ihn: lebende Kristalle, vielleicht bis ins Zentrum hinab, durchdrungen von einer zweiten Lebensform, die den Weg ins Weltall gefunden hatte, eine Atmosphäre aus fließender Intelligenz und Feindschaft. Er wünschte sich, den Umlauf der 13 anhalten zu können, doch gleichzeitig wußte er auch,
daß dieser Wunsch unmöglich war. In Kürze würde sich die Sonde mitten unter ihnen befinden, und da gab es nichts, was diese Tatsache verhüten konnte. Der Instrumentencheck brachte das erste Ergebnis: negativ. »Warten wir noch ein paar Minuten. Ziellos, aber – « Worte vermengten sich mit konfusen Ideen und durchdrangen seine Gedanken. Das kann nicht sein! Er wußte, daß es nicht sein würde und nicht sein konnte, dennoch war es so. Es – es wächst, dehnt sich aus! Das ist verrückt, aber es geschieht tatsächlich! Nun, als er zurückdachte, erkannte er, daß er es die ganze Zeit über gespürt hatte, nur hatte er sich geweigert, diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen. Plötzlich geschah es zu lärmend, um nicht akzeptiert und eingestanden zu werden. Er glaubte es kaum, aber hatte es zu akzeptieren. Der kristalline Teil des sechsten Planeten dehnte sich aus, vergrößerte sich. Er fühlte es bis ins Herz dieser Welt hinunter, ein tiefer Einschnitt. Er sah, wie Wüsten und Wälder in glitzernde Finger aus quirlender Farbe verwandelt wurden, bis hinauf zu den höchsten Bergen; wie Flüsse austrockneten und in festem Glanz neu erstrahlten – ein langsamer, aber stetiger Prozeß, der sich über Wochen, wenn nicht über Jahre hinweg erstreckt haben mußte, eine absolute Umwandlung jeglicher Materie in wunderbare,
durchsichtige bewußt existierende Steine. »Eine Umwandlung.« Van begann einen flüsternden Monolog. »Die Steine verwandelten alles in Fels, verleibten sich alles ein!« Der begonnene Prozeß setzte sich fort, und er wußte, daß er etwas gesehen hatte, das sich vor der Zeit ereignet hatte, als der Planet noch nicht völlig aus Kristallen bestand. Hungrig verleibten sie sich alle anderen Materialien ein, verwandelten sie und wuchsen. Verstohlen begab er sich zum Regal und steckte den Schlüssel in das Schloß. Er fragte sich, was er hier zu sehen erwartete, dabei war er sich der Antwort nur zu sicher. Wie groß würden die Juwelen jetzt sein? Er konnte es sich nicht vorstellen, weil er nicht wußte, wie schnell sie sich normalerweise ausdehnten. Vorsichtig öffnete er die Tür. Aber die Kristalle besaßen noch die gleiche Größe, unverändert, ein tödliches, zwiefaches Glitzern. Das schien ein Fingerzeig für sich zu sein, obwohl er seinen Ursprung nicht greifen konnte. Eine Minute angestrengter Überlegung, und er wußte es. Nun lachte er still über seinen früheren Gedanken, daß die Kristalle die Außerirdischen seien. Das waren sie nicht. Statt dessen waren die Außerirdischen in den Kristallen – nicht in jenen im Regal, noch in jenen auf dem vierten Planeten. Aber sie befanden sich im kristallinen Gefüge des sechsten Planeten, darin und
darum herum, durchzogen es, umschlossen es und veranlaßten es zu wachsen. Frage: Warum? Handelte es sich um einen bizarren Akt der Vermehrung zweier separater Spezies! Wenn es so war, welch unvorstellbares Wesen mochte dann der Ursprung gewesen sein? Schreckliche Bilder krochen in sein Gehirn, als er es sich vorzustellen versuchte. Er wollte sie unterdrücken, und es gelang. Jedoch kehrten sie verstärkt zurück. Wie lang mochte es her sein, seit dieser Vermehrungsakt begonnen hatte? Antwort: Seit dem Erscheinen der systemexternen Außerirdischen, nach Far Searchs erster Untersuchung. Wenn das ein Schöpfungsakt war, dann wurde die Linie, die Humanoide von Nichthumanoiden trennte, breiter und weiter, unermeßlich und nicht zu überschreiten. Nie konnten sie sich auf gleichwertiger Basis begegnen; sie waren so unterschiedlich, jeder dem anderen zu fremd. Sie mochten überhaupt nichts Gemeinsames haben. Mußte das unvermeidbar in einen Krieg münden, der bis zum Tod geführt wurde? Er schauderte. War es nur eine Sache des Überlebens für eine Spezies? Oder die unvermeidbare Auslöschung beider? Konnte jeder Beteiligte widerrufen und alles so belassen, wie es war, nämlich unvereinbar? Wenn die Außerirdischen den gleichen Stolz besaßen wie die Menschen, dann nicht! Sie mußten zu-
sammentreffen, und wenn es nur aus dem Grund geschah, festzustellen, wer dem anderen wirklich überlegen war. Van sah Sols zweifüßige Horden ins Universum schweben, auf der Suche nach vermessenen Außerirdischen, die geschlagen werden mußten. Er versuchte sich die Außerirdischen vorzustellen. Wie konnte einer den Eindruck eines Wesens formen, das unsichtbar, unfaßbar, unhörbar – ungreifbar durch die Einheit von Auge, Fühler und Ohr war – wie konnte dieses Wesen durch einen kleinen Geist erfaßt werden – ein Wesen der Allgegenwärtigkeit und Intelligenz, einfach und simpel, körperlos? Und dann mußte er sich korrigieren. Einfach und simpel? Niemals! »Das ist genug«, sagte er. »Ende des Alarms.« Die Sensoren wandten sich ab, schulterzuckend: kein Leben, nichts. Channen stellte es in Abrede. »Wir fanden, wonach wir ausgeschaut haben. Wir haben sie lokalisiert.« Er verließ sich auf sein Wissen und auf seine Vermutungen. »Liebst du sie wirklich?« fragte Keek. Andri brauchte nicht zu antworten. »Ja, natürlich tust du es, tut mir leid.« Nichtmenschliche Augen reflektierten die Trauer der menschlichen. »Ich versprach, uns hier herauszuführen, nicht wahr?« Hatte Keek einen durchführbaren Plan? Gab es da
eine Möglichkeit? »Das sagtest du.« Wegen der Narben war Andris Ausdruck nicht genau zu deuten: Er konnte ebenso gut skeptisch wie hoffnungsvoll sein. »Eine Idee?« »Nicht, wie wir hier herauskommen, nein! Das müssen die Götter entscheiden. Auch was Jocelyn angeht. Aber ich sehe eine Chance.« Er sah, daß er den Franzosen für sich einnahm. Trotzdem mußte er vorsichtig sein. Andris Erziehung mußte nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein. »Daheim feiern wir ein jährliches Fest, eine Parade der Götter: Fruchtbarkeitsgottheiten, der Schenker des Lebens, der Nehmer des Lebens, Götter der Sonne und der Stürme, des Friedens und des Krieges und so weiter. Kannst du mir folgen?« »Ja.« Ich kann seinen Grundsätzen folgen, aber nicht seinen Beweggründen. Andri war froh darüber, daß Keek ihn nicht berührte. »Ich folge.« »Wir werden glücklich, rasend, enthusiastisch; glühen vor Eifer und sind oft betrunken! Wir sind nicht perfekt.« Keek fragte sich, ob er diesen Sachverhalt je besser erklärt hatte. »Es ist eben ein Fest! Einer der populärsten Aspekte im üblichen Wettstreit zwischen unserer Liebesgöttin und dem Haßspender – im natürlichen Abbild; auf der weltlichen Ebene, nicht auf der himmlischen.« Du nennst es ein Drama, Andri? Ein Ritual? Vielleicht ist es das nach deiner Denk-
weise. Für uns ist es jedoch sehr real und eine einschneidende gesetzliche Verordnung. Hier geht es um Ziele, die wir vertreten können, um den ewigen höheren Konflikt. Wenn ich dich nur erleuchten könnte! »Wenn ich Einzelheiten auslasse, dann hast du hier die Essenz: Jedes Jahr siegt die Liebe. Sie wird getötet, erneut geboren, sie siegt. Kapiert?« Keek legte eine Pause ein. »Der Haß lebt ebenfalls weiter, aber als geschlagener Gott.« »Ja.« Andri wiederholte sogleich, ohne zu wissen, wohin das alles führen sollte. »Die Liebe gewinnt immer.« Könnte es nicht auch einmal anders ausgehen? Ginge das nicht? Doch tote Götter wurden notwendigerweise wiedergeboren. Sie waren unsterblich, und so setzte sich der Kreislauf fort: Leben-Tod-Wiedergeburt. Primitiver Symbolismus. Marduk, Osiris. Andri war darüber erstaunt, daß Keek tatsächlich an solchem Aberglauben hing. Erinnere dich an seine Beweggründe! Geduldig wartete er darauf, daß sich das Gespräch um Jocelyn drehen würde. »Diese Lektion sollte dir nur die Macht der Liebe demonstrieren. Ich glaube, daß du und ich, daß wir beide zusammen die Kraft aufbringen können, sie zu retten. Deine Liebe und meine – verschiedenartig und doch gleich – gegen den Haßspender, der in den Außerirdischen wohnt. Wenn du mir vertraust, dann könnten wir es versuchen.«
Andri hatte keine große Wahl. Zwar vertraute er Keek, aber er hatte kein großes Zutrauen zu dem religiösen Fundament, auf dem diese Idee basierte. »Nach dir.« Keek bewegte sich auf den Schlafraum zu, dabei blickte er auf die gnadenlose Uhr. Das gegnerische Schiff war noch Stunden entfernt. Etwas mußte sie aufgehalten haben. Von selbst konnte sie nicht gestoppt haben. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, und öffnete die Tür. Im Schlafraum setzte er sich auf die Koje und dirigierte Andri auf die andere Seite. »Du und ich –« »Warum ausgerechnet wir? Warum nicht Ruthe und Van?« flüsterte er. Die beiden waren im Kontrollraum. »Zunächst weißt du, wie schwer es ist, so rasch eine Veränderung zu erreichen. Zweitens befinden sich unterbewußte Strömungen in ihnen, die nur stören würden. Aversion und – ein Hauch Eifersucht, auch wenn sie das selbst gar nicht bemerken. Verborgene Strömungen, die uns nichts nützen, könnten ihr helfen. Wir beide sind in dieser Hinsicht rein. Nimm ihre Hand!« Der Tonfall zwang ihn zu sofortigem Gehorsam. Er nahm Jocelyns rechte Hand, Keek die linke. Drei Finger glitten über ihren Körper und ergriffen Andris Handgelenk. Das Dreieck war komplett, aber dieses
Mal befremdete es Andri nicht mehr. Das JocelynDreieck verharrte bewegungslos. Keeks Geist floß ihm zu, ein Kontakt auf direkter Linie. Zwei Linien und ein Winkel mußten zusammenfließen, bis die Figur geistig ebenso aussah wie körperlich. Vermochte Keek sie zusammenzuführen? »Ja, mit dir und den Göttern, die mir das Rückgrat stärken. Nun höre auf mit dem, was du denkst, denn das ist schwarze Magie oder Idiotie oder beides! Es ist sinnlos!« Abrupt brach Andri seine Gedankengänge ab. Keek hatte sie ihm durchgeschnitten. »Denke auch nicht an Ogan oder Van oder an sonst jemanden oder sonstwas, außer an Jocelyn!« Andri versuchte sein Bestes. Angespannt bannte er Ruthe, Van, Far Search und Titan aus seinen Gedanken. Herumstreifende Gedanken flossen herein, und er kämpfte um ihre Verdrängung mit ganzer Kraft. Plötzlich war es leicht, nur noch an Jocelyn zu denken. »Wie mache ich es?« »Gut. Streck dich aus.« Keeks Hand berührte ihn, und sein Geist umhüllte den von Andri. »Tauche durch mich in ihr Gehirn ein, mach es so wie ich. Versuche die Wunden des Haßspenders zu finden und sie hinauszufegen!« Und bete, wenn du willst oder kannst. Ich möchte mich nicht um theologische Grundsätze streiten. »Denk an Jocelyn, denke an Liebe, bekämpfe den Haß! Reinige sie!«
Er dachte an Jocelyn, dachte an Liebe und kämpfte gegen den Haß. Ihr Geist lag frei vor ihm, bereit, erneuert oder ausgelöscht zu werden. Er dachte an Jocelyn, dachte an Liebe, kämpfte gegen Haß. Erotik schlich sich ein, in diesem Augenblick vulgär, aus dem Zusammenhang gerissen, unnötig. Er schwor darauf, schrie darauf, verbannte alles in eine mögliche oder unmögliche Zukunft. Er dachte an Jocelyn, dachte an Liebe, dachte an Jocelyn ... War da nicht der Funke einer Regung? Aber da war nichts. Er taumelte in schwarze Hoffnungslosigkeit, und Keek zog ihn heraus. Danke! Ich folge dir überallhin, nachahmend, lernend! Führe; ich werden folgen! Keek war der Führer in Jocelyn hinein, aber kein Führer, um ihren Körper an Hindernissen vorbeizusteuern. Andri mußte geführt werden – in Jocelyn hinein, auf die Hindernisse zu, die der Haßspender erschaffen hatte, in sie hinein, um sie aufzuspüren und zu zerschmettern – Da war der Funke einer Regung! Nicht physisch, aber ein Kanal öffnete sich in ihrem Geist, ein Ansatzpunkt. Keek triumphierte, als er sich ausdehnte, zu einem sich öffnenden Spalt wurde, durch den sie eindringen konnten, eine offene Einladung zum Eintreten. Sie setzten nach, zerschmetterten die Überbleibsel der vernichteten Hindernisse. Andri fühlte sich voll Eifer bei der Sache. Er war fähig
zu glauben, selbst wenn es noch ein sehr vager Glaube war. Er wühlte sich hinab in ihr Gehirn, ein folgsamer Schüler Keeks, der sich aufgeregt und eifrig Stück für Stück voranarbeitete, ohne zu bemerken, daß 13 sich schüttelte und bockte. Ihre Lippen bewegten sich, wollten etwas sagen und bewegten sich stärker. Weiße Zähne schienen wie Juwelen in einem vom Kampf verzerrten Gesicht, ein Grinsen gegen den Schmerz, ein – Lächeln! Keek schauderte vor Freude. »Wir siegen; damit beweisen wir, daß es möglich ist, eine Bewußtlosigkeit zu beseitigen! Halte durch! Mach weit –« »Schwierigkeiten!« Channen war im Schlafraum. Sein Ausdruck zeigte Entsetzen. »Der größte Notfall ist eingetreten! Vielleicht sogar die Katastrophe!« Er deutete auf den Kontrollraum. »Kommt mit!« Unfreiwillig ließen Andri und Keek Jocelyns Hände los. So nahe der Rettung, mußte sie wieder in diese graue Welt zurückfallen. Van drehte sich um, ohne zu erkennen, was dieser Notalarm zerstört hatte, und rannte zurück in den Kontrollraum. Die anderen zögerten, geplagt von ihren Gefühlen, starrten auf Jocelyn, die noch immer bewußtlos dalag. Die Tür gähnte drängend. »Die Zeiteinteilung der Götter«, sagte Keek philosophisch. Seine Stimme erstarb. »Das hier muß größer sein als sie.« Sie verließen den Raum und gingen in
den Kontrollraum. Dort hielten sie überrascht inne und blickten auf den Schirm. Van sah unsicher aus, geschüttelt, furchtsam. »Kein Psychoangriff. Das ist echt und greifbar und körperlich. In unserer Flugrichtung befindet sich der Tod. Sie drücken uns hinunter.«
12 Der Schirm zeigte den personifizierten Wahnsinn. Der sechste Planet schwankte von Seite zu Seite, verschwand aus dem Bild, um gleich wieder zurückzukehren. Er hüpfte, zuckte, kreiste. Der Boden der Zentrale legte sich auf die Seite und zitterte. Entfesselte Objekte wirbelten in der Luft. Der ganze Planet wirbelte. Er trudelte und veränderte seine Position, trieb fort und kam zurück. Seine Turbulenzen schienen das Ziel zu verfolgen, sich selbst aus der Umlaufbahn zu schleudern. Keek keuchte: »Er wan –« »Nein, wir sind aus der Bahn geraten«, unterbrach Van. »Sechs tanzt nicht hin und her. Das sind wir.« Der Boden klappte nach oben, als wollte er Vans Meinung bekräftigen. »Seht ihr? Sechs hängt exakt dort, wo er sein sollte. Wir sind es, die geschüttelt werden! Sie brachten uns aus der Bahn, um uns zerschellen zu lassen!« Ruthe, die nahe daran war, etwas einzuwenden, hielt sich zurück. Keek konnte sich nicht verbal streiten. Widersprichst du dir nicht selbst, Van? Er hatte nicht überhört, was Van letztlich über die Fremden gesagt hatte, und rief sich die Worte in Erinnerung zurück: »Ich neige eher zu der Hypothese, daß sie eine überpsychologische Spezies sind, keine technische Vorrichtung.« Keek
konnte sich nicht vorstellen, daß die Fremden dazu fähig sein sollten, die Maschinen der Sonde mit geistiger Kraft zu beeinflussen, ohne entsprechende Maschinen der gleichen Art zu besitzen. Er war sicher, daß sie das nicht allein mit Geisteskräften schaffen konnten. Uns beeinflussen, ja, aber nicht die 13! Er schloß daraus, daß, wenn die Fremden die Station nicht hinunterziehen konnten, es der Planet selbst sein mußte. Gravitation! Wir sind zu nah dran. Vielmehr ist er zu nahe an uns! Deshalb bewegt er sich, was nur eines bedeuten kann: ein weiterer Mythos platzt. So entschied er sich trotz allem, zu argumentieren: »Ich gestehe zu, daß wir uns schütteln, aber ich sage trotzdem, daß die Welt anfängt zu –« »Hört mit dem Reden auf«, unterbrach Andri, dem die praktische Seite des Problems wichtiger war: »Was können wir tun?« Van wirkte unschlüssig, und deshalb riß Keek die Initiative an sich: »Kämpfen, egal, ob es sich um Außerirdische oder um einen Planeten handelt!« Drei Augenpaare starrten ihn fragend an, und er begann Anweisungen zu erteilen. »Ruthe, schnalle du Jocelyn und den Burschen an, aber fest! An den Fühler, Andri! Die Handschuhe!« Sie gehorchten sofort, während Van in den Hintergrund gedrängt zu werden schien. Andri setzte sich hin, schnallte den Ledergurt über seine Brust und steckte die Arme in die Fühlerhandschuhe.
Nach einer Minute kam Ruthe zurück. »Beide sind gesichert.« Sie taumelte im Rhythmus des Schiffes. »Gut. Nun gehst du zum Schlafraum und schnallst dich selbst an.« Er wollte sie aus dem Weg haben, um möglichen Streit zu vermeiden. »Ruthe, wir sind nahe daran, auseinanderzubrechen. Wenn das geschieht, dann brauchst du die Gurte; sie bringen deine Überlebenschance von null auf vielleicht eins zu zehntausend. Und wenn nichts passiert, dann brauchst du sie auch, denn uns steht noch ein heftiger Flug bevor. Also sichere dich!« Kann sie logischem Denken folgen? Nur einmal? Sie konnte, nickte sogar demütig und ging hinaus. Befremdet blickte Keek auf Van, dann wandte er sich wieder an Andri: »Leg alles, was du kannst, auf den Scout. Die Druckplatte, all das nötige Zubehör. Klammere ihn so fest, wie es nur geht, ohne die Hülle einzudrücken.« Warum bewegte sich Van nicht? Warum sagte er nichts? Das Bild auf dem Schirm erinnerte an spastische Zuckungen. Warum ordnete er nichts an, warum äußerte er keine Vermutungen oder tat etwas? Der sechste Planet drehte sich unter die Begrenzung hinweg, verließ den Schirm fast, dann sprang er zurück. Warum erinnerte ihn der erfahrene Integrator im Augenblick so sehr an den paralysierten Lehrling?
Plötzlich kannte Keek die Antwort: Die innere Intelligenz, von der er sprach – wir sind drin! Er besitzt sechs Sinne, und es hält ihn auf Distanz. In diesem Augenblick muß erschreckliche Qualen erleiden! »Andri, schnalle ihn auf die Couch, wenn du fertig bist. Zwei von uns können meinen Plan durchführen. Du und ich, wir beide.« »Hier ist alles erledigt.« Andri schnallte sich los und lief auf Van zu. Er erreichte ihn genau in jenem Augenblick, als er zusammensank. Sein Gesicht war grau und sah auf eine schreckliche Weise gealtert aus, die Augen hielt er geschlossen. Der Franzose schnallte die Gurte fest, und nun sah Channen eher wie eine Leiche aus denn wie ein Neuling oder ein Veteran. »Was jetzt, Keek? Der Plan.« »Sie hefteten sich zu sehr an Vans Gehirn, aber sie könnten uns beiden die Oberhand lassen.« Sechs glitt vorbei, saugte und drohte. »Wenn du dich an den Kontrollen festgeschnallt hast, laß dir dann noch einen Blick auf den Schirm frei. Bist du fertig?« Andri war soweit. Er konnte die Kontrollen verstellen und dennoch den Raster beobachten. »Das ist es.« Das ist es, worum ich so sehr betete. Wir sind tatsächlich in den Außerirdischen – falls es überhaupt möglich ist, in die eigentliche Natur einer solchen Wesenheit einzudringen! Keek faßte es als Glück auf, daß er zusammen mit Andri ein niedrigeres Intelligenzpotential als Van be-
saß, oder daß sie beide zumindest weniger sensitiv waren. Kein Angriff war mehr erfolgt, um sie beide außer Kraft zu setzen; die eigentliche, allesumfassende Gegenwart des fremden Lebens hatte genug. Im Falle eines weiteren Angriffs wußte Keek, daß er nun nicht mehr alle schützen konnte, so wie vorher. Allerdings war ein Angriff auch nicht mehr unbedingt notwendig, um die Mannschaft zu zerstören. Ein Zusammenstoß würde genügen, und Keek nahm an, daß sie genau diesen Zusammenstoß eingeplant hatten. »Anweisungen, Keek? Laß uns handeln statt denken. Meinst du nicht?« Andris Ausdrucksweise wirkte unbeholfen. Keek übte Selbstkritik. »Sehr richtig. Hier sind sie. Also: Ich begebe mich in den Scout. Deine Aufgabe ist es, mich in einem Winkel von neunzig Grad zum Planetenboden auszurichten, dabei mußt du alles einsetzen, was möglich ist, und wenn nötig, sogar die Notaggregate. Halte den Neunzig-Grad-Winkel so gut es geht. Wenn Sechs näher kommt, müssen wir beten, daß uns der Eigenantrieb des Scout wegschiebt.« Ich glaube nicht, daß das genügt, aber wenn Sechs wirklich wandert, dann bleibt uns immer noch die Hoffnung, daß er mehr von uns weg- als auf uns zutreibt. Und darauf möchte ich nicht wetten, weil wir keine Ahnung haben, wohin er treibt und warum! »Vans Fehler.
Die Gravitation zog uns an, nicht die Außerirdischen. So bekämpfen wir sie eben auf die einzige Art, die uns bleibt.« Er wunderte sich, weshalb die Effekte der Psychoangriffe hier nicht auftraten, wo sie sich doch inmitten der Fremden aufhalten mußten. Er vermutete, daß es wie beim Eintritt in ein menschliches Gehirn sein mußte, das einen abwehren konnte, sofern es das wollte – und stark genug war –, indem es bildlich gesprochen die geistige Tür vor dem Eindringling zuschlug, an Abwehr dachte und einen zurückund hinausschleuderte. Es durfte nichts ausmachen, daß das Gehirn der Außerirdischen immateriell war, gebaut aus – nichts? Wie kann das sein? Ich weiß es nicht, aber es ist so! Sind sie aus dem Stoff der Träume gemacht, der Gedanken? Träume und Gedanken sind real, obwohl wir sie mit unseren fünf Sinnen nicht zu fassen vermögen. Ist der Kosmos ein Traum, ein Gedanke? Wenn es so ist, wessen Traum mag es dann sein! Verwirrt erkannte er eine Parallele zum menschlichen Gehirn: Die Außerirdischen schufen ihre Veränderungen auch mit Willenskraft: durch die Angriffe, die Bewußtlosigkeit. Und so passierte es! »Ich kämpfe mich irgendwie zu dem Scout durch. Hast du alles verstanden?« »Habe ich«, sagte Andri. »Das Radio wird uns nicht helfen. Ich hoffe nur, daß wir auch ohne das Ding harmonisch zusammenarbeiten können. Ich
überprüfe die Befestigungen jetzt und hinterher noch mal, für den Fall, daß sich der Scout doch irgendwie lösen sollte. Das kann ein stürmischer Weg bis zur Luke werden, aber verlaß dich auf mich. Mach du deinen Teil, ich erledige meine Sache.« Er schüttelte Keeks Hand, eine schnelle Berührung von Fleisch und Geist, dann machten sie sich an ihre Aufgabe. Er schlüpfte in die Handschuhe, preßte sie gegen Schalter, schnitt einen kurzen oder langen Strahl des Notantriebs ins All. Keek mußte mit dem Scout fertig werden, versuchen, ihn gegen den Boden des sechsten Planeten auszurichten. Jetzt ist er gar nicht mehr so weit entfernt! Er spürte die charakteristischen Vibrationen – gleichförmiger und zuverlässiger als das eigentliche Schwanken der Sonde. Keek leistete längst seinen Beitrag für das große Ziel. Das Zerren schleuderte Andris Körper gegen die Gurte. Sie dehnten sich nicht aus; sie hielten fest, verletzten seine Brust. Er wußte, daß es besser als ein Bruch war. Wie hatte Keek sich wohl befestigt? Vielleicht hatte er nur ein Stück Schnur aus der Küche um sich geknotet. Mutige kleine Kreatur! Ich hoffe nur, daß deine improvisierte Sicherheit hält, damit du nicht das gleiche erlebst wie ich! Andri zog einige Hebel und drückte auf Knöpfe. Irgendwann dachte er an Keeks Meinung, daß es nur Gravitation gewesen sein konnte, die an den Schwierigkeiten schuld war, nicht die Außerirdi-
schen. Und obwohl er stets einer Meinung mit Keek war, in einem Punkt gingen seine Ansichten doch einen anderen Weg: Er glaubte nicht an jene eiskalten Tatsachen, die so plötzlich eine Legende zur Wahrheit machten: die von den wandernden Welten. Keek vermutete, daß der sechste Planet zu wandern begonnen hatte. Wohin? Warum? Wie? Selbst wenn er tatsächlich aus der Umlaufbahn geraten war, so mußten doch die Fremden die treibende Kraft dahinter sein. Doch auch hier stellte sich die Frage des Warum? Was hatten sie vor? Natürlich hing es mit den Pseudo-Hyperdiamanten zusammen, mit jenen lebenden, wachsenden, weltumwuchemden Kristallen. Zu welchem Zweck? Wie konnten sie sie benützen? Er zog an einigen Hebeln. Jeder Blick auf den Schirm konfrontierte ihn mit der langsam wachsenden Gewißheit, daß Keek recht haben mußte. Demnach durfte diese Legende nicht länger als Mythos eingestuft werden. Das war Realität. Zweifellos war Sechs dabei, aus der Umlaufbahn zu treiben, sich aus den Ketten des Universums zu befreien, die ihn seit Äonen in dieser ihm zugeteilten Position festgehalten hatten. Sie können keine Schwächlinge sein, wenn sie fähig sind, eine Welt zu versetzen! Sie einfach aus der Umlaufbahn zu schieben und – Etwas krachte hinter ihm. Er drehte sich um, die Augen geweitet. Das ist ein Alptraum, nur daß er wahr ist! Die
Tür des Regals war zertrümmert, Metall schwang hin und her, aufgeschlitzt, in zerbrochenen Angeln. Auf dem Boden ruhten zwei große Blöcke aus KristallFels: lebend, funkelnd, von der Größe eines Männerkopfes. Wuchsen sie noch? Er starrte sie an und erinnerte sich, daß es in diesem Maß fortschreiten würde. Sie schienen nicht zu wachsen, aber unzweifelhaft setzte sich das Wachstum fort. Sein Gehirn wand sich unter einer plötzlichen Erinnerung: der Bezug zu ihrem Dreieck! Die Sonde war in den Außerirdischen, die Außerirdischen waren in den Steinen, die Steine waren in der Sonde. Dreieck! Haß und Feindschaft, keine Liebe! Er wußte nicht, was zu tun war, und er hatte auch gar keine Zeit, etwas zu tun. Andri konzentrierte sich auf die Instrumente und bannte die Kristalle aus seinem Geist. Sie mußten warten. Im Augenblick waren sie noch keine Gefahr. Oder doch? Er wußte es nicht. Tiefe Töne dröhnten. Van lag bewußtlos da. Andri erschien es beinahe so, als sei das Universum verrückt geworden: sich drehender, taumelnder, verdummender Wahnsinn! Er kämpfte um die Stabilität der 13 und um die seines Verstandes. Planet Sechs wabbelte und wanderte. Andri schnallte sich los und wankte an die Fühler-Anlage, dabei blickte er ständig auf den kleinen Schirm, um zu überprüfen, wie stark der Scout festgezurrt war. Zwei Halterungen hatten
sich gelöst. Rasch zog er die Handschuhe an und kümmerte sich um den Greifer. Hart preßte er die Platte gegen das Schiff und sicherte es mit den verbleibenden Klauen. Die Hülle des Scouts beulte sich leicht ein, und er befürchtete nicht weiter, daß sich das Beiboot noch lösen könnte. Prekär, aber andererseits hält es. Noch ein klein wenig zusätzlichen Druckes, und wir ersticken! Er mußte die Dinge lassen, wie sie waren. Solange der Scout hielt, hatten sie eine reale Chance. Wenn nicht, dann war ohnehin alles vorbei. Er schnallte sich wieder am Schaltpult an, justierte den Winkel der 13 gegen den Planeten neu und tat alles, was er konnte, um die Gefahr zu bekämpfen. Keek lag über der Kontrollkonsole. Hastig hatte er sich mit einem Stück der Halteleine befestigt. Hoffentlich hält das Ding, was der Name verspricht! Die Kontrollen waren ein Gewirr aus zerschmetterten Anzeigen, verbogenem Stahl, zersplittertem Glas und Plastik. Ein Schwindelgefühl befiel ihn, als er den Planeten dort unten herumwirbeln und sich überschlagen sah. Er konnte nicht alles sehen, wegen der unzureichenden Optik des Scouts. Im Augenblick bildete der Schirm nur den Sternenhimmel ab, einige nahe Planeten, eine blaue Sonne. All das eilte hin und her, im Rhythmus des unkontrollierten Falls der Sonde. In seiner Nähe, das wußte er, wartete eine tiefe Schlucht,
ein schrecklicher Abgrund, dessen Boden ein fester Kristallgrund war – auf einer Welt, die eine unvorstellbare Wanderung begonnen hatte. Der zerstörte Geschwindigkeitsmesser kreischte ihn in einer Tonlage an, die Keek an die Nerven ging. Zu tief! Noch ein Versuch! Habe ich genug Treibstoff? Genug Glück? Er schätzte die Dauer der Zündung ab, und der Fall schien sich etwas zu verlangsamen – einige Sekunden mehr, in denen sich das Schiff unter der Treibstoffeinspritzung schüttelte, und es hatte sich tatsächlich verlangsamt. Jedoch hatte sich der Sturz kaum verändert. EG 13 setzte sein Taumeln fort, und der Höhenmesser kletterte immer schneller auf einen kritischen Wert zu. Inzwischen war er sich absolut sicher, daß die Gravitation an der ganzen Misere schuld war, keine geistigen Energien fremdartiger Lebewesen. Er glaubte nicht, daß sie die Fähigkeit besaßen, die Station direkt zu beeinflussen. Auch sie mußten irgendwo ihre Grenzen haben. Plötzlich spürte er die typischen Schwingungen eines Angriffs. Was mochte sich jetzt innerhalb der 13 abspielen? Was mochte der Überfall bewirken, und wie würde er sich auswirken? Wenn er Andri zur Handlungsunfähigkeit verurteilte, dann war das das Ende: die Notaggregate konnten nicht eingeschaltet werden, der Scout würde sich nicht stabilisieren, und nichts konnte den Zusammenstoß
mehr verhindern. Halte durch, Andri! Du hast es immer geschafft, bring es auch diesmal fertig! Halte dich fest und hoffe, daß der Treibstoff reicht. Ein Funke von Optimismus erhellte seinen Geist, die Gewißheit, daß die 13 entkommen würde. Er lächelte. Wir schaffen es! Er aktivierte die Bremstriebwerke. Ein heftiger Zwanzig-Sekunden-Ausbruch, der sich nicht um Verbrauch oder Aufsparung der Energie zu kümmern hatte, folgte. Laß dich nicht unterkriegen, Andri! Alles lastet auf deinen Schultern! Du mußt den Angriff überwinden, und wir schaffen es! Er nahm es als Gewißheit hin, daß die Außerirdischen den Planeten auf diesen Ausbruch hin vorbereitet hatten. Warum und wie sie das gemacht hatten, war im Augenblick egal. Es gab eine wichtigere Frage: Wohin? In welche Richtung? Trieb das Ding gegen die 13, oder bewegte es sich von ihr weg? Und er wußte die Antwort: von ihr weg! Warum sollten sie sonst noch einmal angegriffen haben? Befand sich die taumelnde Sonde auf Kollisionskurs mit dem Planeten, dann war ein Angriff völlig überflüssig. Da wäre es leichter gewesen, die 13 gegen den Planeten prallen zu lassen und die Trümmer dann langsam in Kristalle umzuwandeln. Keek überlegte, daß sie sich in die Gegenrichtung bewegen mußten. Es konnte nicht die einfachste aller Arbeiten sein, einen Planeten von seiner Sonne wegzubewegen. So
etwas mochte eine Menge Fehlstarts und schwieriger Manöver in sich einbeziehen. Das bedeutete, daß die Welt wie verrückt geschüttelt wurde, während diese Planetenfresser alles dransetzten, sie zu stehlen. Wir sind in eine Falle getappt, als der Planet so plötzlich auf uns zusprang. Aber wir ziehen uns auch wieder heraus, vorausgesetzt, Andri überlebt und die Treibstofftanks sind nicht leer. Es schien so einfach, daß die Erklärung eigentlich der Wahrheit entsprechen mußte. Eine Welt, die gegen die 13 wanderte, würde sie zerstören, ohne daß die Außerirdischen eingreifen mußten. Eine Welt, die jedoch von ihr weg wanderte, konnte sie nicht verletzen, es sei denn durch ausgesprochenes Pech. Solch ein Unglück für die Sonde mochte sich dann ereignen, wenn sie in den Kampf zwischen den Kräften der blauen Sonne und der Wesenheit mithineingezogen wurde, die sich anschickte, eines ihrer Planetenkinder zu entführen. Keek dachte an die Piraten: Ein Haufen aus Wrackteilen, der womöglich schon von den Kristallen verarbeitet worden war. Gut! Eine Lektion, die sie verdienten, aber aus der sie leider nichts mehr lernen können! Wahrscheinlich blieb ihnen keine Zeit mehr, ihren Scout auf der Hülle zu befestigen, falls ihnen diese Idee überhaupt kam – was ich nicht glaube! Er fragte sich nach dem Grund des neuen Angriffs und schloß, daß die Gründe der Außerirdischen die gleichen sein mochten wie die der Piraten: Mit-
wisser durften nicht überleben. Jedoch schien dieser Gedanke nicht hundertprozentig richtig zu sein. Das Stehlen eines Planeten war kein echtes Verbrechen. Dieser Fall war in keinem Gesetzestext niedergeschrieben, und jene, die das da unten durchführten, waren keine bekannte Spezies. Konnten die gängigen Gesetze sie dann überhaupt berühren? Ein ethisches Problem, dessen Antwort ich nicht kenne. Überhaupt: Stahlen sie den Planeten wirklich? Er entschied, daß sie das nicht taten; schließlich gehörte er keinem, und so konnte ihnen auch keine Moral verbieten, diese Welt an einen anderen Platz zu setzen, mochte der Zweck dazu auch noch so unvorstellbar und verschwommen sein. Ihr Anspruch auf den sechsten Planeten war der gleiche, den jeder andere auch hatte. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und kehrten an den Ausgangspunkt zurück. Der Schluß, keine Mitwisser am Leben zu lassen, konnte auch etwas anderes bedeuten. Vielleicht ging es hier nicht um Mitwisser an einem Verbrechen, sondern um das Wissen um die Existenz der Außerirdischen selbst. Bis jetzt waren sie unentdeckt geblieben, und möglicherweise wünschten sie das auch zu bleiben. Keek verstand diesen Wunsch nach Unabhängigkeit. Er respektierte ihn, aber er war darüber nicht sehr glücklich, zog dieser doch die Notwendigkeit seines und des Todes seiner Freunde nach sich.
Er verstärkte den Antrieb und ignorierte den Teibstoffverbrauch. Tatsächlich verminderte die Sonde ihre Geschwindigkeit. Ein weiterer Stoß der Triebwerke, und die Sonde verhielt. Er klopfte die Ellbogen zusammen vor lauter Freude. 13 fiel zurück. Planet sechs setzte sich von ihr ab. Beide Faktoren addierten sich zur Rettung. Doch alles veränderte sich ins Gegenteil. Der Scout kippte über. Habe ich mich losgelöst? Nein, wir hängen noch immer zusammen. Also hatte sich die 13 überschlagen. Sie drehte sich einmal, zweimal, dreimal, stabilisierte sich schließlich wieder, und der Scout hing unten. Andri verlor die Kontrolle! Haben sie ihn besiegt, oder handelt es sich nur um einen vorübergehenden Ausfall? Keek sah Sechs unter sich, nahe, aber nicht zu nah: weiße Wolken flogen über den Bildschirm, gelegentlich unterbrochen, aber doch größtenteils eine geschlossene Ebene aus Kristallen, eine gewaltige Aussicht auflebende, von Fremdleben besetzte Kristallsteine. Er hielt gar nicht nach den zerstörten Piraten Ausschau. Einige davon mochten dort drüben sein, vielleicht sah er sie sogar, obwohl ihm gar nichts daran lag. Stahl und Fleisch hatten sich längst in Stein verwandelt, in einen Bestandteil dieser seltsamen wandernden Welt. Der Gedanke befremdetete ihn, doch gab es nichts mehr, daß ihn an seiner Wahrheit zweifeln ließ. Die wandernden Welten wanderten tat-
sächlich. Niemand wußte, warum und wozu – außer den Fremden. Alle anderen wußten nicht einmal, daß es sie überhaupt gab. Sechs wanderte langsam, aber kontrolliert, fast auf die Art und Weise, wie sich die Sonde selbst aufgerichtet hatte. Der Raster des Scouts ruckte nach oben, und der Planet verschwand. Irgendwie fühlte Keek sich betrogen, verärgert, verwirrt – und erleichtert. Andri war nicht mattgesetzt worden, oder wenn doch, dann hatte er es überwunden. Keek ließ die Bremstriebwerke eine halbe Minute lang laufen, dann war er wieder auf der sicheren Seite. Ohne die Notwendigkeit, etwas zu sehen, wußte er, daß sie sich von dem Planeten gelöst hatten. Nun mußte er darauf warten, daß das Zusammenspiel dreier Kräfte ein Übriges tat: die Notaggregate, die Triebwerke des Scouts und der Hauptantrieb der Sonde. Am Ende dieser Aktion mußten sie ihre alte Umlaufbahn wieder erreicht haben, aber das funktionierte nur, wenn Andri und er ihr möglichstes taten. Möglicherweise irren wir bald durch die Unendlichkeit, wo einst ein Planet existierte, und hoffen darauf, nicht durch die Kollision mit einer anderen Welt vernichtet zu werden, falls das System mit einer eigenen Umschichtung der Welten beginnt! Ellbogen klopften. Der Psychoangriff war abgeflaut. Vielleicht haben sie erkannt, daß sie uns nicht alle vernichten können, und daß
wir unfähig sind, sie zu verletzen oder später zu lokalisieren, auch wenn wir nun wissen, daß sie existieren! Vielleicht glaubt man uns daheim unsere Geschichte gar nicht. Wie können wir die Begegnung mit einer Rasse belegen, die weder gesehen, gehört oder berührt werden kann? Vans Gutachten würde ohne Bandmaterial, welches alles beweisen könnte, nicht sonderlich zuverlässig sein. Selbst wenn er tot oder bewußtlos wäre, würde keiner glauben, daß seine Schlüsse vor dem Anschlag richtig gewesen sein mußten. Und die Aussagen von Andri, Keek und Ruthe würden wahrscheinlich nur als Halluzinationen ausgelegt werden. Deshalb unterlassen sie den Druck auf uns und gehen heim, wo auch immer das sein mag. Vielleicht wissen sie, daß es keine Möglichkeit mehr für uns gibt, herauszufinden, was diese Steine für sie bedeuten und weshalb sie sie mitnahmen. Zähne klapperten und Nüstern blähten sich. Wir können sie nur noch des Mordes an den beiden Kindern anklagen. Er dachte an die Leiche in der Gefrierkammer. Würde eine nachträgliche Untersuchung Aufschluß auf die wirkliche Todesursache geben? Würde es etwas nützen? Keek klapperte weiter. Dann bemerkte er, daß das Rütteln aufgehört hatte. 13 flog weiter durch das System, schwankte leicht, als sie eine neue Bahn erreicht hatte. Er befreite sich von den Halterungen und wickelte sich aus der Halteleine. Dann verließ er den Scout und betrat die Station.
Im Kontrollraum öffnete er den Helm und streifte die Handschuhe ab, dann blickte er sich um. Etwas stimmt hier nicht! Was? Noch vermochte er es nicht zu sagen. Van lag ruhig auf der Couch, aber irgend etwas war anders. Er fragte sich, wie die anderen durchgekommen waren. Andri sah physisch und psychisch erschöpft aus. Er taumelte von seinem Platz weg und stolperte auf Keek zu, um ihn zu begrüßen. »Du hast es geschafft.« Der Franzose überhörte Keeks Einwand, daß sie beide es zusammen mit einer gehörigen Portion Glück geschafft hatten. Er blickte auf den Schirm. Majestätisch trieb Sechs hinaus, dabei wurde er kleiner und kleiner. »Wir sind Privilegierte. Uns war es vergönnt, eine wandernde Welt zu sehen!« »Und wir wissen es und haben überlebt.« Wie viele Menschen mochten etwas gewußt haben und daran gestorben sein? Keek sah, was an den Kontrollen nicht stimmte. Glassplitter übersäten die Anlagen und die Sitze, zerstörte Lichter und Anzeigen. Er war beunruhigt, aber er wußte nicht, warum; obwohl dieses Gefühl stärker war als die Sorge um Jocelyn. »Passierte das, als wir uns überschlugen? Ein Blackout?« »Nein. Ich mußte mich oft loslösen und zum Fühler gehen. Dabei wurde ich herumgeschleudert, als der Raum sich einmal drehte. Aber ich schaffte es trotz-
dem.« Noch etwas fügte er hinzu: »Dein Feuerstoß und die Tatsache, daß ich an der falschen Stelle war, verursachten den Überschlag. Aber ich arbeitete mich zurück!« Keek betrachtete die geborstenen Regaltüren, die hin und her schwangen. Seine Ahnung verstärkte sich, und so blickte er auf den Boden. »Götter, diese hier vergaß ich ganz!« Zwei gewaltige Juwelen zwinkerten ihm glänzend zu. Das könnte wichtiger sein, als nach den anderen zu sehen. Welch ein Wachstum! »Ich hatte so viel zu tun, daß ich überhaupt nicht mehr an sie dachte.« »Ich schon; ein wenig. Nachdem ich zum zweitenmal von den Fühleranlagen zurück war, passierte es. Wir kippten über, dann lagen die Kristalle plötzlich da. Mir blieb gar keine Zeit, mich um sie zu kümmern.« Andri hüpfte auf den Schlafraum zu, in Sorge um Jocelyn. Er wartete etwas, bis er seine Geschichte weitererzählte: »Erst später dämmerte mir, wie wichtig es sein konnte, sie zu entfernen. Ich glaubte, daß sie schon – anfingen, den Fußboden umzuwandeln. So versuchte ich sie wegzutreten, damit sie nicht durch den Boden fielen und sich möglicherweise noch bis zur Außenhaut vorarbeiteten. Sie blieben nicht an mir kleben – ich befürchtete schon, daß das passieren könnte –, aber sie nahmen ein Stück des Fußbodens mit. Dann blieben sie stecken, egal wie die
Sonde sich auch bewegte.« Er zeigte auf ein paar Löcher. Im Metall wirkten sie wie Krater. Die KristallZwillinge leuchteten. Keeks Fuß trat gegen sie. Sie rollten. »Die Außerirdischen haben sie verlassen.« Sie waren wieder die alten Kristalle des vierten Planeten: Sie wuchsen nicht mehr und waren auch nicht mehr von fremder Intelligenz bewohnt. Andri fragte, ob sie tot seien; Keek schnappte nach Luft: »So tot wie die auf Vier! Trotzdem lebend.« Wie ging es Jocelyn, Ruthe und dem Lehrling? Er zuckte die Schultern. Zuerst mußten die Kristalle hinausgeworfen werden. »Sowenig wir sie einschätzen können, so gefährlich sind sie möglicherweise. Sieh nach den andern, Andri. Ich werde diese Dinge entfernen.« Er setzte den Helm wieder auf und zog seine Handschuhe an. Zögernd nahm er die Steine in seine Arme. Dann keuchte er und stolperte zurück. Er verstärkte seinen Griff, sein Gehirn brannte, als Andri ihm rasch beistand. »Zu schwer? Laß mich –« »Nein, nein. Die sind ganz leicht.« Götter, was ist das? »Weniger Gewicht, als ich erwartet habe; das brachte mich aus dem Gleichgewicht.« Das war eine Lüge. Was machen sie mit mir? Mein Geist! Ein Dschungel aus wirbelnden Gedanken. Das ertrage ich nicht länger! Würden die Menschen das aushalten? Immerhin waren ihre Gehirne anders als seines. Ihre Art der
Verständigung war schwerfällig und plump. Erinnere dich. Andri trat sie beiseite; das war ein flüchtiger Kontakt ohne Nebenfolgen. Aber ein längerer Kontakt? Das können wir nicht riskieren; sie müssen hinaus! »Das – ist das erste Mal, daß ich so einen Kristall anfasse. Es – überrascht mich. Die anderen! Ich werfe diese Dinge weg.« »Für mich ist Jocelyn am wichtigsten«, gestand Andri ein, dann ging er hinaus. »So – wie für mich.« Ich habe Schwierigkeiten beim Sprechen. Hat er das bemerkt? Nein, er ist schon weg. Keek kletterte durch die Luftschleuse und stand gleich darauf auf der Hülle der 13. Plötzlich hielt er verwirrt inne. Eine gewaltige Last lag in seinen Armen. Was halte ich da? Zwei Steine, ja, aber was noch? Göttin der Liebe, was noch? Was halte ich da tatsächlich? Plötzlich erkannte er es. In seinen Armen lag eine Offenbarung!
13 Er hielt eine Offenbarung, eine Wahrheit, eine Antwort und ein Gedächtnis. Bilder formten sich in seinem Gehirn, exakte dreidimensionale Eindrücke von höchster Genauigkeit. Er sah mit einem Sinn hinter dem Sehen, hörte mit einem Sinn hinter dem Gehör. Sein Geist und sein Verständnis vergrößerten sich auf ein unbeschreibbares Maß. Über ihn kam absolute Klarheit. Neue Zellen schienen sich in seinem Kopf geöffnet zu haben, zusätzliche Synapsen und Fähigkeiten. Irgendwie wußte er plötzlich. Er erblickte einen weit entfernten Sternensektor. Dutzende von Planeten umkreisten einen verlöschenden Stern und – etwas anderes, etwas Unbekanntes, das außerhalb jeglicher menschlicher Erfahrung stand. Deshalb brauchen sie die Planeten! Die Außerirdischen hielten sich auf, in und um die Welten herum auf. Sie durchdrangen solide Materie problemlos, etwa so, wie Licht durch Glas dringt. In einer transzendentalen Vision seiner Seele konnte er sie sehen: zarte Töne aus Farbe, ätherisch, schön, vielgestaltig. In einer weiteren Seelenvision hörte er sie: leise Unterhaltungen, lauteres Plappern, stimmlos, bestehend aus puren Gedanken. Er erinnerte sich an Jo-
celyns Worte über Sterne in geräuschvoller Kommunikation, über murmelnde Meteore und über alte Sonnen, die ihr Sterben im Brandopfer einer Nova hinausschrien. Hatte sie Teile von all diesem hier gehört, ohne davon zu wissen? Und lebte sie noch? Er fühlte die Unantastbarkeit dieser Außerirdischen, berührte sie mit seinem Geist. Wie kann ist dies je erklären, wenn ich wieder hineingehe? Ein Wort fühlen, dessen Inhalt vielleicht nur Andri, wegen seine Fühlertätigkeit, und Van, wegen seiner Intuitionsfähigkeit verstehen! Das ist alles so unübersetzbar! Ein Teil seines Gehirns fürchtete um seinen Luftvorrat; der war nicht unendlich, obwohl die Unendlichkeit gegenwärtig vorüberzog. Andere Worte, gewohnt und geläufig, trieben in seine Verwirrtheit, und er wußte, daß sie nichts ausdrückten, was den Außerirdischen auch nur entfernt nahekam: Länge, Breite, Tiefe, Alter. Mit solchen Begriffen konnten sie nicht gemessen werden. Sie mochten lang oder kurz sein, breit oder eng, tief oder flach, jung oder alt; oder lang und kurz zur gleichen Zeit, oder ein Konglomerat all dieser Worte zusammen oder auch nichts davon. Die Fremden und diese Un-Worte gehörten nicht in den gleichen Satz oder in denselben Gedanken. Sie waren zu verschieden. Und doch ähnlich! Keek war überrascht, als er für sich selbst einen Berührungspunkt fand, wo sich die
Aktivitäten der Fremden mit seinen trafen. Er sah eine Gruppe der Fremden, die sich aus dem Heimatsektor lösten, dann eine weitere und noch eine. Jeder ging eigene Wege, obwohl seine entfernte Gegenwart noch immer ein Teil des Ganzen blieb. Sie breiteten sich über das bekannte und unbekannte Universum aus, schmale Bänder intelligenten Lebens. Einige betraten ein Sonnensystem, registrierten es für die Gesamtheit und trieben weiter. Andere, angelockt durch den ersten Besuch, kamen in das betreffende Sonnensystem und – fingen zu suchen an! System-Wühler wie wir, die im Dreck herumkratzen, um das zu finden, was sie benötigen. Mach etwas ausfindig, drehe es von unten nach oben und stelle fest, ob es sich um einen Erfolg oder um einen Mißgriff handelt. Dabei ist es egal, was sie wollen, schließlich können wir nie sicher sein, was wir wollen, bis wir es finden – bis jetzt! Der Zynismus ließ ihn an Ruthe denken. Was hatte sie aus der Heimsuchung gemacht? Wahrscheinlich das gleiche wie Andri. Sie besaß den Grimm und den eisernen Willen, der zum Überleben nötig war, und einen leicht suspekten Eifer. Eine der Gruppen der Fremden umrundete eine Welt, und stellvertretend für sie erfuhr Keek eine starke Emotionsaufwallung, die aus starker Fröhlichkeit und unaussprechlicher Erleichterung zusammengesetzt war.
Das Glück bezog sich weniger auf ihn selbst, sondern mehr auf die ganze Mannschaft. Die Gruppe – in etwa mit der Mannschaft einer Sonde gleichzusetzen, nur genauer arbeitend, ohne Technik und mit absoluter Präzision – landete nicht auf sondern in der Welt; sie drang einfach durch sie hindurch. Sie suchten und fanden. Die Umgebung erinnerte Keek an den vierten Planeten, und der Vorrat an Hyperdiamanten war gering. Er wußte, daß es auf Sechs ebenso gewesen sein mußte, ehe sie angekommen waren und ihn in Besitz genommen hatten. Verstreute Kristalle färbten den Boden, kleine Steine, ein Funkeln in der Erde. Größere Steine waren in trockene, staubige Erde gebettet. Er spürte ihre minimale Lebenskraft: dämmrige Empfindungen, unscheinbar fast, aber irgendwie auf eine positive Art doch intelligent. Mehr als nur eine Schnecke oder ein Wurm, Andri. Wie würde sich wohl die Verlustliste lesen? Genau unterschied die Gruppe jedes einzelne Atom im Fels. Die Zeit verging, eine Minute oder ein Jahrzehnt, er konnte es nicht genau sagen. Zeit war das sechste dieser Un-Worte, ohne Beziehung, unabgelesen, ein fremdes Konzept. Der Kristall wuchs weder schnell noch langsam für die Fremden; er wuchs einfach, so wie es seine Bestimmung war zu wachsen. Eine Parallele drängte sich ihm auf: Das Männliche dringt in das Weibliche
ein, und das Weibliche wächst. Aber dies da waren unterschiedliche Arten von völlig unterschiedlicher Verbreitung. Die Kristalle wuchsen. Eine Sonde erschien. Fasziniert beobachtete Keek, wie der Stein die Welt in Besitz nahm, als sich der Planet vom Stadium des vierten Planeten in das Stadium des sechsten Planeten veränderte, von einer Minderheit über die Mehrheit der Kristalle zur schließlichen Reife – die absolute Assimilation anderer Substanzen. Eine perfekte Symbiose: die höhere Intelligenz bringt der niedrigeren den Nutzen. Aber das alles ist weit komplizierter und lebendiger als das! Dann sah er eine weitere Parallele: Außerirdische und Unternehmen – beide suchten, beide nahmen alles, was sie finden konnten von einer Welt, ehe sie weiterzogen und sich um eine andere kümmerten. Nach der Umwandlung war der Planet zur Wanderung vorbereitet. Die Sonde schwang sich aus dem Himmel herab und wurde kristallin. Für die Außerirdischen war keine Zeit vergangen, da sie für sie nicht wirklich existierte. Den Störenfried bemerkten sie nur nebenbei – ja, in dieser Hinsicht halten sie ihre eigenen Gesetze! – und ergriffen Maßnahmen, ihn zu beseitigen. Keek versuchte, ihre Beweggründe herauszufinden; sie deckten sich nicht mit jenen, die er sich vorher zusammengereimt hatte: der
Wunsch, daß sich hier niemand einmischte, der Wunsch, nicht kontaktiert zu werden, die Angst, etwas von dem Ertrag abgeben zu müssen, der ihnen rechtmäßig gehörte und den andere vielleicht auch besitzen mochten – plus eine Reihe mystischer Motive, die nicht zu übersetzen waren, weil die UnWörter einfach nicht paßten. So wurde die Station heruntergebracht, und Keek konnte nicht verhindern, daß er dem schrecklichen Umwandlungsprozeß folgen mußte: Ein Blitz mentaler Kraft, ein bewußtloses Mannschaftsmitglied; noch mehr Angriffe; noch mehr Bewußtlose und Ausfälle; das Aufspüren von Schwachstellen und Ausfällen in den Gehirnen der Störenfriede, gefolgt von einer genau abgestimmten Attacke – unbrauchbar, verdammt! –; jemand rief um Hilfe, und die Fremden bearbeiteten sein Gehirn, nicht das Radio, verhinderten, daß er hörte, was kommen mußte; und dann der endgültige Aufschlag und die Umwandlung. Sie können eine Welt versetzen, aber sie haben keinen Einfluß auf unsere Maschinen, unsere Funkanlagen, unsere Ausrüstung; nur unseren Geist, aber auch das nicht völlig. Wir haben alle unsere Grenzen, uns beunruhigt immer nur eine scheinbare Übermacht; gesegnet seien die allmächtigen unsichtbaren Götter. Wir lernen tiefsitzende Geheimnisse kennen, Andri. Wie geht es ihr? Und wie geht es Ruthe, Van, dem Jungen?
Die Welt wanderte, ein mobiler Planet, dessen Zusammensetzung für die Fremden viel wichtiger und notwendiger war als der echte, einfache Hyperdiamant für die Unternehmen. Wir wollen den Stoff nur; sie brauchen ihn. Aber warum wollen ihn die Unternehmen? Weil es hübscher Tand ist, Frauen zu schmücken, ein absolut unzerstörbares Werkzeug für die Industrie. Nenne es Verfeinerung und Fortschritt! Seine Gesichtszüge weiteten sich verächtlich. Oder du nennst es Habgier! Oder wir wollen es, weil es existiert, und deshalb gehört es uns! Ein weiteres Aufblähen der Nüstern, und er stellte überrascht fest, daß er noch immer genug Luft hatte. Aber es gehört nicht uns, sondern ihnen! Sie brauchen es! Keine Habsucht, keine Anmaßung, nur Überlebenszweck. Er erinnerte sich an die zerschellende Sonde. Das hatte ihn mitgenommen, seit er den Tod von Menschen in der 13 miterlebt hatte. Aber noch mehr hatte ihn diese absolute Logik geschockt, ohne die Möglichkeit des Einlenkens für eine Seite, um einen objektiven Blickwinkel zu erlangen. Er fühlte seine Sympathien sich verringern, als der Planet sich hinaus in den Weltraum schwang. Ohne die Kristalle, ohne Selbstverewigung, ohne Nachkommenschaft, ohne – Erinnerung! Ausgestorben! Ja, sie brauchen es! Er fragte sich, wie er die Außerirdischen den anderen beschreiben sollte. Sollte er sie als Geister beschreiben, als Träume, losgelöste Gedanken? Nein, sie sind vielleicht all das und mehr! Eine Tatsache
geriet in seinen Kopf. Sie war unbestätigt, ohne die Möglichkeit eines Wahrheitsnachweises, aber Keek akzeptierte sie ohne zu zögern: daß kein Wesen als reiner Geist existieren konnte, körperlos, in einer Sphäre aus Geist und reinen Gedanken. Klingt plausibel. Sie müssen einen – Anker haben, etwas Solides, woran sie sich befestigen können. Ein Traum oder ein Gedanke hing vergänglich an einem Gehirn. Er glaubte an eine Aura, die bis zum fleischlichen Tod an den Körper gebunden war, die vielleicht sogar noch in seiner Nähe blieb, bis er endgültig verrottet war. Immerhin konnten ein Gehirn und ein Körper nicht ewig existieren. Sie verfielen, brachen zusammen, wurden zu Nichts. So erfanden die Fremden einen dauerhaften Anker, das festeste all dieser vergänglichen Dinge: Fels! Der Kristall sichert nicht nur die Zukunft, er ist auch ein – Stabilisator, eine feste Gegenwart. Die wandernde Welt erreichte die Heimat. Eine Unzahl von Planeten umkreiste die Sonne und das phantastische irgend etwas, den weniger wichtigen Partner dieses Zwiegespanns. Der Wanderer erreichte das riesige nichtstellare Objekt und verlor sich darin, als er hineinflog. Er schien flüssig zu werden, verlor seine Konturen und seinen Zusammenhalt. Er unterschied sich noch eine kurze Weile leicht von seiner Umgebung, bis sich die neue Kristallstruktur eingegliedert hatte.
Mit seinem geistigen Auge blickte Keek mit übergroßer Ehrfurcht auf das Ding: ein massives, monströses Objekt, eine komplette Umlaufbahn aus herumwirbelnden Juwelen, viel größer als die Sonne. Es beleuchtete den Weltraum mit einem wunderbaren irisierenden Lichtschein; eine unendlich scheinende Aneinanderreihung von wandernden Welten, die hier aus den Tiefen des Kosmos zusammengetragen worden waren. Eine Masse tadellosen Geschmeides, durchsichtig, vielfarbige Kristalle. Ein einziger dieser Kristalle ließ das Sol-System zum Zwerg werden. In Keek erwuchs eine gewaltige Hochachtung für die Kreaturen, die so etwas erschaffen hatten. Sein Zweck überraschte ihn, denn er war ebenso fremdartig wie logisch. Das ist mehr als nur ein Anker, mehr als nur eine Absicherung. Für sie ist es das Leben selbst! Ein Aufbewahrungsort für das gesammelte Wissen und die Erfahrung aus Tausenden von Lebensaltern! Ein wunderbares Rassengedächtnis, das jede Tatsache enthält, die sie je lernten! Ein fester Geist und ein echtes Gedächtnis – eine lebenserhaltende Realität – für immaterielle Existenzen, die ihre Geisteskapazität so ausgeschöpft haben wie ich! Er wußte, daß sein eigener Geist und sein Gedächtnis hierbei überladen werden konnten. Nichts kann ich mehr hinzufügen, aber sie vermögen es. Für ihn war dieser Kristallglobus ein gigantisches Museum, eine Bibliothek, ein lebendes Bindeglied zur Vergan-
genheit und eine Hoffnung – nein, eine Notwendigkeit – für die Zukunft, die ständig wuchs und immer wachsen mußte. Die Schatten des Todes hingen allgegenwärtig darüber, gestorbene Planeten, aufgegangen in die Ewigkeit. Als Alternative blieb nur der Tod der ganzen Rasse. Wenn sein Geist dazu gezwungen wurde, mehr aufzunehmen, als er tatsächlich erfassen konnte, dann folgte als Ergebnis Verwirrung, Schwachsinn oder Tod. Auf die Fremden übertragen bedeutete das, daß ihre geistige Kapazität mit der Bevölkerungsexplosion und dem Einbringen neuen Wissens wuchs. Jede Reise brachte sie weiter hinaus, und eines Tages würde es keine Juwelen mehr zu finden geben und – Dann sind sie vollendet! Er beantwortete sich selbst seine stumme Frage. Konnten sie verwüstete Planeten unter Kontrolle bringen – solche, die keine Kristalle gebären konnten? War es möglich, solche Welten zur Verwandlung zu animieren? Das konnte die Vergrößerung natürlich fortsetzen, nachdem es keine Hyperdiamanten mehr gab. Nein, das war versucht worden und war nicht möglich. Die einzigen Planeten, die vom Fleck bewegt werden konnten, waren jene, die auf so etwas vorbereitet waren, die Felsenträger. Waren die Steine fähig, weiter zu wachsen, vorausgesetzt, man gab ihnen weiteres Material dazu, bis sie eine Welt umgewandelt hatten? Ja, ihr Potential
ist unendlich. Es hört nicht in dem Augenblick auf, wenn eine Welt verarbeitet ist! Gut! Keek wußte nicht, weshalb er sich mit den Problemen einer feindlichen Rasse herumschlug: wie eine Welt ohne Kristalle zur Umwandlung gebracht werden konnte, um dem Kollektivgedächtnis zugeführt zu werden. Dabei konnte diese Welt gar nicht verlegt werden, eben weil es sich um eine kristallose Welt handelte. Er glaubte einen Hauch der Traurigkeit zu spüren. Er kam von den beiden Steinen in seinen Armen. Er hatte sie völlig vergessen; sogar an Jocelyn hatte er nicht mehr gedacht. Hatten die abgekapselten Kristalle Sehnsucht nach den anderen? Wahrscheinlich würde es ihm so gehen, wären die Rollen jetzt vertauscht – obwohl er nun alles wußte, geradezu mit Wissen geschwängert worden war, wußte er doch nicht, was er davon halten sollte. Hegten sie wirkliche Gefühle? Sie besaßen welche, deutlich fühlte er, wie sie seinen Geist berührten. Er fragte sich, ob ihnen eine Art Randgedächtnis induziert worden war; nun, da die Kristalle verlassen waren, außerhalb des Erfassungsbereichs der Fremden. Ein außergewöhnliches Wissensspektrum lag in ihnen, ein Wissen, daß der überdimensionale Gedächtnisglobus noch nicht besaß. Vielleicht war es so. Keek hoffte es, denn er hatte eine Idee. Warum konnte man nicht einfach Teile des Pseudo-Hyperdiamanten
ausgraben – etwas vom vierten Planeten – und auf toten Welten einpflanzen? Es klang durchführbar, einen Planeten einfach in einen Kristallträger umzuwandeln. Nach einigen Veränderungen auf der Welt ergab sich eine Welt aus Kristall! Die Idee beinhaltete die richtigen Zusätze: Einfachheit und Findigkeit, und so mochte es funktionieren. Der Riß, den die Interspezies geschaffen hatte, um Keek hindurchblicken zu lassen, schien sich langsam zu schließen. Ich gab dir so manches, an dem du noch zu kauen haben wirst. Vielleicht findest du diese beiden hier wieder, wenn du auf den vierten Planeten zurückkehrst. Nenne es die Hand der Freundschaft, obwohl wir das hier nicht körperlich ausführen können. Nicht daß das etwas ausmachte! Wir sind noch nicht bereit, um uns in Freundschaft zu treffen. Obwohl das eines Tages soweit sein kann! Eines Tages – Er schleuderte die Juwelen in den Raum und kehrte zur Luftschleuse zurück. »Wir haben nicht alle überlebt«, sagte Andri schwermütig. »Komm mit.« Er lief auf den Erholungsraum zu, während Keek ständig auf die Tür der Krankenstation blickte. »Wie erwartet. Der Junge ist tot. Zwei starben. Komm mit.« Er ging auf Schlafraum B zu. Keek folgte. Der Nichthumanoide hielt inne, als er den Körper
sah. Er fühlte sich unwohl und blickte in die Ecke, wo dieser schrecklich zugerichtete Körper lag. Der Kopf war zersplittert und war nur noch eine unkenntliche Masse. Etwas kratzte in seiner Kehle, und beinahe hätte er sich übergeben. Blut bedeckte die Kojen. Ihre Brüste lagen bloß, die Kleidung hatte sich durch die Heftigkeit des Sturzes nach oben geschoben und war dabei teilweise aufgerissen. »Sie hätte so was nie verdient, aber ich denke fast, sie sehnte sich nach so einem Tod. Ihr Gott half ihr nicht, nicht wahr?« »Gewicht«, erklärte Andri lakonisch. »Der Überschlag drückte sie gegen die Gurte, möglicherweise in einem falschen Winkel. Sie war zu schwer. Das Leder riß.« Er seufzte. »Nein, das verdiente sie nicht; genausowenig wie Jocelyn. Ich weiß nicht, wie es ihr geht.« Keek griff ihre Hand und suchte konzentriert. Doch er traf nur tiefes Grau. »Es hat sich vertieft, aber nicht irreparabel. Mit Liebe und Geduld holen wir sie wieder heraus.« Die Göttin wird wiedergeboren! »Und Van?« »Scheint alles beim alten zu sein, aber ich bin kein Mediziner.« »Auf meine eigene Art bin ich einer.« Keek ließ die Hand los und ging in den Kontrollraum. Seine Berührung legte sich auf Vans kaltes Gesicht. »Bewußtlosigkeit! Nichts Fremdes. Ein katatonischer Schock, der von der fremden Intelligenz herrührt, die er nicht
erfassen konnte. Er wird wieder werden, vorausgesetzt, er verhungert nicht, während wir einige Tage lang auf das Rettungsschiff warten.« »Rettungsschiff?« Keek lächelte über Andris Erstaunen. »Es gibt jeden Grund dafür, daß EG 4 und 37 unsere Notrufe aufgefangen haben; naturgemäß leiten sie so was an Ganymed weiter. Du kannst darauf wetten, daß sich das Schiff draußen in der Nähe befindet. Aber jetzt fange ich besser mit meinen Erklärungen an.« Unsicher erzählte Keek eine fremdartige Geschichte. Andri lauschte gespannt in mystischem Schweigen, bis Keek geendet hatte. »Davon verstand ich höchstens ein Viertel. Ein Warenhaus aus Wissen, unseren Datenbanken ähnlich, nur grandioser. Körperlose Wanderer von System zu System, die so ähnlich arbeiten wie unsere Sonden. Ich verstehe, daß sie diese Festigkeit brauchen, wenn auch auf eine andere Art als wir. Dann sind sie aber insgesamt gesehen doch nicht so außerirdisch und fremdartig?« Keek stellte das gefühlsmäßig in Abrede. »Das sind sie auf jeden Fall! Mehr als sich irgendeiner von uns vorstellen kann! Ich stand dort draußen, in dem, was man Unendlichkeit nennt – vielleicht drei Minuten lang – aber innerlich erkannte ich genug, um zu sehen, wie fremd sie sind. Gut, Parallelen existieren,
aber für mich sind sie nur Lichtstrahlen in einem Meer unbekannter Helligkeit. Ein Zusammentreffen mit den anderen kann bisher noch keine der beiden Rassen wagen! Vielleicht passiert es irgendwann, aber das geschieht nicht mehr innerhalb jener Spanne Leben, die uns noch bleibt, nicht in der unserer Urenkel oder im Leben jener Urenkel. Vielmehr legten wir hier den ersten Zentimeter einer immens langen Straße. Und was am Ende dieses Weges sein wird, das weiß –« »Lassen wir das!« Andri brach ohne erkennbaren Grund ab. »Ich sehe diesen weiten Blick; aber das möchte ich gar nicht! Wichtig ist, daß wir sagen können, daß 13 jetzt klar ist, oder?« »Das würde ich nicht sagen, nein! Vier der Besatzungsmitglieder sind tot; der Integrator ist handlungsunfähig und braucht ärztliche Hilfe; eine junge Frau können wir aus ihrer Bewußtlosigkeit herausholen, wenn wir an der Sache noch härter arbeiten als beim letzten Mal – und vergiß nicht, daß sie hinterher, wenn sie wieder soweit hergestellt ist, sicher auch deine dunkle Seite kennt; daran ist der intensive Gruppenkontakt beim letzten Angriff schuld!« Keeks Ton wurde weicher, weil er wußte, daß Spannungen im Augenblick nicht riskiert werden konnten. »Tut mir leid. Ich glaube nicht, daß ihr zwei da irgendwelche Probleme haben werdet, die nicht überwunden
werden können. Du bist eine gute Partie. Aber bitte, behaupte nicht, daß 13 klar ist. Zwei von uns stehen noch, du mit Narben, die an dir nagen und dich belasten, ich mit einer Schwere auf meinem Gehirn, die sie mir aufgebürdet haben und die mich daheim auf den Scheiterhaufen bringen könnte. Das sind die Informationen, die in uns wühlen – ohne sie würden wir ruhiger schlafen!« »Tut mir auch leid. Ich war etwas vorschnell, ohne mir genau zu vergegenwärtigen, was eigentlich los ist.« Plötzlich sah Andri etwas, das noch in weiter Ferne zu liegen schien, einen Ausblick, der so nebelhaft war, daß Andri ihn sich gar nicht richtig verdeutlichen konnte: eine wunderbare, glänzende Zukunft für Keeks Rasse. Damit würden sie von einfachen Dienern zu wichtigen Persönlichkeiten aufsteigen – als Mittler zwischen zwei Rassen, die so verschieden waren, daß sie sich eigentlich nie direkt begegnen konnten. Aber Leute wie Keek beseitigten Mißverständnisse und Antipathien durch eine einfache Berührung. Ich stelle ihn mir vor, wie er seine Hände auf zwei Politiker legt, auf Abgesandte und Diplomaten. Durch ihn kann jeder des anderen Mentalität erforschen. Ein neues Dreieck. Vielleicht schaffte er sogar eine ViererVerständigung! Andri lächelte leicht. Es mochte nur ein idealisierter Traum sein, aber er gestattete sich selbst, eine Weile so zu träumen. Bald beendete er
seinen Ausflug in die Phantasie und der Traum löste sich auf. »So müssen wir beide die 13 aus den Schwierigkeiten herausbringen und warten?« »Das ist es. Wir müssen auf eine Nachricht von 4, 37 oder dem Basis-Schiff warten, jetzt, da die Außerirdischen uns nicht mehr behelligen können. Wir warten auf ein Schiff, das uns dabei finden wird, wie wir ein ausgeraubtes Sonnensystem nicht erforschen. Wir sehen, daß wir Jocelyn bis dahin zurückgeholt haben, und die Mediziner können sich um Van kümmern.« »Sagen wir etwas über –?« »Nicht sofort! Ich will erst mit Van reden und seine Meinung einholen. Ich nehme an, daß er der gleichen Ansicht ist wie ich: daß sie zu fremd sind, als daß sie in den nächsten Generationen kontaktiert werden sollten. Ich hoffe, daß er eine nützliche Ausrede findet, Far Search davon überzeugt, daß keines der Unternehmen über einen sehr langen Zeitraum hinweg Sonden in dieses Gebiet entsendet.« Keeks Stimme senkte sich vielsagend. »Es ist, weil sie auf den vierten Planeten zurückkehren werden, das ist sicher! Er wird wandern. Sie brauchen ihn zum Überleben, also holen sie ihn sich.« »Was passiert, wenn Van keine Ausrede einfällt?« Eine ungewöhnliche Halsstarrigkeit schlich sich in Keeks Ausdruck. »Keine Schwierigkeit; mir wird
schon etwas einfallen!« Blicklos starrte Andri ihn an. »Es geht nicht nur darum, Stationen aufzuhalten, die in dieses System beordert werden, letztlich muß jede Expedition von vorneherein verhindert werden – egal ob friedlich oder nicht –, die den Heimatsektor der Fremden ausfindig machen könnte. Ich bin sicher, daß ich den Punkt auf jeder Sternenkarte markieren könnte, aber ich habe nicht die geringste Absicht, das wirklich zu tun!« Er klopfte leicht mit einem Ellbogen. »Andererseits ist es leicht möglich, daß niemand unsere Geschichte glaubt. Ich nehme an, daß Van ohnehin jeden von uns zum Schweigen verpflichten wird. Ich finde, daß wir schweigen sollten, denn ich kenne deine Spezies und denke, daß sie die wandernden Welten zu lokalisieren versuchen werden. Natürlich werden sie nach der Richtung fragen, wo das System liegt, aber außer mir kennt das keiner, und mein Mund bleibt geschlossen!« Es sei denn, sie wenden Gewalt an, nageln mich auf eine Richtbank und dringen in mein Gehirn ein. Und das können sie tun, wenn sie die Fremden von ihrer schlimmsten Seite erleben wollen! Er fragte sich, ob Schweigen wirklich die beste Möglichkeit war, und entschied, daß es nicht so war. Schweigen konnte unwissende Besatzungen dazu veranlassen, doch in das System zu kommen. Möglicherweise trafen jene Leute dann mit der Gruppe der Fremden zusammen, die zurück zum vierten Plane-
ten kam. Ein Suchschiff der Regierung kam sicher in das System, denn Van hatte den fünften Planeten als mögliche Kolonisationswelt in Aussicht gestellt, und die Bänder hielten diese Aufzeichnung fest. »Ja, wir haben keine andere Wahl als die, doch etwas zu sagen.« Andri nickte. »Vielleicht hast du diese VorkontaktPhase sogar verkürzt, indem du deine RandErinnerungen in die beiden Juwelen pflanztest – vorausgesetzt, sie können sie einsammeln, wenn sie kommen, um Vier zu holen. Diese Felsen haben unsere Gesichtspunkte gesehen, unsere Schwierigkeiten, so werden sie dem Warenhaus einiges zum Grübeln geben; das war eine gute Idee, die du da hattest. Wenn es ihnen beim Überleben hilft, wird sich ihre Feindschaft sicher verringert haben. Hoffen wir, daß es dort auch Leichtgläubigkeit und Gemeinschaftssinn auf höherer Ebene gibt!« »Dennoch sind wir hier und haben einiges zu tun. Wir haben eine Unmenge an Schäden auszubessern, dann müssen wir gründlich aufräumen. Anschließend wird Jocelyn aufgeweckt, und 13 funktioniert wieder.« »Oui! Ich nehme an, wir erledigen die schwierigste Arbeit zuerst.« »Einverstanden.« Im Schlafraum B zögerte Keek eine volle Minute, ehe er den Körper berührte. Sein
Blick ruhte auf Jocelyn, der Göttin der Liebe, die ins Leben zurückgeholt werden mußte – und in die Blindheit! Dann berührte er Ruthe, und sein Widerwille gegen ihre Launenhaftigkeit verschwand. Er bedauerte seine Gefühle für sie, als sie noch gelebt hatte, doch die Vergangenheit war vorbei, und dies war das Ende. Ich bete für deine Zukunft, deine Seele! Du warst keine glückliche Frau, nicht wahr? Bist du jetzt zufriedener, irgendwo? Er bezweifelte es, aber er betete trotzdem. Andri hob sie vom Boden auf, dabei brummte er vor Anstrengung. Keek half auf seine eigene bescheidene Art und fühlte die Gedanken des Franzosen, als sie durch totes Fleisch irrten. Ich mochte dich nie, aber nie hätte ich dir so einen unschönen Tod gewünscht. Dann ein Schleier des direkten Eingeständnisses: Nein, ich gebe zu, daß ich dich oft verfluchte und dir dies wünschte! Der Schein trog, wenn ich so zurückblicke, aber es ist zu spät für eine Entschuldigung, und ich kann sie nie mehr aussprechen! Bedauern floß von Andri zu Keek, als sie die Leiche aus dem Schlafraum brachten. Alles, was wir tun können, ist, dich dort hinauszustoßen, wohin du schon immer wolltest: hinaus in das Dunkel und zu den Sternen. In die – Schöpfung? Seine Gedanken zogen sich in unergründliche Wege der Schwärze zurück. Ruthe wurde in den Kontrollraum gebracht, und Andri nähte sie ein. Keek sagte: »Gräme dich nicht
um sie. Sie hatte ihren Augenblick bei dem letzten Angriff, als wir uns alle zusammenschlossen. Ich erforschte ihren Geist. Viele der Zweifel verschwanden, auch ihr Selbsthaß. Die schreckliche Maske glitt beiseite, und ich sah – oh, ich weiß nicht genau; ein Bündel unterdrückter, aber vortrefflicher Fähigkeiten, denke ich. Manche der guten waren hervorragend versteckt. Sie saß so lange auf ihnen, daß sie glaubte, sie längst abgetötet zu haben, aber sie lebten weiter.« Schweigend trugen sie die blutige Last in die Luftschleuse. »Noch eine Minute.« Langsam lief Andri in den Erholungsraum zurück. Als er wiederkam, trug er ihre in Gold gebundenen Lyrikbände. Er legte sie auf ihre tote Brust und drückte ihre Arme dagegen. Einige Knoten in einem Seil, das Ganze um ihre Handgelenke gebunden, verankerten ihre Schätze für die Ewigkeit an ihrem Busen. Andri schloß die innere Tür. »Vielleicht ist es kindische Sentimentalität, aber –« »Sentimentalität«, wisperte Keek, »das ja, aber nicht kindisch.« Er drückte auf einen Knopf, und die Schöpfung erschien.
Über den Autor Es gibt nicht viele englische Schriftsteller, die sich auf dem Gebiet der Science Fiction mit ihren Kollegen vom Kontinent messen können. Einer von ihnen ist der inzwischen siebenunddreißigjährige Terence Greenhough. Obwohl er als Gegenwartsliterat begann und sich mit Büchern wie Friend of Pharaoh rasch zu Ruhm und Ehre schrieb, versuchte er sich Mitte der siebziger Jahre dem Gesetz der Masse zum Trotz mit der Niederschrift eines ersten Textes in einem von den meisten seiner Leser verschmähten Genre: der Science Fiction. Er stellte mit The Tree in the Forest eine Geschichte vor, die nicht weniger als seine Gegenwartsarbeiten überzeugte. Entsprechend positiv war ihr Echo. So machte sich der Autor schon im nächsten Jahr mit Time and Timothy Grenville an seinen ersten Science-FictionRoman, der nur allzu typisch für seine Schreibweise werden sollte und schnell ein beklemmendes Verhältnis zwischen der Welt im Ganzen und seinen Protagonisten entwickelt. Er handelt von den Wirrnissen der Zeitreise und Außerirdischen, die es – wie sich herausstellt – auf den Untergang der Erde abgesehen haben. Auch diesmal ließ der Beifall nicht lange auf sich warten, und nun schien der Autor darüber hinaus noch die vielfältigen Möglichkeiten der Science Fiction entdeckt
zu haben. Jedenfalls verfaßte er im Folgejahr gleich zwei Romane. Der erste variierte das immer wieder auftauchende Thema der diskriminierten Minderheit; diesmal auf recht interessante Weise in Form des Schicksals von verfolgten Mischwesen auf einer fernen Welt. The Thrice-Born war denn auch der beziehungsreiche Titel. Er erschien unter dem Pseudonym Andrew Lester, das er bisher nur für Arbeiten benutzt hatte, die nichts mit der Science Fiction zu tun hatten. Der zweite schien auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein durchschnittlicher Abenteuerroman zu sein und hieß The Wandering Worlds. Er bildet die Originalfassung des vorliegenden Buches. Die Handlung setzt an Bord einer nach neuen Mineralvorkommen suchenden Forschungs-Sonde ein, die unerwartet von mentalen Energien aus dem All attackiert wird. Sämtliche Besatzungsmitglieder werden außer Gefecht gesetzt – mit Ausnahme des einzigen Nichtirdischen an Bord des Schiffes: Keek, einem vortrefflich charakterisierten affenähnlichen Wesen, das selbst übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Als das Schiff beschädigt und zur Notlandung gezwungen wird, tritt nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit zuerst einmal Andri auf den Plan. Der wortkarge Franzose entdeckt einen Edelstein, der ihnen Hilfe leistet, und schließlich ertastet ein anderes Besatzungsmitglied namens Van Channen mit seinen außerordentlichen Sinnen fremdes Leben in der
Nähe. Es sind die Angreifer, aber sie bleiben weiterhin unsichtbar. Endlich wird die erschütternde Wahrheit hinter einem weitverbreiteten Mythos bekannt: ganze Planeten lösen sich aus ihrer Umlaufbahn und streben ins All, einem ungewissen Ziel entgegen. Wer sind die Lenker im Hintergrund? Die Antwort auf diese Frage wird auf erschreckende Weise inmitten eines Durcheinanders aus Tod und Vernichtung erteilt. Weltbilder kommen ins Wanken. Inhaltlich wie auch stilistisch läßt sich The Wandering Worlds daher kaum mit Texten ähnlicher Thematik vergleichen. Märchenhaft und schön zu lesen, verbindet es Merkmale der Science Fiction miteinander, von denen man meinte, daß ihre Glanzzeit längst vorüber sei. So wundert es nicht, daß der Erfolg dieses Romans dem Autor ein Anlaß war, schon im Jahr nach dessen Erscheinen mit Thoughtworld den ersten Teil einer Trilogie zu verfassen, die bewußt in die Fußstapfen des vorliegenden Werkes tritt. Inzwischen liegt sie abgeschlossen vor und macht – wie ihr Vorgänger – eines deutlich: Die Faszination handlungsbetonter Weltraumabenteuer ist auch im Zeitalter einer modernen, durchgeistigten Science Fiction nicht geringer geworden. Mit Terry Greenhough ist uns ein neuer Meister dieses alten Themas entstanden. Michael Nagula