Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 3 Geschichte der Germanen bis zum Mittelalter
Inhaltsangabe Unter dem...
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Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 3 Geschichte der Germanen bis zum Mittelalter
Inhaltsangabe Unter dem Ansturm der germanischen Stämme brach das römische Weltreich zusammen. ›Die Barbaren‹ aus dem Norden trafen auf alte Kulturen, errichteten Großreiche - aber das über Jahrtausende Gewachsene war stärker. Die germanischen Herrschaftsgebilde zerfielen schnell. In seinem Roman ›Ingo‹, der Teil dieses Bandes ist, erzählt Gustav Freytag, der große Dichter des berühmten Romans ›Soll und Haben‹, von Ingo, dem vandalischen Königssohn. Die Vandalen, eines der erstaunlichsten germanischen Völker, gründeten da, wo erstmals das von Rom besiegte Karthago geherrscht hatte, ein großes nordafrikanisches Reich unter ihrem genialen König Geiserich, das dann durch den berühmten Belisar, Feldherrn des oströmischen Reiches, zerstört wurde. Eifersucht unter den Stämmen, mangelnde Beharrungskraft waren die Gründe, daß es nie zu einem germanischen Weltreich kam. Der Frankenkönig Chlodwig versucht im 5./6. Jh. ein neues Großreich zu errichten, das aber sofort nach seinem Tode zerfiel. Neue starke Kräfte bedrohten das Abendland. Karl Martell gelang es, die vordringenden arabischen Mohammedaner 732 bei Tours und Poitiers zu besiegen, und Karl der Große, 800 in Aachen gekrönt, wollte der Herrscher eines neuen Reiches in der Nachfolge des römischen sein. Doch auch sein Imperium zerfiel. Im Kampf gegen die herandrängenden Ungarn und Slawen bildete sich aus den deutschen Stammesherzogtümern ein neues deutsches Reich, dessen Kaiser um die Weltherrschaft streiten mußten mit einer neuen Macht, die nicht nur mit geistigem Anspruch auftrat: die Kirche. Mit wechselnden Erfolgen stritten Papst und Kaiser um die Weltherrschaft, bis Ende des 11. Jahrhunderts durch den berühmten Gang nach Canossa König Heinrich trotz Unterwerfung den entscheidenden Schritt zur Befestigung des Kaisertums und seiner Vorherrschaft tat. Das christliche Leben begann an der Pforte des Mittelalters zu blühen. Klöster wuchsen empor; vom Mönch Ekkehard aus St. Gallen berichtet der Roman Wilhelm von Scheffels, der in diesem Band das historische Umfeld der Klöster und der Mönche, ihr Leben, ihre Arbeit, ihr Denken schildert.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © by Literarica Anstalt, Vaduz Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Geschichte der Völkerwanderungszeit bis in die Mitte des vierten Jahrhunderts insbesondere Geschichte der Germanen
Die Grenze zwischen den geschichtlichen Zeiten Die Worte ›Altertum‹ und ›Mittelalter‹ wurden dem Sprachschatz mit solcher Selbstverständlichkeit einverleibt, daß sie allgemeingültige Bedeutung gewannen und bestimmte Vorstellungen erweckten. Aber schon die Fragen ›Wann ging das Altertum zu Ende? Wann begann das Mittelalter?‹ wurden selbst von hervorragenden Forschern je nach Auffassung und Auslegung verschieden beantwortet, denn die Trennungslinie zwischen Altertum und Mittelalter ist nur eine begriffliche. Sie wurde von der Geschichtsschreibung festgelegt, um das vielfältige, ineinandergreifende Geschehen auf dem Erdkreis, zur Erleichterung der Übersicht, zeitlich einzuordnen. Das geschah nicht einheitlich. Unterschiedliche Deutung und verschiedenartige Bewertung der Ereignisse führten dazu, daß einmal die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich, ein andermal der Beginn der sogenannten ›Völkerwanderung‹ als die Grenze zwischen den Zeitaltern angenommen wurde. Weder die eine noch die andere Abgrenzung hält einer Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit stand. Die Untersuchung der frühen Geschichte der Menschheit gibt deutlich zu erkennen, daß sich die Entwicklungen aller Völker oder Staatengebilde nicht als abgesonderte, unabhängige Vorgänge vollzogen. Immer wurde das oft grausame Zusammentreffen ortsgebundener Gegebenheiten und ortsfremder Einwanderer in den jeweiligen Gebieten die Grundlage der später unter dem Begriff einer ›Kultur‹ zusammengefaßten Lebensformen. Die einzelnen Kulturen vermischten sich in den aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten miteinander und schufen wieder neue Kulturen. Schließlich galt das Römische Reich durch seine vereinheitlichende Aufnahmefähigkeit und Ausstrahlung und auch als Machtbegriff als das be2
deutsamste Ergebnis der Mischungen von Lebensformen und Völkerschaften im europäischen Raum. Diese außerordentlichen Eigenschaften, deren Wirkung sich über die Jahrhunderte hinaus bis in unsere Zeit erstreckte, erhoben Rom in seinem Glanz zum allgemeinen Sinnbild des Altertums. Die Aufmerksamkeit, die die um das Mittelmeer liegenden Länder des Römischen Reiches auf sich zogen – nicht nur durch Erfolge in Krieg und Frieden, sondern auch durch die erhalten gebliebenen römischen Beschreibungen dieser Erfolge –, lenkte die späteren Betrachter der Geschichte von den Ereignissen und Entwicklungen in anderen Gebieten und Erdteilen ab. So kam es, daß sich die allgemeine Kenntnis der frühen Geschichte auf das ›klassische Altertum‹ beschränkte. Ägypten bekam wohl seinen Platz, aber die Betonung lag auf Griechenland und Rom. Für gelehrt oder gebildet wurde nur angesehen, wer sich mit diesen beiden Kulturen befaßte. Erst neuere Bodenfunde und Forschungen erweiterten den Gesichtskreis der Geschichtsbetrachtung und ermöglichten über die erstarrten, überlieferten Daten hinaus tiefer schürfende, weiter reichende Deutungen. So verlor auch der Begriff ›Völkerwanderung‹, der in landläufiger Bezeichnung die Zeitspanne vom dritten bis zum achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung umschrieb, seinen eigentlichen Sinn. Man darf nicht vergessen, daß der Ursprung und Anfang dieser Völkerbewegungen in das Unbekannte der Vorgeschichte zurückführt. Die Wanderungen begannen mit den ersten Menschen. Sie waren die durch zwangsläufige Verhältnisse bedingten, unaufhörlichen Ortsveränderungen von Einzelgängern, Familien, Stämmen und Völkern, die neue Wohnsitze suchten. Das Ziel der Menschheit änderte sich durch die Jahrtausende nicht. Auch über die begriffliche Grenze vom Altertum zum Mittelalter hinaus blieb es das gleiche: der Wunsch nach dem besseren Leben.
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Durch das Völkertor zum Steinwall I Alle Wanderungen, die Geschichte machten, gingen vom Osten nach dem Westen, mit Ausnahme des Einfalles oft unbekannter und unbenannter Völkerstämme in China und die dem chinesischen Festland vorgelagerten Inseln. Tief im Inneren Asiens entstand der sich immer erneuernde Menschenüberschuß und löste die drängende Unruhe und Notlage von Familienverbänden und Horden aus, die im grenzenlosen Raum neue Möglichkeiten suchten, neue Weideplätze, um leben und überleben zu können. Einige dieser Volksstämme wandten sich nach dem Süden. Sie drangen in Indien ein, unterwarfen die schon zu einer höheren Lebensform fortgeschrittenen Bewohner der Königreiche und Städte am Indus und Ganges. Die meisten asiatischen Wanderer aber zogen nach dem Westen und brachen durch das uralte ›Völkertor‹, den Kaukasus, in Europa ein. Diesen Weg nahmen auch die Völker, die von ihren Zeitgenossen mit dem Sammelnamen ›Germanen‹ bezeichnet wurden. Sie stießen in die unwirtlichen Gebiete nördlich der Donau vor, die Küsten der Nord- und Ostsee entlang in die Richtung des Rheins und nach Skandinavien. Von diesen sich während gewaltiger Zeitspannen wiederholenden Zügen zahlloser Menschen erhielten sich wenige Spuren, und auch diese ermöglichen nur um Jahrhunderte schwankende Zeitbestimmungen. Es gab keine Straßen durch die unwegsamen Gegenden, durch die die Wanderung der damals noch namenlosen Wegbereiter des Mit4
telalters führte. Sie bewegten sich entlang der Flüsse, über Pässe und durch Täler in ihre noch unbekannte künftige Heimat. Welchen Ursprungs diese asiatischen Männer und Frauen eigentlich waren, ist nicht bekannt. Durch die Ursprungsbezeichnung ›Indogermanen‹ und ›Indoeuropäer‹ versuchten Sprachforscher, eine Verbindung zu uralten Völkern im indischen Raum herzustellen. Es ist auch nicht bekannt, ob die Neuankömmlinge Werkzeuge mit sich brachten, deren Gebrauch sie über die dürftigsten Lebensbedingungen erhob. Sie standen tief unter dem zeitgenössischen Bildungsstand der Völkerschaften, mit denen sie im Norden Europas in Berührung kamen, und hatten weitaus einfachere Lebensformen. Um so erstaunlicher ist die verhältnismäßig kurze Zeit, in der die als grobe Barbaren charakterisierten halbwilden Germanen nachahmten, nachholten und verbesserten, was ihre verfeinerten Nachbarn in schon besiedelten und gesellschaftlich geordneten Gebieten in den vorhergegangenen Jahrhunderten vollbracht hatten. Die Leistung der Nachzügler der westlichen Kultur wirkt um so gewaltiger, wenn man die ersten erhaltenen Berichte über die landschaftlichen Verhältnisse der europäischen Landstriche in Betracht zieht, in denen die frühen Germanen gelebt haben: unwohnlicher Urwald, sumpfige Ebenen, neblige Täler, die im Winter unter ungeheuren Massen von Eis und Schnee erstarrten. Nach Westen zu, in der Rheinniederung, war die Gegend freundlicher. Gegen Pannonien und Noricum aber, im Gebiet des gegenwärtigen Bayern und Österreich, erschwerten häufige Wetterumschläge, die durch heftige Südostwinde hervorgerufen wurden, den Bewohnern des Berglandes das Leben. In ihren geschichtlichen und naturgeschichtlichen Werken, die den Römern die seltsamen Bewohner jenseits ihrer Grenzen vor Augen führen sollten, schilderten Cornelius Tacitus und Plinius das Land und das Volk der Germanen. Besonders beeindruckt war Plinius von den nördlichen Gegenden: »Dort bewohnen die beklagenswerten Leute hohe Hügel oder Brettergerüste, auf denen ihre Hütten nach dem höchsten Flutmaß errichtet wurden; in der Flut ähnlich dem Leben an Bord von Schiffen, in 5
der Ebbe ähnlich Schiffbrüchigen. Sie können keine Haustiere halten und von deren Milch leben, ja nicht einmal mit wilden Tieren kämpfen, da weit und breit kein Strauch zu sehen ist. Sie flechten Schilfund Sumpfbinsen zu Stricken, verfertigen Netze zum Fischfang. Sie tragen feuchten Schlamm zusammen, trocknen ihn mehr im Wind als an der Sonne und bereiten darin ihre Speisen, um die vom Nordwind erstarrten Glieder zu erwärmen. Ihr einziges Getränk ist Regenwasser, das in Gruben gesammelt wird. Und diese Völkerschaften klagen über Knechtschaft, wenn sie von den Römern besiegt werden! So ist es eben: manche verschont das Schicksal, um sie zu bestrafen.« Aber auch in bewaldeten Landschaften war es römischen Besuchern und Berichterstattern unheimlich zumute: Die Bäume waren wie gewaltige Ungeheuer; ihre Wurzeln wölbten sich so hoch, daß sie die Wege überspannten und es Berittenen möglich war, unter diesen natürlichen Bogen hindurchzureiten. Die Stämme waren so lang und dick, daß sie, ausgehöhlt und als Schiffe verwendet, dreißig Mann zu fassen vermochten. Riesenhafte Waldtiere, Elch, Bison und Ur, Herden wilder Pferde belebten die Wälder, und seltsame Vögel, die ›gantae‹, Gänse, genannt wurden, flogen dort umher. Diese Vögel blieben nicht lange wild, denn ihr Fleisch und ihre Federn wurden in Rom so beliebt, daß Truppen ausgeschickt wurden, um die ›gantae‹ zu fangen. Das hochbezahlte, begehrte Geflügel wurde bald von den Einheimischen gezüchtet, aber nur in den Grenzgebieten, denn die Gehöfte und Dörfer im Innern des Landes dienten zumeist vorübergehend als Sammelstellen rings um die Weideplätze der Herden, und nicht als beständige Wohnsitze auf von mächtigen Wäldern dicht umgebenen Lichtungen. Plinius glaubte, daß die Menschen am Rande der Nord- und Ostsee Pferdefüße hätten und den nackten Leib zum Schutz gegen die Kälte mit ihren übermäßig langen Ohren bedeckten. Tacitus behauptete, daß die ›Natur dort endete‹. Ein merkwürdiges, gefährliches Land! Die Vorläufer der Germanen in der Besitzergreifung Mitteleuropas, die Kelten, hatten auf ihren Zügen an der Donau und dem Rhein entlang, die sie im Westen ans Ende der damals bekannten Welt, nach 6
Britannien, führten und im Süden auf die Iberische Halbinsel, vor den bedrohlichen Urwaldgegenden des Nordens zurückgescheut. Auch für sie, die von den Römern unterworfen und schon mit dem besseren Leben bekannt gemacht worden waren, galten die Germanen jenseits der Donau und des Rheins als feindselig gefährliche Nachbarn. II Die Verteidigung und die Sicherung des in jahrhundertelangen Kämpfen eroberten Besitzes durch den Limes, den steinernen Wall und die Grenzfestungen, gegen die Angriffe der sich zu Völkern vereinigenden Germanenstämme, wurde und blieb das Hauptziel der römischen Kaiser. Sie erfuhren mit wachsender Sorge von den kriegerischen Bewegungen ihrer rastlosen Nachbarn. Es waren immer neue Namen, mit denen die Herrscher und ihre Grenzgeneräle sich bekannt machen mußten, immer besser ausgerüstete Ansammlungen von Kriegern, die nicht mehr nur durch den raschen Aufmarsch von Legionen zurückgescheucht werden konnten. Vom Rhein zum Schwarzen Meer und wieder zurück zogen ganze Völkerschaften, die einander nicht weniger beunruhigten als die eifersüchtig über ihre Grenzen wachenden Römer. Burgunder, Goten, Vandalen und Chatten, Hermunduren, Markomannen und Langobarden siedelten sich bald in diesen, bald in jenen Landstrichen an. Erst ließen diese Völkernamen kaum nennenswerte Unterscheidungen zu. Aber dann zeichneten sich doch besondere Wesensmerkmale innerhalb der verschiedenen, überaus ähnlichen Völker ab, durch die die Zusammengehörigkeit der Stämme bedingt war. Welche wesentliche Gemeinschaft verband diese durch das Völkertor des Kaukasus nach Europa eingewanderten Männer und Frauen? Wenn die zeitgenössischen Römer nicht durch den Hochmut des Fortschritts verblendet gewesen wären, hätten sie bei der Betrachtung der germanischen Lebensformen so viele Ähnlichkeiten mit ihrer eigenen 7
ursprünglichen Lebensform und ihren eigenen, von ihnen schon vergessenen uralten Gebräuchen gefunden, daß sie sich nicht durch äußerliche Verschiedenheiten hätten abschrecken lassen. Denn auch das Gemeinschaftsleben der Germanen beruhte auf der vaterrechtlichen Familie, deren: einzelne Mitglieder unter der unumschränkten Gewalt des Vaters standen. Es war ein ›Patriarchat‹ wie das der ersten Römer. Blutsverwandte Familien bildeten eine Sippe. Die Männer der Sippe kämpften miteinander gegen alle Feinde, sie hafteten füreinander und waren zur Rache für jedes Unrecht verpflichtet, das ein Sippengenosse erlitten hatte. Die germanischen Sippen hatten sich zu Stämmen und die Stämme zu Völkerschaften zusammengetan. Sie lebten in Gauen, das heißt in Stammeszusammengehörigkeit. Schon in frühen Zeiten gab es bei den Germanen eine gesellschaftliche Gliederung in Adelige und Freie und einen dritten Stand, die kriegsgefangenen Sklaven und die Hörigen, die für die Freien und die Adeligen arbeiteten. Als Adelige galten jene Geschlechter, die sich durch Ansehen und Reichtum vor den anderen auszeichneten. Sie waren erbliche Nutznießer der Belohnung für hervorragende kriegerische Leistungen. Jeder freie Mann hatte das Recht, an der Volksversammlung teilzunehmen, dem ›Thing‹, das den Heerbann, die wehrhaften Männer, zur gemeinsamen Beratung verband. Wer sich durch außerordentliche körperliche Fähigkeiten und Geschicklichkeiten in den Waffenübungen hervortat, galt als bedeutend. Um ihn sammelten sich Gefolgschaften, die sich dem so Bevorzugten durch Treuebündnisse verpflichteten, in der Hoffnung, mit ihm und durch ihn Ruhm, Ehre und Beute zu gewinnen. Solche Jünglings- und Männerbünde folgten nicht nur Helden, die sich selbst durch Tapferkeit bewährt hatten, sondern auch den Angehörigen vornehmer Familien, deren Ruf und Stellung ererbt war. Diese waren die Anführer des Heerhaufens beim Angriff, sie waren die Vordersten, die ›furisto‹, die Fürsten. Aber die überragende Stellung der Fürsten und der erwählten militärischen Anführer, der Herzöge, war nur in Kriegszeiten unbedingt. Im Frieden fiel den Fürsten und Her8
zögen wohl die Rechtsprechung zu, jedoch nur im Rahmen der durch die Überlieferung überkommenen Stammesgesetze. Die Grundlage des engen Zusammenhalts der Familien, Sippen und Stämme war die Hochachtung vor den Rechten und Pflichten der Ehe. Tacitus berichtet: »Das einfache, unverdorbene Volk mit seiner unverdorbenen Einbildungskraft nimmt keinen Anstand daran, daß die Tracht der Frauen und Mädchen nicht nur Ober- und Unterarme, sondern auch einen Teil des Busens unverhüllt läßt. Dennoch ist das Band der Ehe musterhaft streng und heilig … Fast alle Männer begnügen sich mit einem Weib, nur sehr wenige Fürsten haben mehrere Frauen, nicht aus Sinnlichkeit, sondern wegen einflußreicher Verschwägerungen. Während bei den Römern die Ehen meist nur wegen der Mitgift der Frau geschlossen werden, bringt der germanische Gatte dem Weib die Mitgift zu …« Nur selten, so erzählt Tacitus, komme Ehebruch vor. Der Gatte stoße dann die Entkleidete mit abgeschnittenem Haar aus dem Haus und treibe sie mit Schlägen durch das Dorf. Die Zahl der Kinder willkürlich zu begrenzen oder ein Nachgeborenes zu töten, gelte als Frevel. »Dort lacht man nicht über das Laster und nennt verführen und verführt werden die Mode der Zeit. Die Frauen haben nur einen Gatten, wie nur einen Leib und ein Leben. Und mehr wirken dort gute Sitten als anderswo gute Gesetze.« In seinem Unmut über den zeitgenössischen römischen Sittenverfall vergaß Tacitus, daß der Begriff des Ehebruchs bei den Germanen der gleiche war wie bei den Römern. Nur der Mann hatte das Recht auf eheliche Treue, nicht die Frau. III Auch bei der Beschreibung des Glaubens und der Götterlehre der Germanen entging den römischen Betrachtern manche Ähnlichkeit und gewiß auch der vermutlich gleiche Ursprung ihrer geheiligten Vorstellungen. Hier wie dort erzeugten die erschreckenden und die segensrei9
chen Erscheinungen der Natur entweder Gefühle der Angst oder der Dankbarkeit, und die Phantasie schuf übersinnliche Wesen, die göttliche Gestalt gewannen. Die Unterschiede zwischen den Glaubensvorstellungen der Römer und Germanen mochten durch die verschiedenen landschaftlichen Eindrücke und Einflüsse verursacht sein. In den besonnten südlichen Gegenden äußerte sich die Natur freundlicher, die Götterwelt war lichter und heiterer. Die Vermischung der Gottheiten der Griechen und Römer zu nahezu übereinstimmenden Glaubenssinnbildern konnte sich um so eher vollziehen, als die Dorier, die in Griechenland eingebrochen waren, und die Italiker, die die Apenninische Halbinsel besetzt hatten, im wesentlichen gleichen Stammes und von verwandten Glaubensvorstellungen erfüllt waren. Der griechische Zeus und der römische Jupiter glichen einander zum Verwechseln, und auch die anderen Olympier, die durch die griechischen Auswanderer auf italischem Boden eingeführt wurden, wurden mit empfänglichem Geist aufgenommen. Sie fanden bereitwillige und gläubige Anhänger. Die römische Mythologie, die durch das Zusammenspiel etruskischer, griechischer und italischer Glaubensinhalte entstand, war im wesentlichen nicht verschieden von der germanischen, die allerdings nicht durch so reiche, bleibende Bodenfunde und Denkmäler überliefert worden ist. Tacitus berichtete, daß die Germanen ebenso wie die Etrusker und Italiker aus Flug und Ruf der Vögel weissagten. Die Raben Hugin und Munin, die Begleiter Wotan-Odins, des mächtigsten Gottes der Germanen, trugen Namen, die in der Sprachforschung das gleiche aussagten wie die Namen der ersten Gattinnen des olympischen Zeus, der Göttinnen Metis und Mnemosyne, nämlich ›Rat‹ und ›Gedächtnis‹. Die nordische Hel, die ›Verborgene‹, ist gleichbedeutend mit dem griechischen Hades, dem ›Unsichtbaren‹; in beiden Fällen trug die Unterwelt den gleichen Namen wie die sie beherrschende Gottheit. Die Ähnlichkeiten führten jedoch nicht zu vollkommener Gleichsetzung, besonders was die Rangordnung und den Wirkungsbereich der einzel10
nen Gottheiten betraf. Dennoch ist der indische Dyauspita dem ZeusJupiter gleichzusetzen und dem Teiwaz, der zum germanischen Kriegsgott Ziu-Tyr wurde. Auch das lateinische ›divus‹ und ›deus‹ und das griechische ›theos‹ waren im Namen Dyauspita enthalten. Das wurde auch später erkannt, als Donar dem Jupiter als so nahe verwandt empfunden wurde, daß der Tag Jupiters, der ›dies Jovis‹, zum Donars-Donnerstag wurde. Eine ähnliche Umformung geschah mit dem Tag der Venus, der zum Tag der göttlichen Freya, dem Freitag, wurde. Aber diese Angleichungen vollzogen sich erst in einer späteren Zeit, als der Limes die tatsächliche Annäherung und die geistige Mischung der Völker nicht mehr behinderte. Der germanische Götterglaube war auch von uralten persischen Vorstellungen beeinflußt. Es gab Gewalten des Lichtes und der Finsternis: die guten, menschenfreundlichen, schaffenden, schützenden, erhaltenden Gewalten, die in stetem Kampf mit den bösen, menschenfeindlichen, zerstörenden lagen. Die lichten Götter hießen Asen. Sie waren die Tragbalken, die Stützen des Himmels und der sittlichen Ordnung auf Erden. Ihre Feinde waren die Riesen, die starren Felsgebirge, die dem Pflug des Menschen widerstanden und seinen Lebensunterhalt erschwerten. Donar, der Gott des Gewitters, der Beschützer des Ackerbaus, schlug den harten Bergriesen mit seinem Hammer, dem Blitzstrahl Malmer, der nach jedem Wurf in seine Hand zurückflog, auf die felsigen Häupter. Die von Donar zertrümmerten Felsen wurden zur nutzbaren Ackerkrume. Aber auch Wald und Wasser, Luft und Sonnenschein waren den göttlichen Mächten unterworfen. Die Asen standen in unablässigem Kampf mit den Natur und Ordnung bedrohenden Riesen. Erst waren diese gefährlichen Gewalten die in der Vorstellung verkörperten, furchtbaren Naturkräfte: Frost, Eis und Schnee des Winters, Sturmwind und verzehrendes Feuer. Dann aber, durch die Einteilung in Licht und Dunkel, in Gut und Böse, übertrug sich ihre verderbliche Wirkung auf das Geistige und Sittliche. Durch diese Auffassung entstand das Pflichtgefühl der Menschen, den Asen im Kampf gegen die Riesen beizustehen. 11
Die Scheidung der Götterwelt in Gut und Böse, in Licht und Dunkel, hätte sich zu einem einfachen und erfreulichen Glauben entwickelt, wenn nicht auch die Asen im Kampf gegen die Riesen schuldig geworden wären: sie brachen die Ehe und die Treue, sie wurden habsüchtig und bestechlich, neidisch und eifersüchtig, sie verübten Mord und Totschlag, und ›sie müssen dafür sühnen‹, so hieß es in der zum Glauben erhobenen Sage, die den großen, den letzten Weltkampf zwischen den Asen und den Riesen ankündigte. Das würde eine furchtbare Auseinandersetzung sein. Die ›Götterdämmerung‹ warf ihre Schatten voraus. Denn mit der Reinheit der Asen hatte auch ihre Kraft abgenommen. Es war Odin zwar gelungen, die riesigen Ungeheuer zu fesseln, die Götter und Menschen, Himmel und Erde mit Vernichtung bedrohten. Dennoch galt der Tag des großen Weltenbrandes als unabwendbar. Er würde kommen, wenn die Tragbalken der Weltordnung, die Asen selbst, morsch und faul geworden wären. Aber nachdem sich das All an der Glut der Feuerriesen entzündet haben würde, sollte sich aus der Asche eine neue Welt, eine neue Erde, ein junger Himmel erheben und nicht mehr von den alten Göttern, sondern von ihren unschuldigen Söhnen belebt werden. Diese Vorstellungen der Germanen von der grauenhaften Vernichtung des Weltalls unterschieden ihren Glauben von dem der griechischen Götterwelt, in der die bösen Gewalten bereits vernichtet waren. Wer in den Olymp kam, konnte sich einer angenehmen Unsterblichkeit erfreuen. Wer in das gleichwertige germanische Walhalla kam und dadurch bevorzugt war, mit den Asen zu leben, mußte bereit sein, mit ihnen auch zu sterben. Dennoch beflügelte der Wunsch, in Walhalla einzuziehen, den Todesmut der germanischen Krieger. Sie strebten nach dem irdischen Tod um des himmlischen Sterbens willen. Als oberster, als höchster Gott, als Vater der Götter und Menschen, als Schützer gegen die Mächte der Zerstörung wurde Odin (Wotan) verehrt. Er war der ›Geist‹, der Gott der Begeisterung, der Verleiher des ›furor teutonicus‹, des wütigen Heldenmutes, der die Germanen beseelte. Als König von Walhalla wünschte Odin, daß viele blutige Schlachten geschlagen würden, damit viele Helden den Bluttod und nicht den 12
Strohtod stürben. Denn nur wer auf dem Schlachtfeld fiel, wurde in Walhalla aufgenommen. Und weil nur Helden sein Heer verstärken konnten, brachte Odin Zwietracht unter Könige und Völker. Dann gab es Krieg. Er zauberte, wenn nötig, mit der Tarnkappe, die unsichtbar machte, mit dem Zaubermantel, der durch die Wolken trug, und mit dem Zauberring, der unaufhörlich neue Goldringe erzeugte. Neben Odin, dem Erfüller aller Wünsche, dem Verleiher allen Glückes, stand Donar, der Donnergott, der den Ackerbau und das Rechtswesen schützte. Kriegsgott war Odins Sohn Tyr (Ziu). Odins Gemahlin Frigg (Freya) war die Göttin der Ehe, der Liebe und der Schönheit. Am Tage der Sonnenwende starb Baldur, der Gott des Frühlingslichtes. Er hatte viele freundliche Genossen, die an Quellen und in heiligen Hainen göttlich verehrt wurden. Der gefährlichste Gott aber war Loki, der Gott des Feuers, der zuletzt gegen die Asen auftrat. Darüber wußten die drei Nornen Bescheid, die das Schicksal woben, dessen Ablauf weder den Göttern noch den Menschen bekannt war. Nur das furchtbare Ende war gewiß. Aber wann würde es kommen? Die germanischen Männer zerbrachen sich darüber nicht den Kopf. Sie wollten erst einmal durch die Walküren, die Schildjungfrauen Odins, vom Schlachtfeld empor nach Walhalla getragen werden, wenn sie auf dem Felde der Ehre gefallen waren. IV Die blonden, blauäugigen, hellhäutigen germanischen Männer und Frauen, die von den römischen Legionären gefangengenommen und auf den Sklavenmärkten verkauft wurden, waren, wenn sie sich in ihr Schicksal gefügt hatten, die treuesten und zuverlässigsten Bediensteten und Gefährten ihrer Besitzer. Es war, als ob diese Menschen zwei verschiedene Seelen hätten. Wenn sie kämpften, waren sie grausamer, unerbittlicher, hartnäckiger als alle anderen Krieger. Wenn sie friedlich waren, hatten sie ein zarteres, gefälligeres, gelehrigeres Wesen als alle 13
anderen Sklaven. Sie besaßen eine rasche Auffassungsgabe. Sie paßten sich an. Sie machten sich so nützlich, sie waren so arbeitsam, daß ihre Erwerbung als besonders glücklicher Kauf gewertet wurde. Die Erfahrung mit germanischen Sklaven, die sich oft so bewährten, daß sie von ihren Herren freigelassen wurden und ihnen doch freiwillig weiter dienten, bestärkte die aufgeklärten römischen Kaiser in ihrem Wunsch, den germanischen Völkern, die den Limes unsicher machten und unaufhörlich Einfälle in das römische Reichsgebiet unternahmen, mit friedlichen Vorschlägen zu begegnen. Aber dazu konnte es immer erst kommen, wenn der Blutrausch der Angreifenden vergangen war und sie angesichts unüberwindlicher Widerstände vor Festungsmauern oder Gebirgszügen haltmachen mußten.
Rückblick und Ausblick I Der erste namhafte Zusammenstoß der Römer mit den Germanen fand vor unserer Zeitrechnung statt. Julius Caesar warf durch seinen Sieg über den Germanenfürsten Ariovist die Volksstämme, die sich im Elsaß niedergelassen hatten, über den Rhein zurück. Das regte Tiberius und Drusus, die Stiefsöhne seines Nachfolgers Augustus, zu Eroberungsfeldzügen an. Tatsächlich begann ein Vorstoß der Legionen vom Rhein her. Drusus unterwarf die Friesen, die Chauken und Angrivarier und benutzte die römische Festung Mongutiacum (das heutige Mainz) als Ausgangspunkt seines Vormarsches an die Elbe. Als er durch einen Sturz vom Pferd ums Leben kam, übernahm sein Bruder Tiberius die alleinige Leitung der militärischen Operationen gegen die Germanen. Er mußte erkennen, daß der Sieg über halbwilde Stämme zwar die Erweiterung der Grenzen ermöglichte, aber dem 14
Sieger keine anderen Vorteile brachte als die Besetzung nahezu wertloser Gebiete. Die notdürftig zurechtgezimmerten Behausungen der Germanen waren in Flammen aufgegangen. Nur wenige Gefangene wurden gemacht. Die Bevölkerung war mit ihren ärmlichen Fahrzeugen geflohen, zu den benachbarten Chatten, Hermunduren, Langobarden oder den Markomannen, die das Land am Main verlassen, im böhmischen Raum unter ihrem König Marbod einen Staat gebildet und ein nach römischen Grundsätzen ausgerüstetes und ausgebildetes Heer aufgestellt hatten. Tiberius überließ seinen Generälen die Kämpfe gegen die vielnamigen Völker, die er der Einfachheit halber ›Germanen‹ nannte. Er war nicht dabei, als der Cherusker Arminius, der seine militärische Ausbildung in Rom erhalten hatte, eine Anzahl befreundeter Stämme zu einer Einheit verband und drei römische Elitelegionen unter Varus im Teutoburger Wald vernichtete. Der bekannte schmerzliche Ausruf des großen Augustus: »Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!« war nicht sosehr durch den Verlust der Mannschaften und der Gebiete ausgelöst, die wieder von den germanischen Barbaren besetzt wurden, als durch die Erkenntnis des ersten römischen Kaisers, daß er seine ›pax Augusta‹, den römischen Frieden, nur aufrechterhalten könne, wenn er selbst Frieden hielt und die Germanen, die gegen Rom aufbegehrt hatten, nicht bekämpfte. Sein und seiner Nachfolger wichtigstes Ziel blieb die Erhaltung der Grenzen und nicht mehr ihre Erweiterung gegen den Norden, jenseits des Rheins und der Donau.
In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung brachen die Markomannen und die Quaden in Pannonien und Noricum ein und stießen bis Aquileia vor. Die Chatten überquerten den Rhein. Die ›pax Augusta‹, die zur ›pax Romana‹ geworden war, konnte durch blutige Gegenangriffe und die Anlage neuer Legionsla15
ger gesichert werden. Bisweilen aber diente noch ein anderes Mittel dem Zweck der Grenzerhaltung. Manche freigelassenen germanischen Sklaven waren auf Veranlassung ihrer ehemaligen Herren als Römerfreunde heimgekehrt und zu Mittelsmännern zwischen ihren Stämmen und den Befehlshabern der Legionen geworden. So gab es bald römerfreundliche Quadenkönige und Markomannenfürsten, die sich sogar zur Stellung von Truppen verpflichteten, aus denen germanische Leibwachen für die römischen Kaiser gebildet wurden. Manche Befehlshaber dieser bevorrechteten Truppe standen zu den römischen Kaisern in einem ähnlichen Gefolgschafts- und Treueverhältnis wie zu ihren angestammten Fürsten. Aber es geschah immer wieder, daß sich die Offiziere und Mannschaften dieser besonders ausgerüsteten Einheiten zu ihren Stammesverwandten stärker hingezogen fühlten als zu den Römern, die ihren Einfluß jenseits der Reichsgrenzen ausbreiten wollten. Heute noch waren diese ausgezeichneten Männer römische Legionäre, morgen schon gehörten sie zu ›allen Mannen‹, die sich unter dem Kriegsnamen ›Alamannen‹ gegen die römische Herrschaft auflehnten. Die verschiedenen germanischen Völkerschaften entstammenden Alamannen bedrohten den Rhein. Kaum aber waren sie von aus dem Osten in Eilmärschen herbeigeholten syrischen Bogenschützen abgewehrt worden, als ein anderer germanischer Volksstamm, von dessen Dasein man zwar in Rom wußte, der sich jedoch bisher noch nicht durch feindliche Übergriffe unangenehm bemerkbar gemacht hatte, an der unteren Donau auftauchte: die Goten. Nach ersten blutigen Kämpfen mit diesen in schier unerschöpflicher Zahl vorstürmenden Kriegern fanden Unterhandlungen zwischen ihren Fürsten und römischen Befehlshabern statt. Die freundlichen Erklärungen, mit denen die Goten ihren beabsichtigten Vormarsch in fremdes Gebiet entschuldigen wollten, waren noch beunruhigender als ihr Kriegsgeschrei. Die römischen Unterhändler erfuhren, daß sich die Goten nicht freiwillig in Bewegung gesetzt hätten. Sie seien im Norden und Osten ihrer Ansiedlungen von anderen Stämmen überfallen und bedrängt worden, von ähnlich wilden Völkern wie den Dakern 16
und Sarmaten, denen zur Beschwichtigung Wohnsitze im römischen Reichsgebiet angewiesen worden waren. Das gleiche forderten die Goten. Es schien im Innern Asiens nicht genug saftige Weideplätze und ertragreiche Anbauflächen zu geben. Durch das Völkertor des Kaukasus brachen immer wieder neue Stämme in den europäischen Raum ein. Wenn sich das Römische Reich gegen die unbekannten zahl- und namenlosen Angreifer sichern wollte, genügten die Aushebungen von in römischen Provinzen geborenen Wehrfähigen nicht mehr. Es war einerlei, woher die Männer stammten, die als Legionäre ausgebildet und eingekleidet unter der Standarte kämpften – solange nur die Zahl und der Stand der nötigen Legionen aufrechterhalten werden konnte. So wurden eben auch Goten angeworben, wie bisher Quaden und Markomannen angeworben worden waren. Die Fürsten der germanischen Völker erhielten Jahresgelder, entsprechend der Zahl der Männer, die sie stellten. Es waren ausgezeichnete Legionen, die aus diesen widerstandsfähigen, vom ›furor teutonicus‹ erfüllten Kriegern gebildet wurden. Mit solchen Truppen konnten die römischen Kaiser Kriege führen – aber nur solange sie die Jahresgelder zahlten. Die erste Zahlungsstockung, der erste Vertragsbruch – und es war um den Frieden mit den ›foederati‹, diesen bezahlten Bundesgenossen, geschehen. Das Schlimme war, daß die Germanen jetzt nicht mehr in wilden Horden einherstürmten. Sie hatten die Kriegskunst erlernt. Auch sie formten nun geschlossene, einheitlich ausgerüstete Kampfabteilungen. Um sie erfolgreich abzuwehren, war es nicht nur nötig, ihnen Legionen in gleicher Zahl entgegenzustellen. Die Geldherren mußten den gleichwertig bewaffneten Feinden mit überlegener Kriegskunst begegnen. Aber auch in dieser Hinsicht waren viele Germanenfürsten ihren unfreiwilligen Lehrmeistern ebenbürtig geworden. So besiegte der Gotenkönig Kniva den römischen Kaiser Decius bei Abrittus und ermöglichte dadurch den Vormarsch der zu einem Herr vereinigten Goten, Burgunden und Sarmaten nach Makedonien und Kleinasien. 17
II Eigentümlich für die Wanderungen germanischer Stämme in diesem erregten dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war der Marsch der Heruler von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Sie vereinten sich mit den Goten, zu denen auch noch Boraner und Karpen, vermutlich nichtgermanische Völker, gestoßen waren. An den Küsten des Schwarzen Meeres entstanden germanische Werften, auf denen Raubschiffe gezimmert wurden. Die kriegerischen Unruhen, durch die das Land im Osten Europas zerrissen wurde, griffen auf die See über. Die barbarischen Seeräuber plünderten die ehemaligen griechischen Handelsstädte am Schwarzen Meer. Sie fuhren durch den Bosporus, an der ägäischen Küste entlang und belagerten die Städte Attikas und der Peloponnes, brandschatzten die Inseln Rhodos und Kreta. Diese Eindringlinge in das Herz der westlichen Welt, die sich erst ziellos auf den Weg ins Unbekannte gemacht hatten, entwickelten sich zu zielbewußten Eroberern, die ebenso über ein geordnetes Reichswesen verfügen wollten wie die Römer und begierig waren, der gehobenen Lebensformen des Mittelmeerraumes teilhaftig zu werden. Ihre Unternehmungen waren zwar gut geplant, aber sie führten doch zu nicht mehr als zu ertragreichen Beutezügen, die vor allem ihren Fürsten und Adeligen zugute kamen. Um wirklich siegreich und beständig erfolgreich zu sein, fehlte diesen neuen Eroberern noch das Hinterland, über das die Römer durch ihren bald tausendjährigen Aufbau der Macht verfügten. Die Goten und ihre Bundesgenossen hatten noch keine ausgedehnten Schmiedewerkstätten zur Herstellung von Waffen, keine Anlagen von Webstühlen, die, in zahllosen Reihen unaufhörlich bedient, Stoffe für Kleidung und Zelte lieferten, keine sachgemäß ausgenützten Bergwerke. Ihre hastig zusammengetragene Beute beein18
druckte zwar sie selbst – aber nicht erfahrene Generäle wie Claudius II. Goticus, der, als Soldatenkaiser ausgerufen, den Kampf gegen die Feinde des Römischen Reiches aufnahm. Claudius war in den Augen der bedeutendsten zeitgenössischen Goten- und Alamannen-Könige nur einer in der langen Reihe der von den Legionen ausgerufenen und bald wieder von den Legionen ermordeten Kaiser, die das Römische Reich in den vergangenen Jahrzehnten mit so harter Hand verwaltet und so hartnäckig verteidigt hatten. Die große Angst vor dem Namen Rom und dem, was es darstellte, war in der Vorstellung der Germanen jenseits der Donau und am Rhein ebenso brüchig geworden wie der Steinwall. Die Volksstämme der Brukterer und Chamaver, in ihrer Vereinigung Franken genannt, zogen über den Rhein durch Gallien und die Iberische Halbinsel nach dem Norden Afrikas. Der Limes mußte vorübergehend zurückgenommen werden, um dem wütenden Vorstoß der Germanen gewachsen zu sein. Vergeblich. Die zu richtigen Stoßtruppen ausgebildeten Alamannen durchbrachen die schwächsten Stellen und fielen in Norditalien ein. Sie waren auf dem Weg nach Rom. Das war das Ziel, das von einem Thing zum anderen von den Fürsten der einzelnen Stämme verkündet wurde. Aber es fehlte noch an Einigkeit und Verständigung zwischen den angriffslustigen germanischen Völkern, die gegen den Steinwall und den Limes anrannten. Sie unterhielten keine Verbindungen miteinander. Jeder Stamm, jedes Volk begehrte den Erfolg auf dem Schlachtfeld und die Beute nur für sich. So kam es, daß Claudius die Alamannen, die bis zum Gardasee vorgedrungen waren, vernichtend schlagen und schon im nächsten Jahr bereit sein konnte, den Goten in einer entscheidenden Schlacht entgegenzutreten. Sein Sieg bei Naissus war nur durch eine großangelegte Scheinmaßnahme möglich. Er vermochte die Übermacht im Rücken zu fassen. Fünfzigtausend Goten fielen. Kurz nach der Schlacht erkrankte Claudius. Als er starb, wurde Aurelian zum Kaiser ausgerufen. Er nützte den Sieg seines Vorgängers nicht aus. Er war für friedliche Angebote. Er räumte die römische Provinz Dacia, um sie den Goten als Siedlungsgebiet zu überlassen. Ein Teil von ihnen, seither West19
goten genannt, ließ sich dort nieder. Die Ostgoten kehrten ans Schwarze Meer zurück und vermischten sich mit den dort ansässigen Sarmaten – in vorübergehender Seßhaftigkeit. Für kurze Zeit schien es, als wäre der große Vorstoß durch das Völkertor zum Steinwall zur Ruhe gekommen.
Im Zeichen des Übergangs I Als Kaiser Aurelian Rom mit einer gewaltigen Mauer umgab, um die Stadt gegen überraschende Überfälle der Germanenhorden zu schützen, wurde er von den Römern als ›Hüter des Erdkreises‹ gefeiert. Für die Bewohner der ›Sieben-Hügel-Stadt‹ war Rom nämlich der Mittelpunkt der Welt geblieben. Solange sie in ihrem satten, gepflegten Leben nicht gestört wurden, wollten die Römer es nicht wahrhaben, daß die politische Bedeutung der Hauptstadt verlorengegangen war. Der römische Senat hatte keine Macht mehr, die Stimmen des Volkes keinen Wert. Herr des Römischen Reiches wurde, wen die Legionen zum Kaiser ausriefen – ob der Auserwählte gebürtiger römischer Bürger war oder irgendeiner fernen Gegend entstammte, war den Legionären bald einerlei. Entscheidend war, daß der Offizier, den sie mit dem kaiserlichen Purpur bekleideten, ihre Vorrechte wahrte und ihnen neue Vorteile gewann. Die Stadt Rom war in Wirklichkeit zu relativer Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Dort, wo sich der jeweilige Kaiser bei den Truppen aufhielt, war der Brennpunkt der Macht. Auf den Landkarten der Herrscher wirkte das Römische Reich wie ein Mosaik, dessen Ränder brüchig geworden waren – nicht nur im 20
Norden am Rhein und im Nordwesten jenseits der Donau, in den Grenzländern, die gegen die wandernden Völker verteidigt werden mußten, sondern auch im Osten, im alten geschichtlichen Gebiet des Zweistromlandes. Aus dem Osten drohte den reichsten Provinzen Roms eine immer deutlicher wahrnehmbare Gefahr. Aus den Wandlungen, die das ehemalige Weltreich Alexanders des Großen erfahren hatte, war nach Zerstückelungen und Wiedervereinigungen der Gebiete durch verschiedenartige Machthaber ein neues, in sich geschlossenes, persisches Reich entstanden, dessen Herrscher, die Sassaniden, ein Ziel im Auge hatten: die Ausschaltung Roms aus ihrem Einflußgebiet. Die Gefahr, die dieses neue persische Königreich für Rom darstellte, war nicht nur durch die zeitgemäße Ausrüstung und vorzügliche Führung des Heeres begründet, das den Legionen bedenkliche Niederlagen zugefügt und sogar den Kaiser Valerian gefangengenommen hatte, sondern vor allem durch den planmäßigen Aufbau einer einheitlichen Staatsverwaltung, die dem Wiederaufblühen der persischen Macht Beständigkeit sicherte. Die Sassaniden waren die Nachkommen des Priesters Sassan. Das Bekenntnis Zarathustras wurde zum Staatsglauben erhoben und jede andere Götterverehrung verboten. Diese gewaltsame Vereinheitlichung im Geistigen und Geistlichen stieß auf keinen nennenswerten Widerstand der Bevölkerung und erleichterte die politischen Maßnahmen. Die persischen Staatslenker hatten von den Römern die sachgemäße Verwaltung und Kriegsführung gelernt. Das war durch ihre Erfolge bewiesen. Ihre Unduldsamkeit in Glaubensfragen, die ihre Machtentfaltung zu fördern schien, war etwas, das die römischen Kaiser von diesen gefährlichen Nachbarn lernen konnten.
Eine Vereinheitlichung der Glaubensbekenntnisse im Römischen Reich war offenbar nötig, wenn die Zügel der Verwaltung so straff gezogen 21
werden mußten, wie es die unruhigen Zeiten nötig machten. Männer mit verwirrten Gemütern waren keine verläßlichen Bürger. Es mußte dafür gesorgt werden, daß jene Kräfte, die sich gegen den althergebrachten römischen Staatsglauben richteten und die überlieferte Götterlehre des Volkes verneinten, unschädlich gemacht würden. Das waren vor allem die Angehörigen des christlichen Glaubens. In den Jahrhunderten, seit die ›Gute Botschaft‹ weiteren Kreisen zugänglich gemacht worden war und immer mehr Anhänger gefunden hatte, war es immer wieder zu Verfolgungen der Christen gekommen. Einzelne Gläubige hatten im grausamen Sinne des Wortes ›daran glauben‹ müssen. Aber das furchtbare Ende dieser Märtyrer hatte die Bekenner nicht abgeschreckt, sondern, im Gegenteil, zur Opferwilligkeit um des HERRN willen begeistert. Die Maßnahmen gegen die wachsenden christlichen Gemeinden in allen Teilen des Reiches waren je nach dem besseren Wissen und Gewissen oder der Laune der jeweiligen Kaiser strenger oder nachsichtiger, aber die Haltung der römischen Obrigkeiten – ob sie nun unerbittlich hart oder überlegen duldsam war – schien die Ausbreitung des neuen Glaubens nicht zu beeinflussen. Wenn die Zeiten friedlich und gedeihlich waren, rührte das Wort Gottes durch seinen herzerwärmenden Inhalt und gewann den Verkündern, die sich durch Wohltätigkeit und wahre Nächstenliebe beliebt machten, sogar den Schutz hochgestellter Persönlichkeiten. Wenn die Zeiten unsicher und bedrohlich waren, suchte eine immer größer werdende Anzahl von Menschen die Befriedigung, die ihnen das irdische Leben versagte, in der Zuversicht auf das Leben nach dem Tod. Der Glaube der Christen, der jedem Erlösung verhieß, gleichgültig ob reich oder arm, hoch oder niedrig, versöhnte nicht nur mit der Angst vor dem Tode, sondern bot auch durch die Einhaltung der Gebote eine Sicherung im Ablauf des Lebens: Wer glaubte und sich so verhielt, wie es geschrieben stand, verhielt sich im höchsten Sinne richtig. Er hatte nichts zu befürchten als seine eigene Unzulänglichkeit und die Sünde. Das innige Zusammenleben und freundliche Wirken der Christen unterschied sich von der Le22
bensführung aller Andersgläubigen, denen die Christen als Fremdkörper im Staate galten. Ihre Gebräuche, ihre andersgearteten Auffassungen von Gut und Böse machten sie verdächtig schon dadurch, daß sie anders geartet waren. Sie wurden als Störenfriede der Wirtschaft empfunden, da sie nicht geldgierig waren, als Spaßverderber, da sie sich von den landläufigen Vergnügungen und Festlichkeiten zurückhielten. Sie galten durch ihre friedliche Haltung und ihre Gleichgültigkeit gegen politische Entwicklungen als unrömisch – nicht nur in Rom selbst, sondern auch in den Provinzen, deren Bürger nach römischem Muster erzogen und ausgebildet worden waren. Wen die ›Gute Botschaft‹ nicht berührte, der lehnte sie ab und verdammte die Christen.
Die durchgreifendste Christenverfolgung fand unter Kaiser Decius statt, der die Reichseinheit durch die Vereinheitlichung des Glaubens an die altrömischen Götter sichern wollte und bald nach dem Erlaß grausamer Gesetze gegen die Christen im Kampf gegen die Goten die Schlacht und das Leben verlor. Schon zu Beginn der Verfolgung flohen zahlreiche Christenfamilien über den Limes und den Steinwall und fanden bei germanischen Stämmen jenseits der Donau und am Rhein gastliche Aufnahme. Diese unbekannten, unbenannten Flüchtlinge wurden wohl die ersten christlichen Missionare in germanischen Landen. Vermutlich neigten auch aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Markomannen, Quaden oder Goten dem guten Glauben zu, dem besonders die minderberechtigten Schichten der römischen Gesellschaft anhingen. In den Grenzgebieten am Rhein und an der oberen Donau, in denen vorsichtige Befehlshaber den Frieden erhalten wollten, wurde jedenfalls, nachdem die Welle der Christenverfolgung des Kaisers Decius abgeebbt war, von der gewaltsamen Unterdrückung des christlichen Glaubens Abstand genommen – auch unter dem von Kaiser Diokletian zum Caesar erhobenen Konstantius Chlorus, sogar nachdem Diokletian eine Christenverfolgung angeordnet hatte. 23
II Schon die ersten Maßnahmen Diokletians, der gleich nach seiner Ausrufung zum Imperator vorsichtig dafür sorgte, daß die Soldaten nicht den üblichen Grund und Anlaß zu seiner Ermordung hätten, bewiesen den durchgreifenden Wirklichkeitssinn des letzten großen Soldatenkaisers. Seine Vorgänger hatten vergessen oder vergessen wollen, daß sie den kaiserlichen Purpur den anderen Generälen verdankten und nur durch ihre Duldung behalten konnten. Wer Kaiser werden und auch am Leben bleiben wollte, mußte sich der Anhänglichkeit der bedeutendsten Befehlshaber der Legionen vergewissern. Diokletian erhob Maximian, den einflußreichsten General des Heeres, zu seinem Partner, gewährte auch ihm den Titel ›Augustus‹ und ernannte die beiden nächstwichtigen Generäle Galerius und Konstantius Chlorus vorweg zu gesetzlichen Nachfolgern mit dem vorläufigen Titel Caesar. Er gab auch der Erkenntnis Ausdruck, daß das Römische Reich nicht mehr das Reich Roms war. Dort, wo die wichtigsten Heerlager zur Verteidigung des Reichs liegen mußten, sollten die Hauptstädte der unter die vier Männer geteilten Verwaltung eingerichtet werden (nur die Verwaltung wurde geteilt, nicht das Reich!). Zu Mittelpunkten im Westen wurden Mediolanum, das heutige Mailand, der Hauptsitz Maximians, und Augusta Trevirorum, Trier, in dem Konstantius sein Heerlager unterhielt. Im Osten, in der kleinasiatischen Küstenstadt Nicodemia, war der Hof Diokletians, während sein Stellvertreter Galerius sein Hauptquartier in Sirmium an der Save einrichtete. Trotz dieser Teilung in Machtbereiche behauptete Diokletian die Einheit der Gesetzgebung und der Münzprägung und bestand darauf, daß die Kaiserverehrung nicht litt. Um niemanden vergessen zu lassen, daß er selbst auf die oberste Gewalt nicht verzichtet hatte, beanspruchte er den Titel ›Dominus‹ – der Herr – für sich allein und ahmte die königlichen Herren des benachbarten Perserreiches in seiner Tracht und der feierlichen Förmlichkeit seiner Hofhaltung nach. 24
Er führte auch eine bis ins kleinste durchdachte Neuordnung der Verwaltung durch, um eine Vereinheitlichung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zu erreichen. Ob und wie weit Diokletian bei seiner Einrichtung eines einheitlichen Zwangsstaates durch die erfolgreichen Maßnahmen der Sassaniden beeinflußt worden ist, kann nicht eindeutig festgestellt werden, da vergleichende Forschungen fehlen. Die Annahme liegt jedoch nahe, um so mehr, als seine außenpolitische Aufmerksamkeit in erster Linie auf den Osten, auf das mächtige Perserreich, gerichtet war. Er siedelte Tausende gefangener Germanen als freie, aber nicht freizügige Bauern an, schuf Berufsgenossenschaften, die die einzelnen Handwerker und Gewerbetreibenden in der Ausübung ihrer Tätigkeit beschränkten und zur Dienstleistung auf ihrem jeweiligen Fachgebiet zwangen. Er setzte Preisgrenzen und Höchstpreise für Waren und Leistungen fest, um ein entsprechendes Verhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen der Bevölkerung zu schaffen und den Steuereingang zu sichern. Die militärischen Erfolge seines Caesar Galerius im Kampf gegen das persische Königreich erfochten Diokletian die Oberhoheit über Armenien und ermöglichten die Sicherung der östlichen Verteidigungslinie des Reiches, die nach ihm ›strata Diocletiana‹ genannt wurde. Sein Partner Maximian festigte den Limes, sein Caesar Konstantius unterdrückte die Aufstände in Britannien. Das Römische Reich, das vor der Herrschaft Diokletians von allen Seiten gefährdet gewesen war, wurde wieder zu einer geschlossenen Gesamtheit. Die Legionen des stehenden Heeres lagen schlagkräftig zur Abwehr jedes Überfalls unruhiger Nachbarn bereit. In den Hauptstädten entstanden prächtige Paläste und Verwaltungsgebäude, und selbst die Bürger des scheinbar vergessenen Rom wurden mit dem Bau ungeheurer Badeanlagen bedacht. Trotz dieser Erfolge der diokletianischen Herrschaft machte sich eine immer stärker zunehmende Unruhe in der Bevölkerung breit. Dem vom Kaiser verordneten Wohlergehen fehlte der geistige Atem. Die Verfügungen des Dominus waren wohl, in Stein gemeißelt, allerorts 25
sichtbar, aber sie wurden nur befolgt, wenn die von Diokletian eingesetzten Aufseher es überwachten. Die Preisgrenzen und Höchstpreise verscheuchten die Waren von den öffentlichen Märkten. Der ›schwarze Handel‹ wurde so allgemein, daß das Gesetz des Kaisers vom Volke immer lauter verspottet wurde. Wer und was war an diesem kläglichen Versagen inmitten des großen Gelingens schuld? Die Antwort auf diese Frage des Dominus wurde vielstimmig gegeben. Sie lautete: Die Christen. Ihr Glaube galt als staatsfeindlich. Die Tatsache allein, daß seine Ausübung geduldet wurde, hinderte die notwendige Einführung eines einheitlichen, einzigen Glaubens für das Römische Reich. Diokletian ordnete die Verfolgung der Christen an. III Die Maßnahmen der diokletianischen Christenverfolgung waren rücksichtslos oder sanft, je nach der Auffassung und Einstellung der örtlichen Statthalter, die sie zur Ausführung brachten. Der einzige hohe Machthaber, der sich aller Verfolgungen in seinen Herrschaftsgebieten enthielt, war Caesar Konstantius, der kaiserliche Verteidiger der römischen Grenzen gegen die germanischen Völker. Bei dieser Duldung blieb es dort auch nach dem freiwilligen Rücktritt Diokletians und nach dem Tode Konstantius', dessen Sohn Konstantin von den Legionen des Westens zum Kaiser ausgerufen wurde. In seinem Herrschaftsgebiet wurde dem Gesetz, das die Verfolgung der Christen angeordnet hatte, keine Folge geleistet. Aus den mannigfaltigen Schlachten, die von den Nachfolgern Diokletians im Kampf um die Macht im römischen Kaiserreich geschlagen wurden, ging Konstantin siegreich hervor. Vor allem, weil er sich germanischer Truppen bediente, die ihm auf seinem berühmten Heereszug gegen Rom erst willig folgten, weil er ihren Glauben duldete, und dann begeistert, als er sie im Zeichen des Kreuzes zum Siege führte. 26
Die große Stunde der Weltgeschichte, in der dem vor den Toren Roms lagernden Konstantin das Kreuzeszeichen erschien und ihn vor der Entscheidungsschlacht zum Streiter Gottes machte, kann wohl als Trennungslinie zwischen Altertum und Mittelalter aufgefaßt werden. Die erstaunliche Laufbahn des ursprünglichen Sonnenanbeters, der die Taufe erst auf seinem Sterbebett empfing, vollzog sich an der Grenzscheide zwischen den Zeiten. In der Geschichtsschreibung wurde vor allem seine Duldung des christlichen Glaubens und dann sein Wirken während des Konzils zu Nicaea gerühmt, in dem er durch seinen kaiserlichen Machtspruch die verschiedenen christlichen Sondergemeinschaften vereinheitlichte und das katholische Glaubensbekenntnis ermöglichte. Diese politische Maßnahme vervollständigte Konstantin dadurch, daß er das Christentum zum Staatsglauben machte und die Ausübung aller anderen Bekenntnisse untersagte. Dadurch gelang ihm, wenn auch im umgekehrten Sinn, die von Diokletian beabsichtigte große Verwaltungstat. Bei seiner Glaubensvereinheitlichung nämlich hatte Konstantin dem Umstande Rechnung getragen, daß die bedeutendsten Pfeiler seiner Macht, die germanischen Legionäre, für das Christentum begeistert waren oder begeistert werden konnten. Er kam auch den andersgläubigen Soldaten durch solche Ergänzungen und Erweiterungen der christlichen Glaubensäußerungen, die von den Christen als noch tragbar empfunden wurden, entgegen. So gab er den Sonnenanbetern den Ruhetag, der auch in der Heiligen Schrift vorgesehen war, als feierlichen Sonntag. Er erlaubte manche Auslegung der jeweiligen Bekenntnisse so, daß eine etwaige Vermischung der Gottesverehrung das Empfinden der Gläubigen nicht verletzte. Jedes Festhalten an starrsinnigen Abweichungen von dem einen vereinheitlichenden Glauben, den er im Römischen Reich einzuführen wünschte, empfand er als ungefällige, unliebsame Haarspalterei, die er mit seinem kaiserlichen Unwillen bestrafte. Da war vor allem der Arianismus, die von dem bedeutenden Priester Arius verkündete Lehre, die nicht die volle, vollkommene Gottheit Jesu Christi anerkennen wollte. Der große Streit war durch die Auslegung eines Wortes hervor27
gerufen worden. Es drehte sich um den Buchstaben ›i‹, um die Frage: homousios – oder homoiusios – gleich oder ähnlich. Der grundsätzliche Gegensatz, der die christliche Welt in zwei Lager spaltete, wurde von den bedeutendsten Gegenspielern im Konzil von Nicaea klar und deutlich erörtert. Der Bischof von Alexandria erklärte: »Gott war immer, der Sohn war immer. Der Vater ist dagewesen zur gleichen Zeit wie der Sohn. Weder durch einen Gedanken noch durch einen einzigen Augenblick ist Gott dem Sohn vorangegangen. Gott war immer, der Sohn war immer. Der Sohn ist Gott selbst.« Arius erklärte: »Wir können es nicht ertragen, solche Ruchlosigkeiten anzuhören, selbst wenn uns die Ketzer mit tausend Toden bedrohen. Was wir sagen und glauben, was wir gelehrt haben und lehren, ist, daß der Sohn zur Welt kam durch Gottes Willen und Rat und daß er nicht existiert hat, bevor er gezeugt, geschaffen, gedacht und für die Existenz bestimmt war. Wir werden verfolgt, weil wir sagen, der Sohn hat einen Beginn und Gott hat keinen Beginn.« Die Entscheidung, welche dieser gegensätzlichen Auffassungen im Römischen Reich Geltung haben sollte, lag bei Konstantin. Da ihn der Glaubensinhalt in seinem Wesen nicht berührte, entschied er mit der Mehrheit der anwesenden christlichen Bischöfe gegen Arius, obwohl ihn die Persönlichkeit des begeisterten Eiferers ansprach. Aber persönliche Zuneigungen oder Abneigungen konnten den gefühlsarmen Konstantin, den willensstarken Alleinherrscher, der sich in achtzehnjähriger, unaufhörlicher Tätigkeit aller Nebenbuhler um die Macht durch Waffen und durch Tücke, durch Geschicklichkeit und mit Gewalt entledigt hatte, nicht beeinflussen. Er hatte sein Leben und seine Kräfte für die Vereinheitlichung der Herrschaft, der Verwaltung und des Glaubens eingesetzt. Das entschied. Nichts und niemand konnte Konstantin davon abbringen, daß er, der allmächtige Dominus, mit dem Diadem geschmückt und dem Purpur bekleidet, als unbestrittener, alleiniger, allmächtiger Herr über alles erhaben war. Er war der Beherrscher Roms in allen Belangen. Aber was war Rom? Die Hauptstadt der Vergangenheit. Er, der die Schwelle der neuen Zeit überschritt, wollte die Hauptstadt 28
der Zukunft schaffen, als bleibendes Denkmal und Sinnbild seines begnadeten Daseins. Konstantin hatte durch seine überlegene, freundliche Haltung den germanischen Völkern gegenüber, die seine friedlichen Nachbarn geworden waren, den Westen des Reiches gesichert. Die einflußreichsten Angehörigen seiner Verwaltung, die wichtigsten Befehlshaber seiner Legionen waren seine germanischen Freunde: Männer aus Britannien und vom Rhein, Alamannen und Franken. Auf sie und ihre engeren Landsleute stützte er seine militärische Überlegenheit. Sie befehligten das bewegliche Feldheer, das er schuf, und die ansässigen Grenztruppen. Aus ihren Reihen füllte er seine Leibwache auf, die ursprünglich aus ihm stammesverwandten Illyriern zusammengesetzt war. Auch die von ihm ernannten beiden ›Heermeister‹, seine militärischen Stellvertreter, waren zumeist Germanen. Der Westen war dadurch gefestigt. Dem Osten wollte Konstantin seine ungeheure, noch nie dagewesene Macht kundtun, als er die neue christliche Hauptstadt des Römischen Reiches gründete, die nach ihm Konstantinopel genannt wurde. Auf dem Boden der alten Stadt Byzanz, an der geschichtlich so bedeutsamen Wasserscheide des Bosporus, legte Konstantin den Grundstein zur künftigen Weltstadt. Die graue Festung, deren örtliche Bedeutung sich im Laufe des geschichtlichen Geschehens eines Jahrtausends gezeigt hatte, wurde in wenigen Jahren der prunkvolle Wohnsitz des kaiserlichen Hofstaates, der eine bis dahin noch nie dagewesene Pracht entfaltete. Kunstschätze aus allen Ecken und Enden des Reiches wurden nach Konstantinopel geschafft. Die Tempel und Heiligtümer der alten griechischen und römischen Götter wurden ihrer köstlichen Denkmäler und Zierate beraubt, um die Kirchen und Paläste zu schmücken, die vor den Augen des Dominus glanzvoll entstanden. Alles, was der Erdkreis an Schönem bot, sollte zum Ruhm und zur Freude Konstantins in seiner Stadt würdig vertreten sein. Und Konstantinopel sollte, so befahl es der Kaiser, der Mittelpunkt der Christenheit werden. Für kurze Zeit schien es auch so, obwohl der Bischof von Rom als 29
oberstes Haupt der westlichen Christenheit galt und der Bischof von Alexandria, der einflußreichste Gegner des widerspenstigen Arius, die geistige Führung der Geistlichkeit innehatte und den ehrenden Titel ›papa‹ führte, der später nur den Stellvertretern Christi, den anerkannten Päpsten als den Nachfolgern des heiligen Petrus, zuerkannt wurde. Unter seinem von Edelsteinen und Gold strotzenden kaiserlichen Baldachin thronend, versuchte Konstantin die Streitfragen, die die Christenheit in unversöhnliche Lager spalteten, durch die Androhung von Gewalt und durch Zuspruch zu klären. Er hatte Arius verbannt, aber dann doch nach Konstantinopel berufen. Er wollte sich um so weniger endgültig gegen Arius entscheiden, als ein großer Teil der Germanenstämme, mit denen er selbst Freundschaft und Frieden hielt, dem Bekenntnis des Arius mehr zuneigte als dem von ihm gutgeheißenen Bekenntnis der Bischöfe im Konzil von Nicaea. An diesem Zwiespalt, der durch die Bibelübersetzung des Arianers Ulfilas (Wulfila) ins Gotische noch verschärft wurde, scheiterte die Bemühung Konstantins, den christlichen Glauben als gemeinsames, friedenerhaltendes Band zwischen den Bewohnern des Römischen Reiches und seinen germanischen Nachbarn zu verwenden. Er persönlich setzte sich darüber hinweg, denn solange er lebte und als höheres Wesen galt, dessen Macht sich nicht nur auf das Weltliche, sondern auch auf das Geistliche ausdehnte, war er, der Dominus, die Verkörperung der ›pax Romana‹. In ihm verkörperte sich der gültige Begriff des ›Kaisers‹, der so hoch über allen Menschen stand, daß er nur in der Nähe Gottes denkbar war. Auf seinem Aufstieg zu dieser schier unantastbaren Höhe, die, wenn auch in gewaltigem Ausmaß vergrößert, der Stellung der altertümlichen Priesterfürsten entsprach, hatte Konstantin sich gegen so viele menschliche Grundsätze vergangen – er hatte unter anderem seine Frau und seinen ältesten Sohn Krispus ermorden lassen –, daß ihm in der westlichen Welt nicht die Anerkennung eines Heiligen zuteil wurde. Während er in der Christenheit des Ostens, die sich später als Folge der Glaubensspaltung von der römischkatholischen Kirche abson30
derte, als Heiliger verehrt wurde, nannte man ihn im Westen nur den ›Großen‹. IV Der Unfriede, der dem Tode Konstantins folgte, begann in seiner eigenen Familie. Er hatte sich als Ahnherr eines Herrschergeschlechtes gebärdet, das unter sich den Erdkreis so teilen sollte, wie er es in seinem letzten Willen verfügt hatte: seine drei Söhne sollten Augusti sein, seine beiden Neffen Caesaren. Kaum hatte er das Zeitliche gesegnet, als sich seine Söhne vorerst der beiden Caesaren entledigten und dann miteinander Krieg führten. Jeder von ihnen wollte den anderen aus dem Feld schlagen, um wie der Vater Alleinherrscher zu werden. Dieser in offene Kämpfe ausartende Bruderzwist regte nicht nur den persischen König zum Angriff gegen die Ostgrenze des Römischen Reiches an, sondern auch die Franken, die sich die Uneinigkeit der Machthaber zunutze machten. Konstans besiegte seinen Bruder Konstantin II. der in der Schlacht bei Aquileia erschlagen wurde. Er selbst fiel aber einem Aufstand des Franken Magnentius zum Opfer. Der einzige überlebende Erbe Konstantins, Konstantius II. hatte nun sein Ziel erreicht. Er war Alleinherrscher, aber keineswegs über das einheitliche, friedliche Römische Reich, das seinem Vater vorgeschwebt hatte. Die wenigen Jahre, die Konstantin nach dem Konzil von Nicaea geblieben waren, um die heidnischen Gedanken und Vorstellungen durch die christliche Lehre zu ersetzen, hatten nicht hingereicht. Die alten Götter lebten noch in der Einbildungskraft derjenigen Bürger des Römischen Reiches, die sich nicht aus Überzeugung zum Christentum bekehrt hatten. Zu diesem Wiederaufleben des aus seinen Tempeln vertriebenen Götterglaubens trug auch der Kirchenstreit bei, der wieder heftig ausgebrochen war. Der Bischof Athanasius von Alexandria befehdete den Bischof von Konstantinopel, der der arianischen 31
Auslegung zuneigte, so daß die Christen im Osten nicht mehr nur schlechtweg Christen, sondern entweder Athanasier oder Arianer genannt wurden. Konstantius II. war den Arianern geneigt, aber er strahlte nicht das Ansehen seines Vaters aus, das selbst die christlichen Bischöfe beeindruckt hatte. Es nützte nichts, daß Konstantius den Bischof von Rom, Liberius, verbannte, weil er sich für Athanasius ausgesprochen hatte. Die Kirchenversammlung von Sardica, die einberufen wurde, um die Gegensätze von Westen und Osten auszugleichen, erkannte dem Bischof von Rom höchstrichterliche Befugnisse zu. Der Bischofssitz des heiligen Petrus war der Felsen, auf dem die Kirche aufgebaut war. Rom blieb, wenn auch nicht mehr der Brennpunkt der politischen, Mittelpunkt der geistlichen Macht. Noch hatte die Teilung in den Osten und Westen des Römischen Reiches keine endgültige Form angenommen, aber die tatsächliche Teilung, die Diokletian um der besseren Verwaltung willen als innere Maßnahme vorgenommen hatte, erwies sich unter Konstantins II. als militärische Notwendigkeit. Er war gezwungen, den Osten des Reiches gegen die persischen Angriffe persönlich zu decken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Vetter Julian mit der Abwehr des Franken- und Alamannen-Sturmes am Rhein zu betrauen, der neuerdings ausgebrochen war. Während die Bischöfe der christlichen Welt miteinander haderten, bereitete Julian seinen eigenen Abfall von der Kirche und die Wiedereinsetzung der Götter vor – nicht als abergläubische Sinnbilder, sondern im Rahmen philosophischer Auslegung. Siegreich in seinen Feldzügen gegen die Alamannen und Franken, verlegte Julian seinen Wohnsitz in ein altes römisches Feldlager an der Seine und begann den Ausbau der späteren Stadt Paris. Dort wurde er von den gallischen Legionen nach alter Art zum Kaiser ausgerufen und nach dem Tode Konstantius II. der den Mühen des persischen Feldzuges nicht gewachsen war, der letzte heidnische Kaiser der christlichen Zeit. Julian wurde in der Geschichtsschreibung ›Apostata‹, der Abtrünnige, genannt. Der Ruhm, den er sich auch durch seine Kämpfe gegen Persien erwarb, 32
wurde durch seine Maßnahmen gegen das Christentum verdunkelt. In seinem Bedürfnis, allen Glauben zur Philosophie umzugestalten, war er dafür, daß sich die einzelnen Glaubensgemeinschaften verständigten, um zu einer Klärung der Gegensätze zu kommen. Er gab nicht nur den christlichen Genleinden das Recht, sich zu den Fragen des Glaubens zu äußern, sondern auch den Juden, aus deren Glauben das Christentum hervorgegangen war. Das kurze Zwischenspiel der Herrschaft Julians wurde in Rom wie ein einziger Festtag gefeiert. Die uralten Senatorenfamilien waren zwar zum größten Teil ausgestorben, aber in ihren Palästen und Gärten hatten die Neureichen, Vornehmen während der Kaiserzeit das prunkvolle Leben ihrer Vorgänger so fortgeführt, als wäre es eine geheiligte Überlieferung. Rom war weder der Sitz der militärischen noch der politischen Macht, aber Mittelpunkt des Wirtschaftslebens des Reiches geblieben. Seine Kaufleute sorgten dafür, daß sich der Reichtum nicht nur ungeschmälert erhielt, sondern vergrößerte. Die unermeßlich reichen Müßiggänger der obersten Klassen, deren Besitz durch Angestellte verwaltet wurde, sorgten dafür, daß die Bevölkerung die von ihr geliebten Gladiatorenkämpfe, Zirkus- und Theatervorstellungen, unbekümmert um die politischen und militärischen Wirren im Reich, genießen konnte. Sie zahlten für alles aus ihrer eigenen Tasche, nur um die jubelnde Begrüßung der Menge zu empfangen. Musik war die große Mode. Der Geschichtsschreiber Ammian berichtet, daß riesige, durch Wasserdruck betriebene Orgeln und Leiern, die so groß wie Rennwagen waren, verwendet wurden, um musikalische Darbietungen im weitesten Raume hörbar zu machen. Er klagt darüber, daß die Philosophen verdrängt und die Bibliotheken in Grabstätten verwandelt worden seien. Der reiche Symmachus hingegen erklärte, es gäbe so viele Schulen, daß jedem Lernbegierigen die Möglichkeit offenstehe, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Es gab tatsächlich Lehrstühle für Grammatik, Rhetorik, Naturwissenschaft und Philosophie. Wer die Befriedigung seines Ehrgeizes nicht in der militärischen 33
Laufbahn oder in der Verwaltung suchte, kam nach Rom, um Lebensart, die Kunst des Geschäftemachens und die Künste um der Kunst willen zu erlernen. Eine ähnliche, wenn auch längst nicht so große Anziehungskraft übten die provinziellen Hauptstädte aus, die vorübergehend kaiserliche Wohnsitze waren. Dort aber waren die Schüler zumeist Abkömmlinge germanischer Stämme aus den Grenzgebieten, junge Männer, die entweder die Absicht hatten, im Römischen Reich zu bleiben, oder das, was sie erlernt hatten, in ihrer Heimat zu verwerten. In vielen römischen Lagerstätten überwog bald die germanische Bevölkerung und machte sich so mit der römischen Art zu leben vertraut, daß sie sich nur noch durch körperliche Merkmale von den ursprünglichen Bewohnern dieser Städte unterschied. Das Römische Reich war wie ein Schwamm, der immer mehr Menschen aufsog, wobei sich seine Wesensart durch den Zustrom veränderte. Bei diesem Vorgang grenzten sich die beiden herrschenden Weltanschauungen voneinander ab und lebten in nachbarlicher Nähe feindlich nebeneinander: die Christen, die das bessere Leben im Leben nach dem Tode erwarteten, und die Heiden, die das bessere Leben schon auf Erden zu verwirklichen suchten. Jenseits der Grenzen aber, in den germanischen Wäldern, die kaum von den Streifscharen der römischen Legionen berührt wurden, hausten die Angehörigen der verschiedenen Stämme unverändert, ihren alten Gebräuchen gemäß. Sie hielten an ihren Lebensformen und Glaubensvorstellungen fest, obwohl sie wußten, daß sich viele ihrer Stammesverwandten der großen Wandlung der neuen Zeit unterworfen hatten. Die Verständigung unter diesen Germanenstämmen war karg, aber sie bestand doch. Die Nachricht von bedeutsamen kriegerischen Ereignissen und politischen Veränderungen wurde nicht durch berufliche Berichterstatter von Ort zu Ort, von Stamm zu Stamm weitergegeben, sondern durch fahrende Sänger, die sich das Dach für die Nacht und ihren Lebensunterhalt dadurch verdienten, daß sie in gebundener Rede erzählten, was sich anderen Ortes begeben hatte. 34
Ihre Gesänge waren die wandernde Zeitung der Zeit und erhielten sich, obwohl sie nicht aufgeschrieben wurden, im Gedächtnis der Hörer, die sie der Nachwelt vermittelten. Sie hatten keinen urkundlichen Wert. Ihr Inhalt war oft dichterische Übertreibung und Ausmalung kleiner Begebenheiten, um großen Eindruck zu machen. Aber im Wesen waren es Berichte, die, wenn auch nicht der Geschichtsschreibung, so doch der Dichtung zugrunde gelegt werden konnten. Zu Beginn seines vielbändigen Werkes ›Die Ahnen‹, das die ganze Geschichte des deutschen Volkes umspannt, schildert Gustav Freytag den ersten geschichtlich erfaßbaren Abschnitt der Entwicklung eines germanischen Stammes vor seiner Bekehrung zum Christentum. Der Titelheld des ersten Buches heißt Ingo.
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Ingo
von Gustav Freytag
1. Im Jahre 357 An dem Grenzverhau, der die Wälder der Thüringe von den Chatten schied, lehnte ein junger Wächter und hütete den steilen Pfad, der zur Berghöhe führte. Hin und wieder blickte er auf die im Tale gelegenen Blockhäuser und Gehege für das Herdenvieh hinab. Plötzlich beugte er sich vor und lauschte. Er hörte das Knacken von Zweigen. Die Gestalt eines Mannes wurde sichtbar. Der Wächter rückte den Riemen seines Horns zurecht und faßte nach dem Speer. Der Fremde kam mit schnellen Schritten näher. Als er aus dem Gehölz an den freien Grenzrand trat, rief der Wächter ihn an: »Steh, Waldgänger, und sag den Spruch, der dich von meinem Eisen löst!« Der Fremde streckte die geöffnete Rechte aus: »Ich grüße dich friedlich. Ich kenne die Losung nicht.« »Wenn du ein Landfremder bist, so mußt du warten, bis dir meine Genossen das Land öffnen. Unterdessen gib mir Frieden und nimm Frieden von mir!« Die Männer musterten einander mit wachen Blicken. Ohne sich aus den Augen zu lassen, stellten sie ihre Speere an die Grenzpfähle und reichten einander die Hände. Mit ehrlicher Bewunderung blickte der Wächter auf den kräftigen Arm des Fremden. Dann hob er sein Horn an den Mund und blies ein lautes Signal. Die wilden Klänge tönten im Widerhall von den Bergen. Der Wächter sah, daß um die Blockhäuser im Dorfe Bewegung entstand. »Sie werden bald hier sein«, sagte er lächelnd und ließ sich neben dem Fremden im Heidekraut nieder.
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Der Fremde war nur wenige Jahre älter als der Grenzwächter. Sein gebräuntes Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet, seine Hände zitterten. »Bist du auf der Flucht?« Der Fremde antwortete nicht. Der Wächter griff hinter einen Baum, holte eine Tasche aus Dachsfell hervor und bot Schwarzbrot und Fleisch an. Der Fremde sah ihn dankbar an, zögerte aber zuzugreifen. Da hielt ihm der Wächter ein kleines Horn entgegen, öffnete den Holzdeckel und sagte freundlich: »Nimm auch das Salz! Hier unter dem Baum ist mein Heim, hier bin ich der Wirt.« Erst jetzt war der Fremde bereit zu essen. Er schien sehr hungrig zu sein, aber er bediente sich langsam und sorgfältig, als säße er an der gedeckten Tafel eines Herrenhauses. Endlich begann er zu sprechen: »Ich weiß nicht, wo ich bin und wer der Herr dieses Tales ist.« »In den Tälern, so weit du sehen kannst, und weiter in die Ebene hinab gehört das Land dem Fürsten Answald«, erwiderte der Wächter. »Ihm diene ich.« »In der Fremde habe ich gehört, daß ein großer König über das Volk der Thüringe herrscht. Sie nannten ihn König Bisino.« »Das ist richtig«, bestätigte der Wächter, »aber unser Waldland ist frei und gehorcht seinem eigenen Herrengeschlecht seit alter Zeit. Der große König Bisino ist damit zufrieden, daß wir ihm die Grenzen hüten und jedes Jahr unsere schönsten Pferde an seinen Hof senden. Wir Waldleute kümmern uns wenig um den König, und unser Herr Answald geht nur selten zu Hof in die Königsburg.« »Du bist noch jung«, sagte der Fremde, »dein Herr schenkt dir großes Vertrauen, daß er dir die Sorge um die Landesmark überläßt.« »Es stehen noch mehr Männer an der Grenze. Wir fürchten zwar keinen Einbruch von Feinden durch den Bergwald, denn es ist nicht leicht, über die Felsen und den Waldbach in das Gehege einzudringen. Aber es gibt ein Gerücht, daß vor kurzer Zeit ein Krieg an der Römergrenze begonnen hat, zwischen den Alemannen und dem Kaiser, den sie Julianus nennen. Seitdem wahren wir die Landesmark.« 38
Der Wächter hätte gern noch mehr erzählt, aber ein Reiter trabte den Bergweg herauf, schwang sich vom Pferd und begrüßte ihn. Der Wächter übergab ihm sein Horn, warf sich die Ledertasche über die Schulter und bot das Pferd dem Fremden an. Er erklärte: »Ich gehe zu Fuß neben dir und führe dich ins Tal. Allein findest du dich nicht zurecht.« »Ich folge lieber deinem Schritt«, gab der Fremde zurück und grüßte den neuen Wächter, der ihn neugierig betrachtete. Hinter seinem Führer schritt er dem Tale zu. Der schmale Pfad führte steil abwärts, dem gewundenen Lauf des Baches entlang, über Wurzeln, die wie riesige Schlangen über dem Weg lagen. Dort, wo das Geröll unter ihnen vom Wasser fortgespült war, wanden sie sich in hohem Bogen. Am Rande des Baches hemmten Treibholz und Binsen den Schritt. Das Messer des Wächters bahnte einen Weg durch das Gewirr der Reiser. Mit leichtem Schritt eilte der Jüngling talab, sprang in weitem Schwung von Stein zu Stein, von Baum zu Baum. Gehorsam wie ein Hund folgte ihm das Pferd. Zufrieden maß er mit den Augen einen Sprung, den der Fremde über den Gießbach getan hatte. »An deiner Spur sehe ich, daß du einer von unserem Volke bist«, stellte der Wächter fest. »Denn die Spitze deines Fußes strebt auswärts. Zuerst habe ich dich für einen fremdländischen Mann gehalten. – Hast du schon einmal Römerspuren gesehen?« »Sie schreiten mit kleinem Fuß und kurzem Schritt auf ganzer Sohle wie müde Leute.« »So sagen auch unsere Männer, die im Westen waren. Ich habe bisher nur waffenlose Händler des schwarzhaarigen Volkes gesehen.« »Möge das Schicksal den Fuß der Römer von eurem Boden fernhalten«, erwiderte der Fremde. »Du redest wie unsere Alten. Wir Jungen aber denken, wenn die Römer nicht zu uns kommen, so kommen wir wohl einmal zu ihnen. Ihr Land soll wundervoll sein. Sie bauen ihre Häuser aus bunten Steinen, und das ganze Jahr über haben sie Sonnenschein. Sogar im Winter soll die Erde grün sein, und sie haben mehr süßen Wein als wir Dünnbier. Sie haben Sessel und Bänke aus purem Silber, und die Mädchen tanzen 39
in seidenen Gewändern und Goldschmuck. Der Krieger aber ist Herr dieser ganzen Pracht.« Sie hielten nahe der Lichtung auf einer Höhe an. »Wer sind die Mädchen dort in den hellen Gewändern?« fragte der Fremde. »Die Mägde vom Herrenhof«, erwiderte der Wächter. »Siehst du die alten Hütten? Dort wohnt der Rinderhirt. Die Mädchen kommen und holen die Milch zum Herrenhof.« Sie betraten die Lichtung. Der Wächter entfernte die Stangen, die den Eingang zum Rinderpferch verlegten. »Siehst du das Mädchen dort?« rief der Wächter. »Das ist unser Herrenkind Irmgard.« Das Mädchen stand bei dem Karren, der mit zwei Stieren bespannt und auf dem festgeschlagene Butter in Fässern aufgeladen war. Frei umsäumten goldene Locken das junge Gesicht und wallten bis an die Hüften. Ein silberbeschlagener Gürtel hielt ihr weißes Leinengewand zusammen. Darüber trug sie ein besticktes Oberkleid aus feiner Wolle. Sie sah aus großen Augen zu dem Fremden hinüber und erwiderte seinen ehrerbietigen Gruß mit leisem Kopfnicken. Der Wächter trat an Irmgard heran: »Der Fremde sucht eine Ecke an unserer Bank und eine Herdstelle für sein wegemüdes Haupt. Ich geleite ihn zum Hofe, damit der Herr über sein Schicksal entscheide.« »Wir geben dem Wanderer Rast, den die Götter uns senden«, erwiderte Irmgard. »Wer er auch sei, ob gut oder böse, wer immer bittend sich unserem Herde naht, hat drei Tage Rast. Erst dann fragt der Vater, ob er ein gerechter Mann ist und unseres Daches nicht unwert.« »Er sieht aus wie einer, der sich ehrlich hält gegen Freund und Feind«, gab der Wächter zurück. »Wenn er sich so bewährt, wie du sagst, so freuen wir uns über seine Ankunft.« Sie reichte ihm einen Krug mit Milch. Der Fremde trank, und als er den Krug dankend zurückgab, sagte er: »Segen über deine milde Hand!« 40
Langsam ging die Sonne unter, und die Bäume warfen lange Schatten auf den Weg, als der Wächter und der Fremde den Talgrund erreichten. Vor ihnen lag das Dorf im Abendlicht, von einem Graben umschlossen. Durch die Lücke der Bäume lugten spitze Dächer, aus denen Rauchwölkchen aufstiegen. Seitwärts vom Dorf erhob sich auf einer Anhöhe der von Pfahlwerk und Graben umgebene Herrenhof. Über die zahlreichen Häuser und Ställe, die zu dem fürstlichen Anwesen gehörten, ragte das Dach des Festsaals mit seinen reich geschnitzten, mit Hörnern verzierten Giebeln. Auf einer Wiese übten sich Knaben im Kampfspiel. Sie hatten ein hohes Gerüst aufgestellt, schwangen sich der Reihe nach hinauf und purzelten auf der anderen Seite jauchzend ins Gras. Als die beiden Männer nahten, stoben die Turnenden auseinander und starrten von weitem trotzig auf den Fremden. Der Wächter rief einen der Knaben zu sich und sprach leise auf ihn ein. Der Knabe eilte geschäftig dem Herrenhof zu. Im Staub der Dorfstraße tanzten die kleineren Kinder Ringel reihen, die Buben nackt bis auf eine Wolljacke, die kleinen Mädchen im weißen Hemd. Sie stapften barfuß umher und sangen dazu. Als der Wächter mit seinem Begleiter näher kam, blickten Frauen aus den Fenstern der Dorfhäuser. Männer traten an die Türen und musterten argwöhnisch das Aussehen des Ankömmlings. Der Wächter ermahnte den Fremden, freundlich hierhin und dorthin zu schauen und die Hausbewohner zu grüßen.
Unterdessen war der Knabe im Herrenhof angelangt. Fürst Answald, ein großer, breitschultriger Mann mit ehrlichen Augen und dichtem, grauem Haar, saß im schattigen Vorbau seines Hauses. Er trug eine mit Biberfell besetzte Hausjacke, seine Lederstrümpfe waren mit bunten Riemen geschnürt. Er war gekleidet wie alle anderen Männer, nur 41
seine würdige Haltung kennzeichnete ihn als Herrn des Hofes. Zufrieden betrachtete er zwei wohlgenährte Stiere, die ein Knecht ihm vorführte. Es waren die auserwählten Opfertiere für ein bevorstehendes Festmahl. Der Knabe drängte sich an den alten Mann zur Linken des Fürsten heran und bestellte leise eine Botschaft. »Der Wächter Wolf hat einen Fremden ins Dorf gebracht«, wiederholte der Alte laut. »Er ist ohne Geleit gekommen und ohne Pferd. Er bittet um Gastrecht.« »Bereitet ihm den Empfang in der Halle!« befahl Answald gleichmütig und gab seinen Männern ein Zeichen, sich zu entfernen. Zu dem Alten, der zurückgetreten war, sagte er leise: »Die fremden Strolche bereiten mir Sorge. Seit der Römerkrieg am Rhein begonnen hat, fliegen die Funken bis zu uns herüber. Woher soll ich wissen, ob die Flüchtlinge, denen ich Gastrecht gewähre, Feinde oder Freunde sind? Rede du mit dem Neuen und versuche, etwas von ihm zu erfahren!« Answald setzte sich in der Halle auf dem reich geschnitzten Herrensitz nieder, der mit dem schwarzen Fell eines jungen Bären bedeckt war. Seine Füße ruhten auf einem Schemel, in der Hand hielt er den weißen Fürstenstab. Am Hoftor stieg der Fremde vom Pferd, lehnte seinen Speer an den Pfosten und setzte sich schweigend auf die Bank außerhalb des Tores. Der Sprecher trat aus dem Haus und lud ihn mit feierlichem Gruß vor den Herrensitz. Der Fremde folgte ihm. Er und der Häuptling maßen einander mit forschenden Blicken. Was sie sahen, schien ihnen beiden zu gefallen. Nach dem kurzen Schweigen begann der Gast, dem Brauch gemäß, den Spruch: »Ich komme freundlos, heimatlos und schutzlos zu deinem Herd. Verleih mir, was dem Wanderer das Gastrecht deines Volkes gewährt!« Hildebrand, einer der Männer des Fürsten, trat vor und erwiderte: »Der Herr verleiht dir nach unserem Brauch drei Tage Rast und drei Tage Nahrung. Dann ist es üblich, das Volk zu befragen, ob du bleiben darfst. Jetzt sei willkommen!« 42
Ein Schemel wurde gebracht, auf dem der Fremde Platz nahm. Ein Jüngling bot ihm zwei Schalen mit Brot und Salz, ein zweiter den Holzkrug mit dunklem Bier. Dann verließen beide den Saal. »Jetzt sind wir allein, Fremder«, begann Hildebrand, »und du kannst ungestört sprechen. Du bist in Sicherheit im Hause des Fürsten, und ich bitte dich, ihm zu berichten, was du hinter unseren Bergen gesehen und gehört hast. Es ist eine sorgenvolle Zeit.« Der Fremde erhob sich artig: »Ich weiß nicht, ob das, was ich mitteilen kann, für euch Freude oder Trauer bedeutet. Eine Schlacht ist geschlagen, die größte seit Menschengedenken. Die Franken haben dem Römer die Schlacht gewonnen, die Könige der Alemannen sind gefangen und mit ihnen viele Königskinder. Die Legionen des Caesar verwüsteten die Täler des Schwarzwaldes bis an den Main hinunter und trieben Gefangene zu Hunderten vor sich her. Der Caesar hat das Grenzland besetzt.« Fürst Answald sah finster vor sich hin, und Hildebrand hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen. »Wir sind den Römern und Alemannen friedlich gesinnt«, sagte er vorsichtig. »Die Thüringe fürchten den Caesar nicht. Du selbst warst wohl in der Nähe, als die Schlacht im Gange war, und hast seither die Dörfer der Chatten gemieden. Ich möchte dich nicht fragen, wem du den Sieg gewünscht hast. Ein Alemanne bist du nicht. Nach deiner Sprache kommst du eher aus dem Osten.« »Ich bin ein Vandale von der Oder«, erwiderte der Fremde. »Ein schweres Geschick trieb mich aus meiner Heimat.« »Möge dein Herz nicht bedrücken, was dich aus deiner Heimat vertrieben hat.« Das gütige Gesicht des Fürsten verriet Anteilnahme. Dankend beugte der Fremde den Kopf: »Es ist die Sorge eines jeden Gastes, seinem Wirt zu gefallen. Verzeih, wenn ich suche, was dir den Fremden vertraut macht. Ich überlege, ob wir gemeinsame Freunde haben. In meiner Heimat singen sie ein Lied, das von einem Helden aus dem Thüringer Land erzählt, der mit den Kriegern meines Volkes gegen die Römer kämpfte. Irmfried war sein Name.« Der Fürst richtete sich in seinem Sessel auf. »Irmfried war mein Vater«, sagte er erregt. 43
Die Augen des Fremden leuchteten auf: »Als Irmfried Abschied von unseren Leuten nahm, brach er ein römisches Goldstück entzwei und ließ die eine Hälfte als Zeichen der Freundschaft zurück. Besitzt du die zweite Hälfte der Münze, Fürst Answald? Die eine habe ich hier.« Er hielt dem Fürsten das helle Goldblech hin. Der fuhr heftig vom Stuhl auf und prüfte es am Licht. Er war gewohnt, Fremden mit Vorsicht zu begegnen. Nun schwanden seine Zweifel. »Komm mit mir, Freund!« rief er, außer sich vor Freude. »Und laß uns die beiden Hälften aneinanderfügen!« Er schritt eilig voran, der Fremde folgte.
Gundrun, die Gattin des Fürsten, hielt in ihrem Gemach die beiden Hälften des Goldstücks aneinander. »Es sind zwei Ähren von einem Halm«, rief sie staunend. »Das ist wirklich König Ingberts Zeichen.« »Und der vor dir kniet«, sagte der Fremde, »ist Ingo, König Ingberts Sohn.« Langes Schweigen folgte dem Ausruf. Die Fürstin blickte scheu auf den stolzen Krieger und verneigte sich tief vor ihm. Answald aber rief bekümmert: »Wie oft habe ich mir gewünscht, meine Freunde selbst zu sehen! Mein Vater hat mir von ihrem prächtigen Königssitz erzählt. Jetzt steht der Sohn des Königs als Flüchtling vor mir und bittet um Unterkunft in meinem Haus! Und doch glaube ich, daß diese Stunde Gutes bringt.« »Ich komme nicht als Glücklicher, ich bin ein Gehetzter, aber ich möchte mir deinen Schutz nicht erschleichen. Ich will dir die Wahrheit sagen: Mein eigener Onkel hat mich aus der Heimat vertrieben, als ich noch ein Kind war. Er wollte die Krone. Freunde meines Vaters haben mich versteckt. Auf meinen Kopf ist eine hohe Summe gesetzt. Gefahr ist mein Los. Seine Boten folgen mir von Volk zu Volk. Sie bieten Geschenke für meine Auslieferung. Mit einem kleinen Haufen von Getreuen nahm ich am Kampf der Alemannen teil. Ihre großen Könige waren mir hold. Am Schlachttag führte ich eine Schar ih44
res Volks. Jetzt sucht der Caesar siegesstolz nach denen, die sich ihm nicht unterwerfen. Ich bringe auch dich in Gefahr, Fürst, wenn du mir Obdach gibst.« Answald suchte unsicher den Blick der Fürstin. »Ich tue, was ehrlich ist und was die Sitte gebietet«, sagte er. Sein Gesicht hellte sich auf: »Sei mir willkommen, Ingo!« Auch Gundrun wandte sich Ingo herzlich zu: »Es beweist deinen Edelmut, daß du dich scheust, deinen Gastfreund in Gefahr zu bringen. Aber wir wollen klug sein und versuchen, unsere Höfe vor Unheil zu bewahren.« Sie fragte den Fürsten: »Ist es nicht am besten, wenn der Name deines Gastes vorerst nicht genannt wird und niemand von seiner Herkunft erfährt?« »Soll ich in meinem eigenen Haus den Freund verleugnen?« erwiderte Answald unwillig. Die Fürstin lächelte ihm zu, dann sagte sie zu Ingo: »Ich bitte dich um etwas, was du leicht erfüllen kannst. Versuche nur ganz kurze Zeit, als Fremdling an unserem Hof zu leben und mache dich unterdessen beim Volk beliebt. Der Krieg wird nicht lange dauern, und ich bin gewiß, daß es uns gelingen wird, auch den König als Freund zu gewinnen.« »Ich habe oft schon zum Nutzen meines Volkes den Rat meiner klugen Fürstin befolgt«, ergänzte Answald besänftigt. »Es wird sich alles zum Guten wenden. Vertraue uns, Ingo, so wie wir dir vertrauen.«
2. Das Festmahl Im Hofe des Fürsten wurde zum Fest gerüstet. Die Hausfrau ging mit den Mägden durch die Vorratsräume. In langen Reihen hingen dort Schinken, Würste und gedörrte Rinderzungen. Sie freute sich an der Fülle ihrer Kammern, ließ das Nötige für die Küche in Körbe packen und befahl den Mädchen, ein Zeichen in die besten Stücke zu ritzen, damit der Vorschneider sie an die Tische der Ältesten bringe. 45
Mächtige Feuer brannten im Küchenhaus auf steinernen Platten. Vor dem Haus waren junge Burschen damit beschäftigt, die Opfertiere zu zerlegen und das Fleisch an lange Spieße zu stecken. Die Mägde rupften Geflügel oder formten runde Brote aus gewürztem Weizenteig. Die Kinder des Dorfes warteten darauf, daß sie die Spieße über dem Feuer drehen dürften. Dann würde auch für sie etwas abfallen. Die Männer machten sich in der Halle des Häuptlings zu schaffen. In der Mitte des Hofes stand der breite, aus dicken Fichtenbalken gefügte Bau. Im Innern trugen zwei Reihen hoher Holzsäulen die Balken des Daches. Von den Säulen bis zu den Wänden liefen auf drei Seiten erhöhte Bühnen. Gegenüber der Tür stand der Ehrensitz des Fürsten und der vornehmsten Gäste, daneben ein laubenartig geschmückter Raum, von dem aus die Frauen dem Festmahl der Männer zusehen sollten. Ingo stand mit einigen jungen Männern zusammen und beobachtete Irmgard, die Tochter des Hausherrn, die sich mit ihren Gefährtinnen unterhielt. Er konnte nicht hören, was sie sprachen. »Schau nur, wie gut der Fremde in dem Wams aussieht, das ihm unsere Fürstin geschenkt hat«, sagte eines der Mädchen zu Irmgard. »Die Jacke ist aus dem feinsten Tuch, das wir haben. Seltsam, daß die Fürstin einem Wanderer gegenüber so freigebig ist.« »Ich glaube nicht, daß der Mann von gewöhnlicher Herkunft ist«, antwortete Irmgard. »Aber wenn er ein Geheimnis hat, so werden wir Mädchen es wohl zuletzt erfahren.« »Und du hast ihn noch nicht einmal begrüßt, wie es sich schickt«, meinte ein anderes Mädchen. »Der Fremde wird dich für unfreundlich halten. Du solltest hingehen und ihm endlich die Hand bieten.« Zögernd trat Irmgard zu der Gruppe der jungen Männer, die zum Gefolge des Fürsten gehörten. Ingo unterhielt sich angeregt. Als das Mädchen ihm nahe kam, scheute es sich, ihn vor den anderen anzusprechen, und ging wortlos an ihm vorüber.
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Vor dem Herrenhaus empfing der Fürst die Edlen und freien Bauern. Wer zu Roß ankam, stieg vor ihm ab. Burschen führten die Pferde der Gäste in ein weites Gehege und versorgten sie. Würdig gingen Gruß und Anrede hin und her. In weitem Kreis standen die Gäste auf dem Hof, eine stolze Anzahl ansehnlicher Männer aus zwanzig Dörfern der Umgebung, alle im Kriegsschmuck, den Eschenspeer in der Hand, Schwert und Dolch an der Seite. Manche trugen die Lederkappe mit Eberzähnen geschmückt, andere Eisenhut, Lederkoller und Kettenpanzer über dem weißen Hemd und hohe Lederstrümpfe, die bis zum Leib reichten. Die Reichen hatten Mäntel, die aus buntem Wollhaar gewebt waren und wie das zarte Fell eines Raubtieres glänzten. Die Männer freuten sich der Versammlung. Einige tauschten leise Worte über die Gerüchte von der großen Schlacht im Westen und von bedrohlicher Zeit. Lange währte die Begrüßung, aber endlich führte der Wirt seine Gäste vor die Halle. Am Eingang empfing sie die Hausfrau, neben ihr stand Irmgard mit den Mägden. Die Männer huldigten den Frauen, die Fürstin reichte allen die Hand und fragte höflich nach den Kindern und dem Hausstand. Den Männern von der Verwandtschaft bot sie die Wange zum Kuß. In langen Reihen zogen die Diener in die Halle ein. Sie trugen den Frühtrunk in Holzkannen und als Zukost weiße gewürzte Brotkuchen und Fleisch aus dem Rauchfang. Unterdessen rüsteten sich die Jungen auf dem Rasenstück vor dem Hof zum Wettkampf. Um auch das Lob der Großen zu erringen, begannen die Knaben des Dorfes: Sie rannten nach einem Ziel, sprangen über ein Pferd und schossen mit Rohrpfeilen nach einer Stange. Bald schleuderten auch die Jünglinge Speere, warfen schwere Felssteine oder übten sich in weiten Sprüngen. Theodulf, der Vetter der Fürstin, war der stärkste unter ihnen, und als er den weitesten Sprung getan hatte, erscholl lautes Jauchzen bis zur Halle. Die Alten und Weisen des Volkes hielt es nicht länger auf ihren Sitzen. Auch sie eilten zum Kampfplatz auf den Rasen. 47
Unter den Zuschauern stand Ingo und bewunderte höflich das Können der anderen. Da trat der alte Isanbart zu ihm und sprach ihn an: »Auch bei dir zu Haus, Fremder, gibt es wohl Kriegsspiele. Wir würden uns freuen, wenn du uns zeigen wolltest, was in deiner Heimat Brauch ist.« Ingo erwiderte: »Wenn der Fürst es mir gestattet, will ich versuchen, was ich einmal gelernt habe.« Der Fürst winkte. Einer aus dem Gefolge trug eine Waffe aus Eichenholz herbei, die vom Griff nach rückwärts gekrümmt und vorne mit einer scharfen Schneide bewehrt war. Die Keule ging von Hand zu Hand, die Männer prüften das leichte Werkzeug lachend. Theodulf rief verächtlich: »Eine Waffe wie diese trägt unser Sauhirt, um junge Wölfe zu schlagen.« »Ich sah, wie ein Schädel unter dem Schlag eines solchen Holzes wie ein Tonkrug zerbrach«, sagte Isanbart und legte dem Fremden die Waffe in die Hand. Ingo warf die Keule mit kurzem Armschwung. Sie flog in krausem Bogen durch die Luft, und als alle meinten, daß sie zu Boden fallen würde, fuhr sie, wie durch eine Schnur gezogen, wieder zu Ingo zurück. Der packte sie in der Luft am Griff, warf sie noch einmal, und immer schneller kehrte sie gehorsam in seine Hand zurück. So mühelos schien das Spiel, daß die Zuschauer näher traten und bald in anerkennendes Lachen ausbrachen. Theodulf unterbrach das Spiel: »Du hast uns genug von deiner Kunst gezeigt. Jetzt versuche es einmal mit unserem Brauch.« Zuerst wurden zwei Rosse nebeneinander gestellt, Kopf an Kopf, Schweif an Schweif. Die Springer traten zurück und schwangen sich mit kurzem Anlauf darüber. Fast allen glückte der Sprung. Aber als drei Rosse nebeneinander gestellt wurden, gelang es nur einer kleinen Zahl, und über vier sprang Theodulf allein. Als er den Sprung auch über fünf Rosse wagte, streifte er beim Niedertauchen mit seinem Rücken einen Schimmel. Während er aufstand und sich noch über das laute Jauchzen des Volkes freute, tönte schon noch lauterer Beifall hinter ihm: Ingo hatte den gleichen Sprung mühelos vollbracht. 48
Theodulf wurde blaß vor Zorn und ging schweigend an seinen Platz zurück. Er bemühte sich vergebens, den Neid zu unterdrücken. Isanbart aber trat zu Ingo und sagte laut, so daß alle es hören konnten: »Führt das sechste Roß heran zum Königssprung. Ich habe ihn nur einmal als Knabe gesehen, und seither ist er keinem mehr geglückt.« Ingo sah auf Irmgard, die in froher Erwartung hinter ihrer Mutter stand und ihm freundlich zulächelte. Er rief zu ihr hinüber: »Halte mich nicht für ehrgeizig, Herrin, ich habe mich nicht zum Kampf gedrängt.« Dann trat er rückwärts, hob sich gewaltig in die Luft und tat einen so meisterhaften Sprung, daß das Volk nicht aufhören wollte, ihm zuzujubeln.
Als die Sonne sich schon neigte, lud Hildebrand, der Sprecher des Fürsten, die Gesellschaft zum Mahle. Der Truchseß setzte an den Tafeln der Halle jeden nach Rang und Gebühr. Es war eine lange Reihe von Tischen. Die Vornehmsten saßen auf Sesseln mit Armstützen, die jüngeren auf Schemeln ohne Lehne. Zunächst der Türe lagerten die Bankgenossen des Fürsten. Dort hatte Theodulf den Ehrenplatz. Ihm gegenüber saß am unteren Ende des Tisches der Fremde. Der Schenk trat mit den Dienern ein und verteilte den Begrüßungstrunk in Holzbechern. Der Fürst erhob sich und trank den Gästen zu. Alle standen auf und leerten die Becher. Darauf kam der Truchseß wieder mit einer Schar von Dienern, die das Fleisch auf die Tische stellten. Die Gäste griffen nach ihrem Messer, das jeder an der Seite trug, und begannen zu essen. Sie rühmten mit leisem Dank die Fürsorge der Hausfrau. Die Ältesten, in der Nähe des Fürsten, tauschten ernsthafte Worte, gedachten vergangener Taten und lobten die Tugenden ihrer Rosse. Die Jüngeren hörten zu. Als das Mahl dem Ende zuging, trat auf ein stilles Zeichen des Herrn der Sprecher vor. 49
»Die Schwerttänzer bitten um eure Gunst«, rief er mit lauter Stimme. Alle rückten die Sessel zum Schauen zurecht. Die Frauen erhoben sich von ihren Sitzen. Ein Pfeifer und ein Sackbläser schritten der Gruppe voran, hinter ihnen die zwölf Tänzer, junge Krieger aus dem Volk, im weißen Unterkleid mit buntem Gürtel, das blitzende Schwert in der Hand. Sie machten am Eingang halt, senkten die Waffen zum Gruß und begannen den Reigen. In der Mitte stand der Schwertkönig. Seine zwölf Gefährten umkreisten ihn feierlich mit gehobenem Schwert. Er gab ein Zeichen, die Pfeifer bliesen, schneller wurden die Bewegungen, die eine Hälfte der Tänzer schwang sich im inneren Ring nach rechts, die anderen von außen entgegengesetzt, und jeder tauschte mit allen, denen er begegnete, Schwertschlag nach Ordnung der Hiebe. Dann tauchte der Schwertkönig zwischen den blinkenden Schwertern hindurch, bald nach außen, bald nach innen, im Kreise schwebend, und fing mit seiner Waffe die Schläge der anderen auf und erwiderte sie. Kunstvoller wurden die Verschlingungen, heftiger die Bewegungen, einer nach dem anderen wand sich wie im Kampf durch die kreisende Reihe der übrigen. Dann senkten alle die Schwerter zur Erde und verschränkten sie am Boden zu einem künstlichen Geflecht, das wie ein Schild aussah. Der Schwertkönig trat darauf. Die Vorstellung dauerte lange, und immer wieder wurden die Tänzer zu neuen Leistungen angespornt. Als das Spiel beendigt war, erhob sich Rothari, ein Edler, zur Dankesrede und verbeugte sich vor dem Fürsten: »Ein kunstvolleres Schwertspiel als dieses habe ich nie gesehen, und doch sind wir Thüringe berühmt wegen solcher Kunst. Im Namen meiner Freunde danke ich Herrn Answald für Speise und Spiele. Aber ich möchte noch einen anderen unter uns loben: Er sitzt am letzten Platz im Saale, doch wenn ich seine Tüchtigkeit bedenke, die er heute erprobt hat, so würde ich seinen' Stuhl hoch hinauf unter die Starken stellen. Ich bringe dem unbekannten Gast meinen Gruß.« Höflich hob er den Becher. Ingo dankte. 50
Da rief Theodulf mit lauter Stimme: »Ehrenwerter als ein Keulenschwinger gilt bei uns der Mann, der sich im Krieg bewährt hat!« »Und ich nenne die boshafte Zunge ehrlos, die in der Halle nach dem Gastfreund sticht«, versetzte Ingo kalt. »Solche Rede geziemt eher dem falschen Römer als dem aufrechten Thüring!« »Wenn du den Brauch der Römer so gut kennst«, schrie Theodulf, »dann hast du wohl schon ihre Streiche gefühlt.« Laute Rufe erfüllten die Halle, und von allen Seiten ging die Rede für oder wider den Fremden. Da erhob sich der Fürst und gebot mit mächtiger Stimme Ruhe. Der Lärm verstummte. Im nächsten Augenblick sprang ein Jüngling aus dem Gefolge die Stufen hinauf und verkündete laut: »Volkmar, der Sänger, reitet in den Hof.« »Er sei uns willkommen«, rief der Fürst erleichtert. Mit ehrfürchtigem Gruß betrat der Sänger die Halle. Er war ein Mann von mäßiger Größe, mit leuchtenden Augen, das krause Goldhaar mit Grau durchzogen. Der bunte Überwurf ließ die mit Goldringen geschmückten Arme frei. »Sei tausendmal gegrüßt, lieber Freund!« rief ihm der Fürst entgegen. »Die Vögel des Sommers haben längst ihr Lied angestimmt, nur auf unseren Sänger haben wir bisher vergeblich gewartet.« »Ich höre keine Vögel den Sommer verkünden. Kriegshunde höre ich heulen«, erwiderte der Sänger ernst. »Die Wellen des Rheins sind rot vom Blut der Männer und Pferde. Ich habe gefesselte Könige gesehen, die im Römerlager ihr Ende erwarten.« Ein lauter Aufschrei folgte diesen Worten. »Erzähle, Volkmar, wir hören!« sagte der Fürst leise. Der Sänger fuhr durch die Saiten, und es war so still, daß man die Atemzüge der Gäste vernahm. Dann erhob er seine Stimme und begann in melodisch singendem Tonfall, halb sprechend, den Bericht von der Schlacht zwischen den Alemannen und Römern. Er nannte die Namen der Könige und Königskinder, die mit den Alemannen zusammen dem Caesar entgegenzogen und die römischen Reiter in die Flucht schlugen. Dann sang er: 51
»Auf seinem Roß ritt gebietend der Caesar, und über ihm schwebte als Banner das Drachenbild. Und der Caesar rief die Bataver vor und die Franken: Herauf ihr Germanenhelden, meine Welschen zwingen den Sturm der Feinde nicht! Da zogen sie heran in langen Reihen, die weißen Schilde mit dem Stier geschmückt. Als die Sonne sank, schwand das Kriegsglück der Alemannen. Die gelösten Scharen wälzten sich flüchtend zum Ufer des Stromes. Sie sprangen in den Rhein, und die Sieger am Ufer warfen mit lautem Geschrei ihre Speere in das Gewühl von Männern und Rossen.« Der Sänger hielt an, und ein Stöhnen war in der Halle zu hören. Der Fürst schloß die Augen. Volkmar fuhr fort: »Da stand ein Rächer auf unter den letzten Helden, Ingo, der Königssohn. Er trieb die weisen Frauen, die das Heer begleiteten, zusammen und zwang sie zur Abfahrt. Auch mich drängte er hinab in eines der Boote und deckte den Rückzug der Wehrlosen mit seinem Leib. Dann sprang Ingo mit einem mächtigen Satz auf den römischen Riesen, der das Drachenbanner trug, und warf ihn vom Felsen in den Fluß. Das erbeutete Banner erhebend, stürzte er selbst sich hinab in den Strom. Wutgeheul gellte aus Römermund. Mann und Roß stürzten wie toll ihm nach, doch abwärts trieb im Wasser der rote Drache. Noch einmal sah ich Ingo den Arm heben, dann ging er unter. Verloren war das Siegeszeichen des Caesar im Strom. Aber auch Ingo, den Helden, gaben die Wellen nicht wieder.« Irmgard hatte atemlos zugehört. Ihr Blick hing wie gebannt am Gesicht des Fremden. Jetzt sprang sie auf. Die Mutter bemühte sich vergebens, sie zurückzuhalten. »Seht dorthin!« rief das Mädchen mit zitternder Stimme. Alle Blicke folgten ihrer Hand, die auf den Fremden wies. Auch der Sänger starrte zu ihm hinüber. Im Saal war es totenstill geworden. »Die Geister des Stromes haben den Helden zurückgegeben«, rief Volkmar fassungslos. »Selig der Tag, an dem ich dich wiedersehe, Ingberts Sohn! Du bist mein Retter, der letzte Held der Alemannenschlacht!« Die Gäste fuhren von ihren Sitzen auf, die Halle erdröhnte vom Ju52
belruf. Volkmar stürzte auf Ingo zu, küßte wieder und wieder seine Hand und flüsterte: »Du bist es wirklich! Niemals habe ich für ein Lied solchen Lohn empfangen!«
3. Offene Herzen Am nächsten Morgen schritt Irmgard durch das taufrische Gras dem Wald zu. Fröhlich singend stieg sie den Bergweg hinauf. Zwischen Bäumen und Felsen hielt sie an. Ihr helles Haar wehte im kühlen Wind. Unter ihr rauschte der Bach, und über ihr schwebten die Lichtwolken des kommenden Tages. Sie wiederholte mit klarer Stimme die Weise des Sängers und die Worte des Liedes, die sie in der Halle gehört hatte. Da rollte in der Nähe ein Kiesel zum Bach. Sie sah zur Seite und erkannte die Gestalt des Helden, dessen Lied sie soeben in den Wald gesungen hatte. Sie wollte fliehen, aber seine bittende Stimme hielt sie zurück. »Hör nicht auf zu singen, Mädchen! Dein Lied macht mich glücklich.« »Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie. »Ich habe die Worte vergessen.« »Wenn du mir gut bist, Irmgard«, bat Ingo, »dann verstecke dich nicht vor mir. Wenn auch der Sänger mich lobt und der Wirt mir zutrinkt, so bin ich doch einsam und ausgeschlossen.« Irmgard sah ihn ernsthaft an, und Ingo fuhr fort: »Seit ich dich gesehen habe, hat sich mein Sinn geändert. Ich will dem Krieg entsagen.« Irmgard schwieg. Über der Wolkenwand brach die Sonne hervor, und ihre Strahlen erhellten die Gestalt des Mädchens. Ingo schloß sie in seine Arme und küßte sie. Noch am selben Morgen versammelten sich die Führer der Gemein53
den und die bewährten Krieger im Hause Answalds. Der Fürst eröffnete die Sitzung. »Ihr wißt, daß Ingo, König Ingberts Sohn, in mein Haus gekommen ist. Er ist mir durch Gastfreundschaft von den Vätern her verbunden. Heute aber begehre ich für ihn das Gastrecht meines Volkes. Es steht bei euch, es ihm zu gewähren oder zu verweigern.« Tiefe Stille folgte seinen Worten. Endlich erhob sich Isanbart, das narbige Gesicht von schneeweißem Haar umrahmt: »Wir sind gewohnt, daß du dem Volke gibst, und wenn du dein Volk bittest, so sind unsere Herzen bereit zu geben. Dein Gast ist kein Landstreicher, dafür bürgt das Lied des Sängers. Aber wir sind zu Wächtern bestellt über das Wohl von vielen. Die Zeit mahnt zur Vorsicht, und deshalb geziemt es uns, ernsthaft zu beraten.« Er setzte sich, und die Nachbarn nickten ihm zu. Die Reihe war an Rothari, einem dicken Mann mit rotem Gesicht und rötlichem Haar. Er galt als rühmlicher Zecher und lustiger Tänzer. »Eine Beratung am Morgen soll wie ein Frühtrunk sein«, begann er. »Ich meine, hier brauchte es keine lange Erwägung. Wir haben ihm neulich beim Weine zugejubelt – und heute werden wir ihm nicht Wasser in seinen Krug schütten.« Die Alten lächelten über den Eifer Rotharis, und die Jungen riefen ihm Beifall zu. Sintram, der Onkel Theodulfs, nahm das Wort. Er stand am Hofe wegen seines scharfen Verstandes in hohem Ansehen. »Du, Fürst, bist dem Fremden gut gesinnt, und willig würde ich ihn als Gast begrüßen. Doch kommt er als unser Freund? Im Heer der Römer stehen viele aus unserer Verwandtschaft.« Sein hageres Gesicht war bleich, als er hinzufügte: »Sind diese dem Fremden feind, wie dürfen wir uns seine Freunde nennen, wie dürfen wir Gastrecht dem Feind bieten, der unser Blut vergossen hat?« Die Männer saßen in finsterem Schweigen. Sie wußten, daß Sintram die Wahrheit sprach. Schwerfällig erhob sich Bero, ein hartknochiger Bauer. »Du, Sintram, hast deinen eigenen Bruder ins Heer der Römer geschickt«, sag54
te er rauh, »du sitzt gemächlich auf seinem Erbe, mich wundert nicht, daß du die fremde Brut lobst. Aber ich sage, die Römerfahrten sind ein Unheil für unsere jungen Krieger. Jetzt haben wir Frieden mit jedermann. Kommt heute ein Alemanne an unseren Herd, so lagern wir ihn am Feuer. Kommt morgen vielleicht ein Römer, tun wir dasselbe. Sollen sie bescheiden und nach unseren Gesetzen leben und ihre Streitereien außerhalb unseres Dorfes austragen! Das ist ihre Sorge und nicht unsere. Darum meine ich, ob Römer oder Vandale, er sei uns willkommen. Die Hausherren bleiben wir, und wir bändigen ihn, sobald er unseren Frieden stört.« Nach dieser langen Rede setzte sich Bero trotzig auf seinen Schemel, und die Alten murmelten Beifall. Der letzte Sprecher war Albwin, von dem die Leute sagten, daß ein Hausgeist in den Balken seines Hofes wohne und seit Väterzeiten die Kinder der Familie wiege, so daß diese nicht wüchsen wie andere Menschen. Zierlich und klein waren alle aus seinem Geschlecht, aber klug an Worten. Albwin sprach: »Wir alle gönnen Ingo das Beste. Wir sind nur besorgt, daß er nicht immer in Frieden leben wird. Ein Königssohn kann nicht träge unter dem Dach seines Wirtes liegen. Er wird Freunde sammeln und sich Feinde schaffen. Je größer der Ruf eines Mannes, desto mehr Gegner stellen sich ihm in den Weg. Wenn er seine Tage in unserer Mitte beschließen will, sollten wir nicht nur sein Wohl, sondern auch unsere Sicherheit bedenken.« Der ungeschlachte Rothari unterbrach ihn zornig: »Was soll das Feilschen mit der Zeit! Gebt ihm das Gastrecht und macht endlich Schluß!« Die Männer riefen ihm laut Beifall zu und sprangen von ihren Sitzen. Der Fürst schloß die Beratung: »Ich danke meinen Freunden und Landgenossen. Was hier verhandelt wurde, sei besiegelt und keiner trage dem anderen etwas nach.« Dann ging er von Mann zu Mann und bekräftigte mit Handschlag das Ergebnis der Besprechung. Ingo war das Gastrecht im Volk der Thüringe zugesprochen. Aber im Bergwald folgt auf einen heißen Morgen ein Wetterschlag, und 55
auch die Wärme der Herzen schwindet schnell im Sturm zorniger Gedanken.
4. Am Königshof In der Königsburg der Thüringe überwachte Königin Gisela eine Dienerin, die das Goldgerät vom Königsmahl in eine Truhe zurücklegte. Einige Schritte davon entfernt saß König Bisino. Er war vierschrötig und kräftig gebaut, ein schwarzes Mal, das in seinem Geschlecht erblich war, verunstaltete die Wange seines breiten Gesichts. Es galt als Königszeichen. Es war zwar nicht schön, aber es machte ihn stolz. Volkmar, der Sänger, stand ängstlich vor ihm: »Ich habe dich hierher gerufen«, sprach der König, »damit die Königin dich befrage. Aber sie scheint nicht zu bemerken, daß wir hier sind. Da sie nicht sprechen will, spreche ich. Ich kenne dich!« rief er in ausbrechender Wut. »Du bist behend wie eine Otter im Fluß. Du hast mir nicht alles von dieser Schlacht berichtet, denn einer ist entflohen und hält sich in meinem Land versteckt. Du warst doch dabei, als sie Ingo in der Halle des Fürsten Answald zujubelten?« »Ich begreife nicht, warum mein König den Namen des Fremden nicht gerne hört. Er ist ein wackerer Mann. Er ist seinen Freunden treu und schielt nicht nach fremdem Gut …« »Laß dich nicht erschrecken!« unterbrach ihn die Königin. »Der König weiß dich wohl zu schätzen.« Sie winkte der Dienerin, die ihr die schwere Truhe vor die Füße schob, griff hinein und bot wahllos dem Sänger ein goldenes Trinkgefäß. Volkmar, der Angst vor dem Unmut des Königs hatte, nahm betreten die wertvolle Gabe entgegen und verneigte sich tief. Die Königin winkte ihm gnädig zum Abschied. Bisino sah ihm unzufrieden nach. »Du bist freigebig mit dem Gold deiner Truhe«, brummte er. »Ich meine, es ist ein guter Handel für einen König, mit Gold das 56
Unrecht abzukaufen, das er einem armen Sänger zugefügt hat«, erwiderte Gisela stolz. »Dir bleibt nur eine Wahl: den Mund dieses Mannes durch ein Geschenk zu schließen oder durch einen Schwertschlag.« Der König fuhr kleinlaut fort: »Was rätst du mir? Die Waldleute haben, mir zum Trotz, Ingo das Gastrecht gewährt. Soll ich ihm auch Gold anbieten oder Eisen?« Gisela sah ihn undurchdringlich an: »Willst du Gefahr vermeiden, so lade den Fremden an deinen Hof und erweise ihm die Ehre, die ihm zusteht. Gefährlich kann er nur im Wald unter den Bauern werden, nicht aber in deiner Burg. Hier ist er dein Gast und dir durch seinen Schwur verpflichtet.«
Beim Abendtrunk rief König Bisino den Sänger wieder zu sich. »Ich möchte, daß du als Bote zu den Waldleuten gehst und Answald bestellst, daß mir Ingo, sein Gastfreund, willkommen ist. Ich wähle dich zum vertrauten Überbringer meiner Worte und hoffe, daß du mir den Fremden in meine Burg schaffst.« Volkmar verbeugte sich: »Ich will dem Fremden deine Botschaft überbringen.« Er zögerte: »Doch, damit er deinen freundlichen Sinn erkenne, bitte ich dich, daß du ihm Frieden gelobst und ihm sicheres Geleit von Hof zu Hof versprichst.« »Was fällt dir ein!« rief der König unwillig. »Wie kann ich einem Fremden ein solches Versprechen geben!« »Ich bin nur dein Bote, Herr«, sagte der Sänger. »Ich vermag Ingo nicht zu zwingen.« »Du wirst dich ins Unglück stürzen, Volkmar, wenn du mir nicht gehorchst!« »Ich bin dein treuer Diener«, erwiderte der Sänger ernst. Dann öffnete er seinen Beutel und zog das Geschenk der Königin heraus. Schweigend stellte er das goldene Trinkgefäß auf den Tisch und verließ die Halle. 57
5. In den Waldlauben Auf dem Herrenhof Answalds und im Dorf knarrten die Erntewagen. Die Gefolgsleute des Häuptlings vergaßen im Drange der Arbeit ihren Kriegerstolz und halfen den Knechten. Ingo beobachtete an der Seite des Hofherrn die friedliche Arbeit, die er sonst nur von seinem Kriegsroß aus flüchtig gesehen hatte. Ihm und Irmgard pochte das Herz voll Freude, sooft sie einander im Trubel begegneten. In diesen Tagen erschien Volkmar als Königsbote auf dem Hofe. Ingo empfing ihn wie einen Freund, hörte sich die Botschaft an und führte ihn zum Fürsten. »Der König hat mich eingeladen«, sagte Ingo, »er hat mir Sicherheit versprochen. Wie ich auch darüber denken mag, ich muß der Ladung folgen. Nur eines macht mir Sorge: Ich kann nicht wie ein armseliger Landfahrer am Hofe des Königs erscheinen.« Bekümmert erwiderte der Fürst: »An Roß und Gewand soll es dir nicht fehlen, und der Wächter Wolf würde dich als Kämmerer begleiten.« Zögernd setzte er hinzu: »Aber ich rate dir nicht, daß du den Worten des Königs traust. Es kann sein, daß du spurlos hinter seinen Steinmauern verschwindest. Das wäre kein rühmliches Ende für dich.« Volkmar riet: »Du bist tapfer, Ingo, und du wirst die Gefahr geringachten. Aber wenn du der Ladung des Königs folgst, dann darfst du es nicht als einzelner Wanderer tun. Ehe du reitest, mußt du dir Gewänder, Rosse und Gesinde erwerben.« »Ich danke euch, Freunde!« Ingos Stimme war zuversichtlich. »Du, Volkmar, aber sage dem König, daß ich bei ihm erscheinen werde, sobald ich gerüstet bin.« 58
Ingo suchte schon lange nach einem Geschenk für das Mädchen, das er liebte. Als Irmgard sich eines Tages im Hofe beim Holunderstrauch zu schaffen machte, trat er eilig auf sie zu. »Eine meiner Ahnfrauen flog im Federgewand eines Schwans über die Erde«, begann er geheimnisvoll. »Seitdem sind die Schwungfedern des Schwans das Zeichen meiner Familie. Heute glückte es mir, einem lebenden Vogel drei Federn zu rauben, und ich schenke sie dir als Zeichen meiner Liebe.« Das Mädchen nahm die Federn und verbarg sie hastig in ihrem Gewand. Ihre Hand streifte die seine und beide fühlten im Herzen die glückhafte Berührung. »Irmgard!« rief eine befehlende Stimme. Die Fürstin hatte die beiden vom Hause aus beobachtet. Das Mädchen tauschte einen Blick mit dem Geliebten, dann eilte sie dem Hause zu. »Was hat er zu dir gesagt?« herrschte die Mutter sie an. »Und was versteckst du in deinem Kleid?« Irmgard errötete. »Schwungfedern eines Schwans, die das Zeichen seiner Familie sind.« Aufgebracht fuhr die Fürstin fort: »Dein Vater ist gastfrei gegen jeden Wanderer, aber ich halte die Schlüssel fester in der Hand. Wenn der Fremde meint, daß er sich in das Erbe einschleichen kann, so hat er sich geirrt. Du bist meine Tochter, und ich wünsche, daß du dich diesem armseligen, fahrenden Bettler fernhältst.« »Von wem sprichst du, Mutter? Meinst du den Helden, der den Ehrensitz neben meinem Vater hat?« »Schweig still!« antwortete die Mutter heftig. »Ich werde dafür sorgen, daß dir dein Übermut vergeht. Du weißt, daß wir dich schon versprochen haben. Es ist wohl besser, daß wir die Brautzeit abkürzen.« Als die Fürstin den Raum verlassen hatte, starrte Irmgard ihr nach. Tränen traten ihr in die Augen. Es war kein Zufall, daß kurze Zeit nach diesem Gespräch Sintram, der Onkel Theodulfs, in den Hof ritt. Er saß lange mit der Fürstin zu59
sammen und besprach noch einmal die Brautwerbung für seinen Neffen. Im Frühjahr sollte die Vermählung sein. Sintram lachte vergnügt, als er von der Fürstin Abschied nahm. Der Sommer verging. Die Felder waren geräumt, die Menschen wurden wieder gesellig. Ingo ritt mit dem Fürsten durch das Gehege. Im Wald fiel das gelbe Laub zu Boden, und in den Lichtungen erklang der Jagdruf der Männer und das Gebell der Hunde. Die wohlgenährten Rinder grasten zufrieden umher, die Hirten bereiteten den Aufbruch in die Dörfer vor, die Mädchen waren beschäftigt, die letzten Kübel aus dem Milchkeller auf die Wagen zu heben. Während Fürst Answald sein stattliches Vieh betrachtete, stand Ingo neben Irmgard. »Aus deinem Gesicht ist alle Fröhlichkeit gewichen«, flüsterte Ingo, »sag mir, was dich bedrückt!« Irmgard antwortete: »Ich beneide deine Ahnfrau, die im Federkleid dahin fliegen konnte, wohin sie wollte. Ich wünschte, ich könnte das auch.« »Vertraue mir doch!« bat Ingo leise. »Warum bist du so mutlos?« »Eines Tages wirst du es begreifen. Nur solange du bei uns bleibst, bin ich sicher …« Ihre Rede wurde durch wildes Jauchzen und fremdartiges Kriegsgeschrei unterbrochen. Ingo fuhr auf. Dann strahlte sein Gesicht vor Freude. Er eilte einer Schar Berittener entgegen. Die Männer sprangen ab, umringten ihn, hielten seine Arme, küßten seine Hände, umschlangen seine Knie. Ingo rief die einzelnen beim Namen. Das Glück dieser Stunde war so groß, daß er und die Neuankömmlinge eine ganze Weile die Anwesenheit des Fürsten und seiner Tochter vergaßen. Aber auch Answald und Irmgard wurden die Augen naß, und sie lauschten gebannt auf die schnellen Fragen und Antworten, auf das Lachen und Erzählen der Fremden. Endlich trat Ingo vor den Fürsten: »Verzeih mir, daß wir dich in der Freude vergaßen. Dies ist der Rest meiner Männer, sie haben mich gesucht und gefunden. Sie sind heimatlos wie ich, aber wir sind Blutsbrüder auf Leben und Tod.« 60
»Dann sind sie mir willkommen«, rief Answald aus ganzem Herzen. »Mein Hof ist groß genug, und die Scheunen sind gefüllt.« Ingo war völlig verändert. Seine Stimme klang gebieterisch, und seine Augen leuchteten vor Glück. Er führte die einzelnen Männer dem Fürsten vor und nannte ihre Namen. Als letzter trat ein bejahrter Krieger aus der Reihe, die Glieder wie aus Erz gegossen, mit festen Zügen und kühnem Blick. Ein Held, der gewohnt war, Gefahren zu bezwingen. »Dies ist Berthar«, stellte ihn Ingo vor. »Seit meiner Kinderzeit wacht er über mich und hielt mich vor meinem Onkel verborgen. Er ist mein Lehrer und mein zweiter Vater.« Das Tor des Herrenhofes wurde weit geöffnet. Der Fürst geleitete die neuen Gäste zu seiner Halle, und die Frauen begannen mit der Zubereitung des Begrüßungsmahles. Am nächsten Morgen hörte man emsiges Hämmern und Klopfen. Aus dem Vorrat von Balken und Sparren, der hochaufgeschichtet im Herrenhof lag, wurde ein Schlafsaal für die Vandalen gezimmert und ein Gehege für ihre Pferde. Nach wenigen Tagen war der Bau fertig. Jetzt kamen auch die Nachbarn und begrüßten die Fremden. Um den stillen Hof entstand ein lustiges Gewühl, und die hohen Gestalten der Vandalen schritten zwischen den Häusern einher. Sie lagen neben den Leuten des Fürsten auf den Stufen der Halle, sorglos lachend und gerne erzählend, wie es ihre Art war. Sie zogen mit den Einheimischen in die Wälder der Umgebung und besuchten die einzelnen Dörfer als willkommene Gäste. Aber es war nicht immer leicht, Frieden zu halten. Die Vandalen waren stolz und jähzornig, und die Leute des Fürsten achteten eifersüchtig auf alles, was sie taten. Die Fremden merkten auch bald, daß ihnen die Fürstin nicht gewogen war. Nur selten redete sie die Edelsten unter ihnen an, selbst den Helden Berthar nicht, obgleich er aus stolzem Geschlecht stammte. Sie suchte Grund zur Klage und fand ihn auch. Zwei von den Vandalen hatten mit zwei Mägden der Fürstin scharfe Worte gewechselt, hatten ihnen dann aufgelauert, die Widerwilligen geküßt und ihr Gewand verschoben. 61
Die Fürstin trat auf Ingo zu und erhob laute Anklage über die Unzucht seiner Leute. Ingo war tief gekränkt und hielt über die Schuldigen Gericht, schärfer als es nötig gewesen wäre. Auch Answald blieben die Streitereien nicht verborgen, und er besprach sich mit seiner Gemahlin. »Der Tadel wegen der Mädchen sollte für die Fremden nur eine Warnung sein, damit sie das Hofrecht achten«, erklärte ihm die Fürstin. »Es ist abgetan und wird nicht wieder vorkommen. Dein Gast ist ein vornehmer Mann, aber er bringt uns Unglück. Ich denke dabei an unsere Tochter. Jeden Tag liegt sie mir in den Ohren, wie verhaßt ihr mein Vetter sei.« Beinahe triumphierend setzte sie hinzu: »Sie denkt nicht daran, den Mann, den du für sie bestimmt hast, zu heiraten.« »Was hat Ingo damit zu schaffen?« fragte der Fürst ahnungslos. Die Frau sah ihn mit großen Augen an. »Hast du sie noch nicht beobachtet«, fragte sie vorsichtig, »wie sie mit dem Fremden spricht und wie er sie ansieht?« »Es wundert mich nicht, daß er ihr gefällt«, versetzte der Fürst, ärgerlich über das Geschwätz. »Die beiden denken aber an mehr als ans Gefallen!« »Das ist doch nicht dein Ernst!« Answald lachte böse. »Er ist ein Hergelaufener, ohne Hab' und Gut!« »Aber er sitzt ganz warm in unserem Nest.« Die Fürstin war zufrieden. Jetzt hatte sie wohl auch ihrem Mann die Augen geöffnet. Der Fürst schwieg verbittert. »Ich habe ihn wirklich mit ehrlichem Herzen empfangen«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Wenn er uns auch lästig wird, ich kann ihn nicht vom Hofe weisen. Aber es ist das Recht des Vaters, für die Tochter den Gemahl zu wählen, und ich denke, daß auch Irmgard dies einsehen wird. Ich habe deinem Vetter den Eid gegeben.« Seine Stimme klang nicht so fest wie sonst. »Der Vermählung im Frühjahr steht nichts im Wege.«
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Eine allgemeine Verstimmung machte sich am Herrenhof breit. Der Fürst erkannte, daß entweder dem Gast oder ihm selbst Gefahr drohte. Aber er war ein offenherziger Mann. Er erklärte Ingo, daß er die Häupter seines Gaues unter dem Vorwand einer Jagd zu einer neuerlichen Beratung geladen habe. Die Boten ritten aus, und drei Tage später saßen die Ältesten des Landes wieder am Herde des Fürsten versammelt. Diesmal war die Stimmung nicht mehr so fröhlich. Die Miene Answalds erschien kummervoll, als er die Sitzung eröffnete: »König Bisino hat einen Boten gesandt und meinen Gast an seinen Hof geladen. Der König fordert auch Ingos Kriegsgenossen für sich. Jetzt frage ich euch, ob wir seinem Gebot widersprechen sollen, oder klugerweise seinem Willen folgen.« Zögernd fuhr er fort: »Ich möchte mich über meine Gäste nicht beklagen. Aber ihre ungestüme Art ist uns fremd, und sie fügen sich nur schwer unseren Gebräuchen.« Isanbart nickte ernsthaft mit seinem grauen Kopf: »Als ich mit deinem Vater als Gast im Lande der Vandalen war, ist es uns ähnlich ergangen. Auch wir waren, glaube ich, in unserer Art den Vandalen fremd. Aber unsere Wirte lachten nur freundlich darüber und haben uns immer gebeten, länger zu bleiben.« Bero, der Bauer, erhob sich: »Ich möchte dich warnen, Herr, die Habgier des Königs ist gefährlich. Dennoch rate ich nicht, daß wir ihm unsere Gäste ausliefern. Will er sie mit Gewalt entführen, so soll er es versuchen. Ich würde lieber mit meinem ganzen Hof zugrunde gehen, als aus Furcht ein Gelöbnis brechen.« Auch Albwin stand auf: »Was der freie Bauer sagt, halte ich für richtig. Ich meine, wir müssen ein Versprechen halten, auch wenn es uns lästig wird. Wenn die Gäste aber freiwillig aufbrechen, dann sollten wir sie ziehen lassen. Es wäre ein Glück für uns, wenn das geschähe.« Die Männer redeten hin und her und kamen zu keinem Ergebnis. Unterdessen sang Hildebrand im Hof mit lauter Stimme den Jägerspruch und blies auf seinem Horn die Waidgesellen zusammen. 63
Gerüstet mit Speer und Armbrust, die Bracken an der Leine, eilten die Thüringe aus dem Hoftor. Die Vandalen erschienen mit dicken Speereisen, mit Bogen und Keulen, aber ohne Hunde. Hildebrand teilte den Jagdzug in zwei Haufen, Hofleute und Gäste gesondert. Die Jäger sprachen den Waidsegen. Das Horn rief, die Hunde zerrten an den Riemen. Fröhlich brachen die Jäger auf und grüßten die Frauen, die dem Auszug am Hoftor zusahen. Als die Vandalen bei Irmgard vorüberzogen, stimmten sie helle Jubelrufe an und senkten die Waffen vor ihr. Auch Ingo folgte dem Zug. Seit langem herrschte wieder gute Stimmung, und als fröhliche Gesellen betraten alle gemeinsam den Wald. Von den Jünglingen des Dorfes geführt, verschwand ein Haufe nach dem anderen in den Talwindungen und zwischen den Holzstämmen. Bald erschollen aus der Ferne die Schläge der Treiber, das Gebell der Meute und hin und wieder ein lustiger Hornruf. Die Vandalen hatten Jagdglück. Sie beschlichen eine Auerherde und stöberten den mächtigen Stier auf, von dem bereits am Hof erzählt worden war. Es gelang ihnen, die Herde von der Anhöhe in ein tieferes Tal zu treiben, wo der hohe Schnee die schweren Tiere am Laufen hinderte. An dieser Stelle warfen sich die Männer von oben gegen die riesigen Stiere und drängten sie mit Pfeilschüssen und Speerwürfen immer weiter abwärts. Sie erlegten die gesamte Herde, nur dem Leittier, einem gewaltigen Ungetüm, gelang es, nach einer unwegsamen Stelle auszubrechen. Da warf Ingo seinen Speer nach ihm. Das Blut des getroffenen Tieres färbte den Schnee. »Ich habe ihn!« rief Ingo. Der Jubelruf seiner Leute antwortete ihm. Aber der verwundete Waldriese arbeitete sich weiter empor bis zum Hochwald. In weiten Sprüngen folgte ihm Ingo, nur mit seinem kurzen Messer bewaffnet. Wieder brach das Tier, den Speer schleppend, in den Schnee ein, und während Ingo auf der Höhe vorwärts stürmte, um ihm zuvorzukommen, hörte er hinter sich das Gebell der Hunde. Jagdruf und Hornklang ertönte. Als er den Stier erreichte, fand er ihn am Boden liegend, den Speer Theodulfs im Leib. Der andere hatte seinen Fuß auf das Tier gesetzt und blies den Siegesruf. 64
»Der Stier gehört mir!« rief Ingo empört. »Ich habe ihm den Todesstoß versetzt.« Die beiden Männer standen einander dicht gegenüber. Heißer Haß sprühte aus ihren Augen. Da riß Ingo den Speer Theodulfs aus dem Leib des Stieres und warf ihn so weit, daß er in den Ästen einer Fichte hängenblieb. Einen Augenblick schien es, als ob der Thüring sich auf Ingo stürzen wollte, aber die stolze Haltung des Gegners verwirrte ihn. Er sprang zurück und hetzte die Meute seiner Hunde auf Ingo. Heulend fielen die wütenden Tiere Ingo an. Er verteidigte sich mit seinem Messer, und die Vandalen sprangen herzu, um ihren König zu retten. Sie trieben ihre Eisen den Hunden in die geifernden Rachen. »Die Jagd ist zu Ende!« rief Berthar befehlend. »Aber es beginnt eine neue. Der Bursche, der die Hunde auf meinen Herrn gehetzt hat, soll diesen Tag nicht überleben. Der letzte Hund, den wir heute schlagen, bist du!« Er erhob die Keule zum Wurf gegen Theodulf. Ingo umklammerte mit eisernem Griff Berthars Arm: »Überlaß ihn mir, Vater! – Du aber, Hildebrand, rufe die Männer zum Waidgericht. Sie sollen entscheiden, wer im Recht ist.« Die beiden Gruppen wählten gesondert je einen Mann. Die Richter begutachteten die Wunden des Stieres, folgten seiner Spur bis zu der Stelle, an welcher Ingos Speer das Tier getroffen hatte. Dann kehrten sie zurück und sprachen das Urteil: »Ingo ist Sieger, ihm gehört die Jagdbeute.« Ein wildes Leuchten flog über Ingos Gesicht. Schweigend schritten die Bankgenossen Answalds dem Hofe zu. Als einziger sprach Theodulf in seiner hochfahrenden Weise, um mit Worten den Grimm zu bewältigen, der in ihm kochte. Ohne Jagdruf betraten die beiden Gruppen den Hof. Es war finster geworden. Kein Halali-Gesang ertönte. Die Vandalen legten ihre Jagdbeute vor der Tür des Fürsten nieder, schieden grüßend von den Thüringen und versammelten sich still in ihrem Schlafsaal. Der Hof lag einsam im Wintersturm, aber in allen Häusern und in 65
der Halle summte das Geräusch halblauter, erregter Rede. Ingo wußte, daß es Zeit war, Abschied zu nehmen.
6. Liebe und Freundschaft Als der erste Dämmerschein in ihr Zimmer fiel, erhob sich Irmgard leise von ihrem Lager, um die schlafenden Wärter nicht zu wecken. Sie warf einen dunklen Mantel über das Hemd, öffnete vorsichtig die Tür und schritt über den leeren Hof. Die schweren Riegel am Tor waren zurückgeschoben. Sie eilte durch den Schnee den Hügeln zu, dorthin, wo sie mit dem Geliebten zum erstenmal gesprochen hatte. Als sie näher kam und am Bach eine hohe Gestalt in der Dämmerung erkannte, erschrak sie zuerst und blieb stehen. Dann erkannte sie Ingo. Er eilte ihr entgegen und nahm sie schützend in die Arme. »Ich wußte, daß ich dich hier finden würde«, flüsterte das Mädchen. »Du gehst, weil meine Familie dir die Treue gebrochen hat. Du wirst nicht gerne an uns zurückdenken, wenn du in der Fremde bist.« »Ich werde deiner gedenken, wo immer ich auch sein mag«, sagte Ingo. »Du bist das Liebste, das ich habe, und das gibt mir Mut.« Er zog eine kleine Tasche aus Otterfell aus seinem Mantel und gab sie Irmgard. »Die Fahne des Caesar ist darin«, erklärte er leise. »Bewahre sie gut auf! Ich glaube, daß auch mein Schicksal daran hängt. Wenn ich nicht wiederkehre, dann suche mein Grab und senke die Tasche in die Erde, damit kein Fremder sie jemals findet.« Irmgard begann zu weinen. Mit beiden Händen drückte sie die Tasche an sich. Ingo trocknete ihr die Tränen. »Sei nicht traurig«, bat er. »Eines Tages werde ich wiederkommen und dich zu mir holen.« »Ich warte auf dich«, sagte Irmgard leise. Dann riß sie ein Band von ihrem Gewand ab und knüpfte es um seinen Arm. »So will ich dich an mich binden, damit du nicht vergißt, daß du mir gehörst, so wie ich dir.« 66
Sie hielten einander fest umschlungen. Einige Stunden später ritten die Vandalen aus dem Dorf. Ingo schwieg. Seine Gedanken flogen zurück zu dem Mädchen, das er liebte. Am Mittag kamen sie zu dem Ort, den man ›Freies Moor‹ nannte. Dort stand der Hof des freien Bauern Bero. Die Sonne funkelte auf dem Schnee, und an den Weiden glitzerte der Reif. Als die Reiter den Hof erreichten, traten Bero und seine Söhne unter das Tor. Der Alte rief Ingo entgegen: »Mein Haus ist das letzte, dem du auf deinem Ritt in die Fremde begegnest. Im Namen des ganzen Gaues will ich euch unsere Freundschaft zeigen. Steigt ab und wärmt euch an unserem Herd.« Die Reiter folgten dieser Aufforderung. »Meine Gastfreundschaft«, erklärte Bero stolz, »soll sich anders erweisen als die des Fürsten.« Darauf ergriff er selbst die Zügel von Ingos Pferd und geleitete seine Gäste durch das Hoftor. Die Wirtin bot den Vandalen eine Menge schmackhafter Gerichte an. Endlose Reihen von dampfenden Schüsseln wurden aufgetragen, und jeder wurde genötigt, tüchtig zuzugreifen. Später führte Bero Ingo und Berthar in seine Kammer. Dort saßen die drei um einen kleinen Tisch, und der Hausherr füllte ihre Töpfe mit kräftigem Met, der vom Alter schwärzlich und dick wie Honigseim war. »Meine Mutter hat ihn noch gebraut, als sie an diesen Hof kam«, sagte Bero empfehlend. Dann hob er seinen Krug und begann feierlich: »Unsere Väter haben uns gelehrt, daß die Götter die Edlen erschaffen haben, die freien Bauern und die Knechte. Jedem haben sie ihre besonderen Gaben verliehen. Euch, das Volk im Kampf anzuführen. Uns dagegen, im Sommer und Winter über die Fluren zu walten, und den Knechten, der Arbeit nachzugehen. Der Edle und der freie Bauer – beide können einander nicht entbehren.« Die Gäste erfreuten sich an dieser Rede und nickten Beifall. Bero fuhr bedächtig fort: »Ich habe euch manche Woche lang beobachtet und gesehen, daß ihr ehrliche Leute seid. Darum meine ich, wir könnten einander nützlich sein. Vom Fürsten habt ihr nichts mehr zu erhoffen. Erwartet aber auch nichts vom König! Er ist mißtrauisch und nei67
disch gegen jedermann, der ihm nicht dient.« Bero bot Ingo seine kräftige Hand. »Mein Dach ist weit genug für Männer wie euch!« »Halte mich nicht für undankbar«, erwiderte Ingo, »wenn ich deinem Rat nicht folge.« Bewegt ergriff er die Hand des Bauern. »Ich selbst habe dem König meine Zusage gegeben.« Die drei Männer saßen noch lange im Gespräch. Draußen drehten sich die Gefährten Ingos zum Klang von Schalmei und Sackpfeife jauchzend mit den Mägden des Bauern im Tanz.
7. Ingo am Königshof Der Wächter Wolf, der die kleine Schar der Vandalen anführte, hielt sein Pferd an. Er wies mit der Hand in die Ferne. Vor ihnen erhob sich aus der schneebedeckten Landschaft die mächtige Burg König Bisinos: hohe Mauern, dicke Türme und Zinnen, dazwischen die rotbraunen Ziegeldächer der Königshäuser. »Es wird leicht sein, hineinzukommen«, brummte Berthar, »das Herauskommen wird schwieriger sein.« Ein kurzer Hornton erklang von den fernen Zinnen. »Der Türmer rührt sich schon«, lachte Ingo. »Wir wollen uns in Trab setzen, damit sie sehen, wie gern wir kommen.« Durch einen Hohlweg ritten die Männer dem steinernen Außenwerk zu, das der Zugbrücke vorgebaut war. Das riesige Tor war geschlossen. »Sie scheinen sich auf unseren Besuch zu freuen!« schrie Berthar und schlug mit dem eisernen Klopfer an das Holz. Vom Turm herunter fragte ein Wächter nach ihren Namen. Ingo antwortete für seine Leute. Es dauerte eine geraume Weile. Die Pferde stampften schon ungeduldig. Endlich öffnete sich das Tor knarrend, und die Brücke wurde mit lautem Rasseln herabgelassen. Die Reiter sprengten in den Hof. 68
Von allen Seiten drängten sich bewaffnete Männer um die Vandalen. Der Sprecher des Königs trat ihnen entgegen. Wieder erklang Frage und Antwort, und schließlich forderte der Sprecher die Reiter mit finsterer Miene auf abzusteigen. Wortlos geleitete er sie zur Königshalle. »Wo ist der Hausherr?« rief Berthar unwillig. »Mein König ist nicht gewohnt, die Schwelle eines Hauses zu betreten, ehe der Gastgeber darauf steht.« In diesem Augenblick öffnete sich die Türe der Halle. König Bisino und einige seiner Edelleute standen am Eingang, neben ihnen Frau Gisela. Ingo trat auf die Stufen und verneigte sich. »Wir haben lange vergeblich auf dich gewartet«, begann der König unwillig. »Deine Pferde scheinen nicht die schnellsten zu sein.« Frau Gisela trat einen Schritt vor und bot dem Gast freundlich die Hand: »Als ich noch ein Kind war, nicht größer als mein Sohn hier, habe ich dich schon einmal gesehen, Ingo. Wir wollen die alte Freundschaft erneuern.« Sie beugte sich zärtlich zu einem blauäugigen Knaben nieder: »Sieh zu, daß du ein Held wirst wie er, und reiche dem Vetter die Hand.« Ingo hob das Kind zu sich empor und küßte es. Der Knabe legte ihm vertraulich die Ärmchen um den Hals. Bisino trat nun freundlich näher, tauschte höfliche Worte der Begrüßung und geleitete Ingo in die Königshalle.
Es war schon spät, als Ingo, von einem Kämmerer und einem Fackelträger begleitet, vom Abendessen mit dem König zum Schlafsaal seiner Leute zurückkehrte. Der alte Berthar saß vor dem Eingang, das Schlachtschwert zwischen den Beinen, seinen Schild an einen Pfosten gelehnt. Im Fackellicht schimmerte sein Panzer unter dem dunklen Lodenrock. Ingo entließ die Diener des Königs, und Berthar steckte die Fackel an den Docht des mannshohen, eisernen Leuchters, der in der Mitte des Raumes stand. Der Lichtschein fiel auf die Reihen der Männer, die auf Polstern am Boden schliefen. 69
»Du hast auf mich gewartet, Vater«, sagte Ingo überrascht. »Wie gefällt dir unser neuer Wirt?« »Er schielt«, lachte der Alte. »Je mächtiger ein König, um so mißtrauischer ist er. Die Abendkost war mager, aber die Königin sandte Wein und süßes Zeug, und jetzt liegen deine Leute zufrieden im Schlaf. Sei auf der Hut, dieser Saal ist der einzige Bau aus Holz in der ganzen Burg. Wenn es einem der Königsleute etwa bei Nacht einfällt, die Fackel daran zu legen und die Tür zu verschließen – wird das Knistern die Ruhe des Burgherrn kaum stören.« Ingo wechselte einen Blick des Einverständnisses mit dem Alten und fragte leiser: »Und wie haben die Soldaten des Königs die unseren aufgenommen?« »Sie schlichen wie Füchse um unser Nest, prahlten mit der Macht ihres Herrn und prüften unsere Waffen.« »Noch weiß Bisino selbst nicht, was er will«, erklärte Ingo, »aber die Königin meint es gut mit uns.«
Für den nächsten Tag war eine große Jagd verkündet. Ingo und ein Teil seines Gefolges warteten auf den Aufbruch. Die Hörner bliesen den Morgengruß. Endlich erschien König Bisino, der die Jagd noch mehr liebte als einen guten Trunk. Freundlich begrüßte er seinen Gast: »Hast du gut geschlafen, Vetter? – Ich habe gehört, daß du ein Verwandter meiner Königin bist, sei mir auch als Blutsfreund herzlich willkommen an meinem Hof.« Die Leute des Königs sahen einander erstaunt an. Als Ingo schwieg, fuhr Bisino mit fröhlich polternder Stimme fort: »Heute sollst du dich an meiner Seite im Jagdglück versuchen.« Er bestieg sein Pferd, das Tor flog auf, die Brücke senkte sich. Die Hunde stürmten ins Freie, hinter ihnen der Zug der Jäger.
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Von den Zinnen hatte die Königin den Auszug der Jäger verfolgt, bis sie im Eichenwald ihren Blicken entschwunden waren. Jetzt rief sie den Kämmerer und stieg mit ihren Mägden in den leeren Hof hinab. Zur Verwunderung ihres Gefolges hielt sie bei der Küche an und besprach mit dem Koch das Festmahl für den Abend. Als sie am Schlafsaal der Vandalen vorüberkam, hörte sie Hammerschläge. Berthar saß unter der Tür und schärfte mit dem Hammer die Schneiden der Wurfspeere. Die Königin winkte ihrem Gefolge zurückzutreten. »Welches Wild gedenkst du zu erlegen?« fragte sie den Vandalen. »Und warum bist du nicht mit auf die Jagd geritten?« »Es könnte sein, daß ein anderes Halali geblasen wird«, versetzte Berthar zweideutig. »Die Jagdlust deines Königs ist berühmt.« »Das ist die Sprache stolzer Gäste«, erwiderte Frau Gisela mit gezwungenem Lächeln. »War euch das Leben im Walde lieber?« »Wir sind Wanderer, Herrin«, antwortete Berthar ernst. »Wir sind heimatlos und haben keine Wahl. Dich aber verehren wir von Herzen, und mein Herr hält dir auch ohne Zwang die Treue.« Die Königin trat näher an Berthar heran und flüsterte ihm zu: »Dort in dem Turm ist mein Gemach. Wenn zu der Jagd gerüstet wird, von der du sprichst, so wird ein Licht in meinem Fenster dich warnen.« Sie winkte ihm grüßend und wandte sich ihrem Gefolge zu. Berthar sah ihr nach, ergriff dann wieder seinen Hammer und setzte die Arbeit fort. Der König war in seiner Jagdlust den anderen weit vorausgeritten und an einem steilen Abhang vom Pferd gesprungen. Er glitt im Eis aus und lag einen Augenblick wehrlos vor den Hörnern eines wilden Ochsen, den er aufgestöbert hatte. Ingo sprang herzu und erlegte das wütende Tier. Unverletzt erhob sich der König. Einen Augenblick lang sah er Ingo forschend in die Augen. Dann sagte er herzlich: »Mein Leben lag in deiner Hand – ich danke dir.«
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Beim Festmahl am Abend war Bisino so guter Laune, wie ihn noch keiner gesehen hatte. »Heute freue ich mich des Jagdglücks«, begann er, »meiner Herrschaft und des reichen Goldgeräts, das ihr hier sehen könnt. Ich trinke auf das Wohl meines Gastes Ingo, der sich im Kampf mit dem Bergstier als Freund erwiesen hat.« Diese Worte gefielen den Helden, die um den Königstisch saßen. Sie nickten beifällig. Die Stimmung wurde immer fröhlicher. »Auch die Alemannen waren ein reiches Volk, bis der Caesar ihr Land verwüstet hat«, warf Ingo ein. »Aber ich glaube, sie können sich manches zurückgewinnen, denn sie sind tüchtig und verstehen sich auf den Handel. Dazu leben sie römischer als andere Landesgenossen. Die Bauern wohnen dort in Steinhäusern, und die Frauen haben viele römische Sitten gelernt. Sie verstehen sich sogar aufs Malen und Sticken.« »Kennst du auch Römerfrauen?« fragte Gisela neugierig. »Sie sind schön«, erwiderte Ingo, »ihre Haut ist braun, ihre Haare sind schwarz. Sie sind behend in ihren Bewegungen und auch in der Sprache.« »Warst du im Römerland?« »Zwei Jahre sind es her«, bestätigte Ingo. »Ich begleitete den jungen König Athanarich in die Kaiserstadt Trier. Ich sah dort hohe Wölbungen und Steinmauern, wie von Riesen errichtet. Das Volk lacht gern und spaziert dichtgedrängt in den Straßen. Aber die Krieger, die ich dort getroffen habe, sprechen unsere Sprache und haben unsere Augen. Sie nennen sich zu Unrecht Römer.« »Die Römer geben uns ihre Weisheit, wir leihen ihnen unsere Kräfte«, sagte einer aus dem Gefolge Bisinos. »Ich lobe den Tausch.« »Ich halte wenig von der Weisheit der Römer«, brummte Berthar. »Ich war schon einmal in einer ihrer großen Steinburgen. Die Häuser stehen dort so eng wie eine Schafherde im Gewitter. Ich habe kein einziges Haus gesehen, wo Raum genug war für einen Hof oder eine Dungstätte.« Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wenn sie in Not sind, hocken sie schamlos wie Hündchen auf der Straße, anstatt zu 72
arbeiten. Ich schlief einmal in einem solchen Steinloch. Die Wände und der Fußboden waren glatt und schimmerten in bunten Farben. Mir war eng zwischen diesen Mauern während der Nacht, und ich war froh, als am Morgen eine Schwalbe sang.« Der Alte begann geheimnisvoll zu flüstern: »Zur Nacht hatte es geregnet, und in einer Wasserlache am Boden sah ich im Morgenlicht zwei Enten. Nicht leibhaftig, sondern auf den Stein gemalt. Ich trat näher, schlug mit meiner Axt in den Steinboden und fand ein lächerliches Werk, aus vielen kleinen Steinchen zusammengesetzt. Jedes davon war in den Boden gekittet und oben glattgeschliffen. Aus diesem bunten Zeug waren die Vögel gemacht, die wir Enten nennen. Es war eine Arbeit, an der mehrere Männer viele Tage geschafft haben. Das erschien mir unsinnig.« Die Männer lachten. »Vielleicht gilt ihnen die Ente als heiliger Vogel, da es sie dort seltener gibt als bei uns«, sagte einer von den Leuten aus dem Gefolge der Königin. »Aber du hast recht. Sie schleifen bunte Steine und machen daraus Bilder, wie bei uns die Kinder. Und beim Essen liegen sie herum wie die Frauen im Wochenbett.« Der König ergriff das Wort: »Ich habe gehört, daß sie an einen Christus glauben. Es scheint etwas daran zu sein, denn sie sind jetzt siegreicher als früher. Man spricht eine Menge darüber, aber niemand weiß etwas Genaues.« »Die Christen haben wenige Götter«, erklärte Berthar wichtig, »oder vielleicht sogar nur einen mit drei Namen. Vielleicht sind es auch drei: Der eine heißt Vater, der andere Sohn und der dritte …« »Der dritte muß der Teufel sein!« unterbrach ihn Wolf. »Ich war unter den Christen, und ich sage euch, sie sind Zauberer. Ich habe ihr geheimes Zeichen gelernt und ihren Segen, der sie vor allen Schäden bewahrt.« Angstvoll schlug er ein Kreuz über seinen Weinkrug.
Als der König später allein mit Ingo zusammensaß, wurde er gesprächig. »Ich mag dich gut leiden, Ingo, nur eines vergesse ich dir nicht: 73
daß du dich mit meinen Bauern in den Waldhütten verbündet hast. Sie waren von jeher aufsässig, und ich habe schon gefürchtet, daß du etwas gegen mich angezettelt hast.« »Du hast keinen Grund zur Sorge«, gab Ingo zurück. »Ich werde nicht dorthin zurückkehren.« »Dann hat also die Freundschaft ein rasches Ende gefunden«, stellte der König zufrieden fest. »Aber wenn ich dir glauben soll, dann mußt du mir mehr erzählen.« »Wenn du mir versprichst, König, daß du Schweigen darüber bewahren wirst …« Der König hob schnell das Schwert, hielt die Schwurfinger darauf und gelobte. Neugierig rückte er näher. »Ich habe Irmgard, die Tochter des Fürsten, ins Herz geschlossen«, begann Ingo. Er zögerte und setzte hinzu: »Sie ist dem Neffen des Sintram verlobt.« Der König lachte laut. »Da tust du allerdings Unrecht, wenn du sie begehrst. Außerdem bist du ohne Erbe. Wie käme Fürst Answald dazu, seine Tochter einem Fremden zu geben? Ja, selbst wenn er wollte, dürfte ich als König eine solche Heirat nie zulassen.« »Das sind unfreundliche Worte, die du mir da sagst.« Ingo blickte feindselig auf den König: »Ich meine, du solltest den Stolz eines Unglücklichen nicht verletzen.« Bisino schlug auf seinen Weinkrug, wie immer, wenn ihn etwas belustigte. »Am liebsten würde ich das Mädchen einem meiner Leute vermählen. Ich sähe es nicht gerne, wenn die Familie des Sintram einmal im Walde regieren würde. Aber auf jeden Fall werde ich verhindern, daß du dort Fürst wirst. Denn wie der Geruch des Honigs die Bären anlockt, würden sich alle streitlustigen Fäuste in deinem Hof versammeln. Du würdest mir, dem Landesherrn von Thüringen, bald feindlich gesinnt sein. Begreife das doch!« schloß er begütigend und füllte Ingos Becher nach. »Ich werde nie zulassen«, rief Ingo zornig, »daß ein anderer Mann das Mädchen bekommt!« Jetzt lachte der König so laut, daß Tisch und Bank erzitterten. »Je 74
länger du redest, desto lieber höre ich dir zu, wenn du auch trotzig bist. Du wirst deinen Willen durchsetzen. Bezwinge den Vater, schaffe den Nebenbuhler aus dem Weg, den stelzbeinigen Narren, und hol dir dein Mädchen! Von ganzem Herzen will ich dir dabei helfen.« »Ich verstehe dich nicht mehr«, sagte Ingo. Er sah mißtrauisch auf den König. »Zuerst bist du dagegen und jetzt dafür.« Unwillig stand er auf und trat ans Fenster. »Setz dich wieder zu deinem Becher!« rief der König. »Du hast alles, was einem Mann zur Ehre gereicht, nur eines fehlt dir: die Überlegung.« Ingo setzte sich. Bisino fuhr fort: »Seit ich König bin, machen mir die Waldleute meine Herrschaft streitig. Darum war mir auch der Gedanke unerträglich, dich bei Answald zu wissen. Du hättest einen guten Heerführer gegen mich abgegeben, und ich hätte gegen dich streiten müssen, obwohl ich dich gut leiden mag. Wenn du das Mädchen aus seiner Heimat entführst, dann brauche ich mich nicht zu sorgen, daß die Herrschaft im Walde fortgesetzt wird.« »Ich will nicht den Herrensitz, sondern nur die Tochter, wenn es mir auch leid ist, daß Irmgard meinetwegen die Heimat verlieren soll.« Bisino machte die Augen klein und zwinkerte schlau. Ingo mußte über das listige Gesicht des Königs lachen. Sein Unwille verflog. »So ist es recht!« rief der König munter. »Begrab deine Sorgen! Vergiß deinen Becher nicht. Mit dir trinke ich lieber als mit jedem anderen.« Er nahm einen tiefen Schluck. Sein breites Gesicht glänzte vor Genugtuung. »Als du hierher kamst, war ich dir nicht günstig gesinnt. Der Römer Tertullus hat mir ein hochherziges Angebot gemacht für den Fall, daß ich dich dem Caesar ausliefere. Doch jetzt, da ich dich kenne, behalte ich dich lieber für mich selbst.«
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8. Die letzte Nacht Um die Türme der Königsburg tobte der Wintersturm. Zu den Jagden, die der König für seine Gäste veranstaltet hatte, kam noch ein Kriegszug gegen einen Gau der Sachsen. Die Vandalen ritten mit den Königsleuten. Siegreich und mit Beute beladen kehrten sie zurück, und obwohl Bisino oft verdrossen war über den langen Aufenthalt seiner Gäste, so war er doch voll des Lobes über ihr Kriegsglück. Das Frühjahr kam, der Schnee schmolz, neues Grün schoß aus dem Boden, und an Birken und Haseln hingen die braunen Kätzchen. Die ersten Wandervögel kamen aus dem Süden zurück und mit ihnen der Sänger Volkmar. Er hatte allerlei Neues zu berichten, und Ingo erzählte er von der Trauer und der Sehnsucht eines Waldmädchens. Unter den Leuten Answalds herrsche Unfrieden, und Theodulf sei oft am Hofe des Fürsten. Die Hochzeit mit Irmgard sei für Mai festgelegt. Bald sprengte der Strom die Eisdecke und ergoß seine Fluten über das junge Grün der Wiesen. Der Falkner des Königs hatte für Hermin, den kleinen Sohn Bisinos, zwei junge Bussarde abgerichtet und erbat eines Morgens die Erlaubnis zum Ausritt, um die Kunst der geflügelten Jäger vorzuführen. Das Pferd des Königs war schon gesattelt, als ein Bote in den Hof ritt und eine Nachricht brachte. Bisino ließ sein Roß zurückführen und schickte seinen Sohn mit der Königin und Ingo allein auf die Jagd. Die Sonne schien warm. Ingo ritt neben der Königin. Der Falkner löste dem Bussard die Haube, jauchzend jagte der kleine Prinz hinter dem Vogel her. Ingo und die Königin folgten langsamer. Mit geröteten Wangen tummelte Gisela ihr feuriges Pferd und lachte ihrem Begleiter zu, der sich über die schöne Frau an seiner Seite freute und vorsorglich 76
auf die Sprünge ihres Rosses achtete. Als er einmal helfend in den Zügel griff, hielt die Königin an. »Erinnerst du dich, wie wir als Kinder zusammen geritten sind?« fragte sie leise. »Damals hatte ich immer Angst, aber ich wollte es dich nicht merken lassen.« »Ich habe es nie vergessen.« Gisela dankte ihm mit einem so freundlichen Blick, daß Ingo nach ihrer Hand griff und sie festhielt. Übermütig riß sie sich los und jagte ihr Pferd aufs neue in wilden Sprüngen über das Feld. Ingo blieb nachdenklich hinter ihr zurück, bis sich beide wieder dem Jagdzug anschlossen und dem kämpfenden Bussard zuriefen, der mit einem Wasserhuhn in den Fängen herabsank.
Als sie von der Jagd zurückkehrten, herrschte in der Königsburg ungewöhnliche Bewegung. Berthar lief Ingo entgegen: »Während du draußen den Habichten nachgeschaut hast, hat sich ein anderer Raubvogel bei uns eingenistet. Der Caesar hat einen neuen Boten geschickt, und wer, meinst du, ist es? Der Franke Harietto, der wilde Bursche! Erinnerst du dich, wie er einmal den Sachsen nach der Schlacht die Köpfe abschneiden und sie wie Kohlhäupter auf Stangen stecken ließ? – Der König ist ganz verlegen, und seine Leute grüßen uns kaum mehr.« Berthar lachte höhnisch. »Eben hat der Kämmerer verkündet, du solltest heute abend besser mit uns essen, damit du nicht mit den Römern zusammentriffst.« »Ich werde mich nicht verstecken«, versetzte Ingo. Er nahm den kleinen Prinzen bei der Hand und führte ihn in den großen Burgraum vor der Königshalle. Dort standen die Fremden bei ihren Pferden, und der König stellte dem Gesandten seine ältesten Krieger vor. Harietto, der römische Franke, überragte alle um Haupteslänge. Wie ein Riese stand er da, mit gewaltigen Schultern und Gliedern. Seine 77
Arme waren mit Ringen besteckt. Auf seinem Schuppenpanzer prangte das goldene Kaiserbild. Als er Ingo erblickte, zuckte seine Hand nach dem Schwert, als denke er daran, den Feind seines Kaisers auf der Stelle zu erledigen. Ingo trat freundlich lächelnd auf ihn zu: »Es war ein heißer Tag, als wir uns das letzte Mal begegneten, Harietto. Mir scheint, dein Blick war damals ehrlicher. Willst du mir nicht die Hand bieten?« »Ich würde dir gerne sagen, daß ich mich freue, dich zu sehen, aber ich bin als Bote des großen Römers hier, und er ist dir nicht zugetan.« »Du folgtest der Fahne der Fremden, ich meinen Landgenossen«, gab Ingo zurück und wandte sich zum Gehen. Harietto, der Franke, folgte dem König in den Saal, wo seine Begleiter die mitgebrachten Geschenke aufgestellt hatten. Bisino schaute begehrlich auf die goldenen Schalen und Becher, die mit eingesetzten Edelsteinen verziert waren. Harietto bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Als der König alle Zuhörer fortgeschickt hatte, forderte der Franke die Auslieferung Ingos. Bisino saß lange schweigend und erklärte endlich, daß die Forderung allzu hart für ihn sei und daß er Zeit brauche, um eine Antwort zu finden. Harietto entfernte sich. Er lagerte sich mit seinem Gefolge unter die Männer des Königs, trank mit ihnen und teilte wertvolle Geschenke aus. Bisino ging in sein Schatzhaus. Er setzte sich auf einen Schemel und sah nachdenklich auf die neuen Geschenke. Er zählte die Schnüre, an denen seine eigenen goldenen Armringe aufgereiht waren, seine großen Schüsseln und Kannen, die goldenen Becher und die Trinkhörner. Schließlich hob er eine schwere silberne Schüssel auf und betrachtete sein Spiegelbild auf der glatten Fläche. Da fühlte er sich leise am Arm gefaßt. Er fuhr zusammen und griff nach seiner Waffe. Vor ihm stand seine Gattin und sah ihn spöttisch an. »Mein König will seinen Freund an die Römer verkaufen?« »Würde ich so lange überlegen, wenn ich es wollte?« murrte Bisino. »Aber dieser Ingo sitzt wie ein Uhu auf meinen Bäumen, und alles Ge78
flügel der Luft schießt herbei und hackt auf ihn ein. Es wird nicht mehr lange dauern, dann kommen auch die Könige von der Oder und verlangen, daß ich ihn ausliefere.« »Du täuschst mich nicht!« unterbrach ihn Gisela. »Ich sage dir nur das eine: Einem meineidigen Nilann, der um römisches Gold seinen Gast verkauft, verweigere ich Tisch und Lager.« »Du gehst zu weit!« begehrte der König auf. »Wer sollte dir denn ins Gewissen reden, wenn nicht deine eigene Frau?« lenkte die Königin ein. »Getraust du dich nicht, Ingo vor den Römern zu schützen, dann entlasse ihn wenigstens von deinem Hof. Es ist besser, schwach zu sein, als treulos.« »Damit er dann als mein Feind wiederkehrt?« »Du kannst ihn durch einen Schwur binden«, sagte die Königin und setzte hinzu: »Ich glaube, er wird sein Versprechen immer halten.« »Willst du ihn dazu überreden?« fragte Bisino lauernd. »Das muß ich wohl«, erwiderte Gisela tonlos, »wenn es dir nützt.« »Dann bitte ihn noch heute nacht um eine Unterredung.« Gisela eilte in ihr Gemach zurück. Atemlos riß sie die Fackel von dem hohen Leuchter und hielt sie zum Fenster hinaus, daß der Rauch und die lodernde Flamme an die Turmzinne wehte und die Eulen erschreckt aufflogen. Nach wenigen Augenblicken antwortete ein einzelner Jagdruf vom Lager der Vandalen. Die Königin zog den Leuchter zurück und schob den Teppich vor die Fensteröffnung. Kurz darauf betrat Ingo das Gemach der Königin. Er trug keine Waffen. »Du hast mich rufen lassen, Herrin«, begann er. Er sah sich in dem geschmückten Raum um, blickte bewundernd auf die gestickten Teppiche an den Wänden und auf die kostbaren fremdländischen Geräte. »Seit ich meine Mutter verlor, war ich nicht mehr im Prunkgemach einer Königin. Aber du siehst so ernst aus, Base Gisela.« Er ergriff ihre Hand. Ein freundliches Lächeln überflog das bleiche Gesicht der Königin. Sie entzog ihm ihre Hand. 79
»Du bist die breiten Treppen heraufgekommen«, sagte sie leise, »aber es kann sein, daß du dich durch einen Sprung vom Turm retten mußt.« »Mich wundert nichts mehr«, sagte Ingo. »Am Fuß der Treppe bin ich einigen eurer Krieger begegnet. Sie sind bewaffnet bis zu den Zähnen.« Er wandte sich ab. »Ich bin müde, Königin«, sagte er. »Jedem Hausherrn bin ich verleidet, sie hetzen mich wie einen tollen Wolf von Hof zu Hof. Aber von den Römern lasse ich mich nicht fangen!« Er ergriff bittend ihre Hand. »Wenn du auch nichts für mich tun kannst, vielleicht gelingt es dir, ein Wort für meine Leute einzulegen. Sie kämpfen gern, aber sie fürchten sich vor der unsichtbaren Gefahr. Wir sitzen in der Falle, Gisela, und die Falle ist eure Burg.« Gisela hatte ein Geräusch gehört. Entsetzt starrte sie auf die Wand. Im selben Augenblick öffnete sich eine verborgene Tür, die in ihr Zimmer führte. Bisino trat ein. Er hatte das Schwert gezogen. Gisela fiel dem König in den Arm. Die Waffe klirrte zu Boden. Ingo ergriff sie blitzschnell und rief: »Jetzt halte ich dein Leben in der Hand, König Bisino. Deine Rüstung wird dir wenig nützen, wenn ich das tun wollte, was du mir zugedacht hast. Danke deinem Gott, daß mir der Gastschwur heiliger ist als dir.« Er warf dem König die Waffe vor die Füße. »Du sprichst wie ein Mann«, sagte Bisino gefaßt. »Hole auch du dein Schwert, wir wollen ehrlich kämpfen.« »Ich habe dir Frieden geschworen«, erwiderte Ingo ruhig. »Der Eid ist gebrochen«, sagte Bisino. »Hebe die Waffe!« »Ich kämpfe nicht mit dir um mein Leben. Deine Königswürde ist mir heilig. Du magst mich töten, doch meine Leute sollen verschont bleiben.« Im selben Augenblick erklang unten Geschrei und Kriegsruf. Ingo fuhr auf. »Sieh dich vor, König. Wenn du dein Versprechen nicht hältst – ich weiß ein Mittel, dich zu zwingen.« Er lief aus der Tür. »Du wirst nicht weit kommen«, schrie ihm der König nach. Ingo ergriff sein Schwert, das er vor seinem Eintritt in das Gemach 80
der Königin abgelegt hatte, und stürmte in das Zimmer des kleinen Prinzen. Er riß das schlafende Kind vom Lager auf und eilte mit ihm zum König. Bisino fuhr entsetzt zurück, als er seinen Sohn in den Armen Ingos erblickte. »Geh voran, König Bisino!« rief Ingo befehlend. »Das Leben deines Sohnes ist mein Pfand. Er soll mir für die Sicherheit meiner Leute bürgen.« Gisela, außer sich vor Entsetzen, sah den beiden Männern nach, die die Steintreppe hinabeilten. Ob sie wünschen sollte, daß Ingo entkam? Sie empfand Haß gegen ihn, weil er ihr Kind gepfändet hatte, und doch bangte sie um sein Leben und fürchtete die Wiederkehr des Königs. Sie lief ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Eine Weile hörte sie noch wildes Geschrei, dann wurde es still. Die Nacht war schwarz und unsicher wie ihr eigenes Schicksal. Auf den letzten Stufen vor der Turmtüre hielt Ingo an. »Verjage die Hunde, damit sie deinen Sohn nicht beißen!« herrschte er den König an. Bisino gehorchte widerwillig. Ingo eilte an ihm vorbei. Der König vermochte ihm kaum zu folgen. Vor dem Schlafsaal der Vandalen standen Leute des Königs. Sie trugen Schild und Speere, manche sogar Fackeln. Auf dem Boden vor den Stufen brannte ein Feuer. Unheimlich beleuchtete der Schein den dunklen Saal und die finsteren Gesichter der Thüringe und Vandalen. Laute Rufe tönten Ingo entgegen, als er, den Königssohn auf dem Arm, näher kam. »Weicht zurück, Helden der Thüringe!« rief Ingo. »Der junge König gebietet euch Frieden.« Er wandte sich Bisino zu: »Tritt friedlich in das Schlafgemach deiner Gäste – nicht mit den Waffen werden wir unseren Streit enden!« Der König winkte seinen Leuten, den Zugang freizugeben. Sie nahmen am Lager Ingos, das auf einer Erhöhung in der Halle stand, Platz. Bisino blickte finster vor sich hin: »Du glaubst, mich durch die Be81
drohung meines Sohnes zu zwingen, daß ich dich und deine Landstreicher verschone«, begann er. »Aber wenn du dich auch heute meinem Zorn entziehst, er trifft dich doch morgen oder zu einer anderen Zeit.« »Ich erkenne deine Macht an«, antwortete Ingo höflich. »Und ich weiß, daß es mir nichts nützen würde, über deine Brücke davonzureiten, wenn dein Haß mich verfolgt. Ich will nicht gegen dich kämpfen, denn du bist mein Wirt und hast mich freundlich aufgenommen.« »Deine Worte sind verständig, wie immer.« Die Stimme des Königs wurde ruhiger. »Ich weiß, daß du im Grunde redlich bist, und ich verfolge dich ungern. Aber der Caesar fordert, daß ich dich an seinen Boten ausliefere.« »Seit wann gehorchst du fremden Befehlen?« Der kleine Hermin kniete nieder und umschlang die Knie seines Vaters. »Tu meinem Vetter nichts zuleide!« bat er. Lange sah der König auf das Kind nieder. »Du weißt nicht, worum du mich bittest«, sagte er endlich milde. Entschlossen wandte er sich Ingo zu: »Wenn du mir schwörst, dich niemals an mir und meinem Sohn zu rächen und dich nie mit den Waldleuten gegen mich zu verbünden, so will ich dich aus meiner Burg und aus meinem Land entlassen.« »Diesen Eid nehme ich auf mich«, sagte Ingo. »Aber gelobe auch du mir beim Leben dieses Knaben, mich nicht weiter zu verfolgen.« Der König sprang auf: »Bringt Becher und Met!« rief er. »Wir wollen auf Ingos Abschied trinken.« Willig regten sich die Leute auf den Stufen. Der Mundschenk rannte und trug silberne Platten und Trinkgefäße herbei. Über dem Becher gelobten Ingo und der König, einander die Treue zu halten. Friedlich schied Ingo von Bisino und dem kleinen Prinzen. Als sie den äußeren Burghof erreicht hatten, gebot Berthar den Vandalen: »Reitet im Schritt, damit sie nicht am Ende meinen, daß wir uns vor ihnen fürchten!« Als das Tor sich hinter den Gästen geschlossen hatte, wandte sich der 82
König an seine Männer: »Hütet euch, jemals von dieser Nacht zu sprechen!«
Am anderen Morgen hielt Bisino dem erstaunten Harietto beim Frühstück eine überaus höfliche Rede: »Um des großen Caesar willen habe ich alles getan, was in meiner Macht stand. Dem Gebannten habe ich das Gastrecht gekündigt und ihn ohne Geleit entlassen.« Er schickte einen bedauernden Blick zum Himmel. »Er wird wohl jetzt schon weit von hier entfernt sein.« Als der König wieder in seinem Schatzhaus war, murmelte er seufzend vor sich hin: »Eine Sorge bin ich los, aber eine größere habe ich mir aufgeladen.« Er betrachtete sich in der blanken Silberschüssel: »Aber das Gesicht, das mir hier entgegenschaut, ist ehrlich, und das ist gut.«
9. Die Idisburg Als die Reiser der Bäume vom Saft schwollen und das junge Laub aus den Knospen brach, regte sich die Wanderlust unter den jungen Männern der Walddörfer. Es war ein heimliches Summen in den Höfen. Die Männer hielten im Waldversteck stillen Rat. Anfangs waren nur wenige entschlossen, ihr Glück in der Fremde zu suchen. Manchen hatte ein Mädchen, das ihm lieb war, heimlich zu der Reise überredet, und wo es mehrere Töchter im Hause gab, wagte es der Vater gern, eine davon in eine hoffnungsvollere Zukunft zu entlassen. Es war kein Zug in unbekannte Gegenden. Die neuen Ansiedlungen waren nur wenige Tagereisen entfernt, und die Fahrt ging durch Wälder und Täler, in denen Landgenossen wohnten, die schon in früheren Zeiten denselben Weg gezogen waren. Die Wagen standen bereit, mit Saatkorn und Hausrat bepackt. Die 83
gejochten Rinder brüllten. Frauen und Kinder trieben das Herdenvieh hinter den Wagen zusammen, und große Hunde umbellten die Fuhrwerke. Die Kinder hockten still auf den Kornsäcken. Manche von den kleineren trugen zur Abwehr von Unglück Kränze aus Heilkräutern auf dem Haar oder um den Hals. Freunde und Nachbarn brachten den Ausziehenden zum Abschied Wegzehrung und Andenken. Die Familienältesten sprachen den Reisesegen und bannten wilde Tiere und Wegelagerer durch Zauberspruch. Mit der aufgehenden Sonne setzte sich der Zug in Bewegung. Die Achsen und Räder knarrten. Von der Höhe sahen die Wanderer noch einmal nach dem Dorf ihrer Väter zurück und verneigten sich grüßend vor den unsichtbaren Göttern. Mancher warf vielleicht einen Fluch zurück gegen den, der ihm die Heimaterde verleidet hatte. Dann nahm der Bergwald sie auf. Mühsam war die Fahrt auf steinernen Wegen, in die das Schneewasser tiefe Furchen gerissen hatte. Oft mußten die Männer von den Rossen steigen und mit Pickel und Spaten die Bahn fahrbar machen, oder die Frauen mußten sich gegen die Speichen der Räder stemmen. Wenn der Weg ebener war, umritten die Männer den Zug mit gehobener Waffe, bereit zum Kampf gegen Raubtiere oder Landstreicher. So kamen die Wanderer nur langsam voran. Der Regen fiel auf sie nieder, und der Wind trocknete ihnen die durchnäßten Kleider. Am vierten Tage sahen sie von der Höhe eines Kiefernwaldes in ein Wiesental, das von ansehnlichen Hügeln und dichtem Laubwald eingefaßt war. Dort zog sich in gewundenem Lauf der Idisbach durch die Wiesen. Am Fuße der Anhöhen lagen Höfe und eingeteiltes Ackerland. Ein Mann ritt den Siedlern entgegen. Von weitem schon wirbelte er seinen Speer grüßend in der Luft. Die Ansiedler jauchzten ihm zu, denn sie hatten in ihm ihren Landsmann Wolf, den ehemaligen Wächter, erkannt. »Willkommen in der neuen Heimat!« rief er. »Die Fahrt ist vollbracht. Dort auf dem Hügel erwarten euch die Weisen dieses Gaues, um euch das Landrecht zu gewähren und euch Land zuzuteilen.« Der Anführer des Zuges richtete das Wort an Wolf: »Wo kommst du 84
her und wo ist dein Herr? Wir haben lange nichts von euch gehört und waren schon in Sorge.« »Die Vandalen verstehen die Kunst, sich unsichtbar zu machen«, lachte Wolf. »Ingo ist jetzt Häuptling hier, und alle haben ihn gern. Auch ihr werdet euch mit den Bauern gut vertragen. Sie trinken ihr Bier noch aus dicken Töpfen von Eichenholz, die wahrhaftig schwer zu heben sind. Ihr kommt zur rechten Zeit, denn Fürst Ingo ist gerade aus dem Wald zurückgekehrt.« Vor dem Lager stand Ingo mit seinem Gefolge und winkte den Ankömmlingen zu: »Wenn die Götter uns gnädig bleiben, findet auch ihr hier gutes Auskommen!« Er geleitete die Schar zum Opferstein, wo der Gauälteste und die Männer des Tales sich schon versammelt hatten. Dreimal drei Stiere wurden den Göttern geschlachtet. Über dem Opferkessel reichten sich die neuen Siedler die Hände zum Bunde und gelobten, Ingo als Häuptling zu ehren. Dann ließen sich alle unter einem Baum zum Opfermahl nieder. Von einer waldbewachsenen Bergseite ragte ein steiler Felsenhügel über das Tal des Idisbaches. Auf seinem Gipfel trug er alte Eichenbäume als einzigen Laubschmuck, denn an den Seiten des Berges waren die Stämme schon gefällt und über der halben Höhe mit Geröll und Erde zu einem dichten Bollwerk geschichtet. Davor war ein Graben gezogen, der so weit vom Gipfel entfernt war, daß keine Wurfwaffe zur Höhe geschleudert werden konnte. Klug hatte der alte Berthar die Rinnsale des Wassers und kleine Schluchten ausgenutzt, um gesicherte Wege vom Gipfel zum Ringwall zu führen, damit die Bewohner im Falle einer Belagerung auf und ab eilen könnten, ohne daß der Feind sie aus der Tiefe traf. Ein zweiter Wall aus Steinen und Holz umschloß einen Raum, der groß genug war, um in der Not das Vieh, die Frauen und die Kinder der Siedler aufzunehmen. Auf der höchsten Stelle des Gipfels zimmerten die Männer aus schweren Balken die Königshalle für Ingo. Daneben entstanden Wohnungen für das Volk, Ställe für die Pferde und die Vorratsräume. 85
Für die Dauer der Bauzeit war für Ingo im Wipfel der höchsten Eiche ein Baumhaus errichtet worden. Am Stamm lief eine schmale Treppe hinauf und jedes der beiden Zimmer war nach unten durch eine Falltüre geschützt.
Über den Waldlauben zogen die schwarzen Wolken dahin, die Schatten dehnten sich und glitten wieder zusammen. Um die Berghäupter wälzte sich dichter Nebel. Der Wind heulte und schüttelte die Wipfel der Bäume. Hier und dort dröhnte es im Wald. Alte Stämme, vom Moder ausgehöhlt, brachen zusammen. Schreiend und kreischend fuhren die Raben auseinander. Unten rauschten die Schaumfluten des Baches. Sie schwollen gegen die Baumsperre und hoben sich von Fels zu Fels. Im tollen Wirbel kreisten die Äste und Stämme, und der Wasserschwall schlug an die Berge. Plötzlich flammte ein Blitzstrahl auf und wilder als Brausen und Krachen klang der Ruf des Donnergottes. Ingo stand hoch über dem Gießbach und hielt sich an einer Wurzel fest. Ehrfurchtsvoll neigte er sein Haupt vor den Gewalten der Natur. »Helft mir«, rief er in den Sturm, »daß mein Werk gelinge!« Die Waffe schwingend, ließ er sich los und sprang durch die schwarze Nacht dem Tale zu. Mit Getöse fuhr der Sturm um den Hof des Fürsten Answald. Er schlug den eisigen Regen auf die Dächer, schleuderte die Bretter vom First der Halle und stieß brüllend gegen die Tore. Wer von den Menschen auf dem Hof noch wachte, barg ängstlich das Haupt unter der Decke. Selbst die Hunde lagen winselnd in den Hütten und unter den Treppen. Im Zimmer Irmgards flackerte das Licht der Lampe in der scharfen Zugluft, die durch Tür und Wände drang. Irmgard saß auf ihrem Lager und hielt die Hände ihrer Magd Frida fest. Die Haustür sprang auf. Eine Schattengestalt huschte herein, eine 86
zweite, ein ganzer Haufen: riesige Leiber mit schwarzen Häuptern und schwarzem Gewand. Entsetzen faßte die beiden Mädchen, als sie die Nachtgespenster sahen. Aus dem Kreis der schweigenden Unholde sprang einer lautlos vor. Ein Schrei kam von Irmgards Lippen, dann senkte sich eine dunkle Kappe über ihr Gesicht. Mit Riesenstärke wurde sie aufgehoben und in die stürmische Nacht hinausgetragen. Ein zweiter Unhold ergriff Frida und warf ihr die Hülle über den Kopf. Im nächsten Augenblick war das Zimmer leer, die Tür von außen verriegelt, und durch eine große Lücke der Hofmauer eilten die Eindringlinge ins Freie.
Als der nächste Tag sich neigte, schwieg der Sturm, und die Sonne färbte mit rotem Licht die Eichen der Idisburg. Aus dem finstern Wald, der hinter dem Holzring aufragte, ritt eine Schar dem Burgwall zu. Berthar, der selbst die Turmwache gehalten hatte, eilte ihnen entgegen. Die Rosse sprengten in den Hof. Zwei verhüllte Frauen wurden sorgsam herabgehoben. Ingo löste die Kappe der ersten, und das Gesicht Irmgards wurde vom vergehenden Sonnenlicht bestrahlt. Die Vandalen warfen sich vor ihr auf die Knie, faßten nach ihrer Hand und an den Saum ihres Kleides und jubelten ihr zu. Berthar trat näher und sprach: »Betet, daß die Götter den Bund der Könige segnen.« Er richtete die heilige Frage der Vermählung an Ingo, den König der Vandalen. Darauf wandte er sich an das Mädchen und stellte ihr dieselbe Frage. Zum ersten Mal seit der Schreckensnacht öffnete Irmgard die Lippen und sagte mit heller Stimme: »Ja, ich will!« Unter den Eichen wurde zum Hochzeitsmahl gerüstet. Die Männer brachten die Holztafeln und stellten sie auf Kreuzhölzer. Auch einen 87
Ehrensitz für Ingo und seine junge Frau hatten sie vorsorglich gezimmert. »Nimm vorlieb mit dem, was wir haben, Königin!« bat Berthar. »Wir bieten dir Holzschüsseln statt Silber und zu dem Met, den die Bauern gebraut haben, das Fleisch eines Ebers. Sei gnädig und freue dich mit uns!« Am Abend sagte der Alte zu Ingo: »Solange ich lebe, war ich ein fröhlicher Gesell. Aber so leicht wie heute war mir das Herz noch nie. Schlafe du sorglos, denn wir halten Wache für dich und die junge Königin.«
10. Am Quell Einmal hatte der Sommer schon die Eichen auf der Idisburg in grünes Laub gehüllt und einmal der Winter die Äste kahlgefegt, aber hell flammte das ganze Jahr über das Feuer im Herd des neuen Hofes. Unter der Eiche, die das Laubhaus trug, saß Irmgard und blickte auf ihren kleinen Sohn, der im Schild seines Vaters lag. Frida schaukelte die seltsame Wiege. Vom Bollwerk herunter klangen laute Stimmen. Der Wächter auf dem Holzgerüst blies in sein Horn und hängte einige lustige Töne an, die gar nicht zum üblichen Zeichen gehörten. »Es ist ein Freund«, lachte Irmgard. »Der Wächter will ihm eine Freude machen.« »Volkmar!« rief sie und eilte dem Sänger entgegen, der zusammen mit Ingo in den Hof trat. Als sie sein ernstes Gesicht erblickte, sagte sie: »Du kommst aus der Heimat, aber eine freudige Nachricht bringst du nicht.« »Ich komme von der Königsburg.« Volkmar verneigte sich vor Irmgard. »Bei deinem Vater war ich nur kurz.« »Bringst du Botschaft vom König?« fragte Ingo. »Es kann nichts Schlechtes sein.« 88
»Bisino ist tot«, erwiderte Volkmar ernst. Tiefes Schweigen folgte seinen Worten. »Er war ein tapferer Krieger und ein guter König«, sagte Ingo endlich, »und mir hat er zu meinem Glück verholfen.« »Den Schlüssel zur Schatzkammer bewahrt jetzt die Königin für ihren Sohn«, sagte der Sänger zweideutig. »Sie herrscht mit Gewalt in der Burg und schickt ihre Soldaten aus, wie es ihr gefällt. Die Edelleute kommen in Scharen an ihren Hof und versuchen, ihre Huld zu gewinnen. Aber sie ist mehr gefürchtet als beliebt. Ich komme nur, dich zu warnen, Ingo.« »Der König war im Grunde mein Freund«, antwortete Ingo, »und die Königin hat sich mir immer nur gütig gezeigt.« »Die Gunst einer herrischen Frau ist unsicher«, meinte Volkmar. Aber Ingo schlug alle Sorge in den Wind. »Dem toten König war ich ein treuer Grenzwächter, und solange Frau Gisela über Thüringen herrscht, erwarte ich nur Gutes von dort. Hast du mit ihr gesprochen?« »Sie hat mir nur feindliche Blicke geschenkt«, sagte der Sänger. »Sie nannte mich einen schwatzhaften Boten und schickte mich fort. Da hat mich die Sorge zu dir in den Wald getrieben.« »Sorge dich nicht und sei bedankt für deine Treue!« Ingo legte dem Sänger die Hand auf das weiße Haupt. Volkmar richtete sich auf. »Verzeih mir, Ingo, wenn ich mich nicht beruhige. Wenn du auch meinst, vor Frau Gisela sicher zu sein, ich erhoffe das gleiche nicht für mich. Ich werde euch wieder besuchen und wünsche, euch in Frieden anzutreffen.«
Am Nachmittag war es still auf der Ringburg. Der Sänger hatte wieder Abschied genommen. Ingo war mit einigen seiner Leute auf die Jagd gegangen. Irmgard stand an der Quelle, die in der Nähe des Hauses unter einem Felsen hervorrieselte. Sie badete ihren kleinen Sohn, der ungedul89
dig schrie und mit den Beinchen strampelte. Sie rieb den kleinen Körper trocken und hüllte ihn in ein warmes Tuch. Plötzlich fuhr sie auf. Vor ihr hielt hoch zu Roß eine mächtige Frau. Von ihrem blonden Haar hing ein Schleier herab, über ihre Schultern und den Rücken des Pferdes wallte ein roter Mantel. Das Goldmetall ihrer Rüstung blitzte, und die Hufe des Rosses stampften auf dem Leinen, das Irmgard zum Trocknen ausgebreitet hatte. Neben der Fremden sah sie das bleiche Gesicht Sintrams. Die beiden Frauen prüften einander schweigend mit feindlichen Blicken. Irmgard ließ sich neben dem Brunnen in das Moos nieder und bedeckte ihre nackten Füße mit dem Rock. Sie nahm das Kind auf den Schoß und drückte es fest an sich. »Ist das Weib da stumm?« fragte Königin Gisela ihren Begleiter. »Es ist die Frau selbst, Herrin«, antwortete Sintram, und zu Irmgard gewandt, sagte er ängstlich: »Die Königin ruft dich, Base, steh auf!« Irmgard blieb unbewegt sitzen. Gisela erhob drohend ihren Arm, da klangen Stimmen von der Höhe. »Hierher Ingo!« schrie Irmgard außer sich. »Hilf mir!« Ingo kam den steilen Fußweg herab. Erstaunt sah er Irmgard am Boden und vor ihr die Königin mit ihrem Begleiter. Er trat näher, neigte den Kopf und rief fröhlich: »Willkommen, große Königin! Schenke uns die Ehre deines Besuches.« Als Gisela Ingo so heiter vor sich sah, sprach sie gütig: »Ich freue mich, dich zu sehen, Vetter.« »Hilft denn niemand der Königin vom Pferd?« rief Ingo und bot ihr selbst den Arm. Gisela faßte mit der Hand in sein Haar, um sich festzuhalten, setzte den Fuß auf seine dargebotene Hand und schwang sich herab. Irmgard nahm das Kind auf und ging ins Haus zurück. Ingo stand der Königin allein gegenüber. »Jetzt ist es, wie ich es mir immer gewünscht habe«, begann sie. »Du bist bei mir, und ich bin dir gut, wie damals.« Ernster fügte sie hinzu: »Du hast eine Menge Feinde in meinem Land, und die benachbarten Burgunden beklagen sich über dein räuberisches Volk.« 90
»Du kennst den Brauch, Herrin, für den Schaden, den meine Leute erfuhren, setzen sie sich selbst das Maß der Rache.« »Ich hätte mehr von dir erwartet«, spottete die Königin, »als daß du Kühe züchtest.« »Ein Heimatloser ist froh über ein festes Dach«, antwortete Ingo. »Das nenne ich ein unsicheres Hausdach«, lachte die Königin höhnisch. »Der Vater und der Bräutigam, denen du das Mädchen geraubt hast, werden dir noch ihren Besuch machen!« »Das zwingt mich, noch fester auf meinem Hof zu stehen«, erwiderte Ingo. »Ich bin nicht abgeneigt, mein Schwert wieder hervorzuholen. Es hängt am Herd und wird bald rosten.« »Bist du denn wirklich so ahnungslos und so töricht?« rief die Königin. »Der Caesar rüstet zu einem neuen Krieg gegen die Alemannen, und auch dich hat er noch nicht vergessen.« »Ich danke für die gute Botschaft«, lächelte Ingo, »dann gibt es endlich etwas zu tun.« »Du hast dich nicht verändert.« Gisela gab ihm das Lächeln zurück. »Es wäre verlorene Mühe, dich durch Gefahren zu schrecken. Hör mich an: Ich brauche einen Feldherrn. Dazu habe ich dich auserkoren, und deswegen bin ich hier.« Ingo war überrascht. Er überlegte. Die schöne Frau im Königsmantel hielt ihm die Hand entgegen. Was die Sehnsucht und das Glück der stolzesten Männer im Lande war, das bot sie ihm bittend an. »Ich bin gebunden, Gisela, und Irmgard ist mir teurer als mein Leben. Sie hat alles für mich verlassen, und ich habe ihr die Treue gelobt.« »Vergiß nicht, daß du auch mir die Hand gereicht hast in jener Nacht, als ich mich zwischen dich und König Bisino stellte. Seither ist mein Schicksal an deines gebunden, du gehörst mir!« »Du hast Heldenmut bewiesen«, antwortete Ingo mit kühler Höflichkeit, »und ich bleibe dir dankbar, solange ich lebe.« »Ich verzichte auf deine Dankbarkeit«, flüsterte die Königin gefährlich. »Rufe mich, wenn immer du mich brauchst!« sagte Ingo. »Und ich werde mit meinem Blut bezahlen, was ich dir an Dank schulde.« 91
»Begreifst du denn nicht?« rief die Königin und faßte ihn am Arm. »Ich kann nicht mehr leben, wenn du mir nicht folgst!« Sie erschrak über ihre eigene Heftigkeit und zog ihre Hand zurück. Ingo stand unbewegt. »Ich bin bereit zu bezahlen«, sagte er, »aber frei und nicht als Knecht an dein Leben gebunden.« Die Königin sah ihn scharf an: »Du hast gewählt, Ingo!« Eilig wandte sie sich ab und ergriff die Zügel ihres Pferdes. Ingo aber eilte auf dem Weg, den Irmgard gegangen war, seinem Hof zu.
11. Der Wetterschlag Durch die enge Pforte, die vom Quell in den Burghof führte, eilte Ingo zum Tor. Vom Turmgerüst rief Berthar ihm entgegen: »Dort reitet die Königin mit ihren Leuten der Grenze zu. Sie scheint es eilig zu haben.« »Sie ist im Zorn gegangen«, sagte Ingo ernst. Berthar erriet aus der düsteren Miene seines Herrn, was dieser nicht aussprach. Er versuchte zu scherzen: »Eine hungrige Wölfin kommt in der nächsten Nacht wieder.« Ingo stieg zu ihm auf den Turm. »Die Königin nimmt den Waldweg und umgeht den Wächter«, sagte er erstaunt. Im selben Augenblick erhob sich nordwärts am goldenen Abendhimmel weißer Dampf. Die Rauchsäule stieg höher und färbte sich schwarz. »Eine Warnung«, flüsterte der Alte. »Die Soldaten der Königin brechen über die Grenze.« »Zündet das Notfeuer an!« befahl Ingo mit klarer Stimme. »Sendet Späher aus, und laßt die Bauern warnen. Sie sollen sich vorsehen und uns Bewaffnete schicken, soviel sie entbehren können.« Mit mächtiger Stimme setzte Berthar zum Kriegsgesang der Vandalen an. 92
Dunkler wurden die Schatten der Nacht. Das Notfeuer flammte und warf rotes Licht und Rußwolken über den Hof, auf dem sich die Männer rüsteten. Sie räumten die Hofstätte von Karren und Gerät, trugen die Wurfspeere herbei und häuften Steine aufeinander. Auch die Mägde halfen. In großen Kübeln holten sie das Wasser aus der Quelle und füllten die Fässer und Bottiche vor der Halle. Boten rannten in den Hof, andere sprengten zu Pferde davon, Befehle gingen hin und her. Unter der Mondsichel trieben die Wolken dahin, bald vom gelben Licht umsäumt, bald kohlschwarz. Aus dem Idisbach hob sich der Nebel und stieg aufwärts gegen den Ringwall. Tiergeschrei und Menschenstimmen schallten um das Burgtor. Auf den Pfaden aus der Tiefe führten die Dorfleute Rosse, Rinder und die braunen Schafe herauf. Die Männer trugen Lindenschilde und Speere. Die Weiber und Kinder waren mit Hausrat bepackt. Der Weg in die Burg wurde ihnen schwer. Oft blickten sie zurück und bedachten, ob sie die Höfe, die sie erst vor kurzem gebaut hatten, jemals wiedersehen würden. An der Sperre des unteren Walls drängten sich die Flüchtlinge. Der Wächter, der den Zugang hütete, mußte sie anweisen und führen, damit sie in der Dunkelheit nicht vom Weg abkamen. Der Burgraum füllte sich mit Menschen und Vieh. Ein Reiter sprengte heran, stieg atemlos von seinem schaumbedeckten Roß und eilte zu Ingo in den Saal. Ohne Gruß begann er seinen Bericht: »Die Soldaten der Königin sind über unsere Grenzen gegangen. Es ist ein ganzer Schwarm, und dazu kommen noch die Leute des Theodulf.« »Hast du die Königin gesehen?« fragte Berthar. Noch ehe der Mann antworten konnte, stürzte ein zweiter Bote in die Halle. »Ein ganzes Heer der Burgunden ist auf dem Weg«, schrie er. »Fußvolk und Reiter. Auch Römer sind dabei. Ich konnte ihre Sprache nicht verstehen. Sie scheinen sorglos zu sein und siegessicher.« 93
Ingo unterbrach die aufgeregte Rede und winkte dem Boten, sich zu entfernen. »Sorge dafür, Vater«, sagte er zu Berthar, »daß außer den Wächtern alle zum Schlafen kommen, denn morgen werden wir klare Augen brauchen. Wenn die Sonne aufgeht, sammeln wir die Bauern. Unsere Schar wird klein sein, aber wir kämpfen um unser Leben.«
Der Morgen graute. Die Wolken hatten blutrote Ränder und verdeckten die Sonne. In der Ringburg erhoben sich die Schläfer von der Erde. Die Männer rüsteten sich zum Dienst für den Kriegsgott. Sie salbten und färbten ihr Haar rot und legten um Arme und Hals Ringe aus Gold und Bronze. Einige trugen geschlossene Hemden aus Hirschleder, mit Eisenschuppen bedeckt, andere wieder öffneten das Hemd, damit man ihre ruhmvollen Narben auf der Brust sähe. Der Blick der Krieger war finster, und sie arbeiteten schweigend. Vor der Halle des Königs lag der Opferstein. Die Männer versammelten sich. Ingo, in einem grauen Stahlhemd, trat mit seinen Leuten aus der Halle. Ein junges Roß wurde herbeigeführt. Berthar stieß ihm den Opferstahl in den Leib. Er sang das Kriegsgebet, und die Männer tauchten ihre Rechte in die rote Wunde des Opfertieres. So schworen sie einander die Treue und Ingo Gehorsam. Das Horn des Türmers ertönte. Ein Bote eilte auf Ingo zu: »Den Bach entlang reiten die Leute der Königin. Sie selbst ist unter ihnen.« Die Krieger ergriffen Schilde und Speere und traten im Hof der Burg an. Ihr wilder Kriegsruf ertönte weit über die Täler und schwoll an wie der Sturmwind. Von unten antwortete gellendes Geschrei. Berthar rief seine Befehle. In geordneten Reihen zogen die Krieger den Berg hinab und besetzten den Ringwall. Noch einmal stieg Ingo mit dem Alten auf den Baum. Sie sahen, daß Gisela allein mit ihrer Schar kam. Aber sie hatte sich die Bundesgenossenschaft der Burgunden gesichert. 94
»Auf einen von uns treffen zehn von ihnen«, sagte Ingo. »Halte du die Südseite, ich bereite der Königin den Empfang.« Rundum erhob sich Geschrei, Pfeile und Speere flogen. Die Belagerer sprangen in kleinen Haufen heran und trugen Steine und Reisigbündel an den Außenwall, um den Graben aufzufüllen. Mächtig war über allem der Schlachtruf Ingos zu hören. Die Stimme des alten Berthar antwortete von der Südseite. Mehr als einmal schoß ein Pfeil nahe an Ingos Kopf vorbei und blieb in den Balken des Walles stecken. Die Schilde der Thüringe zerbrachen unter den Waffen von Ingos Leuten. Der Ansturm der Belagerer mißlang, mit glühenden Wangen wandten sie sich abwärts. Sie öffneten ihre Reihen und begannen, aus dem Dorf und aus dem Wald Holz zusammenzutragen. Sie arbeiteten mit Axt und Hammer. Stechend heiß strahlte die Mittagssonne. Graue Wetterwolken wälzten sich heran. Die Hörner der Belagerer riefen zu neuem Kampf. Sie hatten ihre Äxte nicht vergebens gebraucht. Von allen Seiten stürmten sie hinter starken Bohlenschilden heran, und wieder warfen sie Steine und Holzbündel in den Graben und schleppten lange Balken, um die Tiefe zu überbrücken. Wich ein Haufen zurück, so waren im Nu neue zur Stelle, denn die Königin trieb die Kämpfer mit erhobenem Arm unablässig zum Sturm an. Es gelang den feindlichen Scharen, den äußeren Wallring zu zerreißen. Über den Graben stürmte die Überzahl der Feinde durch eine Lücke, die sie in den Wall gebrochen hatten. Die kleinen Haufen der Verteidiger wurden rückwärts gedrängt. Ingo stand vor dem Burgtor und deckte mit wenigen Männern den Rückzug seiner Leute. Als letzter sprang er selbst durch das Tor. Hinter ihm hob sich die Brücke. Die Belagerer brachen in Siegesgeschrei aus und stürmten gegen die Mauern. Aber ihre Freude war kurz, denn von der steilen Höhe flogen jetzt die Speere dichter, und große herabrollende Steine rissen blutige Bahnen in die Reihen der Angreifenden. 95
Da schlug der erste Brandpfeil schwirrend in das Turmgerüst. Rund um den Berg sprangen immer mehr Bogenschützen aufwärts und schossen gegen das Bollwerk, sorglich bemüht, durch behende Sprünge die geworfenen Steine zu vermeiden. Hier und da leckte eine Flamme an den Balken. Die Belagerten schlugen mit Stangen gegen die Pfeile und zerdrückten das Feuer. Immer häufiger lohten Brände auf. Kinder heulten, die Rosse bäumten sich auf und zerrissen ihre Halfter. Rasend fuhren die Tiere unter die Menge. Die Arbeit wurde zur Pein, und manchem der Verteidiger sank der Mut. Mit kleinem Gefolge nahte sich ein Reiter in gestrecktem Galopp der Königin. Die Haufen des Theodulf empfingen ihn schreiend. Fürst Answald stieg vom Pferd und rief: »Die Königin hat mich getäuscht! Sie soll den Landesbrauch nicht vergessen. Dort oben sind Frauen und Kinder von unserem Blut.« Answalds Stimme erhob sich in verzweifelter Anklage. Zustimmend schlugen die Soldaten ihre Speere zusammen. Einzelne Hochrufe für Answald klangen auf. Die Königin aber schwieg. »So höre doch, Herrin!« schrie Answald entsetzt. »Mein eigenes Kind ist in der brennenden Burg. Die Strafe gegen Irmgard steht mir allein zu.« Er gab seinem Roß die Sporen und sprengte mitten unter die unschlüssigen Soldaten der Königin. Auch Theodulf und Sintram drängten ihre Pferde an Gisela heran und sprachen auf sie ein. Endlich wandte sich die Königin mit lauter, zornbebender Stimme Answald zu: »Wenn du nicht außer dir wärst, alter Mann, so würde ich dich wegen Meuterei bestrafen. Mir liegt nichts am Blut der Bauern. Theodulf soll in den Ring treten und verkünden, daß die Landsleute freien Abzug haben.« Wieder klang aus dem Haufen Beifallsrufen. In langgezogenen Tönen blies der Trompeter der Königin zum Waffenstillstand. Theodulf trat bis in Wurfweite vor das Burgtor und verkündete mit mächtiger Stimme das Gnadenangebot Giselas. Drinnen erhob sich ungestüme Bewegung. Das Tor blieb verschlossen, aber wilde Gestalten rissen voll Verzweiflung am Wall und an den 96
Schanzpfählen, warfen Balken nach der Tiefe und sprangen hinterdrein. Weiber und Kinder quollen in angstvollem Gedränge aus der Verschanzung. Auch einzelne Männer flüchteten, ermüdet vom hoffnungslosen Kampf. Doch die Mehrzahl der Bauern blieb auf der Höhe zusammengedrängt und schaute unsicher den flüchtenden Frauen nach. Der Eid gegen Ingo hielt sie zurück. Jetzt sprangen die Soldaten der Königin jauchzend empor. Die Flüchtlinge hatten ihnen den Zugang freigemacht. Die Anstürmenden zerschlugen die Sperren des Tores und drangen in den offenen Raum vor der Halle. Aus der Tiefe flogen neue Brandpfeile gegen das Dach. Längs der Balken wirbelte weißer Rauch, und durch den Dampf klang der Ruf: »Der First brennt! Das Wasser ist zu Ende!« »Die Tür auf!« schrie Berthar. »Damit der Luftzug unserer Herrin den Rauch vertreibt.« Ingo stand auf der Treppe der Halle. Dicke Rauchwolken, vom Wettersturm getrieben, umhüllten Rüstung und Gesicht der Feinde. »Das Tor ist offen!« schrie er den Tastenden entgegen. »Worauf wartet ihr noch?« Aus dem Rauch kam Fürst Answald auf ihn zu. Er rief nach seiner Tochter. Irmgard hörte seinen Schrei in der Halle. Sie legte ihren kleinen Sohn Frida in die Arme und eilte dem Vater entgegen. Sie umarmte ihn einen Augenblick, doch dann lief sie zurück in das brennende Haus. Ingo hatte unbewegt gestanden, den Blick wachsam auf die Feinde gerichtet. Als seine Gattin zu ihm in die Todesnot zurückkehrte, breitete er die Arme aus und zog sie an sich. Im gleichen Augenblick schwirrte der Eschenspeer aus Theodulfs Hand und traf Ingo in den Rücken. Lautlos sank er aus den Armen Irmgards zu Boden. Berthar sprang vor und deckte den Verwundeten mit seinem Schild. Von neuem erhob sich Kampfgetöse um das Haus. Der Sturmwind fuhr über das lodernde Dach, der Donner rollte, das Gebälk der Halle krachte. Asche und brennende Schindeln fielen herab. Frida stürzte halb betäubt zum Lager Ingos. Irmgard hielt das Kind fest umschlossen. Es war still im Raum. 97
Plötzlich riß sie die Tasche aus Otterfell aus ihrem Kleid, hing sie dem Knaben um den kleinen Leib, hüllte ihn in eine Decke, küßte ihn und hielt ihn Frida entgegen. »Rette ihn!« Und wieder rief vor dem brennenden Tor Theodulfs Stimme: »Die Balken senken sich, rettet die Frauen!« Und Fürst Answald schrie: »Rettet mein Kind!« Da erhob sich am Tor gegen ihn die zusammengesunkene Gestalt Berthars. Das Haupt des Alten war mit Asche bedeckt und sein weißes Barthaar versengt. »Wer lärmt vor dem Schlafgemach meiner Königin?« Wie ein Raubtier sprang er von den Stufen und stieß Answald seine Waffe durch Panzer und Brust. »Das Ende war gut!« schrie er dem entsetzten Haufen zu. »Jetzt zieht heim, ihr bleichnasigen Toren, samt eurer Königin! Ingo steigt aufwärts zu seinen Ahnen.« Um ihn flirrten die Pfeile, aber er schüttelte sie ab wie ein verwundeter Bär. Schwerfällig wandte er sich nach der Halle, setzte sich mit seinem Schild an das Fußende des Königslagers und starb. Durch das zertrümmerte Tor ritt Königin Gisela bis vor die brennende Halle. Der Golddraht ihres Panzers glühte wie rotes Feuer. Unbeweglich starrte sie in die Flammen. Das Feuer leckte über den First, und der Gewittersturm warf brennende Späne und Bretter vor die Füße der Königin und ihrer Männer. Im Haus kniete Irmgard am Lager Ingos. Sie hielt ihn umschlungen und lauschte auf seine Atemzüge. Der Sterbende legte den Arm um sie. Stumm sahen sie einander an. Ein flammender Blitzstrahl erfüllte die Halle, ein Wetterschlag dröhnte, die Balken des Daches brachen zusammen. Auf die betäubten Männer der Königin schoß ein Hagelschauer nieder, die Eisstücke prasselten auf Helm und Panzerhemd. »Die Götter holen ihn!« schrie Gisela auf und barg das Gesicht in ihrem Mantel. Die Männer warfen sich zu Boden. Als das Wetter vorübergerauscht war und die Soldaten sich scheu erhoben, war die grüne Bergfläche mit grauem Eis bedeckt. Aus den 98
Trümmern des zusammengestürzten Hauses züngelten kleine Flammen. Die Königin sah auf die Brandstätte und sprach tonlos vor sich hin: »Die eine liegt tot auf heißem Lager, die andere steht draußen vom Hagel geschlagen; vertauscht hat der Neid der Götter die Lose, mein Recht war es, dort drinnen zu sein.« »Wo ist sein Kind?« rief sie mit irrem Blick. Doch Frida und das Kind waren verschwunden. Die Krieger suchten an der Berglehne und in den Tälern, sie spähten in jeden hohlen Baum und in jedes Dickicht, Theodulf durchzog mit seinem Gefolge den ganzen Gau und forschte an jedem Herdfeuer. Aber der Sohn Ingos und Irmgards blieb verschollen.
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Von der Mitte des vierten Jahrhunderts bis ins zehnte Jahrhundert
Die Bedrohung des römischen Reiches von außen und seine Durchdringung von innen I Der unerbittliche Daseinskampf, der die Beherrscher weiter Landstriche im mitteleuropäischen Raum und auch die Bewohner einzelner Gehöfte in unaufhörliche Feindseligkeiten verstrickte, war durch so entgegengesetzte Einflüsse bestimmt, daß sie kaum auf einen Nenner gebracht werden können. Jenseits des Limes hatten sich noch keine in sich geschlossenen Reiche gebildet. Die Grenzen der Herrschaftsgebiete waren beweglich wie die Grundsätze ihrer Gebieter. Je nach der örtlichen Lage ihres Wohnsitzes und der fortschreitenden Verbesserung ihrer Lebensbedingungen waren die Fürsten der germanischen Stämme jenseits des Rheins und der Donau Römerfeinde oder Römerfreunde und lagen als Christen des arianischen Bekenntnisses oder als hartnäckige Heiden miteinander im Streit. Sie kämpften auch um die Erhaltung ihrer Seßhaftigkeit oder um neue Siedlungen, wenn sie durch den Andrang friedloser Nachbarn überwältigt und vertrieben worden waren, und lehnten sich oft dagegen auf, sich den Landesherren zu unterwerfen, in deren Ländern sie Aufnahme suchten oder gefunden hatten. Die wenigsten Fürsten und Freien, die einander bis zur Vernichtung bekämpften, wußten in diesen ruhelosen Zeiten, in denen die blutige Auseinandersetzung im engen Raum zu einer zwangsläufigen Gewohnheit wurde, was der wirkliche Grund ihrer kriegerischen Handlungen war. Die Germanen gehörten wohl Völkerschaften an, die durch einen gemeinsamen Namen gekennzeichnet wurden – sie waren Burgunden oder Sueben und Chatten, Langobarden oder Fran101
ken, Sachsen, Angeln, Westgoten oder Ostgoten. Sie hatten zumeist die gleichen Merkmale der äußeren Erscheinung: blaue Augen und blondes Haar. Sie waren hochgewachsen und hellhäutig. Aber obwohl sie einander so ähnlich waren und auch ähnliche Bräuche hatten, schienen sie unfähig zu sein, sich vereint gegen die beiden großen Feinde erfolgreich zu wehren, die sie auf der einen Seite beschränkten und auf der anderen bedrängten. Der Limes war noch immer durch geschickte Bündnisse des Römischen Reiches mit den unmittelbaren Grenznachbarn und auch durch gewaltige Festungsanlagen gesichert. Gelegentliche Streifzüge und erfolgreiche Durchbrüche an einzelnen Stellen waren an der Tagesordnung. Aber die Legionen, die, wenn nötig, in Tagesmärschen Verbindung miteinander aufnahmen, konnten die Grenzen aus ihren festen Lagern bewachen und dort, wo sie vorübergehend zerrissen wurden, wieder flicken. So verhinderten der beschützte Rhein und die bewachte Donau vorerst noch das Vordringen der Germanen nach dem Westen und Süden, während der Andrang neuer Völkerschaften aus dem Osten in immer heftigeren Wellen einsetzte. Diese asiatischen Neuankömmlinge auf den Schauplätzen der Geschichte hatten nicht die geringste Ähnlichkeit – weder in der Erscheinung noch im Wesen – mit den im mitteleuropäischen Raum eingeengten germanischen Stämmen. Erst kamen nur die sich im Osten Europas verzweifelt zur Wehr setzenden Goten mit den furchtbaren Angreifern in Berührung. Es waren die Hunnen, die schon den tapferen sarmatischen Volksstamm der Alanen nach dem Westen getrieben hatten. Zeitgenössische Berichte schildern die aus dem Innern Asiens anstürmenden Reiter: »Ihre Gesichtsfarbe ist grauenhaft dunkel, und sie haben kein Menschenantlitz. Ihr Kopf ist ein unförmiger Klumpen, in dem nicht eigentlich Augen, sondern Punkte stecken. Ihr verwegener Mut zeigt sich schon in ihrem verunstalteten Aussehen. Das kommt daher, daß sie ihre Kinder am Tage der Geburt mißhandeln. Sie zerschneiden den Knaben die Wangen mit Eisen, noch ehe die Neugeborenen den ersten Tropfen Milch erhalten haben. Die Narben der von Messern durchfurchten Gesichter verhindern den Bartwuchs. 102
Die Hunnen sind klein, aber ihre Schultern sind breit. Sie sind geborene Bogen- und Pfeilschützen und flinke, behende Reiter. Ihre Nacken sind stets stolz aufgerichtet. In Menschengestalt führen sie ein Leben von tierischer Wildheit.« Die Chinesen, die die ursprünglichen Nachbarn der Hunnen waren, nannten sie Hung-nu. Das große asiatische ›Reich der Mitte‹, das durch Gebirgsketten und Gürtel von Wüstensteppen gegen den Westen abgegrenzt war, hatte schon zweihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung den Bau einer Mauer zum Schutze gegen die Hunnenhorden begonnen, die ihre Erbfeinde waren und deren kriegerische Einfälle ihr kunstvoll verwaltetes und sorgsam bebautes Land immer wieder bedrohten. Durch diese vorsorgliche, vorsichtige Abschließung von der übrigen Welt hatte sich China so entwickelt, als wäre sein riesiges Gebiet ein eigener, selbständiger, von den Wechselwirkungen des Verkehrs mit den umliegenden Gebieten unabhängiger Erdteil. Manche Errungenschaften und Handfertigkeiten waren im abgeschlossenen chinesischen Raum schon Alltäglichkeiten des Gebrauchs, als sie im Westen Asiens und im europäischen Raum als neuartige Erfindungen gefeiert wurden. Nicht nur die Schrift als bewährtes Mittel der Verständigung, sondern auch die Erzeugung von Geräten und Stoffen war in China frühzeitig verfeinert und einer höheren Lebensform angepaßt worden. Auch das Zusammenleben der einzelnen untereinander und im Staate hatte sich längst schon einer höheren Ordnung gefügt, als die westlichen Nomadenhorden noch nach ursprünglichen Grundsätzen geleitet wurden. Der Hausbau und die Bebauung der Felder, die Zucht der Seidenraupe, die sachgemäße und zugleich künstlerische Verwertung der Tonerde zu köstlicher farbenschillernder Keramik – all diese zur Vollkommenheit entwickelten Fertigkeiten der frühen Chinesen waren auf dem Zusammenspiel zwischen Naturgeschehen und sittlichem Verhalten begründet. Im Laufe der Jahrtausende währenden Entwicklung fanden wohl zahlreiche Kämpfe im Innern des gewaltigen Gebietes statt. Doch die erlernten und erprobten Kenntnisse und Lebensformen vertieften sich 103
mit jedem Jahrhundert. Innere Notwendigkeiten und der Zwang, äußere Gefahren abzuwehren, führten dazu, daß zwar die Dynastien in China wechselten, der Gedanke der Landes- und Volkseinheit sich jedoch festigte und ein Kaisertum entstand, das für eine einheitliche Verwaltung und die Abwehr gegen Einfälle sorgte. Auf den sogenannten ›Seidenstraßen‹ begann der Handel Chinas mit der westlichen Welt. Aber die Ausfuhr von Seide und die Einfuhr von fremden Erzeugnissen, wie zum Beispiel des Glases, waren nur ein Austausch von Kostbarkeiten und beeinflußten kaum das behutsam bewachte Wirtschaftsleben der Chinesen, die sich in ihrem Reich weiter so entfalteten, als trennten sie nicht nur Gebirgszüge, Wüstensteppen und die Große Mauer von der übrigen Welt. Der hartnäckige Widerstand Chinas gegen die Angriffe der Hungnu und vermutlich die Erkenntnis der Hunnenfürsten, daß sie sogar im Falle eines erfolgreichen Einbruches durch die Große Mauer nichts anderes erreichen würden, als schließlich vom Land und von den Leuten, die sie eroberten, aufgesogen zu werden, ließ es ihnen vorteilhafter erscheinen, sich nach dem Westen zu wenden. China blieb im wesentlichen wie es war, und wuchs im eigenen Raum. Zu dieser wohltuenden Stetigkeit trug auch das Nachlassen des Druckes an den Grenzen bei, den die Hunnen verursacht hatten. II Jetzt, im ausgehenden vierten Jahrhundert, bewegte sich der schier endlose Zug dieser halbwilden, berittenen Nomaden, denen ihre Familien auf Karren und Wagen folgten, dem Westen zu. Sie eroberten Länder, sie knechteten die Völker. Manche Hunnenstämme ließen sich nieder und vermischten sich mit den Besiegten, aber die meisten hatten nicht das Bedürfnis nach Seßhaftigkeit. Kaum hatten sie ein Lager errichtet, als sie schon wieder aufbrachen. Ihr Vormarsch war wie eine Flucht. Wohin? Das wußten nicht einmal ihre Häuptlinge. Die Män104
ner fragten nicht danach. Wenn sich ihnen zu hartnäckiger Widerstand entgegensetzte, schwenkten sie ab. Ihre Vorwärtsbewegung war eher ein Schwärmen als ein Vormarsch. Als sie die schwerbewaffneten Krieger des mächtigen Parther-Reiches, das sich im Iranischen Hochgebirge gebildet hatte, abwehrten, machten sie erst eine Schwenkung nach dem Norden, dann ging es weiter westwärts. Die Hunnen waren nicht nur gewandt im Gebrauch ihrer Waffen, sie hatten nicht nur die Todesverachtung von Wilden, die ihr Leben gering einschätzen, da sie seinen Wert nicht kennen, sie waren auch so bedürfnislos, daß sich ihre Häuptlinge nicht um die wesentliche Voraussetzung des Kriegführens zu sorgen brauchten: die Verpflegung. Das Lieblingsgericht der Hunnen war rohes Fleisch, das sie unter dem Sattel mürbe ritten. Ihre Schlafstätte war der freie Himmel. Das vornehmste Dach, das sie sich wünschten, war ein aus Häuten zusammengenähtes Zelt. Schon damals wußten die erfahrenen Feldherren, daß die von der handwerklichen Entwicklung der Menschheit nur wenig berührten Feinde die unberechenbarsten und daher die gefährlichsten waren. Die üblichen Spielregeln der Kriegskunst wirkten nur dann, wenn sie von beiden Seiten gleich oder doch ähnlich angewandt wurden. Aber was nützte es, einem anstürmenden Feind in geschlossenen Reihen entgegenzutreten, wenn die feindlichen Haufen plötzlich vor dem Zusammenprall kehrtmachten, davonjagten und auf dem gewählten Schlachtfeld nichts als den Staub einer freiwilligen voreiligen Flucht zurückließen, dann aber wieder in zahllosen ungeordneten Horden aus dem Irgendwo auftauchten und den Gegner durch einen tödlichen Hagel von Pfeilen erschütterten? Die ersten Opfer der ungewöhnlichen Kriegsführung der Hunnen wurden die Ostgoten. In mehr als einem Jahrhundert und mit unendlicher Mühe hatten die Ostgoten gelernt, der Überlegenheit der Römer in militärischen Dingen nachzueifern. Sie hatten ein gewaltiges Reich nördlich vom Schwarzen Meer errichtet und die Vandalen nach dem Westen abgedrängt. Ihr bedeutendster König wurde Ermanarich, eine sagenum105
witterte Erscheinung. Sein Name und die Überlieferung erfolgreicher Feldzüge, durch die er sein Reich bis zur Ostsee ausgedehnt hatte, sind geschichtlich bestätigt, auch seine verhängnisvolle Niederlage gegen die Hunnen. Ob Ermanarich aber tatsächlich schon hundertzehn Jahre alt war, als er in der blutigen Hunnenschlacht verschwand, oder ob sein Alter so hoch angegeben wurde, um den Verlust der Schlacht auf seine Greisenhaftigkeit zurückzuführen, ist ungeklärt. Vielleicht war Ermanarich auch gar nicht gefallen, sondern galt nur als sinnbildlich tot, denn die freien Ostgoten wurden den Hunnen botmäßig. Sie gaben den Siegern den Durchzug durch ihre Gebiete widerstandslos frei. Viele Ostgoten folgten den Hunnen auf ihrem Zug nach dem Westen.
Die nächsten Gegner der so verstärkten asiatischen Reiterscharen, die die Männer auf ihrem hemmungslosen Weg niedermetzelten, die Frauen vergewaltigten und mit ihren Kindern zu Gefangenen machten, die in ihrem Troß folgten, waren die Westgoten. Noch viel weniger als ihre östlichen Stammesbrüder waren die Westgoten auf den Überfall der Hunnen vorbereitet. Sie erlitten eine Niederlage am Flusse Dnjestr. Ein Teil von ihnen, der am alten germanischen Götterglauben festgehalten hatte, zog sich unter dem Häuptling Athanarich in die Siebenbürgischen Berge zurück und siedelte sich später unter der Oberhoheit der Hunnen in der Pannonischen Tiefebene an. Ein anderer Teil der Westgoten, unter dem Fürsten Frithigern, erhielt die Erlaubnis von den Römern, die Donau zu überschreiten und sich auf römischem Gebiet niederzulassen.
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III Kaiser der römischen Reichshälften waren die von den Legionen ausgerufenen Brüder Valentinian und Valens. Die Hauptstadt des weströmischen Reiches war nicht mehr Rom. Valentinian hatte Mediolanum zu seinem Hauptsitz gemacht, um seinen bedrohten Grenzen näher zu sein. Valens beherrschte das oströmische Reich von Konstantinopel aus. Noch trugen die Legionäre der beiden Kaiser die gleichen Waffen und waren in gleicher Weise ausgerüstet. Die militärischen Befehle und die Verwaltungssprache waren noch die gleichen. Die kaiserlichen Brüder versuchten durch die Machtteilung das große Beispiel Diokletians nachzuahmen, um das Staatsgeschäft zu erleichtern, aber die Aufteilung der Macht war nicht mehr eine willkürliche. Die Zeitverhältnisse hatten doch schon eine unsichtbare Grenze zwischen dem ost- und weströmischen Reich gezogen. Wenn die Picten und Scothen den Wall in der Provinz Britannia angriffen, kümmerte das Kaiser Valens in Konstantinopel ebensowenig, wie Valentinian durch die persischen Einfälle in Armenien berührt war. Da kein vereinheitlichender Gedanke den Osten und Westen des Römischen Reiches verband, bestimmten die örtlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten die Zugehörigkeitsgefühle der Bevölkerung – soweit es überhaupt noch ein Zugehörigkeitsgefühl gab. An der Lockerung geistiger und auch tatsächlicher Bande der beiden Reichshälften zum ehemals so hoch gehaltenen Ganzen war auch die Verschiebung der Brennpunkte, beziehungsweise der Mittelpunkte der Macht schuld. Solange alles Geschehen noch von Rom ausstrahlte, war Rom das altehrwürdige Sinnbild gewesen, der geheiligte Ausgangspunkt der Machtentfaltung und seine Größe ihr endgültiges Ziel. Die Überlieferung hatte Gedankenverbindungen erweckt und Verbundenheiten des 107
Gefühls. Von der Überlieferung war kaum noch die leere Schale übriggeblieben. Die kaiserlichen Paläste Roms standen leer. Sie wirkten verödet. Die Tempel verfielen oder waren ihres Glaubensschmuckes entkleidet und in christliche Gotteshäuser umgewandelt worden. Die Lebensführung der vornehmen und reichen Römer war wohl unverändert prächtig und verschwenderisch geblieben, aber es fehlte das prunkvolle Beispiel des kaiserlichen Hofes, das zum Wettbewerb anregte. Die Bewohner der alten Senatorenpaläste waren Neureiche, denen es mehr darauf ankam, zu zeigen, was und wieviel sie hatten, als wer sie waren. Die erhaltenen Nachrichten über die von diesen Aristokraten des Geldes gefeierten Feste berichteten viel mehr über die Kosten der einzelnen Speisen, Getränke und Veranstaltungen als über deren Geschmack oder Inhalt. Es war die geltende Mode, besondere Fische oder seltenes Wildbret nicht so sehr nach dem Geschmack als nach dem Preis einzuschätzen. Die beliebtesten Vorführungen im Zirkus waren Wagenrennen. Dabei waren Spiel und Wette wichtiger als die sportliche Leistung. Die immer wachsende Bevölkerung nahm mehr Anteil an den Siegen im Zirkus und an Theateraufführungen als an politischen Dingen. Bei den höheren Ständen galt kaufmännischer Erfolg mehr als die Auswertung jeder anderen Begabung, die nicht zum Gelderwerb führte. Und es fehlte nicht an Möglichkeiten, reich und reicher zu werden. Die Verwaltung der in den Provinzen gelegenen Großgrundbesitze und Handelsgesellschaften wurde mit wenigen Ausnahmen von Rom aus geleitet. Der gemünzte Ertrag floß in die Kassen der römischen Bankiers. Das zur Verwahrung übernommene Geld wurde verzinst und mit Zinseszinsen verliehen, um die ursprünglichen Zinsen aufbringen und überdies noch einen fetten Nutzen ermöglichen zu können. Daran änderten die immer verworrenere und oft gefährliche Lage des Reiches und auch örtliche Unruhen nur wenig – solange die Limes erhalten blieben. Immer neue Unternehmungen in den Provinzen brauchten Geld, auch der Ausbau von Mediolanum zum kaiserlichen Wohnsitz. Die Grundstücke in der Umgebung von öffentlichen Ver108
waltungsgebäuden vervielfachten ihren Wert. Je schwächer die ausübende Staatsgewalt wurde, desto mehr Gelegenheiten und Bedeutung gewannen die Bankmänner und Geschäftsleute, die die Legionen mit den nötigen Waffen und neuer Ausrüstung versorgen konnten, wenn die staatlichen Anlagen versagten. Wer ein guter römischer Geschäftsmann war, hatte nicht nur ein Unternehmen in Rom, sondern unterhielt Niederlassungen in den Provinzen und ahmte die römischen Gewohnheiten im Kleineren und Kleinen nach, etwa auf der Iberischen Halbinsel, in Gallien oder in Nordafrika. In anderer Form wiederholte sich im Römischen Reich die Ausbreitung des Geschäftsnetzes, das die Griechen im Mittelmeerraum reich und bedeutend gemacht hatte, doch mit dem Unterschied, daß die griechischen Kaufleute sich in Neuland an fremden Küsten niedergelassen hatten und Pioniere des Handels gewesen waren, während die Römer der späten Kaiserzeit nur ausnützten, was von ihren Vorfahren geschaffen worden war. Sie säten nicht, sie ernteten. Und da sie sich, am Tiber im Überfluß lebend, wohlfühlten, nahmen sie sich nur selten die Mühe, selbst außerhalb Roms tätig zu sein. Sie ließen ihre fremdsprachigen Sklaven frei und machten sie zu Angestellten oder zinspflichtigen Unternehmern in ihrer ehemaligen Heimat. Das ging so lange gut, wie diese Angestellten und örtlichen Geschäftspartner nicht ihrerseits Geschmack am Verdienen fanden und am guten Leben, das der Verdienst gewährleistete. Wozu sollte der Ertrag ihrer eigenen Arbeit und der ihrer engeren Landsleute nach Rom fließen und dort verschwendet oder gegen hohe Zinsen am Ende gar an sie selbst verliehen werden? Mit Geld umzugehen, das hatten die neuen Verwalter gelernt. Auch sie gründeten Bankunternehmungen an den Orten, an denen sie waren, und gewährten Anleihen, manchmal an ihre ehemaligen Herren. Allmählich verlor Rom seine wirtschaftliche Übermacht, so wie es seine politische Bedeutung verloren hatte. Das gleiche war auch in militärischer Hinsicht geschehen. Schon Konstantin hatte es vorgezogen, hohe Offiziersposten mit Germanen zu besetzen. Auch seine Nachfolger hatten sich davon überzeugt, daß 109
diese geborenen Krieger ausgezeichnete Unterbefehlshaber waren. Verläßlich, wie es nur Männer sein können, die an nichts anderes denken als an die ihnen auferlegte Pflicht. Die germanischen Offiziere waren keine Politiker, und sie hatten keine besondere Vorliebe für diese oder jene Gegend. Das Heerlager war ihr Heim. Wenn sie eine Familie gründeten, lebten Frau und Kinder in der Lagerstadt – wenn auch oft in prächtigen Palästen, so doch fürs erste nicht an die Orte gebunden, in denen ihre Wohnsitze lagen. In der nächsten Geschlechterfolge jedoch war schon die natürliche Änderung eingetreten, daß die Söhne und Töchter dieser germanischen Offiziere und Generäle Grundbesitzer und Großgrundbesitzer werden wollten, wie ihre römischen Freunde und Nachbarn es waren. Durch die in immer größerer Anzahl für ihre Verdienste belohnten germanischen Generäle entstand eine neue römische Schicht von vornehmen Männern. Sie waren beides: Römer und Germanen. Die Mischung, die sie verkörperten, wurde kennzeichnend für die führenden Schichten der Bevölkerung in vielen Gebieten. Diese Mischung innerhalb des Römischen Reiches beschränkte sich nicht auf italische Römer und Germanen. Es gab gallische, spanische und nordafrikanische Römer. Sie alle wurden Träger der Lebensführung und Lebensart, die eine eigene, je nach der Abstammung und dem Ort abgewandte Prägung gewann. So entstand die Grundlage zur Bildung künftiger Völkerschaften, deren Sprache und Gebräuche, wenn auch durch die Anschwemmung anderer Sprachen und Gebräuche im Laufe der Jahrhunderte verändert, unzweifelhaft den römischen Ursprung erkennen lassen. Vom Schwarzen Meer bis an den Atlantischen Ozean, von der Donau und dem Rhein bis an die Küsten des Mittelmeers lebte Rom noch weiter, auch als es längst schon zugrunde gegangen war.
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Kämpfe um Rom I Der Zerfall des weströmischen Reiches ging Schritt für Schritt vor sich. Für die Zeitgenossen machten sich die Verfallserscheinungen nur bemerkbar, wenn unerwartete Ereignisse über sie hereinbrachen. Oft waren die Zusammenhänge nicht deutlich, sie erweckten nur Angst. Der Rückblick der Herrscher in die Vergangenheit vernebelte ihren Ausblick in die Zukunft. Sie unterschätzten drohende Umstände. Da hatte schon Kaiser Aurelian etwa hundert Jahre zuvor wandernde Gotenstämme, die das Reich bedroht hatten, friedlich angesiedelt. Die Goten waren zu guten Bürgern geworden. Sie hatten sich angepaßt und waren, zum Teil wenigstens, so mit ihren Nachbarn verschmolzen, daß sie ihre Sprache und auch ihre Gewohnheiten angenommen hatten. Nicht nur das: auch der Glaube dieser Goten war, bald nachdem das Christentum im Römischen Reich geltend geworden war, christlich geworden. Ihr Stammesgenosse Ulfilas hatte ihnen das arianische Bekenntnis durch die Übersetzung der Bibel nahegebracht. War etwas dagegen einzuwenden, daß die jetzt von den Hunnen bedrängten Westgoten, die um Aufnahme ins Römische Reich baten, angesiedelt würden? Je mehr Menschen, desto mehr ›Föderaten‹ – Bundesgenossen –, durch deren Nachwuchs die Legionen aufgefüllt werden konnten. Als der Westgotenfürst Frithigern sich an Valens, den Kaiser des oströmischen Reiches wandte, wurde er mit seinem Volk willkommen geheißen. In den guten Ebenen an der Donau gab es zwar keine Siedlungsmöglichkeiten mehr, aber die gebirgigen Landschaften des nordöstlichen Griechenland und der Nachbargebiete waren unbesiedelt: da war Platz. 111
Über die verhängnisvollen Ereignisse, die dieser lässigen Zuweisung von Lebensraum folgten, berichtet ein späterer Geschichtsschreiber auf Grund überlieferter Tatsachen: »Da erging es den Goten, wie es Völkern, die noch nicht ganz und gar seßhaft sind, manchmal geht, nämlich, daß sie von einer Hungersnot heimgesucht wurden. Frithigern und die anderen Fürsten hatten Mitleid mit dem verzweifelten Mangel ihres Volkes und wünschten, mit den örtlichen römischen Befehlshabern Lupicinus und Maximus Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Womit aber gibt sich der verfluchte Drang nach Gold zufrieden? Die römischen Befehlshaber verkauften in ihrer Habgier nicht nur das Fleisch von Schafen und Rindern, sondern auch das Aas von Hunden gegen hohen Preis. Sie verlangten für ein Brot oder zehn Pfund Fleisch einen Sklaven als Gegenwert. Als es keine Sklaven mehr zu verkaufen gab, forderten sie die Kinder der Goten an Zahlungsstatt. Die Eltern gingen darauf ein. Denn sie hielten es für besser, daß ihre Kinder die Freiheit als das Leben verlören. Es schien ihnen weniger grausam, ihre Kinder zu verkaufen und so für ihre Ernährung zu sorgen, als sie verhungern zu lassen. In dieser schlimmen Zeit lud Lupicinus Frithigern zu einem Gastmahl ein. Während der Gotenfürst im Amtshaus des Feldherrn speiste, hörte er das Geschrei seiner Gefolgsleute, die ermordet werden sollten. Frithigern zog sein Schwert, entwich mit großer Verwegenheit und Schnelligkeit und rettete seine Gefährten. Er feuerte sie an, die Römer niederzumachen. Den Goten war es lieber, das Leben im Kampf als durch Hunger zu verlieren. Sie töteten Lupicinus und Maximus. Dieser Tag nahm den Goten den Hunger, den Römern die Sicherheit. Die Goten verhielten sich nun nicht länger wie eingewanderte Fremdlinge, sondern sie geboten über die bisherigen Besitzer wie eingesessene Bürger und Herren.« Dieser Zwischenfall war kennzeichnend für andere ähnliche Begebenheiten, die von gedankenlosen oder bedenkenlosen römischen Feldherren herbeigeführt wurden. Sie gaben Anlaß zu einem verzweifelten Aufstand der Goten, die brandschatzend und mordend ganz Thrakien eroberten. Kaiser Valens eilte den Aufständischen mit seinen Legionen entgegen, die durch in Eile angeworbene ›Barbaren‹ auf112
gefüllt worden waren. Die Entscheidungsschlacht, die in der Ebene von Adrianopel stattfand, wurde ›die vernichtendste Niederlage, die die Römer seit Cannae erlitten hatten‹. Es blieb nicht bei der einen Schlacht. Denn hinter den vordringenden Westgoten stürmten von Hunnenschwärmen begleitete oder verdrängte Ostgoten über die ungeschützte Donau und verwüsteten auf ihrem Vormarsch weite Gebiete vom Schwarzen Meer bis zu den Grenzen Italiens.
Dem nach der Schlacht von Adrianopel in den Flammen eines Gehöftes umgekommenen Kaiser Valens war sein Bruder Valentinian einige Jahre zuvor im Tode vorangegangen. In der kurzen Zeit seiner Herrschaft hatte Kaiser Valentinian die Grenzen der Provinzen Italiens und Galliens verstärkt und aufgeklärte Gesetze erlassen, die den Zweck gehabt hatten, den unterirdischen Kampf der Heiden gegen die Christen durch die Gewährung einer allgemeinen Glaubensfreiheit zu beendigen. Sein Sohn und Nachfolger Gratian unternahm es, diese Maßnahmen durchzuführen, aber er ergab sich bald einer hemmungslosen Vergnügungssucht, die ihn zur Führung der Staatsgeschäfte unfähig machte. Die einzige bedeutsame Handlung Gratians war die Erhebung des Hispaniers Theodosius auf den durch den Tod seines Onkels frei gewordenen Thron des oströmischen Reiches. Diesem bisher auf der Iberischen Halbinsel und in Britannien erfolgreich gewesenen Feldherrn gelang es, mit den Goten, die die nordwestlichen Provinzen des oströmischen Reiches verheerten, Frieden zu schließen. Statt sie zu bekämpfen, veranlaßte er sie, in sein Heer einzutreten, und wies ihren Familien fruchtbare Landstriche innerhalb der Grenzen des oströmischen Reiches an. Sie hatten nichts anderes gewünscht, als leben zu können, und waren bereit, ›dem Freund der Goten und des Friedens‹ ihre Dankbarkeit zu beweisen. Dazu bekamen sie bald Gelegenheit. 113
Ein aufrührerischer General räumte Kaiser Gratian aus dem Weg und drang in Italien ein, um sich an Stelle Valentinians des in Eile zum weströmischen Kaiser erhobenen Halbbruders Gratians, auf den Thron zu setzen. Theodosius marschierte mit seinen Legionen, die zum großen Teil aus Goten zusammengesetzt waren, gegen den Usurpator, schlug ihn vernichtend und festigte die Macht des jungen Valentinian. Während sich Theodosius in der Kaiserstadt Mediolanum aufhielt, erhielt er die Meldung, daß sein Statthalter Botherich, der einen beliebten Rennfahrer wegen eines Verbrechens ins Gefängnis hatte werfen lassen, von der Menge, die die Freilassung des Rennfahrers verlangt hatte, in Thessalonike ermordet worden war. Theodosius war für seine Milde und Gerechtigkeit bekannt, aber er hatte ein aufbrausendes Wesen. In seiner jähen Wut über die Nachricht von der Ermordung seines Statthalters befahl er, daß die gesamte Bevölkerung von Thessalonike blutig zu bestrafen sei. Er bereute den Befehl bald und widerrief ihn. Zu spät. Siebentausend Männer und Frauen, die den Spielen beiwohnten, wurden im Zirkus von Thessalonike niedergemetzelt. Dieser Massenmord entsetzte die Bevölkerung aller römischen Provinzen. Die Menge schrie nach Sühne. Ein allgemeiner Aufstand drohte. Zum ersten Male in der Geschichte trat die christliche Kirche bestimmt gegen einen Kaiser des Römischen Reiches auf. Ambrosius, der Bischof von Mediolanum, hatte vor seiner Priesterweihe das Amt eines Statthalters in Mediolanum bekleidet. Er war ein gottesgelehrter Weltmann, der in beispielgebender Einfachheit lebte. Seine Predigten und Hymnen waren vom Geiste des Glaubenssatzes von Nicaea erfüllt. Sein Ansehen und sein Einfluß in der Geistlichkeit und der Bevölkerung waren so überragend, daß er es auf sich nahm, Theodosius zu schreiben, er werde die Messe nicht mehr in Gegenwart des Kaisers lesen, wenn dieser nicht vor allem Volk um Vergebung seiner Sünde bitte. Theodosius wies die öffentliche Demütigung als freche Herausforderung zurück. Er wollte die Kirche betreten, aber der Bischof verstell114
te ihm den Weg. Es nützte nichts, daß der Kaiser aufbegehrte und mit Gewalt drohte. Ambrosius blieb fest und erreichte es, daß Theodosius sich aller kaiserlichen Insignien entledigte und als demütiger Büßer der Messe beiwohnte. Die christliche Welt erkannte zum ersten Male, daß selbst der Kaiser sich einem Stellvertreter Christi auf Erden beugen mußte, wenn er des Kirchensegens teilhaftig werden wollte. Noch deutlicher wurde die kaiserliche Anerkennung der Kirche, als Theodosius das Christentum zum alleinigen, unanfechtbaren Staatsglauben erklärte und die Ausübung heidnischer Götterverehrung unter strenges Verbot stellte. Er schuf sogar die Olympiade ab, den sportlichen Wettbewerb, der den Gottheiten des Altertums geweiht gewesen war. Theodosius konnte nicht lange in seiner Hauptstadt Konstantinopel verweilen. Kaum hatte er Mediolanum den Rücken gekehrt, als neue Unruhen die Herrschaft Valentinians II. erschütterten. Der Aufstand seines Heermeisters Arbogast, der den alamannischen Gelehrten Eugenius in Gallien zum Kaiser ausrief, damit er in seinem Namen herrschen könne, war von den reichsten Adeligen der Stadt Rom, die durch die Erhebung des Eugenius den alten Götterglauben wieder einführen wollten, mit Geld und Mannschaften unterstützt worden. Valentinian II. wurde von Arbogast ermordet. Theodosius wandte sich wieder gegen Westen, um eine rechtmäßige Thronfolge zu erzwingen und das bedrohte Christentum zu sichern. Er kam mit einem Heer, das aus Goten, Alanen, Hispaniern und Hunnen zusammengesetzt war. Zu seinen wichtigsten Unterbefehlshabern zählten der adelige Vandale Stilicho und der vornehme Gote Alarich. Diese beiden ausgezeichneten Generäle leisteten das Ihre in der Schlacht von Aquileia, die das Ende der kurzen Herrschaft des Heermeisters Arbogast und des Gelehrten Eugenius zur Folge hatte. Jetzt war Theodosius unbestrittener Kaiser beider Reichsteile. Aber er war nicht für die Einheit des Reiches. Er war für die erneute Teilung des ungeheuren Gebietes und setzte seinen elfjährigen Sohn Honorius als Kaiser des Westens ein. Seinen achtzehnjährigen Sohn Arcadius ernannte er zum Mitkaiser des Ostens. 115
Er hatte vor, seine beiden Söhne in brüderlicher Eintracht zu gerechten Herrschern heranzuziehen. Von den Anstrengungen seines unruhigen Lebens erschöpft, starb er, bald nachdem er die Reichsteilung vorgenommen hatte. II Nicht die Söhne des Theodosius, sondern die beiden Generäle, die die Schlacht von Aquileia für ihn und mit ihm gewonnen hatten, bestimmten den Ablauf der Ereignisse. Der Vandale Stilicho stellte sich dem jungen Honorius zur Verfügung und veranlaßte den halbwüchsigen Kaiser, sich mit seiner Tochter Maria zu verehelichen. Die Heirat fand statt. Aber Honorius hatte nur eine Leidenschaft: die Hühnerzucht. Solange er sein Geflügel ungestört füttern konnte, war ihm alles recht. Er vollzog auch die Ehe nicht. Maria starb als Jungfrau, nachdem sie zehn Jahre Kaiserin gewesen war. Der Kaiser des Ostens, Arcadius, war glücklich mit Eudoxia verheiratet. Der griechische Name der Kaiserin verbarg ihre fränkische Abkunft. Sie war eine erklärte Feindin aller Germanen, vielleicht auch, damit man sie nicht verdächtige, eine Freundin der das Kaiserreich unaufhörlich bedrohenden Stämme zu sein. Sie beeinflußte ihren Gatten, die jährlichen Zahlungen, die sein Vater mit den Goten vereinbart hatte, einzustellen. Diese unselige Sparsamkeit Eudoxias mochte auch dadurch veranlaßt gewesen sein, daß sie ein Gegengewicht für ihre verschwenderische Lebensführung schaffen wollte. Beinahe zum gleichen Zeitpunkt entließ Stilicho, der Schwiegervater des jungen Honorius, die von Theodosius angeworbenen gotischen Legionäre aus den Diensten des weströmischen Kaisers. Die plötzliche Entlassung aus dem Heeresdienst wurde von den Goten erst mit verzweifeltem Kopfschütteln hingenommen. Was sollten sie tun? Wohin sich wenden? In das den Goten vom Vater der beiden Kaiser zugewiesene Land? Aber dort machte sich der Entzug der 116
Zahlungen, die dazu gedient hatten, Lebensmittel zu kaufen, so empfindlich bemerkbar, daß Alarich, der verläßliche General des verstorbenen Kaisers Theodosius, die einzelnen gotischen Häuptlinge zu einem Thing zusammenrief, um zu beraten, was geschehen sollte. Würde die ›Goten-Not‹ nie ein Ende finden? Sie waren doch gute christliche Menschen, bereit zu kämpfen und zu arbeiten, mit wem und für wen, das galt gleich, wenn sie nur mit dem zum Leben Nötigsten versorgt würden. Die Offiziere der von Stilicho entlassenen Legionäre nahmen an der Beratung teil. Das Ergebnis war die Entscheidung der Goten, daß sie sich nicht mehr den verweichlichten Römern und Griechen unterwerfen sollten. Was konnte sie hindern, sich in dem zerfallenden Römischen Reich ein Königreich mit Waffengewalt zu schaffen? Alarich wurde zum König erwählt und verlor keine Zeit. Er machte auch keinen Umweg. Das den gotischen Siedlungen am nächsten gelegene Griechenland war sein unmittelbares Ziel. Alarich war römischer General gewesen. Er hatte seine Truppen mit Maß und überlegener Umsicht befehligt. Seine Aufgabe war die Verteidigung der römischen Grenzen gewesen. Als gotischer Heerführer unternahm er einen 'Vernichtungsfeldzug. Wenn er seine Leute im fremden Land so ansiedeln wollte, daß sie sich den kargen Boden in neuer Seßhaftigkeit zunutze machen konnten, mußte er die Bevölkerung ausrotten. Noch einmal traten die von den Spartanern des Altertums gegen die zahllose Übermacht der Perser verteidigten Thermopylen in die Geschichte. Aber gegen den Ansturm der von Alarich befehligten Goten wehrte sich kein Leonidas. Alle Männer im waffenfähigen Alter, die den Goten auf ihrem Marsch begegneten, wurden erbarmungslos ermordet, die Frauen an Ort und Stelle geschwängert, damit gleich für Nachwuchs gesorgt war. Als Christ hielt es Alarich für geboten, die heidnischen Tempel der alten Götter zu zerstören. Nur Athen entging der Brandschatzung und Verheerung, weil es der Gotenkönig vorzog, sich die bewegliche Habe der Athener persönlich ausliefern zu lassen, anstatt die Stadt einer willkürlichen Plünderung seiner Soldaten preiszugeben. 117
Jetzt hatte Alarich ein Königreich. Aber nicht für lange, denn Arcadius bat Stilicho, den Schwiegervater seines Bruders, ihn aus seiner Rat- und Hilflosigkeit zu retten. Die beiden miteinander befreundeten Generäle des Kaisers Theodosius standen einander nun feindlich gegenüber. Beide waren vom gleichen Schlag: Abenteurer, die ursprünglich über nichts anderes verfügt hatten als die ausstrahlende Kraft ihrer Persönlichkeit, die Fähigkeit, sich bei den Kaisern Liebkind zu machen und das Vertrauen ihrer Krieger zu gewinnen. Sie waren im Grunde nicht mehr als machthungrige Bandenführer, die den Wunsch hatten, sich nicht vor gekrönten Häuptern beugen zu müssen, und sich die Kronen selbst aufs Haupt setzen wollten. Alarich war unmittelbarer, gewalttätiger. Stilicho hatte sich die Geschmeidigkeit des Höflings angeeignet und scheute vor Gewalt zurück, solange er mit Geschicklichkeit ans Ziel kommen konnte. Er hatte sich mit der Nichte seines Kaisers Theodosius verheiratet und schließlich auch seine Tochter durch ihre Eheschließung mit Honorius als Pfand im Spiel um die Macht benützt. Er hatte einen Sohn. Und wenn er selbst an Stelle des Honorius Kaiser wurde, dann konnte er, der Vandale, eine gewaltige Herrscherfamilie gründen. Das aber hatte nur dann Zweck, wenn das künftige Reich seines Wunschtraums unversehrt blieb. Wozu sollte er sich durch einen Kampf gegen Alarich schwächen, er, der alle Kräfte brauchte, um das Reich zu erhalten? Es gelang Stilicho, den gotischen Heerführer in eine unhaltbare Stellung zu drängen. Aber er zog es vor, einen Waffenstillstand zu schließen und Alarich und seine Goten im nahen Epirus anzusiedeln. Er sorgte dafür, daß sie es sich gut gehen ließen. Sie waren ihm als lebendige Freunde und Bundesgenossen wichtiger denn als tote Feinde. Arcadius stimmte den Bestimmungen des Waffenstillstands zu. Er atmete auf, als die Goten sich nun wieder in einem neuen Gebiet friedlich niederließen.
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III In Vollstreckung des letzten Willens von Theodosius I. konnte die Grenze zwischen den Hälften des Römischen Reichs nun nicht nur auf den Landkarten, sondern tatsächlich gezogen werden. Aber sei es, daß der kaiserliche Staatsmann nicht die genaue örtliche Einhaltung seiner letztwilligen Verfügung im Auge gehabt hatte, oder daß die Landkarten in den wesentlichen Einzelheiten nicht mit den Gegebenheiten übereinstimmten – die Teilung zerschnitt zueinandergehörige Landstriche und zerstörte so ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung. Die Grenze zwischen dem west- und dem oströmischen Reich wurde die Donau von ihrem Knie bis zur Save-Mündung und lief schließlich in einem Schwung nach Südosten zum Adriatischen Meer. Die illyrischen Volksstämme, die jahrhundertelang den römischen Legionen die besten Männer geliefert hatten, wurden so in zwei ungleiche Hälften geteilt, deren eine das weströmische Latein sprach und deren andere sich der griechischen Dialekte bediente, die im oströmischen Reich üblich geworden waren. So wurde die Einheitlichkeit der Illyrer zerschlagen und dadurch eine neuerliche Schwächung der Widerstandskraft beider Reiche herbeigeführt – so eng sie auch politisch miteinander verbündet sein mochten. Aus welchen Gegenden könnten die Kaiser nun verläßliche Truppen beziehen? Diese Frage stellte der Bischof Synesius in einer Ansprache am Hofe des Arcadius. Der Bischof war auf Einladung der Kaiserin Eudoxia nach Konstantinopel gekommen. Sie hatte ihn gerufen, weil er ihr wegen seiner germanenfeindlichen Haltung gerühmt worden war. Aber was Synesius jetzt mit wohlgesetzten Worten und lauter Stimme vortrug, das paßte der Kaiserin nicht, obwohl das Ziel in ihrem Sinne war. Auch der Bischof begehrte die Vertreibung der Ger119
manen aus dem Römischen Reich, aber das Bild der Zukunft, das er in seiner unerbittlichen Beredsamkeit heraufbeschwor, war zu entsetzlich. Es war der endgültige Zerfall, der Untergang in vollkommener Vernichtung. Das oströmische Reich könne sich nicht am Leben erhalten, wenn sich seine Bürger dem Kriegsdienst entzögen und ihre Verteidigung Söldnern anvertrauten, die den Völkern entstammten, von denen dem Reich Gefahr drohte. Nur ein Bürgerheer könne es retten, nur Männer, die sich für das Vaterland und die Freiheit einsetzten. Das bequeme Leben und die Ausschweifung des Einzelnen müßten ein Ende haben, und wenn die beiden Kaiser Arcadius und Honorius und ihre Höfe nicht mit gutem Beispiel vorangingen, sei das Schlimmste zu befürchten. Wenn sich die beiden Kaiser nicht vereinigten, um die unverschämten germanischen Heerscharen innerhalb ihrer Reihe zu zerschmettern oder sie in ihre ursprünglichen Gebiete hinter dem Schwarzen Meer, der Donau und dem Rhein zurückzujagen, würden die Germanen die Herren beider Reiche werden. Die Damen und Herren des Hofes von Konstantinopel überlief es kalt. Aber vor die Wahl gestellt, ihr Leben zu ändern und Notmaßnahmen zu ergreifen, zogen sie es vor, alles beim alten zu lassen. Sie taten, als hätten sie die Warnungen des Bischofs Synesius nicht gehört. Zu dieser gleichgültigen Haltung veranlaßte sie auch die Erwägung, daß das oströmische Reich weitaus weniger gefährdet war als das weströmische. Der Zug der Hunnen drängte nach dem Westen, und dort gab es den großen Feldherrn und Staatenlenker Stilicho, der immer jeder noch so schwierigen Lage Herr geworden war. Das sah man auch jetzt in Nordafrika, wo er daran war, einen Aufstand niederzuschlagen. In Konstantinopel nahm man nicht zur Kenntnis, daß Alarich indessen das seinen Goten zugewiesene Gebiet in Epirus in ein einziges Rüstungslager verwandelte. Vier Jahre lang stellten die Schmiede eine völlig neue Ausrüstung der Goten her. Spieße, Schwerter, Helme, Schilde. Keinem Mann sollte es an der besten Bewaffnung fehlen, wenn Alarich bereit war, zu beweisen, daß er seinem Volk das beste Land der Erde als Königreich schaffen werde. 120
Als Alarich soweit war und sich in Eilmärschen auf den Weg zur großen Eroberung machte, schien es, daß sich die gute Meinung, die der Hof von Konstantinopel von Stilicho hatte, nicht bewahrheiten sollte. Alarich fiel plündernd in Italien ein, und eine allgemeine Flucht begann. Wer nur konnte, floh nach Mediolanum oder Rom und sogar über das Meer nach Korsika und Sardinien. Sollte die furchtbare Vorhersage des Synesius nun Wirklichkeit werden? Aber während die siegreichen Goten am Ostersonntag ihren plündernden Vormarsch unterbrachen, um den Tag zu heiligen, überfiel Stilicho ihr Feldlager mit einem kleinen auserwählten Heer. Die Schlacht, die dem Überfall folgte, blieb unentschieden. Das Römische Reich schien doch aus der unmittelbaren Gefahr gerettet zu sein. Nicht aber Rom. Im griechischen Feldzug gegen Alarich hatte Stilicho seine Überlegenheit durch die Ausnützung der örtlichen Gegebenheiten bewiesen. Auf italischem Boden zeigte nun Alarich, was er konnte. Da er im Kampf gegen Stilicho nicht siegreich gewesen war, sicherte er sich das reichste Pfand. Er zog sich vor der Feldherrnkunst Stilichos zurück – aber in Richtung auf das unverteidigte Rom. Jetzt war auch Stilicho einverstanden, daß sein kaiserlicher Schwiegersohn Honorius unterhandle. Was immer auch Alarich verlangte, müsse ihm ausgezahlt werden, damit Rom erhalten bleibe. Welche Stadt war noch sicher? Wo konnte ein Kaiser Hof halten, ohne im nächsten Augenblick gewärtig sein zu müssen, von herumstreifenden Germanenscharen überfallen zu werden? Mediolanum war den unruhigen Germanen zu nahe, Rom war hoffnungslose Vergangenheit. Es mußte eine neue Hauptstadt gefunden werden, ein sicherer Platz, und die Wahl des Honorius fiel auf Ravenna. Vom Land her war es durch Sümpfe und Lagunen geschützt. Sandbänke schützten es zur See. Alarich war abgezogen. Er hatte sich mit Stilicho geeinigt. Sehr viel Geld und sehr viele gute Worte zwischen alten Freunden und bewährten Feinden hatten seine Eroberungslust beschwichtigt. Er wollte auch nicht in die Zange zweier Heere geraten, die sich zu einer neuen furchtbaren, kriegerischen Auseinandersetzung gegeneinander bewegten. Er 121
wollte weder auf der einen noch auf der anderen Seite stehen, als ein Abenteurer wie er, nur lange nicht so geschult und erfahren wie er, ein germanischer Häuptling mit dem Namen Radagais an der Spitze eines Heeres, das zweihunderttausend Alanen, Quaden, Ostgoten und Vandalen umfaßte, gegen Italien marschierte. Sie hatten die Donau überschritten, sie waren über die Alpen gekommen. Es schien, daß nichts und niemand sie aufhalten könne. Auch ihr Zug war wie eine Flucht vor dem Entsetzlichen, das sie im Rücken gelassen hatten: ihre von den Hunnen verheerten Wohnsitze. In ihrer Verzweiflung hatten sie kein Erbarmen. Kein Hindernis hielt ihnen stand. Eine Stadt nach der anderen fiel in ihre Hände. Es war ein Eroberungszug gewesen, es wurde ein Raubzug. Nur ein Mann konnte das Reich retten: Stilicho. Die Schlacht bei Fiesole, die Stilicho, der erste große ›Kondotdere‹ der Weltgeschichte, dem an Zahl zehnfach überlegenen Heer des Radagais lieferte, dauerte nur wenige Stunden und endete mit einer völligen 'Vernichtung der vereinigten Germanen. Es gelang Stilicho, Radagais gefangenzunehmen und in Ketten vor den jungen Honorius zu führen. Alle Gefahren schienen beseitigt zu sein. Jetzt galt es nur noch, die Grenzen des weströmischen Reiches wieder zu festigen, Truppen auszuheben und auszubilden und durch den Aufmarsch und die Zurschaustellung überlegener Streitkräfte allen möglichen Angreifern vorweg zu beweisen, daß ein Angriff zwecklos sein würde. Nur ein Gegner durfte nicht unterschätzt werden: Alarich, der offenkundig lauernd darauf wartete, bis seine Zeit gekommen war. Stilicho trat dafür ein, Alarich mit Geld und Geschenken ruhig zu halten, wenigstens so lange, bis seine eigene Macht so überlegen sein würde, daß die Unternehmungslust des Gotenkönigs keine Gefahr mehr bedeutete. In diesem entscheidenden Jahr, in dem der Vandale Stilicho alle Kräfte seines umfassenden Genies daransetzte, das weströmische Reich zu stärken und für lange, lange Zeit hinaus zu erhalten, wurde Kaiser Honorius den Einflüsterungen seiner Umgebung immer zugänglicher, solange, bis er selbst davon überzeugt war, daß sein Schwiegervater Stili122
cho alles nur tat, um seinen eigenen Sohn zum Kaiser zu machen. Honorius befahl, Stilicho zu töten. Die Männer, die den Befehl ausführen sollten, hätten von den Gefolgsleuten Stilichos mühelos vertrieben werden können: er zog es aber vor, sich töten zu lassen. Die Nachricht von der willkürlichen Hinrichtung seines Freundes und Feindes war das Zeichen zum Angriff für Alarich. Die ehemaligen Gegner Stilichos am Kaiserhof erleichterten ihm die Arbeit. Aus Angst vor Rache ermordeten sie die mit dem getöteten General befreundeten Befehlshaber der Legionen. Die Mannschaften meuterten und stießen zu Alarich. Er verlangte erst Geld vom Kaiser, viertausend Pfund Gold. Aber hatte Honorius Stilicho nicht unter dem Vorwand hinrichten lassen, daß er sich Alarich gegenüber so freigebig gezeigt hatte? Honorius verweigerte die Zahlung. Alarich machte sich selbst bezahlt. Auf dem ihm schon bekannten Weg nach Rom raubte er alles, was nicht niet- und nagelfest war. Der römische Senat, der schon so lange nichts zu reden gehabt hatte, versammelte sich nun. In der feierlichen Sitzung, in der Notmaßnahmen getroffen werden sollten, wurde die Witwe Stilichos, die sich in Rom aufhielt, von den Senatoren für schuldig befunden, Alarich zu Hilfe gerufen zu haben. Sie wurde hingerichtet. Der Gotenkönig nahm in seiner Art Rache für den Tod der unschuldigen Witwe. Er drang in Rom nicht ein. Er wollte in keine Mausefalle. Er sorgte nur dafür, daß die Lebensmittelzufuhren nach Rom abgeschnitten wurden und wartete außerhalb der Mauern. Die Hungersnot, die die Belagerung mit sich brachte, war furchtbar. In den Berichten hieß es, daß in Rom Menschenfleisch gegessen wurde. Der Senat sandte eine Abordnung an Alarich. Die hohen Herren in ihren mit Purpur eingefaßten Togen baten den Gotenkönig um seine Bedingungen der Übergabe Roms. Ein Senator, der die Bedingungen erleichtern wollte, erwähnte selbstbewußt, daß schließlich eine Million Römer zum Widerstand bereit seien. Alarich lachte: »Je dichter das Heu, um so leichter läßt es sich mähen.« Aber er erklärte sich bereit, mit seinen Truppen abzuziehen, wenn ihm alles Gold und Silber und alle beweglichen Kostbarkeiten der Stadt ausgehändigt würden. 123
»Was bleibt uns dann?« fragten die Senatoren. Alarich erwiderte: »Euer Leben«, und erhielt fünftausend Pfund Gold, dreißigtausend Pfund Silber, viertausend Seidentuniken, dreitausend Felle und dreitausend Pfund Pfeffer. Er war nun so reich wie kein anderer Herrscher und Heerführer seiner Zeit. Was nun? Während Alarich in seinem Lager überlegte, wohin er sich wenden sollte, sandte Honorius ein rasch gesammeltes Heer unter dem Befehl eines gotischen Häuptlings gegen ihn. Sowohl die Vorsicht als auch die Geduld Alarichs waren nun zu Ende. Italien war das Land, das ihm immer als sein Königreich vorgeschwebt hatte. Er schlug den Angriff der zaghaften Legionen zurück und drang in Rom ein. Drei Tage lang wüteten die gotischen Krieger und die entlaufenen römischen Sklaven, die zu ihnen gestoßen waren, ungehindert in der Stadt. Sie raubten alles, was nur irgendeinen Wert hatte. Statuen wurden zerschlagen und, wenn sie aus Edelmetall waren, eingeschmolzen. Krüge, Töpfe, Möbel, Glaswaren, alles, was zerbrechlich war, wurde zerschmettert. Wer sich zur Wehr setzte, wurde ermordet. Die entlaufenen Sklaven schändeten die Frauen der Haushalte, denen sie angehört hatten. Auf den Straßen häuften sich Berge von Leichen. Nur zwei Gebäude blieben unangetastet, und die Menschen, die in sie geflüchtet waren, kamen mit dem Leben davon: die Peters- und die Paulskirche. Alarich selbst beteiligte sich nicht an der Zerstörung. Er verhinderte sie aber auch nicht. Ihm genügte, daß er seinen Mannschaften das Wort gehalten hatte: sie hatten gesiegt. Jeder einzelne Gote war reich. Er stellte die Ordnung wieder her und verließ Rom mit Tausenden von Gefangenen, unter denen sich Galla Placidia, die Halbschwester des Kaisers Honorius befand, in Richtung nach dem Süden. Er wollte Sizilien erobern – und dann das ganze Römische Reich. Er besiegte jeden Widerstand auf seinem hastigen Marsch. Während einer kurzen Rast überfiel ihn ein heftiges Fieber. Der Tod, der ihn auf allen seinen waghalsigen Feldzügen, kreuz und quer durch das europäische Festland, verschont hatte, ereilte Alarich in Cosenza. Die entlaufenen römischen Sklaven, die dem Heereszug der Goten gefolgt waren, leite124
ten den Fluß Busento ab, damit die Goten ihrem König ein geräumiges Grab sichern könnten. Als Alarich begraben war, wurde der Fluß in sein Bett zurückgeleitet. Die Sklaven, die die Arbeit verrichtet hatten, wurden getötet. Niemand außer seinen vertrauten Gefolgsleuten sollte um die Grabstätte des großen Toten wissen, damit sie für immer verborgen und vor frechen Händen verschont bleibe. IV Die Wahl Ravennas als zeitweilige Hauptstadt des weströmischen Reiches bewährte sich. Die Sümpfe und Lagunen, die es umgaben, gewährleisteten dem Kaiser Honorius verläßlicheren Schutz als seine besten Legionen. Selbst Alarich hatte einen Handstreich auf den kaiserlichen Hof in Ravenna für aussichtslos gehalten. Sein Schwager Athaulf, der ihm als König der Goten folgte, machte nicht einmal den Versuch, die kriegerischen Unternehmungen seines Vorgängers auf italischem Boden fortzusetzen. Athaulf zog es vor, zu verhandeln. Ihm ging es vor allem darum, endlich geeignete Wohnsitze für sein Volk zu erwerben. Er selbst war Familienvater. Er hatte sechs heranwachsende Kinder, für die er eine feste Heimat gewinnen wollte. Schon bei der ersten Zusammenkunft Athaulfs mit den bevollmächtigten kaiserlichen Gesandten wurde es dem Gotenkönig offenbar, daß er über ein wertvolleres Pfand verfügte, als er es für möglich gehalten hätte. Die Unterhändler aus Ravenna erwähnten die Plünderung Roms mit keinem Wort. Es schien ihnen nichts an der Wiedererstattung der geraubten Schätze gelegen zu sein. Sie stellten jedoch als Bedingung für die Zuweisung geeigneter Landstriche an die Goten die Entlassung Galla Placidias, der Halbschwester des Kaisers, aus der Gefangenschaft. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Je dringlicher die Forderung der Unterhändler wurde, desto eigensinniger zeigte sich Athaulf. Welches Land sollte den Goten zugewiesen werden? Die Gebie125
te, aus denen Alarich sie ursprünglich geführt hatte? O nein! Dort hatten sie gehungert. Aber der Mangel an Lebensmitteln machte sich auch in ihren gegenwärtigen Lagern quälend bemerkbar. Sie wollten jedenfalls aufbrechen. Auf die Richtung, die Alarich hatte nehmen wollen – immer weiter nach dem Süden, über das Meer nach dem Norden Afrikas –, verzichtete Athaulf. Dazu wäre eine Flotte nötig gewesen, und zum Bau von Schiffen fehlten Rohstoffe, Handwerker – und auch die Zeit. Athaulf führte seine Goten nordwärts. Die gallischen Provinzen des weströmischen Reiches waren in den Verhandlungen immer wieder erwähnt worden, wenn auch mit Vorbehalt. Die kaiserlichen Unterhändler hatten nicht verschweigen können, daß die Limes am Rhein von germanischen Völkerschaften an vielen Stellen durchbrochen worden waren und daß auch örtliche Aufstände aller Art in den reichen Provinzen wüteten. Zur Abwehr der Einbrüche und zur Unterwerfung der Aufstände seien kaiserliche Legionen ausgeschickt worden. Wenn Athaulf sich mit seinen Goten diesen Legionen anschließen würde, dann wäre der Kaiser in Ravenna durchaus bereit, nicht mit Getreidezufuhren zu sparen – vorausgesetzt natürlich, daß Galla Placidia ausgeliefert werde. Der hartnäckige Hinweis auf die schöne Prinzessin machte Athaulf von Unterhandlung zu Unterhandlung mißtrauischer. Die Gefühlsarmut des Kaisers war bekannt. Es war nicht wahrscheinlich, daß Honorius aus persönlicher Zuneigung so großen Wert auf die Freilassung seiner Halbschwester legte. Der Gotenkönig brachte bald in Erfahrung, daß Flavius Konstantius, der neue Ratgeber des Kaisers, die Laufbahn seines Vorgängers Stilicho in jeder Hinsicht nachahmen wollte. Auch Konstantius wollte in verwandtschaftliche Beziehungen zum Kaiserhaus treten. Dadurch würde er nicht nur einen erhöhten Einfluß, sondern auch den Anspruch auf die Kaiserwürde nach dem Tod des kinderlosen Honorius gewinnen. Was dieser Flavius Konstantius konnte, das konnte auch der König der Goten: Athaulf näherte sich Galla Placidia und verstieß, um der kaiserlichen Prinzessin seine ehrlichen Absichten eindeutig darzutun, seine Frau und seine sechs Kinder. 126
Auch im oströmischen Reich war eine kaiserliche Prinzessin in den Vordergrund der Ereignisse getreten. Nach dem Tod des noch jungen Arcadius war sein siebenjähriger Sohn, Theodosius II. Kaiser geworden. Pulcheria, die ältere Schwester des Knaben, übernahm seine Erziehung und überließ dem Befehlshaber der Leibwachen die Führung der Staatsgeschäfte. Die Beschränkung auf ihre häuslichen Belange und das unbegrenzte Vertrauen, das die jugendlichen Mitglieder der kaiserlichen Familie in ihren Bevollmächtigten und seine Ratgeber setzten, bewährten sich so sehr, daß das oströmische Reich in diesen unruhigen Zeiten von den Erschütterungen verschont blieb, die das weströmische Reich zersetzten. Dazu trugen allerdings auch die örtlichen Umstände bei. Die Bewegung der den europäischen Raum bedrängenden Völker vollzog sich in nördlicheren Breitengraden. Die oströmischen Grenzen, die vor Einfällen geschützt werden mußten, waren nicht so ausgedehnt wie die weströmischen, und die einfache Lebensführung Pulcherias und ihres Bruders beschwerte den Staatsschatz nicht. So konnten freiwillige Tribute an die beutelustigen Hunnen bezahlt und ihre Angriffe dadurch vermieden, gleichzeitig aber die Legionen wieder aufgefüllt, vorbildlich ausgerüstet und bewaffnet werden. – Trotz der Ruhe, deren sich das oströmische Reich unter der Scheinherrschaft Theodosius' II. und seiner Schwester Pulcheria erfreute, waren die leitenden Staatsmänner in Konstantinopel über die immer drohendere Entwicklung innerhalb des weströmischen Reiches mehr als besorgt. Die Durchdringung der Herrschaftsgebiete des Kaisers Honorius durch germanische Eindringlinge schien unaufhaltsam zu sein. Die große Wanderung der Völker, die sich jahrhundertelang an dem Limes gebrochen und ihn schließlich durchbrochen hatte, setzte sich in kleineren Zügen innerhalb des Limes fort. Am Mittelrhein hatten die Burgunden ein eigenes Königreich auf weströmischem Boden errichtet, und die volkreichen Stämme der Vandalen und Alanen waren durch das von Häuptlingen germanischer Stämme aufgerührte Gallien gezogen und hatten sich weder durch die Pyrenäen noch durch die ihnen in Eile entgegengeführten weströmi127
schen Legionen davon abhalten lassen, in die Iberische Halbinsel einzudringen, an deren Westküste sich schon früher die Sueben niedergelassen hatten. Wenn es den ruhelosen Horden gelang, auch Nordafrika zu erobern, dann verlor das weströmische Reich mit einer seiner wichtigsten Besitzungen auch seine Kornkammer. Was dann? Würde Honorius nach Konstantinopel fliehen und von seinen kaiserlichen Verwandten einen Anteil an der Herrschaft des oströmischen Reiches verlangen, um sich für seine Verluste zu entschädigen? Wäre es nicht richtiger, ihm vorher zu helfen, wenn ihm überhaupt noch zu helfen war? Das schien nicht der Fall zu sein. Honorius blieb eigensinnig bei seiner unglückseligen Art der Staatsführung. Er wurde durch Schaden nicht klug. Er warb seine Feinde als Hilfstruppen an und wollte nicht wahrhaben, daß sie sich, wenn sie auch in seinem Namen siegten, nicht nur gegen seine besiegten Gegner als Sieger aufspielen würden, sondern auch gegen ihn selbst. Tatsächlich war es den Unterhändlern des Konstantius gelungen, Athaulf und seine Goten gegen die Vandalen und Alanen in Gallien einzusetzen. Das wandte wohl die drängendsten Gefahren ab. Aber der militärische Erfolg des Gotenkönigs stärkte sein Rückgrat in den Verhandlungen mit Konstantius. Athaulf hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Wenn sich die Goten in den Gebieten, die sie von den Vandalen und Alanen gesäubert hatten, niederließen und in Gallien ein Reich der Ordnung errichteten, dann konnte er gewiß das erreichen, was Konstantius, sein Nebenbuhler um die Gunst Galla Placidias, erstrebte. Er konnte durch eine Heirat mit ihr den Anspruch auf die Kaiserkrone erwerben und mit seinen Goten verfechten. Die Nachricht von der vollzogenen Trauung Athaulfs mit Galla Placidia erschütterte den kaiserlichen Hof von Ravenna mehr als die Nachricht von der Plünderung Roms durch Alarich fünf Jahre vorher. Am peinlichsten waren die Höflinge durch die Mitteilung berührt, daß bei der Eheschließung in der Stadt Narbonne die römischen Hochzeitsbräuche sorgfältig beachtet worden waren. Galla Placidia hatte ein römisches Brautkleid getragen, ein römischer Hochzeitsreigen war feierlich durch die Säle gezogen, und Athaulf hatte die germanische Waffentracht mit dem rö128
mischen Purpur vertauscht. Er hatte überdies während der Festlichkeit nicht den ersten, sondern den zweiten Platz eingenommen, um zu bekunden, daß Galla Placidia die ›imperatrix‹, eine zukünftige Kaiserin, sei und daß er, der Gotenkönig, kraft dieser Ehe als rechtmäßiger Beherrscher auch der Römer in Gallien erscheine. Seine Vermählung sollte die innigste Verschmelzung des Römertums mit den Westgoten als den Vertretern der in das Reich aufgenommenen Germanen sinnbildlich dartun. Honorius wäre bereit gewesen, die Eheschließung Galla Placidias mit Athaulf förmlich anzuerkennen. Vielleicht bedeutete die offenkundige Ehrerbietung des Gotenkönigs vor den römischen Gebräuchen eine Anerkennung seiner eigenen kaiserlichen Oberhoheit. Warum sollte er nicht unter dem kriegsstarken Schutz des Zufallsschwagers ungestört herrschen, anstatt ihn mühselig zu bekriegen? Honorius war es im Grunde einerlei, ob Konstantius oder ein anderer die Staatsgeschäfte für ihn führte. Als Stilicho noch lebte, hatte er keine Sorgen gehabt. Warum sollte Athaulf nicht die Rolle Stilichos übernehmen – ein angeheirateter Verwandter, der noch dazu, wie das rasche Gerücht berichtete, Vater des Kindes einer kaiserlichen Prinzessin sein würde? Honorius war zu schwach gegen den Widerspruch seiner Höflinge. Er gab Konstantius die Zustimmung zu einem Feldzug gegen Athaulf. Der Krieg begann mit der Abschneidung der Zufuhren von Lebensmitteln aus Italien und Afrika nach Gallien. Die Goten waren keine Bauern. Die Äcker der von ihnen besetzten Gebiete lagen brach. Es erschien Athaulf sinnlos, ein Land, das seine Goten nicht versorgen konnte, zu behaupten. Kurz entschlossen machte er sich auf den Weg, den die Vandalen und Alanen schon vor ihm beschritten hatten – über die Pyrenäen in die Iberische Halbinsel. In Barcelona gebar ihm Galla Placidia einen Sohn. Das Kind erhielt den Namen Theodosius. Die Geburt dieses kaiserlichen Erben, der überdies noch den verehrten Namen seines Großvaters trug, so hofften Athaulf und jetzt auch Galla Placidia, würde Honorius versöhnen. Aber während die Unterhändler des gotischen Königspaares noch auf dem Weg nach Ravenna waren, starb der kleine Theodosius. Er wurde in einem silbernen Sarg 129
zu Grabe getragen. Einige Tage nachher wurde Athaulf von einem Goten namens Eberulf, über dessen schmächtige Gestalt er sich bei einem Trinkgelage lustig gemacht hatte, meuchlings ermordet. Erst riefen die Goten Sigerich zu ihrem König aus, doch schon nach sieben Tagen wurde er erschlagen. Wallia, der Bruder Athaulfs, wurde sein Nachfolger. Der neue König der Westgoten war so wenig auf die Macht vorbereitet, daß er es nicht wagte, den Eroberungszug Athaulfs auf eigene Faust fortzusetzen. Er war zu Verhandlungen mit Konstantius bereit. Er hatte keinen Anlaß, die Interessen seiner Schwägerin Galla Placidia zu wahren. Die Witwe seines Bruders war ein willkommenes Pfand. Wallia konnte die ›imperatrix‹ gegen die Vorteile eintauschen, die Konstantius ihm anbot: Die Anerkennung seiner Herrschaft im südwestlichen Gallien als König eines mit dem weströmischen Reich verbündeten Westgotenreiches, dessen Hauptstadt Tolosa war. Die Goten erhielten das ›ius hospitalitatis‹, das Recht der Gastfreundschaft, das allerdings von den ursprünglichen Grundbesitzern der Gebiete, die sie beschlagnahmten, kaum als Gastfreundschaft aufgefaßt wurde, da sie den neuen Herren Dreiviertel ihrer Ländereien und ihrer Sklaven zur Bearbeitung des Landes abgeben mußten. Die gallischen Grundbesitzer zahlten die Rechnung, aus der Konstantius für seinen Kaiser und für sich selbst Nutzen zog. Der Ratgeber des Honorius konnte sich nun aus der Nähe um Galla Placidia bewerben. Sein Vertragspartner König Wallia aber kämpfte im weströmischen Auftrag als weströmischer Feldherr gegen die Alanen und Vandalen, die sich auf der Iberischen Halbinsel festgesetzt hatten. Konstantius erreichte sein Ziel. Er heiratete Galla Placidia und wurde bald nach dem Tode des Honorius Kaiser. Wenn auch nicht für lange. Er starb vorzeitig. Aber sein und Galla Placidias unmündiger Sohn, Valentinian III. wurde unter der Vormundschaft seiner Mutter Kaiser. Die Prinzessin, die ihre Jugend so abenteuerlich verbracht hatte, blieb seine Beraterin während der unendlich schwierigen, ereignisreichen Zeit seiner Herrschaft. 130
V In den ersten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts, dessen äußeres Geschehen auf europäischem Boden durch die Kriegszüge der germanischen Volksstämme bestimmt war und eine durchgreifende Umschichtung der Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse in den westlichen Provinzen des weströmischen Reiches hervorrief, vollzog sich auch eine innere Wandlung. Für die Herrscher, die ihre provinziellen Hauptstädte je nach den örtlichen Notwendigkeiten kaiserlich ausgebaut hatten, war es im Grunde einerlei gewesen, wo sie Hof hielten, ob in Trier, ob in Mediolanum oder in Ravenna. Rom war für sie ein leerer Name gewesen, ein veralteter, erstarrter Begriff, der Ort einer unnützen Menschenansammlung, ihnen nur dann ungefährlich, wenn die Hofhaltung ihr nicht zu nahe war. Daß Rom noch immer als Vorbild der Lebenshaltung und Mode überragende Geltung hatte, hatten sich die Kaiser in ihren Palästen zunutze machen können. Die Werkstätten und Handelsgesellschaften der Stadt am Tiber hatten die kostbaren Gefäße besorgt, die köstlichen Gewebe, die prunkvollen Möbel, die zur feineren Lebenshaltung unerläßlich waren. Aus Rom waren die besten Köche und die geschicktesten Schönheitspfleger, die handfertigsten Haarkünstler und die begabtesten Schauspieler gekommen. Es hatte die gewandtesten Steinmetze und Tonwarenerzeuger geliefert. Wenn man auserlesene Waren aus aller Welt, selbst aus den fernsten, kaum bekannten Gegenden des Erdkreises beziehen wollte, dann hatte man sich an römische Händler gewandt, deren Kundschafter die Meere und Wüsten auf Handelsschiffen und Karawanen durchforscht hatten, um für den wechselnden, nur allzu übersättigten Geschmack gefällige Neuheiten aufzuspüren. Rom hatte auch über den reichhaltigsten Sklavenmarkt verfügt. Es war die große Vergnügungsstadt gewesen. Die Sitten waren locker 131
gewesen, die Grundsätze unbeschwert, der Reichtum der Reichen so überquellend, daß es keine wirkliche Armut gegeben hatte. All das war mit der Plünderung durch Alarich zu Ende. Rom hatte aufgehört, Rom zu sein, und das erschütterte die Bewohner der größeren und kleineren provinziellen Städte des weströmischen Reiches in ihrem innersten Wesen, weil ihnen damit das Vorbild genommen war. Wer hatte die Schuld an der Zerstörung des Sinnbilds der Massen? Nur wenige machten die Kaiser verantwortlich, die es unterlassen hatten, Rom gegen Überfälle zu schützen und so vor dem grauenhaften Schicksal zu bewahren. Die Glaubensspaltung im Römischen Reich wurde für die hilflose Vergewaltigung Roms verantwortlich gemacht. Die Anhänger des alten Götterglaubens erklärten, daß die Götter, durch die Christen entthront, Rom ihren Schutz entzogen hätten, da die Stadt der Götter die Hochburg des christlichen Glaubens geworden sei. Zahllose Flüchtlinge, die aus Angst vor den Goten nach Afrika übergesetzt waren, verbreiteten das Gerücht, daß Zeichen am Himmel erschienen seien, die keinen Zweifel an einer solchen Auffassung zuließen. Auch viele Christen wankten in ihrem Glauben. Was hatte wirklich dazu geführt, daß die Schönheit der unvergleichlichen Stadt, die den Altar des Stellvertreters Christi auf Erden beherbergte, von einer als gütig gepriesenen Gottheit der Zerstörung durch die Goten ausgeliefert worden war? War das furchtbare Ereignis ein Vorspiel des Jüngsten Gerichts, bedeutete es die Verurteilung der Päpste, die ihr geheiligtes Amt nicht so ausübten, wie es mit der Heiligen Schrift in Einklang stand? Die Bischöfe von Rom lebten wie Fürsten im Lateran-Palast, den schon Konstantin der Kirche geschenkt hatte. Sie umgaben sich mit unsagbarem Pomp und waren, wie es im Volksmund hieß, »Ohrenkratzer der Damen«, die sie nicht nur durch ihre elegante Gesprächigkeit dazu veranlaßten, ihr Vermögen der Kirche zu hinterlassen. Der später heiliggesprochene Kirchenvater Hieronymus beschrieb die in Rom geltenden Sitten heuchlerischer Betschwestern. Seine Schil132
derungen machten die Runde: »Solche Frauen ließen besser ihre christlichen Augen an denen Anstoß nehmen, die ihre Augen und ihre Wangen mit Purpurfarben und allerhand Schminken anmalen oder deren gipsfarbenes Gesicht an Götzenbilder erinnert. Mit fremden Haaren bauen sie ihre Frisuren auf. Vor ihren Enkeln putzen sie sich heraus wie Jüngferchen. Manche nehmen einen Trank ein, um sich unfruchtbar zu machen, und werden so zu Mörderinnen am Ungeborenen. Es gibt auch solche, die darauf sinnen, wie sie mit giftigen Mitteln eine Fehlgeburt herbeiführen könnten, sobald sie nach der Sünde ihren veränderten Zustand wahrnehmen.« Hieronymus spottete über die ›gelockten und parfümierten Geistlichen, die vor Sonnenaufgang aufstehen, um Frauen zu besuchen, bevor sie das Bett verlassen‹. Er verurteilte die Ausschweifungen der Priester und auch die Priesterehe. Leidenschaftlich vertrat er die Ansicht, daß nur Mönche wahre Christen seien. Das griechische Wort ›monachos‹, der ›Alleinlebende‹, wurde das landläufige Kennwort für Gläubige, die in Einsiedeleien dem Wort Gottes lebten, und auch für die Angehörigen früher Klöster. Allein diese in abgeschlossenen Gemeinschaften lebenden Priester seien frei von Besitz, Wollust und Stolz. In seiner unerbittlichen Haltung gegen alle Sinnlichkeit richtete Hieronymus einen später veröffentlichten Brief an ein junges Mädchen, in dem er erklärte, daß ›wer die Ehe meide, sich vor Sodom und schmerzhaften Schwangerschaften rette, vor brüllenden Kindern, Haushaltsorgen und den Qualen der Eifersucht‹. Die Übertreibungen des Hieronymus wurden, wie er selbst schrieb, ›mit einem Steinhagel begrüßt‹. Sie hatten auch oft nicht die von ihm beabsichtigte Wirkung. Der Tadel, durch den er seine Glaubensgenossen bessern wollte, wurde von den Gegnern der Kirche aufgegriffen und verallgemeinen, um den christlichen Priesterstand heuchlerischer Sittenlosigkeit zu beschuldigen. Die Pracht der Kirchen war den Anhängern des alten Götterglaubens, deren Tempel beraubt worden waren, um die Kirchen zu schmücken, ohnehin ein Dorn im Auge. Über die von den Christen gegründeten Krankenhäuser und Zufluchtstätten für Obdachlose schwiegen sie 133
sich aus, besonders nach dem fürchterlichen Unglück, von dem Rom betroffen worden war. War es nicht klar, wer es verschuldet hatte? In diesen Jahren des Zweifels, der die Christenheit erschütterte, wollte Augustin, der damals Bischof in Nordafrika war, beweisen, daß nicht das Christentum am Unglück Roms Schuld trage. Der später heiliggesprochene Kirchenvater verfaßte ein grundlegendes Werk, den ›Gottesstaat‹, an dem er dreizehn Jahre arbeitete und das er stückweise veröffentlichte. Manche Gedanken des gewaltigen Buches waren schon vorher niedergelegt und ausgesprochen worden. Platon hatte einen Idealstaat dargestellt, den es ›irgendwo im Himmel‹ gäbe, der heilige Paulus hatte über eine Gemeinschaft lebendiger und verstorbener Heiliger geschrieben. Auch die Vorstellung, daß es zwei Gesellschaften, eine göttliche und eine satanische gäbe, war schon zum Ausdruck gebracht worden. Der heilige Augustin schuf in seinem ›Gottesstaat‹ die Lehre von den zwei Staaten, der ›civitas Die‹, die seit der Erschaffung der Engel bestehe, und der ›civitas terrena‹, die durch den Aufstand des Satans entstanden sei. Seine vielumstrittene Auffassung beruhte auf der Lehre vom Staat, in dem die weltlichen Gewalten, die von Menschen stammen, der geistigen Gewalt, die die Kirche besitzt und die von Gott stammt, untergeordnet sind. Schon vorher hatte sich der heilige Augustin als Vorkämpfer der unantastbaren Oberhoheiten des Bischofs von Rom betätigt. Als eine kirchenrechtliche Entscheidung gefallen war und bestritten werden sollte, erklärte er kurz und bestimmt: »Rom hat gesprochen – der Fall ist erledigt.« Die bedeutendste Schrift des heiligen Augustin vor dem ›Gottesstaat‹ war seine Abhandlung über den freien Willen. Sie befaßte sich mit der Fragestellung, ob denn das Dasein des Übels auf Erden mit der Güte eines allmächtigen Gottes in Übereinstimmung zu bringen sei. Der Kirchenvater erklärte, daß das Übel das Ergebnis des freien Willens sei, den Gott den Menschen belassen habe und ohne den der Mensch nicht Mensch wäre. Er führte aus, daß der menschliche Wille von Geburt an zum Übel neige. Durch die Gnade Gottes aber habe die Seele 134
die Fähigkeit erworben, diese Neigung zu überwinden. Gott biete allen Menschen seine Gnade an, ER sehe wohl die Wahl voraus, die der Mensch frei treffen würde, der Mensch aber könne das Heil erlangen oder verdammt werden. Das läge an ihm. Augustin legte die Neigung zum Übel als die Auswirkung der Erbsünde aus. Die sinnliche Begierde beschmutze immer noch jeden Zeugungsakt. Durch die Verbindung der Zeugung mit der Geschlechtlichkeit sei die Menschheit ›ein Haufe der Verderbnis‹. Er predigte, daß der Glaube dem Verstehen vorangehen müsse. »Suche nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verstehen.« Ihm galt auch die unbestreitbare Wahrhaftigkeit und Geltung der Heiligen Schrift ›größer als alle Anstrengungen des menschlichen Geistes‹. Nicht nur in seiner klaren, scharfen Einstellung zu allen zeitgenössischen und überzeitlichen Glaubensfragen war der heilige Augustin ein überragendes Vorbild. Seine ›Bekenntnisse‹, durch die er seine eigene Sündhaftigkeit bloßlegte, bevor er geläutert den Weg zu Gott fand, waren in ihrer offenen Menschlichkeit ergreifend. Als er nach einigen Wochen der Enthaltsamkeit, die er sich qualvoll abgerungen hatte, eine neue Geliebte fand, betete er zu Gott: »Gib mir Keuschheit – aber noch nicht jetzt.« Ebenso wie der Feige, der seine Angst überwindet, mutiger ist als der gedankenlose Mutige, war der Sünder Augustin durch Selbsterkenntnis und die Kenntnis der Menschheit zu einer läuternden Klärung und tiefen Gläubigkeit vorgedrungen, die er durch unaufhörliche wissenschaftliche Arbeit ergänzte. Das zeigte sich auch in seiner Verteidigung des Christentums gegen die zeitgenössischen Angriffe, wenn er schrieb, daß Rom nicht wegen seines neuen Glaubens, sondern wegen seiner fortgesetzten Sündhaftigkeit bestraft worden sei. Selbst die Christen in Rom nähmen an den Rennen und Spielen teil, sie besuchten die Theater, auf deren Bühnen heidnische Schamlosigkeiten dargestellt wurden. Zur Zeit Catos und Ciceros sei Rom ein stärkendes Vorbild gewesen. Seine Gesetze hätten der Welt Ordnung und Frieden gegeben. Damals habe das Antlitz Gottes über Rom geleuchtet. 135
Aber der Same des Verfalls habe längst schon im alten Glauben Roms gelegen, dessen Götter die Geschlechtlichkeit des Menschen gefördert hätten, statt sie zu unterdrücken – weil Rom Götter verehrt habe wie Virgineus, der der Jungfrau den Gürtel löst, wie Subigus, der sie unter den Mann legt, und Prema, der sie niederhält, nicht zu reden von den anderen, besonders verehrten Gottheiten, die schamlose Gebräuche heiligten. Warum sollten Alarich und seine Goten, die doch nur die christlichen Kirchen und die in ihnen Zuflucht suchenden Menschen verschont hatten, als die Vollstrecker eines Rachefeldzugs der heidnischen Götter betrachtet werden? Die Folgerichtigkeit des heiligen Augustin wirkte so überzeugend, daß auch seine anderen Schriften zunehmende Anerkennung und Verbreitung gewannen. Zur Säuberung der Sitten im weströmischen Reich trug auch der Vergleich mit der beispielgebenden Lebensführung der oströmischen Prinzessin Pulcheria und ihrer Familienangehörigen bei. Am Hof von Konstantinopel hatte sich eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen. Im kaiserlichen Palast herrschten ›Kloster‹-Sitten. Die köstlichen Säle und Gemächer, die einer glänzenden Hofhaltung gedient hatten, waren von der übrigen Welt abgeschlossen, so wie die in den östlichen Provinzen des Reiches neu entstandenen Einsiedeleien, in deren Klausen sich strenggläubige Christen zurückgezogen hatten, um sich den Versuchungen dieser Welt zu entziehen. Viele dieser ersten Mönche und Nonnen hatten sich, besonders in Ägypten, zu einem Gemeinschaftsleben vereinigt, das ihnen durch Armut, Keuschheit und Gebet den Besitz des Himmels sichern sollte. Zweifler an der Echtheit der inneren Überzeugung dieser frühen Nonnen und Mönche behaupteten, daß ihre Flucht in das Klosterleben durch das Verlangen nach einer Zuflucht bedingt gewesen sei. Sie wollten keine Steuern zahlen, keine Kriegsdienste leisten, sie wichen ehelichen Zwisten und mühseliger Schwerarbeit aus. Aber selbst diese Zweifler konnten nicht leugnen, daß die Mönche und Nonnen sich vollkommener Einfachheit ergaben, sich kasteiten und fasteten und ein den irdischen Vergnügungen abgewandtes, dem Gottesdienst geweihtes Leben führten. 136
Auch Pulcheria und ihre Schwestern hatten das Keuschheitsgelübde abgelegt und widmeten sich der Gründung von Krankenhäusern, Kirchen und Klöstern, die sie mit ihrer Wohltätigkeit förderten. Die meisten Bischöfe der ägyptischen Christen, die sich ›Kopten‹ nannten, was eigentlich ›Ägypter‹ bedeutet, erkannten die Oberhoheit des Patriarchen von Alexandria an. Nicht alle lebten und predigten, wie es die Glaubenseinigung von Nicaea festgelegt hatte. Es gab sogar einen ›papa‹ in Alexandria, der öffentlich erklärte, daß er nicht an die Wiederauferstehung des Leibes glaube. Diese Abweichung des hohen oströmischen Priesters von den anerkannten Glaubensregeln war keine Ausnahme. Die von Konstantin im Konzil von Nicaea erzwungene Einigung war nur eine oberflächliche gewesen. Der Streit um das ›i‹ des ›homousius‹ oder ›homoiusius‹ um die Wesensgleichheit oder Ähnlichkeit Jesu Christi mit Gott, war nicht zur Ruhe gekommen und hatte sich in verschiedenen Abwandlungen an verschiedenen Orten fortgesetzt. Es war eine Zeit des Übergangs, in der sich das Christentum noch entsprechend den persönlichen Neigungen oder Abneigungen, dem Wissen und Gewissen der Einzelnen sowohl im inneren Wesen als auch in den äußeren Regeln formte. Das kam auch zur Geltung, in der zeitgenössischen Beurteilung des ägyptischen Klosterwesens, das von jenen Bischöfen verdammt wurde, die verkündeten, daß es Gott gefälliger sei, nutzbringende Arbeit zu leisten, als sich den Wirklichkeiten des Lebens fernzuhalten. Die Arbeit der Gläubigen auf den Feldern spreche den HERRN mehr an als ihr leeres Gebet. Das Christentum war wohl der anerkannte Staatsglaube, aber die allgemeine Glaubensunsicherheit nahm doch zu. Wer nicht so glaubte, wie es dem Nachbarn zusagte, wurde von diesem als Ketzer verdammt. Der Zwiespalt zwischen den Arianern und den Katholiken stand wohl noch im Vordergrund der Glaubensunterschiede, aber es war im großen und ganzen so, wie der Bruder des heiligen Basileios über die Glaubensverschiedenheiten in Konstantinopel schrieb: »Diese Stadt steckt voller Handwerker und Sklaven, von denen jeder ein tiefgründiger Philosoph ist und in den Werkstätten und auf 137
der Straße predigt. Wenn du bei einem Mann ein Silberstück wechseln willst, so erklärt er dir, worin sich der Sohn vom Vater unterscheide. Wenn du dich nach dem Preis eines Brotlaibs erkundigst, dann wirst du zu hören bekommen, daß der Sohn weniger sei als der Vater, und wenn du fragst, ob dein Bad bereit sei, erhältst du zur Antwort: Der Sohn sei aus dem Nichts erschaffen.« Dieser Aufruhr der Geister um des Geistlichen willen brodelte gefährlich unter der Oberfläche des oströmischen Kirchenwesens, dessen Richtung und Inhalt immer wieder von den jeweiligen Herrschern oder ihren Bevollmächtigten aus Staatsgründen geregelt und verändert wurden. Die kaiserliche Einstellung zu Glaubensfragen und ihre diesbezügliche Gesetzgebung war weniger durch den wesentlichen Inhalt als durch die jeweilige Nützlichkeit der Entscheidung bedingt. Niemand widersetzte sich den Ratgebern des Kaisers wirksam, wenn sie sich die Oberhoheit über den Glauben anmaßten, aber die zwingende Notwendigkeit einer einigenden priesterlichen Oberhoheit und der Führung im Glauben wurde immer deutlicher offenbar. Wer sollte die Oberhoheit sein, woher sollte sie kommen? Die Bischöfe und ihre Gemeinden im zerfallenden weströmischen Reich, mit Ausnahme der arianischen Germanen, hatten die ihnen selbstverständliche Antwort auf diese den Osten zerrüttenden Fragen gefunden. Für sie gab es nur ein Oberhaupt der Christenheit: Den Bischof von Rom, den Papst, den Nachfolger Petri. Er, und nur er, war der Stellvertreter Jesu Christi. Sie verschrieben sich mit Leib und Seele dem an den Apostel Petrus gerichteten Ausspruch des HERRN: »Du bist Petrus. Und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.«
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VI Die Verinnerlichung im Glauben und die Zuversicht auf ein besseres Leben im Jenseits blieb der einzige hoffnungsvolle Ausblick der eingesessenen Bevölkerung des weströmischen Reiches. Die kriegerischen Unruhen hörten nicht auf. Es schien, als ob es keine Möglichkeit gäbe, die beinahe alle Provinzen mit Feuer und Schwert brandschatzenden Germanen zum Stillstand zu bringen. Die wenigen Legionen, über die Kaiser Valentinian III. beziehungsweise seine Mutter Galla Placidia verfügten, wurden immer wieder durch hastig angeworbene Germanen aufgefüllt. Das waren Truppen, auf die sich Ravenna nicht verlassen konnte. Es fehlte eine starke Hand, die die übermütigen und übermächtigen Häuptlinge in Schach hielt, die mit ihren Männern nur dann für den jungen Kaiser und seine Mutter kämpften, wenn es ihnen unmittelbar nützlich war, oder im ›furor teutonicus‹, der germanischen Freude am Kampf. Nach der Machtübernahme für ihren Sohn hatte Galla Placidia Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten mit den Bevollmächtigten ihrer oströmischen Verwandten nur mühselig beizulegen vermocht. Es hatte ihrer ganzen Überredungskunst bedurft, die leitenden Staatsmänner in Konstantinopel davon abzubringen, daß es richtiger wäre, wenn sie die Geschicke des weströmischen Reiches lenkten, als sie der Unerfahrenheit eines Kindes und einer jungen Frau zu überlassen. Der Gedanke des einigen Römischen Reiches war noch lebendig. Es war klar, daß die vergangene Größe nur wiederhergestellt werden konnte, wenn alle verfügbaren Kräfte in einer Hand vereinigt waren. Der lauteste Fürsprecher dieser Richtung, ein vornehmer Oströmer namens Aëtius, war als Kind von den Hunnen gefangengenommen worden. Er hatte seine Jugend als Geisel am Hofe ihres Königs Rua verbracht und mit dessen Neffen Bleda und Attila Freundschaft geschlos139
sen. Seine Kenntnis der Hunnen kam Aëtius zugute, als er ausgelöst worden und nach Konstantinopel zurückgekehrt war. Er konnte aus eigener Anschauung berichten, daß der Hunnenkönig durchaus nicht die Absicht habe, die gewalttätige Wanderung seines Volkes weiter als unbedingt nötig fortzusetzen. Solange die Siedlungsgebiete und Weideplätze, die von den Hunnen erobert worden waren, ihren Bedürfnissen genügten, würden sie stillhalten, um so gewisser, als sie mit unverhohlener Gier auf die Zahlung der Tribute warteten, die sie aus Konstantinopel erhielten. Aëtius rückte im Range auf. Sein Ehrgeiz steigerte sich mit jeder Erhöhung. In den peinlichen Unterhandlungen, die Galla Placidia mit ihm zu führen gezwungen gewesen war, hatte sie seine Begabung erkannt. Einen Mann wie diesen, einen so jungen und doch so erfahrenen Staatsmann brauchte sie. Sie bot Aëtius die Statthalterschaft Galliens an. Das war die große Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen konnte. Er nahm an. In kurzer Zeit gelang es Aëtius, die Franken und Alamannen am Rhein und auch die Westgoten, die die ihnen zuerkannten Grenzen ihres Königreiches erweitert hatten, in ihre Gebiete zurückzuwerfen. Nach diesen Erfolgen wurde Aëtius zum Heermeister des weströmischen Reiches erhoben. Das war ein Amt, dessen ausübende Gewalt es ihm ermöglicht hätte, den Plan seiner Freunde in Konstantinopel zu verwirklichen. Er liebäugelte mit dem Gedanken: Wenn er sich durch seine ehemaligen Amtsgenossen leiten ließ, anstatt durch Galla Placidia, dann konnte er es dazu bringen, die Rollen zu vertauschen und nicht nur seine Auftraggeberin, sondern auch sie zu leiten. Er verhielt sich so, daß Galla Placidia mißtrauisch wurde. Sie wollte ihn unverzüglich durch Bonifatius, den weströmischen Statthalter in Nordafrika, ersetzen. Unerwartete Ereignisse hinderten ihren Plan. Das Vorspiel des furchtbaren Geschehens, das dem zerfallenden weströmischen Reich den Gnadenstoß versetzen sollte, wurde von verschiedenen mittelalterlichen Geschichtsschreibern verschieden dargestellt. Es hieß, daß Bonifatius die Geschicklichkeit des Aëtius im Um140
gang mit den Häuptlingen der Hunnen und der Germanenstämme nachahmen wollte, um sich im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Aëtius, ebenso wie dieser, germanischer Hilfstruppen bedienen zu können. Dazu erschienen Bonifatius die Vandalen am geeignetsten, nicht nur, weil sie über die zahlreichsten Mannschaften verfügten, sondern auch, weil sie die nächsten waren. Der Westgotenkönig Wallia hatte die Vandalen im Auftrag des Kaisers Honorius, beziehungsweise seines Ratgebers Konstantius, seinerzeit in die südlichste Provinz der Iberischen Halbinsel gedrängt, in das heutige Andalusien, das nach den Vandalen benannt wurde. Dort waren sie zur Untätigkeit verdammt. Ihr König Geiserich war der Sohn eines Sklaven. Ein zeitgenössischer Bericht sagte über ihn aus, daß er infolge eines Sturzes vom Pferd hinkte, ein tiefer Denker und schweigsamer Mann war, ein Verächter der Genußsucht, wild im Zorn, grausam in seiner Feindschaft. Unter seiner Führung setzten die 'Vandalen nach Afrika über. Sie kamen nicht als Verbündete des Statthalters Bonifatius, der sie angeblich eingeladen hatte, sondern auf eigene Faust. Den Mauren, der eingeborenen Bevölkerung der Provinz Mauretanien, war der Einmarsch der Vandalen willkommen. Sie würden ihnen helfen, sich der römischen Bedrückung zu entledigen. Ihre berittenen Mannschaften schlossen sich dem Zug der achtzigtausend Krieger Geiserichs an. Das rasch zusammengezogene Heer, das Bonifatius ihm entgegenstellte, wurde vernichtend geschlagen. Nach einem vergeblichen Versuch, den Vormarsch aufzuhalten, zog sich Bonifatius in die Küstenstadt Hippo zurück und hielt der Belagerung Geiserichs vierzehn Monate lang stand. Durch seine aufrüttelnde Aufmunterung der Bevölkerung half ihm der Bischof der Stadt, der schon sehr alte, heilige Augustin. Als weströmische Entsatztruppen endlich nach Afrika übergesetzt wurden, hob Geiserich die Belagerung auf und schlug die gelandeten Legionen vernichtend. Der kaiserliche Gesandte unterzeichnete einen Waffenstillstand, in dem die vandalischen Eroberungen auf afrikanischem Boden anerkannt wurden. Jetzt konnte Galla Placidia Bonifatius endlich nach Ravenna rufen, 141
damit er ihr helfe, sich des in der Not noch übermütiger und übermächtiger gewordenen Aëtius zu entledigen. Während Geiserich seine Eroberungen ungestört ausbaute und festigte, flüchtete Aaius zu den Hunnen. Es gelang ihm, sie durch das Versprechen, daß er ihnen die Pannonische Tiefebene friedlich überlassen werde, zu bestimmen, ihm ein Hilfsheer zur Verfügung zu stellen. An der Spitze hunnischer Reiterhorden eilte Aëtius gegen Ravenna, um seine durch die Ungunst Galla Placidias erschütterte Macht durch Gewalt wiederzugewinnen. Dieser verwegene Zug des großen Staatsmannes, der sich in den vorhergegangenen Kämpfen auch als Feldherr bewährt hatte, endete mit seiner Niederlage bei Arimium (Rimini). Bonifatius hatte den zügellos vordringenden Hunnen eine geordnete Kampftruppe entgegengestellt, die die wilden Angriffe mit überlegener Ruhe abwehrte und geschlossen zum Gegenangriff vorging. Wenn Bonifatius selbst nicht im Kampfe schwer verwundet und auf dem Schlachtfeld geblieben wäre, hätte die gefährliche Laufbahn des Aëtius ein Ende gefunden. Durch den Tod des Bonifatius wurde der Besiegte zum Sieger – und zwang Valentinian und seiner Mutter die Versöhnung und seine Freundschaft auf. Aëtius erhielt den höchsten Rang, den der Kaiser zu vergeben hatte: Er wurde ›patricius‹. Dieser Titel war gleichbedeutend mit ›Reichsverweser‹ und gab Aëtius die gleichen Vollmachten, die Stilicho in seiner nahezu unbeschränkten Herrschaft über das weströmische Reich innegehabt hatte. Es war ein hohes, aber undankbares Amt. Aëtius mußte sich mit dem König der Vandalen verständigen, der sich in Nordafrika so festgesetzt hatte, daß ein oströmisches Entsatzheer unverrichteter Dinge hatte umkehren müssen. Andererseits waren die Provinzen Galliens, die Aëtius so mühsam befriedet hatte, die Beute germanischer Völker geworden, deren erneuter Ansturm die Grenzen der ihnen zugewiesenen Gebiete gesprengt hatte. Aëtius bewährte sich wieder. Es gelang ihm, einen Vertrag mit Gei142
serich zustande zu bringen, durch den er mittels einer nichtssagenden Anerkennung des ohnehin gesicherten Besitzes der Vandalen erreichte, daß die Getreidezufuhren aus Nordafrika nicht eingestellt wurden. Mit den Germanen in Gallien hatte er trotz seiner Gewandtheit nicht so leichtes Spiel. Die Westgoten hatten ihr Reich so bedenklich ausgebreitet, daß sie die gefährlicheren Feinde waren als die Burgunden, die ihrerseits nach dem Süden in die Richtung Triers, der alten Kaiserstadt ›Augusta Trevirorum‹, vorgestoßen waren. Die Burgunden waren ein kampfmutiges Volk, dem sich Aëtius mit den wenigen Legionen, die ihm zur Verfügung standen, nicht gewachsen fühlte. Trotz seines Mißerfolges mit hunnischen Truppen bei Rimini versuchte er es nochmals, seine alten Freunde zu Hilfe zu holen. Wieder galoppierten die hunnischen Horden dem Westen zu. Aber Aëtius hatte aus der Erfahrung gelernt. Er setzte die hunnischen Reiter in der Entscheidungsschlacht gegen die Burgunden unter dem König Gundikar so ein, daß sie ein furchtbares Blutbad anrichteten. Der König der Burgunden und sein Geschlecht fielen. Aber er wurde unsterblich als König Gunther im Nibelungenlied, das seinen Untergang, wenn auch in anderem Rahmen, sagenhaft berichtete. Jetzt erst wagte es Aëtius, sich gegen die Westgoten zu wenden. In raschen Gefechten zwang er sie in die ihnen zuerkannten Grenzen zurück. Aëtius vertauschte das Schlachtfeld, sobald es nur möglich war, mit dem Verhandlungstisch und sicherte Friede und Freundschaft mit den Westgoten durch die Anerkennung ihres Reiches als vollkommen unabhängiges Königreich. Der ›patricius‹ hätte einen vollkommenen Erfolg errungen, wenn Geiserich seine Geschicklichkeit im Verhandeln nicht durchschaut hätte. Er nützte die Gelegenheit, die ihm die Bindung der Kräfte des weströmischen Reiches auf gallischem Boden bot, aus und fiel über Karthago her. Er besetzte es kampflos. Die römischen Kaufherren, die Karthago in den Jahrhunderten seit der Vernichtung der Weltstadt als römische Provinzstadt aufgebaut und wieder reich und groß gemacht hatten, verloren ihren Besitz. 143
Ebenso schlimm erging es der Kirche. Mit unheimlicher Geschicklichkeit errichtete Geiserich in wenigen Jahren ein geordnetes Reich, das er durch den Bau einer Flotte stärkte. Geiserich war seinem Wesen nach kein Friedensfürst. Es mochte auch daran gelegen haben, daß sich seine Vandalen nicht gleich in der Rolle von Gutsbesitzern und Rentnern gefielen. Sie waren zu lange rastlos gewesen. Der Erfolg war zu rasch gekommen. Geiserich erfand eine neue Art der Seeräuberei. Er beförderte auf seinen Schiffen nicht nur die Mannschaften, sondern auch ihre Pferde. Am Ziel ihrer Beutezüge setzte eine berittene Truppe an Land. Die Männer plünderten, was ihnen in die Hände fiel. Diese Raubfahrten der vandalischen Flotte mochten nur ein Abtasten, das militärische Vorspiel eines umfassenden Planes gewesen sein, den Geiserich vorbereitete. Er machte auch eine erfolgreiche Annäherung an den Westgotenkönig Theoderich, offenkundig mit dem Ziel, sich mit ihm über die endgültige Aufteilung des weströmischen Reiches zu einigen Frieden um jeden Preis: das wurde jetzt das Leitwort des Aëtius. Frieden – oder Krieg mit allen Mitteln. Vorerst mußte er Zeit gewinnen. Er machte alle Zugeständnisse, die Geiserich forderte. Er versprach dem Vandalenkönig sogar eine kaiserliche Prinzessin zur Gattin, wenn Geiserich nur Frieden hielt und Ravenna und Rom mit Getreide versorgte. Aëtius verdoppelte seine Bemühungen, irgendwelche Sicherungen für das weströmische Reich zu finden, dessen Verweser er war. Das Königsgeschlecht der Burgunden war durch die Hunnen ausgerottet worden. Er siedelte das überlebende Volk am Genfer See an und verpflichtete die Männer durch reiche Schenkungen, die Wache in dieser gefährdeten Gegend für ihn zu halten. Seine Hoffnung, daß er in dieser schwierigen Lage das oströmische Reich zu Hilfe rufen könne, wurde durch seine Jugendfreunde, die Hunnen, zunichte gemacht. Nach dem Tod von König Rua, dessen Gefangener Aëtius gewesen war, waren die königlichen Neffen Bleda und Attila Könige der Hunnen geworden. Das bedeutete nicht nur, daß sie ihr eigenes Volk beherrschten. In den Jahrhunderten ihres Marsches und ihrer Niederlassung in dem gewaltigen Gebiet zwischen dem Don 144
und der Donau hatten sich die Hunnen auch zu Oberherren germanischer Stämme, insbesondere der Ostgoten, gemacht. Der Name Attila bedeutete auch in gotischer Sprache ›Väterchen‹. Wie weit diese zärtliche Bezeichnung ernst oder ironisch gemeint war, sei dahingestellt. Der gotische Geschichtsschreiber Jordanes jedoch beschrieb Attila eher freundlich: »Er war ein Mann, dazu geschaffen, die Welt zu erschüttern, er war der Schrecken aller Länder. Er setzte auf eine unerklärliche Weise alles in Furcht durch den schrecklichen Ruf, der über ihn verbreitet war. Stolz schritt er einher und ließ die Augen nach allen Seiten schweifen, damit die Macht, die der hochmütige Mensch innehatte, sich auch in seiner Haltung zeigte. Er war ein Liebhaber der Kriege, aber persönlich zurückhaltend. Seine Stärke lag in seiner klugen Umsicht. Gegen Bittende war er nicht hart, und gnädig gegen die, welche sich ihm einmal unterworfen hatten. Er war klein von Gestalt, breitschultrig, dickköpfig, hatte kleine Augen, spärliches Barthaar mit Grau untermischt, eine platte Nase, dunkle Hautfarbe und trug die Kennzeichen seines Ursprungs.« Diese Beschreibung Attilas durch den Goten Jordanes enthält erstaunliche Widersprüche. Sie läßt jedenfalls Fragen zu, deren Beantwortung vielleicht neues Licht auf Attila und seine Zeit zu werfen vermag. Wer hatte den als ›Gottesgeißel‹ gekennzeichneten Hunnenkönig in den schrecklichen Ruf gebracht, der über ihn verbreitet worden war? Jordanes schildert ihn als persönlich zurückhaltend, als gnädig gegen Bittende. Worin bestand seine Grausamkeit, wie unterschied sie sich von der gleichzeitiger Heerführer, die so wie er ihren Truppen Städte zur Plünderung überließen? Die Überlieferung und die Taten Attilas beweisen, daß er ein Gefühl für Ehre und Gerechtigkeit hatte. Er lebte und kleidete sich einfach. Auch daß er seine königliche Majestät selbst heiligte, unterschied Attila nicht von den zeitgenössischen Herrschern, die ihrerseits nicht als ›Gottesgeißel‹ in die Nachwelt eingingen. Jordanes berichtete, daß Attila rastlos gewesen sei und keine Möglichkeit außer acht gelassen habe, Kriege vom Zaun zu brechen. Dieser Behauptung widerspricht einerseits die Tatsache, daß er begonnen hatte, eine Hauptstadt zu bauen, einen ständigen Wohnsitz, von 145
dem aus er seine Herrschaftsgebiete überwachen konnte, andererseits, daß er verhältnismäßig wenige Feldzüge führte, wenn man in Betracht zieht, daß er, wie es hieß, mehr als eine halbe Million Bewaffneter in den Kampf werfen konnte. Die Hauptstadt Attilas, der von Zeitgenossen auch Etzel genannt wurde, war ein großes Dorf an der Donau, vermutlich an der Stelle des heutigen Buda, das noch immer im Volksmund Etzelburg heißt. Dort stand sein Palast, ein aus Holz gezimmertes Riesengebäude, dessen grobe Schale köstliche Möbel und Teppiche barg. Dieser Hauptsitz Attilas verdankte die Errichtung seinem Wunsch, eine richtige Stadt am Orte seiner Seßhaftigkeit entstehen zu lassen, wie alle anderen europäischen Könige sie hatten, und von dort aus sein Reich zu beherrschen. Im ersten Jahrzehnt von Attilas Eintritt in die Geschichte der Zeit fanden nur vereinzelte Feldzüge im europäischen Raum statt, an denen Hunnen beteiligt waren. Die beiden ersten waren die von Aëtius geleiteten und veranlaßten kriegerischen Handlungen, in denen sich der Heermeister des weströmischen Reiches der Hunnen als Hilfstruppen bediente. Auch bei den anderen hunnischen Feldzügen, einige Jahre später, traten weder Attila persönlich auf noch sein Bruder Bleda, den er später angeblich ermordet haben soll. Als die hunnischen Feldherren die Donau überschritten und das oströmische Reich bedrohten, hatte ein von den Geschichtsschreibern nicht aufgezeichneter Anlaß die hunnischen Horden in Bewegung gesetzt. Theodosius II. seine Schwester Pulcheria und ihre Minister, die den Hunnen ein Heer entgegenstellten, erkauften den Frieden nach einer raschen Niederlage. Die Hunnen waren wieder bereit, nach der Zusicherung eines erhöhten Tributes abzuziehen und von einem Vormarsch gegen Konstantinopel, das beinahe ungeschützt war, Abstand zu nehmen. Das macht durchaus nicht den Eindruck einer ›Kriegswütigkeit‹ des Hunnenkönigs. Ein anderer Feldzug, der Attila zugeschrieben wurde, nahm die entgegengesetzte Richtung, in das gegenwärtige Südrußland. Hunnen drangen, wie es hieß, »in Skythien ein, plünderten siebzig Städte und 146
nahmen Tausende von Männern gefangen. Die Frauen der Besiegten wurden den hunnischen Frauen gleichgestellt.« Auf die dadurch erfolgte Blutmischung führten manche Geschichtsschreiber die Verbreitung mongolischer Merkmale im mitteleuropäischen Raum zurück. Auch diese kriegerische Unternehmung, so ungestüm sie gewesen sein mochte, unterschied sich kaum so sehr von vorhergegangenen gewalttätigen Zügen anderer Völker und ihrer Herrscher, daß sie ›den schrecklichen Ruf‹ rechtfertigen konnte, der über Attila verbreitet war. Woher kam dann dieser schreckliche Ruf, der den mit Ungestüm einherjagenden Hunnen so voranging, daß ganze Volksstämme, wie die Sachsen und Angeln, nach dem Westen zogen, um den Kampf zu vermeiden, und, da das Meer ihre Flucht vor dem Schrecken aufhielt, auf die britannischen Inseln übersetzten? Die Legende erzählt, daß die Sachsen und Angeln von den ›Britanniern‹, die von Picten und Scothen bedrängt worden seien, zu Hilfe gerufen worden wären. Aber geschah das gerade um diese Zeit, in der es hieß, daß Attila, das ›flagellum Die‹, die ›Gottesgeißel‹, auf dem Weg sei, die Menschheit auszurotten, besonders darauf versessen, germanische Völker zu vernichten? Die ungeheuerliche Drohung hatte immerhin einen Kern von Wahrheit in sich. Die germanischen Völker wußten von dem Schicksal der Ostgoten und anderer germanischer Stämme, die von den Hunnen überfallen, geknechtet und deren Männer in das Heer der Hunnen gezwungen worden waren. Aus ihnen setzte sich der größte Teil der von der Geschichtsschreibung erwähnten halben Million Krieger zusammen, die unter Attilas Führung standen. Wer hatte sie jetzt nach dem Westen gerufen? Was veranlaßte Attila, gewissermaßen von einem Tag zum nächsten seinen Heereszug in Bewegung zu setzen? Die Beantwortung dieser Fragen könnte durch eine Übersicht über die damalige Lage von der Warte des ›patricius‹ des weströmischen Reiches aus, wenn auch nicht mit Gewißheit, so doch mit Wahrscheinlichkeit, beantwortet werden. Das weströmische Reich stand auf so schwachen Füßen, daß ein 147
endgültiger Zusammenschluß des in Nordafrika groß und mächtig gewordenen Vandalenkönigs Geiserich mit dem Westgotenkönig Theoderich das beinahe kampflose Ende der weströmischen Macht bedeutet hätte. Ein Angriff vom Süden, ein Gnadenstoß aus dem Westen, und die geringen Streitkräfte, die Aëtius zur Verfügung hatte, wären hinweggefegt worden. Etwas Außerordentliches mußte geschehen, um das weströmische Reich zu retten. Wo konnte Atius Truppen ausheben? Sein einziger möglicher Vertragspartner, der Kaiser des oströmischen Reiches, hatte die kriegerische Überlegenheit der Hunnen zu spüren bekommen und war froh, mit einer Erhöhung des jährlichen Tributes davongekommen zu sein. Er wollte keinen Krieg. Die Völker, die den mitteleuropäischen Raum westlich von dem sich festigenden Hunnenreich bewohnten, waren entweder offen römerfeindlich oder wurden nur durch Geldleistungen und Versprechungen friedlich gehalten. Den Südwesten Galliens beherrschten die Westgoten. Auch die wichtigsten Teile der Iberischen Halbinsel standen unter ihrer Oberhoheit, während die Sueben die Gebiete des heutigen Portugal erobert hatten. Im Norden Galliens hatten zwar die Franken unter dem König Chlodjo die römische Oberhoheit anerkannt, aber wie lange würde es dauern, bis sie sich wieder in Bewegung setzen und mit ihren Stammesgenossen vereinigen würden, die die Provinz in freien Scharen durchzogen und sich als Grundbesitzer auf herrenlosen Gütern und als Landarbeiter niedergelassen hatten? Der Süden der Iberischen Halbinsel und der Norden Afrikas waren in den Händen der Vandalen. Die italische Halbinsel bot mit ihrer durch die räuberischen Gotenzüge und durch die Gleichgültigkeit der durch Wohlleben oder Verarmung erschöpften Bevölkerung kaum eine Möglichkeit zur Aushebung kriegstüchtiger Truppen. Um in dem unausbleiblichen Krieg gegen die im weströmischen Reich festsitzenden Germanen überleben zu können, mußte Atius einen kriegerischen Selbstmordversuch wagen, der auch gut ausgehen konnte. Es konnte nur in seinem Interesse und im Interesse seiner Unterhändler gelegen sein, den schrecklichen Ruf Attilas zu erfinden und zu verbreiten. Nur mit der Drohung, daß die europäischen Völker, wenn sie nicht zusammenhielten, von den 148
Hunnen unterworfen werden würden, wie es schon den Ostgoten geschehen war, konnte Aëtius das schwankende politische Gleichgewicht aufrechterhalten. Aëtius hatte schon für Geiserich einen Köder benützt, um den mächtigen Vandalenkönig durch freundliche Verhandlungen von kriegerischen Handlungen abzuhalten. Er hatte ihm eine Kaisertochter zur Frau versprochen, und damit eigentlich den Anspruch auf eine rechtliche Nachfolge irgendwelcher Art als Kaiser des weströmischen Reiches. Wie wäre es, wenn er ein ähnliches Spiel mit Attila versuchte? Die Gelegenheit dazu war günstig. Die kaiserliche Prinzessin Honoria war in eine Liebesgeschichte verwickelt gewesen. Es hatte Skandal in Ravenna gegeben, und die Prinzessin hatte nach dem Tod ihrer Mutter Galla Placidia den Hof ihres Bruders, Valentinian III. verlassen. In Konstantinopel war die keusche Prinzessin Pulcheria nach dem unerwarteten Ableben ihres Bruders, Theodosius II. veranlaßt worden, Marcianus zu heiraten, der durch die Eheschließung Kaiser des oströmischen Reiches wurde. Zu diesen Verwandten begab sich Honoria, und es hieß, daß sie Attila einen Ring mit dem Ersuchen um Hilfe gesandt habe. Daß der König der Hunnen die Übersendung des Ringes als Heiratsangebot aufgefaßt habe, ohne daß an ihn eindeutige Erklärungen gelangt waren, erscheint nicht glaubhaft. Ebensowenig, daß er aus freien Stücken die Prinzessin Honoria und das halbe weströmische Reich als Mitgift verlangt habe. Auch nicht, daß Valentinian III. im gleichen Zeitpunkt seinen neuen Verwandten dazu bewegt habe, die Tributzahlungen an Attila gleichzeitig mit ihm einzustellen. All das konnte nicht geschehen sein, ohne daß der allmächtige ›patricius‹ seine Hand im Spiel gehabt hätte. Und wie ist es zu erklären, daß Attila, anstatt wenigstens einen Teil seiner Männer gegen das oströmische Reich zu entsenden, um sich die Braut zu holen, mit seiner ganzen Heeresmacht nach dem Westen marschiert war? Tatsache ist, daß der Hunnenkönig an den Rhein zog. Er plünderte und brandschatzte Trier und Metz und massakrierte die Einwohner. Die Mehrzahl des hunnischen Heeres bestand aus germanischen 149
Hilfsvölkern, aus Ostgoten, Gepiden, Skiren, Rugiern, Herulern und Angehörigen suebischer und thüringischer Stämme. Ihrem Vormarsch hatten sich keine weströmischen Legionen entgegengestellt, es war daher zu keiner Schlacht gekommen. Aëtius hatte sich mit den wenigen Truppen, die ihm zur Verfügung standen, nach Mittelgallien zurückgezogen. Seine einzigen germanischen Bundesgenossen waren jene Alanenstämme, die sich seinerzeit nicht entschlossen hatten, gemeinsam mit den Vandalen in die Iberische Halbinsel einzudringen. Aber auch auf diese Alanen konnte sich Aëtius nicht verlassen, denn mit Attila marschierten noch andere versprengte Alanenstämme. Dennoch war der große Augenblick in der Laufbahn des Aëtius gekommen. Auf der Messerschneide hielt er das Gleichgewicht. Er hatte sich der Hunnen zweimal schon in aller Öffentlichkeit als williger Hilfstruppen bedient. Er konnte daher auch jetzt laut darauf hinweisen, daß die Hunnen seine Freunde wären und ihm helfen würden, die Westgoten zu bekämpfen, die den Bestand des weströmischen Reiches bedrohten. Er konnte aber auch die Westgoten zur Hilfe gegen die Hunnen aufrufen und sie so unter seine Führung stellen. Dieser Plan gelang. Auf den Aufruf des Atius: »Ihr, die tapfersten aller Völker, müßt euch gegen den Tyrannen vereinigen, der die ganze Welt knechten will«, erwiderte der westgotische König Theoderich: »Römer, ihr habt euer Ziel erreicht: Attila ist nun auch unser Feind.« Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (in der heutigen Champagne) wurde als die Rettung der Welt vor der hunnischen Gefahr dargestellt. In den zeitgenössischen Schilderungen hieß es, daß ›Attila seine Reihen so geordnet hatte, daß er selbst mit seinen tapfersten Leuten die Mitte hielt‹. Die Ostgoten nahmen eine Ehrenstellung in der Schlachtordnung ein. Ihre Anführer waren die Brüder Walamer, Thiudimer und Widimer. Sie genossen als Amaler infolge ihrer erlauchten Abstammung ein höheres Ansehen als sogar der Hunnenkönig, der sie damals beherrschte. Auch der hochberühmte König Ardarich nahm mit einem riesigen Aufgebot seiner Gepiden an dieser Schlacht teil. Wegen seiner Treue und Anhänglichkeit saß er im Rate Attilas, der ihn und den Ostgotenkönig Walamer allen anderen Fürsten vorzog. 150
Denn Walamer wußte jedes Geheimnis zu wahren. Er war ein Mann ohne Falsch und besaß eine gewinnende Freundlichkeit. Die übrigen Könige und Führer der verschiedenen Völkerschaften gehorchten Attila wie Trabanten. Attila selber, der König aller Könige, stand sorgend über allen und sorgte für alle … Der Kampf wurde furchtbar. Der Bach, der an dem Schlachtfeld vorbeifließt, schwoll vom Blut der Gefallenen und Verwundeten an wie sonst von Regengüssen: Ein Gießbach von Blut. Es heißt, Attila habe während der Schlacht seinen hochgemuten Sinn bewahrt. Er ließ eine Pyramide von Pferdesätteln auftürmen. Darauf wollte er sich, falls die Feinde einbrächen, verbrennen. Niemand sollte sich an seiner Verwundung erfreuen, und der Herr so vieler Völker wollte in keines Feindes Hand fallen … Während Attila belagert wurde, suchten die Westgoten ihren König Theoderich, der im Kampfe vom Pferd gestürzt war. Sie fanden ihn inmitten eines Berges von Leichen … Sein Sohn Thorismund wollte den Tod seines Vaters rächen. Er suchte den Aëtius auf, um von ihm, dem Älteren und Erfahrenen, Rat einzuholen, was zunächst zu tun sei. Doch Aëtius fürchtete, die Goten könnten in der Folgezeit dem Römischen Reich hart zusetzen, wenn die Hunnen völlig vernichtet würden. Er gab ihm deshalb den Rat, in seine Heimat aufzubrechen und die vom Vater hinterlassene Herrschaft anzutreten. Es würden sonst schwere Kämpfe mit den eigenen Angehörigen entstehen und, was noch schlimmer sei, sie könnten ungünstig für ihn ausgehen … Schließlich brach die Nacht herein, und die Dunkelheit verhüllte das Schlachtfeld, auf dem angeblich 165.000 Gefallene lagen. Wer gesiegt hatte, wußte zunächst niemand zu sagen. Das Morgengrauen zeigte eine deutliche Niederlage der Hunnen. Den Rückmarsch von der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern unternahm Attila nicht auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war. Der Hunnenkönig machte eine Schwenkung nach dem Süden. Die erste Stadt, die seinen Weg aufhielt, war Aquileia. Sie wurde völlig zerstört. Die wenigen Einwohner, denen die Flucht gelang, flüchteten in die Lagunen am Meer und siedelten sich in flüchtig errichteten Pfahlbauten an, die nur auf 151
dem Wasserweg zu erreichen waren. Die Stadt, die sie so gründeten, wurden später Venedig genannt. Aquileia hatte ein grausames Schicksal erlitten, aber schon die nächsten Städte auf dem Wege Attilas, Verona und Vicenza, konnten sich kaum mehr über ihn beklagen als über vorhergegangene Eroberer. Und die Bewohner von Mediolanum und Ticinum (Pavia) konnten sich durch Aushändigung ihrer Kostbarkeiten von jedem anderen Schaden freikaufen. Der hunnische Zug durch Oberitalien ließ keine so unbeschreibliche Zerstörung zurück, die den schrecklichen Ruf Attilas rechtfertigen könnte. Aber jetzt zog er weiter, und nur eine geringfügige Truppe unter Aëtius versperrte dem riesigen Heer den Weg nach Rom. Sich in die Richtung Ravennas, des kaiserlichen Hauptsitzes, zu wenden, wäre ein nutzloser Umweg für den Hunnenkönig gewesen, denn aus Angst vor dem ›flagellum Die‹ war Valentinian III. aus Ravenna nach Rom geflohen. Warum, da Ravenna doch als der sicherere Ort galt? Welchen Zweck hatte die Flucht des Kaisers in die von seinen Vorgängern verlassene, von den Goten geschändete ehemalige Hauptstadt des Römischen Reiches? Kurz nach seiner Ankunft in Rom verließ eine Gesandtschaft unter Führung des Papstes Leo I. die Stadt, um sich in das Lager der ›Gottesgeißel‹ zu begeben. Was in dieser weltgeschichtlichen Unterredung geschah, die der Heilige Vater mit dem ›Väterchen‹ Attila pflog, wurde der Nachwelt nicht bekannt. Tatsache war, daß sich der ›schreckliche‹ Hunnenkönig nach der Unterredung mit dem Papst bereit erklärte, auf den Vormarsch gegen Rom zu verzichten und sein Heer über die Alpen in seine Hauptstadt an der Donau zurückzuführen. Er drohte zwar, wie es hieß, wieder nach Italien zurückzukehren, falls ihm die kaiserliche Prinzessin Honoria nicht als Braut gebracht werde. Aber auch diese Drohung erscheint zweifelhaft, wenn die Nachricht richtig ist, daß Attila nach der Rückkehr in seinen Palast, in dem er angeblich einige Frauen hatte, Hochzeit mit einer jungen germanischen Frau namens Hildiko feierte, die später im Nibelungenlied Kriemhild genannt wurde. Beim Hochzeitsmahl aß und trank Attila 152
ungewöhnlich viel. Man fand ihn am Morgen tot im Bett, an der Seite seiner jungen Frau. Ein Blutgefäß war ihm angeblich während der Nacht geplatzt, und das Blut in seiner Kehle hatte den Erstickungstod herbeigeführt. VII Die Nachricht vom Tode Attilas ermutigte Valentinian III. zu selbständigen Handlungen. Die ›Gottesgeißel‹, mit der Aaius nicht nur den germanischen Königen, sondern auch ihm gedroht hatte, bedrohte den Kaiser nicht mehr. Er hatte das Gängelband, an dem der ›patricius‹ seine Mutter und ihn selbst gehalten hatte, satt. Er hatte Freunde seiner eigenen Wahl, besonders eines gewissen Petronius Maximus, der ihm riet, einen Herzenswunsch des Aëtius abzuschlagen. Der ›patricius‹ wollte seinen Sohn mit Valentinians Tochter Eudocia vermählen. Eine heftige Auseinandersetzung folgte. Denn auch Aëtius hatte es satt, sich vom Kaiser, dessen Thron er von seiner frühesten Kindheit an mit List und Tücke, mit Gewalt und Geschicklichkeit gerettet hatte, in seinen Wünschen beschränken zu lassen. Er war auf alles gefaßt, als die Unterredung begann, nur darauf nicht, daß das Muttersöhnchen, der friedliche, sanfte Valentinian ihn kurzerhand niederstechen würde. »Was habt Ihr getan?« schrie ein Höfling dem Kaiser nach der Ermordung des Aëtius zu. »Ihr habt Eure Rechte mit Eurer Linken abgehauen!« Die ungehinderte Herrschaft Valentinians dauerte nur wenige Monate. Der Senator Petronius Maximus, dessen schöne Frau er vergewaltigt hatte, ließ ihn ermorden und zwang die Witwe des Kaisers, Eudoxia, die von seiner Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten damals noch nichts wußte, ihn zu heiraten, denn seine eigene Frau war aus Kummer gestorben. Eudocia, ihre Tochter, gab er seinem Sohn Palladius zur Frau. Petronius gestand Eudoxia seine Schuld, und blind vor Rachgier wandte sie sich an den Vandalenkönig Geiserich. Aber die153
ses Hilferufs hätte es nicht bedurft, um den Vandalenkönig zu veranlassen, seine während eines Jahrzehnts erprobte Landungsflotte in See stechen zu lassen. Geiserich hatte sich während seiner ganzen Laufbahn nur auf von vornherein sichere oder zumindest genau berechnete Unternehmungen eingelassen. Seine mit Vandalen und ihren Pferden beladenen Schiffe machten keinen Umweg. Rom war das Ziel Geiserichs, Ostia der Hafen. Das weströmische Reich hatte nicht einmal eine geschlossene Legion zur Abwehr der Sieger. Auf der Straße von Ostia nach Rom begegnete Geiserich nur eine einzige Truppe – und die war unbewaffnet. An der Spitze der Männer, die dem König der Vandalen in den Weg traten, schritt Leo I. von seinen Priestern begleitet. Auch über das schicksalhafte Gespräch des großen Papstes mit dem Vandalenkönig gibt es keinen eindeutigen Bericht. Die unzweifelhafte Folge davon war jedoch, daß die christlichen Kirchen Roms in der vierzehn Tage dauernden Heimsuchung der Stadt verschont blieben. Geiserich benahm sich wie Alarich. Die Plünderung durch die Vandalen jedoch war gründlicher als die durch die Westgoten. Alles, was in den kaiserlichen Palästen und den Häusern der Reichen noch an Werten verblieben war, wurde auf die Schiffe der Vandalen verladen. Tausende Männer und Frauen wurden versklavt. Unter den Frauen befanden sich auch die Kaiserin Eudoxia und ihre beiden Töchter. Geiserich verheiratete Eudocia an seinen Sohn Hunerich. Er selbst legte keinen Wert auf Eudoxia und als der neue Kaiser des oströmischen Reiches ihn darum bat, sandte der Vandalenkönig die Witwe des weströmischen Kaisers und ihre jüngere Tochter nach Konstantinopel. Geiserich blieb nicht lange in Rom. Der Trümmerhaufen der vergangenen Größe gefiel ihm nicht. Er wollte nach Karthago zurück, in seine Hauptstadt, die er mit den geraubten Schätzen prunkvoll auszubauen gedachte. Was mit Rom geschah, war ihm einerlei. Es würde verfallen, wie Karthago nach der Einnahme durch Rom verfallen war. Würde es je wiederaufleben? Ihm lag daran, das karthagische Reich wiederzuerrichten. Er eroberte die Balearen, Sardinien und Korsika, um 154
den Westen des Mittelmeers unbehindert beherrschen zu können. Er war der allgewaltige König eines gewaltigen Reiches. Er und seine Vandalen lebten so, daß später über sie berichtet werden konnte: »Seitdem sie sich Afrikas bemächtigt hatten, badeten sie Tag für Tag und ließen ihre Tafel mit allem Guten und Köstlichen decken. Sie trugen auch reichlich Goldschmuck und medische Kleidung, die wir jetzt die chinesische nennen. Im Theater und auf der Rennbahn und mit anderen Ergötzlichkeiten, insbesondere mit Jagden, vertrieben sie ihre Zeit. Ebenso waren sie eifrige Zuschauer von Tänzen. Kurz, sie genossen alle Künste. Die meisten von ihnen wohnten in Gärten mit den herrlichsten Bäumen und ausgezeichneten Wasseranlagen.«
Neue Grenzen – Neue Reiche I Nach dem Tod Attilas zerfiel das große Hunnenreich so rasch, als wäre es nur ein europäischer Alptraum gewesen und hätte nie wirklich bestanden. Die einzelnen germanischen Völkerstämme, die von den Hunnen besiegt worden waren, machten sich selbständig. In dem einen Jahrhundert ihrer Botmäßigkeit waren besonders die Ostgoten in den neuen Gebieten, in die sie durch die Hunnenwelle geschwemmt worden waren, so erstarkt, daß die Kaiser des oströmischen Reiches, die nach dem Aussterben der Theodosianischen Familie einer dem anderen mehr oder minder gewalttätig folgten, die Ostgoten ebenso fürchten mußten wie vorher die Hunnen. Das weströmische Reich bestand nur noch dem Namen nach. Die unter der Herrschaft Attilas gezügelten Heruler, Skiren und Rugier waren nach Italien gezogen und ließen sich unter Androhung von Waffengewalt nieder, wo immer es ihnen paßte. Inzwischen wurde ein Kai155
ser nach dem anderen ausgerufen. Erst Avitus, ein westgotischer Feldherr, dem der in der allgemeinen Verwirrung wieder zusammengetretene römische Senat die Anerkennung verweigerte. Dann herrschte der Suebe Ricimer als ›patricius‹ für den als Kaiser bestätigten Majorian. Als Ricimer mit Majorian unzufrieden war, bekam Severus den Purpur. Und bald wieder ein neuer Mann, Anthemius, ein halbheidnischer Philosoph, der aus dem oströmischen Reich entsandt worden war und entweder von Ricimer hingerichtet wurde oder im Straßenkampf fiel. Olybrius, der jetzt den Purpur erhielt, überlebte seine Erhebung zum Kaiser nur wenige Monate. Er starb eines natürlichen Todes, um Glycerius Platz zu machen, an dessen Stelle bald Julius Nepos trat, den ein pannonischer General, Orestes, absetzte, um seinen Sohn Romulus, dem er den sinnbildlichen Namen des königlichen Gründers Roms gegeben hatten, zum Kaiser zu machen. Diesen letzten Kaiser des weströmischen Reiches, der den Spitznamen Augustulus führte, schickte der Rugier Odowakar, Anführer der germanischen Söldner, mit einem Jahresgehalt in die Campagna. Auch in Konstantinopel hatte sich ein häufiger Thronwechsel vollzogen, aber das war viel mehr im Zug innerer Entwicklungen als unter dem Druck äußerer Umstände geschehen. Im gleichen Jahr, in dem der letzte römische Kaiser des Westens abgesetzt wurde, ergriff ein General namens Tarasicodissa die Macht im Osten des Römischen Reiches. Er änderte seinen für die Volkstümlichkeit eines Herrschers zu schwierigen Namen in Zeno und setzte die aufgeklärte, überlegene Staatskunst der Ratgeber der Prinzessin Pulcheria und ihres Bruders Theodosius II. mit sicherer Gewalttätigkeit fort. Zeno I. entstammte dem wilden Bergvolk der Isaurier und verdankte seinen Aufstieg nicht nur seinen außerordentlichen Fähigkeiten, sondern auch seiner bedingungslosen Zugehörigkeit zu jener entscheidenden Gruppe oströmischer Staatsmänner, die unter keinen Umständen geschlossene germanische Stämme in das Heer des Kaiserreichs einstellen wollten. Zeno wirkte, wie seine Vorgänger, für eine bodenständige wirtschaftliche Entwicklung und tat alles dafür, daß sich die geistige Eigenart des oströmischen Reiches, die aus einer Mischung des 156
griechischen Wesens und des christlichen Glaubens entstanden war, entfalten könnte. Der Grundstein zu dieser Bildung der sogenannten byzantinischen Kultur, die im Wesen eine Fortsetzung der römischgriechischen darstellte, war noch zu Zeiten Pulcherias und ihres Bruders Theodosius II. gelegt worden. Während das weströmische Reich in politische Zersetzung geraten war, hatte eine Gruppe von Rechtsgelehrten nicht nur alle Gesetze, die seit Konstantin erlassen worden waren, im sogenannten Theodosischen Gesetzbuch zusammengefaßt, sie hatten auch eine Universität in Konstantinopel gegründet, die nach dem Muster der Athenischen Hochschulen eingerichtet worden war. Das ›Griechische‹ begann das Übergewicht über das ›Römische‹ zu gewinnen. Die in Byzanz gepflegte Erkenntnis, daß die geistige Entwicklung im Mittelmeerraum der Ausstrahlung griechischer Philosophie zu verdanken war, hatte auch eine Rückführung des neuen Namens Konstantinopel auf das alte Byzanz zur Folge, auf dessen Boden Konstantinopel entstanden war. Byzanz war die einzige echte Kaiserstadt der Zeit, die wirkliche Hauptstadt eines immer noch gewaltigen und im überquellenden Wohlstand gesättigten Reiches, das Kleinasien, Syrien und Ägypten in seine Grenzen einschloß. Es war keine Militärmacht im üblichen Sinn, denn statt Geld für die Erhaltung eines stehenden Heeres auszugeben, zahlten die oströmischen Kaiser Tribute an ihre Nachbarn und machten sie so zu ihren Grenzwachen. Mehr wollten sie nicht. Auch Zeno vertrat wie seine Vorgänger den Standpunkt, daß das oströmische, das byzantinische Kaiserreich der wahrhafte Mittelpunkt der Welt sei und daß er es nicht nötig habe, mit Waffengewalt in das Geschehen einzugreifen, das durch seine Gesandten, Bevollmächtigten oder Freunde in seinem Sinne beeinflußt werden konnte. Er nahm auch das Ende des weströmischen Reiches nicht zur Kenntnis. Für ihn bestand es noch – als eine Reihe von Provinzen, die durch unglückselige Geschäftsführung der unglückseligen Partner im Westen vorübergehend verlorengegangen waren. Was verloren war, mußte wiedergewonnen werden, das war alles, und auch der Schwerpunkt der geisti157
gen und geistlichen Macht mußte, wie es den Gegebenheiten entsprach, nicht im erniedrigten Rom oder einer anderen kaiserlichen Hauptstadt des weströmischen Reiches, sondern in Byzanz gelegen sein. Diesen Plan bereitete Zeno Schritt für Schritt vor. Seine Überlegungen waren klar. Er sah die Wirklichkeit. Im Süden der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika saßen die Vandalen. Wie lange noch? Bis eine byzantinische Flotte, die richtig ausgestattet sein würde, ihre frechen Könige und die maurischen Häuptlinge, die mit ihnen verbündet waren, zur Vernunft gebracht haben würde. Die Westgoten, die zwar ihre Grenzen nach dem Süden über beinahe die ganze Iberische Halbinsel vorgeschoben hatten, sollten fürs erste bleiben, wo sie waren. Wenn man die Umstände, die sie geschaffen hatten, richtig betrachtete, hatten sie aufgehört, germanische Barbaren zu sein. Sie hatten nicht nur die Lebensformen der vornehmen römischen Provinzialen angenommen, sondern auch ihre Sprache, oder sie doch so mit ihrer eigenen vermischt, daß sich, wer Latein sprach, mit den Westgoten verständigen konnte. Daß ihr König Eurich sich groß machte und die westgotische Herrschaft ausdehnte, erschien, aus der Ferne gesehen, nicht beunruhigend. Ein Herrscher, der Ordnung in die Rechtsverhältnisse seines Volkes brachte, konnte erst als Bundesgenosse gewonnen und später wieder in seine Schranken gewiesen werden. Im übrigen Gallien hatte sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen: Die Franken waren in wenigen Jahrzehnten da und dort bis an die Grenzen des westgotischen Reiches vorgedrungen, hatten die versprengten Reste anderer germanischer Stämme aufgesogen und waren bemüht, sich zu einem ›Reich‹ zusammenzufassen. Auch sie sprachen ein Gemisch ihrer eigenen Mundarten, die sich mit dem Lateinischen vermengten und zu einer eigenen Sprache wurden. Blieb Italien, das von den ehemaligen germanischen Vasallenvölkern Attilas durchsetzt war. Daran wäre vom Standpunkt Zenos nichts auszusetzen gewesen, wenn der von diesen Eindringlingen auf italischen Boden zum Herrscher erwählte General Odowakar sich nicht wie ein unabhängiger König benommen hätte, der es ablehnte, um die förmliche Anerkennung seiner Oberhoheit durch den oströmischen Kaiser 158
zu bitten. Dieser Odowakar ging sogar so weit, daß er auf die von ihm geprägten Münzen seinen Namen setzte, statt den Zenos. Das ging nicht an. Da mußte eine rasche und sichere Änderung herbeigeführt werden. Zeno wünschte zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen. An den nördlichen Grenzen und auch innerhalb des oströmischen Reichsgebietes lebte noch ein germanisches Volk, die Ostgoten, die das Erbe Attilas in diesen Gegenden angetreten hatten. Nach dem Tode der ›Gottesgeißel‹ hatten die kaiserlichen Vorgänger Zenos den Ostgoten Zahlungen geleistet, damit sie dafür sorgten, daß die Wanderung anderer Barbarenstämme dem oströmischen Reich ferngehalten würden. Sie hatten den Ostgoten auch Pannonien zuerkannt. Die Entgegennahme von Geld und der Austausch von guten Worten waren jedoch nicht Bürgschaft genug für die Einhaltung des Vertrages durch die Ostgoten gewesen. Sie mußten auch Theoderich, den siebenjährigen Sohn ihres Königs Thiudemer, als Geisel nach Byzanz schicken.
Der junge Gote lernte im kaiserlichen Palast weder Schreiben noch Lesen, aber er erwarb mit offenen Augen und offenen Ohren die Kenntnis der zeitgenössischen Kriegskunst und gewann Einblick in die Handhabung der Staatsgeschäfte. Als Thiudemer starb, war Theoderich kaum dreißig Jahre alt. Mit ihm als König der Ostgoten trat eine der bemerkenswertesten Erscheinungen des Mittelalters in die Geschichte. Bald nach seiner Erhebung erhielt Theoderich den Titel ›patricius‹ des oströmischen Reiches und führte im Auftrage Zenos sein Volk, dem zwanzigtausend auserlesene Krieger den Weg bahnten, nach Italien. Er wurde von der Bevölkerung und auch von der Priesterschaft, trotz seines arianischen Glaubens, als Feldherr des oströmischen Kaisers freundlich empfangen. Theoderich hatte dennoch kein leichtes Spiel gegen Odowakar, der die Burgunden vom Genfer See zu Hilfe rief. Sie fielen Theoderich in den Rücken. Ohne die eilige Hilfe der Westgoten wären seine kriegerischen Erfolge zweifelhaft gewesen. Die 159
Burgunden wichen zurück. Theoderich zog gegen Odowakar, der sich in Ravenna verschanzte. In dieser kritischen Lage vermittelte der Bischof von Ravenna und erreichte, daß die beiden arianischen Feldherren sich einigten, künftig gemeinsam über Italien zu herrschen. Theoderich sicherte auch Odowakar den Königstitel zu, unter der Bedingung allerdings, daß ihm die Tore der belagerten Stadt zu einer freundschaftlichen Zusammenkunft geöffnet würden. Die Zusammenkunft in Ravenna wurde durch ein üppiges Gastmahl gefeiert. Odowakar und Theoderich betraten mit ihrem Gefolge den festlich geschmückten Saal. Aber statt des erwarteten Handschlags, zu dem Odowakar treuherzig die Rechte ausstreckte, erhielt er das Schwert Theoderichs in die linke Brustseite. Die letzten Worte Odowakars waren: »Wo ist Gott?« II Der Ostgotenkönig Theoderich war einer der wenigen Herrscher, dem die Geschichte den ehrenden Beinamen ›der Große‹ zuerkannte. Er wurde zur legendenhaften Gestalt. In die Heldensage ging er ein als Dietrich von Bern. Diese den Ablauf der Zeiten überdauernden Auszeichnungen verdankte Theoderich, der ein überragender Vermittler zwischen den bisherigen Bewohnern Italiens und seinen Goten wurde, seinem vorbildlichen Wirken in einer erregenden Übergangszeit – aber auch dem Geschichtsschreiber Cassiodor, der sein Sekretär und Ratgeber war. Dieser Abkömmling einer vornehmen römischen Familie schrieb aus Überzeugung und zur Rechtfertigung der Dienste, die er dem landfremden Gotenkönig über seinen Tod hinaus leistete, eine Geschichte der Goten, um seinen eigenen Standesgenossen und engeren Landsleuten zu beweisen, daß auch die Goten edle Vorfahren und eine glorreiche Vergangenheit hätten. Diese Werbung für eine friedliche Würdi160
gung der kriegerischen Einwanderer auf italischem Boden war ein wesentlicher Bestandteil des umfassenden Planes Theoderichs, nicht nur eine Brücke zwischen Germanen und Römern, sondern auch zwischen Heidentum und Christentum zu schlagen. Er wollte ein gleichzeitig durch das gotische Königsrecht und das römische Recht der Vergangenheit gesichertes Zusammenleben der unter seiner Herrschaft stehenden Völkerschaften herbeiführen. Für den des Schreibens und Lesens unkundigen König verwaltete die ›Königskanzlei‹ die Staatsgeschäfte. Dieses Amt war auch der Zusammenkunftsort der gotischen und römischen Ratgeber Theoderichs. Unter seinem Vorsitz ging die gemeinsame Arbeit vor sich. Der leitende Grundsatz dabei war, daß die Gesetze und Einrichtungen des ehemaligen weströmischen Reiches so weit erhalten werden sollten, als sie nicht im offenen Widerspruch zu den gotischen Gesetzen und Einrichtungen standen. Die weströmischen Behörden behielten die Rechtssprechung und die örtliche Verwaltung. Sie waren aber von militärischen Aufgaben ausgeschlossen. Krieger durften nur die Goten sein, nur sie übten die Polizeigewalt aus. Ihr Sold war hoch, und ein Drittel des italischen Grundbesitzes wurde ihnen überdies als freies Geschenk zuerkannt, damit sie bodenständig würden. Durch die vorhergegangenen mörderischen Eroberungszüge hatte die Bevölkerungsdichte auf der Apenninischen Halbinsel so abgenommen, daß es an landwirtschaftlichen Arbeitskräften fehlte. Theoderich löste italische Kriegsgefangene von anderen Völkern aus und siedelte die Heimkehrer an. Er ließ die Pontinischen Sümpfe trockenlegen und sorgte dafür, daß die neuen Bebauer des vernachlässigten Landes gute Preise für die Versorgung der Städte mit den nötigen Nahrungsmitteln erhielten. Das war nur durch eine mit Umsicht gelenkte Wirtschaft möglich. Höchst- und Mindestpreise führten zu einer allgemeinen Senkung der Lebenskosten. Der Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden gab vielen Städten wieder ihr altes Gesicht. Theoderich lehnte es ab, sich als glanzvoller Herrscher in Rom niederzulassen. Er erbaute sich einen bescheidenen Palast in Ravenna. Er regte an, daß sich der römische Senat im altehrwürdigen, angestamm161
ten Gebäude versammelte und seine Verfügungen in feierlichen Sitzungen anerkannte. Die dem Wesentlichen mehr als dem Äußerlichen zuneigende Art Theoderichs kam auch dadurch zum Ausdruck, daß er Münzen nur im Namen des byzantinischen Kaisers prägen ließ und sich selbst mit dem Titel eines Königs beschied, den er allerdings in römischer Sprache führte. Er war ›rex‹, aber er bestritt nicht die byzantinische Oberhoheit. Während seiner langen Herrschaft griff Theoderich nur selten zu den Waffen. Aber seiner militärischen Überlegenheit fiel es nicht schwer, sich Süditaliens, Siziliens und der ihm von Byzanz zugestandenen Gebiete des westlichen Balkans zu bemächtigen. Cassiodor pries als eine der wichtigsten Neueinführungen seines Herrschers die schon in den Großreichen des Altertums geübte Aussendung königlicher Beauftragter in seinen Einflußraum. Diese Gesandten erhielten den Titel ›comites‹ und bewachten im Auftrag des Königs die Ausführung seiner Verfügungen und Gesetze. Die gesicherte Ausnahmestellung Theoderichs beeindruckte die Stammeskönige der Germanenvölker auf dem Boden des ehemaligen weströmischen Reiches. Sie waren seinen Vorschlägen zugänglich, eine friedliche Verbindung aller Germanenreiche zu schaffen, und durchaus nicht abgeneigt, das Entstehen der großen germanischen Völkerfamilie, die Theoderich vorschwebte, durch verwandtschaftliche Beziehungen zu ihm zu fördern. Der Westgotenkönig Alarich II. heiratete Thiudigota, die Tochter Theoderichs, der Vandalenkönig Thradamund seine Schwester Amalafried, während Hermanifried, der König der Thüringer, seine Nichte Amalaberg zur Frau nahm. Eine andere Schwester Theoderichs, Ostrogota, wurde die Frau des burgundischen Thronfolgers, während Theoderich selbst zur Krönung der verwandtschaftlichen Beziehungen die Schwester des Frankenkönigs Chlodowech zu seiner Königin machte. Diese Eheschließungen, die beinahe alle bedeutenden germanischen Königshäuser miteinander verschwägerten, waren nicht nur der staatsmännischen Geschicklichkeit Theoderichs zu verdanken, sie kamen auch dem Wunsch seiner neuen Verwandten entgegen, sich durch ihn 162
und mit ihm in ihrer Herrscherwürde und im Besitz ihrer Gebiete zu festigen. Sie alle waren im Grunde freibeuterische Einwanderer, die alles, was sie besaßen, ihrer eigenen Gewalttätigkeit oder der ihrer Vorfahren verdankten und denen daran gelegen war, nun ein Recht auf das zu erwerben, was sie schon hatten. Es gefiel ihnen, daß Theoderich eine friedliche Verschmelzung der gotischen mit den römischen Lebensformen erstrebte. Sie drängten ihren Völkern sein Beispiel auf. Ernsthafte Schwierigkeiten hatte Theoderich nur mit dem Frankenkönig Chlodowech (Chlodwig), den die erfolgreiche Eroberungssucht seiner Jugend auch als Erwachsenen nicht ruhen ließ. Er hatte seine Laufbahn als Erbkönig eines römischen Grenzgebietes begonnen, in dem sich seine Familie, die Merowinger, noch in den Zeiten kaiserlicher Macht festgesetzt und das sie zu einem stattlichen Königreich ausgebaut hatten. Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte Chlodowech die ihm benachbarten römischen Provinzen in Nord- und Mittelgallien besetzt und die Bevölkerung, die aus Römern, Kelten und Germanen bestanden hatte, seinen Franken gleichgestellt. Im Grunde hatte ihm eine ähnliche Völkervermischung vorgeschwebt wie Theoderich. Er hatte nur nicht die Geduld und auch nicht den byzantinischen Rückhalt des Königs der Ostgoten gehabt und die Verschmelzung gewaltsam vollzogen. Seine ausgleichende Tätigkeit hatte sich darauf beschränkt, daß er den Franken befohlen hatte, sich des Lateinischen als Umgangssprache zu bedienen, und seine neuen Untertanen gezwungen hatte, das fränkische Volksrecht, die ›lex Salica‹, anzuerkennen. Den Königssitz hatte Chlodowech in die ehemalige Hauptstadt des dem Christentum abtrünnigen Julian Apostata, das spätere Paris, verlegt. Dort entschloß er sich, den christlichen Glauben anzunehmen. Theoderich hatte durch seine Gesandten versucht, auf den Frankenkönig dahin zu wirken, daß auch Chlodowech Arianer werde. Aber Chlotilde von Burgund, die Chlodowech geheiratet hatte, war römischkatholisch erzogen worden. Sie wünschte, daß ihr Gatte ihren Glauben annehme. Der Bischof von Tours, das zum Westgotenreich gehörte, beriet die Königin und gewann das Vertrauen Chlodowechs. 163
Der vom Arianismus überzeugte Westgotenkönig Alarich II. verbannte den Bischof. Unter dem Vorwand, seinen neuen Freund nicht im Stich lassen zu wollen, fiel Chlodowech in das Westgotenreich ein. Auf Veranlassung Alarichs wurde er von den Alamannen im Rücken angegriffen und schwor, daß er sich im Falle eines Sieges römischkatholisch taufen lassen werde. Er besiegte die Alamannen und setzte seinen Vormarsch gegen die Westgoten nach dem Süden fort. Er drang bis Bordeaux vor. Erst das Eingreifen Theoderichs zwang ihn, Frieden zu schließen. Chlodowech erkannte, daß er die Ausbreitung seiner Grenzen dem Süden zu nur durch einen Kampf auf Leben und Tod mit Theoderich fortsetzen könnte. Dazu fühlte er sich noch nicht stark genug. Er wandte sich nach dem Norden und Westen gegen die Alamannen und verbündete sich mit den Burgunden, die die gemeinsamen Feinde aus ihren Gebieten drängten. Durch diese Feldzüge weitete Chlodowech die Grenzen des fränkischen Reiches aus und legte den Grundstein zu seiner bestimmenden Stellung im europäischen Raum. Dazu trug auch die Annahme des römischkatholischen Glaubens durch Chlodowech bei, der seine alten und neuen Untertanen veranlaßte, sich zur gleichen Kirche zu bekennen. Diese sich beinahe gleichzeitig vollziehende Annäherung im Glauben und in kulturellen Belangen führte zur Vereinheitlichung der Bevölkerung im Frankenreich, das auf dem Wege war, sich zur Großmacht zu entwickeln. Auch die Eroberungen der Burgunden auf alamannischen Gebieten beunruhigten Theoderich. Er konnte dennoch nicht mehr tun, als die fliehenden Alamannen, die sich an ihn um Hilfe wandten, in den weströmischen Provinzen, die unter seiner Herrschaft als ›patricius‹ standen, anzusiedeln. Er gab ihnen Raum zwischen Donau, Lech und Iller. Sie verschmolzen in fester Ansiedlung mit den ›Bajovarii‹, einem germanischen Volksstamm, dessen Name auf das böhmische Ursprungsland hindeutet, und wurden später Bayern genannt. Gleichzeitig unternahm es Theoderich, seinen Einflußraum im Osten auszuweiten, allerdings ohne selbst zu den Waffen zu greifen. Er versorgte Rodulf, den Herulerkönig, der über die Germanen nördlich und öst164
lich des Donauknies herrschte, »väterlich« mit der nötigen Ausrüstung und gab ihm den Titel ›Waffensohn‹. Dieser gewaltige Machtzuwachs Theoderichs gefiel dem neuen Kaiser von Byzanz nicht. Anastasius I. der Zeno I. gefolgt war, hatte nicht die persönliche Beziehung seines Vorgängers zum Ostgotenkönig. Er wollte jedoch keinen Krieg vom Zaun brechen, um ihn in seiner Ausbreitung zu behindern. Das einzige Mittel, das Anastasius hatte, Theoderich in Schach zu halten, war ein Bündnis mit Chlodowech. Um ein Gegengewicht zu schaffen, schloß Theoderich seinerseits ein Bündnis mit Alarich II. das gegen die gefährliche diplomatische Zange von Paris und Byzanz gerichtet war. Darauf schien Chlodowech im Einvernehmen mit Anastasius gewartet zu haben. Der Frankenkönig fiel in das Westgotenreich ein, während eine byzantinische Flotte an der Ostküste Italiens kreuzte und mit Landungen drohte. Theoderich ließ sich nicht einschüchtern. Seine Goten kamen zwar zu spät, um Alarich II. das Leben zu retten, aber doch noch rechtzeitig, um die mit burgundischen Truppen vereinten Franken in Gallien zu besiegen. Der Tod Alarichs bedeutete eine noch gewaltigere Erweiterung der Macht 'Theoderichs. Die Westgoten boten ihm den Königstitel an. Er beschied sich, wie immer, und begnügte sich mit der stellvertretenden Herrschaft über das Westgotenreich. Er war zu jeder Selbstbeschränkung bereit, um Chlodowech doch noch für seinen Lebensplan zu gewinnen, einen gewaltigen germanischen Völkerbund auf dem Boden des weströmischen Reiches zu errichten. Aber die Würde eines Konsuls, die Byzanz dem Frankenkönig anbot, galt dem Merowinger mehr. Auch als Chlodowech, frühzeitig gealtert, starb, gelang Theoderich sein Lebensplan nicht. An der Ostgrenze des von ihm königlich verwalteten Reiches befreite sich der Germanenstamm der Langobarden von der Oberherrschaft seines ›Waffensohns‹ und besetzte das herulische Donaureich. Diese neue Reichsgründung eines Germanenkönigs war nicht durch die eigene Kraft der Langobarden zustande gekommen, sie war durch 165
die Hilfe des neuen byzantinischen Kaisers, Justin I. möglich geworden, der wie sein Vorgänger Anastasius alles daransetzte, Theoderich nicht zu groß werden zu lassen. Justin hatte keinen leichten Stand. Er wußte, daß er nicht der ›geeignete‹ Nachfolger des bedeutenden Anastasius war, der Byzanz durch den Bau der Langen Mauer, die sich über sechzig Kilometer vom Marmara-Meer bis zum Schwarzen Meer erstreckte, unangreifbar gemacht und einen ungeheuren Staatsschatz hinterlassen hatte. Der bejahrte illyrische Emporkömmling hatte sich nach einem kurzen Volksaufstand nach dem Tode des großen Sparmeisters einfach des Thrones bemächtigt, da keiner der Wettbewerber rascher gewesen war, und behielt ihn durch die Geschicklichkeit seines Neffen Justinian, den er erzogen hatte. Eine der ersten Handlungen Justinians, für die freilich Justin verantwortlich zeichnete, war die Verbannung der Manichäer aus dem Reichsgebiet. Diese Anhänger einer weitverbreiteten Glaubensgemeinde, die es unternahm, das Christentum mit den gläubigen Vorstellungen Zarathustras von Gut und Böse, von Licht und Finsternis zu einer Einheit zu verbinden, wurden zu Verbrechern gestempelt. Gleichzeitig verfügte Justinian die Ausstoßung aller Heiden und Ketzer aus der Staatsverwaltung und aus dem Heer. Auch die Arianer fielen unter dieses Gesetz – mit Ausnahme der Goten, über die Theoderich herrschte. Diese im Namen Kaiser Justins vorgebrachte Kampfansage der Kirche gegen seine Glaubensgenossen beunruhigte Theoderich, der dem katholischen Glaubensbekenntnis in seinem Königreich volle Freiheit gelassen hatte, so sehr, daß er sich umstellt fühlte. Es ging das Gerücht, daß seine Absetzung als ›rex‹ und ›patricius‹ wegen seines arianischen Glaubens unmittelbar bevorstehe und daß nicht der Kaiser in Byzanz, sondern der römische Senat, den doch Theoderich selbst mit Machtbefugnissen ausgestattet hatte, seine Absetzung aussprechen würde. Die Nachforschungen des alternden Ostgotenkönigs ergaben, daß tatsächlich eine Verschwörung in seiner unmittelbaren Umgebung bestand. Auf wen konnte er sich noch verlassen? Gewiß nicht auf seinen 166
Kanzler Boethius, der eine anti-arianische Schrift über die Dreieinigkeit verfaßt hatte. Überdies galt auch der Freund des Boethius, der Senator Albinus, als Drahtzieher der Verschwörung. Theoderich ließ sowohl Boethius als auch Albinus verhaften und verfaßte in seiner Königskanzlei ein Schreiben an den Kaiser in Byzanz. Darin hieß es: »Es bedeutet, sich ein Vorrecht Gottes anzumaßen, wenn man die Herrschaft über das Gewissen beansprucht. Die Gewalt eines Herrschers beschränkt sich auf die politische Staatsführung. Er hat nur ein Recht, diejenigen zu strafen, die den öffentlichen Frieden stören. Die gefährlichste Ketzerei ist die eines Herrschers, der sich von einem Teil seiner Untertanen lossagt, nur weil sie einen anderen Glauben haben als er selbst.« Justin erwiderte, er habe das Recht, Ämter den Menschen vorzuenthalten, auf deren Treue und Ergebenheit er sich nicht verlassen könne. Die Ordnung im Staate erheische eine Einheit des Glaubens. Im Gefängnis verfaßte Boethius indessen eines der wichtigsten Werke des frühen Mittelalters: ›Von der Tröstung der Philosophie‹. Glück, erklärte der Lebenserfahrene, sei nicht in Reichtum oder Ruhm zu finden, auch nicht in der Lust oder der Gewalt. Es gäbe kein wahres und sicheres Glück, außer in der Vereinigung mit Gott. Er erklärte: »Glückseligkeit ist die Gottheit selber.« Der bedeutendste zeitgenössische byzantinische Geschichtsschreiber berichtete, daß Theoderich den Tod seines Kanzlers, den er grausam hatte hinrichten lassen, auf das bitterste bereute. Kurze Zeit darauf starb der Ostgotenkönig selbst. Der gleiche Prokop schrieb Jahrzehnte später zusammenfassend über Theoderich: »Seine gewaltige Hand sorgte für Gerechtigkeit allerorts. Er war ein starker Schirmherr für Recht und Gesetz. Er war nur dem Namen nach ein Tyrann, in Wirklichkeit war er ein richtiger Kaiser, nicht um Haaresbreite geringer als irgendeiner von denen, welche sonst diese Würde bekleidet haben.«
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III Justin überlebte Theoderich nicht lange. Sein Tod hinterließ keine Lücke, denn Justinian I. übernahm nun auch dem Namen nach die Herrschaft, die er zu Lebzeiten seines Onkels tatsächlich innegehabt hatte. Er tat es allem Anschein nach nicht gerne. Er hätte lieber im Verborgenen weitergewirkt und sich mit weniger Störungen seinen persönlichen Zerstreuungen gewidmet, die denen seines lebenslustigen Erziehers entgegengesetzt waren. Justinian war nicht für leichte Vergnügungen. Er hätte es vorgezogen, Dichter oder Rechtsgelehrter, Glaubensforscher oder Philosoph, Musiker oder Architekt zu sein. Die prunkvolle Hofhaltung mit allen ihren verschwenderischen Genüssen am kaiserlichen Tisch und mit den ins Maßlose übertriebenen Zerstreuungen bedeutete eine Belästigung für den enthaltsamen Mann, der nur pflanzliche Kost aß und von der frühen Morgendämmerung bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten pflegte. Er hätte vielleicht sogar seinen Ratgebern nicht nachgegeben, als er kurz nach seiner Thronbesteigung abdanken wollte, um ausgebrochene Unruhen der Bevölkerung zu beschwichtigen, wenn seine Frau nicht darauf bestanden hätte, Kaiserin des oströmischen Reiches zu bleiben. Die als Tochter eines Bärenbändigers in einem Zirkus aufgewachsene Theodora hatte ihre Laufbahn als Schauspielerin begonnen. Sie hatte sich jedoch weniger auf der Bühne als im engsten Kreis der reichen Lebemänner betätigt, bevor sie in Byzanz als Nackttänzerin in schlüpfrigen Aufführungen bekanntgeworden war. In seinen ›anecdota‹, der ›unveröffentlichten‹ Geheimgeschichte Theodoras, erzählte Prokop, dessen Ruf als zuverlässiger Darsteller der Zeitgeschichte die Zeiten überdauerte, daß sie mehrmals Schwangerschaften von unbekannten Vätern unterbrochen habe und dann doch einem unehe168
lichen Kind das Leben schenkte. Prokop berichtete nicht, ob der Vater dieses Kindes der Syrier Hekebolos war, als dessen verlassene Geliebte Theodora in Alexandria untertauchte. Der berühmte Anekdotenerzähler weiß nur, daß sie sich bald darauf wieder in Byzanz als arme, ehrbare Wollespinnerin durchbrachte. Seine Berichterstattung erscheint um so eher frei von gehässigen Vorurteilen zu sein, als er gelegentlich der Schilderung einer Bildsäule Theodoras in sachlicher Freundlichkeit feststellte: »Die Statue ist erlesen schön. Sie wird aber dem Aussehen der Kaiserin nicht gerecht. Es wäre einem Menschen auch gar nicht möglich, ihren Liebreiz in Worten wiederzugeben oder in Stein zu meißeln.« Daß der Bücherwurm Justinian angesichts einer so überwältigenden Schönheit sich in Theodora verliebte, war nicht erstaunlich. Man staunte jedoch am Hof von Byzanz, daß er eine Frau mit einem so eindeutig anstößigen Vorleben ohne Zögern heiratete und zur Kaiserin erhob. Würde Byzanz jetzt eine neue Messalina erleben? Justinian war seiner Sache sicher: Diese junge Frau, die alle Niederungen des Lebens kennengelernt hatte, würde sich nach ihrer Erhöhung nicht nach der Gosse zurücksehnen. Wie mit allen anderen Wagnissen seiner Laufbahn hatte er mit dieser gewagten Erwägung recht. Theodora wurde eine so gute kaiserliche Ehefrau, daß selbst die boshaftesten Verleumder ihr keine Untreue nachsagen konnten. Sie wurde auch die begabteste Beraterin Justinians, die seine Lebensfremdheit durch ihre Lebenserfahrung ergänzte. Daß sie geldgierig und machthungrig war, kam ihm zugute, und es störte ihn auch nicht, daß sie gut aß und trank, da sie ihn fasten ließ, wenn er es wollte, und ihn nicht daran hinderte, sich bescheiden zu kleiden, während sie einen wahrhaft kaiserlichen Aufwand trieb. Die Byzantinische Lebensform, die sich in ihrer übertriebenen Schaustellung köstlicher Trachten und kostbaren Schmuckes selbst überbot, sollte den Reichtum und die Macht des oströmischen Reiches dartun. Sie kam nicht nur durch üppige Gelage zum Ausdruck, die in ihrer Ausschweifung selbst die römischen Festlichkeiten der Glanzzeit übertrafen, sondern auch in den Prunkbauten der Paläste und Gottes169
häuser. Die der heiligen Weisheit, der ›Hagia Sophia‹, gewidmete Kirche, die von Justinian errichtet wurde, blieb ein eindrucksvolles Denkmal der byzantinischen Pracht. Die Kaiserin der großartigen Moden und des köstlichen Lebens war Theodora, trotz der betonten Einfachheit ihres Mannes. Justinian war einer jener Pantoffelhelden, der genau wußte, wie weit er nachgeben sollte und wann es nötig war, den Herrn im Hause zu zeigen. Er ließ manchmal auch Grausamkeiten Theodoras gegen ihre Gegner zu, damit sie ihm selbst nicht zugeschrieben würden, und auch gnädige Handlungen, damit er selbst nicht Gnade üben müsse und am Ende gar als Schwächling beurteilt werde. Obwohl der Anschein oft dagegen war, arbeiteten Justinian und Theodora so eng miteinander, daß nur sie beide wußten, wann sie gegeneinander arbeiteten, und auch dann geschah es zumeist im gegenseitigen Einverständnis. Die kaiserlichen Ehegatten, die die mächtigsten Herrscher ihres Jahrhunderts wurden, unternahmen es, das schon von den Vorgängern Justinians vorgezeichnete Ziel zu erreichen: die Wiederherstellung des großen Römischen Reiches. Dazu müßte Afrika von den Vandalen befreit werden, Italien von den Ostgoten, die Iberische Halbinsel von den Westgoten, Gallien von den Franken und Britannien von den Angeln und Sachsen. Überdies mußte die Glaubenseinigkeit, die als sichernde Voraussetzung der Vereinheitlichung des Reiches galt, hergestellt werden. Justinian schreckte nicht vor der ungeheuren Aufgabe zurück. Er glaubte, alle Voraussetzungen zu haben – Geld und hervorragende Feldherren. Da war vor allem Belisar, der wie er selbst einem illyrischen Bauerngeschlecht entstammte und keinen anderen Ehrgeiz kannte als die Größe seines Kaisers, dem er bedingungslos ergeben war. Erst machte Justinian den Versuch, sein Reich nach dem Osten auszudehnen. Es ging ihm um die Beherrschung der Handelsstraßen nach Asien und Indien, die von den Königen der Perser streitig gemacht wurde. Hundert Jahre hatte das oströmische Reich Frieden mit Persien gehalten. Jetzt zog Belisar mit nur ungenügenden Truppen aus und siegte in jedem Gefecht. Das hatte Justinian erhofft. Er hatte das eine Jahr der glorreichen Ab170
wesenheit Belisars seinerseits dazu benützt, eine Flotte von hundert Kriegsschiffen und fünfhundert Begleitschiffen im Bosporus zu versammeln, und war begierig, sie ausfahren zu lassen. Wenn er sich in einer überlegenen Lage gütlich mit dem König der Perser einigte, war sein Rücken gedeckt, und er konnte das große Unternehmen beginnen, das ihm am Herzen lag. Justinian schloß Frieden mit den Persern, zahlte sogar einen namhaften Betrag für ihre Freundschaft und berief Belisar zurück, damit er Afrika für ihn erobere. Zu den Begleitern Belisars gehörte auch Prokop, der den Krieg gegen die Vandalen beschrieb, die seit dem Tod König Geiserichs mehr wie satte römische Bürger lebten als wie kampfbereite Krieger und durch die Feindseligkeiten ihrer ehemaligen Bundesgenossen, der Mauren, geschwächt worden waren. Sie waren durch den Überfall Belisars, der fünfhundert Reiter an Land setzte, so überrascht, daß er ihren rasch aufgestellten Widerstand überrannte und Karthago mit einem Handstreich eroberte. Gelimer, der letzte König der Vandalen, der sich, dem Hungertod nahe, ergab, lachte laut auf, als er Belisar vorgeführt wurde. Einige der Anwesenden meinten, ihm habe das Übermaß an Leiden den Verstand geraubt und sein Lachen wäre das eines Irren. Seine Freunde widersprachen dieser Auffassung. Sie erklärten, König Gelimer wäre wohl bei Sinnen, aber er sei als Gefangener, nachdem er alles Gute und Böse im Leben erfahren habe, zu der Überzeugung gelangt, daß das ganze Menschenleben nur eines großen Lachens wert sei. Während Belisar seinen Triumph in Byzanz feierte, griffen die Mauren, die schon die Vandalen angegriffen hatten, die Gruppen, die Belisar zurückgelassen hatte, an, und der Feldherr Justinians mußte die ihm zu Ehren veranstalteten Siegesfeierlichkeiten eilig verlassen, um die Früchte seines Sieges zu sichern. Er schlug die Mauren zurück, festigte die byzantinische Herrschaft in den nordafrikanischen Provinzen des ehemaligen weströmischen Reiches und bereitete die Durchführung des neuen großen Auftrages vor, den Justinian ihm schon erteilt hatte. 171
Die Voraussetzungen bedeutender Eroberungsfeldzüge waren damals wie immer die örtlichen Gegebenheiten und die durch den Ablauf der Ereignisse herbeigeführten Gelegenheiten. Der Erbe des Ostgotenreiches Theoderichs war sein Enkel, der Knabe Athalarich, für den seine Mutter Amalaswintha die Herrschaft führte. Sie war von ihrem großen Vater erzogen worden, Gotin und Römerin in einem zu sein. Ihre Neigung für die römische Lebensart überwog so sehr, daß sie den jungen Gotenkönig als Römer erziehen lassen wollte. Dagegen lehnten sich die vornehmen Goten des Hofes auf und zwangen die Königinmutter, ihren Sohn von ihnen ausbilden zu lassen. Die Bemühungen der gotischen Vornehmen, aus Athalarich keinen italischen Schwächling, sondern einen wahrhaft gotischen Mann zu machen, brachten es dahin, daß er seine Mannbarkeit zu lebhaft unter Beweis stellte und als Achtzehnjähriger dem Übermaß an Ausschweifungen erlag. Sein Nachfolger wurde der Vetter Amalaswinthas, Theodahad, dem sie die Bedingung auferlegte, daß sie den Thron mit ihm teilen würde. Er sagte zu und setzte sie gefangen. Sie wandte sich um Hilfe an den Kaiser von Byzanz. Das war auch folgerichtig, denn vor dem Feldzug Belisars in Nordafrika hatte Justinian ein enges Bündnis mit Amalaswintha geschlossen, um zu verhindern, daß die Ostgoten mißtrauisch würden, wenn er die Vandalen besiegte. Jetzt schickte Justinian seine Botschafter nach Paris, zu den Erben Chlodowechs, den vier gleichberechtigten Königen der Franken, um durch freundschaftliche Beteuerungen zu verhindern, daß sie sich in die bevorstehenden Kampfhandlungen einmischten. Der Zeitpunkt dieser byzantinischen Gesandtschaft war vorzüglich gewählt, denn es war den Merowingerkönigen daran gelegen, in ihren eigenen Ausbreitungsabsichten nicht etwa durch das Dazwischentreten anderer Mächte gestört zu werden. Sie hatten den größten Teil des thüringischen Reiches erobert und das Maingebiet besiedelt. Sie wollten auch die nördlichen Gegenden des Thüringerreiches, die von den Sachsen besetzt worden waren, gewinnen, und auch das Burgunderreich sowie die bayrischen Gebiete, in denen die Alamannen von Theoderich angesiedelt worden waren. Nichts lag den Fran172
kenkönigen ferner als eine Unterstützung der Ostgoten, die ihnen die Neuerwerbungen streitig machen konnten. Unter diesen Umständen waren die Ostgoten auf sich selbst angewiesen, als Belisar von Nordafrika aufbrach und Sizilien eroberte. Auf wessen Seite würde er sich stellen? Die Ostgoten waren uneinig untereinander, die einen waren für Amalaswintha, die anderen für Theodahad, und ihre Streitkräfte waren schwach. Die Bevölkerung der italischen Städte begrüßte Belisar als Befreier. Da er den Ruf hatte, ein treuer Anhänger der heiligen Dreieinigkeit zu sein und keineswegs einer der oströmischen Ketzer, der etwa den arianischen Goten zugetan sein konnte, war die Geistlichkeit für ihn. Er zog beinahe kampflos als Sieger in Rom ein. Wieder war Belisar das Unmögliche geglückt. Er hatte seinem Kaiser an der Spitze von nur fünftausend Mann wieder ein Reich erobert, denn es war klar, daß Justinian die Eroberungen für sich behalten wollte. Er würde sich zwar Amalaswinthas annehmen, doch nicht als Königin. Aber noch bevor Belisar der unglücklichen Tochter Theoderichs eine Einladung nach Byzanz übermitteln konnte, war sie von ihrem Vetter umgebracht worden. Das war besser, als Justinian es wünschen konnte. Er konnte sich als Rächer seiner Verbündeten gebärden und die Absetzung Theodahads verlangen. Die Goten kamen ihm zuvor und erwählten Wittigis (Witichis) zu ihrem König. Mit hundertfünfzigtausend Mann, der gesamten ostgotischen Macht, zog der neue König der Ostgoten vor Rom und belagerte Belisar. Es fehlte an Lebensmitteln und an Wasser. Der byzantinische General wagte es nicht, seine kleine Truppe durch römische Männer zu verstärken, da die Senatoren ihm vorwarfen, er sei daran schuld, daß sie ihr tägliches Bad und die Reste des Wohlergehens vermißten, die ihnen nach den Plünderungen durch die Westgoten und Vandalen übriggeblieben waren. Rom war für Belisar eine Falle. Er hielt aus in der Hoffnung, daß Verstärkungen kämen. Ein Jahr verging. Aber die erbetenen Verstärkungen kamen nicht. Auch nicht, als Wittigis der Belagerung müde geworden war und sich mit seinem Heer nach Ravenna zurückzog. Endlich, endlich landeten 173
oströmische Legionen auf italischem Boden. Jetzt ging Belisar zum Angriff über und machte sich an die Belagerung Ravennas. Das war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Lagunen und Sandwüsten machten eine Erstürmung der Stadt unmöglich. Aber Belisar, der selbst alle Nöte einer Belagerung mannhaft ertragen hatte, vertraute seiner Zähigkeit mehr als der der Ostgoten. Er hatte in Rom nur fünftausend Mann zu verpflegen gehabt. Wie viele Männer hungerten in Ravenna? Die Zeit arbeitete für ihn. Schließlich war es soweit. Die Ostgoten boten Belisar die Übergabe Ravennas an, falls er bereit sei, ihr König zu werden. Warum nicht? Eine bessere Möglichkeit für einen raschen Sieg gab es nicht. Belisar stimmte zu, zog in Ravenna ein und nahm Wittigis gefangen. Er überließ die ehemalige weströmische Kaiserstadt mit dem so eroberten Ostgotenreich seinem Kaiser, als wäre es ein Geschenk. Das war eine große Geste, die allerdings von Justinian nicht richtig gewertet wurde. Um so weniger, als Belisar, der eine Königskrone ausgeschlagen hatte, bei seiner Rückkehr nach Byzanz sein Licht nicht unter den Scheffel stellte. Er ließ sich über alle Maßen feiern. Er war ein gutaussehender, hochgewachsener Mann. Der Ausdruck seines Gesichts war ganz besonders liebenswürdig. Er benahm sich stets freundlich und leutselig gegen jedermann, mochte er auch noch so arm und gering sein. Das Heer war für Belisar, das Volk liebte ihn. Was konnte ihn daran hindern, Justinian und Theodora mit seinem üblichen leutseligen Gehaben aus dem kaiserlichen Palast zu jagen und sich die Krone aufzusetzen? Dem mußte vorgebeugt werden. Belisar wurde die Führung des Heeres entzogen. Aber nur für kurze Zeit, denn die Generäle, die Justinian an seiner Stelle nach Italien gesandt hatte, waren dem neuerlichen Erwachen des ›furor teutonicus‹ der Ostgoten nicht gewachsen. Ein neuer König, Totila, hatte sie wieder zu einem kampftüchtigen Heer vereinigt und belagerte Rom. Als Belisar endlich von Justinian ausgeschickt wurde, die verzweifelte Stadt zu retten, kam er zu spät. Totila hatte Rom erobert und war mit zehntausend Mann in die Stadt eingezogen. In der kurzen Zeit, die der junge Gotenkönig in Rom blieb, wurde 174
die Plünderung der ehemals reichsten Stadt der Erde vollendet. Aber die Krieger Totilas hatten den unbedingten Befehl, wehrlose Männer nicht zu morden und Frauen nicht zu schänden. Totila verließ Rom, um Ravenna zu belagern. Der inzwischen gelandete Belisar nahm die Gelegenheit wahr, Rom wiederzuerobern. War es so weit, wie Justinian es mehr als ein Jahrzehnt geplant hatte? Konnte er nun, da er im Westen erfolgreich gewesen war, an die Eroberung des Ostens schreiten? Er erklärte dem König von Persien den Krieg, und der Feldherr, der sich schon gegen die Perser bewährt hatte, sollte ihn führen. Belisar verließ Italien, aber kaum war die Nachricht von seiner Abfahrt nach Ravenna gedrungen, als Totila wieder zum Angriff überging. Er eroberte Rom, Sizilien, Korsika und Sardinien. Es schien, daß das Ostgotenreich wieder in vollem Glanz erstehen würde. Während Belisar die Perser aus Syrien vertrieb, erhielt ein neuer Feldherr Justinians, der Eunuch Narses, den Befehl, mit einem überlegenen Heer und einer Kriegsflotte nach Italien überzusetzen und das Ostgotenreich ein für allemal zu vernichten. Er erledigte seine Aufgabe gründlich. Totila wurde in der Schlacht bei Tadinae geschlagen und fiel. Sein Nachfolger Teja fand den Tod in der Schlacht am Vesuv. Die letzten bewaffneten Ostgoten erhielten freien Abzug aus Italien. Es hieß, daß sie in See stachen und durch das Mittelmeer und den Atlantischen Ozean nach dem Norden Europas fuhren und in den Ländern der Skandinavischen Halbinsel Aufnahme fanden. IV Der ›Gotenkrieg‹ Justinians hatte achtzehn Jahre gedauert. Aber der Kaiser war in niedergeschlagener Stimmung, als er die Nachricht vom Sieg erhielt. Er kam nicht darüber hinweg, daß er Witwer geworden war. Dieser unersetzliche Verlust war nicht das einzige Unglück, das ihn getroffen hatte. Das oströmische Reich, das er durch seine staats175
männische Geschicklichkeit und die Tüchtigkeit seiner Feldherren so gewaltig erweitert hatte, war von Naturereignissen und Seuchen heimgesucht worden. Die Kriegszüge hatten den Staatsschatz verbraucht, und Justinian hatte auf dem Gebiet, auf dem er sich am sichersten gefühlt hatte, am meisten versagt: es war ihm nicht gelungen, die Glaubenseinheit in seinem Kaiserreich zu verwirklichen. Justinian hatte selbst Theodora, seine geliebte Kaiserin, nicht von ihrem ketzerischen Irrglauben abbringen können. Sie hatte sich trotz seiner verzweifelten Bitten nicht dazu bewegen lassen, der Lehre der Monophysiten abzuschwören. Auch sie hatte geglaubt, daß Christus nur die göttliche Natur habe und nicht zwei verschiedene Naturen, die göttliche und die menschliche, wie die katholische Kirche es verkündete. Es nützte nichts, daß Justinian, nachdem ihn Theodora doch davon überzeugt hatte, daß der Monophysitismus nicht zu unterdrücken sei, den römischen Dekan Vigilius zum Papst erhob, nachdem Papst Silverius von Belisar aus Rom weggeführt worden und in der Verbannung gestorben war. Vigilius gehorchte erst dem Kaiser, aber er widerrief dann seine Gutheißung einer Schrift, durch die Justinian die ketzerische Sekte beruhigen wollte. Unter neuem Druck stimmte er wieder dem Beruhigungsversuch des Kaisers zu. Er wurde von der nordafrikanischen katholischen Geistlichkeit ausgestoßen und wollte nach Rom zurückkehren, um der Christenheit den Glaubenswunsch Justinians vom Heiligen Stuhl aus zu verkünden. Der Papst des Kaisers starb unterwegs, und als Justinian ein Kirchenkonzil nach Byzanz einberief, nahm kein westlicher Bischof daran teil. Die Vereinheitlichung des Glaubens, die der kaiserliche Gottesgelehrte als Voraussetzung der Reichseinheit betrachtete, kam nicht zustande. Er erreichte nur ein Lebensziel: Die Vereinheitlichung des Rechts im nach ihm benannten Justinianischen Kodex. Das unter seiner Aufsicht entstandene ›corpus iuris civilis‹, der ›zivile Rechtskörper‹, wurde später zur Grundlage des westlichen Rechts, stieß aber in seiner Zeit durch seine streng katholische Einstellung die Angehörigen aller anderen Glaubensbekenntnisse ab und trug dazu bei, daß sie nach anderen Rechtsgrundsätzen verlangten, daher auch nach der Herrschaft 176
anderer Gesetzgeber, um der Zwangsjacke des von Justinian festgelegten oströmischen Rechts zu entgehen. Die Unerbittlichkeit seiner Gesetzgebung, die in ihrer Engstirnigkeit jede Abweichung vom kaiserlichen Glaubensbekenntnis verdammte, richtete sich am Sterbebett Justinians gegen ihn. Er hatte seine eigene Auffassung geändert und war mit einem Male davon überzeugt, daß der Leib Christi unverwesbar und die menschliche Natur Christi niemals den Bedürfnissen und Schwächen des sterblichen Fleisches unterworfen gewesen sei. Der sterbende Kaiser blieb dabei, obwohl die Priester ihn warnten, daß seine Seele in den Flammen der Hölle ewig brennen würde, falls er die Ketzerei nicht widerrufe. V Der gewalttätige Versuch Justinians, Rom in seiner alten Größe wiederherzustellen, beschleunigte den endgültigen Zerfall. Die Apenninische Halbinsel hatte nach dem blutigen ›Gotenkrieg‹, der das Land entvölkert hatte, aufgehört, ein wertvoller Bestandteil des gesamtrömischen Reiches zu sein. Es lohnte kaum, diese verarmten, verwüsteten Landstriche durch militärischen Aufwand zu sichern. Es genügte, Statthalter zu ernennen, »Exarchen«, die an Ort und Stelle retteten, was noch zu retten war, und die Besitzungen erhielten, die mit den vorhandenen Kräften erhalten werden konnten. Auch die nordafrikanischen Eroberungen Justinians verloren durch die unaufhörlichen Unruhen der örtlichen Bevölkerungen ihren wirtschaftlichen und politischen Wert. Die Stützpunkte, die seine Generäle an der westgotischen Küste der Iberischen Halbinsel gewonnen hatten, waren kaum auf die Dauer zu halten, und dem Ansturm der aus ihrer Ruhe aufgescheuchten Perserkönige hielten die oströmischen Besatzungen in Syrien und Ägypten nicht stand. Noch gefährlicher aber als die Feldzüge der Perser, die Gegenstöße in eine von der Vergangenheit vorgezeichnete Richtung waren, wurden 177
die Einbrüche kriegerischer Völkerschaften in jene Gebiete, die von den Hunnen, den Ostgoten und anderen Germanenstämmen besiedelt gewesen waren. Neue Völker traten in den geschichtlichen Raum. Vor allem die asiatischen Nomadenstämme, die unter dem Namen Oghusen den Osten des persischen Königreiches bedroht und sich durch die Vereinigung mit wilden Gebirgsbewohnern Innerasiens und umherstreifenden Zügen anderer Nomadenstämme zu einem Volk vereinigt hatten. Sie bildeten das erste türkische Reich. Es war kaum ein abgeschlossenes, begrenztes Gebiet, aber das 'gefährliche Zusammenströmen von unter Waffen stehenden Stämmen, die Lebensraum suchten, zwang die benachbarten Chinesen zur Abwehr. Sie hatten schon den Einfall der sogenannten ›weißen Hunnen‹ in Indien mit ängstlichem Mißtrauen beobachtet. In den Gebieten des Indus und Ganges hatte der Sturm der wilden Horden zum Zerfall eines Großreiches geführt, mit dem die chinesischen Kaiser befreundet gewesen waren und dem sie und ihre Nachbarn auf den japanischen Inseln die Lehren des Buddha verdankten. Trotz der großen Mauer und seiner tief verwurzelten Kultur entging China nicht der Weltenunruhe. Das ›Reich der Mitte‹ spaltete sich in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Das geschah auch durch die Unterbrechung der Geschlechterfolge der Kaiser, die jedoch nach wie vor sowohl im Norden als auch im Süden des Reiches nach der alten Einigung strebten. Um China wieder zu dem zu machen, was es gewesen war, mußten die ungezähmten Angreifer bekämpft und vertrieben werden. Eine zielbewußte Verteidigung der Großen Mauer begann, und nun standen auch die Türken am Scheideweg der gewalttätigen Wanderung, wie die Hunnen Jahrhunderte vorher. Auch in diesem Zeitabschnitt der Geschichte überwog der Drang nach dem Westen, und wieder setzte sich die Welle beute- und landhungriger Reiter in Bewegung und trieb flüchtende Völker und Stämme vor sich her. Durch das Völkertor des Kaukasus stieß das türkischmongolische Steppenvolk der ›Streifenden‹, die in der persischen Sprache ›Awaren‹ (= Avaren) genannt wurden, an die Donau vor und unterwarf die als 178
Slawen bezeichneten Stämme, die sich nach dem Zusammenbruch des großen Hunnenreichs zu kleineren völkischen Einheiten verbunden hatten. Die Awaren waren nicht mehr die wilden Reiter, wie es die Hunnen gewesen waren. Irgendeine Ordnung hatte entweder schon in ihrem Ursprungsgebiet gewaltet, oder sie hatten die Ordnung und Kriegsführung von Hunnen, die nach dem Tod Attilas nach dem Osten zurückgewandert waren, erlernt. Da weder die frühen Slawen noch die Awaren bei ihren Zügen Geschichtsschreiber mit sich führten, wurde es nie deutlich klar, woher sie ursprünglich kamen und wer sie wirklich waren. Von manchen Forschern wurden die Slawen als Angehörige der großen, wandernden indogermanischen Völkerfamilie bezeichnet, von anderen als das Ergebnis des Zusammenlebens illyrischer Bergbewohner mit den versprengten Angehörigen hunnischer Stämme, die sich mit als indogermanisch bezeichneten Volksstämmen im europäischen Raum früher oder später vermischten. Je nach dem Gebiet, in dem sie auftauchten, wurden sie auch Serben, Sorben, Wenden und Wilzen genannt. Slawische Völker überfluteten die nördlichen Teile der Balkanhalbinsel, siedelten sich an und drangen auch südwärts an die Dalmatinische Küste vor. Die Awaren fielen in die Pannonische Tiefebene ein und bedrohten durch ihre gefährliche Anwesenheit ihre Nachbarn, die Langobarden, die, von Justin und Justinian unterstützt, ihr Donaureich gegen die mögliche Ausbreitung des Ostgotenreichs Theoderichs errichtet hatten. Die Langobarden erkauften für den zehnten Teil ihrer Viehherden den Frieden mit den Awaren, gaben die Pannonische Tiefebene auf und machten sich auf den Marsch in das geschwächte schutzlose Italien. Sie kannten den Weg nur allzu gut, denn Narses, der Feldherr Justinians, hatte seine Legionen im Kampf gegen die Ostgoten durch langobardische Anwerbungen aufgefüllt. Zwanzigtausend Sachsen sowie Angehörige anderer ostgermanischer Völkerschaften, denen die Nachbarschaft der Awaren zu unheimlich geworden war, schlossen sich den Langobarden an. 179
Sie errichteten unter ihrem König Alboin ein Reich auf italischem Boden. Es gab Kämpfe mit den byzantinischen Besatzungen. Auch die Franken, die sich ausbreiten wollten, bedrängten die Langobarden. Aber das waren nur gelegentliche Störungen des neuen Königreiches, das seine Grenzen besonders in der Po-Ebene und in Mittelitalien zu festigen begann. Ihre südlicher gelegenen Eroberungen unterstanden erst unabhängigen Herzögen, die sich selbstherrlich niederließen. VI Während die Greuel des ›Gotenkrieges‹ und die Verwüstungen der eindringenden Germanenstämme das Leben auf der Apenninischen Halbinsel immer hoffnungsloser in Unordnung brachten, entstand eine geistige Herrschaft der Ordnung, deren Wirkung die Zeit überdauern sollte. Diese beispielgebende Gründung war einem vornehmen römischen Bürger, namens Benedikt von Nursia zu verdanken, der sich in seiner Jugend in eine Höhle am Fuß der Sabinerberge geflüchtet hatte, um den Versuchungen der Stadt zu entgehen. Er führte ein so vorbildliches Einsiedlerleben, daß ihn die Mönche eines nahe gelegenen kleinen Klosters baten, er möge ihr Abt werden. Benedikt nahm das Angebot nur unter der Bedingung an, daß sie sich seiner strengen Zucht fügten. Die guten Vorsätze der Mönche reichten nicht hin. Sie waren seinen Anforderungen nicht gewachsen. Sie wollten sich seiner durch Gift entledigen. Der Versuch mißlang, und der Abt kehrte in seine Höhle zurück. Der Ruf seiner bedingungslosen Frömmigkeit und Entsagung schuf ihm neue Anhänger, die sich in seiner Nähe ansiedelten, um sich seinen Vorschriften zu unterwerfen. Auch die meisten dieser freiwilligen Mönche versagten. Benedikt verließ seine Höhle und begab sich mit nur wenigen Willigen nach Monte Cassino, einem Hügel, auf dessen Kuppe ein heidnischer Tempel stand. Er zerstörte den alten 180
Bau und errichtete ein Kloster, das Mutterhaus der nach ihm benannten Benediktiner, denen er eine Klosterregel nach bestem Wissen und Gewissen gab. Wie beinahe jeder Gründer hatte auch der später heiliggesprochene Benedikt von Nursia aus seiner eigenen Unzulänglichkeit gelernt. Er hatte an sich selbst und anderen beobachtet, daß das Einsiedlerleben, das den östlichen Mönchen in der Abgeschlossenheit der Wüste und in der warmen Witterung natürlich erscheinen konnte, auf europäischem Boden nicht nachgeahmt werden sollte. Statt der einsamen Bußübung und der enthaltsamen Lebensführung des Einzelnen, das zum Wettbewerb herausfordern konnte, sollte eine Gemeinschaft frommer Mönche entstehen, über deren Handlungen ein Abt wachen und dafür sorgen würde, daß sie den gemeinsamen Regeln gehorchten. Viele Einsiedler hatten ihre Höhlen nach kurzer Zeit der Entsagung verlassen und waren in ihr früheres Leben zurückgekehrt. Diese Möglichkeit sollte auch den ins Kloster Eintretenden offenbleiben. Sie sollten erst als Novizen Zeit und Gelegenheit haben zu prüfen, ob sie den Entbehrungen, die das Klosterleben ihnen auferlegte, gewachsen seien. Erst dann sollten sie Mönche werden. Das Mönchsgelübde mußte schriftlich abgefaßt, von Zeugen bestätigt und feierlich auf den Altar gelegt werden. Durch diese Handlung verpflichtete sich der Mönch zu unbedingtem Gehorsam und durfte das Kloster nur noch mit der Einwilligung des Abtes verlassen. Die vierundzwanzig Stunden seines Tages gehörten der Regel, dem Kanon. Jeder Mönch mußte arbeiten, nach genauen Vorschriften fasten und die Gebetsstunden einhalten, die um zwei Uhr morgens begannen und bei Sonnenuntergang mit der Vesper endigten. Bei Einbruch der Nacht gingen die Mönche schlafen, nicht ohne noch ein letztes Gebet zu verrichten. Sie schliefen in ihren Kleidern, aber auch die waren nicht ihr Eigentum. Sie durften nichts besitzen, »weder Buch noch Tafel, noch Griffel, nichts, denn allen sei alles gemeinsam!« Unter den Mönchen gab es keinen Standesunterschied. Es hieß in den Regeln: »Wer frei geboren ist, darf nicht höher gestellt werden, als wer als Sklave ins Kloster eintritt … In Christus sind wir alle eins.« 181
Dieser unerbittlich festgefügten Ordnung ergeben, arbeiteten die Mönche des vom heiligen Benedikt gegründeten Klosters auf den Feldern, in den Werkstätten, in der Küche oder in der Bibliothek, wo sie Handschriften vervielfältigten. Die kurze Zeit, die nicht vom Leitsatz des Kanons, ›Ora et labora‹, erfüllt war, wurde der wohltätigen Nächstenliebe gewidmet. Aber auch die durften die Frommen nicht nach freiem Willen üben, sondern nur im Auftrag des Abtes, der von den Mönchen aus ihrer Mitte gewählt wurde, wenn sein Vorgänger gestorben war.
Der heilige Benedikt hatte schon das Zeitliche gesegnet, als ein Streifzug langobardischer Krieger das Kloster Monte Cassino plünderte. In die ausgebrannten Mauern kehrten die überlebenden Mönche zurück. Mit ihnen kamen Bauern und Städter, die allen Besitz und ihre Familien verloren hatten und sich nach gottgefälliger Zurückgezogenheit sehnten. Wer Zuflucht vor der Unsicherheit des irdischen Lebens suchte, konnte sie im Kloster finden, wenn er sich den Regeln beugte. Novizen waren willkommen. Es hieß: »Gebt euren Stolz und eure Freiheit auf, und ihr werdet hier Sicherheit und Frieden finden!« Die Gründung des heiligen Benedikt fand Nachahmung im europäischen Raum. Die Benediktinerklöster, die so entstanden, waren voneinander unabhängig. Das einzige, das sie miteinander verband, war die gleiche Regel und die gleiche Obrigkeit, der sich ihre Äbte beugten: der Heilige Vater in Rom.
Eine andere Art von Kloster schuf der Abkömmling einer unendlich reichen römischen Senatorenfamilie, Gregor I. der als Papst ›der Große‹ genannt wurde. Der eigentliche Begründer des Kirchenstaates wurde nicht Priester aus Enttäuschung und um sich den Versuchungen des Lebens zu entziehen. Seine weltliche Laufbahn war so erfolgreich ge182
wesen, daß er schon als Dreiunddreißigjähriger Präfekt von Rom geworden war. Als er dieses Amt des obersten Bürgers der heimgesuchten Stadt niederlegte, war Gregor davon überzeugt, daß das Ende der Welt bevorstehe. Er verschenkte seine Liegenschaften an Gotteshäuser, er machte sein übriges Vermögen flüssig und verteilte es unter die Armen. Er gestaltete den alten, ererbten Senatorenpalast, den er bewohnte, in ein Kloster um, nannte es das Andreaskloster und wurde sein erster Mönch. Drei Jahre lebte Gregor nur von rohen Gemüsen und Früchten und unterzog sich unausgesetzten Bußübungen. Die demütige Entsagung des ehemals reichen und mächtigen Mannes beeindruckte den Heiligen Stuhl so sehr, daß Gregor zum Diakon ernannt und dann nach Byzanz geschickt wurde. Auch als Gesandter des Papstes im kaiserlichen Palast setzte Gregor die mönchische Lebensführung fort. Aber er rundete doch während seines langjährigen Aufenthalts in Byzanz seine Weltkenntnis ab und wurde nach seiner Rückkehr nach Rom von den Mönchen des Andreasklosters zum Abt erwählt. Als Papst Pelagius einer Pestepidemie zum Opfer fiel, erwählten nicht nur die Priester, sondern auch das Volk von Rom Gregor zum Papst. Der einzige, der sich der einstimmigen Wahl widersetzte, war er selbst. Er schrieb sogar einen Brief nach Byzanz mit der flehentlichen Bitte, daß der Kaiser ihm die Anerkennung versage. Der Brief wurde abgefangen. Gregor wollte fliehen, aber er wurde gewaltsam in die Peterskirche gebracht und zum Papst geweiht. Das neue Haupt der Christenheit ergab sich im päpstlichen Palast wie in seinem Kloster der Entsagung, der Arbeit und dem Gebet. Seine uneigennützige Bedürfnislosigkeit und seine früh erworbene Kenntnis in der Verwaltung seiner eigenen Güter führten dazu, daß er das ›patrimonium Petri‹, den Besitz der Bischöfe von Rom, nutzbringend verwalten und die Einkünfte wohltätig verwenden konnte. Er verteilte an das Volk allmonatlich Lebensmittel. Die päpstlichen Diener sorgten dafür, daß die Kranken und Gebrechlichen Roms auch gekochte Speisen erhielten. In dem von ihm verfaßten ›Liber pastoralis curae‹ setzte Gregor den Priester dem Hirten gleich, der seine Herde pflege. Die Schrift wurde ein ständiger Ratgeber für die Bischöfe, das Lehrbuch 183
der Christenheit. Der Papst selbst nannte sich ›Diener der Diener Gottes‹. Kein Augenblick seines Tages blieb ungenützt. Die Macht seiner gewaltigen Persönlichkeit übertrug sich auf seine Abgesandten. Durch ihn belehrt, bekehrten sie die arianischen Westgoten auf der Iberischen Halbinsel. Er gewann durch die Entsendung von vierzig Mönchen das heidnische Britannien für die Kirche. Gregor schrieb viele Hunderte Briefe und Glaubenswerke. Den nachhaltigsten Eindruck machten seine Schriften und Predigten, die sich mit dem nahenden Ende der Welt befaßten. Der Glaube, den Gregor verkündete, trug den Stempel des Schreckens. Er warnte vor der Verderbtheit der menschlichen Natur, vor den Versuchungen allgegenwärtiger Teufel. Durch die Beschwörung von Engeln, Dämonen, Hexen, Zauberern und Geistern erschütterte er die Einbildungskraft der Christen, ebenso wie durch die von ihm verkündete magische Wirksamkeit von Reliquien und Heiligenbildern. Er legte fest, daß die Bibel in jeder Hinsicht das Wort Gottes sei, ein vollständiges Gefüge der Weisheit und der Schönheit. Das Buch der Bücher sei gelegentlich dunkel und oft in einer volkstümlichen oder bildhaften Sprache abgefaßt. Die Kirche sei als die Hüterin der geheiligten Überlieferung die einzige zur Auslegung der Bibel wirklich befähigte und gerechtfertigte Einrichtung. Gott stehe außerhalb des Verstehbaren, verkündete er: »Wir können nur sagen, was ER nicht ist, nicht aber was ER ist.« Die Hölle sei gewiß nicht ein leeres Wort, sondern tatsächlich ein finsterer, grundloser unterirdischer Abgrund, ein unauslöschlicher Feuerbrand, der dennoch nie zur endgültigen Vernichtung des Verdammten führe, noch seine Schmerzempfindlichkeit je abstumpfe. »Zum Schmerz tritt noch die Schreckensangst der sich immer vermehrenden Pein und das Entsetzen über die Qualen der geliebten Menschen hinzu, die gleichfalls verdammt sind, und auch die Hoffnungslosigkeit, je erlöst oder des Segens der gänzlichen Auslöschung teilhaftig zu werden.« Nur selten leuchtet durch das Schreckensbild der Hölle die Hoffnung auf die göttliche Gnade, auf die fürsprechende Vermittlung der Heiligen: »Der Sünder ist verdammt, der nicht an die geheimnisvoll erlösenden Wirkungen der Sakramente glaubt, die allen christlichen 184
Büßern zugänglich sind.« Mit der Angst vor dem grauenhaften Ende hielt Gregor der Große die Christenheit in seinem Bann. Seine Predigten vom kommenden Ende erschreckten manche reichen und mächtigen Herren so sehr, daß sie der Kirche Landvermächtnisse machten und dazu beitrugen, das ›patrimonium Petri‹ zu einer kräftigen, in sich gefestigten wirtschaftlichen Einheit zu machen. Aber die Grenzen des entstehenden Kirchenstaates waren nicht so weit gezogen, wie die Macht Gregors des Großen reichte. Und sein Reich war nicht von dieser Welt. VII Die große Angst, die Papst Gregor durch seine erschütternden Drohungen heraufbeschwor, wurde so allgemein, daß sie die Lebensformen im europäischen Raum bestimmend beeinflußte. Dadurch wurde Rom, das so ganz und gar aufgehört hatte, eine politische Macht zu bedeuten, das Sinnbild der geistlichen Macht und des christlichen Glaubens. Die bis an die Zähne bewaffneten Legionen, die im Namen des Senats und des Volkes von Rom und der römischen Imperatoren die Überlegenheit eines kunstvollen Staatengebildes verkörpert hatten, waren nie so erfolgreich gewesen, wie die neuen Eroberer, die sich barfuß oder auf armseligen Sohlen im Namen der römischen Kirche aufmachten, die Länder zu bereisen, die durch die Standarten der Legionen beherrscht worden waren. Durch seine Feldherren und Krieger, durch seine Tempelpriester und kaufmännischen Unternehmungen hatte Rom seine Art zu sein und zu denken, zu glauben und zu fühlen, zu bauen und zu leben in allen Provinzen des ungeheuren Reiches verbreitet. Die römische Lebensart war derart zum Vorbild der verschiedenartigen Bewohner des Reiches geworden, daß sowohl die Gesetze als auch die Gebräuche vereinheitlich worden waren. Mit dem zunehmenden Wohlstand der provinziellen Städter und Landbesitzer war die Pflege der Lebensfreude nicht 185
nur zur zweiten Natur dieser Römer im weiteren Sinne geworden, sondern auch zum zweiten Glauben durch die heidnischen Priester, die aus dem Sinnengenuß einen Gottesdienst gemacht hatten. Die freudig gesteigerte Lebensform, die diese Gesamteinstellung zum sinnlichen Dasein mit sich gebracht hatte, wurde nach dem erfolgreichen Eindringen des christlichen Glaubens in die ehemals römischen Städte und Landsitze als heidnisch gebrandmarkt und angefeindet. Die Gläubigen, die das mönchische Vorbild der Entsagung veranlaßte, um der ewigen Seligkeit willen oder aus Furcht vor der Verdammnis jeden Genuß um des Genusses willen zu verdammen, mußten den gewöhnlichen Vergnügungen, die nicht einen gottgefälligen Zweck hatten, den Kampf mit allen Mitteln ansagen. Nicht mehr üppige Gelage oder prunkvolle Zurschaustellungen beeindruckten die Massen, die sich dem Evangelium aufgetan hatten, sondern demütiges Fasten und reuevolle Bußfertigkeit. Hoch und niedrig, reich und arm ergaben sich dem Gebet, der Kasteiung und versuchten, in ihrem Kreis den Eifer der Mönche nachzuahmen, die ausgezogen waren, ungläubige Heiden zu bekehren. Diese Entwicklung nahm mit den Jahren und Jahrzehnten zu und veränderte die europäische Lebensführung bis in die letzten Winkel der entlegensten Haushalte. Wer nicht so lebte, wie es geschrieben stand und gepredigt wurde, hatte die furchtbaren Folgen des Jüngsten Gerichts zu gewärtigen. Es konnte jeden Tag kommen, und wer sich nicht heute vorsah, für den konnte es morgen zu spät sein. Die Angst war der unwiderlegbare, unaufhaltsame Sendbote, der die lauen Christen aufmunterte und der Heidenbekehrung voranschritt. Manche reiche Grundherren und Fürsten bemühten sich, ihre Sünden mit Gold und Gütern aufzuwiegen, die sie den neugegründeten Klöstern schenkten, um bei den Stellvertretern des Stellvertreters Christi Nachsicht und Vergebung zu erlangen. Das Gewissen wurde aber nicht immer durch die Hingabe von Geschenken entlastet. Die Vorstellung der begangenen Sünde prägte sich dem Gedächtnis und dem Gefühlsleben ein und quälte durch die in der Einbildungskraft herauf186
beschworenen, unendlichen Strafen, die jenen drohten, die keine Vergebung fanden. Es schien leichter und beruhigender, dem Gebot Gottes zu folgen, als sich vor den Folgen der Nichtbeachtung zu fürchten. Allmählich entstand eine neue Sittenlehre, die ganz und gar auf den Ausstrahlungen des christlichen Glaubens begründet war, und mit der neuen Sittlichkeit hielt eine neue Art des Denkens und Fühlens Einzug in die Seelen der Menschen und veränderte die Gewohnheiten und Gebräuche in ihren Häusern. Diese Umwertung im Wesen der ursprünglichen Bewohner des westlichen Europas und der Völkerschaften, deren Wanderung durch die Bildung eigener Reiche im wesentlichen zum Stillstand gekommen war, vollzog sich nur schrittweise in Raum und Zeit. Es gab wohl entschiedene Rückfälle in das alte heidnische Leben und vielfältige Versuche, das Neue mit dem Gewohnten vergnüglich zu verbinden, aber die einmal begonnene Entwicklung war unaufhaltsam. Sie äußerte sich an den Königssitzen der Merowinger, die das wachsende Frankenreich beherrschten, sie kam zum Ausdruck auf dem Boden der britannischen Inseln und im Westgotenreich, dessen Könige sich im Süden Frankreichs und auf der Iberischen Halbinsel so sicher zu fühlen glaubten, daß sie ihre aufmerksame Wehrhaftigkeit und Vorsicht im Wohlleben und der christlichen Reue vergaßen, und auch an den Höfen der Langobardenkönige und in den Schlössern der germanischen Herzöge, die sich im Süden Italiens unabhängig gemacht hatten und ihre Kriegslust in gelegentlichen Kämpfen mit den byzantinischen Exarchen auslebten. VIII Noch einmal ermannte sich das oströmische Reich unter Herakleios I. Der aus Armenien stammende Kaiser versuchte, den Zerfall des Reiches aufzuhalten, das Justinian durch sein herausforderndes Verlangen nach der ehemaligen Größe so empfindlich geschwächt hatte. Es 187
gelang auch für kurze Zeit. Was die Nachfolger Justinians an die Perser verloren hatten, gewann Herakleios in zähen Kriegszügen zurück. Niemals vorher war das oströmische Reich so sehr gefährdet gewesen wie zu Beginn seiner Herrschaft. Der König der Perser, Chosrau, mit dem er in Kleinasien kämpfte, hatte sich mit den Awaren und Slawen verbündet, die bis Byzanz vordrangen, um es im Sturm zu nehmen. Ihr Angriff wurde zurückgeschlagen. Die erfolgreiche Abwehr gelang nicht zuletzt durch die Verwaltungsmaßnahmen, die Herakleios getroffen hatte. Seine Mannschaften waren schon vorher durch die Verleihung von Grundbesitz belohnt worden. Sie wußten, daß sie nicht nur für den Kaiser, sondern auch für ihren eigenen Grund und Boden kämpften. Mit dem aus einer neuen Schicht von selbstbewußten Grundbesitzern gestärkten Heer vernichtete Herakleios die Kriegsmacht des Perserkönigs. Der Tod Chosraus II. auf dem Schlachtfeld bei Ninive bedeutete das Ende des Sassanidenreiches. Durch diesen großen Erfolg Herakleios' I war das oströmische Reich wieder gestärkt worden. An seinen östlichen Grenzen drohte nicht mehr die persische Macht, und auch die kriegerische Unrast des türkischen Großreiches jenseits der Hochgebirge im Inneren Asiens hatten nachgelassen. Diese scheinbare Ruhe war darauf zurückzuführen, daß es den Kaisern von China gelungen war, wieder ein einiges Reich zu schaffen. Der chinesische Zeitgenosse von Kaiser Herakleios, Kaiser T'ai-tsung aus der T'ang-Dynastie, wurde der Nutznießer des Neuaufbaus der Verwaltung, den seine Vorgänger vorgenommen hatten. Das ungeheure Gebiet war in Provinzen aufgeteilt worden, die Statthaltern unterstellt waren. Ein berufstüchtiger Stand von Staatsangestellten war dadurch geschaffen worden, daß sich die Bewerber um die hochbezahlten Stellen Prüfungen unterziehen mußten. Diese neue Einrichtung setzte nicht nur die unmittelbare Eignung zum vorgesehenen Amt voraus, sondern auch eine Allgemeinbildung der Prüflinge. In China entstand ein neuer Adel des Geistes, der der rohen Gewalt durch die Überlegenheit des Verstandes und der Gesittung gewachsen sein sollte. Aber auch die körperliche Tüchtigkeit wurde nicht vernachlässigt. Die in188
neren Verwirrungen hatten es nötig gemacht, die benachbarten Türken zur Wiederherstellung der Ordnung heranzuziehen. Jetzt aber, da die Ordnung geschaffen war, sollten die ungestümen Nachbarn nicht mehr die Überhand haben und auch nicht die Möglichkeit, China zu beunruhigen. – Ein Austausch von Nachrichten mit dem fernen Osten mochte Herakleios bestimmt haben, auch sein Reich einer Neuordnung zu unterziehen. Seine sogenannte ›Themenverfassung‹, durch die er in den Provinzen Heeresgruppen schuf, deren Befehlshaber auch die Verwaltung innehatten, wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen Neuordnung im chinesischen Kaiserreich auf. Herakleios brachte Ordnung in die zerrüttete Wirtschaft. Er unternahm es auch, die Glaubensstreitigkeiten durch eine vermittelnde Lehre zum Ausgleich zu bringen. Er versuchte, den Monophysiten, die darauf bestanden, daß Christus nur die göttliche Natur habe, den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er in einer Streitschrift verkündete, daß es in Christus nur einen Willen gegeben habe. Die Anhänger dieser neuen Glaubenslehre wurden Monotheleten genannt. Da der Kaiser sie förderte, gewannen sie vorübergehenden Einfluß. Auch Papst Honorius I. der später als Förderer der Ketzerei bezeichnet wurde, pflichtete Herakleios bei. Er fügte allerdings hinzu, daß die Frage, ob Christus einen oder zwei Willen besessen habe, eine Angelegenheit sei, ›die ich als wenig bedeutsam den Grammatikern überlasse‹. Diese Erklärung trug nicht dazu bei, den Monothelismus im Westen zur Geltung zu bringen – auch nicht im Osten. Aber der Kaiser hatte gesprochen und geschrieben. Er glaubte an die Geltung seiner Entscheidung und versuchte, sie in seinem Reich durchzusetzen. Er, der sich so groß gefühlt hatte, daß er zum Anbruch der neuen Zeit, die er zu schaffen bemüht war, den üblichen Titel eines Kaisers und Imperators ablegte und sich den alten griechischen Königstitel Basileios zulegte, war dem Anbruch der wirklich neuen Zeit, die innerhalb der Grenzen seines Reiches gekommen war, nicht gewachsen.
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Allah und der Prophet I Das Wort ›arab‹ bedeutet ›dürr‹ – und von der trockenen Unfruchtbarkeit, die beinahe die ganze ausgedehnte Halbinsel zur Wüste macht, bezog Arabien seinen Namen. Nur in wenigen Gegenden erlaubte der spröde Boden Bebauung. In diesen Oasen gediehen Dattelpalmen, Obstgärten und duftspendende Pflanzen, deren köstliches Öl eine gesuchte Handelsware war. An der Westküste Arabiens gab es Marktplätze und Häfen. Es gab auch Verkehrswege im Inneren des Landes, die den Osten mit dem Westen verbanden. Diese Karawanenstraßen konnten allerdings nicht mit Wagen befahren werden. Das wichtigste Verkehrsmittel, der unermüdliche Lastenträger und verläßlichste Freund des nomadisierenden Hirtenvolks, der ›Beduinen‹, die unstet auf der dürren Halbinsel lebten, war das Kamel. Der höckrige Vierbeiner wurde ›das Schiff der Wüste‹ genannt. Die Kamele waren noch bedürfnisloser als ihre Besitzer. Ihre Euter spendeten Milch, aus ihrem Haar und Fell wurden Gewebe für Kleider und Zelte verfertigt, und wenn ein Kamel schließlich den Anstrengungen seines unermüdlichen Daseins erlag, war sein altes Fleisch noch immer zart und schmackhaft genug, um genossen zu werden. Der am innigsten geliebte Freund der auf Beweglichkeit angewiesenen Hirten war das Pferd. Auf seinem Rücken konnte sich der Araber zumindest auf kurze Strecken in die Wüste wagen und Ausschau halten, ob er Grasland für die Viehherden finden könne, die er je nach der Jahreszeit von Weidegrund zu Weidegrund trieb. Vom Urzustand der frühen wandernden Nomadenvölker unterschieden den Araber des ausgehenden sechsten Jahrhunderts nur die 190
in der Geschlechterfolge überlieferten Erfahrungen und die Kenntnisse, die er sich selbst auf seinen Handelsreisen über die Karawanenstraßen kreuz und quer durch die Halbinsel angeeignet oder von fremden Handelsreisenden erfahren hatte. Was er so in sich aufnahm, belebte zwar seine Einbildungskraft, erregte aber keineswegs den Wunsch, seine freie Lebensform zu ändern. Gab es ein schöneres Dasein als das seine: den Himmel über sich und die Wüste als sein Eigentum unter sich? Wer ihm die ungehinderte Bewegung in der Wüste streitig, machte, war sein Feind. Den bekämpfte er, oft nicht nur um des Grundsatzes willen, sondern auch aus Abenteuerlust und kriegerischer Gewohnheit. Die von langer Hand geplanten und geschickt ausgeführten Raubüberfälle auf Eindringlinge in die Wüste, die doch sein Eigentum war, galten ihm als selbstverständliches Recht, das er kaltblütig ausübte, um des Erfolges sicher zu sein. Zu seinen wesentlichsten Eigenschaften gehörten die schlaue Umsicht, die er brauchte, um überleben zu können, die erbarmungslose Grausamkeit, die ihn die Unwirtlichkeit seiner Umgebung gelehrt hatte, und der blindwütige Mut, mit dem er jedes Ziel verfolgte, das er sich einmal gesteckt hatte. Wie ihre frühen Vorfahren, denen der gestirnte Himmel den Weg nach Ägypten gewiesen hatte, so glaubten auch die Araber an die bedrohlichen und versöhnlichen Gewalten der Natur. Der Mond in seiner wechselnden Erscheinungsform war eine erschreckende Gottheit, aber noch schrecklicher waren die unberechenbaren Geister, die ›dschinns‹, die in ihrer geheimnisvollen Wirkung den Mutigsten wehrlos machen konnten. Dieser lähmende Geisterglaube mochte durch die seltsamen und unerklärlichen Naturerscheinungen der Wüste hervorgerufen worden sein. Keine irdische Gewalt schien den mannigfaltigen, beunruhigenden ›dschinns‹ gewachsen zu sein. Manchmal half ein Gebet, aber wer diesen Gewalten mit seiner Lebenskraft nicht gewachsen war, konnte auch nicht hoffen, sie im Tod zu besänftigen. Gab es ein Leben nach dem Tod? Wie alle Menschen sehnten sich auch die Araber danach. Manchmal befestigten die Nachkommen eines Verstorbenen ein Kamel an der Grabstätte und ließen das Tier 191
ohne Nahrung, damit es bald den letzten Atem aushauche und dem Verstorbenen im ungewissen Jenseits diene, so wie es ihm im Diesseits gedient hatte. In der heiligen Stadt Mekka, dem wichtigsten Treffpunkt der unaufhörlich die arabische Halbinsel durchziehenden Handelskarawanen, erhob sich ein viereckiger, turmartiger Bau, die ›kaaba‹, in der der sogenannte ›Schwarze Stein‹ verehrt wurde. Es hieß, daß dieser Schwarze Stein, der in Wirklichkeit dunkelrot war, vom Himmel gekommen und das Sinnbild des Stammes Ismael sei, der Nachkommenschaft Abrahams, die von Israel nicht anerkannt wurde. Die gläubigen Verehrer des Schwarzen Steines bezogen sich auf die Worte des 118. Psalms: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom HERRN geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen.« Es gab auch Götzenbilder in der ›kaaba‹. Der arabische Stamm der Quraisch verehrte eines davon als seinen obersten Gott und nannte diesen Allerhöchsten: Allah. II Dem Adel der Quraisch, die ihre Herkunft von Abraham beziehungsweise Ismael ableiteten und eine der führenden Familien Mekkas waren, entstammte väterlicher- und mütterlicherseits der nachgeborene Sohn des Händlers Abdallah. Er erhielt den Namen Mohammed, was ›der Gepriesene‹ bedeutet. Fünf Kamele, eine Ziegenherde und eine Sklavin waren alles, was er von seinem Vater erbte. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter Amina. Der Großvater und der Onkel nahmen sich des Verwaisten an. Der Knabe lernte weder Lesen noch Schreiben. Dieser in seiner Zeit und seiner Umgebung nicht ungewöhnliche Mangel an geordneter Erziehung ist bestätigt. Andere Angaben über die Jugend Mohammeds beruhten auf der Überlieferung. Sie berichtete, daß er als Zwölfjähriger 192
seinen Onkel Abu Talib auf einem Karawanenzug nach Syrien begleitete, vermutlich um in die Geschäftsgewohnheiten der Kaufleute von Mekka eingeweiht zu werden. Als Fünfundzwanzigjähriger war Mohammed bereits selbständig – als Bevollmächtigter der reichen Witwe Chadidscha, die vierzig Jahre alt und Mutter mehrerer Kinder war. Aus der Geschäftsbeziehung wurde eine Ehe. Sie machte Mohammed wohlhabend. Chadidscha gebar ihm zwei Söhne, die als Kinder starben, und einige Töchter. Die berühmteste wurde Fatima, die seinen von Mohammed an Kindes Statt angenommenen Vetter Ali, den Sohn Abu Talibs, heiratete. Mohammed führte ein vorbildliches Familienleben, in das er einen Verwandten seiner Frau einbezog. Dieser Waraqha kannte die ›Schriften der Hebräer und der Christen‹ und regte den erfolgreichen Kaufmann zu lebhaften Gesprächen über den Glauben an. Die Erörterungen gipfelten in der Frage: War der von den Juden erwartete Messias schon gekommen? War es Jesus Christus, der am Kreuz gestorben war, um die Menschheit zu erlösen? War Jesus Christus sowohl göttlicher als auch menschlicher Natur, wie die Christen des Westens es verkündeten, oder nur göttlicher Natur, wie die meisten Christen des Ostens es glaubten? Aber konnte eine göttliche Natur sich der Schmach und Schande der Kreuzigung unterziehen und sterben wie ein Mensch? Der Mann, der nach der Schilderung seines angenommenen Sohnes Ali ein so angenehmes Gesicht hatte, daß niemand sich von seiner Gegenwart losreißen konnte, suchte die Antwort durch Umfragen zu ergründen. Er ließ sich die Offenbarungen der Heiligen Schrift mitteilen. Sie bestärkten ihn in der Überzeugung, daß es nur einen Gott gäbe: Allah. Aber dieser Gott war nur das erhabene Sinnbild eines Stammes, während die anderen Araber in ihrem Aberglauben durch freche ›dschinns‹ beunruhigt wurden und ein lockeres, durch keine Vorschriften geregeltes Leben führten und sich da und dort fremdartigen Gesetzen unterwarfen, während sie doch, wenn sie wie er an Allah glaubten, ein Volk sein könnten, eine Macht, und nicht nur in der Wüste umherstreifende Hirten. Waren nicht die Araber das auserwählte Volk – und 193
nicht die Juden, die aufgehört hatten, ein Volk zu sein, da sie doch kein Land hatten? Mohammed empfand keine Feindschaft gegen die Juden. Im Gegenteil: Sie waren seine Geschäftsfreunde, sie waren die Hüter der Heiligen Schrift und lebten nach einem Gesetz. Er neigte wie sie dazu, sich Glaubensregeln zu fügen. Sollte er es mit ihnen als einer der Ihren tun? Oder mit den Christen, die sich vielleicht nur aus Unwissen dem Irrglauben unterwarfen, daß Jesus Christus eine göttliche Natur gehabt habe? Mohammed wollte, wie die christlichen Einsiedler es taten, durch Versenkung in sich selbst, durch Denken und gläubiges Fühlen zur klärenden Erhebung gelangen. Jedes Jahr zog sich der mittelgroße Mann mit dem rosig weißen Gesicht, dem prachtvollen, bis an die Schultern fallenden Haar und dem mächtigen Bart, der ihm die Brust bedeckte, mit seiner Familie in eine Höhle in der Nähe Mekkas zurück und ergab sich seiner leidenschaftlichen Nachdenklichkeit. Nur für einen Monat, denn mehr Zeit hatte er nicht, wenn er seine Geschäfte nicht vernachlässigen wollte. Einmal, es geschah im Jahre 610, war Mohammed allein in seiner Höhle. Als er sie verließ und zu Chadidscha zurückkehrte, erzählte er ihr das Ungeheuerliche: »Während ich schlief, erschien mir der Erzengel Gabriel. Er zeigte mir eine Decke aus Seidenbrokat, auf der etwas geschrieben stand. Er sagte: ›Lies!‹ Ich erwiderte: ›Ich kann nicht lesen.‹ Er preßte die Brokatdecke so eng an mich, daß ich meinte, mein Tod sei gekommen. Dann ließ er wieder locker und sagte: ›Lies!‹ Und so las ich mit lauter Stimme, und er schied endlich von mir. Und ich erwachte aus meinem Schlaf, und es war, als ob die Worte in mein Herz eingebrannt wären. Ich setzte meinen Weg fort, bis ich auf halber Höhe des Berges stand. Da vernahm ich eine Stimme vom Himmel, die da sprach: ›O Mohammed, du bist der Gesandte Allahs, und ich bin Gabriel.‹ Ich hob mein Gesicht gen Himmel und siehe, ich gewahrte Gabriel in menschlicher Gestalt, mit den Füßen am Rande des Himmels stehend, und er sprach: ›O Mohammed, du bist der Gesandte Allahs, und ich bin Gabriel.‹« 194
Das Evangelium des heiligen Matthäus enthält den Ausspruch Jesu Christi: »Ein Prophet gilt nirgend weniger denn in seinem Vaterland und in seinem Hause.« Dieser Satz mochte Mohammed in den ersten Jahren seines besessenen Glaubenseifers gestärkt haben. Er galt nichts in Mekka, wenn auch die alternde Chadidscha den geliebten Mann nicht daran hinderte, offenes Haus zu halten und alle Arten von Menschen zu Gast zu laden, damit sie ihm nur Gehör schenkten. Es kamen viele Pilger nach Mekka zur ›kaaba‹, aber keiner ließ sich davon überzeugen, daß der erregte Kaufmann der Prophet Allahs sei, des einzigen, allmächtigen Gottes. Sie zweifelten daran, nicht immer höflich, daß er bei Sinnen sei. Es sprach sich herum, daß Mohammed oft an Zuckungen leide und schweißüberströmt bewußtlos zusammenbreche. Seine Erzählungen, daß der Erzengel Gabriel ihm immer wieder erscheine, um ihm göttliche Offenbarungen kundzutun, während ein glockenheller Ton die Worte begleite, fanden keinen Anklang. Schließlich überzeugte Mohammed doch Ali, seinen angenommenen Sohn, Schwiegersohn und Vetter, der von ihm sagte: »Wenn es mich hungerte, so verscheuchte ein einziger Blick auf das Antlitz des Propheten meinen Hunger. Vor ihm vergaß ein jeder seine Sorgen und seine Kümmernisse.« Mohammed bekehrte auch seinen Diener Said, der sein freigelassener Sklave war, und vor allem einen Verwandten, Abu Bekr, der bedeutende Ersparnisse hatte, die er darauf verwandte, von Mohammed für seinen Glauben gewonnene Sklaven freizukaufen. Abu Bekr gelang es, fünf andere einflußreiche Kaufleute von Mekka für den Glauben an die Erkorenheit Mohammeds zu gewinnen. Sie wurden mit ihm ›die Genossen Mohammeds‹. Ihre Erinnerungen an den Propheten wurden als geheiligte Überlieferung gewertet. Nicht so gut erging es Mohammed bei seinen anderen, engeren Landsleuten. Die meisten wurden grob, und die Wohlmeinenden rieten ihm, er möge zu einem Arzt gehen und sich die Narretei austreiben lassen. Wenn sich nicht ein gewisser Omar, der über eine ungeheure Körperkraft und ein besonderes Ansehen verfügte, Mohammed ange195
schlossen hätte, wäre es den frühen Mohammedanern übel ergangen. Schließlich stand das Einkommen, das die Bürger Mekkas von den Pilgern bezogen, auf dem Spiel. Das wurde ernster genommen als die eingebildeten Erscheinungen des Kaufmanns, dessen Anhänger Sklaven freikauften und die Pilger mit ihrem neuen Glauben belästigten. Erst mußte sich Mohammed in einen abgeschlossenen Stadtteil Mekkas zurückziehen, um blutigen Zusammenstößen mit seinen Gegnern auszuweichen. Dann, nach dem Tode Chadidschas und Abu Talibs, versuchte er, sich in der kleinen Stadt Taif, östlich von Mekka, anzusiedeln, wurde aber mit Steinwürfen vertrieben und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Der nunmehr Fünfzigjährige ließ sich nicht entmutigen. Er entschädigte sich für die Schicksalschläge, die ihn getroffen hatten. Er verheiratete sich mit einer reizvollen jungen Witwe und verlobte sich gleichzeitig mit Aischa, der siebenjährigen Tochter seines treuesten Anhängers Abu Bekr. Auch die Welt der übersinnlichen Erscheinungen hielt Mohammed für den mißglückten Ortswechsel schadlos. In einem das Schicksal Hunderttausender Menschen bestimmenden Traum bestieg er ein beflügeltes Pferd an der Klagemauer der jüdischen Tempelruinen von Jerusalem und flog in den Himmel. Daß Mohammed am Morgen wohlbehalten in seinem Bett in Mekka erwachte, beeinträchtigte die lebendige Auswirkung seines Traumes nicht. Er verkündete, daß Jerusalem so wie Mekka eine heilige Stadt der Gläubigen sei. Kurze Zeit später, nach einer erregten Predigt, durch die er Kaufleute aus der wichtigen Stadt Jathrib für seine Lehre gewonnen hatte, begannen neue Verfolgungen gegen Mohammed und seine Gefolgschaft. Die Nutznießer der ›kaaba‹ befürchteten, daß er einen Kampf der Stadt Jathrib, in der viele Juden ansässig waren, gegen Mekka und die Anhänger der ›kaaba‹ anzetteln würde, und wollten ihn festnehmen und ermorden. Mohammed begab sich nach Jathrib. Seither hieß die Stadt Medina, die Stadt des Propheten, und der erste Tag seiner ›Flucht‹, der ›hedschra‹, der 16. Juli 622, galt als der erste Tag der mohammedanischen Zeitrechnung. 196
In Medina vereinigten sich die Anhänger Mohammeds. Vor seiner Glaubensgemeinde warf er sich mit dem Ausruf: »Allah ist groß!« betend zu Boden. Durch diese demütige Unterwerfung schuf der Prophet das Sinnbild des Sichergebens in den Willen Gottes, des Friedenschließens mit Gott, das in seiner Sprache ›islam‹ hieß. Die Gläubigen wurden ›muslimin‹ genannt, das sind diejenigen, die mit Allah Frieden geschlossen haben, die sich ihm ergeben. Diese ›Muselmanen‹ übertrugen Mohammed die Befehlsgewalt, nicht nur in Glaubensfragen. Es waren zuerst nicht viele, denn die meisten Mediner, sowohl Araber als auch Juden, fürchteten, daß die Anwesenheit Mohammeds ihre Stadt in einen Krieg mit Mekka verwickeln würde. Er versuchte, die Juden durch das Versprechen der Glaubensfreiheit für sich zu gewinnen. Sie sollten doch mit den Muselmanen ein einziges, gemeinsames Volk bilden, erklärte er, und ›das gleiche Recht auf unsere Hilfe und Dienstleistung haben wie unser eigenes Volk‹. Als zweihundert arabische Familien aus Mekka, durch seine Versprechungen angelockt, nach Medina übersiedelten, begannen neue Schwierigkeiten für den Glaubensstifter. Es gab nicht genug Lebensmittel in der Stadt des Propheten. Mohammed kannte die Gewohnheiten der Wüste aus eigener Erfahrung. Er kannte auch viele der frei umherziehenden Stämme. Er schloß ein Übereinkommen mit ihren Häuptlingen. Wenn sie Karawanen überfielen, sollten vier Fünftel der Beute an sie fallen, ein Fünftel an ihn. Falls ein Plünderer bei einem solchen Überfall erschlagen werden sollte, würde Mohammed dafür sorgen, daß der Beuteanteil des Toten an die Witwe, er aber ins Paradies komme. Bald gab es weder Not an Männern, die bereit waren, für Mohammed einen Überfall zu wagen, noch Not an Lebensmitteln. Um so weniger, als der Prophet die Raubzüge so sachlich und fachlich vorbereitete, daß sie zumeist erfolgreich waren. Als es ihm gelang, eine von den Kaufleuten aus Mekka aufgestellte Schutztruppe von neunhundert Mann zu besiegen, nahm sein Ansehen zu. Er galt nun auch als gottgesandter Feldherr und bekam in nicht weniger als fünfundsechzig Feldund Raubzügen, die er plante und zum Teil persönlich anführte, Gelegenheit, seine kriegerischen Fähigkeiten zu beweisen. 197
Die Zahl der Anhänger und Gegner nahm zu. Der Kampf zwischen den Anhängern der ›kaaba‹ von Mekka und den Muselmanen breitete sich örtlich aus. Wenn jüdische Siedler die mit Mohammed verwandten, aber feindlich gesinnten Quraisch von Mekka unterstützten, griff er sie an. Es gab Hinrichtungen von heroischen Juden, die sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören und Muselmanen zu werden, und Unterwerfungen anderer, die sich damit abfanden, ihren Glauben zu behalten, während sie ihren Besitz ausliefern mußten. Die Braut eines jüdischen Anführers namens Kinana wurde von Mohammed seinem eigenen Haushalt einverleibt. Nach langjährigen Kriegen schloß der Prophet mit seinen andersgläubigen Verwandten in Mekka einen Waffenstillstand, unter der Bedingung, daß er und seine Glaubensgenossen die übliche jährliche Pilgerfahrt vornehmen dürften. Er zog mit zweitausend Muselmanen aus Medina feierlich in Mekka ein und berührte den Schwarzen Stein voll Ehrfurcht mit seinem Pilgerstab. »Es gibt nur einen Gott – Allah!« rief er dabei. Es war eine kriegerische Herausforderung, aber sie klang friedlich, und seine scheinbar freundliche Haltung beeindruckte die anderen Pilger und auch die Einheimischen so sehr, daß er gewiß sein konnte, für immer nach Mekka zurückkehren zu können. Er war ein Prophet geworden, der auch im Vaterland galt.
Im nächsten Jahr drang Mohammed mit zehntausend Mann in Mekka ein und erklärte seine Heimatstadt zur Heiligen Stadt des Islam, deren Boden kein Ungläubiger jemals betreten dürfe. In verblüffend kurzer Zeit unterwarf er nun die ganze arabische Halbinsel. Er blieb von außen ungestört, denn das oströmische Reich lag im Kampf gegen Persien. Weder der Byzantinische Kaiser noch der persische König nahmen die Botschafter ernst, die sie im Namen Mohammeds aufforderten, dem neuen Glauben beizutreten. Mohammed hatte Zeit. Die Lehre, die er geschaffen hatte, erlaubte es ihm, zehn Ehefrauen und auch noch Konkubinen in seinem Hause zu 198
halten. Er hatte kein eigenes Schlafzimmer. Er verbrachte jede Nacht bei einer anderen Frau. Es gab Eifersüchteleien, Streitigkeiten aller Art, die oft durch die Putzsucht der Frauen Mohammeds hervorgerufen wurden. Aber er wußte sich zu helfen: Wenn eine von ihnen zu kostbare Geschenke verlangte, versprach er ihr an Stelle des Geschenkes, das ihm zu teuer erschien – das Paradies. Er war sparsam für sich selbst und für seine Familie. Den Reichtum, den er erbeutet hatte und als unbeschränkter Herr Arabiens einnahm, verwandte er zum größten Teil für wohltätige Zwecke. Der einzige Aufwand, den er trieb, war der Ankauf von Wohlgerüchen. Er vertrug weder Gestank noch Lärm. Er litt an heftigen Kopfschmerzen, aber wenn ihn weder das unruhige Gehirn noch ein immer heftiger und häufiger auftretendes Fieber peinigte, war er gesprächig und guter Laune. Er liebte es auch, Späße zu machen. Als ihn einer seiner Anhänger zu oft besuchte, schlug er vor: »Besuche mich weniger, damit meine Liebe sich mehre.« Selten nützte Mohammed die göttlichen Offenbarungen, auf die er sich in der Ausübung seiner Herrschaftsgewalt berief, zu persönlichen Zwecken aus. Nur, wenn es nicht anders ging, wie zum Beispiel, als er das Verlangen spürte, die Frau seines angenommenen Sohnes Zaid zu seiner Frau zu machen. Allah habe es ihm befohlen, erklärte der Prophet. Dagegen war er selbst machtlos, denn: »Allah ist groß.« An sein Recht, sich auf den einzigen allmächtigen Gott berufen zu können, glaubten noch zu Lebzeiten Mohammeds beinahe alle seßhaften und nomadisierenden Stämme Arabiens mit der brennenden Überzeugung ihrer leidenschaftlichen Naturen, um so mehr, als die Lehre Mohammeds ihnen die Herrschaft über den Erdkreis und die Glückseligkeiten des Paradieses verhieß. Mit so weitreichenden Versprechungen, von denen schon so viele verwirklicht worden waren, blieb Mohammed auch über seinen Tod hinaus der Prophet. Mit dem Schlachtruf: »Allah ist groß!« verbreiteten die Stellvertreter Mohammeds, die Kalifen, seine Lehre. Ihr heiliges Buch war der ›Koran‹, die ›Vorlesung‹, der ›Vortrag‹. Es waren die Aussprüche Mohammeds, das von Gott offenbarte, durch ihn den Gläubigen verkünde199
te Gesetz. Erst kannten die zeitgenössischen Araber nur Bruchstücke des Korans und die Voraussetzung ihrer bedingungslosen Anhängerschaft war der Glaube, daß Gott sich dem Propheten mitgeteilt habe. Was Mohammed von ihnen forderte und was er ihnen versprach, entsprach auch im wesentlichen ihren Gewohnheiten und Wünschen. Er war weder gegen die Gewinnsucht im Handel noch gegen die Sinnenfreude, wenn sie durch die Ehe besiegelt war, und er kam der Heißblütigkeit seiner engeren Landsleute dadurch entgegen, daß er ihnen die Vielweiberei gestattete. Die Befolgung seines eigenen Beispiels erlaubte er jedoch nicht in gleichem Maße. Für seine Anhänger erschien ihm die Höchstzahl von vier Ehefrauen großzügig genug. Und damit sie sich der geheiligten Hausstätte, deren Betreten allen Fremden verboten war, des ›harems‹ ungestört erfreuen könnten, erlaubte er den Frauen, nur auszugehen, ›so es notwendig ist‹. Allerdings, was notwendig war oder nicht, das bestimmte im mohammedanischen Haus in jeder Hinsicht der Hausherr. Die Beschränkungen, die Mohammed den Muselmanen auferlegte, waren unwesentlich im Verhältnis zu dem, was sie durch die Beobachtung der Glaubensvorschriften gewinnen konnten: das Paradies, einen gewaltigen, von munteren Bächen durchströmten und von dichten Bäumen beschatteten Garten, in dem die guten Gläubigen in prächtiger Kleidung einherwandeln und bei himmlischen Festmählern von Jungfrauen mit schwellenden Brüsten bedient werden würden, die kein Mensch und kein Geist vor ihnen berührt hätte. Zweiundsiebzig solcher ›huris‹ würde jeder Mann im Paradies als Belohnung für seine irdischen Taten erhalten und ohne Ermüdung genießen können. Auch den Frauen versprach Mohammed das Paradies. Er zählte allerdings nicht die sinnlichen Möglichkeiten auf, die sie dort zu gewärtigen hätten, aber er erwähnte doch, daß sie von unsterblichen Jünglingen umgeben sein würden, während sie das höchste Entzücken in der Schau von Allahs Antlitz erlebten. Und was hatten seine Anhänger zu leisten, um der Freuden des Paradieses teilhaftig zu werden? Es schien einfach genug, denn Mohammed erklärte: »Der Islam ist der Glaube an Allah und seinen Prophe200
ten, das Hersagen der vorgeschriebenen Gebete, die Verteilung von Almosen und die Pilgerfahrt nach Mekka.« Es dauerte geraume Zeit, bis die mohammedanische Lehre den geregelten Ausdruck gewann, der die öffentliche und häusliche Lebensform des Islam endgültig bestimmte, und auch bis der Rufer zum Gebet, der ›muezzin‹, den Muselmanen fünfmal am Tage in eindringlicher Wiederholung verkündete: »Allahu Akbar – Gott ist der größte. Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah. Ich bezeuge, daß Mohammed Allahs Gesandter ist. Kommt zum Gebet, kommt zum Heil! Allahu Akbar – es gibt keinen Gott außer Allah.« Wenn dieser Ruf ertönte, mußten sich die Muselmanen reinigen und, das Gesicht gegen Mekka und die ›kaaba‹ gekehrt, in kurzem Gebet mit Allah vereinigen. Die Gemeinsamkeit des alltäglichen mehrmaligen Glaubensbekenntnisses schuf eine Zusammengehörigkeit aller Muselmanen und zwang sie, die Allgegenwärtigkeit Gottes nicht zu vergessen und auch nicht, daß sie alle in Gottes Hand seien, denn Mohammed hatte verkündet: »Da ist keiner unter euch, von dem nicht von Gott geschrieben steht, ob sein Sitz im Feuer oder im Paradies ist.« Die zur Gewißheit der Gläubigen gewordene Annahme, daß der Lebensweg jedes einzelnen bis zum Ende unabänderlich vorausbestimmt sei, wurde oft die Ausrede für die zur Faulheit ausartende Gleichgültigkeit der Mohammedaner. Warum sollten sie etwas aus eigenem Antrieb tun, wenn es ohnehin vorausbestimmt war, was sie tun oder nicht tun sollten? Dieser ›Fatalismus‹ widersprach der vom heiligen Augustin gepredigten Lehre vom freien Willen der Christenmenschen. Die Vorstellungen von der Hölle und dem ewigen Leben im Himmel und die Heraufbeschwörung des Jüngsten Gerichts, die auch im Islam galten, hatte Mohammed aus dem Alten und dem Neuen Testament übernommen und abgewandelt. Er leugnete weder die göttlichen Offenbarungen Mosis noch die Psalmen Davids, und auch nicht die ›gute Botschaft‹ Jesu Christi. Er ließ die biblische Geschichte gelten, allerdings mit Berichtigung gewisser Stellen, die Gottes Ehre in Frage stellten, wie zum Beispiel die den Christen heilige Überzeugung, daß 201
Gott seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus am Kreuz habe sterben lassen. Nach der Meinung Mohammeds war auch Christus ein Prophet. Er zweifelte auch nicht an der Wundertätigkeit Jesu, aber daß der Nazarener Gottes Sohn gewesen sei, das könne er nicht anerkennen: »Wahrlich, Gott ist ein Einheitsgott. Er ist zu erhaben, einen Sohn zu besitzen.« Mohammed verurteilte weder die Juden noch die Christen, wenn sie ihre Glaubensvorschriften befolgten. Er hinderte sie auch nicht daran, aber er warnte und beschwor sie, sich dem Koran zu unterwerfen, denn Gott habe durch seinen Propheten Mohammed alle vorhergegangenen Offenbarungen erneuert. Das Alte und Neue Testament sei Gottes Wort gewesen, jetzt aber wünsche Allah, daß die ganze Menschheit sich geläutert im Islam vereinige.
Der Islam war kein friedlicher Glaube. Seine Verbreitung wurde zum heiligen Krieg. Was das Wort nicht erreichte, sollte das Schwert erkämpfen. Trotz der streitbaren Abenteuerlust der Araber, unterstützt durch ihren Fatalismus und ihre Sehnsucht nach dem verheißenen Paradies, wäre den Kalifen die weitreichende Verbreitung ihres Glaubens nicht geglückt, wenn die Offenbarungen Mohammeds nicht auch vielen durch die Glaubensstreitigkeiten verwirrten Christen entgegengekommen wären. Es hatte so viele haarspalterische Unterscheidungen in der Auslegung des östlichen Christentums gegeben, daß es nicht erstaunlich war, daß die Glaubenswilligen den mit guten Worten und harter Gewalt vorstürmenden Muselmanen Gehör schenkten. Auch die Justinianische Gesetzgebung, die alle jene Christen benachteiligte, die sich nicht zur katholischen Glaubenslehre bekannten, veranlaßte viele Monophysiten und die Anhänger anderer christlicher Sekten, in der duldsamen Herrschaft der Kalifen Zuflucht zu suchen. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den oströmischen Kaisern und den persischen Königen hatten beide Großmächte so sehr geschwächt, daß es Omar, dem Nachfolger des ersten Kalifen Abu Bekr, 202
nicht allzu schwer fiel, mit seinen kampflustigen Reitern die kärglichen, unlustigen byzantinischen Garnisonen zu überrennen und Damaskus und Jerusalem zu erobern. Die arabischen Scharen brachen in Armenien ein. Sie eroberten das Zweistromgebiet und wurden die Erben des Königtums der Sassaniden. Die Weltmacht des Islam, die sich in wenigen Jahrzehnten durch hemmungslose Eroberungen entwickelte, umfaßte schon unter dem Kalifen Othman, außer dem arabischen Mutterland, Syrien, Palästina, Persien, Ägypten und große Teile Nordafrikas. Manchmal war die Herrschaft nicht einheitlich. Es entstanden auch Glaubensspaltungen, die zu inneren Gewalttätigkeiten im Islam führten. Aber da der Koran in keine fremde Sprache übersetzt werden durfte und es zu den Glaubensvorschriften der Mohammedaner gehörte, die Verkündigung auswendig zu lernen, wurde die arabische Sprache in allen von den Arabern eroberten Gebieten beherrschend.
Im europäischen Raum waren die Herrscher der germanischen Reiche durch die Umschichtung und Festigung ihrer Lebensverhältnisse und durch die Abwehr der sie im Osten bedrängenden Awaren und Slawen zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie sich mit der unheimlich raschen Ausbreitung des Islam hätten beschäftigen können. Die einzige Macht, die sich aus dem Zerfall des ungeheuren römischen Weltreiches, wenn auch mit eingeschränkten Grenzen, erhalten hatte, das byzantinische Kaiserreich, mußte sich dagegen unmittelbar gegen den gefährlichen Ansturm der Araber verteidigen, die nicht davor zurückschreckten, Byzanz erobern zu wollen. Konstans II. der Enkel des Herakleios, hatte schon alle Kräfte aufbieten müssen, um sich gegen die Angriffe des Kalifen Muawija I. behaupten zu können. Er hatte sogar zur Verstärkung der Abwehr slawische Stämme nach Kleinasien verpflanzt und einen Gegenangriff gegen den Islam erwogen. Er wollte daher erst die italischen Besitzun203
gen des oströmischen Kaiserreiches gegen die Langobarden sichern. Im Zuge dieser Unternehmung wurde er in Sizilien ermordet. Sein Nachfolger, Konstantin IV. schien verloren zu sein, als Muawija eine übermächtige Flotte gegen Byzanz ausfahren ließ. Er hatte kaum genug Truppen, die von Kaiser Anastasius, dem Vorgänger Justins, erbaute Schutzmauer zu besetzen, und keine wesentliche Kriegsflotte den überlegenen muselmanischen Schiffen entgegenzustellen, die aus allen Häfen Ägyptens und Syriens zusammengezogen und mit geübten Landungstruppen bemannt worden waren. Er hatte nur eines: eine Erfindung, die einmal vorher versuchsweise im ›Gotenkrieg‹ Justinians in Verwendung gekommen war und die Ostgoten so eingeschüchtert hatte, daß sie jedes Gefecht zur See vermieden hatten. Es war das griechische Feuer. In dieser Sommernacht, in der die arabische Flotte im Hafen von Byzanz Anker legte, um die Landung vorzubereiten, wurde das Wasser zum Feuer. Alle Schiffe, die den geheimnisvollen Gluten nicht durch eine rasche Ausfahrt entgingen, verbrannten. War das Abendland vor dem Ansturm der Araber gerettet? Die Vernichtung des größten Teils ihrer Flotte entmutigte die heiligen Krieger des Islam nicht. Sie machten eine Wendung und wiederholten in der entgegengesetzten Richtung den Zug der Vandalen durch Nordafrika. Der Berber Tariq, ein Sklave Musas, des arabischen Statthalters von Nordafrika, der nach seiner Bekehrung zum Islam freigelassen worden war, unternahm es, mit einem kleinen Heer, das aus siebentausend Berbern und dreihundert Arabern bestand, die Iberische Halbinsel zu erobern. Er mochte dazu durch den Befehlshaber einer der letzten byzantinischen Besitzungen im westlichen Mittelmeer, der Festung Ceuta, angeregt worden sein. Dieser Julian stellte auch die nötigen Schiffe zur Verfügung. Tariq vollzog die Landung am Fuße eines Felsens, der nach ihm Gebel-al-Tariq, Gibraltar, benannt wurde. Nachdem dieser Brückenkopf befestigt war, folgte Musa mit zehntausend Arabern und achttausend Mauren und eroberte den Süden der Iberischen Halbinsel, Stadt um Stadt, Landstrich um Landstrich. 204
Der Zeitpunkt, den Musa zum Angriff gewählt hatte, hätte nicht günstiger sein können. Das durch innere Streitigkeiten schon geschwächte westgotische Königreich war überdies noch durch einen bedenklichen Thronwechsel in zwei Lager gespalten. Der Adelige Roderich hatte die Söhne des verstorbenen Königs Wittika ihres Erbrechtes beraubt und sich der Krone bemächtigt. Er konnte den begeistert vorstürmenden Muselmanen nur ein Heer entgegenstellen, dessen Krieger ihn widerstrebend anerkannt hatten. Er wurde in der Entscheidungsschlacht bei Jerez de la Frontera besiegt, und obwohl selbst die Araber bestätigten, daß der letzte Westgotenkönig mit der größten Tapferkeit gekämpft hatte, ›hörte man nichts wieder von ihm, und da man ihn weder lebend noch tot fand, so kennt sein Schicksal niemand, außer Gott allein‹. Die Muselmanen fanden kaum noch nennenswerten Widerstand auf ihrem Vormarsch. Die schonungslose Herrschaft des westgotischen Königtums und der Adeligen hatte die Bevölkerung so bedrückt, daß sie den Sieg der Muselmanen feierte. Auch die auf der Halbinsel ansässigen Juden priesen die Eroberer als ›Befreier des auserwählten Volkes aus pharaonischer Knechtschaft‹. Nur Asturien, ein kleines christliches Königreich, behauptete sich im Nordwesten des Landes, während die siegreichen Araber die Pyrenäen überschritten und in die ehemaligen gallischen Provinzen des Römischen Reiches eindrangen. War das Abendland doch verloren?
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Das wachsende Frankenreich I Nach dem Tode Chlodowechs, des gefährlichen Gegenspielers Theoderichs des Großen, war das gewaltig ausgebreitete Frankenreich unter seine vier Söhne aufgeteilt worden. Der älteste, Theoderich, und Chlothar, der jüngste der Brüder, hatten mit Hilfe von Sachsen den größten Teil des Thüringerreichs dazugewonnen. Die merowingischen Könige hatten auch aus der Vernichtung der Ostgoten Nutzen gezogen, als König Wittigis ihnen die Gebiete südlich des Bodensees abtrat, in denen der große Theoderich alamannische Flüchtlinge angesiedelt hatte. Trotz der Teilung unter die vier Könige der Franken, die ihren Hof, unabhängig voneinander, in Reims, Orkans, Paris und Soissons hielten, bewahrte das Frankenreich die Einheitlichkeit, die sein eigentlicher Begründer, Chlodowech, durch seine Gesetzgebung und Verwaltung und auch durch die Glaubenseinheit geschaffen hatte. Als von seinen Söhnen nur Chlothar überlebte, stand der Alleinherrschaft des jüngsten nur wenig im Wege. Erst die nach dem Tode Chlothars I. vollzogene Teilung hatte folgenschwere Bedeutung. Es gab nun drei Königreiche der Franken: Neustrien, das mit der Hauptstadt Paris das eigentliche Erbe des römischen Gallien war, Burgund, das mit dem Königssitz Orkans das obere und mittlere Loire- und Rhônegebiet umfaßte, und Austrasien, das das Maas- und Moselland und die Champagne in seinen Grenzen umfing und dessen Könige vorerst in Reims herrschten. Aquitanien, das der vierte Landesteil gewesen war, gehörte den drei Königreichen gemeinsam. Der rücksichtslose Wettbewerb um die Übermacht, die offenen und geheimen Kämpfe der merowingischen Könige und Königinnen unter206
einander hatten unaufhörliche Unruhen und sittliche Verwilderung in allen drei Reichen zur Folge. Mord und Unzucht waren in der Königsfamilie an der Tagesordnung, aber das Königtum als Begriff war unter den Franken doch so gefestigt, daß die Merowinger trotz des Widerstandes der großen Herren in ihren Reichen die Krone nicht verloren und die drei Königreiche neuerdings unter einem einzigen Herrscher, Chlothar II. vereinigt wurden. Kurz nach seiner Erhebung erließ der neue König das ›edictum Chlotharii‹, eine Verordnung, durch die die Machtverhältnisse im Frankenreich verschoben wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Grafen, die ›comites‹, die die einzelnen Teile des Reiches als königliche Beauftragte verwaltet hatten und für die Rechtssprechung, das Heer und die Wirtschaft verantwortlich gewesen waren, von den Königen nach freiem Ermessen ernannt worden. Jetzt verpflichtete sich Chlothar II. nur noch Grundbesitzer zu Grafen der jeweiligen Gegenden zu ernennen. Die beiden Königmacher Chlothars, die ihm die Krone gegen seine Widersacher erkämpft hatten, waren Mitglieder der am reichsten begüterten Familien Austrasiens: Bischof Arnulf von Metz und Pipin = Pippin). Sie hatten sich die Erlassung des Edikts als Belohnung erwirkt und sich dadurch die Herrschaft in den Gebieten gesichert, in denen sie Güter besaßen. Die Vorsteher der königlichen Hofhaltung, die auch gleichzeitig Anführer der ›Anthrustionen‹, der berittenen königlichen Gefolgschaften, und Verwalter der königlichen Besitzungen waren, führten den Titel ›Maior domus‹. Sie waren die ›Hausmeier‹, die sich zu Mittelsmännern zwischen dem Königtum und dem Adel aufwarfen. Wenn sie dem gekrönten Herrscher auch dem Namen nach untertan waren und ihm öffentlich huldigten, so waren sie doch durch die Anhäufung von Gütern und Vorrechten zu Königen im Königreich geworden, denen an Macht nur die Bischöfe gleichkamen und deren kirchliche Güter sich vor allem durch königliche Schenkungen zu richtigen Herrschaftsgebieten ausgedehnt hatten. Die Bischöfe versahen ihr geistliches Amt zumeist in ehemaligen römischen Provinzstädten, deren Äußeres sich so verändert hatte, daß 207
oft nur Baureste und die sprachlich abgewandelten Ortsnamen aus der Vergangenheit übriggeblieben waren. Die Häuser waren der neuen Lebensart ihrer Bewohner angepaßt. Inwieweit Veränderungen der allgemeinen Wetterverhältnisse in diesen Gegenden, in denen die römischen Legionäre und Verwaltungsangestellten und ihre örtlichen Nachahmer nur hemdartige Tuniken und umhangartige Togen getragen hatten, auch dafür verantwortlich waren, daß die Kleidung der Männer und Frauen so vieles schwerer geworden waren, kann kaum festgestellt werden. Gewiß ist nur, daß in den Landstrichen, in denen wegen stets milder Witterung die Kleidung zu allen Jahreszeiten leicht gewesen war, jetzt lange Hosen und Bundschuhe von den Einwohnern getragen wurden, Wämse aus Leder und Fellen und bis zu den Knöcheln herabreichende Röcke und Mäntel. Die Mode war plump geworden. Statt verfeinerter Speisen, die schmackhaft gewürzt waren, dampften einfache, nahrhafte Gerichte in den Küchen, die auch als Wohnräume benützt wurden. Da Theater und Zirkusveranstaltungen verpönt waren, galt als einzig erlaubte Zerstreuung der Kirchgang. So gewannen die Predigten immer mehr Einfluß auf die Gemüter, und die Bischöfe, die ihren Inhalt bestimmten, immer mehr Macht. Die adeligen Grundbesitzer, die in ihren Herrenhäusern im Umkreis der Städte zumeist auf Anhöhen lebten, waren bestrebt, Familienangehörige zu Bischöfen zu machen. In der ersten Zeit der gewaltsamen Einwanderung in die römischen Provinzen hatte sich der Priesterstand aus den gebildeteren, oft verarmten römischen Bürgern zusammengesetzt, die auf dem Umweg über die Kirche wiederzuerlangen versuchten, was sie verloren hatten. Aber allmählich erfaßten auch die neuen Gutsherren, die nichts als das Kriegshandwerk erlernt hatten, daß es auch in weltlichen Belangen ratsam war, sich geistig und geistlich zu bilden. Priester wurden zu Lehrern an den adeligen Höfen und die Schüler zu Priestern. Da es aber selbstverständlich war, daß die jungen Herren, von ihren Familien erkoren, Bischöfe zu werden, auch im Gebrauch der Waffen geschult wurden, geschah es nur allzuoft, daß die Bischöfe Kriegsherren waren, die das Meßgewand, wann immer es nötig oder nützlich schien, mit der Rüstung vertauschten 208
und mit ihren Mannschaften das militärische Aufgebot ihrer Familien verstärkten. Das hatte auch der Bischof Arnulf von Metz getan, als Pipin und er Chlothar zum Thron verholfen hatten. Ursprünglich war Reims die Hauptstadt Austrasiens gewesen. Bald wurde es Metz. Pipin wurde Hausmeier und beherrschte die austrasische Verwaltung und das Heer. Unter Dagobert I. dem Nachfolger Chlothars, schien es, daß das Königtum der Merowinger wieder in seinem alten Glanz erstehen könne. Zeitgenössische Aufzeichnungen berichteten über ihn: »Er ließ arm und reich gleichermaßen Recht widerfahren. Er schlief wenig und aß wenig. Er bemühte sich, stets so zu handeln, daß niemand von ihm ging, ohne von Freude und Bewunderung erfüllt zu sein.« Daß Dagobert drei Königinnen und ein Heer von Konkubinen hatte und ›ein Sklave der Unenthaltsamkeit‹ war, schien in der Familie gelegen zu haben, aber er war doch Persönlichkeit genug, die Macht der Hausmeier und der Großen zu beschränken. Seine Nachfolger, die sogenannten ›nichtstuerischen Könige‹ des wieder geteilten Frankenreiches, sahen sich gezwungen, den Hausmeiern die Machtbefugnisse wieder zu überantworten, die Dagobert für sich allein beansprucht hatte. So gelang es Pipin II. der der Ehe der Tochter Pipins I. mit dem Sohn Bischof Arnulfs von Metz entstammte, die Herrschaft ganz und gar an sich zu reißen. Er schlug seine Nebenbuhler aus Neustrien und Burgund in einer blutigen Schlacht bei Tertry, nahm den Titel ›dux et princeps Francorum‹ an und herrschte unbeschränkt über das ganze Reich, das dem Namen nach den Merowingerkönigen gehörte. Er hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Im Süden hatte sich das Herzogtum Aquitanien unabhängig gemacht, und die Stammesherzöge im Elsaß, in Bayern und Thüringen waren nicht willig, sich ihm widerstandslos zu fügen. Aber er hatte es doch so weit gebracht, daß nach seinem Tod nicht mehr danach gefragt wurde, ob der Merowingerkönig seinen Nachfolger bestellen sollte. Niemand zweifelte daran, daß einer der Söhne Pipins Hausmeier werden würde. Die tatsächliche Macht, mit einem merowingischen Schattenkönig 209
über sich, ergriff ein unehelicher Sohn Pipins, Karl, der später den Zunamen Martell (›der Hammer‹) erhielt. Er nannte sich ›Haushofmeister des Palastes und Herzog von Austrasien‹. Er schlug die großen Herren Neustriens, die ihm den Rang und die Ausübung der Gewalt streitig machen wollten, und auch die Friesen und Sachsen, die seine Gegner zu Hilfe gerufen hatten. Wie schon sein Zuname besagte, hatte Karl eine harte Hand. Um in der Ausübung seines Amtes nicht durch königstreue Ehrgeizige gehindert zu werden, setzte er selbst den Merowinger Theoderich IV. als König des Gesamtreiches ein und hielt seine Gegner durch Drohungen, die er im Ernstfall auch verwirklichte, in Schach. Er beschlagnahmte Kirchengüter, wenn ihm die Bischöfe feindlich gegenübertraten, und verkaufte oder verlieh die Besitzungen an ergebene Freunde oder an die Befehlshaber von Truppen, die ihm Gefolgschaft leisteten. Karl soll dafür in mehr als hundert Predigten zur ewigen Verdammnis verurteilt worden sein. Dennoch bewies er seine christliche Gesinnung durch eine tatkräftige Unterstützung des heiligen Bonifatius. Rom mußte ihm gnädig sein, denn daß der angelsächsische Mönch unter seiner straffen Herrschaft Klöster und Bischofssitze in Salzburg, Regensburg und anderen bayrischen Gegenden und auch in Thüringen gründen konnte, sprach gewiß nicht dafür, daß Karl ihn daran gehindert hatte, seine vom Heiligen Stuhl begünstigte Sendung für den Glauben durchzuführen. Die große geschichtliche Tat Karls war die Abwehr des Einbruchs des Islams ins Frankenreich. Unter Abdarrachman, dem Statthalter des Kalifen auf der Iberischen Halbinsel, hatten die muselmanischen Streitscharen Narbonne, die letzte Hauptstadt des Westgotenreiches auf gallischem Boden, erobert und das Heer des Herzogs von Aquitanien in die Flucht geschlagen. Sie waren über Bordeaux hinaus in die Gegend zwischen Tours und Poitiers vorgedrungen. Ihre Übermacht war so groß, daß es Karl aussichtslos erschien, einen Gegenangriff zu wagen. Er beschränkte sich auf die Verteidigung und stellte seine austrasischen Fußkämpfer nach altgermanischem Kriegsbrauch in enggeschlossenen Haufen auf. Nur so konnten sie dem Anprall der Reitermassen widerstehen. 210
Die hochgewachsenen Krieger standen ›wie eine Mauer aus Eis, unbeweglich, ausdauernd, Mann an Mann. Mit eiserner Faust, hoch von oben herab und von ganzen Herzen schlugen sie zu‹. Einer dieser, mit dem wahren ›furor teutonicus‹ geführten Hiebe erschlug Abdarrachman. Die Muselmanen zogen sich fluchtartig zurück und überließen ihr reiches Lager den Siegern zur Plünderung. Das Ansehen Karls war durch die erfolgreiche Verteidigung so gesteigert, daß er es nach dem Tode Theoderichs IV. nicht einmal der Mühe wert fand, einen anderen Merowinger zu krönen. Er benahm sich, als wäre er selbst der König und teilte das Frankenreich unter seine Söhne Karlmann und Pipin auf. II Auch die Brüder nannten sich ›Hausmeier‹. Sie hatten es nicht leicht, die ihnen willkürlich vererbte Herrschaft zu behaupten. Die Herzöge von Aquitanien, Bayern und anderer alamannischer Siedlungsgebiete, die sich mit dem Volksstamm der Sueben verbunden hatten und Schwaben genannt wurden, begehrten gegen die königslosen Hausmeier auf. Um sie zu beschwichtigen und sich einen gültigen Rechtstitel für ihre Amtsgewalt zu schaffen, krönten die Söhne Karls den Merowinger Childerich III. zum Schattenkönig. Er machte sich nur dadurch geltend, daß die Königsurkunden, die Karlmann und Pipin verfaßten, seinen Namen trugen. In wenigen Jahren gelang es den Brüdern, ihre Herrschaft so zu festigen, daß Karlmann einem Herzenswunsch nachgeben konnte. Er hatte genug von der unruhigen Welt und dem unaufhörlichen Kampf um die Macht. Er sehnte sich nach Zurückgezogenheit. Seine Reise in die Einsamkeit führte ihn nach Rom. Karlmann wollte in einem von ihm gestifteten Kloster zum inneren Frieden gelangen. Papst Zacharias nahm sein Mönchsgelübde entgegen. Aber auch in der Kutte fand Karlmann nicht die Abgeschiedenheit, die er suchte. Die wachsen211
de Bedeutung seines Bruders, des unbeschränkten Beherrschers des Frankenreiches, veranlaßte zu viele Freunde und Feinde, ihn um seine Fürsprache zu bitten. Er floh aus seinem eigenen Kloster in die strenge Zucht von Monte Cassino. Die Entsagung Karlmanns, der sich als Benediktinermönch den Klosterregeln demütig unterwarf, machte keinen Eindruck auf Pipin. Im Gegenteil. Er nützte die durch Karlmann angebahnte Beziehung zum Heiligen Vater aus, um das Ziel zu erreichen, das schon seinem Vater vorgeschwebt hatte. Pipin wollte nicht nur die Macht, er wollte auch ihren Glanz. Er ging vorsichtig zu Werke, denn das Königtum der Merowinger war durch die Überlieferung so tief in der Seele der Franken verwurzelt, daß es das Ansehen einer geheiligten Legende hatte. Für das Blut, das in den Adern der Abkömmlinge der uralten Stammeskönige floß, mußte ein würdiger Ersatz geschaffen werden, wenn Pipin als rechtmäßiger König der Franken gelten sollte. Er beriet sich mit den ihm befreundeten großen Herren des Reiches und mit Bischöfen, die seine Anhänger waren. Es wurde beschlossen, zwei dieser hohen Geistlichen zum Papst zu senden mit der Frage, ›ob das Dasein von Königen in Frankreich ohne königliche Gewalt gut sei‹. Der Bescheid aus Rom lautete: »Es ist besser, der wirkliche Inhaber der Gewalt heißt König, als einer, dem keine königliche Gewalt geblieben ist.« Auf diese Antwort hatte Pipin gewartet. Sie war sein Freibrief. Er ließ sich in Soissons von den dort versammelten Franken zum König erwählen, wie es den alten germanischen Bräuchen entsprach. Seine Gattin Berthrada wurde Königin, und auch seine jungen Söhne Karl und Karlmann erhielten, so wie es in der Merowinger-Familie üblich gewesen war, den Titel König. Alles war so geschehen, wie Pipin es vorbereitet hatte. Die feierliche Salbung durch die Bischöfe ersetzte das königliche Geblüt und das ›Gottesgnadentum‹, das der Papst in Rom anerkannte, die Abstammung von den Göttern, deren sich die Merowinger gerühmt hatten. Der letzte Stammeskönig der Franken, Childerich III. und sein kleiner Sohn verschwanden im Kloster. Ihr rotes Haar, das die Merowinger als sinnbildliches Zeichen ihrer königlichen Herkunft lang getra212
gen hatten, fiel unter der Schere, während Pipin sich die Krone aufs Haupt setzte. Der äußeren Form war nun Genüge getan. Pipin war König. Er wollte seinen Kindern und Kindeskindern die Erbfolge sichern. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: die Erweiterung und Stärkung des Familienbesitzes, der sie einflußreicher und mächtiger machen würde als alle anderen Großen des Frankenreiches, und die innige Verknüpfung des neu gegründeten Königshauses mit den Hütern des Glaubens, die das ›Gottesgnadentum‹ seines Geschlechts als Voraussetzung des Königtums bestätigen sollten. Pipin setzte alles daran, sich beider Möglichkeiten zu vergewissern. Da hatte doch ein einfacher arabischer Kaufmann nur durch die Macht seines Wortes, das einen Glauben geschaffen hatte, ein ungeheures Reich ins Leben gerufen, das vom äußersten Westen Südeuropas bis in das tiefste Innere Asiens reichte, und jeder Krieg, den er unternommen hatte, war von seinen eigenen Anhängern und von den Untertanen seiner Nachfolger, der Kalifen, als heilig erklärt worden, da die Waffen doch um des Glaubens willen und im Namen Allahs ergriffen worden waren. Die Muselmanen beherrschten die Iberische Halbinsel, die nordafrikanische Küste, Ägypten, die Ostküste des Mittelmeeres und von dort bis ins ferne Unbekannte reichende Länder. Diese Eroberungen waren ihnen durch die blindwütige Begeisterung für den Islam gelungen. Es war christlich und auch zum Schutze der Reiche nötig, die sich auf dem Boden des Römischen Reiches gebildet hatten, den Glauben der Völker, die christlich lebten, zu festigen und sie für die Abwehr der drohenden Angreifer zu begeistern. Daß die Muselmanen durch seinen Vater zurückgeworfen worden waren, bedeutete für Pipin keine Gewähr, daß sie nicht wiederkommen würden. Dagegen mußten Schutzmaßnahmen getroffen werden und auch gegen die Möglichkeit eines Überfalls der Muselmanen auf die Apenninische Halbinsel, die zum größten Teil von den Langobarden besetzt war. Wie gering die von den Exarchen verwalteten byzantinischen Gebiete auf italischem Boden selbst von Byzanz gewertet wurden, war nur allzu offenkundig. Die kaiserlichen Statthalter blie213
ben auf ihren Posten in Ravenna und vor allem in Rom, um die Abhängigkeit der römischen Kirche von Byzanz zu sichern. Die Exarchate waren Zankäpfel zwischen den Königen der Langobarden und den byzantinischen Kaisern, unaufhörlich schwelende Gefahrenherde, die auch die Päpste bedrohten – und die unter ihrer Herrschaft stehenden Landstriche, die seit Gregor I. noch an Umfang zugenommen hatten. Das ›patrimonium Petri‹ lag wie ein Keil zwischen den beiden Teilen des Königreiches der Langobarden. Das Verhältnis der Langobardenkönige zu den Päpsten war auch dadurch getrübt, daß sich die gekrönten Häupter den Stellvertretern Christi auf Erden in irdischen Fragen nicht unterwerfen wollten. Sie versuchten, die schwierige Lage der byzantinischen Kaiser auszunützen, die an ihren nördlichen Grenzen in Kämpfe mit dem aus slawischen und anderen Völkermischungen neu entstandenen Reich der Bulgaren so verwickelt waren, daß sie die Exarchate kaum schützen konnten. Der Langobardenkönig Aistulf eroberte Ravenna und wandte sich gegen Rom. Stefan II. der Nachfolger des Papstes Zacharias, der Pipin so gefällig geantwortet hatte, bat den Frankenkönig um Hilfe. Das war die große Gelegenheit für Pipin. Er lud den Heiligen Vater ein, vertrauensvoll zu ihm zu kommen. Der Papst unternahm die Reise und wurde, als er ankam, von Pipin mit allen Ehren empfangen. Der König ging sogar so weit, daß er absaß und das Pferd des Papstes demütig beim Zügel führte. Stefan II. trug Trauergewänder, um seine bedauerliche Lage auch eindeutig darzutun. Aber es fiel ihm leichter, als er erwartet hatte, Pipin davon zu überzeugen, daß er den Heiligen Stuhl mit Waffengewalt gegen die Angriffe und Übergriffe des Königs der Langobarden schützen müsse. Pipin und der Papst schlossen ein Bündnis, das auf Gabe und Gegengabe beruhte. Der Heerbann der Franken trat auf dem sogenannten ›Märzfeld‹ zusammen, und die Großen des Reiches ließen sich von ihrem König dafür gewinnen, sich mit einem Kriegszug außerhalb des Frankenreiches zum Schutze des Heiligen Vaters einverstanden zu erklären. Stefan II. aber sicherte dem neuen Königsgeschlecht das ›Gottesgnadentum‹ durch eine päpstliche Beschwörung 214
der Franken, ihre Könige nur aus der Nachkommenschaft Pipins zu wählen. Ein einziger Zwischenfall gefährdete doch die Durchführung des von Pipin mit Stefan II. so sorgfältig vorbereiteten Planes. Während der Papst vom König in Anwesenheit von dessen beiden Söhnen Karl und Karlmann ein feierliches Versprechen empfing, das ihm gewaltige Landgebiete als die ›Pipinsche Schenkung‹ zusicherte, erschien Karlmann, der Mönch, der Bruder Pipins, und erklärte, es nicht dulden zu können, daß seine Söhne einfach übergangen würden. Er habe für sich, aber nicht für sie abgedankt. Er habe sich nach Monte Cassino zurückgezogen, aber nicht sie. Sie seien seine rechtmäßigen Erben und hätten den gleichen Anspruch auf Würden und Länder wie die Söhne Pipins. Der Papst machte von seinem Recht Gebrauch, Karlmann, der das Mönchsgelübde abgelegt hatte, ins Kloster zu verweisen. Um jeden weiteren Erbstreit unmöglich zu machen, wurden auch die Söhne Karlmanns ins Kloster geschickt. Stefan II. bedrohte jeden mit dem Kirchenbann, der Pipin oder seiner Nachkommenschaft den Thron streitig machte. Dann begab er sich in die Kirche von St. Denis und salbte, um nur ja keinen Zweifel an der päpstlichen Gutheißung aufkommen zu lassen, Pipin und seine Frau Berthrada nochmals als König und Königin. Gleichzeitig verlieh er Pipin und seinen Söhnen die Würde eines ›patricius Romanorum‹, des Schutzherrn der römischen Kirche und der Gebiete, die das ›patrimonium Petri‹ gewesen waren und die durch die ›Pipinsche Schenkung‹ zum Kirchenstaat abgerundet werden sollten. Die Urkunde der ›Pipinschen Schenkung‹ ging verloren. Aber ein erfolgreicher Feldzug des nun auch vom Heiligen Vater gesalbten Frankenkönigs führte dazu, daß König Aistulf die Oberhoheit Pipins über das Langobardenreich anerkennen mußte und die byzantinischen Gebiete, die er erobert hatte, an den Papst abtrat. Aistulf beugte sich der Gewalt. Aber kaum war Pipin ins Frankenreich zurückgekehrt, als er Rom wieder besetzte. Jetzt rief der Papst Pipin nochmals zu Hilfe. Sein Brief lautete so, als habe der heilige Petrus selbst dem König geschrie215
ben. Er versprach ihm Belohnung im Diesseits und im Jenseits, wenn er den Kirchenstaat schütze. Pipin ließ sich nicht zweimal bitten und sorgte in einem neuen Feldzug für die Einhaltung der Bedingungen, die er dem Langobardenkönig auferlegt hatte. Als Aistulf starb, verwandte sich der Papst zugunsten des langobardischen Herzogs Desiderius, der als Nachfolger Aistulfs König wurde. Die mächtige Nachbarschaft erschien dem Papst jedoch bedenklich. Er wollte weitere Sicherungen und auch Abrundungen des Kirchenstaates. Da das irdische Reich Gottes länger währen sollte, als das irdische Leben seines Schutzherrn, Pipins, währen konnte, ließ der Papst für alle Fälle eine gefälschte Urkunde herstellen, die als die ›Konstantinische Schenkung‹ bezeichnet wurde und gegebenenfalls als Beweis dafür dienen sollte, daß schon Kaiser Konstantin dem Papst Silvester und allen päpstlichen Nachfolgern die Herrschaft über Rom, die Apenninische Halbinsel und den gesamten Westen zugesprochen habe. Diese Urkunde mochte wohl in den Auseinandersetzungen mit König Desiderius zur Sprache gekommen sein. Pipin jedoch nahm sie kaum zur Kenntnis. Er hatte in Rom erreicht, was er wünschte. Er wollte daraus Nutzen ziehen. In seinem Königreich sollte die Kirche, deren Schutzherr er geworden war, nach dem König die größte Macht werden. Er beschenkte Bischofssitze und Klöster mit Ländereien und auch mit den Einkünften aus einer neuen Steuer, die er der Landbevölkerung auferlegte: dem ›Zehnten‹. Ein geistlicher Herr wurde Leiter der Königskanzlei. Sie übernahm die Amtsgewalt, die die Ahnen Pipins, die Hausmeier, ausgeübt hatten. Auch das war eine Vorsichtsmaßnahme zugunsten des neuen Königsgeschlechts, denn es war nicht zulässig, daß geistliche Herren ihre Ämter vererbten. Wer die Ereignisse der Gegenwart umsichtig abwog, mußte die Möglichkeiten der Zukunft voraussehen und vorbauen. Beinahe ein Jahrhundert hatten sich die Eroberungen des riesigen Kalifenreiches als Einheit erhalten, trotz bedenklicher Glaubensspaltungen, denen vor allem die Frage zugrunde lag, wer das Kalifat innehaben sollte: die Schiiten, welche die Herrschaft für die leiblichen Nachkommen Alis, des 216
Schwiegersohnes des Propheten, forderten, oder die Charidschiten, die schwärmerisch dafür warben, daß der jeweils frömmste und würdigste Bewerber, ohne Rücksicht auf seine Abstammung, Kalif werden sollte. Eine dritte Gruppe, die Sunniten, begehrte, daß die Überlieferungen des Propheten und die Einheit der islamitischen Gemeinschaft allen anderen Belangen vorangestellt würden. Die mit den Abkömmlingen Muawijas, der nach seinem Urgroßvater Omaija genannten Omaijaden, Unzufriedenen wurden von den Abkömmlingen Abbas', eines Onkels Mohammeds, zu Anhängern gewonnen. Abul Abbas besiegte die Omaijaden. Neunzig Prinzen wurden getötet, nur ein einziger entkam und gründete auf der Iberischen Halbinsel das selbständige Kalifat von Cordova. Die Abbassiden errichteten ihrerseits ein Kalifat in Bagdad, welches das Königreich Persien, das durch den Islam vernichtet worden war, im mohammedanischen Glauben erneuerte. Die überraschende Teilung des arabischen Weltreiches wirkte auf König Pipin als Warnung. Er schickte Gesandte an die Höfe der beiden Kalifen mit Freundschaftsangeboten und um ihre Absichten zu erkunden. Fürs erste schien seinem Reich keine Gefahr vom Islam zu drohen, aber er mußte verhüten, daß seine eigenen großen Herren das Beispiel der Muselmanen nachahmten, daß die Bischöfe, Herzöge und Grafen zu groß würden und vergaßen, daß sie dem König Gehorsam und Gefolgschaft schuldeten. Der wichtigste Landesteil, den Pipin in bedingungslose Abhängigkeit vom Königtum bringen wollte, war Bayern. Dort herrschte Herzog Tassilo ähnlich, wie die Vorfahren Pipins in Austrasien geschaltet und gewaltet hatten. Das mußte geändert werden. Der in allen Feldzügen gegen die Sachsen an den Grenzen des Frankenreiches und später auch gegen Aquitanien erfolgreiche Pipin brachte es dazu, daß Tassilo von Bayern ihm den Treueid als Vasall leistete. Das schuf ein Lehensverhältnis, die erste Beziehung dieser Art zwischen einem König und einem Stammesherzog, denn vorher hatte es ein Lehensverhältnis nur zwischen dem König und solchen Dienstleuten des Königs gegeben, denen er Land aus seinem persönlichen Eigentum zugewiesen hatte. Wenn auch Tassilo später die Abhängigkeit von Pipin selbstherr217
lich aufkündigte, so war doch der Beispielsfall des Lehensverhältnisses eines Herzogs zum König geschaffen. Pipin wurde nicht alt. Er starb als Vierundfünfzigjähriger und hinterließ seinen beiden Söhnen Karl und Karlmann das zu einer überragenden Weltmacht gewordene Frankenreich.
Karl der Große I König Karlmann II. und König Karl, später ›der Große‹ genannt, waren feindliche Brüder. Über ihre Streitigkeiten erhielten sich nur karge Berichte. Karlmann starb kaum drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, zu einem Zeitpunkt, in dem sowohl er als auch sein Miterbe bereits entschlossen waren, zu den Waffen zu greifen, da sie sich anders nicht einigen konnten. Kaum hatte Karl die Nachricht vom Tode seines Bruders erhalten, als er in die von Karlmann ererbten Länder einrückte und sich in Gegenwart einiger Grafen des Verstorbenen von den bedeutendsten Bischöfen zum König des gesamten Frankenreiches salben ließ. Gerberga, die Witwe Karlmanns, floh mit ihren Kindern nach dem Süden, um sich in den Schutz des Langobardenkönigs Desiderius zu begeben. Sie begründete ihre Flucht damit, daß ihr Schwager Karl sich durch die überstürzte Salbung zum König des ganzen Frankenreiches eindeutig über das Erbrecht ihrer Kinder hinweggesetzt habe. Die eilige Reise Gerbergas an den Hof des Desiderius, des Schwiegervaters Karls, hatte vermutlich den Zweck, den Langobardenkönig um Vermittlung zu bitten. Aber die Ankunft der Witwe Karlmanns war ebenso unerwartet und vermutlich auch unerwünscht, wie es kurz vorher die Rückkehr seiner Tochter Desiderata in den elterlichen Pa218
last gewesen war. Die junge Königin, von ihrem Gatten Karl verstoßen, war zu ihrem Vater gekommen. Der Vetter Karls, Adalhard, der sich ein Jahr vorher als Brautwerber dem König der Langobarden gegenüber eidlich für die Ehrung seiner Tochter verbürgt hatte, stellte fest, daß Desiderata ›sine diquo crimine‹, ›ohne jegliche Schuld‹, verstoßen worden sei. Auch Königin Berthrada, die Mutter Karls, hatte sich gegen die Verstoßung der unschuldigen Schwiegertochter ausgesprochen. Sie war um so aufgebrachter, als sich ihr Sohn Karl, der durch einen Staatsstreich zum alleinigen König der Franken geworden war, wenige Monate nach der Verstoßung Desideratas mit der erst dreizehnjährigen Hildegardis vermählte, deren Mutter Imma eine Urenkelin Gottfrieds, des Stammesherzogs der Alamannen, war. Eine solche Hinwegsetzung über Familienbande aller Art schien auch kein vielversprechender Beginn einer königlichen Laufbahn. Es war vorauszusehen, daß weder Desiderius, der sich öffentlich als Schutzherr der Söhne Karlmanns erklärte, noch die Anhänger des verstorbenen Miterben Karls die Beleidigungen und die Mißachtung des Rechts friedlich hinnehmen würden. Dennoch sollten gerade diese beiden unglückseligen Handlungen des jungen Königs Karl der unmittelbare Anlaß seiner hervorragendsten kriegerischen Leistungen werden. Es war von Anfang an klar, daß er über sich selbst und über seinen Vater hinauswachsen müsse, um behaupten zu können, was er an sich gerissen und was er geerbt hatte. Obwohl er wußte, daß jenseits seiner südlichen Grenzen der mächtige Langobardenkönig gewaltige Kriegsvorbereitungen traf und Papst Hadrian I. bestürmte, die Söhne Karlmanns zu Königen zu salben, beschloß Karl in einer als ›Reichstag‹ bezeichneten Versammlung von großen Herren und Bischöfen des fränkischen Königreiches zu Worms den Sachsenkrieg. Er zog mit einer vorzüglich ausgerüsteten Streitmacht nach dem Norden. Dieser Aufmarsch des von Karl befehligten fränkischen Heeres hatte einen mehrfachen Zweck. Die Grafen der Gebiete, die Karlmann beherrscht hatte, konnten erkennen, daß ein bewaffneter Widerstand gegen Karl oder ein Einspruch gegen die von ihm geschaffene Lage sinn219
los war. Sie erkannten auch, daß sie besser daran taten, sich seinem Heerbann anzuschließen, der aufgeboten worden war, um die sächsischen und friesischen Stämme an den Grenzen des Frankenreiches durch Gewalt oder freundlichen Zuspruch dazu zu bringen, sich der großen germanischen Völkerfamilie einzuverleiben, die als Einheit so mächtig geworden war. Die im Glauben ihrer Urväter und nach alten Sitten lebenden Sachsen sollten auch der Segnungen des christlichen Glaubens teilhaftig werden und der erhöhten Lebensformen, die die anderen wandernden Germanenstämme nach ihrer Seßhaftigkeit im Frankenreich errungen hatten. Die Sachsen hatten keinen König. Sie erhielten ihre Gemeinschaft durch die alljährliche Versammlung der drei alten Volksgruppen, der Adeligen, der Freien und der Hörigen, und wählten wie eh und je im Kriegsfall einen ›furisto‹ zum Heerführer. Sie traten dem Kriegszug Karls in Waffen entgegen. Er eroberte die Eresburg an der Diemel und zerstörte ihr Hauptheiligtum, die Irminsul, einen heiligen Holzstamm. Aber die Einnahme von Volksburgen, in denen sich die Sachsen zur Abwehr vereinigt hatten, bedeutete nicht den Sieg über die Männer, die in den dichten Wäldern verschwanden und sich an anderen Stellen zu erneutem Gegenangriff sammelten. Da und dort gelang es Karl, ein friedliches Übereinkommen zu treffen. Aber wie lange würde es in Geltung sein, da er doch jetzt gezwungen war, seine ganze Macht zu vereinigen und nach dem Süden zu werfen? Genauso wie sein Vater wurde Karl vom Papst gegen einen Langobardenkönig zu Hilfe gerufen. Der Grund war freilich ein anderer, der Anlaß der gleiche. Desiderius hatte römisches Gebiet angegriffen, um den Papst zum Nachgeben zu zwingen. Karl überschritt die Alpen. Gegen seine im Feldzug gegen die Sachsen erprobten Krieger dauerte der Widerstand der Langobarden nicht lange. Desiderius, der nach Pavia geflohen war, ergab sich und wurde mit seiner gesamten Familie ins Kloster gesteckt. Auch Gerberga, die unglückliche Witwe Karlmanns, die Schwägerin Karls, die mit ihren Kindern in Verona Zuflucht gefunden hatte, fiel in die Hände des Siegers. Ihre Gefangennahme war die letzte Nachricht, die sich über sie erhalten hat. Karl ernannte sich 220
selbst zum Nachfolger des geschlagenen Desiderius. Er war nun auch König der Langobarden und setzte sich die ›eiserne Krone‹ aufs Haupt, die er im langobardischen Königsschatz gefunden hatte. Karl war schon anläßlich der Krönung seines Vaters zum ›patricius Romanorum‹ erhoben worden. In Rom empfingen ihn Knaben und Mädchen mit Palm- und Ölzweigen in den Händen, als er unter Lobgesängen und begeisterten Zurufen vom Pferd stieg und sich der Peterskirche näherte. Der Papst erwartete ihn auf der Terrasse oberhalb der Stufen der Kirche. Karl küßte jede der Stufen, bis er den Papst auf der Terrasse erreicht hatte. Dann begaben sich der Heilige Vater und der König der Franken und Langobarden in die ›confessio‹ des heiligen Petrus und schworen vor der Leiche des ersten Stellvertreters Christi auf Erden gegenseitige Sicherheitseide. Bei dieser Gelegenheit ließ sich der Papst die von Pipin gemachten Schenkungen auch durch Karl bestätigen. Die versprochenen Gebiete waren zahlreicher und umfangreicher als die Gebiete, die tatsächlich in den Besitz des ›patrimonium Petri‹ gelangten, denn Pipin und sein Sohn hatten mehr versprochen, als sie erfüllen konnten. Aber alle anwesenden Bischöfe, Herzöge und Grafen unterschrieben die Urkunde, die bei der Leiche des heiligen Petrus aufbewahrt wurde. Der Kirchenstaat, das Reich Gottes auf Erden, war nun Wirklichkeit. Die Langobarden, die dagegen aufbegehrt hatten, waren zu fränkischen Untertanen geworden, und den byzantinischen Kaisern verblieben nur noch kleine Gebiete auf italischem Boden. Am wichtigsten waren ihnen die von Flüchtlingen auf Lagunen erbaute Stadt Venedig und die vorgelagerten Inseln. Dort sollte von nun ab der Handel aus Byzanz mit dem mitteleuropäischen Hinterland betrieben werden.
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II
Der Sachsenkrieg Karls, der vor seinem siegreichen Zug nach Italien begonnen hatte, dauerte alles in allem dreißig Jahre. Es waren nicht ununterbrochene Kampfhandlungen, sondern immer wieder unternommene Feldzüge, die den zähen Widerstand der Sachsen durch noch zähere Angriffe brechen sollten. Kein Mittel blieb in diesem Krieg ungenützt. Aber während die in vielen Gebieten noch im Urzustand lebenden Sachsen keine einheitliche Führung hatten und nur auf die notdürftigen Mittel ihrer kargen Umgebung angewiesen waren, verfügte Karl nicht nur über die militärischen Kräfte und Rüstungsmöglichkeiten des riesigen Frankenreiches, sondern brachte auch seinen Erfindungsreichtum als Feldherr und Staatsmann zur Geltung. Wenn er mit seinen Truppen vorgedrungen war, sicherte er das eroberte Gebiet durch die Errichtung von Königshöfen, die, nach dem Muster der ehemaligen römischen Feldlager, gleichzeitig auch Sammelstellen für die Verpflegung und Stützpunkte für den weiteren Vormarsch waren. Er baute Straßen, um die Zufuhr zu sichern, und sorgte für die geregelte Bebauung und Verwaltung des in Besitz genommenen Landes. Er war immer wieder bemüht, den Besiegten seine friedlichen Absichten zu bekunden. Es gelang Karl auch, Reichstage mit sächsischen Adeligen abzuhalten. Er empfing Treueide. Aber wenn dann die Mönche, die ihm in die Königshöfe gefolgt waren, ihr Bekehrungswerk unternahmen und Kirchen zu bauen begannen, wehrten sich die Sachsen zum Schutze ihres Götterglaubens nur allzuoft. Neue Feindseligkeiten brachen aus, und der Friede, den das Kreuz hätte bringen sollen, mußte durch das Schwert wiederhergestellt werden. 222
Endlich schien es, daß die Unterwerfung der Sachsen vollendet sei. Karl hielt zu Paderborn, im Herzen der umkämpften Gebiete, einen Reichstag ab, der Massentaufen der Sachsen zur Folge hatte. Waren die Widerspenstigen endlich bekehrt und bereit, sich dem Reich der Franken als gleichwertige christliche Untertanen einzuordnen? Karl war davon überzeugt, denn als ihn der muselmanische Statthalter von Barcelona, Ibn-al-Arabi, in seinem nördlichsten Königshof besuchte, um die Hilfe des christlichen Königs gegen den Kalifen von Cordova zu erbitten, verließ er das Sachsenland und machte sich auf den Weg südwärts über die Pyrenäen. Alles ging planmäßig vor sich, aber auf seinem ungestümen Siegeszug, der Karl bis nach Saragossa führte, hatte er die christliche Stadt Pamplona belagert und eingenommen und sich, ohne es zu bedenken, dadurch die in Nordspanien ansässigen christlichen Basken zu Feinden gemacht. Die Aufstände der Muselmanen, die ihm Ibn-al-Arabi als sicher vorausgesagt hatte, fanden nicht statt. Karl fühlte sich nicht stark genug, um den Vormarsch gegen Cordova ohne die Hilfe von einheimischen Aufständischen wagen zu können. Überdies erhielt er die erschreckende Nachricht, daß sich die Sachsen in einem wütenden Aufruhr gegen seine Herrschaft erhoben hatten und seine Stadt Köln bedrohten. In aller Eile machte Karl kehrt. Er hatte mit dem Großteil seines Heeres die Pyrenäen in langgestreckten Einheiten bereits überschritten, als eine baskische Streitschar die Nachhut am Paß von Roncesvalles überfiel und bis auf den letzten Mann niedermachte. Graf Hroudland, der Held des später entstandenen Rolandliedes, fand bei diesem Überfall den Tod. Karl mußte die Rache verschieben, denn nunmehr galt es, die Sachsen wieder zur Ruhe zu bringen: Durch gütigen Zuspruch oder durch Gewalt. Er berief neue Reichstage ein und verkündete den Taufzwang für jedermann, verbot Menschenopfer und Leichenverbrennung, erließ Verordnungen zum Kirchenschutz und verfügte die Eintreibung des ›Zehnten‹. Wer sich diesen Erlässen nicht fügte, hatte schwere Geldbußen oder die Todesstrafe zu gewärtigen. Widukind, ein Herzog der Sachsen, der den Aufruhr gegen Karl an223
geführt hatte, war inzwischen geflohen. Aber er kehrte zurück, als Karl die Sachsen zur Heeresfolge aufrief. Ein Feldzug gegen die Slawen, die die östliche Grenze des Frankenreiches beunruhigten, war geplant. Fränkische Truppen standen bereit, die Sachsen in ihre Reihen aufzunehmen. Die vermeintlichen Mitkämpfer entpuppten sich als Gegner, die unter der Führung Widukinds die fränkischen Mannschaften erschlugen. Karl, der in Eilmärschen heranzog, wurde Herr der Lage. Er nahm furchtbare Rache. Er ließ viertausendfünfhundert gefangene Sachsen bei Verden an der Aller niederhauen. Nun wollten die Sachsen sich rächen. Ein noch wütenderer Aufruhr brach aus. Aber die überlegene Kriegskunst Karls bewährte sich, auch als Widukind die Friesen zu Hilfe rief. Nach verzweifelten Schlachten gab der Sachsenherzog den Widerstand auf. Das Land war verwüstet. Es erschien Widukind sinnlos, gegen die Heere Karls anzukämpfen, die der König der Franken und Langobarden mit immer neuen Kriegern auffüllen konnte, während seine eigenen Reihen sich nach jedem Zusammenstoß lichteten. Das Kreuz, das den Truppen Karls vorangetragen wurde, schien unbesiegbar zu sein. Es hatte sich auch so oft erwiesen, daß die Frauen und Kinder der besiegten Sachsen nur Wohltaten und Hilfe von den Mönchen empfangen hatten, die den Zwang der Taufe mit gütigem Zuspruch und belehrenden und erhebenden Worten und Gesängen ausübten, daß Widukind an seiner Berufung zur Führung der Sachsen gegen den Gott der Christen und ihren Herrscher, der von SEINEN Gnaden König war, zweifelte. Er unterwarf sich und ließ sich mit seinen Gefolgsleuten taufen. Daß Karl, der Widukind Straflosigkeit zugesichert hatte, sein Wort hielt, bestimmte viele andere Sachsen, dem Beispiel des Herzogs zu folgen. Auch die Ernennung von sächsischen Adeligen zu Grafen beeindruckte den größten Teil der durch den langen Krieg schon erschöpften Bevölkerung. Sie mieden die Kirchen nicht mehr und auch nicht die Klöster, die eines nach dem anderen errichtet wurden. Der milde, versöhnliche Glaube, der ihren eigenen) wilden, unversöhnlichen Glauben besiegt hatte, gewann schließlich die Männer, die sich den Waffen so hartnäckig widersetzt hatten. Trotzdem flackerten in man224
chen Gegenden immer wieder Unruhen auf. Sie wurden mit harter Hand unterdrückt, aber die überlebenden Sachsen wurden schließlich mit sanfter Sicherheit befriedigt, und die nordöstlichen Grenzen des Frankenreiches waren nun an Eider und Elbe befestigt. Karl zwang auch den Herzog Tassilo von Bayern, der seinen Sohn Pipin schon als Lehensherrn anerkannt, sich aber dann den Lehenspflichten entzogen hatte, zur Abdankung. Er beschuldigte den ehemaligen Schwager des Treubruchs und schenkte ihm ›um Gottes und um der Verwandtschaft willen das Leben‹. Tassilo, der das Schicksal seines verschwundenen Schwiegervaters Desiderius, des Königs der Langobarden, vor Augen hatte und ahnte, daß er ihm nicht entgehen würde, erwiderte auf die Frage, was er nun beginnen wolle: Er bitte, sich scheren lassen und in ein Kloster treten zu dürfen. Karl erfüllte die Bitte, und Bayern hatte durch den erzwungenen Verzicht Tassilos aufgehört, ein Stammesherzogtum zu sein. Graf Gerold, der Bruder von Karls inzwischen verstorbener Gattin Hildegardis, wurde zum ›praefectus Baioriae‹ bestellt, mit dem Auftrag, Grenzfestungen gegen die benachbarten Slawen und Awaren zu errichten.
Der kriegerische König, der das gewaltige Frankenreich durch die Eroberung der in die ›spanische Mark‹ umgewandelten Gebiete Nordostspaniens erweiterte und auch durch die gewaltsame Einverleibung an Bayern angrenzender Landstriche, denen er die Namen ›Ostmark‹ und ›Mark Kärnten‹ gab, war seinem Wesen nach ein Friedensfürst. Sein Vorbild wurde Theoderich der Große. Karl beförderte ein Standbild des Ostgotenkönigs von Ravenna nach Aachen, seinem bevorzugten Königssitz. Wie Theoderich wünschte auch er, alle Germanenstämme, die einander in den Jahrhunderten ihrer Wanderung und bedrängten Seßhaftigkeit bekämpft hatten, friedlich in einem Reich zu vereinigen. Der Plan war der gleiche, die Art der Durchführung jedoch verschieden. Der Ostgotenkönig hatte als Vermittler gewirkt und in beinahe allen seinen Handlungen und Erlässen seiner Duldung aller Be225
kenntnisse und Einstellungen Ausdruck gegeben. Karl kannte und anerkannte in jeder Frage nur einen Standpunkt: den seinen – den er sich oft mühsam abrang. Er ließ auch nur einen Glauben gelten: den römischkatholischen. Er setzte sich eindeutige Ziele und verfolgte sie, wenn es nicht anders ging, bis zum bitteren Ende. Karl verdankte seinem Vater die ursprüngliche Sicherheit der Ziele und auch die Voraussetzungen zur Durchführung seiner Pläne. Pipin hatte ein geeinigtes, wirtschaftlich geordnetes Königreich und ein vorzüglich ausgerüstetes Heer hinterlassen und Karl die staatsmännische und vermutlich auch persönlich empfundene Auffassung vermittelt, daß die Verbreitung und Festigung des römischkatholischen Glaubens die wesentlichste Pflicht und auch die verläßlichste und stärkste Stütze des Königs der Franken sei. Die Einheitlichkeit des Glaubens und die Förderung der Klöster, die dafür sorgten, daß die Gläubigen in christlicher Zusammengehörigkeit lebten und ihrem König dienten, machte die Bevölkerung und auch die großen Herren des Frankenreichs empfänglich für jede Maßnahme und für jedes Gesetz, das Karl im Namen Gottes erließ. Karl hatte alle Eigenschaften eines überragenden Herrschers. Er hatte gut geerbt: Er war ebenso umsichtig und vorsichtig wie Pipin und konnte ebenso hart sein wie Karl der Hammer. Er war jedoch gelehriger als beide und trotz seiner scheinbaren Halsstarrigkeit weitaus geschmeidiger. Er stand auch nicht wie seine beiden Vorgänger unter dem Zwang, die Ausübung der Königsgewalt zu rechtfertigen. Seit er sich nach dem 'Tod Karlmanns zum Alleinherrscher aufgeschwungen hatte, fühlte er sich im Besitz der Macht nicht bedroht und schien überzeugt von seinem Recht zu sein, sie voll und ganz zu besitzen und nach seinem Ermessen auszuüben. Die Lebensweise Karls war einfach. Er unterschied sich im Aussehen kaum von den meisten anderen Franken. Seine Kleidung bestand aus einem schlichten Leinenhemd, enganliegenden Kniehosen, einem wollenen, nur selten mit Seide verbrämten Rock, einfachen Lederschuhen und mit Bändern umwundenen Strümpfen. Wenn es kalt war, kleidete er sich in einen enganliegenden Pelzmantel. Sein von Ge226
sundheit strotzendes Gesicht, das ein Schnurrbart schmückte, war von blondem Haar umrahmt. Er war ein mäßiger Esser und Trinker. Seine Lieblingsbeschäftigungen waren die Jagd und die Arbeit. Wenn sich die Staatsgeschäfte drängten, ließ er sich sogar während des Ankleidens formlos Bericht erstatten. Nur bei besonders festlichen Anlässen trug Karl edelsteinbesetzte Schuhe, bestickte Seidengewänder und bei ganz feierlichen Anlässen eine Krone aus Gold und Edelsteinen. Sein Freund und Ratgeber Einhard überlieferte allerlei Einzelheiten aus seinem Leben. Karl liebte Tischmusik und ließ sich während der Mahlzeiten geschichtliche Werke vorlesen. »Großen Gefallen fand er auch an den Büchern des heiligen Augustinus, vor allem am ›Gottesstaat‹ … Er war ein eifriger Gönner der Wissenschaften, schätzte ihre Lehrer und zeichnete sie mit den höchsten Ehren aus … Er nahm Unterricht in der Sprachkunst und in der Astronomie … Er versuchte sich auch mit Schreiben. Zu diesem Zweck hatte er stets Schreibtäfelchen unter dem Kopfkissen seines Bettes, damit er seine Hand in schlaflosen Stunden an das Formen von Buchstaben gewöhne, doch machte er dabei nur geringe Fortschritte … In späterer Zeit hatte er große Freude an den von Natur heißen Quellen und übte seinen Körper im Schwimmen. Darin besaß er so große Gewandtheit, daß ihn keiner übertraf. Nicht nur seine Söhne, sondern auch seine Verwandten, Freunde und Leibwächter lud er zum Baden ein, so daß sich manchmal hundert und mehr Menschen zugleich badeten.« Die Unermüdlichkeit Karls während der endlosen Kriegszüge, der unaufhörlichen Reisen und der Bewältigung der unendlichen Arbeit bewies sich auch in seinem regen Liebesleben. Er hatte vier Ehefrauen, die ihm zwölf Kinder gebaren, und viele sogenannte ›Gespielinnen‹, Geliebte, die ihn außerhalb der Ehe erfreuten und denen er sechs nachweisbare Kinder verdankte. Er galt als zärtlicher Vater, und in einem Gedicht, ›Ad Carolum Regen‹, schilderte ihn der westgotische Priester und Gelehrte Theodulf im Kreise seiner engsten Familie: »Wenn er heimkehrte, umringten ihn seine Kinder. Sein Sohn Karl nahm ihm den Mantel ab, sein Sohn Ludwig das Schwert. Sechs Töchter umarmten ihn, brachten ihm Brot, Wein, Äpfel und Blumen.« 227
Es hieß, daß Karl seine Töchter so sehr liebte, daß er erklärte, er könne ohne sie nicht leben. Er hielt sie auch von der Ehe ab. Wenn sie sich unerlaubten Liebesbeziehungen ergaben und sogar Kindern das Leben schenkten, sah er darüber hinweg. Diese mangelnde Beachtung der christlichen Sittlichkeit führte auch dazu, daß Karl, der große Schutzherr der Christenheit, schließlich nur ›selig‹ und nicht ›heilig‹ gesprochen wurde. Man sagte, er müsse erst einige Zeit im Fegefeuer schmachten, bevor er des himmlischen Reiches teilhaftig werden könne. III Das irdische Reich, das Karl schuf und verwaltete, war von so umfassender Bedeutung und nachhaltiger Wirkung, daß seine menschlichen Schwächen seiner Größe keinen Abbruch zu tun vermögen. Aber nicht die Kriegszüge, durch die er dem Frankenreich neue Länder einverleibte, machten ihn größer als andere Eroberer. Die zeitnahe Lebendigkeit, die sich in seinen Verwaltungsmaßnahmen äußerte, und seine vielseitige Bemühung, die Lebensform seiner Völker nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geistiger und geistlicher Beziehung zu heben, verdienten ihm den Beinamen, den ihm die Geschichte verlieh. Er selbst hatte in seinem Leben oft Unrecht getan und war unbarmherzig gewesen, aber er sorgte dafür, daß ein gutes Rechtsgefühl und Nächstenliebe in seinen Untertanen lebten. Das bezeugen seine Verordnungen an die Königsboten: »Wo in einem Gesetz etwas wider Recht und Gerechtigkeit angeordnet ist, sollen sie es auf das sorgfältigste untersuchen und zu seiner Kenntnis bringen. Mit Gottes Hilfe will er selbst es dann bessern. Sie sollen alle ermahnen, überall nach Gottes Gebot, rechter Vernunft und rechtem Verstand zu leben und auch jeden ermahnen, in seinem Amt oder Beruf zu bleiben. Und so sollen sie überall und in allen Fällen, möge es sich um die heiligen Kirchen Gottes handeln oder um die Armen, die Waisen und die Witwen oder um 228
das ganze Volk, Recht und Gerechtigkeit in Fülle austeilen, nach dem Willen und der Furcht Gottes.« Die Königsboten reisten zu zweit. Je ein geistlicher und ein weltlicher Herr überwachten die Amtsführung der Grafen in ihren Gebieten und erstatteten Karl schriftlichen Bericht. Er war von brennender Neugierde: »Er wollte wissen, ob in einem Teil oder Winkel seines Reiches das Volk unstet war und warum.« Wenn ihm Untaten bekannt wurden, zwang er die Schuldigen, öffentlich dem ungerecht Behandelten Schadenersatz zu leisten und Sicherheit gegen die Wiederholung von Untaten zu bieten. Auch Herzöge und Grafen entgingen solcher Buße nicht. Im persönlichen Umgang zeigte Karl Wärme und Freundlichkeit. In den Versammlungen, die er in den Königshöfen in regelmäßigen Abständen abhielt, erlaubte er Gruppen von Adeligen oder Bischöfen, über die Gesetzesvorschläge, die er machen wollte, zu beraten. Bei solchen Gelegenheiten ›grüßte er die Angesehensten, unterhielt sich mit den Männern, die er selten zu sehen bekam, bezeigte den Älteren eine gütige Anteilnahme und scherzte mit den Jungen‹. In den sogenannten ›capitula‹, den Abschnitten seiner Gesetzgebung, beschäftigte sich Karl mit allen Lebensgebieten. Er regelte den Ackerbau, das Gewerbe, das Geldwesen, den Glauben. Er versuchte, die freie Bauernschaft gegen die sich aus breitende Hörigkeit zu schützen. Er ordnete auch die Verwaltung der königseigenen Güter in allen Einzelheiten. Einer seiner wichtigsten Erlässe war an die Bischöfe und Äbte des Reiches gerichtet. Er warf den Geistlichen ihre ›ungehobelte‹ und ›ungebildete‹ Redeweise vor und forderte sie auf, Schulen zu gründen, und zwar so, ›daß kein Unterschied zwischen Knechten und Freien gemacht werde, so daß alle kommen und auf der gleichen Bank Grammatik, Musik und Arithmetik betreiben können‹. Gebildete Männer konnten der Gunst Karls gewiß sein. Er ernannte seinen Biographen Einhard zum Haushofmeister und Schatzkanzler, dem auch die Überwachung des Bauwesens oblag. Die meisten Kirchen, Klöster und Herrensitze im Frankenreich wurden in römischer Bauart errichtet. Der Bogen der Toreinfahrten und der oft als Kreuz229
gänge benützten Hallen wurde getreulich nachgeahmt und blieb das Kennzeichen des romanischen Baustils. In Aachen, dem Lieblingssitz Karls, wurde seine berühmte Kapelle erbaut. Ihr Vorbild war eine Kirche in Ravenna, der Hauptstadt Theoderichs. Um sein Gotteshaus gebührend zu vollenden, ließ Karl Säulen und Zierate aus Rom und Ravenna kommen. In der ›Hofschule‹ von Aachen, einem nordischen Gegenstück zu den griechischen Hochschulen, versammelte er die namhaftesten Gelehrten, die er an sich binden konnte. Seine Versuche, in verwandtschaftliche Beziehungen zu den angelsächsischen Königen zu treten, waren mißlungen. Er hatte weder eine geeignete Flotte noch die Zeit, eine gewaltsame Annäherung an die sieben germanischen Könige durchzuführen, die im Wettbewerb miteinander Britannien beherrschten. Aber er benützte die eingeleiteten Heiratsverhandlungen dazu, angelsächsische Lehrer für die ›Hofschule‹ von Aachen zu werben. Der bedeutendste davon war der Gottesgelehrte Alkuin, der in Moral, Grammatik und Dichtung unterrichtete. Während der von kriegerischen Wanderungen so unaufhörlich beunruhigten Umwandlung des Römischen Reiches in ein seßhaftes Germanenreich waren die Überlieferungen des wissenschaftlichen Altertums verlorengegangen. In dieser unerbittlichen Übergangszeit war auch die Ausübung der Lehrtätigkeit, die als heidnisch bezeichnet worden war, gehindert worden und der Wunsch nach brotloser Gelehrigkeit erloschen. Die Anregung Karls führte zu einem Versuch, die zerrissenen Fäden der Vergangenheitsforschung wiederaufzunehmen. In der ›Hofschule‹ von Aachen schrieb Paulus Diaconus die Geschichte der Langobarden, und Karl veranlaßte die Sammlung von Volksliedern und Sagen, die in der Heldenzeit der Germanen entstanden waren. Die Sprache der Bevölkerung im austrasischen Ursprungsgebiet Karls und in seinen germanischen Landerwerbungen war im wahren Sinne des Wortes seine Muttersprache. Die ›lingua Theodisca‹, das ›Volkstümliche‹, vom Worte ›diutisc‹ und ›diot‹ abgeleitete ›Deutsche‹ begann nicht nur unter den Ungebildeten, sondern auch an den Königshöfen das Lateinische zu ersetzen oder doch zu ergänzen. Die Er230
mutigung zum Gebrauch der Volkssprache erwies sich als nötig, um den Knaben und Mädchen, in deren Elternhaus nicht lateinisch gesprochen wurde, das zur Pflicht gemachte Erlernen und Verständnis des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers zu erleichtern. Die Kirche, die in ihren wachsenden Bischofssitzen und Klöstern den christlichen Glauben lebendig verkörperte, wurde von Karl kaum anders verwaltet als seine königlichen Besitzungen oder die Grafschaften des Reiches. Er ernannte Bischöfe und Äbte nach seinem Belieben, so wie die Grafen und die Angestellten seiner Verwaltung. Er legte seine eigene Stellungnahme zum Glauben in einem Brief an den Papst fest: »Meine Pflicht ist es, die heilige Kirche überall nach außen mit den Waffen zu schirmen vor dem Angriff der Heiden und der Verwüstung der Ungläubigen, und sie im Innern zu festigen durch Anerkennung des katholischen Glaubens. Deine Pflicht ist es, meine Kriegsarbeit durch Erhebung der Hände zu Gott zu unterstützen, auf daß das Christenvolk überall und immer den Sieg habe über die Feinde seines Namens, und der Name Christi auf dem ganzen Erdball verherrlicht werde.« Durch diese rückhaltlos erklärte Aufteilung des Pflichtenkreises tat Karl dem Heiligen Vater eindeutig kund, wie er sich zum Reich Gottes auf Erden stellte. Der Heilige Stuhl besaß wohl das ›patrimonium Petri‹, den Kirchenstaat, die ›Pipinsche Schenkung‹, die Karl anerkannt hatte. Er selbst aber betrachtete sich ›überall‹ als der oberste Schirmherr der Kirche. Dieser Brief Karls war nicht an seinen geliebten Papst Hadrian I. gerichtet, dessen Tod er bitterlich beweint hatte, sondern an den Nachfolger, Leo III. der die Hilfe des mächtigen Frankenkönigs brauchte, um sich als Papst behaupten zu können. In diesen Jahren war das Ansehen Karls noch dadurch gestiegen, daß er mit Harun al-Raschid, dem weisen Kalifen von Bagdad, freundschaftliche Gesandtschaften ausgetauscht und über das Schutzrecht der heiligen Stätten in Jerusalem verhandelt hatte. Auch der erfolgreiche Kriegszug seines Sohnes Pipin gegen die Avaren, die Alkuin als ›de holte Hunnorum‹ bezeichnete, hatte die Bedeutung Karls als 231
christlicher Herrscher erhöht. Sein Ruf als unermüdlicher Verbreiter des Christentums war durch die Erhebung Salzburgs zum Erzbistum, dem die Bekehrung neugewonnener östlicher Untertanen zur Pflicht gemacht wurde, gefestigt worden. Karl hielt gerade hof in Paderborn, wo er eine ›wunderbar große‹ Kirche hatte erbauen lassen, als Leo III. unerwartet ankam. Der umstrittene Papst war mißhandelt und verbrecherischer und lasterhafter Dinge, der Unzucht und des Meineids, bezichtigt worden. Er wurde von Karl mit den höchsten Ehren empfangen und, nachdem er die neue Kirche geweiht hatte, von großen Herren des Frankenreiches nach Rom zurückgeführt. Vor einem Gericht, das die Stellvertreter Karls einsetzten, um Schuld oder Unschuld des Stellvertreters Christi auf Erden zu untersuchen, konnten die Ankläger des Papstes nichts vorbringen, was ihre Beschuldigungen hätte begründen können. Ob Karl in diesem Dezember des Jahres 800 die schicksalschwere Reise nach Rom unternahm, um die Untersuchungen gegen den Papst persönlich zu Ende zu führen, oder ob sein Besuch in Rom nur dem Wunsch entsprang, auch diesen Teil seines ungeheuren Reiches wiederzusehen, wurde nicht eindeutig festgestellt, um so weniger, als auch das bedeutsamste Ereignis seines Aufenthalts unterschiedlich dargestellt wurde. Jedoch auch die voneinander abweichenden Berichte stimmten in der äußeren Beschreibung des Geschehens überein. Erst leistete Papst Leo III. in der Peterskirche feierlich den ›Reinigungseid‹, durch den er sich selbst von aller Schuld freisprach. Dann, zwei Tage später, fand der Weihnachtsgottesdienst statt. Karl, bekleidet mit dem vorschriftsmäßigen Überwurf und den Sandalen des ›patricius Romanorum‹, kniete nieder zum Gebet. Vom Altar holte der Papst die edelsteingeschmückte Krone und setzte sie dem knienden König aufs Haupt. Die Anwesenden, die gewiß darauf vorbereitet gewesen sein mußten, riefen dreimal: »Karl, dem Augustus, dem von Gott gekrönten großen und friedbringenden Kaiser der Römer, Heil und Sieg!« Ehe sich Karl dessen versehen konnte, wurde er vom Heiligen Vater mit heiligem Öl gesalbt, und der Papst sprach ihn als Kaiser und Augustus an. 232
War der neue römische Kaiser überrascht worden? War es richtig, daß Karl gesagt habe, er hätte die Kirche nicht betreten, wenn er gewußt hätte, daß der Papst ihn zum Kaiser krönen würde? War es ihm nicht recht, die Krone vom Papst zu empfangen, der dadurch der Geber wurde, während er sich als Empfänger verpflichtete? Außerdem konnte es Schwierigkeiten mit Byzanz geben. Karl sandte unverzüglich Briefe und Botschafter an die verwitwete Kaiserin Irene, die das byzantinische Kaiserreich nach der Ermordung ihres Sohnes beherrschte, um zu verhindern, daß seine Kaiserkrönung zum Krieg führe. Er, der zum vierten Male verwitwet war, bot Irene sogar seine Hand an. Der Sturz der Kaiserinwitwe machte den Plan Karls zunichte. Aber er sicherte sich gleich durch sein Bündnis mit Harun-al-Raschid gegen einen Angriff der oströmischen Kaiser und wurde schließlich von Michael I. als ›Mitkaiser‹ anerkannt. Als Gegenleistung für dieses Zugeständnis bestätigte Karl, daß den byzantinischen Kaisern Venedig und ihre Besitzungen in Süditalien ungestört verbleiben würden. IV Der volle Titel Karls: ›Serenissimus Augustus a Deo coronatus magnus pacificus Imperator Romanum imperium gubernans et per misericordiam Dei Rex Francorum et Langobardorum‹ sollte deutlich zum Ausdruck bringen, daß er seine erhabene Stellung als Kaiser und König der Gnade Gottes verdankte. Das hatte er gewünscht. Aber daß er der erklärte Schirmherr des Heiligen Stuhles geworden war, konnte trotz seiner Anerkennung durch die Kaiser von Byzanz zu Schwierigkeiten führen. Die oströmischen Bischöfe und Priester hatten die kirchliche Oberhoheit des Papstes wiederholt angerufen, auch im berüchtigten Bilderstreit, den Papst Gregor III. durch die Verdammung der Bilderfeinde nicht beendigt hatte. Würden sie nun in geistlicher Abhängigkeit 233
von Rom bleiben wollen, von einem römischen Kaiser abhängig war? Um eine drohende Spaltung der Kirche zu vermeiden, behielt Karl auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes seinen Hauptsitz in Aachen und übersiedelte nicht in die Hauptstadt der Christenheit, wie er es geplant haben mochte. Dadurch wurde zwar ein unmittelbarer neuer Anlaß zur Trennung der christlichen Welt aus dem Wege geräumt, aber die Macht des westlichen Kaisertums verlagerte sich vom Mittelmeerraum nach dem Inneren Europas und wurde germanisch. In Aachen, seiner Kaiserstadt, hielt Karl hof. Es war ihm nicht vergönnt, friedlich zu leben. Sowohl er als auch seine Söhne mußten wiederholt zu den Waffen greifen. Nach einem letzten Feldzug gegen die Sachsen vollendete er sein Bekehrungswerk durch die Einrichtung von Kirchenprovinzen in Mainz und Köln und durch die Schaffung von Bistümern in den befriedeten Gebieten. Böhmen wurde ihm tributpflichtig, und sein Sohn Karl unterwarf die Sorben zwischen Elbe und Saale. Der Kaiser fand es an der Zeit, die Erbfolge vorzubereiten. Sein Plan war ganz ähnlich wie der seiner Vorgänger. Jeder seiner drei ehelichen Söhne sollte nach seinem Tod ein abgerundetes Königreich nach seinen in allen Einzelheiten festgelegten Grundsätzen verwalten. Die vorgesehene Teilung sollte auch der Verteidigungsbereitschaft des Reiches dienen, dem ein neuer, ganz unerwarteter und unberechenbarer Feind erstanden war. Karl sah sich zur See bedroht. Auch im fernen Norden hatten sich Reiche gebildet. Die unmittelbaren Nachbarn des Sachsen- und Friesenlandes, die Dänen, machten unter ihrem König Göttrik Einfälle in das neue Reichsgebiet. Ein Feldzug Karls gegen sie war erfolglos. Er errichtete eine Burg zur Abwehr gegen sie und die anderen Normannen, die seetüchtigen Küstenbewohner der Skandinavischen Halbinsel, die ›Wikinger‹ genannt wurden. Zu Lande konnte er diese unermüdlichen Angreifer in Schach halten. Aber sie plünderten die Küsten. Ihre mit Kriegern bemannten Schiffe erschienen plötzlich drohend vor den Häfen des Frankenreiches und machten den Seehandel unmöglich. Mit seiner gewohnten Tatkraft ließ Karl Meeres- und Flußflotten bauen und errichtete Festungen in den gefährdeten Gegenden, um den neuen Eroberern ge234
wachsen zu sein. Daß sie überall auftauchten, wo sie am wenigsten vermutet wurden, veranlaßte ihn, seine Anstrengungen zu verdoppeln. Da gab es besonders einen Zwischenfall, der den alternden Kaiser entsetzte: Als er seinen Palast in Narbonne besuchte, wurden dänische Seeräuber im Golf von Lyon gesichtet. Hatte er diese Gefahr unterschätzt? Karl schloß Frieden mit dem Nachfolger König Göttriks, aber er stellte den Schiffbau nicht ein. Er hatte den Handel bisher nur wenig gefördert. Die einzigen Kaufleute im Frankenreich, die Wirtschaftsbeziehungen mit den Nachbarländern unterhalten hatten, waren die Juden. Ihnen ließ Karl seinen besonderen Schutz angedeihen, um so mehr, als sie auch in der Gunst seines muselmanischen Verbündeten, des Kalifen von Bagdad, Harun al-Raschid, standen. Karl wollte den fränkischen Handel seetüchtig machen. ›Die Christen können sich nicht einmal mit einem Brett aufs offene Meer hinauswagen‹ – diesen prahlerischen Ausspruch eines zeitgenössischen Muselmanen wollte er machtvoll entkräften. Noch als alter Mann war Karl zu allen Unternehmungen bereit. Auch die furchtbarsten Schicksalsschläge konnten seine Willenskraft nicht erschüttern. Als seine beiden Söhne Pipin und Karl kurz nacheinander starben, erhob er den einzigen Sohn, der ihm verblieb, den schwächlichen Ludwig, in einer förmlichen Festlichkeit in Aachen ohne Beihilfe des Papstes zum Kaiser. Das geschah in seiner Kapelle in Aachen. Karl befahl Ludwig, eine Krone vom Altar zu nehmen und sich selbst aufzusetzen. Dann berief er die Bischöfe, Äbte, Herzöge, Grafen und sein Gefolge in den Palast zu Aachen. Er forderte die Versammelten auf, seinem Sohn Treue zu erweisen, und fragte alle ›vom größten bis zum geringsten, ob es ihnen genehm sei, daß er seinen Rang als Kaiser seinem Sohn Ludwig übertrage‹. Die Anwesenden erwiderten einstimmig: »Das ist eine Eingebung Gottes.« Nun ermahnte Karl seinen Sohn vor der Menge, ›den allmächtigen Gott zu lieben und zu fürchten, seine Gebote in allen Dingen zu erfüllen, die Kirchen Gottes zu verwalten und zu schützen vor bösen Menschen‹. 235
Wenige Wochen nach der Kaiserkrönung Ludwigs befiel Karl ein heftiges Fieber. Er legte sich strenges Fasten auf. Das schwächte ihn noch mehr. Er verlangte nach seinem Erzkaplan. Als er das Abendmahl empfangen hatte, schlug er mit letzter Kraft das Zeichen des Kreuzes und sang mit leiser Stimme den Bibelvers: »In deine Hände, HERR, empfehle ich meinen Geist.«
Verlagerungen der Macht im geteilten Reich I Noch während Karl der Große die Überfälle der seefahrenden Wikinger auf das Frankenreich durch die Errichtung von Küstenfestungen und den Bau von Schiffen so erschwerte, daß sie es vorzogen, ihre Raubzüge gegen andere Küsten zu unternehmen, machte sich eine Schar von kaum zweihundert dieser Normannen, die sich Waräger, das heißt ›Gefolgsleute eines Häuptlings‹, nannten, auf den Weg nach dem Osten. Sie waren vorzüglich bewaffnet und hatten schon in vorherigen Fahrten die Erfahrung gemacht, daß es nicht immer nötig sei, zu kämpfen, um zu siegen. Es genügte manchmal, mit den Einwohnern fremder Siedlungen Waren zu tauschen, um sich zu Schutzherren des neuentstandenen Handels machen zu können. Je weiter die Waräger kamen, desto vielfältiger wurden ihre Geschäftsmöglichkeiten. Solange sie am Rande des Meeres vordringen konnten, hatten sie es leicht, für Nachschub zu sorgen. Die Männer aus den alten Buchten sandten ihre Menschenund Warenüberschüsse an die Männer in den neuen Buchten und zogen viel sichereren Nutzen aus dem, Handel als aus Raubzügen. Die Waräger begnügten sich nicht mit der Ausbeutung der Küsten. Ihr Weg führte sie südöstlich in das Innere des Landes, den großen Flüssen entlang, die die Richtung der natürlichen Straßen vorzeich236
neten. Ihre Lagerhäuser wurden zu Städten, die sie befestigten, wie Nowgorod, die ›neue Festung‹. Allmählich verbanden sich viele dieser Handelsniederlassungen, die auch einheimische Ansiedler an sich zogen, zu einer staatlichen Gemeinschaft, die ›ru‹ hieß und ihren Handel weiter nach dem Südosten ausdehnte. Die bewaffneten Kaufleute aus ›rus‹ hatten genügend Waren, Pelze aus dem Nordlande, Bernstein und die Erzeugnisse der Bienenzucht, Honig und Wachs, sie handelten auch mit Sklaven, wenn der Markt es verlangte. Als Gegenwert bezogen sie Gewürze und Seidenstoffe. Sie wurden als Einkäufer und Verkäufer bekannt. Die muselmanischen Kaufleute, die als Karawanenführer gelernt hatten, um des lieben Nutzens willen keine Gefahr und Entbehrung zu scheuen, kamen den Warägern auf ihren Handelswegen entgegen. Kiew wurde der wichtigste Umschlagplatz. An der Nordküste des Schwarzen Meeres entstanden warägische Werften, auf denen auch Kriegsschiffe gebaut wurden, um den Handel im Schwarzen Meer zu beschützen. Eine Jahrhunderte später verfaßte Aufzeichnung berichtete, daß drei Brüder, Rurik, Sineus und Truvor, die von den frühen Warägern begründete Staatengemeinschaft ›rus‹ in ein Fürstentum umgewandelt hatten. Rurik wurde der erste russische Fürst. Auch nördlich und nordwestlich des germanischen Kaiserreiches brachten die Normannen Gebiete unter ihre Herrschaft. Sie drangen in die Britannischen Inseln ein und bemächtigten sich der Insel. Es gab viele normannische Stämme. Norwegen, das seinen Namen von ›Nordweg‹ der Fahrten hatte, entstand durch die Vereinigung von Nachbarn, die einander bekriegt hatten. Der erste norwegische König wurde Halftan der Schwarze. Auch das Reich Schweden begann sich zu formen. Aber das erste skandinavische Königreich, das christlich wurde, war Dänemark. Bald nach dem Tod Kaiser Karls ließ sich der Dänenkönig Harald in Mainz taufen. Auf seiner Reise hatte ihn Ansgar begleitet. Dieser ›Apostel des Nordens‹ wurde der erste Erzbischof der befestigten Stadt Hamburg, dem Ausgangspunkt seiner Bekehrungsfahrten nach Schweden. 237
II Von diesen Ereignissen nahm der Nachfolger Karls des Großen nur insoweit Kenntnis, als sie sich auf die Verbreitung des christlichen Glaubens und die Festigung der Kirche bezogen. Kaiser Ludwig war mehr seinem Großonkel Karlmann als seinem großen Vater nachgeraten. Auch er hätte Mönch werden und sich in ein Kloster zurückziehen mögen. Da seine Stellung es ihm unmöglich machte, einsam zu sein, war er in jeder Gesellschaft traurig. Er lachte niemals. Er lächelte nicht einmal bei Festen, wenn Schauspieler, Possenreißer und Musiker ihre Kunststücke zeigten. Er war immer schlechter Laune, aber in allen Angelegenheiten guten Willens. Er versuchte auch, die unermüdliche Tätigkeit seines Vaters nachzuahmen. Aber während Karl die Staatsgeschäfte mit sicherer Hand geführt hatte, war Ludwig nur geschäftig. Er verzögerte Entscheidungen, nur eine nicht, die ihm über alles am Herzen lag: Er wollte sein Reich unter seine Söhne aufteilen. Die Frömmigkeit Ludwigs war so bestimmend, daß er es nicht wagte, Stefan IV. dem Nachfolger Leos III., zu widersprechen, als der Heilige Vater darauf bestand, ihn zum Kaiser zu krönen. Gerade das hatte Karl durch die Selbstkrönung seines Sohnes vermeiden wollen, er hatte gewünscht, daß die Kaiserwürde ein erbliches und nicht ein vom Papsttum verliehenes Recht seiner Nachkommen sei. Aber Ludwig genügte, daß seine geistlichen Berater seine Ergebenheit dem Heiligen Stuhl gegenüber so anerkannten, daß er ›der Fromme‹ genannt wurde. Wichtig war ihm nur, daß in einem Reichstag zu Aachen die von ihm gewünschte Regelung des kaiserlichen Erbes beschlossen wurde. Lothar, sein ältester Sohn, sollte der künftige Kaiser sein und die Oberhoheit über seine beiden Brüder Pipin und Ludwig ausüben, die als Könige über Aquitanien, Bayern und die angeschlossenen Länder 238
herrschen sollten. Als aber die Mutter der drei Söhne starb und Ludwig aus seiner zweiten Ehe mit Judith, einer Tochter des bayrischen Grafen Welf, ein Sohn geboren wurde, wollte der Kaiser auch diesem Karl ein Herrschaftsgebiet sichern. Er verhandelte mit Lothar, den er schon zum Mitkaiser gemacht hatte. Erst stimmte Lothar dem Wunsch seines Vaters zu, aber dann widerrief er. Dennoch erkannte Ludwig dem jungen Karl Alamannien und die angrenzenden Gebiete zu. Das hatte einen Handstreich Lothars zur Folge. Der Kaiser und sein jüngster Sohn wurden in Haft gesetzt und sollten ins Kloster gesperrt werden. Seine beiden anderen Söhne verhalfen dem Vater wieder zur Macht. Er verbannte Lothar, aber da die beiden hilfreichen Brüder auch nicht bereit waren, dem jüngsten einen Reichsteil zuzuerkennen, versöhnte sich der Kaiser mit seinem verbannten Sohn, der allerdings die Versöhnung nicht ernst nahm. Lothar kam zwar zurück, aber nicht, um dem Kaiser zu helfen, sondern um sich mit Pipin und Ludwig gegen ihn zu vereinigen. Er brachte einen wichtigen Bundesgenossen mit: Papst Gregor IV. der als Vermittler zwischen den streitsüchtigen Mitgliedern des Kaiserhauses auftreten wollte. Als sich die in Eile aufgestellten Heere Ludwigs und seiner feindlichen Söhne gegenüberstanden, besuchte Gregor IV. den Kaiser, um Blutvergießen zu vermeiden. Während Ludwig noch mit dem Papst verhandelte, fielen seine Truppen von ihm ab. Der Sohn Karls des Großen ergab sich seinen aufrührerischen Söhnen. Er wurde abgesetzt und von seinen geistlichen Ratgebern veranlaßt, ein öffentliches Sündenbekenntnis abzulegen. Aber kaum ein Jahr später erklärten sich die Großen des Reiches so eindeutig für den abgesetzten Kaiser, daß seine Söhne Pipin und Ludwig für seine Freilassung und neuerliche Einsetzung eintraten. Statt des beim Volk unbeliebten Mitkaisers Lothar sollte Ludwig wieder der Kaiser sein. Es war eine schwierige Zeit. Das Reich brauchte eine einheitliche Führung. Die Normannen hatten die durch die Uneinigkeit in der kaiserlichen Familie geschwächte Verteidigung ausgenützt und das Reich in die Zange genommen. Sie waren sowohl ins Loiregebiet als auch in Friesland eingefallen. Sie mußten vertrieben werden. Das gelang Lud239
wig dem Frommen. Die kriegerischen Erfolge stärkten sein Selbstgefühl. Er kam auf seinen alten Plan zurück. Er wünschte, die Länder, die er von den Eindringlingen gesäubert hatte, seinem heranwachsenden Lieblingssohn Karl als Königreich zu vererben. Damit war keiner der anderen Söhne einverstanden. Sie einigten sich auch nicht, als Pipin starb und der Kaiser eine neue Reichsteilung zugunsten Lothars und Karls vornahm. Diesmal empörte sich der jüngere Ludwig. Die Feindseligkeiten begannen. Sie kamen erst nach dem Tode des Kaisers ernsthaft zum Ausbruch.
Der Tod des Vaters änderte nur die Partnerschaft der Brüder. Ludwig verband sich mit dem jüngsten gegen den ältesten, und es gelang ihnen, den ehemaligen Mitkaiser ihres Vaters zu schlagen. Lothar machte verzweifelte Versuche, die Übermacht wiederzugewinnen. Er schloß sogar ein Bündnis mit Normannenhäuptlingen und dem Stellingabund, dem die Sachsen und Friesen angehörten, die noch zu den alten Göttern beteten. Ludwig und Karl zogen mit ihren Gefolgsleuten nach Straßburg und leisteten in aller Öffentlichkeit einen gleichlautenden Eid, durch den sie ihre Stellungnahme bekundeten. Die ›Straßburger Eide‹ wurden von den beiden Enkeln Karls des Großen jeweils in der Volkssprache der Länder geleistet, die der andere Bruder beherrschen sollte, damit die Anwesenden auch wirklich verstünden, was den Bruderstreit herbeigeführt hatte. Ludwig erklärte den Truppen Karls in der Sprache des Westfrankenreiches und Karl den Kriegern Ludwigs mit deutschen Worten: »Wie oft Lothar nach dem Tode unseres Vaters mich und meinen Bruder verfolgte und zu vernichten suchte, wißt ihr … Wir wurden durch Gottes Barmherzigkeit die Sieger … Aber er gibt sich auch jetzt mit diesem Gottesgericht nicht zufrieden, sondern läßt nicht ab, mich und meinen Bruder voll Feindschaft zu verfolgen, ja, er sucht auch unser Volk mit Brand, Raub und Mord heim. Darum sind wir notgedrungen hier zusammengekommen und wollen, da ihr unseres Erach240
tens an unserer unerschütterlichen brüderlichen Treue noch zweifelt, sie durch diesen Eid in eurer Gegenwart bekräftigen.« Jeder der beiden Brüder verkündete: »Wenn ich wagen sollte, den Eid zu brechen, den ich meinem Bruder schwöre, so befreie ich euch von Untertanenpflicht und dem Treueid, den ihr mir geleistet habt.« Durch diese beschwörende Anrufung der Heeres- und Volksversammlung bekundeten die kaiserlichen Erben die Wichtigkeit, die sie der Meinung und Haltung ihrer Gefolgsleute beimaßen. Sie befahlen nicht, sie baten und räumten, ohne es deutlich zu sagen, den Kriegern und Großen des Reiches das Recht ein, ihre Handlungsweise zu beurteilen und sich danach zu richten. Um von ihrem Bruder Lothar unabhängig zu sein, brachten sie sich in eine Abhängigkeit von ihren Untertanen. Sie spalteten auch durch die ausgesprochene Anerkennung der Verschiedenheit der Sprachgebiete das einheitliche Reich Karls des Großen, das er ererbt und so mächtig abgerundet hatte. Die drei feindlichen Brüder einigten sich im berühmten Vertrag von Verdun, der die Reichsteilung regelte und die Grundlage zur Bildung neuer Reiche wurde. Lothar erhielt Italien und ein langgestrecktes Gebiet nördlich der Alpen, das von Friesland bis zur Küste der Provence reichte. Er hatte seinen Kaisersitz in Aachen und auch in Rom, wenn er es so wünschte, jedoch keine Oberhoheit über seine Brüder. Ludwig, der mit dem Beinamen ›der Deutsche‹ in die Geschichte einging, wurde König des Ostfrankenreiches. Karl II. erhielt das Westfrankenreich. Als Karl ›der Kahle‹ wurde er später der einzige westfränkische Herrscher, der die Kaiserwürde erlangte. III
Die Nachfolger Karls des Großen, die von der Geschichtsschreibung Karolinger genannt wurden, hatten keine glückliche Hand. Durch unaufhörliche Erbstreitigkeiten nach Todesfällen und unausgesetzte Zwi241
stigkeiten untereinander fiel das im Vertrag von Verdun so mühsam geteilte Frankenreich weiteren Teilungen anheim. Es entstanden neue Reiche, wie das Lothars II. der von seinem Vater ein Gebiet erbte, das von der Nordsee bis zu den Maas- und Moselquellen reichte und nach ihm Lothringen genannt wurde, und das Königreich Burgund, das Lothars I. zweiter Sohn, Karl, erbte, und das nach seinem frühen Tod zwischen Lothar II. und dessen ältestem Bruder Ludwig aufgeteilt wurde. Dieser beherrschte nach dem Ableben Lothars I. Italien und wurde Kaiser Ludwig II. Alle drei Brüder starben kinderlos. Ihre Hinterlassenschaft wurde der Zankapfel zwischen den beiden Onkeln, Karl II. dem Kahlen, und Ludwig dem Deutschen und dessen Söhnen Karlmann, Ludwig III. und Karl III. dem Dicken. Aber die eigentlichen Nutznießer der karolingischen Uneinigkeit wurden nicht die einzelnen, überlebenden Familienmitglieder, wenn ihre Herrschaftsgebiete auch beträchtlichen Landzuwachs erfuhren, sondern ihre Grenznachbarn und die Großen des zerfallenen Reiches, die die karolingischen Könige und Kaiser ganz ähnlich behandelten, wie die Merowinger von den Hausmeistern behandelt worden waren. Die Söhne Ludwigs des Deutschen teilten die Länder, die er durch den Vertrag von Verdun erworben und hinzugeerbt hatte, untereinander auf: Karlmann erhielt Bayern und die südöstlichen Marken; Ludwig III. der ›der Jüngere‹ genannt wurde, Mainfranken, Thüringen und Sachsen und Karl III. der Dicke, Alamannien. Nach dem Tod seiner Brüder wurde Karl der Dicke Alleinherrscher im Ostfrankenreich und später auch Nachfolger Karls des Kahlen als Kaiser und Beherrscher des Westfrankenreichs. Seine Herrlichkeit war von kurzer Dauer. Er wurde von den Großen des Reiches zur Abdankung gezwungen. Er galt als verschollen. Ein Sohn seines Bruders Karlmann, Arnulf von Kärnten, wurde sein Nachfolger als Kaiser. Dessen Sohn, Ludwig IV. das Kind, war der letzte deutsche Karolinger.
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Das große, einheitliche Frankenreich war zerfallen. Das Westfrankenreich wurde zu Frankreich, in das die Normannen von allen Seiten eindrangen. In dieser Schreckenszeit wurde sogar Paris geplündert und niedergebrannt. Keine Gegend war vor den wilden Angreifern sicher. Sie brandschatzten auch Klöster und Kirchen. Die allgemeine Angst vor ihnen wurde so heftig, daß die Bewohner des ehemals so reichen und gesicherten Landes in ihren Gebeten zu Gott flehten: »Befreie uns von der Wut der Normannen!« Die finsteren Zeiten begannen sich erst zu lichten, als sich die Normannen mit dem Mündungsgebiet der Seine als Lehensherzogtum zufriedengaben. Auch im Süden des Westfrankenreichs entstanden zwei selbständige burgundische Königreiche. Das Ostfrankenreich, dessen friedlose Herrscher nur selten untereinander einig waren, mußte sich gegen das neuentstandene großmährische Reich des slawischen Fürsten Swatopluk (= Zwentibold) behaupten und gegen die Angriffe des in das ehemalige Pannonien eingedrungenen, aus Asien stammenden Volkes der Magyaren, die sich in ihrer Kampfart nur wenig von den Hunnen und Avaren unterschieden. Auch die von Karl dem Großen so mühsam erkämpften nördlichen Landesteile mußten verteidigt werden. Die Normannen, die Hamburg schon unter Ludwig dem Deutschen zerstört hatten, verheerten das Sachsenland und konnten nur durch Geld und Landverleihungen beschwichtigt werden. Erst Arnulf von Kärnten gelang es, sie zu besiegen. Im Mittelmeerraum setzten die Muselmanen ihre Eroberungen fort. Sie machten sich Aufstände der ehemaligen Langobarden gegen die Nachfolger Karls des Großen zunutze. Für kurze Zeit verbündeten sich die byzantinischen Kaiser mit den Karolingern und ihren hohen Würdenträgern, um die gefährdete christliche Welt gegen den Islam zu schützen. Die verzweifelte Lage der gekrönten Häupter des Westens begünstigte den Ehrgeiz der örtlichen Grafen und erblichen großen Herren nicht nur auf italischem Boden, wo sich Markgraf Bererigar zum König krönen ließ und seinen selbsttätig angenommenen Titel gegen kö243
nigliche Wettbewerber aller Art und die Angriffe von außen verteidigte, sondern auch in den Ländern des Frankenreiches Karls des Großen. Die Stammesherzogtümer, die der Kaiser vernichtet hatte, entstanden wieder in neuer Form. Die Abkömmlinge uralter Adelsgeschlechter wurden als Herzöge zu Stammvätern neuer Fürstenfamilien, in Schwaben und Bayern, in Thüringen, Sachsen und Franken. Sie hielten hof wie Könige, aber waren doch bereit, den Königen und Kaisern, die sie anerkannten, Gefolgschaft zu leisten. Das Unabhängigkeitsbedürfnis dieser großen Herren war dadurch beschränkt, daß sie sich trotz all der Macht, die sie in den Jahrzehnten der königlichen Zerwürfnisse errungen hatten, allein nicht stark genug fühlten, um den von allen Seiten gegen die Grenzen des Reiches anstürmenden Feinden gewachsen zu sein. Sie waren auch ihrerseits in ihrer Machtentfaltung von den kleineren Herren in ihren Gebieten abhängig und von den Äbten und Bischöfen, die innerhalb ihrer Länder nicht nur geistliche, sondern auch wirtschaftliche und militärische Bedeutung hatten. Viele Klöster und Bischofssitze waren in Festungen umgewandelt worden, um nicht gegen einen Angriff anstürmender Slawen, Magyaren oder Normannen wehrlos zu sein. Die Herrenhöfe der adeligen Grundbesitzer waren zu Burgen geworden, die in ihren Mauern fliehende Bauern und Hörige aufnehmen und bewaffnen konnten, damit sie mit ihrer Hilfe, für sie und für sich, die von Eindringlingen besetzten Ländereien wieder erobern könnten. Die Burgherren auf ihren Bergeshöhen beherrschten das umliegende Land, oft als unabhängige Grundbesitzer, die sich den Herzögen gegen Belohnung zur Dienstleistung verpflichteten, und auch als Lehensmänner, die von den Herzögen Burgen gegen die Verpflichtung zur Dienstleistung erhalten hatten.
Wie das Leben der Bevölkerung in dieser grausamen Zeitenwende seinen ernsten und heiteren Fortgang nahm, schilderte Victor von Scheffel in seinem Roman ›Ekkehard‹. Die Irrungen und Verwirrungen des 244
Mönches von Sankt Gallen, der als Verfasser des Walthariliedes galt, kennzeichneten die Unsicherheit seiner Zeitgenossen in geistigen und geistlichen Belangen. In lebendiger Darstellung ergänzt die Dichtung Victor von Scheffels die spärlichen Urkundenberichte der Zeit.
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Ekkehard
Von Victor von Scheffel
I Im Hegau, dem milden Hügelland zwischen dem Schwarzwald und dem Bodensee, der das Schwäbische Meer genannt wird, stand die Burg Hohentwiel. Von dort aus hatte Burkhard, der Herzog von Schwaben, seine Länder verwaltet. Er war ein tapferer Krieger gewesen, der es immer mit dem Kaiser gehalten hatte, einerlei, ob es gegen die Welschen gegangen war oder die Ungarn, oder ob es gegolten hatte, einen Bischof oder einen Grafen in seine Schranken zu weisen. Kurz vor seinem Tod hatte sich Burkhard mit der Tochter des Herzogs von Bayern vermählt. Hadwig hatte ihn nur ihrem Vater zuliebe genommen und ihn als pflichtbewußte Gattin gepflegt, wie es seinem Alter zugekommen war. Als Burkhard starb, war ihr Kummer nicht sehr groß. Sie begrub den Herzog von Schwaben in der Gruft seiner Väter und ließ ihm ein Grabmal aus grauem Sandstein setzen. Manchmal ging sie zu seinem Grab hinunter, um dort zu beten. Aber das tat sie nicht allzu oft. Vom Kaiser war ihr das Recht zugesichert worden, daß sie als Reichsverweserin über Schwaben gebieten könne, solange sie Witwe bliebe. Nun herrschte sie allein auf Burg Hohentwiel über die Erbgüter des Schwäbischen Hauses, über das Hochstift Konstanz und die anderen Klöster in der Umgebung des Bodensees. Hadwig war von einer eigenartigen Schönheit: Reiches kastanienbraunes Haar umrahmte ihr Gesicht. Über dem weichen, vollen Mund stand die feine, etwas kurze Nase, doch das energische Kinn verriet ein strenges Wesen, und mancher fürchtete ihren scharfen Verstand. An jenem Morgen blickte Hadwig aus einem Fenster ihrer Burg mißmutig in die Landschaft. Sie trug ein stahlgraues Kleid, das bis zu den gestickten Sandalen reichte. Der mit Edelsteinen besetzte Gürtel hielt 247
ihre schwarze Tunika um die Mitte zusammen. Wohlriechende Kräuter brannten in einem dunkelgrün gebeizten Metallgefäß, das auf einem Marmortisch neben dem Fenster stand. In weißen Wölkchen verbreitete sich ihr Duft im hochgewölbten Raum. Die Stille wurde durch das Eintreten des Kämmerers Spazzo unterbrochen. Er bemühte sich vergeblich, die Aufmerksamkeit der Herzogin auf sich zu lenken. Ungeduldig wartete er im Türrahmen, strich sich wohlgefällig über sein besticktes Leinenhemd und rückte das neue saphirfarbige Oberkleid mit dem Purpursaum zurecht. Endlich wandte sich die Herzogin um. Spazzo begann unverzüglich seinen Bericht. Die Hunde des Grafen von Fridingen hatten zwei Lämmer aus der Herde zerrissen, und der Kämmerer wollte nun von der Herzogin wissen, ob er beim Gericht Klage erheben solle. Hadwig unterbrach ihn durch ein unwilliges Zeichen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie sich an ihre Stirn. Spazzo begriff bald, daß es ihm überlassen war, die richtige Lösung zu finden. Noch während er sich zum Abschied verbeugte, rief Hadwig ungeduldig: »Praxedis!« Es dauerte nicht lange, bis die Kammerfrau eintrat. Sie war eine Griechin, die ihr der Sohn des byzantinischen Kaisers Basilius, der sich vor der Ehe Hadwigs mit dem Herzog von Schwaben um ihre Hand bemüht hatte, neben vielen kostbaren Schmuckstücken geschenkt hatte, damit die Dienerin sie mit ihrem Gesang und weiblichen Kunstfertigkeiten erfreue. »Praxedis, hol mir meinen Schmuck!« Das Mädchen brachte das kostbare Kästchen herbei. Auf rotem Samtfutter leuchteten der Herzogin die Edelsteine entgegen. Daneben lag eine kostbare Miniatur des griechischen Prinzen. »Was meinst du, wie es mir ergangen wäre«, sagte sie zu Praxedis, »wenn ich deinen spitznasigen Prinzen zum Mann genommen hätte?« »Es wäre Euch sicher gut ergangen.« »Erzähl mir etwas von deiner langweiligen Heimat!« »Solch trüber Himmel wie hier wäre Euch am Ufer des Marmorsees erspart geblieben.« Wehmütig blickte Praxedis vor sich hin. »Wenn wir 248
auf einer Galeere dorthin gefahren wären, an den sieben Türmen vorbei, hätten wir die Paläste und die Kuppeln der Gotteshäuser gesehen, alles aus blendend weißem Marmor. Aus blauem Grund erhebt sich ein dunkler Wald von Zypressen, dahinter die riesige Wölbung der Hagia Sophia. Uns gegenüber am asiatischen Ufer grüßt eine zweite Stadt. Wenn die Sonne untergeht und die Nacht über den flimmernden Wellen des Meeres heraufsteigt, leuchtet im blaufahlen Glanz das griechische Feuer. Stellt Euch vor: Wir fahren in den Hafen ein. Am Ufer stehen des Kaisers Leibwache mit ihren zweischneidigen Streitäxten und die blauäugigen Normannen. Dort wartet der Patriarch mit zahllosen Priestern. Überall Musik und Jubelruf. Der junge Königssohn empfängt die Braut und führt sie im Festzug zum Palast von Blacharnae.« »Und all diese Herrlichkeit habe ich versäumt«, spottete Hadwig, als Praxedis geendet hatte. »Weißt du, was der Byzantiner über mich sagte, der mich malen sollte?« »Es ist schon lange her«, zögernd kam die Antwort der Dienerin, »er hatte nicht viel Gutes über Euch zu berichten. Er lobte Eure Anmut, doch als er Euch malen wollte, habt ihr ihm die Zunge gezeigt und die Hände mit gespreizten Fingern an die Nase gehalten. Er sprach sehr abfällig über den Mangel an Bildung in Deutschland und schwor, dort nie mehr ein Fräulein zu malen …« Hadwig hatte unterdessen eine goldene Armspange angelegt und sich einen mit Edelsteinen geschmückten Pfeil ins Haar gesteckt. Langsam ging sie durch den Raum, doch sie fand keinen Spiegel, in dem sie ihre Schönheit hätte bewundern können. Ungeduldig mit sich und der Einsamkeit, fragte sie Praxedis: »Warum hab' ich mich so festlich geschmückt?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Griechin. Nachdenklich blieb Hadwig stehen. »Ich glaube, es geschah aus Langeweile«, sagte sie schließlich. Unzufrieden fuhr sie fort: »Diese Burg ist auch ein gar zu trauriger Aufenthalt – besonders für eine alleinstehende Frau. Weißt du kein Mittel gegen die Langeweile, Praxedis?« »Ich habe von mancherlei Mitteln gehört –«, erwiderte die Griechin eifrig: »Schlafen, Trinken, Reisen – doch am besten sei Fasten und Beten.« 249
Die Herzogin blickte Praxedis forschend an. »Morgen reisen wir!« sagte sie. Ihr Befehl hatte den Unterton einer Frage.
II Am nächsten Morgen brach die Herzogin von Schwaben mit Praxedis und einem großen Gefolge auf. Sie fuhren über den Bodensee. Alle waren in prächtiger Stimmung, doch wußte keiner, wohin die Fahrt ging. Als sie in die Bucht von Rorschach kamen, befahl Hadwig anzulegen. Der Schiffszöllner, der Marktschreier und alle die anderen, die im Hafen zu tun hatten, fanden sich zum Empfang ihrer Herrin ein. Grüßend schritt sie durch die Menge, und auf ihren Befehl verteilte der Kämmerer Spazzo Silbermünzen unter die Leute. Doch schon ging es weiter. Sie bestiegen die Pferde, die in der Nacht vorausgeschickt worden waren, und dann hieß es: »Nach St. Gallen!« Die Dorfleute wunderten sich über diese Wallfahrt, aber niemand gab Antwort auf ihre staunenden Fragen. Die Mittagszeit war vorüber, tiefe Ruhe lag über dem Tal von St. Gallen. Stattlich ragte der achteckige Kirchturm aus den schindelgedeckten Dächern der Wohngebäude. Häuser, Kornspeicher, Scheunen und auch eine Kellerei waren darangebaut, ein klapperndes Mühlrad war zu hören, denn der Bedarf zum Lebensunterhalt mußte in nächster Nähe des Klosters bereitet werden. Eine feste Ringmauer mit Turm und Tor umschloß alle Gebäude, denn es waren unsichere Zeiten. Romeias, der Wächter, hielt aus seiner Turmstube aufmerksam Ausschau über das Land. Plötzlich horchte er auf: Vom Wald her vernahm er das Geräusch von herannahenden Reitern. Er ließ das Gitter des Tores fallen und 250
zog die Brücke, die über den Wassergraben führte, auf. Dann blickte er wieder zum Wald hinüber und konnte kaum glauben, was er sah. »Weiber!« rief er staunend, fast ärgerlich, griff nach seinem Horn und blies dreimal hinein. An den Fenstern der Klosterschule zeigten sich neugierige Gesichter. Abt Cralo, der seine Mittagsruhe gehalten hatte, rieb sich verschlafen die Augen und fuhr aus seinem Lehnstuhl auf. Er hinkte zum Fenster, um nachzusehen, was der Lärm bedeute … »Heiliger Benedikt!« Er bekreuzigte sich. »Meine Base, die Herzogin!« Er zog seine Kutte zurecht, fuhr sich übers Haar, hängte sich die goldene Kette um, bückte sich nach seinem Stab mit dem Elfenbeingriff und eilte in den Hof hinunter. »Wird's bald?« rief einer der Reiter von draußen. Der Abt seufzte und stieg zu Romeias auf den Turm. Auf seinen Stab gestützt, erteilte er der wartenden Schar seinen Segen und sprach: »Im Namen des heiligen Gallus danke ich für euren Besuch – doch einlassen kann ich euch nicht. Das Kloster ist keine Herberge, in die jeder kommen kann, und die Nähe einer Frau, auch wenn es die mächtigste im Lande ist, bedeutet eine allzu große Versuchung für diejenigen, die nach dem Reich Gottes trachten und seiner Gerechtigkeit dienen.« »Spart euch die Worte, Vetter Cralo!« rief die Herzogin ungeduldig zu ihm hinauf. »Ich will das Kloster sehen.« Wehmütig begann der Abt von neuem: »Wehe dem, durch den Ärgernis in die Welt kommt! Es wäre besser, daß an seinem Hals ein Mühlstein …« Hadwig unterbrach ihn scharf: »Herr Abt, die Herzogin von Schwaben muß das Kloster sehen.« Cralo erkannte, daß jeder weitere Widerstand schlimme Folgen für sein Kloster haben könne, aber da er selbst keinen Ausweg mehr wußte, wollte er sich mit den Ordensbrüdern beraten. Langsam schritt er über den Hof zurück. Fünfmal erklang die Glocke in der Kapelle neben der Hauptkirche und rief die Mönche zur Versammlung in den Kapitelsaal. Bald 251
hatten sich alle eingefunden, Notker, der Arzt, Tutilo, der sich so gut aufs Schnitzen verstand, Sintram, ein bekannter Schreiber, der Prediger Gerhard und alle die anderen in ihren weißen Kutten unter dem dunklen Oberkleid. Abt Cralo ließ sich auf dem hohen Steinsitz nieder und trug den versammelten Priestern den schwierigen Fall vor. Die strengeren Brüder murrten. Als ihr Wortführer erklärte Notker, der Arzt: »Sie ist die Witwe eines Landverwüsters und Klosterschänders. Er hat uns die kostbaren Kelche als Kriegssteuern weggenommen und höhnend dazu gesagt: ›Gott ißt nicht und Gott trinkt nicht! Wozu braucht er dann goldene Gefäße?‹ Ich stimme dafür, daß für sie das Tor verschlossen bleibt.« Das war dem Abt nicht recht. Die Beratung ging hin und her. Als Bruder Volo hörte, daß von einer Frau die Rede war, schlich er sich leise davon. Da erhob sich einer der jüngeren Priester und bat um das Wort. »Sprecht, Bruder Ekkehard!« forderte der Abt ihn auf. Alle verstummten, denn sie hörten Ekkehard gern. Er war jung und hochgewachsen, aber er galt als weise und beredt. Obwohl die Ordensregel vorschrieb, daß ein weiser Greis zum Pförtner bestimmt werden müsse, waren die Brüder eins, daß Ekkehard die berufliche Eignung zum Pförtner besitze. Ein kaum sichtbares Lächeln hatte bei dem Streit der Alten auf Ekkehards Lippen gelegen. Jetzt begann er mit überlegener Bestimmtheit: »Die Herzogin von Schwaben ist der Schirmvogt unseres Klosters und in dieser Eigenschaft einem Manne gleichgestellt. Wir können ihr daher den Eintritt nicht verwehren. Doch da in den Satzungen steht, eine Frau dürfe die Schwelle nicht betreten, kann man sie ja über die Schwelle tragen.« Beifällig nickten die Kapuzen. Alle waren mit dem Vorschlag Ekkehards einverstanden. Der Abt erklärte: »Oftmals offenbart der Herr einem jüngeren das Beste. Bruder Ekkehard, Ihr seid sanft wie die Taube, aber klug wie die Schlange. Ihr sollt Euren eigenen Ratschlag ausführen. Wir geben Euch Dispens.« 252
Dem Pförtner schoß das Blut in die Wangen. Der Abt tat, als bemerke er es nicht. »Und die weibliche Begleitung der Fürstin?« fuhr er fort. Die Versammlung war sich einig, daß auch die freimütigste Gesetzesauslegung den Frauen Hadwigs den Aufenthalt im Kloster nicht erlauben könne. Sie beschlossen, die Begleiterinnen der Herzogin zu den Klausnerinnen auf dem Irenhügel zu schicken. Der Abt hatte noch eine lange Verhandlung mit Gerold, dem Schaffner, wegen des Vesperimbisses, den er der hohen Frau vorsetzen wollte. Dann stieg er von seinem Steinsitz und zog mit den Brüdern zum Tor. »Wie geht's Euch, Vetter Cralo?« rief ihm Hadwig entgegen. »Ich hab' Euch lange nicht gesehen. Hinkt Ihr noch immer?« Der Abt ging nicht auf ihre leichtfertige Rede ein. Mit ernstem Gesicht teilte er Hadwig den Beschluß der Klosterversammlung mit. Ganz gegen sein Erwarten erwiderte sie mit einem Lächeln: »Seit ich Herzogin von Schwaben bin, ist mir ein solcher Vorschlag noch nie gemacht worden. Doch ich will mich der Vorschrift Eures Ordens gerne fügen. Welchem der Brüder habt Ihr das Amt zugesprochen, mich über die Schwelle zu tragen?« Ihre Augen überflogen suchend die Reihen der Geistlichen. In feierlichem Ton kam die Antwort: »Es ist die Aufgabe des Pförtners. Dort steht er!« Hadwig wandte sich um und folgte der Richtung, die der Zeigefinger des Abtes gewiesen hatte. Sie sah Ekkehard, der mit gesenktem Haupt, die Wangen leicht gerötet, vor ihr stand. Sie maß ihn mit einem langen Blick. Was sie sah, schien ihr zu gefallen: die gedankenbewegten Züge, das wallende blonde Haar, das über die breite Tonsur fiel. Sie sprang aus dem Sattel, trat auf ihn zu und sagte: »Tut Eure Pflicht!« Ekkehard hatte die Absicht gehabt, sich wegen der ungewöhnlichen Berührung in tadellosem Latein zu rechtfertigen. In ihrer Nähe versagte ihm die Stimme. Aber er blieb doch unverzagten Mutes und umfaßte die Herzogin mit starkem Arm. 253
Hadwig schmiegte sich an ihren Träger und legte ihre Hand auf seine Schulter. Festen Schrittes trug er sie über die Schwelle, die kein Frauenfuß betreten durfte. Abt Cralo, der Kämmerer Spazzo und die anderen Diener der Fürstin folgten ihnen. Die Klosterknaben schwangen die Weihrauchfässer, die Mönche stimmten ein Loblied an und zogen in langen Reihen hinterdrein. »Ich bin Euch wohl schwer geworden?« fragte die Herzogin, als Ekkehard sie endlich absetzte. »Hohe Herrin«, erwiderte der Mönch leise, »es steht geschrieben: Mein Joch ist sanft, und meine Bürde ist leicht.« »Ich hätte nicht gedacht«, spottete sie, »daß man die Worte der Heiligen Schrift in einer Schmeichelrede anwenden kann. Wie heißt Ihr?« »Ekkehard.« »Ich danke Euch, Ekkehard.« Dann wandte sich die Herzogin von ihm ab und folgte dem Abt, der seine Gäste in die Kirche geleitete.
III Während der Wächter Romeias die Frauen der Herzogin zu den Einsiedlerinnen auf dem Irenhügel brachte, hielt Hadwig Andacht am Grabe des heiligen Gallus. Dann wollte ihr der Abt den Klostergarten zeigen, doch sie wünschte, zuerst den Kirchenschatz zu sehen. Er versuchte, sie davon abzubringen: St. Gallen sei nur ein armes Kloster, und die Schätze, die der Abt ihr zu bieten habe, könnten sich gewiß nicht mit denen vergleichen, die seine Base am Kaiserhof und auf ihren Reisen gesehen habe. Seine Ausflüchte halfen ihm nichts. Sie traten in die Sakristei. In riesigen, braunen Schränken hingen die purpurnen Meßgewänder und reich bestickte Priesterornate. Der Abt ließ die Truhen öffnen, in denen die silbernen Ampeln aufbewahrt wur254
den, die Kronen und Streifen aus getriebenem Gold zur Einfassung der Evangelienbücher, die die Mönche von ihren Fahrten nach Italien mitgebracht hatten. Staunend bewunderte Hadwig kostbare Altargefäße, seltsam geformte Leuchter, Schalen und getriebene Weihrauchkessel. Dem Kämmerer Spazzo, der die Herzogin und den Abt begleitete, kamen allerlei unfromme Gedanken: Er schätzte den Wert jedes Stückes und überlegte, wieviel vorteilhafter es wäre, gegen diese Klosterbrüder in den Kampf zu ziehen und sich ihres wertvollsten Besitzes zu bemächtigen, anstatt die Gastfreundschaft mit ihnen zu pflegen. Auch der Abt dachte daran, daß der allzu lange Anblick der Klosterschätze den Neid und die Habsucht seiner Gäste erregen könne. Er ließ die letzte Truhe, in der die wertvollsten Kostbarkeiten aufbewahrt wurden, nicht aufschließen und beeilte sich, die Herzogin und ihr Gefolge in den Klostergarten zu führen. Dort gab es Gemüsebeete, Heilkräuter, Obststräucher und auch den Tiergarten. Hier hielten die Brüder Bären, Affen, Meerkatzen, Murmeltiere, einen alten Steinbock, der in der Gefangenschaft erblindet war, Dachse und viele seltene Vögel, die dem Kloster von fremden Gästen geschenkt worden waren. Auf ihrem Rundgang begegneten der Abt und seine neugierigen Gäste den jüngsten Zöglingen der Klosterschule. In langen, wohlgeordneten Reihen zogen die Knaben, ehrfürchtig grüßend, an der Herzogin vorüber. Alle waren in Kutten gekleidet. Manchen hatte man sogar schon die Tonsur geschoren, und sie hielten den Blick gesenkt, als ob sie sich schon des Ernstes ihres zukünftigen geistlichen Berufes bewußt wären. Die Herzogin war gerührt. »Sind alle Eure Schüler so gut erzogen?« »Die Disziplin unterscheidet den Menschen vom Tier«, gab der Abt würdevoll zur Antwort. »Wenn Ihr Euch davon überzeugen wollt, will ich Euch gerne zeigen, wie der Unterricht der Laienschüler vor sich geht.« Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Die Schüler waren zum größten Teil Söhne vornehmer Familien aus der Umgebung. Sie saßen geduckt über ihren Pergamenten und folgten den Ausführungen Bru255
der Ratperts über die Lehren des Aristoteles. Sie beachteten kaum die Anwesenheit des hohen Besuches, doch der Lehrer wollte sich mit seinen Zöglingen hervortun. Der beste unter ihnen sollte seine Übersetzung in flüssiger Rede vortragen. Während der Knabe sprach und in ausführlichen Worten die griechische Logik darstellte, machte sich unter den anderen eine Unruhe bemerkbar. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Plötzlich sprangen sie wie auf Befehl von ihren Bänken auf, drängten sich an die Herzogin heran und umringten sie. »Gefangen! Gefangen!« jubelten sie. Ratpert drohte mit der Rute, aber er konnte die Ordnung nicht wiederherstellen. Der Abt stand sprachlos. Hadwig aber, die alles Ungewohnte liebte, schickte sich vergnügt in ihre neue Lage. »Was soll das?« fragte sie. Einer der Knaben trat vor und beugte das Knie vor ihr: »Jeder Fremde, der schutzlos zu uns kommt, wird gefangengehalten, bis er sich loskauft.« »So will ich mich loskaufen.« Hadwig lachte. »Was wollt Ihr als Lösegeld!« »Der Bischof von Konstanz war auch unser Gefangener«, erklärte der Knabe. »Er hat uns drei zusätzliche Ferientage erwirkt und es auch schriftlich festgelegt.« »Ich muß es zumindest dem Bischof gleichtun.« Hadwig überlegte. »Zum Andenken an mich sollt ihr jährlich sechs Bodenseefische erhalten.« »Lang lebe die Herzogin von Schwaben!« schrien die Knaben. »Sie ist frei!« In fröhlicher Ausgelassenheit begleiteten sie Hadwig zur Tür. Die Herzogin fühlte sich von den ungewohnten Ereignissen des Tages ermüdet. Sie wollte die Klosterbücherei nicht mehr besichtigen. Auf dem Weg zu den Gemächern des Abtes sah sie vom Kreuzgang aus durch eine halboffene Tür in einen kleinen Raum. Vor der kahlen Wand stand eine niedere Säule, an der eine Kette angebracht war. Über 256
dem Eingang bemerkte sie, in blassen Farben gemalt, das Bild eines Mannes mit einer Rute. In großen Buchstaben stand darunter: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er.« Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu. »Das ist die Geißelkammer.« Er nötigte sie weiterzugehen. Im Zimmer des Abtes setzte sich Hadwig erschöpft in einen Lehnstuhl, um bis zum Abendessen auszuruhen. Es dauerte nicht lange, bis die Glocke die Brüder zur Mahlzeit rief. Als die Herzogin mit ihrem Gastgeber die hohe, säulengeschmückte Halle des Refektoriums betrat, waren schon alle Brüder versammelt. Sie standen in langen Reihen um die Tafel. Ekkehard, der Pförtner, sprach das Tischgebet. Mit Unwillen bemerkte der Abt, daß die Herzogin die ganze Zeit unverwandt auf Ekkehard blickte. Als das Gebet beendet war, konnte er es nicht verhindern, daß sie dem Pförtner, der sie über die Schwelle getragen hatte, befahl, den Platz neben ihr einzunehmen. Die Mahlzeit begann. Der Küchenmeister hatte dem Besuch alle Ehre erwiesen und ließ statt der üblichen, sehr karg bemessenen Klosterkost die ausgesuchtesten Speisen auftragen. Schüssel folgte auf Schüssel: Hirschbraten, Bärenschinken, Fasane, Rebhühner, Turteltauben. Es gab auch eine reiche Auswahl von Fischen aus dem Klosterteich. Manchem der Brüder fiel es schwer, Mäßigung zu üben. Auch für Getränke war reichlich gesorgt. Während der Mahlzeit bemühte sich der Abt redlich, seine Base zu unterhalten. Er begann, des verstorbenen Herzogs Burkhard gute Eigenschaften zu loben, aber bald merkte er an Hadwigs einsilbigen Antworten, daß die Liebe einer Witwe zu ihrem toten Gatten nicht ewig währt. Er lenkte das Gespräch auf den Besuch der Klosterschule. »Die Kinder tun mir leid, die in ihren jungen Jahren schon so vieles lernen müssen«, sagte die Herzogin. »Ist das nicht wie eine Last, die Ihr ihnen aufbürdet und an der sie zeitlebens schleppen?« »Verzeiht, liebe Base«, erwiderte der Abt, »daß ich Euch als Freund und Blutsverwandter ermahne, weniger in den Tag hineinzureden. Das Studium der Wissenschaft ist für den jungen Menschen kein lä257
stiger Zwang. Es ist wie Erdbeeren: je mehr man davon genießt, desto größer wird der Hunger.« »Was haben aber die heidnischen Sprachen mit der Gotteslehre zu tun?« fragte sie spöttisch. »Ich selbst habe bisher recht gut gelebt, ohne Latein zu sprechen.« »Es würde Euch nicht schaden, es noch zu lernen«, erwiderte der Abt. »Wenn Ihr die Wohllaute des Lateinischen vernehmt, werdet Ihr zugeben müssen, daß unsere deutsche Sprache im Vergleich recht ungelenk und rauh klingt.« Er setzte hinzu: »Außerdem sind die Schriften der Römer voll Weisheit. Fragt Ekkehard, der an der Klosterschule den Vergil lehrt. Er wird's Euch bestätigen.« Ekkehard, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, stimmte eifrig zu. »Es ist wahr, hohe Herrin«, sagte er. »Glaubt mir, es ist in allen Lebenslagen gut, wenn man sich bei den Klassikern Rat holen kann.« Die Herzogin wurde von seiner Begeisterung eigenartig berührt. Sie selbst begeisterte sich immer für neue, fremdartige Dinge. Als der byzantinische Prinz um sie warb, hatte sie Griechisch gelernt. Vor dem Lateinischen hatte sie bisher nur Ehrfurcht gehabt. Nun wollte sie es lernen. Zeit genug hatte sie, und ein weiterer Blick auf Ekkehard genügte für sie zu wissen, wer ihr Lehrer sein sollte. Unterdessen war der Nachtisch aufgetragen worden, Pfirsiche, Melonen, trockene Feigen. Die lebhaften Reden an den anderen Tischen ließen darauf schließen, daß alle dem Wein eifrig zusprachen. Nach dem Essen wurde wie üblich aus der Heiligen Schrift oder aus dem Leben der Heiligen vorgelesen. Am Abend vorher hatte Ekkehard mit dem Leben des heiligen Benedikt begonnen, und er setzte nun fort: »Eines Tages aber, als er allein war, erschien ihm der Versucher. Es folgte eine so große Versuchung des Fleisches, wie sie der heilige Mann noch nie verspürt hatte. Vor langer Zeit hatte er eine Frau gesehen. Diese führte ihm der böse Feind jetzt vor die Augen des Geistes und entzündete sein Herz mit solchem Feuer, daß eine verzehrende Liebe in ihm zu glühen begann. Von Lust und Sehnsucht überwältigt, wollte er seinen Einsiedlerstand verlassen. Da warf die Gnade des Himmels 258
einen Schein auf ihn, daß er zu sich selbst zurückkehrte. Er sah neben sich ein Gebüsch von Nesseln. Er zog sein Gewand aus und warf sich nackt in den Brand der Nesseln, bis er am ganzen Körper verwundet war. So löschte er des Geistes Wunde durch die Wunden der Haut und siegte über die Sünde …« Hadwig war von dieser Vorlesung nicht erbaut. Gelangweilt blickte sie über den Saal. Auch Spazzo, dem Kämmerer, dem der Wein schon zu Kopf gestiegen war, schien das Ende der Versuchung des heiligen Benedikt nicht zu gefallen. Kurzerhand schlug er das Buch zu, aus dem Ekkehard vorlas. »Der heilige Benedikt soll leben!« rief er und hielt Ekkehard seinen Pokal entgegen. Einige der jüngeren Brüder stimmten in den Trinkspruch ein: »Der heilige Benedikt soll leben«, riefen auch sie und begannen ein Loblied auf den Schutzpatron des Klosters. Hadwig aber neigte sich zu Ekkehard: »Würdet Ihr mich Latein lehren, wenn ich es wollte?« fragte sie leise. Wirf dich in die Nesseln und sag nein! ging es ihm durch den Sinn. Doch er faßte sich rasch und sagte: »Befehlt – ich gehorche!« Hadwig warf ihm einen sonderbaren Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an den Abt und sprach mit ihm über gleichgültige Dinge.
IV Früh am nächsten Morgen brachen die Gäste auf. Die Herzogin hatte sich jegliche Abschiedsfeierlichkeiten verbeten, und der Abt fügte sich ihrem Wunsch nur allzu gern. Nun kam er, nur von zwei Brüdern begleitet, zum Tor. Der eine trug ein prachtvolles Kristallgefäß, dessen silberner Fuß mit Onyxen und Smaragden verziert war, der andere einen aus Gold getriebenen Krug mit Wein. Abt Cralo füllte ein wenig davon in das Kristallgefäß, reichte der Herzogin den Trunk und bat sie, den kostbaren Becher als An259
denken zu behalten. Hadwig ergriff das Gefäß, nippte ein wenig am Wein, dann gab sie den Becher wieder zurück. »Was soll ich damit?« sagte sie. »Ich trinke nicht oft. Ich wünsche ein anderes Gastgeschenk. Ihr hat gestern von den Quellen der Weisheit gesprochen … ich möchte den Vergil aus Eurer Bücherei!« »Ihr scherzt wohl«, antwortete der Abt erleichtert, denn er hatte eine kostspieligere Forderung erwartet. »Was wollt Ihr mit dem Vergil, wenn Ihr das Lateinische nicht könnt?« »Es versteht sich von selbst, daß Ihr mir den Lehrer dazu gebt.« Der Abt schüttelte betrübt den Kopf. »Seit wann werden die Jünger des heiligen Gallus verschenkt?« »Der blonde Pförtner soll mein Lehrer sein«, sagte sie in bestimmtem Ton. »Ich wünsche, daß er sich mitsamt dem Vergil in längstens drei Tagen bei mir auf Hohentwiel einfindet. Denkt daran, daß die Entscheidung im Streit um die Klostergüter im Rheintal bei mir liegt … lebt wohl, Herr Vetter!« Sie reichte ihm die Hand, der Kämmerer schwang grüßend seinen Hut. Die kleine Schar setzte sich in Bewegung. Langsam ging der Abt ins Kloster zurück. Er ließ Ekkehard zu sich rufen. »Die Herzogin hat befohlen, daß Ihr den Vergil auf die Burg bringen und sie Latein lehren sollt.« Der junge Mönch errötete und schlug die Augen nieder. »Wir dürfen den Mächtigen nicht widersprechen«, erklärte der Abt. »Ihr müßt morgen schon von hier fort – ich verliere Euch nicht gern.« In stummem Gehorsam beugte Ekkehard sein Knie. Dann ging er in seine Zelle und begann, sich für die Reise zu rüsten. Auf seinem Tisch lag das Psalmenbuch. Er schlug es auf. Nun würde ein anderer die Anfangsbuchstaben und Zeichnungen mit der wertvollen Goldfarbe aus Venedig verzieren. Er nahm die Pergamentblätter und die Farben und brachte sie zu Folkard, dem Maler. Dann trat Ekkehard in die Bibliothek. Wehmütig blickte er über den geliebten Raum, über die Bücher, von denen er jedes einzelne kannte und wußte, wer es geschrieben hatte. Traurig holte er den Vergil aus 260
dem Schrank. »Wer dieses Buch wegträgt, den sollen tausend Peitschenhiebe treffen!« stand auf dem ersten Blatt. Ekkehard schnitt es weg. Am Abend ging er noch einmal auf den Berg hinter dem Kloster, wie er so oft getan hatte. In den künstlich angelegten Fischweihern spiegelten sich die Tannen. Ein leichter Wind strich übers Wasser. Es war feierlich still unter den Bäumen. Zu den Füßen Ekkehards lag das Kloster. Aus der Ferne glänzte der Bodensee. Die Bergketten am jenseitigen Ufer waren in Dunst gehüllt. Hinter ihm, über dem Säntis, der hoch aus den Wäldern und Schluchten aufstieg, begann ein Wetterleuchten. »Soll das ein Zeichen sein?« sprach Ekkehard halblaut zu sich selbst. »Mein Weg geht nicht zum Säntis.« Nachdenklich stieg er den Berg hinunter. In der Nacht betete er am Grab des heiligen Gallus. Zeitig am nächsten Morgen nahm er Abschied. Der Abt gab ihm zwei Goldschillinge und einige Silberdenare mit auf den Weg. Ekkehards Gepäck war leicht. Mit einem Kornschiff des Klosters fuhr er über den See. Die Wanderlust hatte ihn erfaßt, und er war mit seinem Schicksal zufrieden. In Konstanz ging er an Land, doch er wollte dort nicht haltmachen. Es war die Residenz des Bischofs Salomo gewesen, eines hochmütigen Mannes, der es verstanden hatte, sich dem Kaiser unentbehrlich zu machen und mit Hilfe sehr weltlicher Schliche zu höchstem Ansehen zu gelangen. In der Kirche, in der man Salomo vor kurzem begraben hatte, wolle Ekkehard nicht beten. Gestützt auf einen festen Haselstock wanderte er weiter. Durch Wiesen und hohes Schilf ging sein Weg, bis er gegenüber der Insel Reichenau angelangt war. Dort lag das Kloster des heiligen Pirminius. Dort wollte Ekkehard einkehren. Ein Fischer stand in seinem Kahn am Ufer und schöpfte das Wasser aus. Ekkehard deutete zur Insel: »Fahrt mich hinüber, guter Mann!« Der Fischer bemerkte Ekkehards Kutte. »Ich fahre keinen mehr von euch«, antwortete er mürrisch, »seit ich die Buße zahlen mußte.« »Warum hat Ihr Buße zahlen müssen?« 261
»Wegen dem Kreuzmann.« »Wer ist der Kreuzmann? Wie sieht er aus?« »Er ist aus Erz gegossen«, brummte der Fischer, »zwei Spannen hoch und hält drei Seerosen in der Hand. Er stand im Weidenbaum zu Allmannsdorf. Doch jetzt haben sie ihn aus dem Baum geholt und ins Kloster geschleppt. Er steht jetzt auf dem Grab des welschen Bischofs. Was soll er dort? Dem Toten Fische fangen helfen …?« Ekkehard erkannte, daß der Christenglaube des Fischers nicht gefestigt war, und erriet auch, weshalb er die Buße hatte zahlen müssen – wegen des Opfertieres, das er dem Götzenbild geschlachtet hatte, damit sich seine Netze füllten. »Seid vernünftig«, sprach er begütigend. »Vergeßt den Kreuzmann. Ich will zum Kloster.« »Ihr könnt mich nicht überreden. Ich fahre keinen mehr von euch. Mein Bub kann es tun, wenn er will.« Der Alte pfiff durch die Finger. Der Knabe kam und setzte Ekkehard über. Versteckt lagen die Klostergebäude zwischen den Obstbäumen und Weingärten. Es war Spätherbst. Alle Brüder waren mit der Weinlese beschäftigt. Hie und da konnte man die Kapuze eines Mönches zwischen dem Weinlaub sehen. Unbemerkt näherte sich Ekkehard dem Kloster und stand bald unter den mit roten und grauen Sandsteinquadern geschmückten Rundbogen der Vorhalle. Im Klosterhof rührte sich nichts. Das Pförtnerzimmer war leer. Entschlossen trat Ekkehard in die danebenliegende Fremdenstube. Auch sie war voll mit Fässern, manche schon mit Most gefüllt. Ekkehard setzte sich auf eine Steinbank in der Ecke und lehnte den Stock neben sich. Ermüdet von der langen Wanderung schlief er ein. Bald darauf kam Bruder Rudimann, der Kellermeister, in die Fremdenstube. Er trug über dem dicken Bauch die weiße Schürze, den schweren Schlüsselbund an der Seite. Er schien für sein Amt wie geschaffen, und seinem fröhlichen Gesicht sah man es nicht an, daß er auch die Geißelungen im Kloster mit großem Eifer vollzog. Er war bos262
haft und wußte dem Abt manche üblen Verdächtigungen seiner Mitbrüder zuzutragen, was eigentlich nicht zu seinen Pflichten gehörte. Rudimann bemerkte den Schläfer nicht. Er schöpfte Most mit einem steinernen Krug aus einem der Fässer und schlürfte die Kostprobe bedächtig prüfend. An der Türe ging Kerhildis, die Obermagd, mit einer Butte voll Trauben vorbei. »Kerhildis«, rief der Kellermeister leise, »du beste aller Mägde, nimm meinen Krug und bring mir vom neuen Wartberger, der drüben beim Kelter steht! Ich will ihn mit diesem vergleichen.« Kerhildis kam mit dem Krug zurück. Sie stand vor Bruder Rudimann und sah vergnügt zu ihm auf. »Wohl bekomm's!« sagte sie. Rudimann kostete in einem langen, tiefen Zug. »Alle werden sie süß und gut«, sagte er schließlich. »Wenn ich aber Euch ansehe«, fuhr er mit einem Blick auf die Magd fort, »dann freue ich mich doppelt. Auch Ihr gedeiht wie der Klosterwein im Herbst. Eure Wangen sind rot wie Granatäpfel, die aufs Pflücken warten.« Er faßte die Magd um die Hüften und zog sie an sich. Sie wehrte sich nicht lange – was lag schon an einem Kuß im Herbst! Da erwachte Ekkehard. Er sah zwischen den Fässern eine Kutte und ein Paar Zöpfe, die nicht dazugehörten! Er war an die strengen Sitten seines Klosters gewöhnt, und es war ihm bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß ein Mann im Ordensgewand ein Mädchen küssen könnte. Zornig richtete er sich auf, ergriff seinen Stock und schlug dem Kellermeister mit ganzer Kraft über den Rücken. Der Weinkrug fiel zu Boden und zerbrach. Kerhildis lief davon. »Beim Krug der Hochzeit von Kana! Was ist das?« rief Rudimann und drehte sich nach seinem Angreifer um. »Ein Gastgeschenk des heiligen Gallus an den heiligen Pirminius!« erwiderte Ekkehard und schwang von neuem den Stock. »Ich hab' mir's ja gedacht!« schimpfte der Kellermeister. »Sankt Gallische Holzäpfel! Ich werd's Euch schon heimzahlen!« Er sah sich nach einer Waffe um und wollte schon den Besen aus der Ecke holen, da erschien Abt Wazmann in der Türe. 263
»Einhalten!« rief er gebieterisch. Sein Begleiter, Simon Bardo, der dem byzantinischen Kaiser lange Jahre als Befehlshaber der Leibwache gedient hatte, bedauerte, daß der Zweikampf unterbrochen wurde. Der Abt ließ sich berichten, was vorgefallen war. Rudimann erzählte, er verschwieg nichts. »Ein leichtes Vergehen«, murmelte der Abt. »Sünde bei der Arbeit, in Küche oder Keller … was mit den Mägden geschieht.« Er forderte Ekkehard auf: »Der Gegner spreche!« Ekkehard erklärte, wie er die Sache gesehen habe, und daß er meine, in gerechtem Zorn gehandelt zu haben. »Sehr verwickelt«, murmelte der Abt. »Kein Bruder nehme sich heraus, seinen Mitbruder ohne Befugnis des Abtes zu züchtigen … Wie alt seid Ihr?« »Dreiundzwanzig Jahre.« »Der Streit ist aus«, bestimmte der Abt. »Ihr, Bruder Rudimann, habt die wohlverdiente Strafe schon empfangen. Ihr aber, Jünger des heiligen Gallus, sollt als Sühne für Eure Tat am Altar unserer Hauptkirche eine einstündige Abendandacht verrichten. Dann seid als unser Gastfreund willkommen!« Wie bei allen gerechten Schiedssprüchen war keiner der Beteiligten zufrieden. Sie gehorchten, aber unversöhnt.
V Als Ekkehard früh am nächsten Morgen aufbrach, trat ihm der Abt an der Schwelle des Klosters entgegen. Er begrüßte Ekkehard freundlich. Sein Ärger über den Streit mit dem Kellermeister schien verflogen zu sein. Er flüsterte dem jungen Mönch beim Abschied vertraulich ins Ohr: »Ihr könnt Euch glücklich schätzen, daß Ihr eine solche Schülerin im Lateinischen unterrichten dürft.« 264
Betroffen blickte Ekkehard zu ihm auf. Eine längst vergessene Geschichte kam ihm in den Sinn. Er wehrte die Anzüglichkeit ab: »Ihr denkt wohl daran, heiliger Herr«, sagte er spöttisch, »wie Ihr der Nonne Clotildis die Dialektik beigebracht habt.« Damit hatte es Ekkehard mit dem Abt von Reichenau endgültig verdorben. Doch es bedrückte ihn nicht. Unbekümmert fuhr er über den See, seinem Ziel entgegen. Hinter den fachen Hügeln des Ufers ragte groß und stolz ein steiler, felsiger Bergrücken empor. »Das ist der Hohentwiel«, erklärte der Fährmann. Ekkehard hätte die Erklärung nicht nötig gehabt. So mußte der Berg aussehen, der die Burg der Herzogin trug! Eine ernste Stimmung überkam ihn. Sie fuhren an dem Ufervorsprung vorbei, auf dem Radolfszell lag. Da sahen sie ein merkwürdiges Boot im See treiben, einen ausgehöhlten Baumstamm, überdeckt mit grünen Zweigen und Schilfrohr. Der Fährmann stieß mit der Ruderstange danach. »Pest und Aussatz über Euch!« fluchte eine tiefe Stimme. »Nun sind die Wildgänse dahin.« Mit heiserem Geschnatter stieg ein Zug Wasservögel auf. Zwischen dem Buschwerk des seltsamen Bootes erschien ein wettergebräuntes, runzeliges Gesicht, ein Mann erhob sich, den riesigen Leib bekleidet mit einer verblichenen Kutte, die in Kniehöhe abgeschnitten war. Im Gürtel trug er statt des Rosenkranzes einen Köcher. Er setzte zu neuerlichen Verwünschungen an, da sah er Ekkehards Tonsur und Habit. »Beim Bart des heiligen Patrick!« Sein Ärger wich freudiger Überraschung. »Seid mir willkommen! Hättet Ihr mich nicht vorzeitig gestört, so könnte ich Euch zu einem vortrefflichen Mahl einladen.« Bedauernd schaute er den davonziehenden Wildgänsen nach. Ekkehard drohte ihm lächelnd: »Kein Geweihter des Herrn soll der Jagd nachgehen!« »Stubenweisheit gilt nicht bei uns am Untersee«, rief der andere. »Seid Ihr gekommen, beim Leutepriester von Radolfszell Kirchschau zu halten?« 265
»So seid ihr Bruder Marcellus?« Ekkehard war freudig überrascht. »Euch hab' ich mir anders vorgestellt!« In St. Gallen galt der Ire Marcellus als tüchtiger Lehrer, der sich vor allem im Lateinischen hervorgetan hatte. »Bruder Marcellus?« lachte der Alte. »Hier nennt man mich Moengal. Seid mir willkommen!« Er stieg zu Ekkehard ins Boot, küßte ihn auf Wange und Stirn. »Der heilige Gallus soll leben. Ihr seid mein Gast – auch ohne Wildgänse!« Sie fuhren ans Ufer, der Fährmann wurde mit einer Silbermünze belohnt, und Moengal führte den jungen Mönch zum Pfarrhaus. »Hoffentlich erstattet Ihr dem Bischof von Konstanz nicht Bericht über mein Hauswesen«, sagte der Alte. Hirschgeweihe und Hörner von Auerochsen hingen über dem Eingang der holzgetäfelten Halle. An den Wänden lehnten Jagdspieße, Leimruten und Fischzeug in unordentlichem Durcheinander. Auf einem umgestürzten Faß in der Ecke lag sogar ein Würfelbecher. Über dem rasch bereiteten Mahl – geräucherte Fische, Brot, Butter und saurer Wein – kamen die beiden in ein eifriges Gespräch. Aber die meisten der Brüder, nach denen Bruder Marcellus fragte, waren längst tot, und was sich seither ereignet hatte, interessierte ihn nicht sonderlich. Als Ekkehard vom Ziel seiner Reise erzählte, war Moengal erstaunt. »Ihr habt keinen Grund, gegen die Jagd zu reden – Ihr zieht ja selbst auf Edelwild aus!« Ekkehard lenkte ab. »Habt Ihr nie Heimweh nach der Stille des Klosters und den lateinischen Büchern verspürt?« Er sagte mit einem Seitenblick auf das Jagdgerät: »Was hat Euch so verändert?« »Die Zeit und die Erkenntnis. Das braucht Ihr aber Eurem Abt nicht zu berichten. Auch ich hab' einmal wie Ihr gedacht. Damals hättet Ihr mich kennen sollen: Nichts freute mich, außer Psalmen und Vigilien zu singen. Ich blieb im Kloster, dem ich eigentlich nur einen Besuch abstatten wollte. Ich war so beeindruckt vom Leben der Brüder, daß ich mich dem heiligen Gallus weihte.« Er nahm einen Schluck aus seinem Krug. »Es waren schöne Jah266
re. Ich hab' gebetet und studiert nach Herzenslust. Aber das viele Sitzen schadet dem Menschen, und eines Tages machte ich die Entdeckung, daß es auch jenseits der Klostermauern ein Leben gab. Manche Nacht stieg ich heimlich auf den Turm und blickte sehnsüchtig hinaus über die Wälder und Täler … Der damalige Abt hatte Verständnis und schickte mich für ein Jahr hierher. Aber der Bruder Marcellus ging nicht mehr ins Kloster zurück. Bei der schweren Arbeit lernte ich, was es heißt, gesund zu sein. Holzfällen, Fischfang und Jagd vertreiben die unnützen Gedanken. Die ganzen langen Jahre hab' ich nicht bereut, daß ich geblieben bin.« Ekkehard fiel ein: »Ihr habt sicher viel zu tun, hier mit dem Heidentum und der Ketzerei aufzuräumen?« »Es geht an«, erwiderte der Alte. »Aber in der Wirklichkeit sieht es anders aus, als es sich die Bischöfe und kaiserlichen Räte vorstellen. Wenn man mit und unter den Leuten lebt, kann man auch verstehen, daß sie die Gottheit in Bäumen und Flüssen verehren. Doch sonntags kommen sie dann wieder zu mir und singen die Messe mit.« Er hob seinen Becher: »Laßt uns trinken, Bruder, auf die frische Luft …« Ekkehard wurde ungeduldig. Er wollte weiter. »Der Hohentwiel läuft Euch nicht davon«, spottete Moengal. Doch sein Wein und die Lehre vom Leben im Freien konnten den jungen Mönch nicht länger zurückhalten. »Ich geh' mit Euch bis zur Grenze meines Pfarrsprengels«, sagte der Alte. »Wenn Ihr einmal in der Burg dort oben zu Hause seid, werdet Ihr Euch meiner nicht mehr so gerne erinnern.« »Das sollt Ihr nicht sagen!« Ekkehard umarmte den irischen Mitbruder. Nach einer kurzen wortlosen Wanderung unter den hohen Tannen blieb Moengal stehen. »Es bewegt sich was im Wald – das sind keine Wildenten!« Sie lauschten. Es klang wie das Wiehern von Rossen. »Liegt das Kloster von St. Gallen im Streit mit einem Gewaltigen des Landes?« fragte der Alte. »Nein.« »Habt Ihr jemanden beleidigt?« 267
»Nein«, wiederholte Ekkehard. »Sonderbar«, murmelte Moengal. »Es kommen drei bewaffnete Reiter auf uns zu.« »Das werden Boten der Herzogin sein, mich zu empfangen«, beruhigte ihn Ekkehard. »Das glaub' ich nicht.« Moengal hielt inne. »Sie haben ihr Schwert gezogen. Kommt mit mir!« Er wollte Ekkehard mit sich ins Gebüsch ziehen, doch der blieb stehen. Inzwischen waren die Reiter näher gekommen. »Er ist's!« Sie sprangen von ihren Pferden. »Was wollt ihr?« rief Ekkehard ihnen entgegen. Er griff ans Kruzifix, das ihm am Gürtel hing. »Im Namen des Gekreuzigten …« Ehe er weitersprechen konnte, war er schon zu Boden geworfen worden, ein Strick band ihm die Hände auf den Rücken, eine weiße Binde umschloß seine Augen. »Vorwärts!« Unsicher gehorchte Ekkehard. Die Männer, die ihn festgenommen hatten, hoben ihn in eine Sänfte, die am Waldrand bereitstand. Sie zogen mit ihrer Beute davon. Als es wieder still war, wagte sich Moengal aus seinem Versteck hervor. »In die herzogliche Burg wollte er ziehen – nun kommt er ins Gefängnis! Heiliger Gallus, bitt' für uns!« Kopfschüttelnd trat der Alte den Heimweg an. »Welche Zeiten!« Überfälle solcher Art waren so häufig wie Schlüsselblumen im Frühling. – Gebunden und geknebelt lag Ekkehard in der Sänfte. Er verstand nicht, was ihm widerfahren war. Sein Gewissen war rein. Aber er machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Er wußte, daß manchen Priester weder die Tonsur noch sein geistliches Gewand vor dem Ausstechen der Augen und dem Abhauen der Hände bewahrte, wenn es um Rache ging. Aber wer wollte an ihm, dem unschuldigen Pförtner des Klosters von St. Gallen, Rache nehmen? Ekkehard merkte, daß es bergauf ging. Die Hufe der Pferde dröhnten, als ob sie über eine hölzerne Brücke ritten: Zogen sie in einen Burghof ein? Ekkehard hörte, daß ein Tor geöffnet wurde. Sie hielten 268
an. Sie halfen ihm auf die Füße, er hörte Flüstern, die Stricke wurden von seinen Armen gelöst. »Nehmt die Binde ab!« sagte einer der Männer. Ekkehard gehorchte – und sah, daß er im Schloßhof von Hohentwiel stand. Vor ihm, in einen purpurroten Mantel gehüllt, saß auf einer Steinbank die Herzogin. Freundlich lächelnd erhob sie sich und trat auf ihn zu: »Willkommen auf Hohentwiel!« Ekkehard wollte vor ihr aufs Knie sinken. Hadwig hielt ihn gnädig zurück und reichte ihm die Hand. Spazzo, der Kämmerer, der sich unkenntlich gemacht hatte, um Ekkehard festzunehmen, warf seinen grauen Umhang ab, trat auf ihn zu und umarmte ihn wie einen Freund. »Im Namen der Herzogin, empfang den Friedenskuß!« »Nun hab' ich's Euch heimgezahlt«, lachte Hadwig. »Vor drei Tagen mußte ich auf Euren Rat hin über die Schwelle des Klosters getragen werden – es war nur recht und billig, daß auch ich Euch in mein Schloß tragen ließ. …« »Für einen Scherz habt Ihr's recht ernsthaft gemacht«, sagte Ekkehard. Er dachte dabei an den kräftigen Stoß, den ihm einer der Reitknechte versetzt hatte, als er in die Sänfte gehoben worden war. Offenbar war dieser Mann der weitverbreiteten Meinung gewesen, daß bei der Niederwerfung geistlicher Herren ein fester Faustschlag, Stoß oder Fußtritt nötig sei. Hadwig führte ihren Gast durch den Schloßhof zum Eingang der Burg. Der junge Mönch segnete alle, die sich zu seinem Empfang eingefunden hatten. Ein Bad wurde für ihn gerichtet, frische Kleider waren bereitgelegt. Bald vergaß er die leicht überstandene Gefahr, um so mehr, als die Herzogin ihm nahelegte, sich zu pflegen und gut auszuruhen.
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VI Ekkehard war beunruhigt, als er am nächsten Tag feststellte, daß sein Zimmer, ein hoher luftiger Raum mit großen, säulengetragenen Rundbogenfenstern, neben den Gemächern der Herzogin lag. Die Abgeschiedenheit und Stille seiner Klosterzelle fehlten ihm. Er fürchtete, er würde in seinen Studien und Betrachtungen durch den Lärm gespornter Stiefel, durch das Flüstern vorbeieilender Mägde oder etwa gar durch die Schritte der Herzogin selbst gestört werden. »Ich habe eine Bitte, hohe Frau«, sagte er nach dem Morgengruß. »Redet!« »Ich wünschte, Ihr könntet mir ein entlegeneres Zimmer zuweisen – vielleicht unterm Dach oder in einem der Türme. Gebet und Wissenschaft sollen in der Stille gepflegt werden, Ihr kennt ja den Brauch des Klosters.« »Sehnt Ihr Euch danach, oft allein zu sein?« fragte Hadwig spöttisch. »Warum seid Ihr dann nicht in St. Gallen geblieben?« Ekkehard schwieg. »Ich will sehen, was ich für Euch tun kann«, setzte sie freundlicher fort. »Seht Euch das Gemach an, in dem unser alter Kaplan Vincentius bis zu seinem Tode wohnte. Der zog auch die Einsamkeit der Bequemlichkeit vor. Praxedis, führ unseren Gast hinauf!« Das Zimmer des verstorbenen Kaplans lag im viereckigen Hauptturm der Burg. Ekkehard folgte Praxedis und stieg lang sam die finstere Wendeltreppe hinan. Der Schlüssel kreischte im Schloß, knarrend ging die Türe auf. Der viereckige Raum war verstaubt. Spinnweben hingen an den weißgetünchten Wänden. Auf dem Eichentisch stand ein ausgetrocknetes Tintenfaß. Auf einem Brett in der Wandnische lagen ein paar Bücher und aufgeschlagene Pergamentrollen. Dazwischen hatten sich Vögel 270
ihr Nest gebaut, denn der Sturm hatte das Fenster zerschlagen und ihnen den Weg frei gemacht. Die Eintretenden scheuchten sie auf. Ekkehard musterte die Bücher. »Es tut mir leid um die armen Tauben, sie werden abziehen müssen. Sie haben das ganze erste Buch über den Gallischen Krieg verdorben.« »Ihr armen Tauben!« Praxedis versuchte die Vögel zu sich zu locken und begann, leise vor sich hin zu summen. Es war ein Leid aus ihrer Heimat. »Was singt Ihr?« Erstaunt horchte Ekkehard auf. »Das klingt ja wie Griechisch!« »Warum soll ich nicht griechisch singen?« »Wo in aller Welt habt Ihr das erlernt?« »Zu Hause«, sagte Praxedis einfach. Ekkehard betrachtete sie mit neuen Augen. Scheue Hochachtung lag in seinem Blick. Es war ihm nie durch den Kopf gegangen, daß es Menschen geben könnte, deren Muttersprache die Sprache Homers und Aristoteles' war. »Ich glaubte, als Lehrer hierhergekommen zu sein«, sagte er, »und nun finde ich meinen Meister! Wollt Ihr mir nicht ein wenig von Eurer Weisheit abgeben?« »Wenn Ihr die Tauben nicht verjagt …« Eine scharfe Stimme unterbrach sie: »Was wird hier über Tauben und Griechisch verhandelt?« Die Herzogin stand in der Tür. »Braucht man so lange, diese vier Wände anzusehen?« Sie wandte sich Ekkehard zu. »Gefällt Euch diese Höhle?« Er nickte. »Dann soll sie gereinigt werden«, befahl die Herzogin. »Vor allem müssen die Tauben hinaus.« Ekkehard wagte einen leisen Einwand. »Ihr wünscht allein zu sein, und nun wollt Ihr auch noch Tauben züchten! Soll ich Euch vielleicht noch eine Laute an die Wand hängen und Rosenblätter in den Wein streuen lassen?« spottete die Herzogin. Sie unterbrach sich: »Gut, wir wollen die Tauben nicht verjagen: Heute abend sollen sie gebraten auf den Tisch kommen.« 271
Weder Praxedis noch Ekkehard widersprachen. Die Herzogin fuhr fort: »Und wie war das mit dem Griechischen?« Ekkehard berichtete, was vorgefallen war. »Wenn Ihr so wißbegierig seid, könnt Ihr auch mich fragen«, bemerkte sie spitzig. »Auch ich kenne die Sprache.« Ekkehard schwieg. Der Ton der Herzogin war so rechthaberisch und befehlsgewohnt, daß jeder Widerspruch von vorneherein aussichtslos erschien. Sie benahm sich keineswegs wie eine Schülerin des Mönches, eher wie seine Lehrerin, auch als sie einen genauen Plan entwarf, nach dem ihr Unterricht im Lateinischen vor sich gehen sollte. Eine Stunde wurde für die Grammatik bestimmt, eine andere für die Lektüre des Vergil. Die Dichtung zu erklären, fiel Ekkehard leicht. Schwieriger war es mit der Grammatik. Jeden Tag schrieb er der Herzogin eine Aufgabe auf ein Pergamentblatt. Sie war eine eifrige Schülerin, und wenn die Frühsonne über dem Bodensee aufstieg, stand sie schon an der Wölbung des Fensters und lernte, was Ekkehard ihr aufgeschrieben hatte. Leise und laut, bis zu seinem Zimmer klang ihr einförmiges Hersagen: »Amo, amas, amat, amamus …« – ich liebe, du liebst, er liebt, wir lieben … Auch Praxedis blieb nicht vom Lerneifer ihrer Herrin verschont. Sie mußte am Unterricht teilnehmen, und die Herzogin hatte ihre Freude daran, wenn sie die Griechin mit ihrem eigenen, soeben erlernten Wissen beschämen konnte. Nie war sie zufriedener, als wenn Praxedis ein lateinisches Hauptwort für ein Beiwort hielt und ein unregelmäßiges Zeitwort regelmäßig abwandelte. Am Abend versammelten sie sich zur Lesung des Vergil in Eckehards Zimmer. Voll tönte seine Stimme und verriet tiefes Verständnis dessen, was er vortrug. Es wurde spät, und die Lampe begann schon zu flackern, bis sich die beiden Frauen endlich entfernten, um zur Ruhe zu gehen. Auch Ekkehard stieg hinauf in seine Turmstube. Sein Kopf war verwirrt. In der Stille wollte er seine Gedanken ordnen. Immer wieder stand das Bild der Herzogin vor ihm, und wenn er sie recht ins Auge faßte, so sah er auch den schwarzäugigen Kopf der Griechin Praxedis. Was wohl aus all dem werden sollte? 272
Lange stand er und blickte hinaus in die kühle, dunkle Herbstnacht. Endlich schloß der das Fenster, bekreuzigte sich und ging schlafen.
VII Die Magd Hadumoth kam mit ihren Gänsen den Berg herunter. Sie sah Audifax, den Ziegenhirten, der auf einem Felsblock saß und bitterlich weinte. Rasch ging sie zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn. »Warum weinst du?« Besorgt legte sie den Arm um seine Schulter. »Wenn du weinst, dann will ich mit dir weinen.« »Du brauchst nicht zu weinen«, antwortete Audifax. »Aber in mir ist etwas, daß ich weinen muß.« Er schleuderte einen Stein weit von sich. »Hast du's gehört?« fragte er. »Ich hab's gehört, es klingt wie immer.« »Hast du den Klang auch verstanden?« Hadumoth schüttelte den Kopf. »Ich versteh' ihn aber, und deshalb muß ich weinen.« Seine Stimme wurde geheimnisvoll: »Wenn ich übers Feld geh', hör' ich's unter meinen Füßen rieseln, als ob eine Quelle in der Erde verborgen wäre. Wenn ich einen Felsen anschau', seh' ich durchs Gestein, und drinnen klopft's und hämmert's. Das müssen die Zwerge sein, von denen der Großvater erzählt hat. Und von ganz unten leuchtet es hervor … Hadumoth, ich muß einen großen Schatz finden, und weil ich ihn nicht finden kann, darum weine ich.« »Sei vernünftig!« Hadumoth schlug ein Kreuz. »Was wolltest du denn mit dem Schatz, auch wenn du ihn findest?« »Dann kauf' ich mich frei – und dich auch, und der Frau Herzogin kauf' ich ihr Herzogtum ab, mit allem, was drauf steht.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Dir lass' ich eine goldene Krone machen und für jede Ziege ein goldenes Glöckchen und mir eine Sackpfeife aus Ebenholz und purem Gold.« 273
»Weißt du denn überhaupt, wie Gold aussieht?« lachte Hadumoth. »Kannst du schweigen?« Audifax hielt seinen Finger vor den Mund. Als die Gefährtin nickte, fuhr er fort: »Ich will dir zeigen, wie Gold aussieht.« Er griff in seine Brusttasche und zog etwas hervor, das aussah wie eine mittelgroße Münze mit verwischten Zeichen. Es war gewölbt und tatsächlich aus Gold. »Das hab' ich nach dem Gewitter auf dem Feld gefunden«, sagte er stolz, »dort, wo der Regenbogen auf die Erde stieß.« Hadumoth wog das Gold in der Hand. Allmählich glaubte sie an seine Berufung zum Schatzsuchen. »Schön, daß du es gefunden hast. Aber das nützt dir nichts«, sagte sie, »wer einen wirklichen Schatz finden will, muß die Zauberformel wissen.« »Ja, wer die wüßte!« »Frag doch den heiligen Mann in der Burg. Er weiß alles«, riet Hadumoth eifrig. »Aus einem großen Buch, in dem alles steht, liest er der Herzogin vor! Er wird auch den Zauber wissen.« »Ich will zu ihm gehen … Ich weiß etwas, das will ich ihm sagen, wenn er mir den Zauber gibt.« Sie riefen die Ziegen und Gänse zusammen und trieben sie langsam in die Burg zurück. Ekkehard schritt durch den Burghof, als Audifax auf ihn zulief, vor ihm niederkniete und den Saum seiner Kutte küßte. »Was hast du denn?« fragte er den Hirten erstaunt. »Ich möchte den Zauber haben, damit ich den Schatz heben kann«, war die zaghafte Antwort. Ekkehard lachte: »Das möchte ich auch!« »Ihr habt ihn aber, heiliger Mann. In dem großen Buch, aus dem Ihr unserer Herrin jeden Abend vorlest!« »Du redest Unsinn … geh!« Ekkehard wurde ärgerlich: »Laß mich damit zufrieden!« Audifax hielt ihn zurück. »Ihr sollt es nicht umsonst tun! Ich will Euch etwas zeigen.« Ekkehard ging mit ihm aus dem Burghof hinaus, über die Stufen 274
hinunter, zur Rückseite des Berges. Audifax bog einen Strauch zurück und riß das Moos auf. Eine fingerbreite, gelb und weißrot schimmernde Ader zog sich durch das graue Gestein. Der Knabe löste ein Stück ab und reichte es dem Mönch. Ekkehard prüfte den Kristall – es war kein Edelstein. »Was soll ich damit?« fragte er Audifax. »Das wißt Ihr besser als ich. Ihr könnt es schleifen lassen und Eure Bücher damit verzieren. Gebt Ihr mir jetzt den Zauber?« Ekkehard mußte lachen. »Du solltest Bergknappe werden!« sagte er schließlich und wandte sich zum Gehen. Doch Audifax beschwor ihn, ihn doch einen Spruch aus seinem Buch zu lehren, damit er die glänzende Ader in Gold verwandeln könne. Ekkehard gab endlich nach, und um dem Knaben die Freude zu machen, sprach er ihm eine Verszeile aus Vergil vor: »Auri sacra fames, quid non mortalia cogis pectora?« – Gräßlicher Hunger nach Gold, wozu nicht zwingst du der Menschen Gemüt? Geduldig wiederholte Audifax die fremden, schweren Worte, deren Sinn er nicht verstand. Endlich konnte er sie auswendig. Doch das genügte ihm nicht. Ekkehard mußte den Vers auch auf einen Pergamentstreifen schreiben, damit der Junge den Spruch bei sich tragen konnte. Voll Dankbarkeit küßte Audifax noch einmal Ekkehards Gewand und lief vergnügt zu seinen Ziegen. Er setzte sich fröhlich auf einen Steinblock und zog seine Sackpfeife hervor. Hadumoth hörte die vertrauten, so lange nicht mehr vernommenen Laute und kam eilig zu ihm. Audifax stand auf. Er blickte sich vorsichtig um. »Ich war beim heiligen Mann«, flüsterte er der Freundin ins Ohr. »Heute nacht holen wir den Schatz. Du gehst mit.« Hadumoth versprach es ihm.
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In der Gesindestube erhoben sich die Leute vom Nachtessen und stellten sich in langer Reihe hinter die Bänke. Hadumoth sprach das Dankgebet vor. Noch bevor der Tisch abgeräumt war, huschte sie mit Audifax zum Burgtor hinaus. Die Nacht war kalt. Audifax hatte Hadumoth ein Ziegenfell umgeworfen. Hinter einem alten Erdwall am Südhang des Burgberges machten sie halt. »Hier wollen wir warten«, sagte Audifax leise. »Es wird noch lange dauern bis Mitternacht.« Dicht saßen sie nebeneinander. Durch die dünnen Wolken schien der Mond. Auf der Burg oben erhellten sich einige Fenster. Hin und wieder unterbrach ein Eulenruf die Stille. Es war die Nacht des ersten November. Hadumoth lehnte den Kopf an Audifax' Schulter und schlief ein. Der Junge, dem selbst die Augen zufallen wollten, schüttelte sie wach. »Die Nacht ist so lang«, flüsterte er, »erzähl mir was, Hadumoth!« »Mir ist was Böses eingefallen«, erwiderte sie verschlafen. »Es war einmal ein Mann, der ging beim Morgenrot auf den Acker. Da pflügte er den Goldzwerg aus der Furche. Der grinste ihn freundlich an. ›Nimm mich mit! Wer uns nicht sucht, dem gehören wir, wer uns sucht, den erwürgen wir!‹ Ich fürcht' mich, Audifax.« Er nahm ihre Hand. Vom Turm verkündete der Hornruf des Wächters die Mitternachsstunde. Audifax zog den Holzschuh von seinem rechten Fuß, so daß er mit der nackten Sohle auf der Erde stand. Dann ließ er sich auf das andere Knie nieder. In der Hand hielt er den Pergamentstreifen. Laut sprach er die lateinischen Worte vor sich hin. Sie warteten. Es blieb still. Noch einmal wiederholte er den Spruch, doch nichts geschah. Betrübt sah der Junge auf. »Es ist nichts – wir werden Hirten bleiben!« »Vielleicht hat dir der heilige Mann nicht den richtigen Spruch gegeben … vielleicht weiß er ihn selbst nicht.« »Warum?« 276
»Weil er den rechten Gott nicht hat!« Audifax legte ihr schnell die Hand auf den Mund. »Ich weiß aber, wen wir fragen sollten«, fuhr Hadumoth tapfer fort. »Laß uns zur Waldfrau gehen!« Audifax blickte sie erschrocken an. »Jetzt können wir ja nicht mehr in die Burg zurück«, setzte Hadumoth überredend hinzu. Zögernd folgte ihr Audifax durch den dichten, dunklen, einsamen Wald. Eine Stunde lang waren sie so gegangen, bis sie zu dem hohen Felsen kamen, den die Leute Hohenkrähen nannten. Am Fuße des Felsens, vor einer kleinen Steinhütte, die versteckt zwischen den Bäumen stand, hielten sie an. Nichts rührte sich. Sie traten näher. Die Tür stand offen. »Die Waldfrau ist fort«, sagte Hadumoth enttäuscht. Doch auf dem Hohenkrähen brannte ein Feuer. Die Kinder schlichen sich hinauf, duckten sich hinter einen Stein und sahen hinüber. Unter den riesigen Ästen einer alten Eiche bewegten sich dunkle Gestalten. Spieße standen über dem Feuer, Knochen lagen verstreut auf dem Boden, der Kopf eines Tieres war an den Stamm der Eiche genagelt. In einem Gefäß dampfte das Blut des Opfertieres. Um einen Felsblock saßen mehrere Männer und schöpften mit steinernen Krügen Bier aus einem Kessel. Unter der Eiche kauerte ein altes Weib mit wirren, struppigen Haaren. Der Himmel begann sich im Osten aufzuhellen. In dicken Schwaden stieg der Nebel aus den Tälern auf. Die ersten Strahlen der Sonne vergoldeten schon die Berge. Die Männer erhoben sich schweigend. Das Weib sprang auf. Es tauchte ein Bündel Reisig in das Gefäß mit Blut und schwang es dreimal in Richtung der aufgehenden Sonne, dreimal über die Männer. Den Rest des Blutes goß es über die Wurzeln der Eiche. Die Männer packten ihre Krüge und rieben sie gegen den Felsblock, so daß ein Summen entstand, hoben sie der Sonne entgegen und tranken. Dann waren sie ihre Mäntel um und gingen grußlos davon. Audifax und Hadumoth faßten sich an den Händen. Sie wollten sich 277
der Waldfrau nähern. Die aber riß einen brennenden Zweig aus dem verlodernden Feuer und kam drohend auf sie zu. In wildem Schreck liefen die Kinder zur Burg zurück.
VIII Niemand hatte das Ausbleiben der beiden bemerkt, sie sprachen auch zu niemandem über ihre nächtlichen Erlebnisse – nicht einmal zueinander. Allmählich ging der Herbst in den Winter über. Die Tiere blieben in den Ställen, die beiden jungen Hirten verbrachten die meiste Zeit in der Gesindestube. Audifax grübelte. »Der heilige Mann hat doch den rechten Gott«, sagte er eines Tages zu Hadumoth. »Die Waldfrau ist schuld, daß wir den Schatz nicht gefunden haben.« Sie beschlossen, Ekkehard zu erzählen, was sich in jener Nacht zugetragen hatte. Freundlich hörte sie der junge Mönch an. Am gleichen Abend noch berichtete er es der Herzogin. Sie lächelte. »Sie haben einen seltsamen Geschmack, meine treuen Untertanen! Überall werden Kirchen für sie errichtet, feierliche Gottesdienste und fromme Bittgänge werden abgehalten – es genügt ihnen nicht: In kalten Nächten sitzen sie im Freien und trinken Bier und wissen selbst nicht, warum.« Sie fragte Ekkehard: »Was haltet Ihr davon?« »Aberglaube«, erwiderte er, »nichts als heidnischer Aberglaube.« »Sie sind keine Heiden mehr«, widersprach die Herzogin, »jeder von ihnen ist getauft. Aber tief drinnen lebt noch die Erinnerung weiter, die sinnlos geworden ist, und sie wissen nichts damit anzufangen. Was wollt Ihr dagegen tun?« 278
»Ausrotten«, gab Ekkehard zurück. »Wer seinen Christenglauben bricht, ist auf ewig verdammt.« Hadwig fiel ihm ins Wort: »Meinen Hegauern sollt Ihr deshalb doch nicht den Kopf abschlagen!« Sie erklärte: »Wenn man ein Land regiert, lernt man manches, das nicht in Euren Büchern steht. Der Schwache wird am wirksamsten durch seine eigene Schwäche bestraft und nicht durch das Schwert. Als der heilige Gallus in das zerstörte Bregenz einzog, fand er auf dem zertrümmerten Altar der heiligen Aurelia drei Götzenbilder aufgerichtet. Um einen Bierkessel saßen die Männer und tranken. Gallus schlug die Bildstöcke entzwei und warf die Trümmer in den See. Dann begann er, das Evangelium zu predigen. Als kein Feuer vom Himmel fiel, merkten sie, daß sein Glaube stärker und besser war als der ihre, und bekehrten sich.« »Das war damals!« unterbrach Ekkehard. »Und jetzt«, fuhr die Herzogin unbeirrt fort, »steht die Kirche mächtig und stark vom Rhein bis zur Nordsee. Bis in die Wildnis des Schwarzwalds ist das christliche Bekenntnis gedrungen. Und Ihr wollt gegen diese Nachzügler so streng vorgehen?« »Wollt Ihr sie etwa belohnen?« Ekkehard war empört. »Es gibt auch noch ein Mittelding.« Hadwig lächelte über seinen Eifer. »Natürlich müssen wir gegen den nächtlichen Unfug einschreiten. Nur in einem einheitlichen Glauben können wir uns gegen Gefahren wehren, die von draußen kommen mögen.« Ekkehard schien von dieser Weisheit nicht befriedigt zu sein. »Was denkt Ihr über die Zauberei überhaupt?« fragte ihn die Herzogin. »Die Zauberei …« Er überlegte: »Sie ist eine Kunst, mit deren Hilfe sich der Mensch die dämonischen Naturgewalten dienstbar macht.« Er ereiferte sich: »Die Zauberei ist alt wie die Sünde, ein Blendwerk der Mächte der Finsternis. Und besonders die Frauen sind Anhängerinnen dieser Kunst, denn sie sind neugierig und lieben verbotene Dinge. Wenn wir in der Lektüre des Vergil fortfahren, werdet Ihr von Circe hören, die der Ausbund der Zauberei in Gestalt einer Frau war. Sie verwandelte Menschen in Tiere …« Hadwig wurde ungeduldig: »Ihr sprecht ja wie ein Buch«, sagte sie 279
spitz, »Ihr sollt Gelegenheit haben, Euer Wissen über die Zauberei weiter auszubilden. Reitet morgen auf den Hohenkrähen und untersucht, ob die Waldfrau eine Zauberin ist. Tut in meinem Namen, was Ihr für das Richtige haltet!« Ekkehard wich aus. »Man hat mich nicht gelehrt, weltliche Dinge zu schlichten und zu beurteilen.« »Das wird sich finden«, erwiderte Hadwig. »Ihr werdet es schon lernen. Weisheit hat noch selten jemanden in Verlegenheit gebracht. Am wenigsten einen Sohn der Kirche.« Ekkehard fügte sich widerstrebend. Schließlich glaubte er, in ihrem Auftrag einen Beweis des Vertrauens zu erkennen. Schon am nächsten Morgen ritt er, begleitet von Audifax, der ihm den Weg zeigen sollte, auf den Hohenkrähen. Auf einem Vorsprung in halber Höhe des Felsens stand die Hütte der Waldfrau. Sie banden Ekkehards Pferd an eine Tanne. Über drei Stufen aus Klingsteinplatten gelangten sie in eine hohe, dunkle Stube. Der würzige Duft von getrockneten Kräutern füllte den Raum. An den Wandpfeilern hingen drei weißgebleichte Pferdeschädel und ein riesiges Hirschgeweih. Über dem Eingang war ein verschlungenes Doppeldreieck in den Pfosten der Türe geschnitten. Die Waldfrau saß am Herd und nähte. »Gelobt sei Jesus Christus!« sagte Ekkehard als Gruß – und auch gegen den Zauber. Unwillkürlich schloß er die Faust um den Daumen seiner rechten Hand – Audifax hatte ihm erzählt, daß die Waldfrau den bösen Blick habe. Sie saß unbeweglich und schwieg. »Was macht Ihr da?« fragte Ekkehard. »Ich flicke einen Rock«, murrte die Alte. »Er ist schadhaft geworden.« »Stimmt es, daß Ihr auch Kräuter sucht?« »Ich such' auch Kräuter«, bestätigte sie. »Dort liegen sie alle: Habichtskraut, Schneckenklee, Bocksbart und auch dürrer Waldmeister; wollt Ihr welche?« 280
»Ich bin kein Kräutermann«, erwiderte Ekkehard. »Was macht Ihr mit den Kräutern?« Die Alte blickte ihn mißtrauisch an. »Was fragt Ihr? Jeder weiß, wofür Kräuter gut sind. Es wär' schlecht bestellt um kranke Menschen und Tiere, wenn es keine Kräuter gäbe. Und womit könnte man die Geister beschwören und die Sehnsucht stillen?« »Seid Ihr getauft?« fragte Ekkehard aufgebracht. »Sie werden mich auch getauft haben …« »Wenn Ihr getauft seid und dem Teufel und allen seinen Werken abgeschworen habt …« Er deutete mit seinem Stab auf die Pferdeschädel und stieß einen davon herunter, daß er zu Boden fiel und zerbrach. »Was soll das?« »Das war der Schädel eines Pferdes, den Ihr jetzt zertrümmert habt«, gab die Alte gelassen zur Antwort. Ekkehard trat drohend an sie heran: »Weib, du treibst Zauberei und Hexenkunst!« Die Waldfrau erhob sich langsam. Ihre Stirne runzelte sich, unheimlich glänzten ihre grauen Augen. »Ihr tragt ein geistliches Gewand«, sagte sie, »Ihr könnt mir das sagen. Gegen Euch hat eine Waldfrau kein Recht!« Audifax war scheu an der Tür stehengeblieben. Nun trat er ängstlich neben Ekkehard. Da fiel sein Blick auf einen behauenen, unansehnlichen Stein neben dem Herd. Neugierig hob er das Tuch auf, das den Stein halb verdeckte. Die verwitterte, in den Stein gemeißelte Figur eines römischen Altars kam zum Vorschein: Ein Jüngling kniend auf einem niedergeworfenen Stier – der persische Lichtgott Mithras, den die Römer unter ihre Götter aufgenommen hatten. Auch Ekkehard betrachtete das Bildnis aufmerksam. »Den Mann auf dem Tier betet Ihr an!« rief er heftig. »Wie kommt der Stein in Eure Hütte?« »Weil er uns leid getan hat«, sagte die Waldfrau ruhig. »Das könnt Ihr nicht verstehen. Sicher haben in den alten Tagen viele vor ihm gekniet. Er war einmal etwas Heiliges. Da haben wir ihn herausgehoben und an den Herd gestellt.« Sie fuhr wehmütig fort: »Wir wis281
sen, wie es den alten Göttern zumute ist – unsere gelten auch nicht mehr!« »Eure Götter?« fuhr Ekkehard sie an. »Wer sind Eure Götter?« »Das müßt Ihr wissen«, erwiderte die Alte. »Ihr habt sie ja vertrieben. Wir sehen sie nicht mehr. Wir kennen nur noch die Plätze, wo unsere Väter sie verehrt haben, bevor die Franken ins Land kamen und mit ihnen die Männer in den Kutten. Aber wenn der Wind durch die alten Bäume fährt, dann hören wir ihre Klagen …« Ekkehard bekreuzigte sich. Die Waldfrau fuhr fort: »Ich rede nur, wie ich es weiß. Ich will Euren Heiland nicht beleidigen, aber er ist als Fremder zu uns gekommen. Ihr redet mit ihm in einer fremden Sprache, die wir nicht verstehen. Käme er von unserem Grund und Boden, dann könnten auch wir mit ihm reden und wären seine treuesten Diener. Es stünde besser um das alemannische Land …« Ekkehard unterbrach sie zornig: »Wir werden Euch verbrennen lassen!« »Wenn es so in Euren Büchern steht, tut es! Ich habe genug gelebt.« Die Alte deutete auf einen schwärzlichen Streifen an der Wand: »Der Blitz hat die alte Waldfrau verschont!« Sie kauerte sich wieder an den Herd und blieb unbeweglich sitzen. Unheimlich flackerte der Widerschein der glühenden Kohlen über ihr runzeliges Gesicht. Ekkehard wandte sich um und verließ die Stube. Audifax folgte ihm erleichtert ins Freie. Der Hirt deutete auf den Felshügel: »Dort haben sie gesessen!« »Ich werde es mir ansehen«, erwiderte Ekkehard. »Du gehst inzwischen zur Burg zurück und schickst mir zwei Knechte mit Hacke und Beil und bestellst dem Diakon von Singen, er soll kommen mit seinem Meßbuch und der Stola.« Audifax gehorchte. Ekkehard stieg auf den Hohenkrähen. Nur wenige Spuren waren vom nächtlichen Gelage zurückgeblieben: Reste von Kohlen und Asche. Doch in den Ästen der Eiche hingen kleine Wachsbilder von 282
menschlichen Gliedmaßen, Füße und Hände, und auch Abbilder von Pferden und Kühen. Ekkehard blieb nicht lange allein. Zwei Männer kamen auf ihn zu. »Wir sind bestellt«, sagten sie. »Vom Hohentwiel?« »Wir arbeiten für die Herrschaft, doch wir sind in Hohenhöwen zu Hause, wo der Kohlenmeiler ist.« »Gut«, sagte Ekkehard. »Ihr sollt die Eiche hier fällen!« Die Männer sahen ihn verlegen an. »Vorwärts!« befahl Ekkehard. »Eilt euch, damit ihr fertig seid, bevor es dunkel wird!« Die beiden Männer gingen auf die Eiche zu. Der eine ließ sein Beil auf den Boden fallen. »Kommt dir der Platz nicht bekannt vor?« fragte er seinen Gefährten. »Wir wissen von nichts!« Er blickte auf Ekkehard. »Der Mönch wird's wissen … schade um den schönen Baum. An die zweihundert Jahre steht er schon hier und hat manches gesehen.« »Sei kein Dummkopf!« sprach der andere wieder. »Wir müssen dran. Je schneller wir die Arbeit tun, desto weniger wird der in der Kutte glauben, daß wir selbst einmal darunter gesessen haben.« Der erste betrachtete noch einmal wehmütig das Wachsbild, das er vor wenigen Tagen daran gehängt hatte, damit seine Kuh gesund werde, dann hob er entschlossen die Axt. In dumpfem Takt krachten die Schläge, die Späne flogen. Bald fand sich auch der Diakon von Singen ein, und Ekkehard führte ihn zur Waldfrau. Die Alte saß noch immer unbeweglich am Herd. Als Ekkehard und der Priester eintraten, verlöschte der Luftzug das Feuer. »Schnürt Euer Bündel!« befahl Ekkehard. »Ihr müßt fort!« »Wer will mich aus dem Haus meiner Mutter werfen wie einen herrenlosen Hund?« fragte die Waldfrau mit drohender Stimme. »Im Namen der Herzogin von Schwaben«, erklärte Ekkehard feierlich, »weise ich Euch aus dem Land wegen heidnischen Aberglaubens 283
und Götzendienstes. Keiner soll Euch aufnehmen, bis Ihr Euren Frevel gebüßt habt und Euch reuig zum dreieinigen Gott bekehrt, der richtet über die Lebenden und Toten.« Die Waldfrau hatte ihm ohne große Erregung zugehört. Nun packte sie ihre Sachen gleichmütig zu einem Bündel zusammen, griff nach ihrem Stock und rüstete sich zu gehen. Mitleidig sah ihr der Diakon zu. »Ruft Gott durch seine Diener um Verzeihung an und tut Buße!« »Dafür bin ich zu alt«, sagte die Waldfrau unfreundlich. Sie lockte ihren zahmen Specht, er flog ihr auf die Schulter. Ängstlich hüpfte auch der Rabe hinter ihr drein. An der Tür wandte sie sich noch einmal um und stieß dreimal mit dem Stock auf die Schwelle. »Seid verflucht, ihr Hunde!« rief sie den beiden Priestern zu und verschwand im Wald. Ekkehard ließ sich die Stola umhängen. Er folgte dem Diakon, der das Meßbuch vor ihm hertrug, durch die Räume der Hütte. Er weihte die Wände mit dem Zeichen des Kreuzes und sprach viele Gebete zur Austreibung der bösen Geister. Nach der Beschwörung nahm der Diakon, der so große Worte noch nie gehört hatte, Ekkehard die Stola wieder ab. Ekkehard hörte Hufschlag und trat hinaus. »Ihr seid lange ausgeblieben!« rief die Herzogin ihm entgegen. Ihr Begleiter half ihr vom Pferd. »Ich muß wohl selbst nachsehen, was Ihr ausgerichtet habt«, fuhr sie fort. Der Diakon verbeugte sich und trat den Heimweg an. Auch die zwei Holzfäller, die ihre Arbeit beendet hatten, schlichen sich davon, grußlos, denn sie fürchteten sich vor der Herzogin. Ekkehard berichtete, was vorgefallen war. »Ihr seid streng«, sagte sie. »Ich glaubte, mild zu sein.« »Wir genehmigen, was Ihr getan habt. Aber was wollt Ihr mit dem verlassenen Haus tun?« »Die bösen Geister sind gebannt … Ich will die Hütte zu einer Kapelle der heiligen Hadwig weihen.« 284
Die Herzogin sah ihn wohlwollend an. »Wie kommt Ihr auf den Gedanken?« »Es fiel mir nur so ein … Die Eiche habe ich fällen lassen.« »Wir wollen den Platz besichtigen. Ich denke, wir werden auch das Fällen der Eiche genehmigen.« Sie stieg mit Ekkehard auf den Gipfel des Hohenkrähen. Steil stürzten die Felsen vor ihren Füßen in die Tiefe. Der mächtige Baum lag gefällt am Boden und versperrte den Weg. Die Herzogin zog ihren hellen Mantel enger. Schweigend blickten beide über die abendliche Landschaft. Die Herzogin war bewegt. Er will der heiligen Hadwig eine Kapelle weihen, ging es ihr durch den Sinn. Sie trat einen Schritt auf Ekkehard zu und lehnte ihren Arm auf seine Schulter, als suchte sie Halt bei ihm. »Was denkt mein Freund?« fragte sie mit weicher Stimme. »Ich habe nie auf solcher Höhe gestanden«, erwiderte Ekkehard. »Ich mußte an die Heilige Schrift denken. Es steht geschrieben: ›Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Pracht und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.‹ Er aber antwortete: ›Weg von mir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.‹« Die Herzogin zog ihre Hand zurück. »Ekkehard«, rief sie verstimmt. »Ihr seid ein Kind – oder ein Dummkopf!« Sie wandte sich ab und stieg eilig den steilen Pfad hinunter. Allein ritt sie nach Hohentwiel zurück, so schnell, daß ihr Begleiter kaum folgen konnte. Ekkehard blickte ihr verwundert nach. Dann kehrte auch er in die Burg zurück.
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IX Die Abende wurden länger, die Tage trüb und grau. Bald waren Berge und Täler mit Schnee bedeckt. Der Winter hatte seinen Einzug gehalten. Auf Hohentwiel begann man, sich auf das Weihnachtsfest vorzubereiten. Vergil und lateinische Grammatik wurden beiseite gelegt. Im Frauensaal wurde genäht und gestickt, und als Ekkehard einmal unvermutet eintrat, verstellte ihm Praxedis den Weg und wies ihm freundlich die Tür. Hadwig aber versteckte ein Knäuel von Goldfaden und ein Stück schwarzer Seide in ihrem Korb. Ekkehard zog daraus den Schluß, daß man an einem Geschenk für ihn arbeitete. Nun wollte er natürlich nicht zurückstehen und dachte lange nach, was er seinerseits geben könne. Durch einen Boten beschaffte er sich von seinem Freund und Lehrer Folkard in Sankt Gallen Pergament und Farben, Pinsel und Tinte. Er beschloß, ein Gedicht in lateinischen Versen für die Herzogin zu schreiben. Die Arbeit ging ihm nicht leicht von der Hand. Erst wollte er der Herzogin in einem Gedicht huldigen, in dem er von der Erschaffung der Welt bis zum Beginn ihrer Herrschaft in Schwaben erzählte. Dann wieder wollte er ihr Loblied singen, indem er sie mit allen Frauen der Geschichte verglich, die ihm bemerkenswert erschienen. Doch er mußte feststellen, daß er alle Worte des Lobes schon verschwendet hatte, als er zur Herzogin selbst kam. Praxedis bemerkte seine Niedergeschlagenheit. »Habt Ihr eine Spinne verschluckt?« fragte sie. »Ihr habt gut scherzen«, erwiderte Ekkehard traurig. Er bat sie, ihn nicht zu verraten, und klagte ihr sein Leid. »Ihr wollt ganze Wälder umhauen und braucht doch nur ein paar Blumen für den Strauß!« spottete die Griechin. »Macht's einfach und ungelehrt – wie Euer geliebter Vergil!« 286
Wie Vergil? Ekkehard grübelte. »Ich hab's! Vergil selbst soll die Huldigung darbringen.« In wenigen Minuten schrieb er das Gedicht nieder. Es handelte davon, daß Vergil ihm in seinem Turmzimmer erschien und ihn bat, der hohen Frau zu danken für die Ehre, die sie ihm zuteil werden ließ. Nun wollte er das Gedicht noch mit einer schönen Malerei verzieren: Herzogin Hadwig mit Krone und Szepter auf dem Thron sitzend, Vergil, in weißem Gewand, den Lorbeerkranz im Haar, und Ekkehard selbst, sich tief verneigend. Wie er es von Folkard gelernt hatte, ordnete er die Gestalten an: Hadwig zwei Finger breit höher als Vergil, er selbst wieder kleiner als der Dichter. Den Vergil brachte er leidlich zuwege. Auch sein eigenes Bild glückte, man erkannte die Figur im Mönchsgewand mit der Tonsur. Die Darstellung der Herzogin aber war ein schwieriges Problem. »Was fehlt Euch denn?« fragte Praxedis teilnahmsvoll, als sie Ekkehard wieder betrübt umhergehen sah. »Ich sollte wissen, wie sich Frauen kleiden.« »Ihr sprecht ja ganz abscheulich!« entrüstete sich Praxedis. »Macht doch Eure Augen auf!« Ekkehard blickte sie aufmerksam an. »Es nützt nichts«, sagte er schließlich. »Ihr tragt ja keinen Königsmantel!« »Wartet, ich will Euch helfen«, sagte sie. »Die Herzogin ist im Garten drunten, ich will den Staatsmantel anlegen.« Nach wenigen Augenblicken trat sie wieder ins Zimmer, den schweren Purpurmantel mit der goldenen Verbrämung um die Schultern geworfen. Mit gemessenen Schritten ging sie durch den Raum, ergriff einen eisernen Leuchter, hielt ihn wie ein Szepter vor sich hin und stellte sich vor Ekkehard. »Wendet Euch ein wenig mehr gegen das Licht!« sagte er und begann schon, eifrig zu malen. Nach einer Weile trat Praxedis neben ihn und blickte über seine Schulter auf das Pergamentblatt. »Das Bild hat ja keinen Kopf!« »Ich brauchte nur den Faltenwurf«, erwiderte Ekkehard bestimmt. 287
Schritte näherten sich der Türe. Rasch ließ Praxedis den Mantel von ihrer Schulter gleiten, so daß er nur lose über ihrem Arm hing. Im nächsten Augenblick stand die Herzogin vor ihnen. »Wollt Ihr wieder Griechisch lernen?« fragte sie Ekkehard. »Ich habe ihm nur den Edelstein am Gürtel Eures Mantels gezeigt«, erklärte Praxedis hastig. »Es ist so ein herrlich geschnittener Stein – Herr Ekkehard versteht sich darauf.« Auch Audifax traf seine Vorbereitungen für Weihnachten. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, daß er jemals einen Schatz heben würde, und begnügte sich mit den Dingen, die schon vorhanden waren. Jeden Abend stieg er hinunter zur Ache. Dort lauerte er stundenlang vor einem hohlen Weidenbaum auf einen Fischotter. Doch der Otter wußte viele Ausgänge in den Fluß, die Audifax nicht kannte. Er wartete viele Male vergeblich. Eines Morgens aber kam er ganz erfroren in die Küche und hockte sich ganz nahe an den Herd. Seine Lippen zitterten vor Kälte, aber sein Gesicht glühte vor Freude und Zufriedenheit. Praxedis trat in die Küche. »Zieh dich an!« sagte sie zu dem Hirten. »Du mußt heute in den Wald und eine Tanne holen.« »Das ist nicht meine Arbeit«, erwiderte Audifax stolz. »Aber ich will's tun, wenn Ihr mir einen Gefallen tut.« »Was befiehlt der Herr Ziegenhirt?« Statt jeder Antwort lief der Knabe hinaus und kam bald darauf zurück. Er hielt Praxedis einen dunkelbraunen Balg hin. »Woher hast du das Otterfell?« Praxedis strich über das kurze, dichte, glänzende Haar. »Selbst gefangen«, erwiderte Audifax. Er fügte leiser hinzu: »Ich möchte, daß Ihr daraus eine Haube für Hadumoth näht.« Praxedis versprach es. Hadwig stand selbst in der Küche und beaufsichtigte die Mägde. Sie teilte Mehl und Honig aus, Praxedis mischte Ingwer, Pfeffer und Zimt für den Lebkuchenteig. »Was nehmen wir für eine Form?« fragte sie die Herrin. »Das Viereck mit den Schlangen?« 288
»Das große Herz ist schöner«, erwiderte die Herzogin, und sie selbst belegte die schönsten Herzen mit Mandeln und Nüssen. Der Weihnachtsbaum war gefällt. Er wurde im großen Saal aufgestellt und mit Äpfeln und Kerzen geschmückt. Am Heiligen Abend versammelten sich alle, festlich gekleidet, Herrschaft und Gesinde. Ekkehard las das Evangelium von der Geburt des Heilands. Dann gingen sie paarweise in den großen Saal. Auf breiten Tischen lagen die Geschenke für die dienenden Leute, Leinwand und Gebäck. Auf Hadumoths Platz lag die Pelzhaube. Als Praxedis ihr verriet, von wem das Geschenk sei, weinte Hadumoth und sagte traurig zu Audifax: »Ich habe nichts für dich.« Doch Audifax tröstete sie: »Das ist statt der Goldkrone.« Knechte und Mägde dankten ihrer Herrin und gingen in die Gesindestube hinunter. Die Herzogin führte Ekkehard an ein Tischchen. »Das ist für Euch!« Neben einem mandelgespickten Lebkuchenherzen und einem großen Korb, der mit Leinwand zugenäht war, lag eine Priesterkappe aus Samt und eine prächtige Stola aus Goldgewebe, mit schwarzer Seide bestickt und mit Perlen verziert. »Laßt sehen, wie es Euch steht!« Praxedis setzte ihm die Kappe auf und warf ihm die Stola um. »Meisterhaft!« rief sie. »Ihr dürft Euch bedanken!« Ekkehard legte die herrlichen Geschenke scheu wieder ab, zog aus seinem Gewand die Pergamentrolle und reichte sie schüchtern der Herzogin. Hadwig öffnete sie nicht. »Erst wollen wir sehen, was in Eurem Korb ist.« Sie wies auf das Pergament: »Das Beste soll zuletzt kommen.« Sie schnitten den Korb auf: In Heu verpackt, lag ein riesiger Auerhahn. Ekkehard hob ihn in die Höhe – die ausgebreiteten Flügel reichten bis auf den Boden. Ein Brief lag dabei. »Vorlesen!« befahl Hadwig. Ekkehard öffnete das Siegel. »Dem ehrwürdigen Bruder Ekkehard auf dem Hohentwiel durch Burkard, den Klosterschüler, von Romeias, dem Wächter am Tor. 289
Wenn es zwei wären, so wäre einer für Euch. Da es aber nur einer ist, ist er nicht für Euch, sondern Eurer kommt nach. Gesendet wird er an Euch wegen Unkenntnis des Namens. Die ihn haben soll war damals mit der Frau Herzogin im Kloster und trug ein Gewand von der Farbe des Grünspechts und einen Zopf um die Stirne gelegt. Dazu Glück und Segen. Auch Euch, ehrwürdiger Bruder. Sollte auf der Burg ein Wächter, Turmwart oder Forstwart gebraucht werden, so empfehlet der Frau Herzogin den Romeias. Langes Leben Euch und der Frau Herzogin. Lebet wohl!« »Sollen wir den Bittsteller auf unser Schloß versetzen, Praxedis?« fragte die Herzogin lächelnd, als Ekkehard geendet hatte. »Das verbitt' ich mir!« Praxedis war rot geworden. »Es soll niemand meinen, daß …« »Schon gut.« Hadwig hob abwehrend die Hand. Dann begann sie die Pergamentrolle zu öffnen. Sie war überrascht und erfreut über die kunstvolle Malerei. Die dargestellten Personen waren leicht zu erkennen, da Ekkehard zur Verdeutlichung auch noch die Namen darüber geschrieben hatte. Sie bewunderte das Werk nach Gebühr und bat Ekkehard, sein Gedicht selbst vorzulesen und zu erklären. Aufmerksam hörten ihm die beiden Frauen zu. Dann war es eine Weile still. Schließlich trat die Herzogin auf den Mönch zu und reichte ihm die Hand. »Ich danke Euch, Ekkehard!« sagte sie schlicht. Es waren dieselben Worte, mit denen sie ihm im Klosterhof von Sankt Gallen dafür gedankt hatte, daß er sie über die Schwelle getragen hatte.
Als es auf Mitternacht ging, verließ Ekkehard die beiden Frauen und ging hinauf in sein Turmzimmer. Praxedis brachte eine Schale mit Wasser, einige Stücke Blei und einen metallenen Löffel. »Das Bleigießen vom vorigen Jahr ist eingetroffen«, sagte sie. »Je 290
mehr ich darüber nachdenke, meine ich, daß es einer Mönchskapuze glich.« »Es ist doch nur Spielerei«, erwiderte die Herzogin. Praxedis hielt den Löffel mit dem Blei über das Licht der Lampe. Das Blei schmolz, da stand sie auf, murmelte einige unverständliche Worte. Zischend floß das flüssige Metall in die Wasserschale. Scheinbar gleichgültig sah Hadwig ihr zu. Praxedis hielt die Schale ans Licht: Die Form glich einem länglich zugespitzten Tropfen. »Das ist wieder ein Rätsel, bis die Lösung kommt!« rief Praxedis. »Die Zukunft sieht fast wie ein Tannenzapfen aus.« Matt glänzte das Metall in der Hand der Herzogin. »Wie eine Träne …«, sagte sie ernst.
X Der Winter verging eintönig und doch unmerklich rasch, bei Arbeit und Gebet, Vergil und lateinischer Grammatik. Die Herzogin stellte keine verfänglichen Fragen mehr an Ekkehard. In der Faschingszeit kamen die Grafen und Fürsten aus der Nachbarschaft, der Herzogin ihren Besuch abzustatten. Es wurde viel gegessen und getrunken. Der März zog mit heftigen Stürmen ins Land. In einer klaren Sternnacht stand ein Komet am Himmel – ein schlechtes Vorzeichen. Ein Schäfer berichtete, daß er dem Heerwurm begegnet sei – das bedeutete Krieg. Eine unheimliche Vorahnung bedrückte die Menschen. Sogar der Kämmerer Spazzo war niedergeschlagen. »Ihr sollt mir einen Dienst erweisen«, sagte er vertraulich zu Ekkehard. »Ich habe im Traum einen toten Fisch gesehen, der auf dem Rücken schwamm. Ich will mein Testament machen.« Er seufzte tief. »Die Welt ist alt geworden und steht nur noch auf einem Bein. Die Menschheit kann es auch nicht mehr weiter bringen: Sogar auf Hohentwiel ha291
ben wir jetzt mehr als ein halbes Dutzend Bücher. Wenn einer geschlagen wird, läuft er zum Gericht und erhebt Klage, anstatt dem andern das Haus über dem Kopf niederzubrennen … Da hört die Welt von selber auf.« »Und wer soll Euer Erbe sein, wenn ohnehin alle zugrunde gehen?« fragte Ekkehard. Der Bischof Ulrich von Augsburg hatte dem Kloster von Reichenau ein kostbares Heiligtum versprochen – den rechten Vorderarm des heiligen Theopontus, in Silber und Edelsteine gefaßt. Nun schickte er Nachricht, daß er die heilige Reliquie nicht senden könne, weil das Land unsicher sei. Der Abt von Reichenau sandte den Boten auf den Hohentwiel. »Was bringt Ihr Gutes?« fragte die Herzogin. »Nicht viel. Ich möchte lieber etwas mitnehmen – den schwäbischen Heerbann, Pferde und Bewaffnete, soviel Ihr aufbringen könnt. Sie sind wieder auf dem Weg zwischen Donau und Rhein.« »Wer?« »Unsere kleinen Freunde von drüben, mit den tiefliegenden Augen und den stumpfen Nasen. Dieses Jahr wird wieder viel rohes Fleisch mürbe geritten unter dem Sattel!« Er zog ein seltsam geformtes kleines Hufeisen mit hohem Absatz aus seinem Gewand. »Kennt Ihr das Zeichen?« »Die Hunnen!« Die Herzogin erschrak. »Sie sind schon über die Donau geschwommen«, fuhr der Bote fort. »Wie die Heuschrecken fallen sie über das deutsche Land her.« »Haben sie die Schlacht am Inn so schnell vergessen?« »Eben darum. Wer tüchtig geschlagen wird, kommt gerne wieder …« »Auch wir wissen, was wir zu tun haben!« sagte die Herzogin stolz. Sie entließ den Mann mit einem Geschenk. Dann ließ sie Ekkehard zu sich rufen. »Vergil wird eine Zeitlang ruhen müssen«, sagte sie, bevor sie ihm die schreckliche Neuigkeit mitteilte. Die Lage war nicht erfreulich. Die Reichsfürsten bekämpften einan292
der und hatten es verlernt, sich gegen die Gefahr von außen zusammenzuschließen. Der Kaiser war den Schwaben nicht gut gesinnt. Er war nach Italien gezogen und kämpfte dort, fern der deutschen Grenzen. Die Straße zum Bodensee stand den Hunnen offen. Seit Jahren beunruhigten sie das Reich, seit Karl der Große es seinen unfähigen Nachfolgern hinterlassen hatte. »Wenn der fromme Bischof Ulrich keine Gespenster gesehen hat, dann werden die Hunnen auch zu uns kommen«, sagte die Herzogin. »Was sollen wir tun? In den Kampf ziehen? Den Frieden durch Gold und Tribut erkaufen? Uns auf dem Hohentwiel verschanzen und unsere Leute preisgeben, die uns treu dienen und denen wir unseren Schutz gelobt haben? Ratet!« »Ich bin für derlei Dinge nicht geschult.« »Ihr Schulmeister!« rief Hadwig erregt und vorwurfsvoll. »Warum seid Ihr kein Krieger geworden? Es wäre vieles besser!« Ekkehard war verletzt und wollte sich zurückziehen. »Halt!« befahl die Herzogin. »Ihr sollt mit Eurem Wissen der Heimat dienen, und was Ihr nicht wißt, sollt ihr lernen. Ich will Euch zu jemandem schicken, der in solchen Dingen Bescheid weiß – wenn er noch lebt! Wollt Ihr meinen Auftrag bestellen?« »Ich habe es noch nie versäumt, meiner Herrin zu dienen«, erwiderte Ekkehard. »Ihr dürft aber nicht erschrecken, wenn Ihr Ungewöhnliches seht. Morgen fahrt Ihr zum Sipplinger Hof hinüber, am Überlinger See. Wenn aus dem Berg über dem Ufer der Rauch aufsteigt, dann geht zum Alten in der Heidenhöhle hinauf und redet mit ihm wegen der Hunnen.« Sie ging zu ihrem Schrank, in dem sie ihre Schmucksachen aufbewahrte, und brachte dem erstaunten Mönch ein Schiefertäfelchen. Ekkehard las: »Neque enim … das ergibt keinen Sinn.« »Das tut nichts«, erwiderte die Herzogin. »Wenn Euch der Alte nicht einlassen will, dann weist ihm diese Schrift vor. Er weiß, was es bedeutet.« 293
Am nächsten Tag machte sich Ekkehard auf den Weg. Schon nach wenigen Stunden erreichte er den herzoglichen Hof Sernatingen. Dort ließ er das Pferd zurück und ging zu Fuß weiter, am Ufer des Überlinger Sees entlang. Die Sandsteinfelsen fielen steil zum See ab, und nach einer Weile führte der Pfad aufwärts. Stufen waren in den Felsen gehauen, und hie und da sah er Öffnungen in der Felswand, die an römische Katakomben erinnerten. Auf einem schmalen, viereckigen Felsvorsprung machte er halt. Aus einem mannshohen Höhleneingang vor ihm sprang ein riesiger, schwarzer Hund. Hilfesuchend blickte Ekkehard um sich, da bemerkte er im Schatten des Eingangs einen grauhaarigen Mann mit rotem Bart, bewaffnet mit einem Spieß. »Ruft das Tier zurück!« rief ihm Ekkehard zu. Ungern gehorchte der Hund und zog sich knurrend in die Höhle zurück, als der Alte ihm mit dem Spieß drohte. »Man sollte den Hund erschlagen und über Euer Tor hängen, bis er verfault und auf Euch herunterfällt!« sagte Ekkehard entrüstet. »Fast hätte er mich hinuntergestoßen.« »In den Heidenhöhlen gilt das Landrecht nicht!« war die trotzige Antwort. Ekkehard wollte weitergehen, doch der Alte versperrte ihm mit dem Spieß den Weg. »So schnell geht's nicht. Wohin wollt Ihr?« »Zum Alten in der Heidenhöhle.« »Zum Alten in der Heidenhöhle? Wißt Ihr keine ehrerbietigere Anrede, gelbschnäbeliger Kuttenträger?« schimpfte der Alte. »Ich weiß keine andere«, sagte Ekkehard betroffen. »Mein Gruß heißt ›neque enim‹.« »Das klingt schon besser.« Das Gesicht des Alten hellte sich auf. Er reichte Ekkehard die Hand: »Woher kommt Ihr?« »Vom Hohentwiel. Ich soll Euch …« »Ich bin nicht der, den Ihr sucht. Ich bin Rauching, sein Dienstmann. Ich werde Euch anmelden.« Es dauerte eine ganze Weile, bis der Alte wiederkam. Er bedeutete Ekkehard, ihm zu folgen. Sie gingen einen dunklen Gang entlang, der 294
sich bald zu einem hohen Raum weitete. Unter den spitzbogigen Gewölben zog sich ein Sims die Wände entlang, durch weite Fensteröffnungen drang das Sonnenlicht herein. Da und dort standen Steinbänke. Ekkehard gewöhnte sich langsam an das Dämmerlicht des Raumes. Er sah eine riesige Gestalt, die in einem hohen steinernen Lehnstuhl nahe bei einem der Fenster saß. Tief stak der Kopf zwischen den Schultern über dem mächtigen Leib, Stirn und Wangen waren von Runzeln durchfurcht. Spärliches weißes Haar umrahmte das Gesicht. Der zahnlose Mund war eingefallen. Der Greis trug einen verblichenen, geflickten Mantel und grobe Stiefel an den Füßen. Ein alter, verstaubter Hut, mit Fuchspelz verbrämt, lag neben ihm. »Wer kommt zu dem Vergessenen?« Ekkehard verneigte sich, nannte seinen Namen und wer ihn gesandt hatte. »Ihr habt ein böses Losungswort gebracht«, fuhr die dünne Stimme fort. »Sprechen die Leute noch von Luitward von Vercelli?« »Ich habe nichts von ihm gehört.« »Sag's ihm, Rauching, wer der Luitward war!« »Der größte Schurke, den die Sonne je beschienen«, sagte der Dienstmann mit grimmiger Stimme. »Sag ihm auch, was ›neque enim‹ heißt!« »Es gibt keinen Dank auf dieser Welt, und auch der beste Freund eines Kaisers ist ein Verräter!« »Auch der beste ein Verräter«, wiederholte der Alte im Lehnstuhl. Er deutete auf ein Schachbrett, das in einer Felsennische stand. Eine Partie war zu Ende gespielt worden. »Matt gesetzt durch Läufer und Überläufer«, murmelte er. Er ballte die Faust, dann seufzte er laut und stützte den Kopf in die Hand. »Das Kopfweh, das verfluchte Kopfweh …« »Mummolin!« rief Rauching. Mit großen Sätzen kam der schwarze Hund vom Eingang. Schmeichelnd setzte er sich neben den Alten und leckte ihm die Stirn. »Es ist gut«, sagte der Greis nach einer Weile und richtete sich wieder auf. 295
»Seid Ihr krank?« fragte Ekkehard teilnahmsvoll. »Krank? – Es mag eine Krankheit sein, doch ich hab' mich schon daran gewöhnt.« Er beugte sich zu Ekkehard: »Ich rate Euch, zieht niemals zu Felde, wenn Ihr Kopfweh habt. Und schließt auch keinen Frieden, es könnte Euch ein Reich kosten …« »Habt Ihr keinen Arzt befragt?« »Die Ärzte können mir nicht helfen.« Der Greis wies auf seine Stirn: »Seht Ihr diese Narben? An den Füßen haben sie mich aufgehängt und ein Stück Verstand herausgeschnitten … Es hat nichts geholfen … In Cremona haben sie die Sterne befragt und mich um Mitternacht unter einen Maulbeerbaum gestellt. Mit einem langen Spruch haben sie das Kopfweh in den Baum hinein verbannt – es hat nichts genützt.« Er hielt inne und streichelte den Hund. »Jetzt bin ich's gewöhnt, und das Ärgste leckt der Mummolin mir weg.« »Meine Botschaft …« begann Ekkehard zögernd. Der Greis winkte ab. »Erst müßt ihr essen und trinken.« Rauching ging in den anstoßenden Raum, der als Küche diente. Bald kam er wieder und deckte auf einer Steinplatte den Tisch. Den Höhepunkt des Mahles bildete ein Hecht – aber er war alt und stellenweise mit Moos bewachsen. Zu dem Fleisch, das zäh schmeckte wie Leder, gab es Sipplinger Rotwein, der als der sauerste im ganzen Land bekannt war. Nach dem Essen forderte der Alte Ekkehard zum Reden auf. »Ich bringe schlimme Botschaft. Die Hunnen sind ins Land eingebrochen. Bald werden sie auch nach Schwaben kommen.« »Das geschieht Euch recht!« »Ihr sprecht sonderbar«, begann Ekkehard wieder. Die Augen des Greises leuchteten. »Ihr habt's verdient, Ihr und Eure Herren. Ein großes, stolzes Reich hat Kaiser Karl …« »… den Gott segnen möge!« fiel Rauching ein. »… errichtet.« Der Alte fuhr unbeirrt fort: »Keine Maus wagte sich einzuschleichen, die Wächter hätten sie gefangen. Damals blieben die Hunnen, wo sie hingehörten.« Bedächtig nahm er einen Schluck aus seinem Becher. »Aber unsere Großen wurden übermütig. Ein jeder wollte der Herr der Welt 296
sein, und sie haben gegenseitig gekämpft. Den letzten aus Kaiser Karls Stamm haben sie abgesetzt … Jetzt haben sie die Hunnen wieder auf dem Hals.« »Ihr denkt an alte Geschichten«, wagte Ekkehard einzuwerfen. »Noch haben wir einen Kaiser und ein Reich.« »Ich wünsch' ihm Glück. Das Gebäude ist morsch.« Der Alte schüttelte sich. »Der Kaiser zieht in Welschland zu Felde und erwirbt großen Ruhm«, beharrte Ekkehard. »O Welschland, Welschland!« unterbrach der Greis ihn unmutig. »Das wird den Deutschen noch schlimm zu schaffen machen. Jenes eine Mal hat sich der große Karl …« »… den Gott segnen möge!« fiel Rauching wieder ein. »… blauen Dunst vormachen lassen. Es war ein böser Tag, als man ihm in Rom die Krone aufsetzte, und keiner hat sich gefreut, nur der Papst – der hat uns gebraucht. Was haben wir mit Welschland zu schaffen? Griechische List wird dort eher fertig als deutsche Kraft. Wir haben im Osten und Norden genug zu tun, was brauchen wir ins Welschland zu ziehen?« Der Alte unterbrach sich, als er merkte, wie betrübt Ekkehard geworden war. »Hört nicht darauf, was ein Begrabener spricht!« fuhr er ruhiger fort. »Aber es ist schon so, daß die Wahrheit in Höhlen wohnt, während der Unsinn das Land regiert.« »Ein Begrabener?« Ekkehard sah ihn fragend an. Der Alte lachte und trank ihm zu: »Ich will Euch eine schöne Geschichte erzählen – Ihr könnt ein Lied darüber dichten: Es war einmal ein Kaiser, der hatte wenig frohe Tage. Sein Reich war groß, er selbst war dick, und das Kopfweh plagte ihn, seit er auf dem Thron saß. Darum nahm er sich einen Kanzler, der war dünn wie eine Stange, und ihn plagte kein Kopfweh, so daß er besser denken konnte als sein Herr. Doch der Kanzler betrog den Kaiser. Er verführte seine Gemahlin und verbündete sich mit seinen Gegnern, und schließlich brachte er das Volk dazu, daß man den dicken Kaiser absetzte und davonjagte. 297
Im Schwabenland fand der betrogene Kaiser Zuflucht, doch auch das war dem falschen Kanzler noch zu gut – er sandte Mörder nach ihm aus … und als sie den Kaiser nicht fanden, zogen sie wieder heim. Und als der dicke Meginhart zu Neidingen starb, legte man ihn auf die Bahre und verkündete, der Kaiser sei tot, und trug ihn feierlich zu Grabe … Wer das erlebt hat, der tut am besten, wenn er stirbt. Die Hunnen kommen – vielleicht erfüllt sich auch sein Schicksal …« »Herr, wie wunderbar sind deine Wege!« rief Ekkehard ehrerbietig, kniete nieder und wollte die Hand des Greises küssen. »Das alles gilt nicht mehr!« Der Alte wehrte ab. Er griff wieder nach seinem Becher. »Welchen Bescheid soll ich meiner Herrin bringen?« fragte Eckehard. »Wegen der Hunnen? Sagt Eurer Herzogin, sie soll in den Wald gehen und sehen, wie's der Igel macht, wenn einer ihm zu nahe kommt: Er rollt sich zusammen wie eine Kugel, und wer nach ihm greift, der sticht sich. Macht's ebenso. Das Schwabenland hat Lanzen genug; auch euch Mönchen könnt's nicht schaden, wenn ihr nach den Spießen greift! – Und wenn vom Frieden die Rede ist, so sagt, der Alte in der Heidenhöhle hätte einmal einen schlechten Frieden geschlossen, und er täte es nicht wieder. Doch er wird selbst sein Pferd satteln, wenn zur Schlacht geblasen wird – lest eine Messe für ihn, wenn Ihr seinen letzten Ritt überlebt!«
XI Vom Turm wehte die Kriegsfahne. Der Hohentwiel sollte der Sammelplatz für die Truppen sein. Boten ritten durch den Hegau, in allen Tälern und auch in den entferntesten Meierhöfen erklang das Heerhorn, die Männer aufzubieten. Nur die Allerärmsten waren von der Kriegs298
pflicht befreit. Allen anderen wurde befohlen, sich beim ersten Ruf bewehrt und bewaffnet auf der Burg einzufinden. Ekkehard wurde von der Herzogin nach Reichenau gesandt: alle Bewohner des Klosters sollten sich für die Zeit der Gefahr auf den Hohentwiel begeben. In Reichenau war schon alles in Bewegung. Die Brüder ergingen sich im Klostergarten, aber keiner erfreute sich des milden Frühlingstages. Aufgeregt redeten sie durcheinander. »Heiliger Pirminius!« klagte der Bruder Gärtner. »Wer soll den Gemüsegarten bestellen, wenn wir fort müssen?« »Und wer soll nach den Hühnern sehen?« »Man sollte den Hunnen einen Brief hinterlassen. Sie werden doch keine solchen Unmenschen sein.« Nur Simon Bardo, der ehemalige Befehlshaber der Leibgarde des griechischen Kaisers, lächelte über den einfältigen Eifer seiner Klosterbrüder. Ekkehard fragte nach dem Abt. Ein Bruder führte ihn in die Rüstkammer auf dem Speicher. Abt Wazmann hatte die jahrelang nicht gebrauchten Rüstungen und Waffen von den Wänden nehmen lassen. Er selbst hatte einen Ringpanzer angelegt. »Tretet näher!« rief er Ekkehard entgegen. »Andere Zeiten – anderer Empfang.« Ekkehard bestellte unverzüglich seinen Auftrag. Abt Wazmann wurde ernst. »Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätte ich selbst darum bei der Herzogin angefragt.« Er ergriff ein langes Schwert und schwang es so heftig durch die Luft, daß Ekkehard erschrocken zurückwich. Der Abt stieg mit ihm in den Hof hinunter und verkündete den Brüdern das Gebot der Herzogin. Jetzt wurde auch den sorglosesten unter ihnen bewußt, daß Gefahr im Anzug war. Trotzdem erschien ihnen der bevorstehende Kriegszug als willkommene Abwechslung. Rudimann, der Kellermeister, stand, nachdenkliche Falten auf der Stirn, an einen Apfelbaum gelehnt. Ekkehard trat auf ihn zu und wollte ihn umarmen, zum Zeichen, daß in der Zeit der Not ihr Zwist nicht mehr gelten solle. Rudimann aber wehrte ab. 299
»Ich weiß, was Ihr wollt«, rief er. »Solange die Hunnen in unserem Land weilen, soll unsere Feindschaft ruhen. Überleben wir den bevorstehenden Kampf, dann wollen wir sie neuerlich aufnehmen!« Er wandte sich trotzig ab. Eilig wurde die Flucht vorbereitet. In der Schatzkammer wurden die Kostbarkeiten und Heiligtümer verpackt und in schweren Truhen auf die bereitstehenden Schiffe verladen. In der Rüstkammer wurden die Waffen verteilt. Der Vorrat reichte nicht aus, alle Brüder kriegsgerecht auszurüsten. Noch bevor der Abend einbrach, versammelten sich alle, zum Auszug bereit, im Hofe: Die meisten waren in Harnisch und Waffen. Andere, eine Litanei betend, trugen den Sarg des heiligen Markus. So stiegen sie hinunter zum Ufer, gefolgt von Abt Wazmann, Ekkehard und den Klosterschülern. Zwei Lädinen – größere Ruderschiffe mit Segelmasten – nahmen sie auf. In kleinen Kähnen hatten sich die dienenden Leute des Klosters mit Hab und Gut eingeschifft. Kerhildis und die übrigen Mägde waren schon vorausgefahren. Langsam bewegten sich die schwerbeladenen Schiffe über den See, der erst vor kurzem aufgetaut war. Geduckt behüteten die Mönche den Sarg des heiligen Markus. Abt Wazmann aber stand hoch aufgerichtet am Bug und achtete nicht auf die Wellen, die ins Boot schlugen. Spät am selben Abend kamen die Reichenauer auf dem Hohentwiel an. Der Sarg ihres Heiligen fand seinen Platz in der Burgkapelle. Sechs Brüder wurden zu Wache und Gebet bestimmt. Die anderen begaben sich bald zur Ruhe. In den nächsten Tagen verwandelte sich der Burghof in ein Heerlager. Mehrere hundert Männer waren schon aufgeboten worden, zu denen noch die neunzig aus Reichenau kamen. Schon vor Sonnenaufgang ertönte das Hämmern der Schmiede. Auf einem riesigen Stein, der neben dem Brunnen aufgestellt worden war, wurden die rostigen Klingen geschliffen. Unter der Linde saß der Korbmacher von Weiterdingen mit seinen Buben: Mit einem starken 300
Geflecht aus Weidenzweigen wurden lange, zu Schilden zurechtgeschnittene Bretter bespannt und darüber gegerbte Felle genagelt. Andere gossen Blei in Formen zu spitzen Wurfgeschossen für die Schleuder. Über einem Feuer wurden Knüppel und Keulen gehärtet. Simon Bardo überwachte die Übungen der im Gebrauch der Waffen noch unerfahrenen Männer. Das Pflaster des Burghofes hallte vom schweren Schritt der Mönche wider, die im geschlossenen Speerangriff unterwiesen wurden. Wieder an anderer Stelle übten die Pfeilschützen. Als Zielscheibe diente ein Strohmann, dem die Männer in ihrem Übermut eine Krone aus Eulenfedern aufs Haupt gesetzt und eine sechsendige Peitsche in die Hand gedrückt hatten.
Nach wenigen Tagen schon war die Mannschaft so geschult, daß Simon Bardo sie der Herzogin zur Musterung vorführen konnte. Es war auch an der Zeit. In der vorangegangenen Nacht waren die Burgbewohner durch hellen Feuerschein am Horizont aufgeschreckt worden. Manche meinten sogar, den Brandgeruch gespürt zu haben. Die Herzogin, hoch zu Roß, begleitet von einigen Edelleuten aus der Umgebung, hatte sich auf die Wiese am Südabhang des Burgberges begeben. Auch Abt Wazmann hatte sich auf seinem Zelter eingefunden und Herr Spazzo, der Kämmerer, der sich bemühte, es ihm in Haltung und Gebärden gleichzutun. Jetzt öffnete sich das äußere Burgtor vor den hervordrängenden Scharen. Zuerst kamen die Bogen- und Armbrustschützen, hinter ihnen die Hornisten, darunter Audifax als Sackpfeifer. Auf ein Zeichen lösten sich die Reihen. Sie schwärmten aus und bezogen ihre Stellungen – hinter Büschen und Hecken. Dann kam die Kohorte der Mönche, in Helm und Harnisch, darüber die Kutten, den Schild auf dem Rücken und den Speer wurfbereit in der Hand. In drei Haufen folgten die Dienstmannen und die aufgebotenen Heerbannleute. Sie trugen seltsame Rüstungen. Manche der Waf301
fen mochten schon in den Feldzügen Kaiser Karls des Großen gebraucht worden sein. Einige trugen nur riesige Knüppel und sonst nichts. »Ich glaube, es gibt gleich Arbeit«, rief plötzlich der Kämmerer Spazzo. Er deutete ins Tal hinunter: Tatsächlich bewegte sich dort in langen Reihen eine Schar in die Richtung der Burg. »Das sind keine Hunnen«, entschied Simon Bardo. »Sie kommen unberitten.« Er befahl den Bogenschützen, für jeden Fall den Abhang des Berges zu besetzen. Doch als der fremde Zug näher kam, erkannten sie, daß die Männer das Ordensgewand des heiligen Benedikt trugen. Zwischen den Lanzen wurde die Standarte mit dem goldenen Kreuz sichtbar. »Meine Brüder!« rief Ekkehard außer sich vor Freude und eilte mit den anderen den Ankömmlingen entgegen. »Gott zum Gruße, erlauchte Frau Base!« Abt Cralo verneigte sich vor der Herzogin. »Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, daß ich mit dem ganzen Kloster Euren Besuch so bald erwidern würde?« Hadwig reichte ihm herzlich die Hand: »Seid willkommen!« Verstärkt durch die Sankt Gallener zogen die Hohentwieler in die Burg zurück. Sogleich begann man mit der Unterbringung der Gäste. Der Raum war knapp geworden. In einer Halle des Hauptturmes wurde mit aufgeschüttetem Stroh ein notdürftiges Lager bereitet. Küche und Keller gaben, was sie zu bieten hatten. Unten saßen die Mönche und Kriegsleute bei ihrer Mahlzeit. Die beiden Äbte und die Edelleute hatten sich im Saale der Herzogin eingefunden. Abt Cralo erzählte, daß die Hunnen nach Sankt Gallen gekommen waren und daß sie selbst auf der Flucht hatten zusehen müssen, wie das Kloster in Flammen aufgegangen war. »Wir sind heimatlos und flüchtig«, sagte er. »Wir bringen Euch nichts, außer der Kunde, daß die Hunnen uns auf den Fersen folgen.« »Je eher sie kommen, desto besser!« Der Reichenauer Abt hob seinen Becher. 302
Hadwig stieß mit ihm an: »Sieg den Waffen der tapferen Streiter Gottes.«
XII Auf der Insel Reichenau war es einsam und leer, seit die Bewohner des Klosters fortgezogen waren. Bruder Heribald, der nicht ganz richtig im Kopf war, war allein zurückgeblieben. Er hatte sich geweigert, mit den anderen zu gehen. Er gefiel sich in seiner Einsamkeit. Stundenlang saß er am Seeufer und warf flache Kieselsteine über die Wellen. Aber pflichtbewußt verrichtete er Gebet, Andacht und Psalmensingen und hielt die Zeiten ängstlich ein, als könne er wegen einer Versäumnis bestraft werden. In Friedenszeiten war es Heribalds Aufgabe, das Holz zu spalten, da er sonst nichts konnte. Jetzt aber ging er stolz an den aufgeschichteten Scheiten vorüber. »Komm doch herunter, Vater Rudimann!« rief er zu einem der Klosterfenster hinauf. »Halte den Heribald zum Holzhauen an!« Doch es kam keine Antwort. Er zog eines der untersten Scheite heraus, so daß der ganze Stoß zusammenfiel. »Heribald macht Feiertag heut'!« rief er in den Lärm und wandte sich zum Klostergarten. Vom Ufer des Sees sah er im aufwirbelnden Staub eine Schar Reiter heranrücken. »Seid Ihr schon da?« Erschrocken schlug er ein Kreuz und murmelte ein hastiges Gebet. Aber rasch beruhigte er sich wieder und setzte sich gelassen auf einen gefällten Eichenstamm. Mit lärmenden Rufen zogen die Hunnen ins Kloster ein. »Erbarm' dich unser, o Herr!« stieß Heribald hervor, als er ihrer ansichtig wurde. Tief über den Sattel gebeugt, saßen die Reiter, hagere, dürre, kleine 303
Gestalten, bekleidet mit Tierfellen. Ihre Schädel waren viereckig, das Haar hing ihnen steif und struppig in die gelbhäutigen Gesichter. Erstaunt hielten sie vor dem Mönch an. Als sie die kahlgeschorene Stelle seines Kopfes bemerkten, stimmten sie ein grinsendes Gelächter an. Einer griff sogar nach Bogen und Pfeil und legte auf Heribald an. »Die Krone meines Hauptes soll kein Heidenhund lästern«, rief der Mönch aufgebracht. Er sprang auf, fiel dem Angreifer in die Zügel und riß ihm den krummen Säbel von der Seite. Aber schon warf ihm ein anderer eine starke Schlinge über den Kopf, so daß er niederfiel. Alle stürzten sich auf ihn. Sie banden ihm die Hände auf den Rücken. Im nächsten Augenblick ließen sie von ihm ab. Lautes Getöse kündigte die Ankunft des hunnischen Trosses an. Zu Hunderten stürmten sie daher, tief in den Sattel geduckt. Ihnen voran wehte die Fahne – eine grüne Katze im roten Feld. Dahinter kamen die Heerführer Ellak und Hornebog. Über die Rücken ihrer Pferde hingen prächtige Decken, auch Meßgewänder. Die übrige Kriegsbeute wurde in etlichen Wagen mitgeführt. Auf einem von Maultieren gezogenen Karren, zwischen Feldkesseln und anderem Küchengerät, saß ein altes, runzeliges Weib – die Waldfrau. Nachdem Ekkehard sie vertrieben hatte, war sie, von Rache erfüllt, den Hunnen entgegengewandert und hatte sich zu ihnen gesellt. Neben ihr, auf einem stattlichen Rappen, ritt ein junges Mädchen, Erika. Die Fülle ihres geflochtenen Haares, das mit einem roten Band zusammengehalten wurde, umrahmte ihr Gesicht, aus dem schwarze Augen funkelten, darunter ein stumpfes Näschen über den vollen Lippen. Ihr Rock war kurz geschürzt, über dem losen Mieder trug sie Bogen und Köcher. Die Hunnen hatten sie als Kind in den pannonischen Steppen aufgelesen und mitgenommen. Sie liebte den, der ihr gerade gefiel, und mancher der hunnischen Hauptleute hatte ihretwegen sein Leben lassen müssen. Doch sie gehörte zu ihnen und wurde von allen verehrt, als wäre sie der gute Geist des Heeres. Einer vom Vortrab berichtete dem Heerführer Ellak von dem widerspenstigen Mönch. Ellak bedeutete ihnen, ihn vorzuführen. Sie lösten Heribald den Strick und trieben ihn mit Faustschlägen vor ihren Häuptling. 304
Ein spöttischer Zug flog über Ellaks Gesicht. Seine Hautfarbe war blasser als die der übrigen, er hatte eine kühngeschnittene Nase, und sein Blick war scharf und klug. »Schau doch, wie ein Vertreter deutscher Kunst und Wissenschaft aussieht!« rief er zu Erika hinüber. Er wandte sich Heribald zu: »Wo sind die übrigen Bewohner der Insel?« fragte er in gebrochenem Deutsch. Heribald deutete in die Richtung des Hegaus. »Bewaffnet?« »Die Diener Gottes sind stets bewaffnet!« Die Hunnen brachen in wieherndes Gelächter aus. »Ihr braucht nicht zu lachen!« rief Heribald zornig. »Ich weiß, wer Ihr seid, Abt Wazmann hat es uns gesagt.« »Ich werde dich totschlagen lassen«, erwiderte Ellak gleichgültig. »Das wird mir recht geschehen – warum bin ich auch nicht mit den anderen fortgezogen!« Ellak sah den Mönch eine Weile nachdenklich an. »Bringt die Fahne«, befahl er dem Bannerträger, und »knie nieder!« sagte er zu Heribald. »Du sollst den Gott der Hunnen anbeten!« »Ich kenne ihn nicht«, gab Heribald störrisch zurück. »Auf die Knie, Kuttenträger! Oder …« Heribald lachte einfältig und fuhr sich mit dem Zeigefinger an die Stirn: »Ich glaub' Euch nicht! Gott, der Himmel und Erde erschuf, hat gesagt: ›Es werde Licht.‹ Wenn Gott eine Katze wäre, dann hätte er nicht gesagt: ›Es werde Licht!‹« Ein hunnischer Reiter trat auf ihn zu. »An deiner Stelle würde ich niederknien«, flüsterte er Heribald in gutem Schwäbisch ins Ohr. Er war auch tatsächlich aus Schwaben gebürtig, war aber nach einem Streit mit einem Landsmann zu den Hunnen gegangen und dort geblieben. Heribald hörte nicht auf ihn. Die Waldfrau, die von ihrem Karren gestiegen war, mischte sich ein: »Ich hab' nach den Sternen geschaut. Von kahlgeschorenen Männern droht uns Unheil.« Grinsend blickte sie den Mönch an: »Laßt ihn aufhängen an der Klosterpforte!« riet sie Ellka. 305
»Knüpft ihn auf!« riefen die Hunnen im Chor. Heribalds Leben hing an einem schwachen Faden. Sein Mut begann zu schwinden. Hilfesuchend blickte er sich um. Dann eilte er mit ausgestreckten Armen auf Erika zu, warf sich vor ihr auf die Knie und flehte sie um Schutz an. »Seht nur!« rief Erika. »Der Mann ist gar nicht so töricht, wie er aussieht. Er kniet lieber vor Erika als vor der grünen Katze.« Sie sprang vom Pferd und streichelte Heribald. »Fürchte dich nicht, alter Schwarzrock! Du sollst am Leben bleiben.« »Heil Erika!« schrien die Hunnen und klirrten mit ihren Waffen. Auch Heribald rief ein heiseres »Heil!« Tränen standen in seinen Augen. Die Hunnen sattelten ab. »Zeig uns die Schatzkammer!« befahlen sie Heribald. Der gehorchte willig. Er wußte ja, daß das Kostbarste fortgetragen worden war. Nur versilberte Leuchter und ein riesiger, smaragdfarbener Stein aus Glas waren noch zurückgeblieben. »Schlechtes Kloster!« rief einer der Hunnen und trat auf den unechten Stein, daß er zerklirrte. »Bettelvolk!« »Wo ist euer Keller?« fragte Snewelin, der Hunne aus dem Schwabenland. Heribald führte ihn. Vergnügt sah er auf die frischaufgeführten Wände, die den Haupteingang versperrten, und wies auf die davorstehenden wenigen Fässer. Snewelin schöpfte seinen Krug voll Wein. Er nahm einen langen, tiefen Zug. »O Heidenheim!« Er schüttelte sich. »Wegen dieses Getränks hätte ich nicht unter die Hunnen zu gehen brauchen!« Vergeblich hatten die Hunnen alles durchsucht, auch die Kirche hatten sie geplündert, doch ohne besonderen Erfolg. Zwei waren sogar auf den Kirchturm gestiegen, wo der vergoldete Wetterhahn sie lockte. Verwegen saßen sie auf dem Dach und stachen mit ihren Lanzen nach dem Hahn. Plötzlich wurden sie vom Schwindel erfaßt und stürzten herab. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Hunnen. Doch bald beruhigten 306
sie sich wieder, trugen die Leichen in den Klostergarten und begannen, einen Scheiterhaufen für die Verbrennung aufzuschichten. Der Holzstoß, den Heribald am Morgen umgeworfen hatte, wurde mit den noch übriggebliebenen Büchern aus der Klosterbücherei aufgefüllt. Zwischen den Scheiten schauten die mit Gold verzierten Handschriften hervor. Hornebog spießte eines der Pergamente mit seinem krummen Schwert auf und hielt es Ellak vor die Augen: »Was bedeuten die Haken und Krähenfüße?« Ellak, der auch ein wenig Latein verstand, betrachtete die Schrift aufmerksam. »Abendländische Weisheit«, erwiderte er verächtlich. »Einer namens Boethius hat es geschrieben. Es stehen schöne Sachen darin vom Trost der Philosophie.« Er warf die Schrift auf den Haufen zurück. »Es ist ein Glück, daß solches Zeug angefertigt wird«, fuhr er fort; »denn die Hand, die die Rohrfeder führt, versteht es nicht, mit dem Schwert umzugehen. Solang sie im Abendland Bücher schreiben, können wir unsere Zeltlager ruhig vorwärts rücken.« Erika hatte eine Altardecke aus roter Seide wie einen Mantel über die Schultern geworfen. Tänzelnd kam sie auf die Männer zu. »Wie gefalle ich euch?« fragte sie selbstgefällig. »Du brauchst nicht den Schmuck schwäbischer Götzendiener, um zu gefallen«, brummte Ellak. Erika streichelte ihm beschwichtigend über das straffe schwarze Haar: »Kommt, das Mahl ist gerichtet!« Die Hunnen hatten den Heuvorrat des Klosters im Hof aufgestreut und sich darauf niedergelassen. »Leg dich nieder, Schwarzrock!« rief Erika Heribald zu, der mißbilligend auf die ungebetenen Gäste niederschaute. »Du darfst auch mitessen.« Heribald versuchte, sich auf verschränkten Beinen niederzusetzen, doch es schien ihm unwürdig. Er stand wieder auf, holte sich einen Sessel aus dem Kloster und setzte sich zu den anderen. Ein Ochse wurde am Spieß gebraten. Hungrig fielen die Hunnen über das noch halbrohe Fleisch her. Mit ihren kurzen Säbeln schnitten 307
sie sich riesige Stücke ab und verzehrten sie ohne Besteck. Ein großes Faß mit saurem Wein aus dem Klosterkeller stand in der Mitte des Hofes. Jeder schöpfte daraus, soviel er wollte, mit Meßkelchen und wertvollen Gefäßen, die sie bei ihren Plünderungen erbeutet hatten. Die abgenagten Knochen wurden einfach fortgeworfen, manchmal dem Nebenmann an den Kopf. Nach dem Essen stimmten die Hunnen einen schauerlichen Gesang an – ein Lied zu Ehren ihres toten Königs Etzel, in dem nicht nur seine kriegerischen Leistungen, sondern auch seine Erfolge bei Frauen gepriesen wurden. Auch Heribald wurde aufgefordert, ein Lied zum besten zu geben. Mit ernster, fast weinerlicher Stimme begann er eine Strophe zu Ehren des heiligen Kreuzes. Staunend hörten die Hunnen ihm zu. Unbemerkt schlich sich die Waldfrau an Heribald heran und wollte ihm mit einem Messer das Haar über der Tonsur abschneiden. Er stieß sie heftig zurück und sang unverdrossen weiter. Das gefiel den Hunnen. Sie jauchzten ihm zu, Musik klang auf, und bald drehten sich alle im Tanz – einschließlich Heribald, den Erika wie einen täppischen Bären im wirbelnden Kreise drehte. Als der Wein ausgetrunken war, stiegen die Hunnen auf ihre Pferde und ritten hinüber in den Klostergarten. Der Älteste unter ihnen tötete die Rosse der verunglückten Kameraden, sagte einen unheimlichen Weihespruch vor sich hin und setzte den Scheiterhaufen mit seiner Fackel in Brand. Mit Ringkämpfen, Waffenspielen und Wettrennen wurde die Bestattungsfeierlichkeit beendet. Moengal, der Priester von Radolfszell, bemerkte die Rauchsäule, die vom Totenbrand der Hunnen über der Insel Reichenau emporstieg. »Es ist Zeit!« Entschlossen verpackte er den Meßkelch und das Ziborium, warf, was an Essen noch vorrätig war, seinen Jagdhunden vor, schlug das Weinfaß im Keller entzwei und streute Asche über die Butter im Holzfaß. Sorgfältig vergrub er seine Angelhaken und das Jagdgerät. Er zerbrach die Fensterscheiben und streute die spitzen Scherben auf den Fußboden der Räume seines Hauses. Er warf seine Tasche um, schnallte sich eine handfeste Keule auf den 308
Rücken, nahm einen Speer in die Hand und verließ seinen langjährigen Pfarrsitz – in Richtung des Hohentwiel.
XIII In der Nacht nach Moengals Ankunft auf Hohentwiel wurde ein eiliger Kriegsrat abgehalten. Man beschloß, den Hunnen entgegenzuziehen und sie zum offenen Kampf herauszufordern. Ekkehard ging nachdenklich in seiner Turmstube auf und ab. Ihm war das ehrenvolle Amt übertragen worden, den Kriegern eine ermutigende Predigt zu halten, bevor sie auszogen. Die Türe öffnete sich. Die Herzogin trat ein, begleitet von der Griechin Praxedis. Hadwig trug einen weiten, faltigen Mantel über ihrem Morgengewand. Sie errötete leicht, als sie ihrem jungen Lehrer gegenüberstand. »Zieht Ihr heute mit in den Kampf?« fragte sie. – »Ich ziehe mit.« »Und ans Abschiednehmen denkt Ihr nicht?« Leiser Vorwurf klang aus ihrer Stimme. Ekkehard senkte verlegen den Kopf. »Es ziehen bessere und edlere Leute fort, die Äbte werden um Euch sein … wie konnte ich an einen besonderen Abschied denken …« Er verstummte. Die Herzogin sah ihn forschend an. Nach einer Weile sagte sie: »Ich bringe Euch etwas, das Euch im Kampf dienlich sein soll.« Sie zog aus dem Mantel ein kostbares Schwert mit reichen Verzierungen. Am Griff glänzte ein milchigweißer Achat: »Es ist die Waffe Burkhards, meines verstorbenen Gemahls. Er hat sie in Ehren gehalten. Ihr sollt ihr Ehre machen.« Verwirrt nahm Ekkehard das Geschenk entgegen. »Und noch etwas«, fuhr Hadwig fort. An ihrem Hals trug sie ein Seidenband, an dem ein goldgefaßter Kristall hing, der einen unscheinbaren Splitter umschloß. Sie nahm es ab. »Wenn mein Gebet nicht aus309
reicht, so möge Euch diese Reliquie beschützen. Es ist ein Splitter vom heiligen Kreuz.« Ekkehard kniete vor ihr nieder. Hadwig beugte sich über ihn, um ihm das Band zu befestigen. Fast unmerklich streifte ihre Hand sein Haar. Ein milder wehmütiger Zug überflog ihr Gesicht. Ekkehards Gedanken verwirrten sich, seine Pulse flogen. Die Ehrfurcht vor seiner Gebieterin hatte bisher jede Regung von Liebe, die er nicht kannte, zurückgedrängt. Jetzt dachte er nicht mehr daran und auch nicht an sein Mönchsgelübde. Er dachte nur, daß er Hadwig umarmen wollte, und daran, wie er sie einst über die Klosterschwelle getragen hatte … Er erhob sich, groß, stark, frei, wie Hadwig ihn noch nie gesehen hatte. Aber es währte nur einen Augenblick – sein Blick fiel auf das Holzkreuz, das der verstorbene Kaplan Vincentius in der Turmstube angebracht hatte. Schüchtern und zaghaft ergriff er die Hand der Herzogin. »Wie soll ich Euch danken, hohe Herrin?« sagte er leise. Hadwig sah ihn durchdringend an. Der weiche Ausdruck war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zog ihre Hand zurück: »Seid fromm und tapfer!« sagte sie kurz, fast spöttisch und verließ den Raum. Ekkehard betrat die Stufen des Altars, der unter der Linde im Burghof errichtet worden war. Dichtgedrängt standen die versammelten Männer. Wie dumpfes Gewitterrollen hallte der Gesang der Mönche von den Steinmauern wider. Abt Wazmann zelebrierte das Hochamt. Es war Karfreitagmorgen. Ekkehard las das Evangelium vom Leiden und vom Tod des Erlösers mit klarer, heller Stimme. Als er geendet hatte, küßte er das Buch und reichte es dem Diakon, der es auf ein seidenes Kissen zurücklegte. Ekkehard begann die Predigt: »Beinahe tausend Jahre sind vergangen, seit der Sohn Gottes sein Leben für uns hingab. Aber wir haben in unseren Herzen der Erlösung keine Stätte bereitet und sind in Sünden gewandelt. Darum gehen wir jetzt einer Zeit der Trübsal entgegen. Heidnische Ungeheuer sind in unser christliches Land eingefallen …« 310
Er schloß mit den Worten: »Darum zieht tapfer aus gegen die Völker, die unser Heiligtum austilgen wollen, denn es ist besser, im Kampf umzukommen, als den Frevel zu erdulden – Amen.« »Amen«, antwortete es im Chor. Einen Augenblick blieb es still. »Sie kommen! Zu den Waffen!« schrie der Türmer in den Hof. Klirrend schlugen die Schwerter auf die Schilde, die Krieger hoben die Speere und schwenkten die Fahnen. Sie stürmten durch das Tor den steilen Bergweg hinunter. In der Talebene zu Füßen der Burg ordnete Simon Bardo die Reihen. Er trug eine fremdartig geformte, spitze Stahlkappe über dem schweren Panzer, um den sich ein breiter edelsteingeschmückter Gürtel schloß. Die Bogenschützen und Schleuderer zogen voraus und besetzten den Waldsaum, wo sie das Dickicht gegen den Reiterangriff schützte. »Zielt niedrig!« befahl Simon Bardo. »Wenn ihr auch nur das Roß und nicht den Mann trefft.« Die Männer des Heerbanns nahmen in zwei geschlossenen Gruppen hintereinander Aufstellung. Die Nachhut bildeten die Mönche. »Warum das?« fragte der Abt Wazmann, der sich ärgerte, daß ihnen nicht die Ehre des vordersten Angriffs zukam. Simon Bardo lächelte überlegen: »Die Heerbannleute streiten für ihre Frauen und Höfe. das macht ihre Hiebe schärfer. Aber habt keine Sorge«, beruhigte er den Abt, »auch die Mannschaft des heiligen Benedikt wird ihr Teil abbekommen!«
Die Hunnen hatten alle Vorräte des Klosters Reichenau aufgebraucht, die wenigen Weinfässer geleert, die Kirche geplündert. Bei Tagesgrauen brachen sie auf. Durch den dunklen Tannenwald ritten sie dem Hohentwiel entgegen. Hier und da kreuzte ein Reiter ihren Weg, vereinzelte Pfeile und Schleuderkugeln, von unsichtbaren Feinden gezielt, schreckten sie aus ihrer Sorglosigkeit auf. 311
»Was kümmert euch ein Mückenstich?« rief Ellak und gab seinem Pferd die Sporen. »Vorwärts!« Ein Dutzend Reiter blieb beim Troß zurück. Die andern stürmten auf ihren Rossen aus dem Wald in die Talebene, gegen die anrückenden Schwaben. Ellak richtete sich im Sattel hoch auf und gab den ersten Pfeilschuß ab, der die Schlacht eröffnete. Unerschütterlich hielten die Heerbannleute Simon Bardos stand. Aber es nützte ihnen wenig. Kaum prallte der Angriff der Reiter ab, so schwirrte der 'Pfeilregen aus den hinteren Reihen auf sie nieder. Beinahe im Bügel stehend, zielten die Hunnen, während ihre Pferde nach vorne drängten. Andere schwärmten von der Seite heran. Ein Hornstoß versammelte die Leichtbewaffneten, die den Hunnen in den Rücken fallen sollten. Sie rückten vor, aber im nächsten Augenblick waren die feindlichen Rosse gewendet, und ein neuerlicher Hagel von Pfeilen prasselte auf die Angreifer nieder. Sie stutzten und hielten an. Nur Audifax mit seiner Sackpfeife achtete nicht auf die Pfeile, die um ihn schwirrten. Er schritt unbekümmert weiter, mitten ins Gewühl der feindlichen Reiter. Im Vorübersprengen warf ihm ein Hunne eine Schlinge um den Hals und riß ihn zu sich aufs Pferd. Der Kampf ging weiter. Bedenklich schaute Simon Bardo über seine langsam ermüdenden Reihen. Was nützte der schönste Schlachtplan, wenn sich der Gegner nicht an die Ordnung hielt! Er ritt zu den Mönchen und teilte sie wieder in zwei Haufen. Die Sankt Gallener zur Rechten der Heerbannleute, die Reichenauer zur Linken, so sollten sie vorrücken und die Feinde von hinten umzingeln und ihnen den Rückzug abschneiden. Bald standen sie im Handgemenge. »Hui! Hui!« ertönten die Schreie der Hunnen gegen den frommen Schlachtgesang der Mönche. Auch Ellak hatte seine Reiter geteilt. Mit gespornten Rossen durchbrachen sie die schwachen Truppen der Klosterbrüder. Es rang die Kraft gegen die Schnelligkeit, germanische Schwerfälligkeit gegen hunnische List. Moengal, der alte Priester, hatte seine Kapuze über den Kopf gezogen. Er faßte seine grobe Keule fester und stand im Gewühl wie ein 312
Drescher auf der Tenne, rechts und links seine kräftigen Hiebe austeilend. Dem Kämmerer Spazzo, der eine Gruppe der Hegauer anführte, wurde der Kampf bald zuviel. Doch als ihm ein Hunne im Vorbeireiten den Helm vom Kopf riß, packte ihn neuerliche Wut. Er schwang sein Schwert und traf den Feind in den Schenkel. Aber als er ihm den Todesstoß versetzen wollte, fiel sein Blick auf das häßliche Gesicht des Hunnen, und er beschloß, ihn der Herzogin als Erinnerung an die Schlacht mitzubringen. Der Verwundete beugte seinen Hals unter Spazzos Arm, als Zeichen der Unterwerfung und grinste über sein ganzes, häßliches Gesicht, weil man ihm das Leben geschenkt hatte. Erbittert feuerte Ekkehard das stark verringerte Häuflein der Sankt Gallener zu neuem Kampf an. Er hielt das Schwert Burkhards fest in der Rechten und wollte es gerade gegen Ellak, den hunnischen Heerführer erheben. Da ging ein Schrei des Staunens durch die Reihen. »Der Erzengel Michael!« riefen die Christen. Über den Abhang sprengte ein Reiter auf sie zu. Er war riesig von Gestalt. Spärliches, weißes Haar umrahmte sein altes, runzeliges Gesicht. Seine Rüstung war altmodisch, um seinen Helm schlang sich ein goldener Reif, in dem ein roter Federbusch steckte. Ellak wandte sein Pferd und stellte sich dem Fremden entgegen. Unter dem ersten Hieb brach das Pferd des Hunnenhäuptlings zusammen. Im nächsten Augenblick stand er aufrecht vor dem Alten. Während er sein kurzes Schwert zog, traf ihn die Keule seines Gegners. Ellak führte den Stoß noch aus, dann sank er blutüberströmt zusammen. Der Tod ihres Heerführers löste wilde Panik unter den Hunnen aus. Sie drangen noch einmal in verzweifeltem Angriff vor, dann wandten sie sich nach rückwärts und flohen, so schnell sie ihre Rosse trugen. »Zum Rhein!« rief Hornebog den Flüchtenden zu.
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Der Alte aus der Heidenhöhle, den sie für den Erzengel Michael gehalten hatten, überlebte den Sieg seiner Landsleute nicht. Sie hoben ihn tot vom Roß. Ein frohes Lächeln lag auf seinen Zügen – nun war er von seinem Kopfweh endgültig befreit.
XIV Zwölf Mönche wurden dazu bestimmt, auf dem Schlachtfeld die Wache zu halten, alle anderen zogen in die Burg zurück. Simon Bardo war nicht damit einverstanden. »Der Sieg ist nur halb, wenn wir ihn nicht nützen. Wir müssen den Fliehenden nach.« Aber er stieß auf hartnäckigen Widerstand. »Bis wir die Hunnen mit ihren schnellen Rossen einholen, können wir weit ziehen«, sagte ein Reichenauer. »Wir haben sie geschlagen. Wenn sie wiederkommen, sind neue Hiebe vorrätig«, mischte sich ein anderer ein. Es wurde beschlossen, die gefallenen Krieger noch vor dem Osterfest zu begraben. Zwei riesige Gräber wurden geschaufelt. Das eine auf der Stelle einer stillgelegten Kiesgrube für die Hunnen, das andere auf der gegenüberliegenden Talseite für die Schwaben. Die toten Mönche sollten in der Klosterkirche von Reichenau bestattet werden. Nach der feierlichen Beisetzung nahmen die Reichenauer und die Sankt Gallener Abschied von Hohentwiel. Es war ein trauriger Zug. Neben den Bahren der Gefallenen gingen die Brüder mit brennenden Kerzen, Litaneien betend oder singend. Als sie im Wald verschwunden waren, ritt die Herzogin, begleitet von Ekkehard und Spazzo, langsam über das Schlachtfeld in die Burg zurück. Auch die Heerbannleute waren wieder nach Hause gezogen und in der Burg war es leer geworden. Nur der Graf von Randegg war mit seinen Leuten zum Schutz auf Hohentwiel zurückgeblieben. Mit großen Worten und vielen Übertreibungen schilderte Spazzo 314
der Herzogin noch einmal den Hergang der Schlacht. Wortlos hörte sie ihm zu. Mit Ekkehard sprach sie nicht.
Am Abend des Ostersonntags saß Hadwig im großen Saal der Burg mit Ekkehard, Praxedis, dem Kämmerer Spazzo und dem Grafen von Randegg beisammen. Die Gespräche waren ernst und bedrückt. Der Abt von Reichenau hatte einen Boten geschickt. Der Mann berichtete, daß die Reichenauer ihr Kloster nur wenig zerstört gefunden hätten und daß ihr Alitbruder Heribald sie empfangen habe, als sei gar nichts geschehen. Er habe überdies vieles zum Lob der Hunnen vorgebracht. Die Herzogin gab dem Boten das Panzerhemd und den Schild des erschlagenen Hunnenhäuptlings mit, die in der Reichenauer Klosterkirche aufbewahrt werden sollten, und entließ ihn. »Ich habe auch noch ein Beutestück abzuliefern«, sagte Spazzo, sobald der Mann sich entfernt hatte. Der Kämmerer stieg hinunter zu den unteren Kammern. Der Hunne Cappan, den er während der Schlacht gefangengenommen hatte, schlief zufrieden auf seinem Strohsack. »Steh auf, du Sohn des Teufels!« Spazzo gab ihm einen unsanften Stoß. Der Hunne erhob sich und stützte sich auf einen Krückstock. »Vorwärts!« Spazzo führte den Hinkenden vor die Herzogin. »Schön ist Euer Beutestück nicht!« rief Praxedis. »Und vor diesen Leuten hat das deutsche Land gezittert«, sagte Hadwig. Voll Teilnahme sah sie auf den verwundeten Hunnen. Praxedis versuchte, sich auf griechisch mit ihm zu verständigen. Cappan aber schüttelte nur betrübt den Kopf. Doch als die Herzogin ihm einen Becher mit scharfem Obstbranntwein reichte, verzog sich sein häßliches Gesicht zu einem freudigen Grinsen. Er leerte den Becher in einem Zug, kreuzte seine Arme über der Brust, fiel vor der Herzogin nieder und wollte ihre Schuhe küssen. 315
Hadwig wehrte ab und bedeutete Spazzo, seinen Gefangenen wieder abzuführen. Ekkehard hatte sich verdrossen abgewandt. Noch liegt die Erde frisch auf dem Grab der Gefallenen, und schon sind die Lebenden wieder zu Späßen aufgelegt, dachte er bei sich. »Habt Ihr uns auch ein Andenken aus der Schlacht mitgebracht, Professor?« fragte Praxedis obenhin. »Ekkehard schweigt wie einer, der ein Gelübde getan hat«, sagte Hadwig mit spöttischem Unterton. »Was brauchen wir zu erfahren, wie es ihm in der Schlacht ergangen ist?« Ohne ein Wort verließ Ekkehard den Saal, kam gleich darauf mit Herzog Burkhards Schwert wieder zurück und warf es unwillig vor Hadwig auf den Tisch. »Das mag bezeugen, ob der Schulmeister müßig war«, sagte er kurz. »Ich habe meine Zunge nicht zum Herold meiner Tat ernannt.« Das Schwert trug noch die Spuren der Schlacht. Rostrote Flecken glänzten auf der Klinge, und in der Schneide waren frische Scharten zu sehen. »Ich wollte Euch nicht kränken«, sagte die Herzogin betroffen und reichte Ekkehard die Hand. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Türe des Saals. Hadumoth, die Gänsemagd, stand schüchtern am Eingang. Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen. »Was ist denn, du armes Kind!« rief die Herzogin. »Komm näher!« Zögernd trat Hadumoth vor Hadwig und küßte ihre Hand. Schluchzend begann sie zu sprechen: »Ich kann die Gänse nicht mehr hüten, ich muß fortgehen. Du sollst mir ein großes Goldstück geben, und wenn ich wiederkomme, will ich zeit meines Lebens dafür arbeiten.« »Warum willst du denn fort?« »Die Hunnen haben Audifax mitgenommen. Er war nicht unter den Toten auf dem Schlachtfeld. Ich muß ihn von ihnen wegholen, es läßt mir keine Ruhe.« »Wo willst du ihn denn holen?« »Das weiß ich nicht. Ich will gehen, wo sie hingeritten sind. Am Ende 316
finde ich ihn doch. Das Goldstück, das du mir schenken sollst, will ich den Hunnen geben und sie bitten, den Audifax dafür freizulassen.« Gerührt hob die Herzogin das Kind zu sich empor und küßte es auf die Stirn. »Gott ist mit dir!« sagte sie bewegt. »Er wird dir helfen.« Sie wandte sich an die anderen: »Hat einer ein Goldstück von euch?« Der Graf von Randegg holte einen großen Goldtaler aus seiner Tasche und reichte ihn Hadumoth. Ekkehard legte segnend seine Hand auf den Kopf des Kindes. »Ich danke Euch«, sagte die Gänsemagd. Zögernd setzte sie hinzu: »Aber wenn sie mir den Audifax für das eine Goldstück nicht geben?« »Dann schenke ich dir ein zweites«, versprach die Herzogin.
Voll Zuversicht machte sich Hadumoth auf den Weg. Ihre einzige Sorge galt Audifax. Sie wollte zum Rhein, in Richtung des Sonnenuntergangs, wohin die Hunnen davongezogen waren. Bald wurde ihr die Gegend fremd. Hohe Bergrücken verdeckten die Sicht auf den heimatlichen Hohentwiel. Ein neues Tal lag zu ihren Füßen, das zu beiden Seiten von hohen, dunklen Tannenwäldern eingerahmt war. Als es Abend wurde, kam Hadumoth zu einem Dorf. Die Häuser schienen verlassen, als ob die Bewohner geflüchtet wären. Nur vor einer Hütte saß eine alte Frau. »Kann ich heute nacht hier schlafen, Großmutter?« fragte Hadumoth zutraulich. Durch ein Zeichen gab ihr die Alte zu verstehen, daß sie bleiben könne. Noch im Morgengrauen brach Hadumoth wieder auf. Ihr Weg führte sie durch endlose Wälder. Endlich kam sie zu einer Lichtung auf einer Anhöhe. In der Ferne schlängelte sich ein breiter Fluß. Das muß der Rhein sein, dachte Hadumoth. Sie unterschied die Türme und die Kirche eines Klosters auf einer Insel. Aber es schien ihr, als seien die Mauern von Brand geschwärzt. Eine blaugraue Rauchwolke stieg aus den Gebäuden auf. 317
»Wie heißt die Gegend hier?« fragte Hadumoth einen Mann, der aus dem Wald auf sie zu kam. »Schwarzwald«, erwiderte er. »Und die Insel dort?« »Rheinau. Vorgestern waren die Hunnen dort.« »Wo sind sie jetzt?« fragte Hadumoth schnell. Der Mann deutete rheinabwärts. »Warum?« »Ich will zu ihnen«, erwiderte sie bestimmt. Der Mann schüttelte den Kopf. Aber Hadumoth ging weiter. Der Weg war mühsam. Sie war hungrig geworden und so müde, daß sie sich am Rande eines Baches niedersetzte und bald erschöpft einschlief. Als sie erwachte, stand ein Fischer vor ihr. Er trug ein grobleinenes Hemd und knielange Hosen. Angelruten und Netze lagen im Gras umher. »Woher kommst du?« fragte er. »Aus dem Hegau.« »Das ist weit von hier! Und wohin willst du jetzt?« »Wo die Hunnen sind.« Hadumoth erzählte zögernd ihre Geschichte. »Du mußt mir den Weg zeigen«, sagte sie rasch und faltete bittend die Hände. Der Fischer überlegte und blickte das mutige Mädchen nachdenklich an. »Wenn es sein muß«, sagte er langsam. »Komm mit!« Rasch packte er sein Angelgerät zusammen. Er führte sie den Bach entlang durch eine Talschlucht und wieder aufwärts zu einer Anhöhe, die zum Rhein abfiel. »Dort steht das Hunnenlager.« Er wies auf das jenseitige Ufer. »Gestern haben sie das Laufenburger Schloß ausgebrannt. Aber weiter sollen die Mordbrenner nicht kommen!« setzte er drohend hinzu. Vorsichtig stiegen sie zum Fluß hinunter. Im Gebüsch war ein Kahn verborgen. Der Fischer machte ihn los und setzte Hadumoth über. »Weiter geh' ich nicht mit«, sagte er, als sie anlegten. »Sieh zu, daß sie deinen Buben bald herausgeben. Lieber heute als morgen.« »Ich danke dir«, erwiderte Hadumoth. »Aber warum kommst du nicht mit?« 318
»Ich komme später«, gab der Fischer zurück und stieg wieder in seinen Kahn. Hornebog, der seit dem Tod Ellaks die Führung der Hunnen übernommen hatte, lag auf einem Lager in seinem Zelt. Erika saß daneben und spielte gelangweilt mit einem goldenen Schmuckstück, das sie an einer seidenen Schnur um den Hals trug, als ein Wächter eintrat, gefolgt vom Schwaben Snewelin und der Hirtin Hadumoth. Snewelin begann, dem Hunnenführer das Anliegen Hadumoths vorzutragen. Sie unterbrach ihn: »Sag ihm auch, daß ich ein Lösegeld zahlen kann.« Hadumoth zeigte Hornebog den Goldtaler. Er lachte: »Wir sind in einem verrückten Land. Die Männer scheren sich das Haupt und die Kinder tun, was den Kriegern geziemte!« Er warf einen mißtrauischen Blick auf Hadumoth: »Vielleicht kommt sie, um zu spähen. Schafft sie fort, wir sind nicht bis zum Rhein gezogen, um mit Kindern zu spielen!« Erika nahm Hadumoth bei der Hand und führte das verschüchterte Mädchen hinaus. Als sie zu dem Platz kamen, wo die Feldküche der Hunnen errichtet war, sah Hadumoth Audifax. Er kniete neben einem riesigen Kupferkessel und rührte darin mit einem geschälten Ast. Als er Hadumoth erkannte, stieß er einen freudigen Schrei aus. Hinter ihm richtete sich die Waldfrau auf. »Daß Ihr den Kindern nichts zuleide tut!« rief Erika ihr zu und zog sich ins Zelt des Häuptlings zurück. Hadumoth reichte Audifax die Hand. Ihre Freude über das Wiedersehen war so groß, daß sie beide keine Worte fanden. Hadumoth faßte sich zuerst. »Gib mir von deiner Suppe«, bat sie leise. Die Waldfrau ließ es geschehen, daß Audifax ihr eine hölzerne Schüssel aus dem Kessel füllte. Hadumoth kauerte sich neben den Gefährten und begann zu essen. Ängstlich beobachtete sie die hunnischen Soldaten, die kamen, um ihre Abendsuppe zu holen. Als es dunkel wurde, ließ die Waldfrau die Kinder allein. Audifax sah sich vorsichtig um. 319
»Ich weiß viel, Hadumoth«, begann er geheimnisvoll. »Ich weiß sogar, wo der Hunnenschatz ist! Die Waldfrau hat ihn in Verwahrung, zwei schwere Truhen stehen unter ihrer Bettstatt. Ich habe hineingeschaut. Sie sind voll mit Schmuck und kostbarem Geschirr.« Er fuhr flüsternd fort: »Ich hab's teuer gebüßt, den Schatz zu sehen.« Er nahm seine Lederkappe ab: Sein rechtes Ohr war halb abgeschnitten. Er sagte leise: »Die Waldfrau kam zurück, bevor ich die Truhe zuschlagen konnte. Es hat weh getan, aber ich werd's ihr heimzahlen!« Er erklärte zuversichtlich: »Ich krieg' meinen Schatz doch noch, Hadumoth.« »Ich helf dir dabei«, versprach sie. Plötzlich faßte Audifax nach ihrem Arm. Auf der anderen Seite des Rheins flammte ein Feuerzeichen auf. Es sah aus, als ob ein Mann eine Fackel schwinge. Das Feuer erlosch, doch gleich darauf leuchtete es an einer anderen Stelle wieder auf und dann an einer dritten. Warnschreie gellten durch das Lager. Überall begann es sich zu regen. Aufgeregt kam die Waldfrau auf die beiden Kinder zu. »Was schwätzt ihr da!« rief sie. »Spannt das Roß an!« Audifax gehorchte. Die Alte hängte dem Pferd zwei Körbe über den Rücken und lud die Truhen auf, in denen der Hunnenschatz verwahrt war. Es wurde wieder still im Lager. Die Waldfrau brummte: »Es ist nichts.« Doch noch während sie sprach, wurde es auf dem Berg hinter dem Lager lebendig. Es blitzte und glühte von vielen hundert Fackeln. Mit wütendem Schlachtruf stürmten unsichtbare Krieger herunter. Vom Rhein her wälzten sich dunkle Massen näher. Auf allen Gipfeln in der Umgebung loderten Flammen auf. Schon flog der erste Brandpfeil ins Lager der Hunnen. Die geängstigten Pferde wieherten auf, grauenvoll klangen die Schreie der Überfallenen. »Verloren, verloren«, murmelte die Waldfrau vor sich hin. Sie spannte noch ein zweites Pferd vor den Wagen. Audifax bückte sich rasch, hob einen Stein auf, sprang auf die Waldfrau zu und schlug sie nieder. Dann band er das Pferd, das die beiden 320
Körbe mit den Schatztruhen trug, vom Wagen los und hob Hadumoth hinauf. »Halt dich am Sattelknopf fest!« rief er ihr zu, schwang sich hinter ihr auf, ergriff die Zügel, und das Pferd, von Feuerschein und Lärm verwirrt, sprengte davon, über die rauchenden Trümmer des Hunnenlagers, durch das Kampfgewühl hindurch, zum Ufer des Rheins – sie waren gerettet.
XV Die Hunnen waren wohl aus dem Hegau vertrieben worden; aber sie hatten viel Unheil angerichtet, und es war die Pflicht der Herzogin, dafür zu sorgen, daß der Schaden wiedergutgemacht werde. Die Witwen und Waisen der Gefallenen mußten unterstützt, die niedergebrannten Höfe und Hütten wieder aufgebaut werden. Boten ritten mit Berichten über die Überfälle und mit Vorschlägen zur künftigen Abwehr zum Kaiser, die Befestigungen der Burg wurden ausgebessert, die Beutestücke verteilt, und es wurde beschlossen, auf dem Grabhügel der christlichen Kämpfer eine Kapelle zu errichten. Mit den Klöstern Reichenau und Sankt Gallen, die sich bitter über den ihnen zugefügten Schaden beklagten und Ersatzansprüche stellten, wurden langwierige Verhandlungen geführt. Fast täglich kamen Abgesandte auf den Hohentwiel, die der Herzogin in Erinnerung riefen, daß den Äbten eine Schenkung von Gütern im Rheintal als Belohnung für die geleisteten Dienste sehr willkommen wäre. Und als es schien, daß die Herzogin nicht ganz abgeneigt sei, diesem Wunsch zu entsprechen, sandte der Abt von Reichenau am nächsten Tag schon einen Subprior, der die bereits aufgesetzte Schenkungsurkunde mitbrachte, in die nur mehr die Grenzen der abgetretenen Ländereien und die Unterschrift eingetragen werden mußten. Darüber war die Herzogin so empört, daß sie den Subprior unver321
richteterdinge wieder zurückschickte. Um den Abt zu ärgern, übersandte sie noch am gleichen Tag Simon Bardo als Auszeichnung und Belohnung für seinen Mut in der Hunnenschlacht eine goldene Kette. Sie beschäftigte sich auch mit dem Schicksal des gefangenen Hunnen Cappan. Anfangs war er scheu und wußte nicht recht, warum man ihn am Leben gelassen hatte. Allmählich aber wurde er zutraulicher. Seine Wunde verheilte, und da ihn niemand hinderte, trieb er sich im Hof und in der Küche herum und sah staunend der Arbeit zu. Die Magd Friderun, die die Aufsicht über die Wirtschaft auf Hohentwiel führte, nahm sich seiner mitleidig an. Friderun war groß und mager und nicht mehr die jüngste. Ihr Kopf hatte die Form einer Birne, und wenn sie den Mund auftat, zeigte sich ein einzelner Stockzahn. Jahrelang war sie einem Knecht zugetan gewesen. Seit er im Kampf gegen die Hunnen gefallen war, war ihr Herz einsam. Nun richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit und hielt Cappan an, ihr zu helfen. Er jätete im Garten, schnitt Gemüse und Kräuter für die Küche, und nach wenigen Wochen brauchte Friderun nur auf den hölzernen Kübel zu deuten, um Cappan wissen zu lassen, daß er Wasser vom Brunnen holen sollte. »Ich glaube, mein Gefangener gefällt dir«, sagte der Kämmerer Spazzo eines Morgens zu Friderun. Die Magd errötete und senkte verlegen den Kopf. »Du verdienst es, Friderun.« Sie faßte sich ein Herz: »Es ist wegen der Sprache«, begann sie zögernd, »und auch daß er ein Heide ist. Aber er braucht ja keiner zu bleiben, und das Deutsche könnte er erlernen, aber …« »Was aber?« »Er kann nicht sitzen beim Essen wie unsereins. Wenn es ihm schmecken soll, muß er der Länge nach auf dem Boden liegen.« »Das Sitzen wirst du ihm schon beibringen. Habt ihr euch schon verständigt?« Friderun wurde wieder rot. Sie antwortete nicht und lief davon. Spazzo berichtete der Herzogin über die Freundschaft der beiden. 322
»Wir werden dem Hunnen etwas Land zuweisen, drüben am Stofflerberg«, beschloß sie. »Als Fron und Felddienst soll er dafür auf unseren Äckern das Ungeziefer bekämpfen. Fallen aufstellen und Schlingen ziehen, das kann er. Und wenn Friderun ihn mag, dann soll sie ihn nehmen.« Ekkehard bekam den Auftrag, Cappan im christlichen Glauben zu unterweisen. Wo seine Kenntnisse der deutschen Sprache nicht ausreichten, half er sich mit Gebärden. Ganz gegen sein Erwarten war Ekkehard erfolgreich. Ein Tag wurde festgesetzt, an dem gleichzeitig die Taufe des Hunnen und nachher seine Hochzeit mit der Magd Friderun stattfinden sollte. Cappan sollte drei Paten haben, einen aus dem Kloster Sankt Gallen, einen von der Insel Reichenau und einen der Heerbannleute, zum Andenken an die Schlacht, in der er gefangengenommen worden war. Als die Paten sich nicht über den christlichen Namen des Täuflings einigen konnten, schlug die Herzogin vor, ihn Paulus zu nennen. Sie erklärte: »Auch der heilige Paulus ist gegen die Jünger des Herrn gezogen, bis ihm die Schuppen von den Augen fielen …« Am nächsten Sonntagmorgen zog eine feierliche Schar den Burgweg hinab. Hinter dem Träger des vergoldeten Holzkreuzes schritt Ekkehard im violetten Priestergewand. Ihm folgte der Hunne mit seinen drei Paten. Im Tal, am Ufer der Ache machten sie halt. Das Kreuz wurde im weißen Ufersand aufgestellt. Die Männer umstanden Cappan im Halbkreis. Ekkehard befahl ihm, das Hemd auszuziehen und niederzuknien. Dann sprach er die Beschwörung im Namen ›dessen, den Engel und Erzengel fürchten, vor dem Himmel und Erde erzittern und die Abgründe sich auftun, auf daß der böse Geist die Gewalt über ihn verliere‹. Er hauchte Cappan dreimal an, reichte ihm geweihtes Salz und salbte ihm Stirn und Brust mit heiligem Öl. So gut er konnte, sprach Cappan die Worte des Bekenntnisses nach, die Ekkehard ihm vorsagte. Gehorsam stieg er ins Wasser der Ache – die Taufe war vollzogen. 323
Die Paten hüllten den bekehrten Hunnen in ein weißes Leinengewand und führten ihn unter Lobgesängen in die Burg zurück. Unterdessen hatte sich Praxedis der Aufgabe unterzogen, die Braut zu schmücken. Sie flocht rote Fäden in das Haar Frideruns und half ihr, die weiten Falten der Schürze so zurechtzulegen, daß der mit Flitter besetzte Gürtel sie festhalten konnte. »Heilige Mutter Gottes von Byzanz!« rief Praxedis und wies auf die Flitterkrone, die Friderun sich auf den Kopf setzen wollte. »Soll das auch noch aufgesteckt werden?« »Es muß sein«, erwiderte Friderun bestimmt. »Warum muß es sein?« fragte Praxedis. »Bei uns daheim trägt die Braut einen Myrtenkranz oder einen Olivenzweig im Haar. Freilich wächst beides nicht in euren dunklen Tannenwäldern, aber grüner Efeu wäre doch auch schön!« »Lieber bleibe ich ledig!« gab Friderun heftig zurück. »Als daß ich mit Blättern oder Gras im Haar zur Kirche gehe. Wenn eine Hegauerin Hochzeit macht, dann muß sie die Krone tragen, das ist alter Brauch. Wir Schwaben stammen aus königlichem Geschlecht, hat mein Vater immer gesagt.« Praxedis mußte sich fügen. Im Hof wurde die Braut von den Ehrenmägden feierlich empfangen, der neugetaufte Bräutigam lachte ihr fröhlich entgegen. Das Glöcklein der Burgkapelle begann zu läuten, der Hochzeitszug setzte sich in Bewegung. Gefolgt von den Hochzeitsgästen verließ das ungleiche Paar die Burg. Frideruns gesamte Verwandtschaft war zur Trauung erschienen, Knechte und Bauern von den benachbarten Höfen. Hinter dem bekränzten Wagen, auf dem der Brautschatz aufgeladen war, die große Bettstatt aus Tannenbrettern und der Hausrat in Kisten und Truhen verpackt, ging es in Richtung des Stofflerberges, wo die beiden von nun an zu Hause sein sollten. Zwei von Frideruns Vettern waren als die Hochzeitsbitter in der Burg zurückgeblieben, um die Herzogin zum Fest zu laden. Verlegen standen sie am Eingang des Saales. Auf einen Wink Hadwigs traten sie nä324
her, machten eine tiefe Verbeugung und trugen den üblichen Spruch vor: Die Herzogin möge ihnen folgen ›über Weg und Steg, über Gassen und Straßen, Brück' und Wasser, zum Hochzeitshaus zum Ehrentag der Base. Dort wird man auftragen ein Kraut und Brot, wie es Gott geschaffen. Ein Faß wird rinnen und Geigen klingen zum Tanzen und Springen, Jubilieren und Singen‹. Sie schlossen mit den Worten: »Wir bitten Euch, laßt zwei schlechte Boten sein für einen guten, gelobt sei Jesus Christus!« Sie verbeugten sich noch einmal, und ohne die Antwort abzuwarten verließen sie den Saal. »Wollen wir ihnen die Ehre unseres Besuches erweisen?« fragte Hadwig. Alle Anwesenden stimmten zu. Auch Rudimann, der vom Reichenauer Kloster als Pate gekommen war, ritt mit. Er hielt sich abseits, schweigsam – seine Rechnung mit Ekkehard war noch nicht beglichen …
Auf dem Stofflerberg war das Fest schon in vollem Schwung. Cappan, der neue Paulus, drehte sich mit der langen Friderun so heftig im Tanz, daß sie kaum Schritt halten konnte. Als die Herzogin mit ihrem Gefolge ankam, ließ er Friderun los, machte sieben Luftsprünge, einen höher als den anderen, wobei er die Absätze seiner Holzschuhe zusammenschlug, fiel vor der Herzogin aufs Knie und beugte den Kopf tief über den Wiesengrund, als Ehrerbietung und Dank für ihre Güte. Lächelnd stieg Hadwig vom Pferd. Sie blickte suchend über die Reihen ihres Gefolges: »Wo ist Ekkehard?« fragte sie. Die Griechin wies hinüber zum schattigen Waldrand. Unter einer riesigen Tanne saß der Mönch, den Kopf auf den Arm gestützt und blickte nachdenklich auf die Feiernden. Hadwig trat auf ihn zu: »Warum zieht Ihr Euch zurück?« Ekkehard fuhr aus seinen Gedanken auf. »Ich denke darüber nach, wo das Glück ist«, erwiderte er langsam. »Das Glück?« fragte Hadwig verwundert. »Fehlt's Euch denn?« 325
»Das wäre möglich«, gab Ekkehard zurück. »Die dort können sagen, was ihnen das Herz bewegt, sie tanzen und sind glücklich dabei. Wie einfach ist doch das Leben auf dem Lande!« »Ich verstehe Euch nicht«, sagte Hadwig obenhin – doch sie verstand ihn recht gut.
Ekkehard hatte sich verändert. Der Kampf mit den Hunnen hatte ihn aus seinem bisherigen Leben herausgerissen, und die nur allzu deutliche Zuneigung der Herzogin hatte ihn zu neuen Überlegungen gezwungen. Tag und Nacht mußte er daran denken, wie sie ihm das Schwert ihres toten Gatten gereicht hatte … Er sah sie vor sich, so wie sie jetzt vor ihm stand, und faßte sich. Er sagte, um ihr seine Geistesabwesenheit zu erklären: »Ich mußte an den Vergil denken, an seine Verse zum Lob des Ackerbaus …« »Wenn Ihr Freude an der Landwirtschaft habt«, unterbrach ihn Hadwig, »könnte ich Abhilfe schaffen. Der Abt von Reichenau wollte mir eines meiner Güter abhandeln. Ich will Euch als Verwalter darauf setzen, dann habt Ihr all die Herrlichkeit, die Euch heute so schwermütig macht!« Es raschelte im Gebüsch – sie achteten nicht darauf. Ekkehard senkte den Kopf. »Ich kann's Euch ausmalen«, fuhr die Herzogin fort. »Wenn ich auch meine Worte nicht so wählen kann wie Euer Vergil …« Wieder bewegten sich die Zweige im Gebüsch. Hadwig war von ihrer eigenen Darstellung hingerissen: »Es ist Herbst, von allen Hängen steigen die Mägde und Knechte mit Körben voll Trauben zum Haus herunter. Ihr steht am Tor und überlegt, wie der Wein wohl werden wird. Da seht Ihr Staub aufwirbeln auf der Straße. Ihr hebt den Kopf … nun Meister Eckehard, wer wird dort kommen?« »Wer?« fragte er verwirrt. »Wer anders als Eure Gebieterin!« Hadwig lachte: »Sie wird sich erkundigen, ob Ihr Eure Pflicht getan habt. Und alle werden sagen: Er ist 326
brav und ernst, und wenn er nicht soviel in seinen Pergamenten lesen würde, wäre er uns noch lieber …« »Und dann?« fragte Ekkehard mit verhaltener Stimme. »Dann werde ich die Worte der Schrift an Euch richten: Wohl, du guter Knecht! Du warst treu über weniges, ich will dich über vieles setzen.« Ekkehard hob den Arm und ließ ihn wieder sinken. Tränen traten ihm in die Augen. Er war sehr unglücklich. Aus dem Gebüsch hinter ihnen schlich ein Mann davon – sie sahen ihn nicht. Er hatte die Kutte fest um sich geschlagen. Als er wieder auf der Festwiese ankam, sah er sich noch einmal vorsichtig nach der Herzogin und Ekkehard um. Dann ging er wieder zurück zu den anderen.
Das Fest hatte seinen Höhepunkt erreicht. Den meisten war der Met schon zu Kopf gestiegen. Sie lärmten und schrien durcheinander, und der frischgebackene Bräutigam mußte sich manchen derben Scherz von seinen neuen Verwandten gefallen lassen. Plötzlich gellte ein Schrei, alle Köpfe wandten sich. Ungeheurer Jubel brach los: Neben einem schwerbeladenen Gaul kamen Hand in Hand Audifax und Hadumoth auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Als sie die Herzogin bei Ekkehard unter der Tanne am Waldrand stehen sahen, drängten sie sich durch die Leute, die sie umringten. Vor Hadwig knieten sie nieder. Hadumoth hielt der Herzogin den Goldtaler entgegen, Audifax reichte ihr zwei Goldmünzen aus dem Hunnenschatz. Er wollte sprechen, aber seine Stimme versagte in der Rührung des feierlichen Augenblicks. Hadwig nahm das Wort: »Ich will meinen beiden tapferen Untertanen meine Gnade erweisen.« Sie wandte sich an alle Umstehenden: »Ihr sollt meine Zeugen sein.« Sie brach einen Zweig von einem Haselstrauch, streifte den beiden 327
Kindern die Münzen aus den Händen und berührte ihre Scheitel mit dem Zweig: »Steht auf!« befahl sie. »Keine Schere soll von heute ab euer Haupthaar kürzen. Erhebt euch als Freie!« Da Audifax fränkischer Abstammung war, hatte sie die Worte der Freilassung nach salischem Recht gesprochen. Die beiden Hirten erhoben sich. Audifax konnte sein Glück kaum fassen – der Traum seines jungen Lebens, Freiheit und Goldschatz, war zur Wirklichkeit geworden …
Noch in der gleichen Nacht kehrte Bruder Rudimann nach Reichenau zurück. Obwohl es schon spät war, klopfte er an die Türe Abt Wazmanns. Er öffnete und blickte in den schwachen Lichtschein. »Mit dem herzoglichen Gut am Rhein wird's nichts«, berichtete er dem Abt. »Sie setzt das Milchgesicht von Sankt Gallen drauf!«
XVI Im Kloster des heiligen Amandus sur l'Elon in Belgien setzte Bruder Gunzo das Wort ›Finis‹, »Ende«, unter eine in Briefform verfaßte lateinische Schmähschrift. Monatelang hatte er daran gearbeitet. Tisch und Sessel seiner Zelle waren mit Pergamenten bedeckt, auf jedem freien Platz lagen Stöße von Büchern aus der Klosterbibliothek. »Gelobt sei der heilige Amandus!« rief er aus. »Wir sind gerächt.« Ein höhnisches Lächeln verzog seinen Mund. »Zugeeignet der ehrwürdigen Bruderschaft von Reichenau, gerichtet gegen Ekkehard, Pförtner zu Sankt Gallen.« Er las vor sich hin: 328
»Als ich aus Welschland auszog, um in das Kloster des heiligen Amandus einzutreten, kam ich auf meinem Weg über steile Berge, abschüssige Schluchten und Täler. Schließlich erreichte ich das Kloster des heiligen Gallus. Ich war erschöpft von der Wanderung und hoffte, mich friedlich ausruhen zu können. Mit Genugtuung bemerkte ich dort häufiges Neigen der Häupter, sittig geordnete Kapuzen, sanftes Einherschreiten und seltenen Gebrauch der Rede. Ich freute mich harmlos meines Lebens und hoffte, in den spärlichen Gesprächen der Brüder philosophische Weisheit zu finden. Vergeblich. Unter anderen war auch ein Schüler anwesend und sein Lehrer – sie hießen ihn einen braven Lehrer des Klosters, obwohl es mir schien, er blicke mit den Augen einer falschen Turteltaube in die Welt! Über diesen Lehrer möchte ich nun berichten. Ein ungünstiges Geschick verführte mich, während des lateinischen Tischgesprächs einen Fehler in der Grammatik zu begehen. Ich setzte einen Akkusativ, wo ein Ablativ am Platz gewesen wäre. Nun wurde offenbar, in welchen Künsten jener besagte Lehrer seinen Schüler unterwiesen hatte. ›Solch Vergehen wider Sprache und Grammatik verdient die Schulgeißel‹ höhnte der Knabe und trug ein Spottgedicht vor, das ihn eben dieser Lehrer gelehrt hatte, so daß auch alle anderen Brüder in unhöfliches Gelächter über den Gastfreund ausbrachen … Ermeßt nun, ehrwürdige Brüder, welches Unrecht man mir angetan, und was für ein Mensch der sein muß, der einem anderen den Irrtum eines Ablativs vorhält!« Der Urheber dieses, wie es schien, harmlosen Scherzes war niemand anderer als Ekkehard. In Sankt Gallen hatte man das heitere Tischgespräch am darauffolgenden Morgen schon vergessen. Nicht so Bruder Gunzo. Die Schmähschrift hatte noch einen Anhang, in dem Gunzo sich bemühte, Ekkehard und der Welt zu beweisen, daß er selbst gelehrt und weise, Ekkehard aber ein roher und unwissender Mensch sei, der sich in seiner Dummheit an der Verwechslung eines Kasus stoße. Gunzo endete: »Möget Ihr nun, ehrwürdige Brüder, aus allem, was ich mitteile, er329
sehen, ob ich die Behandlung und das Gelächter jenes Toren verdient habe. Eurem Urteil stelle ich ihn und mich anheim. Im Urteil des Gerechten schwindet der Tor in sein verdientes Nichts! Finis.« Zufrieden verpackte Gunzo die Schrift in eine Blechkapsel und hüllte sie in einen Umschlag aus Leinen. Es bot sich die Gelegenheit, den Brief einem Pilger mitzugeben, der seinen Bruder erschlagen und das Gelübde abgelegt hatte, zu den Gräbern der Zwölf Heiligen zu wallfahrten. Da ihn sein Weg rheinaufwärts führte, tat er Gunzo gerne den Gefallen, die Blechkapsel nach Reichenau zu bringen. In der Gaststube des Klosters Reichenau wartete Moengal, der Pfarrer von Radolfszell, um mit Abt Wazmann zu sprechen. »Er ist in einen Brief vertieft«, hieß es, doch man ließ ihn eintreten. »Setzt Euch, Leutepriester«, empfing ihn der Abt. »Ihr seid doch ein Freund von Gebeiztem und Gesalzenem – ich hab' was für Euch!« Wazmann las die soeben eingetroffene Schrift Gunzos mit lauter Stimme vor. Moengal hörte aufmerksam zu. Der Abt schüttelte sich vor Lachen, als er zu Ende gelesen hatte. »Nun?« fragte er. »Dem Bürschchen wird der Hochmut aus der Kutte geklopft. Und eine Fülle von Wissenschaft, das muß man sagen!« Moengal fuhr auf. »Wissenschaft?« rief er zornig. »Aufgeblasene Lippen und ein boshaftes Herz! So gelehrt ist mein Wald auch, der schreit auch heraus, wie man in ihn hineinruft. Aber das Echo ist lieblicher! Früher hab' auch ich geglaubt, es sei gesungen statt gekrächzt, wenn einer mit Grammatik und Dialektik die Backen aufblies!« »Ihr werdet bald an den Heimweg denken müssen«, unterbrach ihn der Abt scharf. »Über Konstanz zieht ein Gewitter auf.« Moengal merkte, daß er mit seinen Ansichten nicht an den rechten Mann geraten war. Er empfahl sich. »Rudimann!« rief Wazmann, als der irische Priester gegangen war. »Ihr erinnert Euch noch der Weinlese und der Schläge, die Euch ein gewisses Milchgesicht verabreichte, dem die Herzogin gewisse Grundstücke zuwenden will?« Der Kellermeister nickte eifrig. Der Abt fuhr fort: »Die Schläge hat 330
einer zurückgegeben, Ihr könnt zufrieden sein.« Er reichte ihm die Schrift: »Hier, lest!« »Mit Verlaub.« Rudimann trat ans Fenster. Sein breites, derbes Gesicht verzog sich in boshafter Freude. »Gründliches Wissen und ein schöner Stil sind eine wahre Gottesgabe! Ekkehard wird sich nicht mehr sehen lassen dürfen.« »Laßt Abschriften anfertigen, lieber sechs als drei!« befahl der Abt. »Die Schrift Bruder Gunzos darf nicht ungelesen bleiben. Der junge Herr wird vom Hohentwiel abberufen werden, dafür sorge ich. Ich liebe die jungen Schnäbel nicht, die feiner singen wollen als die Alten.« Er hielt inne und setzte leiser fort: »Bald wird die wankelmütige Herrin dort oben um ihren Felsen herumflattern wie eine alte Schwalbe, der ein Junges aus dem Nest gefallen ist – und das Gut im Rheintal wird uns gehören!« »Amen«, murmelte Rudimann.
XVII Die Güter der Burg Hohentwiel grenzten im Süden an die Felder des Schlangenhofes, der dem Kloster Reichenau gehörte. Der Abt hatte einen Mann als Verwalter eingesetzt, den sogenannten Klostermeier, der die Wirtschaft recht gut zu führen verstand. Dieser Verwalter brüstete sich damit, daß der gute Ertrag der Felder nur darauf zurückzuführen sei, daß er die Schlangen, die dem Hof den Namen gaben, gezähmt habe. »Die Schlangen sind des Hofes Segen«, pflegte er zu sagen. »Das ist bei den Bauern anders als am Kaiserhof!« Seit ein paar Tagen aber machte er sich Sorgen. Immer wieder zogen neue Gewitter auf und bedrohten die Ernte. Der Schaden war bisher geringfügig. Dennoch ließ der Klostermeier einen Sack Roggen aufladen und fuhr damit zum Diakon von Singen. »Ihr habt Eure Sache gut gemacht«, begrüßte er den Priester, der ihn 331
freundlich willkommen hieß. »Aber vergeßt nicht, das Wetter von meinen Äckern wegzubeten, wenn es wieder zu donnern beginnt!« »Ihr habt mich doch gesehen, als ich unter der Kirchentüre stand, nach dem Schlangenhof gewendet, und aus dem Weihbrunnen drei Kreuze gegen das Wetter gespritzt habe.« Der Diakon setzte vorsichtig hinzu: »Euer Roggen könnte ein gutes Brot geben, Klostermeier, wenn noch etwas Gerste dabei wäre …« Der Verwalter versprach, das Gewünschte zu schicken. Während er auf dem Heimweg war, türmten sich schon wieder schwarze Wolken über dem Wald. Dennoch dachte er voller Zuversicht, als er in der Einfahrt seines Hofes ankam, daß der Segen des Diakons das Unwetter von seinem Land fernhalten würde. Seine Zuversicht schwand, als die ersten schweren Hagelkörner auf die Kornfelder des Schlangenhofes niederprasselten. Die Ähren fielen wie Soldaten in der Schlacht, und bald lag die ganze schöne Ernte vernichtet am Boden. In seiner Verzweiflung versuchte der Klostermeier ein altes heidnisches Hausmittel: Er brach ein paar Eichenzweige ab, riß die Blätter in kleine Stücke, füllte die Streu in die Taschen seines alten Hochzeitsrockes und hängte ihn an die Eiche. Es nützte nichts, das Unwetter hörte nicht auf. »Wenn ich wüßte, wo die Hexe ist!« rief er in ohnmächtigem Zorn. »Die Wolkentrude!« »Seit sie die Waldfrau vom Hohenkrähen vertrieben haben, läßt sich keine mehr sehen«, sagte sein Großknecht. »Eine Hexe hat gewiß nicht die Schuld an dem Unwetter.« »Wer denn sollte schuld sein?« fuhr der Klostermeier ihn an. »Ich weiß, was ich weiß«, kam die pfiffige Antwort. »Sag's!« Der Klostermeier packte den Knecht am Kragen und schüttelte ihn: »Wer ist schuld?« Der Knecht legte den Finger auf den Mund und schwieg geheimnisvoll. Am nächsten Morgen ging der Klostermeier mit ihm über die Felder. Sie sprachen kein Wort. Der Schaden, den das Unwetter bei ihnen angerichtet hatte, war groß. Aber jenseits der Grenzmark, auf 332
den Hohentwieler Gütern, hatte der Hagel kaum Spuren hinterlassen. Dort war Cappan, der getaufte Hunne, an der Arbeit, seine Fallen aufzustellen und Schlingen für die Maulwürfe, Wühlmäuse und all die anderen schädlichen Tiere herzurichten. Als er fertig war, trat er an den Grenzstein, in den das Herrschaftszeichen der Herzogin von Schwaben eingemeißelt war, zog den Holzschuh vom rechten Fuß, stellte ihn auf den Stein und hob die Hände in die Richtung des Waldes jenseits der Grenzscheide zwischen den Feldern. Dann sagte er den Spruch, den Friderun ihn gelehrt hatte und der, wie sie meinte, zur Vertilgung des Ungeziefers unerläßlich war, laut vor sich her: »Maus und Mäusin, Hamster und Hamsterin, lasset das Feld, wie es bestellt! Fahrt hinunter, hinüber ins Moor, Fieber und Gicht lass' euch nimmer hervor!« Kaum hatte Cappan die letzten Worte gesprochen, als ihn ein Schlag von hinten traf. Der Klostermeier und sein Knecht hieben auf ihn ein und schüttelten ihn, daß ihm Hören und Sehen verging. »Kornmörder!« schrie der Klostermeier. »Was hat dir der Schlangenhof getan, du Wettermacher, Mausverhetzer!« »Du Teufelsbraten!« fiel der Knecht ein. »Schau ihm ins Aug'!« befahl der Klostermeier. »Ob's dich verkehrt darin spiegelt.« Der Knecht riß Cappan herum und sah ihn scharf an: »Im Aug sitzt's nicht«, sagte er enttäuscht. »Dann sieh nach unter seinem Arm!« Es hieß, daß jemand, der mit bösen Geistern in Verbindung stand, irgendwo am Körper gezeichnet sei. Sie zogen dem Hunnen das Oberhemd aus, aber sie fanden nichts, das ihren Verdacht bestärkt hätte. Sie waren schon freundlicher gegen ihn gestimmt, als ihr Blick auf einen riesigen, rötlichschwarzen Käfer fiel, der vor Cappans Füßen aus dem Boden kroch. »Der Donnerkäfer!« rief der Klostermeier. Der Knecht fuhr erschrocken zurück und bekreuzigte sich. Nun war's um Cappan geschehen. Sie zweifelten nicht mehr daran, 333
daß er an dem Unwetter schuld war, das über die Felder des Schlangenhofes niedergegangen war und die Ernte vernichtet hatte. An der Stelle, wo seine hunnischen Landsleute begraben worden waren, sollte er für seinen Frevel büßen. Sie schleppten Cappan zum Hunnengrab und banden ihn mit Weidenruten an einen Stein. Der Knecht lief zurück zum Haus, um das Gesinde zu rufen. Mit Stöcken, Mistgabeln und Steinen bewaffnet, kamen sie angerannt. Cappan wußte nicht, wie ihm geschah. Er war sich keiner Schuld bewußt, aber er begriff, daß ihm Schlimmes bevorstand. In seiner Todesangst stieß er einen gellenden Schrei aus, der bis in den Hof der Burg drang. Ekkehard, der über dem aufgeschlagenen Brevier unter der Linde im Burghof saß, horchte auf. Als ein zweiter Schrei erklang, schlug er kurz entschlossen das Buch zu und eilte, so schnell er konnte, über den Burgweg hinunter. Er kam gerade zur rechten Zeit. Sie hatten Cappan an dem Felsen aufgerichtet und standen im Halbkreis um ihn herum, bereit, ihn zu steinigen. »Was tut ihr, Unsinnige?« rief Ekkehard in die unheimliche Versammlung. Der aufgebrachte Klostermeier gab bereitwillig Auskunft. Cappan sah den Mönch, der ihn getauft hatte, hilfesuchend an. Ekkehard beherrschte nur mühsam seine Erregung. »Ihr wollt richten und solltet lieber beten, daß ihr nicht selbst gerichtet werdet! Wenn der Mann sich vergangen hat, dann wartet bis zum Neumond, wenn der Leutepriester von Radolfszell das Sendgericht hält. Dort soll ihm nachgewiesen werden, ob er verbotene Künste ausgeübt hat. Er soll nach kaiserlicher und kirchlicher Vorschrift bestraft werden.« Aber die Männer vom Schlangenhof wollten nicht auf ihn hören. Sie hoben die Steine. Verzweifelt fuhr Ekkehard fort: »Glaubt ihr wirklich, daß dieser hergelaufene Hunne die Macht haben könnte, unsere Wolken zu beschwören? Glaubt ihr nicht, daß der Blitz ihn getroffen hätte, zur Strafe für den Frevel, daß ein Fremder ihn angerufen hat?« 334
Der Klostermeier fiel ihm ins Wort: »Aber der Donnerkäfer! Wir haben ihn mit eigenen Augen zu seinen Füßen kriechen sehen!« »Steinigt ihn!« schrien die anderen. Im gleichen Augenblick flog der erste Stein und schlug den armen Cappan blutig. Entschlossen warf sich Ekkehard zwischen ihn und seine Angreifer und deckte ihn mit seinem eigenen Leib. Die Männer sahen einander betroffen an. Einer nach dem anderen wandte sich ab. Wortlos schlichen sie sich davon.
Auf dem Hohentwiel war die Aufregung groß, als Ekkehard mit seinem übel zugerichteten Schützling ankam. »Das wird arg bestraft werden!« rief die Herzogin. »Sie sollen ein hohes Schmerzensgeld zahlen und für den gestörten Herzogsfrieden eine noch höhere Buße. Die Klosterleute werden frech wie ihre Herren!« Am aufgebrachtesten war der Kämmerer Spazzo. »Hab' ich dir deshalb das Leben gelassen, damit die Lümmel vom Schlangenhof dich steinigen?« Er ermutigte seinen Täufling: »Sobald deine Wunden geheilt sind, begleite ich dich auf deinem ersten Ausgang, und dann werden wir mit dem Klostermeier abrechnen!« »Ihr werdet reiten, Spazzo«, befahl die Herzogin, »und vom Abt von Reichenau noch heute die Buße fordern.« »Wir werden reiten!« wiederholte Spazzo grimmig. »Unsere landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anmaßung nicht verletzt werden!« In aller Eile vertauschte er sein grünsamtenes Wams und den goldverbrämten Kämmerermantel mit einem alten abgetragenen grauen Jagdgewand und legte die großen Beinschienen an, mit denen er in die Hunnenschlacht geritten war. Er wählte die größten Sporen aus, stülpte den Eisenhelm auf den Kopf, hängte das Schlachtschwert um und sattelte sein Pferd. Kaum zwei Stunden später war er in Reichenau. 335
»Ruft den Abt herunter!« befahl er dem dienenden Bruder an der Klosterpforte. »Es ist die Stunde der Mahlzeit«, erwiderte der Mönch zögernd und schielte auf das abgetragene Gewand des Besuchers. »Wenn Ihr gemeldet seid …« Spazzo stieß ihn zur Seite und betrat den Kreuzgang. Abt Wazmann hatte bereits von dem Vorfall in Hohentwiel erfahren. In seinem Zimmer erklärte er Rudimann: »Der Grünspecht aus Sankt Gallen ist an allem schuld! Man soll seinem Nächsten nichts Böses wünschen, aber doch meine ich, daß es besser gewesen wäre, die Steine hätten Ekkehard getroffen und nicht den Hunnen!« »Ihr sollt kommen«, meldete ein Mönch dem Abt. »Es ist einer drunten, der Euch sprechen will. Er tobt ganz fürchterlich.« Wazmann wandte sich Rudimann zu: »Das ist sicher der Kämmerer Spazzo. Es muß schlecht Wetter sein auf Hohentwiel! Macht Euch schnell auf den Weg, Kellermeister, reitet zur Herzogin hinüber und drückt ihr unser Bedauern aus. Nehmt ein paar Silberlinge aus der Klostertruhe mit, als Schmerzensgeld für den Verwundeten und sagt, daß wir für seine Genesung beten wollen. Ihr seid ja schließlich einer seiner Paten und überdies ein kluger Mann.« Rudimann schüttelte bedenklich den Kopf: »Es wird nicht leicht sein.« »Nehmt ihr ein Geschenk mit! Kinder und Frauen lassen sich gerne blenden.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Spazzo trat ein. »Hat der Abt sich Blei in die Ohren gegossen?« fragte er grob. »Oder ist ihm die Gicht in die Füße gefahren? Warum kommt Ihr nicht, Euren Besuch zu empfangen?« »Wir sind überrascht«, gab Wazmann gelassen zur Antwort. »Laßt Euch willkommen heißen!« Er hob die rechte Hand zum Segen. »Ich brauche Euren Segen nicht«, tobte Spazzo. »Wir sind gekränkt und fordern Buße. Zweihundert Pfund Silber ist das Mindeste. Heraus damit! Die landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anmaßung nicht verletzt werden!« Er klirrte mit den Sporen. »Wir sind der Gesandte der Herzogin!« 336
»Verzeiht!« sagte der Abt. »Wir haben Euch im grauen Jagdrock nicht erkannt.« »Zahlt, damit ich wieder heimziehen kann! Es ist schlechte Luft hier, sehr schlechte Luft …« Wazmann ließ sich nicht beirren: »Im Zorn lassen wir keinen Gast von der Insel reiten.« Er sagte beschwichtigend: »Ihr seid so schlecht gelaunt, weil Ihr noch nichts gegessen habt. Erlaubt, daß ich Euch zum Essen einlade. Nachher wollen wir über Geschäfte reden.« Spazzo war so erstaunt, daß der Abt ihm auf seine Grobheit mit einer so freundlichen Einladung antwortete, daß er im Augenblick vergaß, warum er eigentlich gekommen war. »Die landesherrlichen Rechte sollen nicht verletzt werden«, wiederholte er, während er dem Abt ans Fenster folgte. Von dort sah man in die Klosterküche, wo über einem mächtigen Feuer der Spieß gedreht wurde. Der schnelle Ritt hatte Spazzo hungrig gemacht – er nahm die Einladung an. Bald saß er mit dem Abt und den Klosterbrüdern an der riesigen Tafel im Refektorium, und mit jeder neuen Schüssel, die aufgetragen wurde, und mit jedem Becher Wein nahm sein Zorn ab. Immer wieder füllte der Abt roten Meersburger nach – und der rote Meersburger war gut. Mit einem riesigen Seelachs als Geschenk für die Herzogin ritt der Kellermeister Rudimann unterdessen nach Hohentwiel. Leise und schüchtern fragte er nach der Herzogin. »Sie ist im Garten«, war die Antwort. »Und mein frommer Mitbruder Ekkehard?« forschte Rudimann. »Er hat den verwundeten Cappan in seine Hütte am Hohenstoffeln gebracht und pflegt ihn. Er kommt vor Nacht nicht heim.« »Das tut mir leid«, sagte Rudimann mit gespieltem Bedauern. Er ließ den Lachs auspacken und auf die Platte eines Tisches unter der Linde im Burghof legen. Rudimann brach einen Ast ab und sperrte damit das Maul des Lachses auf. Er verzierte den Kopf mit Lindenblättern, dann zog er aus seiner Kutte die Pergamentrolle, auf die Gunzo im belgischen Kloster des heiligen Amandus seine Schmähschrift gegen Ekkehard niedergeschrieben hatte, und steckte sie dem Lachs in den offenen Rachen. 337
Praxedis stieß einen Schrei aus, als sie mit Hadwig aus dem Burggarten in den Hof trat und den fast zwei Meter langen Fisch sah. Rudimann ging der Herzogin demütig entgegen. Er bat um Nachsicht für die Klosterleute vom Schlangenhof und erkundigte sich teilnahmsvoll nach dem Verwundeten. »Dieses bescheidene Geschenk soll Euch unseren guten Willen beweisen«, schloß er und trat zur Seite, so daß die Herzogin den riesigen Fisch in seiner ganzen Länge sehen konnte. Hadwig war schon fast versöhnt. Sie lächelte gnädig, und als sie das Pergament bemerkte, fragte sie: »Und das?« »Das Neueste aus der Literatur«, gab Rudimann bedeutungsvoll zurück und verneigte sich zum Abschied.
Spazzo ließ sich den roten Wein schmecken. »Der Meersburger ist die vernünftigste Einrichtung in Eurem Kloster«, sagte er anerkennend zum Abt. »Habt Ihr noch mehr davon?« Er wollte dem Abt seine versöhnliche Haltung zeigen, indem er weiter trank. Der zweite Krug wurde gebracht. »Unbeschadet der landesherrlichen Rechte!« Spazzo hob den Becher. Wazmann stieß mit ihm an: »Unbeschadet!« Während sie schon beim dritten Krug saßen, läutete die Glocke zur Vesperandacht. »Verzeiht!« sagte der Abt. »Wir müssen zur Kirche. Wollt Ihr mitkommen?« »Ich will Euch lieber hier erwarten!« Spazzo schielte auf den Krug. Er trank allein weiter. »Wie habt Ihr Euch unterhalten?« fragte der Abt, als er nach einer Stunde zurückkam. »Gut«, sagte Spazzo. »Ich weiß nicht …«, begann der Abt. »Doch«, unterbrach ihn Spazzo und nickte. Der vierte Krug wur338
de gebracht. Wieder stieß Spazzo mit dem Abt an. Plötzlich besann er sich: »Beim Leben meiner Herzogin!« rief er. »Wer seid Ihr?« »Was habt Ihr gesagt?« fragte Wazmann verständnislos. Als Spazzo die Stimme hörte, fiel ihm sein Auftrag wieder ein. »Die landesherrlichen Rechte sollen durch klösterliche Anmaßung nicht verletzt werden!« »Gewiß nicht!« gab der Abt zurück. Spazzo erhob sich. Es gelang ihm mit Mühe, fest auf den Beinen zu stehen. Vor diesen Kuttenträgern wollte er sich keine Blöße geben. »Wo habt Ihr ihn?« schrie er. »Wen?« »Den Klostermeier!« Drohend trat er auf den Abt zu. »Gebt ihn heraus, den Grobian, der mein Patenkind umbringen wollte!« »Der sitzt auf dem Schlangenhof!« lächelte Wazmann. »Ihr müßt ihn selber von dort holen.« »Das werd' ich auch!« schrie Spazzo und wandte sich zur Türe. »Und wenn ich ihn habe …« Wazmann überlegte, ob er dem herzoglichen Gesandten ein Nachtlager anbieten sollte. Doch dann kamen ihm Bedenken. Spazzos Pferd wurde gesattelt. Ein Klosterdiener leuchtete dem Kämmerer auf dem Heimweg.
XVIII Während Spazzo sich im Kloster auf der Insel Reichenau den Meersburger schmecken ließ, versuchten die Herzogin und Praxedis auf Hohentwiel die Schmähschrift Bruder Gunzos zu entziffern. Sie hatten genug Latein gelernt, um den Sinn zu erfassen, und errieten, was grammatikalisch unklar blieb. »Das Reichenauer Geschenk schmeckt sauer!« rief Praxedis. Hadwig erkannte wohl, daß nicht alles stimmte, was sie soeben gelesen hatte, aber sie gönnte Ekkehard die Demütigung. 339
»Ich glaube, unser Schulmeister hat die Zurechtweisung verdient«, sagte sie kurz. Praxedis stand auf. »Es ist richtig, daß unser braver Lehrer manche Zurechtweisung verdient, aber das sollte unsere Sache sein. Die bösen Mönche haben das nur getan, um ihn anzuschwärzen. Darf ich's zum Fenster hinauswerfen?« »Ich habe Euch nicht darum ersucht«, erwiderte die Herzogin scharf. Praxedis schwieg betroffen. Hadwig konnte sich nicht von dem Schriftstück trennen. Sie war dem jungen Mönch nicht mehr so zugetan wie früher. Daß er ihre Zuneigung nicht verstanden hatte, machte sie bitter und ungerecht. Wenn sie ihn sah, klopfte ihr Herz nicht mehr so schnell wie früher. Sie empfand nur mehr Mitleid für ihn – und Geringschätzung. Sie hatte nicht gemerkt, daß auch er sich verändert hatte, seine zarte, scheue Verehrung hielt sie für Torheit. Und nachdem sie die Schmähschrift Gunzos gelesen hatte, schien es ihr, als könnte sie Ekkehard auch um seiner Klugheit willen nicht mehr achten. »Ist er schon zurückgekommen?« fragte sie die Griechin. Praxedis verneinte. »Nimm die Blätter und bring sie in seine Turmstube! Er soll wissen, was andere über ihn denken.«
Ekkehard kam an diesem Abend spät zurück. Er hatte sich um Cappan gekümmert, so gut er konnte. Schwieriger war es gewesen, Friderun zu trösten und sie davon abzuhalten, auf den Schlangenhof zu gehen und sich am Klostermeier zu rächen. Erstaunt sah er auf die Blätter auf seinem Tisch. Als er die Schrift gelesen hatte, sprach er zu sich selbst: »Alle Tinte kommt vom Gallapfel, und der Gallapfel vom Wespenstich!« Er machte sich weiter keine Gedanken darüber, verrichtete sein Nachtgebet und begab sich zur Ruhe. Er schlief ausgezeichnet in dieser Nacht. 340
Als er am nächsten Morgen aus der Burgkapelle trat, begegnete er Praxedis. »Wie geht's Euch, Hunnentäufer?« fragte sie obenhin. »Ich bin um Euch besorgt«, setzte sie ernster hinzu. »Es träumte mir, ein großer Meerkrebs sei durch den Rhein und über den Bodensee bis zu unserer Burg heraufgekrochen. Er hatte es auf Euch abgesehen. Der Krebs heißt Gunzo. Habt Ihr noch mehr so gute Freunde?« Ekkehard lächelte: »Wer an russige Kessel anstößt, kann sich leicht beschmutzen.« »Ihr sollt die Sache nicht so leicht nehmen«, warnte Praxedis, »sondern Euch auf eine Antwort besinnen. Stumme Verachtung gilt allzu leicht für Schwäche.« Sie trat näher an Ekkehard heran: »Soll ich Euch noch einen Rat geben?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Ihr seid wieder viel zu ernst geworden in letzter Zeit. Seid fröhlich und guter Dinge – die Herrin könnte sonst recht gleichgültig gegen Euch werden.« In aufwallender Dankbarkeit für ihre Güte und ihr Verständnis wollte Ekkehard nach ihrer Hand greifen. Er hörte Hufschlag und wandte sich um. Langsam und gemächlich kam der Kämmerer Spazzo in den Burghof geritten. Sein Kopf war ihm schwer nach vorne gesunken, ein müdes Lächeln verklärte sein Gesicht. Er konnte die Augen kaum offenhalten. »Ihr habt Euch sehr verändert seit gestern!« rief Praxedis. »Bringt Ihr auch ein anständiges Schmerzensgeld mit?« »Schmerzensgeld? Für wen?« »Für den armen Cappan natürlich! Habt Ihr Mohnkörner gegessen, daß Ihr nicht mehr wißt, warum Ihr ausgeritten seid?« »Mohnkörner?« wiederholte der Kämmerer mit ausdruckslosem Gesicht. »Nein. Aber roten Meersburger …« Er stieg schwerfällig vom Pferd und ging langsam und mit unsicheren Schritten über den Hof. Niemand erfuhr, was er in Reichenau ausgerichtet hatte. Praxedis war an die Mauerbrüstung getreten. »Seht doch!« rief sie. »Wir bekommen Besuch.« 341
Über den Burgweg stieg ein Knabe herauf. Er trug eine Kutte, die ihm bis an die Knöchel reichte, und Sandalen an den nackten Füßen, auf dem Rücken einen Lederranzen und in der Hand den eisenbeschlagenen Wanderstab. Nach einer kleinen Weile trat der seltsam gekleidete Knabe durch das große Tor in den Burghof. Nun erst erkannte Ekkehard, daß es der Sohn seiner Schwester war, der Klosterschüler Burkard, der seinem Onkel einen Ferienbesuch abstatten wollte. Der Knabe trat auf ihn zu. Er machte ein feierliches Gesicht und sagte den Begrüßungsspruch auf, als hätte er ihn auswendig gelernt. Ekkehard küßte den wohlerzogenen Knaben auf beide Wangen und durchflog mit großer Freude einen Brief seines Mitbruders Ratpert, den Burkard ihm mitgebracht hatte. Dann fragte er seinen Neffen nach Neuigkeiten aus Sankt Gallen. Mit Staunen hörten Praxedis und er, daß der Kellermeister Rudimann aus Reichenau vor wenigen Tagen Abt Cralo besucht habe: »Er hat ihm ein großes Schreiben überbracht. Es soll vieles über Euch drin stehen, lieber Oheim, und nicht lauter Schönes«, erzählte der eifrige Burkard. »Dann nahm er Abschied, aber er ging nur bis zur Kirche. Dort hat er gebetet, bis es dunkel wurde. Dann schlich er sich ins große Dormitorium, um zu lauschen, was die Brüder über Euch und das, was in dem Schreiben stand, reden würden. Aber um Mitternacht hat ihn Vater Notker, der die Runde machte, entdeckt. Alle fielen über ihn her und wollten ihn in die Geißelkammer schleppen. Auf den Knien bat er so flehentlich um Gnade, daß der Abt ihn schließlich laufen ließ.« »Davon hat er uns nichts erzählt, als er gestern hier war«, sagte Praxedis. »Aber für diese Geschichte verdienst du ein Stück Kuchen.« Burkard wehrte verlegen ab: »Ach, das ist nichts. Aber ich werde ein Gedicht darüber machen. Es wird schön werden, ich hab's schon halb im Kopf.« »Gedichte machst du auch?« fragte Ekkehard. Burkard faßte die Frage als eine Aufforderung auf, sein Wissen zu zeigen. Gleich begann er, seinem Onkel eine selbstverfaßte lateinische Ode zu Ehren der heiligen Wiborad vorzutragen. Praxedis eilte inzwi342
schen in die Küche und kehrte mit dem versprochenen Stück Kuchen zurück. Erst beim Essen vergaß Burkard seine lateinischen Verse. Praxedis wandte sich Ekkehard zu. »Die Herzogin läßt Euch sagen«, flüsterte sie, »daß sie das Studium des Vergil wiederaufnehmen will. Heute abend schon wollen wir beginnen. Ihr sollt ein fröhliches Gesicht dazu machen – es ist ein Beweis, daß sie trotz der Schriften gewisser Herren noch immer Vertrauen in Euer Wissen setzt.« Der Gedanke, daß er wieder wie früher mit den beiden Frauen beisammen sein sollte, erschreckte Ekkehard. Er hatte den Karfreitagmorgen vor der Hunnenschlacht noch nicht vergessen …
Am späten Nachmittag wartete Ekkehard in der großen Säulenhalle der Burg unruhig auf seine Schülerinnen. Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie den Vergil das letzte Mal gelesen hatten. Burkard saß am Tisch und blätterte in der lateinischen Handschrift. »Wenn die Herzogin mit dir spricht, dann sei artig«, ermahnte Ekkehard seinen Neffen. »Mit einer so hohen Frau rede ich nur in Versen«, erwiderte der Knabe selbstbewußt. Die Herzogin trat ein, hinter ihr Praxedis. Sie grüßte mit kaum merklichem Kopfnicken und setzte sich in ihren reichgeschnitzten Lehnstuhl. Burkard war aufgestanden und verneigte sich höflich. »Was soll der Knabe hier?« fragte Hadwig in gleichgültigem Ton. Bevor Ekkehard antworten konnte, trat Burkard vor die Herzogin. Mutig und befangen zugleich begann er: »Esse veliin Graecus, cum vis sim, dom'na Latinus …« – Obwohl ich kaum ein Lateiner bin, möchte ich ein Grieche werden. Hadwig hörte ihm erstaunt zu. Es berührte sie, daß er von ihren Kenntnissen wußte und ihr zu Ehren aus dem Stegreif einen lateinischen Vers vortrug. »Laß dich einmal ansehen!« sagte sie freundlich. Sie zog Burkard nä343
her zu sich heran, hob ihn auf und küßte ihn auf die Wange. »Sag noch schnell ein paar Verse!« Burkard errötete, ließ sich aber nicht verwirren: »Ich finde keinen Vers mehr«, sagte er lateinisch, »zu sehr hat mich der Kuß der Herrin erschreckt.« Hadwig lachte laut auf: »Du bist sicher schon mit einem lateinischen Vers auf den Lippen zur Welt gekommen. Warum erschrickst du denn, wenn ich dich küsse?« »Weil Ihr so vornehm und schön seid«, erwiderte Burkard unerschrocken. »So arg wird's nicht sein, da du darüber deine Verse nicht vergessen hast. Warum willst du denn Griechisch lernen?« »Sie sagen, wenn einer Griechisch versteht, kann er so gescheit werden, daß er das Gras wachsen hört …« Ekkehard war ans Fenster getreten und sah vorwurfsvoll auf die fröhliche Gruppe. Die Herzogin bemerkte seinen Blick. »Wenn du wieder in Hexametern darum bittest, werde ich dich Griechisch lehren«, sagte sie zu Burkard. »Doch jetzt setz dich zu meinen Füßen und hör zu! Wir werden Vergil lesen.« Ekkehard begann mit dem vierten Gesang der Äneis, der von den Sorgen und vom Leid Didos handelte. Er merkte bald, daß seinen Schülerinnen der nötige Ernst und die gewohnte Aufmerksamkeit fehlten. Immer wieder unterbrach ihn die Herzogin. Was die karthagische Königin dachte und fühlte, schien ihr Mißfallen zu erregen. Ekkehard war verletzt. »Ihr habt recht«, sagte er schließlich, »es ist alles falsch!« und schlug das Buch zu. »Was habt Ihr?« fragte sie. »Ich kann nicht weiterlesen.« Die Herzogin erhob sich. Mühsam verbarg sie ihren Unmut. »Wenn Ihr nicht mehr lesen wollt«, sagte sie mit gespielter Gleichgültigkeit, »so gibt es noch andere Mittel, uns die Zeit zu vertreiben. Ab morgen wollen wir uns im Erzählen deutscher Sagen und anderer alter Geschichten üben. Wir werden sehen, ob das nicht erfreulicher ist als das, was Vergil geschrieben hat. Jeder soll sich beteiligen, auch du, Praxedis, und der Kämmerer Spazzo.« 344
Sie ergriff den Vergil und warf ihn unter den Tisch. Ekkehard verließ wortlos den Saal.
XIX Es war ein milder Spätsommerabend. Hadwig freute sich über ihren Einfall und dachte nicht daran, wie sehr sie Ekkehard verletzt hatte. Sie hatte angeordnet, die Laube im Burggarten herzurichten. Dort sollte noch am gleichen Abend mit dem Erzählen begonnen werden. Hadwig kleidete sich mit besonderer Sorgfalt, als ob irgend etwas Außerordentliches bevorstünde. Sie legte ein weites, faltenreiches Gewand an, dessen Saum und Ärmel mit Gold bestickt waren, darüber einen stahlgrauen mantelartigen Überwurf, der bis zum Boden reichte und mit edelsteinbesetzten Spangen zusammengehalten wurde. Über das Haar band sie einen feingewebten Schleier, den sie mit einem goldenen Stirnreif befestigte und mit einer roten Rose schmückte. Langsam durchquerte sie den Burghof und betrat die Laube. Praxedis und Spazzo erwarteten sie schon. Hadwig ließ sich auf dem thronartigen, Lehnstuhl nieder, der für diesen Abend aus der Säulenhalle herausgetragen worden war. Bald darauf erschien Ekkehard mit seinem Neffen Burkard. Ekkehard sah niemanden an, während er sich stumm verneigte und der Herzogin gegenüber am Tisch Platz nahm. Hadwig beachtete ihn nicht. Sie sagte: »Sicher weiß ein jeder von uns etwas zu erzählen über Helden, Burgen oder Könige, das den Dichtungen der Alten nicht nachsteht. Wir wollen daher heute, der Reihe nach, wie das Los entscheidet, mit einem Wettstreit im Erzählen beginnen. Die beste Geschichte wird mit einem Preis belohnt.« Praxedis hatte vier Grashalme von verschiedener Länge geordnet und reichte sie der Herzogin. Hadwig hielt die Halme zusammengefaßt in der Hand: »Wer den kürzesten Halm zieht, muß beginnen.« 345
»Mordbrand und Weltende!« rief Spazzo. Er hatte den kürzesten Halm gezogen. Er wußte, daß ihm keine Ausrede nützen würde. Mit einem schweren Seufzer rückte er sich in seinem Sessel zurecht, verbeugte sich leicht vor den Zuhörern und begann: »Meine Geschichte ist nicht fein, aber schön. In meinen jungen Jahren mußte ich einmal ins Welschland reiten, durch Tirol und über den Brenner. Der Weg war steil und steinig, und so geschah es, daß mein Pferd ein Hufeisen verlor. Am Abend kam ich in ein Dorf, das hieß Gotensaß. Es soll zu Zeiten des Herrn Dietrich von Bern entstanden sein. Eines der ersten Häuser am Dorfeingang war die Schmiede. Der Schmied war ein mächtiger Mann, der mich nicht gerade mit großem Entgegenkommen empfing. Ich dachte, ein höfliches Wort wäre am Platz, und bat ihn um die Güte, mein Pferd zu beschlagen. Er wurde freundlicher und ging gleich an die Arbeit. Als er fertig war, lud er mich ein, die Nacht dort zu bleiben. Er brachte reichlich zu essen und zu trinken, und bei dem roten Terlaner, dem wir fleißig zusprachen, erzählte er mir, wie seine Schmiede den Namen Wielandsschmiede erhalten hatte. Woher Wieland gekommen war, wußte keiner in dieser Gegend. Man sagt, von der Nordsee. Sein Vater war der Riese Vade, seine Großmutter eine Meerjungfrau. Als Wieland geboren wurde, kam sie aus der Tiefe des Meeres und sang an seiner Wiege: ›Wieland muß ein Schmied werden.‹ Sein Vater Vade brachte den jungen Wieland zu Mimer. Wieland war geschickt und lernte das Handwerk rasch. Als er sein erstes Schwert verfertigt hatte, schickte ihn Mimer zu den Zwergen. Dort sollte er die letzte Fertigkeit erlernen. Die Riesen brachen ins Zwergenland ein, und Wieland mußte fliehen. Er hatte nichts als sein Schwert, das er Mimung nannte. Das schnallte er über den Rücken und zog ins Land Tirol. Im Gebiet zwischen Eisack, Etsch und Inn herrschte damals König Elberich. Er nahm Wieland freundlich auf und war mit seiner Arbeit so zufrieden, daß er ihn nicht mehr weglassen wollte. Elberich hatte viele Feinde. Der grimmigste und gefährlichste aber 346
war Amilias. Elberich gelobte, daß er seine Tochter dem zur Frau geben würde, der Amilias erschlug. Wieland legte sein Schwert um und machte sich auf den Weg. Er stellte den Feind König Elberichs und erschlug ihn. Als er Elberich die Nachricht brachte, wollte der König sein Versprechen nicht einlösen. Voll Zorn wollte Wieland das Land verlassen. Elberich aber befahl, daß dem Schmied die Sehnen an den Fersen durchschnitten würden, so daß er hinkte und nicht fliehen konnte. Wieland sann auf Rache, und bald ergab sich auch Gelegenheit dazu. Elberichs Sohn kam eines Tages in die Schmiede und wollte Wieland bei der Arbeit zusehen. Der Schmied tötete den Knaben, verfertigte aus seinem Kopf ein Trinkgefäß und sandte es dem König. Kurze Zeit darauf zerbrach die Tochter Elberichs ihren kostbaren Ring, ein Geschenk ihres Vaters. Auf den Rat ihrer Dienerinnen ging sie zu Wieland, der das Schmuckstück wieder zusammenfügen sollte. Aber als sie in die Schmiede trat, schloß Wieland sie ein und tat ihr Gewalt an. Weinend und wehklagend lief die Königstochter ins Schloß zurück. Rasend vor Zorn versammelte Elberich seine Krieger. Sie griffen zu den Waffen, um Wieland zu bestrafen. Wieland aber schmiedete zwei riesige Flügel aus Eisen, und als die Krieger heranrückten, ergriff er sein Schwert, band sich die Flügel um und flog davon, zurück ins Land seiner Väter. Die Königstochter schenkte einem kräftigen Knaben das Leben. Er erhielt den Namen Wittich und wurde ein starker Held, wie sein Vater Wieland.« Spazzo lehnte sich zurück und blickte die Herzogin prüfend an. Sie lobte seine Erzählkunst, Ekkehard schwieg. Praxedis meinte spöttisch, das sei eine grobe Geschichte gewesen, und man solle Spazzo verbieten, sich in Gesellschaft von Frauen zu zeigen. Die Herzogin griff wieder nach den Halmen. Diesmal fiel das Los auf Praxedis. Die Griechin zierte sich nicht lange. Obwohl die Geschichte vom König Rother, der sich für einen anderen ausgab und in der fremden Maske die Geliebte gewann, dem Kämmerer den Preis streitig machte, war er darüber nicht böse. 347
»Die Kammerfrauen in Konstantinopel scheinen die Feinheit mit dem Löffel gegessen zu haben«, sagte er gutgelaunt und fügte mit einem Blick auf Ekkehard hinzu: »Aber der letzte hat noch nicht gesprochen.« Der junge Mönch saß wie in einem Traum versunken. Sein Blick war unverwandt auf die Rose im Stirnband der Herzogin gerichtet. Hadwig brach einen Ahornzweig in zwei ungleiche Teile und hielt sie Ekkehard hin. Er fuhr verwirrt auf. »Nun«, sagte Hadwig. »Zieht: Ihr oder ich.« »Ihr oder ich«, wiederholte Ekkehard verloren. Er zog das kleinere Stück. Der Zweig fiel ihm aus der Hand. Er achtete nicht darauf und setzte sich schweigend wieder auf seinen Sessel. »Ekkehard!« Die Stimme der Herzogin klang scharf. Er blickte auf. »Ihr sollt erzählen!« »Ich soll erzählen«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Jawohl – erzählen!« Ekkehard erhob sich und wandte sich vom erleuchteten Tisch ab. Mit tonloser, müder Stimme begann er: »Es ist eine kurze Geschichte: Es war einmal ein Licht, das schien hell und leuchtete von einem Berg in Regenbogenfarben und trug eine Rose im Stirnband …« »Eine Rose im Stirnband?« murmelte Spazzo kopfschüttelnd. »… und es war ein dunkler Nachtfalter«, fuhr Ekkehard fort, »der flog zum Berg hinauf und flog um das Licht, und obwohl er wußte, daß er verbrennen müsse, wenn er ins Licht flöge, flog er doch hinein. Das Licht verbrannte den Nachtfalter, er wurde zur Asche und konnte nicht mehr fliegen. Amen!« »Ist das Eure ganze Geschichte?« fragte Hadwig unwillig. »Das ist meine ganze Geschichte«, gab Ekkehard mit unveränderter Stimme zurück. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir hinaufgehen«, entschied die Herzogin. »Von der Nachtluft bekommt man leicht Fieber …« 348
Mit einem verächtlichen Seitenblick ging sie an Ekkehard vorbei. Burkard bückte sich rasch nach ihrer Schleppe und folgte ihr. Spazzo klopfte Ekkehard mitleidig auf die Schulter: »Der Nachtfalter war ein dummer Teufel, Herr Kaplan.« »Es war ein Mönch«, gab Ekkehard gleichgültig zurück. »Schlaft gut!« Ein Windstoß blies die Kerzen in den Leuchtern auf dem Tisch der Laube aus.
XX Ekkehard war in die Nacht hinausgelaufen. Er wußte nicht, wie lange er schon unterwegs gewesen war. Erst als der Morgen graute, kam er zu sich. Er stand auf dem Hohenkrähen, vor ihm ragten die Trümmer des ausgebrannten Hauses, aus dem er die Waldfrau verbannt hatte. »Eine Kapelle wollte ich hier der heiligen Hadwig stiften!« dachte er bitter. Er warf sich vor dem Götzenbild nieder, das am Herd der Waldfrau gestanden hatte. Er preßte die heiße Stirn auf den kühlen Stein. Langsam beruhigte er sich und schlief erschöpft ein. Es war schon Abend, als Ekkehard in die Burg zurückkehrte. Er achtete nicht auf die Leute, die ihm begegneten und scheu vor ihm zurückwichen. Er betrat die Kapelle und neigte sich vor den Stufen des Altars. Lange, lange betete er kniend, in sich versunken. Aber die Gnade, um die er flehte, wurde ihm durch kein Zeichen offenbar. Er erhob sich und ging mit unsicheren Schritten auf die Tür zu. Sein Blick fiel auf den Sarkophag, der neben der Gruft des Herzogs von Schwaben stand. Er sah im matten Schein der Ampel, die darüber hing, die Herzogin, die daneben kniete. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Im nächsten Augenblick stand er vor ihr. Er sah sie lange und forschend an. Hadwig erhob sich. Sie standen einander schweigend gegenüber. 349
»Selig sind die Toten – man betet für sie«, sagte er endlich. Sie gab keine Antwort. »Werdet Ihr auch für mich beten, wenn ich tot bin?« fragte er. Er setzte hinzu: »Ihr könntet aus meinem Schädel einen Pokal anfertigen lassen. Und wenn Ihr wieder einen Pförtner aus dem Kloster des heiligen Gallus holt, dann reicht ihm darin den Willkommenstrunk!« »Ekkehard, Ihr versündigt Euch!« Er fuhr sich verloren mit der Hand über die Stirn: »O ja, der Rhein frevelt auch. Mit riesigen Felsen haben sie ihm den Lauf verbaut, aber er hat sie durchbrochen und braust darüber hinweg. Und Gott frevelt auch, er hat den Rhein geschaffen, und den Hohentwiel, die Herzogin von Schwaben und die Tonsur auf meinem Haupt!« Ekkehard konnte nicht weitersprechen. Tränen erstickten seine Stimme. Er fiel vor Hadwig zu Boden und griff nach dem Saum ihres Kleides. »Steht auf«, sagte Hadwig mild. »Denkt an etwas anderes … Ihr seid uns noch eine Geschichte schuldig.« »Eine Geschichte?« rief Ekkehard. »Ja, aber nicht erzählen; kommt laßt sie uns tun, die Geschichte! Oben vom Turm sieht man tief hinunter, tief und lockend. Was hält uns noch? Wir schweben und gleiten in den Tod – dann bin ich kein Mönch mehr und darf den Arm um Euch legen …« Er brach in leises Weinen aus. Hadwig stand noch immer bewegungslos. »Ekkehard«, sagte sie leise. »Ihr sollt nicht vom Tod sprechen. Wir leben, Ihr und ich …« »Ihr und ich!« Er starrte sie an, dann brach es aus ihm hervor: »Ihr habt recht – wir leben!« Er trat ganz nahe an sie heran, legte seine Arme um sie, hielt sie fest umschlungen und küßte sie. Sie wehrte sich nicht. Er hob sie auf und blickte vorwurfsvoll auf das Marienbild am Altar: »Warum segnest du uns nicht?« Hadwig versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. Es gelang ihr nicht. In diesem Augenblick öffnete sich die Türe der Kapelle. Tageslicht überflutete den düsteren Raum. Rudimann trat ein. »Verzeiht!« sagte er mit übertriebener Höflichkeit, die bekunden 350
sollte, daß er erraten hatte, was vorgefallen war. »Ich habe nichts gesehen.« Mit einer heftigen Bewegung befreite sich Hadwig aus den Armen Ekkehards. »Doch!« rief sie Rudimann zu. »Ihr habt es gesehen: Einen Wahnsinnigen habt Ihr gesehen, der sich und Gott vergaß!« Kalter Stolz und bittere Verachtung klangen in ihrer Stimme. Ekkehard hob drohend die Arme und schrie: »Wer tritt zwischen sie und mich?« »Beruhigt Euch, guter Freund!« Rudimann lächelte höhnisch. »Wir haben nur einen Brief an Euch abzugeben. Ihr seid heimgerufen in Euer Kloster.« Er beugte sich zu Ekkehard: »Vergeßt Euren Stock nicht«, flüsterte er, »mit dem Ihr die Mitbrüder mißhandelt, keuscher Sittenrichter!« Der Abt von Reichenau betrat die Kapelle, mit ihm Mönche und Gefolgsleute. »Sacrilegium!« rief Rudimann laut und wies auf Ekkehard, der an eine Säule gelehnt stand. »Sacrilegium«, wiederholte er. »Er hat vor dem Altar in buhlerischer Absicht die Hand an seine Gebieterin gelegt.« Wut, Verzweiflung und Schmerz bemächtigten sich Ekkehards. Er griff nach dem Ewigen Licht und schleuderte es gegen Rudimann. Der Kellermeister brach blutüberströmt zusammen. Die Gefolgsleute des Abtes fielen über Ekkehard her, rissen ihm den Gürtel von der Kutte und banden ihn. Er wehrte sich nicht. Er warf einen traurigen Blick auf die Herzogin. Sie wandte sich ab. »Tut, was Eure Pflicht ist!« befahl sie Abt Wazmann und verließ mit stolz erhobenem Kopf die Kapelle.
Praxedis war die einzige, die Mitleid mit Ekkehard hatte. Sie überlegte, was sie tun könnte, um ihm zu helfen. Sie klopfte an die Tür der Herzogin. Aber Hadwig hatte sich einge351
schlossen und wollte niemanden sehen. Ihr Gewissen war nicht ganz rein. Sie wußte, welche Strafe Ekkehard bevorstand. Wenn die Reichenauer nicht dazugekommen wären, hätte sie ihm seine Kühnheit vielleicht verziehen, aber so … Auch eine Herzogin hat Angst vor bösen Zungen. Praxedis kehrte unverrichteterdinge wieder um. Im Burghof traf sie Rudimann, der sich den wunden Kopf mit kaltem Brunnenwasser kühlte. Praxedis pflückte eine Kornblume und reichte sie ihm: »Wenn Ihr das in Euerer Hand haltet, wird es Euer Blut stillen. Oder soll ich Euch einen Verband machen?« »Es wird schon von selber aufhören, wenn's Zeit ist«, sagte er mürrisch. »Es ist nicht meine erste Wunde. Behaltet Eure Blume für Euch!« Aber Praxedis wollte ihn mild stimmen. Sie holte Leinen und bestand darauf, ihm einen Verband anzulegen. Rudimann ließ es widerstrebend geschehen, aber er dankte ihr nicht. »Laßt Ihr Ekkehard heute nicht mehr frei?« fragte sie. »Heute?« wiederholte Rudimann höhnisch. Er deutete in die Richtung der Berge jenseits des Bodensees: »Fragt einmal in einem Monat dort drüben an!« »Was wollt Ihr mit ihm tun?« »Was ihm gebührt. Es gibt nicht genug Namen für die Sünden, die er begangen hat, aber Mittel zur Sühne, die gibt es! Wir werden ihm einen Denkzettel aufs Fell schreiben.« »Habt Mitleid!« bat Praxedis. »Er ist ein kranker Mann.« »Gerade deshalb wollen wir ihn heilen.« »Er ist unschuldig.« »Der Unschuld krümmen wir kein Haar, er muß sie nur beweisen. Wenn er mit heilem Arm den goldenen Ring aus einem Kessel mit siedendem Wasser herausholt, dann wird ihm der Abt selber den Segen erteilen, und ich werde sagen, daß ich ein Nebelbild, einen Teufelsspuk gesehen habe.« Traurig wandte sich Praxedis ab. 352
Die Leute des Abts hatten Ekkehard in ein Verließ geschleppt, viele Stockwerke tief unter seiner Turmstube. Es war ein feuchtes, finsteres Gefängnis, in dem die Trümmer von alten Grabsteinen umherlagen. Dort saß er auf einem Bündel Stroh, bewacht von einem der Mönche, und grübelte. Sein Herz war nicht gebrochen, dafür war es zu jung. Er begann seine Lage zu überdenken. Er kannte die Regel seines Ordens, und er wußte, daß die Reichenauer seine Feinde waren. Er sah voraus, was geschehen würde: Der Kessel mit kochendem Wasser, in den der Abt seinen goldenen Ring werfen würde … »Tauch ein den Arm und suche den Ring!« Wie konnte er seine Unschuld beweisen? Ekkehard hörte ein Geräusch vor der Türe des Verlieses. Es klang, als ob ein Steinkrug auf dem Boden gesetzt würde. »Trinkt von dem Wein, damit Ihr mutig bleibt!« sprach eine Stimme. Es war Praxedis. Der Wächter murmelte eine unverständliche Antwort. Die Griechin fuhr fort: »In unserer Burg treiben viele Geister ihr Unwesen. Es steht noch ein zweiter Krug bereit für Euch.« Was wollte sie? Auch sie ist falsch, dachte Ekkehard. Er legte sich nieder und versuchte zu schlafen. Es dauerte nicht lange, bis er lautes Singen von draußen hörte. Der Mönch, der die Wache bei ihm hielt, hatte dem Wein zugesprochen. Nach einer kleinen Weile brach das Lied ab. Bald ertönte lautes Schnarchen. Der Riegel an der Tür wurde vorsichtig zurückgeschoben. Eine Gestalt huschte herein. Ekkehard sprang auf. »Still!« flüsterte die Stimme Praxedis'. »Ihr müßt fliehen!« sagte sie hastig. »Es wird Euch sonst schlimm ergehen.« »Ich will es erdulden«, sagte er niedergeschlagen. »Seid kein Narr!« drängte sie. »Als ob sie ein Recht hätten, Euch zu geißeln. Wollt Ihr ihnen die Freude machen, Eure Demütigung zu sehen?« »Wohin sollte ich gehen?« fragte er mutlos. »Nach Reichenau nicht, und auch nicht nach Sankt Gallen. Aber es gibt viele Schlupfwinkel.« Ungeduldig griff sie nach Ekkehards Hand und zog ihn mit sich. 353
»Macht schnell!« Er ließ sich von ihr führen. Sie schlichen am schlafenden Wärter vorbei in den Hof. »Über den Burgweg könnt Ihr nicht hinunter«, sagte Praxedis. »Sie haben die Brücke aufgezogen. Aber an der Ostseite des Berges, zwischen den Mauern, wird es gehen.« Sie durchquerten den Garten und traten in die Laube. Noch einmal zögerte Ekkehard, dann schwang er sich auf die Brustwehr der Mauer. Finster gähnte die Tiefe unter ihm. »Gott segne Euren Weg!« Die Stimme Praxedis' zitterte. »Vergeßt nicht, daß Ihr uns noch eine Geschichte schuldig seid!« Sie beugte sich vor, küßte ihn und eilte davon.
Der Klosterbruder schlief noch immer, als Praxedis mit einem Aschenkorb in der Hand in Ekkehards Verlies zurückkehrte. Rasch schüttete sie ihn in der Mitte des Raumes aus – als wäre das alles, was von dem Gefangenen übriggeblieben war.
XXI Während die Reichenauer Mönche am nächsten Morgen das Häuflein Asche im Hohentwieler Burgverlies bestaunten und hin- und herberieten, ob Ekkehard vom Teufel verbrannt worden oder entflohen sei, saß er selbst bei seinem Freund, dem Leutepriester von Radolfszell. Moengal hatte voll Anteilnahme zugehört, als Ekkehard ihm die Geschichte seiner Flucht erzählte. »Ich wüßte dir einen guten Platz, wo du gesund werden könntest und keiner dich fände«, sagte er nach einigem Nachdenken. Er deutete in 354
die Richtung des Säntis und beschrieb den Weg, der Ekkehard in eine Einsiedelei führen sollte. »Du wirst einen dort finden«, fuhr der Alte fort, »der schon seit zwanzig Jahren nicht viel von der Welt gesehen hat. Er heißt Gottschalk. Grüß ihn von mir! So Gott will, sind ihm seine Sünden vergeben worden.« Ekkehard blieb zwei Tage im Pfarrhaus von Radolfszell. In der dritten Nacht fuhr ihn Moengal über den See. »Geh nicht ins Kloster zurück!« sagte der Alte zum Abschied. »Das Gerede der frommen Brüder wird dich umbringen. Spott schadet mehr als Strafe. Du verdienst einen Denkzettel – dort oben in der einsamen Natur wirst du ihn auch erhalten.« Schweren Herzens machte sich Ekkehard auf den Weg. Noch bevor der Morgen dämmerte, kam er am Kloster des heiligen Gallus vorüber. Scheu sah er hinüber. In einigen Fenstern brannte schon Licht. Er beschleunigte seinen Schritt. Der Weg war mühsam, steil und steinig. Ekkehard kam nur an wenigen Siedlungen vorbei, aber er kehrte nirgends ein. Der einzige Wegweiser, an den er sich hielt, war der Säntis. Während er über Geröllhalden ging, über schmale Brücken und über weiche Almböden, sah er den mächtigen Berg immer vor sich. Immer neue Schluchten taten sich vor ihm auf, und immer wieder fand er den richtigen Pfad. Nach vielen Stunden anstrengender Wanderung schien der Weg plötzlich zu Ende zu sein. Entlang einer zerklüfteten Felswand lief ein schmaler Steig zu einer Höhle, die ins Berginnere führte. Ekkehard trat ein. Auf der einen Seite stand ein rohes Holzkreuz, an der anderen Höhlenwand ein aus Tannenstämmen grob gezimmertes Blockhaus, das Dach mit Flechtwerk überdeckt. Das mußte die Klause Gottschalks sein. Kein Laut war zu hören. Ekkehard legte die Hände an den Mund: »Gottschalk!« Vielstimmiges Echo war die einzige Antwort. Ekkehard trat wieder vor die Höhle. Im späten Abendlicht sah er in weiter Ferne den Bodensee, ihm gegenüber die gewaltigen Bergriesen, unter ihm rauschte der Abendwind durch die Tannen. 355
Es war spät, wohin sollte er gehen? Müde und entmutigt ließ er sich vor dem Eingang nieder und verzehrte, was Moengal ihm als Wegzehrung mitgegeben hatte. Dann richtete er sich ein Lager aus Gras und Laub in einem Winkel der Höhle, hüllte sich in den alten langen Mantel, den Moengal ihm geschenkt hatte, und schlief erschöpft ein. Ekkehard erwachte vom Licht eines Kienspans, das auf sein Gesicht fiel. Erschrocken richtete er sich auf. »Gott willkommen!« Vor ihm stand, mit lachendem Gesicht, ein junges Mädchen. Auf dem Rücken trug sie einen geflochtenen Korb, in der Hand einen Alpstock. »Gott willkommen, noch einmal!« rief sie vergnügt. »Der Vater wird froh sein, daß wir einen neuen Bergbruder haben.« Ehe Ekkehard sich gefaßt hatte und fragen konnte, woher sie kam, war sie schon durch den Ausgang der Höhle verschwunden. Es dauerte nicht lange, bis sie wiederkam, gefolgt von ihrem Vater, einem hochgewachsenen, graubärtigen Sennen. Der Hirt trat langsam näher. »Ihr wollt unser Bergbruder sein?« fragte er gutmütig. »Recht so!« Er reichte Ekkehard die Hand. Ekkehard blickte verlegen zu Boden. »Ich wollte eigentlich nur den Bruder Gottschalk besuchen.« »Da kommt Ihr zu spät«, gab der Senn zurück. »Der ist im vorigen Herbst von einer Felswand abgestürzt. Es war eine böse Geschichte!« »Mach ihm keine Angst!« unterbrach das Mädchen. »Deswegen könnt Ihr Euch aber doch bei uns niederlassen«, fuhr der Alte fort. »Ihr bekommt, was wir dem Gottschalk gegeben haben: Milch und Käse, und drei Ziegen in den Stall, die können grasen, wo sie wollen. Im Notfall könnt Ihr auch mehr kriegen. Wir hier oben sind keine Geizkragen! Dafür predigt Ihr uns an den Sonntagen und sprecht den Segen über Alm und Weiden und läutet die Tageszeit.« »Wo sind denn Eure Almen?« fragte Ekkehard. Er konnte sich nicht erklären, woher die beiden gekommen waren. »Er weiß nicht, wo die Ebenalp liegt!« rief das Mädchen. »Kommt, ich will's Euch zeigen.« 356
Mit dem flackernden Kienspan in der Hand schritt sie den beiden Männern voran, dem Inneren der Höhle zu. Erstaunt folgte Ekkehard durch eine enge, dunkle Wölbung. Bald mußten sie gebückt weiterkriechen. Die Felsen schimmerten rötlich im Schein der Fackel. Der Gang weitete sich wieder, bis ihnen vom anderen Ende das fahle Tageslicht des dämmernden Morgens entgegendrang. Im nächsten Augenblick standen sie im Freien. Es war Ekkehard zumute, als träume er. Vor ihm dehnten sich weite Almen, in der Ferne sah er den vertrauten Umriß des Bodensees, in der Tiefe wogte der Frühnebel in den Tälern, und die Berggipfel auf der anderen Seite leuchteten in der aufgehenden Sonne. »Ihr bleibt bei uns«, sagte der Senn. »Ich seh's Euch an den Augen an.« Ekkehard senkte den Blick. »Ich komme als Flüchtling«, sagte er zögernd. »Mich hat nicht der Abt geschickt.« »Das gilt gleich«, erwiderte der Alte. »Wenn's uns recht ist und dem Säntis dort droben, hat niemand was dreinzureden.« Er wies auf den mächtigen grauen Berg, der einsam aus den Gletschern aufragte. »Der ist unser Herr hier, vor dem ziehen wir den Hut, sonst vor niemand.«
Ekkehard blieb. Der Senn von der Ebenalp half ihm, die seit dem Tod Bruder Gottschalks unbewohnte Höhle wiederherzurichten. Er brachte die versprochenen Ziegen und zeigte Ekkehard den Weg zum Seealpsee, wo er Forellen fangen konnte. Das Blockhaus erhielt ein neues Dach, und als der Sonntag kam, trug Ekkehard das Kreuz in die vordere Höhle, wand einen Blumenkranz herum und zog die Glocke. Von allen umliegenden Almen kamen die Seinen mit ihren Kindern, und Ekkehard hielt die Predigt über das Evangelium von der Verklärung. »Ein jeder«, sagte er, »der mit rechtem Sinn in die Berge geht, wird verklärt werden. Wenn auch Moses und Elias nicht zu uns herabsteigen, so haben wir doch den Säntis bei uns stehen, und es ist gut, bei ihm zu sein …« 357
Aber ganz war der Sturm in seinem Herzen noch nicht zur Ruhe gekommen. Manchmal saß er vor seiner Höhle neben einem Felsen, der aussah wie der Deckel einer Gruft. Ekkehard nannte ihn bei sich das Grab seiner Liebe, und manchmal kam es ihm vor, als wären die Herzogin und er darunter begraben. Oft warf er sich ins Gras und überdachte die Ereignisse der letzten Monate. Eines Abends, als er auf seinem einfachen Lager lag und das bläuliche Licht des Mondes in die Höhle fiel, sah er zwei weiße Wolken am Himmel. Sie zogen hintereinander her, und er glaubte zu hören, wie sie zueinander sprachen. »Ich will doch sehen, wie die Ruhestatt eines Toren aussieht«, sagte die eine der Wolken mit der Stimme der Herzogin. Die Wolke glitt über den Bergrücken hin, plötzlich senkte sie sich nieder auf die Tannenwipfel. »Er ist's!« rief sie. »Faß den Frevler!« Die Tannen verwandelten sich in Mönche, zu Tausenden und aber Tausenden machten sie sich auf und stiegen zur Höhle hinauf. Wilder Schrecken erfaßte Ekkehard. Er sprang auf und rannte bergab, über schwindelnde Abgründe und unheimliche Schluchten. Endlich stand er im Tal beim geheimnisvollen Seealpsee. Die verfaulten Stämme ragten gespenstisch am Ufer, das Wasser glänzte im Mondlicht. Ekkehard rannte in den See, die kühle Nässe drang ihm durch die Kleider, schon stand er bis zur Brust im Wasser, aber der Boden wich nicht unter seinen Füßen. Er schaute auf – die weißen Wolken waren verschwunden … Am nächsten Morgen fühlte er sich matt und erschöpft, und der Fieberfrost schüttelte ihn.
XXII Sechs Tage lag Ekkehard krank. Die Sennen pflegten ihn. Allmählich ging das Fieber zurück, und nun schien Ekkehard wie verwandelt. 358
Er hörte keine geheimnisvollen Stimmen mehr, eine friedliche Ruhe kam über ihn, und wenn er an die Vergangenheit dachte, bereitete es ihm keinen Schmerz mehr. Ein paar Tage später kam nach dem Vesperläuten der Senn von der Ebenalp zu ihm. »Gott grüß Euch, Bergbruder!« sagte er. »Es hat Euch ordentlich geschüttelt, und heute bring' ich Euch etwas zur Nachkur – aber Eure Augen sind fröhlich und Eure Backen sind rot, da wird's nicht mehr nötig sein.« Er öffnete sein Bündel und zeigte Ekkehard einen wimmelnden Ameisenhaufen, mitsamt den Fichtennadeln und dem Moderboden des Waldes. »Ihr hättet heute nacht drauf schlafen müssen«, meinte er lachend, »das vertreibt die letzte Spur von Fieber.« »Es ist vorbei«, erwiderte Ekkehard, »doch danke ich Euch für die Medizin.« »Aber haltet Euch warm, vom Brülltobel zieht eine schwarze Wolke herüber, und die Kröten kriechen aus den Steinritzen hervor – das Wetter wird umschlagen.«
Am nächsten Tag war die ganze Landschaft in weißen, duftigen Schnee gehüllt. Trotzdem schien die Sonne mit unverminderter Kraft, denn es war noch früh im Herbst. Ekkehard konnte sich nicht sattsehen an der glitzernden Pracht. Die Sonne stand über dem Kronberg. In der Ferne stiegen die Nebel vom Bodensee auf. Ekkehard glaubte, die Insel Reichenau zu erkennen und dahinter einen Berg – es mußte der Hohentwiel sein. Seine Gedanken führten ihn zurück in den Hegau. Es war ihm, als säße er wieder bei der Herzogin auf dem Hohenstoffeln, und sie feierten die Hochzeit des Hunnen Cappan. Er sah Audifax und Hadumoth vor sich, wie sie von den Hunnen heimkehrten, und es fiel ihm ein, was sein Mitbruder Konrad aus Alzey über Walthari und Hiltgunde erzählt hatte, und über den Hunnenkönig Etzel, dessen Gefangene sie 359
gewesen waren. Die alten Mären von der Königsburg zu Worms, vom Nibelungenschatz und von Kriemhilds Rache gingen ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich der Erregung Konrads, der das Lied der Nibelungen schreiben wollte. Er selbst hatte sich vorgenommen, die Erlebnisse Waltharis zu besingen. Entschlossen erhob er sich. »In der Dichtung soll sich das Herz dessen erfreuen, was ihm das Leben nicht bieten kann«, sprach er zu sich selbst. »Ich tu's!« Als der Senn von der Ebenalp den Handbuben um Eier und Honig ins Tal schickte, bat Ekkehard den Alten um einen freien Tag für ihn und gab ihm einen Brief mit an seinen Neffen in Sankt Gallen, den Klosterschüler Burkard. Damit kein Unbefugter es lesen sollte, verfaßte er das Schreiben in Stabrunenschrift, einer Geheimschrift, die Burkard, wie er wußte, wohl verstand: »Dem Klosterschüler Burkard Heil und Segen! Du warst ein Augenzeuge des Leids, das Deinem Onkel widerfahren ist, und ich hoffe, Du weißt zu schweigen. Frage nicht, wo er sich aufhält – Gottes Hand reicht weit. Du hast im Prokop gelesen, daß der Vandalenkönig Gelimer, als er im numidischen Gebirge eingeschlossen war, von seinen Belagerten eine Harfe verlangte, um mit der Musik seinen Schmerz zu vertreiben. Denke dabei an Deinen Oheim und übergib dem Überbringer dieses Briefes eine Eurer kleinen Harfen, dazu etliche Bogen Pergament, Farbe und Rohrfeder. Ich will singen in der Einsamkeit. Verbrenne dieses Blatt. Gottes Gnade sei mit Dir, leb wohl!« »Du mußt schlau und vorsichtig sein! Es soll außer Burkard niemand davon wissen!« ermahnte Ekkehard seinen Boten. Der Handbub legte den Zeigefinger auf die Lippen: »Bei uns wird nichts verplaudert. Bergluft macht still.«
Nach zwei Tagen kam er wieder. Vor Ekkehards Höhle packte er seinen Tragkorb aus: Unter Eichenzweigen war eine kleine Harfe verbor360
gen, die aussah wie ein griechisches Delta, mit zehn Saiten bespannt. Farbe, Schreibpapier und viele Bogen Pergamentpapier lagen dabei, auf denen die Linien schon vorgezogen waren. Ekkehard war so glücklich, daß er beinahe vergaß, dem Knaben zu danken. Er nahm die Harfe und setzte sich vor seine Höhle. Er hatte lange nicht mehr gespielt, aber als er, erst zaghaft, in die Saiten griff, nahm das Lied vom Helden Walthari, über das er so lange nachgedacht hatte, immer festere Form an. Er schloß die Augen, und während er spielte, sah er die Gestalten seines Liedes ganz deutlich vor sich: Die Hunnen, ein fröhliches, wanderndes Reitervolk, nicht abscheulich wie die, gegen die er selbst vor wenigen Monaten gekämpft hatte. Die Königskinder Walthari und Hagen, die sie aus Franken und Aquitanien als Geiseln mit sich nahmen, und Hiltgund von Burgund, mit der Walthari den Hunnen entfloh. Etzel erschien Ekkehard als menschenfreundlicher König, der die Unterhaltung und den Wein liebte. Drohend und unheimlich erstand das Bild des Frankenkönigs Gunther, der die Flüchtlinge verfolgen ließ, um ihnen den Schatz abzunehmen, den sie mit sich führten. Walthari mußte sich der Krieger Gunthers erwehren. Als er siegreich aus dem ungleichen Kampf hervorging, überfielen ihn Gunther und Hagen, der schon vor ihm aus Etzels Burg entwichen war. Walthari wehrte sich verzweifelt. Erst als alle drei Helden zu schwer verwundet waren, ließen sie voneinander ab. König Gunther verlor ein Bein, Hagen ein Auge, nachdem er Walthari die rechte Hand abgeschlagen hatte. Die Schwerverwundeten schlossen Freundschaft und ein Treuebündnis. Friedlich konnte Walthari in seine Heimat zurückkehren, wo er sich mit Hiltgund vermählte.
Am nächsten Tag schon schrieb Ekkehard die ersten Zeilen seines Gedichts nieder. Er verfaßte es in der Sprache des Vergil – das Deutsche erschien ihm zu rauh und ungeschliffen für die Dinge, die er sagen wollte. 361
Er arbeitete, bis die Sonne unterging, und am nächsten Tag saß er wieder über seinen Pergamenten; je mehr er schrieb, desto fröhlicher wurde er.
Allmählich verloren die Bäume ihr Laub, die Nächte wurden kühler, und als Ekkehard das Walthari-Lied endlich vollendet hatte und die Feder weglegte, rüsteten sich die Sennen zum Almabtrieb. »Jetzt ist's aus mit unserer Herrlichkeit hier oben«, sagte die Tochter des Sennen von der Ebenalp eines Morgens zu Ekkehard. »Morgen ziehen wir ins Tal. Wo werdet Ihr hingehen, Bergbruder?« Ekkehard wußte es nicht. »Am liebsten bliebe ich hier.« Das Mädchen lachte: »Man merkt, daß Ihr noch keinen Winter hier oben verbracht habt. Ich möcht' Euch wohl sehen, eingeschneit in Eurer Höhle. Die Eiszapfen würden Euch bis ins Haus wachsen, und die Kälte kriecht durch alle Ritzen, daß Ihr zittert wie Espenlaub!«
Traurig sah der junge Einsiedler dem festlich geschmückten Zug nach. Voran ging der alte Senn, in seinem besten Leinengewand, ihm folgte das Mädchen mit den Ziegen, dahinter die Kühe, ihre Hörner mit Kränzen von Alpenblumen geschmückt. Am Schluß ritt der Handbub auf einem Stier. Lange noch lauschte Ekkehard dem Klang der Kuhglocken, als die Herde schon in den Tannen verschwunden war. »Es hilft nichts«, sagte er seufzend zu sich selbst. »Ich muß auch ins Tal.« Er kehrte in seine Klause zurück und suchte seine Sachen zusammen. Sorgfältig verpackte er die kostbaren Bogen des Walthariliedes in seiner Reisetasche. Die Harfe hängte er an die Wand – vielleicht würde einer, der nach ihm in die Höhle kam, sich darüber freuen. 362
Er warf noch einen letzten wehmütigen Blick auf die Umgebung, die ihm lieb geworden war, dann wandte er sich dem Tal zu.
Die Herzogin von Schwaben saß mit ihrer treuen Dienerin Praxedis im Burggarten. Die Griechin hatte es nicht leicht mit ihrer Herrin. Hadwig war verstimmt, unzufrieden und einsilbig. Auch an diesem Abend wollte kein Gespräch zustande kommen. »Heute ist es ein Jahr, seit wir über den Bodensee nach Sankt Gallen fuhren«, begann Praxedis. Hadwig schwieg. »Wißt Ihr auch«, fuhr die Kammerfrau nach einiger Zeit fort, »was die Leute vom Ekkehard sagen?« Hadwig sah auf. Es zuckte um ihre Lippen. »Was sagen die Leute?« fragte sie, scheinbar gleichgültig. »Spazzo hat vor kurzem den Abt von Reichenau getroffen. Er soll gesagt haben: ›Wollt Ihr etwas Neues wissen? Beim Säntis hat sich ein neuer Homer eingenistet, die Alpen ertönen von Harfenklang und Gedichten.‹ Spazzo erwiderte: ›Was geht das mich an?‹, und der Abt gab zurück: ›Es ist Euer Ekkehard, ein Gerücht aus der Klosterschule von Sankt Gallen hat es uns zugetragen.‹« »Schweig!« Hadwig erhob sich. »Ich will davon nichts wissen.« Aber im Herzen dachte sie anders. Sie trat an die Mauer und blickte hinüber in die Berge auf der anderen Seite des Bodensees. Ekkehard lebte! Sie wandte sich zur Seite. Ein Pfeil flog aus der Tiefe zu ihr herauf und sank langsam vor ihren Füßen zu Boden. Hadwig bückte sich und hob das Geschoß auf. Um den Schaft waren feine Pergamentbögen gewunden, ein Strauß später Wiesenblumen schmückte die Spitze des Pfeils. Sie löste die Blätter – und erkannte Ekkehards Schrift. Am oberen Rand des ersten Blattes über dem langen Gedicht, das Seite um Seite füllte, stand: ›Der Herzogin von Schwaben ein Abschiedsgruß‹ und darunter: ›Selig der Mann, der die Prüfung bestanden!‹ Hadwig senkte den Kopf und weinte bitterlich. 363
Vom zehnten Jahrhundert bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts
Zwischen Abendland und Morgenland I Die Bezeichnung ›finsteres Mittelalter‹ wurde ein landläufiger Begriff, der sich örtlich auf das christliche Abendland und zeitlich auf das neunte und zehnte Jahrhundert bezog. Es war auch eine unselige Zeit für die ohnmächtigen Nachfolger Karls des Großen und ihre heimgesuchten Untertanen. Die durch Erbteilungen und gewalttätige Anmaßung zerstückelten, voneinander unabhängig und ungleichmäßig beherrschten Länder des einst so mächtigen einigen Frankenreichs waren von allen Seiten bedroht. Die nach dem Osten vorgeschobenen Grenzsiedlungen waren unaufhörlichen Anstürmen der benachbarten Slawen und Magyaren ausgesetzt, die sich auch nicht friedlicher zeigten, nachdem sie eigene Reiche gebildet hatten. Sie setzten ihre verheerenden Einfälle fort. Besonders für die wilden magyarischen Reiterscharen gab es keine Grenzen. Festungen hielten ihren Ansturm nicht auf. Wenn sie bewaffneten Widerstand fanden, schwenkten sie, wie es seit eh und je ihre kriegerische Gewohnheit gewesen war, in ungeschützte Gegenden ab und raubten und brandschatzten Gehöfte und Städte, Klöster und Kirchen. So verwüsteten die berittenen Horden, die vom Volk noch immer Hunnen genannt wurden, das Königreich Burgund, jagten durch das Herzogtum Aquitanien und machten ebenso unvermittelt kehrt, wie sie gekommen waren, auch auf dem Rückweg plündernd. Wo immer sie haltgemacht hatten, hinterließen sie Ruinen und
Brandstätten, mutwillig verwüstete Ernten und die hoffnungslose Armut der geplagten Bevölkerung, die ihre Wohnsitze Hals über Kopf verlassen hatte. Auch nach dem Abzug der magyarischen Hunnen blieb die verzweifelte Angst. Jedermann wußte: Sie würden wiederkommen, und wer in den von ihren mörderischen Streifzügen gefährdeten Gegenden überleben wollte, mußte zu ständiger Abwehr bereit sein. An den nördlichen und westlichen Küsten der geteilten Frankenreiche waren die Einfälle der Normannen zwar seltener geworden, nachdem sie sich unter dem Herzog Rollo als Lehensvolk in der Normandie, den später nach ihnen benannten Gebieten an der Seinemündung, niedergelassen hatten und nachdem ihren dänischen Stammesgenossen die Eroberung des nördlichen Britannien gelungen war. Sie waren in unaufhörliche Kämpfe mit den Angelsachsen verwickelt. Alfred der Große, der Enkel König Egberts von Wessex, der die Oberhoheit über die angelsächsischen Nachbarreiche errungen hatte, schützte sein Land durch ein Netz von Burgen in den einzelnen Grafschaften, die ›shires‹ genannt wurden und von ›earls‹, den Grafen der ›shires‹, verwaltet wurden, die der Krone unmittelbar unterstanden und deren Amt nicht erblich war. Alfred war nicht nur ein hervorragender Verwalter und Gesetzgeber, sondern auch Schriftsteller und Übersetzer wissenschaftlicher Werke. Sein philosophischer Gleichmut und seine Aufmunterung zur Gelehrsamkeit vererbten sich auf seine Nachfolger, die das angelsächsische Königreich gegen die Dänen hartnäckig verteidigten. Der Sturm der Ereignisse im europäischen Raum hatte nachgelassen, aber seine Wirkungen machten sich auch noch in der verhältnismäßigen Ruhe, die ihnen folgte, bedenklich bemerkbar. In einer Zusammenkunft kirchlicher Würdenträger, die über die verzweifelte Lage des Westfrankenreiches berieten, hieß es: »Die Städte sind entvölkert, die Klöster zerstört und ausgebrannt, das Land verödet. Wie die ersten Menschen ohne Gesetz lebten, so verachtet nun ein jeder das Gottes- oder Menschenrecht und tut, was ihm beliebt. Die Starken unterdrücken die Schwachen, niemand scheut vor Gewaltsamkeit gegen die 366
Armen zurück und auch nicht vor Raub an Kirchengütern. Die Menschen verschlingen einander wie die Fische im Meer.« So trostlos waren die Zustände im Innern der Länder. Aber auch die Meeresküsten blieben durch die kriegerischen Seefahrten der Muselmanen bedroht – um so heftiger, seit sie die wichtigsten Inseln besetzt hatten. Die Hafenstädte Korsikas und Sardiniens sowie Malta waren Flottenstützpunkte, von denen aus sie in den Süden des Westfrankenreiches und die Apenninische Halbinsel einfielen. Sogar Rom, das zu allem noch von einer Feuersbrunst verheert worden war, blieb nicht von solchen Überfällen verschont. Der Heilige Stuhl, der den Kirchenstaat nicht durch Waffengewalt schützen konnte, machte sich den Muselmanen zinspflichtig und versuchte, den Frieden durch Geld zu erkaufen. In dieser düsteren Welt galt nur der erfolgreiche Kampf um das nackte Leben und, wenn das von allen Nöten bedrängte Dasein trotz des verzweifelten Widerstandes frühzeitig zu Ende gehen sollte, die Hoffnung auf das ewige Leben. Es war um das christliche Abendland in jeder Hinsicht schlecht bestellt. Statt der einheitlich geordneten Verwaltung des geeinigten Frankenreiches, in dem die Wirtschaft und der Handel vorübergehend aufgeblüht waren, gab es, je nach der Einsicht und Umsicht der einzelnen Herrscher in den einzelnen Ländern, da und dort schlecht oder recht geleitete Anwesen, deren Ertrag den Bauern und Bürgern nur dann zugute kam, wenn die Landesherren in ihrer Willkür nicht ihre eigenen Schatzkammern vorzogen, um sich durch flüssige Gelder der Gefolgschaft minderbegüterter Herren und Nachbarn vergewissern zu können, die sie in Abhängigkeit hielten und von denen sie doch abhängig waren, wenn es galt, über Truppen zum Schutz ihrer Länder verfügen zu können. Die gesellschaftliche Schichtung war im wesentlichen unverändert geblieben. Die Last der Landarbeit lag auf der freien Bauernschaft und den Hörigen, die das Feld für die Grundbesitzer bebauten und ihre Herden betreuten. Die Grafen und ihre berittenen Gefolgsleute, die kurzweg ›Ritter‹ genannt wurden, dienten den jeweiligen Herzögen oder geistlichen Würdenträgern, von denen sie ihre Be367
sitztümer zu Lehen erhalten hatten oder deren Gönnerschaft sie sich vergewissern wollten. Sie waren Verwaltungsangestellte der hohen Herren, in deren Namen sie die Siedlungen beschützten, die sich zu Städten entwickelten. Sie stellten auch den Heerbann. Ihre Lebensführung war, den rauhen Umständen angepaßt, einfach, wenn sie auch in mächtigen Steinburgen hausten. Ihr persönlicher Ehrgeiz beschränkte sich auf Reiterkünste, die Ausbildung im Gebrauch von Waffen und die Jagd. Nur in den von ihren Schirmherren oder von festen Mauern geschützten Klöstern wurde die geistige Tätigkeit fortgesetzt, die in der Hofschule von Aachen einen so vielversprechenden Aufschwung genommen hatte. Besonders das Benediktinerkloster von Sankt Gallen, in dem Ekkehard, der angebliche Dichter des Walthariliedes, gewirkt und Notker Balbulus die ›Chronik des Mönches von Sankt Gallen‹ geschrieben hatte, war wegen seiner Schule berühmt und unterhielt mit den benachbarten Klöstern regen Verkehr, um das Schrifttum der Vergangenheit durch Übersetzungen aus dem Urtext geläufig zu machen. Dort wurden auch die Werke von Aristoteles in der sorgfältig gemalten Handschrift der Mönche der Nachwelt in deutscher Sprache bewahrt. Der Leiter der Klosterschule von Fulda und spätere Erzbischof von Mainz, Hrabanus Maurus, errang sich durch die Schulung seiner Mönche den Ehrentitel ›praeceptor Germaniae‹. Er war auch Verfasser philosophischer Schriften, aber als der sächsische Mönch Gottschalk eine neue Lehre über die Vorbestimmung verfechten wollte, verdammte ihn Hrabanus. Das war kein Einzelfall im finsteren Mittelalter. Jeder eigenwillige Versuch der zeitgenössischen Klostergelehrten, über das ihnen erlaubte Maß der Altertumsforschung hinaus eine fortschrittliche Deutung zu wagen, die auch nur im geringsten gegen die geltende Glaubensauffassung der römischen Kirche verstoßen konnte, wurde von den geistlichen Obrigkeiten im Keim erstickt. Das hatte auch Johannes Scotus erfahren, ein Ire, der unter dem Namen Erigena bekannt wurde und ein Günstling Kaiser Karls des Kahlen gewesen war. Erigena hatte es 368
unternommen, die Gotteslehre und die Offenbarung wissenschaftlich zu erklären und einen gemeinsamen Nenner für das Christentum und die griechische Philosophie zu finden. Sein Meisterwerk ›Über die Einteilung der Natur‹ wurde nur von jenen Gelehrten und Priestern gelesen, die nicht davor zurückscheuten, den Unwillen der Päpste auf sich zu ziehen. Schließlich wurden die Schriften Erigenas aus den Klosterbibliotheken entfernt und auf Befehl des Heiligen Stuhles nach Rom gesandt, um als ketzerische Auslegungen verbrannt zu werden. Die Lehren dieses in Vergessenheit geratenen Johannes Scotus behandelten nicht nur die prüfende Unterteilung der Natur in ihre Entstehungsformen, sondern auch seine im wesentlichen begründete Auffassung, daß mit den Begriffen Himmel und Hölle nicht tatsächliche Orte, sondern nur Seelenzustände gemeint seien. Er erklärte, die Hölle sei das Unglück der Sünde an sich, der Himmel aber das von Tugend erfüllte Glück im Anblicke Gottes, der sich der reinen Seele offenbart. Alles, was geschaffen worden sei, sei unsterblich. Auch die Tiere hätten eine Seele, die nach ihrem Tod, wie die Dinge nach ihrem Vergehen, zu Gott, der sie erschaffen habe, zurückkehren würde.
Wer sich nicht an den genauen Wortlaut der Glaubenssätze hielt, die vom Heiligen Stuhl als gültig anerkannt wurden, und eine neue Auslegung versuchte, dem drohte die Gefahr, als Ketzer verurteilt und aus der Kirche ausgestoßen zu werden. Diese unerbittliche Beschränkung verhinderte jegliche Gelehrsamkeit in anderer Richtung. Bedingungslose geistige und geistliche Unterwerfung wurde nicht nur von Priestern, sondern auch von den wenigen Laiengelehrten verlangt. Die Gründung des Klosters Cluny durch Herzog Wilhelm den Frommen von Aquitanien bewirkte eine noch strengere Frömmigkeit der Bevölkerung, um so mehr, als die Bußübungen und die enthaltsame Lebensweise der Mönche von Cluny von den Mönchen anderer Klöster nachgeahmt wurden und die Weltflucht und Lebensverachtung, die sie predigten, den harten Zeiten entgegen369
kamen. Die allgemeine Angst, die Papst Gregor der Große Jahrhunderte vorher heraufbeschworen hatte, lebte neu auf. Das einzige Heil wurde von der Gnade des HERRN erwartet und von SEINEM Stellvertreter in Rom, dem die Äbte und Mönche der sogenannten Cluniacenser Bewegung allein unterstanden. Der christliche Glaube war das einzige Licht des ›finsteren Mittelalters‹ – im Abendland. II Die Begriffe ›Orient‹ und ›Okzident‹, die das Aufgehen und Untergehen der Sonne bezeichneten, umschrieben damals nur den geschichtlichen Raum des christlichen Abendlandes und des muselmanischen Morgenlandes. Die Einbildungskraft der zeitgenössischen westlichen Herrscher war durch die mangelhafte Verständigung mit fernen Ländern des Ostens so sehr beschränkt, daß sie sich lediglich mit ihrer nächsten Umgebung beschäftigten und mit den Ereignissen, die unmittelbar auf sie einwirkten. Was jenseits der Meere an fremden Küsten oder jenseits der von den Magyaren und Slawen bewohnten Gebiete geschah, danach fragten weder die Könige des Westfrankenreiches, die Urenkel Karls des Großen, ob sie nun Ludwig der Stammler, Ludwig III. Karl der Dicke oder Karl der Einfältige hießen, noch der letzte Ostfrankenkönig Konrad I. und sein Nachfolger, der Sachsenherzog Heinrich. Heinrich war von Konrad designiert worden und unternahm es, die anderen Stammesherzöge zur freiwilligen Anerkennung seiner Oberhoheit zu bestimmen. Das gelang ihm durch persönliche Unterhandlungen mit seinen hohen Standesgenossen, in denen er seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, daß das Reich als Gesamtheit nur durch das gütliche Einvernehmen der Herzöge untereinander und mit dem von ihnen gewählten König erhalten werden könne. Um eine friedliche Einigung zuwege zu bringen, war Heinrich zu jedem tragbaren Zugeständnis bereit. Er beließ dem Herzog von Schwaben die Verfügung über die Kirchengüter und sagte Arnulf von Bayern 370
die Unantastbarkeit seiner Hoheitsrechte in seinem Herzogtum zu. In einem Vertrag, den der nun von allen Stammesherzögen als König anerkannte Heinrich I. mit dem Westfrankenkönig Karl dem Einfältigen in Bonn schloß, wurde endgültig festgelegt, daß die beiden Frankenreiche selbständige Staatengebilde sein sollten. Damals wurde die Bezeichnung ›regnum Teutonicorum‹ zum ersten Male für das Ostfrankenreich gebraucht. Der erste deutsche König, der wegen seiner Leidenschaft für die Falkenjagd den Beinamen ›der Vogler‹ führte, fand, über die persönliche Verständigung hinaus, neue Verfassungsformeln für die grundsätzliche Beziehung zwischen dem Königtum und der übermächtig gewordenen Herzogsgewalt. Im wesentlichen war die Stellung Heinrichs die eines ›primus inter pares‹, des Ersten unter Gleichberechtigten. Seine Vorherrschaft beruhte auf der von den Herzögen gutwillig übernommenen Verpflichtung, Heeresdienst zu leisten und auf den Reichstagen zu erscheinen, die er einberufen durfte. Eigentlich war das deutsche Königreich ein Bundesstaat, dessen einzelne Angehörige erkannten, daß sie zusammenhalten müßten, um den unablässigen Angriffen von außen gewachsen zu sein. Heinrich hatte die geistliche Königssalbung abgelehnt, um seine tatsächliche, althergebrachte Stellung als erwählter ›furisto‹ zu unterstreichen und die Eifersucht der anderen Herzöge nicht durch ein feierlich erklärtes ›Gottesgnadentum‹ seiner Person anzustacheln. Er wollte als Sachsenherzog für sein eigenes Herrschaftsgebiet und die Herzogtümer seiner Standesgenossen, die ihm die Führung anvertraut hatten, so beispielgebend wirken, daß der hoffnungslosen Unruhe im ganzen Reich ein Ende bereitet würde. Der Schutz gegen die Überfälle der Magyaren und Slawen war das erste und wichtigste Ziel Heinrichs. Er ließ Burgen bauen und die Bischofssitze, Klöster und Marktflecken seines Herzogtums ummauern. Er schuf auch ständige Besatzungen für diese festen Plätze und verfügte, daß alle öffentlichen Versammlungen und Festlichkeiten innerhalb der sicheren Mauern abgehalten würden. Diese Maßnahmen gewährten nur mittelbaren Schutz gegen die Handstreiche berittener Feinde. Heinrich wollte ihnen auch im Felde 371
gewachsen sein. Bisher waren seine Sachsen in erster Linie Fußkämpfer gewesen. Er stellte ein Reiterheer auf und schulte es wie die Fußkämpfer, in geschlossenen Reihen zu kämpfen. Im Winter des Jahres 928 erstürmte Heinrich an der Spitze seines neuen Heeres Brennaburg an der Havel, das spätere Brandenburg, das die wichtigste Siedlung des slawischen Stammes der Heveller war, und machte auch die benachbarten Daleminzier an der mittleren Elbe zinspflichtig. Ein Jahr später drang der König gemeinsam mit dem Herzog von Bayern in Böhmen ein und besiegte den Przemysliden Wenzel, der ihm vor der slawischen Hauptstadt Prag den Treueid leistete und die deutsche Oberhoheit anerkannte. Diese eindeutige Stärkung der östlichen Grenzen schüchterte die Slawen und Magyaren zwar nicht so ein, daß sie ihre Einfälle nicht fortgesetzt hätten, aber wann immer sie kamen, stießen sie auf geordneten Widerstand, der dazu führen mußte, daß auf die hemmungslosen Streifzüge und ihre vorsichtige Abwehr eine entscheidende kriegerische Auseinandersetzung folgen würde. Heinrich I. hatte auf die kirchliche Königssalbung nicht aus Mangel an Gläubigkeit verzichtet. Er beschwichtigte das Mißfallen der Bischöfe und bewies seine christliche Haltung durch eine planmäßige Bevorzugung der Klöster und Förderung der Mönche, die von Bremen aus die Bekehrung der nördlichen Völker fortsetzten. Als Sechzigjähriger erkrankte Heinrich I. Er hatte aus seiner Ehe mit Mathilde, die aus dem Geschlecht des widerspenstigen Sachsenherzogs Widukind stammte, einen Sohn. Den wollte er zu seinem Nachfolger machen. Er berief einen Reichstag in Erfurt ein und empfahl den versammelten Großen, Otto zu ihrem König zu erheben. Als Heinrich starb, wußte er nicht, ob die Herzöge und Grafen des Reiches, das er in solcher Unordnung übernommen und in so kurzer Zeit wieder gefestigt hatte, seiner Empfehlung nachkommen würden. Würden sie einen Vierundzwanzigjährigen als ›primus inter pares‹ anerkennen?
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III Während das christliche Abendland noch der blutig umstrittene Schauplatz der großen und kleinen Völkerbewegungen zu Land und zur See war und ein freudloses Dasein fristete, gab sich das muselmanische Morgenland besserem Leben hin. Es gab wohl auch Kriege und blutige Unruhen, aber die freundliche Sonne des Orients und der Reichtum der Länder, die die Kalifen beherrschten, kamen der fortschreitenden Entwicklung besonders auf den frühen geschichtlichen Boden des Zweistromlandes so sehr entgegen, daß Aufstände und Feldzüge sie zwar für kurze Zeit unterbrechen, aber nicht aufhalten konnten. Vielleicht war das Bekenntnis zum Genuß, den die mohammedanische Lehre keineswegs verdammte, sondern eher als himmlisches Ziel pries, verantwortlich für die Verfeinerung der Lebensformen der Muselmanen und für ihre vorurteilsfreie Betrachtung des Daseins. Es gab gewiß den Koran und die Beschränkungen, die er auferlegte, aber es stand nirgends geschrieben, daß die Freiheit des Denkens und die Lust am Leben durch den Glauben eingeschränkt werden solle. Schon Al-Mamun, der Sohn des Kalifen Harun al-Raschid, des freundschaftlichen Zeitgenossen Karls des Großen, gab ein leuchtendes Beispiel für die Duldung eines morgenländischen Herrschers. Seine Vertrauensmänner und hohen Würdenträger mußten nicht Muselmanen sein. Ob sie Christen, Juden oder Anhänger Zarathustras waren, galt dem Kalifen gleich. Sie konnten glauben und leben, wie sie wollten, sofern sie ihm gut dienten. Er ließ aus allen Orten, an denen die Wissenschaft gepflegt wurde, Gelehrte kommen. Er sorgte für die Übersetzung antiker griechischer Werke ins Arabische und unterhielt in der Akademie der Wissenschaften, die er in Bagdad gründete, Ärzte, Musiker, Dichter, Mathematiker und Stern- und Himmelsforscher so freigebig, als wären sie in Palästen geboren worden. 373
Ein Bericht über die Art, wie sich der Kalif seinen Tag vertrieb, blieb erhalten: »Al-Mamun pflegte jeden Dienstag Gäste einzuladen, um mit ihnen wissenschaftliche Fragen zu besprechen. Die Gelehrten wurden in teppichbelegte Säle geführt, Tische mit Speisen und Trank wurden gebracht. Sobald die Mahlzeit beendet war, holten Bedienstete Räucherschalen und Weihrauch. Die Gäste besprengten sich mit den Düften, dann wurden sie vor den Kalifen geführt. Er sprach mit ihnen so freundlich und sachlich, so frei von Hochmut eines Herrschers, wie man es sich nur denken kann. Bei Sonnenuntergang wurde eine zweite Mahlzeit aufgetragen. Erst dann kehrten die Gäste heim …« Auch unter Abu, dem Bruder Al-Mamuns, und seinen Nachfolgern blieb die Wissenschaft in hohem Ansehen, wenn die Kalifen auch ihre Hofhaltung aus Angst vor Aufständen von Bagdad nach Samarra verlegten. Die türkischen Leibwachen, die sie sich hielten, wie sich die römischen Kaiser germanische Leibwachen gehalten hatten, nahmen an der verbesserten Lebensweise teil. Ihre Befehlshaber erbauten prachtvolle Herrensitze. Lusthäuser mit Fontänen und Bädern standen in üppigen Gärten. Diese aus den innerasiatischen Bergen stammenden türkischen Offiziere waren die ersten Nutznießer des muselmanischen Reichtums – und die Schrittmacher ihres Volkes, das ihn erobern sollte. Daß das ehemalige ungeheure mohammedanische Reich, das sich von der Westküste Spaniens bis in das innerste Asien erstreckt hatte, schon damals in voneinander unabhängige Teilreiche zerfallen war, beeinträchtigte nicht den allgemeinen Hang der Kalifen und ihrer Untertanen zur Gelehrsamkeit und zur Lebensfreude. Im Osten zum Beispiel beherrschte die Samanidendynastie, die Nachkommen eines persischen Edelmanns, Saman, das Reich Transoxiana, in dem die persische Sprache zu neuem Leben erweckt wurde und in dessen bedeutendsten Städten Samarkand und Buchara Kunst und Bildung nicht weniger gepflegt wurden als in Bagdad. Vielleicht war es auf die Überlieferung der fernen Vergangenheit zurückzuführen, daß die erprobten Künste der Tierzucht so erfolgreich angewandt werden konnten. Rinder, Pferde, Ziegen und Elefan374
ten dienten den wohlhabenden Haushalten. Auf dem willigen Boden gediehen alle Arten von Getreide, Gemüse und Früchten. Der Orangenbaum wurde gleichzeitig mit dem Zuckerrohrbau aus Indien eingeführt und die Baumwolle angepflanzt. Die Kalifen sorgten für die künstliche Bewässerung trockener Gegenden, so daß manche Gebiete das ›irdische Paradies‹ genannt wurden. Es gab nur wenige handwerkliche Neuerungen. Der Fortschritt beruhte auf der Verbesserung und geschickteren Ausbeutung alter Verfahren. Nur eine einzige tatsächliche Erfindung konnte später festgestellt werden: die Windmühle. Aber die geübten Handfertigkeiten wurden so verfeinert, daß sie Erfindungen gleichgesetzt wurden, wie zum Beispiel die Wasseruhr, die Harun al-Raschid seinem abendländischen kaiserlichen Freund als aufsehenerregendes Geschenk nach Aachen gesandt hatte und die als Weltwunder bestaunt worden war. Es war auch ganz außerordentlich zu sehen, wie geschmiedete, goldschimmernde Reiter Stunde um Stunde die Tür des Uhrgehäuses öffneten und Bälle auf eine Zimbel fallen ließen, bevor sie sich zurückzogen. Der klingende Aufschlag der Bälle sagte die Stunden an. Wie viele Jahre der Künstler an dieser in jeder Einzelheit zierlich verfertigten Wasseruhr gearbeitet haben mochte, wurde nicht erwähnt, aber Zeit spielte bei den Handwerkern des Orients keine Rolle, wenn es galt, vollkommene Dinge zu schaffen. Sie wurden für ihre eigenartigen Leistungen entsprechend bezahlt und setzten ihren Stolz darein, daß in ihren Städten die beste Ware ihrer Art erzeugt wurde. Jeder namhafte Ort berief sich auf seine besondere Kunstfertigkeit. Aus Damaskus kam Damast, aus Mossul Musselin. Die syrischen Städte Sidon und Tyrus waren schon im Altertum wegen der Erzeugung ihrer reinen und feinen Gläser bekannt gewesen, jetzt wurden sie berühmt. In anderen Städten wurden köstliche keramische Vasen, Nadeln und Kämme verfertigt; Wohlgerüche, Seifen und Teppiche, die ihre örtliche Eigenart und besondere Bewertung hatten. Der Austausch der Waren vollzog sich in allen Windrichtungen, bis zur chinesischen Grenze. An den Handelsstraßen fanden die Kaufleute und Reisenden Stallungen und bequeme Herbergen, die auch höchsten Ansprüchen gerecht wurden. Für die Sicherheit des Verkehrs wur375
den einige Schutzmannschaften eingesetzt, und da auch die vornehmen Muselmanen den Kaufmannsstand keineswegs so gering schätzten, wie es ihre europäischen Standesgenossen taten, wurden die endlosen Karawanen der schwerbeladenen Kamele von adeligen Reitern begleitet, die die angenehme Abwechslung des Rittes mit dem Nützlichen der Bewachung verbanden. Die Märkte in den Städten waren die Zusammenkunftsorte nicht nur von Kaufleuten, sondern auch von Dichtern und Gelehrten, die sich äußern wollten oder ständige Schirmherren und reiche Gönner suchten. Der orientalische Handel war nicht nur ein Kaufen und Verkaufen von einer Hand zur andern. Wer Geld hatte, konnte sich an verzweigten Unternehmungen beteiligen und hatte es nicht nötig in bar zu zahlen. Ein Schuldschein genügte, der die Summe der Beteiligung festlegte und gegen Vorlage zu einem bestimmten Zeitpunkt in den entsprechenden Betrag in Gold- oder Silbermünzen eingelöst wurde. Diese Scheine wurden ›sakk‹ genannt. Sie waren die Vorläufer der nach ihnen benannten Schecks. Noch viele andere Wörter, die später im Sprachgebrauch des Westens Verwendung fanden, entstammten dem alltäglichen Gebrauch des Orients, wie Tarif und Magazin, Arabeske und Matratze, Sofa, Barke und Kabel. Auch die damals so seltenen Genußgüter, wie Orangen und Limonen, Zucker und Sirup, wurden durch den Verkehr mit dem Orient in den Westen eingeführt. Nur wenige Auserwählte der im ›finstern Mittelalter‹ lebenden Bevölkerung des Abendlandes wußten von der gleichzeitigen Glanzzeit des Morgenlandes und nahmen in bescheidenem Maße daran teil. Die unsichtbare Grenze, die zwischen den einander örtlich so nahen und doch so verschiedenen Lebensformen lag, war durch die Verschiedenheit des Glaubens und der damit verbundenen Weltanschauung bedingt. Auch die gesellschaftliche Schichtung war anders gelagert. Im Abendland hatte die Sklaverei im wesentlichen aufgehört oder doch andere Formen angenommen, denn es stand geschrieben, daß Christen keine Christen versklaven dürften. Im Orient aber hatte die Sklaverei zugenommen, obwohl auch der Koran die Versklavung von Mu376
selmanen verbot. Aber während die Völker und Herrscher des Okzidents vollkommen damit beschäftigt waren, sich in ihrem engen Raum zurechtzufinden und zu einer neuen völkischen und gesellschaftlichen Ordnung und zur Ruhe zu kommen, weitete sich die Welt der Muselmanen durch Handel und Feldzüge. Ihre Möglichkeit, nicht-muselmanische Sklaven und Sklavinnen mit Geld oder durch Gewalt zu erwerben, war beinahe unbeschränkt. Aber wenn auch der Muselman frei über Leben und Tod der Sklaven verfügte, so war doch die Behandlung, die er ihnen angedeihen ließ, allgemein recht menschlich. Der Sohn einer Sklavin mit ihrem Herrn war von Geburt an frei. Die Sklaven durften heiraten. Die Kinder von Sklaven konnten, je nach ihrer Fähigkeit und Ausbildung, zu den höchsten Stellen des Staates aufrücken. Sehr viele Sklaven kamen aus Afrika. Aber die Hautfarbe war keine Schranke, wenn eine Negersklavin ihrem Herrn gefiel. Die Mischlinge, die so entstanden, vermehrten sich und wurden ebensowenig herabgesetzt oder unterschiedlich behandelt wie die Abkömmlinge von Chinesinnen mit Arabern oder von weißhäutigen, blondhaarigen Frauen aus dem europäischen Raum, die wegen ihrer verhältnismäßigen Seltenheit besonders hohe Preise auf dem Sklavenmarkt erzielten. Da die grobe Arbeit im Haus und auch in den Werkstätten von Sklaven verrichtet wurde, hatten ihre Besitzer so viel Muße, wie sie nur wünschen konnten. Alle Arten des Sports wurden in täglichem Wettbewerb geübt, vor allem die Handhabung von Waffen. Es gehörte zur guten Erziehung, Bogenschießen, Speerwerfen und Fechten zu lernen. Um die Glieder gelenkig und geschmeidig zu erhalten, wurde geritten, geboxt und gerungen und der Ernst des Kampfes im Spiel durch Polo- und Krocketspiele, mit Hockey- und Ballschlägern vorweggenommen. Es wurden Pferderennen und Jagden veranstaltet. Aber die männlich aufrechte Haltung, die eine Vorbedingung bei der Ausübung der sportlichen Veranstaltungen war, wurde nur außerhalb der eigenen Häuser bewahrt. In ihren vier Wänden genossen die Männer die Wohlgerüche ebenso wie die Frauen ihres Harems und trugen lose Hauskleider aus Seide über ihren mit Rosen-, Veilchen- und Jasminöl gesalbten Körpern. Blumenbeete und bunte Teppiche, deren lebendige 377
Ornamente den Vorbildern der Natur nachgebildet waren, schmückten Gärten und Häuser. IV Während die Klosterschulen des Abendlandes nur wenigen Auserwählten zugänglich waren und sich der Lehrplan mit den Anfangsgründen des Wissens begnügte, war der Unterricht im Morgenland allgemein. In jeder größeren Siedlung gab es eine Schule, in der schon die Sechsjährigen Tag für Tag einen Teil des Korans erklärt bekamen und auswendig lernten. Aber noch bevor sich die Kinder in der Moschee oder in der Nähe eines öffentlichen Brunnens um einen Lehrer versammelten, mußten sie im Elternhaus den wesentlichen Grundsatz und die Voraussetzung ihrer künftigen Bildung und ihr Bekenntnis aufsagen können: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.« Diese Durchdringung des frühen Bewußtseins mit dem Glauben, dessen Vorschriften und Auslegungen den muselmanischen Kindern zur zweiten Natur werden mußte, bestimmte ihre Entwicklung. Schon im zartesten Alter nahmen sie durch den Besuch der Schule an einem öffentlichen Wettbewerb teil, in dem am höchsten bewertet wurde, wer den ganzen Koran auswendig hersagen konnte. Er wurde zum ›hafiz‹, zum ›Behalter‹, und bekam, wenn er überdies noch schreiben lernte und sich auch im Sport tüchtig zeigte, den Titel ›alkamil‹, ›der Vollendete‹. Wer sich in der heimischen Schule so ausgezeichnet hatte, wurde zwar geehrt, aber er hatte nur die erste Stufe des Zieles aller erreicht, das darin bestand, ein ›adab‹ zu werden, ein wahrer Edelmann, der sich nach der Schulung durch höhere Lehren in vornehmer Lebensart, Sprachgewandtheit und Geschmack vervollkommnet hatte. Daß die Begabtesten kostenfreien Zutritt zu den auf dem Grundsatz der griechischen Universität aufgebauten Erziehungsanstalten hatten, 378
war durch einen überlieferten Leitsatz des Propheten ausgelöst: »Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut der Märtyrer.« Die Verbreitung des Allgemeinwissens, das nicht nur aus der Auslegung des Korans, sondern aus einer gründlichen Kenntnis von Wortkunde, Logik, Mathematik und Rechtskunde bestehen mußte, wurde von den Kalifen und ihren Würdenträgern in allen Teilen der muselmanischen Welt durch Geldbeihilfen an die Unterrichtsanstalten und durch lebenslängliche Gehälter für die erfolgreichen Schüler gefördert. Die in neuer Form wiederbelebte Erfindung des alten Ägyptens, das Papier, das die Chinesen nicht aus der ägyptischen Papyrusstaude, sondern aus anderen faserigen Pflanzen zu erzeugen gelernt und nach dem Westen ausgeführt hatten, trug dazu bei, die Gelehrsamkeit vom Gedächtnis des einzelnen unabhängig zu machen, der nicht mehr auswendig lernen mußte, was er behalten wollte, denn er konnte es jederzeit lesen. Die Kenntnis des Lesens und Schreibens wurde so volkstümlich, daß es in Bagdad um die Wende des neunten zum zehnten Jahrhundert über hundert Buchhändler gab. Wer es sich nicht leisten konnte, die teuren Bücher zu kaufen, konnte sie in den öffentlichen Bibliotheken der meisten Moscheen einsehen und nicht nur den Koran nachlesen, sondern sich auch an reichhaltigen und lehrreichen Fabeln ergötzen und an den tausend Erzählungen, die aus dem Persischen ins Arabische übertragen worden waren und als ›Tausendundeine Nacht‹ künstlerisch zusammengefaßt wurden. Altarabische Dichtungen wurden unter dem Titel ›Buch der Lieder‹ gesammelt und standen den Lesehungrigen ebenso zur Verfügung wie wissenschaftliche Werke. In der Kalifenbibliothek von Kairo gab es schon im zehnten Jahrhundert hunderttausend Bände. Aber auch gewöhnliche Sterbliche besaßen umfangreiche Büchersammlungen. Ein Arzt, der an den Hof eines Kalifen berufen wurde, lehnte die ehrenvolle Einladung ab, da er vierhundert Kamele zur Übersiedlung seiner Bibliothek nötig gehabt hätte. Es gab erdkundliche Wörterbücher, medizinische Handbücher, mathematische Lehrbücher und Landkartensammlungen, die im ›Buch der Länder‹ vereinigt waren. Die Übersetzungen der griechi379
schen Philosophie wurden erläutert und durch neue Forschungen vervollständigt. Arbeiten, wie das Werk des Aristoteles ›Über die Fortpflanzung und Entartung der Tiere‹, Platos ›Staat‹ und die Wiederbelebung und Verarbeitung der mathematischen Kenntnisse des Altertums unter dem Namen ›algebra‹ wurden Gemeingut und Lehrbehelf des in Bagdad gegründeten ›Hauses der Weisheit‹, das beispielgebend war und in der mohammedanischen Welt nachgeahmt wurde. Bei dieser planmäßigen Sammlung von Kenntnissen und Erkenntnissen ging es den Forschern und ihren Förderern nicht nur darum, das Wissen um des Wissens willen zu erfassen und zu verwalten, sondern auch darum, es den weitesten Kreisen zugänglich zu machen. So lehrte das Pflanzenbuch Abu Dinawaris die Pflanzenzüchter, durch Aufpfropfen neue Früchte zu ziehen, und die zeitgenössischen Schriften, die die Stoffkunde vermittelten, die Verarbeiter von Drogen und Metallen, Grundstoffe miteinander zu vermischen und dadurch neue Stoffe zu schaffen. Die Einwirkung von Sonne und Feuer auf Stoffe wurde untersucht und die Ergebnisse in der Heilkunde und in der Metallurgie angewandt. Die Belebung des Wirtschaftslebens durch den Geist hatte die Entstehung neuer Berufszweige zur Folge und dadurch wieder eine bedeutsame Verbesserung der Lebensformen, die erst dem Morgenland und der ihm verbundenen muselmanischen Welt zugute kam, bevor sie dem Abendland zugänglich wurde. V Die ersten Vermittler zwischen dem Orient und dem Okzident waren die Juden. Seit sie das heimische Palästina verlassen hatten, waren sie kein Volk mehr im üblichen Sinn, sondern die verstreuten Anhänger ihres Glaubens, der sie zu einer geschlossenen Gemeinschaft verband, auch wenn sie örtlich voneinander getrennt waren. Nach der Vertreibung aus ihrem geschichtlichen Land an der Süd380
ostküste des Mittelmeers in alle Windrichtungen waren die Juden nur selten vom Glück begünstigt gewesen. Die im Mutterland Verbliebenen hatten um ihres Glaubens und ihrer Lebensform willen wiederholt mutig zu den Waffen gegriffen, aber die Grausamkeit, mit der ihre Versuche, die völkische Unabhängigkeit und Freiheit wiederzugewinnen, unterdrückt worden waren, hatte dazu geführt, daß die Gemeinden, die sich überall dort ansässig gemacht hatten, wo sie geduldet oder gefördert worden waren, Palästina nur mehr als die Hoffnung einer fernen Zukunft betrachtet hatten. Beinahe an allen Ecken und Enden der bewohnten Erde entstanden jüdische Niederlassungen. Die Juden bauten ihre Gotteshäuser in China, im Zweistromgebiet, in Arabien, in Ägypten und in den meisten Ländern des europäischen Raumes. In den Gegenden, in denen es ihnen verboten war, Grund zu bebauen, trieben sie Handel. Das unentwegte Aufrechterhalten ihrer Beziehung zu ihren fernen Glaubensgenossen erleichterte ihnen den Warenaustausch. Sie gewannen Einfluß auf die Schiffahrt und dienten den Ländern, in denen sie ansässig waren, auch als Vermittler geistiger Güter. Im nahen Orient und im fernen Osten waren sie nur selten durch häßliche Vorurteile gefährdet. Im finsteren Mittelalter aber wurden sie von ihren abergläubischen Zeitgenossen verfolgt. Bedeutende Herrscher des christlichen Abendlandes, wie Theoderich der Große, und weitsichtige Päpste ließen ihnen ihren besonderen Schutz angedeihen, auch die arianischen Westgotenkönige auf der Iberischen Halbinsel, bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich König Rekkared zum katholischen Glauben bekannte. Von ihm und seinen Nachfolgern wurden die Juden rücksichtlos bedrängt und konnten erst wieder aufatmen und Wurzel fassen, als die Muselmanen die Iberische Halbinsel eroberten und die gewohnte Gemeinsamkeit mit den dort ansässigen Juden herstellten. Die unter dem Kalifat von Cordova lebenden Untertanen jüdischen Glaubens waren keinen Unbilden ausgesetzt. Sie lebten ebenso unbelästigt wie ihre Glaubensgenossen im Orient. Was die Haus an Haus wohnenden, die gleichen Berufe ausübenden Muselmanen von den Juden unterschied, äußerte sich nur in der Verschiedenheit ihres Be381
kenntnisses und der daran gebundenen Vorschriften. Auch die Juden hatten sich nicht mit den von Moses schriftlich niedergelegten Gesetzen begnügt und sich auf ein mündliches Gesetz berufen, das von Geschlechterfolge zu Geschlechterfolge weitergegeben und erweitert worden war. Schon zur Zeit Christi hatten sich die Pharisäer und Sadduzäer darüber gestritten, ob das mündlich überlieferte Gesetz ebenfalls göttlichen Ursprungs sei. Nach der Flucht aus Palästina hatten die Schriftgelehrten und Geistlichen der Juden, die ›Rabbiner‹ genannt wurden, das von den Pharisäern verfochtene mündliche Gesetz als Gottesgebot anerkannt und den Büchern Mosis angeschlossen. So entstand die ›thora‹, das Gesetz schlechthin, unter dem die Juden lebten und der ›talmud‹, die ›Lehre‹, die Sammlung aller jüdischen Satzungen. Der Talmud war das Ergebnis eines jahrhundertelangen Beurteilens und Erläuterns des Gesetzes, das den Notwendigkeiten der Juden ohne Land angepaßt wurde, ohne daß die schriftlich und mündlich überlieferte Gesetzgebung Mosis im wesentlichen verändert werden durfte. Die Rabbiner waren keine Berufsgeistlichen. Sie gingen ihrem täglichen Erwerb nach wie alle anderen Juden, sie wurden Gelehrte um des Glaubens und der Wissenschaft willen, die die Weisheit der Heiligen Schrift verwalteten und sich bemühten, sie den Gläubigen nahezubringen. Vor allem betonten sie die Einheit Gottes. Das wichtigste jüdische Gebet lautete: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott!« Der Name Gottes, ›Jahve‹, durfte nur bei ganz seltenen feierlichen Anlässen ausgesprochen werden. Neben ›Jahve‹ galten weder Propheten noch Heilige. Die Rabbiner nannten Gott für gewöhnlich ›Adonai‹, der ›Herr‹. Er war: ›Unser Vater im Himmel‹. Sie lehrten, daß alles auf Erden einen göttlichen und segenbringenden Zweck habe. Zwischen Gott und Mensch höre die Beziehung nicht auf. Jede Tat, jeder Gedanke eines Menschen ehre oder schände die Allgegenwart Gottes. Der Mensch habe eine Seele, die ihn zur Tugend anleite, und einen Leib, der sündig sei. Vielleicht käme die Sünde vom Satan und von den allerorts lauernden üblen Geistern. Die Sünde sei natürlich, aber die Schuld nicht ererbt, und jedes Übel könne sich am 382
Ende zum Guten wenden. Ohne irdische Begierden könne der Mensch weder arbeiten noch sich vermehren. Es hieß im Talmud: »Kommt, wir wollen unseren Vorfahren dankbar sein, denn hätten sie nicht gesündigt, so wären wir nicht auf der Welt.« Die Juden glaubten nicht an die Erlösung für den einzelnen, sondern für das ganze Volk. Wenn Davids Sohn als königlicher Messias kommen würde, so beteten sie täglich, dann würde er sie wieder zu einem freien geeinten Volk machen, das Gott im eigenen Tempel von Jerusalem mit den alten Feierlichkeiten und Liedern verehren könnte. Der muselmanische Rufer zum Gebet, der ›muezzin‹, ermahnte die gläubigen Mohammedaner fünfmal am Tag laut und vernehmlich zum Gebet. Das geschah, nachdem der Islam zum herrschenden Glauben geworden war. Die Juden aber waren bestenfalls geduldete Untertanen. Ihr Rufer zum Gebet mußte das eigene Gewissen sein und ihr verinnerlichter Wunsch, ihrem Gott bei allen vorgeschriebenen Gelegenheiten nahe zu sein. Sie befestigten am Morgen kleine Behälter mit Bibelworten mit ›Gebetsriemen‹ an der Stirne und an den Armen und nahmen keine Mahlzeit ein, der nicht ein kurzes Tischgebet voranging und ein Dankgebet folgte. Der Lehrsatz des Talmud, daß sich Menschen nur zusammenhalten ließen, wenn sie gemeinsame Dinge verrichteten, veranlaßte die Juden, gemeinsam zu beten. Aber auch dort, wo es keine Synagogen gab, wie ihre Gotteshäuser genannt wurden, hielt die Gemeinsamkeit ihrer Regeln die Juden zusammen. Es waren Vorschriften der Sauberkeit, die sich auf alle Einzelheiten der Gesundheitspflege erstreckten und sogar bildhaft vorschrieben, wie Bäder genommen werden sollten: »Badet einer in heißem Wasser und läßt nicht kaltes Wasser nachfließen, so ist es, wie wenn Eisen im Ofen zum Glühen gebracht wird, ohne nachher in kaltes Wasser getaucht zu werden.« Das Waschen der Hände vor und nach jeder Mahlzeit und vor den Gebeten wurde zur selbstverständlichen Gewohnheit und Pflicht, ebenso wie die Vermeidung aller als unrein bezeichneten Lebensvorgänge oder aller als unrein bezeichneten Genußmittel. Ursprünglich galt die Beschneidung der Knaben als ein Opfer an Jahve, durch welches das Bündnis des Beschnittenen mit seinem Gott bestätigt wer383
den sollte. Der Talmud fügte der Glaubensauslegung die Erklärung der Gesundheitspflege hinzu, von der auch andere aus dem Morgenland stammende Völker in gleicher Weise Gebrauch machten. Der Genuß von Schweinefleisch war verboten worden, da die Juden in früher Zeit die Erfahrung gemacht hatten, daß die Schweine Wurmträger und als solche gesundheitsgefährdend wären. Im Talmud wurden die Gründe für alle Ernährungsbeschränkungen, die den Gläubigen auferlegt wurden, mit zeitgenössischer Wissenschaftlichkeit erklärt, auch die Gründe für die Schlachtung, die so vorgenommen werden sollte, daß einerseits das Tier möglichst wenig Schmerz verspüre und andererseits dem Fleisch alles Blut entzogen werde. Die Schlachtung mußte von Fachleuten vorgenommen werden, damit sie auch die Eingeweide auf Krankheit untersuchten. Das Verbot, Fleischspeisen gleichzeitig mit Milchgerichten zu genießen, wurde medizinisch begründet. Die eigenartigen Verbote und Beschränkungen, die sich die gläubigen Juden auferlegten, hatten keineswegs den Zweck, ihre Lebensfreude einzuengen. Ihre im Talmud gesammelten Weisheiten beruhten auf der geübten Erfahrung von Jahrhunderten und sollten durch die zur Regel erhobene Vorsicht Schaden verhindern. Aber die guten Dinge des Lebens sollten genossen werden. Es hieß: »An einer Feier muß der Mann sein Weib und seinen Haushalt froh machen.« Die Glaubensausübung sorgte dafür, daß es außer der altüberlieferten Sabbat-Freude, der wöchentlichen Danksagung an den HERRN, viele Festlichkeiten gab. Jeden Tag solle man hundert Lobpreisungen aussprechen, empfahl ein berühmter Rabbiner. Kein Jude solle den geschriebenen Grundsatz vergessen: »Die ganze Erde füllt SEINE Herrlichkeit.« Die Juden hatten nicht die den Muselmanen gebotene Möglichkeit, ihre Kinder öffentlich zu schulen. Aber sie sorgten in noch eindringlicherer Weise dafür, daß sie von frühester Kindheit an den Glauben und das Gesetz lernten. Das geschah nicht durch ein Aufsagen und Wiederholen des Erlernten, sondern durch Rede und Gegenrede zwischen Lehrer und Schüler und zwischen den Schülern untereinander, die die Aufnahmefähigkeit beschleunigen und den Geist schärfen sollte. »Die Erlösung der Welt kommt durch den Atem von Schulkindern«, 384
hieß es im Talmud, und die Hochachtung der Gelehrsamkeit und des Wissens war das Ziel aller auf der Erde verstreuten jüdischen Gemeinden, die nach dem Gesetz und der Lehre lebten. Ihr Glaube und ihre Gebräuche, die sie zusammenhielten, wo immer sie auch waren, und der sie, unabhängig vom Ort ihrer Geburt und ihres Aufenthaltes, zu gehorsamen Untertanen eines geistigen Vaterlandes machte, unterschieden die Juden von den anderen Bewohnern der Länder, in denen sie lebten und wirkten. Die Lebensweisheit und die gesammelten Erfahrungen von Jahrhunderten, die sie sich von Kindesbeinen an durch das Erlernen des Talmud aneigneten, erhoben sie über den Durchschnitt der ungebildeten Bevölkerung und entfremdeten sie ihren Nachbarn, wenn sie auch in reichem Maße die Lehre befolgten: »Wer heimlich Wohltätigkeit übt, ist größer als unser Meister, Moses.« An der weitverbreiteten Gelehrigkeit des Morgenlandes nahmen die Juden lebhaften Anteil. Es gab bedeutende jüdische Himmelsforscher, wie Maschallah, dessen Arbeit ›Über die Bewegung der Erde‹ zu früher Berühmtheit gelangte, und Isaak Israeli, der als Augenheilkundiger wirkte und auch als philosophischer Schriftsteller Geltung errang. Beinahe an jeder muselmanischen Akademie in allen Reichen des Islam wirkten Juden und sorgten dafür, daß ihre Glaubensgenossen im finstern Mittelalter des fernen Abendlandes am Fortschritt des Geistes teilnehmen konnten.
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Päpste, Herrscher und Völker I Otto von Sachsen, den Heinrich I. dem Reichstag in Erfurt als Nachfolger empfohlen hatte, wurde von den Herzögen und großen Herren des ›regnum Teutonicorum‹ als König anerkannt. Aber der vierundzwanzigjährige Erbe wünschte nicht eine formlose Krönung wie sein bescheidener Vater. Er wollte nicht nur die Lasten der Königsgewalt, sondern auch die Ehre und Macht. Das sollte von Anfang an feststehen, wenn er die von Heinrich I. vorgezeichneten Wege beschreiten und das so mühselig gestärkte Reich erweitern sollte. Der Leitsatz seines Vaters, daß er ›primus inter pares‹ sei, genügte Otto nicht. Er war entschlossen, die überlegene Stellung des höchsten Amtes deutlich zum Ausdruck zu bringen. Sein Vorbild war Karl der Große – nicht der junge Ehrgeizige, der sich durch rücksichtslose Gewalttätigkeit emporgeschwungen hatte, sondern der von groß und klein bewunderte und verehrte Vater der Völker, der aus seiner Kaiserstadt Aachen die westliche Welt mit ruhiger Hand beherrscht hatte. Otto wollte in seiner Person die Herrscherlegende Karls erneuern und in jeder Hinsicht der Nachfolger des ersten germanischen Kaisers werden. Er wählte daher Aachen zum Ort seiner Krönung und sorgte dafür, daß die Festlichkeit so vor sich ging, wie er sich die Krönung Karls des Großen vorstellte. In der festlich geschmückten Säulenhalle, die den Königssitz mit der Marienkirche verband, wurde Otto auf den Thron er hoben. Die versammelten Herzöge und Grafen machten ihn nach altem Brauch zum König, indem sie ihm durch Handschlag huldigten und Hilfe und Treue gegen alle seine Feinde versprachen. 386
In der Kirche selbst erwartete der Erzbischof von Mainz, als der höchste geistliche Würdenträger, umgeben von der Priesterschaft den Eintritt des neuen Herrschers. Er berührte mit der Linken die rechte Hand Ottos I. und erhob mit seiner Rechten den Krummstab. »Sehet«, rief er den Anwesenden zu, »hier stelle ich euch vor den von Gott erkorenen und von Herrn Heinrich zuvor bezeichneten, nun aber von allen Fürsten zum König erhobenen Herrn Otto.« Dann überreichte der Erzbischof dem König Szepter und Stab und beschwor ihn in feierlichem Tonfall: »Bei diesem Zeichen mögest du gedenken, daß du mit väterlicher Zucht deine Untertanen leitest und vor allem den Dienern Gottes, den Witwen und Waisen die Hand der Erbarmung reichst, und möge niemals auf deinem Haupt das Öl der Barmherzigkeit versiegen, auf daß du jetzt und in Zukunft mit ewigem Lohne gekrönt werdest.« Otto nahm die Ansprache gnädig entgegen. Er nahm huldvoll zur Kenntnis, daß sich die Diener Gottes in ihren kostbaren Meßgewändern seiner Gunst ebenso vergewissern wollten, wie die großen Herren, die ihm an der marmornen, mit fürstlichem Gerät verzierten Tafel aufwarteten. Da saß er, das goldene Diadem auf der mit dem heiligen Öl gesalbten Stirn, auf seinem köstlichen, erhöhten Stuhl und sah mit Genugtuung zu, wie der Herzog von Lothringen, in dessen Hoheitsgebiet Aachen gelegen war, die Feier seinem Auftrag gemäß ordnete. Es geschah alles nach dem königlichen Wunsch: Der Herzog von Franken besorgte den Tisch, der Herzog von Schwaben überwachte die Mundschenken, der Herzog von Bayern nahm sich der am Krönungsmahl teilnehmenden Ritterschaft an. Durch die dienende Handlung, die sinnbildliche Bedeutung hatte, gaben diese stolzen, selbstbewußten Herzöge kund, daß sie dem neuen König, der ›von Gott erkoren war‹, untertänig sein würden. Der zeitgenössische Bericht über das bedeutsame Ereignis schloß mit den Worten: »Der König ehrte einen jeden der Fürsten, königlicher Freigebigkeit gemäß, mit angemessenen Geschenken und entließ die Menge mit aller Fröhlichkeit.« Otto I. hatte allen Grund, fröhlich zu sein. Es war ihm schon am 387
Tage seiner Krönung das gelungen, was allen seinen Vorgängern seit Karl dem Großen, trotz aller Gewalttaten und Mühen, mißlungen war: er war von allen Mächten des Reiches als rechtmäßiger König anerkannt worden. Der Vierundzwanzigjährige sah eine großartige Zukunft vor sich. II Schon im ersten Jahr der so vielversprechenden Herrschaft Ottos verdunkelte sich seine Aussicht. Hermann Billung und Markgraf Gero, seine Vertrauensmänner, kämpften zwar erfolgreich gegen die benachbarten Slawenstämme und verschoben die Grenzen des sächsischen Einflusses nach dem Osten. Aber die Stammesherzöge, die Otto so ergeben an der Krönungstafel aufgewartet hatten, waren nicht willens, ihre sinnbildliche Untertänigkeit auch tatsächlich fortzusetzen, wenn es um ihre ererbten oder angemaßten Vorrechte ging. Der langjährige Bürgerkrieg, der dem Königtum Ottos ein frühzeitiges Ende zu bereiten drohte, war wohl in seiner Ereignisfolge verschieden, aber im wesentlichen durch die gleichen Grundsätze veranlaßt, die auch seine späteren Nachfolger gefährden sollten. Es handelte sich um den immer wieder auflebenden Kampf der bevorzugten Herren gegen ihren Oberherrn und seine Bemühung, ihre Machtbefugnisse zum Vorteil seiner Belange zu beschränken. Die Schwierigkeiten Ottos begannen, als er von Eberhard, dem Sohn und Nachfolger Herzog Arnulfs von Bayern, einen Verzicht auf die Hoheit über die bayrische Kirche begehrte. Diese Forderung war nicht unwillkürlich und unbedacht. Sie war die erste Maßnahme eines großangelegten Planes, von dessen Gelingen Otto sich die Sicherung der Königsherrschaft versprach. Die Bischofssitze und Klöster des Reiches waren die Mittelpunkte der Macht. Wenn Otto sie von sich abhängig machte und widerspenstige geistliche Würdenträger durch Männer seines Vertrauens ersetzen konnte, stärkte er seine Hand gegen die Landesherren. 388
Das erkannte Eberhard und lehnte die Forderung ab. Otto unternahm zwei Feldzüge, vertrieb Eberhard und verlieh das Herzogtum Bayern an Berthold von Kärnten, der als Gegenleistung auf das Verfügungsrecht über die Kirche verzichtete. Kurze Zeit darauf gab es einen neuen Anlaß für Otto, seine Königsmacht zu beweisen. Der Herzog von Franken, der gleichfalls Eberhard hieß, hatte die Burg eines sächsischen Edelmannes niedergebrannt, der sich geweigert hatte, ihm Heeresfolge zu leisten. Otto verurteilte den Übergriff und verlangte Buße, aber Eberhard mißachtete die königliche Vorladung und verbündete sich mit dem Stiefbruder Ottos, Thankmar, der seinerseits Merseburg als Erbe beansprucht und nicht erhalten hatte. Thankmar begann die Feindseligkeiten, indem er Heinrich, den jüngeren Bruder Ottos, gefangennahm und dem Frankenherzog auslieferte. Er selbst verschanzte sich in einer festen Burg. Otto handelte rasch. Thankmar fiel im Handgemenge, das der Belagerung der Burg folgte. Aber Heinrich, den er jetzt befreien wollte, hatte inzwischen mit dem fränkischen Eberhard Freundschaft geschlossen. Das Ergebnis war eine Verlautbarung des jüngeren Bruders, daß er, und nicht Otto, der rechtmäßige König sei. Er, Heinrich, sei geboren worden, als sein Vater schon König gewesen war. Nach dem Salischen Recht sei daher er, und nicht Otto, der echte Anwärter auf den Thron Heinrichs I. Dieser Aufruf ermutigte den Herzog von Lothringen, sich dem Bund des Herzogs von Franken mit Heinrich anzuschließen. Die Herzöge waren gewiß, daß es ihnen gelingen würde, einen lenkbaren Sachsenherzog statt des eigenwilligen Otto zum König zu machen, um so mehr, als Heinrich auf ihren Wunsch die Sachsen zum Aufstand gegen seinen Bruder aufrief. In den Feldzügen, die dieser Verschwörung folgten, wechselte das Glück. Die Lage Ottos wurde noch schwieriger, als der Herzog von Lothringen sich an Ludwig IV. den König des Westfrankenreiches, um Hilfe wandte. Mit seinem zahlenmäßig schwachen Heer konnte Otto keine Erfolge erzielen. Die einzigen Großen des Reiches, auf die er sich verlassen konnte, waren, außer Hermann Billung und Markgraf 389
Gero, der Herzog von Schwaben und zwei fränkische Grafen, die sich Otto aus Widerspruchsgeist gegen ihren Stammesherzog angeschlossen hatten. Eine entscheidende Schlacht wurde von beiden Seiten erstrebt. Aber als die Nachhut der gegen Otto verbündeten Herzöge den Rhein übersetzte, wurde sie von den beiden fränkischen Grafen überfallen. Eberhard von Franken fiel. Der Herzog von Lothringen ertrank im Rhein. Heinrich rettete sich durch die Flucht. Das traurige Ende seiner Feinde bedeutete nicht den Frieden für Otto. Er konnte zwar das Herzogtum der Franken als Eigentum der Krone beanspruchen, aber das Herzogtum Lothringen, dessen sich Ludwig IV. bemächtigte, blieb der Schauplatz heftiger Kämpfe. Gleichzeitig brachen neue Unruhen im Osten aus. Wenzel von Böhmen, der dem Vater Ottos Treue geschworen hatte, war von seinem Bruder Boleslav ermordet worden, der nicht willens war, die Treue zu halten. Markgraf Gero, dessen Truppen Otto in Lothringen nötig gehabt hätte, um sich des Westfrankenkönigs zu erwehren, war seinerseits hart bedrängt und konnte sich nur mühsam behaupten. Auch die Magyaren waren wieder unruhig geworden. Jeder Mann unter Waffen war nötig, um die Ostgrenzen des Reiches zu verteidigen, während der König an der Westgrenze kämpfte. Erst der Vermittlung des mit einem Male freundlich gewordenen feindlichen Bruders Heinrich, der den mächtigsten Widersacher Ludwigs IV. innerhalb des Frankenreiches für Otto gewann, gelang es, das Blatt zu wenden. Als Belohnung verlieh ihm Otto das Herzogtum Lothringen, um dessen Besitz der Krieg mit dem Westfrankenreich ging. War Heinrich aber ein guter Verschwörer und ein tüchtiger Vermittler, so zeigte er sich nun als unfähiger Verwalter. Der König entzog ihm die Herzogswürde. Im gleichen Jahr gelang es Otto, in das Gebiet Ludwigs IV. einzudringen und die Huldigung der wichtigsten Großen des Westfrankenreiches entgegenzunehmen. Während seiner Abwesenheit bereitete Heinrich einen Mordanschlag auf ihn vor. Die Verschwörung wurde aufgedeckt, aber Heinrich warf sich dem Bruder einige Monate später bei der Weihnachtsfeier zu Füßen und bat um Verzeihung. Sie wur390
de um so eher gewährt, als Otto bald darauf mit Ludwig IV. Frieden schließen konnte, den Heinrich durch seine Vermittlung angebahnt hatte. Endlich hatte Otto Gelegenheit, seine staatsmännische Umsicht vorsichtig zu beweisen. Keiner der Herzöge, die sich gegen ihn aufgelehnt hatten, war am Leben geblieben. Er war in so kurzer Zeit unangefochtener Herrscher des Reiches geworden, daß er es nicht auf sich nahm, eine durchgreifende Veränderung der bestehenden Verhältnisse vorzunehmen. Er ließ die Herzogtümer bestehen, aber verlieh sie an Vertrauensmänner, die er überdies noch durch verwandtschaftliche Bande an sich fesselte. Lothringen fiel an Konrad den Roten, der eine Tochter Ottos zur Frau nahm, Bayern an den reuigen Bruder Heinrich, und als Hermann von Schwaben starb, erhob Otto seinen eigenen ältesten Sohn Liudolf zum Herzog des Schwabenlandes. Aber die neuen Herzöge verfügten nicht mehr frei über ihre Herrschaftsgebiete. Vom König ernannte Pfalzgrafen sorgten für seine Belange in den einzelnen Herzogtümern. Er selbst ernannte auch die Grafen, die die Verwaltung innehatten. Überdies beanspruchte er die Oberaufsicht über die Kirchengüter. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, daß er von Gottes Gnaden König sei und alle Rechte eines Erbkönigtums beanspruchte, ließ er Liudolf von den Großen des Reiches als seinem Nachfolger huldigen. III Die Tätigkeit Ottos in dieser schwierigen Zeit beschränkte sich nicht auf sein eigenes Reich. Er sorgte dafür, daß das Königreich Burgund lebensfähig und mächtig wurde, um ein Bollwerk gegen das Westfrankenreich zu schaffen. Er stärkte die Hand des Markgrafen Berengar von Ivrea in Italien. Das war nur eine zeitweilige Maßnahme, denn Otto wußte, daß etwas Entscheidendes geschehen müsse, um sowohl die Magyaren als auch die Muselmanen daran zu hindern, weiterhin 391
nach Belieben in die von inneren Unruhen zerrüttete Apenninische Halbinsel einzufallen. Wieder wirkte das Vorbild Karls des Großen, der Italien als König der Langobarden beherrscht hatte, auf Otto. Als uneingeschränkter Schutzherr der Kirche in seinem Königreich mußte er Rom unter seinen unmittelbaren Einfluß bringen. Solange der Heilige Stuhl wie ein Spielball der italienischen Landesfürsten und der Parteikämpfe des römischen Adels behandelt wurde, litt auch das Christentum im europäischen Raum und würde sich auf die Dauer nicht gegen die Magyaren, Slawen und Muselmanen behaupten können. Otto, der sich mit geistlichen Ratgebern umgab, gewann Einblick in die verworrene Lage und wurde von den Bischöfen und Äbten dazu ermuntert, einzugreifen. In Rom, das nach der verheerenden Feuersbrunst vor der Jahrhundertwende wieder ein neues, prächtiges Gesicht gewonnen hatte, war Theodora, die Gattin eines Senators, durch ihren Liebreiz und ihre Geschicklichkeit so übermächtig geworden, daß es ihr gelungen war, einen ihrer Liebhaber zum Papst wählen zu lassen. Dieser Johannes XI. verheiratete ihre Tochter Marozia mit dem burgundischen Herzog Hugo von Vienne. Alberich, ihr Sohn aus erster Ehe, veranlaßte, daß sein Sohn Oktavian zum Papst erhoben wurde. Er führte den Namen Johannes XII. Hugo von Vienne zog sich in seine ursprünglichen Gebiete zurück und hinterließ seinem Sohn Lothar den Titel eines Königs von Italien. Lothar heiratete Adelheid, die Tochter Rudolfs II. von Burgund. Er starb kurz nach der Hochzeit. Als Berengar, von Otto unterstützt, nach Italien zurückkehrte, ließ er die Witwe Adelheid in Garda gefangensetzen und krönte sich selbst zum König. Otto wurde von Adelheid zu Hilfe gerufen. Das war der Anlaß für ihn, einen Heereszug vorzubereiten. Es geschah zu einem günstigen Zeitpunkt. Markgraf Gero hatte gerade nach einem entscheidenden Sieg Boleslav von Böhmen gezwungen, Otto den Lehenseid zu leisten, und Hermann Billung war es gelungen, die Grenzen gegen die Slawen durch die Errichtung von Burgstädten und die Ansiedlung von sächsischen Familien zu sichern. Der 392
König konnte, mit einem befriedeten Reich im Rücken, den Zug nach dem Süden wagen. Er stieß auf keinen Widerstand. Wohin er kam, empfing er Huldigungen. Er ernannte sich selbst zum König der Langobarden und befreite Adelheid aus der Gefangenschaft. Als er sie kennenlernte, überlegte er rasch: Warum sollte er, der kurz vorher Witwer geworden war, die zauberhaft schöne Königin nicht zur Frau nehmen und sich durch die Eheschließung mit ihr den rechtlichen Anspruch auf die italienische Krone sichern, die Berengar von Ivrea gegen seinen Einspruch an sich gerissen hatte? Er konnte auch eine verwandtschaftliche Beziehung zum jungen König Konrad von Hochburgund, dem Bruder Adelheids, dazu ausnützen, die Schutzherrschaft über Burgund auszuüben. Die Hochzeit fand statt. In diesem Zeitpunkt hielt es Otto für zu gewagt, weiter nach dem Süden vorzudringen. Er ernannte seinen Schwiegersohn, Konrad von Lothringen, zu seinem Stellvertreter. In Magdeburg, das sein beliebtester Königssitz geworden war, erfuhr er, daß Konrad die von ihm eroberten Gebiete an Berengar zurückgegeben habe. Otto war drauf und dran, wieder nach Italien zu ziehen, als Konrad und Berengar an seinem Hof erschienen, so als ob nichts geschehen wäre. Eine heftige Auseinandersetzung fand statt. Otto rügte Konrad rückhaltlos, und Berengar erklärte sich bereit, sein Herrscheramt nur als Lehensmann Ottos auszuüben und Istrien, Trient und Verona an das Herzogtum Bayern abzutreten. Mehr wünschte Otto fürs erste nicht. Er wollte keine Schwierigkeiten. Er mußte ungehindert rüsten können, um den immer bedrohlicheren Angriffen der Magyaren gewachsen zu sein. Für ihn war die Angelegenheit abgeschlossen. Aber als er als Gast des Erzbischofs Friedrich nach Mainz kam, überraschte ihn der Kirchenfürst mit der Mitteilung, daß er, der König, ein Gefangener sei. Otto begriff erst nicht. Er sollte zugunsten seines Sohnes Liudolf, der ihm die Ehe mit Adelheid übelnahm, abdanken? Sein Schwiegersohn Konrad begehrte, sich mit Liudolf in die Macht zu teilen? Die beiden Rebellen verfügten über Anhänger, nicht nur innerhalb ihrer eigenen Herzogtümer, sondern im ganzen Reich? Abdanken, dem Königtum 393
entsagen, er, der auf dem besten Wege war, es so übermächtig zu machen, wie es nie zuvor gewesen war? In den vier Wänden des fürstlichen Gemaches, in dem Otto gefangengehalten wurde, beschloß er, alle Zugeständnisse zu machen, die ihm zur Freiheit verhelfen würden. Der Erzbischof legte ihm einen Vertrag vor. Otto unterschrieb und machte sich auf den Weg nach Sachsen. Dort waren seine Leute. Konnte er sich auf sie verlassen? Als sein Bruder Heinrich zu ihm stieß und ihn seiner Treue versicherte, entschied Otto, daß ihm nichts anderes übrigbliebe, als dem Bruder, der ihn so oft schon verraten hatte, voll und ganz zu vertrauen. Heinrich war Herzog von Bayern. An der Spitze der Sachsen und Bayern konnte Otto kämpfen. Er widerrief die Gültigkeit des Vertrages, den er in Mainz unter Zwang geschlossen hatte, und forderte die Rebellen auf, sich zu unterwerfen. Da sie sich weigerten, berief Otto einen Reichstag ein, um sie ihrer Herzogtümer zu entheben. Heinrich trat als öffentlicher Ankläger auf. Liudolf und Konrad antworteten mit Krieg, den sie um so mutiger erklärten, als sie sich mit den Magyaren verbündet und sie zum Einfall ermuntert hatten. Jetzt stürmten die wilden Horden in das ungeschützte Reich, während Otto gegen seinen Sohn und seinen Schwiegersohn Krieg führen mußte. Er war der überlegene Feldherr. Liudolf und Konrad mußten sich ergeben, und es blieb bei ihrer Absetzung. Da der Erzbischof Friedrich von Mainz inzwischen gestorben war, setzte Otto seinen unehelichen Sohn Wilhelm in das wichtigste geistliche Amt des Reiches ein, gab Lothringen an seinen jüngsten Bruder, Bruno, der Erzbischof von Köln war, und Schwaben an einen verläßlichen Freund. Das waren Notmaßnahmen, die in Eile getroffen wurden, denn Otto mußte den Magyaren entgegenziehen, die bereits bis Augsburg vorgedrungen waren. Wie der sächsische Mönch Widukind berichtete, hatte der König ›nur sehr wenige von den Sachsen mit sich, weil bereits der Krieg mit den Slawen drohte‹. Als Otto in der Nähe der Stadt sein Lager aufschlug, schlossen sich ihm der Heerbann der Franken und der Bayern an. »Auch kam der abgesetzte Herzog Konrad der Rote mit starker Reiterei in das Lager.« 394
In der so denkwürdigen Schlacht bei Augsburg führte Otto seine Truppen persönlich gegen die Feinde. Es wurde ein blutiges Gemetzel. Nur wenige Magyaren entkamen. Auch Konrad der Rote, der sich tapfer gehalten hatte, blieb auf dem Schlachtfeld. Der entscheidende Sieg Ottos hatte zur Folge, daß die magyarischen Einfälle immer seltener wurden. Sie hörten bald ganz auf, als die Bayrische Mark erweitert und befestigt wurde. Aber für Otto bedeutete auch der glückliche Ausgang dieses Krieges nicht den Frieden. Die Slawenstämme, die sich Hermann Billung unterworfen hatten, waren aufständisch geworden, um den Erfolg der Magyaren, den sie für sicher gehalten hatten, auszunutzen. Otto mußte nach dem Norden, und es gelang ihm, nach heftigen Kämpfen auch der Slawen Herr zu werden. Er feierte den Sieg durch die Gründung des Erzbistums Magdeburg, dem die Bistümer Brandenburg und Havelberg unterstanden. Von diesen Mittelpunkten aus unternahmen seine geistlichen und weltlichen Sendboten die Bekehrung der Länder, in denen er seine eigenen Landsleute ansiedelte. Der harten Entschiedenheit Ottos, der vor keiner kriegerischen Handlung und auch nicht vor dem Einsatz seiner eigenen Person zurückscheute, widersprach seine weiche Versöhnlichkeit gegenüber seinen eigenen Familienmitgliedern. Sein Sohn hatte ihn gefangennehmen lassen und war mit bewaffneter Hand gegen ihn aufgetreten. Bestimmte Otto der freiwillige Einsatz seines Schwiegersohnes Konrad und die erstaunliche Verläßlichkeit seines Bruders Heinrich dazu, Liudolf einen Feldzug gegen Berengar anzuvertrauen, der sich seinerseits die Wirren zunutze gemacht hatte, um abzufallen? Während Otto das Kirchwesen neu gestaltete, um die Laiengewalt im Reich weiter einzuschränken, bewährte sich Liudolf gegen Berengar. Der verlorene Sohn wäre vom König in allen Ehren aufgenommen worden, wenn ihn nicht ein tödliches Fieber ereilt hätte. Dieser Unglücksfall machte das persönliche Eingreifen Ottos in Italien notwendig. Aber bevor er sich dazu aufmachte, führte er die Neuordnung, die er begonnen hatte, zu Ende. Er verlieh den Erzbischöfen weiteren Grundbesitz und erweiterte Hoheitsrechte, so daß sie in ihren Gebie395
ten die Gerichtsbarkeit an Stelle der königlichen Grafen ausüben konnten. Dadurch entstand eine neuerliche Verstärkung der Königsgewalt gegenüber den erblichen Fürsten, da die Bischöfe und Äbte, die der Erblichkeit entzogen waren, von den Königen ernannt wurden. Dagegen mußten sich die Kirchenfürsten zu bedeutenden militärischen und wirtschaftlichen Leistungen verpflichten. Endlich war es so weit, daß Otto die Romfahrt unternehmen konnte. Er tat es auf den unmittelbaren Wunsch Johannes' XII. der von Berengar bedroht worden war, und nicht zuletzt, weil ihm der Papst die Kaiserkrone angeboten hatte. Aber bevor Otto I. Deutschland verließ, ließ er seinen sechsjährigen gleichnamigen Sohn, den ihm Adelheid geboren hatte, zum König wählen und krönen. In Rom erreichte Otto das Ziel seiner Jugend. Er nahm die Kaiserkrone vom Papst entgegen. Aber er begnügte sich auch jetzt nicht mit der äußeren Form der Feierlichkeit. Er begehrte von Johannes XII. dafür, daß er ihm durch das sogenannte ›Ottonische Privileg‹ den Besitz des Kirchenstaates gewährleistete, den Treueid des Papstes. Dadurch sollten Feindseligkeiten des höchsten geistlichen Würdenträgers auf Erden gegen den deutschen Kaiser vermieden werden, der seine Macht auf der Stärkung der Kirche begründet hatte. Johannes XII. gelobte Otto die Treue, aber verständigte sich, so rasch er nur konnte, mit seinem bisherigen Feind Berengar, mit den Magyaren und mit den Byzantinern, die noch einen Teil Unteritaliens beherrschten. Als Antwort darauf fand in Abwesenheit des Papstes eine Versammlung der hohen Geistlichkeit statt, die heftige Anklagen gegen Johannes XII. vorbrachte. Der Schauplatz dieses Gerichts war die Kirche des heiligen Petrus. Der vom anwesenden Bischof Liutbrand von Cremona als ›heiliger Kaiser‹ bezeichnete Otto führte den Vorsitz. Johannes XII. wurde schwerer kirchlicher Verfehlungen, Bestechung bei Bischofsweihen, des Kirchenraubes, des Ehebruchs, der Unzucht und Blutschande sowie zahlreicher anderer Verbrechen und Greueltaten angeklagt und seines Amtes entsetzt. An seiner Stelle wurde Leo ›der ehrwürdige Kanzler der heiligen römischen Kirche, der oberste Bischof und allgemeine Papst‹. 396
Kaum hatte Otto Rom für kurze Zeit den Rücken gekehrt, als eine neue Kirchenversammlung nach einem vorübergehenden Auftreten Leos VIII. einen anderen Papst wählte, und zwar Benedikt V. Der Kaiser erhob Einspruch, Benedikt bat um Gnade und wurde als Priester dem Erzbistum Hamburg zugeteilt. Nach dem frühen Tode Leos wurde Johannes XIII. mit der Zustimmung des Kaisers zum neuen Papst gewählt. Aber die römischen Adeligen nahmen den Heiligen Vater gefangen. Otto mußte wieder nach Rom zurück, um Ordnung zu schaffen. Diesmal kam er mit seinem Sohn und nahm die Gelegenheit wahr, auch Otto II. zum Kaiser krönen zu lassen. Dieser Aufenthalt der beiden Kaiser, des alternden und des ganz jungen, führte zur Huldigung der langobardischen Fürsten von Capua und von Salerno, die sich anboten, den Süden der Apenninischen Halbinsel für den Kaiser zu erobern. Ein Krieg mit Byzanz stand bevor, aber das war von Otto nicht geplant. Ihm war daran gelegen, seinen Sohn mit einer byzantinischen Prinzessin zu verheiraten. Er wollte vom Kaiser des oströmischen Reiches als weströmischer Kaiser anerkannt werden. Die Hochzeit des siebzehnjährigen Otto II. mit Theophanu fand im vorletzten Jahr der Herrschaft seines Vaters statt. Noch einmal rief Otto I. der schon zu seinen Lebzeiten ›der Große‹ genannt wurde, einen wichtigen Reichstag ein. Er hielt auch dort, in Quedlinburg, an seinem ursprünglichen Plan fest, das Reich, das er ererbt und so gewaltig vergrößert hatte, durch die Förderung der Kirche unbezwinglich zu machen. Er gründete das Bistum Prag für Böhmen, dessen Lehensherr er war, und das Bistum Passau, von dem aus die benachbarten Magyaren bekehrt werden sollten. Als Otto kurze Zeit darauf in Memleben starb, betrauerte ihn ganz Deutschland als seinen größten König.
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IV Die mannigfaltigen und nachhaltigen Ereignisse der siebenunddreißigjährigen Herrschaft Ottos des Großen wurden von den zeitgenössischen Geschichtsschreibern mit Glanzlichtern versehen. In ihren kunstvollen Handschriften verdunkelte kein Makel den Ruhm des unvergleichlichen Wohltäters und Schirmherrn der Kirche. Das mochte darauf zurückzuführen sein, daß der Kaiser wirklich nur lobenswerte Eigenschaften hatte, oder aber darauf, daß die Mönche, denen die Aufzeichnung seines Lebenslaufes oblag, ihrer Dankbarkeit überschwenglichen Ausdruck gaben. Diese andere Möglichkeit ließ die Frage offen, ob Otto I. tatsächlich den Beinamen ›der Große‹ verdiente. Seine Persönlichkeit, ob sie so überragend war oder nicht, erschien den untersuchenden Forschern gegenstandslos im Verhältnis zur geschichtlichen Wirkung des Kaisers, der das nach ihm benannte ›Ottonische Zeitalter‹ prägte. Seine Maßnahmen im Inneren und die Stärkung des Reiches nach außen brachten eine Vereinheitlichung im Wesen und in der Entwicklung der verschiedenen germanischen Stämme und Völker hervor, die er im ›regnum Teutonicorum‹ beherrscht hatte. Das trat sowohl in geistigen und geistlichen als auch in wirtschaftlichen Belangen zutage. Die Machtbefugnisse, die Otto den Bischöfen und Klöstern zuerkannt hatte, ermöglichten eine gemeinsame Erziehungsgrundlage im gesamten Reich und führten zu einer Vereinheitlichung der Lebensform, die durch die gleiche Erziehung bedingt war. Er gab der Entwicklung die Richtung, und der unentwegte Kampf der Sachsen und der Angehörigen anderer deutscher Stämme gegen Wälder und Sümpfe, den sie, von den Mönchen belehrt und begleitet, immer weiter nach dem Osten verlegten, ihre unbezwingbare Arbeitskraft, mit der sie Land urbar machten, Obstbäume und Weinberge pflanzten, Viehherden aufzogen und aus dem unwirtlichen Bo398
den Metalle gewannen und verarbeiteten, waren bedeutsamer als die Feldzüge der Herrscher, die dem großen Kaiser folgten und den von ihm vorgezeichneten Weg der vordringenden Siedler militärisch beschützten. Auch die Züge Ottos nach Italien wirkten sich belebend für das Reich aus, das trotz aller späteren Uneinigkeiten unter Königen und Fürsten dadurch einig blieb, daß sich der gemeinsame Nenner des Glaubens und der gleichartigen Schulung erhielt. Otto hatte die Grenzen nach den Süden geöffnet. Die Straßen, die vor ihm nur von Truppen benützt worden waren, wurden Handelsstraßen und dienten nicht nur dem Verkehr wirtschaftlicher, sondern auch geistiger Güter. Die Entwicklung übertrug sich auf die slawischen und magyarischen Länder, deren Fürsten erkannten, daß ihre kriegerischen Unternehmungen angesichts der von Heinrich I. begründeten und von seinem Sohn Otto ausgebauten Heeresmacht aussichtslos seien. Sie waren bereit, die Mönche und Handelsleute aufzunehmen, die ihnen und ihren Untertanen halfen, besser leben zu können. Sie ahmten die Gründung der sich ausweitenden, von Mauern geschützten Städte des benachbarten Reiches nach. Ihre Burgen und Kirchen wurden Nachbildungen der festen Herrensitze und Gotteshäuser, die Otto erbaut und ausgebaut hatte. Magyaren und Slawen setzten bald ihren Stolz darein, ihrerseits auch handwerkliche Fertigkeiten zu erlernen und so gebildet zu sein, wie ihre deutschsprachigen Nachbarn. Die Eheschließung Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu brachte eine Annäherung der höfischen Sitten an die verfeinerte Lebensweise der byzantinischen Kaiser mit sich. Die derben Formen des finsteren Mittelalters wichen dem zunehmenden Sinn für geschmackvollere Lebensführung, die sich vom kaiserlichen Hofstaat über die Burgen der großen und kleineren Herren allmählich auch auf das ganze Volk übertrug.
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V Auch Otto II. dessen wichtigstes Ziel es war, den süditalienischen Besitz der Kaiserkrone abzurunden, mußte, wie sein Vater, die Machtprobe gegen einen Herzog von Bayern bestehen. Es war sein Vetter, Heinrich der Zänker, der Sohn des zanksüchtigen Bruders Ottos des Großen. Auch gegen einen König des Westfrankenreiches mußte sich Otto II. behaupten. Auch er war ein tüchtiger Feldherr, der seine kriegerischen Erfolge tatkräftig ausnützte. Sein Sieg gegen die Dänen, die in den Norden des Reiches eingefallen waren, ermöglichte ein weiteres Eindringen des Christentums in Dänemark und die Errichtung von Bistümern und Burgen, die so befestigt waren, daß es den Dänen aussichtsreicher erschien, ihre Eroberungslust jenseits des Meeres auf den Britannischen Inseln auszuleben. Im Süden Italiens entbrannte ein blutiger Krieg. Die Ehe Ottos mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu war kein Hindernis für den Kaiser von Byzanz, sich mit dem mohammedanischen Herrschergeschlecht der Fatimiden zu verbünden, die ihre Abkunft von Fatima, der Tochter des Propheten, ableiteten und nach der Erwerbung Ägyptens und Syriens die Seeherrschaft über das Mittelmeer zu erringen wünschten. Durch dieses Bündnis wollte der byzantinische Kaiser seine unteritalienischen Besitzungen gegen Otto schützen, der sich ›Kaiser der Römer‹ nannte. Es kam zur Schlacht. Otto II. mußte fliehen und rettete sich – auf ein byzantinisches Schiff. Als er erkannte, wo er war, sprang er bei der ersten Gelegenheit von Bord und schwamm an Land. Er überlebte die Rettung nicht lange. Seine letzten staatsmännischen Handlungen waren die Bezwingung der mächtigen Stadt Venedig, die seine Lehensherrschaft anerkennen mußte, und die Einberufung eines Reichstags zu Verona, wo er seinen dreijährigen gleichnamigen Sohn zum König wählen ließ. 400
Die Witwe Ottos II. die gemeinsam mit Adelheid, der Großmutter des kleinen Jungen, die Herrschaft führte, wich von den Plänen des großen Otto nur ab, als sie Rom zur Hauptstadt des Kaiserreichs machen wollte. Der Wunsch der beiden Frauen war, Otto III. zum Oberherren der Christenheit heranzubilden. Er sollte gemeinsam mit dem von ihm abhängigen Papst das alte Römische Reich in seiner Gesamtheit neu begründen. Schon bald nach dem Tode des Vaters hatten die ungleichen Witwen alle Mühe, das Erbe ihres Mündels zu bewahren. Heinrich der Zänker zettelte wieder eine Verschwörung an, nahm Otto III. gefangen und schloß ein Bündnis sowohl mit dem König des Westfrankenreiches als auch mit den benachbarten slawischen Fürsten, die die Gelegenheit wahrnahmen, Feindseligkeiten gegen das Reich zu beginnen. Die meisten Erwerbungen Ottos des Großen standen auf dem Spiel. Sie wären verlorengegangen, wenn nicht der Erzbischof Willigis von Mainz den Frieden mit Heinrich dem Zänker vermittelt hätte, der sein Herzogtum Bayern behielt und sich zur Abwehr gegen die Slawen bereit erklärte. Die Ordnung im Reich war keineswegs hergestellt, als ein bescheidener Mönch, den schon Papst Johannes XII. als Gelehrten an Otto I. empfohlen und der Otto II. unterrichtet hatte, den Ablauf der geschichtlichen Ereignisse zu beeinflussen begann. Dieser Gerbert, der in seiner Jugend dem Grafen von Barcelona als Mathematiklehrer aufgefallen war und es zum Vorsteher der Klosterschule von Reims gebracht hatte, wurde durch seine Erhebung zum Erzbischof und seine beinahe gleichzeitige Absetzung aus diesem hohen Amt dazu bewogen, sich aus der Geistlichkeit in die Weltlichkeit zu flüchten. Als Mathematiker in Barcelona hatte Gerbert die arabischen Zahlenzeichen der gelehrten Muselmanen des nahen Kalifats von Cordova und die Benützung des Rechenbrettes und des Winkelmessers erlernt und Abhandlungen darüber geschrieben. Er hatte auch eine neuartige Uhr erfunden und die frühen Kenntnisse der Ausnützung des Dampfes zum Bau einer Orgel verwandt. Gerbert hatte die Leidenschaft, Bücher zu sammeln und, wenn er sie nicht erwerben konnte, Abschrif401
ten machen zu lassen. Die Nachwelt mochte ihm die Erhaltung von Ciceros Reden verdanken. Da es dem vielseitig Gelehrten versagt war, sich in der Wissenschaft zu verinnerlichen, übertrug er seinen wissenschaftlichen Eifer auf die Außenwelt. Der ehemalige Lehrer Ottos II. wurde Berater Ottos III. Am Hofe des jungen Königs, der nach dem Tode seiner Mutter für großjährig erklärt wurde, gab Gerbert seine Bescheidenheit auf. Er war gedemütigt worden, er wollte erhöht werden. Dabei war ihm die Großmutter Ottos III. behilflich. Ihr Ehrgeiz, ihren Enkel zum größten aller Kaiser zu machen, wurde der Ehrgeiz Gerberts. In aller Stille und mit planmäßigem Eifer gewann er einen Überblick über die Weltlage in diesem letzten Jahrzehnt vor dem Jahre 1000. Viele Zeitgenossen im christlichen Abendland fürchteten, daß der letzte Glockenschlag des Jahres 999 den Weltuntergang anzeigen würde. Manche Zeichen sprachen dafür: kriegerische Unruhen an allen Orten. Der völlige Verfall der Sitten bei den Päpsten und den hohen Würdenträgern des Heiligen Stuhles, deren Amtsführung von den Römern als ›Pornokratie‹, als Schweineherrschaft, bezeichnet wurde. In den Königreichen griffen die Erzbischöfe und Bischöfe in Grenzstreitigkeiten mit den benachbarten Grafen und Fürsten zu den Waffen. Die gesellschaftliche Ordnung war in der kurzen Zeit seit dem Tod Ottos des Großen wieder aus den Fugen geraten. Die Unterdrückung der freien Bauern durch ihre adeligen Nachbarn, die Ausnützung der hilflosen Hörigen durch ihre Herren, die Macht vor Recht gehen ließ, mußten, so hieß es, den HERRN dazu bringen, das Jüngste Gericht einzuberufen. Gerbert war anderer Meinung, er hatte andere Absichten. Er war dafür, die Verhältnisse auf der Erde neu zu ordnen und durch die Ordnung zu bessern, erst im großen, dann im kleinen. Die staatsmännische Übersicht des Beraters Ottos III. beschränkte sich auf das christliche Abendland. Er kannte die Verhältnisse im byzantinischen Kaiserreich durch die Berichte, die die Königinmutter durch ihre Vertrauensmänner aus ihrer Heimat bekommen hatte. Byzanz hatte sich unter Basileios II. zu einer neuen Machtstellung emporgerungen. Sein Hoheitsgebiet reichte von der Adria bis Arme402
nien, vom Euphrat bis zur Donau. Glückliche Feldzüge hatten die Gefahr, die ihm durch das aus slawischen Mischvölkern entstandene Bulgarenreich gedroht hatte, beseitigt. Geschickter Handel, der sich auch die Schiffahrt der Lagunenstadt Venedig zunutze machte, hatte den Schatz des Kaisers aufgefüllt. Die Prachtentfaltung am Hof von Byzanz war auf einem Höhepunkt angelangt. Der Wettbewerb zwischen Basileios II. und Otto III. den Gerbert plante, würde auch auf kirchlichem Gebiet ausgetragen werden. Entscheidend dabei würde sein, ob die Bischöfe von Rom, die Päpste, die von den Bischöfen des Ostens nur noch selten als Oberhäupter der Christenheit anerkannt wurden, oder die Bischöfe von Byzanz die Christenheit leiten würden. In den von Slawen bewohnten Gebieten im Norden und Osten jenseits der Donau hatten die sogenannten ›Slawenapostel‹, Konstantin und Methodius, wohl mit Billigung Roms, eine eigenartige Kirchenverwaltung eingeführt und sogar eine eigene Schrift, die eine Abwandlung der griechischen war und später das Cyrillische Alphabet genannt wurde. Die nach byzantinischer Art geschulten Mönche, die das Christentum unter den Slawen verbreiteten, belehrten die Bekehrten mit der Blickrichtung auf Byzanz als den Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit und drangen in östlicher Richtung bis in die russischen Gebiete vor, in die auch Byzanz unmittelbar Mönche entsandt hatte. Auch die Mohammedaner hatten es unternommen, die an den Grenzen dieser Kalifate lebenden Slawen für die Lehre des Propheten zu gewinnen. Aber das vom muselmanischen Glauben seinen Anhängern auferlegte Verbot, gebrannte Getränke zu genießen, hatte die Aussichten, den Islam in slawischen Gebieten einzuführen, von Anfang an unmöglich gemacht. Geistige Getränke waren den Slawen wichtiger als geistige Nahrung, und in dem schweren Leben, das sie in den unwirtlichen Wäldern und Sümpfen führten, waren sie schwermütig geworden, der Lebensfreude, die Mohammed gepredigt hatte, abgewandt und empfänglich für die Lehren der Entsagung der christlichen Mönche, die ihnen nach der Mühsal ihres Lebens einen Himmel verhießen, den sie sich vorstellen konnten, und nicht das muselmanische Paradies, das für ihre bescheidene Einbildungskraft zu vielfältig genußreich war. 403
Die Entwicklung der von griechischen Mönchen erzogenen Slawen nahm einen anderen Verlauf als die der slawischen Stämme, die von den Mönchen des Westens für das Christentum gewonnen worden waren. Das machte sich schon um die Jahrtausendwende in der Absonderung der Serben von den Kroaten bemerkbar, die in den ehemaligen illyrischen Ländern lebten, die Theodosius I. geteilt hatte, um eine Grenzscheide zwischen dem ost- und dem weströmischen Reich zu schaffen. Es hatte sich ein kroatisches Königreich gebildet und ein serbisches Fürstentum, die miteinander in unaufhörlicher Fehde lagen. Wenn das Römische Reich wiedererstehen sollte, mußten die Unterschiede in den Glaubensäußerungen und den dadurch bedingten Lebensformen verschwinden. Das konnte nur durch eine uneingeschränkte Weltherrschaft erreicht werden, die sich auf alles erstreckte und die Schritt für Schritt erkämpft werden mußte. Was konnte den noch nicht zwanzigjährigen Otto III. der sein Leben vor sich hatte, daran hindern? Vor allem mußte der Rücken des künftigen Welteroberers gedeckt werden. Gerbert kannte die Verhältnisse im Westfrankenreich aus eigener Anschauung. Er war in der Auvergne aufgewachsen und hatte die verzweifelte Unruhe in seiner Heimat nach den Raubzügen der Normannen miterlebt. Die westfränkischen Enkel und Urenkel Karls des Großen hatten als Herrscher versagt. Die Nachkommen einer bedeutenden Grafenfamilie hatten durch Geld und Gewalt fast das gesamte Gebiet südlich von Paris erworben und waren reicher und mächtiger geworden als ihre Könige. Gerbert war schon in der Zeit seiner Lehrtätigkeit in Reims von seinem damaligen Erzbischof als Kenner der örtlichen Verhältnisse gefragt worden, welchen Großen die Kirche des Westfrankenreiches im Falle des Aussterbens der Karolinger fördern sollte. Der Name Hugo Capets, des Erben der reichen und mächtigen Grafenfamilie, war ein sprichwörtlicher Begriff in der Auvergne. Gerbert hatte ihn genannt. Nach dem Tod Ludwigs V. war Hugo Capet einstimmig zum König des Landes gewählt worden, das unter seiner Herrschaft Frankreich hieß. Ihm hätte Gerbert gedient, wenn ihn Hugo, für den er in seinem Herzen gewesen war, nicht vom Erz404
bischofssitz von Reims verjagt hätte, um einen unehelichen Abkömmling der Karolinger zum Erzbischof von Reims erheben zu können. Eine ernsthafte Einmischung Hugo Capets in die Pläne, die Gerbert für Otto III. hegte, war kaum zu befürchten. Einerseits stand das Königreich Burgund unter dem Einfluß Adelheids, der Großmutter Ottos, andererseits waren die Herzöge der Normandie zu stark und zu unternehmungslustig, als daß Hugo Capet es gewagt hätte, sein neuerworbenes Königtum durch eine kriegerische Verwicklung außerhalb Frankreichs zu schwächen. In der Blickrichtung Gerberts war Rom das wesentlichste und wichtigste Ziel. Der Heilige Stuhl war wiederholt von unwürdigen Päpsten eingenommen worden, seit der von Otto dem Großen nach dem Tod Leos VIII. eingesetzte Papst Johannes XIII. gestorben war. Bonifazio Francone, ein römischer Adeliger, hatte Benedikt VI. ermordet. Einen Monat lang war der Mörder Papst gewesen, dann war er mit dem päpstlichen Vermögen nach Byzanz geflohen. Inzwischen war Johannes XIV. Papst geworden. Aber Bonifazio kehrte zurück und räumte seinen Nachfolger aus dem Weg, um sich wieder auf den Heiligen Stuhl zu setzen. Johannes XIV. verhungerte in der Engelsburg. Sein Peiniger wurde durch einen Volksaufstand getötet. Der römische Adel, unter der Führung von Johann Crescentius, der den Titel ›patricius‹ annahm, um die alte Abhängigkeit von dem ihn unterstützenden Byzanz zu bekunden, setzte Johannes XV. ein. Das war vor der Großjährigkeitserklärung Ottos III. geschehen. Es war an der Zeit, daß der junge König in Italien selbst nach dem Rechten sah. Otto III. erschien an der Spitze eines gewaltigen Heeres in Rom und griff mit jugendlicher Unerschrockenheit in die verworrenen geistlichen Verhältnisse ein. Kein Verwandter oder Vertrauensmann des ›patricius‹, der so offen mit Byzanz geliebäugelt hatte, sollte Papst werden. Otto erwirkte die Wahl seines eigenen Vetters, Bruno von Kärnten, eines Enkels Konrads des Roten. Dieser Gregor V. war der erste deutsche Papst, und seine wesentlichste Handlung war, Otto III. zum Kaiser zu krönen. Als Otto aber nach Deutschland zurückgekehrt war und wieder in Aachen Hof hielt, em405
pörte sich der römische Adel gegen Gregor V. Er wurde abgesetzt und Erzbischof Johann Philagathos, ein Vertrauter des jungen Kaisers, den er als Brautwerber nach Byzanz geschickt hatte, unter der Mitwirkung Crescentius' und des griechischen Gesandten zum Gegenpapst geweiht. Das war zuviel für Otto III. Er eilte nach Rom, ließ Johannes gefangennehmen, ihm die Augen ausstechen, Zunge und Nase abschneiden und den Verstümmelten, mit dem Gesicht nach hinten, auf einem Esel durch die Straßen Roms führen. Johann Crescentius und die römischen Adeligen, die die Republik ausgerufen hatten, wurden enthauptet und ihre Leichen zur Warnung an den Mauern der Engelsburg aufgehängt. Gregor V. war wieder Papst. Sein engster Mitarbeiter wurde Gerbert, der zum Erzbischof von Ravenna erhoben worden war. Die zwiespältigen Eigenschaften Ottos wurden bald, nachdem er die in seinen Ländern beinahe allmächtige Alleinherrschaft errungen hatte, offenbar. Er hatte eine tiefe Anhänglichkeit für den Glauben. Seine geistlichen Erzieher waren auch seine persönlichen Freunde, besonders der böhmische Adelige Adalbert, der es trotz der innigen Beziehung zum Kaiser, die ihm die höchsten kirchlichen Ämter ermöglicht hätte, vorzog, die heidnischen Preußen zu bekehren und dabei den Märtyrertod fand. Die unmenschliche Grausamkeit Ottos gegen Johannes XVI. war wohl dadurch ausgelöst, daß er in seinem bedingungslosen Vertrauen zu seinem ehemaligen Lehrer und Paten so empfindlich enttäuscht worden war. Der Kaiser fiel aus Bußübungen, die von den Mönchen des neubegründeten Einsiedlerordens der Camaldulenser gepredigt wurden, unvermittelt in den Hochmut und die Lebensführung eines orientalischen Herrschers. Er nannte sich ›Erneuerer des Römischen Reiches‹ und verlegte seine Hofhaltung nach Rom, um an seinen endgültigen Plänen keinen Zweifel zu lassen. Im kaiserlichen Palast wurden byzantinische Hoftitel und die feierlichen Sitten der ›erhabenen‹ Kaiser eingeführt, die Otto nicht nur nachahmen, sondern zu seinen Lehensmännern machen wollte. Der Jugendtraum des Kaisers, der Otto den Großen himmelhoch überragen wollte, war nicht ohne Wirklichkeitssinn. Er berief Kir406
chenversammlungen ein, die sich seinem Wunsch beugten. Gesandte aus den meisten Ländern der Erde bewarben sich um seine Gunst, und er fühlte sich seiner noch sicherer, als er nach dem Tod seines Vetters, Gregors V. den großen Gelehrten und Weltenkenner Gerbert zum Papst erhob. Der ehemals so gedemütigte Geistliche nannte sich selbstbewußt Silvester II. Er wollte damit bekunden, daß er wie Silvester I. der zur Zeit Konstantins des Großen Papst gewesen war, eine Weltenwende für die gläubigen Christen herbeiführen würde. Jetzt waren Kaiser und Papst miteinander innig verbunden. Sie hatten den gleichen Plan. Aber er sollte nicht in der herkömmlichen Form der geradlinigen Gewaltanwendung verwirklicht werden, sondern in ganz neuer Art. Vor allem mußte daran festgehalten und kundgetan werden, daß Rom der Mittelpunkt des Kaiserreiches war und daß alles, was Kaiser und Papst taten, im gegenseitigen Einvernehmen geschah. Der Ablauf der Ereignisse, die Gerbert so sorgfältig beobachtet hatte, bestätigte seine Voraussicht. Markgraf Gero, der Vertraute Ottos des Großen, hatte den Zusammenschluß der ›Poloni‹, wie die slawischen Feldbewohner zwischen Weichsel und Oder genannt wurden, gefördert. Ihr Fürst Miseka und sein Volk waren zum Christentum bekehrt worden, nicht durch die Mönche der Slawenmission, sondern durch Geistliche, die von Magdeburg ausgesandt worden waren. Als Bundesgenosse des mächtigen Kaisers, der ihm den Rücken gedeckt hatte, hatte Miseka es unternommen, die polnische Herrschaft bis zur Ostsee auszudehnen. Er hatte seine Eroberungen im Zeichen des Kreuzes gemacht und war ein so gläubiger Christ geworden, daß er das von ihm geschaffene Reich dem heiligen Petrus hinterlassen hatte. War Polen nun durch die Erbschaft ein Teil des Kirchenstaates geworden, oder sollte es unter der Oberhoheit des deutschen Königreiches stehen, dem es unter Miseka zinspflichtig gewesen war? Papst Silvester II. und Otto III. fanden einen Mittelweg: das ererbte Land sollte unmittelbar unter dem Kaiser stehen, gleichberechtigt mit allen Ländern des Reiches. Otto zog nach Polen und ernannte den Sohn Misekas, seinen per407
sönlichen Freund Boleslav Chrobry, zum römischen ›patricius‹, d.h. zu seinem Statthalter. Er gründete das Erzbistum Gnesen, dem die Bistümer Breslau, Kolberg und Krakau unterstellt wurden. Der erste Erzbischof wurde Gaudentius, der Bruder des Märtyrers Adalbert. Mit dieser Einbeziehung der zu einem großen Reich zusammengeschlossenen Slawenstämme in die Einflußsphäre Roms hatte Gerbert den ersten unblutigen Sieg gegen die byzantinische Kirche errungen. Die Glocken, die das neue Jahr 1000 ankündigten, klangen verheißungsvoll. Im Deutschen Reich sorgte die Äbtissin von Quedlinburg, Mathilde, die Tante des Kaisers, als ›patricia‹ für die Aufrechterhaltung der Ordnung, in Rom selbst der sächsische Graf Ziazo, der den Titel eines ›patricius Romanorum‹ erhielt. Aus dem Westen drohte keine Gefahr. Die nächste außenpolitische Handlung war vorgezeichnet und durch Gerbert längst schon sorgfältig vorbereitet worden. Die Magyaren, die Otto I. in der Schlacht bei Augsburg bezwungen hatte, waren Christen geworden. Ihr Fürst hieß Stephan. Er hatte schon seine Neigung für den Westen durch seine Eheschließung mit Gisela, der Tochter Heinrichs des Zänkers, bewiesen. Er sollte durch die Verleihung der Krone durch den Papst König der Ungarn werden und sein Reich dem Heiligen Stuhl als Oberherrn unterstellen. Stephan, der den Beinamen ›der Heilige‹ erhielt, unterwarf sich dem Wunsch des Heiligen Vaters. Silvester II. hatte wieder ein Königreich dem Einfluß von Byzanz entzogen. Es war ein bedeutender Erfolg für den Heiligen Stuhl, aber der Papst widersprach Otto III. nicht, als der Kaiser sich durch den neuen Titel ›servus apostolorum‹ sein Recht auf die Oberhoheit über Polen und Ungarn sichern wollte, die sich doch dem Heiligen Stuhl untertänig gemacht hatten. Um nur ja keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß er zumindest ebenso wie der Papst ein irdischer Vertreter der Apostel sei, beanspruchte Otto auch das oberste Verfügungsrecht über allen Besitz des Heiligen Stuhles. Er erklärte, daß die Schenkung Konstantins an die Kirche eine Fälschung sei und daß sowohl die Pipinsche Schenkung als auch die Karls des Großen und die seines Großvaters gegenstandslos geworden seien. Nicht Silvester II. 408
habe ihn zum Kaiser gemacht, sondern er Gerbert zum Papst. Er sei nicht nur Kaiser, sondern auch der Herr der Kirche. Hatte der bescheidene Mönch aus der Auvergne, der es zur höchsten geistlichen Würde gebracht hatte, sich selbst durch die gewaltige Stärkung Ottos überspielt? Hatte der bewährte Mathematiker sich in seinen Berechnungen geirrt? Oder war es seine Absicht gewesen, den jungen Mann, der sich ihm anvertraut hatte, so über alles herkömmliche Maß zu erhöhen? Kein öffentlicher Einspruch Silvesters II. bekundete, daß er Otto III. widersprochen hatte. 'Vielleicht hoffte der Papst, daß die Zeit den Hochmut des jungen Kaisers dämpfen würde. Vielleicht aber hatte er auch keine Zeit, sich in aller Öffentlichkeit darauf zu berufen, daß er als anerkannter Stellvertreter Christi auf Erden der Herr der Kirche sei. Ein Aufstand der Römer verwandelte Rom über Nacht in ein Rebellenlager. Otto III. schlug sich mit seinen Leibwachen aus seinem Palast in die Engelsburg durch. Auf dem Dach des Gebäudes stehend, versuchte er, die schreienden Römer durch eine Rede für sich zu gewinnen. Vergebens. Auch Silvester II. der dem Kaiser treu geblieben war, konnte sich kein Gehör verschaffen. Begleitet vom Papst und, wie das Gerücht ging, von seiner Geliebten, einer schönen jungen Frau, die Stephania hieß, verließ Otto III. unter dem Schutz seiner Leibwachen Rom. Er gab sich nicht geschlagen. Er hatte vor, an der Spitze eines deutschen Heeres in die Hauptstadt des Römischen Reiches, das er erneuern wollte, zurückzukehren. Aber das deutsche Heer, das er durch Eilboten anforderte, ließ auf sich warten. Otto vertrieb sich die Zeit mit Stephania und hochfliegenden Plänen, die er mit Silvester II. besprach. Als er plötzlich starb, verbreiteten die Römer, daß ihn Stephania vergiftet habe. War sie von Byzanz dazu angestiftet worden, das für seinen Bestand fürchten mußte, wenn Otto III. und Papst Silvester wieder in Rom einkehrten? Hatten die römischen Adeligen, aus deren Kreisen Stephania stammte, sie dazu veranlaßt? Die deutschen Truppen kamen zur rechten Zeit, um den Leichnam Ottos III. der Rom zu seiner Kaiserstadt gemacht hatte, zu holen. Er 409
sollte in der deutschen Kaiserstadt Aachen bestattet werden. Aufstände erschütterten ganz Italien. Die Mächtigen kämpften untereinander um die Macht. Papst Silvester II. gab alle Hoffnung auf, ein einiges Christentum zu schaffen. Er starb bald nach dem Tode Ottos III.
Das Kreuz als Wegweiser und Werkzeug der Macht I Wer war der Oberherr der Christenheit, der Papst in Rom, den der Kaiser anerkennen mußte, damit sich der Stellvertreter Christi auf Erden behaupten könne, oder der Kaiser, dem der Papst die Krone aufs Haupt setzte? Diese verhängnisvolle Macht- und Gewissensfrage wurde nicht mit Otto III. und Silvester II. begraben. Sie lebte unter den Nachfolgern des ehrgeizigen, von den Widersprüchen seiner Zeit geplagten jungen Kaisers auf und bestimmte nur allzu oft ihre Handlungen. Je nach ihrem Wesen und ihrer Erziehung beanspruchten die gekrönten Häupter die Oberhoheit über die Kirche oder beugten sich dem Heiligen Stuhl. Auch die deutschen Bischöfe und Äbte, die immer mehr Einfluß gewannen, waren je nach ihrer persönlichen Einstellung und dem Grad ihrer Abhängigkeit für oder gegen die Übermacht der Herrscher in ihrem Verhältnis zur Kirche. Heinrich II. der Sohn Heinrichs des Zänkers, folgte Otto III. auf dem Thron. Er gewann den Beinamen ›der Heilige‹, nicht allein wegen seiner beispielgebenden Lebensführung und seiner vorbildlichen Ehe mit Kunigunde von Luxemburg, die als erste deutsche Königin gekrönt wurde, sondern vor allem weil er die Belange der Bischöfe geradezu lei410
denschaftlich vertrat und gemeinsam mit Papst Benedikt VIII. auf einer Kirchenversammlung gegen die Priesterehe eintrat. Seine Freundschaft mit dem Abt von Cluny und seine Förderung der Cluniacenserbewegung festigte seinen Ruf als gottgefälliger Kaiser. Heinrich II. der sich auch in seiner weltlichen Herrschaft bewährte, war der letzte unmittelbare Nachkomme Heinrichs I. auf dem Kaiserthron. Mit ihm starb das sächsische Königshaus aus. Die Krone ging auf die Frankenherzöge über. Zum König erwählt wurde ein Urenkel Konrads des Roten, den Aribo von Mainz als Haupt jener Reichsbischöfe vorgeschlagen hatte, die den bedingungslosen Einfluß des Papsttums auf das deutsche Kirchenwesen einschränken wollten. Konrad II. war ein schlichter Mann, der mit gesundem Menschenverstand das Richtige im richtigen Augenblick tat. Er ließ sich weder durch Aufstände der mit ihm verwandten Herzöge noch durch den Widerspruch von Bischöfen beirren, wenn er besondere Dienste oder außerordentliche Abgaben verlangte. Er erwirkte die Erblichkeit der kleinen Lehen im Mannesstamm, um dem Königtum eine ständige adelige Gefolgschaft zu sichern, und ernannte unfreie Dienstmannen zu Verwaltern der königlichen Güter. Diese ›Ministerialen‹ wurden auch zu Kriegs- und Hofdiensten herangezogen. Viele von ihnen wurden in den Adelsstand erhoben und so Ahnherren gräflicher und fürstlicher Geschlechter. Der Höhepunkt in Konrads Leben war seine Kaiserkrönung in Rom. Zwei erlauchte Gäste wohnten der glanzvollen Feier bei: der Dänenkönig Knut, dem es gelungen war, die Angelsachsen in Britannien zu unterwerfen und der sich seither auch ›König von England‹ nannte (mit seiner Tochter sollte Heinrich, der Sohn Konrads, verheiratet werden), und König Rudolf III. von Burgund, der sein Reich dem deutschen Kaiser durch einen Erbvertrag zugesichert hatte. Durch diese Erbschaft, die Konrad II. bald antreten konnte, jedoch mit den Waffen behaupten mußte, gewann er dem Kaiserreich einen gewaltigen Machtzuwachs. Es bestand nunmehr förmlich aus drei Teilen: Deutschland, Italien, Burgund. Konrad gab allerdings auch Reichs411
gebiete ab, wie die Mark Schleswig an König Knut, und verlor Gebiete in einem unglücklichen Feldzug gegen Ungarn. Um die gefährdete Grenze wieder zu stärken, belehnte er den Grafen Dietrich von Wettin, den Stammvater des mächtigen Hauses, mit der Ostmark.
Heinrich III. war ein würdiger Nachfolger Konrads II. der in dem von ihm begründeten Dom zu Speyer begraben wurde. Er setzte die von seinem Vater begonnene Verbesserung der gesellschaftlichen Ordnung fort, die ›renovatio regni Francorum‹. Diese Erneuerung des Königtums der Franken bezog sich auf die Weltgeistlichkeit. Heinrich erwirkte das Verbot der ›Laieninvestitur‹, der Übertragung kirchlicher Ämter an weltliche Herren. Jetzt konnten Bischofssitze und Klöster nicht mehr zu Handelsgegenständen machthungriger Fürsten und Grafen werden. Die ›Simonie‹, der Verkauf geistlicher Würden, wurde als ›widergöttlich‹ verurteilt. Dadurch sollte auch der ausschweifenden Lebensführung hoher Geistlicher, die nur um der Macht und des Besitzes willen, ohne sonstige Voraussetzungen Priester geworden waren, ein Riegel vorgeschoben werden. Ebenso wie sein Vater trat Heinrich III. für die strenge Durchführung des Zölibats ein. In den Klöstern wurde die Beobachtung der ursprünglichen Vorschriften des heiligen Benedikt zur strengen Regel. Der König kam dem Ziel der Zeit entgegen, die Menschheit zu Bürgern des Gottesreiches zu erziehen. Die kirchlichen Maßnahmen Heinrichs III. waren, ganz abgesehen von seiner persönlichen Gläubigkeit, auch vom Standpunkt des Herrschers notwendig, der mit allen Mitteln verhindern mußte, daß das westliche Christentum bei den benachbarten Völkern noch mehr in Verruf geriet. Heinrich war gezwungen, Przetislav von Böhmen zu bekämpfen, der in Polen eingedrungen war, um eine heidnische Bewegung zu unterdrücken, und ein großes christliches Slawenreich plante, das vom Deutschen Reich, in dem der Glauben verfallen war, unabhängig sein sollte. In einem gewagten Feldzug unterwarf Heinrich den slawischen Fürsten, der das Herzogtum Böhmen, im Büßergewand, 412
als deutsches Lehen empfing. Auch in Ungarn mußte Heinrich zum Schutze Peters, des Nachfolgers des heiligen Stephan, eingreifen. Peter war durch die heidnischen Anhänger des Gegenkönigs Aba so heftig bedrängt worden, daß er die Belehnung mit seinem Königreich durch Heinrich und dessen gleichzeitigen Schutz der Unabhängigkeit vorzog. Die Wurzel des Übels, das die Christenheit im Nordosten des europäischen Raumes und dadurch auch die Sicherheit der östlichen Reichsgrenzen so empfindlich gefährdete, lag in Rom. Drei Päpste, die ihre Erhebung erschlichen, erkauft oder mit Gewalt durchgesetzt hatten, stritten um den Heiligen Stuhl. Heinrich zog nach Rom und ließ sich vom römischen Volk zum ›patricius‹ erheben, um seine Aufsicht über eine notwendig erscheinende neue Papstwahl förmlich zu begründen. Der von ihm begünstigte Bischof vom Bamberg wurde als Clemens II. Papst. Er verwies einen der drei umstrittenen Päpste, Gregor VI. der als sittenstrenger Priester galt und nicht gewußt haben mochte, daß ein Verwandter ihm die Papstwürde mit barer Münze gekauft hatte, nach Köln. In diesen fernen Wohnsitz folgte ihm ein Mönch, der zwar den deutschen Namen Hildebrand führte, aber als Sohn armer Eltern in einem Weiler in den Toskanischen Sümpfen geboren worden war. Dieser schlichte junge Priester setzte seine Lehrjahre, die er in Rom begonnen hatte, im Deutschen Reich mit offenen Augen fort.
Heinrich III. war mit seinem Auftreten in Rom zufrieden. Er hatte erreicht, was er wollte, aber er erkannte nicht, daß er durch seine Stärkung des Papsttums der künftigen Überlegenheit des Heiligen Stuhles den Weg bereitete, und auch nicht die Gefahr, die er durch die Anerkennung der normannischen Eroberungen in Süditalien heraufbeschwor. Er belehnte Wilhelm Eisenarm und Drogo, die Söhne Tankreds von Hauteville, mit den Fürstentümern, die sie den byzantinischen Besatzungen abgerungen hatten. Der Kaiser hatte eine Vorliebe für die Normannen, diese mutigen Männer, die auf ihren in Fe413
stungen verwandelten Schiffen die Meere durchkreuzten und die Küsten eroberten, die ihnen gefielen. Sie waren Bundesgenossen, deren er sich für alle Fälle vergewissern wollte, um durch sie die Könige von Frankreich leichter in Schach halten zu können. Heinrich III. wußte auch nicht, daß Herzog Robert der Teufel und sein Sohn Wilhelm in der Normandie für einen neuen Normannenzug rüsteten, der alle bisherigen übertreffen sollte. Die Folgen der normannischen Unruhe zeigten sich bald in Süditalien. Clemens II. war kurz nach der Rückkehr Heinrichs nach Deutschland gestorben. Der Kaiser sandte unverzüglich Ersatz: den Sohn eines sächsischen Grafenhauses, der als Papst Leo IX. bereit war, mit dem Kaiser zusammen zu arbeiten und die strenge Zucht, die er im Bistum von Toul im Sinne der Cluniacenserbewegung eingeführt hatte, der gesamten Christenheit aufzuzwingen. Kurz nach der Erhebung Leos IX. wurde die Stadt Benevent, die sich dem Heiligen Stuhl nach der Vertreibung der unter byzantinischer Hoheit stehenden Fürsten unterworfen hatte, von den Normannen angegriffen. Der Papst ließ sich vom Kaiser die Reichsgewalt im Fürstentum übertragen und warb deutsche Truppen an. Sein Heer wurde von den Normannen vernichtend geschlagen und Leo IX. in Benevent gefangengehalten. Dieses in einer so aufgeregten Zeit an sich verhältnismäßig belanglose Ereignis hatte mittelbar die weittragendsten Folgen. Auf Anregung des byzantinischen Kaisers Konstantin IX. der ein Bündnis mit dem Papst gegen die Normannen in Unteritalien wünschte, schickte Leo IX. nach seiner Freilassung Gesandte nach Byzanz. Der Heilige Vater war gewiß, daß die große Gelegenheit gekommen war, die Gemeinschaft mit der byzantinischen Kirche wiederherzustellen, die sich der römischen immer mehr entfremdet hatte. Er kannte und anerkannte die Gründe dafür und tat seinerseits alles dazu, sie aus dem Weg zu räumen. Die Ablehnung des erniedrigten und verarmten Papsttums durch die stolzen und reichen Bischöfe von Byzanz war durch ihre höhere Bildung und ihre Verachtung für die grobe Laienherrschaft über das westliche Kirchenwesen begründet. Sie entrüsteten sich über den 414
Anspruch gewissenloser, sündiger Päpste auf die Alleinherrschaft im Glauben. Dabei ging es im Grunde mehr um persönliche Vorbehalte als um Verschiedenheiten des Bekenntnisses. Diesen Umständen wollte Leo IX. durch seine überlegen würdige Haltung Rechnung tragen.
Aber Michael Kerullarios, der Patriarch von Byzanz, war nicht einmal willens, die Gesandten des Papstes zu empfangen. Er bestritt ihre Eignung, sich mit kirchlichen Fragen zu befassen, obwohl der Kaiser von Byzanz sie herzlich aufnahm. Die westlichen Geistlichen waren in einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen. Kerullarios hatte kurz vor ihrer Ankunft eine Abhandlung verbreiten lassen, in der er die römische Kirche auf das heftigste rügte, weil sie, entgegen dem Vorbild der heiligen Apostel und der Überlieferung, das Zölibat durchgesetzt hatte. Er hatte auch die Kirchen in Byzanz schließen lassen, in denen die Messe nach lateinischer Art gelesen wurde, und alle Geistlichen exkommuniziert, die dabei blieben. Dem freundlichen Besuch seiner Gesandten war ein unfreundlicher Brief Leos IX. vorangegangen, in dem er Kerullarios väterlich zurechtweisend aufgefordert hatte, die Obergewalt des Heiligen Stuhles anzuerkennen und alle Kirchen, die die Anerkennung versagten, als ›eine Versammlung von Häretikern, ein Konventikel von Schismatikern, eine Synagoge des Satans‹ bezeichnete. Die Gesandten hatten einen um so schwierigeren Stand, als ihr hoher römischer Auftraggeber plötzlich starb. Der Heilige Stuhl war unbesetzt. Sie bekamen keine Aufträge und handelten nach eigenem Ermessen. Sie legten auf dem Altar der Hagia Sophia, die Justinian erbaut hatte, eine Urkunde nieder, durch die sie den Patriarchen von Byzanz exkommunizierten. Als Antwort rief Kerullarios eine Kirchenversammlung ein, die als Wortführer der gesamten östlichen Christenheit auftreten sollte. Dort wiederholte er seine Beschwerden gegen die römische Kirche und fügte noch eine besondere Äußerlichkeit hinzu, durch die die Mönche des Ostens sich von den westlichen Geistlichen unterschieden. Er brandmarkte die Rasur des Bartes, der sich auch die Apo415
stel nicht unterzogen hätten, und verurteilte die Bulle der päpstlichen Gesandten und ›alle, die ihre Abfassung gefördert hatten, sei es durch Ratschlag, sei es sogar durch Gebete‹. Das ›Schisma‹, der endgültige Bruch zwischen der östlichen und westlichen Kirche, bedeutete nicht nur eine Trennung der Kirchen, es zog auch eine gefährliche Grenze zwischen den von byzantinischen Priestern zum Christentum bekehrten Ländern – Rußland, Bulgarien und Serbien – und der übrigen christlichen Welt. Die letzten Lebensjahre Heinrichs III. standen unter keinem guten Stern. Der Bischof von Eichstätt, sein verläßlicher Berater, ließ sich nur widerstrebend zum Nachfolger Leos IX. erheben. Der neue Papst fehlte dem Kaiser in seiner Kanzlei. Seine Beschränkung der markgräflichen Macht durch Erteilung von Sonderrechten an die aufstrebenden Städte verursachte Unruhe unter allen großen Herren, die für ihre eigenen Sonderrechte fürchteten. Eine Fürstenverschwörung bereitete einen Mordplan gegen den Kaiser vor. Der plötzliche Tod mehrerer Rädelsführer half Heinrich III. die Verschwörung zu unterdrücken, vor der er durch einen fürstlichen Teilnehmer gewarnt worden war. Der neununddreißigjährige Kaiser starb in Anwesenheit des Papstes, den er von Rom herbeigerufen hatte, und hinterließ die Führung des Reiches seiner Witwe bis zur Großjährigkeit seines gleichnamigen Sohnes, den er als Fünfjährigen zum König hatte krönen lassen. II Die Ereignisse während der zehn Jahre seiner Unmündigkeit bestimmten vorweg die langen Jahrzehnte der Herrschaft Heinrichs IV. Daß die beiden Gesandten Leos IX. die den endgültigen Bruch mit der byzantinischen Kirche herbeigeführt hatten, den Heiligen Stuhl bestiegen, machte fürs erste eine Versöhnung mit Byzanz unmöglich. Die Christenheit blieb gespalten. Aber die Neuerungen, die diese Päpste und ihre unmittelbaren Nachfolger einführten, um die Papstwahl 416
von weltlichen Mächten unabhängig zu machen, kamen der Würde des Papsttums zustatten. Nur mehr die höchsten Bischöfe, die Kardinäle, sollten den Heiligen Vater wählen. Auch der deutsche König kam um das Recht, die Anerkennung zur Wahl zu geben. Dadurch war der Einfluß des königlichen Knaben, der seiner Mutter entführt wurde, um vom Erzbischof von Köln erzogen zu werden, von vornherein so beschränkt, daß er offenkundig gezwungen sein würde, sich den Päpsten entweder zu beugen oder sie offen zu bekämpfen. Die beabsichtigte Hinwegsetzung über die deutsche Königsgewalt auf italienischem Boden wurde ganz deutlich, als Papst Nikolaus II. den Normannen Robert Guiscard, den jüngeren Bruder Drogos und Wilhelm Eisenarms, ohne Befragung der Kaiserinwitwe, mit Apulien und Calabrien belehnte und ihn ermutigte, Sizilien zu erobern. Die Schiffe Robert Guiscards liefen aus und landeten seine unwiderstehlichen Krieger an der Küste der Insel. Messina fiel durch einen Handstreich, Palermo wurde erobert, die Muselmanen vertrieben. Ein Königreich entstand, das den Ehrgeiz hatte, das Mittelmeer zu beherrschen. Es war die große Zeit der Normannen. Unter Eduard dem Bekenner, der den Söhnen Knuts, Harald Hasenfuß und Harteknut, auf dem Thron Englands folgte, verlor die dänische Herrschaft den Boden unter ihren Füßen. Eduard war ganz und gar in der Hand der angelsächsischen Großen, die sich seiner so lange bedienen wollten, als es ihnen unmöglich erschien, sich von der dänischen Herrschaft zu befreien. Auch die blutigen Machtkämpfe im Norden der britannischen Inseln beunruhigten Eduard den Bekenner so sehr, daß er sich an seinen entfernten Vetter, den Herzog Wilhelm der Normandie, um Rat und Unterstützung wandte. Er erklärte sich bereit, den Verwandten als Nachfolger anzuerkennen. Wilhelm wartete geduldig auf das so gesicherte Erbe. Aber er erhielt die Botschaft vom Ableben Eduards gleichzeitig mit der Nachricht, daß Harald, der Sohn des mächtigsten angelsächsischen ›earl‹, sich zum König von England gemacht habe. Das Antreten der Erbschaft würde demnach nicht eine feierliche Fahrt, sondern einen Feld417
zug bedeuten. Wilhelm rüstete umsichtig, während der Angelsachse Harald sich gegen den Norweger Harald, den Enkel Knuts, wehren mußte, der seinerseits Ansprüche auf den englischen Thron erhoben hatte. In der Schlacht vom Stamford Bridge wurden die Norweger geschlagen. König Harald fühlte sich als Herr Englands, als Wilhelm bei Hastings landete. Die berühmte Schlacht dauerte nicht lange. Harald, der von den großen Herren des Nordens im Stich gelassen wurde, fiel. Wilhelm, der Herzog der Normandie, der seither ›der Eroberer‹ genannt wurde, ließ sich auf den Thron erheben und schwor, die bestehenden englischen Gesetze zu achten. Alles schien in schönster Ordnung, als er kaum ein Jahr später in sein Herzogtum fahren mußte, um nach dem Rechten zu sehen. Aber kaum waren seine Schiffe ausgelaufen, als sich die großen Herren im Norden des Königreiches gegen ihn erhoben. Er kehrte zurück und zeigte sein wahres Gesicht. Da seine königliche Anerkennung der Ordnung mißachtet worden war, mißachtete er die Ordnung. Wilhelm durchzog das Land mit seinen Normannen, nicht als Richter, sondern als Rächer. Hinrichtungen und Zerstörungen kennzeichneten seinen Zug durch die Gebiete der Großen, die von ihm abgefallen waren. Seine Verwüstung war so vollkommen, daß die Gegenden, die er heimgesucht hatte, sich nie mehr ganz erholen konnten. Dann verteilte er die beschlagnahmten Ländereien unter seine normannischen Gefolgsleute, die er aufforderte, Burgen gegen die feindselige Bevölkerung zu bauen. Die besten Gründe behielt er als Kronland für sich. Auf einem weiten Landstrich, den er als königliche Jagdgründe bezeichnete, wurden alle Gebäude, auch Kirchen, niedergerissen, um seinen Pferden und Hunden nicht im Wege zu sein. Jeder Wildfrevel in diesem ›New Forest‹ wurde durch Blendung bestraft. Um seine Eroberung zu sichern, errichtete Wilhelm eine Lehensherrschaft, deren Nutznießer seine Normannen waren. Er ließ das ›Domesday Book‹ verfassen, die Sammlung grundbuchlicher Eintragungen, in denen die Besitzverhältnisse jedes Grundstückes in England in allen Einzelheiten festgehalten waren. 418
Durch den Hochmut und die Habgier des neugeschaffenen Landadels, der nur dem König Rechenschaft schuldete, verfiel die Mehrzahl der unterworfenen Bevölkerung der Leibeigenschaft. Aber auch die großen Herren hatten es unter der harten Hand des Königs nicht leicht. Er ernannte und entließ sie nach seinem Belieben. Lords, Bischöfe, Erzbischöfe und Äbte mußten nach seiner Pfeife tanzen und seinem Eigenwillen gehorchen. So befahl er zum Beispiel, daß in ganz England spätestens um acht Uhr abends alle Herdfeuer zugedeckt und ausgelöscht sein müßten, um Feuersbrünsten vorzubeugen. Niemand wagte es, sich den Befehlen des Königs zu widersetzen. Mit Wilhelm waren nicht nur die bewaffneten Normannen nach England gekommen, die als seine Lehensmänner adelige Schloßherren wurden, sondern auch die normannischen Geistlichen unter der Leitung von Lafranc von Can, den er zum Erzbischof von Canterbury und zum höchsten Berater der Krone erhob. Die angelsächsischen Priester, die, wie der König sagte, »nur der Jagd, dem Würfelbecher und dem ehelichen Leben frönten«, wurden verjagt. Er hielt sie nicht für würdig des Zehnten, den er zugunsten der Kirche von der Bevölkerung einzog. Wilhelm wollte sowohl seiner weltlichen als auch seiner geistlichen Macht gewiß sein. Ohne königliche Einwilligung durfte kein päpstliches Sendschreiben in England in Umlauf gesetzt werden und kein päpstlicher Gesandter englischen Boden betreten. Die Bischöfe seines Königsreichs sollten eine eigene Körperschaft bilden, deren Verfügungen in geistlichen Fragen nur dann Geltung hatten, wenn sie vom König bestätigt wurden. Die Gewaltherrschaft, die der Eroberer aufrichtete, war so übersichtlich geordnet, daß die von ihm verschärfte Schichtung in herrschende und dienende Klassen im Lande Wurzel faßte. Andererseits war das von so verschiedenen Einflüssen und Volksstämmen zerrüttete Königreich durch ihn geeinigt worden. Handel und Gewerbe erhielten durch die Gewinnsucht der Könige und des Adels neuen Antrieb. Die normannische Baukunst, die ihre Entstehung den abenteuerlustigen Seefahrten der Normannen verdankte, lebte sich in prachtvollen Gebäuden aus. Auch Wissenschaft und Kunst fanden den Weg auf die Briti419
schen Inseln und gewannen die eigenartige Prägung, die durch die allmähliche Vermischung so vieler verschiedener Völker im engen Raum entstand. III Die Kalifen der östlichen Muselmanenreiche und die Herren ihrer lebensfrohen Hofhaltungen hatten sich in den Jahrhunderten der guten Zeit des Kriegshandwerks entwöhnt. Aus den türkischen Sklaven, deren sie sich als Leibwachen bedient hatten, waren immer häufiger freigelassene Offiziere geworden, die die höchsten militärischen Stellen bekleideten und die tatsächliche Macht errangen. Aber nicht nur die einzelnen Türken gewannen den Anspruch auf das bessere Leben, das ihre Landesherren genossen. Ungezähmte türkische Stämme verließen ihre unwirtlichen, gebirgigen Wohnsitze im Inneren Asiens und setzten sich in Bewegung, um gefälligere Landstriche zu besiedeln. Erst war es eine Durchdringung der Nachbargegenden durch einzelne türkische Familien, die zu Diensten bereit waren. Dann aber formten sich streifende Horden, die gewalttätig in ihren Besitz bringen wollten, was andere hatten. Der erste namhafte türkische Eroberer, der seinem kriegerischen Stamm seinen Namen gab, hieß Seldschuk. Er und sein Sohn drangen über Persien und Kleinasien nach Armenien vor. Seinem Enkel wurde im Kalifenreich der aus Persien stammenden Bujidendynastie die höchste weltliche Würde des ›Emir al Omra‹, des Fürsten der Fürsten, zuteil. Sein Nachfolger, Alp Arslan, setzte die türkischen Eroberungen fort, nahm Jerusalem ein, besetzte Syrien und schlug ein Heer der Byzantiner, das Kaiser Romanos IV. mühsam aufgestellt hatte. Durch diese Schlacht wurde der größte Teil Kleinasiens türkisch und die Macht des Kaisers von Byzanz, der zur gleichen Zeit Sizilien an Robert Guiscard verloren hatte, so unsicher, daß er sich trotz der kirchlichen Streitigkeiten an den Westen um Hilfe wenden mußte. 420
Der bescheidene Mönch mit dem häßlichen Gesicht und dem durchdringenden Blick war um diese Zeit von seiner deutschen Reise, die er als Begleiter Gregors VI. nach Köln unternommen hatte, längst schon wieder nach Rom zurückgekehrt und hatte als Berater jener Päpste gewirkt, die die Wahl auf den Heiligen Stuhl sowohl vom römischen Adel als auch von den deutschen Kaisern unabhängig gemacht hatten. Dieser Hildebrand war es auch gewesen, der die Überfälle der Normannen in Süditalien gutgeheißen hatte, gegen ihr Versprechen, dem Heiligen Stuhl gegebenenfalls militärischen Schutz angedeihen zu lassen. Er hatte acht Päpsten in wichtigen Ämtern gedient, als er sich dem vereinten Wunsch der Geistlichkeit und des römischen Volkes beugte und zum Papst weihen ließ. Hildebrand nahm den Namen des Papstes an, dem er in die Verbannung gefolgt war. Er nannte sich Gregor VII. Was er als Berater seiner schwachen Vorgänger auf dem Heiligen Stuhl angeregt und durch sie nur zum Teil erwirkt hatte, wollte er nun selbst mit unerschütterlicher Siegesgewißheit und eiserner Willenskraft vollenden. Sein Ziel war die vollkommene Unterwerfung der weltlichen Gewalt unter die geistliche. Ob Kaiser oder König, ob Fürst oder Adeliger, sie alle sollten die unbedingte Herrschaft des Heiligen Stuhles über die Kirche anerkennen und die Bischöfe als Steilvertreter des Papstes. Die noch immer umstrittenen Fragen der Simonie und der Laieninvestitur traten in den Vordergrund der päpstlichen Gesetzgebung, die Gregor VII. leidenschaftlich vertrat. Das Verbot der Laieninvestitur richtete sich in erster Linie gegen das deutsche Königtum, das seit dem von Otto dem Großen eingeführten Reichskirchenwesen seine Macht auf die vom Herrscher erhobenen Bischöfe und Äbte stürzte. Mit dem erst seit kurzer Zeit mündigen Heinrich IV. glaubte Gregor VII. leichtes Spiel zu haben. Der junge Herrscher war scheinbar Wachs in den Händen der Herzöge und Landesfürsten, die seine Bemühungen, sich auf den niederen Adel und die Ministerialen zu stützen, mit geringschätzigem Lächeln hinnahmen. Heinrich hatte seinen verläßlichen Berater, den Erzbischof Adalbert von Bremen, auf ihren Wunsch fortjagen müssen. Er hatte hilf421
los zugesehen, wie der Herzog von Sachsen sich des größten Teils der bischöflichen Besitzungen bemächtigt hatte. Sein nächster Vertrauter, Otto von Northeim, der Herzog von Bayern, wurde eines Mordanschlags auf Heinrich IV. angeklagt. Aber Otto ließ sich nicht einschüchtern, obwohl er sein Herzogtum verlor. Der junge König erhob seinen Freund Welf I. zum Herzog von Bayern. Otto zog sich auf seine sächsischen Besitzungen zurück und bereitete einen Aufstand vor. Bald mußte Heinrich aus der Harzburg fliehen und sich um jeden Preis mit den anderen Reichsfürsten vertragen, um Otto von Northeim besiegen zu können. Eine blutige Schlacht fand statt. Der sächsische Adel unterwarf sich dem König nach dem Tod ihres Anführers. Dieser Sieg stärkte das Rückgrat Heinrichs IV. Er berief einen Reichstag nach Worms, um die Bürger zu ehren, die ihm auf der Flucht vor Otto von Northeim, gegen den Wunsch ihres Bischofs, Unterkunft gewährt hatten. Der König brauchte Hilfe und Rat gegen Gregor VII. der ihm einen tadelnden Brief gesandt hatte, weil er einen Günstling mit Ring und Stab, ohne Zustimmung des Papstes abzuwarten, zum Bischof von Bamberg eingesetzt hatte. Diese Hinwegsetzung über das päpstliche Verbot der Laieninvestitur war nicht das einzige Vergehen, das Gregor VII. dem König vorwarf. Heinrich IV. hatte auch fünf Bischöfen, die seine Ratgeber waren und die der heilige Vater exkommuniziert hatte, seine öffentliche Gunst erwiesen. Eine Auseinandersetzung war unausbleiblich. Heinrich IV. erweiterte den Reichstag zu einer Kirchenversammlung. Ein römischer Kardinal, der vom König dazu eingeladen worden war, klagte in aller Öffentlichkeit Gregor VII. der Ausschweifung, Grausamkeit und Hexerei an. Überdies sei Hildebrand durch Bestechung und Gewalttätigkeit Papst geworden und habe den alten Brauch, bei der Papstwahl die Zustimmung des deutschen Königs einzuholen, mißachtet. Nach dieser feierlichen Anklage erhob sich Heinrich IV. und schlug die Absetzung Gregors VII. vor. Der Erlaß, den die anwesenden Bischöfe unterzeichneten, trug die Überschrift: »Heinrich, König, nicht durch Usurpation, sondern auf Gottes Anweisung, an Hildebrand, nicht Papst, sondern falscher Mönch.« 422
Dieses Schreiben wurde Gregor VII. in Rom ausgehändigt. Die anwesenden Bischöfe wollten den Boten erschlagen. Gregor nahm ihn in seinen Schutz, berief seinerseits eine Kirchenversammlung ein, exkommunizierte die Bischöfe, die den Wormser Erlaß unterzeichnet hatten, und sprach gegen Heinrich IV. einen dreifachen Richtspruch aus: die Acht, den Bann und die Absetzung. Überdies entband er Heinrichs Untertanen vom Treueid. Heinrich IV. hatte geglaubt, daß er Herr seines Reiches sei. Aber kaum war der furchtbare Fluch des Heiligen Stuhles bekanntgeworden, als seine Anhänger von ihm abfielen und das gesamte Volk sich gegen ihn erhob. Er berief vergeblich Bischöfe und Adelige zu Zusammenkünften. Niemand kam. Die großen Herren, die die Gelegenheit gekommen sahen, ihre Macht gegenüber dem Königtum entscheidend zu stärken, stimmten dem päpstlichen Bannfluch gegen den König zu und erklärten, daß sie einen Nachfolger wählen würden, falls ihm der Papst nicht verzeihe. Gleichzeitig beschlossen sie, Gregor VII. zu einem Reichstag nach Augsburg einzuladen, damit unter seinem Vorsitz die Angelegenheiten des deutschen Königtums und der deutschen Kirche geregelt würden. Der Sieg des Papstes war vollkommen. Er machte sich unverzüglich auf den Weg, obwohl Heinrich IV. ihm eine Botschaft gesandt hatte, daß er nach Rom kommen und um die Absolution bitten würde. Der König könne sich die Reise ersparen, war die Antwort des Heiligen Vaters. Der Papst sei auf dem Weg nach Augsburg. Auf der Reise machte Gregor VII. in Mantua bei seiner Anhängerin, der Gräfin Mathilde, halt und erfuhr, daß sich Heinrich IV. bereits auf italienischem Boden befinde. Gregor VII. flüchtete sich aus Angst vor einem Überfall in die Burg Canossa. Was dort an einem strengen Wintertag geschah, berichtete er selbst: Heinrich kam ›aus eigenem Antrieb mit wenigen Begleitern. Er harrte drei Tage lang vor dem Tor der Burg aus, allen königlichen Schmuckes entledigt, in kläglichem Aufzug, nämlich unbeschuht und in wollenem Gewand. Er ließ nicht eher ab, unter vielen Tränen Hilfe und Trost der apostolischen Erbarmung anzuflehen, bis er alle Anwesenden zu solcher Milde und 423
mitleidsvoller Erbarmung bewog, daß sie für ihn mit vielen Bitten und Tränen eintraten … und endlich lösten wir ihn von der Fessel des Bannes und nahmen ihn wieder auf in die Gnade der Gemeinschaft und den Schoß der heiligen Kirche‹. Diese den Kaiser so demütigende Darstellung, für deren weite Verbreitung der Papst zur Mehrung seines eigenen Ansehens sorgte, mochte ungefähr den Tatsachen entsprochen haben. Aber der Heilige Vater berichtete nicht die ganze Wahrheit. Er verschwieg, daß Heinrich IV. zwar ohne Heer, aber mit seinem gesamten Hofstaat über die Alpen gezogen war, und sich nur für die erwünschte Aussprache mit dem Papst des königlichen Schmuckes entledigt hatte, um seine christliche Haltung zu unterstreichen. Im politischen Machtspiel der Zeit erschien es dem Papst besonders wichtig, seine Überlegenheit durch die Hervorhebung von Äußerlichkeiten zu beweisen. Er tat dies um so mehr, als ihn nicht seine mildtätige Güte, sondern die Macht der Umstände zwang, den deutschen König vom Banne zu lösen. Der berühmte Gang nach Canossa bedeutete einen geistlichen Sieg Gregors VII. der nach Rom zurückkehrte, aber auch einen ungeheuren Erfolg für Heinrich IV. der ohne weiteres wieder seinen Thron einnehmen konnte. Die deutschen Fürsten riefen zwar Rudolf von Schwaben zum Gegenkönig aus, aber Heinrich, der sich vom päpstlichen Bannfluch befreit hatte, fand die Unterstützung des Volkes. Er konnte ein Heer sammeln und sich zur Wehr setzen. Der Bürgerkrieg verwüstete das Land. Gregor VII. schlug sich auf die Seite des Gegenkönigs. Jetzt gab Heinrich die Demut auf. Er rief eine neue Kirchenversammlung ein und verfügte wieder die Absetzung Gregors, während die Versammlung den Erzbischof von Ravenna zum Papst ausrief und Heinrich das Vertrauen aussprach. Jetzt wagte der König die Schlacht gegen Rudolf – und wurde geschlagen. Er wäre verloren gewesen, wenn Rudolf nicht in der Schlacht geblieben wäre. Mit den Resten seines geschlagenen Heeres drang Heinrich in Italien ein und machte sich an die Belagerung Roms. Gregor VII. rief Wilhelm den Eroberer zu Hilfe. Aber der neue König von England, der seine eigene Kirche gegründet hatte, war nicht dafür, daß Heinrich 424
in einem Kampf um die Übermacht des Königstums gegen den Papst unterliege. Er blieb, wo er war. Frankreich war ihm näher als Italien. Wenn er schon Krieg führen mußte, was ihm bei seiner zunehmenden Dickleibigkeit schwerfiel, dann sollte es gegen seinen Sohn sein, der sich gegen ihn aufgelehnt hatte. Während Wilhelm den Papst hinhielt, eroberte Heinrich Rom und sorgte dafür, daß der Erzbischof von Ravenna als Clemens III. den Heiligen Stuhl bestieg. Von ihm ließ er sich zum Kaiser krönen. Gregor VII. war inzwischen gefangen und von Clemens III. exkommuniziert worden. Das beugte nicht seinen Willen. Er hatte noch einen Verbündeten: Robert Guiscard, der an der Spitze von sechsunddreißigtausend Mann gegen Rom zog, um den Papst, der ihn begünstigt hatte, wiedereinzusetzen. Der Kaiser floh nach Deutschland. Robert nahm Rom ein, überließ die Stadt seinen Normannen zur Plünderung und führte Gregor VII. mit sich, da der erniedrigte Papst in Rom nicht mehr in Sicherheit war. In Salerno warf Gregor noch einmal den Bannfluch auf Heinrich IV. Dann versiegte seine Kraft. Er konnte sich nicht verzeihen, daß er Heinrich verziehen hatte. Er hatte keinen Lebenswillen mehr. Seine letzten Worte waren: »Ich habe die Rechtlichkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehaßt, darum sterbe ich im Exil.« IV Als der Kaiser die Nachricht vom Tod des großen Papstes erhielt, glaubte er, daß seine Schwierigkeiten zu Ende seien. Er mußte mit bitteren Gefühlen erfahren, daß das Gedankengut Gregors VII. lebendig geblieben war. Der Bürgerkrieg, der durch die vom Papst angeregte Erhebung des Luxemburger Grafen Hermann von Salm zum Gegenkönig entfacht worden war, kam nicht zur Ruhe. In ihren Schlössern und Burgen versammelten Herzöge und Grafen ihre Anhänger. Die einen waren für, die anderen gegen Heinrich IV. und wenn es 425
auch oft schien, daß ihm das Übergewicht zufallen würde, so wendete sich das Blatt doch immer wieder. Er hatte einen mächtigen Bundesgenossen durch die Verheiratung Friedrichs von Staufen mit seiner Tochter Agnes gewonnen. Er erhob Friedrich zum Herzog von Schwaben. Aber die Anhänglichkeit eines Herzogs bedeutete noch keineswegs die Sicherheit der Königsgewalt, und wie lange würde er sich auf den staufischen Schwiegersohn verlassen können? Heinrich hatte aufgehört, an Dankbarkeit zu glauben und Gelöbnissen zu trauen. Hatte er nicht Welf I. zum Herzog von Bayern gemacht? Und was hatte er dadurch erreicht? Er hatte einen Widersacher gefördert. Welf machte sich zum Schirmherrn der geistlichen Bewegung, die vom Kloster Hirsau ihren Ausgang nahm und die Anregung Gregors VII. zur Ausführung brachte. Der Aufenthalt des schlichten Mönches Hildebrand in Deutschland wirkte sich aus. Der spätere Papst hatte damals die Zustände in den Klöstern untersucht und war zu dem Schluß gekommen, daß die weltlichen Beschränkungen der Kirche nicht nur von oben, sondern auch von unten fallen müßten. Die Klöster müßten mit dem Brauch aufräumen, nur adelige Freie als Mönche aufzunehmen. Nicht die Geburt, sondern die Eignung sollte entscheiden. Keinesfalls aber sollte die niedrige Abstammung einen würdigen Gelehrten hindern, das Gewand des HERRN zu tragen. In der Ausübung ihrer gottgefälligen Tätigkeit sollten die Klöster nicht von den Bischöfen abhängig sein und auch nicht vom König. Ihre Äbte sollten den Schutz ihrer herzöglichen Gründer genießen und nur dem Heiligen Vater Rechenschaft schulden. Es nützte nichts, daß Heinrich IV. zaghaft auf seinen Rechten bestand und daß die Bischöfe sich auf seine Seite stellten. Auch daß Heinrich IV. den Gottesfrieden für das Reich verkündete, die ›treuga Die‹, die Waffenruhe von Mittwoch abends bis Montag früh jeder Woche und für die hohen Feiertage, half ihm nicht. Seine Gegner waren nicht friedlich. Der Gegenkönig rührte das Land auf. Erst als Hermann von Salm in einem Gefecht fiel, schien es, daß Heinrich seine Herrschaft ungehindert genießen würde. Er ließ seinen Sohn Konrad zum König krönen. 426
Auch der neue Papst, Urban II. der seine Laufbahn als Cluniacenser Mönch begonnen hatte, schien den Frieden zu wünschen. Aber Heinrich zweifelte daran, als er die Nachricht bekam, daß der Papst eine Ehe des siebzehnjährigen Sohnes des Herzogs Welf I. von Bayern mit der vierundvierzigjährigen Gräfin Mathilde, die Gregor VII. in Canossa beherbergt hatte, gestiftet hatte. Er zog mit einem Heer über die Alpen, um sich den Papst, der offenkundig in die Fußstapfen Gregors VII. getreten war, näher zu besehen. Der Kaiser kam nicht nach Rom. Sein Sohn Konrad hatte sich in Mailand zum König des ehemaligen langobardischen Reiches krönen lassen und hielt zu Welf, der die Alpenpässe sperrte. Vier Jahre lang wartete Heinrich vergeblich auf Nachschub und konnte nicht heimkehren. Er saß völlig machtlos in einer oberitalienischen Burg, während die großen geistlichen und kriegerischen Wanderungen begannen, die von der Geschichte als Kreuzzüge bezeichnet wurden. V Die mannigfaltigen Gründe, die hunderttausend Einzelgänger und gesammelte Heere veranlaßten, ihre Wohnsitze und ihre Länder von einem Tag zum anderen zu verlassen und sich in kriegerische Abenteuer zu stürzen, wurden verschiedentlich erklärt. War es die Erregung von Gläubigen, die entsetzt erfuhren, daß das Heilige Grab in Jerusalem von den Türken zerstört worden war? War es die Angst der herrschenden Mächte vor einem Vordringen der gewalttätigen türkischen Horden, die Kleinasien erobert hatten und Byzanz bedrohten? Oder wünschten die aufstrebenden italienischen Hafenstädte, Venedig, Pisa und Genua, die schon die Märkte des westlichen Mittelmeeres unter ihren Einfluß gebracht hatten, auch den Osten für ihre gewinnbringenden Unternehmungen aufzuschließen? Die Gelegenheit war günstig, denn die Kaiser- und Handelsstadt Byzanz, der große Wettbe427
werber im Geschäft, war durch den Verlust Siziliens und der kleinasiatischen Besitzungen so geschwächt, daß seine ehemals so reichen und mächtigen Kaufleute keine kriegerischen Mittel mehr hatten, ihre Belange zu wahren. Auch der muselmanische Handel hatte durch den Untergang der Kalifenreiche den Rückhalt verloren. Der Anlaß zu den Kreuzzügen konnte, wenigstens annähernd, geschichtlich erfaßt werden. Es hieß, daß ein Wallfahrer Papst Urban II. einen Brief des Patriarchen Simeon von Jerusalem überbracht habe, in dem der Papst um Hilfe für die in Jerusalem verfolgten Christen angerufen worden sei. Aber das war einige Jahre vor der Kirchenversammlung von Piacenza geschehen, die Urban II. einberief, um sie mit einem viel bedeutsameren Hilferuf bekanntzumachen. Kaiser Alexios I. von Byzanz hatte seine Gesandten nach Rom geschickt, um dem Papst in aller Dringlichkeit nahezulegen, einen Aufruf zu erlassen, damit die westliche Christenheit dem Kaiserreich Byzanz gegen die Türken helfe. Sei es nicht klüger, die Ungläubigen auf asiatischem Boden zu bekämpfen, als sie durch sein Reich in den Westen strömen zu lassen? Schon vor dem Einfall der Türken waren das Heilige Grab und die kostbare Gedächtniskirche Angriffen ausgesetzt gewesen, und Gregor VII. hatte den denkwürdigen Ausspruch getan: »Ich möchte lieber mein Leben an die Befreiung der heiligen Stätten setzen, als die Welt regieren.« Urban II. wollte beides. Er fühlte sich stark genug, die zerfallene Christenheit wieder zu einigen und die unbändige Kriegslust der normannischen Abenteurer und der aufrührerischen Ritter in den Burgen Frankreichs und Deutschlands in eine Richtung zu lenken, die sie unmittelbar vom geistlichen Oberhaupt der Kirche abhängig machte. Was bedeutete der Kaiser, der irgendwo in einem Winkel des Hinterlandes von Venedig nicht aus und ein wußte und nicht hin und her konnte? Was bedeuteten die Könige von Frankreich und England, die Herzöge, Fürsten und Grafen im deutschen Königreich, wenn das große Sinnbild des christlichen Abendlandes, das Heilige Grab, auf dem Spiel stand? Wenn es dem Papst gelang, die unsteten, ziellosen Kräfte des Abendlandes im Zeichen des Kreuzes zu vereinigen, dann war Rom wieder die Hauptstadt der Welt und er, der Papst, ihr Herr. 428
Erst begab sich der Heilige Vater auf eine Reise, um durch persönliche Rücksprache Fühlung zu nehmen, ob das gewaltige Unterfangen Aussicht auf Gelingen habe. Der Kaufleute der großen italienischen Städte war Urban II. gewiß. Er kannte ihre Belange. Aber was würden die Ritter und Bauern, die Grafen und Bürger dazu sagen, wenn er sich ihnen mitteilte? Der Papst machte eine Probe. Er berief eine Kirchenversammlung nach Clermont in der Auvergne. Es war ein eisiger Wintertag. Tausende Menschen strömten aus allen Orten der Umgebung herbei und warteten erregt auf die Ansprache des ehemaligen Cluniacenser Mönches, der in ihrer Landessprache das Wort nahm: »Ein gottloses Volk hat die Wiege unseres Heils, das Vaterland des HERRN, das Mutterland des Glaubens, in seiner Gewalt. Das gottlose Volk der Sarazenen bedrückt die heiligen Orte, die von den Füßen des HERRN betreten worden sind, schon seit langer Zeit mit seiner Tyrannei und hält die Gläubigen in Knechtschaft und Unterwerfung. Die Hunde sind ins Heiligtum gekommen und das Allerheiligste ist entweiht … Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, liebe Brüder, gürtet eure Schwerter an eure Seiten, rüstet euch! … Besser ist es, im Kampf zu sterben, als unser Volk und die Heiligen leiden zu sehen. Wer einen Eifer hat für das Gesetz Gottes, der schließe sich uns an. Wir wollen unseren Brüdern helfen. Ziehet aus, und der HERR wird mit euch sein … Die Diebe, Räuber, Brandstifter und Mörder werden das Reich Gottes nicht besitzen. Erkauft euch mit wohlgefälligem Gehorsam die Gnade Gottes, daß er euch eure Sünde, mit denen ihr SEINEN Zorn erweckt habt, um solcher frommer Werke und der vereinigten Fürbitten der Heiligen willen schnell vergebe. Wir aber erlassen durch die Barmherzigkeit Gottes und gestützt auf die heiligen Apostel Petrus und Paulus allen gläubigen Christen, die gegen die Heiden die Waffen ergreifen und sich den Plagen dieses Pilgerzuges unterziehen, alle Strafen, welche die Kirche für ihre Sünden über sie verhängt hat. Und wenn einer dort in wahrer Buße fällt, so darf er fest glauben, daß ihm Vergebung seiner Sünden und die Frucht ewigen Lebens zuteil werden wird.« 429
»Gott will es!« schrien die Anwesenden. »Dieu li volt!« Das wurde der Schlachtruf. Der Papst reiste von Stadt zu Stadt und predigte den 'Kreuzzug. Er befahl den Teilnehmern, auf der Stirn oder der Brust ein Kreuz zu tragen. Ritter und Freie wurden von allen Verpflichtungen entbunden. Leibeigene und Lehensmannen für die Dauer des Krieges von der Treupflicht befreit. Während der Abwesenheit der Kreuzfahrer sollte ihr Eigentum den bischöflichen Schutz genießen. Strafen, Steuern und Schulden wurden erlassen. Gefangene durften ihre Kerker verlassen, während Todesurteile in lebenslänglichen Dienst im Heiligen Land umgewandelt wurden. Ein Fieber ergriff den europäischen Raum. Mit dem Ruf: »Gott will es!« vereinigten sich große Herren mit Landstreichern, Reiche, die ihren Besitz unrechtmäßig erworben hatten und vor dem Jüngsten Gericht straflos ausgehen wollten, mit Armen, die im fabelhaften Morgenland Reichtümer zu erwerben hofften. Persönliche Feindschaften schienen unwesentlich angesichts der allgemeinen Feindschaft gegen den großen und unsichtbaren Feind, der das Grab Jesu Christi geschändet hatte. Auch Heinrich IV. konnte nach Deutschland zurückkehren und wieder Kaiser sein. Er war einer der vielen Nutznießer der ungeheuren Bewegung, die durch die Werbung des Papstes entstanden war. Die ersten unmittelbaren Opfer des beginnenden Kreuzzuges waren die Judengemeinden in den deutschen Städten, besonders in Mainz. Die wehrlosen ›Ungläubigen‹ wurden von den begeisterten Pilgern zu Tausenden hingemetzelt.
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Zeittafel Das Mittelalter
Byzantinischen Reiches. Arcadius erster Oströmischer Kaiser um 400 Wirken des Kirchenvaters Augustinus
4.-7. Jh. Südamerika Erste Blütezeit der Maya-Kultur im sogenannten ›Alten Reich‹
410 Alarich erobert und plündert Rom
um 375 Hunnen fallen in Europa ein, zerstören das Ostgotenreich
seit 413 Burgundisches Reich um Worms
378 Die Westgoten besiegen Kaiser Valens bei Adrianopel
418-451 Westgotenreich um Tolosa (Toulouse)
383 Ulfilas, westgot. Bischof, gestorben. Übersetzte die Bibel ins Gotische
418-451 Theoderich I. König der Westgoten
386-557 Nordchina Reich der Wie
429-534 Das Vandalenreich in Afrika, gegründet von König Geiserich
395-410 Alarich König der Westgoten
um 435 Bedeutende christliche Mosaikbilder in St. Maria Maggiore in Rom
395 Theodosius teilt das Römische Reich, damit Begründung des 431
445-453 Attila Herrscher des Hunnenreiches
493-553 Ostgotenreich in Italien, zunächst unter Theoderich dem Großen
449 (?) Angeln, Sachsen und Jüten erobern die Südküste der Britischen Inseln
um 500 Boethius schreibt musiktheoretische Schriften, die Grundlage der Musiktheorie im Mittelalter werden Blüte der byzantinischen Mosaikkunst Ölmalerei in China
um 450 Hymnendichter Paulus Diaconus 451 Attila wird auf den Katalaunischen Feldern von Aëtius und Theoderich I. (†) in gewaltiger Schlacht besiegt, kann aber abziehen 466-484 Westgotenkönig Eurich 476 Der Germane Odowakar wird Herrscher Italiens 480-543 Benedikt von Nursia, gründet europäisches Klosterwesen 493-526 Theoderich der Große, Ostgotenkönig
482-511 Chlodwig (Merowinger); nach seinem Tod Teilung des Reiches 507-711 Spanien Das Westgotenreich 522 Die älteste erhaltene chinesische Pagode erbaut 527-565 Byzantinisches Reich Justinian I. 531 Die Thüringer, 534 die Burgunder von den Franken unterworfen
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537 Hagia Sophia in Konstantinopel erbaut (Kuppelbasilika) im 6. Jh. Frühbyz. Kirchenbauten in Ravenna mit Mosaiken 552 Japan Einführung des Buddhismus 553 Der Ostgotenkönig Teja wird am Vesuv vernichtend geschlagen 558-561 Chlothar I. vereinigt noch einmal das Frankenreich unter seiner Herrschaft 568-774 Italien Das Langobardenreich etwa 570-632 Mohammed 584-590 Italien Authari 586-601 Spanien
Rekkared, erster katholischer König (seit 527) um 590 Kirche St. Gereon in Köln um 600 Papst Gregor I. läßt Kirchengesänge sammeln (Gregorianischer Gesang) um 602 Die mittelamerikanische ›Olmeken-Kultur‹ um 607 Die älteste japanische Pagode in Nara erbaut 610-641 Byzantinisches Reich Herakleios I. 627 die Perser bei Ninive vernichtend geschlagen um 620 Porzellan in China nachweisbar 622 Islam Mohammeds Übersiedlung von Mekka nach Medina 433
661-750 Arabisches Reich Omaijaden (in Damaskus)
(Hedschra), Beginn der islamischen Zeitrechnung 634-644 Arabisches Reich Kalif Omar
673-754 Bonifatius, der ›Apostel der Deutschen‹
636-652 Langobardenreich Rothari 649-672 Spanien Rekkeswind; die von ihm veranlaßten neuen Gesetze lassen ein spanisches Volk entstehen 7. Jh. Für die Merowingischen Schattenkönige nach Dagoberts I. (629-639) Tod regieren die Hausmeier ab 7. Jh. Bedeutende arabische Wissenschaft um 650 Moscheen in Jerusalem und Kairo erbaut Bedeutende indische Tempelbauten
674-678 717-718 Byzantinisches Reich Konstantinopel siegreich gegen die Araber verteidigt 680 Bulgarien Gründung des Donaubulgarischen Reiches mit der Hauptstadt Pliska 687-717 Pipin II. (Karolinger) Hausmeier des ganzen Frankenreiches ab 700 Indien Erstarken des Hinduismus um 700 Entwicklung einer bedeutenden angelsächsischen Buchmalerei 701-762 Li Tai peh, chinesischer
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Lyriker, leitet eine Blütezeit der chinesischen Lyrik ein 711 Spanien Roderich, der letzte Westgotenkönig, fällt in der Schlacht am Guadalete gegen die Araber; das Reich geht unter, arabische Statthalter 714-741 Karl Martell (der Hammer, ein unehelicher Sohn Pipins II.) 732 Karl Martell schlägt die Araber zwischen Tours und Poitiers um 740 Älteste abendländische Kreuzigungsdarstellung in Rom (Wandmalerei) 741-768 Pipin III. (der Kleine) ab 751/52 König um 750 Das Hildebrand-Lied (im Kloster Fulda) Bedeutende ostasiatische Kunst
750-1258 Arabisches Reich Abbassiden (in Bagdad) 751 Italien Ende der Byzantinischen Macht in Mittelitalien (Ravenna) 754 ›Pipinische Schenkung‹ (Urkunde angeblich verloren) an Papst Stephan II. 768-814 Karl der Große, vermutlich 742 geboren, nach Karlmanns Tod 771 Alleinherrscher, ab 25.12.800 Kaiser 770-840 Einhard, ein Gelehrter am Hofe Karls des Großen 772-804 Feldzüge Karls gegen die Sachsen 773-774 Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen
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784-856 Hrabanus Maurus, bedeutender deutscher Gelehrter
um 814 Sammlung von Heldensagen unter Karl dem Großen
um 786 Bagdad ist ein bedeutendes Zentrum von Kunst und Wissenschaft
814-840 Ludwig der Fromme, wird 816 vom Papst zum Kaiser gekrönt
786-809 Arabisches Reich Höchste Machtentfaltung unter Harun al-Raschid 787 Byzantinisches Reich Konzil von Nicaea, Sieg der Bildverehrung um 800 Erste Blütezeit der fränkischen Klosterschulen Alkuin, bedeutender Gelehrter in Tours etwa ab 800 England Einfälle der Normannen 802-839 England König Egbert von Wessex wird Oberherr über alle angelsächsischen Reiche
um 836 In Samarra (Kalifenhauptstadt im Irak) entstehen prächtige Paläste und Moscheen 842-867 Byzantinisches Reich Michael III. 842 Kalif Omar beginnt den Ausbau Kairos 843-875 Italien Die Karolinger 843 Vertrag von Verdun 843-877 Frankreich Karl der Kahle 843-876 Ludwig der Deutsche 436
855-875 Italien Kaiser Ludwig II. im 9. Jh. Entstehung der zwölf Kirchentonarten Wirken des irischen Scholastikers Johannes Scotus Eriugena 867-886 Byzantinisches Reich Basileios I. um 870 ›Krist‹, eine bedeutende althochdeutsche Dichtung des Otfried von Weißenburg 870 Vertrag von Meerssen: nach dem Tod Lothars II. sein Reich zwischen Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen geteilt 871-899 England Alfred der Große um 872 Norwegen König Harald Harfagr (Schönhaar) eint Norwegen
876-887 Frankreich Karl III. der Dicke, ab 884 noch einmal Alleinherrscher des Frankenreiches 876 Nach dem Tode Ludwigs des Deutschen, teilen sich seine drei Söhne, Karlmann, Ludwig III. und Karl III. der Dicke, das Reich des Vaters 879-912 Rußland Oleg vereinigt die einzelnen Waräger-Herrschaften 880 Vertrag von Ribemont, der für das ganze Mittelalter die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich festlegt 886-912 Byzantinisches Reich Leon VI. 887-899 Arnulf von Kärnten 888-962 Italienische Nationalkönige
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Ende 9. Jh. Beginn der FujiwaraKultur in Japan
920-944 Byzantinisches Reich Romanos I. Lakapenos
um 900 Die arabische Märchensammlung ›1001 Nacht‹ beginnt zu entstehen
933 Heinrich besiegt die Ungarn bei Riade
900 Italien Ludwig von der Provence wird zum König, 901 zum Kaiser gekrönt, 905 von Berengar gefangen und geblendet
936-973 Otto I. der Große
900-911 Ludwig das Kind um 910 Benediktiner-Abtei Cluny gegründet Abteikirche in Cluny erbaut 911-918 Konrad I. von Franken (aus dem deutschen Frankenstamm) 919-1024 Sächsische Könige und Kaiser 919-936 Heinrich I.
936-954 Frankreich Ludwig IV. 945-955 Byzantinisches Reich Konstantin VII. 951 Italien Otto I. kommt nach Oberitalien, belehnt 952 Berengar II. 955 Otto besiegt die Ungarn bei Augsburg im 10. Jh. Ungarn Gründung des Ungarischen Reiches (Dynastie der Arpaden bis 1301) 438
im 10. Jh. Ottonische Kunst Erneute Blüte der mitteleuropäischen Klosterschulen und Domschulen Edda- und Skaldendichtung in Altisländisch Erste Mysterienspiele in Mittelund Westeuropa Hochstehende arabische Wissenschaft Wasserorgel in europäischen Klöstern Blütezeit der chinesischen Landschaftsmalerei
963-969 Byzantinisches Reich Nikephoras Phokas
um 960 Beginn einer bedeutenden chin. Blumenmalerei
973-983 Otto II.
960-992 Polen Miseka, Otto dem I. tributpflichtig für das Land zwischen Oder und Warthe 960-1280 China Die Sung-Dynastie 962 Otto wird in Rom zum Kaiser gekrönt (›Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation‹)
969-976 Byzantinisches Reich Johannes Tzimiskes um 970 Ottonische Buchmalerei der sogenannten Reichenau-Schule 971 Die große Moschee in Cordova im maurischen Stil erbaut
976-1025 Byzantinisches Reich Basileios II. 976 Baubeginn an der Markuskirche in Venedig um 976 Blütezeit der arabischen Kultur in Spanien 982 Niederlage Ottos gegen die Sarazenen bei Cotrone 439
983-1002 Otto III. 983 Die chinesische Enzyklopädie vollendet, sie umfaßt 1.000 Bücher 984 Skandinavien Erik der Rote von Norwegen besiedelt Grönland; Leiv Erikson entdeckt um 1000 zum erstenmal Amerika (Labrador) 987-1328 Frankreich Das Haus der Kapetinger 988 Rußland christlich 992-1025 Polen Boleslaw I. Chrobry 995-1000 Skandinavien Olaf Tryggvason, König von Norwegen. Das Land wird gewaltsam christianisiert
995-1050 Guido von Arezzo, bedeutender französischer Musiker 997-1038 Ungarn Stephan I. der Heilige um 1000 Frühromanische Kunst in Europa Das Kloster Reichenau ist in Wissenschaft und Kunst Mitteleuropas tonangebend Der ›Hiddenseer Goldschatz‹, Schmuck aus der Wikingerzeit um 1000 Skandinavien Island wird christlich 1001 Indien Der türkische Sultan Mahmud beginnt die Eroberung Indiens; 1005 ist er Herr des Induslandes 1002-1024 Heinrich II. 1010 Spanien Die Omaijaden im arabischen 440
Spanien werden gestürzt, Kleinstaaten sind die Folge
Bulgarien kommt an das Byzantinische Reich
1015 Baubeginn am Dom zu Straßburg
1024-1125 Die Salischen Kaiser
ab 1016 Normannen in Unteritalien 1016-1054 Rußland Großfürst Jaroslav der Weise 1016-1042 England Dänische Herrschaft unter Knut dem Großen und seinen Söhnen 1016-1035 Skandinavien Knut der Große ab 1016 König von England, ab 1018 König von Dänemark, erobert 1028 Norwegen, zwingt Schottland 1031 zur Huldigung 1016 Italien Salerno ruft gegen die Sarazenen normannische Pilger zu Hilfe 1018 Bulgarisches Reich
1024-1039 Konrad II. 1033 Königreich Burgund zum Deutschen Reich 1033-1109 Anselm von Canterbury, Scholastiker in England 1035-1058 Kroatien Stephan I. 1035-1047 Norwegen Magnus der Gute, nach der Vertreibung von Knut des Großen Sohn 1039-1056 Heinrich III. 1050 ›Der allgemeine Spiegel der Weltgeschichte‹, ein 441
chinesisches Werk in 294 Büchern des Sema Kuang im 11. Jh. Blüte der byzantinischen Goldschmuckkunst In Rußland entsteht eine Kunst, die das Byzantinische abwandelt Spielmannsdichtung in Frankreich 1054 Byzantinisches Reich Endgültiges Schisma der Kirche. Niederlegung der päpstlichen Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia, als Antwort Bannung des Papstes durch den Patriarchen von Byzanz 1056-1106 Heinrich IV. um 1065 Gründung der Hohen Schule in Bagdad, die das Zentrum der arabischen Wissenschaft und Kunst wird 1066 Neubau des Klosters Monte Cassino
14.9.1066 England Schlacht bei Hastings. Herzog Wilhelm von der Normandie landet und siegt 1066-1087 England Wilhelm I., der Eroberer, zugleich Herr über die Normandie 1070 Baubeginn an der Kathedrale von York 1070 Jerusalem Alp Arslan erobert die Stadt, das wird Anlaß zum Ersten Kreuzzug 1076 Papst Gregor VII. (1073-1085) beginnt den Investiturstreit 1077 Heinrichs Gang nach Canossa 1080-1085 Spanien Alfons VI. belagert und erobert Toledo 442
1086 England Domesday Books: Alle Besitzungen in den Grafschaften werden nach Ackergröße, Bevölkerungsstand, Wert usw. verzeichnet
Kloster- und Domschulen Karl der Große läßt Heldensagen sammeln; Versuch einer deutschen Grammatik 802 Kloster Münster von Karl gegründet
Deutsche Geschichte
804 Carolinum-Gymnasium in Osnabrück von Karl gegründet
770-840 Einhard, Gelehrter am Hofe Karls des Großen
804 Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen erbaut
786-809 Arabisches Reich Höchste Machtentfaltung unter Harun al-Raschid
um 814 ›Wessobrunner Gebet‹ in althochdeutschen Stabreimen
787 Konzil von Nicaea 792 Dom zu Fulda, Baubeginn ab 800 England Einfälle der Normannen um 800 Erste Blütezeit der fränkischen
814-840 Ludwig der Fromme. Erhält sein Kaisertum von Papst Stephan IV. verliehen. Gründet die Bistümer Hildesheim und Halberstadt 820-822 Michaels-Kirche in Fulda um 830 ›Heliand«‹ (Schilderung der Geschichte des Heilands, der hier als germanischer König auftritt) 443
840 Bruderkrieg unter den Söhnen nach Ludwigs Tod um 841 Unter Abt Hrabanus Maurus (784-856) wird die Klosterschule Fulda sehr berühmt 842 ›Straßburger Eide‹ in Altfranzösisch und Althochdeutsch (zum erstenmal sprachliche Trennung zwischen Ost- und Westfranken festzustellen) 843 Vertrag zu Verdun: Teilung des Reiches in drei Teile; Ostteil an Ludwig den Deutschen 843-911 Die ›deutschen‹ Karolinger 843-876 Ludwig der Deutsche etwa 850-1150 Frühscholastik 868 Otfried von Weißenburg:
›Krist‹ (althochdeutsche Dichtung, Endreim!) 870 Vertrag von Meerssen: Lothars Mittelreich aufgeteilt 871-899 England König Alfred der Große 876 Die Söhne Ludwigs des Deutschen teilen sich nach dessen Tod das Reich. Es regieren: 876-880 Karlmann (Bayern, östl. Marken) 876-882 Ludwig III. (Mainfranken, Sachsen, Thüringen) 876-887 Karl III. der Dicke, ab 881 Kaiser (Alamannien, Churrätien) 880 Vertrag von Ribemont: Grenze zwischen Deutschland und Frankreich festgelegt, die das Mittelalter hindurch bestehenbleibt 444
881 ›Ludwigslied‹ (althochdeutsch) 887-899 Arnulf von Kärnten, Sohn Karlmanns, ab 896 Kaiser 891 Arnulf besiegt die Normannen bei Löwen an der Dyle um 900 Mönch Notker-Balbulus in St. Gallen (Musiker und Dichter) 900-911 Ludwig IV. das Kind. Ohnmacht des Königtums, Erstarken des Stammesherzogtums. Dauernde Einfälle der Ungarn 911-918 Konrad I. von Franken (aus dem deutschen Frankenstamm) im 10. Jh. Dom zu Augsburg erbaut
designiert. 919 zum erstenmal die Bezeichnung ›Reich der Deutschen‹ 919 Arnulf von Bayern zum Gegenkönig erhoben; unterwirft sich 921 um 925 Ekkehard I. Mönch im Kloster St. Gallen (909-973) schreibt das Waltharilied (lat. Hexameter) 933 Heinrich schlägt die Ungarn bei Riade 935-1000 Roswitha von Gandersheim schreibt lateinische Gedichte, Legenden und ›Schauspiele‹ 936-937 Otto I. der Große (seit 962 Kaiser)
919-1024 Die sächsischen Könige und Kaiser
936-937 Hermann Billung und Markgraf Gero errichten zwei Marken gegen die Slawen
919-936 Heinrich I. von Konrad
955 (1. Aug.) 445
Otto schlägt die Ungarn in der Nähe von Augsburg
983-1002 Otto III.
955 (Okt.) Sieg Ottos an der Recknitz über die Slawen
987-1328 Frankreich Könige aus dem Haus der Kapetinger
um 968 Widukind von Corvey schreibt Geschichte der Sachsen
997-1038 Ungarn Stephan der Heilige
um 970 Blüte der Ottonischen Buchmalerei, besonders in der Reichenau-Schule
etwa 1000-1250 Romanische Kunst in Deutschland und Italien
973-983 Otto II. um 980 Baubeginn am Mainzer Dom 982 (Juli) Otto II. unterliegt entscheidend gegen die Araber bei Cotrone 983 Aufstand der Slawen, die Nordmark und die Billungische Mark gehen verloren
um 1000 Beginn der frühen Mehrstimmigkeit in der Musik um 1000 Gründung des Klosters Einsiedeln 1002-1024 Heinrich II. (Herzog von Bayern) um 1015 Baubeginn am Dom zu Straßburg (zunächst romanisch) ab 1016 Italien Normannen in Unteritalien 446
1016-1042 England Dänische Herrschaft
im 11. Jh. Die Harfe als Musikinstrument in Europa
1024-1125 Die Salischen (fränkischen) Kaiser
um 1056 Bau der Kaiserpfalz in Goslar
1024-1039 Konrad II. 1033 Das Königreich Burgund wird mit dem Deutschen Reich vereinigt um 1034 Baubeginn beim Würzburger Dom 1039-1056 Heinrich III.
1056-1106 Heinrich IV. 1059 Ein Papstwahldekret; Verbot der Laieninvestitur um 1060 Dom zu Speyer erbaut im 11. Jh. In der romanischen Zeit werden im mittelhochdeutschen Sprachgebiet etwa 10.000 Burgen erbaut
1046 Die Synoden in Sutri und Rom setzen drei Päpste ab 1054 Schisma der Kirche im 11. Jh. Burg der Burggrafen von Nürnberg mit fünfeckigem Turm erbaut 447