Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 6 Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Neuzeit
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Paul Frischauer
Weltgeschichte in Romanen Band 6 Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Neuzeit
Inhaltsangabe 1785 erschüttert ein Skandal ganz Europa. Eine Betrügerin, die Gräfin de la Motte, hatte den französischen Kardinal Rohan schändlich betrogen. Sie schwindelte ihm ein wertvolles Halsband ab, das der in Ungnade gefallene Kardinal der Königin Marie Antoinette schenken sollte. Die Übeltäterin büßte ihr Verbrechen durch das Brenneisen und Verurteilung von lebenslänglichem Kerker. Alexandre Dumas schildert die ›Halsbandaffaire‹, die den Untergang des französischen Königshauses und die Französische Revolution einleitete in seinem Roman, durch den Frischauer Gründe für die Zeitenwende, den Beginn der Neuzeit deutlich werden läßt. Eine neue Kraft, das Bürgertum, beginnt in der Nachfolge der Französischen Revolution die Gesellschaften zu prägen. Aus seinen Kreisen kommen die, die als Unternehmer die Industrielle Revolution in Gang setzen. Diese, auch für unsere Zeit prägende Umwälzung wird in ihrem Anfangsstadium geschildert in dem großen Roman ›Germinal‹ des französischen Realisten Emile Zola, durch den Frischauer das neue Zeitalter einführt. Er schildert das Aufbäumen der alten Ordnung, bis diese nach Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbricht. Jenseits von trockenen Zahlen und Daten läßt Frischauer teilnehmen an den Wirren der Weimarer Zeit, den tiefen Fall der Welt im Zeitalter des Faschismus und an den Neubeginn nach dem blutigsten Krieg der Weltgeschichte.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © by Literarica Anstalt, Vaduz Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Aufgeklärte Herrscher I Unter den Zuschauern der Krönung Josefs II. in Frankfurt befand sich der damals fünfzehnjährige Johann Wolfgang von Goethe. Er erzählte: »Der junge König schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher … Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopfe ab …« Auch der zum römischen König gekrönte Josef fand die nur dem äußeren Schein der Macht geltende Feierlichkeit unzeitgemäß. Er bezeichnete sie als ›eine unangenehme und nutzlose Funktion‹. Aber als er nach dem frühen Tod Franz I., seines Vaters, Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation wurde, setzte er doch alles daran, Friedrich II. den er von ganzem Herzen bewunderte, zu beweisen, daß das ›heilige Reich‹ nicht, wie der König in Preußen gespottet hatte, ›nur die erlauchte Republik deutscher Fürsten‹ sei. Es gab mehr als dreihundert selbständige Kurfürsten, Herzöge, Grafen, Freiherren, Ritter, Bischöfe, Äbte und Stadtgemeinden im Reich. Alle diese selbstherrlichen Landesherren waren auf den Nutzen ihres größeren oder kleineren Gebietes bedacht, und alle bemühten sich, unabhängig vom Reich, unabhängig voneinander und nebeneinander zu herrschen. Mit dieser Zerrissenheit wollte Josef II. aufräumen – nachdem er Österreich in Ordnung gebracht haben würde. Aber er 1
war nicht der Herr im eigenen Haus. Maria Theresia war die erbliche Herrscherin der österreichischen Länder. Sie wollte es bleiben. Daß ihr Sohn Kaiser war, beeindruckte sie nicht. Sie lieh der Warnung ihres bewährten Feldherrn Khevenhüller williges Gehör: »Dieser junge Herr will absolument den König von Preußen imitieren und alles militairement traktieren.« Das wollte Maria Theresia nicht. Sie verhinderte mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln, daß ihr Sohn Österreich in einen Militärstaat wie Preußen umwandelte. In all den Jahren, in denen Josef II. Mitregent der Kaiserin war, litt er maßlos unter den überragenden Persönlichkeiten der beiden Menschen, die zu überflügeln er sich vorgenommen hatte, des Königs in Preußen und seiner Mutter. Er ahmte beide nach. Er wollte ein bedeutender Militär sein wie Friedrich II. der den ehrenden Titel ›der Große‹ führte, und populär wie Maria Theresia, die als ›die große Mutter des Volkes‹ galt. Der unstillbare Wunsch Josefs, von seinen Untertanen geliebt zu werden wie sie, entsprang nicht so sehr seinem Gefühl wie seinem Verstand, den er, dem Zug der Zeit folgend und seinem Vorbild Friedrich II. durch die Lektüre philosophischer und staatswissenschaftlicher Schriften schulte. Das Verlangen des jungen Kaisers nach ›Aufklärung‹ war seine einzige Leidenschaft. Die persönlichen Gefühle Josefs hatten sich früh verausgabt. Seine erste Frau, die er geliebt hatte, war einer krankhaften Zuneigung für ihre Schwägerin Marie Christine verfallen und hatte sich geweigert, die Liebe ihres Gatten zu empfangen. Nach ihrem frühen Tod hatte er sich dazu bestimmen lassen, die bayrische Prinzessin Josefa, eine Tochter des verstorbenen Kaisers Karl VII. zur Frau zu nehmen, um die neu angesponnene Freundschaft Österreichs mit dem Haus Wittelsbach zu vertiefen. Es war eine hochpolitische Heirat, die zu keiner wirklichen Ehe führte. Josef war stolz darauf, daß er sich Josefa gegenüber so benahm wie der König von Preußen seiner Gattin gegenüber: Er mied sie und spottete über die Gerüchte einer zu erwartenden Nachkommenschaft. Die junge Kaiserin, die Josef so wenig liebte, starb an den Blattern wie seine erste Frau, die er so sehr geliebt hatte. Er entschloß sich, nie wieder zu heiraten, und beobachtete die Bemühungen seiner Mut2
ter, seine Schwestern zu verehelichen, mit unverhohlenem Mißtrauen. Maria Theresia wollte ihre Töchter nur unter die Haube bringen, wenn die Haube mit einer Krone geschmückt war. Josef II. konnte sich einer bösen Vorahnung nicht erwehren, als die mit dem Enkel und Thronfolger Ludwigs XV. dem Dauphin Ludwig, geschlossene Ehe der jungen Erzherzogin Marie Antoinette allgemein als politischer, völkerverbindender Erfolg der Kaiserin Maria Theresia gewertet wurde.
Die Ankunft Marie-Antoinettes in Versailles erweckte gemischte Gefühle. Das französische Volk war von Anfang an gegen ›die Österreicherin‹. Die Höflinge aber waren entzückt von ihrem sicheren Auftreten und warteten gespannt auf den großen Augenblick, in dem die kaiserliche Prinzessin der Dubarry, der neuen Geliebten Ludwigs XV. den Rücken zukehren würde. Mit der Nachfolgerin der Marquise von Pompadour war, wie die hochgeborenen Herzoginnen und Gräfinnen naserümpfend erklärten, ›das gemeine Volk‹ an die Macht gekommen. Ihre Gleichstellung mit den Damen des Hofes wurde als ›Revolution‹ bezeichnet und für viel gefährlicher gehalten als der zunehmende Widerstand der Parlamente gegen die unersättliche Verschwendungssucht Ludwigs XV. Daß der König seine aus der Gosse geholte Geliebte der künftigen Königin von Frankreich, Marie-Antoinette, in Gegenwart des feierlich versammelten Hofstaates vorstellte, wurde von den meisten Anwesenden als der Anfang vom Ende beurteilt. Alle Hoffnungen ruhten auf Marie-Antoinette und dem Dauphin Ludwig, der seinem Großvater auf dem Thron nachfolgen sollte. Würde es eine glückliche Ehe werden und ein geregelter königlicher Hausstand, der der gefährdeten Volkswirtschaft Frankreichs nicht so untragbare Steuerlasten auferlegen würde wie die verhängnisvolle, bedenkenlose Freigebigkeit Ludwigs XV.? Der König, seine Minister, der hohe Adel und das ganze Volk erfuhren bald durch das unvermeidliche Geschwätz der Kammerfrauen und Kammerherren des jungen Paares, daß die so freudig 3
geschlossene Ehe noch nicht vollzogen worden war, denn der Thronerbe Frankreichs war durch ein wenn auch harmloses Gebrechen behindert, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen. Diese bedauerliche Tatsache beschäftigte die französische Öffentlichkeit viel mehr als die gleichzeitigen politischen Ereignisse, die alle Aufmerksamkeit erfordert hätten. Die leitenden Staatsmänner waren in höfische Ränke verwickelt. Die Zwistigkeiten untereinander und der Kampf um die einträgliche Gunst des Königs beschäftigten sie mehr als die Machtverschiebungen im Osten Europas, die ihre unmittelbaren Belange nicht berührten. Das für Frankreich klägliche Ende des Siebenjährigen Krieges hatte die nachhaltige, entmutigende Wirkung. Die Prachtentfaltung von Versailles und die glanzvolle Lebensführung des hohen Adels täuschten nicht über die allgemeine Zersetzung hinweg. Das mächtigste europäische Königreich schien seine Macht verloren zu haben. Dennoch bemühten sich einige wenige verantwortungsvolle Beamte und Generäle, den Frieden von Paris, der Frankreich um den größten Teil seines nordamerikanischen Besitzes gebracht hatte, durch einen unterirdischen Krieg außer Kraft zu setzen. Einer davon war der Graf von Broglie, der zwar im Auftrag, aber bezeichnenderweise ohne das Wissen des Königs einen Geheimdienst unterhielt. Sein wichtigstes Ziel war die Untergrabung der englischen Herrschaft in den amerikanischen Kolonien, deren Wortführer kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges Einspruch gegen die belastende Bevormundung durch das Mutterland erhoben hatten. Die Beschwerden betrafen im wesentlichen die den amerikanischen Kaufleuten und Gewerbetreibenden auferlegten Beschränkungen im Handel, in der Schiffahrt und in der Herstellung von Erzeugnissen, deren Anfertigung und Verkauf England sich vorbehalten hatte. Der erste offene Widerspruch der amerikanischen Bevölkerung wurde laut, als das Parlament eine Stempelabgabe für alle in den Kolonien verwendeten Urkunden und Druckschriften verfügte, und richtete sich bald auch gegen alle englischen Steuern und Hafenzölle. Die Amerikaner hatten wegen der hohen Besteuerung von Tee in England ihren Bedarf aus holländischen Besitzungen eingeschmug4
gelt. Der durch die Ausschaltung des französischen Handels in Indien erzielte Überschuß der Ostindischen Kompanie an Tee sollte den amerikanischen Märkten zugeführt werden. Ein Geheimbund von Kaufleuten, der sich unter dem Namen ›Caucus‹ gebildet hatte, war gegen die zwangsläufige Einfuhr aller englischen Waren tätig, um die Aufhebung der bestehenden Beschränkungen des amerikanischen Handels und der Manufaktur zu erwirken. »Jetzt wollen diese amerikanischen Kinder, die wir mit Fürsorge gehegt, durch unsere Nachsicht zu Macht und Reichtum auferzogen und durch unsere Waffen geschützt haben, sich sträuben, ihr Scherflein beizutragen zur Erleichterung der schweren Lasten, die wir tragen!« klagte ein englischer Minister im Parlament. Er wurde durch den Ausruf eines Abgeordneten unterbrochen: »Gehegt mit unserer Fürsorge? … Vor Tyrannei sind sie in das wilde ungastliche Land geflohen. Groß geworden sind sie, weil wir uns nicht um sie gekümmert haben. Und wenn wir es taten, geschah es nur, um ihnen Leute zu schicken, die ihre Geschäfte störten, ihre Freiheiten belauerten, ihre Handlungen verdächtigten und das Blut dieser Söhne der Freiheit in Wallung brachten.« ›Söhne der Freiheit‹ – so bezeichneten sich die amerikanischen Aufständischen selbst und ließen durch ihre Sprecher in London erklären, daß die Bewohner der Kolonien die gleichen Rechte und die gleichen Freiheiten hätten wie die Bewohner Englands. Diese Gleichberechtigung sei durch königliche Freibriefe anerkannt. Den Worten, die in London ungehört blieben, folgten Taten in Amerika: Der schon ernannte Stempelverteiler in Boston wurde gezwungen, sein Amt aufzugeben, sein Stempelbüro wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Beispiel Bostons wurde in allen Kolonien nachgeahmt. Es hatte durchschlagenden Erfolg. Am Stichtag des Inkrafttretens der Stempelakte ließ sich kein einziger Stempelverteiler blicken, und die Zeitungen trugen Totenköpfe an der Stelle, an der der königliche Stempel hätte angebracht sein sollen. Es nützte wenig, daß das englische Parlament die Stempelakte widerrief. Der Aufruhr der Kolonien hatte unterirdisch begonnen. Es bedurfte nur eines Anlasses, ihn offen zum Ausbruch zu bringen. 5
Aber das wollte man in London nicht wahrhaben. Sogar William Pitt, der sich, solange er leitender Minister gewesen war, für die Rechte der amerikanischen Siedler eingesetzt hatte, verließ seine Zurückgezogenheit und erklärte im Oberhaus, dem er als Graf von Chatham angehörte: »In allen Gesetzen über Handel und Schiffahrt ist England das Mutterland … Es muß Unterordnung, es muß Gehorsam, es muß Abhängigkeit bestehen.« Er wandte sich an die anwesenden Whigs und Tories: »Wenn Sie den Amerikanern keine Gesetze geben, werden die Amerikaner Ihnen Gesetze vorschreiben wollen, vorschreiben müssen.« Als die Rede Pitts in Boston bekannt wurde, kam es zu blutigen Raufereien zwischen den Soldaten der königlich englischen Garnison und den ›Söhnen der Freiheit‹. Die Beziehungen zwischen den amerikanischen Kolonien und England wurden immer gespannter. Die Mittelsmänner des Grafen von Broglie schürten das Feuer. Sie sorgten auch für die Belieferung der nordamerikanischen Buchhändler mit aufklärerischen Schriften, deren Verbreitung in Frankreich polizeilich verboten war.
II Die holländischen Verleger, die den größten Teil der in Frankreich verbotenen Bücher druckten, hatten noch ein anderes bedeutendes Absatzgebiet gefunden: Rußland. Seit der Erhebung Katharinas II. auf den Thron Peters des Großen war es in der vornehmen Petersburger Gesellschaft Mode geworden, die Bücher zu besitzen, die die Kaiserin las. Der ganze Hof bemühte sich, »westlich« zu sein wie sie, obwohl sie es ihren höfischen Beobachtern durch ihre widerspruchsvollen Handlungen und ihren Lebenswandel schwierig machte, sie als Muster gelten zu lassen. Wie war sie wirklich? 6
Einer ihrer vielen und so verschiedenartigen Launen nachgebend, hatte die Kaiserin aller Reußen im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft spielerisch eine Grabinschrift für sich entworfen, die ihr Wesen und Sein mit unverhüllter Offenheit beschrieb – so wie sie selbst es sah: »Hier ruht Katharina II. geboren zu Stettin am 21. April 1729. Sie ging im Jahre 1744 nach Rußland, um Peter III. zu heiraten. Mit vierzehn Jahren setzte sie sich dreierlei vor: Ihrem Gemahl, Elisabeth und der Nation zu gefallen. Sie unterließ nichts, dieses Ziel zu erreichen. Achtzehn Jahre der Langeweile und der Einsamkeit veranlaßten sie, sich der Lektüre hinzugeben. Auf den russischen Thron gelangt, strebte sie nach dem Guten und suchte ihren Untertanen Glück, Freiheit und Eigentum zu verschaffen. Sie vergab leicht und haßte niemanden. Sie war nachsichtig, leichtlebig, heiteren Temperaments, hatte eine republikanische Seele und ein gutes Herz. Sie hatte Freunde. Die Arbeit war ihr leicht, und die Künste erfreuten sie.« Die deutsche Prinzessin, die um jeden Preis russisch sein wollte, hatte sich selbst nach französischen Grundsätzen erzogen. Obwohl sie in ihrer Lebensführung fraulicher war und ihre Liebe mehr Männern schenkte als je eine Frau auf dem Thron, wünschte sie zeit ihres Lebens, mehr zu sein als eine Frau, und beherrschte das ihr durch die unglückliche Ehe mit Peter III. und seine unselige Ermordung zugefallene Riesenreich männlicher als ein Mann. Katharina hatte kein Vorbild wie Josef II. ihr österreichischer Gegenspieler. Friedrich der Große war öfter ihr Gegner als ihr Verbündeter, und ihre persönliche Abneigung gegen Maria Theresia, die mit zunehmendem Alter immer mehr das Bedürfnis hatte, alles beim alten zu lassen, war auch dadurch begründet, daß Katharina leidenschaftlich bemüht war, Rußland nach den Lehren der Aufklärung zu erneuern. Viele ihrer Versuche, die Lebensformen des europäischen Westens nach Rußland zu verpflanzen, mißlangen. Sie konnte die alten russischen Gesetze nicht ausmerzen. Aber sie setzte die Bemühungen Peters des Großen fort, die Grundlagen für eine neuzeitliche Verwaltung zu schaffen. Es gelang ihr nicht nur, die Grenzen Rußlands nach dem Westen zu auszudehnen, sondern auch, ans Schwarze Meer vorzudrin7
gen. Die Wegrichtungen waren ihr von Peter dem Großen vorgezeichnet worden, aber dort, wo er versagt hatte, war Katharina erfolgreich: in der Besetzung der Moldau und der Walachei, den von den Türken abhängigen, zum größten Teil griechisch-orthodoxen Gebieten an der Mündung der Donau ins Schwarze Meer. Katharina vernichtete auch durch einen kühnen Einsatz ihrer Ostseeflotte im Mittelmeer die türkische Seemacht. Die Schlacht, an der englische Kriegsschiffe auf russischer Seite teilnahmen, war die schwerste muselmanische Niederlage zur See seit der Schlacht von Lepanto. Johann Wolfgang von Goethe, der die Zeitereignisse mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, schrieb: »Die brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursachte ein Freudenfest über die gebildete Welt.«
Als gebildete Welt bezeichnete Goethe die Leserschaft schlechthin, die auch er durch seine Werke erreichen wollte. Die Gedanken der Aufklärung hatten dank der emsigen Tätigkeit der Buchverleger und Zeitungsschreiber den ganzen europäischen Raum durchdrungen und ein neues Lebensgefühl geschaffen, das auch im Sturm und Drang des deutschen Schrifttums zum Ausdruck kam. Die französischen Dichter und Denker wurden zum Gemeingut der nach Kenntnissen und Erkenntnissen strebenden studierenden Jugend. Die bedeutendsten Bücher wurden in fremde Sprachen übersetzt, von örtlichen Schriftstellern und Wissenschaftlern umgewertet und beeinflußten die Denkweise der Gelehrten, der politisch Tätigen und auch der Herrscher Europas. Die Staatsform Friedrichs II. dessen Freundschaft mit Voltaire beispielgebend geworden war, galt als die lebendige Verwirklichung des ›aufgeklärten Absolutismus‹, der sich im wesentlichen von der unumschränkten Königsgewalt nur dadurch unterschied, daß zwar der Ursprung des Staates aus dem Vertrag freier Menschen als Grundlage galt und die Wohlfahrt der Bevölkerung als höchstes Ziel gesetzt wurde, der Herrscher aber sich die Beurteilung der Zweckmäßigkeit der 8
zu treffenden Maßnahmen vorbehielt. Durch diese Einschränkung blieben die Handlungen der aufgeklärten Herrscher ihrer Willkür anheimgestellt, da sie ihre Wünsche und Bedürfnisse jeweils als Zweckmäßigkeit auslegen konnten. Sie brauchten sich nur auf die ›Staatsräson‹ zu berufen, um Gesetze zu erlassen, Kriege zu führen und Frieden zu schließen. Die Willkür des ›aufgeklärten Absolutismus‹, zu dem sich auch Katharina II. und Josef II. bekannten, kam bei der ersten Teilung Polens deutlich zum Ausdruck. Nach dem Tod Augusts III. hatte Katharina, im Einvernehmen mit Friedrich II. die Wahl ihres Günstlings Poniatowski zum König von Polen erwirkt. Dadurch hatte sie das Königreich ›unter ihr Protektorat‹ genommen. ›Zum Schutze der Religion und Freiheit Polens‹ unternahm der national gesinnte Adel einen Aufstand gegen den ihm aufgezwungenen König. Die blutigen Unruhen blieben nicht auf Polen beschränkt. Als Poniatowski durch ein russisches Heer unterstützt wurde, warf sich der Sultan zum Verbündeten der polnischen Adligen auf. Er hatte allen Grund, sich vor einer weiteren russischen Ausbreitung zu fürchten. Der Ehrgeiz Katharinas war es, Konstantinopel zu erobern, die ehemalige Hauptstadt der byzantinischen Kaiser. Als höchste Herrscherin des griechisch-orthodoxen Glaubens ließ sie verlauten, das sei ihr Recht und ihre Pflicht. Ein Krieg Katharinas gegen die Türken sagte Friedrich II. zu. Er witterte Landzuwachs. Aber er fühlte sich nicht stark genug, in Polen einzumarschieren, ›um Ordnung zu machen‹, ohne sich den Rücken durch ein Bündnis mit Österreich zu decken. Sein in Wien vorgebrachtes Argument, daß man dereinst der ›Geschlossenheit von ganz Europa‹ bedürfen werde, um ›Rußland im Zaum zu halten‹, hatte keine so starke Wirkung auf Josef II. wie die Tatsache, daß Katharina die Moldau und die Walachei erobert hatte. Die sogenannten ›Donau-Fürstentümer‹ waren österreichisches Interessengebiet. Friedrich II. schlug dem Kaiser eine Intervention in Polen vor, damit er die österreichischen Grenzen nach Osten und Nordosten erweitern und gegen die Eroberungslust Katharinas schützen könne. Maria Theresia fand den Vorschlag Friedrichs II. ›gegen Recht und 9
Billigkeit‹. Aber Josef war Feuer und Flamme für eine ›Intervention‹. Kaiserliche Truppen besetzten die Grafschaft Zips in den Karpaten und machten nicht halt, denn Josef war angeregt durch einen Ausspruch Friedrichs: »Lassen Sie doch in Ihrem Archiv nachsehen, ob Sie nicht Ansprüche auf noch mehr finden. Glauben Sie mir, man muß die Gelegenheit benützen. Ich werde auch meinen Teil nehmen.« Mit anerkennenswerter Offenheit erklärte der Kaiser zwar: »Wenn man es mit dem König von Preußen zu tun hat, erkennt man gleich, man hat es mit einem Schurken zu tun!«, aber er schloß doch ein Bündnis mit ihm. Trotz des Einspruchs Maria Theresias beauftragte Josef kaiserliche Diplomaten, gemeinsam mit preußischen bei Katharina II. vorstellig zu werden, um sie zu überzeugen, daß es das beste sei, wenn alle drei aufgeklärten Herrscher, statt einen kostspieligen, erbitterten Krieg gegeneinander zu führen, Polen untereinander aufteilten. Die Verhandlungen über die Aufteilung Polens dauerten länger als ein Jahr, und Josef, der sie für das Haus Österreich überwachte, bewies, daß er von seinem Vorbild gelernt hatte. Friedrich II. beklagte sich beim Gesandten des Kaisers: »Erlauben Sie mir zu sagen, Sie haben einen guten Appetit.« Polen war ein reich bestellter Tisch. Keiner der hungrigen Herrscher kam zu kurz, und es blieb doch noch ein großes Stück Land als unabhängiges Königreich übrig, dessen Bestand alle drei Vertragspartner feierlich gewährleisteten. Als Maria Theresia das Übereinkommen zur Unterschrift vorgelegt erhielt, weinte sie bitterlich. Sie war gegen die Gewalt, die den Polen angetan worden war. Aber sie unterzeichnete. »Placet«, schrieb sie. »Es gefällt mir, weil so viele und große Männer es wollen.«
Maria Theresia begann am Wert ihres eigenen Urteils zu zweifeln. Wurde sie alt? Hatte Josef, der schon als Junge einen Entwurf über die Beschlagnahme der Kirchengüter verfaßt hatte, recht? Die Jesuiten waren aus Portugal, aus Spanien und Frankreich vertrieben wor10
den. Jetzt sollte sie, die Kaiserin, der ›Enzyklopädistenbande‹ nachgeben? Sie, die ihrem Beichtvater, einem Jesuiten, versichert hatte: »Sei Er nur ohne alle Sorge. Solange ich lebe, habt ihr euch nicht zu fürchten.« Sie begriff nicht, daß Papst Clemens XIV. die Gesellschaft Jesu aufhob. »Ich bin davon schmerzlich berührt«, schrieb sie unter Tränen, »indem ich nie anderes als Erbauliches bei den Jesuiten gesehen habe.« Maria Theresia konnte sich auch nicht erklären, warum der protestantische König Friedrich II. und die griechisch-orthodoxe Kaiserin Katharina II. vertriebenen Jesuiten Zuflucht in ihren Reichen gewährten. War es richtig, daß sie die Geistlichen als Lehrer verwenden wollten? Oder wollten sie sich ihrer nur bedienen, um ihre katholischen Untertanen zu beeinflussen? Maria Theresia stellte sich immer heftiger gegen jede Veränderung, gegen jeden neuen Plan. Sie war auch nicht einer Meinung mit ihrem bewährten Vertrauensmann, dem von ihr zum Fürsten erhobenen Kaunitz, der den Wunsch Josefs, die Grenzen Österreichs bis Konstantinopel auszudehnen, eifrig befürwortete und dem englischen Gesandten am Wiener Hof zur Vermeidung von diplomatischen Schwierigkeiten erklärte: »Die Türken sind zum Untergang bestimmt. Ein kleines, gut geführtes Heer könnte dieses Volk jederzeit aus Europa hinaustreiben.« Das schien so zu sein, denn russische Truppen hatten ihren Vormarsch gegen die Türken so erfolgreich fortgesetzt, daß der Sultan sich unfähig fühlte, weiteren Widerstand zu leisten. Die Krim war schon besetzt, ebenso der größte Teil Bessarabiens. Die Russen überschritten die Donau. Ihre Vorhut stieß auf kaiserlich österreichische Postenketten. Josef II. wollte sich nicht überrumpeln lassen. Während der Sultan die Friedensbedingungen annahm, die Katharina ihm vorschrieb – das Schutzrecht über die griechisch-orthodoxen Christen in der gesamten Türkei und die Anerkennung, daß die Donau-Fürstentümer östlich von Ungarn in einem Vasallenverhältnis zu Rußland stünden –, ließ Josef ein kaiserliches Heer in das nordöstliche Gebiet des Fürstentums Moldau, die an seine neu erworbenen polnischen Provinzen angrenzenden Bukowina, einmarschierten. Er war stolz auf die neue Erwerbung. Er hatte zu ›teilen‹ gelernt. Um noch mehr teilen zu können, 11
wollte er sich mit Katharina II. verbünden. Aber Maria Theresia wollte kein Bündnis mit der erklärten Schutzherrin aller griechisch-orthodoxen Christen. Die alte Kaiserin wurde immer heftiger von Angstvorstellungen geplagt. Die unersättliche Ländergier ihres Sohnes Josef verursachte ihr um so mehr Bangigkeit, als er, in scheinbarem Widerspruch zu seinem Machthunger, Gesetze vorbereitete und Verfügungen erließ, die ihrer Erfahrung nach seine Macht schwächen mußten. Sie war überzeugt davon, daß bürgerliche Freiheiten den Thron untergruben. Maria Theresia war dafür, daß Herrscher streng und gerecht seien, nicht nur gegen ihre Untertanen, sondern auch gegen sich selbst. In ihren besorgten Briefen, die sie an ihre Kinder schrieb, sprach sie es deutlich aus, besonders an Marie-Antoinette. Ihre Tochter hatte zwar die Geliebte ihres Schwiegervaters, Ludwigs XV. nach dessen Tod aus Versailles verjagt, aber sie führte als Königin von Frankreich ein ebenso verschwenderisches Leben wie die Dubarry. Über die Vergnügungssucht Marie-Antoinettes hatte Maria Theresia mehr als einen bekümmerten Bericht ihres Botschafters in Versailles erhalten. Wenn auch Ludwig XVI. der endlich wirklich der Mann seiner Frau geworden war, keinen Einwand erhob, so mußte doch sie, die Mutter, die junge Königin von Frankreich beraten und warnen, ihr Kind, in das sie so große Hoffnungen gesetzt hatte. Maria Theresia schrieb einen Brief nach dem anderen. Begriff ihre Tochter nicht, daß eine Königin andere Pflichten hatte als eine gewöhnliche Frau? Die Möglichkeit, daß Marie-Antoinette Katharina II. von Rußland nachahmen konnte, wirkte wie ein Alptraum auf die Kaiserin, die sich soviel auf ihre Sittenstrenge zugute tat. Die Nachrichten, die sie über das Petersburger Hofleben erhielt, waren auch danach angetan, ihr angst und bange zu machen. Auch Katharina war streng und moralisch erzogen worden, aber was war aus all den guten Grundsätzen geworden, die sie in die Ehe mitbekommen hatte? Eine Herrscherin, die ihre Liebhaber zu Würdenträgern und ihre Würdenträger zu Liebhabern machte. Wie Potemkin, der, um seiner hohen Geliebten zu gefallen, Paläste und fruchtbare Gärten in der nackten Ebe12
ne errichtete und bevölkerte Städte und Dörfer in unwirtliche Gegenden stellte, um die Überzeugung Katharinas zu stärken, daß sie Rußland Glück und Wohlstand gebracht hatte, noch weitaus mehr, als sie es tatsächlich getan hatte. Maria Theresia ließ sich keine ›Potemkinschen Dörfer‹ zeigen, sie haßte die Täuschung. Sie riet auch Marie-Antoinette, den Schein nicht mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Sie selbst blieb sich auch noch auf dem Sterbebett treu und bewahrte Haltung, um ihrem Sohn Josef eine letzte große Lektion zu erteilen. »Ihre Majestät liegt schlecht«, sagte er, während sie mit dem Tod kämpfte. »Ja«, erwiderte sie überlegen, »aber gut genug, um zu sterben.«
III Im Osten Europas kündigten sich schon damals die Gegensätze an, die unweigerlich zu den großen Auseinandersetzungen der kommenden Jahrhunderte führen mußten. Rußland war der mittelbare und unmittelbare Nachbar von Ländern und Völkern des Hauses Österreich geworden, die außer der Gemeinsamkeit des gleichen Herrschers keine Gemeinsamkeit hatten. Glaubensunterschiede und Sprachverschiedenheiten erschwerten eine Vereinheitlichung der kaiserlichen Ländermasse um so mehr, als der russische Einfluß auf österreichische Untertanen durch den gleichen slawischen Sprachstamm, den ähnlichen Ursprung und den gleichen Glauben immer wieder gefördert wurde. Das wirkte sich besonders in den ehemals polnischen Landstrichen aus, im Königreich Böhmen und in den Randgebieten der Donau-Fürstentümer. Ob die Grenzen im Lauf der Ereignisse gleich blieben oder verschoben wurden, war nicht so bedeutsam wie die ununterbrochene Über13
schneidung voneinander entgegengesetzten Belangen und das gegenseitige Bedürfnis oder die Notwendigkeit, die russischen beziehungsweise die österreichischen Einflußräume zu erweitern und zu behaupten. Die Staatsmänner des Petersburger und des Wiener Hofes blieben damit beschäftigt, Unstimmigkeiten aufzuklären und bedrohliche Folgen zu vermeiden. Während Friedrich der Große das ihm durch die erste Teilung Polens zugefallene Land ›seinem‹ Preußen so einverleibte, daß die Grenzen auch in der Einbildung der zu Deutschen erzogenen Bevölkerung verschwanden, gelang es Josef II. trotz seiner Bemühungen nicht, seine slawischen, ungarischen und walachischen Untertanen zu Deutschen zu machen. Sie blieben bei ihren Gebräuchen und um so mehr bei ihrem Glauben, als Josef II. sie durch die Einführung der Glaubensfreiheit in den österreichischen Ländern darin bestärkte. Der Zwang zur deutschen Sprache, den er ausüben wollte, zeitigte den Haß der Nationen und festigte ihren Wunsch, ihre Sprache und ihre überlieferte Kultur zu bewahren. Die Sendung, zu der sich der Erbe Maria Theresias berufen fühlte, war undankbar. Trotz der Gründung der vielfältigen Wohlfahrtsanstalten, trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft, trotz der Glaubens- und Pressefreiheit waren die Untertanen Josef II. unzufrieden. Er glaubte zuerst, daß es ihm gelungen sei, seine Völker durch die Freiheiten, die er ihnen einräumte, über ihre tatsächliche Unfreiheit hinwegzutäuschen. Aber die unsichtbare Armee, die er geschaffen hatte, ein Heer von Geheimagenten und Polizeispitzeln, belehrte ihn eines Besseren. Er erfuhr, daß das Volk seine ehrgeizigen Rüstungen mißbilligte. Was hatte er zum Beispiel durch den Aufmarsch eines ungeheuren Heeres erwirkt, als er ›ganz Bayern hatte schlucken‹ wollen? Friedrich II. war dazwischengetreten, und Josef hatte sich mit der Neuerwerbung des Innviertels begnügen müssen. Viel Lärm um wenig! Jeder im Volk wußte, daß ihm der Kaiser mißtraute, so wie das Volk ihm mißtraute. Das österreichische Spitzelwesen war ein so offenes Geheimnis, daß es selbst harmlosen Reisenden auffiel. So berichtete Nicolai über die kaiserlichen Agenten: »Dieses Ungeziefer … schleicht in allen Gestalten umher. Bald stellt es einen Wirt dar, bald 14
einen Kellner, jetzt einen Kaufmannsdiener, dann einen Pensionisten, nun einen Kammerdiener oder Sekretär. Es befühlt in der Hülle eines Doktors den Puls, schreibt in der Hülle eines Advokaten Akten und Reporte, macht in der Form eines Mönches Hausbesuche, verwandelt sich sogar in Barone und Grafen.« Auch Josef II. persönlich liebte Verkleidungen. Er reiste unter angenommenem Namen nach Rußland und nach Paris. Er trug sich als schlichter Graf in Gasthöfen ein, obwohl jeder wußte, wer der sich bescheiden gebende Herr in Wirklichkeit war. Mit unbarmherzigem Spott beschrieb eine zeitgenössische Wiener Anekdote die Versuche Josefs, sich unerkannt unter das Volk zu mischen. Er hatte sich mit einem Marktweib in ein leutseliges Gespräch eingelassen. Als er sich verabschiedete, flüsterte er ihr zu: »Ihr sollt es nie erfahren, wer ich bin: Ich bin der Kaiser Josef.«
Obwohl er sich schmeichelte, ein weitblickender und umsichtiger Mann seiner Zeit zu sein, zog Josef II. aus den blutig ausgebrochenen ›nordamerikanischen Unruhen‹ nur die Lehre, daß es für einen europäischen Herrscher nicht günstig sei, zu weit entfernte Kolonien zu besitzen. Weder er noch der alte Fürst Kaunitz glaubten, trotz der gegenteiligen Versicherungen des französischen Außenministers Vergennes, daß die ›amerikanischen Krämer‹ vor der Macht Englands bald zu Kreuze kriechen würden. Friedrich II. dessen Blick unentwegt nach dem Osten gerichtet war, nahm den im Fernen Westen ausgebrochenen Aufstand ›einiger Krämer gegen höhere oder neue Steuern und Zölle‹ mit ähnlicher Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Sein Nachbar, der Landgraf von Hessen-Kassel, lieferte für gutes Geld Soldaten an den König von England, um die amerikanischen Rebellen mit Gewalt zur Räson zu bringen. Der König von Preußen beteiligte sich nicht unmittelbar an den Ereignissen in der Neuen Welt. Er hielt seine Armee kampfbereit, um den unruhigen Nachbar, Josef II. einschüchtern zu können und für alle Überraschungen Katharinas II. gerüstet zu sein, 15
die ihn als ›alten und mürrischen Herrn‹ bezeichnet hatte. Mochte sie! Er hielt eine enge Verbindung mit den deutschen Fürsten aufrecht, um durch ein Bündnis mit den kleineren die großen Herrscher in Schach zu halten. Überdies beanspruchte die Neuordnung Preußens die Kräfte Friedrichs II. Aber sein Geist war in Amerika, ob er es wollte oder nicht: das in einem Mann verkörperte preußische Militär und seine Fähigkeit, mit geringen Mitteln große Erfolge zu erringen. Einer der ehemaligen Adjutanten Friedrichs des Großen, der Baron von Steuben, nahm am amerikanischen Befreiungskrieg teil. Seine Anheuerung zur Ausbildung der amerikanischen Freiheitskämpfer war der Einfall eines der vielseitigsten Abenteurer der Weltgeschichte gewesen. Der Pariser Uhrmacher, Höfling, Dichter und Kaufmann Beaumarchais hatte in London die Bekanntschaft eines amerikanischen Abgesandten gemacht und war, wie so oft in seinem abwechslungsreichen Leben, Feuer und Flamme für die Möglichkeit einer politischen Vermittlung gewesen, eines Geschäfts, eines Wirkungsbereichs, in dem er sich bewähren könnte. Der Überredungskunst Beaumarchais' gelang es, den französischen Außenminister Vergennes zur geheimen Auszahlung eines ausreichenden Betrages zu gewinnen, um die von den für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Amerikanern so dringend benötigten Waffen und Ausrüstungsgegenstände erwerben und nach Übersee senden zu können. Beaumarchais gründete die Firma Hortalez und Co. und verschiffte Waren im Wert von vielen Millionen an den Kongreß der Vereinigten Staaten, der in Philadelphia zusammengetreten war. Die von den im Kongreß versammelten Abgeordneten versprochene Gegenlieferung amerikanischer Erzeugnisse traf nicht ein. Beaumarchais war besorgt um sein Geld und um den Ausgang des Befreiungskrieges, an dem er auch ›seelischen Anteil‹ nahm. Deshalb versicherte er sich der Dienste Steubens und sandte ihn nach Amerika. Die Souveränität eines freien Volkes, die Grundsätze der Aufklärung, denen Beaumarchais anhing, standen auf dem Spiel. Er war nicht umsonst der Verleger der Gesammelten Werke Voltaires und hatte sich in seinen berühmten Streitschriften zum Wortführer gegen die Übergriffe der königlichen 16
Behörden aufgeworfen. Nicht nur er, sondern das ganze französische Volk verfolgte mit zunehmender Begeisterung den erst so aussichtslos scheinenden Kampf der Amerikaner gegen die englische Übermacht. Jede Niederlage, die die englischen Truppen und die hessischen Söldner in Amerika erlitten, wurde in Paris gefeiert. Unter den Freiwilligen, die sich zur Teilnahme am Befreiungskrieg meldeten, war der namhafteste der Marquis de Lafayette, der nach neueren Forschungen im Geheimdienst des Grafen von Broglie tätig war und die Verbindung Frankreichs mit George Washington, dem Oberbefehlshaber der Amerikaner, aufrechterhalten sollte.
Die Briefe, die der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika damals schrieb, blieben erhalten. In ihnen schilderte George Washington mit der ihm eigenen Größe und Einfachheit die Lage: »Wird es in künftigen Tagen jemand glauben, daß ein um die Rechte der menschlichen Natur kämpfendes Volk seine Krieger so schlecht mit dem Nötigsten versehen hat, daß die gewöhnlichsten Gegenstände, die einem Soldaten zukommen, nicht zu haben sind? Wir gleichen einem bankrotten Kaufmann, der zu arm ist, um etwas Großes zu unternehmen, und zu stolz, das Kleine zu versuchen, das in seinem Vermögen steht. Der Ehrgeiz treibt uns über unsere Fähigkeiten hinaus, und ich wünsche, daß uns unsere Armut nicht in noch unangenehmeren Farben erscheine …« Im Lager von Valley Forge, in dem George Washington mit seinen Truppen überwinterte, war die Not zum Verzweifeln. Als sein Adjutant einen Armeebericht an den neu ernannten Kriegsminister der Vereinigten Staaten absenden wollte, konnten die für das Porto nötigen sechs Cent nicht aufgebracht werden. Aber weder der Befehlshaber noch seine Männer ließen den Mut sinken. Sie, die den Ruf hatten, nichts anderes als eine Horde ungeschulter kämpfender Halbwilder zu sein, unterwarfen sich der Zucht Steubens. Mit seinen freiwilligen Offizieren und Mannschaften, die entschlossen waren, den Kampf 17
bis zum letzten Atemzug zu führen, hielt Washington durch. Er wuchs über sich selbst hinaus, obwohl seine bemerkenswerteste Eigenschaft damals Zähigkeit war, denn die geringe Truppenzahl, die ihm zu Gebote stand, machte es ihm nicht möglich, sich als Feldherr großen Stils zu erweisen. Er behauptete sich in strategisch belanglosen Scharmützeln und verlor auch nicht den kraftvollen Willen zum Sieg, wenn er eine Schlappe erlitt. Seine Erfahrungen in den Guerillagefechten des Siebenjährigen Krieges gegen die französischen Kolonisten ermöglichten es ihm, die englischen Truppenabteilungen und die hessischen Söldner immer wieder von neuem zu bekämpfen, selbst wenn er kurz vorher unterlegen war. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verkündete die Gleichheit und Freiheit der Menschen. Sie machte den Vertrag zwischen Volk und Regierung zur Grundlage der Volkssouveränität mit der Bestimmung, daß der Vertrag vom Volk einseitig gelöst werden könne. Trotz dieser dem Königtum so entgegengesetzten Grundsätze wurde die Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen amerikanischen Kolonien Englands von den Ministern Ludwigs XVI. öffentlich gutgeheißen. Frankreich erklärte England den Krieg. Bald machte in Versailles ein ungewöhnlicher Gesandter in schlichtem Rock seine Aufwartung als Bevollmächtigter der Vereinigten Staaten. Benjamin Franklin, dem Erfinder des Blitzableiters, der sich aus einem mittellosen Setzerlehrling durch eigene Kraft zu einem der führenden Männer Amerikas emporgearbeitet hatte, war es in der parfümierten Luft des französischen Hofes, in der Gesellschaft der ihn wie geputzte Affen anmutenden Damen und Herren nicht geheuer. Er schrieb: »Denken Sie sich einen alten Mann, dessen graues Haar unter einer Marderpelzmütze zum Vorschein kommt, mitten unter den Puderköpfen von Paris!« Den Eindruck, den Benjamin Franklin auf die französischen Höflinge machte, schilderte der Graf von Segur: »Nichts war überraschender als der Gegensatz … der Eleganz unserer Moden, der Pracht von Versailles … zu der fast bäurischen Kleidung, der schlichten, aber stolzen Haltung, der freien und unumwundenen Sprache, der ungekünstelten 18
und puderfreien Haartracht, zu dem antiken Wesen, das uns das Bild eines Denkers aus der Zeit Platos oder eines Republikaners aus den Tagen Catos mitten in unsere verweichlichte und sklavische Zivilisation zu zaubern schien. Dieses unverhoffte Schauspiel entzückte uns um so mehr, als es neu war und gerade in der Zeit vor sich ging, da Literatur und Philosophie das Verlangen nach Reformen, den Hang zu Neuerungen, die Keime einer lebhaften Freiheitsliebe allgemein unter uns verbreiteten.« Benjamin Franklin hatte sich nie um Modefragen gekümmert. Er war sehr erstaunt, als er erfuhr, daß die Pariser Schneider mit einemmal ›Kostüme à la Franklin‹ entwarfen. Die Freiheitskämpfer, die er als Bevollmächtigter des Kongresses vertrat, die Männer, die so abgerissen waren, daß sie nicht einmal Hosen hatten, wären noch verwunderter gewesen als er, wenn sie die Modezeichnungen gesehen hätten, die den Stil ›á l'américaine‹ prägten. Aber weder die vornehmen Herren und Damen noch die unzulänglich bekleideten Amerikaner sahen voraus, daß die ›Mode ohne Hosen‹, die die Freiheitskämpfer zwangsläufig mitmachten, die Mode der großen Revolution werden sollte, der ›Sansculotten‹, deren Vorbild sie waren. Nachdem eine königlich englische Truppenabteilung von siebentausendzweihundert Mann bei Yorktown im Staate Virginia sich den Amerikanern ergeben hatte, kam der Frieden von Versailles zustande, in dem die Vereinigten Staaten von Amerika als unabhängig anerkannt wurden. England hatte eine furchtbare Schlappe erlitten. Aber es überwand den Verlust der Kolonien, deren Wert es nie richtig beurteilt hatte, durch eine neue Entwicklung, die den erlittenen Schaden gutzumachen schien. Eine Umwälzung, die später als die ›Industrielle Revolution‹ bezeichnet wurde, hatte begonnen und gewährleistete England einen wirtschaftlichen Vorsprung. Die technischen Fortschritte machten wett, was durch die Rückschrittlichkeit der englischen Politiker verlorengegangen war. Die Dampf- und die Spinnmaschine waren erfunden worden, und es zeigte sich bald, daß nicht so sehr die schon gelungenen Verbesserungen in der Landwirtschaft den wachsenden Reichtum des Landes begründeten als die Kohlenförde19
rung, die zur Speisung der neuen Maschinen und der gewaltig zunehmenden Eisenerzeugung nötig war. Der Überseehandel blühte. An tatsächlichen Einnahmen verlor England nichts durch die unfreiwillige Aufgabe der Kolonien, die als unabhängige Vereinigte Staaten nichts dabei fanden, mit dem ehemaligen Mutterland unbeschränkten Handel zu treiben. Die großen Persönlichkeiten des amerikanischen Kongresses bereiteten die Verfassung der Vereinigten Staaten vor. Außer George Washington und Benjamin Franklin waren es vor allem John Adams, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton. Über der gewaltigen Arbeit, die sie zu bewältigen hatten, um den ersten neuzeitlichen demokratischen Bundesstaat zu formen, vergaßen sie ihre Schulden an Beaumarchais. Er erhielt vom Kongreß nichts als einen Brief, in dem ihm ›die Anerkennung der Neuen Welt‹ ausgesprochen wurde. Das bedeutete seinen Ruin. Mit ungebrochenem Lebensmut überwand er die drohende Armut und schrieb ein neues Theaterstück: ›Figaros Hochzeit‹. Es war ein gelungenes Werk, aber die Aufführung wurde polizeilich verboten, obwohl Marie-Antoinette und ihr lustiger Freundeskreis sich dafür einsetzten. Sie erreichten, daß Ludwig XVI. sich einige Szenen vorlesen ließ. »Das geht zu weit, das ist unanständig!« rief der König und stieß sich besonders an dem Satz: »Sie haben sich die Mühe genommen, geboren zu werden, sonst nichts.« Er unterbrach die Lesung: »Das ist abscheulich, das wird niemals gespielt werden. Die Aufführung wäre eine gefährliche Inkonsequenz, wenn man nicht zuvor die Bastille niederreißen wollte!« Einige Wochen, nachdem das Verbot Ludwigs XVI. in Paris bekannt geworden war, pfiffen Gassenjungen, in den Straßen herumstreichende Arbeitslose und Zeitungsverkäufer die Melodien zu den Texten Beaumarchais. So wurde das Stück volkstümlich, noch bevor es gespielt worden war. Schließlich wurde der König von seinem ganzen Hof so bestürmt, daß er nachgab. In seiner hilflosen Schwerfälligkeit versuchte er noch, Beaumarchais warnen zu lassen, er möge doch von der Aufführung Abstand nehmen, da sein Stück durchfallen werde. Der Dichter, der seine ganze künstlerische und gesellschaftliche Existenz auf diese eine Karte gesetzt hatte, erwiderte 20
dem Unterhändler Ludwigs XVI.: »Durchfallen, ja. Aber fünfzigmal nacheinander!« Als ›Figaros Hochzeit‹ aufgeführt wurde, jauchzte das Publikum in sinnloser Erregung. Erlauchte Ludwigsritter und Marktweiber, Offiziere und Bürgerinnen, Lastträger und Gräfinnen waren zu der Premiere gekommen. Ein Schauspieler, der durch das Guckloch im Vorhang in die Logen schaute, stellte belustigt fest, daß zu einem Kronrat im Saal nur der König gefehlt hätte. Auch Beaumarchais war anwesend. Er saß zwischen zwei Abbes, die ihm, wenn die Vorhersage Ludwigs XVI. richtig war und ›Figaros Hochzeit‹ durchfallen würde, geistlichen Trost spenden sollten. Der Erfolg war überwältigend. Ein magerer Militärschüler, der alle Mühe gehabt hatte, einen Stehplatz zu finden, erklärte später: »Figaros Hochzeit war nicht nur ein künstlerisches Ereignis, sondern die Revolution in vollem Gang.« Dieser einige Monate später zum Artillerieleutnant ausgemusterte Napoleon Bonaparte war einer von Tausenden und aber Tausenden, die erfaßt hatten, daß ein Dichter einen König besiegen könne, daß das Wort stärker sein konnte als das Schwert. Er war nicht in Paris, als der zweite große Skandal, der die Grundfesten des Königtums erschütterte, vor sich ging und zu einem öffentlichen Prozeß führte. In seinem Roman ›Das Halsband der Königin‹ beschrieb Alexandre Dumas d.Ä. die aufregenden Ereignisse, die den Hof Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes und die hohen Herren und Damen der großen Gesellschaft so bloßstellten, daß es, im Lichte der Zeit gesehen, nur ein Schritt von den peinlichen Ereignissen im Gerichtssaal bis zur Erstürmung der Bastille war.
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Das Halsband der Königin von Alexandre Dumas
I Der Katastrophenwinter des Jahres 1784 trieb die hilflosen Bewohner der französischen Dörfer in die Städte. Aber sogar in Paris gab es kein Brot und kein Holz. Der König spendete sein ganzes Privatvermögen, um die Not zu lindern. Es reichte nicht aus. Als endlich Tauwetter einsetzte, lagen Tausende Sterbende und Verwundete auf den Straßen von Paris. Hier hatte sich einer auf dem Glatteis ein Bein gebrochen, dort war einem mit der Deichsel eines Schlittens die Brust eingedrückt worden. Die Polizei sorgte für die Überlebenden, die dem Hunger und der Kälte entkommen waren. Die Reichen, deren Fahrzeuge die Armen verwundeten, mußten Bußen zahlen. Deshalb fuhr der Kutscher eines eleganten Schlittens überaus vorsichtig in die Rue Saint-Claude ein. Er hielt an der Ecke des Boulevards, vor einem fünfstöckigen, düster wirkenden Gebäude an. Auch das Treppenhaus war dunkel und verwahrlost. Eine einfache, an die Mauer gelehnte Leiter führte zum obersten Stockwerk. Dort öffnete sich eine morsche Tür zum Vorraum einer kahlen, spärlich beleuchteten Stube, deren Einrichtungsgegenstände die Spuren des Alters zeigten. An der Wand gegenüber dem Eingang hingen zwei Gemälde nebeneinander: Mit der Faltenmütze über dem schmalen, bleichen Gesicht, den matten Augen, der Krause am Hals gab sich Heinrich III. König von Frankreich, zu erkennen. Auf dem verblichenen Goldrahmen stand in schwarzen Buchstaben: ›Henry de Valois‹. Das zweite Porträt stammte offensichtlich aus neuerer Zeit. Es stellte eine junge Frau mit feiner, gerader Nase, hervorspringenden Backenknochen, vollen Lippen und dunklen Augen dar. Auch der Rahmen dieses Bildes trug eine Inschrift in schwarzen Buchstaben: ›Jeanne de Valois‹. 23
An einem kleinen Eichentisch in der Mitte der Stube versiegelte eine schlicht gekleidete Frau Briefe und kontrollierte die Adressen. Sie war unverkennbar das Original des Porträts. Jedesmal, wenn sie eine Adresse las, zuckte sie müde mit den Achseln. Jetzt murmelte sie: »Frau von Misery, erste Staatsdame Ihrer Majestät der Königin. Von ihr darf ich nur sechs Louisdor erwarten, sie hat mir schon etwas gegeben.« Jeanne seufzte und sagte halblaut vor sich hin: »Wir haben also für die nächste Woche nur acht Louisdor sicher.« Sie hörte das schrille Läuten der Glocke. Kam jemand? Sie raffte die auf dem Tisch herumliegenden Briefe zusammen, schob sie in eine Schublade und setzte sich eilig auf das schäbige Sofa – in der demütigen und traurigen Haltung einer in ihr Schicksal ergebenen Person. Im Vorzimmer wurde geflüstert. Sie hörte eine frische, angenehme Stimme: »Wohnt hier die Frau Gräfin Jeanne la Motte?« »Die Frau Gräfin Jeanne la Motte-Valois«, verbesserte die alte Kammerfrau, die die morsche Tür geöffnet hatte. Sie setzte nach einer kleinen Pause hinzu: »Jawohl, Madame, sie wohnt hier.« »Ist die Frau Gräfin zu Hause?« »Jawohl, Madame, sie ist zu leidend, um auszugehen.« Während dieses Gesprächs blickte die angeblich Kranke in den Spiegel und sah, daß sich die Besucherin umgedreht hatte. Sie sprach zu einer anderen, im Schatten gebliebenen Dame: »Es ist hier, Madame.« Zwei vornehme Damen der Gesellschaft traten in die ärmliche Stube ein. Die ältere der beiden war ungefähr dreißig Jahre alt. Sie war eine Schönheit. Obwohl sie ihre Taftkapuze so tief in die Stirne gezogen hatte, daß ihr Gesicht im Schatten blieb, sah es Jeanne mit einem Blick. Sie erkannte auch, daß diese Dame von edler Abstammung sein müsse. Die andere Besucherin verbarg die hochmütige Schönheit ihres Gesichtes nicht. Jeanne schlug die Augen nieder und fragte bescheiden, welchem glücklichen Umstand sie den Besuch zu verdanken habe. »Wir sind die Verwalterinnen einer wohltätigen Stiftung«, erklär24
te die jüngere. »Man hat uns Ihre Notlage geschildert, und wir wollen genauere Erkundigungen über Sie und Ihre Verhältnisse einziehen.« Jeanne zögerte einen Augenblick, dann wies sie in die Richtung der Gemälde. »Meine Damen«, sagte sie leise, »Sie sehen hier das Porträt Heinrichs III. des Bruders meines Ahnherrn. Ich bin aus dem Blut der Valois, wie man Ihnen vielleicht gesagt hat.« Die ältere der beiden Damen fragte: »Ist es wahr, daß Ihre Frau Mutter« – sie zögerte – »Verwalterin eines Hauses, genannt Fontette, gewesen ist?« Jeanne errötete und erwiderte rasch: »Es ist wahr, Madame, meine Mutter war Verwalterin eines Hauses, das Fontette genannt wurde. Und da meine Mutter bestrickend hübsch war, verliebte sich mein Vater. Er heiratete sie. Durch meinen Vater bin ich ein direkter Abkömmling der Valois. Es ist Ihnen gewiß nicht unbekannt, daß nach der Thronbesteigung Heinrichs IV. durch den die Krone Frankreichs vom Hause Valois auf das Haus Bourbon überging, unsere Familie noch Nachkommen hatte. Sie blieben allerdings im Dunkel, doch stammen sie unbestreitbar aus dem Geschlecht der vier königlichen Brüder, die ein so unseliges Ende nahmen.« Jeanne fuhr fort, als die beiden Damen zustimmend nickten. »Aus Angst vor Verfolgung vertauschten die Valois ihren Namen mit dem Namen Remy, einem Gut, das sie besaßen. Mein Großvater aber nahm wieder den Namen Valois an und lebte im Schatten der Armut in seiner Provinz, ohne daß jemand am Hofe Frankreichs davon Kenntnis nahm, daß außerhalb des Strahlenkreises des Thrones ein Abkömmling der, wenn auch nicht glorreichen, so doch unglücklichsten Könige vegetierte.« »Sie haben ohne Zweifel Ihre Papiere in Ordnung?« fragte die ältere der beiden Damen in mildem Ton, während sie die Frau betrachtete, die sich als Abkömmling der Valois ausgab. »Die Beweise habe ich«, erwiderte Jeanne mit bitterem Lächeln. »Mein Vater hat dafür gesorgt. Er hinterließ mir die Urkunden in Ermangelung einer anderen Erbschaft.« »Ihr Vater ist gestorben?« 25
»Mein Vater, Baron von Valois, ein Nachkomme des Bruders von Heinrich III. ist im Armenhaus von Paris gestorben.« Die beiden Besucherinnen stießen einen Laut erschreckten Erstaunens aus. Zufrieden mit der Wirkung, die sie durch ihre geschickte Darstellung erzielt hatte, blickte Jeanne unbeweglich mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin. »Nach dem, was Sie uns erzählt haben, haben Sie schweres Unglück erlitten«, begann die ältere der Damen. »Und der Tod Ihres Herrn Vaters …« Jeanne unterbrauch. »Oh, wenn ich Ihnen mein Leben erzählen würde, Madame, dann würden Sie sehen, daß der Tod meines Vaters nicht das größte Unglück war. Daß mein Vater nicht mehr um jeden Bissen Brot betteln muß und daß Gott ihn zu sich gerufen hat, dafür danke ich Gott. Aber ich beklage mich über Gott, daß er meine Mutter hat leben lassen.« Sie fuhr eifrig fort: »Ich begreife, daß eine solche Blasphemie einer Erklärung bedarf. Ich werde sie geben. Ich sagte schon, Madame, mein Vater hatte eine Mißheirat gemacht.« »Indem er diese Hausverwalterin heiratete?« »Ganz richtig. Statt stolz und dankbar für die Ehre zu sein, richtete meine Mutter meinen Vater zugrunde. Das war nicht schwer, da sie auf Kosten des Wenigen, das ihr Mann besaß, ihre anspruchsvollen Neigungen befriedigte. Sie überredete ihn, nach Paris zu ziehen, um die Rechte in Anspruch zu nehmen, die seinem Namen gebührten. Mein Vater war leicht zu überreden. Er rechnete wohl auch mit der Gerechtigkeit des Königs. In unnützen, fruchtlosen Gesuchen erschöpfte er sich. Meine Mutter, die ein Opfer brauchte, schob die Schuld seines Versagens auf mich. Sie machte mir jede Mahlzeit zum Vorwurf. Mein Vater versuchte, mich gegen meine Mutter in Schutz zu nehmen, und bemerkte nicht, daß er sie dadurch zu meiner Feindin machte. Meine Mutter schlug mich einmal derart, daß ich lange krank war. Meinen Vater nötigte sie, ins Armenhaus zu gehen, wo er starb.« »Aber was machten Sie dann, als Ihr Vater tot war?« fragte die jüngere Besucherin bewegt. »Gott hatte Mitleid mit mir«, erwiderte Jeanne. »Einen Monat nach 26
dem Tod meines armen Vaters lief unsere Mutter mit ihrem Liebhaber, einem Soldaten, davon und ließ meinen Bruder und mich im Stich. Die öffentliche Wohltätigkeit adoptierte uns, und wir bettelten nach Maßgabe unserer Bedürfnisse. Eines Morgens hatte ich das Glück, einem langsam fahrenden Wagen zu begegnen, in dem eine noch junge Frau saß. Sie wollte wissen, wer ich sei. Mein Name setzte sie in Erstaunen. Sie glaubte mir nicht. Doch am nächsten Tag überzeugte sie sich davon, daß ich nicht gelogen hatte. Sie nahm sich meiner und auch meines Bruders an, brachte ihn zu einem Regiment und mich in ein Nähhaus. Wir waren beide vor dem Hunger geschützt.« »War diese Dame nicht Frau von Boulainvilliers? Sie ist, wie ich glaube, gestorben.« Jeanne nickte traurig. »Aber Herr von Boulainvilliers lebt doch noch. Und er ist reich.« »Herr von Boulainvilliers verlangte einen Preis für seine Wohltätigkeit«, erklärte Jeanne. »Ich war herangewachsen. Er sagte, ich sei schön und begehrenswert. Ich verweigerte mich ihm. Dies ist meine Geschichte, Madame. Ich habe es kurz gemacht. Die Leiden haben Längen, mit denen man glückliche Menschen verschonen soll.« Die ältere der beiden Damen brach das Schweigen zuerst: »Sie sind doch verheiratet, nicht wahr?« »Der Graf la Motte ist mein Mann. Er dient bei der Gendarmerie. Er ist in Garnison und wartet auf bessere Zeiten.« »Können Sie tatsächlich die rechtskräftigen Beweise Ihrer Abstammung liefern?« Jeanne holte ein Bündel Papiere aus einem Schrank. Nach einer aufmerksamen und verständigen Prüfung der Urkunden bestätigte die Dame: »Diese Unterlagen sind vollkommen in Ordnung. Verfehlen Sie nicht, sie geeigneten Ortes vorzulegen.« »Und was werde ich Ihrer Meinung nach dadurch erreichen, Madame?« »Ohne Zweifel eine Pension für Sie und eine Beförderung für den Grafen la Motte.« »Er verdient es. Mein Mann ist die Ehrenhaftigkeit in Person.« »Das genügt, Madame.« Die ältere der beiden Damen legte eine 27
Geldrolle auf Jeannes ärmlichen Nähtisch. »Ich bin bevollmächtigt«, sagte sie, »Ihnen fürs erste diese geringe Unterstützung anzubieten. Auf Wiedersehen, Frau Gräfin!« Jeanne fragte atemlos. »Wo könnte ich die Ehre haben, Ihnen zu danken, meine Damen?« »Wir werden es Sie wissen lassen! Nochmals auf Wiedersehen!« Das Geräusch ihrer Schritte verlor sich in der Tiefe der unteren Stockwerke. Jeanne lauschte gespannt. Als sie sich umwandte, stolperte sie über einen Gegenstand. Sie bückte sich und hob eine runde, glatte goldene Dose auf. Sie öffnete die Dose und sah ein ernstes, von kräftiger Schönheit und gebieterischer Majestät belebtes Frauenporträt. Ein deutscher Kopfputz, ein prächtiges Halsband, wie das eines Ordens. Die Initialen M.T. darunter waren von einem Lorbeerkranz umschlungen. Jeanne eilte zum Fenster. Das einzige, was sie von ihren Wohltäterinnen noch sehen konnte, war der elegante Schlitten, der sich rasch entfernte. Sie nahm sich vor, die goldene Dose nach Versailles zu bringen, denn es schien ihr sicher, daß die beiden Damen nur aus dem Schloß des Königs gekommen sein konnten. Sie griff nach der auf dem Nähtisch liegenden Geldrolle. Sie traute ihren Augen nicht. »Hundert Louisdor!« Sie wiederholte fassungslos: »Hundert Louisdor! Echte Goldstücke! Diese Damen sind also sehr reich!« Sie warf einen verständnisvollen Blick auf die Dose. »Ich werde sie zu finden wissen!«
II Die mächtigen Umrisse des Schlosses von Versailles ragten breit in den nächtlichen Himmel. Die Turmuhr schlug laut. »Großer Gott, es ist schon drei Viertel zwölf!« riefen die beiden Be28
sucherinnen der Gräfin la Motte wie aus einem Munde und stiegen aus ihrem Schlitten. »Alle Gittertore sind geschlossen«, klagte die jüngere. »Das macht nichts, liebe Andrea, denn wenn das Gitter auch offen gewesen wäre, hätten wir doch nicht den Ehrenhof benützt. Wir gehen durch den Eingang, der in die Gärten führt.« Sie hielt beunruhigt inne und sagte plötzlich unsicher: »Das kleine Tor ist auch geschlossen.« »Klopfen wir, Madame.« »Nein, rufen wir. Laurent muß mich erwarten. Ich habe ihm gesagt, daß ich vielleicht spät zurückkomme.« Als sich Andrea dem Gitter näherte, rief eine Stimme von der anderen Seite des Gitters: »Wer ist da?« »Das ist nicht die Stimme von Laurent«, flüsterte Andrea erschrocken. »Laurent!« rief die ältere der beiden Damen. »Es ist kein Laurent hier«, erwiderte die barsche Stimme. »Öffnen Sie das Tor nur, mag es nun Laurent sein oder nicht!« »Ich öffne nicht. Ich kümmere mich den Teufel um Laurent, ich habe meinen Befehl! Wer sind Sie?« »Wir sind Damen vom Gefolge Ihrer Majestät der Königin. Wir wohnen im Schloß und möchten in unsere Wohnung.« »Und ich bin ein Schweizer von der ersten Kompanie und werde Sie vor dem Tor stehenlassen. So lautet mein Befehl!« »Ich verstehe, daß Sie Ihre Befehle befolgen, das ist die Pflicht eines guten Soldaten. Aber ich bitte Sie, tun Sie mir nur den Gefallen, Laurent, den Kammerdiener der Königin zu benachrichtigen, daß wir hier sind.« »Bedaure, ich kann meinen Posten nicht verlassen.« »Schicken Sie jemanden.« »Ich habe niemand.« »Grenadier, hören Sie«, sagte die ältere der beiden Damen entschlossen, »zwanzig Louisdor für Sie, wenn Sie öffnen.« »Und zehn Jahre Kerker! Ich danke.« »Wer hat Ihnen denn diesen Befehl gegeben?« 29
»Der König.« »Der König – wir sind verloren«, flüsterte Andrea. »Das ist ein abscheulicher Streich des Königs«, gab die andere zurück. Die Turmuhr schlug Mitternacht. Auf dem zu dieser Stunde sowenig betretenen Pflaster erklangen Schritte. Heiteres Singen wurde hörbar. »Ich erkenne diese Stimme«, sagte die ältere der beiden Damen. »Es ist …« Sie lauschte. »Er ist's! Er wird uns helfen.« In einen weiten Pelzmantel gehüllt, näherte sich ein hochgewachsener Mann. Der Graf von Artois. Er nahm von der Anwesenheit der Damen keine Kenntnis und klopfte an das Tor. Auch er rief vergeblich nach Laurent. Die ältere der beiden Frauen trat vor und berührte seine Schulter. »Mein Schwager!« »Die Königin!« Der Graf wich einen Schritt zurück. »Sie sind allein?« »Fräulein Andrea von Taverney ist mit mir.« Der Graf verbeugte sich vor Andrea. Er fragte: »Sie gehen aus, meine Damen?« »Nein, wir möchten nach Hause.« »Haben Sie Laurent nicht gerufen?« »Doch. Rufen Sie ihn nochmals, und Sie werden sehen, was passiert.« »Laurent!« rief der Graf laut. »Nun fängt das schon wieder an.« Die verärgerte Stimme des Schweizers drohte: »Ich werde den Offizier rufen lassen.« »Genau das wünsche ich«, erklärte der Graf. Wieder wurden Schritte jenseits des Gitters vernehmbar. Die Königin und Andrea stellten sich hinter den Grafen von Artois, um mit ihm eintreten zu können. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Der Offizier kam, aber das Tor blieb verschlossen. »Hören Sie, Leutnant, Sie wagen viel! Ich bin der Graf von Artois! Hat der König Ihnen befohlen, seinen Bruder wie einen Bettler oder einen Dieb wegzujagen?« 30
»Ich würde all mein Blut für Eure Königliche Hoheit geben«, erwiderte der Offizier. »Doch seine Majestät der König hat mir die Bewachung dieses Tores anvertraut. Er befahl, niemand nach elf Uhr einzulassen, selbst ihn nicht, den König. Ich bitte Sie also um Verzeihung! Ich bin Soldat. Ich muß gehorchen!« Nach einem ehrerbietigen Gruß kehrte er auf seinen Posten zurück. Die Königin ergriff verzweifelt die Hand ihres Schwagers. »Ist es bekannt, daß Sie ausgegangen sind?« fragte er. »Ich weiß nicht.« »Der König hat diesen Befehl gewiß nur gegen mich erlassen. Er weiß, daß ich bei Nacht ausgehe und sehr oft spät zurückkomme.« »O nein, lieber Schwager. Ich danke Ihnen für den Takt, mit dem Sie mich zu beruhigen versuchen. Aber ich fürchte, dieser Befehl ist gegen mich gerichtet.« »Unmöglich, der König hat zuviel Achtung …« »Das weiß ich, aber ich stehe vor diesem Tor und kann nicht hinein. Und aus einer ganz unschuldigen Sache wird ein abscheulicher Skandal entstehen. Ich weiß, daß ich einen Feind beim König habe.« »Es ist möglich, daß Sie einen Feind beim König haben. Ich aber habe eine Idee.« »Wenn Sie uns nur vor der Lächerlichkeit dieser Situation bewahrt!« »Ich hoffe, daß es gelingt. Ich bin nicht dümmer als er, wenn ich auch nicht so gebildet bin wie er.« »Wer er?« »Der Graf von Provence«, sagte Artois verächtlich. »Sie glauben also auch, daß er mein Feind ist? Wissen Sie etwas über diese Intrige?« »Vielleicht. Doch es ist besser, wir bleiben nicht hier stehen. Es ist eine Hundekälte. Kommen Sie mit mir an einen Ort, wo es weniger kalt ist. Kommen Sie, und unterwegs sage ich Ihnen, was ich über den Torschluß denke.« Im Gehen erzählte der Graf: »Herr Provence, mein teurer und unwürdiger Bruder, kam heute mit der Bitte zum König, der Königin nach dem Souper seine Aufwartung machen zu dürfen.« »O Gott«, hauchte Marie-Antoinette. 31
»Der König war der festen Überzeugung, daß Sie in Ihren Gemächern seien«, fuhr der Graf fort. »Als mein Bruder ihm zu verstehen gab, daß er sie besucht, aber nicht angetroffen habe, wurde der König mißtrauisch. Er verabschiedete uns und hat Erkundigungen eingezogen. In seiner Eifersucht hat er diese Verfügung erlassen, um sich über Ihre Abwesenheit Gewißheit zu verschaffen.« »Ein abscheulicher Streich, das müssen Sie mir zugeben.« »Ich gebe es zu.« Der Graf blieb stehen. »Wir sind an Ort und Stelle.« »Dieses Haus?« fragte Marie-Antoinette. »Mißfällt es Ihnen?« »Im Gegenteil, ich bin entzückt. Doch Ihre Leute, wenn Sie mich hier sehen?« »Treten Sie ruhig ein. Ich bürge Ihnen dafür, daß niemand Sie sieht.« Der Graf öffnete eine zierlich geschnitzte Haustüre, die sich geräuschlos hinter ihnen schloß. Ein kleines, mit Rosenholz getäfeltes Vorzimmer führte in ein weißes Boudoir. Das Schlafzimmer war blau und das kostbare Bett mit Spitzen und Seide ausgeschlagen. Ein behagliches Feuer brannte im Kamin. Wohlriechende Kerzen verbreiteten Wärme und Licht. Kein lebendes Wesen zeigte sich. »Ich begreife, daß die Gräfin von Artois zuweilen unruhig ist«, scherzte die Königin. »Zugegeben, doch heute nacht hat sie bestimmt keinen Grund, unruhig zu sein.« »Machen wir es kurz«, sagte Marie-Antoinette und setzte sich auf das Bett. »Ich bin furchtbar müde. Eine letzte Frage, Schwager. Wie sollen wir Sie zurückrufen, wenn Sie weggehen?« »Sie brauchen mich nicht mehr. Hier einquartiert, verfügen Sie mühelos über das ganze Haus ohne die geringste Bedienung. Sie gehen am besten um drei Viertel sechs von hier weg. Der für die Nacht gegebene Befehl wird bei Tagesanbruch hinfällig. Um sechs Uhr morgens werden alle Tore geöffnet. Dann gelangen Sie ungehindert ins Schloß, gehen in Ihre Zimmer, legen sich ins Bett und kümmern sich um nichts mehr. Ich verlasse Sie jetzt. Es wäre unpassend, wenn ich die Nacht unter einem Dach mit Ihnen verbrächte.« 32
»Aber Sie müssen doch auch die Möglichkeit haben zu schlafen? Wir stören Ihre Bequemlichkeit.« »Seien Sie unbesorgt, Madame, ich habe noch drei ähnliche Häuser für meine Nächte als Privatmann.« Der Graf von Artois empfahl sich mit einer respektvollen Verbeugung: »Gute Nacht, Madame.« »Und er sagt«, lachte die Königin, »daß die Gräfin von Artois keinen Grund hat, unruhig zu sein.«
III In einem violetten Morgenanzug, ohne Orden, ohne Puder, so wie er aus dem Bett gekommen war, pochte Ludwig XVI. an die Tür des Vorzimmers der Königin. Die Kammerfrau vom Dienst öffnete. Sie knickste: »Sire.« Kurz angebunden fragte der König. »Wo ist die Königin?« »Ihre Majestät schläft, Sire.« Der König schob die Kammerfrau beiseite. »Sehen Sie nicht, daß ich hinein will?« fragte er. Vor der Tür des Schlafzimmers sah er Frau von Misery, die erste Kammerfrau der Königin. Sie las die Messe in ihrem Gebetbuch. Als sie den König erblickte, stand sie auf. »Sire«, sagte sie leise mit einer tiefen Verneigung. »Ihre Majestät hat noch nicht gerufen.« »Hat noch nicht gerufen!« Der König fragte scharf: »Sie wissen bestimmt, daß die Königin in ihrem Bett ist? Sie wissen bestimmt, daß sie schläft?« »Ich möchte nicht behaupten, daß Ihre Majestät schläft«, gab die Kammerfrau verhalten zurück, »aber ich weiß bestimmt, daß sie in ihrem Bett ist.« Ludwig XVI. öffnete rasch die Tür und stand auch schon am Bett der Königin. 33
»O Frau von Misery, was machen Sie denn für Lärm!« beklagte sich Marie-Antoinette. »Jetzt haben Sie mich aufgeweckt!« Der König erkannte die Stimme der Königin. Erstaunt blieb er stehen. Er murmelte: »Ich bin nicht Frau von Misery.« Die Königin setzte sich auf. »Sie sind es, Sire?« Sie fragte: »Was für ein guter Wind führt Sie hierher?« Der König wich der Frage aus und blickte sich rasch im Zimmer um. »Sie haben einen tiefen Schlaf«, sagte er. »Ich habe lange gelesen, und wenn mich Eure Majestät nicht geweckt hätten, würde ich jetzt noch schlafen.« »Woher kommt es, daß Sie gestern keine Besuche empfangen haben, Madame?« »Was für Besuche denn?« Die Königin besann sich geistesgegenwärtig: »Ihren Bruder, Herrn von Provence?« »Ganz richtig. Mein Bruder wollte Sie begrüßen, und man hat ihn nicht eingelassen. Man sagte ihm, Sie seien abwesend.« »Ich legte mich gestern schon um acht Uhr ins Bett, um seinem Besuch auszuweichen, das gebe ich gern zu. Er ermüdet mich. Auch liebt er mich nicht.« Marie-Antoinette machte eine kleine Pause und sah den König forschend an: »Man könnte glauben, Sie zweifeln.« Der König gestand kleinlaut: »Ich dachte, Sie waren zu dieser Zeit in Paris.« »Sie wollen also die genaue Stunde meiner Rückkehr aus Paris wissen. Frau von Misery!« rief die Königin. Sie wandte sich der Kammerfrau zu: »Wieviel Uhr war es, als ich gestern von Paris zurückkam?« »Ungefähr acht Uhr, Eure Majestät.« Ludwig XVI. wurde verlegen. Er versuchte zu verbergen, wie sehr er sich seines Verdachtes schämte. Er wollte seiner Frau die Hand küssen, aber sie entzog sie ihm. »Sire«, sagte sie abweisend, »eine Königin von Frankreich lügt nicht. Damit will ich sagen, daß ich gestern abend nicht um acht Uhr zurückgekommen bin … und daß ich erst heute morgen um sechs Uhr zu Hause war.« »Madame!« 34
»Ich hätte wie eine Bettlerin vor der Tür gestanden, wenn nicht der Graf von Artois mir ein Asyl angeboten hätte.« »Ich hatte also recht«, sagte der König mit düsterem Gesicht. »Oder wollen Sie mir sagen, daß Sie recht haben, wenn Sie mit Ihren Kavalieren wegfahren und die ganze Nacht nicht nach Hause kommen, während ich bis spät in die Nacht arbeite? Ist das einer Frau, einer Königin, einer Mutter würdig?« »Ihre Frage verdient nur meine Verachtung«, erwiderte die Königin stolz, »aber ich beantworte sie. Ich war in Paris, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß der König von Frankreich, dieser philosophische König, dieser moralische König, der die Armen ernährt und die Liebe seines Volkes durch seine Wohltätigkeit verdient, einen Abkömmling der regierenden Könige vergessen hat und in Not und Elend verkommen läßt.« »Ich?« fragte der König erstaunt. »Ich?« »Sie!« bestätigte die Königin. »In einer verwahrlosten Wohnung, ohne Heizung, ohne Licht und ohne Geld, so fand ich die Enkelin eines großen Fürsten. Ich gab diesem Opfer Ihrer königlichen Gleichgültigkeit hundert Louisdor.« »Madame«, der König wollte einlenken. »Sie wissen doch, daß ich Sie in keiner Weise verdächtigt habe. Sie haben Gutes getan wie immer.« Er setzte mit einem Seufzer hinzu: »Doch indem Sie anderen Gutes tun, fügen Sie sich selbst Schaden zu. Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache.« Er ergriff ihre Hand, die sie ihm jetzt nicht mehr entzog. »Sagen Sie mir, was ich vergessen habe, Madame. Nennen Sie mir die Umstände, und ich werde es gutmachen, wenn ich kann.« »Der Name Valois ist Ihnen sicher bekannt genug.« Der König lachte auf: »Das ist es! Jetzt weiß ich, was Sie beschäftigt. Die kleine Valois, nicht wahr? Eine Gräfin von … von …« »Von la Motte«, fiel die Königin ein. »Von la Motte, ganz richtig. Ihr Mann ist Gendarm. Diese Frau ist eine Intrigantin. Bitte, ärgern Sie sich nicht. Sie setzt Himmel und Hölle in Bewegung, sie überläuft die Minister, sie quält meine Tanten, sie überschüttet mich mit Bittschriften.« 35
»Aber bis jetzt ohne Erfolg.« »Das leugne ich nicht.« »Ist sie eine Valois, oder ist sie keine?« »Ich glaube, daß sie eine ist.« »Also! Eine anständige Pension für sie. Ein Regiment für ihren Mann. Kurz, ein anständiges Leben!« »Ich habe keine Regimenter mehr zu vergeben, Madame, nicht einmal an diejenigen, die bezahlen könnten oder sie verdienen würden. Wir müssen uns alle einschränken, meine Liebe!« »Eine kleine Pension also, Sire.« »Durchaus nicht. Durchaus nichts Fixes. Ich will keine Verpflichtungen für die Zukunft. Diese Leute sind wie Blutegel. Habe ich Lust zu geben, so werde ich geben, aber erst, wenn ich Geld im Überfluß habe. Ihr gutes Herz hat sich wieder einmal betören lassen, meine liebe Antoinette. Ich möchte Ihnen nicht alles erzählen, was ich von der kleinen Valois weiß. Aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen wirklich nicht böse war, als ich hierherkam.« Lächelnd zog der König ein rotes Etui aus der Tasche. Marie-Antoinette öffnete es neugierig. Atemlos rief sie: »Gott, ist das schön!« Es war ein prachtvolles Diamantenhalsband. Jeder Stein hatte ein eigenes Leben und fing das Tageslicht in seinen Facetten auf. Es sprühte und funkelte von Schein und Widerschein. »Das ist herrlich«, sagte die Königin. »Unbeschreiblich schön«, wiederholte sie immer wieder. »Sind Sie zufrieden?« fragte Ludwig XVI. »Zufrieden? Ich bin begeistert. Sie machen mich glücklich, Sire. Sehen Sie doch, die Diamanten haben die Größe von Haselnüssen. Und wie geschickt sie verarbeitet sind! Der Juwelier, der sie gefaßt hat, ist ein Künstler.« »Es sind zwei Juweliere«, erklärte der König. »Dann wette ich, es sind die Herren Böhmer und Bossange.« »Sie haben es erraten, Madame.« 36
Die Königin konnte sich erst nicht am Glanz und Farbenspiel sattsehen. Dann wurde sie nachdenklich. »Das Halsband ist sehr teuer, nicht wahr?« fragte sie. »Ja«, erwiderte der König lachend, »doch wenn Sie es tragen werden, wird es erst seinen wirklichen Wert bekommen. Machen Sie mir doch die Freude, das Halsband an Ihnen zu sehen.« Marie-Antoinette hielt ihn zurück, als er ihr die Diamanten um den Hals legen wollte. »Nehmen Sie sie zurück«, sagte sie. »Sie wollen das Halsband nicht tragen, Madame?« »Nein! Ich schätze den Wert dieser Diamanten auf fünfzehnmal hunderttausend Livre. Ist es nicht so?« »Ich leugne es nicht.« »Ich weigere mich, mir anderthalb Millionen an den Hals zu hängen, während die Kassen des Königs leer sind, während der König gezwungen ist, Unterstützungen abzulehnen und den Armen zu sagen: Ich habe kein Geld mehr, Gott steh' euch bei!« »Meinen Sie das im Ernst, Madame?« »Sie sagten mir einmal, Sire, für fünfzehnmal hunderttausend Livre könnte man ein Linienschiff haben. Ich denke, der König von Frankreich braucht ein Linienschiff dringender als die Königin von Frankreich ein Halsband.« Der König war gerührt. Er umarmte und küßte sie. »Ich danke Ihnen, Antoinette. Sie sind eine großartige Frau. Man wird Sie in Frankreich segnen, Madame, wenn man das erfährt.« Die Königin seufzte leise. »Ist das ein Seufzer des Bedauerns?« fragte der König lebhaft. »Noch ist es Zeit. Das Geld liegt bereit. Seien Sie nicht so uneigennützig, Madame.« Marie-Antoinette unterbrach: »Nein, ich will dieses Halsband nicht. Ich habe es mir gut überlegt. Doch ich will etwas anderes, das nicht soviel kosten wird. Ich möchte noch einmal nach Paris. Ich möchte den berühmten Dr. Mesmer aufsuchen.« Der König zögerte und schüttelte den Kopf. In seinem breiten Gesicht spiegelte sich seine Hilflosigkeit. »Den berühmten Dr. Mesmer?« fragte er und überlegte, während 37
die Königin schwieg. Nach einer kleinen Weile sagte er: »Einverstanden! Sie haben ein Geschenk von anderthalb Millionen ausgeschlagen. Da muß ich es wohl über mich bringen, Ihnen diese Bitte zu erfüllen. Gehen Sie zu Herrn Mesmer. Doch lassen Sie sich von einer Prinzessin von Geblüt begleiten. Und ich werde sofort mein Linienschiff bestellen. Ich taufe es: Das Halsband der Königin. Sie werden die Patin sein, Madame.« Er küßte Marie-Antoinette ehrerbietig die Hand.
IV Am gleichen Morgen zählte Frau von la Motte immer wieder die hundert Louisdor, die sie von der unbekannten Wohltäterin empfangen hatte. Sie war mitten im schönsten Pläneschmieden, als ihr die alte Kammerfrau einen Brief überreichte. Das war nichts Ungewöhnliches, aber Jeanne glaubte, das Wappen des Siegels zu kennen. Die Handschrift jedoch war nichtssagend. Sie öffnete den Brief und las: »Madame, die Person, an die Sie ein Gesuch gerichtet haben, wird Sie morgen abend besuchen, wenn Sie die Güte haben werden, sie zu empfangen.« Die Gräfin war enttäuscht. Sie hatte an so viele Leute geschrieben. Wie sollte sie wissen, wer ihr geantwortet hatte, der Brief hatte keine Unterschrift. Sie betrachtete sich das Siegel nochmals. »Wo habe ich meine Augen!« rief sie laut. »Das ist das Wappen der Rohan! Dieser Brief ist vom Kardinal. Ich habe an ihn geschrieben. Der Kardinal von Rohan!« Sie lachte vor sich hin: »Ob ich die Güte haben werde, ihn zu empfangen! Morgen abend also«, dachte sie und überlegte im gleichen Augenblick: »Meine armselige Wohnung ist nicht gut genug für einen Kirchenfürsten, für einen Herzensbrecher, der in den eleganten Boudoirs schöner Frauen zu Hause ist.« 38
Sie warf einen raschen Blick auf ihre Louisdor: »In Paris kann man mit gutem Geld alles mieten, was man nicht kaufen kann.« Sie entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit. Eine Wohnung im dritten Stock ihres Hauses war am nächsten Tag frei. Sie mietete sie, und stattete sie mit sorgfältig ausgewählten, in Eile gemieteten Möbeln aus. Die alte Kammerfrau hatte die Fenster geputzt, im Kamin brannte ein Feuer. Teppiche, Kerzen, Blumen, alles war bereit, um seine Eminenz den Kardinal von Rohan gebührend zu empfangen. Nun widmete sich Jeanne mit Sorgfalt ihrer Toilette. Sie war mit ihrer Erscheinung zufrieden, machte es sich in einem bequemen Fauteuil gemütlich, nahm ein Buch zur Hand und wartete. Die Zeit verging langsam. Es schlug Mitternacht. Kein Wagen kam. Kein Kardinal. Nichts. Allein, umgeben von den gemieteten Möbeln und den seidenen Vorhängen, lief Jeanne im festlich geschmückten Wohnzimmer auf und ab. Sie war außer sich. Um ihre Wut zu betäuben, fand sie endlich eine Entschuldigung für den Kardinal: Er kannte sie ja noch nicht. Sie betrachtete sich lange und wohlgefällig im Spiegel: Die Entschuldigung war gut. Wenn er sie schon gekannt hätte, wäre er gewiß gekommen. Am nächsten Abend machte Jeanne wieder große Toilette. Aber diesmal brauchte sie nicht lange zu warten. Die Klingel ertönte schon um sieben Uhr. Das Herz Jeannes klopfte so heftig, daß sie selbst es hörte. Schnell legte sie eine Stickerei auf den Tisch, eine neue Komposition auf das offene Klavier und rückte eine Zeitung auf der Ecke des Kamins zurecht. Sie lauschte: ein leichter Schritt. Ein hochgewachsener, schlanker, in weltlicher Tracht elegant gekleideter Mann trat ein. Jeanne erhob sich und betrachtete das edle Gesicht. »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« fragte sie. »Ich bin der Kardinal von Rohan.« Frau von la Motte gab sich den Anschein, als erröte sie und wäre verwirrt. Sie verneigte sich demütig, wie man sich nur vor Königen verneigt. Dann rückte sie einen Sessel behutsam zurecht. Der Kardinal blieb aufrecht stehen und legte seinen Hut auf den 39
Tisch. Er blickte Jeanne aufmerksam an. »Es ist also wahr, Mademoiselle …« »Madame«, unterbrach ihn Jeanne. »Verzeihen Sie … ich vergaß … Madame …« Jeanne erklärte: »Mein Mann nennt sich Graf von la Motte, Monseigneur.« »Ganz richtig, Gendarm des Königs oder der Königin. Und Sie, Madame, sind eine geborene Valois?« Der Kardinal setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Ein großer Name, ein seltener, ein erloschener Name.« »Der Name ist nicht erloschen, Monseigneur, da ich ihn führe und einen Bruder habe, den Baron von Valois.« Mit einem Unterton von Hochmut sagte der Kardinal: »Erzählen Sie mir ein wenig von dieser Erbschaft. Es interessiert mich. Ich liebe die Wappenkunde.« Jeanne erzählte ihre Geschichte. Der Kardinal hörte zu und sah sie dabei abschätzend an. Er glaubte ihr kein Wort. Er sah nur, daß sie reizvoll war. Jeanne erriet seine Gedanken. Sie wurde unruhig. Der Kardinal blickte sich um. »Diese Wohnung ist bequem und gut möbliert. Man hat die Schwierigkeiten Ihrer Lage bedeutend übertrieben.« »Ich glaube nicht«, erwiderte sie, »daß Sie diese Einrichtung standesgemäß nennen können.« Er lächelte ironisch: »Ach ja, Sie sind eine Prinzessin.« »Ich bin als eine Valois geboren wie Sie als ein Rohan!« »Dieser Stolz gefällt mir!« Der Kardinal betrachtete Jeanne mit zunehmendem Interesse. Er deutete auf die goldene Dose, die sie in der Hand hielt. »Eine originelle Dose. Sie erlauben?« Er wartete ihre Erlaubnis nicht ab und konnte sein Erstaunen nicht verbergen, als er das Porträt Maria-Theresias, der Kaiserin von Österreich, auf dem Innendeckel erkannte. »Woher haben Sie diese Dose?« fragte er mißtrauisch. »Von einer Dame, die mich vorgestern besuchte.« Jeanne verbesserte sich: »Es waren zwei Damen.« 40
»Und eine von den beiden Damen hat Ihnen diese Dose gegeben?« »Nein«, erwiderte Jeanne, »sie hat sie bei mir vergessen.« Der Kardinal dachte nach. Nach einer kleinen Pause fragte er: »Entschuldigen Sie, daß ich es wissen will. Wer war die Dame?« »Ich weiß es nicht. Wenn ich wüßte, wer die Dame war, hätte ich ihr die Dose schon zurückgeschickt. Ich weiß nur, daß sie die Verwalterin einer wohltätigen Stiftung ist. Sie gab mir hundert Louisdor.« »Hundert Louisdor!« Der Kardinal war erstaunt. »Damen von wohltätigen Stiftungen pflegen kleinere Almosen zu geben. Können Sie mir die Damen beschreiben, Gräfin?« »Das ist nicht leicht«, erwiderte Jeanne langsam, um die Neugierde des Kardinals zu steigern. »Die eine von den beiden Damen wollte unerkannt bleiben. Sie verbarg ihr Gesicht. Doch ich sah …« »Was?« unterbrach sie der Kardinal. »Blaue Augen, ein kleiner Mund, etwas volle Lippen, besonders die Unterlippe. Sie war mittelgroß.« »Und die Hände?« »Die Hände waren auffallend schön.« »Sprach sie mit Akzent?« »Ein wenig.« Jeanne fragte zurück: »Kennen Sie die Dame, Monseigneur?« »Nein, nein, ich kenne sie nicht«, erwiderte der Kardinal rasch. Sein ganzes Mißtrauen war wieder wach. Die Gerüchte bei Hof über sein persönliches Interesse an der Königin konnten verbreitet worden sein. Hatte man ihm eine Falle gestellt? Wie kam die Dose, die er kannte, hierher? War Marie-Antoinette wirklich in diese armselige Wohnung gekommen? Und warum verheimlichte die Gräfin diese ihr zuteil gewordene Ehre? Der Name Valois machte den Kardinal noch vorsichtiger. Er brach das peinliche Schweigen und fragte: »Wie sah die andere Dame aus?« »Die habe ich mir genau angesehen. Sie war groß und schön. Sie hatte ein energisches Gesicht und einen prachtvollen Teint. Die andere Dame nannte sie Andrea.« 41
»Andrea!« rief der Kardinal erregt. Er überlegte noch einen Augenblick. Dann entschied er: Es gab keinen Zweifel, was sich hier abspielte war weder eine Falle noch ein Komplott. Aber um ganz sicher zu sein, stellte er Jeanne noch eine Frage: »Warum haben Sie sich mit Ihrem Namen«, er verbesserte sich: »Gräfin, ich muß gestehen, ich wundere mich, daß Sie mit Ihrem Namen sich nicht an den König gewandt haben.« Jeanne erwiderte schlicht: »Ich habe wenigstens zwanzig Bittschriften an den König geschickt. Alle ohne Erfolg.« »Sie hätten sich an die Königin wenden müssen, die nie eine verdiente Unterstützung verweigert. Haben Sie die Königin gesehen?« »Nein, noch nie«, erwiderte Jeanne unbefangen. »Sie haben der Königin kein Gesuch eingereicht? Sie haben nie versucht, eine Audienz zu erlangen?« »Ich habe mich darum bemüht, Monseigneur, doch es ist mir nicht gelungen.« Der Kardinal, der jetzt von der Aufrichtigkeit der Gräfin überzeugt war, ließ alle Vorsicht außer acht. »Gräfin, wenn es sein muß, werde ich persönlich Sie nach Versailles führen und die Türen für Sie öffnen.« Jeanne gab dem Kardinal ein dankbares Lächeln. Sie sah ihn vielsagend an. Er hatte selten eine so bezaubernde und verführerische Frau gesehen. Und er verstand etwas von Frauen. »Ich bin glücklich, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Sie schmeicheln mir.« Die Gräfin lächelte, und ohne ihre Hand zurückzuziehen, sagte sie herausfordernd: »Sie haben doch nur einen Höflichkeitsbesuch gemacht.« Der Kardinal erhob sich, beugte sich über ihre Hand und küßte sie leidenschaftlich. »Das nächste Mal komme ich als Freund«, sagte er zum Abschied.
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V Unbekümmert um politische Angelegenheiten ergab sich die Pariser Gesellschaft einer neuen Mode: dem Mesmerismus. Dr. Mesmer, der berühmte Magnetiseur, war das Gesprächsthema der ganzen Stadt. Man erzählte sich von geheimnisvollen Wundern, man schrieb ihm hellseherische Fähigkeiten zu. Es hieß, er habe ein Mittel gefunden, nicht nur Krankheiten und Schmerzen aus dem menschlichen Körper auszutreiben, sondern auch der Seele ihre Geheimnisse zu entreißen. Das Haus Dr. Mesmers war von morgens bis Mitternacht von Hunderten von Neugierigen umlagert, die die Besucher beobachteten und ihre Bemerkungen machten. Hier wurde ein Herzog erkannt, dort eine adelige Dame. Viele Gäste Dr. Mesmers konnten allerdings unerkannt bleiben. Es war Fasching, und es fiel nicht auf, wenn eine Dame ihr Gesicht hinter einer Maske verbarg. Auch die Gräfin von la Motte hatte sich entschlossen, Dr. Mesmer aufzusuchen. Sie hatte lange über ihre Unterredung mit dem Kardinal nachgedacht. Sein eigentümliches Interesse für die goldene Dose ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie mußte den Namen der Eigentümerin erfahren. Es war ihr bisher nicht gelungen. Dr. Mesmer war ihre letzte Hoffnung. Vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, daß er die Trance, die Verzückung eines Mediums, dazu benützte, den Namen zu erfahren. Jeanne bahnte sich ihren Weg durch die Menge der Neugierigen vor dem Haus. Sie war elegant gekleidet und trug eine Maske vor dem Gesicht. Sie betrat das Portal und eilte hastig in den Saal, in dem sich die Kranken versammelten. Sie blieb stehen. Von der Türe aus konnte sie alles sehen, ohne gesehen zu werden. Ihr Blick fiel auf eine junge, auffallend gekleidete, gutgewachsene Frau mit hübschem Gesicht, die 43
ihre Augen verdrehte und sich der magnetischen Ekstase hemmungslos hingab. »Das ist nicht möglich«, murmelte Jeanne. Sie konnte den Blick nicht von dem Gesicht der jungen Frau abwenden. »Sie ist es.« Sie war sicher, sich nicht zu täuschen, und trat näher. In diesem Augenblick schloß die junge Frau die Augen, zog ihren Mund krampfhaft zusammen und schlug mit beiden Händen in die Luft. Diese Hände waren nicht die schönen, weißen Hände, die die Gräfin la Motte-Valois einige Tage zuvor an ihrer Wohltäterin bewundert hatte. Die junge Frau fing zu seufzen an, warf sich hin und her und schrie. Ihr hemmungsloses Gebaren zog die Aufmerksamkeit der übrigen Besucher auf sich. Die Leute fingen an zu tuscheln. Jeanne hörte, wie ein Mann rief: »Sie ist es, sie ist es!« Sie wollte ihn gerade fragen, wen er meinte, aber ein Schrei der ekstatischen jungen Frau zog ihre Blicke wieder zu der Verzückten hin. Der Unbekannte, der vorher gerufen hatte: »Sie ist es! Sie ist es!« wandte sich wieder den Umstehenden zu. Er rief jetzt: »Meine Herrschaften, sehen Sie doch, es ist die Königin!« Jeanne durchfuhr es eiskalt. Erschrockene und erstaunte Stimmen wurden laut: »Die Königin bei Mesmer! Die Königin in einer Krise!« »Das ist unmöglich!« sagte eine Frau. Der Unbekannte erwiderte: »Sie brauchen doch nur hinzusehen. Kennen Sie die Königin, ja oder nein«, sagte er. »Die Ähnlichkeit ist unglaublich!« Auch Jeanne wandte sich an den Unbekannten. Sie fragte: »Sie sagen, mein Herr, daß die Königin hier ist.« »Kein Zweifel, Madame. Die junge Frau in der heftigen Krise, die sich in ihrer Ekstase so gehen läßt, ist die Königin.« »Wie können Sie das behaupten, mein Herr?« Der Unbekannte sah sie mit funkelnden Augen durchdringend an und erwiderte laut: »Ich behaupte es, weil diese Frau die Königin ist.« In Windeseile sagte es einer dem anderen. Jeanne wandte sich von dem empörenden Schauspiel ab, das die Verzückte bot. Sie machte ein paar Schritte in der Richtung des Ausgangs und stieß beinahe mit zwei 44
Damen zusammen. Die Haltung der beiden Frauen kam ihr bekannt vor. Sie sah der einen ins Gesicht und schrie auf. »Erkennen Sie mich?« Sie nahm die Maske ab. Die Dame machte eine erschrockene Bewegung, aber beherrschte sich sofort und sagte leise: »Ich erkenne Sie nicht.« »Aber ich erkenne Sie und will es Ihnen beweisen!« Jeanne zog die goldene Dose aus ihrer Tasche. »Die haben Sie bei mir liegenlassen.« »Warum sind Sie so erregt?« fragte die Dame, um Jeanne zu beschwichtigen. »Ich bin erschrocken über die Gefahr, in die sich Eure Majestät begeben.« »Erklären Sie!« »Nehmen Sie erst meine Maske!« Jeanne reichte der Königin ihre Maske und fuhr eindringlich fort: »Bitte, beeilen Sie sich!« »Tun Sie es doch, Madame«, bat die Begleiterin der Königin leise. Marie-Antoinette setzte die Maske Jeannes langsam auf. »Und nun kommen Sie!« Jeanne zog die beiden Frauen rasch mit sich fort. In der Nähe der Eingangstür blieb sie stehen. »Eure Majestät ist von niemand gesehen worden?« »Ich glaube nicht. Aber würden Sie uns wohl endlich erklären …« Jeanne fiel ein: »Ich werde die Ehre haben, Ihrer Majestät alles zu erklären, wenn sie mir eine Stunde Audienz bewilligt. Und jetzt bitte ich Eure Majestät zu gehen!« »Gehen wir«, sagte die Königin beinahe ungehalten. Sie wandte sich noch einmal nach Jeanne um: »Sie haben mich um eine Audienz gebeten. Gut, bringen Sie mir diese Dose zurück und fragen Sie in Versailles nach Laurent. Er wird Sie zu mir führen.« Frau von la Motte wartete, bis die Karosse der Königin nicht mehr zu sehen war. »Jetzt muß mir noch eine gute Erklärung für mein Benehmen einfallen, dann geht alles so, wie ich es will«, sagte sie zufrieden vor sich hin.
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VI Der unbekannte Mann, der die Besucher im Hause des Dr. Mesmer so nachdrücklich auf die angebliche Königin aufmerksam gemacht hatte, näherte sich einem Zuschauer, der die Verzückung der jungen Frau mit gierigen Augen verfolgt hatte. Er sagte: »Für Sie als Journalist ist das ein schöner Stoff!« »Das will ich meinen«, war die hastige Antwort. »Dann nützen Sie den Stoff aus und schreiben Sie so schnell und so scharf Sie können. Hier sind fünfzig Louisdor.« Der Unbekannte drückte dem Journalist das Geld in die Hand. »Lassen Sie sechstausend Exemplare drucken!« »Mein Herr, Sie sind sehr gütig, ich werde Tag und Nacht daran arbeiten! Ganz Paris wird Tränen lachen … mit Ausnahme einer Person.« »Sie begreifen schnell. Aber datieren Sie den Artikel von London.« Der Journalist steckte das Geld in die Tasche, während der Unbekannte noch einmal zurückging und die junge Frau in ihrer Ekstase betrachtete. »Die Ähnlichkeit ist tatsächlich erschreckend«, murmelte er vor sich hin. »Aber das kommt mir sehr gelegen.« Er verließ rasch den Saal. Die junge Frau war zu sich gekommen. Sie war sehr verlegen. Sie sah erstaunt, daß die umstehenden Männer und Frauen sie aufmerksam betrachteten. Es waren nicht begehrliche Blicke, auch keine anzüglichen Bemerkungen fielen. Im Gegenteil, die Anwesenden verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor ihr. Mit unsicheren Schritten verließ sie den Saal und suchte im Hof nach einem Fiaker. Ein fremder Lakai trat auf sie zu: »Darf ich Madame nach Hause fahren?« fragte er höflich und geleitete sie zu einer eleganten Kutsche. 46
Während der Wagen schnell durch die dunklen Straßen von Paris fuhr, dachte die junge Frau müde: »Dieser Dr. Mesmer ist wirklich ein großer Arzt. Er läßt seine Patienten auch noch nach Hause fahren.« In Gedanken versunken, betrat sie ihre Wohnung. Sie erschrak. Auf dem Sofa im Salon saß der gleiche unbekannte Mann, der der Gräfin la Motte bei Dr. Mesmer aufgefallen war. »Sie sind Mademoiselle Oliva?« stellte er statt jeder Begrüßung fest. Sie nickte vorsichtig. »Mademoiselle, ich habe Sie bei Dr. Mesmer gesehen. Ich bin gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.« Oliva begriff kein Wort, sie war noch immer benommen. Aber sie begann doch, neugierig zu werden. »Was tun Sie den ganzen Tag?« fragte der Unbekannte. »Sowenig als möglich, am liebsten tue ich nichts!« »Gehen Sie gern ins Theater oder auf Bälle? Mögen Sie ein angenehmes Leben? Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie fünfundzwanzig Louisdor monatlich erhielten?« »Fünfzig wären mir lieber«, lachte Oliva schlagfertig. »Aber ich suche mir meine Liebhaber selbst aus.« »Es handelt sich nicht um Liebe oder Liebhabereien, es handelt sich um ein Geschäft.« »Was hätte ich zu tun, um Ihre fünfzig Louisdor zu verdienen?« »Fünfzig? Gut«, willigte der Unbekannte ein. »Sie haben nur mit mir auszugehen, ein möglichst freundliches Gesicht zu machen und immer für mich Zeit zu haben.« »Ich habe aber einen richtigen Liebhaber. Der wird sich nicht so leicht fortschicken lassen.« Oliva setzte mit einem unverschämten Augenaufschlag hinzu: »Ich liebe ihn auch ein wenig.« »Was Sie mit ihm tun, wenn Sie mit ihm allein sind, das kümmert mich nicht. Sie müssen nur vor den Leuten den Anschein erwecken, meine Geliebte zu sein.« »Nur den Anschein? Dagegen habe ich nichts.« »Hier ist der erste Monat im voraus.« 47
Als Oliva zögerte, das Geld anzunehmen, schob er ihr eine Rolle mit fünfzig Louisdor in die Rocktasche. In diesem Augenblick klopfte es zweimal an der Haustüre. Oliva trat eilig ans Fenster. »Großer Gott!« rief sie. »Gehen Sie rasch fort! Es ist Beausire!« Sie erklärte: »Mein Liebhaber!« Der Unbekannte machte es sich auf dem Sofa gemütlich: »Öffnen Sie Ihrem Liebhaber ruhig, ich möchte mir den Burschen ansehen.« Oliva ließ einen unordentlich gekleideten Mann ein, der sich sofort wütend auf den Unbekannten stürzen wollte. Während Oliva ihn zurückzuhalten versuchte, schrie er: »Laß mich los! Deswegen machst du nicht auf, weil ein Mann bei dir ist?« Er trat vor den Unbekannten: »Sie werden mir eine Erklärung geben!« »Wenn Sie eine Erklärung wollen, mein lieber Herr Beausire, gerne. Ich plaudere harmlos mit dieser Dame.« »Es war ganz harmlos«, bestätigte Oliva. »Halt den Mund«, brüllte Beausire, »und Sie, mein Herr, lassen Sie Ihre schlechten Späße! Stehen Sie auf, oder ich nagele Sie mit meinem Degen an die Lehne!« »Sie sind aber wirklich sehr ungemütlich«, erwiderte der Unbekannte, während auch er seinen Degen zog. Oliva schrie auf. Sie sah gleich, daß Beausire es mit einem überlegenen Gegner zu tun hatte, denn bevor er einen wirksamen Stoß führen konnte, flog sein Degen durch das Zimmer, zerbrach die Fensterscheibe und verschwand in der Dunkelheit. Zitternd vor Wut rannte Beausire hinaus, um seine Waffe wiederzuholen. Oliva ergriff die Hand des Siegers. »Sie sind sehr mutig! Doch ich flehe Sie an, gehen Sie in den oberen Stock und verlassen Sie das Haus, nachdem Beausire zurück ist. Es ist besser so. Ich werde allein mit ihm fertig.« »Sie sind ein gescheites Mädchen, ich folge Ihrem Rat.« Er wandte sich in der Tür um: »Auf Wiedersehen bis heute nacht!« »Heute nacht? Sind Sie verrückt?« »Durchaus nicht. Heute ist Maskenball im Opernhaus.« »Aber es ist schon so spät, und wir haben keine Dominos.« 48
»Ich bin überzeugt, Beausire wird sie besorgen. Hier sind noch zehn Louisdor.« »Sie haben recht«, lachte Oliva, »für Geld hat er eine Schwäche.« Als Beausire atemlos zurückkam, war er erstaunt, seinen Nebenbuhler nicht mehr anzutreffen. Oliva schloß die Türe und schrie so laut, daß Beausire ihr den Mund zuhalten wollte. Sie mißverstand seine Handbewegung und gab ihm eine schallende Ohrfeige, die Beausire ihr umgehend zurückgab. Als sie wütend auf ihn losfuhr, wehrte er sich und zerriß ihr den Rock. Das war zuviel. Sie ließ ihn los und jammerte: »Du richtest mich zugrunde!« »Daß ich nicht lache, dich zugrunde richten. Du hast ja nichts.« »Ich habe nichts mehr, solltest du sagen, denn du hast alles verkauft und verfressen, vertrunken und verspielt.« »Ich spiele, um zu leben«, beteuerte Beausire. Oliva schrie: »Und das gelingt dir wunderbar! Wir verhungern dabei!« Sie höhnte: »Du spielst! Eine reizende Beschäftigung, das muß ich sagen.« »Mit deiner Beschäftigung ist es auch nicht weit her!« »Sie ist immer noch besser als deine«, kreischte Oliva. Sie griff in ihre Tasche und warf eine Handvoll Goldstücke ins Zimmer. »Louisdore!« rief er beeindruckt. Jetzt schleuderte sie ihm eine zweite Handvoll goldener Münzen ins Gesicht. »Gut«, sagte Beausire plötzlich ganz gefaßt. Er griff nach den Goldstücken und liebkoste sie mit den Fingern. »Gut«, wiederholte er, »ich gehe ins Spielhaus zurück und bringe dir nicht nur das Doppelte, sondern das Fünffache.« Er wandte sich der Tür mit raschen Schritten zu. Aber er hatte nicht mit Oliva gerechnet. Sie hielt ihn an seinem Rock fest. Der mürbe Stoff gab nach. »So kann ich nicht mehr ausgehen«, jammerte Beausire. »Im Gegenteil, mein Lieber, du wirst sofort ausgehen«, erklärte Oliva und zog den Rest der Louisdore, die ihr der Unbekannte gegeben hatte, aus ihrer Tasche. Beausire wurde beinahe verrückt. Er kniete nieder. »Liebling«, sagte er, »ich tue alles, was du von mir verlangst!« 49
VII Auch die Gräfin la Motte traf Vorbereitungen, um an dem Maskenball teilzunehmen, als ihr ein Diener des Kardinals von Rohan die Nachricht überbrachte, daß seine Eminenz um ihren Besuch bitte. Sie nahm die Einladung an. Ihre Mietkutsche hielt zehn Minuten später vor einem schlichten Portal in der Sackgasse eines vornehmen Viertels. »Ein kleines Haus«, murmelte die Gräfin, »aber wir werden ja sehen.« Ein Lakai führte sie von Zimmer zu Zimmer. In einem intimen, äußerst geschmackvoll eingerichteten Speisesaal begrüßte sie der Kardinal: »Madame, ich habe mit Ihnen wichtige Dinge zu besprechen.« »Und zu diesem Zwecke lassen Sie mich in Ihr Speisezimmer kommen«, gab die Gräfin ironisch zurück. »Diese Ehre weiß ich zu schätzen!« »Sie spotten, Gräfin?« »Nein, ich lache!« »Sie sind reizend, wenn Sie lachen. Ich möchte Sie immer lachend sehen. Doch jetzt sind Sie zornig!« »Nicht im geringsten, Monseigneur«, erwiderte Jeanne verächtlich und fügte hinzu: »Der Speisesaal beruhigt mich.« »Als ich Sie neulich besuchte«, erklärte der Kardinal, »fand ich, daß Ihre Wohnung nicht Ihrem Rang und Ihrem Namen entspricht. Das zwang mich, meinen Besuch abzukürzen. Aus rein egoistischen Motiven dachte ich nun, Sie in eine Ihnen gebührende Umgebung zu versetzen … Bitte, lassen Sie mich aussprechen, Gräfin …! Ich wollte, daß Sie mich mit Behagen empfangen, ohne daß Sie sich selbst oder mich kompromittieren.« Der Kardinal suchte den Blick Jeannes. »Ich hoffe, Sie werden dieses kleine Haus annehmen?« »Sie schenken mir dieses Haus, Monseigneur?« fragte sie erregt. 50
»Geschenke erhalten die Freundschaft.« Der Kardinal genoß seine Überlegenheit. Er hielt Jeanne für eine kokette, anspruchsvolle Frau und glaubte, sie zu durchschauen. Sie war wie berauscht. Mit einem solchen Geschenk hatte sie nicht gerechnet, so habgierig sie auch war. Das ist entschieden ein sehr nützlicher Mensch, dachte sie und sagte: »Monseigneur, ich bitte um Verzeihung. Ich muß gestehen, es gibt keinen feinfühlenderen Mann als Sie.« Der Kardinal hörte über das Kompliment hinweg, und er fragte plötzlich wie zufällig: »Sagen Sie, Gräfin, was erzählten Sie mir neulich von zwei wohltätigen Damen?« Jeanne war auf der Hut. »Ich wette, Monseigneur, Sie kennen die Damen besser als ich. Als Botschafter am Wiener Hof und als Freund der Kaiserin Maria Theresia mußten Sie das Porträt erkennen!« »Sie glauben, es war das Porträt Maria Theresias?« »Spielen Sie doch nicht den Unwissenden, Herr Diplomat! Es ist sehr ungewöhnlich, das Porträt einer Mutter, denn es war nicht das einer Kaiserin, in anderen Händen zu sehen, als in den Händen der Tochter …« »Die Königin?« unterbrach sie der Kardinal. Er tat so überrascht, daß Jeanne unsicher wurde. Er fragte ungläubig: »Ihre Majestät die Königin soll bei Ihnen gewesen sein?« »Hatten Sie wirklich nicht erraten, daß Sie es war, mein Herr?« Jeanne bemerkte ihre Unvorsichtigkeit sofort und schwieg verlegen. Der Kardinal fuhr unbekümmert fort: »Ihrer Ansicht nach war also Ihre Besucherin die Königin Marie-Antoinette?« »Die Königin mit einer anderen Dame.« »Wenn Ihre Majestät die Königin Sie tatsächlich besucht haben sollte, so wäre das für Sie ein großes Glück. Hat Ihnen die Königin besonderes Interesse gezeigt?« »Ein ziemlich lebhaftes sogar.« »Dann geht alles gut.« Der Kardinal wurde nachdenklich. »Sie müssen sich jetzt nur noch den Einlaß in Versailles verschaffen.« Jeanne lächelte vielsagend. 51
»Glauben Sie mir, Gräfin, da liegt die Schwierigkeit.« Der Kardinal lächelte ebenfalls. »Sie können sich die Bewachung in Versailles nicht vorstellen.« »Würden Sie mir zum Einlaß verhelfen?« »Ich würde es gerne versuchen, doch es dürfte auch für mich schwierig sein.« »Zum Glück habe ich die Protektion der Königin«, stellte Jeanne fest. »Ich darf Ihnen leider nicht mehr sagen, als daß ich morgen in Versailles empfangen werde, und zwar in den privaten Gemächern der Königin.« »Sie sind für mich ein Rätsel. Ich bewundere Sie, Gräfin. Ich verehre Sie.« Der Kardinal sank auf die Knie und ergriff ihre Hände. »Monseigneur, ich bin erstaunt!« Der Ton Jeannes war eiskalt. »Muß ich Ihnen erst erklären, daß ich kein Mädchen von der Oper bin? Muß ich erst betonen, daß ich eine Frau bin, die ihre Gunst nur verschenkt, wenn es ihr beliebt? Ich hätte mehr Achtung erwartet.« Der Kardinal erhob sich zögernd. »Ich würde Sie anbeten, wenn …« »Wenn?« »Wenn Sie es mir erlaubten. Sie hindern mich aber, Ihnen den Hof zu machen.« »Ich hindere Sie nicht.« »Was wollen Sie mir gestatten?« »Alles, was sich mit meinem Geschmack verträgt – und mit meinen Launen.« »Ich will alles tun, was Sie von mir verlangen.« »Beweisen Sie es mir.« Jeanne sah den Kardinal herausfordernd an. »Ich will heute abend auf den Opernball!« »Ich wüßte nicht, was Sie abhalten sollte, auf den Opernball zu gehen.« »Lassen Sie mich doch ausreden, Monseigneur.« Jeanne sagte bestimmt: »Ich wünsche, daß Sie mich begleiten.« »Ich in die Oper? Das ist unmöglich!« Der Kardinal besann sich. »Aber für Sie tue ich selbst das Unmögliche. Ich begleite Sie, doch als Domino maskiert.« 52
VIII Als sich der Kardinal von Rohan und die Gräfin la Motte unter die Menge mischten, hatte der Ball seinen Höhepunkt erreicht. Sie verschwanden unter den Tausenden Maskierten. Zwei Dominos, der eine schwarz und groß, der andere mittelgroß und weiß, hielten unter der Loge der Königin an. Dort war das Gedränge nicht so schlimm. Die beiden Masken unterhielten sich erregt. »… und ich sage dir, Oliva, daß du jemand erwartest«, brummte der schwarze Domino, »du drehst dich doch nach jeder Maske um.« »Was ist denn dabei? Wozu geht man sonst auf einen Maskenball?« Der schwarze Domino machte eine zornige Handbewegung, als sich ein hochgewachsener Mann im eleganten blauen Domino einmischte: »Sachte, sachte, mein Herr, warum soll sich Madame denn nicht amüsieren?« »Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen!« fuhr der schwarze Domino auf. »Etwas mehr Höflichkeit könnte Ihnen nicht schaden, Herr von Beausire.« Der schwarze Domino erschrak und zuckte unter der seidenen Kapuze zusammen. »Sie brauchen nicht so zu erschrecken, Herr von Beausire, ich bin nicht von der Polizei. Überlassen Sie mir jetzt den Arm von Madame, das ist nichts Außergewöhnliches auf einem Maskenball. Ganz abgesehen davon, werde ich Ihnen beweisen, daß Ihnen Ihre Anwesenheit hier nur schadet.« Der blaue Domino sah auf seine brillantenbesetzte Uhr, die Beausire mit Kennerblick abschätzte, und fuhr fort: »In einer Viertelstunde wird in Ihrem Spielklub ein kleines Projekt besprochen. Bei diesem kleinen Projekt handelt es sich immerhin um zwei Millionen für die Partner, zu denen Sie meines Wissens gehören.« 53
Beausire wurde stutzig. »Zum Teufel, Sie könnten recht haben! Aber wahrscheinlich sind Sie doch ein Polizeispitzel und lassen mich dort verhaften!« »Sie sind ein Idiot, Beausire. Wenn ich von der Polizei wäre, ließe ich Sie auf der Stelle verhaften, um mit Madame allein zu sein.« »Das leuchtet mir ein. Jetzt erkenne ich Sie auch. Sie saßen vor zwei Stunden auf dem Sofa von Madame.« Beausire ließ Olivas Arm los und verbeugte sich vor dem blauen Domino. »Nehmen Sie ruhig den Arm von Madame.« Er wiederholte seine Verbeugung und machte sich davon. »Jetzt sind wir endlich allein, Mademoiselle Oliva«, sagte der blaue Domino. »Gehen wir. Sprechen Sie, soviel Sie wollen, nötigen Sie mich aber nicht, Ihnen zu antworten. Und bitte, verstellen Sie Ihre Stimme, halten Sie den Kopf aufrecht und kratzen Sie sich mit Ihrem Fächer am Hals.« Oliva gehorchte und mischte sich an der Seite des blauen Dominos unter die Menge. Nach einigen Minuten fragte sie neugierig: »Wer ist dieser Mann dort in dem auffallend eleganten Kostüm?« Sie wies auf einen perlgrauen Domino. Eine Gruppe vornehm gekleideter Masken umringte ihn und hörte ihm aufmerksam zu. »Das ist der Graf von Artois«, war die leise Antwort. »Doch bitte, sprechen Sie jetzt nicht mehr.« Beeindruckt von dem großen Namen, trat Oliva etwas zur Seite, um die Gruppe unauffällig beobachten zu können. In diesem Augenblick flüchteten zwei schwarze Dominos vor einer ausgelassenen, übermütigen Gesellschaft in eine stille Ecke des Saales. »Lehnen Sie sich an diesen Pfeiler, Gräfin«, sagte leise eine Stimme, die Olivas Begleiter zu erkennen schien. Er flüsterte Oliva rasch zu: »Jetzt werden wir beide uns ein bißchen amüsieren. Der schwarze Domino ist einer meiner Freunde, der es unter dem Vorwand einer Migräne ausgeschlagen hat, mit auf den Ball zu kommen.« »Und dem Sie auch gesagt haben, Sie gingen nicht?« fragte Oliva. »Ganz richtig.« 54
»Er ist in Gesellschaft einer Dame. Wer ist sie?« »Ich kenne sie nicht. Passen Sie auf, wir geben uns jetzt den Anschein, als wären Sie eine Deutsche. Aber sprechen Sie bitte nicht, denn an Ihrem Akzent erkennt man die Pariserin. Deuten Sie ganz einfach mit Ihrem Fächer auf den schwarzen Domino, so, als wollten Sie mich auf ihn aufmerksam machen.« Oliva war eine gelehrige Schülerin. Der schwarze Domino stand mit dem Rücken zum Saal und plauderte mit seiner Dame, deren scharfem Blick die Handbewegung Olivas nicht entging. »Die zwei Masken dort beschäftigen sich mit uns, Monseigneur.« »Verstellen Sie Ihre Stimme, Gräfin«, warnte noch schnell der schwarze Domino, als sich Oliva und ihr Begleiter näherten. »Schöner Ball, Maske?« Der blaue Domino sprach den Kardinal an, dann flüsterte er Oliva etwas ins Ohr. Sie nickte zustimmend mit dem Kopf. »Was willst du von mir?« fragte der Kardinal mit verstellter Stimme. »Die Dame, die ich begleite, hat mich beauftragt, mehrere Fragen an dich zu richten, Maske«, gab der blaue Domino zurück und flüsterte wieder mit Oliva, die ihr Kopfnicken wiederholte. In tadellosem Deutsch fragte er dann den Kardinal: »Eminenz, sind Sie in die Frau verliebt, die Sie begleiten?« »Haben Sie Eminenz gesagt?« fragte der Kardinal erschrocken auf deutsch. »Sie täuschen sich, ich bin nicht der, für den Sie mich halten.« »Es wäre zwecklos, zu leugnen, Herr Kardinal. Auch wenn ich Sie nicht erkannt hätte, meine Begleiterin hat sie erkannt. Und sie befahl mir, Ihnen das zu sagen.« Er flüsterte Oliva ins Ohr: »Nicken Sie mit dem Kopf, sooft ich Ihren Arm drücke.« Oliva nickte gehorsam. »Wer ist Ihre Begleiterin?« fragte der Kardinal beängstigt. »Ich glaubte, Sie hätten es schon erraten, Herr Kardinal. Meine Begleiterin hat Sie gleich erkannt. Wenn Frauen eifersüchtig sind …« »Madame ist eifersüchtig!« 55
»Das habe ich nicht gesagt«, war die hochmütige Antwort. Die Gräfin la Motte, die kein Wort Deutsch verstand, wurde nervös und stampfte mit dem Fuß. Niemand beachtete sie. Der Kardinal wandte sich Oliva zu und sagte eindringlich: »Ich bitte Sie, Madame, nur ein einziges Wort zu sprechen. An einem einzigen Wort werde ich Sie erkennen.« Oliva, die kein Wort verstand und nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte, zog den blauen Domino beiseite. Er gab sich den Anschein, als würde er einen neuen Befehl erhalten. »Herr Kardinal«, sagte er, nachdem Oliva mit ihm gesprochen hatte, »ich wiederhole Ihnen die Worte meiner Begleiterin: Ein Mann, dessen Gedanken nicht immer bei der Geliebten sind und dessen Phantasie ihm nicht ständig ihre Gegenwart vorzaubert, ein solcher Mann liebt nicht wirklich. Er hätte unrecht, es zu sagen.« Der Kardinal war vollkommen verwirrt. Er stammelte in französischer Sprache vor sich hin: »Nein, es ist unmöglich!« »Was ist unmöglich?« fragte Jeanne, begierig sich wieder in die Konversation einschaltend. »Nichts ist unmöglich, Madame, nichts«, erwiderte der Kardinal, obwohl er von der Anwesenheit der Gräfin keine Notiz mehr nahm. »Madame«, sagte er zu Oliva, die sich fast unbeweglich hielt, »die deutschen Verse, die Ihr Begleiter zitiert hat, habe ich in einem Haus gelesen, das Ihnen vielleicht bekannt ist. Dieses Haus«, er zögerte erst und sagte dann mit fester Stimme, »heißt Schönbrunn.« »Ja«, nickte Oliva. Der Kardinal fuhr fort: »Und diese Verse waren in einem Tisch aus Kirschholz eingraviert?« »Ja«, nickte Oliva abermals. Der Kardinal war so erregt, daß er sich kaum beherrschen konnte. Er schloß die Augen und lehnte sich erschöpft an die Marmorwand. Die Gräfin la Motte beobachtete diese Szene mit gespannter Aufmerksamkeit. Nach einer kleinen Weile öffnete der Kardinal die Augen und sagte: »Die Fortsetzung lautet: ›Er deklamierte selbstvergessen: Der aber, der die Geliebte überall sieht, der sie in einer Blume, 56
in einem Duft, hinter undurchdringlichen Schleiern errät, der kann schweigen …‹« »Man spricht deutsch hier«, fiel eine heitere Stimme ein. »Hören wir uns das ein wenig an …« »Der Graf von Artois«, flüsterte Oliva. Sie klammerte sich ängstlich an ihren Begleiter. Die ankommenden Masken hatten sie ziemlich dreist umdrängt. »Nehmen Sie sich in acht, meine Herren!« sagte der blaue Domino. Sein Ton war gebieterisch. »Sie sehen doch, daß wir selbst gestoßen werden«, erwiderte der Graf von Artois. »Entschuldigen Sie uns, meine Damen.« »Lassen Sie uns gehen, Herr Kardinal«, warnte leise die Gräfin la Motte. In diesem Augenblick wurde die Kappe Olivas nach rückwärts gezogen. Ihre Maske löste sich, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht zu sehen. Der blaue Domino schrie auf, Verwirrung und Angst heuchelnd. Auch Oliva schrie vor Schreck. Die Umstehenden waren verblüfft. Ausrufe des Staunens wurden laut. Der Kardinal war einer Ohnmacht nahe. Eine Welle ausgelassener Masken trennte die Gruppe. Der blaue Domino befestigte rasch und geschickt Kapuze und Maske Olivas. Er drückte dem Kardinal die Hand. »Vergessen Sie das Vorgefallene, die Ehre dieser Dame steht auf dem Spiel.« »Mein Herr …« Dem Kardinal versagte die Stimme. Mehr konnte er nicht sagen. »Gehen wir.« Der blaue Domino verschwand mit Oliva in der Menge. Jeanne beobachtete den Kardinal. Sie dachte: »Er glaubt, diese Frau ist die Königin. Das ist ja sehr interessant.« »Wollen wir den Ball verlassen, Gräfin?« fragte er mit schwacher Stimme. »Wie Sie wünschen, Monseigneur«, antwortete Jeanne gelassen. Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch den Trubel zu ihrem Wagen. Die Pferde zogen an. Sie fuhren schweigend. Jeanne konnte sich nicht mehr beherrschen: »Wohin fahren wir?« fragte sie. »Seien Sie unbesorgt, Gräfin«, der Kardinal küßte ihr galant die Hand, »der Wagen fährt Sie zu Ihrem Haus zurück.« 57
Als sie in der Sackgasse des vornehmen Viertels vor dem schlichten Portal angekommen waren, sprang Jeanne aus dem Wagen. Der Kardinal wollte ihr folgen. »Bemühen Sie sich nicht, Monseigneur, es ist nicht nötig.« »Sie wollen mir nicht erlauben, daß ich Ihnen noch einige Stunden Gesellschaft leiste?« »Sie müssen doch schlafen, Monseigneur.« »Soviel ich weiß, haben Sie mehrere Schlafzimmer in Ihrem Haus.« »Für mich.« »Für mich nicht?« »Noch nicht«, antwortete Jeanne. Sie lächelte den Kardinal herausfordernd an. »Gott befohlen also«, sagte er gereizt. »Es ist mir eigentlich auch lieber so«, murmelte er, während sich der Wagen in Bewegung setzte.
IX Beausire hatte sich inzwischen eilig in seinen Spielklub begeben. Im großen Saal mit den vielen Spieltischen tranken etwa zwanzig Spieler Bier und spielten mit niedrigen Einsätzen. Die Ankunft Beausires im schwarzen Domino erregte ein gewisses Aufsehen. »Herr von Beausire ist uns ja heute untreu geworden«, sagte der Bankier, der gerade ein Dutzend Louisdor kassierte. »Auf dem Opernball ist er gewesen und hat sicher bessere Geschäfte gemacht.« »Ich stehe zu meinem Wort«, erwiderte Beausire, »im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten!« Ein Blick des Bankiers belehrte ihn, solche Andeutungen für sich zu behalten. Aber Beausire hielt den Mund nicht. »Ich glaubte, Freunde hier zu haben, ich habe mich getäuscht!« 58
»Was willst du denn damit sagen?« flüsterte ihm einer der Spieler ins Ohr. Der Bankier versuchte abzulenken: »Spielen Sie doch, Beausire.« »Ich spiele nur um Millionen! Und ich kann nicht begreifen, daß man gerade hier um Louisdore spielt. Meine Herren, es handelt sich um Millionen!« Ehe er weitersprechen konnte, erhielt er einen heftigen Stoß. Don Manoel, ein Portugiese, stand wie aus dem Boden gewachsen neben ihm. Beausire kannte den Portugiesen als einen der Partner. Er imponierte ihm. Beausire schwieg, setzte sich und wartete. Um drei Uhr morgens brachten die Diener den Klubmitgliedern die Mäntel. Auch Beausire hüllte sich in seinen Domino. Aber er ging nur bis zum ersten Stock und kehrte dann in den Saal zurück, wo er die anderen Partner traf. »Machen Sie Licht und sprechen Sie nicht so laut«, begann der Portugiese in gutem Französisch, »ich habe Ihnen einiges mitzuteilen. Glücklicherweise bin ich noch zur rechten Zeit gekommen, denn Herrn von Beausire saß die Zunge ziemlich locker. Er kennt meinen Plan. Doch als intelligenter Mann muß man auch den Mund halten können. Herr Beausire wollte beweisen, daß er das Geschäft ausgekundschaftet hat.« »Ein Geschäft mit zwei Millionen!« bestätigte Beausire mit Nachdruck. »Sie übertreiben«, fiel der Portugiese hastig ein, »das Halsband ist nicht mehr als fünfzehnmal hunderttausend Livre wert. Doch wir haben keine Zeit zu langen Erklärungen, der Gesandte kommt spätestens in acht Tagen.« Aufgeregte und neugierige Fragen der Partner wurden laut: »Ein Halsband, fünfzehnmal hunderttausend Livre, ein Gesandter? Was soll das alles?« »Ich will es erklären«, sagte der Portugiese. »Die Juweliere Böhmer und Bossange haben der Königin ein Diamantenhalsband im Werte von fünfzehnmal hunderttausend Livre anbieten lassen. Die Königin hat es ausgeschlagen, und nun wissen die Juweliere nicht, was sie da59
mit machen sollen. Sie sind in großer Verlegenheit, denn das Halsband kann nur von einem König gekauft werden. Nun, ich habe die königliche Person gefunden, die dieses Halsband kaufen wird.« Er warf sich in die Brust: »Es ist meine allergnädigste Gebieterin, die Königin von Portugal.« »Wir begreifen überhaupt nichts mehr.« Die Partner sahen einander ratlos an. Der Bankier meinte: »Sicher ist nur, daß ein Halsband von fünfzehnmal hunderttausend Livre existiert.« Beausire ergänzte: »Und dieses Halsband befindet sich im Tresor der Herren Böhmer und Bossange.« »Aber woher wissen Sie, daß die Königin von Portugal das Halsband kaufen will?« Don Manoel machte eine überlegene Handbewegung. »Sie brauchen nur genau zuzuhören. Der Posten des Gesandten von Portugal ist im Augenblick unbesetzt, und der neue Gesandte, ein Herr von Suza, soll frühestens in acht Tagen ankommen. Aber wer hindert diesen Gesandten, schon früher anzukommen? Es drängt ihn eben, Paris kennenzulernen.« Die Partner schüttelten verständnislos die Köpfe. Beausire war im Bild. Er rief lebhaft: »Begreifen Sie doch, meine Herren, es muß ja nicht der echte Gesandte sein!« »So ist es«, bestätigte der Portugiese, »und der Gesandte, der acht Tage zu früh eintreffen wird, ist berechtigt, für Ihre Majestät die Königin von Portugal das Halsband zu kaufen. Und aus diesem Grunde verhandelt er mit den Juwelieren Böhmer und Bossange. Das ist alles.« »Nur muß man bezahlen, wenn man verhandelt hat«, warf der Bankier ein. »Ohne Garantien würden die Herren Böhmer und Bossange auch einem echten Gesandten das Halsband nicht übergeben.« Don Manoel fuhr eifrig fort: »Ich habe nun einen Plan. Das Gesandtschaftsgebäude steht momentan leer, aber es existiert dort noch ein Kanzler, ein braver Franzose mit den denkbar schlechtesten portugiesischen Sprachkenntnissen. Der wird entzückt sein, wenn Portugiesen mit ihm fran60
zösisch sprechen. Vor diesem Mann treten wir als die neue Gesandtschaft auf.« »Das ist nicht schlecht«, bestätigte Beausire. »Doch wie ist es mit den notwendigen Papieren?« »Wir werden die Papiere haben«, gab Don Manoel trocken zurück. »Dann wollen wir die Rollen gleich verteilen«, schlug Beausire vor. »Ich sehe Don Manoel als Gesandten.« »Einverstanden!« riefen die Partner im Chor. »Und ich sehe Herrn von Beausire als meinen Sekretär«, erklärte Don Manoel. »Wieso ich?« Beausire wurde ängstlich. »Als portugiesischer Gesandter darf ich ja kein Wort Französisch sprechen. Sie dagegen, Herr von Beausire, sprechen gut genug Portugiesisch, um nicht für einen Pariser gehalten zu werden.« »Wie wird man den Gewinn aufteilen?« wollte der Bankier wissen. Don Manoel hob beide Hände. »Wir sind zwölf. In zwölf Teile also. Aber für mich, der den Plan geboren, und für Herrn Beausire, der das Geschäft gewittert hat, anderthalb Teile. Und Sie«, er deutete auf den Bankier, »Sie werden die Rolle des Kammerdieners übernehmen, eine ziemlich delikate Aufgabe. Auch Sie bekommen anderthalb Teile.«
Am nächsten Abend fuhr ein Reisewagen, der so verstaubt und bespritzt war, daß das Wappen unkenntlich war, in den Hof des portugiesischen Gesandtschaftsgebäudes ein. Ein feierlich gekleideter Mann näherte sich untertänig dem Wagenschlag und stellte sich als Kanzler der portugiesischen Gesandtschaft vor. »Wie schlecht sprechen Sie unsere Sprache. Sagen Sie, wo steigt man aus?« fragte eine Stimme in tadellosem Portugiesisch aus dem Innern des Wagens. »Hier, gnädigster Herr, hier.« »Ein trauriger Empfang«, rief Don Manoel. »Ich bitte um Verzeihung, Exzellenz«, dienerte der Kanzler in 61
schlechtem Portugiesisch, »aber der Kurier meldete Ihre Ankunft erst heute mittag. Es ist mir eine große Freude, den neuen Gesandten begrüßen zu dürfen.« »Machen Sie meine Ankunft noch nicht bekannt, und erwarten Sie neue Befehle aus Lissabon. Ich falle um vor Müdigkeit. Das ist mein Sekretär, besprechen Sie mit ihm alles Weitere.« Don Manoel betrat die Gesandtschaft, gefolgt von seinem ›Kammerdiener‹. »Mit mir können Sie ruhig französisch sprechen«, forderte Beausire den Kanzler auf. »Das wird für Sie bequemer sein.« »Sie sind sehr liebenswürdig.« Der Kanzler sprach hastig weiter. »Aber wird es Seine Exzellenz nicht übelnehmen?« »Bestimmt nicht, wenn Sie gut Französisch sprechen.« »Ich sollte kein gutes Französisch sprechen! Ich, ein geborener Pariser!« »Sie sind Pariser, Herr Ducorneau?« fragte Beausire. »Sie wissen meinen Namen. Das ist sehr schmeichelhaft.« Herr Ducorneau wußte vor Freude nicht aus und ein. »Wir kennen Sie und Ihren guten Ruf«, log Beausire gönnerhaft. »Das hat uns abgehalten, einen neuen Kanzler aus Lissabon mitzubringen. Aber ich glaube, der Herr Gesandte läutet. Beeilen wir uns!« »Wie ist es mit dem Diner?« fragte Don Manoel ungeduldig, als Beausire und der Kanzler sein Zimmer betraten. Ducorneau verbeugte sich. »Ich werde dafür Sorge tragen, Exzellenz, daß man Ihnen hier ein gutes Diner serviert. Und wenn Sie es erlauben, möchte ich Ihnen einen Landwein anbieten, wie Sie ihn selbst in Portugal nicht finden.« »Bringen Sie uns Ihren Wein und essen Sie mit uns.« »Eine solche Ehre …« Entzückt zog sich Ducorneau zurück. »Schläft dieser Kanzler in der Gesandtschaft?« Don Manoel wandte sich Beausire zu. »Nein. Der Bursche hat eine hübsche Frau und schläft bei ihr. Den Portier müßte man entfernen. Die anderen Bedienten sind gemietet und werden morgen durch unsere Partner ersetzt.« »Was ist mit der Kasse der Gesandtschaft?« wollte Don Manoel wissen. »Wir müßten den Kanzler fragen.« 62
»Ich werde das übernehmen«, erbot sich Beausire. »Wir sind schon die besten Freunde.« »Still, er kommt!«
Am Morgen des nächsten Tages herrschte in der Gesandtschaft bereits reges Treiben. Bediente trugen Schreibtische hin und her, Galakleider wurden geliefert, Schreibmappen verlegt und wiedergefunden. Die Nachbarn wurden aufmerksam, und rasch verbreitete sich das Gerücht, daß eine mit wichtigen Geschäften beauftragte hohe Persönlichkeit aus Portugal angekommen sei. Dieses Gerücht war für Beausire eine Quelle ständiger Angst, denn er wußte, wie tüchtig der Chef der Polizei, Herr von Crosne, war. Doch Don Manoel erklärte ihm, daß man mit Frechheit auch die Polizei eine Zeitlang täuschen könne. »Wir haben wenigstens zehn Tage«, sagte er. Um die Mittagszeit ließ Don Manoel die prächtige Gesandtschaftskutsche anspannen und fuhr in Begleitung seines Sekretärs und seines Kammerdieners bei den Juwelieren Böhmer und Bossange vor. Der Kammerdiener klopfte fest an die Türe des Ladens, die durch massive Schlösser abgesichert war. Eine Stimme fragte durch ein Guckloch nach ihren Wünschen. »Seine Exzellenz, der Herr Gesandte von Portugal, will die Herren Böhmer und Bossange sprechen.« Kaum eine Minute später wurde die Tür geöffnet. Don Manoel stieg mit vornehmer Langsamkeit aus dem Wagen. Beausire bot ihm den Arm, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Herr Böhmer eilte dienstbeflissen herbei und überschlug sich fast vor Komplimenten. »Seine Exzellenz spricht nicht Französisch und kann Sie nicht verstehen, mein Herr«, unterbrach Beausire den Redeschwall des Juweliers. »Ich bin gerne bereit, alles zu übersetzen, sofern Sie nicht selbst Portugiesisch sprechen.« »Nein, mein Herr, ich bedaure«, erwiderte Böhmer und bat die Herren einzutreten. Beausire übernahm das Wort. »Seine Exzellenz der 63
Herr Graf von Suza, Gesandter von Portugal, interessiert sich für das in Ihrem Besitz befindliche Diamantenhalsband.« Böhmer heftete seinen Blick auf Beausire. »Ein Halsband von Diamanten«, sagte er langsam, »ein sehr schönes Halsband.« »Sie hatten es der Königin von Frankreich angeboten«, fuhr Beausire fort, »und Ihre Majestät die Königin von Portugal hat davon gehört. Ich bin der Privatsekretär des Herrn Gesandten.« »Verzeihen Sie, mein Herr, ich kann Ihnen das Halsband nur in Anwesenheit meines Teilhabers zeigen.« In diesem Augenblick betrat Herr Bossange, der Kompagnon, den Verkaufsraum. Böhmer erklärte ihm den Zweck des Besuches mit ein paar Worten. Nach einem prüfenden Blick auf die zwei Portugiesen verschwand Bossange und kam nach zehn Minuten mit einem Etui zurück. »Wir machen einen so guten Eindruck, daß er sich eine Pistole eingesteckt hat«, flüsterte Don Manoel Beausire auf portugiesisch zu. »Ich erkenne die Konturen deutlich unter seinem Rock.« Er beobachtete die Juweliere scharf. Doch sie schienen keinerlei Mißtrauen zu zeigen und übergaben ihm das Etui. Beausire, der Don Manoel über die Schulter schaute, sah ein Halsband von unwahrscheinlicher Schönheit. Doch Don Manoel rief zornig: »Das ist eine Unverschämtheit! Diese Burschen wagen es, mir Straß zu zeigen, während ich Diamanten von Ihnen verlange! Sagen Sie diesen Burschen, ich werde mich beim französischen Ministerium beschweren und sie im Namen meiner Königin in die Bastille werfen lassen!« Beausire brauchte nicht zu übersetzen. Die aufgeregten Gesten Don Manoels genügten den Juwelieren. Sie überstürzten sich in Entschuldigungen, aber Don Manoel ging unter den Blicken der erschrockenen Kaufleute auf die Türe zu. Beausire erklärte: »Seine Exzellenz beauftragt mich, Ihnen zu sagen, er sei empört, daß Leute mit dem Titel Juweliere der Krone von Frankreich einen Gesandten nicht von einem Betrüger unterscheiden könnten.« Die Kaufleute verneigten sich ängstlich und eingeschüchtert bis auf 64
den Boden. Don Manoel trat ihnen beinahe auf die Füße, als er den Laden verließ. Böhmer hörte, wie der Kammerdiener dem Kutscher zurief: »Zum Gesandtschaftsgebäude!« »Ein sicheres Geschäft«, flüsterte Beausire, als die Pferde anzogen. »Die Dummköpfe werden in einer Stunde bei uns sein.«
Gleich nach ihrer Rückkehr in die Gesandtschaft fragte Beausire Herrn Ducorneau über dieses und jenes aus, bis er unauffällig auf die Gesandtschaftskasse zu sprechen kam. »Wo ist die Kasse eigentlich?« fragte er so ganz nebenbei. »Aus Sicherheitsgründen oben in der Wohnung des Gesandten. Es ist für Diebe schwieriger, in den ersten Stock einzudringen als ins Erdgeschoß.« »Diebe«, murmelte Beausire geringschätzig, »wegen einer so kleinen Summe.« »Hunderttausend Livre!« rief Ducorneau. »Nicht in allen Gesandtschaftskassen sind hunderttausend Livre!« Beausire ging über die Bemerkung hinweg. Er fragte: »Wollen wir der Form halber die Überprüfung und Beurkundung vornehmen, ich habe gerade etwas Zeit. Wir können nachher Seiner Exzellenz Bericht erstatten.« Der Gesandte schien von einem mit Ziffern und Zahlen bedeckten Papier sehr in Anspruch genommen zu sein, als er durch den Eintritt Beausires und des Kanzlers gestört wurde. »Was gibt es denn?« fragte er unwillig. »Ich wollte nur melden, daß die Kasse in bester Ordnung ist wie alles, was zum Ressort des Herrn Ducorneau gehört«, erklärte Beausire. Don Manoel lächelte dem Kanzler gnädig zu und forderte ihn dann zum Sitzen auf. »Kennen Sie die ehrlichsten Juweliere von Paris?« fragte er. »Das sind die Herren Böhmer und Bossange, Juweliere der Krone«, war die prompte Antwort. 65
Don Manoel machte eine abweisende Handbewegung. »Gerade die kommen nicht in Frage. Sie haben sich schlecht benommen und werden daher das Geschäft nicht machen.« Er erklärte: »Ihre Majestät, die Königin von Portugal hatte mich beauftragt, ein Diamantenhalsband zu kaufen, aber …« »Vielleicht kann ich vermitteln, Exzellenz«, wagte Ducorneau zu unterbrechen. »Bossange ist ein Verwandter von mir.« Don Manoel und Beausire tauschten einen raschen Blick, als der Kammerdiener die Herren Böhmer und Bossange meldete. »Schicken Sie diese Leute weg«, rief Don Manoel ärgerlich. Ducorneau bat: »Lassen Sie mich das übernehmen.« Bossange war entzückt, seinen entfernten Verwandten zu sehen. »Sie können vermitteln«, sagte er. »Wir wollen den Gesandten sprechen.« »Das geht nicht. Im Gegenteil, der Gesandte forderte Sie durch mich auf, das Haus zu verlassen, meine Herren.« Die Juweliere sahen sich bestürzt an. »Mir scheint, Sie sind sehr ungeschickt gewesen«, meinte Ducorneau wichtigtuerisch. »Wenn man Herr von Suza heißt und neunmal hunderttausend Livre Einkünfte hat, kann man tun, was man will.« Bossange bat Ducorneau: »Bringen Sie das wieder in Ordnung, und Sie bekommen …« »Hier ist man unbestechlich«, erwiderte Ducorneau und verabschiedete sich von den Juwelieren. Einige Stunden später erhielt der Gesandte einen Brief, in welchem sich die Herren Böhmer und Bossange an Entschuldigungen überboten und Seine Exzellenz wissen ließen, daß sie vor der Türe der Gesandtschaft auf ein Zeichen warteten, um ihm das Halsband zu überreichen. »Das Halsband gehört schon uns«, erklärte Don Manoel, nachdem er den Brief gelesen hatte. Herr Böhmer wurde vorgelassen, und der Gesandte ließ sich herbei, das Halsband zu untersuchen. Der Juwelier erklärte: »Was Sie hier sehen, Exzellenz, ist die schönste Verarbeitung von Diamanten, die es in Europa gibt.« 66
Auf ein Zeichen Don Manoels begann Beausire: »Hören Sie, wie sich die Sache verhält, Ihre Majestät die Königin von Portugal interessiert sich für dieses Halsband und hat seine Exzellenz beauftragt, über den Kauf zu verhandeln. Die Diamanten sagen dem Gesandten zu. Was verlangen Sie?« »Sechszehnmal hunderttausend Livre!« »Hunderttausend Livre zu teuer!« Böhmer zögerte einen Augenblick, dann erklärte er sich einverstanden, sofern sein Kompagnon nichts dagegen habe. »Der Preis ist also fünfzehnmal hunderttausend Livre«, stellte Beausire fest, ohne den Einwand Böhmers zur Kenntnis zu nehmen. »Wie sollen Sie bezahlt werden?« »Wenn möglich in barem Geld.« Böhmer seufzte: »Aber ich weiß, daß niemand anderthalb Millionen Livre bar im Hause hat.« »Auch Sie nicht«, versetzte Beausire schlagfertig und erklärte dem Juwelier nach einer Rückfrage bei Don Manoel: »Hunderttausend Livre bei Abschluß des Kaufes, den Rest in drei Raten und außerdem auf Kosten der Gesandtschaft eine Reise nach Lissabon. In drei Monaten anderthalb Millionen Livre einzukassieren, das lohnt sich doch, oder nicht?« Böhmer zögerte mit der Antwort. »Was gibt es noch?« fragte Beausire ungeduldig. »Mein Herr, das Halsband ist der Königin von Frankreich angeboten worden. Ihre Majestät hat es abgelehnt. Es schickt sich, die Königin davon zu benachrichtigen, daß das Halsband ins Ausland verkauft wird.« »Das schickt sich«, bestätigte Don Manoel mit Würde. »Ich wollte, alle portugiesischen Kaufleute hätten den gleichen Anstand wie Herr Böhmer.« Böhmer strahlte. Don Manoel entließ den Juwelier gnädig. Kaum waren die beiden Partner allein, als Don Manoel Beausire heftig anfuhr: »Vielleicht erklären Sie mir, was Sie sich dabei gedacht haben, daß die Diamanten nicht hier geliefert werden sollen? Eine Reise nach Portugal, sind Sie verrückt?« 67
Beausire verteidigte sich: »Herr Böhmer hätte nie aufgehört, die Gesandtschaft und den Gesandten zu überwachen. Aber mit Geld und seinem Schmuck in der Hand wird er keinen Verdacht haben und nach Portugal abreisen. Fünfzig Meilen hinter Paris wird er von Räubern überfallen, seiner Diamanten beraubt und verprügelt werden. Und alles ist in bester Ordnung.«
X In Versailles sprach niemand mehr vom Diamantenhalsband. Der König widmete sich seiner Arbeit wie gewöhnlich. Er saß in seinem Kabinett zwischen kleinen und großen Weltkarten und blickte mit Unbehagen auf einen Berg von Dokumenten, die er unterschreiben sollte. Ein leichtes Klopfen an der Türe riß ihn aus seinen Träumereien. Eine Stimme fragte: »Kann ich Sie sprechen, mein Bruder?« Ein dicker, rotbackiger Mann mit lebhaften Augen trat ein. »Störe ich?« »Nicht sehr«, erwiderte Ludwig dem Grafen von Provence. »Haben Sie mir etwas Interessantes zu erzählen?« »Ein komisches Gerücht.« »Eine Bosheit gegen mich?« »Das würde ich nicht komisch finden.« Der Graf von Provence zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Ein Pamphlet gegen die Königin.« »Geben Sie her.« Der König warf einen raschen Blick über das Papier und hörte seinem Bruder unwillig zu. »Sire, man behauptet, meine Schwägerin sei bei Mesmer gewesen.« »Und zwar mit meiner Genehmigung«, sagte der König, während er zu lesen begann. »Majestät haben der Königin aber sicher nicht erlaubt …« Der König schlug mit der Faust auf den Tisch. Er hatte gerade den 68
Bericht über Marie-Antoinettes ekstatische Hingabe gelesen. »Unmöglich«, sagte er blaß vor Wut. »Die Polizei muß wissen, was sie hierbei zu tun hat!« Er schlug auf die Glocke und befahl dem eintretenden Kammerherrn: »Herrn von Crosne.« »Erlauben Sie, daß ich mich entferne«, sagte der Graf von Provence heuchlerisch. Ludwig XVI. hielt ihn zurück: »Bleiben Sie, Sie gehören zur Familie und dürfen es ruhig wissen, falls diese Anschuldigungen zutreffen sollten. Wenn sie aber nicht zutreffen, müssen Sie es auch wissen, denn gerade Sie verdächtigen die Königin.« Herr von Crosne wurde gemeldet. »Mein Herr«, fuhr ihn der König an, »wie konnte ein so schändliches Pamphlet gegen die Königin veröffentlicht werden. Was sagt die Polizei dazu?« »Das hat ein Zeitungsschreiber namens Reteau geschrieben und herausgegeben, Sire.« »Sie wissen also seinen Namen und haben ihn doch nicht in die Bastille werfen lassen?« »Sire, ich wollte erst mit Ihnen Rücksprache nehmen, denn bei aller Achtung für Ihre Majestät die Königin muß ich leider sagen, daß die Angaben auf Wahrheit beruhen.« »Sie können das beweisen?« »Ja, Sire. Eine Königin von Frankreich, die in der Kleidung einer gewöhnlichen Frau diese zweideutige Gesellschaft aufsucht, und die allein geht …« »Allein!« unterbrach ihn der König heftig. »Sie täuschen sich, Herr von Crosne. Sie haben schlechte Berichte.« »Ich habe so genaue Berichte, Sire, daß ich die Einzelheiten der Toilette Ihrer Majestät, ihre Schritte, ihre Bewegungen und ihre Schreie schildern kann.« »Ihre Schreie?« Der König zerknüllte erregt das Pamphlet. »Sogar ihre Seufzer sind von meinen Agenten aufgezeichnet worden.« »Ihre Seufzer? Die Königin hätte sich derart vergessen!« »Das ist unmöglich«, warf der Graf von Provence ein, »das wäre mehr als skandalös, und Ihre Majestät ist unfähig …« 69
Dem König entging der heuchlerische Unterton nicht, und er spürte aus den Worten seines Bruders eine neue Anklage. Er war empört. »Die Königin ist mit meiner Zustimmung zu Mesmer gegangen. Ich hatte sie gebeten, sich von einer Dame begleiten zu lassen, deren tadelloser, frommer Lebenswandel bekannt ist.« »Ja, wenn es so gewesen wäre … wenn zum Beispiel eine Dame wie die Prinzessin von Lamballe …« »Ganz richtig, mein Bruder, es war die Prinzessin von Lamballe, die ich der Königin als Begleiterin empfohlen hatte.« Ludwig XVI. läutete nochmals. Ein Offizier vom Dienst erschien. »Bitten Sie die Prinzessin von Lamballe herzukommen.« Einige Minuten später verneigte sich die Prinzessin von Lamballe anmutig und bescheiden vor dem König. Auch er verbeugte sich. »Setzen Sie sich, meine liebe Cousine, ich habe einige Fragen an Sie. An welchem Tag sind Sie in der Gesellschaft der Königin nach Paris gefahren?« »Am Mittwoch, Sire«, erwiderte die Prinzessin. »Ich ging zu Herrn Mesmer, Sire.« »Allein?«, fragte der König. »Nein, Sire, mit Ihrer Majestät der Königin.« Der König atmete auf. Herr von Crosne bat den König um seine Zustimmung, einige Fragen an die Prinzessin stellen zu dürfen. »Madame, haben Sie die Güte«, begann er, »dem König zu beschreiben, wie Ihre Majestät die Königin gekleidet war, als sie diesen Doktor Mesmer besuchte.« »Ihre Majestät trug über einem perlgrauen Taftkleid einen gestickten Musselinmantel, einen Hermelinmuff und einen rosafarbenen Hut mit schwarzen Bändern.« Herr von Crosne war sehr erstaunt, denn diese Beschreibung widersprach in jeder Einzelheit der Kleidung, über die er Bericht erhalten hatte. Der Graf von Provence biß sich ärgerlich auf die Lippen. Der König rieb sich die Hände: »Was hat die Königin bei ihrem Eintritt bei Mesmer getan?« fragte er. »Sire, Sie haben recht zu sagen, bei ihrem Eintritt«, erwiderte die Prinzessin, »denn kaum waren wir in den ersten Saal eingetreten, als eine Frau die Königin ansprach und sie anflehte, nicht weiterzugehen.« 70
»Und Sie gingen nicht weiter?« fragte Herr von Crosne. »Nein, mein Herr.« »Und Sie haben die Königin nicht einen Augenblick verlassen?« fragte der König, um das letzte Mißtrauen zu beseitigen. »Nicht eine Sekunde, Sire.« »Prinzessin, sagen Sie uns noch, wer diese Frau war, die Sie erwähnten. Ich muß diese Frau sprechen.« »Ihre Majestät scheint sie zu kennen, Sire. Es war Frau von la Motte-Valois.« »Diese Intrigantin!« rief der König ungehalten. »Ich will lieber auf jede Genugtuung verzichten, als dieser Kreatur ins Gesicht sehen.« »Und doch werden Sie diese Frau sehen!« Blaß vor Erregung betrat die Königin das Zimmer. »Sire, diese Frau ist eine Zeugin.« Marie-Antoinette sah dem Grafen von Provence, der verlegen und krampfhaft lächelte, voll ins Gesicht: »Mein Ankläger will doch sicher die Wahrheit hören.« »Madame«, warf der König hastig ein, »man kann doch diese Frau von la Motte nicht holen lassen und ihr die Ehre erweisen, für oder gegen Sie auszusagen.« »Es ist nicht notwendig, Frau von la Motte holen zu lassen. Sie ist hier.« »Hier?« fragte der König und drehte sich um, als wäre er auf eine Schlange getreten. »Sie wissen, Sire, daß ich diese arme Frau mit dem großen Namen aufgesucht habe, und zwar an jenem Tag, an dem so viele Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden.« Marie-Antoinette sah abermals den Grafen von Provence an, der am liebten in den Boden versunken wäre. »An diesem Tag also«, fuhr sie fort, »vergaß ich bei der Gräfin la Motte eine goldene Dose, die sie mir heute zurückgebracht hat.« »Nein, nein …« Der König streckte die Hände abwehrend von sich. »Ich will Sie nicht sehen! Ich bin überzeugt!« »Aber ich bin nicht zufrieden«, erklärte die Königin. »Warum lehnen Sie die Gräfin eigentlich so eigensinnig ab, Sire? Was hat sie denn ver71
brochen?« Als der König schwieg, wandte sich Marie-Antoinette dem Polizeimeister zu: »Herr von Crosne, Sie wissen doch alles, klären Sie mich auf.« »Ich kann nichts Nachteiliges über Frau von la Motte aussagen«, erklärte Crosne. »Sie ist arm, vielleicht ein wenig zu ehrgeizig.« »Das ist die Stimme des Blutes«, rief die Königin. »Wenn Sie sonst nichts gegen sie einzuwenden haben, so kann der König die Gräfin ohne Bedenken als Zeugin zulassen.« »Ich kann nicht erklären, warum«, gestand Ludwig XVI. »aber ich habe das beängstigende Gefühl, diese Frau bringt Unheil, und das genügt mir.« »Sind Sie doch nicht so abergläubisch, Sire.« Die Königin gab den Befehl, die Gräfin la Motte zu holen. Der König drehte der Tür den Rücken, als Jeanne bescheiden eintrat. Der Graf von Provence dagegen fixierte sie aufdringlich. Sie war aber nicht aus der Fassung zu bringen. Die Königin kam ihr entgegen. »Madame, erzählen Sie bitte Punkt für Punkt, was Sie am Tage meines Besuches bei Herrn Mesmer getan haben.« Welche Rolle für Jeanne la Motte! Sie hatte schon erraten, worum es ging und daß die Königin sie brauchte. Ohne sich allzusehr von der Wahrheit zu entfernen, konnte sie Marie-Antoinette entlasten. »Sire«, begann Jeanne, dem Rücken des Königs zugewendet, »wie ganz Paris so ging auch ich aus Neugier zu Herrn Mesmer. Plötzlich sah ich die Königin den Saal betreten und beschwor sie umzukehren. Ich bitte Eure Majestät in Demut um Verzeihung, wenn ich die Grenzen der Ehrfurcht überschritten haben sollte, aber die Anwesenheit Ihrer Majestät der Königin schien mir nicht passend an diesem Ort, an dem die Leiden der Menschen zu einem Schauspiel benützt werden.« Die Königin dankte Jeanne, die scheinbar tief bewegt innehielt, mit einem Blick. Sie berührte den Arm des Königs. »Nun, Sire, Sie haben gehört.« Der König drehte sich nicht um. »Es bedurfte der Aussage dieser Frau nicht«, sagte er. 72
»Ich sollte sprechen und mußte gehorchen«, warf Jeanne schüchtern ein. »Genug!« sagte der König grob. »Eine Königin spricht die Wahrheit und braucht keine Zeugen!« Er wandte seinem Bruder brüsk den Rücken und küßte Marie-Antoinette und der Prinzessin von Lamballe die Hand. Die Gräfin la Motte schien er nicht zu sehen. Doch um die Königin nicht zu kränken, zwang er sich zu einem flüchtigen Kopfnicken, als er, gefolgt von Herrn von Crosne, den Raum verließ. Jetzt erst wurde sich Marie-Antoinette bewußt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. Sie hielt Jeanne mit einem liebenswürdigen Lächeln zurück. »Es ist ein wahres Glück, Gräfin, daß Sie mich gehindert haben, bei Mesmer einzutreten, denn man behauptet, ich sei bei Mesmer in Trance gefallen.« »Wie ist es möglich, daß auch die Polizei behauptet, die Königin sei in dem Saal gewesen?« fragte die Prinzessin von Lamballe. »Ich weiß, daß ich Feinde habe«, erklärte die Königin nachdenklich. »Aber an jedem Gerücht ist immer ein Körnchen Wahrheit. Es ist doch seltsam, daß mich dieses Pamphlet so genau beschreibt, obwohl ich gar nicht dort war. Vielleicht war an jenem Tag eine Frau, dort, die …« Sie hielt inne. Jeanne wurde unruhig. Die Königin war der Lösung des Geheimnisses zu nahe. Ein einziges Wort konnte alles erklären. Aber dadurch würde Jeanne die Möglichkeit verlieren, sich der Königin in Zukunft nützlich, vielleicht sogar unentbehrlich zu machen. »Madame«, sagte sie rasch, »es war tatsächlich eine Frau bei Mesmer, die sich in ihrem Delirium aufsehenerregend zur Schau stellte. Doch von einer Ähnlichkeit mit Ihrer Majestät kann gar keine Rede sein.« In diesem Augenblick trat die Kammerfrau ein und meldete Fräulein von Taverney. Jeanne trat bescheiden zurück und errötete auf Wunsch, als sie Andrea erkannte. Die Prinzessin von Lamballe verabschiedete sich. Andrea setzte sich zu Marie-Antoinette und betrachtete die Gräfin la Motte forschend. »Das ist die Dame, die wir in Paris besucht haben, Andrea«, erklärte 73
die Königin. Sie wandte sich Jeanne zu: »Erzählen Sie, Gräfin, wie geht es Ihnen? Wer protegiert Sie?« »Niemand … das heißt, ich vergaß einen braven Mann, den Kardinal von Rohan.« Die Königin sah Jeanne überrascht an. »Mein Feind!« sagte sie lächelnd. »Ein Feind Eurer Majestät? Aber Madame, der Kardinal betet Eure Majestät an!« »Schon gut«, unterbrach die Königin. »Da Sie so eingenommen für ihn sind … da Sie seine Freundin sind …« »O Madame«, Jeanne schüttelte mit sittsamer Entrüstung den Kopf. »Gut, liebe Gräfin, gut«, fuhr die Königin heiter fort, »aber fragen Sie ihn doch einmal, was er mit der Haarlocke gemacht hat, die er mir durch einen Friseur stehlen ließ.« »Eure Majestät setzen mich in Erstaunen«, sagte Jeanne. »Herr von Rohan hätte das getan?« »Jawohl! Aus Verehrung, nur aus Verehrung. Nachdem er mich in Wien tödlich gehaßt, nachdem er alles versucht hatte, um meine geplante Heirat mit dem König zu hintertreiben, hat er eines Tages bemerkt, daß ich eine Frau und seine Königin war. Er fürchtete für seine Zukunft, der liebe Rohan, und machte es wie alle Leute seiner Art, welche denen, die sie am meisten fürchten, am meisten schmeicheln. Und da er wußte, daß ich jung war, und er mich für eitel hielt, hat er die Rolle des Verehrers übernommen. Gräfin, ich durchschaue den Kardinal, aber sagen Sie ihm, daß ich ihm nicht böse bin.« »Die Königin ist doch ärgerlich«, überlegte Jeanne. »Also muß es noch etwas anderes geben.« Sie fing an, den Kardinal mit aller ihr zu Gebote stehenden Geschicklichkeit zu verteidigen. Marie-Antoinette hörte aufmerksam zu. Bei Hofe war es nicht üblich, von jemand gut zu sprechen, der in Ungnade gefallen war. MarieAntoinette war dadurch beeindruckt. Sie sah ein Herz, wo keines war. Jeanne saß wie auf Nadeln. Sie wußte nicht, wie sie wegkommen sollte, ohne weggeschickt zu werden. Da hörte sie eine heitere, laute Stimme im Nebenraum. 74
»Der Graf von Artois«, sagte die Königin. »Lassen Sie ihn eintreten«, befahl sie Andrea. Der Graf trat ein. Als er die fremde, hübsche Person sah, grüßte er interessiert und warf einen fragenden Blick auf Marie-Antoinette. »Die Gräfin la Motte«, sagte die Königin und fuhr fort, »haben Sie die Skandalgeschichte auch schon gehört, lieber Schwager?« »Ja, Herr von Provence hat sie mir erzählt. Doch Sie sind in Ehren daraus hervorgegangen. Liebe Schwägerin, Sie haben wirklich Glück.« »Das nennen Sie Glück!« »Das ist Glück«, beharrte der Graf von Artois. »Denn stellen Sie sich vor, die Gräfin la Motte wäre nicht bei Mesmer gewesen, um Sie am Eintritt zu hindern, und jetzt nicht hier in Versailles, um zur rechten Zeit Zeugnis abzulegen! Sie sind ungerecht, wenn Sie an Ihrem Glück zweifeln.« Er setzte sich auf dem Sofa so nah wie möglich zur Königin und zählte an den Fingern: »Schließlich gerettet bei dem verschlossenen Tor von Versailles … eins …« »Eins«, bestätigte die Königin. »Gerettet bei Mesmer.« »Gut. Zwei. Weiter?« »Und gerettet bei der Geschichte auf dem Ball«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Welchen Ball meinen Sie?« »Den Opernball.« »Wie bitte?« »Ich sage den Opernball, Schwägerin.« »Ich verstehe Sie nicht.« Der Graf lachte. Jeanne verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nur die Worte ›Ball‹ und ›Oper‹ verstehen. »Pst, still!« sagte der Graf. »Nein, durchaus nicht«, begehrte die Königin auf. »Ich will es wissen.« »Sie waren also nicht auf dem letzten Opernball?« »Ich? Ich auf dem Opernball? Haben Sie mich vielleicht gesehen?« fragte die Königin ironisch. »Ich habe Sie gesehen.« 75
»Haben Sie vielleicht auch mit mir gesprochen?« »Ich war gerade im Begriff, Sie anzusprechen, als ein Schwarm von Masken uns trennte.« Die Königin stand erregt auf. »Machen Sie keine Späße, Schwager.« Sie fragte beherrscht: »Sie haben mich wirklich auf dem Opernball gesehen?« »Wie ich Sie jetzt sehe, und Sie haben mich auch gesehen.« Die Königin konnte nicht mehr an sich halten. »Meine Damen«, rief sie, »der Graf von Artois behauptet, er habe mich auf dem Opernball gesehen!« Sie rief ihm zu: »Beweisen Sie Ihre Behauptung!« Dem Grafen war die Situation unangenehm geworden, aber er mußte antworten: »Ich war mit dem Marschall von Richelieu, mit Herrn von Calonne, mit … mein Gott, mit einer ganzen Gesellschaft. Ich sah Sie gerade in dem Augenblick, als Sie Ihre Maske verloren.« »Meine Maske!« »Ich wollte Ihnen sagen, daß das mehr als unvorsichtig sei, aber da waren Sie verschwunden. Fortgezogen von dem Kavalier, der Ihnen den Arm Reichte.« »Ein Kavalier! Großer Gott, Sie machen mich wahnsinnig!« Die Königin fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »An welchem Tag soll das gewesen sein?« »Am Sonnabend, am Tag vor meiner Abfahrt zur Jagd, zwischen zwei und drei Uhr morgens … Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu machen. Niemand hat etwas erfahren … Einen Augenblick glaubte ich, Sie wären in Begleitung des Königs, doch Ihr Kavalier sprach deutsch.« »Der König.« Marie-Antoinette zog an der Glocke. »Das ist die Rettung. Der König ist mein einziger Freund und wird es aufklären.« Sie erteilte einer Kammerfrau den Auftrag, den König in ihre Gemächer zu bitten. Minuten ungemütlichen Schweigens vergingen. Der König trat ein: »Was gibt's?« fragte er besorgt. »Helfen Sie mir, Sire. Diesmal sind es meine Freunde, die ein Gerücht verbreiten. Der Graf von Artois behauptet, er habe mich auf dem Opernball gesehen.« 76
»Auf dem Opernball? Weiß es der Graf von Provence schon?« fragte der König, die Stirn runzelnd. »Aber es ist doch nicht wahr!« rief die Königin. »Es ist nicht wahr. Der Graf von Artois täuscht sich. Ich werde verrückt, wenn das so weitergeht, und glaube bald selbst, daß ich auf dem Opernball gewesen bin. Was habe ich nur am Sonnabend getan?« »Sonnabend?« Der König begann zu lachen. »Sie sagten Sonnabend?« »Ja, Sire.« »Darüber kann nur Ihre Kammerfrau Auskunft geben, Marie-Antoinette.« Er wurde immer heiterer. »Sie wird sich vielleicht erinnern, zu welcher Stunde ich am Sonnabend zu Ihnen kam. Ich glaube, es war gegen elf Uhr abends.« »Ja, Sire«, rief die Königin und warf sich in seine Arme. Plötzlich wurde sie rot und verwirrt und verbarg ihr Gesicht an der Brust des Königs, der ihr Haar zärtlich küßte. »Ich werde mir eine Brille kaufen«, sagte der Graf von Artois. »Aber bei Gott, ich möchte diese Szene hier nicht missen!« Der König wurde ernst. »Wenn Sie nicht an meinen Worten zweifeln, ist es unmöglich, daß die Königin in jener Nacht auf dem Opernball war.« Er setzte hinzu: »Sie können es glauben oder nicht.« »Der Graf von Provence mag denken und sagen, was er will«, erklärte der Graf von Artois, »aber ich zweifle daran, daß seine Frau auf die gleiche Art ein Alibi erbringen kann, wenn man sie einmal verdächtigen sollte, die Nacht auswärts zugebracht zu haben.« »Ich gehe mit Ihnen, mein Bruder.« Der König küßte Marie-Antoinette die Hände. Andrea blieb bei der Königin. In heuchlerischer Bescheidenheit hatte sich die Gräfin la Motte in eine Fensternische zurückgezogen, von der aus sie alles genau hatte beobachten können. Die Königin schwieg einige Minuten. Dann sagte sie plötzlich: »Hinter alldem steckt etwas, das ich aufklären muß. Nicht wahr, Andrea, ich muß der Sache auf den Grund gehen?« »Eure Majestät haben recht«, erwiderte Andrea. Sie setzte hinzu: 77
»Und ich bin fest überzeugt, daß die Gräfin la Motte auch meiner Ansicht ist. Nicht wahr, Madame?« So plötzlich angesprochen, erschrak die Gräfin und wußte keine Antwort. Marie-Antoinette dachte angestrengt nach. »Ich habe die Wahrheit!« sagte sie. »Die Wahrheit?« fragte Jeanne. »Man lasse Herrn von Crosne kommen!« befahl die Königin einer Kammerfrau. Herr von Crosne betrat den Raum ängstlich und schaute befangen zu Boden. »Haben Sie schon eine Erklärung dafür, wie alle diese Gerüchte entstanden sind?« fragte ihn Marie-Antoinette. »Wenn nicht, werde ich es Ihnen erklären.« Die Königin wurde ärgerlich. »Ich schreibe die Gerüchte dem schlechten Benehmen einer Person zu, die mir ähnlich sieht und sich überall zur Schau stellt, wo Sie selbst oder Ihre Agenten mich zu sehen glauben.« »Eine Ähnlichkeit?« fragte Herr von Crosne verblüfft. Andrea fiel ein: »Ich kann ein Beispiel liefern. Als ich mit meinem Vater in Taverney-Maison-Rouge wohnte, hatten wir ein Dienstmädchen, das durch eine unglaubliche Ähnlichkeit …« »Mir glich.« »Ja, Eure Majestät, zum Verwechseln ähnlich.« »Und was ist aus diesem Mädchen geworden?« »Mein Vater fürchtete, diese Ähnlichkeit könnte Ihnen mißfallen, und wir versteckten das Mädchen.« »Sehen Sie, Herr von Crosne, das interessiert Sie. Wie?« »Ungemein, Madame.« »Und was geschah weiter?« »Dieses Mädchen, ehrgeizig und unruhig, langweilte sich in ihrem Versteck und war eines Abends verschwunden.« »Es gibt also eine Frau, deren Ähnlichkeit mit mir auffallend ist, und Sie, Herr von Crosne, wissen es nicht! Sie verursacht ernste Unordnung, und Sie sind davon nicht unterrichtet? Mein Herr, ich finde, daß es um die Polizei schlecht bestellt ist.« »Erlauben Sie mir, die Polizei zu verteidigen, Madame. Ich sah Sie, 78
wie der Herr Graf von Artois Sie gesehen hat. Täuschte sich der Schwager in den Zügen der Schwägerin, wieviel eher wird sich ein Polizist täuschen.« »Das sehe ich ein.« Die Königin nickte. »Sie haben mich überzeugt, Herr von Crosne. Doch ich bitte Sie, vergessen Sie die Ähnlichkeit nicht, von der ich gesprochen habe! Ich danke Ihnen, Adieu!«
XI An diesem ereignisreichen Morgen, an dem Jeanne la Motte-Valois so überraschend in den engsten Kreis des königlichen Haushalts gezogen worden war, wurde sie Zeugin einer Unterredung, die ihr eigenes Schicksal entscheiden sollte. Sie war eben dabei, in einen tiefen Knicks zu versinken, um sich von der Königin zu verabschieden, als eine Kammerfrau meldete: »Madame, Eure Majestät haben den Herren Böhmer und Bossange Audienz bewilligt.« »Richtig, meine gute Misery, sie sollen eintreten.« Die Königin nahm wieder in ihrem Lehnstuhl Platz. »Bleiben Sie doch noch, Frau von la Motte«, sagte sie. »Der König soll einen vollständigen Frieden mit Ihnen schließen.« Jeanne trat bescheiden zur Seite. Die Herren Böhmer und Bossange näherten sich untertänigst mit vielen Verbeugungen. »Guten Morgen, meine Herren Juweliere. Was bringen Sie mir Neues? Sie wissen doch, daß ich kein Geld habe.« Böhmer nahm das Wort: »Wir kommen nicht hierher, Madame, um Waren anzubieten. Wir kommen, um eine Pflicht zu erfüllen. Es handelt sich wieder um das schöne Diamantenhalsband, das Eure Majestät nicht zu nehmen geruhten.« »Ah, das Halsband …« Die Königin nickte. »Es war wirklich schön.« 79
»So schön, Madame«, sagte Böhmer ernst, »daß Eure Majestät allein würdig waren, es zu tragen.« Marie-Antoinette seufzte: »Mich tröstet, daß es anderthalb Millionen kostet, nicht wahr, Herr Böhmer?« »Ja, Eure Majestät.« »Und daß es in der liebenswürdigen Zeit, in der wir leben, keinen Fürsten mehr gibt, der fünfzehnmal hunderttausend Livre für ein Halsband bezahlen kann.« Fünfzehnmal hunderttausend Livre! Jeanne la Motte biß sich in die Lippen. »Eure Majestät irren sich«, sagte Böhmer, »und es ist unsere Pflicht, der Königin zu melden: Das Halsband ist verkauft.« »Verkauft?« fragte Marie-Antoinette erregt. Böhmer dämpfte seine Stimme: »Es ist der Gesandte von Portugal.« »Wie erfreulich für Ihre Majestät die Königin von Portugal!« rief die Königin. »Die Diamanten sind schön. Sprechen wir nicht mehr davon. Kennen Sie die Diamanten Gräfin?« »Nein, Madame«, erwiderte Jeanne kleinlaut. »Schöne Diamanten … Es ist schade, daß die Herren sie nicht mitgebracht haben.« »Hier sind sie«, erwiderte Böhmer eifrig. Er zog das Etui heraus und öffnete es. Jeanne stieß einen Schrei des Entzückens aus. Es gab tatsächlich nichts Schöneres. Die kunstvoll verarbeiteten Diamanten zeigten am hellen Tageslicht ihr schönstes Feuer. Böhmer bewegte den Schmuck, so daß sich die Strahlen in den Facetten fingen. »Phantastisch! Herrlich!« rief Jeanne hingerissen. »Fünfzehnmal hunderttausend Livre, die in meiner hohlen Hand Platz haben«, sagte die Königin geringschätzig. Es war offenkundig, daß sie ihr philosophisches Phlegma nur heuchelte. Jeanne warf ihr einen raschen Blick zu und sagte: »Der Herr Juwelier hat recht, es gibt auf der Welt nur eine Königin, die würdig ist, dieses Halsband zu tragen. Und das sind Eure Majestät.« »Und meine Majestät wird es nicht tragen. Meine Weigerung ist ausgesprochen. Und man hat mich zu sehr gelobt, als daß ich es bereu80
en könnte. Sprechen wir nicht mehr davon.« Marie-Antoinette wandte sich vom Schmuck ab. »Diese Diamanten sind leider immer fünfzehnmal hunderttausend Livre wert.« Jeanne nahm die Gelegenheit wahr. Sie griff nach dem Etui und befestigt das Diamantenhalsband geschickt am Hals der Königin. »Fünfzehnmal hunderttausend Livre, die am Halse Eurer Majestät alle anderen Frauen vor Neid ersticken lassen.« Marie-Antoinette konnte der Versuchung nicht widerstehen. Sie trat vor den Spiegel. »Eure Majestät sind hinreißend schön!« rief Jeanne schwärmerisch. Die Königin starrte verzückt auf ihr Spiegelbild. Plötzlich besann sie sich und versuchte, hastig den Verschluß des Halsbandes zu lösen. »Genug, ich habe ein wenig mit den Diamanten gespielt, aber nun nehmen Sie sie zurück. Schnell!« Umständlich legten die Juweliere die Diamanten wieder ins Etui. Sie wollten Zeit gewinnen, vielleicht entschloß sich die Königin doch. Es war vergeblich, Marie-Antoinette machte keine Bewegung. Sie leidet, dachte Jeanne schadenfroh. Die Juweliere verneigten sich zum Abschied: »Eure Majestät schlagen das Halsband endgültig aus?« »Ja, endgültig!« Die Königin entließ sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. Ein häßliches Lächeln verzog Jeannes Mund: Sie leidet wirklich, dachte sie boshaft. Marie-Antoinette ging im Zimmer auf und ab. Dann sagte sie kurz: »Gräfin, es scheint, daß der König heute nicht mehr zurückkommt. Eine andere Audienz wird uns eine bessere Gelegenheit bieten.« Jeanne verneigte sich ehrerbietig. »Ich werde an Sie denken«, sagte die Königin zum Abschied. Der Weg von Versailles nach Paris war weit. Jeanne hatte genügend Zeit, die verwegensten Pläne zu schmieden. Dieses Halsband bedeutete ein Vermögen. Sie wollte das Halsband oder das Vermögen in ihren Besitz bringen. Der Kardinal, der die Träume Jeannes für sie verwirklichen sollte, erwartete sie harmlos in ihrem Haus. »Ich habe Sie heute schon den 81
ganzen Tag vermißt«, begrüßte er sie. »Sind Sie gut von Versailles zurückgekommen?« »Wie Sie sehen, Monseigneur.« »Hat Sie die Königin empfangen?« »Ich habe drei Stunden im Kabinett Ihrer Majestät zugebracht.« »Drei Stunden!« Der Kardinal war erregt, doch er nahm sich zusammen. »Ich wette, Sie haben während dieser drei Stunden nicht eine Minute an mich gedacht.« »Ich habe sogar von Ihnen gesprochen.« »Mit wem?« fragte der Kardinal atemlos. »Mit der Königin.« Er konnte sich nicht länger beherrschen. »Erzählen Sie doch alles. Ich interessiere mich so sehr für alles, was Sie betrifft.« Jeanne wußte ebenso gut wie der Kardinal, was ihn interessierte. Sie hatte sich ihre Erzählung Wort für Wort zurechtgelegt und berichtete nun mit Nachdruck, was die Königin zugunsten des Kardinals von Rohan gesagt hatte. Dabei war sie raffiniert genug, den Kardinal nicht anzusehen. Sie tat so, als ob sie sich über die Wirkung ihrer Erzählung gar nicht im klaren wäre. Kaum war Jeanne mit Ihrer Erzählung zu Ende, als ein Diener eintrat und meldete, daß das Abendessen aufgetragen sei. Der Kardinal bot ihr den Arm und führte sie zu Tisch. Während des Essens machte Jeanne so reizend Konversation, daß er gar nicht den Versuch machte, ihr zu widerstehen. Er griff nach ihrer Hand. Sie sah ihm tief in die Augen und sagte: »Die Gräfin von Valois ist heute eine Dame des Hofes geworden. Sie kann daher ihre Hand reichen, wem sie will.« »Selbst einem Fürsten?« fragte der Kardinal. »Selbst einem Kardinal!« Rohan beugte sich über Jeannes Hand und küßte sie lange und leidenschaftlich. Dann stand er auf, ging in das Vorzimmer und sagte ein paar Worte zu seinem Diener. Das Geräusch eines Wagens, der sich entfernte, wurde hörbar. Zwei Stunden später dachte der Kardinal, Jeanne hätte nachgegeben und er hätte gesiegt. Das war ein verhängnisvoller Irrtum. Sowohl sie 82
als auch er verfolgten einen Zweck und brauchten die Vertraulichkeit. Beide hatten ihr Ziel erreicht. Er gab sich keine Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Er brachte das Gespräch bald wieder auf Versailles und die Königin. Jeanne ging nur allzu bereitwillig auf sein Gesprächsthema ein. »Arme Königin«, seufzte sie, »oder vielmehr, arme Frau!« »Wieso arme Frau?« »Ist man reich, wenn man sich Entbehrungen auferlegen muß?« »Entbehrungen? Erklären Sie mir das, liebe Jeanne.« »Ich werde Ihnen erzählen, was ich gesehen habe. Die Königin hat eine Sehnsucht, die sie nicht befriedigen kann.« »Nach wem denn?« »Nach was denn, müssen Sie fragen.« »Gut. Also nach was?« »Nach einem Diamantenhalsband.« »Ah, ich weiß davon, Sie meinen die Diamanten von Böhmer und Bossange.« »Ganz richtig.« »Sie täuschen sich, Gräfin. Der König hat sie ihr selbst angeboten, und sie hat sie ausgeschlagen. Die Königin ist uneigennützig. Für sie ist eine Blume soviel wert wie ein Diamant.« »Das leugne ich nicht. Ich behaupte nur, daß sie jetzt Lust hat, sich die Diamanten um den Hals zu hängen. Ich habe das Halsband heute selbst gesehen. Die Juweliere brachten es, um die Königin ein letztes Mal in Versuchung zu führen.« »Sind Sie wirklich sicher, daß die Königin das Halsband besitzen will?« »Es ist ihr sehnlichster Wunsch. Hören Sie, lieber Kardinal, haben Sie mir nicht einmal gesagt, daß Sie gerne Minister werden würden?« »Es ist möglich, daß ich das gesagt habe.« »Wetten wir, daß die Königin den Mann zum Minister macht, der es einzurichten weiß, daß das Halsband in acht Tagen auf ihrem Toilettentisch liegt.« Der Kardinal starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er bemerkte, daß Jeanne ihn beobachtete, machte er eine fahrige Handbewegung. 83
»Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte er. Doch im gleichen Atemzug entfuhr ihm: »Sie glauben, Böhmer hat die Diamanten der Königin wieder angeboten?« »Gewiß! Böhmer und Bossange«, erwiderte Jeanne.
Als der Kardinal die Gräfin am nächsten Morgen verließ, fuhr er geraden Weges zu Böhmer und Bossange. Er begrüßte die Juweliere mit den Worten: »Ich komme, um das Diamantenhalsband zu kaufen, das Sie der Königin gezeigt haben.« »Wir bedauern, Monseigneur«, sagte Böhmer. »Es ist zu spät. Das Halsband ist bereits verkauft.« »Aber Sie haben es doch gestern noch Ihrer Majestät der Königin angeboten?« »Da Sie das wissen, Monseigneur, werden Sie auch wissen, daß die Königin das Halsband wieder ausgeschlagen hat.« »Mein Herr«, unterbrach ihn der Kardinal, »ich glaube, ein Juwelier der Krone Frankreichs müßte stolz darauf sein, diese einmalig schönen Steine in Frankreich verkaufen zu können. Sie aber ziehen Portugal vor.« »Monseigneur weiß alles.« Die Juweliere verneigten sich. »Monseigneur kann es nur von der Königin wissen.« »Und wenn es so wäre?« fragte der Kardinal in seiner Eitelkeit geschmeichelt. »Das würde die Sache ändern, Monseigneur.« »Ich verstehe nicht.« »Wollen Monseigneur mir erlauben, frei zu sprechen? Wir sind sicher, daß sich die Königin für unser Halsband interessiert.« »Und warum kauft sie es dann nicht?« »Weil sie es dem König abgeschlagen hat und weil es launisch erscheinen würde, wenn sie von diesem Beschluß abginge. Aber wir glauben, daß die Königin das Halsband gerne haben würde, allerdings ohne den Anschein zu erwecken, sie kaufe es.« 84
Der Kardinal dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er entschlossen: »Meine Herren, die Königin hat Interesse an Ihrem Halsband.« »Das ändert alles, Monseigneur. Ich kann alle Abschlüsse rückgängig machen. Die Königin hat den Vorrang.« »Wie teuer ist das Halsband?« »Fünfzehnmal hunderttausend Livre bei Barzahlung.« »Nehmen wir an, Sie verkaufen das Halsband für sechzehnmal hunderttausend Livre und verteilen bei einer Anzahlung von hunderttausend Livre die restlichen fünfzehnmal hunderttausend Livre auf ein Dreivierteljahr, das heißt alle drei Monate fünfmal hunderttausend Livre.« Der Kardinal hielt inne: »Übrigens habe ich das Halsband noch nicht gesehen.« »Das ist wahr, Monseigneur.« Böhmer beeilte sich, den Schmuck zu holen. »Hier ist das Halsband.« »Herrlich!« Der Kardinal berührte die Steine liebevoll. »Herrlich!« wiederholte er. »Ich kaufe es. Ist der Handel abgeschlossen?« »Ja, Monseigneur.« Böhmer verbeugte sich und wies auf Bossange. »Wir gehen auf der Stelle zum portugiesischen Gesandten und sagen ihm ab.«
XII Am nächsten Tag empfing einer der Gauner die Juweliere in der portugiesischen Gesandtschaft und geleitete sie zu Don Manoel. Böhmer als Wortführer erklärte verlegen, daß ihn politische Gründe abhielten, die angefangenen Verhandlungen über den Ankauf des Halsbandes fortzusetzen. Don Manoel schrie empört auf. Beausire fuhr Herrn Böhmer über 85
den Mund, als er stotternd nach Entschuldigungen suchte. »Sie haben einen Käufer gefunden, der mehr zahlt?« Böhmer sagte zögernd: »Mein Herr, wir sind gezwungen, das Halsband im Lande zu verkaufen. Glauben Sie uns, daß nicht wir es sind, die Ihr Anerbieten ausschlagen.« Beausire und Don Manoel versuchten krampfhaft, sich gleichgültig zu zeigen. Sie bemerkten nicht, daß der Kammerdiener an der Türe horchte, um zu erfahren, wie weit das Geschäft fortgeschritten war. Erst als der Mann ausrutschte und laut dröhnend an die Tür fiel, stürzte Beausire ins Vorzimmer. »Was machst du!« schrie er den erschrockenen Partner an. »Ich bringe die Depeschen, gnädiger Herr.« Als die Juweliere das Wort ›Depeschen‹ hörten, verbeugten sie sich tief und machten sich erleichtert davon. Ehe Don Manoel und Beausire es recht wußten, waren sie fort. »Nun«, sagte Beausire trocken, »das große Geschäft ist geplatzt. Es bleibt uns nur noch die Kasse der Gesandtschaft. Von hunderttausend Livre bekommt jeder Partner achttausendvierhundert Livre, das lohnt sich kaum.« »Retten wir, was noch zu retten ist«, schlug Don Manoel vor. »Teilen wir beide!« Beausire schüttelte den Kopf. »Der Kammerdiener wird uns nicht aus den Augen lassen. Er weiß, daß das Geschäft ins Wasser gefallen ist.« »Holen Sie ihn«, forderte Don Manoel Beausire auf. »Ich habe eine Idee.« »Ich habe auch eine Idee und wollte Sie gerade bitten, ihn zu holen.« Weder Beausire noch Don Manoel wollte den anderen allein bei der Kasse lassen. Ohne den Blick von Don Manoel zu wenden, ging Beausire an das Fenster und rief nach dem Kammerdiener. Beausire wandte sich ihm lächelnd zu, als er eintrat. »Wir drei wissen als einzige, daß aus dem Geschäft mit dem Halsband nichts wird. Folglich können wir drei die hunderttausend Livre behalten, um so mehr als unsere Partner glauben, Böhmer und Bossange hätten den Betrag als Anzahlung erhalten.« 86
»Das ist wahr!« Der Kammerdiener rieb sich die Hände. »Damit bin ich einverstanden.« »Sie sind ein Schuft«, rief Beausire. Er drehte sich zu Don Manoel um. »Packen wir diesen Kerl und liefern wir ihn unseren Partnern aus!« Don Manoel schob den Kammerdiener in das angrenzende Ankleidezimmer. »Schicken Sie Ducorneau weg«, flüsterte er Beausire zu. Während Don Manoel den Kammerdiener einschloß, verschwand Beausire. Es verging eine Minute, er kam nicht zurück. Don Manoel war allein, die Kasse im Nebenzimmer nur zehn Schritte entfernt. Um sie zu öffnen, mit dem Geld durch ein Fenster zu springen und durch den Garten davonzulaufen, dazu brauchte ein geübter Einbrecher nur zwei Minuten. Um Ducorneau fortzuschicken und in das Zimmer zurückzukommen, würde Beausire wenigstens fünf Minuten brauchen. Don Manoel eilte ins Nebenzimmer. Er stieß einen wütenden Schrei aus, als er sah, daß die Kasse offen und leer war. Beausire hatte sich mit dem Geld schon davongemacht. Don Manoel alarmierte durch sein Geschrei das ganze Haus. Die Partner glaubten seine Geschichte nicht. Sie beschuldigten ihn, mit Beausire im Komplott zu sein. Der ehrliche Herr Ducorneau begriff überhaupt nichts mehr. Er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er sah, wie die ›Diplomaten‹ sich anschickten, Don Manoel unter dem Wagenschuppen aufzuhängen. Drei feierliche Schläge am großen Tor der Gesandtschaft ließen die Partner erstarren. Eine schrille Stimme rief in portugiesischer Sprache: »Öffnen Sie im Namen des Herrn Gesandten von Portugal!« »Der Gesandte?!« Die Gauner stoben auseinander und flüchteten durch die Gärten über die Mauern und Dächer der Nachbarschaft. Aber Herr Ducorneau wurde verhaftet. Das war das Ende des Abenteuers der falschen Gesandtschaft von Portugal.
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Erst in den winkeligen Gassen, die zu den Markthallen führten, war Beausire sicher, daß ihn niemand verfolgte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, vergewisserte sich, daß er die hunderttausend Livre in der Tasche hatte und überlegte: Man würde ihn suchen. Man würde mit einer Hausdurchsuchung bei dem Dieb beginnen. In seinem Haus wohnte Oliva. Man würde sie als Geisel mitnehmen. Soweit durfte es nicht kommen! Beausire lief wie gejagt in die Rue Dauphine. Versteckt hinter der Statue Heinrichs IV. blickte er vorsichtig die Straße entlang. Keine Spur von Verfolgern. Er schlich sich an sein Haus heran. Die Fenster waren geschlossen. Er dachte, daß Oliva sicher auf dem Sofa lag, irgendein schlechtes Buch las und an Süßigkeiten knusperte. Plötzlich sah Beausire einen Polizisten am Fenster des kleinen Wohnzimmers. Der Schweiß brach ihm wieder aus. Ein Zurückweichen war unmöglich. Er sah den ganzen Hausflur voll mit Polizei und sagte sich, ohne Zweifel habe Herr von Crosne ihn verhaften lassen wollen, aber nur Oliva gefunden. Hätte er nicht die hunderttausend Livre in seiner Tasche gehabt, würde er sich gemeldet haben. Doch der Gedanke, die Polizei könnte ihm das Geld wegnehmen, erstickte jedes Liebesgefühl. Er wollte rasch um die nächste Straßenecke biegen und wäre beinahe von einem eleganten Wagen überfahren worden. Er sprang zur Seite und traute seinen Augen nicht. Im Wagen saß Oliva im eifrigen Gespräch mit einem gut aussehenden Mann. Beausire wäre dem Wagen nachgelaufen, wenn er nicht durch die Rue Dauphine gefahren wäre, der einzigen Straße von Paris, in der er sich in diesem Augenblick nicht zeigen konnte. Aber was sollte er tun? Er quartierte sich in einem billigen Gasthof ein und beschloß abzuwarten. Er war überzeugt, die Polizei würde ihn nicht finden und ›seine‹ hunderttausend Livre würden ihm helfen, Oliva aus dem Gefängnis zu befreien.
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Wenn Beausire nicht von Angst geblendet gewesen wäre, als er Oliva an der Seite eines Mannes im Wagen gesehen hatte, hätte er auch ihren Begleiter erkannt. Es war der geheimnisvolle Unbekannte, der mit ihr auf dem Maskenball im Opernhaus gewesen war: Der Graf von Cagliostro. Der Name hätte einem Tunichtgut wie Beausire nichts gesagt. Der Graf von Cagliostro war nur wenigen Eingeweihten bekannt, und zumeist nicht unter diesem Namen. Er trat manchmal als Baron von Balsamo auf und dann wieder unter anderen Pseudonymen, hinter denen er seine geheimnisvolle Identität verbarg. Niemand wußte, wer er wirklich war und was er bezweckte. Hier war er Wohltäter und dort Unruhestifter. Er hatte den Ruf, nur für die ›gute Sache‹ einzutreten. Die hochgestellten Angehörigen der französischen Freimaurerlogen wußten, daß er einer von ihnen war. Ein Gleichgestellter, ein Höhergestellter? Oder der höchste aller Freimaurer, die gegen das Königtum als oberstes Sinnbild der Ungerechtigkeit und Willkür kämpften, mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln. Der unmittelbare Beweggrund der Handlungen Cagliostros war unsichtbar wie auch an diesem Morgen, als er Oliva auf ihrem täglichen Morgenspaziergang anhielt und fragte: »Wohin gehen Sie?« »In unsere Wohnung in die Rue Dauphine.« »Wenn Sie dorthin gehen, wird man Sie verhaften.« Oliva blieb stehen. »Sie spielen Katz und Maus mit mir. Wenn Sie etwas wissen, so sagen Sie es mir doch geradeheraus. Sucht man Beausire?« »Vielleicht. Ich nehme an, daß sein Gewissen nicht so rein ist wie das Ihrige.« »Welches Interesse haben Sie, mich zu beschützen?« »Reden Sie keine Albernheiten, die Zeit ist kostbar. Damit Sie sich davon überzeugen, daß ich recht habe, fahren wir in meinem Wagen an Ihrem Haus vorbei.« Er half Oliva beim Einsteigen, und als sie aus dem fahrenden Wagen sah, daß ihr Haus von Polizisten umstellt war, rief sie verzweifelt: »Retten Sie mich, retten Sie mich!« »Das verspreche ich Ihnen.« Der Graf von Cagliostro löste sich aus 89
den umklammernden Armen Olivas. »Bei mir wird man Sie nicht festnehmen«, sagte er. »Bei Ihnen … Wir gehen also zu Ihnen?« fragte sie erschrocken. Er spottete: »Ihre Angst macht Ihnen alle Ehre, aber erinnern Sie sich nicht an das, was wir verabredet haben? Ich bin nicht Ihr Liebhaber und will es auch nicht sein.« Als Cagliostro Oliva in einem kleinen Zimmer seines Hauses untergebracht hatte, schüttelte sie melancholisch den Kopf. »Hier werde ich vor Langeweile sterben. Sie verbieten mir auszugehen, und es gibt nicht einmal einen Garten.« »Sie haben recht, sich zu beklagen. Ich wünsche, daß Sie sich wohl fühlen. Ich werde Ihnen eine andere Wohnung verschaffen.« Oliva war rasch getröstet. Bei näherer Betrachtung gefiel ihr auch das kleine Zimmer nicht schlecht. Sie fand unterhaltende Bücher und – es gab Süßigkeiten. Als Cagliostro sich von ihr verabschiedete, rief sie ihm nach: »Lassen Sie mir Nachricht von Beausire zukommen!«
XIII Als der Kardinal von Rohan die Gräfin la Motte nach der ersten Liebesnacht verlassen hatte, war sie ihrer Sache noch nicht ganz gewiß. Sie beauftragte einen Lakai, den sie für ergeben hielt, dem Kardinal auf Schritt und Tritt zu folgen. Zwei Tage später schon wußte Jeanne, was sie wissen wollte. Der Lakai meldete, er habe Seine Eminenz den Herrn Kardinal zweimal in zwei Tagen in den Laden der Juweliere Böhmer und Bossange eintreten sehen. Das stärke die Zuversicht Jeannes. Ein Mann wie der Kardinal von Rohan feilschte nicht. Er hatte das Halsband gekauft. Aber warum hat90
te er seiner Geliebten, seiner Vertrauten kein Wort davon gesagt? Sie schrieb an den Kardinal. Er kam unverzüglich. Sie empfing ihn mit einem Vorwurf: »Es kränkt mich nicht, daß Sie mich nicht mehr lieben, aber es kränkt mich, daß Sie mich nie geliebt haben.« »Wie können Sie so etwas sagen?« »Ich habe Lust, Streit mit Ihnen anzufangen.« »Tun Sie das, Jeanne«, lächelte amüsiert der Kardinal. Sie begann: »Sie haben es sowohl an Vertrauen als auch an Achtung fehlen lassen. Oder wollen Sie leugnen, daß Sie, nachdem Sie mir Einzelheiten entlockt haben …« Er unterbrach: »Einzelheiten?« Sie ließ sich nicht beirren: »Über den Geschmack einer gewissen Dame für eine gewisse Sache. Einen Geschmack, den Sie befriedigen wollen, ohne mit mir darüber zu sprechen. Die Dame ist die Königin. Und die Befriedigung ist der Ankauf des vielbesprochenen Halsbandes, den Sie gestern getätigt haben.« »Gräfin?« fragte der Kardinal überrascht. Jeanne wandte den Blick nicht von ihm ab. »Haben Sie nicht gestern den Handel mit den Juwelieren abgeschlossen?« Da der Kardinal verlegen schwieg, fürchtete Jeanne, zu weit gegangen zu sein. Sie wollte ihren direkten Angriff erklären. »Verzeihen Sie, Monseigneur, aber Sie täuschen sich in mir. Sie halten mich nämlich für albern und vielleicht sogar für boshaft.« »Kein Wort mehr«, fiel der Kardinal ein, »jetzt ist es an mir zu sprechen. Ich gebe zu, daß ich dachte, in Ihnen eine reizende Geliebte gefunden zu haben. Sie sind aber mehr.« Er zog sie an sich. »Sie wurden meine Geliebte, meine Freundin und wollen, daß ich mein Glück mache.« Er setzte nach einer kleinen Pause leise hinzu: »Sie wissen doch, daß ich eine ehrfurchtsvolle Zuneigung hege?« »Das habe ich auf dem Opernball bemerkt.« »Aber diese Zuneigung wird nie erwidert werden«, stellte er seufzend fest. »Eine Frau ist nicht immer nur Königin«, entgegnete Jeanne mit überlegener Ruhe. »Und außerdem wären Sie ein vortrefflicher Minister.« 91
Der Kardinal atmete tief. »Bei Ihnen ist es überflüssig, etwas zu sagen. Sie denken und sprechen für Ihre Freunde. Es ist wahr, ich wünsche, erster Minister zu werden. Alles berechtigt mich dazu: meine Geburt, meine Gewandtheit in Geschäften, das wohlwollen auswärtiger Höfe und nicht zuletzt die Sympathie, die mir das französische Volk entgegenbringt.« »Mit einem Wort alles. Nur die Abneigung der Königin steht Ihnen im Wege«, stellte Jeanne fest. »Das ist das einzige wirkliche Hindernis.« Sie erklärte: »Wen die Königin liebt, den liebt auch der König, wen sie haßt, den haßt der König schon im voraus.« »Und sie haßt mich?« fragte der Kardinal. »Das will ich nicht sagen«, gab Jeanne zurück. »Aber sie liebt Sie nicht.« »Dann kann mich auch das Halsband nicht retten.« »In diesem Punkte irren Sie vielleicht.« »Ich irre vielleicht nicht, denn ich habe das Halsband gekauft.« »Gut.« Jeanne glühte. »Dann wird die Königin wenigstens sehen, daß sie von Ihnen geliebt wird.« »Gräfin!« »Monseigneur, wollen wir die Dinge nicht bei ihrem Namen nennen?« »Tun wir das. Es ist besser, und es erleichtert das Gespräch.« Er fragte geradeheraus: »Sie zweifeln also nicht daran, mich eines Tages als ersten Minister zu sehen?« »Ich bin ganz und gar davon überzeugt.« »Sie sind ganz und gar davon überzeugt?« fragte der Kardinal, als hätte es noch einer Bestätigung bedurft. Er faßte sich. »Und was wünschen Sie, Gräfin? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie jetzt nicht nach Ihren Wünschen fragte.« »Wenn Sie einmal imstande sind, sie zu erfüllen, werde ich sie Ihnen sagen.« »Ich nehme Sie beim Wort.« Er streichelte ihre Hände, doch sie entzog sie ihm. »Ich habe Ihnen im Augenblick nichts mehr zu sagen, Monseigneur.« 92
»Sie schicken mich fort?« »Es ist besser so.« »Sie haben recht, Gräfin.« Der Kardinal verbeugte sich tief und konnte nicht sehen, daß ein spöttischer Zug um ihre Lippen spielte. Als sie ihn ins Vorzimmer begleitete, lächelte sie wieder liebenswürdig. Er fragte sie leise: »Was soll ich nun tun, Gräfin? Was würden Sie mir raten?« »Nichts, als daß Sie auf meine Nachricht warten. Ich fahre nach Versailles.« »Wann?« fragte er. »Morgen«, erwiderte sie.
XIV Am nächsten Morgen fuhr Jeanne nach Versailles. Das Vertrauen auf ihren Glücksstern war so groß, daß sie fest davon überzeugt war, auch ohne Audienzbrief vorgelassen zu werden. Es war auch so. Die Höflinge vom Dienst hatten schon das Interesse der Königin an der hübschen Gräfin bemerkt. Ein Diener, der sich beliebt machen wollte, näherte sich Marie-Antoinette, als sie aus der Kapelle kam, und flüsterte dem diensthabenden Kammerherrn zu: »Was soll ich mit der Gräfin von la Motte-Valois machen? Sie hat keinen Audienzbrief.« Die Königin, die das absichtlich laute Flüstern gehört hatte, wandte sich um und sagte obenhin: »Ich werde Frau von la Motte-Valois empfangen.« Sie fügte hinzu: »Führen Sie die Gräfin in mein Boudoir.« »Sie denkt vielleicht, ich will wieder betteln«, überlegte Jeanne, als sie zur Königin geführt wurde und feststellte, daß Marie-Antoinette ernst, fast mißgestimmt zu sein schien. Jeanne machte einen tie93
fen Hofknicks, während sie dachte: Ehe ich zwanzig Worte gesprochen habe, ist sie entweder aufgeheitert oder sie läßt mich hinauswerfen. »Weshalb sind Sie gekommen?« begann die Königin. »Sie hatten um keine Audienz gebeten. Ist es dringend für Sie?« »Dringend … ja, Madame … aber nicht für mich.« »Für mich also … Sprechen Sie!« »Seine Eminenz der Kardinal von Rohan erwies mir vorgestern die Ehre, mich wegen einer wohltätigen Stiftung zu besuchen, deren Vorsteherin ich geworden bin«, log Jeanne. »Wie schön, liebe Gräfin. Ich will auch etwas dazu beitragen, aber meine Mittel sind beschränkt.« »Ihre Majestät mißverstehen mich. Ich habe schon die Ehre gehabt zu sagen, daß ich um nichts bitte. Der Kardinal erzählte mir wie immer von Ihrer Hochherzigkeit und Ihrer unerschöpflichen Gnade. Ich sagte ihm, Ihre Majestät macht sich zur Sklavin ihrer eigenen Güte, und das Gute, das sie tut, gereicht ihr zum Nachteil. Dabei klagte ich mich selbst an.« »Wieso, liebe Gräfin?« fragte die Königin freundlich. »Ich meine damit, und das habe ich auch dem Herrn Kardinal gesagt, daß Eure Majestät mir vor einigen Tagen eine bedeutende Geldsumme gegeben haben und daß Madame sicher immer so handelt, wenn sie Not lindern kann. Wenn die Königin weniger freigebig wäre, habe ich ihm gesagt, dann hätte sie bestimmt jetzt die zwei Millionen in der Kasse und könnte sich das schöne Diamantenhalsband kaufen, das sie so hochherzig ausgeschlagen hat. Verzeihen Sie mir, Madame, daß ich es sage, so ungerechterweise ausgeschlagen hat.« Die Königin schaute Jeanne prüfend an. Sie fand in dem ihr zugewandten Gesicht nur hingebungsvolle Verehrung. »Ja, das Halsband ist schön«, sagte sie. »Es war schön, will ich sagen. Es würde mich freuen, wenn man anerkennen würde, daß ich es ausgeschlagen habe.« »O Madame, ich habe Herrn von Rohan erblassen sehen, als er von Ihrem heldenmütigen Opfer erfuhr. Gleich darauf füllten sich seine Augen mit Tränen. Ich werde es niemals vergessen.« Die Königin schüttelte lächelnd den Kopf. 94
»Verzeihen Sie, Madame, es steht mir nicht zu, denjenigen zu verteidigen, der das Unglück gehabt hat, Eurer Majestät zu mißfallen.« »Herr von Rohan hat mir nicht mißfallen, er hat mich beleidigt. Doch ich bin Königin und Christin, und ich habe die Beleidigung vergessen. Sie hegen für den Herrn von Rohan eine lebhafte Freundschaft, Gräfin. Ich werde ihn in Ihrer Gegenwart nicht mehr angreifen.« »Ihr Zorn wäre mir lieber als Ihr Spott, Madame. Der Herr Kardinal von Rohan verehrt Eure Majestät so tief, daß er sich zu Tode grämen würde, wenn er wüßte, daß die Königin über ihn lächelt.« »Hat er sich so sehr verändert?« Jeanne sah zu Boden und schwieg abwartend. Die Königin begann, wieder von dem Schmuck zu sprechen, der ihre Phantasie angeregt hatte. »Sie haben das Diamantenhalsband erwähnt. Geben Sie zu, daß Sie viel daran gedacht haben.« »Tag und Nacht, Madame«, gab Jeanne zurück. »Es ist aber auch zu schön, und es würde Eure Majestät so gut kleiden.« »Da ich es ausgeschlagen habe, wird es jetzt verkauft werden.« »Es ist bereits verkauft.« »An den Gesandten von Portugal?« Jeanne verneinte. »An wen denn?« »An Herrn von Rohan.« Die Königin schrak zusammen, aber sie faßte sich gleich wieder, als Jeanne berichtete: »Kaum hatte Herr von Rohan von mir, und ich leugne nicht, von mir, erfahren, daß Sie auf das Halsband verzichtet haben, als er ausrief: Man wird über die Königin von Frankreich lachen, die kein Geld hat, um sich einen harmlosen Wunsch zu erfüllen. Mit diesen Worten hat er mich verlassen. Eine Stunde später habe ich erfahren, daß er die Diamanten gekauft hat.« »Um fünfzehnmal hunderttausend Livre?« »Um sechzehnmal hunderttausend Livre.« »Und welche Absicht hatte er bei diesem Kauf?« »Daß wenigstens keine andere Frau auf Erden das Halsband tragen soll.« 95
»Vielleicht hat er es für seine Geliebte gekauft?« »Er würde es eher vernichten, als es an einem anderen Hals als dem der Königin glänzen zu sehen.« Marie-Antoinette dachte einen Augenblick nach. Ihre Gefühle sprachen aus ihrem Gesicht. »Sagen Sie Herrn von Rohan meinen Dank. Sagen Sie ihm, daß ich von seiner Freundschaft überzeugt bin. Ich nehme aber sein Geschenk nicht an …« »Was denn wollen Sie tun, Madame?« »Herr von Rohan hat die Güte gehabt, sein Geld oder seinen Kredit aufzuwenden. Ich werde es ihm zurückzahlen. In der Schublade dort ist meine Geldbörse. Sie enthält zweihundertundfünfzigtausend Livre, mein vierteljährliches Taschengeld. Der König hat es mir heute morgen geschickt. Bringen Sie das Geld dem Kardinal und sagen Sie ihm, daß ich jeden Monat für eine angemessene Zahlung sorgen werde. Auf diese Art bekomme ich das Halsband, das mir so sehr gefallen hat. Und wenn ich mich auch einschränken muß, um es abzuzahlen, so werde ich doch wenigstens den König nicht belasten.« Marie-Antoinette schwieg einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. »Ich habe gleichzeitig festgestellt, daß ich einen verläßlichen Freund habe.« Sie zögerte. »Und eine Freundin, die mich versteht.« Sie reichte Jeanne mit herzlicher Gebärde die Hand zum Abschied und fügte leise hinzu, so als fürchtete sie sich, es auszusprechen: »Sagen Sie Herrn von Rohan, daß er mir in Versailles willkommen sein wird. Ich werde ihm meinen Dank persönlich aussprechen.«
Der Kardinal war gerade dabei auszufahren, als Frau von la Motte in seinem Palais ankam. »Sie kommen von Versailles?« fragte er hastig statt jeder Begrüßung. »Ja, Monseigneur«, gab sie schlicht zurück, »ich habe mit der Königin gesprochen. Ich habe auch gewagt, vom Halsband zu sprechen.« »Sie haben ihr gesagt, daß ich daran gedacht habe …« »Es für sie zu kaufen, gewiß.« 96
»Haben Sie ihr gesagt, daß ich ihr die Diamanten als Geschenk anbiete?« »Das habe ich gesagt, aber sie hat es abgelehnt.« »Dann bin ich verloren.« Jeanne triumphierte: »Sie hat das Geschenk abgelehnt. Aber als Darlehen …« »Als Darlehen!« Der Kardinal war außer sich. »Sie haben meinem Anerbieten eine so zarte Wendung gegeben?« Jeanne wehrte das Kompliment ab. Sie sagte nur: »Ihre Majestät hat angenommen.« »Ich leihe der Königin, ich … Gräfin, ist das möglich?« »Das ist mehr, als wenn Sie es ihr schenkten, nicht wahr?« »Tausendmal mehr.« »Das dachte ich mir.« Der Kardinal sprang erregt auf und ergriff Jeannes Hände. Er stammelte: »Meine Dankbarkeit wird nie …« »Sie übertreiben. Verlangen Sie denn sonst nichts, als der Königin anderthalb Millionen zu leihen?« Der Kardinal seufzte. »Die Königin hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß sie Sie mit Vergnügen in Versailles empfangen wird.« Der Kardinal wurde totenblaß vor Erregung. Jeanne beobachtete ihn kühl. Er trat an sie heran: »Meine Freundin«, sagte er und schloß sie in die Arme. Dann fragte er sehr gefaßt: »Wie wird es die Königin mit dem Darlehen halten?« »Sie irren, wenn Sie glauben, die Königin hätte kein Geld. Sie wird Sie ebenso bezahlen, wie sie Böhmer und Bossange bezahlt haben würde, allerdings mit dem Unterschied, daß es ganz Paris erfahren hätte, wenn sie von Böhmer gekauft hätte. Sie, Monseigneur, sind ein verschwiegener Gläubiger. Die Königin ist glücklich darüber, und sie bezahlt. Mehr können Sie nicht verlangen.« Jeanne zog die Geldbörse Marie-Antoinettes aus ihrer Tasche. »Die Königin schickt Ihnen diese Börse mit einem schönen Gruß. Sie enthält zweihundertfünfzigtausend Livre.« 97
»Sie sind die gescheiteste Freundin!« Der Kardinal umarmte Jeanne stürmisch. »Sie übertreiben, ich habe nur Glück gehabt.« »Wenn Sie nur Glück gehabt haben, meine Liebe, so ist es mir genauso ergangen wie Ihnen. Ich habe auch etwas für Sie getan.« Der Kardinal erklärte rasch: »Mein Bankier bot mir heute Aktien an. Ich nahm einen Teil für Sie. Zwei Stunden später kam er zurück. Die Aktien waren um hundert Prozent gestiegen. Hier ist Ihr Anteil.« Der Kardinal zog aus dem Päckchen der zweihundertfünfzigtausend Livre, die ihm die Königin geschickt hatte, fünfundzwanzigtausend Livre und ließ sie in Jeannes Hand schlüpfen. »Danke, Monseigneur.« Jeanne lächelte den Kardinal strahlend an. »Wer empfängt, soll auch geben. Es schmeichelt mir, daß Sie an mich gedacht haben.« »Es wird immer so sein«, erwiderte er. Sie sagte zum Abschied: »Auf baldiges Wiedersehen in Versailles!«
XV Herr von Calonne, der Finanzminister des Königs von Frankreich, war ein glatter Höfling. Niemand ahnte, daß er darauf hinarbeitete, den König und den Adel in weniger als zwei Jahren in den Bankerott zu treiben. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, daß ihn Marie-Antoinette in einer dringenden Angelegenheit zu sehen gewünscht hatte. Er trat mit einem Lächeln auf den Lippen auf die Königin zu. Sie empfing ihn sehr freundlich und bat ihn, Platz zu nehmen. Sie plauderte erst von bedeutungslosen Dingen. Dann fragte sie: »Haben wir Geld, mein lieber Herr von Calonne?« »Gewiß, Madame. Wir haben immer Geld.« 98
»Das ist herrlich. Als Finanzmann sind Sie unbezahlbar.« »Welche Summe brauchen Eure Majestät?« fragte er. »Erklären Sie mir zuerst, wie Sie es machen, dort Geld zu finden, wo es angeblich keins gibt?« Calonne erwiderte mit einem unheimlichen Lächeln: »Ich stehe dafür ein, daß man bezahlen wird.« »Haben Sie einen Plan?« »Ich habe einen Plan, der zwanzig Millionen in die Taschen der Franzosen und sieben bis acht in die Ihre bringen wird« – er verbesserte sich – »verzeihen Sie, Madame, in die Kasse Seiner Majestät.« »Diese Millionen werden willkommen sein. Woher werden sie fließen?« »Es ist Eurer Majestät nicht unbekannt, daß die Goldmünze nicht in allen Staaten Europas den gleichen Wert hat.« »Wenn Sie immer solche Ideen haben, bin ich sicher, daß Sie alle unsere Schulden bezahlen werden«, gab Marie-Antoinette oberflächlich zurück. Der Gedanke, der sie beschäftigte, war ihr wichtiger als die Ideen des Herrn von Calonne. Er beobachtete sie scharf. »Erlauben Sie mir, Madame, daß ich Sie frage, was Sie von mir wünschen?« »Wäre es möglich …« Marie-Antoinette wurde unsicher. »… hätten Sie vielleicht …« »Welche Summe?« »Fünfmal hunderttausend Livre.« »Aber Madame«, rief Calonne mit einer geringschätzigen Handbewegung, »Eure Majestät haben mir Angst gemacht. Ich glaubte, es handelte sich um eine wirkliche Summe.« »Sie können also? Ohne daß der König …« »Das ist unmöglich«, fiel Herr von Calonne ein. »Alle meine Rechnungen werden dem König jeden Monat vorgelegt. Aber es ist noch nie vorgekommen, daß er sie geprüft hat. Und ich bin stolz darauf.« »Wann kann ich das Geld haben?« Sie erklärte: »Ich brauche es am Fünften des nächsten Monats.« »Sie werden Ihr Geld am Dritten haben, Madame.« 99
»Ich danke Ihnen, Herr von Calonne. Dieses Geld macht mir Gewissensbisse. Es dient nämlich zur Befriedigung einer Laune.« »Möge niemand andere Gewissensbisse haben als die Eurer Majestät, und wir werden alle geraden Weges ins Paradies einziehen.« »Ihre Meinung beruhigt mich, Herr von Calonne. Es wäre ein grausames Gefühl für mich, wenn das arme Volk für meine Launen bezahlte.« Der Finanzminister lächelte sein böses Lächeln. »Seien Sie ohne Sorge, Madame, ich schwöre Ihnen, es wird nie das arme Volk sein, das bezahlt.« »Sie können es auf sich nehmen, das zu schwören?« »Gewiß kann ich das«, erwiderte der Minister ungerührt. »Das kann ich, weil das arme Volk nichts mehr hat, und weil dort, wo nichts ist, sogar der Kaiser sein Recht verliert … auch der König«, setzte er hinzu und verbeugte sich zum Abschied. Kaum hatte Herr von Calonne die Gemächer der Königin verlassen, als die Türe des Boudoirs sich auftat. Die Gräfin la Motte erschien im Türrahmen, »Madame«, sagte sie geheimnisvoll, »er ist da.« »Der Kardinal?« fragte Marie-Antoinette. Sie konnte nichts weiter sagen, Jeanne hatte Herrn von Rohan schon hereingeführt und entfernte sich sogleich wieder. Der Kardinal verbeugte sich tief. Die Königin war durch seine taktvolle Zurückhaltung angenehm berührt. Sie streckte dem Kardinal ihre Hand entgegen. Er machte einige Schritte in ihre Richtung und sagte bewegt: »Glauben Sie mir, Madame, wenn ich Ihnen erkläre …« »Erklären Sie mir nicht«, unterbrach ihn die Königin. »Zeigen Sie sich mir immer nur in dem neuen Licht, in dem ich Sie jetzt sehe: gefällig, ehrerbietig, ergeben …« »… bis in den Tod«, fiel der Kardinal ein. »Bis jetzt haben Sie mir bewiesen, daß Ihre Ergebenheit soweit reicht, sich für mich zu ruinieren«, lächelte Marie-Antoinette. »Das ist sehr schön, aber ich werde dafür sorgen, daß es nicht so weit kommt. Sie haben für mich gebürgt, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber ich bitte Sie, kümmern Sie sich nicht mehr um die Angelegenheit, die von der ersten Zahlung an nur mehr mich allein angeht.« 100
Der Kardinal verbeugte sich wieder. »Dann habe ich Eurer Majestät nur noch das Halsband zu überreichen.« Er nahm das Etui aus seiner Tasche und hielt es der Königin hin. Sie zitterte vor Freude. Sie unterdrückte aber das Verlangen, das Etui zu öffnen. Der Kardinal versuchte, eine höfliche Konversation in Gang zu bringen, aber sie hörte nur noch zerstreut zu, sie dachte nur mehr an die Diamanten. Aus Zerstreuung überließ sie auch dem Kardinal ihre Hand, die er entzückt küßte. Er verließ die Königin begeistert und voll der schönsten Hoffnungen. Die Gräfin la Motte erwartete den Kardinal in ihrem Wagen. Nachdem er ihr seine Dankbarkeit beteuert hatte, fragte sie sachlich: »Was haben Sie erreicht?« Er suchte nach Worten. »Wenn Sie mithelfen«, er zögerte, dann vollendete er bestimmt, »kann ich in drei Wochen Minister sein.« »Drei Wochen sind ziemlich lang«, erwiderte Jeanne, »wenn man bedenkt, daß die erste Rate für das Halsband schon in zwei Wochen fällig ist.« »Aber die Königin hat Geld und will bezahlen …« Der Kardinal unterbrach sich. »Ich muß gestehen, daß es mir mehr Freude gemacht hätte, wenn die Königin meine Schuldnerin geworden wäre.« Jeanne lächelte. »Monseigneur, eine innere Stimme sagt mir, daß Sie dieses Vergnügen haben werden. Sind Sie darauf vorbereitet?« »Ich habe meine letzten Güter verkauft und meine Einkünfte für das nächste Jahr verpfändet.« »Sie haben also die fünfhunderttausend Livre flüssig?« »Ich habe sie flüssig. Nur weiß ich nicht, woher ich das Geld für die zweite Rate nehmen sollte.« »Die erste Zahlung gibt uns ein Vierteljahr Atempause«, sagte Jeanne, »und wenn Sie drei Monate lang Minister sind, was kann da nicht alles geschehen!« »Aber Gräfin!« »Regen Sie sich nur nicht auf, lieber Kardinal. Seien Sie nicht so korrekt. Wenn Sie nicht selbst für Ihren Vorteil sorgen, werden es Ihre 101
Verwandten für die eigene Tasche tun, und Sie werden nichts davon haben.« »Sie haben wie immer recht, liebe Jeanne. Und wohin gehen Sie jetzt?« »Zur Königin. Ich möchte hören, welchen Eindruck Ihr Besuch gemacht hat. Und was werden Sie tun?« »Ich muß leider nach Paris zurück.« Er erklärte: »Wegen einer Verabredung, um die ich heute morgen gebeten wurde. Nach dem Brief zu schließen, scheint die Verabredung ernster Natur zu sein. Lesen Sie.« »Eine männliche Handschrift«, stellte Jeanne fest und las den Brief halblaut: »Monseigneur, es wünscht Sie jemand wegen der Rückzahlung einer bedeutenden Summe zu sprechen. Diese Person wird Sie heute abend in Paris besuchen, um die Ehre einer Audienz zu erlangen.« Jeanne gab dem Kardinal den Brief zurück. »Nun, so gehen Sie. Fahren Sie mit Gott, Monseigneur.« »Ich freue mich, Sie bald wiederzusehen.« Jeanne legte ihm die Hand auf den Arm. »Was würden Sie tun, wenn Ihnen unerwartet eine große Summe einginge, etwas Verlorenes, ein Fund, ein Schatz?« Der Kardinal lachte. »Ich begreife, was Sie wollen. Die Hälfte für Sie, nicht wahr?« »Ja, Monseigneur!« »Sie bringen mir Glück, Gräfin. Warum sollte ich es nicht mit Ihnen teilen? Ist das in Ordnung? Und was ist die zweite Sache?« Sie sah ihn beschwörend an. »Lassen Sie sich nicht einfallen, die fünfhunderttausend Livre anzugreifen.« »Seien Sie unbesorgt«, lächelte der Kardinal und eilte zu seinem Wagen. Er fuhr glückselig und voll von Ideen nach Paris. Er sah sich schon als Minister und versöhnte in seinen Gedanken die Geistlichkeit mit dem Volk. Er würde auch der von ihm angebeteten Königin eine Popularität ohnegleichen verschaffen. Das war sein Traum. Der Kardinal glaubte sich bei seiner Rückkehr in sein Pariser Haus schon am Ziel. Er verbrannte eine Kiste mit Liebesbriefen und rief 102
nach seinem Sekretär, als sein Kammerdiener eintrat und den Grafen von Cagliostro meldete. Als sich die Türen hinter dem Besucher schlossen, rief der Kardinal erschrocken: »Großer Gott, wen sehe ich!« Die dunklen, lächelnden Augen gaben den Spott preis. »Nicht wahr, Monseigneur, ich habe mich nicht verändert.« Der Kardinal stammelte: »Ist es möglich … Josef Balsamo wieder auferstanden unter einem anderen Namen?« Er war so bestürzt, daß er Cagliostro nicht einmal einen Stuhl anbot. Aber der Graf setzte sich unaufgefordert ihm gegenüber und wandte den Blick nicht von dem erschrockenen Kirchenfürsten. Der Kardinal murmelte: »Sie geben mich jener Zeit zurück, wo die Zauberkraft Ihrer Worte alle meine Fähigkeiten verdoppelte. Erinnern Sie sich noch, es ist siebzehn Jahre her, daß ich Sie kennenlernte.« »Ich erinnere mich. Aber erinnern Sie sich, Monseigneur, daß ich Ihnen die Liebe einer Frau versprach?« Der Kardinal wurde rot und blaß. »Ich erinnere mich«, sagte er leise. »Wir wollen sehen«, meinte Cagliostro, lächelnd, »ob ich noch ein Zauberer bin. Warten Sie doch …« Er gab sich den Anschein, als dächte er angestrengt. »Die blonde junge Frau Ihrer Sehnsucht«, er schloß die Augen und fragte beschwörend: »Wo ist sie? Was macht sie?« Er lehnte sich zurück. »Bei Gott, ich sehe sie … und Sie selbst haben sie heute gesehen …« Er öffnete die Augen und stellte fest: »Sie kommen von ihr.« Der Kardinal war leichenblaß. »Mein Herr«, er atmete tief, »ich bitte …« »Wollen Sie, daß wir von etwas anderem sprechen?« fragte Cagliostro in höflichem Ton. »Ja«, erwiderte Rohan. Er erholte sich langsam. »Sprechen wir von der Geldangelegenheit.« »Die ich Ihnen in meinem Brief angedeutet habe?« »Ich nehme an, das war nur ein Vorwand, um unsere Bekanntschaft zu erneuern.« 103
»Durchaus nicht, Monseigneur, denn bei dieser Rückzahlung, über die ich Ihnen geschrieben habe, handelt es sich um fünfmal hunderttausend Livre. Und das ist immerhin eine ziemlich bedeutende Summe.« »Und zwar eine Summe, die Sie mir damals so zuvorkommend geliehen haben.« Der Kardinal fuhr sich mit der Hand über seine schweißnasse Stirne. »Ganz recht, Monseigneur, ich habe Ihnen diese Summe geliehen. Es freut mich, daß ich bei einem so hoch geborenen Mann wie Sie ein so gutes Gedächtnis finde.« »Ich habe einen Augenblick geglaubt«, sagte der Kardinal mühsam lächelnd, »Josef Balsamo habe seine Forderung mit ins Grab genommen, so wie er meinen Empfangsschein ins Feuer geworfen hatte.« »Monseigneur«, erwiderte Cagliostro feierlich, »daß Leben Josef Balsamos ist genauso unzerstörbar wie der Empfangsschein, den Sie vernichtet glaubten.« Er überreichte dem Kardinal ein zusammengefaltetes Papier. »Das ist mein Schuldschein«, bestätigte er. »Aber warum haben Sie länger als zehn Jahre auf die Zahlung einer solchen Summe gewartet?« »Ich wußte, daß das Geld in guten Händen war, aber jetzt haben mich die Ereignisse«, er erklärte, »das Spiel und Betrüger um mein ganzes Vermögen gebracht. Da ich den Rest meines Vermögens bei Ihnen in Sicherheit wußte, wartete ich gelassen bis zum letzten Augenblick.« »Und dieser Augenblick ist gekommen? Sie können sich nicht länger gedulden?« »Unmöglich«, erwiderte Cagliostro mit verbindlichem Lächeln. »Sie fordern also Ihr Geld heute von mir zurück?« »Wenn ich bitten darf.« Der Kardinal war völlig verzweifelt. Er suchte nach einem Ausweg und sagte: »Herr Graf, die unglücklichen Fürsten der Erde improvisieren nicht so rasch ein Vermögen wie die Herren Zauberer.« »Glauben Sie mir, Monseigneur, ich würde diese Summe nicht von Ihnen fordern, wenn ich nicht wüßte, daß Sie sie besitzen.« 104
»Ich besäße eine halbe Million Livre?« fragte der Kardinal vorsichtig. »Ja, Sie besitzen eine halbe Million Livre«, bestätigte Cagliostro. »Fünfzigtausend Livre in Gold, zehntausend in Silber, den Rest in Papieren. Das Geld befindet sich dort im Schrank.« »Sie wissen das?« »Ich weiß es, Monseigneur, und ich weiß auch, mit welchen Opfern Sie sich diese Summe beschafft haben.« »Es ist so, ich kann es nicht leugnen. Aber ich kann nur nicht verstehen, warum Sie so lange Jahre geschwiegen haben. Im Laufe dieser Jahre hätte ich zwanzigmal Gelegenheit gehabt, Ihnen die Schuld zurückzuzahlen, ohne daß es mir schwer geworden wäre.« »Während es Ihnen heute schwerfällt?« fragte Cagliostro. »Es fällt mir besonders schwer.« Der Kardinal schüttelte den Kopf über sich selbst. »Ich weiß, daß mein Schuldschein keinen Zeitpunkt für die Rückzahlung festsetzt.« »Eminenz werden entschuldigen, wenn ich mich auf den Wortlaut des Schuldscheines berufe.« Er las vor: »Ich bescheinige, von Herrn Josef von Balsamo die Summe von fünfhunderttausend Livre empfangen zu haben, die ich ihm auf seine erste Forderung zurückzahlen werde. Unterz. Louis von Rohan.« Der Kardinal zitterte. Er hatte nicht nur die Schuld vergessen, sondern auch den Wortlaut des Schuldscheines. »Sie sehen, daß ich nichts Unmögliches verlange«, sagte Cagliostro gelassen. »Sie können nicht zahlen. Gut, ich will es glauben. Nur bedaure ich, daß Eure Eminenz zu vergessen scheinen, daß ich Ihnen die Summe aus freien Stücken geliehen habe, obgleich ich Sie nur dem Namen nach kannte. Sie waren damals in Verlegenheit. Und ich sollte meinen, daß das sehr anständig von mir war. Sie hätten es bei der Rückzahlung ebenso halten können.« Cagliostro faltete die Quittung mit der größten Ruhe zusammen. »Sprechen wir nicht mehr davon.« Er erhob sich. »Gott befohlen, Monseigneur.« Der Kardinal hielt ihn zurück. »Herr Graf, ein Rohan duldet nicht, daß ihm jemand eine solche Lektion erteilt. Geben Sie nur den Schein, damit ich ihn einlöse.« 105
Jetzt schien Cagliostro zu zögern. Das verstörte Gesicht des Kardinals, die eingefallenen Augen und die zitternde Hand schienen sein Mitleid zu erregen. Der Kardinal, so stolz er auch war, erriet den Gedanken Cagliostros. Einen Augenblick hoffte er. Plötzlich aber verhärtete sich der Blick des Grafen, und er reichte dem Kardinal den Schuldschein. Louis von Rohan bewahrte Haltung und ging zu dem Schrank, von dem Cagliostro gesprochen hatte. Er wies auf ein Bündel Papiere, dann auf mehrere Säcke mit Silbergeld und zog eine mit Gold gefüllte Schublade auf. »Monseigneur, ich spreche Ihnen meinen Dank aus und versichere Sie meiner ehrerbietigsten Hochachtung.« Cagliostro steckte das Bündel mit den Papieren in die Tasche. »Ich lasse mit Ihrer Erlaubnis das Gold und das Silber abholen«, sagte er und verneigte sich höflich zum Abschied. »Dieser Schlag trifft zum Glück nur mich«, seufzte der Kardinal, als sich die Türe hinter dem Grafen Cagliostro geschlossen hatte, »da die Königin zahlen kann und von ihr kein unerwarteter Josef Balsamo eine rückständige Schuld von einer halben Million Livre fordern wird.«
XVI Zwei Tage vor dem Termin, an dem die Königin ihre Zahlung leisten sollte, hatte Herr von Calonne sein Wort noch nicht halten können, da der König die Überprüfung der Rechnungen noch nicht vorgenommen hatte. Der Minister entschuldigte sich wegen der Verzögerung bei der Königin und teilte ihr mit, daß die ihm von Ihrer Majestät aufgetragene Angelegenheit in der heutigen Sitzung erledigt würde. 106
Marie-Antoinette, die sich schon Sorgen gemacht hatte, war beruhigt und ging mit der Prinzessin von Lamballe und dem Grafen von Artois im Park spazieren, während sich der König in die Sitzung begab. Ludwig XVI. war schlechter Laune. Aus Rußland waren schlimme Nachrichten gekommen. Ein Schiff war im Golf von Lyon untergegangen. Einige Provinzen verweigerten die Steuerzahlung. Der König war mit der ganzen Welt zerfallen. Verdrießlich kritzelte er Ornamente auf ein Papier, und er hielt den Kopf gesenkt. Er liebte es nicht, den Leuten ins Gesicht zu sehen, er war schüchtern. Er gab keine Silbe von sich und ließ die auswärtige Korrespondenz verlesen, so als begriffe er keine Silbe. Als aber die monatlichen Rechnungsvorlagen für den Staatshaushalt an die Reihe kamen, wurde er aufmerksam. Herr von Calonne hatte begonnen, eine Abschrift der für das folgende Jahr vorgeschlagenen Anleihe zu verlesen. Der König unterbrach die Lesung: »Immer Anleihen, ohne zu wissen, wie man sie zurückgeben wird, das ist doch ein schwieriges Problem, Herr von Calonne.« »Sire, das Problem heißt nicht: womit wird man zurückgeben? Es heißt vielmehr: wird man Gläubiger finden?« Der König gab keine Antwort, aber sein Gekritzel wurde unübersichtlich. Nachdem Herr von Calonne seinen Plan auseinandergesetzt und die Zustimmung seiner Kollegen erwirkt hatte, unterzeichnete der König, ohne ein Wort zu verlieren. »Nun, da wir Geld haben, geben wir aus«, lachte Herr von Calonne. Er legte dem König einen Etat über Pensionen, Gratifikationen, Geschenke und Belohnungen vor. Die Arbeit war kurz und genau erläutert. Der König flog sie durch. Er betrachtete die Ziffern. Die Gesamtsumme machte ihn stutzig. Er ließ die Feder sinken. »Eine Millionen und hunderttausend Livre! Wie ist das möglich bei so wenig Posten!« »Sire, von den elfhunderttausend Livre beträgt ein Posten allein eine halbe Million.« »Was für ein Posten ist das?« »Ein Vorschuß für Ihre Majestät die Königin, Sire.« »Für die Königin?« fragte Ludwig, »Fünfmal hunderttausend Livre für die Königin? Das ist unmöglich, Herr von Calonne!« 107
»Sire, wenn die Königin Geld nötig hat, und man weiß, wie Ihre Majestät Gebrauch davon macht, so ist es nichts Außerordentliches …« »Nein, nein!« rief der König. Er wollte Marie-Antoinette mit seiner Sparsamkeit imponieren. »Die Königin verlangt diese Summe nicht, Herr von Calonne. Sie hat mir selbst gesagt, ein Kriegsschiff ist mir mehr wert als Juwelen. Ich stehe dafür ein, daß die Königin wartet.« Die Minister zollten diesem patriotischen Erguß des Königs untertänigen Beifall. Nur Herr von Calonne, der die Verlegenheit der Königin kannte, beharrte auf der Genehmigung. »Ich muß sagen, Herr von Calonne, Sie sind mehr um uns besorgt als wir selbst. Beruhigen Sie sich! … Besagter Posten …« Der König griff entschlossen zur Feder, »… wird gestrichen«, sagte er majestätisch. »Und ich weiß, daß mir die Königin danken wird.« Mit diesem heldenmütigen persönlichen Opfer zufrieden, unterschrieb der König alles übrige in blindem Vertrauen. Und er zeichnete ein schönes Zebra, umgeben von Nullen, auf das vor ihm liegende Papier. »Ich habe heute fünfhunderttausend Livre gewonnen! Ein schöner Tag, Herr von Calonne«, sagte er. »Sie werden diese gute Nachricht der Königin überbringen. Und Sie werden sehen, was sie dazu sagt.« »Sire, ich wäre in Verzweiflung, wenn ich Ihnen die Freude dieser Mitteilung rauben wollte. Jeder nach seinen Verdiensten.« »Na schön«, erwiderte der König. »Genug der Arbeit, beendigen wir die Sitzung. Dort kommt die Königin, gehen wir ihr entgegen, Calonne.« »Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung, ich habe dringende Geschäfte.« Während sich der Finanzminister so schnell wie möglich aus dem Staube machte, ging der König strahlend auf Marie-Antoinette zu, die ihm am Arm des Grafen von Artois entgegenkam. Er fragte höflich: »Madame, haben Sie einen angenehmen Spaziergang gemacht?« »Ja, Sire. Und Sie haben währenddessen fleißig gearbeitet?« »Urteilen Sie selbst, Madame. Ich habe fünfhunderttausend Livre für Sie verdient.« »Calonne hat Wort gehalten«, dachte die Königin. 108
»Stellen Sie sich vor«, fuhr Ludwig XVI. fort, »Calonne hatte Sie in seiner Kreditvorlage mit einer halben Million Livre angeführt.« »Wirklich?« entgegnete Marie-Antoinette lächelnd. »Und ich … ich habe sie durchgestrichen und mit einem Federstrich fünfmal hunderttausend Livre gewonnen.« »Sie haben sie durchgestrichen?« »Jawohl! Das wird Ihnen ungeheuer nützen, Madame. Und jetzt verspüre ich großen Hunger und ziehe mich in meine Gemächer zurück. Oder habe ich mein Abendbrot vielleicht nicht verdient?« Seelenvergnügt über seinen Wortwitz eilte Ludwig XVI. davon. »Ein Wort, Sire …«, rief Marie-Antoinette. Da der König sie nicht mehr gehört hatte, blieb sie bestürzt zurück. Der Graf von Artois brach das peinliche Schweigen. »Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen, liebe Schwägerin?« Er scherzte: »Ich bin jedenfalls gewarnt. Auch ich wollte morgen um einen Kredit bitten. Guten Abend, Madame.« Nach langem Nachdenken faßte Marie-Antoinette einen Entschluß. »Man hole die Gräfin la Motte«, befahl sie ihrer Kammerfrau, »wo sie auch sein mag, und auf der Stelle.« Eine Stunde später traf die Gräfin la Motte in Versailles ein und wurde unverzüglich zur Königin geführt. »Ah, da sind Sie endlich!« rief Marie-Antoinette Jeanne entgegen. »Ich habe eine Neuigkeit.« »Eine gute, Madame?« »Urteilen Sie selbst.« Sie erklärte ohne Umschweife: »Der König hat die fünfhunderttausend Livre verweigert.« »Großer Gott«, murmelte die Gräfin. Marie-Antoinette fuhr fort: »Er hat die von Herrn von Calonne schon ausgefertigte Anweisung durchgestrichen. So etwas kann nur mir passieren. Doch genug davon, was einmal geschehen ist, das ist nicht zu ändern. Aber Sie, Gräfin, Sie müssen gleich nach Paris zurückkehren und dem Kardinal sagen, daß ich seine fünfhunderttausend Livre, die er mir so bereitwillig angeboten hat, bis zum nächsten Quartal als Darlehen annehme. Das ist sehr egoistisch von mir, aber ich weiß keinen anderen Ausweg.« 109
»Oh, welch ein Unglück, Madame.« Jeanne verlor beinahe die Stimme: »Der Kardinal hat kein Geld mehr.« »Kein … Geld … mehr?« stammelte die Königin. »Madame«, erklärte Jeanne, »Herr von Rohan mußte eine Schuld begleichen, an die er nicht mehr dachte. Es war eine Ehrenschuld. Er hat bezahlt.« »Fünfmal hunderttausend Livre?« »Ja, Madame. Vor zwei Stunden hat er mir sein Mißgeschick erzählt, und es läßt sich nicht wiedergutmachen. Es war sein letztes Geld … alle seine Mittel sind erschöpft.« Marie-Antoinette griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Es muß etwas geschehen, Gräfin«, sagte sie nach einer Weile, »so schön das Halsband auch sein mag, Sie werden es den Juwelieren wieder zurückbringen.« »Aber Madame, Eure Majestät haben zweihundertfünfzigtausend Livre angezahlt. Und was soll ich tun, wenn die Juweliere Schwierigkeiten machen, die Anzahlung zurückzugeben?« »Damit rechne ich und überlasse den Juwelieren die Anzahlung unter der Bedingung, daß der Verkauf rückgängig gemacht wird. Jetzt ist mir leichter ums Herz, Gräfin. Nehmen Sie das Etui sofort mit. Die Juweliere machen ein gutes Geschäft. Sie werden sich nicht beklagen, niemand wird davon erfahren.« »Aber Herr von Rohan, Madame?« »Der Kardinal wollte mir Vergnügen machen. Sagen Sie ihm, jetzt ist es mein Vergnügen, das Halsband nicht mehr zu haben. Er wird es verstehen.« Mit diesen Worten reichte die Königin Jeanne das geschlossene Etui. »Sie dürfen keine Zeit verlieren«, drängte sie. »Fahren Sie rasch zurück. Gehen Sie zuerst in Ihre Wohnung, denn ich befürchte, ein Besuch bei den Juwelieren zu so später Stunde könnte Verdacht bei der Polizei erregen. Erst wenn Sie sicher sind, daß Ihnen niemand gefolgt ist, gehen Sie zu Böhmer und Bossange. Und bringen Sie mir einen Empfangsschein von ihnen.« »Madame«, Jeanne verneigte sich, »da Sie es wünschen, soll es geschehen.« 110
XVII Ihrem Auftrag entsprechend fuhr Jeanne zuerst nach Hause. Sie war nachdenklich und zerstreut. In ihrem Schlafzimmer öffnete sie das Etui und betrachtete die funkelnden Steine mit lüsternen Blicken. Dann nahm sie das Halsband heraus. Fünfzehnmal hunderttausend Livre in einer hohlen Hand. Diese Diamanten haben einen Wert, den jedermann kennt, schätzt, bewundert und auch dafür bezahlt … in London, in Berlin, in Madrid, sogar in Brasilien. – »Doch woran denke ich«, sagte sie plötzlich halblaut. »Entweder ich muß jetzt den Kardinal aufsuchen oder den Juwelieren das Halsband zurückgeben.« Sie erhob sich, die Diamanten noch immer in ihrer Hand. Sie überlegte: In welcher Form soll ich eigentlich den Empfangsschein von den Juwelieren abfassen lassen? Das erfordert viel Diplomatie. Der Schein darf weder die Königin noch den Kardinal, noch mich verbindlich machen. »Das kann ich nicht allein tun, ich brauche einen Rat.« Eine Stunde lang saß Jeanne auf dem Sofa, die Diamanten krampfhaft umschließend, den glühenden Kopf voll verworrener Gedanken. Plötzlich wurde sie ruhig. Sie hatte einen Plan, der ihr von Minute zu Minute besser gefiel. Es war zwei Uhr morgens. Langsam stand sie auf und läutete ihrer Kammerfrau. »Holen Sie mir einen Wagen«, befahl sie mit fester Stimme. Zehn Minuten später hielt der Wagen mit der Gräfin la Motte vor dem Haus Reteau de Villettes, des berüchtigten Journalisten und Pamphletschreibers. Am nächsten Morgen übersandte die Gräfin la Motte der Königin einen Brief mit einem Empfangsschein der Juweliere. Diese wichtige Urkunde war folgendermaßen abgefaßt: »Wir, die Unterzeichneten, bestätigen, das ursprünglich an die Königin gegen eine Summe von sech111
zehnmal hunderttausend Livre verkaufte Diamantenhalsband wieder in Besitz genommen zu haben. Ihre Majestät die Königin hat uns für unsere Bemühungen und Auslagen durch die Überlassung der Anzahlung von zweihundertfünfzigtausend Livre entschädigt. Unterz. Böhmer und Bossange.« Marie-Antoinette war beruhigt. Diese leidige Angelegenheit hatte sie belästigt. Sie verschloß den Schein in ihrem Arbeitstisch und dachte nicht mehr daran.
Als der Kardinal von Rohan die Juweliere zwei Tage später besuchte, empfing Böhmer seinen vornehmen Kunden zuvorkommend. »Heute ist der erste Zahlungstermin«, begann der Kardinal ein wenig besorgt. Er fragte: »Hat die Königin bezahlt?« »Nein, Monseigneur«, erwiderte Böhmer, »Ihre Majestät konnte nicht bezahlen. Ganz Paris spricht davon, daß der König Herrn von Calonne abgewiesen hat.« »Ganz Paris spricht davon – gerade das ist der Grund, der mich hierherführt.« »Ihre Majestät hat den besten Willen«, versicherte Böhmer eifrig. »Da die Königin nicht bezahlen konnte, hat sie die Schuld garantiert, und mehr verlangen wir nicht. Gestern abend überbrachte uns ein geheimer Kurier einen Brief Ihrer Majestät.« »Einen Brief? An Sie, Böhmer? Lassen Sie sehen.« »Ich würde Ihnen den Brief gern zeigen, wenn wir nicht unser Wort gegeben hätten, ihn niemand sehen zu lassen. Ihre Majestät befiehlt Geheimhaltung.« »Das ist etwas anderes.« Der Kardinal vergewisserte sich: »Sie haben also gute Garantien, und die Königin hat die Schuld in gebührender Form anerkannt?« »Ihre Majestät verpflichtet sich, in drei Monaten fünfmal hunderttausend Livre zu zahlen. Den Rest nach Ablauf eines halben Jahres.« 112
»Meine Verpflichtung Ihnen gegenüber ist dadurch also aufgehoben, meine Herren«, erklärte der Kardinal zufrieden. »Wir machen sicher bald ein anderes Geschäft.« Jeanne hatte die Entwicklung der Dinge mit fieberhafter Erregung verfolgt: Keine Unruhe bei den Juwelieren, kein Mißtrauen bei der Königin, kein Zweifel beim Kardinal. Sie sprach sich zu: »Ich habe also drei Monate Zeit.« Sie entschloß sich, mit einem Edelsteinhändler in Verbindung zu treten, um für hunderttausend Taler Diamanten zu verkaufen. Damit konnte sie bequem nach England oder Rußland reisen und fünf bis sechs Jahre angenehm leben. Den Rest der Diamanten würde sie dann so vorteilhaft wie möglich einzeln an den Mann bringen. Doch es ging nicht alles nach Jeannes Wünschen. Als sie den ersten Diamanten zwei Kennern zeigte, erschrak sie über das Erstaunen und das zurückhaltende Benehmen. Der eine bot verächtliche Summen, der andere geriet in Ekstase über die Schönheit der Steine und sagte, er habe nie ähnliche gesehen, außer im Halsband der Herren Böhmer und Bossange. Jeanne war gewarnt. Sie begriff, daß die geringste Unvorsichtigkeit den Schandpfahl und lebenslängliches Gefängnis mit sich bringen würde. Sie versteckte die Diamanten an einem sicheren Ort und entschloß sich, alles auf eine Karte zu setzen. Die größte Schwierigkeit, die sie voraussah, war, den Kardinal daran zu hindern, mit Marie-Antoinette zu sprechen. Als Prinz hatte er aber das Recht, mehrere Male im Jahr die Königin zu sehen, und da er verliebt war, würde er von dem Recht Gebrauch machen. Also brauchte Jeanne eine Möglichkeit, Herrn von Rohan und die Königin zu erpressen. Sie brauchte eine Anklage, bei der die Königin erröten und der Kardinal erblassen müßte. Eine glaubhafte Anklage, damit Jeanne als Vertraute der zwei Hauptschuldigen von allem Verdacht reingewaschen werden würde. Jeanne rückte ihren bequemen Sessel nah an das Fenster. »Es lohnt der Mühe, daß man nachdenkt.« Das Haus, das die Gräfin la Motte von ihrem Fensterplatz aus sehen 113
konnte, hatte erst vor einigen Tagen seinen Besitzer gewechselt. Der Graf Cagliostro hatte es der Einfachheit halber gekauft, um Oliva vor der Polizei verstecken zu können. Cagliostro hatte für alle Bedürfnisse Olivas gesorgt und erkundigte sich zweimal in der Woche höflich, ob sie ihr Leben angenehm finde. Sie fühlte sich geschmeichelt, von diesem vornehmen Herrn beschützt zu werden. Sie wäre glücklich gewesen, wenn sie sich nicht gelangweilt hätte. Seit vierzehn Tagen war sie allein, und sie war ziemlich gereizt, als ihr Cagliostro einen unerwarteten Besuch abstattete. »Mein Herr, ich langweile mich!« rief sie zur Begrüßung. »Sie haben Langeweile? Das ist ein schlimmes Zeichen, liebes Kind.« »Es gefällt mir nicht mehr hier, ich kann es nicht länger aushalten. Ich komme auf schlimme Gedanken.« »Wenn es Ihnen bei mir nicht gefällt, so dürfen Sie doch nicht mit mir böse sein, sondern mit der Polizei. Sie sind ungerecht.« »Sie haben gut reden. Sie kommen und gehen und können tun, was Sie wollen, während ich hier in diesem kleinen Zimmer nicht einmal richtig atmen kann. Und was ist mit Beausire geschehen? Sie wollten mir doch Nachricht von ihm geben? Was macht er? Wo ist er?« »Er hat sich in einen kleinen Handel eingelassen. Ich muß gestehen, er hatte einen großartigen Einfall, aber die Polizei hat keinen Humor und nennt das Diebstahl!« »Er ist verhaftet?« »Nein, aber er wird gesucht. Aber bedenken Sie doch, welch ausgezeichneter Schachzug der Polizei … Sie durch Herrn von Beausire und ihn durch Sie festnehmen zu wollen.« »Um Gottes willen, er muß sich verbergen. Ich will ja auch verborgen bleiben. Lassen Sie mich doch aus Frankreich fliehen.« Sie ergriff seine Hände. »Versuchen Sie doch, mir dabei zu helfen. Denn vielleicht würde ich hier eines Tages eine Unvorsichtigkeit begehen.« »Was nennen Sie eine Unvorsichtigkeit?« »Mir ein bißchen frische Luft verschaffen.« »Aber bitte, atmen Sie doch soviel frische Luft wie Sie wollen. Sie sind 114
auch wirklich schon ganz blaß. Wenn das so weitergeht, wird Herr von Beausire Sie am Ende nicht mehr lieben. Das kann ich nicht verantworten. Von heute an sollen Sie die oberste Etage dieses Hauses beziehen. Es ist eine aus drei Zimmern bestehende Wohnung mit Aussicht auf den Boulevard. Sie könnten dort vielleicht von einigen Nachbarn gesehen werden, aber es sind friedliche Nachbarn, von denen Sie nichts zu befürchten haben. Den Nachbarn können Sie sich zeigen, aber mit Vorsicht, damit man Sie nicht von der Straße aus sehen kann.« Oliva klatschte vor Freude. Cagliostro stieg, von ihr gefolgt, zum dritten Stock hinauf. »Hier ist die kleine Wohnung. Es wird Ihnen hier an nichts fehlen. Ihre Kammerjungfer wird in einer Viertelstunde bei Ihnen sein. Auf Wiedersehen, Mademoiselle.« Er verschwand mit einem freundlichen Lächeln. Mit kindischem Vergnügen betrachtete Oliva die kleine Wohnung. Sie war reizend eingerichtet und sehr gemütlich. Sie lief auf den Balkon. In der nächsten Nachbarschaft sah sie verschlossene und wenig einladende Fenster. Sie beobachtete einen alten Rentner, der Vögel fütterte. Die Mieter des nächsten Hauses schienen verreist zu sein. Etwas links, im dritten Haus, sah Oliva gelbseidene Vorhänge, Blumen und hinter den offenen Fenstern einen einladenden weichen Lehnstuhl, in dem eine Frau saß. Es war eine hübsche Frau, stellte Oliva fest. Und ganz besonders fiel ihr auf, daß sie in tiefes Nachdenken versunken war. Oliva konnte die Augen nicht von der reizvollen Frau wenden. Sie glaubte eine verwandte Seele in ihr zu sehen und malte sich eine Geschichte aus, ähnlich ihrer eigenen. Als sie absichtlich Lärm machte, um sich bemerkbar zu machen, fuhr die Dame am gegenüberliegenden Fenster, erschreckt durch die Geräusche, aus ihren Gedanken hoch. Sie sah Oliva auf dem Balkon stehen und schrie auf: »Mein Gott!« Dann murmelte sie: »Die Königin.« Ohne die seltsame Erscheinung aus den Augen zu lassen, dachte sie: »Ich suchte eine Lösung, und hier ist sie.« Der Graf von Cagliostro, der in diesem Augenblick das Zimmer Olivas betrat, übersah die Situation mit einem Blick. »Gut«, sagte er, »sehr gut. Die beiden haben sich gesehen.« 115
XVIII Als Cagliostro zwei Tage später Oliva wieder besuchte, beklagte er sich, daß ihn eine unbekannte Dame besucht habe. »Welche unbekannte Dame?« fragte Oliva errötend. Sie hatte kein reines Gewissen, obwohl sie während der zwei Tage nichts anderes getan hatte, als mit ihrem schönen Gegenüber Blicke und Zeichen zu wechseln. »Eine sehr hübsche, junge und elegante Dame hat einen meiner Diener über Sie ausgefragt. Seien Sie vorsichtig«, warnte Cagliostro, »die Polizei hat auch weibliche Spione.« Anstatt zu erschrecken, war Oliva unendlich glücklich über das Interesse ihrer Nachbarin. Sie war entschlossen, ihrer Freundin, wie sie sie in Gedanken schon nannte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Freundschaft zu beweisen. »Herr Graf«, sagte sie scheinheilig, »wenn man mich bemerkt haben sollte, was ich nicht glaube, so werde ich mich von jetzt an nicht mehr sehen lassen. Und außerdem hätte ich ja nichts zu befürchten, das Haus ist doch verschlossen, nicht wahr?« »Ganz richtig. Und den Schlüssel«, er deutete auf seinen Schlüsselbund, »den trage ich immer bei mir.« Oliva beteuerte nochmals ihre Vorsicht und Zurückhaltung und brachte den Grafen zur Tür. Am nächsten Morgen war sie schon um sechs Uhr auf dem Balkon. Sie brauchte gar nicht zu warten, denn die Fenster ihres schönen Visavis' öffneten sich, sobald Oliva erschien. Jeanne vergewisserte sich, daß niemand zuhörte, und rief Oliva zu: »Ich wollte Sie besuchen.« »Still!« Oliva legte erschrocken den Finger auf den Mund. 116
Jeanne benutzte ihre Hände als Sprachrohr. »Kann ich Ihnen nicht schreiben?« Oliva schüttelte ängstlich den Kopf. Jeanne dachte einen Augenblick nach, warf Oliva einen Handkuß zu und entfernte sich. Kurz darauf erschien sie lachend mit einer Armbrust am Fenster. So sorgfältig Jeanne auch zielte, die kleine Bleikugel prallte an den Gitterstäben des Balkons ab und fiel auf die Straße. Oliva spähte vorsichtig hinunter, aber außer einem Lumpensammler war niemand zu sehen. Der zweite Versuch Jeannes hatte mehr Erfolg. Die Bleikugel flog über den Balkon in Olivas Zimmer. Um die Kugel war ein Papier gewickelt. Oliva las: »Sie interessieren mich, liebe Dame. Ich finde Sie liebenswürdig und liebe Sie, obwohl ich Sie nur gesehen habe. Wollen Sie meine Freundin werden? Wie es scheint, können Sie nicht ausgehen. Aber Sie können doch sicher schreiben. Lassen Sie bei Einbruch der Dunkelheit Ihre Antwort an einem Bindfaden herunter. Auch meinen Brief können Sie so wieder heraufziehen, ohne daß es jemand bemerkt.« Der Brief trug die Unterschrift: »Ihre Freundin.« Oliva antwortete sofort. »Ich liebe Sie, wie Sie mich lieben. Leider kann ich nicht ausgehen, ich bin eingeschlossen. Aber das ist zu meinem Besten. Ach, wieviel hätte ich Ihnen zu sagen, und wie glücklich wäre ich, mit Ihnen sprechen zu können. Es gibt so vieles, das man nicht schreiben kann.« Sie unterzeichnete: »Oliva.« Die Antwort kam eine halbe Stunde später. Jeanne hatte eine weitere Mitteilung an die Schnur geknüpft. Darin stand: »Wie wird Ihr Haus verschlossen? Bewacht Ihr Besucher den Schlüssel so hartnäckig, daß Sie ihn nicht entwenden oder einen Abdruck davon nehmen können? Es handelt sich ja nicht darum, Böses zu tun, sondern nur um ein paar Spaziergänge mit einer Freundin.« Oliva verschlang diesen Brief mit den Blicken. Sie hatte bemerkt, daß der Graf bei seinen Besuchen den Haustürschlüssel auf ein kleines Tischchen legte. Sie hielt ein Stück Wachs bereit und nahm beim nächsten Besuch Cagliostros einen Abdruck des Schlüssels. Als er wegge117
gangen war, ließ Oliva sofort den Abdruck in einer Schachtel an der Schnur hinunter. Schon am nächsten Morgen hatte sie die Nachricht von Jeanne: »Meine teure Freundin, heute abend um elf! Kommen Sie herunter, wenn Ihr Wächter Sie verlassen hat. An der geöffneten Tür finden Sie ihre zärtliche Freundin.« Als Oliva zitternd vor Freude um elf Uhr hinunterging, schloß Jeanne sie in die Arme und bat sie, mit ihr in einen auf dem Boulevard stehenden Wagen einzusteigen. Nach einer Spazierfahrt von zwei Stunden, in der die Freundinnen Geheimnisse und Küsse ausgetauscht und Pläne geschmiedet hatten, riet Jeanne Oliva, nach Hause zu gehen. Jeanne hatte in Erfahrung gebracht, daß der Beschützer ihrer neuen Freundin der Graf von Cagliostro war. Sie hatte Angst vor ihm. Es gab viel nachzudenken. Oliva hatte ihr rückhaltlos von sich erzählt, von Beausire und von der Polizei. Jeanne hatte sich für ein Fräulein ausgegeben, das ohne Wissen der Familie mit einem Geliebten zusammenlebte. Die eine wußte alles, die andere nichts. So war die Freundschaft dieser beiden Frauen beschaffen. Acht Tage lang machte Jeanne von ihrem Schlüssel ausgiebig Gebrauch und sah Oliva, sooft sie es für nötig hielt. Dann hielt sie die Zeit für gekommen, ihren Plan zu verwirklichen.
XIX Die Uhr am Versailler Schloßturm schlug Mitternacht. Der Graf von Artois schlüpfte nach einem seiner üblichen nächtlichen Ausflüge durch das Gittertor, das in dieser Nacht für ihn geöffnet war. Er hörte ein ungewohntes Geräusch und wandte sich um. 118
Ungefähr fünfundzwanzig Schritte entfernt öffnete sich das kleine Pförtchen in der Parkmauer, das nur an großen Jagdtagen für die Körbe mit Wildbret benutzt wurde. Der Graf bemerkte zwei Gestalten, die den Park betraten und das Pförtchen hinter sich verschlossen. Die Sträucher und die hängenden Weinreben waren so dicht, daß er nur die verschwommenen Schatten zweier Frauen erkennen konnte. Er schlich vorsichtig näher und erkannte die Königin. Sie hielt eine Rose in der Hand. Der Graf verbarg sich hinter den Bäumen und ließ die beiden Frauen nicht aus den Augen. Was sollte er tun? Die Königin war in Begleitung? Warum war sie nicht allein? Jetzt sah er die Begleiterin rasch in der Dunkelheit verschwinden. Er hatte sich gerade entschlossen, die Königin anzusprechen, als die Begleiterin wieder erschien. Sie war nicht allein. Zwei Schritte hinter ihr ging ein hochgewachsener Mann in einen weiten Mantel gehüllt, das Gesicht von einem breiten Hut verdeckt. Der Graf von Artois wußte nicht, was er denken sollte. Was tat die Königin zu so vorgerückter Stunde im Park? Was wollte dieser Mann? Warum hatte er sich verborgen gehalten? Der Graf beobachtete die Königin, wie sie mit dem Unbekannten flüsterte. Nach einiger Zeit unterbrach die Begleiterin der Königin das Gespräch. Der Unbekannte machte eine Bewegung, als wollte er zum Abschied in die Knie sinken. Die Frauen gingen am Versteck des Grafen von Artois vorbei und verschwanden. Der Unbekannte war unbeweglich stehengeblieben. Jetzt beugte er sich über eine Rose, die er in der Hand hielt, und küßte sie leidenschaftlich. Der Graf von Artois traute seinen Augen nicht: Das war doch die Rose der Königin! Die Begleiterin kam zurück und rief: »Kommen Sie, Monseigneur!« Der Unbekannte eilte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und verschwand mit der Dame in der Dunkelheit. Für den Grafen von Artois gab es keinen Zweifel. Der Unbekannte war ein Liebhaber der Königin. Würde sie in der nächsten Nacht wieder zu einem Rendezvous kommen? 119
Der Graf konnte die nächste Nacht kaum erwarten. Er suchte sein Versteck im Park wieder auf. Bald erloschen alle Lichter, und es wurde still. Es schlug Mitternacht. Der Graf lauschte angestrengt, aber nichts rührte sich. Er war schon davon überzeugt, daß Marie-Antoinette ihre Unvorsichtigkeit nicht wiederholen würde, als plötzlich der Riegel des Pförtchens geöffnet wurde. Er erkannte die Königin mit ihrer Begleiterin. Sie gingen mit schnellen Schritten an seinem Versteck vorbei. An der gleichen Stelle wie in der Nacht vorher erwartete sie der Unbekannte. Er begrüßte die Königin nicht mehr so zurückhaltend und breitete seinen Mantel über einem Baumstamm aus. Die Königin setzte sich, während der Unbekannte auf dem Moos niederkniete und mit leidenschaftlicher Hast auf sie einsprach. Sie neigte den Kopf und flüsterte nur einige Worte. Sie sprach so leise, daß der Graf sie nicht hören konnte. Aber er hörte die Stimme des Unbekannten: »Ich danke Ihnen, süße Majestät. Morgen also?« Die Königin streckte ihm ihre Hände entgegen. Der Unbekannte ergriff sie und küßte sie zärtlich. Einige Augenblicke später verschwanden die Königin und ihre Begleiterin wie in der Nacht zuvor. Auch der Unbekannte verschwand. Vorsichtig verließ der Graf sein Versteck und suchte nach Spuren. Er kletterte auf die Mauer und sah Abdrücke von Hufen und die Spuren von Rädern. Er kommt aus Paris, dachte der Graf. Er kommt allein, und er wird morgen wiederkommen. Tatsächlich geschah in der folgenden Nacht das gleiche. Um Mitternacht öffnete sich das Pförtchen, und die beiden Frauen erschienen. Aber sie blieben nicht wie bisher unter den Bäumen stehen. Die Begleiterin der Königin zog Ihre Majestät in die Richtung der Apollogrotte. Kichernd ging die Königin auf den Unbekannten zu, der sie mit offenen Armen auf der Schwelle erwartete. Die beiden traten ein, und die Türe schloß sich hinter ihnen. Die Begleiterin lehnte sich an eine bemooste Säule und beobachtete die Türe mit unverwandtem Blick. Der Graf hätte es nie für möglich gehalten, daß Marie-Antoinette so weit gehen würde. Er war außer sich, entsetzt und ging langsam zum 120
Schloß zurück. Als er sah, daß die Fenster der Königin erleuchtet waren, zuckte er verächtlich die Achseln. »Sie will glauben machen, daß sie zu Hause ist, während sie sich mit ihrem Liebhaber im Park herumtreibt.« Am nächsten Morgen begegnete die Königin dem Grafen von Artois auf dem Weg zur Schloßkirche. Sie hatte die Messe gehört und trat auf ihn zu. »Ich glaubte Sie auf der Jagd, lieber Schwager.« »Ich bin eben zurückgekehrt, Madame«, erwiderte der Graf beinahe unhöflich. Der Königin entging der Ton seiner Stimme nicht. Sie wandte sich zur Gräfin la Motte, die in der Reihe sich ehrfurchtsvoll verneigender Damen stand. »Guten Morgen, Gräfin«, sagte sie freundlich zu Jeanne. Der Graf betrachtete die Gräfin la Motte mit fast unverschämter Aufmerksamkeit. Sie wandte unruhig den Kopf zur Seite. Die Königin bemerkte es und fragte den Grafen, als wollte sie die Gräfin vor seinen Blicken schützen. »Haben Sie mir etwas zu sagen?« »Ich hätte Ihnen viel zu sagen, Madame.« »Dann kommen Sie mit.« Marie-Antoinette ging ihm voran. Als sie in ihren Gemächern allein mit ihm war, sagte der Graf: »Seit drei Nächten habe ich Sie im Park beobachtet.« »Im Park? Wie spät war es? Und in welcher Nacht?« »Am Dienstag zum erstenmal. Es war um Mitternacht.« »Sie haben mich gesehen?« fragte die Königin ungläubig. »So wie ich Sie jetzt sehe. Und ich habe auch die Frau gesehen, die Sie begleitet hat. Und auch den Mann, den Sie getroffen haben.« Er setzte hinzu: »Sie haben ihm eine Rose geschenkt.« »Würden Sie diese beiden Personen wiedererkennen?« »Es schien mir so, als hätte ich die Frau jetzt gerade gesehen. Hier. Aber ich kann es nicht beweisen.« »Gut«, sagte die Königin immer noch ruhig. »Sie haben meine Begleiterin nicht eindeutig erkannt, aber mich …« »O Madame, Sie habe ich erkannt.« 121
»Das wagen Sie zu behaupten!« Die Königin fuhr auf. »Und der Mann, dem ich eine Rose geschenkt habe. Sie kennen auch den Mann?« »Man spricht ihn ›Monseigneur‹ an. Das ist alles, was ich weiß.« »Sprechen Sie weiter. Und was ist am Mittwoch geschehen? Ich möchte alles hören. Wiederholen Sie: Am Dienstag habe ich ihm eine Rose gegeben, und dann?« »Am Mittwoch hat er Ihnen beide Hände geküßt.« Die Königin biß sich auf die Lippen. »Und was war Donnerstag?« »Gestern waren Sie anderthalb Stunden mit diesem Mann in der Apollogrotte. Allein.« Die Königin wurde leichenblaß. »Sie sind mir eine Genugtuung schuldig. Da Sie glauben, ich laufe nachts im Park herum, gehen Sie heute mit mir zur gleichen Stunde in den Park. Bin ich es, die Sie gestern aus der Entfernung gesehen haben, so werden Sie mich heute nicht sehen, da ich bei Ihnen sein werde. Ist es eine andere, so werden wir sie gemeinsam sehen.«
Der Graf von Artois glaubte nicht, daß die Königin Wort halten würde. Er machte sich den Vorwurf, sie gewarnt zu haben, ohne daß etwas anderes dabei herauskommen würde, als er hörte, wie eine Handvoll Sand an sein Fenster geworfen wurde. Das war das mit Marie-Antoinette verabredete Zeichen. Er lief in den Park an die vereinbarte Stelle. Die Königin erwartete ihn. »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, Sie zu sehen, Madame«, sagte er atemlos. Marie-Antoinette unterbrach ihn: »Hier ist es so hell.« Sie zog den weiten, schwarzen Mantel eng um sich. »Lassen Sie uns weggehen von hier. Sie sollen mir zeigen, wo die Leute, von denen Sie sprachen, hereingekommen sein sollen.« »Durch dieses Pförtchen in der Mauer.« »Es ist kein Grund vorhanden, daß sie heute nicht auch kommen sollten. Gehen wir ins Gebüsch und warten wir.« Sie warteten schweigend. Es schlug Mitternacht. Das Pförtchen öff122
nete sich nicht. Im Verlauf einer halben Stunde hatte Marie-Antoinette mehr als zehnmal gefragt, ob die ›Leute‹ immer pünktlich gewesen wären. Es schlug drei Viertel nach Mitternacht. »Solche Unglücksfälle widerfahren nur mir!« Die Königin stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. »Sie werden sehen, daß sie heute nicht kommen.« Sie schaute den Grafen streitsüchtig an. »Sie werden nicht kommen«, wiederholte sie. Doch er erwiderte ihren Blick ernst und traurig. Die Königin nahm seinen Arm und zog ihn zu dem Kastanienbaum. »Hier haben Sie diese Leute gesehen?« fragte sie flüsternd. »Hier hat die Frau dem Mann eine Rose gegeben?« »An dieser Stelle, Madame.« Die Königin lehnte sich an den Stamm des Baumes und ließ den Kopf sinken. Der Graf konnte nicht sehen, daß sie weinte. Plötzlich richtete sie sich auf. »Gute Nacht«, sagte sie und drückte ihm die Hand. Sie entfernte sich ohne ein weiteres Wort in der Richtung des Schlosses.
XX Tagelang wartete der Kardinal in seinem Palais auf Nachricht. Es kam keine Nachricht. Es kam kein Besuch. Dieser Zustand wurde ihm unerträglich. Er schickte Boten in die Wohnung der Gräfin la Motte. Er schickte Boten nach Versailles. Endlich kam Jeanne. »Was ist geschehen, Gräfin?« Der Kardinal stürzte ihr entgegen. »Warum behandelt man mich so schlecht?« »Ich kann Ihnen nicht helfen, und ich kann nichts für Sie tun.« »Ist ein Unglück geschehen?« fragte der Kardinal außer sich. »Sprechen Sie.« Jeanne erwiderte trocken: »Ich würde es eher ein Glück nennen, nicht entdeckt worden zu sein, Monseigneur.« 123
»Man hat uns gesehen?« »Ich habe alle Ursache, es zu glauben.« »Um Gottes Willen, was soll ich tun?« »Nicht mehr nach Versailles gehen!« »Das ist unmöglich«, sagte er. »Ich werde wieder nach Versailles gehen.« »Die Königin wird nicht kommen.« Der Kardinal sagte hastig: »Ich muß sie wenigstens noch ein einziges Mal sehen.« »Schreiben Sie ihr, Monseigneur.« Jeanne deutete auf den Schreibtisch. »Ich werde ihr den Brief überbringen.« Der Kardinal setzte sich und schrieb einen glühenden Liebesbrief voll verliebter Vorwürfe und kompromittierender Beteuerungen. Jeanne sah ihm über die Schulter. Sie dachte zufrieden: Er schreibt, was ich nie gewagt hätte, ihm zu diktieren. Der Kardinal überflog den Brief noch einmal und wandte sich Jeanne zu: »Ist es so recht?« Jeanne nickte. »Wenn die Königin Sie liebt, werden Sie morgen Antwort haben.« Jeanne ließ sich vom Kardinal auf die Augen küssen und kehrte nach Hause zurück. Sie kleidete sich aus, erfrischte sich und begann nachzudenken: Dieser Brief würde es dem Kardinal unmöglich machen, die Gräfin la Motte jemals anzuklagen. Aber genügte ein einziger Brief? Jeanne überlegte Punkt für Punkt, was folgerichtig geschehen mußte. Zuerst Nichteinhaltung des Zahlungstermins. Die Juweliere würden Anzeige erstatten. Die Königin würde sich direkt an den Kardinal wenden. Natürlich durch ihre Vermittlung. Sie würde dann den Kardinal benachrichtigen und ihn auffordern zu bezahlen. Wenn er sich weigerte, blieb ihr die Drohung, die Briefe zu veröffentlichen. Und dann würde er bezahlen. Die Ehre einer Königin und eines Kirchenfürsten um den Preis von anderthalb Millionen – das war billig! Jeanne war ihrer Sache so sicher, weil sie wußte, daß der Kardinal fest davon überzeugt war, er sei drei Nächte hintereinander mit der Königin beisammen gewesen. Keine Macht der Erde würde ihm be124
weisen können, daß er sich getäuscht habe, weil der einzige Beweis des Betrugs, der lebendige Beweis, entfernt sein würde. Jeanne trat ans Fenster und sah Oliva, die neugierig und unruhig auf ihrem Balkon stand. Jetzt ist die Reihe an dir, dachte Jeanne, indem sie Oliva zärtlich zuwinkte. Als es dunkel wurde, trafen sich die beiden ›Freundinnen‹ und stiegen in Jeannes Wagen. »Oh, wie habe ich mich die letzten Tage gelangweilt«, klagte Oliva. »Wie habe ich auf Sie gewartet. Wo waren Sie denn?« »Ich konnte Sie unmöglich besuchen, meine Liebe. Ich hätte mich und Sie in zu große Gefahr gebracht.« »Wieso?« »Sie haben sich gelangweilt«, begann Jeanne, »und haben sich gewünscht auszugehen, um sich zu zerstreuen.« »Wozu Sie mir so freundlich verholfen haben«, sagte Oliva verbindlich. »Ich habe Ihnen doch von dem Höfling erzählt, der in die Königin verliebt ist, der Sie so ähnlich sehen.« Oliva kicherte. Jeanne fuhr fort: »Ich war so leichtsinnig, Ihnen vorzuschlagen, daß wir uns über den armen Jungen lustig machen, damit er glaubt, die Königin habe ein Interesse an ihm.« »Ach ja«, seufzte Oliva, von der zärtlichen Erinnerung angenehm berührt. »Sie haben Ihre Rolle so gut gespielt, daß unser Verliebter die Sache ernst nahm.« »Er ist ein reizender Kavalier«, erklärte Oliva leise. »Er verdiente es nicht, daß wir ihn täuschen.« »Warten Sie doch, liebe Freundin, ich bin noch nicht fertig. Es ist nicht schlimm, daß Sie ihm eine Rose geschenkt haben, daß Sie sich Majestät nennen ließen, daß Sie sich die Hände küssen ließen … Aber mein liebes Kind, es scheint, daß das doch nicht alles war.« »Wieso nicht alles?« fragte Oliva. »Es fand doch ein drittes Rendezvous statt.« »Sie wissen es doch, Sie waren ja dabei.« »Ich habe weder gehört noch gesehen, was in der Grotte geschehen 125
ist. Ich weiß nur, was Sie mir erzählt haben. Und mein Schatz, ich glaube alles, was man mir sagt.« »Aber …?« fragte Oliva unheilwitternd. »Unser verliebter Narr rühmt sich, von der Königin einen untrüglichen Beweis ihrer Liebe erhalten zu haben. Und solange es sich nur um eine geschenkte Rose oder um einen Handkuß gehandelt hat, war nichts zu sagen, das war Spiel. Aber es wäre Majestätsbeleidigung, wenn es wahr wäre, daß bei der dritten Zusammenkunft …« Oliva verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Wenn Sie nicht getan haben, womit er sich brüstet«, fuhr Jeanne kalt fort, »dann brauchen Sie es nur zu beweisen. Die beiden anderen ›Dummheiten‹ werden höchstens mit zwei bis vier Jahren Gefängnis oder Verbannung bestraft.« »Gefängnis, Verbannung!« Oliva brach in Tränen aus. »Was soll ich tun? Ich werde meinen Beschützer um Hilfe bitten.« »Eine gute Idee. Ausgerechnet dem wollen Sie alles erzählen. Wer weiß, ob er Sie nicht der Polizei ausliefern wird, um sich bei Hofe angenehm zu machen?« »Sie haben recht. Ich bin verloren«, schluchzte Oliva. »Und wenn Herr Beausire davon erfährt?« fragte Jeanne. »Er wird mich umbringen.« Der Schlag saß. »Nein, ich werde mich umbringen.« Oliva umklammerte die Knie Jeannes: »Können Sie mich nicht retten?« »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit«, erwiderte Jeanne. »Ich habe ein Gut in der Provinz. Wenn wir diesen Zufluchtsort erreichen, bevor der Sturm losbricht, wären Sie gerettet!« »Soll ich gleich abreisen?« »Nein, nicht gleich, aber bald. Ich muß erst noch Vorbereitungen treffen. Von jetzt an bis zum Tag unserer Abreise werde ich mich nicht mehr an meinem Fenster zeigen. Wenn ich mich aber zeige, dann machen Sie sich für die unverzügliche Abreise fertig.« »Ich danke Ihnen.« Oliva umarmte Jeanne und bat sie demütig um Verzeihung für alles Unglück, das sie durch ihren Leichtsinn angerichtet hatte. 126
Jeannes Entschluß stand fest. Schon am nächsten Mittag trat sie an ihr Fenster und gab Oliva das verabredete Zeichen. Noch in der gleichen Nacht fuhr sie mit einem von vier kräftigen Pferden gezogenen Reisewagen vor dem Hause Olivas vor. »Der Wagen soll hier warten, mein lieber Reteau«, sagte Jeanne zu einem Mann, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß. »Es wird nicht lange dauern. Ich werde jemand mitbringen, den Sie dann so schnell wie möglich auf mein Landgut bringen. Dort übergeben Sie diese Person meinem Pächter Fontaine, der weiß, was er zu tun hat.« »Sehr wohl, Madame.« »Sie sind doch bewaffnet, mein lieber Reteau?« »Sehr wohl, Madame.« »Sie schießen jeden nieder, der Sie aufhalten will. Hier sind hundert Louisdor, Reteau. Es wird gut sein, wenn Sie sich so bald wie möglich nach England einschiffen.« »Sie können sich ganz auf mich verlassen, Madame.« Jeanne steckte den Schlüssel in das Türschloß von Olivas Haus. Wenn jemand oben bei ihr wäre? Sie zögerte, dann entschied sie: Unsinn! Ich würde Stimmen hören und immer noch Zeit haben umzukehren. Sie öffnete die Haustür. Kein Geräusch. Kein Licht. Niemand. Vorsichtig schlich sie sich an Olivas Wohnung. Sie sah einen Lichtstreifen unter der Türe. Sie horchte. Kein Laut. Oliva war also allein. Sie klopfte leise und rief: »Oliva, machen Sie auf!« Die Türe wurde geöffnet, und im grellen Lichtschein eines dreiarmigen Kerzenleuchters stand ein Mann vor Jeanne. Sie schrie auf. »Die Gräfin von la Motte?« fragte der Mann mit gespieltem Erstaunen. »Der Graf von Cagliostro!« Jeanne war einer Ohnmacht nahe. Sie war widerstandslos, als er sie ins Zimmer zog und sie bat, sich zu setzen. »Welchem Umstand habe ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken, Madame?« »Mein Herr …«, stammelte Jeanne. »Ich kam … ich suchte …«, sie zögerte. Dann sagte sie rasch: »Ich kam, um Sie um Rat zu fragen.« 127
»Wie kommt es, daß Sie mich hier aufgesucht haben, Madame?« Cagliostro blickte sie scharf an. »Ich wohne nicht hier. Wie sind Sie hereingekommen? Es gibt hier keinen Portier und keinen Diener. Und wenn Sie nicht mich suchten, wen suchten Sie? Sie antworten mir nicht? Ich werde es Ihnen sagen. Sie wollten eine junge Frau besuchen, die ich aus Gutmütigkeit hier versteckt halte.« »Und wenn es so wäre?« fragte Jeanne ganz leise. »Ist es denn ein Verbrechen, eine andere Frau zu besuchen? Rufen Sie sie doch. Auch Sie wird Ihnen sagen, daß wir befreundet sind.« »Sie tun, als wüßten Sie nicht, daß Oliva abgereist ist«, erwiderte Cagliostro. »Sie ist nicht mehr hier?!« rief Jeanne erschrocken. Cagliostro überreichte ihr wortlos einen Brief. »Mein edler Gönner«, las Jeanne atemlos, »verzeihen Sie mir, daß ich Sie verlasse. Doch ich liebe Herrn Beausire. Er kommt und entführt mich. Ich folge ihm. Leben Sie wohl. In ewiger Dankbarkeit. Ihre Oliva.« »Beausire?« fragte Jeanne. »Beausire?« »Er hat sie weggeführt«, erwiderte Cagliostro kalt. »Aber wie ist er hier hereingekommen?« Jeanne sah den Grafen wütend an. »Ich habe den Schlüssel und nicht Herr von Beausire.« »Wenn man einen Schlüssel hat, kann man auch zwei haben!« Cagliostro lächelte der Gräfin zu. Sie sagte langsam: »Ich habe einen Verdacht.« »Ich habe auch einen Verdacht, und der ist genauso viel wert wie der Ihre, Madame.« Cagliostro begleitete Jeanne hinaus. Auf dem dunklen Treppenabsatz standen Diener mit brennenden Kerzen in der Hand, so daß sie es hören konnten, als Cagliostro Jeanne laut und wiederholt nannte: »Frau Gräfin von la Motte.«
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XXI Bei allen Kaufleuten, so reich sie auch sein mögen, spielen fünfhunderttausend Livre eine große Rolle. Die Juweliere Böhmer und Bossange waren daher sehr beunruhigt, als sie zwei Tage vergeblich auf die von der Königin versprochene Zahlung warteten. Als am dritten Morgen niemand kam, begab sich Böhmer nach Versailles und bat um eine Audienz bei der Königin, die ihm auch gewährt wurde. »Was bringen Sie mir, Monsieur?« fragte die Königin, sobald sie ihn erblickte. »Wollen Sie mit mir wieder von Juwelen sprechen? Sie wissen doch, daß Sie kein Glück bei mir haben.« Böhmer lächelte mühsam. »Ich wollte Eure Majestät nur daran erinnern, daß Sie uns vergessen haben.« »Vergessen?« fragte die Königin erstaunt. »Gestern war der erste Zahlungstermin für das Halsband«, wagte Böhmer schüchtern zu sagen. »Sie haben also das Halsband verkauft?« »Nun ja …« Böhmer wurde unsicher, »… ich glaube schon.« »Und jetzt wollen die Käufer am Ende nicht zahlen?« Die Königin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach wissen Sie, Böhmer, wenn es zehn Käufer so machen wie ich und Ihnen das Halsband wieder zurückgeben, ohne die Anzahlung von zweihundertfünfzigtausend Livre zurückzufordern, verdienen Sie zweieinhalb Millionen und behalten Ihr Halsband.« »Habe ich Eure Majestät recht verstanden?« Böhmer brach der kalte Angstschweiß aus. »Haben Eure Majestät eben gesagt, daß Sie das Diamantenhalsband zurückgegeben haben.« Wortlos ging die Königin zu ihrem Arbeitstisch, nahm ein Schrift129
stück aus einer Lade und überreichte es Böhmer. »Dieser Schein bestätigt die Rückgabe des Halsbandes.« Der Juwelier mußte ein paarmal lesen, bis er überhaupt begriff, worum es sich handelte. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. »Aber, Madame«, stammelte er nach einer Weile mit erstickter Stimme. »Ich habe diesen Schein nicht unterschrieben und ich schwöre, ich habe auch das Halsband nicht zurückerhalten.« Erregt suchte er in seiner Brieftasche. »Madame«, er überreichte der Königin ein Schriftstück mit zitternden Händen, »ich glaube nicht, daß Eure Majestät diese Schuldurkunde geschrieben haben würden, wenn sie mir das Halsband hätten zurückgeben wollen.« »Was ist das?« Marie-Antoinette las. »Ich habe das nicht geschrieben … Marie-Antoinette von Frankreich … sind Sie verrückt. Bin ich ›von Frankreich‹? Bin ich nicht Erzherzogin ›von Österreich‹? Ich bleibe ›von Österreich‹, auch wenn ich Königin von Frankreich bin.« Sie gab ihm die Urkunde mit einer verächtlichen Gebärde zurück. »Gehen Sie doch, Monsieur, diese List ist zu plump.« Böhmer mußte sich auf die Lehne eines Stuhles stützen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen. Er schnappte nach Luft. Die Königin, die ihn scharf beobachtete, rief plötzlich: »Mir kommt ein Gedanke, Böhmer! Ist es möglich, daß wir beide hintergangen worden sind?« »Sie haben mich also nicht im Verdacht, Madame, daß ich …« »Nein, ich habe Sie nicht im Verdacht. Aber sagen Sie mir, haben Sie die Gräfin la Motte nicht gesehen?« »Doch. Die Frau Gräfin hat nur gesagt, wir sollten warten.« »Wer hat Ihnen denn diesen Schuldschein übergeben?« »Dieser Schein ist nachts von einem unbekannten Boten gebracht worden.« Die Königin läutete ihrer Kammerfrau. »Man lasse die Gräfin la Motte rufen!« befahl sie und wandte sich Böhmer zu. »Gehen Sie sofort zum Kardinal von Rohan und erzählen Sie ihm, was Sie mir erzählt haben. Verlieren Sie keine Zeit. Und sagen Sie ihm, daß ich alles weiß.« 130
Der Kardinal war sehr erstaunt, daß die Juweliere so hartnäckig darauf bestanden, empfangen zu werden. Er befahl, sie einzulassen. »Monseigneur«, begann Böhmer atemlos, »ich bitte um Gerechtigkeit, wir sind bestohlen worden.« »Was geht das mich an?« fragte Rohan hochmütig. »Bin ich Polizeichef?« »Sie haben das Halsband in Händen gehabt, Monseigneur!« »Ich habe das Halsband gehabt. Ist es gestohlen?« »Jawohl! Und die Königin selbst hat uns zu Ihnen geschickt, Monseigneur.« »Das ist sehr gütig von Ihrer Majestät. Aber was kann ich dabei tun?« »Monseigneur«, die beiden Juweliere sprachen wie im Chor, »die Königin bestreitet, das Halsband noch in ihrem Besitz zu haben. Sie hat uns auch einen Empfangsschein über die Rückgabe des Halsbandes an uns gezeigt. Sie behauptet, ihr Schuldschein sei gefälscht.« »Zeigen Sie mir den Schuldschein.« Der Kardinal warf einen raschen Blick auf die Urkunde und stellte fest: »Sie sind tatsächlich betrogen worden … Marie-Antoinette von Frankreich … die Königin ist eine Prinzessin aus dem Hause Österreich … So, wie ich es sehe, ist der Schuldschein, die Unterschrift, alles gefälscht.« Außer sich vor Wut rief Böhmer: »Dann muß die Gräfin la Motte den Fälscher und den Dieb kennen.« Dieser Ausruf durchfuhr den Kardinal. Er wurde erregt und befahl seinen Dienern: »Man rufe die Gräfin la Motte!«
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XXII Der Siegelbewahrer, Herr von Breteuil, war ein Nebenbuhler und persönlicher Feind des Kardinals von Rohan. Er lauerte seit langer Zeit auf eine Gelegenheit, um dem Kardinal einen tödlichen Schlag zu versetzen. Er nahm die Gelegenheit wahr, als ihn Ludwig XVI. in heiterer Miene empfing. »Ein herrliches Wetter heute, mein lieber Breteuil«, sagte Ludwig XVI. »ein echtes Himmelfahrtswetter. Keine Wolke am Himmel.« »Sire«, Herr von Breteuil verbeugte sich tief, »ich bedaure unendlich, daß ich Ihre Laune durch eine Wolke trüben muß. Ich bin in großer Verlegenheit und weiß nicht, wie ich mit meinem Bericht anfangen soll, um so weniger, als die Angelegenheit nicht in mein Ressort gehört. Es handelt sich nämlich um eine Art Diebstahl.« »Ein Diebstahl?« fragte der König. »Ob es Ihr Amt betrifft oder nicht, das tut nichts zur Sache. Erzählen Sie mir!« »Sire, Eure Majestät haben sicher vom Diamantenhalsband der Juweliere Böhmer und Bossange gehört?« »Die Königin hat es ausgeschlagen«, stellte der König zufrieden fest. »Und was gibt es damit?« »Sire, dieses Halsband ist gestohlen worden. Aber es ist kein gewöhnlicher Diebstahl. Es gibt Gerüchte …« »Was wollen Sie damit sagen?« »Es wird behauptet, die Königin habe es behalten.« »Wieso behalten? Das ist doch Unsinn! Sie hat es in meiner Gegenwart ausgeschlagen.« Ludwig XVI. sagte ärgerlich: »Die Königin hat das Halsband nicht behalten.« »Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt«, erwiderte Breteuil geschmeidig. »Man sagt, die Königin habe hinter dem Rücken Eurer 132
Majestät mit den Juwelieren verhandelt. Man sagt, die Juweliere hätten eine Bescheinigung von Ihrer Majestät der Königin, daß sie den Schmuck behalten wolle.« Ludwig XVI. wurde blaß. »Was sagt man nicht alles«, stieß er hervor. »Doch wenn die Königin das Halsband gekauft hätte, würde ich sie nicht tadeln. Die Königin ist eine Frau, und das Halsband ist ein selten schönes Schmuckstück.« »Sire«, Breteuil fuhr hartnäckig fort, »man sagt, die Königin habe sich das Geld für das Halsband ausgeliehen.« Der König sprang auf. »Nennen Sie mir auf der Stelle den Geldverleiher!« Breteuil verbeugte sich tief und sagte: »Der Kardinal von Rohan, Sire.« Der König starrte seinen Siegelbewahrer sprachlos an. Breteuil blieb bei der Sache: »Eure Majestät können sich überzeugen, daß der Kardinal von Rohan mit den Juwelieren Böhmer und Bossange verhandelt hat und daß der Kauf durch ihn abgeschlossen worden ist. Er hat Zahlungsbedingungen festgesetzt und angenommen.« »Das sind ja furchtbare Dinge.« Der König ging erregt im Zimmer auf und ab, als suche er einen Ausweg. »In allem sehe ich keinen Diebstahl.« »Sire, die Juweliere behaupten, sie hätten einen von der Königin unterzeichneten Empfangsschein erhalten, und das Halsband sei in den Händen der Königin.« »Die Königin leugnet also?« fragte Ludwig XVI. hoffnungsvoll. »Sire«, sagte Breteuil beinahe vorwurfsvoll, »glauben Eure Majestät, ich wüßte nicht, daß die Königin unschuldig ist?« »Sie klagen also nur den Kardinal von Rohan an?« Breteuil senkte zustimmend den Kopf. »Eine schwere Anschuldigung.« Ludwig XVI. trat ans Fenster. »Sie haben recht, die Sache muß aufgeklärt werden.« Er sah hinaus und fragte: »Ist das dort nicht der Kardinal von Rohan?« Breteuil trat neben den König und sah Herrn von Rohan, der sich im großen Ornat eines Kardinal-Erzbischofs in die Kapelle begab. »Das 133
trifft sich gut«, sagte Breteuil. »Nun kann die Angelegenheit gleich aufgeklärt werden.« Er zählte dem König die Beweise für die Schuld des Kardinals von Rohan auf. Ludwig XVI. war verzweifelt. Die Beweise für die Schuld des Kardinals häuften sich, aber er hörte keine Beweise für die Unschuld der Königin. Er überlegte, was er tun wolle, als es an der Tür klopfte. Der Herr vom Dienst trat ein und meldete: »Sire, Ihre Majestät die Königin bitten Eure Majestät, zu ihr zu kommen.« »Ich gehe zur Königin«, rief der König und wandte sich zu Breteuil, »und nachher will ich mit Ihnen sprechen.«
Kurz bevor der Kardinal die Kapelle betrat, begegnete er der Königin. Er näherte sich ihr. »Majestät, ich muß mit Ihnen sprechen«, flüsterte er. »Warum nötigen mich Eure Majestät, mich nur durch Mittelspersonen mit Ihnen zu verständigen? Warum sagen Sie es nicht glatt heraus, wenn Sie einen Grund haben, mich zu hassen?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Herr Kardinal«, gab die Königin erstaunt zurück. »Ich habe durchaus keinen Grund, Sie zu hassen. Aber ich glaube, das ist nicht die Angelegenheit, über die wir miteinander zu sprechen haben. Ich wünsche, daß Sie mir Auskunft über das unglückliche Halsband geben.« Sie fragte: »Wo ist das Halsband, das ich den Juwelieren zurückgegeben habe?« »Das Halsband, das Sie zurückgegeben haben?« »Ja. Was haben Sie damit gemacht?« »Ich? Ich weiß nichts davon, Madame.« »Hören Sie, Herr Kardinal. Die Sache ist doch ganz einfach. Die Gräfin la Motte hat den Schmuck mitgenommen und hat ihn den Juwelieren in meinem Namen zurückgestellt. Aber die Juweliere behaupten, den Schmuck nicht erhalten zu haben. Ich habe eine Bescheinigung in Händen, die das Gegenteil beweist. Die Juweliere sagen, die Bescheinigung sei falsch. Die Gräfin la Motte könnte mit einem Wort alles aufklären. Aber sie ist unauffindbar.« 134
»Ich habe mit der Gräfin keine Verabredung wegen des Schmucks getroffen. Ich habe den Schmuck ebensowenig wie die Juweliere ihn haben.« »Sie haben das Halsband nicht?« fragte die Königin bestürzt. »Nein, Madame«, erwiderte der Kardinal trocken. »Sie halten die Gräfin la Motte nicht verborgen und wissen nicht, wo sie ist?« »Nein, Madame.« »Wie erklären Sie sich dann die Sache?« »Madame, ich muß gestehen, daß ich mir die Sache nicht erklären kann, aber es ist nicht das erste Mal, daß ich mich bei der Königin beklage, nicht von ihr verstanden zu werden.« »Wann hätten Sie das denn schon getan?« »Erinnern Sie sich an meine Briefe, Madame?« »Ihre Briefe? Sie haben an mich geschrieben?« »Zu selten für das Geheimnis, das ich im Herzen trage.« »Welches Geheimnis? Sind Sie bei Sinnen, Herr Kardinal?« Der Kardinal trat einen Schritt zurück. »Warum ist die Gräfin la Motte nicht hier? Sie ist unsere Freundin und würde mir beistehen, um, wenn auch nicht die Zuneigung, so doch das Gedächtnis Ihrer Majestät wieder zu wecken.« »Unsere Freundin? Meine Zuneigung? Mein Gedächtnis? Ich verstehe kein Wort. Ich glaube wirklich, daß Sie von Sinnen sind.« »Schonen Sie mich, Madame, ich bitte Sie«, bat der Kardinal. Er war durch den unfreundlichen Ton der Königin tief verletzt. »Es steht Ihnen frei, mich nicht mehr zu lieben, aber beleidigen Sie mich nicht.« »Großer Gott!« rief die Königin erbleichend. »Was sagt dieser Mann?« Rohan konnte sich kaum noch beherrschen. »Was ich sage? Was ich sage? Sie haben mich nach und nach dazu gebracht, eine heiße Liebe für Sie zu empfinden. Sie haben mich mit Hoffnungen genährt.« »Hoffnungen? Mein Gott, bin ich wahnsinnig oder Sie?« »Ich bin nicht wahnsinnig«, erklärte der Kardinal. »Würde ich es sonst jemals gewagt haben, Sie um die nächtlichen Zusammenkünfte 135
zu bitten, die Sie mir bewilligt haben? Würde ich es gewagt haben, in den Park von Versailles zu kommen, wenn Sie mir nicht die Gräfin la Motte geschickt hätten?« »Mein Gott!« rief die Königin aus. »Hätte ich es gewagt, Sie zu bitten, mir eine Rose zu schenken?« »Mein Gott! Mein Gott!« Marie-Antoinette fand keine Worte. Der Kardinal fuhr immer aufgeregter fort: »Würde ich es je gewagt haben, auf die dritte Nacht zu hoffen, auf jene Nacht des süßen Schweigens?« Die Königin faßte sich. Sie dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie ruhig: »Erklären Sie hier auf der Stelle, Herr von Rohan, daß Sie alle diese Abscheulichkeiten erfunden haben. Erklären Sie hier auf der Stelle, daß Sie nicht in der Nacht nach Versailles gekommen sind.« »Ich bin dort gewesen«, gab der Kardinal mit Würde zurück. »Es kostet Sie das Leben, wenn Sie bei dieser Behauptung bleiben.« »Ein Rohan lügt nicht. Ich bin dort gewesen.« »Dann werden Sie es mit der Justiz des Königs zu tun haben, wenn Sie die Justiz Gottes verwerfen.« Marie-Antoinette wandte sich ab. Der Kardinal verbeugte sich, ohne zu antworten.
Diese Auseinandersetzung hatte stattgefunden, während Herr von Breteuil dem König die Beweise für die Schuld des Kardinals aufgezählt hatte. Jetzt betrat Ludwig XVI. die Kapelle und fragte Marie-Antoinette: »Sie haben mich rufen lassen?« »Sire«, begann die Königin, »der Herr Kardinal von Rohan, der hier vor Ihnen steht, hat mir soeben die unglaublichsten Dinge gesagt. Wollen Sie ihn bitten, sie Ihnen zu wiederholen.« Der König wandte sich dem Kardinal zu. »Ich weiß von der Sache. Ich weiß, daß Sie mir unglaubliche Dinge wegen eines Halsbandes zu sagen haben, nicht wahr? Sprechen Sie!« »Was das Halsband betrifft«, murmelte der Kardinal. 136
»Sie haben es also gekauft?« Der Kardinal sah den König hilfesuchend an und antwortete nicht. Der König machte eine leichte Wendung in Richtung Marie-Antoinettes. »Da der Herr Kardinal nicht antworten will, so antworten Sie, Madame. Sie müssen etwas von der Sache wissen. Haben Sie das Halsband gekauft? Ja oder nein?« »Nein«, erwiderte sie bestimmt. »Das ist das Wort einer Königin«, stellte der König feierlich fest. »Hüten Sie sich, Herr Kardinal!« Um den Mund Rohans zuckte ein verächtliches Lächeln. »Weswegen klagt man mich denn an?« Der König erwiderte gelassen: »Wie man mir sagt, behaupten die Juweliere Böhmer und Bossange, daß sie an Sie oder an die Königin ein Halsband verkauft haben und daß sie einen Empfangsschein von Ihrer Majestät der Königin in Händen haben!« »Der Schein ist falsch«, warf Marie-Antoinette ein. »Ich weigere mich nicht, zu bezahlen«, erwiderte der Kardinal mit dem Ausdruck der gleichen Verachtung wie zuvor. »Da Ihre Majestät die Königin es nicht widerlegt, muß ja auch alles auf Wahrheit beruhen.« Er fügte mit einem vernichtenden Blick auf Marie-Antoinette hinzu: »Es steht der Königin auch frei, mir eine Fälschung in die Schuhe zu schieben.« Marie-Antoinette wollte entrüstet auffahren, doch Ludwig XVI. hielt sie zurück. »Wie ich sehe, Madame, findet ein Streit zwischen Ihnen und dem Kardinal statt.« Sein Ton wurde hart. »Marie-Antoinette, ich frage Sie zum letzten Mal: Haben Sie das Halsband?« »Nein, bei der Ehre meiner Mutter, beim Leben meines Sohnes, ich habe das Halsband nicht.« »Dann ist es eine Angelegenheit zwischen den Gerichten und Ihnen, mein Herr«, sagte der König scharf. Er milderte den Ton. »Wenn Sie es nicht etwa vorziehen, meine Gnade in Anspruch zu nehmen.« »Die Gnade der Könige ist für die Schuldigen gemacht, Sire«, erwiderte der Kardinal stolz. »Ich ziehe die Gerechtigkeit vor.« »Sie wollen nicht gestehen?« 137
»Ich habe nichts zu gestehen.« »Aber mein Herr«, beschwor die Königin den Kardinal. »Es geht um meine Ehre!« Er schwieg. Die Königin hob die Stimme. »Ich werde nicht schweigen. Sire, es handelt sich nicht nur um den Verkauf oder die Unterschlagung eines Halsbandes.« Herr von Rohan wurde blaß. »Ich flehe Sie an, Madame.« »Ah, Sie beginnen zu zittern. Sire, fordern Sie den Herrn Kardinal doch auf, Ihnen zu sagen, was er mir ins Gesicht gesagt hat.« »Madame!« rief Rohan außer sich. »Sie überschreiten die Grenzen!« Der König war empört. »Wer spricht so mit der Königin? Selbst ich würde nicht so mit ihr sprechen.« »Das ist es eben, Sire«, erklärte Marie-Antoinette. »Der Herr Kardinal spricht so mit der Königin, weil er glaubt, ein Recht dazu erworben zu haben. Er hat Briefe, wie er behauptet.« »Sprechen Sie, mein Herr«, forderte der König erregt. Der Kardinal schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn. Doch er schwieg. »Jetzt muß ich es wieder sagen«, begann die Königin. »Der Herr Kardinal beharrt darauf, daß ich ihm Zusammenkünfte bewilligt habe.« »Madame, ich bitte Sie«, flehte Rohan. Der König war fassungslos. »Zusammenkünfte«, murmelte er. »Gewiß, Sire.« Die Königin trat nahe an den Kardinal heran. »Wenn Sie noch ein Gewissen haben, mein Herr, wenn Ihnen noch irgend etwas in der Welt heilig ist, erbringen Sie die Beweise für Ihre Behauptungen.« »Madame«, Herr von Rohan hob langsam den Kopf und warf der Königin einen traurigen Blick zu. »Ich habe keine Beweise«, sagte er. »Jetzt tun Sie auch noch edelmütig. Sie können keine Beweise haben. Aber Sie haben eine Mitschuldige, eine Komplicin.« »Wer ist es?« fragte der König brüsk. »Die Gräfin la Motte, Sire«, erklärte Marie-Antoinette. »Ah!« rief der König. Er triumphierte, weil sich sein Vorurteil gegen 138
die Gräfin endlich bestätigte. »Wir werden sie rufen lassen und befragen.« »Sie ist verschwunden, Sire. Fragen Sie doch diesen Herrn hier, wohin er sie gebracht hat. Der Herr Kardinal hatte großes Interesse, sie verschwinden zu lassen.« »Sie ist ohne Zweifel auf Veranlassung anderer verschwunden, die ein noch größeres Interesse daran haben als ich.« Der Kardinal konnte sich nicht länger beherrschen. »Deshalb wird man sie auch nicht finden.« Er warf der Königin noch einen vernichtenden Blick zu und drehte ihr den Rücken zu. »Herr Kardinal!« rief der König beleidigt. »Sie werden sich in die Bastille begeben.« Rohan verbeugte sich und fragte gelassen: »In meinem geistlichen Ornat, vor den Augen des ganzen Hofes? Bedenken Sie doch den ungeheueren Skandal, Sire. Die Schande würde mit ihrem ganzen Gewicht auf das Haupt dessen fallen, der sie veranlaßt hat.« Der König öffnete in höchster Erregung die Tür. »Ich will es so.« Draußen wartete Herr von Breteuil. Kaum hatte ihm der König einige Worte zugeflüstert, als er mit laut schallender Stimme ausrief: »Man verhafte den Herrn Kardinal von Rohan!«
Die Gräfin la Motte, die in der Umgebung von Paris Zuflucht gesucht hatte, wurde von einem Polizeioffizier ausfindig gemacht. Von ihm erfuhr sie die Verhaftung des Kardinals. Der Offizier hatte den Befehl, Jeanne nach Versailles zu bringen. Er sollte sie direkt zum König führen. Das versuchte Jeanne zu verhindern. »Sie lieben doch die Königin?« fragte sie den Offizier. »Zweifeln Sie daran?« »Gerade deshalb beschwöre ich Sie, mich zuerst zur Königin zu führen.« 139
Unter dem Eindruck der Gerüchte, die in Versailles kursierten, glaubte der Offizier, der Königin tatsächlich einen Dienst zu erweisen, wenn er die Gräfin la Motte zuerst zu ihr führte. Die Königin empfing Jeanne in der Gegenwart zweier Kammerfrauen. »Da sind Sie endlich, Madame«, sagte sie kurz angebunden. »Hat man Sie also gefunden.« Sie fragte scharf: »Haben Sie den König gesehen?« »Nein, Madame.« »Aber Sie werden ihn sehen.« »Das wird eine große Ehre für mich sein«, erwiderte Jeanne mit einer tiefen Verbeugung. »Wissen Sie, daß Herr von Rohan in der Bastille ist?« »Ich habe es gehört, Madame.« »Und wissen Sie auch warum?« Jeanne blickte die Königin vorwurfsvoll an. Dann wandte sie sich rasch zu den beiden Kammerfrauen, deren Anwesenheit ihr lästig zu sein schien. »Ich weiß nicht, Madame, warum Herr von Rohan in der Bastille ist.« »Sie wissen aber, daß Sie mir im Namen des Kardinals von Rohan einen Vorschlag gemacht haben, wie das Diamantenhalsband zu bezahlen wäre?« »Das ist richtig, Madame.« »Habe ich den Vorschlag angenommen oder abgelehnt?« »Eure Majestät haben abgelehnt. Eure Majestät haben sogar eine Anzahlung von zweihundertfünfzigtausend Livre gegeben«, fügte Jeanne hinzu. »Da aber der König Herr von Calonne das Geld verweigerte und Eure Majestät nicht bezahlen konnten, haben Eure Majestät das Halsband den Juwelieren Böhmer und Bossange zurückgeschickt.« »Durch wen zurückgeschickt?« »Durch mich.« »Und was haben Sie mit dem Halsband gemacht?« »Ich habe die Diamanten dem Herrn Kardinal von Rohan gegeben.« »Dem Kardinal?« fragte die Königin. »Und warum?« »Madame«, Jeanne zögerte: »Ich hätte Herrn von Rohan verletzt, 140
wenn ich ihm nicht die Gelegenheit gegeben hätte, die Sache seinem Wunsch entsprechend zu Ende zu führen.« »Aber wie konnten Sie dann eine Empfangsbestätigung von den Juwelieren erhalten?« »Die hat mir der Herr Kardinal von Rohan übergeben.« »Und was ist mit dem Brief, den Sie den Juwelieren als von meiner Hand kommend ausgehändigt haben sollen?« »Herr von Rohan hat mich gebeten, ihn zu bestellen.« »Immer und überall hat sich der Herr Kardinal eingemischt!« rief die Königin ärgerlich. »Ich weiß nicht, was Eure Majestät damit meinen?« »Die Empfangsbestätigung der Juweliere ist gefälscht.« »Gefälscht, Madame?« fragte Jeanne ungläubig. »Es wird notwendig sein, Sie dem Herrn Kardinal von Rohan gegenüberzustellen, damit die ganze Angelegenheit aufgeklärt wird.« »Gegenüberstellen? Mich?« »Er selbst hat es verlangt. Er hat Sie überall gesucht.« »Das ist unmöglich, Madame.« »Er will beweisen, daß Sie ihn hintergangen haben.« »Wenn es sich so verhält, dann bin ich es, die die Gegenüberstellung verlangt.« »Sie wird stattfinden, darauf können Sie sich verlassen.« Nach einer kurzen Überlegung fragte die Königin: »Sie leugnen also zu wissen, wo das Halsband ist. Sie leugnen, dem Herrn Kardinal bei seinen Intrigen geholfen zu haben?« »Eure Majestät haben das Recht, mich mit Ihrer Ungnade zu bestrafen, aber nicht, mich zu beleidigen. Ich bin eine Valois, Madame.« »Der Herr Kardinal hat in der Gegenwart des Königs verleumderische Aussagen gemacht, die er zu beweisen hofft.« »Ich verstehe Sie nicht, Madame.« »Der Kardinal behauptet, Briefe an mich geschrieben zu haben.« Jeanne blickte die Königin nur vorsichtig an. Sie erwiderte nichts. »Haben Sie mich verstanden?« fragte die Königin. »Vollkommen, Eure Majestät.« 141
»Und was antworten Sie?« »Ich werde Rede und Antwort stehen, wenn mir der Herr Kardinal von Rohan gegenübersteht.« Jeanne wandte sich wieder nach den beiden Kammerfrauen um. »Ich werde hier keine andere Antwort geben, Madame.« »Herr von Rohan ist in der Bastille, weil er zuviel gesprochen hat«, sagte die Königin. »Hüten Sie sich, daß Sie nicht in die Bastille kommen, weil Sie zuwenig sprechen.« Jeanne erwiderte gereizt: »Ich habe nichts zu sagen, Madame.« Sie setzte hinzu: »Alles, was ich getan habe, habe ich für Sie getan, Madame.« »Das ist eine Unverschämtheit!« rief die Königin zornig. »Sie werden heute nacht in der Bastille schlafen.« »Wie Eure Majestät befehlen. Doch ehe ich mich schlafen lege, wo immer es sein wird, werde ich meiner Gewohnheit gemäß zu Gott beten, er möge Eurer Majestät die Ehre und die Freude im Leben erhalten.«
XXIII Jeanne la Motte wurde in die Bastille eingeliefert. Der unüberwindliche Haß des Königs gegen diese Frau wirkte sich in ihrer Behandlung aus. Der Kardinal lebte in der Bastille wie ein vornehmer Herr, wie in einem von ihm gemieteten Haus. Außer der Freiheit wurde ihm alles bewilligt, was er sich nur wünschte. Die Offiziere und Beamten der Bastille bezeigten ihm die Ehrfurcht, die einem Kirchenfürsten, einem Rohan gebührte. Für sie war er kein Angeklagter im üblichen Sinne, sondern ein willkürlich in Ungnade Gefallener. Das Volk empfand nicht nur Sympathie für ihn, sondern Begeisterung. Alle Welt wun142
derte sich, wie es möglich sei, daß ein Rohan des Diebstahls angeklagt werden könne. Als der Kardinal der Gräfin la Motte endlich gegenübergestellt wurde, gelang es Jeanne, ihm zuzuflüstern: »Entfernen Sie die Anwesenden, und ich werde Ihnen alles erklären.« Der Kardinal forderte, mit der Gräfin allein gelassen zu werden. Das wurde ihm verweigert, aber man erlaubte seinem Anwalt, mit Jeanne zu sprechen. Sie erklärte dem Anwalt, daß sie nicht wisse, was mit dem Halsband geschehen sei, daß sie es aber verdient hätte, wenn der Kardinal es ihr zum Geschenk gemacht hätte. Der Anwalt war sprachlos über die Frechheit, als sie hochmütig fragte, ob die von ihr der Königin und dem Kardinal geleisteten Dienste nicht eine Million wert seien. Der Kardinal erschrak, als er von dieser unverschämten Frage der Gräfin erfuhr. Er wußte, daß er ihr ausgeliefert war. Er überlegte, ob es nicht Mittel und Wege gäbe, die leidige Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Doch seine Freunde rieten ihm, den Kampf, den er begonnen hatte, nicht aufzugeben. Er sei das Opfer des königlichen Despotismus, sagten sie. Seine Ehre stehe auf dem Spiel, und ohne einen Urteilsspruch des Parlaments könne er seine Unschuld nicht beweisen. So wurde Herr von Rohan, der Abkömmling eines der ältesten französischen Geschlechter, einer der ersten Revolutionäre Frankreichs. Als die Königin von der Unterredung des Kardinals mit der Gräfin la Motte unterrichtet wurde, geriet sie außer sich. Sie bestand darauf, daß alle geheimnisvollen Einzelheiten des Falles besonders scharf zu untersuchen seien. Die nächtlichen Zusammenkünfte, die stattgefunden hatten, wurden zur Sprache gebracht. Vor den Leuten der Königin behauptete Jeanne, von nichts zu wissen. Doch den Leuten des Kardinals gegenüber war sie nicht so diskret und wiederholte immer wieder: »Man lasse mich in Ruhe, sonst werde ich sprechen.« Diese Andeutungen verwirrten die Untersuchung und brachten Jeanne durch ihre so gut gespielte Bescheidenheit in den Ruf einer Heldin. Kein Untersuchungsrichter wagte es, die Verhöre der Gräfin peinlich fortzusetzen. Die Frage, ob die Königin das Diamantenhalsband behalten hatte oder nicht, stand nicht mehr an der Tagesordnung. Die 143
Frage des Tages war, ob sie es durch jemand hatte stehlen lassen, der in ihre ehebrecherische Liebschaft eingeweiht gewesen war. Die Voruntersuchung des Prozesses wurde mit aller Energie gegen die Gräfin la Motte gerichtet. Alles sprach gegen sie: ihr Vorleben, ihre frühere Armut, ihr rasches Emporkommen. Der Adel haßt Zufallsprinzessinnen, und das Volk verzeiht Abenteuerinnen nicht den Erfolg des Glücks. Jeanne nahm bald wahr, daß sie einen falschen Weg eingeschlagen hatte und daß die Königin, dadurch, daß sie sich mutig der Anklage stellte, den Kardinal aufforderte, ihrem Beispiel zu folgen. Jeanne wußte, daß die arme, kleine, nicht anerkannte Valois mit der gestohlenen Million, die sie nicht bei der Hand hatte, um ihre Richter zu bestechen, den kürzeren ziehen mußte. Ein Zufall brachte eine Wendung.
Herr von Beausire und Mademoiselle Oliva lebten inzwischen reich und glücklich in einem Haus auf dem Lande. Sie dachten nur an sich selbst und wußten nichts von dem, was in Paris vorging. Oliva wurde fett wie eine Wachtel. Eines Morgens ging Beausire auf die Hasenjagd. Er lief den beiden Polizeiagenten in die Arme, die Oliva suchten. »Bieten Sie uns ein Frühstück in Ihrem Hause an, Beausire?« fragte einer der beiden Agenten. »In meinem Hause, aber …« Der andere fiel ein: »Sie werden doch nicht so unhöflich sein …« Beausire blieb nichts anderes übrig, als die beiden Agenten einzuladen. Sie gingen schweigend zum Haus zurück. Beausire überlegte krampfhaft, wie er Oliva warnen könnte. Polizeiagenten – er hatte Angst und entschuldigte sich hastig bei seinen ungebetenen Gästen. »Wo wollen Sie hin?« fragte der eine. »Wir werden Sie begleiten, wohin immer Sie gehen«, ergänzte der andere. »Ich will nur meiner Frau Bescheid sagen, daß wir Gäste haben«, antwortete Beausire und war mit einem Satz auf dem Treppenabsatz 144
zu dem oberen Stockwerk. Die Agenten hielten ihn mit Gewalt fest. Beausire schrie vor Schreck auf. Im ersten Stock öffnete sich eine Türe. Ängstlich erschien eine Frau auf der Schwelle. Als die Agenten sie sahen, ließen sie Beausire los. Sie hatten die Frau gefunden, die der Königin von Frankreich aufs Haar glich. Der jüngere der beiden ging auf Oliva zu und sagte in barschem Ton: »Ich verhafte Sie.« »Verhaften!« schrie Beausire. »Warum?« »Weil Herr von Crosne es uns befohlen hat.« »Gehen wir«, die Agenten wehrten Beausire ab, der sie mit einem Redeschwall überfiel. »Es gibt doch gewiß eine Kutsche oder ein anderes Fuhrwerk hier. Lassen Sie anspannen, Beausire. Ihre Frau kann nicht zu Fuß nach Paris gehen. Aber wir sind keine Unmenschen, wir nehmen Sie mit und lassen Sie unterwegs abspringen. Was mit Ihnen geschieht, geht uns nichts an. Für uns ist es die Hauptsache, daß wir Madame gefunden haben.« »Wo sie hingeht, da werde auch ich hingehen«, erwiderte Beausire tonlos. »Ich verlasse sie nicht!«
Herr von Crosne war glücklich über den Erfolg seiner Agenten. Er fuhr, so rasch er konnte, nach Versailles. Seiner Kutsche folgte ein fest verschlossener Wagen. Der Polizeichef ließ sich bei der Königin melden. Marie-Antoinette empfing ihn unverzüglich. An seiner strahlenden Miene erkannte sie gleich, daß er eine gute Nachricht brachte. »Was gibt es?« fragte sie. Herr von Crosne küßte ihr die Hand, die sie ihm gnädig reichte. »Haben Eure Majestät ein Zimmer, von dem aus Sie alles beobachten könnten, ohne selbst gesehen zu werden?« »In meiner Bibliothek gibt es eine Öffnung in der Täfelung.« »Sehr gut, Madame. Ich habe eine Überraschung für Sie. Sie werden staunen, Madame.« Marie-Antoinette lugte neugierig durch das geheime Guckloch. Sie 145
sah eine verschleierte Gestalt, die den Nebenraum betrat. Ein Polizeibeamter nahm den Schleier ab. Die Königin schrie unwillkürlich auf. Sie glaubte, sich selbst in einem Spiegel zu sehen. Oliva trug eines ihrer Lieblingskleider, ihre Frisur, ihren Schmuck, die grünen Atlasschuhe mit den hohen Absätzen, in denen sie selbst sich am besten gefiel. »Was sagen Eure Majestät zu dieser Ähnlichkeit?« fragte Herr von Crosne triumphierend. »Ich … ich …« Die Königin suchte mühsam nach Worten. »Das muß der König erfahren. Mein Gott«, sie machte eine erschrockene Handbewegung, »diese Frau ist der ganze Irrtum des Kardinals. Ich danke Ihnen, mein Herr, Sie halten die Ehre des Hauses Frankreich in Händen.« »Sie ist in guten Händen, Madame«, erwiderte Herr von Crosne. »Doch jetzt bitte ich Eure Majestät, mich für kurze Zeit zu entschuldigen. Der Herr Graf von Cagliostro hat mich um eine wichtige Unterredung gebeten. Die möchte ich auf keinen Fall versäumen. Wenn der Graf von Cagliostro den Polizeiminister so wichtig zu sprechen wünscht, muß es sich um etwas ganz Außerordentliches handeln.«
Herr von Crosne glaubte von Cagliostro alles zu wissen, was ein gewandter Polizeichef von einem sich nur in Frankreich vorübergehend aufhaltenden Mann von Welt wissen konnte. Er empfing den Grafen mit vollendeter Höflichkeit. »Ich komme eigens wegen der von Ihnen erbetenen Audienz von Versailles.« »Als Kenner Ihrer Verdienste und der Bedeutung Ihrer Stellung nehme ich Ihre Zeit in Anspruch. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich dachte, Sie hätten ein Interesse, mich über bestimmte Vorgänge zu befragen.« »Über welche Vorgänge?« »Herr von Crosne«, sagte Cagliostro geradeheraus, »Sie beschäftigen sich doch mit der Gräfin la Motte und mit dem Verschwinden eines Diamantenhalsbandes.« 146
»Sollten Sie es etwa gefunden haben?« fragte der Polizeichef spöttisch. »Das nicht«, erwiderte Cagliostro mit ernster Würde. »Aber wenn ich es auch nicht gefunden habe, so weiß ich doch, daß die Gräfin la Motte in der Rue Saint-Claude wohnte.« »Ihnen gegenüber«, stellte Crosne fest. »Das wußte ich auch.« »Dann sind Sie sicher auch genauestens über die Gräfin la Motte unterrichtet, mein Herr, und wir brauchen nicht davon zu sprechen.« »Im Gegenteil, Herr Graf«, erwiderte Crosne mit gleichgültiger Miene. »Sprechen wir davon.« »Meine Mitteilungen hätten nur Bedeutung in Beziehung auf die kleine Oliva. Doch da Sie alles über die Gräfin la Motte wissen, so kann ich Ihnen leider nichts Neues mitteilen.« Als er den Namen Oliva hörte, nahm sich Herr von Crosne sehr zusammen. Er fragte gelassen: »Was sagen Sie von einer Oliva?« »Diese Oliva lebte schlecht und recht mit einem Liebhaber, der sie schlug und bestahl.« »Ein gewisser Beausire«, unterbrach Crosne. Er war stolz, so gut unterrichtet zu sein. »Sie kennen Beausire? Das ist erstaunlich«, gab Cagliostro mit gespielter Bewunderung zurück. »Da Sie ihn kennen, werden Sie gewiß richtig bewerten, was geschehen ist. Eines Tages, als dieser Beausire Oliva mehr als gewöhnlich geschlagen hatte, flüchtete sie sich zu mir und bat mich um meinen Schutz. Ich quartierte sie in einem Winkel eines meiner Häuser ein.« »Sie war also bei Ihnen?!« »Gewiß! Warum sollte ich sie nicht bei mir aufgenommen haben? Ich bin Junggeselle.« Er lachte und fragte naiv: »Als Junggeselle kann ich mir das doch erlauben?« »Deshalb haben also meine Agenten sie ohne Erfolg gesucht.« »Wieso gesucht?« fragte Cagliostro. »Man hat die Kleine gesucht? Hat sie denn etwas getan, wovon ich nichts wüßte?« »Nichts, mein Herr, nichts«, wehrte Crosne ab. »Aber ich bitte Sie, sprechen Sie weiter.« Er drängte: »Sie haben gesagt, die Gräfin la Motte 147
und diese Oliva seien Nachbarinnen gewesen. Meine Leute haben Oliva mit Herrn von Beausire in der Provinz gefunden.« »Mit Herrn von Beausire? Dann muß ich allerdings der Gräfin la Motte Abbitte tun.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wenn Sie Oliva mit Beausire gefunden haben, so ist mein Verdacht unbegründet, daß die Gräfin la Motte irgend etwas Schlechtes mit Oliva im Sinne hatte, denn sie hatte Mittel und Wege gefunden, Oliva jede Nacht zum Ausgehen zu verhelfen.« »Jede Nacht? Sind Sie dessen gewiß?« »So gewiß wie jemand, der es gehört und gesehen hat.« »Haben Sie irgendwelche Beweise, zum Beispiel, daß die Gräfin mit Oliva korrespondierte?« »Mehr als ein Dutzend Briefe, die man zweifellos in Olivas Wohnung finden wird.« »Gibt es auch Beweise von Olivas Einverständnis zu diesen Verabredungen?« Crosne lehnte sich vor. »Ich bitte Sie, Herr Graf, verschaffen Sie mir nur einen einzigen solchen Beweis!« Cagliostro zuckte die Achseln. »Allem Anschein nach war es für die Gräfin kein Problem, in mein Haus einzudringen und Oliva zu besuchen. Nicht nur ich persönlich, sondern meine Diener haben die Gräfin an dem Tag in meinem Haus gesehen, an dem Oliva aus dem Haus verschwand.« »An welchem Tag wurde diese Oliva entführt?« »Das weiß ich sogar ganz genau. Es war am Tag vor dem Fest des heiligen Ludwig.« »So ist es, Herr Graf.« Crosne verbeugte sich. »Sie haben dem Staat einen hervorragenden Dienst erwiesen.« Er verbeugte sich nochmals. »Darf ich auf die Beweise rechnen, von denen Sie sprechen?« »Ich gehorche den Behörden in allen Belangen«, erwiderte Cagliostro. »Herr Graf, ich nehme Sie beim Wort.«
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XXIV In den Pariser Kaffeehäusern verbreitete sich das Gerücht, daß ein gewisser Reteau von Villette in England verhaftet worden sei, als er die Diamanten des Halsbandes der Herren Böhmer und Bossange hatte verkaufen wollen. Das Gerücht bewahrheitete sich. Jeanne brauchte alle Kraft, um diesen Schlag auszuhalten. Reteau von Villette wurde der Gräfin la Motte gegenübergestellt. Sie hörte entsetzt zu, als er in aller Demut gestand, er wäre ein Fälscher und hätte einen Empfangsschein für die Diamanten, einen Schuldbrief der Königin geschrieben, und auch die Unterschrift der Juweliere und Ihrer Majestät der Königin gefälscht. Nach dem Beweggrund für diese Verbrechen befragt, erwiderte Reteau, er hätte es auf das Verlangen der Gräfin la Motte getan. Jeanne wurde ins Kreuzverhör genommen. Sie verteidigte sich wie eine verwundete Löwin. Sie behauptete, Reteau von Villette nie in ihrem Leben gesehen, nie in ihrem Leben gekannt zu haben. Zeugenaussagen widerlegten ihre Verteidigung. Ein Zeuge erklärte, sie am Tag vor dem Fest des heiligen Ludwig mit Herrn Reteau von Villette in einer Reisekutsche gesehen zu haben. Dieser Zeuge war ein Diener des Grafen von Cagliostro. Der Name Cagliostro war zuviel für Jeanne. Sie sprang außer sich auf und klagte Cagliostro an, dem Kardinal von Rohan strafbare Gedanken gegen Ihre Majestät die Königin in den Kopf gesetzt zu haben. Der Kardinal leugnete alles, was die Königin hätte belasten können. Indem er sich selbst verteidigte, verteidigte er Cagliostro. Er leugnete so hartnäckig, daß es Jeanne um die Besinnung brachte. Sie erzählte den Untersuchungsrichtern zum erstenmal von der wahnsinnigen Liebe des Kardinals für die Königin. 149
Dem Verlangen Cagliostros, unverzüglich in die Bastille eingesperrt zu werden, um seine Unschuld unberührt von allen Einflüssen beweisen zu können, wurde entsprochen. Die öffentliche Meinung nahm für den Kardinal von Rohan und für Cagliostro, der sich den königlichen Behörden freiwillig gestellt hatte, und gegen die Königin Partei. Jeanne wußte sich keinen Rat mehr. Als sie in ihrer Verzweiflung ihre Unschuld schreiend beteuerte, bereitete ihr Herr von Crosne eine vernichtende Überraschung: Oliva als lebendigen Beweis. Nur mit äußerster Willenskraft ertrug Jeanne diesen Schlag. Aber als der Kardinal von Rohan Oliva gegenübergestellt wurde, erkannte er, wie schändlich er betrogen worden war. Es kam ihm erschreckend zur Besinnung, daß eine Abenteuerin und Gaunerin ihn dazu gebracht hatte, die Königin von Frankreich, die er liebte, öffentlich zu verachten. Trotz aller Gewissenskonflikte konnte er die Identität Olivas nicht zugeben, ohne seine Liebe zu Marie-Antoinette einzugestehen. Allein das Geständnis seines Irrtums wäre einer Anschuldigung gegen sich selbst gleichgekommen. So überließ er Jeanne alles Leugnen und schwieg. Und Jeanne leugnete. »Das ist das beste Mittel, um eine unschuldige Frau wie mich zugrunde zu richten!« schrie sie. »Man bringt eine Person vor Gericht, die der Königin gleicht und behauptet, die Person sei im Park gewesen. Man zeigt sie aller Welt, und damit ist jeder Verdacht gegen die Königin aus der Welt geschafft. Und ich soll dafür büßen.« Als aber Oliva in ihrer Angst jede Einzelheit ohne Rückhalt gestand und es dazu brachte, daß man ihr mehr glaubte als der Gräfin la Motte, nahm Jeanne ihre letzte Zuflucht zu einem verzweifelten Mittel: Sie gestand. Sie gestand, weil hinter ihr eine Anhängerschaft stand. Sie wußte, daß sie alle Feinde der Königin zum Beistand für sich gewinnen würde, wenn sie die Königin beschuldigte. So erklärte Jeanne, daß die Zusammenkünfte mit dem Kardinal eine Idee der Königin gewesen seien. Die Königin habe sich, hinter einer Hagebuche versteckt, über den verliebten Herrn von Rohan halb tot gelacht. Jeanne drohte, alle vom 150
Kardinal an die Königin geschriebenen Briefe zu veröffentlichen. Und das war keine leere Drohung, denn sie besaß diese Briefe tatsächlich. Marie-Antoinette konnte ihre Unschuld nicht beweisen, weil kein Beweis erbracht werden konnte, ob jemand hinter der Hagebuche beobachtet und gelauscht habe oder nicht. Sie konnte ihre Unschuld auch nicht beweisen, weil zu viele ein Interesse daran hatten, die Lügen Jeannes für die Wahrheit zu nehmen. Eine Gegenüberstellung folgte der anderen. Der Kardinal war stets ruhig und höflich, auch gegen die Gräfin la Motte, die sich hämisch und feindselig gegen ihn verhielt. Jeanne bemerkte bald, daß sie nicht den geringsten Eindruck auf die Richter gemacht hatte. Cagliostro aber irrte sich in keiner seiner Berechnungen, die er angestellt hatte. Er hatte einen Vorwand gefunden, endlich offen auf den Untergang der Monarchie hinzuarbeiten, die er seit so vielen Jahren heimlich untergrub. Mit der für seine Absichten günstigen Entwicklung zufrieden und vor jeder Bloßstellung sicher, hielt er gewissenhaft seine Versprechungen gegen alle Welt. Er bereitete das Material zu dem von London aus datierten, berüchtigten Brief vor, der einen Monat später in den Pariser Zeitungen erschien und der erste Stoß gegen die alten Mauern der Bastille war, die ihn beherbergte, die erste Feindseligkeit der Revolution. In diesem Brief erklärte Cagliostro: »Ich wiederhole, was ich als Gefangener schon gesagt habe: Es gibt kein Verbrechen auf Erden, das nicht durch sechs Monate in der Bastille abgebüßt wäre. Es fragte mich jemand, ob ich je nach Frankreich zurückkehren würde. Gewiß, antwortete ich, aber unter der Bedingung, daß der Platz, auf dem die Bastille steht, eine öffentliche Promenade geworden ist. Möge es Gottes Wille sein. Ihr Franzosen habt alles, was man zum Glück braucht: fruchtbare Erde, ein mildes Klima, gute Herzen, allerliebste Heiterkeit, Genie und Anmut. Ihr seid ohnegleichen in der Kunst, zu gefallen, es gibt keine Meister über euch in allen anderen Künsten. Aber was euch fehlt, ist nur eines: nämlich die Gewißheit, daß ihr in eurem eigenen Bett schlafen werdet, wenn ihr euch auch in keiner Hinsicht vergangen habt.« 151
Oliva hielt Wort. Sie war Cagliostro gewissenhaft treu. Nicht eine Silbe, die ihren Gönner hätte bloßstellen können, entschlüpfte ihr. Während der Monate, die sie hinter Schloß und Riegel verbrachte, hatte sie ihren teuren Beausire nicht wiedergesehen. Sie war jedoch nicht ganz von ihm verlassen, denn sie trug ein Andenken von ihrem Geliebten unter dem Herzen. Unruhig wartete Beausire in der Rue Saint-Antoine und ließ die gegenüberliegende Bastille nicht aus den Augen. Ein Diener Cagliostros trat neben ihn und sagte leise: »Herr von Beausire, verhalten Sie sich ruhig, damit die Polizei uns nicht bemerkt. Ich bringe Ihnen die versprochene Nachricht: Mutter und Kind befinden sich wohl. Es ist ein Knabe.« »O mein Freund, wie glücklich bin ich, wie glücklich!« rief Beausire. »Danken Sie Ihrem Herrn für mich. Danken Sie ihm!« »Wenn Sie mir versprechen, kein Aufsehen zu erregen, dann warten Sie hier, Herr von Beausire. Gleich kommt die Hebamme der Bastille, um das Kind taufen zu lassen.« Beausire mußte sich an eine Säule anlehnen, um nicht in Ohnmacht zu fallen, als er die Hebamme, den Wundarzt und einen Schließer der Bastille aus einem Fiaker aussteigen sah. Er folgte dem kleinen Zug mit dem Priester und den Neugierigen in die Sakristei der nahen Kirche. Er sah, daß der Priester seine Feder zur Hand nahm, und er hörte, wie er nach Namen und Vornamen des neugeborenen Kindes fragte. »Es ist ein Knabe«, antwortete der Wundarzt. »Mehr weiß ich nicht.« »Er hat doch gewiß einen Namen und wäre es der irgendeines Heiligen«, meinte der Priester. »Es war der Wille der Mademoiselle, die das Kind in der Bastille zur Welt brachte, daß es auf den Namen Toussaint getauft wird.« Beausire verlor seine Geduld. Doch der Diener Cagliostros bewog ihn, sich ruhig zu verhalten und zuzuhören. »Schreiben wir alles auf«, sagte der Priester gelassen. »Ich beginne«, setzte er mit feierlicher Stimme fort. »Es ist uns heute ein Kind männlichen Geschlechts, gestern in der Bastille geboren, vorgewiesen worden. Sohn von Oliva Legay und …«, er zögerte, »… Vater unbekannt.« 152
Beausire konnte nicht länger an sich halten. Er sprang auf den Priester los, packte ihn beim Handgelenk und rief: »Toussaint hat einen Vater, so wie er eine Mutter hat. Ich bitte Sie, Hochwürden, schreiben Sie, daß Toussaint der Sohn des hier anwesenden Jean Babtiste Toussaint von Beausire ist.« Obgleich die Angestellten der Bastille an dramatische Szenen gewöhnt waren, rührten sie die väterlichen Gefühle Beausires. Nur der Priester bewahrte seine Kaltblütigkeit und zog die so unerwartete Vaterschaft in Zweifel. Vielleicht ärgerte es ihn auch, daß er seine Schreibereien wieder von vorn beginnen mußte. Beausire war viel zuviel in der Welt herumgekommen, als daß er das umständliche Gehabe des Priesters nicht durchschaut hätte. Er legte drei Louisdor auf den Taufstein. Diese Goldstücke bewiesen viel besser als alles andere sein Vaterrecht auf Toussaint. Der Priester verbeugte sich ergeben und sagte: »Mein Herr, haben Sie die Güte, selbst zu beurkunden, daß Sie sich als Vater dieses Kindes bekennen.« Begeistert griff Beausire zur Feder. »Seien Sie vorsichtig«, flüsterte der Schließer der Bastille Beausire ins Ohr. »Ich glaube, Ihr Name hat keinen guten Klang an gewissen Orten.« »Ich danke für Ihren Rat, mein Freund«, erwiderte Beausire selbstbewußt. »Doch den Sohn meiner Frau verleugnen …« »Sie ist Ihre Frau?« »Gott schenke ihr die Freiheit«, erwiderte Beausire feierlich, »und am nächsten Tag wird Oliva meinen Namen tragen.« »Mittlerweile setzen Sie sich einer großen Gefahr aus«, warnte ihn der Schließer. »Ich glaube, daß man Sie sucht.« »Ich werde Sie nicht verraten«, erklärte der Wundarzt. »Ich auch nicht«, fiel die Hebamme ein. »Ich noch weniger!« rief der Priester und steckte die drei Louisdor in die Tasche seiner Soutane.
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XXV Nach langen Beratungen kam endlich der Tag der Urteilsverkündung im Halsbandprozeß, wie das gegen die Angeklagten geführte Verfahren im Volksmund genannt wurde. Der Generalanwalt ergriff das Wort und sprach im Namen der beleidigten königlichen Würde. Mit dem Brustton der Überzeugung plädierte er für das Prinzip der königlichen Unantastbarkeit. Er stellte den Antrag: Auf Verurteilung Reteau von Villettes zu den Galeeren. Auf Verurteilung Jeanne la Motte-Valois' zur Brandmarkung, Auspeitschung und lebenslänglichem Arbeitshaus. Auf Freisprechung des Grafen Cagliostro. Auf Überweisung Oliva Legays an die ordentlichen Gerichte. Auf Ausübung eines behördlichen Zwangs auf den Kardinal von Rohan, damit er eingestehe, eine beleidigende Frechheit gegen die königliche Majestät begangen zu haben, und auf Verbannung aus der Nähe des Königs und der Königin und auf Entsetzung von seinen Ämtern und Würden. Nur vierzehn Parlamentsräte schlossen sich dem Antrag des Generalanwalts bezüglich des Kardinals an. Dann begann das letzte Verhör. Mit Ausnahme des Herrn von Rohan waren alle Angeklagten in die Conciergerie gebracht worden, um dem Sitzungssaal näher zu sein. Die Verhandlungen begannen an jedem Morgen um sieben Uhr. Es war Brauch, daß jeder Angeklagte vor den Richtern auf einem hölzernen Bänkchen saß. Der erste, der auf diesem schimpflichen Schemel Platz nahm, war der Fälscher Reteau von Villette, der mit Tränen und Bitten um Gnade flehte. Er interessierte weder die Richter noch die Anwesenden. Er war 154
nichts anderes als ein gewöhnlicher Betrüger. Nach seiner Aussage vor dem Gerichtshof kehrte er jammernd in seine Zelle zurück. Jetzt wurde die Gräfin la Motte von einem Gerichtsschreiber vorgeführt. Sie trug einen schlichten Überwurf, ein Kleid aus Batist und eine Spitzenhaube. Ihr Haar war ungepudert. Die Hitze im Saal, das Stimmengewirr und die Bewegung der Köpfe, die sich ihr zuwandten, beunruhigten sie. Sie schwankte. Der Gerichtsschreiber führte sie rasch auf den ihr vorbestimmten Platz. Beim Anblick des Armesünderbänkchens, auf dem sie sitzen sollte, erblaßte Jeanne. Sie warf einen wütenden Blick auf die Richter. Sie, die stolz darauf war, sich Valois zu nennen und in ihren Händen das Geschick einer Königin von Frankreich zu halten, sollte sich auf ein für gemeine Verbrecher gezimmertes Bänkchen setzen. Aber wohin sie auch schaute, begegneten ihr nur neugierige Blicke, die keine Teilnahme zeigten. Sie beherrschte ihre Entrüstung und setzte sich. Das Verhör begann. Aber wie bestimmt die Fragen auch waren – Jeanne gab nur unbestimmte Antworten. Sie versicherte ihre Unschuld und brachte den Präsidenten des Gerichtshofes durch geschickte Redewendungen dazu, sie über die Existenz der kompromittierenden Briefe zu befragen. Mit erhobenen Händen beteuerte sie, Ihre Majestät die Königin nicht bloßstellen zu wollen. Sie würde das niemals tun. Aber niemand könne die Frage nach den Briefen besser beantworten als Seine Eminenz der Herr Kardinal von Rohan. »Lassen Sie doch die Briefe verlesen«, schlug sie vor. »Ich für meine Person finde ihren Inhalt zu frei und zu vertraulich für eine Königin und einen Untertan, als daß ich sie mit lauter Stimme lesen könnte.« Tiefes Stillschweigen folgte. Jeanne verließ den Schemel in der Hoffnung, daß der Kardinal nun darauf sitzen würde. Als sie sich umwandte und sah, daß der Schemel durch einen Lehnstuhl ersetzt wurde, schrie sie wütend auf und wurde vom Gerichtsschreiber mit Gewalt aus dem Saal gezogen. Der Kardinal von Rohan schritt langsam auf den Lehnstuhl zu. Er war in ein wallendes Priestergewand gekleidet und sah blaß und angegriffen aus. Zwei Gerichtsdiener und zwei Gerichtsschreiber beglei155
teten ihn ehrerbietig. Der Gouverneur der Bastille trat an seine Seite. Beim Eintritt des Kardinals in den Saal wurden mit Achtung gemischte Laute hörbar. Das freundliche Gefühl der Anwesenden für ihn wurde durch kräftige Zurufe von der Straße unterstützt. Das Volk begrüßte den Angeklagten. Der Präsident des Gerichts lud ihn ein, auf dem Lehnstuhl Platz zu nehmen. Der Kardinal setzte sich und stellte sich dem öffentlichen Verhör. Seine zitternde Stimme und seine demütige Haltung erregten tiefes Mitleid. Er brachte mehr Entschuldigungen als Beweise vor. Und als er, der sprachgewandte Weltmann, plötzlich innehielt, zählte sein Schweigen mehr, als alle Verteidigungsreden und Beweisführungen gegolten hätten. Als nächste Angeklagte wurde Oliva vorgeführt. Für das arme Mädchen stand wieder das Armesünderbänkchen bereit. Die meisten Anwesenden bebten, als sie dieses lebendige Ebenbild der Königin von Frankreich auf dem Schemel der Diebinnen und Fälscherinnen sitzen sahen. Ihr Anblick erschreckte auch die eifrigsten Verfolger der Monarchie. War es schon so weit gekommen, daß sich eine Frau, die der Königin wie ein Ei dem anderen glich, den Richtern stellen mußte? Nach Oliva wurde Cagliostro in den Gerichtssaal geführt. Der Präsident lud ihn nicht ein, sich zu setzen, obwohl der Lehnstuhl neben dem Schemel bereitgehalten wurde. Der Generalanwalt fürchtete die Verteidigungsrede Cagliostros und hatte ein kurzes Scheinverhör angeordnet. Das genügte zur Erfüllung der Formalitäten. Endlich konnte sich der Gerichtshof zur Beratung zurückziehen.
Es war ein heißer Junitag. Während der Kardinal auf den Terrassen der Conciergerie Spazierengehen durfte und sich mit Cagliostro über den vermutlichen Erfolg ihrer Verteidigungen unterhielt, während Oliva in ihrer Zelle das neugeborene Kind liebkoste, während Reteau von Villette mit trockenen Augen an den Nägeln seiner geschickten Finger kaute und in Gedanken die ihm von Herrn von Crosne für sein 156
freimütiges Geständnis versprochenen Taler zählte und sie den Leiden seiner Gefangenschaft gegenüberstellte, versuchte sich Jeanne la Motte zu beruhigen. Seitdem sie in der Conciergerie untergebracht war, lebte sie in der Gesellschaft der Familie des Gefängniswärters. Sie hatte sich bei seiner Frau und ihrem Sohn beliebt gemacht. Es war ihr gelungen, diesen Leuten zu beweisen, daß die Königin im höchsten Grade strafbar sei. Aber als sie nach der letzten Verhandlung zurückkehrte, begegnete ihr verlegenes Schweigen. Vergebens versuchte sie, die Frau des Gefängniswärters auszufragen. Sie erhielt nur nichtssagende Antworten. Am nächsten Morgen hoffte Jeanne, ihre Freunde würden sie mit der Nachricht ihrer Freisprechung und Glückwünschen besuchen. Als nichts geschah, wurde sie unruhig. Da es ihr nicht gestattet war, die Conciergerie zu verlassen, um sich zu erkundigen, lauschte sie am Fenster angstvoll auf jedes Geräusch. Plötzlich hörte sie Geschrei, Jubel, Bravorufe und Händeklatschen. Sie hörte die Vorübergehenden sprechen: »Ein herrlicher Tag für den Kardinal«, sagte eine laute Stimme. »Er hat Glück gehabt.« »Ein herrlicher Tag für den Kardinal?« Jeanne überlegte. Der Kardinal ist also freigesprochen. Sie eilte hastig in die Stube des Gefängniswärters und fragte seine Frau: »Was höre ich? Der Kardinal hat Glück gehabt? Ich bitte Sie, sagen Sie mir, was für ein Glück.« »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Frau. Jeanne sah sie mißtrauisch an. »Haben Sie doch die Güte und fragen Sie Ihren Mann.« Die Frau gehorchte aus Gefälligkeit. Doch der Gefängniswärter erwiderte, daß er von nichts wisse. »Vielleicht wollte der Vorübergehende nur sagen«, meinte die gutmütige Frau, »daß es ein schöner Tag für den Kardinal wäre, wenn er freigesprochen würde.« Jeanne preßte ihre Finger krampfhaft aneinander. »Sie glauben, daß man ihn freisprechen wird?« »Es ist möglich.« »Und ich?« 157
»Madame … Sie auch. Warum nicht?« Jeanne trat wieder ans Fenster. Einige Frauen gingen vorüber. Sie hatten Festhauben auf und große Blumensträuße in den Händen. »Ich schenke ihm meinen Strauß!« rief eine der Frauen. »Dieser herrliche Mann! Wenn ich kann, werde ich ihn küssen.« »Ich auch«, sagte eine andere. »Er muß küssen«, lachte eine dritte. »Immer der Kardinal«, murmelte Jeanne, »immer er. Er ist freigesprochen. Er ist freigesprochen!« »Aber Madame, warum sollte denn dieser arme Mann nicht freigesprochen und in Freiheit gesetzt werden!« riefen wie aus einem Mund der Gefängniswärter und seine Frau. »Sie verstehen mich nicht«, gab Jeanne zurück. »Natürlich soll der Kardinal freigesprochen werden. Aber ich möchte endlich auch etwas über mich erfahren.« In diesem Augenblick strömte die Menge vor der Conciergerie unter ohrenbetäubendem Geschrei zusammen. Im hellen Sonnenschein erkannte Jeanne die beiden Männer, denen die Menge zujubelte. Bleich und erschrocken über seinen Triumph und seine Volkstümlichkeit blickte der Kardinal ernst um sich. Der Graf von Cagliostro lächelte heiter den Jubelnden zu. Jeanne erschrak. »Sie sind schon frei? Und ich weiß noch nichts. Warum sagt man mir nichts?« Neue Ausbrüche des Volkes erregten die Aufmerksamkeit Jeannes. In einem langsam davonfahrenden Fiaker erkannte sie Oliva, die ihr Kind dem Volk lächelnd zeigte. Als Jeanne alle anderen Angeklagten frei, glücklich und gefeiert sah, wurde sie noch unruhiger. »Warum gibt man mir keinen Bescheid?« fragte sie immer wieder. »Beruhigen Sie sich, Madame«, beschwichtigte sie der Gefängniswärter. »Beruhigen Sie sich doch.« Jeanne schrie ihn an: »Es ist unmöglich, daß Sie nichts wissen. Sie wissen es, Sie wissen es! Warum sagen Sie nichts? Sie sehen doch, wie ich leide.« »Madame, es ist den Angestellten des Gefängnisses verboten, die Urteilssprüche bekanntzugeben.« 158
»Ist mein Urteil so hart, daß Sie nicht wagen, es mir zu sagen?« »Ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie mich nicht verraten.« »Ich schwöre es Ihnen, aber sprechen Sie.« »Kardinal von Rohan ist freigesprochen.« »Ich weiß.« »Der Graf von Cagliostro ist freigesprochen.« »Ich weiß, ich weiß!« »Die Anklage gegen Mademoiselle Oliva wurde zurückgezogen.« »Weiter, weiter!« drängte Jeanne. »Reteau von Villette ist verurteilt … zu den Galeeren.« »Und ich? Und ich?« fragte Jeanne außer sich. »Sie wurden zur Verbannung verurteilt«, sagte der Gefängniswärter leise. Jeanne tat, als fiele sie in Ohnmacht und stürzte rücklings zu Boden. Dabei dachte sie zitternd vor Freude: »Die Verbannung, das ist die Freiheit, das ist der Reichtum. Das ist alles, was ich mir erträumt habe … ich habe gewonnen.« Sie traf in Gedanken schon ihre Vorbereitungen. Ich bin verbannt. Das heißt, ich habe das Recht, meine Millionen mitzunehmen und im Winter unter den Pomeranzenbäumen von Sevilla und im Sommer in Deutschland oder England zu leben. Jung, schön und berühmt wie ich bin, wird mich nichts und niemand davon abhalten zu leben, so wie es mir beliebt. Sie dachte an Reteau von Villette und lächelte ohne Mitleid vor sich hin. Armer Kerl, er hat für alle bezahlt.
Gemeinsam mit dem Gefängniswärter und seiner Frau nahm Jeanne das Mittagessen ein. Sie war im Grunde ihres Herzens so glücklich, daß es ihr weh tat, ihre Freude verbergen zu müssen. Sie blickte erstaunt auf, als der Gefängniswärter mit gezwungener Feierlichkeit sagte: »Madame, wir haben den Befehl, die Personen, über deren Schicksal das Parlament entschieden hat, nicht mehr hier zu behalten.« Gut, dachte Jeanne, er kommt meinen Wünschen entgegen. Sie er159
hob sich. »Ich möchte Sie nicht zu einer Übertretung Ihrer Vorschriften veranlassen. Ich gehe in meine Zelle zurück.« Sie wandte sich um. »Aber wo wird mir mein Urteil verlesen werden und wann?« »Man wartet vielleicht, bis Madame in ihre Zelle zurückkehrt.« »Er will mich entfernen.« Jeanne fühlte die Beklemmung eines unbestimmten Angstgefühls. Als sie auf den Gang trat, warteten acht Soldaten auf sie. Der Gefängnisschließer ging ihr voran. »Bringen Sie mich in meine Zelle zurück?« fragte Jeanne mit zitternder Stimme, die doch sicher klingen sollte. »Ja, Madame«, erwiderte er. Sie ließ sich in ihre Zelle einsperren und dankte dem Schließer freundlich, als er sich entfernte. Bald hörte sie wieder Schritte und das Klirren des Schlüsselbundes. Der Schließer trat ein. »Madame, haben Sie die Güte, mir in die Kanzlei zu folgen.« »Was will man in der Kanzlei von mir?« fragte Jeanne beunruhigt. »Ihr Verteidiger möchte Sie sprechen.« »In der Kanzlei? Warum nicht hier? Er hat doch Erlaubnis, mich hier aufzusuchen.« »Madame, er hat Briefe von Versailles erhalten und will Ihnen davon Kenntnis geben.« Jeanne fiel auf, wie unglaubwürdig diese Antwort war. Sie hörte nur ›Briefe von Versailles‹. Sollte die Königin zu ihren Gunsten vermittelt haben? Aber wozu sich den Kopf zerbrechen? Es würde sich ohnehin alles herausstellen. Sie folgte dem Schließer. »Wohin gehen Sie denn?« fragte sie. »Die Kanzlei ist doch dort rechts.« »Kommen Sie, Madame, kommen Sie nur«, gab er freundlich zurück und führte sie nach links. »Ihr Verteidiger erwartet Sie hier.« Er öffnete eine mit Eisen beschlagene Tür, trat zuerst ein und zog die Gefangene nach. Jeanne hörte, wie die äußeren Riegel der schweren Tür geräuschvoll geschlossen wurden. Sie wagte nicht, ihren Wächter zu fragen, wo sie war. Sie fühlte die Kälte und die Feuchtigkeit des Kerkers und überwand mit letzter Kraft die Angst. »Mein Herr, was tun wir beide hier? Wo ist mein Verteidiger, zu dem Sie mich führen wollten?« 160
Der Schließer antwortete nicht. Er drehte sich um, als wollte er nachsehen, ob die Tür verschlossen sei. Jeanne folgte ängstlich seiner Blickrichtung. Es kam ihr der Gedanke, sie habe es wie in Schauerromanen mit einem jener Kerkermeister zu tun, die aus wilder Leidenschaft für die schöne Gefangene ihre Liebe als Preis für die Befreiung verlangen. Sie ging lächelnd auf den Schließer zu. »Mein Herr, haben Sie mir etwas zu sagen? Sie haben einen sehr unfreundlichen Ort für eine Verabredung mit mir gewählt.« Der Schließer antwortete nicht. Er setzte sich in die Ecke des Kerkers und wartete. Plötzlich öffnete sich eine Tür, die Jeanne nicht bemerkt hatte. Stufen führten in einen schlecht erleuchteten Gang. Am Ende dieses Ganges sah Jeanne, die sich auf die Zehenspitzen stellte, einen öffentlichen Platz und eine bedrohlich wartende Menschenmenge. Jeanne hatte keine Zeit zu überlegen, was das bedeutete, denn in diesem Augenblick kamen drei Männer die Stufen herauf. Hinter ihnen erhoben sich vier Bajonette, schimmernd, scharf und unheimlich. Die Tür schloß sich hinter den drei Männern. »Madame«, fragte einer der drei, er war völlig schwarz gekleidet und behielt seinen schwarzen Hut auf dem Kopf, »nennen Sie sich Jeanne von Valois, und sind Sie die Gattin von Antoine Nicolas Graf von la Motte?« »Ja, mein Herr.« »Sind Sie in Fontette am 22. Juli 1756 geboren?« »Ja, mein Herr. Doch wozu diese Fragen?« »Madame, ich bin der Gerichtsschreiber des Hofes.« »Jetzt erkenne ich Sie.« »Ich bin verpflichtet, Ihnen den Urteilsspruch zu verlesen, der in der Sitzung vom 31. Mai 1786 gegen Sie gefällt worden ist.« Jeanne hatte unbeschreibliche Angst. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Sie sind der Kanzleischreiber Breton«, stellte sie fest und fragte: »Wer sind diese beiden Herren?« Der Gerichtsschreiber wollte antworten, aber der Schließer flüsterte rasch: »Sagen Sie es ihr nicht.« Jeanne hatte das Flüstern verstanden. Sie betrachtete die beiden anderen Männer genau und wunderte sich über den eisengrauen Rock 161
und die eisernen Knöpfe des einen, das behaarte Wams und die Pelzmütze des anderen. Sie sah, daß er auch ein ledernes Schurzfell trug, das versengt und mit Blut und Öl befleckt zu sein schien. Sie wich entsetzt zurück. Der Gerichtsschreiber trat näher. »Knien Sie nieder, Madame.« »Ich niederknien, ich, eine Valois, niederknien?« »So lautet der Befehl, Madame«, sagte der Gerichtsschreiber und verbeugte sich. »Aber mein Herr«, Jeanne lächelte verzweifelt, »man kniet nur nieder, um öffentliche Abbitte zu tun.« »Sehr richtig, Madame.« »Aber man leistet doch nur Abbitte, wenn man zu einer entehrenden Strafe verurteilt worden ist. Soviel ich weiß, gilt die Verbannung im französischen Gesetz nicht als entehrende Strafe.« »Madame, ich habe Ihnen nicht gesagt, daß Sie zur Verbannung verurteilt worden sind.« Der Gerichtsschreiber zuckte die Achseln. »Sie werden die Art Ihrer Verurteilung erfahren, wenn Sie den Spruch anhören. Ich muß Sie bitten niederzuknien.« »Nie! Nie!« »Zwingen Sie uns nicht, Gewalt anzuwenden.« Jeanne schrie noch lauter: »Nie! Nie!« Der Gerichtsschreiber gab seinen Begleitern ein Zeichen. Sie packten Jeanne unter den Armen und schleppten sie in die Mitte des Gewölbes. »Es ist ganz unnütz, so zu schreien«, sagte der Gerichtsschreiber. »Sie werden das Urteil nicht verstehen, das ich jetzt verlesen muß, wenn Sie schreien.« Jeanne keuchte. »Erlauben Sie doch, daß ich stehend zuhöre, und ich werde nicht schreien.« »Wenn eine Schuldiggesprochene zur Brandmarkung verurteilt ist, dann ist die Strafe entehrend, und die Schuldige muß knien.« »Zur Brandmarkung!« Jeanne schrie so gellend, daß sie die beiden Gehilfen des Gerichtsschreibers wieder packten. Der eine hielt ihre Füße wie in einem 162
Schraubstock fest. Der andere hob sie gemeinsam mit dem Schließer an den Handgelenken auf und rief dem Gerichtsschreiber zu: »Verlesen Sie Ihren Spruch, sonst werden wir mit dieser Furie nie zu Ende kommen.« Jeanne sträubte sich mit übermenschlichen Kräften. »Nie werde ich mir einen Spruch anhören, der mich zur Ehrlosigkeit verurteilt.« Sie übertönte den Gerichtsschreiber mit so lauten Schreien, daß sie kein Wort von dem verstand, was er verlas. Der Gerichtsschreiber rollte seine Papiere wieder zusammen und steckte sie in die Tasche. Jetzt schwieg Jeanne, um neue Kräfte zu sammeln. In die plötzliche Stille sprach der Gerichtsschreiber gelassen die übliche Schlußformel: »Das Urteil wird unverzüglich auf dem öffentlichen Richtplatz vollstreckt.« »Öffentlich!« brüllte Jeanne auf. Der Gerichtsschreiber wandte sich an den Mann mit dem Lederschurz. »Meister von Paris, ich übergebe Ihnen die Verurteilte.« »Wer ist dieser Mann?« fragte Jeanne atemlos. »Der Henker«, erwiderte der Gerichtsschreiber und verbeugte sich wieder. Der Henker und sein Gehilfe versuchten, Jeanne zu bändigen. Sie wehrte sich wie ein wildes Tier. Endlich gelang es ihnen, Jeanne durch die Türe auf den Platz zu schleppen, den Jeanne schon gesehen hatte. Den Soldaten gelang es nur mühsam, die auf dem Justizhof wartende Menschenmenge im Zaum zu halten. Auf einem acht Fuß hohen Gerüst stand ein schwarzer Pfahl mit eisernen Ringen. Das Gerüst hatte kein Geländer. Die Bajonette der Soldaten umgaben es. »Sie kommt! Da ist sie!« rief die wartende Menge. Schimpfworte gegen Jeanne wurden laut und auch unpassende Bemerkungen über die Richter. In der ersten Reihe der Zuschauer standen die eifrigsten Verehrerinnen des Kardinals von Rohan. Als Jeanne auf den Platz geschleppt wurde, empfingen sie wütende Schreie. »Nieder mit der la Motte! Tod der Fälscherin!« Jeanne war mit ihren Kräften am Ende, aber nicht mit ihrer Wut. Sie 163
hatte die Mißhandlungen und Schläge der beiden Männer, die sie festhielten, ertragen, aber die Beschimpfungen der Leute ertrug sie nicht. Ihre helle und durchdringende Stimme klang auf: »Wißt ihr, wer ich bin? Wißt ihr, daß ich königliches Blut in den Adern habe? Wißt ihr, daß man in mir nicht eine Verbrecherin, sondern eine Nebenbuhlerin bestraft, eine Mitwisserin, die eingeweiht war in die Geheimnisse von …« »Nehmen Sie sich in acht«, flüsterte ihr der Gerichtsschreiber zu. Jeanne drehte sich um und sah die Peitsche in der Hand des Henkers. Bei diesem Anblick vergaß sie ihren Haß und ihren Wunsch, die johlende Menge für sich zu gewinnen. Sie sah nur noch die Schande, sie fürchtete nur noch die Schmerzen. »Gnade!« rief sie flehend. »Gnade!« Sie umklammerte die Knie des Henkers und griff nach seiner Hand. Doch er hob den anderen Arm und zog die Peitsche leicht über ihre Schulter. Jetzt hatte man sie auf das Gerüst gehoben. Sie stürzte sich auf den Gehilfen des Henkers, um ihn beiseite zu drängen. Sie wollte vom Gerüst springen. Sie wich zurück und erstarrte. Der Mann hielt ein rotglühendes Eisen in der Hand, das er soeben aus der Kohlenglut gezogen hatte. Er hob das Eisen. Die verzehrende Hitze hielt Jeanne zurück. »Ich werde gebrandmarkt!« schrie sie. »Gebrandmarkt!« Und während die auf dem Gerichtshof Anwesenden aus tausend Kehlen riefen: »Ja, ja gebrandmarkt!« stöhnte sie: »Zu Hilfe!« Jeanne versuchte, die Stricke zu zerreißen, mit denen ihre Hände gebunden wurden. Der Henker riß ihr Kleid auf. Sein Gehilfe reichte ihm das glühende Eisen. Jeanne wehrte sich mit letzter Kraft. Die Anwesenden, denen die verzweifelte Zähigkeit dieser Frau zu imponieren begann, wurden unruhig. Es herrschte eine bedrohliche Unordnung und Verwirrung. »Macht ein Ende!« rief eine gebieterische Stimme aus der ersten Reihe der Zuschauer. Der Henker schien diese Stimme zu erkennen. Mit einem energischen Griff drückte er Jeanne nieder und bog ihren Kopf zur Seite. Sie riß sich noch ein letztes Mal hoch. Ihre scharfe Stimme übertönte den Lärm. »Ihr verteidigt mich nicht, ihr laßt mich martern! Wenn ich al164
les gesagt hätte, was ich über die Königin weiß … ich wäre gehenkt worden, aber nicht entehrt!« Sie konnte nicht weitersprechen. Mehrere Polizeiagenten sprangen aufs Schafott und knebelten Jeanne. Sie übergaben sie keuchend, blutend und mit geschwollenem Gesicht dem Henker, der ihren Kopf zur Seite bog. Sein Gehilfe reichte ihm noch einmal das glühende Eisen. Jeanne wandte sich wie eine Rasende um – sie bot dem Henker ihre Brust. Zischend und rauchend traf das Eisen ihre zarte Haut. Jeanne brach ohnmächtig zusammen. Ihre Glieder zuckten nicht mehr. Sie hatte die Besinnung verloren. Der Henker hob sie auf seine Schulter und stieg unsicheren Schrittes die Schandleiter hinab. Das Volk verlief sich schweigend, nachdem es sich davon überzeugt hatte, daß es kein Nachspiel zu diesem furchtbaren Drama gab.
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Vom Ausbruch der französischen Revolution bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die große französische Revolution I Im Namen des Königs von Frankreich waren die wahren Schuldigen der skandalösen Halsbandaffäre zu strengen Strafen verurteilt worden. Die öffentlich geführte Untersuchung hatte klargestellt, daß der Name der Königin verbrecherisch mißbraucht worden war. Aber in den achtzehnhundert Kaffeehäusern von Paris wurde das Urteil des königlichen Gerichtshofes nicht ernst genommen. Bürger und Bürgerinnen spotteten über Ludwig XVI. und Marie-Antoinette. Sie verhöhnten den Ehemann, der sich benommen hatte, als wären ihm Hörner aufgesetzt worden, und seine Frau, deren Liebesabenteuer von einer Doppelgängerin erlebt worden waren. Nur wenige glaubten, daß die ›Österreicherin‹, wie Marie-Antoinette abfällig genannt wurde, an den schamlosen Machenschaften im Park von Versailles ganz so unbeteiligt gewesen war, wie die hohen Richter festgestellt hatten. Selbst jene, die der Tochter Maria Theresias keine unmittelbare Schuld gaben, beschuldigten sie widersinnigerweise als den Anlaß eines Skandals, durch den das Königtum und sein Hofstaat in nur allzu peinlicher Bloßstellung ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden waren. Eine gefährliche Auffassung sickerte durch und wurde zum allgemeinen Gesprächsstoff: Wenn Marie-Antoinette auch nicht die Geliebte des Kardinals von Rohan geworden war, wie er selbst es geglaubt hatte, dann wäre es doch in Anbetracht der zutage geförderten Umstände möglich gewesen, daß sie es hätte sein können. Eine Kö167
nigin war ebenso wie jede andere Frau: nichts Menschliches war ihr fremd! Der Nimbus der Krone war befleckt. Aber die drohenden Wolken hätten sich vielleicht verzogen, wenn nicht die wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich und die Ungeschicklichkeit und Unzulänglichkeit der Staatsmänner den krassen Gegensatz zwischen dem Notstand des größten Teils der Bevölkerung und dem Luxus des Königshofs und der Höflinge so bedenklich dargetan hätten. Erst hatte der Finanzminister Turgot den Schwierigkeiten des Staatsschatzes durch Reformen entgegenzuarbeiten versucht, aber die zaghaft unternommene Umschichtung der Steuerverteilung hatte nicht genügt. Die Parlamente hatten sich gegen die Freigabe des Getreidehandels und Einführung der Gewerbefreiheit gestellt. Turgot wurde entlassen. Sein Nachfolger, der in Genf geborene, überaus reiche Bankier Necker, hatte durch seinen berühmt gewordenen ›Compte rendu‹, den ersten veröffentlichten Rechenschaftsbericht, die hoffnungslose Finanzlage vorübergehend vertuscht. Er war gestürzt worden, weil er sich gegen das kriegerische Eingreifen Frankreichs gegen England in Amerika ausgesprochen hatte, und wartete um so zuversichtlicher auf seine große Gelegenheit, als der neue Finanzminister Calonne, kurz nach der Halsbandaffäre, das verheerende Defizit des Staatshaushalts bekanntgab, nachdem er einen Handelsvertrag mit England geschlossen hatte. Die katastrophalen Ziffern Calonnes prägten sich der Bevölkerung ein, während der von ihm erhoffte Aufschwung des Geschäftslebens nicht eintrat. Die Herabsetzung der Einfuhrzölle auf englische Waren führte zu einer Industriekrise und dadurch zur Arbeitslosigkeit in Frankreich. Verhängnisvolle Mißernten und Überschwemmungen erschütterten die Landwirtschaft. Angesichts dieses Elends erschienen die Reformvorschläge der Physiokraten, die Handelsfreiheit und Steigerung landwirtschaftlicher Erzeugung predigten, sinnlos. Gab es keine besseren und gerechteren Maßnahmen, um die Kluft zwischen Armut und Reichtum zu überbrücken? Hungerndes, arbeitsloses Volk auf der einen Seite und auf der anderen übersättigte, im Überfluß schwelgende Aristokraten, deren ausschweifendes Leben vom königlichen 168
Hof durch glanzvolle Feste und willkürliche Geldzuwendungen gefördert wurde! Mit der Vermehrung der Pariser Kaffeehäuser, in denen die durch Druckschriften angeregten Meinungen der Bevölkerung ungehindert ausgetauscht wurden, ging die Gründung von Lese- und Debattiergesellschaften Hand in Hand. Es gab auch immer mehr Freimaurerlogen, Gemeinschaften mit freiheitlichen, weltverbessernden Bestrebungen, die ihren Ursprung in den mittelalterlichen Steinmetzbrüderschaften hatten und die geistige Elite aller Gesellschaftsschichten unter ihren mysteriösen Sinnbildern vereinigten. Dem ›Groß-Orient von Frankreich‹, dem die obersten Freimaurer angehörten, unterstanden nicht weniger als 629 Logen. Trotz der emsigen Tätigkeit der Polizei wurde den leitenden Staatsmännern nicht ganz klar, was die geheimnisvollen Zusammenkünfte der Freimaurer bezweckten. Niemand wagte einzugreifen oder gar durchzugreifen, um so weniger, als nicht nur Herzöge und Grafen, sondern auch königliche Prinzen den Logen angehörten. Die Masse der anonymen Kaffeehausbesucher, die zahllosen Mitglieder der Lese- und Debattiergesellschaften und die Angehörigen der Freimaurerverbände waren unsichtbare, voneinander unabhängig wirkende Kräfte, die je nach ihrem Belieben und Ermessen – und oft, ohne es zu wissen und zu wollen – die Handlungen der königlichen Verwaltung förderten oder hemmten. Die Anzeichen einer aufrüttelnden Umwälzung machten sich an allen Orten Frankreichs unterirdisch bemerkbar, obwohl das öffentliche Leben, abgesehen von gelegentlichen örtlichen Unruhen, seinen ungestörten Fortgang zu nehmen schien. Ahnungslos waren nur der König und die Königin. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, die einander so wenig verstanden und so wenig zu sagen hatten, waren sich in der einen Überzeugung einig, daß sie beide guten Willens waren und ihr Bestes taten, um eine Revolution, die sich so bedrohlich ankündigte, unmöglich zu machen.
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II Der in fürstlichen Geschlechterfolgen vererbte und anerzogene Grundsatz, die bestehende Herrschaft für alle Fälle zu erhalten und im günstigsten Fall zu erweitern, war in der Gedankenwelt der zeitgenössischen Machthaber so unverrückbar verwurzelt, daß nur wenige Herrscher der unerbittlich nahenden Zeitenwende Rechnung zu tragen bereit waren. Friedrich der Große, der sein vergrößertes Königreich durch die zielbewußt durchgeführte innere Kolonisation, durch die Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Einführung eines strengen Steuersystems zu einer geschlossenen Einheit gemacht hatte, war gestorben, ehe er seinen geistigen Freisinn in soziale Maßnahmen umsetzen konnte. Er hatte seine politische Sendung im Sinne der Bedeutung Preußens erfüllt und das habsburgische Übergewicht im deutschen Reich verhindert. Noch ein letztes Mal hatte er seinem österreichischen Nachbarn, Josef II. die eiserne Faust gezeigt und den Plan des Kaisers vereitelt, Bayern gegen die Niederlande einzutauschen. Nach dem Tod Friedrichs war Friedrich Wilhelm II. von Preußen bemüht, in den Fußstapfen des Onkels zu bleiben. Er versuchte, ein Bündnis Josefs II. mit der Kaiserin von Rußland zu hintertreiben und unterstützte die unzufriedenen Magnaten Ungarns, als der Kaiser und Katharina II. es unternahmen, die Türkei zu erobern und aufzuteilen. Er selbst wollte behalten, was er ererbt hatte. Er wollte nicht mehr und begriff nicht ganz, warum sein habsburgischer Nachbar sich immer wieder vornahm, ›Großes zu leisten‹. Josef II. war sehr krank. Er fühlte den Tod nahe und hatte sich seit seiner frühesten Jugend gewünscht, ein unüberwindlicher Kriegsmann zu sein wie Friedrich II. Er hatte 300.000 Mann auf die Beine gebracht. Sie waren prächtig ausgerüstet. Er war des Sieges über den Sultan ge170
wiß. Aber während die Truppen Katharinas erfolgreich waren und den russischen Einfluß auf der Balkanhalbinsel sicherten, kämpften die Heere Josefs unglücklich gegen die Türken, obwohl der Kaiser persönlich zur Armee gekommen war. Er kehrte niedergeschlagen nach Wien zurück und verbat sich ›die Errichtung eines Triumphbogens‹, als es General Laudon, dem altbewährten Feldherrn, der schon Maria Theresia gedient hatte, gelang, Belgrad zu erobern. Aber die Türken hatten außer den unermüdlichen Guerillabanden, außer Krankheitsepidemien, die ein Drittel der kaiserlichen Truppen aufzehrten, in Friedrich Wilhelm II. von Preußen einen mächtigen Bundesgenossen gewonnen. Gleichzeitig brach ein Aufstand in den österreichischen Niederlanden aus. Alle Abgründe öffneten sich vor Josef II. Er bemühte sich verzweifelt, Frieden zu schließen, mit den Türken – und mit seinen eigenen Untertanen, die er nicht ›glücklich‹ gemacht hatte. Er bereitete ein ›königliches Reskript‹ vor, das alle seine Verordnungen aufhob, und begründete die von ihm selbst vorgenommene Zerstörung seines Lebenswerkes mit den Worten: »Da Wir jetzt davon vergewissert sind, daß ihr die alten Verwaltungsformen lieber wollt und in ihnen eure Glückseligkeit sucht und findet, so wollen Wir nicht zögern, darin euren Wünschen zu entsprechen.« Josef war verwirrt. Er verstand nicht, wieso es gekommen war, daß all sein guter Wille verschwendet und vergebens gewesen sein sollte, wo doch andere und viel geringere Herrscher es erreicht hatten, Ruhmestitel zu erringen, wie der Markgraf Karl Friedrich von Baden, der gepriesen wurde als ›der beste Fürst, der vielleicht in Deutschland lebt‹, weil er die Leibeigenschaft in seinem Reich aufgehoben hatte, oder der Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, der persönliche Freund seines in den Adelsstand erhobenen Ministers Johann Wolfgang von Goethe, der den Atem der Zeit verspürte. Hatte Josef nicht alle Freiheiten begünstigt und sogar Papst Pius VI. die Stirn gezeigt, als der Heilige Vater nach Wien gekommen war, um den Widerruf der kaiserlichen Glaubensreformen zu erwirken? Josef hatte gelästert: »Jede Armee hat ihre Artillerie«, als die Kirchenglocken die Ankunft des Papstes einge171
läutet hatten. Aber jetzt lastete die Hand Gottes schwer auf dem Kaiser. Er hatte seine Macht falsch eingesetzt. Seine Untertanen an allen Ecken und Enden der gewaltigen habsburgischen Besitzungen hatten sich gegen ihn empört, und auch der Thron seines Schwagers Ludwig XVI. und Marie-Antoinettes, seiner liebsten Schwester, die er so oft beraten hatte, war in Gefahr. Vielleicht waren die Völker noch nicht reif für Reformen, und der König von Frankreich handelte falsch, wenn er so viel menschliche Anteilnahme und Schwäche zeigte. War es nicht besser und richtiger, dem Volk die starke Hand zu zeigen – zum Wohle des Volkes?
III Hunger und Arbeitslosigkeit hatten in Paris zu bedrohlichen Straßenunruhen geführt. Ein ständiger Zuzug von immer mehr Arbeitslosen aus den Provinzen, die in ihrer Verzweiflung zu Bettlern und Dieben geworden waren, machte die Stadt unsicher. Aber die erregten Zusammenrottungen waren nicht das schlimmste. Die gestörte Ordnung konnte durch die königlichen Garden und die Polizei gewaltsam wiederhergestellt werden, aber das waren doch nur vorübergehende Maßnahmen. Sie vermehrten die Unruhestifter, anstatt sie zu vermindern. Es mußte etwas Entscheidendes geschehen, um die Wirtschaft zu heben, damit der Anlaß der allgemeinen Unzufriedenheit aus der Welt geschafft werde. In Brandschriften, die zu Tausenden verteilt wurden, hieß es, es müsse etwas ›im Interesse des Königs‹ geschehen: »Pariser, steht auf gegen den Klerus und den Adel, die miteinander verschworen sind! Duldet nicht, daß ungefähr sechshunderttausend Menschen vierundzwanzig Millionen das Gesetz geben. Es ist unanständig, von Freiheiten, Immunitäten, Privilegien zu sprechen, wenn der Staat in Not ist, wenn der größte Teil der Nation im Elend ist. Schart euch um den König! Erhaltet die Unabhängigkeit seiner Krone!« Die Rechtschaffenheit Neckers war Ludwig XVI. in guter Erinne172
rung geblieben. Der Genfer Bankier war so reich, daß er keine Zuwendungen für sich selbst oder seine Familie verlangte. Er war sogar bereit, dem völlig erschöpften Staatsschatz zwei Millionen aus seinem eigenen Vermögen vorzuschießen, wenn er wieder Finanzminister würde. Er konnte Geld beschaffen. Das schien das wichtigste zu sein, wenn man über den furchtbaren Winter hinwegkommen wollte. Necker wurde ernannt und befürwortete die Einberufung der Generalstände und die Verdoppelung der Abgeordnetenzahl des dritten Standes, der sich aus Kaufleuten, Unternehmern, Steuerpächtern, Landwirten, Advokaten und niedrigeren Beamten zusammensetzte, um mit ihrer Unterstützung seine geplanten Reformen durchführen zu können. So saßen sechshundert Abgeordnete des dritten Standes, die sich nicht auf die Vorrechte der Geburt berufen konnten oder wollten, je dreihundert Abgeordneten aus dem hohen Adel und der hohen Geistlichkeit gegenüber. Eine Veröffentlichung unter dem Titel ›Katechismus des dritten Standes zum Gebrauch für alle Provinzen Frankreichs‹ erregte die allgemeine Aufmerksamkeit. Da hieß es: »Was bist du? Ein Bauer. Was ist ein Bauer? Ein Mensch, ein Bürger, ein Angehöriger des dritten Standes. Was ist der dritte Stand? Der Nährvater des Staates, sein edelster Verteidiger. Inwiefern ist er der Nährvater? Durch den Ackerbau, den Handel, die Gewerbe, die nur er allein zum Vorteil aller betreibt.« Bald darauf erschien eine neue sensationelle Flugschrift unter dem Titel ›Was ist der dritte Stand?‹ Der Text begann mit den Worten: ›Der Plan dieser Schrift ist sehr einfach. Wir haben uns drei Fragen zu stellen: Was ist der dritte Stand? Alles. Was ist er in der Staatsordnung bisher gewesen? Nichts. Was begehrt er? Etwas zu sein.‹ Etwas zu sein – der dritte Stand war etwas, wenn er die Mehrheit in der Zusammenkunft der Generalstände im Versailler Schloß gewann – und die Mehrheit war durch adlige und geistliche Überläufer in das Lager des dritten Standes bald herbeigeführt. Jetzt erklärte die Mehrheit der Generalstände, daß sie sich als ›die Nationalversammlung‹ betrachtete. Der bedeutendste Sprecher der aus allen Berufen gewählten Vertre173
ter des dritten Standes war der hocharistokratische Graf Mirabeau. Der lebensvolle Sohn des berühmten Auslegers der physiokratischen Lehre war von seinem Vater, dem Marquis Mirabeau, so streng erzogen worden, daß er mit allen Kräften nach einer Plattform gesucht hatte, um endlich zu Wort zu kommen. Noch vor seiner Wahl zum Abgeordneten des dritten Standes hatte er seinem Onkel geschrieben: »Der Tag ist gekommen, da auch das Talent eine Macht ist.« ›L'ami des hommes‹ – Freund der Menschheit, hatte der ältere Mirabeau sein bekanntestes Werk betitelt. Der jüngere Mirabeau wollte der Freund der Menschheit nicht nur auf dem Papier sein. Er verlautbarte, daß er das durch seine Taten beweisen werde. Die Gewalt seiner Rede und der Zauber seiner liebenswürdigen Persönlichkeit täuschten die Anhänger Mirabeaus über seine wahren Absichten hinweg. Der von seinem Vater so kurz gehaltene Graf wollte gut leben, besser als bisher und besser als alle anderen Aristokraten, die nicht soviel Verstand hatten wie er. Er wollte das Leben genießen und Macht gewinnen, um das Leben noch besser genießen zu können. Aus der Sicht seiner hohen Abkunft und auch der Niederungen, in die er durch seinen überschäumenden Leichtsinn so oft geraten war, erkannte er die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage Frankreichs. Er ermaß die Reichweite seines Talents und setzte alles daran, es seinem Programm gemäß zur Macht umzugestalten. Da Mirabeau in der Nationalversammlung, zu deren Konstituierung er beigetragen hatte, erst nicht so laut zu Wort kam, wie er gewünscht hatte, schrieb er noch unbarmherziger, als er gesprochen hätte. Seine heftigen Schriften und unermüdlichen Vermittlungsbemühungen machten ihn zum einflußreichsten Abgeordneten des dritten Standes. Er wäre viel lieber hochbezahlter Minister des Königs gewesen, als für die Masse der Untertanen einzutreten, die er vertrat. Das hätte seine Geldnot beendet und vielleicht auch seinen Ehrgeiz befriedigt. Da er aber bei Hof unerwünscht war, verausgabte er sein gewaltiges Temperament und seine überwältigende Persönlichkeit zugunsten des Volkes. Als die von den Abgeordneten des dritten Standes gefaßten Beschlüsse der Nationalversammlung, die sich 174
als ›Verfassunggebende Versammlung‹ bezeichnete, vom König verworfen wurden und die Abgeordneten aufgefordert wurden, die Versammlung aufzulösen und sich zu entfernen, anstatt eine neue Verfassung für Frankreich auszuarbeiten, rief Mirabeau unter dem dröhnenden Beifall seiner Anhänger: »Wir werden nur der Gewalt der Bajonette weichen!« Dann beantragte er die Unverletzlichkeit der Abgeordneten der Nationalversammlung und stellte sich selbst unter den Schutz der ›Majestät der Nation‹.
In den weiten, mit Marmor und Bronze geschmückten Sälen des Königsschlosses von Versailles fühlten sich nur wenige Abgeordnete des dritten Standes behaglich. Sie waren Außenseiter, kaum Zaungäste des höfischen Lebens, das seinen festlichen, förmlichen Fortgang nahm, während sie über die Abschaffung der Privilegien berieten, die die mit Perücken und Seidengewändern bekleideten Damen und Herren genossen, die in den Prachtgemächern des ungeheuren Palastes zu Hause waren. Versailles war so geräumig, daß es beinahe zehntausend Höflingen und Hofangestellten Quartier geben konnte. Zu den wenigen, die Zutritt sowohl zu den köstlichen Galerien des Schlosses als auch zum Ratssaal der Nationalversammlung hatten, in der Vertreter des dritten Standes ausharrten, gehörte der Marquis de Lafayette, der durch seine Teilnahme an den amerikanischen Befreiungskriegen berühmt geworden war. Lafayette hatte, kurz bevor die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ausgearbeitet und George Washington zum ersten Präsidenten erwählt worden war, seinem väterlichen Freund in Übersee geklagt, daß ›mourir pour la liberté‹ – für die Freiheit zu sterben – keineswegs der Wahlspruch diesseits des Weltmeeres sei. Lafayette glaubte nicht, daß das französische Volk sich dazu aufschwingen werde, eine Verfassung zu schaffen, die der der Vereinigten Staaten auch nur im entferntesten gleichkommen könne. Er schrieb an Washington: »Das 175
Volk ist so stumpfsinnig, daß ich krank darüber bin und die Ärzte mir das Blut auffrischen mußten.« Jenseits des Ozeans übertrug die Verfassung dem Kongreß der Vereinigten Staaten, der aus Senat und Repräsentantenhaus bestand, die gesetzgebende Gewalt und das Recht, über Krieg und Frieden, Heer und Flotte, über Verträge mit fremden Staaten, Münzen, Maße und Gewichte, Zölle und Steuern zu entscheiden. Der Kongreß hatte die gesetzgebende, der Präsident, der auf vier Jahre gewählt wurde, die ausübende Gewalt. Der Präsident ernannte die Beamten und leitete die Regierung nach den Beschlüssen des Kongresses. Er hatte so lange ein Veto, einen aufschiebenden Einspruch, gegen diese Beschlüsse, bis der Kongreß mit Zweidrittelmehrheit entschied. Der Präsident war Oberbefehlshaber der Armee im Krieg, während über die Rechtssprechung ein Oberstes Gericht wachte. Eine so geartete republikanische Präsidentschaft für Frankreich war nicht im Sinne des hochgeborenen Marquis de Lafayette, der im Grunde seines Herzens königstreu war. Er wollte die ›Rosinen aus dem Kuchen der amerikanischen Verfassung‹ – unter Beibehaltung des Königtums. Darüber beriet er sich mit dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Frankreich, Thomas Jefferson, dem Schöpfer der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, und verlas während einer Rede in der Nationalversammlung ›die erste europäische Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger‹. Die wesentlichsten Sätze dieser historischen Erklärung sind zu allgemeingültigen Grundsätzen geworden: »Die Natur hat die Menschen frei und gleich geschaffen … Jeder Mensch kommt mit unveräußerlichen und unvorgreiflichen Rechten zur Welt. Solche Rechte sind: die Freiheit seiner Meinungen, die Sorge für seine Ehre und sein Leben, das Recht des Eigentums, die freie Verfügung über seine Person, seine Arbeit und alle seine Fähigkeiten, die Mitteilung seiner Gedanken auf jedem möglichen Weg, das Streben nach Wohlfahrt und der Widerstand gegen Unterdrückung. Die Ausübung seiner natürlichen Rechte hat keine Schranken als die, welche allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß derselben sichern. 176
Kein Mensch kann Gesetzen unterworfen werden, die nicht von ihm oder seinen Vertretern gebilligt, vorher bekanntgemacht und gesetzmäßig angewandt worden sind … Die Grundlage jeder Souveränität beruht in der Nation …« Die Stimme Lafayettes in der Nationalversammlung hatte um so mehr Gewicht, als er mit Hinblick auf seine militärischen Dienstleistungen in Amerika zum Oberbefehlshaber der Nationalgarde ernannt worden war – der Miliz, deren Männer die dreifache Kokarde trugen, das Blau und Rot der Stadt Paris, das Lafayette um das Weiß des bourbonischen Königsbanners vermehrt hatte, um zu bekunden, daß die Nationalgarde eine königliche Volkstruppe sei. Es gab noch eine andere Armee des Volkes, die, wie Camille Desmoulins, ein junger Rechtsanwalt, der sich als Volksredner hervortat, erklärte, »noch nicht ins Lager eingerückt ist. Aber angeworben und schlagkräftig ist sie schon, die Armee der Beobachtung. Sie zählt mehr als hundertfünfzigtausend Mann. Was mich betrifft, so fühle ich den Wunsch, für die Freiheit zu sterben. Aber es gibt noch einen mächtigeren Beweggrund für diejenigen, die durch den Begriff Freiheit nicht hingerissen werden. Nie hat dem Sieger eine reichere Beute gewinkt. Vierzigtausend Paläste und Schlösser, zwei Fünftel des Gutsbesitzes Frankreichs warten auf die Verteilung. Das wird der Lohn der Tapferkeit sein.« In der Umgebung des Palais Royal, in Spielhöllen, Bordellen, Kneipen und Kaffeehäusern trafen sich täglich und nächtlich Zehntausende von Besuchern, Neugierige und Landstreicher, die dabeisein wollten, wenn Neuigkeiten mitgeteilt, Zeitungsartikel vorgelesen, Reden gehalten und politische Anträge gestellt wurden, die an bedenkenloser Hemmungslosigkeit nichts zu wünschen übrigließen. Gegen die auf und ab wogenden Menschenmassen war die Polizei machtlos, und die dienstfreien Soldaten, die zum Palais Royal kamen, hörten mit Begeisterung, daß das Gesetz fallen müsse, das den Gemeinen und Unteroffizieren bürgerlichen Standes die Möglichkeit abschnitt, auch nur den Leutnantsrang zu erlangen. Warum sollten sie dienen, wenn sie selbst nach jahrzehntelangem Dienst einem blutjungen Aristokraten gehor177
chen mußten, den nur ›der Zufall der Geburt‹ zum Offizier gemacht hatte? Als das Gerücht, daß Necker entlassen und die Nationalversammlung aufgelöst worden sei, das Palais Royal erreichte, sprang Camille Desmoulins auf einen Tisch und rief in die Menge: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« Mit erhobener Pistole setzte er hinzu: »Nehmen wir alle grüne Kokarden. Es ist die Farbe der Hoffnung. Sie sollen mich nicht lebend fassen. Ruhmvoll werde ich sterben.« Sechstausend Menschen hatten Desmoulins zugehört. Sie besorgten sich Kokarden. Sie bildeten einen Zug. Als sie von königlichen Truppen aufgehalten wurden, bewarfen sie sie mit Steinen und gaben Schüsse aus ihren Pistolen ab. Der Militärkommandant, Baron Besenval, zog es vor, seine Truppen abzuziehen und Paris sich selbst zu überlassen, um nicht eine ›Bartholomäusnacht der Patrioten‹ herbeizuführen, wie Camille Desmoulins es vorausgesagt hatte. Mit dem Rückzug der Truppen waren der Anarchie keine Schranken gesetzt. Unter fürchterlichem Getümmel brachen am Morgen des 14. Juli 1789 etwa vierzigtausend Menschen in das Arsenal der Invaliden ein und raubten zweiunddreißigtausend Flinten. Die so Bewaffneten formierten sich und eilten, wie später festgestellt wurde, nach vorher entworfenen Plänen in die Richtung der Bastille, des berüchtigten königlichen Gefängnisses. Tausende von Stimmen schrien: »Zur Bastille! Zur Bastille!« Soldaten, die zu den Aufrührern übergingen, beteiligten sich am Sturm auf die Festung. Nach kurzem Kampf fiel das gefürchtete Sinnbild der unumschränkten Königsgewalt und ging in Flammen auf. Der Kommandant der Bastille, der verhandeln wollte, wurde von einem wüsten Haufen, der mit Beilen, Heugabeln und eisenbeschlagenen Stöcken bewaffnet war, ermordet. Sein Kopf wurde abgeschlagen und auf einer Pike im Triumph davongetragen. Auch die Besatzung, die sich ergeben wollte, fand keine Gnade. Zwei Kanoniere wurden an einer Laterne aufgehängt. In einer besonderen Schrift feierte Desmoulins den improvisierten Galgen als ›die Königin der Laternen‹. Er legte ihr Worte in den Mund: »Tapfere Pariser … ihr habt mich für immer 178
berühmt gemacht unter den Laternen … Was ist die Laterne des Diogenes im Vergleich mit mir? Er suchte einen Menschen und ich habe zweihunderttausend gefunden!« Diese Ankündigung des Massenmordes, die in zahllosen drohenden Rufen: »Die Aristokraten an die Laterne!«, laut wurde, ergänzte in der gleichen Nacht ein Volksgericht im Palais Royal. Ächtungslisten gegen die ›Volksfeinde‹ wurden angefertigt. Wer waren ›die Volksfeinde‹? Die Aristokraten. Sie alle sollten hängen!
Die Erstürmung und der Brand der Bastille waren das Fanal. Jetzt begann die große Französische Revolution mit der ›großen Furcht‹. In allen Provinzen brachen Bauernaufstände aus, Schlösser wurden zerstört, die Archive mit den Eintragungen der bäuerlichen Pflichtleistungen vernichtet. Die Aufrechterhaltung der königlichen Staatsgewalt in Frankreich war nur noch Schein. In Paris und in den meisten Städten der Provinzen entpuppten sich Lese- und Debattiergesellschaften als ständige Komitees des revolutionären Bürgertums, die mit Hilfe der Nationalgarden Lafayettes die Ordnung vorübergehend herstellten. Inzwischen waren Tausende von Adligen ausgewandert. Die Brüder des Königs, die Grafen von Provence und von Artois, flohen erst nach Turin, um eine Gegenrevolution vorzubereiten. Ihre Gesandten eilten an die Fürstenhöfe Europas, um um Hilfe zu werben, während in Versailles die Nationalversammlung die Abschaffung der Leibeigenschaft, der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, des ausschließlichen Jagdrechts, die Abschaffung aller Geldvorrechte und Steuerbefreiungen, die Zulassung aller Bürger zu Ämtern in Staat und Heer forderte. Im wesentlichen waren die Beschlüsse der Nationalversammlung die Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung im Königreich. Aber da die von Lafayette proklamierte Souveränität der Nation in die neue Gesetzgebung aufgenommen wurde, war dadurch die Aufhebung der erblichen Monarchie gesetzlich anerkannt. Die Aufrechterhaltung des Königtums war daher ein offener Widerspruch zu den von der Natio179
nalversammlung als Grundlage der Verfassung erhobenen Menschenund Bürgerrechten, deren Inhalt in drei begeisterten Leitworten zusammengefaßt wurde: ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹.
›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ als Grundsatz für das bessere Leben des einzelnen und als Ziel der Gesamtheit verkündeten die Abgeordneten der Nationalversammlung im Ratssaal von Versailles, während einige Hunderte Meter von ihnen entfernt Ludwig XVI. und Marie-Antoinette noch immer ihren in der Etikette erstarrten Hof hielten. Einige Male hatte der schwerfällige König von dem Veto Gebrauch gemacht, das ihm gemäß dem zum Vorbild genommenen Einspruchsrecht des Präsidenten der Vereinigten Staaten zugestanden worden war. Aber sein Veto hatte keine Wirkung; jeder Einwand, den er machte, wurde verworfen. Er hatte Necker auf Veranlassung der engsten Freunde der Königin entlassen. Jetzt fehlte ihm der verläßliche Ratgeber. Marie-Antoinette galt überhaupt als die Urheberin der Fehler Ludwigs XVI. und nahm doch immer wieder auf seinen ausdrücklichen Wunsch an den Staatsgeschäften teil. In seinen Erinnerungen beschrieb Baron Besenval Marie-Antoinette, bei der er in diesen verhängnisvollen Monaten beinahe täglich vorsprechen mußte: »Der Königin fehlt es nicht an Geist. Aber in bezug auf Unterricht ist ihre Erziehung Null gewesen. Außer einigen Romanen hat sie nie ein Buch aufgemacht und sich nicht einmal die Kenntnisse angeeignet, die man sich in der Gesellschaft erwerben kann. Sowie ein Gegenstand eine ernste Farbe annimmt, zeigt sich Langeweile in ihrem Gesicht, und das Gespräch friert ein. Ihre Unterhaltung ist unzusammenhängend, hüpfend und flattert hin und her. Ohne irgendeinen Anflug persönlicher Heiterkeit ergötzt sie sich am Tagesklatsch, an kleinen, geschickt verschleierten Dreistigkeiten und namentlich am Lästern, wie es bei Hof üblich ist. Das macht ihr Freude.« So wurde Marie-Antoinette von den aufgeklärten Höflingen beurteilt. Ein zeitgenössisches Spottbild stellte Ludwig XVI. in einem ver180
gitterten Vogelbauer mit einer großen Feder eifrig schreibend dar. Sein Schwager, der Kaiser, fragt ihn: »Was treibst du denn?« Ludwig erwidert: »Ich sanktioniere.« Der König von Frankreich sanktionierte tatsächlich ein Gesetz nach dem andern. Jede Unterschrift, die er setzte, wirkte wie die sprichwörtliche Säge, die den Ast absägt, auf dem er saß. Er hatte allerdings die Hoffnung, daß ihm Leopold II. der Bruder Marie-Antoinettes, der als Nachfolger Josefs II. Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation und Haupt des Hauses Österreich geworden war, zu Hilfe kommen würde, bevor es zu spät war.
IV Leopold II. hatte sich schon lange vor dem Tod Josefs auf sein hohes Amt vorbereitet. Er hatte seinen ausgeglichenen, klaren Verstand in der Verwaltung des Großherzogtums Toskana und seine diplomatische Eignung in der Schaffung von Familienbeziehungen bewiesen, die er dazu ausnützen wollte, einen von den Nachbarn Österreichs ungefährdeten Einheitsstaat zu schaffen. Er war auch mit dem greisen ehemaligen Berater Maria Theresias, dem erfahrenen Fürsten Kaunitz, einig, ein Parlament aus Vertretern aller habsburgischen Länder einzuberufen und eine allgemeine Staatsreform auszuarbeiten, die der Zeitströmung entgegenkommen sollte. Ein einziger Diplomat nahm es auf sich, den neuen Kaiser klar zu beurteilen. Der preußische Gesandte in Wien, Graf Schulenburg, schrieb seinem König, Friedrich Wilhelm II.: »Seien Sie gegen diesen Fürsten auf der Hut. Unter den gewinnendsten Formen verbirgt er den verschlagensten Charakter der Welt. Er weiß seinen Machiavelli auswendig.« Die gründliche Menschenkenntnis und überlegene Staatskunst Leopolds bewährte sich in seiner vorsichtigen Befriedung der durch die ungenügend vorbereiteten, sprunghaften Reformen seines Vorgängers aufgerührten Erbländer. Er nahm den Völkern die ihnen von Josef 181
gewährten Freiheiten nicht. Er beschränkte sie nur unmerklich und scheinbar im Sinne des allgemeinen Wohls. Die Pressefreiheit wurde durch Zensurverordnungen ergänzt, die gegen die Verbreitung ›ärgerlicher Dichtungen und unverschämter Verdrehungen‹ gerichtet waren, kurz: ›gegen die Störung der öffentlichen Ruhe‹. Leopold trat nur gegen jene Feinde des Thrones und der Religion auf, ›die das Glück der guten Bürger durch die leichtfertigen und spitzfindigen Vernünfteleien der Philosophie des gegenwärtigen Jahrhunderts stören wollen‹. Während er die Ungarn ›gnädig befriedete‹, errichtete er für die südslawischen Untertanen der ungarischen Krone eine eigene ›illyrische Hofkanzlei‹ und ließ eine österreichische Armee in die Niederlande einrücken, um, wie er seiner Schwester Marie Christine, der Königin von Neapel schrieb, »eine Explosion zu verhüten. Man muß auf der Hut sein, keine Gelegenheit geben, wenn sie aber ausbricht, die Bewegungen mit militärischer Strenge unterdrücken!« Leopold II. sperrte seine Grenzen gegen die Auswirkungen der Französischen Revolution nicht nur durch die Zensur. Er baute den geheimen Polizeidienst Josefs gewaltig aus, mit dem Ziel, ›alle für den Staat verdächtigen oder gefährlichen Personen auszuforschen, alle beim Volk einschleichende Unzufriedenheit oder gar aufkeimende Meuterei zu entdecken‹. Mit Umsicht und Übersicht bereitete er einen Kreuzzug aller Herrscher gegen die Revolution vor und nützte die allgemeine Angst der deutschen Reichsfürsten vor den ›Volkskräften‹ zu einer so gewaltigen Stärkung der Macht des Kaisertums aus, wie keiner seiner Vorgänger sie erreicht hatte. Die Religionsverschiedenheiten, die die Fürstenthrone einst so erschüttert hatten, zählten nicht mehr. Nur das monarchische Interesse des einzelnen Herrschers galt noch, die Souveränität gegenüber dem Volk. Dazu brauchten die deutschen Fürsten ein Oberhaupt, einen mächtigen Kaiser, der nicht nur über einen tatkräftigen, verzweigten Polizeiapparat verfügte, sondern auch ein gewaltiges Heer ins Feld stellen konnte. Worauf wartete Leopold noch? Die Ereignisse in Frankreich überstürzten sich. Die gesellschaftliche Umschichtung, die von den Aus182
schüssen der Nationalversammlung am Beratungstisch sorgfältig ausgearbeitet und zum Teil schon verwirklicht worden war, genügte den erregten Pariser Volksmassen nicht. Sie waren mißtrauisch geworden. Die Nähe der Nationalversammlung und Ludwigs XVI. in einer von königlichen Garden bewachten Umfriedung erschien ihnen verdächtig. Versailles war nicht nur das Königsschloß, es war ein Begriff, die Verkörperung der Herrschergewalt. Die Pariser wollten sowohl den König als auch die Nationalversammlung in ihrer Mitte. Ein abenteuerlicher Zug von Tausenden entfesselter, schwerbewaffneter Männer und Frauen nötigte Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, ihren Hofstaat aus Versailles in die Tuilerien zu verlegen. Dabei kam es nur zu vereinzelten Gewalttätigkeiten. Noch immer wachte die Nationalgarde Lafayettes über die Ordnung und war bemüht, Blutvergießen zu vermeiden. Ein grundlegendes Gesetz nach dem andern besänftigte die aufgeregten Gemüter. Erst wurden die Kirchengüter verstaatlicht und zu Nationalgütern erklärt, deren Wert und Ertrag die Grundlage für die Ausgabe von Papiergeld gewährleisten sollten. Diese Assignaten sollten das staatliche Defizit decken. Für kurze Zeit schien es auch, als ob das neue Zahlungsmittel die verfallene Wirtschaft wirklich beleben würde. Dann aber wurden immer mehr Assignaten gedruckt und die Nationalgüter schuldenfrei für den Verkauf freigegeben. Der erbliche Adel wurde abgeschafft, die Güter der Emigranten wurden eingezogen und veräußert. Im kurzfristigen Geldtaumel vollzog sich ein tiefgreifender Besitzwechsel. Es gab zahllose Neureiche, die persönliches Interesse an der Erhaltung der revolutionären Zustände hatten und bereit waren, alles, was sie waren und was sie erworben hatten, daranzusetzen, damit eine Gegenrevolution nicht wirksam sein könne. In der Nationalversammlung hatten sich zwei mächtige Parteien gebildet: Die ›Girondisten‹, die dem besitzenden Bürgertum angehörten und gegen das Übergewicht von Paris gegenüber den Provinzen, besonders ihrer Provinz, der Gironde, eintraten, und die ›Montagnards‹, die sich ›Bergpartei‹ nach den höchsten Bänken des Sitzungssaals nannten und die die Abgeordneten der Stadt Paris zu ihren Wortführern machten. Neue Männer wurden bekannt und ihre Namen zu Sinnbildern, 183
vor allem der eindrucksvolle Redner Georges Danton, ein Freund Desmoulins', der ehemalige Arzt Marat und der Anwalt Robespierre aus Arras. Die Angehörigen der Parteien rekrutierten sich aus den Mitgliedern der ehemaligen Lese- und Debattiergesellschaften, die sich als ›Klubs‹ bezeichneten. Da gab es auch die ›Gesellschaft der Verfassungsfreunde‹, die sich im Dominikanerkloster von St. Jakob versammelte und zahllose als ›Jakobiner‹ bezeichnete Parteigänger in den Provinzen hatte. Eine rote phrygische Mütze wurde das Sinnbild des Jakobinerklubs, dem auch Lafayette angehörte, bis er vor den geplanten Ausschreitungen doch zurückscheute. Die ›Gesellschaft der Freunde der Menschen- und Bürgerrechte‹ gab ihren Mitgliedern den Namen ›Cordeliers‹, während sich die Abgeordneten, die noch Verbindung mit dem Königshof hielten, im ›Klub der Feuillants‹ trafen. Das ruhelose Kommen und Gehen der einzelnen Volksvertreter, ihre eiligen Zusammenkünfte und ehrgeizigen Versuche, einander in der Ausnützung ihrer Machtvollkommenheit zu beschränken, um die Macht für sich selbst zu gewinnen, wurde durch immer angriffslustigere, hetzerische Zeitungsveröffentlichungen angeregt. Die Spaltungen und Streitigkeiten zwischen den Parteien verschärften sich. Sie waren sich nur in einem einig: den König zu zwingen, sich zu den Grundsätzen der Revolution zu bekennen. Ludwig XVI. mußte unterschreiben, was sie ihm zur Unterschrift vorlegten. Sie waren die Drahtzieher, er war die Marionette. Die Absicht Mirabeaus, seinen wachsenden Einfluß dem Thron, den auch er untergraben hatte, zur Verfügung zu stellen, scheiterte an der Empörung Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes über seinen Ausspruch: »Il faut décatholiser la France.« Seine offen gegen die Kirche gerichtete Haltung machte es dem allerchristlichsten König unmöglich, die Dienste Mirabeaus öffentlich anzunehmen. Aber man konnte ihm Geld zuschanzen, um ihn zu beschwichtigen. Mirabeau brauchte es, um seine ausschweifende Lebensführung bestreiten zu können. Seine Geldnot nahm zu, und er konnte seine Verschwendungssucht nicht beherrschen. Er wurde von den Jakobinern mit Ehrenämtern 184
überhäuft und beklagte sich mit grausamer Selbstverspottung: »Was ist Ehre ohne Geld?« Er mußte etwas Entscheidendes tun, um sich aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Der kaiserliche Gesandte, Graf Mercy, der Leopold II. ausführlichen Bericht erstattete, schrieb warnend: »Mirabeaus Popularität beunruhigt mich«, obwohl ihm bekannt war, daß der ›Volksgraf‹ gegen gute Bezahlung eine Gegenverfassung vorbereitete, deren Durchführung einer Gegenrevolution gleichgekommen wäre. Ludwig XVI. zögerte die schon vorbereitete Flucht ins Ausland hinaus in der Erwartung, daß die Tätigkeit Mirabeaus diesen verzweifelten Schritt erübrigen würde. Als Mirabeau, der offene Feind des Königtums, auf den es die letzte Hoffnung setzte, plötzlich schwer erkrankte und unter fürchterlichen Schmerzen im Unterleib starb, trauerte nicht nur der König von Frankreich, sondern auch der Jakobinerklub, in dessen Namen Robespierre die feierliche Totenrede hielt, während alle Abgeordneten der Nationalversammlung und die Nationalgarde am Leichenbegängnis teilnahmen. Der Zeitpunkt der nun endgültig geplanten Flucht Ludwigs XVI. und seiner Familie aus Frankreich war ein wohlgehütetes Geheimnis Leopolds II. der die Absicht hatte, den König und die Königin an der Spitze einer kaiserlichen Armee wieder nach Paris zurückzuführen. So wollte Leopold dartun, daß er nicht nur der Römische Kaiser Deutscher Nation, sondern der legitime Oberherr aller Christen war, das Oberhaupt aller Fürsten gegen die Revolution. Von der beabsichtigten Flucht Ludwigs XVI. wußte auch König Gustav von Schweden. Die Tochter Neckers hatte den schwedischen Gesandten in Paris, den Baron Stael, geheiratet und war die Vermittlerin der Beziehung des jungen Grafen von Fersen zu Marie-Antoinette. Der schwedische Offizier stellte sich der Königin zur Verfügung, um alle Vorbereitungen zur Flucht zu treffen. War er ihr Liebhaber? Die Eingeweihten waren davon überzeugt. Aber seine eigenen Aufzeichnungen sprechen nicht dafür. Graf Fersen schrieb über Marie-Antoinette: »Die Königin ist sehr graziös und sehr liebenswürdig, aber durchaus nicht hübsch.« Das ist kaum die Sprache eines von Verliebtheit Überwältig185
ten, der sein Leben für die Geliebte einsetzen wollte. Viel wahrscheinlicher ist, daß Graf Fersen im Auftrag Gustavs III. handelte, der dem ›Bruder auf dem Thron‹ durch einen ergebenen Offizier helfen wollte. Außer diesen Mitwissern waren nur die unmittelbar daran beteiligten Persönlichkeiten in das Vorhaben des Königs von Frankreich eingeweiht. Sie waren des Erfolges gewiß, und am 5-Juli 1791 bekam Kaiser Leopold II. die Nachricht, daß die Flucht Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes aus Frankreich geglückt sei und sie sich auf niederländischem Boden befänden. Er schrieb seiner Schwester Marie Christine, die die Flüchtlinge in Brüssel erwartete: »In diesem Moment ist der König frei … Ich bevollmächtige dich, allen Generälen zu befehlen, daß die Truppen sich in Bewegung setzen, an die Grenze rücken und in Frankreich einmarschieren …« Der großangelegte Plan Leopolds zur Niederschlagung der Revolution, zur ›Ausrottung aller für den Staat verdächtigen oder gefährlichen Personen‹ wurde durch den Sohn eines Postmeisters namens Drouet vereitelt. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette verließen Paris heimlich und flohen in Richtung der österreichischen Niederlande. Kaiserliche Truppen standen bereit, das königliche Ehepaar aufzunehmen. Da erkannte Drouet den König und die Königin von Frankreich trotz ihrer Verkleidung in der kleinen Stadt Varennes. Sie wurden aufgehalten, nach Paris zurückgeführt und waren längst schon gefangen, als Leopold II. die Nachricht von ihrer Befreiung erhalten hatte.
V Die ›Pillnitzer Deklaration‹, die nach einer freundschaftlichen Zusammenkunft des Kaisers mit Friedrich Wilhelm II von Preußen veröffentlicht wurde, legte die Richtlinien der beiden Herrscher fest. Sie enthielt ihren Entschluß, zugunsten einer den Rechten des Souveräns und den Interessen der Nation gleichmäßig angemessenen monarchischen Regierung in Frankreich einzuschreiten. Da die emigrierten Brüder Lud186
wigs XVI. sich an der ›Pillnitzer Deklaration‹ beteiligt hatten, wurde sie in Frankreich als Herausforderung empfunden. Die Nationalversammlung setzte die schon ausgearbeiteten Bestimmungen in Kraft. Ludwig XVI. wurde gezwungen, den Eid auf die Verfassung, die eine konstitutionelle Monarchie vorsah, zu leisten. Der König erklärte die Revolution für beendet. Vielleicht hätten sich die französischen Revolutionäre, die die Nationalversammlung in die ›Gesetzgebende Versammlung‹ umwandelten, damit begnügt, das schon Erreichte nur noch durch Paragraphen zu sichern, wenn nicht Leopold II. entschlossen gewesen wäre, die Revolution und ihre Folgen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Er lud den preußischen General Bischofswerder nach Wien ein, um alle Schritte für eine gemeinsame Kriegsführung gegen Frankreich vorzubereiten. Am Tag nach der Ankunft des Generals wurde Leopold von einem so heftigen Fieber befallen, daß er das Bewußtsein verlor und nicht wiedergewann. Sein Tod beendigte die Hoffnung, die internationale Weltmacht des Hauses Österreich auf den Trümmern der Revolution wieder zu errichten. Sein ältester Sohn Franz, über den sich der Erzieher bitter bei Leopold beklagt hatte, wurde sein Erbe. In dem noch erhaltenen ungewöhnlich ehrlichen Bericht über die Ausbildung des Erzherzogs stand, daß die Apathie und Geistesträgheit des jungen Franz nicht auszurotten seien: »Bei jeder Gelegenheit steht er wie ein Klotz, der mitten ins Zimmer gepflanzt wurde. Er läßt Arme und Beine mit zerstreuter Miene hängen, und so würde er bis zum nächsten Morgen verharren, wenn man ihn nicht sich zu rühren hieße …« Auch als Franz am Türkenfeldzug teilnahm, rührte er sich nicht. Damals schrieb Kaiser Josef II. seinem Bruder Leopold in Florenz: »Vor dem Feind war dein Sohn gerade wie du ihn im Zimmer siehst: Das Pfeifen der Kugeln ließ ihn keine Miene verändern.« Diesen unerschütterlichen Gleichmut zeigte Franz II. auch während der ersten zwei Jahrzehnte seiner Regierungszeit, die vom Lärm des Kanonendonners erfüllt war und vom unaufhörlichen Pfeifen der Kugeln. Und wenn er nicht gleichmütig war, zeigte sich bei ihm ein tiefer 187
Pessimismus. Die ständige Redensart des Kaisers den Ereignissen gegenüber war: »Es wird schon alles schiefgehen.« Die mutlose, lebensverneinende Einstellung Franz II. hatte auch ihre Vorteile. Nur ein Herrscher, der nichts Gutes erwartete, konnte sich mit so regungsloser Teilnahmslosigkeit in sein Schicksal fügen und das Schicksal seiner nächsten Angehörigen betrachten. Es berührte Franz kaum, daß die ›Gesetzgebende Versammlung‹ in Paris ihm den Krieg erklärte. Er gab seinen Generälen den Befehl, »es gut zu machen«, und verließ sich mehr auf seine preußischen Verbündeten als auf ihre Tüchtigkeit. Während die vereinigte preußisch-österreichische Armee in den Niederlanden aufmarschierte, wurde in ganz Frankreich ein neues Lied gesungen, das die Begeisterung des Volkes erweckte: Die Marseillaise. Dieser zur Hymne erhobene Gesang war kein geplanter Aufruf, zu den Waffen zu greifen und den Kampf gegen die ›Tyrannen‹ aufzunehmen, sondern eine musikalische und dichterische Improvisation, durch die die militärische und politische Improvisation angefeuert wurde, die Frankreich aus einem revolutionären in ein kriegerisches Land verwandelte. Selbst der gefangene König spielte sich als Patriot auf. Aber die Kundgebungen Ludwigs XVI. in diesem Sinn führten nur dazu, daß Tausende und aber Tausende bewaffneter ›Sansculotten‹, die sich widerspruchsvoll so nannten, da sie es endlich dazu gebracht hatten, Hosen zu erbeuten, in die Tuilerien eindrangen und ihn zwangen, die Jakobinermütze aufzusetzen. Durch die rote phrygische Kopfbedeckung statt der ihm von der Verfassung zugestandenen Krone war der König entwürdigt, das Königtum zur Farce geworden. Lafayette, der Befehlshaber eines französischen Heeres an der niederländischen Grenze geworden war, eilte nach Paris, um den Thron zu retten. Die Mehrheit der Gesetzgebenden Versammlung befahl ihm, zur Armee zurückzukehren. Angesichts der Lage, die hoffnungslos schien, gehorchte Lafayette zwar dem Befehl, ging aber zu den Österreichern über in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe das Königtum zu retten, zu dessen Vernichtung er selbst beigetragen hatte. Er wurde von 188
den österreichischen Generälen mit allen Ehren empfangen – und auf Befehl des Kaisers länger als ein Jahrzehnt im grauenhaften Gefängnis auf dem Spielberg in Böhmen gefangengehalten. Ermutigt durch die Tatsache, daß der bekannteste General der französischen Truppen übergelaufen war, erließ der Oberbefehlshaber der verbündeten Herrscher ein Manifest, das keinen Zweifel über das Ziel des Feldzugs offenlassen sollte: die Wiederherstellung der Autorität des entmachteten Königs, Ludwigs XVI. und Strafmaßnahmen gegen die Verletzer der Königsgewalt. Diese Drohungen lösten in Frankreich eine ungeheure Bewegung aus. In jedem Dorf erklang die Sturmglocke. Die mit der ›Trikolore‹ geschmückten revolutionären Bürgermeister und Abgeordneten gewannen Bauern und Bürger mit dem Ruf: »Das Vaterland ist in Gefahr!«, als Freiwillige für die Revolution. Ein neuer Volkssturm brach aus. In den Pariser Vorstädten sammelte sich die Menge, brach in die Tuilerien ein und metzelte die Schweizergarden nieder. Ludwig XVI. mit seiner Familie wurde in einem Staatsgefängnis, dem ›Temple‹, gefangengesetzt. Die beiden Männer des Tages, Danton und Marat, veranlaßten Massenverhaftungen. Wer mit dem Königtum sympathisierte, wurde festgenommen. Die sogenannten ›Septembermorde‹ begannen. In wenigen Wochen wurden mehr als sechzehnhundert Adlige und Priester getötet. Die Gesetzgebende Versammlung führte das allgemeine Wahlrecht ein. Der Nationalkonvent trat zusammen und beschloß die Abschaffung des Königtums. Nichts sollte von der Vergangenheit bleiben. Auch der Kalender mußte einer neuen Zeitrechnung weichen, in der die Monate neue Namen erhielten. »Das Vaterland ist in Gefahr!« Diese unaufhörlich wiederholte Warnung schien alle gewalttätigen Maßnahmen zu rechtfertigen. Aber die Kanonade von Valmy, die übertrieben als Schlacht bezeichnet wurde, war kaum mehr als eine militärische Demonstration an einem regnerischen Tag. Sie wurde durch die unbegründete Flucht der kaiserlichen Truppen zu einer Katastrophe. Der Revolutionsgeneral Dumouriez besiegte die Österreicher bei Jemappes und besetzte die Niederlande. Bald nach diesen Siegen begann der Prozeß des Volkes gegen Lud189
wig XVI. dem landesverräterische Beziehungen zu seinen emigrierten Brüdern und den kriegführenden Monarchen nachgewiesen wurden. Entgegen dem französischen Strafgesetzbuch, das für ein Todesurteil drei Viertel der Stimmen des Gerichts voraussetzte, wurde die einfache Mehrheit für ausreichend erklärt. Ludwig XVI. wurde mit nur einer Stimme Mehrheit verurteilt, hingerichtet zu werden. Die Laternen von Paris hatten ihre ihnen von Desmoulins zuerkannte Bestimmung erfüllt. Die improvisierten Galgen waren durch eine Maschine abgelöst worden, die ›Guillotine‹, das mechanisch funktionierende Fallbeil, das der französische Arzt Guillotin erfunden hatte. Aber weder der Tod Ludwigs XVI. auf dem Schafott noch die Guillotinierung Marie-Antoinettes beruhigten die von Not und Elend bedrohten Massen. Alle Herrscher der Erde hatten sich gegen die Revolution vereinigt und beschlossen, Frankreich auszuhungern. Die unmittelbare Folge war eine Verschärfung der revolutionären Maßnahmen. Die lebensvollen, noch immer mit bürgerlichen, ja mit aristokratischen Lebensformen liebäugelnden ›Girondisten‹, an deren Spitze Danton stand, wurden von Maximilian Robespierre entmachtet. Der Abgeordnete von Arras, der sich selbst als unbestechlich bezeichnete, übernahm die Leitung des neugegründeten ›Wohlfahrtsausschusses‹ und verfügte durch den Nationalkonvent die ›Levée en masse‹, die allgemeine militärische Dienstpflicht, zur Verteidigung Frankreichs. Ein bedeutender Mann wurde Kriegsminister, ohne es dem Namen nach zu sein. Für seine Tätigkeit erhielt er während der Revolution den ruhmreichen Titel: ›Organisator des Sieges‹. Er hieß Lazare Carnot und war geschulter Ingenieuroffizier. Der durchgreifenden Gliederung der Massenheere, die er schuf, waren die künftigen unerhörten Erfolge des damals noch als Artillerieoffizier tätigen Napoleon Bonaparte zu danken, der sich bei der Eroberung von Toulon auszeichnete, während die Schreckensherrschaft Robespierres in ganz Frankreich wütete. Ohne sich Diktator zu nennen, hatte Robespierre eine Diktatur errichtet und räumte mit eiserner Folgerichtigkeit und unstörbarem Fleiß alle Verdächtigen aus dem Wege. Und für verdächtig wurde er190
klärt, wer Robespierre auch nur im mindesten in die Quere kam. Verdienste um die Revolution galten nicht. Das mußten auch Danton und Desmoulins erfahren. Sie wurden verhaftet und hingerichtet. Marat hätte das gleiche Schicksal ereilt, wenn er nicht vorher ermordet worden wäre. Robespierre, auf dessen Antrag Ludwig XVI. verurteilt worden war, war der ungekrönte König der Revolution. Er wollte auch keinen Gott über sich und führte den ›Kult des höchsten Wesens‹ ein. Im Namen des Vaterlands fanden in ganz Frankreich Massenhinrichtungen statt. Nicht nur in Paris, sondern auch in der Provinz wurden Tausende erschossen und ertränkt. Das Revolutionstribunal, dem Robespierre vorstand, fällte ein Todesurteil nach dem andern. Niemand war seines Lebens sicher. Jeder, ob er Adliger oder Arbeiter, ob er Bürger oder Bauer war, mußte der Verhaftung und der Verurteilung zum Tode gewärtig sein, während ganz Frankreich, von Feinden umstellt, einer belagerten Festung glich. Endlich bildete sich unter der Führung Talliens eine Gruppe von Abgeordneten, die beschlossen, dem Schrecken ein Ende zu setzen. Robespierre wurde im Sitzungssaal des Pariser Stadthauses überfallen. Der Schwerverwundete und seine engsten Mitarbeiter wurden hingerichtet. Die große Französische Revolution war zu Ende. Aber ihre Auswirkungen begannen erst.
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Der kleine Korporal I Am Ende seiner Laufbahn faßte Napoleon Bonaparte den Ursprung und das Wesen seiner weltgeschichtlichen Stellung zusammen: »Ein Mann ist nur ein Mann. Tausend Jahre müssen kommen und gehen, bevor die Umstände, die mich zum Mittelpunkt des Geschehens machten, einen anderen Mann aus der Menge herausholen werden, um ein ähnliches Geschehen herbeizuführen … Die Leute waren der Anarchie müde. Sie wollten sie beendigen. Ich wiederhole: Ein Mann ist nur ein Mann. Seine Begabung und Mittel bedeuten nichts, wenn die Umstände ihn nicht begünstigen …« Diese reife Erkenntnis des ersten Kaisers der Franzosen, den seine Soldaten zärtlich ihren ›kleinen Korporal‹ nannten, war das letzte Ergebnis des fabelhaften Selbstunterrichts, den sich Napoleon auf seinem Lebensweg, in allen Stufen seines Aufstiegs, unaufhörlich erteilte. Er war auf Korsika als Sohn des bescheidenen, aber wendigen Rechtsanwalts Carlo Buonaparte zur Welt gekommen. Seine Mutter, Madame Laetitia, war mit Paoli, dem General der für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Korsen, eng befreundet gewesen. Diese Beziehung hatte bald nach der Geburt Napoleons ein Ende, als die Insel aus genuesischem Besitz in französischen überging. Paoli floh nach England. Aber Napoleon blieb dem Einfluß des temperamentvollen Freiheitskämpfers auch noch unterworfen, nachdem er in die nur Adligen vorbehaltene französische Kriegsschule aufgenommen worden war. Aus Brienne schrieb er verzweifelt: »Ich ward geboren, als mein Vaterland verendete. Dreißigtausend Franzosen auf unsere Küste gespien, den 192
Thron der Freiheit mit Strömen von Blut besudelnd – das war der hassenswerteste Anblick, den meine ersten Blicke trafen. Das Schreien der Sterbenden, das Stöhnen des Unterdrückten, die Tränen der Verzweiflung umgaben meine Wiege seit meiner Geburt …« Nicht viel später leistete Napoleon den Schwur: »Ich werde den Franzosen so viel Schlimmes antun als ich nur kann!« In der Familie Buonaparte sprach man Französisch mit starkem italienischem Einschlag. Die Frage, zu welcher Nation beziehungsweise zu welchem Sprachgebiet sich Menschen umstrittener Abstammung bekennen sollten, wurde im Laufe der Geschichte von ihnen selbst zumeist nach der günstigsten Gelegenheit entschieden. Das Italien des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts war ein Mosaik von Königreichen, Fürstentümern und Stadtrepubliken, die verschiedenen politischen Einwirkungen ausgesetzt waren und einander immer befehdeten – wenn auch nicht immer mit den Waffen. Frankreich hingegen war eine in sich geschlossene Macht, ein hoffnungsvolles Betätigungsfeld für einen politischen oder militärischen Abenteurer – besonders während der großen Französischen Revolution. Das erfaßte Napoleon Bonaparte rasch und gründlich bald nach seiner Ausmusterung aus der Kriegsschule. Er gewann das Vertrauen des jüngeren Bruders des allmächtigen Robespierre und wurde, nachdem er sich vor Toulon ausgezeichnet hatte, zum General ernannt. Ein regelrecht ausgebildeter Offizier, der das selbstherrlich angenommene ›de‹, das ›von‹ des Adels, einfach fallenließ – ebenso wie später das italienisierende ›u‹ in seinem Namen – und nur revolutionäre Bestrebungen zeigte, um den Machthabern des Augenblicks zu gefallen, hatte ungeahnte Möglichkeiten. Dennoch eröffneten sie sich dem Ehrgeizigen, der sich an die Jakobiner angeschlossen hatte, um es zu etwas zu bringen, keineswegs so leicht, wie er erhofft hatte. Nach dem Fall Robespierres betrat Bonaparte das Pflaster von Paris, trotz seines Ranges ohne Amt, und war, da er keinen Sold bekam, mittellos. Seine Bittgesuche und Bewerbungen um eine entsprechende Stelle im Heer blieben ungehört, bis zu dem Zeitpunkt, in dem Barras, das Haupt der neuerrichteten Direktorialregierung, die das Erbe der Revolution angetre193
ten hatte, auf den stellenlosen jungen General aufmerksam wurde – allerdings durchaus nicht, um die besonderen militärischen Fähigkeiten Bonapartes auszunützen, sondern um Josephine, seine ehemalige Geliebte, die Witwe des Vicomte Beauharnais, an den Mann zu bringen. General Bonaparte schrieb damals selbst: »Barras war ein einflußreicher Mann, und ich mußte mich an jemanden anschließen und etwas tun.« Die Annäherung Bonapartes an Barras hatte den gewünschten Erfolg. Der General bekam etwas zu tun. Das ›Direktorium‹, das sich aus fünf Mitgliedern des Nationalkonvents zusammensetzte, war gezwungen, sich eines Aufruhrs zu erwehren, den Babeuf, der Herausgeber der Zeitung ›Volkstribun‹, durch seine Aufforderung zu einer gewalttätigen Aufteilung aller Güter unter das Volk heraufbeschworen hatte. Die soziale Umwälzung in Frankreich, in der aus vielen Besitzlosen Besitzende geworden waren, hatte zur Bildung einer wohlhabenden Schicht von Bürgern geführt, die die Lebensformen der von ihnen entmachteten Aristokraten anzunehmen begannen. Sie ahmten eifrig nach, was sie hatten ausrotten wollen, und taten es so gründlich, daß eine neue Revolution der Besitzlosen auszubrechen drohte. Gegen sein Versprechen, Josephine Beauharnais zu heiraten, erhielt General Bonaparte von Barras den Befehl über die Garnison von Paris und alle nicht im Feld stehenden französischen Truppen. Die Vollmacht lautete wörtlich: »Die zivilen und militärischen Behörden haben dem Befehl General Bonapartes zu gehorchen.« Am 13. Vendemiaire, dem 5. Oktober 1795 unserer Zeitrechnung, fand der erste historische Sieg Napoleon Bonapartes statt. Er tat für das Direktorium, was die hochadligen Kommandanten zum Schutze König Ludwigs XVI. nicht über sich gebracht hatten: Er schoß in die Menge. »Viel Blut wurde vergossen«, berichtete ein Pariser Journalist. Aber einige Wochen später schrieb Josephine Beauharnais an eine Freundin: »Barras sagte mir, daß er, wenn ich den General Bonaparte heirate, ihm das Kommando der italienischen Armee geben werde. Gestern erklärte mir Bonaparte: ›Glauben diese Leute wirklich, daß ich ihre Gönnerschaft brauche, um es zu etwas zu bringen? Der Tag wird 194
kommen, an dem sie nur zu froh sein werden, meine Gönnerschaft zu haben. Ich habe ein Schwert an meiner Seite, und damit werde ich weit kommen!‹ …«
II Diese ärgerliche Aufwallung des in seinem Selbstbewußtsein gekränkten sechsundzwanzigjährigen Generals war vor allem dadurch ausgelöst, daß er sich in die Frau verliebt hatte, die er heiratete, um emporzukommen, und sich vor ihr nicht kleinmachen lassen wollte. Keine Anzeichen oder Aufzeichnungen deuten darauf hin, daß Napoleon damals eine weitere Sicht und ein anderes Ziel hatte als die unmittelbare Rangerhöhung und die lebensvolle Hoffnung, sich in dem Kommando, das er als Ehemann der leichtsinnigen Josephine tatsächlich erhielt, auch zu bewähren. Die große Politik, deren Meister er werden sollte, lag ihm noch fern. Er kannte die Gebiete, durch die er nicht so viel später mit seiner ›Grande Armee‹ ziehen sollte, nur als geographische Begriffe, die er sich im Schulunterricht hatte aneignen müssen. Die französischen Zeitungen, die einzige Quelle, aus der er Nachrichten beziehen konnte, befaßten sich damals kaum mit den Teilungen Polens im Osten Europas. Daß Rußland, Österreich und Preußen dem alten polnischen Königreich ein Ende machten, nachdem sich die Polen unter Kosziuszko gegen die Fremdherrschaft erhoben hatten, berührte die Machthaber des ›Direktoriums‹ und die französische Journalistik nur von dem Standpunkt aus, daß Kaiserin Katharina II. von Rußland, Kaiser Franz und der König von Preußen sich mehr mit ihrem Gebietszuwachs im Osten Europas beschäftigen würden als mit dem lässig geführten Krieg gegen Frankreich. Es war Barras schon gelungen, mit Preußen Frieden zu schließen, und daß General Moreau vom begabten Bruder des Kaisers, von Erzherzog Karl von Österreich, über den Rhein zurückgetrieben worden war, bedeutete zwar eine Schlappe des von Carnot für den Sieg ausgerüsteten französischen Heeres, das 195
planmäßig zum Angriff übergegangen war. Aber wirklich gefährlich war die Kriegslage nur in Italien, und dorthin war das Augenmerk Bonapartes von frühester Jugend an gerichtet. Auf diesem Kriegsschauplatz konnte er beweisen, daß er es mit seinem Schwert weit bringen könne. Ein zeitgenössisches Bild des Malers David hält den großen Augenblick des mageren Generals fest, wie er mit gezogenem Säbel seinen Truppen den Weg weist, bevor sie die Adda-Brücke bei Lodi erstürmen. Es war ein bedeutsamer Sieg. Aber der junge Befehlshaber hatte diesen und viele nachfolgende Siege nicht nur durch seine Feldherrnkunst und die Überlegenheit der von Carnot gelieferten Ausrüstung errungen, sondern durch eine neue Waffe, die Napoleon mit intuitiver, einmaliger Geschicklichkeit einsetzte: durch das Wort und die Fähigkeit, es zu formen und so die unmittelbare Beziehung zu den von ihm befehligten Truppen herzustellen. Die Tagesbefehle Napoleons ergriffen seine Soldaten im Innersten ihres Wesens. Seine Aufrufe bewirkten einen Bann, um so mehr, als sie mit kühler Berechnung und eiskalter Leidenschaft das Wesentlichste berührten. Napoleon erfaßte auch viel besser und schärfer als seine tüchtigsten Vorgänger in der Ausbeutung eroberter Länder, daß es während des Bewegungskrieges unumgänglich nötig sei, vom besetzten Land zu leben. Er raubte noch gründlicher als Mansfeld und Wallenstein, aber er erließ Proklamationen, in denen er sich der unterdrückten Bevölkerung gegenüber als Befreier vom fremden Joch aufspielte, als großherziger Bundesgenosse, der ihnen zu Hilfe gekommen war. In Frankreich hatte Napoleon mit eigenen Augen gesehen, daß der Aufruf zum Patriotismus das Land wehrhaft gemacht hatte. Wer waren seine Feinde? Die Habsburger und die Bourbonen, deren Familienangehörige Königreiche und Herzogtümer auf italienischem Boden besaßen. Eine Revolution in jedem dieser bourbonischen oder habsburgischen Länder hervorzurufen, war in der kurzen Zeitspanne, die der Angreifer und Eroberer sich setzte, unmöglich. Aber wenn er alle Bewohner der Apenninischen Halbinsel aufrief und davon überzeugte, daß sie ein Volk seien, eine Nation, daß sie untereinander ei196
nig sein müßten, um sich von der Fremdherrschaft zu befreien, daß die Grundsätze der Revolution, für die er mit seinen Soldaten ›im Interesse der Menschheit‹ kämpfte, der ›Italienischen Nation‹ zu Hilfe gekommen seien, dann würden auch sie rufen: »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!« – und sich mit den französischen Truppen verbrüdern. Der Begriff ›Italienische Nation‹ wurde von Napoleon zum ersten Male geprägt und half ihm in seinem Siegeszug, in dem er den König von Sardinien und den Papst zum Frieden zwang, die Lombardei eroberte, Mantua einnahm und über die Ostalpen in die Richtung Wiens marschierte. In der steiermärkischen Stadt Leoben im Herzen Österreichs war der Feldherr der französischen Republik bereit, in Friedensverhandlungen einzutreten. Seine Bedingungen waren die eines überlegenen Siegers. Er gründete die ›Cisalpinische Republik‹, der Mailand, Modena, Ferrara, Bologna und die Romagna angehörten, und die ›Ligurische Republik‹ auf dem Gebiet Genuas. Die ehemalige Beherrscherin des Mittelmeerhandels, die Republik Venedig, benützte er als Tauschobjekt im Frieden von Campo Formio. Er hatte sich in aller Eile die staatsmännischen Spielregeln angeeignet und sich zum Meister der europäischen Machtverschiebungen gemacht: Die österreichischen Niederlande kamen an Frankreich und wurden mit dem eroberten Holland zur Gründung der ›Batavischen Republik‹ vereinigt. Die Dogenrepublik Venedig kam an das kaiserliche Österreich. Die deutschen Reichsfürsten am linken Rheinufer, die so ihre Besitzungen verloren, sollten entschädigt werden. Wie und wann, das sollte in späteren Verhandlungen festgelegt werden. Napoleon brauchte den Rhein als Grenze Frankreichs und gebrauchte bei seiner Unterhandlung in allen Fällen die rücksichtslose Methode der Drohung, daß er angreifen werde. Sein Grundsatz auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch war der gleiche: »Die beste Verteidigung ist der Angriff.« Da wurden nicht viele Worte gemacht. Der Heilige Vater wollte sich seinen Anordnungen widersetzen? General Bonaparte schrieb an das Direktorium: »Die Armee ist drei Marschtage von Rom entfernt. Ich werde mich mit dem alten Pfaffen an Ort und Stelle auseinandersetzen.« Papst Pius VI. der freiwillig nach Wien gereist war, um Josef II. ›durch seine Artillerie‹ 197
umzustimmen, war machtlos gegen die Artillerie Napoleons. Er wurde kurzerhand gefangengenommen und nach Frankreich gebracht. Noch ein rascher Blick auf die Landkarten, die dem gelehrigen Eroberer durch eigene Anschauung immer vertrauter wurden. Die Schweiz nannte sich ›Bund der Eidgenossen‹. Der Name ›Helvetische Republik‹ paßte der benachbarten französischen Republik besser! General Bonaparte veranlaßte die Änderung. Auf seinen Märschen hatte er mit der gleichen Gründlichkeit, mit der er für die Verpflegung seiner Soldaten gesorgt hatte, auch unternommen, die Kunstschätze der reichen Fürsten Italiens zu plündern und Kontributionen in barem Geld von Königen, Herzögen und Städten einzuheben, um den Mangel an guter Münze in Frankreich zu beheben. In den Briefen, die seine wertvollen Sendungen begleiteten, wurden sowohl Kunstschätze als auch Geld in Ziffern beschrieben. Er berichtete zum Beispiel an das Direktorium: »Ich habe in Tortona alle Juwelen und Silberplatten gesammelt. Ich nehme an, daß sie allein fünf oder sechs Millionen Goldstücke wert sind. Die Kunstkommissäre, die mir geschickt wurden, arbeiten hart. Sie haben hundertzehn Gemälde beschlagnahmt …« Keine Erwähnung oder Würdigung der Künstler, die die unsterblichen Werke geschaffen hatten, ergänzte die Ziffern. Es waren hundertzehn farbenprächtige Bilder, die einen Wert für Sammler und Kenner hatten. Für ihn hatten sie nur Handelswert. Ihn begeisterte auch nicht die Schönheit von Statuen oder Gebäuden. Als er über den Markusplatz von Venedig spazierte, sagte er nur: »Das hier ist wie ein geräumiger Salon.« Damals sagte General Bonaparte auch: »Das wichtigste und beständigste Ziel meiner Politik ist es, das Mittelländische Meer zu beherrschen.« Aber als er wie ein Triumphator nach Paris zurückkehrte, erfuhr er, daß ihn eine neue, ganz andere Aufgabe erwarte. Alle europäischen Herrscher hatten Frieden mit Frankreich gemacht, nur England nicht. General Bonaparte wurde zum Oberbefehlshaber eines neuzubildenden französischen Heeres bestellt, das die ›Armee gegen England‹ genannt wurde. 198
III In einem geheimen Memorandum, das der neuernannte Oberbefehlshaber der ›Armee gegen England‹ für das Direktorium verfaßte, sprach er sich dagegen aus, die Armee in Bewegung zu setzen: »… Eine Landung in England, ohne daß wir erst die See beherrschen, würde die kühnste und schwierigste Unternehmung sein, die jemals versucht worden ist«, schrieb er und schlug vor, England im Mittelmeer anzugreifen, vor allem in Ägypten, um den Handel der englischen Kaufleute mit dem Nahen Osten und mit Italien unmöglich zu machen. Dieser Plan Napoleons war eine folgerichtige Fortsetzung der so oft fehlgegangenen Planung des Königreichs Frankreich, dessen Staatsmänner versucht hatten, das feindliche Inselvolk in seinen überseeischen Besitzungen zu treffen und die eigenen Kolonien zu erweitern. Die noch fehlende Übermacht zur See, die General Bonaparte durch gewaltige Zuwendungen an die Marine zu erreichen hoffte, wollte er durch die Eroberung Ägyptens und die Überquerung der Landenge von Suez ausgleichen und sich mit dem Sultan gegen England verbünden. Er stach vom Kriegshafen von Toulon, dem Schauplatz seines ersten militärischen Erfolges, mit der Mittelmeerflotte, über die er das Kommando übernommen hatte, in See. Er eroberte Malta und erließ kaum sechs Wochen nach seiner Ausfahrt einen Aufruf an seine im Nildelta an Land gesetzten Truppen: »Soldaten, hier in Ägypten verwundet ihr die Engländer an ihrem empfindlichsten Punkt, bevor ihr ihnen den Todesstoß versetzen werdet … Die Vorsehung ist auf unserer Seite.« Drei Wochen nach der Landung Napoleons in Alexandria schrieb der Admiral der englischen Flotte, Sir Horatio Nelson, der den Befehl hatte, die französischen Kriegsschiffe an der Überquerung des Mittelmeeres zu hindern, seiner Frau: »Ich bin tief beschämt. Zu meinem 199
größten Ärger ist es mir nicht gelungen, die feindliche Flotte zu finden.« Inzwischen hatte General Bonaparte den englandfreundlichen Bei von Ägypten besiegt und an das Direktorium sachlich berichtet: »Es gibt wenig Geld in diesem Land, nicht einmal genug, um die Armee zu bezahlen. Andererseits gibt es viel Korn, Reis, Gemüse und Vieh. Die Republik könnte sich keine bessere Kolonie wünschen, keinesfalls eine, deren Boden fruchtbarer wäre.« Seine Stimmung war triumphierend: »Ich bin einen weiten Weg gekommen. Aber wie verschieden ist die Gegenwart vom Altertum! Nehmen wir Alexander als Beispiel. Nachdem er Asien erobert und sich selbst für den Sohn Jupiters ausgegeben hatte, glaubte es ihm die ganze Welt, außer Aristoteles und einigen athenischen Professoren. Und jetzt? Wenn ich erklären würde, daß ich der Sohn Gottes bin, würde mir jeder Landstreicher ins Gesicht spucken. Die Leute sind heutzutage zu aufgeklärt …« Napoleon überquerte die Landenge von Suez, erstürmte Jaffa und focht seinen Weg durch die Syrische Wüste. Vor Akkon, das Sir Sidney Smith verteidigen half, war er gezwungen, haltzumachen. Es ging doch nicht so, wie er es geplant hatte. Er verfluchte Smith: »Dieser Mann hindert mich an der Erfüllung meiner Bestimmung.« Die Vernichtung der französischen Flotte in der Bucht von Abukir, die Nelson nach seinen erst so vergeblichen Versuchen, die feindlichen Kriegsschiffe überhaupt zu finden, gelungen war, verursachte Napoleon nicht solche Verzweiflung wie die Mauern der Festung, die er nicht erobern konnte. Er klagte: »Das Schicksal des Ostens hängt von diesem Winkel hier ab.« Es war eine aussichtslose Lage, nicht nur für seine von Krankheit und Hunger heimgesuchten Soldaten, sondern auch für ihn persönlich. Eine entscheidende Wendung der sich überstürzenden Ereignisse in Europa, von denen er während seines Feldzuges nichts erfahren hatte, half ihm aus der gefährlichen Klemme, die seiner ehrgeizigen Laufbahn ein Ende zu setzen drohte. Rußland und Österreich hatten sich mit England zu einem Bündnis gegen die französische Republik vereinigt. Die Rheinarmee war von Erzherzog Karl vernichtend geschlagen 200
worden. Ein russisches Heer unter General Suwarow war auf Befehl Kaiser Pauls I. des Erben Katharinas II. in die Lombardische Tiefebene einmarschiert und hatte die Cisalpinische Republik aufgelöst. Die englische Flotte hatte Malta wiedergewonnen. Das Wort des Tages in London war: »Das Mittelmeer ist ein englischer Teich.« In dieser bedrängten Lage rief das Direktorium General Bonaparte nach Frankreich zurück. Die Mitteilung vom katastrophalen Umschwung in Europa war ihm durch Sir Sidney Smith schon zugekommen. Der englische Kommandant hatte die Kapitulation des französischen Feldherrn erwartet. Aber Napoleon überließ seine erschöpften Truppen ihrem Schicksal unter dem Kommando des bewährten Generals Kleber und wagte die Überfahrt. Er landete in Frejus in Südfrankreich und hastete weiter. Auf seinem Weg nach Paris mußte er sich vier Stunden in Lyon aufhalten und ein zu seinen Ehren improvisiertes Theaterstück anhören, das den Titel führte: »Die Rückkehr des Heros«. Die Begrüßung in Paris war überschäumend. Der Dichter Beranger beschrieb die Stimmung: »Als die große Nachricht seiner unerwarteten Rückkehr bekannt wurde, jubelten alle vor Freude. Das Volk glaubte, es sei gerettet. Wenn ein Mann einen solchen Eindruck auf ein Land machen kann, ist er der Herr dieses Landes.« In diesen schicksalsschweren Wochen begannen die österreichischen und russischen Verbündeten miteinander zu streiten. Dem kaiserlichen Kanzler Thugut war es angst und bange geworden, daß er die Russen gegen Frankreich zu Hilfe gerufen hatte. Jetzt waren sie vom äußersten Osten Europas gekommen und mengten sich so unverschämt in die innereuropäischen Angelegenheiten ein, als ob es ihre eigenen wären. Paul I. wollte wissen, warum der österreichische Befehlshaber das von den Franzosen befreite Piemont nicht an den König von Sardinien zurückgebe und welche Erwerbungen Österreich in Italien zu machen wünsche. Wenn die Antwort auf diese Fragen nicht zufriedenstellend sei, würde Seine Majestät, der Kaiser aller Reußen, die diplomatischen Beziehungen zum Hof von Wien abbrechen und das Haus Österreich seinem Schicksal überlassen. Die Antwort aus Wien war keineswegs zufriedenstellend. Aber wäh201
rend sich die Österreicher und Russen trotz der gelassenen Vermittlung des englischen Staatsmannes William Pitt, des ebenbürtigen Sohnes seines bedeutenden Vaters, nicht einigten, gelang es General Bonaparte durch einen Staatsstreich, Frankreich zu einigen. Er stürzte das Direktorium und erzwang durch den Aufmarsch seiner Grenadiere im ›Rat der Fünfhundert‹ eine Vertrauenskundgebung und die Änderung der Verfassung, die einem provisorischen Konsularkomitee unter seiner Leitung übergeben wurde. Eines der Mitglieder des Komitees war der Abbe Sieyes, den seine unvergeßliche Antwort auf die Frage, wie er die Revolution überstanden habe, berühmt gemacht hatte: »Ich habe gelebt«, hatte er schlicht erwidert. Jetzt warnte er seine Amtsgenossen zur Vorsicht: »Meine Freunde, ihr habt einen Herrn über euch, Bonaparte will alles, weiß alles und kann alles.« Der junge General, der den Titel ›Erster Konsul‹ annahm, sicherte sich tatsächlich alle Machtbefugnisse. Er beauftragte Sieyes, die Verfassung zu entwerfen. Der vorausschauende Abbe nannte sie ›eine verkleidete Monarchie‹, denn sie gab dem Ersten Konsul, der für zehn Jahre gewählt wurde, das Recht, Gesetze zu erlassen, Minister und Offiziere, provinzielle Behörden und Richter zu ernennen. Er hatte in allen Fragen das letzte Wort. Er tat auch gleich so, als ob er in seinem hohen Amt das französische Volk verkörpere, und schrieb einen persönlichen Brief an den König von England. Er beschwor Georg III. am Weihnachtstag des Jahres 1799, Frieden zu schließen, damit die beiden aufgeklärtesten Völker der Erde die Wohltaten von Handel und Gewerbe genießen könnten und das Glück der Familien nicht der Illusion eitler Größe opferten. Der Brief war kaum an den königlichen Adressaten gelangt, als Napoleon die Wende des Jahrhunderts in einem Gespräch mit seinem Freund, General Junot, feierte: »Ein neues Jahr, Junot. Was ich brauche, ist Zeit. Zeit ist das einzige, das ich mir nicht leisten kann. Machen wir erst Frieden und dann: einen neuen Krieg. Ein neuer Krieg gegen England eröffnet uns wundervolle Möglichkeiten …« Obwohl das englische Expeditionskorps unter dem Befehl des unentschlossenen Herzogs von York in den Niederlanden geschlagen 202
worden war und seine Hoffnung, Holland zu befreien, fürs erste aussichtslos schien, lehnte Georg III. das Angebot Napoleons ab. Auch Österreich beharrte auf der Fortführung des Krieges. Die Außenpolitik des Ersten Konsuls, der den ehemaligen Bischof von Autun, den hochadligen ›Bürger‹ Talleyrand, zu seinem Außenminister gemacht hatte, war nicht erfolgreich. Auch nicht, als Napoleon den Tod George Washingtons zum Anlaß nahm, dem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Thomas Jefferson, in einem persönlichen Brief sein tiefgefühltes Beileid auszudrücken, und die Gelegenheit wahrnahm, zu erklären, daß auch er nur für Freiheit und Gleichheit kämpfe. Die scheinheiligen Beteuerungen des von unersättlichem Machthunger getriebenen Ersten Konsuls wurden nur von der Masse des Volkes geglaubt, dem er, wie seinen Soldaten durch die Tagesbefehle, durch die von ihm überwachte Presse nur solche Nachrichten und Mitteilungen zukommen ließ, die seiner Volkstümlichkeit und seinen Zielen nützten. Die Öffentlichkeit erfuhr weder von seinen Eifersuchtsanfällen wegen der Untreue Josephines, die ihren berühmt gewordenen Gatten schon zu Beginn ihrer Ehe bei jeder Gelegenheit betrogen hatte, noch von den körperlichen Beschwerden des Gefeierten, die seine innere Unruhe vermehrten. Ein Blasenleiden machte ihn rastlos. Er litt an Verdauungsstörungen und einer Hautkrankheit, die ihn so belästigte, daß er unaufhörlich Bäder nahm und sich mit Bürsten behandeln ließ. »Reib mich wie einen Esel!« befahl er seinem Kammerdiener, um den unerträglichen Juckreiz zu lindern. Einige Tage, nachdem der Erste Konsul Staatstrauer für George Washington, den großen amerikanischen Republikaner, angeordnet hatte, ließ er veröffentlichen, daß er mit Cambaceres und Lebrun, den beiden anderen Konsuln, in die königlichen Tuilerien übersiedeln werde. Der vorsichtige Cambaceres verständigte sich mit Lebrun: »Es wäre ein großer Fehler, wenn wir in die Tuilerien einziehen würden. General Bonaparte wird sehr bald dort allein leben wollen, und dann werden wir ausziehen müssen. Es ist besser, wir ziehen nicht ein.« Einige Stunden, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, klopfte der Erste Konsul seinem Sekretär Bourienne zufrieden auf die 203
Schulter: »Hier sind wir also in den Tuilerien! Und hier werden wir bleiben!«
IV Die unbeschränkte Ausübung der Macht zwang Napoleon, sich auch mit zivilen Verwaltungsfragen zu beschäftigen, nachdem er sich mit allen Aufgaben der Heeresverwaltung vertraut gemacht hatte und daranging, die Pläne Carnots, des ›Organisators des Sieges‹, für seine weitreichenden Zwecke auszubauen. Als Feldherr hatte er schon die seltene Fähigkeit bewiesen, sich nur tüchtiger Unterbefehlshaber zu bedienen, und hatte die Erfahrung gemacht, daß unbefangenes klares Denken allen Schwierigkeiten gewachsen sei. Er hatte zwei Ziele: erstens den Krieg so zu beenden, daß er keine der von ihm erfochtenen Erwerbungen verlöre, und zweitens, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die nach der Revolution entstanden war, bis auf weiteres erhalten bliebe. Um den Frieden herbeizuführen, mußte der Erste Konsul Krieg führen. Er sandte General Moreau mit hunderttausend Mann nach dem Norden und gewann selbst die umstrittene Schlacht von Marengo in Italien gegen eine starke österreichische Armee. Obwohl auch Moreau bei Hohenlinden siegte, benahm sich der Erste Konsul nicht wie ein Sieger. Da er den Frieden wollte, bat er Kaiser Franz darum und nützte gleichzeitig das Interesse, das Paul I. für die Malteserritter zeigte, dazu aus, dem Kaiser von Rußland die Oberhoheit über Malta anzubieten. Ein persönlicher Brief Pauls mit der Überschrift: »Bürger Erster Konsul!« brachte Napoleon die erfreuliche Nachricht, daß der Kaiser aller Reußen gegen England verstimmt war, »gegen dieses Land, das sich zum Schutzherrn der Rechte aller Völker der Erde aufwirft, aber lediglich von Gier und Eigennutz geleitet ist. Ich wünsche mich mit Ihnen zu verbünden, um all den unrechtmäßigen Handlungen Englands ein Ende zu setzen.« 204
Wenige Tage später klagte der gleichmütige Kaiser Franz seinem Kanzler: »Ich habe meine politischen Verbündeten einen nach dem anderen verloren und habe keinen Freund mehr, an den ich mich lehnen kann. England kann mir nicht helfen …« Er schloß mit Napoleon den Frieden von Luneville, in dem die demütigenden Bestimmungen von Campo Formio bestätigt wurden. Und als Paul I. in seinem Bett ermordet wurde und sein Sohn Alexander, der geplant hatte, seinen Vater zu entthronen, Kaiser von Rußland wurde, hielt es auch England für richtig, die Feindseligkeiten einzustellen. Welchen Wert allerdings der in Amiens zwischen Frankreich und England verhandelte Frieden haben sollte, ging aus einem Gespräch hervor, das der Herzog von York mit Lord Malmesbury während eines Spazierganges im Hydepark führte: »Gibt es Neuigkeiten?« fragte der Herzog. »Wir werden Frieden haben in einer Woche«, erwiderte Malmesbury. »Und Krieg in einem Monat!«
V Der Entschluß Englands, die neunjährigen Feindseligkeiten ohne wesentlichen Nutzen einzustellen, war nur durch den Rücktritt William Pitts möglich gewesen, dessen Nachfolger Addington drängenden Handelsinteressen seiner Anhänger nachgegeben hatte, und der Hoffnung, daß der Erste Konsul alle Kräfte daransetzen werde, seine eigene Macht zu festigen, und einen neuen Krieg nicht wagen würde. Die Nachricht vom Friedensschluß von Amiens wurde in Paris mit Enthusiasmus gefeiert. Ein Dankfest sollte dem patriotischen General Bonaparte, der das ›u‹ seines Namens endgültig fallenließ, dargebracht werden. Eine Volksabstimmung sollte über zwei Fragen entscheiden: Soll Napoleon Bonaparte Konsul auf Lebenszeit sein? Soll er das Recht haben, seinen Nachfolger zu ernennen? Auf ausdrücklichen Wunsch Napoleons wurde nur die erste Frage beantwortet. Das Ergebnis der Volksabstimmung war, daß von den 205
3.577.259 abgegebenen Stimmen 3.568.885 seine Wahl zum Konsul auf Lebenszeit beantragten. Jetzt konnte er sich ungehindert der zivilen Verwaltung widmen. Seine wesentlichste Aufgabe war, wie er selbst sagte, ›den Krater der Revolution zu schließen‹. Der auf seine Veranlassung verfaßte ›Code civil‹, das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, das sich als ›Code Napoleon‹ erhalten hat, legte die Rechtsgleichheit aller Franzosen fest. Damit war der ›égalité‹ Genüge getan. Der ›liberté‹ wurde Rechnung getragen durch die gesetzlich festgelegte Aufhebung von Privilegien, der ›fraternité‹ durch die Verbrüderung zum Wohle des Vaterlandes. In einem Vertrag zwischen Staat und Kirche anerkannte der Papst die Verweltlichung der kirchlichen Güter in Frankreich und stimmte der staatlichen Ernennung und Besoldung der Geistlichkeit zu, während der ›Konsul auf Lebenszeit‹ seinerseits anerkannte, daß der heilige römisch-katholisch-apostolische Glaube das Bekenntnis der großen Mehrheit des französischen Volkes sei. Tausende von Glocken läuteten die Versöhnung der französischen Republik mit der Kirche ein. Bei den Festlichkeiten, die auch in Schlössern und Palästen veranstaltet wurden, saßen an der Spitze der verschwenderisch bestellten Tafel zumeist neue Besitzer, aber auch viele ehemalige große Herren, die der von Napoleon erlassenen Einladung zur Rückkehr in die Heimat gefolgt waren. Diese Herzöge, Grafen und Barone führten ihre vornehmen Titel, so als ob die Revolution sie nicht abgeschafft hätte, und waren aus der ihnen überkommenen Gewohnheit der Jahrhunderte bereit, dem neuen Herrn zu huldigen, der sie so gnädig wieder in ihre Besitzungen eingesetzt hatte. Manche von ihnen waren davon überzeugt, daß Napoleon den Wiederaufbau der Vergangenheit herbeizuführen begonnen habe, um die emigrierten Bourbonen auf den Thron Frankreichs zurückzuführen. Als Nachfolger des während der Schreckensherrschaft verschwundenen Sohnes Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes, des als Ludwig XVII. im bourbonischen Stammbaum eingetragenen unglücklichen kleinen Jungen, sollte der Graf von Provence als Ludwig XVIII. König von Frankreich werden. In diesem Sinn verschworen sich die 206
ehemaligen Königstreuen um so entschlossener, als sie von England ermutigt wurden, das einen Angriff Napoleons fürchtete. Auf den französischen Werften wurde Tag und Nacht gearbeitet, um den Bau von Kriegsschiffen zu beschleunigen. Hundertfünfzigtausend Mann wurden in einem Lager in der Nähe von Boulogne zusammengezogen. Eine andere französische Armee besetzte Hannover, das angestammte Herrschaftsgebiet der Könige von England. Dennoch zögerten die Minister Georgs III. die Kriegserklärung hinaus, aus Angst vor einer französischen Landung auf englischem Boden, gegen die noch keine Verteidigungsmaßnahmen getroffen worden waren.
VI Im Frieden von Luneville war die Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich besiegelt worden. Den betroffenen deutschen Fürsten waren Entschädigungen auf dem rechten Ufer zugesichert worden. Die Besitzungen, die zur Durchführung dieses Abkommens fehlten, mußten geschaffen werden. Das geschah durch den ›Reichsdeputationshauptschluß‹ zu Regensburg und bedeutete eine Zerstörung der politischen und rechtlichen Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Zahlreiche deutsche Kleinstaaten wurden durch die Verweltlichung geistlicher Herrschaften aufgehoben. Nur wenige deutsche Reichsstädte und Reichsstände behielten ihre früher ›Reichsunmittelbarkeit‹ genannte Unabhängigkeit. Die Gebiete der Entmachteten wurden zu Entschädigungen verwendet, deren Ausmaß den Schaden übertraf. Am meisten gewann das Königreich Preußen, an dessen Vergrößerung Napoleon gelegen war, um ein mitteleuropäisches Gegengewicht zu Österreich herzustellen. Vier neugeschaffene Kurfürstentümer, Hessen-Kassel, Baden, Württemberg und Salzburg, sollten als lebensfähige Mittelstaaten im Einflußbereich Frankreichs ein anderes Bollwerk gegen Österreich sein und in ihrer Gesellschaftsordnung nach den Grundsätzen der Aufklärung durch die Einsetzung franzö207
sischen Rechts Frankreich angeglichen werden. Diese Neuordnungen im Raume des deutschen Reiches, die schon vorher in verschiedenartigen Fassungen von den bourbonischen Vorgängern Napoleons geplant gewesen waren, kamen der künftigen deutschen Einheit zugute. Aber Napoleon hatte nur seine unmittelbaren Pläne vor Augen. Die Zersplitterung der Herrschaftsgebiete, durch die er marschieren wollte, um das Habsburgerreich auseinanderzubrechen, mußte von seinem Standpunkt aus einheitlichen Verwaltungen weichen. Er sah nicht voraus, daß seine deutschen Vasallenstaaten sich gegen ihn oder seine Nachfolger untereinander und mit Preußen vereinigen würden, um zum gefährlichsten Gegner Frankreichs auf europäischem Boden zu werden. Die unmittelbare Zielsetzung verdunkelte auch den Blick Napoleons in der Behandlung überseeischer Angelegenheiten. Als die Vereinigten Staaten von Amerika eine Entschädigung für die Handelsschiffe verlangten, die von der französischen Flotte während des englischfranzösischen Krieges trotz der amerikanischen Neutralität beschlagnahmt worden waren, war Napoleon erfreut, »günstige« Verhandlungen zu beginnen. Er war bereit, den Vereinigten Staaten zwanzig Millionen Livre zu geben, falls sie ihrerseits ihm sechzig Millionen für die französische Provinz Louisiana geben würden. Er erklärte seinem Außenminister, »Bürger« Talleyrand: »Ich werde diese Besitzung nicht behalten, die am Ende gar einen Streit zwischen mir und den Amerikanern hervorrufen könnte. Im Gegenteil. Ich werde sie benützen, um die Amerikaner und die Engländer zu entzweien. Ich bin dazu entschlossen, Louisiana den Vereinigten Staaten zu überlassen. Aber da sie keine Gebiete haben, die sie mir im Austausch geben könnten, werde ich eine Geldsumme verlangen, die die Ausgaben für die außerordentlichen Rüstungen decken wird, die ich gegen England betreibe …« Die sechzig Millionen im Staatsschatz Frankreichs waren ein Tropfen auf einen heißen Stein. Während Napoleon sich an der Neuen Welt so uninteressiert zeigte und sich der unausbleiblichen zukünftigen Entwicklung verschloß, bereitete er seine Erhöhung im Sinne der Ver208
gangenheit vor: Er wollte nicht nur Kaiser, sondern auch Oberherr der Alten Welt werden. Als sich General Bonaparte in monarchischen Purpur einkleidete, begann die Wende seiner Laufbahn. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem der ›kleine Korporal‹ Kaiser der Franzosen wurde und eine Dynastie begründete, hatte er sich mit nachtwandlerischer Sicherheit von den Nachwirkungen der großen Revolution emportragen lassen. Er hatte mit geradezu hellseherischem Verstand alle Möglichkeiten ausgenützt und seinen und Frankreichs Erfolg mit revolutionären Mitteln erkämpft. Da waren vor allem das von Carnot ins Leben gerufene Volksheer, das Napoleon durch die Anlage von Magazinen und die dadurch herbeigeführte Verringerung der mitgeführten Verpflegung und Munition beweglich gemacht hatte, und die Anwendung der ausgeschwärmten Schützenlinie, die sich schon im amerikanischen Befreiungskrieg bewährt hatte. Im Kampf gegen die gedrillten, schwerfälligen Armeen der Feinde siegte er durch die Leichtigkeit seiner Truppenverschiebung auf dem Marsch und auf dem Schlachtfeld. Er konnte seine Soldaten an den entscheidenden Stellen in zahlenmäßiger Überlegenheit einsetzen, auch wenn sein Gesamtheer geringer war als das seiner Gegner. Diese militärische Spannkraft und die auf der Geistesgegenwart des Feldherrn beruhende Schlagkraft seiner Truppen halfen Napoleon auch bei seinen späteren Siegen. Aber was er von seinen Lehrern übernommen und selbst in der Ausübung seiner Tätigkeit erlernt hatte, das erlernten die gegen ihn kämpfenden Generäle aus den Erfahrungen ihrer Niederlagen. Auch sie begannen, »modern« zu denken und zu handeln, während er mit einem Male bemüht war, sich althergebrachtes Denken und Handeln zu eigen zu machen. Für ihn stand die Zeit eine Weile still, als er Kaiser sein wollte – mit allem, was dazu gehörte. Dieses Ziel beschäftigte seine Gedanken völlig. Um bourbonische Wiederherstellungsversuche im Keim zu ersticken, ließ er einen königlichen Prinzen kurzerhand erschießen. Die Hinrichtung des jungen Herzogs d'Enghien sollte einen doppelten Zweck erfüllen: Napoleon wollte alle Verbindungen mit der alten Monarchie abschneiden und 209
gleichzeitig seinen ehemaligen politischen Kampfgenossen, den französischen Jakobinern, dartun, daß er die verhaßten Bourbonen unter keinen Umständen nach Frankreich zurückführen werde. Er lud Haß auf sich und das Mißtrauen der eingefleischten Revolutionäre, die seine wahre Absicht erkannten und für immer verstimmt waren. Die Feindseligkeiten gegen England hatten wieder begonnen. Es war noch zu keinen entscheidenden Kampfhandlungen gekommen. Das Lager in Boulogne wuchs, Schiffe stachen in See. Aber viel wichtiger als der Krieg, den er auf englischem Boden austragen wollte, wenn die Zeit für die Landung reif war, erschien Napoleon fürs erste die Vernichtung aller Verschwörer gegen seine Macht und seine eigene Erhebung auf den Kaiserthron. Wie sehr er mit den eingewurzelten Vorurteilen der Menge rechnete und sie für sich ausnützen wollte, ging aus einem Gespräch hervor, das er zu dieser Zeit mit Madame de Remusat, einer Freundin seiner Frau Josephine, führte: »In Paris, und Paris ist Frankreich, interessieren sich die Menschen nur für Dinge, die an Personen gebunden sind. Das haben die Gewohnheiten der alten Monarchie die Leute gelehrt …« In der neuen Monarchie Kaiser Napoleons I. gab es einen Hofstaat wie unter der Herrschaft der Bourbonen. Alle Mitglieder der Familie Bonaparte wurden kaiserliche Prinzen oder Prinzessinnen. Seine Generäle wurden Marschälle und Träger neugeschaffener Titel. Die Stimmen des Volkswillens, der ihn zum kaiserlichen Rang erhob, schienen seiner Auffassung recht zu geben. Es gab 3.574.898 Wähler. Davon stimmten 3.572.329 Wähler für seine Erhebung zum Kaiser. War das nicht ein Sieg der Person? Eine dokumentarisch festgehaltene Ansprache eines Bürgermeisters an seinen Sekretär aber erklärte dieses erstaunliche Wahlergebnis, auf das sich Napoleon so viel zugute tat, anders: »Hör zu, mein Lieber. Ob wir mit ›ja‹ oder ›nein‹ wählen, ist ganz gleichgültig für Napoleon. Er wird Kaiser in jedem Fall. Es ist nicht ratsam für uns, seinen Haß gegen uns, unsere Stadt und unser Departement zu erwecken. Wir müssen mit ›ja‹ stimmen. Warum sollen wir unseren armen Bauern und Arbeitern Schwierigkeiten machen? 210
Du hast die Liste der Haushalte. Wir wählen für sie. Schreibe getrost ›ja‹ in die Spalte neben jeden Namen.« Ein anderer spöttischer Wähler schrieb neben sein ›Ja‹: »Ich fürchte, du fürchtest, er fürchtet …«
Madame de Remusat, nun die Freundin der von Papst Pius VII. in der Kirche Notre-Dame von Paris zur Kaiserin gesalbten Josephine Beauharnais, schrieb in ihr Tagebuch die folgenden Bemerkungen über den neuen Kaiser der Franzosen, der auch zum König von Italien gekrönt worden war: »Er hat weder Erziehung noch Bildung. Er weiß nicht, wie man in einen Raum hereinkommt, und auch nicht, wie man ihn verläßt. Er weiß nicht, wie man eine Person begrüßt oder wie man aufsteht oder sich niedersetzt. Seine Bewegungen sind fahrig, so wie seine Art zu sprechen … Er weiß nicht, wie man sich kleidet. Sein Kammerdiener zieht ihn an, als wäre er ein Kind. Wenn er sich bei Nacht selbst auszieht, reißt er sich die Kleider vom Leib, wirft sie auf den Boden, als ob sie eine ungewohnte, peinliche Last wären.« Mit Hinblick auf seine Magerkeit hatten die zeitgenössischen englischen Humoristen den General Bonaparte ›Boney‹ genannt, den ›Knochigen‹. Jetzt, da er als Kaiser Fett anzusetzen begann, nannten sie ihn ›Fleshy‹, den ›Fleischigen‹. In ihren Witzblättern stand unter seiner Karikatur: »Dieser kleine Frosch versucht so groß zu sein wie ein Stier. Er schwillt an und schwillt an. Wird er nicht schließlich zerplatzen?«
VII Es sah nicht danach aus, als ob die Prophezeiung der englischen Humoristen Wirklichkeit werden sollte. Daß England, Rußland, Österreich und Schweden ein Bündnis zur Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts gegen Napoleon geschlossen hatten, schien sei211
nen Wünschen nur entgegenzukommen. Er verschob den Plan der Landung in England und warf seine Heere nach dem Osten. Es wurde ein Siegeszug. Die Besatzung Ulms mußte kapitulieren. Das französische Heer unter dem Kommando Murats, des Schwagers Napoleons, besetzte Wien. Der Triumph des Kaisers der Franzosen schien vollkommen zu sein, aber er nahm das entscheidende Geschehen des Krieges nur mit einem wütenden Achselzucken entgegen. Er schrie: »Ich kann nicht überall sein!«, als er die Nachricht erhielt, daß Nelson die französische Flotte, der sich spanische Kriegsschiffe hatten anschließen müssen, bei Kap Trafalgar vernichtet hatte. Eine Seeschlacht war verloren. Das war wohl ärgerlich. Aber Napoleon hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Landkrieg zu richten. Kaiser Alexander I. und Kaiser Franz II. führten gewaltige Heere gegen ihn. Wenn er sie geschlagen haben würde, dann würde er mit England abrechnen! Die Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz brachte Napoleon einen glänzenden Sieg, der vor allem seiner kaltblütigen Überlegenheit als Feldherr zuzuschreiben war. Er ging ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen ein. Der Ort der Vertragsunterzeichnung war das kaiserliche Schönbrunn bei Wien, in dem der Kaiser der Franzosen dem Königreich Preußen das schon vom Vater Friedrichs des Großen erstrebte Kurfürstentum Hannover zusprach – gegen Gebietsabtretungen, die Preußen zugestehen mußte. Am Weihnachtstag, fünf Jahre nachdem er Georg III. vergeblich um Frieden gebeten hatte, schloß Napoleon den Frieden von Preßburg mit Kaiser Franz, dem er Venetien zur Abrundung des Königreichs Italien abnahm. Seine eigenen Bundesgenossen, die Kurfürsten von Bayern und Württemberg, erhob er zu Königen. Der neue König von Bayern mußte zwar Salzburg an Österreich abgeben, erhielt aber das habsburgische Tirol und andere österreichische Gebiete sowie die Freie Stadt Augsburg. Napoleon erhob Fürsten mit einem Machtwort zu Königen, und ein eiliger Ausspruch von ihm genügte, einen König seines Landes zu entsetzen. »Die Monarchie von Neapel hat aufgehört zu regieren«, verfügte er, machte seinen Bruder Joseph zum König von Neapel und be212
förderte seinen Bruder Louis, den er mit seiner Stieftochter Hortense Beauharnais verheiratete, zum König von Holland. Sein Schwager Joachim Murat wurde Großherzog von Berg, das mit einem Strich auf der Landkarte von Bayern abgetrennt wurde. Unter der Führung des Königs von Bayern und des Fürstprimas Dalberg, der später zum Großherzog von Frankfurt gemacht wurde, entstand unter der Schutzherrschaft Napoleons der Rheinbund sechszehn süddeutscher Fürsten, die aus dem deutschen Reichsverband austraten. Und damit nur kein Zweifel über die Rechtmäßigkeit ihrer Handlung bestehe, richtete Napoleon an Kaiser Franz II. der sich vorsichtshalber schon Kaiser Franz I. von Österreich nannte, die Aufforderung, die römisch-deutsche Kaiserwürde niederzulegen. Das war das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das so lange schon nur noch dem Scheine nach bestanden hatte. »Jeder für sich«, wurde die Parole der deutschen Fürsten, die sich ihren Thron erhalten hatten. Nicht alle waren für Napoleon. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der sich durch ein Bündnis mit Alexander von Rußland gestärkt hatte, nahm es auf sich, den Abzug der französischen Truppen aus Ansbach und Bayreuth zu fordern, die er in Schönbrunn gegen Hannover abgetreten hatte, das ihm nicht kampflos zufallen konnte. Es war kein glückbringender Machtzuwachs geworden. Hannover war schließlich englischer Besitz, und England beschlagnahmte alle preußischen Schiffe als Gegenmaßnahme. Diesen Streit zwischen den Königen von England und von Preußen versuchte Talleyrand für den Kaiser der Franzosen auszunützen. Er ließ seine Mittelsmänner in London wissen: »Napoleon bietet England Hannover für die Ehre der englischen Krone an, Malta für die Ehre der englischen Marine und das Kap der Guten Hoffnung für die Ehre des englischen Handels.« Es kam nicht zum Frieden mit England. Die Verhandlungen der Mittelsmänner Talleyrand versagten. Aber Napoleon marschierte. Sein Marschall Davout schlug die Preußen bei Auerstädt. Er selbst besiegte sie bei Jena und zog in Berlin ein. In einem Gespräch mit dem Abbe Sieyes, der ihn auf dem Feldzug begleitete, sagte er: »Ich habe 213
kein Preußen gefunden. Was ist das für ein Volk, was für ein Land, was für eine Regierung! Die Österreicher sind anders. Sie haben zwar keine Energie, aber doch Ehrgefühl. Die Preußen haben weder Ehrgefühl noch Seele. Sie sind nichts als Canaille.« In Berlin verfügte Napoleon die Kontinentalsperre gegen England: In allen Häfen Europas sollte die Einfuhr englischer Waren verboten sein! Diese Maßnahme verursachte der Wirtschaft Englands vorübergehend empfindlichen Schaden, aber trotz der gefährlichen Sperre nahm der Handel seinen Fortgang. Die Kaufleute fanden Mittel und Wege, englische Waren zu beziehen und europäische Waren nach England zu liefern. Die übermächtige englische Flotte beherrschte die Meere und beschützte die Häfen, die als Umschlagplatz benützt wurden. Diese Durchlöcherung der Kontinentalsperre berührte Napoleon kaum. Sein Blick war nach dem Osten gerichtet. Er wollte die preußische Armee ein für alle Male vernichten und Alexander I. von Rußland schlagen. Nach der Schlacht von Preußisch-Eylau flohen König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise nach Memel. Nach der Schlacht von Friedland gegen die Russen besetzten die Franzosen Königsberg. In Posen hatte sich Napoleon mit dem Kurfürsten Friedrich August von Sachsen verbündet und ihn zum König erhoben. Der Rheinbund hatte einen neuen Partner bekommen. Und jetzt konnte Napoleon Frieden schließen mit Alexander I., da England sich geweigert hatte, Rußland eine Anleihe zur Fortführung des Krieges zu geben, und auch Frieden mit Preußen. In Tilsit traf Napoleon mit Königin Luise zusammen. Er schrieb der Kaiserin Josephine: »Die Königin von Preußen ist wirklich eine bezaubernde Person. Sie kokettiert mit mir, aber werde nicht eifersüchtig! Ich bin wie Wachsleinwand, alles gleitet an mir ab. Es wäre für mich zu teuer, den Kavalier zu spielen.« Napoleon war tatsächlich kein Kavalier im Friedensschluß mit Preußen. Das besiegte Königreich mußte seine Besitzungen westlich der Elbe und die in der Teilung Polens gewonnenen Gebiete abtreten. Danzig wurde Freie Stadt. Wer gegen Napoleon war, wurde bestraft, wer für ihn war, belohnt. Er schuf das Königreich Westfalen und machte seinen jüngsten Bruder Jerome zum 214
König. Er warb um die Freundschaft des Kaisers von Rußland, den seine Großmutter Katharina II. vom französischen Philosophen Laharpe im Sinne der Aufklärung hatte erziehen lassen. Alexander I. erklärte begeistert: »Endlich sind wir einander begegnet, Kaiser Napoleon und ich. Wie wertvoll waren die Tage, die ich mit ihm verbracht habe! Warum habe ich ihn nicht früher getroffen? Niemals werde ich die weisen Ratschläge und guten Vorschläge vergessen, die er mir gegeben hat. Jetzt sind wir Freunde, und wir werden für immer Freunde bleiben … Wenn England nicht Frieden schließt, dann wissen wir, wie wir England dazu zwingen können.« Alle Kräfte, die Napoleon aufbieten konnte, waren gegen England gerichtet. Ein französisches Heer unter Marschall Junot besetzte Portugal. Die königliche Familie floh unter englischem Schutz rechtzeitig nach Brasilien, während Napoleon verkündete: »Das Haus Braganza hat aufgehört zu existieren.« Ein anderes französisches Heer rückte in Spanien ein. Der König und sein Sohn wurden zur Abdankung gezwungen, Napoleons Bruder Joseph wurde zum König von Spanien erhoben und Murat an seiner Stelle König von Neapel. Auch Dänemark schloß sich an Frankreich und Rußland an, als die englische Flotte unter dem Befehl Lord Cathcarts Kopenhagen bombardierte und die dänischen Kriegsschiffe in englische Häfen zwang, um die von ihnen beabsichtigte Schließung der Ostsee zu verhindern. Lord Cathcart, der nur durch das abschreckende Bombardement von Kopenhagen in das Licht der Geschichte trat, wurde Napoleons gefährlichster und erfolgreichster Feind.
VIII Angesichts der einmaligen Übermacht Napoleons I., der nicht nur über das vom Erfolg berauschte französische Volk verfügte, sondern auch über die Untertanen der Königreiche, die von ihm abhingen, schien der Widerstand und die Kampfbereitschaft von einzelnen gegen den 215
Kaiser der Franzosen aussichtslos zu sein. Um so bedeutsamer und bemerkenswerter war die Zivilcourage der fürs erste untergründig gegen ihn tätigen Männer, vor allem des Freiherrn vom Stein, den der König von Preußen nach dem Tilsiter Frieden, eigentlich gegen seinen Willen, zu seinem leitenden Minister machte – widersinnigerweise auf den Rat Napoleons: »Nehmen Sie doch diesen Baron vom Stein. Er ist ein geistreicher Mann.« Napoleon wußte von der vorherigen Unzufriedenheit Friedrich Wilhelms III. mit Stein, der eine eigene Prägung der Aufklärung vertrat. Der vom Zeitgeist erfüllte Staatsmann wollte die absolute Königsgewalt, die das Volk von aller Teilnahme am Staat ferngehalten hatte, im Sinne einer auf preußische Verhältnisse umgewerteten englischen Verfassung beschränken. Das Volk müsse vor allem durch den Genuß der persönlichen Freiheit und durch Rechtsgleichheit an den Staat gebunden werden. Erst dann könne es zu selbständiger verantwortlicher politischer Arbeit aufgerufen werden und dem Vaterlande dienen! Stein plante ›die Revolution von oben‹. Das von ihm am 9. Oktober 1807 erlassene Edikt sollte ›der Vorsorge für den gesunkenen Wohlstand unserer getreuen Untertanen‹ dienen und ›dessen baldigste Wiederherstellung und möglichste Erhöhung‹ zur Folge haben. Es verfügte die Freiheit im Besitz des Grundeigentums und in der Ausübung des Gewerbes, die Aufhebung aller Gutsuntertänigkeit oder Leibeigenschaft. Der Widerstand der Privilegierten, die ihre bevorzugte Stellung durch die Reformen des Freiherrn vom Stein bedroht sahen, führte zu seiner Entlassung. Aber das ›Politische Testament‹, das er hinterließ, behielt Geltung und wirkte sich unter seinem Nachfolger Hardenberg aus. Die geistlichen Güter wurden verweltlicht, die Gewerbefreiheit verkündigt und auch die Juden, die bis zu diesem Zeitpunkt in ihren Rechten beschränkt gewesen waren, für vollberechtigte Staatsbürger erklärt. Noch vor dem öffentlichen Auftreten des Freiherrn vom Stein hatten im zerschlagenen deutschen Reich geistige Strömungen durch die Macht des Wortes gewirkt – wenn das Wort auch nicht als unmittelbare Waffe benützt worden war wie von Napoleon. Die großen deutschen 216
Dichter und Denker, wie Goethe, Schiller, Lessing, Kant und Humboldt, hatten sich in ihren Werken und Lehren zum Weltbürgertum des Neu-Humanismus bekannt und die idealistische Philosophie gepredigt, die erst von der gebildeten Bevölkerung und dann von immer größeren Teilen des Volkes aufgenommen wurde. Die Grundsätze der Aufklärung, die gegen die unumschränkte Herrschergewalt mit geistigen Mitteln gekämpft hatte, ermutigten friedfertige Bürger zum blutigen Kampf gegen die Feinde der Menschenrechte – die Schrecken der Französischen Revolution wurden um der errungenen menschlichen Werte willen vergessen. Das Ineinandergreifen der Lehre von der Volkssouveränität und den nationalen Gedanken, die Frankreich unter Napoleon großgemacht hatten, führten durch die Verbreitung seiner berühmt gewordenen Erklärungen und Ereignisse auch im deutschen Sprachgebiet zu einer nationalen Bewegung, die sich darauf vorbereitete, das Vaterland vom Unterdrücker zu befreien: Napoleon, der seine Laufbahn als Verkünder von ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ begonnen hatte, galt immer weiteren deutschsprachigen Kreisen als der Tyrann, der beseitigt werden müsse. Auch in Spanien wurde die Herrschaft seines Bruders Joseph bekämpft. Das Volk, das die Priester gegen die französische Oberherrschaft aufrührten, weil ›Fremde und Aufklärer‹ sie ausübten, erhob sich. An allen Ecken und Enden der Iberischen Halbinsel überfielen Guerillabanden die französischen Besatzungen. Es kam zu offenen Kämpfen, die zwar zu persönlichen Siegen Napoleons, aber zu Niederlagen seiner Marschälle führten. Kaum beachtet von der von der kaiserlich französischen Zensur überwachten europäischen Presse, fand die Landung englischer Truppen in Spanien unter dem Befehl Sir Arthur Wellesleys statt: England hatte den Krieg gegen Napoleon, den es bis dahin nur zur See betrieben hatte, nun auch auf dem Festland begonnen. Auch noch auf einem anderen Gebiet kämpfte das nach dem Tode William Pitts neu eingesetzte englische Ministerium, das bezeichnenderweise das ›Ministerium aller Talente‹ genannt wurde. Lord Cathcart, dessen guter Name 217
durch seine hemmungslose Beschießung Kopenhagens zu Schaden gekommen war, hatte ein verantwortungsvolles Amt übernommen, das nur im geheimen ausgeübt wurde: die Leitung der politischen Sendboten Englands und die Verteilung von Bestechungsgeldern, die politische Wendungen europäischer Staatsmänner herbeiführen sollten. Nicht alle Bestätigungen, durch die hervorragende Persönlichkeiten des Napoleonischen Zeitalters den Empfang gewaltiger Beträge bescheinigten, wurden in Archiven bewahrt; auch nicht alle Namen der Vermittler dieser Sendungen, die den politischen Richtungswechsel der hochgestellten Empfänger herbeiführten. In manchen Fällen sagte nur der sonst unerklärliche Reichtum von Fürsten und Würdenträgern über Grund und Anlaß ihres Abfalls von Napoleon aus. Der berühmte Berater von Franz II. Graf Metternich, der später in den Fürstenstand erhoben wurde, führte mit Talleyrand, dem zum Fürsten von Benevent erhobenen Außenminister des Kaisers der Franzosen, vertrauliche Zwiegespräche, deren Inhalt durch den Abgesandten Lord Cathcarts kurz darauf in London bekannt wurde. Auf dem ›Fürstentag von Erfurt‹, zu dem Napoleon den Kaiser von Rußland, vier Könige und vierunddreißig souveräne Herrscher einlud und auf dem er den König von Bayern vor seinen hohen Standesgenossen anfuhr: »Halten Sie den Mund, Bayern!«, flüsterte Talleyrand Metternich zu: »Napoleons Sache ist nicht mehr die Frankreichs. Europa kann noch im letzten Augenblick durch ein enges Bündnis Österreichs mit Rußland gerettet werden.« Einige Monate später schrie der Kaiser der Franzosen, nachdem er von Umtrieben gegen seine Macht in Kenntnis gesetzt worden war, seinen Polizeiminister Fouche im Kronrat an: »Wenn eine Revolution gegen mich ausbrechen sollte, würden Sie, welche Rolle immer Sie dabei auch gespielt haben mögen, der erste sein, der zerschmettert wird!« Nachdem Napoleon den Saal verlassen hatte, machte Talleyrand vor allen Anwesenden die ironische Bemerkung: »Wie schade, daß ein so großer Mann ein so schlechtes Benehmen hat.«
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IX Noch bevor Metternich in den Dienst des österreichischen Kaisers getreten war, hatte er als Student der Straßburger Universität eine bemerkenswerte Denkschrift über die Notwendigkeit der Schaffung von kaiserlichen und königlichen Volksheeren gegen das Volksheer der Französischen Revolution verfaßt. Aber weder diese ernste Arbeit noch seine Bewährung im diplomatischen Dienst verursachten seinen Aufstieg, der ihn schließlich zum Sinnbild der gegenrevolutionären Kräfte machen sollte. Die männliche Schönheit Metternichs beeindruckte die Fürstin Pauline Borghese, die Schwester Napoleons, so sehr, daß sie sich mit dem damaligen kaiserlich österreichischen Gesandten am Hof ihres Bruders im geheimen traf. Der Polizeiminister Fouche, den Napoleon zum Herzog von Otranto erhob, wußte von diesem Rendezvous der Fürstin mit Metternich. Aber er verriet seinem Herrn nichts davon. Er äußerte sich erst viel später darüber – als Flüchtling in Österreich. Durch die reizvolle Pauline, die sich nackt modellieren ließ, und durch seine anderen Pariser Freunde und Freundinnen wurde Metternich über die Pläne Napoleons auf dem laufenden gehalten. Seine Kenntnis der Verhältnisse und engen Beziehungen zum französischen Kaiserhof verhalfen ihm zu Einfluß und Macht, die er gegen Napoleon einsetzte. In der Annahme, daß die Hände des Kaisers der Franzosen durch die Kämpfe in Spanien gebunden seien, unternahm es Österreich nach einer Heeresreform, sich gegen ihn zu erheben. Kaiser Franz erließ einen Aufruf an das deutsche Volk. Aber obwohl Scharnhorst bereits die preußische Widerstandsbewegung gegen Frankreich auszurüsten begonnen hatte, hielt der König von Preußen den Augenblick noch nicht für gekommen. Auch England war noch nicht bereit zum Endkampf. 219
Im Laufe weniger Wochen schlugen Napoleon und seine Marschälle den österreichischen Widerstand nieder. Der Tiroler Aufstand unter Andreas Hofer gegen das mit Frankreich verbündete Bayern endete mit der Erschießung des Freiheitshelden. Es gab nur einen Rückschlag im Siegeszug Napoleons. Erzherzog Karl errang in der Schlacht von Aspern einen vorübergehenden Vorteil, aber die Schlacht von Wagram beendete den Feldzug. Napoleon zog nach einer Beschießung Wiens in die Stadt ein und diktierte, wieder in Schönbrunn, den ›Frieden von Wien‹. Dieses Zwischenspiel der Geschichte zeitigte, abgesehen von Grenzverschiebungen zuungunsten des besiegten Österreich, bedeutsame Ereignisse: Kaiser Alexander I. von Rußland hatte die Gelegenheit ausgenützt, in Finnland einzumarschieren. Gustav IV. Adolf von Schweden wurde abgesetzt. Sein Onkel, der als Karl XIII. zum König ausgerufen wurde, nahm den französischen Marschall Bernadotte an Sohnes Statt an und bestimmte ihn zu seinem Nachfolger. Napoleon hielt um die Hand Marie Luises, der Tochter Kaiser Franz I. von Österreich, an, um seine Krone durch die Heirat mit einer legitimen Prinzessin zu vergolden. Daß er mit Josephine Beauharnais verheiratet war und der Papst sie gekrönt hatte, tat nichts zur Sache. Der Heilige Vater hatte die Kontinentalsperre nicht für den Kirchenstaat gelten lassen. Napoleon machte kurzen Prozeß. Er ließ Papst Pius VII. nach Savona bei Genua führen und vereinigte den Kirchenstaat mit Frankreich. Auch Holland, dessen König, sein Bruder Louis, abgedankt hatte, wurde in die Grenzen Frankreichs einbezogen, und Hamburg, das gleichzeitig mit den anderen Hansestädten, Oldenburg und Ostfriesland dem französischen Kaiserreich einverleibt worden war, wurde Hauptsitz eines neuen Herrschaftsbereichs. Die Scheidung Napoleons von Josephine war rasch vollzogen. Seine Hochzeit mit der Erzherzogin Marie Luise konnte stattfinden. Als sein Stellvertreter stand Marschall Berthier mit der kaiserlichen Prinzessin vor dem Traualtar in Wien. Vierzehn Tage später erwartete Napoleon seine Braut im Schloß von Compiegne, in dem sie die Nacht verbringen sollte. Erst stieg er in 220
ihre Reisekutsche und begutachtete sie. Dann fragte er seinen Onkel Josef Fesche, einen korsischen Priester, den er hatte zum Kardinal erheben lassen: »Hat die Hochzeit in Wien Marie Luise zu meiner Frau gemacht?« Der Kardinal erwiderte: »Ja, Sire, nach bürgerlichem Recht.« – »Gut«, gab Napoleon zurück und befahl, daß ihm das Frühstück in dem Zimmer serviert werde, in dem er mit seiner Braut übernachten würde.
Napoleon war auf dem Gipfel seiner Macht angelangt. Er hatte zugestimmt, daß Bernadotte Kronprinz von Schweden geworden war. Erfreut rief er aus: »Ein Marschall von Frankreich, der König wird, eine Frau, die mir gefallen hat, Königin, und mein Patenkind königlicher Prinz!« Er war von seinem eigenen Ruhm überwältigt und wollte nichts davon hören, daß die von ihm gegen England verhängte Kontinentalsperre sich gegen ihn selbst auswirkte. Da Kaffee und Zucker ihren Preis verdoppelt hatten, lud er Chemiker ein, künstlichen Ersatz herzustellen, damit die Welt von der Tyrannei des englischen Handels befreit werde. Auch die Exkommunikation des Papstes berührte ihn kaum. Die erklärte Hauptstadt des Christentums war Rom. Er gab dem Sohn, den ihm Marie Luise gebar, bei seiner Geburt den Titel ›König von Rom‹. In einer Thronrede gab er seiner Befriedigung über die Lage Ausdruck. Er erklärte: »Ich werde Europa und Asien von England befreien.« Da es Napoleon unmöglich war, England zur See zu besiegen, und er eine Landung auf englischem Boden nicht wagen wollte, kehrte er zu seinem alten Plan zurück, England durch die Vernichtung seiner Kolonialmacht zu Fall zu bringen. Aber der Weg nach Ägypten und Indien war nur möglich mit Hilfe oder durch die Besiegung Rußlands. Er bekannte seinem Vertrauten Narbonne: »Ich will einen ehrenhaften Krieg gegen Alexander führen, mit zweitausend Kanonen und fünfhunderttausend Soldaten. Ich werde ihm Moskau wegnehmen.« Er 221
zwang den Kaiser von Österreich und den König von Preußen, ihm Hilfstruppen zur Verfügung zu stellen. Er war zum Angriff bereit. Die Beziehungen zu Rußland waren gespannt, seit Alexander die Einfuhr englischer Kolonialwaren erleichtert und Napoleon sich bitter beklagt hatte. Sein Brief an den Kaiser von Rußland endete mit den Worten: »Unser Bündnis existiert nicht mehr.« Alexander I. war nicht für den Krieg, obwohl die Beschlagnahme von Oldenburg, dessen Herzog seine Schwester geheiratet hatte, sowohl die getroffene Vereinbarung als auch seine Ehre und seine Gefühle verletzte. Er war nicht für offene Feindseligkeiten gegen einen Herrscher, der vierhundertsiebzigtausend Mann gegen ihn ins Feld führen konnte und seinen erzwungenen Verbündeten ungeheure Mengen von Waffen und Ausrüstungsmaterial abgefordert hatte. Aber die Menschenlawine der ›Großen Armee‹ setzte sich in Bewegung. Sie nahm Wilna und Smolensk. Die von Napoleon zum Bündnis gezwungenen Preußen unter General von York besetzten Kurland. Die Österreicher drangen auf russischen Boden ein. Die russischen Armeen waren zum Rückzug gezwungen. Alexander erließ einen Aufruf an seine Truppen: »Krieger, ihr verteidigt eure Religion, euer Land und eure Freiheit. Ich bin mit euch, und Gott ist gegen den Angreifer!« Einige Wochen vor der Schlacht von Borodino und vor der Besetzung Moskaus durch Napoleon entsandte Lord Castlereagh, der englische Premierminister, den bewährten Lord Cathcart als Botschafter nach Rußland. Er hatte den Auftrag, auf dem Weg beim Kronprinzen von Schweden, dem ehemaligen französischen Marschall Bernadotte, haltzumachen, und konnte nach London berichten, daß Seine königliche Hoheit das großzügige Angebot von fünfhunderttausend Pfund für seine Person und weitere fünfhunderttausend Pfund zur Ausrüstung der schwedischen Armee gegen Napoleon angenommen habe. Auf den Rat Cathcarts wurde Marschall Kutusow von Alexander I. mit dem Oberbefehl über die russische Armee betraut. Kutusow nahm dreihunderttausend Bürger und fünfundsechzigtausend Fahrzeuge aus Moskau mit sich, so daß Napoleon in eine vollkommen verlassene Stadt einzog. Im Kreml erklärte der Kaiser der Franzosen selbstbe222
wußt: »Wenn die großen Adligen Rußlands erfahren werden, daß wir die Herren ihrer Hauptstadt sind, dann werden sie es sich gut überlegen, weiterzukämpfen. Es würde sie zugrunde richten, wenn ich ihre Leibeigenen befreien würde. Die Einnahme Moskaus wird auch Alexander die Augen öffnen.« Am 20. September 1812 begann die russische Hauptstadt zu brennen. Erst waren es nur scheinbar belanglose Feuer, die da und dort ausbrachen. Aber plötzlich stand die ganze Stadt in Flammen. Bald lagerte die ›Große Armee‹ inmitten von rauchender Asche. Alexander I. schloß nicht den Frieden, den Napoleon erwartet hatte. Er erklärte dem Adjutanten General Kutusows: »Ich werde meinen Bart wachsen lassen und Kartoffeln mit dem letzten meiner Bauern essen, ehe ich meinen Namen zur Erniedrigung meines Vaterlandes und meines Volkes hergebe. Es gibt nur eine Wahl: Napoleon oder ich. Ich oder er. Wir beide können nicht länger gleichzeitig herrschen. Jetzt kenne ich ihn. Er wird mich nicht länger irreführen.« Der Adjutant erwiderte: »Sire, in diesem Augenblick haben Eure Majestät den Ruhm der russischen Nation und die Rettung Europas beschlossen.«
X Trotz der Ratschläge seiner Generäle harrte Napoleon in Moskau aus. Er konnte oder wollte es nicht wahrhaben, daß der nahende Winter seine Pläne verändern könnte. »Sehen Sie nicht, wie wunderbares Wetter wir haben?« erklärte er General Rapp. »Und das am 19. Oktober. Vertrauen Sie nicht mehr meinem Stern?« Wenige Tage später begann Napoleon selbst seinem sprichwörtlichen Glück zu mißtrauen. Er befahl den Rückzug der ›Großen Armee‹. Aber nicht nur die unaufhörlichen Angriffe der Kosaken in der eisigen Landschaft, auch Schneestürme und Mangel an Lebensmitteln verwandelten den geordneten Marsch in eine haltlose Flucht. Die fran223
zösischen Marschälle wurden von russischen Generälen geschlagen. Der Großteil des gewaltigen Heeres fiel dem Versuch, die vereiste Beresina zu überqueren, zum Opfer. Kaum zehntausend Mann entkamen unter der Führung ihres Kaisers nach dem Westen. Das einzige, das dem kläglichen Rest der ›grande armée‹ noch Mut geben sollte, war die Wiederholung des Tagesbefehls: »Die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers war niemals besser.« In einem Schlitten, nur begleitet von General Coulaincourt, traf Napoleon kurz vor Weihnachten in Paris ein. Er war besiegt worden. Nicht von den Russen, wie er verlautbaren ließ, sondern vom Winter. Aber er gab sich nicht geschlagen. Wenn er alle Truppen, die ihm noch zur Verfügung standen, ausrüsten konnte, fühlte er sich noch immer stark genug, den Erdkreis zu unterwerfen. Er marschierte wieder nach dem Osten und schlug in den Schlachten bei Lützen und Bautzen die jetzt miteinander verbündeten Russen und Preußen. Hatte sich das Glück wieder gewendet? Erst schien es so. Aber auf spanischem Boden besiegten die Engländer die französische Armee unter König Joseph, und die gekrönten Häupter Europas vereinigten sich gegen den von beinahe allen seinen Bundesgenossen verlassenen Kaiser der Franzosen. Auch Österreich trat dem Bündnis Rußlands, Preußens und Englands bei, nachdem Napoleon in einem Gespräch mit Metternich erklärt hatte: »Das Leben einer Million Menschen kümmert mich einen Dreck!« Drei Heere setzten sich gegen Napoleon in Bewegung und besiegten ihn in der Völkerschlacht bei Leipzig. Nach heftigen Gefechten gelang es den Verbündeten, in Paris einzuziehen. Im nahen Schloß Fontainebleau überlegte Napoleon noch immer, ob er sich nicht mit den zwanzigtausend Mann, die ihm geblieben waren, nach Italien durchschlagen und um den endgültigen Sieg kämpfen sollte. Er rechnete damit, vielleicht Kaiser Franz wieder umstimmen zu können, dessen Schwiegersohn er doch war, und hoffte auf die Hilfe seines Stiefsohns Eugen Beauharnais, des Vizekönigs von Italien. Erst als seine Marschälle ihm die Abdankung nahelegten und er zur Kenntnis nehmen mußte, daß der französische Senat seine Entthronung beschlossen hat224
te, erklärte sich Napoleon bereit, abzudanken und den Vorschlag anzunehmen, den Lord Cathcart entworfen hatte. Das Schriftstück, das der gefährlichste Feind des Kaisers der Franzosen seinem Premierminister Lord Castlereagh zur Gegenzeichnung sandte, lautete: »Vom Wunsche getragen, dem Kaiser Napoleon darzutun, daß die erbitterte Gegnerschaft der verbündeten Mächte in dem Augenblick ein Ende hat, in dem der Frieden Europas gesichert ist, und um ihm darzutun, daß sie weder vergessen können noch vergessen wollen, welcher Platz ihm in der Zeitgeschichte gebührt, bewilligen sie ihm den ungetrübten Besitz der Insel Elba für ihn selbst und seine Familie.« Die Degradierung des Kaisers der Franzosen zum Fürsten von Elba war für den Herrn der Erde ein unerträglicher Gedanke. Er nahm das Angebot dennoch an. Er wollte Zeit gewinnen, ein Sprungbrett für neue Unternehmungen finden, die Möglichkeit, durch neue diplomatische Verhandlungen alte Freunde umzustimmen, vor allem den Kaiser von Österreich, dessen Enkel, der König von Rom, sein Sohn und Erbe war. Napoleon führte auf Elba scheinbar das zurückgezogene Leben eines vornehmen Landedelmannes, der seine Güter gewinnbringend verwaltete, während die verbündeten Herrscher die Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich beschlossen. Der Bruder Ludwigs XVI. der Graf von Provence, wurde König Ludwig XVIII. und betraute den ehemaligen Außenminister Napoleons, Talleyrand, mit seiner Vertretung beim ›Wiener Kongreß‹, der unter dem Vorsitz Metternichs das durch die Französische Revolution und die Kriege Napoleons aus den Fugen gebrachte Europa neu ordnen sollte. Es kam nie zu einer Vollversammlung der anwesenden Herrscher, Staatsmänner und der etwa zweihundert Vertreter der Staaten, Städte, Herrschaften und Körperschaften, die sich in Wien eingefunden hatten. ›Das Komitee der fünf Großmächte‹, Österreich, Rußland, Preußen, England, Frankreich, traf alle wesentlichen Entscheidungen. Die unfreiwillig zur Untätigkeit gezwungenen Teilnehmer an der Völkerversammlung vertrieben sich die Zeit mit Vergnügungen, so daß es allgemein hieß: »Der Kongreß tagt nicht, er tanzt!« 225
Während die Beratungen am grünen Tisch nur langsam vor sich gingen, handelte Napoleon rasch. Er machte sich den sogenannten ›weißen Schrecken‹ zunutze, den die von Ludwig XVIII. begünstigten heimgekehrten großen Herren in Frankreich verbreiteten. Die zwanzigtausend Offiziere der ›grande armée‹, die fristlos entlassen worden waren, liefen Napoleon zu, als er überraschend im Süden Frankreichs landete, um seine Herrschaft wieder zu errichten. Ein Gespräch, das Metternich mit Talleyrand in Wien führte, als die Nachricht von der Flucht Napoleons aus Elba eintraf, kennzeichnete die Ratlosigkeit der führenden Staatsmänner. »Er wird irgendwo an der Küste Italiens landen und sich in die Schweiz begeben«, vermutete Talleyrand. Metternich erwiderte besorgt: »Er wird sich ohne Umwege nach Paris begeben.« Auf dem Marsch nach Paris gingen die Truppen, die Ludwig XVIII. gegen Napoleon sandte, zu ihm über. Der König floh ohne Widerstand. Der Kaiser der Franzosen zog wieder in die Tuilerien ein und übernahm die Herrschaft. Mit unfehlbarem Scharfblick erkannte er, daß Paris und Frankreich sich in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit verändert hatten. Er war bereit, seine Allgewalt aufzugeben, und erklärte Benjamin Constant, dem liberalen Schriftsteller und Politiker, der von ihm verbannt worden war, weil er sich für die Freiheit der Presse eingesetzt hatte: »Ich wollte die Welt beherrschen. Um das tun zu können, brauchte ich unumschränkte Macht. Wenn ich nur Frankreich regiere, geschähe es besser mit einer Verfassung … Vor allem darf die Freiheit der Presse nicht beschränkt werden. Soviel habe ich gelernt … Was alles andere betrifft, wünsche ich nur den Frieden, und ich wünsche ihn durch Siege zu gewinnen. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Ich bin auf einen langen und mühsamen Krieg gefaßt. Die Nation muß mich unterstützen, und zum Dank werde ich ihr die Freiheit geben … Die Zeiten haben sich geändert. Ich wünsche nichts mehr, als ›aufgeklärt‹ zu sein. Ich werde alt. Mit fünfundvierzig Jahren ist man nicht mehr der gleiche Mann wie mit dreißig. Das geruhsame Leben eines konstitutionellen Königs wird mir persönlich behagen. Es wird meinem Sohn noch besser behagen.« 226
Mit Beschwörungen, mit Bitten, mit geschickten Befehlen versuchte Napoleon, Frankreich wieder für sich zu begeistern. Aber als er nach hunderttägiger Herrschaft auf dem Schlachtfeld von Waterloo von Feldmarschall Blücher und dem zum Herzog von Wellington ernannten Sir Arthur Wellesley vernichtend geschlagen wurde, erhob sich der alte Marquis de Lafayette in der französischen Kammer und rief den Abgeordneten zu, denen Napoleon angeboten hatte, Frankreich gegen die nun von allen Seiten einströmenden Feinde als einfacher General zu verteidigen: »Habt Ihr vergessen, wo die Knochen Eurer Söhne und Brüder bleichen? In Afrika, am Tajo, an der Weichsel und im Eis Rußlands. Zwei Millionen Menschen sind für einen Mann gefallen, der ganz Europa bekämpfen wollte. Es ist genug!« Es war genug. Napoleon dankte ab. Diesmal zugunsten des Königs von Rom, seines kleinen Sohnes, den er hoffnungsvoll als Napoleon II. Kaiser der Franzosen bezeichnete, obwohl Kaiser Franz von Österreich seinen Enkel, den napoleonischen Erben, mit dem schlichteren Titel eines Herzogs von Reichstadt bedachte. Napoleon ergab sich den Engländern auf Gnade und Ungnade und wurde an Bord der Fregatte ›Bellerophon‹ nach der Insel St. Helena in die Verbannung gebracht. General von Gneisenau, der Stabschef des siegreichen Marschalls Blücher, war mit dieser ›Milde‹ nicht einverstanden. Er schrieb an den General von Mueffling, den er in das englische Hauptquartier gesandt hatte: »Wenn der Herzog von Wellington sich dagegen ausspricht, daß Napoleon zum Tode verurteilt wird, dann denkt und handelt er wie ein Brite. Großbritannien schuldet keinem Sterblichen auf Erden mehr als diesem gemeinen, gewalttätigen Raufbold. Denn durch die Ereignisse, die er herbeigeführt hat, ist Englands Größe, Wohlstand und Reichtum nur gewachsen. Es ist die Herrin der Meere und hat nun weder in dieser Herrschaft noch im Welthandel einen einzigen Wettbewerber zu fürchten.«
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Das romantische Staatsideal und die unromantische Wirklichkeit I Die englische Fregatte ›Bellerophon‹ hatte noch nicht in Südfrankreich vor der Insel St. Helena Anker geworfen und den gefangenen Kaiser der Franzosen an Land gesetzt, als der gemeinsame Feind den verbündeten Kaisern von Rußland und Österreich und dem König von Preußen schon fehlte. War ihre militärische Besetzung Frankreichs berechtigt, da es doch wieder an Ludwig XVIII. zurückgefallen und daher ein befreundetes Königreich war? War es richtig, daß sie der durch die Lasten des zwanzigjährigen, beinahe unausgesetzten Krieges ohnehin so schwer geprüften französischen Bevölkerung eine Kriegsentschädigung auferlegten? Mußte die Strenge der Sieger nicht zu neuerlichen revolutionären Unruhen in Frankreich führen? Die gekrönten Häupter halfen sich aus den schwerwiegenden Gewissensfragen durch eine wortreiche Verlautbarung und das Versprechen künftiger Nachsicht mit Frankreich. Sie gründeten die ›Heilige Alliance‹, die sich in einer ›Verlautbarung an die Völker‹ zur gemeinsamen Wahrung des ›romantischen Staatsideals und der christlichen Grundsätze in der Politik‹ bekannte, in Wirklichkeit aber nur Maßnahmen traf, die den durch die Niederwerfung Napoleons und die Neuaufteilung Europas herbeigeführten Zustand gewährleisten sollten. Die Zeiger der Zeit wurden von den hohen Bündnispartnern der Heiligen Alliance einfach zurückgedreht, als wären seit der Französischen Revolution nicht Jahrzehnte vergangen. Das ›Gottesgnadentum‹ des ›ancien régime‹ sollte wieder 228
seine umstrittene Geltung bekommen. Gegen alle revolutionären Bewegungen, in welchem Lande immer, sollte das ›monarchische Prinzip‹ wirksam sein: der geheiligte Bund von Königtum und Adel, von Thron und Altar. Die geistigen und politischen Ergebnisse der Revolution wurden von den unterzeichnenden Herrschern verflucht. Was vorher gewesen war, sollte wieder sein und unverändert bleiben. »Konservativ« wurde das Schlachtwort der Machthaber, die um die Sicherheit ihrer kaiserlichen und königlichen Majestät und die Erhaltung ihres Besitzes bangten. Das auf den Napoleonischen Schlachtfeldern vergossene Blut war ebenso vergessen wie Ursache und Anlaß der freiheitlichen und wirtschaftlichen Unruhen, die den Kriegen vorangegangen waren. Die europäischen Herrscher wollten durch alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln dafür sorgen, daß sich revolutionäre Umwälzungen nicht wiederholten. Im gemeinsamen Einverständnis wurden die aus den Fugen geratenen Grenzen Europas zurechtgezogen und umstrittene Gebiete freiwillig abgetreten, wie die österreichischen Niederlande an das neugeschaffene, mit Holland vereinigte Königreich der Niederlande, der Breisgau und die benachbarten Gebiete an Baden und Württemberg. Preußen, Hannover, Sachsen und Württemberg wurden als Königreiche anerkannt. Aber das Heilige Römische Reich Deutscher Nation lebte nicht wieder auf. Die im Raume des Reiches souveränen Fürsten vereinigten sich unter österreichischer Führung im ›Deutschen Bund‹, um ›der Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands willen und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten‹. Als oberste deutsche Behörde wurde der Bundestag in Frankfurt am Main eingesetzt. Daß landfremde Fürsten, wie der König von England als König von Hannover, der König von Dänemark als Herzog von Holstein, der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg, dem ›Deutschen Bund‹ angehörten, verstimmte und beunruhigte die während der Befreiungskriege für die ›reindeutsche‹ Einstellung begeisterten Kreise. Immer mehr Anhänger des romantischen Gedankens, daß die glanzvolle Vorzeit des germanischen Mittelalters wiederkehren müsse, erho229
ben ihre Stimme. Ihre lautesten Wortführer waren Studenten an deutschen Universitäten, die sich in Burschenschaften zusammenschlossen mit dem Ziel, ein einheitliches, freies Deutschland mit mittelalterlichem Kaisertum wieder zu errichten. Ihr Wahlspruch lautete: »Ehre, Freiheit, Vaterland!« Diese jungen Männer, die für die Heimat gekämpft hatten, waren vom revolutionären Zeitgeist der Aufklärung erfüllt gewesen und nur durch die Auflehnung gegen die Unterdrückung durch Napoleon zum Nationalismus gekommen. Sie wurden, ohne es zu wissen und vielleicht auch ohne es zu wollen, von den konservativen Mächten der sogenannten ›Reaktion‹, die sich unter der Leitung Metternichs breitmachte, vom wesentlichen Kampf ihres Jahrhunderts abgelenkt: dem Kampf der Kräfte, die alles daransetzten, die bestehende Gesellschaftsordnung sowohl zu verändern als auch zu erneuern. Bezeichnend für den engstirnigen Wunsch der fürstlichen Obrigkeiten, die geistige Entwicklung der Jugend durch Scheuklappen zu behindern, war die Polizeivorschrift des kaiserlichen Österreich, die den Studenten den Besuch auswärtiger Universitäten verbot, damit sie ›vor dem philosophischen Materialismus, dem religiösen Rationalismus oder Mystizismus, dem sogenannten Liberalismus, dem Revolutionsprinzip und dem Korporationsgeist bewahrt bleiben‹. Lehrer und Lernende sollten vor allem ›gute Bürger ihres geliebten Vaterlands‹ sein. Die jeder fortschrittlichen Entwicklung feindliche bedrohliche Überwachung der Behörden hatte die Bildung von Geheimbünden zur Folge, deren Mitglieder in ›Zellen‹ zusammenkamen. Die Ziele der Geheimbünde waren je nach der Örtlichkeit verschieden, im wesentlichen aber waren alle gegen die despotische Unterdrückung des Geistes und des freien politischen Lebens gerichtet. In Italien hatte es schon zur napoleonischen Zeit Einheits- und Freiheitsbestrebungen gegeben. Träger der Bewegung war der Geheimbund der ›Carbonari‹, die sich nach den Köhlern Calabriens nannten und den nationalen Gedanken vor allem gegen die von Österreich und Spanien abhängigen Königreiche und Herzogtümer Italiens einsetzten. Besonders angefeindet wurde Marie Luise, die zur Herzogin von Parma gemacht worden war, 230
nachdem sie Napoleon verlassen und den österreichischen Stallmeister Graf Neipperg geheiratet hatte, den sein Schwiegervater, Kaiser Franz I. zum Fürsten von Montenuovo erhob. Die unterirdisch wühlende Bewegung der Carbonari machte sich in revolutionären Ausbrüchen Luft, die gewaltsam unterdrückt wurden. Obwohl viele Verbreiter der aufgespeicherten Ruhelosigkeit des Volkes verfolgt und gefangengenommen wurden, nahm die Mitgliederzahl des Geheimbundes der Carbonari unaufhaltsam zu.
Weder das Kaisertum Napoleons noch die Heilige Alliance hatten die Revolution überwunden. Ihre Grundsätze erhielten sich in den Gedanken der Völker, wenn auch Franz I. von Österreich verächtlich erklärte: »Ich kenne keine Völker, sondern nur Untertanen!« Der von seinen Lobrednern als der ›Gütige‹ bezeichnete Kaiser ließ auch das Nationalitätenproblem nicht gelten, obwohl er bekannte: »… Meine Länder sind eines dem anderen fremd. Um so besser. Ich schicke Ungarn nach Italien und Italiener nach Ungarn. Aus ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselseitigen Haß der allgemeine Frieden …« Trotz der unerbittlichen Zensur, die Franz selbst als ›wirklich blöd‹ bezeichnete, obwohl sein allmächtiger Kanzler Fürst Metternich sie in allen österreichischen Ländern einführte und ihre Schärfe von den Anhängern Metternichs an den europäischen Fürstenhöfen eifrig nachgeahmt wurde, erhielt sich der Geist der Enzyklopädisten, in alle Sprachen übersetzt und verbreitet, so lebhaft, daß sogar die von König Ludwig XVIII. und seinem Nachfolger starr in Zucht gehaltene französische Bevölkerung spottete: »Die Bourbonen haben nichts vergessen und nichts dazugelernt.« So wie es einmal gewesen war, konnte es nur in der Vorstellung der Herrscher wieder werden, die sich selbstgefällig damit zufrieden gaben, daß durch ihr Einschreiten alles beim alten geblieben zu sein schien. Es hatte im europäischen Raum noch eine andere umwälzende 231
Bewegung begonnen, die zu gewaltigen Umschichtungen führen mußte, zu veränderten Lebensformen, die erst später als die Auswirkungen der ›industriellen Revolution‹ gekennzeichnet wurden. Waren die technischen Erfindungen des achtzehnten Jahrhunderts auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Aufklärung zurückzuführen? Die zeitliche Aufeinanderfolge deutete darauf hin, aber viele der ›Neuheiten‹, die die industrielle Revolution zeitigte, waren schon im Altertum erforscht worden, wie zum Beispiel der Dampf. Seine praktische Ausnützung und Anwendung jedoch, die Dampfmaschine, ermöglichte erst um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert den Bau von Dampfschiffen und wenige Jahrzehnte später den Bau von Eisenbahnen. Während sich Napoleon in der altertümlichen Rolle eines im goldbestickten Purpurmantels einherschreitenden Kaisers gefiel, richtete der amerikanische Ingenieur Robert Fulton den ersten Dampfschiffverkehr auf dem Hudson ein. Drei Jahre nach der Verbannung des ersten Kaisers der Franzosen fuhr das erste Dampfschiff von New York nach Liverpool und gab den Anstoß zur Beschleunigung der gewaltig zunehmenden Völkerwanderung aus der Alten in die Neue Welt.
II Die großen kriegerischen Ereignisse in Europa, die nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten ausgetragen worden waren – in Zeitungen und Flugschriften, in denen sich die feindlichen Herrscher gegenseitig herabsetzten und verhöhnten –, hatten sich auch in den überseeischen Besitzungen der miteinander und gegeneinander kämpfenden Königreiche und Länder ausgewirkt. Überdies hatte das Napoleonische Machtwort, durch das das Königshaus der Braganza vom portugiesischen Thron verjagt worden war, die Auswanderung der königlichen Familie nach Brasilien veranlaßt. Mit Johann VI. und seinem Hofstaat war neues Leben in das bis dahin dicht abgeschlossene Ko232
lonialreich eingekehrt und hatte zur Entstehung einer ›Mischkultur‹ beigetragen, zur Bildung eines eigenen Volkes, das die portugiesischen Sitten und Gebräuche örtlich abwandelte. Die Eingeborenen indianischer Herkunft, die sich schon unter portugiesischer Oberaufsicht mit den afrikanischen Negersklaven vermischt hatten, waren berauscht von der Ankunft und Nähe ihrer Herrscher, die sie nur als märchenhafte, gottähnliche Gestalten vom Hörensagen kannten. Die christlich-demütige Haltung der Brasilianer, die ihnen in den zahlreichen Missionen und Kirchenschulen anerzogen worden war, trug dazu bei, den Aufenthalt König Johanns und seiner Familie erfreulich zu gestalten. Brasilien, die reiche Schatzkammer der portugiesischen Krone, wurde vom Kronprinzen Dom Pedro so hoch gewertet, daß er den Aufenthalt in der Hauptstadt Rio de Janeiro der Rückkehr nach Lissabon vorzog. Er blieb auch nach der Wiedereinsetzung seines Vaters in Portugal da und rief sich selbst zum Kaiser von Brasilien aus. Seine Heirat mit der habsburgischen Erzherzogin Leopoldine, die mit ihrem Hofstaat von Schönbrunn nach Rio de Janeiro übersiedelte, regte zu neuen Auswanderungen aus dem europäischen Raum in sein ›Reich der ungeahnten Möglichkeiten‹ an, das jedem Einwanderer unermeßlichen Reichtum versprach. Brasilien, die riesige Kolonie Portugals, war als einheitlicher zusammenhängender Kronbesitz verwaltet worden, nicht so wie die spanischen Kolonien in Süd- und Mittelamerika, die von auf ihren Machtbereich eifersüchtigen Vizekönigen regiert wurden. Brasilien blieb auch nach der Loslösung vom Mutterland durch Kaiser Pedro I. eine geschlossene Einheit, während die spanischen Kolonien, jede für sich, die Unabhängigkeit von ihrem Mutterland gewannen. Der führende Kämpfer für die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien war Simon Bolivar, der zum Präsidenten der Republik Groß-Kolumbien gewählt wurde. Daß die von ihm zu einem Reich zusammengeschlossenen Vizekönigreiche in unabhängige Republiken zerfielen, war vor allem örtlichen Verwaltungsschwierigkeiten in den unendlichen Räumen zuzuschreiben. Aber nach und nach machte sich eine spanische Kolonie nach der anderen durch blutige Kämpfe und geschick233
te Verhandlungen zur selbständigen Republik. Zu ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit trugen auch die Unruhen im Königreich Spanien bei, die König Ferdinand VII. der nach dem Sturz Napoleons auf den Thron zurückgekehrt war, in einen Bürgerkrieg verwickelten und veranlaßten, die Hilfe Königs Ludwigs XVIII. zu erbitten. Daß ein französisches Heer von einem König von Spanien ins Land gerufen wurde, um den Aufruhr von Spaniern niederzuwerfen, lockerte die letzte Anhänglichkeit der in ihrem Stolz verletzten spanischen Siedler in Übersee. Bestimmend für die endgültig erfolgreiche Loslösung der südamerikanischen Staaten von den Mächten der Alten Welt wurde die von James Monroe, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, verkündete ›Monroe-Doktrin‹, die bestimmte, daß jede Einmischung europäischer Staaten in die Angelegenheiten unabhängiger amerikanischer Regierungen und umgekehrt zurückzuweisen sei und daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika als die Schutzherren der mittel- und südamerikanischen Staaten anzusehen seien. »Amerika den Amerikanern«, wurde die Parole der Neuen Welt. Jede europäische Einmischung in Amerika wurde als unmittelbarer Anlaß zum Krieg erklärt.
Der Verkündung der Monroe-Doktrin war die Erwerbung des bis dahin spanischen Florida durch die Vereinigten Staaten vorangegangen. Die erste demokratische Republik der Neuzeit hatte die ursprünglichen dreizehn Staaten auf sechsundzwanzig Bundesstaaten vermehrt und ihre Handelsbeziehungen zu England trotz der vorübergehenden kriegerischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren des Napoleonischen Zeitalters mächtig ausgebaut. Dem wirtschaftlichen und politischen Wachstum der Vereinigten Staaten kam auch eine der wesentlichsten Schwierigkeiten des ehemaligen Mutterlandes zugute, die scheinbar widersinnig durch die vorteilhafte wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens entstanden war: die Übervölkerung. Mit der Zunahme der Menschenzahl konnte die Landwirtschaft Englands nicht Schritt halten. Eine vermehrte Gütererzeugung wurde 234
unerläßlich, um durch Ausfuhr und Austauschhandel den Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu decken. Die technischen Erfindungen, die Spinn- und die Dampfmaschine, der mechanische Webstuhl, wurden in Verbindung mit der Förderung von Kohle Voraussetzungen für die Entstehung der englischen Großindustrie, die vor allem Textilien und Eisen verarbeitete. Die neuartigen, für die Massenerzeugung eingerichteten Anlagen hatten eine Umschichtung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der wirtschaftlichen Grundsätze zur Folge. Die Forderung nach dem Bruch mit dem staatlich gelenkten Merkantilsystem und nach wirtschaftlicher Freiheit war erstmals von Adam Smith erhoben worden, der die Lehren der Physiokraten erweiterte und die richtig ausgenützte und verwertete Arbeitskraft als die Quelle des Reichtums und den Eigennutz als die Triebfeder der menschlichen Wirtschaft betrachtete. Adam Smith legte auch für den Arbeitslohn das Verhältnis von Angebot und Nachfrage fest und forderte, daß die Höhe des Arbeitslohns nicht durch den ›Edelmut des Arbeitgebers‹, sondern durch den ›Eigennutz des Arbeitnehmers‹ bestimmt werden müsse. Der Erwerb um seiner selbst willen und die ungehinderte Freiheit des Erwerbs seien sittliche Forderungen, die das ›Streben nach Reichtum‹ begründeten. Der wirtschaftliche Liberalismus, der sich aus der ›klassischen Nationalökonomie‹ Adam Smiths und seiner Nachfolger herausbildete, fand in England Anklang. Besonders die Baumwollindustriellen in Manchester wirkten für die allgemeine Anerkennung des wirtschaftlichen Liberalismus, um so mehr, als ihnen der freie Handel Vorteile, den Arbeitnehmern aber keinen staatlichen Schutz gewährte. Die niedrigen Löhne und die langen Arbeitszeiten erweckten in den Arbeitern den Wunsch nach den alten Verhältnissen in ihrer Arbeit. Sie verwünschten die Maschinen als die Ursache ihres Elends und sehnten sich nach der Ungebundenheit des Handwerks zurück. Sie waren also ›reaktionär‹, während sie doch fortschrittlichen Schutz gegen die Arbeitgeber begehrten. Es kam zur Bildung von Gewerkschaften, den ›Trade Unions‹, die sich die Vertretung der Belange der Arbeiterschaft zum Ziele setzten. 235
Unternehmer und Arbeiter, die Vertreter des ›Kapitals‹ und des ›Proletariats‹, standen einander feindlich gegenüber, aber keine der beiden Gruppen hatte unmittelbaren Einfluß auf die Handlungen der englischen Regierung, die sich aus Mitgliedern des Adels und der Kaufmannschaft zusammensetzte, aus den Grundbesitzern, die, gemäß der Verfassung, allein das Wahlrecht im Parlament innehatten und die soziale Verwirrung der Gemüter mit überlegener Ruhe für ihre Zwecke gebrauchten. Das Streben nach Reichtum, für den einzelnen wie für das ganze Volk, war schon seit den Zeiten Elisabeths wesentlicher Inhalt der englischen Politik geworden. Die Beherrschung der Seeschiffahrt, die Errichtung von Handelsgesellschaften an allen Ecken und Enden des Erdkreises, die Einrichtung von Kolonialregierungen, die nicht nur der Beschaffung von Rohstoffen, sondern auch dem Absatz der heimischen Industrieerzeugnisse dienstbar waren, hatten England zum reichsten Land der Erde gemacht. Es wollte erhalten, was es besaß. Die Erhöhung der Ausgaben des Staatshaushaltes, die durch die Napoleonischen Kriege nötig gewesen waren, mußte ausgeglichen werden. Das war nur durch die Aufrechterhaltung des Friedens möglich. Um seine unübersehbaren Besitzungen ungestört verwalten und ausbauen zu können, bedurfte England einer übermächtigen Flotte. Es hatte sie. Was auf dem europäischen Festland geschah, das hatte für die englischen Staatsmänner nur insofern Bedeutung, als die Ereignisse die Kreise, die von ihnen gezogen worden waren, nicht stören durften. England war also nicht bereit zu Interventionen, als der König von Spanien in London um Hilfe zur Unterdrückung der Selbständigkeitsbestrebungen der spanischen Kolonien vorstellig wurde. England wollte mit den neuen Republiken Amerikas Handel treiben und keineswegs Krieg führen und anerkannte die Unabhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Staaten und die Gültigkeit der Monroe-Doktrin. Immer mehr Engländer wanderten nach den Vereinigten Staaten, nach Kanada und Neuseeland aus. Die Völkerwanderung von der Alten in die Neue Welt, der sich auch in zunehmender Zahl die mit den 236
Verhältnissen in ihren Heimatländern unzufriedenen Deutschen anschlossen, nahm gewaltig zu.
Keine Intervention, kein unmittelbares Eingreifen in die Ereignisse auf dem europäischen Festland – die sogenannte ›splendid isolation‹ Englands begann schon bald nach dem glorreichen Sieg von Waterloo. Dennoch spielten dynastische Beziehungen eine bedeutsame Rolle in der englischen Außenpolitik. Die verwandtschaftlichen Verhältnisse des Königshauses wurden oft zum Ausgangspunkt des weltpolitischen Einsatzes Englands. Das geschah nicht so sehr auf Wunsch des dritten und vierten Königs Georg aus dem Hause Hannover, als auf Veranlassung des Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, der als einer der Adjutanten Kaiser Alexanders von Rußland nach London gekommen war und die Tochter Georgs IV. die Thronfolgerin Charlotte, geheiratet hatte. Der fürstliche Glücksritter, der sich schon als Gatte einer Königin und als Drahtzieher der Geschichte gesehen hatte, wurde vorerst durch den Tod Charlottes um seine Hoffnungen betrogen. Sie erfüllten sich dennoch durch seine Nichte Viktoria, die Tochter des Herzogs von Kent, den er mit seiner Schwester verheiratet hatte. Viktoria wurde nach dem Tode Georgs IV. Königin von England und vertraute niemand mehr als Leopold, »ihrem geliebten Onkel«, der das uralte im Raum beschränkte Haus der Coburger zu einem mächtigen, weitverzweigten Herrschergeschlecht machen sollte.
III Das langsame Dahinsterben des gefangenen Kaisers Napoleon und die Nachricht von seinem Tod berührten die Weltöffentlichkeit nur wenig. Aber die sagenhafte Laufbahn General Bonapartes, der durch die 237
Macht seines Genies aus eigenen Kräften Beherrscher eines Zeitalters geworden war, beschwingte die Vorstellung Ehrgeiziger und Tatendurstiger, die den Lebensweg des ›kleinen Korporals‹ in ihren örtlichen Bereichen nachahmen wollten. Einer der hervorragendsten Männer dieser Art war Alexander Ypsilanti, der sich die Vorarbeit eines in Odessa von griechischen Kaufleuten gegründeten Geheimbundes zur Befreiung der Griechen von der türkischen Herrschaft zunutze machen wollte. Er rief nach dem Vorbild Napoleons die hellenische Nation zum Aufstand auf, der erst die Donau-Fürstentümer in der Moldau und Walachei erfaßte und sich rasch über die griechischen Inseln ausdehnte. Der Bestand der Türkei, die viele Völker beherrschte, und ihre Mittelmeerstellung standen auf dem Spiel. Der Sultan rief seinen Vasallen Mehemid Ali, den Vizekönig von Ägypten, zu Hilfe. Er fand auch Verständnis bei Fürst Metternich, den die freiheitlichen Gesänge und volkstümlichen Kampflieder der Griechen abstießen. Der kaiserlich österreichische Kanzler fürchtete, daß der Erfolg der griechischen Freiheitsbewegung ein gefährliches Vorbild für von fremden Fürsten beherrschte Völker werden könnte und daß Veränderungen im Nahen Osten zu Machtkämpfen der Großmächte führen würden. Er wollte die Kräfte der Heiligen Alliance gegen die Griechen einsetzen, aber Rußland sprach sich dagegen aus. Die Donau-Fürstentümer lagen im russischen Einflußbereich, der nur von der Türkei gefährdet werden konnte. Rußland war um so mehr für die Befreiung des hellenischen Volkes, als die griechischen Unabhängigkeitsbestrebungen von der öffentlichen Meinung Europas begeistert begrüßt wurden. Aus allen Ländern des europäischen Raumes eilten Freiwillige nach Griechenland, um den Hellenen im Kampf um ihre Freiheit beizustehen. Die Taten und Gedichte Lord Byrons entflammten England, das sich mit Frankreich und Rußland gegen die Türkei verband. Ypsilanti, der besiegt worden und nach Österreich geflohen war, konnte seinen persönlichen Ehrgeiz zwar nicht befriedigen, aber an den Folgen des von ihm hervorgerufenen Aufstands zerbrach die ›Heilige Alliance‹, die Einigkeit der Großmächte, die sich die Beherrschung Europas vorbehalten hatten. Österreich stand abseits, als die türkisch-ägyptische 238
Flotte von den englisch-französisch-russischen Kriegsflotten bei Navarino (Pylos) vernichtet wurde. Russische Truppen besetzten die Donau-Fürstentümer. Die Türkei anerkannte die Unabhängigkeit Griechenlands. Otto, der Sohn des griechenfreundlichen Königs Ludwig I. von Bayern, wurde von der griechischen Nationalversammlung zum König von Griechenland gewählt. Ein neues Königreich war auf altem geschichtlichem Boden entstanden.
Die miteinander um das Übergewicht im Nahen Osten in Wettbewerb tretenden Mächte Europas warteten nur auf den günstigen Augenblick, um die ›Erbschaft des kranken Mannes‹ anzutreten. So wurden die Türkei und der Sultan in den Zeitungen der europäischen Presse schon damals ohne Vorbehalt bezeichnet – während Österreich und Rußland ihren Einfluß in den Gebieten der Donaumündung und auf dem Balkan gegenseitig zu unterwühlen versuchten und Rußland und England sich den Bosporus und die Dardanellen streitig machten –, obwohl der Sultan noch sein weites Reich von Konstantinopel aus beherrschte. Grund und Anlaß künftiger Kriege zeichneten sich ab. Es ging nicht nur um politische, sondern auch um wirtschaftliche Vorteile und Belange, um Absatz- und Rohstoffgebiete, deren Wichtigkeit zum Teil von der technischen Entwicklung in den Schatten gestellt und überholt werden sollte. Die zukünftige Vielfältigkeit des Lebens der Menschheit wurde nur von ganz wenigen Zeitgenossen erfaßt. Die meisten Staatsmänner blieben den erstarrten Begriffen vergangener Machtpolitik verhaftet. Das kam am deutlichsten in Frankreich zum Ausdruck. Karl X. der seinem Bruder Ludwig XVIII. auf den Thron gefolgt war, hatte wahrhaftig ›nichts vergessen und nichts dazugelernt‹. Er war ein Mann des achtzehnten Jahrhunderts, der dem Ablauf der Zeit nicht nachgekommen war. Der ehemalige Graf von Artois war ein ›Ultra‹. Mit diesem Spott239
namen bedachte die fortschrittliche Opposition die um die Wiederherstellung der uneingeschränkten Königsgewalt bemühten französischen Politiker der ›Restauration‹. Der Versuch Karls X. die Abänderung des Wahlgesetzes und die Aufhebung der Pressefreiheit zu erzwingen, führte zu einer Erhebung von freiheitlichen Studenten und Arbeitern, die mit dem großen Wort ›Revolution‹ bezeichnet wurde. In drei heißen Julitagen, die in der französischen Geschichtsschreibung als ›les trois glorieuses‹, die drei Glorreichen, bezeichnet wurden, obwohl nur unwesentliche Kämpfe stattfanden, fiel die Herrschaft der ›Restauration‹, wie das mißliebige Regime Ludwigs XVIII. und seines Nachfolgers genannt worden war, zusammen. Karl X. mußte fliehen, an seiner Stelle bestieg sein entfernter Verwandter Herzog Louis Philippe von Orleans, der Liebling der Bürger, nicht als König von Frankreich, sondern als ›König der Franzosen‹ den Thron. Über den Tuilerien und den Gebäuden der Verwaltung wehte nicht mehr das Lilienbanner der Bourbonen, sondern wieder die ›Trikolore‹, das Sinnbild des revolutionären Ursprungs des neuen Königtums, das vom Parlament als solches anerkannt wurde, aber auf das Gottesgnadentum mit dem Ausspruch Verzicht leistete: »Le roi regne, mais il ne gouverne pas.« – Der König ist König, aber er herrscht nicht. – Auch der Adel mußte sich der eilig wiedererrafften Vorrechte begeben. Die ›goldenen Tage‹ Frankreichs, die den drei Glorreichen folgten, gehörten dem Bürgertum, der ›Bourgeoisie‹, die mit der Entschlossenheit der Emporgekommenen die entscheidende Macht übernahm. Unter der Regierung Karls X. hatte Frankreich Krieg gegen die Seeräuber im Mittelmeer geführt und Algerien erobert. Unter dem Bürgerkönig Louis Philippe wurde Algerien zur französischen Kolonie, deren militärischen Schutz die damals entstandene ›Fremdenlegion‹ übernahm.
Der Erfolg der Pariser Arbeiter und Studenten, die einen König gestürzt und einen König eingesetzt hatten, regte die Unzufriedenheit in 240
den ehemaligen österreichischen Niederlanden zum Aufstand gegen den König der Niederlande an. Die niederländischen Aufrührer hatten andere Beweggründe als ihre französischen Nachbarn. Die zum erstenmal von Julius Cäsar ›belgae‹ genannten Bewohner des Gebiets der ehemaligen österreichischen Niederlande waren in der Mehrzahl katholisch, während das ehemalige Holland protestantisch war. Die seit Jahrhunderten verschiedenen Lebensformen hatten eine natürliche Grenze zwischen die von den Großmächten willkürlich vereinigten Länder gezogen. Durch die Französische Revolution beeinflußt, war eine liberale Bewegung in Belgien entstanden, die sich widersinnigerweise mit den örtlichen Katholiken verband, um Belgien unabhängig zu machen. Der Aufstand der Belgier wurde von England um so mehr gefördert, als es den König des neuen Reiches schon in Bereitschaft hatte. Es war Prinz Leopold von Sachsen-Coburg, der sich endlich eine Krone aufs Haupt setzen und nun als König um so besser seinen Einfluß auf seine Nichte Viktoria ausüben konnte. Um seiner neugewonnenen Macht sicher zu sein, sorgte er dafür, daß die fünf Großmächte seine politische Neutralität anerkannten. Dieser staatsmännische Kunstgriff gelang Leopold durch seine Heirat mit der Tochter Louis Philippes, des Königs der Franzosen, der seine Hoffnung auf die Erweiterung Frankreichs nach dem Norden zu begrub, aber immerhin Ahnherr eines neuen königlichen Geschlechts wurde.
Der beinahe gleichzeitige Aufstand der um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Polen gegen die russische Herrschaft war nicht so glücklich. Er wurde in blutigen Kämpfen niedergeschlagen. Daß der König von Preußen dem Kaiser von Rußland dabei Waffenhilfe gewährte, empörte die deutsche Öffentlichkeit. Die preußische Intervention gegen eine nationale Erhebung widersprach auch den Grundsätzen der nationalen Burschenschaften, die es nicht wahrhaben wollten, daß staatsmännische Belange bedeutsamer sein sollten als das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes. Dennoch setzte sich der Gedanke der Nützlichkeit 241
eines deutsch-russischen Bündnisses, das gegen Österreich gerichtet sein sollte, immer stärker durch. Diese deutsche Abneigung gegen das österreichische Kaiserreich wurde vor allem durch die reaktionäre Haltung Metternichs verursacht, die der zunehmenden Strömung des Liberalismus widersprach und überdies außenpolitisch so völlig versagt hatte. Das Verlangen nach Reformen, nach Pressefreiheit und freiheitlichen Verfassungen wurde in allen deutschen Ländern laut. Neben den literarischen Vorkämpfern des Liberalismus, Heine, Börne und Uhland nahm Georg Büchner als Gründer der geheimen ›Gesellschaft für Menschenrechte‹ eine hervorragende Stellung ein. Sein Drama ›Dantons Tod‹ trug wesentlich dazu bei, das Gedankengut der Französischen Revolution in Deutschland volkstümlich zu machen. Um das schwarz-rotgoldene Banner der Studenten scharten sich nicht mehr nur die Burschenschaften, die das mittelalterliche Kaiserreich wiedererrichten wollten, sondern auch die Anhänger der modernen Freiheitsideale. Metternich verfolgte nicht nur ›Demagogen‹. Er stellte sich auch gegen eine wirtschaftliche Neuerung, die der Professor der Staatswissenschaften an der Universität Tübingen, Friedrich List, als Wortführer deutscher Kaufleute und Industrieller dem Bundestag in Frankfurt vorgeschlagen hatte. Es gab im Gebiet des Deutschen Bundes achtunddreißig verschiedene Zollsysteme. Die Schranken sollten fallen, die Zölle sollten vereinheitlicht werden. Nicht alle Forderungen des als ›Demagogen‹ aus Amt und Stellung verjagten und zu Festungshaft verurteilten Friedrich List waren uneingeschränkt freiheitlich. Er war zwar für die Abschaffung der Zwischenzölle in Deutschland, aber doch für Schutzzölle gegen das Ausland zugunsten der heimischen Industrie. Es war offenkundig, daß die deutschen Länder dem durch die industrielle Revolution hervorgerufenen Fortschritt Englands nachstreben mußten. Auch die deutsche Bevölkerung nahm zu, der Wettbewerb mit dem Ausland war nur durch die Hebung und Verbesserung der Erzeugung aufrechtzuerhalten, durch ein Zusammenspiel aller wirtschaftlichen Kräfte, die sich als deutsch bezeichneten. Der preußi242
sche Finanzminister Motz nahm es auf sich, eine Zollvereinigung unter preußischer Führung zu schaffen. Nach mühseligen Verhandlungen wurde der ›Zollverein‹ gegründet, dem erst Hessen, dann Bayern, Württemberg und Sachsen, schließlich die meisten anderen deutschen Länder beitraten. Ganz abgesehen von der wirtschaftlichen Bedeutung des Zollvereins, der einen einheitlichen deutschen Markt ermöglichte, hatte seine Gründung eine schwerwiegende politische Bedeutung. Österreich gehörte dem Zollverein nicht an. Es hatte die unter preußischer Führung stehende Wirtschaftsvereinigung abgelehnt. Es stand abseits. Diese Absonderung und Abneigung gegen die unaufhaltsame Entwicklung war auf die starre Haltung Metternichs zurückzuführen, der den Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit und Auffassungsgabe schon unmittelbar nach dem Sturz Napoleons überschritten hatte. Metternich war von der ›guten alten Zeit‹, die sich im österreichischen Lebensstil, dem behaglichen ›Biedermeier‹, breitmachte, so überzeugt, daß er nicht begreifen konnte, warum irgend etwas anders werden sollte. Es hatte sich von seinem Gesichtspunkt aus nichts verändert. Der ›gütige‹ Kaiser Franz war im Alter ebenso steif, unbeweglich und teilnahmslos wie in seiner Jugend. Aber Österreich hatte vierzig Millionen Einwohner. Zum größten Teil waren es Slawen, die immer zwangloser vom Panslawismus, der sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeit aller Slawen, sprachen. Es gab Tschechen, Slowaken, Polen, Wenden, Serben, Kroaten in Österreich – und auch Deutsche, Italiener und Ungarn. Diese so ganz und gar voneinander verschiedenen und unter ganz verschiedenen Bedingungen lebenden ›Untertanen‹ konnten nach Meinung Metternichs nur durch eines auf den gemeinsamen Nenner der Kaiser- und Königskrone gebracht werden: durch die Anwendung von Gewalt. Das Schritthalten mit der Zeit erschien dem kaiserlichen Kanzler keineswegs so wichtig wie die Erhaltung der bestehenden Ordnung. Sollten die ›deutschen Brüder‹ nur im Eisenbahnbau voraus sein, das tat nichts zur Sache. Auch in Österreich würden Eisenbahnen gebaut werden. Später – aber doch. Vielleicht. »Und wenn auch nicht …«, war der gleichmütige Wahlspruch Metternichs, obwohl 243
ihm eine Veröffentlichung ›Österreich und dessen Zukunft‹ schlaflose Nächte bereitete. In dieser Schrift, die von der an der Lässigkeit und Trägheit der Behörde verzweifelnden Jugend aller in Österreich lebenden Völker verschlungen wurde, hieß es: »Österreich ist ein rein imaginärer Name, welcher kein in sich abgeschlossenes Volk, kein Land, keine Nation bedeutet … eine kurze Zeit noch, und es werden sich … in Österreich vier ausgewachsene gerüstete Nationalitäten feindlich gegenüberstehen und unter sich nur ein gemeinsames Band haben: das der Abneigung und des Widerstands gegen die Regierung.«
IV Im gleichen Jahr, in dem mit der Thronbesteigung Viktorias von England das ›Viktorianische Zeitalter‹ begann, wurde Ferdinand I. Kaiser von Österreich. ›Der gute Nandl‹ hieß der von Kindheit an Schwachsinnige im Volksmund. Er hatte auch nicht das geringste dagegen, daß sich Metternich die eigentliche Leitung der Staatsgeschäfte vorbehielt, um so weniger, als der ›Fürst‹ nach dem Tode Talleyrands der einzig überlebende führende Staatsmann aus der Zeit des Wiener Kongresses war und die bedingungslose Verehrung der glorreichen Vergangenheit des Napoleonischen Zeitalters gerade in diesen Jahren einen Heiligenschein um die Persönlichkeiten wob, die für oder gegen den kleinen Korporal gewirkt hatten. Diese unaufhaltsame Strömung der zeitgenössischen öffentlichen Meinung wurde durch ein denkwürdiges Gespräch ausgelöst, das der französische Ministerpräsident Thiers, der berühmte Historiker, mit dem Bürgerkönig Louis Philippe führte. Der wegen seiner spitzen Kopfform von seinen Gegnern als ›Birne‹ verhöhnte König der Franzosen war in verzweifelter Stimmung. Die Bevölkerung Frankreichs, mit Ausnahme der Bürger, die er reich und groß gemacht hatte, war gegen ihn: die sogenannten Legitimisten, die Anhänger des von ihm 244
vertriebenen Karl X. die Arbeiterschaft, die Studenten und vor allem die Bonapartisten, die ihrem geliebten Kaiser und dem Ruhm des Vaterlandes nachtrauerten. Louis Philippe fühlte sich vereinsamt. Nur ein tiefschürfender Kenner der Geschichte wie Thiers konnte den unerhörten Einfall haben, den er zur Kenntnis des um seine Krone besorgten Königs brachte. Es war ein Vorschlag, der gefährlich zu sein schien, aber bei näherer Betrachtung gewann. Napoleon I. war tot. Sein Sohn, der König von Rom, war als Herzog von Reichstadt gestorben. Der Neffe des Kaisers der Franzosen, Louis Napoleon, der Sohn des Königs von Holland und Hortense Beauharnais', hatte seine Unfähigkeit als Aufrührer kläglich bewiesen und betätigte sich als zweifelhafter Lebemann. Worin bestand dann das Wagnis, wenn sich jetzt Louis Philippe, der König der Franzosen, zum Schutzherrn der Bonapartisten aufwarf und damit endlich Gefolgsleute für seinen einsamen Thron fand? Das Haus Orleans, dem Louis Philippe entstammte, war ein Nebenzweig der bourbonischen Königsfamilie. Die Bourbonen waren die erklärten Feinde des Generals Bonaparte gewesen. Sie waren unversöhnlich geworden, seit er den Herzog von Enghien hatte erschießen lassen, aber Thiers bekam den Auftrag und die Vollmacht Louis Philippes, alles zu tun, was in seinen Kräften stünde, und nichts zu unterlassen, um durch die Ehrung des Andenkens Napoleons die Bonapartisten zu königlichen Parteigängern zu machen. Mehr als zehn Jahre waren seit der letzten bedeutsamen Veröffentlichung über Napoleon vergangen. Bald aber nach dem Gespräch Louis Philippes mit Thiers erschien eine Reihe von Büchern, in denen die Erinnerung an die große Zeit Frankreichs und Napoleon persönlich verherrlicht wurde. Nicht nur französische, auch englische Schriftsteller wurden mit allen Mitteln dazu angeregt, das ruhmbedeckte Gedächtnis unsterblich zu machen. Nicht genug damit. Ein königlicher Prinz wurde vom Bürgerkönig nach St. Helena gesandt, um die sterblichen Überreste Napoleons nach Paris zu holen, damit das größte, feierlichste und prächtigste Leichenbegängnis der Geschichte – zwanzig Jahre nach dem Tod des Kaisers der Franzosen – veranstaltet werden konnte. Die Volkstümlichkeit 245
Louis Philippes nahm zu – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie die Volkstümlichkeit Napoleons. Die Bonapartisten stimmten zwar fürs erste für Louis Philippe, aber er wurde die Geister, die er gerufen hatte, nicht los.
V Der politische Wirrwarr im europäischen Raum – das allseitige Zerren an Landesgrenzen, sowohl an altüberkommenen als auch an den neuen, in Kongressen und durch Staatsverträge oft so willkürlich gezogenen, das vorsichtige Ausschauen der Herrscher und ihrer Staatsmänner nach günstigen Gelegenheiten, um Einflußerweiterungen und Handelsvorteile zu gewinnen – unterschied sich von den vorhergegangenen Machtkämpfen der Geschichte durch die gewaltige Erweiterung des Schauplatzes der Ereignisse und die Zielsetzungen, die beinahe den ganzen Erdkreis umfaßten. Der wetteifernde Wunsch der Mächte nach dem Besitz von Kolonien war besonders durch das erfolgreiche Beispiel Großbritanniens und des kleinen Königreichs Portugal angeregt worden. Da aber der Großteil der überseeischen Besitzungen längst schon verteilt oder in festen Händen oder schon unabhängig war, bemühten sich die Mächte, die bei der Verteilung der Neuen Welt mit leeren Händen ausgegangen waren, anderswo Ersatz und Entschädigung für versäumte Gelegenheiten zu finden. So begnügte sich Frankreich nicht mit der emsig betriebenen Kolonisierung Algeriens; es strebte nach dem Besitz der ganzen nordafrikanischen Küste. Spanien, das seine süd- und mittelamerikanischen Kolonien verloren hatte, wollte ganz Marokko erwerben. Und Rußland hielt an seinem Vorhaben fest, so viel wie möglich von der ›Erbschaft des kranken Mannes‹ zu erhalten. Es drängte den Küsten des Schwarzen Meeres zu. Es wollte auch in Europa Fuß fassen, immer weiter dem Westen zu. Jedenfalls auf dem Balkan. Und schließlich auch im Fernen Osten. Durch die Nachbarschaft Rußlands fühlte sich Österreich bedroht. 246
Sein eigener Wunsch nach Ausdehnung war nach dem Südosten gerichtet. Es war beunruhigt durch die panslawistische Bewegung, die, durch russische Sendboten genährt, immer heftiger zunahm. Aber nicht nur die österreichischen Slawen, auch die österreichischen Italiener wollten sich der aufgezwungenen Fremdherrschaft entledigen. Überdies deuteten unaufhörliche Umtriebe im Königreich Ungarn mit seinen Magyaren, Kroaten und Slowenen immer gefährlicher an, daß es mehr als einen ›kranken Mann‹ in Europa gab. Jetzt sorgte noch ein straffes Polizeisystem für die Ordnung und den Zusammenhang der Erbländer der österreichischen Krone. Aber wie lange würde die einige Aufrechterhaltung des in seinen Ländern so grundverschiedenen Staatsverbandes möglich sein? »Eine österreichische Nationalität gibt es nicht«, schrieb damals ein Beamter der kaiserlichen Hofkanzlei, Baron Adrian Werburg. Erzherzog Ludwig, der gemeinsam mit Fürst Metternich und Graf Kolowrat die Staatsgeschäfte für den schwachsinnigen Kaiser leitete, war vom Gegenteil überzeugt. Er huldigte dem Grundsatz: »Liegenlassen ist die beste Erledigung.« Die für Ferdinand I. eingesetzte Vormundschaftsregierung wurde von zeitgenössischen Spöttern das ›Drei-Greise-Regiment‹ genannt, oder ›die Totengräber Österreichs‹!
Das Nationalitätenproblem, das das österreichische Kaiserreich, die Königreiche und Fürstentümer der Apenninischen Halbinsel, des deutschsprachigen Mitteleuropa und der Balkanhalbinsel so stürmisch bewegte, verlangte unaufhaltsam seine Lösung. Aber noch viel dringender und unmittelbarer wurde die Notwendigkeit, die Lösungen des sozialen Problems zu finden. Kündigte sich wieder der Anbruch einer neuen Zeit an? Stand eine Umschichtung der menschlichen Gesellschaft bevor? Die Anzeichen sprachen dafür. Die Fortschritte der industriellen Revolution offenbarten sich unverkennbar in der veränderten und gehobenen Lebensführung immer weiterer Schichten der europäischen Bevölkerung. Erst war es nur das 247
Vorrecht des Adels gewesen, am ›besseren Leben‹ teilzunehmen, jetzt konnten es auch die Bürger – wenn sie dafür bezahlen konnten. Die Auswirkungen der Französischen Revolution hatten die staatlichen Fesseln der meisten Völker gelockert. Die Aufhebung der Leibeigenschaft im europäischen Raum, die Abschaffung und Ausrottung der Sklaverei in Übersee waren zu selbstverständlichen Forderungen geworden, an deren endlicher Erfüllung nur noch die hartnäckigsten Reaktionäre zweifelten. Eine entschlossene Kampfbereitschaft zur Ausweitung der bürgerlichen Rechte war den Denkenden und Fühlenden gemeinsam, die, wohl auch durch die christliche Menschenliebe geschult, die gleichen Vorrechte und Freiheiten, die sie selbst hatten, für ihre Mitmenschen erringen wollten. Dieses allgemeine Verlangen nach menschlicher Gleichstellung war ein wesentliches Grundgesetz des Liberalismus, der zur Weltanschauung der gebildeten Männer und Frauen Europas wurde. Aber trotz des guten Willens vieler fehlte ein allgemein annehmbarer Vorschlag zur Neuordnung der Gesellschaft: ein Plan, der den guten Willen in die Tat umsetzen würde. Zahlreiche zeitgenössische Denker und Dichter suchten wenigstens theoretisch den Weg, der Menschheit das bessere Leben auf Erden zu sichern. Das bessere Leben nach dem Tode, die ewige Seligkeit, verhieß ja schon der christliche Glaube. Aber auch die sehnsüchtigste Gewißheit eines besseren Jenseits schloß das Verlangen nach einem besseren Diesseits nicht aus.
Manche Vorkämpfer und Vorläufer der sozialen Bewegung waren Schwärmer, die ihre überquellenden Gefühle für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen einsetzten und nach Programmen zur Vermittlung ihrer Gefühlsbegeisterung suchten, die sie wissenschaftlich unterbauen wollten. Sie erreichten zwar nicht, daß ihre Lehren allgemein anerkannt wurden, aber sie bauten Brücken zu neuer Erkenntnis. Da war Henri von St. Simon, der Nachkomme des gleichnamigen 248
Herzogs, der das Zeitalter Ludwigs XIV. und der Regence in seinen Tagebüchern so sicher und indiskret geschildert hatte. Henri von St. Simon hatte als junger Mann eine halbe Million Franken Rente besessen und zusammen mit LaFayette am Unabhängigkeitskampf der Vereinigten Staaten teilgenommen. Er war in Amerika geblieben, um Land und Leute zu studieren, während die Französische Revolution sein Vermögen beschlagnahmt hatte. Auch als er nach seiner Rückkehr wieder reich geworden war, ekelte St. Simon das ›geistlose große Leben‹, an. Er hatte den Ehrgeiz, die sozialen und moralischen Übelstände im Volksleben zu beseitigen und das allgemeine Volksglück zu begründen. Er wurde Schriftsteller und verfaßte ›Die Reform der Gesellschaft durch die Reform der Wissenschaften‹, um die falsche Verteilung der Produktionsgüter anschaulich zu machen. St. Simon trat für eine neue Eigentumsordnung ein, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen befriedigen sollte. Wenn Kapital und Arbeit einmal in Einklang stünden, predigte er, könne ein neues Christentum der Werktätigen entstehen. Die Verbreitung der Lehren St. Simons durch seine zahlreichen Anhänger bereitete den Boden zur Aussaat neuen Gedankenguts vor. In der von ihm angestrebten ›Reform der Wissenschaften‹ war auch die Geschichtsschreibung mit einbegriffen. Um sich ein Bild der Zukunft machen zu können, war es nötig, sich mit der Vergangenheit vertraut zu machen. Die großen Geschichtswerke Leopold von Rankes, Carlyles, Macauleys und Theodor Mommsens wurden von einer zahlreichen Leserschaft aufgenommen. Es formte sich die Auffassung, daß die Weltgeschichte eine ›Kette von Leistungen bedeutender Männer‹ sei. Diese Deutung machten sich die Zeitgenossen um so williger zu eigen, als sich die Wirkung der so überaus geschickten Werbung für den Ruhm und die Persönlichkeit Napoleons immer deutlicher bemerkbar machte. Hingebungsvolle Heldenverehrung entsprach dem Verlangen der Massen, die eine Neuordnung der Gesellschaft, eine Veränderung ihrer Lebensbedingungen begehrten, um so mehr, als die Unzufriedenen in den meisten Ländern eine Persönlichkeit zu brauchen glaubten, die 249
ihre Ansprüche und Wünsche unliebsamen Machthabern gegenüber vertreten konnte. Fand sich denn kein bedeutender Mann, dessen Leistungen das große Beispiel Napoleons im Sinne der fortschrittlichen Bewegung wiederholen könnte? Sein Neffe Louis Napoleon war aus dem lebenslänglichen Gefängnis, zu dem er nach einem Putschversuch gegen Louis Philippe verurteilt worden war, in geschickter Verkleidung nach England entkommen. Nicht einmal die Bonapartisten hielten den von zweifelhaften Geldquellen fürstlich lebenden Stammgast der vornehmen Londoner Klubs für ihren ›Mann der Zukunft‹. Aber sie proklamierten ihn doch, im Widerspruch zu den bedeutenden Dichtern, Denkern und Sozialpolitikern Frankreichs, die sich der Romantik der bonapartistischen Herkunft verschlossen. Die nüchterne Wirklichkeit klopfte an die Türe der Einbildungskraft. Stendhal und Balzac hatten ihre tiefschürfenden realistischen Romane geschrieben, aber es entstand in dieser Zeit der verschiedenen Richtungen und Gegenrichtungen auch der Begriff ›l'art pour l'art‹ – Kunst um der Kunst willen, gewichtslos im Inhalt. Die sozialpolitischen Schriftsteller hingegen verfolgten praktische Ziele. So hatte Fourier in seinen Werken eine Neuordnung der Volkswirtschaft durch ›gemeinsame Erzeugung‹ gefordert und gemeinsame Verteilung in Genossenschaften, die der Zahl nach beschränkt sein sollten. Proudhon erweiterte den Genossenschaftsgedanken Fouriers: Er wollte den Gebrauch des Geldes durch den von Volksbanken vermittelten Güteraustausch ersetzen. Er prägte den Ausspruch: »Eigentum ist Diebstahl«, veränderte aber dann den als Sprichwort mißbrauchten Wortlaut grundlegend in: »Eigentum ist Freiheit«, um zum Ausdruck zu bringen, daß er nicht das Eigentum, das den Lebensbedarf decke, anprangern wolle, sondern dessen Ansammlung als Mittel zum Zweck sozialer Unterdrückung. Das durch Flugschriften, Zeitungen und Agitatoren erweckte ›Bewußtsein des bedenklichen Notstandes der französischen Arbeiterschaft‹ veranlaßte Louis Blanc, die Forderung nach ›Arbeiter-Produktiv-Genossenschaften und nationalen Werkstätten‹ öffentlich vorzubringen. 250
Druckwerke und Werbung gingen von Hand zu Hand und von Mund zu Mund. Die Mittel der Verständigung waren allerorts vermehrt und verbessert worden. Die Flugschriften entwickelten sich zu vielseitigen Zeitungen, die allgemein gelesen wurden. Die geschickt eingefügte Bebilderung sollte den Lesern die Zeitgedanken anschaulich machen. Die hervorragendsten Meister der bildhaften Kritik der Vielfalt des Lebens in ihrem Umkreis waren Gavarni und Honore Daumier. Wer ihre Karikaturen sah, war durch die lebendige Bezüglichkeit der Zeichnungen zum Denken gezwungen. Die Mißstände wurden augenfällig. Sie waren offenkundige Anklagen gegen die bestehenden Zustände. Sie schrien nach Änderung. Da erschien das Kommunistische Manifest. Karl Marx, der sich als Mitarbeiter der liberalen ›Rheinischen Zeitung‹, durch die Herausgabe der ›Deutsch-Französischen Jahrbücher‹ und durch seine Veröffentlichungen im ›Vorwärts‹ bekannt gemacht hatte, veröffentlichte es mit Friedrich Engels in Brüssel. Es war nicht nur ein unverhüllter Angriff gegen die bestehende Gesellschaftsordnung der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern auch ein drohender, von neuartig geprägten Gedanken erfüllter Wegweiser in die Zukunft für die Massen. Das Kommunistische Manifest begann mit den Worten: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«
VI Die als ›Marxismus‹ langläufig gekennzeichnete Summe der von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten und später verschiedentlich abweichend ausgelegten sozialistisch-kommunistischen Lehren ist ohne die ›materialistische Geschichtsauffassung‹ undenkbar. Sie war vielfach beeinflußt durch die Gedankengänge des Philosophen Wilhelm Friedrich Hegel, der die Weltgeschichte nicht ›als eine Kette der Leistungen bedeutender Männer‹, beurteilte, sondern als eine Reihe geschichtlicher Epochen, die durch eine Idee beherrscht waren. Er er251
klärte, daß jede geschichtliche Erscheinung der Verwirklichung des menschlichen Geistes unterläge. Marx stellte, wie er selbst sagte, die Hegelsche Philosophie von dem Kopf, auf dem sie gestanden war, wieder auf die Beine. Er seinerseits erklärte die Entwicklung der Menschheit nicht aus den Ideen, sondern versuchte zu beweisen, daß die Ideen das Produkt der Verhältnisse seien, unter denen die Menschen leben. Er lehrte, daß das Rechtsverhältnis von Staat und Weltanschauungen in den materiellen Lebensverhältnissen verwurzelt sei. Das abgewandelte Wort ›materiell‹, das zur Begriffsbildung ›materialistische Geschichtsauffassung‹ führte, beinhaltete die faßbaren, gegenständlichen, leibhaftigen Kräfte des Lebens: die ökonomische Grundlage des menschlichen Daseins. Die Lebensverhältnisse des Menschen entstanden, wie Marx ausführte, nicht aus den materiellen Voraussetzungen, sondern sie beruhen auf ihnen und entfalten sich, während der ›staatliche Überbau‹ unverändert erstarre. Die Spannung, die dadurch entstehe, müsse zur ›sozialen Revolution‹ führen. Das Kommunistische Manifest beruhte zum Teil auf der Arbeit von Friedrich Engels über ›Die Lage der arbeitenden Klasse in England‹. Engels hatte in Manchester die Auswirkungen des wirtschaftlichen Liberalismus beobachtet: die unruhige Unzufriedenheit der englischen Arbeiterschaft. Seine leidenschaftliche Abneigung richtete sich gegen das Bürgertum, die Bourgeoisie. In dem von Marx und Engels gemeinsam verfaßten Manifest wurde ihre Ablehnung der Bourgeoisie zur Kampfansage: »… Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgebracht hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor … Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen, sie hat auch die Männer gezeitigt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier … Die proletarische Bewegung ist die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl … Mit der Entwicklung der großen Industrie wird aber unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und sich die Produkte aneignet. Sie produziert vor allem ihren 252
eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.« Karl Marx und Friedrich Engels erwarteten den Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die Entstehung von Staaten unter Leitung des als herrschende Klasse organisierten Proletariats – die ›Diktatur des Proletariats‹ –, als Ergebnis der Revolutionen, die im Jahre 1848 in den großen europäischen Hauptstädten tatsächlich zum Ausbruch kamen. Aber in Frankreich brachte die Februarrevolution zwar die Abdankung des Bürgerkönigs Louis Philippe, aber nicht des Bürgertums zuwege. Der Ausrufung der Republik folgte zwar ein Zwischenspiel, in dem die Errichtung der von Louis Blanc geforderten Nationalwerkstätten und die Verkündigung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ermöglicht wurden. Die Abgabe aller Stimmen in die Nationalversammlung jedoch ergab keine Mehrheit für die Sozialisten und Kommunisten, die zum Sieg des Proletariats geführt hätte. In der sogenannten Junischlacht in Paris wurden die Arbeitermassen von General Cavaignac niedergemetzelt. Wenige Monate später wurde der nach Frankreich zurückgekehrte, von den Bonapartisten gefeierte Louis Napoleon mit überwältigender Mehrheit durch Volksabstimmung zum Präsidenten der Republik gewählt. So war die von Thiers so hervorragend geplante Heldenverehrung Napoleons, wenn auch durchaus nicht im Sinn von Thiers, erfolgreich geworden.
Auch im kaiserlichen Österreich gab es Revolutionen. Im März 1848 beherrschten Bürgerwehren und Studenten die Stadt Wien. Metternich floh, ohne daß er die kaiserliche Verfassungsurkunde unterzeichnete, die allen Volksstämmen die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistete. In Italien hatten die Carbonari-Zellen gute Arbeit geleistet, aber der österreichische Feldmarschall Radetzky besiegte den König Karl Albert von Sardinien, der sich zum Schutzherrn der 253
gegen Österreich aufständigen Italiener gemacht hatte, in der Schlacht bei Custozza. »In deinem Lager ist Österreich«, pries der patriotische Dichter Grillparzer den einundachtzigjährigen Feldherrn und huldigte dem achtzehnjährigen Erzherzog Franz Josef, der an Stelle seines Onkels Ferdinand Kaiser von Österreich werden sollte. Würde das uralte System der militärischen Gewalt, das durch Radetzky verkörpert wurde und durch den Fürsten Windischgraetz, der den ›Pfingstaufstand‹ der Tschechen in Prag blutig niedergeworfen hatte, in Geltung bleiben – oder würde der bevorstehende Thronwechsel im Kaiserreich Österreich jugendliches Verständnis der Zeiten mit sich bringen? Im Jahre 1848, in dem sich auch die Ungarn gegen Österreich erhoben und mit Waffengewalt bezwungen wurden, trat die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammen. Es hatte nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin Unruhen und Straßenkämpfe gegeben. In München hatte König Ludwig I. zugunsten seines Sohnes, Maximilian II. abgedankt. In den meisten Städten Deutschlands hatten Zusammenstöße zwischen Aufständischen und den jeweiligen Regierungstruppen stattgefunden. Der Bundestag in Frankfurt hatte die Zensur für Druckschriften aufgehoben und den alten deutschen Reichsadler zum neuen Bundeswappen erklärt. Die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung hatte sich als nötig erwiesen. Sie begann mit Schwierigkeiten. Der Tscheche Palacky lehnte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, daß er kein Deutscher sei. Auf dem Slawenkongreß in Prag beantragte er die Umformung Österreichs in einen ›Bund gleichberechtigter Völker‹, nicht um Österreich zu zerbrechen, sondern um es zu erhalten und zu verhindern, daß die DeutschÖsterreicher mit Deutschland vereinigt würden. Das Für und Wider der nationalen Bewegungen, die hier mit gleicher Leidenschaft für die Erhaltung eines einheitlichen Österreich eintraten und dort die Zergliederung Österreichs forderten, blieb bezeichnend für die schwerwiegende innere Zerrissenheit, die das Kaiserreich Franz Josefs I. während seines ganzen Bestandes beunruhigte. 254
Als Erzherzog Johann von Österreich von der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt zum Reichsverweser gewählt wurde, gab es noch eine Aussicht, daß der junge Franz Josef, der schon vorgesehene Nachfolger seines Onkels, als der Kaiser des wiederhergestellten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in die Geschichte eingehen würde. Oder würde das alte Kaiserreich unter König Wilhelm von Preußen wieder erstehen, dem eine Deputation der Nationalversammlung die Krone anbot?
Weiter Horizont und kurze Sicht I Die erste Weltausstellung in London im Jahre 1851 war eine überzeugende Kundgebung des Viktorianischen Zeitalters. Es hatte England und seinem Kolonialreich Wohlstand und Sicherheit gebracht. Die gewaltig ausgebaute englische Seemacht beschützte den Welthandel. Die vielfältigen Erzeugnisse der mächtig ausgebauten Industrie versorgten die einheimischen und überseeischen Märkte. Obwohl die Ausfuhr der Waren aus den englischen Häfen mit jedem Jahr zunahm, überstieg die Einfuhr den Wert der ausgeführten Güter. So entstand ein scheinbar widersinniger Reichtum, aber der Fehlbetrag im Gleichgewicht des Ausfuhr- und Einfuhrhandels wurde durch die Einnahmen aus der Schiffahrt, aus dem Zwischenhandel und den ungeheuren Gewinnen der englischen Bankinstitute wettgemacht. Der Liberalismus als Wirtschafts- und Lebensform schien sich, wenn auch nicht im Wohlergehen der breiten Bevölkerung, so doch im Wohlstand des Volkes zu bewähren. 255
Auf der Londoner Weltausstellung wurden nicht nur Erzeugnisse der Industrie und des Handwerks zur Schau gestellt, sondern auch neuzeitliche Erfindungen. In New York hatte Morse den Schreibtelegrafen erfunden. Die erste Telegrafenlinie hatte Washington, die Hauptstadt der Vereinigten Staaten, mit dem nahen Baltimore verbunden, aber jetzt verband schon das erste Unterseekabel das englische Dover mit dem französischen Calais. Die Eisenbahnen für den Personenund Güterverkehr, die auch in deutschen Ländern den Raum überwanden und Zeit sparen halfen, waren in England ausgebaut worden. Die Städte und Häuser wurden mit Gaslicht erhellt. Es gehörte zur rasch fortschreitenden Entwicklung, daß die Forscher auf allen Gebieten Anschluß aneinander suchten und einander ihre Kenntnisse zu dem Zweck vermittelten, allgemein verbesserte Lebensverhältnisse zu schaffen, ohne daß jedoch ihr eigenes durchaus anerkanntes ›Streben nach Reichtum‹ darunter litt. Zwischenstaatlich anerkannte ›Patente‹ sicherten geistige Werte und ›Lizenzen‹ den Ertrag der Patente. Vom wachsenden Einfluß der englischen Lebensform legte die Herrenmode Zeugnis ab. Der Sieg des Tuches über die Seide, die Überlegenheit der schlichten Einfachheit über den Putz kam im englischen Herrenanzug zum Ausdruck. Wer etwas auf sich hielt, gab sich ›englisch‹. Als Inbegriff der Vornehmheit galt der ›Lord‹. Die Dame allerdings war ›pariserisch‹ geblieben; sie hatte ihrer Kleidung Seide und Samt und die neuartigen zarten Gewerbe vorbehalten, die in den französischen Werkstätten so köstlich nachgeahmt wurden. Noch immer lagen England und Frankreich miteinander im Wettbewerb um die Gestaltung der Lebensformen, aber die Waagschale neigte sich England zu. Französisch war noch die Sprache der vornehmen Welt. Englisch aber wurde um so mehr zur Handelssprache, als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika vorwiegend englisch gesprochen wurde. Zur Stärkung des englischen Übergewichts trugen die außerordentlichen Fähigkeiten der Viktorianischen Minister bei, die viele wertvolle Ratschläge vom Prinzgemahl Albert von Coburg erhielten, der von Viktoria durch die Vermittlung ihres vielgeliebten Onkels Leopold geheiratet worden war. Das Königreich Belgien war ein natür256
licher Verbündeter Englands. Die coburgischen Familienbeziehungen, die Viktoria ausnützte und ausbaute, erhöhten ihren Einfluß. England war zur bedeutendsten Großmacht der Erde geworden und hielt sich, soweit es nur konnte, abseits von der kläglichen Unordnung im europäischen Raum.
II Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schien durch die unheimlich beschleunigte Entwicklung, Ausnützung und Verwertung der Naturwissenschaften und durch die sozialen Erkenntnisse vorausbestimmt zu sein; das bessere Leben auf Erden friedlich anzubahnen, wurde aber durch die Austragung der von der Vergangenheit ererbten Konflikte zu einem von Kriegen und Unruhen aller Art erfüllten Zeitabschnitt. Die Ereignisse, die sich überstürzten und zu unausbleiblichen Lösungen drängten, führten folgerichtig zur zwangsläufigen Entwicklung der geistigen und politischen Zeitströmungen, des örtlichen Nationalismus und des überörtlichen Sozialismus. Mit dem vergeblichen Wunsch und der Hoffnung, von diesen reißenden Bewegungen unberührt zu bleiben, saßen die Fürsten Europas auf ihren schwankenden Thronen, auf den uralten, angestammten und den neuen, die durch Volkswahlen oder dynastische Intrigen entstanden waren. In Frankreich hatte sich der Präsident der Republik, Louis Napoleon, zum Kaiser der Franzosen wählen lassen. In Anerkennung der Abdankungsurkunde seines großen Onkels, der seinen Sohn als Napoleon II. bezeichnet hatte, nannte er sich mit allem Nachdruck Napoleon III. Er wollte in die Fußstapfen des ersten Kaisers der Franzosen treten und Frankreich die ›gloire‹ wiedergeben, die seit der Schlacht bei Waterloo bedenklich verblaßt war. Napoleon III. war kein geschulter Feldherr, aber er hatte von seinen korsischen Ahnen die spitzfindige 257
Verschlagenheit geerbt – wenn die Bonapartes tatsächlich seine Ahnen waren, was von seinen Gegnern vielfach bestritten wurde. Sie behaupteten, der Neffe Napoleons I. sei ein natürlicher Sohn eines natürlichen Sohnes von Talleyrand, der immerhin als der findigste Staatsmann seiner Epoche gegolten hatte. Als Napoleon III. zur Bekräftigung seiner friedlichen Absichten vor seiner Thronbesteigung erklärte: »L'empire c'est la paix«, glaubten es ihm die gekrönten Häupter Europas, mit Ausnahme des Kaisers Nikolaus I. von Rußland, der dem französischen Emporkömmling die unter Herrschern übliche Anrede ›mein Bruder‹ versagte. Er glaubte zu wissen, warum. Die Leichtgläubigkeit seiner anderen hohen Amtsbrüder auf den europäischen Thronen versetzte den Taschenspieler mit Krone und Zepter, der während eines verschwenderischen Jahrzehnts als Lebemann vom Vertrauen der Londoner Klubmitglieder gelebt hatte, zuerst in Erstaunen. Dann aber sparte er ebensowenig mit Versprechungen an Kaiser und Könige, wie er in London mit der Ausgabe uneintreibbarer Wechsel gespart hatte. Er übertrug seine erprobten Spielergewohnheiten auf das politische Leben – vorerst so oft mit Erfolg, daß er sich daran gewöhnte, ohne den Einsatz zu haben »Hopp, die Bank!« zu rufen. Das ging so lange gut, bis ihn sein gefährlichster Gegenspieler durchschaute: Otto von Bismarck, der damals als preußischer bevollmächtigter Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main war und erklärte: »Die einzig gesunde Grundlage eines Staates … ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik …« Das Aussehen und das Gehaben Napoleons III. unterstützten ihn in seinem Bestreben, vertrauenerweckend zu wirken. Mit seinem gepflegten Knebelbart und seinem träumerisch-wässerigen Blick nahm er sich tatsächlich wie ein großbürgerlicher Bankier aus, dem das Gleichgewicht von Soll und Haben das wichtigste war. Da der Kaiser der Franzosen den Vorstellungen des Bürgertums, dem er seine Macht verdankte, entsprechen wollte, führte er nach außen hin ein bürgerliches Leben. Er heiratete eine spanische Gräfin, Eugenie de Montijo, in die er sich verliebt hatte, und prahlte mit seiner vorbildlichen Ehe. Außer den Kaisern von Österreich und Rußland gab es also einen 258
Kaiser Napoleon III. Aber es gab noch keinen Kaiser des deutschen Reiches, denn Friedrich Wilhelm IV. hatte die Annahme seiner in Frankfurt erfolgten Wahl abgelehnt. Der König von Preußen wollte die Kaiserwürde nur auf Wunsch aller deutschen Fürsten, aber keineswegs als Angebot der Abgesandten des Frankfurter Parlaments, an denen, wie er sagte, ›noch der Ludergeruch der Revolution klebte‹. Konnten die ›Deutschen‹, die der ehrgeizige Kaiser der Franzosen in diesem Sammelbegriff zusammenfaßte, ihm gefährlich werden? Es gab Großdeutsche und Kleindeutsche. Beide wollten einen deutschen Bundesstaat gründen. Die Kleindeutschen traten für eine starke Reichsgewalt ein, die von den Einzelstaaten möglichst unabhängig sein sollte. Die Großdeutschen teilten sich in zwei Gruppen: die eine, die der Republikaner, wünschte eine einheitliche deutsche Republik unter Beseitigung aller Bundesstaaten, die andere, die der Föderalisten, das große Deutschland, eine weitgehende Selbständigkeit der Einzelstaaten mit einem Wahlkaisertum, das einer nicht erblichen Präsidentschaft gleichkommen sollte. Die Austragung der Gegensätze beschränkte sich nicht auf den grünen Tisch. Es kam zwischen Preußen und Österreich beinahe zu einer kriegerischen Auseinandersetzung, als ein Reichstag in Erfurt eine von Preußen vorgelegte Verfassung, die ›Unionsverfassung‹, guthieß, während Fürst Schwarzenberg für Österreich die Wiederherstellung des Bundestages in Frankfurt betrieb. Da der Kaiser von Rußland, der dem jungen Franz Josef schon durch die Entsendung eines Heeres nach Ungarn Waffenhilfe zur Unterdrückung der Revolution geleistet hatte, erneut auf die Seite Österreichs trat, schloß Preußen mit Österreich den ›Vertrag von Olmütz‹, in dem es sich verpflichtete, seine deutsche Unionspolitik aufzugeben. Angesichts der trotz Verträgen und Zusicherungen anhaltenden Uneinigkeit seiner deutschen Nachbarn glaubte Napoleon III. seine waghalsige Politik ungefährdet betreiben zu können. Er warf sich zum Schutzherrn und Verbündeten ›unterdrückter‹ Nationen und gefährdeter Staatengebilde auf. Er glaubte seiner Herrschaft in Frankreich sicher zu sein. Er regierte mit einer Verfassung, die der Konsularverfas259
sung seines großen Onkels nachgebildet war, und stellte sich über die politischen Parteien, indem er allen alles gab oder doch versprach, was sie verlangten. Für das Bürgertum sorgte Napoleon III. durch planmäßige und großzügige Unterstützung der Industrie, für die Arbeiter durch die Ausweitung der Arbeiterfürsorge. Durch seinen Umbau und Ausbau von Paris und anderen großen Städten Frankreichs verminderte er nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern gab auch Paris das Stadtbild, das sich bis zum heutigen Tag erhalten hat. Da England in seiner ›splendid isolation‹ verharrte, unternahm es Napoleon III. Frankreich zur führenden Großmacht auf dem Kontinent zu machen.
Unter dem neuen Kaiser hatte in Österreich eine neue, noch viel peinlichere Reaktion als die Metternichs die Zügel in Händen. Die ausführenden Beauftragten des jungen Franz Josef I. hatten sich durch die grausamen Blutgerichte in Ungarn, die der Revolution gefolgt waren, und auch in den anderen österreichischen Ländern gefährlich unbeliebt gemacht. Zum Unterschied von seinen kaiserlichen Vorgängern, die von Natur aus beschränkt oder schwachsinnig gewesen und deshalb in untertäniger Verwechslung als ›gütig‹ bezeichnet worden waren, wurde Franz Josef erst im hohen Alter als der ›Gütige‹ bezeichnet. In seiner Jugend galt er als hart und unerbittlich, als eigensinnig und selbstherrlich, um so mehr, als er nach dem frühen Tod des begabten Fürsten Schwarzenberg sein eigener Ministerpräsident wurde und daher die Schuld für seine persönliche Unzulänglichkeit und sein staatsmännisches Versagen keinem Sündenbock zuschieben konnte. Der Kaiser, der in seinem langen Leben von vielen Unglücksfällen heimgesucht wurde, prägte den so oft wiederholten und in der Öffentlichkeit verbreiteten Satz: »Mir bleibt nichts erspart.« Er machte dadurch den Eindruck eines bemitleidenswerten Mannes, der die Schicksalsschläge mit Würde trug. Würde war tatsächlich die einzige hervorragende Eigenschaft, die Franz Josef zuerkannt werden konnte. Aber er wahrte sie auf Kosten aller Gefühlsregungen, aller menschlichen Nähe, viel260
leicht auch aus der mit der Krone ererbten Unfähigkeit, sich verständigen oder gar mitteilen zu können. Er war unnahbar und so eingenommen von der unfaßlichen Höhe seines Ranges, daß er schon in den ersten Jahren seiner Herrschaft darauf bestand, sein ›Gottesgnadentum‹ durch die Auflösung der Verfassung zu beweisen. Er hoffte, die Geschlossenheit des Kaiserreiches durch den Einsatz absoluter Gewalt zu gewährleisten. Die Polizei war das Rückgrat der Macht Kaiser Franz Josefs. Die Bürokratie, ein nur ihm verantwortlicher Beamtenapparat, und die Armee waren seine Stützen. Wenn die Gewalt nicht ausreichte, war ihm die römisch-katholische Kirche, die er mit Zugeständnissen verwöhnte, hilfreich, den liebevollen Gehorsam zur Herzenspflicht seiner Untertanen zu machen. Aus dem Druck von oben und dem Gegendruck von unten entwickelte sich allmählich eine seltsame Mischung von Eigenschaften: das Österreichertum. Die ihm zugehörten und es fortpflanzten, hatten an so vielem Mißgeschick des Kaisers teilgenommen und es beobachtet, daß sie sich daran gewöhnt hatten, nach jeder Niederlage zur Tagesordnung überzugehen, die zumeist nur aus Unordnung bestand. Was konnten sie anderes tun, als achselzuckend den ortsüblichen Ausdruck zu gebrauchen: »Da kann man halt nichts machen«, wenn sie erfahren mußten, daß wieder eine Schlacht oder ein Land verlorengegangen waren und die glorreiche und siegreiche Herrschaft des Kaisers doch von der Kanzel und der Presse überschwenglich gepriesen wurde? Die Liste der Fehlschlüsse, Fehlschläge und der Fehlleistungen Franz Josefs I. begann mit seiner zeitwidrigen Belebung des Absolutismus und mit seinem unverständlich undankbaren Verhalten dem Kaiser von Rußland gegenüber, der ihm doch bei jeder Gelegenheit Hilfe zugesagt und geleistet hatte. Franz Josef schloß ein Bündnis mit Frankreich und England, als die sogenannte ›orientalische Frage‹ zum Krieg zwischen Rußland und der Türkei führte. Russische Truppen besetzten die Donau-Fürstentümer. England, das befürchtete, daß der ›Meerengenvertrag‹, der zur Verhinderung der Durchfahrt nichttürkischer Schiffe durch die Dardanellen geschlossen worden war, seine Gültigkeit verlieren könnte und sich durch die Möglichkeit eines Einbruchs 261
der russischen Flotte ins Mittelmeer in seinem Verkehr mit Indien bedroht fühlte, erklärte Rußland den Krieg- und fand einen unerwarteten Partner: Napoleon III. der endlich die Gelegenheit gekommen sah, sich machtvoll einzuschalten. An den kriegerischen Ereignissen auf der Krim nahm auch eine vom militärischen Standpunkt aus bedeutungslose Hilfstruppe teil: die des Königs von Sardinien, dessen Ministerpräsident Cavour sich in staatsmännischer Voraussicht an Napoleon III. herangemacht hatte. Cavour, der ehemalige Herausgeber der Zeitung ›II Risorgimento‹, des Organs der Wiedererstehung und Einigung Italiens, brauchte einen Bundesgenossen im Kampf gegen Österreich, den die italienische Freiheitsbewegung umsichtig vorbereitete und den er selbst für unausbleiblich hielt und in diesem Zeitpunkt herausfordern wollte, um dem König von Sardinien das ›Junge Italien‹ zu gewinnen, das Guiseppe Mazzini als republikanischen Bund gegründet hatte. Österreich war nicht dabei, als die Russen den Krimkrieg verloren. Es hatte auch keine Stimme im Frieden von Paris, in dem Rußland harte Bedingungen annehmen mußte, und als beschlossen wurde, die Donau-Fürstentümer zum unabhängigen Fürstentum Rumänien zusammenzuschließen. Ein Hohenzoller wurde der erste Fürst. Die Haltung Österreichs während des Krimkrieges wurde von allen Großmächten übelgenommen. Seinen westlichen Verbündeten hatte Franz Josef zwar keine militärische Hilfe geleistet, aber das hielt ihm Alexander II. von Rußland, der Nachfolger Nikolaus I. durchaus nicht zugute, denn durch den Abschluß seines Bündnisses mit Frankreich und England hatte Franz Josef eine so bedrohliche Stellung gegen Rußland eingenommen, daß es, einen kriegerischen Einfall Österreichs befürchtend, Truppen bereit gehalten hatte, die es sonst auf der Krim hätte einsetzen können. Rußland schloß sich eng an Preußen an, das sich neutral gehalten hatte. Franz Josef war wider Willen isoliert.
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England hatte durch den Krimkrieg erreicht, was es gewollt hatte. Es konnte sich wieder in seiner ›splendid isolation‹ verschanzen und seiner erfolgreichen industriellen Entwicklung widmen. Es verfügte über ein Weltreich, das durch die von der europäischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Entdeckung und Kolonisierung Australiens noch mächtiger angewachsen war. Der Ausbau der Kolonien und die überlegene Ruhe der staatsmännischen Geschäftsführung im Inund Ausland kamen der Verbreitung der liberalen Weltanschauung zugute. Von der Warte der Überlegenheit aus verfolgten die einander abwechselnden Whig- und Tory-Minister die Ereignisse in Europa, deren Verlauf sie oft ebenso im voraus errechneten wie die Erträgnisse der in England selbst und in Übersee investierten Kapitalien. Das Viktorianische Zeitalter wurde sinnbildlich gleichbedeutend mit gesättigtem Wohlstand. Seine Diplomaten waren kaltblütige Beobachter der Kämpfe im europäischen Raum. Den Gesprächen Napoleons III. mit Cavour während der Verhandlungen zum ›Frieden von Paris‹ folgte eine vertrauliche Zusammenkunft in einem Badeort in den Vogesen. Der Kaiser der Franzosen und der sardinische Staatsmann beschlossen um den Preis der Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich einen gemeinsamen Angriffskrieg gegen Österreich. So etwas hatte Franz Josef I. von Napoleon III. mit dem er sich doch gegen Rußland verbündet hatte, nicht erwartet, und daß der ›kleine‹ König von Sardinien es wagte, ihm die Stirne zu bieten, noch weniger. Die österreichischen Heere marschierten mit fliegenden Fahnen auf und wurden bei Magenta und Solferino vernichtend geschlagen. Im ›Frieden von Zürich‹ trat Österreich die Lombardei an Napoleon ab, der sie mit großartiger Geste an den König von Sardinien weitergab, für sich selbst aber Savoyen und Nizza gewann. Im Friedensvertrag war auch die Bestimmung aufgenommen worden, daß die aus österreichischem Geblüt stammenden Herrscher von Toskana und Modena wiedereingesetzt werden sollten. Das allerdings verhinderte eine nationale Bewegung. So verlor Franz Josef seine bedeutendsten Besitzungen im Süden des 263
Kaiserreichs. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und seiner Ratgeber entschloß er sich zur Annahme einer Verfassung. Vor der ersten Reichstagssitzung in Wien hatten die Abgeordneten der großdeutschen Minderheit in Österreich den Beschluß gefaßt, gegen jeden Antrag zu stimmen, der im Auftrag der kaiserlichen Regierung eingebracht werden würde. Sie war gegen Franz Josef, da sie ihm nachtrugen, daß er durch sein starres Festhalten an der Einheit des österreichischen Kaiserreichs die deutsche Union verhindert hatte und den Deutschen Bundestag in Frankfurt gewissermaßen mit der linken Hand leitete. Die ersten Anträge, die im Namen Kaiser Franz Josefs gestellt wurden, waren im Sinne der liberalen Bestrebungen, die in den meisten deutschen Staaten volkstümlich waren. Es sollte auch den in Österreich ansässigen Juden gestattet werden, christliche Dienstboten anzustellen. Dieser Antrag wurde von der Mehrheit angenommen. Die dagegen stimmenden großdeutschen Abgeordneten aber, die in engem Kontakt mit ihren Parteibrüdern in deutschen Staaten standen, begannen eine Hetzkampagne gegen die Juden, mit denen sie, die zumeist Protestanten waren, als Angehörige einer Minderheitsreligion bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsame Sache in allen politischen Fragen gemacht hatten. So wurden die österreichischen Großdeutschen mit zu Anstiftern des deutschen Antisemitismus, der sich später so furchtbar auswirken sollte.
III Es gab immer mehr Auswanderer aus dem europäischen Raum nach Übersee. Die Zahl der Männer und Frauen, die das von kriegerischen Ereignissen und Vorurteilen aller Art zerrissene Europa mit kärglichem Hab und Gut verließen, rechtfertigte die Bezeichnung der Reisenden als ›Teilnehmer einer neuzeitlichen Völkerwanderung‹. Aus 264
dem deutschsprachigen Raum fuhren die am Erfolg freiheitlicher Bewegungen verzweifelnden Freiheitskämpfer in die selbstgewählte Verbannung. Aus dem von Rußland unterdrückten Polen und aus den slawischen Ländern Österreichs machten sich die am Erfolg des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Verzweifelnden auf den schicksalsschweren Weg ins Ungewisse. Oft war der Anlaß zur Flucht in die überseeische Ferne nur der "Wunsch, dem verhaßten Militärdienst zu entgehen und der Leibeigenschaft zu entfliehen, die, wenn sie auch durch staatliche Verfügung aufgehoben worden war, doch in vielen Gebieten durch örtliche Machthaber aufrechterhalten blieb. Der zeitgenössische Schriftsteller und Politiker Alexis von Tocqueville sagte ein unaufhaltsames Absinken Europas voraus und schilderte in seinem Werk ›De la démocratie en Amérique‹ den Aufschwung der demokratischen Einrichtungen auf amerikanischem Boden. Tatsächlich wurden die Flüchtlinge auf der anderen Seite des Ozeans mit offenen Armen aufgenommen. Amerika brauchte Arbeitshände. Die Vereinigten Staaten hatten sich über den ganzen Erdteil, vom Atlantischen zum Stillen Ozean, ausgebreitet. Texas hatte sich von Mexiko losgerissen und dem Verband der Vereinigten Staaten eingefügt. Neu-Mexiko und Kalifornien waren erobert worden, und auch das ungeheure Oregongebiet mußte besiedelt werden. Der Weg nach dem rauhen Westen stand unternehmungslustigen Siedlern offen, die es nicht scheuten, sich gegen die feindlichen Indianerstämme zu behaupten. Kilometer um Kilometer schoben sich die Grenzen der für amerikanische Verhältnisse adaptierten europäischen Zivilisation westwärts. Ungeheure Wälder wurden gerodet, weite Landstriche urbar gemacht und die unendlichen Weiden mit Vieh bevölkert. Der Weg nach dem Westen wurde der Weg zum Reichtum. Ärmliche Blockhäuser verwandelten sich in wohlhabende Wohnstätten, Dörfer und Städte wuchsen aus der Wildnis. Der Westen der Vereinigten Staaten war noch gefährliches Neuland, eine Tummelstätte für Abenteurer, aber selbst in den entlegensten Gegenden herrschten die Rechtsbegriffe und der Sinn für Gerechtigkeit, die schon die Pilgrimsväter in die Neue Welt eingeführt hatten. 265
Durch die Verschiedenartigkeit der frühen Besiedlung gab es zwei verschiedene Amerikas in den Vereinigten Staaten. Es gab den Gegensatz zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten, in denen sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich verschiedenartige Lebensformen entwickelt hatten. Die Frage, ob die Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden der Vereinigten Staaten auf den Unterschied der klimatischen Bedingungen zurückzuführen war oder auf die verschiedene Herkunft der Einwanderer und die Unterschiedlichkeit der Erwerbung von Landbesitz, wurde vielfach erörtert und untersucht. Im Norden hatte sich der englische Liberalismus eingebürgert. Die Südstaaten waren das Bollwerk der ursprünglichen Kolonisation, die auf Sklavenarbeit aufgebaut war. Diese sozialen Gegensätze in den weiten Räumen wurden durch politische Gegebenheiten verschärft. Die Art der Verwaltung jedes in die Vereinigten Staaten neu aufzunehmenden Staates mußte entschieden werden. Sollte zum Beispiel Neu-Mexiko ebenso wie die Südstaaten Plantagenbesitzern überlassen werden, die die Arbeit von Negersklaven verrichten ließen, oder sollte es wie Pennsylvanien oder Iowa europäischen Ackerbauern als Heimstätte dienen, Industrien in Selbstverwaltung errichten können und nicht wie die Südstaaten Baumwolle oder Tabak auf den Welthandelsplätzen verkaufen, um Fertigwaren beziehen zu können? Nicht nur wirtschaftliche und unmittelbar politische Fragen erregten die Gemüter; die endgültige Lebensform der weißhäutigen Siedler auf amerikanischem Boden mußte festgelegt werden. Im Süden lebten die von schwarzen Sklaven bedienten Weißen als Herrenmenschen, während im Norden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit selbstverständlich nicht von der Hautfarbe abhängig waren. Als Abraham Lincoln, der führende Gegner der Sklaverei, zum Präsidenten gewählt wurde, fielen die Südstaaten von den Vereinigten Staaten ab. Es kam zum Ausbruch von Feindseligkeiten. Die Einigkeit der Union war in Gefahr.
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Die Kämpfe in den südamerikanischen Republiken wurden durch ganz andere Beweggründe hervorgerufen. Die oft blutigen Unruhen waren Ausläufer der Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen der ehemaligen spanischen Vizekönigreiche, die Republiken geworden waren. Es wurde um die Staatsform gekämpft, um Macht- und Verwaltungsfragen, während Hautfarbe und Abstammung durchaus nicht als Zankapfel galten. Die Gärung innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika verlockte Napoleon III. den Mangel an Voraussicht seines großen Onkels gutzumachen, der Louisiana verkauft hatte. Napoleon III. wollte in der Neuen Welt Fuß fassen und bediente sich zu diesem Zweck des unbefriedigten Ehrgeizes des jüngeren Bruders Kaiser Franz Josefs, des Erzherzogs Maximilian, dem er die Kaiserkrone Mexikos anbot, über die er zwar selbst nicht verfügte. Mit französischen Truppen landete Maximilian auf mexikanischem Boden. Er war kein zweiter Cortez. Die mexikanischen Republikaner unter der Führung von Benito Juarez waren durchaus nicht gewillt, sich Maximilian zu unterwerfen. Der von der Mehrheit der Mexikaner nicht anerkannte Kaiser von Mexiko, der mit einer belgischen Prinzessin verheiratet war, hielt zitternd Hof. Sein Bruder Franz Josef hatte ihm vorweg jede Hilfe verweigert, und die Hilfe des Kaisers der Franzosen, für den Maximilian die Kastanien aus dem Feuer holen sollte, war bald in Frage gestellt, als die nord- und südamerikanischen Republiken sich auf die Monroe-Doktrin beriefen, die keine europäische Einmischung in Amerika duldete. Die Truppen Napoleons III. konnten jeden Tag abberufen werden – und was dann?
Es gab nicht nur Einwanderer nach Amerika, es gab auch Heimkehrer, die entweder vom Leben in Übersee enttäuscht waren oder deren Grund und Anlaß zur Auswanderung durch den Ablauf der Ereignisse nichtig gemacht worden waren. Einer der namhaftesten Heimkehrer war Guiseppe Garibaldi, ein Seemann, der politischer Neugierde und 267
Abenteuerlust nachgegeben hatte und an führender Stelle in die italienische Freiheitsbewegung verwickelt worden war. Garibaldi war von Mazzini, dem bedeutenden zeitgenössischen Denker und Politiker, beeinflußt gewesen und dem Zugriff der kaiserlich österreichischen Polizei entflohen. Jetzt war er wieder zurück in Italien, bereit, seine ungebrochene Kampflust und seine in Südamerika erprobten freibeuterischen Fähigkeiten für die nationale Einigung Italiens einzusetzen. Er sammelte Freiwillige und unternahm von Sizilien aus den historischen ›Zug der Tausend‹, die das bourbonische Königshaus beider Sizilien aus Neapel verjagten. Der heimliche Drahtzieher der Unternehmung Garibaldis, der seine Gefolgsmänner schon in Südamerika aus Mangel an anderen Kleiderstoffen in rote Hemden uniformiert hatte, war Graf Cavour, der die Einigung Italiens mit dem gleichen Eifer herbeiführen wollte wie Garibaldi –, aber nicht als Republik, sondern unter der Herrschaft des Königs von Sardinien. Im politischen Empfinden war Garibaldi ein Schüler Mazzinis, als gefeierter Volksheld aber beeindruckten ihn der Glanz und die fürstlichen Versprechungen des Königs, der in Cavour einen so beredten Fürsprecher hatte, daß sich Garibaldi nach einem traurigen Gespräch mit Mazzini, den er in einem schäbigen Hotel in Neapel getroffen hatte, für Viktor Emanuel II. entschied, der zum König von Italien ausgerufen wurde.
Aber Italien war noch nicht zur Gänze geeinigt. Es fehlten noch Venetien, das zum österreichischen Kaiserreich gehörte, und Rom, das Napoleon III. durch französische Truppen schützte, um sich die Gunst des Papstes zu erhalten, die er brauchte, um die Unterstützung der Katholiken in Frankreich nicht zu verlieren. Das war um so wichtiger für den Kaiser der Franzosen, als Papst Pius IX. die Kirche gegen die freigeistigen zeitgenössischen Strömungen in einer ›Enzyklika‹, einem päpstlichen Rundschreiben, uneingeschüchtert verteidigte und die unbedingte Unterordnung des Staates und der wissenschaftlichen Forschung unter die Autorität der katholischen Kirche forderte. Ein Ver268
zeichnis aller ›Irrlehren‹ wurde der Priesterschaft zugänglich gemacht, damit sie jede Irrlehre an Ort und Stelle von der Kanzel aus verdammen könne. Dieser päpstliche Versuch, die katholische Kirche gegen alle Angriffe vorweg zu verteidigen, ging dem später verkündigten ›Unfehlbarkeitsdogma‹, durch das alle päpstlichen Lehrentscheidungen als unfehlbar bezeichnet wurden, voraus. Diese unverhüllte geistliche Kampfansage des Heiligen Stuhls gegen die weltlichen Mächte hatte ein Erstarken der Kirche zur Folge. Das führte zu Gegenschlägen, die auch im ›Kulturkampf‹ des deutschen Reiches zutage traten. Der Stellvertreter St. Petri hielt an seiner Macht und seinem Wirkungsbereich fest. Während sich die meisten europäischen Herrscher und ihre Staatsmänner mit einer oft überdies von Scheuklappen behinderten Kurzsichtigkeit nur mit den unmittelbaren Tagesfragen beschäftigten, vermittelte die ›geheime Armee des Papstes‹ dem Heiligen Stuhl Nachrichten aus aller Welt, die sie während der Ausübung ihres Priesteramts ermittelte. Auch die protestantische Missionstätigkeit nahm zu und wurde durch die Errichtung von Spitälern und Schulen neuzeitlich ausgebaut. Die Glaubensmissionare berichteten ihren geistlichen Obrigkeiten, daß die europäische Lebensweise den Angehörigen aller Farben und Rassen angenehm und angemessen sein müsse, da die Durchdringung mit europäischen Lebensgewohnheiten zwar langsam, aber sicher vor sich gehe. Unwahrscheinlich rasch vollzog sich die ›Europäisierung‹ auf den japanischen Inseln, die seit Jahrhunderten ein abgeschlossenes, von der großen Öffentlichkeit kaum beachtetes Leben geführt hatten. Nachdem Kommodore Perry, der Befehlshaber einer amerikanischen Flotteneinheit, die Öffnung der japanischen Häfen für den Handel der Vereinigten Staaten erzwungen hatte, schlossen sich England und Frankreich dem amerikanischen Handelsabkommen mit dem japanischen Kaiserreich an. Es wurde ein ertragreiches Geschäft. Aber keiner der drei Vertragspartner, deren Handel erheblichen Nutzen daraus zog, konnte oder wollte voraussehen, daß sich Japan in wenigen Jahren zu einer industriellen Großmacht im europäischen Sinne entwickeln wür269
de. Obwohl sich nach außen hin eine gesellschaftliche Umschichtung in Japan vollzog, mit Titeln und Rängen, die der europäischen monarchischen Gesellschaftsform angeglichen waren, veränderten sich die heimischen Bräuche des Großteils der japanischen Bevölkerung kaum. Sie nahm von den Gewohnheiten, die mit den Waren und Produktionsmethoden eingeführt wurden, nur die an, die ihr zusagten, behielt aber in ihren vier Wänden die ererbten Lebensformen und Glaubensgrundsätze bei. Das ungeheure ›Reich der Mitte‹ auf dem benachbarten ostasiatischen Festland war für die europäische Durchdringung noch nicht aufnahmebereit. Es fehlte China die Einheit der Verwaltung und des Glaubens, die Japan die Umwandlung in einem kurzen Zeitraum möglich machte. Das chinesische Kaiserreich war ein beliebter Tummelplatz vor allem des englischen Handels, der die von der Ostindischen Kompanie errichteten Umschlagplätze gewaltig ausgebaut hatte und der Nachfrage nach immer vielfältigeren Waren nur angestrengt nachkam. Manche noch nicht in Kolonialräume eingeteilte, schier unübersehbare Landstriche Asiens, die durch die militärische Überlegenheit europäischer Mächte hätten zu ihren Kolonien gemacht werden können, wären dem Zugriff landgieriger Herrscher offen gewesen, wenn England nicht verhindert hätte, daß die Nachzügler der kolonialen Konjunktur sich willkürlich breitmachten. Aber der afrikanische Erdteil bot Gelegenheit zur Aufteilung. Der Kongo wurde belgisch, die Sahara französisch. Trotz des da und dort vorauszusehenden englischen Einspruchs mußte die dunkelhäutige Bevölkerung endloser Küsten- und Landstriche Afrikas gewärtig sein, daß das Aufziehen der Fahne eines weißen Herrschers das Ende ihrer Freiheit und Unabhängigkeit mit sich bringen würde. Gestützt auf die Überlegenheit ihrer Seemacht, hätten die Staatsmänner und großen Landesherren Londons die meisten Gebiete für sich beanspruchen können, aber sie erkannten, daß sie weniger Verantwortung hatten und bessere Geschäfte machten, wenn sie Handelsgesellschaften und Zweigstellen in unabhängigen Gebieten errichteten, 270
die sie sonst als Kolonien mühselig hätten verwalten müssen. Dieser Gesichtspunkt hatte sich in den südamerikanischen Republiken bewährt und im brasilianischen Kaiserreich, dessen Wirtschaft immer mehr in die Hände oder doch unter die Oberaufsicht englischer und amerikanischer Unternehmer geriet.
IV Bevor der als königlich preußischer Gesandter zum Bundestag in Frankfurt und ein wenig später als Gesandter nach Petersburg und nach Paris ›kaltgestellte‹ Otto von Bismarck es erreichte, zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt zu werden, hatten nur ganz wenige zeitgenössische Herrscher und Staatsmänner die Maske seiner Jovialität durchschaut. Der neue König von Preußen, Wilhelm I. hatte noch vor dem Tode seines Vaters die Versetzung Bismarcks vorgenommen. Er selbst suchte eine friedliche Lösung mit Österreich und wollte sich in Frankfurt nicht durch einen Mann vertreten lassen, der der Überzeugung Ausdruck gegeben hatte, daß eine Verständigung mit Österreich über die deutschen Angelegenheiten nur mit ›Eisen und Blut‹ erreicht werden könne. Die im Grunde unfreiwilligen Aufenthalte Bismarcks in Rußland und Frankreich trugen ausgezeichnete Früchte für ihn. Mit offenen Augen und hellem Kopf durchschaute und erfaßte er die Lage der östlichen und westlichen Nachbarländer Preußens. Er knüpfte Beziehungen zu den führenden Persönlichkeiten in Petersburg und in Paris an, natürlich auch zu Napoleon III. der bemüht war, seine innere Unsicherheit durch eine krampfhafte Stärkung seines äußeren Ansehens zu verbergen. Diese ›Prestige-Politik‹ Napoleons sich gegebenfalls zunutze zu machen, war ein rasch gefaßter Entschluß Bismarcks. Die räumliche Nähe veranlaßte ihn zu einem Besuch Londons. Dort begegnete er dem großen englischen Staatsmann Disraeli, der nach einer Un271
terhaltung mit Bismarck sagte: »Paßt auf diesen Mann auf. Der meint, was er sagt.« Das war tatsächlich eine in der Diplomatie ungewohnte Eigenschaft Bismarcks. Er wagte zu sagen, was er dachte, obwohl die Wahrheit nicht zu den üblichen ›Vokabeln‹ der Diplomatensprache und auch nicht in die üblichen Gespräche von Ministern mit ihren Herrschern gehörte. Aber auch im Audienzsaal oder am Beratungstisch seines Königs sagte Bismarck die ›Wahrheit‹ – wenn es ihm paßte. Er kam so sehr in den Ruf bedingungsloser Wahrheitsliebe, daß er auch jede Unwahrheit überzeugend glaubhaft machen konnte. Dabei kam ihm sein eindrucksvolles Aussehen zugute. Sein Gesicht, das je nach der Gelegenheit oder je nach dem Wesen seines Gegenüber schalkhaft-gewinnende Freundlichkeit oder eiskalte Ablehnung ausdrücken konnte, ergänzte seine unendlich begabte stimmliche Gewandtheit, die alle Modulationen vom zärtlichsten Geflüster bis zum gröbsten Geschrei beherrschte. Trotz oder gerade wegen dieser unnachahmlichen Schauspielkunst, die ihn in so verschiedenen Rollen zeigte, vermochte Bismarck doch den Eindruck einer unwandelbaren, in Erz gegossenen lauteren Persönlichkeit zu vermitteln. Ebenso vielfältig wie seine äußeren Erscheinungsformen waren auch die Variationen seines Denkens und seiner Äußerungen. Davon legen die von ihm selbst herausgegebenen ›Gedanken und Erinnerungen‹ Zeugnis ab, wenngleich es ihm gelang, darin manches, was er gesagt, gedacht, geschrieben und getan hatte, ebenso liebenswürdig wie schroff zu rechtfertigen. War Bismarck am Rande seines Lebens mit seinem Lebenswerk einverstanden? Stand er zu der von ihm geprägten ›gesunden Realpolitik‹, die mit gegebenen Tatsachen rechnete und sich vor Illusionen scheute, oder sah er am Ende ein, daß er in manchem vielleicht besser anders gehandelt hätte? Eine sorgfältige Zergliederung der Gedankenwelt und Handlungsweise Bismarcks mußte ergeben, daß die Voraussetzungen seiner staatsmännischen Leistungen tatsächlich die Gegebenheiten der Augenblicke waren, Gegebenheiten, die sich mit der Entwicklung und dem Ablauf der Zeit verändern mußten und daher keine ›Gegeben272
heiten‹ bleiben konnten. Die Stärke Bismarcks, durch deren Ausnützung er ›sein‹ Preußen so unendlich stärkte, waren die unvergleichliche kühle, vorurteilslose Beurteilung jeder Lage und das Ausnutzen der Möglichkeiten. Er war ein überragendes Genie der Staatskunst gewesen, das alle Techniken der Diplomaten virtuos zu handhaben verstand. Zweifellos hat er auch Schwächen gehabt. Aber man darf nicht der Versuchung erliegen, seine historischen Leistungen vom Ende des deutschen Kaiserreiches her beurteilen zu wollen: was nach seinem erzwungenen Rücktritt geschah, darauf hatte er keinen direkten Einfluß mehr. Vermutlich hätte gerade er auch den neuen historischen Voraussetzungen gerecht werden können, die sich kurz vor der Jahrhundertwende ergaben. Daß seine Nachfolger oft nicht mit dem umzugehen wußten, was er ihnen als Erbe hinterlassen hatte, darf nicht ihm als Schuld angerechnet werden. Inwieweit der Kampf Bismarcks gegen den Liberalismus zugunsten der ›gesunden Realpolitik‹ des preußischen Nationalismus sowie die von ihm angeregte Erziehung zum ›militärischen Denken‹, die mit neuzeitlichen Mitteln die Tätigkeit Friedrich Wilhelms I. wiederholte, dazu beitrugen, daß es möglich wurde, das Volk der Dichter und Denker zu einem späteren Zeitpunkt in eine kriegsbereite Nation für die Machthaber des Dritten Reiches zu verwandeln, die den Haß und die Rache der ganzen Welt auf sich zogen, so daß am Ende Deutschland in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt wurde und auf die Hilfe der Sieger zum Wiederaufbau angewiesen war – diese Frage dürfte sehr schwer zu entscheiden sein. Ebenso schwer die andere Frage, ob es ohne das gewaltige und gewalttätige Eingreifen Bismarcks im neunzehnten Jahrhundert gelungen wäre, das Deutsche Reich durch eine liberale Volksbewegung als Einheitsstaat mit parlamentarischer Regierungsform zu gründen. Die bedeutsamen Ereignisse der Laufbahn Bismarcks wurden von ihm selbst herbeigeführt. Dabei stand er, eine herausragende Persönlichkeit, fast stets unzulänglichen Gegnern gegenüber. Da war Napoleon III. den Bismarck am Gängelband von Versprechungen hielt. Da war Kaiser Franz Josef I. der Bismarck zutraulich fragte, ob die Ver273
träge, die der preußische Ministerpräsident mit ihm geschlossen hatte, auch für Österreich günstig seien, und der gewiß an der Möglichkeit eines Zwiegesprächs gezweifelt hätte, das Bismarck mit dem italienischen Gesandten de Launay während eines Empfanges führte: Bismarck wies in heiterem Spott auf den Degen des kaiserlich österreichischen Gesandten Graf Karolyi und sagte: »Dieser Degen, den haben wir gemietet.« »Für welchen Preis?« fragte Launay. Bismarck lachte: »Er arbeitet umsonst für den König von Preußen«, und er erzählte auch dem französischen Botschafter den Witz, den er soeben gemacht hatte. Es war ein trauriger Witz für Österreich, denn Kaiser Franz Josef hatte Bismarck seine Waffenhilfe zur Lösung der schleswig-holsteinischen Frage zugesichert. Nach dem Tode Friedrichs VII. von Dänemark hatte sein Nachfolger Christian IX. die Einverleibung SchleswigHolsteins in Dänemark durch eine dänische Gesamtstaatsverfassung vorgesehen. Das widersprach dem anerkannten ›Londoner Protokoll‹, das verfügte, daß Schleswig-Holstein Dänemark nicht einverleibt werden dürfe, wenn auch eine gemeinsame Thronfolge für Dänemark und die Herzogtümer festgelegt war. Es gab auch einen Vertrag des Herzogs von Augustenburg, der mit zweihundert Millionen Talern dafür entschädigt worden war, daß er ›für Uns und Unsere Familie bei fürstlichem Wort und Ehre‹ erklärt hatte, nichts gegen die dänische Thronfolge in Schleswig-Holstein zu unternehmen. Da aber sein Erbprinz dem Vertrag nicht beigetreten war, übertrug der Herzog seine ›Rechte‹ auf Schleswig-Holstein dem Erbprinzen. Wie verworren die Frage Schleswig-Holstein in allen ihren Verästelungen war, stellte der englische Staatsmann Lord Palmerston fest: »Nur drei Personen haben sie je verstanden«, sagte er, »der eine war Prinz Albert. Er ist verstorben. Der zweite war ein deutscher Professor. Er ist verrückt geworden. Der dritte bin ich, und ich habe alles wieder vergessen.« Für Bismarck war die schleswig-holsteinsche Frage nicht verworren. Er nützte die nationale Volksbewegung zugunsten des Erbprinzen von Augustenburg, den er später fallenließ, aus und sicherte die Neutralität 274
der Großmächte. Er hatte genug verhandelt, jetzt handelte er. Da der König von Dänemark die Aufhebung der Verfassung abgelehnt hatte, marschierten preußische und österreichische Truppen – Schulter an Schulter – in Schleswig-Holstein ein. Nach dem ›Frieden von Wien‹, der der siegreichen Unternehmung folgte, zeigte Bismarck Österreich bald nur noch die kalte Schulter. Es gab Verhandlungen aller Art, auch im Sinne der Annexion der Herzogtümer durch Preußen, während Entschädigungen für Österreich vorgesehen waren, wie zum Beispiel die preußische Unterstützung für die italienischen Ansprüche Österreichs. Aber die Hoffnungen Franz Josefs und seines Ministerpräsidenten Rechberg dauerten nicht lange, denn das von Bismarck längst geheim vorbereitete preußische Bündnis mit Italien trat bald offen in Geltung – trotz seiner gegenteiligen freundschaftlichen Zusicherungen im freundlichen Gastein. Der englische Bevollmächtigte Lord Clarendon erklärte damals: »Bismarck ist ein Mann ohne Treu und Glauben, und Rechberg ist sein Negersklave.« Aber das Spiel Bismarcks war noch rücksichtsloser als Lord Clarendon angenommen hatte. Zur Feier des gemeinsamen österreichisch-preußischen ›Sieges‹ über Dänemark hatte Graf Rechberg die in Wien anwesenden Staatsmänner und Diplomaten auf sein Landgut eingeladen. Das gab dem in den Grafenstand erhobenen Otto von Bismarck eine gute, unauffällige Gelegenheit, sich mit dem Herzog von Grammont, dem Botschafter Napoleons III. beiläufig unterhalten zu können. Es fielen nur wenige Worte, aber sie klangen wie Musik in den Ohren des Herzogs. Bismarck versicherte ihm, Preußen werde imstande sein, Napoleon III. das linke Rheinufer zu verschaffen. Er sagte wörtlich: »Wir können besser als jeder andere mit Frankreich marschieren.« Keine vertrauliche Nachricht konnte für den Kaiser der Franzosen erfreulicher sein als diese. Bismarck hatte mit unfehlbarer Geschicklichkeit seinen Ehrgeiz an der richtigen Stelle berührt. Zu diesem Zeitpunkt war Napoleon III. für jede Verlockung empfänglich. Seine amerikanischen Pläne waren gescheitert. Abraham Lincoln hatte die von Napoleon III. geförderten Südstaaten niedergerungen. Die ›Union‹, die Einheit der Vereinigten Staaten, war hergestellt, die allgemeine Abschaffung der 275
Sklaverei anerkannt. Die Gewährung des Stimmrechts an die ehemaligen Negersklaven stand bevor, und es gab keine Aussicht, daran zu denken, die von Napoleon I. so billig verkaufte Kolonie Louisiana für Frankreich wiederzugewinnen. Dies um so weniger, als das mexikanische Abenteuer Kaiser Maximilians, das Napoleon III. einen kräftigen Stützpunkt gegen die Vereinigten Staaten hätte geben sollen, seinem traurigen Ende entgegenging. Der Prestigeverlust Napoleons III. war um so bedenklicher, als das Anschwellen der liberalen Bewegung in Frankreich seine Stellung schwächte. Er bereitete eine Armeereform vor, eine Modernisierung der Bewaffnung, wie sie in Preußen schon durch den Kriegsminister Roon und den Generalstabschef Moltke – von Bismarck mit dem Einsatz seines ganzen Einflusses begünstigt – vollzogen worden war. Wenn Preußen wirklich beabsichtigte, mit Frankreich zu marschieren, so wie Grammont es berichtet hatte, dann würde er, Napoleon III. mit den Waffen die Fehlschläge gutmachen können, die er als Staatsmann und Politiker erlitten hatte. Er war durchaus nicht dagegen, daß ein Krieg zwischen Preußen und Österreich ausbrach. Und er war auch dafür, daß Italien eingriff. Wenn sich seine drei bedeutendsten östlichen Nachbarn gegenseitig in langwierigen Feindseligkeiten zerfleischten, würde ihm das Zeit geben, seine Rüstungen zu vollenden. Seine Nachbarn würden sich schwächen, und er würde stark sein. Diese Einstellung Napoleons III. hatte Bismarck bezweckt. Er hielt sich zwar an den Grundsatz Friedrichs des Großen: »Viel Feind', viel Ehr'«, aber er schränkte ihn doch ein: »Nicht zu viele Feinde!« Die Feinde, die er bereit war zu bekriegen und zu besiegen, genügten Bismarck fürs erste. Helmuth von Moltke, der preußische Generalstabschef, hatte alle nur denkbaren Möglichkeiten der Feldzugsplanung schon ausgearbeitet. Er war ein Wissenschaftler der Kriegskunst, die er für Laien in wenigen Worten zusammenfaßte: »Getrennt marschieren, vereint schlagen.« Die doppelte Umfassung des Gegners im Angriff – nicht in der Verteidigung – war das strategische Ziel Moltkes, das zu verwirklichen ihm auch gelang. Der von Bismarck mit al276
len Mitteln der Diplomatie vorbereitete Krieg gegen Österreich wurde durch den Antrag Preußens beim Bundestag in Frankfurt, eine Bundesreform unter Ausschluß Ostereichs vorzunehmen, ausgelöst. Die Gesandten Kaiser Franz Josefs ›sicherten‹ sich in aller Eile die Neutralität Napoleons III. dem sie die Abtretung Venetiens dafür versprachen, und veranlaßten den Deutschen Bundestag, einen Teil der Bundesarmee zu mobilisieren. Jetzt erklärte Preußen die ›Bundesakte‹ für gebrochen und trat aus dem Deutschen Bund aus. Die Königreiche Sachsen und Hannover sowie Hessen lehnten Preußens Aufforderung ab, sich dem Reformvorschlag anzuschließen. Auch die Könige von Bayern und Württemberg traten auf Österreichs Seite. An den südlichen Grenzen des österreichischen Kaiserreichs war die italienische Armee schon aufmarschiert. Für Österreich erfolgreiche Kampfhandlungen hatten eingesetzt. Die österreichische Flotte fuhr in die Adria aus. Auch die Bundesgenossen Österreichs setzten sich in Bewegung, aber die hannoversche Armee war der Moltkeschen Kriegführung nicht gewachsen. Sie kapitulierte. Und während die Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen jetzt nur noch darauf bedacht waren, ihre eigenen Landesgrenzen zu decken, marschierten preußische Truppen getrennt in Böhmen ein und siegten vereint über die österreichische Armee bei Königgrätz. Der Feldzug hatte drei Wochen gedauert. Es gelang Franz Josef noch, die Reste seiner geschlagenen, böhmischen Armee mit der aus Italien in Eile herbeigeführten Südarmee zu vereinigen, die Donaulinie zu besetzen, um Wien zu verteidigen, als zu seinem Erstaunen Bismarck trotz seiner militärischen Überlegenheit plötzlich bereit war, einen Vorfrieden abzuschließen. Rußland drohte, sich einzumischen. Napoleon III. hatte vermittelt. Die Italiener hatten den Po überschritten, um Venetien nicht als Geschenk von Napoleon III. zu erhalten. War das nicht ein günstiger Augenblick für Bismarck, dem besiegten Kaiser Franz Josef die Bundesbrüderschaft anzubieten, um den Ausbruch eines Weltkrieges zu verhindern und sicherzustellen, daß die von ihm gleichfalls aufgewiegelten Ungarn das österreichische Kaiserreich nicht zerstückelten? Bismarck schloß den ›Frieden von Prag‹, in dem Öster277
reich der Auflösung des Deutschen Bundes zustimmte, »nur« Venetien abtrat, auf alle etwaigen Ansprüche in Schleswig-Holstein verzichtete und zwanzig Millionen Taler Kriegsentschädigung zahlte. Bismarck tat, als sei er taub auf beiden Ohren, als Napoleon III. nun als Belohnung für seine Neutralität Forderungen auf deutsche Gebiete stellte. Da der Kaiser der Franzosen in seiner Enttäuschung mit Kriegsdrohungen nicht zurückhielt, wollte Bismarck ein Schutz- und Trutzbündnis aller deutschen Herrscher gegen Napoleon III. zustande bringen. Er schloß Frieden mit Baden, Bayern, Württemberg und auch mit Sachsen, obwohl König Wilhelm I. auf Bestrafung des Königs von Sachsen für sein Bündnis mit Österreich bestand. Bismarck versöhnte seinen König, indem er Kurhessen, Nassau und Frankfurt mit Preußen vereinigte. Das erschien ihm zur Abrundung des Königreichs unerläßlich. Auch mit Hannover verfuhr er nicht nachsichtig. Als Student hatte er dem Korps ›Hannovera‹ angehört. Jetzt wollte er, daß das Königreich Hannover zu Preußen gehöre.
V Das Verlangen, die Vergangenheit wieder erstehen zu lassen – nicht so sehr die gute alte Zeit als die ›großen Zeiten‹ –, bewegte die politischen Träumer Italiens ebenso wie den gesunden Realpolitiker Bismarck. Das neue Aufleben der Begriffe ›Ewiges Rom‹ und ›Römisches Imperium‹ bereitete einen gefährlichen Abschnitt der italienischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vor, und im mitteleuropäischen Raum wollte Bismarck das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, wenn auch in preußischer Prägung, wiedergestalten. Diese verklärten und die Gegenwart gefährlich verunklärenden Rückblicke in das längst versunkene Gestern waren auf die romantischen Vorstellungen zurückzuführen, die der Wunsch nach nationalem Bewußtsein und nach Stärkung des Selbstbewußtseins der italienischen und deutschsprachigen Männer und Frauen in den Unterdrüc278
kungs- und Befreiungskriegen gezeitigt hatte. Die Schlagworte ›Tradition‹ und ›historische Bedingtheit‹ waren ausgezeichnete Hilfsmittel zur Festigung der monarchischen Grundsätze. Sie waren konservativ und daher gegen jede fortschrittliche Änderung und Neuerung. Es mochte widersinnig erscheinen, daß die zeitgenössische Werbung für die Wiedergeburt des Altertums oder des Mittelalters mit dem neuzeitlichen Aufschwung der industriellen und sozialen Entwicklung zeitlich zusammenfiel. Doch der scheinbare Widersinn erklärte sich durch die Entwicklung der sich immer deutlicher voneinander abgrenzenden Lager. Auf der einen Seite wurde mit allen Kräften darum gekämpft, daß alles bliebe, wie es war, oder wieder würde, wie es gewesen war, auf der anderen, daß auf den Trümmern der alten eine neue Gesellschaftsordnung entstehe. Durch sein Werk ›Das Kapital‹ und die Gründung der ›Internationale‹, die, dem Kommunistischen Manifest gemäß, das Ziel hatte, den Aufruf ›Proletarier aller Länder vereinigt euch‹ zu verwirklichen, gab Karl Marx der sozialistischen Bewegung die zusammengefaßte, geistige Grundlage und den Antrieb zum Zusammengehörigkeitsgefühl aller Lohnarbeiter innerhalb der kapitalistischen Welt – mit dem höheren Ziel der allgemeinen Menschheitsverbrüderung. Die ›Internationale Arbeiterassoziation‹ war der erste Zusammenschluß des Proletariats. Alle Richtungen der Arbeiterbewegung waren vereinigt. Aber nicht alle einigten sich auf den von Karl Marx vorgeschriebenen Endzweck, ›die Diktatur des Proletariats‹. Noch vor der Gründung der ›Internationale‹ hatte Ferdinand Lassalle den ›Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‹ geschaffen und seine Forderungen auf das allgemeine Wahlrecht und allgemeine, staatlich unterstützte Produktionsgenossenschaften beschränkt. Durch den frühen Tod Lassalles kam es nicht zu einem Zusammenstoß mit Marx, der jede Zusammenarbeit mit bürgerlichen Richtungen im gegebenen Staat als ein ›Aufgeben des Prinzips‹ verwarf. In Besprechungen Bismarcks mit Lassalle war ›die Möglichkeit eines sozialen Königreichs‹ aufgetaucht, aber das mochte nur ein Versuchsballon Bismarcks gewesen sein, der dem gefährlichen politischen Gegner, mit dem ihn aller279
dings die Gegnerschaft gegen die bürgerliche Fortschrittspartei verband, hatte auf den Zahn fühlen wollen. Bismarck wurde der erklärte Feind des Sozialismus. »Wenn ich keine Küken haben will, muß ich die Eier zerschlagen«, sagte er, als es sich darum handelte, die ›Sozialistische Arbeiterpartei‹ anzugreifen, die Wilhelm Liebknecht und August Bebel ins Leben gerufen hatten. Die ›Sozialdemokratie‹ beruhte wohl auf marxistischen Grundlagen, wich jedoch von der Forderung Karl Marx' nach bedingungslosen revolutionären Maßnahmen ab und erstrebte eine Umgestaltung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit demokratischen Mitteln, die den örtlichen Gegebenheiten jeweils angepaßt sein sollten. Immer wieder und allerorts mit den schärfsten Maßnahmen bekämpft, erhielt sich die sozialdemokratische Bewegung gegen alle Angriffe. Sie blieb auf dem goldenen Mittel- und Vermittlungsweg und war durch ihre inneren Werte stark genug, den Tod ihrer mutigsten Verfechter und das Leben ihrer erbittertsten Feinde zu überdauern.
VI Die Katastrophe von Königgrätz und ihre Folgen wirkten so niederschmetternd auf Franz Josef I., daß die Nachricht von der Erschießung seines Bruders Maximilian durch die mexikanischen Republikaner seine Niedergeschlagenheit kaum noch vermehren konnte. Er litt vorübergehend unter der Vorstellung, daß ein Fluch auf ihm laste. Seine Gemütsstarre nahm so überhand, daß ihn Kaiserin Elisabeth zu meiden begann. Die lebensvolle junge Frau, die Franz Josef den Kronprinzen Rudolf und einige Töchter geboren hatte, entstammte dem uralten Geschlecht der Wittelsbacher, dessen Angehörige sich auch in bürgerlichen Berufen betätigten, lebensfreudig und kunstsinnig waren, oft mit bedenklicher Übertriebenheit wie König Ludwig II. von Bayern, der für geisteskrank erklärt werden mußte. In der ausweglosen Situation Franz Josefs bewies Elisabeth ihr aus280
geprägtes Pflichtbewußtsein und half ihm durch ihr liebenswürdiges Wesen den ungarischen Widerspenstigen gegenüber, den österreichisch-ungarischen Ausgleich zuwege zu bringen, durch den die ›Österreichisch-Ungarische Monarchie‹ entstand, die sich kaiserlichköniglich in der Person Franz Josefs verkörperte. Graf Andrassy, der für die unversöhnlichen Ungarn verhandelt hatte, war zwar vom Zauber Elisabeths hingerissen, aber er wußte, daß die Spaltung in ›Cisleithanien‹ und ›Transleithanien‹, zu der er beigetragen hatte, der Anfang vom Ende Österreichs war. Es gab nun einen österreichischen und einen ungarischen Ministerpräsidenten und daher zwei nur allzu oft entgegengesetzte Meinungen und Belange, die aber immerhin zwei wesentliche Gemeinsamkeiten hatten: den Herrscher und das Heer. Franz Josef fühlte sich den Ungarn und den im Königreich Ungarn lebenden Völkern fremd. Er wollte ein deutscher Fürst sein, obwohl er als Kaiser von Österreich aus dem deutschen Bundesverband ausgeschlossen worden war. Um so geneigter und gefügiger zeigte er sich den Lockungen und Zusicherungen Bismarcks, dem der Kaiser von Österreich und König von Ungarn als Bundesgenosse im Bedarfsfall genehm war.
Während Bismarck mit seiner gewohnten Übersicht und Voraussicht die Möglichkeit einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung ins Auge faßte und alle staatsmännischen Künste spielen ließ, um sie militärisch und politisch vorzubereiten, vollzog sich durch den Bau der ›Pazifischen Eisenbahn‹ eine gewaltige, allerdings friedliche Eroberung auf amerikanischem Boden. Ein Tausende von Kilometern langer Schienenstrang wurde durch die unwegsame Wildnis gelegt, um den Atlantischen Ozean mit dem Pazifischen zu verbinden und das Neuland des Westens zu erschließen. Dieser ungeheure Zuwachs ergiebiger Gebiete, die der Zivilisation aufgeschlossen werden sollten, genügte den aus allen Ländern der Erde stammenden, in ein Volk zusammenschmelzenden Amerikanern nicht. Die Vereinigten Staaten 281
kauften Alaska für bare Münze von Rußland. Sie waren davon überzeugt, daß ihre wachsende Bevölkerung schließlich auch diese weiten Landstriche bevölkern würde – denn die unentwegte Völkerwanderung hielt an. Von diesen bedeutsamen Ereignissen in der Neuen Welt nahm die europäische Öffentlichkeit nur oberflächlich Kenntnis. Die Schaffung von ›Landbrücken‹ schien von nicht so weittragender Bedeutung zu sein, wie die Schaffung von Kanälen, die Durchstechung von Land, um die Durchfahrt von Meer zu Meer zu ermöglichen. Nach dem unglücklichen Ende seines mexikanischen Abenteuers setzte Napoleon III. alles daran, den Franzosen die Weltweite seiner staatsmännischen Fähigkeiten durch offenkundige Leistungen zu beweisen. Französische Truppen hatten Cochinchina in Hinterindien besetzt. Aber der Kaiser der Franzosen hatte noch andere ehrgeizige Pläne, um den Kolonialbesitz Frankreichs in Asien zu vermehren. Deshalb hatte er auch den Suezkanal gefördert, den eine internationale Gesellschaft mit französischer Aktienmehrheit erbaute. Die Einweihung der Wasserstraße, die vom Mittelmeer in das Rote Meer führte, sollte eine großartige Kundgebung für Napoleon III. werden. Er war mit seinem prächtigen Hofstaat dabei, als ein französisches Schiff mit der Kaiserin Eugenie als erstes durch den Suezkanal fuhr. Die Genugtuung, daß dadurch sein Prestige wiederhergestellt sei, verleitete ihn, in eine natürliche Falle zu gehen, die Bismarck längst vorausgesehen hatte.
Nach dem ›Frieden von Prag‹ hatte Bismarck den ›Norddeutschen Bund‹ gegründet und dafür Sorge getragen, daß der verfassungsgebende ›Norddeutsche Reichstag‹ aufgrund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts gewählt wurde. Simson, der erste Präsident des ›Norddeutschen Reichstags‹, war der letzte Präsident der ›Frankfurter Nationalversammlung‹. Bismarck wurde Kanzler des Norddeutschen Bundes. In dieser neuen Würde wuchs er über sein gleichfalls beibehaltenes Amt als preußischer Ministerpräsident hinaus und nahm es 282
auf sich, den durch eine Reihe von örtlichen Bürgerkriegen und durch den Ausbruch einer Revolution umstrittenen Thron Spaniens mit einem Fürsten seiner Wahl zu besetzen. Sein Mann war der Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen. Die spürbar wachsende Macht Preußens hatte Napoleon III. schon schlaflose Nächte bereitet, aber daß ein Hohenzoller nun auch als südlicher Nachbar jenseits der Pyrenäen herrschen sollte, das erschien ihm untragbar. Die Erregung des Kaisers der Franzosen machte sich in einer unmißverständlich geharnischten Kammererklärung Luft. Um einen drohenden Krieg zu vermeiden, zogen die südlichen Hohenzollern im Einvernehmen mit König Wilhelm von Preußen die Anwartschaft auf den Thron von Spanien zurück. Das war ein Erfolg Napoleons III. den er voll und ganz ausnützen wollte. Er sandte einen Botschafter zu König Wilhelm nach Bad Ems, mit der Aufforderung, der König möge sich verpflichten, auch in Zukunft nicht zu erlauben, daß ein Mitglied des Hauses Hohenzollern die spanische Krone annehme. Wilhelm lehnte die Aufforderung ab und telegrafierte Bismarck den Inhalt seiner Gespräche mit dem Botschafter Napoleons III. Die Veröffentlichung dieser ›Emser Depesche‹, die die Zumutung Napoleons und die Abweisung Wilhelms in ›verschärfender Kürze‹ enthielt, empörte den Kaiser der Franzosen so sehr, daß er sich zur Kriegserklärung an Preußen hinreißen ließ. Die Emser Depesche war am 13. Juli in Druck gegangen; zwölf Tage später veröffentlichte die Londoner ›Times‹ einen kurz vorher datierten Vertragsentwurf, aus dem hervorging, daß sich Frankreich um die Zustimmung Preußens bemüht hatte, Belgien zu annektieren. Die rücksichtslose Eroberungslust Napoleons III. war in dieser Veröffentlichung so unmißverständlich dargestellt, daß sich kein europäischer Fürst seiner Herrschaft mehr sicher fühlen konnte. Diese Form des Angriffs in dem von Bismarck entfesselten Zeitungskrieg war damals noch ungewohnt; sie führte jedoch dazu, daß die süddeutschen Herrscher bereit waren, dem Norddeutschen Bund gegen Napoleon Waffenhilfe zu leisten. Alle anderen Nachbarn des Norddeutschen Bundes blieben neutral. Die Drohung des preußenfreund283
lichen Kaisers Alexander II. von Rußland, daß er im Falle eines Eingreifens Franz Josefs auf Seiten Frankreichs Österreich angreifen würde, verhinderte die schon erwogene österreichische Unterstützung Napoleons III. Inzwischen hatte die deutsche Heeresleitung auf Befehl Moltkes die Offensive in Frankreich begonnen. Es kam am 1. September zur Schlacht bei Sedan. Das französische Heer wurde vollkommen geschlagen und Napoleon III. gefangengenommen. Er dankte ab und durfte sich ungehindert in die Verbannung nach England begeben.
Der klägliche Zusammenbruch seines Kaisertums führte folgerichtig zur Beendigung der Politik Napoleons III. In Frankreich wurde die ›Dritte Republik‹ ausgerufen. Die französischen Truppen, die Rom besetzt gehalten hatten, wurden abgezogen und der Kirchenstaat Italien einverleibt. Rom wurde die Hauptstadt des Königreichs. Ein ›Garantiegesetz‹, dessen Geltung Papst Pius IX. grundsätzlich zurückwies, gewährleistete dem Heiligen Vater die Vorrechte eines weltlichen Souveräns, den Vatikan als Wohnsitz, die Peterskirche und den Lateranpalast. Es gab nun ein ebenso einiges Italien, wie es ein einiges Deutschland gab, aber hier wie dort schienen die Einigkeit und die Geschlossenheit der Staatsführung durch die Bestrebungen und Kampfansagen der Parteien in Frage gestellt. Die soziale Bewegung vor allem galt den Herrschern und ihren Staatsmännern als die drohende Gefahr der Zukunft. Daß sie sich durch diese Angst zu Gewaltmaßnahmen hinreißen ließen, wurde auch durch die blutigen Ereignisse der ›Commune‹ in Paris ausgelöst. Man sah es: ein Funke konnte den Brand der Revolution entfachen. Als ›Festung‹ war Paris auf ausdrücklichen Wunsch Bismarcks beschossen worden und hatte kapituliert. Trotz des Aufrufs General Gambettas, »bis aufs Messer zu kämpfen«, waren die französischen Heerführer, einer nach dem anderen, von deutschen Generälen ge284
schlagen worden. Endlich war in Bordeaux die Nationalversammlung zusammengetreten und hatte den schon sehr alten ehemaligen Ministerpräsidenten Louis Philippes, den Historiker Thiers, an die Spitze der Regierung gestellt. Ihm war es gelungen, in Versailles einen Vorfrieden mit Bismarck abzuschließen. Aber daß es nun in Frankreich auch in der Dritten Republik so bleiben sollte, wie es gewesen war, damit wollten sich die Sozialisten und Kommunisten im Pariser Gemeinderat nicht zufriedengeben. Sie riefen das Volk auf die Barrikaden, um dem Sozialismus zur Macht zu verhelfen. Nach erbitterten Barrikaden- und Straßenschlachten gelang es den Regierungstruppen unter Marschall MacMahon, Paris zu erobern. In den letzten Tagen des Kampfes, der zu ihren Ungunsten ausgehen mußte, erschossen die Aufständischen ihre Geiseln und steckten öffentliche Gebäude, darunter auch die Tuilerien, in Brand. Die auflodernden Feuer sollten ein Fanal sein, eine ›Propaganda der Tat‹, die die Entschlossenheit der Sozialisten und Kommunisten in der Verfolgung ihrer Ziele zum unmißverständlichen Ausdruck bringen sollte. Es nützte nicht viel, daß ein französisches Gesetz die Zugehörigkeit zu internationalen, revolutionären Arbeiterverbänden unter Strafe stellte. Die soziale Bewegung in Frankreich war trotz Zehntausender von Strafurteilen und Deportationen weder in den Gefängnissen verdorrt noch im Blute erstickt worden. Dennoch beschäftigte die meisten Politiker der Dritten Republik der Gedanke an die ›Revanche‹ am lebhaftesten. Die Vergeltung und der Wunsch, die verlorengegangene Größe Frankreichs und die im Frieden von Versailles abgetretenen Gebiete wiederzugewinnen, beherrschte die Politik Frankreichs.
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VII
Die französischen Patrioten konnten es auch nicht vergessen und nicht verwinden, daß in ihrem Versailles, das ihnen Sinnbild für die Größe Frankreichs war, in der Zeit ihrer traurigsten Niederlage eine triumphierende Festlichkeit abgehalten worden war: die Ausrufung König Wilhelms I. von Preußen zum Deutschen Kaiser. Dieser Feierlichkeit im Spiegelsaal des Sonnenkönigs waren überaus geschickte Verhandlungen Bismarcks mit den süddeutschen Herrschern vorausgegangen. Er hatte die einen durch die Einräumung von Sonderrechten und durch Versprechungen gewonnen und den Fürsten, die mit der Anerkennung des Königs von Preußen als ihren kaiserlichen Oberherrn noch gezögert hatten, mit Drohungen oder der Zusicherung erhöhter Einkünfte nachgeholfen. Der vom ersten deutschen Kaiser in den Fürstenstand erhobene und zum Reichskanzler ernannte Staatsmann war darauf aus gewesen, das Kaiserreich seiner Träume zu verwirklichen. Befriedigt von seinem Erfolg, schloß er mit Frankreich einen verhältnismäßig milden Frieden, um den noch schwebenden Volkskrieg zu beenden. Die Abtretung Elsaß-Lothringens und die Zahlung von fünf Milliarden Frank Kriegsentschädigung waren die Bedingungen, die Frankreich annahm. Nach seiner Rückkehr nach Berlin gab Bismarck wiederholt die Erklärung ab, daß sein Kaiser und er nun ›saturiert‹ seien, aber er stellte die Rüstungen nicht ein. Er fühlte sich um so mehr im Recht, als Frankreich die allgemeine Wehrpflicht einführte und General Gambetta leidenschaftlich in einer Rede erklärte: »Denken wir immer an das, was wir zu tun haben, sprechen wir aber nie davon.« In einer deutschen Zeitung erschien bald darauf ein von Bismarck 286
veranlaßter Aufsatz mit dem alarmierenden Titel: »Ist der Krieg in Sicht?« Englische und russische Diplomaten wurden beim Reichskanzler vorstellig, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Die Antwort Bismarcks war, er wolle nichts anderes als den Frieden. Aber war ihm auch zu trauen? Der englische Staatsmann Disraeli, dem Bismarck schon aufgefallen war, als er noch unbekannt war, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jede Äußerung oder Handlung des deutschen Reichskanzlers zu zergliedern und auszulegen. Die deutsche Machtentwicklung machte Disraeli Sorgen. Die durch die Zahlung der französischen Kriegsentschädigung entstandene Geldflüssigkeit des Deutschen Reiches hatte zu den sogenannten ›Gründerjahren‹ geführt, einem wildwuchernden Aufschwung der deutschen Wirtschaft, deren Produktionsstätten sich trotz gelegentlicher Zusammenbrüche mit unheimlicher Schnelligkeit entwickelten. England mußte alle Kräfte anspannen. Es durfte nicht nachstehen. Auch nicht im Rang seiner Herrscherin. Disraeli veranlaßte seine Königin, das Ansehen ihres Zeitalters durch die Annahme einer Kaiserkrone zu erhöhen. Victoria blieb zwar Königin von England, aber sie wurde auch Kaiserin von Indien. Gleichzeitig unternahm es Disraeli, englische Einflußräume zu Machtbereichen umzugestalten. Er machte die Burenrepublik Transvaal zur britischen Kolonie, nahm Zypern in Verwaltung und unterwarf die Zulukaffern. Ein weitverbreiteter zeitgenössischer Scherz bekundete die Volkstümlichkeit der englischen Herrschaft bei den farbigen Eingeborenen. Alle Welt lachte, als es hieß, daß die Zulukaffern, zufrieden mit ihrem neuen ›Häuptling‹, erklärt hatten: »Queen Victoria very good man!« Disraeli nützte auch finanzielle Schwierigkeiten des Khedive von Ägypten aus, um von ihm Aktien der Suezkanalgesellschaft zu erwerben. Er bereitete die Besetzung Ägyptens vor, um den Suezkanal, der zu achtzig Prozent von englischen Schiffen befahren wurde, militärisch zu beherrschen. Disraeli sprach zwar so wie seine Vorgänger von der ›splendid isolation‹ Englands, aber als es zu russisch-türki287
schen Feindseligkeiten kam, die mit der Niederlage der Türken endeten, nahm auch er an den Friedensverhandlungen teil, die im ›Berliner Kongreß‹ mündeten und die Gründung unabhängiger Staaten auf der Balkanhalbinsel zur Folge hatten. Der ›Kranke Mann Europas‹ wurde lebendigen Leibes des größten Teils seiner europäischen Besitzungen beraubt. Österreich-Ungarn okkupierte Bosnien und die Herzegowina, Bulgarien wurde selbständig, ebenso Montenegro und Serbien. Fürst von Bulgarien wurde Alexander von Battenberg aus dem Hause Hessen-Darmstadt. Prinz Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, der schon Fürst von Rumänien gewesen war, wurde zum König ausgerufen. Serbien gewann seine Unabhängigkeit und wurde zum Königreich erhoben. War die Balkanhalbinsel durch diese Aufteilung befriedet? Die russische Enttäuschung über die Ergebnisse des Berliner Kongresses kündigte die Entschlossenheit des Kaisers von Rußland und seiner Minister an, die Machtverteilung auf dem Balkan keineswegs als endgültig anzuerkennen. Die panslawistische Bewegung wurde von Petersburg aus unterstützt. Die Verhältnisse auf dem Balkan konnten kaum so bleiben, wie sie waren. Die einzelnen Herrscher waren mit den ihnen zuerkannten Grenzen nicht einverstanden. Alles deutete darauf hin, daß ein Krieg zwischen den Balkanherrschern und ihren Beschützern, Österreich-Ungarn und Rußland, kaum zu verhindern sein würde, wenn Bismarck es unterließ, zu vermitteln oder russische Belange gegen Österreich zu unterstützen. Der deutsche Reichskanzler sah die Schwierigkeiten voraus, aber er wollte sich nicht, wie er sagte, ›von Österreich abtreiben lassen‹. Der Gastgeber des Berliner Kongresses hatte den unabänderlichen Wunsch, den verhängnisvollen Zweibund zustande zu bringen: das Verteidigungsbündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Daß bald darauf Italien im geheimen als dritter Partner beitrat und aus dem Zweibund ein Dreibund wurde, war auf den kolonialen Ehrgeiz Frankreichs zurückzuführen, das den Mittelmeerraum beunruhigte und Tunis in Besitz nahm. Es kam auch eine freundschaftliche Verbrüderung der europäischen 288
Kaiser durch den ›Drei-Kaiser-Vertrag‹ zustande, der die Vertragspartner im Falle des Angriffs einer vierten Macht zu wohlwollender Neutralität verpflichtete. Dieser ›Entente‹ zwischen Franz Josef I. und Kaiser Alexander III. von Rußland, dessen Vater kurz vorher durch ein Bombenattentat getötet worden war, trat auch Wilhelm I. bei. War der Frieden in Europa durch all diese freundschaftlichen Abkommen, die doch auch auf verwandtschaftliche Beziehungen der Kaiser und Könige begründet waren, gesichert? Für einige Zeit zumindest schien es so zu sein, denn die Unterdrückung der revolutionären Strömungen der Völker innerhalb der Grenzen erschien den Herrschern und ihren Ministern wichtiger als der Wunsch, an den Grenzen zu rütteln. In Rußland setzte eine systematische Verfolgung der sozialen Vorkämpfer ein, die als ›Nihilisten‹ bezeichnet wurden. Dabei kam es durch verhängnisvolle Mißverständnisse und tendenziöse Verwechslungen zu Judenverfolgungen, die zu einer Massenabwanderung von russischen und polnischen Juden nach England und vor allem nach Amerika führten. Diese sogenannten ›Pogrome‹ hatten nicht die mindeste ›rassische‹ Grundlage. Die in Polen und Rußland ansässigen Juden waren Nachkommen des innerasiatischen Stammes der Chazaren, die im neunten Jahrhundert zum Judentum übergetreten und im jüdischen Glauben verharrt waren. Sie waren ›andersgläubig‹ als die ›Rechtgläubigen‹, Griechisch-Orthodoxen, die den Panslawismus auch aus religiösen Gründen förderten. Daß sich russische Juden an der sozialen Bewegung beteiligt hatten, mochte den Anlaß zur Judenverfolgung in Rußland geliefert haben. Im Deutschen Reich versuchte Bismarck mit der Rückendeckung gegen Angriffe von außen, durch das ›Sozialistengesetz‹ die Angriffe der Sozialdemokratie gegen seine Regierung unmöglich zu machen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Die deutsche Sozialdemokratie wurde illegal und erstarkte im Kampf. Zeitgenössische sozialistische Karikaturisten stellten den in Eisen gepanzerten Reichskanzler als Don Quichotte dar, der gegen Windmühlen reitet. Die von seinen Anhängern als lebendiges Denkmal verehrte Erscheinung Bismarcks hatte tatsächlich etwas Versteinertes, nachdem er den 289
Höhepunkt seiner Laufbahn überschritten hatte. Er sah die Zeit nicht voraus, sondern setzte seine Persönlichkeit und seinen Einfluß ein, um staatsmännische Leistungen zu erbringen, deren politische und wirtschaftliche Werte zum Teil schon zu seinen Lebzeiten veraltet waren und deren Auswirkung daher zu zukünftigen Schwierigkeiten führen mußte. Bismarck beteiligte sich am Wettlauf der Mächte um Kolonialbesitz. Er gründete deutsche Kolonien in Südwest- und Ostafrika, in NeuGuinea, auf dem Bismarck-Archipel und den Marshallinseln. Auch Kaiser Franz Josef I. wollte bei der Verteilung der Erde nicht leer ausgehen. Österreichische Schiffe warfen in der Arktis Anker und pflanzten den österreichisch-ungarischen Doppeladler in einem unwirtlichen Gebiet auf, das sie ›Franz-Josef-Land‹ nannten. Während der Kampf der Herrscher um Machtbelange, um Landstriche und Einflußräume seinen unentwegten Fortgang nahm, der neue ›unlösliche‹ Staatsverträge zeitigte, die je nach unvorhergesehenen Machtverschiebungen eingehalten oder gelöst wurden, entwickelte sich die internationale Arbeiterbewegung weiter. Die Vervollkommnung der Technik auf allen Gebieten, die epochalen Erfindungen, die die Ausnützung und Verwertung der Elektrizität mit sich brachten, bedingte die Schaffung gewaltiger Industrien, die Förderung von Kohle, die Gewinnung und Verhüttung von Metallen, die Verbesserung der Verkehrswege. Die Zunahme der Verständigungsmittel durch die drahtlose Telegrafie und das Telefon kam auch der Arbeiterbewegung zugute, die sich in immer stärkeren Verbänden zusammenschloß und auf Vermehrung ihrer Rechte und Verbesserung ihrer Löhne beharrte. Gesetzliche Verfügungen der Machthaber konnten das Anschwellen der sozialen Bewegung aufhalten, aber nicht verhindern. Eine neue soziale Schicht – die Arbeiterklasse, die der Klassenlosigkeit zustrebte – siedelte sich um Bergwerke, Erzeugungsstätten und in der Umgebung der Handelsumschlagplätze in den europäischen Häfen an. Gewerkschaften entstanden und suchten untereinander Anschluß und Zusammenschluß, um sich und allen anderen Arbeitern ein besseres 290
Leben zu ermöglichen, das ihnen in der zeitgenössischen Gesellschaft versagt zu sein schien. In seinem Roman ›Germinal‹ schilderte Emile Zola, der durch sein ›J'accuse‹, die Anklage gegen die in Frankreich herrschenden Vorurteile, berühmt geworden war, die düsteren Lebensverhältnisse der französischen Arbeiterschaft.
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Germinal von Emile Zola
I Etienne erstieg die kleine Anhöhe, auf der drei Kohlenfeuer brannten, die den Erdarbeitern Licht und Wärme gaben. Sie waren bis spät in die Nacht tätig gewesen, denn es wurde noch Schutt weggeräumt. Er hörte das Schieben von Karren und sah die Schatten der Arbeitenden, die die Wagen in der Nähe der Feuerbrände abkippten. »Einen guten Morgen«, sagte Etienne in die von Rauch vernebelte Nacht und trat auf einen der von der Glut erleuchteten Körbe zu. Der Karrenführer, ein alter Mann in einer blaurot gestrickten Jacke mit einer Kaninchenfellmütze auf dem Kopf, stand aufrecht, den Rücken dem Feuer zugekehrt. Sein Pferd, ein großes, gelbes Tier, stand regungslos neben ihm. »Auch dir einen guten Morgen«, erwiderte der Alte den Gruß. Etienne nahm den mißtrauischen Blick, der ihn von oben bis unten musterte, wahr und nannte sofort seinen Namen: »Ich heiße Länder und bin Maschinist.« Er fragte: »Gibt es hier keine Arbeit für mich?« Die zuckenden Flammen beleuchteten einen etwa einundzwanzig Jahre alten, gutaussehenden dunkelhaarigen Mann, der trotz seines schlanken Körpers überaus kräftig zu sein schien. »Arbeit«, brummte der Karrenführer, »Arbeit für einen Maschinisten …« Er schüttelte den Kopf. »Es haben sich erst gestern zwei gemeldet. Es gibt nichts.« Ein Windstoß schnitt ihm die Rede ab. Etienne wies auf die im Dunkel der Nacht massig wirkenden Gebäude, aus denen die Silhouette eines Fabrikschlotes aufragte. »Das ist eine Kohlengrube, nicht wahr?« Ein heftiger Hustenanfall würgte den Alten. Er spuckte aus. Dann 293
sagte er heiser: »Das ist eine Kohlengrube: der Voreux. Das Bergarbeiterdorf liegt dich daneben.« Gedankenverloren wärmte sich Etienne die Hände. Seine Augen hatten sich an die rauchige Finsternis gewöhnt. Mit sicheren Blicken erkannte er jetzt jeden Teil der Grubenanlage. Dabei dachte er an sich und an sein Landstreicherdasein in den acht Tagen, seitdem er auf der Suche nach Arbeit war. Er sah sich in seiner ehemaligen Werkstatt bei der Eisenbahn und erlebte wieder, wie er seinen Chef ohrfeigte und erst von Lille und dann von überall fortgejagt wurde. Er hatte nichts mehr, nicht einen Sou, nicht einmal eine harte Brotrinde. Was sollte er tun? Er holte tief Atem und fragte den Karrenführer: »Gibt es in Montsou Fabriken?« Der Alte hustete wieder krampfhaft und spuckte. Dann antwortete er in den unaufhörlichen Wind hinein: »An Fabriken fehlt es hier nicht. Sie hätten das vor drei oder vier Jahren erleben müssen. Nie ist so viel verdient worden. Jetzt muß jeder den Gürtel enger schnallen. Eine Werkstätte nach der anderen wird geschlossen, die Leute werden entlassen … Der Kaiser ist vielleicht nicht schuld daran. Aber weshalb läßt er sich auf Kämpfe in Amerika ein? Ganz abgesehen davon, daß die Tiere wie die Menschen an der Cholera sterben.« »Die Cholera ist nicht so schlimm wie der Hunger«, gab Etienne zurück. »Ja, wenn man wenigstens genug Brot hätte«, bestätigte der Alte. Im Tal war es still bis auf das ferne Geräusch eines auf Eisenblech dumpf losschlagenden Hammers. Der Karrenführer begann seine Fragestellung von neuem. »Sie sind aus Belgien?« »Nein, ich bin aus dem Süden.« »Und ich bin aus Montsou und heiße Bonnemort.« »Das ist wohl ein Spitzname?« Der Alte grinste vergnügt. »Man hat mich dreimal dort herausgezogen.« Er zeigte auf die Grube. »Dreimal«, wiederholte er. »Einmal mit versengtem Haar, ein zweites Mal aus der Erde und das dritte Mal wie 294
ein Frosch vom Wasser aufgebläht … Da sah man, daß ich nicht krepieren wollte und nannte mich im Scherz Bonnemort. Ein Guttod.« Er lachte und hustete wieder. »Sie arbeiten wohl schon lange in der Grube?« fragte Etienne. Der Alte wischte sich mit dem Handrücken langsam über den Mund. »Ich war noch nicht acht Jahre, als ich zum erstenmal in die Grube einfuhr. Heute bin ich achtundfünfzig. Ich war Hundejunge, Karrenläufer, Wagenschieber und dann achtzehn Jahre lang Häuer. Aber die Beine wollten plötzlich nicht mehr, und ich war nicht mehr gut genug für die Arbeit unter der Erde.« Die brennende Kohle beleuchtete sein bleiches Gesicht. »Man sagt mir, ich soll mich zur Ruhe setzen.« Er fuhr fort: »Ich bin aber nicht so dumm. Die zwei Jährchen werde ich noch schaffen. Mit sechzig habe ich hundertachtzig Frank Pension. Heute würden sie mir nur hundertfünfzig Frank geben. Sie sind schlau, die Herren …« Ein neuer Hustenanfall unterbrach ihn, und er spuckte wieder. »Ist das Blut?« fragte Etienne. »Kohle! Ich habe so viel davon in meinen Lungen, daß ich mir bis ans Ende meiner Tage damit einheizen könnte.« Bonnemort holte tief Atem. »Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich mit meinem richtigen Namen Maheu heiße?« Er lachte. »Wir Maheus arbeiten für die Grubengesellschaft von Montsou seit ihrer Gründung. Seit hundertsechzig Jahren. Mein Großvater, erzählt man, war groß und stark, aber er starb mit sechzig an Altersschwäche. Mein Vater kam in der Grube um, er war kaum vierzig. So erging es zwei seiner Brüder … und drei meiner Brüder. Arbeiten, arbeiten, arbeiten … das pflanzt sich vom Vater auf den Sohn fort. Jetzt arbeiten mein Sohn Toussain Maheu in der Grube und auch schon meine Enkel.« Bonnemort schwieg. Im Arbeiterdorf flammte ein Licht nach dem anderen auf. »Ist die Grubengesellschaft von Montsou reich?« fragte Etienne nach einer kleinen Weile. »Ach ja, ach ja …«, der Alte zog die Achseln hoch und ließ sie wieder sinken, als drückte ihn die Last von Goldstücken. »Vielleicht nicht 295
so reich wie ihre Nachbargesellschaft, die von Anzin, aber sie hat Millionen über Millionen. An Geld fehlt's schon nicht.« Während der Alte das Pferd anschirrte, sprach er mit sanfter Stimme zu dem Tier: »Gewöhne nur du dich nicht ans Schwätzen, alter Faulpelz. Wenn das Herr Hennebeau erfahren würde.« Etienne fiel ein: »Die Grube gehört wohl Herrn Hennebeau?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Herr Hennebeau ist nur der Generaldirektor. Er wird bezahlt so wie wir.« »Wem gehören denn die Gebäude, die Schlote, die Kohlengruben?« »Wem das alles gehört? Das weiß man nicht. Den Leuten gehört's …« In Bonnemorts Stimme lag eine Art von religiöser Scheu, als er wiederholte: »… den Leuten.« Es war, als spräche er von einem Tempel, in dem sich der vollgefressene Götze verbarg, dem sie alle ihr Leben zum Opfer brachten, ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben. »… den Leuten«, murmelte er vor sich hin, während er hinter dem Pferd mit seinem schleppenden Invalidengang im Dunkeln verschwand. Etienne nahm sein Bündel wieder auf. Vielleicht sollte er sich doch an die Grubenverwaltung wenden. Vielleicht war der Alte schlecht unterrichtet.
II Die Wohnung der Maheus lag im zweiten Häuserblock des Arbeiterdorfes. Die Kuckucksuhr im Erdgeschoß schlug vier Uhr. Catherine tastete schlaftrunken nach den Streichhölzern. Das Talglicht erhellte die zweifenstrige Stube. Die drei Betten stießen hart aneinander und ließen kaum Raum für einen Schrank, einen Tisch und zwei alte Stühle. In dem linken Bett schlief der einundzwanzigjährige Zacharias mit 296
seinem achtzehnjährigen Bruder Jeanlin, in dem rechten Bett Lenore und Henri, zwei Kinder von sechs und vier Jahren. Das dritte Bett teilte Catherine mit ihrer neunjährigen, buckligen Schwester Alzire. Vater und Mutter lagen im Hausflur, einem engen Gang. Neben ihrem schmalen Bett stand die Wiege des jüngsten Kindes, der kaum drei Monate alten Estelle. Catherine reckte sich und wühlte mit beiden Händen in ihrem roten Haar, um endlich wirklich wach zu werden. Ihre Arme waren weiß und zart. Ihre Füße, mit bläulichen Kohleflecken bedeckt, stachen seltsam von der fahlen Gesichtsfarbe ab. Der etwas große Mund mit den gesunden Zähnen im blutlosen Zahnfleisch öffnete sich zu einem letzten Gähnen. Sie hörte die schlaftrunkene Stimme ihres Vaters: »Es ist Zeit zum Aufstehen. Bist du es, Catherine?« »Ja, Vater … unten hat es eben vier Uhr geschlagen.« »Beeile dich. Warum hast du uns nicht zeitiger geweckt?« In den grauen Augen Catherines standen Tränen. Sie sah so kraftlos aus, als wolle ihre nackte Gestalt sich vor Müdigkeit auflösen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sich Alzire mit offenen Augen umgedreht und den warmen Platz der großen Schwester eingenommen. Catherine ging mit nackten Füßen auf den Steinfliesen. »Steh doch auf, Zacharias! Und du, Jeanlin, steh auf!« »Laß mich«, knurrte Zacharias und setzte sich auf. Er war lang und mager, mit spärlichem Bartwuchs und hellem Haar. Auch er hatte das der ganzen Familie eigene blutlose Gesicht. Catherine wandte sich Jeanlin zu: »Mach schon, der Vater ist böse.« »Schau, daß du weiterkommst«, brummte Jeanlin, »ich schlafe noch.« Catherine umschlang ihn mit beiden Armen. Er wurde bleich vor Ärger, weil er der Schwächere war. Er sagte nichts, biß Catherine aber in die rechte Brust. Sie schrie leise auf und setzte ihn wortlos auf die Erde. Alzire war noch nicht wieder eingeschlafen. Sie verhielt sich ganz still und beobachtete mit klugen Augen die Schwester und ihre beiden Brüder, die sich nun anzogen. Catherine war zuerst fertig. In ihrer Grubenhose und der blauen Kappe über dem Haar sah sie wie ein Jun297
ge aus. Außer dem leichten Wiegen in den Hüften verriet nichts, daß sie ein Mädchen war. Schnell richtete sie das Bett für den Großvater Bonnemort, der nachts arbeitete und bei Tagesanbruch schlafen ging. Die Wohnungen hatten so dünne Wände, daß kein Vorgang des Familienlebens verborgen blieb. Unter einem schweren Tritt knarrte im angrenzenden Haus eine Treppe, und dann ließ sich mit einem leisen Ausruf des Wohlbehagens etwas Schweres auf ein Bett nieder. »Aha«, stellte Catherine fest, »Levaque geht weg, und da kommt auch schon Bouteloup.« Jeanlin grinste. Alzires Augen leuchteten verständnisvoll. Jeden Morgen belustigten sie sich über die Nachbarsleute, bei denen ein Erdarbeiter wohnte. Frau Levaque kam dadurch zu zwei Männern, einem für die Nacht und einem für den Tag. »Philomene hustet«, meinte Catherine. Sie sprach von der ältesten Tochter der Levaque, einem Mädchen von neunzehn Jahren. Philomene war die Geliebte von Zacharias Maheu und hatte schon zwei Kinder von ihm, obwohl sie so schwach auf der Brust war. »Ach was, Philomene schläft«, erwiderte Zacharias. »Eine saubere Wirtschaft, bis sechs Uhr zu schlafen!« Er zog seine Hose an und öffnete das Fenster, um aufzupassen, ob nicht gegenüber bei den Pierrons der Oberaufseher des Voreux herauskäme, dem man ein Verhältnis mit Pierrons Frau nachsagte. Eisige Luft strömte in die Stube, und Estelle in ihrer Wiege fing an zu schreien. »Hör damit auf, du Wurmgezücht!« Maheu ärgerte sich über sein jüngstes Kind. »Laß sie, du weißt doch, daß sie nicht zum Schweigen zu bringen ist!« sagte die Maheude und rückte in die Mitte des Bettes. Maheu war klein wie Bonnemort, hatte denselben großen Kopf und unter dem hellen, kurzgeschnittenen Haar das gleiche platte und fahle Gesicht. Er betrachtete seine Frau. Die Schönheit ihres länglichen Gesichts war verblüht in den neununddreißig im ununterbrochenen Elend verlebten Jahren – und nachdem sie sieben Kinder geboren hatte. Sie sprach mit gedehnter Stimme, während ihr Mann sich anzog. »Ich habe nicht einen Sou im Haus, 298
und es sind noch sechs Tage bis zum Fünfzehnten. Mein Gott, sechs Tage! Was fange ich nur an? Sechzig Frank schulden wir dem Kaufmann Maigrat. Er hat mir vorgestern die Tür gewiesen.« Was sie weiter sprach, hörte Maheu nicht, das Geschrei Estelles übertönte ihre Worte. Er riß sie wütend aus der Wiege und warf sie in das Bett der Maheude. »Da, nimm sie«, drohte er, »ich bring' sie sonst um.« Er holte tief Atem, um sich zu beruhigen, und fragte: »Haben die Besitzer von ›La Piolaine‹ dir nicht gesagt, daß du hinkommen sollst?« »Ja, ich bin ihnen begegnet. Sie verteilen Kleidungsstücke an arme Kinder … Ich werde Lenore und Henri heute hinbringen. Wenn sie mir nur hundert Sou schenkten!« »Man muß sich einrichten, so gut es geht. Es wird nicht besser, wenn man darüber spricht.« Er löschte das Licht und folgte Zacharias und Jeanlin in die Küche. Die Kinder schliefen weiter. Ihre Mutter lag mit offenen Augen im Dunkeln, während Estelle wie ein Kätzchen an ihren leeren Brüsten schnurrte. Die Grubengesellschaft gab jeder Bergmannsfamilie monatlich acht Hektoliter harte Ausschußkohle, die nur mühsam Feuer fing. Catherine hatte den Kessel auf den Rost gesetzt und hockte neben dem Speiseschrank, um das Anbrennen der Kohle zu überwachen. Sie hatte mit dem letzten Brot und weißen Käse schon den ›Ziegel‹ gezaubert. Das war das belegte Brot, das täglich in die Grube mitgenommen wurde. Das Zaubern geschah in peinlicher Gerechtigkeit von dem großen Ziegel für den Vater bis zum kleinen für Jeanlin. Es gab in der Küche noch einen Tisch und Stühle aus Fichtenholz. An den Wänden klebten bunte Bilder, Porträts des Kaisers und der Kaiserin, Abbildungen von Soldaten und Heiligenbilder, die die Grubengesellschaft allen Bergleuten geschenkt hatte. Kaffee war keiner mehr da, darum überbrühte Catherine den Satz vom vorigen Tag. Und da kamen auch schon der Vater und die Brüder. Sie tranken hastig, ohne sich zu setzen, und machten sich auf den Weg. »Wartet doch, wir wollen zusammen gehen«, rief Levaque, der die Türe des Nachbarhauses verschloß. 299
Catherine unterdrückte ein Lachen und flüsterte Zacharias ins Ohr: »Was ist geschehen? Bouteloup wartet nicht mehr, bis der Ehemann fortgegangen ist.« – Dann wurde es still im zweiten Häuserblock des Arbeiterdorfes. Im eisigen Wind bewegte sich eine lange Schlange dunkler Gestalten zum Voreux. In dünne Kittel gekleidet, zitterten sie vor Kälte, aber sie beeilten sich trotzdem nicht. Sie bewegten sich im langsamen Trott wie die Tiere einer Herde.
III Die Männer, an die sich Etienne um Arbeit wandte, schüttelten nur den Kopf. Er ging zum Kontrollschalter zurück. Ihm schwindelte. Er fröstelte im kalten Zugwind und verfolgte mit den Blicken die Bewegung der Förderkörbe, während das unaufhörliche Rollen der Kohlenwagen ihm Kopfschmerzen verursachte. Die Einfahrt der Arbeiter begann. Sie kamen barfüßig mit Lampen in der Hand und warteten in kleinen Gruppen, bis eine genügende Anzahl beisammen war. Dann stiegen je fünf Mann in einen Förderkorb. »Ist das tief?« fragte Etienne einen Bergmann, der neben ihm wartete. »Fünfhundertvierundfünfzig Meter.« »Und wenn das Seil reißt?« fragte Etienne. »Wenn es reißt …« Der Bergmann drückte durch eine Handbewegung aus, was er nicht aussprach. Eine unbestimmte Angst brachte Etienne plötzlich zu einem Entschluß. Er ging. Weshalb auch noch länger warten? Er ging sehr schnell auf das Maschinenhaus zu. Er trat näher, um sich zu wärmen, als er auf einen Trupp Bergleute stieß. Es waren Levaque und die vier Ma300
heus. An ihrer Spitze schritt Catherine. Er sah ihr sanftes Jungengesicht und bekam den abergläubischen Einfall, eine letzte Frage zu versuchen. »Sagt, Kumpel, braucht man hier nicht einen Arbeiter, einerlei wofür?« »Man braucht hier niemand«, erwiderte Maheu. Aber der arme Teufel, der sich arbeitssuchend auf den Straßen umhertrieb, erregte seine Anteilnahme. Es fiel ihm auch noch etwas anderes ein. Er sagte seinen Kindern: »Seht, in solcher Lage könnten wir auch sein. Mancher hat nicht einmal Arbeit, bei der er sich zu Tode schindet. Man darf sich nicht beklagen.« Die Maheus und Levaque gingen zur Wärmestube, einem weiß getünchten Saal. Vor dem heißen Ofen standen ungefähr dreißig Bergleute und wärmten sich den Rücken. Sie taten dies täglich, um eine gute Portion Wärme in die feuchte Grube mitzunehmen. Die meisten waren an diesem Morgen besonders guter Laune. Sie verspotteten die Mouquette, eine achtzehnjährige, kräftige Wagenschieberin, deren mächtiger Busen und Hintern Kittel und Hose fast zum Platzen brachten. Doch die Heiterkeit legte sich rasch, als Maheu erfuhr, daß eine seiner Wagenschieberinnen heute früh tot in ihrem Bett aufgefunden worden war. Maheu war in Verzweiflung. Er, Zacharias, Levaque und Chaval arbeiteten zusammen auf Akkord. Wenn ihnen jetzt zum Wagenschieben nur Catherine blieb, mußte die Arbeit darunter leiden. Plötzlich rief er: »Halt! Wo ist der Mann, der Arbeit gesucht hat?« Der Oberaufseher Danseart ging an der Wärmstube vorbei. Maheu hielt ihn an, erzählte ihm, um was es sich handelte, und bat um Erlaubnis, den Mann zu beschäftigen. Nach einigem Zögern gab Danseart seine Einwilligung unter der Voraussetzung, daß Herr Negrel, der Ingenieur, es guthieß. »Unser Mann ist sicher schon weit fort«, brummte Zacharias. »Nein«, fiel Catherine ein, »ich habe ihn bei den Dampfkesseln stehen sehen.« »So lauf doch zu, du Trödelliese«, rief Maheu. 301
Catherine eilte davon. Etienne sprach im Kesselhaus auf den Heizer ein. Es gab keine Aussicht auf Arbeit. Es überlief ihn eiskalt bei dem Gedanken, wieder in den kalten Morgen hinaus zu müssen. Plötzlich spürte er, wie sich ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er hörte eine jugendliche Stimme: »Kommen Sie mit, es gibt etwas für Sie.« Im ersten Augenblick verstand Etienne nicht, um was es sich handelte, aber dann drückte er Catherine in aufwallender Freude die Hand. »Danke, Kumpel, Sie sind wirklich ein guter Kerl.« Catherine lachte. Es belustigte sie, daß der Fremde sie für einen Jungen hielt. Sie gingen zusammen zur Baracke, in der Maheu vor seinem Spind hockte und sich die Holzschuhe und Wollstrümpfe auszog. Mit ein paar Worten war alles geregelt: Dreißig Sou Tageslohn. Maheu riet Etienne, die Schuhe anzubehalten und lieh ihm eine alte Grubenmütze. Als er den Spind verschloß, wurde er plötzlich ungehalten: »Was trödelt denn dieser Schafskopf Chaval? Er amüsiert sich wohl wieder mit einem Weibsbild auf einem Steinhaufen. Auf Kosten unserer Zeit. Wir haben heute schon eine halbe Stunde verloren.« »Du wartest auf Chaval?« Zacharias wärmte sich seelenruhig am Ofen. »Chaval ist vor uns gekommen und gleich eingefahren.« Maheu brach wütend aus: »Das weißt du und sagst mir nichts davon.« Er kommandierte: »Los, vorwärts, macht schnell.« Sie verließen die Wärmstube. Etienne ging dicht hinter Catherine durch ein Gewirr von Treppen und dunklen Gängen, bis sie in das helle Licht des Lampenmagazins traten. Jeder Arbeiter nahm seine Lampe. Ein Kontrolleur trug die Stunde der Einfahrt ein. »Hier ist es nicht warm«, flüsterte Catherine, die sich vor Frost schüttelte. Etienne nickte nur mit dem Kopf. Er war gewiß nicht ängstlich, aber die Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, als er am Grubeneingang vor den auf- und abgleitenden Drahtseilen stand. »Zum Donnerwetter, man läßt uns hier wieder einfrieren«, brummte Maheu. Er wagte es nicht, laut zu schimpfen. Aber er sagte doch: »Donnerwetter.« 302
Es ging zu wie bei einer Viehverladung. Die Förderkörbe über und unter ihnen füllten sich. Endlich war es soweit. Etienne kümmerte sich nicht um die anderen, als er einstieg. Er fühlte ein beklemmendes, schwindelndes Sturzgefühl, das ihm die Eingeweide zusammenzog. Als er in die schwarze Nacht des Schachtes sank, war er wie betäubt. »Nun fahren wir ein«, sagte Maheu ruhig. »Dieser Schacht hat vier Meter Durchmesser.« Er erklärte Etienne: »Die Verzimmerung müßte mal wieder erneuert werden, denn von allen Seiten sickert Wasser durch.« Er fuhr fort: »Jetzt kommen wir an den Grundwasserspiegel. Hören Sie?« »Grundwasserspiegel?« Das Geräusch erschreckte Etienne. Erst hatten dicke Tropfen auf das Dach des Förderkorbes geschlagen, nun überströmte sie eine wahre Sintflut. Anscheinend hatte das Dach des Förderkorbs Löcher. Ein Wasserstrahl zerplatzte auf der Schulter Etiennes und durchnäßte ihn bis auf die Haut. »Wie tief das ist«, murmelte er. Ihm war, als dauerte diese Höllenfahrt bereits Stunden. Es fiel ihm schwer, in seiner unbequemen Stellung auszuharren. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er spürte die Spitze von Catherines Ellbogen. Er fühlte sie neben sich und ihre Wärme. Als der Förderkorb in einer Tiefe von fünfhundertvierundfünfzig Metern anhielt, hatte die Einfahrt nur eine Minute gedauert. Das Geräusch der Sicherheitshaken und das Bewußtsein, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, versetzten Etienne rasch in heitere Stimmung. Er fragte Catherine scherzhaft: »Was hast du nur an dir, daß du so warm bist?« Sie gab keine Antwort und lachte nur. Wie dumm war er doch, daß er sie für einen Jungen hielt. Hatte er keine Augen? Der Aufzug leerte sich. Sie ging neben ihm durch die Ankunftshalle. »Wir haben noch gute zwei Kilometer vor uns«, erklärte Maheu. Gruppenweise teilten sich die Arbeiter und verschwanden in dunklen Schächten. Einer hinter dem anderen, immer drauflos, ohne ein Wort zu sprechen. Etienne stolperte fast bei jedem Schritt. Ein dumpfes Geräusch, das an Heftigkeit zunahm und aus dem Innern der Erde zu kommen schien, beunruhigte ihn. Das Gestein zitterte. Er fühlte 303
das ganz deutlich, als er sich wie seine Begleiter an die Wand drückte, um einem großen Schimmel Platz zu machen, der vor einen Wagenzug gespannt war. Sie gelangten an eine Kreuzung. Eichenbalken stützten das Gestein. Züge mit leeren oder beladenen Wagen rollten vorbei. Die Gänge wurden enger und niedriger. Wer sich nicht bückte, schlug sich den Kopf blutig. Etienne sah sich vor. Die anderen Arbeiter kannten die Balkenvorsprünge, vor denen man sich in acht nehmen mußte. Ihn hemmte auch der schlüpfrige Boden, es ging durch wahrhafte Sümpfe. In den großen Stollen wehte ein eisiger Wind. Je weiter sie aber in die Seitengänge eindrangen, desto schwächer wurde der Wind. Die Hitze nahm zu und wurde bleischwer und erstickend. Maheu verkündete mit lauter Stimme: »Die Wilhelms-Ader!« Hier war ihr Arbeitsplatz. Gebückt legten sie etwa zweihundert Meter zurück. »Jetzt geht's bergauf«, sagte Maheu. »Hängen Sie Ihre Lampe an einen Knopf Ihres Rockes und halten Sie sich fest.« Etienne folgte ihm. Und obgleich er schlank war, vermochte er sich im engen Gang nur mühsam vorwärts zu bewegen. Er atmete schwer. Seine Hände begannen zu bluten, seine Knie waren wund gestoßen. Der über die Stirn rinnende Schweiß blendete ihn. Er konnte nicht weiter. »Mut! Wir sind da!« erklärte die Stimme Catherines. Als er endlich bei ihr ankam, dröhnte eine andere Stimme aus dem Hintergrund auf: »Was soll denn das? Ich habe einen zwei Kilometer längeren Anmarsch und bin als erster am Platz!« Chaval, ein magerer Mann mit derbem Knochenbau und scharf ausgeprägten Gesichtszügen war ärgerlich, daß er hatte warten müssen. Als er Etienne sah, fragte er verächtlich: »Was will der hier?« Nachdem ihm Maheu alles erklärt hatte, brummte er zwischen den Zähnen: »So schnappen also die Männer den Mädchen das Brot weg.« Etienne und Chaval maßen einander. Es war Haß auf den ersten Blick. Alle begannen zu arbeiten. Als Etienne sich einmal umwandte, war Catherine dicht hinter ihm. Er fühlte ihre Brust, die sich zu runden begann. »Du bist also ein Mädchen?« fragte er. 304
»Gewiß«, erwiderte sie in ihrer heiteren Art. »Hat lang gedauert, bis du es gemerkt hast!« Die Kohlenader war so unergiebig, daß die Häuer bei der Arbeit auf der Seite liegen mußten. Zu unterst lag Zacharias mit gebücktem Nacken, über ihm Levaque und Chaval, ganz oben Maheu. Er war am schlimmsten dran. Je höher die Arbeit gelegen war, desto höher war die Temperatur. Um sehen zu können, hatte Maheu die Lampe über seinem Kopf aufgehängt. Einige Zentimeter von ihm entfernt rieselte Wasser vom Gestein und tropfte mit hartnäckiger Regelmäßigkeit auf seine rechte Wange. Er mochte den Hals drehen soviel er wollte, es klatschte ihm unaufhörlich ins Gesicht. Niemand sprach. Alle hackten. Die Dunkelheit war durch den aufsteigenden Kohlenstaub dichter geworden. Zacharias unterbrach das Hacken. Er erklärte, er müsse verzimmern. Hinter den Häuern war schon ein drei Meter langer Gang entstanden, ohne daß sie, sorglos gegenüber der Gefahr und mit ihrer Zeit geizend, daran gedacht hatten, den Felsen zu stützen. »Bring mir Holz«, rief Zacharias Etienne zu. »Beeil dich! Verfluchte Bummelei!« schimpfte er, als er sah, wie der neue Wagenschieber sich unbeholfen zwischen den geförderten Kohlenbrocken durchwand. »Halt!« befahl Maheu, der endlich seinen Block losgebrochen hatte und sich die Stirn mit dem Ärmel trocknete. »Zum Pelzen ist nach dem Frühstück Zeit. Haut lieber, damit wir unsere Wagen zusammenbekommen.« »Es senkt sich wieder«, sprach Zacharias. »Hier ist ein Riß. Ich habe Angst, daß das Ganze zusammenkracht.« »Das wäre auch nicht das erste Mal.« Maheu zuckte die Achseln. Catherine erklärte Etienne: »Du brauchst nicht auf Zacharias zu achten, er mault ewig. Mach's nur so, wie ich es dir zeige. Jeder beladene Wagen kommt so, wie er hier abgeht, ans Tageslicht. Er ist mit einer Marke versehen, damit er auf das Konto des jeweiligen Arbeiters gebucht wird.« Etiennes Augen hatten sich allmählich an das Dunkel gewöhnt. Er betrachtete Catherine genauer. Er hätte sie für eine Zwölfjährige gehal305
ten. Sie gefiel ihm nicht. Er fand ihren blassen Pierrotkopf zu kindlich. Aber er staunte über ihre Kraft, die mit viel Geschicklichkeit gepaart war. Mit regelmäßigen, kurzen Schaufelwürfen füllte sie ihren Wagen viel rascher als er. Überdies entgleiste sein Wagen. »Schon wieder«, lachte Catherine. Er fluchte und riß wütend an den Rädern. Aber trotz seiner verzweifelten Anstrengungen vermochte er sie nicht wieder in die Schienen zu bringen. »Nur Geduld«, fuhr das junge Mädchen fort. »Wenn du ärgerlich wirst, geht's erst recht nicht.« Catherine hob mit einer Schulterbewegung den Wagen Etiennes empor und stellte ihn auf die Schienen. Als sie dann zu einer schiefen Bahn kamen, unterrichtete sie Etienne, wie man seinen Wagen schnell expedierte. Es ging schwer im Anfang. Jedesmal, wenn Etienne zum Aufladen zurückkam, hörte er die Kohlenschläge und das schwere Ächzen der Häuer. Alle vier hatten sich entkleidet. Sie waren bis zur Grubenhaube mit Kohlenstaub bedeckt. Zacharias und Levaque fluchten. Chaval ließ seine schlechte Laune an Etienne aus: »So ein Schwächling! Der hat nicht einmal soviel Kraft wie ein Mädchen. Wirst du deinen Wagen füllen, wie es sich gehört? Ich ziehe dir zehn Sou ab, wenn uns auch nur ein einziger Wagen zurückgewiesen wird!« Etienne erwiderte nichts. Er war glücklich, diese Galeerenarbeit gefunden zu haben, wenn seine Füße auch bluteten und seine Glieder wie zerschlagen waren. Endlich war es zehn Uhr. Frühstückspause. Die Häuer stiegen aus ihren Höhlungen und hockten sich auf den Boden. Jeder packte seinen ›Ziegel‹ aus und biß tapfer hinein. Hin und wieder fielen einige Worte über die Arbeit. Catherine näherte sich Etienne, der etwas abseits stand. »Du ißt nicht?« fragte sie mit vollem Mund. Da fiel ihr ein, daß dieser junge Mann vielleicht keinen Sou besaß. Sie fragte: »Willst du mit mir teilen?« Mit matter Stimme beteuerte Etienne: »Ich habe keinen Hunger.« »Ja, wenn du dich ekelst …« Catherine machte eine geringschätzige 306
Handbewegung, »… ich habe doch nur an dieser Seite abgebissen.« Sie brach ihre Schnitte in zwei Teile. Etienne mußte sich gewaltsam zurückhalten, um die Hälfte, die Catherine ihm reichte, nicht gierig zu verschlingen. Ihre Lampen beleuchteten sie. Catherine betrachtete ihn schweigend. Ein wohlgefälliges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist also Maschinist?« fragte sie. »Weshalb hat man dich fortgeschickt?« »Weil ich meinen Chef geohrfeigt habe.« Er erklärte: »Ich muß hinzufügen, daß ich getrunken hatte. Und wenn ich trinke, werde ich toll.« »Dann darfst du eben nicht trinken«, sagte Catherine ernst. »Das werde ich auch nicht mehr. Ich kenne mich«, sagte er entschlossen. Er haßte den Branntwein, der schon seinen Vater und Großvater zu Trunkenbolden gemacht hatte. Er strich sich über die verschwitzte Stirn. »Was geschehen ist, hat mir besonders meiner Mutter wegen leid getan. Sie haben mich auf die Straße gesetzt, und meiner Mutter geht es nicht gut. Ich schickte ihr von Zeit zu Zeit hundert Sou.« »Wo ist deine Mutter jetzt?« »In Paris. Sie arbeitet als Wäscherin in der Rue de la Boutte-d'Or.« Er zögerte. »Jetzt könnte ich ihr nicht einmal dreißig Sou schicken.« Verzweifelt zuckte Etienne die Achseln. »Sie wird im Elend verkommen.« Catherine reichte ihm die Flasche mit dem aufgewärmten Kaffee. Etienne wollte nicht trinken. Er hatte sie schon um die Hälfte ihres Brotes beraubt. Aber sie bestand darauf. Wie hatte er sie nur häßlich finden können! Ihr Gesicht, das wie mit Kohlenstaub bepudert war, besaß einen eigenartigen Reiz. Ihre Augen leuchteten mit grünlichem Schimmer gleich Katzenaugen. Etienne begann, sie über alles auszufragen. Als er wissen wollte, ob sie einen Geliebten hätte, erwiderte sie scherzend, sie wolle nichts gegen die Wünsche ihrer Mutter tun. Eines Tages würde sicher auch das der Fall sein. Sie lachte. Etienne fiel in das Lachen ein. »Man findet schließlich einen Liebhaber, wenn man so zusammen lebt wie hier.« Er setzte vorsichtig hinzu: »Und dem Pfarrer braucht man nichts zu sagen.« »Der Pfarrer«, gab Catherine zurück, »was kümmert mich der! Da 307
habe ich schon mehr Angst vor dem schwarzen Mann.« Sie flüsterte mit gespielter Angst: »Das ist der alte Bergmann, der in der Grube umgeht und den schlechten Mädchen den Hals umdreht.« »Du glaubst an solche Dummheiten? Hast du denn in der Schule nichts gelernt?« »Oh ja, lesen und schreiben. Das kann man gut gebrauchen bei uns. Vater und Mutter haben das zu ihrer Zeit nicht gelernt.« Sie war wirklich anziehend. Etienne überlegte: Wenn sie ihr Brot aufgegessen hatte, würde er sie küssen. Nun war der Augenblick zum Handeln gekommen. Er warf einen raschen Blick auf die im Stollen hockenden Bergleute, als ihm eine dunkle Gestalt den Ausblick versperrte. Chaval hatte Etienne und Catherine schon seit einer Weile von weitem beobachtet. Nun vergewisserte er sich, daß Maheu ihn nicht sehen konnte. Er trat auf Catherine zu, bog ihren Kopf zurück und küßte sie derb auf den Mund. Dabei tat er so, als bemerkte er Etienne nicht. Mit diesem Kuß nahm er gleichsam Besitz von Catherine. Es war ein durch Eifersucht hervorgerufener Entschluß. »Laß mich!« Catherine sträubte sich. Chaval hielt ihren Kopf fest und sah ihr drohend in die Augen. Dann ließ er sie mit einer jähen Bewegung los und ging, ohne ein Wort zu sagen. Etienne überlief es eiskalt. Er wandte sich bitter enttäuscht an Catherine: »Weshalb hast du gelogen? Das ist doch dein Liebhaber.« »Aber nein, ich schwöre es dir!« rief Catherine. Sie hatten sich beide erhoben. Es ging nun wieder an die Arbeit. Als Catherine die kalte Ablehnung Etiennes wahrnahm, war sie betrübt. Beschwörend hob sie die Hände: »Es ist nichts zwischen uns. Du mußt es mir glauben. Chaval spaßt zuweilen.«
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IV Die Arbeit war bitterer Ernst. Etienne fuhr mit vier anderen nach oben. Es war eine häßliche Arbeit. Während sie arbeiteten, um leben zu können, waren sie gezwungen, ihr Leben zu wagen. Wenn der Schacht nicht verzimmert war, konnte er einbrechen, und wenn er verzimmert wurde, kostete es Zeit, die den Ertrag der Arbeit verkürzte. Das hatte Herr Negrel in seiner heftigen Grobheit Etienne gegenüber nur allzu deutlich kundgetan. Dazu kam der Haß Chavals, der sich in Derbheiten Luft machte, und seine eigene Zuneigung für Catherine, die Etienne die Luft nahm. Im Aufzug faßte er den Entschluß, sein Wanderleben wiederaufzunehmen. Lieber sofort zugrunde gehen, als noch einmal in diese Hölle hinabzusteigen, in der man nicht einmal das tägliche Brot verdiente und riskieren mußte, daß einem von der harten Arbeit nichts als der Schweiß und der Kohlenstaub blieb, den man verschluckt hatte. Plötzlich war Etienne wie geblendet. Die Auffahrt war so schnell gewesen, daß ihn das grelle Tageslicht erschreckte. »Hör mal, Mouquet«, flüsterte Zacharias dem die Türe des Förderkorbs öffnenden Arbeiter zu, »kommst du heute abend in den ›Vulkan‹?« Mouquet, klein und dick wie sein Vater, der die Tiere unter Tage versorgte, zwinkerte mit dem linken Auge. Er nickte Etienne zu. »Der Neue sollte wissen, daß der ›Vulkan‹ ein Cafe- und Konzertlokal in Montsou ist. Kommst du auch hin?« fragte er. Ehe Etienne antworten konnte, näherte sich ihnen wütend Chaval. »Ein feiner Tag!« schrie er und erklärte, daß man ihnen allen zwei Kohlenwagen zurückgewiesen habe. »Wir bekommen nun zwanzig Sou weniger!« Er warf Etienne einen vernichtenden Blick zu. »Das kommt davon, wenn man Müßiggänger anstellt.« 309
»Man kann es nicht gleich am ersten Tag treffen«, sagte Maheu beschwichtigend, als er vernahm, daß Etienne die Faust ballte. »Nicht gleich am ersten Tag«, wiederholte er vermittelnd. »Morgen wird es besser gehen.« »Ich gehe!« rief Chaval, aber niemand rührte sich. Nur Mouquet schlüpfte eilig hinter ihm hinaus unter dem Vorwand, daß sie beide den gleichen Weg hätten. Catherine sprach leise mit ihrem Vater. Maheu nickte zustimmend und rief Etienne herbei. »Hören Sie«, flüsterte er, »wenn Sie kein Geld haben, werden Sie bis zum Zahltag verhungern. Wollen Sie, daß ich versuche, Ihnen Kredit zu verschaffen?« Etienne schwieg verlegen. »Ich verspreche Ihnen nichts«, fuhr Maheu fort. »Aber mehr als abgewiesen kann man nicht werden.« Etienne war überzeugt, daß man ihn zurückweisen würde. Aber dann bereute er, daß er nicht nein gesagt hatte. Er sah die Freude Catherines und ihren Blick, der ausdrückte, wie glücklich sie war, daß er blieb. Wohin sollte das alles führen? Als die Maheus die Wärmstube verließen, folgte ihnen Etienne. Sie wurden beim Sortierhaus durch einen heftigen Wortwechsel aufgehalten. Das Sortierhaus war ein weiter Schuppen. Die Kohlenwagen kamen unmittelbar vom Kontrolleur in das Sortierhaus und wurden auf großen schrägen Blechtafeln umgestürzt. Auf erhöhten Stufen standen rechts und links Mädchen mit Schaufeln und Rechen, rafften die mitgeförderten Steine zusammen und schoben die reine Kohle weiter. Ein Stück blaue Leinwand um den Kopf, die Hände und Arme von Kohlenstaub geschwärzt, sortierte Philomene Levaque neben der alten Hexe Brule die Kohle. Philomene sah schwindsüchtig aus. Sie wirkte um so armseliger neben der Brule mit ihren großen Eulenaugen und dem zusammengepreßten Mund. Während die beiden arbeiteten, überhäuften sie sich mit giftigen Bemerkungen. Die Junge beschuldigte die Alte, daß sie ihr die Steine wegraffe, so daß sie in zehn Minuten kaum einen Korb füllen könne. Und da sie korbweise bezahlt wurden, hatte der Streit kein Ende. 310
»Schlag ihr doch den Schädel ein!« rief Zacharias seiner Liebsten zu. Alle anderen Sortiererinnen jubelten, aber die Brule fiel über Zacharias her. »Du Saujunge tätest besser, die beiden Gören anzuerkennen, die du ihr angehängt hast.« »Halt's Maul«, gab Zacharias zurück. Er wollte sich auf die Brule stürzen, aber ein Aufseher kam in Eile herbei. Die Weiber schwiegen und begannen, mit ihren Rechen wieder in der Kohle zu wühlen. Dann gab es eine neue Zerstreuung. Bouteloup, der Mieter Levaques, der ihn in seiner Gunst bei der Mutter Philomenes ablöste, begrüßte auf dem Weg zu seiner Arbeit den Hausherrn, der den Hausfreund besorgt fragte: »Ist die Suppe fertig, Louis?« »Ich glaube schon«, gab Bouteloup zurück. »Und ist meine Frau heute bei guter Laune?« »Ich glaube.« Bouteloup war der Vorläufer der Leute, die um drei Uhr nachmittags einfuhren. Die Grube verschlang sie, die Grube feierte nie. Tag und Nacht durchwühlten die Bergleute wie menschliche Insekten das Gestein. Sie hackten und förderten sechshundert Meter tief unter den Rübenfeldern. Vor dem Wirtshaus ›Zur vorteilhaften Einkehr‹ sagte Maheu zu Etienne: »Da sind wir. Wollen Sie mit uns einkehren?« Etienne forschte in den Zügen Catherines, die regungslos neben ihnen stehengeblieben war. Sie sah Etienne mit ihren großen Augen an, lächelte ihm zu und verschwand mit den anderen, die sich auf den Heimweg machten. Das Wirtshaus lag an der Kreuzung zweier Wege zwischen dem Arbeiterdorf und der Grube. Hinter dem Haus war eine von einer grünen Hecke eingefaßte Kegelbahn errichtet worden. Die Herren der Grubengesellschaft, die alles darangesetzt hatten, dieses kleine Grundstück inmitten ihrer weiten Besitzungen an sich zu bringen, waren in Verzweiflung über diese Kneipe dicht am Eingang zum Voreux. Das Schankzimmer war ein kleiner, kahler Raum mit weiß getünchten Wänden. 311
Gefolgt von Etienne, trat Maheu ein und bestellte bei einem großen, blonden Mädchen: »Ein Gläschen!« Er fragte: »Ist Rasseneur da?« Rasseneur war der Wirt. Das Mädchen erwiderte, daß er sofort zurückkommen werde. Maheu leerte sein Glas zur Hälfte, um den Kohlenstaub hinunterzuspülen. Er bot Etienne nichts an. An einem der ungehobelten Tische saß ein Bergmann mit verrußtem Gesicht. Er winkte, wenn er etwas wollte, und kümmerte sich nicht um Rasseneur, der das Schankzimmer betrat. Ein glattrasiertes, volles Gesicht, das von einem gutmütigen Lächeln erhellt war, wandte sich Maheu zu. »Was gibt es?« fragte er. Maheu schwieg erst und überlegte. Rasseneur hatte sich zum Wortführer der unzufriedenen Arbeiter gemacht. Er war ein gefährlicher Mann, ein ehemaliger Bergmann, den die Grubengesellschaft anläßlich eines Streiks entlassen hatte. Als Antwort und als Herausforderung hatte er das nötige Geld aufgetrieben und das Wirtshaus dicht am Voreux erworben. Sein Geschäft blühte, denn die Unzufriedenen, deren Zorn er allmählich angefacht hatte, waren seine Gäste. Er fragte Maheu gelassen: »Hast du mir etwas zu sagen?« »Da ist ein Mann, den ich heute früh aufgenommen habe«, erwiderte Maheu. »Ist eine von deinen beiden Stuben frei, und willst du ihm vierzehn Tage Kredit geben?« Rasseneur warf einen mißtrauisch prüfenden Blick auf Etienne und sagte kurz angebunden: »Meine beiden Stuben sind besetzt. Es geht nicht.« Etienne war auf die Ablehnung vorbereitet gewesen, als er das glatte Gesicht Rasseneurs gesehen hatte. Aber die Abfuhr berührte ihn doch schmerzlich. Er wunderte sich, wie schwer es ihm fiel, wieder fortzugehen. Rasseneur wandte sich Maheu zu und fragte mit eigentümlicher Betonung: »Gibt es etwas Neues?« Maheu erzählte den Streit, den es in der Grube wegen der Verzimmerung gegeben hatte. Das Blut schoß Rasseneur in den Kopf. Er wurde puterrot. »Wenn sie sich einfallen lassen, die Löhne herabzusetzen, sind sie geliefert.« Etiennes Anwesenheit störte ihn offenkundig. Er 312
warf ihm immer wieder mißtrauische Blicke zu. Mit allerhand Umschreibungen und Anspielungen sprach er von dem Grubendirektor, Monsieur Hennebeau, und von Madame Hennebeau und ihrem Neffen, dem kleinen Negrel. So könne es nicht weitergehen, wiederholte er. Es müsse über kurz oder lang zum Bruch kommen. Gestern habe er auch aus Lille einen Brief voll beunruhigender Nachrichten erhalten. »Du weißt«, flüsterte er Maheu zu, »das kommt von dem Mann, den du einmal abends hier gesehen hast.« »Der Brief von Pluchart«, fiel Madame Rasseneur ein, die ins Schankzimmer eintrat. Sie war eine magere, lebhafte Person, in ihren politischen Anschauungen noch radikaler als ihr Mann. »Wenn Pluchart hier zu befehlen hätte, würde alles besser stehen.« Etienne konnte nicht an sich halten. »Pluchart kenne ich«, sagte er laut. Die auf ihn gerichteten Blicke machten ihn verlegen. Er erklärte: »Ich bin Maschinist, Pluchart war mein Werkmeister in Lille. Er ist ein begabter Mann, ich habe oft mit ihm gesprochen.« Rasseneur wandte sich seiner Frau zu: »Maheu hat diesen Herrn hierhergebracht. Er ist sein neuer Wagenschieber, und er wollte anfragen, ob wir oben nicht eine Stube frei hätten.« Er setzte mit wohlwollendem Unterton hinzu: »Er wollte auch wissen, ob wir ihm vierzehn Tage Kredit geben können.« Mit wenigen Worten war bald alles zum Abschluß gebracht. Eine Stube war frei, und als Maheu sich verabschiedete, folgte ihm Etienne bis zur Tür, um sich zu bedanken. Doch Maheu schüttelte nur wortlos den Kopf und machte sich auf den Weg. Ehe Etienne in seine Stube ging, überlegte er noch, ob er wirklich bleiben sollte. Die Freiheit auf der Landstraße reizte ihn doch. Wenn er sie aufgab, war es ein Verlust, und der Gedanke, im Voreux wie ein Tier behandelt zu werden, empörte ihn. Er stand vor der Türe und sah auf die weite Ebene hinaus. Er erblickte einen Kanal, den er während der Nacht nicht bemerkt hatte. Ein mattes Silberband von zwei Meilen Länge zog sich vom Voreux nach Marchiennes: in unabsehbarer Ferne zwischen grünen Ufern. Die roten Dächer des Arbeiterdorfes traten in sein Blickfeld. Das war nicht mehr das geheimnisvolle Dunkel, das ihn 313
beängstigt hatte. Sein Entschluß stand fest. Er hoffte, Catherines helle Augen wiederzusehen.
V Herr Gregoire war Mitbesitzer des Voreux. Er hatte ein großes Einkommen und konnte es sich deshalb leisten, sich nur um kleine Dinge kümmern zu müssen. Das Besitztum der Familie Gregoire lag zwei Kilometer östlich von Montsou. Es hieß ›La Piolaine‹ und bestand aus einem mächtigen, stillosen Gebäude, einem Obst- und Gemüsegarten. Vom Gittertor bis zur Freitreppe führte eine dreihundert Meter lange Lindenallee, die Sehenswürdigkeit der kahlen Gegend. Es lebte sich gut in ›La Piolaine‹. Madame Gregoire schaltete und waltete in Hausschuhen und einem flanellenen Schlafrock in der Küche. Unter ihrem schneeweißen Haar hatte sie sich ihr dickes Puppengesicht mit verwundert dreinblickenden Augen bewahrt. »Melanie«, befahl sie der Köchin, mit der sie ihr eigener ehemaliger Beruf verband, »Sie können den Kuchen heute früh backen, da der Teig nun einmal fertig ist.« Sie erklärte: »Fräulein Cecile wird erst in einer halben Stunde aufstehen und könnte dann davon zu ihrer Schokolade essen.« »Das wäre eine prächtige Überraschung«, lächelte Melanie, die trotz ihres nahrhaften Berufs mager geblieben war. »Sorgen Sie dafür, daß er hübsch braun wird«, empfahl Madame Gregoire und eilte aus der Küche, um ihrem Mann im Speisezimmer zu begegnen. Sie führten eine gute Ehe und glichen einander, als wären sie nicht Mann und Frau, sondern Bruder und Schwester. Sein ehrbares und gutmütiges Gesicht wirkte bekümmert. »Steht Cecile denn heute überhaupt nicht auf?« 314
»Ich kann nicht begreifen, warum sie noch nicht heruntergekommen ist. Ich habe doch gerade ein Geräusch in ihrem Zimmer gehört.« Der Tisch war gedeckt, drei geblümte Tassen standen auf dem weißen Tischtuch bereit. Honorine, das Kammermädchen, das schon als Kind ins Haus aufgenommen worden war, wurde aufgefordert nachzusehen, was mit Fräulein Cecile los sei. Sie kam mit unterdrücktem Kichern zurück. »Oh, wenn der gnädige Herr und Madame das Fräulein sähen … Sie schläft. Es ist eine Freude, sie schlafen zu sehen.« Vater und Mutter Gregoire wechselten einen zärtlichen Blick miteinander und stiegen auf Zehenspitzen hinauf. Das Zimmer Ceciles war mit blauer Seide ausgeschlagen, die weißlackierten Möbel mit blauem Stoff bespannt. Im breiten Bett schlief das junge Mädchen. Cecile war nicht schön, sie war zu kräftig für ihre achtzehn Jahre. Das kastanienbraune Haar umrahmte die vollen Backen, aus denen ein trotziges Naschen hervorragte. Sie schlief friedlich, während die Eltern sich über sie neigten und das so lange ersehnte Kind, das ihre Ehe vollkommen gemacht hatte, mit inniger Liebe betrachteten. Dann kehrten sie wieder in das Speisezimmer zurück. Herr Gregoire nahm eine Zeitung zur Hand, und Madame Gregoire strickte an einer großen, wollenen Decke. Das Vermögen der Gregoires, das vierzigtausend Frank Einkommen abwarf, bestand lediglich aus einer Aktie der Gruben von Montsou. Leon Gregoires Urgroßvater, der als Verwalter bei einem Baron Desrumeaux, dem hartnäckigsten Kohlensucher seiner Zeit und damaligen Besitzer von ›La Piolaine‹, bedienstet gewesen war, hatte diese Aktie mit allen seinen Ersparnissen erworben. Das war vor der großen Revolution gewesen. Der Kurswert der Aktie hatte sich so vergrößert, daß Gregoires Vater das zusammengeschrumpfte, zum Nationaleigentum erklärte Gut ›la Piolaine‹ um einen lächerlich geringen Preis hatte erwerben können. Doch die folgenden Jahrzehnte waren nicht so gut gewesen. Erst Leon Gregoire der Dritte konnte die Früchte des von seinem Urgroßvater angelegten Geldes ernten. Als man ihm riet, die Aktie um eine Million Frank zu verkaufen, lehnte er lächelnd ab. Er lächelte immer noch, als der Wert der 315
Aktie durch eine industrielle Krise auf sechshundert Frank sank. Er bedauerte die Wertverminderung des Kurses nicht, denn die Familie hatte ein felsenfestes Vertrauen zu ihrer Grube: der Glaube an ein Unternehmen, das die Familie seit einem Jahrhundert ernährt hatte, ohne daß jemand eine Hand zu regen brauchte, war gefestigt wie ihre Religion. Madame Gregoire war die Tochter eines Apothekers. Sie war ein häßliches Mädchen und arm, aber sie betete ihren Mann an und kannte keinen anderen Willen als den seinen. Die vierzigtausend Frank, die die Grube alljährlich einbrachte, wurde in aller Stille für Cecile verausgabt, deren späte Geburt das gefestigte Budget der Gregoires vorübergehend in Unordnung gebracht hatte. Aber Cecile war das ein und alles ihrer Eltern. Wenn sie sie nicht sahen und ihre Nähe fühlten, horchten sie, ob sie nicht einen Laut des geliebten Kindes zu hören bekämen. »Ihr frühstückt ohne mich?« Die kräftige Stimme Ceciles ertönte. »Ach nein, wir warten auf dich«, antworteten die Eltern wie aus einem Mund und liebkosten mit ihren Blicken die volle Gestalt im Morgenrock aus weißer, seidenweicher Wolle. Die Schokolade dampfte in den Tassen. Honorine brachte den Kuchen, den Melanie so hübsch braun hatte werden lassen, wie Cecile es liebte. Das Krachen der Kruste zwischen ihren kräftigen weißen Zähnen übertönte nicht das laute Bellen der Hofhunde. Monsieur Deneulin trat ein. Seine aufrechte Haltung verriet den ehemaligen Artillerieoffizier, und das tiefe Schwarz seines kurzgeschorenen Haares und Schnurrbartes ließ nicht ahnen, daß er die Fünfzig schon überschritten hatte. »Gibt es etwas Neues, Vetter?« fragte Herr Gregoire. »Nein, gar nichts«, erwiderte Herr Deneulin. »Ich habe einen Morgenritt gemacht, und da ich an eurem Haus vorbeikam, wollte ich euch guten Tag sagen.« »Und wie geht es deinen Töchtern Jeanne und Lucie?« erkundigte sich Cecile. »Vortrefflich.« »Und in der Grube geht alles gut?« fragte Herr Gregoire. 316
»Zum Donnerwetter, nein! Diese Krise nimmt uns mit. Wir müssen für die guten Jahre bezahlen.« Wie sein Vetter, so hatte auch Deneulin eine Aktie der Gruben von Montsou geerbt. Außerdem besaß er zwei kleine Gruben in Vandame. Die Aktie hatte er verkauft, als sie eine Million wert gewesen war. Aber diese Million hatte seiner schlechten Verwaltung nicht standgehalten. Das wollte er nicht zugeben. »Siehst du, Leon«, sagte er mit prahlerischem Selbstbewußtsein, »du hattest unrecht, nicht zur gleichen Zeit zu verkaufen. Jetzt fällt alles, und du kannst lange warten, bis der Kurs wieder so hoch steht. Wenn du mir dein Geld anvertraut hättest, was wäre da aus meinen beiden kleinen Gruben in Vandame zu machen gewesen!« »Kursstürze!« Herr Gregoire machte eine leichte Handbewegung und trank seine Schokolade ohne Überstürzung aus. »Die Aktien von Montsou können ruhig fallen, das macht mir nichts. Ich spekuliere nicht. Eines Tages wirst du es noch bereuen, daß du verkauft hast. Montsou wird wieder steigen.« Deneulin lächelte verlegen. »Das hoffe ich auch. Aber wie wäre es, Vetter, wenn ich dich eines Tages ersuchen würde, hunderttausend Frank in mein Geschäft zu stecken?« Er zögerte, als er das besorgte Gesicht Gregoires sah, und verschob die geplante Anleihe auf einen späteren Zeitpunkt. »Vielleicht ist es so, wie du immer sagst«, meinte er, »das Geld, das andere für dich verdienen, macht am sichersten reich.« »Gewiß, gewiß«, lächelte Herr Gregoire selbstzufrieden, »und deshalb würde ich, wenn ich an deiner Stelle wäre, nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Ich würde mit Montsou verhandeln … Sie möchten deine Grube in Vandame gerne erwerben, und du kämst so wieder zu barem Geld.« »Nie!« rief Deneulin. »Solange ich lebe, soll Montsou nicht Vandame erwerben. Ich war Freitag bei Hennebeau und habe bemerkt, wie er mir Honig um den Mund schmierte. Schon im vergangenen Herbst, als die Hauptaktionäre hier waren, hat man mir den Hof gemacht. Ich kenne diese hohen Herren. Räuberpack! Sie alle würden einen bis aufs Hemd ausplündern, wenn sie könnten.« 317
Während Honorine den Tisch abdecken wollte, schlugen die Hunde wieder an. Cecile stand auf. »Es ist gewiß die Klavierlehrerin.« Auch Deneulin hatte sich erhoben. Er sah Cecile nach und fragte lächelnd: »Wie steht's mit ihrer Verlobung mit dem kleinen Negrel?« »Es ist noch nichts entschieden«, wehrte Madame Gregoire ab. »… Alles will gut überlegt sein.« »Zweifellos.« Deneulin setzte eine zweideutige Miene auf. Aber während Madame Gregoire dann nach Worten suchte, um noch etwas zu antworten, küßte ihr Deneulin schon die Hand und verließ das Zimmer. »Ich mag sein Lachen nicht«, sagte sie. »Es war noch nicht die Klavierlehrerin«, meldete Cecile. »Die Hunde haben eine Frau mit zwei Kindern angebellt. Du weißt doch noch, Mama, die Frau des Bergmanns, der wir begegneten. Sollen sie hereinkommen?« »Lassen Sie sie eintreten, Honorine.« Die Frau des Bergmanns war die Maheude mit Lenore und Henri. Die Kinder waren starr vor Kälte und sahen sich scheu im vornehmen Speisezimmer um, in dem es so warm und so verlockend nach Kuchen roch. Die Blicke des Herrn und der Dame, die behaglich in ihren Lehnstühlen saßen, machten Lenore und Henri verlegen. »Versieh dein kleines Amt, Cecile«, sagte Frau Gregoire. Sie hatte ihre Tochter mit der Verteilung der Almosen betreut; das gehörte zu ihren Ansichten von einer guten Erziehung. Aber die Gregoires bemühten sich, auf vernünftige Weise mildtätig zu sein. Deshalb verschenkten sie niemals Geld. Nicht zehn Sou, nicht zwei Sou, nicht einen. Denn es war ja bekannt, daß ein Armer, sobald er auch nur einen Sou hatte, ihn vertrank. »O die armen Kleinen!« rief Cecile teilnahmsvoll. »Sie sind ganz blaß von dem Marsch in der Kälte. Honorine, hole doch das Paket aus dem Schrank!« »Ich danke Ihnen sehr, Fräulein«, stammelte die Maheude. Sie hatte endlich Worte gefunden. »Sie sind alle so gut …« Die Freundlichkeit 318
trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie glaubte, daß sie mindestens hundert Sou erhalten würde. »Sie haben nur diese zwei Kinder?« fragte Frau Gregoire, um das Schweigen zu brechen. »O Madame, ich habe sieben …« »Sieben Kinder!« Herr Gregoire fuhr entrüstet auf. »Mein Gott, weshalb denn so viele?« Die Maheude verbeugte sich tief und machte eine entschuldigende Handbewegung. Sie flüsterte: »Was soll man denn tun? Es kommt, ohne daß man daran denkt. Und wenn die Kinder herangewachsen sind, bringen sie auch Geld ins Haus.« Sie setzte hinzu: »Das hilft wirtschaften.« Frau Gregoire fragte mit unverhohlenem Abscheu: »Sie arbeiten wohl schon lange in der Grube?« Ein mattes Lächeln huschte über das bleiche Gesicht der Maheude. »Schon sehr lange, aber jetzt nicht mehr. Ich bin bis zu meinem zwanzigsten Jahr eingefahren. Nach der zweiten Niederkunft aber erklärte der Arzt, es würde mich das Leben kosten, wenn ich weiter arbeitete. Ich heiratete damals, und mit meinem Mann und den Kindern hatte ich genug Arbeit zu Hause.« Sie wollte ihre Anhänglichkeit an die Grube beweisen und setzte eifrig hinzu: »Von meines Mannes Seite sind sie schon seit einer Ewigkeit dabei.« Monsieur Gregoire tauschte einen träumerischen Blick mit seiner Frau: Es war so wie bei seiner Familie. Aber der Anblick der Maheude und ihrer jämmerlichen Kinder unterbrach diese Gedanken: »Es gibt viel Übel auf Erden, das ist wohl wahr, liebe Frau«, sagte er. »Aber man muß auch bedenken, daß die Kohlenarbeiter nicht vernünftig sind. Anstatt etwas beiseite zu legen, wie die Bauern es tun, trinken sie, machen Schulden und wissen dann nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollen.« »Der gnädige Herr hat recht«, erwiderte die Maheude ruhig. »Man ist nicht immer auf dem rechten Weg. Das sage ich auch den Taugenichtsen, wenn sie sich beschweren. Ich aber habe es gut getroffen. Mein Mann trinkt nicht. Dennoch kommen wir dabei nicht vorwärts. Es 319
gibt Tage wie heute, wo man bei uns alle Schubladen umstürzen könnte, ohne daß auch nur ein Sou herausfallen würde.« »Gibt Ihnen die Gesellschaft nicht Wohnung und Heizung unentgeltlich?« fragte Madame Gregoire. Die Maheude konnte nicht verhindern, daß sie einen Seitenblick auf das flammende Kaminfeuer im Speisezimmer warf. Sie faßte sich rasch. »Gewiß gibt man uns Kohle«, sagte sie eifrig. »Und wenn sie auch nicht besonders gut ist, so brennt sie doch. Und was die Miete betrifft, so zahlen wir nur sechs Frank monatlich. Das sieht aus, als ob es sehr wenig wäre, Madame, aber oft fällt doch das Bezahlen nicht leicht.« Die Familie Gregoire schwieg. Vater, Mutter und Tochter begannen sich allmählich angesichts solchen Elends zu langweilen und unbehaglich zu fühlen. Honorine brachte das Paket. Cecile öffnete es und zog zwei Kinderkleider hervor. Sie legte noch zwei Tücher dazu und Strümpfe und warme Fausthandschuhe. Sie beeilte sich dabei und ließ die Sachen von dem Dienstmädchen einpacken. Sie wollte keine Zeit verlieren, jeden Augenblick konnte ihre Klavierlehrerin kommen. Sie drängte die Maheude mit den Kindern zur Tür. »Wir sind in großer Not«, stammelte die Maheude. Die Worte wollten nicht heraus, denn die Maheus waren stolz und bettelten nicht. Sie sagte atemlos: »Wenn wir nur hundert Sou bekommen könnten.« Cecile sah ihren Vater unruhig an. Er erklärte mit würdevoller Miene: »Das ist nicht unsere Gewohnheit, das können wir nicht. Wir geben kein Geld.« »Aber Kuchen, ja.« Cecile vergewisserte sich, daß ihr Vater nichts dagegen hatte. »Nehmt das, das ist für euch«, sagte sie zu den Kindern. Sie fügte hinzu: »Teilt es mit euren Brüdern und Schwestern.« Die Maheude zog die Kinder auf der Straße hinter sich her. Jedes von ihnen hielt in den erstarrten Fingern respektvoll ein Stück Kuchen. Aber die Mutter sah nichts. Weder die öden Felder, noch den fahlen Himmel. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie sammelte ihre Kräfte. Sie brauchte Geld. Die Kinder hatten Hunger, sie hatte Hunger. Sie brauchten Brot und keinen Kuchen. Sie trat in Montsou entschlossen 320
in Maigrats Laden. Sie bat so eindringlich, daß er ihr schließlich zwei Brotlaibe, Kaffee, Butter und auch die so dringend benötigten hundert Sou gab. Maigrat verlieh Geld nur auf kurze Frist. Auch das tat er nicht umsonst. Doch er wollte nichts von der Maheude. Sie erriet das, als Maigrat ihr auftrug, sie möge in Zukunft die Lebensmittel von ihrer Tochter Catherine holen lassen. Darauf konnte man es ankommen lassen, überlegte die Maheude. Catherine würde ihm eine Ohrfeige geben, wenn er zudringlich werden würde.
»Da sind wir endlich«, sagte die Maheude und schob, mit Paketen beladen, die erschöpften Kinder vor sich ins Haus. Vor dem rauchigen Kohlenfeuer heulte Estelle in den Armen Alzires, die der kleinen Schwester die Brust gereicht hatte, als sie gar nicht mehr wußte, was sie mit ihr anfangen könnte. »Gib sie mir«, rief die Mutter, nachdem sie die Pakete auf den Tisch gelegt hatte. »Du hast aber viel mitgebracht.« Alzire war außer sich beim Anblick der Vorräte. »Soll ich die Suppe kochen?« »Nein, setz Kartoffeln auf.« Sie erinnerte sich plötzlich des Kuchens. Aber Lenores und Henris Hände waren leer. Sie balgten sich unter dem Tisch. »Laß nur, Mutter, du weißt, daß mir an Kuchen nichts liegt«, sagte Alzire. »Die beiden waren gewiß hungrig nach dem weiten Weg …« Sie unterbrach sich: »Beinahe hätte ich es vergessen. Die Nachbarin war da.« »Gut, daß du mich erinnerst.« Die Maheude schlug sich vor den Kopf. »Man vergißt so leicht. Pack ein Maß Kaffee ein, ich will es der Pierronne hinübertragen. Ich schulde es ihr.« »Weshalb bemühst du dich denn!« rief die Pierronne, als die Maheude ihr den Kaffee mit vielen Danksagungen reichte. »Das war doch nicht so eilig.« 321
Die Pierronne galt für die schönste Frau des Arbeiterdorfes. Ihre Mutter, die Brule, die Witwe eines in der Grube verunglückten Bergmanns, hatte die Pierronne in eine Fabrik zur Arbeit geschickt und geschworen, sie solle nie einen Bergmann heiraten. Aber sie hatte doch Pierron geheiratet, der ein Witwer war und schon ein achtjähriges Mädchen hatte. Das Ehepaar lebte glücklich trotz allen Klatsches, den man sich von den Liebhabern der Pierronne erzählte. Sie hatten keine Schulden und aßen zweimal wöchentlich Fleisch. Das kam daher, daß die Pierronne von der Grubengesellschaft die Erlaubnis erwirkt hatte, Bonbons und Biskuite zu verkaufen. Das brachte sechs bis sieben Sou täglich ein, und sie konnte, wenn sie wollte, Kaffee trinken. Zwischen den Biskuiten und Bonbons, die hinter den Fensterscheiben ausgestellt waren, schweiften ihre Blicke zu den gegenüberliegenden Häusern. Bei den Levaques waren die Vorhänge so schwarz wie Putzlappen. Sie wandte sich der Maheude zu, der sie eine Tasse Kaffee angeboten hatte, und sagte: »Wie kann man nur in solchem Schmutz leben?« Das war Wasser auf die Mühle der Maheude. »Wenn ich so einen Mieter hätte wie Bouteloup, dann wüßte ich schon, wie ich meine Wirtschaft einrichten würde. Ich würde mich allerdings nicht mit meinem Mieter einlassen. Aber Levaque«, sagte sie verächtlich, »der schlägt seine Frau und läuft den Sängerinnen aus dem ›Vulkan‹ nach.« Die Pierronne verzog angeekelt die Lippen. »Mich wundert, daß du das Verhältnis zwischen deinem Sohn und der Tochter der Levaque duldest. Sie hat schon zwei Kinder von deinem Zacharias, und es werden noch mehr kommen.« »Ich verfluche ihn, wenn noch mehr kommen!« Die Maheude erhob wütend die Hände. »Er hat uns genug Geld gekostet. Das muß er uns zurückgeben, bevor er daran denken kann, sich eine Frau anzuschaffen. Was sollte denn aus uns werden, wenn unsere Kinder für andere arbeiten, sobald sie herangewachsen sind. Was soll aus uns werden?« Die Maheude erhob sich mit einem Schreckensruf. Es war ihr eingefallen, daß die Suppe für ihre Männer noch nicht fertiggekocht war. Die Kinder kamen aus der Schule. In den Haustüren standen Frauen 322
und beobachteten Madame Hennebeau, die einem Herrn mit einem Ordensband im Knopfloch und einer Dame im Pelzmantel die Anlage des Arbeiterdorfes beschrieb. Das waren sicher Herrschaften aus Paris, dachte die Maheude und stieß mit der Levaque zusammen, die gerade den Bergwerksarzt Dr. Vanderhagen aufhielt. »Herr Doktor, ich kann nicht mehr schlafen, mir tut alles weh«, klagte die Levaque. Der kleine, geschäftige Mann, der seine Ratschläge nur im Gehen erteilte, erwiderte: »Laß mich in Ruhe, du trinkst zuviel Kaffee.« Die Maheude nahm die Gelegenheit war. »Und meinen Mann, Herr Doktor, sollten Sie auch einmal besuchen. Er hat noch immer seine Schmerzen in den Beinen.« »Daran bist nur du schuld.« Er eilte weiter. »Laß mich ungeschoren!« Die beiden Frauen sahen Dr. Vanderhagen mit verzweifelten Blicken nach. »Alles, was er sagen kann, ist nur: Laß mich in Ruhe«, meinte die Maheude. »Komm doch zu mir«, sagte die Levaque, »ich habe dir etwas zu erzählen.« Die Maheude sträubte sich erst, aber sie konnte nicht widerstehen. Sie trat in die Küche, die von Schmutz starrte. Der widerliche Geruch nahm ihr den Atem. Am Tisch neben dem Herd aß Bouteloup die Reste seines Mittagessens. Neben ihm stand Philomenes Erstgeborener, der dreijährige Chille, und blickte starr auf den essenden Mann. Bouteloup steckte dem Jungen von Zeit zu Zeit einen Bissen in den Mund. »Also, was ich dir erzählen wollte«, begann die Levaque, als wäre Bouteloup nicht anwesend. »Gestern abend hat man die Pierronne wieder herumschleichen sehen. Der bewußte Herr hat sie hinter Rasseneurs Haus erwartet. Sie sind zusammen den Kanal entlanggegangen. Das ist doch fein! Eine verheiratete Frau!« Bouteloup lachte dröhnend auf, aber die beiden Frauen ließen sich in ihrem Tratsch nicht beirren. Plötzlich unterbrach sich die Levaque und wies auf den Jungen Philomenes: »Wir sollten doch endlich daran denken, der Sache ein Ende zu machen. Zacharias hat nun sein Los 323
gezogen und ist militärfrei. Nichts hält ihn mehr. Wann machen wir Hochzeit?« »Warten wir doch bessere Zeiten ab«, gab die Maheude verlegen zurück. »Sie hätten doch warten können, bis sie verheiratet waren. So wahr mir Gott helfe, ich würde Catherine erwürgen, wenn sie sich etwas Derartiges zuschulden kommen ließe wie deine Philomene.« »Deine Catherine wird's nicht besser machen als alle anderen.« »Auf Wiedersehen«, sagte die Maheude und eilte hinaus. Es war ihr eingefallen, daß Madame Hennebeau Gästen aus Paris die Arbeiterhäuser zeigte, um zu beweisen, wie gut es den Leuten ging. Meistens kam sie dann zu den Maheus. In ihrer Küche war tatsächlich alles sauber. Henri und Lenore waren zufällig artig, da sie sich damit beschäftigten, einen alten Kalender zu zerreißen. Vater Bonnemort rauchte schweigend seine Pfeife. Die Maheude war noch nicht zu Atem gekommen, als Frau Hennebeau schon an die Türe klopfte: »Sie erlauben doch, nicht wahr, meine gute Frau? Wir stören doch niemanden … Nun? Da ist's doch schön sauber. Und diese brave Frau hat sieben Kinder.« Sie erklärte: »Alle unsere Arbeiterwohnungen sind so … Ich sagte Ihnen schon, meine Lieben, daß die Grubengesellschaft nur sechs Frank Monatsmiete für ein Haus nimmt. Bitte, sehen Sie: Im Erdgeschoß eine große Küche, oben zwei Kammern, Keller …« Der Herr mit dem Ordensband und die Dame im Pelzmantel machten große Augen beim Anblick all dieser Dinge, mit denen sie hinters Licht geführt wurden. »Wir geben ihnen mehr Kohle, als sie brauchen«, erklärte Madame Hennebeau. »Ein Arzt besucht sie zweimal wöchentlich. Und wenn sie alt geworden sind, erhalten sie Pensionen, obwohl ihnen nie Abzüge vom Lohn gemacht werden.« »Ein Paradies! Ein wahres Schlaraffenland!« rief der Herr mit dem Ordensband entzückt. Die Maheude bot beflissen Stühle an. Die Damen lehnten dankend ab. Madame Hennebeau hatte ihre Tätigkeit schon satt. Um die Langeweile ihres einsamen Landlebens zu vertreiben, übernahm sie gele324
gentlich die Rolle des Führers durch Montsou. Aber der widerliche Geruch der Armut, der sogar in den saubersten Häusern herrschte, stieß sie ab. »Die hübschen Kinderchen«, sagte die Dame im Pelzmantel, obwohl sie die Kinder der Maheude abscheulich fand. Alzire wurde großes Lob zuteil: Welch reizende kleine Hausfrau war sie doch! Der Herr und die Dame beglückwünschten die Mutter zu einer Tochter, die für ihr Alter schon so klug war; aber niemand erwähnte ihren Höcker. »Nun«, sagte Frau Hennebeau, »wenn man Sie in Paris nach unseren Arbeiterwohnungen fragt, werden Sie gewiß imstande sein, Auskunft zu erteilen.« »Wunderbar, ganz wunderbar«, bestätigte der Herr mit dem Ordensband begeistert.
VI Als Etienne im Abenddunkel erwachte, war er einen Augenblick wie betäubt. Er vermochte sich nicht sofort zu besinnen, wo er war. Sein Kopf war schwer, er hatte keine Nacht länger als vier Stunden geschlafen. Er wollte vor dem Abendessen ein wenig Luft schöpfen. Etienne ging auf gut Glück geradeaus. Es hatte eben sechs Uhr geschlagen. Wagenschieber, Auflader und Pferdeknechte gingen scharenweise an ihm vorbei. Er hörte sie sprechen: Die Brule zankte mit ihrem Schwiegersohn Pierron, weil er ihr nicht zu Hilfe gekommen war, als sie mit einem Aufseher wegen der Abrechnung in Streit geraten war. »Sollte ich mich etwa an dem Chef vergreifen?« fragte Pierron. »Danke schön!« »Zieh also den Schwanz ein!« schrie die Brule. »Ach, wenn meine 325
Tochter doch nur auf mich gehört hätte!« Sie klagte: »Es genügt also nicht, daß sie meinen Mann umgebracht haben, du willst wohl auch noch, daß ich mich dafür bedanke.« Die Stimmen verhallten. Etienne sah die Adlernase der Brule, ihr flatterndes weißes Haar und die heftig gestikulierenden langen, mageren Arme im Dunkel verschwinden. Er blieb stehen. Jetzt fesselte ihn das Gespräch zweier Leute, die hinter ihm standen. Er erkannte Zacharias, zu dem sich sein Freund Mouquet gesellt hatte. »Kommst du mit zum ›Vulkan‹?« »Sofort«, erwiderte Zacharias, »ich habe nur noch etwas zu tun.« Mouquet drehte sich um. Auch Etienne sah Philomene, die aus dem Sortierhaus kam. Er glaubte zu erraten, um was es sich handelte. Mouquet sagte: »Also gut, ich gehe voraus.« Zacharias drängte Philomene trotz ihres Sträubens vom Weg ab. Sie stritten wie alte Eheleute. »Es ist kein Vergnügen«, sagte sie, »sich nur draußen zu treffen – besonders im Winter.« »Darum handelt es sich nicht«, gab er ungeduldig zurück. »Ich habe dir etwas zu sagen.« Er umschlang ihre Taille und zog sie mit sich fort. Etienne konnte nicht hören, was sie einander zu sagen hatten. Als Zacharias und Philomene im Schatten standen, wollte er wissen, ob sie Geld habe.»Was willst du damit?« Er gebrauchte Ausflüchte. »Dieses und jenes.« »Schweig doch, ich habe Mouquet gesehen. Du willst doch in den ›Vulkan‹, wo diese schmierigen Sängerinnen sind.« »Komm doch mit«, sagte Zacharias. »Du wirst dich gut unterhalten. Du wirst sehen, daß du mich nicht im geringsten störst. Was sollte ich denn mit den Sängerinnen tun, da ich dich habe. Kommst du mit?« »Und das Kind?« begehrte sie auf. »Kann man sich denn aus dem Hause rühren, wenn man ein Kind hat, das immer schreit? Laß mich lieber gehen, nach Hause. Ich wette, daß es wieder Zank gibt.« Zacharias hielt sie zurück. Er bat nochmals um Geld. Er wollte es nur, sagte er, um nicht vor Mouquet als Dummer dazustehen. Philomene gab endlich nach, trennte mit dem Fingernagel die Naht ihres Mieders 326
auf und zog einige Zehnsoustücke hervor. Aus Angst vor ihrer Mutter verbarg sie den Lohn für die Überstunden in der Grube in ihrem Mieder. Sie zählte: »Ich habe fünf und will dir drei davon geben.« Sie hob die Stimme: »Du mußt mir aber schwören, daß du deine Mutter bestimmst, daß wir endlich heiraten können. Ich habe dieses Leben satt. Meine Mutter wirft mir jeden Bissen vor, den ich esse … Schwöre!« Ihre Stimme war wieder matt geworden. Sie sprach wie ein kränkliches Geschöpf ohne Leidenschaft, nur müde des Daseins, das sie führte. Zacharias hob die Finger zum Schwur: »Das ist eine versprochene Sache!« rief er. »Es ist mir heilig.« Er wiederholte: »Heilig«, öffnete die Schwurhand und nahm drei Zehnsoustücke in Empfang. Etienne, der Zacharias und Philomene von weitem gefolgt war, hörte sie lachen. Er sah, daß sie miteinander schäkerten. Aber bald ging Philomene allein ins Dorf, während sich Zacharias beeilte, Mouquet einzuholen. Am Fuß der Halde, an einer Stelle, an der große herabgeglittene Steine eine Höhlung gebildet hatten, sah Etienne Jeanlin, der auf die achtjährige Lydie Pierron und den zwölfjährigen Bebert Levaque einredete. »Ich werde jedem von euch eine Ohrfeige geben, wenn ihr nicht zufrieden seid. Wer hat die Idee gehabt?« Jeanlin hatte sich eine Stunde lang auf den Wiesen umhergetrieben und mit den beiden anderen Löwenzahn gepflückt. Aber anstatt in das Arbeiterdorf zurückzukehren, waren sie nach Montsou gegangen, und Lydie hatte an den Türen der Bürgerhäuser die Klingel gezogen und den Löwenzahn zum Verkauf angeboten. Das hatte elf Sou eingetragen. Jetzt waren die drei dabei, den Gewinn zu teilen. Aber wie teilte man elf durch drei? »Das ist ungerecht«, protestierte Bebert. »Wenn du sieben Sou behältst, bleiben uns beiden nur je zwei.« Jeanlin schrie: »Ich habe das meiste gepflückt.« Bebert scheute für gewöhnlich vor Gewalt zurück. Er war sicher, geohrfeigt zu werden. Aber das viele Geld trieb seinen Widerstand an. »Er will uns betrügen. Wenn er nicht ehrlich mit uns teilt, werden wir es seiner Mutter sagen.« 327
»Schafskopf, wie kann ich elf Sou in drei gleiche Teile teilen?« Er fragte: »Kann ich das?«, und setzte beschwichtigend hinzu: »Hier habt ihr jeder eure zwei Sou. Entschließt euch rasch, sie anzunehmen, sonst stecke ich sie in die Tasche.« Bebert nahm die zwei Sou. Lydie hatte zitternd zugehört. Sie empfand eine mit zärtlicher Zuneigung gemischte Furcht vor Jeanlin. Als er ihr ihre zwei Sou geben wollte, streckte sie ergeben lächelnd die Hand aus. Er besann sich plötzlich eines anderen. »Was willst du denn damit«, sagte er, »deine Mutter wird dir das Geld gewiß wegschnappen. Es ist besser, wenn ich es verwahre. Sobald du Geld brauchst, kannst du es mir sagen.« Die Sou verschwanden in seiner Tasche. Er umschlang Lydie, um ihr den Mund zu verschließen und wälzte sich mit ihr auf dem Boden. Jetzt war sie seine kleine Frau. Sie spielten Papa und Mama. Bebert, den die beiden an ihren Spielen nicht teilnehmen ließen, ärgerte sich stets, wenn er zusah. »Ein Mann kommt!« schrie er, um Jeanlin und Lydie zu stören. Diesmal log Bebert nicht. Es war Etienne, der sich entschlossen hatte, seinen Weg fortzusetzen. Die Kinder sprangen auf und ergriffen die Flucht. Im nächsten Augenblick ging ein von Montsou kommendes Pärchen an Etienne vorbei, ohne ihn zu bemerken. Die beiden bogen nach dem wüsten Terrain von Requillart ab. Etienne sah, daß das Mädchen sich sträubte und unter leisem Flehen Widerstand leistete, als der Mann es in die Richtung eines düsteren Schuppens drängte. Etienne erkannte sie nicht, obwohl er sie kannte. Es waren Catherine und der lange Chaval.
Vor der Tür des Cafe Piquette hatte der lange Chaval Catherine angehalten. »Wohin so schnell?« Sie war überrascht und verlegen. Nicht etwa, weil Chaval ihr mißfiel, sondern weil sie nicht zum Scherzen aufgelegt war. 328
»Komm doch ins Cafe«, drängte er, »und trink etwas mit mir … etwas Süßes, willst du?« Catherine schlug es höflich ab. Es begann dunkel zu werden, man erwartete sie zu Hause. Chaval trat zu ihr heran und redete mit leiser Stimme auf sie ein: »Fürchtest du dich vor mir? Lehnst du meine Einladung deshalb ab?« »Ich fürchte mich nicht«, erwiderte sie scherzend. Ein Wort gab das andere. Sie kam, ohne selbst zu wissen, wie, auf ein blaues Band zu sprechen, das sie sich gern gekauft hätte. »Ich werde dir ein blaues Band kaufen«, erklärte Chaval. Catherine errötete und hatte das Gefühl, daß sie gut daran täte, das Geschenk abzulehnen. Es gab neue Bedenken, als Chaval davon sprach, zu Maigrat zu gehen. »Nein, nicht zu Maigrat, die Mutter hat es mir verboten.« »Du brauchst ja nicht zu sagen, wo du warst … Maigrat hat die schönsten Bänder von ganz Montsou.« Als der Kaufmann Maigrat den langen Chaval und Catherine wie zwei Liebesleute in seinen Laden eintreten sah, wurde er puterrot und bediente sie ärgerlich. Dann begleitete Chaval sie auf dem Heimweg. Ohne daß sie es merkte, schob er sie mit den Hüften, bis sie gewahr wurde, daß sie die Landstraße verlassen hatten und sich auf dem schmalen Pfad nach Requillart befanden. Sie hatte keine Zeit, böse zu werden. Er hatte ihre Taille umschlungen und flüsterte ihr zu, daß es doch dumm sei, sich vor ihm zu fürchten. »Ich fürchte mich nicht«, wiederholte sie. »Warum sollte ich mich auch fürchten?« Er schien sie wirklich zu lieben. Nachdem sie am Sonnabend vor dem Schlafengehen ihre Kerze ausgelöscht hatte, hatte sie sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn Chaval sie so mit den Armen umfinge, wie er es jetzt tat. Dann war sie eingeschlafen und hatte geträumt, daß sie nicht nein sagen würde. Weshalb empfand sie doch plötzlich einen Widerwillen? Während der Bart Chavals so sanft ihren Nacken kitzelte, daß sie die Augen schloß, tauchte der Schatten Etiennes vor ihren geschlossenen Lidern auf. Sie öffnete die Augen und warf einen raschen Blick um sich. Sie hatte nicht bemerkt, 329
daß Chaval sie in die Ruinen von Requillart geführt hatte. Ein Schauer überlief sie beim Anblick des dunklen Schuppens. »O nein, o nein«, flüsterte sie. »Ich bitte dich, laß mich!« »Du dummes Ding«, brummte er zornig. »Fürchte dich doch nicht …«, seine Stimme wurde einschmeichelnd. Er hielt sie fest umklammert und schleppte sie in den Schuppen. Etienne hatte alles mit angehört. Noch eine, dachte er. Er setzte seinen Weg mit einem unbehaglichen Gefühl aus Eifersucht und Zorn fort. Er war doch überrascht, als er sich nach etwa hundert Schritten umdrehte und Catherine und Chaval hinter sich sah. Der Mann hatte wieder die Taille des Mädchens umschlungen, preßte sie an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie schien es eilig zu haben. Sie schien schnell nach Hause gehen zu wollen und ärgerlich zu sein, daß er sie zurückhielt. Da regte sich plötzlich in Etienne die Neugierde. Er wollte das Gesicht des Mädchens sehen. Er beschleunigte seine Schritte, um dieser seltsamen Neugierde nicht nachzugeben. Doch er konnte nicht anders. Als er zur ersten Straßenlaterne kam, verbarg er sich im Schatten. Er war starr vor Überraschung, als er Catherine und den langen Chaval erkannte. Diese beiden waren es gewesen. Diese beiden. Etienne wollte es nicht glauben. War das wirklich Catherine? Aber er zweifelte nicht länger. Er hatte die Augen Catherines wiedererkannt, die grünschimmernden Augen, die ihn so erregt hatten. Er empfand ein unwiderstehliches Verlangen nach Rache. Catherine und Chaval gingen weiter. Sie ahnten nicht, daß sie beobachtet wurden. Chaval hielt sie wieder zurück, um sie hinters Ohr zu küssen. Etienne folgte. Er tat es unter einem inneren Zwang, als müsse er Zeuge von Handlungen sein, deren Anblick ihn zur Verzweiflung brachte. Was Catherine ihm am Morgen geschworen hatte, war also wahr gewesen. Sie war noch niemandes Geliebte gewesen, und er hatte sie sich nun vor der Nase wegschnappen lassen. Eine halbe Stunde folgte Etienne den beiden und begleitete sie bis ins Dorf. Dort blieb er im Dunkel stehen. Er wollte abwarten, bis Chaval Catherine in ihr Haus eintreten ließ. Jetzt war es endlich soweit. Als 330
Etienne sicher war, daß Chaval und Catherine nicht mehr zusammen waren, ging er schweren Herzens weiter. Er wanderte auf der Straße nach Marchiennes, zu bedrückt und zu traurig, um in seine Stube zurückzukehren. Erst eine Stunde später, gegen neun Uhr abends, schritt er langsam wieder durch das Dorf. Was anderes sollte er tun? Er mußte essen und zu Bett gehen, wenn er um vier Uhr morgens auf den Beinen sein wollte.
VII Der Frühling war gekommen, und die Tage wurden länger. Bei seinen Abendspaziergängen scheuchte Etienne jetzt nicht mehr die Liebespaare unter der Halde auf, er fand ihre Spuren in den Getreidefeldern. Zweimal hatte er auch Catherine und Chaval gesehen. Nach solchen Begegnungen fühlte er sich bedrückt und suchte Zuflucht in Rasseneurs Gaststube. So auch an diesem Abend. »Madame Rasseneur, geben Sie mir einen Schoppen«, bat er. »Ich bin wie zerschlagen.« Er war es tatsächlich. Seit drei Wochen zählte er zu den besten Wagenschiebern der Grube und beklagte sich zum erstenmal, daß er vor Müdigkeit beinahe zusammenbrach. Er sagte zu Souvarine, der für gewöhnlich am hintersten Tisch saß, den Kopf gegen die Wand gelehnt: »Trinkst du einen Schoppen mit mir?« »Danke, ich trinke nicht.« Souvarine war Maschinist im Voreux und bewohnte die möblierte Stube neben Etienne. Er war schlank, blond, hatte feine Gesichtszüge und ein kleines Bärtchen. In seiner Stube gab es weder Kleider noch Wäsche, aber eine Kiste mit Papieren und Büchern. Er war Russe, aber die Bergleute, die sonst gegen Fremde mißtrauisch waren, betrachteten 331
ihn als einen der Ihren, um so mehr, als das Gerücht im Umlauf war, daß er ein politischer Flüchtling sei. In den ersten Wochen seines Aufenthalts in Montsou war Etienne bei Souvarine auf schroffe Zurückweisung gestoßen. Später erfuhr er von ihm selbst, daß Souvarine der letzte Abkömmling einer vornehmen Familie im Gouvernement Tula war. Er hatte in Petersburg Medizin studiert und war durch die sozialistische Strömung, die die ganze russische Jugend mit sich riß, veranlaßt worden, ein Handwerk zu erlernen. Er war Mechaniker geworden, um sich unter das Volk zu mischen, es kennenzulernen und ihm brüderlich beizustehen. Von diesem Handwerk lebte Souvarine jetzt, seit er nach einem mißlungenen Attentat auf den Kaiser von Rußland hatte flüchten müssen. Er war von seiner Familie verstoßen und dem Verhungern nahe, als ihn die Grubengesellschaft von Montsou in einem Augenblick plötzlichen Bedarfs eingestellt hatte. Jeden Abend, wenn sich das Schankzimmer leerte, blieb Etienne noch sitzen, um mit Souvarine zu plaudern. Etienne trank langsam sein Glas Bier, Souvarine rauchte ununterbrochen. »Ich habe einen Brief von Pluchart bekommen«, sagte Etienne. Seit der Name Plucharts gefallen war, korrespondierte er mit dem Mechaniker in Lille, der ihn instruierte, wie er unter den Bergleuten Propaganda machen könne. Souvarine stieß eine Rauchwolke von sich und fragte: »Was schreibt Pluchart?« »Die geplante Verbindung macht gute Fortschritte. Wie es scheint, kommen von allen Seiten Beitrittserklärungen. Was hältst du davon?« »Wieder neue Dummheiten!« Etienne geriet in Hitze. Seine Empfänglichkeit für revolutionäre Gedanken trieb ihn in den Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Pluchart hatte ihm über den internationalen Arbeiterverband geschrieben, die vielgerühmte Internationale, die in London gegründet worden war. War das nicht ein herrliches Unterfangen, die Vorbereitungen eines Kampfes, in dem schließlich die gerechte Sache siegen mußte? Die Arbeiter der ganzen Welt erhoben sich, vereinigten sich, um jedem Ar332
beiter sein Brot zu sichern. Wie einfach und wie großartig war die Organisation der Internationale! In kurzer Zeit würde sie die ganze Welt erobert haben und den Arbeitgebern Gesetze vorschreiben. »Dummheiten! Neue Dummheiten«, wiederholte Souvarine. »Euer Karl Marx will die Naturkräfte allein wirken lassen. Keine Politik, keine Verschwörung, nicht wahr? Alles am hellichten Tag und nur, um Lohnerhöhung zu erzielen? Laßt mich in Ruhe mit euren Ideen! Steckt doch die Städte an allen vier Ecken in Brand, mäht die Menschen nieder, zerstört alles! Und wenn von dieser faulen Welt nichts mehr übrig ist, dann wird vielleicht eine bessere entstehen.« Etienne lachte. Er selbst verstand nicht immer, was Souvarine sprach, und Rasseneur, der zumeist an ihren Gesprächen teilnahm und ein Mann in guten Verhältnissen war, fand es nicht der Mühe wert, sich über Souvarine aufzuregen. »Wie steht es also?« fragte er Etienne. »Du willst versuchen, in Montsou eine Sektion zu gründen?« Das war tatsächlich der Wunsch Plucharts, der Sekretär der Föderation von Nordfrankreich war. »Alles ist so teuer geworden«, klagte Madame Rasseneur, die eingetreten war und mit düsterer Miene zugehört hatte. »Wenn ich euch sage, daß die Eier schon zweiundzwanzig Sou kosten.« Sie strich ihr schwarzes Kleid zurecht. »Das geht so nicht weiter, es muß zum Krach kommen.« »Es muß zum Krach kommen«, bestätigten die drei Männer. Rasseneur trug sein Lieblingsthema vor: Die große Revolution hatte ihr Elend nur noch verschlimmert. Seit dem Jahre 1789 hatten sich nur die Bürger gemästet. Man hatte die Arbeiter für frei erklärt. Ja, es stand ihnen frei, zu verhungern! Es mußte ein Ende gemacht werden, sei es auf friedlichem Wege oder im Bösen. Das Jahrhundert konnte nicht zu Ende gehen ohne eine neue Revolution, diesmal eine Arbeiterrevolution! So als ob er Rasseneur nicht zugehört hätte, überlegte Souvarine mit lauter Stimme: »Kann man denn die Löhne erhöhen? Durch das eherne Gesetz des Kapitals sind sie so niedrig wie möglich festgesetzt, so daß der Arbeiter gerade genug verdient, um trockenes Brot essen und 333
Kinder zeugen zu können … Wenn die Löhne zu tief sinken, verhungern die Arbeiter, und die Nachfrage nach neuen Kräften bringt die Löhne wieder zum Steigen. Steigen sie sehr hoch, so bewirkt das wieder ein so großes Arbeitsangebot, daß sie fallen … Das ist das Gleichgewicht des leeren Magens, die Verurteilung zur ewigen Zwangsarbeit des Hungers.« Da Souvarine seine Meinung als geschulter Sozialist äußerte, verstanden ihn weder Etienne noch Rasseneur. »Versteht mich wohl«, beschwor er sie, »es muß alles zerstört werden, sonst wird sich der Hunger immer wieder einstellen. Ich predige die Anarchie! Ströme von Blut müssen die Erde rein waschen, Feuer muß sie reinigen … dann werden wir weiter sehen!« Seine eigene Unwissenheit brachte Etienne zur Verzweiflung. Er wollte das Gespräch nicht mehr fortsetzen. »Gehen wir zu Bett«, sagte er. »Ich muß um drei Uhr morgens aufstehen.« In seinem Gehirn hämmerte es: Zur Arbeit, zur Arbeit! Es war jeden Morgen das gleiche. In den ersten Julitagen trat ein Ereignis ein, das die ganze Grube in Alarm brachte. Die in der Wilhelm-Ader beschäftigten Arbeiter stießen auf einen tauben Gang, und sie konnten doch nicht die Hände in den Schoß legen, bis die Grubengesellschaft neue Akkordarbeiten ausschrieb. Mit der Laufbahn als Wagenschieber war es zu Ende, aber Maheu schlug Etienne vor, an Stelle Levaques, der sich einer anderen Gruppe angeschlossen hatte, mit ihm als Häuer zu arbeiten. Die Angelegenheit war bald mit dem Oberaufseher und dem Ingenieur, die beide mit Etienne sehr zufrieden waren, ins reine gebracht. Hocherfreut über die Wertschätzung, die ihm Maheu entgegenbrachte, brauchte er selbst nur seine Zustimmung zu dieser raschen Beförderung zu geben. Abends gingen sie zusammen zur Grube, um die Anschläge bezüglich der Arbeitsbedingungen zu lesen. Maheu schüttelte den Kopf, als Etienne ihm die Bedingungen vorlas. Sie waren nicht günstig. Doch wenn sie essen wollten, mußten sie arbeiten. So gingen sie am nächsten Sonntag zu der Versteigerung, in der die Akkordarbeiten erstanden wurden. Einen Augenblick befürchtete Maheu, er werde keine von den vierzig ausgebotenen Akkordarbeiten bekommen, oder 334
es würde nicht der Mühe wert sein. Die Konkurrenten unterboten einer den anderen, und der Ingenieur vergab die Akkordarbeiten für die geförderte Kohle zu möglichst niedrigen Preisen. Maheu, der fünfzig Meter Terrain ersteigern wollte, hatte einen harten Stand gegenüber einem Kollegen, der sie ihm nicht lassen wollte. Als er schließlich Sieger blieb, war der Lohn so heruntergedrückt, daß der Aufseher Maheu mit dem Ellbogen anstieß und ihm zuflüsterte, daß er bei solchen Preisen nie auf seine Kosten kommen werde. Schon als sie den Versteigerungsraum verließen, begann Etienne zu fluchen. Aber als er Catherine sah, die mit Chaval aus den Getreidefeldern zurückkam, brach sein Zorn ungehemmt los: »Himmeldonnerwetter, da würgt ja einer den anderen ab! Wahrhaftig, heutzutage zwingt man die Arbeiter, sich gegenseitig aufzufressen!« Chaval trat an Maheu und ihn heran: »Was hat es bei der Versteigerung gegeben?« fragte er und lachte: »Ich hätte mich nie so drücken lassen, ich nicht!« Etienne schnitt ihm in wilder Gebärde das Wort ab: »Das wird ein Ende finden. Eines Tages werden wir die Herren sein!« Sein Blick kreuzte den Blick Catherines, die die Augen niederschlug. Maheu, der seit der Versteigerung kein Wort gesprochen hatte, wurde plötzlich munter. »Die Herren sein! Weiß der Teufel, es wäre Zeit. Die Herren sein …« wiederholte er.
VIII Der letzte Sonntag im Juli war der Tag des Bergmannfestes in Montsou. Die Familie Maheu setzte sich Schlag zwölf zu Tisch. Außer dem seit einem Monat gemästeten Kaninchen und den Bratkartoffeln gab es noch Fleischsuppe. Am Vortag war Löhnung gewesen. Die Maheus 335
erinnerten sich nicht, je so vorzüglich gegessen zu haben. Sogar beim letzten Fest der heiligen Barbara war der Kaninchenbraten nicht so fett und so zart gewesen. Jeanlin verabschiedete sich als erster nach dem Essen. Dann ging der alte Bonnemort, und auch Maheu entschloß sich, ein wenig frische Luft zu schöpfen. Er suchte Levaque, den er bei Rasseneur vermutete. Tatsächlich schob Levaque in dem kleinen, von einer Hecke eingeschlossenen Garten mit einigen Kumpels Kegel. Vater Bonnemort und der alte Mouquet sahen zu. Auch Etienne. »Rasseneur!« rief er. »Bring doch einen Schoppen!« Und zu Maheu gewandt, fügte er hinzu: »Ich zahle heute.« Schließlich brachte Madame Rasseneur das warme Bier. Etienne beklagte sich leise über die Mißwirtschaft. »Die Rasseneurs sind gewiß brave Leute mit vortrefflicher Gesinnung, aber das Bier taugt nichts, und die Suppen sind abscheulich. Ich werde mich schließlich doch nach einer Wohnung bei einer Familie im Arbeiterdorf umsehen.« Lautes Gelächter übertönte sein unzufriedenes Gemurmel. Etienne sah Mouquette, die sich schon eine Weile hinter der Hecke herumgetrieben hatte. »Du bist allein?« rief Levaque ihr zu. »Wo sind denn deine Liebhaber?« »Ich suche einen neuen«, erwiderte sie mit unverschämter Ausgelassenheit. Levaque wies mit dem umgedrehten Daumen der rechten Hand auf Etienne. »Wir wissen schon, nach wem du Ausschau hältst, meine liebe Mouquette. Bei dem mußt du aber Gewalt anwenden.« Jetzt lachte auch Etienne. Tatsächlich schien es die Mouquette auf ihn abgesehen zu haben. Er wollte aber nicht, weil sie ihm nicht gefiel. Er wandte sich wieder zu Maheu, dem er auseinandersetzen wollte, wie dringend notwendig es sei, daß die Kohlenarbeiter von Montsou eine Hilfskasse gründeten. »Ich tue schon mit«, versprach Maheu, »aber es handelt sich um die anderen. Versuche, sie dafür zu gewinnen.« Das Kegeln war zu Ende. Levaque hatte alle neune geschoben, er hat336
te auch zwei Glas Bier getrunken. Der Erfolg und das Bier waren ihm in den Kopf gestiegen. Er schlug vor: »Wir müssen zum ›Vulkan‹ gehen.« Das war ein Vorschlag, der allen gefiel. Sie gingen zum ›Vulkan‹. Auch Etienne. Auf einer aus Brettern errichteten Bühne im Hintergrund des langen und schmalen Saales im ›Vulkan‹ tanzten fünf Sängerinnen, der Auswurf der Straßendirnen von Lille, unverschämt entblößt und mit frechen Gebärden. Die Zuschauer waren Wagenschieber, Auflader, unter ihnen vierzehnjährige Burschen. Auch einige alte Häuer hatten sich in den ›Vulkan‹ verirrt, um ihr ›notdürftiges Familienleben‹ zu ergänzen. Alle tranken Wacholderbranntwein. Aber Etienne war nur von einem Gedanken beseelt. Er machte sich an Levaque heran, um ihm seinen Plan mit der Hilfskasse zu erklären. »Jedes Mitglied könnte ganz gut zwanzig Sou monatlich beitragen. In vier bis fünf Jahren wird dieses angesammelte Geld einen hübschen Sparfonds liefern. Und wenn man Geld hat, ist man stark, nicht wahr?« »Ich sage nicht nein«, erwiderte Levaque zerstreut. »Darüber läßt sich reden.« Seine Aufmerksamkeit und die der anderen Männer am Tisch war durch eine sehr dicke, blonde Sängerin in Anspruch genommen worden. Sie bewegte sich so, daß sie die Blicke nicht von ihr wenden konnten. Erst als der schäbige Vorhang fiel, fragte Pierron: »Wo ist denn Chaval?« »Er ist gewiß bei Piquette«, erklärte Maheu und schlug vor: »Gehen wir zu Piquette.« Als sie beim Cafe Piquette ankamen, sahen sie schon durch die Türe, daß eine Rauferei im Gange war. Zacharias bedrohte mit geballter Faust einen stämmigen Nagelschmied, während Chaval mit den Händen in den Taschen zusah. »Ach, da ist ja Chaval«, sagte Maheu gelassen und setzte beruhigt hinzu: »Catherine ist mit ihm.« Sie war der Anlaß der Rauferei geworden, nachdem sie mit Chaval im Jahrmarktstreiben umhergewandert war. Er hatte ihr einen Spiegel 337
für neunzehn Sou gekauft und ein Tuch für drei Frank. Alles war bestens, aber Catherine hatte Jeanlin erwischt, der Bebert und Lydie angestiftet hatte, aus einer Bude eine Flasche Wacholderbranntwein zu stehlen. Sie hatte ihm zwar eine Ohrfeige gegeben, aber er war mit der Flasche auf und davon. Vor dem Cafe Piquette hatten Chaval und Catherine Zacharias und Philomene getroffen. Zacharias war wütend geworden, als er einen Nagelschmied dabei ertappt hatte, wie er Catherine in die Seite kniff. Der Nagelschmied ließ sich um so weniger von Zacharias einschüchtern, als Chaval nur lachte. Er musterte Catherine mit herausfordernden Blicken. Zacharias, der sich in seiner Familienehre gekränkt fühlte, stürzte sich auf den Unverschämten. »Das ist meine Schwester, du Schwein!« Als der Nagelschmied Maheu mit seiner Gesellschaft ankommen sah, machte er sich einfach davon. Catherine und Philomene waren in Tränen aufgelöst. Jetzt begann auch Chaval, ärgerlich zu werden, und ließ Bier auffahren, um den Ärger hinunterzuspülen. Die Stimmung war wieder fröhlich, als Zacharias wütend wurde und seinen Kameraden Mouquet aufforderte mitzukommen, um mit dem Nagelschmied abzurechnen. »Ich muß ihn umbringen!« schrie er. »Chaval, bleib du bei Philomene und Catherine!« Maheu bestellte Bier. Es war nichts Schlimmes, wenn der Junge seine Schwester rächen wollte. Philomene aber, die Mouquet beobachtet hatte, schüttelte den Kopf. Sie war überzeugt, daß er mit Zacharias in den ›Vulkan‹ gegangen war. Trotz der Erregung um ihn herum versuchte Etienne jetzt, Pierron für seine Pläne zu gewinnen, und erklärte ihm die Einrichtung der Hilfskasse. »Du siehst doch ein, was für große Dienste uns eine solche Kasse leisten würde, wenn ein Streik ausbräche. Wir scheren uns dann nicht um die Grubengesellschaft. Wir haben zunächst Mittel, um Widerstand zu leisten. Tust du mit?« »Ich will mir's überlegen«, stammelte Pierron mit niedergeschlagenen Augen und setzte zögernd hinzu: »Die beste Hilfskasse ist, wenn man sich gut aufführt.« 338
Wenn man sich gut aufführt? Das war das Stichwort für Maheu, Etienne ohne alle Umschweife den Vorschlag zu machen, daß er zu ihm ziehen möge. Etienne sagte sofort zu. Mit wenigen Worten war alles geregelt. Die Maheude, die sich zu ihnen gesellt hatte, erklärte nur noch, daß man mit dem Einzug Etiennes bis zur Hochzeit von Zacharias warten müsse.
IX Mitte August zog Etienne zu den Maheus. Die Bergwerksgesellschaft hatte Zacharias, der seine Philomene geheiratet hatte, eine Wohnung gegeben. In der ersten Zeit fühlte sich Etienne Catherine gegenüber sehr verlegen. Da er das Bett mit Jeanlin teilte, das dem Bett Catherines gegenüberstand, lebte er sehr eng mit ihr zusammen. Er mußte sich beim Schlafengehen und beim Aufstehen in ihrer Gegenwart ausund anziehen und war gezwungen, ihr zuzusehen, wie sie ihre Kleider an- und ablegte. Wenn der letzte Rock fiel, stand sie weiß und bleich in der durchsichtigen, schneeigen Nacktheit blutarmer Mädchen vor ihm. Er fühlte eine ständige Erregung, wenn er sie so vor sich sah, und tat, als wende er sich ab. Aber er kannte sie bald ganz und gar, so wie sie war: ihre Füße, die Knie, die er sah, ehe sie unter die Bettdecke schlüpfte, den Busen mit den kleinen, festen Brüsten, den er sehen konnte, wenn sie sich morgens über die Waschschüssel beugte. Sie beobachtete ihn nicht, aber sie beeilte sich sehr, wenn sie sich wusch. Sie hatte jedoch nie Anlaß, sich über Etienne zu ärgern. Wenn er auch mit einer Art Besessenheit darauf wartete, daß sie sich zu Bett legte, so unterließ er doch alle Scherze und jede Berührung. Er hegte für Catherine ein aus Freundschaft und Groll gemischtes Gefühl, das ihn 339
davor zurückhielt, sie wie ein Mädchen zu behandeln, das man besitzen möchte. Nach Ablauf eines Monats schienen Etienne und Catherine einander nicht mehr zu sehen, wenn sie abends, bevor sie die Kerze auslöschten, entkleidet im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr so und hatte ihre alte Gewohnheit wiederaufgenommen, sich an den Bettrand zu setzen und das Haar aufzustecken. Dabei hob sie die Arme hoch und streifte ihr Hemd bis zu den Schenkeln. Etienne war ihr bisweilen dabei behilflich und hob die Nadeln auf, die ihr herunterfielen. Diese Gewohnheit erstickte das Schamgefühl. Sie fanden ihre Nacktheit nun ganz natürlich, denn sie taten ja nichts Schlimmes, und es war ja nicht ihre Schuld, daß sie nur eine Stube hatten. Aber manchmal überlief Etienne doch ein Schauer, und er wandte sich zur Seite, damit er nicht der Versuchung erliegen könnte, Catherine zu nehmen. Sie fiel manchmal ohne ersichtlichen Grund in eine schamhafte Erregung und flüchtete plötzlich unter die Bettdecke, als spüre sie schon, daß er nach ihr fasse. Wenn es dann dunkel war, litten sie beide so sehr darunter, daß sie nicht einschlafen konnten und daß sie trotz ihrer Müdigkeit aneinander dachten. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn Etienne nicht das Bett mit Jeanlin geteilt hätte. Er beklagte sich auch, daß der Junge immer den größten Teil des Bettes einnahm. Für die Maheus waren die fünfundzwanzig Frank, die Etienne als Miete bezahlte, eine große Hilfe. Sie zeigten sich dankbar. Seine Wäsche wurde gewaschen und ausgebessert und alle seine Sachen in Ordnung gehalten. Das war alles so, wie es sein sollte. Auch die Ideen, die in Etiennes Kopf schwirrten, begannen sich zu klären. Woher kam das Elend der einen, woher der Reichtum der anderen? Das erste Ergebnis seines Nachdenkens war, daß er sich seiner Unwissenheit bewußt wurde, und er wagte nicht, von den Dingen zu reden, die ihn so leidenschaftlich erregten. Er ließ sich Bücher schicken, aber der schlecht verdaute Inhalt exaltierte ihn noch mehr. Anarchistische Broschüren riefen verworrene Vorstellungen in ihm hervor. Auch Souvarine lieh ihm Bü340
cher, und bald brauchte sich Etienne nicht mehr seiner vollkommenen Unwissenheit zu schämen. Er wurde stolz auf sich selbst. Bei den Maheus blieb man jetzt allabendlich noch eine Stunde zusammen sitzen. Etienne lenkte das Gespräch stets auf dasselbe Thema. Seitdem sich seine Kenntnisse vermehrt und seine Anschauungen verfeinert hatten, fühlte er sich durch die lebensunwürdigen Verhältnisse im Arbeiterdorf verletzt. Waren sie denn Tiere, daß man sie so zusammenpferchte, daß man nicht einmal ein Hemd wechseln konnte, ohne in aller Nacktheit vor den Nachbarn dazustehen? »Alle Wetter«, fiel Maheu ein, »wenn man nur mehr Geld hätte. Es ist ja wahr, daß es für niemanden gut ist, wenn man so aufeinander hockt.« Die Maheude mischte sich in das Gespräch. »Das traurigste ist, daß man sich sagen muß, es kann nicht anders werden.« Sie klagte: »Solange man jung ist, bildet man sich ein, das Glück wird noch kommen, und man hofft allerlei. Und dann kommt immer wieder das Elend, und die Fesseln bleiben. Ich wünsche niemand etwas Böses, aber es gibt doch Augenblicke, in denen mich diese Ungerechtigkeit empört.« Vater Bonnemort blickte erstaunt drein. Zu seiner Zeit hatte man sich solcher Gedanken wegen nicht den Kopf zerbrochen. Man wurde in der Kohle geboren, man lebte in der Kohle, und nach etwas anderem fragte man nicht. »Die Vorgesetzten sind ja zuweilen Kanaillen«, murmelte er. »Es wird immer Vorgesetzte geben. Es ist unnütz, darüber nachzudenken.« »Wie? Dem Arbeiter sollte das Nachdenken untersagt sein?« fragte Etienne erregt. »O nein, da die Arbeiter zu denken begonnen haben, wird sich schnell alles ändern. Man muß sich nur rühren.« »Sobald man sich rührt«, warnte Maheu, »wird man entlassen.« Es blieb eine Weile still. Die Maheude unterbrach das Schweigen. »Wenn wenigstens das wahr wäre, was die Geistlichen erzählen. Wenn die Armen dieser Welt die Reichen im Himmel würden!« Lautes Gelächter schnitt ihr das Wort ab, selbst die Kinder zuckten mit den Achseln. Sie waren ungläubig geworden. Der Himmel war leer für sie. Es gab keinen Gott, aber vor dem Grubengespenst hatten sie 341
immer noch geheime Furcht, von der sie nur selten sprachen. Aber vor der Kirche … »Die Geistlichen!« rief Maheu. »Wenn sie selbst daran glaubten, würden sie weniger essen und mehr arbeiten, um sich einen guten Platz im Himmel zu sichern. Wenn man tot ist, ist man tot.« »Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« Die Maheude seufzte schwer und ließ die Hände in den Schoß sinken. »Ist es denn wirklich wahr, daß wir Armen verloren sind?« Vater Bonnemort spuckte in sein Taschentuch, Maheu vergaß, die ausgegangene Pfeife aus dem Mund zu nehmen, zwischen Lenore und Henri, die am Tischrand eingeschlafen waren, stand Alzire und hörte zu. Catherine stützte das Kinn in ihre Hand, ihre großen Augen ruhten unverwandt auf Etienne, der begeistert von seinen sozialen Zukunftsträumen sprach. »Wozu braucht ihr den lieben Gott und sein Paradies, um glücklich zu sein? Könnt ihr euch nicht selbst das Glück auf Erden schaffen? Eines Tages wird eine neue Gesellschaft erstehen und eine neue Menschheit, die keine Verbrechen kennt. Es wird nur noch ein einziges Volk von Arbeitern geben mit dem Wahlspruch: Jedem nach seinem Verdienst, und jedes Verdienst gemäß der Arbeit.« »Hör nicht auf ihn«, unterbrach die Maheude, als sie sah, wie Maheus Augen leuchten. »Werden denn die Bürger sich jemals darauf einlassen, daß sie arbeiten wie wir?« Sie wandte sich Etienne zu: »Wenn es sich um eine gerechte Sache handelt, könnte auch ich mich in Stücke reißen lassen. Und es wäre wahrhaftig gerecht, wenn auch wir einmal das Leben genießen könnten.« Etienne begann wieder zu sprechen. »Die alte Gesellschaftsordnung kracht in allen Fugen«, erklärte er. »Es kann nur noch einige Monate dauern.« »Neun Uhr vorbei!« rief die Maheude mit einem Blick auf die Kuckucksuhr. »Morgen wird niemand aufstehen wollen.«
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Etiennes Einfluß wuchs mehr und mehr. Er revolutionierte nach und nach das ganze Arbeiterdorf. Obwohl die Maheude mißtrauisch war, behandelte sie ihn doch mit sehr viel Rücksicht, denn er zahlte pünktlich, trank nicht, spielte nicht und saß nur immer über seinen Büchern. Im September hatte er auch die Hilfskasse gegründet, aber sie war noch unbedeutend. Inzwischen kam der Herbst, kamen die Oktoberfröste. Eine schlimme Jahreszeit hatte begonnen. Es war an einem Sonnabend, Ende Oktober, nach dem Frühstück. Die Grubengesellschaft hatte unter dem Vorwand, daß die Abrechnung große Störung verursache, die Arbeit in allen Gruben einstellen lassen. Beeinflußt von der Furcht vor der Handelskrise in Frankreich, die sich immer mehr verschärfte, benutzte sie jeden Vorwand, um ihre zehntausend Arbeiter zum Feiern zu zwingen. Die Maheude schlug ihrem Mann vor: »Du weißt, daß Etienne dich bei Rasseneur erwarte. Nimm ihn zur Abrechnung mit. Er wird sich besser zurechtfinden als du, wenn man eure Stunden nicht richtig berechnet.« Maheu nickte zustimmend. Seine Frau fuhr fort: »Und sprich mit den Herren über deinen Vater. Der Doktor irrt sich, wenn er glaubt, daß er nicht mehr arbeiten kann.« Seit zehn Tagen saß Vater Bonnemort mit eingeschlafenen Füßen auf seinem Stuhl. Die Füße wollten nicht mehr, aber sein Mund stand nicht still. »Gewiß kann ich noch arbeiten«, sagte er. »Man ist noch nicht fertig, wenn man Schmerzen in den Beinen hat. Das sind nur Geschichten, die sie erfinden, damit sie mir nicht die hundertachtzig Frank Pension geben müssen.« Die Maheude dachte an die vierzig Sou, die der Alte am Ende nicht mehr zum Haushalt beitragen würde. Sie stieß einen Angstschrei aus: »Wir werden noch alle umkommen, wenn das so weitergeht.« »Wenn man tot ist«, beruhigte sie Maheu, »dann hat man keinen Hunger mehr.« »Ich bin aber noch nicht tot«, begehrte Vater Bonnemort auf. »Ich habe Hunger.« Inzwischen hatte Etienne bei Rasseneur neue Nachrichten vorgefun343
den. Beunruhigende Gerüchte waren im Umlauf. »Was sagst du dazu?« fragte er Souvarine. Souvarine, der Russe, war der einzige, der genug Bildung hatte, um die Lage zu verstehen. Er erklärte sie in seiner ruhigen Art: »Die Grubengesellschaft, die vor einer Krise steht, muß ihre Ausgaben einschränken. Natürlich müssen dann die Arbeiter den Riemen enger schnallen. Man wird unter irgendeinem Vorwand ihre Löhne herabsetzen.« »Was du sagst, ist möglich«, gab Etienne zurück. »Aber wenn man uns zum Streik zwingt, müssen wir einen Entschluß fassen. Pluchart hat mir darüber geschrieben. Hier ist der Brief.« Souvarine und Rasseneur lasen die Meinung Plucharts, den das Mißtrauen der Arbeiter von Montsou gegen die Internationale zur Verzweiflung brachte. Er hoffte, einen Massenbeitritt zu erzielen, wenn ein Konflikt die Kohlenarbeiter zum Kampf gegen die Grubengesellschaft zwänge. »Wieviel habt ihr in der Kasse?« fragte Rasseneur. »Nicht ganz dreitausend Frank«, erwiderte Etienne. »Und ihr wißt, daß die Grubendirektion mich gestern vorgeladen hat. Sie sind sehr höflich gewesen und haben mir wiederholt erklärt, daß sie die Arbeiter nicht hindern wollen, einen Reservefonds zu bilden, aber ich habe wohl verstanden, daß sie die Kontrolle darüber beanspruchen.« Rasseneur ging im Zimmer auf und ab und pfiff verächtlich vor sich hin. Dreitausend Frank! Dafür konnte man kaum für sechs Tage Brot für zehntausend Arbeiter kaufen, und wenn man auf die Ausländer rechnete, konnte man sich sofort begraben lassen. Die Internationale: Nein. Er sagte: »Ein Streik ist ein zu dummes Unternehmen.« »Ein Streik?« Souvarine bestätigte: »Dummheiten!«, und fuhr fort: »Im großen und ganzen habe ich nichts gegen Streiks, wenn sie euch Vergnügen machen. Sie ruinieren die einen und bringen die anderen um, und das ist immerhin eine gewisse Säuberung. Aber bei einem so langsamen Vorgehen zu einer Neugestaltung der Welt würde man tausend Jahre brauchen. Beginnt doch lieber damit, daß ihr dieses Zuchthaus, in dem ihr verreckt, in die Luft sprengt!« 344
Er wies mit seiner zarten Hand nach dem Voreux. Maheu, der in die Schankstube eintrat, glaubte, daß die Geste ihm galt. Maheu wollte nichts trinken. Er wollte nur, daß ihn Etienne nach Montsou begleite. Während sie beide durch die Gruppen der Arbeiter gingen, merkten sie, daß alle von dumpfer Verzweiflung erfüllt waren. Es gab geballte Fäuste, heftige Äußerungen gingen von Mund zu Mund. Chaval beschränkte sich auf ein wütendes Brummen und warf Etienne einen haßerfüllten Seitenblick zu. Er war immer heftiger gegen Etienne eingenommen, der sich als Herr gebärdete und dem das ganze Dorf, wie Chaval sagte, die Füße leckte. Dazu kam die Eifersucht Chavals. Wenn er Catherine abends nach Hause brachte, machte er ihr Vorwürfe, daß sie es bei Nacht mit Etienne halte. Der Kassenraum, den Maheu und Etienne betraten, war ein kleines, viereckiges Zimmer, das durch ein Gitter in zwei Teile geteilt war. Über dem Schalter zur linken Hand hing ein gelbes Plakat, vor dem die Bergleute stehenblieben, um es zu entziffern. Zwei Männer standen jetzt davor, aber beide konnten nicht lesen. Der jüngere buchstabierte mühsam, der ältere sah stumpf vor sich hin. »Lies uns doch vor«, bat Maheu, der im Lesen auch nicht sehr fest war. Etienne las die Bekanntmachung der Grubengesellschaft an die Arbeiter aller Gruben vor. Die Gesellschaft teilte mit, daß sie es müde sei, erfolglose Strafen wegen geringer Sorgfalt beim Verzimmern zu verhängen, und daß sie deshalb eine neue Bezahlungsart einführe. In Zukunft werde die Gesellschaft das Verzimmern bezahlen, und der Preis eines Wagens Kohle werde herabgesetzt, und zwar je nach der Entfernung der Arbeitsplätze von fünfzig auf vierzig Centime. In einer ziemlich unklaren Berechnung versuchte die Gesellschaft nachzuweisen, daß diese Preissenkung durch den für das Verzimmern gezahlten Lohn bedingt sei. Zum Schluß wurde erklärt, daß die Gesellschaft jedermann Zeit lasse, sich von den Vorteilen der neuen Abrechnungsweise zu überzeugen und diese daher erst ab 1. Dezember in Kraft treten lasse. »Großer Gott«, flüsterte Maheu und fügte hinzu: »Hundsfötter sind wir, wenn wir das annehmen.« 345
Aber der Schalter war frei. Er trat heran, um seinen Lohn zu holen. Der Beamte der Gesellschaft suchte in den Listen, dann rief er: »Maheu und Konsorten, Schacht Filonniere, Arbeitsplatz Nummer sieben … hundertfünfunddreißig Frank.« Der Kassierer blätterte die Banknoten auf den Schaltertisch. »Entschuldigen Sie, Herr Kassierer«, stammelte Maheu. Sein Herz erstarrte. Es konnte nicht so wenig sein. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht verrechnet haben?« »Nein, nein! Ich habe mich nicht verrechnet. Sie müssen zwei Sonntage und vier Tage, an denen gefeiert wurde, in Abzug bringen. Es bleiben also nur neun Arbeitstage … Und vergessen Sie nicht die Strafgelder. Zwanzig Sou Strafe für schlechtes Verzimmern … Wollen Sie das Geld endlich nehmen?« Als Maheu mit zitternder Hand das Geld zusammenraffte, hielt ihn der Beamte noch zurück. »Warten Sie mal. Ich sehe erst jetzt Ihren Namen: Toussaint Maheu, nicht wahr? … Der Herr Generalsekretär wünscht Sie zu sprechen. Treten Sie ein, er ist allein.« Etienne wartete draußen, während Maheu in ein Kabinett mit verblaßten Ripsvorhängen und alten Mahagonimöbeln eintrat. An einem Schreibtisch saß ein bleicher Herr und sprach undeutlich. Endlich verstand Maheu, daß es sich um seinen Vater handelte, der mit einer Pension von hundertfünfzig Frank im Jahr im Alter von neunundfünfzig Jahren und nach fünfzig Dienstjahren verabschiedet werden sollte. »Hundertfünfzig Frank im Jahr«, Maheu wollte protestieren, aber die Stimme des Generalsekretärs nahm einen rauhen Ton an. Er erteilte Maheu einen Verweis. »Sie beschäftigen sich mit Politik. Sie haben einen Mieter, der die Hilfskasse verwaltet. Ich rate Ihnen gut, sich nicht auf solche Torheiten einzulassen. Sie sind einer der besten Arbeiter der Grube, Maheu.« Maheu wollte antworten, aber er brachte nur unzusammenhängende Worte hervor, drehte seine Mütze zwischen den zuckenden Fingern. Endlich lockerte sich die Kehle. Er stotterte: »Gewiß, Herr Sekretär … ich versichere Ihnen, Herr Sekretär …« 346
Jetzt schloß sich die Türe hinter ihm. Er stand Etienne gegenüber und brach los: »Ich bin ein Hundsfott, ich hätte ihm antworten müssen: Man hat nicht einmal trockenes Brot zu essen und muß sich auch noch Grobheiten sagen lassen … Er hat gesagt, daß du das Dorf vergiftet hast. Aber was kann man tun? Man muß sich bücken und kann nur danke sagen.« Auf dem Heimweg sprachen Etienne und Maheu kein Wort. Die Maheude sah ihrem Mann gleich an, daß er mit viel weniger Lohn nach Hause kam, als er erwartet hatte. »Wieviel hast du bekommen?« fragte sie aufgeregt. »Da! Das ist der Verdienst von uns allen!« Die Maheude brach in Tränen aus. Wie sollten neun Menschen mit diesem Schandgeld vierzehn Tage auskommen. Sie zeterte und schrie und lief auf die Straße. Um das Haus Levaques hatte sich eine Gruppe gebildet. Alle Frauen jammerten wie die Maheude. Nur die Pierronne war ziemlich ruhig, denn ihr Mann brachte es immer zustande, daß für ihn im Buch des Aufsehers mehr Stunden notiert waren als für die Kameraden. Die Brule aber nannte ihren Schwiegersohn Pierron einen schäbigen Feigling. Sie hatte noch etwas Besonderes zu erzählen. »Heute früh sah ich die Köchin der Madame Hennebeau in der Equipage vorbeifahren!« schrie sie. »Ja, die Köchin fuhr in zweispänniger Equipage nach Marchiennes, um Fische zu kaufen!« Die Köchin in der Equipage, dieses Dienstmädchen in weißer Schürze, das auf den Märkten all das einkaufte, was die feinschmeckerischen Gaumen der Herrschaft reizte, während sie alle hungerten. War das nicht eine Ungerechtigkeit? Fische aus Marchiennes und kein Geld, um Brot zu kaufen. Man mußte sich das Recht erzwingen, wenn man nicht verhungern wollte. Die Frauen hörten nicht auf zu schimpfen. Die Männer wurden so erregt, daß sie am gleichen Abend bei Rasseneur den Streik beschlossen.
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Der Streik war beschlossen, aber er brach nicht aus. Es wurde weiter gearbeitet. Die Familien brauchten das Geld: jeden Sou. Deshalb geriet die Maheude, obwohl sie Catherine erlaubt hatte, eine Nacht außer Haus zu bleiben, auch in unmäßigen Zorn. Denn Catherine war am Morgen so erschöpft gekommen, daß sie nicht zur Grube gehen konnte. Catherine weinte und beteuerte, es sei nicht ihre Schuld. Chaval habe sie zurückgehalten und gedroht, sie zu schlagen, wenn sie nicht bei ihm bliebe. Er war vor Eifersucht ganz von Sinnen und wollte sie daran hindern, zu Etienne zurückzukehren. Die Maheude war wütend und verbot ihrer Tochter den Umgang mit Chaval. Wohin käme man denn, wenn Catherine nicht arbeite. Sie selbst wollte nach Montsou gehen, um Chaval zu ohrfeigen. Ein Arbeitstag war verloren. Aber da Catherine nun einmal diesen Liebhaber hatte, sollte sie ihn behalten. Auf Maheus neuem Platz war das Arbeiten mühsam. Die Kohle lag im Schacht in dünner Schicht. Man befürchtete stündlich, daß das reißende Grundwasser die Felsen sprengen und die Menschen mit sich fortreißen würde. Maheu hatte die Stützen fester verkeilen lassen. Aber als Etienne vor Schluß der Arbeitszeit einen letzten Brocken losbrach, erschütterte ein fernes Donnergrollen die ganze Grube. »Was ist denn das?« rief er. »Ein Einsturz!« schrie Maheu. »Schnell! Schnell!« Alle liefen gebückt durch den langen Gang und benützten die Rutschbahn, ohne darauf zu achten, daß sie sich blutig rissen. Jeanlin trabte bloßfüßig hinter seinem Wagenzug einher. Wenn er keine Begegnung mit einem Aufseher zu fürchten hatte, setzte er sich auf den letzten Wagen, was verboten war. Als das Pferd an einer Ausweichstelle stehenblieb, fragte er Bebert: »Was hat denn die alte Mähre?« »Ihre Mucken«, erwiderte Bebert. Sie gingen zu einem Durchgang und blieben vor der Tür wie angewurzelt stehen. »Hast du etwas gemerkt? Es ist Wasser dort.« Jeanlin bückte sich und betrachtete die Pfütze, in der er watete. Dann hob er seine Lampe und sah, daß die Stützen unter dem unaufhörlich hervorsickernden Wasser nachzugeben begannen. Ein Häuer ging vorbei, ein gewisser Chicot, der zu seiner Frau eilte, die im Wochenbett lag. Chicot blieb stehen 348
und betrachtete die Stützen. In diesem Augenblick zerbrach die Verzimmerung mit furchtbarem Krachen, und das einstürzende Gestein begrub den Häuer und Jeanlin. Vom Staub geblendet und halb erstickt, eilten die Arbeiter von allen Seiten herbei. Als sie die Einbruchstelle erreichten, begannen sie zu schreien und riefen ihre Kameraden. Der Schaden war nicht groß, aber allen schnürte es das Herz zusammen, als sie plötzlich unter dem Schutt ein Todesröcheln hörten. »Jeanlin ist darunter!« schrie Bebert. »Jeanlin ist darunter!« Maheu mit Zacharias und Etienne arbeiteten verbissen mit Hacke und Schaufel, um die Trümmer wegzuräumen. Andere Bergleute halfen ihnen, ohne darum gebeten worden zu sein. Die Stunde der Ausfahrt hatte geschlagen, aber niemand dachte ans Mittagessen. Maheu arbeitete mit solcher Wut, daß er einen Kumpel, der ihn ablösen wollte, mit drohender Gebärde zurückstieß. Das Röcheln war jetzt deutlich zu vernehmen. Plötzlich verstummte es. Alle sahen einander schweigend und erschreckt an. Der Schweiß rann ihnen von der Stirn, während sie mit dem Aufgebot aller Kräfte weiterarbeiteten. Sie sahen einen Fuß und entfernten die Erde mit den Händen. Der Kopf war unverletzt. Das Licht der Lampe fiel auf ihn. Chicot war noch ganz warm, aber ein Felsblock hatte ihm die Wirbelsäule zerschmettert. »Wickelt ihn in eine Decke und legt ihn auf einen Wagen«, befahl der Aufseher. Dann wurde Jeanlin ausgegraben. Maheu fluchte unaufhörlich, um seinem Schmerz Luft zu machen. Catherine und die anderen Mädchen heulten besinnungslos. Endlich wurden Anstalten zum Abtransport der Verunglückten getroffen. Die Arbeiter brauchten eine halbe Stunde, um bis zum Förderkorb zu gelangen. Aus der Verzimmerung spritzte kaltes Wasser. Die Männer blickten ungeduldig dem Tageslicht entgegen. Glücklicherweise hatte ein Junge, den man zu Dr. Vanderhagen geschickt hatte, den Arzt zu Hause angetroffen und kam nun mit ihm an. Jeanlin und der tote Chicot wurden in die Aufseherstube getragen. Nachdem Dr. Vanderhagen einen Blick auf Chicot geworfen hatte, brummte er: »Der hat's überstanden … Ihr könnt ihn waschen.« Dann 349
untersuchte er Jeanlin. »Der Kopf ist unverletzt«, stellte er fest, »die Brust auch … aber die Beine haben eins abbekommen.« Er entkleidete Jeanlin, der aus seiner Betäubung erwachte und wimmerte. Maheu stand mit geballten Fäusten neben dem kleinen Körper und betrachtete ihn mit starrem Blick. »Heda, bist du sein Vater?« fragte der Doktor. »Weine doch nicht, du siehst ja, daß er nicht tot ist … hilf mir lieber.« Er stellte zwei einfache Brüche fest. Doch das rechte Bein machte ihn besorgt. »Ich werde es wohl amputieren müssen«, sagte er und verlangte, daß Jeanlin sofort nach Hause gebracht werde. Etienne riet Maheu leise, Catherine vorauszuschicken, damit sie die Mutter vorbereite. Doch schon war der Wagen, dieses wohlbekannte, düstere Fuhrwerk des Todes, bemerkt worden. Die Frauen stürzten wie toll auf die Straße. Dreißig, fünfzig Frauen, alle von derselben Angst erstickt. Die Nachricht, daß ein Unglück geschehen war, ging von Mund zu Mund. Die Maheude, der Catherine die Mitteilung vom Unfall Jeanlins schonend überbringen sollte, schrie: »Dein Vater ist tot!« Vergebens beteuerte Catherine, daß das nicht wahr sei. Die Maheude stürzte dem Wagen entgegen, der vor dem Haus angehalten hatte. Als sie Jeanlin zwar lebend, aber mit gebrochenen Beinen vor sich sah, erstickte sie fast vor Wut. »Jetzt macht man unsere Kinder zu Krüppeln!« schrie sie auf. »Beide Beine! O mein Gott! Was soll ich mit ihm anfangen!« Sie verwünschte ihr Geschick. »Woher soll ich das Geld nehmen, um einen Krüppel zu ernähren? Nicht genug, daß der Großvater gelähmt ist, nun verliert auch der Junge noch seine Beine.« Die Maheude hörte auch nicht auf zu schreien und zu weinen, als im benachbarten Haus das herzzerreißende Klagegeschrei von Chicots Frau und seinen Kindern erklang.
Drei Wochen vergingen. Man hatte die Amputation vermeiden können, Jeanlin behielt beide Beine, aber es stand fest, daß er immer hinken würde. Die Grubengesellschaft hatte sich bereit erklärt, fünfzig 350
Frank Unterstützung zu zahlen, und versprochen, sich für den kleinen Krüppel nach einer Beschäftigung außerhalb der Grube umzusehen. Aber das Elend der Familie Maheu war noch größer geworden. Auch Etienne war besorgt, denn Catherine war in der Nacht wieder nicht nach Hause gekommen. Sie kam auch am Morgen nicht. Erst am Nachmittag erfuhren die Maheus, daß Chaval sie zurückhalte. Er hatte ihr so abscheuliche Eifersuchtsszenen gemacht, daß sie sich entschlossen hatte, bei ihm zu bleiben. Um Vorwürfen aus dem Weg zu gehen, hatte er den Voreux verlassen und in Jean-Bart, der Grube des Herrn Deneulin, Arbeit gefunden. Dorthin war ihm Catherine als Wagenschieberin gefolgt. Erst sprach Maheu davon, daß er Chaval ohrfeigen und seine Tochter mit Fußtritten heimtreiben werde. Dann machte er eine resignierte Gebärde: Wozu sollte die Aufregung führen? Was geschehen war, das war der gewöhnliche Verlauf. Man konnte die Mädchen nicht davon abhalten, einem Mann zu folgen, wenn sie Lust dazu hatten. Die Maheude nahm die Sache nicht so leicht. »Habe ich sie etwa geschlagen, als sie sich mit Chaval einließ?« fragte sie Etienne, der seine Erschütterung mit Schweigen maskierte. »Sagen Sie doch mal, Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, ob ich nicht recht habe. Mein Gott, bei allen geht es so! Auch ich war schwanger, als der Maheu mich heiratete. Aber ich bin meinen Eltern nicht fortgelaufen, nie wäre ich so gemein gewesen, vor der Zeit meinen Lohn einem Mann zu bringen, der ihn nicht brauchte.« Maheu tröstete sie. »Es führt zu nichts, wenn du dich auch noch so grämst.« Etienne hob den Kopf. Vor seinen verzweifelten Blicken schien ein Zukunftsbild aufzutauchen. Er flüsterte: »Die Zeit wird kommen.«
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X Monsieur und Madame Hennebeau waren mit ihren Gästen, Monsieur und Madame Gregoire, bei Tisch und unterhielten sich über Monsieur Deneulin, der sich wehrte, die Grube Jean-Bart in Vandame zu verkaufen, obwohl der Streik der Bergleute von Montsou und Vandame ihn zugrunde richten mußte. Er hatte keine Reserven wie die Besitzer des Voreux. Die beiden Ehepaare spotteten über die Aufregung Monsieur Deneulins, der die gute Gelegenheit, seinen unergiebigen Bergbau loszuwerden, verabsäumte. Als das Dessert aufgetragen wurde, hatten sie den Streik bereits völlig vergessen. Die Apfelbreitorte fand allgemeinen Beifall. Die Damen debattierten über das Rezept. Alle waren in fröhlicher Stimmung und unterhielten sich, während der Diener anstatt des französischen Champagners, der als ordinär galt, Rheinwein einschenkte. Als der Kaffee gereicht wurde, stürzte die Kammerfrau ganz verstört herein und meldete Monsieur Hennebeau: »Herr Direktor, Herr Direktor! Sie sind da!« »Wer ist da?« fragte er mit rauher Stimme. »Die Abordnung der Arbeiter.« Türen schlugen. »Die Abordnung der Arbeiter?« fragte Madame Hennebeau entsetzt. »Führen Sie sie in den Salon«, sagte Hennebeau ruhig zu der Kammerfrau. »Ich hoffe, daß du erst deinen Kaffee trinken wirst«, beschwor Madame Hennebeau ihren Mann. »Gewiß«, erwiderte er. »Die Arbeiter mögen warten.« Er wurde doch rastlos und erhob sich. »Der Kaffee ist zu heiß«, sagte er. »Ich werde ihn nachher trinken.« Im Hinausgehen hielt er einen 352
Finger vor den Mund, um seine Gäste zu ermahnen, keine Unvorsichtigkeiten zu begehen. Im luxuriös eingerichteten Zimmer fühlten sich die Arbeiter unbehaglich. »Ah, da seid ihr«, begrüßte sie Monsieur Hennebeau, den Rock militärisch zugeknöpft, das rote Band der Ehrenlegion im Knopfloch. »Ihr macht Revolution, wie mir scheint …« Er unterbrach sich und setzte mit steifer Höflichkeit hinzu: »Setzt euch, ich bin bereit, euch anzuhören.« Die Arbeiter sahen sich nach Stühlen um. Einige wagten es, sich zu setzen, während die anderen scheu die Seidenüberzüge der Stühle betrachteten und vorzogen, stehen zu bleiben. Herr Hennebeau musterte sie alle scharf, bemüht, sich die Gesichter zu merken. Er erkannte Pierron wieder, der sich ganz hinten versteckt hielt. Sein Blick blieb auf Etienne haften, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Hennebeau erwartete, daß der junge Mann das Wort ergreifen werde. Als er Maheu vortreten sah, war er so überrascht, daß er sich nicht zurückhalten konnte auszurufen: »Wie? Sie? Ein guter Arbeiter, der immer vernünftig war, ein Eingeborener von Montsou, dessen Familie seit Eröffnung der Grube hier arbeitet … Ah, das ist arg! Es tut mir leid, Sie an der Spitze der Unzufriedenen zu sehen.« Maheu senkte den Blick, aber dann begann er, wenn auch unsicher, zu sprechen: »Herr Direktor, gerade weil ich ein ruhiger Mann bin, dem man nichts vorwerfen kann, haben mich meine Kameraden erwählt. Das muß Ihnen beweisen, daß wir keine rebellischen Unruhestifter sind und keine schlechten Menschen. Wir verlangen nur Gerechtigkeit, wir wollen nicht mehr hungern. Es scheint uns an der Zeit zu sein, alles so zu ordnen, daß wir wenigstens jeden Tag Brot haben.« Je länger er sprach, desto mehr gewann seine Stimme an Festigkeit. Er hob den Blick und sah dem Direktor voll ins Gesicht. »Sie wissen wohl, daß wir den neuen Tarif nicht annehmen können. Man beschuldigt uns, schlecht zu verzimmern. Es ist wahr, wir verwenden auf diese Arbeit nicht die nötige Zeit. Aber wenn wir es täten, würde unser täglicher Verdienst noch geringer werden. Und da er schon jetzt kaum zu unserem Lebensunterhalt ausreicht, wäre das das allgemeine Ende. 353
Ihre Arbeiter müßten umkommen. Bezahlen Sie uns besser, und wir werden auch besser verzimmern.« »Das ist die Wahrheit«, bestätigten die anderen Delegierten, als sie sahen, daß Monsieur Hennebeau eine ungestüme Gebärde machte und ihren Wortführer unterbrechen wollte. Aber Maheu ließ den Direktor der Gesellschaft nicht zu Wort kommen. »Wir sind gekommen, um Ihnen zu erklären, daß wir, wenn wir schon verhungern sollen, es vorziehen, beim Nichtstun zu verhungern. Das ist weniger ermüdend … Wir haben die Grube verlassen und werden nicht eher wieder einfahren, bis die Grubengesellschaft unsere Bedingungen annimmt. Wir wollen, daß man uns fünf Centime für den Wagen mehr bezahlt.« Schon seit den ersten Worten Maheus hatte Monsieur Hennebeau Etienne nicht aus den Augen gelassen. Er wollte ihn zum Sprechen bringen und dadurch der ganzen Unterhandlung eine andere Wendung geben. »Warum sagt ihr nicht offen heraus, daß ihr durch nichtswürdige Aufreizungen beeinflußt seid! Ein Pesthauch weht in den Arbeiterkreisen und steckt die Besten an … Nicht wahr, man hat euch erzählt, daß jetzt die Reihe an euch sei, die Herren zu spielen? Gewiß hat man euch für die famose Internationale angeworben, diese Räuberbande, die von der Zerstörung alles Bestehenden träumt …« »Sie irren sich, Herr Direktor«, fiel ihm Etienne ins Wort. »Nicht ein Kohlenarbeiter von Montsou gehört der Internationale an. Aber wenn man sie dazu drängt, werden alle Gruben sich der Internationale anschließen.« Monsieur Hennebeau hatte erreicht, was er wollte. Er konnte mit Etienne vor den anderen diskutieren. »Es ist ungerecht von euch, der Gesellschaft zu drohen, denn sie sorgt wie ein Vater für ihre Leute.« Er schien jetzt nur noch zu Etienne zu sprechen. »Sie scheinen ein intelligenter Mann zu sein und sind in wenigen Monaten einer unserer besten Arbeiter geworden. Wäre es nicht vernünftiger, wenn Sie die Wahrheit unter ihren Kameraden verbreiteten, anstatt mit übel beleumdeten Leuten zu verkehren?« Er hob die Hand. »Unterbrechen Sie mich nicht. Ich rede von Rasseneur, den wir entlassen mußten, um unsere Gruben vor der Ansteckung durch seine sozialistische Fäulnis zu 354
bewahren. Man sieht Sie beständig bei ihm, und er hat Sie gewiß auch veranlaßt, die Hilfskasse zu gründen, die wir anstandslos dulden würden, wenn sie nur eine Sparkasse wäre.« »Sie können sagen, was Sie wollen, Monsieur«, erwiderte Etienne ruhig, »aber der neue Tarif ist nur eine versteckte Herabsetzung der Löhne, und das ist das, was uns empört. Denn wenn die Gesellschaft genötigt ist zu sparen, so ist es eine Schlechtigkeit, wenn sie es nur auf Kosten der Arbeiter tut.« »Da wären wir also!« rief Monsieur Hennebeau. »Darauf habe ich gewartet, auf diese Beschuldigung. Wir lassen die Leute verhungern und werden fett von ihrem Schweiß. Wie können Sie solchen Unsinn reden! Glaubt ihr denn, daß für die Gesellschaft in der jetzigen Krise nicht ebensoviel auf dem Spiel steht wie für euch? Die Festsetzung der Löhne hängt nicht von der Gesellschaft ab. Wir müssen uns nach der Konkurrenz richten, sonst gehen wir zugrunde. Klagen Sie die heutigen Zustände an und nicht die Gesellschaft.« »Wir begreifen sehr wohl, was Sie sagen!« rief Etienne. »Unsere Lage kann sich nicht bessern, solange die Dinge bleiben, wie sie sind. Und deshalb werden die Arbeiter dafür sorgen, daß die Dinge anders werden.« Monsieur Hennebeau schwieg erst, dann machte er eine Bewegung, um die Abordnung zu verabschieden. Etienne stieß Maheu leicht mit dem Ellbogen. Maheu begann wieder zu sprechen: »Das ist alles, was Sie uns zu sagen haben, Herr Direktor?« fragte er. »Wir sollen also den anderen erklären, daß Sie unsere Forderungen ablehnen?« »Ich, mein Lieber?« Der Direktor hob beide Hände hoch. »Ich lehne gar nichts ab. Ich bin ein Angestellter wie ihr. Ich habe hier ebensowenig zu entscheiden wie irgendeiner von euren Wagenjungen.« Das Schweigen der Arbeiter beunruhigte ihn, aber er warnte sie: »Überlegt es euch, bevor ihr Torheiten begeht!«
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Nach vierzehn Tagen brachte die Unnachgiebigkeit der Grubenleitung die Arbeiter zur Verzweiflung. Es wurde allmählich ein allgemeiner Streik. In Maheus Haus gab es ein beständiges Kommen und Gehen. Etienne hatte die dreitausend Frank Kassengelder unter die bedürftigen Familien verteilt. Es waren auch noch einige hundert Frank Hilfsgelder eingelaufen, die durch Sammlungen aufgebracht worden waren. Doch nun waren alle Mittel erschöpft, der Hunger pochte drohend an die Türen. Um das Maß des Unglücks vollzumachen, war auch ein starker Frost eingetreten. Die Kohlenvorräte schwanden. Bei den Maheus fehlte schon alles. Doch trotz der schrecklichen Zeit wurde keine Klage laut: Alle gehorchten ruhig und mutig der ausgegebenen Losung. Etienne war der unbestrittene Leiter der Bewegung. Pluchart hatte ihm Brief um Brief geschrieben und sich erbötig gemacht, nach Montsou zu kommen, um die Streikenden zur Ausdauer anzufeuern. Er wollte eine geheime Versammlung veranstalten, um die Kohlenarbeiter für die Internationale zu gewinnen, der sie bisher mißtrauisch gegenüberstanden. »Sind es gute Nachrichten?« fragte die Maheude, als Etienne einen neuen Brief Plucharts erhielt. »Wird man uns Geld schicken?« Als Etienne verneinend den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, wie wir diese Woche noch durchkommen sollen.« Sie riß sich zusammen. »Es muß gehen. Wenn man das Recht auf seiner Seite hat, erweist man sich schließlich als der Stärkere.« Dieser Zuspruch, der mehr ein Selbstgespräch der Maheude war, wurde durch den Eintritt Catherines unterbrochen. Seit ihrer Flucht mit Chaval war sie nicht wieder im Dorf erschienen. Sie hatte gehofft, die Mutter allein zu finden. Beim Anblick Etiennes vermochte sie sich nicht auf die Worte zu besinnen, die sie sich unterwegs zurechtgelegt hatte. Sie sagte nur: »Mutter …« »Was hast du hier zu suchen!« schrie die Maheude. »Ich will nichts mehr von dir wissen. Geh deiner Wege!« Catherine zitterte. Sie überwand ihre Angst und Verlegenheit nur mühsam. »Mutter«, sagte sie, »hier ist Kaffee und Zucker … für die Kinder … Ich habe Überstunden gemacht …« 356
»Anstatt uns Geschenke zu bringen, solltest du lieber hierbleiben und uns helfen, Brot zu verdienen!« Sie überhäufte Catherine mit Schimpfworten und erleichterte ihr Herz, indem sie ihr alles ins Gesicht sagte, was sie seit einem Monat über sie gesprochen hatte. Etienne erhob sich, um die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter nicht zu stören. Er tat so, als wollte er das halb erloschene Feuer anfachen. Er konnte nicht umhin, Catherine zu betrachten. Sie sah bleich und abgearbeitet aus, aber noch immer hübsch. Ihre klaren Augen und die fahle Gesichtsfarbe zogen ihn unwiderstehlich an. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Sein Groll verflog. Er hätte sie nun gerne glücklich gewußt an der Seite des Mannes, den sie ihm vorgezogen hatte. Sie aber las in seinen zärtlichen Blicken nichts als Mitleid. Das schnürte ihr die Kehle zu. Sie war außerstande zu sprechen. »Es ist besser, wenn du schweigst«, fuhr die Maheude unerbittlich fort. »Wenn du gekommen bist, um hierzubleiben, tritt näher. Wenn nicht, mach daß du fortkommst!« Catherine zögerte. Sollte sie sich umwenden und gehen? Sollte sie bleiben? Sie erhielt von rückwärts einen so heftigen Fußtritt, daß sie vor Überraschung und Schmerz betäubt in die Stube stürzte. Chaval war durch die offengebliebene Tür wie ein wildes Tier über sie hergefallen. Er hatte das Gespräch zwischen Mutter und Tochter belauscht. »Du Schlampe!« brüllte er. »Ich bin dir nachgegangen, ich wußte, wohin du gehen würdest. Du hältst diesen Kerl also aus? Mit meinem Geld versüßt du seinen Kaffee?« Etienne und die Maheude standen starr, während Chaval Catherine mit wütenden Gebärden zur Tür treiben wollte. Als sie sich in eine Ecke flüchtete, ergriff er sie am Handgelenk und schleppte sie mit sich. Noch einmal wandte er sich um und rief der Maheude zu: »Wenn die Tochter nicht da ist, hält der Kerl es mit der Mutter!« Etienne hielt an sich, um sich nicht auf Chaval zu werfen. Nur die Angst, daß er durch eine Rauferei das Dorf in Alarm bringen könnte, hielt ihn ab, Catherine den Fäusten Chavals zu entreißen. Mit blutunterlaufenen Augen standen sich die beiden Männer wütend so nahe ge357
genüber, daß sie ihren glühenden Atem fühlten. Der alte Haß, die lange unterdrückte Eifersucht kam zum Ausbruch. Einer schien den anderen erwürgen zu wollen. Doch Catherine zog Chaval mit sich fort. Sie floh, ohne den Kopf zu wenden. »Welch ein roher Bursche«, sagte Etienne und warf die Tür heftig ins Schloß. »Er ist ein Schwein«, gab die Maheude zurück. Etienne verließ das Haus. Die Nacht war eisig. Gesenkten Kopfes ging er traurig die Straße entlang. Er sah das Arbeiterdorf ohne Brot, diese Frauen und Kinder, die nichts mehr zu essen hatten und mit leerem Magen den Kampf fortsetzten. Seinen Kampf. Welch schreckliche Verantwortung lastete auf ihm. Er sah die unabwendbare Katastrophe vor sich: schluchzende Mütter, sterbende Kinder, und die Männer fuhren abgezehrt wieder in die Grube. Alle hatten umsonst gelitten! Etienne ging schweren Schrittes weiter. Der Gedanke, daß die Grubengesellschaft sich als stärker erweisen könnte und er das Unglück seiner Kameraden verschuldet hatte, erfüllte ihn mit unerträglicher Beklommenheit. Aber warum sollte die Grubengesellschaft die Stärkere sein in diesem Kampf der Arbeiter gegen das Kapital? Und wenn sie es war, würde sie der Sieg teuer zu stehen kommen! Etienne ging nach Hause. Er wollte Pluchart schreiben und ihn auffordern, sofort zu kommen. Sein Entschluß stand fest. Eine geheime Versammlung mußte veranstaltet werden. Der Sieg erschien ihm gewiß, wenn die Kohlenarbeiter von Montsou in Massen der Internationale beitreten würden.
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XI Die geheime Versammlung sollte Freitag um zwei Uhr nachmittags im ›Gasthaus zum fidelen Bauer‹ stattfinden. Donnerstag früh wurde Etienne unruhig, als Pluchart noch nicht angekommen war, obwohl er sich telegrafisch für Mittwoch abends angemeldet hatte. Es war zum Verzweifeln, daß er vor der Versammlung nicht mehr mit Pluchart sprechen konnte. Am Freitag um neun Uhr morgens ging Etienne nach Montsou. Vielleicht hatte sich Pluchart geraden Weges dorthin begeben, ohne beim Voreux haltzumachen. »Nein, ich habe Ihren Freund nicht gesehen«, erwiderte die Wirtin des ›Fidelen Bauern‹. »Aber alles ist vorbereitet.« Sie führte ihn in den Ballsaal. »Kommen Sie, sehen Sie es sich an.« Es war nicht viel im Saal verändert. Nur die Tribüne der Musikanten war durch einen Tisch und drei Stühle ersetzt worden. »Das ist ausgezeichnet«, erklärte Etienne. »Sie sind hier wie zu Hause«, ermutigte ihn die Wirtin. »Hier können Sie schreien, soviel Sie wollen. Wenn die Gendarmen kommen, müssen sie erst über mich hinweg.« Etienne mußte lächeln, als er unwillkürlich ihre umfangreiche Gestalt betrachtete. Er wartete allein im großen Saal. Endlich kamen Rasseneur und Souvarine. Souvarine hatte während der Nacht im Voreux gearbeitet – die Maschinisten streikten nicht. Er war nur aus Neugierde gekommen. Rasseneur hingegen schien seit zwei Tagen verlegen zu sein. Aus seinem dicken, runden Gesicht war das gutmütige Lächeln verschwunden. »Pluchart ist nicht gekommen«, sagte Etienne. Er fügte hinzu: »Ich bin sehr besorgt.« 359
»Das wundert mich nicht, daß Pluchart nicht gekommen ist«, brummte Rasseneur. »Ich erwarte ihn auch nicht.« »Wieso nicht?« »Weil auch ich ihm einen Brief geschrieben habe. Und in diesem Brief habe ich ihn ersucht, nicht zu kommen.« Die Verlegenheit Rasseneurs war wie weggewischt. Er sagte bestimmt: »Ich bin der Meinung, daß wir unsere Angelegenheiten selbst ordnen müssen. Ohne uns an Fremde zu wenden.« Etienne war außer sich. »Das hast du getan?!« »Ja, das habe ich getan. Ich habe Vertrauen zu Pluchart. Er ist gescheit und tüchtig. Aber eure Ideen von Politik haben in meinen Augen keinen Wert. Was ich verlange, das ist nur eine bessere Behandlung des Bergmanns. Und ich befürchte, daß ihr mit euren Geschichten das Los der Arbeiter nur noch verschlimmern werdet. Sobald der Hunger die Männer zwingen wird, wieder in die Grube zu fahren, wird man es ihnen heimzahlen. Und das will ich verhindern, verstehst du?« Rasseneur stand kerzengerade, mit vorgestrecktem Bauch auf seinen kräftigen Beinen. Er sprach mit klaren Worten. »Ist es nicht eine Dummheit, zu glauben, daß man die Welt mit einem Schlag neu gestalten könnte? Dazu bedarf es tausend und aber tausend Jahre. Es ist das gescheiteste, den geraden Weg zu gehen, um das Los der Arbeiter zu verbessern. Wenn ich es übernehme, würde ich günstigere Bedingungen von der Gesellschaft erreichen.« Etienne verschlug die Wandlung Rasseneurs die Rede. Er konnte nicht sprechen. Um sich Luft zu machen, begann er mit großen Schritten im Saal auf und ab zu gehen. Rasseneur wandte sich ihm zu. »Ich habe dich von Anfang an für einen vernünftigen Menschen gehalten. Es war sehr richtig, daß du den Kumpels geraten hast, ruhig zu sein, und daß du deinen Einfluß benützt hast, die Ordnung aufrechtzuerhalten.« Er wehrte Etienne ab, der ihn bei seinen Schultern faßte und schüttelte. »Willst du die Kameraden in den Sumpf hineinreiten?« »Was ist denn in dich gefahren?!« schrie Etienne. »Warum gehst du 360
ins Lager der Bürger über? Du hast doch selbst gesagt, es muß alles zusammenbrechen!« Rasseneur errötete. »Das habe ich gesagt!« Er wiederholte: »Das habe ich gesagt, ja. Und wenn alles zusammenbricht, dann wirst du sehen, daß ich nicht feiger bin als andere.« Er schrie: »Ich will nur nicht zu denen gehören, die die Verwirrung vermehren, um sich im trüben eine Stellung zu erfischen.« »Du bist also neidisch?« fragte Etienne. »Weshalb sollte ich neidisch sein?« erwiderte Rasseneur. »Ich spiele nicht den großen Mann. Ich will keine Sektion gründen, um ihr Sekretär zu werden.« Er hielt Etienne auf Armeslänge von sich. »Sei doch aufrichtig. Dir liegt nichts an der Internationale, du willst nur an unserer Spitze stehen und den Herrn spielen.« Etienne zitterte vor Wut, aber er bezwang seine Stimme. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe dich stets zu Rate gezogen, denn ich wußte, daß du hier schon lange, bevor ich kam, gekämpft hast. Da du aber niemand an deiner Seite duldest, werde ich von nun an ganz allein handeln.« Er wiederholte: »… allein handeln. Und zunächst teile ich dir mit, daß die Versammlung stattfinden wird, auch wenn Pluchart nicht kommt. Die Kameraden werden trotz deines Dazwischenredens der Internationale beitreten.« »Mit dem Beitreten ist es nicht getan, sie müssen auch die Beiträge zahlen«, sagte Rasseneur. »Durchaus nicht. Die Internationale gewährt Arbeitern im Streik Zahlungsfrist. Wir werden später zahlen, sie aber wird uns sofort zu Hilfe kommen.« »Das wollen wir sehen!« schrie Rasseneur wieder erregt. »Aber ich ereifere mich jetzt unnötig. Auch ich werde bei deiner Versammlung sein, und ich werde reden. Ich werde nicht dulden, daß du den Freunden die Köpfe verdrehst.« Er verließ den Saal und warf heftig die Tür hinter sich zu. Souvarine hatte stillschweigend zugehört. Aus seinem blonden Mädchengesicht sprach stille Verachtung – die Verachtung eines Mannes, der bereit ist, sein Leben im verborgenen hinzugeben, ohne nach dem 361
Ruhm des Märtyrers zu streben. Er blies den Rauch seiner Zigarette vor sich hin und hörte gleichgültig dem Ausbruch Etiennes zu, der empört war, daß ihn der dicke Faulplez Rasseneur beschuldigte, die Kameraden aus Ehrgeiz ins Unglück zu treiben. »Sag mal, was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte er Souvarine. »Ist es nicht das beste, wenn wir uns der Internationale anschließen?« »Dummheiten, nichts als Dummheiten! Aber vielleicht hat es doch einen Sinn. Eure Internationale wird bald vorwärtskommen. Unter richtiger Leitung kann sie in drei Jahren die Welt vernichten.« In seiner Enttäuschung über die Haltung Rasseneurs brannte Etienne darauf, die Lehre von der allgemeinen Zerstörung kennenzulernen. »So erkläre es mir doch endlich! Was ist denn dein Ziel?« »Keine Nationalität mehr, keine Regierung, kein Eigentum, keinen Gott und keine Religion!« »Aber wohin soll denn das führen?« »Zu der primitiven, einfachen Kommune, zu einer neuen Welt, in der alles von neuem beginnt.« »Aber wie kann euch das denn gelingen? Wie hofft ihr das zu erreichen?« »Durch Feuer, durch Gift, durch den Dolch.« Wie verzückt hatte sich Souvarine vom Stuhl erhoben. Eine geradezu mystische Flamme sprühte aus seinen sonst so glanzlosen Augen. Seine zarten Hände umfaßten den Tischrand, als wollte er ihn zerbrechen. »Der Räuber ist der wahre Held, der Volksrächer der handelnde Revolutionär, der keine Redensarten aus Büchern schöpft!« »Nein, nein!« wehrte Etienne Souvarine ab. »Mord und Brand! Niemals! Das ist entsetzlich, das ist ungerecht.« Sein Inneres lehnte sich auf gegen den düsteren Traum von einer Zerstörung der Welt. Und was würde man nachher machen? Er forderte eine Antwort: »Sag es mir!« drängte er. Souvarine erwiderte gelassen: »Alles Reden über die Zukunft ist von Übel, weil es die echte Zerstörung hindert und den Fortschritt der Revolution hemmt.« Er steckte sich eine Zigarette an und verließ den Saal. Etiennes Unruhe wuchs. Es war ein Uhr. Pluchart war nicht 362
gekommen. Um halb zwei fanden sich die Delegierten ein. Um zwei Uhr drängte sich Rasseneur durch die Männer und lehnte sich an den Schanktisch. Seine spöttische Ruhe brachte Etienne auf. Im Saal begann man unruhig zu werden. Etienne wollte die Versammlung beginnen, als er einen Wagen ankommen sah. »Da kommt ja Ihr Herr!« rief die Wirtin ihm zu. Es war in der Tat Pluchart. Er war schlank und trug unter seinem Überzieher von schwarzem Tuch den üblichen Sonntagsanzug eines gutgestellten Arbeiters. Der ehemalige Werkmeister hatte seit fünf Jahren keine Feile mehr angerührt und verwendete viel Sorgfalt auf sein Äußeres. Er war stolz auf seine Erfolge auf der Tribüne und seine Fähigkeit, mit den Arbeitern umzugehen. »Nehmt mir die Verspätung nicht übel!« rief er zur Begrüßung und kam so allen Fragen und Vorwürfen zuvor. »Gestern früh Konferenz in Preully, abends Versammlung in Valency. Heute zum Frühstück eine Zusammenkunft mit Souvagnat in Marchiennes … Zum Glück konnte ich noch einen Wagen finden. Ich bin ganz erschöpft. Ihr hört es an meiner Stimme. Doch das macht nichts, ich werde trotzdem sprechen.« Etienne ging freudestrahlend hinter Pluchart durch den Saal, während Rasseneur ihm kaum die Hand zu reichen wagte. Flüsternd verständigten sich die hundert Kohlenarbeiter miteinander, die auf den Bänken warteten. Sie beobachteten den Herrn aus Lille. Der elegante schwarze Überzieher erregte ihre Bewunderung und machte durchaus keinen günstigen Eindruck auf sie. Aber jetzt stand Pluchart schon auf der Tribüne und pochte leicht mit der Faust auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen. Dann begann er mit heiserer Stimme: »Ich danke für die freundliche Aufnahme. Ich bin spät gekommen, aber ich bin da. Ich gebe Rasseneur das Wort. Er hat darum gebeten.« Rasseneur trat neben den Präsidententisch. Er hustete krampfhaft, dann sprach er mit lauter Stimme: »Genossen …« Er bemerkte schon nach den ersten Worten eine stille Opposition. Er wurde vorsichtig. Er wartete auf den ersten Beifall, bevor er die Internationale angrei363
fen würde. »Die Ehre verbietet es, den Forderungen der Grubengesellschaft nachzugeben. Doch welches Elend, welche schreckliche Zukunft steht uns bevor, wenn wir noch lange ausharren müssen!« Drei oder vier Freunde Rasseneurs klatschten ihm Beifall. Aber dadurch wurde das eisige Schweigen der großen Mehrheit noch deutlicher fühlbar. Die Mißbilligung machte sich in einzelnen Ausrufen Luft. »Mitbürger! Mitbürger!« rief Pluchart. Levaque zeigte Rasseneur die Faust. »Dir ist natürlich alles egal! Du hast zu fressen!« »Mitbürger«, fiel Pluchart ein, »gestattet mir das Wort.« Pluchart begann zu sprechen. Seine Stimme hatte einen rauhen Klang, aber seine Heiserkeit gehörte zu seinem Programm. Er breitete die Arme weit aus und ließ den Schluß der Sätze nach Art der Geistlichen ausklingen. Seine einförmige, singende Sprechart hatte eine überzeugende Wirkung. Er sprach von der Bedeutung und der wohltätigen Wirkung der Internationale. Er erklärte die Ziele und schilderte die Organisation. Dann verlas er die Statuten und wies auf die Erweiterung des Programms hin, das sich anfangs nur mit der Höhe der Löhne beschäftigte, jetzt aber die soziale Frage in Erwägung ziehe, um dem Lohnwesen überhaupt ein Ende zu machen. »Für die Arbeiter gibt es keine Grenzen, keine Nationalität. Die Arbeiter der ganzen Welt sind vereint im gemeinsamen Verlangen nach Gerechtigkeit. Das verkommene Bürgertum wird weggefegt, eine freie Gesellschaft entsteht, in der der Nichtarbeitende auch nicht ernten wird.« »Das ist das Rechte …« Stimmen aus der Versammlung wurden laut. »Wir sind dabei!« Mit einer weit ausholenden Handbewegung gebot Pluchart den Kohlenarbeitern zu schweigen. Er kam nun auf die Streiks zu sprechen. »Ruhe!« rief er. »Ich will von den Streiks sprechen. Ich mißbillige sie grundsätzlich, denn sie sind ein zu langsam wirkendes Mittel, das nur die Leiden des Arbeiters vermehrt. Aber«, er betonte jedes einzelne Wort, »bevor man etwas Besseres hat, sind Streiks unvermeidlich. Und in diesem Falle ist die Internationale eine Art Vorsehung für die Streikenden.« Er führte aus: »In Paris und London haben die Arbeitge364
ber den Streikenden sofort alle Forderungen bewilligt. Und warum haben sie das getan? Weil die Nachricht, daß die Internationale Hilfsgelder schicke, sie erschreckt hat. Alle Gesellschaften zittern, wenn sich die Arbeiter dem großen Arbeitsheer anschließen und darum, daß sie bereit sind, lieber einer für den anderen zu sterben, als die Sklaven der kapitalistischen Gesellschaft zu bleiben.« Ein Beifallssturm brach aus. Pluchart flüsterte Etienne zu: »Es hat gewirkt. Nun haben sie genug … Schnell die Mitgliedskarten!« Seine Stimme verlor plötzlich die Heiserkeit. »Mitbürger!« rief er, den allgemeinen Lärm überschreiend, »hier sind die Mitgliedskarten.« Rasseneur wollte protestieren. Etienne wollte sprechen. In die heillose Verwirrung der Männer brach die kreischende Stimme der Wirtin: »Schweigen Sie doch in Teufels Namen! Die Gendarmen sind da!« Die Gendarmen waren da. Fünf Minuten hatte die Wirtin sie aufgehalten, indem sie erklärt hatte, daß sie in ihrem Hause tun könne, was sie wolle, und berechtigt sei, ihre Freunde einzuladen. Jetzt hatte die Wirtin gerade noch Zeit, die Arbeiter zu warnen: »Ihr müßt durch den Hinterhof hinaus!« rief sie. »Rasch, sonst ist es zu spät!« Ein Gendarm schlug mit der Faust an die Tür des Saales. Die Verwirrung der Kohlenarbeiter wuchs. Man konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts davonlaufen. Man hatte ja noch nicht abgestimmt, weder über den Anschluß an die Internationale noch über die Fortsetzung des Streiks. Während die Fäuste der Gendarmen gegen die Türe trommelten, stimmten die Delegierten der zehntausend Kohlenarbeiter von Montsou auf den Vorschlag Plucharts durch lautloses Erheben der Hände ab. So wurden sie Mitglieder der Internationale. Als die Gendarmen endlich die Türfüllung erbrachen, war die Versammlung schon aufgelöst. Die Arbeiter waren durch die Küche und den Holzstall entkommen.
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XII In den ersten Januartagen bedeckten kalte Nebel die weite Ebene. Das Elend und die Not in den Arbeiterdörfern hatten ihren Gipfelpunkt erreicht. Die viertausend Frank, die tatsächlich aus London von der Internationale geschickt worden waren, hatten die Arbeiter nur drei Tage mit Brot versorgt. Das war die einzige Hilfe, die gekommen war. Der Mut der Streikenden war gebrochen. Alles, was sie besaßen, trugen sie zu den Trödlern, sogar das Roßhaar aus den Matratzen und die Küchengeräte. Sie glaubten sich einen Augenblick lang gerettet, als die kleinen Händler von Montsou jedem Kunden eine Woche Kredit anboten, um dem Kaufmann Maigrat die Kundschaft zu entfremden. Aber auch die Woche ging vorüber, und nun waren alle Mittel erschöpft. Etienne hätte seine eigene Haut zu Markte tragen mögen. Der Anblick der armen Leute, die weder Brot noch Heizung hatten, brachte ihn um den Verstand. Er ermüdete sich durch weite Spaziergänge. Als er eines Abends nach Hause zurückkehrte, sah er am Straßenrand eine alte Frau bewußtlos liegen. Starb sie vor Entkräftung? Nachdem Etienne die Alte aufgerichtet hatte, rief er ein Mädchen herbei, das er. hinter dem Zaun sah. »Ah, du bist es«, sagte er, als er die Mouquette erkannte. »Hilf mir doch. Man müßte der Alten etwas zu trinken geben.« Die Mouquette lief in das baufällige Häuschen, das ihr Vater inmitten der Trümmer bewohnte, und kam mit Wacholderbranntwein und Brot zurück. Der Branntwein belebte die Alte. Ohne ein Wort zu sprechen, biß sie gierig in das Brot. Dann humpelte sie, noch ganz betäubt, weiter. »Willst du nicht auch ein Gläschen trinken?« fragte die Mouquette 366
Etienne. Und als er zögerte, fügte sie hinzu: »Fürchtest du dich denn immer noch vor mir?« Er war gerührt, weil sie der Alten das Brot so großzügig gegeben hatte, und folgte in ihre Stube. Die Mouquets schienen keine Not zu leiden. Der Vater versah nach wie vor seinen Dienst als Stallknecht im Voreux, und die Mouquette war Wäscherin geworden, wodurch sie dreißig Sou täglich verdiente. Etienne sah sich um. »Deine Stube ist nett und sauber«, sagte er. »Es freut mich, daß es dir gefällt«, flüsterte sie und legte den Arm um seine Hüfte. »Willst du mich nicht lieben?« »Ich habe dich ja lieb.« »Nein, nicht so, wie ich will.« Etienne brachte es nicht über sich, ihre Zärtlichkeiten zurückzuweisen, mit denen sie ihn so überhäufte, als ob es ihre erste Liebe wäre. Sie war nicht hübsch, aber ihre Augen hatten einen eigenartigen Glanz. Als er sich von ihr verabschiedete, dankte sie ihm innig und küßte ihm die Hände. Etienne schämte sich und gelobte sich auf dem Heimweg, daß er sich mit der Mouquette nicht weiter einlassen wolle. Aber sie war ein braves Mädchen: Er wollte ihr ein freundliches Andenken bewahren.
XIII Es hatte sich die Nachricht verbreitet, daß Dragoner und Gendarmen in der Gegend umherstreiften, um gegen die Streikenden vorzugehen. Als gegen halb acht Uhr die Sonne emporkam, verbreitete sich ein anderes Gerücht, daß die Kohlenarbeiter beruhigte. Sie konnten den geplanten Aufbruch wagen. Die Nachricht von der Anwesenheit des Militärs war nur ein blinder Alarm gewesen. 367
Von allen Seiten strömten die Kohlenarbeiter zusammen. Die Maheus kamen über die Landstraße, andere über die Felder. Männer und Frauen in wirren Haufen, führerlos, ohne Waffen. Sie strömten alle nach derselben Stelle, so wie aus den Ufern getretenes Wasser sich über einen Abhang ergießt. Sie waren auf dem Weg zur Grube Jean-Bart in Vandame, in der gearbeitet wurde: Die Streikbrecher sollten gezüchtigt werden. Vor dem Tor der Verwaltung von Jean-Bart machten sie Halt. Monsieur Deneulin trat ihnen entgegen. »Was wollt ihr?« fragte er, bleich vor Zorn. Er nahm alle Kraft zusammen, um sein Unglück mutig über sich ergehen zu lassen. Etienne drängte sich vor. »Herr Deneulin«, sagte er, »wir wollen nichts Böses, aber die Arbeit in Ihren Gruben muß unbedingt eingestellt werden.« »Ihr glaubt wohl«, rief Deneulin außer sich, »daß ihr mir etwas Gutes erweist, indem ihr bei mir die Arbeitseinstellung erzwingt? Ich bin nicht so reich wie die Herren vom Voreux. Ich habe kein Geld, und wenn hier nicht gearbeitet wird, gehe ich zugrunde. Ich kann nicht durchhalten. Ich habe meine Gruben an die Grubengesellschaft nicht verkauft wie die anderen. Ich arbeite mit. Und wenn ihr mich daran hindert, ist es so, als würdet ihr mich von rückwärts niederschießen.« Er schrie: »Meine Leute sind unten in den Schächten. Ich werde sie nicht heraufkommen lassen. Nur über meine Leiche!« »Dann eben über seine Leiche!« schrie Levaque, der sich mit drohender Gebärde auf Deneulin stürzte. Maheu hielt ihn zurück. »Bewahrt eure Ruhe!« rief Etienne. Die Männer und Frauen verhielten sich tatsächlich still, während Etienne Monsieur Deneulin von der Rechtmäßigkeit ihres revolutionären Vorgehens zu überzeugen versuchte. »Der Streik ist nur ein Mittel zum Zweck. Er muß allgemein sein, um zu wirken.« »Reden Sie nicht weiter!« rief Deneulin. »Das sind dumme Ideen. In meinem Haus bin ich der Herr. Wenn ich vier Gendarmen zur Hand hätte, würde ich Sie und Ihre Kanaillen schon treiben! Es ist mein Fehler, daß ich die Gendarmen nicht holen ließ, mir geschieht ganz recht. Bei Burschen eurer Art sind nur Gewaltmaßregeln angezeigt.« 368
Etienne zitterte vor Wut, aber er hielt an sich. »Monsieur Deneulin«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich bitte Sie anzuordnen, daß Ihre Arbeiter heraufkommen. Ich kann für meine Kameraden nicht länger einstehen. Tun Sie es rasch, wenn Sie ein Unglück verhindern wollen.« »Scheren Sie sich zum Teufel!« gab Deneulin grob zurück. »Kenne ich Sie denn? Sie gehören nicht zu meinen Leuten. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Nur Banditen streifen so im Land umher.« Seine Stimme wurde von lauten Rufen übertönt. Besonders die Frauen überhäuften ihn mit Schimpfworten. Er wurde weggeschoben, und die Menge drang von allen Seiten in Jean-Bart ein. In fünf Minuten war die ganze Grube in ihrer Gewalt. Etienne mahnte vergebens zur Ruhe. Er schrie, man dürfe nicht durch unnütze Zerstörungen den Feinden recht geben. Er blieb ungehört. »Zu den Dampfkesseln!« heulte die Brule. »Löscht die Feuer!« Und Levaque, der eine Feile gefunden hatte, schwang sie wie einen Dolch. »Schneiden wir die Seile durch!« brüllte er. »Schneiden wir die Seile durch!« Alle wiederholten die Rufe, nur Etienne und Maheu protestierten. Jedoch ohne Erfolg. Endlich gelang es Etienne, sich Gehör zu verschaffen. »Es sind Kameraden unten!« Das Geschrei wurde heftiger. »Um so schlimmer! Warum sind sie eingefahren. Den Verrätern geschieht ganz recht!« Durch das Stimmengewirr drang der schrille Ruf Levaques: »Schneiden wir die Seile durch. Sie haben noch die Leitern!« Etienne senkte verzweifelt den Kopf, als er das knirschende Geräusch der den Stahl durchschneidenden Feile hörte. Tiefe Stille trat ein. Alle hoben die Köpfe und lauschten. Die plötzliche Stille war darauf zurückzuführen, daß die Brule mit den meisten Frauen im Kesselhaus verschwunden war. Sie trieb die Heizer hinaus. Die gellende Stimme der Brule erfüllte den Raum. »Laßt die Bude in Flammen aufgehen! Jetzt zahle ich den Tod meines Mannes heim!« »Achtung, ich lösche alles aus, ich lasse alles los!« Die Stimme Jeanlins 369
überschlug sich. Er versuchte, soviel Schaden anzurichten als möglich. Er drehte die Hähne auf, um den Dampf herauszulassen. Die Dampfstrahlen schossen aus den Rohren. Die Kessel entleerten sich mit ohrenbetäubendem Gezisch. Es gab nichts als Dampf, in dem die Frauen nur noch Schattengestalten glichen. Zwischen den weißen Dampfwolken, die er entfesselt hatte, stand Jeanlin entzückt auf der Galerie. Aber die Wut der Menge hatte sich nicht gelegt. Das Chaos gefiel den Verzweifelten: Sollte alles drunter und drüber gehen! Die Frauen bewaffneten sich mit Eisenstangen, die Männer ergriffen Hämmer. Sie wollten die Kessel, die Maschinen, die ganze Grube zerstören. Etienne und Maheu beschwörten die sich wie irrsinnig Gebärdenden: Jetzt, da die Seile zerschnitten, die Feuer ausgelöscht, die Kessel leer waren, sei doch ein weiteres Arbeiten der Streikbrecher unmöglich gemacht. Aber niemand hörte auf Etienne und Maheu. Sie wurden zurückgedrängt. Wildes Geschrei ertönte: »Nieder mit den Verrätern! … Nieder mit ihnen!« Auf den Leitern begannen die Arbeiter aus der Grube heraufzukommen. Jetzt sah man es. Fast alle Kohlenarbeiter von Jean-Bart waren eingefahren. Da war auch Chaval. Mit einem lauten Aufschrei stürzte sich Etienne auf ihn. »Verräter!« Seine Selbstbeherrschung war vergessen. Sein Wunsch, alles in Ruhe und Ordnung abzutun, verraucht. Der so lange zurückgehaltene Haß, die unsägliche Eifersucht waren stärker als die besten Vorsätze. Neuer Lärm übertönte die Stimme Etiennes. Catherine kam über die Leiter von unter Tage. Sie war von der Sonne geblendet und ganz bestürzt, als sie sich diesen Wütenden gegenübersah. »Was ist denn los?« fragte sie. Die Maheude stürzte mit erhobener Hand auf Catherine zu. »Du bist auch dabei, du Schlampe! Während deine Mutter verhungert, verrätst du sie deinem Zuhälter zuliebe!« Maheu hinderte seine Frau, ihre Tochter zu schlagen. Der Anblick Catherines brachte Etienne vollends zur Verzweiflung. »Vorwärts!« rief er. »Zu den anderen Gruben!« Er befahl Chaval: »Du kommst mit!« 370
Im fahlen Licht des Wintertags ergoß sich die Menge über die Rübenfelder. Etienne hatte das Kommando übernommen. Ohne anzuhalten, erteilte er Befehle und versuchte, Ordnung in die Scharen zu bringen. Jeanlin lief voran und machte mit seinem Horn eine barbarische Musik. In den ersten Reihen schritten die Frauen, einige waren mit Stöcken bewaffnet. Die Männer folgten im wirren Durcheinander. Die Maheude sah vor sich hin, als ob sie in der Ferne das verheißende Land der Gerechtigkeit suchte. Sie alle schritten rüstig in ihren Lumpen einher wie Soldaten, die in den Krieg ziehen. Etienne ließ Chaval, der vor ihm gehen mußte, nicht aus den Augen. Maheu schielte nach Catherine. Sie ließ sich nicht aus der Nähe Chavals vertreiben, um zu verhindern, daß man ihm etwas Böses zufüge. Etienne drohte Chaval, ihm alle Knochen entzweizuschlagen, wenn er ans Ausreißen dächte. Chaval protestierte wütend: »Was soll das? Ist man denn nicht mehr frei? Ich bin seit einer Stunde ganz steif gefroren und muß mich waschen. Laß mich los!« »Vorwärts! Sonst werden wir das Abwaschen besorgen!« rief Etienne und drehte sich nach Catherine um. Es brachte ihn in Verzweiflung, sie so elend zu sehen in den alten Männerkleidern und vor Kälte zitternd. »Du könntest heimgehen«, sagte er zu ihr. Catherine schien nicht zu verstehen, was er sprach. Aus ihren Blicken sprach nur Vorwurf. Weshalb verlangte er, daß sie Chaval verließ? Chaval behandelte sie gewiß nicht gut, er schlug sie sogar. Aber es empörte sie, daß tausend Männer über ihn herfielen. Sie war entschlossen, ihn zu verteidigen, nicht aus Liebe, sondern aus Stolz. »Sieh zu, daß du heimkommst!« befahl ihr Maheu. Dieser Befehl ihres Vaters veranlaßte sie, einen Augenblick zurückzubleiben. Aber nur einen Augenblick. Sie wollte Chaval nicht verlassen. Die nächste Grube, die Victoire, lag drei Kilometer entfernt. Als die Menge, die von allen Seiten Zustrom erhalten hatte, vor der Victoire erschien, war die Ausfahrt bereits beendet. Da keine Verräter geohrfeigt werden konnten, wurde die Einrichtung zerschlagen. Levaque verfiel auf die Idee, die Schienen auszureißen und das Geleise zu zer371
stören. Die Frauen waren unter der Führung der Brule in die Lampenstube eingedrungen und richteten solche Verheerung an, daß der Boden mit Scherben bedeckt war. Auch die Maheude geriet außer sich und schlug so fest drauflos wie alle anderen. Sie alle hatten Hunger. Alle schrien: »Brot! Brot! Brot!« Sie stürzten sich auf die Kantine. Sie fanden nichts Eßbares außer zwei Stück rohem Fleisch und einem Sack Kartoffeln, aber sie fanden fünfzig Flaschen Genever, um ihren Durst zu stillen. Auch Etienne füllte seine Kürbisflasche. Allmählich überkam ihn eine schlimme Trunkenheit. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Zähne schlugen aufeinander, als er bemerkte, daß Chaval im allgemeinen Tumult verschwunden war. Er fluchte so wütend, daß sich Freiwillige erbötig machten, die Chaval fanden. Er hatte sich mit Catherine zwischen den Holzvorräten versteckt. »Tod dem Verräter!« Chaval wurde bei den Schultern gepackt, gestoßen und mit fortgerissen. Es ging jetzt nach der Grube Gaston-Marie. Maheu schrie Catherine zu: »Willst du endlich nach Hause gehen!« Aber sie sah ihren Vater nur mit funkelnden Augen an und lief weiter hinter Chaval her, den Etienne nicht mehr losließ. In weniger als einer Viertelstunde waren in Gaston-Marie die Feuer ausgelöscht, die Kessel geleert, die Gebäude erbrochen und alles vernichtet. Die Menge strömte wütend weiter. Etienne hörte nicht auf zu schimpfen. »Du schmutziger Schuft!« Chaval war sich der Gefahr bewußt, die ihm drohte, aber er kam mit der Hartnäckigkeit eines an einer fixen Idee Leidenden immer wieder darauf zurück, daß er sich waschen müsse. »Hier hast du ein Waschfaß!« schrie plötzlich die Levaque. Sie waren bei einer Lache, die durch das ausgetretene Wasser des Pumpwerks entstanden war, angekommen. Es hatte sich schon eine dünne Eiskruste gebildet. Zwei Kohlenarbeiter packten Chaval, hoben ihn hoch und zwangen ihn, den Kopf in das eiskalte Wasser zu stecken. »Taucht ihn unter!« schrie die Brule. »Taucht ihn unter! Und jetzt soll er trinken wie die Tiere, die Schnauze im Trog!« 372
Auf allen vieren liegend, mußte Chaval trinken. Alle lachten. Eine Frau zog ihn an den Ohren, eine andere warf ihm frischen Pferdemist ins Gesicht, den sie auf der Straße aufgelesen hatte. Der Rock hing ihm in Fetzen vom Leib. Etienne befahl: »Nun ist's genug! Es brauchen nicht alle über ihn herzufallen.« Er wandte sich Chaval zu, der sich mühsam aufgerichtet hatte. »Wenn du willst, werden wir beide es allein regeln.« Seine Fäuste ballten sich. »Bist du bereit?« Mordlust blitzte aus seinen Augen. »Einer von uns beiden muß auf dem Platz bleiben. Gebt ihm ein Messer! Ich habe das meine.« Catherine hatte starr vor Entsetzen den Mißhandlungen Chavals zugesehen. Jetzt stürzte sie vor, schlug Etienne ins Gesicht und schrie mit vor Entrüstung fast erstickter Stimme: »Feigling! Feigling! Feigling! Du hast also noch nicht genug an allen diesen Schandtaten? Du willst Chaval ermorden, während er sich nicht mehr aufrecht halten kann!« Sie wandte sich ihrem Vater und ihrer Mutter zu: »Tötet mich doch mit ihm! Wer ihn noch anrührt, dem springe ich ins Gesicht!« Sie stellte sich vor Chaval und verteidigte ihn. Sie hatte die von ihm erhaltenen Schläge, ihr ganzes elendes Leben mit ihm vergessen und dachte nur daran, daß es eine Schmach für sie wäre, wenn sie ihn verließ. Etienne war durch die Schläge Chaterines nüchtern geworden. »Sie hat recht«, sagte er den andern. »Laßt ihn los.« Er schrie Chaval zu: »Mach, daß du fortkommst!« Chaval nahm sofort Reißaus. Catherine eilte ihm nach. Die Menge setzte sich wieder in Bewegung. Es war fünf Uhr. Die Sonne stand glühendrot am Horizont. Alle machten kehrt, als ein Hausierer ankam und rief: »In Crevecoeur sind Dragoner!« Jetzt gab es nur noch eine Stimme: »Nach Montsou! … Brot! Brot! Brot!«
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Etienne blieb an der Spitze. Während er die Menge mit heiserer Stimme nach Montsou hetzte, fragte er sich, wohin dies alles führen sollte. Er hatte von alledem, was geschehen war, nichts gewollt. Er konnte auch nicht verhindern, daß das Haus des Direktors belagert wurde. Niemand gehorchte mehr seinen Anordnungen. Steine flogen durch die Luft und zertrümmerten die Scheiben. Plötzlich verstummte der Lärm. Eine Überraschung brachte zustande, was allen Bitten und Befehlen Etiennes nicht gelungen war. Die Arbeiter hielten im sinnlosen Steinwerfen inne, als sie das Ehepaar Gregoire friedlich lächelnd an sich vorbeigehen sahen. Monsieur und Madame Gregoire schienen den Aufruhr für einen Scherz dieser braven Arbeiter zu halten. Sie erstiegen die Freitreppe und klingelten an der verbarrikadierten Tür. Es öffnete niemand, bis endlich die Kammerfrau Rosa von ihrem Ausgang zurückkam und ihrerseits den wütenden Arbeitern freundlich zulächelte. Sie kannte sie alle, denn sie war auch aus Montsou. Als das Ehepaar Gregoire und Rosa im Haus verschwanden, begann der Steinhagel von neuem. Die Menge schrie: »Tod dem Bürgerpack! Es lebe die Internationale!«
Rosa lächelte noch immer, als sie schon in der Vorhalle stand, und beteuerte dem vor Schreck totenblassen Diener: »Es sind keine bösen Leute, ich kenne sie alle!« Monsieur Gregoire war der gleichen Meinung. »Zweifellos führen sie nichts Schlimmes im Schilde«, sagte er. »Sobald sie sich ausgeschrien haben, werden sie heimgehen und mit um so größerem Appetit zu Abend essen.« Monsieur Hennebeau begrüßte seine Gäste. Er war besorgt: »Unsere Damen sind noch nicht zurück.« Cecile war noch nicht zurück? Das Ehepaar Gregoire wurde unruhig. »Ich habe schon daran gedacht, die Straße säubern zu lassen«, erklärte Monsieur Hennebeau. »Unglücklicherweise bin ich allein und weiß 374
nicht, wohin ich meinen Diener schicken soll, damit er vier Mann und einen Korporal holt, um diese Kanaillen auseinanderzutreiben.« Rosa beteuerte wieder: »Monsieur Hennebeau, es sind keine bösen Menschen.« »Ich habe nichts gegen sie, ich entschuldige sie sogar«, erklärte Monsieur Hennebeau. »Man muß so dumm sein wie sie, um zu glauben, daß wir ihr Unglück wollen. Aber ich bin für die Ruhe verantwortlich.« Er unterbrach sich plötzlich. Er wurde sich seiner Hausherrenpflichten bewußt und wandte sich Madame Gregoire zu. »Aber ich bitte Sie, Madame, bleiben Sie nicht hier in der Vorhalle, treten Sie doch in den Salon!« Die Köchin hielt Monsieur Hennebeau in der Vorhalle zurück. Sie erklärte aufgeregt, sie könne die Verantwortung für das Diner nicht übernehmen. Sie erwarte seit vier Uhr die Blätterteig-Pasteten, die sie bei dem Pastetenbäcker in der Marchiennes bestellt habe. »Nur ein wenig Geduld«, beschwichtigte sie Monsieur Hennebeau. »Der Bäcker kann noch kommen.« Als er die Salontür öffnen wollte, sah er zu seinem Erstaunen in der Vorhalle einen Mann auf einer Bank sitzen. »Sie hier? Das sind ja Sie, Maigrat! Was gibt es denn?« Der Kaufmann Maigrat war ganz verstört. Sein Gesicht war aufgedunsen. Er erklärte demütig, er habe sich in das Haus des Herrn Direktors Hennebeau geschlichen, um bei ihm Schutz und Hilfe zu suchen, wenn die Banditen seinen Laden stürmen sollten. »Sie sehen, daß ich selbst bedroht bin. Sie hätten besser getan, zu Hause zu bleiben und auf Ihre Ware aufzupassen.« »Ich habe Eisenstangen vorgelegt und außerdem meine Frau im Laden gelassen.« »Ich kann nichts für Sie tun«, erklärte Monsieur Hennebeau. »Sehen Sie selbst zu, wie Sie sich verteidigen. Ich rate Ihnen aber, sofort nach Hause zu gehen, denn die Leute schreien immer noch nach Brot.« Der Lärm draußen nahm zu. Maigrat glaubte, seinen Namen zu hören. Er hatte Angst, nach Hause zu gehen. Er wußte, daß die Männer und Frauen auf ihn einschlagen würden. Andererseits brachte 375
ihn der Gedanke an seinen Ruin außer sich. Er preßte sein schweißbedecktes, aufgequollenes Gesicht gegen die Türfüllung. Er zitterte, während das Ehepaar Gregoire in gesellschaftlicher Haltung den Salon betrat. Monsieur Hennebeau war gerade dabei, seinen Pflichten als Hausherr zu genügen, als das Zimmermädchen in den Salon stürzte. »Monsieur Hennebeau! Madame ist da! Sie bringen Madame um!« Madame Hennebeau war nicht im Wagen an ihr Haus herangefahren. Sie hatte sich entschlossen, das letzte Stück Wegs zu Fuß zu gehen, um einen Zusammenstoß mit der Menge zu vermeiden, und die kleine Gartenpforte zu benützen, die der Gärtner für sie öffnen würde. Es ging auch alles wie geplant. Aber als Madame Hennebeau, die mit den beiden Töchtern Deneulins und Cecile Gregoire ausgefahren war, schon an der Pforte angelangt war, wurde eine Arbeiterfrau auf sie aufmerksam. Diese Dame in eleganter Toilette, das war sehenswert! Sie eilte ihnen nach. Das Geschrei lockte noch andere Frauen herbei. Dennoch gelang es Madame Hennebeau, mit Lucie und Jeanne Deneulin in die von der Kammerfrau geöffnete Pforte einzutreten. Aber Cecile hatte plötzlich solche Angst, daß sie dem Haus den Rücken kehrte und fliehen wollte. »Hoch die Soziale! Tod dem Bürgerpack! Tod!« schrien die Frauen. Einige, die das Gesicht Ceciles nicht sehen konnten, hielten sie für Madame Hennebeau. Ihr Seidenkleid, ihr Mantel mit Pelzbesatz und die weiße Feder auf dem Hut erregten die Hungrigen. »Man wird dich lehren, Spitzen zu tragen!« rief die Brule. »Diese Schlampen hüllen sich in Pelze, während wir frieren!« »Zieht sie doch nackt aus und gerbt ihr das Fell!« schrie die Levaque. Da sprang die Mouquette vor. »Man muß sie auspeitschen!« Die zerlumpten Frauen drangen wie Wilde auf Cecile ein. Die war vor Angst gelähmt und wiederholte immer wieder dieselben Worte: »Meine Damen, ich bitte Sie, meine Damen, tun Sie mir nichts.« Sie schrie auf. Der alte Bonnemort hatte sie am Hals gepackt. Er schien vor Hunger nicht mehr zu wissen, was er tat. Nachdem er in sei376
nem Leben ein Dutzend Kameraden vom Tod errettet, seine Knochen bei schlagenden Wettern und Erdstürzen zu Markte getragen hatte, gehorchte er nun einem inneren Drang, dem faszinierenden Anblick eines weißen Nackens, nach dem er griff. »Laß doch, Alter. Es ist das Fräulein Gregoire!« rief die Maheude dem Großvater zu, als sie Cecile erkannte, der eine Frau den Schleier abgerissen hatte. Auch Etienne bemühte sich, den wildgewordenen Frauen ihre Beute zu entreißen. Er wollte sie ablenken. »Beim Maigrat gibt's Brot!« schrie er. »Macht seine Bude dem Erdboden gleich.« Er führte mit einem Beil den ersten Streich gegen die Ladentür Maigrats. Die Männer folgten ihm, aber die Frauen ließen nicht von Cecile ab. Sie wurde hin und her gezerrt. Ihre Kleider waren zerfetzt. Sie wäre verloren gewesen, wenn nicht ein Mann zu Pferd erschienen wäre. Es war Deneulin, der, wie verabredet, zum Diner zu den Hennebeaus kam. Er sprengte mitten in die Menge und ritt die nieder, die nicht schnell genug auswichen. Er saß ab, nahm Cecile in die Arme und trug sie zur Haustür, die in Eile geöffnet wurde. Während die verzweifelten Eltern Cecile in ein Tuch hüllten und mit Kölnisch Wasser abrieben, schrie Deneulin: »Noch zwei Sekunden und sie hätten mir den Schädel zerschmettert, als ob er ein hohler Kürbis wäre. Sie wissen nicht mehr, was sie tun.« Die Kammerfrau, die dem Ehepaar Gregoire half, Cecile aus der Ohnmacht zu erwecken, wiederholte: »Es sind keine bösen Menschen! Es sind keine bösen Menschen!« Das Geschrei auf der Straße war verstummt. Es flogen keine Steine mehr gegen das Haus Hennebeaus. Es waren nur die dumpfen Schläge gegen die Ladentür Maigrats zu hören. Jeder Beilhieb traf Maigrat ins Herz. Er hatte sich in die Küche der Hennebeaus geflüchtet. Unaufhörlich dachte er, daß er nicht dulden könne, ruiniert zu werden; lieber wollte er sein Leben lassen. Am Fenster der Küche stehend, sah er die Umrisse seiner Frau hinter einem Fenster seines Hauses. Er überlegte, daß sich unter dem Fenster, an dem sie stand, ein Schuppen befand. Wenn er am Spalier der Grenz377
mauer emporkletterte, konnte er über das Dach des Schuppens das Fenster erreichen. Vielleicht hatte er noch Zeit, die Ladentür mit Möbeln zu verbarrikadieren. Er hatte Angst vor seinem eigenen Mut. Doch die Liebe zu seinen Waren und sein Geiz siegten über alle Bedenken. Er verließ die Küche. Er kletterte am Spalier der Grenzmauer empor und schwang sich auf das Dach. Er hörte die Beilhiebe, die gegen die Ladentüre schlugen, und jetzt eine Stimme: »Seht doch! Der Schuft ist dort oben. Los auf ihn! Packt ihn! Packt ihn!« Jetzt lag Maigrat der Länge nach neben der Dachrinne des Schuppens und bemühte sich, das Fenster zu erreichen. Aber das Dach war sehr steil. Sein Bauch war ihm hinderlich, seine Nägel fanden keinen Halt. Er konnte nicht weiter. Die Angst vor Steinwürfen, die auf das Dach prasselten, lähmten seine Kräfte. Seine Hände ließen die Dachrinne los. Er rollte wie eine Kugel hinunter und fiel so unglücklich quer über die Grenzmauer, daß er sich nach der Straßenseite überschlug und sich an einem Prellstein die Hirnschale zerschmetterte. Der Tote lag auf dem Rücken, die weit offenen Augen starr zum Himmel gerichtet. »Der Schweinehund ist verreckt! Es gibt also doch einen Gott!« Die Männer und Frauen umringten den noch warmen Leichnam Maigrats und verhöhnten ihn. »Ich war dir sechzig Frank schuldig, nun bist du bezahlt!« schrie die Maheude. »Du wirst mir nicht mehr Kredit verweigern, du Dieb! Warte, jetzt werde ich dich ein wenig füttern!« Mit allen zehn Fingern scharrte sie die Brocken der gefrorenen Erde zusammen und stopfte dem Toten zwei Hände voll in den Mund. Etienne schwang aufs neue das Beil gegen die Ladentür Maigrats. Er wurde aber das Unbehagen nicht los. Plötzlich vernahm er eine Stimme, die ihm zuflüsterte, sich zu retten. Er drehte sich um und erkannte Catherine. Sie trug immer noch ihren alten Männerrock und war außer Atem. Er stieß sie zurück. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Doch sie ließ sich nicht abweisen, entrang ihm das Beil und umschlang ihn mit beiden Armen. »Die Gendarmen kommen«, flüsterte sie. »So höre doch! Chaval hat 378
sie geholt und führt sie hierher. Chaval, wenn du es wissen willst. Rette dich!« Catherine zog Etienne fort. Aus der Ferne war ein schwerfälliger Galopp auf dem Pflaster zu hören. »Die Gendarmen! Die Gendarmen!« Ein furchtbares Durcheinander entstand, eine so wilde Flucht, daß die Straße in kaum zwei Minuten menschenleer war. Maigrats Leiche lag wie ein schwarzer Fleck auf der Straße. Die Gendarmen bogen in die Straße ein. Hinter ihnen, unter ihrem Schutz, kam endlich der Wagen des Pastetenbäckers von Marchiennes an. Ein kleiner Junge, der neben dem Kutscher saß, sprang ab und begann, in aller Ruhe die Blätterteigpasteten für das Diner im Hause der Hennebeaus auszupacken.
XIV Der Streik war ein verzweifelter, stummer Widerstand der Arbeiter gegen die Kompanie. Es nützte nichts, daß sich ein Staatsanwalt und ein General in Montsou eingefunden hatten, um die Arbeitsstockung, die die Wirtschaft ruinierte, zu beheben. Die Gendarmen und Soldaten verbürgten zwar die Ordnung, aber die Kohlenarbeiter schlossen sich in ihren Häusern ein und nahmen die Arbeit nicht wieder auf. Aber alle erwarteten mit knurrendem Magen das Ende des stillen Kampfes und hatten nur Angst vor der Drohung der Grubengesellschaft, daß sie Bergleute von der belgischen Grenze heranziehen würde. Die wegen Zerstörung vom Staatsanwalt eingeleitete Untersuchung hatte ergeben, daß der Kaufmann Maigrat nicht ermordet, sondern durch den Sturz vom Dach ums Leben gekommen war. Einige Verhaftungen waren dennoch vorgenommen worden. Aber wie stets wurden die Statisten gepackt, die Dummen, die von nichts wußten. Gesucht wurde vor allem Etienne, der seit dem Abend der Unruhe verschwun379
den war. Obwohl Chaval sich durch seinen Haß hatte verleiten lassen, ihn anzuzeigen, war keine Spur von Etienne zu finden. Sein Name war das Schreckgespenst der Bürger, die nachts beim geringsten Geräusch aus dem Schlaf auffuhren aus Angst, daß der verschwundene Rädelsführer der Kohlenarbeiter sie heimsuchen würde. Montsou hatte Angst vor Etienne. Aber er lebte unter der Erde in dem Grubenloch, das Jeanlin als Versteck für seine geheimen Zusammenkünfte mit seinen Freunden und Freundinnen und seine Diebstähle benützte. Niemand glaubte, daß Etienne so nahe sei. Seine Kühnheit, in einem Grubenloch vom Voreux ein Versteck zu suchen, hatte die Verfolger getäuscht. In seinem Unterschlupf lebte Etienne weitaus besser als in Montsou. Es gab Wacholderbranntwein und Proviant aller Art. Er schlief prächtig im Heu wie in der Wärme einer Badestube. Nur das Licht drohte auszugehen. Jeanlin, der ihn mit der Schlauheit und Vorsicht eines Wilden mit allem versorgte, gelang es nicht, ein Paket Kerzen zu ergattern, um es in die Grube zu bringen. Die unaufhörliche Dunkelheit in dem Grubenloch beunruhigte Etienne. Er hielt es in der Sicherheit des Unterschlupfs nicht mehr aus. Als Jeanlin ihm während seines nächtlichen Besuchs mitteilte, daß die Gendarmen glaubten, er sei nach Belgien entflohen, war Etienne glücklich, das Grubenloch verlassen zu können. Er wollte sich auch Klarheit über die Lage des Streiks verschaffen. Er mußte wissen, ob die Kohlenarbeiter noch länger im Widerstand ausharren konnten. Etienne betrachtete die Kohlengruben wie ein feindliches Gelände. Die Gebäude wirkten unter dem bleifarbenen Himmel, als wären sie verfallen. Die Einstürze nahmen an Gefährlichkeit zu, je länger die Gruben verlassen blieben. Der Boden hatte sich so gesenkt, daß die Straße in einer Ausdehnung von hundert Metern wie durch ein Erdbeben zerstört war. Und die Grubengesellschaft bezahlte den Eigentümern das versinkende Land, ohne zu feilschen. Sie war beunruhigt durch das Aufsehen, das Nachrichten über die Folgen des Streiks hervorrufen konnten. 380
Daß er den Voreux als Trümmerstätte vorgefunden hatte, festigte die Hoffnung Etiennes. Er war überzeugt, daß der dritte Monat des Widerstands der Arbeiter die Grubengesellschaft bezwingen würde. Schon in der nächsten Nacht verzweifelte Etienne aufs neue. Er war bis Jean-Bart gewandert, und ein Wächter, der ihn nicht erkannte, erzählte ihm, es sei die Rede vom Verkauf Vandames an die Gesellschaft vom Voreux. Alle rieten Deneulin, die Grube zu verkaufen. Er sagte beständig nein auf alle Angebote. Es empörte ihn, daß gerade er die Kosten des Streiks bezahlen sollte. Aber würde er aushalten können? Die Bevollmächtigten des Voreux waren gelassen nach Paris zurückgekehrt, um den Zusammenbruch Deneulins abzuwarten. Sie hatten Zeit. Soviel Zeit wie sie wollten. Sie konnten es sich leisten, zu warten, bis das hilflose Aufbegehren eines unabhängigen Grubenbesitzers und der streikenden Kohlenarbeiter in sich zusammenbrach. Etienne war dem Voreux aus dem Wege gegangen. Er hatte Angst vor der dunklen Silhouette der Schildwachen. Aber er strich um die Gruben herum und lauschte den Hammerschlägen der Zimmerleute in den Schächten. Als er in der Morgendämmerung in sein Loch zurückkehrte, sah er Wachtposten auf der Halde. Warum ließen sich die Soldaten gegen das Volk bewaffnen? Wie leicht wäre der Sieg der Revolution, wenn die Armee sich für sie erklärte. Es würde genügen, daß die Arbeiter und der Bauer in den Kasernen sich ihrer Abstammung erinnerten. Er empfand den Haß des Volkes gegen die Armee, gegen diese Brüder, die sich aus warmherzigen Bauern und Arbeitern in gefühllose Soldaten verwandelten, sobald sie die rote Hose anzogen. Warum sollte er es nicht auf sich nehmen, mit einem Soldaten zu sprechen, um seine Gesinnung kennenzulernen? Wenn er einen überredete, konnte er alle überreden, überlegte Etienne und trat auf einen Wachtposten zu. »Nun, Kamerad«, sagte er, »das ist ein schlimmes Wetter!« Er tastete sich vor. »Ich glaube, wir werden Schnee bekommen.« Das sanfte, blasse, von Sommersprossen übersäte Gesicht des Soldaten kehrte sich Etienne gleichgültig zu. »Es sieht nach Schnee aus«, sagte er und ließ seine blauen Augen über den fahlen Himmel schweifen. 381
»Das ist doch dumm, daß man euch hierherstellt, wo euch die Knochen erfrieren!« provozierte Etienne. »Hier weht immer ein eisiger Wind!« Der Soldat war nicht gesprächig. Er sagte: »Ja«, er sagte: »Nein«, schien aber nichts zu verstehen, als Etienne ihn in ein Gespräch über Politik verwickeln wollte. »Mir ist alles gleichgültig«, sagte der kleine Soldat. »Wenn man mir befiehlt zu schießen, so schieße ich eben. Ich will doch nicht bestraft werden, weil ich einen Befehl verweigere. Darum verweigere ich keinen Befehl.« »Wie heißen Sie denn?« fragte Etienne. »Jules.« »Und woher sind Sie?« Er wies mit der Hand auf gut Glück ins Weite. »Aus der Bretagne. Ich habe Mutter und Schwestern daheim. Sie erwarten mich. Aber es wird noch eine Weile dauern.« Große Schneeflocken fielen vom Himmel. Etienne wurde unruhig. Er sah Jeanlin, der zwischen den Brombeersträuchern umherstrich und ihm zuwinkte. Etienne verstand, worum es ging. Jeanlin warnte ihn vor der Ablösung. »Gib acht, daß der Schnee dich nicht begräbt«, sagte er dem Soldaten und entfernte sich mit gespielter Gelassenheit.
Seit zwei Tagen hatte es geschneit. Das Arbeiterdorf verschwand unter der Schneedecke. In den Häusern brannte kein Feuer. In den Stuben war es ebenso kalt wie auf den Landstraßen. Auch bei Maheus war die letzte Schaufel Kohlenstaub verbrannt worden. Die Maheude erwartete Dr. Vanderhagen. Die kranke Alzire wurde vom Fieberfrost geschüttelt. Sie brauchte den Arzt. Maheu schritt schwerfällig in der leeren Stube auf und ab und rannte immer wieder gegen die Wand, stumpfsinnig wie ein wildes Tier, das die Gitterstäbe seines Käfigs nicht mehr sieht. Der Widerschein des Schnees von der Straße erhellte die Stube. Alzire begann leise zu phantasieren. Sie lachte und glaubte, es sei warm und sie spiele in der Sonne. 382
»Nun glüht sie wieder«, klagte die Maheude. »Ich warte nicht länger auf den Schweinehund von Vanderhagen. Das Räubervolk von der Gesellschaft wird ihm verboten haben zu kommen.« Jetzt öffnete sich die Türe. Die Arme der Maheude sanken schlaff herab, als sie anstatt des erwarteten Vanderhagen Etienne eintreten sah. »Guten Abend«, sagte er halblaut, nachdem er die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte. Er wußte, die Maheus würden das Geheimnis seines Verstecks wahren und ihn nicht preisgeben. Es hatte sich auch ein ganzer Sagenkreis im Arbeiterdorf um Etienne gebildet. Die Männer und Frauen hatten Vertrauen zu ihm. Geheimnisvolle Gerüchte waren im Umlauf: Etienne werde mit einer Armee wiederkommen, um die Soldaten zu vertreiben, und mit Kassen voll Geld, um die Gesellschaft in die Knie zu zwingen. »Ist das nicht ein Hundewetter«, sagte er obenhin. »Gibt es bei euch nichts Neues? Ihr müßt darauf gefaßt sein, daß alles noch schlimmer wird. Ich habe erfahren, daß die Grubengesellschaft den Neffen von Monsieur Hennebeau nach Belgien geschickt hat, um dort Arbeiter anzuwerben.« Er machte eine kleine Pause, um die Nachricht einsinken zu lassen. Dann setzte er hinzu: »Wir sind verloren, wenn das wahr ist.« »Belgier!« schrie Maheu und blieb endlich stehen. »Belgier! Das werden die Hundekerle nicht wagen. Wenn die Belgier kommen, zerstören wir die Gruben.« »Das können wir nicht«, erklärte Etienne. »Wir können uns nicht rühren. Die Soldaten, die die Gruben bewachen, werden die Einfahrt der belgischen Arbeiter beschützen.« Maheu ballte die Fäuste. »Immer die Bajonette im Rücken!« schrie er. »Sind wir Galeerensträflinge, die man mit geladenen Gewehren zur Arbeit treiben will?« Dann sank er in sich zusammen. »Ich weiß nicht, weshalb ich mich aufrege, ich gehöre nicht mehr dazu. Und wenn sie mich einmal von hier fortgejagt haben, dann kann ich auf der Landstraße verrecken!« »Gute Arbeiter schickt man nicht fort«, sagte Etienne mit erstick383
ter Stimme. Er wollte noch mehr sagen, aber er verstummte plötzlich. Sein Blick war auf Alzire gefallen, die im Fiebertraum leise vor sich hin lachte. Die Fröhlichkeit des kranken Kindes erschreckte ihn. »Das kann nicht so weitergehen«, sagte er zitternd. »Wir sind verloren … Wir müssen uns ergeben!« Die Maheude, die schweigend zugehört hatte, brach los und schrie ihm ins Gesicht: »Sag das noch einmal, oder du wirst meine Hand zu spüren bekommen. Wir sollen also zwei Monate gehungert haben, meine Kinder sollen krank geworden sein, und die Ungerechtigkeit soll wieder beginnen! Ich werde lieber alles in Brand stecken und lieber alle umbringen als mich ergeben!« Sie wandte sich mit drohender Gebärde dem im Dunkel stehenden Maheu zu: »Das sage ich dir, wenn du in die Grube zurückkehrst, werde ich auf der Straße stehen, um dir ins Gesicht zu spucken.« Etienne wich zurück vor der Wut der Maheude, die sein eigenes Werk war. Er fand sie so verändert, daß er sie nicht wiedererkannte. Sie, die einst so bedächtig gewesen war und ihm sein Ungestüm vorgeworfen hatte! »Aber ihr habt mich nicht richtig verstanden«, keuchte Etienne. »Was ich sagen wollte, war nur, daß wir mit der Grubengesellschaft zu einer Verständigung kommen müssen. Die Gesellschaft würde sicher einem Vergleich zustimmen.« »Nein, nein!« heulte die Maheude. »Gar nichts! Kein Vergleich!« Sie war zum äußersten Verzweiflungskampf bereit. Aber die Verzweiflung wurde stärker, als Lenore und Henri, die sie ausgeschickt hatte, um etwas zum Essen zu erbetteln, mit leeren Händen zurückkamen. Etienne dachte: Einst hatte die Maheude gedroht, ihre Kinder zu töten, wenn sie sie beim Betteln ertappte, und jetzt schickte sie sie aus. War das seine Schuld? Die Kinder krochen in der Stube herum, sie waren hungrig und wollten essen. Die Maheude geriet außer sich und verteilte blindlings im Dunkel Ohrfeigen. Aber die Schläge nützten nichts. Die Kinder schrien heftiger nach Brot, immer lauter nach Brot. Sie warf sich zu Boden. »Mein Gott, weshalb nimmst du uns nicht zu dir? Mein Gott, habe doch Erbarmen und mache ein Ende!« 384
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Diesmal war es Dr. Vanderhagen. »Eine Kerze würde euch die Augen nicht verderben«, sagte er zur Begrüßung. »Beeilen wir uns, ich muß schnell weiter.« Es gab keine Kerze bei den Maheus, aber der Arzt hatte Streichhölzer bei sich. Maheu mußte eins nach dem anderen anzünden und sie halten, damit Dr. Vanderhagen Alzire untersuchen konnte. Sie war so mager wie ein im Schnee in den letzten Zügen liegender Vogel. Dennoch lächelte sie, aber es war ein Lächeln einer Sterbenden. Die Augen waren weit geöffnet. Sie preßte die Hände krampfhaft auf den leeren Magen. Als die Maheude jammerte und ihn fragte, ob das recht sei, daß ihr das einzige Kind genommen werde, das ihr in der Wirtschaft helfen konnte, ein so kluges und sanftes Kind, wurde der Doktor ärgerlich. »Sie ist verhungert, deine Tochter. Ihr ruft mich alle, und ich kann nichts tun. Ihr müßt Fleisch haben, um gesund zu werden.« Das letzte Streichholz verbrannte Maheu die Finger. Er ließ es fallen. Die Finsternis senkte sich auf die kleine, noch warme Leiche Alzires. Der Arzt empfahl sich schweigend. Er hatte es sehr eilig, wie immer.
XV Drei kurze Schläge gegen eine Fensterscheibe unterbrachen die drückende Stille in der Gaststube Rasseneurs. Souvarine erhob sich. Er hatte das Zeichen erkannt, durch das Etienne ihn schon oft herausgerufen hatte, wenn er einsam an einem Tisch saß. Doch bevor Souvarine die Tür erreichte, hatte Rasseneur sie geöffnet. Als er den vor dem erleuchteten Fenster Stehenden erkannte, sagt er: »Fürchtest du dich denn, ich könnte dich verraten? Du kannst mit Souvarine besser hier sprechen als auf der Straße.« 385
Etienne trat ein. »Ich habe schon längst erraten, wo du dich versteckst«, fuhr Rasseneur fort. »Wenn ich ein Spion wäre, wie deine Freunde behaupten, hätte ich die Gendarmen schon vor acht Tagen auf deine Spur gebracht.« »Rechtfertige dich nicht«, erwiderte Etienne entgegenkommend. »Ich weiß, daß du nicht so einer bist. Man kann andere Anschauungen haben und sich dennoch achten.« Souvarine saß wieder auf seinem Stuhl, den Rücken der Wand zugekehrt, und sah dem aufsteigenden Rauch der Zigarette nach. »Morgen beginnt also die Arbeit im Voreux wieder«, begann Etienne. »Die Belgier sind angekommen.« »Ja, sie sind im Abenddunkel gekommen«, bestätigte Rasseneur. »Man hat dafür gesorgt, daß es nicht zu Mord und Totschlag kommt.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Ich will nicht wieder zu streiten beginnen, aber es wird ein schlimmes Ende nehmen, wenn ihr noch halsstarrig bleibt.« Etienne sah zu Boden. Er wollte seine Niederlage nicht vor einem Mann eingestehen, der ihm vorausgesagt hatte, daß eines Tages die Menge über ihn herfallen würde, um sich dafür zu rächen, daß er sich verrechnet hatte. »Es läßt sich nicht mehr bezweifeln, daß der Streik mißglückt ist. Man gibt sich allerlei Hoffnungen hin, und wenn es dann schiefgeht, vergißt man, daß man darauf hätte gefaßt sein müssen. Man jammert und beklagt sich, als wäre das Unglück ganz unerwartet gekommen.« Souvarine, dessen Hände nervös zuckte, schien nicht recht verstanden zu haben. »Sie sind alle Feiglinge. Man muß nur wollen, aber niemand will. Und darum wird die Revolution schließlich scheitern.« Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und Catherine erschien, die Chaval vor sich herschob. Nachdem er sich in allen Kneipen von Montsou mit Bier und mit Aufschneidereien berauscht hatte, war ihm eingefallen, zu Rasseneur zu gehen und den ehemaligen Freunden zu zeigen, daß er sich nicht fürchtete. Als Catherine Etienne erblickte, wurde sie blaß und blieb stehen. Chaval begann boshaft zu lachen. »Ich sage dir, du sollst einen Schoppen trinken, und ich schlage jedem die Zähne 386
ein, der mich schief ansieht.« Er rief laut: »Frau Rasseneur, zwei Schoppen. Wir wollen den Wiederbeginn der Arbeit begießen!« Die Stille im Schankraum erregte Chaval. Er sagte herausfordernd: »Ich kenne Leute, die behauptet haben, ich sei ein Spion. Ich erwarte, daß mir diese Leute das ins Gesicht wiederholen, damit man sich endlich ausspricht.« Niemand antwortete Chaval. Er fuhr laut fort: »Es gibt Leute, die Faulenzer sind, und andere, die keine Faulenzer sind. Ich habe nichts zu verheimlichen, ich habe Deneulins schmutzige Grube verlassen und fahre morgen im Voreux ein.« Er holte tief Atem, um noch lauter sprechen zu können. »Ich fahre mit zwölf Belgiern ein, deren Führung man mir anvertraut hat. Man schätzt mich.« Chaval zog eine Handvoll Silbermünzen aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. »Das habe ich im Schweiße meines Angesichts verdient«, sagte er. Aber als er unbeachtet blieb, erregte er sich so, daß er zu einem direkten Angriff überging. Er maß Etienne von oben bis unten. »Die Maulwürfe kommen also bei Nacht aus ihren Löchern? Die Gendarmen schlafen wohl?« Etienne stand auf. Er war sehr ruhig, aber entschlossen. »Ja, du bist ein Spion, Chaval«, sagte er. »Dein Geld stinkt nach Verrat. Mich ekelt es, mich an dir zu vergreifen. Aber da es sein muß, stehe ich zu deiner Verfügung. Einer von uns beiden ist zuviel auf der Welt!« Chaval ballte die Fäuste. »Du sollst mir für all die Schweinerei büßen, die man mir angetan hat.« Catherine warf sich zwischen die beiden Männer. Es kostete nicht viel Mühe, sie zurückzudrängen. An die Wand gelehnt, sah sie stumm den Geschehnissen zu. Madame Rasseneur setzte sich auf ihre Bank, ohne ungebührliche Neugier zu zeigen. Rasseneur wollte unbedingt vermitteln. »Ich kann es doch nicht gestatten, daß sich die beiden ermorden!« rief er. Souvarine hielt ihn zurück. »Das geht dich nichts an«, sagte er. »Einer ist zuviel. Der Stärkere wird übrigbleiben.« Die beiden Männer hieben aufeinander los, aber die geräuschvollen Ausbrüche des einen und die kalte Ruhe des anderen hielten den 387
Zweikampf lange unentschieden. Allmählich gerieten sie in Hitze. Ihr schwerer Atem wurde hörbar. »Das sitzt!« heulte Chaval. Seine Faust hieb wie ein Dreschflegel auf die Schulter seines Gegners. »Immer los auf dein Gerippe!« Etienne unterdrückte einen Schmerzensschrei und führte einen so heftigen Stoß gegen Chaval, daß er wankte und kaum noch atmen konnte. Chaval faßte sich rasch und stieß mit dem Stiefelabsatz nach Etiennes Magen. Etienne brach das Schweigen: »Wenn du mit den Füßen kämpfst, verletzt du die Regeln eines ehrlichen Kampfes. Tue es nicht, sonst nehme ich einen Stuhl und schlage dich nieder!« Souvarine drehte wie gewöhnlich seine Zigarette, vergaß aber, sie anzuzünden. Catherine lehnte immer noch reglos an der Wand. In Schweiß gebadet, schlug Chaval blindlings drauflos. Trotz seiner immer wachsenden Empörung beschränkte sich Etienne auf die Abwehr der Hiebe. Dabei traf seine Faust Chaval ins Gesicht. Das Blut schoß aus der Nase, um das Auge entstand ein blauer Fleck. Geblendet von dem Blutstrom fiel Chaval mit dumpfem Aufschlag auf den Rücken. »Steh auf, wenn du noch nicht genug hast!« befahl Etienne. Chaval erhob sich nach einigen Sekunden mühsam. Er blieb einen Augenblick auf den Knien liegen, während er sich mit einer Hand an der Hosentasche zu schaffen machte. Als er dann wieder auf den Beinen stand, stürzte er wie ein Wilder brüllend auf Etienne los. Catherine hatte beobachtet, was er getan hatte. Unwillkürlich entrang sich ihrer Brust ein Schrei, der sie selbst überraschte. »Nimm dich in acht!« rief sie Etienne zu. »Er hat ein Messer!« Etienne hatte gerade noch Zeit, den ersten Messerstich mit dem Arm abzuwehren. Die Wolle seiner Jacke wurde von der Klinge durchschnitten, aber er griff nach der Hand, die das Messer hielt. Er wußte, daß er verloren sein würde, wenn er locker ließe. Zweimal war es Etienne, als fühle er den kalten Stahl auf seiner Brust. Mit äußerster Anstrengung drehte er Chavals Handgelenk so, daß das Messer der sich öffnenden Hand entfiel. Beide warfen sich auf die Erde. Aber Etienne war rascher. Er erwischte das Messer. Er setzte Chaval 388
ein Knie auf die Brust und drohte, ihm die Kehle durchzuschneiden. Das Verlangen nach Blut raubte ihm alle Besinnung. Er hatte das Messer schon angesetzt, als er sich endlich beherrschte. Er schleuderte es weit von sich und rief mit rauher Stimme: »Steh auf und geh!« Souvarine, den das Messer fast ins Bein getroffen hatte, entschloß sich, seine Zigarette anzuzünden. War der Kampf zu Ende? Catherine stand noch immer teilnahmslos vor den zwei Männern. »Geh«, wiederholte Etienne, der sich aufgerichtet hatte. »Geh, oder ich bring' dich um!« Chaval wischte sich mit dem Rücken der Hand das Blut aus dem Gesicht, erhob sich schwerfällig und schleppte sich hinaus. Mechanisch folgte ihm Catherine. Sein Haß machte sich Luft, als er sie hinter sich spürte. »Du gehst nicht mit mir. O nein! O nein! Wenn du ihn willst, so bleib bei ihm, du schamlose Hure! Wage es nicht, einen Fuß über meine Schwelle zu setzen, wenn dir deine räudige Haut lieb ist!«
Der Gedanke, Catherine in das Grubenloch mitzunehmen und sein Versteck mit ihr zu teilen, erschien Etienne widersinnig. Er wollte sie ins Dorf zu ihren Eltern führen. Doch sie lehnte es erschreckt ab. »Nein, nein«, sagte sie. »Alles eher, als ihnen zur Last fallen.« Anfangs hatten sie die Richtung nach dem Voreux eingeschlagen, nachdem sie Rasseneurs Haus verlassen hatten. Dann gingen sie zwischen der Halde und dem Kanal. »Du mußt aber doch irgendwo schlafen«, sagte Etienne endlich. »Wenn ich eine Stube hätte, würde ich dich mit mir nehmen …« Er verstummte plötzlich. Der Gedanke, sie in sein Versteck mitzunehmen, erschien ihm mit einem Mal ganz natürlich. »Entscheide dich«, drängte er. »Wohin soll ich dich führen? Verabscheust du mich, da du nicht zu mir kommen willst?« »Nein«, sagte sie, »ich verabscheue dich nicht. Aber erst war es Chaval, und dann sollst du es sein und nach dir wieder ein anderer … Nein, das ekelt mich!« Sie gingen etwa hundert Schritte, ohne ein Wort zu sprechen. »Weißt 389
du wenigstens, wohin du gehen willst?« fragte er. »Ich kann dich in einer solchen Nacht nicht allein lassen.« Sie erwiderte ruhig: »Ich gehe nach Hause. Ich kann nur bei Chaval übernachten.« »Er wird dich totprügeln!« Sie zuckte mit den Achseln. »Er wird mich schlagen, und wenn es ihn ermüdet, wird er damit aufhören. Ist das nicht besser, als sich wie eine Landstreicherin auf den Straßen herumzutreiben?« Catherine blieb stehen. »Geh nicht weiter. Wenn Chaval dich sähe, wäre es noch schlimmer.« Vom Kirchturm schlug es elf. »Leb wohl«, flüsterte Catherine. Sie gab Etienne die Hand. Er hielt sie fest, und sie mußte sich mit Gewalt losreißen. Ohne sich umzusehen, eilte sie davon. Etienne blieb stehen und wartete ängstlich, was geschehen würde. Das Haus, in dem Chaval wohnte, blieb zunächst dunkel. Dann erhellte sich ein Fenster im ersten Stockwerk. Etienne sah, daß sich eine zarte Gestalt vorbeugte. Er trat näher. Catherine flüsterte ihm sehr leise zu: »Chaval ist noch nicht zu Hause. Ich bitte dich, geh!« Als er wieder zur Halde kam, trat der Mond aus den Wolken. Ein Wachtposten ging auf und ab. Über der schwarzen Silhouette blitzte das Bajonett. Etienne sah auch einen beweglichen Schatten, der wie ein auf der Lauer liegendes Tier wirkte. Er erkannte Jeanlin, der hinter der Steinhütte verborgen lag. Der Wachtposten konnte ihn nicht sehen. Einen Augenblick dachte Etienne daran, Jeanlin anzurufen, aber der Wachtposten kam immer wieder dicht an die Hütte, machte dann kehrt und begann seinen Weg von neuem. Jetzt sah Etienne das geschehen, was er durch den Anruf Jeanlins hatte verhindern wollen. Der Junge sprang im mächtigen Satz wie eine wilde Katze auf die Schultern des Soldaten, krallte sich fest und stieß dem Unglücklichen ein Messer in die Kehle. Es ging blitzschnell vor sich. Ein halberstickter Schrei drang durch die Nacht. Das Gewehr fiel klirrend zu Boden. Schon strahlte der Mond wieder hell auf die Halde. Etienne erstarrte vor Schrecken. Aber dann eilte er im Laufschritt 390
zur Steinhütte hinauf und fand Jeanlin auf allen vieren neben der lang ausgestreckten Leiche liegen. »Weshalb hast du das getan?« stammelte er. Jeanlin sprang auf. Seine grünen Augen funkelten, sein Unterkiefer zuckte. »Ich weiß nicht, warum. Ich mußte es tun. Ich hatte ein unbezähmbares Verlangen danach.« Das Verlangen hatte Jeanlin seit drei Tagen unaufhörlich gefühlt. Er hatte sich so viel damit beschäftigt, daß ihm der Kopf geschmerzt hatte. Warum sollte man sich denn scheuen, diese Schweinehunde umzubringen, da sie sich nicht scheuen würden zu morden, wenn man es ihnen befahl! Etienne bückte sich zu dem toten Soldaten nieder und horchte auf den Schlag des Herzens. Das Messer war in die Kehle eingedrungen. Nur der Beingriff war sichtbar. Darauf stand in schwarzen Buchstaben eingraviert: Liebe. Jetzt sah Etienne das Gesicht des Toten. Es war Jules, den er angesprochen hatte. Angesichts dieses zarten blonden Kopfes mit den Sommersprossen ergriff ihn furchtbares Mitleid. Die weit offenen Augen des kleinen Soldaten starrten zum Himmel mit dem gleichen Ausdruck, mit dem sie in der weiten Ferne die Heimat gesucht hatten. Dort würden ihn die Mutter und die Schwestern vergeblich erwarten. Was sollte Etienne mit der armseligen Leiche tun? Es war das beste, sie für immer verschwinden zu lassen. »Komm her«, befahl er Jeanlin. »Willst du mich schlagen?« fragte der Junge. »Komm her oder ich rufe die Soldaten, und sie werden dir den Kopf abschlagen.« Er befahl: »Faß ihn bei den Beinen!« Jeanlin ergriff die Beine des Toten, und Etienne umschlang die Schultern. Sie erreichten die verfallene Grube schweißbedeckt und so verstört, daß ihre Zähne klapperten. Sie schleppten die Leiche weiter, bis sie sie in einen Stollen schieben konnten. Das Gewehr legten sie daneben. Dann stürzten sie die Stangen, die das bröcklige Gestein hielten, mit den Fußtritten um. Das Grab schloß sich von selbst.
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XVI Etienne wachte die ganze Nacht hindurch in dem warmen Grubenloch. Er konnte nicht schlafen. Das Schnarchen Jeanlins erfüllte ihn mit Abscheu. Die Nähe des Jungen wurde ihm so unerträglich, daß er schließlich die Flucht ergriff. Es widersprach seiner revolutionären Überzeugung, daß Jeanlin einen Soldaten umgebracht hatte, den er gar nicht kannte. Niemand hatte das Recht zum Töten – ohne Kampf, ohne Grund. Etienne empfand ein unwiderstehliches Verlangen nach frischer Luft. Er verließ das Versteck. Endlich konnte er Atem schöpfen. Da er es als unrecht empfand, zu töten, mußte er selbst sterben. Dieser Todesgedanke setzte sich in seinem Kopf wie eine letzte Hoffnung fest. Sterben, für die Revolution sterben, das war der richtige Gedanke, das glich das Schuldkonto aus. Das würde es ihm auch unmöglich machen, vergeblich grübeln zu müssen. Wenn die Kameraden die Belgier angriffen, würde er in den ersten Reihen sein. Dann hatte er die beste Aussicht, von einer Kugel getroffen zu werden. Festen Schrittes ging Etienne zum Voreux. Es war zwei Uhr morgens. Der Lärm vieler Stimmen drang aus der Aufseherstube, in der die Soldaten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das Verschwinden des Wachtpostens hatte sie alarmiert. Man hatte den Kapitän geweckt. Nachdem die ganze Gegend abpatroulliert worden war, waren alle davon überzeugt, daß Jules desertiert sei. Bis fünf Uhr lauerte Etienne auf die Belgier. Aber die Grubengesellschaft hatte den Einfall gehabt, sie im Voreux selbst schlafen zu lassen. Die Einfahrt begann, und die Streikposten aus dem Arbeiterdorf wußten nicht, ob sie ihre Kameraden herbeirufen sollten. Etienne benachrichtigte sie. 392
Seit Mitternacht war Catherine auf den gefrorenen Straßen umhergelaufen. Als Chaval heimgekommen war und sie im Bett gefunden hatte, hatte er sie mit einer Ohrfeige aufgeweckt. »Mach, daß du zur Türe hinauskommst, wenn du nicht durchs Fenster hinausfliegen willst!« Schluchzend und notdürftig gekleidet, war Catherine hinausgegangen und hatte sich auf einen Rinnstein vor das Haus gesetzt in der Hoffnung, daß Chaval sie hereinrufen würde. Zwei Stunden hatte sie vergeblich gewartet, dann hatte sie zu ihren Eltern gehen wollen. Aber sie hatte sich geschämt und war zur Grube gelaufen, um Chaval dort zu sehen, wenn er mit den Belgiern einfahren würde. Jetzt sah sie den Rücken Chavals. Sie wollte ihm folgen und ihn ansprechen, was immer auch geschehen möge. Sie lief schon hinter ihm her, als ein plötzliches Trompetensignal sie veranlaßte, stehenzubleiben. Sie sah, wie die Soldaten im Voreux ins Gewehr traten. Sie sah Etienne, der eilig herbeilief, und eine Schar Männer und Frauen, die mit drohenden Gebärden aus der Richtung des Arbeiterdorfes näherkamen.
Alle Zugänge zum Voreux waren geschlossen. Sechzig Soldaten standen vor der Tür, von der ein schmaler Gang zum Kontrollhäuschen führte. Die Streikenden hielten sich in gemessener Entfernung. In der ersten Reihe stand die Maheude. Sie hatte ein Taschentuch um den Kopf geschlungen und hielt die schlafende Estelle im Arm. »Laßt niemanden ein noch aus!« schrie sie. »Sie mögen alle unten sitzen bleiben!« Maheu stimmte ihr zu. An der Spitze eines neuen Menschenhaufens, der zum Voreux strömte, schrie Levaque: »Tod den Belgiern! Wir dulden hier keine Fremden. Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!« Etienne hielt die Aufgeregten zurück. »Laßt mich erst reden«, sagte er und trat auf den Kapitän, der die Soldaten kommandierte, zu. »Platz da!« befahl der Kapitän mit lauter Stimme. »Ich habe mit dir 393
nicht zu verhandeln. Ich habe den Auftrag, die Grube zu beschützen, und ich werde sie beschützen.« Der Ausdruck seines jungen Gesichtes bewies, daß er zu allem entschlossen war. »Drängt nicht so gegen meine Leute, sonst werde ich Maßregeln ergreifen, um euch zurückzujagen.« »Nieder mit den Belgiern! Nieder mit den Belgiern!« schrien die streikenden Männer und Frauen. »In unserem Haus wollen wir die Herren sein!« Etienne erkannte, daß keine Vermittlung möglich war. Das war das Ende, man konnte nur noch kämpfen. Er hielt die Kameraden nicht mehr zurück. Die Schar drang dicht an die Soldaten heran. Es waren jetzt schon mehr als vierhundert Männer und Frauen, und aus den benachbarten Dörfern kamen immer noch mehr. Catherine stand einige Schritte von Etienne entfernt. In der Menge entstand eine Bewegung. Die alte Brule wollte nach vorn. Sie sah erschreckend mager aus, Hals und Arme waren bloß. Sie lief so rasch, daß das flatternde graue Haar ihre Stirn und ihre Augen bedeckte. »Da bin ich endlich!« keuchte sie. »Pierron hatte mich im Keller eingeschlossen.« Sie fiel über die Soldaten her. »Ihr Kanaillen! Ihr Lumpenvolk! Ihr leckt euren Vorgesetzten die Hintern und seid nur mutig gegenüber armen Leuten.« Ein Hagel von Schimpfworten ergoß sich über die Soldaten. »Nieder mit den roten Hosen!« Der Kapitän hatte den Degen gezogen, und als die Menge immer weiter vordrängte und die Soldaten an die Wand zu drücken drohte, ließ er sie das Bajonett fällen. Sie gehorchten. Eine doppelte Reihe blinkender Stahlspitzen richtete sich gegen die Streikenden. Die Brule heulte: »Die erbärmlichen Kerle!«, aber sie wich zurück. Nicht für lange. Auch die anderen Frauen drängten vor. »Tötet uns! Tötet uns! Wir verlangen unser Recht!« Levaque faßte mit beiden Armen ein Bündel Bajonette. »Stoßt zu! Stoßt doch zu«, schrie er, »wenn ihr mutige Kerle seid!« Maheu fiel ein. »Ihr Feiglinge, ihr wagt es ja nicht! Hinter uns stehen noch zehntausend. Ihr könnt uns beide töten, aber dann bleiben noch zehntausend übrig!« 394
Die Lage der Soldaten war kritisch. Sie hatten den Befehl, nur im äußersten Notfall von der Waffe Gebrauch zu machen. Aber der freie Raum um sie wurde enger und enger. Sie waren bis zur Wand zurückgedrängt und konnten nicht mehr weiter zurück. Die vom Kapitän angeforderte Verstärkung kam nicht. Seine sechzig Mann konnten dem Andrang der bereits auf fünfhundert Köpfe angeschwollenen Streikenden nicht länger standhalten. Er befahl den Soldaten, die Gewehre zu laden. Die Soldaten führten den Befehl mit Präzision aus. Doch die Aufregung der Menge wurde nur um so größer. Ohne vorherige Verabredung, nur von dem gleichen Verlangen nach Rache getrieben, stürzten sich die Streikenden auf die in der Nähe aufgeschichteten Ziegelhaufen. Kinder schleppten Ziegel herbei, Frauen füllten ihre aufgerafften Kleider. Bald lag zu Füßen eines jeden die nötige Munition. Die Brule eröffnete den Steinhagel. Sie zerbrach die Ziegel über ihrem mageren Knie und schleuderte die Stücke mit der Rechten und der Linken zugleich. Die kleine Schar Soldaten verschwand unter dem Steinhagel. Dreimal war der Kapitän nahe daran, Befehl zum Feuern zu geben. Aber eine unerklärliche Angst und widerstreitende Empfindungen hielten ihn davon ab. Der Mensch lag mit dem Soldat im Streit. Er öffnete den Mund, um »Feuer!« zu rufen, als die Gewehre von selbst losgingen. Erst schossen drei, dann fünf, dann mehr, und schließlich lange nachher schon erklang in die tiefe Stille ein einzelner Schuß. Entsetzen ergriff die Soldaten und die Streikenden. Es war geschossen worden! Die Menge stand reglos. Keiner vermochte es zu glauben. Während ein Trompetensignal dem Feuer Einhalt gebot, erhob sich ein herzzerreißendes Geschrei. Die Brule war getroffen worden. Sie war mit offenem Mund gefallen. Eine Kugel hatte Mouquet gefällt. Die Mouquette hatte zwei Schüsse in den Magen bekommen und war mit einem lautem Schrei zusammengesunken. Etienne wollte sie aufheben und davontragen, doch sie gab ihm durch eine Handbewegung zu verstehen, daß alles zu Ende sei. Im Todeskampf lächelte sie noch Catherine und Etienne zu, die nebeneinander standen – so als ob sie glücklich wäre, die beiden jetzt 395
vereint zu sehen. Der letzte Schuß, der unvermutet gefallen war, hatte Maheu mitten ins Herz getroffen. Er drehte sich um seine eigene Achse und fiel mit dem Gesicht in eine Kohlenpfütze. Starr vor Entsetzen bückte sich die Maheude zu ihm nieder. »Steh, auf, mein Alter! Es ist nichts, nicht wahr?« Da das Kind im Arm sie hinderte, ihre Hände zu gebrauchen, legte sie es neben sich, um den Kopf ihres Mannes umkehren zu können. »Sprich doch, wo bist du verletzt?« Seine Augen waren starr, blutiger Schaum stand vor dem Mund. Nun war ihr alles klar. Maheu war tot. Das Kind wie ein Paket unter dem Arm, hockte sie im Kot und starrte ihn stumpfsinnig an.
XVII Die Schüsse, die in Montsou gefallen waren, waren bis Paris gehört worden. Alle Oppositionszeitungen veröffentlichten entrüstet Artikel. Der Aufruhr der öffentlichen Meinung mußte beschwichtigt werden, der bedauernswerte Zusammenstoß im Kohlenrevier in Vergessenheit geraten. Die Grubengesellschaft erhielt von der Regierung den Auftrag, dem Streik, dessen befremdend lange Dauer zu einer allgemeinen sozialen Gefahr wurde, ein Ende zu machen. Am Mittwoch kamen drei Direktoren der Grubengesellschaft in Montsou an. Sie verabschiedeten die belgischen Arbeiter. Sie machten der militärischen Besetzung der Gruben ein Ende und ließen gelbe Plakate in der ganzen Gegend anbringen. Darauf stand in großen, weithin sichtbaren Buchstaben: »Arbeiter von Montsou, wir wollen nicht, daß die Verwirrungen, deren traurige Folgen Ihr in den letzten Tagen selbst gesehen habt, die vernünftigen und willigen Arbeiter ihrer Existenzmittel berauben. Wir eröffnen daher Montag früh die Arbeit in sämtlichen Gruben wieder. Wir werden mit Sorgfalt und Wohlwollen 396
prüfen, welche Verbesserungen eingeführt werden können. Wir werden tun, was recht ist.« Zehntausend Kohlenarbeiter lasen diese Plakate. Keiner sprach ein Wort. Die meisten gingen kopfschüttelnd mit ihrem schleppenden Gang weiter. Kaum ein Dutzend Männer fuhren ein. Tiefe Stille herrschte in den niedrigen Häusern des Arbeiterdorfs. Hunger spielte jetzt keine Rolle mehr, nachdem alle so eng mit dem Tod in Berührung gekommen waren. Auch das Haus Maheus lag in düsterem Schweigen. Seitdem die Maheude der Leiche ihres Mannes zum Friedhof gefolgt war, hatte sie den Mund nicht wieder geöffnet. Sie hatte Etienne nicht gehindert, als er Catherine ins Haus gebracht hatte. Sie hatte kein Wort an Catherine gerichtet und auch nicht an Etienne. Nur hin und wieder warf sie ihm und Catherine einen boshaften Blick zu. Sie schien fragen zu wollen, was sie denn in ihrem Hause wollten. Am Nachmittag des fünften Tages verließ Etienne, den der Anblick der schweigenden Frau zur Verzweiflung brachte, die Küche und ging langsam in das Dorf. Er wanderte eine halbe Stunde umher, als er bemerkte, daß Kameraden in die Haustüren traten und ihm nachblickten. Nach der Gewehrsalve war der letzte Rest seiner Popularität verschwunden. Wenn er den Kopf hob, sah er Männer mit drohenden Gebärden vor sich, und die Frauen schoben die Gardinen zurück. Angesichts dieser stummen Anklage, angesichts des unterdrückten Zorns in den Augen, die durch Hunger und Tränen weit geworden waren, wurde es Etienne unbehaglich zumute. Er kehrte zitternd in das Haus der Maheude zurück. Die Szene, die ihn dort erwartete, brachte ihn vollends außer Fassung. Die Maheude hatte Estelle auf den Tisch gelegt und stand mit drohend erhobener Faust vor Catherine: »Sag das noch einmal, was du jetzt gesagt hast!« »Was willst du denn von mir, Mutter?« stammelte Catherine. »Ich muß in den Voreux zurück. Ich kann doch nicht müßig bleiben. Wir werden dann wenigstens Brot haben.« 397
»Brot vom Voreux!« Die Maheude schrie. »Den ersten von euch, der zur Arbeit geht, erdrossele ich. Das wäre zu stark. Erst den Vater töten und dann die Kinder noch weiter ausbeuten. Lieber will ich euch alle auf der Bahre sehen, so wie ihn, den sie schon fortgetragen haben.« Etienne wagte nicht, sich einzumischen. Er galt nichts mehr in diesem Hause. Selbst die Kinder wichen ihm mißtrauisch aus. Doch die Tränen der unglücklichen Frau erregten ihn. »Nur Mut!« sagte er. »Wir werden es schon irgendwie überwinden.« Die Maheude trat nahe an ihn heran. »Sprichst du am Ende davon, daß wir in die Grube zurückkehren sollen, nachdem du uns alle ins Unglück geritten hast?! Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber wenn ich an deiner Stelle wäre, dann wäre ich schon längst vor Gram über das Unheil, das du über alle gebracht hast, gestorben.« Etienne zuckte verzweifelt die Achseln. Was nützten Erklärungen, für die sie in ihrem Schmerz kein Verständnis haben konnte. Er verließ das Haus. Aber draußen schien das ganze Arbeiterdorf auf ihn zu warten. Die Männer standen in den Türen, die Frauen an den Fenstern. Geballte Fäuste erhoben sich gegen ihn. Zacharias, der ihm, eingehängt in Philomene, entgegenkam, stieß ihn an und lachte boshaft. Die Levaque rief: »Der Spitzbube geht spazieren.« Etienne wollte ausweichen. Was konnte er anderes tun? Einen Augenblick hatte er Lust, sich mit dem ganzen Dorf zu schlagen. Doch das war sinnlos. Er beschleunigte seine Schritte und stellte sich taub gegen alle Schmähreden. Nicht weit von Rasseneurs Haus traf er auf die Schar, die vom Voreux kam. Der alte Mouquet und Chaval waren darunter. Seit dem Tode seiner Tochter Mouquette und seines Sohnes Mouquet versah der Alte seinen Dienst als Stallknecht, ohne zu klagen. Als er aber Etienne erblickte, übermannte ihn die Wut. »Du Schmutzfink! Du Schweinekerl!« heulte er auf. »Du sollst mir für meine Kinder bezahlen!« Er hob einen Ziegel auf und schleuderte ihn gegen Etienne. »Schlagt ihn tot!« schrie Chaval, entzückt über diese Gelegenheit, sich zu rächen. Er begann ebenfalls, Etienne mit Steinen zu bombar398
dieren. Auch alle anderen hoben Ziegel auf und schleuderten sie gegen Etienne. Er war ganz betäubt. Er dachte nicht an Flucht. Er versuchte, die Schreienden durch Zureden zu beschwichtigen. Er sprach dieselben Worte, die früher so viel Beifall gefunden hatten. Aber seine Macht war geschwunden, Steinwürfe waren die einzige Antwort. Er wurde am linken Arm verletzt und wich immer weiter zurück, bis er an das Haus Rasseneurs gedrängt war. Rasseneur hatte die Szene schon eine Weile, im Rahmen seiner Tür stehend, beobachtet. »Tritt ein«, sagte er einfach. Etienne zögerte. »Tritt ein, ich werde mit ihnen sprechen.« Etienne entschloß sich, der Aufforderung zu folgen, während Rasseneur mit seinen breiten Schultern den Eingang versperrte. Er hatte endlich Gelegenheit, seinen Einfluß zu beweisen. Er rief den Aufgeregten zu: »Seid doch vernünftig, ihr wißt doch, daß ich euch niemals getäuscht habe.« Er ließ seiner Beredsamkeit freien Lauf. Beifällige Rufe wurden laut. Er hatte Erfolg wie früher. Er schloß die Tür, nachdem die Schar sich zerstreut hatte. »Trinken wir ein Bier miteinander«, schlug er Etienne.
XVIII Am Sonntag schlich sich Etienne gegen Abend aus dem Dorf. Er stieg zum Kanal hinunter und folgte langsam der steilen Böschung in der Richtung nach Marchiennes. Das war sein liebster Spaziergang. Hier gab es keine Begegnungen. Es überraschte ihn, als er einen Mann auf sich zukommen sah. Die beiden einsamen Spaziergänger erkannten sich. »Ah, du bist es«, sagte Etienne. Souvarine nickte nur, ohne zu antworten. Einen Augenblick standen sie einander schweigend gegenüber. Dann schritten sie Seite an Sei399
te weiter. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, als ob er weit weg von dem anderen wäre. »Hast du in der Zeitung von Plucharts Erfolg in Paris gelesen?« fragte Etienne. Souvarine zuckte die Achseln. Er verabscheute die Schönredner, diese Burschen, die sich der Politik widmeten, um sich durch ihre Phrasen ein gutes Einkommen zu schaffen. »Hast du die neuen Plakate gesehen?« »Ja, ich habe sie gesehen.« »Na, wie denkst du darüber?« »Ich denke, daß alles zu Ende ist. Die Herde wird wieder einfahren. Ihr seid alle zu feig!« Auf dem Kirchturm von Montsou schlug es neun Uhr. Souvarine erklärte, er gehe nun heim, um zu Bett zu gehen. Ohne Etienne die Hand zu reichen, sagte er: »Lebe wohl. Ich verlasse Montsou.« »Du willst fort?« »Ich habe mein Arbeitsbuch zurückverlangt.« Etienne sah ihn erstaunt an. »Du willst wirklich fort? Wohin?« »Das weiß ich selbst noch nicht.« »Aber ich werde dich wiedersehen!« »Das glaube ich nicht.« Beide standen einander einen Augenblick schweigend gegenüber. Sie wußten nicht, was sie noch sagen sollten. »Also, lebe wohl!« »Leb wohl.« Während Etienne ins Dorf zurückging, wandte sich Souvarine wieder dem Kanal zu. Als es Mitternacht schlug, verließ er die Böschung und kehrte zum Voreux zurück. Um diese Zeit lag der Voreux verödet da. Souvarine begegnete nur einem verschlafenen Aufseher. Die Kessel sollten erst in zwei Stunden für den Wiederbeginn der Arbeit geheizt werden. Erst holte Souvarine aus einem Schrank einen Rock, den er vorgab, vergessen zu haben. In diesem Rock befanden sich allerlei Werkzeuge: Ein Bohrer, eine kleine, aber sehr starke Säge, ein Hammer und ein Meißel. Dann ging er hinaus. Doch anstatt zum Tor zu 400
gehen, bog er in einen schmalen Gang ein, der zu den Leitern führte. Den Rock unter dem Arm haltend, stieg er langsam in das Dunkel hinunter. Er zählte die Sprossen der Leitern, um zu wissen, wie tief er war. Nachdem er Sprossen von fünfundvierzig Leitern gezählt hatte, tastete er mit der Hand nach der Verzimmerung. Das war die Stelle, die er suchte. Er ging mit der Gewandtheit und Kaltblütigkeit eines Arbeiters, der seine Arbeit wohl überlegt hat, ans Werk. Er sägte ein Stück der Schachtfüllung aus, um zum Förderschacht zu gelangen. Dort lockerte er die Schrauben, so daß ein kräftiger Stoß genügte, um sie herauszutreiben. Das war ein tollkühnes Unterfangen. Souvarine war nahe daran, die hundertachtzig Meter hinunterzustürzen, die ihn vom Grund der Grube trennten. Er mußte sich an der Leitung anklammern und stieg, über dem Abgrund schwebend, auf die Querbalken. Nur auf einen Ellbogen oder ein Knie gestützt, schob er sich in ruhiger Todesverachtung weiter. Nachdem Souvarine die Schrauben gelockert hatte, griff er die Wand selbst an. Er suchte das Stück, das alle anderen hielt, während das durch Löcher und Spalten in dünnen Strahlen hervordringende Wasser ihn blendete und eisiger Schauer ihn durchnäßte. Tiefe Nacht umgab ihn. Er schlug blindlings auf die Verzimmerung los. Ärgerlich über sich selbst, holte er tief Atem und ging ohne Überstürzung in den Schacht zurück: Das Ungetüm hatte nun seine Wunde. Es würde sich zeigen, ob es am Abend noch am Leben war. Souvarine verbarg seine Werkzeuge sorgfältig im Rock und stieg langsam nach oben. Es schlug drei Uhr. Er blieb auf dem Weg stehen und wartete.
Um die gleiche Zeit erregte ein leises Geräusch die Aufmerksamkeit Etiennes. Er konnte nicht schlafen. Deutlich unterschied er den leichten Atem des Kindes, das Schnarchen Bonnemorts und der Maheude. Er hörte, daß ein Strohsack knisterte. Wolle jemand aufstehen und be401
mühte sich, jedes Geräusch zu vermeiden? Fühlte sich Catherine nicht wohl? Er fragte leise: »Bist du es? Was fehlt dir?« Niemand antwortete. Etienne hörte nur das Schnarchen. Fünf Minuten rührte sich nichts. Dann begann es wieder zu knistern. Er tastete sich im Dunkel zu Catherines Bett und stellte fest, daß sie am Bettrand saß. »Warum antwortest du nicht? Was machst du denn?« »Ich stehe auf«, flüsterte sie. »So früh?« »Ich will in die Grube zur Arbeit gehen.« Etienne setzte sich neben sie auf den Bettrand. Sie erklärte: »Dieses Leben hier ist mir eine Last. Ich ziehe die Mißhandlungen Chavals vor. Laß mich. Ich will mich anziehen.« Er hörte ihre bittende Stimme: »Du wirst mich doch nicht verraten, nicht wahr?« »Ich gehe mit dir«, sagte Etienne. Er staunte über sich selbst. Er hatte doch geschworen, nicht wieder einzufahren. Woher kam dieser unvermutete Entschluß, ohne daß er auch nur einen Augenblick lang überlegt hätte? Sie zogen sich beide mit der größten Vorsicht im Finstern an. Sie wuschen sich nicht, um sich nicht durch ein Geräusch zu verraten. Alle schliefen. Sie hörten die tiefen Atemzüge, schlichen sich sacht hinaus und verschlossen die Haustüre. Sie gingen zur Grube.
Souvarine war in der Nähe von Rasseneurs Haus stehengeblieben. Seit einer halben Stunde beobachtete er die Kohlenarbeiter, die zur Arbeit gingen. Er zählte sie, wie die Fleischer die Tiere zählen, die ins Schlachthaus getrieben werden. Plötzlich zuckte er zusammen. Unter den Vorübergehenden, deren Gesichtszüge er nicht unterschied, hatte er Etienne wahrgenommen. Er trat auf ihn zu und hielt ihn an: »Wohin gehst du?« »Bist du noch da?« 402
Souvarine erkannte an der verlegenen Haltung Etiennes, wohin er wollte. »Ich will zur Arbeit«, sagte Etienne. Er erklärte: »Ich kann die Hände nicht in den Schoß legen und auf Ereignisse warten, die vielleicht in hundert Jahren eintreten werden.« Souvarine griff ihn an der Schulter. »Geh heim! Ich will es!« Etienne protestierte: »Ich gestehe niemandem das Recht zu, ein Urteil über meine Handlungsweise zu fällen.« Als Catherine näherkam, erkannte Souvarine sie. Er trat mit einer Gebärde, die eine plötzliche Verzweiflung ausdrückte, einen Schritt zurück. Wenn das Herz eines Mannes das Bild einer Frau umschloß, war auf ihn nicht mehr zu rechnen. Der Tod war die einzige Lösung. »Geh!« sagte er. Etienne blieb verlegen stehen und suchte ein freundliches Wort zum Abschied. »Du verläßt uns also wirklich?« fragte er. »Ja.« »Nun, so gib mir die Hand. Glückliche Reise, und nichts für ungut!« Souvarine reichte ihm eine eisige Hand. »Leb wohl«, sagte er und verfolgte mit seinen Blicken Etienne und Catherine, die in den Voreux eintraten.
Um vier Uhr begann die Einfahrt. Niemand sprach, als der Fahrstuhl eingehakt wurde und in die Tiefe versank. Als der Förderkorb schon zwei Drittel der Fahrt zurückgelegt hatte, hörten die Einfahrenden schreckliches Scharren. Das Eisen krachte. »Verdammt noch mal«, fluchte Etienne. »Wollen sie uns hier platt drücken? Ihre Verzimmerung wird uns noch alle den Kragen kosten. Und da sagen sie noch, sie sei ausgebessert worden.« Der Förderkorb hatte inzwischen das Hindernis überwunden, aber von oben kam jetzt ein so heftiger Wasserstrahl, daß die Arbeiter besorgt wurden. Pierron, den die Einfahrenden befragten, da er schon seit einigen Tagen unten arbeitete, wollte sich seine Angst nicht an403
merken lassen. »Oh, das ist keine Gefahr«, erwiderte er. »Das war schon immer so. Man hat nur keine Zeit gehabt, die Pflöcke fest einzutreiben.« Es rauschte über ihren Köpfen. Ein Wasserfall ging auf sie nieder, als sie unten ankamen. Aber kein Aufseher dachte daran, die Sache näher zu prüfen. Chaval kam zu der Abteilung, der Etienne und Catherine angehörten. Das war kein Zufall. Er hatte sich erst hinter den Kameraden versteckt gehalten und sich dann dem Aufseher aufgedrängt. Der Arbeitsplatz dieser Abteilung war am Ende des Nordstollens, fast drei Kilometer weit. Ein Erdsturz versperrte den Weg. Etienne, Chaval und fünf andere Männer räumten das Geröll fort, während Catherine und zwei Jungens den Wagen zur Rollbahn schoben. Als sie den ersten Wagen fortgeschoben hatte, kam Catherine erschreckt mit der Meldung zurück, auf der Rollbahn sei niemand mehr. »Ich habe gerufen, aber niemand hat mir geantwortet. Alle sind fort.« Die Aufregung wurde so groß, daß alle zehn Mann ihr Werkzeug fortwarfen und davonliefen. Der Gedanke, daß sie so allein in der Grube zurückgeblieben seien, machte sie toll. Der Aufseher verlor den Kopf, rief in die Stollen hinein, immer mehr erschreckt durch diese Stille in den endlosen Gängen. Was ging denn vor, daß sie niemandem begegneten? Die Unkenntnis der Gefahr, deren drohende Nähe sie fühlten, erhöhte das Entsetzen. Als sie sich endlich dem Förderschacht näherten, versperrte ihnen entgegenströmendes Wasser den Weg. Das Wasser stand ihnen bis an die Knie. Sie konnten nicht mehr laufen. Sie wateten mühsam durch die Flut vor. »Die Verzimmerung ist geplatzt!« schrie Etienne. »Ich sagte es ja, daß es uns noch das Leben kosten wird.« Seit der Einfahrt hatte Pierron besorgt beobachtet, wie das in den Schacht dringende Wasser zunahm. Er zuckte zusammen, als er bemerkte, daß sich der zehn Meter tiefe Schacht unter ihm mit Wasser zu füllen begann. Das war ein Anzeichen dafür, daß das Pumpwerk den Wasserandrang nicht mehr bewältigen konnte. Mouquet erschien mit 404
seinem Pferd. Er mußte es mit beiden Händen halten, denn das alte, schwerfällige Tier zitterte am ganzen Körper. Fast in demselben Augenblick krachte der Einsturz. Ein Stück Verzimmerung hatte sich losgelöst und stürzte hundertachtzig Meter hinunter, von einer Wand zur anderen prallend. Der Aufseher schrie nach dem Ingenieur. Ein entsetzliches Gedränge entstand. Aus allen Stollen eilten die Arbeiter herbei und stürzten sich Hals über Kopf zum Aufzug. In diesem Augenblick erreichte die Gruppe mit Etienne und Chaval den Schacht. Sie sahen den Aufzug verschwinden und stürzten vor. Doch die zusammenbrechende Verzimmerung zwang sie zurückzuweichen. Der Schacht verstopfte sich, der Aufzug würde nicht mehr herunterkommen können. »Wir müssen versuchen, durch Requillart hinauszukommen!« schrie Chaval. Der Gedanke, daß sie durch die alte Grube entkommen könnten, trieb alle zur Eile an. Das Wasser stieg nicht mehr. Sie begannen wieder zu hoffen. Ein alter Arbeiter murmelte längst vergessene Gebete. Bei der ersten Kreuzung gab es eine Meinungsverschiedenheit. Die einen wollten links abbiegen, die anderen beteuerten, man könne den Weg abkürzen, wenn man sich nach rechts wende. »Laßt meinetwegen eure Haut hier, mir kann's gleich sein!« rief Chaval barsch. »Ich gehe hier.« Etienne war der letzte im Zug. Er half Catherine, die vor Erschöpfung und Angst nicht mehr weiterkonnte. Er hatte sich mit Chaval nach rechts gewandt, denn er glaubte, das sei der richtige Weg. »Hänge dich an meinen Hals, ich werde dich tragen«, sagte Etienne zu Catherine, als er sah, daß ihre Kräfte schwanden. »Nein, laß mich, ich kann nicht mehr, ich will lieber sofort sterben.« Sie waren etwa fünfzig Meter hinter den anderen zurückgeblieben. Er hob sie trotz ihres Widerspruchs hoch, als sich plötzlich der Stollen vor ihnen schloß. Ein gewaltiger Brocken stürzte herab und trennte sie von den anderen. Sie mußten auf dem Weg zurückkehren, auf dem sie gekommen waren. Sie wußten nicht mehr, in welcher Richtung sie gingen. Etienne erkannte den Wilhelms-Schacht. Das Wasser umbrande405
te ihre Brust. Sie konnten sich nur langsam vorwärtsarbeiten. So erreichten sie den Rollweg. Ihre Flucht dauerte jetzt bereits sechs Stunden. Würde man ihnen zu Hilfe kommen? Etienne sprach von sechs Stunden, ohne zu wissen, wie spät es war. In Wirklichkeit war der ganze Tag vergangen, während sie im Wilhelms-Schacht immer höher stiegen. Ganz durchnäßt und zitternd vor Kälte, richteten sie sich darauf ein, lange Zeit an Ort und Stelle zu warten. Catherine entkleidete sich ohne Scheu, um ihr nasses Gewand auszuwringen. Da sie barfuß war, nötigte Etienne sie, seine Schuhe zu nehmen. Sie hatte die Lampe niedrig geschraubt, so daß sie nur ein schwaches Licht erhellte. Doch nun meldete sich der Hunger. Nach einer kleinen Weile schlief Catherine vor Erschöpfung auf dem kalten Boden ein. Etienne scheute sich, sie zu wecken. Wäre es nicht grausam, sie aus dieser Ruhe zu reißen, vielleicht aus einem Traum, in dem sie sich in freier Luft und im goldenen Sonnenschein sah? Wohin sollten sie auch fliehen? In welche Richtung? Etienne überlegte und erinnerte sich, daß der Rollweg in diesem Teil des Schachtes mit einem anderen Rollweg in Verbindung stand. Das war ein Ausweg. Er weckte Catherine zart auf. »O mein Gott!« rief sie. »Es geht wieder los!« »Beruhige dich«, flüsterte er. »Der Weg ist frei, ich schwöre es dir!« Sie mußten gebückt bis an die Schultern im Wasser gehen, um zu dem Rollweg zu gelangen. Das Steigen war viel gefährlicher als zuvor. Der Weg war durch herabgestürztes Erdreich versperrt. Sie mußten in einen Stollen einbiegen. Sie blieben überrascht stehen, als sie das Licht einer Lampe vor sich erblickten. Ein Mann schrie ihnen zornig entgegen. »Da sind noch ein paar Schlauköpfe, die so dumm waren wie wir!« Sie erkannten Chaval, dem der Weg durch einen Erdrutsch versperrt worden war. Seinen beiden Kameraden war dabei der Schädel zerschmettert worden. Obwohl er am Arm verwundet war, hatte er doch den Mut gehabt, auf den Knien zu ihnen zu kriechen, um ihre beiden Lampen zu holen und sich ihrer Brotschnitten zu bemächtigen. Als er Etienne und Catherine sah, begann er zu lachen. »Ah, du bist 406
es, Catherine! Du kommst also zu deinem Mann. Gut! Gut! Wir können hier zusammen tanzen.« Er stellte sich so, als sehe er Etienne nicht, und lachte immer noch, obwohl das Wasser stieg. Der Rückzug war abgeschnitten. Chaval richtete sich häuslich ein. Zunächst stellte er die Lampen längs der Wand auf. Dann legte er die beiden Brotschnitten auf einen Balken. Er konnte zwei Tage damit auskommen, wenn er vernünftig war. Er wandte sich zu Catherine. »Die Hälfte ist für dich, wenn du Hunger hast.« Sie schmiegte sich an Etienne, beunruhigt durch die Blicke, die ihr ehemaliger Geliebter ihr zuwarf. Die Stunden vergingen. Ein seltsames Geräusch veranlaßte Etienne und Catherine aufzublicken. Chaval hatte zu essen begonnen. Er kaute langsam und schmatzte. Mit vollen Backen fragte er Catherine: »Du willst also nicht essen?« Sie senkte die Augen aus Angst, der Versuchung zu erliegen. So verging der ganze Tag. Als Chaval in seine zweite Brotschnitte biß, brummte er: »So komm doch, du dummes Ding.« Um ihr volle Freiheit zu lassen, hatte Etienne sich zurückgezogen. Er flüsterte ihr zu: »Geh doch! Iß, mein Kind.« Sie konnte nur mehr weinen. Chaval setzte sich neben sie und teilte mit ihr seine letzte halbe Brotschnitte. Chatherine kaute mühsam und bezahlte jeden Bissen mit einer Umarmung, die Chaval erzwang. Er wollte nicht sterben, ohne angesichts Etiennes wieder von ihr Besitz ergriffen zu haben. Sie war völlig erschöpft und ließ ihn gewähren. Doch als er sie nehmen wollte, stieß sie einen Klageruf aus. »Laß sie in Ruhe!« schrie Etienne. »Was geht das dich an«, sagte Chaval und preßte seinen roten Bart auf den Mund Catherines. »Wenn du sie nicht in Ruhe läßt, erwürge ich dich.« Etienne war völlig von Sinnen. Er hatte eine Schieferplatte in der Felswand erfaßt, lockerte sie und zerrte sie hervor: Ein breites, schweres Stück. Er schwang die Platte mit beiden Händen und ließ sie mit aller Kraft auf Chavals Schädel niedersausen. Mit zerschmetterter Hirnschale sank Chaval zu Boden. Das Blut 407
spritzte zur Decke des Stollens. Das trübe Licht der Lampe spiegelte sich auf dem Boden in der Blutlache. Etienne sah starren Blickes auf die Leiche. Der kleine Soldat mit dem Messer tauchte vor ihm auf. Jetzt hatte auch er getötet. Catherine schluchzte laut. »Du bedauerst es?« fragte Etienne wild. »Ach, töte mich auch«, stammelte sie und sank in seine Arme. »Laß uns beide sterben.« Er preßte sie fest an sich. Sie hofften, daß sie nun sterben würden. Doch der Tod hatte keine Eile, ihre Arme lösten sich wieder. Etienne schleppte die Leiche Chavals fort und warf sie in die Rollbahn, während Catherine die Augen bedeckte. Sie hatten die letzte Lampe angezündet und sahen bei ihrem Schein das Wasser unaufhaltsam steigen. Sie flüchteten in den Hintergrund des Stollens. Das gab ihnen einige Stunden Frist. Das Wasser holte sie ein und ging ihnen schon bis an die Hüften. Die Lampe brannte immer matter. Plötzlich erlosch sie. Da erwachte in beiden der Lebensdrang. Etienne begann, mit dem Haken der Lampe den Schiefer zu bearbeiten, während Catherine mit ihren Nägeln nachhalf. So schafften sie sich eine Art erhöhter Bank. Sie saßen nebeneinander mit gekrümmten Rücken. Tiefe Stille herrschte. In der ertränkten Grube rührte sich nichts mehr. Noch ein letztes Mal hatten sie an den Felsen klopfen wollen, doch der Stein lag jetzt im Wasser. Wer sollte sie übrigens hören? In ihr Schicksal ergeben, lehnte sich Catherine erschöpft an die Felswand. »Höre«, flüsterte sie. Etienne lauschte ebenfalls. Einige Sekunden qualvollen Wartens vergingen. Dann vernahmen sie beide aus der Ferne schwache Schläge in langen Zwischenräumen. Noch zweifelten sie, daß eine Rettung möglich sei. Sie wußten auch nicht, womit sie den Zeichen antworten sollten. Da kam Etienne der Gedanke: »Du hast doch die Holzschuhe, versuch es damit.« Sie pochten und pochten wieder. Sie lauschten. Wieder unterschieden sie in der Ferne ganz deutlich drei Schläge. Sie weinten und umarmten sich auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Bald 408
vernahmen sie die Schläge der Spitzhacke wieder. So verging ein Tag. Zwei Tage. Das Wasser, das ihnen bis an die Hüften gereicht hatte, war weder gestiegen noch gefallen. Im eisigen Bad erstarrten ihre Beine. Nur mühsam vermochten sie ihre Füße hochzuziehen. Anfangs litt Catherine unter Hungerqualen. Ihr Ledergürtel verschaffte ihnen Erleichterung. Es beschäftigte ihre Kinnbacken, wenn sie kauten, und erhielt sie im Wahn, daß sie äßen. Als Catherine sich einmal bückte, um zu trinken, berührte sie einen schwimmenden Körper. »O mein Gott. Er ist es!« »Wer denn?« »Du weißt doch, wer. Ich habe seinen Bart gefühlt.« Es war der Leichnam Chavals, der angeschwemmt worden war. Etienne berührte den Bart und die Nase. Ein Schauer überlief ihn. »Warte«, stammelte er, »ich will ihn zurückschicken.« Er gab der Leiche einen Fußtritt. Bald fühlten sie sie aufs neue an ihren Beinen. Immer wieder brachte die Strömung die Leiche zurück. Chaval war also noch bis zum letzten Augenblick da, um ihr Beisammensein zu stören. Die Schläge der Spitzhacken näherten sich. Das Wasser fiel. Chavals Leiche schwamm fort. Sie konnten einige Schritte durch den Stollen gehen, als eine furchtbare Erschütterung Catherine zu Boden warf. Etienne tastete sich zu ihr. Sie blieben fest umschlungen, ohne zu begreifen, was geschehen war. Catherine lachte leise vor sich hin. »Es muß schön sein draußen … Komm, laß uns hinausgehen.« Alle abergläubischen Vorstellungen ihrer Kindheit regten sich in Catherine. Sie glaubte, den schwarzen Mann zu sehen: das Grubengespenst. Plötzlich fiel sie Etienne um den Hals und suchte seinen Mund. Sie preßte ihre Lippen leidenschaftlich auf die seinen. Er zitterte, als er sie so nahe bei sich fühlte, halb nackt unter ihren zerfetzten Kleidern. Er drückte sie fest an sich. So waren Catherine und Etienne endlich vereint. In dieser tiefen Gruft liebten sie sich. Während sie an allem verzweifelten, liebten sie sich im Tode. Und dann war alles vorbei. Etienne hockte auf dem Boden, immer 409
noch in derselben Ecke, und Catherine lag reglos auf seinen Knien. Stunde um Stunde verging. Lange Zeit glaubte er, daß sie schlafe. Als er sie dann berührte, war sie eiskalt. Sie war tot. Er aber bewegte sich nicht, aus Furcht, sie zu wecken. Er hörte irgend etwas, das über seinem Kopf pochte. Mächtige Schläge kamen immer näher. Er träumte, daß Catherine vor ihm hergehe und daß er das leise Klappern ihrer Schuhe hörte. Die Zeit verging, ohne daß er sich bewegte. Dann fühlte er einen Stoß. Stimmen wurden laut. Gestein rollte vor seine Füße. Als er das Licht einer Lampe erblickte, begann er zu weinen. Die Kameraden trugen Etienne hinaus, einen abgezehrten Mann mit schneeweißem Haar. Man flößte ihm Fleischbrühe zwischen die fest aufeinander gepreßten Zähne. Als Etienne zu sich kam und sich wieder aufrichten konnte, traten alle zur Seite beim Anblick dieses Greises. Sogar die Maheude, die neben der toten Catherine niedergesunken war, unterbrach ihr Jammern und sah Etienne mit großen, starren Augen voll Entsetzen an.
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Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
Kaiserliche und königliche Konflikte: Der Erste Weltkrieg I Die Romane Emile Zolas, die so eindringlich die Nöte armer und oft hilfloser Arbeiter schilderten, trugen dazu bei, das aufstrebende Bürgertum zu ›sozialem Bewußtsein‹ anzuregen. Es gehörte um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert beinahe zum guten Ton, für oder gegen die Arbeiterschaft Stellung zu nehmen, die mit Recht in allen zivilisierten Ländern der Erde eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erstrebte. Sie forderte nicht nur eine gerechtere Verteilung des Ertrages von Arbeit und Kapital, d.h. kürzere Arbeitszeit und höhere Löhne, sondern verständlicherweise auch Arbeitsschutzgesetze, die Freiheit der Meinungsäußerung und des Zusammenschlusses. Leider begnügten sich die hartnäckigsten Vorkämpfer für eine gesellschaftliche Umwälzung nicht mit dem Ausbau und der Neugründung von Gewerkschaften und der gesetzmäßigen Wahl von Interessenvertretern in politische Verbände und Parlamente, sondern versuchten törichterweise auch durch die Schockwirkung eines unerwarteten, aufsehenerregenden Geschehens, die gleichgültige Mitwelt aufzurütteln und zur Anteilnahme am Schicksal der Minderbemittelten und Minderberechtigten zu zwingen. Die besonders in Rußland von einigen dieser gefährlichen Propagandisten verübten Attentate auf Herrscher und Staatsmänner wollten oft nur Unruhe und Unsicherheit verbrei412
ten und Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Umsturz erwecken. So wurde im Jahre 1881 der russische Zar, Alexander II. bei einem Mordanschlag getötet. Daneben gaben in diesen Jahrzehnten auch ›Anarchisten‹ ihrer Unzufriedenheit mit jeder Gesellschaftsordnung Ausdruck. Dem Messer eines Italieners fiel 1898 Kaiserin Elisabeth von Österreich zum Opfer, obwohl sie sich in den letzten Lebensjahren aller Politik ferngehalten und, wie die meisten großen Damen ihrer Zeit, in kunstverständige Schöngeisterei geflüchtet hatte. Die vornehme Ausschmückung von Heim und Garten, die spätere Jahrzehnte oft ihrer Schwülstigkeit wegen als Kitsch bezeichneten, das geistreiche Geplauder in den Salons der Fürsten und Hochadligen, deren Glanz von den reichen Bürgern ehrgeizig nachgeahmt wurde, traten in immer schrofferen Gegensatz zu der schier ausweglos scheinenden Not der breiten Masse. Der Begriff des ›sozialen Gewissens‹, das immer weitere Kreise empfindlich berührte, mochte auf wirkliche Schuldgefühle und auf die Furcht der verhältnismäßig wenigen vor den vielen zurückzuführen gewesen sein. In England beugten fortschrittliche Maßnahmen vorausschauender Staatsmänner bedrohlich Ausbrüchen vor; unter anderem wurde durch mehrere Parlamentsreformen allen Arbeitern das Wahlrecht zugesprochen und 1901 die Gründung der Labour-Party, der großen Arbeiterpartei, gebilligt. Der tief verwurzelte Liberalismus der englischen Behörden und eine gesicherte Rechtssprechung verhinderten willkürliche Übergriffe. In Rußland dagegen wurde jede soziale Bewegung, besonders unter dem politisch völlig unfähigen Alexander III. als ›revolutionär‹ verurteilt und gewaltsam erstickt. Die für verantwortlich Befundenen wurden zu grausamen Strafen verurteilt. Die furchtbaren Zuchthäuser und die schauerlichen Strafverschickungen nach Sibirien, zu denen nicht nur geständige und verdächtige Revolutionäre, sondern auch aufgeschlossene Verteidiger der Menschenrechte verdammt wurden, waren, nicht zuletzt seit Dostojewskijs ›Aufzeichnungen aus einem Totenhaus‹, das Schreckgespenst der russischen Arbeiterbewegung. Dennoch setzten die russischen Vorkämpfer des Sozialismus ihre Tätigkeit mit ungebrochenem Mut fort, denn 413
sie hielten es für unmenschlich, daß ein Großteil der Landbevölkerung, auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, sehr arm und elend blieb. Sie waren nicht nur ›Proleten‹, wie sie geringschätzig von den herrschenden Offiziers- und Adelskreisen bezeichnet wurden, sondern auch dem Kleinadel und dem Bürgertum entstammende Studenten, wie der angehende Jurist Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich den Namen Lenin (nach dem ostsibirischen Fluß Lena) zulegte. Während Lenin als politischer Häftling in Sibirien die Philosophie des aktiven Kommunismus, den ›dialektischen Materialismus‹, mit dem Ziel der ›Diktatur des Proletariats‹ begründete, wurde der erste Parteitag der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Minsk abgehalten. Aber auch diesmal wurden die bedeutendsten Mitglieder des veranstaltenden Komitees verhaftet und nach Sibirien verschleppt. Einige von ihnen konnten ihre unterirdische Tätigkeit in Rußland durch verläßliche Mittelsmänner fortsetzen. Der Druck der Polizei ließ nicht nach. Dennoch verstärkte sich die revolutionäre Strömung mit unheimlicher Schnelligkeit. Einige Jahre nach ihrem ersten Parteitag spaltete sich die russische Sozialdemokratie auf einem zweiten Parteitag, der in Brüssel begann und dann nach London verlegt wurde, in die ›Bolschewiken‹ unter der Führung Lenins, der ›aktive Revolutionäre‹ verlangte, und in eine gemäßigte Minderheit, die ›Menschewiken‹, die zu taktischen wirtschaftlichen und politischen Zugeständnissen bereit waren. Die Partei Lenins gewann die Oberhand. Im mitteleuropäischen Raum, in dem die Sozialdemokratie mit gemäßigten Forderungen unter sicherer Leitung Fuß fassen konnte, versuchten die jeweiligen Machthaber durch Polizeimaßnahmen einschüchternd zu wirken. Aber das waren, besonders in der österreichisch-ungarischen Monarchie, um so erfolglosere Versuche, da es nicht einmal genug Spitzel gab, um die sich auch dauernd verschärfende Nationalitätenpropaganda zu überwachen. Der von Rußland geförderte Panslawismus unterhöhlte das Kaiser- und Königreich, das von dem vorzeitig uralt gewordenen Franz Josef I. eigentlich nur noch sinnbildlich beherrscht wurde. 414
II Es war Kaiser Franz Josef nichts erspart geblieben. Er hatte seine Frau verloren und vorher seinen einzigen Sohn Rudolf, der angeblich mit seiner Geliebten Selbstmord in Mayerling begangen hatte. Die Hintergründe dieses traurigen Vorfalls blieben ungeklärt. Jene, die Rudolf gekannt hatten, widersprachen der Verlautbarung, daß der Kronprinz sinnesverwirrt gewesen sei. Sie rühmten seinen klaren Verstand, seine Lebenslust und seine durch und durch liberale, völkerversöhnende Gesinnung, die er unter anderem in geheimgehaltenen Unterredungen mit dem damals noch ziemlich unbekannten französischen Politiker Georges Clemenceau zum Ausdruck gebracht hatte. Rudolf hatte sich vom ›Berliner Gängelband‹ loslösen wollen. Die ›preußische Bevormundung‹ erschien ihm unerträglich, seit der Enkel Wilhelms I. Kaiser des Deutschen Reiches geworden war. Der Kronprinz hatte seine Abneigung anläßlich eines Besuchs Wilhelms II. in Wien deutlich gezeigt und auch gegen die Vorwürfe seines Vaters mit der Begründung vertreten, daß die Aufrechterhaltung des Bündnisses Österreich-Ungarns mit dem militanten Deutschen Reich eine unabwendbare Katastrophe mit sich bringen müsse. Nur ein Bündnis Österreich-Ungarns mit Frankreich könne zu der für den Bestand der Monarchie unerläßlichen, friedlichen Einigung mit Rußland führen. Diesen Standpunkt verfocht Kronprinz Rudolf auch in Zeitungsartikeln, deren politische Richtung er beeinflußte oder die er unter Decknamen in bürgerlichen Zeitungen veröffentlichte. Das vielverbreitete Gerücht, daß der Kronprinz den Kaiser zur Abdankung habe zwingen wollen und gemaßregelt worden sei, fand keine Beweise. Aber es bestand in eingeweihten Kreisen kaum ein Zweifel, daß die als ›umstürzlerisch‹ bezeichneten Meinungsäußerungen des Thronerben dem Kaiser lästig gewesen waren. 415
Der Tod Rudolfs kam Kaiser Wilhelm II. um so gelegener, als er den Ehrgeiz des neuen österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, des Neffen Franz Josefs, durch bewährte Mittelsmänner anspornen und schließlich in jede Richtung lenken konnte, die ihm genehm war. So blieb die österreichisch-ungarische Außenpolitik an die des Deutschen Reiches gebunden, und Franz Josef machte mit greisenhaft zitternden Fingern jedes Säbelrasseln Wilhelms II. mit, obwohl es ihn selbst erschreckte und er viel lieber friedlich zu Ende gelebt hätte. Welche Ziele verfolgte der deutsche Kaiser, der sich kurz nach seiner Thronbesteigung der mit dem Zepter ererbten Vormundschaft des Fürsten Bismarck auf zwar unschöne Weise, aber auch teilweise berechtigten Gründen entzogen und den Reichskanzler in den unerwünschten Ruhestand versetzt hatte? Seine Beurteilung ist schwierig und belastet von der Katastrophe, in die seine Politik schließlich führte. Zwar war er weitaus begabter als seine Vorgänger, Wilhelm I. und Friedrich III. phantasievoll und geistreich, aber doch auch von verhängnisvoller Unausgeglichenheit. Bei internen Beratungen durchaus maßvoll und vernünftig, verstieg er sich bei seinen berüchtigten Stegreifreden in der Öffentlichkeit zu haltlosen und großzügigen Tiraden. Falsche Erziehung, vor allem durch die Mutter, hatten aus einem Manne, der ein fähiger Staatsmann hätte werden können, einen geltungssüchtigen, großsprecherischen Menschen werden lassen, der leider nur einer einzigen Äußerung Bismarcks mit fester Überzeugung anhing: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!« Diese Furchtlosigkeit zu beweisen, war Wilhelm II. unaufhörlich bemüht, und ihm lag daran, Deutschland zur mächtigsten Nation der Erde zu machen. England hatte die stärkste Flotte der Welt – Wilhelm II. wollte eine mindestens ebenso starke Kriegsmarine. England hatte das größte Kolonialreich – Wilhelm II. setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um Stützpunkte für den von ihm beabsichtigten, gewaltigen Ausbau der deutschen Kolonialmacht zu erwerben. Als das Königreich Spanien die Philippinen und Portoriko nach verlorenen Seeschlachten an die Vereinigten Staaten von Nordamerika ab416
treten und zustimmen mußte, daß die Insel Kuba eine Republik werde, erwarb Kaiser Wilhelm II. die Karolinen-, die Marianen- und die Palauinseln von Spanien. Der mit Wilhelm vielfältig verwandte Zar Nikolaus II. von Rußland betrieb den schon von seinem Vorgänger begonnenen Bau der Transsibirischen Eisenbahn; Rußland wollte – dem Beispiel der Vereinigten Staaten folgend – das ungeheure asiatische Hinterland bis zur Meeresküste erobern und erschließen. In England argwöhnte man daraufhin, daß auch der deutsche Kaiser Eroberungsabsichten im Fernen Osten habe. Das Kaiserreich China, durch das die Bahn führen mußte, war von dem durch preußische Instruktoren ausgebildeten, mit modernen Waffen versorgten japanischen Heer besiegt worden und hatte die Insel Formosa an Japan abtreten und die Unabhängigkeit Koreas anerkennen müssen. Erst hatte die Kaiserinwitwe von China ein geheimes Verteidigungsbündnis gegen einen neuerlichen japanischen Angriff mit Rußland abgeschlossen und dagegen den Bau der sibirischen Eisenbahn durch die Mandschurei genehmigt, dann aber, als Rußland Port Arthur widerrechtlich besetzte, um sich einen Kriegshafen im Fernen Osten zu sichern, eine Einigung mit Japan erzielt, um vor weiteren Übergriffen Rußlands geschützt zu sein. Später schloß Japan auch ein Bündnis mit England zur Rückendeckung. Die Haltung Wilhelms II. dessen Offiziere noch immer in der japanischen Armee tätig waren, hatte Japan mißtrauisch gemacht, denn der deutsche Kaiser hatte als Vergeltung für die Ermordung zweier deutscher Missionare in China Kiautschou besetzt und dann in einem Abkommen auf 99 Jahre gepachtet. Wilhelm II. freilich war nach wie vor davon überzeugt, daß ihm bei der vorgesehenen Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes im Fernen Osten Japan behilflich sein werde. Der Deutsche Reichstag hatte die von Wilhelm angeregten ›Flottengesetze‹ genehmigt; man war dabei von der Überlegung ausgegangen, daß eine starke deutsche Flotte jede Macht der Erde, besonders England, daran hindern würde, Deutschland zur See anzugreifen, da das ›Risiko‹ für sie zu groß sei. Inzwischen kam China nicht zur Ruhe. Das vergebliche Aufbegeh417
ren des Staates im Opiumkrieg und die chaotischen Verwüstungen, die der Taiping-Aufstand mit sich brachte, hatten den Widerstand der kaiserlich chinesischen Regierung gegen die ›Europäisierung‹ gebrochen. Es hatte der Errichtung von Gesandtschaften und Handelsvertretungen in Peking zustimmen müssen, aber die Politik der ›offenen Türe‹ ins Reich der Mitte führten zu einem willkürlichen Freibeutertum der europäischen Mächte und ihrer Bevollmächtigten auf chinesischem Boden. Dagegen erhob sich der fremdenfeindliche Geheimbund der ›Boxer‹. Der deutsche Gesandte in Peking wurde ermordet. Wilhelm II. verlangte Sühne. Alle Großmächte beteiligten sich an der Niederwerfung des ›Boxeraufstands‹, und die Kaiserinwitwe von China mußte die im ›Boxerprotokoll‹ festgelegten ›Sühnebedingungen‹ annehmen, die neben der Zahlung von 450 Millionen chinesischen Dollar eine demütigende Entschuldigung beim deutschen Kaiser beinhalteten. Alle europäischen Großmächte sicherten sich Verträge mit China, die ihnen Gebiete, Eisenbahnen und Bergwerkskonzessionen zugestanden. War der Kaiser von China der ›kranke Mann Asiens‹, wie der Sultan der Türkei der ›kranke Mann Europas‹ gewesen war? Und wer würde den größten Nutzen aus dem scheinbar unmittelbar bevorstehenden Zerfall des Reiches der Mitte ziehen? Natürlich Deutschland, äußerte vertraulich Wilhelm II. Und um seine ehrgeizigen Absichten zu bemänteln, sprach er bei jeder Gelegenheit von der ›gelben Gefahr‹.
III Nach dem Tode der Königin Victoria wurde der ›ewige‹ Prinz von Wales endlich als Eduard VII. König von England. Lange hatte er auf die Thronfolge gewartet und sich diese Zeit so heiter wie möglich vertrieben. Seine Pariser Aufenthalte, seine Beziehungen zu französischen Damen waren kein Geheimnis. Aber er hatte auch Menschenkenntnis und Weltblick erworben und erkannte nun, daß von Deutschland 418
eine Gefahr ausging, der am ehesten mit einem englisch-französischen Bündnis begegnet werden konnte. So schuf er die ›Entente cordiale‹, die auch die französisch-englischen Unstimmigkeiten im Mittelmeerraum beseitigen sollte. In England hatte die Arbeiterschaft durch die Gründung der LabourParty politische Bedeutung gewonnen. Die Liberalen hatten die Regierung von den Konservativen übernommen, und der neue Außenminister Sir Eduard Grey ließ sich aufgrund der ihm vorliegenden Geheimberichte nicht davon abbringen, daß Wilhelm II. die Oberherrschaft über Europa und die Welt anstrebte. Diese Überzeugung bestimmte seine Haltung in allen internationalen Fragen und führte auch zu einer Annäherung Englands an Rußland. Um den Bau der Transsibirischen Eisenbahn endgültig zu sichern, hatte Rußland die Mandschurei militärisch besetzt. Die japanische Regierung, die alles Interesse an der Aufrechterhaltung des ›Status quo‹ in China und auch an der Unabhängigkeit Koreas hatte, erhob Einspruch gegen die Besetzung. Als die Unterhandlungen scheiterten, lief die japanische Flotte ohne vorhergehende Kriegserklärung aus und überfiel mit einem überraschenden Torpedoangriff die im Hafen von Port Arthur verankerten russischen Kriegsschiffe. Starke japanische Truppenverbände landeten in Korea. Port Arthur fiel. Die gewaltige Schlacht zwischen Russen und Japanern bei Mukden, auf chinesischem Boden, endete mit einem japanischen Sieg. Die russische Ostseeflotte, die mit deutscher Kohle nach dem Fernen Osten ausgefahren war, wurde bei Tsushima von den Japanern vernichtet. Durch die Vermittlung Theodore Roosevelts, des Präsidenten der Vereinigten Staaten, kam es zum Frieden, in dem Rußland Port Arthur an Japan abtrat und sich verpflichtete, die Mandschurei zu räumen. Die russische Expansion im Osten war durch diese demütigende Niederlage gescheitert; neue außenpolitische Erfolge ließen sich vorerst nur noch im Westen erhoffen, vor allem von den ›vielversprechenden‹ Unruhen auf der Balkanhalbinsel. Doch im Innern kam das zaristische Riesenreich nicht mehr zur Ruhe. Eine Streikbewegung in Petersburg schlug Anfang 1905. in eine 419
wilde Revolution um, die fast ganz Rußland erfaßte. Die Intelligenz stand durchweg auf der Seite der Arbeiterschaft; auf dem Lande wurden fast 200 Gutshäuser, vor allem bei Großgrundbesitzern deutscher Abstammung, niedergebrannt. Ein kaiserliches ›Manifest‹ kündigte im Oktober des Jahres die Einführung der bürgerlichen Freiheit und des allgemeinen Wahlrechts in Rußland an. Die unfreundliche Einstellung der Londoner Presse gegen Wilhelm II. hielt an. Wann immer ein versöhnlicher Aufsatz über den deutschen Kaiser erschien, der doch ein Vetter des Königs von England war, wurde die ›Krüger-Depesche‹ aus der Versenkung hervorgeholt, jener telegrafische Glückwunsch Wilhelms an den Präsidenten der Burenrepublik, der den Einfall englischer Streifscharen nach Transvaal erfolgreich abgewehrt hatte. Es hieß, Wilhelm habe damals ›provozieren‹ und sich eines tüchtigen Partners für einen Kolonialkrieg gegen England versichern wollen. Wenn er sich jetzt auch manchmal bescheidener zeigte, galt er doch nur als ›Wolf im Schafspelz‹. Das Mißtrauen gegen Wilhelm II. war so tiefgreifend, daß auch seine Haltung in der sogenannten ›Ersten Marokkokrise‹ von England als feindlich bezeichnet wurde. Da der Sultan von Marokko immer weniger Herr im Lande war, wollte Frankreich ein Protektorat errichten; England hatte durch die ›Entente cordiale‹ den französischen Plan gebilligt. Das Deutsche Reich aber mischte sich ein, und der deutsche Kaiser traf zu einem demonstrativen Besuch beim Sultan von Tanger ein. Reichskanzler Bernhard von Bülow, der die großartige Kundgebung in Szene gesetzt hatte, wurde in den Fürstenstand erhoben, als der französische Außenminister zurücktrat, um sein Mißfallen über die Hinnahme des deutschen Affronts durch das französische Kabinett zum Ausdruck zu bringen. Wilhelm II. der schon Marokko oder doch einen Teil Nordafrikas sein eigen geglaubt hatte, sah sich plötzlich auf der internationalen Konferenz von Algeciras einer französisch-englisch-russischen Front gegenüber, der sich auch Italien anschloß. Frankreich setzte seinen Standpunkt durch; der Kaiser war gezwungen, seine Ansprüche auf Marokko aufzugeben, um einen aussichtslosen Krieg zu vermeiden. 420
Diesen Prestigeverlust konnte Wilhelm II. nicht verwinden, um so weniger, als der Sozialdemokrat Bebel einen scharfen Angriff gegen die Politik Bülows im Reichstag vorbrachte; der Reichskanzler erlitt darauf einen Ohnmachtsanfall. Gegen solche Unverschämtheiten der ›Zivilisten‹ gab es noch Gegenmittel, meinte Wilhelm: die Vertiefung des militärischen Denkens und die Vermehrung der militärischen Macht!
IV Neuartige Verständigungsmittel, vor allem Edisons und Marconis Erfindungen, zu telefonieren und ›drahtlos‹ zu telegrafieren, verbesserten die Verständigung zwischen den Herrschern untereinander und ihren Völkern nicht. Auch die immer schnelleren Verkehrsmittel trugen kaum zu politischer Annäherung bei. Die wichtigsten Städte der Erde waren durch Eisenbahnen miteinander verbunden oder rasch mit Dampfschiffen zu erreichen. Es gab schon Automobile und Flugzeuge – aber die Kaiser und Könige, die Präsidenten und ihre Minister ließen sich von althergebrachten und überlieferten Machtbegriffen leiten, als ob die technischen Fortschritte und die damit verbundenen sozialen Umwälzungen nicht den Beginn einer neuen Zeit eingeleitet hätten. Die Ausweitung der näheren und ferneren Einflußgebiete, die Ausdehnung und Verlegung von Grenzen blieb nach wie vor das Endziel der ›Kabinette‹ – während doch die Veränderungen der Lebensformen des einzelnen eine grundlegende Änderung der Weltanschauungen und Zielsetzungen nötig gemacht hätten. Nur auf dem Boden der Vereinigten Staaten entstand eine neuartige Lebensweise, die sich der technischen und sozialen Entwicklung anzupassen begann. Die allmähliche Entstehung dieses ›American way of life‹ war durch die ursprüngliche Verfassung bedingt, die die Freiheit und Gleichheit der Menschen gewährleistete und ihr Recht zum Widerstand gegen Bedrückung betonte. Die amerikanische Demokratie sicherte durch den Kongreß ihrer Volksvertreter die Souveränität des 421
Volkes, die in der Mehrheitswahl des Präsidenten zum Ausdruck kam. Seine ausübende Gewalt wurde ebenso wie die gesetzgebende Gewalt durch das Oberste Bundesgericht kontrolliert und in ihrer Willkür beschränkt. Das stand nicht nur in der Verfassung, sondern wurde auch in die Tat umgesetzt, beispielsweise durch die ›Antitrustgesetze‹, als die ›Trusts‹, die Zusammenballungen von Großbetrieben, die Freiheiten der Bevölkerung bedrohten. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten hatte einen so gewaltigen Aufschwung genommen, daß die unternehmungslustigen Fabrikanten und ihre Geldgeber einen überwältigenden Einfluß auf die Politik und die Gestaltung der Lebensführung gewonnen hatten. Durch den nicht abreißenden Strom der Einwanderer hatte die Bevölkerungsdichte in den Vereinigten Staaten rasch zugenommen. Im gleichen Verhältnis waren die Innenmärkte für Verbrauchsgüter angewachsen. Der Mangel an Hausgehilfen zum Beispiel hatte einen erhöhten Bedarf von Haushaltsmaschinen zur Folge und brachte eine Vereinfachung der Lebensweise mit sich. Um die Mühe der von ihrer Berufsarbeit ermüdeten Arbeiter zu sparen, wurden die Wohnräume auf das unbedingt nötige Ausmaß beschränkt und so Bequemlichkeit geschaffen. Die in Wellen aus aller Welt eingewanderten Neuankömmlinge wurden mit überraschender Schnelligkeit aufgesogen. Obwohl Gruppenbildungen nach Volk und Sprache theoretisch möglich waren und den Einwanderern Zeitungen in allen Sprachen zur Verfügung standen, verschmolz die amerikanische Bevölkerung zur Einheit und bediente sich, zumindest im Berufsleben, fast ausschließlich der englischen Sprache, die allerdings eine eigene Tönung und Färbung gewann. Die Vereinigten Staaten waren kein Paradies. Der Lebenskampf war hart. Er erforderte Anspannung in jeder Hinsicht. Aber die Möglichkeiten, die sich dem einzelnen eröffneten, waren größer als die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte, und der Wettkampf der Bewährung schärfte die Aufmerksamkeit, stählte die Zähigkeit und beflügelte den Ehrgeiz. Es ging hart auf hart zu. Aber jeder konnte und sollte ›an allem teilhaben‹. 422
Diesen Grundsatz machte sich auch der erste Großerzeuger des neuerfundenen Automobils, Henry Ford, zu eigen. Jede amerikanische Familie, die einen Gas- oder Elektroherd, ein Telefon und ein Grammophon besaß, sollte auch ein Automobil besitzen. ›Happy motoring‹ wurde das Werbeschlagwort der Erdölindustrie, die Benzin erzeugte. Und ›Happy motoring‹, ein glückliches Durch-die-Länder-Fahren, wurde der beliebteste Zeitvertreib der Neuen Welt, die der Alten Welt vorauszueilen begonnen hatte. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die von den europäischen Mächten so oft benützt, aber doch nur über die Schulter angesehen worden waren, nahmen schon nach dem russisch-japanischen Krieg, in dem Theodore Roosevelt als Friedensstifter und -richter vermittelt hatte, eine – wenn auch noch mit Neid und Mißtrauen betrachtete – Schlüsselstellung ein. Sie waren nicht nur reich, sondern auch mächtig geworden.
Die europäische Lage vor Ausbruch des ersten Weltkrieges war so verworren, daß nur neutrale Außenstehende sie überblicken konnten. England hatte, erschreckt durch die vielleicht übertrieben eingeschätzte Angriffslust Wilhelms II. die ›splendid isolation‹ aufgegeben. Er wollte nicht geduldig die Daumen drehen, während die deutsche Kriegsflotte Jahr um Jahr wuchs und die deutsche Industrie im atemlosen Wettlauf mit der Konkurrenz immer mehr produzierte – Waffen und Gebrauchsgegenstände. An allen Ecken und Enden des Erdkreises boten deutsche Verkäufer ihre Waren an und unterboten die Angebote anderer Verkäufer, wenn nicht im Preis, so doch durch die Zahlungsbedingungen. Wo immer eine politische Krise eintrat, zeigte sich gleich auch die deutsche Pickelhaube Wilhelms II. Als Österreich-Ungarn die Herzegowina und Bosnien annektierte, um den von Rußland geförderten, großserbischen Plänen durch die Errichtung eines großkroatischen Staates als dritten im Zweibund der Monarchie entgegenzuwirken, geschah dies wohl mit scheinbarer Zustimmung Rußlands, 423
dem Österreich dafür die Öffnung der Dardanellen versprochen hatte – ein Versprechen, das es nicht einhalten konnte –, aber in Wirklichkeit nur durch das drohende Dazwischentreten des Deutschen Reiches zugunsten Österreich-Ungarns. Wilhelm II. bot sich eine ausgezeichnete Möglichkeit, die persönliche Freundschaft des österreichischen Thronfolgers zu gewinnen. Erzherzog Franz Ferdinand hatte, von seinem kaiserlichen Onkel gezwungen, auf die Thronfolge etwaiger Kinder aus seiner ›unebenbürtigen Ehe‹ mit einer schlichten Gräfin verzichten müssen. Dieser Verzicht konnte vielleicht für null und nichtig erklärt werden, wenn Franz Ferdinand einmal Kaiser geworden war und sein Bundesgenosse auf dem deutschen Thron ›kaiserlich‹ zustimmte! Franz Ferdinand war ein begeisterter Verfechter des Gedankens vom Dreistaatenbund, des ›Trialismus‹, der die Bedeutung Ungarns und den russischen Einfluß innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie schwächen mußte. Rußland hatte die Annexion Bosniens und der Herzegowina nicht bekämpft, aber hatte es ihr wirklich zugestimmt? In Böhmen hörte der Sprach- und Machtkampf zwischen Tschechen und Deutschen nicht auf – eine Folgeerscheinung der panslawistischen Strömung, die von Petersburg aus unaufhörlich genährt wurde – und die Ungarn wehrten sich dagegen, ihre so mühselig errungene Stellung durch den Trialismus gefährden zu lassen. Der Zerfall der Reiche Franz Josefs kündigte sich bedenklich an, aber die Schwäche seines Bündnispartners hinderte Wilhelm II. nicht, auf seine eigene Stärke zu pochen. Er hatte die diplomatische Niederlage nach der ersten Marokkokrise nicht verwunden. Als nun offensichtlich wurde, daß Frankreich immer mehr über das hinausging, was ihm in der Konferenz von Algeciras zugestanden worden war, schickte Deutschland das Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir, angeblich auf Bitten deutscher Kaufleute zu deren Schutz, in Wirklichkeit aber, um sich endlich ein Stück des Landes zu sichern. Durch das Dazwischentreten der europäischen Mächte endete auch diese ›Zweite Marokkokrise‹ in Verhandlungen, die die Anerkennung Frankreichs in Marokko mit sich brachten, aber Wilhelm II. doch Ent424
schädigungen im mittelafrikanischen Kongogebiet zubilligten. Das war immerhin ein Erfolg, aber die bald darauf abgehaltenen deutschen Reichstagswahlen zeigten ein mächtiges Anschwellen der Sozialdemokratie, die in schärfster Opposition zu Wilhelms Außenpolitik stand, und das empfand der Kaiser als Herausforderung. Er brachte eine neue ›Flottenvorlage‹ ein und ließ sich auch durch den Besuch des englischen Kriegsministers Haidane nicht dazu bestimmen, diese Pläne zum weiteren Ausbau der Reichsmarine fallenzulassen. Sein Wunsch nach einer englischen Neutralitätserklärung in internationalen Fragen, die England nicht unmittelbar betrafen, wurde dann ebenfalls abgelehnt. Die Folge der gescheiterten Verhandlungen war eine Vertiefung des gegenseitigen Mißtrauens. Wollte Frankreich die ›Revanche‹ für 1870, die Vergeltung, von der der neue Ministerpräsident Poincare immer offener sprach, nachdem Georges Clemenceau, einer seiner bedeutenden Vorgänger im Amt, so inhaltsreich geschwiegen hatte? Jedenfalls blieb es nicht bei der ›Entente cordiale‹ allein: Ein französisch-russisches Marineabkommen von 1813 vereinbarte die Zusammenarbeit der Seestreitkräfte im Kriegsfall. Mußte es zum Krieg kommen? War der Krieg unvermeidbar?
V Die ersten kriegerischen Ereignisse, die den Ablauf des Weltgeschehens beschleunigen sollten, fanden ohne das militärische Eingreifen der Großmächte statt. Aber die Balkanhalbinsel wurde von Eingeweihten bereits als ›Versuchsgelände‹ bezeichnet, als sich die Könige von Bulgarien und Serbien mit den Herrschern von Montenegro und Griechenland verbanden, um die längst geplante Aufteilung der europäischen Türkei unter die ›Balkanslawen‹ vorzunehmen. Daß der russische Gesandte diese Bündnisse vermittelt und die Herrschaft über den Bosporus als das Ziel für die ›Balkanslawen‹ gesteckt hatte, überraschte die zeitgenössischen Beobachter nicht. Irgendwie mußte Ruß425
land, wenn es seine mehr als hundertjährige Macht- und Handelspolitik fortsetzen wollte, die ungehinderte Durchfahrt durch die Dardanellen erzwingen. Dennoch griffen die Großmächte nicht ein, als die Türken vernichtend geschlagen wurden, aber der Friedensvertrag wurde in London geschlossen und legte die Grenzen der Eroberungen fest. Die Dardanellen verblieben der Türkei. Noch im gleichen Jahr griff Bulgarien das benachbarte Serbien an. Weder der König von Bulgarien noch der König von Serbien waren mit den ihnen in London zugesprochenen Grenzen zufrieden. Griechenland und Rumänien beteiligten sich diesmal als Bundesgenossen der Türken am Krieg gegen die Bulgaren. Die Türken gewannen Adrianopel zurück, und der Frieden von Bukarest bestätigte die Niederlage der Bulgaren, die an alle ihre Feinde Gebiete abtreten mußten. Anläßlich des Friedensschlusses wurde ein neues Fürstentum geschaffen: Albanien, zu dessen erstem Fürsten der deutsche Prinz Wilhelm zu Wied bestellt wurde. Es herrschte wieder Frieden. Die Türkei jedoch, die schon vorher im ›Tripolisfeldzug‹ ihre letzten Besitzungen in Nordafrika an Italien verloren hatte, war bereit, das Angebot des deutschen Kaisers zur Reorganisation ihres Heeres anzunehmen, gleichzeitig aber stimmte sie zu, daß ein englischer Admiral den Ausbau ihrer Flotte überwachte, so als ob ein geheimer Bündnisvertrag des Sultans mit Kaiser Wilhelm II. nicht schon in Vorbereitung gewesen wäre. Es herrschte Frieden, aber Frankreich gewährte Rußland eine gewaltige Rüstungsanleihe und ergänzte die bestehenden militärischen Vereinbarungen durch ausgearbeitete Pläne für einen Heeresaufmarsch an den deutschen Grenzen – im Kriegsfall. Wilhelm II. setzte sich erneut für eine deutsche Heeresverstärkung ein. Im übrigen aber standen Kaiser Wilhelm, Nikolaus II. von Rußland und Georg V. der Nachfolger seines Vaters Eduard VII. von England, als nahe Verwandte weiterhin auf freundschaftlichem Fuß. Sie besuchten und beschenkten sich und waren eifrig bemüht, die verwandtschaftlichen Beziehungen durch die Besprechung neuer Eheschließungen ihrer fürstlichen Familienmitglieder zu festigen. Dies persönliche 426
Zusammenhalten der gekrönten Häupter wurde vielleicht dadurch begründet, daß die ›Propaganda der Tat‹ jeden von ihnen zum Opfer fordern konnte, wie den König von Portugal, Carlos I. der mit seinem ältesten Sohn bei einem Attentat umgekommen war. Auch sie konnten den Thron verlieren wie Manuel II. von Portugal, der durch einen Aufstand zur Abdankung gezwungen worden war; sein Land wurde Republik. Revolutionen drohten hier wie dort, offen oder versteckt. So war auch in China die kaiserliche Mandschudynastie gestürzt und die Republik ausgerufen worden. Jeder Herrscher konnte durch ein Attentat heimgeholt oder durch eine Volkserhebung abgesetzt werden, und nicht jeder vermochte den Verlust des Thrones mit soviel Würde zu tragen wie Pedro II. von Brasilien, der seine Kaiserkrone lächelnd mit einem Filzhut vertauscht hatte.
VI Das Automobil begann, den Pferdewagen zu ersetzen. Mit Gas gefüllte, lenkbare Ballons bezwangen das Gesetz der Schwere und bewegten sich durch die Luft. Von immer stärkeren Motoren angetriebene Flugzeuge stellten Schnelligkeitsrekorde auf. Die industrielle Revolution hatte zur Herrschaft der Maschinen geführt, die alle nur erdenklichen Gebrauchsgegenstände erzeugten, um ein besseres Leben zu ermöglichen. Da wurde an einem sonnigen Juni-Vormittag des Jahres 1914 der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand, der sich auf einer Inspektionsreise in Sarajewo befand, um der Verwirklichung seines Lieblingsplanes, dem großkroatischen Staat, näherzukommen, von einem serbischen Attentäter erschossen. Auch die unebenbürtige, aber immerhin schon zur Herzogin erhobene Frau des Thronfolgers, die ihn in ehelicher Zuneigung auf Schritt und Tritt begleitete, fiel den mörderischen Kugeln zum Opfer. War das Attentat von König Peter I. von Serbien oder seinen über427
eifrigen Offizieren, großserbischen Nationalisten, veranlaßt worden, um den Vorkämpfer eines katholischen Slawenstaates aus dem Weg zu räumen? Mord und Gewalttaten waren im ›serbischen Pulverfaß‹ nichts Neues; 1903 hatte man den eigenen König und die Königin brutal umgebracht. War es vielleicht auch ein wenig die Folge der uralten, illyrischen Feindschaft, die durch die gefährliche, von Kaiser Theodosius gezogene Trennungslinie entstanden war, als er das ost- vom weströmischen Kaiserreich abgegrenzt hatte? Die Kroaten waren seit diesen Zeiten katholisch geblieben, die Serben griechisch-orthodox. Solange die in fremden Glaubensfragen so duldsamen mohammedanischen Sultane keinen Anstoß an den Bekenntnissen der unter ihrer Oberherrschaft stehenden Völker genommen hatten, war es nur zu persönlichen Zwistigkeiten zwischen den kroatischen Katholiken und den griechisch-orthodoxen Serben gekommen. Die Feindschaft war aufgeflackert und mit allen politischen Mitteln genährt worden, seit der gemeinsame Feind, der Sultan der Türkei, sowohl den Serben als auch den Kroaten genommen worden war.
VII Die unmittelbare Folge der Ermordung Franz Ferdinands war ein Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien. Im Namen Kaiser Franz Josefs I. wurde die Unterdrückung aller Propaganda und aller Aktionen gefordert, die auf österreichisch-ungarische Staatsgebiete zielten, und die gerichtliche Untersuchung gegen die Teilnehmer am Mordanschlag – soweit sie sich in Serbien befanden. Das Ultimatum war auf achtundvierzig Stunden befristet. Der König von Serbien sollte genügend Zeit haben, sich mit seinem traditionellen Beschützer, dem Kaiser von Rußland, zu beraten. Der Kronrat Nikolaus' II. entschied, daß Rußland Serbien unterstützen würde, falls österreichische Truppen die serbische Grenze überschritten, ›auch wenn man dazu die Mobilmachung erklären und Kriegshandlungen 428
beginnen müsse‹. Trotz dieser Rückendeckung war die Antwortnote Serbiens nicht ganz ablehnend; im übrigen hätte kein einziger souveräner Staat auf alle Forderungen der Doppelmonarchie eingehen können. Dennoch erfolgte sofort der Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Österreich-Ungarn und Serbien begannen zu ›mobilisieren‹, während eine rege diplomatische Tätigkeit der Großmächte einsetzte, um blutige Feindseligkeiten noch in letzter Stunde zu vermeiden. Wer trug die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges? Österreich, das Serbien ein geradezu unannehmbares Ultimatum gestellt hatte, dessen Beantwortung trotzdem so ausfiel, daß Wilhelm II. meinte: »Darauf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen«? Österreich, das die Kriegserklärung dann mit der ausdrücklichen Feststellung verband, daß es keine Gebietserweiterungen zu fordern beabsichtigte? Zar Nikolaus II. dessen Außenminister erklärte, man könne nicht ruhig dulden, daß Österreich die vorherrschende Macht auf dem ganzen Balkan werde? Nikolaus ließ sich nach einem einlenkenden Telegramm Wilhelms II. erst nur zu einer Teilmobilmachung bewegen, ordnete dann aber unter dem Druck seines Außenministers doch die Vollmobilmachung an. Oder war der deutsche Generalstabschef von Moltke mit schuld, der an den österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf die telegrafische Aufforderung richtete, gegen Rußland zu mobilisieren, und die deutsche Mobilmachung voraussagte? Das geschah aber erst, nachdem in Berlin die russische Mobilmachung bekanntgeworden war. Dieses Telegramm wurde angeblich ohne Wissen des deutschen Kaisers verfaßt und abgesandt. Aber wenige Stunden später erfolgte ein von Wilhelm II. gutgeheißenes Ultimatum an Rußland, in dem die deutsche Mobilmachung angedroht wurde, falls nicht jede Kriegsmaßnahme von Seiten Rußlands gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich eingestellt werde. Und wer veranlaßte die befristete deutsche telegrafische Anfrage an Frankreich, ob es im Falle eines deutschrussischen Krieges neutral bleiben würde? Alle kriegführenden Mächte erklärten sich nach der ungeheuren Katastrophe für unschuldig. Zwangslage durch vertragliche Bindungen, 429
Mißverständnisse, falsch bewertete Antworten auf unklar gestellte Anfragen, unglückselige Verkettungen von Umständen wurden von den Siegern und den Besiegten in ihren Rechtfertigungen, Ausflüchten, Erklärungen und Entschuldigungen aufgebauscht. Sachliche Beobachter müssen dem teilweise recht geben; die vielfältigen europäischen Bündnissysteme mußten beinahe jeden Staat in einen Krieg hineinziehen, sobald eine Großmacht beteiligt war. Eine bedeutende Persönlichkeit, die das zu verhindern gewußt hätte, fand sich leider nicht. Die in atemloser Eile zu den Waffen gerufenen Russen und Franzosen, Deutschen, Serben, Österreicher und Ungarn erfuhren durch stolze Verlautbarungen, daß ihre nationale Ehre auf dem Spiel stünde und ihren Staatsoberhäuptern keine andere Wahl geblieben sei, als zum Wohle des Vaterlands zu kämpfen. Der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Rußland folgte nach der französischen Mobilmachung die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich. Deutsche Truppen brachen in Luxemburg ein, um die luxemburgischen Eisenbahnen für den Aufmarsch des Heeres zu sichern. Mit dem Hinweis darauf, daß der bevorstehende Zweifrontenkrieg das Deutsche Reich in Zwangslagen versetze, rechtfertigte die oberste Heeresleitung auch den gegen das herrschende Völkerrecht verstoßenden Einfall in das Königreich Belgien, das seine Neutralität bewahren wollte. In einer Sitzung des Deutschen Reichstags bestätigte der Kanzler Bethmann Hollweg, daß auch er den Einbruch in Belgien als ein völkerrechtliches Unrecht betrachte, aber er begründete die widerrechtliche Handlung mit Notwehr, da keine Zeit zu verlieren gewesen sei. Dieses ehrliche Zugeständnis an die empörte öffentliche Meinung allerdings war nicht ganz so ehrlich, wie es klang, denn der deutsche Aufmarsch und Einmarsch in Belgien war vorgesehen und erfolgte plangemäß, entsprechend dem im Jahre 1905 entstandenen ›Schlieffen-Plan‹, der unter der Voraussetzung eines Einfrontenkrieges im Westen ausgearbeitet worden war. Daß England nur der Verletzung der Neutralität Belgiens wegen den Krieg an Deutschland erklärte, wurde später bestritten und so ausgelegt, als ob England auf jeden Fall in den Krieg eingetreten wäre, um Frankreich zu hel430
fen. Aber Großbritannien hatte zunächst wirklich kein Interesse an einem Krieg, der ein Zwist zwischen Österreich und Serbien war. Anders glaubte es handeln zu müssen, wenn dieser Konflikt sich zu einem Kampf um die Vorherrschaft in Europa entwickelte und Frankreich so in Mitleidenschaft zog, daß seine Kanalküste in deutsche Hände fiel. Die Verletzung der belgischen Neutralität gab England den Anlaß zum Kriegseintritt und machte das Volk und das Parlament kriegswillig. Weder die zahllosen Schlachten und Gefechte, die fürs erste die militärische Überlegenheit des Deutschen Reiches sowohl im Westen als auch im Osten zeigten, noch die in der Kriegsgeschichte verzeichneten Erfolge deutscher und alliierter Generäle galten nach Beendigung des Weltkrieges. Nicht die sonst üblichen, für die Feldherren errichteten Standbilder wurden im Gedenken der Hinterbliebenen und Überlebenden bekränzt, sondern lediglich das Denkmal des ›Unbekannten Soldaten‹. Ob er nun an der Marne oder vor Verdun gefallen war, deutsche oder französische Uniform getragen hatte, ob er bei den Masurischen Seen als Deutscher oder Russe umgekommen war oder als Österreicher in Polen, als Serbe jenseits der Donau vor Belgrad: Der ›Unbekannte Soldat‹ war das Opfer. Als Franzose hatte dieser ›poilu‹ erst für die ›Revanche‹ gekämpft und dann, um zu überleben; als deutscher ›Landser‹ erst für Ehre und Glanz des Deutschen Reiches und dann, weil er schon als Rekrut gelernt hatte, den Offizier mehr zu fürchten als den Tod; als englischer ›Tommy‹ mit sportlicher Verbissenheit und dem Entschluß zu siegen. Und als Österreicher, von seinen deutschen Kriegsgefährten spöttisch als ›Kamerad Schnürschuh‹ bezeichnet, hatte er auch nur gekämpft, weil ihm, wie allen Soldaten, nichts anderes übriggeblieben war. Die österreichisch-ungarischen Soldaten waren nicht kriegsbegeistert. Sie gehörten nicht einer einheitlichen Nation an, die durch völkische Propaganda hätte aufgeführt werden können. Im Gegenteil: sie gehörten Völkern an, die vom Doppeladler, unter dem sie kämpften, wegstrebten; er war ein Symbol, an das sie nicht glaubten. Die österreichisch-ungarischen Niederlagen wurden vom Großteil der Bevölke431
rung, sofern sie nicht der Heldentod Angehöriger persönlich berührt hatte, mit jenem traurigen Spott besprochen, der unter der verlustreichen Herrschaft Franz Josefs zur resignierten Gewohnheit, selbst der ›Kaiser- und Königstreuen‹, geworden war. Um Serbien niederzukämpfen, bedurfte Österreich-Ungarn der Hilfe des deutschen Heeres und des Königs von Bulgarien, der seine Verluste im zweiten Balkankrieg wettmachen wollte. Auch die Türkei trat auf die Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns und war damit unverzüglich englischen Angriffen ausgesetzt, deren Überlegenheit unausbleiblich war. Auf dem europäischen Festland war das Kriegsglück fürs erste eindeutig auf Seiten der Deutschen. Die großen militärischen Erfolge Hindenburgs und seines Generalstabschefs Ludendorff im Osten, gipfelten in der Schlacht bei Tannenberg, der gewaltigsten Umfassungsschlacht seit Cannae; sie führten zur Ernennung Hindenburgs zum Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabs des gesamten Feldheeres; Ludendorff wurde zum Ersten Generalquartiermeister ernannt. Im Westen drangen die deutschen Truppen rasch bis zur Marne vor, sahen bereits in der Ferne Paris – da wurden sie gestoppt und zurückgezogen, weil Lücken in der Front entstanden waren. War durch diese vielleicht unnötige, jedenfalls aber verhängnisvolle Entscheidung der deutschen Heeresleitung der ›Schlieffen-Plan‹ gescheitert? Auch der französisch-englische Gegenangriff im Herbst 1915 unter dem französischen Marschall Joffre, die ›große Offensive‹, kam ohne großes Ergebnis zum Stillstand. Die gegenseitigen Truppenbewegungen stockten, aber der Krieg ging weiter.
Wichtig war auch der Kampf zur See. Erst schien es, als ob seine Entscheidung in der Nordsee fallen würde, aber trotz der Überlegenheit der englischen ›Grand Fleet‹ (37 Großkampfschiffe gegen 21 deutsche) und trotz der fast doppelt so hohen Verluste der Engländer, brachte die Seeschlacht vor dem Skagerrak keine Entscheidung. Die gegenseitige 432
Vernichtung von Großkampfschiffen änderte nichts an der Tatsache, daß es im erbitterten Kampf zur See nicht um heldenhafte Leistungen der Admiräle und ihrer Mannschaften, nicht um die Treffsicherheit von Schiffsgeschützen und die Widerstandskraft der Panzerungen ging, sondern um die Frage, wie und wodurch die Zufuhr von lebenswichtigen Materialien in das eine oder andere Lager ermöglicht oder verhindert werden könne. Schon in den ersten Monaten des Weltkrieges hatte das Deutsche Reich den U-Boot-Krieg gegen England befohlen, um die ›britische Blockade‹ gegen Deutschland zu brechen. Dieser grausamen Kriegführung zur See waren Verhandlungen der Vereinigten Staaten mit den kriegführenden Mächten vorausgegangen, mit dem Zweck, die gegenseitige Blockade dem geltenden Seekriegsrecht unterzuordnen. Die Verhandlungen zerschlugen sich. Ein deutsches U-Boot versenkte den englischen Passagierdampfer ›Lusitania‹, der von New York ausgefahren war und auch Kriegsmaterial an Bord hatte; mehr als tausend Reisende fanden den Tod, darunter mehr als hundert amerikanische Staatsbürger. Eine scharfe Note der Vereinigten Staaten führte zu einer Einschränkung des U-Boot-Krieges. Neutrale Schiffe und feindliche Passagierdampfer sollten geschont werden. Der verschärfte U-Boot-Krieg begann später wieder als Antwort auf die Hungerblockade trotz des Einspruchs Wilhelms II. Schließlich war beinahe der ganze Erdkreis in den Krieg verwickelt. Während sich die französisch-deutschen und die österreichisch-italienischen Feindseligkeiten im Stellungskrieg verhärteten und auch die Kampfbewegungen im Osten auf beiden Seiten in Schützengräben erstarrten, fanden blutige Kriege in den deutschen Kolonien statt, die trotz unermeßlicher Anstrengungen an die Alliierten verlorengingen. Die alte Freundschaft Japans mit dem Deutschen Reich fand durch die japanische Kriegserklärung ein Ende. Die Festung Tsingtau, die die deutschen Kolonien im Fernen Osten beschützen sollte, fiel nach hartnäckiger Gegenwehr. Auch die von Bismarck und Wilhelm II. mit so viel Aufwand erworbenen ozeanischen Inseln wurden von den Japanern in Besitz genommen. 433
VIII Noch vor Ausbruch des Krieges war Woodrow Wilson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden. Er war ein Gelehrter, der seine theoretischen Grundsätze auf das praktische Leben übertragen wollte. Unter seiner Präsidentenschaft wurde die ›Federal-Reserve-Bank‹ zur übersichtlichen Zusammenfassung des Kreditwesens in den Vereinigten Staaten geschaffen und die ›progressive Bundeseinkommensteuer‹ eingeführt. Je nach der Höhe seines Einkommens sollte jeder Amerikaner einen Beitrag zum Staatshaushalt leisten. Diese unfreiwillige, wirtschaftliche Solidarität der Verdienenden mit dem Staatsschatz ermöglichte die finanzielle Bereitschaft der Vereinigten Staaten für jede Eventualität und den Ausbau öffentlicher Werke, wie das gewaltige Straßennetz, das durch den zunehmenden Autoverkehr nötig wurde. Woodrow Wilson war davon überzeugt, daß die Vereinigten Staaten die ausschlaggebende Macht im Mächtespiel wären und daher auch humanitäre Verpflichtungen hätten. Er war vom ›American way of life‹, der amerikanischen Lebensführung, die ein maßvolles Gleichgewicht zwischen arm und reich zu finden suchte, überzeugt und wollte sie allen Menschen der Erde vermitteln. Dieser humanistischen Auffassung Wilsons legten die großen Bank- und Industrieherren Amerikas nichts in den Weg. Sie waren schon für die ›cooling off treaties‹ gewesen, die vorschlugen, daß sich alle Völker und Länder bei Streitigkeiten einem Schiedsgericht unterwerfen sollten, anstatt zu den Waffen zu greifen. Aber der europäische Krieg war ausgebrochen. Die Vermittlungsversuche Wilsons waren erfolglos geblieben. Die amerikanische Öffentlichkeit war durch den deutschen Einmarsch in Belgien und den verschärften U-Boot-Krieg eingenommen gegen das Deutsche Reich. Der allgemeine Wunsch nach Neutralität nahm um so 434
mehr ab, als die englische Blockade die gewaltigen Kriegsheferungen Amerikas nur in alliierte Häfen zuließ. Die endgültige Entscheidung wurde durch die Mission Lord Readings beschleunigt, eines angesehenen Rechtsanwalts, der zum höchsten Richter Englands erhoben worden war und den amerikanischen Wirtschaftsführern zu erklären vermochte, wo ihre Vorteile lägen: Eine Niederlage der Alliierten hätte sie um die Zahlung der ungeheuren Forderungen gebracht, die ihnen aufgrund ihrer Kriegslieferungen an die Alliierten gutgeschrieben worden waren. In der politischen Werbung Wilsons, die seiner Wiederwahl zum Präsidenten vorangegangen war, hatte an erster Stelle der Satz gestanden: »Er hält uns aus dem Krieg heraus.« Seine eindeutige Absicht, die Vereinigten Staaten nicht an den Feindseligkeiten teilnehmen zu lassen, hatte er auch durch die Entsendung seines Vertrauensmannes, des Obersten House, zu den kriegführenden Mächten bewiesen, um den von ihm entworfenen ›Frieden ohne Sieg‹ zu verwirklichen; die Alliierten jedoch hatten unerfüllbare Forderungen gestellt. Er hatte die Zustimmung des amerikanischen Kongresses und Senats gewonnen, um den Achtstundentag für die Arbeitnehmer bei den Eisenbahngesellschaften zu erreichen, und war so besorgt um die weitere Durchführung seines sozialen Programms, daß er nur schweren Herzens erklärte: »Das Recht ist kostbarer als der Frieden.« Freilich, wenn er seine Grundsätze einhalten und sein Gesicht wahren wollte, konnte Wilson nicht anders, als den Krieg an das Deutsche Reich zu erklären, nachdem eine deutsche Note den unbeschränkten U-Boot-Krieg angekündigt hatte; er gab aber im Kongreßausschuß zu, daß die USA auch ohne die Zwischenfälle des U-Boot-Krieges in den Weltkrieg eingetreten wären. Amerika sei zu diesem Entschluß gekommen, erklärte der Präsident, um ›die Welt gegen die Kriegsherren im Interesse der Demokratie zu schützen‹. Und er ordnete die Verschiffung amerikanischer Truppen nach Europa an.
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IX Mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln wurde Krieg geführt, während alle am Krieg beteiligten Mächte bereits vom Frieden sprachen, insgeheim und offen die Bedingungen erörterten, unter denen er zustande kommen könnte. Auch der Nachfolger Franz Josefs unternahm es unverzüglich nach seiner Thronbesteigung, einen Sonderfrieden anzubahnen. Kaiser Karl bediente sich seines Schwagers, des Prinzen Sixtus von Bourbon-Parma, als Vermittler zur französischen Regierung. Während der ernsthaft geführten Gespräche kam es jedoch zutage, daß Prinz Sixtus auch die Möglichkeit einer Wiederkehr der Bourbonen nach Frankreich in Betracht zog, und dieser Gedanke war den französischen Unterhändlern zuviel. Die abgebrochenen Verhandlungen nahm der österreichische Außenminister Graf Czernin wieder auf. Aber seine Bemühungen scheiterten an der Undurchführbarkeit der von ihm vorgeschlagenen Gebiets- und Hoheitsverschiebungen. Vor allem sprach sich Italien gegen eine friedliche Verständigung der Alliierten mit Österreich-Ungarn aus. Es war bekannt geworden, daß Graf Czernin dem Deutschen Reich gegenüber erklärt hatte, Österreich-Ungarn könne nicht länger als bis zum Herbst 1917 durchhaken. Der Standpunkt Roms war: Warum sollte man verhandeln und handeln, wenn man bald würde diktieren können?
Es waren schicksalsschwere, verhängnisvolle Monate in allen Lagern. Der unglückliche Verlauf des Krieges, die vergeblichen Offensiven seit 1915 hatten nicht nur die Mehrzahl der Bevölkerung der russischen Städte und große Teile der russischen Armee für die sozialistische Werbung reif gemacht, sondern auch zu gefährlichen Partei436
bildungen und Intrigen in der nächsten Umgebung von Nikolaus II. geführt. Sowohl bei Hof als auch in den Ministerien schob einer dem anderen die Schuld an den russischen Niederlagen und der mangelnden Versorgung der kämpfenden Truppen zu. So wie es war, konnte es nicht bleiben. Das war die Überzeugung der Hofkreise, der Generäle, der Intelligenz – vor allem aber der Arbeiterschaft, die zum Umsturz bereit war, und der Kleinbauern in den übervölkerten Dörfern, die immer noch so für die Großgrundbesitzer arbeiteten, als wäre die Leibeigenschaft nie aufgehoben worden. Wieweit die angeblichen Orgien des Wundermönches Rasputin, der einen beherrschenden Einfluß auf die Kaiserin von Rußland gewonnen hatte, schon damals in der breiten Öffentlichkeit bekannt waren, konnte nachher nicht eindeutig festgestellt werden. Die Ermordung Rasputins durch den Fürsten Jussupow, der die Hofluft vom ›zersetzenden Einfluß‹ reinigen wollte, galt jedoch als das erste unleugbare Zeichen dafür, daß ›der Kopf vom Fisch stank‹, wie die Revolutionäre sagten. Am 8. März 1917 begannen Industriestreiks und blutige Unruhen in Petersburg. Die Garnison ging zu den Aufständischen über. Die Arbeiterräte, die ›Sowjets‹, übernahmen die Macht. Es kam zur Bildung einer provisorischen Regierung. Zar Nikolaus II. dankte ab und wurde gefangengesetzt. Die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika an das Deutsche Reich war am 6. April 1917 erfolgt. Das bedeutete für die deutsche Heeresleitung, die die Lage richtig beurteilte, eine neue untragbare Belastung der Westfront, wenn nicht die gewaltigen Heeresmassen von der russischen Front abgezogen und nach dem Westen geworfen werden konnten. Es war im Hauptquartier des deutschen Kaisers bekannt, daß die Verschiffung amerikanischer Truppeneinheiten unmittelbar bevorstand. Dieser Vermehrung der alliierten Kriegsmacht mußte begegnet werden. Der Plan, der das zuwege bringen sollte, war verwegen und teuflisch zugleich und in seiner Wirkung für die Welt und das Deutsche Reich so verhängnisvoll, daß der anfängliche Erfolg, den er diesem einbrachte, kaum in die Waagschale fiel. Die russische Revolution hatte im Frühjahr 1917 noch nicht das ganze Riesenreich erfaßt und daher auch noch nicht die gesamte russi437
sche Kriegsmaschine lahmgelegt. Die provisorische Regierung stand unter der Leitung des Fürsten Lwow und des linksgerichteten Justizministers Kerenskij, der ein begeisterter Patriot war. Es stand zu befürchten, daß Kerenskij imstande wäre, die Zügel zu ergreifen und den Kampfgeist der Fronttruppe doch noch zu entfachen. Dann aber wäre es nicht möglich gewesen, deutsche Truppen vom russischen Kriegsschauplatz abzuziehen. Eine überlegene Persönlichkeit mußte Kerenskij entgegengestellt werden. Die deutsche oberste Heeresleitung setzte ihre Hoffnungen auf Wladimir Iljitsch Uljanow, der unter dem Namen Lenin in Zürich lebte. In einem versiegelten Eisenbahnwagen wurde Lenin von den Deutschen auf russischen Boden gebracht: am 16. April kam er in St. Petersburg an und hielt eine begeistert aufgenommene Rede über die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Er forderte die Beendigung des Krieges. Genau darauf war es der deutschen Heeresleitung angekommen. Daß Lenin sich nicht unverzüglich durchsetzte, daß die von ihm begehrte Republik der Arbeiterräte, die Enteignung von Grund und Boden, die Kontrolle über die Produktion und ihre Verteilung durch die ›Sowjets‹ nicht unverzüglich zustande kam, daß das von der deutschen Heeresleitung so sehnsüchtig erwartete Friedensangebot nicht unverzüglich gestellt wurde, war auf die Tatkraft Kerenskijs zurückzuführen, der zwar die Republik ausrufen ließ, aber ihr Diktator wurde. Es fanden noch blutige Kampfhandlungen an den russischdeutschen und russisch-österreichischen Fronten statt und erschütternde politische Kämpfe in Rußland, ehe die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung abgehalten wurden, bei denen die Bolschewiken die Stimmenmehrheit gewannen. Als das Parlament zum erstenmal zusammentrat, hatten die Friedensverhandlungen in BrestLitowsk schon begonnen. Die Waffen ruhten an den Fronten. Rote Truppen jedoch sprengten das Parlament; Lenin hatte gegen die parlamentarische Demokratie und für die sowjetische Räterepublik entschieden. Diesem Beschluß Lenins war eine fieberhafte Tätigkeit vorangegangen, die wilde Revolution zu meistern. Er wollte Frieden schließen, da438
mit ›die Diktatur des Proletariats‹ sich ungehindert auswirken könne. Er wollte eine Atempause.
Mit dieser Atempause hatte die deutsche Heeresleitung gerechnet. Der Abzug der Truppen aus dem Osten hatte das deutsche Westheer gestärkt. Es mußte schnell gehandelt werden, ehe die zunehmenden amerikanischen Truppenlandungen das Kräfteverhältnis endgültig verschoben. Aber eine deutsche Offensive nach der anderen brach sich am Widerstand der Alliierten; Anfangserfolge und Geländegewinne aller fünf Offensiven zwischen März und Mitte Juli 1918 brachten keine entscheidenden Vorteile. Die deutschen Generäle ließen nicht nach, die deutschen Soldaten kämpften ohne Rücksicht auf Verluste – aber dann setzte die Gegenoffensive des alliierten Generalissimus Foche ein. Jetzt entschied der Masseneinsatz von Tanks die Gefechte. Gegen die an allen Orten auffahrenden beweglichen Festungen war selbst der äußerste Todesmut sinnlos. Es kam zur Schlacht von Amiens, zum ›schwarzen Tag‹ (8.8.1918) des deutschen Heeres. Den Engländern gelang ein tiefer Einbruch in die deutsche Front, die auf die ›Siegfried-Stellung‹ zurückgezogen werden mußte. Auch die Überlegenheit der alliierten Luftstreitkräfte machte sich empfindlich bemerkbar. Es wurde eindeutig klar, daß der Krieg für das Deutsche Reich verloren war. Dennoch wurde verzweifelt weitergekämpft, da weder Kaiser Wilhelm II. noch seine hohen Offiziere die unausbleibliche Niederlage anerkennen wollten.
Kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns veröffentlichte Woodrow Wilson seine berühmten ›vierzehn Punkte‹ als Richtlinien für den Weltfrieden. Er forderte unparteiische Gerechtigkeit im Völkerleben und die Gründung einer Friedensorganisation, die er als ›General common family of the 439
league of nations‹ kennzeichnete. Diese letzte Forderung, die Gründung eines ›Völkerbundes‹, war der vierzehnte Punkt Wilsons. Die vorhergegangenen Punkte waren im wesentlichen Friedensbedingungen der Sieger, mit Ausnahme der ersten fünf allerdings, die der allgemeinen Völkerversöhnung dienen sollten: »Öffentlichkeit aller internationalen Vereinbarungen – Freiheit der Meere – Freiheit des Welthandels – Rüstungsbeschränkung – internationale Regelung der Kolonialfragen.« Alle nicht nur auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen zielenden Punkte Wilsons behandelten die wichtigsten ungelösten Probleme der folgenden Jahrzehnte.
Verhängnisvoller Irrtum und entfesselter Irrsinn I Mit dem Waffenstillstand von Compiegne war der erste Weltkrieg faktisch zu Ende gegangen, aber noch gab es keinen Frieden. Als schließlich im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die Friedenskonferenz eröffnet wurde, war Kaiser Wilhelm II. bereits nach Holland geflohen, und Kaiser Karl hatte ›auf jeden Anteil an den Regierungsanteilen‹ verzichtet und sich in die Schweiz begeben. Die Fronten waren zerfallen. In vielen großen Städten des Deutschen Reiches hatten sich Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Sollte auch das Deutsche Reich dem Bolschewismus verfallen wie Rußland? Die ›Großen Vier‹ – der Präsident der Vereinigten Staaten, die Mini440
sterpräsidenten von England, Frankreich und Italien – nahmen es auf sich, dem Deutschen Reich den Frieden zu diktieren. Die Wahl des Ortes, an dem Bismarck Wilhelm I. zum Kaiser des Deutschen Reiches hatte ausrufen lassen und an dem er damals Frankreich seinen Frieden vorgeschrieben hatte, sollte auf die deutschen Unterhändler bewußt demütigend wirken. Zu den mündlichen Verhandlungen wurden sie gar nicht zugelassen. Jede Milde, die Lloyd George vorgeschlagen hatte, war abgelehnt worden. Georges Clemenceau, der den Beinamen der ›Tiger‹ erhielt, beharrte unerbittlich auf Bedingungen, die der Revanche und Sicherheit Frankreichs dienten. Er erzielte die Rückgabe Elsaß-Lothringens, während seine Forderung nach Abtretung von weiteren Gebieten westlich des Rheins auf den Widerstand der Angelsachsen stieß. Insgesamt verlor Deutschland 13% seines Gebietes, 10% seiner Bevölkerung und alle Kolonien. Vor allem aber forderte Clemenceau die Entmilitarisierung des Deutschen Reiches: Deutschland mußte schließlich fast sein gesamtes Kriegsmaterial ausliefern, das Heer auflösen, die Wehrpflicht aufheben. Lediglich ein Berufsheer von etwa 100.000 Mann wurde ihm zugestanden. Auch die Kriegsentschädigungen und die übrigen Bedingungen, die dem Deutschen Reich auferlegt wurden, waren erbarmungslos streng. Daneben wurden Strafbestimmungen festgesetzt, die jedoch nicht zur Ausführung kamen, wie die Forderungen, daß Wilhelm II. ›wegen schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge‹ unter Anklage gestellt und daß von der durch eine Nationalversammlung in Weimar neugegründeten Deutschen Republik die ›Kriegsverbrecher‹ ausgeliefert werden sollten. Die Entmachtung Deutschlands sollte eine vollkommene sein, nicht nur auf militärischem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Das für die Zukunft wohl Verhängnisvollste in diesem ganzen Friedensvertrag aber war sein Artikel 231, der die ungerechte Feststellung traf, daß Deutschland und seine Verbündeten allein schuld am Krieg gewesen seien. Der liberal denkende Jude Arnold Mendelson sprach später von 1918 als von einem Verbrechen, und Theodor Heuß stellte einmal fest, daß Versailles die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung gewesen sei. 441
Der Friedensvertrag von St.-Germain-en Laye behandelte die österreichische Frage. Um sich aus persönlichen Gründen zu keiner Nachgiebigkeit verleiten zu lassen, die seinen Grundsätzen widersprochen hätte, verbat sich Clemenceau die Teilnahme eines seiner ältesten und engsten Freunde an der österreichischen Friedensdelegation, obwohl dieser hervorragende österreichische Publizist der Vermittler seiner Beziehungen zu Kronprinz Rudolf gewesen und auch später immer für ein Bündnis Österreichs mit Frankreich eingetreten war. Die Doppelmonarchie sollte zerbrochen werden, in ihre Teile zerfallen, ganz unbekümmert um die geschichtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und auch gegen die Erklärung Napoleons L: »Wenn Österreich nicht bestehen würde, müßte es erfunden werden, um den Zerfall Europas zu verhindern.« Das neue Österreich, das durch den Friedensvertrag von St.-Germain geschaffen wurde, war ein Wasserkopf mit einem verkümmerten Körper: die ehemalige Kaiserstadt Wien mit einem spärlichen Hinterland. In Neuilly, Trianon und Sevres wurden die neu geschaffenen Staaten – die Tschechoslowakei und das aus Serbien und Kroatien vereinigte Jugoslawien – abgerundet, die bulgarisch-rumänischen Grenzen gezogen, die Türkei mit neuen Grenzen bedacht. Ungarn war von Österreich abgetrennt, Polen eine unabhängige Republik geworden. Die ›Großen Vier‹ hatten gesprochen, und der ›Völkerbund‹, dessen Verfassung in der Vollversammlung der Friedenskonferenz angenommen wurde, trat in seine Rechte – und sollte eine Organisation des Friedens und der Sicherheit für die neuen, in den Friedensverträgen festgelegten Grenzen auch jener Völker sein, die ihm nicht angehörten.
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II Die spöttische Hinwegsetzung über alle Punkte Wilsons, die auf eine ehrliche Völkerversöhnung hinzielten, hatte zur Folge, daß der im ›Viererrat‹ von Versailles sozusagen als idealistischer Phantast überstimmte amerikanische Präsident halb unverrichteterdinge in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Der amerikanische Kongreß lehnte die Ratifizierung des Versailler Vertrages und der zusätzlichen Friedensverträge ab. Die Vereinigten Staaten traten auch nicht dem von Wilson angeregten Völkerbund bei. Sie zogen sich in eine machtvolle Isolation zurück, und ihre Staatsmänner und Geschäftsleute sorgten für den als ›fabelhaft‹ bezeichneten wirtschaftlichen Aufschwung der zwanziger Jahre, der auch durch gelegentliche Rückschläge nie gefährdet war. Diese ›fabulous twenties‹ brachten eine noch nie dagewesene Belebung der Wirtschaft und Vervollkommnung der amerikanischen Technik, die beispielgebend für alle Länder der Erde wurde, aber auch den Drang zur Lösung sozialer Probleme auf friedlichem Weg. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung machte sich die Gedanken John Deweys zu eigen und verwirklichte seinen Grundsatz: »Jeder kann sich durch tätiges Leben die Alittel zu sozialem Aufstieg und luxuriösem Leben erwerben.« Das ›tätige Leben‹ und seine folgerichtige Auswirkung wurde der Leitgedanke der Amerikaner, die auch die Frauen in das tätige Leben mit einbezogen und ihnen politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung gaben. Ein anderer Zug der amerikanischen Bevölkerung, die sich immer größeren Wohlstands erfreute, war der zunehmende Wunsch nach Wohltätigkeit – auch dem Feind gegenüber. Nachdem die Vereinigten Staaten den ›Friedensvertrag von Berlin‹ mit der Deutschen Republik geschlossen hatten, waren sie darauf bedacht, das übertrieben harte Los der Besiegten durch Liebesgabenaktionen, 443
Schulspeisungen und ähnliches zu lindern. Diese humanitäre Einstellung den Deutschen gegenüber schloß nicht aus, daß die Vereinigten Staaten die gefährlichen Strömungen im Fernen Osten erkannten und die Einwanderung von Chinesen und Japanern in die USA durch ein neues Einwanderungsgesetz verboten. Die Japaner waren die Kriegsgewinner des Fernen Ostens. Ihre Hoheitsgebiete waren gewaltig vermehrt und erweitert worden. Sie bereiteten eine zielbewußte Eroberung des chinesischen Festlandes vor. Die Republik China, die durch die von Sun-Yatsen gelenkte Revolution der Jungchinesen entstanden war, schien jetzt, da der europäische Wettbewerb beschränkt war, zur Aufteilung reif zu sein. Die chinesischen Generäle, die die nördlichen Provinzen wie unabhängige Fürstentümer regierten, führten untereinander einen ständigen Bürgerkrieg. SunYat-sen beherrschte den Süden des Reiches der Mitte, mit dem Ziel, nach dem durchgreifenden Sieg der Revolution eine freie Demokratie in ganz China einzuführen. In Rußland war die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geschaffen und das Programm Lenins verwirklicht worden. Die ›Diktatur des Proletariats‹ hatte allen Grundbesitz enteignet, die Bodenschätze in Besitz genommen und ihre Verarbeitung verstaatlichten Industrien übertragen. Die meisten europäischen Mächte erkannten die Sowjetunion als Realität an – viele in der Erwartung, daß das kommunistische Wirtschaftssystem, das eine grausame Hungersnot in Rußland zur Folge gehabt hatte, sich selbst zugrunde richten würde. Das Kaiserreich Japan schloß sogar einen Neutralitätspakt mit der Sowjetunion, um sich Rückendeckung und freie Hand für seine Unternehmungen in China zu verschaffen. Angesichts der ungeheuren Umwälzungen, die auf dem asiatischen Erdteil schon vor sich gegangen waren und sich offenkundig noch vorbereiteten, erschienen den Politikern der Vereinigten Staaten die Ereignisse in der Alten Welt verhältnismäßig unwichtig. Für die Nachfolger Wilsons, Harding und Coolidge, waren die europäischen Probleme nur von nebensächlicher Bedeutung. Auch die amerikanischen Zeitungen, die die öffentliche Meinung auf dem laufenden hielten, nahmen das europäische Geschehen nur dann ernst, wenn sie Sen444
sationen berichten konnten. Großbritannien war von den Schwierigkeiten der Verwaltung und Umschichtung seines Kolonialreiches in Anspruch genommen. In Deutschland waren dem Zusammenbruch 1918 schwere innere Unruhen gefolgt. 1919 war es zur Wahl der Nationalversammlung gekommen, die eine Reichsverfassung beschloß, der man nachsagte, sie sei die freiheitlichste der Welt. Das Deutsche Reich war zur parlamentarisch-demokratischen Republik mit starker Stellung ihres Reichspräsidenten geworden und arbeitete nun verzweifelt, um die ihm auferlegten Kriegsentschädigungen zu bezahlen. Aber die deutsche Währung verlor ihren Wert, und das Volk wurde immer wieder von Aufruhrbewegungen erschüttert, die oft von extrem ausgerichteten Parteien angezettelt wurden. Politische Morde waren keine Seltenheit mehr. Bald nach dem tödlichen Attentat auf den hervorragenden Reichsaußenminister Walther Rathenau, den die Attentäter in erster Linie ermordet hatten, weil er Jude war, wurde die Weltöffentlichkeit auf einen als ›bizarr‹ bezeichneten Mann aufmerksam, der die Vernichtung des Judentums zu einem der Schlagworte seiner politischen Propaganda gemacht hatte. Dieser verhängnisvolle politische Abenteurer Adolf Hitler, der aus verworrenen Familienverhältnissen kam (sein Vater allerdings hatte es zum kleinen Beamten gebracht) und der dunkle, unruhige Jugendjahre hinter sich hatte, in denen er immer wieder beruflich gescheitert war, hatte 1920 das Programm seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) verkündet. Mittels seiner unbestritten gewaltigen, ja teuflischen Redegabe und der straffen Organisation seiner Parteimitglieder, die vor Gewaltanwendung, Schleichwegen und Lügen nie zurückschreckten, gelang ihm in den Jahren der großen deutschen Schwierigkeiten zwischen 1920 und 1923 ein rascher Aufstieg. Seine völkische Ideologie, sein Antimarxismus und Antisemitismus waren für die Wirkung auf unkritische Massen geschickt formuliert und hatten, manchmal sogar für selbständig Denkende, in ihrer Einfachheit und Ausschließlichkeit etwas Bestechendes, mochten sie im Grunde auch entsetzlich verlogen sein. In seinen Anfängen freilich nahm es Hitler mit seinen Grundsätzen nicht so genau, weder 445
als gelegentlicher Hilfsarbeiter bei der Ausspeisung jüdischer Universitätsstudenten noch als Bewohner Wiener Obdachlosenasyle – auch später noch nicht zu Beginn seiner politischen Laufbahn. Hitler nahm Beiträge zur Ausrüstung seiner bewaffneten und uniformierten Anhänger von jeder Seite an, die ihm Beiträge gab. Vielen ging es darum, daß er dazu beitrage, das Schreckgespenst des Kommunismus in Deutschland zu bekämpfen. Der erste namhafte Partner Hitlers wurde der General Ludendorff, der mit ihm im November 1923 in München einen Putsch versuchte. Die Hoffnung seines sogenannten ›Marsches zur Feldherrnhalle‹ mit SA und einigen ›Kampfbünden‹ erfüllte sich jedoch nicht; die bewaffnete Macht schlug sich nicht auf seine und Ludendorffs Seite, und so blieb der Sturz der Reichsregierung und seine angemaßte Ernennung zum Reichskanzler vorerst ein Traum. Einige Salven von Maschinengewehren zerstreuten die Demonstranten. Hitler wurde festgenommen, aber nur zu Festungshaft verurteilt, da man ihm angeblich keine unehrenhaften Handlungen vorwerfen konnte. Schließlich wurde er sogar noch ›wegen guter Führung‹ Ende 1924 wieder entlassen. Die Zeit seiner Haft in Landsberg hatte er zum Verfassen seines programmatischen Buches ›Mein Kampf‹ benutzt.
Der Münchner Aufmarsch Hitlers, sein Marsch zur Feldherrnhalle, war eine bescheidene Nachahmung des ›Marsches auf Rom‹ gewesen, den der ehemalige Sozialist Benito Mussolini in Italien veranstaltet hatte. Schon zu Beginn des Weltkrieges hatte sich Mussolini für den Kriegseintritt Italiens eingesetzt und die Partei der Faschisten gegründet, die er nach den ›fasces‹, den Rutenbündeln der römischen Liktoren des Altertums, benannt hatte. Er schmiedete den Plan, die beiden gewaltigen Strömungen der Zeit, die sich noch nicht ausgelebt hatten, den Nationalismus und den Sozialismus, in einer von ihm neu gestalteten Form zu vermischen und zu verwischen und mit dem beliebten Schlagwort des ›ewigen Rom‹ zu verbinden, das schon im neunzehn446
ten Jahrhundert so volkstümlich geworden war. Mussolini fand Anhänger, vereinigte sie zu einer Kampftruppe und faßte den verwegenen Entschluß, durch einen ›Marsch auf Rom‹ die Macht in Italien an sich zu reißen. Ein Jahrzehnt später erschien ein Buch Malapartes, der damals noch kein Gegner Mussolinis war, unter dem Titel: ›Die Technik des Staatsstreiches‹. Dieses Lehrbuch für ehrgeizige, abenteuerlustige, bedenkenlos Machthungrige lag schon im Manuskript vor, als Benito Mussolini die Macht übernahm und sich vom König von Italien zum Ministerpräsidenten ernennen und zur Wiederherstellung der Ordnung und der Durchführung eines ›Reformprogramms‹ mit diktatorischer Gewalt ausstatten ließ. Er wurde Führer genannt, ›Duce del Fascismo‹, und hatte um so eher internationalen Erfolg, als seine gegen den Kommunismus gerichtete Innen- und Außenpolitik den Beifall englischer Staatsmänner fand. Die Angst vor dem Kommunismus, der sich nach dem Tode Lenins in Rußland behauptet und Parteigänger in den meisten Ländern der Erde gefunden hatte – besonders im notleidenden Deutschland – war stärker als die Erkenntnis, daß auch der diktatorische Faschismus auf die Dauer zu Erschütterungen des Weltfriedens führen müsse. Das mit dem Schlagwort des ›ewigen Rom‹ und der faschistischen Aufforderung zur Wiederherstellung des Römischen Imperiums aufgerührte italienische Volk mußte den Frieden im Mittelmeer stören. Aber diese Gefahr schienen die anderen europäischen Mächte, die ihre eigenen Ziele verfolgten, nicht wahrhaben zu wollen. Sie beobachteten mit Genugtuung die Übergriffe der Kampfverbände Mussolinis, die nicht nur die Kommunistische Partei, sondern auch die Sozialdemokraten Italiens gewalttätig entmachteten. Die Faschisten trugen schwarze Hemden. Diese Tracht sollte eine anfeuernde Erinnerung an die Rothemden Garibaldis sein, der damals allerdings für die demokratischen und freiheitlichen Grundsätze eingetreten war – bis zu dem Augenblick, in dem er dem König von Italien gehuldigt hatte. Auch Benito Mussolini huldigte dem König; daß die Hemden seiner Kämpfer schwarz waren, statt rot, das wurde ihm zugute gehalten, denn rot war die Farbe der Sozialisten. 447
Im deutschen Straßenbild tauchten zuerst vereinzelt, dann aber rasch immer mehr braune Flecken auf: die Hemden der von Adolf Hitler organisierten nationalsozialistischen Sturmabteilung der SA. Noch heute ist es zum Teil unklar, aus welchen dunklen Kanälen die Unterstützungsgelder flossen, mit denen Hitler seine politische Umsturzarmee aufstellen und ausrüsten konnte. Nicht alle Gönner Hitlers wurden bekannt. Wer diese Schutzherren waren und wie sie alle hießen, die Köder auswarfen, um vor allem Anhänger für den Kampf gegen linksgerichtete Bewegungen zu angeln, konnte später kaum noch festgestellt werden, da Hitler und seine Helfershelfer nach der ›Machtergreifung‹ anscheinend alle Unterlagen vernichten ließen. Möglicherweise wäre auch zuviel Undankbarkeit Hitlers an den Tag gekommen, wenn die ersten ›Spender der Bewegung‹ bekannt geworden wären. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sollte, wie der Name besagte, eine werbekräftige Verbindung des Nationalismus und des Sozialismus darstellen – im Programm der NSDAP freilich waren auch, wie beim Faschismus, die romantischen Unterströmungen des neunzehnten Jahrhunderts enthalten, vor allem eine: die Wiedererrichtung des Römischen Reiches Deutscher Nation, allerdings nicht unter einem Kaiser, sondern unter dem ›Führer‹. Das war das Neue an der Bewegung, die sich als großdeutsch ausgab und keine Mißdeutung unversucht ließ, um die geschichtlichen Grundlagen des künftigen ›Dritten Reiches‹ aufzuzeigen. Mussolini war ein ausgezeichnetes Vorbild. Auf seine politischen Spiegelfechtereien waren die ehemaligen alliierten Staatsmänner so verblendet eingegangen, daß Adolf Hitler es auf sich nahm, den italienischen Faschismus in vielem mit deutscher Gründlichkeit nachzuahmen. Mussolini war humanistisch gebildet. Er bezog die Vergleiche, die seine bombastischen Reden schmückten, aus klassischen Werken. Hitlers Wortschwall war oft gespickt mit falsch verstandenen und unrichtig verwendeten Zitaten, die er jedoch mit so echtem Pathos vorzubringen vermochte, daß sich die Verfälschungen im Auf und Ab seiner erregten Stimme verwischten. Viele seiner ursprünglichen Zuhörer wa448
ren Halbgebildete, wie er selbst in schwerer Zeit in Not Geratene und Gescheiterte, deren Selbstbewußtsein er durch Versprechungen hob. Und wenn er sich später als ›der größte Deutsche, der je gelebt hat‹ ausgab, und sie als Angehörige des ›Herrenvolkes‹ bezeichnete, so glaubten sie ihm auch das. Die Resonanz, die Hitler in weiten Kreisen des deutschen Volkes fand, war weitgehend bedingt durch die Notlage der Massen. Seine Anklagen gegen ›den Dolchstoß von hinten‹, der das deutsche Heer im ersten Weltkrieg geschwächt, und gegen den ›Schmachfrieden von Versailles‹, der das Volk erniedrigt habe, wurden von Millionen vernommen, die nicht mehr ein und aus wußten und nach den Schuldigen für Deutschlands Versagen und seine jahrelang verzweifelte wirtschaftliche Lage suchten. Zum Hauptfeind Deutschlands und Schuldigen für all sein Unglück machte Hitler das ›internationale Judentum‹. Sein Antisemitismus wurde rassenbiologisch ›begründet‹: die jüdische Rasse (die es in Wirklichkeit gar nicht gibt) war angeblich minderwertig, eine Rasse mit lauter bösen Eigenschaften, die nur Böses gebären konnte und vor allem der arischen, germanischen Rasse, die als charakterlich hochstehend bezeichnet wurde, aus einem zerstörerischen Trieb heraus Schlechtes zufügte. Damit wurde jedes Unglück des deutschen Volkes begründet – ein Unfug, der seinesgleichen sucht und den auch Hitler, zumindest zeitweise, nicht ganz ernst genommen, sondern nur als Mittel zum Zweck benutzt hat. So äußerte er einmal, daß man die Juden erfinden müßte, wenn es sie nicht schon gäbe.
Im chinesischen Raum hatte der ›große Marsch‹ Mao-Tse-Tungs begonnen. Ungeheure Menschenmassen der bereits kommunistischen Südostprovinzen setzten sich in Bewegung, als Tschiankaischek, der Führer der 1927 errichteten Nanking-Regierung, einen Feldzug gegen sie unternahm. Die Kommunisten wollten den Nordwesten Chinas erreichen, um das Beispiel der Sowjetunion auf chinesischem Boden nach449
zuahmen. Die Bedeutung dieser gewaltigen Völkerwanderung wurde von den europäischen Staatsmännern unterschätzt. Das ›russische Experiment‹, wie die Anstrengungen der Sowjetunion, ihren Staatenverband zu festigen, bezeichnet wurden, galt keineswegs schon als geglückt. Die Auffassung, daß sich soziale Umwälzungen zu entzündlichen, krisenhaften Krankheiten entwickeln müßten, bevor es zur Gesundung kommen könne, war vorherrschend. So erfuhr die breite europäische und amerikanische Öffentlichkeit nur verhältnismäßig wenig über die neue chinesische Revolution. Man war gewiß, daß Tschiankaischek, der Generalissimus der von Sun-Yatsen gegründeten chinesischen Republik, der revolutionären Bewegung Mao-Tse-Tungs Herr werden würde. Daß ein ähnlicher Marsch wie der Mao-Tse-Tungs, wenn auch in geringerem Ausmaß und mit anderen Zielen, beinahe zur gleichen Zeit im Innern des südamerikanischen Erdteils stattfand, wurde wenig beachtet. Dieser Marsch brasilianischer Offiziere und Mannschaften wurde um so weniger als Sensationen von der europäischen und amerikanischen Presse gewertet, als sich die ›Kolonne‹ der mit dem undemokratischen Wahlsystem in Brasilien unzufriedenen Offiziere und Mannschaften schließlich auf neutrales Gebiet zurückzog. Einer ihrer Befehlshaber, Leutnant Prestes, trat offen zum Kommunismus über und galt in der aufgerührten südamerikanischen Bevölkerung als ›Ritter der Hoffnung‹. Hoffnung? Worauf? In den noch unterentwickelten Wohngegenden und Urwäldern Brasiliens und der anderen südamerikanischen Republiken fehlten die Voraussetzungen zur industriellen Revolution. Aber die Propaganda fand willige Aufnahme, trotz des tiefverwurzelten christlichen Glaubens der Bevölkerung, und wurde lebendig, als der große Börsenkrach des Jahres 1929 das kapitalistische Wirtschaftssystem in aller Welt bedrohte. Der ›Schwarze Freitag‹ an der New Yorker Börse war das widersinnige Ergebnis der amerikanischen Prosperität, der florierenden Wirtschaft, die sich selbst übersteigert hatte. Der durch die bedenkenlose Habgier von Erzeugern herbeigeführte Überschuß an Produkten, 450
die keinen Absatz finden konnten, führte zum Stillstand und zur Zahlungsunfähigkeit zahlreicher gewaltiger Industrien und der mit ihnen verbundenen Bankinstitute. Die Kurse der an der Börse gehandelten Wertpapiere fielen in sich zusammen. Unzählige Sparer, die ihr Geld in Aktien angelegt hatten, wurden von einer Stunde zur nächsten zu Bettlern. Die dadurch herabgeminderte Kaufkraft der Bevölkerung entzog den meisten Waren ihren Wert, und der so entstandene Kreislauf wurde zur Sturzwelle, die die europäischen Geld- und Warenmärkte mitriß. Hatten zunächst schon die deutsche Inflation, die Millionen Deutsche um ihre Spargroschen gebracht hatte und 1923 durch eine radikale Geldentwertung beendet worden war, und die Krisen anderer europäischer Währungen die Wirtschaft Europas ins Schwanken gebracht, so drohte jetzt das völlige wirtschaftliche Chaos. Eine gefährliche Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten führte zu einer ebenso verheerenden Arbeitslosigkeit in Europa. Aber die Wirtschaft Amerikas war glücklicherweise zu gesund, um dem gefürchteten Zusammenbruch anheimzufallen. Sichere und kluge Maßnahmen führten allmählich wieder zur Besserung der Lage, besonders nach der Wahl des körperbehinderten Franklin D. Roosevelt, der das ›New Deal‹ schuf. Der Begriff ›New Deal‹ war dem Kartenspiel entnommen und bedeutete, daß die Spielkarten neu zu verteilen seien, um jedem wieder eine Chance im Spiel zu geben. Eine neue soziale Ordnung war nötig geworden, ein neuer, echter Gemeinschaftsgeist. Die Industrie mußte wieder gesunden. Zur Erleichterung des Geldverkehrs mußte der Dollar abgewertet werden. Damit begann der neue Aufschwung der Vereinigten Staaten. Ein sachkundig ausgearbeitetes Sozialprogramm und eine gut organisierte Arbeitsbeschaffung wirkten der Arbeitslosigkeit entgegen. Altersrenten verhinderten, daß jemand im Alter vor dem Nichts stand. Gleichzeitig übernahm es Präsident Roosevelt, der Außenpolitik Amerikas neue Richtlinien zu geben. Er erkannte die UdSSR durch die Herstellung diplomatischer Beziehungen an und bekundete gleichzeitig, daß er die zunehmenden japanischen Eroberungen in Ostasien verurteile. 451
Wie wohl kein amerikanischer Staatsmann vor ihm sah Roosevelt ihm zwangsläufig erscheinende Entwicklungen voraus. Ein Beweis für seine unglaubliche Kombinationsfähigkeit und politische Weitsicht war der Geheimvertrag, den er mit Vargas, dem Präsidenten von Brasilien, über die Benützung brasilianischer Küstengebiete schloß, die im Falle einer allzu erfolgreichen deutschen Kriegführung nötig sein würden, um eine Landung amerikanischer Truppen in Nordafrika zu ermöglichen. Dieser Vertrag wurde im Jahre 1936 geschlossen. Damals war Hitler zwar schon die ›Machtergreifung‹ gelungen, aber kein anderer Staatsmann hätte es für möglich gehalten, daß er jemals Nordafrika würde erobern wollen.
Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nutzte in ihrer Propaganda den durch die harten Reparationen und die allgemeine Weltkrise entstandenen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft unbedenklich aus. Im Jahre 1932 gab es sechs Millionen Arbeitslose in Deutschland; Hitler prangerte ›Schuldige‹ dafür an und versprach die Beseitigung jeder Notlage durch die NSDAP. Viele glaubten ihm, und bei den Reichstagswahlen im Sommer 1930 stiegen die Mandate seiner Partei sensationell von 12 auf 107. Aber bei der Wahl des Reichspräsidenten im Jahre 1932 unterlag Hitler dem alten Feldmarschall Hindenburg, obwohl seine Werbung alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte; die Nazis waren niedergeschlagen. Äußerst unangenehm war ihnen auch die wenige Tage später von Reichskanzler Brüning erlassene Notverordnung ›zur Sicherung der Staatsautorität‹, die die SA und SS verbot. Aber Brünung wurde ›… hundert Meter vor dem Ziel …‹ zum Rücktritt gezwungen. Franz von Papen wurde Reichskanzler und bildete im Juni 1932 ein ›Kabinett der nationalen Konzentration‹. Papen war mit seinen Verhandlungen über das Ende der Reparationen erfolgreich, aber bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielt die NSDAP 37,8 Prozent der Wahlstimmen (230 der 608 Mandate). Hitler forderte den Reichskanzlerposten. Hindenburg lehnte ab. 452
Er mochte den ›österreichischen Gefreiten‹ nicht. Am 10. Oktober 1931 war es zu einer ersten Unterredung zwischen ihm und Hitler gekommen, nach der der Reichspräsident geäußert hatte, ›höchstens Postminister‹ könnte Hitler werden. Im November 1932 mußten bereits wieder Reichstagswahlen stattfinden, bei denen die NSDAP zum erstenmal nach den Jahren wachsender Erfolge eine Schlappe hinnehmen mußte: sie verlor 34 Mandate. War damit ihr Schicksal schon besiegelt? Auch finanziell stand sie in diesem Augenblick am Rande des Bankrotts und drohte gar, sich zu spalten, als der in ihr einflußreiche Gregor Strasser abfiel. Da rettete Hitler vielleicht, daß die Stimmen der Kommunisten auffallend angewachsen waren und man es angesichts der Gefahr von links doch lieber mit den Nazis zu tun haben wollte, die man verhängnisvoll unterschätzte. Entscheidend wurde schließlich für Hitlers ›Machtübernahme‹ das Zerwürfnis zwischen Papen und Schleicher. Schleicher hatte Papen Ende 1932 gestürzt und war ihm im Amte des Reichskanzlers gefolgt. Papen traf sich kurz darauf mit Hitler im Hause eines Kölner Bankiers, um seinerseits den Sturz Schleichers einzufädeln. Kurz nachdem die Nazis einen Wahlsieg Mitte Januar 1933 im Miniaturländchen Lippe errungen hatten und Reklame mit ihm machten, kam es zu politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Schleicher und Hindenburg. Schleicher trat zurück. Hitler wurde am 30.1.1933 zum Reichskanzler berufen. Kaum einen Monat später brannte das Reichstagsgebäude in Berlin. Und damit begann die ›Schlachtung der Sündenböcke‹. Wenn die Nazis das Reichstagsgebäude vielleicht auch nicht angezündet haben, wie später behauptet wurde – ausgenutzt haben sie dies Ereignis gründlich. Der Brand wurde von ihnen prompt den Kommunisten zur Last gelegt. Die kommunistische und sozialistische Presse wurde verboten, die kommunistischen Funktionäre wurden zum großen Teil verhaftet und in Kerkern und Konzentrationslagern unschädlich gemacht. Kaum acht Tage nach diesem ›Fanal‹ des Reichstagsbrandes fanden die Reichstagswahlen statt, bei denen die Nationalsozialisten 44 Prozent der Sitze errangen. Gemeinsam mit der Kampffront ›Schwarz-weiß-rot‹ aber hatten sie nur eine knappe Mehrheit: 52 Prozent der Stimmen. 453
Diese Ziffern zeigten, daß die NSDAP keineswegs die tatsächliche Mehrheit des deutschen Volkes hinter sich hatte, obwohl Hitler verkündete: »Ein Volk – ein Reich – ein Führer!« Doch die bestürzende Tatsache bleibt, daß die Nazis überhaupt zur stärksten deutschen Partei geworden waren. Wie hatte das geschehen können? Der Hauptgrund lag unbestreitbar im politischen Desinteresse und in der naiven Ahnungslosigkeit weitester Bevölkerungskreise. Die Demokratie, die Hitler mit Gewalt, Lüge und List ausgespielt hatte, war dem deutschen Volk eine fremde Sache geblieben, und besonders bei den Intellektuellen, im Beamten- und Mittelstand galt nach wie vor der weltfremde Grundsatz: »Politisch Lied, ein garstig Lied!« Andererseits sah man das allgemeine Chaos, die Arbeitslosigkeit, den Hunger, die Ohnmacht, die demokratischen Torheiten, und so resignierten schließlich auch viele, die jahrelang den Tiraden Hitlers nur Verachtung entgegengebracht hatten. »Gebt ihm eine Chance«, hieß es, »viel schlimmer, als es schon ist, kann es sowieso nicht mehr werden!« Doch es wurde schlimmer! Was die politische Wirklichkeit ihm versagte, erzwang Hitler nach der ›Machtübernahme‹ mit Gewalt. In dem ›Bündel von Weltanschauungen‹, deren Bruchstücke er zur nationalsozialistischen Weltanschauung zusammengeschweißt hatte, stand an erster Stelle: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Der Zweck war die größenwahnsinnige Vorstellung, daß ein einziger Mann ein Reich und ein Volk und dann den ganzen Erdkreis beherrschen könne und müsse. Um dies zu verwirklichen, scheuten Hitler und seine Helfershelfer kein Mittel. Die Gewalt wurde zum Recht, das Vorurteil zum Urteil. Dem ›Führer‹ und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war nichts heilig als der Zweck. Hitler hatte einen unübertrefflichen Gehilfen in Josef Goebbels gefunden, einen Propagandaminister, dessen zynische Gewandtheit in der Behandlung der Massen so überlegen war, daß er es in einer Volksversammlung auf sich nehmen konnte, offen zu erklären: »Nur die großen Lügen haben eine Wirkung!« Das stimmte allerdings nicht; in Wirklichkeit hatten auch die klei454
nen Lügen eine Wirkung auf das durch Hoffnungen geblendete deutsche Volk, dem Hitler nicht nur ›Arbeit und Brot‹ und damit das Ende seiner Not, sondern bald auch die Herrschaft über den ›Lebensraum der Erde‹ versprach. Aus tiefstem Elend taumelte bald ein ganzes Volk in den Rausch der Macht, nationaler Größe und Selbstüberschätzung, und wo sich eine Stimme dagegen erhob, wurde sie sofort mit rücksichtsloser Brutalität zum Verstummen gebracht. In Italien hatte Mussolini die Macht des Faschismus durch die geschickte Behauptung der italienischen Ansprüche und Forderungen in internationalen Zusammenkünften gestärkt. Man hatte in London und Paris durch die Finger geschaut, als er seine Absicht, das ›Römische Imperium‹ wiederherzustellen, durch die Eroberung Abessiniens zu verwirklichen begonnen hatte. Ganz Frankreich war erschüttert, als Hitler entgegen allen Verträgen die entmilitarisierte Zone des Rheinlands besetzte und die englischen Staatsmänner nur mißbilligend die Köpfe schüttelten, da sie doch von den drängenden Ereignissen im Fernen Osten und den Schwierigkeiten in der Verwaltung ihrer Kolonien so ganz und gar in Anspruch genommen waren. Nur ein einziger namhafter englischer Staatsmann warnte die Weltöffentlichkeit vor Hitler und den italienischen Faschisten und hatte damals alle Mühe, seine Zeitungsaufsätze durch literarische Agenten unterzubringen. Dieser Winston Churchill, der dem englischen Hochadel entstammte, wurde als ›Kriegshetzer‹ verschrien, weil er, ebenso wie sein späterer Freund und Kriegsgefährte Präsident Roosevelt, den zwangsläufigen Ablauf der Ereignisse voraussah. Der grausame Bürgerkrieg in Spanien, der Abwehrkampf der republikanischen Volksfront gegen den Offiziersputsch Francos, der von italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten entscheidend unterstützt wurde, lenkte die Aufmerksamkeit für kurze Zeit von Hitler ab. Aber man sprach von Spanien schon als von einem ›Versuchsgelände für einen kommenden Krieg‹, vom beachtenswerten Beispiel eines örtlichen Kräftespiels, bei dem sich herausstellen würde, wer stärker sei: die linksgerichteten Kräfte, die mit Hilfe Sowjetrußlands die 455
bestehende Ordnung verändern wollten, oder die rechtsgerichteten, die sie erbittert bekämpften. Obwohl Hitler und Mussolini keineswegs wünschten, daß alles so werde, wie es gewesen war, wurden sie von Konservativen aller Länder gestützt und gefördert. Sie wurden als Vorkämpfer gegen den Kommunismus anerkannt und konnten vorübergehend sogar diplomatische Vorteile erringen. Nicht viel später allerdings zeigte, wie Churchill schrieb, ›der Leopard seine Flecken‹. Die ständige Redensart in konservativen englischen Kreisen, die an die Unvermeidbarkeit eines von Hitler so gründlich vorbereiteten Krieges nicht glauben wollten, war: »Es kann nicht so schlimm sein.« Viele wollten nicht wahrhaben, daß die deutschen Juden enteignet, verfolgt und in Konzentrationslager geschleppt wurden, obwohl das Deutsche Reich 1935 öffentlich die berüchtigten Nürnberger Gesetze ›zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‹ erlassen hatte, die Deutschen verboten, Juden zu heiraten, und auch sonst extrem antisemitischen Inhalts waren. Auch die grausame Behandlung, der viele deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten und vom bekennenden Christentum erfüllte Katholiken und Protestanten ausgesetzt waren, verursachte anscheinend kein Entsetzen. »Es kann nicht so schlimm sein«, hieß es – denn warum half zum Beispiel die Sowjetunion nicht den verfolgten deutschen ›Genossen‹ und linksgerichteten Arbeitern? Die Erklärung, daß Stalin, der allmächtige Sekretär der Kommunistischen Partei Rußlands, die Zerstörung des Kommunismus in Deutschland mit Genugtuung beobachtet habe, wurde weder geglaubt noch verstanden, obwohl die Einzelheiten des Machtkampfes Stalins mit Trotzkij, der die Internationalisierung des Kommunismus verfocht, aufschlußreich waren. Vermutlich wollte Stalin unter allen Umständen und mit allen Mitteln verhindern, daß die deutsche Kommunistische Partei das Übergewicht über die Kommunistische Partei Rußlands in der ›Internationale des Kommunismus‹ gewänne. Die großen Schauprozesse, in denen hohe, sowjetische Funktionäre wegen ihrer früheren Zusammenarbeit mit Deutschland verurteilt wurden, waren deutliche Hinweise. 456
Eine echte politische Sensation war dann der 1939, unmittelbar vor Kriegsausbruch, abgeschlossene Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Rußland. Zwei auf den Tod verfeindete Systeme, die sich im Grunde in vielem ähnelten, sich aber stets unflätig beschimpft und brutal bekriegt hatten, verbündeten sich plötzlich um strategischer Vorteile willen. Hitler wurde schließlich, ohne es zu ahnen oder begreifen zu können, der Handlanger Stalins, als er seine kriegerischen Eroberungen vom Zaune brach. 1938 annektierte Hitler Österreich und nannte es ›Anschluß‹, als seine Truppen in das kleine Land einmarschierten, wobei allerdings gesagt werden muß, daß ein Großteil der österreichischen Bevölkerung diesem Schritt begeistert zustimmte, denn die staatliche Vereinigung Deutschlands und Deutsch-Österreichs war auch der Wunsch vieler, die zwar Nationalisten, aber keineswegs Nationalsozialisten waren. Er besetzte und zerschlug die Tschechoslowakei, obwohl er kurz vorher dem englischen Premierminister Chamberlain geschworen hatte, daß alle seine Ansprüche befriedigt seien, wenn ›die deutschen Volksgenossen aus den Sudeten ins Reich heimkehrten‹. Hitler stützte sich auch auf sein Bündnis mit Mussolini, auf die ›Achse Rom-Berlin‹, die zum ›Stahlpakt‹ führte, der Mussolini gar nicht so angenehm war, wie er unter dem Zwang des übermächtigen deutschen Partners verlautbaren mußte. Er wäre am liebsten aus dem Bündnis herausgeschlüpft, er hatte Angst vor der Zukunft, obwohl die Gegenwart und die Versprechungen und Zusagen Hitlers so verlockend schienen. Aber trotz seiner raschen Auffassungsgabe erfaßte Mussolini, der schwachen englischen Verhandlungspartnern am Beratungstisch gegenübergesessen hatte, die tatsächliche Stärke Englands nicht. Daß der französische Generalstab die Maginotlinie zur Abwehr eines deutschen Angriffs bis zur Grenze des neutralen Belgien errichtet hatte, beeindruckte Mussolini wenig. Er wußte aus eigenen Erfahrungen, die ihn bedrückten, daß Hitler sich nicht an Neutralität und Vereinbarungen hielt, die er mit ›treudeutschem‹ Handschlag besiegelt hatte. Mussolini mißtraute auch der deutsch-russischen Annäherung und scheute persönlich vor den unmenschlichen Greueltaten zurück, die 457
auf Befehl oder zumindest mit Wissen und Zustimmung Hitlers von den Nationalsozialisten verübt wurden. Dennoch blieb der Duce ein Gefangener seines Ehrgeizes und der Furcht, sein Lebenswerk zu gefährden, wenn er nicht an der ›Achse‹ festhielt.
III Als der zweite Weltkrieg mit noch nie dagewesenen militärischen Erfolgen Hitlers und seiner Generäle begonnen hatte, war das Deutsche Reich schon verloren. Es hatte fürs erste zwar ›unschlagbare Armeen‹, die im Osten bis an die mit den Russen vereinbarte Linie vorrollten und die Polen überrannten, es wiederholte den schon einmal von einer obersten deutschen Heeresleitung begangenen Neutralitätsbruch durch den Einmarsch in Belgien und diesmal auch in Holland, umging die Maginotlinie und brach in Frankreich ein, das in einem ›Blitzkrieg‹ (10.5.-25.6.40) zur Kapitulation gezwungen wurde, es besetzte Dänemark und eroberte Norwegen, es überrannte auch den Balkan – aber das ›Volk in Waffen‹, das zunächst alle Völker, die ihm entgegentraten, auf den Schlachtfeldern schlug, war schon von Anfang an ein geschlagenes Volk. Es hatte sein menschliches Rückgrat dadurch verloren, daß es sich jedem ›Führerbefehl‹ gebeugt hatte. Es hatte sich zumindest indirekt der Teilnahme an den ungeheuerlichsten Barbareien anläßlich der Juden- und Sozialistenverfolgungen mitschuldig gemacht. Die von Vätern und Vorvätern überkommenen Begriffe von Ehre und Anstand, von Treu und Glauben waren falschen Vorstellungen gewichen, die eine unerbittliche Propagandamaschine so lange wiederholt hatte, bis selbst jene die geschickt formulierten Phrasen glauben mußten, die sie nicht glauben konnten und nicht glauben wollten. Der Entzug vieler Berichte durch die zensurierte Presse und den den Machthabern gefügigen Rundfunk hatte zu einer Beschränkung des Wissens um das Zeitgeschehen geführt. Der Entzug vieler Bücher wegen der ›Rasse‹ 458
oder des Glaubens ihrer Autoren, die Verstümmelung des Schulunterrichts um der fragwürdigen Grundsätze und der ›Weltanschauung‹ des Nationalsozialismus willen hatten das Denken des deutschen Volkes verdunkelt. Rechtsbegriffe waren durch die willkürliche Gesetzgebung und Rechtssprechung Hitlers ins Wanken geraten. Die Zerstörung der überlieferten Lebensformen, um den gleichmachenden Vorschriften der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu entsprechen, hatte manche Deutsche, die ihre ›nicht-jüdische‹ Herkunft durch ›Ahnenpässe‹ bestätigen mußten und dadurch zu sogenannten ›Ariern‹ wurden, zu ›Prolet-Ariern‹ in der üblen Auslegung des Wortes gemacht. Das Gewissen wich der Gewalt oder wurde der ›großen Idee‹ geopfert, und wenn es nur dadurch geschah, daß man Gerüchte von Unmenschlichkeiten ebenso bewußt überhörte wie man Unzulänglichkeiten und Korruption der Parteibonzen übersah, denn es ging ja doch schließlich ›um die große Linie‹, und die war, so glaubten die verführten ›Idealisten‹, gut und edel. Die Untersuchung der nationalsozialistischen Gesetzgebung, der sich jeder unterwerfen mußte, wenn er nicht ins Konzentrationslager kommen wollte, ergab, daß sie so viele Vergehen und Verbrechen gegen die Grundbegriffe von Ethik und Moral enthielten, daß es nicht zu verwundern war, wenn alle Deutschen, die so leben mußten, wie der ›Führer‹ es befahl, eine Zeitlang als Verbrecher angesehen wurden, besonders in Amerika. Die unbarmherzige Kriegführung mit U-Booten und schließlich mit V-Geschossen, die vom deutschen Oberkommando befohlenen Bombardierungen offener Städte, die zum Auftakt des später so grausam gegen alle Zivilisten geführten Luftkrieges wurde, brachte auch jene Kreise zum Schweigen, die zunächst noch gewisse innen- und außenpolitische Erfolge Hitlers vor Ausbruch des Krieges anerkannt hatten. Viele Millionen Juden wurden in den Konzentrationslagern zu Tode gemartert oder vergast, eine so unvorstellbares, unmenschliches Geschehen, ein mit solcher Mordlust und Konsequenz durchgeführtes Verbrechen, daß historische Vergleiche einfach nicht durchzuführen sind. 459
Daß eine solche Grausamkeit Menschen gegenüber, die keine Schuld auf sich geladen hatten, außer geboren zu werden, möglich war, konnte die Weltöffentlichkeit fürs erste noch nicht glauben. Dann fragte man entsetzt: war das alles geschehen, ohne daß das deutsche Volk davon gewußt hätte? Hatten Menschen wirklich geduldet, daß ihre Mitmenschen, nur um der angeblichen ›Rasse‹ oder des Glaubens oder der politischen Gesinnung willen, hingemordet wurden? Die Vereinigten Staaten von Nordamerika traten in den Krieg ein, als der zweite Verbündete Hitlers, das Kaiserreich Japan, den Überfall auf Port Arthur, ohne den Krieg zu erklären, durch einen Luft- und U-Boot-Angriff auf Pearl Harbour wiederholte. Das geschah, als es schien, Hitler habe seinen ehemaligen Verbündeten Stalin auf die Knie gezwungen. Das deutsche Heer war in Rußland eingefallen, nachdem Hitler die beabsichtigte Landung in England nicht durchzuführen gewagt hatte. »Blut, Schweiß und Tränen«, hatte Winston Churchill, der endlich zum englischen Ministerpräsidenten ernannt worden war, seinen Landsleuten versprochen, als er sein Amt angetreten hatte, ›Blood, sweat and tears‹, wenn sie die von ihm als ›hunnischen Angreifer‹ bezeichneten Feinde abwehren und weiter als freies Volk leben wollten. Die englische Widerstandskraft erhielt durch den Eintritt Amerikas in den Krieg eine ungeheure Stärkung. Rußland konnte sich gegen die deutschen Heere erfolgreich zur Wehr setzen, als amerikanische Panzer und Lastwagen und alles andere Kriegsmaterial, an dem es schon überall fehlte, durch die von deutschen Unterseebooten unsicher gemachten Meere nach Rußland befördert wurden. Jetzt bewährte sich auch die Voraussicht Roosevelts, der Luftbrücken von der Küste Brasiliens nach Nordafrika schlagen konnte und längst schon alle Vorbereitungen für den ihm unvermeidlich scheinenden Krieg getroffen hatte. So wie die deutsche Heeresmacht im ersten Weltkrieg der Übermacht alliierter Tanks nicht gewachsen war, so mußte sie jetzt der Übermacht amerikanischer Flugzeuge erliegen. Als den Alliierten am 6.6.1944 unter Einsatz schier ungeheurer Luftstreitkräfte die Landung in der Normandie gelang, die geplante große Invasion, war der militärische Zu460
sammenbruch Deutschlands an der Westfront nur noch eine Frage der Zeit. Tag und Nacht hämmerten erbarmungslos die alliierten Luftangriffe auf die deutschen Städte nieder. Sie trafen weniger die deutsche Rüstungsmaschinerie, die in ausgelagerten und getarnten Betrieben fieberhaft weiterproduzierte, als die Millionen von Frauen, Kindern und alten Leuten, die Hitler seine ›Heimatfront‹ nannte. Stadt um Stadt wurde vernichtet, unersetzliche Kulturwerte sanken in Schutt und Asche, mehrere hunderttausend Menschen kamen im Bombenhagel um, allein beim Angriff auf Dresden am 13. und 14. Februar mindestens 60.000. Doch die Verantwortlichen saßen in sicheren Bunkern und führten den schon längst sinnlos gewordenen Krieg noch immer weiter, gaben Durchhalteparolen aus, an die sie selbst nicht mehr glaubten. In Italien brach der Faschismus zusammen. Mussolini wurde als Flüchtling von Partisanen hingerichtet. Und schließlich verübte Hitler – man konnte es später leider nicht eindeutig beweisen – am 30.4.1945 Selbstmord in seinem Berliner Bunker. An dieser Selbstvernichtung beteiligte sich auch sein Propagandaminister Josef Goebbels mit Frau und Kindern. Im Osten war mit der deutschen Niederlage bei Stalingrad Anfang 1943 die Wende des Krieges eingetreten; von da an hatte es nur noch einen unaufhaltsamen deutschen Rückzug gegeben. Die im Januar 1945 begonnene russische Winteroffensive machte die deutschen Ostgebiete zum Kriegsschauplatz. Und nun rächte sich das Vorgehen der Nazis gegen die als ›Untermenschen‹ bezeichneten Osteuropäer; auf unmenschliche Weise zahlten sie allen erreichbaren Deutschen heim, was man ihnen angetan hatte. Tausende kamen im strengen Winter auf der Flucht vor den russischen Truppen um. Ungezählte wurden von ihnen geschändet, verschleppt, erschlagen. Anfang Mai 1945 mußte die Kapitulation aller deutschen Streitkräfte erfolgen; die Gesamtkapitulation wurde am 7. und 8. Mai unterzeichnet. Im Fernen Osten kapitulierte Japan vor den Amerikanern, nachdem die ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki zur Explosion gebracht worden waren und das abschreckende Beispiel unmenschlicher Vernichtung gesetzt hatten. Der Krieg war zu Ende. 461
IV Nur ganz wenigen bedeutenden Deutschen war es gelungen, der nationalsozialistischen Hölle zu entfliehen. Einige Schriftsteller, deren Bücher im Kampf des Hitlerschen Ungeistes gegen den Geist verbrannt worden waren, entkamen nach England und nach Amerika. Darunter befanden sich die Brüder Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Bertold Brecht. Auch österreichische Dichter, wie Franz Werfel und Stefan Zweig, fanden Zuflucht in Übersee. Die weltbekannten Namen der dem Dritten Reich und dem angeschlossenen Österreich entronnenen Künstler überschatteten die Ausstrahlung der weniger bekannten, die es in fremden Ländern nicht zu solchem Ansehen bringen konnten. Das gleiche galt für die deutschen und österreichischen Wissenschaftler, die mit offenen Armen Aufnahme fanden, für die Ärzte und Ingenieure. Unter den Gelehrten, die das Deutsche Reich und Österreich verlassen mußten, befanden sich so großartige Wissenschaftler wie Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, und Lise Meitner, die die mathematischen Grundlagen zur Atomphysik schuf und ihre Forschungen ursprünglich rein friedlichen Zwecken gewidmet hatte. Viele dieser so unerbittlich Verfolgten stellten sich gegen den sogenannten ›Morgenthauplan‹, der 1945 eine vernichtende Entmachtung Deutschlands forderte, und traten für den ›Marshallplan‹ ein, der den zusammengebrochenen Ländern Hilfe bringen sollte.
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V War der Frieden gewonnen? Nach dem frühen Tod Roosevelts versteiften sich die während des zweiten Weltkriegs so freundlichen Beziehungen Stalins zu den sogenannten ›Westmächten‹. Der ›Eiserne Vorhang‹ fiel und schien die erstrebte Völkerverständigung unmöglich zu machen. Die nach dem Krieg wiederhergestellten Staaten des östlichen Europa wurden vom Westen abgegrenzt und zur Annahme der kommunistischen Lebensformen genötigt. Auf der anderen Seite des ›Eisernen Vorhangs‹ lebte die freie Welt, bemüht, die durch die ›Charta von San Franzisko‹ begründeten Freiheiten zu verwirklichen. Das Vorwort der Charta der Vereinten Nationen lautete: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, kommende Geschlechter vor der Geißel des Krieges, die in unserer Generation zweimal unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, zu bewahren, den Glauben an die Grundrechte des Menschen, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Mann und Frau und aller Nationen, der großen und der kleinen, neuerlich zu bekräftigen, Verhältnisse zu schaffen, in denen Gerechtigkeit und Achtung vor den Verpflichtungen, die sich aus Verträgen und anderen grundlegenden Dokumenten des Völkerrechts herleiten, gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen höheren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern und zu diesem Zweck Toleranz zu üben und miteinander in Frieden und als gute Nachbarn zu leben.«
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VI Neue Staaten waren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstanden. Die Republik Israel zum Beispiel, die den über die Erde verstreuten Juden die geschichtliche Heimstätte ihres Glaubens bot und die ›Heimkehrenden‹ durchaus nicht aus rassischen Gründen aufnahm, denn die Juden, die sich in Israel ansiedelten, waren Abkömmlinge der Länder, in denen sie geboren worden waren: die Nachkommen der zum Judentum bekehrten Chazaren, die in Rußland, Polen und dem Deutschen Reich gelebt hatten und die sich in ihrem Äußeren kaum von den Wenden unterschieden, die die Urbevölkerung großer deutscher Gebiete gewesen und zum Christentum bekehrt worden waren. Das Aussehen der in Israel lebenden Siedler bewies den Betrachtern, daß diese blonden und blauäugigen, diese schwarzhaarigen und dunkeläugigen neuen Pioniere ihres Glaubens nicht auf einen rassischen Nenner zu bringen waren; eine jüdische Rasse, die man doch so unsagbar grausam verfolgt hatte, gab es gar nicht. Die Juden sind jedoch durch die Heilige Schrift zu einer moralischen und religiösen Einheit verbunden. Auch der Hitlersche Schrei nach ›Lebensraum‹, nach dem ›Platz an der Sonne‹, erwies sich als eine längst durch den Ablauf der Ereignisse widerlegte Vorstellung. Der Weltkrieg, den der ›Führer‹ entfacht hatte, führte in der folgerichtigen Entwicklung der Menschheit zur Überzeugung, daß sich das Kolonialsystem der vergangenen Jahrhunderte überlebt hatte. Die Versuche, »unterentwickelten« Völkern zu helfen, abhängige Territorien unabhängig zu machen und die Sklaverei jeder Form zu beseitigen, wurde das Ziel der großen Mächte, die teils vorsichtig, teils entschlossen die koloniale Welt in die Brüderschaft der Nationen einzuschließen begannen. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit wurde auch durch die Nachfol464
gerin der ›industriellen Revolution‹, die ›Marktrevolution‹, ausgelöst. Das war ein neuer Begriff, der in sich den auch wirtschaftlich bedingten Wunsch einschloß, die Güter und Erzeugnisse, die der Menschheit zum besseren Leben dienen sollten, richtig und gerecht zu verteilen. Die Marktrevolution wird durch zwei einander entgegengesetzte Grundsätze angetrieben: auf der einen Seite bemüht sich die ›freie Welt‹ durch freien Wettbewerb und die Ausschließung von Mittelsmännern, die Erzeugnisse der Erde und der Arbeit den Verbrauchern zum niedrigsten Preis in größter Menge zuzuführen, auf der anderen Seite unternimmt es die ›kommunistische Welt‹, das gleiche Ziel durch staatliche Kontrolle zu erreichen.
VII Die Vereinten Nationen hatten bald Gelegenheit, ihre Entschlossenheit zur Wahrung ihrer Grundsätze mit allen Mitteln zu beweisen. Das geschah zum erstenmal, sichtbar für alle Welt, in Korea, als das kommunistische Nordkorea das Südkorea angriff. Es kam nach schweren Kämpfen zur Einstellung der Feindseligkeiten. Aber bedeutete das den Frieden? Zuvor schon, 1948, war eine Weltkrise um das viergeteilte Berlin, seither ständiges Spannungsfeld der internationalen Politik, entbrannt: die Sowjets blockierten die Versorgung Westberlins, doch die Alliierten machten durch eine gewaltige Luftbrückenaktion dem Störmanöver ein Ende. Der kalte Krieg hatte begonnen, und eines seiner Hauptgebiete wurde das willkürlich gespaltene Deutschland. Während sich unter russischer Besatzungsherrschaft in Mitteldeutschland eine kommunistische Diktatur entwickeln konnte, schlossen sich 1949 die drei westlichen Besatzungszonen zur Bundesrepublik Deutschland zusammen, die mit amerikanischer Unterstützung einen raschen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung nahm. Dazu trugen nicht zuletzt der Aufbauwille und die Tatkraft der Millionen von Heimatvertriebenen aus den Gebieten östlich der Oder465
Neiße-Grenze und der Tschechoslowakei bei, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl im Westen Deutschlands untergekommen waren. Die chinesische Räterepublik, die den Generalissimus Tschiankaischek besiegt hatte, war nicht in die Vereinten Nationen aufgenommen worden. Hunderte Millionen Chinesen gehörten der Gemeinschaft der Völker nicht an. Auf der dem asiatischen Festland vorgelagerten Insel Formosa sammelte und rüstete Tschiankaischek ein Heer aus mit dem immer wieder verlautbarten Zweck, das chinesische Festland zu erobern. Die Vereinigten Staaten hatten, gewitzigt durch den Überfall Japans, ihre Verteidigungslinien weit in den Pazifischen Ozean vorgeschoben. Präsident Eisenhower, der der Oberkommandierende des amerikanischen Heeres in Europa gewesen war, verweigerte die Anerkennung der chinesischen Volksrepublik trotz des Drängens Chruschtschows, des Nachfolgers Stalins, der realistischer und, trotz aller oft temperamentvollen Attacken gegen die westliche Welt, kompromißwilliger eingestellt war als seine Vorgänger. Die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum gefährlichen Pfänderspiel der miteinander im ›kalten Krieg‹ liegenden Großmächte. Ein beabsichtigtes Gipfeltreffen des Präsidenten Eisenhower mit Chruschtschow, dem Ministerpräsidenten der Sowjetunion, kam nicht zustande. Die Entscheidung wurde verschoben – sowohl in der chinesischen wie auch in der deutschen Frage. Der Beschluß der Großmächte über die Zukunft der Völker, denen sie in ihren Grundgesetzen Selbstbestimmung zugesichert hatten, sollte nach der Wahl des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gefällt werden. Die Wahl des jungen John F. Kennedy, dessen freiheitliches Programm eine baldige Lösung der schwebenden Fragen versprach, gab großen Teilen der von Angst und Sorge um die Zukunft erfüllten Menschheit neue Hoffnung auf das bessere Leben.
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ZEITTAFEL Die Neuzeit
1765-1790 Kaiser Joseph II.
1772 Polen: Erste Teilung Polens
1767-1835 Wilhelm von Humboldt, deutscher Philosoph
1772-1801 Friedrich von Hardenberg (Novalis), dt. Dichter
1768-1774 Rußland: Krieg gegen die Türkei
1773 Aufhebung des Jesuitenordens
1774 Friede von Kütschük-Kainardschi 1768 Korsika an Frankreich 1769 James Watt ›erfindet‹ (d.h. verbessert) die Dampfmaschine 1770-1827 Ludwig van Beethoven 1770-1843 Friedrich Hölderlin, deutscher Dichter
1774-1792 Frankreich: Ludwig XVI. 1775-1783 England und USA: Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Kolonien 1775-1854 Friedr. Wilh. Schelling, deutscher Philosoph 1776 Nordamerika: Am 4. Juli Unabhängigkeitserklärung von 13 ›Vereinigten Staaten‹
467
1776-1822 E.T.A. Hoffmann, deutscher Dichter
1786-1797 Friedrich Wilhelm II. König in Preußen
1777-1811 Heinrich von Kleist, deutscher Dichter
1786-1826 Carl Maria von Weber, deutscher Komponist
1778-1842 Clemens Brentano, deutscher Dichter
1787-1791 Rußland: 2. Krieg gegen die Türkei; Friede zu Jassy
1778/79 Bayrischer Erbfolgekrieg 1780-1867 Jean Auguste Ingres, französischer Maler 1781-1831 Achim von Arnim, deutscher Dichter 1782-1840 Niccoló Paganini, italienischer Violinvirtuose und Komponist 1783-1842 Stendhal, frz. Dichter 1785 Gründung des deutschen Fürstenbundes
1788-1824 Lord George Byron, englischer Dichter 1788-1857 Joseph von Eichendorff, deutscher Dichter 1788-1860 Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph 1789-1797 Nordamerika: George Washington Präsident 1789-1795 Frankreich: Französische Revolution (14. Juli 1789 Stürmung der Bastille; 1792-97 Erster Koalitionskrieg 468
gegen Österreich und Preußen; 1793 Ludwig XVI. hingerichtet; 1793/94 Schreckensherrschaft Robespierres) 1790-1792 Kaiser Leopold II. 1792-1806 Kaiser Franz II. 1792-1868 Gioacchino Rossini, italienischer Komponist 1792-1797 Erster Koalitionskrieg zwischen Frankreich und Österreich/Preußen 1793-1815 England: Teilnahme am Krieg gegen Frankreich 1793 Polen: Zweite Teilung Polens 1795 Polen: Dritte Teilung Polens
1795-1799 Frankreich: Direktorialregierung. 1795 Friede von Basel mit Preußen; Eroberung Hollands 1797 Feldzug Bonapartes in Italien 1797 Frankreich: Friede von Campo Formio mit Österreich; Beginn des Kongresses in Rastatt 1797-1828 Franz Schubert, deutscher Komponist 1797-1840 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1798 Ägypten: Landung Bonapartes 1798-1863 Eugene Delacroix, französischer Maler 1798-1799 Frankreich: Kriegszug Bonapartes nach 469
Ägypten; 1798 Sieg der englischen Flotte unter Nelson bei Abukir 1799-1802 Frankreich: Zweiter Koalitionskrieg europäischer Mächte gegen Frankreich 1799-1804 Frankreich: Napoleon Bonaparte Erster Konsul 1799-1837 Alexander Puschkin, russischer Dichter 1799-1850 Honore de Balzac, französischer Dichter 1801-1825 Rußland: Alexander I. 1802 England/Frankreich: Friede von Amiens 1802-1855 Victor Hugo, französischer Dichter
1803 Reichsdeputationshauptschluß zu Regensburg 1803-1869 Hector Berlioz, französischer Komponist 1804-1875 Eduard Mörike, dt. Dichter 1804-1814/15 Frankreich: Napoleon I. Kaiser, nachdem seit 1802 Konsul auf Lebenszeit 1805 Dritter Koalitionskrieg gegen Frankreich, Sieg Napoleons bei Austerlitz; Preußen neutral 1805 Italien: Napoleon König von Italien; ab 1806 Verwandte Napoleons eingesetzt 1805 Rußland: Niederlage in der Drei-KaiserSchlacht bei Austerlitz
470
1806/07 Krieg Napoleons gegen Preußen und Rußland; 1806 Sieg über die Preußen bei Jena und Auerstädt; 1807 unentschiedene Schlacht bei PreußischEylau zwischen Preußen und Franzosen, Friede von Tilsit
1805-1868 Adalbert Stifter, österreichischer Dichter 1805 Frankreich: Dritter Koalitionskrieg europäischer Mächte gegen Frankreich; Sieg Napoleons bei Austerlitz; Niederlage bei Trafalgar (Nelson †); Friede von Preßburg
1806-1812 Rußland: Dritter Krieg gegen die Türkei 1806-1817 Balkan: Serbischer Freiheitskampf
1806 Errichtung des Rheinbundes; Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
ab 1807 Pyrenäenhalbinsel: Volkskrieg gegen Napoleon
1806 Kontinentalsperre Napoleons gegen England
1807-1814 Reformen in Preußen
1806/07 Frankreich: Errichtung des Rheinbundes; Kontinentalsperre gegen England; Krieg gegen Preußen und Rußland; 1806 Siege bei Jena und Auerstädt; 1807 unentschiedene Schlacht bei Preußisch-Eylau, Sieg über die Russen bei Friedland; Juli 1807 Friede von Tilsit
1808-1814 Frankreich: Krieg in Spanien/Portugal; England (Wellington) auf spanischer Seite 1809 Krieg Österreichs gegen Frankreich; bei Aspern 471
Napoleon geschlagen, dann sein Sieg bei Wagram 1809 Frankreich: Krieg mit Österreich; Oktober 1809 Friede von Schönbrunn/Wien 1809-1852 N. Gogol, russischer Dichter 1809-1882 Charles Darwin, englischer Naturwissenschaftler seit 1810 Amerika: Freiheitskampf der spanischen Kolonien 1810-1849 Frederic Chopin, polnischer Komponist 1810-1856 Robert Schumann, deutscher Komponist 1811-1886 Franz von Liszt, deutscher Komponist
1812 Frankreich: Napoleons vergeblicher Zug nach Rußland 1812-1870 Charles Dickens, englischer Romancier 1813 Bündnis PreußenRußland zu Kalisch 16.-19.10.1813 Völkerschlacht bei Leipzig 1813-1815 Frankreich: Befreiungskriege gegen Napoleon; 1813: Niederlage Napoleons bei Leipzig; 1815 Niederlage Napoleons bei Waterloo 1813/14 Rußland: Teilnahme an den Befreiungskriegen 1813-1855 Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph
472
1813-1863 Friedrich Hebbel, deutscher Dichter 1813-1883 Richard Wagner, deutscher Komponist 1813-1901 Guiseppe Verdi, italienischer Komponist 1814 Polen/Rußland: »Kongreß-Polen« russisch 1814 Skandinavien: Norwegen an Schweden (Personalunion); Dänemark mit dem Herzogtum Lauenburg entschädigt 1814/15 Wiener Kongreß 1814/15 Frankreich: April 1814, Abdankung Napoleons, Rückkehr der Bourbonen (1814/15-1824 Ludwig XVIII.); 1815 Rückkehr Napoleons, ›Herrschaft der
hundert Tage‹; Juli 1815 Napoleon nach St. Helena verbannt 1815 ›Heilige Allianz‹ 1815 Schweiz: Vom Wiener Kongreß für neutral erklärt 1815 Holland/Belgien: Holland und Belgien vom Wiener Kongreß zum Königreich der Niederlande vereinigt 1815-1866 Deutscher Bund unter Österreichs Leitung 1815-1905 Adolf Menzel, deutscher Maler 1817-1888 Theodor Storm, deutscher Dichter seit 1818 Schweden: Haus Bernadotte
473
1818-1883 Iwan Turgenjew, russischer Dichter 1819 Karlsbader Beschlüsse 1820-1830 England: Georg IV. 1821-1829 Balkan: Erhebung Griechenlands; 1829 unabhängig 1821-1867 Charles Baudelaire, französischer Dichter 1821-1880 Gustave Flaubert, französischer Dichter 1821-1881 F. M. Dostojewskij, russischer Dichter 1823 Nordamerika: Monroedoktrin 1823 Amerika:
Mexiko Republik (1822 Kaiserreich) 1824-1830 Frankreich: Karl X.; 1830 Julirevolution unter Adolphe Thiers; Karl dankt ab 1825-1855 Rußland: Nikolaus I.; 1828/29 Russ.-Türk. Krieg 1825-1898 C.F. Meyer, Schweizer Dichter 1828-1906 Henrik Ibsen, norwegischer Dichter 1828-1910 Leo N. Tolstoi, russischer Dichter 1830/31 Polen/Rußland: Polnischer Aufstand; niedergeschlagen 1830-1848 Frankreich: ›Bürgerkönig‹ Louis Philippe nach Julirevolution
474
1830 Belgien: Londoner Konferenz erkennt Unabhängigkeit Belgiens an
Sozialistische Chartistenbewegung 1838-1875 Georges Bizet, französischer Komponist
1831-1833 Ägyptisch-Türkischer Krieg
1839-1842 England: Krieg gegen China
1832 Hambacher Fest
1839-1842 China: ›Opiumkrieg‹ mit England; Hongkong britisch
1833 Gründung des Deutschen Zollvereins 1833-1897 Johannes Brahms, deutscher Komponist 1834-1917 Edgar Degas, französischer Maler 1835-1848 Ferdinand I. Kaiser von Österreich
1839-1906 Paul Cezanne, französischer Maler 1840-1861 Friedrich Wilhelm IV. König in Preußen 1840-1902 Emile Zola, französischer Dichter
1837-1901 England: Königin Viktoria; Hannover selbständig
1840-1917 Auguste Rodin, französischer Bildhauer 1841-1919 Auguste Renoir, französischer Maler
ab 1838 England: 475
1848 Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes (Marx, Engels) 1848 Frankreich: Februarrevolution, Republik ausgerufen; Louis Napoleon Präsident 1848/49 Italien: Aufstände gegen Österreich; Siege Radetzkys 1848-1916 Kaiser Franz Joseph I. von Österreich 1848/49 Revolution in Deutschland; Zusammentritt einer ›Deutschen Nationalversammlung‹ 1848-1850 Krieg Schleswig-Holsteins gegen Dänemark; 1850 Friede zu Berlin; 1852 Londoner Protokoll 1849 Friedrich Wilhelm IV. lehnt Kaiserwürde ab
1851 Frankreich: Staatsstreich Louis Napoleons; 1852-1870: Kaiser Napoleon III. 1853/54 Japan: Handelsvertrag mit den USA 1853-1856 Rußland: Krimkrieg; 1856 Friede von Paris 1853-1856: Frankreich/England: Beteiligung am Krimkrieg gegen Rußland; 1856 Friede von Paris 1853-1890 Vincent van Gogh, niederländischer Maler 1855-1881 Rußland: Alexander II. 1856-1950 George Bernard Shaw, irischer Dichter 1858-1872 Amerika: 476
Juárez Präsident Mexikos (1867 Kaiser Maximilian hingerichtet) ab 1859 Italien: Einigungskämpfe; 1861 Einigung; Viktor Emanuel II. König; 1871 Rom Hauptstadt 1859-1952 Knut Hamsun, norwegischer Dichter 1859 Balkan: Fürstentum Rumänien 1860-1904 Anton Tschechow, russischer Dichter 1861-1865 Nordamerika: Sezessionskrieg; Kapitulation der Südstaaten 1861-1867 Frankreich: Unternehmungen in Mexiko 1861-1888 Wilhelm I. von Preußen
ab 1862 Bismarck preußischer Ministerpräsident 1862 China: Indochina französische Kolonie 1862-1946 Gerhart Hauptmann, deutscher Dichter 1863-1944 Edvard Munch, norw. Maler 1864 Dänemark/Deutschland: Deutsch-Dänischer Krieg 1864 Gründung des Roten Kreuzes durch H. Dunant 1864 Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864-1949 Richard Strauß, deutscher Komponist 1865-1936 Rudyard Kipling, englischer Dichter 477
1866-1945 W. Kandinsky, russischer Maler 1866 Sogenannter ›Deutscher Krieg‹ 1867 Norddeutscher Bund; Doppelmonarchie Österreich/Ungarn 1867 Nordamerika: USA kaufen Alaska von Rußland 1868 England: Krieg gegen Abessinien 1868 Japan: Revolution: Wiedereinsetzung des Mikado; Modernisierung des Staates 1868-1936 Maxim Gorki, russischer Dichter 1869 Ägypten: Suezkanal erbaut (Lesseps)
1869-1951 Andre Gide, französischer Dichter 1870-1938 Ernst Barlach, deutscher Bildhauer und Dichter 1870/71 Frankreich: Krieg mit Deutschland; Niederlage bei Sedan; Napoleon III. kriegsgefangen 18.1.1871 Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 Frankreich: Aufstand der Commune 1871-1937 Ernest Rutherford, englischer Physiker 1871-1888 Wilhelm I. Deutscher Kaiser 1871-1873 Frankreich: Thiers Präsident der Republik
478
1871-1890 Bismarck deutscher Reichskanzler
1875 Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands
1872 Drei-Kaiser-Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Rußland
1877 England: Königin Viktoria ›Kaiserin von Indien‹
1872 Beginn des ›Kulturkampfes‹
1877/78 Vorderasien: Türkisches Großreich aufgelöst
ab 1873 Frankreich: MacMahon Präsident
1877/78 Rußland/Balkan: Russisch-Türkischer Krieg; 1778 Berliner Kongreß: Bulgarien, Serbien, Montenegro, Rumänien selbständig
1874-1880 England: Konservativer Premierminister Disraeli
1879 Zweibund zwischen Deutschland und Österreich/Ungarn; 1882 durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert
1874-1951 Arnold Schönberg, deutscher Komponist 1875-1926 Rainer Maria Rilke, deutscher Dichter
1879-1955 Albert Einstein, Physiker
1875-1955 Thomas Mann, deutscher Dichter
ab 1881 Großzügige soziale Gesetzgebung in Deutschland
479
1881 Frankreich: Besetzung von Tunis 1881 Pablo Picasso, spanischer Maler, geboren 1881 Balkan: Rumänien Königreich 1881-1890 Rußland: Alexander III. 1882 Italien: Unter König Humbert (18781900) Beitritt zum Dreibund 1882 England: Besetzung Ägyptens 1882-1941 James Joyce, irischer Dichter 1882 Igor Strawinsky, russischer Komponist, geboren 1884/85 China: Französisch-Chinesischer Krieg
1885 Frankreich: Madagaskar unter französischer Schutzherrschaft 1885/86 Balkan: Serbisch-Bulgarischer Krieg 1886-1956 Gottfried Benn, deutscher Dichter 1887 Marc Chagall, französischer Maler, geboren 1887 Rußland: Rückversicherungsvertrag mit Deutschland 1887 Rückversicherungsvertrag Deutschlands mit Rußland 1888 Sogenanntes ›Drei-Kaiser-Jahr‹: nach dem Tode Wilhelms I. Regierung von neunundneunzig Tagen Friedrichs III. dem Wilhelm II. folgt
480
1897 Balkan: Griechisch-Türkischer Krieg
1888-1918 Wilhelm II. 1888-1953 Eugene G. O'Neill, amerikanischer Dichter
1897 William Faulkner, amerikanischer Dichter, geboren
1890 Bismarcks ›Entlassung‹, Caprivi Reichskanzler
1898 Nordamerika: Krieg der USA gegen Spanien; Gebietserwerb
1890 Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert
1898 England/Frankreich: Faschodakrise
1890 Luxemburg: Luxemburg, seit 1867 neutral, wird unabhängig
1899-1902 England: Zweiter Burenkrieg; 1902 Frieden von Pretoria: Südafrika britisch
1892 Frankreich: Französisch-Russische Militärkonvention
1899-1936 F.G. Lorca, spanischer Dichter
1894/95 Ostasien: Japanisch-Chinesischer Krieg
1900/01 China: ›Boxer‹-Aufstand
1894-1917 Rußland: Nikolaus II.
1900-1938 Thomas Wolfe, amerikanischer Dichter
481
1900-1944 Italien: König Victor Emanuel III.
1905 Jean Paul Sartre, französischer Schriftsteller, geboren
1901-1905 Frankreich: Kulturkampf
1905 Skandinavien: Trennung Norwegens von Schweden
1901-1910 England: König Eduard VII. 1902 Japan: Bündnis mit Großbritannien 1904 Frankreich/England: Entente Cordiale 1904 Amerika: Panama-Kanal eröffnet (1903 Panama selbständig) 1904/05 Japan: Erfolgreicher Krieg gegen Rußland 1904/05 Rußland: Krieg gegen Japan, Mißerfolg
1905 Wilhelm II. Landung in Tanger; Erste Marokkokrise 1905 Rußland: Revolutionäre Unruhen 1905/06 Erste Marokkokrise; Konferenz von Algeciras 1907 Rußland: Abkommen mit England und Frankreich (Entente) 1910 Jean Anouilh, französischer Dichter, geboren 1910-1936 England: Georg V.
482
1911 Zweite Marokkokrise (Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir gesandt) 1911 Portugal: Republik Portugal (seit 1910) anerkannt 1911 China: In Südchina Revolution Sun Yatsens; 1912 China Republik; Bürgerkrieg 1911/12 Balkan/Italien: Italienisch-Türkischer Krieg 1912 Frankreich: Französisch-Russisches Marineabkommen 1912/13 Balkan: Balkankriege 1913-1920 Frankreich: Poincare Präsident der Republik
1913-1960 Albert Camus, französischer Dichter 1914-1918 I. Weltkrieg; Niederlage des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten 1917 Rußland: Bolschewistische Oktoberrevolution (Entstehung der Sowjetrepubliken) USA: Wilson Präsident (bis 1921) 1918 Deutschland, Österreich: Thronverzichte Kaiser Wilhelms II. und Kaiser Karls (1916-1918) 1918 Osteuropa: Polen, Finnland und die Baltischen Staaten selbständig 1918 Balkan: Jugoslawien selbständig 1919 Alle deutschen Kolonien unter Mandatsverwaltung 483
1919 Versailler Frieden mit Deutschland 1919 Weimarer Republik begründet 1919-1925 Ebert Reichspräsident 1919 Völkerbund gegründet 1919 Frankreich: Elsaß-Lothringen von Deutschland 1919 Italien: Südtirol und Triest an Italien 1920 Kapp-Putsch 1920 Irak unabhängig 1920-1922 Balkan: Griechisch-Türkischer Krieg; 1922 Türkei Republik; 1924 Griechenland wird Republik
1922 Ägypten unabhängig 1922 Deutschland/Rußland: Vertrag von Rapallo 1922 England: Freistaat Irland (Dominion-Status) 1922 Italien: Sieg des Faschismus; Mussolini 1923 Vorderasien: Türkei Republik 1923 Frankreich besetzt Ruhrgebiet; in Deutschland Inflation 1924 England: Erstes Labour-Kabinett 1925 Europa: Locarno-Vertrag 1925-1934 Hindenburg Reichspräsident 484
ab 1926 Japan: Kaiser Hirohito
1933-1945 Hitler Reichskanzler; Ende der parlamentarischen Republik
1928 China: Nationalregierung
1933-1945 F.D. Roosevelt Präsident
1928 Europa: Kellog-Pakt von vielen Staaten unterzeichnet 1929 Italien: Lateranverträge 1931 Spanien: Spanien Republik 1932 Portugal: Salazar Ministerpräsident 1932 Europa: Genfer Abrüstungskonferenz gescheitert 1932 Japaner in der Mandschurei
1934 Balkan: Balkanpakt zwischen der Türkei, Griechenland, Rumänien, Jugoslawien 1935 England: Flottenabkommen mit Deutschland (Hitler) 1935 Frankreich: Beistandspakt mit Rußland 1935/36 Italien: Unterwerfung von Abessinien 1935/36 Afrika: Italien unterwirft Abessinien 1936 Deutsch-Italienischer Vertrag, ›Achse‹ Berlin-Rom 485
1936 England: Januar bis Dezember: Edward VIII.; Dezember 1936 bis 1952: Georg VI. 1936-1938 Frankreich: Volksfront-Kabinett (Leon Blum, ab 1937 Chautemps) 1936-1939 Spanien: Bürgerkrieg 1937-1939 England: Chamberlain Premierminister 1937-1945 China/Japan: Krieg Japans gegen China 1938 Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes durch deutsche Truppen 1938-1940 Frankreich: Kabinett Daladier
1939 Italien: Besetzung Albaniens 1939 Besetzung Böhmens und Mährens 1939-1945 2. Weltkrieg: Deutschland gegen Polen, Frankreich, England, Sowjetunion, USA u.a. 1945 Bedingungslose Kapitulation Deutschlands; Einteilung in Zonen und Verwaltungsgebiete; Vertreibung der Ost- und Sudetendeutschen ab 1945 Osteuropa: Gründung von kommunistischen ›Volksrepubliken‹ (Satellitenstaaten der UdSSR) 1945 England: Labour-Regierung (Attlee) 1945 Nordamerika: USA am Ende des 2. 486
1947 Europa/USA: Marshallplan
Weltkriegs mächtigstes Staatengebilde der Erde 1945 Gründung der UNO
1947 Spanien: Spanien wieder Königreich
1945/46 Italien: Mussolini erschossen;
1948 Währungsreform in Deutschland
1946 Italien Republik
1949 Errichtung der Bundesrepublik und der sogenannten DDR auf dem Boden des Deutschen Reiches
1947 Bildung der Bi-Zone (gültig ab 1.1.1948) 1947 Indien: Indien als Dominion im Verband des Britischen Reiches 1947 Europa: Pariser Friedensverträge mit ehem. Verbündeten Deutschlands 1947 Europa/USA: Außenministerkonferenz in Moskau
1949 China: Kommunistischer Aufstand Mao Tse-tungs; Tschiang Kaischek (seit 1926) gestürzt 1949 Europa: Osteuropäischer Wirtschaftsrat 1949 Europa/USA: Nordatlantikpakt (NATO) 1949 England/Irland:
487
Irlands Austritt aus dem Verband des Commonwealth
verliert Japan alle seit 1875 gemachten Eroberungen
1949 und 1954 Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt
1951 Westmächte erklären den Kriegszustand mit Deutschland für beendet
ab 1949 Regierung einer ›Kleinen Koalition‹ unter Führung der CDU/CSU; Bundeskanzler Adenauer 1950 Europa: Londoner Zehnmächtepakt; erste Tagung des Europarats (Ministerausschuß) 1950 USA/Europa: Außenministerkonferenz in New York (USA, Großbritannien, Frankreich) 1950-1953 Asien: Korea-Krieg; militärisches Eingreifen der UNO 1951 Japan: Im Frieden von San Franzisco
1951 Europa: Montanunion gegründet 1951 Frankreich/Benelux: Teilnahme an der Montanunion 1951 Skandinavien: Nordischer Rat geschaffen 1952-1960 Nordamerika: Eisenhower Präsident der USA; Außenminister Dulles; 1954 Antikommunistengesetz 1952 England: Elisabeth II. gekrönt 1952 Europa: Europäische 488
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1952 Frankreich/Benelux: Teilnahme am Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1953 UdSSR: Tod Stalins 1954 Europa: Berliner und Genfer Konferenz; Pariser Konferenz (Gründung der Westeuropäischen Union) 1955 UdSSR beendigt Kriegszustand mit Deutschland 1955 Europa: Warschauer Militärpakt 1956 Ungarn: Großer Aufstand gegen das kommunistische Regime
1956 Ägypten: Suezkrise; Eingreifen Englands und Frankreichs 1957 UdSSR: Start des 1. Erdsatelliten 1958 Frankreich: De Gaulle Ministerpräsident (1959 Erster Präsident der V. Republik) 1959 Heinrich Lübke Bundespräsident1960 USA: J.F. Kennedy Präsident 1961 UdSSR: Erster bemannter Weltraumflug
Deutsche Geschichte
1764-1850 J. G. Schadow, Bildhauer 1765-1790 Kaiser Joseph II. 489
1770-1827 Ludwig van Beethoven 1770-1831 G.W. Friedrich Hegel, Philosoph 1770-1843 Friedrich Hölderlin, Dichter 1772 Erste Teilung Polens 1776-1822 E.T.A. Hoffmann, Dichter 1776-1840 Caspar David Friedrich, Maler
1781-1841 Karl Friedrich Schinkel, Maler und Baumeister 1785 Gründung des deutschen Fürstenbundes durch Friedrich den Großen 1786-1797 Friedrich Wilhelm II. König in Preußen 1786-1826 Carl Maria von Weber, Komponist
1777-1811 Heinrich von Kleist, Dichter
1787-1791 Zweiter Türkenkrieg; Österreich an russischer Seite
1777-1857 Christ. Daniel Rauch, Bildhauer
1788-1857 Joseph von Eichendorff, Dichter
1778/79 Bayrischer Erbfolgekrieg
1790-1792 Kaiser Leopold II. (Bruder Josephs II.)
1778-1842 Clemens Brentano, Dichter 1781-1831 Achim von Arnim, Dichter
1792-1806 Kaiser Franz II. 1792-1797 Erster Koalitionskrieg 490
1805 Dritter Koalitionskrieg gegen Frankreich, Sieg Napoleons bei Austerlitz
zwischen Frankreich und Österreich/Preußen 1793 Zweite Teilung Polens
1805-1868 Adalbert Stifter, österreichischer Dichter
1795 Dritte Teilung Polens
1806 Errichtung des Rheinbundes; Folge: Franz II. legt die deutsche Kaiserkrone nieder
1797-1828 Franz Schubert, Komponist 1797-1840 Friedrich Wilhelm III. von Preußen
1806 Sieg der Franzosen über die Preußen bei Jena und Auerstädt
1797-1856 Heinrich Heine, Dichter
1806/07 Krieg Napoleons gegen Preußen und Rußland
1799-1802 Zweiter Koalitionskrieg europäischer Staaten gegen Frankreich; Preußen neutral
1807 Unentschiedene Schlacht bei Preußisch-Eylau zwischen Preußen und Franzosen Sieg Napoleons über die Russen bei Friedland Friede von Tilsit
1803 Reichsdeputationshauptschluß zu Regensburg 1803-1884 Ludwig Richter, Maler und Zeichner
1807-1814 Reformen in Preußen, z.B. unter dem Freiherrn von und zum Stein
1804-1875 Eduard Mörike, Dichter 491
1808-1885 Carl Spitzweg, Maler 1810-1856 Robert Schumann, Komponist 1811-1886 Franz von Liszt, Komponist 1809 Krieg Österreichs gegen Frankreich; bei Aspern Napoleon geschlagen, siegt bei Wagram; Erhebung der Tiroler unter Andreas Hofer 1813 Bündnis zwischen Preußen und Rußland zu Kalisch 1813-1937 Georg Büchner, Dichter 1813-1863 Friedrich Hebbel, Dichter 1813-1883 Richard Wagner, Komponist Mai 1813 Niederlagen der Verbündeten gegen Napoleon bei Großgörschen und Bautzen
Aug./Sept. 1813 Siege Bülows bei Großbeeren, Blüchers an der Katzbach (Wahlstatt); Sieg Napoleons bei Dresden über Schwarzenberg; Siege von Kleists bei Kulm und Nollendorf, Bülows und Tauentziens bei Dennewitz 16.-19.10.1813 Völkerschlacht bei Leipzig, Napoleon entscheidend geschlagen; Folge: Auflösung des Rheinbundes, Sieg der Verbündeten und Einzug in Paris 1814/15 Wiener Kongreß: Neuordnung der europäischen Verhältnisse 1815 ›Heilige Allianz‹ der Monarchen von Rußland, Preußen, Österreich 1815 Blücher entscheidet Schlacht von Belle-Alliance (Waterloo): Sieg, zusammen mit Wellington, über Napoleon 1815-1905 Adolf Menzel, Maler 492
1815-1866 Deutscher Bund unter Österreichs Leitung 1817-1888 Theodor Storm, Dichter 1819 Karlsbader Beschlüsse 1819-1890 Gottfried Keller, Schweizer Dichter
süddeutschen (radikalen) Liberalisten 1832-1908 Wilhelm Busch, Humorist 1833 Gründung des deutschen Zollvereins 1833-1897 Johannes Brahms, Komponist
1819-1898 Theodor Fontane, Dichter
1835-1848 Ferdinand I. Kaiser von Österreich
1824-1896 Anton Bruckner, österreichischer Komponist
1840-1861 Friedrich Wilhelm IV. König in Preußen
1825-1899 Johann Strauß (Sohn), österr. Komponist
1844-1909 Detlev von Liliencron, Lyriker
1827-1901 Arnold Böcklin, Maler 1829-1880 Anselm Feuerbach, Maler 1832 Hambacher Fest der
1848-1850 Krieg Schleswig-Holsteins gegen Dänemark; 1850 Friede zu Berlin; 1852 Londoner Protokoll 1848-1916 Kaiser Franz Joseph I. 1848/49 Revolution in Deutschland; 493
Zusammentritt einer ›Deutschen Nationalversammlung‹ 1849 Friedrich Wilhelm IV. lehnt die Kaiserwürde ab, die ihm die Frankfurter Nationalversammlung angeboten hatte 1858-1948 Max Planck, Physiker 1861-1888 Wilhelm I. von Preußen ab 1862 Bismarck preußischer Ministerpräsident 1862-1946 Gerhart Hauptmann 1864 Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark; Friede von Wien 1864-1908 Frank Wedekind, Dichter 1864-1949 Richard Strauß, Komponist
1866 Sogenannter ›Deutscher Krieg‹ zwischen Preußen und Österreich, entscheidende österreichische Niederlage bei Königgrätz, Verständigungsfriede zu Prag; Auflösung des Deutschen Bundes 1867 Norddeutscher Bund unter preußischer Führung; Bismarck Bundeskanzler 1870-1938 Ernst Barlach, Bildhauer und Dichter 1870/71 Deutsch-Französischer Krieg, entscheidende Schlacht: 1.9. 1870 bei Sedan, Napoleon III. gefangen; Vorfriede von Versailles 18.1.1871 Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Schloß von Versailles 1871-1888 Wilhelm I. Deutscher Kaiser
494
1871-1890 Bismarck deutscher Reichskanzler 1872 Beginn des ›Kulturkampfes‹ 1872 Drei-Kaiser-Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Rußland 1874-1951 Arnold Schönberg, Komponist 1875 Gründung der ›Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands‹ 1875 Gründung des Weltpostvereins auf deutsche Anregung (H. v. Stephan)
1879 Zweibund zwischen Deutschland und Österreich/Ungarn; 1882 durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert 1879-1955 Albert Einstein, Physiker 1879 Otto Hahn, Chemiker, geboren 1879-1940 Paul Klee, Maler 1880-1916 Franz Marc, Maler ab 1881 Großzügige soziale Gesetzgebung in Deutschland 1883 Karl Jaspers, Philosoph, geboren
1875-1955 Thomas Mann
1884 Franz Kafka, Dichter, geboren
1875 Albert Schweitzer geboren
1884/85 Gründung deutscher Kolonien in Afrika und im Fernen Osten
1875-1926 Rainer Maria Rilke, Dichter
1886-1956 Gottfried Beim, Dichter 495
1887 Rückversicherungsvertrag Deutschlands mit Rußland 1888 Sogenanntes ›Dreikaiserjahr‹: nach dem Tode Wilhelms I. Friedrich III. dem Wilhelm II. folgt 1888-1918 Wilhelm II. (gest. 1941) 1889 Martin Heidegger, Philosoph, geboren 1890 Bismarcks Rücktritt (›Entlassung‹), Caprivi Reichskanzler 1890 Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert 1895 Paul Hindemith, Komponist, geboren 1905/06 Erste Marokkokrise, beendet durch die Konferenz von Algeciras
1911 Zweite Marokkokrise (Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir gesandt) 1914-1918 1. Weltkrieg, Niederlage des Deutschen Reiches 1919 Versailler Frieden mit Deutschland Februar 1919 Weimarer Republik begründet; August Unterzeichnung der Verfassung 1919-1925 Ebert Reichspräsident 1920 Kapp-Putsch 1922 Vertrag von Rapallo 1923 Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen In Deutschland Inflation Im November Hitler-LudendorffPutsch in München, mißglückt 496
1925 Vertrag von Locarno (Stresemann) 1925-1934 Hindenburg Reichspräsident 1928 Kellogg-Briand-Pakt auch von Deutschland unterzeichnet 1930 Das Rheinland geräumt 1932 Erledigung des Reparationsproblems (Konferenz von Lausanne) 1933-1945 Hitler Reichskanzler; Ermächtigungsgesetz bedeutet Ende der parlamentarischen Republik
1935 Deutschland führt allgemeine Wehrpflicht ein; deutschenglisches Flottenabkommen 1936 Deutsche Truppen besetzen entmilitarisiertes Rheinland 1936 Deutsch-italienischer Vertrag, ›Achse‹ Berlin-Rom 1936 Antikominternpakt mit Japan 1938 Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes 1939 Militärbündnis DeutschlandItalien; deutsch-russischer Nichtangriffspakt
1934 Nichtangriffspakt Deutschland-Polen
1939 Besetzung Böhmens und Mährens
1934 Tod Hindenburgs, Hitler Reichspräsident
1939-1945 Krieg Deutschlands gegen Polen, Frankreich, UdSSR, USA usw.; vollständige deutsche Niederlage; bedingungslose Kapitulation 497
1939-1945 2. Weltkrieg; Krieg JapanUSA (1941-1945) 5.6.1945 Deutschland aufgeteilt; von Kontrollrat verwaltet 1947 Auflösung Preußens durch Gesetz 1947 Bildung der Bi-Zone (gültig ab 1.1.1948) 1948 Währungsreform 1949 Errichtung der Bundesrepublik und der sogenannten ›DDR‹
1953 (17. Juni) Aufstand in Mitteldeutschland; mit Hilfe der Besatzungsmacht niedergeschlagen 1955 Nach Wehrgesetz Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO 1956 ›Nationale Volksarmee‹ in der ›DDR‹ gebildet 1956 KPD in der Bundesrepublik verboten 1959 Heinrich Lübke Bundespräsident 1961 Dt.-frz. Freundschaftsvertrag
1949 und 1954 Theodor Heuss Bundespräsident ab 1949 Regierung der ›Kleinen Koalition‹ (Führung: CDU/ CSU; Bundeskanzler Adenauer) in der Bundesrepublik 1953 Tod Stalins 498