BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
WELT UNTER EIS von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nach dem ...
32 downloads
696 Views
357KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
WELT UNTER EIS von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nach dem Scheitern der ersten Marsmission, sucht ein rätselhaftes Phänomen das Sonnensystem heim. Auf der Erde kommt es zu apokalyptischen Szenen, und Jupiter verwandelt sich in ein Schwarzes loch, aus dem heraus eine fremde Invasionsflotte Kurs auf die Erde nimmt. Durch genau dieses Black Hole verschlägt es die Besatzung der RUBIKON in eine unbekannte Region des Alls. John Cloud sowie die GenTecs Scobee, Resnick und Jarvis werden Zeugen einer Raumschlacht, an der irdische Schiffe beteiligt sind. Haben sie einen Zeitsprung in die Zukunft vollzogen? Und wenn ja, wie weit in die Zukunft? Die Schiffe, die von der Erde zu kommen scheinen, werden jedenfalls auch für die RUBIKON-Crew zur tödlichen Bedrohung, aus der Damok, ein Außerirdischer, sie rettet. Aber dieser Damok nennt Cloud und die GenTecs »Mörder seines Volkes« - und setzt sie rücksichtslos auf Kaiser, der Welt unter Eis, aus. Die Crew bekommt Kontakt mit den Nargen, geflügelten Humanoiden, die von Caar, ihrem Suprio, regiert werden - und bei denen es sich offenbar um die letzten Überlebenden einer einst stolzen Rasse handelt. Es kommt zum Konflikt. In einer Auseinandersetzung erleidet Caar schwerste Verletzungen, und auch John Cloud, der Astronaut von der Erde, verliert das Bewusstsein, als ihn in der Höhle des Suprio ein herabstürzender Balken unter sich begräbt... 1. In goldener Rüstung Er träumte von Engeln. Genauer gesagt: von einem Engel. Er stand hoch über ihm, im goldenen Schimmer seiner Rüstung und leuchtete in unwahrscheinlichen Farben. Ganz ruhig schwebte er in der Luft, umkränzt vom grellen Sonnenlicht. Die Flügel bewegten sich nicht, wie im Bildnis eines begnadeten Malers gefangen, der den Zauber und die Seele eines Moments bannen konnte. Dann war der Moment vorbei, das Bildnis zerstob in Tausende bunte Lichtpfeile, die kaleidoskopartig zerfaserten und in alle Richtungen davon schossen. Einer dieser Pfeile durchbohrte seine Brust, berührte sein Innerstes, seine Seele. Es war wunderschön. Doch dann traf ihn ein Holzbalken, riss ihn mit sich in die Tiefe, und es war nichts mehr außer Schwärze.
»... antworte mir. Cloud! Kannst du mich hören? So antworte endlich! « Mit dem Erwachen kamen die Schmerzen, und mit den Schmerzen drängten sich die Erinnerungen nach oben. Der Engel seines Traumes wurde zu Jiim, dem Nargen, und die Stimme, so sagte ihm sein langsam erwachendes Denken, war wohl die von Scobee. Auch wenn sie sehr gedämpft und von weit her klang. Clouds Kopf fühlte sich an wie in einen riesigen Wattebausch gehüllt; ein Schwarm tschilpender Vögel umkreiste ihn. »Ist ja schon gut, Scob. Ich höre dich.« Als er sich aufsetzte, verstärkte sich der Schmerz. »Bevor ich die Augen öffne, sag mir, ob ich alles richtig behalten habe: Wir sind in der RUBIKON zum Mars geflogen und waren gerade gelandet, als wir von einem fremden Raumschiff in Form eines Äskulapstabes angegriffen wurden. Wir wurden nach der Vernichtung der RUBIKON in dieses Schiff gezogen und von einem Raumschiff mit irdischen Schriftzeichen auf der Hülle gejagt, entkamen mit Hilfe eines außerirdischen Lebewesens, fanden uns auf einem fremden Planeten wieder, der von Vogelwesen bevölkert ist, und hatten eine kleine Auseinandersetzung mit dem Führer dieses Volkes. In Folge dieses Streits wurde ich von einem Holzbalken getroffen. Und deswegen brummt mir jetzt der Schädel.« Cloud hörte den Atem der Frau. Sie räusperte sich und sagte schließlich nüchtern: »Das ist annähernd korrekt, Ex-Commander John Cloud.« »Oh je«, sagte Cloud. »Ich glaube, mein Traum mit dem Engel hatte einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad als die so genannte Wirklichkeit.« »Wie bitte?« »Nichts, nichts, Scob. Lass mir nur ein paar Minuten Zeit, um zu mir zu kommen. Und besorg mir einen Whiskey mit rohem Ei, ein Alkaseltzer und einen Strohhalm.« »Ich befürchte, dass es hier...« »Ich weiß, ist schon gut. Gegärter Obstbrei wird's zur Not auch tun.«
Sie standen auf einem Podest in luftiger Höhe, auf der grob gezimmerten Gemeinschaftsplattform der vogelähnlichen Nargen. Jiim hielt sein Volk dank der besonderen Aura, die ihn umgab, im Bann. Die goldene Rüstung, die er trug,
bedeckte Rumpf, Brust und Rücken und einen Teil seiner Flügel. Sobald er diese bewegte, gingen von ihm regenbogenartige Lichtreflexe aus, die aus dem Inneren der Rüstung zu kommen schienen. Bei schnellerem Flügelschlag verstärkte sich der Anschein eines optischen Feuerwerks. Wenn Jiim heftig ruderte, konnte man glauben, in einen Strudel aus Farben gezogen zu werden. Das Sehen der Nargen, so viel hatten die Menschen mittlerweile gelernt, orientierte sich an Temperaturunterschieden. Hitze zeigte sich ihnen als Rot, Kälte als Blau. Cloud hatte keine Idee, wie sie den irrlichternden Effekt der Rüstung empfanden, doch er vermutete, dass auch sie einen äußerst ungewöhnlichen, vielleicht sogar angsteinflößenden Eindruck vermittelt bekamen. Jiim mochte sein Volk momentan im Zaum halten, dennoch spürte Cloud eine deutlich angestiegene Animosität der Nargen gegen die vermeintlichen Götterboten im Allgemeinen und gegen Scobee im Speziellen. Schließlich war sie es gewesen, die den Suprio verletzt hatte - wenn auch aus purer Selbstverteidigung. Caar, der Suprio, hatte nicht nur eine bedeutende Rolle als Führer des kleinen Volkes inne. Die Nargen lebten darüber hinaus in einem Verbund, den die Menschen inzwischen - mangels Vergleichsmöglichkeit - als morphogenetisches Netz bezeichneten. Das Wissen, das sich ein einzelner Narge aneignete, floss jederzeit ohne dessen willentlichen Zutuns auf alle anderen seines Volkes über, Es gab allerdings eine Grenze zwischen Wissensweitergabe und Intimsphäre. Diese zu bestimmen, war den Erdenmenschen bislang nicht möglich gewesen. Eines jedoch stand fest: Der Suprio hatte außerhalb des Netzes gestanden und sein Wissen über die erstaunliche Vergangenheit der Nargen geheim halten können. Darüber hinaus war er auch Regulator und Bewahrer des morphogenetischen Netzes gewesen. Und nach Caars schwerer Verletzung kam es unter den Nargen nun immer häufiger zu Anfällen von Desorientierung, Panik und verzweifelten Gefühlsausbrüchen. Die kollektive Konfusion der Vogelmenschen hatte sich in erster Linie gegen die Fremden gerichtet, die als Götterboten aufgetreten waren. Erst Jiims Auftreten in der goldenen Rüstung - einem Relikt, das der Suprio in seiner Höhle versteckt gehalten hatte -, schien die Situation etwas entspannt zu haben. »Ich weiß jetzt, wie alles begann«, sagte Jiim, und ließ resignierend die Flügel hängen - eine geradezu menschlich anmutende Geste. Er blickte Cloud, Scobee, Jarvis und Resnick an. Seine runden, kohlrabenschwarzen Augen im ansonsten ausdrucksarmen Gesicht wirkten ohnedies immer traurig. Wenn er die breiten Ohren auch noch, wie jetzt, schlapp herabhängen ließ, erweckte er den Eindruck eines Cockerspaniels, den man unbedingt seelisch wieder aufrichten musste. Doch das täuschte. Jiim war selbstbewusst und besaß trotz seiner Jugend ein mutiges Auftreten. Wäre der Suprio ihm nicht seit jeher feindlich gesonnen gewesen, hätte er wohl längst eine wichtige Rolle im Stammesgefüge der Nargen eingenommen. »Wie was begann?«, fragte Cloud, und fuhr sich mit der Hand über die Beule am Hinterkopf. Jarvis hatte ihm die Platzwunde geklammert und ein desinfizierendes
Mullband aus der Notausrüstung darüber geklebt. Cloud wurde schwindelig, als er aufstand und vorsichtig ein paar Schritte machte. Aber das Gefühl der Desorientierung ließ rasch nach. »Wie es zum Untergang meines Volkes kam«, antwortete Jiim. Unter den Nargen machte sich neuerliche Unruhe breit. Ein kleines Kind von feuerroter Körperfarbe begann zu weinen und flüchtete unter die ausgebreiteten Fittiche seines Elters. Als wäre dies das Kommando gewesen, begannen alle Jungen des Stammes zu greinen und zu schluchzen. Die Hektik griff rasch auch auf die Erwachsenen über. Ein halbes Dutzend der Vogelähnlichen stieg mit unkoordinierten Flügelschlägen hoch und flatterte in die beginnende Nacht. Diejenigen, die es an ihren Plätzen auf der Gemeinschaftsplattform hielt, begannen mit ihren Speerschäften einen aggressiven Rhythmus zu klopfen, dessen Hall von den umgebenden hohen Bäumen zurückgeworfen wurde. »Beruhigt euch!«, herrschte Jiim die Nargen mit lauter Stimme an. »Der Suprio stirbt, und wir sollen ruhig bleiben?«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Was ist mit den Götterboten? Sie haben das Unglück über uns gebracht!«, schrie ein anderer Narge, und bedrohlich schlossen sie den Kreis um die Menschen. Auf einen Wink von Jiim hin positionierten sich seine Freunde Chex, Alef, Cur und Pheens zwischen den Näherrückenden und den Menschen. Die GenTecs Jarvis und Resnick versteiften sich. In einer drohenden Auseinandersetzung waren sie den Nargen zwar nicht ebenbürtig - nicht gegen eine solche Übermacht -, würden sich aber ihrer Haut zu wehren wissen. Auch wenn sie um einiges kleiner als die Geflügelten waren, die bis zu 2,50 Meter in der Höhe maßen. Ihre körperliche Konstitution, ihre Schnelligkeit und ihr Reaktionsvermögen machte die GenTecs jedem normalgeborenen Menschen haushoch überlegen. Auch Scobee war davon nicht ausgenommen - wie sie eindrucksvoll vor einem Planetentag bewiesen hatte, als Jiim von ihr vor einem grausamen Ritualtod bewahrt worden war. (siehe Heft 3 »Die letzte Enklave«) Hundert Meter läuft sie in knapp sieben Sekunden. Vier Meter schafft sie im Weitsprung aus dem Stand, wusste Cloud aus ihrer Akte, aus dem Wenigen, was man ihm über die GenTecs, die »Wunderkinder« der NCIA, verraten hatte. »Die Götterboten stehen unter meinem persönlichen Schutz!«, erklärte Jiim zum wiederholten Mal. »Außerdem wollen wir eure Welt so rasch wie möglich wieder verlassen«, unterstrich Cloud rasch. »Ich möchte dich zuerst bitten, mir ins Eisland zu folgen, Guma Tschonk.« Guma war die nargische Ehrenbezeichnung für einen Götterdiener und Tschonk die Verballhornung von John Clouds Nachnamen, die sich mittlerweile in den Köpfen der Nargen festgesetzt hatte. »Ich hoffe, dass du mir helfen kannst«, fügte Jiim hinzu.
Cloud blickte überrascht hoch. Das Betreten des von ewigem Eis bedeckten Landes war in der Gemeinschaft der Nargen streng tabuisiert. »Ich will dir zeigen, wer Schuld am Untergang meines großen Volkes trägt. Und ich will die letzten offenen Rätsel in der Geschichte meines Volkes lösen - mit deiner Unterstützung.« »Woher hast du all die Kenntnisse, Jiim, mit denen du uns neuerdings verblüffst?«, fragte Cloud neugierig. »Das Nabiss hat sie mir geschenkt«, antwortete der Narge und klopfte mit einer langgliedrigen, flachen Hand auf die goldene Rüstung. Ipsa scientia potestas est, hatte vor nahezu vierhundertfünzig Jahren der englische Philosoph Francis Bacon in seinen berühmt gewordenen »Essays« erkannt. Wissen ist Macht. Es gab keinen anderen Grund, Jiims Bitte Folge zu leisten, als den, die eigene Neugierde zu befriedigen und sich mehr Wissen anzueignen. Seit knapp einer Woche befanden sie sich nun schon auf dem Planeten Kalser und hatten erstmals in der Geschichte der Menschheit Kontakt zu außerirdischem Leben. Noch dazu zu intelligentem außerirdischen Leben. All diese Tage hatte Cloud die Frage nach dem Warum bewegt. Warum hatte sie ein molluskenartiges, herzförmiges Lebewesen zuerst vor dem sicheren Erstickungstod bewahrt und dann betäubt? Warum hatte es sie gerade auf diesem Planeten abgesetzt? Warum war es kurz darauf wie vom Erdboden verschwunden? Und wie war es überhaupt an Bord des Askulaps gelangt, der einer völlig anderen Technik entsprungen zu sein schien als sein eigenes, schildkrötenförmiges Fahrzeug? Vorrangig aber blieb die Frage: Warum hatte es sie ausgerechnet hier, auf dem Planeten der Nargen, ausgesetzt? War es Teil einer Strafe? Immerhin hatte es sie die Mörder seines Volkes genannt. So absurd dies im ersten Moment klang - es konnte mit der Entdeckung der irdischen Raumschiffe zusammenhängen, mit denen die RUBIKON-Crew unmittelbar nach der Wurmloch-Passage konfrontiert worden war... »Okay, ich komme mit, Jiim!«, antwortete Cloud nach kurzem Nachdenken und einem Blickaustausch mit den GenTecs. »Ich möchte aber auch, dass die anderen Gumas in der Zwischenzeit nach der Zornesträne suchen dürfen, mit der wir hier auf Kalser gelandet sind.« Jarvis und Resnick nickten knapp zu den Worten Clouds. Scobee jedoch schüttelte ablehnend den Kopf. »Was ist, Scob?« »Ich habe den Suprio schwer verletzt und möchte die Nargen nicht verlassen, ohne mein Menschenmöglichstes versucht zu haben, ihn zu retten.« Es war längst keine Befehlsverweigerung mehr - zumal sie zuletzt das Kommando über die RUBIKON inne gehabt hatte. Aber hier, unter fremden Sternen, zählte die frühere Rangordnung nichts mehr. Welche Regeln, welche Grundsätze hätten sie untereinander zur Anwendung bringen sollen - außer der einen, dass es keine Regeln mehr gab?
Cloud nickte. »Ich habe kein Problem damit, Scob. Vielleicht schaffst du es, Caars Leben zu retten - die Nargen wären dir dafür, wie mir scheint, mehr als dankbar. Wir alle kennen inzwischen ihre große Sorge, dass der Tod des Suprio auch den Untergang des letzten Stammes zur Folge hätte.« Jiim mischte sich ein: »Richtig, Guma Tschonk. Das Wissen und die Fähigkeiten von Guma Sko Pi sind uns höchst willkommen. Doch es wird kein Narge bereit sein, die beiden anderen Gumas dorthin, wo die Zornesträne abstürzte, zu bringen. Der Suprio hat diesen Platz zum Kriehk - zum Tabuort - erklärt. Und dieses Urteil lässt sich nicht aufheben, es sei denn von ihm selbst.« »Fänden sich wenigstens zwei tapfere Jäger, die die Gumas Tschar Vis und Res Nick am Boden des Schrundes absetzen?«, fragte Cloud an die Versammelten gewandt, nicht allein an Jiim. Er betonte besonders das Wort Guma, um den Vogelmenschen die Bedeutung seiner Bitte stärker bewusst zu machen. Jiim schnitt das sofort einsetzende Gemurmel mit einer herrischen Handbewegung ab. »Chex und Aleph werden diese Aufgabe übernehmen.« Er war wirklich Herr der Lage. Der in goldenes Metall gekleidete Narge lebte seine neue Rolle als primus inter pares völlig aus. Es war keine Rede mehr davon, dass er noch vor einem Planetentag beim so genannten Kiintu hingerichtet hätte werden sollen. Die Nargen klammerten sich in offensichtlicher Orientierungslosigkeit an den Einzigen, der genügend Initiative aufbrachte. Mit einigen wenigen Worten, die er höflichkeitshalber in Englisch sprach, teilte Jiim vier Gruppen der psychisch stärksten Nargen zur Nahrungssuche ein, bestellte zwei Dutzend Wächter für die Außengrenzen des Dorfgebietes und befahl den anderen, sich der Feldarbeit zu widmen. Weiteren acht Nargen trug er auf, für den Wiederaufbau seines Hauses zu sorgen. Er traf eine gute Wahl: Alle acht waren hauptbeteiligt an der Zerstörung gewesen und wirkten dementsprechend willig. Dann rief er Cloud zu: »Schließe deine Außenhaut und komm zu mir. Wir machen uns auf den Weg. Je eher, desto besser!« »Soll ich mich etwa auf deinen Rücken setzen? Die Narben in deinen Armbeugen sind noch frisch. Eine weitere Anstrengung würde den Verletzungen sicherlich nicht gut tun.« »Mach dir keine Sorgen, Guma Tschonk.« Jiim keckerte. »Das Nabiss wird dich und mich tragen.« Sprach's und strich mit der viergliedrigen Hand über eine ovale Erhebung an der rechten Schulter. Ein filigranes Gestell klappte geräuschlos aus dem Brustteil, entfaltete sich und bildete einen Rhomboiden; ähnlich der Halterung eines Drachenfliegers, aber um ein Vielfaches schmaler und dünner. »Jiim, ich hoffe, ich kann dir vertrauen«, murmelte Cloud. Die andere Frage war: Konnte Jiim ihm vertrauen? 2. Aufbruch
Das Womp richtete sich zu voller Größe auf und genoss die eisigen Schauer, die der allabendliche Sturm mit sich brachte. Sie massierten seine ledrige Haut und schrubbten den klebrigen Schmutz ab. Es riss das Maul weit auf und kühlte so Rachen und Magen, die vom kurzen Schlaf überhitzt waren. Dann machte es sich auf die Jagd und suchte nach Hitzewesen, die es töten und fressen konnte.
Cloud und die GenTlecs überprüften ihre Anzüge und verabschiedeten sich voneinander. Ob eine Funkverbindung aufrechterhalten werden konnte, blieb abzuwarten. Weder die Topographie des Geländes noch die Umweltbedingungen waren bislang bekannt. Jiims Andeutungen über das Eisland ließen aber das Schlimmste befürchten. Der Narge öffnete das Filigrangestell an einer Seite und presste den Menschen Cloud fest an sich. Die drahtdünnen Halterungen schlangen sich wie von selbst um Clouds Oberschenkel, den Rumpf und die Brust, ohne in den Anzugstoff oder ins Fleisch einzuschneiden. Wider Erwarten erzeugten sie keinen unangenehmen Druck, im Gegenteil, sie waren kaum zu bemerken. »Es wird kalt werden, Guma Tschonk. Schützt dich deine zweite Haut?«, fragte Jiim. »Ich denke schon«, antwortete Cloud leichthin, regelte die Anzugheizung hoch und verabschiedete sich von den GenTecs, von denen er nicht wusste, ob er sie je wieder sehen würde. »Es geht los! «, tschilpte Jiim und warf sich mit einem gewaltigen Sprung in die Aufwindströmung, die am Rand der Plattform herrschte. Für einen kurzen Moment schwebten sie regungslos in der Luft. Als Cloud glaubte, dass sie nun abstürzen würden, vollführte der Vogelmensch eine kleine, kaum spürbare Bewegung mit der rechten Hand. Wie von einer Rakete gezogen, ging es himmelwärts. Zwei bis zweieinhalb Gravos, dachte Cloud, und hatte Mühe, den Kopf im immer stärker werdenden Luftwiderstand gerade zu halten. »Krie!«, schrie der Narge übermütig. Ein Jagdschrei, wie Cloud wusste, aber diesmal hatte ihn Jiim wohl aus Spaß an der Freude ausgestoßen. »Guma Tschonk, das Nabiss ist einfach fantastisch!«, rief der Vogelmensch. Er vollzog ein halbes Looping, drehte sich um die eigene Achse, ließ sich hinab in die Tiefe fallen und wiederholte den Vorgang ein ums andere Mal - mit Cloud als Passagier. »Jetzt weiß ich erst, was Fliegen wirklich bedeutet!«, jauchzte der Narge.
Clouds Kopfschmerz, möglicherweise auf eine leichte Gehirnerschütterung zurückzuführen, wurde stärker. Er fühlte das Pochen des Blutes in seinen Schläfen. »Bitte flieg etwas ruhiger, Jiim! « Jiim gehorchte augenblicklich. Die Flügel des Nargen bewegten sich behäbig, und dennoch schätzte Cloud die erreichte Geschwindigkeit auf über einhundertfünfzig Kilometer pro Stunde. Die goldene Rüstung, die Jiim Nabiss nannte, musste über eine unbekannte Antriebsart verfügen. Leichte, intuitive Hand- und Flügelbewegungen, die dem Flugverständnis des nargischen Volkes entsprachen, dienten der Richtungs- und Geschwindigkeitsbestimmung. Cloud entdeckte kein Antriebsaggregat und spürte auch keinen besonderen Kraftvektor. Beschleunigung, Bremsvermögen und Speed waren einfach da. Ein perfektes Erzeugnis, ideal auf die Nargen abgestimmt. Doch hatte das Na biss noch mehr zu bieten? War es mehr als eine reine Fortbewegungshilfe? Die Außenluft wurde stetig kälter, die Anzugfilter wärmten sie auf. Das System war nicht, wie unter Weltraumbedingungen, auf autark geschaltet, sondern sog KalserLuft an und bereitete sie für Clouds Bedarf auf. Die Stellung, in die der Astronaut gezwungen war, erlaubte ihm nur eine gute Sicht nach unten, aber kaum geradeaus. Der Wald, der im fahlen Mondschein wie eine einzige dunkle Masse wirkte, lichtete sich allmählich. Schließlich standen nur noch vereinzelt Bäume in der steinernen, eisig glänzenden Landschaft. Auch sie verschwanden bald und machten einer monotonen Schneelandschaft Platz. Der Widerschein von Maron, dem Mond, dem ein knappes Viertel seiner ursprünglichen Masse fehlte, erlosch abrupt. Die massiven Wolkenbänke, die Cloud bislang immer nur aus der Entfernung gesehen hatte, fraßen das letzte natürliche Licht auf. Während es zu regnen begann, gewann Jiim deutlich an Höhe. Vor ihnen faltete sich ein gewaltiger Gebirgsstock hoch, den es zu überwinden galt. Der Narge nahm jetzt ab und zu die Flügel zu Hilfe, die im aufkommenden Sturm stabilisierend wirkten. »Guma Tschonk, es wird jetzt sehr kalt werden!«, rief er. »Die verbotenen Berge sind mehr als zweitausend Nargenlängen hoch.« »Es ist bereits kalt!«, schrie Cloud zurück. »Das ist nur der Beginn, Guma.« Die Stimme des Nargen klang unbekümmert, als spüre er selbst die Kälte gar nicht. Und er sollte Recht behalten. Trotz des Innenfilters wurde jeder Atemzug für Cloud zur Qual. Er meinte, winzige Eiszapfen einzuatmen. Der Regen wurde zu Schnee, der in dicken, schmutzigen Flocken gegen seinen Anzug prallte. Je höher sie stiegen, desto schlimmer wurden Kopfschmerz und Übelkeit. Immer wieder schluckte Cloud krampfhaft, um den Druck auf seine Ohren zu verringern. Die Luft wurde dünner. Cloud glich den Mangel an Sauerstoff durch die geringen noch vorhandenen Anzugreserven aus.
Endlich erreichten sie den sturmumtosten Gipfel. Gewagt und akrobatisch flog Jiim nur wenige Meter über den scharfen Graten dahin und ignorierte die Sturmböen, die geschätzte zweihundert Kilometer pro Stunde erreichten. Der Start mit dem Shuttle von der Erde zum Mond, wo die RUBIKON wartete, war nicht schlimmer!, dachte Cloud. Mit aller Kraft hielt er Kopf und Körper im Sturm gerade und schmiegte sich so dicht wie möglich an das Gefieder des Nargen. Auf diese Weise bot er den geringsten Luftwiderstand. Jiim selbst schien keineswegs beeindruckt von den widrigen Umständen und hielt stur seinen Kurs. Endlich ging es bergab, über ein gewaltiges Gletscherfeld hinweg, dessen tiefe Risse und Spalten von den Blitzen eines tobenden Kältegewitters erhellt wurden. Schnee und Eis waren von einer grauen, klebrigen Konsistenz. Ganz anders als auf der Erde. Wahrscheinlich binden die Niederschläge die Schmutz- und Staubpartikel, die selbst so lange Zeit nach dem Absturz des Mondteils noch in der Luft schweben. Die Stürme ließen ein wenig nach. Jiim folgte dem Verlauf des Gletschers. Wusste er, wohin er sich wenden musste, oder flog er aufs Geratewohl? Das Nabiss leuchtete nach wie vor in den sieben Farben des Regenbogens. Cloud war unwohl dabei. Sie würden bereits von weitem zu erkennen sein. Doch wer soll uns schon in dieser Eiswüste sehen? Der Planet ist doch menschen... nargenleer. »Bist du sicher, dass es hier kein Leben gibt, Jiim?«, rief er laut. Versuchsweise öffnete er den Helm ein wenig. Sofort fühlte er sich dem Beschuss durch Tausende Eiskristalle, die sich wie grober Sand anfühlten, ausgesetzt. Er musste die Augen schließen. Seine Haut wurde vom schmutzigen, grobkörnigen Schnee regelrecht abgeschmirgelt. Hastig schloss er den Helm wieder. Was für eine idiotische Idee... »Ich hatte Recht«, schrie Jiim in diesem Augenblick triumphierend. »Siehst du dort die Schleifspuren? Das muss ein Pintau sein. Und da! Ein Kaan-Schwein mit weißer Hornhaut... Es gibt also doch Leben im Eisland, und Caar hat uns belogen!« Cloud vermochte beim besten Willen keine Spur und kein Lebewesen in der Schneelandschaft auszumachen. Natürlich half dem Nargen seine spezielle Art der Sicht; aber wie konnte er sich, »nackt« wie er war, überhaupt ohne zu erfrieren in der Luft halten? Die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. War es das Nabiss, das ihn schützte, oder war sein Körper einfach unglaublich widerstandsfähig? Es ging weiter bergab. Einige einzeln stehende Felsen leisteten dem Gletscher Widerstand, der sich im Ausläufer eines Tals immer mehr verbreiterte und in einer ausgedehnten, nicht enden wollenden Zunge auslief. Cloud sah auf seinem Display, dass sie dreitausend Meter an Höhe verloren hatten. Sie waren also noch zweieinhalbtausend Meter über dem Niveau der Nargen-Siedlung. Zehn Minuten flogen sie so dahin, ein irrlichterndes Pünktchen im sonst so dunklen und stürmischen Firmament. Die Temperatur stieg laut Clouds An zeige, aber als er den Helm erneut pro beweise öffnete, spürte er keinen Unterschied.
Kalt ist kalt, dachte er. Ein paar Grad mehr oder weniger sind unter einer bestimmten Grenze kaum noch fühlbar. Vor allem nicht, wenn solcher Gegenwind herrscht. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie seit nahezu zwei Stunden unterwegs waren und damit zweihundertfünfzig, vielleicht dreihundert Kilometer zurückgelegt hatten. »Siehst du die Waipu-Herde?«, rief Jiim. »Dort, im Felslabyrinth! Das müssen viermal vier, wenn nicht gar mehr Tiere sein. Beim großen Dotter! So viel Frischfleisch auf einem Haufen habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen!« Er ließ sich hinabfallen, und kaum ein Dutzend Meter über der Schneedecke schwebten sie dahin. Sein Jagdinstinkt ging mit ihm durch. Akrobatisch manövrierte er sich und Cloud zwischen den aus der Dunkelheit auftauchenden Felsnadeln durch. »Jiim, sei vernünftig! Das schaffst du nicht!« Ein kurzer Schlenker nach rechts, die Flügel angezogen, unter einer bizarren Eisbrücke durch, dann eine waghalsige Kombination zweier Links-Rechts-Kurven, vor der Steilwand nahezu senkrecht hinauf - und noch bevor Cloud den Mund zugemacht hatte, waren sie bereits durch. Das erschrockene Blöken der ziegenähnlichen Herde mit dem weißen Zottelhaar, die hinter ihnen zurückblieb, klang Cloud noch in den Ohren, da hatte Jiim schon scharf gewendet. Er wählte ein Tier aus, tauchte hinab ins Labyrinth und umfasste den dünnen, biegsamen Speer fester. Cloud spürte, wie sich die Arm- und Brustmuskeln des Nargen spannten. »Jiia!«, schrie der Jäger. »Du gehörst mir!« Das verschreckte Waipu, etwas kleiner als seine Artgenossen, rannte panisch davon. Genau in die Richtung, in die es Jiim offensichtlich treiben wollte. Das Blöken und Meckern der anderenTiere entfernte sich hingegen immer weiter. Die Leidenschaft des Jägers weckte Unbehagen in Cloud. Der Narge hatte plötzlich etwas Animalisches an sich, das kaum noch mit Clouds Vorstellung von einem intelligenten Wesen zu tun hatte. Jiim folgte dem Tier nun langsamer, näherte sich der Oberfläche und landete elegant auf dem Boden. »Steig aus dem Nabiss, Guma Tschonk!« Mit einer raschen Bewegung löste der Vogelmensch die Halterung, und Cloud machte einige rasche Schritte durch den tiefen Schnee zur Seite. »Heute gibt es Frischfleisch, Guma! « Jiim fletschte die Zähne, zog die bitterkalte Luft unbeeindruckt ein und glitt davon, zwischen zwei hochragenden, fast senkrechten Felstürmen hindurch. Die Flügel hielt er hoch erhoben. Das Nabiss leuchtete viel intensiver als vor ihrem Abflug. Er kommt wie eine wandelnde Jahrmarktsbude daher, dachte Cloud in einem Anflug von Sarkasmus. Wo er wartete ragte eine mehrere Meter hohe Schneewechte auf und bildete ein natürliches Dach. Der Schnee schien jeden Moment auf ihn herabkippen zu können. Doch die im Licht seines Scheinwerfers sichtbar werdenden Längsrillen im Eis zeigten ihm, dass hier Sturm auf Sturm getobt, Schicht auf Schicht des schmutzigen Schnees angehäuft und zu einer massiven Eisdecke verbacken hatte - so schwer und dicht wie Beton.
Nach einigen Minuten hörte Cloud ein schwächliches Quieken. Der Todesschrei des Waipu. Und kurze Zeit später tauchte die leuchtende Aura des Nargen zwischen den Felsnadeln auf. »Fette Beute, wie ich sehe!«, rief Cloud Jiim entgegen. »Das zarteste Fleisch, das du dir vorstellen kannst, Guma Tschonk. Ich denke, dass wir hier rasten. Der Platz ist einigermaßen windgeschützt, und mit Hilfe eines Feuers können wir ihn schneefrei bekommen. Weiter vorne habe ich ein paar knorrige, alte Bäume entdeckt, die uns ausreichend Holz liefern sollten.« Der Narge kam heran und legte das Waipu vorsichtig in den Schnee. Der ziegenähnliche Kopf, unter dessen Fell ein Paar dicker Hornplatten zu sehen war, ragte unnatürlich nach hinten. Die Kehle war zerfetzt, und der hellrote Lebenssaft floss daraus hervor. Ein kurzer Blick in Jiims blutverschmiertes Gesicht machte Cloud klar, dass der Vogelmensch die Hauptschlagader des Tieres mit einem Biss durchtrennt hatte. Angewidert schüttelte er den Kopf. Einerseits sind sie so intelligent, so aufnahmebereit für Wissen, und andererseits scheinen sie immer weiter in archaische, instinktbehaftete Verhaltensweisen abzudriften, dachte er. Um sich von weiteren unangenehmen Gedanken abzulenken, sagte er zu dem Nargen: »Du wolltest nur wegen des Frischfleischs hier rasten? Willst du mich nicht endlich aufklären, wohin es dich so dringend zieht?« Jiim zögerte kurz, dann meinte er: »Das Nabiss hat mir die Richtung zur Alten Stadt gewiesen.« »Diese... Rüstung ist ja ein wahres Wunderding. Ein Flugaggregat, das auf die kleinsten Steuerbefehle reagiert und mit Leichtigkeit einen Brocken wie mich transportiert - und jetzt redet es auch noch zu dir?« »Ja«, erwiderte der Narge schlicht, und es war klar, dass er nicht mehr dazu sagen wollte. »Was hat es mit dieser Alten Stadt auf sich, zu der dich das Nabiss zieht? Ist es noch weit?« »Nein, Guma Tschonk. Wir sind bereits da. Dies sind die Ausläufer der Stadt. Das war einmal einer der Hauptzugänge vom Boden aus.« Er deutete auf die hochragenden Felsnadeln, zwischen denen der Wind hindurchpfiff und langsam die Blutspur des Waipu mit Schnee zudeckte, 3. Im Schrund Chex und Aleph erledigten ihren Auftrag ohne Begeisterung und trugen die beiden Fremden hinab zum Fuß des Schrunds. Auch wenn sie zu Jiims engsten Freunden zählten - ihre Stimmung war in den letzten Stunden ebenso wie die der meisten Nargen zu Ungunsten der Gumas umgeschlagen.
Die Halbgötter, so schien es, waren die Verehrung, die man ihnen entgegenbrachte, nicht wert. Der Suprio lag wegen des Eingreifens eines der Gumas im Sterben. Was sollte nun aus ihrem Volk werden? Nur die Treue, die sie Jiim entgegenbrachten, hatte sie überhaupt dazu getrieben, seiner Bitte zu entsprechen und die beiden Halbgottheiten im Schrund - dem Meer aus roten und orangenen Farbtönen - abzusetzen. »Von hier sind es etwa viermal viertausend Nargenlängen bis zu dem Ort, wo euch Jiim gefunden hat. Folgt den beiden heißen, roten Strömen, die dort, im linken der drei Täler, beginnen und sich langsam weiter in Richtung Maron wälzen. Wenn sich die Hitzeströme vereinen und in einem großen See münden, haltet euch rechts, an den runden, erkalteten Pfützen entlang.« Chex zögerte kurz und fügte dann hinzu: »Nehmt euch vor einzeln jagenden Cherss und vor jungen Nihuanas in Acht. Sie sind zurzeit in ihrer Fruchtbarkeitsphase und verteidigen erbarmungslos ihr Revier.« »Wie sehen diese Cherss und Nihuanas aus?«, fragte Resnick. Die beiden Nargen schlugen kräftig mit den Flügeln und schwangen sich in die Luft. »Nihuanas erkennt man an den Ringelschwänzen. Cherss sind einfach nur hässlich und aggressiv«, antwortete Chex kryptisch, ließ sich in Richtung eines größeren Lavasees treiben und nutzte die aufsteigende Warmluft, um an Höhe zu gewinnen. Aleph folgte ihm, und so entschwanden die beiden ohne ein Wort des Abschieds. Sie schwankten merklich - ein Zeichen von Desorientierung? Resnick knurrte: »Dreißig Kilometer Fußmarsch durch tektonisch hochaktives Gelände, gespickt mit Vulkanen und unbekannter Flora und Fauna - ich könnte mir einen schöneren Wochenendausflug vorstellen.« »Sie haben uns zumindest einen Beutel Nahrung mitgegeben. Ein Kilo hirseähnlichen Getreides und zwei halbverfaulte Früchte.« Jarvis nahm probeweise ein halbes Dutzend der großen, dunkelbraun gerösteten Körner in den Mund - und spuckte sie gleich wieder aus. »Pfui, ist das Zeugs bitter! « Sie hatten sich in Bewegung gesetzt und gingen in einen lockeren Dauerlauf über, der sie nur wenig Kraft kostete. In stillem Einverständnis sicherte der kahlköpfige, etwas größere Resnick nach rechts, während Jarvis sich um die linke Seite kümmerte und auch ab und zu nach hinten blickte. Sie erreichten die linke Talöffnung. Sie war durch mehrere bizarre Gesteinsformationen, die sich an den steilen Wänden weit nach oben hin fortsetzten, geprägt. Manche ähnelten menschenähnlichen Figuren, die wie erstarrt da standen. Andere bildeten riesenhafte, obskure Fabelgestalten, die ineinander verschlungen schienen. Mühsam kletterten sie über die Erhebungen hinweg und achteten darauf, ihre Handschuhe nicht an den scharfen Kanten zu beschädigen - wer wusste schon, wann die Dichtheit der Raumanzüge noch einmal überlebensnotwendig werden würde. Resnick und Jarvis atmeten kaum merklich schneller als gewohnt, als sie den Sattel zur Talsohle erreichten. Von links und rechts floss je ein träger Lavafluss herab und entwickelte spürbare Hitze. Der Talboden wurde fast gänzlich von den breiten Strömen ausgefüllt, die von ihrem Standort weg flossen und nach vielleicht
eineinhalb Kilometern halbrechts hinter einer Biegung des Tals verschwanden. Lediglich in der Mitte blieb ihnen ein schmaler, stellenweise kaum zehn Meter breiter Streifen, der nicht von Lava bedeckt war. Die Infrarotsicht leistete ihnen in diesen Stunden der beginnenden Nacht ähnlich gute Dienste wie das WärmeSehvermögen der Nargen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Resnick. »Nichts ist mehr in Ordnung«, antwortete Jarvis lakonisch. »Aber ich schätze, das ist dir auch schon aufgefallen.« An vielen Stellen blubberte es, und kleine, schwefelhaltige Schlammquellen schossen ihren trüben Inhalt ein, zwei Meter in die Luft. Das Atmen fiel in der faulig riechenden Luft zunehmend schwerer. Sie gingen den Mittelstreifen entlang und versuchten die enorme Hitze, die von beiden Strömen ausstrahlte, zu ignorieren. Ganz unten im Bett der Glutflüsse war das Licht gelblich-weiß, knapp unter der Oberfläche von einem kräftigen Rot, und die abgekühlte, nahezu erstarrte Lava, die an der Oberfläche wie auf einer Seifenbahn entlangrutschte, glomm in einem müden Rotbraun. Der Boden unter ihren Stiefeln fühlte sich porös an, und mehr als einmal brachen die GenTecs in Hohlräume ein. Sie hatten Glück, dass die Anzüge, deren zugehörige Helme sie inzwischen geschlossen hatten, nicht beschädigt wurden. »Wir müssen uns etwas überlegen«, sagte Resnick über Funk, der selbst auf diese kurze Distanz nur leidlich und von Störgeräuschen überlagert funktionierte. Obwohl die Instrumente keine Radioaktivität anmaßen, war nicht auszuschließen, dass eine unbekannte Form von Strahlung für diese Beeinträchtigung verantwortlich war. Sie hatten die Talbiegung erreicht. Vor ihnen vereinten sich die beiden Lavaströme. Jarvis blickte sich um. Nirgendwo waren die Lavaflüsse schmal genug, um sie mit einem Sprung zu überwinden - nicht einmal für einen GenTec war dies möglich. Hat sich was mit >optimiert<, dachte Resnick. »Ich fürchte, wir müssen zurückkehren, und einen Weg am Rand entlang nehmen«, sagte er. »Hier kommen wir jedenfalls nicht weiter. Wir sitzen auf dieser >Halbinsel' fest.« Noch während Jarvis zustimmend nickte, erschütterte ein starkes Beben die Erde. Hastig warfen sie sich zu Boden und hielten sich an erkalteten Gesteinsbrocken fest, Resnick blickte hinter sich, was durch den Helm schwierig war, und ein eigentümlich mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Dort wo sie hergekommen waren, war die Erde aufgebrochen und ergoss sich ein neuer Lavastrom über den Talboden. Er fraß die kleine Landbrücke, über die sie gekommen waren, mit rasender Geschwindigkeit auf. Die Halbinsel war zur Insel geworden, und bald würde nicht einmal mehr sie Bestand haben. So wenig wie Jarvis und Resnick den Schwund des festen Bodens unter ihren Füßen überstehen würden... 4. Geschichten aus alter Zeit
Clouds Zähne klapperten hörbar aufeinander. Welcher Teufel hat mich nur geritten, Jiim zu begleiten? Ich hätte lieber Resnick und Jarvis zum Grund des Schrunds folgen und nach der Molluske fahnden sollen! Der Narge hatte Cloud den Rücken zugekehrt und häufte in der nahezu windstillen Zone zwischen einem riesigen Rundstein und der hoch ragenden Felswand trockene Rindenreste an. Er legte sorgfältig einige kleine Zweige darüber und breitete anschließend das Feuerholz - mehrere armstarke Äste, die wie Zeltstangen aufgerichtet waren - darüber. Jiim nahm porösen Zunderschwamm aus einem Schuppenhorn, von denen er mehrere in Art eines Gürtels um seine Hüfte trug. Die einzelnen Horntaschen waren durch hanfähnliches Material miteinander verknüpft und verbargen noch andere nützliche Werkzeuge. Cloud sah ein Messer mit Metallklinge und Horngriff, drei unterschiedliche, scharfkantige Lamellen aus Feuerstein, einen Pyritstein, ein Gefäß aus Baumrinde, eine Knochenahle, mehrere fein gedrillte Fäden aus Tiersehnen sowie einige unterschiedliche Pilzknollen, die heilende Wirkung besitzen sollten. Unglaublich! Wie auf der Erde während der Jungsteinzeit oder bestenfalls der Eisenzeit. Sie haben das Wissen mehrerer Jahrtausende Zivilisation binnen weniger Generationen verloren! Um den Körper des Vogelmenschen waberte das Nabiss in irrlichternden Farben und ließ ihn noch surrealer erscheinen als es ohnehin schon war. Das Erzeugnis hochmoderner Technik und die steinzeitlichen Geräte bildeten einen Widerspruch, wie er krasser nicht ausfallen konnte. »Das Feuer brennt, Guma Tschonk!« Die Stimme des Nargen riss Cloud aus seinen Gedanken. Eine kleine Flamme loderte zaghaft empor, fraß sich durch die Schicht aus Rindenmulch und entzündete die weitgehend feuchten Äste. Weißer, beißender Rauch stieg durch den natürlichen Kamin zwischen Rundstein und Wand empor. Cloud rückte so nahe wie möglich ans Feuer und genoss die Wärme. Er setzte sich auf die frei geräumte Felsfläche und spürte mit einem Mal die Müdigkeit. Hektik und Aufregung der letzten zwölf Stunden machten sich bemerkbar. Er hatte Mühe, nicht wegzudösen... »Dein Essen, Guma Tschonk!« Cloud blinzelte und sprang erschrocken auf, als ihm der Narge einen riesigen Spieß mit dunkelbraun gefärbtem Fleisch hinhielt, von dem Fett troff. Er hatte also doch geschlafen! »Hier, nimm das Zeke und brösele es behutsam auf die Haut der Keule.« Jiim hielt ihm eine schwarze, krümelige Masse hin, die unangenehm roch. »Was ist das? Ein Pilz?« Der Narge zögerte, als suche er nach Worten. »Nein. Das getrocknete Zeke verleiht dem Fleisch Geschmack, erzeugt Wärme im Magen und dein Kopf wird leichter. Es zeigt auch keine Nachwirkungen am nächsten Morgen. Zumindest nicht bei uns Nargen.« Ein Rauschmittel? Zögernd griff Cloud zu und beobachtete, wie Jiim mit den Fingern ein paar Krümel in die knusprig gebratene Haut des Waipus einmassierte. Dann tat er
es ihm nach und biss herzhaft in die Keule, die offensichtlich vom Hinterlauf des Tieres stammte. »Hier, nimm! Schneewasser, mit Kräutern aufgekocht.« Der Narge reichte ihm den Rindenbecher, und Cloud nahm einen vorsichtigen Schluck des brühheißen Getränks. Es schmeckte wie Tee, aromatisch, aber ein wenig bitter. »Danke, Jiim!« Er blickte den Jäger an und wünschte sich zum wiederholten Male, irgendein Gefühl in den kugelrunden, schwarzen Augen lesen zu können. So nahe sie sich auch waren - es trennten sie immer noch Welten. Doch heute, mit diesem Mahl, so kam es Cloud vor, waren sie sich ein gutes Stück näher gekommen.
Der Narge kröpfte hoch und spuckte einen scharfkantigen Knochenrest in das prasselnde Feuer. Dann rülpste er behaglich und hielt sich das prall gefüllte Bäuchlein. »Es ist eine besondere Nacht für mich, Guma Tschonk.« Jiim streckte sich, und das Nabiss begann hellgelb zu funkeln. »Die zweite Nacht in einem neuen Leben, nachdem Guma Sko Pi mich gerettet hat.« Die hell lodernden Flammen spiegelten sich in seinen Augen. »Warum bist du vom Unfall des Suprio nicht so stark betroffen wie die anderen Nargen?«, fragte Cloud. »Ich empfinde genau so wie sie Unsicherheit und leide manchmal unter Desorientierung. Räumlich wie auch geistig. Es ist ein eigentümliches Gefühl der Leere, das mich dann befällt.« Er zögerte. »Aber ich habe den anderen meines Volkes gegenüber den Vorteil, dass ich durch das Nabiss mehr Wissen über die Hintergründe besitze.« »Ich dachte, dass ihr Wissen vom Einzelnen sofort an die Gesamtheit der Nargen weitergebt?« »So lange der Suprio als... leitendes Element wirkte, war es auch so. Das hat sich geändert, und wir sind nunmehr allein. Ganz allein.« Er seufzte. »Außerdem schottet das Nabiss meine Gedanken ab. Es muss in der Alten Zeit einem höher gestellten Nargen gehört haben, der außerhalb des Systems stand.« »Empfindest du es als unangenehm?« »Das tue ich. Doch es ist gut für mein Volk, dass es nicht alles weiß, was ich nun erfahren habe. Ich muss ihm die Wahrheit schonend, in kleinen Schritten, beibringen. Der Schock könnte den ganzen Stamm töten.« Clouds Kopf war frei wie selten zuvor. Er spürte eine immens gestiegene Aufnahmebereitschaft und Klarheit, die er dem Gewürz zuschrieb, das ihm Jiim
gegeben hatte. Seine Sinneseindrücke hatten eine besondere Schärfe. Er sah, hörte und schmeckte besser. Und, vor allem, er dachte effektiver. Die Stimme des Nargen gewann an Volumen, als er zu erzählen begann. Zum ersten Mal fielen Cloud die zittrigen Schwingungen im unteren Tonbereich auf. Die fiebrig wirkende Gestik. Das nervöse Zucken der Ohrhaare. Die leisen, fast unhörbaren Giekser, die entfernt an ein Räuspern erinnerten. Und das unmerkliche Scharren der viergliedrigen Füße über den mittlerweile trockenen und angenehm warmen Fels. Das Pfeifen des Windes und die düstere, schmutzige Schneelandschaft waren plötzlich ganz weit weg, außerhalb seines Begreifen. »Es geschah vor vielen Generationen, Guma Tschonk«, fing der Narge plötzlich mit veränderter Stimme an. »Das Nabiss konnte mir den genauen Zeitraum nicht mitteilen, doch es passierte vor mindestens zweimal vier Nargenaltern. Der Wortstamm >narg< entspricht übrigens eurem >Gold<. Gold, goldig, Goldes wert, golden... so wie in eurer Sprache lassen sich mit >narg< unzählige positiv besetzte Wörter und Begriffe bilden. Denn wir Nargen waren auch ein goldenes, ein glückliches Volk. Wir beherrschten die schönen Künste genau so wie die Technik. Wir teilten unseren Lebensraum mit den anderen Lebewesen Kalsers; ja, wir unterhielten sogar eine enge Symbiose mit der intelligenten Rasse der Gaffs, die unter gänzlich anderen Voraussetzungen auf unserem Plane-• ten existierte.« Cloud wurde unbehaglich zumute. »Eine Symbiose? Oder Parasitentum?« »Nein, nein. Es war wirklich zu unser beider Vorteil. Die Ganfs waren riesig gewachsene Geschöpfe, die im Laufe ihres Alters zunehmend unter Unbeweglichkeit litten. In ihrer Jugend, als sie noch leichtfüßig gewesen waren, durchstreiften sie die Berge und Sümpfe Kalsers und nahmen Wissen und Erfahrung auf. So wurden sie zu friedfertigen Philosophen, die mit unglaublich scharfem Verstand die schwierigsten Probleme lösen konnten.« Jiim stand auf und legte Feuerholz nach. Dann hockte er sich wieder hin und stocherte mit einem langen, dünnen Stab in der Glut. Er fuhr fort: »Doch nach einer Zeitspanne, die ungefähr einer Generation der Nargen entspricht, verknöcherten sie. Ihre Gewandtheit wurde mehr und mehr eingeschränkt. Ihre Innenkörper, in denen die Bewegungsorgane, sechs hornhautbesetzte Beine und ein massiver Muskelklumpen, steckten, trockneten aus und starben ab. Doch die Hüllen, in denen die nach wie vor wachen Geister lebten, blieben liegen. So wurden sie eine leichte Beute der Raubtiere, die es bis in die Blüte der nargischen Kultur hinein auf Kaiser gab.« Cloud schüttelte es bei der Vorstellung, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. »Ihr habt sie daraufhin also in euren Städten aufgenommen und für sie gesorgt?« »Keineswegs! Ich sprach von einer Symbiose, nicht von Hilfeleistung. Die Ganfs waren, wie ich schon sagte, groß. Gewaltig groß. Raubtiere konnten von ihnen einen Jahresumlauf lang zehren und dabei noch dick und fett werden. Sie waren so groß, dass wir die hohlen Innenkörper als Säle, Versammlungsräume, Veranstaltungszentren oder als Paläste für Suprios und andere privilegierte Nargen verwendeten.«
»Ihr... ihr habt in den Gaffs gelebt?« »Ganz richtig, Guma Tschonk. Das geistige Klima, das uns die Ganfs in ihrem Inneren vermittelten, war unglaublich! Es spornte uns zu Höchstleistungen an und wirkte andererseits auch besänftigend, wenn das Temperament mit uns durchzugehen drohte.« Wärme, wie sie der Narge versprochen hatte, durchströmte Cloud. Das Gewürz tat seine Wirkung. »Also habt ihr ihnen Schutz gewährt, und sie haben euer Wissen bereichert.« »Es war mehr als das. Wir pflegten und reinigten sie, schrubbten und kratzten ihre Nervenleitern, die im Inneren gut sichtbar waren. Wir gaben ihnen langes Leben und Gesellschaft.« Jiim keckerte kurz und, wie es Cloud schien, bitter. »Sie gaben uns Weisheit, Güte und Intelligenz. Das morphogenetische Netz, wie du es nennst, war es nicht alleine, das uns zu dem großen Volk machte, das wir damals waren. Wir waren Teil eines viel Größeren. Auch deshalb, und das hat der Suprio wohlweislich ver schwiegen, nennen wir uns heute manchmal selbst Ma'ron. Die Unvollständigen. Denn die Ganfs sind ausgerottet worden.«
Der junge Jäger schwieg und starrte mit unbewegter Miene ins Feuer. Cloud wusste nicht, wie und was er sagen, wie er ihn trösten sollte. Konnten die Worte eines Menschen der beklagenswerten Situation der Nargen gerecht werden? Nein, er entschied sich stumm zu warten, dass Jiim fort fuhr. Endlich sah das Vogelwesen hoch und schüttelte so heftig den Kopf, dass die Ohren in sein Gesicht schlugen. »Das Schicksal traf uns so jäh und heftig, dass das Nabiss kaum Aufzeichnungen darüber besitzt, wie alles begann. Es meint, dass wahrscheinlich ein kleines Raumschiff hier, ganz in der Nähe der Alten Stadt, landete. Es ist anzunehmen, dass es ein Erkundungsschiff war, das unsere Zivilisation eine Zeitlang beobachtete.« Der Narge breitete die Flügel aus. »Wir wussten zu diesem Zeitpunkt schon lange, dass Leben im Weltraum existiert und wir hatten auch bereits mit Hilfe der Ganfs geistigen Kontakt zu Fremdrassen aufgenommen, den anorganischen Joc'ten'Ra beispielsweise. Doch es war die erste direkte Berührung mit einem anderen Volk. Wir kamen gar nicht auf den Gedanken, dass uns die Besatzung Böses wollen könnte. Nichts und niemand verließ das Schiff. Unsere Techniker, unsere Wissenschaftler maßen lediglich starke energetische Aktivitäten an. Nacht um Nacht verging. Nichts geschah, und die Nargen der alten Zeit verloren allmählich das Interesse an dem merkwürdigen Flugschiff. Sie widmeten sich wieder den schöngeistigen Dingen des Lebens.«
Wut und Empörung klang in seiner Stimme mit, als er weiter sprach: »Was waren sie naiv, meine Vorfahren! Selbst, als die fremden Schiffe wie Regentropfen vom Himmel herab fielen, mit schrecklichem Pfeifen, Sirren und Getöse auf ganz Kalser landeten, dachten die Nargen noch nichts Arges. Auch wenn der ständige Umgang mit den Ganfs sie zu einer gereiften, ja nahezu perfekt positiven Lebensform entwickelt hatte - der Instinkt war ihnen abhanden gekommen.« Die Intensität, mit der der Narge jetzt erzählte, bohrte sich schmerzhaft in Clouds Kopf. Jedes bittere, jedes zynische, jedes traurige Wort nagte an seinen Nervenenden und verstärkte den Druck auf sein Denken. »Die Unsichtbaren, wie die alten Nargen sie nannten«, fuhr Jiim fort, »benötigten keinen Tag, um unseren Widerstand zu brechen. Sie schwebten in ihren gewaltigen Raumschiffen über unseren Köpfen und töteten die Ganfs mit gezielten Schüssen uns unbekannter Waffen. Einen um den anderen, erbarmungslos. Bis keiner mehr übrig waren. Danach war es ein Leichtes, mein Volk in die Sklaverei zu zwingen. Die Nargen waren gebrochen, und sie waren verloren.« Jiim sah ihn an. Cloud entdeckte zwei tiefe Furchen entlang der mandrillähnlichen Nase, in denen gelbliches, dickflüssiges Tränensekret das Gesicht hinabfloss, auf den Felsen tropfte und zischend verbrannte. Cloud empfand die Verzweiflung des Nargen mit einer Intensität, als hätte er all dies erlebt. Und vielleicht habe ich das ja sogar. Wer weiß schon, was auf der Erde inzwischen passiert ist? Wer weiß, ob es außer uns vieren noch andere Menschen gibt, die die Invasion der Askulaps überlebt haben? Ein Gedanke quälte ihn plötzlich noch über das Mitgefühl für Jiim hinaus. »Weißt du, wie diese Schiffe aussahen? Vielleicht... so...?« Er beschrieb die ÄskulapRaumer, die dem JupiterBlack-Hole entwichen waren. Jiim war aufgestanden und hatte sich näher zu Cloud gesetzt. »Nein. Sie sahen aus wie... Steine. Wie seit Ewigkeiten durch den Weltraum irrende, gewaltigen Steine... Es tut mir Leid, dass ich dir so viel von damals erzähle. Aber ich wollte, dass du die Trauer und den Zorn verstehst, den ich spüre. Das Zeke, das ich dir gab, hat mir dabei geholfen. Jetzt sind wir wie eine Familie, wie Geschwister.« »Was ist das, Jiim? Ich habe noch nie so klar denken und empfinden können, aber andererseits ist es einfach zuviel.« »Es ist getrockneter, versteinerter Kot eines Ganfs, Guma Tschonk.« Der Tränenbach, der Jiims Gesicht hinabrann, war noch nicht versiegt. »Zu besonderen Gelegenheiten schenkt es uns Nargen ein wenig von unserer früheren geistigen Größe.« Es war nicht die Tatsache, dass er getrockneten Kot aß, die Cloud erschreckte. Es war vielmehr die Erkenntnis, was diesem gestraften Volk alles gestohlen worden war. Aber gestohlen von wem? Der Narge ging zurück zum Feuer und sagte, ohne sich umzusehen: »Guma Tschonk, lehne dich bitte nicht mehr an, Hinter dir, das ist kein runder Stein, wie du vielleicht glaubst, sondern der Leichnam eines Ganf-Kindes, das die Zeit im Permafrost überdauert hat. Respektiere den Tod.«
Das Womp war von einem anderen Jäger gestört worden. Stundenlang hatte es sich der Qual hoher Temperatur ausgesetzt und im lockeren Schnee auf seine Beute gelauert. Dann war der Geflügelte gekommen, hatte die Herde, auf die es es abgesehen hatte, auseinander gesprengt. Das Womp war seinem Konkurrenten unter der kühlenden Eisdecke gefolgt und hatte auch einen zweiten Feind entdeckt, dessen Inneres vor Hitze schier zu bersten schien. Der Glutkörper machte das Womp rasend, rasend, rasend! Gerade, als es wütend angreifen wollte, flammte ein gewaltiger Zauber auf. Heiß, unerträglich heiß! Er blendete es, drohte es zu verbrennen, aufzufressen. Jaulend suchte es das Weite, fraß sich in den eisigen Untergrund, bis es sich in Sicherheit wähnte. Dort kühlte das Womp seinen Körper ab. Und schwor bittere Rache. 5. Der Sterbende Keeschna, ein älterer, erfahrener Narge, der mit Heilkräutern umzugehen wusste, braute einen übel riechenden Trank. Die beißenden, weißen Dämpfe hingen unter der niedrigen Decke der Höhle. Suprio Caar lag, zur Seite gedreht, auf einem frisch aufgehäuften Strohlager. Seine gebrochenen Flügel wurden von einem primitiven Holzgestell gestützt und fixiert. Sein Atmungsorgan rasselte hörbar, und neben seiner Liegestatt stand ein Behältnis aus Rinde, das zur Hälfte mit Blut und Schleim gefüllt war. Innere Blutungen, dachte Scobee mit bemühter Nüchternheit. Die grau verschleierten Augen des Suprio blickten starr in ihre Richtung. »Meine... Mörderin...«, flüsterte Caar angestrengt. Keeschna schrak von seiner Tätigkeit hoch und blickte die Klonfrau an -wütend und verstört. »Wie kannst du es wagen, an diesen Ort zurückzukehren? Hast du nicht bereits genug Unheil angerichtet? Willst du den Suprio mit deinem Anblick noch weiter demütigen?« Empört plusterte er seinen struppigen Federflaum auf. »Soll... bleiben!«, ächzte der Suprio fast unverständlich. Sein Mund öffnete sich, und ein dünner Blutfaden sickerte in den Korb. Dann hustete er angestrengt. Keeschna eilte erschrocken herbei und tupfte Caar mit einem Kräuterbüschel über die Stirn. »Setz dich hierher!«, befahl er der Frau herrisch und deutete, ohne sich dabei umzudrehen, mit einem Flügel auf einen schmutzigen Strohballen. »Es ist der Wunsch des Suprio, also gehorche!« Er sprach die Worte mit Widerwillen aus, nein: Er spie sie regelrecht aus.
Scobee bemühte sich, unbeeindruckt zu bleiben, und ließ sich auf dem ihr zugewiesenen Platz nieder. »Hilf mir jetzt!«, herrschte Keeschna sie nach mehreren Minuten des Schweigens an. Caar war eingeschlafen und stöhnte nur ab und zu. Geschmeidig stand Scobee auf. In der Höhle herrschte Dunkelheit, die nur ein wenig von einer flackernden Talgkerze erhellt wurde, aber die Augen der GenTec hatten auf Infrarot-Sicht umgeschaltet. »Was soll ich tun?«, fragte sie den Heiler, der mit seinen schwielen übersäten Händen aus einer weißen, pastösen Masse ein längliches Etwas drehte. »Du gehst nach hinten, zum Rücken des Suprio. Ich halte ihn vorsichtig fest, so dass er seine Stellung nicht verändern kann«. Jede Bewegung des Oberkörpers schmerzt ihn. »Wenn ich es sage, drückst du ihn ein wenig nach vorne, in meine Richtung, und hebst das obere Bein an. Schaffst du das?« »Ja«, antwortete Scobee lapidar. Sie wusste zwar nicht, was Keeschna vorhatte, aber sie war sich sicher, dass er dem Suprio nichts Böses wollte. Also ging sie um die Liegestatt des Suprio. Der Heiler fragte: »Bereit?« Noch bevor Scobee antworten konnte, zog Keeschna den Körper Caars in seine Richtung, hob vorsichtig das obere Bein an und reichte Scobee mit seiner freien Hand die mittlerweile steife Masse. »Hilf mir beim Anheben«, befahl der Heiler. »Weiter, noch höher! So ist es gut.« Das Gewicht des Nargen-Führers war kaum zu spüren. Die runzelige Haut, von einem leichten weißgelben Flaum überzogen, fühlte sich wie dünnes Leder an. »Jetzt gebe ihm die Medizin.« Ein Zäpfchen!, begriff Scobee, wenn auch mit einiger Verspätung. Wahrscheinlich fiebersenkend. Mit gemischten Gefühlen betrachtete sie das zirka acht Zentimeter lange Etwas in ihrer Hand. Scobee verfügte zwar über eine medizinische Ausbildung. Aber niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass sie eines Tages einem sterbenden Vogelmenschen ein Riesenzäpfchen verabreichen sollte. Sie nahm das Ding fester in die Hand, und während es sich seinem Zielgebiet näherte, begann sie krampfhaft, die Schleiferschen Elegien des Bankgeheimnisses aus dem Jahr 2026 zu rezitieren. Ein Klassiker moderner Poesie, mit dem sie sich abzulenken versuchte. Vergeblich. »Nimm besser ein wenig Creme aus dem Tiegel hinter dir. Langsam und vorsichtig hineindrehen, nicht nachlassen.« Hämisch, um nicht zu sagen, bösartig, fügte Keeschna hinzu: »Vielleicht kannst du auch gleich Schmutz und Schorf herausputzen. Sonst entzündet sich die ohnehin gereizte Haut. Meinst du nicht auch, Guma Sco Pi?«
Er will mich demütigen. Nein! Er will mir einen Teil seiner eigenen Schmerzen, seiner Verzweiflung, heimzahlen. Scobee, lass dich ja nicht aus der Fassung bringen! Du hast schon Arger genug am Hals. Äußerlich kühl und beherrscht, brachte sie ihre unerquickliche Aufgabe zu Ende. Scobee und Keeschna drehten Caar zurück in die für ihn bequemste Stellung. Dann ging der heilkundige Narge davon, tief ins Dunkel der Höhle hinein, um, wie er Scobee hatte wissen lassen, ein leises Gebet an die vier Götter der Gesundheit anzustimmen. Scobee hingegen wusch sich, deftig fluchend, ihre Hände mit äußerster Sorgfalt.
Der Suprio erwachte nach knapp zwei Stunden. Scobee befühlte seinen Hals und stellte fest, dass die Körpertemperatur tatsächlich heruntergegangen war. Die GenTec verabreichte Caar ein mit Kräutern versetztes Getränk aus einem bereitstehenden Krug, und der alte Narge bedankte sich mit einem kurzen Kopfnicken. Dann schickte er Keeschna fort. Der Heiler setzte zum Protest an, aber eine zweite Geste zeigte ihm, dass der Suprio keinen Widerspruch duldete. Er wollte mit der Frau sprechen, und zwar allein. »Ich... sterbe. Erzähle mir... deine... Wahrheit«, keuchte er und hustete trocken. »Du willst unsere Wahrheit hören? Ob wir Gumas... tatsächlich Halbgötter sind?« Caar nickte. Zweifelnd blickte Scobee die eingefallen wirkende, hilflose Gestalt an. Konnte sie dem sterbenden Caar die Wahrheit zumuten? In den letzten Tagen hatte er sich als Meister der Intrige und der Hinterlist erwiesen. Und wer wusste schon, ob er nicht doch noch Mittel und Wege finden würde, den vier Fremden ,und Jiim Schaden zuzufügen? Aber es hatte den Anschein, als wollte der Suprio tatsächlich nur noch seine eigene Neugierde stillen, bevor er den Weg in die Dunkelheit antrat. Da war keine Verschlagenheit mehr, und auch kein Hass. Scobee hatte ihn in Notwehr verletzt, als er mit einer unbekannten Waffe auf sie geschossen hatte. Caar, der Suprio, schien sein Schicksal akzeptiert zu haben. Und so schilderte sie dem alten Nargen in ruhigen, aber eindringlichen Worten, woher sie und die drei anderen kamen und was sie in den letzten Tagen und Wochen alles erlebt hatten. Sie musste ihm schildern, wie es auf der Erde aussah und was für wundersame Tiere dort lebten. In den schillerndsten Farben beschrieb sie die Wunder der Natur ihres vielleicht für immer verlorenen Heimatplaneten, der aus dem All betrachtet wie eine azurblaue Perle gewirkt hatte. Sie erzählte von bedeutenden Menschen, von Literaten, Musikern und Philosophen. Tränen der Sehnsucht rannen der sonst so beherrschten Frau über die Wangen, und sie ließ es zu.
Erst, als der Suprio mit spitzen, zittrigen Fingern über ihr Gesicht strich, erwachte sie aus dem tranceähnlichen Zustand, in den sie sich hineingesteigert hatte. »Erde schön... Kalser aber... auch schön«, sagte Caar unter großen Schmerzen. Zwischen den einzelnen Wortbrocken lagen lange Pausen, in denen er um Atem rang. »Du schützt Erde... ich Kalser.« Der Suprio erschlaffte, und Scobee glaubte, dass er eingeschlafen sei - oder war er gestorben? Vorsichtig griff sie an sein Gesicht, um den Atem zu erfühlen, als er plötzlich hochschrak und mit einer Klarheit, die in seinem Zustand etwas Gespenstisches an sich hatte, sagte: »Wenn der letzte Suprio stirbt, stirbt das Volk der Nargen! Du musst zuhören und mir helfen. Keiner meines Stammes würde mich bei dem unterstützen, worum ich dich jetzt... bitte.« Erschöpft sank er zurück auf sein Lager, und nach einigen Minuten der Erholung teilte er Scobee mit, was er von ihr erhoffte. Nein: forderte! Die GenTec blickte stumm und ungläubig. Doch als sie die feucht-gelben Augen sah, sagte sie: »Einverstanden.« Danach konnte Scobee nichts anderes mehr tun als zu warten. Bis es vorbei war. Oder bis es beginnen würde.
Es blieben ihnen maximal zwei Minuten, um eine Lösung zu finden. Eine erste Hitzewelle schwappte heran. Das zerschmolzene Gestein würde in Kürze folgen und ihre Festlandinsel in Nichts auflösen. »Wir springen!«, sagte Jarvis und sah an Resnick vorbei. »Wie bitte?«, fragte der andere skeptisch. »Der linke, der schmalere Lavafluss, ist vielleicht zwanzig Meter breit. Da sehe ich keine Chance.« »Dreisprung«, antwortete Jarvis kurz angebunden. Suchend blickte er sich um, bis er einen flachen, umgestürzten Schieferbrocken entdeckte. »Wir nehmen den da - und den dahinter. Schnell, hilf mir!« Resnick hatte keine Ahnung, worauf Jarvis hinauswollte. Doch er stellte keine Fragen, sondern half ihm. Gemeinsam schleppten sie den Stein, vielleicht zwei Meter im Durchmesser und hundert Kilogramm schwer, an den Rand des Lavaflusses. Die Hitze hier war enorm. Sie drang - gemildert zwar, aber immerhin - selbst durch die isolierenden Schuhe und machte jeden Schritt zur Tortur. »Werfen«, sagte Jarvis gepresst. Gemeinsam holten sie aus, und auf Kommando schleuderten sie die Felsplatte gemeinsam so weit wie möglich. Sie landete ungefähr acht Meter entfernt und trieb langsam, zentimeterweise davon. Die Ränder begannen sofort zu schmelzen.
»Jetzt die andere Platte.« Sie war kleiner und leichter, und mit aller Gewalt stießen sie sie etwa fünfzehn Meter von sich. Nahezu parallel zueinander trieben die Schieferplatten stromabwärts. Ihre Ränder leuchteten hellgelb auf und verbrannten zischend. Resnick hatte längst begriffen. Der Plan war absolut wahnsinnig - aber vielleicht würde er gerade deshalb gelingen. »Beeil dich«, keuchte Jarvis. »Du zuerst.« Gemeinsam eilten sie so weit wie möglich zurück zum anderen »Ufer«. Sie sahen sich nochmals an, dann rannte Resnick los. Der Anlauf war nicht perfekt getimt. Er musste einen Zwischenschritt einlegen und verlor dadurch an wertvollem Schwung. Er stieß sich mit aller Kraft vor dem Lavafluss ab, streckte das rechte Bein, das Schwungbein, weit nach vor, landete mittig auf der größeren Felsplatte, stieß sich erneut ab, bevor sie umkippen konnte, landete im hinteren Drittel der zweiten Platte, katapultierte sich ein letztes Mal vorwärts... und landete auf rettendem festen Boden. Allerdings mit Rücklage. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, die sengende Gluthitze im Nacken. Nach einer kleinen Ewigkeit fand Resnick doch noch sein Gleichgewicht und war in Sicherheit. Der GenTec drehte sich um. Die Steinplatten waren mittlerweile zwei Meter abgetrieben, und Jarvis hatte nicht mehr viel Spielraum. Vor ihm vereinten sich die beiden Ströme, und hinter ihm wälzte sich ein weiterer Lavaschub auf ihn zu. Wie eine Feuerwalze, dachte Resnick. Die zweite Platte, auf der er so unglücklich gelandet war, war mittlerweile auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Masse zusammengeschmolzen, und Resnick konnte förmlich zusehen, wie sie weiter von der Glut gefressen wurde. Verzweifelt blickte er sich um. Sie benötigten Ersatz. Jarvis hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er würde in den nächsten Sekunden springen müssen, sonst... Resnick zog die hinderlichen Handschuhe aus und brach mit bloßen Händen eine kleine, flache Platte aus dem Boden. Jarvis lief bereits an, die Lavaströme auf den Fersen. Die Landbrücke, die ihm noch blieb, hatte sich auf zwei Meter verkleinert. Während Resnick seine Platte flach von sich schleuderte und dazu mit einem martialischen Schrei alle Luft aus der Lunge presste, landete Jarvis auf der ersten und stieß sich kräftig nach vorn ab. Und im gleichen Moment, da die geschleuderte Platte auf der Lava aufprallte, berührte Jarvis' Fuß sie. Er tauchte den schmelzenden Stein mit seinem Körpergewicht nahezu unter, wuchtete sich aber vorwärts, dem rettenden Ziel entgegen... Genau in die Arme von Resnick, der ihn endgültig in Sicherheit zerrte. Weg von der tödlichen Hitze! Keuchend saßen sie eine Weile da, der eine mit blutenden Händen, der andere mit lädiertem Anzug und Blasen werfenden Stiefelsohlen.
»Danke«, sagte Jarvis. Einfach nur »danke«. Dann marschierten sie müde, aber auch erleichtert weiter. 6. Die Stadt Cloud hatte trotz der widrigen Umstände gut geschlafen. Feuer und Trockenheit hatten ihn die trostlose Umgebung vergessen lassen. Das fluoreszierende Licht des Nabiss hatte sich zudem beruhigend, ja geradezu hypnotisierend auf seine Psyche ausgewirkt. Und wie Jiim versprochen hatte, spürte er keinerlei Nachwirkungen des Zeke. Der Narge nestelte bereits nervös an dem Gerät, das seinen Körper umspannte, während sich Cloud noch rekelte, kratzte und seine dürftige Morgentoilette erledigte. »Bist du so weit?«, fragte Jiim ungeduldig. »Der Tag neigt sich bereits dem Ende entgegen. Wenn du noch etwas von der Alten Stadt sehen willst, müssen wir uns beeilen.« »Einen Moment«, murmelte Cloud und betrachtete den steinernen, mumifizierten Leichnam des Ganf-Kindes, in dessen Windschatten sie geschlafen hatten. Konnte es sein, dass die Aura, die einstmals von diesen Lebewesen ausgegangen war, noch in der Luft schwebte? Wie ein Echo, das immer und immer wieder von Felswänden hin und her geprellt wird und nur langsam, zögernd, an Kraft verliert? Die Traumsequenzen, an die er sich nunmehr kaum noch erinnern konnte, hatten eine ungeheuer positive Stimmung ausgestrahlt und wie ein Wundermittel auf sein belastetes Gemüt gewirkt. Er trat näher an den Rundstein - nein, das tote Kind! - und betrachtete die verwitterte Außenseite näher, die nach dem Sturm nahezu schneefrei war. Runenähnliche Zeichen zogen sich kreuz und quer über den Körper und erzeugten ein verwirrendes, fremdartiges Muster, das aber keineswegs unangenehm wirkte. »Danke«, sagte Cloud leise und fuhr mit seinem Handschuh über die raue Außenfläche. Dann drehte er sich abrupt um und ging leichten Schrittes zu Jiim, der ungeduldig auf ihn wartete und ihn im Haltetrapez des Nabiss einklinkte. Stumm erhob sich der Narge in die Luft. Vier, fünf scheinbar mühelose Flügelschläge reichten aus, um Höhe zu gewinnen. Cloud verrenkte den Hals so weit wie möglich, um mit anzusehen, wie lange, fragile Fühler vom Nabiss in die Flügel hinauswuchsen und sie verstärkten. So dünn wie Glasfaserkabeln und dennoch vermutlich so stark wie Stahlseile. Die Kälte war sofort wieder da. Auch wenn der Sturm des Vortages nachgelassen hatte - der Flugwind ließ die Atemluft trotz des vorgeschobenen Filters wieder eisigkalt erscheinen. »Wie lange noch bis zur Dämmerung?«, rief Cloud dem Nargen über Außenlautsprecher zu. »Drei- bis dreieinhalbtausend Herzschläge«, antwortete der Vogelmensch. 26
Cloud rechnete rasch um. Der Herzschlag des Nargen war zum provisorischen, vergleichenden Zeitmaß geworden. Hundert, maximal hundertfünfzehn Minuten. Die Sicht war für Cloud selbst bei Tageslicht kaum ausreichend. Die tief hängenden Wolken und Myriaden Staubpartikel trübten das Licht der Sonne - wahrscheinlich auf dem gesamten Planeten, abgesehen von der Enklave am Schrund. Allmählich erkannte Cloud eine Ordnung in den scheinbar von Titanenfäusten durcheinander gewirbelten Formen unter ihm, die Jiim als Überbleibsel der Alten Stadt bezeichnete. Der Narge blieb mit ruhigen Schlägen in der Luft und zog konzentrische Kreise, die allmählich enger wurden. Umrisse hoher Gebäude erinnerten den Menschen in ihrer Symmetrie an etwas Bestimmtes. »Riesige, pyramidenförmige Gebäude«, murmelte Cloud. »Dazwischen kleinere, flache Bauten. Nahezu alles im rechten Winkel errichtet. Kerzengerade Straßen... Inkas? Azteken?«« Er kniff die Augen zusammen und bemühte seine Erinnerung. Das, was in Süd- und Mittelamerika von Dschungelpflanzen überwuchert und kaum mehr als ehemalige Siedlungen erkennbar war, sah er nun in einer eisüberzogenen Variante. Die schmutzigweiße Masse - Schneeklumpen und bizarre, vom Wind verzerrte Formationen - irritierten und betrogen das Auge. Er konzentrierte sich. »Das muss die Hauptstraße gewesen sein. Hier sind die Nargen in ihren besten Tagen entlang flaniert; offenbar waren sie damals sogar noch erdverbundener als heute... Eine Allee, enorm breit, mit nebeneinander führenden Gehwegen auf verschiedenen Höhenebenen. Da vielleicht die Paläste der Suprios und reicher Bürger, dort ein Verwaltungsgebäude, und weiter hinten ein religiöses Zentrum? Alle Gebäude rechteckig und pyramidenförmig, bis auf einen runden.., einen runden... Ganf hie und da, der als Versammlungsort diente. Grundgütiger, was waren diese Wesen groß!« Unter ihm verschwand ein halbkugelförmiger Komplex in den Schatten der beginnenden Dämmerung. Vierzig Meter im Durchmesser - oder gar mehr? Jetzt fiel ihm wieder ein, woran ihn die Ruinen im Speziellen erinnerten. Teotihuacan! Die geheimnisvolle Stadt, nahe Mexico Citys. Die erste Großstadt der westlichen Hemisphäre mit nahezu zweihunderttausend Einwohnern, die dort bereits vor mehr als 1500 Jahren gelebt hatten. Hätte er damals, vor sechs Jahren, nur ein wenig mehr auf die archäologische Führerin gehört und nicht nur Augen für die Liebe seines Lebens gehabt, die ihn auf seinen Urlaubstrip nach Mexiko begleitet hatte. Woran konnte er sich anlässlich seines Aufenthaltes in Teotihuacan noch erinnern? Strenge, menschenverachtende Rituale. Kühle und auf Arithmetik ausgerichtete Architektur. Selbst der San Juan River, der die kerzengerade, zwei Kilometer lange und fünfzig Meter breite Straße der Toten zwischen der Zitadelle und der Sonnenpyramide kreuzte, war begradigt und der strengen Stadtgestaltung angepasst
worden. Die Ost-West Achse Teotihuacans war auf die Plejaden ausgerichtet, einem Fixpunkt des mesoamerikanischen Kalenders. Die Straße der Toten hingegen zeigte in Richtung des heiligen Berges Cerro Gordo. Selbst die Azteken hatten Jahrhunderte später Pilgerfahrten zu den gewaltigen Pyramiden unternommen. Die Verwandtschaft der Anlagen und Bauten war auf jeden Fall frappant. Und eines hatten die beiden Städte ohnedies gemeinsam: Ihre Bewohner waren ausgestorben...
Plötzlich wurden die Flügelschläge Jiims hektischer und unruhiger. Mit noch höherer Geschwindigkeit stürzte er hinab. Zweihundert Meter im Sturzflug. Das fettige Abendessen lag Cloud schwer im Magen. Jiim tauchte waghalsig zwischen zwei kleineren Pyramidenbauten hindurch, richtete sich abrupt auf und bremste mit weit ausgestreckten Flügeln binnen weniger Momente auf Null ab. Sanft sank er zu Boden, atmete um keinen Deut schneller. Als ob ihn die sicherlich anstrengenden Manöver keinerlei Kraft kosten würden. Erledigte denn wirklich alles das Nabiss, oder war der Narge einfach bärenstark? Cloud öffnete den Helm. »Warum bist du so überstürzt gelandet? Hast du etwas entdeckt?« »Ja und nein«, antwortete Jiim und blickte sich mit ruckartigen Bewegungen seines Kopfes um. »Ich bemerkte beim Kreisen aus den Augenwinkeln einen Kältefleck, der sich bewegte. Ganz in der Nähe. Doch kaum sah ich direkt hin, war er verschwunden. « »Ein Tier? Ein anderer Narge?« »Guma Tschonk, ich rede von einem Kältefleck in strahlendem Tiefblau, der noch dunkler war als die Umgebung! Lebewesen sind rot.« »Und dennoch hat sich der Kältefleck bewegt, sagst du?«, fragte Cloud. »Nein.., ja. Ich verstehe es selbst nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Egal, ob Tier, intelligentes Wesen oder nur eine Sinnestäuschung: Das Nabiss leuchtet kilometerweit - wie Las Vegas bei Nacht. Wir sollten extrem vorsichtig vorgehen. Bis jetzt habe ich außer euch Nargen noch kein Lebewesen auf Kalser getroffen, dem ich gerne Hand oder Pfote schütteln würde, ohne zu befürchten, selbige angeknabbert oder ausgerissen zu bekommen. Kannst du die Farben des Nabiss nicht abschalten?« »Natürlich kann ich, Guma Tschonk. Doch ich muss dann auf einen Teil seiner Eigenschaften verzichten. - Was ist Las Vegas?« »Unwichtig. Ein andermal. Es wäre trotzdem ratsam, wenn du deine Leuchtturmtätigkeit vorübergehend einstellen könntest.«
Er bereute das Wort schon, während er es aussprach - und kam nicht umhin hinzuzufügen: »Das Nabiss abschalten, meine ich.« Mit einer kurzen Handbewegung zur Brust brachte Jiim das Leuchten fast völlig zum Verlöschen. »Seht!«, krächzte der Narge plötzlich leise. »Was ist?«, flüsterte Cloud zurück, und drehte sich instinktiv einmal um die eigene Achse. Es war fast dunkel geworden. »Ich habe wieder blau gesehen. Und dieses Mal war es sicherlich kein Irrtum.«
»Wäre es nicht sicherer, die Alte Stadt weiter aus der Luft zu erforschen, Jiim? Hier unten sind wir leichte Beute.« »Wir sind in der Absicht hierher geflogen, die Stadt zu untersuchen, und zwar gründlich - was nur aus der Luft nicht geht. Oder hast du dein Versprechen schon vergessen, Guma Tsehonk?« »Keineswegs. Ich wollte nur das Risiko minimieren und mir einen besseren Überblick verschaffen.« »Es ist nicht ratsam, jetzt nochmals aufzusteigen. Der feuchte Wind kündet frische Unwetter an, und die Temperatur dürfte noch weiter fallen. Selbst mit dem Nabiss würde ich Schwierigkeiten bekommen, dich zu transportieren. Es ist besser, wir gehen zu Fuß im Schutz der Ruinen weiter.« »Und der Kältefleck, den du gesehen hast?« »Wir müssen eben sehr vorsichtig sein, Guma Tschonk«, wich der Narge einer Antwort aus. »Wonach suchen wir überhaupt, Jiim?« »Wenn ich es sehe, werde ich es wissen«, antwortete der Narge kryptisch. »Hast du wenigstens einen Anhaltspunkt? Die Stadt ist riesengroß. Sie misst sicherlich mehr als hundert Quadratkilometer.« Mit dieser Flächenangabe konnte Jiim nichts anfangen. Er sagte: »Es muss ein Gebäude am Ende der breiten Straße sein, ich bin mir aber nicht restlos sicher.« Cloud dachte nach. Jiim redete sich offensichtlich heraus. Bis zum Ende der breiten Straße waren es vier, vielleicht fünf Kilometer, und er hätte sie beide ohne weiteres nahe am Ziel absetzen können. Es gab nur eine wirklich logische Erklärung: Jiim wollte zu Fuß gehen. Schließlich war es die erste Begegnung eines Angehörigen seines in die Primitivität zurückgefallenen Volkes mit den Relikten der glorreichen Vergangenheit. Das Nabiss hatte Jiim die nackten Informationen zukommen lassen. Doch jetzt wollte er die Geschichte spüren. Cloud seufzte, dann setzte er sich in Bewegung. »Also komm, Jiim. Schauen wir, dass wir so weit wie möglich kommen, bevor der von dir erwartete Sturm einsetzt.«
»Ja«, krächzte der Narge, blickte misstrauisch nach allen Seiten und folgte dem Menschen. Sie hatten die große, breite Hauptstraße gerade noch erreicht. Dann hatte die Dunkelheit sie vollends eingeholt, und mit ihr waren Schnee und Eis gekommen. Einen derartigen Sturm hatte Cloud noch niemals erlebt. Die Mischung aus beißenden Eisgraupeln und Schmutzpartikeln wehte nahezu waagerecht und schob die beiden ungleichen Wesen vor sich her. Der Scheinwerfer, den Cloud eingeschaltet hatte, leuchtete keine zwei Meter weit, und selbst das Nabiss war unter diesen Bedingungen keine wirkliche Hilfe. Der Zustand der Straße hatte aus der Luft wesentlich besser ausgesehen als er es tatsächlich war. Auf fünf unterschiedlichen Ebenen mussten die alten Nargen einst dahinflaniert sein. Heute war der schwarze, lichtschluckende Untergrund stellenweise metertief aufgerissen. Von den höheren Geh-Ebenen waren mächtige Teile auf die unteren herabgefallen und versperrten immer wieder den Weg. Die Hindernisse zwängen Cloud, der voranging, und Jiim zu mühsamen Umwegen und Kletteraktionen, sorgten andererseits aber auch für leidlichen Schutz vor dem tobenden Sturm. »Pause!«, keuchte Cloud irgendwann und gab dem Nargen ein Zeichen. Sie duckten sich hinter einen fast rechteckigen Felsquader, der mehr als zwei Meter hoch und ebenso breit war. Erschöpft blickte der Commander auf sein Multidisplay. Die Schrittzählmechanik zeigte ihm, dass sie nahezu zwei Drittel des Weges zur Pyramide am Ende der Straße zurückgelegt hatten. »Wolkenheim! «,schrie der Narge mit sich überschlagender Stimme. »Wie bitte?«, rief Cloud zurück. »Das Nabiss bezeichnet die Pyramide direkt vor uns als Wolkenheim. Es war eine Art Gemeinschaftshaus, von dem aus die Alte Stadt verwaltet wurde. Das Nabiss hat auf unsere Annäherung an das Wolkenheim reagiert, und mir ein paar allgemeine Informationen zukommen lassen. Es passiert ohne mein Zutun.« »Hat es auch zu anderen Gebäuden Hinweise gegeben?« »Bis jetzt nicht.« Der Narge fror mittlerweile und antwortete nur kurz angebunden. Immer wieder schlug er Eisklumpen aus seinem Gefieder und bewegte hektisch beide Flügel. »Okay. Weiter geht's! «, ermunterte ihn Cloud. Er hatte den Helm längst wieder geschlossen und war einigermaßen gegen die Naturgewalt gewappnet. Die Wucht des Sturmes trieb sie weiter vorwärts, und über den gefrorenen Boden stolperten sie ihrem Ziel entgegen.
Die letzten hundert Meter ihres Weges waren akrobatische Kletterarbeit, die sie über ein Geröll- und Steinfeld führte. Als hätte ein Riese gewürfelt, dachte Cloud. Jiim, der das lange Marschieren nicht gewohnt war, hatte immer wieder Versuche gestartet, sich doch noch in die Luft zu erheben. Selbst mit Hilfe des Nabiss gelang es ihm jedoch nicht, die notwendige Stabilität für einen Start zu erreichen, und so folgte er seit geraumer Zeit apathisch dem Menschen, der eigentlich ihm hatte folgen wollen. Plötzlich schälten sich die Umrisse riesiger, übereinander gestapelter Quader aus dem Schneetreiben. Doch der Blick reichte nicht weit empor, zu schlecht war die Sicht. Dennoch gab es keinen Zweifel: Das Wolkenheim! Sie hatten es erreicht. »Das Nabiss hat wieder reagiert!«, krächzte Jiim erschöpft. »Es meint, dass der Eingang links von uns liegt.« Cloud wandte sich in die angegebene Richtung. Er hatte den Nargen schon mehrmals zur genauen Funktionsweise der goldenen >Rüstung< befragt, bislang aber stets ausweichende Antworten erhalten. Lapidare Andeutungen wie: »... es hat mir gesagt...« oder »... das Nabiss hat mich spüren lassen...« waren zu wenig, um seine Neugier zu stillen. Der Wind kam nun von der Seite. Immer wieder musste Cloud das Visier von Schnee und Eisstücken säubern und gleichzeitig über mannshohe Felsen klettern, die tückisch glatt und vereist waren. »Guma Tschonk... hier muss der Eingang... sein«, keuchte Jiim. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt. Die Flügel hatte er so nahe wie möglich an den Körper gezogen. Seine Bewegungen wirkten hölzern und unkoordiniert. Cloud blickte umher und ließ den Kegel des Scheinwerfers über das Gestein wandern. Keine Spur von einer Tür oder einem Tor. Kein Wunder auch - das Trümmerfeld, über das sie kletterten, war gut zehn Meter hoch. Wahrscheinlich lag der Eingang seit langem unter den Steinen begraben und würde mit ihren beschränkten Mitteln gar 'nicht mehr zugänglich sein. Resigniert ging Cloud in die Hocke. Jiim scharrte unkontrolliert mit den Füßen über den eisigen Fels, wirkte völlig ausgebrannt. Sie mussten so schnell wie möglich einen geschützten Ort finden, an dem er sich aufwärmen konnte, sonst würde der Narge diesen Ausflug nicht überstehen... Moment mal! Cloud war von menschlicher Bauweise, ausgegangen! Der Eingang flugfähiger: Wesen würde sich aber wohl kaum auf dem Niveau des Erdbodens befinden! Er stand auf, schaltete den Scheinwerfer auf breiteste Fächerung, ließ ihn auf und ab tanzen und suchte nach möglichen Unregelmäßigkeiten in der glatten Außenwand. Da! Drei Meter über ihnen befand sich ein schmaler Sims. »Hilf mir mal«, forderte er den Nargen auf und schwang sich mit seiner Hilfe hoch. Hier oben, nicht mehr im Windschutz des Trümmerfeldes, pfiff der Sturm noch heftiger und presste sie erbarmungslos gegen das Bauwerk, das größtenteils unter einem dicken Eispanzer verborgen lag. Nur hie und da sah Cloud ein Stück der
steinernen Fassade, wo Temperaturschwankungen und Druck Teile des Eises weggesprengt hatten. Schriftzeichen! Lange, elegant geschwungene Zeichen waren zu sehen, die im krassen Widerspruch zur bisherig kennen gelernten, streng arithmetischen Ordnung standen. »Jiim, du musst hier rauf!« »Guma Tschonk... ich kann nicht mehr!« »Unsinn! Wir haben's gleich geschafft. Hier muss der Eingang sein. Nur noch eine letzte Anstrengung... reich mir den Arm, ich helfe dir.« Cloud ignorierte die eigene Müdigkeit und zog den Närgen zu sich herauf. Er drehte Jiim, der völlig neben sich stand, in Richtung der Wand und zeigte ihm die Schriftzeichen. »Kannst du damit etwas anfangen?« Der Narge antwortete lange nicht. Dann aber nickte er schwach. Er bedeutete dem Menschen, dass sie mehr von der Fläche, die sich vor ihnen befand, freilegen mussten. Die Kraft zum Reden fehlte ihm. Cloud hob einen faustgroßen Stein auf und schlug auf die Eisschicht ein. Langsam viel zu langsam - lösten sich erste Brocken, und schließlich doch ganze Platten. Knapp oberhalb des Simses, auf dem sie standen, wurde ein schmaler Spalt sichtbar. Cloud ging in die Knie und folgte der Fuge mit Hilfe des Scheinwerferlichts. Auch der Narge hockte sich nieder und fuhr mit seinen schmalen, steif gefrorenen Fingern daran entlang, bis... bis sie die senkrechte Linie fanden. Links und rechts davon, etwas höher, als Cloud es erwartet hatte, fanden sich zwei handgroße, kreisrunde Vertiefungen. Mit allerletzter Kraft schlugen er die Eisklumpen darin heraus. Juni blickte den Menschen an. Müde, erschöpft, halb erfroren. Dann griff er zitternd in die beiden schmalen Mulden und drückte sanft dagegen. Nichts. Nichts bewegte sich. Auch wenn er den Öffnungsmechanismus richtig betätigt hatte, so hatte die Mechanik wohl längst den Geist aufgegeben. Es war sinnlos. Sie ließen sich synchron zu Boden sinken und blickten trübsinnig ins Sturmtreiben. Sinnlos, weiter zu kämpfen. Sinnlos, weiter zu hoffen... Mit einer erneuten Steigerung fuhr der Wind zwischen die beiden Wesen und presste sie fest aneinander: Selbst wenn sie die Kraft gefunden hätten - sie hatten nicht mehr den Willen, sich voneinander zu lösen. Sie warteten still auf das Ende.
Das Womp war der Spur der beiden heißen, glühenden Wesen die ganze Nacht über gefolgt. Immer weiter hatte er sich aus seinem angestammten Jagdrevier entfernt und die Grenzmarkierungen anderer seiner Art missachtet. Zu groß war sein Zorn, und Zorn machte ihn heiß, und er hasste Hitze, und deswegen wurde er noch zorniger. Immer wieder tauchte er tief hinab in den Frost und fraß sich in blauschimmernde Eismasse. Doch nichts wollte seinen Hass mildern. Die beiden Hitzekörper wurden schwächer, ihre grell leuchtende Aura verlor stetig an Kraft. Vor einem großen, massiven Etwas aus Stein blieben sie endlich stehen. Das Womp kannte diese Steinhaufen aus seinem Revier und hatte sie aus unerfindlichen Gründen immer gemieden. Eine Erinnerung, eine Urangst, hatte ihn stets davon fern gehalten. Doch diesmal gab es nichts, was ihn stoppen konnte. Er würde sie erlegen. Jetzt! 7. Eine Begegnung Trotz mancher Umwege kamen die beiden GenTecs gut voran. Bereits am nächsten Morgen erreichten sie die weite Ebene, in der Jiim sie geborgen hatte. Doch dann... »Chex sagte, dass Nihuanas Ringelschwänze haben, nicht wahr?« Jarvis kroch in Deckung und fixierte das Tier, das an ihnen vorbei wanderte. »Zumindest hat er nicht gelogen«, entgegnete Resnick. »Er hat nur die Größe verschwiegen. Ich würde meinen, dass der Schweif fünf bis sechs Meter lang ist.« »Ganz zu schweigen von der Dornenkrone an seinem Ende.« Ein lautes Krachen ertönte, das Nihuana zerschmetterte einen meterdicken Felsbrocken mit einer beiläufigen Bewegung seines Hinterteils. Der Ringelschwanz fuhr so rasch aus, dass es selbst die beiden GenTecs kaum nachvollziehen konnten, und zog sich ebenso rasch wieder zusammen. Ein Hagel faustgroßer Steine zischte in alle Richtungen, und Staub wurde vom einsetzenden Wind in alle Richtungen verwirbelt. »Wir können nur hoffen, dass es uns nicht entdeckt, denn das Nihuana dürfte heute ein wenig übellaunig sein«, flüsterte Jarvis und duckte sich wie Resnick hinter eine niedrige, natürlich gewachsene Steinbarriere. Das Raubtier schien ihn gehört zu haben, denn mit einem Mal drehte es den Kopf in ihre Richtung. Kopf war vielleicht der falsche Ausdruck, denn der vordere Teil des Tieres bestand nur aus zahlreichen spitzen Zahnreihen in einem weit aufgerissenen Rachen. Mit einer gleitenden Bewegung und einem vernehmlichen Knacken renkte es sich die Kiefer aus. Die Sicht auf Magen und Verdauungsorgane war dank der Infrarotsicht der GenTecs kein Problem.
»Ein wunderschönes Gebiss«, murmelte Resnick. Neben ihm richtete sich Jarvis zur vollen Größe von 1,87 Meter auf und sagte: »Wir trennen uns und greifen von zwei Seiten aus an. Das Biest kann nicht überall zugleich sein.« Er ließ das echsenähnliche Monstrum nicht aus den Augen, als er hinter der Deckung hervortrat. Resnick tat im selben Moment das gleiche, bewegte sich aber in die andere Richtung. Das Nihuana bleckte weiterhin seine Zähne und pendelte mit dem schweren, warzenübersäten Kopf zwischen den beiden Menschen hin und her. Jetzt waren auch die gelben, bösartig funkelnden Augen zu sehen. Jarvis brach mit bloßer Hand ein faustgroßes Stück Lavastein ab und schleuderte es kraftvoll in Richtung der Echse. Sie wich behäbig aus, doch der nächste Wurf von Resnick traf sie schmerzhaft zwischen den Zähnen. Wütend heulte sie auf. Geifer, mit Blut vermischt, tropfte zäh zu Boden. Noch immer konnte das Tier sich nicht entscheiden, welchen der beiden außergewöhnlichen Gegner es angreifen sollte. Jarvis und Resnick schleuderten ununterbrochen weitere schwere Wurfgeschosse. Ein wahrer Schauer deckte die Kreatur ein, und für einen kurzen Moment schien es, als ob sie sich zurückziehen wollte. Das Nihuana drehte sich behäbig auf den breiten, hornigen Tatzen um und stimmte ein lautes Gebrüll an. Plötzlich fuhr der Ringelschwanz aus, und selbst seine enormen Reflexe hätten Jarvis nichts genützt, wenn die Echse etwas besser gezielt hätte. Knapp einen Meter neben ihm explodierte eine Felsnadel, zerrissen von der Wucht der Dornenkrone. Jetzt, dachte der GenTec und griff instinktiv nach dem Schwanz. Wie eine Sprungfeder, die wieder in die Ausgangsstellung zurückschnellte, rollte sich der Schwanz auf. Jarvis hielt sich mit aller Macht daran fest. Er spürte, wie sich Muskelpakete unter der dicken, ledrigen Haut bewegten, als er zum Rumpf der Echse gezogen wurde. Er steckte zwischen zwei Windungen des Schweifes fest, ohne dass ihn das Raubtier wahrnahm. Es würde ihm mühelos sämtliche Luft aus der Lunge quetschen, ohne auch nur Notiz davon zu nehmen! Mit aller Kraft zwängte er die Arme vor seinen Körper und presste so die Windung des Schwanzes, in der er festgeklemmt saß, auseinander. Endlich konnte er die die Beine hervorwuchten. Mit letzter Anstrengung zog er in einer Art von akrobatischen Aufschwung die Hände aus der Falle - und war frei. Im selben Augenblick hatte er die Gefahr vergessen, der er gerade entkommen war. Furchtlos warf er sich nach vorne auf den schuppigen Körper und hielt sich am mittleren von drei spitzen Hornkämmen fest. Fauchend schüttelte sich das Nihuana. Endlich hatte es den unliebsamen Reiter auf seinem Rücken bemerkt und drehte sich wütend im Kreis. Der Ringelschwanz, die gefährlichste Waffe des Tiers, war nutzlos geworden. Es konnte die Dornenkrone nur horizontal nach hinten schleudern, aber nicht auf den eigenen Körper zielen. So versuchte es, den ungewöhnlich zähen Widersacher wie ein bockender Esel abzuwerfen. Es sprang in die Luft, schoss den Schwanz immer wieder zornig ab und erreichte doch nicht das Geringste.
Jarvis saß fest im »Sattel«. Er hielt sich mit einer Hand fest und tarierte mit der anderen, hoch erhoben, das Gleichgewicht aus. Langsam, Zug um Zug, näherte er sich dem Schädel des Ungetüms. Die Gegend drehte sich um ihn. Im ständigen Auf und Ab konnte er kaum etwas erkennen. Wo war Resnick? Da stand er, hinter der trügerischen Deckung einer Lavaaufschüttung, und wartete... Worauf?! »Einen Stein! Ich brauche einen spitzen Stein!«, schrie Jarvis ihm zu. Das Nihuana grunzte erbost und verstärkte erneut seine Anstrengungen. Eine jede Unachtsamkeit konnte Jarvis das Gleichgewicht kosten. Und wenn er in unmittelbarer Nähe der Echse zu Boden stürzte, war sein Schicksal besiegelt. »Hier!«, antwortete Resnick und warf den Stein in hohem Bogen durch die Luft. Er hatte gut gezielt, aber die ständigen Dreh- und Aufbäumbewegungen machten es Jarvis unmöglich, den Stein aufzufangen - er traf das Nihuana am Hinterkopf. »Noch einen! Und noch einen - so lange, bis ich ihn zu fassen bekomme! «, rief Jarvis dem anderen zu. Immer wieder gingen die Steine fehl. Erst den sechsten - nein, siebenten konnte Jarvis endlich aus der Luft fischen. Dann ging alles blitzschnell. Er rutschte so weit wie möglich nach vorne und rammte die Spitze des Steines in eines der kleinen, tückisch rollenden Augen, bis gelbe Flüssigkeit hervorspritzte. Das Nihuana richtete sich vor Schmerz nahezu senkrecht auf und brüllte seinen Zorn zu Maron hinauf, dem geborstenen Mond. Immer noch schlug Jarvis zu. Mit genau abgezirkelten Bewegungen hieb er dem Monster nun auf die Schädeldecke. Wieder und wieder. So lange, bis das Gebrüll der Echse zu einem jämmerlichen Heulton wurde und schließlich ganz verstummte. Eine Zeitlang blieb das Nihuana stehen, als wüsste der Körper nicht, dass der Geist, von dem es beseelt gewesen war, bereits aus ihm gewichen war - dann fiel es wie in Zeitlupentempo um. Mit einem weiten Satz brachte sich Jarvis aus der Gefahrenzone, um nicht unter dem tonnenschweren Körper begraben zu werden, und wartete ein paar Minuten, bis er sich dem Tier näherte. Noch einmal schrak er zurück, als der Ringelschwanz in einem letzten Nervenzucken ausfuhr und mit hässlichem Geräusch eine tiefe Furche durch den Boden zog. Dann war Ruhe. Jarvis atmete tief durch. »Schätze, jetzt können wir unseren Weg fortsetzen, was meinst du?« Er drehte sich um. »Resnick?« Keine Antwort. Der andere GenTec war verschwunden.
8. Das Wolkenheim
Das Heizaggregat von Clouds Raumanzug veränderte sein Arbeitsgeräusch. Ein tiefes Brummen mischte sich in das sonst so monotone Hintergrundgeräusch, das Cloud schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Der Narge, der sich an ihn angelehnt hatte, bewegte sich nicht mehr. Entweder war er bereits erfroren oder eingeschlafen. Das Geräusch wurde immer lauter, immer störender und riss zumindest Cloud selbst aus dem Halbschlaf, in den er geglitten war. Unwillig wischte er mit der Hand durch die Luft, wie um ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Das Brummen wurde zum Stottern und Fauchen. Gleichzeitig wurden die Vibrationen, die von dem Aggregat ausgingen, stärker. Cloud spürte sie in seinem Rücken. Dazu ein Ziehen und Ruckeln, das nicht mehr aufhören wollte. Auch das noch, dachte er- aber er war bereits so lethargisch, dass ihn die Aussicht auf ein Ausfall der Anzugheizung kaum noch aufrütteln konnte. Mit einem letzten Beben zerknackte das Tor hinter ihm und Jiim eine riesige Eiskruste, die sich ihm noch widersetzt hatte... und glitt auseinander. Mensch und Narge kippten, ihrer Stütze beraubt, langsam zur Seite und dann nach hinten. Ein silberheller Ton erklang und ätherische Musik setzte ein. Cloud blickte benommen nach oben. Er sah Licht, das von dichten Nebelschwaden reflektiert wurde. Er hustete erstickt. Eine dicke Eis- und Schneeschicht klebte auf seinem Helm. »Jiim«, krächzte er, und richtete sich mühsam auf. »Das... Tor ist... aufgegangen!« Er schüttelte das Vogelwesen sanft, erzielte damit aber keine Reaktion. Später einmal würde er an diesen Moment zurückdenken und ihn als mit entscheidend für sein ganzes weiteres Schicksal betrachten. Er stand auf, ohne die volle Kontrolle über seinen Körper zu haben. Dann zog er den Nargen ganz ins Innere des Wolkenheims, Zentimeter um Zentimeter, ohne eigentlich noch die dafür erforderliche Kraft zu besitzen. Anschließend suchte er an der Innenseite nach einem Schließmechanismus für das Tor, nahm aber alles nur verschwommen, wie betrunken, wahr. Er drückte planlos auf den verschiedenartigen Tastaturen herum, die er entdeckte, und irgendwie gelang es ihm auf diese Weise tatsächlich, das Tor zu schließen. Dann fiel er kraftlos zu Boden. Kälte, Wind, Schnee und das immer lauter werdende Heulen des Sturmes draußen verloren an Bedeutung, wurden leiser, bis ihn völlige Stille umgab.
So nah war das Womp den beiden Hitzewesen gewesen! Es hatte sie buchstäblich schon zwischen den Klauen gefühlt, war mit den Gedanken schon dabei gewesen, die
Glut aus ihren schwächlichen Körpern zu schlürfen - doch dann, im letzten Augenblick, hatten sie sich ins Innere dieser merkwürdigen Höhle gerettet. Das Womp heulte vor Wut auf und schaufelte Eisschnee über die Kiemen, kühlte seinen überhitzten Körper ab. Brüllend, schnaufend und fauchend lief es vor der nunmehr verschlossenen Höhle auf und ab. Es hatte plötzlich Angst. Eine urtümliche Angst, die auf einer rudimentären Erinnerung beruhte. Aber es vermochte nicht für sich selbst zu erkennen, was genau es derart beunruhigte. Trotz dieser nie zuvor verspürten Ängste, entschied es, würde es hier auf die beiden Hitzewesen warten.
Es konnte kaum mehr als eine halbe Stunde vergangen sein, als Cloud wieder erwachte. Mühsam öffnete er den Helm und atmete die stickige, abgestandene Luft, die er als wohlig warm empfand, obwohl das Thermometer nicht mehr als zwei, drei Grad im Plusbereich anzeigte. Er rollte zur Seite und robbte zu Jiim, um den herum sich eine Wasserlache gebildet hatte. Die schmutzig trübe Flüssigkeit floss langsam eine Treppe hinab, die sich in der Dunkelheit verlor. Die Flügel des Nargen waren vollends vereist. Doch dort, wo das Nabiss in das Gefieder stach, spürte Cloud Wärme, die sich langsam und stetig ausbreitete. Jiims Kopf war bis in den Gefiederansatz von einer dünnen, gläsern wirkenden Eisschicht überzogen. Nur die schmale Nase war frei. Die schwarzen Augen, die keine schützenden Lider besaßen, blickten Cloud wie tot an. Der linke Mundwinkel hing festgefroren herab und verlieh dem fremdartigen Gesichtsausdruck einen fast dämonischen Zug. Cloud zog seine Handschuhe aus, griff nach Jiims Händen, massierte sanft die Finger, ballte sie immer wieder zur Faust und setzte die Massage so lange fort, bis sie Wirkung zeigte. Ein rasselndes, trockenes Geräusch drang aus Jiims Kehle. Ein kurzes Zucken des Körpers folgte. Das Nabiss reagierte auf die Lebenszeichen seines Trägers und bewegte die filigranen Stäbe am Körper auf und ab - gespenstisch. Als ob es dem Nargen lebenswichtige Impulse vermitteln würde, dachte Cloud. Wahrscheinlich war dem sogar so. Kurz darauf schüttelte Jiim hustend seine Ohnmacht ab. Cloud half ihm, sich aufzusetzen. »Komm, Jiim, versuch aufzustehen, wir müssen uns bewegen. Ein paar Schritte wenigstens, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.«
Widerwillig gehorchte der Narge, und sie brachten wieder Leben in ihre Körper. Jiim schrie plötzlich laut auf, als abrupt das Gefühl in seine Flügel zurückkehrte. Er fiel wimmernd auf die Knie und biss sich vor Schmerz in den linken Arm. Das Martyrium der »Wiederbelebung« dauerte insgesamt mehr als zwei Stunden und endete so, wie es begonnen hatte: Mensch und Narge klammerten sich aneinander und versuchten, sich gegenseitig Wärme und Zuversicht zu spenden.
Das unkontrollierte Zittern des Nargen wollte und wollte nicht aufhören. »Meinst du wirklich, dass wir schon hinabsteigen sollen?«, fragte Cloud. »Worauf sollen wir warten, Tschonk?« Es war das erste Mal, dass der Narge auf die Ehrenbezeichnung »Guma« verzichtete. Das gemeinsam Erlebte hatte sie noch mehr zusammengeschweißt. Respekt und Ehrfurcht waren einem Gefühl der Anerkennung und - vielleicht - ersten Ansätzen von Freundschaft gewichen. Die Stufen der Treppe hatten einen für Menschen ungewohnt großen Abstand zueinander. Die Schritte, mit denen Cloud seine Kniegelenke belastete, schmerzten noch über das Erwartete hinaus. Auch sein Gesicht brannte. Reflektionen auf dem goldeloxierten Material seines Helms verrieten ihm, dass sich dunkle Flecken mit feinen Verästelungen auf seinen Wangen ausgebreitet hatten. Jiim hatte das Nabiss wieder auf normale Leistung eingestellt, und der Regenbogenschimmer erhellte den großen, hohen Raum zumindest in einem kleinen Radius. Jedes gesprochene Wort hallte laut von den Wänden zurück. An einigen Stellen tropfte Wasser von weit oben herab. Die Treppe endete auf mehreren vorgezogenen Plattformen ohne Absperrung. Darunter gähnte ein schier bodenloser, gewaltiger Abgrund. Für Nargen mochten Geländer unnütz sein, Cloud hätte sie in dieser Situation durchaus begrüßt... »Steig auf«, sagte Jiim, beugte sich vor und bot ihm auffordernd seinen Rücken dar. »Schaffst du's denn mit mir zusammen?«, fragte Cloud skeptisch. »Mach schon, Tschonk, mach endlich! « Cloud gehorchte widerstrebend. Der Narge zitterte unter dem zusätzlichen Gewicht, warf sich dann aber furchtlos in die Luft. Das Nabiss sirrte leise. Jiim wimmerte, als er die Flügel ausbreitete und sie kreisend in den Abgrund sanken. »Wir sind schon weit unter der Erdoberfläche«, rief Cloud ihm zu.
»Das Nabiss sagt, dass es mehr als hundert Nargenlängen abwärts geht. Es war ein Zeichen der Demut der alten Nargen, dass sie, die die Luft beherrschten, ihre wichtigsten Gebäude tief in die Erde gruben.« »Und was erwartet uns dort unten? Weiß das Nabiss auch darauf eine Antwort?« Cloud lachte wild. »Ja«, erwiderte Jiim zu seiner Verblüffung. »Ich kann dir ein großes Feuer versprechen.«
Obwohl manche Stellen des Wolkenheims mit mehreren Metern tiefem Wasser bedeckt waren, fanden sich genügend erhöhte Plattformen, bis zu zwanzig Schritte breit und lang, auf denen sie landen konnten. Cloud kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er die riesigen, weit hinauf reichenden Regale sah, die mit Büchern vollgestopft waren. »Das Wolkenheim war nicht nur das Verwaltungszentrum der Alten Stadt, sondern auch der Hort unseres Wissens. Die Geschichte der Nargen wurde hier gesammelt, katalogisiert, geordnet und abgelegt.« Jiim seufzte in fast menschlicher Manier und drehte sich zu Cloud um. »Nun gut. Was soll ich nehmen?« Die Erinnerung an die verlorene Blüte seines Volkes schmerzte ihn sichtlich, erst recht angesichts des hier gehorteten und immer noch existierenden Wissens. Cloud überlegte. »Ich würde im Verwaltungstrakt unter >E< beziehungsweise dem nargischen Pendant dazu anfangen. « Jiim blickte verständnislos, und Cloud erklärte ihm, worauf er hinaus wollte. Und so kam es, dass das Auflodern mehrerer hundert Jahre alter Einkommensteuerbescheide Herz und Seele von Cloud und Jiim erwärmte. Die Zahl der Akten war schier endlos. Steuerpflicht gehörte offenbar wie Masse und Gravitation zu den Grundelementen des Universums, ohne die es wahrscheinlich aufgehört hätte zu existieren...
Sie waren beim sechsten Buchstaben der Einkommensnachweise angelangt, als Jiim unvermittelt zu sprechen begann. »So, wie wir uns heute geholfen haben, so eng war
vor vielen Generationen auch die Beziehung zwischen Nargen und Ganfs. Der eine konnte und wollte ohne den anderen nicht mehr sein.« Noch immer zitternd vor Kälte schlugen die Kauleisten des Jägers aufeinander. »Die Unsichtbaren, die unseren Planeten innerhalb weniger Tage besetzten, hatten nach der Ausrottung der Ganfs leichtes Spiel mit meinen gebrochenen Vorfahren. Sie zwangen sie in die Sklaverei. Sie verlangten von ihnen, Raubbau an den Ressourcen Kalsers zu betreiben. Sie quälten und töteten sie, wo und wann immer sie wollten. Sie zerschlugen frisch gelegte Eier, folterten und brandschatzten. Sie... ach, es ist zu fürchterlich, um noch mehr darüber zu reden!« Jiim schlug die Hände vor die Augen, seine Flügel verschränkten sich vor dem Körper. Cloud wartete geduldig, bis der Narge sich beruhigt hatte. Schließlich sagte Jiim: »Würdest du bitte noch etwas Papier ins Feuer werfen? Danke, Tschonk. Wo war ich?« Er wischte sich eine letzte Träne aus den Augenwinkeln und fuhr fort: »Das Martyrium dauerte an, und die Alten konnten den Unsichtbaren nichts entgegensetzen. Willenlos und führerlos gehorchten sie den Befehlen, und wer nicht folgte... nun, du kannst dir vorstellen, was ich meine.« Cloud nickte und fragte: »Haben denn deine Vorfahren niemals einen der Invasoren gesehen? Gibt es keine Beschreibungen, Hinweise oder zumindest Vermutungen?« »Nichts. Alles, was die Alten zu sehen bekamen, waren leblose Gehilfen, die sich bewegten, flogen und Befehle an die Nargen weitergaben. Die Unsichtbaren, ihre Herren, konnte man zwar nicht sehen - aber spüren. Ihre Präsenz war allgegenwärtig und erdrückend.« »Das erzählt dir alles das Nabiss?« »Ja. Es holt sich das Wissen aus einem Datenquell und leitet es direkt an mein Denken weiter.« Cloud stand auf, warf nochmals trockenes Papier ins Feuer und blickte im flackernden Schein nach oben. Mit ein wenig Fantasie konnte er sich vorstellen, wie hier einmal nargische Bibliothekare an den hundert oder mehr Meter hohen Regalen auf und ab geflattert waren und sich schwebend im Geschriebenen vertieft hatten. Auf den Plattformen, die in unterschiedlichen Höhen an die senkrechte Wand angeflanscht waren, hatten sie es sich auf schmalen, hohen Stühlen bequem gemacht, die ihren Körperformen angepasst waren und ausreichend Spielraum für die Flügel boten. Sanfte, beruhigende Musik hatte den riesigen Dom erfüllt. Und heute? Langsam, aber wohl unaufhaltsam verfiel dieser Hort unersetzlichen Wissens. Feuchtigkeit kroch durch altersbedingte Spalten und Ritzen. Milliarden kleiner Schneeflocken und Wassertropfen fielen herab, vereinten sich zum Rinnsal und bildeten einen künstlichen, kleinen See. Holz verrottete, Metallträger rosteten und brachen irgendwann unter ihrem eigenen Gewicht ein, Papier verschimmelte oder zerbröselte. Wenn Jiim und die anderen Nargen nicht bald etwas unternahmen, würde das hier abgelegte Wissen binnen weniger Jahre oder Jahrzehnte endgültig verloren sein. War sich der junge Jäger dessen bewusst?
Nun, zumindest heute besaß das Papier wesentlich mehr Wert als alle Datenträger zusammen, die sie in einer gesonderten Abteilung gefunden hatten. Die nahezu runden, kleinen Kristalle, die das Licht tausendfach brachen, hatten keinen Heizwert und waren in ihrer jetzigen Situation völlig nutzlos. Nachdenklich warf Cloud einen der Speicherkristalle von der Kante ihrer Plattform in den dunklen Abgrund und hörte nach ein, zwei Sekunden einen leisen Aufschlag. »Fahr fort, Jiim«, sagte er. »Das Martyrium meines Volkes dauerte länger als eine Generation. Dann änderte sich etwas. Die Geburtenrate unter der Knute der Unsichtbaren ging deutlich zurück und viele der Eier waren... waren, wie gesagt, von den Besatzern zerschlagen worden. Die Population der Nargen schrumpfte. Andererseits wurden die Forderungen unserer Ausbeuter immer höher, und die Alten konnten sie nicht mehr erfüllen. Selbst die Härte, mit der die Schergen der Unsichtbaren noch mehr Leistung aus den Nargen herausquetschen wollten, nützte nichts mehr. Mein Volk war ausgebrannt, ausgeblutet, und Kaiser, unsere Welt, ebenso.« Die Schilderung der damaligen Geschehnisse nahm den jungen Nargen sichtlich mit. »Was passierte mit den ganzen Rohstoffen, die die Alten fördern mussten?«, fragte Cloud. »Neue, gewaltige Fabriken entstanden. Riesige Gebäude, zehn-, hundertmal größer als das Wolkenheim. Ganze Stämme von Nargen wurden dorthin verlegt und unter barbarischen Bedingungen gehalten. Es wurden dort Kinder geboren, die ihr Leben lang kein Tageslicht sahen und die, noch bevor sie ihre Fortpflanzungsreife erreicht hatten, an den Folgen der Anstrengungen, die ihnen abverlangt wurden, starben.« »Was wurde in den Fabriken denn hergestellt?« »Habe ich das noch nicht gesagt? Schiffe. Viele, viele riesige Himmelsschiffe.«
9. Spurensuche Jarvis dehnte seine Suche immer weiter aus, um Resnick zu finden. Mehrere Versuche, den anderen über Funk zu erreichen, waren gescheitert - auch zu Scobee oder Cloud bestand keine Verbindung. Jarvis schenkte dem geophysikalischen Wunderland, durch das er sich bewegte, wenig Aufmerksamkeit. Mit energischen Schritten zermalmte er unzählige Stufen von Sinter-Terrassen. Er trampelte über Hügel aus kristallisiertem Schwefel, die wie Stalagmiten aussahen - und hatte auch kein Auge für die unzähligen heißen Quellen, aus denen Gärblasen emporstiegen und hörbar zerplatzten. Er watete rücksichtslos durch seichte Sumpfseen, umgeben von kleinen und großen Schlammgeysiren; nahm nicht den fauligen Schwefelgeruch wahr, nicht das Zischen des emporschießenden Dampfes, nicht den bodennahen, gelblichen Nebel, ja, nicht einmal die faszinierenden Farben der Umgebung.
Er suchte Resnick. Seinen Gefährten. Einen von dreien, die ihm noch geblieben waren - und vielleicht der ihm ähnlichste. Ähnlich nicht nur weil sie ein außergewöhnliches Schicksal teilten... Nach mehr als zwei Stunden kehrte er zum Kadaver des Nihuanas zurück, der den Ausgangspunkt seiner Suche gebildet hatte. Der Körper lag unverändert da, unnatürlich verrenkt. Das helle Blut des Raubtieres war mittlerweile im Boden versickert und hatte nur ein paar Flecken hinterlassen. Doch der Leib wirkte eingefallen. So rasch? Jarvis ging langsam um das Monstrum herum. War da nicht eine Bewegung unter dem Körper - oder täuschte er sich? Vorsichtig schob er einen langen, dünnen Ast unter den Kadaver. Die Haut ließ sich wie ein feuchter Fetzen Papier anheben, und darunter - wimmelte es von Leben! Unzählige handtellergroße Tierchen mit kurzen Podien, an denen winzigste Saugnäpfe saßen, hatten sich ins Fleisch des Nihuanas gefressen und begannen, es von innen her auszuhöhlen. Und jetzt, da er darauf achtete, konnte er Bewegung auch unter der Haut des toten Raubtiers sehen. In wenigen Stunden würde nichts mehr übrig sein von diesem Bewohner einer urtümlichen Welt. Fressen oder gefressen werden - eine einfache Philosophie. Selbst oder gerade in dieser Umgebung, in der die Natur nach der Katastrophe unglaublichen Ausmaßes Kapriolen geschlagen hatte. Resnick war und blieb verschwunden. War er in eines der heimtückischen Schlammlöcher gefallen? War er gestürzt und binnen weniger Minuten von diesen kleinen Aasfressern beseitigt worden? Jarvis konnte es nicht glauben. Es wäre zu profan gewesen, wenn ein Mann von Resnicks Konstitution auf so profane Weise gestorben wäre. Nein! Energisch schüttelte er den Kopf. Er war überzeugt, dass der GenTec noch am Leben war. Sinn und Zweck ihrer Rückkehr in den Schrund war es gewesen, das geheimnisvolle Fahrzeug mit dem darin befindlichen Lebewesen aufzuspüren, das sie auf Kalser ausgesetzt hatte. Bis zur wahrscheinlichen Landesteile waren es noch gute zehn Kilometer. Es kam nicht in Frage, dass er, Jarvis, ins Lager der Nargen zurückkehrte und Resnick hier seinem Schicksal überließ. Also würde er weiter in Richtung ihres Zieles marschieren und dabei die Augen offen halten. Vielleicht war der andere ja auf dem Weg dorthin, und sie hatten sich nur durch ein beiderseitiges Missverständnis aus den Augen verloren... Jarvis beschloss, ein paar Stunden zu schlafen und dann weiter zu gehen. Allerdings würde er sein Lager in möglichst großer Distanz zu dem Nihuana und den sich daran labenden Aasfressern aufschlagen.
Wieder einigermaßen bei Kräften, setzte Jarvis seinen Weg fort und fand ohne weitere Schwierigkeiten den Ort, den Jiim beschrieben hatte. Das Ziel lag am Übergang der weiten Ebene zu einem schmalen, engen Seitental. Da und dort stieg heller Rauch aus Bodenspalten auf. Eine Dunstglocke schloss sich etwa hundert Meter über ihm, so dass Jarvis den Himmel über Kalser nicht mehr sehen konnte. Vereinzelte, schlanke Felsnadeln ragten wie angespitzte Zähne in die Höhe, und der Widerschein des Feuers aus einem Lavafluss irrlichterte über die niedrig hängenden Wolken. »Unheimlich«, murmelte der GenTec und kratzte sich den zwei Tage alten Kinnbart. »Mal überlegen... Jiim sagte, er hätte uns hier, am Rand des hufeisenförmigen Sees, abgelegt.« Er fuhr mit den Händen über den sandigen Boden. »Hier stand eine größere Gruppe von Lebewesen. Offensichtlich die Nargen, die mit dem Suprio ein wenig später dazugekommen waren...« Jarvis richtete sich wieder auf und trat näher an den kleinen, halbrunden See, aus dem es penetrant nach Schwefel roch. Der Uferstreifen war von einer hellgelben Kristallschicht überzogen, das flache, ruhige Wasser blaugrün gefärbt. »Moment mal... hier kann man noch die Abdrücke unserer Körper erkennen. Und das...« Er wandte sich um und folgte konzentriert den Hinweisen. »... sind Schleifspuren und ein paar tiefere Fußabtritte von viergliedrigen, nargischen Füßen. Dort hinten beim ovalen Stein muss uns Jiim aufgenommen haben, dort enden alle Fährten.« Langsam folgte er den Abdrücken, ging hie und da in die Hocke und überprüfte jedes neue Detail, das ihm die Spuren lieferten. Dann ging er in einem weiten Bogen um den ovalen Stein herum, nahe dem er den Landepunkt des Raumschiffs vermutete. »Es war definitiv kein Absturz«, führte er das Selbstgespräch fort. »Zwar sieht man da und dort Schwärzungen im Fels und verbranntes Holz, was aber lediglich auf eine hohe Eintrittsgeschwindigkeit beim Eindringen in die Atmosphäre schließen lässt. Das Schiff ist im Zentrum einer Feuerlohe gelandet, so wie Jiim es beschrieben hat. Die technischen Möglichkeiten des Unbekannten erlaubten womöglich ein derartiges Manöver, ohne das Raumschiff in Schwierigkeiten zu bringen.« Nachdenklich ging er zurück zum Schwefelsee. »Ich sehe keine Abdrücke von Landestützen, sondern lediglich eine flache Mulde, die der Außenform des Schiffes entsprechen könnte.« Sanft ließ er die Finger im Wasser auftippen und beobachtete die konzentrischen Kreise, die sich bildeten und einander überlagerten. »Doch wo, zum Henker, ist das Ding hingekommen? Einen neuerlichen Start hätte Jiim unbedingt bemerken müssen. Schleifspuren sind auch keine zu sehen, und das Zeitfenster, innerhalb dessen das Schiff verschwunden sein muss, kann nicht mehr
als zehn Sekunden betragen haben. Dann waren die anderen Nargen gemeinsam mit dem Suprio dazu gestoßen... Autsch, verdammt! « Etwas hatte ihn in den Zeigefinger der linken Hand gezwickt. Fluchend zog er die Hände aus dem Wasser. »Was, in Dreiteufelsnamen...?! « Dutzende - nein, Hunderte! - feiner, silbriger Härchen hingen an seinen Händen. Sie waren bis zu fünf Zentimeter lang und glitzerten im gelbroten Licht, in das die Umgebung in diesen wolkenverhangenen, trüben Stunden der Dämmerung getaucht war. »Das sind... Lebewesen! Würmer! Sie beißen sich durch meine Haut... Autsch!« Jarvis zerrte an den Fäden, die sich in seiner Haut verhakt hatten und kaum daraus zu lösen waren. Viele konnte er unter Schmerzen entfernen, doch noch mehr, drangen tiefer und tiefer ins Fleisch. Manche waren bereits gänzlich darin verschwunden, und der GenTec meinte, spüren zu können, wie sie sich verteilten. Von den Fingern über die Handfläche in den Unterarm und weiter... »Da soll mich doch...« Er stand auf und stolperte rückwärts, weg von dem See, in dem diese kleinen Biester gelauert hatten. Sein Kopf begann zu brennen, die Brust, der Bauch... und es waren erst Sekunden vergangen, seitdem die Würmer in ihn eingedrungen waren... Immer weiter taumelte er, völlig orientierungslos, plötzlich erblindet und von Schmerzen zerfressen, gegen die auch ein GenTec keine Mittel hatte... und torkelte so gegen etwas, das ihm im Weg stand und ihm die Luft aus den Lungen presste. Halb besinnungslos fiel er nach hinten. Doch noch bevor er mit dem Körper auf dem Boden aufschlagen konnte, fing ihn etwas (jemand?) auf. Eine verzerrte Stimme, die von weit her zu kommen schien, leierte verzerrt: »Schnell, Darnok! Du musst ihm helfen!« Dann wurde es schwarz um Jarvis.
Das Erwachen kam genau so rasch, wie er in die Dunkelheit eingetaucht war. Übergangslos setzte sich Jarvis auf und starrte Resnick ins Gesicht. »Bedanke dich bei Darnok, dass er dich gerettet hat«, meinte der Kahlköpfige. »Darnok?« »Ja, unser Gastgeber.« Resnick deutete mit einer knappen Handbewegung durch den abgedunkelten Raum auf das herzförmige, fast wie ein sonderbare Spinne wirkende Lebewesen. Jarvis sah sich um. Er befand sich in leidlich vertrauter Umgebung - in dem Fahrzeug, das er und Resnick gesucht hatten - und lag auf einer Art Chaiselongue,
die früher nicht da gewesen war, die sich aber sehr bequem anfühlte. So bequem, dass er gar nicht mehr aufstehen wollte. Doch Neugierde und Zorn trieben ihn hoch. »Jetzt reicht's! Zuerst löst du dich in Luft auf, dann werde ich während meiner Suche nach dir und diesem vermaledeiten Raumschiff von Parasiten befallen, werde ohnmächtig - und als ich erwache, ist wieder alles so, wie es sein soll! Ich fühle mich ein bisschen... Du kennst das böse Wort!« »Beruhige dich, G.T. ! « Resnick drückte ihn sanft, aber mit Nachdruck zurück auf die Liege. »Es gibt für alles eine Erklärung. Aber später, wir müssen uns beeilen, denn...« «Was?«, fauchte Jarvis. »Okay, hier die Ereignisse im Zeitraffer: Darnok, unser Gastgeber, war immer in der Nähe, allerdings unter einem Feld verborgen, das ihn und sein Fahrzeug unsichtbar machte.« »Unsichtbar?« »Akzeptiere es einfach. Ich habe selbst beobachtet, wie das Schiff - er nennt es übrigens Karnut-wieder sichtbar wurde.« »Und was ist mit dir? Wie und warum bist du verschwunden?« »Nun, wie wir schon vermutet haben, hat uns Darnok mit voller Absicht hier auf Kalser abgesetzt.« »Das hat er dir gesagt? Dann war er ja richtig redselig!« Jarvis blickte wütend auf das absonderliche Wesen unter der Kuppel. »Spar dir den Zynismus!« Ein leichtes Schwanken wurde spürbar. »Wir starten«, sagte Resnick. Es klang nicht überrascht, sondern so, als wüsste er auch bereits, wohin die Reise ging. »Übrigens hat Darnok dir die Parasiten wieder abgenommen - frag mich nicht, wie.« Jarvis' Miene verdüsterte sich noch mehr. »Dann erwartet er jetzt wohl auch noch Dankbarkeit...« »Ich erwarte nichts«, sagte eine Stimme aus den Wänden des Karnuts heraus. »Nicht von solchen wie euch.« 10. Pern Ein gewaltiges Krachen erschütterte die Höhle, und feiner Staub rieselte von der Decke. Irgendwo im Halbdunkel weiter hinten im Raum klirrte gläsernes Geschirr. Keeschna, der in den letzten Stunden nur ab und zu in den Vorderteil der Höhle gekommen war, um Scobee mit kritischen Blicken zu bedenken, schrie entsetzt und schrill auf. Er artikulierte etwas auf nargisch und wiederholte sofort darauf in englisch: »Was passiert da? Zürnen uns die Götter?« Scobee war von ihrem Platz neben dem Lager des Suprio aufgestanden. Seit nunmehr anderthalb Tagen wachte sie an seiner Seite. Ein weiterer Knall ertönte, diesmal heftiger und näher. Die Erde erbebte. Scobee sah mehrere große Gesteinsbrocken am Eingang der Höhle vorbei in die Tiefe stürzen.
»Sermon, Plephes, Anteri und Coor, ich bitte euch in dieser Stunde der Not um Unterstützung!« Keeschna fiel auf die Knie, legte die Arme mit den Handflächen nach unten auf den Boden, beugte sich nach vorne und begann, monoton und dennoch sichtlich erregt seine Stammesgötter anzurufen. Die Bewegungen waren unkoordiniert, und immer wieder überschlug sich die Stimme, als ob er nicht Herr seiner Sinne sei. Und so war es wohl auch tatsächlich: Ohne die Leitung eines Suprio hatten die Nargen einen Teil ihrer geistigen Orientierung verloren. Scobee fuhr den Nargen an: »Sei ruhig! Ich möchte wissen, was da draußen vor sich geht.« Sie wollte sich gerade vom Händedruck des Suprio lösen und zum Höhleneingang eilen, als Caar die Augen aufschlug. »Es geht... los«, sagte er gepresst und begann heftig zu atmen. Scobee zweifelte daran, ohne selbst zu wissen warum, dass er die Ereignisse draußen meinte. Im Freien ereignete sich jetzt eine Detonation nach der anderen, und gleichzeitig passierte etwas, wofür der sterbende Suprio offenbar Scobee benötigte, sie bei sich haben wollte. Sie las es in seinen Augen, war hin und her gerissen, weil auch alles in ihr drängte, sich zum Höhlenausgang zu begeben, uni sich Überblick über das Geschehen zu verschaffen. Unentschlossen blickte sie zwischen Caar und dem anderen Nargen hin und her. Schließlich herrschte sie Keeschna an, der sich verängstigt vor ihr wand: »Sieh du nach, was da los ist! Rasch!« Wider Erwarten folgte der Narge ihrem Befehl. Mit steifen Schritten, die langen Flügel hinter sich her schleifend, ging er nach vorn, an den Rand der Höhle. Gleichzeitig begann Scobee, Brust und Bauch des Suprio zu massieren. Ganz sanft, ganz vorsichtig, rieb sie gegen den Uhrzeigersinn. Sie spürte schmale, dünne Rippen oder Rippenplatten, das schwache Pochen des alten Herzens und schlaffes, nachgiebiges Fleisch. »Ist Keeschna weg?«, fragte der Alte angestrengt. Er sah nichts mehr und hörte kaum noch. Blut tropfte aus seinen Mundwinkeln. »Ich habe ihn nachsehen geschickt, Caar, sagte Scobee laut und setzte ihre Massage fort. »Weiter... unten, Menschenwesen«, ächzte der Suprio. Sie folgte seinem Wunsch, und bewegte ihre Hände in kreisenden Bewegungen weiter hinab. »Kannst du es... spüren?«, fragte Caar. Sie drückte ein wenig fester zu und fühlte plötzlich den Widerstand in der Bauchhöhle. Er war vielleicht so groß wie ihre beiden Fäuste. Eine Geschwulst? Caar korrigierte ihre Gedanken mit letzter Kraft. Seine Stimme war kaum noch zu verstehen, aber Scobee verstand - mit weit aufgerissenen Augen. »Ich bitte dich. Du tust es für unsere Zukunft!«, krächzte er ermattend. Scobee wollte etwas erwidern. Da kam Keeschna atemlos herbeigestürmt und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Schwarz glänzende Dinge, die bewegungslos in der Luft stehen! Strahlen,
wie von einer Sonne, die herab fahren und den Fels zum Kochen bringen! Ihr Götter, warum straft ihr uns so...? Bei Plephes! Was machst du da mit dem Suprio...?« Caars Blick, inzwischen völlig blind und gebrochen, drückte einzig und allein eine Bitte aus: Tu es! Tu es endlich! Drei Sekunden, die Zeit für einen tiefen Atemzug, wurden zu einer Ewigkeit. Die abgeschwächte Druckwelle einer Detonation fuhr durch die Höhle. Teile der Decke stürzten ein. Keeschna, unfähig sich zu bewegen, öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Der Suprio bäumte sich ein letztes Mal auf, drückte das Becken nach oben und ächzte: »Sein Name soll... Pern sein!« Scobee starrte auf das, was zwischen ihren Händen lag. Und was auch Keeschna zu seinem Ausruf veranlasst hatte. Es war ein Ei. Als sie aufsah, war Caar tot. Er hatte sein Vermächtnis mit dem letzten Herzschlag zur Welt gebracht.
Der Suprio war tot. Doch sein Nachfolger lebte. Oder? Scobee schauderte. Was hatte Caar vor wenigen Stunden zu ihr gesagt? >Du hast mein Leben genommen, Menschenwesen. Es gibt nur noch einen Weg, das tbieder gutzumachen. Und die serWeg... wird mich endgültig mein Leben kosten.< Jetzt erst verstand sie, was er damit gemeint hatte. Sie hielt ein Ei in Händen, das über Wohl und Wehe einer ganzen Zivilisation - ihres kärglichen Rests - entscheiden würde. Ruhig reichte sie das ungeborene Wesen an Keeschna weiter und sagte in fast pathetischem Ton: »Das hier ist Peru, das Kind von Caar, dem Suprio. Kümmere dich bis auf weiteres um ihn.« Der alte Narge rührte sich nicht von der Stelle. »Hast du nicht verstanden?«, fragte Scobee. Er erwachte wie aus einer Trance. »Doch. Aber ich... kann... Peru... bereits spüren. Er ist... so rein und... stark«, murmelte Keeschna. Ehrfürchtig griff er nach dem Ei und legte es sorgfältig in ein sauberes Tuch. Kein Hauch mehr von Unsicherheit bei ihm! Vor Scobee stand ein völlig veränderter Narge. Und das alles, alles wegen eines noch ungeborenen Wesens? »Die anderen können ihn ebenfalls bereits spüren«, sagte Keeschna. »Mensch, du kannst dir dieses Gefühl nicht vorstellen. Peru ist so... unschuldig. So schön. So... gut. Er wird uns in eine strahlende Zukunft führen.«
Er drehte sich um und schritt, unbeeindruckt vom draußen tobenden Chaos, zum Eingang der Höhle, schwang sich mit dem Ei in die Lüfte und ließ die Frau von der Erde einfach stehen.
Scobee erwachte nun selbst wie aus einer Hypnose. Die Explosionen! Sie eilte zum Ausgang, wo sie eine weitere Überraschung erwartete. Von einem Moment zum anderen schwebte dort ein schildkrötenähnliches Fahrzeug, und aus der offenen Schleuse winkten ihr vertraute Gestalten. »Scobee, komm an Bord! Schnell!«, rief Jarvis und streckte ihr den Arm entgegen. »Ich... ich kann doch nicht... DerTote... die Nargen...« »Hast du eigentlich eine Ahnung, was hier vor sich geht?« Resnick drängte noch stärker als Jarvis. Wie zum Beweis verdunkelte ein gewaltiger Schatten die Sonne, und ein vernichtender, grünlich schimmernder Energiestrahl fuhr in die Felswand, wenige hundert Meter von ihrer Position entfernt. Eine neuerliche Explosion, etwas näher, ließ den Boden erzittern und Felsbrocken auf die »Schildkröte« herabregnen - ohne allerdings erkennbaren Schaden anzurichten. Scobee war inzwischen am Höhlenrand angelangt und sah, was los war. Jarvis sprang aus der Schleuse, packte sie am Arm und zerrte sie mit sich. Im gleichen Moment fuhr ein weiterer Schuss oberhalb ihres Standortes ins Gestein und brachte es zum Schmelzen. Der Eingang zur Höhle wurde von herabstürzenden Trümmern versperrt. Da aber entfernte sich ihr Raumschiff schon mit rasender Geschwindigkeit, zog eine enge Kurve über die Siedlung der Nargen hinweg und hielt auf die nördlichen Gebirge zu, hinter denen Jiim und Cloud vor rund zwei Tagen verschwunden waren.
Die letzten Nargen wurden ebenso zu Zielscheiben wie das Kleinstraumschiff, in dem sich die drei GenTecs befanden. Überall brannten jahrhundertealte Bäume, in denen die Vogelwesen ihre einfachen Behausungen errichtet hatten. Es musste Tote und Verletzte gegeben haben, doch die Nargen schienen sich klug verteilt zu haben und flohen einzeln oder in kleinen Gruppen in Richtung Schrund. Scobee, die wie Resnick und Jarvis vor einem Monitor stand, meinte für einen kurzen Augenblick Keeschna zu erblicken, der etwas im Arm trug.
Die Nargen wirkten keineswegs mehr unorganisiert. Als ob ein verbindendes, sie zugleich auch lenkendes Band existieren würde, vollzogen sie ihre Flucht beeindruckend ruhig und geordnet. Dann zeigte der Monitor riesige Raumschiffe - die Angreifer, die aus heiterem Himmel über die Nargen-Siedlung hereingebrochen waren. Sie sahen wieder nicht nur wie irdische Konstruktionen aus, auf ihren Hüllen prangten auch wieder Buchstaben, wie sie definitiv nur auf der Erde gebräuchlich waren... In hilfloser Wut ballte Scobee ihre Hände zu Fäusten. Sie schloss die Augen, dachte an den kleinen, ungeborenen Suprio in seinem Ei und gab sich kurz der Illusion hin, ebenfalls die Kraft spüren zu können, die von ihm ausging. »Und wenn ihr tausend Mal Menschen sein solltet«, wanderten ihre Gedanken zu den Angreifern, »in meinen Augen seid ihr nur eines: skrupellose, ganz und gar unmenschliche Verbrecher!
11. Die Werft Narge und Mensch waren während des langen Gespräches langsam in einen Schlaf der Erschöpfung gerutscht, und als sie nach einigen Stunden erwachten, redeten sie nicht mehr weiter über den tragischen Untergang von Jiims Volk. Wenn er sich danach fühlt, dachte Cloud, wird er den Faden von sich aus wieder aufnehmen. Sie einigten sich darauf, eine der ehemaligen Sklavenkolonien aufzusuchen, in denen Raumschiffe gefertigt worden waren. Cloud hatte längst jedwedes Zeitgefühl verloren und wunderte sich, als er trübes Tageslicht erblickte. Sie standen auf einer Rampe unter der Spitze des Wolkenheims. Jiim wollte eine höher gelegene Position für einen leichteren Start nutzen, und nach längerer Suche hatten sie tatsächlich einen Ausgang nahe der Gebäudespitze gefunden, dessen Tor sich noch bewegen ließ. Überraschenderweise hatte sich der Sturm gelegt, und ein Hauch von Sonne drang durch die allgegenwärtige Nebel- und Wolkendecke. Cloud schaute sich um. Er überblickte einen Großteil der breiten Prachtstraße, über die sie gekommen waren. Links und rechts davon standen mehrere kleine Pyramiden, größtenteils unter Schnee und Eis verborgen. Vereinzelt trotzten majestätische Obelisken den Witterungen, wie einsame Mahnmale der Vergangenheit. Kein Leben zeigte sich. Unter ihnen, dort, wo sie letzte Nacht ins Wolkenheim gelangt waren, lagen die Trümmer eines riesigen, zerborstenen Steinquaders verstreut.
»Es geht los, Tschonk«, wisperte Jiim. Cloud stieg in das Tragegerüst des Nabiss. Er spürte, wie sich wieder dünnes Gestänge um seinen Körper schmiegte. Ein kräftiger Flügelschlag des Nargen, Wind und ein paar Schneeflocken peitschten gegen den Helm - und schon befanden sie sich in der Luft. Respektvoll mied Jiim das Umfeld einer Ganf-Hülle, die in der Mitte eingebrochen war. Eine unbegreifliche Scheu hielt ihn von den halbrunden Gebäuden - nein, Körperhüllen - fern. Sein Nabiss leuchtete wieder in kräftigen Farben. »Ich habe wieder den blauen Kältefleck gesehen, der uns bereits gestern gefolgt ist, Tschonk.« »Wo?« Cloud blickte sich irritiert um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. »Am Fuße des Wolkenheims. Als wir abflogen, eilte etwas mit großer Geschwindigkeit die Außenmauer des Gebäudes hinauf - in unsere Richtung. Es muss unwahrscheinliche Kraft besitzen.« »Hast du die Körperform erkennen können? Ob es sich um eine dir bekannte Tierart handelt?« Der Narge zögerte. »Nein. Die Gestalt scheint sich permanent zu verändern. Die Umrisse fließen und wabern. Als ob eine Stoffbahn darüber gebreitet wäre, deren Faltung ständig wechselt.« Schweigend flogen sie weiter in die Richtung, die Clouds Kompass mit Norden angab. Schließlich fügte Jiim hinzu: »Ich glaube, das blaue Wesen folgt uns. Wir müssen vorsichtig sein. Noch vorsichtiger als bisher.«
Sie ließen die Alte Stadt rasend schnell hinter sich. Jiim hatte sich nach den Stunden des Schlafes, die sie sich gegönnt hatten, wieder gut erholt. Lediglich eine leichte Verkühlung war ihm geblieben. Dann rief Jiim: »Wir sind da, Tschonk! « Der Narge deutete mit einer Hand voraus. Ein Ruinenfeld tauchte auf, das jenem der Alten Stadt nicht im Entferntesten ähnelte. Hatte über der ehemaligen Siedlung der Nargen die Ruhe des Todes geschwebt, so bereitete Cloud bereits ein Blick aus der Ferne auf die ehemalige Sklavenkolonie Unbehagen. Dünne, gekrümmte Arme aus Metall, die Rippenknochen ähnelten, ragten spitz in die Höhe. Sie bogen sich unförmig in den Himmel, vollführten Verrenkungen, die es Cloud schwer machten, sie mit den Augen zu verfolgen. Der größte Teil von ihnen traf sich in mehreren hundert Metern Höhe zu einem Knoten, einem Knäuel, das unentwirrbar schien. Jiim zog eine enge Schleife um den Knoten, und Cloud spürte eine obszöne Ausstrahlung, die von dem Gebilde ausging. Ineinander verschlungene, sich windende Tentakel, die nach Leben greifen, um es zu vernichten, wo es nur geht...
Von mehreren Spitzen des Metallknäuels ragten stämmige Stalaktiten wie Tropfen hinab zur Erde. Das Licht, das im fast durchsichtigen Eis gebrochen wurde, schimmerte blutrot. Eine Reflektion - oder vielleicht Rost, der mit dem Eis losgelöst wird, dachte Cloud, doch der Gedanke stellte ihn keineswegs zufrieden. Auch Jiim wirkte nervös. Es lag nur wenig Schnee und Eis zwischen den Gerippen. Der Untergrund war meist schmutzig-grau, von einer dicken Staubschicht bedeckt, an manchen Stellen dampfte er und erzeugte Nebel. Gab es hier heiße Quellen, ähnlich wie im Schrund? Jiim dimmte die Aura - und damit die Leistung - des Nabiss herab und landete sanft einige hundert Meter von der Werft entfernt. Er blähte die schmalen Nüstern auf, zog die klare, kalte Luft ein und blickte mit kurzen Bewegungen des Kopfes hin und her. »Der blaue Kältepunkt dürfte uns verloren haben. Ich habe ihn zuletzt nicht mehr orten können, und auch jetzt ist nichts zu sehen.« »Wir wollen trotzdem vorsichtig sein. Fühlst du dich auch so unwohl wie ich in der Nähe dieses... Dings?« Der Narge nickte und schlug die Arme über Kreuz. Cloud atmete tief ein und sagte: »Gut. Dann wollen wir es hinter uns bringen.«
Unvermittelt, während sie sich dem Gerippe näherten, und ohne dass Cloud ihn auffordern musste, begann der Narge wieder zu erzählen. Doch diesmal brachte er die Geschichte in Form einer Litanei vor, einem Singsang, der auf den quasireligiösen Hintergrund schließen ließ. »Die Alten starben aus Erschöpfung und sich der Sinnlosigkeit ihres Daseins bewusst dahin wie Luctee-Fliegen, während kaum noch Junge geboren wurden und wenige davon stark genug waren, am Leben zu bleiben. Doch eines Tages, gegen Beginn der Nacht, verschwanden die Sklaventreiber, liefen hastig in die Raumschiffe der Unsichtbaren und starteten. Gewaltiger Donner ertönte, überall brannte die Erde. Dann herrschte Ruhe. Nach der Ruhe kam der Jubel. Die Bevölkerung Kaisers lag in einem kollektiven Glückstaumel. Ausgelassene Feste wurden allerorten gefeiert. Tollkühne Nargen zeichneten mit Fackeln atemberaubende Freudenzeichen in den Himmel. Binnen weniger Stunden wurde eine Vielzahl neuer, frischer Eier mit starker Schale in kräftigem Weiß gelegt. Die Alten heulten, keckerten und piepsten in Richtung Maron, des prächtigen Mondes. Bis dieser zerplatzte. Die Unsichtbaren beschossen ihn mit ihren dunklen Raumschiffen, sprengten ein riesiges Stück von ihm ab und lenkten es auf Kaiser, wo es alles Leben vernichten sollte. Unser Planet wurde getroffen - schwer getroffen - und bis in den glühenden
Kern erschüttert. Chaos, Vernichtung und Tod folgten, wie du es dir nicht vorstellen kannst... Ich weiß nicht, warum gerade die Alten in der Toten Stadt mit dem Leben davonkamen. Warum das Wolkenheim vom Absturz der Trümmerstücke Kaisers unbeeinträchtigt blieb. Warum meine Vorfahren Unwetter, Druckwellen, Erdbeben, Vulkanausbrüche und vieles mehr überstanden. Warum... ach, die Wahrscheinlichkeit sprach einfach dagegen. Und dennoch schafften sie es.« Er seufzte tief. »Doch dann, als abzusehen war, dass der Himmel über viele NargenGenerationen bedeckt bleiben würde und die letzten meines Volkes im ewigen Eis elend verhungern würden, machten sie sich einige von ihnen auf die Suche - und wurden am Schrund fündig. Sie versiegelten das Wolkenheim, den Hort des Wissens, in der Hoffnung, dass es die Bedingungen eines Tages erlauben würden, in die Tote Stadt zurückzukehren, und nahmen nur wenige Erinnerungsstücke an das alte Leben mit. Unter anderem mehrere Nabiss. Stolze Erzeugnisse nargischer Hochtechnologie, deren Erinnerungsspeicher das Wissen um die einstige Größe des Volkes an die kommenden Generationen weitergeben sollten... Dann muss etwas schief gelaufen sein. Vielleicht ein genetischer Defekt, vielleicht ein lächerlicher Machtkampf der wenigen Suprios untereinander. So kam es, dass schlussendlich nur noch ein Suprio übrig blieb, der sein Wissen ausschließlich an seinen jeweiligen Nachkommen weitergab, während die restlichen Nargen, vom harten Überlebenskampf gezeichnet, immer mehr von der einstigen Größe ihres Volkes vergaßen. Caar, der heutige Suprio, verlängerte sein Leben wie seine Vorelter mit Hilfe hochwertiger Medikamente, von deren Existenz wir anderen nichts mehr wussten. Vielleicht hatte er ja Recht: Vielleicht wären die Nargen über dem Wissen um ihre einstige Größe und wie weit sie in die Primitivität zurückgefallen waren, wahnsinnig geworden oder hätten den letzten Funken Lebenswillen verloren. Dann hätte er uns nur vor uns selbst bewahrt...« Jiim schüttelte den Kopf. »Doch das alles hat ohnehin keine Bedeutung mehr, denn der letzte Suprio stirbt, ist vielleicht schon gestorben, auch wenn ich seinen Verlust noch nicht spüre. Ohne Suprio ist mein Volk kopflos und wird über kurz oder lang endgültig aussterben.« Cloud blieb stehen und rüttelte den Vogelmenschen energisch an den Schultern: »Verloren ist man erst, wenn man aufgibt, Jiim! Noch ist der Suprio nicht gestorben, das sagst du doch selbst! Möglicherweise kann Scobee ihn retten. Unter Umständen kann euch auch das Nabiss helfen, oder ihr findet im Wolkenheim eine Lösung für eure Probleme. Es gibt so viele Chancen...« Er wollte noch viel mehr sagen, aber... in diesem Augenblick explodierte der Boden unter ihren Füßen.
Das Womp war am Ende seiner Kräfte. Immer wieder waren ihm die beiden Hitze verströmenden Beutewesen entflohen, hatten sich durch List und Tücke seiner Wut entzogen. Diese Wut hatte es weiter getrieben. Es trotzte Erschöpfung und dem Gefühl des Unbehagens, das sich immer stärker äußerte. Was war es nur, das da tief in seinen Erinnerungen vergraben lag? Doch dann sah es die beiden heißen Beutetiere wieder. Er hatte sie endgültig eingeholt, und jetzt gab es kein Überlegen mehr. Es grub sich tief ins Eis, bis er die blaue Zone des Permafrosts erreicht hatte, sammelte all seine Kraft - und stieß sich nach oben.
Die Schneedecke gab berstend nach. Cloud und Jiim rutschten haltlos in den Trichter hinab. Ein Gebrüll, wie es noch niemals zuvor ein Mensch gehört hatte, ertönte. Ein schreckliches Gebiss tauchte am Ende des Trichters auf, klappte dreimal fordernd auf und zu und saugte dabei immer mehr Eis in seinen länglichen, wurmähnlichen Körper, dessen gewaltige Ausmaße langsam sichtbar wurden. Cloud und der Narge strampelten verzweifelt den immer steiler werdenden Abhang hinauf. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Und der Körper des Wurms mit den schrecklichen roten Augen schob sich ihnen immer weiter entgegen. »Flieg weg, Jiim!«, schrie Cloud, während er vergeblich versuchte, sich an einem größeren Eisbrockenfestzuklammern. »Geht nicht«, kam die keuchende Antwort des Nargen, der knapp unterhalb des Menschen um sein Leben strampelte. »Nicht genug... Platz!« Wieder ertönte der grässliche Schrei, und mit einem gewaltigen Satz war der Eiswurm bis auf zwei Meter an Jiim heran. Mehrere kleine, rudimentär ausgebildete Extremitäten, die wie Paddel wirkten, trieben das Monster vorwärts. Aufwärts. »Aus, Tschonk«, keuchte Jiim, während rings um sie her der Schnee immer weiter nachgab. »Nie... male«, schnappte Cloud und reichte dem Nargen die Hand, hievte ihn auf sein Höhenniveau. Trotz des ständigen Steigens waren sie bereits mehr als zehn Meter in die Tiefe gerutscht. Wieder sprang der Eiswurm, und knapp unterhalb ihrer beider Beine klackten die mächtigen Zähne aufeinander. Der faulige Atem wirkte nahezu betäubend. Ein neuerlicher Schrei. Die Paddel stemmten sich in den rutschenden Schnee, um den plumpen und doch so kräftigen Körper nochmals, ein letztes Mal, vorwärts zu schnellen.
Es kann nicht aus sein, dachte Cloud, nicht jetzt! Er stieg unvermindert weiter, ohne nach unten zu blicken. Mit eisernem Willen zog er Jiim mit sich. Der Wurm warf sich nach vorne, öffnete seinen Rachen und... wurde mitten im Sprung von einem Ebenbild, das jedoch weitaus größer und kräftiger war als er, von der Seite her gepackt. Der Größere durchtrennte den Leib des Kleineren mit einem einzigen Biss in der Mitte. Dann war sekundenlang nur der Körper des Größeren zu sehen, wie er sich seitlich unter die Eisdecke wühlte. »Schnell, weiter!«, rief Cloud. »Bevor der andere wiederkommt!« Eis und Schnee kamen langsam zum Stillstand, so dass die beiden trotz ihrer Erschöpfung relativ rasch an die Oberfläche zurückklettern konnten. Gespenstische, trügerische Ruhe herrschte um sie herum. Der Trichter hatte hier oben einen Durchmesser von mindestens zehn Metern. Doch das kümmerte Jiim nicht. Trotz seiner Erschöpfung zog er Cloud auf seinen Rücken und erhob sich mit ihm in die Luft. Sie blickten hinab in das Loch, in dem das hellblau schimmernde Blut des Ungetüms langsam versickerte. Dann, so schnell, dass es Cloud kaum mit den Augen verfolgen konnte, war der größere Eiswurm wieder heran. Ein hässliches Geräusch ertönte, wie das Zerbrechen von faulem Holz, und als nach vielleicht zehn Sekunden der Riesenkörper wieder aus dem Trichter ins umgebende Eis getaucht war, fehlten die beiden entzwei gebissenen Teile des kleineren Wurms. Schweigend kreiste Jiim noch einige Male über dem tiefen Loch, dann nahm 56 er Kurs auf die Werft, wo sie zitternd und geschockt auf einem umgestürzten, bizarr verdrehten Metallträger landeten.
In den letzten Momenten seines Lebens stiegen in dem Womp die Erinnerungen empor: Vor etlichen Zyklen, als es noch ein junger, ungestümer Beutejäger gewesen war, hatte sein Elter es davongejagt. Zornig und mit aller Bösartigkeit ihrer Gattung hatte es sein Kind aus dem Revier getrieben und ihm verboten, es jemals wieder zu betreten. Das Womp hatte diese Warnung vergessen - und nun dafür mit seinem Leben gezahlt...
Nur langsam erholten sie sich vom Schock und der Erschöpfung. »Das Nabiss wusste nichts von diesen... Eiswürmern«, sagte Jiim in die Stille hinein. »Wahrscheinlich hat sich diese Gattung erst nach dem Untergang der alten Zivilisation herausgebildet. »Schon möglich«, antwortete Cloud, »obwohl es mir unwahrscheinlich erscheint, dass sich binnen einer so relativ kurzen Zeit ein völlig neuer Evolutionszweig entwickeln kann.« Er blickte ins Halbdunkel der ehemaligen Werft. Erst jetzt bemerkte er das gleichmäßige Ticken eines der im Ärmel seines Anzugs eingearbeiteten Instrumente. Cloud las die Anzeige ab und wurde blass. »Wahrscheinlich angereichertes Plutonium«, sagte er stockend. »0,0035 Mikrosievert pro Stunde...« Er drehte sich um seine eigene Achse. Das sich ändernde Klackern der Messuhr wies auf die Quelle. Seufzend blickte Cloud auf. »Da haben wir den Grund dafür, dass es hier wenig beziehungsweise gar keinen Schnee gibt. Erhöhte Radioaktivität und Hitzeentwicklung, die direkt aus dem Zentrum der Werft zu kommen scheint. Jiim, ich möchte mir das näher ansehen. Der Strahlungspegel ist für mich vorerst noch ungefährlich. Ich kann allerdings nicht sagen, wie er sich auf den nargischen Metabolismus auswirkt.« Jiim beantwortete die Frage auf seine Weise. Kommentarlos schritt er der Quelle der Strahlung entgegen.
Cloud hatte das Gefühl, sich durch ein verwirrendes Bild des holländischen Malers Maurits Cornelis Escher zu bewegen. Die Perspektiven stimmten nicht, das Abschätzen räumlicher Distanzen wurde zu einem Ding der Unmöglichkeit. Was so aussah, als wäre es zwanzig, dreißig Meter weit entfernt, sprang mit einem Schritt so nahe an Cloud heran, dass er meinte, sich daran den Kopf anschlagen zu müssen. Auch der umgekehrte Effekt existierte. Konkav und konvex verzerrte Spiegelfelder wechselten einander ab, und binnen kurzer Zeit hatte er die Orientierung verloren. Lediglich die untrüglichen Anzeigen seines Anzuges halfen ihm, die Richtung beizubehalten. Er zog den mittlerweile völlig desorientierten und eingeschüchterten Nargen hinter sich her. »Was ist das nur, Tschonk?«, flüsterte Jiim, und griff sich an den Schopf. Cloud sah ihn an. Der Vogelmensch schien auf dem Kopf zu stehen. Seine Augen waren riesengroß, die Flügel hingegen zu Rudimenten geschrumpft. Nur eine optische Täuschung, dachte er und antwortete laut: »Ich weiß es nicht, Jiim. Vielleicht eine Abwehrmaßnahme der Unsichtbaren, die noch funktioniert. Vielleicht
auch künstliche Felder, die Rückschlüsse auf die Umwelt zulassen, in der diese Wesen lebten.« Durfte er es zulassen, dass ihm der völlig ungeschützte Narge weiterhin folgte? Es waren nur noch wenige Dutzend Meter, dann würden sie sich direkt unter dem Metallknäuel befinden, wo Cloud den Ursprung der Radioaktivität vermutete. Lediglich ein letztes, großes Wirrwarr an dunklen, verzogenen Metallträgern, umgestoßen wie Halma-Hölzer, versperrte die Sicht auf das Zentrum. Und würde nicht das Nabiss, jenes Erzeugnis einer weitaus fortgeschritteneren Technologie als die der Menschen, den Nargen vor Gefahren dieser Art schützen? Weiter, nur weiter! Was auch immer dort vorne auf sie wartete - er musste es sehen... Er tastete nach dem Arm des Nargen, der wie ein Blinder hinter ihm her taumelte, und erklomm vorsichtig die Metallträger, deren Oberfläche sich unter den Rezeptoren der Handschuhe rau anfühlte. Immer wieder griff er daneben, immer wieder täuschten ihn die Sinne. Es ging nur mühsam voran. Endlich hatte er den Gipfel des Trägerhaufens erreicht, und endlich überblickte er das Gelände vor sich. Fast über seinem Kopf hing drohend das Metallknäuel, nur noch wenig von den Nebelfetzen verdeckt, die sie beim Anflug gesehen hatten. Die langen, in einander verdrehten Spitzen deuteten zu ihm herab. Plötzlich löste sich ein Teil eines blutroten Stalaktiten, der im Wirrwarr des Metallknäuels hing, stürzte nur wenige Meter von ihnen entfernt zu Boden und zerbarst hörbar. »Ich will verdammt sein«, stieß der Commander aus, denn... unter ihm lag etwas, womit er nie - niemals! - gerechnet hatte. Es war das halbfettige Skelett eines im Entstehen begriffenen... Askulap.. Schiffes. Noch in der Sekunde der Erkenntnis überschlugen sich die Ereignisse. 12. Flucht Der Albtraum kehrte zurück. Eines der Raumschiffe mit irdischen Schriftzeichen, die Cloud bereits zur Genüge kannte, tauchte plötzlich glitzernd über dem Metallskelett auf und eröffnete sofort das Feuer. Grüne Energiestrahlen fauchten herab und zerschnitten die Metallstreben wie Papier. Ringsum brachen Brände aus, stürzten Gerüste in sich zusammen und schlugen zerrissene Kunststoffteile Blasen. Ätzender Gestank, den der Außenluftfilter des Raumanzugs kaum bewältigen konnte, stieg empor. »Weg, Jiim, so rasch wie möglich! Flieg uns hier raus!« Doch der Narge reagierte nicht inmitten des Chaos. Mit einem Gesichtsausdruck, der Erstaunen oder Freude bedeuten konnte, stand er reglos auf der Spitze des Trümmerberges und bildete ein leichtes Ziel für die Geschütze des Raumschiffes. »Weg! Weg! Weg!«, schrie Cloud, und zog den teilnahmslosen Jiim mit sich hinab. Wieder schossen die grünen Energiestrahlen herab. Links und rechts von ihnen explodierte das von einer dicken Staubschicht bedeckte Gestein.
»Pern! «, schrie Jiim plötzlich enthusiastisch, »der neue Suprio heißt Pern! Ich kann es spüren! Wir sind wieder miteinander... verbunden! Mein Volk... lebt!« »Dein Volk vielleicht, aber du nicht mehr lange, wenn du nicht sofort deinen Arsch bewegst!« Drastische Worte, aber immerhin schienen sie Wirkung zu zeigen. Endlich. Jiim blickte sich hastig um, zog Cloud rasch fester an sich heran, und binnen weniger Augenblicke gewannen sie mit Hilfe des Na biss gemeinsam an Höhe. Die Flügelschläge des Nargen wirkten noch kräftiger als zuvor, und die Geschwindigkeit, mit der sie flogen, war atemberaubend. »Bei den Göttern, was ist das für ein fliegendes Ungetüm?«, schrie Jiim gegen den Wind. »Aleph sei Dank, dass Caar im Augenblick seines Todes ein Ei gelegt hat, das den Cheeo eines Suprio trägt. Ich kann Pern bereits spüren. Und erfahre noch mehr... Dass auch unsere Siedlung von diesen fliegenden... Bergen angegriffen wird, und dass er und die anderen Nargen sich in den Schrund zurückziehen. Tschonk, er leitet mich! Mit seiner Hilfe funktioniert das Nabiss noch um so vieles besser!« »Das wird auch dringend nötig sein«, antwortete Cloud gereizt. »Das ist der Gegner, der uns auf deinen Heimatplaneten gejagt hat.« Zögernd fügte er hinzu: »Und darin befinden sich aller Wahrscheinlichkeit nach - auch wenn ich es noch nicht verstehe, warum - Angehörige meines eigenen Volkes!« »Aus dem selben Nest? >Bei solchen Verwandten braucht man keine Eierdiebe mehr<, lautet ein altes, nargisches Sprichwort...« Jiim flog mit eng angelegten Flügeln eine Pirouette. Dann tauchte er hinab, fing sich knapp über dem Boden und huschte zwischen den Gesteinsmassen, die die Außengrenzen der Alten Stadt markierten, hindurch. Ein weiterer Schuss ging weit an ihnen vorbei. Es folgte ein wilder Flug durch die Ruinen der Stadt, und mehr als einmal glaubte Cloud, dass sie an Felswänden oder Steinquadern zerschellen würden. Beschleunigungs- und Bremseffekte im Bereich von mehreren Gravos wirkten auf ihn ein, und so wurde er in der Halterung des Nabiss hin- und hergeschleudert. Jiim flog, als wären alle Geister des Schrunds auf einmal hinter ihm her. Endlich, nach mehreren Minuten, landete er abrupt in der trügerischen Sicherheit einer natürlichen Eishöhle, die sich über einer lose angehäuften Gruppe von Steinblöcken gebildet hatte. Die Strahlenschüsse hatten aufgehört, doch Cloud traute dem Frieden nicht. Ihre Wärmespur war sicherlich leicht zu verfolgen. »Wir müssen zurück zum Schrund, Tschonk«, flüsterte Jiim und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Der neue Suprio...« »... du mich, Cloud?«, tönte es in diesem Augenblick aus dem Funk des Raumanzugs. »Hier Scobee, kannst du mich hören?« »Ich verstehe dich, Scob, sehr gut sogar! Was gibt es? Wieso empfange ich dich plötzlich? Egal! Jiim und ich haben hier einige Probleme am Hals.« »Die irdischen Schiffe, ich weiß. Sie griffen auch die Siedlung an. Fast alle Vogelmenschen konnten in den Schrund entkommen... « »... weiß ich bereits«, fiel ihr Cloud nervös ins Wort. »... und dann konzentrierten sich die Raumschiffe auf uns.«
»Was heißt: auf uns?« »Resnick und Jarvis haben das kleine Schiff, in dem wir hierher kamen, tatsächlich gefunden. Beziehungsweise es hat sie gefunden. Wir sind mittlerweile alle wieder an Bord. Darnok, so heißt der molluskenartige Außerirdische, drängt darauf, so rasch wie möglich von Kaiser zu verschwinden. Sein Gefährt ist zwar wendiger als die Schiffe der Gegner, aber auf Dauer, meint er, kann er ihnen nicht entkommen.« Cloud blickte zu Jiim, der die Unterhaltung aufmerksam mitverfolgt hatte und jetzt ungeduldig nickte. »Sag diesem... Darnok, dass wir uns in... in fünf Minuten im Zentrum der Alten Stadt treffen, dort, wo die breite Prachtstraße ihren Anfang nimmt. Ich bin sicher, er weiß, was ich damit meine. Cloud, Ende.« Keine zwanzig Meter von ihrem Standort entfernt schlug im Eis ein neuerlicher Hochenergiestrahl ein und ließ es verdampfen. »Abflug!«, herrschte Cloud den Nargen an, der mit einem Mal von den Ereignissen wieder überfordert und wie gelähmt zu sein schien, aber zögernd reagierte. Und zumindest seine Reflexe funktionierten, kaum dass sie mit Hilfe des Nabiss an Höhe gewonnen hatten, wieder ausgezeichnet. Wie ein hakenschlagendes Karnickel näherten sie sich dem verabredeten Treffpunkt, gerieten dabei immer wieder ins Visier des weit über ihnen befindlichen Raumschiffes. Zwei Mal zögerte Jiim und wäre beinahe von seinem Kurs abgekommen. Er musste etwas gesehen haben, was ihn irritierte, doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Wenige Augenblicke dehnten sich ins schier Endlose, während sie den tödlichen Strahlenschüssen auswichen, doch endlich hatten sie es geschafft: Vor ihnen, inmitten einer Schneewechte, lag halb vergraben das Cloud bekannte kleine Raumschiff mit der an einen Schildkrötenpanzer erinnernden Außenhülle. Noch während des Anflugs öffnete sich eine Schleuse, und Scobee trat winkend heraus. »Wir bringen dich zurück zum Schrund, Jiim! «,rief Cloud, während seine Stiefel wieder den Boden berührten. »Damit ihr die Aufmerksamkeit der Fremden nochmals auf mein Volk lenkt? Nein, danke!« Er keckerte traurig. »Es ist besser, ihr verschwindet. Und so lange ihr >Halbgötter< eure Probleme untereinander nicht gelöst habt, wäre ich froh, wenn ihr Kaiser fernbleiben könntet.« »John, wir müssen...«, mischte sich Scobee drängend ein. »Eine Sekunde noch«, sagte er. Und an Jiim gewandt: »Ich verspreche dir, dass das nächste Wiedersehen, sollte es eines geben, friedfertiger ausfallen wird. Und ich verspreche auch, dass ich euch Hilfe bringen werde, dass ich...« »Keine Versprechungen, Guma Tschonk, die du vielleicht nicht halten kannst. Euer Schicksal liegt zwischen den Sternen, das meinige hier auf Kaiser. Ich habe mich entschieden, der Ersatz-Elter von Suprio Peru zu sein, der noch in seinem Ei liegt und aufs Schlüpfen wartet.« Er zögerte kurz. »Und ich habe beim Flug hierher frische Schriftzeichen und ein paar andere merkwürdige Spuren entdeckt... Es ist nicht auszuschließen, dass es noch einen Stamm gibt, der auf Kaiser überlebt hat, und
von dem wir nie etwas erfuhren, weil er vielleicht eine ganz eigene Vernetzung besitzt... Du weißt schon, was ich meine. Dieses morpho...« Eine Salve von Strahlschüssen schlug rings um die drei so unterschiedlichen Lebewesen ein. Scobee zerrte Cloud in die Schleuse des kleinen Raumschiffs, während der Narge von der Druckwelle ein Stück weit nach hinten weg geweht wurde. Cloud erhaschte einen letzten Blick auf Jiim, der sich benommen wieder aufrappelte. Sein Nabiss leuchtete kräftig; er schien nicht verletzt zu sein. Cloud hob den Arm und hoffte, dass der Narge den Abschiedsgruß durch das Schneegestöber hindurch erkennen würde. Dann, noch bevor die Schleusentür vollends geschlossen war, startete das kleine Schiff auch schon und schoss mit hoher Beschleunigung in den Himmel, ohne dass Beharrungskräfte spürbar gewesen wären. Als Cloud mit Scobee den kreisrunden Innenraum betrat, waren auf einem Monitor bereits die Sterne des Alls zu sehen. Kaiser war nur noch eine große, weiße und wolkenverhangene Kugel, die von ihrem halb zerstörten Trabanten umlaufen wurde. »Auf Wiedersehen, Jiim«, murmelte Cloud, und wandte sich dann seinen wiedergefundenen Gefährten zu.
Erneut waren die vier Menschen von der Erde zum Spielball einer unbekannten Macht geworden, von der zumindest Cloud bislang nur den Namen wusste: Darnok. Rasch, mit wenigen Worten tauschte er sich mit den GenTlecs aus; er berichtete von seinen, sie von ihren teilweise unglaublichen Erlebnissen. Als Cloud von dem entdeckten, halbfertigen Äskulap-Raumer berichtete, zeigten die anderen erstmals Erstaunen - Eiswürmer und Nabiss hatten sie wie selbstverständlich hingenommen. Cloud aber wandte sich an das herzförmige Wesen in dem kreisrunden, von einer Kuppel überwölbten Becken. »Darnok, trügt mein Verdacht, dass du uns gezielt auf Kaiser abgesetzt hast. Dass du uns die Zerstörungen zeigen wolltest und auch das Leid? Aber du erliegst einem Trugschluss, wenn du meinst, dass wir Menschen etwas mit den Erbauern der Askulap-Raumer zu tun...« Er brach ab, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Weil er nicht wusste, ob ab hier nicht schon die Lüge begann, und ob die Menschen tatsächlich nichts mit den Askulap-Schiffen zu schaffen hatten, mit deren Erbauern! Was war nur auf der Erde geschehen? Und.., vor wie länger Zeit war es geschehen? Wie viel Zeit hatten Cloud, Scobee, Jarvis und Resnick bei der Wurmlochpassage »verloren«? Falls Clouds diesbezügliche Theorie zutraf...
Er erhielt keine Antwort von dem Außerirdischen. Lediglich ein paar der Strünke, die vom Herzkörper abzweigten, bewegten sich leicht. Oder war dies bereits als Zustimmung zu werten? Plötzlich drang eine geschlechtslose Stimme aus den Wänden: »Betrachtet den Aufenthalt auf Kaiser als die erste Lektion, die ich euch erteilt habe.« Sie blickten einander betroffen an. Scobee war die Erste, die ihre Sprache wiederfand: »Das klingt nicht, als sähe unsere Zukunft rosig aus. Die letzten Tage waren schon für uns alle äußerst... unangenehm, und wir wissen nach wie vor nicht, was eigentlich vorgeht. Wer sagt uns, dass du unser Freund bist?« »Euer Freund?« Die Stimme zeigte auch jetzt keine Regung. »Der kann und will ich nie sein!« »Was bliebe dann noch?«, mischte sich Cloud ein. »Feind?« »Ihr sollt sehen und begreifen, was die Euren getan haben - und im Begriff sind zu tun.« »Dann hast du also Beweise, dass sich Menschen in den Schiffen befinden, denen wir begegneten - und die jetzt Kaiser angreifen? Menschen, die, wenn ich es richtig verstehe, deinem Volk großen Schaden zugefügt haben?« »Großen Schaden? Sie haben es ausgelöscht. Allerdings...« Die Erschütterung breitete sich wie ein lähmendes Gift in Clouds Körper aus. »Allerdings?« »Es gibt Widersprüche in meinen Untersuchungen. Und letztlich sind sie der einzige Grund, weshalb ihr noch...« »Ja?«, drängte Scobee. »... lebt«, vollendete Darnok. Im selben Moment wurde das Karnut samt seiner Insassen kräftig durchgeschüttelt. »Die Erinjij«, sagte Darnok. »Sie versuchen uns von mehreren Seiten her zu attackieren. Meine Kräfte reichen nicht aus für ein neuerliches Magoo! Wir müssen Kaiser verlassen - unverzüglich!« Er blieb die Erklärung schuldig, was ein Magoo war. »Dass Erinjij seine Bezeichnung für Menschen war, schien offensichtlich. Und die Art, wie er das Wort betonte, ließ keinen Zweifel an seinem Hass... »Es gibt in weitem Umkreis nur einen Ort«, fuhr Darnok fort, »der uns vielleicht eine Zuflucht bietet. Um dort und anderswo aber zurechtzukommen, ist es unabdingbar, euch eine... Gabe zu verleihen...« Nein! Nicht schon wieder, dachte Cloud, als er spürte, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Er verlor das Bewusstsein.
Es schienen nicht mehr als ein paar Momente vergangen zu sein, als er wieder zu sich kam. Auch die GenTecs erwachten stöhnend. Bohrender Schmerz, der sich nur langsam verflüchtigen wollte, nistete hinter Clouds Stirn. Scobee fragte mit zusammengekniffenen Augen: «Ssat aubs kerzüü?« Und automatisch antwortete er: «Extrea's!« - bevor er sich verblüfft mit beiden Händen an den Mund fasste, als könnte er die ungewohnten, verstörenden Krächzund Zischlaute in seinen Rachen zurückstopfen. »Was ist jetzt wieder passiert, in Dreiteufelsnamen?«, schimpfte Resnick und rieb sich den kahlen Schädel. Er fügte noch ein «Hobszumz!« hinzu, woraufhin Scobee einen tadelnden Blick mit ihm wechselte. »Wie ich höre«, tönte es aus den Wänden, »erfüllt der Sprachmodulator seinen Zweck.« »Was soll das heißen?«, fragte Cloud. »Ich habe mir erlaubt, einen kleinen chirurgischen Eingriff vorzunehmen. Er war völlig risikofrei.« Cloud gewann ein zunehmend ambivalentes Verhältnis zu dem herzförmigen Lebewesen. Einerseits hatten sie ihm nun bereits mehrfach ihr Leben zu verdanken, andererseits fühlten sie sich von Darnok wie unmündige Kinder behandelt, die ohne Erklärung von einer Gefahr in die nächste versetzt wurden. Das Wesen fuhr fort: »Ein Neurochip sitzt hinter euren Stirnknochen, auf der linken Seite, um genau zu sein. Er wird euch bei Bedarf neben der Universalsprache des CLARON noch ungefähr zwanzig weniger verbreitete Sprachen dieser Galaxis vermitteln.« »CLARON?«, echote Cloud. Darnok ging nicht darauf ein. »Hinter unseren Stirnknochen?« Die medizinisch ausgebildete Scobee war fassungslos. Auch darauf ging Darnok nicht ein. Statt dessen wurde das kleine Schiff von einem heftigen Stoß erschüttert. »Wie ich sagte«, meldete sich der Außerirdische wieder zu Wort. »Hier gibt es keine Sicherheit. Wir müssen zum Aqua-Kubus. Sofort.« Die auf dem Monitor aufgetauchten Verfolger fielen hinter ihnen zurück. »Was zur Hölle ist ein >Aqua-Kubus Und wie könnte er uns Schutz bieten...?«, brauste Cloud auf. »Ein geheimnisumwitterter Ort«, antwortete Darnok fast wider Erwarten. »Ein sehr geheimnisumwitterter Ort, mit herkömmlichen Methoden fast nicht zu erreichen. Aber ich habe Mittel und Wege, und das Magoo wird mir noch einmal helfen - dafür sollte es ausreichen, ehe es dringend der Regenerierung bedarf...« Ihr Schiff schien immer stärker zu beschleunigen, schaffte es aber nicht, die Verfolger abzuschütteln. Sie blieben ihnen hartnäckig auf den Fersen. Schiffe von der Erde.
Menschen-Schiffe, die Menschen beschossen, und das auch noch nachdem sie sie zweifelsfrei als solche hätten identifizieren müssen - wie auf Kalser geschehen. Warum? Warum?! Waren doch nicht ihresgleichen an Bord der vermeintlichen Erdschiffe? Aber wer dann? Und was hatte es mit dem entdeckten Äskulap-Schiff auf sich? War auf Kalser jene Invasionsflotte entstanden, die im Sonnensystem und über der Erde aufgetaucht war? Und wenn dies der Full war, von wem war sie gebaut worden? Und was war aus den Invasoren geworden? Hatten die Menschen ihr Joch abschütteln, die Eroberer aus dem All besiegen können? Oder waren sie sogar eine unselige, wie auch immer geartete Allianz mit ihnen eingegangen...? Plötzlich, warnungslos, verschwand der gewohnte Hintergrund des Weltraums. Cloud glaubte zunächst an den Eintritt in ein übergeordnetes Medium, vielleicht sogar ein Wurmloch. Grüner, gespenstischer Glanz drang plötzlich über den Monitor zu ihnen herein. »Was ist das?«, flüsterte Scobee. »Der Kubus«, antwortete Darnok. »Wir sind da.«
Der Weltraum in Flugrichtung des Karnuts war immer noch derselbe. Nur das Objekt, das ihn verdeckte, übertraf alles, was sich Menschen wie Cloud, Scobee, Resnick oder Jarvis selbst in ihren kühnsten Träumen hätten ausmalen können. Es war riesengroß. »Eine Kante ist etwa eine Lichtstunde lang«, erklärte Darnok. »An den momentan nicht erkennbaren Eckpunkten befinden sich die Stationen, die einen Feldschirm erzeugen, der verhindert, dass das im Kubus befindliche Wasser austreten könnte. Wir werden diesen Schirm jetzt durchdringen...« Cloud hörte kaum hin. Eine Lichtstunde Länge, dachte er. Darnok musste den Verstand verloren haben! Dann durchdrangen sie die »Membran«, scheinbar mühelos, und übergangslos war ihr Fahrzeug von allen Seiten von grünschimmerndem Licht umgeben. »Die gegnerischen Schiffe bleiben zurück«, stellte Darnok sachlich fest. Langsam glitt das winzige Schiff durch ein verändertes Medium. Voraus wurden Objekte sichtbar. Ebenso gewaltige wie unglaubliche Objekte, die niemand an einem Ort wie diesem erwartet hätte... Aber auch die neue Umgebung, die neuen Wunder konnten die eigentliche Sorge, die Cloud beschäftigte, nicht ersticken.
Seit dem Sturz durch das Wurmloch beschäftigten ihn beinahe unablässig Fragen wie: Wer hatte die Erde überfallen - und warum? Oder: Wie hatte es soweit kommen können, dass ein Wesen wie Darnok den Menschen als Geißel der Galaxis bezeichnete? Werden wir die Erde jemals wiedersehen? Und falls ja, werden wir... Ihm wurde kalt.... werden wir sie dann überhaupt wiedererkennen? Er wurde den Verdacht nicht los, dass das molluskenartige Wesen, in dessen Obhut oder Gewalt sie sich befanden, die Antworten auf eine Vielzahl dieser Fragen kannte. Blieb die Frage, wer dieser Darnok war. Wer er wirklich war - und wie die nächste Lektion aussehen würde, die er meinte den vielleicht letzten Menschen der alten, verlorenen Erde erteilen zu müssen... ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!