ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele
Nr. 139 (175)
Die wandernde Seele von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der US...
22 downloads
964 Views
612KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele
Nr. 139 (175)
Die wandernde Seele von Hans Kneifel
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man den Monat Februar des Jahres 2844. Lordadmiral Atlan und der geheimnisvolle Chapat sind von Ronald Tekener und Sinclair Marout Kennon, den beiden Mitgliedern des Psycho-Teams der USO, aus der Gewalt Alfo Zharadins, der sie mittels der Illusionsmaschinen in die Vergangenheit Arkons versetzt hatte, befreit worden. Während S. M. Kennon, der Krüppel im Körper eines Roboters, sich anschickt, mit Hilfe einer Illusionsmaschine Arkon in seiner Blütezeit aufzusuchen, fliegen Atlan, Tekener und Chapat nach Quinto-Center, dem USO-Hauptquartier. Hier, inmitten technischer Perfektion und absoluter Sicherheitsvorkehrungen, will der Lordadmiral versuchen, Chapats Geheimnis zu lüften und eindeutig festzustellen, ob der junge Mann tatsächlich mit dem von ihm und der Varganin Ischtar vor Jahrtausenden gezeugten Sohn identisch ist. Atlan bringt Chapat zum Sprechen – und erfährt eine phantastische Story. Es sind Erlebnisse und Ereignisse, die sich ranken um DIE WANDERNDE SEELE ...
2
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Lordadmiral soll Ischtar Hilfe leisten. Chapat – Atlans Sohn berichtet. Agham, Ekkotask, Urgiah Moos und Panthio Aggion – Gastkörper bei Chapats Wanderung durch Zeit und Raum. Groskorl und Sheena – Chapats Freunde und Weggefährten.
3
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »Agham! Dies ist die Nacht!« flüsterte Groskorl Thuar'aska, der erfahrendste Schütze des Haghjameitestammes. »Welche Nacht?« wisperte Agham zurück. Er war vor wenigen Jahren zum Stamm gestoßen. Ihn umgab ein düsteres Geheimnis, das ihn manchmal schlaflos ließ und ihn zu einer Gestalt aus einem alten Stammesmärchen machte. Aber er war der unwidersprochene Kazike des Stammes. »Die Nacht, in der alles geschehen kann. Spürst du es nicht? Die Geister des Wasserwaldes machen sich auf!« Agham hob die Schultern und schaute von dem schaukelnden Rücken des Tieres in die Dunkelheit. Nichts war zu erkennen außer den Lichtpunkten auf den Flügeln von Nachtschmetterlingen. Diese Nacht, dachte der junge Kazike, war abermals eine Nacht der Gerüche und der Geräusche. Vieles davon kannte er: die schmatzenden Töne, mit denen die Rodamons ihre riesigen Füße aus dem Morast zogen, die vielfältigen Geräusche der sich bewegenden Blätter und Ästchen, Äste und Wurzeln, der splitternden Stämme und der Vögel, die flatternd und kreischend aus ihren zerstörten Nestern flohen. Der schwere, feuchtigkeitsgesättigte Atem der Tiere, das Rumpeln ihrer Mägen und Därme, in denen sie die Pflanzen verdauten, die leisen Worte, mit denen sich die Lenker und die Schützen und Jäger miteinander verständigten. Unmerklich wurde aus der langen Linie der zwölf Tiere ein Triangel, dann eine Linie, dann waren die runden Bäuche der Tiere nur noch fünf oder sechs Mannslängen voneinander entfernt. Wie eine lebende Mauer schoben sich die Kolosse dem fernen Berg entgegen, der in der Mitte der Nacht wieder einen Strom glühenden Gases entlassen und die Nacht zum Tag machen würde. Die Geräusche waren weniger vertraut ... Nachdem sie die Zone der Lagerfeuer und der ummauerten Herde verlassen hatten, war auch der Geruch nach Braten und Gesottenem zurückgeblieben. Jetzt stank es nach dem durchdringenden, ätzenden Schweiß der Rodamons, nach den Ausdünstungen der Jäger und dem schwefligen Material ihrer Lichtpfeile. Der sumpfige Boden roch nach Fäulnis,
1. Hinter Agham, dem zwanzigjährigen Kaziken des Stammes, formierte sich fast geräuschlos der lange Zug der Rodamons. Hinter den eckigen Schädeln der Riesentiere saßen die Lenker, die ihre Stichelhaken geschickt und schnell handhabten. In den kleinen Kanzeln auf den Rücken der Tiere kauerten die Schützen. Alles ging in völliger Geräuschlosigkeit und sehr geordnet vonstatten. Die Jagd auf die Nachtbestien begann. Agham hob den Arm und winkte mit einem weißen Leinenfetzen, dann zischte er dem Schützen in seinem Rücken zu: »Geradeaus! Und dann teilt sich der Zug auf und durchkämmt das Gebiet bis zum Berg!« »Bis zum Berg, Agham? Du willst die ganze Nacht jagen?« Einen flüchtigen Augenblick lang sah Agham das erschrockene Gesicht des Schützen. Dann lachte er kurz und antwortete leise: »Ich will es! Wir müssen die Bestien bis nach der Ernte vertreiben. Sie reißen uns sonst die Weidetiere und die Frauen!« »Du hast es befohlen!« Langsam setzte sich das Führungstier in Bewegung. Es war höher als vier Männer und hatte einen pechschwarzen Pelz. An den Gelenken schimmerten hornige Platten mit scharfen Knochenspitzen. Zwei lange, aufwärts gekrümmte Stoßzähne und ein Doppelrüssel mit einem giftigen Dorn an jeder Spitze bewegten sich nach rechts und links und schoben Büsche und Zweige zur Seite. Die langen Beine der Tiere bahnten sich eine Gasse durch den verfilzten Dschungel. Vor einer Stunde hatte die Nacht begonnen. Noch sahen sie nicht die vielen funkelnden Sterne über Haghjameite. Aber jenseits der Felder, hinter dem Ufer des riesigen Sees, zeigte ein messerscharfer Streifen scharfer, weißer Helligkeit das Ende der Dämmerung an. Zwölf Tiere und sechsunddreißig Jäger des großen Stammes waren aufgebrochen, um die Bestien zu vertreiben und so viele von ihnen zu töten, wie es nur möglich war. Zweige schnellten klatschend zurück, trockene Äste brachen mit lauten Geräuschen. Aus dem Dschungel wehte eine feuchte, stinkende Luftflut heran. 4
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele ausgesetzt, um sich zu bewähren. Sein Körper sei verändert worden, weil ihn sonst die Eingeborenen von Haghjameite töten würden. War es eine Frau gewesen, die ihn aussetzte? Seine Mutter? Er ahnte vieles, aber er wußte es nicht mehr genau. Er war schwarzhaarig wie alle Bewohner dieses Landes. Sein Körper bestand nur noch aus schnell arbeitenden, zähen Muskeln und starken Knochen. Nur sein Verstand hatte sich nicht verändert. Er hatte sich nur den Überlebensmöglichkeiten des Planeten Haghjameite angepaßt. Er war der schnellste und beste Jäger des Stammes geworden, und unter seiner Führung hatte sich die Siedlung in den letzten Jahren zu einem reichen, gesunden Stamm entwickelt. Zu seinen ersten Taten gehörte auch der Wall, der die Siedlung umgab und jedes Jahr an einer anderen Stelle neu gepflanzt wurde. »Wir kommen in das Gebiet der Bestien, Agham!« erinnerte ihn Groskorl. Agham öffnete die Augen und starrte nach vorn, dann wandte er sich den fast unsichtbaren Schatten der dahinstürmenden Tiere rechts und links des Leitrodamons zu. Jetzt rannten die zwölf Tiere fast mit voller Kraft zwischen den Stämmen dahin und schlugen mit den Doppelrüsseln die letzten kleinen Hindernisse zur Seite. In fünfhundert Schritten Entfernung endete der Wasserwald und ging in die hügelige Ebene über. »Dort vorn! Siehst du das Tier?« Die scharfen, geübten Augen des Jägers neben Agham hatten die erste Bestie entdeckt. Diese Tiere lebten in Rudeln, immer hungrig und das ganze Jahr über von einer tödlichen Angriffslust, in der Ebene zwischen Waldrand und Berg. Aber in der Erntezeit warfen sie ihre Jungen und dann schwärmten die erwachsenen Tiere aus und überfielen alles, was sich bewegte. Bis vor zwei Jahren waren die Opfer unter der Bevölkerung grauenvoll hoch gewesen, jetzt schützte der Wall ein wenig, und die planmäßigen Jagden, die Agham durchführte, hatten die Tiere meist erfolgreich dezimiert und vertrieben. »Ich sehe es. Das ist das Zeichen!« Agham riß das geschwungene Horn aus der Halterung, füllte seine Lungen mit Luft und blies hinein. Ein langgezogener, schauerlicher
Verwesung und Aas. Und die zurückschnellenden Zweige überschütteten die Jäger mit einem übelriechenden Regen aus klebriger Flüssigkeit. So ging es weiter, in einer unregelmäßigen Reihe, der riesige Rodamonbulle mit den kampfbereit vorgeschobenen Schultern in der Mitte. »Die Geister des Wasserwaldes stinken!« gab Agham lachend zur Antwort. Groskorl Thuar'aska war sein bester Freund. Der Jäger hatte ihn, der sich plötzlich in dem Körper eines der HaghjameiteEingeborenen gefunden hatte, aufgenommen, verpflegt und ausgebildet. Innerhalb ganz kurzer Zeit hatte Agham ihn überholt und sich zum Kaziken des Stammes gemacht. Aber er sprach niemals über sein eigenes Geheimnis. Meine Seele ist auf der Wanderschaft, seit ich geboren wurde. Dieser Gedanke spukte unablässig durch die Überlegungen des schlanken, sehnigen Häuptlings. »Nein! Es ist die Nacht, in der unsere Seelen leiden werden. Ich bewundere deine Kühnheit, Kazike!« flüsterte Thuar'aska zurück und warf Blicke nach allen Seiten. Sie waren allein in der Kanzel, schwer bewaffnet und entschlossen, die Nachtbestien über den Paß zurückzutreiben. »Es ist keine Kühnheit. Es ist eine Notwendigkeit! Denke an die schwangeren Frauen!« gab Agham zurück. »Daran denke ich, sonst wäre ich nicht hier!« Jetzt änderte sich die Zusammensetzung des Waldes. Immer weniger Büsche und Lianen gab es, die Stämme wurden dicker und höher. Nach allen Seiten flüchteten erschreckte Tiere. Die Rodamons kamen schneller vorwärts. Noch wurden die Fackeln nicht angezündet, aber der Männer und der Kampftiere bemächtigte sich die Erregung der unmittelbar bevorstehenden Kämpfe. Der Kazike schloß die Augen und lehnte sich gegen die Rückwand des geflochtenen Korbes. Die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten, lagen für ihn im fernen Nebel schwindender Erinnerungen. Er sah sich vor einem riesigen Gegenstand stehen, der an einen Berg erinnerte. Eine Stimme sagte zu ihm, er sei 5
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Die Schützen standen jetzt in den hüfthohen Kanzeln, die mit breiten Gurten an den Körpern der Rodamons befestigt waren. Auf den Sehnen lagen die langen Pfeile, an deren Schäften breite Streifen brennenden Materials befestigt waren. Endlich entschlossen sich die Anouars. Sie griffen an. Heiser röhrend, in schnellen und weiten Sprüngen, kamen sie näher. Sie kämpften mit der Taktik, die ihnen von der Natur vorgeschrieben war. Jeweils zu dritt oder zu viert griffen sie eines der riesigen Tiere an. Die Rodamons senkten die Köpfe und rollten die unteren, längeren Rüssel auf. Die langen Stoßzähne funkelten im Sternenlicht. Einige lange Momente verstrichen, während sich der Drittelkreis der Rodamons und die kleinen Gruppen der Anouars einander näherten. Dann zog Agham die Sehne seines Bogens bis ans Ohr durch, zielte sorgfältig und löste den Griff. Der erste Pfeil schnellte von der Sehne. Die breite Reibefläche strich entlang des Griffes, der mit in Harz festgebackenem Gesteinsgries versehen war. Zischend entzündete sich das Phosphor-Magnesiumgemisch und begann, während der Pfeil in nahezu gerader Linie heulend auf das Ziel zuschoß, hell aufzuleuchten. Das war das entscheidende Signal. Neben dem Kaziken stand Thuar'aska Groskorl auf, zog die Sehne aus und schoß. Der Pfeil des Kaziken schlug mit einem dumpf klatschenden Geräusch in den Körper einer Nachtbestie ein. Das Tier sprang heulend und kreischend in die Luft. Der Pfeil brannte hell und beleuchtete den Tod des Tieres, denn der zweite Pfeil bohrte sich mit ungeheurer Wucht, abgefeuert aus einer Entfernung von fünfzehn Mannslängen, genau in die Kehle des Anouars. Als das Tier, sich überschlagend, zu Boden fiel, war es tot. Nur die Läufe und der lange Schweif zuckten noch. Das vorwärtsstürmende Rodamon zertrampelte den Körper. Das Rodamon schüttelte ärgerlich trompetend den Kopf, richtete ihn nach links und bewegte ihn ruckartig nach oben. Die scharfgeschliffene Spitze des Stoßzahns traf das Tier unterhalb der Rippen.
Ton hallte durch den Wald. Dann wurden die Fackeln angezündet. Auf scharfe, kurze Kommandos griffen die Rüssel der Rodamons nach oben, packten mit dem hornigen Rand die Fackelschäfte und schwenkten sie. Lodernde Flammen und lange Funken stoben aus den Köpfen der Lichter. In der Ebene begannen die Nachtbestien unruhig zu werden. Ein Rodamon stieß einen Schrei aus, der so laut und so durchdringend wie das Geräusch einer sich öffnenden Erdspalte war. »Greift sie gnadenlos an!« schrie Agham. Die Nachtbestien, rotäugige Tiere mit fahlweißem Fell, waren nicht nur die erklärten Feinde der Bewohner von Haghjameite, sondern auch die Todfeinde der Rodamons. In freier Wildbahn fochten beide Gegner lange und blutige Kämpfe aus, deren Ausgang niemals vorherzusehen war – die Bestien, Anouars genannt, und die Rodamons waren gleichstark, obwohl sie mit verschiedenen natürlichen Waffen ausgerüstet waren. Jetzt begannen alle Rodamons zu schreien und zu trampeln. Die Fackeln in den oberen Rüsseln vollführten wilde Kreise und erhellten die Nacht. Die Jäger rückten die Pfeile in den Köchern zurecht und federten die Stöße der Tierrücken mit den Knien ab. Ihre dunkelhäutigen Körper waren kaum zu erkennen. Nur die weißen Streifen, die sich vom Kinn über die Brust bis zum Gürtel hinzogen, leuchteten in der Dunkelheit. »Tod den Anouars!« kreischte jemand. Wieder stieß Agham mit aller Kraft in das Horn, steckte es weg und griff nach seinem Bogen. Die Rodamons trabten jetzt schaukelnd und halb wahnsinnig vor Angriffslust zwischen den letzten Stämmen des Waldes hervor. Unter ihren Tritten zerfetzten die Büsche. Plötzlich war die Landschaft vor ihnen von einem Drittelkreis lodernder Flammen erhellt. Die Anouars röhrten heiser und sprangen, überrascht und noch unentschlossen, hin und her. Es waren nicht weniger als zwanzig Tiere. Im Licht der Fackeln glühten ihre riesigen Augen auf. »Nur gezielte, tödliche Schüsse abgeben!« schrie Agham auf. 6
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Erreichten die Krallen und die furchtbaren Gebisse der Bestien die Ränder der Körbe, dann schlugen die Jäger mit ihren Metalläxten zu. »Die Nacht hat eben erst angefangen. Der Berg leuchtet noch nicht!« rief der Kazike zurück. Bisher hatte ihn die Erregung des schnellen Kampfes ausgefüllt, aber jetzt mischte sich in dieses Fieber eine Art kalter Schrecken, dessen Quelle er nicht kannte. Es war ihm, als renne sein Rodamon auf eine gewaltige Gefahr zu, die er niemals erahnen konnte. Ich bin, seit ich geboren wurde, mit meiner Seele und meinem Körper auf der Wanderschaft! Aber wann bin ich geboren? Werde ich wieder weggeholt aus diesem Stamm? Was hat dieses unheimliche Gefühl zu bedeuten, das ich bisher niemals kennengelernt habe? Als ein Anouar von hinten angriff, seine Vorderpranken hochriß und mit den Krallen der Hinterbeine lange Furchen in die ungeschützte Haut des Rodamons riß, kam Agham wieder zu sich. Er hatte eben noch gedacht, daß er vor seiner Zeit hier auf Haghjameite einen anderen Namen gehabt hatte, aber schon reagierte er. Sein Kampfbeil zischte senkrecht herunter und spaltete mit einem furchtbaren Hieb den Schädel der Bestie. Im Todeskampf verbiß sie sich in der Schwanzwurzel des Rodamons, das daraufhin schreiend durchging und auf einen Felsblock zurannte. »Vorsicht! Festhalten, Groskorl!« schrie Agham. Sein Freund hatte eben einen Pfeil von der Sehne geschnellt, der einen Anouar im Sprung erwischt hatte und ihn jetzt zu Boden warf. Das brennende Gift am vorderen Ende des Geschosses wirkte nicht sehr schnell, war aber tödlich. »Was ist ... ich verstehe!« Sie duckten sich und klammerten sich am Rand des Korbes fest. Ihr Tier, das dem Stachel des Lenkers nicht mehr gehorchte, rannte in einem polternden und schaukelnden Galopp auf den Felsen zu und schrie vor Schmerz. Der Rüssel schleuderte die Fackel
Während die andere Bestie ihre langen Krallen links in das Fell des Rodamons schlug, kreischte die von rechts angreifende Nachtbestie gellend auf. Knirschend bewegte sich der Stoßzahn tiefer in den Körper hinein, der von den Beinen und in die Höhe gerissen wurde. Blut schoß aus der doppelten Wunde und färbte das schneeweiße Fell des Anouars rot. Die Bestie schlug wütend um sich, aber wieder riß das Rodamon seinen Schädel hin und her. Mit jeder Bewegung entwich mehr Leben aus dem getroffenen Körper. Der zweite Rüssel, der unablässig die Fackel geschwungen hatte, beschrieb einen weiten Bogen und senkte sich nieder, dicht an den Köpfen von Thuar'aska und Agham vorbei. Der weißglühende Kern der Fackel bohrte sich in das Auge des Anouars, der seinen Griff lockerte und zurück auf den Boden fiel. Das spielte sich in wenigen Sekunden ab. Das Rodamon rannte ununterbrochen vorwärts. Wieder rissen die beiden Männer die schweren Pfeile aus den Köchern, legten an und schossen auf die schemengleich angreifenden Bestien. An mindestens zehn Stellen brannten die Reste von Pfeilen in Tierkörpern oder im taufeuchten Gras. Aber noch immer war die geschwungene Linie der Jäger nicht auseinandergerissen. Sie hatten sich nicht in Einzelkämpfe verwickelt. »Wir werden sie heute ausrotten!« keuchte Thuar'aska und schoß abermals einen flammenden Pfeil ab, der eine lange, blutende Wunde in das Rückenfell eines Anouars riß. »Das ist die Nacht der Nächte, Kazike!« Der Kampf steigerte sich in seinen zweiten Abschnitt hinein. Die Körbe, in denen die Schützen saßen, hatten sich in feuerspeiende Festungen verwandelt. Die Kolosse tobten über die leicht hügelige Fläche und hinterließen zwölf Bahnen aus niedergetrampeltem Gesträuch und losgetretenen Steinbrocken. Ununterbrochen gellten die trompetenden Schreie der angreifenden Rodamons. Wie grellweiße Blitze sprangen die Nachtbestien an den Tieren hoch und versuchten, die Quelle des tödlichen Feuers zu vernichten. Aber ihnen schlugen weitere Pfeile entgegen. 7
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele unterirdische Wasserdruck verändert hatte. Steine flogen am Berggipfel hoch und fielen wieder zurück, drehten sich oder kollerten, kleine Lawinen auslösend, die Hänge hinunter. Dann schmetterten zwei Steine zusammen und erzeugten Funken. Die Gasmassen begannen zu glühen, während dieser schrille Sirenenton lauter und durchdringender wurde und die Mitte der Nacht ankündigte. Dunkelblaue Bahnen zuckten nach allen Seiten. Entlang ihrer Kanten brannte das Gas hellrot. Dann wanderten die Flammen über den langgestreckten Kamm des Berges und entzündeten sämtliches Gas. Eine riesige Wolke leuchtete jetzt gelblichgrün auf und überschüttete das Land mit ihrem wilden Glanz. Die Nachtbestien, die wenigen, die es in dieser Zone noch gab, flohen. Agham – oder hieß er plötzlich anders? – richtete seinen Blick an der leuchtenden Wolke vorbei zu den Sternen. Dort wanderte in betäubender Schnelligkeit ein Stern, wurde leuchtender und größer, berührte den Rand der Flamme und kam immer näher. Die Jäger stießen Entsetzensschreie aus. Zitternd klammerte sich Groskorl an die schmalen Schultern des Kaziken. »Was ist das?« stieß er hervor. Er war zum erstenmal in seinem Leben hilflos vor Furcht. »Ich erinnere mich ...«, begann Agham leise. Gebannt sah er zu, wie nicht nur die Nachtbestien flüchteten, sondern auch die großen schwarzen Tiere in alle Richtungen zu rennen begannen. Das Licht kam näher, leuchtete noch mehr auf, als es sich auf der Höhe des flammenden Gases befand und senkte sich summend auf die freie Fläche zwischen dem Waldrand und dem Berg nieder, etwas weniger als eine Stunde Galopp mit dem Rodamon entfernt. »Ich erinnere mich!« sagte Agham fest und deutlich. »Thas, Lenker!« »Kazike? Ich kann das Tier nicht mehr halten!« »Bringe es auf den Weg nach diesem gefallenen Stern. Unbedingt! Es ist wichtig! Mit diesem Schiff hat mich meine Mutter hierhergebracht.« Das Rodamon trompetete, warf sich herum
weit von sich und in einen Busch, der augenblicklich zu brennen begann. Die Männer versuchten, in dem heillosen Durcheinander etwas zu erkennen, aber sie sahen nur die breite Spur der verlöschenden Pfeile, von denen jeder zweite eine getötete Bestie kennzeichnete. Vor ihnen war jetzt der langgestreckte Hang, der in weiter Entfernung in den Berg überging. Undeutlich sahen sie einzelne Felsbrocken, an die sich Pflanzen schmiegten. Auch ein zweites Jagdtier war ausgebrochen und gehorchte dem Lenker nicht mehr, der wie besessen seinen Stachelhaken einsetzte. Dann erreichte das Rodamon den Felsen. Es drehte sich und rammte seinen Körper schwer gegen den Stein, der sich ächzend zu bewegen schien. Das tote Tier auf dem Rücken wurde halb zerquetscht, aber die Krallen lösten sich nicht. Abermals krachte der schwarze Körper an die Felswand und schrammte daran entlang. Jetzt riß die furchtbare Wucht dieser Bewegung die Krallen heraus, an denen Haar und Fleischfetzen hingen. Klatschend fiel der Körper, in dem kein Knochen mehr heil war, in die zertrampelten Sträucher. Das Rodamon riß beide Rüssel hoch, schien mit den Stoßzähnen den Felsen aus dem Boden heben zu wollen und stieß ein gellendes Triumphgeschrei aus. Langsam standen der Kazike und sein Freund wieder auf und sahen sich um. »Er gehorcht wieder!« brüllte freudig der schweißüberströmte Lenker auf. Das Tier stand mit zitternden Flanken und keuchenden Lungen still da und begann sich dann langsam zu drehen. Agham überblickte das Schlachtfeld. Es war mit bewegungslosen weißen Körpern übersät. Mindestens zwei Dutzend weiße Tiere und rauchende Pfeile waren zu sehen. Dann, als sie noch zu zählen versuchten, ertönte abermals ein gewaltiger Laut. Zuerst ein Summen, dann ein Heulen, das sich in Lautstärke und -höhe steigerte und weit bis über die Grenzen des Stammesgebiets hinaus zu hören war. Aus Hunderten von Spalten des Berges kam dieses Heulen. Es war zusammengepreßtes Gas, das nun entweichen konnte, weil sich der Planet gedreht und sich der 8
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele wußte, daß er eine der vielen Ausnahmesituationen miterlebt hatte, die einen Menschen entweder umbrachten oder ihn in einem Maße veränderten, daß er es selbst nicht glauben konnte. Langsam nickte Atlan und sah den jungen Mann an, der ihm so verblüffend glich. Jede äußerliche Ähnlichkeit deutete darauf hin, daß es wirklich Ischtars und sein Sohn war, aber es gab – abgesehen von den Möglichkeiten des erbbiologischen Gutachtens, das zutreffen konnte oder nicht – keine endgültige Gewißheit. Noch nicht. Tekener wußte fast instinktiv, daß er das gespannte, erinnerungsträchtige Schweigen brechen mußte. Er sagte mit belegter Stimme: »Es sind noch andere Fragen offen, Sir!« Atlan wandte sich ihm zu. Für einige Sekunden wirkte er, als erwache er aus einem tiefen Traum. Es war, als habe er, Atlan, eines seiner Erlebnisse berichtet. »Ich weiß es, Ronald!« sagte der Arkonide. »Zum Beispiel der gesamte Komplex um unseren Freund Sinclair Marout Kennon.« Kennon war mit seinem Robotkörper an das Überlebenssystem angeschlossen und hatte seinen Traum. Auf sein eigenes Verlangen befand er sich noch immer an der Maschinerie, die wesentliche Impulse des Ischtar-Memorys integriert hatte. Was Kennon träumte und erlebte, wußte niemand. »Er hat mehr als dringend gewünscht, weiterträumen zu dürfen!« sagte Tekener. Er kannte Kennons Psyche so gut wie kein anderer. »Es geht nicht um die Erlaubnis, sondern um das Risiko!« Sie wußten, daß die Instrumente des verbrecherischen Alfo Zharadin eine teuflische Wirkung zeigten. Die Träume derjenigen, die unter den Schlafhauben waren, bestanden aus Wirklichkeit. Sie waren derart realistisch, daß ein Träumender den Tod finden konnte, und außerdem befand er sich stets wirklich an der Stätte des Traumes, wurde also von allen Mitgliedern seiner Traumwelt gesehen. Atlan und Chapat hatten es selbst erlebt. Sollte man Kennon dieser Gefahr aussetzen? »Das Risiko ist verdammt groß. Wir kön-
und rannte dann blind los. Mit dem Haken und dadurch, daß er hin und wieder die Augenwülste des Tieres bedeckte, versuchte Thas, das Tier auf das Ziel zuzusteuern. Es wurde ein wahnwitziger Ritt durch die gelblichgrüne Dämmerung dieser Nacht aller Nächte. Dort stand ein Doppelpyramidenschiff! Mit einem solchen Schiff war er vor Jahren hierhergekommen und zur Bewährung ausgesetzt worden. »Die Zeit des Wartens ist vorbei!« schrie Agham, der sich jetzt an seinen wahren Namen erinnerte. »Meine Mutter holt mich ab!« Sein Name war nicht Agham. Er hieß Chapat. 2. Die Stunde hatte Seltenheitswert, und auch der Ort war ungewöhnlich: das privateste Zimmer in dem ausgehöhlten Mond, den die United Stars Organisation Quinto-Center genannt hatte. Nur drei Personen saßen hier, umgeben von dem zweckmäßigen technischen Luxus, der die privateste Umgebung von Lordadmiral Atlan kennzeichnete. Drei Männer, die in schweren, festgeschraubten Sesseln um den großen niedrigen Tisch Platz genommen hatten. Drei Männer mit verschiedenartigen Schicksalen. Aber jeder von ihnen hatte auf seine Weise mehr erlebt als je ein anderes lebendes Wesen in der Galaxis. Chapat ... angeblich Atlans Sohn. Eben hatte er einen Teil der Erzählung vollendet und sich selbst unterbrochen. Er schilderte eine der Stationen seines Lebensweges oder seiner Seelenwanderung, wie er es nannte. Die beiden Zuhörer hatten gebannt den Worten gelauscht, und zumindest Atlan erkannte darin einen Teil seines eigenen Lebens wieder, das ihn durch alle Tiefen und Höhen geführt hatte. Ronald Tekener, der Smiler, hob eben das Glas an die Lippen. Dieser Mann mit den Narben der Lashatpocken im Gesicht und dem Zellaktivator, den er sozusagen unter den Fingern des Arkoniden an sich genommen hatte, erfaßte voll den Ernst der Stunde. Er 9
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »In Ordnung.« Atlan drückte einen Schalter, gab die eben geführte Unterhaltung zu Protokoll und fügte einige präzise Anweisungen hinzu, was mit dem autarken System geschehen sollte, in dem bewegungslos der Robotkörper Kennon lag. Damit war dieser Punkt vorläufig abgeschlossen. Sämtliche Daten waren in den Rechenmaschinen und den Speichern der Anlagen von Quinto-Center gespeichert. Vorläufig war Kennon sicher. Sein Leben war, was diese Seite seiner Existenz betraf, vollständig gesichert. Aber nichts würde ihn retten können, wenn er im Traum getötet wurde. Sie ahnten nicht einmal, wo er sich befand. Auf einem realen Planeten in der Jetztzeit? Auf einem realen Planeten in der Zukunft oder der Vergangenheit? Oder in einer Phantasiewelt?
nen Ken verlieren, und das binnen kurzer Zeit. Denken Sie an den freiwillig träumenden Techniker, von dem wir gehört haben. Er wurde im Traum von einem Nadler erschossen und starb wirklich. Außerdem ist Ken in seiner wirklichen Gestalt in seinem Traumland. Was sollen wir tun?« Atlan erwiderte nachdenklich: »Wir können eine Automatik einbauen, die über das Rückkopplungssystem arbeitet. Im Fall einer wirklich lebensgefährlichen Situation könnte sie den Traum beenden, indem der Projektor abgeschaltet wird.« »Das wäre eine Möglichkeit. Aber Ken würde rasend werden, wenn wir seinen Traum unterbrechen. Ich bin überzeugt davon, daß er zum erstenmal in seinem langen Leben wirklich ›lebt‹. Das ist eine zweite Gefahr, Sir!« Langsam blickte Chapat von Tekener zu Atlan und zurück. Vor ihm auf dem Tisch stand das Ischtar-Memory. Jetzt gehörte es wirklich ihm. Diese Männer waren seine wirklichen Freunde, und dort saß sein Vater. Er war sicher, obwohl er als Ungeborener mehr gewußt zu haben schien als jetzt, da er lebte. Jedenfalls erinnerte er sich intensiv an einige Stationen seiner Seelenwanderung. »Einverstanden? Wir tun für die nächste Zeit nichts, lassen Kennon aber sehr sorgfältig beobachten.« »Das wäre wohl in seinem Sinn. Ich fühle mich auch jetzt noch für meinen Freund verantwortlich, Lordadmiral.« »Ich auch. Deswegen erörtern wir dieses Thema.« Sie diskutierten über das weitere Schicksal Sinclair Marout Kennons. Beide ahnten sie, daß der Freund für das bisherige Leben verloren war, aber dort, wo er sich hingeträumt hatte oder versetzt worden war, war er womöglich glücklich; ein Zustand, den er in seinem Robotkörper niemals erreicht hatte. »Entschließen wir uns, ihn endgültig an diesem Platz zu lassen«, fügte Atlan hinzu, »dann müssen wir auf ihn achtgeben. Das ist keine Schwierigkeit. Versuchen wir also, Kennon unter der Traummaschine zu halten.« Tekener nickte und stellte sein leeres Glas ab. »Das ist sicherlich am vernünftigsten!«
* Atlan lächelte kurz, als er den jungen Mann anblickte, der sein Sohn sein mochte. »Du hast uns eben berichtet, wie das Doppelpyramidenschiff landete. Was geschah weiter?« Unschlüssig starrte Chapat den Kreisel an und zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht ...«, begann er. »Ich habe eine Ahnung, als ob meine Seelenwanderung einem bestimmten Punkt zustrebt. Ihr wißt, daß ich auf der Wanderschaft war, seit ich geboren wurde. Und mit Bestimmtheit auch als Embryo, aber ich vergaß so viel seit dem Zeitpunkt meiner Geburt.« Der Arkonide lachte kurz auf. »Uns interessiert alles!« sagte er. »Hast du dieses Ziel erkannt? Ich meine, den Punkt, auf den deine Seelenwanderung zustrebt?« Wortlos nickte der junge Mann und deutete auf den blauen Kreisel vor ihm. »Aber ich will jetzt noch nichts darüber sagen. Ich bin noch nicht ganz sicher. Nur wenn ich einen größeren Überblick habe, kann ich etwas Genaues sagen.« »Das ist unwichtig. Kannst du uns erzählen, wie es weiterging, nachdem der Berg brannte und das Schiff landete?« 10
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele nologisch erste Station seiner Seelenwanderung, die er zu erzählen begonnen hatte, aber eine besonders aufschlußreiche. Und ganz bestimmt nicht die letzte ... Einige Sekunden verstrichen, ohne daß sich jemand zu bewegen wagte. Dann sah Chapat zwischen den beiden Männern ins Leere und begann zu sprechen.
»Ja, ich kann.« In gewisser Weise, erkannten Ronald Tekener und Lordadmiral Atlan, schien sich die Erinnerung gegen diese Preisgabe ebenso zu sträuben, wie es bei Atlan der Fall war. Auch bei ihm mußten die Anstöße ein bestimmtes Maß überschreiten, um ihn zum Schildern zu zwingen. Gerade du solltest es am besten verstehen. Dränge ihn noch mehr – wie vorhin! sagte der Extrasinn des Arkoniden. Augenblicklich handelte Atlan. Er beugte sich vor und schüttete das Glas des jungen Mannes voll, dann ergriff er vorsichtig den Kreisel und drehte ihn in der Hand. Für Chapat schien es soviel wie eine magische Handlung zu sein, denn er verfolgte jede Bewegung des Arkoniden wie gebannt. Tekener aktivierte gleichzeitig das Bandgerät. »Wenn du berichtest«, sagte Atlan, »wird auch gleichzeitig meine Erinnerung aktiviert. Und vielleicht finden wir gemeinsame Erlebnisse heraus.« »Das ist gut möglich. Ich ahne bestimmte Zusammenhänge!« entgegnete Chapat und sah gebannt zu, wie Atlan das Memory zurück auf den Tisch legte. Im letzten Moment gab er dem Kreisel mit den Fingern einen Stoß, so daß das Gebilde in schnelle Drehungen versetzt wurde. »Was geschah nun, nachdem das Schiff landete?« fragte Tekener hart. »Wer war in dem Schiff? Habt ihr die Nachtbestien getötet?« Chapat lehnte sich zurück und sagte leise: »Auch ich war damals starr vor Verwunderung und Schrecken. Es war zuviel auf einmal ...« »Laß dir Zeit«, erklärte Atlan, der direkt körperlich fühlte, wie es den jungen Mann zu seiner Erzählung drängte. Wie vorhin, als er den Planeten Haghjameite erwähnt hatte. »Wir haben jede Menge Zeit und sind unter uns. Du bist so sicher wie in den Armen deiner Mutter Ischtar!« stieß der Arkonide nach. »Das mag wohl sein, aber ... laßt mich einen Augenblick überlegen.« Eine spannungsgeladene Stille entstand. Man hörte nur die schweren Atemzüge des jüngeren Mannes, als er sich genau zu erinnern versuchte. Es war sicher nicht die chro-
3. Das Rodamon war jetzt verrückt geworden. Panik beherrschte das Tier und hielt es fest in ihrem Griff. Ein Schlag mit einem der Rüssel fegte den Lenker aus dem pelzigen Nacken des wuchtigen Tieres, das in einem rasenden Trab geradeaus rannte, gegen kleine Felsen prallte und alles niedertrampelte, was sich in den Weg stellte. Ich klammerte mich fest, und als ich Thas durch die Luft wirbeln sah, schrie ich: »Groskorl! Wir müssen hinunter! Das Tier bringt uns um!« Thuar'aska krallte seine Finger in meinen Oberarm und drückte dabei den breiten Metallring zu einem Oval zusammen. »Warte! Dort ist der Fluß! Dort können wir abspringen!« Die Kanzel schwankte hin und her wie ein Nest im Gipfel eines sturmgepeitschten Bäumchens. Die Verbindungen knarrten, die geflochtenen Lianen splitterten und brachen. Die breiten Gurte um den Leib des Rodamons begannen gefährlich zu rutschen. Der Rodamonbulle senkte den Kopf und rammte die Stoßzähne in den Boden. Er zog zwei tiefe Furchen wie ein Doppelpflug. Der Berg loderte noch immer. Jetzt befand sich das Feuer links von unserem Weg. Ich hielt mich fest, aber bisweilen wurde mein Körper hochgerissen, und nur eine schnelle Bewegung Thuar'askas rettete mich davor, im hohen Bogen durch die Luft geworfen und zerschmettert zu werden. Seit kurzem hatte sich das brennende Gas hellgrün gefärbt. Die gesamte Landschaft war so hell geworden wir zur Zeit des ersten Sonnenaufgangs. Wir schwankten hilflos auf dem Rücken des rasenden Rodamons. Wild peitschten die Rüssel die Luft, und die Stoßzähne warfen 11
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Ich gab schnell zurück: »Ich muß zum Schiff. Mein Leben hängt davon ab. Du wirst mich begleiten, Groskorl?« Wir kamen ans Ufer und liefen mit triefender Kleidung und durchnäßten Stiefeln aufeinander zu. »Wir sind Jagdbrüder seit einigen Jahren!« versicherte er. Aber jetzt sprach schon Furcht aus seinen Worten. Auch ich wurde zunehmend unruhiger und aufgeregter. Ich wußte nicht genau, was mich dort erwartete. Nebeneinander liefen wir auf eine Lücke im Gebüsch zu. Der Rodamonbulle tobte sich in der Mitte des Flusses aus und blies gewaltige Mengen von Wasser durch seine Rüssel. Dies war ein Doppelpyramidenschiff derjenigen, die sich Varganen nannten. Meine Mutter gehörte diesem Volk an, von dem ich allerdings nichts wußte. Oder hatte ich etwas erfahren und wieder vergessen ... damals, als ich noch nicht geboren war? »Deine Mutter? Du bist mutterlos hier gefunden worden!« rief Thuar'aska unterdrückt, während wir auf das immer heller und stechender werdende Licht zurannten. »Ich weiß, daß mich meine Mutter in diesem Schiff hierher gebracht hat. Ich sollte mich auf Haghjameite bewähren!« »Das hast du zweifellos getan. Wir hatten noch niemals einen solchen guten Kaziken.« Büsche und Bäume flogen an uns vorbei. Das Land wurde zusehends flacher. Immer häufiger sahen wir das Schiff. Es ragte auf wie ein kleiner Berg. Vor seinen Lichtern, die den Boden rund um den Einstieg anstrahlten, verblaßte der wilde Glanz des Gases. Dann, nach einem letzten Rennen, waren wir da und standen vor dem offenen Eingang. Thuar'aska Groskorl starrte mich schweigend an. Ich richtete meinen Blick auf die Rampe, die das geheimnisvolle Innere des Schiffes mit dem Boden verband. Kein Tier ließ sich blicken, das Schweigen ringsum war lastend. »Was willst du tun?« murmelte Groskorl und packte sein Kampfbeil fester. Ich hob die Schultern und machte einige Schritte nach vorn. Schweiß brach aus den Poren meines Körpers.
Büsche und große Felsbrocken nach beiden Seiten. Das Tier sprang auf und nieder, hin und her, krümmte sich und rannte trotzdem geradeaus, auf das Raumschiff zu. Plötzlich veränderte sich das Geräusch der rasenden, stampfenden Beine. Die Füße waren bisher auf trockenem Grund gewesen, jetzt klatschten sie in feuchtem Gras und rutschten über nassen Sand. Das Ufer des seichten Flusses, den wir oft an dieser Furt oder an anderen Stellen durchquert hatten, kam rasend schnell näher. Ich riß Thuar'aska zurück, der halb aus dem zersplitterten Korb geschleudert wurde und brüllte: »Das ist ein Raumschiff, Groskorl! Es kommt von den Sternen. Meine Mutter ist darinnen! Sie holt mich ab!« »Du bist wirklich ein mächtiger Mann«, rief Thuar'aska zurück, aber seine Stimme klang keineswegs ehrfürchtig. »Ich verstehe das alles nicht!« Wassertropfen überschütteten uns, als das Tier sich in den Fluß stürzte, auf dessen Wellen sich das Licht des brennenden Gasstreifens brach. Wir warteten mit angespannten Muskeln; jeder von uns kannte die Tiefen und Untiefen. Dann, als sich das führerlose Tier in der Mitte des Wasserstreifens aufbäumte, schnellten wir unsere Körper nach beiden Seiten, hielten soviel Waffen fest, wie möglich. Fast gleichzeitig ertönten die klatschenden Geräusche, mit denen wir ins tiefere Wasser eintauchten. Sofort streckten sich meine Beine, ich fühlte Boden unter den leichten Sohlen. Ich versuchte, schräg nach vorn wegzurennen von dem tobenden Rodamonbullen. Auf der anderen Seite des Jagdtiers, das nun wie ein Kreisel drehte und vor Furcht und Zorn schrie, kämpfte sich Thuar'aska durchs Wasser. Wir konnten einander erkennen, als sich die Masse des Tieres an uns vorbei geschoben hatte und zurückblieb. Durch Wasser, das von Schritt zu Schritt seichter wurde, rannten wir jetzt auf das Ufer zu. Zweihundert Mannslängen hinter der ersten, schütteren Baumgruppe sahen wir die Lichter des gelandeten Schiffes, das unbeweglich dastand. Thuar'aska schrie zu mir herüber: »Willst du wirklich zum Schiff, Kazika?« 12
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Schrecken mehr ein. »Ich habe eine Besatzung gesucht. Oder irgendwelche Diener. Und natürlich meine Mutter Ischtar!« erwiderte ich. Ich ging auf ein Schott zu, riß es auf und blickte abermals in einen leeren Raum. »Du sprichst immer von deiner Mutter Ischtar. Ich kann nicht glauben, daß sie hierher kommt und dich abholt!« sagte Thuar'aska leise. Ich öffnete ein Schott nach dem anderen und sah überall leere, aber eingerichtete Räume, die allen denkbaren Zwecken dienen mochten. Ich drehte mich halb herum und erwiderte hartnäckig: »Du kannst es nicht glauben, mein Freund, aber ich weiß es.« Ich öffnete das letzte Schott, dessen Hebel ich sah. Hinter der großen Öffnung flammte im selben Augenblick, als die Stahlplatte aufschwang, eine Batterie von Lichtern auf. »Dies ist der richtige Raum, Chapat!« sagte die Frauenstimme, die wir schon einmal gehört hatten. Thuar'aska wandte sich zur Flucht. Auch jetzt schien die Stimme wieder aus versteckten Lautsprechern zu dringen. »Halt!« rief ich. »Bleib bei mir, Jagdbruder!« Er kam zögernd näher. Die schwere Waffe lag schlagbereit in seiner Hand. Wir gingen nacheinander in den Raum hinein, ich einen Schritt vor ihm. Es waren nur wenige Sessel in dem Zimmer, aber ein großer Tisch, der leer schien. Nein! In der Mitte des Tisches lag ein blauer Kreisel, der mit der Spitze nach oben deutete. Um seine Fläche lief eine feine Rille, und er paßte bequem in meine Hand. Ich streckte die Hand aus und hielt inne. »Nein!« flüsterte Groskorl atemlos. »Nicht! Das ist Dämonenwerk, Kazike!« Ich gab keine Antwort, aber die dunkle, angenehme Frauenstimme sagte leise und durchdringend: »Dieser Kreisel ist das Ischtar-Memory. Ich selbst konnte nicht kommen, mein Sohn Chapat. Ein schreckliches Schicksal, in dessen Klauen ich mich noch befinde, hat mich daran gehindert, dich nach den Jahren der Bewährung auf Haghjameite abzuholen. Du weißt,
Ich sah meinen besten Freund an. Ruhig – zumindest äußerlich ruhig, gab er meinen Blick zurück. Da waren wir, zwei junge Männer, sich äußerlich sehr ähnlich: schlank, sehnig, mit dunkler Haut und schwarzem Haar. Nur die Form der Ohren und die Anzahl der Finger, abgesehen von unwichtigen biologischen Unterschieden, ließen erkennen, daß ich anders war. Jedenfalls war ich der bessere Jäger und ein Kazike, der die Möglichkeiten des Landes genutzt hatte. »Ich sehe euch! Kommt herein!« Die einschmeichelnde Stimme war um uns, über uns, überall! Wir zuckten zusammen und sprangen instinktiv zur Seite. Dann begriffen wir beide. Man hatte uns gesehen und gerufen. »Ein Weib hat gesprochen!« murmelte Thuar'aska geringschätzig. Ich erkannte die Stimme nicht – war es meine Mutter gewesen? Ischtar? »Es war eine Frauenstimme. Gehen wir!« entschloß ich mich. Ich packte ihn an der Schulter und schob ihn nach vorn. Die Zeit, in der ich gewartet hatte, ohne alles genau zu wissen, war vorbei. Langsam und vorsichtig, als näherten wir uns einer Raubtierhöhle, gingen wir auf die Rampe zu und über den griffigen Belag hinein in den Bereich der strahlenden Lichter. Totenstille umgab uns. »Es ist wie in einem Traum. Ich kann nur unseren Atem und unsere Schritte hören!« sagte Groskorl. Ich fühlte eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Wir kamen in den ersten Raum, und mit jedem Stück, das ich sah, kehrte die volle Erinnerung zurück. Ich hatte also doch nichts vergessen, sondern war nur abgelenkt worden, hatte dieses Wissen verdrängt, weil ich auf Haghjameite andere Dinge wissen und können mußte. Binnen weniger Augenblicke befanden wir uns im zentralen Raum des Schiffes. »Es ist leer!« sagte ich enttäuscht. »Wen hast du gesucht?« erkundigte sich Thuar'aska, der mit großen Augen alles betrachtet hatte. Obwohl er nichts verstand, schien er sich nicht mehr zu fürchten. Ihm flößten die blinkenden Lichter und die Signale, die unseren Weg begleitet hatten, keinen 13
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »Ich muß es tun, Thuar'aska!« sagte ich heiser. »Meine Mutter will es!« Er ging in die Richtung der Tür zurück, lehnte sich sprungbereit gegen die Wand und sah mir zu. Ich streckte ein zweites Mal die Hand aus, ergriff das Memory, und es war, als würde mich ein lähmender Schlag durchzucken. Das Memory glitt aus meinen Fingern, drehte sich auf die Spitze und begann sich dann, immer schneller werdend, zu drehen. Vor der glatten Seite und der flachen Grundfläche schienen winzige Funken auszugehen. Jetzt war ich es, der vor Angst und Schrecken zitterte. Meine Knie wurden schwach. »Nein!« brüllte Groskorl und warf sich zur Seite. Der Kreisel begann zu summen. Die Funken aus Energie, die sich langsam zu einer Spirale formten, wurden zahlreicher und begannen zu blenden. Sie hüllten mich ein wie ein Schwarm Insekten, die sich rasend schnell um mich drehten und bewegten. Ich fühlte, wie mich ein Schwindel ergriff. Gleichzeitig verschwamm der Raum vor meinen Augen. Namenlose Angst schüttelte mich, aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Ich wollte fliehen, wollte aus diesem Raum hinausrennen und das Schott hinter mir zuwerfen, aber der energetische Wirbel hüllte mich ein und bannte mich an den Platz. Ich hörte noch, wie Thuar'aska Groskorl aufschrie, dann wurde ich bewußtlos. Der Sog des Wirbels, der sich in eine weiße, funkelnde Säule verwandelt hatte, riß mich mit.
daß alle Dinge, wie ein Strom, eine Quelle und eine Mündung haben, einen Anfang und ein Ende. Jetzt hast du den Anfang erreicht. Du bist bereit.« Wieder sahen wir uns an. Beide standen wir dicht vor der mächtigen Tischplatte. Das Memory lag im direkten Kegel eines Tiefstrahlers. An den vier Wänden des Raumes befanden sich eingebaute Fächer, hinter deren Glasflächen geheimnisvolle Gegenstände zu schlummern schienen. Die Stimme machte eine Pause. Plötzlich wußten wir beide, ohne zu ahnen, wie es geschah, daß diese Stimme aus dem Kreisel, dem Ischtar-Memory kam. Das Kampfbeil in der Hand meines Freundes zitterte. In meinem Nacken sträubten sich die Haare. Ich wußte jetzt, daß ein Abschnitt meines Lebens unwiderruflich vorbei war. Auch mein Körper, der für den Aufenthalt auf Haghjameite verändert worden war, würde wieder in seinen normalen Zustand versetzt werden. Ich hatte kein Wort gehört, keinen Hinweis gesehen – ich wußte es. Die Stimme sprach plötzlich weiter. »Mein Sohn. Bereite dich auf eine lange Wanderung vor. Diese Wanderung entspricht dem Weg des Wassers zwischen Quelle und der Mündung. Du wirst erst dann die Bestimmung deines Lebens erreichen, wenn du am Ende deiner Seelenwanderung angekommen bist. Du wirst durch Raum und Zeit wandern. Im Schutz dieses Kreisels, der viele Wunder enthält und dich vor dem Schlimmsten bewahren soll, wirst du in verschiedenen Körpern aufwachen und ein Leben führen, das voller Abenteuer ist. Es ist dies deine Bestimmung, die auch ich nicht ändern kann und will. Ergreife das Memory, und dein Weg beginnt. Es ist mein Auftrag an dich, mein Sohn! Gehorche mir, und das Schicksal wird uns zusammenführen!« Zitternd deutete der beste und mutigste Jäger des Stammes auf den blauen Kreisel, der unbeweglich in der Tischmitte lag und mich zu hypnotisieren schien. »Tu es nicht, Agham ... oder Chapat!« zischte er. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen.
* Thuar'aska Groskorl, der mehr Mut hatte als die anderen Männer des Stammes, ging mit aufgerissenem Mund und schreckgeweiteten Augen rückwärts. Er wollte sein Beil nach dieser Erscheinung werfen, aber eine innere Stimme sagte ihm, daß es sinnlos sei. Noch immer erkannte er die Gestalt seines Freundes, die hinter dem rasenden Schleier der leuchtenden Punkte verborgen war. Sie wirkte wie ein Schatten. Der Schatten wurde immer heller, die Umrisse verschwammen. Groskorl schrie auf. 14
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele – in einen Lichtpunkt. Es wurde kleiner, raste in den nachtschwarzen Himmel hinauf und war dann nichts mehr als ein Punkt, der sich bewegte. Ein schnelles Licht zwischen all den anderen Lichtern am Himmel. Thuar'aska Groskorl verlor langsam seine Furcht. Zahllose Gedanken, die meisten davon hoffnungslos und niedergeschlagen, huschten durch sein Gehirn. Agham war fort. Er war in dem Schiff, das verschwunden war, seinerseits in einem Nebel aus winzigen Funken verschwunden. Der Stamm hatte keinen Kaziken mehr. Würde er es sein, Groskorl, der zuerst der Lehrer und dann der Schüler Chapats gewesen war? Würde er der neue Kazike sein? Fragend, im Gespräch mit sich selbst, hob er die Schultern. Dann mußte er auch die vier Frauen des verschwundenen Kaziken übernehmen. Dies war für ihn der unwichtigste Punkt. Er würde auch in das Haus des Kaziken einziehen, in dieses prächtige, aus Flechtwerk und Holzstämmen erbaute Pfahlhaus. Er müßte auch das Erbe des Kaziken weiterführen. Jedes Jahr den Wall erweitern, regelmäßig Jagden auf die Anouars abhalten, die anderen Jäger mit starker, erbarmungsloser Hand führen. Thuar'aska löste seinen Arm von dem Baumstamm und drehte sich um. Der Rodamonbulle war verschwunden. Langsam ging der Jäger über die Furt und wanderte in die Richtung, in der er die anderen Jäger mit ihren Tieren vermutete. Er hatte ihnen eine traurige Meldung zu überbringen. Das Gas auf dem Bergkamm begann zu flackern. Als Groskorl den Waldrand erreichte, erlosch die Fackel des Berges.
Sein Schrei schnitt durch das Summen, das den Raum ausfüllte. Angreifende Anouars und wahnsinnige Rodamons – ja! Diesen stellte er sich, die konnte er begreifen und abwehren. Aber dieser unheimliche Spuk in dem Schiff, das von den Sternen kam ... Er erreichte das offene Schott und wankte rückwärts in den anderen Raum hinein. Noch immer tobte der Wirbel. Er hatte sich inzwischen in eine Art Säule verwandelt, die dichter und dicker wurde. Der Kazike verschwand völlig hinter diesem merkwürdigen Spuk-Nebel. Thuar'aska wankte rückwärts, der Ausschnitt des Raumes, den er vor sich sah, verengte sich immer mehr. »Agham! Verlasse uns nicht!« schrie er, als ihn abermals die Furcht packte. Der Freund löste sich vor seinen Augen auf und verschwand. Einen Augenblick lang stand noch der drehende Nebel im Raum, dann verschwand auch er. Groskorl flüchtete in panischem Schrecken, als wieder diese Stimme einer unsichtbaren Frau ertönte. »Verlasse das Schiff! Flüchte hinaus ins Land! In kurzer Zeit ist auch das Schiff verschwunden!« Als Jäger war er gewohnt, sich Pfade und Gänge zu merken. Er rannte geradeaus, sprang mit riesigen Sätzen durch leere Räume, prallte in einer Sackgasse gegen die Wand und schnellte sich zurück. Aus seiner Kehle drangen langgezogene Schreie der Furcht. Dann fand er den Weg nach unten und zur ausgefahrenen Rampe wieder. Noch während er nach unten rannte, begann die Rampe sich zu bewegen und sich ins Schiff zurückzuziehen. Mit einem gewaltigen Satz sprang er vom Ende der Rampe ins hohe Gras, überschlug sich und rollte sich ab, dann rannte er bis zum Flußufer weiter, voller Angst wie noch niemals in seinem Leben. Dann blieb er stehen und drehte sich furchtsam herum, einen Arm um einen dünnen Baumstamm geschlungen. Er sah, wie das Schiff sich langsam und mit nacheinander erlöschenden Lichtern vom Erdboden hochhob. Es stieg höher und höher, schnell und lautlos. Das Schiff, das wie ein verdoppelter Berg mit glatten Wänden aussah, verwandelte sich
* Ich hörte ein hohles, donnerndes Brausen. Vor meinen Augen rasten farbige Wirbel, ich glaubte wahrnehmen zu können, daß ich einen Stein oder eine Waffe in den Fingern hielt. Noch immer raste der energetische Wirbel um mich herum, aber er wurde dünner. Ich war aus meiner Bewußtlosigkeit erwacht und erkannte hinter dem Schleier die Dinge um 15
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Kaziken von Haghjameite. Schritte näherten sich von drei Richtungen. Ich sah mich um und bemerkte, daß drei Männer auf mich zukamen, die ähnlich gekleidet waren wie ich. Auch sie trugen das riesige, kreisförmige Symbol Berbons auf Brust und Rücken – einen weißen Kreis mit dem Schwert und dem Stern. Wir nickten einander zu und gingen weiter. Wir traten ein, nahmen die zeremoniellen Waffen von den Haken, über denen unsere Namen in die Wand eingemeißelt waren. Die vier langen Tische des Bruderschaftssaals waren noch leer, aber auf ihnen befanden sich bereits die Teller und die Becher. Ich hatte diese Woche keinen Küchendienst und ging zögernd, nach einer kurzen Pause der Orientierung, auf meinen Stuhl zu und blieb dahinter stehen. Das Bild dieses Saales, der sich jetzt langsam füllte, überraschte mich. Ich sah kahle, weiße Wände, an denen glasmontierte Bilder hingen und von Scheinwerfern angestrahlt wurden. Tische und Stühle waren dunkel und einfach. Fliesenmuster zeichneten sich auf dem Boden ab. An der Stirnwand des großen, spartanisch anmutenden Saales erkannte ich gemalte Szenen, aus dem Leben Berbons, des Lichtbringers. Ein letzter Gongschlag ... Die Brüder Berbons, alle Mitglieder des Raumfahrerordens, waren anwesend. Ich wußte, daß es fünfhundert Männer waren. Alle befanden sie sich in der Altersklasse zwischen zwanzig und sechzig. Eine Tür öffnete sich, ein hochgewachsener Mann mit asketischen Gesichtszügen kam herein und ging mit schnellen, federnden Schritten auf den Sitz mit der erhöhten Lehne zu. Es war Suher II., unser Ordensvorsteher, allgemein der Abt genannt. Er warf der Versammlung einen langen Blick zu, legte eine Mappe auf die Tischplatte und setzte sich. Wir folgten seinem Beispiel und nahmen ebenfalls Platz. Der Abt bog das Mikrophon zu sich herab und sagte übergangslos mit seiner drängenden, leicht heiseren Stimme: »Freunde! Mitbrüder! Bringer des Lichts! Das heutige Abendessen ist ein wichtiges Datum. Wir stehen kurz vor einer wichtigen
mich herum. Ich stand auf niedrigem, gepflegtem Grasboden. Sengend fuhren die Funken des Wirbels über die Grashalme hinweg. Vor mir sah ich ein rotes Ziegeldach, und im gleichen Augenblick erfuhr ich, wer ich war und wo ich mich befand. Mein Name war jetzt Ekkotask. Ich war der Technische Meister des Raumfahrerordens. Wir alle waren die BerbonLichtbringer. Vor mir lag unser Bruderschaftsgebäude, dahinter sah ich die runde, gedrungene Form eines unserer Raumschiffe. Der Sog des energetischen Wirbelfeldes, das mich von Haghjameite hierher auf den Planeten Kalamoun versetzt hatte, ließ nach und erlosch schließlich. Ich war wieder allein mit meinem neuen Körper. In meinen Fingern hielt ich das Ischtar-Memory. Vor mir, auf dem Dach der Anlage, sah ich einen Lichtblitz. Er beleuchtete die zylindrische Form eines riesigen Gongs aus Messing. Nacheinander erschollen drei donnernde Schläge. Sie hallten weithin über das Land hinweg. Ich wurde von rechts angerufen. »Ekkotask! Der Gong hat uns gerufen! Wir müssen zur Besprechung.« »Ich komme!« sagte ich und versenkte das Memory in eine der Taschen meiner Kombination. Als ich meinen neuen Körper musterte, sah ich, daß er menschlich war. Ekkotask selbst, von dessen Verstand ich nur noch informative Reste erkennen konnte, war ein hünenhafter Mann mit wildem, schwarzem Haar und einem dicken Oberlippenbart. Er hatte riesige Hände voller Schwielen, aber mit schlanken und beweglichen Fingern. Irgendwo, dachte ich ohne sonderliche Unruhe, liegt bewegungslos mein richtiger Körper. Er wartet auf mich. Ich ging über die große, von Bäumen abgegrenzte Rasenfläche auf die erleuchteten Fenster und den weit offenen Eingang des Bruderschaftsgebäudes zu. Ich war ein wichtiges Mitglied unseres kleinen, aber schlagkräftigen Raumfahrerordens. Eine seltsame Stimmung ergriff mich; das Leben, das ich hier führen würde, unterschied sich deutlich von dem des Jägers und 16
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele dium unseres Buches. Berbon hat darin alles für jeden Augenblick des Lebens niedergelegt, und seine Worte sind unsere Lehre und unsere Ziele.« Er senkte den Kopf, ergriff den Becher und hob ihn zum Mund. Wieder stimmten wir zu. Wir waren eine geschlossene Gemeinschaft von schwerbewaffneten Männern und lebten alle nach Berbons Lebensregeln. Niemand besaß, abgesehen von einem der Bücher, privates Eigentum, aber unser Orden war reich. Der Reichtum stammte von den Edelsteinbergwerken, in denen ein Teil der Eingeborenen von Kalamoun arbeitete. Wir verkauften durch autorisierte Händler diese Edelsteine auf dem galaktischen Markt und erzielten phantastisch hohe Erlöse. Das Essen verlief wie immer in mehr oder weniger großer Ruhe. Wir alle hatten einen harten Arbeitstag hinter uns. Die Missionsfahrt wurde in allen Einzelteilen vorbereitet. Muhsen, der Pionier-Missionar, befand sich bereits seit einem Jahr auf Tolzos und hatte uns ununterbrochen Berichte durchgefunkt. »Meister Ekkotask?« Ich drehte mich halb herum und erkannte Zeef, den Logistiker der BERBON ALEPH. Ein junger, hagerer Mann, dem das Feuer des unbedingten Glaubens ins Gesicht gebrannt war. »Ja? Was gibt es?« »Du weißt, daß wir kurz nach der Landung die Missionshäuser aufstellen müssen. Nach meiner Liste fehlen uns noch wichtige Einzelteile. Zum Beispiel sämtliche Naßzellen für die Häuser. Und dazu die Energiezäune und die betreffenden Kabel.« Ich nickte gelassen und erwiderte mit einem Spruch aus Berbons weisen Lehren. »Erfahrungen sind die vernarbten Wunden unserer Dummheit, Freund Zeef. Gerade jetzt sind die Tiefziehpressen dabei, die fehlenden Teile herzustellen. Ich bin mit meinen Maschinen für Chavis eingesprungen, der wichtige Dachteile und Verschanzungen brauchte.« »Ich verstehe, Bruder Ekkotask. Aber wann wirst du fertig sein?« Ich trank meinen Becher leer und fragte mich, ob es Unmäßigkeit in leiblichen Genüssen bedeutete, wenn ich noch einen Becher
Entscheidung, denn nach vielen kleinen Versuchen, unsere Mission zu verbreiten, kommt jetzt der erste, entscheidende Versuch. Unser Ziel ist, wie alle wissen, der Planet Tolzos.« Ein zustimmendes Murmeln erhob sich. Fünfhundert Männer des Ordens taten auf diese Weise ihre Zustimmung kund. Während andere Brüder das Besteck und das Essen herantrugen und austeilten, besann ich mich auf das, was vor mir lag. Auf wunderbare Weise war meine Seele gewandert. Jetzt befand ich mich, vermutlich nur vorübergehend, in einem fremden Körper. Ich war mir voll meiner Identität bewußt: Ich war Chapat, der Sohn der Ischtar, einer Angehörigen des Sternenvolks der Varganen. Ich mußte diese Wanderung aus einem Grund machen, den ich nicht erkannte. Es stand für mich völlig außer Zweifel, daß ich einen bestimmten Auftrag nur auf diese Weise ausfüllen konnte. Ich kannte die Zeit nicht, in der ich mich befand, ich kannte auch nicht die Lage des Planeten Kalamoun, kannte aber wohl die relative Terminologie, die ich im restlichen Verstand Ekkotasks gefunden hatte. »Wir haben uns ein hohes Ziel gesetzt und uns eine große Aufgabe übertragen«, fuhr der Abt fort. »Unsere Ideen vom einfachen und richtigen Leben werden wir auf vielen Planeten verbreiten. Wenn wir die Eingeborenen von Tolzos erst einmal zu unseren Knappen und Zöglingen gemacht haben, ist unsere schwere Aufgabe leichter geworden.« Dünnes Bier befand sich in den Bechern. Auch die Speisen waren einfach, wohlschmeckend und nahrhaft. Allerdings waren die Portionen wirklich nicht besonders groß. Wieder murmelten ich und meine Glaubensbrüder zustimmend. Suher der Zweite hob den Kopf, blickte in meine Richtung und wartete, bis sich das Geräusch gelegt hatte. Dann sprach er weiter, und seine Stimme nahm den Klang eines Aufrufes an. »Es wird ein Feldzug des Glaubens und der rationellen Vernunft werden. Mit dem Geist und den Waffen werden wir Tolzos vorbereiten und die Saat unserer Idee dort ausbringen. Wir starten in vier Schiffen in fünf Tagen. Bis dorthin weiß jeder von uns, was zu tun ist. Besonders empfehle ich das intensive Stu17
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Ich rechnete meine Materiallisten durch, verglich sie mit den Terminen und wußte begeistert, daß ich es leicht schaffen konnte. Im gleichen Augenblick, als ich nach Berbons Buch griff, summte die Kommunikationsanlage auf. Ich drückte die Taste, rückte vor die Linse und sah das Bild Suhers auf dem kleinen Schirm. »Bruder Ekkotask! Ich habe soeben eine Meldung aus deiner Fabrik bekommen.« Ich zuckte zusammen. Das konnte nur Schlimmes bedeuten! »Ja, Abt?« fragte ich beunruhigt. »Geh sofort hinüber. Irgend etwas mit deinen Maschinen. Die Eingeborenen scheinen aufgeregt zu sein!« Ich sprang auf. »Ich renne, Suher!« sagte ich. »Weißt du Näheres?« »Nein. Nur, daß durch jeden Unfall unsere Mission leiden kann.« Ich nickte, schaltete das Gerät aus und warf meinen Kühlmantel über die Schultern. Ich rannte durch den Korridor, am Pförtner vorbei, und hinaus auf den kiesbestreuten Weg. Ich hörte schon von weitem den Lärm in meinem Teil der niedrigen, halb in den Boden hineingebauten Anlagen. Ein Schuß krachte plötzlich und spornte mich zur höchsten Eile an. Was war passiert? Als ich den Eingang der Fabrik erreichte, sah ich Zeef, den jungen Logistiker, rückwärts aus der Tür taumeln. Er hielt die schwere Betäubungswaffe in beiden Händen, zielte flüchtig und drückte ab. Eingeborene Arbeiter wurden vor ihm sichtbar, die schwere Maschinenteile wie Keulen schwangen. Ich sprang auf Zeef zu und fing ihn auf. Das Vorderteil seiner Kombination war mit Farbspritzern, Brandspuren und Schmutz bedeckt. Er glaubte an einen Angriff und versuchte zu kämpfen. »Ich bin es, Bruder Ekkotask!« rief ich. »Was ist los?« »Maschinenausfall. Die Presse ist explodiert. Tote und Verwundete. Und sie schreien, ich sei schuld!« Ich wirbelte ihn zur Seite, riß meine tödliche Strahlwaffe aus der Tasche und machte
Bier trank. Ich forschte in meinem Gewissen nach und hielt dann den leeren Becher hoch. »In zwei Tagen. Höchstens in drei. Die Einzelteile für die Zäune sind bereits hergestellt und werden montiert.« »Das ist gut. Ich werde dich besuchen und dir den Ladeplan übergeben.« »Ausgezeichnet!« Wir würden aus dem Himmel über Tolzos herabstürzen wie Adler eines neuen Zeitalters. Vier Schiffe, vier kleine Siedlungen, vier Zentren eines neuen Zeitalters. Wir würden ihnen allen den Teufel des wilden, lustigen Lebens austreiben und den Planetariern Zucht und Vernunft beibringen, auf daß ihr Leben harmonisch verliefe. Ich erhielt einen Becher Bier, beendete mein Essen und lehnte mich zurück. Es war Zeit für die Losung dieser Nacht. Suher der Zweite – sein Vorgänger war bei dem Versuch, einen Eingeborenenstamm auf den Weg der Vernunft zu bringen, von diesen grausam mißhandelt und dann den Piranhas vorgeworfen worden – stand auf und hob die Hand. »Mitbrüder!« sagte er laut. »Wir beenden unser Mahl. Für die verbleibenden Stunden der Nacht gilt wiederum ein Wort unseres Ordensgründers, des unübertroffenen Berbon. Vernunft bringen und austeilen heißt, die wirklich guten Dinge notfalls mit Gewalt zu unternehmen. Wir treffen uns wieder morgen zum gemeinsamen Frühstück. Arbeitet und schlaft gut, Mitbrüder.« Wir wiederholten die Losung, dann standen wir auf und gingen in unsere Zellen. 4. Ich saß jetzt, in der Hitze der Nacht, an meinem Schreibtisch. Er befand sich direkt vor dem offenen Fenster, und ich sah hinaus auf den Bereich der Fabriken und einen Teil des Raumhafens. Dort standen die vier Schiffe, zum Teil von Tiefstrahlern ausgeleuchtet. Große Mengen von Fracht, für schnellen Gebrauch verpackt, lagerten in Halbkreisen um die Schiffe. Ununterbrochen wurde in den Fabriken gearbeitet. Die Ritter des Weltraums würden wohlausgerüstet landen. 18
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele gen sprach. Es war sehr gut möglich, daß der Logistiker in Sorge um seine Zahlen und seinen Plan die Arbeiter sinnloserweise zu sehr angetrieben hatte. Dabei war das Unglück geschehen. Eine Implosion hatte die massive Seitenwand der Presse zerfetzt und die Teile wieder nach außen geschleudert. Ich biß auf meine Unterlippe und stand vor den beiden gräßlich verstümmelten Leichen. Einige Verwundete krümmten sich schreiend am Boden. »Bring die Toten nach draußen«, sagte ich und ging schnell zum nächsten Rufgerät. Ich scheuchte unseren Arzt und vier seiner Gehilfen aus dem Schlaf. Sie versprachen, sofort hierher zu kommen. »Werdet ihr eine Feier für die machen?« fragte sorgenvoll der Vorarbeiter. »Du zweifelst daran? Selbstverständlich werden wir sie in allen Ehren auf die Türme der flüchtenden Seelen bringen!« sagte ich. »Wir müssen aber diese Maschine reparieren. Helft mir, bitte!« Ich organisierte die nächste Stunde. Die Toten wurden in saubere Tücher gehüllt und hinaus unter die Sterne gebracht. Die Verwundeten brachte man in einen leeren Konstruktionsraum und versorgte sie schnell und gründlich; es hatte keine schweren Verletzungen gegeben. Dann ging es an die Aufräumungsarbeiten. Sie dauerten bis in die Mitte der Nacht, und dann arbeiteten wir alle zusammen, um die Presse zu reparieren. Als die Produktion mit der Tagesschicht der Arbeiter wieder begann, wankte ich todmüde und verdreckt hinaus und zurück zum Bruderschaftshaus.
drei Sprünge. Dann stand ich in der Tür und brüllte durch den Lärm der arbeitenden Maschinen und der Entlüftungsanlage: »Seid ihr wahnsinnig? Macht euch nicht unglücklich! Schaltet die Maschinen ab, ihr Verrückten!« Die Eingeborenen blieben stehen und senkten die Arme. Mit drei schnellen Schritten hatte ich die Schalttafel erreicht und riß drei Hebel herunter. Binnen Sekunden verstummte das Stampfen und Dröhnen der Maschinen. Nur noch die Absauganlagen summten brodelnd. »Bruder! Er hat uns gehetzt! Wir wurden unaufmerksam, und da ist die Maschine in die Luft geflogen!« Ein älterer Vorarbeiter kam auf mich zu und schleifte einen Exzenterarm hinter sich über den Boden. Das Gestänge war blutbespritzt. Ich ging auf ihn zu und senkte meinerseits die Waffe. »Hat es Tote gegeben?« fragte ich. Aus dem hinteren Teil der Halle hörte ich Schmerzensschreie. »Ja, Bruder. Zwei von uns sind getötet worden.« »Bringt mich dorthin, und werft dieses Zeug weg. Wir sind Arbeiter, keine Soldaten!« fuhr ich ihn an und stürmte durch die Halle. Das Programm für diese Nacht hatte festgestanden: sämtliche Einzelteile für die Naßzellen von mehr als zweihundertfünfzig Häusern. Morgen würden sie von der Tagschicht bearbeitet und zusammengesetzt werden. Die Arbeiter waren Freiwillige, die angelernt und gut bezahlt wurden – in Naturalien. Sie hatten bisher noch niemals Schwierigkeiten gemacht. Noch immer sah ich rechts und links des Mittelgangs funktionierende und fertigungsbereite Maschinen. Kunststoffteile stapelten sich auf den Transportbändern und den Robotplattformen. Hin und wieder blickte einer der Arbeiter scheu von seinem Arbeitsplatz auf mich. Schließlich stand ich vor der großen Tiefziehpresse, die geborsten schien. Wir alle arbeiteten mit großer Freude und Begeisterung, denn diese Schar rauher Männer sah in der Verbreitung der Maximen ihre Aufgabe. Dies galt auch für mich, Ekkotask, und auch ich, Chapat, fand nichts, was dage-
* Wir hatten diese Eingeborenen bekehrt und sie an unsere Art des Lebens gewöhnt. Aber wir hatten ihnen viele ihrer Sitten gelassen, denn dies war nicht Teil unseres Programms der Lichtbringung. So besaßen sie auch noch die zehn Türme der Seelen. Wir hatten sie umgebaut. Jenseits des Raumhafens, in einem Geländeabschnitt, der an einen trockengelegten Sumpf grenzte, erhoben sich zehn Säulen aus Kunststoff. Auf ihrer Oberfläche befanden sich Plattformen, zehn Meter im Quadrat. 19
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele gekrümmten Hornluren. »Dann habe ich mich wohl geirrt. Aber selbst Berbon wurde hin und wieder unsicher und schwankte in seinen Entschlüssen. Wie sollten wir dagegen sicher sein, Bruder?« »Du hast wohl recht, Abt«, erwiderte ich, »aber nicht in meinem Fall.« Wir führten ein Leben ohne Frauen, ohne Besitz, ohne Spiel und Zerstreuung. Maximale Effektivität in allen Dingen war unser erklärtes persönliches Ziel. Manchmal mußten, um dieses Ziel zu erreichen, Umwege eingeschlagen werden, und ein solcher geistiger Umweg war unsere Teilnahme an einem Ritus des Volkes, das noch immer in der Unwissenheit verharrte, aber vom Licht der Logik und der Vernunft bestrahlt wurde. Wir würden ihnen auch weiterhin helfen, richtig zu leben. Jetzt tranken und betranken sie sich nicht mehr, jetzt hatte jede Frau nur einen Mann, jetzt wurde die Zahl der Kinder begrenzt, und das Leben verlief in den ruhigen Bahnen überlegter Gesetzgebung. »Gut so. Denn wenn wir einmal gestartet sind, dulde ich keinerlei Zweifler und Häretiker unter der Besatzung. Denke an das Schicksal Chivas, des Anarchisten!« Sie hatten ihn vor einem Jahr aus dem Raumschiff gestoßen, mit einem Luftvorrat von drei Stunden. Er hatte gezweifelt und seine Zweifel laut werden lassen, und das über Schiffsfunk. Sein Ende war gerecht. Wir gingen weiter im schwankenden, langen Zug. Vor uns ragten die Säulen mit den Plattformen auf. Sie bildeten schwarze Silhouetten gegen den Himmel, der mit Sternen übersät war. Angesichts dieser schauerlichen Stätte und der Worte des Abtes dämmerte es mir zum erstenmal, daß es zwischen dem Leben der Männer des Ordens und der Möglichkeit, sich frei zu entfalten, beträchtliche Unterschiede gab. Die Spitze des Zugs und die Gruppe der Leichenträger erreichten den gerodeten Kreis um die Seelentürme. Der Boden war von dem Kot der großen Vögel bedeckt, deren Aufgabe es war, die Leichen zu zerreißen und aufzufressen. Es stank mörderisch nach Verwesung und nach Aas. Der süßliche Geruch erfüllte ringsum die Luft. Kinder lösten sich aus dem
Diese Säulen waren das Ziel des langen Zuges, der sich aus dem Dorf, vorbei an dem langgestreckten Bruderschaftsgebäude, durch das Land bewegte. Alle Dorfbewohner waren anwesend, denn unsere Fabriken waren geschlossen. Wir waren fertig. Morgen abend starteten die Schiffe. Mehr als fünfhundert Angehörige des Ordens gingen im Zug mit, trugen die bodenlangen Kühlmäntel und langstielige Fackeln. Hin und wieder stimmten wir in die Totenklage der Eingeborenen ein. Ich befand mich im ersten Drittel des Zuges, neben mir schritt Suher der Zweite. Er beendete laut den Refrain, holte Luft und fragte: »Noch immer begeistert, Bruder Ekkotask?« Ich runzelte die Brauen und zwirbelte mit der Linken meinen Bart. »Du fragst, ohne zu scherzen, Bruder Abt? Wie soll ich das verstehen?« Ein ironisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des älteren Mannes. Das Licht der Fackeln machte aus unseren Gesichtern weiße, schattenerfüllte Masken. »Du hast den Zwischenfall im Werk auf delikate Weise gelöst. Aber vorher vermeinte ich, Zweifel an unserer Sendung in dir zu erkennen!« Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Hatte der Abt bemerken können, daß ein fremder Verstand im Körper Ekkotasks wohnte? Ich konnte und wollte es nicht glauben. »Ich werde selig werden«, sagte ich mit einem Wort Berbons, »denn ich erlebe das Mißtrauen und den Ärger schon während des Lebens. Ich – Zweifel an unserer Mission?« »Du zweifelst also nicht, Ekkotask?« »Ich sehne mich danach, auf Tolzos zu landen und dort mit der Arbeit für unseren Orden zu beginnen!« erwiderte ich leise. »Ich kann nicht verstehen, wie du etwas anderes glauben kannst.« Der lange Zug wand sich durch die Nacht. Hin und wieder dröhnten die Trommeln auf und erfüllten die heiße Luft mit ihren Schallwellen. Dann wieder summten, kreischten und wimmerten die Eingeborenen ihre schrecklichen Lieder, die von der Qual des Sterbens und der Ruhe des Todes sangen. Schließlich stießen die kräftigsten Männer in die langen, 20
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Ein Signal der Luren vertrieb die Vögel für einige Lidschläge, die Trommeln hörten auf, und langsam formierte sich aus dem Ring wieder ein langgestreckter Zug, der denselben Weg zurückkroch, den er gekommen war. Auf der Höhe unseres Gebäudes, vorbei an den schimmernden Raumschiffen, verließen wir Ordensbrüder den Zug. Zufällig ging Zeef einige Schritte lang neben mir. »Morgen starten wir, Bruder Ekkotask. Ich bin froh, daß wir trotz allem fertig geworden sind.« Ich nickte ihm wohlwollend zu. Im Körper eines mehr als dreißigjährigen Mannes, in Ekkotasks Körper nämlich, befand sich die Seele eines jungen Mannes, der nicht viel älter war als Zeef. Trotzdem fühlte ich mich ihm überlegen und hörte mich sagen: »Blinder Eifer ist das Vorrecht der Narren und der Jungen. Hättest du die Arbeiter nicht angetrieben, wären wir früher fertig gewesen und hätten uns dieses schauerliche Zeremoniell erspart.« Er zuckte zusammen und blickte betroffen zu Boden. »Aber du wirst beim Aufbau unserer Siedlung alles, was schiefgegangen ist, wieder gutmachen«, fuhr ich fort. »Davon bin ich überzeugt.« Nach einem späten Abendessen trennten wir uns. Der große Tag des Beginns einer neuen Missionsarbeit war angebrochen.
Zug und liefen davon, einige Frauen wankten und brachen zusammen. Der Häuptling des Stammes und einige seiner Ratgeber gingen auf die mittlere Säule zu. Sie trugen blakende, funkensprühende Fackeln. Langsam verteilten sich alle Teilnehmer an diesem Leichenbegräbnis in einem großen Kreis, in dessen Mitte sich die Türme befanden. Das Murmeln und der Gesang hörten schlagartig auf. Die Lichter flackerten unter einem plötzlichen Windstoß. Eine gespenstische Szene, deren einzelne Bestandteile zwar natürlich und erklärbar waren, in ihrer Gesamtheit aber an den Nerven zerrten und das Gemüt beschwerten. Rings um mich sah ich nur stumpfe, nachdenkliche oder ängstliche Gesichter. »Wir sind hier, um zwei Seelen freizugeben!« rief der Häuptling und hantierte an einem Hebel. Zischend entwich Preßluft, und die Plattform senkte sich in der hydraulischen Säule bis zum Boden. Als sie den untersten Punkt erreicht hatte, schlugen die Trommler auf ihre Felle. Ein langanhaltendes, dumpfes Geräusch erscholl. Ich hatte Gänsehaut an den Armen, und trotz der Hitze fröstelte es mich unter dem Mantel. Die Fackeln bildeten eine Mauer aus schwankenden Lichtern. Stinkender Qualm stieg aus den Flammen hervor. Während die Trommler ihre Instrumente bearbeiteten, kamen die Leichenträger und legten die beiden locker umwickelten Leichname auf die Plattform, die mit vertrockneten Fleischresten und ausgebleichten Knochen bedeckt war. Als ich den Kopf hob und nach oben blickte, sah ich gegen die unzähligen Sterne einen riesigen Schwarm schwarzer Vögel. Sie kreisten wartend über der Begräbnisstätte. Schaudernd sahen wir von der Bruderschaft zu, wie der Häuptling einen kurzen, rituellen Tanz aufführte, während die Trommeln dröhnten. Dann schaltete er wieder, und die Säule fuhr ihre hydraulischen Elemente aus und reckte sich zischend bis zur vollen Höhe. Die Plattform verschmolz mit der Dunkelheit über unseren Köpfen, und dann konnten wir nur noch das sausende Geräusch der großen Schwingen hören.
* Die fünf alten und nicht mehr aktiv kämpfenden Mitglieder des Ordens standen am Rand des Raumhafens, als wir in die Schiffe gingen. Wir selbst hatten uns verwandelt: Wir trugen nicht mehr die bequemen Overalls, sondern mittelschwere, halb gepanzerte Raumanzüge mit den Zeichen unseres Ordens. Ab diesem Zeitpunkt widmeten wir uns nur noch der kämpferischen Verbreitung unserer Lehre, und dabei war jede Bequemlichkeit schon halber Verrat an Berbon, der sein Leben meist im Raumanzug verbracht hatte. Wir alle waren schwer bewaffnet, denn es mochte sein, daß sich die Eingeborenen von Tolzos der Verbreitung des Glaubens gegen21
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele garantierte den Erfolg. »Berbon Eins an alle!« kam es aus dem Funkgerät. »Planet Tolzos voraus. Landemanöver über Punkt Eins geplant.« »Verstanden!« sagte unser Kommandant. Ich saß in einer Ecke des Steuerraums und konnte zwischen dem Gewimmel der Sterne nichts unterscheiden. Der Planet war nur auf den Instrumenten zu sehen, ebenso seine Sonne, ein gelber Normalstern. Es gab rund eine Viertelmillion »Eingeborene« auf dieser Welt. Es würde für uns alle eine lange und schwere Arbeit werden, sie von unserer Botschaft zu überzeugen. Karten wurden projiziert, und der »Punkt Eins« entpuppte sich als das vierte von sieben vorgeschlagenen Zielen. Das Landegebiet war von unserem Pionier hervorragend ausgesucht worden; es lag in einer bezaubernden Landschaft, auf einer Kette von vier kleinen Hügeln, die an der Basis bewachsen und an der Kuppe meist kahl waren. Ein hervorragender Platz. Die Eingeborenen, die zwischen diesen Hügeln und dem Meer lebten, würden immer, wenn sie in diese Richtung blickten, unsere Schiffe und darum herum die chromblitzenden Fertighäuser der Siedlung sehen. Schließlich, nach einigen Stunden Flug und mehreren Umkreisungen des Planeten, setzte die BERBON ALEPH zur Landung an. Hinter ihr kippten die drei anderen Schiffe über die atmosphärischen Leitwerke ab und stießen nieder wie riesige Vögel. Als wir in Bodensicht waren, wurden Wasser und Chemikalien hinter die Triebwerke gesprüht. Riesige, vielfarbige Rauchwolken entstanden hinter den Schiffen, die fast gleichzeitig dieselben Manöver ausführten.
über störrisch zeigten. Langsam füllten sich die Schiffe, und qualvolle Enge begann in den Kammern und Räumen zu herrschen. Dröhnend machten die Maschinen ihre Probeläufe, und Zeef rannte ununterbrochen mit seinen Listen und seinem Taschenrechner umher. Die Funkgeräte knisterten und setzten sich in Betrieb. Suher des Zweiten Stimme drang in alle Räume. »Start minus dreißig Minuten, Brüder. Gedenket der schweren Aufgabe, die vor uns liegt, zögert nicht und seid stark. Nur drei Tage lang wird der Flug dauern! Berbon mit uns!« »Berbon mit uns!« murmelten fünfhundert Männer. Der Feldzug der Vernunft hatte begonnen, als nach einer Serie von Kommandos und Manövern das erste Schiff mit Suher II. als Kommandanten mit ohrenbetäubendem Lärm abhob und senkrecht in den glasklaren Himmel über Kalamoun raste. In kurzen Abständen folgten die anderen drei Schiffe. Ich befand mich als Technischer Leiter unseres Ordens im zweiten Schiff. * Während der letzten Stunden des Fluges ging ich noch einmal die Aufzeichnungen des letzten Jahres durch, die wir von dem einsamen Pioniermissionar bekommen hatten. Eben war ein Funkkontakt hergestellt worden, und der Ordensbruder erwartete uns mit Freude und ungebrochener Begeisterung. Tolzos war ein paradiesischer Planet. Nur die südliche Küste bis hinauf zu den Bergen war bewohnt, die Küste des Hauptkontinents, die einen riesigen Dreiviertelkreis bildete. Hunderte von kleineren und größeren Inseln waren dieser Küste vorgelagert. Die Nachkommen eines arkonidischen Kolonistenkommandos lebten hier ein Leben, das wenig Probleme kannte. Nach den Berichten, die zu uns gekommen waren, schienen sie sämtliche Tugenden des Lebens vergessen zu haben: Fleiß, Strebsamkeit und Genügsamkeit, Mäßigung in allen Dingen und die Inbrunst des Glaubens an die Vernunft. Wir würden ihnen all dies bringen, und wir waren davon überzeugt. Die straffe Führung unseres Ordens
* Sheena war das schönste Mädchen des Stammes, und da ihr deswegen alle Männer nachstellten, konnte sie sich für keinen von ihnen entscheiden. Sie zog es vor, noch zu warten. Aus diesem und keinem anderen Grund befand sie sich hier. Ihr kleines Boot war auf den Strand gezogen worden, Sheena lag im halben Schatten unter den leise wispernden Wedeln eines niedrigen Baumes und hielt ihre langen Beine in die Sonne hinaus. 22
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele metallene Kathedralen unseres Ordens. Die Hügel wurden von Energiezäunen umgeben. In jeweils einem Schiff lief ein Meiler, der die gesamte Anlage mit Energie versorgte. Wir waren fertig. Die Laderäume waren leer, die Häuser eingerichtet. Spartanisch zwar und einfach, aber es gab alles darinnen, was zum Leben nach Art des Ordens nötig war. Ich stand auf einem geschwungenen Bogen, der den Vorbau der Unterweisungshalle am Fuß des Hügels – jenseits des Eingangstores – mit unseren Quartieren verband, und blickte voller Stolz und Begeisterung auf die chromblitzenden Häuser. Die Missionsarbeit konnte beginnen. Heute abend würden wir uns in der Halle der Unterweisung treffen. Mein Armbandkommunikator summte. Während ich den Knopf drückte, schweifte mein Blick ab, und ich erkannte jenseits der blühenden, grünen Landschaft den blauen Streifen des Meeres. Scheinbar unerreichbar fern, aber der Wind brachte den Geruch nach Salzwasser bis hierher. »Hier spricht Abt Suher der Zweite«, sagte die Stimme unseres Chefs. »Ich habe soeben die letzte Fertigmeldung erhalten. Ich bin stolz auf unsere Leistung. Bis heute zum Sonnenuntergang hat jeder von euch frei. Geht hinaus in die Landschaft, lernt sie kennen, zieht die Arbeitskleidung aus und erfreut euch an der unschuldigen Natur. Wir treffen uns nach dem dritten Heulen der Schiffssirene wieder in der Halle.« »Verstanden!« murmelte ich, und ganz plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, überfielen mich die Zweifel. Wir waren wie eine Rotte gepanzerter Ritter hier eingebrochen und gingen daran, ein Paradies zu kolonisieren und mit Technik zu überziehen. Aber ich ging gehorsam in mein Quartier, übergab der Maschine den Anzug zur Reinigung und zog mich um. Im Overall, bis zum Waffengürtel geöffnet, und in leichten Stiefeln kam ich wieder zurück und erreichte das Tor »meiner« Siedlung. Eine halbe Stunde später kämpfte ich mich durch betäubend riechende Büsche auf das sandige Ufer eines kleinen Sees zu. Ich war allein, und mit dem Abstand zu den Gebäuden
Beim ersten Donner, der ihr Ohr erreichte, stand sie auf und trat hinaus in das Licht. Sie sah die dicken Rauchbahnen und vor dieser Erscheinung die vier kleinen, silbern aufschimmernden Punkte. Der Mann Muhsen, den sie hatte verführen wollen, hatte in seinen Geschichten immer wieder von vier großen Booten berichtet, die von den Sternen kommen und den Menschen auf Tolzos die Kunde vom wahren Leben bringen würden. Muhsen hatte sich nicht verführen lassen, und als Sheena daran und an die Kunde dachte, verzog sie geringschätzig die Lippen. Sie sah schweigend und nachdenklich zu, wie die Punkte größer wurden und Formen erkennen ließen. Die Rauchwolken rissen ab, als die Sternenschiffe senkrecht nach oben steuerten, sich voneinander trennten und dann nacheinander auf die vier Hügel heruntersanken. Muhsen hatte Sheena berichtet, daß wunderbare Männer mit kühnen Gesichtern und ebensolchen Worten in den Schiffen sein würden. Sie bauten wunderbare Häuser und zogen dann aus, um mit Taten und Worten die neue Lehre zu verkünden. Sheena wartete, bis der letzte Lärm der Schiffe verklungen war und die vier strahlenden Lichtpunkte in jeweils einem DreiStunden-Marsch Abstand auf den Hügeln standen, dann holte sie den Beutel mit einem Teil ihrer Habe aus dem Boot, zog es höher auf den Strand hinauf und wanderte dann in die Richtung der vier Hügel. Sie suchte einen Mann, mit dem sie leben und glücklich werden konnte. Vermutlich befand er sich unter der Besatzung eines der Sternenschiffe. * Ich arbeitete fast ununterbrochen fünf Tage lang, dann erst konnte ich die Früchte meiner Arbeit im Zusammenhang sehen. Die Arbeit, die fünfhundert Männer, von mehr als zweihundert Robotern unterstützt, geleistet hatten. Wie eine Unmenge ringförmig angeordneter Würfel umgaben die fertigen Häuser, die Treppen und schmalen Pfade, die Sendemasten und die Mauern die vier Hügel. Die Raumschiffe, die alles krönten, wirkten wie 23
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Nach fünf Metern teilten sich die letzten Zweige, und ich sah vor mir eine Lichtung. Am gegenüberliegenden Ende des freien Stückes Boden lehnte an einem hellen Baumstamm ein Mädchen. Sie wirkte wie die inkarnierte Verlockung. In ihrer Hand hielt sie eine halbierte, kopfgroße Frucht. Unter einer Flut weißen Haares funkelten mich helle Augen an. »Du bist allein?« fragte ich. Zu meiner Überraschung antwortete sie in meiner Sprache. »Nein. Ein Mann ist bei mir. Du.« Ich senkte die Waffe ein bißchen und ging auf sie zu. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie mir die Frucht reichen. Das Mädchen war fast nackt, und ihr Körper schimmerte verlockend in samtigem Braun. »Was suchst du hier?« fragte ich. »Wie ist dein Name?« Sie lächelte mich auffordernd an. »Ich bin Sheena, und ich bin hier, um einen Mann aus dem Schiff zu sprechen. Das ist alles. Ich will dich nicht töten, ganz im Gegenteil.« Unschlüssig und ein bißchen verwirrt erinnerte ich mich an die vier Frauen, die ich als Kazike gehabt hatte. »Du sprichst mit einem Mann des Schiffes«, sagte ich mürrisch und blickte zwischen ihr und der halbierten Frucht hin und her. »Mein Name ist Ekkotask. Und ich habe keine Angst vor dir.« Wir sahen uns an und schwiegen. Sheena war sehr schön, und sie wußte es auch. Alle Merkmale des arkonidischen Volkes waren auf die denkbar günstigste Weise in ihr vereint. Ich spürte plötzlich, daß ich ein Mann war. Ich vergaß die strengen Regeln unseres Ordens oder besser: Ich wollte sie vergessen. »Was ist das?« fragte ich und deutete mit der Waffe auf die braune Frucht. »Eine reife Frucht. Süßer Saft ist darin. Willst du einen Schluck, Ekkotask?« Noch immer war ich mißtrauisch. Verschiedene Empfindungen erfüllten meine Gedanken. Ich dachte an das Ischtar-Memory, das ungeschützt dort drüben lag, in meinem Overall, dachte an den kommenden Sonnenuntergang und die morgige Arbeit, an alles,
hatte sich auch mein Abstand zu den Ideen des Berbon-Lichtbringer-Ordens vergrößert. Würde Abt Suher wissen, was ich dachte, wäre mir ein schneller Tod wegen Häresie sicher. Ich blieb auf dem feuchten Sand stehen und sah undeutlich eine halb verwaschene Spur. Sie konnte von einem großen Tier stammen. Dann aber erinnerte ich mich an meine Zeit als Jäger und Kazike auf Haghjameite, ging näher heran und erkannte, daß es die Abdrücke eines menschlichen Fußes waren. Drei oder vier Stunden alt. Langsam zog ich die Stiefel aus, nahm den Gurt mit der schweren Waffe ab und schob die Waffe entsichert wieder in die Schutztasche. Meinen Overall rollte ich sauber zusammen, dann nahm ich einen Anlauf und stürzte mich ins Wasser. Es war herrlich kühl und von natürlicher Sauberkeit. Was wollen wir eigentlich hier? dachte ich, als ich mit kräftigen Zügen in den See hinein schwamm, tauchte und prustend wieder an die Oberfläche kam. Wir würden die Unschuld eines Paradieses zerstören und dafür womöglich außer einigermaßen wirren Lehren nichts anderes bringen als Antibiotika und medizinische Hilfe. So und ähnlich waren meine Gedanken, als ich schwamm. Als ich ans Ufer watete, mich flüchtig abtrocknete und das Handtuch um meine Hüften band, hörte ich links im Gebüsch ein Geräusch. Es klang wie ein Lachen oder wie der verlockende Ruf eines unbekannten Tieres. Blitzschnell bückte ich mich, riß die Waffe heraus und rannte auf die Stelle zu. Kurz bevor ich das Gebüsch erreichte, hinter dem es knisterte und knackte, sah ich die frischen Spuren. Wieder die Abdrücke menschlicher Füße. Ich blieb stehen und richtete die Waffe auf die Zweige und ging dann langsam auf den Busch zu. »Wer da?« rief ich leise. Alle zweifelnden Gedanken waren verschwunden, der Jäger in mir rührte sich. Die Antwort war abermals ein leises Gelächter. Es klang spöttisch. Ich wußte, daß dies eine Falle sein konnte und sicherte nach allen Seiten, als ich in das Gebüsch eindrang. 24
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele sie bekehrten, war unsere Mission umsonst gewesen. Ich raffte mich zu einer Antwort auf. »Du scheinst recht zu haben, Sheena. Aber fünfhundert schwerbewaffnete Männer sind entschlossen, euch die neue Lehre zu bringen.« »Sie werden es versuchen, aber sie werden nur soviel Erfolg haben, wie wir wünschen!« entgegnete sie. Ich trank die Frucht leer und schleuderte sie ins Gebüsch. Mit wiegenden Hüften kam Sheena auf mich zu und legte mir die Hände auf die Schultern. »Auf welcher Seite bist du, Ekkotask?« fragte sie leise und lehnte sich an meine Brust. »Ich weiß es nicht, Sheena«, sagte ich. »Aber ich glaube, daß ich jetzt klüger bin als vor einer Stunde.« Sie nickte zufrieden und sagte leise: »Dann geh und versuche deinen Abt zu überzeugen! Wenn wir lange genug zugesehen haben, werden wir kämpfen. In diesem Fall bist du besser auf unserer Seite, im Paradies von Tolzos, als auf der Seite deines verrückten Ordens. Denn die Lichtbringer Berbons werden verlieren!« »Sie sind schwer bewaffnet!« gab ich zu bedenken. »Auch ich bin es.« »Gegen die Waffen von Tolzos seid ihr alle hilflos.« »Gut«, sagte ich entschlußlos. »Ich gehe und werde es überdenken.« Sie lächelte wieder mit der ganzen Raffinesse einer erwachsenen Frau. Dann preßte sie sich an mich und küßte mich. Es war wie der Stich eines Skorpions. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein solches Feuer der Leidenschaft gespürt. Sie riß sich schwer atmend los und flüsterte heiser: »Ich bin hier. Ich warte auf dich, Ekkotask. Entweder kommst du in den nächsten Stunden, oder du bist auf der Seite der fünfhundert Narren. Das bedeutet dein Ende! Geh jetzt!« Ich war wie betäubt. Langsam ging ich zurück und fühlte ihre leidenschaftlichen Blicke auf meinem Rücken. Ich zog mich um, steckte die Waffe ein und ging im Licht des Sonnenunterganges langsam zurück zu meinem Hügel. Als ich
was vor mir lag – und dann gab ich mir einen Ruck. Ich war in einem Paradies, und es wäre nicht nur sträflicher Unsinn, an etwas anderes zu denken, sondern vorsätzliche Dummheit. Ich schob den Strahler hinter mein Handtuch und griff nach der Frucht. Ich trank den eiskalten, süßlich und betäubend riechenden Saft. »Ich sehe«, sagte Sheena zufrieden, »daß du kein Mann der starren Grundsätze bist. Keiner von denen, die Muhsen prophezeit hat.« »Muhsen sprach mit dir?« Sie kicherte. »Er ist ein gutaussehender Mann. Ich versuchte ihn zu verführen, aber er weigerte sich.« »Er gehorchte den Grundsätzen unseres Ordens!« »Du siehst nicht so aus, Schwarzhaariger, als ob du zu diesem Orden gehören würdest.« »Ich gehöre aber dazu. Morgen werden wir anfangen, euch das wahre Leben zu lehren.« Sie brach in Gelächter aus und lehnte sich aufreizend zurück. Dann nahm sie einen Schluck von dem Fruchtsaft, der wie ein ganz besonderes Bier schmeckte oder wie der Wein, den wir auf Haghjameite hergestellt hatten. Auch ich kostete wieder davon. »Warum lachst du?« Plötzlich wurde sie ernst. Alle Koketterie war verschwunden. Sie lächelte nicht einmal mehr, als sie sagte: »Ihr seid gekommen wie ein Schwarm stählerner Heuschrecken. Mit Schiffen, mit fertigen Häusern und mit Waffen. Ihr habt uns nicht gefragt, ob wir es euch erlauben, auf unserem Planeten zu landen. Ihr wollt uns zwingen, eure Gedanken anzunehmen. Hat denn niemand von euch daran gedacht, daß wir euch nur so lange dulden, wie es uns angenehm ist?« Nach einigen Sekunden mußte ich betroffen und erschreckt zugeben: »Nein. Niemand.« Ich war vollständig ernüchtert. Plötzlich erkannte ich den Irrsinn unseres Versuchs. Die Eingeborenen hatten uns schon jetzt in der Hand. Sie kannten jeden Winkel ihres Landes und vermochten auszuweichen wie Fische im Wasser. Wenn sie es nicht zuließen, daß wir 25
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »Daran, daß du einschränkst, erkenne ich, daß du nicht mehr glauben kannst!« erwiderte Suher der Zweite. »Ich glaube, aber ich zeige euch die Widerstände. Ich kenne euch alle als kluge und entschlossene Männer. Deswegen spreche ich. Zu Narren würde ich nicht sprechen, und wenn ich abtrünnig werden würde, Abt Suher, wäre ich jetzt nicht mehr hier!« Suher sprang auf. Sein Gesicht war unnatürlich bleich. Er deutete mit der Rechten auf mich und schrie zornbebend: »Werft ihn in den Kerker! Er will Zwietracht und Zweifel in unsere Herzen säen!« Ein lauter Sturm der Entrüstung erhob sich ringsum. Ich machte einen Satz und sprang hinter meinen Sessel. Meine Hand glitt an den Kolben der Waffe. Inzwischen waren wir wieder in den Kampfanzügen und trugen die traditionellen Mäntel. »Ich will verhindern, daß sie euch töten, ihr Narren!« schrie ich. Jetzt begriff ich endlich, daß sie alle verblendet und einer richtigen Einsicht nicht zugänglich waren. Es schien, als risse ein Vorhang auf, und ich sah endlich die Wahrheit. »Zweifler! Häretiker!« donnerte Suher. »Schießt ihn nieder wie einen tollen Hund!« Ich machte drei Sätze und erreichte die Tür. Wegen der Hitze hatten wir sie weit offengelassen. Ich wirbelte herum und schlug meinen Mantel zurück. In meiner Hand glänzte eine der schweren Waffen des Ordens. »Der erste, der sich mir nähert, stirbt!« brüllte ich. In meinem Gedanken bereitete ich schon die einzelnen Schritte meines Fluchtwegs vor. Sie wollten nicht hören! Sie verstanden nicht, diese verblendeten Männer. »Halt!« schrie ich, als sich drei Ordensbrüder auf mich stürzen wollten. Ich feuerte drei Schüsse ab, die vor ihnen in den Boden fuhren und ihn in Brand setzten. Dann sprang ich zur Tür hinaus, ergriff in rasender Eile die beiden schweren Portale und schmetterte sie mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung zu. Ein donnernder, metallener Knall ging durch die Dunkelheit des späten Abends. Dann zuckte meine Rechte hoch, und ich zerstrahlte das schwere Schloß zu einem glühenden Klumpen Metall. In der Brusttasche des Raumanzugs spürte
meine Zelle betrat und mich abermals umzog, hatte ich meinen Entschluß gefaßt. * Wie ein Denkmal seiner selbst stand Abt Suher der Zweite hinter seinem Sessel und blickte über uns hinweg. Er wirkte wie ein Feldherr, der sein Heer betrachtete und seine Kampfstärke abschätzte. »Mitbrüder! Mitstreiter Berbons!« sagte er nachdenklich. »Noch zehn Stunden trennen uns von dem Augenblick, in dem unser Missionswerk beginnt. Bruder Muhsen ist bereits auf dem Weg zu uns und wird wohl in der Nacht eintreffen. Ihr alle seid gerüstet?« Ein zustimmendes Murmeln war die Antwort auf seine Frage. Ich stand auf und hob die Hand. Jedes Wort, das ich sagen würde, war wohlüberlegt. »Bruder Ekkotask? Der Fleißigsten und Begeistertsten einer? Was hast du uns zu sagen?« Ich machte eine Pause, ehe ich zu sprechen begann. Dann erklärte ich: »Heute, während ich schwamm und badete, traf ich einen Eingeborenen. Ich will betonen, daß ich nach wie vor weder abtrünnig noch zweifelnd geworden bin. Aber ich halte es für meine Pflicht, dir, Abt, und euch, Mitbrüder, gegenüber, folgendes zu sagen: Die Eingeborenen wissen alles. Sie scheinen, was die Bekehrungsmöglichkeiten betrifft, anderer Ansicht zu sein als wir alle. Sie sind entschlossen, ihr Paradies zu verteidigen. Sie werden zuerst ausweichen und dann kämpfen. In diesem Fall, sagte mir der Eingeborene, würden wir keine Chance mehr haben, denn sie kennen den Planeten und seine Möglichkeiten besser als wir ...« Während ich sprach, wurden die Mitbrüder unruhig und begannen zu murmeln und zu gestikulieren. Eine drohende, unheilvolle Stimmung breitete sich aus. »Du sprichst wie einer, der nicht mehr glaubt!« warf der Abt laut ein. Ein Teil der Unterhaltung hörte auf. »Ich spreche als ein Mann, der um das Wohl des Ordens besorgt ist und vermeiden will, daß wir alle getötet oder vertrieben werden!« rief ich erbittert. 26
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele in die Dunkelheit hinein. Sie war jetzt unser einziger Schutz, aber ich kannte die Ausstattung unserer Raumschiffe. Wenn sie ein Schiff oder eines der schweren Beiboote starteten, würden sie uns binnen Minuten finden können. Ich mußte meinen Raumanzug loswerden. Etwa eine Stunde lang paddelten wir. Über den See hinweg, in einen schmalen Fluß hinein, weiter und weiter. Irgendwann in der Mitte der Nacht erreichten wir erschöpft eine Insel und landeten. Ich zog meinen Raumanzug aus, leerte dessen Taschen und behielt nur die Ausrüstung und den Kühlmantel. Neben mir hantierte Sheena und machte uns ein Lager aus trockenen Blättern und einer weichen Decke. Nur die Sterne gaben ein schwaches Licht. Ich wagte es nicht, den ausgebauten Scheinwerfer anzuschalten. Wir flüsterten sogar. Wir aßen von den Notrationen des Raumanzugs. Dann streckten wir uns auf dem Lager aus und entspannten uns zum erstenmal seit Beginn der Flucht. Es schien, als hätte ich mich ernsthaft verliebt. Alles, was jetzt nach meiner Flucht folgte, war die logische Weiterentwicklung. Sheena streichelte meine Schultern. »Ich habe gewußt, daß du kommen wirst, Ekkotask.« »Woher hast du das gewußt?« fragte ich zurück und spürte ihren Körper. »Meine Ordensbrüder sind stark und mächtig. Sie werden mich verfolgen und euch zwingen.« »Wir werden uns wehren. Mit deiner Hilfe haben wir sie in einigen Wochen vertrieben.« Während wir uns liebten, reifte in mir ein tollkühner Plan heran. Ich kannte die gesamte Organisation des Ordens, seine Stärken und Schwächen. Die heißen Küsse verdrängten die Gedanken wieder, aber als wir uns am nächsten Morgen in die Augen sahen und ich neben meiner Waffe das Memory ertastete, wußte ich wieder, was zu tun war.
ich den kleinen, blauen Kreisel des IschtarMemorys. Ich wandte mich zur Flucht. In wenigen Sekunden, wenn sie das Tor aufgesprengt hatten, würden fünfhundert entschlossene Männer, die keine Gefahren scheuten, hinter mir her sein. Jetzt ist deine Entscheidung endgültig. Du hast dich entschlossen – du vertrittst die Sache der Eingeborenen, der Nachfahren arkonidischer Siedler. Du kämpfst für die Erhaltung eines Paradieses. Das waren meine Gedanken, als ich die Rampen, Treppen und Pfade abwärts rannte. Ich schlug den Pförtner nieder und öffnete die Strahlenschleuse. Dann schlug ich den Weg zu dem kleinen See ein und hoffte, keiner meiner ehemaligen Ordensbrüder würde mich finden. Knapp eine halbe Stunde später brach ich in vollem Lauf durch das Gebüsch und stolperte erschöpft auf den Sandstreifen hinaus. Ich hatte den Glutschein eines kleinen, heruntergebrannten Feuers gesehen. Ich drehte mich langsam herum und ging dann auf das Feuer zu. Zwischen den Stämmen wisperte eine Stimme: »Bist du Ekkotask?« Ich schlug den Helm des Raumanzugs nach hinten, horchte einige Sekunden auf die wirren Stimmen aus dem Funkgerät und erwiderte dann laut: »Ich bin hier, Sheena. Sie verfolgen mich. Ich glaube, du mußt mich retten.« »Das habe ich erwartet. Komm hierher.« Während das Mädchen sprach, wechselte die Stimme hinunter zum Wasser. Ich hörte das Plätschern. Dann ein schleifendes Geräusch. Ich schaltete den schweren Gürtelscheinwerfer an und sah in seinem kreidigen Licht ein schmales Boot, das alle Spuren des Provisorischen und der schnellen Arbeit trug. Sheena stand neben dem Boot und zerrte es ins Wasser. »Hierher, Ekkotask!« Ich lief darauf zu, schwang mich ins Boot, und dann drückte mir Sheena ein Paddel in die Hand. »Schalte das Licht aus. Sie dürfen uns nicht sehen.« Wir paddelten schnell vom Ufer weg. Jede Bewegung brachte uns ein gutes Stück weiter
* Zwei Tage lang dauerte unsere Fahrt über Flüsse, Kanäle und Seen, dann waren wir im Zentrum der vielen kleinen Stämme. Ich wußte nicht, wie es geschehen war, aber als wir 27
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele ähnlichen, sechsbeinigen Tieren ritt. Ich war an der Spitze, und die Gruppe donnerte auf die Hügel zu. Kriegshäuptling Oltayr galoppierte neben mir und schrie aufgeregt: »Wenn wir in die Energiezäune geraten ...?« »Das werden wir nicht!« rief ich zurück und schwang die lange Energiewaffe von der Schulter. Unsere Tiere änderten ihren Kurs. Die keilförmig galoppierende Riesenherde folgte uns blind. Ich gab aus dreihundert Metern einige gezielte Schüsse auf die Pfosten des Tores ab und versuchte, die Projektoren zu treffen. Rauch stieg auf und vermischte sich mit der riesigen Staubwolke, die von Tausenden Tieren aufgewirbelt wurde und langsam herantrieb. Sie verfinsterte die Sonne. Endlich, nach etwa zwanzig Schüssen, brach die Strahlensperre zusammen. Als wir durch den Eingang preschten, waren die ersten wilden Tiere dicht hinter uns. Sie rannten gegen den Energiezaun und gegen die Bauten an wie eine Lawine. Zwei oder drei Ordensbrüder, die zurückgeblieben waren, eröffneten das Feuer auf die Tiere. »Zum Schiff?« fragte Oltayr laut. Wir sprengten über eine langgezogene Rampe, dann zwangen wir die Tiere, über eine Reihe von Stufen zwischen den Gebäuden nach oben zu klettern. »Zum Schiff. In die BERBON ALEPH!« rief ich und schwang meine Waffe. Hinter uns war die Hölle los. Die vordersten Tiere hielten vor den Hindernissen an, wurden aber weitergeschoben. Verrückt vor Angst, begannen sie, die Anlage zu verwüsten. Immer mehr Tiere drückten von hinten heran, wurden von den Projektoren getötet, rissen die einbetonierten Pfosten heraus und schoben die Vorhut den Hang aufwärts. Der Hauptzug löste sich in zahlreiche Rudel auf, die zwischen den Gebäuden herumsprangen, die Wände eindrückten, Scheiben zersplittern ließen und in den Innenräumen verheerende Zerstörungen anrichteten. Oltayr und ich aber befanden uns inzwischen vor dem Schiff, und wir sprangen von den Reittieren. Andere Krieger des Stammes nahmen die schweren Zügel. Ich warf Oltayr meinen Handstrahler zu. Wir stürmten in das Schiff und begannen gezielt auf die Armatu-
endlich in einem kleinen, dämmerigen Tal ankamen, erwarteten uns etwa vierzig Männer. Ich stieg ans Ufer und schob das Boot ins Gebüsch. Sheena nahm mich an der Hand, führte mich in den Kreis der schweigend wartenden Männer und sagte: »Das ist Ekkotask. Er ist hier, um mit euch zu sprechen. Er weiß, wie mit eurer Hilfe die Ordensbrüder vertrieben werden können.« Ich entwickelte meine Pläne. Die meisten davon trafen auf Zustimmung, nur wenige wurden abgelehnt. Wir würden unseren Kampf in einen psychologischen und einen kämpferischen Teil gliedern, und beide würden Erfolg haben. Nachdem alles gesagt worden war, hob ich die Hand und warf ein: »Für meine Hilfe verlange ich etwas, Freunde.« »Jeder Wunsch wird dir erfüllt, so es in unserer Macht steht.« »Ich brauche eine Gruppe der besten Jäger und Waldläufer, über die alle Stämme verfügen. Und dazu einige ausgesucht wilde und schöne Mädchen. Es ist mein Ziel, unseren Abt Suher zu fangen und ihn vor sich selbst so lächerlich zu machen, daß er niemals mehr einen Planeten überfallen wird.« Sie begriffen. Lautes Gelächter war die Reaktion. Mir wurde zugesichert, was ich verlangt hatte. Die Gruppe zerstreute sich, und wir schlossen uns zwei Männern an, die zu Sheenas Stamm gehörten. * Während die Ordensbrüder in Gleitern ausschwärmten, um die Stämme zu besuchen, erfolgte unser erster Schlag. Wir verwendeten die Natur von Tolzos, um den Orden zu überfallen. Tausende von Treibern schwärmten aus und trieben die großen Tiere der Savanne zusammen. Aus einzelnen Rudeln wurden große Horden, zu denen immer mehr Tiere stießen. Eine riesige Stampede begann, die von den Treibern geschickt in vier Züge gespalten wurde. Zu einem genau berechneten Zeitpunkt brach aus einem Gebüsch eine Gruppe von Reitern heraus, die auf entfernt pferde28
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele tayr war Kriegs- oder Kampfeshäuptling nur bis zu dem Augenblick, da die vertriebenen Ordensbrüder flüchteten. Die persönlichen Beziehungen der Menschen untereinander waren keineswegs einfach, aber in einem Maß frei von Lüge, Hinterhalt und falscher Scham, daß ich mehr als einmal erstaunt war. Sicher war Tolzos nicht das perfekte Paradies, aber es kam diesem Bild ziemlich nahe. Nach diesem erschöpfenden Überfall wußte ich, daß ich auf der richtigen Seite stand; es war schließlich meine eigene Überzeugung, so oder ähnlich leben zu können. »Zehn Gleiter sind in einfachen Fallen gefangen worden«, sagte Sheena plötzlich. »Von den fünfzig Brüdern haben sich neun bereits entschlossen, hierzubleiben. Sie sind regelrecht vom Planeten und uns allen verführt worden.« »Das ist gut«, sagte ich, »denn dadurch ersparen wir uns das Elend von Toten und Verletzten. Vielleicht sieht Suher der Zweite ein, daß er die falschen Ideen hat.« Sheena antwortete leise und skeptisch: »Ich glaube es nicht, Ekkotask.« »Ich auch nicht. Ich kenne ihn.« Wir ritten langsam weiter bis zu der Hütte, die Sheena bewohnte. Auch dieses Gebäude hatte mich in Erstaunen gesetzt. Es enthielt wenige technische Teile, aber zweifellos war es mit viel technischen Mitteln erbaut worden. Dieses Volk schien mehr Geheimnisse zu haben, als ich herausfinden konnte. Die Hütte selbst lag am Rand eines Felsens in Meeresnähe, und es schien unwahrscheinlich, daß Suhers Leute uns finden würden. Tage und Tage vergingen. Ununterbrochen streiften kleine Kommandos der TolzosBewohner umher, überfielen Gleiter und machten Gefangene. Das Material, das wir von Kalamoun mitgebracht hatten, schmolz dahin. Die Ordensbrüder verschanzten sich in einem der am wenigsten zerstörten Hügel und unternahmen immer weniger Bekehrungsfahrten. Viele von ihnen wurden binnen Stunden zu Abtrünnigen und wurden von der Masse der Planetarier aufgesogen. Es war, als falle ein Regentropfen in einen See; sie verschwanden mehr oder weniger spurlos. Und mit ihnen technisches Wissen. Hin und wieder fanden
ren zu schießen. Den Meiler tasteten wir nicht an, denn die Explosion würde einen Teil des Planeten verwüsten und viele Eingeborene töten. Eine Stunde lang hatten wir zu tun, dann war das Schiff nicht mehr zu gebrauchen. Wir rannten hinaus, sprangen auf die Tiere und flüchteten in einem riskanten Galopp. Vorbei an Tierleichen, an eingestürzten Häusern, zusammengebrochenen Treppen, über den spartanischen Hausrat und durch das Tor. Das Schießen hatte aufgehört. So ähnlich sah es auch auf den anderen drei Hügeln aus, aber zwei der Schiffe hatten wir unangetastet gelassen. Die Stampede verlief sich, aber über den Hügeln lagerte eine Staubwolke, die weithin sichtbar war. Jeden Augenblick konnten rund hundert Gleiter aus allen Richtungen heranschießen und das Feuer eröffnen. Zu unserer Gruppe stießen andere Krieger, und wir rasten dem Wald zu, der uns verbergen konnte. »Das war der erste Schlag, Ekkotask! Sheena wird stolz auf dich sein!« brüllte Oltayr, während unsere Tiere im Zickzack durch die Deckung rannten. Ich schrie zurück: »Ich tat es nicht wegen Sheena. Ich habe den Angriff zusammengestellt, weil ich davon überzeugt bin.« »Wovon?« »Daß der Orden unrecht hat. Daß ein Paradies wie Tolzos nicht zerstört werden darf.« Wir ritten weiter und zerstreuten uns. Plötzlich stieß Sheena zu mir, nahm den Zügel meines Tieres und zog es mit sich. »Du siehst nicht nur müde, sondern auch sehr nachdenklich aus, Geliebter!« sagte sie besorgt. »Ich bin beides im Übermaß!« antwortete ich. In den vier Tagen seit meiner Flucht hatte ich erstaunliche Dinge gesehen und bemerkt. Diese nur scheinbar in die paradiesische Barbarei zurückgefallenen Nachkommen arkonidischer Siedler verfügten über ein Nachrichtennetz, das ich nicht kannte. Es schien mit der Perfektion von Telepathen zu funktionieren. Sie verabscheuten Krieg und Kämpfe, aber wenn es sein mußte, kämpften sie wie die Verrückten. Für jeden derartigen Zweck wurden die besten Männer ausgesucht – Ol29
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Ich erkannte das Zeichen auf dem ersten Gleiter. Der weiße Kreis von Berbon, dem Lichtbringer. »Ich bin bereit!« sagte ich. »Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird, aber der Abt ist mein Mann!« Die vier Gleiter kamen näher, gingen tiefer, flogen aber nicht in gerader Linie. Sie steuerten einen Zickzackkurs, der sie ziemlich genau am Rande des Platzes landen ließ. Die Maschinen brachen durch die Wipfel der großen Bäume, rissen Zweige und Blätter ab und setzten hart auf, jeweils zehn Meter voneinander entfernt. Im gleichen Augenblick gab ich ein Zeichen, und eine Gruppe von Jägern galoppierte auf ihren sechsbeinigen Tieren jenseits der zweiten Reihe von Hütten entlang. Sie zeigten sich, von rechts nach links reitend, jeweils nur Sekundenbruchteile zwischen den Häusern. Nacheinander sprangen zweiundzwanzig Männer aus den Gleitern, nahmen ihre Waffen und verteilten sich zu einer geraden Linie. Sie alle steckten in Raumanzügen, deren Helme geschlossen waren. Sie verbreiteten einen Ausdruck von kaltem Schrecken, als sie begannen, die Siedlung zu durchsuchen. Ich gab ein zweites Zeichen. Ich wartete im Rücken der Ordensbrüder. Blitzschnell tauchten hinter einer Terrassenbrüstung zwei Männer auf. Sie holten aus und schleuderten riesengroße Steine. Es gab zwei dumpfe, knirschende Geräusche, als die großen Kiesel die beiden Flügelmänner an den Schultern trafen und sie in den Sand des Platzes schmetterten. Aus meinem Armbandempfänger hörte ich ein langes, qualvolles Gurgeln. Dann drückte ich die Taste und sagte leise: »Ich bin über dir, Abt Suher, Ekkotask, der Ausgestoßene.« Der Abt ging in der Mitte seiner Männer, die schwere Waffe mit beiden Händen in Hüfthöhe. Jetzt fuhr er herum, sicherte nach allen Seiten, und auch die anderen Brüder wurden unruhig. »Du kannst mich nicht sehen, aber noch heute abend wirst du mit Schimpf und Schande davongejagt werden!« flüsterte ich und lachte kurz. Auch ich trug den Raumanzug, den wir wieder aus dem Versteck geholt hat-
wir weggeworfene Bücher mit Berbons Lehren. Schließlich war nur noch der harte Kern übrig – etwa siebzig Männer und der Abt. Und sie unternahmen einen letzten, verzweifelten Versuch. Sie wollten bestrafen und bekehren. Fünfzehn Gleiter mit siebzig schwerbewaffneten Männern, die unbeugsam entschlossen waren. 5. Ich weiß noch heute nicht, woher die Eingeborenen diese Geräte hatten – vielleicht hatten sie irgendwann einmal unterirdische Magazine angelegt und holten sich im Bedarfsfall, was sie brauchten. Jedenfalls erschienen Trupps von jeweils zehn Männern mit Tieren, die leichte Lafetten zogen. Auf diesen waren lange Rohre montiert, die mit Kartuschen gefüllt waren. In Haltegestellen waren auf den Lafetten mehr als kopfgroße Kugeln befestigt. Die Richtung der Gleiter war klar – sie würden die größte Siedlung anfliegen. Ich gehörte zu den Kriegern, die sich in Wartestellung um die Siedlung befanden, und wir konnten von unserem Platz alles ziemlich genau beobachten. Es gab einen leichten Lichtblitz, dann eine langgezogene Rauchzunge, und eine der Kugeln stieg fast senkrecht hoch. Hundert Meter, hundertfünfzig – dann schmetterte sie gegen die Unterseite des letzten Gleiters. »Woher, bei allen Sternen«, fragte ich, »habt ihr diese Mörser, Oltayr?« »Wir sind ziemlich einfallsreich, wenn es sein muß.« Der Gleiter raste schräg dem Erdboden entgegen, aber inzwischen sahen und hörten wir ununterbrochen das Mörserfeuer. Lichtblitz, Rauchfahne, dann die steile Bahn des ballistischen Geschosses, und fast jeder Schuß traf. Die Gleiterpiloten waren überrascht worden, und es gelang, elf Gleiter zerstört zur Landung zu zwingen, ehe die letzten vier Ausweichmanöver flogen. »Sie kommen hierher!« rief Oltayr alarmiert. Wir waren mehr als hundert Männer, von denen die geräumte Siedlung verteidigt wurde. 30
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele berschlug sich und blieb tot liegen. Der Abt schwankte, hob die Arme und schlug zu. Auch mein Helm war jetzt geschlossen. Ich senkte den Kopf und rammte den Mann von den Füßen, dann wälzten wir uns im Sand. Klirrend trafen die gepanzerten Teile der Raumanzüge aufeinander. Es war ein sinnloser Kampf, aber wir führten ihn mit zäher Verbissenheit. Einmal klirrten die Spezialgläser unserer Helmscheiben gegeneinander und ich sah das Gesicht meines Gegners und er meines. Der Abt wirkte keineswegs mehr hoheitsvoll; seine Wangen waren mit Bartstoppeln bedeckt, die Augen schwarz umrandet, und aus seinem Gesicht sprach das Wissen über seine endgültige Niederlage. Aber Suher der Zweite kämpfte weiter. Ein Tritt schleuderte mich rückwärts. Ich taumelte auf die Beine, stolperte und fiel auf den Rücken. Suher raffte sich auf und kam über mich. Wir hatten keine Waffen mehr. Jeder von uns versuchte, die ringsherum verstreuten Strahler zu erreichen, den anderen daran zu hindern, ebenfalls die Waffe zu ergreifen. Wieder krachten wir zusammen. Die schweren Handschuhe wirkten wie geschleuderte Steine, wenn sie eine ungeschützte Stelle trafen. Wir schlugen solange aufeinander ein, bis es mir gelang, Suhers Angriff zu unterlaufen und das Ventil seiner Anzugsversorgung zwischen die Finger zu bekommen. Ich betätigte den Druckschalter und dann die beiden Funkgeräte. Qualvoll klang sein Stöhnen aus den Innenlautsprechern, aber ich atmete ebenso schwer. »Gibst du auf, Suher? Ich lasse dich ersticken!« sagte ich stoßweise und schloß das Ventil ganz. Ich rammte mein Knie gegen das Ellbogenstück seines Arms und starrte wild durch die Helmscheibe. »Du bist verdammt und ausgestoßen!« sagte er mühsam. »Das ist richtig, aber du bist absolut machtlos. Wir haben zwei Schiffe verschont, um euch zurückfliegen zu lassen. Gib auf! Andernfalls stirbst du, Suher!« Er rang nach Luft und nickte schließlich. Ich öffnete das Ventil nicht, aber ich riß den Schnellverschluß des Raumhelms auf und sprang auf die Füße. Inzwischen hatte sich um
ten. Aber mein Helm war nicht geschlossen. Im gleichen Augenblick erschütterten vier krachende Detonationen die Umgebung. Jäger hatten die Energiemagazine der Gleiter mit Strahlwaffen beschossen und gesprengt. Den übriggebliebenen zwanzig Ordensbrüdern war somit die Rückkehr versperrt. Jetzt begannen sie, auf die schemenhaft sichtbaren Reiter zu feuern, die hin und wieder zwischen den Häusern auftauchten. Zwei Katapulte schleuderten große Netze, die lautlos durch die Luft segelten und sich über die nächsten zwei Männer senkten. Blitzschnell wurden sie umgerissen und in offenstehende Häuser gezerrt. Aber diesmal schossen die Brüder zurück und setzten zwei Hütten in Brand. Noch achtzehn Männer. So ging es weiter, Schlag nach Schlag. Ein Baum verlor plötzlich einen Teil seines Wipfels und begrub mehrere Männer unter sich. Bei dem Versuch, die Brüder zu befreien, sprangen zwischen Hausmauern Jäger auf sie zu, entwaffneten die Angreifer und schleppten sie davon. Der Platz hallte von den Schüssen wider, mehrere Häuser brannten, aber ununterbrochen flogen Steine, schwirrten Seile und Netze, öffneten sich Fallgruben, wurde die Anzahl der Männer verringert. Jedesmal flüsterte und lachte ich, aber der Abt war zweifellos ein Mann von großem persönlichem Mut und ebensolcher Sturheit. Schließlich waren nur noch drei Männer übrig und hatten fast den jenseitigen Rand der Siedlung erreicht. Wir waren inzwischen einen Halbkreis geritten, und jetzt schaltete ich mein Gerät wieder aus. »Los!« sagte ich scharf. Die Tiere sprangen vorwärts. Wir bogen in einen breiten Gang ein und ritten genau auf die drei Ordensbrüder zu, in deren Mitte der Abt ging und nach einem Ziel suchte. Ich duckte mich tief auf den breiten Hals des Reittiers. Noch zwanzig Meter ... fünfzehn ... Jetzt sah er mich und gab einen langen Feuerstoß aus seiner schweren Waffe ab. Ich spürte, wie das Tier unter mir plötzlich anhielt und sterbend in den Beinen einknickte. Ich wurde abgeworfen und breitete die Arme aus. Mit furchtbarer Wucht prallte ich gegen den Abt. Es gab einen dumpfen Schlag. Waffen wirbelten durch die Luft, das Tier hinter mir ü31
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Füße. Ich hörte Sheena entsetzt aufschreien, als ich nach dem Kreisel griff. Er sprang von selbst in meine Finger, so schien es mir. Die Umgebung verschwamm, immer mehr der gelbweißen Funken erschienen und hüllten mich ein. Ich taumelte, mir schwindelte, und schließlich verlor ich das Bewußtsein. Meine Seelenwanderung ging weiter ...
uns ein Kreis von Kriegern gebildet, die sämtliche Waffen der Ordensbrüder aufgelesen hatten. Dann ergriffen sie Suher und stellten ihn aufrecht hin. »Abt«, sagte ich und warf meinen Helm Sheena zu, die zu meiner Verwunderung neben Oltayr aufgetaucht war. »Du bist am Ende. Mehr als die Hälfte deiner Männer sind bei uns, freiwillig. Alle anderen sind unsere Gefangenen, und auch du bist nicht mehr frei.« Würgend kämpfte er nach Luft und riß sich schließlich los. Er sah sich keuchend um wie ein Tier in der Falle. »Was kann ich anderes tun?« »Nichts!« sagte ich. »Dein Fehler und der Fehler des ganzen Ordens war, daß übertrieben wurde. Wir alle brachten Segnungen und Vorteile, die niemand haben wollte. Das ist die Wahrheit, und die Wahrheit ist böse.« Er senkte den Kopf und blickte zu Boden. Inzwischen waren die vier Hügel geplündert worden. Es gab außer Steinen nichts mehr, was als Waffe zu gebrauchen war. Ich wußte, daß der Orden Berbons, des Lichtbringers, verloren hatte. »Fliegt zurück und kommt niemals wieder her!« sagte ich, und ich wandte mich an die Krieger und schloß: »Bringt alle zu den Schiffen und wartet, bis sie weggeflogen sind. Diejenigen, die auf Tolzos bleiben wollen, können hierbleiben, wenn es der Rat gutheißt.« Ich drehte mich um und ging auf Sheena zu. Plötzlich belebte sich die ausgestorbene Siedlung wieder. Sheena und ich gingen in das kleine Haus, und dort legte ich mich nach einem langen Bad zum Schlafen nieder. Ich war mehr als nur erschöpft. Neben mir lag Sheena, und in Reichweite meiner Finger stand das Ischtar-Memory. In der Morgendämmerung, nachdem wir uns umarmt hatten, hörten wir das Donnern der Raumschiffsmotoren. Die Reste des Ordens flohen ... Eine Stunde später begann es rund um uns zu summen. Von dem Memory ging abermals, ohne daß ich es auch nur berührt hätte, ein Strahlenschauer aus und begann sich in rasende Wirbel zu drehen. Eine unsichtbare Kraft riß mich vom Lager hoch und auf die
6. Vor mir auf dem stählernen Rost klapperte etwas. Blitzschnell bückte ich mich und hob das Memory auf, das aus meiner Hand geglitten war. Aber als ich mich bewegte, spürte ich, daß sich mein Verstand in einem alten, abgenutzten Körper befand. Er war ehemals stark und wendig gewesen, aber jetzt befand er sich in der letzten Phase des Lebens. Und gleichzeitig, während ich den Kreisel einsteckte und die letzten Energiefunken davonwirbeln sah, erfuhr ich, wer ich diesmal war. Nicht mehr Agham der Jäger, nicht mehr Ekkotask aus dem Orden der Lichtbringer, sondern der alte Tramp Urgiah Haiden Moos. Ich war gestartet, um meinen eigenen Rekord zu brechen. Bisher war ich derjenige mit den meisten Lichtjahren gewesen. Ich versuchte, mich zu orientieren. Ich stand in einem schmalen Schiffskorridor. Von vorn schlugen mir alle möglichen Geräusche entgegen. Ein Springerschiff. Es war die GALM IV des Patriarchen Galmar Troyler. Mein Rekord war vierunddreißigtausend Lichtjahre, und Hop Falcon, mein stärkster Rivale, hatte es bereits auf einunddreißigtausend gebracht. Ich wußte, daß dieses Schiff eine Fernreise von fast vierzigtausend Lichtjahren machte, und von ihnen hatte es bereits neuntausend zurückgelegt. Drei Landungen. Ich brauchte also nur noch mehr als dreißigtausend Lichtjahre, um meinen Rekord in eine fast einsame Höhe zu heben. Nur noch! Ich grinste in der Dunkelheit. Ein Knacken der Lautsprecher unterbrach mich. »Achtung! Hier spricht der Patriarch. Offensichtlich ist ein blinder Passagier oder womöglich einer dieser verdammten kosmi32
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele fieder aufleuchten, so daß ich einen festen Orientierungspunkt hatte. Als Lampe taugte er nicht viel, aber er war mir ans Herz gewachsen. Immer der Reihe nach! Es gab zwölf Dutzend Tricks, um in einem Schiff dieser Größe unerkannt und unbemerkt reisen zu können. Ich beherrschte sie alle, aber die Frage war für jeden von uns, wie sie in der richtigen Reihenfolge anzuwenden waren. Ich tappte dem Sprechenden Vogel nach und merkte mir die Aufschriften, die Nummern und die Anordnung der Räume. Aus der halben Dunkelheit kam die Fistelstimme des Vogels. »Urgiah Haiden! Ein leeres, aber bewohntes Quartier!« »Danke!« flüsterte ich, denn immerhin mußte ich gewärtig sein, daß die Mikrophone in den Gängen eingeschaltet waren. Ich huschte dem Vogel hinterher, und sekundenlang kam mir wieder die Problematik der Doppelexistenz in den Sinn: ein rund zwanzigjähriger Verstand im Körper eines Mannes, der fast fünfmal so alt sein mochte. Auf den meisten Raumschiffen waren wir Tramps nicht gern gesehen. Vor allem auf den Schiffen, deren Eigentümer irgendwie von den Arkoniden abstammten. Wir stellten dadurch, daß wir eine unsichtbare Gefahr bildeten – denn schließlich hörten und sahen wir viele Dinge, die wir besser nicht hätten hören und sehen sollen! –, die Schiffsführung und die Mannschaft vor ernsthafte Probleme. Die für uns am wenigsten unangenehme Lösung war, daß man uns im nächsten Hafen aus dem Schiff warf. Besonders rüde Kapitäne brachten es tatsächlich fertig, Tramps aus der Luftschleuse zu werfen. Das war zwar Mord, aber in einer Galaxis von hunderttausend Lichtjahren Durchmesser kümmerte sich um diese Art von Privatjustiz niemand. Doch in fünfundneunzig Prozent aller Fälle betrachteten es Kommandant und Besatzung als reinen Sport. Ebenso sahen wir es. Einer von uns siegte – und sehr oft siegte der Tramp, der bis zum Ziel im Schiff blieb. Die reine Leistung in Lichtjahren innerhalb eines einzigen Schiffes zählte. Umsteigen war erlaubt, unterbrach aber die Rekordzahlen.
schen Tramps an Bord. Wir haben eine Strecke von achttausend Lichtjahren vor uns, und ich erwarte, daß in dieser Zeitspanne derjenige, der sich eingeschmuggelt hat, gefunden wird. Vermutlich hört er selbst sogar mit, und in diesem Fall: Gib acht, Tramp, wenn wir dich fangen. Wir werfen dich aus der Schleuse. Das ist keine leere Drohung!« »Schon gut!« murmelte ich, kicherte und ging nach vorn. Jetzt wußte ich, woran ich war. Denn mit Urgiah Haiden Moos' Körper würde auch meine Seelenwanderung als Chapat ein Ende haben. Aber ich war nicht wehrlos. Ich hatte die Erfahrung dieses kosmischen Tramps mit dem legendären Ruf, und ich hatte noch immer Tsroh, den Sprechenden Vogel mit dem sechsten Sinn für Gefahren. Und eine ganze Menge Tricks, auf die diese rotbärtigen, dröhnenden Springer nicht kommen würden. Als erstes mußte ich ein unbenutztes Bad finden, in das ich mich eine Stunde lang einschließen konnte. Noch einmal hörte ich die Stimme des Patriarchen. Er lachte dröhnend und schrie dann: »Tausend Meter lang! Zweitausend Räume in allen Größen! Und siebenhundert Leute Besatzung! Wir werden sehen, wer Sieger bleibt, du elender Lichtjahrdieb! Wir oder du.« Ich tippe auf letzteren, dachte ich, kicherte wieder und griff in die Brusttasche. Dort schmiegte sich ein kleiner, orangefarbener Vogel in meine Hand. Es war Tsroh, mein Maskottchen und mein Gesprächspartner während der langen Reisen. In der letzten Zeit war er etwas faul gewesen, aber so wie es gegenwärtig aussah, würde er genügend Arbeit bekommen. »Kleiner«, flüsterte ich und tappte auf ausgelaufenen Schuhen den Schiffskorridor entlang. »Du mußt gut aufpassen. Sonst bringen sie uns alle beide um. Und dann wirst du deinen frisch ausgeschlüpften Jungen nichts mehr über ein langes, bewegtes Leben in der Tasche des legendären Moos erzählen können!« »Du Aufschneider!« fiepte der Vogel, schlug mit seinen kleinen Flügeln und huschte davon. Alle zwei Sekunden ließ er sein Ge33
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele stellte ich mich, auf den Zehenspitzen zurücklaufend, in die Dusche und schloß den halbenergetischen Vorhang. Auf dem Korridor näherten sich Schritte. Ich unterschied zwei Paar Füße. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, diese selbstbewußten Springer, leise zu suchen. Die Schritte kamen näher, wurden lauter und blieben schließlich aus – eine Stimme sagte undeutlich: »Diesmal meint es der Chef offensichtlich ernst, wie?« Die Tür wurde aufgerissen. Ein Scheinwerferstrahl huschte durch das Innere der Anlage und blieb auf dem Spiegel haften. Ich duckte mich blitzschnell, denn die Reflexion blendete genau in meine Richtung. Aber der Lichtfleck erschien auf der glatten Wand, dort, wo eben noch mein Kopf hinter dem halbtransparenten Schirm zu sehen gewesen wäre. Ich hielt den Atem an und rührte mich nicht. »Er hat es satt, sich von den Tramps narren zu lassen. Bis jetzt haben wir jedenfalls noch keine Spuren.« »Jedenfalls hat jemand das Bad benutzt. Eigentlich merkwürdig.« Die andere Stimme lachte. Der Scheinwerfer wurde wieder bewegt, dann kippte eine unsichtbare Hand den Kontakt, der die Reinigungsroboter in Tätigkeit setzte. »Wahrscheinlich war es einer von der ...«, es folgte ein unaussprechlicher Name, »... Sippe. Tramps sind nicht so frech, daß sie mitten im Schiff baden.« Mit dumpfem Krachen schloß sich das Schott. Summend begannen sich die Roboter zu bewegen. Ich atmete auf und richtete meinen Blick auf die roten Sehzellen der Maschinen. »Davongekommen, Vagabund!« meinte der Vogel und schoß, in kurzen Abständen aufleuchtend, auf mich zu. »Was jetzt?« »Keine Ahnung«, brummte ich. »Ich bin reichlich müde. Ich muß irgendwo schlafen.« Das war eine der Fallen, die wir Tramps uns selbst stellten. Solange wir denken und handeln konnten, waren wir ziemlich sicher. Aber in den Schlafperioden konnten wir überrascht werden. Dann hatten sie uns. In einem Kampfschiff trampte niemals jemand von uns,
Nicht hier in diesem Springerschiff. Wenn sie mich erwischten, töteten sie mich. Ich war neunzig Jahre alt, und seit rund vierzig Jahren befand ich mich an der Spitze, gehörte ich zur Legende. »Hierher, Haiden!« Ich folgte dem Vogel und hielt mich nicht länger als zehn Minuten in dem weiträumigen Wohnbezirk auf. Dann hatte ich, was ich brauchte. Ich verließ die Räume wieder, nicht ohne meine zerschlissenen Mokassins ausgezogen und in das Bratfach eines Radarofens gestellt zu haben. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem Bad, das selten benutzt wurde. Ich fand schließlich nach einer halbstündigen Suche einen solchen Raum und richtete mich mitsamt dem Vogel darin wohnlich ein. Zuerst badete ich seit dreizehn Tagen wieder einmal gründlich – meine Odyssee durch dieses Schiff hatte mich von einem Laderaum über den Maschinenraum, drei Besenkammern, einer Robotwerkstatt, einigen gefährlichen Verstecken in der Schiffshülle, einer Nacht in den Gefrierkammern bis zu einigen Nächten an unbeschreiblichen Plätzen gebracht –, denn, um die Wahrheit zu sagen: Ich stank wie eine Kanalratte. Dann schnitt ich mein Haar, entfernte den Bart, putzte die Zähne und wechselte meine Kleidung. Nachdem ich die Perücke aufgesetzt hatte, sah ich mich im Spiegel an. »Niemand glaubt dir den Springer. Dazu bist du viel zu klapprig, Alter!« kommentierte Tsroh. »Ruhe, sonst rauche ich dich in der Pfeife!« drohte ich. »Angeber!« Zuerst mußte ich es ermöglichen, mich frei im Schiff bewegen zu können. Ich beendete meine Maskerade und sah anschließend tatsächlich wie ein älterer Springer aus. Meine wenige Habe, das Essen und andere, scheinbar unwichtige Einzelheiten verstaute ich in der bequemen Schiffskombination des Springers. Sie war mir nur in den Schultern etwas zu breit. »Achtung! Es kommt jemand!« flötete der Vogel und schwebte aufgeregt zu einem Lüftungsgitter hoch. Ich sprang zum Kontaktschalter und löschte die Beleuchtung. Dann 34
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele te. Der Vogel saß schräg über mir und klapperte mit dem Schnabel. »Hunger, wie?« fragte ich. »Richtig.« Vorsichtig schob ich den langen Schlitz in der Verpackung auseinander und kroch mit abenteuerlichen Verrenkungen hinaus. Vorsicht ist die erste Regel unseres Gewerbes. Schließlich erwartete mich, von vielen winzigen Beträgen unserer uneingeschriebenen Gilde zusammengetragen, eine beachtliche Prämie. Aber auch Wagemut ist von Zeit zu Zeit dringend nötig und vor allem kaltes Blut. So zum Beispiel jetzt. Das Schiff stand kurz vor einer Landung – ich hatte es an den zahllosen Veränderungen gemerkt. Und der Springerpatriarch raste, weil man mich noch immer nicht gefunden hatte. Langsam kletterte ich an dem Container herunter und blieb auf dem Boden stehen. Hunger, Durst und Informationsbedürfnis quälten mich. Zweimal hatte ich von einem vorübergehend leerstehenden Raum die Daten abrufen können – mein Rekord stand gut. Ich wußte, daß dies die vorletzte Landung vor dem Endziel meiner Trampfahrt war. Der Vogel leuchtete mehrmals auf und greinte: »Mach schon, Alter. Ich brauche etwas zu futtern.« Ich tastete mich durch die schmalen Gänge zwischen den Warenstapeln. Immer wieder stieß ich gegen Träger, Gurte oder andere Befestigungen. Hin und wieder stolperte ich über Verpackungsmaterial. Der Vogel mit seinem untrüglichen Instinkt führte mich bis zu dem in halber Höhe angebrachten kleinen Mannschott. Ich kletterte die Leiter hinauf und befand mich in einem strahlend hell erleuchteten Gang. Von zwei Seiten kamen Springer auf mich zu, und einer von ihnen hatte gesehen, wie ich das Schott öffnete. Kaltes Blut! Ich donnerte das Schott hinter mir zu und schüttelte den Kopf. Der Springer in meinem Rücken blieb stehen. Der andere ging weiter und deutete auf mich. »Hast du ihn gefunden?« »Nein«, knurrte ich. »Aber offensichtlich war er dort. Vermutlich will er aus dem Schiff.«
das war sinnlos. Aber in den Handelsschiffen, deren Laderäume voller Ausrüstungsgegenstände waren, ließen sich fabelhafte Verstecke finden. Dies war das Stichwort. »Ich bleibe hier, Tsroh«, sagte ich leise. »Und du fliegst weg und findest uns einen schönen, unübersichtlichen Laderaum, der schon durchsucht wurde, ja?« »Höchste Zeit«, sagte der Vogel mißmutig, »daß dir etwas Vernünftiges einfällt, du seniler Rekordler.« Ich grinste und öffnete die Tür. Hinter mir krabbelten die Maschinen umher und leckten die Wasserspuren und die Seifenreste von den Wänden. Sie verströmten einen Geruch nach Desinfektionsmitteln. Der Vogel schwirrte von meiner Schulter und flatterte, diesmal nicht aufleuchtend, durch den Korridor davon. Ich wartete. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis der Vogel zurückkam. Wieder setzte er sich auf meine Schulter. Überall im Schiff hörte ich nun die Geräusche, mit denen kleine Trupps nach mir suchten. Hin und wieder wurden im Korridor Türen oder Schotten aufgerissen und wieder geschlossen. Der Vogel sagte leise: »Sie durchsuchen gerade einen Laderaum. Ein ideales Versteck. Wenn sie fertig sind, hole ich dich.« »Gut!« sagte ich. Der Vogel surrte wieder davon. * Seit drei Tagen befanden wir uns im Laderaum. Verborgen zwischen dicker Isolierverpackung und einer unförmigen Maschine. In einigen kurzen Streifzügen hatte ich Magazine und Küchen besucht und Essen geholt – das gehörte zum Ritual einer Trampreise. Unter dem künstlichen Springerbart wucherten echte Stoppeln. Zweimal war ein Trupp, von Robotern unterstützt, durch mein Versteck getrampelt, hatte zwischen den Kistenstapeln gesucht und allerlei Spürgeräte eingesetzt. Ich hatte ihre Stimmen gehört, ihre Schritte gefühlt und einmal hatte sich einer dieser ungastlichen Springer direkt vor mein Versteck gesetzt und zwei Dosen Bier getrunken. Ich kämpfte mich hoch. Mein Magen knurr35
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele an. Noch achttausendfünfhundert Lichtjahre bis zum Erreichen meines neuen Rekordes! »Schnell hinaus!« fiepte der Vogel in meiner Brusttasche. Die Springer sahen mich, als ich gerade eine dicke Wurst in eine der Innentaschen schob, und jetzt verstanden selbst sie, wen sie wirklich vor sich hatten. Einer von ihnen röhrte auf: »Da ist er! Er hat sich verkleidet, dieser Mistkerl!« Ich ergriff ein Küchenbeil, schwang es und schleuderte es nach ihm. Er wich aus und rammte dabei seinen Partner mit der Schulter zur Seite. Ich setzte zu einem Spurt an und versuchte, zwischen den beiden Männern hindurchzuhechten, aber sie reagierten schnell. Das Beil polterte zu Boden, sie packten mich von zwei Seiten. »Jetzt werfen wir dich aus der Schleuse!« knurrte der eine Springer. Ich spannte meine Muskeln und ließ mich fallen. Die Griffe lockerten sich, und ich kam frei. Dann zielte ich kurz und legte die gesamte Kraft meines alternden Körpers in einen einzigen Schlag. Der Mann, der die Tür versperrte, sank ächzend zu Boden. Ich kam hoch, stieß den anderen beiseite und drehte mich herum. Mein Arm sauste waagrecht durch die Luft. Der Springer hob die Arme, um den Schlag abzufangen, aber er kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Mein Hieb betäubte ihn, aber meine Kraft schien erschöpft. Ich keuchte und rannte die wenigen Schritte zur Öffnung. Der Korridor schien leer zu sein. »Jetzt geht es ums Leben!« murmelte ich und spurtete los. Das Schiff heulte durch die Atmosphäre eines Planeten, den ich nicht kannte. Die Bremsverzögerung hatte längst eingesetzt. Auf meiner Seelenwanderung kam ich wohl an eine nächste Station. Während ich lief und nach einem Schlupfwinkel suchte, hörte ich den Alarm. Er war nicht mehr laut und galt wohl nur diesem Teil des Schiffes. Lautsprecher sprangen an und gaben Befehle und Kommandos von sich. Der Patriarch schrie mit sich überschlagender Stimme. Ich verschwand in einem Antigravschacht und
Der unbekannte Springer vor mir nickte und schob sich an mir vorbei. Ich fürchtete den Mann in meinem Rücken. Er schwieg und kam jetzt langsam um mich herum. Der andere ging weiter und verschwand im hinteren Teil des Ganges. Der Vogel war verschwunden. Mich ergriff eine ziemlich deutliche Angst. Ich ging zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Plötzlich legte er mit Nachdruck seine Pranke auf meine Schulter. »He«, sagte er mißtrauisch. »Dich kenne ich ja noch gar nicht!« »Das ist auch kein Wunder«, erwiderte ich, obwohl ich mich schon in der zugleitenden Luftschleuse sah, »ich arbeitete schließlich am anderen Ende dieses verdammten Schiffes.« Ich grinste ihn kurz an und schob mich an ihm vorbei. Er blieb stehen und blickte mich mit nicht sehr intelligentem Gesichtsausdruck an. Dann nickte ich ihm zu und ging weiter. Er stand, als ich der nächsten Abzweigung folgte, noch immer da und starrte in meine Richtung. Ich lehnte mich an die Wand, und meine Knie zitterten wie Kastagnetten. »Urgiah Haiden Moos«, murmelte ich krächzend, »du hast mehr Glück als Verstand gehabt.« Essenszeit war vorüber. Die Küchen und Magazine würden jetzt leer sein. Ich wurde etwas schneller und blickte kurz auf die Pfeile und Hinweise. Dort hinten war der Raum, den ich suchte. Der Vogel kam herunter, ich öffnete die Brusttasche und ließ ihn hinein. Ich wischte mir über die Stirn und atmete tief durch. Langsam gelang es mir, die aufgeregten Nerven zu beruhigen. Ich drang in die Küche ein, und jetzt erfuhr ich auch über einen eingeschalteten Bildschirm, daß das Schiff seinen vorletzten Hafen anflog. Im Augenblick schienen die Springer weder Lust noch Zeit zu haben, nach mir zu suchen. Ich rüstete mich aus und hoffte, daß ich damit einige lange Tage oder gar eine Woche überstehen konnte. Als ich die Küche verlassen wollte, rissen zwei Mann der Besatzung die Tür auf. Das Schiff setzte, den Geräuschen nach zu urteilen, gerade zur Landung 36
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele hinunterbrummte. Ich hatte das Schiff verlassen, als die ersten gezielten Paralysatorschüsse aufkrachten. Vorläufig war ich frei. Wenn alle meine Berechnungen stimmten, dann brauchte ich von Esterabat aus noch viertausend Lichtjahre, bis ich meinen eigenen Rekord gebrochen hatte. Ich sprang vom Wagen, stolperte und überschlug mich und richtete mich mit schmerzenden Knochen wieder auf. Er taugte wirklich nicht mehr viel, mein alter Körper. Ich lief im Schatten des langen Schiffes in die Richtung des Hecks. Für die Springer, die tobend auf der Rampe standen, verschwand ich im Gewühl der Entladearbeiter. Aber ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich suchte, bis ich den richtigen Platz fand. Hier entluden Antischwerkraftgeräte das Schiff im oberen Viertel der langen Walze. Gleichzeitig wurde es von der anderen Seite beladen. Ich hatte das gute Gefühl, daß mich weder Robots noch Springer sahen, als ich mich mit dem Vogel zusammen in einer Ladung versteckte und wieder ins Schiff tragen ließ. Noch ein paar Tage, und mein Rekord war sicher. Auf der riesigen Kiste, in der ich mich sicher und geborgen befand, stand der Bestimmungshafen: es war der Planet Terkolah. Terkolah, das bedeutete mir viel. Ich würde dort Kameraden treffen, konnte ein Linienschiff in meine Heimat nehmen und mir diese verdammte Springer-Kleidung ausziehen. Langsam schwebte mein neues Versteck aufwärts, scherte seitwärts aus und wurde vorsichtig in einen Laderaum desselben Springerschiffes gesenkt, aus dem ich eben unter Lebensgefahr geflüchtet war. Einige Stunden lang wartete ich, während rund um mich riesige Ballenund Kistenstapel entstanden. Dann erschütterten Vibrationen das Schiff. Die GALM IV startete zum letzten Hafen ihrer Reise. Und zum Endpunkt meines Rekords. Ich befreite mich aus meinem Gefängnis, um meine schmerzenden Muskeln zu dehnen. Der Vogel flatterte aufleuchtend davon, die Konturen des Ischtar-Memorys drückten gegen meine Haut. Und plötzlich erfaßte mich wieder dieses
schwebte durch die Dunkelheit nach unten. Wenn sie mich fingen ... nun, aus der Schleuse konnten sie mich nicht mehr werfen, denn ich würde auf dem Boden eines unbekannten Raumhafens landen. Verließ ich das Schiff für längere Zeit, war mein Rekord in Gefahr! Jetzt jagten sie mich. Noch befand sich keiner von meinen Verfolgern im Liftschacht, aber sie kamen von allen Seiten. Ich hörte die Durchsagen. Teile des Schiffes wurden verriegelt, Suchkommandos bildeten sich. Mitten in der gewaltigen Aufregung setzte das riesige Walzenschiff in seiner ganzen Länge auf, während ich mich unter den Maschinen und Projektoren des Schachtes verbarg. Dann wartete ich wieder. Wenigstens hatte ich dieses Mal etwas zu essen bei mir. Der Patriarch schien echt in Sorge zu sein, denn während sie suchten, öffneten sich die Schleusen und Rampen. Die Entlademanöver begannen. Seit dem Start hatte ich keine Gelegenheit versäumt, mir den Plan des Schiffes zu merken. Allerdings interessierten mich vor allem die vielen kleinen Schlupfwinkel. Dinge, die jeder Tramp sofort als ideales Versteck erkannte, interessierten die Raumfahrer nicht. Schließlich, nachdem ich sicher sein konnte, daß ich meinen Plan verwirklichen konnte, sprang ich auf und rannte los. »Jetzt entscheidet es sich!« kicherte ich, während ich mich in kurzen Sprüngen und kleinen Spurts von Deckung zu Deckung bewegte. »Wir sind auf Esterabat«, erwiderte der Sprechende Vogel. Ich wurde schneller und verbrauchte die letzten Kräfte des Moos-Körpers. Ich mußte breite Korridore passieren und eine Anzahl von Räumen, in denen sich Springer aufhielten. Eine Hand in meiner Tasche, umklammerte ich das Memory. Ich wurde erkannt, weil ein vorstehender Riegel den Bart abriß. Und ich schaffte es, von drei Gruppen und vielen einzelnen Springern verfolgt, die zentrale Bodenschleuse zu erreichen. Ich holte Luft und rannte mit einem letzten Spurt los, lief im Zickzack zwischen arbeitenden Mannschaften umher und sprang auf einen Robotwagen, der gerade auf das Rollfeld 37
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »Ich wünsche von Ihnen einen exakten Kurs, aber keine finsteren Orakel. Nehmen Sie sich zusammen, Mann!« »Schon gut!« erwiderte er. Die Maschinen des kugelförmigen Raumschiffs arbeiteten zuverlässig und mit ständig wachsender Kapazität. Der Transport, den wir durchführten, hatte einen geschichtlichsagenhaften Grund. Eine Gruppe arkonidischer Prospektoren hatte auf dem Planeten Xaladosch ein riesiges, ruinenhaftes Grabmal gefunden; zweifellos eine der Monumentalbauten der Kelerer. Wenige Minuten nach dem ersten Fund, einer wertvollen, uralten Schriftrolle, waren wir von den Prospektoren alarmiert worden. Zweifellos war schon zu diesem Zeitpunkt die Furcht ausgebrochen. Wir? Wir waren Angehörige der Elitegruppe des Akastos. Mitglieder einer Gruppe speziell geschulter Wissenschaftler. Ein hartes, jahrelanges Training in sämtlichen physischen und psychischen Torturen, die man einem guten Akonen zumuten konnte. Ich hatte es überlebt und war inzwischen graduiert. Deswegen hatte man mich mit der TARTOR hierhergeschickt, um das DING und die übrigen Funde abzuholen. Und dort stand es, das Ding aus dem Grabmal, eingesiegelt in einen glasklaren Kunststoffkasten. Es grinste mich an, mit wackelnden gelben Zähnen und lippenlosen Kiefern, über die eine dunkle, wächsernpapierene Haut straff gespannt war. »Wir gehen in sechzig Sekunden in den Hyperraum!« meldete der Pilot. »Ausgezeichnet!« sagte ich. Die Prospektoren, von denen der Kopf, die Schriftrollen und die Grabbeigaben entdeckt worden waren, schienen fest davon überzeugt zu sein, daß sie den legendären Gargeon-Kopf gefunden hatten. Dieser Kopf eines uralten kelerischen Herrschers sollte seinem Besitzer Macht, Glück und Ansehen verschaffen. Auf dem Umweg über wissenschaftliche Anerkennung stimmte dies zweifellos, aber man glaubte an eine mythologische Wirkungsweise. Noch bevor die Zeiger sprangen, noch bevor die Sterne von den Bildschirmen verschwanden, schienen sich alle bösen Vorzei-
ziehende Schwindelgefühl, das ich schon mehrmals gefühlt hatte. Erste Lichtpünktchen begannen zu tanzen und zu schwirren. Ich wußte, was mir bevorstand, und seltsamerweise kümmerte mich das weitere Schicksal des Körpers von Urgiah Haiden Moos nicht einen Deut. Der Wirbel wurde schneller, rasender, er erhellte diesen winzigen Ausschnitt des Laderaums und wurde zur Spirale, zur Säule, zu einer irrlichternden Erscheinung. Ich hörte, bevor ich bewußtlos wurde, den klagenden Schrei des kleinen Vogels. »Urgiah! Was ist los mit dir?« Und dann erwachte meine Seele wieder in einem anderen Körper. 7. Der akonische Kugelraumer, dessen Kommandant ich war, raste mit höchstmöglicher Geschwindigkeit seinem Ziel zu. Vor zwei Stunden waren wir in aller Hast, aber keineswegs in Panik, gestartet. Der fünfte Planet, Sphinx, im Blauen System, war das Ziel. Und das DING starrte mich aus leeren, bösartig durchscheinenden Augenhöhlen an. Die letzten Energiefunken vergingen, ohne daß die kleine Besatzung der Zentrale es gemerkt hatte. Panthio Aggion, der Oberaufseher des wichtigen Eiltransports, besaß nun einen anderen Verstand und eine andere Seele. Meine, Chapats, Seele. Ich schob schnell das Memory ein und drehte langsam den Kopf, um auf die Schildschirme zu sehen. »Aggion! Ich habe ein schlechtes Gefühl!« sagte der Pilot plötzlich heiser. Der Mann mit dem tiefschwarzen Haarschopf und der Samthaut hob unruhig die Schultern. »Wieso? Funktionieren die verdammten Maschinen nicht?« fragte ich zurück und musterte das Gewimmel der Sterne und Sonnen im Raum des Galaktischen Zentrums. Ich wußte, wie wichtig unsere Mission war, aber ich wußte mehr. Der Fluch der Kelerer lastete auf uns, dem Transport und dem Schiff. Und auf dem DING. »Die Maschinen sind es nicht. Es ist die Stimmung. Ich sage Ihnen, Aufseher, auf dieser Fahrt passiert etwas Furchtbares!« Ich verlieh meiner Stimme einen harten, schneidenden Klang und antwortete kurz: 38
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele »In Ordnung.« Ich verließ nachdenklich den Reaktorraum und sah zu, wie die Männer mit Angst und Widerwillen den Körper bargen und sich von den Maschinen helfen ließen. Eine traurige und letzten Endes überflüssige Zeremonie – warum war das geschehen? »Vielleicht hat er sich umbringen wollen?« murmelte einer der Männer. »Glaubt mir, es ist das DING! Es hat ihn umgebracht!« Ich ging nachdenklich zurück in die Zentrale. Das Schiff befand sich bereits in ultralichtschneller Fahrt und raste dem Ziel entgegen. Es würden noch rund zehn Tage vergehen, bis wir auf Sphinx landeten. Der erste Alarm war vorbei. Während ich von der Zentrale aus strenge Sicherheitsmaßnahmen anordnete und mir überlegte, wie vierzig Männer, von Panik geschüttelt, reagieren würden, dachte ich über den Fund nach. Er stand dort drüben auf dem Kartentank und grinste mich blicklos an. Die Kelerer waren ein uraltes Volk. Es mußte zwanzig oder mehr Jahrtausende her sein, als sich die letzte Spur der Lebenden verlor. Aber die Spur der Toten wurde häufig wiedergefunden. Bauwerke, unterirdische Anlagen, versunkene Städte – und schließlich auf Xaladosch dieses riesige, annähernd spitzkegelige Grabmal mit den vielen Geheimgängen. Auf vielen Planeten hatten akonische Raumfahrer wichtige Ausgrabungen gemacht, aber sämtliche Funde hatten nicht genügt, uns ein annähernd klares Bild dieses verschwundenen Volkes zu geben. Vielleicht brachte uns der Kopf ein Stück weiter. Er war der einzige Rest eines Körpers in der Grabkammer gewesen. Dazu einige Dutzend zeremonieller Waffen, ein Bündel unentzifferbarer Lettern und einiger Pläne, auf Metallfolien gedruckt oder geätzt. Das gesamte Zubehör lagerte in temperaturisolierten Kisten in einem Laderaum. Den Kopf mit dem goldenen Stirnreif hatte ich an mich genommen und in der Zentrale aufgestellt. Hatte der Kopf den Fluch, der nach der Sage auf ihm und seinem Träger lastete, bereits einmal bewiesen?
chen zu bewahrheiten. Ich wußte es anders, denn ein Akastos-Aufseher glaubt nur an die realen Dinge des Lebens. Plötzlich aber ... Der Summer aus dem unteren Teil des Schiffes stieß eine Reihe bösartiger Geräusche aus. Ein Licht blinkte auf dem Armaturenbrett. »Alarm im Reaktorraum!« schrie der Pilot aufgeregt. »Aber kein Maschinenalarm.« Ich legte die Hand an den Kolben der Waffe, sprang aus meinem Sessel und rannte aus der Zentrale. Ich spurtete über Korridore, Treppen und Rampen, hechtete in einen Antigravschacht und riß das strahlensichere Schott zum Reaktorraum auf. In der gleichen Sekunde gellte mir ein langgezogener, qualvoller Schrei in die Ohren. Der Schrei riß ab, als ich, wild um mich blickend, den Grund erkannte. Es war der Todesschrei eines Akonen gewesen. Zwischen zwei schweren Isolatoren hing der schmorende Körper eines der Besatzungsmitglieder. Aus allen Fingern zuckten Lichtbogen. Es roch und stank unbeschreiblich. Während ich dieses schreckliche Bild registrierte, handelte ich bereits mit der Schnelligkeit langer Übung. Ich sprang schräg seitwärts auf das Pult zu und riß einen Hauptschalter herunter. Die Reihe der peitschenknallähnlichen Entladungen riß ab. Krachend fiel der kochende Körper zu Boden. Winselnd liefen zusätzliche Entlüfter an. Jetzt kamen auch die ersten Männer in den Raum und blieben betroffen stehen, als sie die Wahrheit erkannten. »Der Gargeon-Kopf ...!« flüsterte einer mit krächzender Stimme. Ich fuhr herum und sagte scharf: »Keine Panik! Seid ihr Kinder, die an Märchen glauben? Er hat sich bei der Reparatur zu weit herangewagt!« Ich deutete auf den halbautomatischen Tester mit seinem Spezialwerkzeug. Warum der Elektriker sich aber einem Netz, das unter Hochspannung stand, genähert hatte, würden wir wohl nicht erfahren. »Bringt die Roboter. Sie sollen ihn in Folie verschweißen und aus der Schleuse schieben. Wir werden eine Gedenkminute halten.« 39
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele schwierige Ausbildung bezahlt. Ich feuerte innerhalb einer Sekunde drei präzis gezielte Schüsse ab. Der erste traf die Lanze im vorderen Drittel, zerfetzte sie und verwandelte die Feuerzunge in einen weißen, verpuffenden Glutball. Die Wucht der Detonation schleuderte die Kisten auseinander und den Roboter drei Meter auf die Tür zu. Der zweite Treffer verschmorte die Energiebank der Maschine. Generator und Zündung fielen aus, der klobige Robot begann sich zu drehen und richtete die abgebrochene, funkensprühende Lanze auf mich. Der dritte Schuß zerfetzte sein Steuerzentrum. Ich ließ die Waffe fallen, hechtete auf den Feuerlöscher zu und riß den Verschluß auf Schaum und Pulver breiteten sich aus, als ich die Düse auf die kostbaren Kisten richtete und dann erst auf die brennenden oder glühenden Teile der ruinierten Maschine. Dann gab ich Alarm. Es ist überflüssig zu sagen, daß sich trotz zweitägiger schärfster Verhöre auch in diesem Fall kein Schuldiger fand. Es war eine technische Unmöglichkeit, aber am Schluß war ich selbst überzeugt davon, daß der Robot sich dieses Gerät selbst geholt und ohne jeden Befehl auf die Kisten gerichtet hatte. Ein besonders ironischer Punkt dabei war, daß wir uns mit diesen Mehrfachlanzen den Zugang zu der unterirdischen Grabkammer gebahnt hatten. In ihr hatten wir dann das DING gefunden.
Ich biß mir auf die Unterlippe und begann einen Rundgang durch das Schiff. Ich fürchtete nicht das DING, sondern die Furcht der Mannschaft. * Vierzig Männer. Unter ihnen nur noch ein Akasto-Angehöriger. Es war der wissenschaftliche Leiter der Ausgrabungen, der seit eineinhalb Tagen ununterbrochen in seiner Kabine saß und die Aufzeichnungen und Photos zu entschlüsseln versuchte. Hin und wieder hörte ich in den Nächten das Rattern und Summen der Rechenmaschinen und der peripheren Geräte; dann versuchte er, einen Schritt weiterzukommen. Ich ging nun, in der vierten Nacht seit dem Start, an seiner Kabine vorbei und unwillkürlich in die Richtung des Laderaums, in dem die versiegelten Kisten standen. Seit einigen Minuten brummte und fauchte etwas dort hinten. Mir war das Geräusch erst jetzt aufgefallen. Ich faßte zur Sicherheit noch einmal in meine Tasche und packte das Ischtar-Memory fester an. Es war, als ströme die Kraft meiner Mutter auf mich über. Meine Schritte wurden schneller. Ich bog um eine Krümmung des Ringkorridors. Das Summen und Fauchen wurde lauter, ganz plötzlich schlug das Fauchen in ein häßliches Zischen über. Ein Geräusch, als ob Luft unter hohem Druck aus einer Leitung schoß. Ich begann zu rennen und zog wieder meine Waffe. Dies war der zehnte Zwischenfall ohne jede Erklärung. Das Schott stand offen. Ein Blick zeigte mir, daß der Laderaum ohne jede Gewaltanwendung geöffnet worden war. Ich holte Luft und riß das Panzerschott auf. In der Mitte des Raumes stand ein klobiger Reparaturrobot. In seinen mechanischen Armen hielt er eine drei Meter lange Schweißlanze. Der Ultraschallgenerator summte in höchsten Tönen. Die Mischung aus vier hochverdichteten Gasen, die mit einer zwei Meter langen, völlig weißen Stichflamme aus der Lanzenspitze hervorschoß, richtete sich auf die vorderste der Containerkisten mit den unersetzlichen Funden. Wieder machte sich meine lange und
* Man hatte mich gerufen und losgeschickt, um den Transport zu leiten. Man versprach sich vom Aufseher Panthio Aggion eine fehlerlose und schnelle Aktion, die ohne jeden Verlust durchgeführt wurde. Bisherige Bilanz: ein Toter, vermutlich Selbstmord. Ein demolierter Robot, zwei detonierte Sprengkörper, ein ausgefallener Schnelldrucker, eine Giftgasflasche in der Luftaufbereitungsanlage, die wir noch rechtzeitig gefunden hatten, eine ausgefallene Kühlkammer, in der sämtliche Lebensmittel verdorben waren. Und ein um Mitternacht geschleuderter spitzer Hammer, der den Kasten und den Schädel nur um Fingerbreite ver40
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Die Augen und die Münder verrieten mir, daß sie unter einer ungeheuren Nervenanspannung standen. Plötzlich begriff ich. Ziemlich genau im Mittelpunkt aller Männer befand sich der Gargeon-Kopf, das DING. »Nichts Besonderes, Aufseher!« erwiderte ein hünenhafter Mann, den ich bisher als wahren Felsen der Zuverlässigkeit erlebt hatte. »Mir scheint, ihr seid nervös!« sagte ich. Ich entschloß mich, das Problem frontal anzugehen. »Dieser Kopf dort macht uns unruhig. Er soll Ihnen Macht bringen, Aufseher, stimmt das?« Ich legte meine Hände deutlich sichtbar auf die Lehne meines Sessels und blieb dahinter so stehen, daß ich durch den Sessel vor den meisten Anwesenden halb geschützt war. »Sie reden Unsinn, und Sie wissen es auch«, sagte ich streng. »Ich brauche keine Macht, und das bißchen Einfluß, das ich mühsam erkämpft habe, reicht mir. Zum Beispiel jetzt und hier: ich benutze meine ganze Macht, um der Mannschaft die Angst vor dem Fluch aus der Vorzeit auszutreiben.« Die Männer bewegten sich. Einige stellten ihre Becher ab und lehnten plötzlich nicht mehr an den Wänden oder an Konsolen. Nur der Pilot schien seine Ruhe zu bewahren. »Dieses Ding hat uns alle verrückt gemacht, Aufseher ...« »Ihr habt euch selbst verrückt gemacht!« rief ich. »Wie könnt ihr an einen solchen Unsinn glauben? Das ist nichts anderes als ein alter Schädel ohne jede magische Wirkung!« Der Schädel in seinem durchsichtigen Kasten schien tonlos zu kichern und mich zu verspotten. Ich blickte langsam, während mir der kalte Schweiß ausbrach, von einem Gesicht zum anderen. Ohne Zweifel: Die Krisis stand kurz bevor. Sie waren alle verhext. Als ob dieses Ammenmärchen wahr gewesen wäre, daß der Kopf einen Mann behexen könnte. Jedenfalls spürte ich, wie sich Mißtrauen und Panik, Wut und Haß auf mich konzentrierten. »Das mag schon sein!« »Jedenfalls ist unsere Reise verflucht!« »Wir hätten den Schädel wegwerfen sollen!« Von allen Seiten prasselten die Vorwürfe auf mich ein. Unerschütterlich hantierte der
fehlte und genau dort steckenblieb, wo sich mein Kopf befunden hätte, wenn ich nicht in einem anderen Konturensessel geschlafen hätte. Und einige kleinere, unwesentliche Vorfälle. »Es gärt, mein Lieber«, sagte Fergolese, mein Akasto-Kollege, und blickte von dem Okular hoch. »Es gärt in der Mannschaft. Ich verriegle immer mein Schott, weil mir mein Leben lieb ist. Wir haben noch mehr als zwei Tage bis zur Landung, und ich sage Ihnen, daß der Höhepunkt noch nicht überschritten ist.« Noch immer galt Alarmstufe Eins, das bedeutete ununterbrochene Wachsamkeit an allen Plätzen und häufige Ablösung. Ich lehnte mich zurück und hob das Glas. Wir saßen in seiner Kabine, die inzwischen jener Totenkammer glich; überall befanden sich Aufnahmen, Pläne, Deutungsversuche. »Ich war gestern in der Messe beim Abendessen. Ich kam mir vor wie ein Aussätziger«, sagte ich. »Sie sprachen kein Wort. Sie schlangen das Essen herunter und hätten sich betrunken, wenn es Schnaps gegeben hätte.« Der Kopf in Form eines dreidimensionalen Photos grinste uns an. Fergolese sagte leise: »Heute und morgen, Aggion, das sind die gefährlichsten Nächte. Ich glaube, Sie sollten austrinken und gehen. Lassen Sie die Männer keine Sekunde aus den Augen.« »Sie haben recht!« Ich stand auf, trank das Glas leer und schob ein frisches Magazin in meine Waffe. Dann verabschiedete ich mich und verriegelte das Schott sorgfältig hinter mir. Wieder begann ich einen langen, schweigenden Marsch durch das Schiff und bemühte mich, die Dinge zu erahnen, die passieren konnten. Nach einigen Stunden kam ich wieder in die Zentrale. Ich blickte überrascht auf das gute Dutzend Männer, die, abgesehen vom Piloten und Navigator, sich in dem Raum befanden. »Was ist los, Freunde?« fragte ich leicht beunruhigt. Sie befanden sich an allen Ecken des Raumes. Scheinbar zwanglos, Becher mit heißen Getränken in den Händen, standen sie herum und bewegten sich gezwungen und unecht. 41
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele stoffkasten. Ich mußte das Symbol zerstören, denn damit konnte ich den Wahn meiner Leute aufbrechen. Ich zielte genau und lächelte innerlich; einem Mann, der das Akastotraining überlebt hatte, fielen noch immer gute Ideen ein. »Ihr Idioten!« sagte ich. »Ihr zwingt mich dazu. Blickt auf den Kopf! Seht das DING an!« Sie gehorchten, als wären sie hypnotisiert. Dann feuerte ich. Ich hatte eine günstige Ladungsstärke gewählt und traf die Kante des Kunststoffkastens. Der Würfel wurde zur Seite gerissen, das Material ging schlagartig in Flammen und stinkenden Rauch auf und wurde zwischen zwei Männern gegen die Wand geworfen. Die Besatzungsmitglieder wichen zurück. Ich schoß ein zweitesmal und traf eine andere Kante des Würfels, der noch durch die Zentrale flog und rollte. Das Donnern der beiden Schüsse schien den Piloten nicht berührt oder gar erschreckt zu haben. Er steuerte das Schiff weiterhin ungerührt, beide Hände an den Kontrollen. Ich behielt die Waffe in der Hand und warf einen langen Blick auf den schmorenden Klumpen, der zwischen Wand und Boden klebte und vor sich hin rauchte. Dann sagte ich: »Ich habe den Kopf zerstört. Der Fluch ist von uns genommen! Ihr könnt jetzt gehen. Der Flug wird ohne Zwischenfälle beendet! Wenn jemand will, kann er dem DING noch einen Fußtritt versetzen!« Einer der Männer begann zu lachen, ergriff seinen Becher und trank ihn aus. Er starrte mich an und sagte verlegen: »Ich weiß nicht, Aufseher Aggion, was das war. Ich glaube, dieses komische Gespenst hat uns irgendwie geärgert. Nichts für ungut!« Ich zwang mich zu einem lauten Lachen und steckte die Waffe weg. Es schien, als hätte ich gewonnen. »Macht nichts«, erklärte ich wie leichthin. »Macht absolut nichts. Ich hoffe, der Rest des Fluges geht ohne Pannen vorbei.« »Darauf können Sie sich verlassen!« Verlegen schob sich einer nach dem anderen an mir vorbei. Sie verließen die Zentrale, und es war ihnen deutlich anzusehen, daß sie sich über sich selbst schämten und wunderten.
Pilot an seinen Hebeln und Reglern. Jede Stunde, die ich gewinnen konnte, sicherte der akonischen Wissenschaft einige enorm wichtige Erkenntnisse. Ich hob den Arm und brüllte: »Ruhe!« Sie schwiegen, blickten mich verstört an und schoben sich näher. Wie ein Magnet schien das DING sie anzusehen. Diesen Namen hatte der Schädel schon bekommen, als wir ihn im Licht der Scheinwerfer in der aufgebrochenen Grabkammer zum erstenmal gesehen hatten. »Was brüllen Sie hier herum, Aggion?« Ich zog langsam meine Waffe, entsicherte sie und legte sie vor mich auf die Sessellehne. Dann sagte ich ruhig und unheildrohend: »Es war am Anfang nur eine Idee. Die Idee nämlich, daß unsere Funde mit einem Fluch behaftet sind. Sie sind es so wenig wie ein Stück Stein oder eine versteinerte Pflanze. Aber ihr verdammten Narren habt jeden Zufall mit dem Gargeon-Kopf in Verbindung gebracht, habt teilweise selbst Sabotageakte verübt und euch gegenseitig wie alte Weiber in Panik hineingesteigert. Und jetzt steht ihr hier und wollt mich überfallen. Ihr seht die Tatsachen ganz einfach nicht! Der Fluch liegt auf euch, aber nicht auf dem Kopf und auf dem Schiff. Verschwindet! Verlaßt die Zentrale! Geht in eure Kojen und schlaft euch aus! In zwei Tagen ist alles vorbei, und ihr könnt eure Ängste mit Alkohol fortspülen!« Sie kamen näher heran und bildeten um mich und den Kopf eine drohende Mauer. Plötzlich bewegten sie sich wieder schnell. In ihren Augen stand heller Irrsinn. Sie waren nicht mehr unter der Kontrolle ihres eigenen Verstandes. Ich zählte sie: vierzehn Männer. Sie würden mich in Stücke reißen können, mit bloßen Händen. Wenn ich einen von ihnen niederschoß, wäre dies ein Signal und trotz meiner Gegenwehr würden sie mich bekommen. Ich nahm die Waffe in die Hand und schrie laut: »Halt!« Es war, als kämen die meisten von ihnen zu Bewußtsein. Sie hielten an und gingen nicht mehr weiter. Ich hob den Arm und richtete die Mündung der Waffe auf den Kopf im Kunst42
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Körper seinerseits steckte in einem Behälter. Die Innenseiten fühlten sich an wie weiches Glas. Chapat war wieder vollkommen! Ich fühlte den Druck des Ischtar-Memorys gegen meinen Schenkel. »Mein Sohn! Wieder spricht deine Mutter Ischtar zu dir!« Die Stimme traf mich unvorbereitet. Ich erschrak, aber der warme Klang der Stimme beruhigte mich binnen kurzer Zeit. Meine Mutter sprach mit mir aus dem Memory. »Ja!« flüsterte ich und wartete zitternd auf die nächsten Worte. »Du wirst jetzt in deinem eigenen Körper schlafen und warten. Es wird eine lange Zeit werden, denn ein gewisses Datum muß erreicht werden. Sei unbesorgt, es wird dir nichts geschehen.« Es klang nicht wie eine gespeicherte Stimme, sondern wie der vollkommene Eindruck, den nur ein lebendiger Sprecher vermittelt. Beruhigend fuhr Ischtar fort: »Du bist sicher in einer Höhle untergebracht. Die Höhle liegt unter der Oberfläche des Mondes Gostacker, der Mond des Planeten Gostack. Die Namen werden erst später für dich eine Bedeutung erlangen. Es ist in gewissem Umfang möglich, kosmische Ereignisse zu berechnen. Dies ist geschehen. Ein gewisses Datum ist errechnet worden, an dem man dich aufwecken wird. Von diesem Augenblick an wirst du auf eine Wanderschaft gehen und deine Bestimmung erfüllen. Du wirst jetzt einschlafen. Ich und das Ischtar-Memory werden über dich wachen.« Die Stimme wurde immer leiser, und gleichzeitig erfaßte mich eine tiefe, unwiderstehliche Müdigkeit. Meine Augen wurden schwer, meine Glieder von einer Art Lähmung befallen. Ich schlief ein.
Ich ging in die Ecke und sah nach. Das winzige Prallfeld, das den wertvollen und unersetzlichen Kopf vor Erschütterungen schützte, hatte auch die schwache Energie des Schusses absorbiert. Der Kunststoff war zu einer Art runzliger Kugel zusammengeschmort, aber das Feld hatte ausgehalten. Ich hob die Reste auf, löschte sie mit einem Strahl Wasser ab und schob sie in den Safe der Zentrale. Dann atmete ich auf. Gleichzeitig erfaßte mich ein Schwindel. Ich kannte die Symptome. Ich beugte mich über den Piloten und sagte: »Mann! Sie haben wirklich Mut bewiesen. Ausgezeichnet. Ich danke Ihnen!« Ich schlug ihm leicht auf die Schulter. Der Mann kippte nach vorn, sein Kopf schlug schwer auf das Armaturenbrett, die Hände glitten von den Hebeln. Langsam rutschte der Körper in den freien Raum zwischen Pult und Sesselvorderkante. Als er mir den Rücken zudrehte, hilflos schlenkernd wie eine Puppe, sah ich den Griff eines Messers aus dem Rücken hervorragen. Es war eine der alten Opfergaben, die wir neben dem Gargeon-Kopf gefunden hatten. Der Pilot war tot. Das Schwindelgefühl wurde stärker. Ich sah um mich herum die ersten Funken des Energiewirbels entstehen. Sie wurden zahlreicher und schneller und hüllten mich ein. Das Ischtar-Memory in meiner Tasche sandte wieder seine geheimnisvolle Kraft aus, und ich wurde fortgerissen und bewußtlos. 8. Dunkelheit umgab mich. Eine unirdische Ruhe war um mich herum. Aber das Gefühl, das ich hatte, als ich wieder erwachte und die letzten Energiefunken davonstieben sah, war gut. Ich horchte in mich hinein und versuchte, etwas in dem neuen Körper zu finden, in den ich auf meiner langen Wanderschaft gekommen war. Aber da gab es nur den Eindruck von Harmonie und Beruhigung. »Es ist mein eigener Körper!« murmelte ich verblüfft. Ich tastete um mich herum. Ich befand mich in meinem eigenen Körper, und der
* Chapat löste sich aus seiner starren Haltung und lehnte sich zurück. »Ich wurde auf Gostacker geweckt, das ist klar. Die weitere Handlung ist uns allen bekannt. Ich wurde geweckt und trat eine verrückte und gefährliche Irrfahrt an, die hier im 43
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Atlan zuckte zusammen, zwang sich zur Ruhe und fragte zurück: »Worin besteht sie?« »Ich bin geschickt worden, um dich zu treffen und zu erkennen.« »Das ist klar. Wir wissen es!« murmelte Atlan. Seine Gedanken schweiften zurück zu Ischtar, der Goldenen Göttin. Er sah ein, daß die wenigen Kontakte, die er mit Ischtar gehabt hatte, einen starken Eindruck hinterlassen hatten. »Ich bin gekommen, um dich heimzuholen, Atlan!« sagte Chapat gepreßt. Der Eindruck war nicht nur stark, sondern hatte auch die Zeit überdauert und den Abgrund des Vergessens, der zwischen damals und heute lag. Lasse dich nicht zwingen! Die Situation kann aus deinen Händen gleiten! meldete sich warnend der Extrasinn. »Heimzuholen? Wohin?« »Zu Ischtar!« Das ist eine Falle! Wehre dich! Betroffen erwiderte der Lordadmiral: »Das kann nicht wahr sein. Ischtar muß längst tot sein, Chapat!« »Sie lebt. Ich soll dich zu meiner Mutter bringen. Sie wartet auf dich und mich.« Plötzlich mischte sich in die Spannung des Raumes ein anderer, fremder Eindruck. Tekener und Atlan waren geschult, solche ungreifbaren Eindrücke aufzunehmen. Sie besaßen einen speziell geschulten Verstand oder ein hochentwickeltes Gefühl für bösartige, drohende Stimmungen. »Ischtar wartet auf uns?« Atlan versuchte, die Zeit bis zu einem Punkt auszudehnen, an dem er klarer sah. Er glaubte nicht, was Chapat sagte. Aber er würde es wohl glauben müssen, wenn er sich mit der Wahrheit konfrontiert sah. »Sie wartet auf dich und mich, Vater. Sie braucht uns! Ischtar braucht deine Hilfe!« Chapat litt sichtlich. Er klammerte sich an die Lehne des Sessels fest. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Die nächsten Worte stieß er keuchend hervor. »Ischtar braucht uns, Vater!« »Wo ist Ischtar?« knurrte der Arkonide. Plötzlich standen sämtliche Erinnerungen an die Goldene Göttin klar vor ihm. Er beg-
Büro Atlans endete.« Ronald Tekener und Lordadmiral Atlan waren sichtlich beeindruckt. Ihnen war nicht entgangen, daß es sich bei diesen Erzählungen um die Wahrheit handelte. Der junge Mann schwieg. Atlan starrte ihn an. Wieder wurde ein Gefühl in ihm stärker und stärker, das er noch niemals gekannt hatte. Chapat mußte sein Sohn sein. Der junge Mann, der ihm so ähnlich sah – und auch einen ähnlichen Weg durch die Zeit und den Raum hinter sich hatte, schien am Ende seiner Erzählungen angelangt zu sein. Mit erzwungener Ruhe fragte der Arkonide: »Du hast das Ischtar-Memory vor dir. Ich bin sicher, daß dieser Kreisel unser Zusammentreffen herbeigeführt hat.« »Ischtar sagte«, meinte Chapat leise und unter starkem innerem Zwang, »daß kosmische Ereignisse bis zu einem bestimmten Punkt berechenbar sind.« »Vermutlich ist das Zusammentreffen berechnet worden. Ich halte es für möglich, Sir!« Tekener, der Aktivatorträger, nickte. Auch er hatte erkannt, daß die Goldene Göttin dieses Zusammentreffen vorausberechnet und in perfekter Regie aus dem Unsichtbaren arrangiert hatte. Vater und Sohn wußten jetzt mehr voneinander. Tekener sagte nichts mehr, aber er wartete auf die Fortsetzung. Er wußte förmlich, daß in unmittelbarer Zeit etwas geschehen würde. »Ich weiß es, Ronald!« erwiderte Atlan. Chapat stand auf und begann eine unruhige Wanderung durch den großen Raum. »Du sprachst von einer Bestimmung oder einer Aufgabe, Chapat!« erkundigte sich Atlan vorsichtig. Er kann es noch nicht formulieren. Denke an deinen eigenen Zustand! sagte der Extrasinn. »Ich habe eine Aufgabe!« beharrte Chapat. Die zwei Männer blieben sitzen und beobachteten den jungen Arkoniden gespannt und konzentriert. Chapat ging hin und her. In seinem Innern schien ein lautloser, aber erbitterter Kampf stattzufinden. Schließlich blieb er stehen und starrte Atlan an. »Ich kenne meine Aufgabe, Vater!« 44
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele unter dem Zwang, der offensichtlich aus dem Memory kam. Ein Summen war plötzlich in der Luft. Es schien ebenfalls von dem Metallkreisel auszugehen. Dann erschienen um Chapats Hände winzige, stechend helle Funken. Sie begannen, Wirbel zu bilden. Der Arkonide begriff jetzt, daß derselbe Effekt, der Chapats Körper durch Zeit und Raum geschleudert hatte und die Seele des Mannes auf eine lange Wanderschaft geschickt hatte, auch ihn ergreifen konnte. Er wich abermals ein paar Schritte zurück. Chapat ging ihm nach und sah ihn anklagend und zugleich bittend an. »Komm, Vater! Lasse dich heimholen zu Ischtar!« rief Chapat und schloß die Augen. Der Arkonide wich nach links aus. Die energetischen Wirbel, denen die winzigen Funken folgten, wurden größer und bogen sich zu exakten Spiralformen. Du mußt aus dem Raum rennen! Du und Tekener! Der Sog reißt dich mit, tobte der Logiksektor des Arkoniden. Der Sessel fiel krachend um, als Tekener aufsprang und versuchte, hinter den Rücken Chapats zu kommen. Atlan schrie: »Zurück, Ronald! Ich kann mir selbst helfen!« Der Energiewirbel hüllte jetzt Chapat ein und wurde zu einer Spirale, die sich rasend schnell drehte. Die Spirale schob sich auf Atlan zu, der deutlich gegen den Sog ankämpfte. Verzweifelt gestikulierte Tekener und schien bereit, seinen Paralysator auf Chapat abzufeuern, aber Atlan hatte jetzt den Griff des Schotts in den Händen. Noch drei Meter trennten ihn und Chapat, dessen Gestalt hinter dem säulenförmigen Wirbel langsam verblaßte. Auch die Stimme Chapat wurde leiser und undeutlicher. »Atlan ... du kommst mit mir ... wir gehen dorthin ... wo meine arme, gequälte Mutter ist ... es ist die letzte Chance ...« »Ich kann nicht!« Atlan riß das Schott auf und stürzte hinaus. Die Beleuchtung in allen Räumen begann zu flackern, so daß man nichts mehr deutlich erkannte. Die glühende Säule war jetzt fast massiv und drehte sich rasend schnell. Chapat war unsichtbar geworden. Nur seine Stimme erfüllte zugleich mit dem röhrenden Brausen
riff, daß er sie auf eine ganz besondere Art noch immer liebte. Auf alle Fälle war seine Sehnsucht nach ihr nicht erloschen. Er mußte sie sehen und ihr helfen. »Wo immer sie ist, sie braucht uns! Sie wird uns zu sich holen!« Du mußt dich wehren, du armer Gefangener deiner Sehnsucht! tobte der Extrasinn. Chapat wird zur Gefahr! Er wird dich in tödliche Abenteuer verstricken! Auch Tekener saß gespannt da. Seine Hand lag unter der Jacke auf der Waffe. Er war bereit, dem anderen Aktivatorträger zu helfen. Seine Gedanken gingen in eine ganz bestimmte Richtung. Er verfolgte mit zitternden Nerven das Duell der beiden Männer, das in Wirklichkeit ein Duell zwischen Atlan und der Varganin war. »Ich werde nicht mit dir gehen können, mein Sohn!« sagte Atlan. »Warum nicht?« Chapat bewegte sich hinter dem Sessel hervor und ging wieder auf seinen Platz zu. Er starrte wie hypnotisiert das Ischtar-Memory an. »Weil ich andere Pflichten habe. Ich habe dich aus den Fingern Zharadins geholt, aber ich muß in meiner Welt bleiben. Meine Aufgabe ist es, hier zu sein und zu helfen.« »Aber Ischtar braucht dich!« »Es gibt viele andere, die mich auch brauchen. Ganze Planeten, nicht einzelne Personen.« »Ischtar ist meine Mutter! Du mußt mit mir gehen, Vater!« Selbst wenn du es tust, schrie der Extrasinn. Du wirst Ischtar verändert finden! Eine Wandlung ins Böse und Gefährliche ist mit ihr geschehen. Rette dich! Verlasse den Raum, Arkonide! Die Spannung wurde unerträglich. Atlan stand auf und wich zurück. Chapat griff nach dem Memory und hielt es plötzlich in der Hand. Er hob es Atlan entgegen, quer über den Tisch. Zurück! Flüchte! »Was tust du, Chapat?« rief Tekener schneidend und hielt plötzlich die Waffe in der Hand. Atlan winkte ab. »Ich hole Atlan zu Ischtar!« schrie Chapat. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Er stand 45
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele innerung haben. Ischtar ist nicht mehr die Frau, die ich kenne. Sie hat sich verändert. Oder etwas hat sie verändert.« »Es hätte mich umgebracht, wenn ich mit Chapat gegangen wäre.« Er trank aus. »Chapat war nur ein Werkzeug«, meinte Tekener versonnen. »In dem Augenblick, wo dieses rätselhafte Memory zu wirken begann, war er nicht mehr dafür verantwortlich, was er tat.« »Also wollte nicht er, sondern Ischtar mich mit dem energetischen Strudel entführen!« schloß Atlan. »Das glaube ich fest!« Sie waren allein mit ihren Überlegungen. Je länger sie über alles Geschehene nachdachten, desto mehr drängte sich ihnen die Überzeugung auf, es wäre ein schrecklicher Traum gewesen. »Sir?« Atlan sah Tekener an und setzte sich. Er war erschöpft, und in gewisser Weise war er auch traurig darüber, daß sein Sohn so plötzlich verschwunden war. »Ich glaube, ich hätte doch mit ihm gehen sollen«, sagte Atlan schließlich. »Es wäre meine Pflicht gewesen, ihm und Ischtar zu helfen. Aber mein Selbsterhaltungstrieb hat das verhindert.« Tekener widersprach energisch. »Ich kann Ihnen nicht recht geben. Ihr Leben ist so abenteuerlich verlaufen, daß Sie es nicht nötig haben, sich risikofreudig in eine Auseinandersetzung um eine Gestalt aus der Vergangenheit zu stürzen. Sie haben richtig gehandelt.« »Unbewußt, Ronald!« Die Reaktion trat ein. Sie schwiegen und dachten nach. Sie hatten nicht mehr die geringste Chance, am Ausgang der Handlung etwas zu ändern. Wenn Ischtar wirklich so mächtig und einflußreich war und sich tatsächlich in höchster Gefahr befand, würde sie es zweifellos schaffen, auf eine andere und weniger phantastische Art Atlan um Hilfe zu bitten. Außerdem hatte sie ihren Sohn bei sich – er konnte und würde ihr helfen. »Haben wir das eigentlich geträumt?« fragte Atlan nach einer Weile. Tekener schüttelte den Kopf.
die Räume. Mit übermenschlicher Kraftanstrengung warf sich Atlan vorwärts, denn der energetische Sog zerrte schon an ihm. Chapats Stimme war noch undeutlicher geworden, aber Tekener und der Arkonide hörten: »... war unsere letzte Chance ... es gibt nur einen Weg zu Ischtar ... ich komme, Mutter ... Atlan! ... ich werde nicht mehr zu dir zurückkehren können ... mein Vater ... komm mit mir ... ehe es zu spät ist ... nein ...« Ein puffendes Geräusch. Die Energiesäule verschwand, nur noch ein paar leuchtende Partikel trieben auf spiraligen Bahnen an der Stelle, an der das IschtarMemory Chapat fortgerissen hatte – in eine andere Zeit, in einen fremden Raum oder auf eine gänzlich andere Daseinsebene. Atlan, von seinem eigenen Schwung vorwärtsgeschleudert und nicht mehr im Feld des Energiesogs, stolperte und überschlug sich auf dem Boden des Nebenraums. Tekener sprang über den Tisch, ließ seine Waffe fallen und war eine Sekunde später neben dem Arkoniden. Er half ihm wieder auf die Füße. »Etwas passiert, Sir?« Atlan schüttelte schweigend den Kopf. Er stand noch unter dem Schock der plötzlichen Erkenntnis dessen, was er erlebt hatte. »Nichts passiert. Danke!« Tekener ging zur Bar, öffnete sie und kehrte mit zwei vollen Gläsern zurück. »Das war knapp, Sir. Ich sah Sie bereits mit Ihrem Sohn davongeschleudert. Haben Sie eine Ahnung, wohin ihn das Memory getragen hat?« »Nicht die geringste Ahnung!« murmelte Atlan und nahm einen Schluck aus dem Glas. Sie sahen sich an und schwiegen. Atlan hatte seinen Sohn unter dramatischen Umständen getroffen und kurz darauf wieder verloren. Der Sohn war angeblich seiner Mutter zur Hilfe geeilt. Atlan wußte, daß seine bisherige Erinnerung an die Goldene Göttin gut war. Er fürchtete sich selbst jetzt noch davor, diese Erinnerung zu zerstören. »Und zweifellos«, sagte er mehr zu sich selbst und betrachtete die goldene Flüssigkeit im dünnen Glas, »würde ich eine andere Er46
ATLAN 139 (175) – Die wandernde Seele Sein Extrasinn meldete sich wieder und wisperte: Du solltest auf alles vorbereitet sein, Arkonide. Dort, wo sich die Grenze vom Realen mit dem Unwirklichen verbindet, ist alles möglich. Alles ...
»Nein. Und ich persönlich bin sicher, daß sowohl Sinclair Marout Kennon, der in der Traummaschine liegt, als auch Chapat, Ihr Sohn, zumindest Ihren Weg kreuzen werden. Denken Sie daran, daß es in Ihren Träumen und in Chapats Seelenwanderung keine Grenzen von Raum und Zeit und Ort gab.« Atlan murmelte: »Ich bin auf alles vorbereitet!«
ENDE
Damit endet ATLAN – Im Auftrag der Menschheit.
Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2005, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt 47