Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 6
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Neuzeit
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Paul Frischauer
Weltgeschichte
in Romanen
Band 6
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Neuzeit
Inhaltsangabe 1785 erschüttert ein Skandal ganz Europa. Eine Betrügerin, die Gräfin de la Motte, hatte den französischen Kardinal Rohan schändlich betrogen. Sie schwindelte ihm ein wert volles Halsband ab, das der in Ungnade gefallene Kardinal der Königin Marie Antoinette schenken sollte. Die Übeltäterin büßte ihr Verbrechen durch das Brenneisen und Ver urteilung von lebenslänglichem Kerker. Alexandre Dumas schildert die ›Halsbandaffai re‹, die den Untergang des französischen Königshauses und die Französische Revolution einleitete in seinem Roman, durch den Frischauer Gründe für die Zeitenwende, den Be ginn der Neuzeit deutlich werden läßt. Eine neue Kraft, das Bürgertum, beginnt in der Nachfolge der Französischen Revolution die Gesellschaften zu prägen. Aus seinen Krei sen kommen die, die als Unternehmer die Industrielle Revolution in Gang setzen. Diese, auch für unsere Zeit prägende Umwälzung wird in ihrem Anfangsstadium geschildert in dem großen Roman ›Germinal‹ des französischen Realisten Emile Zola, durch den Frischauer das neue Zeitalter einführt. Er schildert das Aufbäumen der alten Ordnung, bis diese nach Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbricht. Jenseits von trockenen Zah len und Daten läßt Frischauer teilnehmen an den Wirren der Weimarer Zeit, den tiefen Fall der Welt im Zeitalter des Faschismus und an den Neubeginn nach dem blutigsten Krieg der Weltgeschichte.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
© by Literarica Anstalt, Vaduz
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln
und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West-Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
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Aufgeklärte Herrscher
I
Unter den Zuschauern der Krönung Josefs II. in Frankfurt befand sich der damals fünfzehnjährige Johann Wolfgang von Goethe. Er erzähl te: »Der junge König schleppte sich in den ungeheuren Gewandstük ken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher … Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopfe ab …« Auch der zum römischen König gekrönte Josef fand die nur dem äußeren Schein der Macht geltende Feierlichkeit unzeitgemäß. Er be zeichnete sie als ›eine unangenehme und nutzlose Funktion‹. Aber als er nach dem frühen Tod Franz I., seines Vaters, Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation wurde, setzte er doch alles daran, Friedrich II. den er von ganzem Herzen bewunderte, zu beweisen, daß das ›hei lige Reich‹ nicht, wie der König in Preußen gespottet hatte, ›nur die er lauchte Republik deutscher Fürsten‹ sei. Es gab mehr als dreihundert selbständige Kurfürsten, Herzöge, Gra fen, Freiherren, Ritter, Bischöfe, Äbte und Stadtgemeinden im Reich. Alle diese selbstherrlichen Landesherren waren auf den Nutzen ihres größeren oder kleineren Gebietes bedacht, und alle bemühten sich, unabhängig vom Reich, unabhängig voneinander und nebeneinan der zu herrschen. Mit dieser Zerrissenheit wollte Josef II. aufräumen – nachdem er Österreich in Ordnung gebracht haben würde. Aber er 1
war nicht der Herr im eigenen Haus. Maria Theresia war die erbliche Herrscherin der österreichischen Länder. Sie wollte es bleiben. Daß ihr Sohn Kaiser war, beeindruckte sie nicht. Sie lieh der Warnung ihres bewährten Feldherrn Khevenhüller williges Gehör: »Dieser junge Herr will absolument den König von Preußen imitieren und alles militaire ment traktieren.« Das wollte Maria Theresia nicht. Sie verhinderte mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln, daß ihr Sohn Österreich in einen Militärstaat wie Preußen umwandelte. In all den Jahren, in denen Josef II. Mitregent der Kaiserin war, litt er maßlos unter den überragenden Persönlichkeiten der beiden Men schen, die zu überflügeln er sich vorgenommen hatte, des Königs in Preußen und seiner Mutter. Er ahmte beide nach. Er wollte ein bedeu tender Militär sein wie Friedrich II. der den ehrenden Titel ›der Große‹ führte, und populär wie Maria Theresia, die als ›die große Mutter des Volkes‹ galt. Der unstillbare Wunsch Josefs, von seinen Untertanen geliebt zu werden wie sie, entsprang nicht so sehr seinem Gefühl wie seinem Verstand, den er, dem Zug der Zeit folgend und seinem Vor bild Friedrich II. durch die Lektüre philosophischer und staatswissen schaftlicher Schriften schulte. Das Verlangen des jungen Kaisers nach ›Aufklärung‹ war seine einzige Leidenschaft. Die persönlichen Gefühle Josefs hatten sich früh verausgabt. Seine erste Frau, die er geliebt hatte, war einer krankhaften Zuneigung für ihre Schwägerin Marie Christine verfallen und hatte sich geweigert, die Liebe ihres Gatten zu empfangen. Nach ihrem frühen Tod hatte er sich dazu bestimmen lassen, die bayrische Prinzessin Josefa, eine Tochter des verstorbenen Kaisers Karl VII. zur Frau zu nehmen, um die neu angesponnene Freundschaft Österreichs mit dem Haus Wittelsbach zu vertiefen. Es war eine hochpolitische Heirat, die zu keiner wirklichen Ehe führte. Josef war stolz darauf, daß er sich Josefa gegenüber so be nahm wie der König von Preußen seiner Gattin gegenüber: Er mied sie und spottete über die Gerüchte einer zu erwartenden Nachkommen schaft. Die junge Kaiserin, die Josef so wenig liebte, starb an den Blat tern wie seine erste Frau, die er so sehr geliebt hatte. Er entschloß sich, nie wieder zu heiraten, und beobachtete die Bemühungen seiner Mut 2
ter, seine Schwestern zu verehelichen, mit unverhohlenem Mißtrauen. Maria Theresia wollte ihre Töchter nur unter die Haube bringen, wenn die Haube mit einer Krone geschmückt war. Josef II. konnte sich einer bösen Vorahnung nicht erwehren, als die mit dem Enkel und Thron folger Ludwigs XV. dem Dauphin Ludwig, geschlossene Ehe der jun gen Erzherzogin Marie Antoinette allgemein als politischer, völkerver bindender Erfolg der Kaiserin Maria Theresia gewertet wurde.
Die Ankunft Marie-Antoinettes in Versailles erweckte gemischte Ge fühle. Das französische Volk war von Anfang an gegen ›die Österrei cherin‹. Die Höflinge aber waren entzückt von ihrem sicheren Auf treten und warteten gespannt auf den großen Augenblick, in dem die kaiserliche Prinzessin der Dubarry, der neuen Geliebten Ludwigs XV. den Rücken zukehren würde. Mit der Nachfolgerin der Marquise von Pompadour war, wie die hochgeborenen Herzoginnen und Gräfinnen naserümpfend erklärten, ›das gemeine Volk‹ an die Macht gekommen. Ihre Gleichstellung mit den Damen des Hofes wurde als ›Revolution‹ bezeichnet und für viel gefährlicher gehalten als der zunehmende Wi derstand der Parlamente gegen die unersättliche Verschwendungs sucht Ludwigs XV. Daß der König seine aus der Gosse geholte Geliebte der künftigen Königin von Frankreich, Marie-Antoinette, in Gegenwart des feier lich versammelten Hofstaates vorstellte, wurde von den meisten An wesenden als der Anfang vom Ende beurteilt. Alle Hoffnungen ruhten auf Marie-Antoinette und dem Dauphin Ludwig, der seinem Groß vater auf dem Thron nachfolgen sollte. Würde es eine glückliche Ehe werden und ein geregelter königlicher Hausstand, der der gefährdeten Volkswirtschaft Frankreichs nicht so untragbare Steuerlasten auferle gen würde wie die verhängnisvolle, bedenkenlose Freigebigkeit Lud wigs XV.? Der König, seine Minister, der hohe Adel und das ganze Volk erfuhren bald durch das unvermeidliche Geschwätz der Kam merfrauen und Kammerherren des jungen Paares, daß die so freudig 3
geschlossene Ehe noch nicht vollzogen worden war, denn der Throner be Frankreichs war durch ein wenn auch harmloses Gebrechen behin dert, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen. Diese bedauerliche Tatsache beschäftigte die französische Öffent lichkeit viel mehr als die gleichzeitigen politischen Ereignisse, die alle Aufmerksamkeit erfordert hätten. Die leitenden Staatsmänner waren in höfische Ränke verwickelt. Die Zwistigkeiten untereinander und der Kampf um die einträgliche Gunst des Königs beschäftigten sie mehr als die Machtverschiebungen im Osten Europas, die ihre unmit telbaren Belange nicht berührten. Das für Frankreich klägliche Ende des Siebenjährigen Krieges hatte die nachhaltige, entmutigende Wir kung. Die Prachtentfaltung von Versailles und die glanzvolle Lebens führung des hohen Adels täuschten nicht über die allgemeine Zer setzung hinweg. Das mächtigste europäische Königreich schien seine Macht verloren zu haben. Dennoch bemühten sich einige wenige ver antwortungsvolle Beamte und Generäle, den Frieden von Paris, der Frankreich um den größten Teil seines nordamerikanischen Besitzes gebracht hatte, durch einen unterirdischen Krieg außer Kraft zu set zen. Einer davon war der Graf von Broglie, der zwar im Auftrag, aber bezeichnenderweise ohne das Wissen des Königs einen Geheimdienst unterhielt. Sein wichtigstes Ziel war die Untergrabung der englischen Herrschaft in den amerikanischen Kolonien, deren Wortführer kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges Einspruch gegen die bela stende Bevormundung durch das Mutterland erhoben hatten. Die Be schwerden betrafen im wesentlichen die den amerikanischen Kaufleu ten und Gewerbetreibenden auferlegten Beschränkungen im Handel, in der Schiffahrt und in der Herstellung von Erzeugnissen, deren An fertigung und Verkauf England sich vorbehalten hatte. Der erste offe ne Widerspruch der amerikanischen Bevölkerung wurde laut, als das Parlament eine Stempelabgabe für alle in den Kolonien verwendeten Urkunden und Druckschriften verfügte, und richtete sich bald auch gegen alle englischen Steuern und Hafenzölle. Die Amerikaner hatten wegen der hohen Besteuerung von Tee in England ihren Bedarf aus holländischen Besitzungen eingeschmug 4
gelt. Der durch die Ausschaltung des französischen Handels in Indien erzielte Überschuß der Ostindischen Kompanie an Tee sollte den ame rikanischen Märkten zugeführt werden. Ein Geheimbund von Kauf leuten, der sich unter dem Namen ›Caucus‹ gebildet hatte, war gegen die zwangsläufige Einfuhr aller englischen Waren tätig, um die Aufhe bung der bestehenden Beschränkungen des amerikanischen Handels und der Manufaktur zu erwirken. »Jetzt wollen diese amerikanischen Kinder, die wir mit Fürsorge gehegt, durch unsere Nachsicht zu Macht und Reichtum auferzogen und durch unsere Waffen geschützt haben, sich sträuben, ihr Scherflein beizutragen zur Erleichterung der schwe ren Lasten, die wir tragen!« klagte ein englischer Minister im Parla ment. Er wurde durch den Ausruf eines Abgeordneten unterbrochen: »Gehegt mit unserer Fürsorge? … Vor Tyrannei sind sie in das wilde ungastliche Land geflohen. Groß geworden sind sie, weil wir uns nicht um sie gekümmert haben. Und wenn wir es taten, geschah es nur, um ihnen Leute zu schicken, die ihre Geschäfte störten, ihre Freiheiten be lauerten, ihre Handlungen verdächtigten und das Blut dieser Söhne der Freiheit in Wallung brachten.« ›Söhne der Freiheit‹ – so bezeichneten sich die amerikanischen Auf ständischen selbst und ließen durch ihre Sprecher in London erklä ren, daß die Bewohner der Kolonien die gleichen Rechte und die glei chen Freiheiten hätten wie die Bewohner Englands. Diese Gleichbe rechtigung sei durch königliche Freibriefe anerkannt. Den Worten, die in London ungehört blieben, folgten Taten in Amerika: Der schon er nannte Stempelverteiler in Boston wurde gezwungen, sein Amt auf zugeben, sein Stempelbüro wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Beispiel Bostons wurde in allen Kolonien nachgeahmt. Es hatte durch schlagenden Erfolg. Am Stichtag des Inkrafttretens der Stempelakte ließ sich kein einziger Stempelverteiler blicken, und die Zeitungen tru gen Totenköpfe an der Stelle, an der der königliche Stempel hätte an gebracht sein sollen. Es nützte wenig, daß das englische Parlament die Stempelakte widerrief. Der Aufruhr der Kolonien hatte unterirdisch begonnen. Es bedurfte nur eines Anlasses, ihn offen zum Ausbruch zu bringen. 5
Aber das wollte man in London nicht wahrhaben. Sogar William Pitt, der sich, solange er leitender Minister gewesen war, für die Rechte der amerikanischen Siedler eingesetzt hatte, verließ seine Zurückgezogen heit und erklärte im Oberhaus, dem er als Graf von Chatham angehör te: »In allen Gesetzen über Handel und Schiffahrt ist England das Mut terland … Es muß Unterordnung, es muß Gehorsam, es muß Abhän gigkeit bestehen.« Er wandte sich an die anwesenden Whigs und Tories: »Wenn Sie den Amerikanern keine Gesetze geben, werden die Ameri kaner Ihnen Gesetze vorschreiben wollen, vorschreiben müssen.« Als die Rede Pitts in Boston bekannt wurde, kam es zu blutigen Rau fereien zwischen den Soldaten der königlich englischen Garnison und den ›Söhnen der Freiheit‹. Die Beziehungen zwischen den amerikani schen Kolonien und England wurden immer gespannter. Die Mittels männer des Grafen von Broglie schürten das Feuer. Sie sorgten auch für die Belieferung der nordamerikanischen Buchhändler mit aufklä rerischen Schriften, deren Verbreitung in Frankreich polizeilich ver boten war.
II
Die holländischen Verleger, die den größten Teil der in Frankreich ver botenen Bücher druckten, hatten noch ein anderes bedeutendes Ab satzgebiet gefunden: Rußland. Seit der Erhebung Katharinas II. auf den Thron Peters des Großen war es in der vornehmen Petersburger Gesellschaft Mode geworden, die Bücher zu besitzen, die die Kaiserin las. Der ganze Hof bemühte sich, »westlich« zu sein wie sie, obwohl sie es ihren höfischen Beobachtern durch ihre widerspruchsvollen Hand lungen und ihren Lebenswandel schwierig machte, sie als Muster gel ten zu lassen. Wie war sie wirklich? 6
Einer ihrer vielen und so verschiedenartigen Launen nachgebend, hatte die Kaiserin aller Reußen im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft spielerisch eine Grabinschrift für sich entworfen, die ihr Wesen und Sein mit unverhüllter Offenheit beschrieb – so wie sie selbst es sah: »Hier ruht Katharina II. geboren zu Stettin am 21. April 1729. Sie ging im Jahre 1744 nach Rußland, um Peter III. zu heiraten. Mit vierzehn Jahren setzte sie sich dreierlei vor: Ihrem Gemahl, Elisabeth und der Nation zu gefallen. Sie unterließ nichts, dieses Ziel zu erreichen. Acht zehn Jahre der Langeweile und der Einsamkeit veranlaßten sie, sich der Lektüre hinzugeben. Auf den russischen Thron gelangt, strebte sie nach dem Guten und suchte ihren Untertanen Glück, Freiheit und Ei gentum zu verschaffen. Sie vergab leicht und haßte niemanden. Sie war nachsichtig, leichtlebig, heiteren Temperaments, hatte eine republika nische Seele und ein gutes Herz. Sie hatte Freunde. Die Arbeit war ihr leicht, und die Künste erfreuten sie.« Die deutsche Prinzessin, die um jeden Preis russisch sein wollte, hat te sich selbst nach französischen Grundsätzen erzogen. Obwohl sie in ihrer Lebensführung fraulicher war und ihre Liebe mehr Männern schenkte als je eine Frau auf dem Thron, wünschte sie zeit ihres Le bens, mehr zu sein als eine Frau, und beherrschte das ihr durch die un glückliche Ehe mit Peter III. und seine unselige Ermordung zugefalle ne Riesenreich männlicher als ein Mann. Katharina hatte kein Vorbild wie Josef II. ihr österreichischer Gegen spieler. Friedrich der Große war öfter ihr Gegner als ihr Verbündeter, und ihre persönliche Abneigung gegen Maria Theresia, die mit zuneh mendem Alter immer mehr das Bedürfnis hatte, alles beim alten zu lassen, war auch dadurch begründet, daß Katharina leidenschaftlich bemüht war, Rußland nach den Lehren der Aufklärung zu erneuern. Viele ihrer Versuche, die Lebensformen des europäischen Westens nach Rußland zu verpflanzen, mißlangen. Sie konnte die alten russi schen Gesetze nicht ausmerzen. Aber sie setzte die Bemühungen Pe ters des Großen fort, die Grundlagen für eine neuzeitliche Verwaltung zu schaffen. Es gelang ihr nicht nur, die Grenzen Rußlands nach dem Westen zu auszudehnen, sondern auch, ans Schwarze Meer vorzudrin 7
gen. Die Wegrichtungen waren ihr von Peter dem Großen vorgezeich net worden, aber dort, wo er versagt hatte, war Katharina erfolgreich: in der Besetzung der Moldau und der Walachei, den von den Türken abhängigen, zum größten Teil griechisch-orthodoxen Gebieten an der Mündung der Donau ins Schwarze Meer. Katharina vernichtete auch durch einen kühnen Einsatz ihrer Ostseeflotte im Mittelmeer die tür kische Seemacht. Die Schlacht, an der englische Kriegsschiffe auf rus sischer Seite teilnahmen, war die schwerste muselmanische Niederla ge zur See seit der Schlacht von Lepanto. Johann Wolfgang von Goe the, der die Zeitereignisse mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, schrieb: »Die brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursach te ein Freudenfest über die gebildete Welt.«
Als gebildete Welt bezeichnete Goethe die Leserschaft schlechthin, die auch er durch seine Werke erreichen wollte. Die Gedanken der Auf klärung hatten dank der emsigen Tätigkeit der Buchverleger und Zei tungsschreiber den ganzen europäischen Raum durchdrungen und ein neues Lebensgefühl geschaffen, das auch im Sturm und Drang des deutschen Schrifttums zum Ausdruck kam. Die französischen Dichter und Denker wurden zum Gemeingut der nach Kenntnissen und Er kenntnissen strebenden studierenden Jugend. Die bedeutendsten Bü cher wurden in fremde Sprachen übersetzt, von örtlichen Schriftstel lern und Wissenschaftlern umgewertet und beeinflußten die Denk weise der Gelehrten, der politisch Tätigen und auch der Herrscher Eu ropas. Die Staatsform Friedrichs II. dessen Freundschaft mit Voltaire bei spielgebend geworden war, galt als die lebendige Verwirklichung des ›aufgeklärten Absolutismus‹, der sich im wesentlichen von der unum schränkten Königsgewalt nur dadurch unterschied, daß zwar der Ur sprung des Staates aus dem Vertrag freier Menschen als Grundlage galt und die Wohlfahrt der Bevölkerung als höchstes Ziel gesetzt wur de, der Herrscher aber sich die Beurteilung der Zweckmäßigkeit der 8
zu treffenden Maßnahmen vorbehielt. Durch diese Einschränkung blieben die Handlungen der aufgeklärten Herrscher ihrer Willkür an heimgestellt, da sie ihre Wünsche und Bedürfnisse jeweils als Zweck mäßigkeit auslegen konnten. Sie brauchten sich nur auf die ›Staatsrä son‹ zu berufen, um Gesetze zu erlassen, Kriege zu führen und Frie den zu schließen. Die Willkür des ›aufgeklärten Absolutismus‹, zu dem sich auch Ka tharina II. und Josef II. bekannten, kam bei der ersten Teilung Polens deutlich zum Ausdruck. Nach dem Tod Augusts III. hatte Katharina, im Einvernehmen mit Friedrich II. die Wahl ihres Günstlings Ponia towski zum König von Polen erwirkt. Dadurch hatte sie das König reich ›unter ihr Protektorat‹ genommen. ›Zum Schutze der Religion und Freiheit Polens‹ unternahm der national gesinnte Adel einen Auf stand gegen den ihm aufgezwungenen König. Die blutigen Unruhen blieben nicht auf Polen beschränkt. Als Poniatowski durch ein russi sches Heer unterstützt wurde, warf sich der Sultan zum Verbündeten der polnischen Adligen auf. Er hatte allen Grund, sich vor einer weite ren russischen Ausbreitung zu fürchten. Der Ehrgeiz Katharinas war es, Konstantinopel zu erobern, die ehemalige Hauptstadt der byzan tinischen Kaiser. Als höchste Herrscherin des griechisch-orthodoxen Glaubens ließ sie verlauten, das sei ihr Recht und ihre Pflicht. Ein Krieg Katharinas gegen die Türken sagte Friedrich II. zu. Er wit terte Landzuwachs. Aber er fühlte sich nicht stark genug, in Polen ein zumarschieren, ›um Ordnung zu machen‹, ohne sich den Rücken durch ein Bündnis mit Österreich zu decken. Sein in Wien vorgebrachtes Ar gument, daß man dereinst der ›Geschlossenheit von ganz Europa‹ be dürfen werde, um ›Rußland im Zaum zu halten‹, hatte keine so starke Wirkung auf Josef II. wie die Tatsache, daß Katharina die Moldau und die Walachei erobert hatte. Die sogenannten ›Donau-Fürstentümer‹ waren österreichisches Interessengebiet. Friedrich II. schlug dem Kai ser eine Intervention in Polen vor, damit er die österreichischen Gren zen nach Osten und Nordosten erweitern und gegen die Eroberungs lust Katharinas schützen könne. Maria Theresia fand den Vorschlag Friedrichs II. ›gegen Recht und 9
Billigkeit‹. Aber Josef war Feuer und Flamme für eine ›Intervention‹. Kaiserliche Truppen besetzten die Grafschaft Zips in den Karpaten und machten nicht halt, denn Josef war angeregt durch einen Aus spruch Friedrichs: »Lassen Sie doch in Ihrem Archiv nachsehen, ob Sie nicht Ansprüche auf noch mehr finden. Glauben Sie mir, man muß die Gelegenheit benützen. Ich werde auch meinen Teil nehmen.« Mit an erkennenswerter Offenheit erklärte der Kaiser zwar: »Wenn man es mit dem König von Preußen zu tun hat, erkennt man gleich, man hat es mit einem Schurken zu tun!«, aber er schloß doch ein Bündnis mit ihm. Trotz des Einspruchs Maria Theresias beauftragte Josef kaiser liche Diplomaten, gemeinsam mit preußischen bei Katharina II. vor stellig zu werden, um sie zu überzeugen, daß es das beste sei, wenn alle drei aufgeklärten Herrscher, statt einen kostspieligen, erbitterten Krieg gegeneinander zu führen, Polen untereinander aufteilten. Die Verhandlungen über die Aufteilung Polens dauerten länger als ein Jahr, und Josef, der sie für das Haus Österreich überwachte, be wies, daß er von seinem Vorbild gelernt hatte. Friedrich II. beklagte sich beim Gesandten des Kaisers: »Erlauben Sie mir zu sagen, Sie ha ben einen guten Appetit.« Polen war ein reich bestellter Tisch. Keiner der hungrigen Herrscher kam zu kurz, und es blieb doch noch ein großes Stück Land als unab hängiges Königreich übrig, dessen Bestand alle drei Vertragspartner feierlich gewährleisteten. Als Maria Theresia das Übereinkommen zur Unterschrift vorgelegt erhielt, weinte sie bitterlich. Sie war gegen die Gewalt, die den Polen angetan worden war. Aber sie unterzeichnete. »Placet«, schrieb sie. »Es gefällt mir, weil so viele und große Männer es wollen.«
Maria Theresia begann am Wert ihres eigenen Urteils zu zweifeln. Wurde sie alt? Hatte Josef, der schon als Junge einen Entwurf über die Beschlagnahme der Kirchengüter verfaßt hatte, recht? Die Jesu iten waren aus Portugal, aus Spanien und Frankreich vertrieben wor 10
den. Jetzt sollte sie, die Kaiserin, der ›Enzyklopädistenbande‹ nachge ben? Sie, die ihrem Beichtvater, einem Jesuiten, versichert hatte: »Sei Er nur ohne alle Sorge. Solange ich lebe, habt ihr euch nicht zu fürchten.« Sie begriff nicht, daß Papst Clemens XIV. die Gesellschaft Jesu aufhob. »Ich bin davon schmerzlich berührt«, schrieb sie unter Tränen, »indem ich nie anderes als Erbauliches bei den Jesuiten gesehen habe.« Maria Theresia konnte sich auch nicht erklären, warum der prote stantische König Friedrich II. und die griechisch-orthodoxe Kaiserin Katharina II. vertriebenen Jesuiten Zuflucht in ihren Reichen gewähr ten. War es richtig, daß sie die Geistlichen als Lehrer verwenden woll ten? Oder wollten sie sich ihrer nur bedienen, um ihre katholischen Untertanen zu beeinflussen? Maria Theresia stellte sich immer heftiger gegen jede Veränderung, gegen jeden neuen Plan. Sie war auch nicht einer Meinung mit ihrem bewährten Vertrauensmann, dem von ihr zum Fürsten erhobenen Kaunitz, der den Wunsch Josefs, die Grenzen Österreichs bis Konstantinopel auszudehnen, eifrig befürwortete und dem englischen Gesandten am Wiener Hof zur Vermeidung von di plomatischen Schwierigkeiten erklärte: »Die Türken sind zum Unter gang bestimmt. Ein kleines, gut geführtes Heer könnte dieses Volk je derzeit aus Europa hinaustreiben.« Das schien so zu sein, denn russische Truppen hatten ihren Vor marsch gegen die Türken so erfolgreich fortgesetzt, daß der Sultan sich unfähig fühlte, weiteren Widerstand zu leisten. Die Krim war schon besetzt, ebenso der größte Teil Bessarabiens. Die Russen überschritten die Donau. Ihre Vorhut stieß auf kaiserlich österreichische Postenket ten. Josef II. wollte sich nicht überrumpeln lassen. Während der Sultan die Friedensbedingungen annahm, die Katharina ihm vorschrieb – das Schutzrecht über die griechisch-orthodoxen Christen in der gesam ten Türkei und die Anerkennung, daß die Donau-Fürstentümer öst lich von Ungarn in einem Vasallenverhältnis zu Rußland stünden –, ließ Josef ein kaiserliches Heer in das nordöstliche Gebiet des Fürsten tums Moldau, die an seine neu erworbenen polnischen Provinzen an grenzenden Bukowina, einmarschierten. Er war stolz auf die neue Er werbung. Er hatte zu ›teilen‹ gelernt. Um noch mehr teilen zu können, 11
wollte er sich mit Katharina II. verbünden. Aber Maria Theresia woll te kein Bündnis mit der erklärten Schutzherrin aller griechisch-ortho doxen Christen. Die alte Kaiserin wurde immer heftiger von Angstvorstellungen ge plagt. Die unersättliche Ländergier ihres Sohnes Josef verursachte ihr um so mehr Bangigkeit, als er, in scheinbarem Widerspruch zu seinem Machthunger, Gesetze vorbereitete und Verfügungen erließ, die ihrer Erfahrung nach seine Macht schwächen mußten. Sie war überzeugt davon, daß bürgerliche Freiheiten den Thron untergruben. Maria The resia war dafür, daß Herrscher streng und gerecht seien, nicht nur ge gen ihre Untertanen, sondern auch gegen sich selbst. In ihren besorg ten Briefen, die sie an ihre Kinder schrieb, sprach sie es deutlich aus, besonders an Marie-Antoinette. Ihre Tochter hatte zwar die Gelieb te ihres Schwiegervaters, Ludwigs XV. nach dessen Tod aus Versail les verjagt, aber sie führte als Königin von Frankreich ein ebenso ver schwenderisches Leben wie die Dubarry. Über die Vergnügungssucht Marie-Antoinettes hatte Maria There sia mehr als einen bekümmerten Bericht ihres Botschafters in Versail les erhalten. Wenn auch Ludwig XVI. der endlich wirklich der Mann seiner Frau geworden war, keinen Einwand erhob, so mußte doch sie, die Mutter, die junge Königin von Frankreich beraten und warnen, ihr Kind, in das sie so große Hoffnungen gesetzt hatte. Maria Theresia schrieb einen Brief nach dem anderen. Begriff ihre Tochter nicht, daß eine Königin andere Pflichten hatte als eine ge wöhnliche Frau? Die Möglichkeit, daß Marie-Antoinette Katharina II. von Rußland nachahmen konnte, wirkte wie ein Alptraum auf die Kaiserin, die sich soviel auf ihre Sittenstrenge zugute tat. Die Nach richten, die sie über das Petersburger Hofleben erhielt, waren auch da nach angetan, ihr angst und bange zu machen. Auch Katharina war streng und moralisch erzogen worden, aber was war aus all den guten Grundsätzen geworden, die sie in die Ehe mitbekommen hatte? Eine Herrscherin, die ihre Liebhaber zu Würdenträgern und ihre Würden träger zu Liebhabern machte. Wie Potemkin, der, um seiner hohen Ge liebten zu gefallen, Paläste und fruchtbare Gärten in der nackten Ebe 12
ne errichtete und bevölkerte Städte und Dörfer in unwirtliche Gegen den stellte, um die Überzeugung Katharinas zu stärken, daß sie Rußland Glück und Wohlstand gebracht hatte, noch weitaus mehr, als sie es tatsächlich getan hatte. Maria Theresia ließ sich keine ›Potemkinschen Dörfer‹ zeigen, sie haßte die Täuschung. Sie riet auch Marie-Antoinette, den Schein nicht mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Sie selbst blieb sich auch noch auf dem Sterbebett treu und bewahrte Haltung, um ihrem Sohn Josef eine letzte große Lektion zu erteilen. »Ihre Majestät liegt schlecht«, sagte er, während sie mit dem Tod kämpfte. »Ja«, erwiderte sie überlegen, »aber gut genug, um zu sterben.«
III
Im Osten Europas kündigten sich schon damals die Gegensätze an, die unweigerlich zu den großen Auseinandersetzungen der kommenden Jahrhunderte führen mußten. Rußland war der mittelbare und unmit telbare Nachbar von Ländern und Völkern des Hauses Österreich ge worden, die außer der Gemeinsamkeit des gleichen Herrschers keine Gemeinsamkeit hatten. Glaubensunterschiede und Sprachverschie denheiten erschwerten eine Vereinheitlichung der kaiserlichen Län dermasse um so mehr, als der russische Einfluß auf österreichische Untertanen durch den gleichen slawischen Sprachstamm, den ähn lichen Ursprung und den gleichen Glauben immer wieder gefördert wurde. Das wirkte sich besonders in den ehemals polnischen Land strichen aus, im Königreich Böhmen und in den Randgebieten der Do nau-Fürstentümer. Ob die Grenzen im Lauf der Ereignisse gleich blieben oder verscho ben wurden, war nicht so bedeutsam wie die ununterbrochene Über 13
schneidung voneinander entgegengesetzten Belangen und das gegen seitige Bedürfnis oder die Notwendigkeit, die russischen beziehungs weise die österreichischen Einflußräume zu erweitern und zu behaup ten. Die Staatsmänner des Petersburger und des Wiener Hofes blie ben damit beschäftigt, Unstimmigkeiten aufzuklären und bedrohliche Folgen zu vermeiden. Während Friedrich der Große das ihm durch die erste Teilung Po lens zugefallene Land ›seinem‹ Preußen so einverleibte, daß die Gren zen auch in der Einbildung der zu Deutschen erzogenen Bevölkerung verschwanden, gelang es Josef II. trotz seiner Bemühungen nicht, seine slawischen, ungarischen und walachischen Untertanen zu Deutschen zu machen. Sie blieben bei ihren Gebräuchen und um so mehr bei ih rem Glauben, als Josef II. sie durch die Einführung der Glaubensfrei heit in den österreichischen Ländern darin bestärkte. Der Zwang zur deutschen Sprache, den er ausüben wollte, zeitigte den Haß der Natio nen und festigte ihren Wunsch, ihre Sprache und ihre überlieferte Kul tur zu bewahren. Die Sendung, zu der sich der Erbe Maria Theresias berufen fühlte, war undankbar. Trotz der Gründung der vielfältigen Wohlfahrtsanstalten, trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft, trotz der Glaubens- und Pressefreiheit waren die Untertanen Josef II. unzu frieden. Er glaubte zuerst, daß es ihm gelungen sei, seine Völker durch die Freiheiten, die er ihnen einräumte, über ihre tatsächliche Unfrei heit hinwegzutäuschen. Aber die unsichtbare Armee, die er geschaf fen hatte, ein Heer von Geheimagenten und Polizeispitzeln, belehrte ihn eines Besseren. Er erfuhr, daß das Volk seine ehrgeizigen Rüstun gen mißbilligte. Was hatte er zum Beispiel durch den Aufmarsch ei nes ungeheuren Heeres erwirkt, als er ›ganz Bayern hatte schlucken‹ wollen? Friedrich II. war dazwischengetreten, und Josef hatte sich mit der Neuerwerbung des Innviertels begnügen müssen. Viel Lärm um wenig! Jeder im Volk wußte, daß ihm der Kaiser mißtraute, so wie das Volk ihm mißtraute. Das österreichische Spitzelwesen war ein so offenes Geheimnis, daß es selbst harmlosen Reisenden auffiel. So be richtete Nicolai über die kaiserlichen Agenten: »Dieses Ungeziefer … schleicht in allen Gestalten umher. Bald stellt es einen Wirt dar, bald 14
einen Kellner, jetzt einen Kaufmannsdiener, dann einen Pensionisten, nun einen Kammerdiener oder Sekretär. Es befühlt in der Hülle eines Doktors den Puls, schreibt in der Hülle eines Advokaten Akten und Reporte, macht in der Form eines Mönches Hausbesuche, verwandelt sich sogar in Barone und Grafen.« Auch Josef II. persönlich liebte Verkleidungen. Er reiste unter an genommenem Namen nach Rußland und nach Paris. Er trug sich als schlichter Graf in Gasthöfen ein, obwohl jeder wußte, wer der sich bescheiden gebende Herr in Wirklichkeit war. Mit unbarmherzigem Spott beschrieb eine zeitgenössische Wiener Anekdote die Versuche Josefs, sich unerkannt unter das Volk zu mischen. Er hatte sich mit einem Marktweib in ein leutseliges Gespräch eingelassen. Als er sich verabschiedete, flüsterte er ihr zu: »Ihr sollt es nie erfahren, wer ich bin: Ich bin der Kaiser Josef.«
Obwohl er sich schmeichelte, ein weitblickender und umsichtiger Mann seiner Zeit zu sein, zog Josef II. aus den blutig ausgebrochenen ›nordamerikanischen Unruhen‹ nur die Lehre, daß es für einen euro päischen Herrscher nicht günstig sei, zu weit entfernte Kolonien zu be sitzen. Weder er noch der alte Fürst Kaunitz glaubten, trotz der gegen teiligen Versicherungen des französischen Außenministers Vergen nes, daß die ›amerikanischen Krämer‹ vor der Macht Englands bald zu Kreuze kriechen würden. Friedrich II. dessen Blick unentwegt nach dem Osten gerichtet war, nahm den im Fernen Westen ausgebroche nen Aufstand ›einiger Krämer gegen höhere oder neue Steuern und Zölle‹ mit ähnlicher Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Sein Nachbar, der Landgraf von Hessen-Kassel, lieferte für gutes Geld Soldaten an den König von England, um die amerikanischen Rebellen mit Gewalt zur Räson zu bringen. Der König von Preußen beteiligte sich nicht un mittelbar an den Ereignissen in der Neuen Welt. Er hielt seine Armee kampfbereit, um den unruhigen Nachbar, Josef II. einschüchtern zu können und für alle Überraschungen Katharinas II. gerüstet zu sein, 15
die ihn als ›alten und mürrischen Herrn‹ bezeichnet hatte. Mochte sie! Er hielt eine enge Verbindung mit den deutschen Fürsten aufrecht, um durch ein Bündnis mit den kleineren die großen Herrscher in Schach zu halten. Überdies beanspruchte die Neuordnung Preußens die Kräf te Friedrichs II. Aber sein Geist war in Amerika, ob er es wollte oder nicht: das in einem Mann verkörperte preußische Militär und seine Fähigkeit, mit geringen Mitteln große Erfolge zu erringen. Einer der ehemaligen Adjutanten Friedrichs des Großen, der Ba ron von Steuben, nahm am amerikanischen Befreiungskrieg teil. Sei ne Anheuerung zur Ausbildung der amerikanischen Freiheitskämpfer war der Einfall eines der vielseitigsten Abenteurer der Weltgeschichte gewesen. Der Pariser Uhrmacher, Höfling, Dichter und Kaufmann Be aumarchais hatte in London die Bekanntschaft eines amerikanischen Abgesandten gemacht und war, wie so oft in seinem abwechslungsrei chen Leben, Feuer und Flamme für die Möglichkeit einer politischen Vermittlung gewesen, eines Geschäfts, eines Wirkungsbereichs, in dem er sich bewähren könnte. Der Überredungskunst Beaumarchais' gelang es, den französischen Außenminister Vergennes zur geheimen Auszahlung eines ausreichenden Betrages zu gewinnen, um die von den für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Amerikanern so dringend benötigten Waffen und Ausrüstungsgegenstände erwerben und nach Übersee senden zu können. Beaumarchais gründete die Firma Hortalez und Co. und verschiffte Waren im Wert von vielen Millionen an den Kongreß der Vereinigten Staaten, der in Philadelphia zusammengetreten war. Die von den im Kongreß versammelten Abgeordneten versprochene Gegenlieferung amerikanischer Erzeugnisse traf nicht ein. Beaumarchais war besorgt um sein Geld und um den Ausgang des Befreiungskrieges, an dem er auch ›seelischen Anteil‹ nahm. Deshalb versicherte er sich der Dienste Steubens und sandte ihn nach Amerika. Die Souveränität eines frei en Volkes, die Grundsätze der Aufklärung, denen Beaumarchais an hing, standen auf dem Spiel. Er war nicht umsonst der Verleger der Gesammelten Werke Voltaires und hatte sich in seinen berühmten Streitschriften zum Wortführer gegen die Übergriffe der königlichen 16
Behörden aufgeworfen. Nicht nur er, sondern das ganze französische Volk verfolgte mit zunehmender Begeisterung den erst so aussichtslos scheinenden Kampf der Amerikaner gegen die englische Übermacht. Jede Niederlage, die die englischen Truppen und die hessischen Söld ner in Amerika erlitten, wurde in Paris gefeiert. Unter den Freiwil ligen, die sich zur Teilnahme am Befreiungskrieg meldeten, war der namhafteste der Marquis de Lafayette, der nach neueren Forschun gen im Geheimdienst des Grafen von Broglie tätig war und die Verbin dung Frankreichs mit George Washington, dem Oberbefehlshaber der Amerikaner, aufrechterhalten sollte.
Die Briefe, die der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika damals schrieb, blieben erhalten. In ihnen schilderte George Washing ton mit der ihm eigenen Größe und Einfachheit die Lage: »Wird es in künftigen Tagen jemand glauben, daß ein um die Rechte der mensch lichen Natur kämpfendes Volk seine Krieger so schlecht mit dem Nö tigsten versehen hat, daß die gewöhnlichsten Gegenstände, die einem Soldaten zukommen, nicht zu haben sind? Wir gleichen einem bank rotten Kaufmann, der zu arm ist, um etwas Großes zu unternehmen, und zu stolz, das Kleine zu versuchen, das in seinem Vermögen steht. Der Ehrgeiz treibt uns über unsere Fähigkeiten hinaus, und ich wün sche, daß uns unsere Armut nicht in noch unangenehmeren Farben erscheine …« Im Lager von Valley Forge, in dem George Washington mit seinen Truppen überwinterte, war die Not zum Verzweifeln. Als sein Adju tant einen Armeebericht an den neu ernannten Kriegsminister der Vereinigten Staaten absenden wollte, konnten die für das Porto nöti gen sechs Cent nicht aufgebracht werden. Aber weder der Befehlsha ber noch seine Männer ließen den Mut sinken. Sie, die den Ruf hat ten, nichts anderes als eine Horde ungeschulter kämpfender Halbwil der zu sein, unterwarfen sich der Zucht Steubens. Mit seinen freiwilli gen Offizieren und Mannschaften, die entschlossen waren, den Kampf 17
bis zum letzten Atemzug zu führen, hielt Washington durch. Er wuchs über sich selbst hinaus, obwohl seine bemerkenswerteste Eigenschaft damals Zähigkeit war, denn die geringe Truppenzahl, die ihm zu Ge bote stand, machte es ihm nicht möglich, sich als Feldherr großen Stils zu erweisen. Er behauptete sich in strategisch belanglosen Scharmüt zeln und verlor auch nicht den kraftvollen Willen zum Sieg, wenn er eine Schlappe erlitt. Seine Erfahrungen in den Guerillagefechten des Siebenjährigen Krieges gegen die französischen Kolonisten ermög lichten es ihm, die englischen Truppenabteilungen und die hessischen Söldner immer wieder von neuem zu bekämpfen, selbst wenn er kurz vorher unterlegen war. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verkünde te die Gleichheit und Freiheit der Menschen. Sie machte den Vertrag zwischen Volk und Regierung zur Grundlage der Volkssouveränität mit der Bestimmung, daß der Vertrag vom Volk einseitig gelöst wer den könne. Trotz dieser dem Königtum so entgegengesetzten Grund sätze wurde die Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen amerika nischen Kolonien Englands von den Ministern Ludwigs XVI. öffent lich gutgeheißen. Frankreich erklärte England den Krieg. Bald machte in Versailles ein ungewöhnlicher Gesandter in schlichtem Rock seine Aufwartung als Bevollmächtigter der Vereinigten Staaten. Benjamin Franklin, dem Erfinder des Blitzableiters, der sich aus einem mittello sen Setzerlehrling durch eigene Kraft zu einem der führenden Män ner Amerikas emporgearbeitet hatte, war es in der parfümierten Luft des französischen Hofes, in der Gesellschaft der ihn wie geputzte Af fen anmutenden Damen und Herren nicht geheuer. Er schrieb: »Den ken Sie sich einen alten Mann, dessen graues Haar unter einer Mar derpelzmütze zum Vorschein kommt, mitten unter den Puderköpfen von Paris!« Den Eindruck, den Benjamin Franklin auf die französischen Höflin ge machte, schilderte der Graf von Segur: »Nichts war überraschender als der Gegensatz … der Eleganz unserer Moden, der Pracht von Ver sailles … zu der fast bäurischen Kleidung, der schlichten, aber stolzen Haltung, der freien und unumwundenen Sprache, der ungekünstelten 18
und puderfreien Haartracht, zu dem antiken Wesen, das uns das Bild eines Denkers aus der Zeit Platos oder eines Republikaners aus den Ta gen Catos mitten in unsere verweichlichte und sklavische Zivilisation zu zaubern schien. Dieses unverhoffte Schauspiel entzückte uns um so mehr, als es neu war und gerade in der Zeit vor sich ging, da Literatur und Philosophie das Verlangen nach Reformen, den Hang zu Neue rungen, die Keime einer lebhaften Freiheitsliebe allgemein unter uns verbreiteten.« Benjamin Franklin hatte sich nie um Modefragen gekümmert. Er war sehr erstaunt, als er erfuhr, daß die Pariser Schneider mit einem mal ›Kostüme à la Franklin‹ entwarfen. Die Freiheitskämpfer, die er als Bevollmächtigter des Kongresses vertrat, die Männer, die so abge rissen waren, daß sie nicht einmal Hosen hatten, wären noch verwun derter gewesen als er, wenn sie die Modezeichnungen gesehen hätten, die den Stil ›á l'américaine‹ prägten. Aber weder die vornehmen Her ren und Damen noch die unzulänglich bekleideten Amerikaner sahen voraus, daß die ›Mode ohne Hosen‹, die die Freiheitskämpfer zwangs läufig mitmachten, die Mode der großen Revolution werden sollte, der ›Sansculotten‹, deren Vorbild sie waren. Nachdem eine königlich englische Truppenabteilung von sieben tausendzweihundert Mann bei Yorktown im Staate Virginia sich den Amerikanern ergeben hatte, kam der Frieden von Versailles zustan de, in dem die Vereinigten Staaten von Amerika als unabhängig aner kannt wurden. England hatte eine furchtbare Schlappe erlitten. Aber es überwand den Verlust der Kolonien, deren Wert es nie richtig be urteilt hatte, durch eine neue Entwicklung, die den erlittenen Scha den gutzumachen schien. Eine Umwälzung, die später als die ›Indu strielle Revolution‹ bezeichnet wurde, hatte begonnen und gewähr leistete England einen wirtschaftlichen Vorsprung. Die technischen Fortschritte machten wett, was durch die Rückschrittlichkeit der eng lischen Politiker verlorengegangen war. Die Dampf- und die Spinnma schine waren erfunden worden, und es zeigte sich bald, daß nicht so sehr die schon gelungenen Verbesserungen in der Landwirtschaft den wachsenden Reichtum des Landes begründeten als die Kohlenförde 19
rung, die zur Speisung der neuen Maschinen und der gewaltig zuneh menden Eisenerzeugung nötig war. Der Überseehandel blühte. An tat sächlichen Einnahmen verlor England nichts durch die unfreiwillige Aufgabe der Kolonien, die als unabhängige Vereinigte Staaten nichts dabei fanden, mit dem ehemaligen Mutterland unbeschränkten Han del zu treiben. Die großen Persönlichkeiten des amerikanischen Kongresses berei teten die Verfassung der Vereinigten Staaten vor. Außer George Was hington und Benjamin Franklin waren es vor allem John Adams, Tho mas Jefferson und Alexander Hamilton. Über der gewaltigen Arbeit, die sie zu bewältigen hatten, um den ersten neuzeitlichen demokra tischen Bundesstaat zu formen, vergaßen sie ihre Schulden an Beau marchais. Er erhielt vom Kongreß nichts als einen Brief, in dem ihm ›die Anerkennung der Neuen Welt‹ ausgesprochen wurde. Das bedeu tete seinen Ruin. Mit ungebrochenem Lebensmut überwand er die drohende Armut und schrieb ein neues Theaterstück: ›Figaros Hoch zeit‹. Es war ein gelungenes Werk, aber die Aufführung wurde polizei lich verboten, obwohl Marie-Antoinette und ihr lustiger Freundeskreis sich dafür einsetzten. Sie erreichten, daß Ludwig XVI. sich einige Sze nen vorlesen ließ. »Das geht zu weit, das ist unanständig!« rief der Kö nig und stieß sich besonders an dem Satz: »Sie haben sich die Mühe genommen, geboren zu werden, sonst nichts.« Er unterbrach die Le sung: »Das ist abscheulich, das wird niemals gespielt werden. Die Auf führung wäre eine gefährliche Inkonsequenz, wenn man nicht zuvor die Bastille niederreißen wollte!« Einige Wochen, nachdem das Verbot Ludwigs XVI. in Paris bekannt geworden war, pfiffen Gassenjungen, in den Straßen herumstreichende Arbeitslose und Zeitungsverkäufer die Melodien zu den Texten Beaumarchais. So wurde das Stück volkstüm lich, noch bevor es gespielt worden war. Schließlich wurde der König von seinem ganzen Hof so bestürmt, daß er nachgab. In seiner hilflo sen Schwerfälligkeit versuchte er noch, Beaumarchais warnen zu las sen, er möge doch von der Aufführung Abstand nehmen, da sein Stück durchfallen werde. Der Dichter, der seine ganze künstlerische und ge sellschaftliche Existenz auf diese eine Karte gesetzt hatte, erwiderte 20
dem Unterhändler Ludwigs XVI.: »Durchfallen, ja. Aber fünfzigmal nacheinander!« Als ›Figaros Hochzeit‹ aufgeführt wurde, jauchzte das Publikum in sinnloser Erregung. Erlauchte Ludwigsritter und Marktweiber, Offi ziere und Bürgerinnen, Lastträger und Gräfinnen waren zu der Pre miere gekommen. Ein Schauspieler, der durch das Guckloch im Vor hang in die Logen schaute, stellte belustigt fest, daß zu einem Kron rat im Saal nur der König gefehlt hätte. Auch Beaumarchais war anwe send. Er saß zwischen zwei Abbes, die ihm, wenn die Vorhersage Lud wigs XVI. richtig war und ›Figaros Hochzeit‹ durchfallen würde, geist lichen Trost spenden sollten. Der Erfolg war überwältigend. Ein mage rer Militärschüler, der alle Mühe gehabt hatte, einen Stehplatz zu fin den, erklärte später: »Figaros Hochzeit war nicht nur ein künstleri sches Ereignis, sondern die Revolution in vollem Gang.« Dieser einige Monate später zum Artillerieleutnant ausgemusterte Napoleon Bonaparte war einer von Tausenden und aber Tausenden, die erfaßt hatten, daß ein Dichter einen König besiegen könne, daß das Wort stärker sein konnte als das Schwert. Er war nicht in Paris, als der zweite große Skandal, der die Grundfesten des Königtums erschütter te, vor sich ging und zu einem öffentlichen Prozeß führte. In seinem Roman ›Das Halsband der Königin‹ beschrieb Alexand re Dumas d.Ä. die aufregenden Ereignisse, die den Hof Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes und die hohen Herren und Damen der großen Gesellschaft so bloßstellten, daß es, im Lichte der Zeit gesehen, nur ein Schritt von den peinlichen Ereignissen im Gerichtssaal bis zur Erstür mung der Bastille war.
21
Das Halsband der Königin
von Alexandre Dumas
I
Der Katastrophenwinter des Jahres 1784 trieb die hilflosen Bewohner der französischen Dörfer in die Städte. Aber sogar in Paris gab es kein Brot und kein Holz. Der König spendete sein ganzes Privatvermögen, um die Not zu lindern. Es reichte nicht aus. Als endlich Tauwetter ein setzte, lagen Tausende Sterbende und Verwundete auf den Straßen von Paris. Hier hatte sich einer auf dem Glatteis ein Bein gebrochen, dort war einem mit der Deichsel eines Schlittens die Brust eingedrückt worden. Die Polizei sorgte für die Überlebenden, die dem Hunger und der Kälte entkommen waren. Die Reichen, deren Fahrzeuge die Ar men verwundeten, mußten Bußen zahlen. Deshalb fuhr der Kutscher eines eleganten Schlittens überaus vor sichtig in die Rue Saint-Claude ein. Er hielt an der Ecke des Boule vards, vor einem fünfstöckigen, düster wirkenden Gebäude an. Auch das Treppenhaus war dunkel und verwahrlost. Eine einfache, an die Mauer gelehnte Leiter führte zum obersten Stockwerk. Dort öffnete sich eine morsche Tür zum Vorraum einer kahlen, spärlich beleuchte ten Stube, deren Einrichtungsgegenstände die Spuren des Alters zeig ten. An der Wand gegenüber dem Eingang hingen zwei Gemälde neben einander: Mit der Faltenmütze über dem schmalen, bleichen Gesicht, den matten Augen, der Krause am Hals gab sich Heinrich III. Kö nig von Frankreich, zu erkennen. Auf dem verblichenen Goldrahmen stand in schwarzen Buchstaben: ›Henry de Valois‹. Das zweite Porträt stammte offensichtlich aus neuerer Zeit. Es stellte eine junge Frau mit feiner, gerader Nase, hervorspringenden Backenknochen, vollen Lip pen und dunklen Augen dar. Auch der Rahmen dieses Bildes trug eine Inschrift in schwarzen Buchstaben: ›Jeanne de Valois‹. 23
An einem kleinen Eichentisch in der Mitte der Stube versiegelte eine schlicht gekleidete Frau Briefe und kontrollierte die Adressen. Sie war unverkennbar das Original des Porträts. Jedesmal, wenn sie eine Adres se las, zuckte sie müde mit den Achseln. Jetzt murmelte sie: »Frau von Misery, erste Staatsdame Ihrer Majestät der Königin. Von ihr darf ich nur sechs Louisdor erwarten, sie hat mir schon etwas gegeben.« Jeanne seufzte und sagte halblaut vor sich hin: »Wir haben also für die näch ste Woche nur acht Louisdor sicher.« Sie hörte das schrille Läuten der Glocke. Kam jemand? Sie raff te die auf dem Tisch herumliegenden Briefe zusammen, schob sie in eine Schublade und setzte sich eilig auf das schäbige Sofa – in der de mütigen und traurigen Haltung einer in ihr Schicksal ergebenen Per son. Im Vorzimmer wurde geflüstert. Sie hörte eine frische, angeneh me Stimme: »Wohnt hier die Frau Gräfin Jeanne la Motte?« »Die Frau Gräfin Jeanne la Motte-Valois«, verbesserte die alte Kam merfrau, die die morsche Tür geöffnet hatte. Sie setzte nach einer klei nen Pause hinzu: »Jawohl, Madame, sie wohnt hier.« »Ist die Frau Gräfin zu Hause?« »Jawohl, Madame, sie ist zu leidend, um auszugehen.« Während dieses Gesprächs blickte die angeblich Kranke in den Spie gel und sah, daß sich die Besucherin umgedreht hatte. Sie sprach zu ei ner anderen, im Schatten gebliebenen Dame: »Es ist hier, Madame.« Zwei vornehme Damen der Gesellschaft traten in die ärmliche Stu be ein. Die ältere der beiden war ungefähr dreißig Jahre alt. Sie war eine Schönheit. Obwohl sie ihre Taftkapuze so tief in die Stirne gezogen hatte, daß ihr Gesicht im Schatten blieb, sah es Jeanne mit einem Blick. Sie erkannte auch, daß diese Dame von edler Abstammung sein müs se. Die andere Besucherin verbarg die hochmütige Schönheit ihres Ge sichtes nicht. Jeanne schlug die Augen nieder und fragte bescheiden, welchem glücklichen Umstand sie den Besuch zu verdanken habe. »Wir sind die Verwalterinnen einer wohltätigen Stiftung«, erklär 24
te die jüngere. »Man hat uns Ihre Notlage geschildert, und wir wol len genauere Erkundigungen über Sie und Ihre Verhältnisse einzie hen.« Jeanne zögerte einen Augenblick, dann wies sie in die Richtung der Gemälde. »Meine Damen«, sagte sie leise, »Sie sehen hier das Porträt Heinrichs III. des Bruders meines Ahnherrn. Ich bin aus dem Blut der Valois, wie man Ihnen vielleicht gesagt hat.« Die ältere der beiden Damen fragte: »Ist es wahr, daß Ihre Frau Mut ter« – sie zögerte – »Verwalterin eines Hauses, genannt Fontette, gewe sen ist?« Jeanne errötete und erwiderte rasch: »Es ist wahr, Madame, mei ne Mutter war Verwalterin eines Hauses, das Fontette genannt wur de. Und da meine Mutter bestrickend hübsch war, verliebte sich mein Vater. Er heiratete sie. Durch meinen Vater bin ich ein direkter Ab kömmling der Valois. Es ist Ihnen gewiß nicht unbekannt, daß nach der Thronbesteigung Heinrichs IV. durch den die Krone Frankreichs vom Hause Valois auf das Haus Bourbon überging, unsere Fami lie noch Nachkommen hatte. Sie blieben allerdings im Dunkel, doch stammen sie unbestreitbar aus dem Geschlecht der vier königlichen Brüder, die ein so unseliges Ende nahmen.« Jeanne fuhr fort, als die beiden Damen zustimmend nickten. »Aus Angst vor Verfolgung ver tauschten die Valois ihren Namen mit dem Namen Remy, einem Gut, das sie besaßen. Mein Großvater aber nahm wieder den Namen Valois an und lebte im Schatten der Armut in seiner Provinz, ohne daß je mand am Hofe Frankreichs davon Kenntnis nahm, daß außerhalb des Strahlenkreises des Thrones ein Abkömmling der, wenn auch nicht glorreichen, so doch unglücklichsten Könige vegetierte.« »Sie haben ohne Zweifel Ihre Papiere in Ordnung?« fragte die ältere der beiden Damen in mildem Ton, während sie die Frau betrachtete, die sich als Abkömmling der Valois ausgab. »Die Beweise habe ich«, erwiderte Jeanne mit bitterem Lächeln. »Mein Vater hat dafür gesorgt. Er hinterließ mir die Urkunden in Er mangelung einer anderen Erbschaft.« »Ihr Vater ist gestorben?« 25
»Mein Vater, Baron von Valois, ein Nachkomme des Bruders von Heinrich III. ist im Armenhaus von Paris gestorben.« Die beiden Besucherinnen stießen einen Laut erschreckten Erstau nens aus. Zufrieden mit der Wirkung, die sie durch ihre geschickte Darstellung erzielt hatte, blickte Jeanne unbeweglich mit niederge schlagenen Augen vor sich hin. »Nach dem, was Sie uns erzählt haben, haben Sie schweres Unglück erlitten«, begann die ältere der Damen. »Und der Tod Ihres Herrn Va ters …« Jeanne unterbrauch. »Oh, wenn ich Ihnen mein Leben erzählen wür de, Madame, dann würden Sie sehen, daß der Tod meines Vaters nicht das größte Unglück war. Daß mein Vater nicht mehr um jeden Bissen Brot betteln muß und daß Gott ihn zu sich gerufen hat, dafür danke ich Gott. Aber ich beklage mich über Gott, daß er meine Mutter hat le ben lassen.« Sie fuhr eifrig fort: »Ich begreife, daß eine solche Blasphe mie einer Erklärung bedarf. Ich werde sie geben. Ich sagte schon, Ma dame, mein Vater hatte eine Mißheirat gemacht.« »Indem er diese Hausverwalterin heiratete?« »Ganz richtig. Statt stolz und dankbar für die Ehre zu sein, richtete meine Mutter meinen Vater zugrunde. Das war nicht schwer, da sie auf Kosten des Wenigen, das ihr Mann besaß, ihre anspruchsvollen Nei gungen befriedigte. Sie überredete ihn, nach Paris zu ziehen, um die Rechte in Anspruch zu nehmen, die seinem Namen gebührten. Mein Vater war leicht zu überreden. Er rechnete wohl auch mit der Gerech tigkeit des Königs. In unnützen, fruchtlosen Gesuchen erschöpfte er sich. Meine Mutter, die ein Opfer brauchte, schob die Schuld seines Versagens auf mich. Sie machte mir jede Mahlzeit zum Vorwurf. Mein Vater versuchte, mich gegen meine Mutter in Schutz zu nehmen, und bemerkte nicht, daß er sie dadurch zu meiner Feindin machte. Meine Mutter schlug mich einmal derart, daß ich lange krank war. Meinen Vater nötigte sie, ins Armenhaus zu gehen, wo er starb.« »Aber was machten Sie dann, als Ihr Vater tot war?« fragte die jünge re Besucherin bewegt. »Gott hatte Mitleid mit mir«, erwiderte Jeanne. »Einen Monat nach 26
dem Tod meines armen Vaters lief unsere Mutter mit ihrem Liebhaber, einem Soldaten, davon und ließ meinen Bruder und mich im Stich. Die öffentliche Wohltätigkeit adoptierte uns, und wir bettelten nach Maß gabe unserer Bedürfnisse. Eines Morgens hatte ich das Glück, einem langsam fahrenden Wagen zu begegnen, in dem eine noch junge Frau saß. Sie wollte wissen, wer ich sei. Mein Name setzte sie in Erstaunen. Sie glaubte mir nicht. Doch am nächsten Tag überzeugte sie sich da von, daß ich nicht gelogen hatte. Sie nahm sich meiner und auch mei nes Bruders an, brachte ihn zu einem Regiment und mich in ein Nähhaus. Wir waren beide vor dem Hunger geschützt.« »War diese Dame nicht Frau von Boulainvilliers? Sie ist, wie ich glau be, gestorben.« Jeanne nickte traurig. »Aber Herr von Boulainvilliers lebt doch noch. Und er ist reich.« »Herr von Boulainvilliers verlangte einen Preis für seine Wohltätig keit«, erklärte Jeanne. »Ich war herangewachsen. Er sagte, ich sei schön und begehrenswert. Ich verweigerte mich ihm. Dies ist meine Ge schichte, Madame. Ich habe es kurz gemacht. Die Leiden haben Län gen, mit denen man glückliche Menschen verschonen soll.« Die ältere der beiden Damen brach das Schweigen zuerst: »Sie sind doch verheiratet, nicht wahr?« »Der Graf la Motte ist mein Mann. Er dient bei der Gendarmerie. Er ist in Garnison und wartet auf bessere Zeiten.« »Können Sie tatsächlich die rechtskräftigen Beweise Ihrer Abstam mung liefern?« Jeanne holte ein Bündel Papiere aus einem Schrank. Nach einer aufmerksamen und verständigen Prüfung der Urkunden bestätigte die Dame: »Diese Unterlagen sind vollkommen in Ordnung. Verfehlen Sie nicht, sie geeigneten Ortes vorzulegen.« »Und was werde ich Ihrer Meinung nach dadurch erreichen, Ma dame?« »Ohne Zweifel eine Pension für Sie und eine Beförderung für den Grafen la Motte.« »Er verdient es. Mein Mann ist die Ehrenhaftigkeit in Person.« »Das genügt, Madame.« Die ältere der beiden Damen legte eine 27
Geldrolle auf Jeannes ärmlichen Nähtisch. »Ich bin bevollmächtigt«, sagte sie, »Ihnen fürs erste diese geringe Unterstützung anzubieten. Auf Wiedersehen, Frau Gräfin!« Jeanne fragte atemlos. »Wo könnte ich die Ehre haben, Ihnen zu dan ken, meine Damen?« »Wir werden es Sie wissen lassen! Nochmals auf Wiedersehen!« Das Geräusch ihrer Schritte verlor sich in der Tiefe der unteren Stockwerke. Jeanne lauschte gespannt. Als sie sich umwandte, stolper te sie über einen Gegenstand. Sie bückte sich und hob eine runde, glat te goldene Dose auf. Sie öffnete die Dose und sah ein ernstes, von kräf tiger Schönheit und gebieterischer Majestät belebtes Frauenporträt. Ein deutscher Kopfputz, ein prächtiges Halsband, wie das eines Or dens. Die Initialen M.T. darunter waren von einem Lorbeerkranz um schlungen. Jeanne eilte zum Fenster. Das einzige, was sie von ihren Wohltäterin nen noch sehen konnte, war der elegante Schlitten, der sich rasch ent fernte. Sie nahm sich vor, die goldene Dose nach Versailles zu bringen, denn es schien ihr sicher, daß die beiden Damen nur aus dem Schloß des Königs gekommen sein konnten. Sie griff nach der auf dem Näh tisch liegenden Geldrolle. Sie traute ihren Augen nicht. »Hundert Lou isdor!« Sie wiederholte fassungslos: »Hundert Louisdor! Echte Gold stücke! Diese Damen sind also sehr reich!« Sie warf einen verständnis vollen Blick auf die Dose. »Ich werde sie zu finden wissen!«
II
Die mächtigen Umrisse des Schlosses von Versailles ragten breit in den nächtlichen Himmel. Die Turmuhr schlug laut. »Großer Gott, es ist schon drei Viertel zwölf!« riefen die beiden Be 28
sucherinnen der Gräfin la Motte wie aus einem Munde und stiegen aus ihrem Schlitten. »Alle Gittertore sind geschlossen«, klagte die jüngere. »Das macht nichts, liebe Andrea, denn wenn das Gitter auch offen gewesen wäre, hätten wir doch nicht den Ehrenhof benützt. Wir gehen durch den Eingang, der in die Gärten führt.« Sie hielt beunruhigt inne und sagte plötzlich unsicher: »Das kleine Tor ist auch geschlossen.« »Klopfen wir, Madame.« »Nein, rufen wir. Laurent muß mich erwarten. Ich habe ihm gesagt, daß ich vielleicht spät zurückkomme.« Als sich Andrea dem Gitter näherte, rief eine Stimme von der ande ren Seite des Gitters: »Wer ist da?« »Das ist nicht die Stimme von Laurent«, flüsterte Andrea erschrok ken. »Laurent!« rief die ältere der beiden Damen. »Es ist kein Laurent hier«, erwiderte die barsche Stimme. »Öffnen Sie das Tor nur, mag es nun Laurent sein oder nicht!« »Ich öffne nicht. Ich kümmere mich den Teufel um Laurent, ich habe meinen Befehl! Wer sind Sie?« »Wir sind Damen vom Gefolge Ihrer Majestät der Königin. Wir woh nen im Schloß und möchten in unsere Wohnung.« »Und ich bin ein Schweizer von der ersten Kompanie und werde Sie vor dem Tor stehenlassen. So lautet mein Befehl!« »Ich verstehe, daß Sie Ihre Befehle befolgen, das ist die Pflicht eines guten Soldaten. Aber ich bitte Sie, tun Sie mir nur den Gefallen, Lau rent, den Kammerdiener der Königin zu benachrichtigen, daß wir hier sind.« »Bedaure, ich kann meinen Posten nicht verlassen.« »Schicken Sie jemanden.« »Ich habe niemand.« »Grenadier, hören Sie«, sagte die ältere der beiden Damen entschlos sen, »zwanzig Louisdor für Sie, wenn Sie öffnen.« »Und zehn Jahre Kerker! Ich danke.« »Wer hat Ihnen denn diesen Befehl gegeben?« 29
»Der König.« »Der König – wir sind verloren«, flüsterte Andrea. »Das ist ein abscheulicher Streich des Königs«, gab die andere zu rück. Die Turmuhr schlug Mitternacht. Auf dem zu dieser Stunde sowenig betretenen Pflaster erklangen Schritte. Heiteres Singen wurde hörbar. »Ich erkenne diese Stimme«, sagte die ältere der beiden Damen. »Es ist …« Sie lauschte. »Er ist's! Er wird uns helfen.« In einen weiten Pelzmantel gehüllt, näherte sich ein hochgewach sener Mann. Der Graf von Artois. Er nahm von der Anwesenheit der Damen keine Kenntnis und klopfte an das Tor. Auch er rief vergeblich nach Laurent. Die ältere der beiden Frauen trat vor und berührte seine Schulter. »Mein Schwager!« »Die Königin!« Der Graf wich einen Schritt zurück. »Sie sind allein?« »Fräulein Andrea von Taverney ist mit mir.« Der Graf verbeugte sich vor Andrea. Er fragte: »Sie gehen aus, mei ne Damen?« »Nein, wir möchten nach Hause.« »Haben Sie Laurent nicht gerufen?« »Doch. Rufen Sie ihn nochmals, und Sie werden sehen, was pas siert.« »Laurent!« rief der Graf laut. »Nun fängt das schon wieder an.« Die verärgerte Stimme des Schwei zers drohte: »Ich werde den Offizier rufen lassen.« »Genau das wünsche ich«, erklärte der Graf. Wieder wurden Schritte jenseits des Gitters vernehmbar. Die Köni gin und Andrea stellten sich hinter den Grafen von Artois, um mit ihm eintreten zu können. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Der Offi zier kam, aber das Tor blieb verschlossen. »Hören Sie, Leutnant, Sie wagen viel! Ich bin der Graf von Artois! Hat der König Ihnen befohlen, seinen Bruder wie einen Bettler oder einen Dieb wegzujagen?« 30
»Ich würde all mein Blut für Eure Königliche Hoheit geben«, erwi derte der Offizier. »Doch seine Majestät der König hat mir die Bewa chung dieses Tores anvertraut. Er befahl, niemand nach elf Uhr einzu lassen, selbst ihn nicht, den König. Ich bitte Sie also um Verzeihung! Ich bin Soldat. Ich muß gehorchen!« Nach einem ehrerbietigen Gruß kehrte er auf seinen Posten zurück. Die Königin ergriff verzweifelt die Hand ihres Schwagers. »Ist es bekannt, daß Sie ausgegangen sind?« fragte er. »Ich weiß nicht.« »Der König hat diesen Befehl gewiß nur gegen mich erlassen. Er weiß, daß ich bei Nacht ausgehe und sehr oft spät zurückkomme.« »O nein, lieber Schwager. Ich danke Ihnen für den Takt, mit dem Sie mich zu beruhigen versuchen. Aber ich fürchte, dieser Befehl ist gegen mich gerichtet.« »Unmöglich, der König hat zuviel Achtung …« »Das weiß ich, aber ich stehe vor diesem Tor und kann nicht hinein. Und aus einer ganz unschuldigen Sache wird ein abscheulicher Skan dal entstehen. Ich weiß, daß ich einen Feind beim König habe.« »Es ist möglich, daß Sie einen Feind beim König haben. Ich aber habe eine Idee.« »Wenn Sie uns nur vor der Lächerlichkeit dieser Situation bewahrt!« »Ich hoffe, daß es gelingt. Ich bin nicht dümmer als er, wenn ich auch nicht so gebildet bin wie er.« »Wer er?« »Der Graf von Provence«, sagte Artois verächtlich. »Sie glauben also auch, daß er mein Feind ist? Wissen Sie etwas über diese Intrige?« »Vielleicht. Doch es ist besser, wir bleiben nicht hier stehen. Es ist eine Hundekälte. Kommen Sie mit mir an einen Ort, wo es weniger kalt ist. Kommen Sie, und unterwegs sage ich Ihnen, was ich über den Torschluß denke.« Im Gehen erzählte der Graf: »Herr Provence, mein teurer und unwürdiger Bruder, kam heute mit der Bitte zum König, der Königin nach dem Souper seine Aufwartung machen zu dürfen.« »O Gott«, hauchte Marie-Antoinette. 31
»Der König war der festen Überzeugung, daß Sie in Ihren Gemä chern seien«, fuhr der Graf fort. »Als mein Bruder ihm zu verstehen gab, daß er sie besucht, aber nicht angetroffen habe, wurde der König mißtrauisch. Er verabschiedete uns und hat Erkundigungen eingezo gen. In seiner Eifersucht hat er diese Verfügung erlassen, um sich über Ihre Abwesenheit Gewißheit zu verschaffen.« »Ein abscheulicher Streich, das müssen Sie mir zugeben.« »Ich gebe es zu.« Der Graf blieb stehen. »Wir sind an Ort und Stelle.« »Dieses Haus?« fragte Marie-Antoinette. »Mißfällt es Ihnen?« »Im Gegenteil, ich bin entzückt. Doch Ihre Leute, wenn Sie mich hier sehen?« »Treten Sie ruhig ein. Ich bürge Ihnen dafür, daß niemand Sie sieht.« Der Graf öffnete eine zierlich geschnitzte Haustüre, die sich geräusch los hinter ihnen schloß. Ein kleines, mit Rosenholz getäfeltes Vorzim mer führte in ein weißes Boudoir. Das Schlafzimmer war blau und das kostbare Bett mit Spitzen und Seide ausgeschlagen. Ein behagliches Feuer brannte im Kamin. Wohlriechende Kerzen verbreiteten Wärme und Licht. Kein lebendes Wesen zeigte sich. »Ich begreife, daß die Gräfin von Artois zuweilen unruhig ist«, scherzte die Königin. »Zugegeben, doch heute nacht hat sie bestimmt keinen Grund, un ruhig zu sein.« »Machen wir es kurz«, sagte Marie-Antoinette und setzte sich auf das Bett. »Ich bin furchtbar müde. Eine letzte Frage, Schwager. Wie sollen wir Sie zurückrufen, wenn Sie weggehen?« »Sie brauchen mich nicht mehr. Hier einquartiert, verfügen Sie mü helos über das ganze Haus ohne die geringste Bedienung. Sie gehen am besten um drei Viertel sechs von hier weg. Der für die Nacht gegebene Befehl wird bei Tagesanbruch hinfällig. Um sechs Uhr morgens wer den alle Tore geöffnet. Dann gelangen Sie ungehindert ins Schloß, ge hen in Ihre Zimmer, legen sich ins Bett und kümmern sich um nichts mehr. Ich verlasse Sie jetzt. Es wäre unpassend, wenn ich die Nacht un ter einem Dach mit Ihnen verbrächte.« 32
»Aber Sie müssen doch auch die Möglichkeit haben zu schlafen? Wir stören Ihre Bequemlichkeit.« »Seien Sie unbesorgt, Madame, ich habe noch drei ähnliche Häuser für meine Nächte als Privatmann.« Der Graf von Artois empfahl sich mit einer respektvollen Verbeugung: »Gute Nacht, Madame.« »Und er sagt«, lachte die Königin, »daß die Gräfin von Artois keinen Grund hat, unruhig zu sein.«
III
In einem violetten Morgenanzug, ohne Orden, ohne Puder, so wie er aus dem Bett gekommen war, pochte Ludwig XVI. an die Tür des Vorzimmers der Königin. Die Kammerfrau vom Dienst öffnete. Sie knickste: »Sire.« Kurz angebunden fragte der König. »Wo ist die Königin?« »Ihre Majestät schläft, Sire.« Der König schob die Kammerfrau beiseite. »Sehen Sie nicht, daß ich hinein will?« fragte er. Vor der Tür des Schlafzimmers sah er Frau von Misery, die erste Kammerfrau der Königin. Sie las die Messe in ihrem Gebetbuch. Als sie den König erblickte, stand sie auf. »Sire«, sagte sie leise mit einer tiefen Verneigung. »Ihre Majestät hat noch nicht gerufen.« »Hat noch nicht gerufen!« Der König fragte scharf: »Sie wissen be stimmt, daß die Königin in ihrem Bett ist? Sie wissen bestimmt, daß sie schläft?« »Ich möchte nicht behaupten, daß Ihre Majestät schläft«, gab die Kammerfrau verhalten zurück, »aber ich weiß bestimmt, daß sie in ih rem Bett ist.« Ludwig XVI. öffnete rasch die Tür und stand auch schon am Bett der Königin. 33
»O Frau von Misery, was machen Sie denn für Lärm!« beklagte sich Marie-Antoinette. »Jetzt haben Sie mich aufgeweckt!« Der König erkannte die Stimme der Königin. Erstaunt blieb er ste hen. Er murmelte: »Ich bin nicht Frau von Misery.« Die Königin setzte sich auf. »Sie sind es, Sire?« Sie fragte: »Was für ein guter Wind führt Sie hierher?« Der König wich der Frage aus und blickte sich rasch im Zimmer um. »Sie haben einen tiefen Schlaf«, sagte er. »Ich habe lange gelesen, und wenn mich Eure Majestät nicht geweckt hätten, würde ich jetzt noch schlafen.« »Woher kommt es, daß Sie gestern keine Besuche empfangen haben, Madame?« »Was für Besuche denn?« Die Königin besann sich geistesgegenwär tig: »Ihren Bruder, Herrn von Provence?« »Ganz richtig. Mein Bruder wollte Sie begrüßen, und man hat ihn nicht eingelassen. Man sagte ihm, Sie seien abwesend.« »Ich legte mich gestern schon um acht Uhr ins Bett, um seinem Be such auszuweichen, das gebe ich gern zu. Er ermüdet mich. Auch liebt er mich nicht.« Marie-Antoinette machte eine kleine Pause und sah den König forschend an: »Man könnte glauben, Sie zweifeln.« Der König gestand kleinlaut: »Ich dachte, Sie waren zu dieser Zeit in Paris.« »Sie wollen also die genaue Stunde meiner Rückkehr aus Paris wis sen. Frau von Misery!« rief die Königin. Sie wandte sich der Kam merfrau zu: »Wieviel Uhr war es, als ich gestern von Paris zurück kam?« »Ungefähr acht Uhr, Eure Majestät.« Ludwig XVI. wurde verlegen. Er versuchte zu verbergen, wie sehr er sich seines Verdachtes schämte. Er wollte seiner Frau die Hand küs sen, aber sie entzog sie ihm. »Sire«, sagte sie abweisend, »eine Königin von Frankreich lügt nicht. Damit will ich sagen, daß ich gestern abend nicht um acht Uhr zurückgekommen bin … und daß ich erst heute morgen um sechs Uhr zu Hause war.« »Madame!« 34
»Ich hätte wie eine Bettlerin vor der Tür gestanden, wenn nicht der Graf von Artois mir ein Asyl angeboten hätte.« »Ich hatte also recht«, sagte der König mit düsterem Gesicht. »Oder wollen Sie mir sagen, daß Sie recht haben, wenn Sie mit Ihren Kavalie ren wegfahren und die ganze Nacht nicht nach Hause kommen, wäh rend ich bis spät in die Nacht arbeite? Ist das einer Frau, einer Königin, einer Mutter würdig?« »Ihre Frage verdient nur meine Verachtung«, erwiderte die Königin stolz, »aber ich beantworte sie. Ich war in Paris, um mich mit eige nen Augen davon zu überzeugen, daß der König von Frankreich, die ser philosophische König, dieser moralische König, der die Armen er nährt und die Liebe seines Volkes durch seine Wohltätigkeit verdient, einen Abkömmling der regierenden Könige vergessen hat und in Not und Elend verkommen läßt.« »Ich?« fragte der König erstaunt. »Ich?« »Sie!« bestätigte die Königin. »In einer verwahrlosten Wohnung, ohne Heizung, ohne Licht und ohne Geld, so fand ich die Enkelin ei nes großen Fürsten. Ich gab diesem Opfer Ihrer königlichen Gleich gültigkeit hundert Louisdor.« »Madame«, der König wollte einlenken. »Sie wissen doch, daß ich Sie in keiner Weise verdächtigt habe. Sie haben Gutes getan wie immer.« Er setzte mit einem Seufzer hinzu: »Doch indem Sie anderen Gutes tun, fügen Sie sich selbst Schaden zu. Das ist der Vorwurf, den ich Ih nen mache.« Er ergriff ihre Hand, die sie ihm jetzt nicht mehr entzog. »Sagen Sie mir, was ich vergessen habe, Madame. Nennen Sie mir die Umstände, und ich werde es gutmachen, wenn ich kann.« »Der Name Valois ist Ihnen sicher bekannt genug.« Der König lachte auf: »Das ist es! Jetzt weiß ich, was Sie beschäftigt. Die kleine Valois, nicht wahr? Eine Gräfin von … von …« »Von la Motte«, fiel die Königin ein. »Von la Motte, ganz richtig. Ihr Mann ist Gendarm. Diese Frau ist eine Intrigantin. Bitte, ärgern Sie sich nicht. Sie setzt Himmel und Höl le in Bewegung, sie überläuft die Minister, sie quält meine Tanten, sie überschüttet mich mit Bittschriften.« 35
»Aber bis jetzt ohne Erfolg.« »Das leugne ich nicht.« »Ist sie eine Valois, oder ist sie keine?« »Ich glaube, daß sie eine ist.« »Also! Eine anständige Pension für sie. Ein Regiment für ihren Mann. Kurz, ein anständiges Leben!« »Ich habe keine Regimenter mehr zu vergeben, Madame, nicht ein mal an diejenigen, die bezahlen könnten oder sie verdienen würden. Wir müssen uns alle einschränken, meine Liebe!« »Eine kleine Pension also, Sire.« »Durchaus nicht. Durchaus nichts Fixes. Ich will keine Verpflich tungen für die Zukunft. Diese Leute sind wie Blutegel. Habe ich Lust zu geben, so werde ich geben, aber erst, wenn ich Geld im Überfluß habe. Ihr gutes Herz hat sich wieder einmal betören lassen, meine lie be Antoinette. Ich möchte Ihnen nicht alles erzählen, was ich von der kleinen Valois weiß. Aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, Ih nen zu beweisen, daß ich Ihnen wirklich nicht böse war, als ich hier herkam.« Lächelnd zog der König ein rotes Etui aus der Tasche. Marie-Antoinette öffnete es neugierig. Atemlos rief sie: »Gott, ist das schön!« Es war ein prachtvolles Diamantenhalsband. Jeder Stein hatte ein ei genes Leben und fing das Tageslicht in seinen Facetten auf. Es sprühte und funkelte von Schein und Widerschein. »Das ist herrlich«, sagte die Königin. »Unbeschreiblich schön«, wie derholte sie immer wieder. »Sind Sie zufrieden?« fragte Ludwig XVI. »Zufrieden? Ich bin begeistert. Sie machen mich glücklich, Sire. Se hen Sie doch, die Diamanten haben die Größe von Haselnüssen. Und wie geschickt sie verarbeitet sind! Der Juwelier, der sie gefaßt hat, ist ein Künstler.« »Es sind zwei Juweliere«, erklärte der König. »Dann wette ich, es sind die Herren Böhmer und Bossange.« »Sie haben es erraten, Madame.« 36
Die Königin konnte sich erst nicht am Glanz und Farbenspiel satt sehen. Dann wurde sie nachdenklich. »Das Halsband ist sehr teuer, nicht wahr?« fragte sie. »Ja«, erwiderte der König lachend, »doch wenn Sie es tragen werden, wird es erst seinen wirklichen Wert bekommen. Machen Sie mir doch die Freude, das Halsband an Ihnen zu sehen.« Marie-Antoinette hielt ihn zurück, als er ihr die Diamanten um den Hals legen wollte. »Nehmen Sie sie zurück«, sagte sie. »Sie wollen das Halsband nicht tragen, Madame?« »Nein! Ich schätze den Wert dieser Diamanten auf fünfzehnmal hunderttausend Livre. Ist es nicht so?« »Ich leugne es nicht.« »Ich weigere mich, mir anderthalb Millionen an den Hals zu hän gen, während die Kassen des Königs leer sind, während der König ge zwungen ist, Unterstützungen abzulehnen und den Armen zu sagen: Ich habe kein Geld mehr, Gott steh' euch bei!« »Meinen Sie das im Ernst, Madame?« »Sie sagten mir einmal, Sire, für fünfzehnmal hunderttausend Livre könnte man ein Linienschiff haben. Ich denke, der König von Frank reich braucht ein Linienschiff dringender als die Königin von Frank reich ein Halsband.« Der König war gerührt. Er umarmte und küßte sie. »Ich danke Ih nen, Antoinette. Sie sind eine großartige Frau. Man wird Sie in Frank reich segnen, Madame, wenn man das erfährt.« Die Königin seufzte leise. »Ist das ein Seufzer des Bedauerns?« fragte der König lebhaft. »Noch ist es Zeit. Das Geld liegt bereit. Seien Sie nicht so uneigennützig, Ma dame.« Marie-Antoinette unterbrach: »Nein, ich will dieses Halsband nicht. Ich habe es mir gut überlegt. Doch ich will etwas anderes, das nicht so viel kosten wird. Ich möchte noch einmal nach Paris. Ich möchte den berühmten Dr. Mesmer aufsuchen.« Der König zögerte und schüttel te den Kopf. In seinem breiten Gesicht spiegelte sich seine Hilflosig keit. »Den berühmten Dr. Mesmer?« fragte er und überlegte, während 37
die Königin schwieg. Nach einer kleinen Weile sagte er: »Einverstan den! Sie haben ein Geschenk von anderthalb Millionen ausgeschlagen. Da muß ich es wohl über mich bringen, Ihnen diese Bitte zu erfüllen. Gehen Sie zu Herrn Mesmer. Doch lassen Sie sich von einer Prinzes sin von Geblüt begleiten. Und ich werde sofort mein Linienschiff be stellen. Ich taufe es: Das Halsband der Königin. Sie werden die Patin sein, Madame.« Er küßte Marie-Antoinette ehrerbietig die Hand.
IV
Am gleichen Morgen zählte Frau von la Motte immer wieder die hun dert Louisdor, die sie von der unbekannten Wohltäterin empfangen hat te. Sie war mitten im schönsten Pläneschmieden, als ihr die alte Kam merfrau einen Brief überreichte. Das war nichts Ungewöhnliches, aber Jeanne glaubte, das Wappen des Siegels zu kennen. Die Handschrift je doch war nichtssagend. Sie öffnete den Brief und las: »Madame, die Per son, an die Sie ein Gesuch gerichtet haben, wird Sie morgen abend be suchen, wenn Sie die Güte haben werden, sie zu empfangen.« Die Gräfin war enttäuscht. Sie hatte an so viele Leute geschrieben. Wie sollte sie wissen, wer ihr geantwortet hatte, der Brief hatte keine Unterschrift. Sie betrachtete sich das Siegel nochmals. »Wo habe ich meine Augen!« rief sie laut. »Das ist das Wappen der Rohan! Dieser Brief ist vom Kardinal. Ich habe an ihn geschrieben. Der Kardinal von Rohan!« Sie lachte vor sich hin: »Ob ich die Güte haben werde, ihn zu empfangen! Morgen abend also«, dachte sie und überlegte im gleichen Augenblick: »Meine armselige Wohnung ist nicht gut genug für einen Kirchenfürsten, für einen Herzensbrecher, der in den eleganten Bou doirs schöner Frauen zu Hause ist.« 38
Sie warf einen raschen Blick auf ihre Louisdor: »In Paris kann man mit gutem Geld alles mieten, was man nicht kaufen kann.« Sie entfal tete eine fieberhafte Tätigkeit. Eine Wohnung im dritten Stock ihres Hauses war am nächsten Tag frei. Sie mietete sie, und stattete sie mit sorgfältig ausgewählten, in Eile gemieteten Möbeln aus. Die alte Kam merfrau hatte die Fenster geputzt, im Kamin brannte ein Feuer. Teppi che, Kerzen, Blumen, alles war bereit, um seine Eminenz den Kardinal von Rohan gebührend zu empfangen. Nun widmete sich Jeanne mit Sorgfalt ihrer Toilette. Sie war mit ih rer Erscheinung zufrieden, machte es sich in einem bequemen Fau teuil gemütlich, nahm ein Buch zur Hand und wartete. Die Zeit ver ging langsam. Es schlug Mitternacht. Kein Wagen kam. Kein Kardi nal. Nichts. Allein, umgeben von den gemieteten Möbeln und den seidenen Vor hängen, lief Jeanne im festlich geschmückten Wohnzimmer auf und ab. Sie war außer sich. Um ihre Wut zu betäuben, fand sie endlich eine Entschuldigung für den Kardinal: Er kannte sie ja noch nicht. Sie be trachtete sich lange und wohlgefällig im Spiegel: Die Entschuldigung war gut. Wenn er sie schon gekannt hätte, wäre er gewiß gekommen. Am nächsten Abend machte Jeanne wieder große Toilette. Aber dies mal brauchte sie nicht lange zu warten. Die Klingel ertönte schon um sieben Uhr. Das Herz Jeannes klopfte so heftig, daß sie selbst es hör te. Schnell legte sie eine Stickerei auf den Tisch, eine neue Kompositi on auf das offene Klavier und rückte eine Zeitung auf der Ecke des Ka mins zurecht. Sie lauschte: ein leichter Schritt. Ein hochgewachsener, schlanker, in weltlicher Tracht elegant gekleideter Mann trat ein. Jeanne erhob sich und betrachtete das edle Gesicht. »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« fragte sie. »Ich bin der Kardinal von Rohan.« Frau von la Motte gab sich den Anschein, als erröte sie und wäre ver wirrt. Sie verneigte sich demütig, wie man sich nur vor Königen ver neigt. Dann rückte sie einen Sessel behutsam zurecht. Der Kardinal blieb aufrecht stehen und legte seinen Hut auf den 39
Tisch. Er blickte Jeanne aufmerksam an. »Es ist also wahr, Mademoi selle …« »Madame«, unterbrach ihn Jeanne. »Verzeihen Sie … ich vergaß … Madame …« Jeanne erklärte: »Mein Mann nennt sich Graf von la Motte, Monsei gneur.« »Ganz richtig, Gendarm des Königs oder der Königin. Und Sie, Ma dame, sind eine geborene Valois?« Der Kardinal setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Ein großer Name, ein seltener, ein erlosche ner Name.« »Der Name ist nicht erloschen, Monseigneur, da ich ihn führe und einen Bruder habe, den Baron von Valois.« Mit einem Unterton von Hochmut sagte der Kardinal: »Erzählen Sie mir ein wenig von dieser Erbschaft. Es interessiert mich. Ich liebe die Wappenkunde.« Jeanne erzählte ihre Geschichte. Der Kardinal hörte zu und sah sie dabei abschätzend an. Er glaubte ihr kein Wort. Er sah nur, daß sie reizvoll war. Jeanne erriet seine Gedanken. Sie wurde unruhig. Der Kardinal blickte sich um. »Diese Wohnung ist bequem und gut möbliert. Man hat die Schwierigkeiten Ihrer Lage bedeutend übertrie ben.« »Ich glaube nicht«, erwiderte sie, »daß Sie diese Einrichtung standes gemäß nennen können.« Er lächelte ironisch: »Ach ja, Sie sind eine Prinzessin.« »Ich bin als eine Valois geboren wie Sie als ein Rohan!« »Dieser Stolz gefällt mir!« Der Kardinal betrachtete Jeanne mit zu nehmendem Interesse. Er deutete auf die goldene Dose, die sie in der Hand hielt. »Eine originelle Dose. Sie erlauben?« Er wartete ihre Erlaub nis nicht ab und konnte sein Erstaunen nicht verbergen, als er das Por trät Maria-Theresias, der Kaiserin von Österreich, auf dem Innendeckel erkannte. »Woher haben Sie diese Dose?« fragte er mißtrauisch. »Von einer Dame, die mich vorgestern besuchte.« Jeanne verbesserte sich: »Es waren zwei Damen.« 40
»Und eine von den beiden Damen hat Ihnen diese Dose gegeben?« »Nein«, erwiderte Jeanne, »sie hat sie bei mir vergessen.« Der Kardinal dachte nach. Nach einer kleinen Pause fragte er: »Ent schuldigen Sie, daß ich es wissen will. Wer war die Dame?« »Ich weiß es nicht. Wenn ich wüßte, wer die Dame war, hätte ich ihr die Dose schon zurückgeschickt. Ich weiß nur, daß sie die Verwalterin einer wohltätigen Stiftung ist. Sie gab mir hundert Louisdor.« »Hundert Louisdor!« Der Kardinal war erstaunt. »Damen von wohl tätigen Stiftungen pflegen kleinere Almosen zu geben. Können Sie mir die Damen beschreiben, Gräfin?« »Das ist nicht leicht«, erwiderte Jeanne langsam, um die Neugierde des Kardinals zu steigern. »Die eine von den beiden Damen wollte un erkannt bleiben. Sie verbarg ihr Gesicht. Doch ich sah …« »Was?« unterbrach sie der Kardinal. »Blaue Augen, ein kleiner Mund, etwas volle Lippen, besonders die Unterlippe. Sie war mittelgroß.« »Und die Hände?« »Die Hände waren auffallend schön.« »Sprach sie mit Akzent?« »Ein wenig.« Jeanne fragte zurück: »Kennen Sie die Dame, Monsei gneur?« »Nein, nein, ich kenne sie nicht«, erwiderte der Kardinal rasch. Sein ganzes Mißtrauen war wieder wach. Die Gerüchte bei Hof über sein persönliches Interesse an der Königin konnten verbreitet wor den sein. Hatte man ihm eine Falle gestellt? Wie kam die Dose, die er kannte, hierher? War Marie-Antoinette wirklich in diese armseli ge Wohnung gekommen? Und warum verheimlichte die Gräfin die se ihr zuteil gewordene Ehre? Der Name Valois machte den Kardinal noch vorsichtiger. Er brach das peinliche Schweigen und fragte: »Wie sah die andere Dame aus?« »Die habe ich mir genau angesehen. Sie war groß und schön. Sie hat te ein energisches Gesicht und einen prachtvollen Teint. Die andere Dame nannte sie Andrea.« 41
»Andrea!« rief der Kardinal erregt. Er überlegte noch einen Augenblick. Dann entschied er: Es gab kei nen Zweifel, was sich hier abspielte war weder eine Falle noch ein Kom plott. Aber um ganz sicher zu sein, stellte er Jeanne noch eine Frage: »Warum haben Sie sich mit Ihrem Namen«, er verbesserte sich: »Grä fin, ich muß gestehen, ich wundere mich, daß Sie mit Ihrem Namen sich nicht an den König gewandt haben.« Jeanne erwiderte schlicht: »Ich habe wenigstens zwanzig Bittschrif ten an den König geschickt. Alle ohne Erfolg.« »Sie hätten sich an die Königin wenden müssen, die nie eine verdien te Unterstützung verweigert. Haben Sie die Königin gesehen?« »Nein, noch nie«, erwiderte Jeanne unbefangen. »Sie haben der Königin kein Gesuch eingereicht? Sie haben nie ver sucht, eine Audienz zu erlangen?« »Ich habe mich darum bemüht, Monseigneur, doch es ist mir nicht gelungen.« Der Kardinal, der jetzt von der Aufrichtigkeit der Gräfin überzeugt war, ließ alle Vorsicht außer acht. »Gräfin, wenn es sein muß, werde ich persönlich Sie nach Versailles führen und die Türen für Sie öff nen.« Jeanne gab dem Kardinal ein dankbares Lächeln. Sie sah ihn vielsa gend an. Er hatte selten eine so bezaubernde und verführerische Frau gesehen. Und er verstand etwas von Frauen. »Ich bin glücklich, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Sie schmeicheln mir.« Die Gräfin lächelte, und ohne ihre Hand zu rückzuziehen, sagte sie herausfordernd: »Sie haben doch nur einen Höflichkeitsbesuch gemacht.« Der Kardinal erhob sich, beugte sich über ihre Hand und küßte sie leidenschaftlich. »Das nächste Mal komme ich als Freund«, sagte er zum Abschied.
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V
Unbekümmert um politische Angelegenheiten ergab sich die Pariser Gesellschaft einer neuen Mode: dem Mesmerismus. Dr. Mesmer, der berühmte Magnetiseur, war das Gesprächsthema der ganzen Stadt. Man erzählte sich von geheimnisvollen Wundern, man schrieb ihm hellseherische Fähigkeiten zu. Es hieß, er habe ein Mittel gefunden, nicht nur Krankheiten und Schmerzen aus dem menschlichen Körper auszutreiben, sondern auch der Seele ihre Geheimnisse zu entreißen. Das Haus Dr. Mesmers war von morgens bis Mitternacht von Hun derten von Neugierigen umlagert, die die Besucher beobachteten und ihre Bemerkungen machten. Hier wurde ein Herzog erkannt, dort eine adelige Dame. Viele Gäste Dr. Mesmers konnten allerdings unerkannt bleiben. Es war Fasching, und es fiel nicht auf, wenn eine Dame ihr Ge sicht hinter einer Maske verbarg. Auch die Gräfin von la Motte hatte sich entschlossen, Dr. Mesmer aufzusuchen. Sie hatte lange über ihre Unterredung mit dem Kardi nal nachgedacht. Sein eigentümliches Interesse für die goldene Dose ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie mußte den Namen der Eigentümerin erfahren. Es war ihr bisher nicht gelungen. Dr. Mesmer war ihre letz te Hoffnung. Vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, daß er die Tran ce, die Verzückung eines Mediums, dazu benützte, den Namen zu er fahren. Jeanne bahnte sich ihren Weg durch die Menge der Neugierigen vor dem Haus. Sie war elegant gekleidet und trug eine Maske vor dem Ge sicht. Sie betrat das Portal und eilte hastig in den Saal, in dem sich die Kranken versammelten. Sie blieb stehen. Von der Türe aus konn te sie alles sehen, ohne gesehen zu werden. Ihr Blick fiel auf eine junge, auffallend gekleidete, gutgewachsene Frau mit hübschem Gesicht, die 43
ihre Augen verdrehte und sich der magnetischen Ekstase hemmungs los hingab. »Das ist nicht möglich«, murmelte Jeanne. Sie konnte den Blick nicht von dem Gesicht der jungen Frau abwenden. »Sie ist es.« Sie war sicher, sich nicht zu täuschen, und trat näher. In diesem Augen blick schloß die junge Frau die Augen, zog ihren Mund krampfhaft zu sammen und schlug mit beiden Händen in die Luft. Diese Hände waren nicht die schönen, weißen Hände, die die Grä fin la Motte-Valois einige Tage zuvor an ihrer Wohltäterin bewundert hatte. Die junge Frau fing zu seufzen an, warf sich hin und her und schrie. Ihr hemmungsloses Gebaren zog die Aufmerksamkeit der übrigen Be sucher auf sich. Die Leute fingen an zu tuscheln. Jeanne hörte, wie ein Mann rief: »Sie ist es, sie ist es!« Sie wollte ihn gerade fragen, wen er meinte, aber ein Schrei der ekstatischen jungen Frau zog ihre Blicke wieder zu der Verzückten hin. Der Unbekannte, der vorher gerufen hatte: »Sie ist es! Sie ist es!« wandte sich wieder den Umstehenden zu. Er rief jetzt: »Meine Herr schaften, sehen Sie doch, es ist die Königin!« Jeanne durchfuhr es eiskalt. Erschrockene und erstaunte Stimmen wurden laut: »Die Königin bei Mesmer! Die Königin in einer Krise!« »Das ist unmöglich!« sagte eine Frau. Der Unbekannte erwiderte: »Sie brauchen doch nur hinzusehen. Kennen Sie die Königin, ja oder nein«, sagte er. »Die Ähnlichkeit ist unglaublich!« Auch Jeanne wandte sich an den Unbekannten. Sie fragte: »Sie sagen, mein Herr, daß die Königin hier ist.« »Kein Zweifel, Madame. Die junge Frau in der heftigen Krise, die sich in ihrer Ekstase so gehen läßt, ist die Königin.« »Wie können Sie das behaupten, mein Herr?« Der Unbekannte sah sie mit funkelnden Augen durchdringend an und erwiderte laut: »Ich behaupte es, weil diese Frau die Königin ist.« In Windeseile sagte es einer dem anderen. Jeanne wandte sich von dem empörenden Schauspiel ab, das die Verzückte bot. Sie machte ein paar Schritte in der Richtung des Ausgangs und stieß beinahe mit zwei 44
Damen zusammen. Die Haltung der beiden Frauen kam ihr bekannt vor. Sie sah der einen ins Gesicht und schrie auf. »Erkennen Sie mich?« Sie nahm die Maske ab. Die Dame machte eine erschrockene Bewegung, aber beherrschte sich sofort und sagte leise: »Ich erkenne Sie nicht.« »Aber ich erkenne Sie und will es Ihnen beweisen!« Jeanne zog die goldene Dose aus ihrer Tasche. »Die haben Sie bei mir liegenlassen.« »Warum sind Sie so erregt?« fragte die Dame, um Jeanne zu be schwichtigen. »Ich bin erschrocken über die Gefahr, in die sich Eure Majestät be geben.« »Erklären Sie!« »Nehmen Sie erst meine Maske!« Jeanne reichte der Königin ihre Maske und fuhr eindringlich fort: »Bitte, beeilen Sie sich!« »Tun Sie es doch, Madame«, bat die Begleiterin der Königin leise. Marie-Antoinette setzte die Maske Jeannes langsam auf. »Und nun kommen Sie!« Jeanne zog die beiden Frauen rasch mit sich fort. In der Nähe der Eingangstür blieb sie stehen. »Eure Majestät ist von niemand gesehen worden?« »Ich glaube nicht. Aber würden Sie uns wohl endlich erklären …« Jeanne fiel ein: »Ich werde die Ehre haben, Ihrer Majestät alles zu er klären, wenn sie mir eine Stunde Audienz bewilligt. Und jetzt bitte ich Eure Majestät zu gehen!« »Gehen wir«, sagte die Königin beinahe ungehalten. Sie wandte sich noch einmal nach Jeanne um: »Sie haben mich um eine Audienz gebe ten. Gut, bringen Sie mir diese Dose zurück und fragen Sie in Versail les nach Laurent. Er wird Sie zu mir führen.« Frau von la Motte wartete, bis die Karosse der Königin nicht mehr zu sehen war. »Jetzt muß mir noch eine gute Erklärung für mein Be nehmen einfallen, dann geht alles so, wie ich es will«, sagte sie zufrie den vor sich hin.
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VI
Der unbekannte Mann, der die Besucher im Hause des Dr. Mesmer so nachdrücklich auf die angebliche Königin aufmerksam gemacht hat te, näherte sich einem Zuschauer, der die Verzückung der jungen Frau mit gierigen Augen verfolgt hatte. Er sagte: »Für Sie als Journalist ist das ein schöner Stoff!« »Das will ich meinen«, war die hastige Antwort. »Dann nützen Sie den Stoff aus und schreiben Sie so schnell und so scharf Sie können. Hier sind fünfzig Louisdor.« Der Unbekannte drückte dem Journalist das Geld in die Hand. »Lassen Sie sechstau send Exemplare drucken!« »Mein Herr, Sie sind sehr gütig, ich werde Tag und Nacht daran ar beiten! Ganz Paris wird Tränen lachen … mit Ausnahme einer Per son.« »Sie begreifen schnell. Aber datieren Sie den Artikel von London.« Der Journalist steckte das Geld in die Tasche, während der Unbe kannte noch einmal zurückging und die junge Frau in ihrer Ekstase betrachtete. »Die Ähnlichkeit ist tatsächlich erschreckend«, murmel te er vor sich hin. »Aber das kommt mir sehr gelegen.« Er verließ rasch den Saal. Die junge Frau war zu sich gekommen. Sie war sehr verlegen. Sie sah erstaunt, daß die umstehenden Männer und Frauen sie aufmerksam betrachteten. Es waren nicht begehrliche Blicke, auch keine anzügli chen Bemerkungen fielen. Im Gegenteil, die Anwesenden verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor ihr. Mit unsicheren Schritten verließ sie den Saal und suchte im Hof nach einem Fiaker. Ein fremder Lakai trat auf sie zu: »Darf ich Madame nach Hause fahren?« fragte er höflich und geleitete sie zu einer eleganten Kutsche. 46
Während der Wagen schnell durch die dunklen Straßen von Pa ris fuhr, dachte die junge Frau müde: »Dieser Dr. Mesmer ist wirk lich ein großer Arzt. Er läßt seine Patienten auch noch nach Hause fahren.« In Gedanken versunken, betrat sie ihre Wohnung. Sie erschrak. Auf dem Sofa im Salon saß der gleiche unbekannte Mann, der der Gräfin la Motte bei Dr. Mesmer aufgefallen war. »Sie sind Mademoiselle Oliva?« stellte er statt jeder Begrüßung fest. Sie nickte vorsichtig. »Mademoiselle, ich habe Sie bei Dr. Mesmer gesehen. Ich bin gekom men, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.« Oliva begriff kein Wort, sie war noch immer benommen. Aber sie begann doch, neugierig zu werden. »Was tun Sie den ganzen Tag?« fragte der Unbekannte. »Sowenig als möglich, am liebsten tue ich nichts!« »Gehen Sie gern ins Theater oder auf Bälle? Mögen Sie ein angeneh mes Leben? Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie fünfundzwanzig Louisdor monatlich erhielten?« »Fünfzig wären mir lieber«, lachte Oliva schlagfertig. »Aber ich su che mir meine Liebhaber selbst aus.« »Es handelt sich nicht um Liebe oder Liebhabereien, es handelt sich um ein Geschäft.« »Was hätte ich zu tun, um Ihre fünfzig Louisdor zu verdienen?« »Fünfzig? Gut«, willigte der Unbekannte ein. »Sie haben nur mit mir auszugehen, ein möglichst freundliches Gesicht zu machen und im mer für mich Zeit zu haben.« »Ich habe aber einen richtigen Liebhaber. Der wird sich nicht so leicht fortschicken lassen.« Oliva setzte mit einem unverschämten Au genaufschlag hinzu: »Ich liebe ihn auch ein wenig.« »Was Sie mit ihm tun, wenn Sie mit ihm allein sind, das kümmert mich nicht. Sie müssen nur vor den Leuten den Anschein erwecken, meine Geliebte zu sein.« »Nur den Anschein? Dagegen habe ich nichts.« »Hier ist der erste Monat im voraus.« 47
Als Oliva zögerte, das Geld anzunehmen, schob er ihr eine Rolle mit fünfzig Louisdor in die Rocktasche. In diesem Augenblick klopfte es zweimal an der Haustüre. Oliva trat eilig ans Fenster. »Großer Gott!« rief sie. »Gehen Sie rasch fort! Es ist Beausire!« Sie erklärte: »Mein Liebhaber!« Der Unbekannte machte es sich auf dem Sofa gemütlich: »Öffnen Sie Ihrem Liebhaber ruhig, ich möchte mir den Burschen ansehen.« Oliva ließ einen unordentlich gekleideten Mann ein, der sich sofort wütend auf den Unbekannten stürzen wollte. Während Oliva ihn zu rückzuhalten versuchte, schrie er: »Laß mich los! Deswegen machst du nicht auf, weil ein Mann bei dir ist?« Er trat vor den Unbekannten: »Sie werden mir eine Erklärung geben!« »Wenn Sie eine Erklärung wollen, mein lieber Herr Beausire, gerne. Ich plaudere harmlos mit dieser Dame.« »Es war ganz harmlos«, bestätigte Oliva. »Halt den Mund«, brüllte Beausire, »und Sie, mein Herr, lassen Sie Ihre schlechten Späße! Stehen Sie auf, oder ich nagele Sie mit meinem Degen an die Lehne!« »Sie sind aber wirklich sehr ungemütlich«, erwiderte der Unbekann te, während auch er seinen Degen zog. Oliva schrie auf. Sie sah gleich, daß Beausire es mit einem überlegenen Gegner zu tun hatte, denn be vor er einen wirksamen Stoß führen konnte, flog sein Degen durch das Zimmer, zerbrach die Fensterscheibe und verschwand in der Dunkel heit. Zitternd vor Wut rannte Beausire hinaus, um seine Waffe wieder zuholen. Oliva ergriff die Hand des Siegers. »Sie sind sehr mutig! Doch ich fle he Sie an, gehen Sie in den oberen Stock und verlassen Sie das Haus, nachdem Beausire zurück ist. Es ist besser so. Ich werde allein mit ihm fertig.« »Sie sind ein gescheites Mädchen, ich folge Ihrem Rat.« Er wandte sich in der Tür um: »Auf Wiedersehen bis heute nacht!« »Heute nacht? Sind Sie verrückt?« »Durchaus nicht. Heute ist Maskenball im Opernhaus.« »Aber es ist schon so spät, und wir haben keine Dominos.« 48
»Ich bin überzeugt, Beausire wird sie besorgen. Hier sind noch zehn Louisdor.« »Sie haben recht«, lachte Oliva, »für Geld hat er eine Schwäche.« Als Beausire atemlos zurückkam, war er erstaunt, seinen Neben buhler nicht mehr anzutreffen. Oliva schloß die Türe und schrie so laut, daß Beausire ihr den Mund zuhalten wollte. Sie mißverstand sei ne Handbewegung und gab ihm eine schallende Ohrfeige, die Beausi re ihr umgehend zurückgab. Als sie wütend auf ihn losfuhr, wehrte er sich und zerriß ihr den Rock. Das war zuviel. Sie ließ ihn los und jam merte: »Du richtest mich zugrunde!« »Daß ich nicht lache, dich zugrunde richten. Du hast ja nichts.« »Ich habe nichts mehr, solltest du sagen, denn du hast alles verkauft und verfressen, vertrunken und verspielt.« »Ich spiele, um zu leben«, beteuerte Beausire. Oliva schrie: »Und das gelingt dir wunderbar! Wir verhungern da bei!« Sie höhnte: »Du spielst! Eine reizende Beschäftigung, das muß ich sagen.« »Mit deiner Beschäftigung ist es auch nicht weit her!« »Sie ist immer noch besser als deine«, kreischte Oliva. Sie griff in ihre Tasche und warf eine Handvoll Goldstücke ins Zimmer. »Louisdore!« rief er beeindruckt. Jetzt schleuderte sie ihm eine zweite Handvoll goldener Münzen ins Gesicht. »Gut«, sagte Beausire plötzlich ganz gefaßt. Er griff nach den Goldstücken und liebkoste sie mit den Fingern. »Gut«, wiederholte er, »ich gehe ins Spielhaus zurück und bringe dir nicht nur das Doppel te, sondern das Fünffache.« Er wandte sich der Tür mit raschen Schrit ten zu. Aber er hatte nicht mit Oliva gerechnet. Sie hielt ihn an seinem Rock fest. Der mürbe Stoff gab nach. »So kann ich nicht mehr ausge hen«, jammerte Beausire. »Im Gegenteil, mein Lieber, du wirst sofort ausgehen«, erklärte Oliva und zog den Rest der Louisdore, die ihr der Unbekannte gegeben hat te, aus ihrer Tasche. Beausire wurde beinahe verrückt. Er kniete nieder. »Liebling«, sagte er, »ich tue alles, was du von mir verlangst!« 49
VII
Auch die Gräfin la Motte traf Vorbereitungen, um an dem Maskenball teilzunehmen, als ihr ein Diener des Kardinals von Rohan die Nach richt überbrachte, daß seine Eminenz um ihren Besuch bitte. Sie nahm die Einladung an. Ihre Mietkutsche hielt zehn Minuten später vor ei nem schlichten Portal in der Sackgasse eines vornehmen Viertels. »Ein kleines Haus«, murmelte die Gräfin, »aber wir werden ja sehen.« Ein Lakai führte sie von Zimmer zu Zimmer. In einem intimen, äußerst geschmackvoll eingerichteten Speisesaal begrüßte sie der Kardinal: »Madame, ich habe mit Ihnen wichtige Dinge zu besprechen.« »Und zu diesem Zwecke lassen Sie mich in Ihr Speisezimmer kom men«, gab die Gräfin ironisch zurück. »Diese Ehre weiß ich zu schät zen!« »Sie spotten, Gräfin?« »Nein, ich lache!« »Sie sind reizend, wenn Sie lachen. Ich möchte Sie immer lachend se hen. Doch jetzt sind Sie zornig!« »Nicht im geringsten, Monseigneur«, erwiderte Jeanne verächtlich und fügte hinzu: »Der Speisesaal beruhigt mich.« »Als ich Sie neulich besuchte«, erklärte der Kardinal, »fand ich, daß Ihre Wohnung nicht Ihrem Rang und Ihrem Namen entspricht. Das zwang mich, meinen Besuch abzukürzen. Aus rein egoistischen Moti ven dachte ich nun, Sie in eine Ihnen gebührende Umgebung zu ver setzen … Bitte, lassen Sie mich aussprechen, Gräfin …! Ich wollte, daß Sie mich mit Behagen empfangen, ohne daß Sie sich selbst oder mich kompromittieren.« Der Kardinal suchte den Blick Jeannes. »Ich hoffe, Sie werden dieses kleine Haus annehmen?« »Sie schenken mir dieses Haus, Monseigneur?« fragte sie erregt. 50
»Geschenke erhalten die Freundschaft.« Der Kardinal genoß seine Überlegenheit. Er hielt Jeanne für eine ko kette, anspruchsvolle Frau und glaubte, sie zu durchschauen. Sie war wie berauscht. Mit einem solchen Geschenk hatte sie nicht gerechnet, so habgierig sie auch war. Das ist entschieden ein sehr nütz licher Mensch, dachte sie und sagte: »Monseigneur, ich bitte um Ver zeihung. Ich muß gestehen, es gibt keinen feinfühlenderen Mann als Sie.« Der Kardinal hörte über das Kompliment hinweg, und er fragte plötzlich wie zufällig: »Sagen Sie, Gräfin, was erzählten Sie mir neu lich von zwei wohltätigen Damen?« Jeanne war auf der Hut. »Ich wette, Monseigneur, Sie kennen die Da men besser als ich. Als Botschafter am Wiener Hof und als Freund der Kaiserin Maria Theresia mußten Sie das Porträt erkennen!« »Sie glauben, es war das Porträt Maria Theresias?« »Spielen Sie doch nicht den Unwissenden, Herr Diplomat! Es ist sehr ungewöhnlich, das Porträt einer Mutter, denn es war nicht das einer Kaiserin, in anderen Händen zu sehen, als in den Händen der Toch ter …« »Die Königin?« unterbrach sie der Kardinal. Er tat so überrascht, daß Jeanne unsicher wurde. Er fragte ungläubig: »Ihre Majestät die Köni gin soll bei Ihnen gewesen sein?« »Hatten Sie wirklich nicht erraten, daß Sie es war, mein Herr?« Jean ne bemerkte ihre Unvorsichtigkeit sofort und schwieg verlegen. Der Kardinal fuhr unbekümmert fort: »Ihrer Ansicht nach war also Ihre Besucherin die Königin Marie-Antoinette?« »Die Königin mit einer anderen Dame.« »Wenn Ihre Majestät die Königin Sie tatsächlich besucht haben soll te, so wäre das für Sie ein großes Glück. Hat Ihnen die Königin beson deres Interesse gezeigt?« »Ein ziemlich lebhaftes sogar.« »Dann geht alles gut.« Der Kardinal wurde nachdenklich. »Sie müs sen sich jetzt nur noch den Einlaß in Versailles verschaffen.« Jeanne lächelte vielsagend. 51
»Glauben Sie mir, Gräfin, da liegt die Schwierigkeit.« Der Kardinal lächelte ebenfalls. »Sie können sich die Bewachung in Versailles nicht vorstellen.« »Würden Sie mir zum Einlaß verhelfen?« »Ich würde es gerne versuchen, doch es dürfte auch für mich schwie rig sein.« »Zum Glück habe ich die Protektion der Königin«, stellte Jeanne fest. »Ich darf Ihnen leider nicht mehr sagen, als daß ich morgen in Versail les empfangen werde, und zwar in den privaten Gemächern der Köni gin.« »Sie sind für mich ein Rätsel. Ich bewundere Sie, Gräfin. Ich verehre Sie.« Der Kardinal sank auf die Knie und ergriff ihre Hände. »Monseigneur, ich bin erstaunt!« Der Ton Jeannes war eiskalt. »Muß ich Ihnen erst erklären, daß ich kein Mädchen von der Oper bin? Muß ich erst betonen, daß ich eine Frau bin, die ihre Gunst nur verschenkt, wenn es ihr beliebt? Ich hätte mehr Achtung erwartet.« Der Kardinal erhob sich zögernd. »Ich würde Sie anbeten, wenn …« »Wenn?« »Wenn Sie es mir erlaubten. Sie hindern mich aber, Ihnen den Hof zu machen.« »Ich hindere Sie nicht.« »Was wollen Sie mir gestatten?« »Alles, was sich mit meinem Geschmack verträgt – und mit meinen Launen.« »Ich will alles tun, was Sie von mir verlangen.« »Beweisen Sie es mir.« Jeanne sah den Kardinal herausfordernd an. »Ich will heute abend auf den Opernball!« »Ich wüßte nicht, was Sie abhalten sollte, auf den Opernball zu ge hen.« »Lassen Sie mich doch ausreden, Monseigneur.« Jeanne sagte be stimmt: »Ich wünsche, daß Sie mich begleiten.« »Ich in die Oper? Das ist unmöglich!« Der Kardinal besann sich. »Aber für Sie tue ich selbst das Unmögliche. Ich begleite Sie, doch als Domino maskiert.« 52
VIII
Als sich der Kardinal von Rohan und die Gräfin la Motte unter die Menge mischten, hatte der Ball seinen Höhepunkt erreicht. Sie ver schwanden unter den Tausenden Maskierten. Zwei Dominos, der eine schwarz und groß, der andere mittelgroß und weiß, hielten unter der Loge der Königin an. Dort war das Gedränge nicht so schlimm. Die beiden Masken unterhielten sich erregt. »… und ich sage dir, Oliva, daß du jemand erwartest«, brummte der schwarze Domino, »du drehst dich doch nach jeder Maske um.« »Was ist denn dabei? Wozu geht man sonst auf einen Maskenball?« Der schwarze Domino machte eine zornige Handbewegung, als sich ein hochgewachsener Mann im eleganten blauen Domino einmischte: »Sachte, sachte, mein Herr, warum soll sich Madame denn nicht amü sieren?« »Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen!« fuhr der schwarze Domino auf. »Etwas mehr Höflichkeit könnte Ihnen nicht schaden, Herr von Beausire.« Der schwarze Domino erschrak und zuckte unter der seidenen Kapu ze zusammen. »Sie brauchen nicht so zu erschrecken, Herr von Beau sire, ich bin nicht von der Polizei. Überlassen Sie mir jetzt den Arm von Madame, das ist nichts Außergewöhnliches auf einem Masken ball. Ganz abgesehen davon, werde ich Ihnen beweisen, daß Ihnen Ihre Anwesenheit hier nur schadet.« Der blaue Domino sah auf seine bril lantenbesetzte Uhr, die Beausire mit Kennerblick abschätzte, und fuhr fort: »In einer Viertelstunde wird in Ihrem Spielklub ein kleines Projekt besprochen. Bei diesem kleinen Projekt handelt es sich immerhin um zwei Millionen für die Partner, zu denen Sie meines Wissens gehören.« 53
Beausire wurde stutzig. »Zum Teufel, Sie könnten recht haben! Aber wahrscheinlich sind Sie doch ein Polizeispitzel und lassen mich dort verhaften!« »Sie sind ein Idiot, Beausire. Wenn ich von der Polizei wäre, ließe ich Sie auf der Stelle verhaften, um mit Madame allein zu sein.« »Das leuchtet mir ein. Jetzt erkenne ich Sie auch. Sie saßen vor zwei Stunden auf dem Sofa von Madame.« Beausire ließ Olivas Arm los und verbeugte sich vor dem blauen Domino. »Nehmen Sie ruhig den Arm von Madame.« Er wiederholte seine Verbeugung und machte sich da von. »Jetzt sind wir endlich allein, Mademoiselle Oliva«, sagte der blaue Domino. »Gehen wir. Sprechen Sie, soviel Sie wollen, nötigen Sie mich aber nicht, Ihnen zu antworten. Und bitte, verstellen Sie Ihre Stim me, halten Sie den Kopf aufrecht und kratzen Sie sich mit Ihrem Fä cher am Hals.« Oliva gehorchte und mischte sich an der Seite des blauen Dominos unter die Menge. Nach einigen Minuten fragte sie neugierig: »Wer ist dieser Mann dort in dem auffallend eleganten Kostüm?« Sie wies auf einen perlgrauen Domino. Eine Gruppe vornehm gekleideter Masken umringte ihn und hörte ihm aufmerksam zu. »Das ist der Graf von Artois«, war die leise Antwort. »Doch bitte, sprechen Sie jetzt nicht mehr.« Beeindruckt von dem großen Namen, trat Oliva etwas zur Seite, um die Gruppe unauffällig beobachten zu können. In diesem Augenblick flüchteten zwei schwarze Dominos vor einer ausgelassenen, übermütigen Gesellschaft in eine stille Ecke des Saales. »Lehnen Sie sich an diesen Pfeiler, Gräfin«, sagte leise eine Stimme, die Olivas Begleiter zu erkennen schien. Er flüsterte Oliva rasch zu: »Jetzt werden wir beide uns ein bißchen amüsieren. Der schwarze Domino ist einer meiner Freunde, der es un ter dem Vorwand einer Migräne ausgeschlagen hat, mit auf den Ball zu kommen.« »Und dem Sie auch gesagt haben, Sie gingen nicht?« fragte Oliva. »Ganz richtig.« 54
»Er ist in Gesellschaft einer Dame. Wer ist sie?« »Ich kenne sie nicht. Passen Sie auf, wir geben uns jetzt den Anschein, als wären Sie eine Deutsche. Aber sprechen Sie bitte nicht, denn an Ih rem Akzent erkennt man die Pariserin. Deuten Sie ganz einfach mit Ihrem Fächer auf den schwarzen Domino, so, als wollten Sie mich auf ihn aufmerksam machen.« Oliva war eine gelehrige Schülerin. Der schwarze Domino stand mit dem Rücken zum Saal und plauderte mit seiner Dame, deren scharfem Blick die Handbewegung Olivas nicht entging. »Die zwei Masken dort beschäftigen sich mit uns, Monseigneur.« »Verstellen Sie Ihre Stimme, Gräfin«, warnte noch schnell der schwar ze Domino, als sich Oliva und ihr Begleiter näherten. »Schöner Ball, Maske?« Der blaue Domino sprach den Kardinal an, dann flüsterte er Oliva etwas ins Ohr. Sie nickte zustimmend mit dem Kopf. »Was willst du von mir?« fragte der Kardinal mit verstellter Stim me. »Die Dame, die ich begleite, hat mich beauftragt, mehrere Fragen an dich zu richten, Maske«, gab der blaue Domino zurück und flü sterte wieder mit Oliva, die ihr Kopfnicken wiederholte. In tadellosem Deutsch fragte er dann den Kardinal: »Eminenz, sind Sie in die Frau verliebt, die Sie begleiten?« »Haben Sie Eminenz gesagt?« fragte der Kardinal erschrocken auf deutsch. »Sie täuschen sich, ich bin nicht der, für den Sie mich hal ten.« »Es wäre zwecklos, zu leugnen, Herr Kardinal. Auch wenn ich Sie nicht erkannt hätte, meine Begleiterin hat sie erkannt. Und sie befahl mir, Ihnen das zu sagen.« Er flüsterte Oliva ins Ohr: »Nicken Sie mit dem Kopf, sooft ich Ihren Arm drücke.« Oliva nickte gehorsam. »Wer ist Ihre Begleiterin?« fragte der Kardinal beängstigt. »Ich glaubte, Sie hätten es schon erraten, Herr Kardinal. Meine Be gleiterin hat Sie gleich erkannt. Wenn Frauen eifersüchtig sind …« »Madame ist eifersüchtig!« 55
»Das habe ich nicht gesagt«, war die hochmütige Antwort. Die Gräfin la Motte, die kein Wort Deutsch verstand, wurde nervös und stampfte mit dem Fuß. Niemand beachtete sie. Der Kardinal wandte sich Oliva zu und sagte eindringlich: »Ich bit te Sie, Madame, nur ein einziges Wort zu sprechen. An einem einzigen Wort werde ich Sie erkennen.« Oliva, die kein Wort verstand und nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte, zog den blauen Domino beiseite. Er gab sich den Anschein, als würde er einen neuen Befehl erhalten. »Herr Kardinal«, sagte er, nach dem Oliva mit ihm gesprochen hatte, »ich wiederhole Ihnen die Worte meiner Begleiterin: Ein Mann, dessen Gedanken nicht immer bei der Geliebten sind und dessen Phantasie ihm nicht ständig ihre Gegen wart vorzaubert, ein solcher Mann liebt nicht wirklich. Er hätte un recht, es zu sagen.« Der Kardinal war vollkommen verwirrt. Er stammelte in französi scher Sprache vor sich hin: »Nein, es ist unmöglich!« »Was ist unmöglich?« fragte Jeanne, begierig sich wieder in die Kon versation einschaltend. »Nichts ist unmöglich, Madame, nichts«, erwiderte der Kardinal, obwohl er von der Anwesenheit der Gräfin keine Notiz mehr nahm. »Madame«, sagte er zu Oliva, die sich fast unbeweglich hielt, »die deut schen Verse, die Ihr Begleiter zitiert hat, habe ich in einem Haus gele sen, das Ihnen vielleicht bekannt ist. Dieses Haus«, er zögerte erst und sagte dann mit fester Stimme, »heißt Schönbrunn.« »Ja«, nickte Oliva. Der Kardinal fuhr fort: »Und diese Verse waren in einem Tisch aus Kirschholz eingraviert?« »Ja«, nickte Oliva abermals. Der Kardinal war so erregt, daß er sich kaum beherrschen konn te. Er schloß die Augen und lehnte sich erschöpft an die Marmorwand. Die Gräfin la Motte beobachtete diese Szene mit gespannter Aufmerksamkeit. Nach einer kleinen Weile öffnete der Kardinal die Augen und sagte: »Die Fortsetzung lautet: ›Er deklamierte selbstver gessen: Der aber, der die Geliebte überall sieht, der sie in einer Blume, 56
in einem Duft, hinter undurchdringlichen Schleiern errät, der kann schweigen …‹« »Man spricht deutsch hier«, fiel eine heitere Stimme ein. »Hören wir uns das ein wenig an …« »Der Graf von Artois«, flüsterte Oliva. Sie klammerte sich ängst lich an ihren Begleiter. Die ankommenden Masken hatten sie ziem lich dreist umdrängt. »Nehmen Sie sich in acht, meine Herren!« sagte der blaue Domino. Sein Ton war gebieterisch. »Sie sehen doch, daß wir selbst gestoßen werden«, erwiderte der Graf von Artois. »Entschuldi gen Sie uns, meine Damen.« »Lassen Sie uns gehen, Herr Kardinal«, warnte leise die Gräfin la Motte. In diesem Augenblick wurde die Kappe Olivas nach rückwärts gezogen. Ihre Maske löste sich, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht zu sehen. Der blaue Domino schrie auf, Verwirrung und Angst heuchelnd. Auch Oliva schrie vor Schreck. Die Umstehenden waren verblüfft. Ausrufe des Staunens wurden laut. Der Kardinal war einer Ohnmacht nahe. Eine Welle ausgelassener Masken trennte die Gruppe. Der blaue Do mino befestigte rasch und geschickt Kapuze und Maske Olivas. Er drückte dem Kardinal die Hand. »Vergessen Sie das Vorgefallene, die Ehre dieser Dame steht auf dem Spiel.« »Mein Herr …« Dem Kardinal versagte die Stimme. Mehr konnte er nicht sagen. »Gehen wir.« Der blaue Domino verschwand mit Oliva in der Menge. Jeanne beobachtete den Kardinal. Sie dachte: »Er glaubt, diese Frau ist die Königin. Das ist ja sehr interessant.« »Wollen wir den Ball verlassen, Gräfin?« fragte er mit schwacher Stimme. »Wie Sie wünschen, Monseigneur«, antwortete Jeanne gelassen. Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch den Trubel zu ihrem Wa gen. Die Pferde zogen an. Sie fuhren schweigend. Jeanne konnte sich nicht mehr beherrschen: »Wohin fahren wir?« fragte sie. »Seien Sie unbesorgt, Gräfin«, der Kardinal küßte ihr galant die Hand, »der Wagen fährt Sie zu Ihrem Haus zurück.« 57
Als sie in der Sackgasse des vornehmen Viertels vor dem schlichten Portal angekommen waren, sprang Jeanne aus dem Wagen. Der Kar dinal wollte ihr folgen. »Bemühen Sie sich nicht, Monseigneur, es ist nicht nötig.« »Sie wollen mir nicht erlauben, daß ich Ihnen noch einige Stunden Gesellschaft leiste?« »Sie müssen doch schlafen, Monseigneur.« »Soviel ich weiß, haben Sie mehrere Schlafzimmer in Ihrem Haus.« »Für mich.« »Für mich nicht?« »Noch nicht«, antwortete Jeanne. Sie lächelte den Kardinal heraus fordernd an. »Gott befohlen also«, sagte er gereizt. »Es ist mir eigentlich auch lie ber so«, murmelte er, während sich der Wagen in Bewegung setzte.
IX
Beausire hatte sich inzwischen eilig in seinen Spielklub begeben. Im großen Saal mit den vielen Spieltischen tranken etwa zwanzig Spieler Bier und spielten mit niedrigen Einsätzen. Die Ankunft Beausires im schwarzen Domino erregte ein gewisses Aufsehen. »Herr von Beausire ist uns ja heute untreu geworden«, sag te der Bankier, der gerade ein Dutzend Louisdor kassierte. »Auf dem Opernball ist er gewesen und hat sicher bessere Geschäfte gemacht.« »Ich stehe zu meinem Wort«, erwiderte Beausire, »im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten!« Ein Blick des Bankiers belehrte ihn, solche Andeutungen für sich zu behalten. Aber Beausire hielt den Mund nicht. »Ich glaubte, Freunde hier zu haben, ich habe mich getäuscht!« 58
»Was willst du denn damit sagen?« flüsterte ihm einer der Spieler ins Ohr. Der Bankier versuchte abzulenken: »Spielen Sie doch, Beausire.« »Ich spiele nur um Millionen! Und ich kann nicht begreifen, daß man gerade hier um Louisdore spielt. Meine Herren, es handelt sich um Millionen!« Ehe er weitersprechen konnte, erhielt er einen heftigen Stoß. Don Manoel, ein Portugiese, stand wie aus dem Boden gewachsen neben ihm. Beausire kannte den Portugiesen als einen der Partner. Er impo nierte ihm. Beausire schwieg, setzte sich und wartete. Um drei Uhr morgens brachten die Diener den Klubmitgliedern die Mäntel. Auch Beausire hüllte sich in seinen Domino. Aber er ging nur bis zum ersten Stock und kehrte dann in den Saal zurück, wo er die an deren Partner traf. »Machen Sie Licht und sprechen Sie nicht so laut«, begann der Por tugiese in gutem Französisch, »ich habe Ihnen einiges mitzuteilen. Glücklicherweise bin ich noch zur rechten Zeit gekommen, denn Herrn von Beausire saß die Zunge ziemlich locker. Er kennt meinen Plan. Doch als intelligenter Mann muß man auch den Mund halten können. Herr Beausire wollte beweisen, daß er das Geschäft ausge kundschaftet hat.« »Ein Geschäft mit zwei Millionen!« bestätigte Beausire mit Nach druck. »Sie übertreiben«, fiel der Portugiese hastig ein, »das Halsband ist nicht mehr als fünfzehnmal hunderttausend Livre wert. Doch wir ha ben keine Zeit zu langen Erklärungen, der Gesandte kommt spätestens in acht Tagen.« Aufgeregte und neugierige Fragen der Partner wurden laut: »Ein Halsband, fünfzehnmal hunderttausend Livre, ein Gesandter? Was soll das alles?« »Ich will es erklären«, sagte der Portugiese. »Die Juweliere Böhmer und Bossange haben der Königin ein Diamantenhalsband im Werte von fünfzehnmal hunderttausend Livre anbieten lassen. Die Königin hat es ausgeschlagen, und nun wissen die Juweliere nicht, was sie da 59
mit machen sollen. Sie sind in großer Verlegenheit, denn das Halsband kann nur von einem König gekauft werden. Nun, ich habe die könig liche Person gefunden, die dieses Halsband kaufen wird.« Er warf sich in die Brust: »Es ist meine allergnädigste Gebieterin, die Königin von Portugal.« »Wir begreifen überhaupt nichts mehr.« Die Partner sahen einander ratlos an. Der Bankier meinte: »Sicher ist nur, daß ein Halsband von fünfzehnmal hunderttausend Livre existiert.« Beausire ergänzte: »Und dieses Halsband befindet sich im Tresor der Herren Böhmer und Bossange.« »Aber woher wissen Sie, daß die Königin von Portugal das Halsband kaufen will?« Don Manoel machte eine überlegene Handbewegung. »Sie brauchen nur genau zuzuhören. Der Posten des Gesandten von Portugal ist im Augenblick unbesetzt, und der neue Gesandte, ein Herr von Suza, soll frühestens in acht Tagen ankommen. Aber wer hindert diesen Ge sandten, schon früher anzukommen? Es drängt ihn eben, Paris ken nenzulernen.« Die Partner schüttelten verständnislos die Köpfe. Beausire war im Bild. Er rief lebhaft: »Begreifen Sie doch, meine Her ren, es muß ja nicht der echte Gesandte sein!« »So ist es«, bestätigte der Portugiese, »und der Gesandte, der acht Tage zu früh eintreffen wird, ist berechtigt, für Ihre Majestät die Kö nigin von Portugal das Halsband zu kaufen. Und aus diesem Grun de verhandelt er mit den Juwelieren Böhmer und Bossange. Das ist al les.« »Nur muß man bezahlen, wenn man verhandelt hat«, warf der Ban kier ein. »Ohne Garantien würden die Herren Böhmer und Bossange auch ei nem echten Gesandten das Halsband nicht übergeben.« Don Manoel fuhr eifrig fort: »Ich habe nun einen Plan. Das Gesandtschaftsgebäude steht momentan leer, aber es existiert dort noch ein Kanzler, ein bra ver Franzose mit den denkbar schlechtesten portugiesischen Sprach kenntnissen. Der wird entzückt sein, wenn Portugiesen mit ihm fran 60
zösisch sprechen. Vor diesem Mann treten wir als die neue Gesandt schaft auf.« »Das ist nicht schlecht«, bestätigte Beausire. »Doch wie ist es mit den notwendigen Papieren?« »Wir werden die Papiere haben«, gab Don Manoel trocken zurück. »Dann wollen wir die Rollen gleich verteilen«, schlug Beausire vor. »Ich sehe Don Manoel als Gesandten.« »Einverstanden!« riefen die Partner im Chor. »Und ich sehe Herrn von Beausire als meinen Sekretär«, erklärte Don Manoel. »Wieso ich?« Beausire wurde ängstlich. »Als portugiesischer Gesandter darf ich ja kein Wort Französisch sprechen. Sie dagegen, Herr von Beausire, sprechen gut genug Portu giesisch, um nicht für einen Pariser gehalten zu werden.« »Wie wird man den Gewinn aufteilen?« wollte der Bankier wissen. Don Manoel hob beide Hände. »Wir sind zwölf. In zwölf Teile also. Aber für mich, der den Plan geboren, und für Herrn Beausire, der das Geschäft gewittert hat, anderthalb Teile. Und Sie«, er deutete auf den Bankier, »Sie werden die Rolle des Kammerdieners übernehmen, eine ziemlich delikate Aufgabe. Auch Sie bekommen anderthalb Teile.«
Am nächsten Abend fuhr ein Reisewagen, der so verstaubt und be spritzt war, daß das Wappen unkenntlich war, in den Hof des portu giesischen Gesandtschaftsgebäudes ein. Ein feierlich gekleideter Mann näherte sich untertänig dem Wagenschlag und stellte sich als Kanzler der portugiesischen Gesandtschaft vor. »Wie schlecht sprechen Sie unsere Sprache. Sagen Sie, wo steigt man aus?« fragte eine Stimme in tadellosem Portugiesisch aus dem Innern des Wagens. »Hier, gnädigster Herr, hier.« »Ein trauriger Empfang«, rief Don Manoel. »Ich bitte um Verzeihung, Exzellenz«, dienerte der Kanzler in 61
schlechtem Portugiesisch, »aber der Kurier meldete Ihre Ankunft erst heute mittag. Es ist mir eine große Freude, den neuen Gesandten be grüßen zu dürfen.« »Machen Sie meine Ankunft noch nicht bekannt, und erwarten Sie neue Befehle aus Lissabon. Ich falle um vor Müdigkeit. Das ist mein Sekretär, besprechen Sie mit ihm alles Weitere.« Don Manoel betrat die Gesandtschaft, gefolgt von seinem ›Kammerdiener‹. »Mit mir können Sie ruhig französisch sprechen«, forderte Beausire den Kanzler auf. »Das wird für Sie bequemer sein.« »Sie sind sehr liebenswürdig.« Der Kanzler sprach hastig weiter. »Aber wird es Seine Exzellenz nicht übelnehmen?« »Bestimmt nicht, wenn Sie gut Französisch sprechen.« »Ich sollte kein gutes Französisch sprechen! Ich, ein geborener Pariser!« »Sie sind Pariser, Herr Ducorneau?« fragte Beausire. »Sie wissen meinen Namen. Das ist sehr schmeichelhaft.« Herr Du corneau wußte vor Freude nicht aus und ein. »Wir kennen Sie und Ihren guten Ruf«, log Beausire gönnerhaft. »Das hat uns abgehalten, einen neuen Kanzler aus Lissabon mitzubringen. Aber ich glaube, der Herr Gesandte läutet. Beeilen wir uns!« »Wie ist es mit dem Diner?« fragte Don Manoel ungeduldig, als Beausire und der Kanzler sein Zimmer betraten. Ducorneau verbeugte sich. »Ich werde dafür Sorge tragen, Exzellenz, daß man Ihnen hier ein gutes Diner serviert. Und wenn Sie es erlau ben, möchte ich Ihnen einen Landwein anbieten, wie Sie ihn selbst in Portugal nicht finden.« »Bringen Sie uns Ihren Wein und essen Sie mit uns.« »Eine solche Ehre …« Entzückt zog sich Ducorneau zurück. »Schläft dieser Kanzler in der Gesandtschaft?« Don Manoel wand te sich Beausire zu. »Nein. Der Bursche hat eine hübsche Frau und schläft bei ihr. Den Portier müßte man entfernen. Die anderen Bedienten sind gemietet und werden morgen durch unsere Partner ersetzt.« »Was ist mit der Kasse der Gesandtschaft?« wollte Don Manoel wis sen. »Wir müßten den Kanzler fragen.« 62
»Ich werde das übernehmen«, erbot sich Beausire. »Wir sind schon die besten Freunde.« »Still, er kommt!«
Am Morgen des nächsten Tages herrschte in der Gesandtschaft be reits reges Treiben. Bediente trugen Schreibtische hin und her, Gala kleider wurden geliefert, Schreibmappen verlegt und wiedergefunden. Die Nachbarn wurden aufmerksam, und rasch verbreitete sich das Ge rücht, daß eine mit wichtigen Geschäften beauftragte hohe Persön lichkeit aus Portugal angekommen sei. Dieses Gerücht war für Beau sire eine Quelle ständiger Angst, denn er wußte, wie tüchtig der Chef der Polizei, Herr von Crosne, war. Doch Don Manoel erklärte ihm, daß man mit Frechheit auch die Polizei eine Zeitlang täuschen könne. »Wir haben wenigstens zehn Tage«, sagte er. Um die Mittagszeit ließ Don Manoel die prächtige Gesandtschafts kutsche anspannen und fuhr in Begleitung seines Sekretärs und sei nes Kammerdieners bei den Juwelieren Böhmer und Bossange vor. Der Kammerdiener klopfte fest an die Türe des Ladens, die durch massi ve Schlösser abgesichert war. Eine Stimme fragte durch ein Guckloch nach ihren Wünschen. »Seine Exzellenz, der Herr Gesandte von Portugal, will die Herren Böhmer und Bossange sprechen.« Kaum eine Minute später wurde die Tür geöffnet. Don Manoel stieg mit vornehmer Langsamkeit aus dem Wagen. Beausire bot ihm den Arm, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Herr Böhmer eilte dienstbe flissen herbei und überschlug sich fast vor Komplimenten. »Seine Exzellenz spricht nicht Französisch und kann Sie nicht ver stehen, mein Herr«, unterbrach Beausire den Redeschwall des Juwe liers. »Ich bin gerne bereit, alles zu übersetzen, sofern Sie nicht selbst Portugiesisch sprechen.« »Nein, mein Herr, ich bedaure«, erwiderte Böhmer und bat die Her ren einzutreten. Beausire übernahm das Wort. »Seine Exzellenz der 63
Herr Graf von Suza, Gesandter von Portugal, interessiert sich für das in Ihrem Besitz befindliche Diamantenhalsband.« Böhmer heftete seinen Blick auf Beausire. »Ein Halsband von Dia manten«, sagte er langsam, »ein sehr schönes Halsband.« »Sie hatten es der Königin von Frankreich angeboten«, fuhr Beausi re fort, »und Ihre Majestät die Königin von Portugal hat davon gehört. Ich bin der Privatsekretär des Herrn Gesandten.« »Verzeihen Sie, mein Herr, ich kann Ihnen das Halsband nur in An wesenheit meines Teilhabers zeigen.« In diesem Augenblick betrat Herr Bossange, der Kompagnon, den Verkaufsraum. Böhmer erklärte ihm den Zweck des Besuches mit ein paar Worten. Nach einem prüfenden Blick auf die zwei Portugiesen verschwand Bossange und kam nach zehn Minuten mit einem Etui zurück. »Wir machen einen so guten Eindruck, daß er sich eine Pistole ein gesteckt hat«, flüsterte Don Manoel Beausire auf portugiesisch zu. »Ich erkenne die Konturen deutlich unter seinem Rock.« Er beobachtete die Juweliere scharf. Doch sie schienen keinerlei Mißtrauen zu zeigen und übergaben ihm das Etui. Beausire, der Don Manoel über die Schulter schaute, sah ein Halsband von unwahrscheinlicher Schönheit. Doch Don Manoel rief zornig: »Das ist eine Unverschämtheit! Diese Burschen wagen es, mir Straß zu zeigen, während ich Diamanten von Ihnen verlange! Sagen Sie diesen Burschen, ich werde mich beim fran zösischen Ministerium beschweren und sie im Namen meiner Königin in die Bastille werfen lassen!« Beausire brauchte nicht zu übersetzen. Die aufgeregten Gesten Don Manoels genügten den Juwelieren. Sie überstürzten sich in Entschuldi gungen, aber Don Manoel ging unter den Blicken der erschrockenen Kaufleute auf die Türe zu. Beausire erklärte: »Seine Exzellenz beauftragt mich, Ihnen zu sagen, er sei empört, daß Leute mit dem Titel Juweliere der Krone von Frank reich einen Gesandten nicht von einem Betrüger unterscheiden könn ten.« Die Kaufleute verneigten sich ängstlich und eingeschüchtert bis auf 64
den Boden. Don Manoel trat ihnen beinahe auf die Füße, als er den La den verließ. Böhmer hörte, wie der Kammerdiener dem Kutscher zu rief: »Zum Gesandtschaftsgebäude!« »Ein sicheres Geschäft«, flüsterte Beausire, als die Pferde anzogen. »Die Dummköpfe werden in einer Stunde bei uns sein.«
Gleich nach ihrer Rückkehr in die Gesandtschaft fragte Beausire Herrn Ducorneau über dieses und jenes aus, bis er unauffällig auf die Gesandtschaftskasse zu sprechen kam. »Wo ist die Kasse eigentlich?« fragte er so ganz nebenbei. »Aus Sicherheitsgründen oben in der Wohnung des Gesandten. Es ist für Diebe schwieriger, in den ersten Stock einzudringen als ins Erd geschoß.« »Diebe«, murmelte Beausire geringschätzig, »wegen einer so kleinen Summe.« »Hunderttausend Livre!« rief Ducorneau. »Nicht in allen Gesandt schaftskassen sind hunderttausend Livre!« Beausire ging über die Bemerkung hinweg. Er fragte: »Wollen wir der Form halber die Überprüfung und Beurkundung vornehmen, ich habe gerade etwas Zeit. Wir können nachher Seiner Exzellenz Bericht erstatten.« Der Gesandte schien von einem mit Ziffern und Zahlen bedeckten Papier sehr in Anspruch genommen zu sein, als er durch den Eintritt Beausires und des Kanzlers gestört wurde. »Was gibt es denn?« frag te er unwillig. »Ich wollte nur melden, daß die Kasse in bester Ordnung ist wie al les, was zum Ressort des Herrn Ducorneau gehört«, erklärte Beausire. Don Manoel lächelte dem Kanzler gnädig zu und forderte ihn dann zum Sitzen auf. »Kennen Sie die ehrlichsten Juweliere von Paris?« frag te er. »Das sind die Herren Böhmer und Bossange, Juweliere der Krone«, war die prompte Antwort. 65
Don Manoel machte eine abweisende Handbewegung. »Gerade die kommen nicht in Frage. Sie haben sich schlecht benommen und wer den daher das Geschäft nicht machen.« Er erklärte: »Ihre Majestät, die Königin von Portugal hatte mich beauftragt, ein Diamantenhalsband zu kaufen, aber …« »Vielleicht kann ich vermitteln, Exzellenz«, wagte Ducorneau zu un terbrechen. »Bossange ist ein Verwandter von mir.« Don Manoel und Beausire tauschten einen raschen Blick, als der Kammerdiener die Herren Böhmer und Bossange meldete. »Schicken Sie diese Leute weg«, rief Don Manoel ärgerlich. Ducorneau bat: »Lassen Sie mich das übernehmen.« Bossange war entzückt, seinen entfernten Verwandten zu sehen. »Sie können vermitteln«, sagte er. »Wir wollen den Gesandten sprechen.« »Das geht nicht. Im Gegenteil, der Gesandte forderte Sie durch mich auf, das Haus zu verlassen, meine Herren.« Die Juweliere sahen sich bestürzt an. »Mir scheint, Sie sind sehr ungeschickt gewesen«, mein te Ducorneau wichtigtuerisch. »Wenn man Herr von Suza heißt und neunmal hunderttausend Livre Einkünfte hat, kann man tun, was man will.« Bossange bat Ducorneau: »Bringen Sie das wieder in Ordnung, und Sie bekommen …« »Hier ist man unbestechlich«, erwiderte Ducorneau und verabschie dete sich von den Juwelieren. Einige Stunden später erhielt der Gesandte einen Brief, in welchem sich die Herren Böhmer und Bossange an Entschuldigungen überbo ten und Seine Exzellenz wissen ließen, daß sie vor der Türe der Ge sandtschaft auf ein Zeichen warteten, um ihm das Halsband zu über reichen. »Das Halsband gehört schon uns«, erklärte Don Manoel, nachdem er den Brief gelesen hatte. Herr Böhmer wurde vorgelassen, und der Gesandte ließ sich herbei, das Halsband zu untersuchen. Der Juwelier erklärte: »Was Sie hier se hen, Exzellenz, ist die schönste Verarbeitung von Diamanten, die es in Europa gibt.« 66
Auf ein Zeichen Don Manoels begann Beausire: »Hören Sie, wie sich die Sache verhält, Ihre Majestät die Königin von Portugal interessiert sich für dieses Halsband und hat seine Exzellenz beauftragt, über den Kauf zu verhandeln. Die Diamanten sagen dem Gesandten zu. Was verlangen Sie?« »Sechszehnmal hunderttausend Livre!« »Hunderttausend Livre zu teuer!« Böhmer zögerte einen Augenblick, dann erklärte er sich einverstan den, sofern sein Kompagnon nichts dagegen habe. »Der Preis ist also fünfzehnmal hunderttausend Livre«, stellte Beau sire fest, ohne den Einwand Böhmers zur Kenntnis zu nehmen. »Wie sollen Sie bezahlt werden?« »Wenn möglich in barem Geld.« Böhmer seufzte: »Aber ich weiß, daß niemand anderthalb Millionen Livre bar im Hause hat.« »Auch Sie nicht«, versetzte Beausire schlagfertig und erklärte dem Juwelier nach einer Rückfrage bei Don Manoel: »Hunderttausend Li vre bei Abschluß des Kaufes, den Rest in drei Raten und außerdem auf Kosten der Gesandtschaft eine Reise nach Lissabon. In drei Monaten anderthalb Millionen Livre einzukassieren, das lohnt sich doch, oder nicht?« Böhmer zögerte mit der Antwort. »Was gibt es noch?« fragte Beausire ungeduldig. »Mein Herr, das Halsband ist der Königin von Frankreich angebo ten worden. Ihre Majestät hat es abgelehnt. Es schickt sich, die Köni gin davon zu benachrichtigen, daß das Halsband ins Ausland verkauft wird.« »Das schickt sich«, bestätigte Don Manoel mit Würde. »Ich wollte, alle portugiesischen Kaufleute hätten den gleichen Anstand wie Herr Böhmer.« Böhmer strahlte. Don Manoel entließ den Juwelier gnädig. Kaum waren die beiden Partner allein, als Don Manoel Beausire hef tig anfuhr: »Vielleicht erklären Sie mir, was Sie sich dabei gedacht ha ben, daß die Diamanten nicht hier geliefert werden sollen? Eine Reise nach Portugal, sind Sie verrückt?« 67
Beausire verteidigte sich: »Herr Böhmer hätte nie aufgehört, die Ge sandtschaft und den Gesandten zu überwachen. Aber mit Geld und seinem Schmuck in der Hand wird er keinen Verdacht haben und nach Portugal abreisen. Fünfzig Meilen hinter Paris wird er von Räubern überfallen, seiner Diamanten beraubt und verprügelt werden. Und al les ist in bester Ordnung.«
X
In Versailles sprach niemand mehr vom Diamantenhalsband. Der Kö nig widmete sich seiner Arbeit wie gewöhnlich. Er saß in seinem Ka binett zwischen kleinen und großen Weltkarten und blickte mit Un behagen auf einen Berg von Dokumenten, die er unterschreiben sollte. Ein leichtes Klopfen an der Türe riß ihn aus seinen Träumereien. Eine Stimme fragte: »Kann ich Sie sprechen, mein Bruder?« Ein dicker, rot backiger Mann mit lebhaften Augen trat ein. »Störe ich?« »Nicht sehr«, erwiderte Ludwig dem Grafen von Provence. »Haben Sie mir etwas Interessantes zu erzählen?« »Ein komisches Gerücht.« »Eine Bosheit gegen mich?« »Das würde ich nicht komisch finden.« Der Graf von Provence zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Ein Pamphlet gegen die Königin.« »Geben Sie her.« Der König warf einen raschen Blick über das Papier und hörte seinem Bruder unwillig zu. »Sire, man behauptet, meine Schwägerin sei bei Mesmer gewesen.« »Und zwar mit meiner Genehmigung«, sagte der König, während er zu lesen begann. »Majestät haben der Königin aber sicher nicht erlaubt …« Der König schlug mit der Faust auf den Tisch. Er hatte gerade den 68
Bericht über Marie-Antoinettes ekstatische Hingabe gelesen. »Un möglich«, sagte er blaß vor Wut. »Die Polizei muß wissen, was sie hier bei zu tun hat!« Er schlug auf die Glocke und befahl dem eintretenden Kammerherrn: »Herrn von Crosne.« »Erlauben Sie, daß ich mich entferne«, sagte der Graf von Proven ce heuchlerisch. Ludwig XVI. hielt ihn zurück: »Bleiben Sie, Sie gehö ren zur Familie und dürfen es ruhig wissen, falls diese Anschuldigun gen zutreffen sollten. Wenn sie aber nicht zutreffen, müssen Sie es auch wissen, denn gerade Sie verdächtigen die Königin.« Herr von Crosne wurde gemeldet. »Mein Herr«, fuhr ihn der König an, »wie konnte ein so schändliches Pamphlet gegen die Königin veröffentlicht werden. Was sagt die Polizei dazu?« »Das hat ein Zeitungsschreiber namens Reteau geschrieben und her ausgegeben, Sire.« »Sie wissen also seinen Namen und haben ihn doch nicht in die Ba stille werfen lassen?« »Sire, ich wollte erst mit Ihnen Rücksprache nehmen, denn bei aller Achtung für Ihre Majestät die Königin muß ich leider sagen, daß die Angaben auf Wahrheit beruhen.« »Sie können das beweisen?« »Ja, Sire. Eine Königin von Frankreich, die in der Kleidung einer ge wöhnlichen Frau diese zweideutige Gesellschaft aufsucht, und die al lein geht …« »Allein!« unterbrach ihn der König heftig. »Sie täuschen sich, Herr von Crosne. Sie haben schlechte Berichte.« »Ich habe so genaue Berichte, Sire, daß ich die Einzelheiten der Toi lette Ihrer Majestät, ihre Schritte, ihre Bewegungen und ihre Schreie schildern kann.« »Ihre Schreie?« Der König zerknüllte erregt das Pamphlet. »Sogar ihre Seufzer sind von meinen Agenten aufgezeichnet wor den.« »Ihre Seufzer? Die Königin hätte sich derart vergessen!« »Das ist unmöglich«, warf der Graf von Provence ein, »das wäre mehr als skandalös, und Ihre Majestät ist unfähig …« 69
Dem König entging der heuchlerische Unterton nicht, und er spür te aus den Worten seines Bruders eine neue Anklage. Er war empört. »Die Königin ist mit meiner Zustimmung zu Mesmer gegangen. Ich hatte sie gebeten, sich von einer Dame begleiten zu lassen, deren tadel loser, frommer Lebenswandel bekannt ist.« »Ja, wenn es so gewesen wäre … wenn zum Beispiel eine Dame wie die Prinzessin von Lamballe …« »Ganz richtig, mein Bruder, es war die Prinzessin von Lamballe, die ich der Königin als Begleiterin empfohlen hatte.« Ludwig XVI. läutete nochmals. Ein Offizier vom Dienst erschien. »Bitten Sie die Prinzessin von Lamballe herzukommen.« Einige Minuten später verneigte sich die Prinzessin von Lamballe anmutig und bescheiden vor dem König. Auch er verbeugte sich. »Setzen Sie sich, meine liebe Cousine, ich habe einige Fragen an Sie. An welchem Tag sind Sie in der Gesellschaft der Königin nach Paris gefahren?« »Am Mittwoch, Sire«, erwiderte die Prinzessin. »Ich ging zu Herrn Mesmer, Sire.« »Allein?«, fragte der König. »Nein, Sire, mit Ihrer Majestät der Königin.« Der König atmete auf. Herr von Crosne bat den König um seine Zustimmung, einige Fra gen an die Prinzessin stellen zu dürfen. »Madame, haben Sie die Güte«, begann er, »dem König zu beschreiben, wie Ihre Majestät die Königin gekleidet war, als sie diesen Doktor Mesmer besuchte.« »Ihre Majestät trug über einem perlgrauen Taftkleid einen gestick ten Musselinmantel, einen Hermelinmuff und einen rosafarbenen Hut mit schwarzen Bändern.« Herr von Crosne war sehr erstaunt, denn diese Beschreibung widersprach in jeder Einzelheit der Kleidung, über die er Bericht erhalten hatte. Der Graf von Provence biß sich ärgerlich auf die Lippen. Der König rieb sich die Hände: »Was hat die Königin bei ihrem Eintritt bei Mesmer getan?« fragte er. »Sire, Sie haben recht zu sagen, bei ihrem Eintritt«, erwiderte die Prin zessin, »denn kaum waren wir in den ersten Saal eingetreten, als eine Frau die Königin ansprach und sie anflehte, nicht weiterzugehen.« 70
»Und Sie gingen nicht weiter?« fragte Herr von Crosne. »Nein, mein Herr.« »Und Sie haben die Königin nicht einen Augenblick verlassen?« frag te der König, um das letzte Mißtrauen zu beseitigen. »Nicht eine Sekunde, Sire.« »Prinzessin, sagen Sie uns noch, wer diese Frau war, die Sie erwähn ten. Ich muß diese Frau sprechen.« »Ihre Majestät scheint sie zu kennen, Sire. Es war Frau von la Mot te-Valois.« »Diese Intrigantin!« rief der König ungehalten. »Ich will lieber auf jede Genugtuung verzichten, als dieser Kreatur ins Gesicht sehen.« »Und doch werden Sie diese Frau sehen!« Blaß vor Erregung betrat die Königin das Zimmer. »Sire, diese Frau ist eine Zeugin.« Marie-Antoinette sah dem Grafen von Provence, der verlegen und krampfhaft lächelte, voll ins Gesicht: »Mein Ankläger will doch sicher die Wahrheit hören.« »Madame«, warf der König hastig ein, »man kann doch diese Frau von la Motte nicht holen lassen und ihr die Ehre erweisen, für oder ge gen Sie auszusagen.« »Es ist nicht notwendig, Frau von la Motte holen zu lassen. Sie ist hier.« »Hier?« fragte der König und drehte sich um, als wäre er auf eine Schlange getreten. »Sie wissen, Sire, daß ich diese arme Frau mit dem großen Namen aufgesucht habe, und zwar an jenem Tag, an dem so viele Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden.« Marie-Antoinette sah abermals den Grafen von Provence an, der am liebten in den Boden versunken wäre. »An diesem Tag also«, fuhr sie fort, »vergaß ich bei der Gräfin la Motte eine goldene Dose, die sie mir heute zurückgebracht hat.« »Nein, nein …« Der König streckte die Hände abwehrend von sich. »Ich will Sie nicht sehen! Ich bin überzeugt!« »Aber ich bin nicht zufrieden«, erklärte die Königin. »Warum lehnen Sie die Gräfin eigentlich so eigensinnig ab, Sire? Was hat sie denn ver 71
brochen?« Als der König schwieg, wandte sich Marie-Antoinette dem Polizeimeister zu: »Herr von Crosne, Sie wissen doch alles, klären Sie mich auf.« »Ich kann nichts Nachteiliges über Frau von la Motte aussagen«, er klärte Crosne. »Sie ist arm, vielleicht ein wenig zu ehrgeizig.« »Das ist die Stimme des Blutes«, rief die Königin. »Wenn Sie sonst nichts gegen sie einzuwenden haben, so kann der König die Gräfin ohne Bedenken als Zeugin zulassen.« »Ich kann nicht erklären, warum«, gestand Ludwig XVI. »aber ich habe das beängstigende Gefühl, diese Frau bringt Unheil, und das ge nügt mir.« »Sind Sie doch nicht so abergläubisch, Sire.« Die Königin gab den Be fehl, die Gräfin la Motte zu holen. Der König drehte der Tür den Rücken, als Jeanne bescheiden eintrat. Der Graf von Provence dagegen fixierte sie aufdringlich. Sie war aber nicht aus der Fassung zu bringen. Die Königin kam ihr entgegen. »Ma dame, erzählen Sie bitte Punkt für Punkt, was Sie am Tage meines Be suches bei Herrn Mesmer getan haben.« Welche Rolle für Jeanne la Motte! Sie hatte schon erraten, worum es ging und daß die Königin sie brauchte. Ohne sich allzusehr von der Wahrheit zu entfernen, konnte sie Marie-Antoinette entlasten. »Sire«, begann Jeanne, dem Rücken des Königs zugewendet, »wie ganz Paris so ging auch ich aus Neugier zu Herrn Mesmer. Plötzlich sah ich die Königin den Saal betreten und beschwor sie umzukeh ren. Ich bitte Eure Majestät in Demut um Verzeihung, wenn ich die Grenzen der Ehrfurcht überschritten haben sollte, aber die Anwe senheit Ihrer Majestät der Königin schien mir nicht passend an die sem Ort, an dem die Leiden der Menschen zu einem Schauspiel be nützt werden.« Die Königin dankte Jeanne, die scheinbar tief bewegt innehielt, mit einem Blick. Sie berührte den Arm des Königs. »Nun, Sire, Sie haben gehört.« Der König drehte sich nicht um. »Es bedurfte der Aussage dieser Frau nicht«, sagte er. 72
»Ich sollte sprechen und mußte gehorchen«, warf Jeanne schüchtern ein. »Genug!« sagte der König grob. »Eine Königin spricht die Wahr heit und braucht keine Zeugen!« Er wandte seinem Bruder brüsk den Rücken und küßte Marie-Antoinette und der Prinzessin von Lam balle die Hand. Die Gräfin la Motte schien er nicht zu sehen. Doch um die Königin nicht zu kränken, zwang er sich zu einem flüchti gen Kopfnicken, als er, gefolgt von Herrn von Crosne, den Raum ver ließ. Jetzt erst wurde sich Marie-Antoinette bewußt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. Sie hielt Jeanne mit einem liebenswürdigen Lä cheln zurück. »Es ist ein wahres Glück, Gräfin, daß Sie mich gehindert haben, bei Mesmer einzutreten, denn man behauptet, ich sei bei Mes mer in Trance gefallen.« »Wie ist es möglich, daß auch die Polizei behauptet, die Königin sei in dem Saal gewesen?« fragte die Prinzessin von Lamballe. »Ich weiß, daß ich Feinde habe«, erklärte die Königin nachdenklich. »Aber an jedem Gerücht ist immer ein Körnchen Wahrheit. Es ist doch seltsam, daß mich dieses Pamphlet so genau beschreibt, obwohl ich gar nicht dort war. Vielleicht war an jenem Tag eine Frau, dort, die …« Sie hielt inne. Jeanne wurde unruhig. Die Königin war der Lösung des Geheim nisses zu nahe. Ein einziges Wort konnte alles erklären. Aber dadurch würde Jeanne die Möglichkeit verlieren, sich der Königin in Zukunft nützlich, vielleicht sogar unentbehrlich zu machen. »Madame«, sagte sie rasch, »es war tatsächlich eine Frau bei Mesmer, die sich in ihrem Delirium aufsehenerregend zur Schau stellte. Doch von einer Ähnlich keit mit Ihrer Majestät kann gar keine Rede sein.« In diesem Augenblick trat die Kammerfrau ein und meldete Fräulein von Taverney. Jeanne trat bescheiden zurück und errötete auf Wunsch, als sie Andrea erkannte. Die Prinzessin von Lamballe verabschiedete sich. Andrea setzte sich zu Marie-Antoinette und betrachtete die Grä fin la Motte forschend. »Das ist die Dame, die wir in Paris besucht haben, Andrea«, erklärte 73
die Königin. Sie wandte sich Jeanne zu: »Erzählen Sie, Gräfin, wie geht es Ihnen? Wer protegiert Sie?« »Niemand … das heißt, ich vergaß einen braven Mann, den Kardi nal von Rohan.« Die Königin sah Jeanne überrascht an. »Mein Feind!« sagte sie lächelnd. »Ein Feind Eurer Majestät? Aber Madame, der Kardinal betet Eure Majestät an!« »Schon gut«, unterbrach die Königin. »Da Sie so eingenommen für ihn sind … da Sie seine Freundin sind …« »O Madame«, Jeanne schüttelte mit sittsamer Entrüstung den Kopf. »Gut, liebe Gräfin, gut«, fuhr die Königin heiter fort, »aber fragen Sie ihn doch einmal, was er mit der Haarlocke gemacht hat, die er mir durch einen Friseur stehlen ließ.« »Eure Majestät setzen mich in Erstaunen«, sagte Jeanne. »Herr von Rohan hätte das getan?« »Jawohl! Aus Verehrung, nur aus Verehrung. Nachdem er mich in Wien tödlich gehaßt, nachdem er alles versucht hatte, um mei ne geplante Heirat mit dem König zu hintertreiben, hat er eines Ta ges bemerkt, daß ich eine Frau und seine Königin war. Er fürchte te für seine Zukunft, der liebe Rohan, und machte es wie alle Leute seiner Art, welche denen, die sie am meisten fürchten, am meisten schmeicheln. Und da er wußte, daß ich jung war, und er mich für eitel hielt, hat er die Rolle des Verehrers übernommen. Gräfin, ich durchschaue den Kardinal, aber sagen Sie ihm, daß ich ihm nicht böse bin.« »Die Königin ist doch ärgerlich«, überlegte Jeanne. »Also muß es noch etwas anderes geben.« Sie fing an, den Kardinal mit aller ihr zu Gebote stehenden Geschicklichkeit zu verteidigen. Marie-Antoinette hörte aufmerksam zu. Bei Hofe war es nicht üb lich, von jemand gut zu sprechen, der in Ungnade gefallen war. MarieAntoinette war dadurch beeindruckt. Sie sah ein Herz, wo keines war. Jeanne saß wie auf Nadeln. Sie wußte nicht, wie sie wegkommen soll te, ohne weggeschickt zu werden. Da hörte sie eine heitere, laute Stim me im Nebenraum. 74
»Der Graf von Artois«, sagte die Königin. »Lassen Sie ihn eintreten«, befahl sie Andrea. Der Graf trat ein. Als er die fremde, hübsche Person sah, grüßte er interessiert und warf einen fragenden Blick auf Marie-Antoinette. »Die Gräfin la Motte«, sagte die Königin und fuhr fort, »haben Sie die Skandalgeschichte auch schon gehört, lieber Schwager?« »Ja, Herr von Provence hat sie mir erzählt. Doch Sie sind in Ehren daraus hervorgegangen. Liebe Schwägerin, Sie haben wirklich Glück.« »Das nennen Sie Glück!« »Das ist Glück«, beharrte der Graf von Artois. »Denn stellen Sie sich vor, die Gräfin la Motte wäre nicht bei Mesmer gewesen, um Sie am Eintritt zu hindern, und jetzt nicht hier in Versailles, um zur rechten Zeit Zeugnis abzulegen! Sie sind ungerecht, wenn Sie an Ihrem Glück zweifeln.« Er setzte sich auf dem Sofa so nah wie möglich zur Königin und zählte an den Fingern: »Schließlich gerettet bei dem verschlosse nen Tor von Versailles … eins …« »Eins«, bestätigte die Königin. »Gerettet bei Mesmer.« »Gut. Zwei. Weiter?« »Und gerettet bei der Geschichte auf dem Ball«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Welchen Ball meinen Sie?« »Den Opernball.« »Wie bitte?« »Ich sage den Opernball, Schwägerin.« »Ich verstehe Sie nicht.« Der Graf lachte. Jeanne verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nur die Worte ›Ball‹ und ›Oper‹ verstehen. »Pst, still!« sagte der Graf. »Nein, durchaus nicht«, begehrte die Königin auf. »Ich will es wis sen.« »Sie waren also nicht auf dem letzten Opernball?« »Ich? Ich auf dem Opernball? Haben Sie mich vielleicht gesehen?« fragte die Königin ironisch. »Ich habe Sie gesehen.« 75
»Haben Sie vielleicht auch mit mir gesprochen?« »Ich war gerade im Begriff, Sie anzusprechen, als ein Schwarm von Masken uns trennte.« Die Königin stand erregt auf. »Machen Sie keine Späße, Schwager.« Sie fragte beherrscht: »Sie haben mich wirklich auf dem Opernball ge sehen?« »Wie ich Sie jetzt sehe, und Sie haben mich auch gesehen.« Die Königin konnte nicht mehr an sich halten. »Meine Damen«, rief sie, »der Graf von Artois behauptet, er habe mich auf dem Opernball gesehen!« Sie rief ihm zu: »Beweisen Sie Ihre Behauptung!« Dem Grafen war die Situation unangenehm geworden, aber er muß te antworten: »Ich war mit dem Marschall von Richelieu, mit Herrn von Calonne, mit … mein Gott, mit einer ganzen Gesellschaft. Ich sah Sie gerade in dem Augenblick, als Sie Ihre Maske verloren.« »Meine Maske!« »Ich wollte Ihnen sagen, daß das mehr als unvorsichtig sei, aber da waren Sie verschwunden. Fortgezogen von dem Kavalier, der Ihnen den Arm Reichte.« »Ein Kavalier! Großer Gott, Sie machen mich wahnsinnig!« Die Kö nigin fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »An welchem Tag soll das gewesen sein?« »Am Sonnabend, am Tag vor meiner Abfahrt zur Jagd, zwischen zwei und drei Uhr morgens … Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu ma chen. Niemand hat etwas erfahren … Einen Augenblick glaubte ich, Sie wären in Begleitung des Königs, doch Ihr Kavalier sprach deutsch.« »Der König.« Marie-Antoinette zog an der Glocke. »Das ist die Ret tung. Der König ist mein einziger Freund und wird es aufklären.« Sie erteilte einer Kammerfrau den Auftrag, den König in ihre Gemächer zu bitten. Minuten ungemütlichen Schweigens vergingen. Der König trat ein: »Was gibt's?« fragte er besorgt. »Helfen Sie mir, Sire. Diesmal sind es meine Freunde, die ein Ge rücht verbreiten. Der Graf von Artois behauptet, er habe mich auf dem Opernball gesehen.« 76
»Auf dem Opernball? Weiß es der Graf von Provence schon?« fragte der König, die Stirn runzelnd. »Aber es ist doch nicht wahr!« rief die Königin. »Es ist nicht wahr. Der Graf von Artois täuscht sich. Ich werde verrückt, wenn das so wei tergeht, und glaube bald selbst, daß ich auf dem Opernball gewesen bin. Was habe ich nur am Sonnabend getan?« »Sonnabend?« Der König begann zu lachen. »Sie sagten Sonn abend?« »Ja, Sire.« »Darüber kann nur Ihre Kammerfrau Auskunft geben, Marie-Anto inette.« Er wurde immer heiterer. »Sie wird sich vielleicht erinnern, zu welcher Stunde ich am Sonnabend zu Ihnen kam. Ich glaube, es war gegen elf Uhr abends.« »Ja, Sire«, rief die Königin und warf sich in seine Arme. Plötzlich wurde sie rot und verwirrt und verbarg ihr Gesicht an der Brust des Königs, der ihr Haar zärtlich küßte. »Ich werde mir eine Brille kaufen«, sagte der Graf von Artois. »Aber bei Gott, ich möchte diese Szene hier nicht missen!« Der König wurde ernst. »Wenn Sie nicht an meinen Worten zwei feln, ist es unmöglich, daß die Königin in jener Nacht auf dem Opern ball war.« Er setzte hinzu: »Sie können es glauben oder nicht.« »Der Graf von Provence mag denken und sagen, was er will«, erklär te der Graf von Artois, »aber ich zweifle daran, daß seine Frau auf die gleiche Art ein Alibi erbringen kann, wenn man sie einmal verdächti gen sollte, die Nacht auswärts zugebracht zu haben.« »Ich gehe mit Ihnen, mein Bruder.« Der König küßte Marie-Antoinette die Hände. Andrea blieb bei der Königin. In heuchlerischer Bescheidenheit hat te sich die Gräfin la Motte in eine Fensternische zurückgezogen, von der aus sie alles genau hatte beobachten können. Die Königin schwieg einige Minuten. Dann sagte sie plötzlich: »Hinter alldem steckt etwas, das ich aufklären muß. Nicht wahr, Andrea, ich muß der Sache auf den Grund gehen?« »Eure Majestät haben recht«, erwiderte Andrea. Sie setzte hinzu: 77
»Und ich bin fest überzeugt, daß die Gräfin la Motte auch meiner An sicht ist. Nicht wahr, Madame?« So plötzlich angesprochen, erschrak die Gräfin und wußte keine Antwort. Marie-Antoinette dachte ange strengt nach. »Ich habe die Wahrheit!« sagte sie. »Die Wahrheit?« fragte Jeanne. »Man lasse Herrn von Crosne kommen!« befahl die Königin einer Kammerfrau. Herr von Crosne betrat den Raum ängstlich und schaute befangen zu Boden. »Haben Sie schon eine Erklärung dafür, wie alle diese Gerüchte ent standen sind?« fragte ihn Marie-Antoinette. »Wenn nicht, werde ich es Ihnen erklären.« Die Königin wurde ärgerlich. »Ich schreibe die Ge rüchte dem schlechten Benehmen einer Person zu, die mir ähnlich sieht und sich überall zur Schau stellt, wo Sie selbst oder Ihre Agenten mich zu sehen glauben.« »Eine Ähnlichkeit?« fragte Herr von Crosne verblüfft. Andrea fiel ein: »Ich kann ein Beispiel liefern. Als ich mit meinem Vater in Taverney-Maison-Rouge wohnte, hatten wir ein Dienstmäd chen, das durch eine unglaubliche Ähnlichkeit …« »Mir glich.« »Ja, Eure Majestät, zum Verwechseln ähnlich.« »Und was ist aus diesem Mädchen geworden?« »Mein Vater fürchtete, diese Ähnlichkeit könnte Ihnen mißfallen, und wir versteckten das Mädchen.« »Sehen Sie, Herr von Crosne, das interessiert Sie. Wie?« »Ungemein, Madame.« »Und was geschah weiter?« »Dieses Mädchen, ehrgeizig und unruhig, langweilte sich in ihrem Versteck und war eines Abends verschwunden.« »Es gibt also eine Frau, deren Ähnlichkeit mit mir auffallend ist, und Sie, Herr von Crosne, wissen es nicht! Sie verursacht ernste Unord nung, und Sie sind davon nicht unterrichtet? Mein Herr, ich finde, daß es um die Polizei schlecht bestellt ist.« »Erlauben Sie mir, die Polizei zu verteidigen, Madame. Ich sah Sie, 78
wie der Herr Graf von Artois Sie gesehen hat. Täuschte sich der Schwa ger in den Zügen der Schwägerin, wieviel eher wird sich ein Polizist täuschen.« »Das sehe ich ein.« Die Königin nickte. »Sie haben mich überzeugt, Herr von Crosne. Doch ich bitte Sie, vergessen Sie die Ähnlichkeit nicht, von der ich gesprochen habe! Ich danke Ihnen, Adieu!«
XI
An diesem ereignisreichen Morgen, an dem Jeanne la Motte-Valois so überraschend in den engsten Kreis des königlichen Haushalts gezo gen worden war, wurde sie Zeugin einer Unterredung, die ihr eige nes Schicksal entscheiden sollte. Sie war eben dabei, in einen tiefen Knicks zu versinken, um sich von der Königin zu verabschieden, als eine Kammerfrau meldete: »Madame, Eure Majestät haben den Her ren Böhmer und Bossange Audienz bewilligt.« »Richtig, meine gute Misery, sie sollen eintreten.« Die Königin nahm wieder in ihrem Lehnstuhl Platz. »Bleiben Sie doch noch, Frau von la Motte«, sagte sie. »Der König soll einen voll ständigen Frieden mit Ihnen schließen.« Jeanne trat bescheiden zur Seite. Die Herren Böhmer und Bossange näherten sich untertänigst mit vielen Verbeugungen. »Guten Morgen, meine Herren Juweliere. Was bringen Sie mir Neu es? Sie wissen doch, daß ich kein Geld habe.« Böhmer nahm das Wort: »Wir kommen nicht hierher, Madame, um Waren anzubieten. Wir kommen, um eine Pflicht zu erfüllen. Es han delt sich wieder um das schöne Diamantenhalsband, das Eure Maje stät nicht zu nehmen geruhten.« »Ah, das Halsband …« Die Königin nickte. »Es war wirklich schön.« 79
»So schön, Madame«, sagte Böhmer ernst, »daß Eure Majestät allein würdig waren, es zu tragen.« Marie-Antoinette seufzte: »Mich tröstet, daß es anderthalb Millio nen kostet, nicht wahr, Herr Böhmer?« »Ja, Eure Majestät.« »Und daß es in der liebenswürdigen Zeit, in der wir leben, keinen Fürsten mehr gibt, der fünfzehnmal hunderttausend Livre für ein Halsband bezahlen kann.« Fünfzehnmal hunderttausend Livre! Jeanne la Motte biß sich in die Lippen. »Eure Majestät irren sich«, sagte Böhmer, »und es ist unsere Pflicht, der Königin zu melden: Das Halsband ist verkauft.« »Verkauft?« fragte Marie-Antoinette erregt. Böhmer dämpfte seine Stimme: »Es ist der Gesandte von Portugal.« »Wie erfreulich für Ihre Majestät die Königin von Portugal!« rief die Königin. »Die Diamanten sind schön. Sprechen wir nicht mehr davon. Kennen Sie die Diamanten Gräfin?« »Nein, Madame«, erwiderte Jeanne kleinlaut. »Schöne Diamanten … Es ist schade, daß die Herren sie nicht mit gebracht haben.« »Hier sind sie«, erwiderte Böhmer eifrig. Er zog das Etui heraus und öffnete es. Jeanne stieß einen Schrei des Entzückens aus. Es gab tatsächlich nichts Schöneres. Die kunstvoll verarbeiteten Dia manten zeigten am hellen Tageslicht ihr schönstes Feuer. Böhmer be wegte den Schmuck, so daß sich die Strahlen in den Facetten fingen. »Phantastisch! Herrlich!« rief Jeanne hingerissen. »Fünfzehnmal hunderttausend Livre, die in meiner hohlen Hand Platz haben«, sagte die Königin geringschätzig. Es war offenkundig, daß sie ihr philosophisches Phlegma nur heuchelte. Jeanne warf ihr einen raschen Blick zu und sagte: »Der Herr Juwelier hat recht, es gibt auf der Welt nur eine Königin, die würdig ist, dieses Halsband zu tragen. Und das sind Eure Majestät.« »Und meine Majestät wird es nicht tragen. Meine Weigerung ist aus gesprochen. Und man hat mich zu sehr gelobt, als daß ich es bereu 80
en könnte. Sprechen wir nicht mehr davon.« Marie-Antoinette wandte sich vom Schmuck ab. »Diese Diamanten sind leider immer fünfzehn mal hunderttausend Livre wert.« Jeanne nahm die Gelegenheit wahr. Sie griff nach dem Etui und be festigt das Diamantenhalsband geschickt am Hals der Königin. »Fünf zehnmal hunderttausend Livre, die am Halse Eurer Majestät alle an deren Frauen vor Neid ersticken lassen.« Marie-Antoinette konnte der Versuchung nicht widerstehen. Sie trat vor den Spiegel. »Eure Majestät sind hinreißend schön!« rief Jeanne schwärmerisch. Die Königin starrte verzückt auf ihr Spiegelbild. Plötzlich besann sie sich und versuchte, hastig den Verschluß des Halsbandes zu lösen. »Genug, ich habe ein wenig mit den Diamanten gespielt, aber nun neh men Sie sie zurück. Schnell!« Umständlich legten die Juweliere die Diamanten wieder ins Etui. Sie wollten Zeit gewinnen, vielleicht entschloß sich die Königin doch. Es war vergeblich, Marie-Antoinette machte keine Bewegung. Sie leidet, dachte Jeanne schadenfroh. Die Juweliere verneigten sich zum Abschied: »Eure Majestät schla gen das Halsband endgültig aus?« »Ja, endgültig!« Die Königin entließ sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. Ein häßliches Lächeln verzog Jeannes Mund: Sie lei det wirklich, dachte sie boshaft. Marie-Antoinette ging im Zimmer auf und ab. Dann sagte sie kurz: »Gräfin, es scheint, daß der König heute nicht mehr zurückkommt. Eine andere Audienz wird uns eine besse re Gelegenheit bieten.« Jeanne verneigte sich ehrerbietig. »Ich werde an Sie denken«, sagte die Königin zum Abschied. Der Weg von Versailles nach Paris war weit. Jeanne hatte genügend Zeit, die verwegensten Pläne zu schmieden. Dieses Halsband bedeute te ein Vermögen. Sie wollte das Halsband oder das Vermögen in ihren Besitz bringen. Der Kardinal, der die Träume Jeannes für sie verwirklichen sollte, erwartete sie harmlos in ihrem Haus. »Ich habe Sie heute schon den 81
ganzen Tag vermißt«, begrüßte er sie. »Sind Sie gut von Versailles zu rückgekommen?« »Wie Sie sehen, Monseigneur.« »Hat Sie die Königin empfangen?« »Ich habe drei Stunden im Kabinett Ihrer Majestät zugebracht.« »Drei Stunden!« Der Kardinal war erregt, doch er nahm sich zusam men. »Ich wette, Sie haben während dieser drei Stunden nicht eine Mi nute an mich gedacht.« »Ich habe sogar von Ihnen gesprochen.« »Mit wem?« fragte der Kardinal atemlos. »Mit der Königin.« Er konnte sich nicht länger beherrschen. »Erzählen Sie doch alles. Ich interessiere mich so sehr für alles, was Sie betrifft.« Jeanne wußte ebenso gut wie der Kardinal, was ihn interessierte. Sie hatte sich ihre Erzählung Wort für Wort zurechtgelegt und berichte te nun mit Nachdruck, was die Königin zugunsten des Kardinals von Rohan gesagt hatte. Dabei war sie raffiniert genug, den Kardinal nicht anzusehen. Sie tat so, als ob sie sich über die Wirkung ihrer Erzählung gar nicht im klaren wäre. Kaum war Jeanne mit Ihrer Erzählung zu Ende, als ein Diener ein trat und meldete, daß das Abendessen aufgetragen sei. Der Kardinal bot ihr den Arm und führte sie zu Tisch. Während des Essens mach te Jeanne so reizend Konversation, daß er gar nicht den Versuch mach te, ihr zu widerstehen. Er griff nach ihrer Hand. Sie sah ihm tief in die Augen und sagte: »Die Gräfin von Valois ist heute eine Dame des Ho fes geworden. Sie kann daher ihre Hand reichen, wem sie will.« »Selbst einem Fürsten?« fragte der Kardinal. »Selbst einem Kardinal!« Rohan beugte sich über Jeannes Hand und küßte sie lange und lei denschaftlich. Dann stand er auf, ging in das Vorzimmer und sagte ein paar Worte zu seinem Diener. Das Geräusch eines Wagens, der sich entfernte, wurde hörbar. Zwei Stunden später dachte der Kardinal, Jeanne hätte nachgegeben und er hätte gesiegt. Das war ein verhängnisvoller Irrtum. Sowohl sie 82
als auch er verfolgten einen Zweck und brauchten die Vertraulichkeit. Beide hatten ihr Ziel erreicht. Er gab sich keine Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Er brachte das Gespräch bald wieder auf Versailles und die Königin. Jeanne ging nur allzu bereitwillig auf sein Gesprächsthe ma ein. »Arme Königin«, seufzte sie, »oder vielmehr, arme Frau!« »Wieso arme Frau?« »Ist man reich, wenn man sich Entbehrungen auferlegen muß?« »Entbehrungen? Erklären Sie mir das, liebe Jeanne.« »Ich werde Ihnen erzählen, was ich gesehen habe. Die Königin hat eine Sehnsucht, die sie nicht befriedigen kann.« »Nach wem denn?« »Nach was denn, müssen Sie fragen.« »Gut. Also nach was?« »Nach einem Diamantenhalsband.« »Ah, ich weiß davon, Sie meinen die Diamanten von Böhmer und Bossange.« »Ganz richtig.« »Sie täuschen sich, Gräfin. Der König hat sie ihr selbst angeboten, und sie hat sie ausgeschlagen. Die Königin ist uneigennützig. Für sie ist eine Blume soviel wert wie ein Diamant.« »Das leugne ich nicht. Ich behaupte nur, daß sie jetzt Lust hat, sich die Diamanten um den Hals zu hängen. Ich habe das Halsband heu te selbst gesehen. Die Juweliere brachten es, um die Königin ein letztes Mal in Versuchung zu führen.« »Sind Sie wirklich sicher, daß die Königin das Halsband besitzen will?« »Es ist ihr sehnlichster Wunsch. Hören Sie, lieber Kardinal, haben Sie mir nicht einmal gesagt, daß Sie gerne Minister werden würden?« »Es ist möglich, daß ich das gesagt habe.« »Wetten wir, daß die Königin den Mann zum Minister macht, der es einzurichten weiß, daß das Halsband in acht Tagen auf ihrem Toilet tentisch liegt.« Der Kardinal starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er bemerkte, daß Jeanne ihn beobachtete, machte er eine fahrige Handbewegung. 83
»Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte er. Doch im gleichen Atem zug entfuhr ihm: »Sie glauben, Böhmer hat die Diamanten der Köni gin wieder angeboten?« »Gewiß! Böhmer und Bossange«, erwiderte Jeanne.
Als der Kardinal die Gräfin am nächsten Morgen verließ, fuhr er ge raden Weges zu Böhmer und Bossange. Er begrüßte die Juweliere mit den Worten: »Ich komme, um das Diamantenhalsband zu kaufen, das Sie der Königin gezeigt haben.« »Wir bedauern, Monseigneur«, sagte Böhmer. »Es ist zu spät. Das Halsband ist bereits verkauft.« »Aber Sie haben es doch gestern noch Ihrer Majestät der Königin an geboten?« »Da Sie das wissen, Monseigneur, werden Sie auch wissen, daß die Königin das Halsband wieder ausgeschlagen hat.« »Mein Herr«, unterbrach ihn der Kardinal, »ich glaube, ein Juwelier der Krone Frankreichs müßte stolz darauf sein, diese einmalig schö nen Steine in Frankreich verkaufen zu können. Sie aber ziehen Portu gal vor.« »Monseigneur weiß alles.« Die Juweliere verneigten sich. »Monsei gneur kann es nur von der Königin wissen.« »Und wenn es so wäre?« fragte der Kardinal in seiner Eitelkeit ge schmeichelt. »Das würde die Sache ändern, Monseigneur.« »Ich verstehe nicht.« »Wollen Monseigneur mir erlauben, frei zu sprechen? Wir sind si cher, daß sich die Königin für unser Halsband interessiert.« »Und warum kauft sie es dann nicht?« »Weil sie es dem König abgeschlagen hat und weil es launisch er scheinen würde, wenn sie von diesem Beschluß abginge. Aber wir glauben, daß die Königin das Halsband gerne haben würde, allerdings ohne den Anschein zu erwecken, sie kaufe es.« 84
Der Kardinal dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er ent schlossen: »Meine Herren, die Königin hat Interesse an Ihrem Hals band.« »Das ändert alles, Monseigneur. Ich kann alle Abschlüsse rückgän gig machen. Die Königin hat den Vorrang.« »Wie teuer ist das Halsband?« »Fünfzehnmal hunderttausend Livre bei Barzahlung.« »Nehmen wir an, Sie verkaufen das Halsband für sechzehnmal hun derttausend Livre und verteilen bei einer Anzahlung von hunderttau send Livre die restlichen fünfzehnmal hunderttausend Livre auf ein Dreivierteljahr, das heißt alle drei Monate fünfmal hunderttausend Li vre.« Der Kardinal hielt inne: »Übrigens habe ich das Halsband noch nicht gesehen.« »Das ist wahr, Monseigneur.« Böhmer beeilte sich, den Schmuck zu holen. »Hier ist das Halsband.« »Herrlich!« Der Kardinal berührte die Steine liebevoll. »Herrlich!« wiederholte er. »Ich kaufe es. Ist der Handel abgeschlossen?« »Ja, Monseigneur.« Böhmer verbeugte sich und wies auf Bossange. »Wir gehen auf der Stelle zum portugiesischen Gesandten und sagen ihm ab.«
XII
Am nächsten Tag empfing einer der Gauner die Juweliere in der por tugiesischen Gesandtschaft und geleitete sie zu Don Manoel. Böhmer als Wortführer erklärte verlegen, daß ihn politische Gründe abhiel ten, die angefangenen Verhandlungen über den Ankauf des Halsban des fortzusetzen. Don Manoel schrie empört auf. Beausire fuhr Herrn Böhmer über 85
den Mund, als er stotternd nach Entschuldigungen suchte. »Sie haben einen Käufer gefunden, der mehr zahlt?« Böhmer sagte zögernd: »Mein Herr, wir sind gezwungen, das Hals band im Lande zu verkaufen. Glauben Sie uns, daß nicht wir es sind, die Ihr Anerbieten ausschlagen.« Beausire und Don Manoel versuchten krampfhaft, sich gleichgültig zu zeigen. Sie bemerkten nicht, daß der Kammerdiener an der Türe horchte, um zu erfahren, wie weit das Geschäft fortgeschritten war. Erst als der Mann ausrutschte und laut dröhnend an die Tür fiel, stürz te Beausire ins Vorzimmer. »Was machst du!« schrie er den erschrok kenen Partner an. »Ich bringe die Depeschen, gnädiger Herr.« Als die Juweliere das Wort ›Depeschen‹ hörten, verbeugten sie sich tief und machten sich erleichtert davon. Ehe Don Manoel und Beausi re es recht wußten, waren sie fort. »Nun«, sagte Beausire trocken, »das große Geschäft ist geplatzt. Es bleibt uns nur noch die Kasse der Gesandtschaft. Von hunderttausend Livre bekommt jeder Partner achttausendvierhundert Livre, das lohnt sich kaum.« »Retten wir, was noch zu retten ist«, schlug Don Manoel vor. »Tei len wir beide!« Beausire schüttelte den Kopf. »Der Kammerdiener wird uns nicht aus den Augen lassen. Er weiß, daß das Geschäft ins Was ser gefallen ist.« »Holen Sie ihn«, forderte Don Manoel Beausire auf. »Ich habe eine Idee.« »Ich habe auch eine Idee und wollte Sie gerade bitten, ihn zu holen.« Weder Beausire noch Don Manoel wollte den anderen allein bei der Kasse lassen. Ohne den Blick von Don Manoel zu wenden, ging Beau sire an das Fenster und rief nach dem Kammerdiener. Beausire wandte sich ihm lächelnd zu, als er eintrat. »Wir drei wis sen als einzige, daß aus dem Geschäft mit dem Halsband nichts wird. Folglich können wir drei die hunderttausend Livre behalten, um so mehr als unsere Partner glauben, Böhmer und Bossange hätten den Betrag als Anzahlung erhalten.« 86
»Das ist wahr!« Der Kammerdiener rieb sich die Hände. »Damit bin ich einverstanden.« »Sie sind ein Schuft«, rief Beausire. Er drehte sich zu Don Mano el um. »Packen wir diesen Kerl und liefern wir ihn unseren Partnern aus!« Don Manoel schob den Kammerdiener in das angrenzende Anklei dezimmer. »Schicken Sie Ducorneau weg«, flüsterte er Beausire zu. Während Don Manoel den Kammerdiener einschloß, verschwand Beausire. Es verging eine Minute, er kam nicht zurück. Don Manoel war allein, die Kasse im Nebenzimmer nur zehn Schritte entfernt. Um sie zu öffnen, mit dem Geld durch ein Fenster zu springen und durch den Garten davonzulaufen, dazu brauchte ein geübter Einbrecher nur zwei Minuten. Um Ducorneau fortzuschicken und in das Zimmer zu rückzukommen, würde Beausire wenigstens fünf Minuten brauchen. Don Manoel eilte ins Nebenzimmer. Er stieß einen wütenden Schrei aus, als er sah, daß die Kasse offen und leer war. Beausire hatte sich mit dem Geld schon davongemacht. Don Manoel alarmierte durch sein Geschrei das ganze Haus. Die Partner glaubten seine Geschichte nicht. Sie beschuldigten ihn, mit Beausire im Komplott zu sein. Der ehrliche Herr Ducorneau be griff überhaupt nichts mehr. Er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er sah, wie die ›Diplomaten‹ sich anschickten, Don Manoel unter dem Wagenschuppen aufzuhängen. Drei feierliche Schläge am großen Tor der Gesandtschaft ließen die Partner erstarren. Eine schrille Stimme rief in portugiesischer Spra che: »Öffnen Sie im Namen des Herrn Gesandten von Portugal!« »Der Gesandte?!« Die Gauner stoben auseinander und flüchteten durch die Gärten über die Mauern und Dächer der Nachbarschaft. Aber Herr Ducor neau wurde verhaftet. Das war das Ende des Abenteuers der falschen Gesandtschaft von Portugal.
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Erst in den winkeligen Gassen, die zu den Markthallen führten, war Beausire sicher, daß ihn niemand verfolgte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, vergewisserte sich, daß er die hunderttausend Livre in der Tasche hatte und überlegte: Man würde ihn suchen. Man würde mit einer Hausdurchsuchung bei dem Dieb beginnen. In seinem Haus wohnte Oliva. Man würde sie als Geisel mitnehmen. Soweit durfte es nicht kommen! Beausire lief wie gejagt in die Rue Dauphine. Versteckt hinter der Statue Heinrichs IV. blickte er vorsichtig die Straße entlang. Keine Spur von Verfolgern. Er schlich sich an sein Haus heran. Die Fenster waren geschlossen. Er dachte, daß Oliva sicher auf dem Sofa lag, ir gendein schlechtes Buch las und an Süßigkeiten knusperte. Plötzlich sah Beausire einen Polizisten am Fenster des kleinen Wohnzimmers. Der Schweiß brach ihm wieder aus. Ein Zurückweichen war unmög lich. Er sah den ganzen Hausflur voll mit Polizei und sagte sich, ohne Zweifel habe Herr von Crosne ihn verhaften lassen wollen, aber nur Oliva gefunden. Hätte er nicht die hunderttausend Livre in seiner Ta sche gehabt, würde er sich gemeldet haben. Doch der Gedanke, die Po lizei könnte ihm das Geld wegnehmen, erstickte jedes Liebesgefühl. Er wollte rasch um die nächste Straßenecke biegen und wäre beinahe von einem eleganten Wagen überfahren worden. Er sprang zur Seite und traute seinen Augen nicht. Im Wagen saß Oliva im eifrigen Gespräch mit einem gut aussehenden Mann. Beausire wäre dem Wagen nachgelaufen, wenn er nicht durch die Rue Dauphine gefahren wäre, der einzigen Straße von Paris, in der er sich in diesem Augenblick nicht zeigen konnte. Aber was sollte er tun? Er quartierte sich in einem billigen Gasthof ein und beschloß abzu warten. Er war überzeugt, die Polizei würde ihn nicht finden und ›sei ne‹ hunderttausend Livre würden ihm helfen, Oliva aus dem Gefäng nis zu befreien.
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Wenn Beausire nicht von Angst geblendet gewesen wäre, als er Oliva an der Seite eines Mannes im Wagen gesehen hatte, hätte er auch ih ren Begleiter erkannt. Es war der geheimnisvolle Unbekannte, der mit ihr auf dem Maskenball im Opernhaus gewesen war: Der Graf von Ca gliostro. Der Name hätte einem Tunichtgut wie Beausire nichts gesagt. Der Graf von Cagliostro war nur wenigen Eingeweihten bekannt, und zu meist nicht unter diesem Namen. Er trat manchmal als Baron von Bal samo auf und dann wieder unter anderen Pseudonymen, hinter de nen er seine geheimnisvolle Identität verbarg. Niemand wußte, wer er wirklich war und was er bezweckte. Hier war er Wohltäter und dort Unruhestifter. Er hatte den Ruf, nur für die ›gute Sache‹ einzutreten. Die hochgestellten Angehörigen der französischen Freimaurerlogen wußten, daß er einer von ihnen war. Ein Gleichgestellter, ein Höher gestellter? Oder der höchste aller Freimaurer, die gegen das Königtum als oberstes Sinnbild der Ungerechtigkeit und Willkür kämpften, mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln. Der unmittelbare Beweggrund der Handlungen Cagliostros war un sichtbar wie auch an diesem Morgen, als er Oliva auf ihrem täglichen Morgenspaziergang anhielt und fragte: »Wohin gehen Sie?« »In unsere Wohnung in die Rue Dauphine.« »Wenn Sie dorthin gehen, wird man Sie verhaften.« Oliva blieb stehen. »Sie spielen Katz und Maus mit mir. Wenn Sie et was wissen, so sagen Sie es mir doch geradeheraus. Sucht man Beau sire?« »Vielleicht. Ich nehme an, daß sein Gewissen nicht so rein ist wie das Ihrige.« »Welches Interesse haben Sie, mich zu beschützen?« »Reden Sie keine Albernheiten, die Zeit ist kostbar. Damit Sie sich davon überzeugen, daß ich recht habe, fahren wir in meinem Wagen an Ihrem Haus vorbei.« Er half Oliva beim Einsteigen, und als sie aus dem fahrenden Wagen sah, daß ihr Haus von Polizisten umstellt war, rief sie verzweifelt: »Retten Sie mich, retten Sie mich!« »Das verspreche ich Ihnen.« Der Graf von Cagliostro löste sich aus 89
den umklammernden Armen Olivas. »Bei mir wird man Sie nicht fest nehmen«, sagte er. »Bei Ihnen … Wir gehen also zu Ihnen?« fragte sie erschrocken. Er spottete: »Ihre Angst macht Ihnen alle Ehre, aber erinnern Sie sich nicht an das, was wir verabredet haben? Ich bin nicht Ihr Liebha ber und will es auch nicht sein.« Als Cagliostro Oliva in einem kleinen Zimmer seines Hauses un tergebracht hatte, schüttelte sie melancholisch den Kopf. »Hier werde ich vor Langeweile sterben. Sie verbieten mir auszugehen, und es gibt nicht einmal einen Garten.« »Sie haben recht, sich zu beklagen. Ich wünsche, daß Sie sich wohl fühlen. Ich werde Ihnen eine andere Wohnung verschaffen.« Oliva war rasch getröstet. Bei näherer Betrachtung gefiel ihr auch das kleine Zimmer nicht schlecht. Sie fand unterhaltende Bücher und – es gab Süßigkeiten. Als Cagliostro sich von ihr verabschiedete, rief sie ihm nach: »Lassen Sie mir Nachricht von Beausire zukommen!«
XIII
Als der Kardinal von Rohan die Gräfin la Motte nach der ersten Lie besnacht verlassen hatte, war sie ihrer Sache noch nicht ganz gewiß. Sie beauftragte einen Lakai, den sie für ergeben hielt, dem Kardinal auf Schritt und Tritt zu folgen. Zwei Tage später schon wußte Jeanne, was sie wissen wollte. Der La kai meldete, er habe Seine Eminenz den Herrn Kardinal zweimal in zwei Tagen in den Laden der Juweliere Böhmer und Bossange eintre ten sehen. Das stärke die Zuversicht Jeannes. Ein Mann wie der Kardinal von Rohan feilschte nicht. Er hatte das Halsband gekauft. Aber warum hat 90
te er seiner Geliebten, seiner Vertrauten kein Wort davon gesagt? Sie schrieb an den Kardinal. Er kam unverzüglich. Sie empfing ihn mit ei nem Vorwurf: »Es kränkt mich nicht, daß Sie mich nicht mehr lieben, aber es kränkt mich, daß Sie mich nie geliebt haben.« »Wie können Sie so etwas sagen?« »Ich habe Lust, Streit mit Ihnen anzufangen.« »Tun Sie das, Jeanne«, lächelte amüsiert der Kardinal. Sie begann: »Sie haben es sowohl an Vertrauen als auch an Achtung fehlen lassen. Oder wollen Sie leugnen, daß Sie, nachdem Sie mir Ein zelheiten entlockt haben …« Er unterbrach: »Einzelheiten?« Sie ließ sich nicht beirren: »Über den Geschmack einer gewissen Dame für eine gewisse Sache. Einen Geschmack, den Sie befriedigen wollen, ohne mit mir darüber zu sprechen. Die Dame ist die Königin. Und die Befriedigung ist der Ankauf des vielbesprochenen Halsban des, den Sie gestern getätigt haben.« »Gräfin?« fragte der Kardinal überrascht. Jeanne wandte den Blick nicht von ihm ab. »Haben Sie nicht gestern den Handel mit den Juwelieren abgeschlossen?« Da der Kardinal verle gen schwieg, fürchtete Jeanne, zu weit gegangen zu sein. Sie wollte ih ren direkten Angriff erklären. »Verzeihen Sie, Monseigneur, aber Sie täuschen sich in mir. Sie halten mich nämlich für albern und vielleicht sogar für boshaft.« »Kein Wort mehr«, fiel der Kardinal ein, »jetzt ist es an mir zu spre chen. Ich gebe zu, daß ich dachte, in Ihnen eine reizende Geliebte ge funden zu haben. Sie sind aber mehr.« Er zog sie an sich. »Sie wurden meine Geliebte, meine Freundin und wollen, daß ich mein Glück ma che.« Er setzte nach einer kleinen Pause leise hinzu: »Sie wissen doch, daß ich eine ehrfurchtsvolle Zuneigung hege?« »Das habe ich auf dem Opernball bemerkt.« »Aber diese Zuneigung wird nie erwidert werden«, stellte er seuf zend fest. »Eine Frau ist nicht immer nur Königin«, entgegnete Jeanne mit überlegener Ruhe. »Und außerdem wären Sie ein vortrefflicher Mini ster.« 91
Der Kardinal atmete tief. »Bei Ihnen ist es überflüssig, etwas zu sa gen. Sie denken und sprechen für Ihre Freunde. Es ist wahr, ich wün sche, erster Minister zu werden. Alles berechtigt mich dazu: meine Ge burt, meine Gewandtheit in Geschäften, das wohlwollen auswärtiger Höfe und nicht zuletzt die Sympathie, die mir das französische Volk entgegenbringt.« »Mit einem Wort alles. Nur die Abneigung der Königin steht Ihnen im Wege«, stellte Jeanne fest. »Das ist das einzige wirkliche Hinder nis.« Sie erklärte: »Wen die Königin liebt, den liebt auch der König, wen sie haßt, den haßt der König schon im voraus.« »Und sie haßt mich?« fragte der Kardinal. »Das will ich nicht sagen«, gab Jeanne zurück. »Aber sie liebt Sie nicht.« »Dann kann mich auch das Halsband nicht retten.« »In diesem Punkte irren Sie vielleicht.« »Ich irre vielleicht nicht, denn ich habe das Halsband gekauft.« »Gut.« Jeanne glühte. »Dann wird die Königin wenigstens sehen, daß sie von Ihnen geliebt wird.« »Gräfin!« »Monseigneur, wollen wir die Dinge nicht bei ihrem Namen nen nen?« »Tun wir das. Es ist besser, und es erleichtert das Gespräch.« Er frag te geradeheraus: »Sie zweifeln also nicht daran, mich eines Tages als er sten Minister zu sehen?« »Ich bin ganz und gar davon überzeugt.« »Sie sind ganz und gar davon überzeugt?« fragte der Kardinal, als hätte es noch einer Bestätigung bedurft. Er faßte sich. »Und was wün schen Sie, Gräfin? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie jetzt nicht nach Ihren Wünschen fragte.« »Wenn Sie einmal imstande sind, sie zu erfüllen, werde ich sie Ih nen sagen.« »Ich nehme Sie beim Wort.« Er streichelte ihre Hände, doch sie entzog sie ihm. »Ich habe Ihnen im Augenblick nichts mehr zu sagen, Monseigneur.« 92
»Sie schicken mich fort?« »Es ist besser so.« »Sie haben recht, Gräfin.« Der Kardinal verbeugte sich tief und konnte nicht sehen, daß ein spöttischer Zug um ihre Lippen spielte. Als sie ihn ins Vorzimmer be gleitete, lächelte sie wieder liebenswürdig. Er fragte sie leise: »Was soll ich nun tun, Gräfin? Was würden Sie mir raten?« »Nichts, als daß Sie auf meine Nachricht warten. Ich fahre nach Ver sailles.« »Wann?« fragte er. »Morgen«, erwiderte sie.
XIV
Am nächsten Morgen fuhr Jeanne nach Versailles. Das Vertrauen auf ihren Glücksstern war so groß, daß sie fest davon überzeugt war, auch ohne Audienzbrief vorgelassen zu werden. Es war auch so. Die Höflinge vom Dienst hatten schon das Interesse der Königin an der hübschen Gräfin bemerkt. Ein Diener, der sich be liebt machen wollte, näherte sich Marie-Antoinette, als sie aus der Ka pelle kam, und flüsterte dem diensthabenden Kammerherrn zu: »Was soll ich mit der Gräfin von la Motte-Valois machen? Sie hat keinen Au dienzbrief.« Die Königin, die das absichtlich laute Flüstern gehört hatte, wandte sich um und sagte obenhin: »Ich werde Frau von la Motte-Valois emp fangen.« Sie fügte hinzu: »Führen Sie die Gräfin in mein Boudoir.« »Sie denkt vielleicht, ich will wieder betteln«, überlegte Jeanne, als sie zur Königin geführt wurde und feststellte, daß Marie-Antoinet te ernst, fast mißgestimmt zu sein schien. Jeanne machte einen tie 93
fen Hofknicks, während sie dachte: Ehe ich zwanzig Worte gesprochen habe, ist sie entweder aufgeheitert oder sie läßt mich hinauswerfen. »Weshalb sind Sie gekommen?« begann die Königin. »Sie hatten um keine Audienz gebeten. Ist es dringend für Sie?« »Dringend … ja, Madame … aber nicht für mich.« »Für mich also … Sprechen Sie!« »Seine Eminenz der Kardinal von Rohan erwies mir vorgestern die Ehre, mich wegen einer wohltätigen Stiftung zu besuchen, deren Vor steherin ich geworden bin«, log Jeanne. »Wie schön, liebe Gräfin. Ich will auch etwas dazu beitragen, aber meine Mittel sind beschränkt.« »Ihre Majestät mißverstehen mich. Ich habe schon die Ehre gehabt zu sagen, daß ich um nichts bitte. Der Kardinal erzählte mir wie im mer von Ihrer Hochherzigkeit und Ihrer unerschöpflichen Gnade. Ich sagte ihm, Ihre Majestät macht sich zur Sklavin ihrer eigenen Güte, und das Gute, das sie tut, gereicht ihr zum Nachteil. Dabei klagte ich mich selbst an.« »Wieso, liebe Gräfin?« fragte die Königin freundlich. »Ich meine damit, und das habe ich auch dem Herrn Kardinal ge sagt, daß Eure Majestät mir vor einigen Tagen eine bedeutende Geld summe gegeben haben und daß Madame sicher immer so handelt, wenn sie Not lindern kann. Wenn die Königin weniger freigebig wäre, habe ich ihm gesagt, dann hätte sie bestimmt jetzt die zwei Millionen in der Kasse und könnte sich das schöne Diamantenhalsband kaufen, das sie so hochherzig ausgeschlagen hat. Verzeihen Sie mir, Madame, daß ich es sage, so ungerechterweise ausgeschlagen hat.« Die Königin schaute Jeanne prüfend an. Sie fand in dem ihr zuge wandten Gesicht nur hingebungsvolle Verehrung. »Ja, das Halsband ist schön«, sagte sie. »Es war schön, will ich sagen. Es würde mich freu en, wenn man anerkennen würde, daß ich es ausgeschlagen habe.« »O Madame, ich habe Herrn von Rohan erblassen sehen, als er von Ihrem heldenmütigen Opfer erfuhr. Gleich darauf füllten sich seine Augen mit Tränen. Ich werde es niemals vergessen.« Die Königin schüttelte lächelnd den Kopf. 94
»Verzeihen Sie, Madame, es steht mir nicht zu, denjenigen zu vertei digen, der das Unglück gehabt hat, Eurer Majestät zu mißfallen.« »Herr von Rohan hat mir nicht mißfallen, er hat mich beleidigt. Doch ich bin Königin und Christin, und ich habe die Beleidigung vergessen. Sie hegen für den Herrn von Rohan eine lebhafte Freundschaft, Gräfin. Ich werde ihn in Ihrer Gegenwart nicht mehr angreifen.« »Ihr Zorn wäre mir lieber als Ihr Spott, Madame. Der Herr Kardinal von Rohan verehrt Eure Majestät so tief, daß er sich zu Tode grämen würde, wenn er wüßte, daß die Königin über ihn lächelt.« »Hat er sich so sehr verändert?« Jeanne sah zu Boden und schwieg abwartend. Die Königin begann, wieder von dem Schmuck zu sprechen, der ihre Phantasie angeregt hatte. »Sie haben das Diamantenhalsband erwähnt. Geben Sie zu, daß Sie viel daran gedacht haben.« »Tag und Nacht, Madame«, gab Jeanne zurück. »Es ist aber auch zu schön, und es würde Eure Majestät so gut kleiden.« »Da ich es ausgeschlagen habe, wird es jetzt verkauft werden.« »Es ist bereits verkauft.« »An den Gesandten von Portugal?« Jeanne verneinte. »An wen denn?« »An Herrn von Rohan.« Die Königin schrak zusammen, aber sie faßte sich gleich wieder, als Jeanne berichtete: »Kaum hatte Herr von Rohan von mir, und ich leug ne nicht, von mir, erfahren, daß Sie auf das Halsband verzichtet haben, als er ausrief: Man wird über die Königin von Frankreich lachen, die kein Geld hat, um sich einen harmlosen Wunsch zu erfüllen. Mit die sen Worten hat er mich verlassen. Eine Stunde später habe ich erfah ren, daß er die Diamanten gekauft hat.« »Um fünfzehnmal hunderttausend Livre?« »Um sechzehnmal hunderttausend Livre.« »Und welche Absicht hatte er bei diesem Kauf?« »Daß wenigstens keine andere Frau auf Erden das Halsband tragen soll.« 95
»Vielleicht hat er es für seine Geliebte gekauft?« »Er würde es eher vernichten, als es an einem anderen Hals als dem der Königin glänzen zu sehen.« Marie-Antoinette dachte einen Augenblick nach. Ihre Gefühle spra chen aus ihrem Gesicht. »Sagen Sie Herrn von Rohan meinen Dank. Sagen Sie ihm, daß ich von seiner Freundschaft überzeugt bin. Ich neh me aber sein Geschenk nicht an …« »Was denn wollen Sie tun, Madame?« »Herr von Rohan hat die Güte gehabt, sein Geld oder seinen Kre dit aufzuwenden. Ich werde es ihm zurückzahlen. In der Schublade dort ist meine Geldbörse. Sie enthält zweihundertundfünfzigtausend Livre, mein vierteljährliches Taschengeld. Der König hat es mir heu te morgen geschickt. Bringen Sie das Geld dem Kardinal und sagen Sie ihm, daß ich jeden Monat für eine angemessene Zahlung sorgen wer de. Auf diese Art bekomme ich das Halsband, das mir so sehr gefallen hat. Und wenn ich mich auch einschränken muß, um es abzuzahlen, so werde ich doch wenigstens den König nicht belasten.« Marie-Antoi nette schwieg einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. »Ich habe gleichzeitig festgestellt, daß ich einen verläßlichen Freund habe.« Sie zögerte. »Und eine Freundin, die mich versteht.« Sie reichte Jeanne mit herzlicher Gebärde die Hand zum Abschied und fügte leise hinzu, so als fürchtete sie sich, es auszusprechen: »Sa gen Sie Herrn von Rohan, daß er mir in Versailles willkommen sein wird. Ich werde ihm meinen Dank persönlich aussprechen.«
Der Kardinal war gerade dabei auszufahren, als Frau von la Motte in seinem Palais ankam. »Sie kommen von Versailles?« fragte er hastig statt jeder Begrüßung. »Ja, Monseigneur«, gab sie schlicht zurück, »ich habe mit der Königin gesprochen. Ich habe auch gewagt, vom Hals band zu sprechen.« »Sie haben ihr gesagt, daß ich daran gedacht habe …« »Es für sie zu kaufen, gewiß.« 96
»Haben Sie ihr gesagt, daß ich ihr die Diamanten als Geschenk an biete?« »Das habe ich gesagt, aber sie hat es abgelehnt.« »Dann bin ich verloren.« Jeanne triumphierte: »Sie hat das Geschenk abgelehnt. Aber als Dar lehen …« »Als Darlehen!« Der Kardinal war außer sich. »Sie haben meinem Anerbieten eine so zarte Wendung gegeben?« Jeanne wehrte das Kompliment ab. Sie sagte nur: »Ihre Majestät hat angenommen.« »Ich leihe der Königin, ich … Gräfin, ist das möglich?« »Das ist mehr, als wenn Sie es ihr schenkten, nicht wahr?« »Tausendmal mehr.« »Das dachte ich mir.« Der Kardinal sprang erregt auf und ergriff Jeannes Hände. Er stam melte: »Meine Dankbarkeit wird nie …« »Sie übertreiben. Verlangen Sie denn sonst nichts, als der Königin anderthalb Millionen zu leihen?« Der Kardinal seufzte. »Die Königin hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß sie Sie mit Vergnügen in Versailles empfangen wird.« Der Kardinal wurde totenblaß vor Erregung. Jeanne beobachtete ihn kühl. Er trat an sie heran: »Meine Freundin«, sagte er und schloß sie in die Arme. Dann fragte er sehr gefaßt: »Wie wird es die Königin mit dem Darlehen halten?« »Sie irren, wenn Sie glauben, die Königin hätte kein Geld. Sie wird Sie ebenso bezahlen, wie sie Böhmer und Bossange bezahlt haben wür de, allerdings mit dem Unterschied, daß es ganz Paris erfahren hät te, wenn sie von Böhmer gekauft hätte. Sie, Monseigneur, sind ein ver schwiegener Gläubiger. Die Königin ist glücklich darüber, und sie be zahlt. Mehr können Sie nicht verlangen.« Jeanne zog die Geldbörse Marie-Antoinettes aus ihrer Tasche. »Die Königin schickt Ihnen die se Börse mit einem schönen Gruß. Sie enthält zweihundertfünfzigtau send Livre.« 97
»Sie sind die gescheiteste Freundin!« Der Kardinal umarmte Jean ne stürmisch. »Sie übertreiben, ich habe nur Glück gehabt.« »Wenn Sie nur Glück gehabt haben, meine Liebe, so ist es mir genau so ergangen wie Ihnen. Ich habe auch etwas für Sie getan.« Der Kardi nal erklärte rasch: »Mein Bankier bot mir heute Aktien an. Ich nahm einen Teil für Sie. Zwei Stunden später kam er zurück. Die Aktien wa ren um hundert Prozent gestiegen. Hier ist Ihr Anteil.« Der Kardinal zog aus dem Päckchen der zweihundertfünfzigtausend Livre, die ihm die Königin geschickt hatte, fünfundzwanzigtausend Livre und ließ sie in Jeannes Hand schlüpfen. »Danke, Monseigneur.« Jeanne lächelte den Kardinal strahlend an. »Wer empfängt, soll auch geben. Es schmeichelt mir, daß Sie an mich gedacht haben.« »Es wird immer so sein«, erwiderte er. Sie sagte zum Abschied: »Auf baldiges Wiedersehen in Versailles!«
XV
Herr von Calonne, der Finanzminister des Königs von Frankreich, war ein glatter Höfling. Niemand ahnte, daß er darauf hinarbeitete, den König und den Adel in weniger als zwei Jahren in den Bankerott zu treiben. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, daß ihn Marie-Antoinette in einer dringenden Angelegenheit zu sehen gewünscht hatte. Er trat mit einem Lächeln auf den Lippen auf die Königin zu. Sie empfing ihn sehr freundlich und bat ihn, Platz zu nehmen. Sie plau derte erst von bedeutungslosen Dingen. Dann fragte sie: »Haben wir Geld, mein lieber Herr von Calonne?« »Gewiß, Madame. Wir haben immer Geld.« 98
»Das ist herrlich. Als Finanzmann sind Sie unbezahlbar.« »Welche Summe brauchen Eure Majestät?« fragte er. »Erklären Sie mir zuerst, wie Sie es machen, dort Geld zu finden, wo es angeblich keins gibt?« Calonne erwiderte mit einem unheimlichen Lächeln: »Ich stehe da für ein, daß man bezahlen wird.« »Haben Sie einen Plan?« »Ich habe einen Plan, der zwanzig Millionen in die Taschen der Fran zosen und sieben bis acht in die Ihre bringen wird« – er verbesserte sich – »verzeihen Sie, Madame, in die Kasse Seiner Majestät.« »Diese Millionen werden willkommen sein. Woher werden sie flie ßen?« »Es ist Eurer Majestät nicht unbekannt, daß die Goldmünze nicht in allen Staaten Europas den gleichen Wert hat.« »Wenn Sie immer solche Ideen haben, bin ich sicher, daß Sie alle un sere Schulden bezahlen werden«, gab Marie-Antoinette oberflächlich zurück. Der Gedanke, der sie beschäftigte, war ihr wichtiger als die Ideen des Herrn von Calonne. Er beobachtete sie scharf. »Erlauben Sie mir, Madame, daß ich Sie frage, was Sie von mir wünschen?« »Wäre es möglich …« Marie-Antoinette wurde unsicher. »… hätten Sie vielleicht …« »Welche Summe?« »Fünfmal hunderttausend Livre.« »Aber Madame«, rief Calonne mit einer geringschätzigen Handbe wegung, »Eure Majestät haben mir Angst gemacht. Ich glaubte, es han delte sich um eine wirkliche Summe.« »Sie können also? Ohne daß der König …« »Das ist unmöglich«, fiel Herr von Calonne ein. »Alle meine Rech nungen werden dem König jeden Monat vorgelegt. Aber es ist noch nie vorgekommen, daß er sie geprüft hat. Und ich bin stolz darauf.« »Wann kann ich das Geld haben?« Sie erklärte: »Ich brauche es am Fünften des nächsten Monats.« »Sie werden Ihr Geld am Dritten haben, Madame.« 99
»Ich danke Ihnen, Herr von Calonne. Dieses Geld macht mir Gewis sensbisse. Es dient nämlich zur Befriedigung einer Laune.« »Möge niemand andere Gewissensbisse haben als die Eurer Majestät, und wir werden alle geraden Weges ins Paradies einziehen.« »Ihre Meinung beruhigt mich, Herr von Calonne. Es wäre ein grausa mes Gefühl für mich, wenn das arme Volk für meine Launen bezahlte.« Der Finanzminister lächelte sein böses Lächeln. »Seien Sie ohne Sor ge, Madame, ich schwöre Ihnen, es wird nie das arme Volk sein, das bezahlt.« »Sie können es auf sich nehmen, das zu schwören?« »Gewiß kann ich das«, erwiderte der Minister ungerührt. »Das kann ich, weil das arme Volk nichts mehr hat, und weil dort, wo nichts ist, sogar der Kaiser sein Recht verliert … auch der König«, setzte er hinzu und verbeugte sich zum Abschied. Kaum hatte Herr von Calonne die Gemächer der Königin verlassen, als die Türe des Boudoirs sich auftat. Die Gräfin la Motte erschien im Türrahmen, »Madame«, sagte sie geheimnisvoll, »er ist da.« »Der Kardinal?« fragte Marie-Antoinette. Sie konnte nichts weiter sagen, Jeanne hatte Herrn von Rohan schon hereingeführt und ent fernte sich sogleich wieder. Der Kardinal verbeugte sich tief. Die Köni gin war durch seine taktvolle Zurückhaltung angenehm berührt. Sie streckte dem Kardinal ihre Hand entgegen. Er machte einige Schritte in ihre Richtung und sagte bewegt: »Glauben Sie mir, Madame, wenn ich Ihnen erkläre …« »Erklären Sie mir nicht«, unterbrach ihn die Königin. »Zeigen Sie sich mir immer nur in dem neuen Licht, in dem ich Sie jetzt sehe: ge fällig, ehrerbietig, ergeben …« »… bis in den Tod«, fiel der Kardinal ein. »Bis jetzt haben Sie mir bewiesen, daß Ihre Ergebenheit soweit reicht, sich für mich zu ruinieren«, lächelte Marie-Antoinette. »Das ist sehr schön, aber ich werde dafür sorgen, daß es nicht so weit kommt. Sie ha ben für mich gebürgt, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber ich bitte Sie, kümmern Sie sich nicht mehr um die Angelegenheit, die von der ersten Zahlung an nur mehr mich allein angeht.« 100
Der Kardinal verbeugte sich wieder. »Dann habe ich Eurer Majestät nur noch das Halsband zu überreichen.« Er nahm das Etui aus seiner Tasche und hielt es der Königin hin. Sie zitterte vor Freude. Sie unterdrückte aber das Verlangen, das Etui zu öffnen. Der Kardinal versuchte, eine höfliche Konversation in Gang zu bringen, aber sie hörte nur noch zerstreut zu, sie dachte nur mehr an die Diamanten. Aus Zerstreuung überließ sie auch dem Kardinal ihre Hand, die er entzückt küßte. Er verließ die Königin begeistert und voll der schön sten Hoffnungen. Die Gräfin la Motte erwartete den Kardinal in ihrem Wagen. Nach dem er ihr seine Dankbarkeit beteuert hatte, fragte sie sachlich: »Was haben Sie erreicht?« Er suchte nach Worten. »Wenn Sie mithelfen«, er zögerte, dann voll endete er bestimmt, »kann ich in drei Wochen Minister sein.« »Drei Wochen sind ziemlich lang«, erwiderte Jeanne, »wenn man be denkt, daß die erste Rate für das Halsband schon in zwei Wochen fäl lig ist.« »Aber die Königin hat Geld und will bezahlen …« Der Kardinal un terbrach sich. »Ich muß gestehen, daß es mir mehr Freude gemacht hätte, wenn die Königin meine Schuldnerin geworden wäre.« Jeanne lächelte. »Monseigneur, eine innere Stimme sagt mir, daß Sie dieses Vergnügen haben werden. Sind Sie darauf vorbereitet?« »Ich habe meine letzten Güter verkauft und meine Einkünfte für das nächste Jahr verpfändet.« »Sie haben also die fünfhunderttausend Livre flüssig?« »Ich habe sie flüssig. Nur weiß ich nicht, woher ich das Geld für die zweite Rate nehmen sollte.« »Die erste Zahlung gibt uns ein Vierteljahr Atempause«, sagte Jean ne, »und wenn Sie drei Monate lang Minister sind, was kann da nicht alles geschehen!« »Aber Gräfin!« »Regen Sie sich nur nicht auf, lieber Kardinal. Seien Sie nicht so kor rekt. Wenn Sie nicht selbst für Ihren Vorteil sorgen, werden es Ihre 101
Verwandten für die eigene Tasche tun, und Sie werden nichts davon haben.« »Sie haben wie immer recht, liebe Jeanne. Und wohin gehen Sie jetzt?« »Zur Königin. Ich möchte hören, welchen Eindruck Ihr Besuch ge macht hat. Und was werden Sie tun?« »Ich muß leider nach Paris zurück.« Er erklärte: »Wegen einer Ver abredung, um die ich heute morgen gebeten wurde. Nach dem Brief zu schließen, scheint die Verabredung ernster Natur zu sein. Lesen Sie.« »Eine männliche Handschrift«, stellte Jeanne fest und las den Brief halblaut: »Monseigneur, es wünscht Sie jemand wegen der Rückzah lung einer bedeutenden Summe zu sprechen. Diese Person wird Sie heute abend in Paris besuchen, um die Ehre einer Audienz zu erlan gen.« Jeanne gab dem Kardinal den Brief zurück. »Nun, so gehen Sie. Fahren Sie mit Gott, Monseigneur.« »Ich freue mich, Sie bald wiederzusehen.« Jeanne legte ihm die Hand auf den Arm. »Was würden Sie tun, wenn Ihnen unerwartet eine große Summe einginge, etwas Verlorenes, ein Fund, ein Schatz?« Der Kardinal lachte. »Ich begreife, was Sie wollen. Die Hälfte für Sie, nicht wahr?« »Ja, Monseigneur!« »Sie bringen mir Glück, Gräfin. Warum sollte ich es nicht mit Ihnen teilen? Ist das in Ordnung? Und was ist die zweite Sache?« Sie sah ihn beschwörend an. »Lassen Sie sich nicht einfallen, die fünfhunderttausend Livre anzugreifen.« »Seien Sie unbesorgt«, lächelte der Kardinal und eilte zu seinem Wa gen. Er fuhr glückselig und voll von Ideen nach Paris. Er sah sich schon als Minister und versöhnte in seinen Gedanken die Geistlichkeit mit dem Volk. Er würde auch der von ihm angebeteten Königin eine Po pularität ohnegleichen verschaffen. Das war sein Traum. Der Kardinal glaubte sich bei seiner Rückkehr in sein Pariser Haus schon am Ziel. Er verbrannte eine Kiste mit Liebesbriefen und rief 102
nach seinem Sekretär, als sein Kammerdiener eintrat und den Grafen von Cagliostro meldete. Als sich die Türen hinter dem Besucher schlossen, rief der Kardinal erschrocken: »Großer Gott, wen sehe ich!« Die dunklen, lächelnden Augen gaben den Spott preis. »Nicht wahr, Monseigneur, ich habe mich nicht verändert.« Der Kardinal stammelte: »Ist es möglich … Josef Balsamo wieder auferstanden unter einem anderen Namen?« Er war so bestürzt, daß er Cagliostro nicht einmal einen Stuhl anbot. Aber der Graf setzte sich unaufgefordert ihm gegenüber und wandte den Blick nicht von dem erschrockenen Kirchenfürsten. Der Kardinal murmelte: »Sie geben mich jener Zeit zurück, wo die Zauberkraft Ihrer Worte alle meine Fähigkeiten verdoppelte. Erinnern Sie sich noch, es ist siebzehn Jahre her, daß ich Sie kennenlernte.« »Ich erinnere mich. Aber erinnern Sie sich, Monseigneur, daß ich Ih nen die Liebe einer Frau versprach?« Der Kardinal wurde rot und blaß. »Ich erinnere mich«, sagte er lei se. »Wir wollen sehen«, meinte Cagliostro, lächelnd, »ob ich noch ein Zauberer bin. Warten Sie doch …« Er gab sich den Anschein, als däch te er angestrengt. »Die blonde junge Frau Ihrer Sehnsucht«, er schloß die Augen und fragte beschwörend: »Wo ist sie? Was macht sie?« Er lehnte sich zurück. »Bei Gott, ich sehe sie … und Sie selbst haben sie heute gesehen …« Er öffnete die Augen und stellte fest: »Sie kommen von ihr.« Der Kardinal war leichenblaß. »Mein Herr«, er atmete tief, »ich bit te …« »Wollen Sie, daß wir von etwas anderem sprechen?« fragte Cagliostro in höflichem Ton. »Ja«, erwiderte Rohan. Er erholte sich langsam. »Sprechen wir von der Geldangelegenheit.« »Die ich Ihnen in meinem Brief angedeutet habe?« »Ich nehme an, das war nur ein Vorwand, um unsere Bekanntschaft zu erneuern.« 103
»Durchaus nicht, Monseigneur, denn bei dieser Rückzahlung, über die ich Ihnen geschrieben habe, handelt es sich um fünfmal hundert tausend Livre. Und das ist immerhin eine ziemlich bedeutende Sum me.« »Und zwar eine Summe, die Sie mir damals so zuvorkommend gelie hen haben.« Der Kardinal fuhr sich mit der Hand über seine schweiß nasse Stirne. »Ganz recht, Monseigneur, ich habe Ihnen diese Summe geliehen. Es freut mich, daß ich bei einem so hoch geborenen Mann wie Sie ein so gutes Gedächtnis finde.« »Ich habe einen Augenblick geglaubt«, sagte der Kardinal mühsam lächelnd, »Josef Balsamo habe seine Forderung mit ins Grab genom men, so wie er meinen Empfangsschein ins Feuer geworfen hatte.« »Monseigneur«, erwiderte Cagliostro feierlich, »daß Leben Josef Bal samos ist genauso unzerstörbar wie der Empfangsschein, den Sie ver nichtet glaubten.« Er überreichte dem Kardinal ein zusammengefalte tes Papier. »Das ist mein Schuldschein«, bestätigte er. »Aber warum haben Sie länger als zehn Jahre auf die Zahlung einer solchen Summe gewar tet?« »Ich wußte, daß das Geld in guten Händen war, aber jetzt haben mich die Ereignisse«, er erklärte, »das Spiel und Betrüger um mein ganzes Vermögen gebracht. Da ich den Rest meines Vermögens bei Ihnen in Sicherheit wußte, wartete ich gelassen bis zum letzten Augenblick.« »Und dieser Augenblick ist gekommen? Sie können sich nicht län ger gedulden?« »Unmöglich«, erwiderte Cagliostro mit verbindlichem Lächeln. »Sie fordern also Ihr Geld heute von mir zurück?« »Wenn ich bitten darf.« Der Kardinal war völlig verzweifelt. Er suchte nach einem Ausweg und sagte: »Herr Graf, die unglücklichen Fürsten der Erde improvisie ren nicht so rasch ein Vermögen wie die Herren Zauberer.« »Glauben Sie mir, Monseigneur, ich würde diese Summe nicht von Ihnen fordern, wenn ich nicht wüßte, daß Sie sie besitzen.« 104
»Ich besäße eine halbe Million Livre?« fragte der Kardinal vorsichtig. »Ja, Sie besitzen eine halbe Million Livre«, bestätigte Cagliostro. »Fünfzigtausend Livre in Gold, zehntausend in Silber, den Rest in Pa pieren. Das Geld befindet sich dort im Schrank.« »Sie wissen das?« »Ich weiß es, Monseigneur, und ich weiß auch, mit welchen Opfern Sie sich diese Summe beschafft haben.« »Es ist so, ich kann es nicht leugnen. Aber ich kann nur nicht ver stehen, warum Sie so lange Jahre geschwiegen haben. Im Laufe dieser Jahre hätte ich zwanzigmal Gelegenheit gehabt, Ihnen die Schuld zu rückzuzahlen, ohne daß es mir schwer geworden wäre.« »Während es Ihnen heute schwerfällt?« fragte Cagliostro. »Es fällt mir besonders schwer.« Der Kardinal schüttelte den Kopf über sich selbst. »Ich weiß, daß mein Schuldschein keinen Zeitpunkt für die Rückzahlung festsetzt.« »Eminenz werden entschuldigen, wenn ich mich auf den Wortlaut des Schuldscheines berufe.« Er las vor: »Ich bescheinige, von Herrn Jo sef von Balsamo die Summe von fünfhunderttausend Livre empfangen zu haben, die ich ihm auf seine erste Forderung zurückzahlen werde. Unterz. Louis von Rohan.« Der Kardinal zitterte. Er hatte nicht nur die Schuld vergessen, son dern auch den Wortlaut des Schuldscheines. »Sie sehen, daß ich nichts Unmögliches verlange«, sagte Cagliostro gelassen. »Sie können nicht zahlen. Gut, ich will es glauben. Nur be daure ich, daß Eure Eminenz zu vergessen scheinen, daß ich Ihnen die Summe aus freien Stücken geliehen habe, obgleich ich Sie nur dem Namen nach kannte. Sie waren damals in Verlegenheit. Und ich soll te meinen, daß das sehr anständig von mir war. Sie hätten es bei der Rückzahlung ebenso halten können.« Cagliostro faltete die Quittung mit der größten Ruhe zusammen. »Sprechen wir nicht mehr davon.« Er erhob sich. »Gott befohlen, Monseigneur.« Der Kardinal hielt ihn zurück. »Herr Graf, ein Rohan duldet nicht, daß ihm jemand eine solche Lektion erteilt. Geben Sie nur den Schein, damit ich ihn einlöse.« 105
Jetzt schien Cagliostro zu zögern. Das verstörte Gesicht des Kardi nals, die eingefallenen Augen und die zitternde Hand schienen sein Mitleid zu erregen. Der Kardinal, so stolz er auch war, erriet den Gedanken Cagliostros. Einen Augenblick hoffte er. Plötzlich aber verhärtete sich der Blick des Grafen, und er reichte dem Kardinal den Schuldschein. Louis von Rohan bewahrte Haltung und ging zu dem Schrank, von dem Cagliostro gesprochen hatte. Er wies auf ein Bündel Papiere, dann auf mehrere Säcke mit Silbergeld und zog eine mit Gold gefüllte Schub lade auf. »Monseigneur, ich spreche Ihnen meinen Dank aus und versichere Sie meiner ehrerbietigsten Hochachtung.« Cagliostro steckte das Bün del mit den Papieren in die Tasche. »Ich lasse mit Ihrer Erlaubnis das Gold und das Silber abholen«, sagte er und verneigte sich höflich zum Abschied. »Dieser Schlag trifft zum Glück nur mich«, seufzte der Kardinal, als sich die Türe hinter dem Grafen Cagliostro geschlossen hatte, »da die Königin zahlen kann und von ihr kein unerwarteter Josef Balsa mo eine rückständige Schuld von einer halben Million Livre fordern wird.«
XVI
Zwei Tage vor dem Termin, an dem die Königin ihre Zahlung leisten sollte, hatte Herr von Calonne sein Wort noch nicht halten können, da der König die Überprüfung der Rechnungen noch nicht vorgenom men hatte. Der Minister entschuldigte sich wegen der Verzögerung bei der Königin und teilte ihr mit, daß die ihm von Ihrer Majestät aufge tragene Angelegenheit in der heutigen Sitzung erledigt würde. 106
Marie-Antoinette, die sich schon Sorgen gemacht hatte, war beruhigt und ging mit der Prinzessin von Lamballe und dem Grafen von Artois im Park spazieren, während sich der König in die Sitzung begab. Ludwig XVI. war schlechter Laune. Aus Rußland waren schlimme Nachrichten gekommen. Ein Schiff war im Golf von Lyon untergegan gen. Einige Provinzen verweigerten die Steuerzahlung. Der König war mit der ganzen Welt zerfallen. Verdrießlich kritzelte er Ornamente auf ein Papier, und er hielt den Kopf gesenkt. Er liebte es nicht, den Leu ten ins Gesicht zu sehen, er war schüchtern. Er gab keine Silbe von sich und ließ die auswärtige Korrespondenz verlesen, so als begriffe er kei ne Silbe. Als aber die monatlichen Rechnungsvorlagen für den Staats haushalt an die Reihe kamen, wurde er aufmerksam. Herr von Ca lonne hatte begonnen, eine Abschrift der für das folgende Jahr vor geschlagenen Anleihe zu verlesen. Der König unterbrach die Lesung: »Immer Anleihen, ohne zu wissen, wie man sie zurückgeben wird, das ist doch ein schwieriges Problem, Herr von Calonne.« »Sire, das Problem heißt nicht: womit wird man zurückgeben? Es heißt vielmehr: wird man Gläubiger finden?« Der König gab keine Antwort, aber sein Gekritzel wurde unüber sichtlich. Nachdem Herr von Calonne seinen Plan auseinandergesetzt und die Zustimmung seiner Kollegen erwirkt hatte, unterzeichnete der König, ohne ein Wort zu verlieren. »Nun, da wir Geld haben, geben wir aus«, lachte Herr von Calonne. Er legte dem König einen Etat über Pensionen, Gratifikationen, Ge schenke und Belohnungen vor. Die Arbeit war kurz und genau erläu tert. Der König flog sie durch. Er betrachtete die Ziffern. Die Gesamt summe machte ihn stutzig. Er ließ die Feder sinken. »Eine Millionen und hunderttausend Livre! Wie ist das möglich bei so wenig Posten!« »Sire, von den elfhunderttausend Livre beträgt ein Posten allein eine halbe Million.« »Was für ein Posten ist das?« »Ein Vorschuß für Ihre Majestät die Königin, Sire.« »Für die Königin?« fragte Ludwig, »Fünfmal hunderttausend Livre für die Königin? Das ist unmöglich, Herr von Calonne!« 107
»Sire, wenn die Königin Geld nötig hat, und man weiß, wie Ihre Ma jestät Gebrauch davon macht, so ist es nichts Außerordentliches …« »Nein, nein!« rief der König. Er wollte Marie-Antoinette mit seiner Sparsamkeit imponieren. »Die Königin verlangt diese Summe nicht, Herr von Calonne. Sie hat mir selbst gesagt, ein Kriegsschiff ist mir mehr wert als Juwelen. Ich stehe dafür ein, daß die Königin wartet.« Die Minister zollten diesem patriotischen Erguß des Königs unter tänigen Beifall. Nur Herr von Calonne, der die Verlegenheit der Köni gin kannte, beharrte auf der Genehmigung. »Ich muß sagen, Herr von Calonne, Sie sind mehr um uns besorgt als wir selbst. Beruhigen Sie sich! … Besagter Posten …« Der König griff entschlossen zur Feder, »… wird gestrichen«, sagte er majestä tisch. »Und ich weiß, daß mir die Königin danken wird.« Mit diesem heldenmütigen persönlichen Opfer zufrieden, unter schrieb der König alles übrige in blindem Vertrauen. Und er zeichnete ein schönes Zebra, umgeben von Nullen, auf das vor ihm liegende Pa pier. »Ich habe heute fünfhunderttausend Livre gewonnen! Ein schö ner Tag, Herr von Calonne«, sagte er. »Sie werden diese gute Nachricht der Königin überbringen. Und Sie werden sehen, was sie dazu sagt.« »Sire, ich wäre in Verzweiflung, wenn ich Ihnen die Freude dieser Mitteilung rauben wollte. Jeder nach seinen Verdiensten.« »Na schön«, erwiderte der König. »Genug der Arbeit, beendigen wir die Sitzung. Dort kommt die Königin, gehen wir ihr entgegen, Calon ne.« »Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung, ich habe dringende Ge schäfte.« Während sich der Finanzminister so schnell wie möglich aus dem Staube machte, ging der König strahlend auf Marie-Antoinette zu, die ihm am Arm des Grafen von Artois entgegenkam. Er fragte höflich: »Madame, haben Sie einen angenehmen Spaziergang gemacht?« »Ja, Sire. Und Sie haben währenddessen fleißig gearbeitet?« »Urteilen Sie selbst, Madame. Ich habe fünfhunderttausend Livre für Sie verdient.« »Calonne hat Wort gehalten«, dachte die Königin. 108
»Stellen Sie sich vor«, fuhr Ludwig XVI. fort, »Calonne hatte Sie in seiner Kreditvorlage mit einer halben Million Livre angeführt.« »Wirklich?« entgegnete Marie-Antoinette lächelnd. »Und ich … ich habe sie durchgestrichen und mit einem Federstrich fünfmal hunderttausend Livre gewonnen.« »Sie haben sie durchgestrichen?« »Jawohl! Das wird Ihnen ungeheuer nützen, Madame. Und jetzt ver spüre ich großen Hunger und ziehe mich in meine Gemächer zurück. Oder habe ich mein Abendbrot vielleicht nicht verdient?« Seelenver gnügt über seinen Wortwitz eilte Ludwig XVI. davon. »Ein Wort, Sire …«, rief Marie-Antoinette. Da der König sie nicht mehr gehört hatte, blieb sie bestürzt zurück. Der Graf von Artois brach das peinliche Schweigen. »Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen, liebe Schwägerin?« Er scherzte: »Ich bin je denfalls gewarnt. Auch ich wollte morgen um einen Kredit bitten. Gu ten Abend, Madame.« Nach langem Nachdenken faßte Marie-Antoinette einen Entschluß. »Man hole die Gräfin la Motte«, befahl sie ihrer Kammerfrau, »wo sie auch sein mag, und auf der Stelle.« Eine Stunde später traf die Gräfin la Motte in Versailles ein und wur de unverzüglich zur Königin geführt. »Ah, da sind Sie endlich!« rief Marie-Antoinette Jeanne entgegen. »Ich habe eine Neuigkeit.« »Eine gute, Madame?« »Urteilen Sie selbst.« Sie erklärte ohne Umschweife: »Der König hat die fünfhunderttausend Livre verweigert.« »Großer Gott«, murmelte die Gräfin. Marie-Antoinette fuhr fort: »Er hat die von Herrn von Calonne schon ausgefertigte Anweisung durchgestrichen. So etwas kann nur mir passieren. Doch genug davon, was einmal geschehen ist, das ist nicht zu ändern. Aber Sie, Gräfin, Sie müssen gleich nach Paris zu rückkehren und dem Kardinal sagen, daß ich seine fünfhunderttau send Livre, die er mir so bereitwillig angeboten hat, bis zum nächsten Quartal als Darlehen annehme. Das ist sehr egoistisch von mir, aber ich weiß keinen anderen Ausweg.« 109
»Oh, welch ein Unglück, Madame.« Jeanne verlor beinahe die Stim me: »Der Kardinal hat kein Geld mehr.« »Kein … Geld … mehr?« stammelte die Königin. »Madame«, erklärte Jeanne, »Herr von Rohan mußte eine Schuld be gleichen, an die er nicht mehr dachte. Es war eine Ehrenschuld. Er hat bezahlt.« »Fünfmal hunderttausend Livre?« »Ja, Madame. Vor zwei Stunden hat er mir sein Mißgeschick erzählt, und es läßt sich nicht wiedergutmachen. Es war sein letztes Geld … alle seine Mittel sind erschöpft.« Marie-Antoinette griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Es muß etwas geschehen, Gräfin«, sagte sie nach einer Weile, »so schön das Halsband auch sein mag, Sie werden es den Juwelieren wieder zu rückbringen.« »Aber Madame, Eure Majestät haben zweihundertfünfzigtausend Livre angezahlt. Und was soll ich tun, wenn die Juweliere Schwierig keiten machen, die Anzahlung zurückzugeben?« »Damit rechne ich und überlasse den Juwelieren die Anzahlung un ter der Bedingung, daß der Verkauf rückgängig gemacht wird. Jetzt ist mir leichter ums Herz, Gräfin. Nehmen Sie das Etui sofort mit. Die Juweliere machen ein gutes Geschäft. Sie werden sich nicht beklagen, niemand wird davon erfahren.« »Aber Herr von Rohan, Madame?« »Der Kardinal wollte mir Vergnügen machen. Sagen Sie ihm, jetzt ist es mein Vergnügen, das Halsband nicht mehr zu haben. Er wird es ver stehen.« Mit diesen Worten reichte die Königin Jeanne das geschlos sene Etui. »Sie dürfen keine Zeit verlieren«, drängte sie. »Fahren Sie rasch zurück. Gehen Sie zuerst in Ihre Wohnung, denn ich befürchte, ein Besuch bei den Juwelieren zu so später Stunde könnte Verdacht bei der Polizei erregen. Erst wenn Sie sicher sind, daß Ihnen niemand ge folgt ist, gehen Sie zu Böhmer und Bossange. Und bringen Sie mir ei nen Empfangsschein von ihnen.« »Madame«, Jeanne verneigte sich, »da Sie es wünschen, soll es ge schehen.« 110
XVII
Ihrem Auftrag entsprechend fuhr Jeanne zuerst nach Hause. Sie war nachdenklich und zerstreut. In ihrem Schlafzimmer öffnete sie das Etui und betrachtete die funkelnden Steine mit lüsternen Blicken. Dann nahm sie das Halsband heraus. Fünfzehnmal hunderttausend Livre in einer hohlen Hand. Diese Diamanten haben einen Wert, den jedermann kennt, schätzt, bewundert und auch dafür bezahlt … in London, in Berlin, in Madrid, sogar in Brasilien. – »Doch woran denke ich«, sagte sie plötzlich halblaut. »Entweder ich muß jetzt den Kardinal aufsuchen oder den Juwelieren das Halsband zurückgeben.« Sie erhob sich, die Diamanten noch immer in ihrer Hand. Sie über legte: In welcher Form soll ich eigentlich den Empfangsschein von den Juwelieren abfassen lassen? Das erfordert viel Diplomatie. Der Schein darf weder die Königin noch den Kardinal, noch mich verbindlich ma chen. »Das kann ich nicht allein tun, ich brauche einen Rat.« Eine Stunde lang saß Jeanne auf dem Sofa, die Diamanten krampf haft umschließend, den glühenden Kopf voll verworrener Gedanken. Plötzlich wurde sie ruhig. Sie hatte einen Plan, der ihr von Minute zu Minute besser gefiel. Es war zwei Uhr morgens. Langsam stand sie auf und läutete ihrer Kammerfrau. »Holen Sie mir einen Wagen«, befahl sie mit fester Stimme. Zehn Minuten später hielt der Wagen mit der Gräfin la Motte vor dem Haus Reteau de Villettes, des berüchtigten Journalisten und Pam phletschreibers. Am nächsten Morgen übersandte die Gräfin la Motte der Königin ei nen Brief mit einem Empfangsschein der Juweliere. Diese wichtige Ur kunde war folgendermaßen abgefaßt: »Wir, die Unterzeichneten, be stätigen, das ursprünglich an die Königin gegen eine Summe von sech 111
zehnmal hunderttausend Livre verkaufte Diamantenhalsband wieder in Besitz genommen zu haben. Ihre Majestät die Königin hat uns für unsere Bemühungen und Auslagen durch die Überlassung der Anzah lung von zweihundertfünfzigtausend Livre entschädigt. Unterz. Böh mer und Bossange.« Marie-Antoinette war beruhigt. Diese leidige Angelegenheit hatte sie belästigt. Sie verschloß den Schein in ihrem Arbeitstisch und dachte nicht mehr daran.
Als der Kardinal von Rohan die Juweliere zwei Tage später besuchte, empfing Böhmer seinen vornehmen Kunden zuvorkommend. »Heute ist der erste Zahlungstermin«, begann der Kardinal ein we nig besorgt. Er fragte: »Hat die Königin bezahlt?« »Nein, Monseigneur«, erwiderte Böhmer, »Ihre Majestät konnte nicht bezahlen. Ganz Paris spricht davon, daß der König Herrn von Calonne abgewiesen hat.« »Ganz Paris spricht davon – gerade das ist der Grund, der mich hier herführt.« »Ihre Majestät hat den besten Willen«, versicherte Böhmer eifrig. »Da die Königin nicht bezahlen konnte, hat sie die Schuld garantiert, und mehr verlangen wir nicht. Gestern abend überbrachte uns ein geheimer Kurier einen Brief Ih rer Majestät.« »Einen Brief? An Sie, Böhmer? Lassen Sie sehen.« »Ich würde Ihnen den Brief gern zeigen, wenn wir nicht unser Wort gegeben hätten, ihn niemand sehen zu lassen. Ihre Majestät befiehlt Geheimhaltung.« »Das ist etwas anderes.« Der Kardinal vergewisserte sich: »Sie haben also gute Garantien, und die Königin hat die Schuld in gebührender Form anerkannt?« »Ihre Majestät verpflichtet sich, in drei Monaten fünfmal hundert tausend Livre zu zahlen. Den Rest nach Ablauf eines halben Jahres.« 112
»Meine Verpflichtung Ihnen gegenüber ist dadurch also aufgehoben, meine Herren«, erklärte der Kardinal zufrieden. »Wir machen sicher bald ein anderes Geschäft.« Jeanne hatte die Entwicklung der Dinge mit fieberhafter Erregung verfolgt: Keine Unruhe bei den Juwelieren, kein Mißtrauen bei der Kö nigin, kein Zweifel beim Kardinal. Sie sprach sich zu: »Ich habe also drei Monate Zeit.« Sie entschloß sich, mit einem Edelsteinhändler in Verbindung zu treten, um für hunderttausend Taler Diamanten zu verkaufen. Damit konnte sie bequem nach England oder Rußland reisen und fünf bis sechs Jahre angenehm leben. Den Rest der Diamanten würde sie dann so vorteilhaft wie möglich einzeln an den Mann bringen. Doch es ging nicht alles nach Jeannes Wünschen. Als sie den ersten Diamanten zwei Kennern zeigte, erschrak sie über das Erstaunen und das zurückhaltende Benehmen. Der eine bot verächtliche Summen, der andere geriet in Ekstase über die Schönheit der Steine und sagte, er habe nie ähnliche gesehen, außer im Halsband der Herren Böhmer und Bossange. Jeanne war gewarnt. Sie begriff, daß die geringste Unvorsichtig keit den Schandpfahl und lebenslängliches Gefängnis mit sich brin gen würde. Sie versteckte die Diamanten an einem sicheren Ort und entschloß sich, alles auf eine Karte zu setzen. Die größte Schwierig keit, die sie voraussah, war, den Kardinal daran zu hindern, mit Ma rie-Antoinette zu sprechen. Als Prinz hatte er aber das Recht, mehre re Male im Jahr die Königin zu sehen, und da er verliebt war, würde er von dem Recht Gebrauch machen. Also brauchte Jeanne eine Möglichkeit, Herrn von Rohan und die Königin zu erpressen. Sie brauchte eine Anklage, bei der die Königin erröten und der Kardinal erblassen müßte. Eine glaubhafte Anklage, damit Jeanne als Vertraute der zwei Hauptschuldigen von allem Ver dacht reingewaschen werden würde. Jeanne rückte ihren bequemen Sessel nah an das Fenster. »Es lohnt der Mühe, daß man nachdenkt.« Das Haus, das die Gräfin la Motte von ihrem Fensterplatz aus sehen 113
konnte, hatte erst vor einigen Tagen seinen Besitzer gewechselt. Der Graf Cagliostro hatte es der Einfachheit halber gekauft, um Oliva vor der Polizei verstecken zu können. Cagliostro hatte für alle Bedürfnisse Olivas gesorgt und erkundigte sich zweimal in der Woche höflich, ob sie ihr Leben angenehm finde. Sie fühlte sich geschmeichelt, von diesem vornehmen Herrn beschützt zu werden. Sie wäre glücklich gewesen, wenn sie sich nicht gelangweilt hätte. Seit vierzehn Tagen war sie allein, und sie war ziemlich gereizt, als ihr Cagliostro einen unerwarteten Besuch abstattete. »Mein Herr, ich langweile mich!« rief sie zur Begrüßung. »Sie haben Langeweile? Das ist ein schlimmes Zeichen, liebes Kind.« »Es gefällt mir nicht mehr hier, ich kann es nicht länger aushalten. Ich komme auf schlimme Gedanken.« »Wenn es Ihnen bei mir nicht gefällt, so dürfen Sie doch nicht mit mir böse sein, sondern mit der Polizei. Sie sind ungerecht.« »Sie haben gut reden. Sie kommen und gehen und können tun, was Sie wollen, während ich hier in diesem kleinen Zimmer nicht einmal richtig atmen kann. Und was ist mit Beausire geschehen? Sie wollten mir doch Nachricht von ihm geben? Was macht er? Wo ist er?« »Er hat sich in einen kleinen Handel eingelassen. Ich muß gestehen, er hatte einen großartigen Einfall, aber die Polizei hat keinen Humor und nennt das Diebstahl!« »Er ist verhaftet?« »Nein, aber er wird gesucht. Aber bedenken Sie doch, welch ausge zeichneter Schachzug der Polizei … Sie durch Herrn von Beausire und ihn durch Sie festnehmen zu wollen.« »Um Gottes willen, er muß sich verbergen. Ich will ja auch verborgen bleiben. Lassen Sie mich doch aus Frankreich fliehen.« Sie ergriff seine Hände. »Versuchen Sie doch, mir dabei zu helfen. Denn vielleicht wür de ich hier eines Tages eine Unvorsichtigkeit begehen.« »Was nennen Sie eine Unvorsichtigkeit?« »Mir ein bißchen frische Luft verschaffen.« »Aber bitte, atmen Sie doch soviel frische Luft wie Sie wollen. Sie sind 114
auch wirklich schon ganz blaß. Wenn das so weitergeht, wird Herr von Beausire Sie am Ende nicht mehr lieben. Das kann ich nicht verant worten. Von heute an sollen Sie die oberste Etage dieses Hauses bezie hen. Es ist eine aus drei Zimmern bestehende Wohnung mit Aussicht auf den Boulevard. Sie könnten dort vielleicht von einigen Nachbarn gesehen werden, aber es sind friedliche Nachbarn, von denen Sie nichts zu befürchten haben. Den Nachbarn können Sie sich zeigen, aber mit Vorsicht, damit man Sie nicht von der Straße aus sehen kann.« Oliva klatschte vor Freude. Cagliostro stieg, von ihr gefolgt, zum dritten Stock hinauf. »Hier ist die kleine Wohnung. Es wird Ihnen hier an nichts fehlen. Ihre Kammerjungfer wird in einer Viertelstunde bei Ihnen sein. Auf Wiedersehen, Mademoiselle.« Er verschwand mit ei nem freundlichen Lächeln. Mit kindischem Vergnügen betrachtete Oliva die kleine Wohnung. Sie war reizend eingerichtet und sehr gemütlich. Sie lief auf den Balkon. In der nächsten Nachbarschaft sah sie verschlossene und wenig einla dende Fenster. Sie beobachtete einen alten Rentner, der Vögel fütterte. Die Mieter des nächsten Hauses schienen verreist zu sein. Etwas links, im dritten Haus, sah Oliva gelbseidene Vorhänge, Blumen und hinter den offenen Fenstern einen einladenden weichen Lehnstuhl, in dem eine Frau saß. Es war eine hübsche Frau, stellte Oliva fest. Und ganz be sonders fiel ihr auf, daß sie in tiefes Nachdenken versunken war. Oliva konnte die Augen nicht von der reizvollen Frau wenden. Sie glaubte eine verwandte Seele in ihr zu sehen und malte sich eine Ge schichte aus, ähnlich ihrer eigenen. Als sie absichtlich Lärm machte, um sich bemerkbar zu machen, fuhr die Dame am gegenüberliegenden Fenster, erschreckt durch die Geräusche, aus ihren Gedanken hoch. Sie sah Oliva auf dem Balkon stehen und schrie auf: »Mein Gott!« Dann murmelte sie: »Die Königin.« Ohne die seltsame Erscheinung aus den Augen zu lassen, dachte sie: »Ich suchte eine Lösung, und hier ist sie.« Der Graf von Cagliostro, der in diesem Augenblick das Zimmer Oli vas betrat, übersah die Situation mit einem Blick. »Gut«, sagte er, »sehr gut. Die beiden haben sich gesehen.« 115
XVIII
Als Cagliostro zwei Tage später Oliva wieder besuchte, beklagte er sich, daß ihn eine unbekannte Dame besucht habe. »Welche unbekannte Dame?« fragte Oliva errötend. Sie hatte kein reines Gewissen, obwohl sie während der zwei Tage nichts anderes ge tan hatte, als mit ihrem schönen Gegenüber Blicke und Zeichen zu wechseln. »Eine sehr hübsche, junge und elegante Dame hat einen meiner Die ner über Sie ausgefragt. Seien Sie vorsichtig«, warnte Cagliostro, »die Polizei hat auch weibliche Spione.« Anstatt zu erschrecken, war Oliva unendlich glücklich über das In teresse ihrer Nachbarin. Sie war entschlossen, ihrer Freundin, wie sie sie in Gedanken schon nannte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Freundschaft zu beweisen. »Herr Graf«, sagte sie schein heilig, »wenn man mich bemerkt haben sollte, was ich nicht glaube, so werde ich mich von jetzt an nicht mehr sehen lassen. Und außerdem hätte ich ja nichts zu befürchten, das Haus ist doch verschlossen, nicht wahr?« »Ganz richtig. Und den Schlüssel«, er deutete auf seinen Schlüssel bund, »den trage ich immer bei mir.« Oliva beteuerte nochmals ihre Vorsicht und Zurückhaltung und brachte den Grafen zur Tür. Am nächsten Morgen war sie schon um sechs Uhr auf dem Balkon. Sie brauchte gar nicht zu warten, denn die Fenster ihres schönen Vis avis' öffneten sich, sobald Oliva erschien. Jeanne vergewisserte sich, daß niemand zuhörte, und rief Oliva zu: »Ich wollte Sie besuchen.« »Still!« Oliva legte erschrocken den Finger auf den Mund. 116
Jeanne benutzte ihre Hände als Sprachrohr. »Kann ich Ihnen nicht schreiben?« Oliva schüttelte ängstlich den Kopf. Jeanne dachte einen Augenblick nach, warf Oliva einen Handkuß zu und entfernte sich. Kurz darauf erschien sie lachend mit einer Arm brust am Fenster. So sorgfältig Jeanne auch zielte, die kleine Bleikugel prallte an den Gitterstäben des Balkons ab und fiel auf die Straße. Oliva spähte vor sichtig hinunter, aber außer einem Lumpensammler war niemand zu sehen. Der zweite Versuch Jeannes hatte mehr Erfolg. Die Bleikugel flog über den Balkon in Olivas Zimmer. Um die Kugel war ein Papier ge wickelt. Oliva las: »Sie interessieren mich, liebe Dame. Ich finde Sie lie benswürdig und liebe Sie, obwohl ich Sie nur gesehen habe. Wollen Sie meine Freundin werden? Wie es scheint, können Sie nicht ausge hen. Aber Sie können doch sicher schreiben. Lassen Sie bei Einbruch der Dunkelheit Ihre Antwort an einem Bindfaden herunter. Auch mei nen Brief können Sie so wieder heraufziehen, ohne daß es jemand be merkt.« Der Brief trug die Unterschrift: »Ihre Freundin.« Oliva antwortete sofort. »Ich liebe Sie, wie Sie mich lieben. Leider kann ich nicht ausgehen, ich bin eingeschlossen. Aber das ist zu mei nem Besten. Ach, wieviel hätte ich Ihnen zu sagen, und wie glücklich wäre ich, mit Ihnen sprechen zu können. Es gibt so vieles, das man nicht schreiben kann.« Sie unterzeichnete: »Oliva.« Die Antwort kam eine halbe Stunde später. Jeanne hatte eine weitere Mitteilung an die Schnur geknüpft. Darin stand: »Wie wird Ihr Haus verschlossen? Bewacht Ihr Besucher den Schlüssel so hartnäckig, daß Sie ihn nicht entwenden oder einen Abdruck davon nehmen können? Es handelt sich ja nicht darum, Böses zu tun, sondern nur um ein paar Spaziergänge mit einer Freundin.« Oliva verschlang diesen Brief mit den Blicken. Sie hatte bemerkt, daß der Graf bei seinen Besuchen den Haustürschlüssel auf ein kleines Tischchen legte. Sie hielt ein Stück Wachs bereit und nahm beim näch sten Besuch Cagliostros einen Abdruck des Schlüssels. Als er wegge 117
gangen war, ließ Oliva sofort den Abdruck in einer Schachtel an der Schnur hinunter. Schon am nächsten Morgen hatte sie die Nachricht von Jeanne: »Mei ne teure Freundin, heute abend um elf! Kommen Sie herunter, wenn Ihr Wächter Sie verlassen hat. An der geöffneten Tür finden Sie ihre zärtliche Freundin.« Als Oliva zitternd vor Freude um elf Uhr hinunterging, schloß Jean ne sie in die Arme und bat sie, mit ihr in einen auf dem Boulevard ste henden Wagen einzusteigen. Nach einer Spazierfahrt von zwei Stunden, in der die Freundinnen Geheimnisse und Küsse ausgetauscht und Pläne geschmiedet hatten, riet Jeanne Oliva, nach Hause zu gehen. Jeanne hatte in Erfahrung ge bracht, daß der Beschützer ihrer neuen Freundin der Graf von Ca gliostro war. Sie hatte Angst vor ihm. Es gab viel nachzudenken. Oliva hatte ihr rückhaltlos von sich er zählt, von Beausire und von der Polizei. Jeanne hatte sich für ein Fräu lein ausgegeben, das ohne Wissen der Familie mit einem Geliebten zusammenlebte. Die eine wußte alles, die andere nichts. So war die Freundschaft dieser beiden Frauen beschaffen. Acht Tage lang machte Jeanne von ihrem Schlüssel ausgiebig Ge brauch und sah Oliva, sooft sie es für nötig hielt. Dann hielt sie die Zeit für gekommen, ihren Plan zu verwirklichen.
XIX
Die Uhr am Versailler Schloßturm schlug Mitternacht. Der Graf von Artois schlüpfte nach einem seiner üblichen nächtlichen Ausflüge durch das Gittertor, das in dieser Nacht für ihn geöffnet war. Er hörte ein ungewohntes Geräusch und wandte sich um. 118
Ungefähr fünfundzwanzig Schritte entfernt öffnete sich das klei ne Pförtchen in der Parkmauer, das nur an großen Jagdtagen für die Körbe mit Wildbret benutzt wurde. Der Graf bemerkte zwei Gestal ten, die den Park betraten und das Pförtchen hinter sich verschlos sen. Die Sträucher und die hängenden Weinreben waren so dicht, daß er nur die verschwommenen Schatten zweier Frauen erkennen konn te. Er schlich vorsichtig näher und erkannte die Königin. Sie hielt eine Rose in der Hand. Der Graf verbarg sich hinter den Bäumen und ließ die beiden Frauen nicht aus den Augen. Was sollte er tun? Die Köni gin war in Begleitung? Warum war sie nicht allein? Jetzt sah er die Be gleiterin rasch in der Dunkelheit verschwinden. Er hatte sich gerade entschlossen, die Königin anzusprechen, als die Begleiterin wieder er schien. Sie war nicht allein. Zwei Schritte hinter ihr ging ein hochgewachse ner Mann in einen weiten Mantel gehüllt, das Gesicht von einem brei ten Hut verdeckt. Der Graf von Artois wußte nicht, was er denken soll te. Was tat die Königin zu so vorgerückter Stunde im Park? Was wollte dieser Mann? Warum hatte er sich verborgen gehalten? Der Graf beobachtete die Königin, wie sie mit dem Unbekannten flüsterte. Nach einiger Zeit unterbrach die Begleiterin der Königin das Gespräch. Der Unbekannte machte eine Bewegung, als wollte er zum Abschied in die Knie sinken. Die Frauen gingen am Versteck des Gra fen von Artois vorbei und verschwanden. Der Unbekannte war unbe weglich stehengeblieben. Jetzt beugte er sich über eine Rose, die er in der Hand hielt, und küßte sie leidenschaftlich. Der Graf von Artois traute seinen Augen nicht: Das war doch die Rose der Königin! Die Begleiterin kam zurück und rief: »Kommen Sie, Monseigneur!« Der Unbekannte eilte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und verschwand mit der Dame in der Dunkelheit. Für den Grafen von Ar tois gab es keinen Zweifel. Der Unbekannte war ein Liebhaber der Kö nigin. Würde sie in der nächsten Nacht wieder zu einem Rendezvous kom men? 119
Der Graf konnte die nächste Nacht kaum erwarten. Er suchte sein Ver steck im Park wieder auf. Bald erloschen alle Lichter, und es wurde still. Es schlug Mitternacht. Der Graf lauschte angestrengt, aber nichts rührte sich. Er war schon davon überzeugt, daß Marie-Antoinette ihre Unvorsichtigkeit nicht wiederholen würde, als plötzlich der Riegel des Pförtchens geöffnet wurde. Er erkannte die Königin mit ihrer Beglei terin. Sie gingen mit schnellen Schritten an seinem Versteck vorbei. An der gleichen Stelle wie in der Nacht vorher erwartete sie der Unbekann te. Er begrüßte die Königin nicht mehr so zurückhaltend und breite te seinen Mantel über einem Baumstamm aus. Die Königin setzte sich, während der Unbekannte auf dem Moos niederkniete und mit leiden schaftlicher Hast auf sie einsprach. Sie neigte den Kopf und flüster te nur einige Worte. Sie sprach so leise, daß der Graf sie nicht hören konnte. Aber er hörte die Stimme des Unbekannten: »Ich danke Ihnen, süße Majestät. Morgen also?« Die Königin streckte ihm ihre Hände entgegen. Der Unbekannte er griff sie und küßte sie zärtlich. Einige Augenblicke später verschwan den die Königin und ihre Begleiterin wie in der Nacht zuvor. Auch der Unbekannte verschwand. Vorsichtig verließ der Graf sein Versteck und suchte nach Spuren. Er kletterte auf die Mauer und sah Abdrücke von Hufen und die Spuren von Rädern. Er kommt aus Paris, dachte der Graf. Er kommt allein, und er wird morgen wiederkommen. Tatsächlich geschah in der folgenden Nacht das gleiche. Um Mitter nacht öffnete sich das Pförtchen, und die beiden Frauen erschienen. Aber sie blieben nicht wie bisher unter den Bäumen stehen. Die Beglei terin der Königin zog Ihre Majestät in die Richtung der Apollogrotte. Kichernd ging die Königin auf den Unbekannten zu, der sie mit offe nen Armen auf der Schwelle erwartete. Die beiden traten ein, und die Türe schloß sich hinter ihnen. Die Begleiterin lehnte sich an eine be mooste Säule und beobachtete die Türe mit unverwandtem Blick. Der Graf hätte es nie für möglich gehalten, daß Marie-Antoinette so weit gehen würde. Er war außer sich, entsetzt und ging langsam zum 120
Schloß zurück. Als er sah, daß die Fenster der Königin erleuchtet wa ren, zuckte er verächtlich die Achseln. »Sie will glauben machen, daß sie zu Hause ist, während sie sich mit ihrem Liebhaber im Park her umtreibt.« Am nächsten Morgen begegnete die Königin dem Grafen von Artois auf dem Weg zur Schloßkirche. Sie hatte die Messe gehört und trat auf ihn zu. »Ich glaubte Sie auf der Jagd, lieber Schwager.« »Ich bin eben zurückgekehrt, Madame«, erwiderte der Graf beina he unhöflich. Der Königin entging der Ton seiner Stimme nicht. Sie wandte sich zur Gräfin la Motte, die in der Reihe sich ehrfurchtsvoll verneigender Damen stand. »Guten Morgen, Gräfin«, sagte sie freundlich zu Jean ne. Der Graf betrachtete die Gräfin la Motte mit fast unverschämter Aufmerksamkeit. Sie wandte unruhig den Kopf zur Seite. Die Königin bemerkte es und fragte den Grafen, als wollte sie die Gräfin vor seinen Blicken schützen. »Haben Sie mir etwas zu sagen?« »Ich hätte Ihnen viel zu sagen, Madame.« »Dann kommen Sie mit.« Marie-Antoinette ging ihm voran. Als sie in ihren Gemächern allein mit ihm war, sagte der Graf: »Seit drei Nächten habe ich Sie im Park beobachtet.« »Im Park? Wie spät war es? Und in welcher Nacht?« »Am Dienstag zum erstenmal. Es war um Mitternacht.« »Sie haben mich gesehen?« fragte die Königin ungläubig. »So wie ich Sie jetzt sehe. Und ich habe auch die Frau gesehen, die Sie begleitet hat. Und auch den Mann, den Sie getroffen haben.« Er setzte hinzu: »Sie haben ihm eine Rose geschenkt.« »Würden Sie diese beiden Personen wiedererkennen?« »Es schien mir so, als hätte ich die Frau jetzt gerade gesehen. Hier. Aber ich kann es nicht beweisen.« »Gut«, sagte die Königin immer noch ruhig. »Sie haben meine Be gleiterin nicht eindeutig erkannt, aber mich …« »O Madame, Sie habe ich erkannt.« 121
»Das wagen Sie zu behaupten!« Die Königin fuhr auf. »Und der Mann, dem ich eine Rose geschenkt habe. Sie kennen auch den Mann?« »Man spricht ihn ›Monseigneur‹ an. Das ist alles, was ich weiß.« »Sprechen Sie weiter. Und was ist am Mittwoch geschehen? Ich möch te alles hören. Wiederholen Sie: Am Dienstag habe ich ihm eine Rose gegeben, und dann?« »Am Mittwoch hat er Ihnen beide Hände geküßt.« Die Königin biß sich auf die Lippen. »Und was war Donnerstag?« »Gestern waren Sie anderthalb Stunden mit diesem Mann in der Apollogrotte. Allein.« Die Königin wurde leichenblaß. »Sie sind mir eine Genugtuung schuldig. Da Sie glauben, ich laufe nachts im Park herum, gehen Sie heute mit mir zur gleichen Stunde in den Park. Bin ich es, die Sie ge stern aus der Entfernung gesehen haben, so werden Sie mich heute nicht sehen, da ich bei Ihnen sein werde. Ist es eine andere, so werden wir sie gemeinsam sehen.«
Der Graf von Artois glaubte nicht, daß die Königin Wort halten wür de. Er machte sich den Vorwurf, sie gewarnt zu haben, ohne daß etwas anderes dabei herauskommen würde, als er hörte, wie eine Handvoll Sand an sein Fenster geworfen wurde. Das war das mit Marie-Antoi nette verabredete Zeichen. Er lief in den Park an die vereinbarte Stel le. Die Königin erwartete ihn. »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, Sie zu sehen, Madame«, sagte er atemlos. Marie-Antoinette unterbrach ihn: »Hier ist es so hell.« Sie zog den weiten, schwarzen Mantel eng um sich. »Lassen Sie uns weggehen von hier. Sie sollen mir zeigen, wo die Leute, von denen Sie sprachen, her eingekommen sein sollen.« »Durch dieses Pförtchen in der Mauer.« »Es ist kein Grund vorhanden, daß sie heute nicht auch kommen sollten. Gehen wir ins Gebüsch und warten wir.« Sie warteten schweigend. Es schlug Mitternacht. Das Pförtchen öff 122
nete sich nicht. Im Verlauf einer halben Stunde hatte Marie-Antoinet te mehr als zehnmal gefragt, ob die ›Leute‹ immer pünktlich gewesen wären. Es schlug drei Viertel nach Mitternacht. »Solche Unglücksfäl le widerfahren nur mir!« Die Königin stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. »Sie werden sehen, daß sie heute nicht kommen.« Sie schaute den Grafen streitsüchtig an. »Sie werden nicht kommen«, wiederholte sie. Doch er erwiderte ihren Blick ernst und traurig. Die Königin nahm seinen Arm und zog ihn zu dem Kastanienbaum. »Hier haben Sie diese Leute gesehen?« fragte sie flüsternd. »Hier hat die Frau dem Mann eine Rose gegeben?« »An dieser Stelle, Madame.« Die Königin lehnte sich an den Stamm des Baumes und ließ den Kopf sinken. Der Graf konnte nicht sehen, daß sie weinte. Plötzlich richtete sie sich auf. »Gute Nacht«, sagte sie und drückte ihm die Hand. Sie ent fernte sich ohne ein weiteres Wort in der Richtung des Schlosses.
XX
Tagelang wartete der Kardinal in seinem Palais auf Nachricht. Es kam keine Nachricht. Es kam kein Besuch. Dieser Zustand wurde ihm un erträglich. Er schickte Boten in die Wohnung der Gräfin la Motte. Er schickte Boten nach Versailles. Endlich kam Jeanne. »Was ist geschehen, Gräfin?« Der Kardinal stürzte ihr entgegen. »Wa rum behandelt man mich so schlecht?« »Ich kann Ihnen nicht helfen, und ich kann nichts für Sie tun.« »Ist ein Unglück geschehen?« fragte der Kardinal außer sich. »Spre chen Sie.« Jeanne erwiderte trocken: »Ich würde es eher ein Glück nennen, nicht entdeckt worden zu sein, Monseigneur.« 123
»Man hat uns gesehen?« »Ich habe alle Ursache, es zu glauben.« »Um Gottes Willen, was soll ich tun?« »Nicht mehr nach Versailles gehen!« »Das ist unmöglich«, sagte er. »Ich werde wieder nach Versailles ge hen.« »Die Königin wird nicht kommen.« Der Kardinal sagte hastig: »Ich muß sie wenigstens noch ein einzi ges Mal sehen.« »Schreiben Sie ihr, Monseigneur.« Jeanne deutete auf den Schreib tisch. »Ich werde ihr den Brief überbringen.« Der Kardinal setzte sich und schrieb einen glühenden Liebesbrief voll verliebter Vorwürfe und kompromittierender Beteuerungen. Jean ne sah ihm über die Schulter. Sie dachte zufrieden: Er schreibt, was ich nie gewagt hätte, ihm zu diktieren. Der Kardinal überflog den Brief noch einmal und wandte sich Jean ne zu: »Ist es so recht?« Jeanne nickte. »Wenn die Königin Sie liebt, werden Sie morgen Ant wort haben.« Jeanne ließ sich vom Kardinal auf die Augen küssen und kehrte nach Hause zurück. Sie kleidete sich aus, erfrischte sich und begann nachzudenken: Dieser Brief würde es dem Kardinal unmög lich machen, die Gräfin la Motte jemals anzuklagen. Aber genügte ein einziger Brief? Jeanne überlegte Punkt für Punkt, was folgerichtig ge schehen mußte. Zuerst Nichteinhaltung des Zahlungstermins. Die Ju weliere würden Anzeige erstatten. Die Königin würde sich direkt an den Kardinal wenden. Natürlich durch ihre Vermittlung. Sie würde dann den Kardinal benachrichtigen und ihn auffordern zu bezahlen. Wenn er sich weigerte, blieb ihr die Drohung, die Briefe zu veröffent lichen. Und dann würde er bezahlen. Die Ehre einer Königin und ei nes Kirchenfürsten um den Preis von anderthalb Millionen – das war billig! Jeanne war ihrer Sache so sicher, weil sie wußte, daß der Kardinal fest davon überzeugt war, er sei drei Nächte hintereinander mit der Königin beisammen gewesen. Keine Macht der Erde würde ihm be 124
weisen können, daß er sich getäuscht habe, weil der einzige Beweis des Betrugs, der lebendige Beweis, entfernt sein würde. Jeanne trat ans Fenster und sah Oliva, die neugierig und unruhig auf ihrem Balkon stand. Jetzt ist die Reihe an dir, dachte Jeanne, indem sie Oliva zärtlich zuwinkte. Als es dunkel wurde, trafen sich die beiden ›Freundinnen‹ und stiegen in Jeannes Wagen. »Oh, wie habe ich mich die letzten Tage gelangweilt«, klagte Oliva. »Wie habe ich auf Sie gewartet. Wo waren Sie denn?« »Ich konnte Sie unmöglich besuchen, meine Liebe. Ich hätte mich und Sie in zu große Gefahr gebracht.« »Wieso?« »Sie haben sich gelangweilt«, begann Jeanne, »und haben sich ge wünscht auszugehen, um sich zu zerstreuen.« »Wozu Sie mir so freundlich verholfen haben«, sagte Oliva verbind lich. »Ich habe Ihnen doch von dem Höfling erzählt, der in die Königin verliebt ist, der Sie so ähnlich sehen.« Oliva kicherte. Jeanne fuhr fort: »Ich war so leichtsinnig, Ihnen vor zuschlagen, daß wir uns über den armen Jungen lustig machen, damit er glaubt, die Königin habe ein Interesse an ihm.« »Ach ja«, seufzte Oliva, von der zärtlichen Erinnerung angenehm berührt. »Sie haben Ihre Rolle so gut gespielt, daß unser Verliebter die Sache ernst nahm.« »Er ist ein reizender Kavalier«, erklärte Oliva leise. »Er verdiente es nicht, daß wir ihn täuschen.« »Warten Sie doch, liebe Freundin, ich bin noch nicht fertig. Es ist nicht schlimm, daß Sie ihm eine Rose geschenkt haben, daß Sie sich Majestät nennen ließen, daß Sie sich die Hände küssen ließen … Aber mein liebes Kind, es scheint, daß das doch nicht alles war.« »Wieso nicht alles?« fragte Oliva. »Es fand doch ein drittes Rendezvous statt.« »Sie wissen es doch, Sie waren ja dabei.« »Ich habe weder gehört noch gesehen, was in der Grotte geschehen 125
ist. Ich weiß nur, was Sie mir erzählt haben. Und mein Schatz, ich glau be alles, was man mir sagt.« »Aber …?« fragte Oliva unheilwitternd. »Unser verliebter Narr rühmt sich, von der Königin einen untrüg lichen Beweis ihrer Liebe erhalten zu haben. Und solange es sich nur um eine geschenkte Rose oder um einen Handkuß gehandelt hat, war nichts zu sagen, das war Spiel. Aber es wäre Majestätsbeleidigung, wenn es wahr wäre, daß bei der dritten Zusammenkunft …« Oliva verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Wenn Sie nicht getan haben, womit er sich brüstet«, fuhr Jeanne kalt fort, »dann brauchen Sie es nur zu beweisen. Die beiden anderen ›Dummheiten‹ werden höchstens mit zwei bis vier Jahren Gefängnis oder Verbannung bestraft.« »Gefängnis, Verbannung!« Oliva brach in Tränen aus. »Was soll ich tun? Ich werde meinen Beschützer um Hilfe bitten.« »Eine gute Idee. Ausgerechnet dem wollen Sie alles erzählen. Wer weiß, ob er Sie nicht der Polizei ausliefern wird, um sich bei Hofe an genehm zu machen?« »Sie haben recht. Ich bin verloren«, schluchzte Oliva. »Und wenn Herr Beausire davon erfährt?« fragte Jeanne. »Er wird mich umbringen.« Der Schlag saß. »Nein, ich werde mich umbringen.« Oliva umklammerte die Knie Jeannes: »Können Sie mich nicht retten?« »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit«, erwiderte Jeanne. »Ich habe ein Gut in der Provinz. Wenn wir diesen Zufluchtsort erreichen, bevor der Sturm losbricht, wären Sie gerettet!« »Soll ich gleich abreisen?« »Nein, nicht gleich, aber bald. Ich muß erst noch Vorbereitungen treffen. Von jetzt an bis zum Tag unserer Abreise werde ich mich nicht mehr an meinem Fenster zeigen. Wenn ich mich aber zeige, dann ma chen Sie sich für die unverzügliche Abreise fertig.« »Ich danke Ihnen.« Oliva umarmte Jeanne und bat sie demütig um Verzeihung für alles Unglück, das sie durch ihren Leichtsinn angerich tet hatte. 126
Jeannes Entschluß stand fest. Schon am nächsten Mittag trat sie an ihr Fenster und gab Oliva das verabredete Zeichen. Noch in der gleichen Nacht fuhr sie mit einem von vier kräftigen Pferden gezogenen Reisewagen vor dem Hause Olivas vor. »Der Wagen soll hier warten, mein lieber Reteau«, sagte Jeanne zu ei nem Mann, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß. »Es wird nicht lange dauern. Ich werde jemand mitbringen, den Sie dann so schnell wie möglich auf mein Landgut bringen. Dort übergeben Sie diese Per son meinem Pächter Fontaine, der weiß, was er zu tun hat.« »Sehr wohl, Madame.« »Sie sind doch bewaffnet, mein lieber Reteau?« »Sehr wohl, Madame.« »Sie schießen jeden nieder, der Sie aufhalten will. Hier sind hundert Louisdor, Reteau. Es wird gut sein, wenn Sie sich so bald wie möglich nach England einschiffen.« »Sie können sich ganz auf mich verlassen, Madame.« Jeanne steckte den Schlüssel in das Türschloß von Olivas Haus. Wenn jemand oben bei ihr wäre? Sie zögerte, dann entschied sie: Un sinn! Ich würde Stimmen hören und immer noch Zeit haben umzu kehren. Sie öffnete die Haustür. Kein Geräusch. Kein Licht. Niemand. Vor sichtig schlich sie sich an Olivas Wohnung. Sie sah einen Lichtstreifen unter der Türe. Sie horchte. Kein Laut. Oliva war also allein. Sie klopf te leise und rief: »Oliva, machen Sie auf!« Die Türe wurde geöffnet, und im grellen Lichtschein eines dreiarmi gen Kerzenleuchters stand ein Mann vor Jeanne. Sie schrie auf. »Die Gräfin von la Motte?« fragte der Mann mit gespieltem Erstau nen. »Der Graf von Cagliostro!« Jeanne war einer Ohnmacht nahe. Sie war widerstandslos, als er sie ins Zimmer zog und sie bat, sich zu setzen. »Welchem Umstand habe ich die Ehre Ihres Besuches zu verdanken, Madame?« »Mein Herr …«, stammelte Jeanne. »Ich kam … ich suchte …«, sie zögerte. Dann sagte sie rasch: »Ich kam, um Sie um Rat zu fragen.« 127
»Wie kommt es, daß Sie mich hier aufgesucht haben, Madame?« Ca gliostro blickte sie scharf an. »Ich wohne nicht hier. Wie sind Sie herein gekommen? Es gibt hier keinen Portier und keinen Diener. Und wenn Sie nicht mich suchten, wen suchten Sie? Sie antworten mir nicht? Ich werde es Ihnen sagen. Sie wollten eine junge Frau besuchen, die ich aus Gutmütigkeit hier versteckt halte.« »Und wenn es so wäre?« fragte Jeanne ganz leise. »Ist es denn ein Verbrechen, eine andere Frau zu besuchen? Rufen Sie sie doch. Auch Sie wird Ihnen sagen, daß wir befreundet sind.« »Sie tun, als wüßten Sie nicht, daß Oliva abgereist ist«, erwiderte Ca gliostro. »Sie ist nicht mehr hier?!« rief Jeanne erschrocken. Cagliostro überreichte ihr wortlos einen Brief. »Mein edler Gönner«, las Jeanne atemlos, »verzeihen Sie mir, daß ich Sie verlasse. Doch ich liebe Herrn Beausire. Er kommt und entführt mich. Ich folge ihm. Le ben Sie wohl. In ewiger Dankbarkeit. Ihre Oliva.« »Beausire?« fragte Jeanne. »Beausire?« »Er hat sie weggeführt«, erwiderte Cagliostro kalt. »Aber wie ist er hier hereingekommen?« Jeanne sah den Grafen wü tend an. »Ich habe den Schlüssel und nicht Herr von Beausire.« »Wenn man einen Schlüssel hat, kann man auch zwei haben!« Ca gliostro lächelte der Gräfin zu. Sie sagte langsam: »Ich habe einen Verdacht.« »Ich habe auch einen Verdacht, und der ist genauso viel wert wie der Ihre, Madame.« Cagliostro begleitete Jeanne hinaus. Auf dem dunklen Treppenab satz standen Diener mit brennenden Kerzen in der Hand, so daß sie es hören konnten, als Cagliostro Jeanne laut und wiederholt nannte: »Frau Gräfin von la Motte.«
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XXI
Bei allen Kaufleuten, so reich sie auch sein mögen, spielen fünfhun derttausend Livre eine große Rolle. Die Juweliere Böhmer und Bossan ge waren daher sehr beunruhigt, als sie zwei Tage vergeblich auf die von der Königin versprochene Zahlung warteten. Als am dritten Mor gen niemand kam, begab sich Böhmer nach Versailles und bat um eine Audienz bei der Königin, die ihm auch gewährt wurde. »Was bringen Sie mir, Monsieur?« fragte die Königin, sobald sie ihn erblickte. »Wol len Sie mit mir wieder von Juwelen sprechen? Sie wissen doch, daß Sie kein Glück bei mir haben.« Böhmer lächelte mühsam. »Ich wollte Eure Majestät nur daran erin nern, daß Sie uns vergessen haben.« »Vergessen?« fragte die Königin erstaunt. »Gestern war der erste Zahlungstermin für das Halsband«, wagte Böhmer schüchtern zu sagen. »Sie haben also das Halsband verkauft?« »Nun ja …« Böhmer wurde unsicher, »… ich glaube schon.« »Und jetzt wollen die Käufer am Ende nicht zahlen?« Die Königin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach wissen Sie, Böhmer, wenn es zehn Käufer so machen wie ich und Ihnen das Halsband wie der zurückgeben, ohne die Anzahlung von zweihundertfünfzigtau send Livre zurückzufordern, verdienen Sie zweieinhalb Millionen und behalten Ihr Halsband.« »Habe ich Eure Majestät recht verstanden?« Böhmer brach der kalte Angstschweiß aus. »Haben Eure Majestät eben gesagt, daß Sie das Dia mantenhalsband zurückgegeben haben.« Wortlos ging die Königin zu ihrem Arbeitstisch, nahm ein Schrift 129
stück aus einer Lade und überreichte es Böhmer. »Dieser Schein bestä tigt die Rückgabe des Halsbandes.« Der Juwelier mußte ein paarmal lesen, bis er überhaupt begriff, wor um es sich handelte. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. »Aber, Madame«, stammelte er nach einer Weile mit erstickter Stimme. »Ich habe diesen Schein nicht unterschrieben und ich schwöre, ich habe auch das Halsband nicht zurückerhalten.« Erregt suchte er in seiner Brief tasche. »Madame«, er überreichte der Königin ein Schriftstück mit zit ternden Händen, »ich glaube nicht, daß Eure Majestät diese Schuldur kunde geschrieben haben würden, wenn sie mir das Halsband hätten zurückgeben wollen.« »Was ist das?« Marie-Antoinette las. »Ich habe das nicht geschrie ben … Marie-Antoinette von Frankreich … sind Sie verrückt. Bin ich ›von Frankreich‹? Bin ich nicht Erzherzogin ›von Österreich‹? Ich blei be ›von Österreich‹, auch wenn ich Königin von Frankreich bin.« Sie gab ihm die Urkunde mit einer verächtlichen Gebärde zurück. »Gehen Sie doch, Monsieur, diese List ist zu plump.« Böhmer mußte sich auf die Lehne eines Stuhles stützen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen. Er schnappte nach Luft. Die Königin, die ihn scharf beobachtete, rief plötzlich: »Mir kommt ein Gedanke, Böhmer! Ist es möglich, daß wir beide hintergangen wor den sind?« »Sie haben mich also nicht im Verdacht, Madame, daß ich …« »Nein, ich habe Sie nicht im Verdacht. Aber sagen Sie mir, haben Sie die Gräfin la Motte nicht gesehen?« »Doch. Die Frau Gräfin hat nur gesagt, wir sollten warten.« »Wer hat Ihnen denn diesen Schuldschein übergeben?« »Dieser Schein ist nachts von einem unbekannten Boten gebracht worden.« Die Königin läutete ihrer Kammerfrau. »Man lasse die Gräfin la Motte rufen!« befahl sie und wandte sich Böhmer zu. »Gehen Sie so fort zum Kardinal von Rohan und erzählen Sie ihm, was Sie mir er zählt haben. Verlieren Sie keine Zeit. Und sagen Sie ihm, daß ich al les weiß.« 130
Der Kardinal war sehr erstaunt, daß die Juweliere so hartnäckig darauf bestanden, empfangen zu werden. Er befahl, sie einzulassen. »Monseigneur«, begann Böhmer atemlos, »ich bitte um Gerechtig keit, wir sind bestohlen worden.« »Was geht das mich an?« fragte Rohan hochmütig. »Bin ich Polizei chef?« »Sie haben das Halsband in Händen gehabt, Monseigneur!« »Ich habe das Halsband gehabt. Ist es gestohlen?« »Jawohl! Und die Königin selbst hat uns zu Ihnen geschickt, Mon seigneur.« »Das ist sehr gütig von Ihrer Majestät. Aber was kann ich dabei tun?« »Monseigneur«, die beiden Juweliere sprachen wie im Chor, »die Kö nigin bestreitet, das Halsband noch in ihrem Besitz zu haben. Sie hat uns auch einen Empfangsschein über die Rückgabe des Halsbandes an uns gezeigt. Sie behauptet, ihr Schuldschein sei gefälscht.« »Zeigen Sie mir den Schuldschein.« Der Kardinal warf einen raschen Blick auf die Urkunde und stellte fest: »Sie sind tatsächlich betrogen worden … Marie-Antoinette von Frankreich … die Königin ist eine Prinzessin aus dem Hause Österreich … So, wie ich es sehe, ist der Schuldschein, die Unterschrift, alles gefälscht.« Außer sich vor Wut rief Böhmer: »Dann muß die Gräfin la Mot te den Fälscher und den Dieb kennen.« Dieser Ausruf durchfuhr den Kardinal. Er wurde erregt und befahl seinen Dienern: »Man rufe die Gräfin la Motte!«
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XXII
Der Siegelbewahrer, Herr von Breteuil, war ein Nebenbuhler und per sönlicher Feind des Kardinals von Rohan. Er lauerte seit langer Zeit auf eine Gelegenheit, um dem Kardinal einen tödlichen Schlag zu ver setzen. Er nahm die Gelegenheit wahr, als ihn Ludwig XVI. in heite rer Miene empfing. »Ein herrliches Wetter heute, mein lieber Breteuil«, sagte Ludwig XVI. »ein echtes Himmelfahrtswetter. Keine Wolke am Himmel.« »Sire«, Herr von Breteuil verbeugte sich tief, »ich bedaure unend lich, daß ich Ihre Laune durch eine Wolke trüben muß. Ich bin in gro ßer Verlegenheit und weiß nicht, wie ich mit meinem Bericht anfan gen soll, um so weniger, als die Angelegenheit nicht in mein Ressort gehört. Es handelt sich nämlich um eine Art Diebstahl.« »Ein Diebstahl?« fragte der König. »Ob es Ihr Amt betrifft oder nicht, das tut nichts zur Sache. Erzählen Sie mir!« »Sire, Eure Majestät haben sicher vom Diamantenhalsband der Ju weliere Böhmer und Bossange gehört?« »Die Königin hat es ausgeschlagen«, stellte der König zufrieden fest. »Und was gibt es damit?« »Sire, dieses Halsband ist gestohlen worden. Aber es ist kein gewöhn licher Diebstahl. Es gibt Gerüchte …« »Was wollen Sie damit sagen?« »Es wird behauptet, die Königin habe es behalten.« »Wieso behalten? Das ist doch Unsinn! Sie hat es in meiner Gegen wart ausgeschlagen.« Ludwig XVI. sagte ärgerlich: »Die Königin hat das Halsband nicht behalten.« »Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt«, erwiderte Breteuil ge schmeidig. »Man sagt, die Königin habe hinter dem Rücken Eurer 132
Majestät mit den Juwelieren verhandelt. Man sagt, die Juweliere hät ten eine Bescheinigung von Ihrer Majestät der Königin, daß sie den Schmuck behalten wolle.« Ludwig XVI. wurde blaß. »Was sagt man nicht alles«, stieß er her vor. »Doch wenn die Königin das Halsband gekauft hätte, würde ich sie nicht tadeln. Die Königin ist eine Frau, und das Halsband ist ein selten schönes Schmuckstück.« »Sire«, Breteuil fuhr hartnäckig fort, »man sagt, die Königin habe sich das Geld für das Halsband ausgeliehen.« Der König sprang auf. »Nennen Sie mir auf der Stelle den Geldver leiher!« Breteuil verbeugte sich tief und sagte: »Der Kardinal von Rohan, Sire.« Der König starrte seinen Siegelbewahrer sprachlos an. Breteuil blieb bei der Sache: »Eure Majestät können sich überzeugen, daß der Kardinal von Rohan mit den Juwelieren Böhmer und Bossan ge verhandelt hat und daß der Kauf durch ihn abgeschlossen worden ist. Er hat Zahlungsbedingungen festgesetzt und angenommen.« »Das sind ja furchtbare Dinge.« Der König ging erregt im Zimmer auf und ab, als suche er einen Ausweg. »In allem sehe ich keinen Dieb stahl.« »Sire, die Juweliere behaupten, sie hätten einen von der Königin un terzeichneten Empfangsschein erhalten, und das Halsband sei in den Händen der Königin.« »Die Königin leugnet also?« fragte Ludwig XVI. hoffnungsvoll. »Sire«, sagte Breteuil beinahe vorwurfsvoll, »glauben Eure Majestät, ich wüßte nicht, daß die Königin unschuldig ist?« »Sie klagen also nur den Kardinal von Rohan an?« Breteuil senkte zustimmend den Kopf. »Eine schwere Anschuldigung.« Ludwig XVI. trat ans Fenster. »Sie haben recht, die Sache muß aufgeklärt werden.« Er sah hinaus und fragte: »Ist das dort nicht der Kardinal von Rohan?« Breteuil trat neben den König und sah Herrn von Rohan, der sich im großen Ornat eines Kardinal-Erzbischofs in die Kapelle begab. »Das 133
trifft sich gut«, sagte Breteuil. »Nun kann die Angelegenheit gleich auf geklärt werden.« Er zählte dem König die Beweise für die Schuld des Kardinals von Rohan auf. Ludwig XVI. war verzweifelt. Die Beweise für die Schuld des Kardinals häuften sich, aber er hörte keine Beweise für die Un schuld der Königin. Er überlegte, was er tun wolle, als es an der Tür klopfte. Der Herr vom Dienst trat ein und meldete: »Sire, Ihre Majestät die Königin bitten Eure Majestät, zu ihr zu kommen.« »Ich gehe zur Königin«, rief der König und wandte sich zu Breteuil, »und nachher will ich mit Ihnen sprechen.«
Kurz bevor der Kardinal die Kapelle betrat, begegnete er der Königin. Er näherte sich ihr. »Majestät, ich muß mit Ihnen sprechen«, flüsterte er. »Warum nötigen mich Eure Majestät, mich nur durch Mittelsper sonen mit Ihnen zu verständigen? Warum sagen Sie es nicht glatt her aus, wenn Sie einen Grund haben, mich zu hassen?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Herr Kardinal«, gab die Köni gin erstaunt zurück. »Ich habe durchaus keinen Grund, Sie zu hassen. Aber ich glaube, das ist nicht die Angelegenheit, über die wir mitein ander zu sprechen haben. Ich wünsche, daß Sie mir Auskunft über das unglückliche Halsband geben.« Sie fragte: »Wo ist das Halsband, das ich den Juwelieren zurückgegeben habe?« »Das Halsband, das Sie zurückgegeben haben?« »Ja. Was haben Sie damit gemacht?« »Ich? Ich weiß nichts davon, Madame.« »Hören Sie, Herr Kardinal. Die Sache ist doch ganz einfach. Die Grä fin la Motte hat den Schmuck mitgenommen und hat ihn den Juwelie ren in meinem Namen zurückgestellt. Aber die Juweliere behaupten, den Schmuck nicht erhalten zu haben. Ich habe eine Bescheinigung in Händen, die das Gegenteil beweist. Die Juweliere sagen, die Bescheini gung sei falsch. Die Gräfin la Motte könnte mit einem Wort alles auf klären. Aber sie ist unauffindbar.« 134
»Ich habe mit der Gräfin keine Verabredung wegen des Schmucks getroffen. Ich habe den Schmuck ebensowenig wie die Juweliere ihn haben.« »Sie haben das Halsband nicht?« fragte die Königin bestürzt. »Nein, Madame«, erwiderte der Kardinal trocken. »Sie halten die Gräfin la Motte nicht verborgen und wissen nicht, wo sie ist?« »Nein, Madame.« »Wie erklären Sie sich dann die Sache?« »Madame, ich muß gestehen, daß ich mir die Sache nicht erklären kann, aber es ist nicht das erste Mal, daß ich mich bei der Königin be klage, nicht von ihr verstanden zu werden.« »Wann hätten Sie das denn schon getan?« »Erinnern Sie sich an meine Briefe, Madame?« »Ihre Briefe? Sie haben an mich geschrieben?« »Zu selten für das Geheimnis, das ich im Herzen trage.« »Welches Geheimnis? Sind Sie bei Sinnen, Herr Kardinal?« Der Kardinal trat einen Schritt zurück. »Warum ist die Gräfin la Motte nicht hier? Sie ist unsere Freundin und würde mir beistehen, um, wenn auch nicht die Zuneigung, so doch das Gedächtnis Ihrer Majestät wieder zu wecken.« »Unsere Freundin? Meine Zuneigung? Mein Gedächtnis? Ich verste he kein Wort. Ich glaube wirklich, daß Sie von Sinnen sind.« »Schonen Sie mich, Madame, ich bitte Sie«, bat der Kardinal. Er war durch den unfreundlichen Ton der Königin tief verletzt. »Es steht Ih nen frei, mich nicht mehr zu lieben, aber beleidigen Sie mich nicht.« »Großer Gott!« rief die Königin erbleichend. »Was sagt dieser Mann?« Rohan konnte sich kaum noch beherrschen. »Was ich sage? Was ich sage? Sie haben mich nach und nach dazu gebracht, eine heiße Liebe für Sie zu empfinden. Sie haben mich mit Hoffnungen genährt.« »Hoffnungen? Mein Gott, bin ich wahnsinnig oder Sie?« »Ich bin nicht wahnsinnig«, erklärte der Kardinal. »Würde ich es sonst jemals gewagt haben, Sie um die nächtlichen Zusammenkünfte 135
zu bitten, die Sie mir bewilligt haben? Würde ich es gewagt haben, in den Park von Versailles zu kommen, wenn Sie mir nicht die Gräfin la Motte geschickt hätten?« »Mein Gott!« rief die Königin aus. »Hätte ich es gewagt, Sie zu bitten, mir eine Rose zu schenken?« »Mein Gott! Mein Gott!« Marie-Antoinette fand keine Worte. Der Kardinal fuhr immer aufgeregter fort: »Würde ich es je gewagt haben, auf die dritte Nacht zu hoffen, auf jene Nacht des süßen Schwei gens?« Die Königin faßte sich. Sie dachte einen Augenblick nach, dann sag te sie ruhig: »Erklären Sie hier auf der Stelle, Herr von Rohan, daß Sie alle diese Abscheulichkeiten erfunden haben. Erklären Sie hier auf der Stelle, daß Sie nicht in der Nacht nach Versailles gekommen sind.« »Ich bin dort gewesen«, gab der Kardinal mit Würde zurück. »Es kostet Sie das Leben, wenn Sie bei dieser Behauptung bleiben.« »Ein Rohan lügt nicht. Ich bin dort gewesen.« »Dann werden Sie es mit der Justiz des Königs zu tun haben, wenn Sie die Justiz Gottes verwerfen.« Marie-Antoinette wandte sich ab. Der Kardinal verbeugte sich, ohne zu antworten.
Diese Auseinandersetzung hatte stattgefunden, während Herr von Bre teuil dem König die Beweise für die Schuld des Kardinals aufgezählt hatte. Jetzt betrat Ludwig XVI. die Kapelle und fragte Marie-Antoinet te: »Sie haben mich rufen lassen?« »Sire«, begann die Königin, »der Herr Kardinal von Rohan, der hier vor Ihnen steht, hat mir soeben die unglaublichsten Dinge gesagt. Wol len Sie ihn bitten, sie Ihnen zu wiederholen.« Der König wandte sich dem Kardinal zu. »Ich weiß von der Sache. Ich weiß, daß Sie mir unglaubliche Dinge wegen eines Halsbandes zu sagen haben, nicht wahr? Sprechen Sie!« »Was das Halsband betrifft«, murmelte der Kardinal. 136
»Sie haben es also gekauft?« Der Kardinal sah den König hilfesuchend an und antwortete nicht. Der König machte eine leichte Wendung in Richtung Marie-Antoi nettes. »Da der Herr Kardinal nicht antworten will, so antworten Sie, Madame. Sie müssen etwas von der Sache wissen. Haben Sie das Hals band gekauft? Ja oder nein?« »Nein«, erwiderte sie bestimmt. »Das ist das Wort einer Königin«, stellte der König feierlich fest. »Hü ten Sie sich, Herr Kardinal!« Um den Mund Rohans zuckte ein verächtliches Lächeln. »Weswegen klagt man mich denn an?« Der König erwiderte gelassen: »Wie man mir sagt, behaupten die Ju weliere Böhmer und Bossange, daß sie an Sie oder an die Königin ein Halsband verkauft haben und daß sie einen Empfangsschein von Ihrer Majestät der Königin in Händen haben!« »Der Schein ist falsch«, warf Marie-Antoinette ein. »Ich weigere mich nicht, zu bezahlen«, erwiderte der Kardinal mit dem Ausdruck der gleichen Verachtung wie zuvor. »Da Ihre Majestät die Königin es nicht widerlegt, muß ja auch alles auf Wahrheit beru hen.« Er fügte mit einem vernichtenden Blick auf Marie-Antoinette hinzu: »Es steht der Königin auch frei, mir eine Fälschung in die Schu he zu schieben.« Marie-Antoinette wollte entrüstet auffahren, doch Ludwig XVI. hielt sie zurück. »Wie ich sehe, Madame, findet ein Streit zwischen Ihnen und dem Kardinal statt.« Sein Ton wurde hart. »Marie-Antoinette, ich frage Sie zum letzten Mal: Haben Sie das Halsband?« »Nein, bei der Ehre meiner Mutter, beim Leben meines Sohnes, ich habe das Halsband nicht.« »Dann ist es eine Angelegenheit zwischen den Gerichten und Ihnen, mein Herr«, sagte der König scharf. Er milderte den Ton. »Wenn Sie es nicht etwa vorziehen, meine Gnade in Anspruch zu nehmen.« »Die Gnade der Könige ist für die Schuldigen gemacht, Sire«, erwi derte der Kardinal stolz. »Ich ziehe die Gerechtigkeit vor.« »Sie wollen nicht gestehen?« 137
»Ich habe nichts zu gestehen.« »Aber mein Herr«, beschwor die Königin den Kardinal. »Es geht um meine Ehre!« Er schwieg. Die Königin hob die Stimme. »Ich werde nicht schweigen. Sire, es handelt sich nicht nur um den Verkauf oder die Unterschlagung eines Halsbandes.« Herr von Rohan wurde blaß. »Ich flehe Sie an, Madame.« »Ah, Sie beginnen zu zittern. Sire, fordern Sie den Herrn Kardinal doch auf, Ihnen zu sagen, was er mir ins Gesicht gesagt hat.« »Madame!« rief Rohan außer sich. »Sie überschreiten die Grenzen!« Der König war empört. »Wer spricht so mit der Königin? Selbst ich würde nicht so mit ihr sprechen.« »Das ist es eben, Sire«, erklärte Marie-Antoinette. »Der Herr Kardi nal spricht so mit der Königin, weil er glaubt, ein Recht dazu erworben zu haben. Er hat Briefe, wie er behauptet.« »Sprechen Sie, mein Herr«, forderte der König erregt. Der Kardinal schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn. Doch er schwieg. »Jetzt muß ich es wieder sagen«, begann die Königin. »Der Herr Kar dinal beharrt darauf, daß ich ihm Zusammenkünfte bewilligt habe.« »Madame, ich bitte Sie«, flehte Rohan. Der König war fassungslos. »Zusammenkünfte«, murmelte er. »Gewiß, Sire.« Die Königin trat nahe an den Kardinal heran. »Wenn Sie noch ein Gewissen haben, mein Herr, wenn Ihnen noch irgend et was in der Welt heilig ist, erbringen Sie die Beweise für Ihre Behaup tungen.« »Madame«, Herr von Rohan hob langsam den Kopf und warf der Königin einen traurigen Blick zu. »Ich habe keine Beweise«, sagte er. »Jetzt tun Sie auch noch edelmütig. Sie können keine Beweise haben. Aber Sie haben eine Mitschuldige, eine Komplicin.« »Wer ist es?« fragte der König brüsk. »Die Gräfin la Motte, Sire«, erklärte Marie-Antoinette. »Ah!« rief der König. Er triumphierte, weil sich sein Vorurteil gegen 138
die Gräfin endlich bestätigte. »Wir werden sie rufen lassen und befra gen.« »Sie ist verschwunden, Sire. Fragen Sie doch diesen Herrn hier, wo hin er sie gebracht hat. Der Herr Kardinal hatte großes Interesse, sie verschwinden zu lassen.« »Sie ist ohne Zweifel auf Veranlassung anderer verschwunden, die ein noch größeres Interesse daran haben als ich.« Der Kardinal konn te sich nicht länger beherrschen. »Deshalb wird man sie auch nicht fin den.« Er warf der Königin noch einen vernichtenden Blick zu und drehte ihr den Rücken zu. »Herr Kardinal!« rief der König beleidigt. »Sie werden sich in die Ba stille begeben.« Rohan verbeugte sich und fragte gelassen: »In meinem geistlichen Ornat, vor den Augen des ganzen Hofes? Bedenken Sie doch den unge heueren Skandal, Sire. Die Schande würde mit ihrem ganzen Gewicht auf das Haupt dessen fallen, der sie veranlaßt hat.« Der König öffnete in höchster Erregung die Tür. »Ich will es so.« Draußen wartete Herr von Breteuil. Kaum hatte ihm der König eini ge Worte zugeflüstert, als er mit laut schallender Stimme ausrief: »Man verhafte den Herrn Kardinal von Rohan!«
Die Gräfin la Motte, die in der Umgebung von Paris Zuflucht gesucht hatte, wurde von einem Polizeioffizier ausfindig gemacht. Von ihm er fuhr sie die Verhaftung des Kardinals. Der Offizier hatte den Befehl, Jeanne nach Versailles zu bringen. Er sollte sie direkt zum König füh ren. Das versuchte Jeanne zu verhindern. »Sie lieben doch die Königin?« fragte sie den Offizier. »Zweifeln Sie daran?« »Gerade deshalb beschwöre ich Sie, mich zuerst zur Königin zu füh ren.« 139
Unter dem Eindruck der Gerüchte, die in Versailles kursierten, glaubte der Offizier, der Königin tatsächlich einen Dienst zu erweisen, wenn er die Gräfin la Motte zuerst zu ihr führte. Die Königin empfing Jeanne in der Gegenwart zweier Kammerfrau en. »Da sind Sie endlich, Madame«, sagte sie kurz angebunden. »Hat man Sie also gefunden.« Sie fragte scharf: »Haben Sie den König gese hen?« »Nein, Madame.« »Aber Sie werden ihn sehen.« »Das wird eine große Ehre für mich sein«, erwiderte Jeanne mit ei ner tiefen Verbeugung. »Wissen Sie, daß Herr von Rohan in der Bastille ist?« »Ich habe es gehört, Madame.« »Und wissen Sie auch warum?« Jeanne blickte die Königin vorwurfsvoll an. Dann wandte sie sich rasch zu den beiden Kammerfrauen, deren Anwesenheit ihr lästig zu sein schien. »Ich weiß nicht, Madame, warum Herr von Rohan in der Bastille ist.« »Sie wissen aber, daß Sie mir im Namen des Kardinals von Rohan ei nen Vorschlag gemacht haben, wie das Diamantenhalsband zu bezah len wäre?« »Das ist richtig, Madame.« »Habe ich den Vorschlag angenommen oder abgelehnt?« »Eure Majestät haben abgelehnt. Eure Majestät haben sogar eine An zahlung von zweihundertfünfzigtausend Livre gegeben«, fügte Jean ne hinzu. »Da aber der König Herr von Calonne das Geld verweiger te und Eure Majestät nicht bezahlen konnten, haben Eure Majestät das Halsband den Juwelieren Böhmer und Bossange zurückgeschickt.« »Durch wen zurückgeschickt?« »Durch mich.« »Und was haben Sie mit dem Halsband gemacht?« »Ich habe die Diamanten dem Herrn Kardinal von Rohan gegeben.« »Dem Kardinal?« fragte die Königin. »Und warum?« »Madame«, Jeanne zögerte: »Ich hätte Herrn von Rohan verletzt, 140
wenn ich ihm nicht die Gelegenheit gegeben hätte, die Sache seinem Wunsch entsprechend zu Ende zu führen.« »Aber wie konnten Sie dann eine Empfangsbestätigung von den Ju welieren erhalten?« »Die hat mir der Herr Kardinal von Rohan übergeben.« »Und was ist mit dem Brief, den Sie den Juwelieren als von meiner Hand kommend ausgehändigt haben sollen?« »Herr von Rohan hat mich gebeten, ihn zu bestellen.« »Immer und überall hat sich der Herr Kardinal eingemischt!« rief die Königin ärgerlich. »Ich weiß nicht, was Eure Majestät damit meinen?« »Die Empfangsbestätigung der Juweliere ist gefälscht.« »Gefälscht, Madame?« fragte Jeanne ungläubig. »Es wird notwendig sein, Sie dem Herrn Kardinal von Rohan gegen überzustellen, damit die ganze Angelegenheit aufgeklärt wird.« »Gegenüberstellen? Mich?« »Er selbst hat es verlangt. Er hat Sie überall gesucht.« »Das ist unmöglich, Madame.« »Er will beweisen, daß Sie ihn hintergangen haben.« »Wenn es sich so verhält, dann bin ich es, die die Gegenüberstellung verlangt.« »Sie wird stattfinden, darauf können Sie sich verlassen.« Nach einer kurzen Überlegung fragte die Königin: »Sie leugnen also zu wissen, wo das Halsband ist. Sie leugnen, dem Herrn Kardinal bei seinen Intrigen geholfen zu haben?« »Eure Majestät haben das Recht, mich mit Ihrer Ungnade zu bestra fen, aber nicht, mich zu beleidigen. Ich bin eine Valois, Madame.« »Der Herr Kardinal hat in der Gegenwart des Königs verleumderi sche Aussagen gemacht, die er zu beweisen hofft.« »Ich verstehe Sie nicht, Madame.« »Der Kardinal behauptet, Briefe an mich geschrieben zu haben.« Jeanne blickte die Königin nur vorsichtig an. Sie erwiderte nichts. »Haben Sie mich verstanden?« fragte die Königin. »Vollkommen, Eure Majestät.« 141
»Und was antworten Sie?« »Ich werde Rede und Antwort stehen, wenn mir der Herr Kardinal von Rohan gegenübersteht.« Jeanne wandte sich wieder nach den bei den Kammerfrauen um. »Ich werde hier keine andere Antwort geben, Madame.« »Herr von Rohan ist in der Bastille, weil er zuviel gesprochen hat«, sagte die Königin. »Hüten Sie sich, daß Sie nicht in die Bastille kom men, weil Sie zuwenig sprechen.« Jeanne erwiderte gereizt: »Ich habe nichts zu sagen, Madame.« Sie setzte hinzu: »Alles, was ich getan habe, habe ich für Sie getan, Ma dame.« »Das ist eine Unverschämtheit!« rief die Königin zornig. »Sie werden heute nacht in der Bastille schlafen.« »Wie Eure Majestät befehlen. Doch ehe ich mich schlafen lege, wo immer es sein wird, werde ich meiner Gewohnheit gemäß zu Gott be ten, er möge Eurer Majestät die Ehre und die Freude im Leben erhal ten.«
XXIII
Jeanne la Motte wurde in die Bastille eingeliefert. Der unüberwind liche Haß des Königs gegen diese Frau wirkte sich in ihrer Behand lung aus. Der Kardinal lebte in der Bastille wie ein vornehmer Herr, wie in einem von ihm gemieteten Haus. Außer der Freiheit wurde ihm alles bewilligt, was er sich nur wünschte. Die Offiziere und Beamten der Bastille bezeigten ihm die Ehrfurcht, die einem Kirchenfürsten, ei nem Rohan gebührte. Für sie war er kein Angeklagter im üblichen Sin ne, sondern ein willkürlich in Ungnade Gefallener. Das Volk empfand nicht nur Sympathie für ihn, sondern Begeisterung. Alle Welt wun 142
derte sich, wie es möglich sei, daß ein Rohan des Diebstahls angeklagt werden könne. Als der Kardinal der Gräfin la Motte endlich gegenübergestellt wur de, gelang es Jeanne, ihm zuzuflüstern: »Entfernen Sie die Anwesen den, und ich werde Ihnen alles erklären.« Der Kardinal forderte, mit der Gräfin allein gelassen zu werden. Das wurde ihm verweigert, aber man erlaubte seinem Anwalt, mit Jeanne zu sprechen. Sie erklärte dem Anwalt, daß sie nicht wisse, was mit dem Halsband geschehen sei, daß sie es aber verdient hätte, wenn der Kar dinal es ihr zum Geschenk gemacht hätte. Der Anwalt war sprachlos über die Frechheit, als sie hochmütig fragte, ob die von ihr der Königin und dem Kardinal geleisteten Dienste nicht eine Million wert seien. Der Kardinal erschrak, als er von dieser unverschämten Frage der Gräfin erfuhr. Er wußte, daß er ihr ausgeliefert war. Er überlegte, ob es nicht Mittel und Wege gäbe, die leidige Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Doch seine Freunde rieten ihm, den Kampf, den er begon nen hatte, nicht aufzugeben. Er sei das Opfer des königlichen Despo tismus, sagten sie. Seine Ehre stehe auf dem Spiel, und ohne einen Ur teilsspruch des Parlaments könne er seine Unschuld nicht beweisen. So wurde Herr von Rohan, der Abkömmling eines der ältesten fran zösischen Geschlechter, einer der ersten Revolutionäre Frankreichs. Als die Königin von der Unterredung des Kardinals mit der Gräfin la Motte unterrichtet wurde, geriet sie außer sich. Sie bestand darauf, daß alle geheimnisvollen Einzelheiten des Falles besonders scharf zu untersuchen seien. Die nächtlichen Zusammenkünfte, die stattgefun den hatten, wurden zur Sprache gebracht. Vor den Leuten der Königin behauptete Jeanne, von nichts zu wissen. Doch den Leuten des Kardi nals gegenüber war sie nicht so diskret und wiederholte immer wieder: »Man lasse mich in Ruhe, sonst werde ich sprechen.« Diese Andeutungen verwirrten die Untersuchung und brachten Jeanne durch ihre so gut gespielte Bescheidenheit in den Ruf einer Hel din. Kein Untersuchungsrichter wagte es, die Verhöre der Gräfin pein lich fortzusetzen. Die Frage, ob die Königin das Diamantenhalsband behalten hatte oder nicht, stand nicht mehr an der Tagesordnung. Die 143
Frage des Tages war, ob sie es durch jemand hatte stehlen lassen, der in ihre ehebrecherische Liebschaft eingeweiht gewesen war. Die Voruntersuchung des Prozesses wurde mit aller Energie gegen die Gräfin la Motte gerichtet. Alles sprach gegen sie: ihr Vorleben, ihre frühere Armut, ihr rasches Emporkommen. Der Adel haßt Zufalls prinzessinnen, und das Volk verzeiht Abenteuerinnen nicht den Er folg des Glücks. Jeanne nahm bald wahr, daß sie einen falschen Weg eingeschlagen hatte und daß die Königin, dadurch, daß sie sich mutig der Anklage stellte, den Kardinal aufforderte, ihrem Beispiel zu folgen. Jeanne wußte, daß die arme, kleine, nicht anerkannte Valois mit der gestohlenen Million, die sie nicht bei der Hand hatte, um ihre Rich ter zu bestechen, den kürzeren ziehen mußte. Ein Zufall brachte eine Wendung.
Herr von Beausire und Mademoiselle Oliva lebten inzwischen reich und glücklich in einem Haus auf dem Lande. Sie dachten nur an sich selbst und wußten nichts von dem, was in Paris vorging. Oliva wurde fett wie eine Wachtel. Eines Morgens ging Beausire auf die Hasenjagd. Er lief den beiden Polizeiagenten in die Arme, die Oliva suchten. »Bieten Sie uns ein Frühstück in Ihrem Hause an, Beausire?« fragte einer der beiden Agenten. »In meinem Hause, aber …« Der andere fiel ein: »Sie werden doch nicht so unhöflich sein …« Beausire blieb nichts anderes übrig, als die beiden Agenten einzu laden. Sie gingen schweigend zum Haus zurück. Beausire überleg te krampfhaft, wie er Oliva warnen könnte. Polizeiagenten – er hatte Angst und entschuldigte sich hastig bei seinen ungebetenen Gästen. »Wo wollen Sie hin?« fragte der eine. »Wir werden Sie begleiten, wohin immer Sie gehen«, ergänzte der an dere. »Ich will nur meiner Frau Bescheid sagen, daß wir Gäste haben«, antwortete Beausire und war mit einem Satz auf dem Treppenabsatz 144
zu dem oberen Stockwerk. Die Agenten hielten ihn mit Gewalt fest. Beausire schrie vor Schreck auf. Im ersten Stock öffnete sich eine Türe. Ängstlich erschien eine Frau auf der Schwelle. Als die Agenten sie sahen, ließen sie Beausire los. Sie hatten die Frau gefunden, die der Königin von Frankreich aufs Haar glich. Der jünge re der beiden ging auf Oliva zu und sagte in barschem Ton: »Ich ver hafte Sie.« »Verhaften!« schrie Beausire. »Warum?« »Weil Herr von Crosne es uns befohlen hat.« »Gehen wir«, die Agenten wehrten Beausire ab, der sie mit einem Re deschwall überfiel. »Es gibt doch gewiß eine Kutsche oder ein anderes Fuhrwerk hier. Lassen Sie anspannen, Beausire. Ihre Frau kann nicht zu Fuß nach Paris gehen. Aber wir sind keine Unmenschen, wir neh men Sie mit und lassen Sie unterwegs abspringen. Was mit Ihnen ge schieht, geht uns nichts an. Für uns ist es die Hauptsache, daß wir Ma dame gefunden haben.« »Wo sie hingeht, da werde auch ich hingehen«, erwiderte Beausire tonlos. »Ich verlasse sie nicht!«
Herr von Crosne war glücklich über den Erfolg seiner Agenten. Er fuhr, so rasch er konnte, nach Versailles. Seiner Kutsche folgte ein fest verschlossener Wagen. Der Polizeichef ließ sich bei der Königin mel den. Marie-Antoinette empfing ihn unverzüglich. An seiner strahlen den Miene erkannte sie gleich, daß er eine gute Nachricht brachte. »Was gibt es?« fragte sie. Herr von Crosne küßte ihr die Hand, die sie ihm gnädig reichte. »Haben Eure Majestät ein Zimmer, von dem aus Sie alles beobachten könnten, ohne selbst gesehen zu werden?« »In meiner Bibliothek gibt es eine Öffnung in der Täfelung.« »Sehr gut, Madame. Ich habe eine Überraschung für Sie. Sie werden staunen, Madame.« Marie-Antoinette lugte neugierig durch das geheime Guckloch. Sie 145
sah eine verschleierte Gestalt, die den Nebenraum betrat. Ein Polizei beamter nahm den Schleier ab. Die Königin schrie unwillkürlich auf. Sie glaubte, sich selbst in einem Spiegel zu sehen. Oliva trug eines ihrer Lieblingskleider, ihre Frisur, ihren Schmuck, die grünen Atlasschuhe mit den hohen Absätzen, in denen sie selbst sich am besten gefiel. »Was sagen Eure Majestät zu dieser Ähnlichkeit?« fragte Herr von Crosne triumphierend. »Ich … ich …« Die Königin suchte mühsam nach Worten. »Das muß der König erfahren. Mein Gott«, sie machte eine erschrockene Hand bewegung, »diese Frau ist der ganze Irrtum des Kardinals. Ich danke Ihnen, mein Herr, Sie halten die Ehre des Hauses Frankreich in Hän den.« »Sie ist in guten Händen, Madame«, erwiderte Herr von Crosne. »Doch jetzt bitte ich Eure Majestät, mich für kurze Zeit zu entschul digen. Der Herr Graf von Cagliostro hat mich um eine wichtige Un terredung gebeten. Die möchte ich auf keinen Fall versäumen. Wenn der Graf von Cagliostro den Polizeiminister so wichtig zu sprechen wünscht, muß es sich um etwas ganz Außerordentliches handeln.«
Herr von Crosne glaubte von Cagliostro alles zu wissen, was ein ge wandter Polizeichef von einem sich nur in Frankreich vorübergehend aufhaltenden Mann von Welt wissen konnte. Er empfing den Grafen mit vollendeter Höflichkeit. »Ich komme eigens wegen der von Ihnen erbetenen Audienz von Versailles.« »Als Kenner Ihrer Verdienste und der Bedeutung Ihrer Stellung neh me ich Ihre Zeit in Anspruch. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich dachte, Sie hätten ein Interesse, mich über bestimmte Vorgänge zu be fragen.« »Über welche Vorgänge?« »Herr von Crosne«, sagte Cagliostro geradeheraus, »Sie beschäftigen sich doch mit der Gräfin la Motte und mit dem Verschwinden eines Diamantenhalsbandes.« 146
»Sollten Sie es etwa gefunden haben?« fragte der Polizeichef spöt tisch. »Das nicht«, erwiderte Cagliostro mit ernster Würde. »Aber wenn ich es auch nicht gefunden habe, so weiß ich doch, daß die Gräfin la Motte in der Rue Saint-Claude wohnte.« »Ihnen gegenüber«, stellte Crosne fest. »Das wußte ich auch.« »Dann sind Sie sicher auch genauestens über die Gräfin la Motte un terrichtet, mein Herr, und wir brauchen nicht davon zu sprechen.« »Im Gegenteil, Herr Graf«, erwiderte Crosne mit gleichgültiger Mie ne. »Sprechen wir davon.« »Meine Mitteilungen hätten nur Bedeutung in Beziehung auf die kleine Oliva. Doch da Sie alles über die Gräfin la Motte wissen, so kann ich Ihnen leider nichts Neues mitteilen.« Als er den Namen Oliva hörte, nahm sich Herr von Crosne sehr zu sammen. Er fragte gelassen: »Was sagen Sie von einer Oliva?« »Diese Oliva lebte schlecht und recht mit einem Liebhaber, der sie schlug und bestahl.« »Ein gewisser Beausire«, unterbrach Crosne. Er war stolz, so gut un terrichtet zu sein. »Sie kennen Beausire? Das ist erstaunlich«, gab Cagliostro mit ge spielter Bewunderung zurück. »Da Sie ihn kennen, werden Sie gewiß richtig bewerten, was geschehen ist. Eines Tages, als dieser Beausire Oliva mehr als gewöhnlich geschlagen hatte, flüchtete sie sich zu mir und bat mich um meinen Schutz. Ich quartierte sie in einem Winkel eines meiner Häuser ein.« »Sie war also bei Ihnen?!« »Gewiß! Warum sollte ich sie nicht bei mir aufgenommen haben? Ich bin Junggeselle.« Er lachte und fragte naiv: »Als Junggeselle kann ich mir das doch erlauben?« »Deshalb haben also meine Agenten sie ohne Erfolg gesucht.« »Wieso gesucht?« fragte Cagliostro. »Man hat die Kleine gesucht? Hat sie denn etwas getan, wovon ich nichts wüßte?« »Nichts, mein Herr, nichts«, wehrte Crosne ab. »Aber ich bitte Sie, sprechen Sie weiter.« Er drängte: »Sie haben gesagt, die Gräfin la Motte 147
und diese Oliva seien Nachbarinnen gewesen. Meine Leute haben Oli va mit Herrn von Beausire in der Provinz gefunden.« »Mit Herrn von Beausire? Dann muß ich allerdings der Gräfin la Motte Abbitte tun.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wenn Sie Oliva mit Beausire gefunden haben, so ist mein Verdacht unbegründet, daß die Gräfin la Motte irgend etwas Schlechtes mit Oli va im Sinne hatte, denn sie hatte Mittel und Wege gefunden, Oliva jede Nacht zum Ausgehen zu verhelfen.« »Jede Nacht? Sind Sie dessen gewiß?« »So gewiß wie jemand, der es gehört und gesehen hat.« »Haben Sie irgendwelche Beweise, zum Beispiel, daß die Gräfin mit Oliva korrespondierte?« »Mehr als ein Dutzend Briefe, die man zweifellos in Olivas Woh nung finden wird.« »Gibt es auch Beweise von Olivas Einverständnis zu diesen Verabre dungen?« Crosne lehnte sich vor. »Ich bitte Sie, Herr Graf, verschaffen Sie mir nur einen einzigen solchen Beweis!« Cagliostro zuckte die Achseln. »Allem Anschein nach war es für die Gräfin kein Problem, in mein Haus einzudringen und Oliva zu besu chen. Nicht nur ich persönlich, sondern meine Diener haben die Grä fin an dem Tag in meinem Haus gesehen, an dem Oliva aus dem Haus verschwand.« »An welchem Tag wurde diese Oliva entführt?« »Das weiß ich sogar ganz genau. Es war am Tag vor dem Fest des hei ligen Ludwig.« »So ist es, Herr Graf.« Crosne verbeugte sich. »Sie haben dem Staat einen hervorragenden Dienst erwiesen.« Er verbeugte sich nochmals. »Darf ich auf die Beweise rechnen, von denen Sie sprechen?« »Ich gehorche den Behörden in allen Belangen«, erwiderte Ca gliostro. »Herr Graf, ich nehme Sie beim Wort.«
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XXIV
In den Pariser Kaffeehäusern verbreitete sich das Gerücht, daß ein ge wisser Reteau von Villette in England verhaftet worden sei, als er die Diamanten des Halsbandes der Herren Böhmer und Bossange hat te verkaufen wollen. Das Gerücht bewahrheitete sich. Jeanne brauch te alle Kraft, um diesen Schlag auszuhalten. Reteau von Villette wur de der Gräfin la Motte gegenübergestellt. Sie hörte entsetzt zu, als er in aller Demut gestand, er wäre ein Fälscher und hätte einen Empfangs schein für die Diamanten, einen Schuldbrief der Königin geschrieben, und auch die Unterschrift der Juweliere und Ihrer Majestät der Köni gin gefälscht. Nach dem Beweggrund für diese Verbrechen befragt, er widerte Reteau, er hätte es auf das Verlangen der Gräfin la Motte ge tan. Jeanne wurde ins Kreuzverhör genommen. Sie verteidigte sich wie eine verwundete Löwin. Sie behauptete, Reteau von Villette nie in ih rem Leben gesehen, nie in ihrem Leben gekannt zu haben. Zeugenaus sagen widerlegten ihre Verteidigung. Ein Zeuge erklärte, sie am Tag vor dem Fest des heiligen Ludwig mit Herrn Reteau von Villette in ei ner Reisekutsche gesehen zu haben. Dieser Zeuge war ein Diener des Grafen von Cagliostro. Der Name Cagliostro war zuviel für Jeanne. Sie sprang außer sich auf und klagte Cagliostro an, dem Kardinal von Rohan strafbare Ge danken gegen Ihre Majestät die Königin in den Kopf gesetzt zu haben. Der Kardinal leugnete alles, was die Königin hätte belasten können. Indem er sich selbst verteidigte, verteidigte er Cagliostro. Er leugnete so hartnäckig, daß es Jeanne um die Besinnung brachte. Sie erzählte den Untersuchungsrichtern zum erstenmal von der wahnsinnigen Lie be des Kardinals für die Königin. 149
Dem Verlangen Cagliostros, unverzüglich in die Bastille eingesperrt zu werden, um seine Unschuld unberührt von allen Einflüssen bewei sen zu können, wurde entsprochen. Die öffentliche Meinung nahm für den Kardinal von Rohan und für Cagliostro, der sich den königlichen Behörden freiwillig gestellt hatte, und gegen die Königin Partei. Jeanne wußte sich keinen Rat mehr. Als sie in ihrer Verzweiflung ihre Unschuld schreiend beteuerte, bereitete ihr Herr von Crosne eine vernichtende Überraschung: Oliva als lebendigen Beweis. Nur mit äußerster Willenskraft ertrug Jeanne diesen Schlag. Aber als der Kardinal von Rohan Oliva gegenübergestellt wurde, er kannte er, wie schändlich er betrogen worden war. Es kam ihm er schreckend zur Besinnung, daß eine Abenteuerin und Gaunerin ihn dazu gebracht hatte, die Königin von Frankreich, die er liebte, öffent lich zu verachten. Trotz aller Gewissenskonflikte konnte er die Iden tität Olivas nicht zugeben, ohne seine Liebe zu Marie-Antoinette ein zugestehen. Allein das Geständnis seines Irrtums wäre einer Anschul digung gegen sich selbst gleichgekommen. So überließ er Jeanne alles Leugnen und schwieg. Und Jeanne leugnete. »Das ist das beste Mittel, um eine unschuldi ge Frau wie mich zugrunde zu richten!« schrie sie. »Man bringt eine Person vor Gericht, die der Königin gleicht und behauptet, die Person sei im Park gewesen. Man zeigt sie aller Welt, und damit ist jeder Ver dacht gegen die Königin aus der Welt geschafft. Und ich soll dafür bü ßen.« Als aber Oliva in ihrer Angst jede Einzelheit ohne Rückhalt gestand und es dazu brachte, daß man ihr mehr glaubte als der Gräfin la Mot te, nahm Jeanne ihre letzte Zuflucht zu einem verzweifelten Mittel: Sie gestand. Sie gestand, weil hinter ihr eine Anhängerschaft stand. Sie wußte, daß sie alle Feinde der Königin zum Beistand für sich gewinnen wür de, wenn sie die Königin beschuldigte. So erklärte Jeanne, daß die Zu sammenkünfte mit dem Kardinal eine Idee der Königin gewesen sei en. Die Königin habe sich, hinter einer Hagebuche versteckt, über den verliebten Herrn von Rohan halb tot gelacht. Jeanne drohte, alle vom 150
Kardinal an die Königin geschriebenen Briefe zu veröffentlichen. Und das war keine leere Drohung, denn sie besaß diese Briefe tatsächlich. Marie-Antoinette konnte ihre Unschuld nicht beweisen, weil kein Beweis erbracht werden konnte, ob jemand hinter der Hagebuche be obachtet und gelauscht habe oder nicht. Sie konnte ihre Unschuld auch nicht beweisen, weil zu viele ein Interesse daran hatten, die Lügen Jean nes für die Wahrheit zu nehmen. Eine Gegenüberstellung folgte der anderen. Der Kardinal war stets ruhig und höflich, auch gegen die Gräfin la Motte, die sich hämisch und feindselig gegen ihn verhielt. Jeanne bemerkte bald, daß sie nicht den geringsten Eindruck auf die Richter gemacht hatte. Cagliostro aber irrte sich in keiner seiner Berechnungen, die er an gestellt hatte. Er hatte einen Vorwand gefunden, endlich offen auf den Untergang der Monarchie hinzuarbeiten, die er seit so vielen Jahren heimlich untergrub. Mit der für seine Absichten günstigen Entwick lung zufrieden und vor jeder Bloßstellung sicher, hielt er gewissen haft seine Versprechungen gegen alle Welt. Er bereitete das Material zu dem von London aus datierten, berüchtigten Brief vor, der einen Mo nat später in den Pariser Zeitungen erschien und der erste Stoß gegen die alten Mauern der Bastille war, die ihn beherbergte, die erste Feind seligkeit der Revolution. In diesem Brief erklärte Cagliostro: »Ich wiederhole, was ich als Ge fangener schon gesagt habe: Es gibt kein Verbrechen auf Erden, das nicht durch sechs Monate in der Bastille abgebüßt wäre. Es fragte mich jemand, ob ich je nach Frankreich zurückkehren würde. Gewiß, ant wortete ich, aber unter der Bedingung, daß der Platz, auf dem die Ba stille steht, eine öffentliche Promenade geworden ist. Möge es Got tes Wille sein. Ihr Franzosen habt alles, was man zum Glück braucht: fruchtbare Erde, ein mildes Klima, gute Herzen, allerliebste Heiterkeit, Genie und Anmut. Ihr seid ohnegleichen in der Kunst, zu gefallen, es gibt keine Meister über euch in allen anderen Künsten. Aber was euch fehlt, ist nur eines: nämlich die Gewißheit, daß ihr in eurem eigenen Bett schlafen werdet, wenn ihr euch auch in keiner Hinsicht vergan gen habt.« 151
Oliva hielt Wort. Sie war Cagliostro gewissenhaft treu. Nicht eine Sil be, die ihren Gönner hätte bloßstellen können, entschlüpfte ihr. Wäh rend der Monate, die sie hinter Schloß und Riegel verbrachte, hatte sie ihren teuren Beausire nicht wiedergesehen. Sie war jedoch nicht ganz von ihm verlassen, denn sie trug ein Andenken von ihrem Geliebten unter dem Herzen. Unruhig wartete Beausire in der Rue Saint-Antoine und ließ die ge genüberliegende Bastille nicht aus den Augen. Ein Diener Cagliostros trat neben ihn und sagte leise: »Herr von Beausire, verhalten Sie sich ruhig, damit die Polizei uns nicht bemerkt. Ich bringe Ihnen die ver sprochene Nachricht: Mutter und Kind befinden sich wohl. Es ist ein Knabe.« »O mein Freund, wie glücklich bin ich, wie glücklich!« rief Beausire. »Danken Sie Ihrem Herrn für mich. Danken Sie ihm!« »Wenn Sie mir versprechen, kein Aufsehen zu erregen, dann warten Sie hier, Herr von Beausire. Gleich kommt die Hebamme der Bastille, um das Kind taufen zu lassen.« Beausire mußte sich an eine Säule anlehnen, um nicht in Ohnmacht zu fallen, als er die Hebamme, den Wundarzt und einen Schließer der Bastille aus einem Fiaker aussteigen sah. Er folgte dem kleinen Zug mit dem Priester und den Neugierigen in die Sakristei der nahen Kirche. Er sah, daß der Priester seine Feder zur Hand nahm, und er hörte, wie er nach Namen und Vornamen des neugeborenen Kindes fragte. »Es ist ein Knabe«, antwortete der Wundarzt. »Mehr weiß ich nicht.« »Er hat doch gewiß einen Namen und wäre es der irgendeines Heili gen«, meinte der Priester. »Es war der Wille der Mademoiselle, die das Kind in der Bastille zur Welt brachte, daß es auf den Namen Toussaint getauft wird.« Beausire verlor seine Geduld. Doch der Diener Cagliostros bewog ihn, sich ruhig zu verhalten und zuzuhören. »Schreiben wir alles auf«, sagte der Priester gelassen. »Ich beginne«, setzte er mit feierlicher Stimme fort. »Es ist uns heute ein Kind männ lichen Geschlechts, gestern in der Bastille geboren, vorgewiesen wor den. Sohn von Oliva Legay und …«, er zögerte, »… Vater unbekannt.« 152
Beausire konnte nicht länger an sich halten. Er sprang auf den Prie ster los, packte ihn beim Handgelenk und rief: »Toussaint hat einen Vater, so wie er eine Mutter hat. Ich bitte Sie, Hochwürden, schreiben Sie, daß Toussaint der Sohn des hier anwesenden Jean Babtiste Tous saint von Beausire ist.« Obgleich die Angestellten der Bastille an dramatische Szenen ge wöhnt waren, rührten sie die väterlichen Gefühle Beausires. Nur der Priester bewahrte seine Kaltblütigkeit und zog die so unerwartete Va terschaft in Zweifel. Vielleicht ärgerte es ihn auch, daß er seine Schrei bereien wieder von vorn beginnen mußte. Beausire war viel zuviel in der Welt herumgekommen, als daß er das umständliche Gehabe des Priesters nicht durchschaut hätte. Er legte drei Louisdor auf den Taufstein. Diese Goldstücke bewiesen viel bes ser als alles andere sein Vaterrecht auf Toussaint. Der Priester verbeug te sich ergeben und sagte: »Mein Herr, haben Sie die Güte, selbst zu be urkunden, daß Sie sich als Vater dieses Kindes bekennen.« Begeistert griff Beausire zur Feder. »Seien Sie vorsichtig«, flüsterte der Schließer der Bastille Beausire ins Ohr. »Ich glaube, Ihr Name hat keinen guten Klang an gewissen Or ten.« »Ich danke für Ihren Rat, mein Freund«, erwiderte Beausire selbst bewußt. »Doch den Sohn meiner Frau verleugnen …« »Sie ist Ihre Frau?« »Gott schenke ihr die Freiheit«, erwiderte Beausire feierlich, »und am nächsten Tag wird Oliva meinen Namen tragen.« »Mittlerweile setzen Sie sich einer großen Gefahr aus«, warnte ihn der Schließer. »Ich glaube, daß man Sie sucht.« »Ich werde Sie nicht verraten«, erklärte der Wundarzt. »Ich auch nicht«, fiel die Hebamme ein. »Ich noch weniger!« rief der Priester und steckte die drei Louisdor in die Tasche seiner Soutane.
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XXV
Nach langen Beratungen kam endlich der Tag der Urteilsverkündung im Halsbandprozeß, wie das gegen die Angeklagten geführte Ver fahren im Volksmund genannt wurde. Der Generalanwalt ergriff das Wort und sprach im Namen der beleidigten königlichen Würde. Mit dem Brustton der Überzeugung plädierte er für das Prinzip der könig lichen Unantastbarkeit. Er stellte den Antrag: Auf Verurteilung Reteau von Villettes zu den Galeeren. Auf Verurteilung Jeanne la Motte-Valois' zur Brandmarkung, Aus peitschung und lebenslänglichem Arbeitshaus. Auf Freisprechung des Grafen Cagliostro. Auf Überweisung Oliva Legays an die ordentlichen Gerichte. Auf Ausübung eines behördlichen Zwangs auf den Kardinal von Rohan, damit er eingestehe, eine beleidigende Frechheit gegen die kö nigliche Majestät begangen zu haben, und auf Verbannung aus der Nähe des Königs und der Königin und auf Entsetzung von seinen Äm tern und Würden. Nur vierzehn Parlamentsräte schlossen sich dem Antrag des Gene ralanwalts bezüglich des Kardinals an. Dann begann das letzte Ver hör. Mit Ausnahme des Herrn von Rohan waren alle Angeklagten in die Conciergerie gebracht worden, um dem Sitzungssaal näher zu sein. Die Verhandlungen begannen an jedem Morgen um sieben Uhr. Es war Brauch, daß jeder Angeklagte vor den Richtern auf einem hölzer nen Bänkchen saß. Der erste, der auf diesem schimpflichen Schemel Platz nahm, war der Fälscher Reteau von Villette, der mit Tränen und Bitten um Gnade flehte. Er interessierte weder die Richter noch die Anwesenden. Er war 154
nichts anderes als ein gewöhnlicher Betrüger. Nach seiner Aussage vor dem Gerichtshof kehrte er jammernd in seine Zelle zurück. Jetzt wurde die Gräfin la Motte von einem Gerichtsschreiber vor geführt. Sie trug einen schlichten Überwurf, ein Kleid aus Batist und eine Spitzenhaube. Ihr Haar war ungepudert. Die Hitze im Saal, das Stimmengewirr und die Bewegung der Köpfe, die sich ihr zuwand ten, beunruhigten sie. Sie schwankte. Der Gerichtsschreiber führte sie rasch auf den ihr vorbestimmten Platz. Beim Anblick des Armesün derbänkchens, auf dem sie sitzen sollte, erblaßte Jeanne. Sie warf einen wütenden Blick auf die Richter. Sie, die stolz darauf war, sich Valois zu nennen und in ihren Händen das Geschick einer Königin von Frank reich zu halten, sollte sich auf ein für gemeine Verbrecher gezimmer tes Bänkchen setzen. Aber wohin sie auch schaute, begegneten ihr nur neugierige Blicke, die keine Teilnahme zeigten. Sie beherrschte ihre Entrüstung und setzte sich. Das Verhör begann. Aber wie bestimmt die Fragen auch waren – Jeanne gab nur unbestimmte Antworten. Sie versicherte ihre Unschuld und brachte den Präsidenten des Gerichtshofes durch geschickte Rede wendungen dazu, sie über die Existenz der kompromittierenden Brie fe zu befragen. Mit erhobenen Händen beteuerte sie, Ihre Majestät die Königin nicht bloßstellen zu wollen. Sie würde das niemals tun. Aber niemand könne die Frage nach den Briefen besser beantworten als Sei ne Eminenz der Herr Kardinal von Rohan. »Lassen Sie doch die Brie fe verlesen«, schlug sie vor. »Ich für meine Person finde ihren Inhalt zu frei und zu vertraulich für eine Königin und einen Untertan, als daß ich sie mit lauter Stimme lesen könnte.« Tiefes Stillschweigen folgte. Jeanne verließ den Schemel in der Hoff nung, daß der Kardinal nun darauf sitzen würde. Als sie sich um wandte und sah, daß der Schemel durch einen Lehnstuhl ersetzt wur de, schrie sie wütend auf und wurde vom Gerichtsschreiber mit Ge walt aus dem Saal gezogen. Der Kardinal von Rohan schritt langsam auf den Lehnstuhl zu. Er war in ein wallendes Priestergewand gekleidet und sah blaß und an gegriffen aus. Zwei Gerichtsdiener und zwei Gerichtsschreiber beglei 155
teten ihn ehrerbietig. Der Gouverneur der Bastille trat an seine Seite. Beim Eintritt des Kardinals in den Saal wurden mit Achtung gemisch te Laute hörbar. Das freundliche Gefühl der Anwesenden für ihn wur de durch kräftige Zurufe von der Straße unterstützt. Das Volk begrüß te den Angeklagten. Der Präsident des Gerichts lud ihn ein, auf dem Lehnstuhl Platz zu nehmen. Der Kardinal setzte sich und stellte sich dem öffentlichen Verhör. Seine zitternde Stimme und seine demütige Haltung erregten tiefes Mitleid. Er brachte mehr Entschuldigungen als Beweise vor. Und als er, der sprachgewandte Weltmann, plötzlich innehielt, zählte sein Schwei gen mehr, als alle Verteidigungsreden und Beweisführungen gegolten hätten. Als nächste Angeklagte wurde Oliva vorgeführt. Für das arme Mäd chen stand wieder das Armesünderbänkchen bereit. Die meisten An wesenden bebten, als sie dieses lebendige Ebenbild der Königin von Frankreich auf dem Schemel der Diebinnen und Fälscherinnen sitzen sahen. Ihr Anblick erschreckte auch die eifrigsten Verfolger der Mon archie. War es schon so weit gekommen, daß sich eine Frau, die der Königin wie ein Ei dem anderen glich, den Richtern stellen mußte? Nach Oliva wurde Cagliostro in den Gerichtssaal geführt. Der Prä sident lud ihn nicht ein, sich zu setzen, obwohl der Lehnstuhl neben dem Schemel bereitgehalten wurde. Der Generalanwalt fürchtete die Verteidigungsrede Cagliostros und hatte ein kurzes Scheinverhör an geordnet. Das genügte zur Erfüllung der Formalitäten. Endlich konn te sich der Gerichtshof zur Beratung zurückziehen.
Es war ein heißer Junitag. Während der Kardinal auf den Terrassen der Conciergerie Spazierengehen durfte und sich mit Cagliostro über den vermutlichen Erfolg ihrer Verteidigungen unterhielt, während Oliva in ihrer Zelle das neugeborene Kind liebkoste, während Reteau von Villette mit trockenen Augen an den Nägeln seiner geschickten Finger kaute und in Gedanken die ihm von Herrn von Crosne für sein 156
freimütiges Geständnis versprochenen Taler zählte und sie den Leiden seiner Gefangenschaft gegenüberstellte, versuchte sich Jeanne la Mot te zu beruhigen. Seitdem sie in der Conciergerie untergebracht war, lebte sie in der Gesellschaft der Familie des Gefängniswärters. Sie hatte sich bei sei ner Frau und ihrem Sohn beliebt gemacht. Es war ihr gelungen, diesen Leuten zu beweisen, daß die Königin im höchsten Grade strafbar sei. Aber als sie nach der letzten Verhandlung zurückkehrte, begegne te ihr verlegenes Schweigen. Vergebens versuchte sie, die Frau des Ge fängniswärters auszufragen. Sie erhielt nur nichtssagende Antworten. Am nächsten Morgen hoffte Jeanne, ihre Freunde würden sie mit der Nachricht ihrer Freisprechung und Glückwünschen besuchen. Als nichts geschah, wurde sie unruhig. Da es ihr nicht gestattet war, die Conciergerie zu verlassen, um sich zu erkundigen, lauschte sie am Fen ster angstvoll auf jedes Geräusch. Plötzlich hörte sie Geschrei, Jubel, Bravorufe und Händeklatschen. Sie hörte die Vorübergehenden spre chen: »Ein herrlicher Tag für den Kardinal«, sagte eine laute Stimme. »Er hat Glück gehabt.« »Ein herrlicher Tag für den Kardinal?« Jeanne überlegte. Der Kardi nal ist also freigesprochen. Sie eilte hastig in die Stube des Gefängnis wärters und fragte seine Frau: »Was höre ich? Der Kardinal hat Glück gehabt? Ich bitte Sie, sagen Sie mir, was für ein Glück.« »Ich weiß es nicht«, erwiderte die Frau. Jeanne sah sie mißtrauisch an. »Haben Sie doch die Güte und fragen Sie Ihren Mann.« Die Frau gehorchte aus Gefälligkeit. Doch der Ge fängniswärter erwiderte, daß er von nichts wisse. »Vielleicht wollte der Vorübergehende nur sagen«, meinte die gut mütige Frau, »daß es ein schöner Tag für den Kardinal wäre, wenn er freigesprochen würde.« Jeanne preßte ihre Finger krampfhaft aneinander. »Sie glauben, daß man ihn freisprechen wird?« »Es ist möglich.« »Und ich?« 157
»Madame … Sie auch. Warum nicht?« Jeanne trat wieder ans Fenster. Einige Frauen gingen vorüber. Sie hatten Festhauben auf und große Blumensträuße in den Händen. »Ich schenke ihm meinen Strauß!« rief eine der Frauen. »Dieser herrliche Mann! Wenn ich kann, werde ich ihn küssen.« »Ich auch«, sagte eine andere. »Er muß küssen«, lachte eine dritte. »Immer der Kardinal«, murmelte Jeanne, »immer er. Er ist freige sprochen. Er ist freigesprochen!« »Aber Madame, warum sollte denn dieser arme Mann nicht freige sprochen und in Freiheit gesetzt werden!« riefen wie aus einem Mund der Gefängniswärter und seine Frau. »Sie verstehen mich nicht«, gab Jeanne zurück. »Natürlich soll der Kardinal freigesprochen werden. Aber ich möchte endlich auch etwas über mich erfahren.« In diesem Augenblick strömte die Menge vor der Conciergerie unter ohrenbetäubendem Geschrei zusammen. Im hellen Sonnenschein er kannte Jeanne die beiden Männer, denen die Menge zujubelte. Bleich und erschrocken über seinen Triumph und seine Volkstümlichkeit blickte der Kardinal ernst um sich. Der Graf von Cagliostro lächelte heiter den Jubelnden zu. Jeanne erschrak. »Sie sind schon frei? Und ich weiß noch nichts. Wa rum sagt man mir nichts?« Neue Ausbrüche des Volkes erregten die Aufmerksamkeit Jeannes. In einem langsam davonfahrenden Fiaker erkannte sie Oliva, die ihr Kind dem Volk lächelnd zeigte. Als Jeanne alle anderen Angeklagten frei, glücklich und gefeiert sah, wurde sie noch unruhiger. »Warum gibt man mir keinen Bescheid?« fragte sie immer wieder. »Beruhigen Sie sich, Madame«, beschwichtig te sie der Gefängniswärter. »Beruhigen Sie sich doch.« Jeanne schrie ihn an: »Es ist unmöglich, daß Sie nichts wissen. Sie wissen es, Sie wissen es! Warum sagen Sie nichts? Sie sehen doch, wie ich leide.« »Madame, es ist den Angestellten des Gefängnisses verboten, die Ur teilssprüche bekanntzugeben.« 158
»Ist mein Urteil so hart, daß Sie nicht wagen, es mir zu sagen?« »Ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie mich nicht verraten.« »Ich schwöre es Ihnen, aber sprechen Sie.« »Kardinal von Rohan ist freigesprochen.« »Ich weiß.« »Der Graf von Cagliostro ist freigesprochen.« »Ich weiß, ich weiß!« »Die Anklage gegen Mademoiselle Oliva wurde zurückgezogen.« »Weiter, weiter!« drängte Jeanne. »Reteau von Villette ist verurteilt … zu den Galeeren.« »Und ich? Und ich?« fragte Jeanne außer sich. »Sie wurden zur Verbannung verurteilt«, sagte der Gefängniswär ter leise. Jeanne tat, als fiele sie in Ohnmacht und stürzte rücklings zu Bo den. Dabei dachte sie zitternd vor Freude: »Die Verbannung, das ist die Freiheit, das ist der Reichtum. Das ist alles, was ich mir erträumt habe … ich habe gewonnen.« Sie traf in Gedanken schon ihre Vorbereitungen. Ich bin verbannt. Das heißt, ich habe das Recht, meine Millionen mitzunehmen und im Winter unter den Pomeranzenbäumen von Sevilla und im Sommer in Deutschland oder England zu leben. Jung, schön und berühmt wie ich bin, wird mich nichts und niemand davon abhalten zu leben, so wie es mir beliebt. Sie dachte an Reteau von Villette und lächelte ohne Mitleid vor sich hin. Armer Kerl, er hat für alle bezahlt.
Gemeinsam mit dem Gefängniswärter und seiner Frau nahm Jean ne das Mittagessen ein. Sie war im Grunde ihres Herzens so glücklich, daß es ihr weh tat, ihre Freude verbergen zu müssen. Sie blickte er staunt auf, als der Gefängniswärter mit gezwungener Feierlichkeit sag te: »Madame, wir haben den Befehl, die Personen, über deren Schick sal das Parlament entschieden hat, nicht mehr hier zu behalten.« Gut, dachte Jeanne, er kommt meinen Wünschen entgegen. Sie er 159
hob sich. »Ich möchte Sie nicht zu einer Übertretung Ihrer Vorschrif ten veranlassen. Ich gehe in meine Zelle zurück.« Sie wandte sich um. »Aber wo wird mir mein Urteil verlesen werden und wann?« »Man wartet vielleicht, bis Madame in ihre Zelle zurückkehrt.« »Er will mich entfernen.« Jeanne fühlte die Beklemmung eines unbe stimmten Angstgefühls. Als sie auf den Gang trat, warteten acht Soldaten auf sie. Der Gefäng nisschließer ging ihr voran. »Bringen Sie mich in meine Zelle zurück?« fragte Jeanne mit zitternder Stimme, die doch sicher klingen sollte. »Ja, Madame«, erwiderte er. Sie ließ sich in ihre Zelle einsperren und dankte dem Schließer freundlich, als er sich entfernte. Bald hörte sie wieder Schritte und das Klirren des Schlüsselbundes. Der Schließer trat ein. »Madame, haben Sie die Güte, mir in die Kanzlei zu folgen.« »Was will man in der Kanzlei von mir?« fragte Jeanne beunruhigt. »Ihr Verteidiger möchte Sie sprechen.« »In der Kanzlei? Warum nicht hier? Er hat doch Erlaubnis, mich hier aufzusuchen.« »Madame, er hat Briefe von Versailles erhalten und will Ihnen davon Kenntnis geben.« Jeanne fiel auf, wie unglaubwürdig diese Antwort war. Sie hörte nur ›Briefe von Versailles‹. Sollte die Königin zu ihren Gunsten vermittelt haben? Aber wozu sich den Kopf zerbrechen? Es würde sich ohnehin alles herausstellen. Sie folgte dem Schließer. »Wohin gehen Sie denn?« fragte sie. »Die Kanzlei ist doch dort rechts.« »Kommen Sie, Madame, kommen Sie nur«, gab er freundlich zurück und führte sie nach links. »Ihr Verteidiger erwartet Sie hier.« Er öffnete eine mit Eisen beschlagene Tür, trat zuerst ein und zog die Gefangene nach. Jeanne hörte, wie die äußeren Riegel der schweren Tür geräusch voll geschlossen wurden. Sie wagte nicht, ihren Wächter zu fragen, wo sie war. Sie fühlte die Kälte und die Feuchtigkeit des Kerkers und über wand mit letzter Kraft die Angst. »Mein Herr, was tun wir beide hier? Wo ist mein Verteidiger, zu dem Sie mich führen wollten?« 160
Der Schließer antwortete nicht. Er drehte sich um, als wollte er nach sehen, ob die Tür verschlossen sei. Jeanne folgte ängstlich seiner Blick richtung. Es kam ihr der Gedanke, sie habe es wie in Schauerromanen mit einem jener Kerkermeister zu tun, die aus wilder Leidenschaft für die schöne Gefangene ihre Liebe als Preis für die Befreiung verlangen. Sie ging lächelnd auf den Schließer zu. »Mein Herr, haben Sie mir et was zu sagen? Sie haben einen sehr unfreundlichen Ort für eine Ver abredung mit mir gewählt.« Der Schließer antwortete nicht. Er setzte sich in die Ecke des Kerkers und wartete. Plötzlich öffnete sich eine Tür, die Jeanne nicht bemerkt hatte. Stufen führten in einen schlecht erleuchteten Gang. Am Ende dieses Ganges sah Jeanne, die sich auf die Zehenspitzen stellte, einen öffentlichen Platz und eine bedrohlich wartende Menschenmenge. Jeanne hatte keine Zeit zu überlegen, was das bedeutete, denn in die sem Augenblick kamen drei Männer die Stufen herauf. Hinter ihnen erhoben sich vier Bajonette, schimmernd, scharf und unheimlich. Die Tür schloß sich hinter den drei Männern. »Madame«, fragte ei ner der drei, er war völlig schwarz gekleidet und behielt seinen schwar zen Hut auf dem Kopf, »nennen Sie sich Jeanne von Valois, und sind Sie die Gattin von Antoine Nicolas Graf von la Motte?« »Ja, mein Herr.« »Sind Sie in Fontette am 22. Juli 1756 geboren?« »Ja, mein Herr. Doch wozu diese Fragen?« »Madame, ich bin der Gerichtsschreiber des Hofes.« »Jetzt erkenne ich Sie.« »Ich bin verpflichtet, Ihnen den Urteilsspruch zu verlesen, der in der Sitzung vom 31. Mai 1786 gegen Sie gefällt worden ist.« Jeanne hatte unbeschreibliche Angst. Sie versuchte, es sich nicht an merken zu lassen. »Sie sind der Kanzleischreiber Breton«, stellte sie fest und fragte: »Wer sind diese beiden Herren?« Der Gerichtsschreiber wollte antworten, aber der Schließer flüsterte rasch: »Sagen Sie es ihr nicht.« Jeanne hatte das Flüstern verstanden. Sie betrachtete die beiden an deren Männer genau und wunderte sich über den eisengrauen Rock 161
und die eisernen Knöpfe des einen, das behaarte Wams und die Pelz mütze des anderen. Sie sah, daß er auch ein ledernes Schurzfell trug, das versengt und mit Blut und Öl befleckt zu sein schien. Sie wich ent setzt zurück. Der Gerichtsschreiber trat näher. »Knien Sie nieder, Madame.« »Ich niederknien, ich, eine Valois, niederknien?« »So lautet der Befehl, Madame«, sagte der Gerichtsschreiber und ver beugte sich. »Aber mein Herr«, Jeanne lächelte verzweifelt, »man kniet nur nie der, um öffentliche Abbitte zu tun.« »Sehr richtig, Madame.« »Aber man leistet doch nur Abbitte, wenn man zu einer entehrenden Strafe verurteilt worden ist. Soviel ich weiß, gilt die Verbannung im französischen Gesetz nicht als entehrende Strafe.« »Madame, ich habe Ihnen nicht gesagt, daß Sie zur Verbannung ver urteilt worden sind.« Der Gerichtsschreiber zuckte die Achseln. »Sie werden die Art Ihrer Verurteilung erfahren, wenn Sie den Spruch an hören. Ich muß Sie bitten niederzuknien.« »Nie! Nie!« »Zwingen Sie uns nicht, Gewalt anzuwenden.« Jeanne schrie noch lauter: »Nie! Nie!« Der Gerichtsschreiber gab seinen Begleitern ein Zeichen. Sie pack ten Jeanne unter den Armen und schleppten sie in die Mitte des Ge wölbes. »Es ist ganz unnütz, so zu schreien«, sagte der Gerichtsschreiber. »Sie werden das Urteil nicht verstehen, das ich jetzt verlesen muß, wenn Sie schreien.« Jeanne keuchte. »Erlauben Sie doch, daß ich stehend zuhöre, und ich werde nicht schreien.« »Wenn eine Schuldiggesprochene zur Brandmarkung verurteilt ist, dann ist die Strafe entehrend, und die Schuldige muß knien.« »Zur Brandmarkung!« Jeanne schrie so gellend, daß sie die beiden Gehilfen des Gerichts schreibers wieder packten. Der eine hielt ihre Füße wie in einem 162
Schraubstock fest. Der andere hob sie gemeinsam mit dem Schließer an den Handgelenken auf und rief dem Gerichtsschreiber zu: »Verle sen Sie Ihren Spruch, sonst werden wir mit dieser Furie nie zu Ende kommen.« Jeanne sträubte sich mit übermenschlichen Kräften. »Nie werde ich mir einen Spruch anhören, der mich zur Ehrlosigkeit verurteilt.« Sie übertönte den Gerichtsschreiber mit so lauten Schreien, daß sie kein Wort von dem verstand, was er verlas. Der Gerichtsschreiber rollte seine Papiere wieder zusammen und steckte sie in die Tasche. Jetzt schwieg Jeanne, um neue Kräfte zu sam meln. In die plötzliche Stille sprach der Gerichtsschreiber gelassen die übli che Schlußformel: »Das Urteil wird unverzüglich auf dem öffentlichen Richtplatz vollstreckt.« »Öffentlich!« brüllte Jeanne auf. Der Gerichtsschreiber wandte sich an den Mann mit dem Leder schurz. »Meister von Paris, ich übergebe Ihnen die Verurteilte.« »Wer ist dieser Mann?« fragte Jeanne atemlos. »Der Henker«, erwiderte der Gerichtsschreiber und verbeugte sich wieder. Der Henker und sein Gehilfe versuchten, Jeanne zu bändigen. Sie wehrte sich wie ein wildes Tier. Endlich gelang es ihnen, Jeanne durch die Türe auf den Platz zu schleppen, den Jeanne schon gesehen hatte. Den Soldaten gelang es nur mühsam, die auf dem Justizhof wartende Menschenmenge im Zaum zu halten. Auf einem acht Fuß hohen Ge rüst stand ein schwarzer Pfahl mit eisernen Ringen. Das Gerüst hatte kein Geländer. Die Bajonette der Soldaten umgaben es. »Sie kommt! Da ist sie!« rief die wartende Menge. Schimpfworte ge gen Jeanne wurden laut und auch unpassende Bemerkungen über die Richter. In der ersten Reihe der Zuschauer standen die eifrigsten Ver ehrerinnen des Kardinals von Rohan. Als Jeanne auf den Platz geschleppt wurde, empfingen sie wütende Schreie. »Nieder mit der la Motte! Tod der Fälscherin!« Jeanne war mit ihren Kräften am Ende, aber nicht mit ihrer Wut. Sie 163
hatte die Mißhandlungen und Schläge der beiden Männer, die sie fest hielten, ertragen, aber die Beschimpfungen der Leute ertrug sie nicht. Ihre helle und durchdringende Stimme klang auf: »Wißt ihr, wer ich bin? Wißt ihr, daß ich königliches Blut in den Adern habe? Wißt ihr, daß man in mir nicht eine Verbrecherin, sondern eine Nebenbuhle rin bestraft, eine Mitwisserin, die eingeweiht war in die Geheimnis se von …« »Nehmen Sie sich in acht«, flüsterte ihr der Gerichtsschreiber zu. Jeanne drehte sich um und sah die Peitsche in der Hand des Henkers. Bei diesem Anblick vergaß sie ihren Haß und ihren Wunsch, die joh lende Menge für sich zu gewinnen. Sie sah nur noch die Schande, sie fürchtete nur noch die Schmerzen. »Gnade!« rief sie flehend. »Gnade!« Sie umklammerte die Knie des Henkers und griff nach seiner Hand. Doch er hob den anderen Arm und zog die Peitsche leicht über ihre Schulter. Jetzt hatte man sie auf das Gerüst gehoben. Sie stürzte sich auf den Gehilfen des Henkers, um ihn beiseite zu drängen. Sie wollte vom Gerüst springen. Sie wich zurück und erstarrte. Der Mann hielt ein rotglühendes Eisen in der Hand, das er soeben aus der Kohlenglut gezogen hatte. Er hob das Eisen. Die verzehrende Hitze hielt Jeanne zurück. »Ich werde gebrandmarkt!« schrie sie. »Gebrandmarkt!« Und wäh rend die auf dem Gerichtshof Anwesenden aus tausend Kehlen riefen: »Ja, ja gebrandmarkt!« stöhnte sie: »Zu Hilfe!« Jeanne versuchte, die Stricke zu zerreißen, mit denen ihre Hände ge bunden wurden. Der Henker riß ihr Kleid auf. Sein Gehilfe reichte ihm das glühende Eisen. Jeanne wehrte sich mit letzter Kraft. Die An wesenden, denen die verzweifelte Zähigkeit dieser Frau zu imponieren begann, wurden unruhig. Es herrschte eine bedrohliche Unordnung und Verwirrung. »Macht ein Ende!« rief eine gebieterische Stimme aus der ersten Reihe der Zuschauer. Der Henker schien diese Stimme zu erkennen. Mit einem energi schen Griff drückte er Jeanne nieder und bog ihren Kopf zur Seite. Sie riß sich noch ein letztes Mal hoch. Ihre scharfe Stimme übertönte den Lärm. »Ihr verteidigt mich nicht, ihr laßt mich martern! Wenn ich al 164
les gesagt hätte, was ich über die Königin weiß … ich wäre gehenkt worden, aber nicht entehrt!« Sie konnte nicht weitersprechen. Mehrere Polizeiagenten sprangen aufs Schafott und knebelten Jeanne. Sie übergaben sie keuchend, blu tend und mit geschwollenem Gesicht dem Henker, der ihren Kopf zur Seite bog. Sein Gehilfe reichte ihm noch einmal das glühende Eisen. Jeanne wandte sich wie eine Rasende um – sie bot dem Henker ihre Brust. Zischend und rauchend traf das Eisen ihre zarte Haut. Jeanne brach ohnmächtig zusammen. Ihre Glieder zuckten nicht mehr. Sie hatte die Besinnung verloren. Der Henker hob sie auf seine Schulter und stieg unsicheren Schrit tes die Schandleiter hinab. Das Volk verlief sich schweigend, nachdem es sich davon überzeugt hatte, daß es kein Nachspiel zu diesem furcht baren Drama gab.
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Vom Ausbruch
der französischen Revolution
bis in die zweite Hälfte
des 19. Jahrhunderts
Die große französische
Revolution
I Im Namen des Königs von Frankreich waren die wahren Schuldigen der skandalösen Halsbandaffäre zu strengen Strafen verurteilt wor den. Die öffentlich geführte Untersuchung hatte klargestellt, daß der Name der Königin verbrecherisch mißbraucht worden war. Aber in den achtzehnhundert Kaffeehäusern von Paris wurde das Urteil des königlichen Gerichtshofes nicht ernst genommen. Bürger und Bür gerinnen spotteten über Ludwig XVI. und Marie-Antoinette. Sie ver höhnten den Ehemann, der sich benommen hatte, als wären ihm Hör ner aufgesetzt worden, und seine Frau, deren Liebesabenteuer von ei ner Doppelgängerin erlebt worden waren. Nur wenige glaubten, daß die ›Österreicherin‹, wie Marie-Antoinette abfällig genannt wurde, an den schamlosen Machenschaften im Park von Versailles ganz so unbe teiligt gewesen war, wie die hohen Richter festgestellt hatten. Selbst jene, die der Tochter Maria Theresias keine unmittelbare Schuld gaben, beschuldigten sie widersinnigerweise als den Anlaß ei nes Skandals, durch den das Königtum und sein Hofstaat in nur allzu peinlicher Bloßstellung ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden waren. Eine gefährliche Auffassung sickerte durch und wurde zum allgemeinen Gesprächsstoff: Wenn Marie-Antoinette auch nicht die Geliebte des Kardinals von Rohan geworden war, wie er selbst es ge glaubt hatte, dann wäre es doch in Anbetracht der zutage geförderten Umstände möglich gewesen, daß sie es hätte sein können. Eine Kö 167
nigin war ebenso wie jede andere Frau: nichts Menschliches war ihr fremd! Der Nimbus der Krone war befleckt. Aber die drohenden Wolken hätten sich vielleicht verzogen, wenn nicht die wirtschaftlichen Ver hältnisse in Frankreich und die Ungeschicklichkeit und Unzuläng lichkeit der Staatsmänner den krassen Gegensatz zwischen dem Not stand des größten Teils der Bevölkerung und dem Luxus des Königs hofs und der Höflinge so bedenklich dargetan hätten. Erst hatte der Fi nanzminister Turgot den Schwierigkeiten des Staatsschatzes durch Re formen entgegenzuarbeiten versucht, aber die zaghaft unternommene Umschichtung der Steuerverteilung hatte nicht genügt. Die Parlamen te hatten sich gegen die Freigabe des Getreidehandels und Einführung der Gewerbefreiheit gestellt. Turgot wurde entlassen. Sein Nachfolger, der in Genf geborene, überaus reiche Bankier Necker, hatte durch sei nen berühmt gewordenen ›Compte rendu‹, den ersten veröffentlichten Rechenschaftsbericht, die hoffnungslose Finanzlage vorübergehend vertuscht. Er war gestürzt worden, weil er sich gegen das kriegerische Eingreifen Frankreichs gegen England in Amerika ausgesprochen hat te, und wartete um so zuversichtlicher auf seine große Gelegenheit, als der neue Finanzminister Calonne, kurz nach der Halsbandaffäre, das verheerende Defizit des Staatshaushalts bekanntgab, nachdem er einen Handelsvertrag mit England geschlossen hatte. Die katastrophalen Ziffern Calonnes prägten sich der Bevölkerung ein, während der von ihm erhoffte Aufschwung des Geschäftslebens nicht eintrat. Die Herabsetzung der Einfuhrzölle auf englische Wa ren führte zu einer Industriekrise und dadurch zur Arbeitslosigkeit in Frankreich. Verhängnisvolle Mißernten und Überschwemmungen er schütterten die Landwirtschaft. Angesichts dieses Elends erschienen die Reformvorschläge der Physiokraten, die Handelsfreiheit und Stei gerung landwirtschaftlicher Erzeugung predigten, sinnlos. Gab es kei ne besseren und gerechteren Maßnahmen, um die Kluft zwischen Ar mut und Reichtum zu überbrücken? Hungerndes, arbeitsloses Volk auf der einen Seite und auf der anderen übersättigte, im Überfluß schwel gende Aristokraten, deren ausschweifendes Leben vom königlichen 168
Hof durch glanzvolle Feste und willkürliche Geldzuwendungen geför dert wurde! Mit der Vermehrung der Pariser Kaffeehäuser, in denen die durch Druckschriften angeregten Meinungen der Bevölkerung ungehindert ausgetauscht wurden, ging die Gründung von Lese- und Debattierge sellschaften Hand in Hand. Es gab auch immer mehr Freimaurerlogen, Gemeinschaften mit freiheitlichen, weltverbessernden Bestrebungen, die ihren Ursprung in den mittelalterlichen Steinmetzbrüderschaften hatten und die geistige Elite aller Gesellschaftsschichten unter ihren mysteriösen Sinnbildern vereinigten. Dem ›Groß-Orient von Frank reich‹, dem die obersten Freimaurer angehörten, unterstanden nicht weniger als 629 Logen. Trotz der emsigen Tätigkeit der Polizei wurde den leitenden Staatsmännern nicht ganz klar, was die geheimnisvollen Zusammenkünfte der Freimaurer bezweckten. Niemand wagte einzu greifen oder gar durchzugreifen, um so weniger, als nicht nur Herzöge und Grafen, sondern auch königliche Prinzen den Logen angehörten. Die Masse der anonymen Kaffeehausbesucher, die zahllosen Mit glieder der Lese- und Debattiergesellschaften und die Angehörigen der Freimaurerverbände waren unsichtbare, voneinander unabhän gig wirkende Kräfte, die je nach ihrem Belieben und Ermessen – und oft, ohne es zu wissen und zu wollen – die Handlungen der königli chen Verwaltung förderten oder hemmten. Die Anzeichen einer auf rüttelnden Umwälzung machten sich an allen Orten Frankreichs un terirdisch bemerkbar, obwohl das öffentliche Leben, abgesehen von ge legentlichen örtlichen Unruhen, seinen ungestörten Fortgang zu neh men schien. Ahnungslos waren nur der König und die Königin. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, die einander so wenig verstan den und so wenig zu sagen hatten, waren sich in der einen Überzeu gung einig, daß sie beide guten Willens waren und ihr Bestes taten, um eine Revolution, die sich so bedrohlich ankündigte, unmöglich zu machen.
169
II
Der in fürstlichen Geschlechterfolgen vererbte und anerzogene Grundsatz, die bestehende Herrschaft für alle Fälle zu erhalten und im günstigsten Fall zu erweitern, war in der Gedankenwelt der zeitge nössischen Machthaber so unverrückbar verwurzelt, daß nur wenige Herrscher der unerbittlich nahenden Zeitenwende Rechnung zu tra gen bereit waren. Friedrich der Große, der sein vergrößertes König reich durch die zielbewußt durchgeführte innere Kolonisation, durch die Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Einfüh rung eines strengen Steuersystems zu einer geschlossenen Einheit ge macht hatte, war gestorben, ehe er seinen geistigen Freisinn in soziale Maßnahmen umsetzen konnte. Er hatte seine politische Sendung im Sinne der Bedeutung Preußens erfüllt und das habsburgische Über gewicht im deutschen Reich verhindert. Noch ein letztes Mal hatte er seinem österreichischen Nachbarn, Josef II. die eiserne Faust gezeigt und den Plan des Kaisers vereitelt, Bayern gegen die Niederlande ein zutauschen. Nach dem Tod Friedrichs war Friedrich Wilhelm II. von Preußen bemüht, in den Fußstapfen des Onkels zu bleiben. Er versuchte, ein Bündnis Josefs II. mit der Kaiserin von Rußland zu hintertreiben und unterstützte die unzufriedenen Magnaten Ungarns, als der Kaiser und Katharina II. es unternahmen, die Türkei zu erobern und aufzuteilen. Er selbst wollte behalten, was er ererbt hatte. Er wollte nicht mehr und begriff nicht ganz, warum sein habsburgischer Nachbar sich immer wieder vornahm, ›Großes zu leisten‹. Josef II. war sehr krank. Er fühlte den Tod nahe und hatte sich seit seiner frühesten Jugend gewünscht, ein unüberwindlicher Kriegsmann zu sein wie Friedrich II. Er hatte 300.000 Mann auf die Beine gebracht. Sie waren prächtig ausgerüstet. Er war des Sieges über den Sultan ge 170
wiß. Aber während die Truppen Katharinas erfolgreich waren und den russischen Einfluß auf der Balkanhalbinsel sicherten, kämpften die Heere Josefs unglücklich gegen die Türken, obwohl der Kaiser per sönlich zur Armee gekommen war. Er kehrte niedergeschlagen nach Wien zurück und verbat sich ›die Errichtung eines Triumphbogens‹, als es General Laudon, dem altbewährten Feldherrn, der schon Ma ria Theresia gedient hatte, gelang, Belgrad zu erobern. Aber die Tür ken hatten außer den unermüdlichen Guerillabanden, außer Krank heitsepidemien, die ein Drittel der kaiserlichen Truppen aufzehrten, in Friedrich Wilhelm II. von Preußen einen mächtigen Bundesgenossen gewonnen. Gleichzeitig brach ein Aufstand in den österreichischen Niederlanden aus. Alle Abgründe öffneten sich vor Josef II. Er bemühte sich verzweifelt, Frieden zu schließen, mit den Türken – und mit seinen eigenen Unter tanen, die er nicht ›glücklich‹ gemacht hatte. Er bereitete ein ›königli ches Reskript‹ vor, das alle seine Verordnungen aufhob, und begründe te die von ihm selbst vorgenommene Zerstörung seines Lebenswerkes mit den Worten: »Da Wir jetzt davon vergewissert sind, daß ihr die al ten Verwaltungsformen lieber wollt und in ihnen eure Glückseligkeit sucht und findet, so wollen Wir nicht zögern, darin euren Wünschen zu entsprechen.« Josef war verwirrt. Er verstand nicht, wieso es gekommen war, daß all sein guter Wille verschwendet und vergebens gewesen sein sollte, wo doch andere und viel geringere Herrscher es erreicht hatten, Ruh mestitel zu erringen, wie der Markgraf Karl Friedrich von Baden, der gepriesen wurde als ›der beste Fürst, der vielleicht in Deutschland lebt‹, weil er die Leibeigenschaft in seinem Reich aufgehoben hatte, oder der Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, der persönliche Freund seines in den Adelsstand erhobenen Ministers Johann Wolfgang von Goethe, der den Atem der Zeit verspürte. Hatte Josef nicht alle Freihei ten begünstigt und sogar Papst Pius VI. die Stirn gezeigt, als der Heili ge Vater nach Wien gekommen war, um den Widerruf der kaiserlichen Glaubensreformen zu erwirken? Josef hatte gelästert: »Jede Armee hat ihre Artillerie«, als die Kirchenglocken die Ankunft des Papstes einge 171
läutet hatten. Aber jetzt lastete die Hand Gottes schwer auf dem Kai ser. Er hatte seine Macht falsch eingesetzt. Seine Untertanen an allen Ecken und Enden der gewaltigen habsburgischen Besitzungen hatten sich gegen ihn empört, und auch der Thron seines Schwagers Ludwig XVI. und Marie-Antoinettes, seiner liebsten Schwester, die er so oft be raten hatte, war in Gefahr. Vielleicht waren die Völker noch nicht reif für Reformen, und der König von Frankreich handelte falsch, wenn er so viel menschliche Anteilnahme und Schwäche zeigte. War es nicht besser und richtiger, dem Volk die starke Hand zu zeigen – zum Woh le des Volkes?
III Hunger und Arbeitslosigkeit hatten in Paris zu bedrohlichen Stra ßenunruhen geführt. Ein ständiger Zuzug von immer mehr Arbeitslo sen aus den Provinzen, die in ihrer Verzweiflung zu Bettlern und Die ben geworden waren, machte die Stadt unsicher. Aber die erregten Zu sammenrottungen waren nicht das schlimmste. Die gestörte Ordnung konnte durch die königlichen Garden und die Polizei gewaltsam wie derhergestellt werden, aber das waren doch nur vorübergehende Maß nahmen. Sie vermehrten die Unruhestifter, anstatt sie zu vermindern. Es mußte etwas Entscheidendes geschehen, um die Wirtschaft zu he ben, damit der Anlaß der allgemeinen Unzufriedenheit aus der Welt geschafft werde. In Brandschriften, die zu Tausenden verteilt wurden, hieß es, es müsse etwas ›im Interesse des Königs‹ geschehen: »Pariser, steht auf gegen den Klerus und den Adel, die miteinander verschwo ren sind! Duldet nicht, daß ungefähr sechshunderttausend Menschen vierundzwanzig Millionen das Gesetz geben. Es ist unanständig, von Freiheiten, Immunitäten, Privilegien zu sprechen, wenn der Staat in Not ist, wenn der größte Teil der Nation im Elend ist. Schart euch um den König! Erhaltet die Unabhängigkeit seiner Krone!« Die Rechtschaffenheit Neckers war Ludwig XVI. in guter Erinne 172
rung geblieben. Der Genfer Bankier war so reich, daß er keine Zuwen dungen für sich selbst oder seine Familie verlangte. Er war sogar be reit, dem völlig erschöpften Staatsschatz zwei Millionen aus seinem ei genen Vermögen vorzuschießen, wenn er wieder Finanzminister wür de. Er konnte Geld beschaffen. Das schien das wichtigste zu sein, wenn man über den furchtbaren Winter hinwegkommen wollte. Necker wurde ernannt und befürwortete die Einberufung der Generalstände und die Verdoppelung der Abgeordnetenzahl des dritten Standes, der sich aus Kaufleuten, Unternehmern, Steuerpächtern, Landwirten, Ad vokaten und niedrigeren Beamten zusammensetzte, um mit ihrer Un terstützung seine geplanten Reformen durchführen zu können. So saßen sechshundert Abgeordnete des dritten Standes, die sich nicht auf die Vorrechte der Geburt berufen konnten oder wollten, je dreihundert Abgeordneten aus dem hohen Adel und der hohen Geist lichkeit gegenüber. Eine Veröffentlichung unter dem Titel ›Katechismus des dritten Standes zum Gebrauch für alle Provinzen Frankreichs‹ erregte die all gemeine Aufmerksamkeit. Da hieß es: »Was bist du? Ein Bauer. Was ist ein Bauer? Ein Mensch, ein Bürger, ein Angehöriger des dritten Stan des. Was ist der dritte Stand? Der Nährvater des Staates, sein edelster Verteidiger. Inwiefern ist er der Nährvater? Durch den Ackerbau, den Handel, die Gewerbe, die nur er allein zum Vorteil aller betreibt.« Bald darauf erschien eine neue sensationelle Flugschrift unter dem Titel ›Was ist der dritte Stand?‹ Der Text begann mit den Worten: ›Der Plan dieser Schrift ist sehr einfach. Wir haben uns drei Fragen zu stel len: Was ist der dritte Stand? Alles. Was ist er in der Staatsordnung bis her gewesen? Nichts. Was begehrt er? Etwas zu sein.‹ Etwas zu sein – der dritte Stand war etwas, wenn er die Mehrheit in der Zusammenkunft der Generalstände im Versailler Schloß ge wann – und die Mehrheit war durch adlige und geistliche Überläufer in das Lager des dritten Standes bald herbeigeführt. Jetzt erklärte die Mehrheit der Generalstände, daß sie sich als ›die Nationalversamm lung‹ betrachtete. Der bedeutendste Sprecher der aus allen Berufen gewählten Vertre 173
ter des dritten Standes war der hocharistokratische Graf Mirabeau. Der lebensvolle Sohn des berühmten Auslegers der physiokratischen Lehre war von seinem Vater, dem Marquis Mirabeau, so streng erzo gen worden, daß er mit allen Kräften nach einer Plattform gesucht hat te, um endlich zu Wort zu kommen. Noch vor seiner Wahl zum Abge ordneten des dritten Standes hatte er seinem Onkel geschrieben: »Der Tag ist gekommen, da auch das Talent eine Macht ist.« ›L'ami des hommes‹ – Freund der Menschheit, hatte der ältere Mira beau sein bekanntestes Werk betitelt. Der jüngere Mirabeau wollte der Freund der Menschheit nicht nur auf dem Papier sein. Er verlautbarte, daß er das durch seine Taten beweisen werde. Die Gewalt seiner Rede und der Zauber seiner liebenswürdigen Persönlichkeit täuschten die Anhänger Mirabeaus über seine wahren Absichten hinweg. Der von seinem Vater so kurz gehaltene Graf wollte gut leben, besser als bis her und besser als alle anderen Aristokraten, die nicht soviel Verstand hatten wie er. Er wollte das Leben genießen und Macht gewinnen, um das Leben noch besser genießen zu können. Aus der Sicht seiner hohen Abkunft und auch der Niederungen, in die er durch seinen überschäu menden Leichtsinn so oft geraten war, erkannte er die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage Frankreichs. Er ermaß die Reich weite seines Talents und setzte alles daran, es seinem Programm ge mäß zur Macht umzugestalten. Da Mirabeau in der Nationalversammlung, zu deren Konstituie rung er beigetragen hatte, erst nicht so laut zu Wort kam, wie er ge wünscht hatte, schrieb er noch unbarmherziger, als er gesprochen hätte. Seine heftigen Schriften und unermüdlichen Vermittlungsbe mühungen machten ihn zum einflußreichsten Abgeordneten des drit ten Standes. Er wäre viel lieber hochbezahlter Minister des Königs gewesen, als für die Masse der Untertanen einzutreten, die er ver trat. Das hätte seine Geldnot beendet und vielleicht auch seinen Ehr geiz befriedigt. Da er aber bei Hof unerwünscht war, verausgabte er sein gewaltiges Temperament und seine überwältigende Persönlich keit zugunsten des Volkes. Als die von den Abgeordneten des drit ten Standes gefaßten Beschlüsse der Nationalversammlung, die sich 174
als ›Verfassunggebende Versammlung‹ bezeichnete, vom König ver worfen wurden und die Abgeordneten aufgefordert wurden, die Ver sammlung aufzulösen und sich zu entfernen, anstatt eine neue Ver fassung für Frankreich auszuarbeiten, rief Mirabeau unter dem dröh nenden Beifall seiner Anhänger: »Wir werden nur der Gewalt der Ba jonette weichen!« Dann beantragte er die Unverletzlichkeit der Abgeordneten der Na tionalversammlung und stellte sich selbst unter den Schutz der ›Maje stät der Nation‹.
In den weiten, mit Marmor und Bronze geschmückten Sälen des Kö nigsschlosses von Versailles fühlten sich nur wenige Abgeordnete des dritten Standes behaglich. Sie waren Außenseiter, kaum Zaungäste des höfischen Lebens, das seinen festlichen, förmlichen Fortgang nahm, während sie über die Abschaffung der Privilegien berieten, die die mit Perücken und Seidengewändern bekleideten Damen und Herren ge nossen, die in den Prachtgemächern des ungeheuren Palastes zu Hau se waren. Versailles war so geräumig, daß es beinahe zehntausend Höflingen und Hofangestellten Quartier geben konnte. Zu den weni gen, die Zutritt sowohl zu den köstlichen Galerien des Schlosses als auch zum Ratssaal der Nationalversammlung hatten, in der Vertreter des dritten Standes ausharrten, gehörte der Marquis de Lafayette, der durch seine Teilnahme an den amerikanischen Befreiungskriegen be rühmt geworden war. Lafayette hatte, kurz bevor die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ausgearbeitet und George Washington zum ersten Präsi denten erwählt worden war, seinem väterlichen Freund in Übersee ge klagt, daß ›mourir pour la liberté‹ – für die Freiheit zu sterben – kei neswegs der Wahlspruch diesseits des Weltmeeres sei. Lafayette glaub te nicht, daß das französische Volk sich dazu aufschwingen werde, eine Verfassung zu schaffen, die der der Vereinigten Staaten auch nur im entferntesten gleichkommen könne. Er schrieb an Washington: »Das 175
Volk ist so stumpfsinnig, daß ich krank darüber bin und die Ärzte mir das Blut auffrischen mußten.« Jenseits des Ozeans übertrug die Verfassung dem Kongreß der Verei nigten Staaten, der aus Senat und Repräsentantenhaus bestand, die ge setzgebende Gewalt und das Recht, über Krieg und Frieden, Heer und Flotte, über Verträge mit fremden Staaten, Münzen, Maße und Ge wichte, Zölle und Steuern zu entscheiden. Der Kongreß hatte die ge setzgebende, der Präsident, der auf vier Jahre gewählt wurde, die aus übende Gewalt. Der Präsident ernannte die Beamten und leitete die Regierung nach den Beschlüssen des Kongresses. Er hatte so lange ein Veto, einen aufschiebenden Einspruch, gegen diese Beschlüsse, bis der Kongreß mit Zweidrittelmehrheit entschied. Der Präsident war Ober befehlshaber der Armee im Krieg, während über die Rechtssprechung ein Oberstes Gericht wachte. Eine so geartete republikanische Präsidentschaft für Frankreich war nicht im Sinne des hochgeborenen Marquis de Lafayette, der im Grun de seines Herzens königstreu war. Er wollte die ›Rosinen aus dem Ku chen der amerikanischen Verfassung‹ – unter Beibehaltung des Kö nigtums. Darüber beriet er sich mit dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Frankreich, Thomas Jefferson, dem Schöpfer der amerika nischen Unabhängigkeitserklärung, und verlas während einer Rede in der Nationalversammlung ›die erste europäische Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger‹. Die wesentlichsten Sätze dieser historischen Erklärung sind zu all gemeingültigen Grundsätzen geworden: »Die Natur hat die Men schen frei und gleich geschaffen … Jeder Mensch kommt mit un veräußerlichen und unvorgreiflichen Rechten zur Welt. Solche Rech te sind: die Freiheit seiner Meinungen, die Sorge für seine Ehre und sein Leben, das Recht des Eigentums, die freie Verfügung über seine Person, seine Arbeit und alle seine Fähigkeiten, die Mitteilung sei ner Gedanken auf jedem möglichen Weg, das Streben nach Wohl fahrt und der Widerstand gegen Unterdrückung. Die Ausübung sei ner natürlichen Rechte hat keine Schranken als die, welche allen an deren Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß derselben sichern. 176
Kein Mensch kann Gesetzen unterworfen werden, die nicht von ihm oder seinen Vertretern gebilligt, vorher bekanntgemacht und gesetz mäßig angewandt worden sind … Die Grundlage jeder Souveränität beruht in der Nation …« Die Stimme Lafayettes in der Nationalversammlung hatte um so mehr Gewicht, als er mit Hinblick auf seine militärischen Dienstlei stungen in Amerika zum Oberbefehlshaber der Nationalgarde ernannt worden war – der Miliz, deren Männer die dreifache Kokarde trugen, das Blau und Rot der Stadt Paris, das Lafayette um das Weiß des bour bonischen Königsbanners vermehrt hatte, um zu bekunden, daß die Nationalgarde eine königliche Volkstruppe sei. Es gab noch eine andere Armee des Volkes, die, wie Camille Des moulins, ein junger Rechtsanwalt, der sich als Volksredner hervortat, erklärte, »noch nicht ins Lager eingerückt ist. Aber angeworben und schlagkräftig ist sie schon, die Armee der Beobachtung. Sie zählt mehr als hundertfünfzigtausend Mann. Was mich betrifft, so fühle ich den Wunsch, für die Freiheit zu sterben. Aber es gibt noch einen mächti geren Beweggrund für diejenigen, die durch den Begriff Freiheit nicht hingerissen werden. Nie hat dem Sieger eine reichere Beute gewinkt. Vierzigtausend Paläste und Schlösser, zwei Fünftel des Gutsbesitzes Frankreichs warten auf die Verteilung. Das wird der Lohn der Tapfer keit sein.« In der Umgebung des Palais Royal, in Spielhöllen, Bordellen, Knei pen und Kaffeehäusern trafen sich täglich und nächtlich Zehntausen de von Besuchern, Neugierige und Landstreicher, die dabeisein woll ten, wenn Neuigkeiten mitgeteilt, Zeitungsartikel vorgelesen, Reden gehalten und politische Anträge gestellt wurden, die an bedenkenloser Hemmungslosigkeit nichts zu wünschen übrigließen. Gegen die auf und ab wogenden Menschenmassen war die Polizei machtlos, und die dienstfreien Soldaten, die zum Palais Royal kamen, hörten mit Begei sterung, daß das Gesetz fallen müsse, das den Gemeinen und Unterof fizieren bürgerlichen Standes die Möglichkeit abschnitt, auch nur den Leutnantsrang zu erlangen. Warum sollten sie dienen, wenn sie selbst nach jahrzehntelangem Dienst einem blutjungen Aristokraten gehor 177
chen mußten, den nur ›der Zufall der Geburt‹ zum Offizier gemacht hatte? Als das Gerücht, daß Necker entlassen und die Nationalversamm lung aufgelöst worden sei, das Palais Royal erreichte, sprang Camille Desmoulins auf einen Tisch und rief in die Menge: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« Mit erhobener Pistole setzte er hinzu: »Nehmen wir alle grüne Kokarden. Es ist die Farbe der Hoffnung. Sie sollen mich nicht lebend fassen. Ruhmvoll werde ich sterben.« Sechstausend Menschen hatten Desmoulins zugehört. Sie besorg ten sich Kokarden. Sie bildeten einen Zug. Als sie von königlichen Truppen aufgehalten wurden, bewarfen sie sie mit Steinen und gaben Schüsse aus ihren Pistolen ab. Der Militärkommandant, Baron Besen val, zog es vor, seine Truppen abzuziehen und Paris sich selbst zu über lassen, um nicht eine ›Bartholomäusnacht der Patrioten‹ herbeizufüh ren, wie Camille Desmoulins es vorausgesagt hatte. Mit dem Rückzug der Truppen waren der Anarchie keine Schranken gesetzt. Unter fürchterlichem Getümmel brachen am Morgen des 14. Juli 1789 etwa vierzigtausend Menschen in das Arsenal der Invaliden ein und raubten zweiunddreißigtausend Flinten. Die so Bewaffneten for mierten sich und eilten, wie später festgestellt wurde, nach vorher ent worfenen Plänen in die Richtung der Bastille, des berüchtigten könig lichen Gefängnisses. Tausende von Stimmen schrien: »Zur Bastille! Zur Bastille!« Soldaten, die zu den Aufrührern übergingen, beteiligten sich am Sturm auf die Festung. Nach kurzem Kampf fiel das gefürchtete Sinn bild der unumschränkten Königsgewalt und ging in Flammen auf. Der Kommandant der Bastille, der verhandeln wollte, wurde von ei nem wüsten Haufen, der mit Beilen, Heugabeln und eisenbeschlage nen Stöcken bewaffnet war, ermordet. Sein Kopf wurde abgeschlagen und auf einer Pike im Triumph davongetragen. Auch die Besatzung, die sich ergeben wollte, fand keine Gnade. Zwei Kanoniere wurden an einer Laterne aufgehängt. In einer besonderen Schrift feierte Desmou lins den improvisierten Galgen als ›die Königin der Laternen‹. Er legte ihr Worte in den Mund: »Tapfere Pariser … ihr habt mich für immer 178
berühmt gemacht unter den Laternen … Was ist die Laterne des Dio genes im Vergleich mit mir? Er suchte einen Menschen und ich habe zweihunderttausend gefunden!« Diese Ankündigung des Massenmordes, die in zahllosen drohenden Rufen: »Die Aristokraten an die Laterne!«, laut wurde, ergänzte in der gleichen Nacht ein Volksgericht im Palais Royal. Ächtungslisten ge gen die ›Volksfeinde‹ wurden angefertigt. Wer waren ›die Volksfein de‹? Die Aristokraten. Sie alle sollten hängen!
Die Erstürmung und der Brand der Bastille waren das Fanal. Jetzt be gann die große Französische Revolution mit der ›großen Furcht‹. In allen Provinzen brachen Bauernaufstände aus, Schlösser wurden zer stört, die Archive mit den Eintragungen der bäuerlichen Pflichtleistun gen vernichtet. Die Aufrechterhaltung der königlichen Staatsgewalt in Frankreich war nur noch Schein. In Paris und in den meisten Städten der Provinzen entpuppten sich Lese- und Debattiergesellschaften als ständige Komitees des revolutionären Bürgertums, die mit Hilfe der Nationalgarden Lafayettes die Ordnung vorübergehend herstellten. Inzwischen waren Tausende von Adligen ausgewandert. Die Brüder des Königs, die Grafen von Provence und von Artois, flohen erst nach Turin, um eine Gegenrevolution vorzubereiten. Ihre Gesandten eilten an die Fürstenhöfe Europas, um um Hilfe zu werben, während in Ver sailles die Nationalversammlung die Abschaffung der Leibeigenschaft, der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, des ausschließlichen Jagdrechts, die Abschaffung aller Geldvorrechte und Steuerbefreiungen, die Zu lassung aller Bürger zu Ämtern in Staat und Heer forderte. Im wesentlichen waren die Beschlüsse der Nationalversammlung die Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung im Königreich. Aber da die von Lafayette proklamierte Souveränität der Nation in die neue Gesetzgebung aufgenommen wurde, war dadurch die Aufhebung der erblichen Monarchie gesetzlich anerkannt. Die Aufrechterhaltung des Königtums war daher ein offener Widerspruch zu den von der Natio 179
nalversammlung als Grundlage der Verfassung erhobenen Menschenund Bürgerrechten, deren Inhalt in drei begeisterten Leitworten zu sammengefaßt wurde: ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹.
›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ als Grundsatz für das bes sere Leben des einzelnen und als Ziel der Gesamtheit verkündeten die Abgeordneten der Nationalversammlung im Ratssaal von Ver sailles, während einige Hunderte Meter von ihnen entfernt Ludwig XVI. und Marie-Antoinette noch immer ihren in der Etikette erstarr ten Hof hielten. Einige Male hatte der schwerfällige König von dem Veto Gebrauch gemacht, das ihm gemäß dem zum Vorbild genom menen Einspruchsrecht des Präsidenten der Vereinigten Staaten zuge standen worden war. Aber sein Veto hatte keine Wirkung; jeder Ein wand, den er machte, wurde verworfen. Er hatte Necker auf Veranlas sung der engsten Freunde der Königin entlassen. Jetzt fehlte ihm der verläßliche Ratgeber. Marie-Antoinette galt überhaupt als die Urhebe rin der Fehler Ludwigs XVI. und nahm doch immer wieder auf seinen ausdrücklichen Wunsch an den Staatsgeschäften teil. In seinen Erin nerungen beschrieb Baron Besenval Marie-Antoinette, bei der er in diesen verhängnisvollen Monaten beinahe täglich vorsprechen muß te: »Der Königin fehlt es nicht an Geist. Aber in bezug auf Unterricht ist ihre Erziehung Null gewesen. Außer einigen Romanen hat sie nie ein Buch aufgemacht und sich nicht einmal die Kenntnisse angeeignet, die man sich in der Gesellschaft erwerben kann. Sowie ein Gegenstand eine ernste Farbe annimmt, zeigt sich Langeweile in ihrem Gesicht, und das Gespräch friert ein. Ihre Unterhaltung ist unzusammenhän gend, hüpfend und flattert hin und her. Ohne irgendeinen Anflug per sönlicher Heiterkeit ergötzt sie sich am Tagesklatsch, an kleinen, ge schickt verschleierten Dreistigkeiten und namentlich am Lästern, wie es bei Hof üblich ist. Das macht ihr Freude.« So wurde Marie-Antoinette von den aufgeklärten Höflingen beur teilt. Ein zeitgenössisches Spottbild stellte Ludwig XVI. in einem ver 180
gitterten Vogelbauer mit einer großen Feder eifrig schreibend dar. Sein Schwager, der Kaiser, fragt ihn: »Was treibst du denn?« Ludwig erwi dert: »Ich sanktioniere.« Der König von Frankreich sanktionierte tatsächlich ein Gesetz nach dem andern. Jede Unterschrift, die er setzte, wirkte wie die sprichwört liche Säge, die den Ast absägt, auf dem er saß. Er hatte allerdings die Hoffnung, daß ihm Leopold II. der Bruder Marie-Antoinettes, der als Nachfolger Josefs II. Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nati on und Haupt des Hauses Österreich geworden war, zu Hilfe kommen würde, bevor es zu spät war.
IV Leopold II. hatte sich schon lange vor dem Tod Josefs auf sein hohes Amt vorbereitet. Er hatte seinen ausgeglichenen, klaren Verstand in der Verwaltung des Großherzogtums Toskana und seine diplomati sche Eignung in der Schaffung von Familienbeziehungen bewiesen, die er dazu ausnützen wollte, einen von den Nachbarn Österreichs unge fährdeten Einheitsstaat zu schaffen. Er war auch mit dem greisen ehe maligen Berater Maria Theresias, dem erfahrenen Fürsten Kaunitz, ei nig, ein Parlament aus Vertretern aller habsburgischen Länder einzu berufen und eine allgemeine Staatsreform auszuarbeiten, die der Zeit strömung entgegenkommen sollte. Ein einziger Diplomat nahm es auf sich, den neuen Kaiser klar zu beurteilen. Der preußische Gesandte in Wien, Graf Schulenburg, schrieb seinem König, Friedrich Wilhelm II.: »Seien Sie gegen diesen Fürsten auf der Hut. Unter den gewinnendsten Formen verbirgt er den verschlagensten Charakter der Welt. Er weiß seinen Machiavelli auswendig.« Die gründliche Menschenkenntnis und überlegene Staatskunst Leo polds bewährte sich in seiner vorsichtigen Befriedung der durch die ungenügend vorbereiteten, sprunghaften Reformen seines Vorgängers aufgerührten Erbländer. Er nahm den Völkern die ihnen von Josef 181
gewährten Freiheiten nicht. Er beschränkte sie nur unmerklich und scheinbar im Sinne des allgemeinen Wohls. Die Pressefreiheit wurde durch Zensurverordnungen ergänzt, die gegen die Verbreitung ›ärger licher Dichtungen und unverschämter Verdrehungen‹ gerichtet waren, kurz: ›gegen die Störung der öffentlichen Ruhe‹. Leopold trat nur ge gen jene Feinde des Thrones und der Religion auf, ›die das Glück der guten Bürger durch die leichtfertigen und spitzfindigen Vernünfteleien der Philosophie des gegenwärtigen Jahrhunderts stören wollen‹. Während er die Ungarn ›gnädig befriedete‹, errichtete er für die süd slawischen Untertanen der ungarischen Krone eine eigene ›illyrische Hofkanzlei‹ und ließ eine österreichische Armee in die Niederlande einrücken, um, wie er seiner Schwester Marie Christine, der Königin von Neapel schrieb, »eine Explosion zu verhüten. Man muß auf der Hut sein, keine Gelegenheit geben, wenn sie aber ausbricht, die Bewe gungen mit militärischer Strenge unterdrücken!« Leopold II. sperrte seine Grenzen gegen die Auswirkungen der Fran zösischen Revolution nicht nur durch die Zensur. Er baute den gehei men Polizeidienst Josefs gewaltig aus, mit dem Ziel, ›alle für den Staat verdächtigen oder gefährlichen Personen auszuforschen, alle beim Volk einschleichende Unzufriedenheit oder gar aufkeimende Meute rei zu entdecken‹. Mit Umsicht und Übersicht bereitete er einen Kreuzzug aller Herr scher gegen die Revolution vor und nützte die allgemeine Angst der deutschen Reichsfürsten vor den ›Volkskräften‹ zu einer so gewaltigen Stärkung der Macht des Kaisertums aus, wie keiner seiner Vorgänger sie erreicht hatte. Die Religionsverschiedenheiten, die die Fürstenthro ne einst so erschüttert hatten, zählten nicht mehr. Nur das monarchi sche Interesse des einzelnen Herrschers galt noch, die Souveränität ge genüber dem Volk. Dazu brauchten die deutschen Fürsten ein Ober haupt, einen mächtigen Kaiser, der nicht nur über einen tatkräftigen, verzweigten Polizeiapparat verfügte, sondern auch ein gewaltiges Heer ins Feld stellen konnte. Worauf wartete Leopold noch? Die Ereignisse in Frankreich über stürzten sich. Die gesellschaftliche Umschichtung, die von den Aus 182
schüssen der Nationalversammlung am Beratungstisch sorgfältig aus gearbeitet und zum Teil schon verwirklicht worden war, genügte den erregten Pariser Volksmassen nicht. Sie waren mißtrauisch geworden. Die Nähe der Nationalversammlung und Ludwigs XVI. in einer von königlichen Garden bewachten Umfriedung erschien ihnen verdäch tig. Versailles war nicht nur das Königsschloß, es war ein Begriff, die Verkörperung der Herrschergewalt. Die Pariser wollten sowohl den König als auch die Nationalversammlung in ihrer Mitte. Ein abenteuerlicher Zug von Tausenden entfesselter, schwerbewaff neter Männer und Frauen nötigte Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, ihren Hofstaat aus Versailles in die Tuilerien zu verlegen. Dabei kam es nur zu vereinzelten Gewalttätigkeiten. Noch immer wachte die Natio nalgarde Lafayettes über die Ordnung und war bemüht, Blutvergießen zu vermeiden. Ein grundlegendes Gesetz nach dem andern besänftigte die aufgeregten Gemüter. Erst wurden die Kirchengüter verstaatlicht und zu Nationalgütern erklärt, deren Wert und Ertrag die Grundlage für die Ausgabe von Papiergeld gewährleisten sollten. Diese Assignaten sollten das staatliche Defizit decken. Für kurze Zeit schien es auch, als ob das neue Zahlungsmittel die verfallene Wirtschaft wirklich beleben würde. Dann aber wurden immer mehr Assignaten gedruckt und die Nationalgüter schuldenfrei für den Verkauf freigegeben. Der erbliche Adel wurde abgeschafft, die Güter der Emigranten wurden eingezogen und veräußert. Im kurzfristigen Geldtaumel vollzog sich ein tiefgrei fender Besitzwechsel. Es gab zahllose Neureiche, die persönliches In teresse an der Erhaltung der revolutionären Zustände hatten und be reit waren, alles, was sie waren und was sie erworben hatten, daranzu setzen, damit eine Gegenrevolution nicht wirksam sein könne. In der Nationalversammlung hatten sich zwei mächtige Parteien ge bildet: Die ›Girondisten‹, die dem besitzenden Bürgertum angehörten und gegen das Übergewicht von Paris gegenüber den Provinzen, beson ders ihrer Provinz, der Gironde, eintraten, und die ›Montagnards‹, die sich ›Bergpartei‹ nach den höchsten Bänken des Sitzungssaals nannten und die die Abgeordneten der Stadt Paris zu ihren Wortführern mach ten. Neue Männer wurden bekannt und ihre Namen zu Sinnbildern, 183
vor allem der eindrucksvolle Redner Georges Danton, ein Freund Des moulins', der ehemalige Arzt Marat und der Anwalt Robespierre aus Arras. Die Angehörigen der Parteien rekrutierten sich aus den Mitgliedern der ehemaligen Lese- und Debattiergesellschaften, die sich als ›Klubs‹ bezeichneten. Da gab es auch die ›Gesellschaft der Verfassungsfreun de‹, die sich im Dominikanerkloster von St. Jakob versammelte und zahllose als ›Jakobiner‹ bezeichnete Parteigänger in den Provinzen hatte. Eine rote phrygische Mütze wurde das Sinnbild des Jakobiner klubs, dem auch Lafayette angehörte, bis er vor den geplanten Aus schreitungen doch zurückscheute. Die ›Gesellschaft der Freunde der Menschen- und Bürgerrechte‹ gab ihren Mitgliedern den Namen ›Cor deliers‹, während sich die Abgeordneten, die noch Verbindung mit dem Königshof hielten, im ›Klub der Feuillants‹ trafen. Das ruhelose Kommen und Gehen der einzelnen Volksvertreter, ihre eiligen Zusammenkünfte und ehrgeizigen Versuche, einander in der Ausnützung ihrer Machtvollkommenheit zu beschränken, um die Macht für sich selbst zu gewinnen, wurde durch immer angriffslusti gere, hetzerische Zeitungsveröffentlichungen angeregt. Die Spaltun gen und Streitigkeiten zwischen den Parteien verschärften sich. Sie wa ren sich nur in einem einig: den König zu zwingen, sich zu den Grund sätzen der Revolution zu bekennen. Ludwig XVI. mußte unterschrei ben, was sie ihm zur Unterschrift vorlegten. Sie waren die Drahtzieher, er war die Marionette. Die Absicht Mirabeaus, seinen wachsenden Einfluß dem Thron, den auch er untergraben hatte, zur Verfügung zu stellen, scheiterte an der Empörung Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes über seinen Aus spruch: »Il faut décatholiser la France.« Seine offen gegen die Kirche gerichtete Haltung machte es dem allerchristlichsten König unmög lich, die Dienste Mirabeaus öffentlich anzunehmen. Aber man konnte ihm Geld zuschanzen, um ihn zu beschwichtigen. Mirabeau brauch te es, um seine ausschweifende Lebensführung bestreiten zu können. Seine Geldnot nahm zu, und er konnte seine Verschwendungssucht nicht beherrschen. Er wurde von den Jakobinern mit Ehrenämtern 184
überhäuft und beklagte sich mit grausamer Selbstverspottung: »Was ist Ehre ohne Geld?« Er mußte etwas Entscheidendes tun, um sich aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Der kaiserliche Gesandte, Graf Mercy, der Leopold II. ausführlichen Bericht erstattete, schrieb war nend: »Mirabeaus Popularität beunruhigt mich«, obwohl ihm bekannt war, daß der ›Volksgraf‹ gegen gute Bezahlung eine Gegenverfassung vorbereitete, deren Durchführung einer Gegenrevolution gleichge kommen wäre. Ludwig XVI. zögerte die schon vorbereitete Flucht ins Ausland hin aus in der Erwartung, daß die Tätigkeit Mirabeaus diesen verzweifel ten Schritt erübrigen würde. Als Mirabeau, der offene Feind des Kö nigtums, auf den es die letzte Hoffnung setzte, plötzlich schwer er krankte und unter fürchterlichen Schmerzen im Unterleib starb, trau erte nicht nur der König von Frankreich, sondern auch der Jakobiner klub, in dessen Namen Robespierre die feierliche Totenrede hielt, wäh rend alle Abgeordneten der Nationalversammlung und die National garde am Leichenbegängnis teilnahmen. Der Zeitpunkt der nun endgültig geplanten Flucht Ludwigs XVI. und seiner Familie aus Frankreich war ein wohlgehütetes Geheimnis Leopolds II. der die Absicht hatte, den König und die Königin an der Spitze einer kaiserlichen Armee wieder nach Paris zurückzuführen. So wollte Leopold dartun, daß er nicht nur der Römische Kaiser Deut scher Nation, sondern der legitime Oberherr aller Christen war, das Oberhaupt aller Fürsten gegen die Revolution. Von der beabsichtigten Flucht Ludwigs XVI. wußte auch König Gu stav von Schweden. Die Tochter Neckers hatte den schwedischen Ge sandten in Paris, den Baron Stael, geheiratet und war die Vermittlerin der Beziehung des jungen Grafen von Fersen zu Marie-Antoinette. Der schwedische Offizier stellte sich der Königin zur Verfügung, um alle Vorbereitungen zur Flucht zu treffen. War er ihr Liebhaber? Die Einge weihten waren davon überzeugt. Aber seine eigenen Aufzeichnungen sprechen nicht dafür. Graf Fersen schrieb über Marie-Antoinette: »Die Königin ist sehr graziös und sehr liebenswürdig, aber durchaus nicht hübsch.« Das ist kaum die Sprache eines von Verliebtheit Überwältig 185
ten, der sein Leben für die Geliebte einsetzen wollte. Viel wahrschein licher ist, daß Graf Fersen im Auftrag Gustavs III. handelte, der dem ›Bruder auf dem Thron‹ durch einen ergebenen Offizier helfen wollte. Außer diesen Mitwissern waren nur die unmittelbar daran beteilig ten Persönlichkeiten in das Vorhaben des Königs von Frankreich ein geweiht. Sie waren des Erfolges gewiß, und am 5-Juli 1791 bekam Kai ser Leopold II. die Nachricht, daß die Flucht Ludwigs XVI. und Ma rie-Antoinettes aus Frankreich geglückt sei und sie sich auf niederlän dischem Boden befänden. Er schrieb seiner Schwester Marie Christi ne, die die Flüchtlinge in Brüssel erwartete: »In diesem Moment ist der König frei … Ich bevollmächtige dich, allen Generälen zu befehlen, daß die Truppen sich in Bewegung setzen, an die Grenze rücken und in Frankreich einmarschieren …« Der großangelegte Plan Leopolds zur Niederschlagung der Revoluti on, zur ›Ausrottung aller für den Staat verdächtigen oder gefährlichen Personen‹ wurde durch den Sohn eines Postmeisters namens Drouet vereitelt. Ludwig XVI. und Marie-Antoinette verließen Paris heimlich und flohen in Richtung der österreichischen Niederlande. Kaiserliche Truppen standen bereit, das königliche Ehepaar aufzunehmen. Da er kannte Drouet den König und die Königin von Frankreich trotz ihrer Verkleidung in der kleinen Stadt Varennes. Sie wurden aufgehalten, nach Paris zurückgeführt und waren längst schon gefangen, als Leo pold II. die Nachricht von ihrer Befreiung erhalten hatte.
V Die ›Pillnitzer Deklaration‹, die nach einer freundschaftlichen Zusam menkunft des Kaisers mit Friedrich Wilhelm II von Preußen veröffent licht wurde, legte die Richtlinien der beiden Herrscher fest. Sie enthielt ihren Entschluß, zugunsten einer den Rechten des Souveräns und den Interessen der Nation gleichmäßig angemessenen monarchischen Re gierung in Frankreich einzuschreiten. Da die emigrierten Brüder Lud 186
wigs XVI. sich an der ›Pillnitzer Deklaration‹ beteiligt hatten, wurde sie in Frankreich als Herausforderung empfunden. Die Nationalver sammlung setzte die schon ausgearbeiteten Bestimmungen in Kraft. Ludwig XVI. wurde gezwungen, den Eid auf die Verfassung, die eine konstitutionelle Monarchie vorsah, zu leisten. Der König erklärte die Revolution für beendet. Vielleicht hätten sich die französischen Revolutionäre, die die Na tionalversammlung in die ›Gesetzgebende Versammlung‹ umwandel ten, damit begnügt, das schon Erreichte nur noch durch Paragraphen zu sichern, wenn nicht Leopold II. entschlossen gewesen wäre, die Re volution und ihre Folgen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Er lud den preußischen General Bischofswerder nach Wien ein, um alle Schritte für eine gemeinsame Kriegsführung gegen Frankreich vorzubereiten. Am Tag nach der Ankunft des Generals wurde Leopold von einem so heftigen Fieber befallen, daß er das Bewußtsein verlor und nicht wie dergewann. Sein Tod beendigte die Hoffnung, die internationale Welt macht des Hauses Österreich auf den Trümmern der Revolution wie der zu errichten. Sein ältester Sohn Franz, über den sich der Erzieher bitter bei Leo pold beklagt hatte, wurde sein Erbe. In dem noch erhaltenen unge wöhnlich ehrlichen Bericht über die Ausbildung des Erzherzogs stand, daß die Apathie und Geistesträgheit des jungen Franz nicht auszu rotten seien: »Bei jeder Gelegenheit steht er wie ein Klotz, der mitten ins Zimmer gepflanzt wurde. Er läßt Arme und Beine mit zerstreuter Miene hängen, und so würde er bis zum nächsten Morgen verharren, wenn man ihn nicht sich zu rühren hieße …« Auch als Franz am Türkenfeldzug teilnahm, rührte er sich nicht. Da mals schrieb Kaiser Josef II. seinem Bruder Leopold in Florenz: »Vor dem Feind war dein Sohn gerade wie du ihn im Zimmer siehst: Das Pfeifen der Kugeln ließ ihn keine Miene verändern.« Diesen unerschütterlichen Gleichmut zeigte Franz II. auch während der ersten zwei Jahrzehnte seiner Regierungszeit, die vom Lärm des Kanonendonners erfüllt war und vom unaufhörlichen Pfeifen der Ku geln. Und wenn er nicht gleichmütig war, zeigte sich bei ihm ein tiefer 187
Pessimismus. Die ständige Redensart des Kaisers den Ereignissen ge genüber war: »Es wird schon alles schiefgehen.« Die mutlose, lebensverneinende Einstellung Franz II. hatte auch ihre Vorteile. Nur ein Herrscher, der nichts Gutes erwartete, konnte sich mit so regungsloser Teilnahmslosigkeit in sein Schicksal fügen und das Schicksal seiner nächsten Angehörigen betrachten. Es berührte Franz kaum, daß die ›Gesetzgebende Versammlung‹ in Paris ihm den Krieg erklärte. Er gab seinen Generälen den Befehl, »es gut zu ma chen«, und verließ sich mehr auf seine preußischen Verbündeten als auf ihre Tüchtigkeit. Während die vereinigte preußisch-österreichische Armee in den Niederlanden aufmarschierte, wurde in ganz Frankreich ein neues Lied gesungen, das die Begeisterung des Volkes erweckte: Die Marseil laise. Dieser zur Hymne erhobene Gesang war kein geplanter Aufruf, zu den Waffen zu greifen und den Kampf gegen die ›Tyrannen‹ auf zunehmen, sondern eine musikalische und dichterische Improvisati on, durch die die militärische und politische Improvisation angefeuert wurde, die Frankreich aus einem revolutionären in ein kriegerisches Land verwandelte. Selbst der gefangene König spielte sich als Patriot auf. Aber die Kund gebungen Ludwigs XVI. in diesem Sinn führten nur dazu, daß Tau sende und aber Tausende bewaffneter ›Sansculotten‹, die sich wider spruchsvoll so nannten, da sie es endlich dazu gebracht hatten, Ho sen zu erbeuten, in die Tuilerien eindrangen und ihn zwangen, die Ja kobinermütze aufzusetzen. Durch die rote phrygische Kopfbedeckung statt der ihm von der Verfassung zugestandenen Krone war der König entwürdigt, das Königtum zur Farce geworden. Lafayette, der Befehlshaber eines französischen Heeres an der nie derländischen Grenze geworden war, eilte nach Paris, um den Thron zu retten. Die Mehrheit der Gesetzgebenden Versammlung befahl ihm, zur Armee zurückzukehren. Angesichts der Lage, die hoffnungslos schien, gehorchte Lafayette zwar dem Befehl, ging aber zu den Öster reichern über in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe das Königtum zu ret ten, zu dessen Vernichtung er selbst beigetragen hatte. Er wurde von 188
den österreichischen Generälen mit allen Ehren empfangen – und auf Befehl des Kaisers länger als ein Jahrzehnt im grauenhaften Gefängnis auf dem Spielberg in Böhmen gefangengehalten. Ermutigt durch die Tatsache, daß der bekannteste General der fran zösischen Truppen übergelaufen war, erließ der Oberbefehlshaber der verbündeten Herrscher ein Manifest, das keinen Zweifel über das Ziel des Feldzugs offenlassen sollte: die Wiederherstellung der Autorität des entmachteten Königs, Ludwigs XVI. und Strafmaßnahmen gegen die Verletzer der Königsgewalt. Diese Drohungen lösten in Frankreich eine ungeheure Bewegung aus. In jedem Dorf erklang die Sturmglocke. Die mit der ›Trikolore‹ ge schmückten revolutionären Bürgermeister und Abgeordneten gewan nen Bauern und Bürger mit dem Ruf: »Das Vaterland ist in Gefahr!«, als Freiwillige für die Revolution. Ein neuer Volkssturm brach aus. In den Pariser Vorstädten sammelte sich die Menge, brach in die Tuileri en ein und metzelte die Schweizergarden nieder. Ludwig XVI. mit sei ner Familie wurde in einem Staatsgefängnis, dem ›Temple‹, gefangengesetzt. Die beiden Männer des Tages, Danton und Marat, veranlaßten Massenverhaftungen. Wer mit dem Königtum sympathisierte, wurde festgenommen. Die sogenannten ›Septembermorde‹ begannen. In we nigen Wochen wurden mehr als sechzehnhundert Adlige und Prie ster getötet. Die Gesetzgebende Versammlung führte das allgemeine Wahlrecht ein. Der Nationalkonvent trat zusammen und beschloß die Abschaffung des Königtums. Nichts sollte von der Vergangenheit blei ben. Auch der Kalender mußte einer neuen Zeitrechnung weichen, in der die Monate neue Namen erhielten. »Das Vaterland ist in Gefahr!« Diese unaufhörlich wiederholte War nung schien alle gewalttätigen Maßnahmen zu rechtfertigen. Aber die Kanonade von Valmy, die übertrieben als Schlacht bezeichnet wur de, war kaum mehr als eine militärische Demonstration an einem reg nerischen Tag. Sie wurde durch die unbegründete Flucht der kaiserli chen Truppen zu einer Katastrophe. Der Revolutionsgeneral Dumou riez besiegte die Österreicher bei Jemappes und besetzte die Niederlan de. Bald nach diesen Siegen begann der Prozeß des Volkes gegen Lud 189
wig XVI. dem landesverräterische Beziehungen zu seinen emigrierten Brüdern und den kriegführenden Monarchen nachgewiesen wurden. Entgegen dem französischen Strafgesetzbuch, das für ein Todesurteil drei Viertel der Stimmen des Gerichts voraussetzte, wurde die einfa che Mehrheit für ausreichend erklärt. Ludwig XVI. wurde mit nur ei ner Stimme Mehrheit verurteilt, hingerichtet zu werden. Die Laternen von Paris hatten ihre ihnen von Desmoulins zuerkann te Bestimmung erfüllt. Die improvisierten Galgen waren durch eine Maschine abgelöst worden, die ›Guillotine‹, das mechanisch funktio nierende Fallbeil, das der französische Arzt Guillotin erfunden hat te. Aber weder der Tod Ludwigs XVI. auf dem Schafott noch die Guil lotinierung Marie-Antoinettes beruhigten die von Not und Elend be drohten Massen. Alle Herrscher der Erde hatten sich gegen die Revo lution vereinigt und beschlossen, Frankreich auszuhungern. Die un mittelbare Folge war eine Verschärfung der revolutionären Maßnah men. Die lebensvollen, noch immer mit bürgerlichen, ja mit aristo kratischen Lebensformen liebäugelnden ›Girondisten‹, an deren Spitze Danton stand, wurden von Maximilian Robespierre entmachtet. Der Abgeordnete von Arras, der sich selbst als unbestechlich bezeichnete, übernahm die Leitung des neugegründeten ›Wohlfahrtsausschusses‹ und verfügte durch den Nationalkonvent die ›Levée en masse‹, die all gemeine militärische Dienstpflicht, zur Verteidigung Frankreichs. Ein bedeutender Mann wurde Kriegsminister, ohne es dem Namen nach zu sein. Für seine Tätigkeit erhielt er während der Revolution den ruhmreichen Titel: ›Organisator des Sieges‹. Er hieß Lazare Car not und war geschulter Ingenieuroffizier. Der durchgreifenden Glie derung der Massenheere, die er schuf, waren die künftigen unerhör ten Erfolge des damals noch als Artillerieoffizier tätigen Napoleon Bo naparte zu danken, der sich bei der Eroberung von Toulon auszeich nete, während die Schreckensherrschaft Robespierres in ganz Frank reich wütete. Ohne sich Diktator zu nennen, hatte Robespierre eine Diktatur er richtet und räumte mit eiserner Folgerichtigkeit und unstörbarem Fleiß alle Verdächtigen aus dem Wege. Und für verdächtig wurde er 190
klärt, wer Robespierre auch nur im mindesten in die Quere kam. Ver dienste um die Revolution galten nicht. Das mußten auch Danton und Desmoulins erfahren. Sie wurden verhaftet und hingerichtet. Marat hätte das gleiche Schicksal ereilt, wenn er nicht vorher ermordet wor den wäre. Robespierre, auf dessen Antrag Ludwig XVI. verurteilt wor den war, war der ungekrönte König der Revolution. Er wollte auch kei nen Gott über sich und führte den ›Kult des höchsten Wesens‹ ein. Im Namen des Vaterlands fanden in ganz Frankreich Massenhinrichtun gen statt. Nicht nur in Paris, sondern auch in der Provinz wurden Tau sende erschossen und ertränkt. Das Revolutionstribunal, dem Robe spierre vorstand, fällte ein Todesurteil nach dem andern. Niemand war seines Lebens sicher. Jeder, ob er Adliger oder Arbeiter, ob er Bür ger oder Bauer war, mußte der Verhaftung und der Verurteilung zum Tode gewärtig sein, während ganz Frankreich, von Feinden umstellt, einer belagerten Festung glich. Endlich bildete sich unter der Führung Talliens eine Gruppe von Ab geordneten, die beschlossen, dem Schrecken ein Ende zu setzen. Robe spierre wurde im Sitzungssaal des Pariser Stadthauses überfallen. Der Schwerverwundete und seine engsten Mitarbeiter wurden hingerich tet. Die große Französische Revolution war zu Ende. Aber ihre Aus wirkungen begannen erst.
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Der kleine Korporal
I Am Ende seiner Laufbahn faßte Napoleon Bonaparte den Ursprung und das Wesen seiner weltgeschichtlichen Stellung zusammen: »Ein Mann ist nur ein Mann. Tausend Jahre müssen kommen und gehen, bevor die Umstände, die mich zum Mittelpunkt des Geschehens mach ten, einen anderen Mann aus der Menge herausholen werden, um ein ähnliches Geschehen herbeizuführen … Die Leute waren der Anar chie müde. Sie wollten sie beendigen. Ich wiederhole: Ein Mann ist nur ein Mann. Seine Begabung und Mittel bedeuten nichts, wenn die Um stände ihn nicht begünstigen …« Diese reife Erkenntnis des ersten Kaisers der Franzosen, den sei ne Soldaten zärtlich ihren ›kleinen Korporal‹ nannten, war das letz te Ergebnis des fabelhaften Selbstunterrichts, den sich Napoleon auf seinem Lebensweg, in allen Stufen seines Aufstiegs, unaufhörlich er teilte. Er war auf Korsika als Sohn des bescheidenen, aber wendigen Rechtsanwalts Carlo Buonaparte zur Welt gekommen. Seine Mutter, Madame Laetitia, war mit Paoli, dem General der für ihre Unabhän gigkeit kämpfenden Korsen, eng befreundet gewesen. Diese Beziehung hatte bald nach der Geburt Napoleons ein Ende, als die Insel aus ge nuesischem Besitz in französischen überging. Paoli floh nach England. Aber Napoleon blieb dem Einfluß des temperamentvollen Freiheits kämpfers auch noch unterworfen, nachdem er in die nur Adligen vor behaltene französische Kriegsschule aufgenommen worden war. Aus Brienne schrieb er verzweifelt: »Ich ward geboren, als mein Vaterland verendete. Dreißigtausend Franzosen auf unsere Küste gespien, den 192
Thron der Freiheit mit Strömen von Blut besudelnd – das war der has senswerteste Anblick, den meine ersten Blicke trafen. Das Schreien der Sterbenden, das Stöhnen des Unterdrückten, die Tränen der Verzweif lung umgaben meine Wiege seit meiner Geburt …« Nicht viel spä ter leistete Napoleon den Schwur: »Ich werde den Franzosen so viel Schlimmes antun als ich nur kann!« In der Familie Buonaparte sprach man Französisch mit starkem ita lienischem Einschlag. Die Frage, zu welcher Nation beziehungsweise zu welchem Sprachgebiet sich Menschen umstrittener Abstammung bekennen sollten, wurde im Laufe der Geschichte von ihnen selbst zu meist nach der günstigsten Gelegenheit entschieden. Das Italien des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts war ein Mosaik von König reichen, Fürstentümern und Stadtrepubliken, die verschiedenen poli tischen Einwirkungen ausgesetzt waren und einander immer befeh deten – wenn auch nicht immer mit den Waffen. Frankreich hingegen war eine in sich geschlossene Macht, ein hoffnungsvolles Betätigungs feld für einen politischen oder militärischen Abenteurer – besonders während der großen Französischen Revolution. Das erfaßte Napoleon Bonaparte rasch und gründlich bald nach sei ner Ausmusterung aus der Kriegsschule. Er gewann das Vertrauen des jüngeren Bruders des allmächtigen Robespierre und wurde, nachdem er sich vor Toulon ausgezeichnet hatte, zum General ernannt. Ein re gelrecht ausgebildeter Offizier, der das selbstherrlich angenommene ›de‹, das ›von‹ des Adels, einfach fallenließ – ebenso wie später das ita lienisierende ›u‹ in seinem Namen – und nur revolutionäre Bestrebun gen zeigte, um den Machthabern des Augenblicks zu gefallen, hatte ungeahnte Möglichkeiten. Dennoch eröffneten sie sich dem Ehrgeizi gen, der sich an die Jakobiner angeschlossen hatte, um es zu etwas zu bringen, keineswegs so leicht, wie er erhofft hatte. Nach dem Fall Ro bespierres betrat Bonaparte das Pflaster von Paris, trotz seines Ranges ohne Amt, und war, da er keinen Sold bekam, mittellos. Seine Bittge suche und Bewerbungen um eine entsprechende Stelle im Heer blieben ungehört, bis zu dem Zeitpunkt, in dem Barras, das Haupt der neuer richteten Direktorialregierung, die das Erbe der Revolution angetre 193
ten hatte, auf den stellenlosen jungen General aufmerksam wurde – allerdings durchaus nicht, um die besonderen militärischen Fähigkei ten Bonapartes auszunützen, sondern um Josephine, seine ehemalige Geliebte, die Witwe des Vicomte Beauharnais, an den Mann zu brin gen. General Bonaparte schrieb damals selbst: »Barras war ein einfluß reicher Mann, und ich mußte mich an jemanden anschließen und et was tun.« Die Annäherung Bonapartes an Barras hatte den gewünschten Er folg. Der General bekam etwas zu tun. Das ›Direktorium‹, das sich aus fünf Mitgliedern des Nationalkonvents zusammensetzte, war gezwun gen, sich eines Aufruhrs zu erwehren, den Babeuf, der Herausgeber der Zeitung ›Volkstribun‹, durch seine Aufforderung zu einer gewalt tätigen Aufteilung aller Güter unter das Volk heraufbeschworen hat te. Die soziale Umwälzung in Frankreich, in der aus vielen Besitzlo sen Besitzende geworden waren, hatte zur Bildung einer wohlhaben den Schicht von Bürgern geführt, die die Lebensformen der von ihnen entmachteten Aristokraten anzunehmen begannen. Sie ahmten eifrig nach, was sie hatten ausrotten wollen, und taten es so gründlich, daß eine neue Revolution der Besitzlosen auszubrechen drohte. Gegen sein Versprechen, Josephine Beauharnais zu heiraten, erhielt General Bo naparte von Barras den Befehl über die Garnison von Paris und alle nicht im Feld stehenden französischen Truppen. Die Vollmacht lautete wörtlich: »Die zivilen und militärischen Behörden haben dem Befehl General Bonapartes zu gehorchen.« Am 13. Vendemiaire, dem 5. Oktober 1795 unserer Zeitrechnung, fand der erste historische Sieg Napoleon Bonapartes statt. Er tat für das Di rektorium, was die hochadligen Kommandanten zum Schutze König Ludwigs XVI. nicht über sich gebracht hatten: Er schoß in die Men ge. »Viel Blut wurde vergossen«, berichtete ein Pariser Journalist. Aber einige Wochen später schrieb Josephine Beauharnais an eine Freun din: »Barras sagte mir, daß er, wenn ich den General Bonaparte hei rate, ihm das Kommando der italienischen Armee geben werde. Ge stern erklärte mir Bonaparte: ›Glauben diese Leute wirklich, daß ich ihre Gönnerschaft brauche, um es zu etwas zu bringen? Der Tag wird 194
kommen, an dem sie nur zu froh sein werden, meine Gönnerschaft zu haben. Ich habe ein Schwert an meiner Seite, und damit werde ich weit kommen!‹ …«
II Diese ärgerliche Aufwallung des in seinem Selbstbewußtsein gekränk ten sechsundzwanzigjährigen Generals war vor allem dadurch ausge löst, daß er sich in die Frau verliebt hatte, die er heiratete, um em porzukommen, und sich vor ihr nicht kleinmachen lassen wollte. Kei ne Anzeichen oder Aufzeichnungen deuten darauf hin, daß Napoleon damals eine weitere Sicht und ein anderes Ziel hatte als die unmittel bare Rangerhöhung und die lebensvolle Hoffnung, sich in dem Kom mando, das er als Ehemann der leichtsinnigen Josephine tatsächlich erhielt, auch zu bewähren. Die große Politik, deren Meister er werden sollte, lag ihm noch fern. Er kannte die Gebiete, durch die er nicht so viel später mit seiner ›Grande Armee‹ ziehen sollte, nur als geographi sche Begriffe, die er sich im Schulunterricht hatte aneignen müssen. Die französischen Zeitungen, die einzige Quelle, aus der er Nachrich ten beziehen konnte, befaßten sich damals kaum mit den Teilungen Po lens im Osten Europas. Daß Rußland, Österreich und Preußen dem al ten polnischen Königreich ein Ende machten, nachdem sich die Polen unter Kosziuszko gegen die Fremdherrschaft erhoben hatten, berührte die Machthaber des ›Direktoriums‹ und die französische Journalistik nur von dem Standpunkt aus, daß Kaiserin Katharina II. von Rußland, Kaiser Franz und der König von Preußen sich mehr mit ihrem Gebietszuwachs im Osten Europas beschäftigen würden als mit dem lässig geführten Krieg gegen Frankreich. Es war Barras schon gelun gen, mit Preußen Frieden zu schließen, und daß General Moreau vom begabten Bruder des Kaisers, von Erzherzog Karl von Österreich, über den Rhein zurückgetrieben worden war, bedeutete zwar eine Schlappe des von Carnot für den Sieg ausgerüsteten französischen Heeres, das 195
planmäßig zum Angriff übergegangen war. Aber wirklich gefährlich war die Kriegslage nur in Italien, und dorthin war das Augenmerk Bo napartes von frühester Jugend an gerichtet. Auf diesem Kriegsschau platz konnte er beweisen, daß er es mit seinem Schwert weit bringen könne. Ein zeitgenössisches Bild des Malers David hält den großen Augen blick des mageren Generals fest, wie er mit gezogenem Säbel seinen Truppen den Weg weist, bevor sie die Adda-Brücke bei Lodi erstür men. Es war ein bedeutsamer Sieg. Aber der junge Befehlshaber hatte diesen und viele nachfolgende Siege nicht nur durch seine Feldherrn kunst und die Überlegenheit der von Carnot gelieferten Ausrüstung errungen, sondern durch eine neue Waffe, die Napoleon mit intuitiver, einmaliger Geschicklichkeit einsetzte: durch das Wort und die Fähig keit, es zu formen und so die unmittelbare Beziehung zu den von ihm befehligten Truppen herzustellen. Die Tagesbefehle Napoleons ergriffen seine Soldaten im Innersten ihres Wesens. Seine Aufrufe bewirkten einen Bann, um so mehr, als sie mit kühler Berechnung und eiskalter Leidenschaft das Wesentlich ste berührten. Napoleon erfaßte auch viel besser und schärfer als sei ne tüchtigsten Vorgänger in der Ausbeutung eroberter Länder, daß es während des Bewegungskrieges unumgänglich nötig sei, vom besetz ten Land zu leben. Er raubte noch gründlicher als Mansfeld und Wal lenstein, aber er erließ Proklamationen, in denen er sich der unter drückten Bevölkerung gegenüber als Befreier vom fremden Joch auf spielte, als großherziger Bundesgenosse, der ihnen zu Hilfe gekom men war. In Frankreich hatte Napoleon mit eigenen Augen gesehen, daß der Aufruf zum Patriotismus das Land wehrhaft gemacht hatte. Wer waren seine Feinde? Die Habsburger und die Bourbonen, deren Familienangehörige Königreiche und Herzogtümer auf italienischem Boden besaßen. Eine Revolution in jedem dieser bourbonischen oder habsburgischen Länder hervorzurufen, war in der kurzen Zeitspanne, die der Angreifer und Eroberer sich setzte, unmöglich. Aber wenn er alle Bewohner der Apenninischen Halbinsel aufrief und davon über zeugte, daß sie ein Volk seien, eine Nation, daß sie untereinander ei 196
nig sein müßten, um sich von der Fremdherrschaft zu befreien, daß die Grundsätze der Revolution, für die er mit seinen Soldaten ›im Interes se der Menschheit‹ kämpfte, der ›Italienischen Nation‹ zu Hilfe gekom men seien, dann würden auch sie rufen: »Freiheit, Gleichheit und Brü derlichkeit!« – und sich mit den französischen Truppen verbrüdern. Der Begriff ›Italienische Nation‹ wurde von Napoleon zum ersten Male geprägt und half ihm in seinem Siegeszug, in dem er den König von Sardinien und den Papst zum Frieden zwang, die Lombardei er oberte, Mantua einnahm und über die Ostalpen in die Richtung Wiens marschierte. In der steiermärkischen Stadt Leoben im Herzen Öster reichs war der Feldherr der französischen Republik bereit, in Friedens verhandlungen einzutreten. Seine Bedingungen waren die eines über legenen Siegers. Er gründete die ›Cisalpinische Republik‹, der Mailand, Modena, Ferrara, Bologna und die Romagna angehörten, und die ›Ligu rische Republik‹ auf dem Gebiet Genuas. Die ehemalige Beherrscherin des Mittelmeerhandels, die Republik Venedig, benützte er als Tausch objekt im Frieden von Campo Formio. Er hatte sich in aller Eile die staatsmännischen Spielregeln angeeignet und sich zum Meister der eu ropäischen Machtverschiebungen gemacht: Die österreichischen Nie derlande kamen an Frankreich und wurden mit dem eroberten Hol land zur Gründung der ›Batavischen Republik‹ vereinigt. Die Dogen republik Venedig kam an das kaiserliche Österreich. Die deutschen Reichsfürsten am linken Rheinufer, die so ihre Besitzungen verloren, sollten entschädigt werden. Wie und wann, das sollte in späteren Ver handlungen festgelegt werden. Napoleon brauchte den Rhein als Gren ze Frankreichs und gebrauchte bei seiner Unterhandlung in allen Fäl len die rücksichtslose Methode der Drohung, daß er angreifen werde. Sein Grundsatz auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch war der gleiche: »Die beste Verteidigung ist der Angriff.« Da wurden nicht viele Worte gemacht. Der Heilige Vater wollte sich seinen Anordnun gen widersetzen? General Bonaparte schrieb an das Direktorium: »Die Armee ist drei Marschtage von Rom entfernt. Ich werde mich mit dem alten Pfaffen an Ort und Stelle auseinandersetzen.« Papst Pius VI. der freiwillig nach Wien gereist war, um Josef II. ›durch seine Artillerie‹ 197
umzustimmen, war machtlos gegen die Artillerie Napoleons. Er wurde kurzerhand gefangengenommen und nach Frankreich gebracht. Noch ein rascher Blick auf die Landkarten, die dem gelehrigen Erobe rer durch eigene Anschauung immer vertrauter wurden. Die Schweiz nannte sich ›Bund der Eidgenossen‹. Der Name ›Helvetische Republik‹ paßte der benachbarten französischen Republik besser! General Bona parte veranlaßte die Änderung. Auf seinen Märschen hatte er mit der gleichen Gründlichkeit, mit der er für die Verpflegung seiner Soldaten gesorgt hatte, auch unternom men, die Kunstschätze der reichen Fürsten Italiens zu plündern und Kontributionen in barem Geld von Königen, Herzögen und Städten einzuheben, um den Mangel an guter Münze in Frankreich zu behe ben. In den Briefen, die seine wertvollen Sendungen begleiteten, wur den sowohl Kunstschätze als auch Geld in Ziffern beschrieben. Er be richtete zum Beispiel an das Direktorium: »Ich habe in Tortona alle Ju welen und Silberplatten gesammelt. Ich nehme an, daß sie allein fünf oder sechs Millionen Goldstücke wert sind. Die Kunstkommissäre, die mir geschickt wurden, arbeiten hart. Sie haben hundertzehn Gemälde beschlagnahmt …« Keine Erwähnung oder Würdigung der Künstler, die die unsterbli chen Werke geschaffen hatten, ergänzte die Ziffern. Es waren hundert zehn farbenprächtige Bilder, die einen Wert für Sammler und Kenner hatten. Für ihn hatten sie nur Handelswert. Ihn begeisterte auch nicht die Schönheit von Statuen oder Gebäuden. Als er über den Markusplatz von Venedig spazierte, sagte er nur: »Das hier ist wie ein geräu miger Salon.« Damals sagte General Bonaparte auch: »Das wichtigste und bestän digste Ziel meiner Politik ist es, das Mittelländische Meer zu beherr schen.« Aber als er wie ein Triumphator nach Paris zurückkehrte, er fuhr er, daß ihn eine neue, ganz andere Aufgabe erwarte. Alle europä ischen Herrscher hatten Frieden mit Frankreich gemacht, nur England nicht. General Bonaparte wurde zum Oberbefehlshaber eines neuzu bildenden französischen Heeres bestellt, das die ›Armee gegen Eng land‹ genannt wurde. 198
III In einem geheimen Memorandum, das der neuernannte Oberbefehls haber der ›Armee gegen England‹ für das Direktorium verfaßte, sprach er sich dagegen aus, die Armee in Bewegung zu setzen: »… Eine Lan dung in England, ohne daß wir erst die See beherrschen, würde die kühnste und schwierigste Unternehmung sein, die jemals versucht worden ist«, schrieb er und schlug vor, England im Mittelmeer anzu greifen, vor allem in Ägypten, um den Handel der englischen Kaufleu te mit dem Nahen Osten und mit Italien unmöglich zu machen. Dieser Plan Napoleons war eine folgerichtige Fortsetzung der so oft fehlgegangenen Planung des Königreichs Frankreich, dessen Staats männer versucht hatten, das feindliche Inselvolk in seinen übersee ischen Besitzungen zu treffen und die eigenen Kolonien zu erweitern. Die noch fehlende Übermacht zur See, die General Bonaparte durch gewaltige Zuwendungen an die Marine zu erreichen hoffte, wollte er durch die Eroberung Ägyptens und die Überquerung der Landenge von Suez ausgleichen und sich mit dem Sultan gegen England verbün den. Er stach vom Kriegshafen von Toulon, dem Schauplatz seines er sten militärischen Erfolges, mit der Mittelmeerflotte, über die er das Kommando übernommen hatte, in See. Er eroberte Malta und erließ kaum sechs Wochen nach seiner Ausfahrt einen Aufruf an seine im Nildelta an Land gesetzten Truppen: »Soldaten, hier in Ägypten ver wundet ihr die Engländer an ihrem empfindlichsten Punkt, bevor ihr ihnen den Todesstoß versetzen werdet … Die Vorsehung ist auf unse rer Seite.« Drei Wochen nach der Landung Napoleons in Alexandria schrieb der Admiral der englischen Flotte, Sir Horatio Nelson, der den Befehl hatte, die französischen Kriegsschiffe an der Überquerung des Mit telmeeres zu hindern, seiner Frau: »Ich bin tief beschämt. Zu meinem 199
größten Ärger ist es mir nicht gelungen, die feindliche Flotte zu fin den.« Inzwischen hatte General Bonaparte den englandfreundlichen Bei von Ägypten besiegt und an das Direktorium sachlich berichtet: »Es gibt wenig Geld in diesem Land, nicht einmal genug, um die Ar mee zu bezahlen. Andererseits gibt es viel Korn, Reis, Gemüse und Vieh. Die Republik könnte sich keine bessere Kolonie wünschen, kei nesfalls eine, deren Boden fruchtbarer wäre.« Seine Stimmung war triumphierend: »Ich bin einen weiten Weg ge kommen. Aber wie verschieden ist die Gegenwart vom Altertum! Neh men wir Alexander als Beispiel. Nachdem er Asien erobert und sich selbst für den Sohn Jupiters ausgegeben hatte, glaubte es ihm die gan ze Welt, außer Aristoteles und einigen athenischen Professoren. Und jetzt? Wenn ich erklären würde, daß ich der Sohn Gottes bin, würde mir jeder Landstreicher ins Gesicht spucken. Die Leute sind heutzuta ge zu aufgeklärt …« Napoleon überquerte die Landenge von Suez, erstürmte Jaffa und focht seinen Weg durch die Syrische Wüste. Vor Akkon, das Sir Sid ney Smith verteidigen half, war er gezwungen, haltzumachen. Es ging doch nicht so, wie er es geplant hatte. Er verfluchte Smith: »Dieser Mann hindert mich an der Erfüllung meiner Bestimmung.« Die Vernichtung der französischen Flotte in der Bucht von Abukir, die Nelson nach seinen erst so vergeblichen Versuchen, die feindlichen Kriegsschiffe überhaupt zu finden, gelungen war, verursachte Napole on nicht solche Verzweiflung wie die Mauern der Festung, die er nicht erobern konnte. Er klagte: »Das Schicksal des Ostens hängt von die sem Winkel hier ab.« Es war eine aussichtslose Lage, nicht nur für sei ne von Krankheit und Hunger heimgesuchten Soldaten, sondern auch für ihn persönlich. Eine entscheidende Wendung der sich überstürzenden Ereignisse in Europa, von denen er während seines Feldzuges nichts erfahren hat te, half ihm aus der gefährlichen Klemme, die seiner ehrgeizigen Lauf bahn ein Ende zu setzen drohte. Rußland und Österreich hatten sich mit England zu einem Bündnis gegen die französische Republik verei nigt. Die Rheinarmee war von Erzherzog Karl vernichtend geschlagen 200
worden. Ein russisches Heer unter General Suwarow war auf Befehl Kaiser Pauls I. des Erben Katharinas II. in die Lombardische Tiefebe ne einmarschiert und hatte die Cisalpinische Republik aufgelöst. Die englische Flotte hatte Malta wiedergewonnen. Das Wort des Tages in London war: »Das Mittelmeer ist ein englischer Teich.« In dieser bedrängten Lage rief das Direktorium General Bonapar te nach Frankreich zurück. Die Mitteilung vom katastrophalen Um schwung in Europa war ihm durch Sir Sidney Smith schon zugekom men. Der englische Kommandant hatte die Kapitulation des französi schen Feldherrn erwartet. Aber Napoleon überließ seine erschöpften Truppen ihrem Schicksal unter dem Kommando des bewährten Ge nerals Kleber und wagte die Überfahrt. Er landete in Frejus in Süd frankreich und hastete weiter. Auf seinem Weg nach Paris mußte er sich vier Stunden in Lyon aufhalten und ein zu seinen Ehren improvi siertes Theaterstück anhören, das den Titel führte: »Die Rückkehr des Heros«. Die Begrüßung in Paris war überschäumend. Der Dichter Be ranger beschrieb die Stimmung: »Als die große Nachricht seiner uner warteten Rückkehr bekannt wurde, jubelten alle vor Freude. Das Volk glaubte, es sei gerettet. Wenn ein Mann einen solchen Eindruck auf ein Land machen kann, ist er der Herr dieses Landes.« In diesen schicksalsschweren Wochen begannen die österreichi schen und russischen Verbündeten miteinander zu streiten. Dem kai serlichen Kanzler Thugut war es angst und bange geworden, daß er die Russen gegen Frankreich zu Hilfe gerufen hatte. Jetzt waren sie vom äußersten Osten Europas gekommen und mengten sich so unver schämt in die innereuropäischen Angelegenheiten ein, als ob es ihre eigenen wären. Paul I. wollte wissen, warum der österreichische Be fehlshaber das von den Franzosen befreite Piemont nicht an den Kö nig von Sardinien zurückgebe und welche Erwerbungen Österreich in Italien zu machen wünsche. Wenn die Antwort auf diese Fragen nicht zufriedenstellend sei, würde Seine Majestät, der Kaiser aller Reußen, die diplomatischen Beziehungen zum Hof von Wien abbrechen und das Haus Österreich seinem Schicksal überlassen. Die Antwort aus Wien war keineswegs zufriedenstellend. Aber wäh 201
rend sich die Österreicher und Russen trotz der gelassenen Vermitt lung des englischen Staatsmannes William Pitt, des ebenbürtigen Soh nes seines bedeutenden Vaters, nicht einigten, gelang es General Bona parte durch einen Staatsstreich, Frankreich zu einigen. Er stürzte das Direktorium und erzwang durch den Aufmarsch seiner Grenadiere im ›Rat der Fünfhundert‹ eine Vertrauenskundgebung und die Änderung der Verfassung, die einem provisorischen Konsularkomitee unter sei ner Leitung übergeben wurde. Eines der Mitglieder des Komitees war der Abbe Sieyes, den seine unvergeßliche Antwort auf die Frage, wie er die Revolution überstanden habe, berühmt gemacht hatte: »Ich habe gelebt«, hatte er schlicht erwidert. Jetzt warnte er seine Amtsgenossen zur Vorsicht: »Meine Freunde, ihr habt einen Herrn über euch, Bona parte will alles, weiß alles und kann alles.« Der junge General, der den Titel ›Erster Konsul‹ annahm, sicherte sich tatsächlich alle Machtbefugnisse. Er beauftragte Sieyes, die Ver fassung zu entwerfen. Der vorausschauende Abbe nannte sie ›eine ver kleidete Monarchie‹, denn sie gab dem Ersten Konsul, der für zehn Jahre gewählt wurde, das Recht, Gesetze zu erlassen, Minister und Of fiziere, provinzielle Behörden und Richter zu ernennen. Er hatte in al len Fragen das letzte Wort. Er tat auch gleich so, als ob er in seinem hohen Amt das französi sche Volk verkörpere, und schrieb einen persönlichen Brief an den Kö nig von England. Er beschwor Georg III. am Weihnachtstag des Jah res 1799, Frieden zu schließen, damit die beiden aufgeklärtesten Völ ker der Erde die Wohltaten von Handel und Gewerbe genießen könn ten und das Glück der Familien nicht der Illusion eitler Größe opfer ten. Der Brief war kaum an den königlichen Adressaten gelangt, als Napoleon die Wende des Jahrhunderts in einem Gespräch mit seinem Freund, General Junot, feierte: »Ein neues Jahr, Junot. Was ich brau che, ist Zeit. Zeit ist das einzige, das ich mir nicht leisten kann. Machen wir erst Frieden und dann: einen neuen Krieg. Ein neuer Krieg gegen England eröffnet uns wundervolle Möglichkeiten …« Obwohl das englische Expeditionskorps unter dem Befehl des un entschlossenen Herzogs von York in den Niederlanden geschlagen 202
worden war und seine Hoffnung, Holland zu befreien, fürs erste aus sichtslos schien, lehnte Georg III. das Angebot Napoleons ab. Auch Österreich beharrte auf der Fortführung des Krieges. Die Außenpo litik des Ersten Konsuls, der den ehemaligen Bischof von Autun, den hochadligen ›Bürger‹ Talleyrand, zu seinem Außenminister gemacht hatte, war nicht erfolgreich. Auch nicht, als Napoleon den Tod George Washingtons zum Anlaß nahm, dem neuen Präsidenten der Vereinig ten Staaten, Thomas Jefferson, in einem persönlichen Brief sein tiefge fühltes Beileid auszudrücken, und die Gelegenheit wahrnahm, zu er klären, daß auch er nur für Freiheit und Gleichheit kämpfe. Die scheinheiligen Beteuerungen des von unersättlichem Machthun ger getriebenen Ersten Konsuls wurden nur von der Masse des Volkes geglaubt, dem er, wie seinen Soldaten durch die Tagesbefehle, durch die von ihm überwachte Presse nur solche Nachrichten und Mittei lungen zukommen ließ, die seiner Volkstümlichkeit und seinen Zie len nützten. Die Öffentlichkeit erfuhr weder von seinen Eifersuchts anfällen wegen der Untreue Josephines, die ihren berühmt geworde nen Gatten schon zu Beginn ihrer Ehe bei jeder Gelegenheit betrogen hatte, noch von den körperlichen Beschwerden des Gefeierten, die sei ne innere Unruhe vermehrten. Ein Blasenleiden machte ihn rastlos. Er litt an Verdauungsstörungen und einer Hautkrankheit, die ihn so be lästigte, daß er unaufhörlich Bäder nahm und sich mit Bürsten behan deln ließ. »Reib mich wie einen Esel!« befahl er seinem Kammerdiener, um den unerträglichen Juckreiz zu lindern. Einige Tage, nachdem der Erste Konsul Staatstrauer für George Was hington, den großen amerikanischen Republikaner, angeordnet hatte, ließ er veröffentlichen, daß er mit Cambaceres und Lebrun, den bei den anderen Konsuln, in die königlichen Tuilerien übersiedeln werde. Der vorsichtige Cambaceres verständigte sich mit Lebrun: »Es wäre ein großer Fehler, wenn wir in die Tuilerien einziehen würden. Gene ral Bonaparte wird sehr bald dort allein leben wollen, und dann wer den wir ausziehen müssen. Es ist besser, wir ziehen nicht ein.« Einige Stunden, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, klopfte der Erste Konsul seinem Sekretär Bourienne zufrieden auf die 203
Schulter: »Hier sind wir also in den Tuilerien! Und hier werden wir bleiben!«
IV Die unbeschränkte Ausübung der Macht zwang Napoleon, sich auch mit zivilen Verwaltungsfragen zu beschäftigen, nachdem er sich mit allen Aufgaben der Heeresverwaltung vertraut gemacht hatte und dar anging, die Pläne Carnots, des ›Organisators des Sieges‹, für seine weit reichenden Zwecke auszubauen. Als Feldherr hatte er schon die selte ne Fähigkeit bewiesen, sich nur tüchtiger Unterbefehlshaber zu bedie nen, und hatte die Erfahrung gemacht, daß unbefangenes klares Den ken allen Schwierigkeiten gewachsen sei. Er hatte zwei Ziele: erstens den Krieg so zu beenden, daß er keine der von ihm erfochtenen Er werbungen verlöre, und zweitens, daß die bürgerliche Gesellschafts ordnung, die nach der Revolution entstanden war, bis auf weiteres er halten bliebe. Um den Frieden herbeizuführen, mußte der Erste Konsul Krieg füh ren. Er sandte General Moreau mit hunderttausend Mann nach dem Norden und gewann selbst die umstrittene Schlacht von Marengo in Italien gegen eine starke österreichische Armee. Obwohl auch Moreau bei Hohenlinden siegte, benahm sich der Erste Konsul nicht wie ein Sieger. Da er den Frieden wollte, bat er Kaiser Franz darum und nützte gleichzeitig das Interesse, das Paul I. für die Malteserritter zeigte, dazu aus, dem Kaiser von Rußland die Oberhoheit über Malta anzubieten. Ein persönlicher Brief Pauls mit der Überschrift: »Bürger Erster Kon sul!« brachte Napoleon die erfreuliche Nachricht, daß der Kaiser aller Reußen gegen England verstimmt war, »gegen dieses Land, das sich zum Schutzherrn der Rechte aller Völker der Erde aufwirft, aber ledig lich von Gier und Eigennutz geleitet ist. Ich wünsche mich mit Ihnen zu verbünden, um all den unrechtmäßigen Handlungen Englands ein Ende zu setzen.« 204
Wenige Tage später klagte der gleichmütige Kaiser Franz seinem Kanzler: »Ich habe meine politischen Verbündeten einen nach dem an deren verloren und habe keinen Freund mehr, an den ich mich lehnen kann. England kann mir nicht helfen …« Er schloß mit Napoleon den Frieden von Luneville, in dem die demü tigenden Bestimmungen von Campo Formio bestätigt wurden. Und als Paul I. in seinem Bett ermordet wurde und sein Sohn Alexander, der geplant hatte, seinen Vater zu entthronen, Kaiser von Rußland wur de, hielt es auch England für richtig, die Feindseligkeiten einzustellen. Welchen Wert allerdings der in Amiens zwischen Frankreich und Eng land verhandelte Frieden haben sollte, ging aus einem Gespräch her vor, das der Herzog von York mit Lord Malmesbury während eines Spazierganges im Hydepark führte: »Gibt es Neuigkeiten?« fragte der Herzog. »Wir werden Frieden haben in einer Woche«, erwiderte Mal mesbury. »Und Krieg in einem Monat!«
V Der Entschluß Englands, die neunjährigen Feindseligkeiten ohne we sentlichen Nutzen einzustellen, war nur durch den Rücktritt William Pitts möglich gewesen, dessen Nachfolger Addington drängenden Handelsinteressen seiner Anhänger nachgegeben hatte, und der Hoff nung, daß der Erste Konsul alle Kräfte daransetzen werde, seine eigene Macht zu festigen, und einen neuen Krieg nicht wagen würde. Die Nachricht vom Friedensschluß von Amiens wurde in Paris mit Enthusiasmus gefeiert. Ein Dankfest sollte dem patriotischen General Bonaparte, der das ›u‹ seines Namens endgültig fallenließ, dargebracht werden. Eine Volksabstimmung sollte über zwei Fragen entscheiden: Soll Napoleon Bonaparte Konsul auf Lebenszeit sein? Soll er das Recht haben, seinen Nachfolger zu ernennen? Auf ausdrücklichen Wunsch Napoleons wurde nur die erste Frage beantwortet. Das Ergebnis der Volksabstimmung war, daß von den 205
3.577.259 abgegebenen Stimmen 3.568.885 seine Wahl zum Konsul auf Lebenszeit beantragten. Jetzt konnte er sich ungehindert der zivilen Verwaltung widmen. Seine wesentlichste Aufgabe war, wie er selbst sagte, ›den Krater der Revolution zu schließen‹. Der auf seine Veran lassung verfaßte ›Code civil‹, das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, das sich als ›Code Napoleon‹ erhalten hat, legte die Rechtsgleichheit al ler Franzosen fest. Damit war der ›égalité‹ Genüge getan. Der ›liberté‹ wurde Rechnung getragen durch die gesetzlich festgelegte Aufhebung von Privilegien, der ›fraternité‹ durch die Verbrüderung zum Wohle des Vaterlandes. In einem Vertrag zwischen Staat und Kirche anerkannte der Papst die Verweltlichung der kirchlichen Güter in Frankreich und stimmte der staatlichen Ernennung und Besoldung der Geistlichkeit zu, wäh rend der ›Konsul auf Lebenszeit‹ seinerseits anerkannte, daß der hei lige römisch-katholisch-apostolische Glaube das Bekenntnis der gro ßen Mehrheit des französischen Volkes sei. Tausende von Glocken läu teten die Versöhnung der französischen Republik mit der Kirche ein. Bei den Festlichkeiten, die auch in Schlössern und Palästen veranstal tet wurden, saßen an der Spitze der verschwenderisch bestellten Tafel zumeist neue Besitzer, aber auch viele ehemalige große Herren, die der von Napoleon erlassenen Einladung zur Rückkehr in die Heimat ge folgt waren. Diese Herzöge, Grafen und Barone führten ihre vornehmen Titel, so als ob die Revolution sie nicht abgeschafft hätte, und waren aus der ih nen überkommenen Gewohnheit der Jahrhunderte bereit, dem neuen Herrn zu huldigen, der sie so gnädig wieder in ihre Besitzungen ein gesetzt hatte. Manche von ihnen waren davon überzeugt, daß Napo leon den Wiederaufbau der Vergangenheit herbeizuführen begonnen habe, um die emigrierten Bourbonen auf den Thron Frankreichs zu rückzuführen. Als Nachfolger des während der Schreckensherrschaft verschwundenen Sohnes Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes, des als Ludwig XVII. im bourbonischen Stammbaum eingetragenen unglück lichen kleinen Jungen, sollte der Graf von Provence als Ludwig XVI II. König von Frankreich werden. In diesem Sinn verschworen sich die 206
ehemaligen Königstreuen um so entschlossener, als sie von England ermutigt wurden, das einen Angriff Napoleons fürchtete. Auf den französischen Werften wurde Tag und Nacht gearbeitet, um den Bau von Kriegsschiffen zu beschleunigen. Hundertfünfzigtausend Mann wurden in einem Lager in der Nähe von Boulogne zusammen gezogen. Eine andere französische Armee besetzte Hannover, das an gestammte Herrschaftsgebiet der Könige von England. Dennoch zö gerten die Minister Georgs III. die Kriegserklärung hinaus, aus Angst vor einer französischen Landung auf englischem Boden, gegen die noch keine Verteidigungsmaßnahmen getroffen worden waren.
VI Im Frieden von Luneville war die Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich besiegelt worden. Den betroffenen deutschen Fürsten wa ren Entschädigungen auf dem rechten Ufer zugesichert worden. Die Besitzungen, die zur Durchführung dieses Abkommens fehlten, muß ten geschaffen werden. Das geschah durch den ›Reichsdeputations hauptschluß‹ zu Regensburg und bedeutete eine Zerstörung der poli tischen und rechtlichen Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Zahlreiche deutsche Kleinstaaten wurden durch die Verweltlichung geistlicher Herrschaften aufgehoben. Nur wenige deut sche Reichsstädte und Reichsstände behielten ihre früher ›Reichsun mittelbarkeit‹ genannte Unabhängigkeit. Die Gebiete der Entmachte ten wurden zu Entschädigungen verwendet, deren Ausmaß den Scha den übertraf. Am meisten gewann das Königreich Preußen, an dessen Vergrößerung Napoleon gelegen war, um ein mitteleuropäisches Ge gengewicht zu Österreich herzustellen. Vier neugeschaffene Kurfür stentümer, Hessen-Kassel, Baden, Württemberg und Salzburg, sollten als lebensfähige Mittelstaaten im Einflußbereich Frankreichs ein ande res Bollwerk gegen Österreich sein und in ihrer Gesellschaftsordnung nach den Grundsätzen der Aufklärung durch die Einsetzung franzö 207
sischen Rechts Frankreich angeglichen werden. Diese Neuordnungen im Raume des deutschen Reiches, die schon vorher in verschiedenar tigen Fassungen von den bourbonischen Vorgängern Napoleons ge plant gewesen waren, kamen der künftigen deutschen Einheit zugu te. Aber Napoleon hatte nur seine unmittelbaren Pläne vor Augen. Die Zersplitterung der Herrschaftsgebiete, durch die er marschieren woll te, um das Habsburgerreich auseinanderzubrechen, mußte von seinem Standpunkt aus einheitlichen Verwaltungen weichen. Er sah nicht voraus, daß seine deutschen Vasallenstaaten sich gegen ihn oder sei ne Nachfolger untereinander und mit Preußen vereinigen würden, um zum gefährlichsten Gegner Frankreichs auf europäischem Boden zu werden. Die unmittelbare Zielsetzung verdunkelte auch den Blick Napole ons in der Behandlung überseeischer Angelegenheiten. Als die Verei nigten Staaten von Amerika eine Entschädigung für die Handelsschif fe verlangten, die von der französischen Flotte während des englisch französischen Krieges trotz der amerikanischen Neutralität beschlag nahmt worden waren, war Napoleon erfreut, »günstige« Verhandlun gen zu beginnen. Er war bereit, den Vereinigten Staaten zwanzig Mil lionen Livre zu geben, falls sie ihrerseits ihm sechzig Millionen für die französische Provinz Louisiana geben würden. Er erklärte seinem Außenminister, »Bürger« Talleyrand: »Ich werde diese Besitzung nicht behalten, die am Ende gar einen Streit zwischen mir und den Ameri kanern hervorrufen könnte. Im Gegenteil. Ich werde sie benützen, um die Amerikaner und die Engländer zu entzweien. Ich bin dazu ent schlossen, Louisiana den Vereinigten Staaten zu überlassen. Aber da sie keine Gebiete haben, die sie mir im Austausch geben könnten, wer de ich eine Geldsumme verlangen, die die Ausgaben für die außer ordentlichen Rüstungen decken wird, die ich gegen England betrei be …« Die sechzig Millionen im Staatsschatz Frankreichs waren ein Trop fen auf einen heißen Stein. Während Napoleon sich an der Neuen Welt so uninteressiert zeigte und sich der unausbleiblichen zukünftigen Entwicklung verschloß, bereitete er seine Erhöhung im Sinne der Ver 208
gangenheit vor: Er wollte nicht nur Kaiser, sondern auch Oberherr der Alten Welt werden. Als sich General Bonaparte in monarchischen Purpur einkleidete, begann die Wende seiner Laufbahn. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem der ›kleine Korporal‹ Kaiser der Franzosen wurde und eine Dynastie begründete, hatte er sich mit nachtwandlerischer Sicherheit von den Nachwirkungen der großen Revolution emportragen lassen. Er hat te mit geradezu hellseherischem Verstand alle Möglichkeiten aus genützt und seinen und Frankreichs Erfolg mit revolutionären Mit teln erkämpft. Da waren vor allem das von Carnot ins Leben gerufe ne Volksheer, das Napoleon durch die Anlage von Magazinen und die dadurch herbeigeführte Verringerung der mitgeführten Verpflegung und Munition beweglich gemacht hatte, und die Anwendung der aus geschwärmten Schützenlinie, die sich schon im amerikanischen Be freiungskrieg bewährt hatte. Im Kampf gegen die gedrillten, schwer fälligen Armeen der Feinde siegte er durch die Leichtigkeit seiner Truppenverschiebung auf dem Marsch und auf dem Schlachtfeld. Er konnte seine Soldaten an den entscheidenden Stellen in zahlenmäßi ger Überlegenheit einsetzen, auch wenn sein Gesamtheer geringer war als das seiner Gegner. Diese militärische Spannkraft und die auf der Geistesgegenwart des Feldherrn beruhende Schlagkraft seiner Trup pen halfen Napoleon auch bei seinen späteren Siegen. Aber was er von seinen Lehrern übernommen und selbst in der Aus übung seiner Tätigkeit erlernt hatte, das erlernten die gegen ihn kämp fenden Generäle aus den Erfahrungen ihrer Niederlagen. Auch sie be gannen, »modern« zu denken und zu handeln, während er mit einem Male bemüht war, sich althergebrachtes Denken und Handeln zu ei gen zu machen. Für ihn stand die Zeit eine Weile still, als er Kaiser sein wollte – mit allem, was dazu gehörte. Dieses Ziel beschäftigte seine Gedanken völlig. Um bourbonische Wiederherstellungsversuche im Keim zu ersticken, ließ er einen kö niglichen Prinzen kurzerhand erschießen. Die Hinrichtung des jun gen Herzogs d'Enghien sollte einen doppelten Zweck erfüllen: Napole on wollte alle Verbindungen mit der alten Monarchie abschneiden und 209
gleichzeitig seinen ehemaligen politischen Kampfgenossen, den fran zösischen Jakobinern, dartun, daß er die verhaßten Bourbonen unter keinen Umständen nach Frankreich zurückführen werde. Er lud Haß auf sich und das Mißtrauen der eingefleischten Revolutionäre, die sei ne wahre Absicht erkannten und für immer verstimmt waren. Die Feindseligkeiten gegen England hatten wieder begonnen. Es war noch zu keinen entscheidenden Kampfhandlungen gekommen. Das Lager in Boulogne wuchs, Schiffe stachen in See. Aber viel wichtiger als der Krieg, den er auf englischem Boden austragen wollte, wenn die Zeit für die Landung reif war, erschien Napoleon fürs erste die Ver nichtung aller Verschwörer gegen seine Macht und seine eigene Erhe bung auf den Kaiserthron. Wie sehr er mit den eingewurzelten Vorurteilen der Menge rech nete und sie für sich ausnützen wollte, ging aus einem Gespräch her vor, das er zu dieser Zeit mit Madame de Remusat, einer Freundin sei ner Frau Josephine, führte: »In Paris, und Paris ist Frankreich, inter essieren sich die Menschen nur für Dinge, die an Personen gebunden sind. Das haben die Gewohnheiten der alten Monarchie die Leute ge lehrt …« In der neuen Monarchie Kaiser Napoleons I. gab es einen Hofstaat wie unter der Herrschaft der Bourbonen. Alle Mitglieder der Familie Bonaparte wurden kaiserliche Prinzen oder Prinzessinnen. Seine Ge neräle wurden Marschälle und Träger neugeschaffener Titel. Die Stim men des Volkswillens, der ihn zum kaiserlichen Rang erhob, schie nen seiner Auffassung recht zu geben. Es gab 3.574.898 Wähler. Davon stimmten 3.572.329 Wähler für seine Erhebung zum Kaiser. War das nicht ein Sieg der Person? Eine dokumentarisch festgehaltene Anspra che eines Bürgermeisters an seinen Sekretär aber erklärte dieses er staunliche Wahlergebnis, auf das sich Napoleon so viel zugute tat, an ders: »Hör zu, mein Lieber. Ob wir mit ›ja‹ oder ›nein‹ wählen, ist ganz gleichgültig für Napoleon. Er wird Kaiser in jedem Fall. Es ist nicht ratsam für uns, seinen Haß gegen uns, unsere Stadt und unser De partement zu erwecken. Wir müssen mit ›ja‹ stimmen. Warum sollen wir unseren armen Bauern und Arbeitern Schwierigkeiten machen? 210
Du hast die Liste der Haushalte. Wir wählen für sie. Schreibe getrost ›ja‹ in die Spalte neben jeden Namen.« Ein anderer spöttischer Wähler schrieb neben sein ›Ja‹: »Ich fürchte, du fürchtest, er fürchtet …«
Madame de Remusat, nun die Freundin der von Papst Pius VII. in der Kirche Notre-Dame von Paris zur Kaiserin gesalbten Josephine Beau harnais, schrieb in ihr Tagebuch die folgenden Bemerkungen über den neuen Kaiser der Franzosen, der auch zum König von Italien gekrönt worden war: »Er hat weder Erziehung noch Bildung. Er weiß nicht, wie man in einen Raum hereinkommt, und auch nicht, wie man ihn ver läßt. Er weiß nicht, wie man eine Person begrüßt oder wie man auf steht oder sich niedersetzt. Seine Bewegungen sind fahrig, so wie seine Art zu sprechen … Er weiß nicht, wie man sich kleidet. Sein Kammer diener zieht ihn an, als wäre er ein Kind. Wenn er sich bei Nacht selbst auszieht, reißt er sich die Kleider vom Leib, wirft sie auf den Boden, als ob sie eine ungewohnte, peinliche Last wären.« Mit Hinblick auf seine Magerkeit hatten die zeitgenössischen engli schen Humoristen den General Bonaparte ›Boney‹ genannt, den ›Kno chigen‹. Jetzt, da er als Kaiser Fett anzusetzen begann, nannten sie ihn ›Fleshy‹, den ›Fleischigen‹. In ihren Witzblättern stand unter seiner Ka rikatur: »Dieser kleine Frosch versucht so groß zu sein wie ein Stier. Er schwillt an und schwillt an. Wird er nicht schließlich zerplatzen?«
VII Es sah nicht danach aus, als ob die Prophezeiung der englischen Hu moristen Wirklichkeit werden sollte. Daß England, Rußland, Öster reich und Schweden ein Bündnis zur Wiederherstellung des europä ischen Gleichgewichts gegen Napoleon geschlossen hatten, schien sei 211
nen Wünschen nur entgegenzukommen. Er verschob den Plan der Landung in England und warf seine Heere nach dem Osten. Es wur de ein Siegeszug. Die Besatzung Ulms mußte kapitulieren. Das fran zösische Heer unter dem Kommando Murats, des Schwagers Napo leons, besetzte Wien. Der Triumph des Kaisers der Franzosen schien vollkommen zu sein, aber er nahm das entscheidende Geschehen des Krieges nur mit einem wütenden Achselzucken entgegen. Er schrie: »Ich kann nicht überall sein!«, als er die Nachricht erhielt, daß Nel son die französische Flotte, der sich spanische Kriegsschiffe hatten an schließen müssen, bei Kap Trafalgar vernichtet hatte. Eine Seeschlacht war verloren. Das war wohl ärgerlich. Aber Napoleon hatte seine gan ze Aufmerksamkeit auf den Landkrieg zu richten. Kaiser Alexander I. und Kaiser Franz II. führten gewaltige Heere gegen ihn. Wenn er sie geschlagen haben würde, dann würde er mit England abrechnen! Die Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz brachte Napoleon einen glän zenden Sieg, der vor allem seiner kaltblütigen Überlegenheit als Feld herr zuzuschreiben war. Er ging ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen ein. Der Ort der Vertragsunterzeichnung war das kaiserli che Schönbrunn bei Wien, in dem der Kaiser der Franzosen dem Kö nigreich Preußen das schon vom Vater Friedrichs des Großen erstreb te Kurfürstentum Hannover zusprach – gegen Gebietsabtretungen, die Preußen zugestehen mußte. Am Weihnachtstag, fünf Jahre nachdem er Georg III. vergeblich um Frieden gebeten hatte, schloß Napoleon den Frieden von Preßburg mit Kaiser Franz, dem er Venetien zur Abrundung des Königreichs Italien abnahm. Seine eigenen Bundesgenossen, die Kurfürsten von Bayern und Württemberg, erhob er zu Königen. Der neue König von Bayern mußte zwar Salzburg an Österreich abgeben, erhielt aber das habsbur gische Tirol und andere österreichische Gebiete sowie die Freie Stadt Augsburg. Napoleon erhob Fürsten mit einem Machtwort zu Königen, und ein eiliger Ausspruch von ihm genügte, einen König seines Landes zu ent setzen. »Die Monarchie von Neapel hat aufgehört zu regieren«, ver fügte er, machte seinen Bruder Joseph zum König von Neapel und be 212
förderte seinen Bruder Louis, den er mit seiner Stieftochter Horten se Beauharnais verheiratete, zum König von Holland. Sein Schwager Joachim Murat wurde Großherzog von Berg, das mit einem Strich auf der Landkarte von Bayern abgetrennt wurde. Unter der Führung des Königs von Bayern und des Fürstprimas Dal berg, der später zum Großherzog von Frankfurt gemacht wurde, ent stand unter der Schutzherrschaft Napoleons der Rheinbund sechszehn süddeutscher Fürsten, die aus dem deutschen Reichsverband austra ten. Und damit nur kein Zweifel über die Rechtmäßigkeit ihrer Hand lung bestehe, richtete Napoleon an Kaiser Franz II. der sich vorsichts halber schon Kaiser Franz I. von Österreich nannte, die Aufforderung, die römisch-deutsche Kaiserwürde niederzulegen. Das war das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das so lange schon nur noch dem Scheine nach bestanden hatte. »Je der für sich«, wurde die Parole der deutschen Fürsten, die sich ihren Thron erhalten hatten. Nicht alle waren für Napoleon. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der sich durch ein Bündnis mit Alexan der von Rußland gestärkt hatte, nahm es auf sich, den Abzug der fran zösischen Truppen aus Ansbach und Bayreuth zu fordern, die er in Schönbrunn gegen Hannover abgetreten hatte, das ihm nicht kampf los zufallen konnte. Es war kein glückbringender Machtzuwachs ge worden. Hannover war schließlich englischer Besitz, und England be schlagnahmte alle preußischen Schiffe als Gegenmaßnahme. Diesen Streit zwischen den Königen von England und von Preußen versuch te Talleyrand für den Kaiser der Franzosen auszunützen. Er ließ seine Mittelsmänner in London wissen: »Napoleon bietet England Hanno ver für die Ehre der englischen Krone an, Malta für die Ehre der engli schen Marine und das Kap der Guten Hoffnung für die Ehre des eng lischen Handels.« Es kam nicht zum Frieden mit England. Die Verhandlungen der Mittelsmänner Talleyrand versagten. Aber Napoleon marschierte. Sein Marschall Davout schlug die Preußen bei Auerstädt. Er selbst be siegte sie bei Jena und zog in Berlin ein. In einem Gespräch mit dem Abbe Sieyes, der ihn auf dem Feldzug begleitete, sagte er: »Ich habe 213
kein Preußen gefunden. Was ist das für ein Volk, was für ein Land, was für eine Regierung! Die Österreicher sind anders. Sie haben zwar kei ne Energie, aber doch Ehrgefühl. Die Preußen haben weder Ehrgefühl noch Seele. Sie sind nichts als Canaille.« In Berlin verfügte Napoleon die Kontinentalsperre gegen England: In allen Häfen Europas sollte die Einfuhr englischer Waren verboten sein! Diese Maßnahme verursachte der Wirtschaft Englands vorübergehend empfindlichen Schaden, aber trotz der gefährlichen Sperre nahm der Handel seinen Fortgang. Die Kaufleute fanden Mittel und Wege, eng lische Waren zu beziehen und europäische Waren nach England zu lie fern. Die übermächtige englische Flotte beherrschte die Meere und be schützte die Häfen, die als Umschlagplatz benützt wurden. Diese Durchlöcherung der Kontinentalsperre berührte Napoleon kaum. Sein Blick war nach dem Osten gerichtet. Er wollte die preußi sche Armee ein für alle Male vernichten und Alexander I. von Rußland schlagen. Nach der Schlacht von Preußisch-Eylau flohen König Fried rich Wilhelm III. und Königin Luise nach Memel. Nach der Schlacht von Friedland gegen die Russen besetzten die Franzosen Königsberg. In Posen hatte sich Napoleon mit dem Kurfürsten Friedrich August von Sachsen verbündet und ihn zum König erhoben. Der Rheinbund hatte einen neuen Partner bekommen. Und jetzt konnte Napoleon Frieden schließen mit Alexander I., da England sich geweigert hatte, Rußland eine Anleihe zur Fortführung des Krieges zu geben, und auch Frieden mit Preußen. In Tilsit traf Napoleon mit Königin Luise zusammen. Er schrieb der Kaiserin Josephine: »Die Königin von Preußen ist wirklich eine bezau bernde Person. Sie kokettiert mit mir, aber werde nicht eifersüchtig! Ich bin wie Wachsleinwand, alles gleitet an mir ab. Es wäre für mich zu teuer, den Kavalier zu spielen.« Napoleon war tatsächlich kein Ka valier im Friedensschluß mit Preußen. Das besiegte Königreich mußte seine Besitzungen westlich der Elbe und die in der Teilung Polens ge wonnenen Gebiete abtreten. Danzig wurde Freie Stadt. Wer gegen Na poleon war, wurde bestraft, wer für ihn war, belohnt. Er schuf das Kö nigreich Westfalen und machte seinen jüngsten Bruder Jerome zum 214
König. Er warb um die Freundschaft des Kaisers von Rußland, den sei ne Großmutter Katharina II. vom französischen Philosophen Laharpe im Sinne der Aufklärung hatte erziehen lassen. Alexander I. erklärte begeistert: »Endlich sind wir einander begegnet, Kaiser Napoleon und ich. Wie wertvoll waren die Tage, die ich mit ihm verbracht habe! Wa rum habe ich ihn nicht früher getroffen? Niemals werde ich die weisen Ratschläge und guten Vorschläge vergessen, die er mir gegeben hat. Jetzt sind wir Freunde, und wir werden für immer Freunde bleiben … Wenn England nicht Frieden schließt, dann wissen wir, wie wir Eng land dazu zwingen können.« Alle Kräfte, die Napoleon aufbieten konnte, waren gegen England gerichtet. Ein französisches Heer unter Marschall Junot besetzte Por tugal. Die königliche Familie floh unter englischem Schutz rechtzei tig nach Brasilien, während Napoleon verkündete: »Das Haus Bragan za hat aufgehört zu existieren.« Ein anderes französisches Heer rückte in Spanien ein. Der König und sein Sohn wurden zur Abdankung ge zwungen, Napoleons Bruder Joseph wurde zum König von Spanien er hoben und Murat an seiner Stelle König von Neapel. Auch Dänemark schloß sich an Frankreich und Rußland an, als die englische Flotte un ter dem Befehl Lord Cathcarts Kopenhagen bombardierte und die dä nischen Kriegsschiffe in englische Häfen zwang, um die von ihnen be absichtigte Schließung der Ostsee zu verhindern. Lord Cathcart, der nur durch das abschreckende Bombardement von Kopenhagen in das Licht der Geschichte trat, wurde Napoleons gefährlichster und erfolg reichster Feind.
VIII Angesichts der einmaligen Übermacht Napoleons I., der nicht nur über das vom Erfolg berauschte französische Volk verfügte, sondern auch über die Untertanen der Königreiche, die von ihm abhingen, schien der Widerstand und die Kampfbereitschaft von einzelnen gegen den 215
Kaiser der Franzosen aussichtslos zu sein. Um so bedeutsamer und be merkenswerter war die Zivilcourage der fürs erste untergründig gegen ihn tätigen Männer, vor allem des Freiherrn vom Stein, den der König von Preußen nach dem Tilsiter Frieden, eigentlich gegen seinen Wil len, zu seinem leitenden Minister machte – widersinnigerweise auf den Rat Napoleons: »Nehmen Sie doch diesen Baron vom Stein. Er ist ein geistreicher Mann.« Napoleon wußte von der vorherigen Unzufriedenheit Friedrich Wil helms III. mit Stein, der eine eigene Prägung der Aufklärung vertrat. Der vom Zeitgeist erfüllte Staatsmann wollte die absolute Königsge walt, die das Volk von aller Teilnahme am Staat ferngehalten hatte, im Sinne einer auf preußische Verhältnisse umgewerteten englischen Ver fassung beschränken. Das Volk müsse vor allem durch den Genuß der persönlichen Freiheit und durch Rechtsgleichheit an den Staat gebun den werden. Erst dann könne es zu selbständiger verantwortlicher po litischer Arbeit aufgerufen werden und dem Vaterlande dienen! Stein plante ›die Revolution von oben‹. Das von ihm am 9. Oktober 1807 er lassene Edikt sollte ›der Vorsorge für den gesunkenen Wohlstand un serer getreuen Untertanen‹ dienen und ›dessen baldigste Wiederher stellung und möglichste Erhöhung‹ zur Folge haben. Es verfügte die Freiheit im Besitz des Grundeigentums und in der Ausübung des Ge werbes, die Aufhebung aller Gutsuntertänigkeit oder Leibeigenschaft. Der Widerstand der Privilegierten, die ihre bevorzugte Stellung durch die Reformen des Freiherrn vom Stein bedroht sahen, führte zu seiner Entlassung. Aber das ›Politische Testament‹, das er hinter ließ, behielt Geltung und wirkte sich unter seinem Nachfolger Harden berg aus. Die geistlichen Güter wurden verweltlicht, die Gewerbefrei heit verkündigt und auch die Juden, die bis zu diesem Zeitpunkt in ih ren Rechten beschränkt gewesen waren, für vollberechtigte Staatsbür ger erklärt. Noch vor dem öffentlichen Auftreten des Freiherrn vom Stein hat ten im zerschlagenen deutschen Reich geistige Strömungen durch die Macht des Wortes gewirkt – wenn das Wort auch nicht als unmittelba re Waffe benützt worden war wie von Napoleon. Die großen deutschen 216
Dichter und Denker, wie Goethe, Schiller, Lessing, Kant und Hum boldt, hatten sich in ihren Werken und Lehren zum Weltbürgertum des Neu-Humanismus bekannt und die idealistische Philosophie ge predigt, die erst von der gebildeten Bevölkerung und dann von immer größeren Teilen des Volkes aufgenommen wurde. Die Grundsätze der Aufklärung, die gegen die unumschränkte Herrschergewalt mit geisti gen Mitteln gekämpft hatte, ermutigten friedfertige Bürger zum bluti gen Kampf gegen die Feinde der Menschenrechte – die Schrecken der Französischen Revolution wurden um der errungenen menschlichen Werte willen vergessen. Das Ineinandergreifen der Lehre von der Volkssouveränität und den nationalen Gedanken, die Frankreich unter Napoleon großgemacht hatten, führten durch die Verbreitung seiner berühmt gewordenen Er klärungen und Ereignisse auch im deutschen Sprachgebiet zu einer na tionalen Bewegung, die sich darauf vorbereitete, das Vaterland vom Unterdrücker zu befreien: Napoleon, der seine Laufbahn als Verkün der von ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ begonnen hatte, galt im mer weiteren deutschsprachigen Kreisen als der Tyrann, der beseitigt werden müsse. Auch in Spanien wurde die Herrschaft seines Bruders Joseph be kämpft. Das Volk, das die Priester gegen die französische Oberherr schaft aufrührten, weil ›Fremde und Aufklärer‹ sie ausübten, erhob sich. An allen Ecken und Enden der Iberischen Halbinsel überfielen Guerillabanden die französischen Besatzungen. Es kam zu offenen Kämpfen, die zwar zu persönlichen Siegen Napoleons, aber zu Nieder lagen seiner Marschälle führten. Kaum beachtet von der von der kaiserlich französischen Zensur überwachten europäischen Presse, fand die Landung englischer Trup pen in Spanien unter dem Befehl Sir Arthur Wellesleys statt: England hatte den Krieg gegen Napoleon, den es bis dahin nur zur See betrie ben hatte, nun auch auf dem Festland begonnen. Auch noch auf einem anderen Gebiet kämpfte das nach dem Tode William Pitts neu einge setzte englische Ministerium, das bezeichnenderweise das ›Ministeri um aller Talente‹ genannt wurde. Lord Cathcart, dessen guter Name 217
durch seine hemmungslose Beschießung Kopenhagens zu Schaden ge kommen war, hatte ein verantwortungsvolles Amt übernommen, das nur im geheimen ausgeübt wurde: die Leitung der politischen Sendbo ten Englands und die Verteilung von Bestechungsgeldern, die politi sche Wendungen europäischer Staatsmänner herbeiführen sollten. Nicht alle Bestätigungen, durch die hervorragende Persönlichkei ten des Napoleonischen Zeitalters den Empfang gewaltiger Beträge be scheinigten, wurden in Archiven bewahrt; auch nicht alle Namen der Vermittler dieser Sendungen, die den politischen Richtungswechsel der hochgestellten Empfänger herbeiführten. In manchen Fällen sag te nur der sonst unerklärliche Reichtum von Fürsten und Würdenträ gern über Grund und Anlaß ihres Abfalls von Napoleon aus. Der be rühmte Berater von Franz II. Graf Metternich, der später in den Für stenstand erhoben wurde, führte mit Talleyrand, dem zum Fürsten von Benevent erhobenen Außenminister des Kaisers der Franzosen, vertrauliche Zwiegespräche, deren Inhalt durch den Abgesandten Lord Cathcarts kurz darauf in London bekannt wurde. Auf dem ›Fürsten tag von Erfurt‹, zu dem Napoleon den Kaiser von Rußland, vier Köni ge und vierunddreißig souveräne Herrscher einlud und auf dem er den König von Bayern vor seinen hohen Standesgenossen anfuhr: »Halten Sie den Mund, Bayern!«, flüsterte Talleyrand Metternich zu: »Napole ons Sache ist nicht mehr die Frankreichs. Europa kann noch im letz ten Augenblick durch ein enges Bündnis Österreichs mit Rußland ge rettet werden.« Einige Monate später schrie der Kaiser der Franzosen, nachdem er von Umtrieben gegen seine Macht in Kenntnis gesetzt worden war, sei nen Polizeiminister Fouche im Kronrat an: »Wenn eine Revolution ge gen mich ausbrechen sollte, würden Sie, welche Rolle immer Sie dabei auch gespielt haben mögen, der erste sein, der zerschmettert wird!« Nachdem Napoleon den Saal verlassen hatte, machte Talleyrand vor allen Anwesenden die ironische Bemerkung: »Wie schade, daß ein so großer Mann ein so schlechtes Benehmen hat.«
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IX Noch bevor Metternich in den Dienst des österreichischen Kaisers ge treten war, hatte er als Student der Straßburger Universität eine bemer kenswerte Denkschrift über die Notwendigkeit der Schaffung von kai serlichen und königlichen Volksheeren gegen das Volksheer der Fran zösischen Revolution verfaßt. Aber weder diese ernste Arbeit noch sei ne Bewährung im diplomatischen Dienst verursachten seinen Auf stieg, der ihn schließlich zum Sinnbild der gegenrevolutionären Kräf te machen sollte. Die männliche Schönheit Metternichs beeindruck te die Fürstin Pauline Borghese, die Schwester Napoleons, so sehr, daß sie sich mit dem damaligen kaiserlich österreichischen Gesandten am Hof ihres Bruders im geheimen traf. Der Polizeiminister Fouche, den Napoleon zum Herzog von Otranto erhob, wußte von diesem Rendez vous der Fürstin mit Metternich. Aber er verriet seinem Herrn nichts davon. Er äußerte sich erst viel später darüber – als Flüchtling in Öster reich. Durch die reizvolle Pauline, die sich nackt modellieren ließ, und durch seine anderen Pariser Freunde und Freundinnen wurde Met ternich über die Pläne Napoleons auf dem laufenden gehalten. Seine Kenntnis der Verhältnisse und engen Beziehungen zum französischen Kaiserhof verhalfen ihm zu Einfluß und Macht, die er gegen Napole on einsetzte. In der Annahme, daß die Hände des Kaisers der Franzosen durch die Kämpfe in Spanien gebunden seien, unternahm es Österreich nach einer Heeresreform, sich gegen ihn zu erheben. Kaiser Franz erließ ei nen Aufruf an das deutsche Volk. Aber obwohl Scharnhorst bereits die preußische Widerstandsbewegung gegen Frankreich auszurüsten be gonnen hatte, hielt der König von Preußen den Augenblick noch nicht für gekommen. Auch England war noch nicht bereit zum Endkampf. 219
Im Laufe weniger Wochen schlugen Napoleon und seine Marschäl le den österreichischen Widerstand nieder. Der Tiroler Aufstand un ter Andreas Hofer gegen das mit Frankreich verbündete Bayern endete mit der Erschießung des Freiheitshelden. Es gab nur einen Rückschlag im Siegeszug Napoleons. Erzherzog Karl errang in der Schlacht von Aspern einen vorübergehenden Vorteil, aber die Schlacht von Wagram beendete den Feldzug. Napoleon zog nach einer Beschießung Wiens in die Stadt ein und diktierte, wieder in Schönbrunn, den ›Frieden von Wien‹. Dieses Zwischenspiel der Geschichte zeitigte, abgesehen von Grenz verschiebungen zuungunsten des besiegten Österreich, bedeutsame Ereignisse: Kaiser Alexander I. von Rußland hatte die Gelegenheit ausgenützt, in Finnland einzumarschieren. Gustav IV. Adolf von Schweden wur de abgesetzt. Sein Onkel, der als Karl XIII. zum König ausgerufen wurde, nahm den französischen Marschall Bernadotte an Sohnes Statt an und bestimmte ihn zu seinem Nachfolger. Napoleon hielt um die Hand Marie Luises, der Tochter Kaiser Franz I. von Österreich, an, um seine Krone durch die Heirat mit einer legitimen Prinzessin zu vergolden. Daß er mit Josephine Beauharnais verheiratet war und der Papst sie gekrönt hatte, tat nichts zur Sache. Der Heilige Vater hat te die Kontinentalsperre nicht für den Kirchenstaat gelten lassen. Na poleon machte kurzen Prozeß. Er ließ Papst Pius VII. nach Savona bei Genua führen und vereinigte den Kirchenstaat mit Frankreich. Auch Holland, dessen König, sein Bruder Louis, abgedankt hatte, wurde in die Grenzen Frankreichs einbezogen, und Hamburg, das gleichzei tig mit den anderen Hansestädten, Oldenburg und Ostfriesland dem französischen Kaiserreich einverleibt worden war, wurde Hauptsitz eines neuen Herrschaftsbereichs. Die Scheidung Napoleons von Jose phine war rasch vollzogen. Seine Hochzeit mit der Erzherzogin Ma rie Luise konnte stattfinden. Als sein Stellvertreter stand Marschall Berthier mit der kaiserlichen Prinzessin vor dem Traualtar in Wien. Vierzehn Tage später erwartete Napoleon seine Braut im Schloß von Compiegne, in dem sie die Nacht verbringen sollte. Erst stieg er in 220
ihre Reisekutsche und begutachtete sie. Dann fragte er seinen On kel Josef Fesche, einen korsischen Priester, den er hatte zum Kardi nal erheben lassen: »Hat die Hochzeit in Wien Marie Luise zu mei ner Frau gemacht?« Der Kardinal erwiderte: »Ja, Sire, nach bürgerli chem Recht.« – »Gut«, gab Napoleon zurück und befahl, daß ihm das Frühstück in dem Zimmer serviert werde, in dem er mit seiner Braut übernachten würde.
Napoleon war auf dem Gipfel seiner Macht angelangt. Er hatte zuge stimmt, daß Bernadotte Kronprinz von Schweden geworden war. Er freut rief er aus: »Ein Marschall von Frankreich, der König wird, eine Frau, die mir gefallen hat, Königin, und mein Patenkind königlicher Prinz!« Er war von seinem eigenen Ruhm überwältigt und wollte nichts davon hören, daß die von ihm gegen England verhängte Kontinen talsperre sich gegen ihn selbst auswirkte. Da Kaffee und Zucker ih ren Preis verdoppelt hatten, lud er Chemiker ein, künstlichen Ersatz herzustellen, damit die Welt von der Tyrannei des englischen Han dels befreit werde. Auch die Exkommunikation des Papstes berühr te ihn kaum. Die erklärte Hauptstadt des Christentums war Rom. Er gab dem Sohn, den ihm Marie Luise gebar, bei seiner Geburt den Titel ›König von Rom‹. In einer Thronrede gab er seiner Befriedigung über die Lage Ausdruck. Er erklärte: »Ich werde Europa und Asien von Eng land befreien.« Da es Napoleon unmöglich war, England zur See zu besiegen, und er eine Landung auf englischem Boden nicht wagen wollte, kehrte er zu seinem alten Plan zurück, England durch die Vernichtung seiner Ko lonialmacht zu Fall zu bringen. Aber der Weg nach Ägypten und In dien war nur möglich mit Hilfe oder durch die Besiegung Rußlands. Er bekannte seinem Vertrauten Narbonne: »Ich will einen ehrenhaften Krieg gegen Alexander führen, mit zweitausend Kanonen und fünf hunderttausend Soldaten. Ich werde ihm Moskau wegnehmen.« Er 221
zwang den Kaiser von Österreich und den König von Preußen, ihm Hilfstruppen zur Verfügung zu stellen. Er war zum Angriff bereit. Die Beziehungen zu Rußland waren gespannt, seit Alexander die Einfuhr englischer Kolonialwaren erleichtert und Napoleon sich bitter beklagt hatte. Sein Brief an den Kaiser von Rußland endete mit den Worten: »Unser Bündnis existiert nicht mehr.« Alexander I. war nicht für den Krieg, obwohl die Beschlagnahme von Oldenburg, dessen Herzog seine Schwester geheiratet hatte, sowohl die getroffene Vereinbarung als auch seine Ehre und seine Gefühle ver letzte. Er war nicht für offene Feindseligkeiten gegen einen Herrscher, der vierhundertsiebzigtausend Mann gegen ihn ins Feld führen konnte und seinen erzwungenen Verbündeten ungeheure Mengen von Waffen und Ausrüstungsmaterial abgefordert hatte. Aber die Menschenlawi ne der ›Großen Armee‹ setzte sich in Bewegung. Sie nahm Wilna und Smolensk. Die von Napoleon zum Bündnis gezwungenen Preußen un ter General von York besetzten Kurland. Die Österreicher drangen auf russischen Boden ein. Die russischen Armeen waren zum Rückzug ge zwungen. Alexander erließ einen Aufruf an seine Truppen: »Krieger, ihr verteidigt eure Religion, euer Land und eure Freiheit. Ich bin mit euch, und Gott ist gegen den Angreifer!« Einige Wochen vor der Schlacht von Borodino und vor der Beset zung Moskaus durch Napoleon entsandte Lord Castlereagh, der eng lische Premierminister, den bewährten Lord Cathcart als Botschafter nach Rußland. Er hatte den Auftrag, auf dem Weg beim Kronprinzen von Schweden, dem ehemaligen französischen Marschall Bernadotte, haltzumachen, und konnte nach London berichten, daß Seine könig liche Hoheit das großzügige Angebot von fünfhunderttausend Pfund für seine Person und weitere fünfhunderttausend Pfund zur Ausrü stung der schwedischen Armee gegen Napoleon angenommen habe. Auf den Rat Cathcarts wurde Marschall Kutusow von Alexander I. mit dem Oberbefehl über die russische Armee betraut. Kutusow nahm dreihunderttausend Bürger und fünfundsechzigtausend Fahrzeuge aus Moskau mit sich, so daß Napoleon in eine vollkommen verlasse ne Stadt einzog. Im Kreml erklärte der Kaiser der Franzosen selbstbe 222
wußt: »Wenn die großen Adligen Rußlands erfahren werden, daß wir die Herren ihrer Hauptstadt sind, dann werden sie es sich gut überle gen, weiterzukämpfen. Es würde sie zugrunde richten, wenn ich ihre Leibeigenen befreien würde. Die Einnahme Moskaus wird auch Alex ander die Augen öffnen.« Am 20. September 1812 begann die russische Hauptstadt zu bren nen. Erst waren es nur scheinbar belanglose Feuer, die da und dort ausbrachen. Aber plötzlich stand die ganze Stadt in Flammen. Bald la gerte die ›Große Armee‹ inmitten von rauchender Asche. Alexander I. schloß nicht den Frieden, den Napoleon erwartet hatte. Er erklär te dem Adjutanten General Kutusows: »Ich werde meinen Bart wach sen lassen und Kartoffeln mit dem letzten meiner Bauern essen, ehe ich meinen Namen zur Erniedrigung meines Vaterlandes und meines Volkes hergebe. Es gibt nur eine Wahl: Napoleon oder ich. Ich oder er. Wir beide können nicht länger gleichzeitig herrschen. Jetzt kenne ich ihn. Er wird mich nicht länger irreführen.« Der Adjutant erwiderte: »Sire, in diesem Augenblick haben Eure Ma jestät den Ruhm der russischen Nation und die Rettung Europas be schlossen.«
X Trotz der Ratschläge seiner Generäle harrte Napoleon in Moskau aus. Er konnte oder wollte es nicht wahrhaben, daß der nahende Winter seine Pläne verändern könnte. »Sehen Sie nicht, wie wunderbares Wet ter wir haben?« erklärte er General Rapp. »Und das am 19. Oktober. Vertrauen Sie nicht mehr meinem Stern?« Wenige Tage später begann Napoleon selbst seinem sprichwörtli chen Glück zu mißtrauen. Er befahl den Rückzug der ›Großen Armee‹. Aber nicht nur die unaufhörlichen Angriffe der Kosaken in der eisigen Landschaft, auch Schneestürme und Mangel an Lebensmitteln ver wandelten den geordneten Marsch in eine haltlose Flucht. Die fran 223
zösischen Marschälle wurden von russischen Generälen geschlagen. Der Großteil des gewaltigen Heeres fiel dem Versuch, die vereiste Bere sina zu überqueren, zum Opfer. Kaum zehntausend Mann entkamen unter der Führung ihres Kaisers nach dem Westen. Das einzige, das dem kläglichen Rest der ›grande armée‹ noch Mut geben sollte, war die Wiederholung des Tagesbefehls: »Die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers war niemals besser.« In einem Schlitten, nur begleitet von General Coulaincourt, traf Na poleon kurz vor Weihnachten in Paris ein. Er war besiegt worden. Nicht von den Russen, wie er verlautbaren ließ, sondern vom Winter. Aber er gab sich nicht geschlagen. Wenn er alle Truppen, die ihm noch zur Verfügung standen, ausrüsten konnte, fühlte er sich noch immer stark genug, den Erdkreis zu unterwerfen. Er marschierte wieder nach dem Osten und schlug in den Schlach ten bei Lützen und Bautzen die jetzt miteinander verbündeten Russen und Preußen. Hatte sich das Glück wieder gewendet? Erst schien es so. Aber auf spanischem Boden besiegten die Engländer die französi sche Armee unter König Joseph, und die gekrönten Häupter Europas vereinigten sich gegen den von beinahe allen seinen Bundesgenossen verlassenen Kaiser der Franzosen. Auch Österreich trat dem Bündnis Rußlands, Preußens und Englands bei, nachdem Napoleon in einem Gespräch mit Metternich erklärt hatte: »Das Leben einer Million Men schen kümmert mich einen Dreck!« Drei Heere setzten sich gegen Napoleon in Bewegung und besieg ten ihn in der Völkerschlacht bei Leipzig. Nach heftigen Gefechten ge lang es den Verbündeten, in Paris einzuziehen. Im nahen Schloß Fon tainebleau überlegte Napoleon noch immer, ob er sich nicht mit den zwanzigtausend Mann, die ihm geblieben waren, nach Italien durch schlagen und um den endgültigen Sieg kämpfen sollte. Er rechnete damit, vielleicht Kaiser Franz wieder umstimmen zu können, dessen Schwiegersohn er doch war, und hoffte auf die Hilfe seines Stiefsohns Eugen Beauharnais, des Vizekönigs von Italien. Erst als seine Mar schälle ihm die Abdankung nahelegten und er zur Kenntnis nehmen mußte, daß der französische Senat seine Entthronung beschlossen hat 224
te, erklärte sich Napoleon bereit, abzudanken und den Vorschlag anzu nehmen, den Lord Cathcart entworfen hatte. Das Schriftstück, das der gefährlichste Feind des Kaisers der Fran zosen seinem Premierminister Lord Castlereagh zur Gegenzeichnung sandte, lautete: »Vom Wunsche getragen, dem Kaiser Napoleon darzu tun, daß die erbitterte Gegnerschaft der verbündeten Mächte in dem Augenblick ein Ende hat, in dem der Frieden Europas gesichert ist, und um ihm darzutun, daß sie weder vergessen können noch verges sen wollen, welcher Platz ihm in der Zeitgeschichte gebührt, bewilli gen sie ihm den ungetrübten Besitz der Insel Elba für ihn selbst und seine Familie.« Die Degradierung des Kaisers der Franzosen zum Fürsten von Elba war für den Herrn der Erde ein unerträglicher Gedanke. Er nahm das Angebot dennoch an. Er wollte Zeit gewinnen, ein Sprungbrett für neue Unternehmungen finden, die Möglichkeit, durch neue diplomatische Verhandlungen alte Freunde umzustimmen, vor allem den Kaiser von Österreich, dessen Enkel, der König von Rom, sein Sohn und Erbe war. Napoleon führte auf Elba scheinbar das zurückgezogene Leben ei nes vornehmen Landedelmannes, der seine Güter gewinnbringend verwaltete, während die verbündeten Herrscher die Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich beschlossen. Der Bruder Ludwigs XVI. der Graf von Provence, wurde König Ludwig XVIII. und betraute den ehemaligen Außenminister Napoleons, Talleyrand, mit seiner Vertre tung beim ›Wiener Kongreß‹, der unter dem Vorsitz Metternichs das durch die Französische Revolution und die Kriege Napoleons aus den Fugen gebrachte Europa neu ordnen sollte. Es kam nie zu einer Voll versammlung der anwesenden Herrscher, Staatsmänner und der etwa zweihundert Vertreter der Staaten, Städte, Herrschaften und Körper schaften, die sich in Wien eingefunden hatten. ›Das Komitee der fünf Großmächte‹, Österreich, Rußland, Preußen, England, Frankreich, traf alle wesentlichen Entscheidungen. Die unfreiwillig zur Untätig keit gezwungenen Teilnehmer an der Völkerversammlung vertrieben sich die Zeit mit Vergnügungen, so daß es allgemein hieß: »Der Kon greß tagt nicht, er tanzt!« 225
Während die Beratungen am grünen Tisch nur langsam vor sich gingen, handelte Napoleon rasch. Er machte sich den sogenannten ›weißen Schrecken‹ zunutze, den die von Ludwig XVIII. begünstigten heimgekehrten großen Herren in Frankreich verbreiteten. Die zwan zigtausend Offiziere der ›grande armée‹, die fristlos entlassen worden waren, liefen Napoleon zu, als er überraschend im Süden Frankreichs landete, um seine Herrschaft wieder zu errichten. Ein Gespräch, das Metternich mit Talleyrand in Wien führte, als die Nachricht von der Flucht Napoleons aus Elba eintraf, kennzeichnete die Ratlosigkeit der führenden Staatsmänner. »Er wird irgendwo an der Küste Italiens lan den und sich in die Schweiz begeben«, vermutete Talleyrand. Metter nich erwiderte besorgt: »Er wird sich ohne Umwege nach Paris bege ben.« Auf dem Marsch nach Paris gingen die Truppen, die Ludwig XVIII. gegen Napoleon sandte, zu ihm über. Der König floh ohne Widerstand. Der Kaiser der Franzosen zog wieder in die Tuilerien ein und über nahm die Herrschaft. Mit unfehlbarem Scharfblick erkannte er, daß Paris und Frankreich sich in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit ver ändert hatten. Er war bereit, seine Allgewalt aufzugeben, und erklärte Benjamin Constant, dem liberalen Schriftsteller und Politiker, der von ihm verbannt worden war, weil er sich für die Freiheit der Presse ein gesetzt hatte: »Ich wollte die Welt beherrschen. Um das tun zu können, brauchte ich unumschränkte Macht. Wenn ich nur Frankreich regiere, geschähe es besser mit einer Verfassung … Vor allem darf die Freiheit der Presse nicht beschränkt werden. Soviel habe ich gelernt … Was alles andere betrifft, wünsche ich nur den Frieden, und ich wünsche ihn durch Siege zu gewinnen. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnun gen machen. Ich bin auf einen langen und mühsamen Krieg gefaßt. Die Nation muß mich unterstützen, und zum Dank werde ich ihr die Freiheit geben … Die Zeiten haben sich geändert. Ich wünsche nichts mehr, als ›aufgeklärt‹ zu sein. Ich werde alt. Mit fünfundvierzig Jahren ist man nicht mehr der gleiche Mann wie mit dreißig. Das geruhsame Leben eines konstitutionellen Königs wird mir persönlich behagen. Es wird meinem Sohn noch besser behagen.« 226
Mit Beschwörungen, mit Bitten, mit geschickten Befehlen versuchte Napoleon, Frankreich wieder für sich zu begeistern. Aber als er nach hunderttägiger Herrschaft auf dem Schlachtfeld von Waterloo von Feldmarschall Blücher und dem zum Herzog von Wellington ernann ten Sir Arthur Wellesley vernichtend geschlagen wurde, erhob sich der alte Marquis de Lafayette in der französischen Kammer und rief den Abgeordneten zu, denen Napoleon angeboten hatte, Frankreich gegen die nun von allen Seiten einströmenden Feinde als einfacher General zu verteidigen: »Habt Ihr vergessen, wo die Knochen Eurer Söhne und Brüder bleichen? In Afrika, am Tajo, an der Weichsel und im Eis Ruß lands. Zwei Millionen Menschen sind für einen Mann gefallen, der ganz Europa bekämpfen wollte. Es ist genug!« Es war genug. Napoleon dankte ab. Diesmal zugunsten des Königs von Rom, seines kleinen Sohnes, den er hoffnungsvoll als Napoleon II. Kaiser der Franzosen bezeichnete, obwohl Kaiser Franz von Öster reich seinen Enkel, den napoleonischen Erben, mit dem schlichteren Titel eines Herzogs von Reichstadt bedachte. Napoleon ergab sich den Engländern auf Gnade und Ungnade und wurde an Bord der Fregat te ›Bellerophon‹ nach der Insel St. Helena in die Verbannung gebracht. General von Gneisenau, der Stabschef des siegreichen Marschalls Blü cher, war mit dieser ›Milde‹ nicht einverstanden. Er schrieb an den General von Mueffling, den er in das englische Hauptquartier gesandt hatte: »Wenn der Herzog von Wellington sich dagegen ausspricht, daß Napoleon zum Tode verurteilt wird, dann denkt und handelt er wie ein Brite. Großbritannien schuldet keinem Sterblichen auf Erden mehr als diesem gemeinen, gewalttätigen Raufbold. Denn durch die Ereig nisse, die er herbeigeführt hat, ist Englands Größe, Wohlstand und Reichtum nur gewachsen. Es ist die Herrin der Meere und hat nun we der in dieser Herrschaft noch im Welthandel einen einzigen Wettbe werber zu fürchten.«
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Das romantische Staatsideal und
die unromantische Wirklichkeit
I Die englische Fregatte ›Bellerophon‹ hatte noch nicht in Südfrankreich vor der Insel St. Helena Anker geworfen und den gefangenen Kaiser der Franzosen an Land gesetzt, als der gemeinsame Feind den verbün deten Kaisern von Rußland und Österreich und dem König von Preu ßen schon fehlte. War ihre militärische Besetzung Frankreichs berech tigt, da es doch wieder an Ludwig XVIII. zurückgefallen und daher ein befreundetes Königreich war? War es richtig, daß sie der durch die Lasten des zwanzigjährigen, beinahe unausgesetzten Krieges ohnehin so schwer geprüften französischen Bevölkerung eine Kriegsentschädi gung auferlegten? Mußte die Strenge der Sieger nicht zu neuerlichen revolutionären Unruhen in Frankreich führen? Die gekrönten Häup ter halfen sich aus den schwerwiegenden Gewissensfragen durch eine wortreiche Verlautbarung und das Versprechen künftiger Nachsicht mit Frankreich. Sie gründeten die ›Heilige Alliance‹, die sich in einer ›Verlautbarung an die Völker‹ zur gemeinsamen Wahrung des ›roman tischen Staatsideals und der christlichen Grundsätze in der Politik‹ be kannte, in Wirklichkeit aber nur Maßnahmen traf, die den durch die Niederwerfung Napoleons und die Neuaufteilung Europas herbeige führten Zustand gewährleisten sollten. Die Zeiger der Zeit wurden von den hohen Bündnispartnern der Heiligen Alliance einfach zurückge dreht, als wären seit der Französischen Revolution nicht Jahrzehnte vergangen. Das ›Gottesgnadentum‹ des ›ancien régime‹ sollte wieder 228
seine umstrittene Geltung bekommen. Gegen alle revolutionären Be wegungen, in welchem Lande immer, sollte das ›monarchische Prin zip‹ wirksam sein: der geheiligte Bund von Königtum und Adel, von Thron und Altar. Die geistigen und politischen Ergebnisse der Revo lution wurden von den unterzeichnenden Herrschern verflucht. Was vorher gewesen war, sollte wieder sein und unverändert bleiben. »Kon servativ« wurde das Schlachtwort der Machthaber, die um die Sicher heit ihrer kaiserlichen und königlichen Majestät und die Erhaltung ih res Besitzes bangten. Das auf den Napoleonischen Schlachtfeldern vergossene Blut war ebenso vergessen wie Ursache und Anlaß der freiheitlichen und wirt schaftlichen Unruhen, die den Kriegen vorangegangen waren. Die eu ropäischen Herrscher wollten durch alle erdenklichen Vorsichtsmaß regeln dafür sorgen, daß sich revolutionäre Umwälzungen nicht wie derholten. Im gemeinsamen Einverständnis wurden die aus den Fugen geratenen Grenzen Europas zurechtgezogen und umstrittene Gebiete freiwillig abgetreten, wie die österreichischen Niederlande an das neu geschaffene, mit Holland vereinigte Königreich der Niederlande, der Breisgau und die benachbarten Gebiete an Baden und Württemberg. Preußen, Hannover, Sachsen und Württemberg wurden als Königrei che anerkannt. Aber das Heilige Römische Reich Deutscher Nation lebte nicht wieder auf. Die im Raume des Reiches souveränen Fürsten vereinigten sich unter österreichischer Führung im ›Deutschen Bund‹, um ›der Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands willen und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten‹. Als oberste deutsche Behörde wurde der Bundes tag in Frankfurt am Main eingesetzt. Daß landfremde Fürsten, wie der König von England als König von Hannover, der König von Dänemark als Herzog von Holstein, der Kö nig der Niederlande als Großherzog von Luxemburg, dem ›Deutschen Bund‹ angehörten, verstimmte und beunruhigte die während der Be freiungskriege für die ›reindeutsche‹ Einstellung begeisterten Kreise. Immer mehr Anhänger des romantischen Gedankens, daß die glanz volle Vorzeit des germanischen Mittelalters wiederkehren müsse, erho 229
ben ihre Stimme. Ihre lautesten Wortführer waren Studenten an deut schen Universitäten, die sich in Burschenschaften zusammenschlos sen mit dem Ziel, ein einheitliches, freies Deutschland mit mittelalter lichem Kaisertum wieder zu errichten. Ihr Wahlspruch lautete: »Ehre, Freiheit, Vaterland!« Diese jungen Männer, die für die Heimat gekämpft hatten, waren vom revolutionären Zeitgeist der Aufklärung erfüllt gewesen und nur durch die Auflehnung gegen die Unterdrückung durch Napoleon zum Nationalismus gekommen. Sie wurden, ohne es zu wissen und viel leicht auch ohne es zu wollen, von den konservativen Mächten der so genannten ›Reaktion‹, die sich unter der Leitung Metternichs breit machte, vom wesentlichen Kampf ihres Jahrhunderts abgelenkt: dem Kampf der Kräfte, die alles daransetzten, die bestehende Gesellschafts ordnung sowohl zu verändern als auch zu erneuern. Bezeichnend für den engstirnigen Wunsch der fürstlichen Obrigkei ten, die geistige Entwicklung der Jugend durch Scheuklappen zu be hindern, war die Polizeivorschrift des kaiserlichen Österreich, die den Studenten den Besuch auswärtiger Universitäten verbot, damit sie ›vor dem philosophischen Materialismus, dem religiösen Rationalismus oder Mystizismus, dem sogenannten Liberalismus, dem Revolutions prinzip und dem Korporationsgeist bewahrt bleiben‹. Lehrer und Ler nende sollten vor allem ›gute Bürger ihres geliebten Vaterlands‹ sein. Die jeder fortschrittlichen Entwicklung feindliche bedrohliche Über wachung der Behörden hatte die Bildung von Geheimbünden zur Fol ge, deren Mitglieder in ›Zellen‹ zusammenkamen. Die Ziele der Ge heimbünde waren je nach der Örtlichkeit verschieden, im wesentli chen aber waren alle gegen die despotische Unterdrückung des Geistes und des freien politischen Lebens gerichtet. In Italien hatte es schon zur napoleonischen Zeit Einheits- und Freiheitsbestrebungen gegeben. Träger der Bewegung war der Geheimbund der ›Carbonari‹, die sich nach den Köhlern Calabriens nannten und den nationalen Gedanken vor allem gegen die von Österreich und Spanien abhängigen König reiche und Herzogtümer Italiens einsetzten. Besonders angefeindet wurde Marie Luise, die zur Herzogin von Parma gemacht worden war, 230
nachdem sie Napoleon verlassen und den österreichischen Stallmei ster Graf Neipperg geheiratet hatte, den sein Schwiegervater, Kaiser Franz I. zum Fürsten von Montenuovo erhob. Die unterirdisch wüh lende Bewegung der Carbonari machte sich in revolutionären Ausbrü chen Luft, die gewaltsam unterdrückt wurden. Obwohl viele Verbrei ter der aufgespeicherten Ruhelosigkeit des Volkes verfolgt und gefan gengenommen wurden, nahm die Mitgliederzahl des Geheimbundes der Carbonari unaufhaltsam zu.
Weder das Kaisertum Napoleons noch die Heilige Alliance hatten die Revolution überwunden. Ihre Grundsätze erhielten sich in den Gedan ken der Völker, wenn auch Franz I. von Österreich verächtlich erklär te: »Ich kenne keine Völker, sondern nur Untertanen!« Der von sei nen Lobrednern als der ›Gütige‹ bezeichnete Kaiser ließ auch das Na tionalitätenproblem nicht gelten, obwohl er bekannte: »… Meine Län der sind eines dem anderen fremd. Um so besser. Ich schicke Ungarn nach Italien und Italiener nach Ungarn. Aus ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselseitigen Haß der allgemeine Frie den …« Trotz der unerbittlichen Zensur, die Franz selbst als ›wirklich blöd‹ bezeichnete, obwohl sein allmächtiger Kanzler Fürst Metternich sie in allen österreichischen Ländern einführte und ihre Schärfe von den Anhängern Metternichs an den europäischen Fürstenhöfen eifrig nachgeahmt wurde, erhielt sich der Geist der Enzyklopädisten, in alle Sprachen übersetzt und verbreitet, so lebhaft, daß sogar die von König Ludwig XVIII. und seinem Nachfolger starr in Zucht gehaltene fran zösische Bevölkerung spottete: »Die Bourbonen haben nichts verges sen und nichts dazugelernt.« So wie es einmal gewesen war, konnte es nur in der Vorstellung der Herrscher wieder werden, die sich selbstgefällig damit zufrieden ga ben, daß durch ihr Einschreiten alles beim alten geblieben zu sein schien. Es hatte im europäischen Raum noch eine andere umwälzende 231
Bewegung begonnen, die zu gewaltigen Umschichtungen führen muß te, zu veränderten Lebensformen, die erst später als die Auswirkungen der ›industriellen Revolution‹ gekennzeichnet wurden. Waren die technischen Erfindungen des achtzehnten Jahrhunderts auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Aufklärung zurückzufüh ren? Die zeitliche Aufeinanderfolge deutete darauf hin, aber viele der ›Neuheiten‹, die die industrielle Revolution zeitigte, waren schon im Altertum erforscht worden, wie zum Beispiel der Dampf. Seine prak tische Ausnützung und Anwendung jedoch, die Dampfmaschine, er möglichte erst um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert den Bau von Dampfschiffen und wenige Jahrzehnte spä ter den Bau von Eisenbahnen. Während sich Napoleon in der alter tümlichen Rolle eines im goldbestickten Purpurmantels einherschrei tenden Kaisers gefiel, richtete der amerikanische Ingenieur Robert Ful ton den ersten Dampfschiffverkehr auf dem Hudson ein. Drei Jahre nach der Verbannung des ersten Kaisers der Franzosen fuhr das erste Dampfschiff von New York nach Liverpool und gab den Anstoß zur Beschleunigung der gewaltig zunehmenden Völkerwanderung aus der Alten in die Neue Welt.
II Die großen kriegerischen Ereignisse in Europa, die nicht nur mit Waf fen, sondern auch mit Worten ausgetragen worden waren – in Zeitun gen und Flugschriften, in denen sich die feindlichen Herrscher gegen seitig herabsetzten und verhöhnten –, hatten sich auch in den über seeischen Besitzungen der miteinander und gegeneinander kämpfen den Königreiche und Länder ausgewirkt. Überdies hatte das Napoleo nische Machtwort, durch das das Königshaus der Braganza vom por tugiesischen Thron verjagt worden war, die Auswanderung der könig lichen Familie nach Brasilien veranlaßt. Mit Johann VI. und seinem Hofstaat war neues Leben in das bis dahin dicht abgeschlossene Ko 232
lonialreich eingekehrt und hatte zur Entstehung einer ›Mischkultur‹ beigetragen, zur Bildung eines eigenen Volkes, das die portugiesischen Sitten und Gebräuche örtlich abwandelte. Die Eingeborenen indianischer Herkunft, die sich schon unter portu giesischer Oberaufsicht mit den afrikanischen Negersklaven vermischt hatten, waren berauscht von der Ankunft und Nähe ihrer Herrscher, die sie nur als märchenhafte, gottähnliche Gestalten vom Hörensagen kannten. Die christlich-demütige Haltung der Brasilianer, die ihnen in den zahlreichen Missionen und Kirchenschulen anerzogen worden war, trug dazu bei, den Aufenthalt König Johanns und seiner Familie erfreulich zu gestalten. Brasilien, die reiche Schatzkammer der portu giesischen Krone, wurde vom Kronprinzen Dom Pedro so hoch gewer tet, daß er den Aufenthalt in der Hauptstadt Rio de Janeiro der Rück kehr nach Lissabon vorzog. Er blieb auch nach der Wiedereinsetzung seines Vaters in Portugal da und rief sich selbst zum Kaiser von Brasi lien aus. Seine Heirat mit der habsburgischen Erzherzogin Leopoldine, die mit ihrem Hofstaat von Schönbrunn nach Rio de Janeiro übersie delte, regte zu neuen Auswanderungen aus dem europäischen Raum in sein ›Reich der ungeahnten Möglichkeiten‹ an, das jedem Einwan derer unermeßlichen Reichtum versprach. Brasilien, die riesige Kolonie Portugals, war als einheitlicher zusam menhängender Kronbesitz verwaltet worden, nicht so wie die spani schen Kolonien in Süd- und Mittelamerika, die von auf ihren Macht bereich eifersüchtigen Vizekönigen regiert wurden. Brasilien blieb auch nach der Loslösung vom Mutterland durch Kaiser Pedro I. eine geschlossene Einheit, während die spanischen Kolonien, jede für sich, die Unabhängigkeit von ihrem Mutterland gewannen. Der führende Kämpfer für die Unabhängigkeit der spanischen Kolo nien war Simon Bolivar, der zum Präsidenten der Republik Groß-Ko lumbien gewählt wurde. Daß die von ihm zu einem Reich zusammen geschlossenen Vizekönigreiche in unabhängige Republiken zerfielen, war vor allem örtlichen Verwaltungsschwierigkeiten in den unendli chen Räumen zuzuschreiben. Aber nach und nach machte sich eine spa nische Kolonie nach der anderen durch blutige Kämpfe und geschick 233
te Verhandlungen zur selbständigen Republik. Zu ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit trugen auch die Unruhen im Königreich Spanien bei, die König Ferdinand VII. der nach dem Sturz Napoleons auf den Thron zurückgekehrt war, in einen Bürgerkrieg verwickelten und veranlaß ten, die Hilfe Königs Ludwigs XVIII. zu erbitten. Daß ein französisches Heer von einem König von Spanien ins Land gerufen wurde, um den Aufruhr von Spaniern niederzuwerfen, lockerte die letzte Anhänglich keit der in ihrem Stolz verletzten spanischen Siedler in Übersee. Be stimmend für die endgültig erfolgreiche Loslösung der südamerikani schen Staaten von den Mächten der Alten Welt wurde die von James Monroe, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, verkündete ›Mon roe-Doktrin‹, die bestimmte, daß jede Einmischung europäischer Staa ten in die Angelegenheiten unabhängiger amerikanischer Regierungen und umgekehrt zurückzuweisen sei und daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika als die Schutzherren der mittel- und südamerikani schen Staaten anzusehen seien. »Amerika den Amerikanern«, wurde die Parole der Neuen Welt. Jede europäische Einmischung in Amerika wurde als unmittelbarer Anlaß zum Krieg erklärt.
Der Verkündung der Monroe-Doktrin war die Erwerbung des bis da hin spanischen Florida durch die Vereinigten Staaten vorangegangen. Die erste demokratische Republik der Neuzeit hatte die ursprüngli chen dreizehn Staaten auf sechsundzwanzig Bundesstaaten vermehrt und ihre Handelsbeziehungen zu England trotz der vorübergehenden kriegerischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren des Napo leonischen Zeitalters mächtig ausgebaut. Dem wirtschaftlichen und politischen Wachstum der Vereinigten Staaten kam auch eine der we sentlichsten Schwierigkeiten des ehemaligen Mutterlandes zugute, die scheinbar widersinnig durch die vorteilhafte wirtschaftliche Entwick lung Großbritanniens entstanden war: die Übervölkerung. Mit der Zunahme der Menschenzahl konnte die Landwirtschaft Englands nicht Schritt halten. Eine vermehrte Gütererzeugung wurde 234
unerläßlich, um durch Ausfuhr und Austauschhandel den Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu decken. Die technischen Erfin dungen, die Spinn- und die Dampfmaschine, der mechanische Web stuhl, wurden in Verbindung mit der Förderung von Kohle Voraus setzungen für die Entstehung der englischen Großindustrie, die vor allem Textilien und Eisen verarbeitete. Die neuartigen, für die Mas senerzeugung eingerichteten Anlagen hatten eine Umschichtung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der wirtschaftlichen Grundsätze zur Folge. Die Forderung nach dem Bruch mit dem staatlich gelenk ten Merkantilsystem und nach wirtschaftlicher Freiheit war erstmals von Adam Smith erhoben worden, der die Lehren der Physiokraten er weiterte und die richtig ausgenützte und verwertete Arbeitskraft als die Quelle des Reichtums und den Eigennutz als die Triebfeder der menschlichen Wirtschaft betrachtete. Adam Smith legte auch für den Arbeitslohn das Verhältnis von Angebot und Nachfrage fest und for derte, daß die Höhe des Arbeitslohns nicht durch den ›Edelmut des Arbeitgebers‹, sondern durch den ›Eigennutz des Arbeitnehmers‹ be stimmt werden müsse. Der Erwerb um seiner selbst willen und die un gehinderte Freiheit des Erwerbs seien sittliche Forderungen, die das ›Streben nach Reichtum‹ begründeten. Der wirtschaftliche Liberalismus, der sich aus der ›klassischen Natio nalökonomie‹ Adam Smiths und seiner Nachfolger herausbildete, fand in England Anklang. Besonders die Baumwollindustriellen in Man chester wirkten für die allgemeine Anerkennung des wirtschaftlichen Liberalismus, um so mehr, als ihnen der freie Handel Vorteile, den Ar beitnehmern aber keinen staatlichen Schutz gewährte. Die niedrigen Löhne und die langen Arbeitszeiten erweckten in den Arbeitern den Wunsch nach den alten Verhältnissen in ihrer Arbeit. Sie verwünsch ten die Maschinen als die Ursache ihres Elends und sehnten sich nach der Ungebundenheit des Handwerks zurück. Sie waren also ›reaktio när‹, während sie doch fortschrittlichen Schutz gegen die Arbeitgeber begehrten. Es kam zur Bildung von Gewerkschaften, den ›Trade Uni ons‹, die sich die Vertretung der Belange der Arbeiterschaft zum Zie le setzten. 235
Unternehmer und Arbeiter, die Vertreter des ›Kapitals‹ und des ›Pro letariats‹, standen einander feindlich gegenüber, aber keine der beiden Gruppen hatte unmittelbaren Einfluß auf die Handlungen der eng lischen Regierung, die sich aus Mitgliedern des Adels und der Kauf mannschaft zusammensetzte, aus den Grundbesitzern, die, gemäß der Verfassung, allein das Wahlrecht im Parlament innehatten und die so ziale Verwirrung der Gemüter mit überlegener Ruhe für ihre Zwecke gebrauchten. Das Streben nach Reichtum, für den einzelnen wie für das gan ze Volk, war schon seit den Zeiten Elisabeths wesentlicher Inhalt der englischen Politik geworden. Die Beherrschung der Seeschiffahrt, die Errichtung von Handelsgesellschaften an allen Ecken und Enden des Erdkreises, die Einrichtung von Kolonialregierungen, die nicht nur der Beschaffung von Rohstoffen, sondern auch dem Absatz der hei mischen Industrieerzeugnisse dienstbar waren, hatten England zum reichsten Land der Erde gemacht. Es wollte erhalten, was es besaß. Die Erhöhung der Ausgaben des Staatshaushaltes, die durch die Na poleonischen Kriege nötig gewesen waren, mußte ausgeglichen wer den. Das war nur durch die Aufrechterhaltung des Friedens möglich. Um seine unübersehbaren Besitzungen ungestört verwalten und aus bauen zu können, bedurfte England einer übermächtigen Flotte. Es hatte sie. Was auf dem europäischen Festland geschah, das hatte für die englischen Staatsmänner nur insofern Bedeutung, als die Ereig nisse die Kreise, die von ihnen gezogen worden waren, nicht stören durften. England war also nicht bereit zu Interventionen, als der König von Spanien in London um Hilfe zur Unterdrückung der Selbständigkeits bestrebungen der spanischen Kolonien vorstellig wurde. England woll te mit den neuen Republiken Amerikas Handel treiben und keineswegs Krieg führen und anerkannte die Unabhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Staaten und die Gültigkeit der Monroe-Doktrin. Immer mehr Engländer wanderten nach den Vereinigten Staaten, nach Kanada und Neuseeland aus. Die Völkerwanderung von der Al ten in die Neue Welt, der sich auch in zunehmender Zahl die mit den 236
Verhältnissen in ihren Heimatländern unzufriedenen Deutschen an schlossen, nahm gewaltig zu.
Keine Intervention, kein unmittelbares Eingreifen in die Ereignisse auf dem europäischen Festland – die sogenannte ›splendid isolation‹ Englands begann schon bald nach dem glorreichen Sieg von Water loo. Dennoch spielten dynastische Beziehungen eine bedeutsame Rol le in der englischen Außenpolitik. Die verwandtschaftlichen Verhält nisse des Königshauses wurden oft zum Ausgangspunkt des weltpoli tischen Einsatzes Englands. Das geschah nicht so sehr auf Wunsch des dritten und vierten Königs Georg aus dem Hause Hannover, als auf Veranlassung des Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, der als einer der Adjutanten Kaiser Alexanders von Rußland nach London gekom men war und die Tochter Georgs IV. die Thronfolgerin Charlotte, ge heiratet hatte. Der fürstliche Glücksritter, der sich schon als Gatte einer Köni gin und als Drahtzieher der Geschichte gesehen hatte, wurde vorerst durch den Tod Charlottes um seine Hoffnungen betrogen. Sie erfüll ten sich dennoch durch seine Nichte Viktoria, die Tochter des Herzogs von Kent, den er mit seiner Schwester verheiratet hatte. Viktoria wur de nach dem Tode Georgs IV. Königin von England und vertraute nie mand mehr als Leopold, »ihrem geliebten Onkel«, der das uralte im Raum beschränkte Haus der Coburger zu einem mächtigen, weitver zweigten Herrschergeschlecht machen sollte.
III Das langsame Dahinsterben des gefangenen Kaisers Napoleon und die Nachricht von seinem Tod berührten die Weltöffentlichkeit nur we nig. Aber die sagenhafte Laufbahn General Bonapartes, der durch die 237
Macht seines Genies aus eigenen Kräften Beherrscher eines Zeitalters geworden war, beschwingte die Vorstellung Ehrgeiziger und Taten durstiger, die den Lebensweg des ›kleinen Korporals‹ in ihren örtli chen Bereichen nachahmen wollten. Einer der hervorragendsten Män ner dieser Art war Alexander Ypsilanti, der sich die Vorarbeit eines in Odessa von griechischen Kaufleuten gegründeten Geheimbundes zur Befreiung der Griechen von der türkischen Herrschaft zunutze ma chen wollte. Er rief nach dem Vorbild Napoleons die hellenische Na tion zum Aufstand auf, der erst die Donau-Fürstentümer in der Mol dau und Walachei erfaßte und sich rasch über die griechischen Inseln ausdehnte. Der Bestand der Türkei, die viele Völker beherrschte, und ihre Mittelmeerstellung standen auf dem Spiel. Der Sultan rief seinen Vasallen Mehemid Ali, den Vizekönig von Ägypten, zu Hilfe. Er fand auch Verständnis bei Fürst Metternich, den die freiheitlichen Gesän ge und volkstümlichen Kampflieder der Griechen abstießen. Der kai serlich österreichische Kanzler fürchtete, daß der Erfolg der griechi schen Freiheitsbewegung ein gefährliches Vorbild für von fremden Fürsten beherrschte Völker werden könnte und daß Veränderungen im Nahen Osten zu Machtkämpfen der Großmächte führen würden. Er wollte die Kräfte der Heiligen Alliance gegen die Griechen einset zen, aber Rußland sprach sich dagegen aus. Die Donau-Fürstentümer lagen im russischen Einflußbereich, der nur von der Türkei gefähr det werden konnte. Rußland war um so mehr für die Befreiung des hellenischen Volkes, als die griechischen Unabhängigkeitsbestrebun gen von der öffentlichen Meinung Europas begeistert begrüßt wurden. Aus allen Ländern des europäischen Raumes eilten Freiwillige nach Griechenland, um den Hellenen im Kampf um ihre Freiheit beizuste hen. Die Taten und Gedichte Lord Byrons entflammten England, das sich mit Frankreich und Rußland gegen die Türkei verband. Ypsilanti, der besiegt worden und nach Österreich geflohen war, konnte seinen persönlichen Ehrgeiz zwar nicht befriedigen, aber an den Folgen des von ihm hervorgerufenen Aufstands zerbrach die ›Heilige Alliance‹, die Einigkeit der Großmächte, die sich die Beherrschung Europas vor behalten hatten. Österreich stand abseits, als die türkisch-ägyptische 238
Flotte von den englisch-französisch-russischen Kriegsflotten bei Na varino (Pylos) vernichtet wurde. Russische Truppen besetzten die Do nau-Fürstentümer. Die Türkei anerkannte die Unabhängigkeit Grie chenlands. Otto, der Sohn des griechenfreundlichen Königs Ludwig I. von Bayern, wurde von der griechischen Nationalversammlung zum König von Griechenland gewählt. Ein neues Königreich war auf altem geschichtlichem Boden entstanden.
Die miteinander um das Übergewicht im Nahen Osten in Wettbewerb tretenden Mächte Europas warteten nur auf den günstigen Augen blick, um die ›Erbschaft des kranken Mannes‹ anzutreten. So wurden die Türkei und der Sultan in den Zeitungen der europäischen Presse schon damals ohne Vorbehalt bezeichnet – während Österreich und Rußland ihren Einfluß in den Gebieten der Donaumündung und auf dem Balkan gegenseitig zu unterwühlen versuchten und Rußland und England sich den Bosporus und die Dardanellen streitig machten –, obwohl der Sultan noch sein weites Reich von Konstantinopel aus be herrschte. Grund und Anlaß künftiger Kriege zeichneten sich ab. Es ging nicht nur um politische, sondern auch um wirtschaftliche Vorteile und Be lange, um Absatz- und Rohstoffgebiete, deren Wichtigkeit zum Teil von der technischen Entwicklung in den Schatten gestellt und über holt werden sollte. Die zukünftige Vielfältigkeit des Lebens der Menschheit wurde nur von ganz wenigen Zeitgenossen erfaßt. Die meisten Staatsmänner blie ben den erstarrten Begriffen vergangener Machtpolitik verhaftet. Das kam am deutlichsten in Frankreich zum Ausdruck. Karl X. der sei nem Bruder Ludwig XVIII. auf den Thron gefolgt war, hatte wahr haftig ›nichts vergessen und nichts dazugelernt‹. Er war ein Mann des achtzehnten Jahrhunderts, der dem Ablauf der Zeit nicht nachgekom men war. Der ehemalige Graf von Artois war ein ›Ultra‹. Mit diesem Spott 239
namen bedachte die fortschrittliche Opposition die um die Wieder herstellung der uneingeschränkten Königsgewalt bemühten französi schen Politiker der ›Restauration‹. Der Versuch Karls X. die Abände rung des Wahlgesetzes und die Aufhebung der Pressefreiheit zu er zwingen, führte zu einer Erhebung von freiheitlichen Studenten und Arbeitern, die mit dem großen Wort ›Revolution‹ bezeichnet wurde. In drei heißen Julitagen, die in der französischen Geschichtsschreibung als ›les trois glorieuses‹, die drei Glorreichen, bezeichnet wurden, ob wohl nur unwesentliche Kämpfe stattfanden, fiel die Herrschaft der ›Restauration‹, wie das mißliebige Regime Ludwigs XVIII. und seines Nachfolgers genannt worden war, zusammen. Karl X. mußte fliehen, an seiner Stelle bestieg sein entfernter Verwandter Herzog Louis Philippe von Orleans, der Liebling der Bürger, nicht als König von Frankreich, sondern als ›König der Franzosen‹ den Thron. Über den Tuilerien und den Gebäuden der Verwaltung wehte nicht mehr das Lilienbanner der Bourbonen, sondern wieder die ›Trikolore‹, das Sinnbild des revolutio nären Ursprungs des neuen Königtums, das vom Parlament als solches anerkannt wurde, aber auf das Gottesgnadentum mit dem Ausspruch Verzicht leistete: »Le roi regne, mais il ne gouverne pas.« – Der König ist König, aber er herrscht nicht. – Auch der Adel mußte sich der eilig wiedererrafften Vorrechte begeben. Die ›goldenen Tage‹ Frankreichs, die den drei Glorreichen folgten, gehörten dem Bürgertum, der ›Bour geoisie‹, die mit der Entschlossenheit der Emporgekommenen die ent scheidende Macht übernahm. Unter der Regierung Karls X. hatte Frankreich Krieg gegen die See räuber im Mittelmeer geführt und Algerien erobert. Unter dem Bür gerkönig Louis Philippe wurde Algerien zur französischen Kolonie, deren militärischen Schutz die damals entstandene ›Fremdenlegion‹ übernahm.
Der Erfolg der Pariser Arbeiter und Studenten, die einen König ge stürzt und einen König eingesetzt hatten, regte die Unzufriedenheit in 240
den ehemaligen österreichischen Niederlanden zum Aufstand gegen den König der Niederlande an. Die niederländischen Aufrührer hat ten andere Beweggründe als ihre französischen Nachbarn. Die zum erstenmal von Julius Cäsar ›belgae‹ genannten Bewohner des Gebiets der ehemaligen österreichischen Niederlande waren in der Mehrzahl katholisch, während das ehemalige Holland protestantisch war. Die seit Jahrhunderten verschiedenen Lebensformen hatten eine natürli che Grenze zwischen die von den Großmächten willkürlich vereinig ten Länder gezogen. Durch die Französische Revolution beeinflußt, war eine liberale Bewegung in Belgien entstanden, die sich widersin nigerweise mit den örtlichen Katholiken verband, um Belgien unab hängig zu machen. Der Aufstand der Belgier wurde von England um so mehr gefördert, als es den König des neuen Reiches schon in Bereit schaft hatte. Es war Prinz Leopold von Sachsen-Coburg, der sich end lich eine Krone aufs Haupt setzen und nun als König um so besser sei nen Einfluß auf seine Nichte Viktoria ausüben konnte. Um seiner neu gewonnenen Macht sicher zu sein, sorgte er dafür, daß die fünf Groß mächte seine politische Neutralität anerkannten. Dieser staatsmän nische Kunstgriff gelang Leopold durch seine Heirat mit der Tochter Louis Philippes, des Königs der Franzosen, der seine Hoffnung auf die Erweiterung Frankreichs nach dem Norden zu begrub, aber immerhin Ahnherr eines neuen königlichen Geschlechts wurde.
Der beinahe gleichzeitige Aufstand der um ihre Unabhängigkeit kämp fenden Polen gegen die russische Herrschaft war nicht so glücklich. Er wurde in blutigen Kämpfen niedergeschlagen. Daß der König von Preußen dem Kaiser von Rußland dabei Waffenhilfe gewährte, empör te die deutsche Öffentlichkeit. Die preußische Intervention gegen eine nationale Erhebung widersprach auch den Grundsätzen der nationa len Burschenschaften, die es nicht wahrhaben wollten, daß staatsmän nische Belange bedeutsamer sein sollten als das Selbstbestimmungs recht eines Volkes. Dennoch setzte sich der Gedanke der Nützlichkeit 241
eines deutsch-russischen Bündnisses, das gegen Österreich gerichtet sein sollte, immer stärker durch. Diese deutsche Abneigung gegen das österreichische Kaiserreich wurde vor allem durch die reaktionäre Haltung Metternichs verur sacht, die der zunehmenden Strömung des Liberalismus widersprach und überdies außenpolitisch so völlig versagt hatte. Das Verlangen nach Reformen, nach Pressefreiheit und freiheitlichen Verfassungen wurde in allen deutschen Ländern laut. Neben den literarischen Vor kämpfern des Liberalismus, Heine, Börne und Uhland nahm Georg Büchner als Gründer der geheimen ›Gesellschaft für Menschenrech te‹ eine hervorragende Stellung ein. Sein Drama ›Dantons Tod‹ trug wesentlich dazu bei, das Gedankengut der Französischen Revolution in Deutschland volkstümlich zu machen. Um das schwarz-rotgolde ne Banner der Studenten scharten sich nicht mehr nur die Burschen schaften, die das mittelalterliche Kaiserreich wiedererrichten wollten, sondern auch die Anhänger der modernen Freiheitsideale. Metternich verfolgte nicht nur ›Demagogen‹. Er stellte sich auch ge gen eine wirtschaftliche Neuerung, die der Professor der Staatswis senschaften an der Universität Tübingen, Friedrich List, als Wortfüh rer deutscher Kaufleute und Industrieller dem Bundestag in Frankfurt vorgeschlagen hatte. Es gab im Gebiet des Deutschen Bundes achtund dreißig verschiedene Zollsysteme. Die Schranken sollten fallen, die Zölle sollten vereinheitlicht werden. Nicht alle Forderungen des als ›Demagogen‹ aus Amt und Stellung verjagten und zu Festungshaft verurteilten Friedrich List waren un eingeschränkt freiheitlich. Er war zwar für die Abschaffung der Zwi schenzölle in Deutschland, aber doch für Schutzzölle gegen das Aus land zugunsten der heimischen Industrie. Es war offenkundig, daß die deutschen Länder dem durch die in dustrielle Revolution hervorgerufenen Fortschritt Englands nachstre ben mußten. Auch die deutsche Bevölkerung nahm zu, der Wettbe werb mit dem Ausland war nur durch die Hebung und Verbesserung der Erzeugung aufrechtzuerhalten, durch ein Zusammenspiel aller wirtschaftlichen Kräfte, die sich als deutsch bezeichneten. Der preußi 242
sche Finanzminister Motz nahm es auf sich, eine Zollvereinigung un ter preußischer Führung zu schaffen. Nach mühseligen Verhandlun gen wurde der ›Zollverein‹ gegründet, dem erst Hessen, dann Bayern, Württemberg und Sachsen, schließlich die meisten anderen deutschen Länder beitraten. Ganz abgesehen von der wirtschaftlichen Bedeutung des Zollver eins, der einen einheitlichen deutschen Markt ermöglichte, hatte seine Gründung eine schwerwiegende politische Bedeutung. Österreich ge hörte dem Zollverein nicht an. Es hatte die unter preußischer Führung stehende Wirtschaftsvereinigung abgelehnt. Es stand abseits. Diese Absonderung und Abneigung gegen die unaufhaltsame Ent wicklung war auf die starre Haltung Metternichs zurückzuführen, der den Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit und Auffassungsgabe schon unmittelbar nach dem Sturz Napoleons überschritten hatte. Metter nich war von der ›guten alten Zeit‹, die sich im österreichischen Le bensstil, dem behaglichen ›Biedermeier‹, breitmachte, so überzeugt, daß er nicht begreifen konnte, warum irgend etwas anders werden soll te. Es hatte sich von seinem Gesichtspunkt aus nichts verändert. Der ›gütige‹ Kaiser Franz war im Alter ebenso steif, unbeweglich und teil nahmslos wie in seiner Jugend. Aber Österreich hatte vierzig Millio nen Einwohner. Zum größten Teil waren es Slawen, die immer zwang loser vom Panslawismus, der sprachlichen und kulturellen Gemein samkeit aller Slawen, sprachen. Es gab Tschechen, Slowaken, Polen, Wenden, Serben, Kroaten in Österreich – und auch Deutsche, Italiener und Ungarn. Diese so ganz und gar voneinander verschiedenen und unter ganz verschiedenen Bedingungen lebenden ›Untertanen‹ konn ten nach Meinung Metternichs nur durch eines auf den gemeinsamen Nenner der Kaiser- und Königskrone gebracht werden: durch die An wendung von Gewalt. Das Schritthalten mit der Zeit erschien dem kai serlichen Kanzler keineswegs so wichtig wie die Erhaltung der beste henden Ordnung. Sollten die ›deutschen Brüder‹ nur im Eisenbahnbau voraus sein, das tat nichts zur Sache. Auch in Österreich würden Ei senbahnen gebaut werden. Später – aber doch. Vielleicht. »Und wenn auch nicht …«, war der gleichmütige Wahlspruch Metternichs, obwohl 243
ihm eine Veröffentlichung ›Österreich und dessen Zukunft‹ schlaflo se Nächte bereitete. In dieser Schrift, die von der an der Lässigkeit und Trägheit der Behörde verzweifelnden Jugend aller in Österreich leben den Völker verschlungen wurde, hieß es: »Österreich ist ein rein ima ginärer Name, welcher kein in sich abgeschlossenes Volk, kein Land, keine Nation bedeutet … eine kurze Zeit noch, und es werden sich … in Österreich vier ausgewachsene gerüstete Nationalitäten feindlich gegenüberstehen und unter sich nur ein gemeinsames Band haben: das der Abneigung und des Widerstands gegen die Regierung.«
IV Im gleichen Jahr, in dem mit der Thronbesteigung Viktorias von Eng land das ›Viktorianische Zeitalter‹ begann, wurde Ferdinand I. Kaiser von Österreich. ›Der gute Nandl‹ hieß der von Kindheit an Schwach sinnige im Volksmund. Er hatte auch nicht das geringste dagegen, daß sich Metternich die eigentliche Leitung der Staatsgeschäfte vorbehielt, um so weniger, als der ›Fürst‹ nach dem Tode Talleyrands der einzig überlebende führende Staatsmann aus der Zeit des Wiener Kongresses war und die bedingungslose Verehrung der glorreichen Vergangenheit des Napoleonischen Zeitalters gerade in diesen Jahren einen Heiligen schein um die Persönlichkeiten wob, die für oder gegen den kleinen Korporal gewirkt hatten. Diese unaufhaltsame Strömung der zeitgenössischen öffentlichen Meinung wurde durch ein denkwürdiges Gespräch ausgelöst, das der französische Ministerpräsident Thiers, der berühmte Historiker, mit dem Bürgerkönig Louis Philippe führte. Der wegen seiner spitzen Kopfform von seinen Gegnern als ›Birne‹ verhöhnte König der Fran zosen war in verzweifelter Stimmung. Die Bevölkerung Frankreichs, mit Ausnahme der Bürger, die er reich und groß gemacht hatte, war gegen ihn: die sogenannten Legitimisten, die Anhänger des von ihm 244
vertriebenen Karl X. die Arbeiterschaft, die Studenten und vor allem die Bonapartisten, die ihrem geliebten Kaiser und dem Ruhm des Va terlandes nachtrauerten. Louis Philippe fühlte sich vereinsamt. Nur ein tiefschürfender Kenner der Geschichte wie Thiers konnte den un erhörten Einfall haben, den er zur Kenntnis des um seine Krone be sorgten Königs brachte. Es war ein Vorschlag, der gefährlich zu sein schien, aber bei näherer Betrachtung gewann. Napoleon I. war tot. Sein Sohn, der König von Rom, war als Herzog von Reichstadt gestor ben. Der Neffe des Kaisers der Franzosen, Louis Napoleon, der Sohn des Königs von Holland und Hortense Beauharnais', hatte seine Un fähigkeit als Aufrührer kläglich bewiesen und betätigte sich als zwei felhafter Lebemann. Worin bestand dann das Wagnis, wenn sich jetzt Louis Philippe, der König der Franzosen, zum Schutzherrn der Bona partisten aufwarf und damit endlich Gefolgsleute für seinen einsamen Thron fand? Das Haus Orleans, dem Louis Philippe entstammte, war ein Neben zweig der bourbonischen Königsfamilie. Die Bourbonen waren die er klärten Feinde des Generals Bonaparte gewesen. Sie waren unversöhn lich geworden, seit er den Herzog von Enghien hatte erschießen lassen, aber Thiers bekam den Auftrag und die Vollmacht Louis Philippes, al les zu tun, was in seinen Kräften stünde, und nichts zu unterlassen, um durch die Ehrung des Andenkens Napoleons die Bonapartisten zu königlichen Parteigängern zu machen. Mehr als zehn Jahre waren seit der letzten bedeutsamen Veröffentlichung über Napoleon vergangen. Bald aber nach dem Gespräch Louis Philippes mit Thiers erschien eine Reihe von Büchern, in denen die Erinnerung an die große Zeit Frank reichs und Napoleon persönlich verherrlicht wurde. Nicht nur franzö sische, auch englische Schriftsteller wurden mit allen Mitteln dazu an geregt, das ruhmbedeckte Gedächtnis unsterblich zu machen. Nicht genug damit. Ein königlicher Prinz wurde vom Bürgerkönig nach St. Helena gesandt, um die sterblichen Überreste Napoleons nach Paris zu holen, damit das größte, feierlichste und prächtigste Leichen begängnis der Geschichte – zwanzig Jahre nach dem Tod des Kaisers der Franzosen – veranstaltet werden konnte. Die Volkstümlichkeit 245
Louis Philippes nahm zu – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie die Volkstümlichkeit Napoleons. Die Bonapartisten stimmten zwar fürs erste für Louis Philippe, aber er wurde die Geister, die er gerufen hatte, nicht los.
V Der politische Wirrwarr im europäischen Raum – das allseitige Zer ren an Landesgrenzen, sowohl an altüberkommenen als auch an den neuen, in Kongressen und durch Staatsverträge oft so willkürlich ge zogenen, das vorsichtige Ausschauen der Herrscher und ihrer Staats männer nach günstigen Gelegenheiten, um Einflußerweiterungen und Handelsvorteile zu gewinnen – unterschied sich von den vorherge gangenen Machtkämpfen der Geschichte durch die gewaltige Erwei terung des Schauplatzes der Ereignisse und die Zielsetzungen, die bei nahe den ganzen Erdkreis umfaßten. Der wetteifernde Wunsch der Mächte nach dem Besitz von Kolonien war besonders durch das er folgreiche Beispiel Großbritanniens und des kleinen Königreichs Por tugal angeregt worden. Da aber der Großteil der überseeischen Besit zungen längst schon verteilt oder in festen Händen oder schon unab hängig war, bemühten sich die Mächte, die bei der Verteilung der Neu en Welt mit leeren Händen ausgegangen waren, anderswo Ersatz und Entschädigung für versäumte Gelegenheiten zu finden. So begnügte sich Frankreich nicht mit der emsig betriebenen Kolonisierung Alge riens; es strebte nach dem Besitz der ganzen nordafrikanischen Kü ste. Spanien, das seine süd- und mittelamerikanischen Kolonien ver loren hatte, wollte ganz Marokko erwerben. Und Rußland hielt an sei nem Vorhaben fest, so viel wie möglich von der ›Erbschaft des kranken Mannes‹ zu erhalten. Es drängte den Küsten des Schwarzen Meeres zu. Es wollte auch in Europa Fuß fassen, immer weiter dem Westen zu. Je denfalls auf dem Balkan. Und schließlich auch im Fernen Osten. Durch die Nachbarschaft Rußlands fühlte sich Österreich bedroht. 246
Sein eigener Wunsch nach Ausdehnung war nach dem Südosten ge richtet. Es war beunruhigt durch die panslawistische Bewegung, die, durch russische Sendboten genährt, immer heftiger zunahm. Aber nicht nur die österreichischen Slawen, auch die österreichischen Ita liener wollten sich der aufgezwungenen Fremdherrschaft entledigen. Überdies deuteten unaufhörliche Umtriebe im Königreich Ungarn mit seinen Magyaren, Kroaten und Slowenen immer gefährlicher an, daß es mehr als einen ›kranken Mann‹ in Europa gab. Jetzt sorgte noch ein straffes Polizeisystem für die Ordnung und den Zusammenhang der Erbländer der österreichischen Krone. Aber wie lange würde die einige Aufrechterhaltung des in seinen Ländern so grundverschiedenen Staatsverbandes möglich sein? »Eine österreichi sche Nationalität gibt es nicht«, schrieb damals ein Beamter der kaiser lichen Hofkanzlei, Baron Adrian Werburg. Erzherzog Ludwig, der ge meinsam mit Fürst Metternich und Graf Kolowrat die Staatsgeschäfte für den schwachsinnigen Kaiser leitete, war vom Gegenteil überzeugt. Er huldigte dem Grundsatz: »Liegenlassen ist die beste Erledigung.« Die für Ferdinand I. eingesetzte Vormundschaftsregierung wurde von zeitgenössischen Spöttern das ›Drei-Greise-Regiment‹ genannt, oder ›die Totengräber Österreichs‹!
Das Nationalitätenproblem, das das österreichische Kaiserreich, die Königreiche und Fürstentümer der Apenninischen Halbinsel, des deutschsprachigen Mitteleuropa und der Balkanhalbinsel so stür misch bewegte, verlangte unaufhaltsam seine Lösung. Aber noch viel dringender und unmittelbarer wurde die Notwendigkeit, die Lösun gen des sozialen Problems zu finden. Kündigte sich wieder der An bruch einer neuen Zeit an? Stand eine Umschichtung der menschli chen Gesellschaft bevor? Die Anzeichen sprachen dafür. Die Fortschritte der industriellen Revolution offenbarten sich un verkennbar in der veränderten und gehobenen Lebensführung immer weiterer Schichten der europäischen Bevölkerung. Erst war es nur das 247
Vorrecht des Adels gewesen, am ›besseren Leben‹ teilzunehmen, jetzt konnten es auch die Bürger – wenn sie dafür bezahlen konnten. Die Auswirkungen der Französischen Revolution hatten die staatlichen Fesseln der meisten Völker gelockert. Die Aufhebung der Leibeigen schaft im europäischen Raum, die Abschaffung und Ausrottung der Sklaverei in Übersee waren zu selbstverständlichen Forderungen ge worden, an deren endlicher Erfüllung nur noch die hartnäckigsten Re aktionäre zweifelten. Eine entschlossene Kampfbereitschaft zur Aus weitung der bürgerlichen Rechte war den Denkenden und Fühlenden gemeinsam, die, wohl auch durch die christliche Menschenliebe ge schult, die gleichen Vorrechte und Freiheiten, die sie selbst hatten, für ihre Mitmenschen erringen wollten. Dieses allgemeine Verlangen nach menschlicher Gleichstellung war ein wesentliches Grundgesetz des Li beralismus, der zur Weltanschauung der gebildeten Männer und Frau en Europas wurde. Aber trotz des guten Willens vieler fehlte ein all gemein annehmbarer Vorschlag zur Neuordnung der Gesellschaft: ein Plan, der den guten Willen in die Tat umsetzen würde. Zahlreiche zeitgenössische Denker und Dichter suchten wenigstens theoretisch den Weg, der Menschheit das bessere Leben auf Erden zu sichern. Das bessere Leben nach dem Tode, die ewige Seligkeit, verhieß ja schon der christliche Glaube. Aber auch die sehnsüchtigste Gewiß heit eines besseren Jenseits schloß das Verlangen nach einem besseren Diesseits nicht aus.
Manche Vorkämpfer und Vorläufer der sozialen Bewegung waren Schwärmer, die ihre überquellenden Gefühle für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen einsetzten und nach Program men zur Vermittlung ihrer Gefühlsbegeisterung suchten, die sie wis senschaftlich unterbauen wollten. Sie erreichten zwar nicht, daß ihre Lehren allgemein anerkannt wurden, aber sie bauten Brücken zu neu er Erkenntnis. Da war Henri von St. Simon, der Nachkomme des gleichnamigen 248
Herzogs, der das Zeitalter Ludwigs XIV. und der Regence in seinen Tagebüchern so sicher und indiskret geschildert hatte. Henri von St. Simon hatte als junger Mann eine halbe Million Franken Rente be sessen und zusammen mit LaFayette am Unabhängigkeitskampf der Vereinigten Staaten teilgenommen. Er war in Amerika geblieben, um Land und Leute zu studieren, während die Französische Revolution sein Vermögen beschlagnahmt hatte. Auch als er nach seiner Rück kehr wieder reich geworden war, ekelte St. Simon das ›geistlose große Leben‹, an. Er hatte den Ehrgeiz, die sozialen und moralischen Übel stände im Volksleben zu beseitigen und das allgemeine Volksglück zu begründen. Er wurde Schriftsteller und verfaßte ›Die Reform der Ge sellschaft durch die Reform der Wissenschaften‹, um die falsche Ver teilung der Produktionsgüter anschaulich zu machen. St. Simon trat für eine neue Eigentumsordnung ein, die Arbeitgeber und Arbeitneh mer gleichermaßen befriedigen sollte. Wenn Kapital und Arbeit ein mal in Einklang stünden, predigte er, könne ein neues Christentum der Werktätigen entstehen. Die Verbreitung der Lehren St. Simons durch seine zahlreichen An hänger bereitete den Boden zur Aussaat neuen Gedankenguts vor. In der von ihm angestrebten ›Reform der Wissenschaften‹ war auch die Geschichtsschreibung mit einbegriffen. Um sich ein Bild der Zukunft machen zu können, war es nötig, sich mit der Vergangenheit vertraut zu machen. Die großen Geschichtswerke Leopold von Rankes, Car lyles, Macauleys und Theodor Mommsens wurden von einer zahlrei chen Leserschaft aufgenommen. Es formte sich die Auffassung, daß die Weltgeschichte eine ›Kette von Leistungen bedeutender Männer‹ sei. Diese Deutung machten sich die Zeitgenossen um so williger zu ei gen, als sich die Wirkung der so überaus geschickten Werbung für den Ruhm und die Persönlichkeit Napoleons immer deutlicher bemerk bar machte. Hingebungsvolle Heldenverehrung entsprach dem Verlangen der Massen, die eine Neuordnung der Gesellschaft, eine Veränderung ih rer Lebensbedingungen begehrten, um so mehr, als die Unzufriedenen in den meisten Ländern eine Persönlichkeit zu brauchen glaubten, die 249
ihre Ansprüche und Wünsche unliebsamen Machthabern gegenüber vertreten konnte. Fand sich denn kein bedeutender Mann, dessen Lei stungen das große Beispiel Napoleons im Sinne der fortschrittlichen Bewegung wiederholen könnte? Sein Neffe Louis Napoleon war aus dem lebenslänglichen Gefängnis, zu dem er nach einem Putschver such gegen Louis Philippe verurteilt worden war, in geschickter Ver kleidung nach England entkommen. Nicht einmal die Bonapartisten hielten den von zweifelhaften Geldquellen fürstlich lebenden Stamm gast der vornehmen Londoner Klubs für ihren ›Mann der Zukunft‹. Aber sie proklamierten ihn doch, im Widerspruch zu den bedeuten den Dichtern, Denkern und Sozialpolitikern Frankreichs, die sich der Romantik der bonapartistischen Herkunft verschlossen. Die nüch terne Wirklichkeit klopfte an die Türe der Einbildungskraft. Stend hal und Balzac hatten ihre tiefschürfenden realistischen Romane ge schrieben, aber es entstand in dieser Zeit der verschiedenen Richtun gen und Gegenrichtungen auch der Begriff ›l'art pour l'art‹ – Kunst um der Kunst willen, gewichtslos im Inhalt. Die sozialpolitischen Schriftsteller hingegen verfolgten praktische Ziele. So hatte Fourier in seinen Werken eine Neuordnung der Volks wirtschaft durch ›gemeinsame Erzeugung‹ gefordert und gemeinsa me Verteilung in Genossenschaften, die der Zahl nach beschränkt sein sollten. Proudhon erweiterte den Genossenschaftsgedanken Fou riers: Er wollte den Gebrauch des Geldes durch den von Volksbanken vermittelten Güteraustausch ersetzen. Er prägte den Ausspruch: »Ei gentum ist Diebstahl«, veränderte aber dann den als Sprichwort miß brauchten Wortlaut grundlegend in: »Eigentum ist Freiheit«, um zum Ausdruck zu bringen, daß er nicht das Eigentum, das den Lebensbe darf decke, anprangern wolle, sondern dessen Ansammlung als Mittel zum Zweck sozialer Unterdrückung. Das durch Flugschriften, Zeitungen und Agitatoren erweckte ›Be wußtsein des bedenklichen Notstandes der französischen Arbeiter schaft‹ veranlaßte Louis Blanc, die Forderung nach ›Arbeiter-Produk tiv-Genossenschaften und nationalen Werkstätten‹ öffentlich vorzu bringen. 250
Druckwerke und Werbung gingen von Hand zu Hand und von Mund zu Mund. Die Mittel der Verständigung waren allerorts vermehrt und verbessert worden. Die Flugschriften entwickelten sich zu vielseitigen Zeitungen, die allgemein gelesen wurden. Die geschickt eingefügte Bebilderung sollte den Lesern die Zeitgedanken anschaulich machen. Die hervorragendsten Meister der bildhaften Kritik der Vielfalt des Le bens in ihrem Umkreis waren Gavarni und Honore Daumier. Wer ihre Karikaturen sah, war durch die lebendige Bezüglichkeit der Zeichnun gen zum Denken gezwungen. Die Mißstände wurden augenfällig. Sie waren offenkundige Anklagen gegen die bestehenden Zustände. Sie schrien nach Änderung. Da erschien das Kommunistische Manifest. Karl Marx, der sich als Mitarbeiter der liberalen ›Rheinischen Zeitung‹, durch die Heraus gabe der ›Deutsch-Französischen Jahrbücher‹ und durch seine Veröf fentlichungen im ›Vorwärts‹ bekannt gemacht hatte, veröffentlichte es mit Friedrich Engels in Brüssel. Es war nicht nur ein unverhüllter An griff gegen die bestehende Gesellschaftsordnung der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern auch ein drohender, von neuartig gepräg ten Gedanken erfüllter Wegweiser in die Zukunft für die Massen. Das Kommunistische Manifest begann mit den Worten: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«
VI Die als ›Marxismus‹ langläufig gekennzeichnete Summe der von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten und später verschiedentlich abweichend ausgelegten sozialistisch-kommunistischen Lehren ist ohne die ›materialistische Geschichtsauffassung‹ undenkbar. Sie war vielfach beeinflußt durch die Gedankengänge des Philosophen Wil helm Friedrich Hegel, der die Weltgeschichte nicht ›als eine Kette der Leistungen bedeutender Männer‹, beurteilte, sondern als eine Reihe geschichtlicher Epochen, die durch eine Idee beherrscht waren. Er er 251
klärte, daß jede geschichtliche Erscheinung der Verwirklichung des menschlichen Geistes unterläge. Marx stellte, wie er selbst sagte, die Hegelsche Philosophie von dem Kopf, auf dem sie gestanden war, wie der auf die Beine. Er seinerseits erklärte die Entwicklung der Mensch heit nicht aus den Ideen, sondern versuchte zu beweisen, daß die Ide en das Produkt der Verhältnisse seien, unter denen die Menschen le ben. Er lehrte, daß das Rechtsverhältnis von Staat und Weltanschau ungen in den materiellen Lebensverhältnissen verwurzelt sei. Das ab gewandelte Wort ›materiell‹, das zur Begriffsbildung ›materialistische Geschichtsauffassung‹ führte, beinhaltete die faßbaren, gegenständli chen, leibhaftigen Kräfte des Lebens: die ökonomische Grundlage des menschlichen Daseins. Die Lebensverhältnisse des Menschen entstan den, wie Marx ausführte, nicht aus den materiellen Voraussetzungen, sondern sie beruhen auf ihnen und entfalten sich, während der ›staat liche Überbau‹ unverändert erstarre. Die Spannung, die dadurch ent stehe, müsse zur ›sozialen Revolution‹ führen. Das Kommunistische Manifest beruhte zum Teil auf der Arbeit von Friedrich Engels über ›Die Lage der arbeitenden Klasse in England‹. Engels hatte in Manchester die Auswirkungen des wirtschaftlichen Li beralismus beobachtet: die unruhige Unzufriedenheit der englischen Arbeiterschaft. Seine leidenschaftliche Abneigung richtete sich gegen das Bürgertum, die Bourgeoisie. In dem von Marx und Engels gemein sam verfaßten Manifest wurde ihre Ablehnung der Bourgeoisie zur Kampfansage: »… Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die gewalti ge Produktions- und Verkehrsmittel hervorgebracht hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherr schen vermag, die er heraufbeschwor … Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen, sie hat auch die Männer gezeitigt, die diese Waffen führen werden – die modernen Ar beiter, die Proletarier … Die proletarische Bewegung ist die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl … Mit der Entwicklung der großen Industrie wird aber unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie pro duziert und sich die Produkte aneignet. Sie produziert vor allem ihren 252
eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.« Karl Marx und Friedrich Engels erwarteten den Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die Entstehung von Staa ten unter Leitung des als herrschende Klasse organisierten Proletari ats – die ›Diktatur des Proletariats‹ –, als Ergebnis der Revolutionen, die im Jahre 1848 in den großen europäischen Hauptstädten tatsäch lich zum Ausbruch kamen. Aber in Frankreich brachte die Februarrevolution zwar die Abdan kung des Bürgerkönigs Louis Philippe, aber nicht des Bürgertums zu wege. Der Ausrufung der Republik folgte zwar ein Zwischenspiel, in dem die Errichtung der von Louis Blanc geforderten Nationalwerk stätten und die Verkündigung des allgemeinen und gleichen Wahl rechts ermöglicht wurden. Die Abgabe aller Stimmen in die Natio nalversammlung jedoch ergab keine Mehrheit für die Sozialisten und Kommunisten, die zum Sieg des Proletariats geführt hätte. In der soge nannten Junischlacht in Paris wurden die Arbeitermassen von Gene ral Cavaignac niedergemetzelt. Wenige Monate später wurde der nach Frankreich zurückgekehrte, von den Bonapartisten gefeierte Louis Na poleon mit überwältigender Mehrheit durch Volksabstimmung zum Präsidenten der Republik gewählt. So war die von Thiers so hervorragend geplante Heldenverehrung Napoleons, wenn auch durchaus nicht im Sinn von Thiers, erfolgreich geworden.
Auch im kaiserlichen Österreich gab es Revolutionen. Im März 1848 beherrschten Bürgerwehren und Studenten die Stadt Wien. Metternich floh, ohne daß er die kaiserliche Verfassungsurkunde unterzeichnete, die allen Volksstämmen die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistete. In Italien hatten die Carbonari-Zellen gute Ar beit geleistet, aber der österreichische Feldmarschall Radetzky besieg te den König Karl Albert von Sardinien, der sich zum Schutzherrn der 253
gegen Österreich aufständigen Italiener gemacht hatte, in der Schlacht bei Custozza. »In deinem Lager ist Österreich«, pries der patriotische Dichter Grillparzer den einundachtzigjährigen Feldherrn und huldig te dem achtzehnjährigen Erzherzog Franz Josef, der an Stelle seines Onkels Ferdinand Kaiser von Österreich werden sollte. Würde das uralte System der militärischen Gewalt, das durch Ra detzky verkörpert wurde und durch den Fürsten Windischgraetz, der den ›Pfingstaufstand‹ der Tschechen in Prag blutig niedergeworfen hatte, in Geltung bleiben – oder würde der bevorstehende Thronwech sel im Kaiserreich Österreich jugendliches Verständnis der Zeiten mit sich bringen? Im Jahre 1848, in dem sich auch die Ungarn gegen Österreich erho ben und mit Waffengewalt bezwungen wurden, trat die Deutsche Na tionalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusam men. Es hatte nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin Unruhen und Straßenkämpfe gegeben. In München hatte König Ludwig I. zugun sten seines Sohnes, Maximilian II. abgedankt. In den meisten Städ ten Deutschlands hatten Zusammenstöße zwischen Aufständischen und den jeweiligen Regierungstruppen stattgefunden. Der Bundestag in Frankfurt hatte die Zensur für Druckschriften aufgehoben und den alten deutschen Reichsadler zum neuen Bundeswappen erklärt. Die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung hatte sich als nö tig erwiesen. Sie begann mit Schwierigkeiten. Der Tscheche Palacky lehnte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, daß er kein Deutscher sei. Auf dem Slawenkongreß in Prag beantragte er die Umformung Österreichs in einen ›Bund gleichberechtigter Völker‹, nicht um Österreich zu zerbre chen, sondern um es zu erhalten und zu verhindern, daß die DeutschÖsterreicher mit Deutschland vereinigt würden. Das Für und Wider der nationalen Bewegungen, die hier mit glei cher Leidenschaft für die Erhaltung eines einheitlichen Österreich ein traten und dort die Zergliederung Österreichs forderten, blieb bezeich nend für die schwerwiegende innere Zerrissenheit, die das Kaiserreich Franz Josefs I. während seines ganzen Bestandes beunruhigte. 254
Als Erzherzog Johann von Österreich von der Deutschen National versammlung in Frankfurt zum Reichsverweser gewählt wurde, gab es noch eine Aussicht, daß der junge Franz Josef, der schon vorgesehene Nachfolger seines Onkels, als der Kaiser des wiederhergestellten Hei ligen Römischen Reiches Deutscher Nation in die Geschichte einge hen würde. Oder würde das alte Kaiserreich unter König Wilhelm von Preußen wieder erstehen, dem eine Deputation der Nationalversamm lung die Krone anbot?
Weiter Horizont und kurze Sicht
I
Die erste Weltausstellung in London im Jahre 1851 war eine überzeu gende Kundgebung des Viktorianischen Zeitalters. Es hatte England und seinem Kolonialreich Wohlstand und Sicherheit gebracht. Die ge waltig ausgebaute englische Seemacht beschützte den Welthandel. Die vielfältigen Erzeugnisse der mächtig ausgebauten Industrie versorg ten die einheimischen und überseeischen Märkte. Obwohl die Aus fuhr der Waren aus den englischen Häfen mit jedem Jahr zunahm, überstieg die Einfuhr den Wert der ausgeführten Güter. So entstand ein scheinbar widersinniger Reichtum, aber der Fehlbetrag im Gleich gewicht des Ausfuhr- und Einfuhrhandels wurde durch die Einnah men aus der Schiffahrt, aus dem Zwischenhandel und den ungeheu ren Gewinnen der englischen Bankinstitute wettgemacht. Der Libera lismus als Wirtschafts- und Lebensform schien sich, wenn auch nicht im Wohlergehen der breiten Bevölkerung, so doch im Wohlstand des Volkes zu bewähren. 255
Auf der Londoner Weltausstellung wurden nicht nur Erzeugnisse der Industrie und des Handwerks zur Schau gestellt, sondern auch neu zeitliche Erfindungen. In New York hatte Morse den Schreibtelegra fen erfunden. Die erste Telegrafenlinie hatte Washington, die Haupt stadt der Vereinigten Staaten, mit dem nahen Baltimore verbunden, aber jetzt verband schon das erste Unterseekabel das englische Do ver mit dem französischen Calais. Die Eisenbahnen für den Personenund Güterverkehr, die auch in deutschen Ländern den Raum über wanden und Zeit sparen halfen, waren in England ausgebaut worden. Die Städte und Häuser wurden mit Gaslicht erhellt. Es gehörte zur rasch fortschreitenden Entwicklung, daß die Forscher auf allen Ge bieten Anschluß aneinander suchten und einander ihre Kenntnisse zu dem Zweck vermittelten, allgemein verbesserte Lebensverhältnisse zu schaffen, ohne daß jedoch ihr eigenes durchaus anerkanntes ›Streben nach Reichtum‹ darunter litt. Zwischenstaatlich anerkannte ›Patente‹ sicherten geistige Werte und ›Lizenzen‹ den Ertrag der Patente. Vom wachsenden Einfluß der englischen Lebensform legte die Her renmode Zeugnis ab. Der Sieg des Tuches über die Seide, die Überle genheit der schlichten Einfachheit über den Putz kam im englischen Herrenanzug zum Ausdruck. Wer etwas auf sich hielt, gab sich ›eng lisch‹. Als Inbegriff der Vornehmheit galt der ›Lord‹. Die Dame aller dings war ›pariserisch‹ geblieben; sie hatte ihrer Kleidung Seide und Samt und die neuartigen zarten Gewerbe vorbehalten, die in den fran zösischen Werkstätten so köstlich nachgeahmt wurden. Noch immer lagen England und Frankreich miteinander im Wettbe werb um die Gestaltung der Lebensformen, aber die Waagschale neig te sich England zu. Französisch war noch die Sprache der vornehmen Welt. Englisch aber wurde um so mehr zur Handelssprache, als auch in den Vereinigten Staaten von Amerika vorwiegend englisch gespro chen wurde. Zur Stärkung des englischen Übergewichts trugen die au ßerordentlichen Fähigkeiten der Viktorianischen Minister bei, die vie le wertvolle Ratschläge vom Prinzgemahl Albert von Coburg erhiel ten, der von Viktoria durch die Vermittlung ihres vielgeliebten Onkels Leopold geheiratet worden war. Das Königreich Belgien war ein natür 256
licher Verbündeter Englands. Die coburgischen Familienbeziehungen, die Viktoria ausnützte und ausbaute, erhöhten ihren Einfluß. England war zur bedeutendsten Großmacht der Erde geworden und hielt sich, soweit es nur konnte, abseits von der kläglichen Unordnung im euro päischen Raum.
II Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schien durch die un heimlich beschleunigte Entwicklung, Ausnützung und Verwertung der Naturwissenschaften und durch die sozialen Erkenntnisse voraus bestimmt zu sein; das bessere Leben auf Erden friedlich anzubahnen, wurde aber durch die Austragung der von der Vergangenheit ererbten Konflikte zu einem von Kriegen und Unruhen aller Art erfüllten Zeit abschnitt. Die Ereignisse, die sich überstürzten und zu unausbleiblichen Lö sungen drängten, führten folgerichtig zur zwangsläufigen Entwick lung der geistigen und politischen Zeitströmungen, des örtlichen Na tionalismus und des überörtlichen Sozialismus. Mit dem vergeblichen Wunsch und der Hoffnung, von diesen rei ßenden Bewegungen unberührt zu bleiben, saßen die Fürsten Euro pas auf ihren schwankenden Thronen, auf den uralten, angestammten und den neuen, die durch Volkswahlen oder dynastische Intrigen ent standen waren. In Frankreich hatte sich der Präsident der Republik, Louis Napole on, zum Kaiser der Franzosen wählen lassen. In Anerkennung der Ab dankungsurkunde seines großen Onkels, der seinen Sohn als Napole on II. bezeichnet hatte, nannte er sich mit allem Nachdruck Napoleon III. Er wollte in die Fußstapfen des ersten Kaisers der Franzosen tre ten und Frankreich die ›gloire‹ wiedergeben, die seit der Schlacht bei Waterloo bedenklich verblaßt war. Napoleon III. war kein geschulter Feldherr, aber er hatte von seinen korsischen Ahnen die spitzfindige 257
Verschlagenheit geerbt – wenn die Bonapartes tatsächlich seine Ah nen waren, was von seinen Gegnern vielfach bestritten wurde. Sie be haupteten, der Neffe Napoleons I. sei ein natürlicher Sohn eines natür lichen Sohnes von Talleyrand, der immerhin als der findigste Staats mann seiner Epoche gegolten hatte. Als Napoleon III. zur Bekräfti gung seiner friedlichen Absichten vor seiner Thronbesteigung erklär te: »L'empire c'est la paix«, glaubten es ihm die gekrönten Häupter Eu ropas, mit Ausnahme des Kaisers Nikolaus I. von Rußland, der dem französischen Emporkömmling die unter Herrschern übliche Anrede ›mein Bruder‹ versagte. Er glaubte zu wissen, warum. Die Leichtgläubigkeit seiner anderen hohen Amtsbrüder auf den eu ropäischen Thronen versetzte den Taschenspieler mit Krone und Zep ter, der während eines verschwenderischen Jahrzehnts als Lebemann vom Vertrauen der Londoner Klubmitglieder gelebt hatte, zuerst in Erstaunen. Dann aber sparte er ebensowenig mit Versprechungen an Kaiser und Könige, wie er in London mit der Ausgabe uneintreibbarer Wechsel gespart hatte. Er übertrug seine erprobten Spielergewohnhei ten auf das politische Leben – vorerst so oft mit Erfolg, daß er sich dar an gewöhnte, ohne den Einsatz zu haben »Hopp, die Bank!« zu rufen. Das ging so lange gut, bis ihn sein gefährlichster Gegenspieler durch schaute: Otto von Bismarck, der damals als preußischer bevollmäch tigter Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main war und erklärte: »Die einzig gesunde Grundlage eines Staates … ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik …« Das Aussehen und das Gehaben Napoleons III. unterstützten ihn in seinem Bestreben, vertrauenerweckend zu wirken. Mit seinem ge pflegten Knebelbart und seinem träumerisch-wässerigen Blick nahm er sich tatsächlich wie ein großbürgerlicher Bankier aus, dem das Gleichgewicht von Soll und Haben das wichtigste war. Da der Kaiser der Franzosen den Vorstellungen des Bürgertums, dem er seine Macht verdankte, entsprechen wollte, führte er nach außen hin ein bürgerli ches Leben. Er heiratete eine spanische Gräfin, Eugenie de Montijo, in die er sich verliebt hatte, und prahlte mit seiner vorbildlichen Ehe. Außer den Kaisern von Österreich und Rußland gab es also einen 258
Kaiser Napoleon III. Aber es gab noch keinen Kaiser des deutschen Reiches, denn Friedrich Wilhelm IV. hatte die Annahme seiner in Frankfurt erfolgten Wahl abgelehnt. Der König von Preußen wollte die Kaiserwürde nur auf Wunsch aller deutschen Fürsten, aber keines wegs als Angebot der Abgesandten des Frankfurter Parlaments, an de nen, wie er sagte, ›noch der Ludergeruch der Revolution klebte‹. Konn ten die ›Deutschen‹, die der ehrgeizige Kaiser der Franzosen in die sem Sammelbegriff zusammenfaßte, ihm gefährlich werden? Es gab Großdeutsche und Kleindeutsche. Beide wollten einen deutschen Bun desstaat gründen. Die Kleindeutschen traten für eine starke Reichsge walt ein, die von den Einzelstaaten möglichst unabhängig sein sollte. Die Großdeutschen teilten sich in zwei Gruppen: die eine, die der Re publikaner, wünschte eine einheitliche deutsche Republik unter Besei tigung aller Bundesstaaten, die andere, die der Föderalisten, das gro ße Deutschland, eine weitgehende Selbständigkeit der Einzelstaaten mit einem Wahlkaisertum, das einer nicht erblichen Präsidentschaft gleichkommen sollte. Die Austragung der Gegensätze beschränkte sich nicht auf den grü nen Tisch. Es kam zwischen Preußen und Österreich beinahe zu ei ner kriegerischen Auseinandersetzung, als ein Reichstag in Erfurt eine von Preußen vorgelegte Verfassung, die ›Unionsverfassung‹, guthieß, während Fürst Schwarzenberg für Österreich die Wiederherstellung des Bundestages in Frankfurt betrieb. Da der Kaiser von Rußland, der dem jungen Franz Josef schon durch die Entsendung eines Heeres nach Ungarn Waffenhilfe zur Unterdrückung der Revolution geleistet hatte, erneut auf die Seite Österreichs trat, schloß Preußen mit Öster reich den ›Vertrag von Olmütz‹, in dem es sich verpflichtete, seine deut sche Unionspolitik aufzugeben. Angesichts der trotz Verträgen und Zusicherungen anhaltenden Un einigkeit seiner deutschen Nachbarn glaubte Napoleon III. seine wag halsige Politik ungefährdet betreiben zu können. Er warf sich zum Schutzherrn und Verbündeten ›unterdrückter‹ Nationen und gefähr deter Staatengebilde auf. Er glaubte seiner Herrschaft in Frankreich si cher zu sein. Er regierte mit einer Verfassung, die der Konsularverfas 259
sung seines großen Onkels nachgebildet war, und stellte sich über die politischen Parteien, indem er allen alles gab oder doch versprach, was sie verlangten. Für das Bürgertum sorgte Napoleon III. durch plan mäßige und großzügige Unterstützung der Industrie, für die Arbeiter durch die Ausweitung der Arbeiterfürsorge. Durch seinen Umbau und Ausbau von Paris und anderen großen Städten Frankreichs verminder te er nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern gab auch Paris das Stadt bild, das sich bis zum heutigen Tag erhalten hat. Da England in seiner ›splendid isolation‹ verharrte, unternahm es Napoleon III. Frankreich zur führenden Großmacht auf dem Kontinent zu machen.
Unter dem neuen Kaiser hatte in Österreich eine neue, noch viel pein lichere Reaktion als die Metternichs die Zügel in Händen. Die ausfüh renden Beauftragten des jungen Franz Josef I. hatten sich durch die grausamen Blutgerichte in Ungarn, die der Revolution gefolgt waren, und auch in den anderen österreichischen Ländern gefährlich unbe liebt gemacht. Zum Unterschied von seinen kaiserlichen Vorgängern, die von Natur aus beschränkt oder schwachsinnig gewesen und des halb in untertäniger Verwechslung als ›gütig‹ bezeichnet worden wa ren, wurde Franz Josef erst im hohen Alter als der ›Gütige‹ bezeichnet. In seiner Jugend galt er als hart und unerbittlich, als eigensinnig und selbstherrlich, um so mehr, als er nach dem frühen Tod des begabten Fürsten Schwarzenberg sein eigener Ministerpräsident wurde und da her die Schuld für seine persönliche Unzulänglichkeit und sein staats männisches Versagen keinem Sündenbock zuschieben konnte. Der Kaiser, der in seinem langen Leben von vielen Unglücksfällen heimge sucht wurde, prägte den so oft wiederholten und in der Öffentlichkeit verbreiteten Satz: »Mir bleibt nichts erspart.« Er machte dadurch den Eindruck eines bemitleidenswerten Mannes, der die Schicksalsschlä ge mit Würde trug. Würde war tatsächlich die einzige hervorragende Eigenschaft, die Franz Josef zuerkannt werden konnte. Aber er wahrte sie auf Kosten aller Gefühlsregungen, aller menschlichen Nähe, viel 260
leicht auch aus der mit der Krone ererbten Unfähigkeit, sich verstän digen oder gar mitteilen zu können. Er war unnahbar und so einge nommen von der unfaßlichen Höhe seines Ranges, daß er schon in den ersten Jahren seiner Herrschaft darauf bestand, sein ›Gottesgna dentum‹ durch die Auflösung der Verfassung zu beweisen. Er hoffte, die Geschlossenheit des Kaiserreiches durch den Einsatz absoluter Gewalt zu gewährleisten. Die Polizei war das Rückgrat der Macht Kaiser Franz Josefs. Die Bürokratie, ein nur ihm verantwortlicher Beamtenapparat, und die Armee waren seine Stützen. Wenn die Gewalt nicht ausreich te, war ihm die römisch-katholische Kirche, die er mit Zugeständnis sen verwöhnte, hilfreich, den liebevollen Gehorsam zur Herzenspflicht seiner Untertanen zu machen. Aus dem Druck von oben und dem Gegendruck von unten entwik kelte sich allmählich eine seltsame Mischung von Eigenschaften: das Österreichertum. Die ihm zugehörten und es fortpflanzten, hatten an so vielem Mißgeschick des Kaisers teilgenommen und es beobachtet, daß sie sich daran gewöhnt hatten, nach jeder Niederlage zur Tages ordnung überzugehen, die zumeist nur aus Unordnung bestand. Was konnten sie anderes tun, als achselzuckend den ortsüblichen Ausdruck zu gebrauchen: »Da kann man halt nichts machen«, wenn sie erfah ren mußten, daß wieder eine Schlacht oder ein Land verlorengegangen waren und die glorreiche und siegreiche Herrschaft des Kaisers doch von der Kanzel und der Presse überschwenglich gepriesen wurde? Die Liste der Fehlschlüsse, Fehlschläge und der Fehlleistungen Franz Josefs I. begann mit seiner zeitwidrigen Belebung des Absolutismus und mit seinem unverständlich undankbaren Verhalten dem Kaiser von Rußland gegenüber, der ihm doch bei jeder Gelegenheit Hilfe zu gesagt und geleistet hatte. Franz Josef schloß ein Bündnis mit Frank reich und England, als die sogenannte ›orientalische Frage‹ zum Krieg zwischen Rußland und der Türkei führte. Russische Truppen besetzten die Donau-Fürstentümer. England, das befürchtete, daß der ›Meer engenvertrag‹, der zur Verhinderung der Durchfahrt nichttürkischer Schiffe durch die Dardanellen geschlossen worden war, seine Gültig keit verlieren könnte und sich durch die Möglichkeit eines Einbruchs 261
der russischen Flotte ins Mittelmeer in seinem Verkehr mit Indien be droht fühlte, erklärte Rußland den Krieg- und fand einen unerwarte ten Partner: Napoleon III. der endlich die Gelegenheit gekommen sah, sich machtvoll einzuschalten. An den kriegerischen Ereignissen auf der Krim nahm auch eine vom militärischen Standpunkt aus bedeutungslose Hilfstruppe teil: die des Königs von Sardinien, dessen Ministerpräsident Cavour sich in staats männischer Voraussicht an Napoleon III. herangemacht hatte. Cavour, der ehemalige Herausgeber der Zeitung ›II Risorgimento‹, des Organs der Wiedererstehung und Einigung Italiens, brauchte einen Bundesge nossen im Kampf gegen Österreich, den die italienische Freiheitsbewe gung umsichtig vorbereitete und den er selbst für unausbleiblich hielt und in diesem Zeitpunkt herausfordern wollte, um dem König von Sardinien das ›Junge Italien‹ zu gewinnen, das Guiseppe Mazzini als republikanischen Bund gegründet hatte. Österreich war nicht dabei, als die Russen den Krimkrieg verloren. Es hatte auch keine Stimme im Frieden von Paris, in dem Rußland harte Bedingungen annehmen mußte, und als beschlossen wurde, die Donau-Fürstentümer zum unabhängigen Fürstentum Rumänien zu sammenzuschließen. Ein Hohenzoller wurde der erste Fürst. Die Haltung Österreichs während des Krimkrieges wurde von al len Großmächten übelgenommen. Seinen westlichen Verbündeten hatte Franz Josef zwar keine militärische Hilfe geleistet, aber das hielt ihm Alexander II. von Rußland, der Nachfolger Nikolaus I. durchaus nicht zugute, denn durch den Abschluß seines Bündnisses mit Frank reich und England hatte Franz Josef eine so bedrohliche Stellung ge gen Rußland eingenommen, daß es, einen kriegerischen Einfall Öster reichs befürchtend, Truppen bereit gehalten hatte, die es sonst auf der Krim hätte einsetzen können. Rußland schloß sich eng an Preußen an, das sich neutral gehalten hatte. Franz Josef war wider Willen isoliert.
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England hatte durch den Krimkrieg erreicht, was es gewollt hatte. Es konnte sich wieder in seiner ›splendid isolation‹ verschanzen und sei ner erfolgreichen industriellen Entwicklung widmen. Es verfügte über ein Weltreich, das durch die von der europäischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Entdeckung und Kolonisierung Australi ens noch mächtiger angewachsen war. Der Ausbau der Kolonien und die überlegene Ruhe der staatsmännischen Geschäftsführung im Inund Ausland kamen der Verbreitung der liberalen Weltanschauung zugute. Von der Warte der Überlegenheit aus verfolgten die einander abwechselnden Whig- und Tory-Minister die Ereignisse in Europa, deren Verlauf sie oft ebenso im voraus errechneten wie die Erträgnisse der in England selbst und in Übersee investierten Kapitalien. Das Vik torianische Zeitalter wurde sinnbildlich gleichbedeutend mit gesättig tem Wohlstand. Seine Diplomaten waren kaltblütige Beobachter der Kämpfe im europäischen Raum. Den Gesprächen Napoleons III. mit Cavour während der Verhand lungen zum ›Frieden von Paris‹ folgte eine vertrauliche Zusammen kunft in einem Badeort in den Vogesen. Der Kaiser der Franzosen und der sardinische Staatsmann beschlossen um den Preis der Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich einen gemeinsamen Angriffs krieg gegen Österreich. So etwas hatte Franz Josef I. von Napoleon III. mit dem er sich doch gegen Rußland verbündet hatte, nicht erwartet, und daß der ›kleine‹ König von Sardinien es wagte, ihm die Stirne zu bieten, noch weniger. Die österreichischen Heere marschierten mit fliegenden Fahnen auf und wurden bei Magenta und Solferino vernichtend geschlagen. Im ›Frieden von Zürich‹ trat Österreich die Lombardei an Napole on ab, der sie mit großartiger Geste an den König von Sardinien wei tergab, für sich selbst aber Savoyen und Nizza gewann. Im Friedens vertrag war auch die Bestimmung aufgenommen worden, daß die aus österreichischem Geblüt stammenden Herrscher von Toskana und Modena wiedereingesetzt werden sollten. Das allerdings verhinderte eine nationale Bewegung. So verlor Franz Josef seine bedeutendsten Besitzungen im Süden des 263
Kaiserreichs. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und seiner Ratgeber entschloß er sich zur Annahme einer Verfassung. Vor der ersten Reichstagssitzung in Wien hatten die Abgeordneten der großdeutschen Minderheit in Österreich den Beschluß gefaßt, ge gen jeden Antrag zu stimmen, der im Auftrag der kaiserlichen Regie rung eingebracht werden würde. Sie war gegen Franz Josef, da sie ihm nachtrugen, daß er durch sein starres Festhalten an der Einheit des österreichischen Kaiserreichs die deutsche Union verhindert hatte und den Deutschen Bundestag in Frankfurt gewissermaßen mit der linken Hand leitete. Die ersten Anträge, die im Namen Kaiser Franz Josefs gestellt wur den, waren im Sinne der liberalen Bestrebungen, die in den meisten deutschen Staaten volkstümlich waren. Es sollte auch den in Öster reich ansässigen Juden gestattet werden, christliche Dienstboten anzu stellen. Dieser Antrag wurde von der Mehrheit angenommen. Die da gegen stimmenden großdeutschen Abgeordneten aber, die in engem Kontakt mit ihren Parteibrüdern in deutschen Staaten standen, began nen eine Hetzkampagne gegen die Juden, mit denen sie, die zumeist Protestanten waren, als Angehörige einer Minderheitsreligion bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsame Sache in allen politischen Fragen ge macht hatten. So wurden die österreichischen Großdeutschen mit zu Anstiftern des deutschen Antisemitismus, der sich später so furchtbar auswirken sollte.
III Es gab immer mehr Auswanderer aus dem europäischen Raum nach Übersee. Die Zahl der Männer und Frauen, die das von kriegerischen Ereignissen und Vorurteilen aller Art zerrissene Europa mit kärgli chem Hab und Gut verließen, rechtfertigte die Bezeichnung der Rei senden als ›Teilnehmer einer neuzeitlichen Völkerwanderung‹. Aus 264
dem deutschsprachigen Raum fuhren die am Erfolg freiheitlicher Be wegungen verzweifelnden Freiheitskämpfer in die selbstgewählte Ver bannung. Aus dem von Rußland unterdrückten Polen und aus den sla wischen Ländern Österreichs machten sich die am Erfolg des Selbst bestimmungsrechts der Nationen Verzweifelnden auf den schicksals schweren Weg ins Ungewisse. Oft war der Anlaß zur Flucht in die über seeische Ferne nur der "Wunsch, dem verhaßten Militärdienst zu ent gehen und der Leibeigenschaft zu entfliehen, die, wenn sie auch durch staatliche Verfügung aufgehoben worden war, doch in vielen Gebieten durch örtliche Machthaber aufrechterhalten blieb. Der zeitgenössische Schriftsteller und Politiker Alexis von Tocqueville sagte ein unaufhalt sames Absinken Europas voraus und schilderte in seinem Werk ›De la démocratie en Amérique‹ den Aufschwung der demokratischen Ein richtungen auf amerikanischem Boden. Tatsächlich wurden die Flüchtlinge auf der anderen Seite des Oze ans mit offenen Armen aufgenommen. Amerika brauchte Arbeitshän de. Die Vereinigten Staaten hatten sich über den ganzen Erdteil, vom Atlantischen zum Stillen Ozean, ausgebreitet. Texas hatte sich von Me xiko losgerissen und dem Verband der Vereinigten Staaten eingefügt. Neu-Mexiko und Kalifornien waren erobert worden, und auch das un geheure Oregongebiet mußte besiedelt werden. Der Weg nach dem rau hen Westen stand unternehmungslustigen Siedlern offen, die es nicht scheuten, sich gegen die feindlichen Indianerstämme zu behaupten. Kilometer um Kilometer schoben sich die Grenzen der für amerika nische Verhältnisse adaptierten europäischen Zivilisation westwärts. Ungeheure Wälder wurden gerodet, weite Landstriche urbar gemacht und die unendlichen Weiden mit Vieh bevölkert. Der Weg nach dem Westen wurde der Weg zum Reichtum. Ärmliche Blockhäuser verwan delten sich in wohlhabende Wohnstätten, Dörfer und Städte wuchsen aus der Wildnis. Der Westen der Vereinigten Staaten war noch gefähr liches Neuland, eine Tummelstätte für Abenteurer, aber selbst in den entlegensten Gegenden herrschten die Rechtsbegriffe und der Sinn für Gerechtigkeit, die schon die Pilgrimsväter in die Neue Welt eingeführt hatten. 265
Durch die Verschiedenartigkeit der frühen Besiedlung gab es zwei verschiedene Amerikas in den Vereinigten Staaten. Es gab den Ge gensatz zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten, in de nen sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich verschieden artige Lebensformen entwickelt hatten. Die Frage, ob die Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden der Vereinigten Staaten auf den Unterschied der klimatischen Bedingungen zurückzuführen war oder auf die verschiedene Herkunft der Einwanderer und die Unterschied lichkeit der Erwerbung von Landbesitz, wurde vielfach erörtert und untersucht. Im Norden hatte sich der englische Liberalismus eingebür gert. Die Südstaaten waren das Bollwerk der ursprünglichen Kolonisa tion, die auf Sklavenarbeit aufgebaut war. Diese sozialen Gegensätze in den weiten Räumen wurden durch po litische Gegebenheiten verschärft. Die Art der Verwaltung jedes in die Vereinigten Staaten neu aufzunehmenden Staates mußte entschieden werden. Sollte zum Beispiel Neu-Mexiko ebenso wie die Südstaaten Plantagenbesitzern überlassen werden, die die Arbeit von Negerskla ven verrichten ließen, oder sollte es wie Pennsylvanien oder Iowa eu ropäischen Ackerbauern als Heimstätte dienen, Industrien in Selbst verwaltung errichten können und nicht wie die Südstaaten Baumwol le oder Tabak auf den Welthandelsplätzen verkaufen, um Fertigwaren beziehen zu können? Nicht nur wirtschaftliche und unmittelbar politische Fragen erreg ten die Gemüter; die endgültige Lebensform der weißhäutigen Siedler auf amerikanischem Boden mußte festgelegt werden. Im Süden lebten die von schwarzen Sklaven bedienten Weißen als Herrenmenschen, während im Norden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit selbstver ständlich nicht von der Hautfarbe abhängig waren. Als Abraham Lincoln, der führende Gegner der Sklaverei, zum Präsi denten gewählt wurde, fielen die Südstaaten von den Vereinigten Staa ten ab. Es kam zum Ausbruch von Feindseligkeiten. Die Einigkeit der Union war in Gefahr.
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Die Kämpfe in den südamerikanischen Republiken wurden durch ganz andere Beweggründe hervorgerufen. Die oft blutigen Unruhen waren Ausläufer der Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen der ehe maligen spanischen Vizekönigreiche, die Republiken geworden wa ren. Es wurde um die Staatsform gekämpft, um Macht- und Verwal tungsfragen, während Hautfarbe und Abstammung durchaus nicht als Zankapfel galten. Die Gärung innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika verlock te Napoleon III. den Mangel an Voraussicht seines großen Onkels gut zumachen, der Louisiana verkauft hatte. Napoleon III. wollte in der Neuen Welt Fuß fassen und bediente sich zu diesem Zweck des un befriedigten Ehrgeizes des jüngeren Bruders Kaiser Franz Josefs, des Erzherzogs Maximilian, dem er die Kaiserkrone Mexikos anbot, über die er zwar selbst nicht verfügte. Mit französischen Truppen lande te Maximilian auf mexikanischem Boden. Er war kein zweiter Cor tez. Die mexikanischen Republikaner unter der Führung von Benito Juarez waren durchaus nicht gewillt, sich Maximilian zu unterwerfen. Der von der Mehrheit der Mexikaner nicht anerkannte Kaiser von Me xiko, der mit einer belgischen Prinzessin verheiratet war, hielt zitternd Hof. Sein Bruder Franz Josef hatte ihm vorweg jede Hilfe verweigert, und die Hilfe des Kaisers der Franzosen, für den Maximilian die Ka stanien aus dem Feuer holen sollte, war bald in Frage gestellt, als die nord- und südamerikanischen Republiken sich auf die Monroe-Dok trin beriefen, die keine europäische Einmischung in Amerika dulde te. Die Truppen Napoleons III. konnten jeden Tag abberufen werden – und was dann?
Es gab nicht nur Einwanderer nach Amerika, es gab auch Heimkeh rer, die entweder vom Leben in Übersee enttäuscht waren oder deren Grund und Anlaß zur Auswanderung durch den Ablauf der Ereignisse nichtig gemacht worden waren. Einer der namhaftesten Heimkehrer war Guiseppe Garibaldi, ein Seemann, der politischer Neugierde und 267
Abenteuerlust nachgegeben hatte und an führender Stelle in die italie nische Freiheitsbewegung verwickelt worden war. Garibaldi war von Mazzini, dem bedeutenden zeitgenössischen Denker und Politiker, be einflußt gewesen und dem Zugriff der kaiserlich österreichischen Po lizei entflohen. Jetzt war er wieder zurück in Italien, bereit, seine un gebrochene Kampflust und seine in Südamerika erprobten freibeute rischen Fähigkeiten für die nationale Einigung Italiens einzusetzen. Er sammelte Freiwillige und unternahm von Sizilien aus den histori schen ›Zug der Tausend‹, die das bourbonische Königshaus beider Si zilien aus Neapel verjagten. Der heimliche Drahtzieher der Unterneh mung Garibaldis, der seine Gefolgsmänner schon in Südamerika aus Mangel an anderen Kleiderstoffen in rote Hemden uniformiert hatte, war Graf Cavour, der die Einigung Italiens mit dem gleichen Eifer her beiführen wollte wie Garibaldi –, aber nicht als Republik, sondern un ter der Herrschaft des Königs von Sardinien. Im politischen Empfin den war Garibaldi ein Schüler Mazzinis, als gefeierter Volksheld aber beeindruckten ihn der Glanz und die fürstlichen Versprechungen des Königs, der in Cavour einen so beredten Fürsprecher hatte, daß sich Garibaldi nach einem traurigen Gespräch mit Mazzini, den er in ei nem schäbigen Hotel in Neapel getroffen hatte, für Viktor Emanuel II. entschied, der zum König von Italien ausgerufen wurde.
Aber Italien war noch nicht zur Gänze geeinigt. Es fehlten noch Vene tien, das zum österreichischen Kaiserreich gehörte, und Rom, das Na poleon III. durch französische Truppen schützte, um sich die Gunst des Papstes zu erhalten, die er brauchte, um die Unterstützung der Ka tholiken in Frankreich nicht zu verlieren. Das war um so wichtiger für den Kaiser der Franzosen, als Papst Pius IX. die Kirche gegen die freigeistigen zeitgenössischen Strömungen in einer ›Enzyklika‹, einem päpstlichen Rundschreiben, uneingeschüchtert verteidigte und die un bedingte Unterordnung des Staates und der wissenschaftlichen For schung unter die Autorität der katholischen Kirche forderte. Ein Ver 268
zeichnis aller ›Irrlehren‹ wurde der Priesterschaft zugänglich gemacht, damit sie jede Irrlehre an Ort und Stelle von der Kanzel aus verdam men könne. Dieser päpstliche Versuch, die katholische Kirche gegen alle Angriffe vorweg zu verteidigen, ging dem später verkündigten ›Unfehlbarkeits dogma‹, durch das alle päpstlichen Lehrentscheidungen als unfehlbar bezeichnet wurden, voraus. Diese unverhüllte geistliche Kampfansa ge des Heiligen Stuhls gegen die weltlichen Mächte hatte ein Erstarken der Kirche zur Folge. Das führte zu Gegenschlägen, die auch im ›Kul turkampf‹ des deutschen Reiches zutage traten. Der Stellvertreter St. Petri hielt an seiner Macht und seinem Wir kungsbereich fest. Während sich die meisten europäischen Herrscher und ihre Staatsmänner mit einer oft überdies von Scheuklappen be hinderten Kurzsichtigkeit nur mit den unmittelbaren Tagesfragen be schäftigten, vermittelte die ›geheime Armee des Papstes‹ dem Heiligen Stuhl Nachrichten aus aller Welt, die sie während der Ausübung ih res Priesteramts ermittelte. Auch die protestantische Missionstätigkeit nahm zu und wurde durch die Errichtung von Spitälern und Schu len neuzeitlich ausgebaut. Die Glaubensmissionare berichteten ihren geistlichen Obrigkeiten, daß die europäische Lebensweise den An gehörigen aller Farben und Rassen angenehm und angemessen sein müsse, da die Durchdringung mit europäischen Lebensgewohnheiten zwar langsam, aber sicher vor sich gehe. Unwahrscheinlich rasch vollzog sich die ›Europäisierung‹ auf den ja panischen Inseln, die seit Jahrhunderten ein abgeschlossenes, von der großen Öffentlichkeit kaum beachtetes Leben geführt hatten. Nach dem Kommodore Perry, der Befehlshaber einer amerikanischen Flot teneinheit, die Öffnung der japanischen Häfen für den Handel der Ver einigten Staaten erzwungen hatte, schlossen sich England und Frank reich dem amerikanischen Handelsabkommen mit dem japanischen Kaiserreich an. Es wurde ein ertragreiches Geschäft. Aber keiner der drei Vertragspartner, deren Handel erheblichen Nutzen daraus zog, konnte oder wollte voraussehen, daß sich Japan in wenigen Jahren zu einer industriellen Großmacht im europäischen Sinne entwickeln wür 269
de. Obwohl sich nach außen hin eine gesellschaftliche Umschichtung in Japan vollzog, mit Titeln und Rängen, die der europäischen mon archischen Gesellschaftsform angeglichen waren, veränderten sich die heimischen Bräuche des Großteils der japanischen Bevölkerung kaum. Sie nahm von den Gewohnheiten, die mit den Waren und Produkti onsmethoden eingeführt wurden, nur die an, die ihr zusagten, behielt aber in ihren vier Wänden die ererbten Lebensformen und Glaubens grundsätze bei. Das ungeheure ›Reich der Mitte‹ auf dem benachbarten ostasiati schen Festland war für die europäische Durchdringung noch nicht aufnahmebereit. Es fehlte China die Einheit der Verwaltung und des Glaubens, die Japan die Umwandlung in einem kurzen Zeitraum mög lich machte. Das chinesische Kaiserreich war ein beliebter Tummel platz vor allem des englischen Handels, der die von der Ostindischen Kompanie errichteten Umschlagplätze gewaltig ausgebaut hatte und der Nachfrage nach immer vielfältigeren Waren nur angestrengt nach kam. Manche noch nicht in Kolonialräume eingeteilte, schier unüberseh bare Landstriche Asiens, die durch die militärische Überlegenheit eu ropäischer Mächte hätten zu ihren Kolonien gemacht werden können, wären dem Zugriff landgieriger Herrscher offen gewesen, wenn Eng land nicht verhindert hätte, daß die Nachzügler der kolonialen Kon junktur sich willkürlich breitmachten. Aber der afrikanische Erdteil bot Gelegenheit zur Aufteilung. Der Kongo wurde belgisch, die Sahara französisch. Trotz des da und dort vorauszusehenden englischen Ein spruchs mußte die dunkelhäutige Bevölkerung endloser Küsten- und Landstriche Afrikas gewärtig sein, daß das Aufziehen der Fahne eines weißen Herrschers das Ende ihrer Freiheit und Unabhängigkeit mit sich bringen würde. Gestützt auf die Überlegenheit ihrer Seemacht, hätten die Staats männer und großen Landesherren Londons die meisten Gebiete für sich beanspruchen können, aber sie erkannten, daß sie weniger Ver antwortung hatten und bessere Geschäfte machten, wenn sie Handels gesellschaften und Zweigstellen in unabhängigen Gebieten errichteten, 270
die sie sonst als Kolonien mühselig hätten verwalten müssen. Dieser Gesichtspunkt hatte sich in den südamerikanischen Republiken be währt und im brasilianischen Kaiserreich, dessen Wirtschaft immer mehr in die Hände oder doch unter die Oberaufsicht englischer und amerikanischer Unternehmer geriet.
IV Bevor der als königlich preußischer Gesandter zum Bundestag in Frankfurt und ein wenig später als Gesandter nach Petersburg und nach Paris ›kaltgestellte‹ Otto von Bismarck es erreichte, zum preußi schen Ministerpräsidenten ernannt zu werden, hatten nur ganz weni ge zeitgenössische Herrscher und Staatsmänner die Maske seiner Jo vialität durchschaut. Der neue König von Preußen, Wilhelm I. hatte noch vor dem Tode seines Vaters die Versetzung Bismarcks vorgenommen. Er selbst such te eine friedliche Lösung mit Österreich und wollte sich in Frankfurt nicht durch einen Mann vertreten lassen, der der Überzeugung Aus druck gegeben hatte, daß eine Verständigung mit Österreich über die deutschen Angelegenheiten nur mit ›Eisen und Blut‹ erreicht werden könne. Die im Grunde unfreiwilligen Aufenthalte Bismarcks in Rußland und Frankreich trugen ausgezeichnete Früchte für ihn. Mit offenen Augen und hellem Kopf durchschaute und erfaßte er die Lage der öst lichen und westlichen Nachbarländer Preußens. Er knüpfte Beziehun gen zu den führenden Persönlichkeiten in Petersburg und in Paris an, natürlich auch zu Napoleon III. der bemüht war, seine innere Unsi cherheit durch eine krampfhafte Stärkung seines äußeren Ansehens zu verbergen. Diese ›Prestige-Politik‹ Napoleons sich gegebenfalls zunut ze zu machen, war ein rasch gefaßter Entschluß Bismarcks. Die räum liche Nähe veranlaßte ihn zu einem Besuch Londons. Dort begegne te er dem großen englischen Staatsmann Disraeli, der nach einer Un 271
terhaltung mit Bismarck sagte: »Paßt auf diesen Mann auf. Der meint, was er sagt.« Das war tatsächlich eine in der Diplomatie ungewohnte Eigenschaft Bismarcks. Er wagte zu sagen, was er dachte, obwohl die Wahrheit nicht zu den üblichen ›Vokabeln‹ der Diplomatensprache und auch nicht in die üblichen Gespräche von Ministern mit ihren Herrschern gehörte. Aber auch im Audienzsaal oder am Beratungstisch seines Kö nigs sagte Bismarck die ›Wahrheit‹ – wenn es ihm paßte. Er kam so sehr in den Ruf bedingungsloser Wahrheitsliebe, daß er auch jede Un wahrheit überzeugend glaubhaft machen konnte. Dabei kam ihm sein eindrucksvolles Aussehen zugute. Sein Gesicht, das je nach der Gele genheit oder je nach dem Wesen seines Gegenüber schalkhaft-gewin nende Freundlichkeit oder eiskalte Ablehnung ausdrücken konnte, er gänzte seine unendlich begabte stimmliche Gewandtheit, die alle Mo dulationen vom zärtlichsten Geflüster bis zum gröbsten Geschrei be herrschte. Trotz oder gerade wegen dieser unnachahmlichen Schau spielkunst, die ihn in so verschiedenen Rollen zeigte, vermochte Bis marck doch den Eindruck einer unwandelbaren, in Erz gegossenen lauteren Persönlichkeit zu vermitteln. Ebenso vielfältig wie seine äußeren Erscheinungsformen waren auch die Variationen seines Denkens und seiner Äußerungen. Davon le gen die von ihm selbst herausgegebenen ›Gedanken und Erinnerun gen‹ Zeugnis ab, wenngleich es ihm gelang, darin manches, was er ge sagt, gedacht, geschrieben und getan hatte, ebenso liebenswürdig wie schroff zu rechtfertigen. War Bismarck am Rande seines Lebens mit seinem Lebenswerk einverstanden? Stand er zu der von ihm geprägten ›gesunden Realpolitik‹, die mit gegebenen Tatsachen rechnete und sich vor Illusionen scheute, oder sah er am Ende ein, daß er in manchem vielleicht besser anders gehandelt hätte? Eine sorgfältige Zergliederung der Gedankenwelt und Handlungs weise Bismarcks mußte ergeben, daß die Voraussetzungen seiner staatsmännischen Leistungen tatsächlich die Gegebenheiten der Au genblicke waren, Gegebenheiten, die sich mit der Entwicklung und dem Ablauf der Zeit verändern mußten und daher keine ›Gegeben 272
heiten‹ bleiben konnten. Die Stärke Bismarcks, durch deren Ausnüt zung er ›sein‹ Preußen so unendlich stärkte, waren die unvergleich liche kühle, vorurteilslose Beurteilung jeder Lage und das Ausnutzen der Möglichkeiten. Er war ein überragendes Genie der Staatskunst ge wesen, das alle Techniken der Diplomaten virtuos zu handhaben ver stand. Zweifellos hat er auch Schwächen gehabt. Aber man darf nicht der Versuchung erliegen, seine historischen Leistungen vom Ende des deutschen Kaiserreiches her beurteilen zu wollen: was nach seinem er zwungenen Rücktritt geschah, darauf hatte er keinen direkten Einfluß mehr. Vermutlich hätte gerade er auch den neuen historischen Vor aussetzungen gerecht werden können, die sich kurz vor der Jahrhun dertwende ergaben. Daß seine Nachfolger oft nicht mit dem umzuge hen wußten, was er ihnen als Erbe hinterlassen hatte, darf nicht ihm als Schuld angerechnet werden. Inwieweit der Kampf Bismarcks gegen den Liberalismus zugunsten der ›gesunden Realpolitik‹ des preußischen Nationalismus sowie die von ihm angeregte Erziehung zum ›militärischen Denken‹, die mit neuzeitlichen Mitteln die Tätigkeit Friedrich Wilhelms I. wiederholte, dazu beitrugen, daß es möglich wurde, das Volk der Dichter und Den ker zu einem späteren Zeitpunkt in eine kriegsbereite Nation für die Machthaber des Dritten Reiches zu verwandeln, die den Haß und die Rache der ganzen Welt auf sich zogen, so daß am Ende Deutschland in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt wurde und auf die Hil fe der Sieger zum Wiederaufbau angewiesen war – diese Frage dürfte sehr schwer zu entscheiden sein. Ebenso schwer die andere Frage, ob es ohne das gewaltige und ge walttätige Eingreifen Bismarcks im neunzehnten Jahrhundert gelun gen wäre, das Deutsche Reich durch eine liberale Volksbewegung als Einheitsstaat mit parlamentarischer Regierungsform zu gründen. Die bedeutsamen Ereignisse der Laufbahn Bismarcks wurden von ihm selbst herbeigeführt. Dabei stand er, eine herausragende Persön lichkeit, fast stets unzulänglichen Gegnern gegenüber. Da war Napo leon III. den Bismarck am Gängelband von Versprechungen hielt. Da war Kaiser Franz Josef I. der Bismarck zutraulich fragte, ob die Ver 273
träge, die der preußische Ministerpräsident mit ihm geschlossen hat te, auch für Österreich günstig seien, und der gewiß an der Möglich keit eines Zwiegesprächs gezweifelt hätte, das Bismarck mit dem italie nischen Gesandten de Launay während eines Empfanges führte: Bis marck wies in heiterem Spott auf den Degen des kaiserlich österreichi schen Gesandten Graf Karolyi und sagte: »Dieser Degen, den haben wir gemietet.« »Für welchen Preis?« fragte Launay. Bismarck lachte: »Er arbeitet umsonst für den König von Preußen«, und er erzählte auch dem fran zösischen Botschafter den Witz, den er soeben gemacht hatte. Es war ein trauriger Witz für Österreich, denn Kaiser Franz Josef hatte Bismarck seine Waffenhilfe zur Lösung der schleswig-holsteini schen Frage zugesichert. Nach dem Tode Friedrichs VII. von Däne mark hatte sein Nachfolger Christian IX. die Einverleibung SchleswigHolsteins in Dänemark durch eine dänische Gesamtstaatsverfassung vorgesehen. Das widersprach dem anerkannten ›Londoner Protokoll‹, das verfügte, daß Schleswig-Holstein Dänemark nicht einverleibt wer den dürfe, wenn auch eine gemeinsame Thronfolge für Dänemark und die Herzogtümer festgelegt war. Es gab auch einen Vertrag des Her zogs von Augustenburg, der mit zweihundert Millionen Talern dafür entschädigt worden war, daß er ›für Uns und Unsere Familie bei fürst lichem Wort und Ehre‹ erklärt hatte, nichts gegen die dänische Thron folge in Schleswig-Holstein zu unternehmen. Da aber sein Erbprinz dem Vertrag nicht beigetreten war, übertrug der Herzog seine ›Rechte‹ auf Schleswig-Holstein dem Erbprinzen. Wie verworren die Frage Schleswig-Holstein in allen ihren Veräste lungen war, stellte der englische Staatsmann Lord Palmerston fest: »Nur drei Personen haben sie je verstanden«, sagte er, »der eine war Prinz Albert. Er ist verstorben. Der zweite war ein deutscher Professor. Er ist verrückt geworden. Der dritte bin ich, und ich habe alles wieder vergessen.« Für Bismarck war die schleswig-holsteinsche Frage nicht verworren. Er nützte die nationale Volksbewegung zugunsten des Erbprinzen von Augustenburg, den er später fallenließ, aus und sicherte die Neutralität 274
der Großmächte. Er hatte genug verhandelt, jetzt handelte er. Da der König von Dänemark die Aufhebung der Verfassung abgelehnt hatte, marschierten preußische und österreichische Truppen – Schulter an Schulter – in Schleswig-Holstein ein. Nach dem ›Frieden von Wien‹, der der siegreichen Unternehmung folgte, zeigte Bismarck Österreich bald nur noch die kalte Schulter. Es gab Verhandlungen aller Art, auch im Sinne der Annexion der Herzogtümer durch Preußen, während Entschädigungen für Österreich vorgesehen waren, wie zum Beispiel die preußische Unterstützung für die italienischen Ansprüche Öster reichs. Aber die Hoffnungen Franz Josefs und seines Ministerpräsi denten Rechberg dauerten nicht lange, denn das von Bismarck längst geheim vorbereitete preußische Bündnis mit Italien trat bald offen in Geltung – trotz seiner gegenteiligen freundschaftlichen Zusicherun gen im freundlichen Gastein. Der englische Bevollmächtigte Lord Cla rendon erklärte damals: »Bismarck ist ein Mann ohne Treu und Glau ben, und Rechberg ist sein Negersklave.« Aber das Spiel Bismarcks war noch rücksichtsloser als Lord Clarendon angenommen hatte. Zur Feier des gemeinsamen österreichisch-preußischen ›Sieges‹ über Dänemark hatte Graf Rechberg die in Wien anwesenden Staatsmän ner und Diplomaten auf sein Landgut eingeladen. Das gab dem in den Grafenstand erhobenen Otto von Bismarck eine gute, unauffälli ge Gelegenheit, sich mit dem Herzog von Grammont, dem Botschaf ter Napoleons III. beiläufig unterhalten zu können. Es fielen nur weni ge Worte, aber sie klangen wie Musik in den Ohren des Herzogs. Bis marck versicherte ihm, Preußen werde imstande sein, Napoleon III. das linke Rheinufer zu verschaffen. Er sagte wörtlich: »Wir können besser als jeder andere mit Frankreich marschieren.« Keine vertrauli che Nachricht konnte für den Kaiser der Franzosen erfreulicher sein als diese. Bismarck hatte mit unfehlbarer Geschicklichkeit seinen Ehr geiz an der richtigen Stelle berührt. Zu diesem Zeitpunkt war Napo leon III. für jede Verlockung empfänglich. Seine amerikanischen Plä ne waren gescheitert. Abraham Lincoln hatte die von Napoleon III. geförderten Südstaaten niedergerungen. Die ›Union‹, die Einheit der Vereinigten Staaten, war hergestellt, die allgemeine Abschaffung der 275
Sklaverei anerkannt. Die Gewährung des Stimmrechts an die ehema ligen Negersklaven stand bevor, und es gab keine Aussicht, daran zu denken, die von Napoleon I. so billig verkaufte Kolonie Louisiana für Frankreich wiederzugewinnen. Dies um so weniger, als das mexikani sche Abenteuer Kaiser Maximilians, das Napoleon III. einen kräftigen Stützpunkt gegen die Vereinigten Staaten hätte geben sollen, seinem traurigen Ende entgegenging. Der Prestigeverlust Napoleons III. war um so bedenklicher, als das Anschwellen der liberalen Bewegung in Frankreich seine Stellung schwächte. Er bereitete eine Armeereform vor, eine Modernisierung der Bewaffnung, wie sie in Preußen schon durch den Kriegsmini ster Roon und den Generalstabschef Moltke – von Bismarck mit dem Einsatz seines ganzen Einflusses begünstigt – vollzogen worden war. Wenn Preußen wirklich beabsichtigte, mit Frankreich zu marschieren, so wie Grammont es berichtet hatte, dann würde er, Napoleon III. mit den Waffen die Fehlschläge gutmachen können, die er als Staatsmann und Politiker erlitten hatte. Er war durchaus nicht dagegen, daß ein Krieg zwischen Preußen und Österreich ausbrach. Und er war auch dafür, daß Italien eingriff. Wenn sich seine drei bedeutendsten östlichen Nachbarn gegenseitig in lang wierigen Feindseligkeiten zerfleischten, würde ihm das Zeit geben, sei ne Rüstungen zu vollenden. Seine Nachbarn würden sich schwächen, und er würde stark sein. Diese Einstellung Napoleons III. hatte Bismarck bezweckt. Er hielt sich zwar an den Grundsatz Friedrichs des Großen: »Viel Feind', viel Ehr'«, aber er schränkte ihn doch ein: »Nicht zu viele Feinde!« Die Feinde, die er bereit war zu bekriegen und zu besiegen, genüg ten Bismarck fürs erste. Helmuth von Moltke, der preußische Gene ralstabschef, hatte alle nur denkbaren Möglichkeiten der Feldzugspla nung schon ausgearbeitet. Er war ein Wissenschaftler der Kriegskunst, die er für Laien in wenigen Worten zusammenfaßte: »Getrennt mar schieren, vereint schlagen.« Die doppelte Umfassung des Gegners im Angriff – nicht in der Verteidigung – war das strategische Ziel Molt kes, das zu verwirklichen ihm auch gelang. Der von Bismarck mit al 276
len Mitteln der Diplomatie vorbereitete Krieg gegen Österreich wurde durch den Antrag Preußens beim Bundestag in Frankfurt, eine Bun desreform unter Ausschluß Ostereichs vorzunehmen, ausgelöst. Die Gesandten Kaiser Franz Josefs ›sicherten‹ sich in aller Eile die Neu tralität Napoleons III. dem sie die Abtretung Venetiens dafür verspra chen, und veranlaßten den Deutschen Bundestag, einen Teil der Bun desarmee zu mobilisieren. Jetzt erklärte Preußen die ›Bundesakte‹ für gebrochen und trat aus dem Deutschen Bund aus. Die Königreiche Sachsen und Hannover sowie Hessen lehnten Preußens Aufforderung ab, sich dem Reformvorschlag anzuschließen. Auch die Könige von Bayern und Württemberg traten auf Österreichs Seite. An den südlichen Grenzen des österreichischen Kaiserreichs war die italienische Armee schon aufmarschiert. Für Österreich erfolgreiche Kampfhandlungen hatten eingesetzt. Die österreichische Flotte fuhr in die Adria aus. Auch die Bundesgenossen Österreichs setzten sich in Bewegung, aber die hannoversche Armee war der Moltkeschen Krieg führung nicht gewachsen. Sie kapitulierte. Und während die Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen jetzt nur noch darauf bedacht waren, ihre eigenen Landesgrenzen zu decken, marschierten preußi sche Truppen getrennt in Böhmen ein und siegten vereint über die österreichische Armee bei Königgrätz. Der Feldzug hatte drei Wochen gedauert. Es gelang Franz Josef noch, die Reste seiner geschlagenen, böhmischen Armee mit der aus Itali en in Eile herbeigeführten Südarmee zu vereinigen, die Donaulinie zu besetzen, um Wien zu verteidigen, als zu seinem Erstaunen Bismarck trotz seiner militärischen Überlegenheit plötzlich bereit war, einen Vorfrieden abzuschließen. Rußland drohte, sich einzumischen. Na poleon III. hatte vermittelt. Die Italiener hatten den Po überschritten, um Venetien nicht als Geschenk von Napoleon III. zu erhalten. War das nicht ein günstiger Augenblick für Bismarck, dem besiegten Kai ser Franz Josef die Bundesbrüderschaft anzubieten, um den Ausbruch eines Weltkrieges zu verhindern und sicherzustellen, daß die von ihm gleichfalls aufgewiegelten Ungarn das österreichische Kaiserreich nicht zerstückelten? Bismarck schloß den ›Frieden von Prag‹, in dem Öster 277
reich der Auflösung des Deutschen Bundes zustimmte, »nur« Venetien abtrat, auf alle etwaigen Ansprüche in Schleswig-Holstein verzichtete und zwanzig Millionen Taler Kriegsentschädigung zahlte. Bismarck tat, als sei er taub auf beiden Ohren, als Napoleon III. nun als Belohnung für seine Neutralität Forderungen auf deutsche Ge biete stellte. Da der Kaiser der Franzosen in seiner Enttäuschung mit Kriegsdrohungen nicht zurückhielt, wollte Bismarck ein Schutz- und Trutzbündnis aller deutschen Herrscher gegen Napoleon III. zustande bringen. Er schloß Frieden mit Baden, Bayern, Württemberg und auch mit Sachsen, obwohl König Wilhelm I. auf Bestrafung des Königs von Sachsen für sein Bündnis mit Österreich bestand. Bismarck versöhn te seinen König, indem er Kurhessen, Nassau und Frankfurt mit Preu ßen vereinigte. Das erschien ihm zur Abrundung des Königreichs un erläßlich. Auch mit Hannover verfuhr er nicht nachsichtig. Als Stu dent hatte er dem Korps ›Hannovera‹ angehört. Jetzt wollte er, daß das Königreich Hannover zu Preußen gehöre.
V Das Verlangen, die Vergangenheit wieder erstehen zu lassen – nicht so sehr die gute alte Zeit als die ›großen Zeiten‹ –, bewegte die poli tischen Träumer Italiens ebenso wie den gesunden Realpolitiker Bis marck. Das neue Aufleben der Begriffe ›Ewiges Rom‹ und ›Römisches Imperium‹ bereitete einen gefährlichen Abschnitt der italienischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vor, und im mitteleuropä ischen Raum wollte Bismarck das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, wenn auch in preußischer Prägung, wiedergestalten. Diese verklärten und die Gegenwart gefährlich verunklärenden Rückblicke in das längst versunkene Gestern waren auf die romanti schen Vorstellungen zurückzuführen, die der Wunsch nach nationa lem Bewußtsein und nach Stärkung des Selbstbewußtseins der italieni schen und deutschsprachigen Männer und Frauen in den Unterdrük 278
kungs- und Befreiungskriegen gezeitigt hatte. Die Schlagworte ›Tradi tion‹ und ›historische Bedingtheit‹ waren ausgezeichnete Hilfsmittel zur Festigung der monarchischen Grundsätze. Sie waren konservativ und daher gegen jede fortschrittliche Änderung und Neuerung. Es mochte widersinnig erscheinen, daß die zeitgenössische Werbung für die Wiedergeburt des Altertums oder des Mittelalters mit dem neuzeitlichen Aufschwung der industriellen und sozialen Entwick lung zeitlich zusammenfiel. Doch der scheinbare Widersinn erklärte sich durch die Entwicklung der sich immer deutlicher voneinander ab grenzenden Lager. Auf der einen Seite wurde mit allen Kräften darum gekämpft, daß alles bliebe, wie es war, oder wieder würde, wie es gewe sen war, auf der anderen, daß auf den Trümmern der alten eine neue Gesellschaftsordnung entstehe. Durch sein Werk ›Das Kapital‹ und die Gründung der ›Internatio nale‹, die, dem Kommunistischen Manifest gemäß, das Ziel hatte, den Aufruf ›Proletarier aller Länder vereinigt euch‹ zu verwirklichen, gab Karl Marx der sozialistischen Bewegung die zusammengefaßte, geisti ge Grundlage und den Antrieb zum Zusammengehörigkeitsgefühl al ler Lohnarbeiter innerhalb der kapitalistischen Welt – mit dem höhe ren Ziel der allgemeinen Menschheitsverbrüderung. Die ›Internationale Arbeiterassoziation‹ war der erste Zusammen schluß des Proletariats. Alle Richtungen der Arbeiterbewegung waren vereinigt. Aber nicht alle einigten sich auf den von Karl Marx vorge schriebenen Endzweck, ›die Diktatur des Proletariats‹. Noch vor der Gründung der ›Internationale‹ hatte Ferdinand Las salle den ›Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‹ geschaffen und seine Forderungen auf das allgemeine Wahlrecht und allgemeine, staatlich unterstützte Produktionsgenossenschaften beschränkt. Durch den frühen Tod Lassalles kam es nicht zu einem Zusammenstoß mit Marx, der jede Zusammenarbeit mit bürgerlichen Richtungen im gegebenen Staat als ein ›Aufgeben des Prinzips‹ verwarf. In Besprechungen Bis marcks mit Lassalle war ›die Möglichkeit eines sozialen Königreichs‹ aufgetaucht, aber das mochte nur ein Versuchsballon Bismarcks gewe sen sein, der dem gefährlichen politischen Gegner, mit dem ihn aller 279
dings die Gegnerschaft gegen die bürgerliche Fortschrittspartei ver band, hatte auf den Zahn fühlen wollen. Bismarck wurde der erklär te Feind des Sozialismus. »Wenn ich keine Küken haben will, muß ich die Eier zerschlagen«, sagte er, als es sich darum handelte, die ›Sozia listische Arbeiterpartei‹ anzugreifen, die Wilhelm Liebknecht und Au gust Bebel ins Leben gerufen hatten. Die ›Sozialdemokratie‹ beruhte wohl auf marxistischen Grundlagen, wich jedoch von der Forderung Karl Marx' nach bedingungslosen re volutionären Maßnahmen ab und erstrebte eine Umgestaltung der po litischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit demokrati schen Mitteln, die den örtlichen Gegebenheiten jeweils angepaßt sein sollten. Immer wieder und allerorts mit den schärfsten Maßnahmen bekämpft, erhielt sich die sozialdemokratische Bewegung gegen alle Angriffe. Sie blieb auf dem goldenen Mittel- und Vermittlungsweg und war durch ihre inneren Werte stark genug, den Tod ihrer mutigsten Verfechter und das Leben ihrer erbittertsten Feinde zu überdauern.
VI Die Katastrophe von Königgrätz und ihre Folgen wirkten so nieder schmetternd auf Franz Josef I., daß die Nachricht von der Erschießung seines Bruders Maximilian durch die mexikanischen Republikaner seine Niedergeschlagenheit kaum noch vermehren konnte. Er litt vor übergehend unter der Vorstellung, daß ein Fluch auf ihm laste. Seine Gemütsstarre nahm so überhand, daß ihn Kaiserin Elisabeth zu mei den begann. Die lebensvolle junge Frau, die Franz Josef den Kronprin zen Rudolf und einige Töchter geboren hatte, entstammte dem ural ten Geschlecht der Wittelsbacher, dessen Angehörige sich auch in bür gerlichen Berufen betätigten, lebensfreudig und kunstsinnig waren, oft mit bedenklicher Übertriebenheit wie König Ludwig II. von Bayern, der für geisteskrank erklärt werden mußte. In der ausweglosen Situation Franz Josefs bewies Elisabeth ihr aus 280
geprägtes Pflichtbewußtsein und half ihm durch ihr liebenswürdi ges Wesen den ungarischen Widerspenstigen gegenüber, den öster reichisch-ungarischen Ausgleich zuwege zu bringen, durch den die ›Österreichisch-Ungarische Monarchie‹ entstand, die sich kaiserlich königlich in der Person Franz Josefs verkörperte. Graf Andrassy, der für die unversöhnlichen Ungarn verhandelt hatte, war zwar vom Zau ber Elisabeths hingerissen, aber er wußte, daß die Spaltung in ›Cisleit hanien‹ und ›Transleithanien‹, zu der er beigetragen hatte, der Anfang vom Ende Österreichs war. Es gab nun einen österreichischen und einen ungarischen Minister präsidenten und daher zwei nur allzu oft entgegengesetzte Meinun gen und Belange, die aber immerhin zwei wesentliche Gemeinsam keiten hatten: den Herrscher und das Heer. Franz Josef fühlte sich den Ungarn und den im Königreich Ungarn lebenden Völkern fremd. Er wollte ein deutscher Fürst sein, obwohl er als Kaiser von Österreich aus dem deutschen Bundesverband ausgeschlossen worden war. Um so ge neigter und gefügiger zeigte er sich den Lockungen und Zusicherun gen Bismarcks, dem der Kaiser von Österreich und König von Ungarn als Bundesgenosse im Bedarfsfall genehm war.
Während Bismarck mit seiner gewohnten Übersicht und Voraussicht die Möglichkeit einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung ins Auge faßte und alle staatsmännischen Künste spielen ließ, um sie mi litärisch und politisch vorzubereiten, vollzog sich durch den Bau der ›Pazifischen Eisenbahn‹ eine gewaltige, allerdings friedliche Erobe rung auf amerikanischem Boden. Ein Tausende von Kilometern lan ger Schienenstrang wurde durch die unwegsame Wildnis gelegt, um den Atlantischen Ozean mit dem Pazifischen zu verbinden und das Neuland des Westens zu erschließen. Dieser ungeheure Zuwachs er giebiger Gebiete, die der Zivilisation aufgeschlossen werden sollten, genügte den aus allen Ländern der Erde stammenden, in ein Volk zu sammenschmelzenden Amerikanern nicht. Die Vereinigten Staaten 281
kauften Alaska für bare Münze von Rußland. Sie waren davon über zeugt, daß ihre wachsende Bevölkerung schließlich auch diese weiten Landstriche bevölkern würde – denn die unentwegte Völkerwande rung hielt an. Von diesen bedeutsamen Ereignissen in der Neuen Welt nahm die europäische Öffentlichkeit nur oberflächlich Kenntnis. Die Schaffung von ›Landbrücken‹ schien von nicht so weittragender Bedeutung zu sein, wie die Schaffung von Kanälen, die Durchstechung von Land, um die Durchfahrt von Meer zu Meer zu ermöglichen. Nach dem unglücklichen Ende seines mexikanischen Abenteuers setzte Napoleon III. alles daran, den Franzosen die Weltweite seiner staatsmännischen Fähigkeiten durch offenkundige Leistungen zu be weisen. Französische Truppen hatten Cochinchina in Hinterindien be setzt. Aber der Kaiser der Franzosen hatte noch andere ehrgeizige Plä ne, um den Kolonialbesitz Frankreichs in Asien zu vermehren. Deshalb hatte er auch den Suezkanal gefördert, den eine internationale Gesell schaft mit französischer Aktienmehrheit erbaute. Die Einweihung der Wasserstraße, die vom Mittelmeer in das Rote Meer führte, sollte eine großartige Kundgebung für Napoleon III. werden. Er war mit seinem prächtigen Hofstaat dabei, als ein französisches Schiff mit der Kaiserin Eugenie als erstes durch den Suezkanal fuhr. Die Genugtuung, daß da durch sein Prestige wiederhergestellt sei, verleitete ihn, in eine natürli che Falle zu gehen, die Bismarck längst vorausgesehen hatte.
Nach dem ›Frieden von Prag‹ hatte Bismarck den ›Norddeutschen Bund‹ gegründet und dafür Sorge getragen, daß der verfassungsgeben de ›Norddeutsche Reichstag‹ aufgrund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts gewählt wurde. Simson, der erste Präsident des ›Norddeutschen Reichstags‹, war der letzte Präsident der ›Frankfurter Nationalversammlung‹. Bismarck wurde Kanzler des Norddeutschen Bundes. In dieser neuen Würde wuchs er über sein gleichfalls beibe haltenes Amt als preußischer Ministerpräsident hinaus und nahm es 282
auf sich, den durch eine Reihe von örtlichen Bürgerkriegen und durch den Ausbruch einer Revolution umstrittenen Thron Spaniens mit ei nem Fürsten seiner Wahl zu besetzen. Sein Mann war der Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen. Die spürbar wachsende Macht Preußens hatte Napoleon III. schon schlaflose Nächte bereitet, aber daß ein Hohenzoller nun auch als süd licher Nachbar jenseits der Pyrenäen herrschen sollte, das erschien ihm untragbar. Die Erregung des Kaisers der Franzosen machte sich in ei ner unmißverständlich geharnischten Kammererklärung Luft. Um ei nen drohenden Krieg zu vermeiden, zogen die südlichen Hohenzol lern im Einvernehmen mit König Wilhelm von Preußen die Anwart schaft auf den Thron von Spanien zurück. Das war ein Erfolg Napo leons III. den er voll und ganz ausnützen wollte. Er sandte einen Bot schafter zu König Wilhelm nach Bad Ems, mit der Aufforderung, der König möge sich verpflichten, auch in Zukunft nicht zu erlauben, daß ein Mitglied des Hauses Hohenzollern die spanische Krone annehme. Wilhelm lehnte die Aufforderung ab und telegrafierte Bismarck den Inhalt seiner Gespräche mit dem Botschafter Napoleons III. Die Veröf fentlichung dieser ›Emser Depesche‹, die die Zumutung Napoleons und die Abweisung Wilhelms in ›verschärfender Kürze‹ enthielt, empörte den Kaiser der Franzosen so sehr, daß er sich zur Kriegserklärung an Preußen hinreißen ließ. Die Emser Depesche war am 13. Juli in Druck gegangen; zwölf Tage später veröffentlichte die Londoner ›Times‹ einen kurz vorher datier ten Vertragsentwurf, aus dem hervorging, daß sich Frankreich um die Zustimmung Preußens bemüht hatte, Belgien zu annektieren. Die rücksichtslose Eroberungslust Napoleons III. war in dieser Veröffent lichung so unmißverständlich dargestellt, daß sich kein europäischer Fürst seiner Herrschaft mehr sicher fühlen konnte. Diese Form des Angriffs in dem von Bismarck entfesselten Zeitungs krieg war damals noch ungewohnt; sie führte jedoch dazu, daß die süddeutschen Herrscher bereit waren, dem Norddeutschen Bund ge gen Napoleon Waffenhilfe zu leisten. Alle anderen Nachbarn des Nord deutschen Bundes blieben neutral. Die Drohung des preußenfreund 283
lichen Kaisers Alexander II. von Rußland, daß er im Falle eines Ein greifens Franz Josefs auf Seiten Frankreichs Österreich angreifen wür de, verhinderte die schon erwogene österreichische Unterstützung Na poleons III. Inzwischen hatte die deutsche Heeresleitung auf Befehl Moltkes die Offensive in Frankreich begonnen. Es kam am 1. September zur Schlacht bei Sedan. Das französische Heer wurde vollkommen ge schlagen und Napoleon III. gefangengenommen. Er dankte ab und durfte sich ungehindert in die Verbannung nach England begeben.
Der klägliche Zusammenbruch seines Kaisertums führte folgerichtig zur Beendigung der Politik Napoleons III. In Frankreich wurde die ›Dritte Republik‹ ausgerufen. Die französischen Truppen, die Rom be setzt gehalten hatten, wurden abgezogen und der Kirchenstaat Italien einverleibt. Rom wurde die Hauptstadt des Königreichs. Ein ›Garan tiegesetz‹, dessen Geltung Papst Pius IX. grundsätzlich zurückwies, ge währleistete dem Heiligen Vater die Vorrechte eines weltlichen Souve räns, den Vatikan als Wohnsitz, die Peterskirche und den Lateranpa last. Es gab nun ein ebenso einiges Italien, wie es ein einiges Deutsch land gab, aber hier wie dort schienen die Einigkeit und die Geschlos senheit der Staatsführung durch die Bestrebungen und Kampfansagen der Parteien in Frage gestellt. Die soziale Bewegung vor allem galt den Herrschern und ihren Staatsmännern als die drohende Gefahr der Zu kunft. Daß sie sich durch diese Angst zu Gewaltmaßnahmen hinrei ßen ließen, wurde auch durch die blutigen Ereignisse der ›Commune‹ in Paris ausgelöst. Man sah es: ein Funke konnte den Brand der Revo lution entfachen. Als ›Festung‹ war Paris auf ausdrücklichen Wunsch Bismarcks be schossen worden und hatte kapituliert. Trotz des Aufrufs General Gambettas, »bis aufs Messer zu kämpfen«, waren die französischen Heerführer, einer nach dem anderen, von deutschen Generälen ge 284
schlagen worden. Endlich war in Bordeaux die Nationalversammlung zusammengetreten und hatte den schon sehr alten ehemaligen Mini sterpräsidenten Louis Philippes, den Historiker Thiers, an die Spitze der Regierung gestellt. Ihm war es gelungen, in Versailles einen Vor frieden mit Bismarck abzuschließen. Aber daß es nun in Frankreich auch in der Dritten Republik so bleiben sollte, wie es gewesen war, da mit wollten sich die Sozialisten und Kommunisten im Pariser Gemein derat nicht zufriedengeben. Sie riefen das Volk auf die Barrikaden, um dem Sozialismus zur Macht zu verhelfen. Nach erbitterten Barrikaden- und Straßenschlachten gelang es den Regierungstruppen unter Marschall MacMahon, Paris zu erobern. In den letzten Tagen des Kampfes, der zu ihren Ungunsten ausgehen mußte, erschossen die Aufständischen ihre Geiseln und steckten öf fentliche Gebäude, darunter auch die Tuilerien, in Brand. Die auflo dernden Feuer sollten ein Fanal sein, eine ›Propaganda der Tat‹, die die Entschlossenheit der Sozialisten und Kommunisten in der Verfol gung ihrer Ziele zum unmißverständlichen Ausdruck bringen sollte. Es nützte nicht viel, daß ein französisches Gesetz die Zugehörigkeit zu internationalen, revolutionären Arbeiterverbänden unter Strafe stell te. Die soziale Bewegung in Frankreich war trotz Zehntausender von Strafurteilen und Deportationen weder in den Gefängnissen verdorrt noch im Blute erstickt worden. Dennoch beschäftigte die meisten Poli tiker der Dritten Republik der Gedanke an die ›Revanche‹ am lebhaf testen. Die Vergeltung und der Wunsch, die verlorengegangene Größe Frankreichs und die im Frieden von Versailles abgetretenen Gebiete wiederzugewinnen, beherrschte die Politik Frankreichs.
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VII
Die französischen Patrioten konnten es auch nicht vergessen und nicht verwinden, daß in ihrem Versailles, das ihnen Sinnbild für die Größe Frankreichs war, in der Zeit ihrer traurigsten Niederlage eine trium phierende Festlichkeit abgehalten worden war: die Ausrufung König Wilhelms I. von Preußen zum Deutschen Kaiser. Dieser Feierlichkeit im Spiegelsaal des Sonnenkönigs waren über aus geschickte Verhandlungen Bismarcks mit den süddeutschen Herr schern vorausgegangen. Er hatte die einen durch die Einräumung von Sonderrechten und durch Versprechungen gewonnen und den Für sten, die mit der Anerkennung des Königs von Preußen als ihren kai serlichen Oberherrn noch gezögert hatten, mit Drohungen oder der Zusicherung erhöhter Einkünfte nachgeholfen. Der vom ersten deutschen Kaiser in den Fürstenstand erhobene und zum Reichskanzler ernannte Staatsmann war darauf aus gewe sen, das Kaiserreich seiner Träume zu verwirklichen. Befriedigt von seinem Erfolg, schloß er mit Frankreich einen verhältnismäßig mil den Frieden, um den noch schwebenden Volkskrieg zu beenden. Die Abtretung Elsaß-Lothringens und die Zahlung von fünf Milliarden Frank Kriegsentschädigung waren die Bedingungen, die Frankreich annahm. Nach seiner Rückkehr nach Berlin gab Bismarck wiederholt die Er klärung ab, daß sein Kaiser und er nun ›saturiert‹ seien, aber er stell te die Rüstungen nicht ein. Er fühlte sich um so mehr im Recht, als Frankreich die allgemeine Wehrpflicht einführte und General Gam betta leidenschaftlich in einer Rede erklärte: »Denken wir immer an das, was wir zu tun haben, sprechen wir aber nie davon.« In einer deutschen Zeitung erschien bald darauf ein von Bismarck 286
veranlaßter Aufsatz mit dem alarmierenden Titel: »Ist der Krieg in Sicht?« Englische und russische Diplomaten wurden beim Reichskanz ler vorstellig, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Die Ant wort Bismarcks war, er wolle nichts anderes als den Frieden. Aber war ihm auch zu trauen? Der englische Staatsmann Disraeli, dem Bismarck schon aufgefal len war, als er noch unbekannt war, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jede Äußerung oder Handlung des deutschen Reichskanzlers zu zer gliedern und auszulegen. Die deutsche Machtentwicklung machte Dis raeli Sorgen. Die durch die Zahlung der französischen Kriegsentschädigung ent standene Geldflüssigkeit des Deutschen Reiches hatte zu den sogenann ten ›Gründerjahren‹ geführt, einem wildwuchernden Aufschwung der deutschen Wirtschaft, deren Produktionsstätten sich trotz gelegentli cher Zusammenbrüche mit unheimlicher Schnelligkeit entwickelten. England mußte alle Kräfte anspannen. Es durfte nicht nachstehen. Auch nicht im Rang seiner Herrscherin. Disraeli veranlaßte seine Kö nigin, das Ansehen ihres Zeitalters durch die Annahme einer Kaiser krone zu erhöhen. Victoria blieb zwar Königin von England, aber sie wurde auch Kaiserin von Indien. Gleichzeitig unternahm es Disraeli, englische Einflußräume zu Machtbereichen umzugestalten. Er machte die Burenrepublik Trans vaal zur britischen Kolonie, nahm Zypern in Verwaltung und unter warf die Zulukaffern. Ein weitverbreiteter zeitgenössischer Scherz be kundete die Volkstümlichkeit der englischen Herrschaft bei den farbi gen Eingeborenen. Alle Welt lachte, als es hieß, daß die Zulukaffern, zufrieden mit ihrem neuen ›Häuptling‹, erklärt hatten: »Queen Victo ria very good man!« Disraeli nützte auch finanzielle Schwierigkeiten des Khedive von Ägypten aus, um von ihm Aktien der Suezkanalgesellschaft zu er werben. Er bereitete die Besetzung Ägyptens vor, um den Suezkanal, der zu achtzig Prozent von englischen Schiffen befahren wurde, mi litärisch zu beherrschen. Disraeli sprach zwar so wie seine Vorgän ger von der ›splendid isolation‹ Englands, aber als es zu russisch-türki 287
schen Feindseligkeiten kam, die mit der Niederlage der Türken ende ten, nahm auch er an den Friedensverhandlungen teil, die im ›Berliner Kongreß‹ mündeten und die Gründung unabhängiger Staaten auf der Balkanhalbinsel zur Folge hatten. Der ›Kranke Mann Europas‹ wurde lebendigen Leibes des größten Teils seiner europäischen Besitzungen beraubt. Österreich-Ungarn ok kupierte Bosnien und die Herzegowina, Bulgarien wurde selbständig, ebenso Montenegro und Serbien. Fürst von Bulgarien wurde Alexan der von Battenberg aus dem Hause Hessen-Darmstadt. Prinz Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, der schon Fürst von Rumänien gewesen war, wurde zum König ausgerufen. Serbien gewann seine Unabhän gigkeit und wurde zum Königreich erhoben. War die Balkanhalbinsel durch diese Aufteilung befriedet? Die rus sische Enttäuschung über die Ergebnisse des Berliner Kongresses kün digte die Entschlossenheit des Kaisers von Rußland und seiner Mini ster an, die Machtverteilung auf dem Balkan keineswegs als endgültig anzuerkennen. Die panslawistische Bewegung wurde von Petersburg aus unterstützt. Die Verhältnisse auf dem Balkan konnten kaum so bleiben, wie sie waren. Die einzelnen Herrscher waren mit den ihnen zuerkannten Grenzen nicht einverstanden. Alles deutete darauf hin, daß ein Krieg zwischen den Balkanherrschern und ihren Beschützern, Österreich-Ungarn und Rußland, kaum zu verhindern sein würde, wenn Bismarck es unterließ, zu vermitteln oder russische Belange ge gen Österreich zu unterstützen. Der deutsche Reichskanzler sah die Schwierigkeiten voraus, aber er wollte sich nicht, wie er sagte, ›von Österreich abtreiben lassen‹. Der Gastgeber des Berliner Kongresses hatte den unabänderlichen Wunsch, den verhängnisvollen Zweibund zustande zu bringen: das Verteidi gungsbündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Un garn. Daß bald darauf Italien im geheimen als dritter Partner beitrat und aus dem Zweibund ein Dreibund wurde, war auf den kolonialen Ehrgeiz Frankreichs zurückzuführen, das den Mittelmeerraum beun ruhigte und Tunis in Besitz nahm. Es kam auch eine freundschaftliche Verbrüderung der europäischen 288
Kaiser durch den ›Drei-Kaiser-Vertrag‹ zustande, der die Vertragspart ner im Falle des Angriffs einer vierten Macht zu wohlwollender Neu tralität verpflichtete. Dieser ›Entente‹ zwischen Franz Josef I. und Kai ser Alexander III. von Rußland, dessen Vater kurz vorher durch ein Bombenattentat getötet worden war, trat auch Wilhelm I. bei. War der Frieden in Europa durch all diese freundschaftlichen Ab kommen, die doch auch auf verwandtschaftliche Beziehungen der Kai ser und Könige begründet waren, gesichert? Für einige Zeit zumindest schien es so zu sein, denn die Unterdrückung der revolutionären Strö mungen der Völker innerhalb der Grenzen erschien den Herrschern und ihren Ministern wichtiger als der Wunsch, an den Grenzen zu rütteln. In Rußland setzte eine systematische Verfolgung der sozialen Vorkämpfer ein, die als ›Nihilisten‹ bezeichnet wurden. Dabei kam es durch verhängnisvolle Mißverständnisse und tendenziöse Verwechs lungen zu Judenverfolgungen, die zu einer Massenabwanderung von russischen und polnischen Juden nach England und vor allem nach Amerika führten. Diese sogenannten ›Pogrome‹ hatten nicht die min deste ›rassische‹ Grundlage. Die in Polen und Rußland ansässigen Ju den waren Nachkommen des innerasiatischen Stammes der Chaza ren, die im neunten Jahrhundert zum Judentum übergetreten und im jüdischen Glauben verharrt waren. Sie waren ›andersgläubig‹ als die ›Rechtgläubigen‹, Griechisch-Orthodoxen, die den Panslawismus auch aus religiösen Gründen förderten. Daß sich russische Juden an der so zialen Bewegung beteiligt hatten, mochte den Anlaß zur Judenverfol gung in Rußland geliefert haben. Im Deutschen Reich versuchte Bismarck mit der Rückendeckung ge gen Angriffe von außen, durch das ›Sozialistengesetz‹ die Angriffe der Sozialdemokratie gegen seine Regierung unmöglich zu machen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Die deutsche Sozialdemokratie wurde illegal und erstarkte im Kampf. Zeitgenössische sozialistische Karika turisten stellten den in Eisen gepanzerten Reichskanzler als Don Qui chotte dar, der gegen Windmühlen reitet. Die von seinen Anhängern als lebendiges Denkmal verehrte Erschei nung Bismarcks hatte tatsächlich etwas Versteinertes, nachdem er den 289
Höhepunkt seiner Laufbahn überschritten hatte. Er sah die Zeit nicht voraus, sondern setzte seine Persönlichkeit und seinen Einfluß ein, um staatsmännische Leistungen zu erbringen, deren politische und wirt schaftliche Werte zum Teil schon zu seinen Lebzeiten veraltet waren und deren Auswirkung daher zu zukünftigen Schwierigkeiten führen mußte. Bismarck beteiligte sich am Wettlauf der Mächte um Kolonialbesitz. Er gründete deutsche Kolonien in Südwest- und Ostafrika, in NeuGuinea, auf dem Bismarck-Archipel und den Marshallinseln. Auch Kaiser Franz Josef I. wollte bei der Verteilung der Erde nicht leer ausgehen. Österreichische Schiffe warfen in der Arktis Anker und pflanzten den österreichisch-ungarischen Doppeladler in einem un wirtlichen Gebiet auf, das sie ›Franz-Josef-Land‹ nannten. Während der Kampf der Herrscher um Machtbelange, um Land striche und Einflußräume seinen unentwegten Fortgang nahm, der neue ›unlösliche‹ Staatsverträge zeitigte, die je nach unvorhergesehe nen Machtverschiebungen eingehalten oder gelöst wurden, entwickel te sich die internationale Arbeiterbewegung weiter. Die Vervollkommnung der Technik auf allen Gebieten, die epocha len Erfindungen, die die Ausnützung und Verwertung der Elektrizi tät mit sich brachten, bedingte die Schaffung gewaltiger Industrien, die Förderung von Kohle, die Gewinnung und Verhüttung von Metal len, die Verbesserung der Verkehrswege. Die Zunahme der Verständi gungsmittel durch die drahtlose Telegrafie und das Telefon kam auch der Arbeiterbewegung zugute, die sich in immer stärkeren Verbänden zusammenschloß und auf Vermehrung ihrer Rechte und Verbesse rung ihrer Löhne beharrte. Gesetzliche Verfügungen der Machthaber konnten das Anschwel len der sozialen Bewegung aufhalten, aber nicht verhindern. Eine neue soziale Schicht – die Arbeiterklasse, die der Klassenlosigkeit zustreb te – siedelte sich um Bergwerke, Erzeugungsstätten und in der Umge bung der Handelsumschlagplätze in den europäischen Häfen an. Ge werkschaften entstanden und suchten untereinander Anschluß und Zusammenschluß, um sich und allen anderen Arbeitern ein besseres 290
Leben zu ermöglichen, das ihnen in der zeitgenössischen Gesellschaft versagt zu sein schien. In seinem Roman ›Germinal‹ schilderte Emile Zola, der durch sein ›J'accuse‹, die Anklage gegen die in Frankreich herrschenden Vorurtei le, berühmt geworden war, die düsteren Lebensverhältnisse der fran zösischen Arbeiterschaft.
291
Germinal
von Emile Zola
I
Etienne erstieg die kleine Anhöhe, auf der drei Kohlenfeuer brann ten, die den Erdarbeitern Licht und Wärme gaben. Sie waren bis spät in die Nacht tätig gewesen, denn es wurde noch Schutt wegge räumt. Er hörte das Schieben von Karren und sah die Schatten der Arbeitenden, die die Wagen in der Nähe der Feuerbrände abkipp ten. »Einen guten Morgen«, sagte Etienne in die von Rauch verne belte Nacht und trat auf einen der von der Glut erleuchteten Kör be zu. Der Karrenführer, ein alter Mann in einer blaurot gestrickten Jacke mit einer Kaninchenfellmütze auf dem Kopf, stand aufrecht, den Rük ken dem Feuer zugekehrt. Sein Pferd, ein großes, gelbes Tier, stand re gungslos neben ihm. »Auch dir einen guten Morgen«, erwiderte der Alte den Gruß. Etienne nahm den mißtrauischen Blick, der ihn von oben bis unten musterte, wahr und nannte sofort seinen Namen: »Ich heiße Länder und bin Maschinist.« Er fragte: »Gibt es hier keine Arbeit für mich?« Die zuckenden Flammen beleuchteten einen etwa einundzwanzig Jahre alten, gutaussehenden dunkelhaarigen Mann, der trotz seines schlanken Körpers überaus kräftig zu sein schien. »Arbeit«, brummte der Karrenführer, »Arbeit für einen Maschini sten …« Er schüttelte den Kopf. »Es haben sich erst gestern zwei gemel det. Es gibt nichts.« Ein Windstoß schnitt ihm die Rede ab. Etienne wies auf die im Dunkel der Nacht massig wirkenden Ge bäude, aus denen die Silhouette eines Fabrikschlotes aufragte. »Das ist eine Kohlengrube, nicht wahr?« Ein heftiger Hustenanfall würgte den Alten. Er spuckte aus. Dann 293
sagte er heiser: »Das ist eine Kohlengrube: der Voreux. Das Bergarbei terdorf liegt dich daneben.« Gedankenverloren wärmte sich Etienne die Hände. Seine Augen hat ten sich an die rauchige Finsternis gewöhnt. Mit sicheren Blicken er kannte er jetzt jeden Teil der Grubenanlage. Dabei dachte er an sich und an sein Landstreicherdasein in den acht Tagen, seitdem er auf der Suche nach Arbeit war. Er sah sich in seiner ehemaligen Werkstatt bei der Eisenbahn und erlebte wieder, wie er seinen Chef ohrfeigte und erst von Lille und dann von überall fortgejagt wurde. Er hatte nichts mehr, nicht einen Sou, nicht einmal eine harte Brotrinde. Was sollte er tun? Er holte tief Atem und fragte den Karrenführer: »Gibt es in Mont sou Fabriken?« Der Alte hustete wieder krampfhaft und spuckte. Dann antworte te er in den unaufhörlichen Wind hinein: »An Fabriken fehlt es hier nicht. Sie hätten das vor drei oder vier Jahren erleben müssen. Nie ist so viel verdient worden. Jetzt muß jeder den Gürtel enger schnallen. Eine Werkstätte nach der anderen wird geschlossen, die Leute werden entlassen … Der Kaiser ist vielleicht nicht schuld daran. Aber weshalb läßt er sich auf Kämpfe in Amerika ein? Ganz abgesehen davon, daß die Tiere wie die Menschen an der Cholera sterben.« »Die Cholera ist nicht so schlimm wie der Hunger«, gab Etienne zu rück. »Ja, wenn man wenigstens genug Brot hätte«, bestätigte der Alte. Im Tal war es still bis auf das ferne Geräusch eines auf Eisenblech dumpf losschlagenden Hammers. Der Karrenführer begann seine Fra gestellung von neuem. »Sie sind aus Belgien?« »Nein, ich bin aus dem Süden.« »Und ich bin aus Montsou und heiße Bonnemort.« »Das ist wohl ein Spitzname?« Der Alte grinste vergnügt. »Man hat mich dreimal dort herausgezo gen.« Er zeigte auf die Grube. »Dreimal«, wiederholte er. »Einmal mit versengtem Haar, ein zweites Mal aus der Erde und das dritte Mal wie 294
ein Frosch vom Wasser aufgebläht … Da sah man, daß ich nicht kre pieren wollte und nannte mich im Scherz Bonnemort. Ein Guttod.« Er lachte und hustete wieder. »Sie arbeiten wohl schon lange in der Grube?« fragte Etienne. Der Alte wischte sich mit dem Handrücken langsam über den Mund. »Ich war noch nicht acht Jahre, als ich zum erstenmal in die Grube ein fuhr. Heute bin ich achtundfünfzig. Ich war Hundejunge, Karrenläu fer, Wagenschieber und dann achtzehn Jahre lang Häuer. Aber die Bei ne wollten plötzlich nicht mehr, und ich war nicht mehr gut genug für die Arbeit unter der Erde.« Die brennende Kohle beleuchtete sein blei ches Gesicht. »Man sagt mir, ich soll mich zur Ruhe setzen.« Er fuhr fort: »Ich bin aber nicht so dumm. Die zwei Jährchen werde ich noch schaffen. Mit sechzig habe ich hundertachtzig Frank Pension. Heu te würden sie mir nur hundertfünfzig Frank geben. Sie sind schlau, die Herren …« Ein neuer Hustenanfall unterbrach ihn, und er spuck te wieder. »Ist das Blut?« fragte Etienne. »Kohle! Ich habe so viel davon in meinen Lungen, daß ich mir bis ans Ende meiner Tage damit einheizen könnte.« Bonnemort holte tief Atem. »Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich mit meinem richtigen Namen Maheu heiße?« Er lachte. »Wir Maheus arbeiten für die Gru bengesellschaft von Montsou seit ihrer Gründung. Seit hundertsechzig Jahren. Mein Großvater, erzählt man, war groß und stark, aber er starb mit sechzig an Altersschwäche. Mein Vater kam in der Grube um, er war kaum vierzig. So erging es zwei seiner Brüder … und drei meiner Brüder. Arbeiten, arbeiten, arbeiten … das pflanzt sich vom Vater auf den Sohn fort. Jetzt arbeiten mein Sohn Toussain Maheu in der Grube und auch schon meine Enkel.« Bonnemort schwieg. Im Arbeiterdorf flammte ein Licht nach dem anderen auf. »Ist die Grubengesellschaft von Montsou reich?« fragte Etienne nach einer kleinen Weile. »Ach ja, ach ja …«, der Alte zog die Achseln hoch und ließ sie wie der sinken, als drückte ihn die Last von Goldstücken. »Vielleicht nicht 295
so reich wie ihre Nachbargesellschaft, die von Anzin, aber sie hat Mil lionen über Millionen. An Geld fehlt's schon nicht.« Während der Alte das Pferd anschirrte, sprach er mit sanfter Stimme zu dem Tier: »Ge wöhne nur du dich nicht ans Schwätzen, alter Faulpelz. Wenn das Herr Hennebeau erfahren würde.« Etienne fiel ein: »Die Grube gehört wohl Herrn Hennebeau?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Herr Hennebeau ist nur der Ge neraldirektor. Er wird bezahlt so wie wir.« »Wem gehören denn die Gebäude, die Schlote, die Kohlengruben?« »Wem das alles gehört? Das weiß man nicht. Den Leuten gehört's …« In Bonnemorts Stimme lag eine Art von religiöser Scheu, als er wie derholte: »… den Leuten.« Es war, als spräche er von einem Tempel, in dem sich der vollgefressene Götze verbarg, dem sie alle ihr Leben zum Opfer brachten, ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben. »… den Leuten«, murmelte er vor sich hin, während er hinter dem Pferd mit seinem schleppenden Invalidengang im Dunkeln verschwand. Etienne nahm sein Bündel wieder auf. Vielleicht sollte er sich doch an die Grubenverwaltung wenden. Vielleicht war der Alte schlecht un terrichtet.
II
Die Wohnung der Maheus lag im zweiten Häuserblock des Arbeiter dorfes. Die Kuckucksuhr im Erdgeschoß schlug vier Uhr. Catherine tastete schlaftrunken nach den Streichhölzern. Das Talglicht erhellte die zweifenstrige Stube. Die drei Betten stießen hart aneinander und ließen kaum Raum für einen Schrank, einen Tisch und zwei alte Stüh le. In dem linken Bett schlief der einundzwanzigjährige Zacharias mit 296
seinem achtzehnjährigen Bruder Jeanlin, in dem rechten Bett Lenore und Henri, zwei Kinder von sechs und vier Jahren. Das dritte Bett teil te Catherine mit ihrer neunjährigen, buckligen Schwester Alzire. Va ter und Mutter lagen im Hausflur, einem engen Gang. Neben ihrem schmalen Bett stand die Wiege des jüngsten Kindes, der kaum drei Monate alten Estelle. Catherine reckte sich und wühlte mit beiden Händen in ihrem ro ten Haar, um endlich wirklich wach zu werden. Ihre Arme waren weiß und zart. Ihre Füße, mit bläulichen Kohleflecken bedeckt, stachen selt sam von der fahlen Gesichtsfarbe ab. Der etwas große Mund mit den gesunden Zähnen im blutlosen Zahnfleisch öffnete sich zu einem letz ten Gähnen. Sie hörte die schlaftrunkene Stimme ihres Vaters: »Es ist Zeit zum Aufstehen. Bist du es, Catherine?« »Ja, Vater … unten hat es eben vier Uhr geschlagen.« »Beeile dich. Warum hast du uns nicht zeitiger geweckt?« In den grauen Augen Catherines standen Tränen. Sie sah so kraftlos aus, als wolle ihre nackte Gestalt sich vor Müdigkeit auflösen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sich Alzire mit offenen Augen umge dreht und den warmen Platz der großen Schwester eingenommen. Catherine ging mit nackten Füßen auf den Steinfliesen. »Steh doch auf, Zacharias! Und du, Jeanlin, steh auf!« »Laß mich«, knurrte Zacharias und setzte sich auf. Er war lang und mager, mit spärlichem Bartwuchs und hellem Haar. Auch er hatte das der ganzen Familie eigene blutlose Gesicht. Catherine wandte sich Jeanlin zu: »Mach schon, der Vater ist böse.« »Schau, daß du weiterkommst«, brummte Jeanlin, »ich schlafe noch.« Catherine umschlang ihn mit beiden Armen. Er wurde bleich vor Är ger, weil er der Schwächere war. Er sagte nichts, biß Catherine aber in die rechte Brust. Sie schrie leise auf und setzte ihn wortlos auf die Erde. Alzire war noch nicht wieder eingeschlafen. Sie verhielt sich ganz still und beobachtete mit klugen Augen die Schwester und ihre bei den Brüder, die sich nun anzogen. Catherine war zuerst fertig. In ihrer Grubenhose und der blauen Kappe über dem Haar sah sie wie ein Jun 297
ge aus. Außer dem leichten Wiegen in den Hüften verriet nichts, daß sie ein Mädchen war. Schnell richtete sie das Bett für den Großvater Bonnemort, der nachts arbeitete und bei Tagesanbruch schlafen ging. Die Wohnungen hatten so dünne Wände, daß kein Vorgang des Fa milienlebens verborgen blieb. Unter einem schweren Tritt knarrte im angrenzenden Haus eine Treppe, und dann ließ sich mit einem leisen Ausruf des Wohlbehagens etwas Schweres auf ein Bett nieder. »Aha«, stellte Catherine fest, »Levaque geht weg, und da kommt auch schon Bouteloup.« Jeanlin grinste. Alzires Augen leuchteten verständnisvoll. Jeden Morgen belustigten sie sich über die Nachbarsleute, bei denen ein Erd arbeiter wohnte. Frau Levaque kam dadurch zu zwei Männern, einem für die Nacht und einem für den Tag. »Philomene hustet«, meinte Catherine. Sie sprach von der ältesten Tochter der Levaque, einem Mädchen von neunzehn Jahren. Philome ne war die Geliebte von Zacharias Maheu und hatte schon zwei Kinder von ihm, obwohl sie so schwach auf der Brust war. »Ach was, Philomene schläft«, erwiderte Zacharias. »Eine saubere Wirtschaft, bis sechs Uhr zu schlafen!« Er zog seine Hose an und öff nete das Fenster, um aufzupassen, ob nicht gegenüber bei den Pier rons der Oberaufseher des Voreux herauskäme, dem man ein Verhält nis mit Pierrons Frau nachsagte. Eisige Luft strömte in die Stube, und Estelle in ihrer Wiege fing an zu schreien. »Hör damit auf, du Wurmgezücht!« Maheu ärgerte sich über sein jüngstes Kind. »Laß sie, du weißt doch, daß sie nicht zum Schweigen zu bringen ist!« sagte die Maheude und rückte in die Mitte des Bettes. Maheu war klein wie Bonnemort, hatte denselben großen Kopf und unter dem hellen, kurzgeschnittenen Haar das gleiche platte und fahle Gesicht. Er betrachtete seine Frau. Die Schönheit ihres länglichen Gesichts war verblüht in den neun unddreißig im ununterbrochenen Elend verlebten Jahren – und nach dem sie sieben Kinder geboren hatte. Sie sprach mit gedehnter Stim me, während ihr Mann sich anzog. »Ich habe nicht einen Sou im Haus, 298
und es sind noch sechs Tage bis zum Fünfzehnten. Mein Gott, sechs Tage! Was fange ich nur an? Sechzig Frank schulden wir dem Kauf mann Maigrat. Er hat mir vorgestern die Tür gewiesen.« Was sie weiter sprach, hörte Maheu nicht, das Geschrei Estelles über tönte ihre Worte. Er riß sie wütend aus der Wiege und warf sie in das Bett der Maheude. »Da, nimm sie«, drohte er, »ich bring' sie sonst um.« Er holte tief Atem, um sich zu beruhigen, und fragte: »Haben die Besit zer von ›La Piolaine‹ dir nicht gesagt, daß du hinkommen sollst?« »Ja, ich bin ihnen begegnet. Sie verteilen Kleidungsstücke an arme Kinder … Ich werde Lenore und Henri heute hinbringen. Wenn sie mir nur hundert Sou schenkten!« »Man muß sich einrichten, so gut es geht. Es wird nicht besser, wenn man darüber spricht.« Er löschte das Licht und folgte Zacharias und Jeanlin in die Küche. Die Kinder schliefen weiter. Ihre Mutter lag mit offenen Augen im Dunkeln, während Estelle wie ein Kätzchen an ih ren leeren Brüsten schnurrte. Die Grubengesellschaft gab jeder Bergmannsfamilie monatlich acht Hektoliter harte Ausschußkohle, die nur mühsam Feuer fing. Catheri ne hatte den Kessel auf den Rost gesetzt und hockte neben dem Spei seschrank, um das Anbrennen der Kohle zu überwachen. Sie hatte mit dem letzten Brot und weißen Käse schon den ›Ziegel‹ gezaubert. Das war das belegte Brot, das täglich in die Grube mitgenommen wurde. Das Zaubern geschah in peinlicher Gerechtigkeit von dem großen Zie gel für den Vater bis zum kleinen für Jeanlin. Es gab in der Küche noch einen Tisch und Stühle aus Fichtenholz. An den Wänden klebten bunte Bilder, Porträts des Kaisers und der Kaiserin, Abbildungen von Soldaten und Heiligenbilder, die die Gru bengesellschaft allen Bergleuten geschenkt hatte. Kaffee war keiner mehr da, darum überbrühte Catherine den Satz vom vorigen Tag. Und da kamen auch schon der Vater und die Brü der. Sie tranken hastig, ohne sich zu setzen, und machten sich auf den Weg. »Wartet doch, wir wollen zusammen gehen«, rief Levaque, der die Türe des Nachbarhauses verschloß. 299
Catherine unterdrückte ein Lachen und flüsterte Zacharias ins Ohr: »Was ist geschehen? Bouteloup wartet nicht mehr, bis der Ehemann fortgegangen ist.« – Dann wurde es still im zweiten Häuserblock des Arbeiterdorfes. Im eisigen Wind bewegte sich eine lange Schlange dunkler Gestalten zum Voreux. In dünne Kittel gekleidet, zitterten sie vor Kälte, aber sie beeil ten sich trotzdem nicht. Sie bewegten sich im langsamen Trott wie die Tiere einer Herde.
III
Die Männer, an die sich Etienne um Arbeit wandte, schüttelten nur den Kopf. Er ging zum Kontrollschalter zurück. Ihm schwindelte. Er fröstelte im kalten Zugwind und verfolgte mit den Blicken die Bewe gung der Förderkörbe, während das unaufhörliche Rollen der Kohlen wagen ihm Kopfschmerzen verursachte. Die Einfahrt der Arbeiter be gann. Sie kamen barfüßig mit Lampen in der Hand und warteten in kleinen Gruppen, bis eine genügende Anzahl beisammen war. Dann stiegen je fünf Mann in einen Förderkorb. »Ist das tief?« fragte Etienne einen Bergmann, der neben ihm war tete. »Fünfhundertvierundfünfzig Meter.« »Und wenn das Seil reißt?« fragte Etienne. »Wenn es reißt …« Der Bergmann drückte durch eine Handbewe gung aus, was er nicht aussprach. Eine unbestimmte Angst brachte Etienne plötzlich zu einem Ent schluß. Er ging. Weshalb auch noch länger warten? Er ging sehr schnell auf das Maschinenhaus zu. Er trat näher, um sich zu wärmen, als er auf einen Trupp Bergleute stieß. Es waren Levaque und die vier Ma 300
heus. An ihrer Spitze schritt Catherine. Er sah ihr sanftes Jungenge sicht und bekam den abergläubischen Einfall, eine letzte Frage zu ver suchen. »Sagt, Kumpel, braucht man hier nicht einen Arbeiter, einer lei wofür?« »Man braucht hier niemand«, erwiderte Maheu. Aber der arme Teu fel, der sich arbeitssuchend auf den Straßen umhertrieb, erregte seine Anteilnahme. Es fiel ihm auch noch etwas anderes ein. Er sagte seinen Kindern: »Seht, in solcher Lage könnten wir auch sein. Mancher hat nicht einmal Arbeit, bei der er sich zu Tode schindet. Man darf sich nicht beklagen.« Die Maheus und Levaque gingen zur Wärmestube, einem weiß ge tünchten Saal. Vor dem heißen Ofen standen ungefähr dreißig Berg leute und wärmten sich den Rücken. Sie taten dies täglich, um eine gute Portion Wärme in die feuchte Grube mitzunehmen. Die meisten waren an diesem Morgen besonders guter Laune. Sie verspotteten die Mouquette, eine achtzehnjährige, kräftige Wagenschieberin, deren mächtiger Busen und Hintern Kittel und Hose fast zum Platzen brach ten. Doch die Heiterkeit legte sich rasch, als Maheu erfuhr, daß eine sei ner Wagenschieberinnen heute früh tot in ihrem Bett aufgefunden worden war. Maheu war in Verzweiflung. Er, Zacharias, Levaque und Chaval ar beiteten zusammen auf Akkord. Wenn ihnen jetzt zum Wagenschie ben nur Catherine blieb, mußte die Arbeit darunter leiden. Plötzlich rief er: »Halt! Wo ist der Mann, der Arbeit gesucht hat?« Der Oberaufseher Danseart ging an der Wärmstube vorbei. Maheu hielt ihn an, erzählte ihm, um was es sich handelte, und bat um Erlaub nis, den Mann zu beschäftigen. Nach einigem Zögern gab Danseart seine Einwilligung unter der Voraussetzung, daß Herr Negrel, der In genieur, es guthieß. »Unser Mann ist sicher schon weit fort«, brummte Zacharias. »Nein«, fiel Catherine ein, »ich habe ihn bei den Dampfkesseln ste hen sehen.« »So lauf doch zu, du Trödelliese«, rief Maheu. 301
Catherine eilte davon. Etienne sprach im Kesselhaus auf den Heizer ein. Es gab keine Aus sicht auf Arbeit. Es überlief ihn eiskalt bei dem Gedanken, wieder in den kalten Morgen hinaus zu müssen. Plötzlich spürte er, wie sich ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er hörte eine jugendliche Stimme: »Kommen Sie mit, es gibt etwas für Sie.« Im ersten Augenblick verstand Etienne nicht, um was es sich handel te, aber dann drückte er Catherine in aufwallender Freude die Hand. »Danke, Kumpel, Sie sind wirklich ein guter Kerl.« Catherine lachte. Es belustigte sie, daß der Fremde sie für einen Jun gen hielt. Sie gingen zusammen zur Baracke, in der Maheu vor seinem Spind hockte und sich die Holzschuhe und Wollstrümpfe auszog. Mit ein paar Worten war alles geregelt: Dreißig Sou Tageslohn. Maheu riet Eti enne, die Schuhe anzubehalten und lieh ihm eine alte Grubenmütze. Als er den Spind verschloß, wurde er plötzlich ungehalten: »Was trö delt denn dieser Schafskopf Chaval? Er amüsiert sich wohl wieder mit einem Weibsbild auf einem Steinhaufen. Auf Kosten unserer Zeit. Wir haben heute schon eine halbe Stunde verloren.« »Du wartest auf Chaval?« Zacharias wärmte sich seelenruhig am Ofen. »Chaval ist vor uns gekommen und gleich eingefahren.« Maheu brach wütend aus: »Das weißt du und sagst mir nichts da von.« Er kommandierte: »Los, vorwärts, macht schnell.« Sie verließen die Wärmstube. Etienne ging dicht hinter Catherine durch ein Gewirr von Treppen und dunklen Gängen, bis sie in das hel le Licht des Lampenmagazins traten. Jeder Arbeiter nahm seine Lam pe. Ein Kontrolleur trug die Stunde der Einfahrt ein. »Hier ist es nicht warm«, flüsterte Catherine, die sich vor Frost schüttelte. Etienne nickte nur mit dem Kopf. Er war gewiß nicht ängstlich, aber die Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, als er am Grubeneingang vor den auf- und abgleitenden Drahtseilen stand. »Zum Donnerwetter, man läßt uns hier wieder einfrieren«, brumm te Maheu. Er wagte es nicht, laut zu schimpfen. Aber er sagte doch: »Donnerwetter.« 302
Es ging zu wie bei einer Viehverladung. Die Förderkörbe über und unter ihnen füllten sich. Endlich war es soweit. Etienne kümmerte sich nicht um die anderen, als er einstieg. Er fühlte ein beklemmendes, schwindelndes Sturzgefühl, das ihm die Eingeweide zusammenzog. Als er in die schwarze Nacht des Schachtes sank, war er wie betäubt. »Nun fahren wir ein«, sagte Maheu ruhig. »Dieser Schacht hat vier Meter Durchmesser.« Er erklärte Etienne: »Die Verzimmerung müß te mal wieder erneuert werden, denn von allen Seiten sickert Wasser durch.« Er fuhr fort: »Jetzt kommen wir an den Grundwasserspiegel. Hören Sie?« »Grundwasserspiegel?« Das Geräusch erschreckte Etienne. Erst hat ten dicke Tropfen auf das Dach des Förderkorbes geschlagen, nun überströmte sie eine wahre Sintflut. Anscheinend hatte das Dach des Förderkorbs Löcher. Ein Wasserstrahl zerplatzte auf der Schulter Eti ennes und durchnäßte ihn bis auf die Haut. »Wie tief das ist«, mur melte er. Ihm war, als dauerte diese Höllenfahrt bereits Stunden. Es fiel ihm schwer, in seiner unbequemen Stellung auszuharren. Er wagte nicht, sich zu rühren. Er spürte die Spitze von Catherines Ellbogen. Er fühlte sie neben sich und ihre Wärme. Als der Förderkorb in einer Tiefe von fünfhundertvierundfünfzig Metern anhielt, hatte die Einfahrt nur eine Minute gedauert. Das Ge räusch der Sicherheitshaken und das Bewußtsein, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, versetzten Etienne rasch in heitere Stim mung. Er fragte Catherine scherzhaft: »Was hast du nur an dir, daß du so warm bist?« Sie gab keine Antwort und lachte nur. Wie dumm war er doch, daß er sie für einen Jungen hielt. Hatte er keine Augen? Der Aufzug leerte sich. Sie ging neben ihm durch die Ankunftshalle. »Wir haben noch gute zwei Kilometer vor uns«, erklärte Maheu. Gruppenweise teilten sich die Arbeiter und verschwanden in dunk len Schächten. Einer hinter dem anderen, immer drauflos, ohne ein Wort zu sprechen. Etienne stolperte fast bei jedem Schritt. Ein dump fes Geräusch, das an Heftigkeit zunahm und aus dem Innern der Erde zu kommen schien, beunruhigte ihn. Das Gestein zitterte. Er fühlte 303
das ganz deutlich, als er sich wie seine Begleiter an die Wand drückte, um einem großen Schimmel Platz zu machen, der vor einen Wagen zug gespannt war. Sie gelangten an eine Kreuzung. Eichenbalken stützten das Gestein. Züge mit leeren oder beladenen Wagen rollten vorbei. Die Gänge wur den enger und niedriger. Wer sich nicht bückte, schlug sich den Kopf blutig. Etienne sah sich vor. Die anderen Arbeiter kannten die Balken vorsprünge, vor denen man sich in acht nehmen mußte. Ihn hemmte auch der schlüpfrige Boden, es ging durch wahrhafte Sümpfe. In den großen Stollen wehte ein eisiger Wind. Je weiter sie aber in die Seiten gänge eindrangen, desto schwächer wurde der Wind. Die Hitze nahm zu und wurde bleischwer und erstickend. Maheu verkündete mit lauter Stimme: »Die Wilhelms-Ader!« Hier war ihr Arbeitsplatz. Gebückt legten sie etwa zweihundert Meter zu rück. »Jetzt geht's bergauf«, sagte Maheu. »Hängen Sie Ihre Lampe an einen Knopf Ihres Rockes und halten Sie sich fest.« Etienne folgte ihm. Und obgleich er schlank war, vermochte er sich im engen Gang nur mühsam vorwärts zu bewegen. Er atmete schwer. Seine Hände begannen zu bluten, seine Knie waren wund gestoßen. Der über die Stirn rinnende Schweiß blendete ihn. Er konnte nicht weiter. »Mut! Wir sind da!« erklärte die Stimme Catherines. Als er endlich bei ihr ankam, dröhnte eine andere Stimme aus dem Hintergrund auf: »Was soll denn das? Ich habe einen zwei Kilometer längeren Anmarsch und bin als erster am Platz!« Chaval, ein magerer Mann mit derbem Knochenbau und scharf aus geprägten Gesichtszügen war ärgerlich, daß er hatte warten müssen. Als er Etienne sah, fragte er verächtlich: »Was will der hier?« Nachdem ihm Maheu alles erklärt hatte, brummte er zwischen den Zähnen: »So schnappen also die Männer den Mädchen das Brot weg.« Etienne und Chaval maßen einander. Es war Haß auf den ersten Blick. Alle begannen zu arbeiten. Als Etienne sich einmal umwandte, war Catherine dicht hinter ihm. Er fühlte ihre Brust, die sich zu runden be gann. »Du bist also ein Mädchen?« fragte er. 304
»Gewiß«, erwiderte sie in ihrer heiteren Art. »Hat lang gedauert, bis du es gemerkt hast!« Die Kohlenader war so unergiebig, daß die Häuer bei der Arbeit auf der Seite liegen mußten. Zu unterst lag Zacharias mit gebücktem Nak ken, über ihm Levaque und Chaval, ganz oben Maheu. Er war am schlimmsten dran. Je höher die Arbeit gelegen war, desto höher war die Temperatur. Um sehen zu können, hatte Maheu die Lampe über seinem Kopf aufgehängt. Einige Zentimeter von ihm entfernt riesel te Wasser vom Gestein und tropfte mit hartnäckiger Regelmäßigkeit auf seine rechte Wange. Er mochte den Hals drehen soviel er wollte, es klatschte ihm unaufhörlich ins Gesicht. Niemand sprach. Alle hackten. Die Dunkelheit war durch den auf steigenden Kohlenstaub dichter geworden. Zacharias unterbrach das Hacken. Er erklärte, er müsse verzimmern. Hinter den Häuern war schon ein drei Meter langer Gang entstanden, ohne daß sie, sorglos gegenüber der Gefahr und mit ihrer Zeit geizend, daran gedacht hat ten, den Felsen zu stützen. »Bring mir Holz«, rief Zacharias Etienne zu. »Beeil dich! Verfluchte Bummelei!« schimpfte er, als er sah, wie der neue Wagenschieber sich unbeholfen zwischen den geförderten Koh lenbrocken durchwand. »Halt!« befahl Maheu, der endlich seinen Block losgebrochen hat te und sich die Stirn mit dem Ärmel trocknete. »Zum Pelzen ist nach dem Frühstück Zeit. Haut lieber, damit wir unsere Wagen zusammen bekommen.« »Es senkt sich wieder«, sprach Zacharias. »Hier ist ein Riß. Ich habe Angst, daß das Ganze zusammenkracht.« »Das wäre auch nicht das erste Mal.« Maheu zuckte die Achseln. Catherine erklärte Etienne: »Du brauchst nicht auf Zacharias zu ach ten, er mault ewig. Mach's nur so, wie ich es dir zeige. Jeder beladene Wagen kommt so, wie er hier abgeht, ans Tageslicht. Er ist mit einer Marke versehen, damit er auf das Konto des jeweiligen Arbeiters ge bucht wird.« Etiennes Augen hatten sich allmählich an das Dunkel gewöhnt. Er betrachtete Catherine genauer. Er hätte sie für eine Zwölfjährige gehal 305
ten. Sie gefiel ihm nicht. Er fand ihren blassen Pierrotkopf zu kindlich. Aber er staunte über ihre Kraft, die mit viel Geschicklichkeit gepaart war. Mit regelmäßigen, kurzen Schaufelwürfen füllte sie ihren Wagen viel rascher als er. Überdies entgleiste sein Wagen. »Schon wieder«, lachte Catherine. Er fluchte und riß wütend an den Rädern. Aber trotz seiner verzwei felten Anstrengungen vermochte er sie nicht wieder in die Schienen zu bringen. »Nur Geduld«, fuhr das junge Mädchen fort. »Wenn du ärgerlich wirst, geht's erst recht nicht.« Catherine hob mit einer Schulterbewe gung den Wagen Etiennes empor und stellte ihn auf die Schienen. Als sie dann zu einer schiefen Bahn kamen, unterrichtete sie Etienne, wie man seinen Wagen schnell expedierte. Es ging schwer im Anfang. Jedesmal, wenn Etienne zum Aufladen zurückkam, hörte er die Koh lenschläge und das schwere Ächzen der Häuer. Alle vier hatten sich entkleidet. Sie waren bis zur Grubenhaube mit Kohlenstaub bedeckt. Zacharias und Levaque fluchten. Chaval ließ seine schlechte Laune an Etienne aus: »So ein Schwächling! Der hat nicht einmal soviel Kraft wie ein Mädchen. Wirst du deinen Wagen füllen, wie es sich gehört? Ich ziehe dir zehn Sou ab, wenn uns auch nur ein einziger Wagen zu rückgewiesen wird!« Etienne erwiderte nichts. Er war glücklich, diese Galeerenarbeit ge funden zu haben, wenn seine Füße auch bluteten und seine Glieder wie zerschlagen waren. Endlich war es zehn Uhr. Frühstückspause. Die Häuer stiegen aus ihren Höhlungen und hockten sich auf den Boden. Jeder packte seinen ›Ziegel‹ aus und biß tapfer hinein. Hin und wieder fielen einige Worte über die Arbeit. Catherine näherte sich Etienne, der etwas abseits stand. »Du ißt nicht?« fragte sie mit vollem Mund. Da fiel ihr ein, daß dieser junge Mann vielleicht keinen Sou besaß. Sie fragte: »Willst du mit mir tei len?« Mit matter Stimme beteuerte Etienne: »Ich habe keinen Hunger.« »Ja, wenn du dich ekelst …« Catherine machte eine geringschätzige 306
Handbewegung, »… ich habe doch nur an dieser Seite abgebissen.« Sie brach ihre Schnitte in zwei Teile. Etienne mußte sich gewaltsam zurückhalten, um die Hälfte, die Ca therine ihm reichte, nicht gierig zu verschlingen. Ihre Lampen beleuchteten sie. Catherine betrachtete ihn schweigend. Ein wohlgefälliges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist also Ma schinist?« fragte sie. »Weshalb hat man dich fortgeschickt?« »Weil ich meinen Chef geohrfeigt habe.« Er erklärte: »Ich muß hinzu fügen, daß ich getrunken hatte. Und wenn ich trinke, werde ich toll.« »Dann darfst du eben nicht trinken«, sagte Catherine ernst. »Das werde ich auch nicht mehr. Ich kenne mich«, sagte er entschlos sen. Er haßte den Branntwein, der schon seinen Vater und Großvater zu Trunkenbolden gemacht hatte. Er strich sich über die verschwitzte Stirn. »Was geschehen ist, hat mir besonders meiner Mutter wegen leid getan. Sie haben mich auf die Straße gesetzt, und meiner Mutter geht es nicht gut. Ich schickte ihr von Zeit zu Zeit hundert Sou.« »Wo ist deine Mutter jetzt?« »In Paris. Sie arbeitet als Wäscherin in der Rue de la Boutte-d'Or.« Er zögerte. »Jetzt könnte ich ihr nicht einmal dreißig Sou schicken.« Ver zweifelt zuckte Etienne die Achseln. »Sie wird im Elend verkommen.« Catherine reichte ihm die Flasche mit dem aufgewärmten Kaffee. Etienne wollte nicht trinken. Er hatte sie schon um die Hälfte ihres Brotes beraubt. Aber sie bestand darauf. Wie hatte er sie nur häßlich finden können! Ihr Gesicht, das wie mit Kohlenstaub bepudert war, besaß einen eigenartigen Reiz. Ihre Augen leuchteten mit grünlichem Schimmer gleich Katzenaugen. Etienne begann, sie über alles auszufragen. Als er wissen wollte, ob sie einen Geliebten hätte, erwiderte sie scherzend, sie wolle nichts ge gen die Wünsche ihrer Mutter tun. Eines Tages würde sicher auch das der Fall sein. Sie lachte. Etienne fiel in das Lachen ein. »Man findet schließlich einen Liebha ber, wenn man so zusammen lebt wie hier.« Er setzte vorsichtig hinzu: »Und dem Pfarrer braucht man nichts zu sagen.« »Der Pfarrer«, gab Catherine zurück, »was kümmert mich der! Da 307
habe ich schon mehr Angst vor dem schwarzen Mann.« Sie flüsterte mit gespielter Angst: »Das ist der alte Bergmann, der in der Grube um geht und den schlechten Mädchen den Hals umdreht.« »Du glaubst an solche Dummheiten? Hast du denn in der Schule nichts gelernt?« »Oh ja, lesen und schreiben. Das kann man gut gebrauchen bei uns. Vater und Mutter haben das zu ihrer Zeit nicht gelernt.« Sie war wirklich anziehend. Etienne überlegte: Wenn sie ihr Brot aufgegessen hatte, würde er sie küssen. Nun war der Augenblick zum Handeln gekommen. Er warf einen raschen Blick auf die im Stollen hockenden Bergleute, als ihm eine dunkle Gestalt den Ausblick ver sperrte. Chaval hatte Etienne und Catherine schon seit einer Weile von wei tem beobachtet. Nun vergewisserte er sich, daß Maheu ihn nicht sehen konnte. Er trat auf Catherine zu, bog ihren Kopf zurück und küßte sie derb auf den Mund. Dabei tat er so, als bemerkte er Etienne nicht. Mit diesem Kuß nahm er gleichsam Besitz von Catherine. Es war ein durch Eifersucht hervorgerufener Entschluß. »Laß mich!« Catherine sträubte sich. Chaval hielt ihren Kopf fest und sah ihr drohend in die Augen. Dann ließ er sie mit einer jähen Bewegung los und ging, ohne ein Wort zu sagen. Etienne überlief es eiskalt. Er wandte sich bitter enttäuscht an Cathe rine: »Weshalb hast du gelogen? Das ist doch dein Liebhaber.« »Aber nein, ich schwöre es dir!« rief Catherine. Sie hatten sich beide erhoben. Es ging nun wieder an die Arbeit. Als Catherine die kalte Ablehnung Etiennes wahrnahm, war sie betrübt. Beschwörend hob sie die Hände: »Es ist nichts zwischen uns. Du mußt es mir glauben. Chaval spaßt zuweilen.«
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IV
Die Arbeit war bitterer Ernst. Etienne fuhr mit vier anderen nach oben. Es war eine häßliche Arbeit. Während sie arbeiteten, um leben zu kön nen, waren sie gezwungen, ihr Leben zu wagen. Wenn der Schacht nicht verzimmert war, konnte er einbrechen, und wenn er verzimmert wur de, kostete es Zeit, die den Ertrag der Arbeit verkürzte. Das hatte Herr Negrel in seiner heftigen Grobheit Etienne gegenüber nur allzu deutlich kundgetan. Dazu kam der Haß Chavals, der sich in Derbheiten Luft machte, und seine eigene Zuneigung für Catherine, die Etienne die Luft nahm. Im Aufzug faßte er den Entschluß, sein Wanderleben wiederauf zunehmen. Lieber sofort zugrunde gehen, als noch einmal in diese Höl le hinabzusteigen, in der man nicht einmal das tägliche Brot verdien te und riskieren mußte, daß einem von der harten Arbeit nichts als der Schweiß und der Kohlenstaub blieb, den man verschluckt hatte. Plötzlich war Etienne wie geblendet. Die Auffahrt war so schnell ge wesen, daß ihn das grelle Tageslicht erschreckte. »Hör mal, Mouquet«, flüsterte Zacharias dem die Türe des Förder korbs öffnenden Arbeiter zu, »kommst du heute abend in den ›Vul kan‹?« Mouquet, klein und dick wie sein Vater, der die Tiere unter Tage ver sorgte, zwinkerte mit dem linken Auge. Er nickte Etienne zu. »Der Neue sollte wissen, daß der ›Vulkan‹ ein Cafe- und Konzertlokal in Montsou ist. Kommst du auch hin?« fragte er. Ehe Etienne antworten konnte, näherte sich ihnen wütend Chaval. »Ein feiner Tag!« schrie er und erklärte, daß man ihnen allen zwei Koh lenwagen zurückgewiesen habe. »Wir bekommen nun zwanzig Sou weniger!« Er warf Etienne einen vernichtenden Blick zu. »Das kommt davon, wenn man Müßiggänger anstellt.« 309
»Man kann es nicht gleich am ersten Tag treffen«, sagte Maheu be schwichtigend, als er vernahm, daß Etienne die Faust ballte. »Nicht gleich am ersten Tag«, wiederholte er vermittelnd. »Morgen wird es besser gehen.« »Ich gehe!« rief Chaval, aber niemand rührte sich. Nur Mouquet schlüpfte eilig hinter ihm hinaus unter dem Vorwand, daß sie beide den gleichen Weg hätten. Catherine sprach leise mit ihrem Vater. Maheu nickte zustimmend und rief Etienne herbei. »Hören Sie«, flüsterte er, »wenn Sie kein Geld haben, werden Sie bis zum Zahltag verhungern. Wollen Sie, daß ich versuche, Ihnen Kredit zu verschaffen?« Etienne schwieg verlegen. »Ich verspreche Ihnen nichts«, fuhr Maheu fort. »Aber mehr als ab gewiesen kann man nicht werden.« Etienne war überzeugt, daß man ihn zurückweisen würde. Aber dann bereute er, daß er nicht nein gesagt hatte. Er sah die Freude Ca therines und ihren Blick, der ausdrückte, wie glücklich sie war, daß er blieb. Wohin sollte das alles führen? Als die Maheus die Wärmstube verließen, folgte ihnen Etienne. Sie wur den beim Sortierhaus durch einen heftigen Wortwechsel aufgehalten. Das Sortierhaus war ein weiter Schuppen. Die Kohlenwagen kamen unmittelbar vom Kontrolleur in das Sortierhaus und wurden auf gro ßen schrägen Blechtafeln umgestürzt. Auf erhöhten Stufen standen rechts und links Mädchen mit Schaufeln und Rechen, rafften die mit geförderten Steine zusammen und schoben die reine Kohle weiter. Ein Stück blaue Leinwand um den Kopf, die Hände und Arme von Kohlenstaub geschwärzt, sortierte Philomene Levaque neben der alten Hexe Brule die Kohle. Philomene sah schwindsüchtig aus. Sie wirk te um so armseliger neben der Brule mit ihren großen Eulenaugen und dem zusammengepreßten Mund. Während die beiden arbeiteten, überhäuften sie sich mit giftigen Bemerkungen. Die Junge beschuldig te die Alte, daß sie ihr die Steine wegraffe, so daß sie in zehn Minuten kaum einen Korb füllen könne. Und da sie korbweise bezahlt wurden, hatte der Streit kein Ende. 310
»Schlag ihr doch den Schädel ein!« rief Zacharias seiner Liebsten zu. Alle anderen Sortiererinnen jubelten, aber die Brule fiel über Zacha rias her. »Du Saujunge tätest besser, die beiden Gören anzuerkennen, die du ihr angehängt hast.« »Halt's Maul«, gab Zacharias zurück. Er wollte sich auf die Brule stürzen, aber ein Aufseher kam in Eile herbei. Die Weiber schwiegen und begannen, mit ihren Rechen wieder in der Kohle zu wühlen. Dann gab es eine neue Zerstreuung. Bouteloup, der Mieter Levaques, der ihn in seiner Gunst bei der Mutter Philomenes ablöste, begrüßte auf dem Weg zu seiner Arbeit den Hausherrn, der den Hausfreund be sorgt fragte: »Ist die Suppe fertig, Louis?« »Ich glaube schon«, gab Bouteloup zurück. »Und ist meine Frau heute bei guter Laune?« »Ich glaube.« Bouteloup war der Vorläufer der Leute, die um drei Uhr nachmit tags einfuhren. Die Grube verschlang sie, die Grube feierte nie. Tag und Nacht durchwühlten die Bergleute wie menschliche Insekten das Gestein. Sie hackten und förderten sechshundert Meter tief unter den Rübenfeldern. Vor dem Wirtshaus ›Zur vorteilhaften Einkehr‹ sagte Maheu zu Eti enne: »Da sind wir. Wollen Sie mit uns einkehren?« Etienne forschte in den Zügen Catherines, die regungslos neben ih nen stehengeblieben war. Sie sah Etienne mit ihren großen Augen an, lächelte ihm zu und verschwand mit den anderen, die sich auf den Heimweg machten. Das Wirtshaus lag an der Kreuzung zweier Wege zwischen dem Ar beiterdorf und der Grube. Hinter dem Haus war eine von einer grünen Hecke eingefaßte Kegelbahn errichtet worden. Die Herren der Gru bengesellschaft, die alles darangesetzt hatten, dieses kleine Grund stück inmitten ihrer weiten Besitzungen an sich zu bringen, waren in Verzweiflung über diese Kneipe dicht am Eingang zum Voreux. Das Schankzimmer war ein kleiner, kahler Raum mit weiß getünchten Wänden. 311
Gefolgt von Etienne, trat Maheu ein und bestellte bei einem großen, blonden Mädchen: »Ein Gläschen!« Er fragte: »Ist Rasseneur da?« Rasseneur war der Wirt. Das Mädchen erwiderte, daß er sofort zu rückkommen werde. Maheu leerte sein Glas zur Hälfte, um den Koh lenstaub hinunterzuspülen. Er bot Etienne nichts an. An einem der un gehobelten Tische saß ein Bergmann mit verrußtem Gesicht. Er wink te, wenn er etwas wollte, und kümmerte sich nicht um Rasseneur, der das Schankzimmer betrat. Ein glattrasiertes, volles Gesicht, das von einem gutmütigen Lä cheln erhellt war, wandte sich Maheu zu. »Was gibt es?« fragte er. Ma heu schwieg erst und überlegte. Rasseneur hatte sich zum Wortführer der unzufriedenen Arbeiter gemacht. Er war ein gefährlicher Mann, ein ehemaliger Bergmann, den die Grubengesellschaft anläßlich eines Streiks entlassen hatte. Als Antwort und als Herausforderung hatte er das nötige Geld aufgetrieben und das Wirtshaus dicht am Voreux er worben. Sein Geschäft blühte, denn die Unzufriedenen, deren Zorn er allmählich angefacht hatte, waren seine Gäste. Er fragte Maheu gelas sen: »Hast du mir etwas zu sagen?« »Da ist ein Mann, den ich heute früh aufgenommen habe«, erwider te Maheu. »Ist eine von deinen beiden Stuben frei, und willst du ihm vierzehn Tage Kredit geben?« Rasseneur warf einen mißtrauisch prüfenden Blick auf Etienne und sagte kurz angebunden: »Meine beiden Stuben sind besetzt. Es geht nicht.« Etienne war auf die Ablehnung vorbereitet gewesen, als er das glatte Gesicht Rasseneurs gesehen hatte. Aber die Abfuhr berührte ihn doch schmerzlich. Er wunderte sich, wie schwer es ihm fiel, wieder fortzu gehen. Rasseneur wandte sich Maheu zu und fragte mit eigentümlicher Be tonung: »Gibt es etwas Neues?« Maheu erzählte den Streit, den es in der Grube wegen der Verzim merung gegeben hatte. Das Blut schoß Rasseneur in den Kopf. Er wur de puterrot. »Wenn sie sich einfallen lassen, die Löhne herabzusetzen, sind sie geliefert.« Etiennes Anwesenheit störte ihn offenkundig. Er 312
warf ihm immer wieder mißtrauische Blicke zu. Mit allerhand Um schreibungen und Anspielungen sprach er von dem Grubendirektor, Monsieur Hennebeau, und von Madame Hennebeau und ihrem Nef fen, dem kleinen Negrel. So könne es nicht weitergehen, wiederholte er. Es müsse über kurz oder lang zum Bruch kommen. Gestern habe er auch aus Lille einen Brief voll beunruhigender Nachrichten erhalten. »Du weißt«, flüsterte er Maheu zu, »das kommt von dem Mann, den du einmal abends hier gesehen hast.« »Der Brief von Pluchart«, fiel Madame Rasseneur ein, die ins Schank zimmer eintrat. Sie war eine magere, lebhafte Person, in ihren politi schen Anschauungen noch radikaler als ihr Mann. »Wenn Pluchart hier zu befehlen hätte, würde alles besser stehen.« Etienne konnte nicht an sich halten. »Pluchart kenne ich«, sagte er laut. Die auf ihn gerichteten Blicke machten ihn verlegen. Er erklärte: »Ich bin Maschinist, Pluchart war mein Werkmeister in Lille. Er ist ein begabter Mann, ich habe oft mit ihm gesprochen.« Rasseneur wandte sich seiner Frau zu: »Maheu hat diesen Herrn hierhergebracht. Er ist sein neuer Wagenschieber, und er wollte anfra gen, ob wir oben nicht eine Stube frei hätten.« Er setzte mit wohlwol lendem Unterton hinzu: »Er wollte auch wissen, ob wir ihm vierzehn Tage Kredit geben können.« Mit wenigen Worten war bald alles zum Abschluß gebracht. Eine Stube war frei, und als Maheu sich verabschiedete, folgte ihm Etienne bis zur Tür, um sich zu bedanken. Doch Maheu schüttelte nur wortlos den Kopf und machte sich auf den Weg. Ehe Etienne in seine Stube ging, überlegte er noch, ob er wirklich bleiben sollte. Die Freiheit auf der Landstraße reizte ihn doch. Wenn er sie aufgab, war es ein Verlust, und der Gedanke, im Voreux wie ein Tier behandelt zu werden, empörte ihn. Er stand vor der Türe und sah auf die weite Ebene hinaus. Er erblickte einen Kanal, den er während der Nacht nicht bemerkt hatte. Ein mattes Silberband von zwei Meilen Länge zog sich vom Voreux nach Marchiennes: in unabsehbarer Ferne zwischen grünen Ufern. Die roten Dächer des Arbeiterdorfes traten in sein Blickfeld. Das war nicht mehr das geheimnisvolle Dunkel, das ihn 313
beängstigt hatte. Sein Entschluß stand fest. Er hoffte, Catherines helle Augen wiederzusehen.
V
Herr Gregoire war Mitbesitzer des Voreux. Er hatte ein großes Ein kommen und konnte es sich deshalb leisten, sich nur um kleine Din ge kümmern zu müssen. Das Besitztum der Familie Gregoire lag zwei Kilometer östlich von Montsou. Es hieß ›La Piolaine‹ und bestand aus einem mächtigen, stillosen Gebäude, einem Obst- und Gemüsegarten. Vom Gittertor bis zur Freitreppe führte eine dreihundert Meter lan ge Lindenallee, die Sehenswürdigkeit der kahlen Gegend. Es lebte sich gut in ›La Piolaine‹. Madame Gregoire schaltete und waltete in Hausschuhen und einem flanellenen Schlafrock in der Küche. Unter ihrem schneeweißen Haar hatte sie sich ihr dickes Puppengesicht mit verwundert dreinblicken den Augen bewahrt. »Melanie«, befahl sie der Köchin, mit der sie ihr eigener ehemaliger Beruf verband, »Sie können den Kuchen heute früh backen, da der Teig nun einmal fertig ist.« Sie erklärte: »Fräulein Ceci le wird erst in einer halben Stunde aufstehen und könnte dann davon zu ihrer Schokolade essen.« »Das wäre eine prächtige Überraschung«, lächelte Melanie, die trotz ihres nahrhaften Berufs mager geblieben war. »Sorgen Sie dafür, daß er hübsch braun wird«, empfahl Madame Gregoire und eilte aus der Küche, um ihrem Mann im Speisezimmer zu begegnen. Sie führten eine gute Ehe und glichen einander, als wären sie nicht Mann und Frau, sondern Bruder und Schwester. Sein ehrbares und gutmütiges Gesicht wirkte bekümmert. »Steht Ce cile denn heute überhaupt nicht auf?« 314
»Ich kann nicht begreifen, warum sie noch nicht heruntergekommen ist. Ich habe doch gerade ein Geräusch in ihrem Zimmer gehört.« Der Tisch war gedeckt, drei geblümte Tassen standen auf dem wei ßen Tischtuch bereit. Honorine, das Kammermädchen, das schon als Kind ins Haus aufgenommen worden war, wurde aufgefordert nach zusehen, was mit Fräulein Cecile los sei. Sie kam mit unterdrücktem Kichern zurück. »Oh, wenn der gnädige Herr und Madame das Fräu lein sähen … Sie schläft. Es ist eine Freude, sie schlafen zu sehen.« Vater und Mutter Gregoire wechselten einen zärtlichen Blick mitein ander und stiegen auf Zehenspitzen hinauf. Das Zimmer Ceciles war mit blauer Seide ausgeschlagen, die weißlackierten Möbel mit blauem Stoff bespannt. Im breiten Bett schlief das junge Mädchen. Cecile war nicht schön, sie war zu kräftig für ihre achtzehn Jahre. Das kastanien braune Haar umrahmte die vollen Backen, aus denen ein trotziges Na schen hervorragte. Sie schlief friedlich, während die Eltern sich über sie neigten und das so lange ersehnte Kind, das ihre Ehe vollkommen gemacht hatte, mit inniger Liebe betrachteten. Dann kehrten sie wie der in das Speisezimmer zurück. Herr Gregoire nahm eine Zeitung zur Hand, und Madame Gregoire strickte an einer großen, wollenen Decke. Das Vermögen der Gregoires, das vierzigtausend Frank Einkommen abwarf, bestand lediglich aus einer Aktie der Gruben von Montsou. Leon Gregoires Urgroßvater, der als Verwalter bei einem Baron Des rumeaux, dem hartnäckigsten Kohlensucher seiner Zeit und damali gen Besitzer von ›La Piolaine‹, bedienstet gewesen war, hatte diese Ak tie mit allen seinen Ersparnissen erworben. Das war vor der großen Revolution gewesen. Der Kurswert der Ak tie hatte sich so vergrößert, daß Gregoires Vater das zusammenge schrumpfte, zum Nationaleigentum erklärte Gut ›la Piolaine‹ um ei nen lächerlich geringen Preis hatte erwerben können. Doch die folgen den Jahrzehnte waren nicht so gut gewesen. Erst Leon Gregoire der Dritte konnte die Früchte des von seinem Urgroßvater angelegten Gel des ernten. Als man ihm riet, die Aktie um eine Million Frank zu ver kaufen, lehnte er lächelnd ab. Er lächelte immer noch, als der Wert der 315
Aktie durch eine industrielle Krise auf sechshundert Frank sank. Er bedauerte die Wertverminderung des Kurses nicht, denn die Familie hatte ein felsenfestes Vertrauen zu ihrer Grube: der Glaube an ein Un ternehmen, das die Familie seit einem Jahrhundert ernährt hatte, ohne daß jemand eine Hand zu regen brauchte, war gefestigt wie ihre Reli gion. Madame Gregoire war die Tochter eines Apothekers. Sie war ein häßliches Mädchen und arm, aber sie betete ihren Mann an und kann te keinen anderen Willen als den seinen. Die vierzigtausend Frank, die die Grube alljährlich einbrachte, wurde in aller Stille für Cecile veraus gabt, deren späte Geburt das gefestigte Budget der Gregoires vorüber gehend in Unordnung gebracht hatte. Aber Cecile war das ein und alles ihrer Eltern. Wenn sie sie nicht sahen und ihre Nähe fühlten, horchten sie, ob sie nicht einen Laut des geliebten Kindes zu hören bekämen. »Ihr frühstückt ohne mich?« Die kräftige Stimme Ceciles ertönte. »Ach nein, wir warten auf dich«, antworteten die Eltern wie aus ei nem Mund und liebkosten mit ihren Blicken die volle Gestalt im Mor genrock aus weißer, seidenweicher Wolle. Die Schokolade dampfte in den Tassen. Honorine brachte den Ku chen, den Melanie so hübsch braun hatte werden lassen, wie Cecile es liebte. Das Krachen der Kruste zwischen ihren kräftigen weißen Zäh nen übertönte nicht das laute Bellen der Hofhunde. Monsieur Deneulin trat ein. Seine aufrechte Haltung verriet den ehemaligen Artillerieoffizier, und das tiefe Schwarz seines kurzgescho renen Haares und Schnurrbartes ließ nicht ahnen, daß er die Fünfzig schon überschritten hatte. »Gibt es etwas Neues, Vetter?« fragte Herr Gregoire. »Nein, gar nichts«, erwiderte Herr Deneulin. »Ich habe einen Mor genritt gemacht, und da ich an eurem Haus vorbeikam, wollte ich euch guten Tag sagen.« »Und wie geht es deinen Töchtern Jeanne und Lucie?« erkundigte sich Cecile. »Vortrefflich.« »Und in der Grube geht alles gut?« fragte Herr Gregoire. 316
»Zum Donnerwetter, nein! Diese Krise nimmt uns mit. Wir müssen für die guten Jahre bezahlen.« Wie sein Vetter, so hatte auch Deneulin eine Aktie der Gruben von Montsou geerbt. Außerdem besaß er zwei kleine Gruben in Vandame. Die Aktie hatte er verkauft, als sie eine Million wert gewesen war. Aber diese Million hatte seiner schlechten Verwaltung nicht standgehalten. Das wollte er nicht zugeben. »Siehst du, Leon«, sagte er mit prahlerischem Selbstbewußtsein, »du hattest unrecht, nicht zur gleichen Zeit zu verkaufen. Jetzt fällt alles, und du kannst lange warten, bis der Kurs wieder so hoch steht. Wenn du mir dein Geld anvertraut hättest, was wäre da aus meinen beiden kleinen Gruben in Vandame zu machen gewesen!« »Kursstürze!« Herr Gregoire machte eine leichte Handbewegung und trank seine Schokolade ohne Überstürzung aus. »Die Aktien von Montsou können ruhig fallen, das macht mir nichts. Ich spekulie re nicht. Eines Tages wirst du es noch bereuen, daß du verkauft hast. Montsou wird wieder steigen.« Deneulin lächelte verlegen. »Das hoffe ich auch. Aber wie wäre es, Vetter, wenn ich dich eines Tages ersuchen würde, hunderttausend Frank in mein Geschäft zu stecken?« Er zögerte, als er das besorgte Ge sicht Gregoires sah, und verschob die geplante Anleihe auf einen spä teren Zeitpunkt. »Vielleicht ist es so, wie du immer sagst«, meinte er, »das Geld, das andere für dich verdienen, macht am sichersten reich.« »Gewiß, gewiß«, lächelte Herr Gregoire selbstzufrieden, »und des halb würde ich, wenn ich an deiner Stelle wäre, nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Ich würde mit Montsou verhandeln … Sie möchten deine Grube in Vandame gerne erwerben, und du kämst so wieder zu barem Geld.« »Nie!« rief Deneulin. »Solange ich lebe, soll Montsou nicht Vanda me erwerben. Ich war Freitag bei Hennebeau und habe bemerkt, wie er mir Honig um den Mund schmierte. Schon im vergangenen Herbst, als die Hauptaktionäre hier waren, hat man mir den Hof gemacht. Ich kenne diese hohen Herren. Räuberpack! Sie alle würden einen bis aufs Hemd ausplündern, wenn sie könnten.« 317
Während Honorine den Tisch abdecken wollte, schlugen die Hunde wieder an. Cecile stand auf. »Es ist gewiß die Klavierlehrerin.« Auch Deneulin hatte sich erhoben. Er sah Cecile nach und frag te lächelnd: »Wie steht's mit ihrer Verlobung mit dem kleinen Ne grel?« »Es ist noch nichts entschieden«, wehrte Madame Gregoire ab. »… Alles will gut überlegt sein.« »Zweifellos.« Deneulin setzte eine zweideutige Miene auf. Aber während Madame Gregoire dann nach Worten suchte, um noch etwas zu antworten, küßte ihr Deneulin schon die Hand und verließ das Zimmer. »Ich mag sein Lachen nicht«, sagte sie. »Es war noch nicht die Klavierlehrerin«, meldete Cecile. »Die Hun de haben eine Frau mit zwei Kindern angebellt. Du weißt doch noch, Mama, die Frau des Bergmanns, der wir begegneten. Sollen sie herein kommen?« »Lassen Sie sie eintreten, Honorine.« Die Frau des Bergmanns war die Maheude mit Lenore und Henri. Die Kinder waren starr vor Kälte und sahen sich scheu im vornehmen Speisezimmer um, in dem es so warm und so verlockend nach Ku chen roch. Die Blicke des Herrn und der Dame, die behaglich in ihren Lehnstühlen saßen, machten Lenore und Henri verlegen. »Versieh dein kleines Amt, Cecile«, sagte Frau Gregoire. Sie hat te ihre Tochter mit der Verteilung der Almosen betreut; das gehör te zu ihren Ansichten von einer guten Erziehung. Aber die Gregoires bemühten sich, auf vernünftige Weise mildtätig zu sein. Deshalb ver schenkten sie niemals Geld. Nicht zehn Sou, nicht zwei Sou, nicht ei nen. Denn es war ja bekannt, daß ein Armer, sobald er auch nur einen Sou hatte, ihn vertrank. »O die armen Kleinen!« rief Cecile teilnahmsvoll. »Sie sind ganz blaß von dem Marsch in der Kälte. Honorine, hole doch das Paket aus dem Schrank!« »Ich danke Ihnen sehr, Fräulein«, stammelte die Maheude. Sie hat te endlich Worte gefunden. »Sie sind alle so gut …« Die Freundlichkeit 318
trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie glaubte, daß sie mindestens hun dert Sou erhalten würde. »Sie haben nur diese zwei Kinder?« fragte Frau Gregoire, um das Schweigen zu brechen. »O Madame, ich habe sieben …« »Sieben Kinder!« Herr Gregoire fuhr entrüstet auf. »Mein Gott, wes halb denn so viele?« Die Maheude verbeugte sich tief und machte eine entschuldigen de Handbewegung. Sie flüsterte: »Was soll man denn tun? Es kommt, ohne daß man daran denkt. Und wenn die Kinder herangewachsen sind, bringen sie auch Geld ins Haus.« Sie setzte hinzu: »Das hilft wirt schaften.« Frau Gregoire fragte mit unverhohlenem Abscheu: »Sie arbeiten wohl schon lange in der Grube?« Ein mattes Lächeln huschte über das bleiche Gesicht der Maheude. »Schon sehr lange, aber jetzt nicht mehr. Ich bin bis zu meinem zwan zigsten Jahr eingefahren. Nach der zweiten Niederkunft aber erklärte der Arzt, es würde mich das Leben kosten, wenn ich weiter arbeitete. Ich heiratete damals, und mit meinem Mann und den Kindern hatte ich genug Arbeit zu Hause.« Sie wollte ihre Anhänglichkeit an die Gru be beweisen und setzte eifrig hinzu: »Von meines Mannes Seite sind sie schon seit einer Ewigkeit dabei.« Monsieur Gregoire tauschte einen träumerischen Blick mit seiner Frau: Es war so wie bei seiner Familie. Aber der Anblick der Maheude und ihrer jämmerlichen Kinder unterbrach diese Gedanken: »Es gibt viel Übel auf Erden, das ist wohl wahr, liebe Frau«, sagte er. »Aber man muß auch bedenken, daß die Kohlenarbeiter nicht vernünftig sind. Anstatt etwas beiseite zu legen, wie die Bauern es tun, trinken sie, ma chen Schulden und wissen dann nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollen.« »Der gnädige Herr hat recht«, erwiderte die Maheude ruhig. »Man ist nicht immer auf dem rechten Weg. Das sage ich auch den Taugenicht sen, wenn sie sich beschweren. Ich aber habe es gut getroffen. Mein Mann trinkt nicht. Dennoch kommen wir dabei nicht vorwärts. Es 319
gibt Tage wie heute, wo man bei uns alle Schubladen umstürzen könn te, ohne daß auch nur ein Sou herausfallen würde.« »Gibt Ihnen die Gesellschaft nicht Wohnung und Heizung unent geltlich?« fragte Madame Gregoire. Die Maheude konnte nicht verhindern, daß sie einen Seitenblick auf das flammende Kaminfeuer im Speisezimmer warf. Sie faßte sich rasch. »Gewiß gibt man uns Kohle«, sagte sie eifrig. »Und wenn sie auch nicht besonders gut ist, so brennt sie doch. Und was die Miete be trifft, so zahlen wir nur sechs Frank monatlich. Das sieht aus, als ob es sehr wenig wäre, Madame, aber oft fällt doch das Bezahlen nicht leicht.« Die Familie Gregoire schwieg. Vater, Mutter und Tochter begannen sich allmählich angesichts solchen Elends zu langweilen und unbe haglich zu fühlen. Honorine brachte das Paket. Cecile öffnete es und zog zwei Kinderkleider hervor. Sie legte noch zwei Tücher dazu und Strümpfe und warme Fausthandschuhe. Sie beeilte sich dabei und ließ die Sachen von dem Dienstmädchen einpacken. Sie wollte keine Zeit verlieren, jeden Augenblick konnte ihre Klavierlehrerin kommen. Sie drängte die Maheude mit den Kindern zur Tür. »Wir sind in großer Not«, stammelte die Maheude. Die Worte woll ten nicht heraus, denn die Maheus waren stolz und bettelten nicht. Sie sagte atemlos: »Wenn wir nur hundert Sou bekommen könnten.« Cecile sah ihren Vater unruhig an. Er erklärte mit würdevoller Mie ne: »Das ist nicht unsere Gewohnheit, das können wir nicht. Wir ge ben kein Geld.« »Aber Kuchen, ja.« Cecile vergewisserte sich, daß ihr Vater nichts da gegen hatte. »Nehmt das, das ist für euch«, sagte sie zu den Kindern. Sie fügte hinzu: »Teilt es mit euren Brüdern und Schwestern.« Die Maheude zog die Kinder auf der Straße hinter sich her. Jedes von ihnen hielt in den erstarrten Fingern respektvoll ein Stück Kuchen. Aber die Mutter sah nichts. Weder die öden Felder, noch den fahlen Himmel. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie sammelte ihre Kräf te. Sie brauchte Geld. Die Kinder hatten Hunger, sie hatte Hunger. Sie brauchten Brot und keinen Kuchen. Sie trat in Montsou entschlossen 320
in Maigrats Laden. Sie bat so eindringlich, daß er ihr schließlich zwei Brotlaibe, Kaffee, Butter und auch die so dringend benötigten hundert Sou gab. Maigrat verlieh Geld nur auf kurze Frist. Auch das tat er nicht um sonst. Doch er wollte nichts von der Maheude. Sie erriet das, als Mai grat ihr auftrug, sie möge in Zukunft die Lebensmittel von ihrer Toch ter Catherine holen lassen. Darauf konnte man es ankommen lassen, überlegte die Maheude. Catherine würde ihm eine Ohrfeige geben, wenn er zudringlich werden würde.
»Da sind wir endlich«, sagte die Maheude und schob, mit Paketen beladen, die erschöpften Kinder vor sich ins Haus. Vor dem rauchi gen Kohlenfeuer heulte Estelle in den Armen Alzires, die der kleinen Schwester die Brust gereicht hatte, als sie gar nicht mehr wußte, was sie mit ihr anfangen könnte. »Gib sie mir«, rief die Mutter, nachdem sie die Pakete auf den Tisch gelegt hatte. »Du hast aber viel mitgebracht.« Alzire war außer sich beim Anblick der Vorräte. »Soll ich die Suppe kochen?« »Nein, setz Kartoffeln auf.« Sie erinnerte sich plötzlich des Kuchens. Aber Lenores und Henris Hände waren leer. Sie balgten sich unter dem Tisch. »Laß nur, Mutter, du weißt, daß mir an Kuchen nichts liegt«, sag te Alzire. »Die beiden waren gewiß hungrig nach dem weiten Weg …« Sie unterbrach sich: »Beinahe hätte ich es vergessen. Die Nachbarin war da.« »Gut, daß du mich erinnerst.« Die Maheude schlug sich vor den Kopf. »Man vergißt so leicht. Pack ein Maß Kaffee ein, ich will es der Pierronne hinübertragen. Ich schulde es ihr.« »Weshalb bemühst du dich denn!« rief die Pierronne, als die Maheu de ihr den Kaffee mit vielen Danksagungen reichte. »Das war doch nicht so eilig.« 321
Die Pierronne galt für die schönste Frau des Arbeiterdorfes. Ihre Mutter, die Brule, die Witwe eines in der Grube verunglückten Berg manns, hatte die Pierronne in eine Fabrik zur Arbeit geschickt und ge schworen, sie solle nie einen Bergmann heiraten. Aber sie hatte doch Pierron geheiratet, der ein Witwer war und schon ein achtjähriges Mädchen hatte. Das Ehepaar lebte glücklich trotz allen Klatsches, den man sich von den Liebhabern der Pierronne erzählte. Sie hatten keine Schulden und aßen zweimal wöchentlich Fleisch. Das kam daher, daß die Pierronne von der Grubengesellschaft die Erlaubnis erwirkt hatte, Bonbons und Biskuite zu verkaufen. Das brachte sechs bis sieben Sou täglich ein, und sie konnte, wenn sie wollte, Kaffee trinken. Zwischen den Biskuiten und Bonbons, die hinter den Fensterschei ben ausgestellt waren, schweiften ihre Blicke zu den gegenüberliegen den Häusern. Bei den Levaques waren die Vorhänge so schwarz wie Putzlappen. Sie wandte sich der Maheude zu, der sie eine Tasse Kaffee angeboten hatte, und sagte: »Wie kann man nur in solchem Schmutz leben?« Das war Wasser auf die Mühle der Maheude. »Wenn ich so einen Mieter hätte wie Bouteloup, dann wüßte ich schon, wie ich meine Wirt schaft einrichten würde. Ich würde mich allerdings nicht mit meinem Mieter einlassen. Aber Levaque«, sagte sie verächtlich, »der schlägt sei ne Frau und läuft den Sängerinnen aus dem ›Vulkan‹ nach.« Die Pierronne verzog angeekelt die Lippen. »Mich wundert, daß du das Verhältnis zwischen deinem Sohn und der Tochter der Levaque duldest. Sie hat schon zwei Kinder von deinem Zacharias, und es wer den noch mehr kommen.« »Ich verfluche ihn, wenn noch mehr kommen!« Die Maheude erhob wütend die Hände. »Er hat uns genug Geld gekostet. Das muß er uns zurückgeben, bevor er daran denken kann, sich eine Frau anzuschaf fen. Was sollte denn aus uns werden, wenn unsere Kinder für andere arbeiten, sobald sie herangewachsen sind. Was soll aus uns werden?« Die Maheude erhob sich mit einem Schreckensruf. Es war ihr eingefal len, daß die Suppe für ihre Männer noch nicht fertiggekocht war. Die Kinder kamen aus der Schule. In den Haustüren standen Frauen 322
und beobachteten Madame Hennebeau, die einem Herrn mit einem Ordensband im Knopfloch und einer Dame im Pelzmantel die Anlage des Arbeiterdorfes beschrieb. Das waren sicher Herrschaften aus Paris, dachte die Maheude und stieß mit der Levaque zusammen, die gerade den Bergwerksarzt Dr. Vanderhagen aufhielt. »Herr Doktor, ich kann nicht mehr schlafen, mir tut alles weh«, klag te die Levaque. Der kleine, geschäftige Mann, der seine Ratschläge nur im Gehen er teilte, erwiderte: »Laß mich in Ruhe, du trinkst zuviel Kaffee.« Die Maheude nahm die Gelegenheit war. »Und meinen Mann, Herr Doktor, sollten Sie auch einmal besuchen. Er hat noch immer seine Schmerzen in den Beinen.« »Daran bist nur du schuld.« Er eilte weiter. »Laß mich ungescho ren!« Die beiden Frauen sahen Dr. Vanderhagen mit verzweifelten Blik ken nach. »Alles, was er sagen kann, ist nur: Laß mich in Ruhe«, mein te die Maheude. »Komm doch zu mir«, sagte die Levaque, »ich habe dir etwas zu er zählen.« Die Maheude sträubte sich erst, aber sie konnte nicht widerstehen. Sie trat in die Küche, die von Schmutz starrte. Der widerliche Geruch nahm ihr den Atem. Am Tisch neben dem Herd aß Bouteloup die Re ste seines Mittagessens. Neben ihm stand Philomenes Erstgeborener, der dreijährige Chille, und blickte starr auf den essenden Mann. Boute loup steckte dem Jungen von Zeit zu Zeit einen Bissen in den Mund. »Also, was ich dir erzählen wollte«, begann die Levaque, als wäre Bouteloup nicht anwesend. »Gestern abend hat man die Pierronne wieder herumschleichen sehen. Der bewußte Herr hat sie hinter Ras seneurs Haus erwartet. Sie sind zusammen den Kanal entlanggegan gen. Das ist doch fein! Eine verheiratete Frau!« Bouteloup lachte dröhnend auf, aber die beiden Frauen ließen sich in ihrem Tratsch nicht beirren. Plötzlich unterbrach sich die Levaque und wies auf den Jungen Philomenes: »Wir sollten doch endlich dar an denken, der Sache ein Ende zu machen. Zacharias hat nun sein Los 323
gezogen und ist militärfrei. Nichts hält ihn mehr. Wann machen wir Hochzeit?« »Warten wir doch bessere Zeiten ab«, gab die Maheude verlegen zu rück. »Sie hätten doch warten können, bis sie verheiratet waren. So wahr mir Gott helfe, ich würde Catherine erwürgen, wenn sie sich et was Derartiges zuschulden kommen ließe wie deine Philomene.« »Deine Catherine wird's nicht besser machen als alle anderen.« »Auf Wiedersehen«, sagte die Maheude und eilte hinaus. Es war ihr eingefallen, daß Madame Hennebeau Gästen aus Paris die Arbeiter häuser zeigte, um zu beweisen, wie gut es den Leuten ging. Meistens kam sie dann zu den Maheus. In ihrer Küche war tatsächlich alles sauber. Henri und Lenore waren zufällig artig, da sie sich damit beschäftigten, einen alten Kalender zu zerreißen. Vater Bonnemort rauchte schweigend seine Pfeife. Die Ma heude war noch nicht zu Atem gekommen, als Frau Hennebeau schon an die Türe klopfte: »Sie erlauben doch, nicht wahr, meine gute Frau? Wir stören doch niemanden … Nun? Da ist's doch schön sauber. Und diese brave Frau hat sieben Kinder.« Sie erklärte: »Alle unsere Arbei terwohnungen sind so … Ich sagte Ihnen schon, meine Lieben, daß die Grubengesellschaft nur sechs Frank Monatsmiete für ein Haus nimmt. Bitte, sehen Sie: Im Erdgeschoß eine große Küche, oben zwei Kam mern, Keller …« Der Herr mit dem Ordensband und die Dame im Pelzmantel mach ten große Augen beim Anblick all dieser Dinge, mit denen sie hinters Licht geführt wurden. »Wir geben ihnen mehr Kohle, als sie brauchen«, erklärte Madame Hennebeau. »Ein Arzt besucht sie zweimal wöchentlich. Und wenn sie alt geworden sind, erhalten sie Pensionen, obwohl ihnen nie Abzüge vom Lohn gemacht werden.« »Ein Paradies! Ein wahres Schlaraffenland!« rief der Herr mit dem Ordensband entzückt. Die Maheude bot beflissen Stühle an. Die Damen lehnten dankend ab. Madame Hennebeau hatte ihre Tätigkeit schon satt. Um die Lan geweile ihres einsamen Landlebens zu vertreiben, übernahm sie gele 324
gentlich die Rolle des Führers durch Montsou. Aber der widerliche Ge ruch der Armut, der sogar in den saubersten Häusern herrschte, stieß sie ab. »Die hübschen Kinderchen«, sagte die Dame im Pelzmantel, obwohl sie die Kinder der Maheude abscheulich fand. Alzire wurde großes Lob zuteil: Welch reizende kleine Hausfrau war sie doch! Der Herr und die Dame beglückwünschten die Mutter zu einer Tochter, die für ihr Alter schon so klug war; aber niemand erwähnte ihren Höcker. »Nun«, sagte Frau Hennebeau, »wenn man Sie in Paris nach unse ren Arbeiterwohnungen fragt, werden Sie gewiß imstande sein, Aus kunft zu erteilen.« »Wunderbar, ganz wunderbar«, bestätigte der Herr mit dem Ordens band begeistert.
VI
Als Etienne im Abenddunkel erwachte, war er einen Augenblick wie betäubt. Er vermochte sich nicht sofort zu besinnen, wo er war. Sein Kopf war schwer, er hatte keine Nacht länger als vier Stunden geschla fen. Er wollte vor dem Abendessen ein wenig Luft schöpfen. Etienne ging auf gut Glück geradeaus. Es hatte eben sechs Uhr ge schlagen. Wagenschieber, Auflader und Pferdeknechte gingen scha renweise an ihm vorbei. Er hörte sie sprechen: Die Brule zankte mit ihrem Schwiegersohn Pierron, weil er ihr nicht zu Hilfe gekommen war, als sie mit einem Aufseher wegen der Abrechnung in Streit gera ten war. »Sollte ich mich etwa an dem Chef vergreifen?« fragte Pierron. »Dan ke schön!« »Zieh also den Schwanz ein!« schrie die Brule. »Ach, wenn meine 325
Tochter doch nur auf mich gehört hätte!« Sie klagte: »Es genügt also nicht, daß sie meinen Mann umgebracht haben, du willst wohl auch noch, daß ich mich dafür bedanke.« Die Stimmen verhallten. Etienne sah die Adlernase der Brule, ihr flatterndes weißes Haar und die heftig gestikulierenden langen, mage ren Arme im Dunkel verschwinden. Er blieb stehen. Jetzt fesselte ihn das Gespräch zweier Leute, die hinter ihm standen. Er erkannte Za charias, zu dem sich sein Freund Mouquet gesellt hatte. »Kommst du mit zum ›Vulkan‹?« »Sofort«, erwiderte Zacharias, »ich habe nur noch etwas zu tun.« Mouquet drehte sich um. Auch Etienne sah Philomene, die aus dem Sortierhaus kam. Er glaubte zu erraten, um was es sich handelte. Mou quet sagte: »Also gut, ich gehe voraus.« Zacharias drängte Philomene trotz ihres Sträubens vom Weg ab. Sie stritten wie alte Eheleute. »Es ist kein Vergnügen«, sagte sie, »sich nur draußen zu treffen – besonders im Winter.« »Darum handelt es sich nicht«, gab er ungeduldig zurück. »Ich habe dir etwas zu sagen.« Er umschlang ihre Taille und zog sie mit sich fort. Etienne konnte nicht hören, was sie einander zu sagen hatten. Als Zacharias und Philomene im Schatten standen, wollte er wissen, ob sie Geld habe.»Was willst du damit?« Er gebrauchte Ausflüchte. »Dieses und jenes.« »Schweig doch, ich habe Mouquet gesehen. Du willst doch in den ›Vulkan‹, wo diese schmierigen Sängerinnen sind.« »Komm doch mit«, sagte Zacharias. »Du wirst dich gut unterhalten. Du wirst sehen, daß du mich nicht im geringsten störst. Was sollte ich denn mit den Sängerinnen tun, da ich dich habe. Kommst du mit?« »Und das Kind?« begehrte sie auf. »Kann man sich denn aus dem Hause rühren, wenn man ein Kind hat, das immer schreit? Laß mich lieber gehen, nach Hause. Ich wette, daß es wieder Zank gibt.« Zacharias hielt sie zurück. Er bat nochmals um Geld. Er wollte es nur, sagte er, um nicht vor Mouquet als Dummer dazustehen. Philomene gab endlich nach, trennte mit dem Fingernagel die Naht ihres Mieders 326
auf und zog einige Zehnsoustücke hervor. Aus Angst vor ihrer Mutter verbarg sie den Lohn für die Überstunden in der Grube in ihrem Mie der. Sie zählte: »Ich habe fünf und will dir drei davon geben.« Sie hob die Stimme: »Du mußt mir aber schwören, daß du deine Mutter be stimmst, daß wir endlich heiraten können. Ich habe dieses Leben satt. Meine Mutter wirft mir jeden Bissen vor, den ich esse … Schwöre!« Ihre Stimme war wieder matt geworden. Sie sprach wie ein kränkli ches Geschöpf ohne Leidenschaft, nur müde des Daseins, das sie führ te. Zacharias hob die Finger zum Schwur: »Das ist eine versprochene Sache!« rief er. »Es ist mir heilig.« Er wiederholte: »Heilig«, öffnete die Schwurhand und nahm drei Zehnsoustücke in Empfang. Etienne, der Zacharias und Philomene von weitem gefolgt war, hörte sie lachen. Er sah, daß sie miteinander schäkerten. Aber bald ging Phi lomene allein ins Dorf, während sich Zacharias beeilte, Mouquet ein zuholen. Am Fuß der Halde, an einer Stelle, an der große herabgeglittene Stei ne eine Höhlung gebildet hatten, sah Etienne Jeanlin, der auf die acht jährige Lydie Pierron und den zwölfjährigen Bebert Levaque einrede te. »Ich werde jedem von euch eine Ohrfeige geben, wenn ihr nicht zu frieden seid. Wer hat die Idee gehabt?« Jeanlin hatte sich eine Stunde lang auf den Wiesen umhergetrieben und mit den beiden anderen Löwenzahn gepflückt. Aber anstatt in das Arbeiterdorf zurückzukehren, waren sie nach Montsou gegangen, und Lydie hatte an den Türen der Bürgerhäuser die Klingel gezogen und den Löwenzahn zum Verkauf angeboten. Das hatte elf Sou eingetra gen. Jetzt waren die drei dabei, den Gewinn zu teilen. Aber wie teilte man elf durch drei? »Das ist ungerecht«, protestierte Bebert. »Wenn du sieben Sou be hältst, bleiben uns beiden nur je zwei.« Jeanlin schrie: »Ich habe das meiste gepflückt.« Bebert scheute für gewöhnlich vor Gewalt zurück. Er war sicher, ge ohrfeigt zu werden. Aber das viele Geld trieb seinen Widerstand an. »Er will uns betrügen. Wenn er nicht ehrlich mit uns teilt, werden wir es seiner Mutter sagen.« 327
»Schafskopf, wie kann ich elf Sou in drei gleiche Teile teilen?« Er fragte: »Kann ich das?«, und setzte beschwichtigend hinzu: »Hier habt ihr jeder eure zwei Sou. Entschließt euch rasch, sie anzunehmen, sonst stecke ich sie in die Tasche.« Bebert nahm die zwei Sou. Lydie hatte zitternd zugehört. Sie empfand eine mit zärtlicher Zuneigung gemischte Furcht vor Jeanlin. Als er ihr ihre zwei Sou geben wollte, streckte sie ergeben lächelnd die Hand aus. Er besann sich plötzlich eines anderen. »Was willst du denn damit«, sagte er, »deine Mutter wird dir das Geld gewiß wegschnappen. Es ist besser, wenn ich es verwahre. Sobald du Geld brauchst, kannst du es mir sagen.« Die Sou verschwanden in seiner Tasche. Er umschlang Lydie, um ihr den Mund zu verschließen und wälzte sich mit ihr auf dem Bo den. Jetzt war sie seine kleine Frau. Sie spielten Papa und Mama. Be bert, den die beiden an ihren Spielen nicht teilnehmen ließen, ärger te sich stets, wenn er zusah. »Ein Mann kommt!« schrie er, um Jeanlin und Lydie zu stören. Diesmal log Bebert nicht. Es war Etienne, der sich entschlossen hatte, seinen Weg fortzusetzen. Die Kinder sprangen auf und ergriffen die Flucht. Im nächsten Au genblick ging ein von Montsou kommendes Pärchen an Etienne vor bei, ohne ihn zu bemerken. Die beiden bogen nach dem wüsten Ter rain von Requillart ab. Etienne sah, daß das Mädchen sich sträubte und unter leisem Fle hen Widerstand leistete, als der Mann es in die Richtung eines düste ren Schuppens drängte. Etienne erkannte sie nicht, obwohl er sie kannte. Es waren Catheri ne und der lange Chaval.
Vor der Tür des Cafe Piquette hatte der lange Chaval Catherine ange halten. »Wohin so schnell?« Sie war überrascht und verlegen. Nicht etwa, weil Chaval ihr mißfiel, sondern weil sie nicht zum Scherzen aufgelegt war. 328
»Komm doch ins Cafe«, drängte er, »und trink etwas mit mir … et was Süßes, willst du?« Catherine schlug es höflich ab. Es begann dun kel zu werden, man erwartete sie zu Hause. Chaval trat zu ihr heran und redete mit leiser Stimme auf sie ein: »Fürchtest du dich vor mir? Lehnst du meine Einladung deshalb ab?« »Ich fürchte mich nicht«, erwiderte sie scherzend. Ein Wort gab das andere. Sie kam, ohne selbst zu wissen, wie, auf ein blaues Band zu sprechen, das sie sich gern gekauft hätte. »Ich werde dir ein blaues Band kaufen«, erklärte Chaval. Catherine errötete und hatte das Gefühl, daß sie gut daran täte, das Geschenk abzulehnen. Es gab neue Bedenken, als Chaval davon sprach, zu Maigrat zu gehen. »Nein, nicht zu Maigrat, die Mutter hat es mir verboten.« »Du brauchst ja nicht zu sagen, wo du warst … Maigrat hat die schön sten Bänder von ganz Montsou.« Als der Kaufmann Maigrat den langen Chaval und Catherine wie zwei Liebesleute in seinen Laden eintreten sah, wurde er puterrot und bediente sie ärgerlich. Dann begleitete Chaval sie auf dem Heimweg. Ohne daß sie es merk te, schob er sie mit den Hüften, bis sie gewahr wurde, daß sie die Land straße verlassen hatten und sich auf dem schmalen Pfad nach Requil lart befanden. Sie hatte keine Zeit, böse zu werden. Er hatte ihre Tail le umschlungen und flüsterte ihr zu, daß es doch dumm sei, sich vor ihm zu fürchten. »Ich fürchte mich nicht«, wiederholte sie. »Warum sollte ich mich auch fürchten?« Er schien sie wirklich zu lieben. Nachdem sie am Sonnabend vor dem Schlafengehen ihre Kerze ausgelöscht hatte, hat te sie sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn Chaval sie so mit den Armen umfinge, wie er es jetzt tat. Dann war sie eingeschlafen und hatte geträumt, daß sie nicht nein sagen würde. Weshalb emp fand sie doch plötzlich einen Widerwillen? Während der Bart Chavals so sanft ihren Nacken kitzelte, daß sie die Augen schloß, tauchte der Schatten Etiennes vor ihren geschlossenen Lidern auf. Sie öffnete die Augen und warf einen raschen Blick um sich. Sie hatte nicht bemerkt, 329
daß Chaval sie in die Ruinen von Requillart geführt hatte. Ein Schau er überlief sie beim Anblick des dunklen Schuppens. »O nein, o nein«, flüsterte sie. »Ich bitte dich, laß mich!« »Du dummes Ding«, brummte er zornig. »Fürchte dich doch nicht …«, seine Stimme wurde einschmeichelnd. Er hielt sie fest um klammert und schleppte sie in den Schuppen. Etienne hatte alles mit angehört. Noch eine, dachte er. Er setzte sei nen Weg mit einem unbehaglichen Gefühl aus Eifersucht und Zorn fort. Er war doch überrascht, als er sich nach etwa hundert Schritten umdrehte und Catherine und Chaval hinter sich sah. Der Mann hat te wieder die Taille des Mädchens umschlungen, preßte sie an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie schien es eilig zu haben. Sie schien schnell nach Hause gehen zu wollen und ärgerlich zu sein, daß er sie zurückhielt. Da regte sich plötzlich in Etienne die Neugierde. Er wollte das Ge sicht des Mädchens sehen. Er beschleunigte seine Schritte, um dieser seltsamen Neugierde nicht nachzugeben. Doch er konnte nicht anders. Als er zur ersten Straßenlaterne kam, verbarg er sich im Schatten. Er war starr vor Überraschung, als er Catherine und den langen Chaval erkannte. Diese beiden waren es gewesen. Diese beiden. Etienne woll te es nicht glauben. War das wirklich Catherine? Aber er zweifelte nicht länger. Er hatte die Augen Catherines wieder erkannt, die grünschimmernden Augen, die ihn so erregt hatten. Er empfand ein unwiderstehliches Verlangen nach Rache. Catherine und Chaval gingen weiter. Sie ahnten nicht, daß sie beob achtet wurden. Chaval hielt sie wieder zurück, um sie hinters Ohr zu küssen. Etienne folgte. Er tat es unter einem inneren Zwang, als müs se er Zeuge von Handlungen sein, deren Anblick ihn zur Verzweiflung brachte. Was Catherine ihm am Morgen geschworen hatte, war also wahr gewesen. Sie war noch niemandes Geliebte gewesen, und er hat te sie sich nun vor der Nase wegschnappen lassen. Eine halbe Stunde folgte Etienne den beiden und begleitete sie bis ins Dorf. Dort blieb er im Dunkel stehen. Er wollte abwarten, bis Chaval Catherine in ihr Haus eintreten ließ. Jetzt war es endlich soweit. Als 330
Etienne sicher war, daß Chaval und Catherine nicht mehr zusammen waren, ging er schweren Herzens weiter. Er wanderte auf der Straße nach Marchiennes, zu bedrückt und zu traurig, um in seine Stube zu rückzukehren. Erst eine Stunde später, gegen neun Uhr abends, schritt er langsam wieder durch das Dorf. Was anderes sollte er tun? Er mußte essen und zu Bett gehen, wenn er um vier Uhr morgens auf den Beinen sein woll te.
VII
Der Frühling war gekommen, und die Tage wurden länger. Bei sei nen Abendspaziergängen scheuchte Etienne jetzt nicht mehr die Lie bespaare unter der Halde auf, er fand ihre Spuren in den Getreidefel dern. Zweimal hatte er auch Catherine und Chaval gesehen. Nach sol chen Begegnungen fühlte er sich bedrückt und suchte Zuflucht in Ras seneurs Gaststube. So auch an diesem Abend. »Madame Rasseneur, geben Sie mir einen Schoppen«, bat er. »Ich bin wie zerschlagen.« Er war es tatsächlich. Seit drei Wochen zählte er zu den besten Wagenschiebern der Grube und beklagte sich zum ersten mal, daß er vor Müdigkeit beinahe zusammenbrach. Er sagte zu Sou varine, der für gewöhnlich am hintersten Tisch saß, den Kopf gegen die Wand gelehnt: »Trinkst du einen Schoppen mit mir?« »Danke, ich trinke nicht.« Souvarine war Maschinist im Voreux und bewohnte die möblier te Stube neben Etienne. Er war schlank, blond, hatte feine Gesichtszü ge und ein kleines Bärtchen. In seiner Stube gab es weder Kleider noch Wäsche, aber eine Kiste mit Papieren und Büchern. Er war Russe, aber die Bergleute, die sonst gegen Fremde mißtrauisch waren, betrachteten 331
ihn als einen der Ihren, um so mehr, als das Gerücht im Umlauf war, daß er ein politischer Flüchtling sei. In den ersten Wochen seines Aufenthalts in Montsou war Etienne bei Souvarine auf schroffe Zurückweisung gestoßen. Später erfuhr er von ihm selbst, daß Souvarine der letzte Abkömmling einer vorneh men Familie im Gouvernement Tula war. Er hatte in Petersburg Medi zin studiert und war durch die sozialistische Strömung, die die ganze russische Jugend mit sich riß, veranlaßt worden, ein Handwerk zu er lernen. Er war Mechaniker geworden, um sich unter das Volk zu mi schen, es kennenzulernen und ihm brüderlich beizustehen. Von die sem Handwerk lebte Souvarine jetzt, seit er nach einem mißlungenen Attentat auf den Kaiser von Rußland hatte flüchten müssen. Er war von seiner Familie verstoßen und dem Verhungern nahe, als ihn die Grubengesellschaft von Montsou in einem Augenblick plötzlichen Be darfs eingestellt hatte. Jeden Abend, wenn sich das Schankzimmer leerte, blieb Etienne noch sitzen, um mit Souvarine zu plaudern. Etienne trank langsam sein Glas Bier, Souvarine rauchte ununterbrochen. »Ich habe einen Brief von Pluchart bekommen«, sagte Etienne. Seit der Name Plucharts gefallen war, korrespondierte er mit dem Mecha niker in Lille, der ihn instruierte, wie er unter den Bergleuten Propa ganda machen könne. Souvarine stieß eine Rauchwolke von sich und fragte: »Was schreibt Pluchart?« »Die geplante Verbindung macht gute Fortschritte. Wie es scheint, kommen von allen Seiten Beitrittserklärungen. Was hältst du davon?« »Wieder neue Dummheiten!« Etienne geriet in Hitze. Seine Empfänglichkeit für revolutionäre Ge danken trieb ihn in den Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Pluchart hatte ihm über den internationalen Arbeiterverband geschrieben, die vielgerühmte Internationale, die in London gegründet worden war. War das nicht ein herrliches Unterfangen, die Vorbereitungen eines Kampfes, in dem schließlich die gerechte Sache siegen mußte? Die Ar beiter der ganzen Welt erhoben sich, vereinigten sich, um jedem Ar 332
beiter sein Brot zu sichern. Wie einfach und wie großartig war die Or ganisation der Internationale! In kurzer Zeit würde sie die ganze Welt erobert haben und den Arbeitgebern Gesetze vorschreiben. »Dummheiten! Neue Dummheiten«, wiederholte Souvarine. »Euer Karl Marx will die Naturkräfte allein wirken lassen. Keine Politik, kei ne Verschwörung, nicht wahr? Alles am hellichten Tag und nur, um Lohnerhöhung zu erzielen? Laßt mich in Ruhe mit euren Ideen! Steckt doch die Städte an allen vier Ecken in Brand, mäht die Menschen nie der, zerstört alles! Und wenn von dieser faulen Welt nichts mehr übrig ist, dann wird vielleicht eine bessere entstehen.« Etienne lachte. Er selbst verstand nicht immer, was Souvarine sprach, und Rasseneur, der zumeist an ihren Gesprächen teilnahm und ein Mann in guten Verhältnissen war, fand es nicht der Mühe wert, sich über Souvarine aufzuregen. »Wie steht es also?« fragte er Etienne. »Du willst versuchen, in Montsou eine Sektion zu gründen?« Das war tatsächlich der Wunsch Plucharts, der Sekretär der Födera tion von Nordfrankreich war. »Alles ist so teuer geworden«, klagte Madame Rasseneur, die ein getreten war und mit düsterer Miene zugehört hatte. »Wenn ich euch sage, daß die Eier schon zweiundzwanzig Sou kosten.« Sie strich ihr schwarzes Kleid zurecht. »Das geht so nicht weiter, es muß zum Krach kommen.« »Es muß zum Krach kommen«, bestätigten die drei Männer. Ras seneur trug sein Lieblingsthema vor: Die große Revolution hatte ihr Elend nur noch verschlimmert. Seit dem Jahre 1789 hatten sich nur die Bürger gemästet. Man hatte die Arbeiter für frei erklärt. Ja, es stand ihnen frei, zu verhungern! Es mußte ein Ende gemacht werden, sei es auf friedlichem Wege oder im Bösen. Das Jahrhundert konnte nicht zu Ende gehen ohne eine neue Revolution, diesmal eine Arbeiterrevolu tion! So als ob er Rasseneur nicht zugehört hätte, überlegte Souvarine mit lauter Stimme: »Kann man denn die Löhne erhöhen? Durch das eher ne Gesetz des Kapitals sind sie so niedrig wie möglich festgesetzt, so daß der Arbeiter gerade genug verdient, um trockenes Brot essen und 333
Kinder zeugen zu können … Wenn die Löhne zu tief sinken, verhun gern die Arbeiter, und die Nachfrage nach neuen Kräften bringt die Löhne wieder zum Steigen. Steigen sie sehr hoch, so bewirkt das wie der ein so großes Arbeitsangebot, daß sie fallen … Das ist das Gleich gewicht des leeren Magens, die Verurteilung zur ewigen Zwangsarbeit des Hungers.« Da Souvarine seine Meinung als geschulter Sozialist äußerte, ver standen ihn weder Etienne noch Rasseneur. »Versteht mich wohl«, be schwor er sie, »es muß alles zerstört werden, sonst wird sich der Hun ger immer wieder einstellen. Ich predige die Anarchie! Ströme von Blut müssen die Erde rein waschen, Feuer muß sie reinigen … dann werden wir weiter sehen!« Seine eigene Unwissenheit brachte Etienne zur Verzweiflung. Er wollte das Gespräch nicht mehr fortsetzen. »Gehen wir zu Bett«, sagte er. »Ich muß um drei Uhr morgens aufstehen.« In seinem Gehirn häm merte es: Zur Arbeit, zur Arbeit! Es war jeden Morgen das gleiche. In den ersten Julitagen trat ein Ereignis ein, das die ganze Grube in Alarm brachte. Die in der Wilhelm-Ader beschäftigten Arbeiter stie ßen auf einen tauben Gang, und sie konnten doch nicht die Hände in den Schoß legen, bis die Grubengesellschaft neue Akkordarbeiten ausschrieb. Mit der Laufbahn als Wagenschieber war es zu Ende, aber Maheu schlug Etienne vor, an Stelle Levaques, der sich einer anderen Gruppe angeschlossen hatte, mit ihm als Häuer zu arbeiten. Die Angelegenheit war bald mit dem Oberaufseher und dem Inge nieur, die beide mit Etienne sehr zufrieden waren, ins reine gebracht. Hocherfreut über die Wertschätzung, die ihm Maheu entgegenbrach te, brauchte er selbst nur seine Zustimmung zu dieser raschen Beförde rung zu geben. Abends gingen sie zusammen zur Grube, um die An schläge bezüglich der Arbeitsbedingungen zu lesen. Maheu schüttel te den Kopf, als Etienne ihm die Bedingungen vorlas. Sie waren nicht günstig. Doch wenn sie essen wollten, mußten sie arbeiten. So gingen sie am nächsten Sonntag zu der Versteigerung, in der die Akkordarbei ten erstanden wurden. Einen Augenblick befürchtete Maheu, er werde keine von den vierzig ausgebotenen Akkordarbeiten bekommen, oder 334
es würde nicht der Mühe wert sein. Die Konkurrenten unterboten ei ner den anderen, und der Ingenieur vergab die Akkordarbeiten für die geförderte Kohle zu möglichst niedrigen Preisen. Maheu, der fünfzig Meter Terrain ersteigern wollte, hatte einen harten Stand gegenüber ei nem Kollegen, der sie ihm nicht lassen wollte. Als er schließlich Sieger blieb, war der Lohn so heruntergedrückt, daß der Aufseher Maheu mit dem Ellbogen anstieß und ihm zuflüsterte, daß er bei solchen Preisen nie auf seine Kosten kommen werde. Schon als sie den Versteigerungsraum verließen, begann Etienne zu fluchen. Aber als er Catherine sah, die mit Chaval aus den Getreide feldern zurückkam, brach sein Zorn ungehemmt los: »Himmeldon nerwetter, da würgt ja einer den anderen ab! Wahrhaftig, heutzutage zwingt man die Arbeiter, sich gegenseitig aufzufressen!« Chaval trat an Maheu und ihn heran: »Was hat es bei der Versteige rung gegeben?« fragte er und lachte: »Ich hätte mich nie so drücken lassen, ich nicht!« Etienne schnitt ihm in wilder Gebärde das Wort ab: »Das wird ein Ende finden. Eines Tages werden wir die Herren sein!« Sein Blick kreuzte den Blick Catherines, die die Augen niederschlug. Maheu, der seit der Versteigerung kein Wort gesprochen hatte, wur de plötzlich munter. »Die Herren sein! Weiß der Teufel, es wäre Zeit. Die Herren sein …« wiederholte er.
VIII
Der letzte Sonntag im Juli war der Tag des Bergmannfestes in Mont sou. Die Familie Maheu setzte sich Schlag zwölf zu Tisch. Außer dem seit einem Monat gemästeten Kaninchen und den Bratkartoffeln gab es noch Fleischsuppe. Am Vortag war Löhnung gewesen. Die Maheus 335
erinnerten sich nicht, je so vorzüglich gegessen zu haben. Sogar beim letzten Fest der heiligen Barbara war der Kaninchenbraten nicht so fett und so zart gewesen. Jeanlin verabschiedete sich als erster nach dem Essen. Dann ging der alte Bonnemort, und auch Maheu entschloß sich, ein wenig frische Luft zu schöpfen. Er suchte Levaque, den er bei Rasseneur vermute te. Tatsächlich schob Levaque in dem kleinen, von einer Hecke einge schlossenen Garten mit einigen Kumpels Kegel. Vater Bonnemort und der alte Mouquet sahen zu. Auch Etienne. »Rasseneur!« rief er. »Bring doch einen Schoppen!« Und zu Maheu gewandt, fügte er hinzu: »Ich zahle heute.« Schließlich brachte Madame Rasseneur das warme Bier. Etienne be klagte sich leise über die Mißwirtschaft. »Die Rasseneurs sind gewiß brave Leute mit vortrefflicher Gesinnung, aber das Bier taugt nichts, und die Suppen sind abscheulich. Ich werde mich schließlich doch nach einer Wohnung bei einer Familie im Arbeiterdorf umsehen.« Lautes Gelächter übertönte sein unzufriedenes Gemurmel. Etienne sah Mouquette, die sich schon eine Weile hinter der Hecke herumge trieben hatte. »Du bist allein?« rief Levaque ihr zu. »Wo sind denn deine Liebha ber?« »Ich suche einen neuen«, erwiderte sie mit unverschämter Ausgelas senheit. Levaque wies mit dem umgedrehten Daumen der rechten Hand auf Etienne. »Wir wissen schon, nach wem du Ausschau hältst, meine lie be Mouquette. Bei dem mußt du aber Gewalt anwenden.« Jetzt lachte auch Etienne. Tatsächlich schien es die Mouquette auf ihn abgesehen zu haben. Er wollte aber nicht, weil sie ihm nicht ge fiel. Er wandte sich wieder zu Maheu, dem er auseinandersetzen woll te, wie dringend notwendig es sei, daß die Kohlenarbeiter von Mont sou eine Hilfskasse gründeten. »Ich tue schon mit«, versprach Maheu, »aber es handelt sich um die anderen. Versuche, sie dafür zu gewinnen.« Das Kegeln war zu Ende. Levaque hatte alle neune geschoben, er hat 336
te auch zwei Glas Bier getrunken. Der Erfolg und das Bier waren ihm in den Kopf gestiegen. Er schlug vor: »Wir müssen zum ›Vulkan‹ ge hen.« Das war ein Vorschlag, der allen gefiel. Sie gingen zum ›Vulkan‹. Auch Etienne. Auf einer aus Brettern errichteten Bühne im Hinter grund des langen und schmalen Saales im ›Vulkan‹ tanzten fünf Sän gerinnen, der Auswurf der Straßendirnen von Lille, unverschämt ent blößt und mit frechen Gebärden. Die Zuschauer waren Wagenschie ber, Auflader, unter ihnen vierzehnjährige Burschen. Auch einige alte Häuer hatten sich in den ›Vulkan‹ verirrt, um ihr ›notdürftiges Famili enleben‹ zu ergänzen. Alle tranken Wacholderbranntwein. Aber Etienne war nur von einem Gedanken beseelt. Er machte sich an Levaque heran, um ihm seinen Plan mit der Hilfskasse zu erklä ren. »Jedes Mitglied könnte ganz gut zwanzig Sou monatlich beitra gen. In vier bis fünf Jahren wird dieses angesammelte Geld einen hüb schen Sparfonds liefern. Und wenn man Geld hat, ist man stark, nicht wahr?« »Ich sage nicht nein«, erwiderte Levaque zerstreut. »Darüber läßt sich reden.« Seine Aufmerksamkeit und die der anderen Männer am Tisch war durch eine sehr dicke, blonde Sängerin in Anspruch genom men worden. Sie bewegte sich so, daß sie die Blicke nicht von ihr wen den konnten. Erst als der schäbige Vorhang fiel, fragte Pierron: »Wo ist denn Cha val?« »Er ist gewiß bei Piquette«, erklärte Maheu und schlug vor: »Gehen wir zu Piquette.« Als sie beim Cafe Piquette ankamen, sahen sie schon durch die Türe, daß eine Rauferei im Gange war. Zacharias bedrohte mit geballter Faust einen stämmigen Nagelschmied, während Chaval mit den Hän den in den Taschen zusah. »Ach, da ist ja Chaval«, sagte Maheu gelassen und setzte beruhigt hinzu: »Catherine ist mit ihm.« Sie war der Anlaß der Rauferei geworden, nachdem sie mit Chaval im Jahrmarktstreiben umhergewandert war. Er hatte ihr einen Spiegel 337
für neunzehn Sou gekauft und ein Tuch für drei Frank. Alles war be stens, aber Catherine hatte Jeanlin erwischt, der Bebert und Lydie an gestiftet hatte, aus einer Bude eine Flasche Wacholderbranntwein zu stehlen. Sie hatte ihm zwar eine Ohrfeige gegeben, aber er war mit der Flasche auf und davon. Vor dem Cafe Piquette hatten Chaval und Ca therine Zacharias und Philomene getroffen. Zacharias war wütend ge worden, als er einen Nagelschmied dabei ertappt hatte, wie er Cathe rine in die Seite kniff. Der Nagelschmied ließ sich um so weniger von Zacharias einschüchtern, als Chaval nur lachte. Er musterte Catherine mit herausfordernden Blicken. Zacharias, der sich in seiner Familienehre gekränkt fühlte, stürzte sich auf den Unverschämten. »Das ist meine Schwester, du Schwein!« Als der Nagelschmied Maheu mit seiner Gesellschaft ankommen sah, machte er sich einfach davon. Catherine und Philomene waren in Tränen aufgelöst. Jetzt begann auch Chaval, ärgerlich zu werden, und ließ Bier auffahren, um den Är ger hinunterzuspülen. Die Stimmung war wieder fröhlich, als Zacha rias wütend wurde und seinen Kameraden Mouquet aufforderte mit zukommen, um mit dem Nagelschmied abzurechnen. »Ich muß ihn umbringen!« schrie er. »Chaval, bleib du bei Philomene und Catheri ne!« Maheu bestellte Bier. Es war nichts Schlimmes, wenn der Junge sei ne Schwester rächen wollte. Philomene aber, die Mouquet beobachtet hatte, schüttelte den Kopf. Sie war überzeugt, daß er mit Zacharias in den ›Vulkan‹ gegangen war. Trotz der Erregung um ihn herum versuchte Etienne jetzt, Pierron für seine Pläne zu gewinnen, und erklärte ihm die Einrichtung der Hilfskasse. »Du siehst doch ein, was für große Dienste uns eine solche Kasse leisten würde, wenn ein Streik ausbräche. Wir scheren uns dann nicht um die Grubengesellschaft. Wir haben zunächst Mittel, um Wi derstand zu leisten. Tust du mit?« »Ich will mir's überlegen«, stammelte Pierron mit niedergeschlage nen Augen und setzte zögernd hinzu: »Die beste Hilfskasse ist, wenn man sich gut aufführt.« 338
Wenn man sich gut aufführt? Das war das Stichwort für Maheu, Eti enne ohne alle Umschweife den Vorschlag zu machen, daß er zu ihm ziehen möge. Etienne sagte sofort zu. Mit wenigen Worten war al les geregelt. Die Maheude, die sich zu ihnen gesellt hatte, erklärte nur noch, daß man mit dem Einzug Etiennes bis zur Hochzeit von Zacha rias warten müsse.
IX
Mitte August zog Etienne zu den Maheus. Die Bergwerksgesellschaft hatte Zacharias, der seine Philomene geheiratet hatte, eine Wohnung gegeben. In der ersten Zeit fühlte sich Etienne Catherine gegenüber sehr ver legen. Da er das Bett mit Jeanlin teilte, das dem Bett Catherines ge genüberstand, lebte er sehr eng mit ihr zusammen. Er mußte sich beim Schlafengehen und beim Aufstehen in ihrer Gegenwart ausund anziehen und war gezwungen, ihr zuzusehen, wie sie ihre Kleider an- und ablegte. Wenn der letzte Rock fiel, stand sie weiß und bleich in der durchsichtigen, schneeigen Nacktheit blutarmer Mädchen vor ihm. Er fühlte eine ständige Erregung, wenn er sie so vor sich sah, und tat, als wende er sich ab. Aber er kannte sie bald ganz und gar, so wie sie war: ihre Füße, die Knie, die er sah, ehe sie unter die Bettdek ke schlüpfte, den Busen mit den kleinen, festen Brüsten, den er sehen konnte, wenn sie sich morgens über die Waschschüssel beugte. Sie be obachtete ihn nicht, aber sie beeilte sich sehr, wenn sie sich wusch. Sie hatte jedoch nie Anlaß, sich über Etienne zu ärgern. Wenn er auch mit einer Art Besessenheit darauf wartete, daß sie sich zu Bett leg te, so unterließ er doch alle Scherze und jede Berührung. Er hegte für Catherine ein aus Freundschaft und Groll gemischtes Gefühl, das ihn 339
davor zurückhielt, sie wie ein Mädchen zu behandeln, das man besit zen möchte. Nach Ablauf eines Monats schienen Etienne und Catherine einan der nicht mehr zu sehen, wenn sie abends, bevor sie die Kerze aus löschten, entkleidet im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr so und hatte ihre alte Gewohnheit wiederaufgenom men, sich an den Bettrand zu setzen und das Haar aufzustecken. Da bei hob sie die Arme hoch und streifte ihr Hemd bis zu den Schen keln. Etienne war ihr bisweilen dabei behilflich und hob die Nadeln auf, die ihr herunterfielen. Diese Gewohnheit erstickte das Scham gefühl. Sie fanden ihre Nacktheit nun ganz natürlich, denn sie ta ten ja nichts Schlimmes, und es war ja nicht ihre Schuld, daß sie nur eine Stube hatten. Aber manchmal überlief Etienne doch ein Schauer, und er wandte sich zur Seite, damit er nicht der Versuchung erliegen könnte, Catherine zu nehmen. Sie fiel manchmal ohne ersichtlichen Grund in eine schamhafte Erregung und flüchtete plötzlich unter die Bettdecke, als spüre sie schon, daß er nach ihr fasse. Wenn es dann dunkel war, litten sie beide so sehr darunter, daß sie nicht einschlafen konnten und daß sie trotz ihrer Müdigkeit aneinander dachten. Viel leicht wäre es anders gewesen, wenn Etienne nicht das Bett mit Jean lin geteilt hätte. Er beklagte sich auch, daß der Junge immer den größ ten Teil des Bettes einnahm. Für die Maheus waren die fünfundzwanzig Frank, die Etienne als Miete bezahlte, eine große Hilfe. Sie zeigten sich dankbar. Seine Wä sche wurde gewaschen und ausgebessert und alle seine Sachen in Ord nung gehalten. Das war alles so, wie es sein sollte. Auch die Ideen, die in Etiennes Kopf schwirrten, begannen sich zu klären. Woher kam das Elend der einen, woher der Reichtum der anderen? Das erste Ergebnis seines Nachdenkens war, daß er sich seiner Unwissenheit bewußt wurde, und er wagte nicht, von den Dingen zu reden, die ihn so leidenschaftlich erregten. Er ließ sich Bücher schicken, aber der schlecht verdaute In halt exaltierte ihn noch mehr. Anarchistische Broschüren riefen ver worrene Vorstellungen in ihm hervor. Auch Souvarine lieh ihm Bü 340
cher, und bald brauchte sich Etienne nicht mehr seiner vollkommenen Unwissenheit zu schämen. Er wurde stolz auf sich selbst. Bei den Maheus blieb man jetzt allabendlich noch eine Stunde zu sammen sitzen. Etienne lenkte das Gespräch stets auf dasselbe Thema. Seitdem sich seine Kenntnisse vermehrt und seine Anschauungen ver feinert hatten, fühlte er sich durch die lebensunwürdigen Verhältnisse im Arbeiterdorf verletzt. Waren sie denn Tiere, daß man sie so zusam menpferchte, daß man nicht einmal ein Hemd wechseln konnte, ohne in aller Nacktheit vor den Nachbarn dazustehen? »Alle Wetter«, fiel Maheu ein, »wenn man nur mehr Geld hätte. Es ist ja wahr, daß es für niemanden gut ist, wenn man so aufeinander hockt.« Die Maheude mischte sich in das Gespräch. »Das traurigste ist, daß man sich sagen muß, es kann nicht anders werden.« Sie klagte: »Solan ge man jung ist, bildet man sich ein, das Glück wird noch kommen, und man hofft allerlei. Und dann kommt immer wieder das Elend, und die Fesseln bleiben. Ich wünsche niemand etwas Böses, aber es gibt doch Augenblicke, in denen mich diese Ungerechtigkeit empört.« Vater Bonnemort blickte erstaunt drein. Zu seiner Zeit hatte man sich solcher Gedanken wegen nicht den Kopf zerbrochen. Man wurde in der Kohle geboren, man lebte in der Kohle, und nach etwas ande rem fragte man nicht. »Die Vorgesetzten sind ja zuweilen Kanaillen«, murmelte er. »Es wird immer Vorgesetzte geben. Es ist unnütz, dar über nachzudenken.« »Wie? Dem Arbeiter sollte das Nachdenken untersagt sein?« fragte Etienne erregt. »O nein, da die Arbeiter zu denken begonnen haben, wird sich schnell alles ändern. Man muß sich nur rühren.« »Sobald man sich rührt«, warnte Maheu, »wird man entlassen.« Es blieb eine Weile still. Die Maheude unterbrach das Schweigen. »Wenn wenigstens das wahr wäre, was die Geistlichen erzählen. Wenn die Armen dieser Welt die Reichen im Himmel würden!« Lautes Gelächter schnitt ihr das Wort ab, selbst die Kinder zuckten mit den Achseln. Sie waren ungläubig geworden. Der Himmel war leer für sie. Es gab keinen Gott, aber vor dem Grubengespenst hatten sie 341
immer noch geheime Furcht, von der sie nur selten sprachen. Aber vor der Kirche … »Die Geistlichen!« rief Maheu. »Wenn sie selbst daran glaubten, wür den sie weniger essen und mehr arbeiten, um sich einen guten Platz im Himmel zu sichern. Wenn man tot ist, ist man tot.« »Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« Die Maheude seufzte schwer und ließ die Hände in den Schoß sinken. »Ist es denn wirklich wahr, daß wir Armen verloren sind?« Vater Bonnemort spuckte in sein Taschentuch, Maheu vergaß, die ausgegangene Pfeife aus dem Mund zu nehmen, zwischen Lenore und Henri, die am Tischrand eingeschlafen waren, stand Alzire und hörte zu. Catherine stützte das Kinn in ihre Hand, ihre großen Augen ruh ten unverwandt auf Etienne, der begeistert von seinen sozialen Zu kunftsträumen sprach. »Wozu braucht ihr den lieben Gott und sein Paradies, um glücklich zu sein? Könnt ihr euch nicht selbst das Glück auf Erden schaffen? Ei nes Tages wird eine neue Gesellschaft erstehen und eine neue Mensch heit, die keine Verbrechen kennt. Es wird nur noch ein einziges Volk von Arbeitern geben mit dem Wahlspruch: Jedem nach seinem Ver dienst, und jedes Verdienst gemäß der Arbeit.« »Hör nicht auf ihn«, unterbrach die Maheude, als sie sah, wie Ma heus Augen leuchten. »Werden denn die Bürger sich jemals darauf ein lassen, daß sie arbeiten wie wir?« Sie wandte sich Etienne zu: »Wenn es sich um eine gerechte Sache handelt, könnte auch ich mich in Stücke reißen lassen. Und es wäre wahrhaftig gerecht, wenn auch wir einmal das Leben genießen könnten.« Etienne begann wieder zu sprechen. »Die alte Gesellschaftsordnung kracht in allen Fugen«, erklärte er. »Es kann nur noch einige Monate dauern.« »Neun Uhr vorbei!« rief die Maheude mit einem Blick auf die Kuk kucksuhr. »Morgen wird niemand aufstehen wollen.«
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Etiennes Einfluß wuchs mehr und mehr. Er revolutionierte nach und nach das ganze Arbeiterdorf. Obwohl die Maheude mißtrauisch war, behandelte sie ihn doch mit sehr viel Rücksicht, denn er zahlte pünkt lich, trank nicht, spielte nicht und saß nur immer über seinen Bü chern. Im September hatte er auch die Hilfskasse gegründet, aber sie war noch unbedeutend. Inzwischen kam der Herbst, kamen die Oktoberfröste. Eine schlim me Jahreszeit hatte begonnen. Es war an einem Sonnabend, Ende Ok tober, nach dem Frühstück. Die Grubengesellschaft hatte unter dem Vorwand, daß die Abrechnung große Störung verursache, die Arbeit in allen Gruben einstellen lassen. Beeinflußt von der Furcht vor der Handelskrise in Frankreich, die sich immer mehr verschärfte, benutz te sie jeden Vorwand, um ihre zehntausend Arbeiter zum Feiern zu zwingen. Die Maheude schlug ihrem Mann vor: »Du weißt, daß Eti enne dich bei Rasseneur erwarte. Nimm ihn zur Abrechnung mit. Er wird sich besser zurechtfinden als du, wenn man eure Stunden nicht richtig berechnet.« Maheu nickte zustimmend. Seine Frau fuhr fort: »Und sprich mit den Herren über deinen Vater. Der Doktor irrt sich, wenn er glaubt, daß er nicht mehr arbeiten kann.« Seit zehn Tagen saß Vater Bonnemort mit eingeschlafenen Füßen auf seinem Stuhl. Die Füße wollten nicht mehr, aber sein Mund stand nicht still. »Gewiß kann ich noch arbeiten«, sagte er. »Man ist noch nicht fertig, wenn man Schmerzen in den Beinen hat. Das sind nur Geschichten, die sie erfinden, damit sie mir nicht die hundertachtzig Frank Pension geben müssen.« Die Maheude dachte an die vierzig Sou, die der Alte am Ende nicht mehr zum Haushalt beitragen würde. Sie stieß einen Angstschrei aus: »Wir werden noch alle umkommen, wenn das so weitergeht.« »Wenn man tot ist«, beruhigte sie Maheu, »dann hat man keinen Hunger mehr.« »Ich bin aber noch nicht tot«, begehrte Vater Bonnemort auf. »Ich habe Hunger.« Inzwischen hatte Etienne bei Rasseneur neue Nachrichten vorgefun 343
den. Beunruhigende Gerüchte waren im Umlauf. »Was sagst du dazu?« fragte er Souvarine. Souvarine, der Russe, war der einzige, der genug Bildung hatte, um die Lage zu verstehen. Er erklärte sie in seiner ruhigen Art: »Die Gru bengesellschaft, die vor einer Krise steht, muß ihre Ausgaben ein schränken. Natürlich müssen dann die Arbeiter den Riemen enger schnallen. Man wird unter irgendeinem Vorwand ihre Löhne herab setzen.« »Was du sagst, ist möglich«, gab Etienne zurück. »Aber wenn man uns zum Streik zwingt, müssen wir einen Entschluß fassen. Pluchart hat mir darüber geschrieben. Hier ist der Brief.« Souvarine und Rasseneur lasen die Meinung Plucharts, den das Miß trauen der Arbeiter von Montsou gegen die Internationale zur Ver zweiflung brachte. Er hoffte, einen Massenbeitritt zu erzielen, wenn ein Konflikt die Kohlenarbeiter zum Kampf gegen die Grubengesell schaft zwänge. »Wieviel habt ihr in der Kasse?« fragte Rasseneur. »Nicht ganz dreitausend Frank«, erwiderte Etienne. »Und ihr wißt, daß die Grubendirektion mich gestern vorgeladen hat. Sie sind sehr höflich gewesen und haben mir wiederholt erklärt, daß sie die Arbei ter nicht hindern wollen, einen Reservefonds zu bilden, aber ich habe wohl verstanden, daß sie die Kontrolle darüber beanspruchen.« Rasseneur ging im Zimmer auf und ab und pfiff verächtlich vor sich hin. Dreitausend Frank! Dafür konnte man kaum für sechs Tage Brot für zehntausend Arbeiter kaufen, und wenn man auf die Ausländer rechnete, konnte man sich sofort begraben lassen. Die Internationale: Nein. Er sagte: »Ein Streik ist ein zu dummes Unternehmen.« »Ein Streik?« Souvarine bestätigte: »Dummheiten!«, und fuhr fort: »Im großen und ganzen habe ich nichts gegen Streiks, wenn sie euch Vergnügen machen. Sie ruinieren die einen und bringen die anderen um, und das ist immerhin eine gewisse Säuberung. Aber bei einem so langsamen Vorgehen zu einer Neugestaltung der Welt würde man tau send Jahre brauchen. Beginnt doch lieber damit, daß ihr dieses Zucht haus, in dem ihr verreckt, in die Luft sprengt!« 344
Er wies mit seiner zarten Hand nach dem Voreux. Maheu, der in die Schankstube eintrat, glaubte, daß die Geste ihm galt. Maheu wollte nichts trinken. Er wollte nur, daß ihn Etienne nach Montsou begleite. Während sie beide durch die Gruppen der Arbei ter gingen, merkten sie, daß alle von dumpfer Verzweiflung erfüllt wa ren. Es gab geballte Fäuste, heftige Äußerungen gingen von Mund zu Mund. Chaval beschränkte sich auf ein wütendes Brummen und warf Etienne einen haßerfüllten Seitenblick zu. Er war immer heftiger ge gen Etienne eingenommen, der sich als Herr gebärdete und dem das ganze Dorf, wie Chaval sagte, die Füße leckte. Dazu kam die Eifer sucht Chavals. Wenn er Catherine abends nach Hause brachte, machte er ihr Vorwürfe, daß sie es bei Nacht mit Etienne halte. Der Kassenraum, den Maheu und Etienne betraten, war ein klei nes, viereckiges Zimmer, das durch ein Gitter in zwei Teile geteilt war. Über dem Schalter zur linken Hand hing ein gelbes Plakat, vor dem die Bergleute stehenblieben, um es zu entziffern. Zwei Männer standen jetzt davor, aber beide konnten nicht lesen. Der jüngere buchstabierte mühsam, der ältere sah stumpf vor sich hin. »Lies uns doch vor«, bat Maheu, der im Lesen auch nicht sehr fest war. Etienne las die Bekanntmachung der Grubengesellschaft an die Ar beiter aller Gruben vor. Die Gesellschaft teilte mit, daß sie es müde sei, erfolglose Strafen wegen geringer Sorgfalt beim Verzimmern zu ver hängen, und daß sie deshalb eine neue Bezahlungsart einführe. In Zu kunft werde die Gesellschaft das Verzimmern bezahlen, und der Preis eines Wagens Kohle werde herabgesetzt, und zwar je nach der Ent fernung der Arbeitsplätze von fünfzig auf vierzig Centime. In einer ziemlich unklaren Berechnung versuchte die Gesellschaft nachzuwei sen, daß diese Preissenkung durch den für das Verzimmern gezahlten Lohn bedingt sei. Zum Schluß wurde erklärt, daß die Gesellschaft je dermann Zeit lasse, sich von den Vorteilen der neuen Abrechnungs weise zu überzeugen und diese daher erst ab 1. Dezember in Kraft tre ten lasse. »Großer Gott«, flüsterte Maheu und fügte hinzu: »Hundsfötter sind wir, wenn wir das annehmen.« 345
Aber der Schalter war frei. Er trat heran, um seinen Lohn zu holen. Der Beamte der Gesellschaft suchte in den Listen, dann rief er: »Ma heu und Konsorten, Schacht Filonniere, Arbeitsplatz Nummer sie ben … hundertfünfunddreißig Frank.« Der Kassierer blätterte die Banknoten auf den Schaltertisch. »Entschuldigen Sie, Herr Kassierer«, stammelte Maheu. Sein Herz erstarrte. Es konnte nicht so wenig sein. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht verrechnet haben?« »Nein, nein! Ich habe mich nicht verrechnet. Sie müssen zwei Sonn tage und vier Tage, an denen gefeiert wurde, in Abzug bringen. Es blei ben also nur neun Arbeitstage … Und vergessen Sie nicht die Strafgel der. Zwanzig Sou Strafe für schlechtes Verzimmern … Wollen Sie das Geld endlich nehmen?« Als Maheu mit zitternder Hand das Geld zusammenraffte, hielt ihn der Beamte noch zurück. »Warten Sie mal. Ich sehe erst jetzt Ihren Namen: Toussaint Maheu, nicht wahr? … Der Herr Generalsekretär wünscht Sie zu sprechen. Treten Sie ein, er ist allein.« Etienne wartete draußen, während Maheu in ein Kabinett mit verblaßten Ripsvorhän gen und alten Mahagonimöbeln eintrat. An einem Schreibtisch saß ein bleicher Herr und sprach undeut lich. Endlich verstand Maheu, daß es sich um seinen Vater handelte, der mit einer Pension von hundertfünfzig Frank im Jahr im Alter von neunundfünfzig Jahren und nach fünfzig Dienstjahren verabschiedet werden sollte. »Hundertfünfzig Frank im Jahr«, Maheu wollte protestieren, aber die Stimme des Generalsekretärs nahm einen rauhen Ton an. Er er teilte Maheu einen Verweis. »Sie beschäftigen sich mit Politik. Sie ha ben einen Mieter, der die Hilfskasse verwaltet. Ich rate Ihnen gut, sich nicht auf solche Torheiten einzulassen. Sie sind einer der besten Arbei ter der Grube, Maheu.« Maheu wollte antworten, aber er brachte nur unzusammenhängen de Worte hervor, drehte seine Mütze zwischen den zuckenden Fingern. Endlich lockerte sich die Kehle. Er stotterte: »Gewiß, Herr Sekretär … ich versichere Ihnen, Herr Sekretär …« 346
Jetzt schloß sich die Türe hinter ihm. Er stand Etienne gegenüber und brach los: »Ich bin ein Hundsfott, ich hätte ihm antworten müs sen: Man hat nicht einmal trockenes Brot zu essen und muß sich auch noch Grobheiten sagen lassen … Er hat gesagt, daß du das Dorf ver giftet hast. Aber was kann man tun? Man muß sich bücken und kann nur danke sagen.« Auf dem Heimweg sprachen Etienne und Maheu kein Wort. Die Maheude sah ihrem Mann gleich an, daß er mit viel weniger Lohn nach Hause kam, als er erwartet hatte. »Wieviel hast du bekom men?« fragte sie aufgeregt. »Da! Das ist der Verdienst von uns allen!« Die Maheude brach in Tränen aus. Wie sollten neun Menschen mit diesem Schandgeld vierzehn Tage auskommen. Sie zeterte und schrie und lief auf die Straße. Um das Haus Levaques hatte sich eine Gruppe gebildet. Alle Frau en jammerten wie die Maheude. Nur die Pierronne war ziemlich ru hig, denn ihr Mann brachte es immer zustande, daß für ihn im Buch des Aufsehers mehr Stunden notiert waren als für die Kameraden. Die Brule aber nannte ihren Schwiegersohn Pierron einen schäbigen Feig ling. Sie hatte noch etwas Besonderes zu erzählen. »Heute früh sah ich die Köchin der Madame Hennebeau in der Equipage vorbeifahren!« schrie sie. »Ja, die Köchin fuhr in zweispänniger Equipage nach Mar chiennes, um Fische zu kaufen!« Die Köchin in der Equipage, dieses Dienstmädchen in weißer Schür ze, das auf den Märkten all das einkaufte, was die feinschmeckerischen Gaumen der Herrschaft reizte, während sie alle hungerten. War das nicht eine Ungerechtigkeit? Fische aus Marchiennes und kein Geld, um Brot zu kaufen. Man mußte sich das Recht erzwingen, wenn man nicht verhungern wollte. Die Frauen hörten nicht auf zu schimpfen. Die Männer wurden so erregt, daß sie am gleichen Abend bei Rasseneur den Streik beschlos sen.
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Der Streik war beschlossen, aber er brach nicht aus. Es wurde weiter gearbeitet. Die Familien brauchten das Geld: jeden Sou. Deshalb ge riet die Maheude, obwohl sie Catherine erlaubt hatte, eine Nacht außer Haus zu bleiben, auch in unmäßigen Zorn. Denn Catherine war am Morgen so erschöpft gekommen, daß sie nicht zur Grube gehen konn te. Catherine weinte und beteuerte, es sei nicht ihre Schuld. Chaval habe sie zurückgehalten und gedroht, sie zu schlagen, wenn sie nicht bei ihm bliebe. Er war vor Eifersucht ganz von Sinnen und wollte sie daran hindern, zu Etienne zurückzukehren. Die Maheude war wütend und verbot ihrer Tochter den Umgang mit Chaval. Wohin käme man denn, wenn Catherine nicht arbeite. Sie selbst wollte nach Montsou ge hen, um Chaval zu ohrfeigen. Ein Arbeitstag war verloren. Aber da Ca therine nun einmal diesen Liebhaber hatte, sollte sie ihn behalten. Auf Maheus neuem Platz war das Arbeiten mühsam. Die Kohle lag im Schacht in dünner Schicht. Man befürchtete stündlich, daß das rei ßende Grundwasser die Felsen sprengen und die Menschen mit sich fortreißen würde. Maheu hatte die Stützen fester verkeilen lassen. Aber als Etienne vor Schluß der Arbeitszeit einen letzten Brocken losbrach, erschütterte ein fernes Donnergrollen die ganze Grube. »Was ist denn das?« rief er. »Ein Einsturz!« schrie Maheu. »Schnell! Schnell!« Alle liefen gebückt durch den langen Gang und benützten die Rutsch bahn, ohne darauf zu achten, daß sie sich blutig rissen. Jeanlin trabte bloßfüßig hinter seinem Wagenzug einher. Wenn er keine Begegnung mit einem Aufseher zu fürchten hatte, setzte er sich auf den letzten Wagen, was verboten war. Als das Pferd an einer Ausweichstelle ste henblieb, fragte er Bebert: »Was hat denn die alte Mähre?« »Ihre Mucken«, erwiderte Bebert. Sie gingen zu einem Durchgang und blieben vor der Tür wie angewurzelt stehen. »Hast du etwas gemerkt? Es ist Wasser dort.« Jeanlin bückte sich und betrachtete die Pfütze, in der er watete. Dann hob er seine Lampe und sah, daß die Stützen unter dem unaufhörlich hervorsickernden Was ser nachzugeben begannen. Ein Häuer ging vorbei, ein gewisser Chi cot, der zu seiner Frau eilte, die im Wochenbett lag. Chicot blieb stehen 348
und betrachtete die Stützen. In diesem Augenblick zerbrach die Ver zimmerung mit furchtbarem Krachen, und das einstürzende Gestein begrub den Häuer und Jeanlin. Vom Staub geblendet und halb erstickt, eilten die Arbeiter von allen Seiten herbei. Als sie die Einbruchstelle erreichten, begannen sie zu schreien und riefen ihre Kameraden. Der Schaden war nicht groß, aber allen schnürte es das Herz zusammen, als sie plötzlich unter dem Schutt ein Todesröcheln hörten. »Jeanlin ist darunter!« schrie Bebert. »Jeanlin ist darunter!« Maheu mit Zacharias und Etienne arbeiteten verbissen mit Hacke und Schaufel, um die Trümmer wegzuräumen. Andere Bergleute hal fen ihnen, ohne darum gebeten worden zu sein. Die Stunde der Aus fahrt hatte geschlagen, aber niemand dachte ans Mittagessen. Maheu arbeitete mit solcher Wut, daß er einen Kumpel, der ihn ablösen woll te, mit drohender Gebärde zurückstieß. Das Röcheln war jetzt deutlich zu vernehmen. Plötzlich verstummte es. Alle sahen einander schwei gend und erschreckt an. Der Schweiß rann ihnen von der Stirn, wäh rend sie mit dem Aufgebot aller Kräfte weiterarbeiteten. Sie sahen ei nen Fuß und entfernten die Erde mit den Händen. Der Kopf war un verletzt. Das Licht der Lampe fiel auf ihn. Chicot war noch ganz warm, aber ein Felsblock hatte ihm die Wirbelsäule zerschmettert. »Wickelt ihn in eine Decke und legt ihn auf einen Wagen«, befahl der Aufseher. Dann wurde Jeanlin ausgegraben. Maheu fluchte unaufhörlich, um seinem Schmerz Luft zu machen. Catherine und die anderen Mäd chen heulten besinnungslos. Endlich wurden Anstalten zum Abtrans port der Verunglückten getroffen. Die Arbeiter brauchten eine halbe Stunde, um bis zum Förderkorb zu gelangen. Aus der Verzimmerung spritzte kaltes Wasser. Die Männer blickten ungeduldig dem Tages licht entgegen. Glücklicherweise hatte ein Junge, den man zu Dr. Vanderhagen ge schickt hatte, den Arzt zu Hause angetroffen und kam nun mit ihm an. Jeanlin und der tote Chicot wurden in die Aufseherstube getragen. Nachdem Dr. Vanderhagen einen Blick auf Chicot geworfen hatte, brummte er: »Der hat's überstanden … Ihr könnt ihn waschen.« Dann 349
untersuchte er Jeanlin. »Der Kopf ist unverletzt«, stellte er fest, »die Brust auch … aber die Beine haben eins abbekommen.« Er entkleide te Jeanlin, der aus seiner Betäubung erwachte und wimmerte. Maheu stand mit geballten Fäusten neben dem kleinen Körper und betrachte te ihn mit starrem Blick. »Heda, bist du sein Vater?« fragte der Doktor. »Weine doch nicht, du siehst ja, daß er nicht tot ist … hilf mir lieber.« Er stellte zwei einfache Brüche fest. Doch das rechte Bein machte ihn besorgt. »Ich werde es wohl amputieren müssen«, sagte er und verlang te, daß Jeanlin sofort nach Hause gebracht werde. Etienne riet Maheu leise, Catherine vorauszuschicken, damit sie die Mutter vorbereite. Doch schon war der Wagen, dieses wohlbekannte, düstere Fuhrwerk des Todes, bemerkt worden. Die Frauen stürzten wie toll auf die Straße. Dreißig, fünfzig Frauen, alle von derselben Angst er stickt. Die Nachricht, daß ein Unglück geschehen war, ging von Mund zu Mund. Die Maheude, der Catherine die Mitteilung vom Unfall Je anlins schonend überbringen sollte, schrie: »Dein Vater ist tot!« Vergebens beteuerte Catherine, daß das nicht wahr sei. Die Maheu de stürzte dem Wagen entgegen, der vor dem Haus angehalten hatte. Als sie Jeanlin zwar lebend, aber mit gebrochenen Beinen vor sich sah, erstickte sie fast vor Wut. »Jetzt macht man unsere Kinder zu Krüp peln!« schrie sie auf. »Beide Beine! O mein Gott! Was soll ich mit ihm anfangen!« Sie verwünschte ihr Geschick. »Woher soll ich das Geld nehmen, um einen Krüppel zu ernähren? Nicht genug, daß der Groß vater gelähmt ist, nun verliert auch der Junge noch seine Beine.« Die Maheude hörte auch nicht auf zu schreien und zu weinen, als im benachbarten Haus das herzzerreißende Klagegeschrei von Chicots Frau und seinen Kindern erklang.
Drei Wochen vergingen. Man hatte die Amputation vermeiden kön nen, Jeanlin behielt beide Beine, aber es stand fest, daß er immer hin ken würde. Die Grubengesellschaft hatte sich bereit erklärt, fünfzig 350
Frank Unterstützung zu zahlen, und versprochen, sich für den klei nen Krüppel nach einer Beschäftigung außerhalb der Grube umzuse hen. Aber das Elend der Familie Maheu war noch größer geworden. Auch Etienne war besorgt, denn Catherine war in der Nacht wieder nicht nach Hause gekommen. Sie kam auch am Morgen nicht. Erst am Nachmittag erfuhren die Maheus, daß Chaval sie zurückhalte. Er hatte ihr so abscheuliche Eifersuchtsszenen gemacht, daß sie sich ent schlossen hatte, bei ihm zu bleiben. Um Vorwürfen aus dem Weg zu gehen, hatte er den Voreux verlassen und in Jean-Bart, der Grube des Herrn Deneulin, Arbeit gefunden. Dorthin war ihm Catherine als Wa genschieberin gefolgt. Erst sprach Maheu davon, daß er Chaval ohrfeigen und seine Toch ter mit Fußtritten heimtreiben werde. Dann machte er eine resignier te Gebärde: Wozu sollte die Aufregung führen? Was geschehen war, das war der gewöhnliche Verlauf. Man konnte die Mädchen nicht da von abhalten, einem Mann zu folgen, wenn sie Lust dazu hatten. Die Maheude nahm die Sache nicht so leicht. »Habe ich sie etwa geschla gen, als sie sich mit Chaval einließ?« fragte sie Etienne, der seine Er schütterung mit Schweigen maskierte. »Sagen Sie doch mal, Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, ob ich nicht recht habe. Mein Gott, bei al len geht es so! Auch ich war schwanger, als der Maheu mich heiratete. Aber ich bin meinen Eltern nicht fortgelaufen, nie wäre ich so gemein gewesen, vor der Zeit meinen Lohn einem Mann zu bringen, der ihn nicht brauchte.« Maheu tröstete sie. »Es führt zu nichts, wenn du dich auch noch so grämst.« Etienne hob den Kopf. Vor seinen verzweifelten Blicken schien ein Zukunftsbild aufzutauchen. Er flüsterte: »Die Zeit wird kommen.«
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X
Monsieur und Madame Hennebeau waren mit ihren Gästen, Monsieur und Madame Gregoire, bei Tisch und unterhielten sich über Monsieur Deneulin, der sich wehrte, die Grube Jean-Bart in Vandame zu verkau fen, obwohl der Streik der Bergleute von Montsou und Vandame ihn zugrunde richten mußte. Er hatte keine Reserven wie die Besitzer des Voreux. Die beiden Ehepaare spotteten über die Aufregung Monsieur Deneulins, der die gute Gelegenheit, seinen unergiebigen Bergbau los zuwerden, verabsäumte. Als das Dessert aufgetragen wurde, hatten sie den Streik bereits völlig vergessen. Die Apfelbreitorte fand allgemei nen Beifall. Die Damen debattierten über das Rezept. Alle waren in fröhlicher Stimmung und unterhielten sich, während der Diener an statt des französischen Champagners, der als ordinär galt, Rheinwein einschenkte. Als der Kaffee gereicht wurde, stürzte die Kammerfrau ganz verstört herein und meldete Monsieur Hennebeau: »Herr Direk tor, Herr Direktor! Sie sind da!« »Wer ist da?« fragte er mit rauher Stimme. »Die Abordnung der Arbeiter.« Türen schlugen. »Die Abordnung der Arbeiter?« fragte Madame Hennebeau ent setzt. »Führen Sie sie in den Salon«, sagte Hennebeau ruhig zu der Kam merfrau. »Ich hoffe, daß du erst deinen Kaffee trinken wirst«, beschwor Ma dame Hennebeau ihren Mann. »Gewiß«, erwiderte er. »Die Arbeiter mögen warten.« Er wurde doch rastlos und erhob sich. »Der Kaffee ist zu heiß«, sag te er. »Ich werde ihn nachher trinken.« Im Hinausgehen hielt er einen 352
Finger vor den Mund, um seine Gäste zu ermahnen, keine Unvorsich tigkeiten zu begehen. Im luxuriös eingerichteten Zimmer fühlten sich die Arbeiter unbe haglich. »Ah, da seid ihr«, begrüßte sie Monsieur Hennebeau, den Rock militärisch zugeknöpft, das rote Band der Ehrenlegion im Knopfloch. »Ihr macht Revolution, wie mir scheint …« Er unterbrach sich und setzte mit steifer Höflichkeit hinzu: »Setzt euch, ich bin bereit, euch anzuhören.« Die Arbeiter sahen sich nach Stühlen um. Einige wagten es, sich zu setzen, während die anderen scheu die Seidenüberzüge der Stühle be trachteten und vorzogen, stehen zu bleiben. Herr Hennebeau muster te sie alle scharf, bemüht, sich die Gesichter zu merken. Er erkannte Pierron wieder, der sich ganz hinten versteckt hielt. Sein Blick blieb auf Etienne haften, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Hennebeau erwartete, daß der junge Mann das Wort ergreifen werde. Als er Ma heu vortreten sah, war er so überrascht, daß er sich nicht zurückhal ten konnte auszurufen: »Wie? Sie? Ein guter Arbeiter, der immer ver nünftig war, ein Eingeborener von Montsou, dessen Familie seit Eröff nung der Grube hier arbeitet … Ah, das ist arg! Es tut mir leid, Sie an der Spitze der Unzufriedenen zu sehen.« Maheu senkte den Blick, aber dann begann er, wenn auch unsicher, zu sprechen: »Herr Direktor, gerade weil ich ein ruhiger Mann bin, dem man nichts vorwerfen kann, haben mich meine Kameraden er wählt. Das muß Ihnen beweisen, daß wir keine rebellischen Unruhe stifter sind und keine schlechten Menschen. Wir verlangen nur Ge rechtigkeit, wir wollen nicht mehr hungern. Es scheint uns an der Zeit zu sein, alles so zu ordnen, daß wir wenigstens jeden Tag Brot haben.« Je länger er sprach, desto mehr gewann seine Stimme an Festigkeit. Er hob den Blick und sah dem Direktor voll ins Gesicht. »Sie wissen wohl, daß wir den neuen Tarif nicht annehmen können. Man beschul digt uns, schlecht zu verzimmern. Es ist wahr, wir verwenden auf die se Arbeit nicht die nötige Zeit. Aber wenn wir es täten, würde unser täglicher Verdienst noch geringer werden. Und da er schon jetzt kaum zu unserem Lebensunterhalt ausreicht, wäre das das allgemeine Ende. 353
Ihre Arbeiter müßten umkommen. Bezahlen Sie uns besser, und wir werden auch besser verzimmern.« »Das ist die Wahrheit«, bestätigten die anderen Delegierten, als sie sahen, daß Monsieur Hennebeau eine ungestüme Gebärde machte und ihren Wortführer unterbrechen wollte. Aber Maheu ließ den Direktor der Gesellschaft nicht zu Wort kommen. »Wir sind gekommen, um Ih nen zu erklären, daß wir, wenn wir schon verhungern sollen, es vorzie hen, beim Nichtstun zu verhungern. Das ist weniger ermüdend … Wir haben die Grube verlassen und werden nicht eher wieder einfahren, bis die Grubengesellschaft unsere Bedingungen annimmt. Wir wollen, daß man uns fünf Centime für den Wagen mehr bezahlt.« Schon seit den ersten Worten Maheus hatte Monsieur Hennebeau Etienne nicht aus den Augen gelassen. Er wollte ihn zum Sprechen bringen und dadurch der ganzen Unterhandlung eine andere Wen dung geben. »Warum sagt ihr nicht offen heraus, daß ihr durch nichts würdige Aufreizungen beeinflußt seid! Ein Pesthauch weht in den Ar beiterkreisen und steckt die Besten an … Nicht wahr, man hat euch er zählt, daß jetzt die Reihe an euch sei, die Herren zu spielen? Gewiß hat man euch für die famose Internationale angeworben, diese Räuber bande, die von der Zerstörung alles Bestehenden träumt …« »Sie irren sich, Herr Direktor«, fiel ihm Etienne ins Wort. »Nicht ein Kohlenarbeiter von Montsou gehört der Internationale an. Aber wenn man sie dazu drängt, werden alle Gruben sich der Internationale an schließen.« Monsieur Hennebeau hatte erreicht, was er wollte. Er konnte mit Eti enne vor den anderen diskutieren. »Es ist ungerecht von euch, der Ge sellschaft zu drohen, denn sie sorgt wie ein Vater für ihre Leute.« Er schien jetzt nur noch zu Etienne zu sprechen. »Sie scheinen ein in telligenter Mann zu sein und sind in wenigen Monaten einer unse rer besten Arbeiter geworden. Wäre es nicht vernünftiger, wenn Sie die Wahrheit unter ihren Kameraden verbreiteten, anstatt mit übel be leumdeten Leuten zu verkehren?« Er hob die Hand. »Unterbrechen Sie mich nicht. Ich rede von Rasseneur, den wir entlassen mußten, um un sere Gruben vor der Ansteckung durch seine sozialistische Fäulnis zu 354
bewahren. Man sieht Sie beständig bei ihm, und er hat Sie gewiß auch veranlaßt, die Hilfskasse zu gründen, die wir anstandslos dulden wür den, wenn sie nur eine Sparkasse wäre.« »Sie können sagen, was Sie wollen, Monsieur«, erwiderte Etienne ru hig, »aber der neue Tarif ist nur eine versteckte Herabsetzung der Löh ne, und das ist das, was uns empört. Denn wenn die Gesellschaft genö tigt ist zu sparen, so ist es eine Schlechtigkeit, wenn sie es nur auf Ko sten der Arbeiter tut.« »Da wären wir also!« rief Monsieur Hennebeau. »Darauf habe ich gewartet, auf diese Beschuldigung. Wir lassen die Leute verhungern und werden fett von ihrem Schweiß. Wie können Sie solchen Unsinn reden! Glaubt ihr denn, daß für die Gesellschaft in der jetzigen Krise nicht ebensoviel auf dem Spiel steht wie für euch? Die Festsetzung der Löhne hängt nicht von der Gesellschaft ab. Wir müssen uns nach der Konkurrenz richten, sonst gehen wir zugrunde. Klagen Sie die heuti gen Zustände an und nicht die Gesellschaft.« »Wir begreifen sehr wohl, was Sie sagen!« rief Etienne. »Unsere Lage kann sich nicht bessern, solange die Dinge bleiben, wie sie sind. Und deshalb werden die Arbeiter dafür sorgen, daß die Dinge anders wer den.« Monsieur Hennebeau schwieg erst, dann machte er eine Bewegung, um die Abordnung zu verabschieden. Etienne stieß Maheu leicht mit dem Ellbogen. Maheu begann wieder zu sprechen: »Das ist alles, was Sie uns zu sagen haben, Herr Direktor?« fragte er. »Wir sollen also den anderen erklären, daß Sie unsere Forderungen ablehnen?« »Ich, mein Lieber?« Der Direktor hob beide Hände hoch. »Ich leh ne gar nichts ab. Ich bin ein Angestellter wie ihr. Ich habe hier eben sowenig zu entscheiden wie irgendeiner von euren Wagenjungen.« Das Schweigen der Arbeiter beunruhigte ihn, aber er warnte sie: »Überlegt es euch, bevor ihr Torheiten begeht!«
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Nach vierzehn Tagen brachte die Unnachgiebigkeit der Grubenleitung die Arbeiter zur Verzweiflung. Es wurde allmählich ein allgemeiner Streik. In Maheus Haus gab es ein beständiges Kommen und Gehen. Etienne hatte die dreitausend Frank Kassengelder unter die bedürfti gen Familien verteilt. Es waren auch noch einige hundert Frank Hilfs gelder eingelaufen, die durch Sammlungen aufgebracht worden waren. Doch nun waren alle Mittel erschöpft, der Hunger pochte drohend an die Türen. Um das Maß des Unglücks vollzumachen, war auch ein starker Frost eingetreten. Die Kohlenvorräte schwanden. Bei den Maheus fehlte schon alles. Doch trotz der schrecklichen Zeit wurde keine Klage laut: Alle gehorchten ruhig und mutig der ausgegebenen Losung. Etienne war der unbestrittene Leiter der Bewegung. Pluchart hatte ihm Brief um Brief geschrieben und sich erbötig gemacht, nach Montsou zu kommen, um die Streikenden zur Ausdauer anzufeuern. Er wollte eine geheime Versammlung veranstalten, um die Kohlenarbeiter für die In ternationale zu gewinnen, der sie bisher mißtrauisch gegenüberstanden. »Sind es gute Nachrichten?« fragte die Maheude, als Etienne einen neuen Brief Plucharts erhielt. »Wird man uns Geld schicken?« Als Etienne verneinend den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, wie wir diese Woche noch durchkommen sollen.« Sie riß sich zusammen. »Es muß gehen. Wenn man das Recht auf seiner Seite hat, erweist man sich schließlich als der Stärkere.« Dieser Zuspruch, der mehr ein Selbstgespräch der Maheude war, wurde durch den Eintritt Catherines unterbrochen. Seit ihrer Flucht mit Chaval war sie nicht wieder im Dorf erschienen. Sie hatte gehofft, die Mutter allein zu finden. Beim Anblick Etiennes vermochte sie sich nicht auf die Worte zu besinnen, die sie sich unter wegs zurechtgelegt hatte. Sie sagte nur: »Mutter …« »Was hast du hier zu suchen!« schrie die Maheude. »Ich will nichts mehr von dir wissen. Geh deiner Wege!« Catherine zitterte. Sie überwand ihre Angst und Verlegenheit nur mühsam. »Mutter«, sagte sie, »hier ist Kaffee und Zucker … für die Kinder … Ich habe Überstunden gemacht …« 356
»Anstatt uns Geschenke zu bringen, solltest du lieber hierbleiben und uns helfen, Brot zu verdienen!« Sie überhäufte Catherine mit Schimpfworten und erleichterte ihr Herz, indem sie ihr alles ins Gesicht sagte, was sie seit einem Monat über sie gesprochen hatte. Etienne erhob sich, um die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter nicht zu stören. Er tat so, als wollte er das halb erloschene Feuer anfachen. Er konnte nicht umhin, Catherine zu betrachten. Sie sah bleich und abgearbeitet aus, aber noch immer hübsch. Ihre klaren Augen und die fahle Gesichtsfarbe zogen ihn unwiderstehlich an. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Sein Groll verflog. Er hätte sie nun ger ne glücklich gewußt an der Seite des Mannes, den sie ihm vorgezogen hatte. Sie aber las in seinen zärtlichen Blicken nichts als Mitleid. Das schnürte ihr die Kehle zu. Sie war außerstande zu sprechen. »Es ist besser, wenn du schweigst«, fuhr die Maheude unerbittlich fort. »Wenn du gekommen bist, um hierzubleiben, tritt näher. Wenn nicht, mach daß du fortkommst!« Catherine zögerte. Sollte sie sich umwenden und gehen? Sollte sie bleiben? Sie erhielt von rückwärts einen so heftigen Fußtritt, daß sie vor Überraschung und Schmerz betäubt in die Stube stürzte. Chaval war durch die offengebliebene Tür wie ein wildes Tier über sie herge fallen. Er hatte das Gespräch zwischen Mutter und Tochter belauscht. »Du Schlampe!« brüllte er. »Ich bin dir nachgegangen, ich wußte, wo hin du gehen würdest. Du hältst diesen Kerl also aus? Mit meinem Geld versüßt du seinen Kaffee?« Etienne und die Maheude standen starr, während Chaval Catherine mit wütenden Gebärden zur Tür trei ben wollte. Als sie sich in eine Ecke flüchtete, ergriff er sie am Hand gelenk und schleppte sie mit sich. Noch einmal wandte er sich um und rief der Maheude zu: »Wenn die Tochter nicht da ist, hält der Kerl es mit der Mutter!« Etienne hielt an sich, um sich nicht auf Chaval zu werfen. Nur die Angst, daß er durch eine Rauferei das Dorf in Alarm bringen könnte, hielt ihn ab, Catherine den Fäusten Chavals zu entreißen. Mit blutun terlaufenen Augen standen sich die beiden Männer wütend so nahe ge 357
genüber, daß sie ihren glühenden Atem fühlten. Der alte Haß, die lan ge unterdrückte Eifersucht kam zum Ausbruch. Einer schien den an deren erwürgen zu wollen. Doch Catherine zog Chaval mit sich fort. Sie floh, ohne den Kopf zu wenden. »Welch ein roher Bursche«, sagte Etienne und warf die Tür heftig ins Schloß. »Er ist ein Schwein«, gab die Maheude zurück. Etienne verließ das Haus. Die Nacht war eisig. Gesenkten Kopfes ging er traurig die Straße entlang. Er sah das Arbeiterdorf ohne Brot, diese Frauen und Kinder, die nichts mehr zu essen hatten und mit lee rem Magen den Kampf fortsetzten. Seinen Kampf. Welch schreckliche Verantwortung lastete auf ihm. Er sah die unabwendbare Katastrophe vor sich: schluchzende Mütter, sterbende Kinder, und die Männer fuh ren abgezehrt wieder in die Grube. Alle hatten umsonst gelitten! Etienne ging schweren Schrittes weiter. Der Gedanke, daß die Gru bengesellschaft sich als stärker erweisen könnte und er das Unglück seiner Kameraden verschuldet hatte, erfüllte ihn mit unerträglicher Beklommenheit. Aber warum sollte die Grubengesellschaft die Stär kere sein in diesem Kampf der Arbeiter gegen das Kapital? Und wenn sie es war, würde sie der Sieg teuer zu stehen kommen! Etienne ging nach Hause. Er wollte Pluchart schreiben und ihn auffordern, sofort zu kommen. Sein Entschluß stand fest. Eine geheime Versammlung muß te veranstaltet werden. Der Sieg erschien ihm gewiß, wenn die Kohlen arbeiter von Montsou in Massen der Internationale beitreten würden.
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XI
Die geheime Versammlung sollte Freitag um zwei Uhr nachmittags im ›Gasthaus zum fidelen Bauer‹ stattfinden. Donnerstag früh wurde Eti enne unruhig, als Pluchart noch nicht angekommen war, obwohl er sich telegrafisch für Mittwoch abends angemeldet hatte. Es war zum Verzweifeln, daß er vor der Versammlung nicht mehr mit Pluchart sprechen konnte. Am Freitag um neun Uhr morgens ging Etienne nach Montsou. Viel leicht hatte sich Pluchart geraden Weges dorthin begeben, ohne beim Voreux haltzumachen. »Nein, ich habe Ihren Freund nicht gesehen«, erwiderte die Wirtin des ›Fidelen Bauern‹. »Aber alles ist vorbereitet.« Sie führte ihn in den Ballsaal. »Kommen Sie, sehen Sie es sich an.« Es war nicht viel im Saal verändert. Nur die Tribüne der Musikanten war durch einen Tisch und drei Stühle ersetzt worden. »Das ist ausgezeichnet«, erklärte Etienne. »Sie sind hier wie zu Hause«, ermutigte ihn die Wirtin. »Hier kön nen Sie schreien, soviel Sie wollen. Wenn die Gendarmen kommen, müssen sie erst über mich hinweg.« Etienne mußte lächeln, als er unwillkürlich ihre umfangreiche Ge stalt betrachtete. Er wartete allein im großen Saal. Endlich kamen Ras seneur und Souvarine. Souvarine hatte während der Nacht im Voreux gearbeitet – die Ma schinisten streikten nicht. Er war nur aus Neugierde gekommen. Ras seneur hingegen schien seit zwei Tagen verlegen zu sein. Aus seinem dicken, runden Gesicht war das gutmütige Lächeln verschwunden. »Pluchart ist nicht gekommen«, sagte Etienne. Er fügte hinzu: »Ich bin sehr besorgt.« 359
»Das wundert mich nicht, daß Pluchart nicht gekommen ist«, brummte Rasseneur. »Ich erwarte ihn auch nicht.« »Wieso nicht?« »Weil auch ich ihm einen Brief geschrieben habe. Und in diesem Brief habe ich ihn ersucht, nicht zu kommen.« Die Verlegenheit Rasse neurs war wie weggewischt. Er sagte bestimmt: »Ich bin der Meinung, daß wir unsere Angelegenheiten selbst ordnen müssen. Ohne uns an Fremde zu wenden.« Etienne war außer sich. »Das hast du getan?!« »Ja, das habe ich getan. Ich habe Vertrauen zu Pluchart. Er ist ge scheit und tüchtig. Aber eure Ideen von Politik haben in meinen Au gen keinen Wert. Was ich verlange, das ist nur eine bessere Behand lung des Bergmanns. Und ich befürchte, daß ihr mit euren Geschich ten das Los der Arbeiter nur noch verschlimmern werdet. Sobald der Hunger die Männer zwingen wird, wieder in die Grube zu fahren, wird man es ihnen heimzahlen. Und das will ich verhindern, ver stehst du?« Rasseneur stand kerzengerade, mit vorgestrecktem Bauch auf sei nen kräftigen Beinen. Er sprach mit klaren Worten. »Ist es nicht eine Dummheit, zu glauben, daß man die Welt mit einem Schlag neu ge stalten könnte? Dazu bedarf es tausend und aber tausend Jahre. Es ist das gescheiteste, den geraden Weg zu gehen, um das Los der Arbeiter zu verbessern. Wenn ich es übernehme, würde ich günstigere Bedin gungen von der Gesellschaft erreichen.« Etienne verschlug die Wandlung Rasseneurs die Rede. Er konnte nicht sprechen. Um sich Luft zu machen, begann er mit großen Schrit ten im Saal auf und ab zu gehen. Rasseneur wandte sich ihm zu. »Ich habe dich von Anfang an für ei nen vernünftigen Menschen gehalten. Es war sehr richtig, daß du den Kumpels geraten hast, ruhig zu sein, und daß du deinen Einfluß be nützt hast, die Ordnung aufrechtzuerhalten.« Er wehrte Etienne ab, der ihn bei seinen Schultern faßte und schüt telte. »Willst du die Kameraden in den Sumpf hineinreiten?« »Was ist denn in dich gefahren?!« schrie Etienne. »Warum gehst du 360
ins Lager der Bürger über? Du hast doch selbst gesagt, es muß alles zu sammenbrechen!« Rasseneur errötete. »Das habe ich gesagt!« Er wiederholte: »Das habe ich gesagt, ja. Und wenn alles zusammenbricht, dann wirst du sehen, daß ich nicht feiger bin als andere.« Er schrie: »Ich will nur nicht zu de nen gehören, die die Verwirrung vermehren, um sich im trüben eine Stellung zu erfischen.« »Du bist also neidisch?« fragte Etienne. »Weshalb sollte ich neidisch sein?« erwiderte Rasseneur. »Ich spie le nicht den großen Mann. Ich will keine Sektion gründen, um ihr Se kretär zu werden.« Er hielt Etienne auf Armeslänge von sich. »Sei doch aufrichtig. Dir liegt nichts an der Internationale, du willst nur an un serer Spitze stehen und den Herrn spielen.« Etienne zitterte vor Wut, aber er bezwang seine Stimme. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe dich stets zu Rate gezogen, denn ich wußte, daß du hier schon lange, bevor ich kam, gekämpft hast. Da du aber niemand an deiner Seite duldest, werde ich von nun an ganz allein handeln.« Er wiederholte: »… allein handeln. Und zunächst teile ich dir mit, daß die Versammlung stattfinden wird, auch wenn Pluchart nicht kommt. Die Kameraden werden trotz deines Dazwischenredens der Internationale beitreten.« »Mit dem Beitreten ist es nicht getan, sie müssen auch die Beiträge zahlen«, sagte Rasseneur. »Durchaus nicht. Die Internationale gewährt Arbeitern im Streik Zahlungsfrist. Wir werden später zahlen, sie aber wird uns sofort zu Hilfe kommen.« »Das wollen wir sehen!« schrie Rasseneur wieder erregt. »Aber ich ereifere mich jetzt unnötig. Auch ich werde bei deiner Versammlung sein, und ich werde reden. Ich werde nicht dulden, daß du den Freun den die Köpfe verdrehst.« Er verließ den Saal und warf heftig die Tür hinter sich zu. Souvarine hatte stillschweigend zugehört. Aus seinem blonden Mäd chengesicht sprach stille Verachtung – die Verachtung eines Mannes, der bereit ist, sein Leben im verborgenen hinzugeben, ohne nach dem 361
Ruhm des Märtyrers zu streben. Er blies den Rauch seiner Zigarette vor sich hin und hörte gleichgültig dem Ausbruch Etiennes zu, der em pört war, daß ihn der dicke Faulplez Rasseneur beschuldigte, die Ka meraden aus Ehrgeiz ins Unglück zu treiben. »Sag mal, was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte er Souvarine. »Ist es nicht das beste, wenn wir uns der Internationale anschließen?« »Dummheiten, nichts als Dummheiten! Aber vielleicht hat es doch einen Sinn. Eure Internationale wird bald vorwärtskommen. Unter richtiger Leitung kann sie in drei Jahren die Welt vernichten.« In seiner Enttäuschung über die Haltung Rasseneurs brannte Eti enne darauf, die Lehre von der allgemeinen Zerstörung kennenzuler nen. »So erkläre es mir doch endlich! Was ist denn dein Ziel?« »Keine Nationalität mehr, keine Regierung, kein Eigentum, keinen Gott und keine Religion!« »Aber wohin soll denn das führen?« »Zu der primitiven, einfachen Kommune, zu einer neuen Welt, in der alles von neuem beginnt.« »Aber wie kann euch das denn gelingen? Wie hofft ihr das zu errei chen?« »Durch Feuer, durch Gift, durch den Dolch.« Wie verzückt hat te sich Souvarine vom Stuhl erhoben. Eine geradezu mystische Flam me sprühte aus seinen sonst so glanzlosen Augen. Seine zarten Hände umfaßten den Tischrand, als wollte er ihn zerbrechen. »Der Räuber ist der wahre Held, der Volksrächer der handelnde Revolutionär, der kei ne Redensarten aus Büchern schöpft!« »Nein, nein!« wehrte Etienne Souvarine ab. »Mord und Brand! Nie mals! Das ist entsetzlich, das ist ungerecht.« Sein Inneres lehnte sich auf gegen den düsteren Traum von einer Zerstörung der Welt. Und was würde man nachher machen? Er for derte eine Antwort: »Sag es mir!« drängte er. Souvarine erwiderte gelassen: »Alles Reden über die Zukunft ist von Übel, weil es die echte Zerstörung hindert und den Fortschritt der Revolution hemmt.« Er steckte sich eine Zigarette an und verließ den Saal. Etiennes Unruhe wuchs. Es war ein Uhr. Pluchart war nicht 362
gekommen. Um halb zwei fanden sich die Delegierten ein. Um zwei Uhr drängte sich Rasseneur durch die Männer und lehnte sich an den Schanktisch. Seine spöttische Ruhe brachte Etienne auf. Im Saal be gann man unruhig zu werden. Etienne wollte die Versammlung be ginnen, als er einen Wagen ankommen sah. »Da kommt ja Ihr Herr!« rief die Wirtin ihm zu. Es war in der Tat Pluchart. Er war schlank und trug unter seinem Überzieher von schwarzem Tuch den üblichen Sonntagsanzug eines gutgestellten Arbeiters. Der ehemalige Werkmeister hatte seit fünf Jahren keine Feile mehr angerührt und verwendete viel Sorgfalt auf sein Äußeres. Er war stolz auf seine Erfolge auf der Tribüne und seine Fähigkeit, mit den Arbeitern umzugehen. »Nehmt mir die Verspätung nicht übel!« rief er zur Begrüßung und kam so allen Fragen und Vorwürfen zuvor. »Gestern früh Konferenz in Preully, abends Versammlung in Valency. Heute zum Frühstück eine Zusammenkunft mit Souvagnat in Marchiennes … Zum Glück konn te ich noch einen Wagen finden. Ich bin ganz erschöpft. Ihr hört es an meiner Stimme. Doch das macht nichts, ich werde trotzdem spre chen.« Etienne ging freudestrahlend hinter Pluchart durch den Saal, wäh rend Rasseneur ihm kaum die Hand zu reichen wagte. Flüsternd ver ständigten sich die hundert Kohlenarbeiter miteinander, die auf den Bänken warteten. Sie beobachteten den Herrn aus Lille. Der elegante schwarze Überzieher erregte ihre Bewunderung und machte durchaus keinen günstigen Eindruck auf sie. Aber jetzt stand Pluchart schon auf der Tribüne und pochte leicht mit der Faust auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen. Dann be gann er mit heiserer Stimme: »Ich danke für die freundliche Aufnah me. Ich bin spät gekommen, aber ich bin da. Ich gebe Rasseneur das Wort. Er hat darum gebeten.« Rasseneur trat neben den Präsidententisch. Er hustete krampfhaft, dann sprach er mit lauter Stimme: »Genossen …« Er bemerkte schon nach den ersten Worten eine stille Opposition. Er wurde vorsichtig. Er wartete auf den ersten Beifall, bevor er die Internationale angrei 363
fen würde. »Die Ehre verbietet es, den Forderungen der Grubenge sellschaft nachzugeben. Doch welches Elend, welche schreckliche Zu kunft steht uns bevor, wenn wir noch lange ausharren müssen!« Drei oder vier Freunde Rasseneurs klatschten ihm Beifall. Aber dadurch wurde das eisige Schweigen der großen Mehrheit noch deutlicher fühl bar. Die Mißbilligung machte sich in einzelnen Ausrufen Luft. »Mitbürger! Mitbürger!« rief Pluchart. Levaque zeigte Rasseneur die Faust. »Dir ist natürlich alles egal! Du hast zu fressen!« »Mitbürger«, fiel Pluchart ein, »gestattet mir das Wort.« Pluchart begann zu sprechen. Seine Stimme hatte einen rauhen Klang, aber seine Heiserkeit gehörte zu seinem Programm. Er breite te die Arme weit aus und ließ den Schluß der Sätze nach Art der Geist lichen ausklingen. Seine einförmige, singende Sprechart hatte eine überzeugende Wirkung. Er sprach von der Bedeutung und der wohl tätigen Wirkung der Internationale. Er erklärte die Ziele und schil derte die Organisation. Dann verlas er die Statuten und wies auf die Erweiterung des Programms hin, das sich anfangs nur mit der Höhe der Löhne beschäftigte, jetzt aber die soziale Frage in Erwägung ziehe, um dem Lohnwesen überhaupt ein Ende zu machen. »Für die Arbei ter gibt es keine Grenzen, keine Nationalität. Die Arbeiter der ganzen Welt sind vereint im gemeinsamen Verlangen nach Gerechtigkeit. Das verkommene Bürgertum wird weggefegt, eine freie Gesellschaft ent steht, in der der Nichtarbeitende auch nicht ernten wird.« »Das ist das Rechte …« Stimmen aus der Versammlung wurden laut. »Wir sind dabei!« Mit einer weit ausholenden Handbewegung gebot Pluchart den Koh lenarbeitern zu schweigen. Er kam nun auf die Streiks zu sprechen. »Ruhe!« rief er. »Ich will von den Streiks sprechen. Ich mißbillige sie grundsätzlich, denn sie sind ein zu langsam wirkendes Mittel, das nur die Leiden des Arbeiters vermehrt. Aber«, er betonte jedes einzel ne Wort, »bevor man etwas Besseres hat, sind Streiks unvermeidlich. Und in diesem Falle ist die Internationale eine Art Vorsehung für die Streikenden.« Er führte aus: »In Paris und London haben die Arbeitge 364
ber den Streikenden sofort alle Forderungen bewilligt. Und warum ha ben sie das getan? Weil die Nachricht, daß die Internationale Hilfsgel der schicke, sie erschreckt hat. Alle Gesellschaften zittern, wenn sich die Arbeiter dem großen Arbeitsheer anschließen und darum, daß sie bereit sind, lieber einer für den anderen zu sterben, als die Sklaven der kapitalistischen Gesellschaft zu bleiben.« Ein Beifallssturm brach aus. Pluchart flüsterte Etienne zu: »Es hat gewirkt. Nun haben sie ge nug … Schnell die Mitgliedskarten!« Seine Stimme verlor plötzlich die Heiserkeit. »Mitbürger!« rief er, den allgemeinen Lärm überschreiend, »hier sind die Mitgliedskarten.« Rasseneur wollte protestieren. Etienne wollte sprechen. In die heillo se Verwirrung der Männer brach die kreischende Stimme der Wirtin: »Schweigen Sie doch in Teufels Namen! Die Gendarmen sind da!« Die Gendarmen waren da. Fünf Minuten hatte die Wirtin sie aufge halten, indem sie erklärt hatte, daß sie in ihrem Hause tun könne, was sie wolle, und berechtigt sei, ihre Freunde einzuladen. Jetzt hatte die Wirtin gerade noch Zeit, die Arbeiter zu warnen: »Ihr müßt durch den Hinterhof hinaus!« rief sie. »Rasch, sonst ist es zu spät!« Ein Gendarm schlug mit der Faust an die Tür des Saales. Die Ver wirrung der Kohlenarbeiter wuchs. Man konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts davonlaufen. Man hatte ja noch nicht abgestimmt, weder über den Anschluß an die Internationale noch über die Fortset zung des Streiks. Während die Fäuste der Gendarmen gegen die Türe trommelten, stimmten die Delegierten der zehntausend Kohlenarbeiter von Mont sou auf den Vorschlag Plucharts durch lautloses Erheben der Hände ab. So wurden sie Mitglieder der Internationale. Als die Gendarmen endlich die Türfüllung erbrachen, war die Ver sammlung schon aufgelöst. Die Arbeiter waren durch die Küche und den Holzstall entkommen.
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XII
In den ersten Januartagen bedeckten kalte Nebel die weite Ebene. Das Elend und die Not in den Arbeiterdörfern hatten ihren Gipfelpunkt erreicht. Die viertausend Frank, die tatsächlich aus London von der Internationale geschickt worden waren, hatten die Arbeiter nur drei Tage mit Brot versorgt. Das war die einzige Hilfe, die gekommen war. Der Mut der Streikenden war gebrochen. Alles, was sie besaßen, tru gen sie zu den Trödlern, sogar das Roßhaar aus den Matratzen und die Küchengeräte. Sie glaubten sich einen Augenblick lang gerettet, als die kleinen Händler von Montsou jedem Kunden eine Woche Kre dit anboten, um dem Kaufmann Maigrat die Kundschaft zu entfrem den. Aber auch die Woche ging vorüber, und nun waren alle Mittel er schöpft. Etienne hätte seine eigene Haut zu Markte tragen mögen. Der An blick der armen Leute, die weder Brot noch Heizung hatten, brach te ihn um den Verstand. Er ermüdete sich durch weite Spaziergänge. Als er eines Abends nach Hause zurückkehrte, sah er am Straßenrand eine alte Frau bewußtlos liegen. Starb sie vor Entkräftung? Nachdem Etienne die Alte aufgerichtet hatte, rief er ein Mädchen herbei, das er. hinter dem Zaun sah. »Ah, du bist es«, sagte er, als er die Mouquette erkannte. »Hilf mir doch. Man müßte der Alten etwas zu trinken geben.« Die Mouquette lief in das baufällige Häuschen, das ihr Vater inmit ten der Trümmer bewohnte, und kam mit Wacholderbranntwein und Brot zurück. Der Branntwein belebte die Alte. Ohne ein Wort zu sprechen, biß sie gierig in das Brot. Dann humpelte sie, noch ganz betäubt, weiter. »Willst du nicht auch ein Gläschen trinken?« fragte die Mouquette 366
Etienne. Und als er zögerte, fügte sie hinzu: »Fürchtest du dich denn immer noch vor mir?« Er war gerührt, weil sie der Alten das Brot so großzügig gegeben hatte, und folgte in ihre Stube. Die Mouquets schienen keine Not zu leiden. Der Vater versah nach wie vor seinen Dienst als Stallknecht im Voreux, und die Mouquette war Wäscherin geworden, wodurch sie dreißig Sou täglich verdiente. Etienne sah sich um. »Deine Stube ist nett und sauber«, sagte er. »Es freut mich, daß es dir gefällt«, flüsterte sie und legte den Arm um seine Hüfte. »Willst du mich nicht lieben?« »Ich habe dich ja lieb.« »Nein, nicht so, wie ich will.« Etienne brachte es nicht über sich, ihre Zärtlichkeiten zurückzuwei sen, mit denen sie ihn so überhäufte, als ob es ihre erste Liebe wäre. Sie war nicht hübsch, aber ihre Augen hatten einen eigenartigen Glanz. Als er sich von ihr verabschiedete, dankte sie ihm innig und küßte ihm die Hände. Etienne schämte sich und gelobte sich auf dem Heimweg, daß er sich mit der Mouquette nicht weiter einlassen wolle. Aber sie war ein braves Mädchen: Er wollte ihr ein freundliches Andenken bewahren.
XIII
Es hatte sich die Nachricht verbreitet, daß Dragoner und Gendarmen in der Gegend umherstreiften, um gegen die Streikenden vorzugehen. Als gegen halb acht Uhr die Sonne emporkam, verbreitete sich ein an deres Gerücht, daß die Kohlenarbeiter beruhigte. Sie konnten den ge planten Aufbruch wagen. Die Nachricht von der Anwesenheit des Mi litärs war nur ein blinder Alarm gewesen. 367
Von allen Seiten strömten die Kohlenarbeiter zusammen. Die Maheus kamen über die Landstraße, andere über die Felder. Männer und Frau en in wirren Haufen, führerlos, ohne Waffen. Sie strömten alle nach der selben Stelle, so wie aus den Ufern getretenes Wasser sich über einen Ab hang ergießt. Sie waren auf dem Weg zur Grube Jean-Bart in Vandame, in der gearbeitet wurde: Die Streikbrecher sollten gezüchtigt werden. Vor dem Tor der Verwaltung von Jean-Bart machten sie Halt. Mon sieur Deneulin trat ihnen entgegen. »Was wollt ihr?« fragte er, bleich vor Zorn. Er nahm alle Kraft zusammen, um sein Unglück mutig über sich ergehen zu lassen. Etienne drängte sich vor. »Herr Deneulin«, sagte er, »wir wollen nichts Böses, aber die Arbeit in Ihren Gruben muß unbedingt eingestellt werden.« »Ihr glaubt wohl«, rief Deneulin außer sich, »daß ihr mir etwas Gu tes erweist, indem ihr bei mir die Arbeitseinstellung erzwingt? Ich bin nicht so reich wie die Herren vom Voreux. Ich habe kein Geld, und wenn hier nicht gearbeitet wird, gehe ich zugrunde. Ich kann nicht durchhalten. Ich habe meine Gruben an die Grubengesellschaft nicht verkauft wie die anderen. Ich arbeite mit. Und wenn ihr mich daran hindert, ist es so, als würdet ihr mich von rückwärts niederschießen.« Er schrie: »Meine Leute sind unten in den Schächten. Ich werde sie nicht heraufkommen lassen. Nur über meine Leiche!« »Dann eben über seine Leiche!« schrie Levaque, der sich mit drohen der Gebärde auf Deneulin stürzte. Maheu hielt ihn zurück. »Bewahrt eure Ruhe!« rief Etienne. Die Männer und Frauen verhiel ten sich tatsächlich still, während Etienne Monsieur Deneulin von der Rechtmäßigkeit ihres revolutionären Vorgehens zu überzeugen ver suchte. »Der Streik ist nur ein Mittel zum Zweck. Er muß allgemein sein, um zu wirken.« »Reden Sie nicht weiter!« rief Deneulin. »Das sind dumme Ideen. In meinem Haus bin ich der Herr. Wenn ich vier Gendarmen zur Hand hätte, würde ich Sie und Ihre Kanaillen schon treiben! Es ist mein Feh ler, daß ich die Gendarmen nicht holen ließ, mir geschieht ganz recht. Bei Burschen eurer Art sind nur Gewaltmaßregeln angezeigt.« 368
Etienne zitterte vor Wut, aber er hielt an sich. »Monsieur Deneulin«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich bitte Sie anzuordnen, daß Ihre Arbeiter heraufkommen. Ich kann für meine Kameraden nicht län ger einstehen. Tun Sie es rasch, wenn Sie ein Unglück verhindern wol len.« »Scheren Sie sich zum Teufel!« gab Deneulin grob zurück. »Kenne ich Sie denn? Sie gehören nicht zu meinen Leuten. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Nur Banditen streifen so im Land umher.« Seine Stimme wurde von lauten Rufen übertönt. Besonders die Frau en überhäuften ihn mit Schimpfworten. Er wurde weggeschoben, und die Menge drang von allen Seiten in Jean-Bart ein. In fünf Minuten war die ganze Grube in ihrer Gewalt. Etienne mahnte vergebens zur Ruhe. Er schrie, man dürfe nicht durch unnütze Zerstörungen den Feinden recht geben. Er blieb ungehört. »Zu den Dampfkesseln!« heulte die Brule. »Löscht die Feuer!« Und Levaque, der eine Feile gefunden hatte, schwang sie wie einen Dolch. »Schneiden wir die Seile durch!« brüllte er. »Schneiden wir die Seile durch!« Alle wiederholten die Rufe, nur Etienne und Maheu protestierten. Jedoch ohne Erfolg. Endlich gelang es Etienne, sich Gehör zu verschaf fen. »Es sind Kameraden unten!« Das Geschrei wurde heftiger. »Um so schlimmer! Warum sind sie eingefahren. Den Verrätern geschieht ganz recht!« Durch das Stim mengewirr drang der schrille Ruf Levaques: »Schneiden wir die Seile durch. Sie haben noch die Leitern!« Etienne senkte verzweifelt den Kopf, als er das knirschende Geräusch der den Stahl durchschneidenden Feile hörte. Tiefe Stille trat ein. Alle hoben die Köpfe und lauschten. Die plötzliche Stille war darauf zurückzuführen, daß die Brule mit den meisten Frauen im Kesselhaus verschwunden war. Sie trieb die Heizer hinaus. Die gellende Stimme der Brule erfüllte den Raum. »Laßt die Bude in Flammen aufgehen! Jetzt zahle ich den Tod meines Mannes heim!« »Achtung, ich lösche alles aus, ich lasse alles los!« Die Stimme Jeanlins 369
überschlug sich. Er versuchte, soviel Schaden anzurichten als möglich. Er drehte die Hähne auf, um den Dampf herauszulassen. Die Dampf strahlen schossen aus den Rohren. Die Kessel entleerten sich mit oh renbetäubendem Gezisch. Es gab nichts als Dampf, in dem die Frauen nur noch Schattengestalten glichen. Zwischen den weißen Dampfwol ken, die er entfesselt hatte, stand Jeanlin entzückt auf der Galerie. Aber die Wut der Menge hatte sich nicht gelegt. Das Chaos gefiel den Ver zweifelten: Sollte alles drunter und drüber gehen! Die Frauen bewaff neten sich mit Eisenstangen, die Männer ergriffen Hämmer. Sie woll ten die Kessel, die Maschinen, die ganze Grube zerstören. Etienne und Maheu beschwörten die sich wie irrsinnig Gebärden den: Jetzt, da die Seile zerschnitten, die Feuer ausgelöscht, die Kessel leer waren, sei doch ein weiteres Arbeiten der Streikbrecher unmöglich gemacht. Aber niemand hörte auf Etienne und Maheu. Sie wurden zu rückgedrängt. Wildes Geschrei ertönte: »Nieder mit den Verrätern! … Nieder mit ihnen!« Auf den Leitern begannen die Arbeiter aus der Grube heraufzukom men. Jetzt sah man es. Fast alle Kohlenarbeiter von Jean-Bart waren eingefahren. Da war auch Chaval. Mit einem lauten Aufschrei stürzte sich Etienne auf ihn. »Verräter!« Seine Selbstbeherrschung war verges sen. Sein Wunsch, alles in Ruhe und Ordnung abzutun, verraucht. Der so lange zurückgehaltene Haß, die unsägliche Eifersucht waren stärker als die besten Vorsätze. Neuer Lärm übertönte die Stimme Etiennes. Catherine kam über die Leiter von unter Tage. Sie war von der Sonne geblendet und ganz be stürzt, als sie sich diesen Wütenden gegenübersah. »Was ist denn los?« fragte sie. Die Maheude stürzte mit erhobener Hand auf Catherine zu. »Du bist auch dabei, du Schlampe! Während deine Mutter verhungert, verrätst du sie deinem Zuhälter zuliebe!« Maheu hinderte seine Frau, ihre Tochter zu schlagen. Der Anblick Catherines brachte Etienne vollends zur Verzweiflung. »Vorwärts!« rief er. »Zu den anderen Gruben!« Er befahl Chaval: »Du kommst mit!« 370
Im fahlen Licht des Wintertags ergoß sich die Menge über die Rüben felder. Etienne hatte das Kommando übernommen. Ohne anzuhalten, erteilte er Befehle und versuchte, Ordnung in die Scharen zu bringen. Jeanlin lief voran und machte mit seinem Horn eine barbarische Mu sik. In den ersten Reihen schritten die Frauen, einige waren mit Stök ken bewaffnet. Die Männer folgten im wirren Durcheinander. Die Ma heude sah vor sich hin, als ob sie in der Ferne das verheißende Land der Gerechtigkeit suchte. Sie alle schritten rüstig in ihren Lumpen ein her wie Soldaten, die in den Krieg ziehen. Etienne ließ Chaval, der vor ihm gehen mußte, nicht aus den Augen. Maheu schielte nach Catheri ne. Sie ließ sich nicht aus der Nähe Chavals vertreiben, um zu verhin dern, daß man ihm etwas Böses zufüge. Etienne drohte Chaval, ihm alle Knochen entzweizuschlagen, wenn er ans Ausreißen dächte. Chaval protestierte wütend: »Was soll das? Ist man denn nicht mehr frei? Ich bin seit einer Stunde ganz steif gefroren und muß mich wa schen. Laß mich los!« »Vorwärts! Sonst werden wir das Abwaschen besorgen!« rief Etienne und drehte sich nach Catherine um. Es brachte ihn in Verzweiflung, sie so elend zu sehen in den alten Männerkleidern und vor Kälte zit ternd. »Du könntest heimgehen«, sagte er zu ihr. Catherine schien nicht zu verstehen, was er sprach. Aus ihren Blik ken sprach nur Vorwurf. Weshalb verlangte er, daß sie Chaval verließ? Chaval behandelte sie gewiß nicht gut, er schlug sie sogar. Aber es em pörte sie, daß tausend Männer über ihn herfielen. Sie war entschlos sen, ihn zu verteidigen, nicht aus Liebe, sondern aus Stolz. »Sieh zu, daß du heimkommst!« befahl ihr Maheu. Dieser Befehl ihres Vaters veranlaßte sie, einen Augenblick zurück zubleiben. Aber nur einen Augenblick. Sie wollte Chaval nicht verlas sen. Die nächste Grube, die Victoire, lag drei Kilometer entfernt. Als die Menge, die von allen Seiten Zustrom erhalten hatte, vor der Victoire erschien, war die Ausfahrt bereits beendet. Da keine Verräter geohr feigt werden konnten, wurde die Einrichtung zerschlagen. Levaque verfiel auf die Idee, die Schienen auszureißen und das Geleise zu zer 371
stören. Die Frauen waren unter der Führung der Brule in die Lampen stube eingedrungen und richteten solche Verheerung an, daß der Bo den mit Scherben bedeckt war. Auch die Maheude geriet außer sich und schlug so fest drauflos wie alle anderen. Sie alle hatten Hunger. Alle schrien: »Brot! Brot! Brot!« Sie stürzten sich auf die Kantine. Sie fanden nichts Eßbares außer zwei Stück rohem Fleisch und einem Sack Kartoffeln, aber sie fanden fünfzig Flaschen Genever, um ihren Durst zu stillen. Auch Etienne füllte seine Kürbisflasche. Allmählich überkam ihn eine schlimme Trunkenheit. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Zähne schlugen aufeinander, als er bemerkte, daß Chaval im allgemei nen Tumult verschwunden war. Er fluchte so wütend, daß sich Frei willige erbötig machten, die Chaval fanden. Er hatte sich mit Catheri ne zwischen den Holzvorräten versteckt. »Tod dem Verräter!« Chaval wurde bei den Schultern gepackt, ge stoßen und mit fortgerissen. Es ging jetzt nach der Grube Gaston-Ma rie. Maheu schrie Catherine zu: »Willst du endlich nach Hause gehen!« Aber sie sah ihren Vater nur mit funkelnden Augen an und lief weiter hinter Chaval her, den Etienne nicht mehr losließ. In weniger als einer Viertelstunde waren in Gaston-Marie die Feuer ausgelöscht, die Kessel geleert, die Gebäude erbrochen und alles ver nichtet. Die Menge strömte wütend weiter. Etienne hörte nicht auf zu schimpfen. »Du schmutziger Schuft!« Cha val war sich der Gefahr bewußt, die ihm drohte, aber er kam mit der Hartnäckigkeit eines an einer fixen Idee Leidenden immer wieder dar auf zurück, daß er sich waschen müsse. »Hier hast du ein Waschfaß!« schrie plötzlich die Levaque. Sie waren bei einer Lache, die durch das ausgetretene Wasser des Pumpwerks entstanden war, angekommen. Es hatte sich schon eine dünne Eiskruste gebildet. Zwei Kohlenarbeiter packten Chaval, hoben ihn hoch und zwangen ihn, den Kopf in das eiskalte Wasser zu stek ken. »Taucht ihn unter!« schrie die Brule. »Taucht ihn unter! Und jetzt soll er trinken wie die Tiere, die Schnauze im Trog!« 372
Auf allen vieren liegend, mußte Chaval trinken. Alle lachten. Eine Frau zog ihn an den Ohren, eine andere warf ihm frischen Pferdemist ins Gesicht, den sie auf der Straße aufgelesen hatte. Der Rock hing ihm in Fetzen vom Leib. Etienne befahl: »Nun ist's genug! Es brauchen nicht alle über ihn her zufallen.« Er wandte sich Chaval zu, der sich mühsam aufgerichtet hat te. »Wenn du willst, werden wir beide es allein regeln.« Seine Fäuste ballten sich. »Bist du bereit?« Mordlust blitzte aus seinen Augen. »Ei ner von uns beiden muß auf dem Platz bleiben. Gebt ihm ein Messer! Ich habe das meine.« Catherine hatte starr vor Entsetzen den Mißhandlungen Chavals zu gesehen. Jetzt stürzte sie vor, schlug Etienne ins Gesicht und schrie mit vor Entrüstung fast erstickter Stimme: »Feigling! Feigling! Feigling! Du hast also noch nicht genug an allen diesen Schandtaten? Du willst Chaval ermorden, während er sich nicht mehr aufrecht halten kann!« Sie wandte sich ihrem Vater und ihrer Mutter zu: »Tötet mich doch mit ihm! Wer ihn noch anrührt, dem springe ich ins Gesicht!« Sie stellte sich vor Chaval und verteidigte ihn. Sie hatte die von ihm erhaltenen Schläge, ihr ganzes elendes Leben mit ihm vergessen und dachte nur daran, daß es eine Schmach für sie wäre, wenn sie ihn ver ließ. Etienne war durch die Schläge Chaterines nüchtern geworden. »Sie hat recht«, sagte er den andern. »Laßt ihn los.« Er schrie Chaval zu: »Mach, daß du fortkommst!« Chaval nahm sofort Reißaus. Catherine eilte ihm nach. Die Menge setzte sich wieder in Bewegung. Es war fünf Uhr. Die Son ne stand glühendrot am Horizont. Alle machten kehrt, als ein Hausie rer ankam und rief: »In Crevecoeur sind Dragoner!« Jetzt gab es nur noch eine Stimme: »Nach Montsou! … Brot! Brot! Brot!«
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Etienne blieb an der Spitze. Während er die Menge mit heiserer Stim me nach Montsou hetzte, fragte er sich, wohin dies alles führen soll te. Er hatte von alledem, was geschehen war, nichts gewollt. Er konn te auch nicht verhindern, daß das Haus des Direktors belagert wurde. Niemand gehorchte mehr seinen Anordnungen. Steine flogen durch die Luft und zertrümmerten die Scheiben. Plötzlich verstummte der Lärm. Eine Überraschung brachte zustande, was allen Bitten und Be fehlen Etiennes nicht gelungen war. Die Arbeiter hielten im sinnlosen Steinwerfen inne, als sie das Ehepaar Gregoire friedlich lächelnd an sich vorbeigehen sahen. Monsieur und Madame Gregoire schienen den Aufruhr für einen Scherz dieser braven Arbeiter zu halten. Sie erstiegen die Freitreppe und klingelten an der verbarrikadierten Tür. Es öffnete niemand, bis endlich die Kammerfrau Rosa von ihrem Ausgang zurückkam und ih rerseits den wütenden Arbeitern freundlich zulächelte. Sie kannte sie alle, denn sie war auch aus Montsou. Als das Ehepaar Gregoire und Rosa im Haus verschwanden, begann der Steinhagel von neuem. Die Menge schrie: »Tod dem Bürgerpack! Es lebe die Internationale!«
Rosa lächelte noch immer, als sie schon in der Vorhalle stand, und be teuerte dem vor Schreck totenblassen Diener: »Es sind keine bösen Leute, ich kenne sie alle!« Monsieur Gregoire war der gleichen Meinung. »Zweifellos führen sie nichts Schlimmes im Schilde«, sagte er. »Sobald sie sich ausgeschrien haben, werden sie heimgehen und mit um so größerem Appetit zu Abend essen.« Monsieur Hennebeau begrüßte seine Gäste. Er war besorgt: »Unsere Damen sind noch nicht zurück.« Cecile war noch nicht zurück? Das Ehepaar Gregoire wurde unru hig. »Ich habe schon daran gedacht, die Straße säubern zu lassen«, erklär te Monsieur Hennebeau. »Unglücklicherweise bin ich allein und weiß 374
nicht, wohin ich meinen Diener schicken soll, damit er vier Mann und einen Korporal holt, um diese Kanaillen auseinanderzutreiben.« Rosa beteuerte wieder: »Monsieur Hennebeau, es sind keine bösen Menschen.« »Ich habe nichts gegen sie, ich entschuldige sie sogar«, erklärte Mon sieur Hennebeau. »Man muß so dumm sein wie sie, um zu glauben, daß wir ihr Unglück wollen. Aber ich bin für die Ruhe verantwort lich.« Er unterbrach sich plötzlich. Er wurde sich seiner Hausherrenpflichten bewußt und wandte sich Madame Gregoire zu. »Aber ich bit te Sie, Madame, bleiben Sie nicht hier in der Vorhalle, treten Sie doch in den Salon!« Die Köchin hielt Monsieur Hennebeau in der Vorhalle zurück. Sie erklärte aufgeregt, sie könne die Verantwortung für das Diner nicht übernehmen. Sie erwarte seit vier Uhr die Blätterteig-Pasteten, die sie bei dem Pastetenbäcker in der Marchiennes bestellt habe. »Nur ein wenig Geduld«, beschwichtigte sie Monsieur Hennebeau. »Der Bäcker kann noch kommen.« Als er die Salontür öffnen wollte, sah er zu seinem Erstaunen in der Vorhalle einen Mann auf einer Bank sitzen. »Sie hier? Das sind ja Sie, Maigrat! Was gibt es denn?« Der Kaufmann Maigrat war ganz verstört. Sein Gesicht war aufge dunsen. Er erklärte demütig, er habe sich in das Haus des Herrn Di rektors Hennebeau geschlichen, um bei ihm Schutz und Hilfe zu su chen, wenn die Banditen seinen Laden stürmen sollten. »Sie sehen, daß ich selbst bedroht bin. Sie hätten besser getan, zu Hause zu bleiben und auf Ihre Ware aufzupassen.« »Ich habe Eisenstangen vorgelegt und außerdem meine Frau im La den gelassen.« »Ich kann nichts für Sie tun«, erklärte Monsieur Hennebeau. »Sehen Sie selbst zu, wie Sie sich verteidigen. Ich rate Ihnen aber, sofort nach Hause zu gehen, denn die Leute schreien immer noch nach Brot.« Der Lärm draußen nahm zu. Maigrat glaubte, seinen Namen zu hören. Er hatte Angst, nach Hause zu gehen. Er wußte, daß die Män ner und Frauen auf ihn einschlagen würden. Andererseits brachte 375
ihn der Gedanke an seinen Ruin außer sich. Er preßte sein schweiß bedecktes, aufgequollenes Gesicht gegen die Türfüllung. Er zitterte, während das Ehepaar Gregoire in gesellschaftlicher Haltung den Sa lon betrat. Monsieur Hennebeau war gerade dabei, seinen Pflichten als Haus herr zu genügen, als das Zimmermädchen in den Salon stürzte. »Mon sieur Hennebeau! Madame ist da! Sie bringen Madame um!« Madame Hennebeau war nicht im Wagen an ihr Haus herangefah ren. Sie hatte sich entschlossen, das letzte Stück Wegs zu Fuß zu ge hen, um einen Zusammenstoß mit der Menge zu vermeiden, und die kleine Gartenpforte zu benützen, die der Gärtner für sie öffnen wür de. Es ging auch alles wie geplant. Aber als Madame Hennebeau, die mit den beiden Töchtern Deneulins und Cecile Gregoire ausgefahren war, schon an der Pforte angelangt war, wurde eine Arbeiterfrau auf sie aufmerksam. Diese Dame in eleganter Toilette, das war sehenswert! Sie eilte ihnen nach. Das Geschrei lockte noch andere Frauen herbei. Dennoch gelang es Madame Hennebeau, mit Lucie und Jeanne Deneu lin in die von der Kammerfrau geöffnete Pforte einzutreten. Aber Ce cile hatte plötzlich solche Angst, daß sie dem Haus den Rücken kehr te und fliehen wollte. »Hoch die Soziale! Tod dem Bürgerpack! Tod!« schrien die Frauen. Einige, die das Gesicht Ceciles nicht sehen konnten, hielten sie für Ma dame Hennebeau. Ihr Seidenkleid, ihr Mantel mit Pelzbesatz und die weiße Feder auf dem Hut erregten die Hungrigen. »Man wird dich lehren, Spitzen zu tragen!« rief die Brule. »Diese Schlampen hüllen sich in Pelze, während wir frieren!« »Zieht sie doch nackt aus und gerbt ihr das Fell!« schrie die Leva que. Da sprang die Mouquette vor. »Man muß sie auspeitschen!« Die zerlumpten Frauen drangen wie Wilde auf Cecile ein. Die war vor Angst gelähmt und wiederholte immer wieder dieselben Worte: »Meine Damen, ich bitte Sie, meine Damen, tun Sie mir nichts.« Sie schrie auf. Der alte Bonnemort hatte sie am Hals gepackt. Er schien vor Hunger nicht mehr zu wissen, was er tat. Nachdem er in sei 376
nem Leben ein Dutzend Kameraden vom Tod errettet, seine Knochen bei schlagenden Wettern und Erdstürzen zu Markte getragen hatte, gehorchte er nun einem inneren Drang, dem faszinierenden Anblick eines weißen Nackens, nach dem er griff. »Laß doch, Alter. Es ist das Fräulein Gregoire!« rief die Maheude dem Großvater zu, als sie Cecile erkannte, der eine Frau den Schlei er abgerissen hatte. Auch Etienne bemühte sich, den wildgewordenen Frauen ihre Beute zu entreißen. Er wollte sie ablenken. »Beim Maigrat gibt's Brot!« schrie er. »Macht seine Bude dem Erdboden gleich.« Er führte mit einem Beil den ersten Streich gegen die Ladentür Maigrats. Die Männer folgten ihm, aber die Frauen ließen nicht von Cecile ab. Sie wurde hin und her gezerrt. Ihre Kleider waren zerfetzt. Sie wäre verloren gewesen, wenn nicht ein Mann zu Pferd erschienen wäre. Es war Deneulin, der, wie verabredet, zum Diner zu den Hennebeaus kam. Er sprengte mitten in die Menge und ritt die nieder, die nicht schnell genug auswichen. Er saß ab, nahm Cecile in die Arme und trug sie zur Haustür, die in Eile geöffnet wurde. Während die verzweifelten Eltern Cecile in ein Tuch hüllten und mit Kölnisch Wasser abrieben, schrie Deneulin: »Noch zwei Sekunden und sie hätten mir den Schädel zer schmettert, als ob er ein hohler Kürbis wäre. Sie wissen nicht mehr, was sie tun.« Die Kammerfrau, die dem Ehepaar Gregoire half, Cecile aus der Ohnmacht zu erwecken, wiederholte: »Es sind keine bösen Menschen! Es sind keine bösen Menschen!« Das Geschrei auf der Straße war verstummt. Es flogen keine Steine mehr gegen das Haus Hennebeaus. Es waren nur die dumpfen Schläge gegen die Ladentür Maigrats zu hören. Jeder Beilhieb traf Maigrat ins Herz. Er hatte sich in die Küche der Hennebeaus geflüchtet. Unaufhörlich dachte er, daß er nicht dulden könne, ruiniert zu werden; lieber wollte er sein Leben lassen. Am Fen ster der Küche stehend, sah er die Umrisse seiner Frau hinter einem Fenster seines Hauses. Er überlegte, daß sich unter dem Fenster, an dem sie stand, ein Schuppen befand. Wenn er am Spalier der Grenz 377
mauer emporkletterte, konnte er über das Dach des Schuppens das Fenster erreichen. Vielleicht hatte er noch Zeit, die Ladentür mit Mö beln zu verbarrikadieren. Er hatte Angst vor seinem eigenen Mut. Doch die Liebe zu seinen Waren und sein Geiz siegten über alle Be denken. Er verließ die Küche. Er kletterte am Spalier der Grenzmauer empor und schwang sich auf das Dach. Er hörte die Beilhiebe, die ge gen die Ladentüre schlugen, und jetzt eine Stimme: »Seht doch! Der Schuft ist dort oben. Los auf ihn! Packt ihn! Packt ihn!« Jetzt lag Maigrat der Länge nach neben der Dachrinne des Schup pens und bemühte sich, das Fenster zu erreichen. Aber das Dach war sehr steil. Sein Bauch war ihm hinderlich, seine Nägel fanden keinen Halt. Er konnte nicht weiter. Die Angst vor Steinwürfen, die auf das Dach prasselten, lähmten seine Kräfte. Seine Hände ließen die Dach rinne los. Er rollte wie eine Kugel hinunter und fiel so unglücklich quer über die Grenzmauer, daß er sich nach der Straßenseite überschlug und sich an einem Prellstein die Hirnschale zerschmetterte. Der Tote lag auf dem Rücken, die weit offenen Augen starr zum Him mel gerichtet. »Der Schweinehund ist verreckt! Es gibt also doch einen Gott!« Die Männer und Frauen umringten den noch warmen Leich nam Maigrats und verhöhnten ihn. »Ich war dir sechzig Frank schuldig, nun bist du bezahlt!« schrie die Maheude. »Du wirst mir nicht mehr Kredit verweigern, du Dieb! Warte, jetzt werde ich dich ein wenig füttern!« Mit allen zehn Fingern scharrte sie die Brocken der gefrorenen Erde zusammen und stopfte dem Toten zwei Hände voll in den Mund. Etienne schwang aufs neue das Beil gegen die Ladentür Maigrats. Er wurde aber das Unbehagen nicht los. Plötzlich vernahm er eine Stim me, die ihm zuflüsterte, sich zu retten. Er drehte sich um und erkannte Catherine. Sie trug immer noch ih ren alten Männerrock und war außer Atem. Er stieß sie zurück. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Doch sie ließ sich nicht ab weisen, entrang ihm das Beil und umschlang ihn mit beiden Armen. »Die Gendarmen kommen«, flüsterte sie. »So höre doch! Chaval hat 378
sie geholt und führt sie hierher. Chaval, wenn du es wissen willst. Ret te dich!« Catherine zog Etienne fort. Aus der Ferne war ein schwerfälliger Ga lopp auf dem Pflaster zu hören. »Die Gendarmen! Die Gendarmen!« Ein furchtbares Durcheinander entstand, eine so wilde Flucht, daß die Straße in kaum zwei Minuten menschenleer war. Maigrats Leiche lag wie ein schwarzer Fleck auf der Straße. Die Gendarmen bogen in die Straße ein. Hinter ihnen, unter ihrem Schutz, kam endlich der Wa gen des Pastetenbäckers von Marchiennes an. Ein kleiner Junge, der neben dem Kutscher saß, sprang ab und begann, in aller Ruhe die Blät terteigpasteten für das Diner im Hause der Hennebeaus auszupacken.
XIV
Der Streik war ein verzweifelter, stummer Widerstand der Arbeiter ge gen die Kompanie. Es nützte nichts, daß sich ein Staatsanwalt und ein General in Montsou eingefunden hatten, um die Arbeitsstockung, die die Wirtschaft ruinierte, zu beheben. Die Gendarmen und Soldaten verbürgten zwar die Ordnung, aber die Kohlenarbeiter schlossen sich in ihren Häusern ein und nahmen die Arbeit nicht wieder auf. Aber alle erwarteten mit knurrendem Magen das Ende des stillen Kampfes und hatten nur Angst vor der Drohung der Grubengesellschaft, daß sie Bergleute von der belgischen Grenze heranziehen würde. Die wegen Zerstörung vom Staatsanwalt eingeleitete Untersuchung hatte ergeben, daß der Kaufmann Maigrat nicht ermordet, sondern durch den Sturz vom Dach ums Leben gekommen war. Einige Verhaf tungen waren dennoch vorgenommen worden. Aber wie stets wurden die Statisten gepackt, die Dummen, die von nichts wußten. Gesucht wurde vor allem Etienne, der seit dem Abend der Unruhe verschwun 379
den war. Obwohl Chaval sich durch seinen Haß hatte verleiten lassen, ihn anzuzeigen, war keine Spur von Etienne zu finden. Sein Name war das Schreckgespenst der Bürger, die nachts beim geringsten Geräusch aus dem Schlaf auffuhren aus Angst, daß der verschwundene Rädels führer der Kohlenarbeiter sie heimsuchen würde. Montsou hatte Angst vor Etienne. Aber er lebte unter der Erde in dem Grubenloch, das Jeanlin als Versteck für seine geheimen Zusam menkünfte mit seinen Freunden und Freundinnen und seine Dieb stähle benützte. Niemand glaubte, daß Etienne so nahe sei. Seine Kühnheit, in ei nem Grubenloch vom Voreux ein Versteck zu suchen, hatte die Ver folger getäuscht. In seinem Unterschlupf lebte Etienne weitaus besser als in Montsou. Es gab Wacholderbranntwein und Proviant aller Art. Er schlief präch tig im Heu wie in der Wärme einer Badestube. Nur das Licht droh te auszugehen. Jeanlin, der ihn mit der Schlauheit und Vorsicht eines Wilden mit allem versorgte, gelang es nicht, ein Paket Kerzen zu ergat tern, um es in die Grube zu bringen. Die unaufhörliche Dunkelheit in dem Grubenloch beunruhigte Eti enne. Er hielt es in der Sicherheit des Unterschlupfs nicht mehr aus. Als Jeanlin ihm während seines nächtlichen Besuchs mitteilte, daß die Gendarmen glaubten, er sei nach Belgien entflohen, war Etienne glück lich, das Grubenloch verlassen zu können. Er wollte sich auch Klarheit über die Lage des Streiks verschaffen. Er mußte wissen, ob die Kohlen arbeiter noch länger im Widerstand ausharren konnten. Etienne betrachtete die Kohlengruben wie ein feindliches Gelände. Die Gebäude wirkten unter dem bleifarbenen Himmel, als wären sie verfallen. Die Einstürze nahmen an Gefährlichkeit zu, je länger die Gruben verlassen blieben. Der Boden hatte sich so gesenkt, daß die Straße in einer Ausdehnung von hundert Metern wie durch ein Erd beben zerstört war. Und die Grubengesellschaft bezahlte den Eigen tümern das versinkende Land, ohne zu feilschen. Sie war beunruhigt durch das Aufsehen, das Nachrichten über die Folgen des Streiks her vorrufen konnten. 380
Daß er den Voreux als Trümmerstätte vorgefunden hatte, festigte die Hoffnung Etiennes. Er war überzeugt, daß der dritte Monat des Wi derstands der Arbeiter die Grubengesellschaft bezwingen würde. Schon in der nächsten Nacht verzweifelte Etienne aufs neue. Er war bis Jean-Bart gewandert, und ein Wächter, der ihn nicht erkannte, er zählte ihm, es sei die Rede vom Verkauf Vandames an die Gesellschaft vom Voreux. Alle rieten Deneulin, die Grube zu verkaufen. Er sagte beständig nein auf alle Angebote. Es empörte ihn, daß gerade er die Kosten des Streiks bezahlen sollte. Aber würde er aushalten können? Die Bevollmächtigten des Voreux waren gelassen nach Paris zurück gekehrt, um den Zusammenbruch Deneulins abzuwarten. Sie hatten Zeit. Soviel Zeit wie sie wollten. Sie konnten es sich leisten, zu warten, bis das hilflose Aufbegehren eines unabhängigen Grubenbesitzers und der streikenden Kohlenarbeiter in sich zusammenbrach. Etienne war dem Voreux aus dem Wege gegangen. Er hatte Angst vor der dunklen Silhouette der Schildwachen. Aber er strich um die Gruben herum und lauschte den Hammerschlägen der Zimmerleute in den Schächten. Als er in der Morgendämmerung in sein Loch zurück kehrte, sah er Wachtposten auf der Halde. Warum ließen sich die Sol daten gegen das Volk bewaffnen? Wie leicht wäre der Sieg der Revolu tion, wenn die Armee sich für sie erklärte. Es würde genügen, daß die Arbeiter und der Bauer in den Kasernen sich ihrer Abstammung erin nerten. Er empfand den Haß des Volkes gegen die Armee, gegen diese Brüder, die sich aus warmherzigen Bauern und Arbeitern in gefühllose Soldaten verwandelten, sobald sie die rote Hose anzogen. Warum sollte er es nicht auf sich nehmen, mit einem Soldaten zu sprechen, um seine Gesinnung kennenzulernen? Wenn er einen überredete, konnte er alle überreden, überlegte Etienne und trat auf einen Wachtposten zu. »Nun, Kamerad«, sagte er, »das ist ein schlimmes Wetter!« Er tastete sich vor. »Ich glaube, wir werden Schnee bekommen.« Das sanfte, blasse, von Sommersprossen übersäte Gesicht des Sol daten kehrte sich Etienne gleichgültig zu. »Es sieht nach Schnee aus«, sagte er und ließ seine blauen Augen über den fahlen Himmel schwei fen. 381
»Das ist doch dumm, daß man euch hierherstellt, wo euch die Knochen erfrieren!« provozierte Etienne. »Hier weht immer ein eisiger Wind!« Der Soldat war nicht gesprächig. Er sagte: »Ja«, er sagte: »Nein«, schien aber nichts zu verstehen, als Etienne ihn in ein Gespräch über Politik verwickeln wollte. »Mir ist alles gleichgültig«, sagte der kleine Soldat. »Wenn man mir befiehlt zu schießen, so schieße ich eben. Ich will doch nicht bestraft werden, weil ich einen Befehl verweigere. Dar um verweigere ich keinen Befehl.« »Wie heißen Sie denn?« fragte Etienne. »Jules.« »Und woher sind Sie?« Er wies mit der Hand auf gut Glück ins Weite. »Aus der Bretagne. Ich habe Mutter und Schwestern daheim. Sie erwarten mich. Aber es wird noch eine Weile dauern.« Große Schneeflocken fielen vom Himmel. Etienne wurde unruhig. Er sah Jeanlin, der zwischen den Brombeersträuchern umherstrich und ihm zuwinkte. Etienne verstand, worum es ging. Jeanlin warnte ihn vor der Ablö sung. »Gib acht, daß der Schnee dich nicht begräbt«, sagte er dem Sol daten und entfernte sich mit gespielter Gelassenheit.
Seit zwei Tagen hatte es geschneit. Das Arbeiterdorf verschwand unter der Schneedecke. In den Häusern brannte kein Feuer. In den Stuben war es ebenso kalt wie auf den Landstraßen. Auch bei Maheus war die letzte Schaufel Kohlenstaub verbrannt worden. Die Maheude erwarte te Dr. Vanderhagen. Die kranke Alzire wurde vom Fieberfrost geschüt telt. Sie brauchte den Arzt. Maheu schritt schwerfällig in der leeren Stube auf und ab und rannte immer wieder gegen die Wand, stumpf sinnig wie ein wildes Tier, das die Gitterstäbe seines Käfigs nicht mehr sieht. Der Widerschein des Schnees von der Straße erhellte die Stube. Alzire begann leise zu phantasieren. Sie lachte und glaubte, es sei warm und sie spiele in der Sonne. 382
»Nun glüht sie wieder«, klagte die Maheude. »Ich warte nicht länger auf den Schweinehund von Vanderhagen. Das Räubervolk von der Ge sellschaft wird ihm verboten haben zu kommen.« Jetzt öffnete sich die Türe. Die Arme der Maheude sanken schlaff herab, als sie anstatt des erwarteten Vanderhagen Etienne eintreten sah. »Guten Abend«, sagte er halblaut, nachdem er die Tür sorgfältig hin ter sich geschlossen hatte. Er wußte, die Maheus würden das Geheim nis seines Verstecks wahren und ihn nicht preisgeben. Es hatte sich auch ein ganzer Sagenkreis im Arbeiterdorf um Etienne gebildet. Die Männer und Frauen hatten Vertrauen zu ihm. Geheimnisvolle Ge rüchte waren im Umlauf: Etienne werde mit einer Armee wiederkom men, um die Soldaten zu vertreiben, und mit Kassen voll Geld, um die Gesellschaft in die Knie zu zwingen. »Ist das nicht ein Hundewetter«, sagte er obenhin. »Gibt es bei euch nichts Neues? Ihr müßt darauf gefaßt sein, daß alles noch schlim mer wird. Ich habe erfahren, daß die Grubengesellschaft den Neffen von Monsieur Hennebeau nach Belgien geschickt hat, um dort Arbei ter anzuwerben.« Er machte eine kleine Pause, um die Nachricht ein sinken zu lassen. Dann setzte er hinzu: »Wir sind verloren, wenn das wahr ist.« »Belgier!« schrie Maheu und blieb endlich stehen. »Belgier! Das wer den die Hundekerle nicht wagen. Wenn die Belgier kommen, zerstö ren wir die Gruben.« »Das können wir nicht«, erklärte Etienne. »Wir können uns nicht rühren. Die Soldaten, die die Gruben bewachen, werden die Einfahrt der belgischen Arbeiter beschützen.« Maheu ballte die Fäuste. »Immer die Bajonette im Rücken!« schrie er. »Sind wir Galeerensträflinge, die man mit geladenen Gewehren zur Arbeit treiben will?« Dann sank er in sich zusammen. »Ich weiß nicht, weshalb ich mich aufrege, ich gehöre nicht mehr dazu. Und wenn sie mich einmal von hier fortgejagt haben, dann kann ich auf der Land straße verrecken!« »Gute Arbeiter schickt man nicht fort«, sagte Etienne mit erstick 383
ter Stimme. Er wollte noch mehr sagen, aber er verstummte plötzlich. Sein Blick war auf Alzire gefallen, die im Fiebertraum leise vor sich hin lachte. Die Fröhlichkeit des kranken Kindes erschreckte ihn. »Das kann nicht so weitergehen«, sagte er zitternd. »Wir sind verloren … Wir müssen uns ergeben!« Die Maheude, die schweigend zugehört hatte, brach los und schrie ihm ins Gesicht: »Sag das noch einmal, oder du wirst meine Hand zu spüren bekommen. Wir sollen also zwei Monate gehungert haben, meine Kinder sollen krank geworden sein, und die Ungerechtigkeit soll wieder beginnen! Ich werde lieber alles in Brand stecken und lie ber alle umbringen als mich ergeben!« Sie wandte sich mit drohender Gebärde dem im Dunkel stehenden Maheu zu: »Das sage ich dir, wenn du in die Grube zurückkehrst, werde ich auf der Straße stehen, um dir ins Gesicht zu spucken.« Etienne wich zurück vor der Wut der Maheude, die sein eigenes Werk war. Er fand sie so verändert, daß er sie nicht wiedererkannte. Sie, die einst so bedächtig gewesen war und ihm sein Ungestüm vor geworfen hatte! »Aber ihr habt mich nicht richtig verstanden«, keuch te Etienne. »Was ich sagen wollte, war nur, daß wir mit der Grubenge sellschaft zu einer Verständigung kommen müssen. Die Gesellschaft würde sicher einem Vergleich zustimmen.« »Nein, nein!« heulte die Maheude. »Gar nichts! Kein Vergleich!« Sie war zum äußersten Verzweiflungskampf bereit. Aber die Verzweiflung wurde stärker, als Lenore und Henri, die sie ausgeschickt hatte, um et was zum Essen zu erbetteln, mit leeren Händen zurückkamen. Etienne dachte: Einst hatte die Maheude gedroht, ihre Kinder zu tö ten, wenn sie sie beim Betteln ertappte, und jetzt schickte sie sie aus. War das seine Schuld? Die Kinder krochen in der Stube herum, sie waren hungrig und wollten essen. Die Maheude geriet außer sich und verteilte blindlings im Dunkel Ohrfeigen. Aber die Schläge nützten nichts. Die Kinder schrien heftiger nach Brot, immer lauter nach Brot. Sie warf sich zu Boden. »Mein Gott, weshalb nimmst du uns nicht zu dir? Mein Gott, habe doch Erbarmen und mache ein Ende!« 384
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Diesmal war es Dr. Van derhagen. »Eine Kerze würde euch die Augen nicht verderben«, sagte er zur Begrüßung. »Beeilen wir uns, ich muß schnell weiter.« Es gab keine Kerze bei den Maheus, aber der Arzt hatte Streichhöl zer bei sich. Maheu mußte eins nach dem anderen anzünden und sie halten, damit Dr. Vanderhagen Alzire untersuchen konnte. Sie war so mager wie ein im Schnee in den letzten Zügen liegender Vogel. Den noch lächelte sie, aber es war ein Lächeln einer Sterbenden. Die Au gen waren weit geöffnet. Sie preßte die Hände krampfhaft auf den lee ren Magen. Als die Maheude jammerte und ihn fragte, ob das recht sei, daß ihr das einzige Kind genommen werde, das ihr in der Wirtschaft helfen konnte, ein so kluges und sanftes Kind, wurde der Doktor ärgerlich. »Sie ist verhungert, deine Tochter. Ihr ruft mich alle, und ich kann nichts tun. Ihr müßt Fleisch haben, um gesund zu werden.« Das letzte Streichholz verbrannte Maheu die Finger. Er ließ es fallen. Die Finsternis senkte sich auf die kleine, noch warme Leiche Alzires. Der Arzt empfahl sich schweigend. Er hatte es sehr eilig, wie immer.
XV
Drei kurze Schläge gegen eine Fensterscheibe unterbrachen die drük kende Stille in der Gaststube Rasseneurs. Souvarine erhob sich. Er hat te das Zeichen erkannt, durch das Etienne ihn schon oft herausgerufen hatte, wenn er einsam an einem Tisch saß. Doch bevor Souvarine die Tür erreichte, hatte Rasseneur sie geöffnet. Als er den vor dem erleuch teten Fenster Stehenden erkannte, sagt er: »Fürchtest du dich denn, ich könnte dich verraten? Du kannst mit Souvarine besser hier sprechen als auf der Straße.« 385
Etienne trat ein. »Ich habe schon längst erraten, wo du dich versteckst«, fuhr Rasse neur fort. »Wenn ich ein Spion wäre, wie deine Freunde behaupten, hät te ich die Gendarmen schon vor acht Tagen auf deine Spur gebracht.« »Rechtfertige dich nicht«, erwiderte Etienne entgegenkommend. »Ich weiß, daß du nicht so einer bist. Man kann andere Anschauungen haben und sich dennoch achten.« Souvarine saß wieder auf seinem Stuhl, den Rücken der Wand zuge kehrt, und sah dem aufsteigenden Rauch der Zigarette nach. »Morgen beginnt also die Arbeit im Voreux wieder«, begann Eti enne. »Die Belgier sind angekommen.« »Ja, sie sind im Abenddunkel gekommen«, bestätigte Rasseneur. »Man hat dafür gesorgt, daß es nicht zu Mord und Totschlag kommt.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Ich will nicht wieder zu streiten begin nen, aber es wird ein schlimmes Ende nehmen, wenn ihr noch hals starrig bleibt.« Etienne sah zu Boden. Er wollte seine Niederlage nicht vor einem Mann eingestehen, der ihm vorausgesagt hatte, daß eines Tages die Menge über ihn herfallen würde, um sich dafür zu rächen, daß er sich verrechnet hatte. »Es läßt sich nicht mehr bezweifeln, daß der Streik mißglückt ist. Man gibt sich allerlei Hoffnungen hin, und wenn es dann schiefgeht, vergißt man, daß man darauf hätte gefaßt sein müs sen. Man jammert und beklagt sich, als wäre das Unglück ganz uner wartet gekommen.« Souvarine, dessen Hände nervös zuckte, schien nicht recht verstan den zu haben. »Sie sind alle Feiglinge. Man muß nur wollen, aber nie mand will. Und darum wird die Revolution schließlich scheitern.« Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und Catherine erschien, die Chaval vor sich herschob. Nachdem er sich in allen Kneipen von Mont sou mit Bier und mit Aufschneidereien berauscht hatte, war ihm ein gefallen, zu Rasseneur zu gehen und den ehemaligen Freunden zu zei gen, daß er sich nicht fürchtete. Als Catherine Etienne erblickte, wurde sie blaß und blieb stehen. Chaval begann boshaft zu lachen. »Ich sage dir, du sollst einen Schoppen trinken, und ich schlage jedem die Zähne 386
ein, der mich schief ansieht.« Er rief laut: »Frau Rasseneur, zwei Schop pen. Wir wollen den Wiederbeginn der Arbeit begießen!« Die Stille im Schankraum erregte Chaval. Er sagte herausfordernd: »Ich kenne Leute, die behauptet haben, ich sei ein Spion. Ich erwarte, daß mir diese Leute das ins Gesicht wiederholen, damit man sich end lich ausspricht.« Niemand antwortete Chaval. Er fuhr laut fort: »Es gibt Leute, die Faulenzer sind, und andere, die keine Faulenzer sind. Ich habe nichts zu verheimlichen, ich habe Deneulins schmutzige Grube verlassen und fahre morgen im Voreux ein.« Er holte tief Atem, um noch lauter spre chen zu können. »Ich fahre mit zwölf Belgiern ein, deren Führung man mir anvertraut hat. Man schätzt mich.« Chaval zog eine Handvoll Silbermünzen aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. »Das habe ich im Schweiße meines Angesichts ver dient«, sagte er. Aber als er unbeachtet blieb, erregte er sich so, daß er zu einem direkten Angriff überging. Er maß Etienne von oben bis un ten. »Die Maulwürfe kommen also bei Nacht aus ihren Löchern? Die Gendarmen schlafen wohl?« Etienne stand auf. Er war sehr ruhig, aber entschlossen. »Ja, du bist ein Spion, Chaval«, sagte er. »Dein Geld stinkt nach Verrat. Mich ekelt es, mich an dir zu vergreifen. Aber da es sein muß, stehe ich zu deiner Verfügung. Einer von uns beiden ist zuviel auf der Welt!« Chaval ballte die Fäuste. »Du sollst mir für all die Schweinerei bü ßen, die man mir angetan hat.« Catherine warf sich zwischen die beiden Männer. Es kostete nicht viel Mühe, sie zurückzudrängen. An die Wand gelehnt, sah sie stumm den Geschehnissen zu. Madame Rasseneur setzte sich auf ihre Bank, ohne ungebührliche Neugier zu zeigen. Rasseneur wollte unbedingt vermitteln. »Ich kann es doch nicht gestatten, daß sich die beiden ermorden!« rief er. Souvarine hielt ihn zurück. »Das geht dich nichts an«, sagte er. »Ei ner ist zuviel. Der Stärkere wird übrigbleiben.« Die beiden Männer hieben aufeinander los, aber die geräuschvol len Ausbrüche des einen und die kalte Ruhe des anderen hielten den 387
Zweikampf lange unentschieden. Allmählich gerieten sie in Hitze. Ihr schwerer Atem wurde hörbar. »Das sitzt!« heulte Chaval. Seine Faust hieb wie ein Dreschflegel auf die Schulter seines Gegners. »Immer los auf dein Gerippe!« Etienne unterdrückte einen Schmerzensschrei und führte einen so heftigen Stoß gegen Chaval, daß er wankte und kaum noch atmen konnte. Chaval faßte sich rasch und stieß mit dem Stiefelabsatz nach Etiennes Magen. Etienne brach das Schweigen: »Wenn du mit den Fü ßen kämpfst, verletzt du die Regeln eines ehrlichen Kampfes. Tue es nicht, sonst nehme ich einen Stuhl und schlage dich nieder!« Souvarine drehte wie gewöhnlich seine Zigarette, vergaß aber, sie anzuzünden. Catherine lehnte immer noch reglos an der Wand. In Schweiß gebadet, schlug Chaval blindlings drauflos. Trotz seiner im mer wachsenden Empörung beschränkte sich Etienne auf die Ab wehr der Hiebe. Dabei traf seine Faust Chaval ins Gesicht. Das Blut schoß aus der Nase, um das Auge entstand ein blauer Fleck. Geblen det von dem Blutstrom fiel Chaval mit dumpfem Aufschlag auf den Rücken. »Steh auf, wenn du noch nicht genug hast!« befahl Etienne. Chaval erhob sich nach einigen Sekunden mühsam. Er blieb einen Augenblick auf den Knien liegen, während er sich mit einer Hand an der Hosentasche zu schaffen machte. Als er dann wieder auf den Bei nen stand, stürzte er wie ein Wilder brüllend auf Etienne los. Catherine hatte beobachtet, was er getan hatte. Unwillkürlich ent rang sich ihrer Brust ein Schrei, der sie selbst überraschte. »Nimm dich in acht!« rief sie Etienne zu. »Er hat ein Messer!« Etienne hatte gerade noch Zeit, den ersten Messerstich mit dem Arm abzuwehren. Die Wolle seiner Jacke wurde von der Klinge durch schnitten, aber er griff nach der Hand, die das Messer hielt. Er wußte, daß er verloren sein würde, wenn er locker ließe. Zweimal war es Etienne, als fühle er den kalten Stahl auf seiner Brust. Mit äußerster Anstrengung drehte er Chavals Handgelenk so, daß das Messer der sich öffnenden Hand entfiel. Beide warfen sich auf die Erde. Aber Etienne war rascher. Er erwischte das Messer. Er setzte Chaval 388
ein Knie auf die Brust und drohte, ihm die Kehle durchzuschneiden. Das Verlangen nach Blut raubte ihm alle Besinnung. Er hatte das Mes ser schon angesetzt, als er sich endlich beherrschte. Er schleuderte es weit von sich und rief mit rauher Stimme: »Steh auf und geh!« Souvarine, den das Messer fast ins Bein getroffen hatte, entschloß sich, seine Zigarette anzuzünden. War der Kampf zu Ende? Catherine stand noch immer teilnahmslos vor den zwei Männern. »Geh«, wiederholte Etienne, der sich aufgerichtet hatte. »Geh, oder ich bring' dich um!« Chaval wischte sich mit dem Rücken der Hand das Blut aus dem Ge sicht, erhob sich schwerfällig und schleppte sich hinaus. Mechanisch folgte ihm Catherine. Sein Haß machte sich Luft, als er sie hinter sich spürte. »Du gehst nicht mit mir. O nein! O nein! Wenn du ihn willst, so bleib bei ihm, du schamlose Hure! Wage es nicht, einen Fuß über meine Schwelle zu setzen, wenn dir deine räudige Haut lieb ist!«
Der Gedanke, Catherine in das Grubenloch mitzunehmen und sein Versteck mit ihr zu teilen, erschien Etienne widersinnig. Er wollte sie ins Dorf zu ihren Eltern führen. Doch sie lehnte es erschreckt ab. »Nein, nein«, sagte sie. »Alles eher, als ihnen zur Last fallen.« Anfangs hatten sie die Richtung nach dem Voreux eingeschlagen, nachdem sie Rasseneurs Haus verlassen hatten. Dann gingen sie zwi schen der Halde und dem Kanal. »Du mußt aber doch irgendwo schla fen«, sagte Etienne endlich. »Wenn ich eine Stube hätte, würde ich dich mit mir nehmen …« Er verstummte plötzlich. Der Gedanke, sie in sein Versteck mitzunehmen, erschien ihm mit einem Mal ganz natürlich. »Entscheide dich«, drängte er. »Wohin soll ich dich führen? Verab scheust du mich, da du nicht zu mir kommen willst?« »Nein«, sagte sie, »ich verabscheue dich nicht. Aber erst war es Cha val, und dann sollst du es sein und nach dir wieder ein anderer … Nein, das ekelt mich!« Sie gingen etwa hundert Schritte, ohne ein Wort zu sprechen. »Weißt 389
du wenigstens, wohin du gehen willst?« fragte er. »Ich kann dich in ei ner solchen Nacht nicht allein lassen.« Sie erwiderte ruhig: »Ich gehe nach Hause. Ich kann nur bei Chaval übernachten.« »Er wird dich totprügeln!« Sie zuckte mit den Achseln. »Er wird mich schlagen, und wenn es ihn ermüdet, wird er damit aufhören. Ist das nicht besser, als sich wie eine Landstreicherin auf den Straßen herumzutreiben?« Catherine blieb stehen. »Geh nicht weiter. Wenn Chaval dich sähe, wäre es noch schlimmer.« Vom Kirchturm schlug es elf. »Leb wohl«, flüsterte Catherine. Sie gab Etienne die Hand. Er hielt sie fest, und sie mußte sich mit Gewalt losreißen. Ohne sich umzusehen, eilte sie davon. Etienne blieb stehen und wartete ängstlich, was geschehen würde. Das Haus, in dem Cha val wohnte, blieb zunächst dunkel. Dann erhellte sich ein Fenster im ersten Stockwerk. Etienne sah, daß sich eine zarte Gestalt vorbeugte. Er trat näher. Catherine flüsterte ihm sehr leise zu: »Chaval ist noch nicht zu Hau se. Ich bitte dich, geh!« Als er wieder zur Halde kam, trat der Mond aus den Wolken. Ein Wachtposten ging auf und ab. Über der schwarzen Silhouette blitz te das Bajonett. Etienne sah auch einen beweglichen Schatten, der wie ein auf der Lauer liegendes Tier wirkte. Er erkannte Jeanlin, der hin ter der Steinhütte verborgen lag. Der Wachtposten konnte ihn nicht sehen. Einen Augenblick dachte Etienne daran, Jeanlin anzurufen, aber der Wachtposten kam immer wieder dicht an die Hütte, mach te dann kehrt und begann seinen Weg von neuem. Jetzt sah Etienne das geschehen, was er durch den Anruf Jeanlins hatte verhindern wol len. Der Junge sprang im mächtigen Satz wie eine wilde Katze auf die Schultern des Soldaten, krallte sich fest und stieß dem Unglücklichen ein Messer in die Kehle. Es ging blitzschnell vor sich. Ein halberstick ter Schrei drang durch die Nacht. Das Gewehr fiel klirrend zu Boden. Schon strahlte der Mond wieder hell auf die Halde. Etienne erstarrte vor Schrecken. Aber dann eilte er im Laufschritt 390
zur Steinhütte hinauf und fand Jeanlin auf allen vieren neben der lang ausgestreckten Leiche liegen. »Weshalb hast du das getan?« stammel te er. Jeanlin sprang auf. Seine grünen Augen funkelten, sein Unterkiefer zuckte. »Ich weiß nicht, warum. Ich mußte es tun. Ich hatte ein unbe zähmbares Verlangen danach.« Das Verlangen hatte Jeanlin seit drei Tagen unaufhörlich gefühlt. Er hatte sich so viel damit beschäftigt, daß ihm der Kopf geschmerzt hatte. Warum sollte man sich denn scheuen, diese Schweinehunde umzubringen, da sie sich nicht scheuen würden zu morden, wenn man es ihnen befahl! Etienne bückte sich zu dem toten Soldaten nieder und horchte auf den Schlag des Herzens. Das Messer war in die Kehle eingedrungen. Nur der Beingriff war sichtbar. Darauf stand in schwarzen Buchstaben eingraviert: Liebe. Jetzt sah Etienne das Gesicht des Toten. Es war Ju les, den er angesprochen hatte. Angesichts dieses zarten blonden Kop fes mit den Sommersprossen ergriff ihn furchtbares Mitleid. Die weit offenen Augen des kleinen Soldaten starrten zum Himmel mit dem gleichen Ausdruck, mit dem sie in der weiten Ferne die Heimat ge sucht hatten. Dort würden ihn die Mutter und die Schwestern vergeb lich erwarten. Was sollte Etienne mit der armseligen Leiche tun? Es war das beste, sie für immer verschwinden zu lassen. »Komm her«, befahl er Jeanlin. »Willst du mich schlagen?« fragte der Junge. »Komm her oder ich rufe die Soldaten, und sie werden dir den Kopf abschlagen.« Er befahl: »Faß ihn bei den Beinen!« Jeanlin ergriff die Beine des Toten, und Etienne umschlang die Schul tern. Sie erreichten die verfallene Grube schweißbedeckt und so ver stört, daß ihre Zähne klapperten. Sie schleppten die Leiche weiter, bis sie sie in einen Stollen schieben konnten. Das Gewehr legten sie dane ben. Dann stürzten sie die Stangen, die das bröcklige Gestein hielten, mit den Fußtritten um. Das Grab schloß sich von selbst.
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XVI
Etienne wachte die ganze Nacht hindurch in dem warmen Grubenloch. Er konnte nicht schlafen. Das Schnarchen Jeanlins erfüllte ihn mit Abscheu. Die Nähe des Jungen wurde ihm so unerträglich, daß er schließlich die Flucht ergriff. Es widersprach seiner revolutionären Überzeugung, daß Jeanlin einen Soldaten umgebracht hatte, den er gar nicht kannte. Niemand hatte das Recht zum Töten – ohne Kampf, ohne Grund. Etienne empfand ein unwiderstehliches Verlangen nach frischer Luft. Er verließ das Versteck. Endlich konnte er Atem schöpfen. Da er es als unrecht empfand, zu töten, mußte er selbst sterben. Dieser To desgedanke setzte sich in seinem Kopf wie eine letzte Hoffnung fest. Sterben, für die Revolution sterben, das war der richtige Gedanke, das glich das Schuldkonto aus. Das würde es ihm auch unmöglich ma chen, vergeblich grübeln zu müssen. Wenn die Kameraden die Belgier angriffen, würde er in den ersten Reihen sein. Dann hatte er die beste Aussicht, von einer Kugel getroffen zu werden. Festen Schrittes ging Etienne zum Voreux. Es war zwei Uhr morgens. Der Lärm vieler Stimmen drang aus der Aufseherstube, in der die Sol daten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das Verschwinden des Wacht postens hatte sie alarmiert. Man hatte den Kapitän geweckt. Nachdem die ganze Gegend abpatroulliert worden war, waren alle davon über zeugt, daß Jules desertiert sei. Bis fünf Uhr lauerte Etienne auf die Belgier. Aber die Grubengesell schaft hatte den Einfall gehabt, sie im Voreux selbst schlafen zu lassen. Die Einfahrt begann, und die Streikposten aus dem Arbeiterdorf wuß ten nicht, ob sie ihre Kameraden herbeirufen sollten. Etienne benach richtigte sie. 392
Seit Mitternacht war Catherine auf den gefrorenen Straßen umherge laufen. Als Chaval heimgekommen war und sie im Bett gefunden hatte, hat te er sie mit einer Ohrfeige aufgeweckt. »Mach, daß du zur Türe hin auskommst, wenn du nicht durchs Fenster hinausfliegen willst!« Schluchzend und notdürftig gekleidet, war Catherine hinausgegan gen und hatte sich auf einen Rinnstein vor das Haus gesetzt in der Hoffnung, daß Chaval sie hereinrufen würde. Zwei Stunden hatte sie vergeblich gewartet, dann hatte sie zu ihren Eltern gehen wollen. Aber sie hatte sich geschämt und war zur Grube gelaufen, um Chaval dort zu sehen, wenn er mit den Belgiern einfahren würde. Jetzt sah sie den Rücken Chavals. Sie wollte ihm folgen und ihn ansprechen, was immer auch geschehen möge. Sie lief schon hinter ihm her, als ein plötzliches Trompetensignal sie veranlaßte, stehenzubleiben. Sie sah, wie die Soldaten im Voreux ins Gewehr traten. Sie sah Eti enne, der eilig herbeilief, und eine Schar Männer und Frauen, die mit drohenden Gebärden aus der Richtung des Arbeiterdorfes näherka men.
Alle Zugänge zum Voreux waren geschlossen. Sechzig Soldaten stan den vor der Tür, von der ein schmaler Gang zum Kontrollhäuschen führte. Die Streikenden hielten sich in gemessener Entfernung. In der ersten Reihe stand die Maheude. Sie hatte ein Taschentuch um den Kopf geschlungen und hielt die schlafende Estelle im Arm. »Laßt nie manden ein noch aus!« schrie sie. »Sie mögen alle unten sitzen blei ben!« Maheu stimmte ihr zu. An der Spitze eines neuen Menschenhaufens, der zum Voreux ström te, schrie Levaque: »Tod den Belgiern! Wir dulden hier keine Fremden. Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!« Etienne hielt die Aufgeregten zurück. »Laßt mich erst reden«, sagte er und trat auf den Kapitän, der die Soldaten kommandierte, zu. »Platz da!« befahl der Kapitän mit lauter Stimme. »Ich habe mit dir 393
nicht zu verhandeln. Ich habe den Auftrag, die Grube zu beschützen, und ich werde sie beschützen.« Der Ausdruck seines jungen Gesichtes bewies, daß er zu allem entschlossen war. »Drängt nicht so gegen meine Leute, sonst werde ich Maßregeln ergreifen, um euch zurückzujagen.« »Nieder mit den Belgiern! Nieder mit den Belgiern!« schrien die streikenden Männer und Frauen. »In unserem Haus wollen wir die Herren sein!« Etienne erkannte, daß keine Vermittlung möglich war. Das war das Ende, man konnte nur noch kämpfen. Er hielt die Kameraden nicht mehr zurück. Die Schar drang dicht an die Soldaten heran. Es waren jetzt schon mehr als vierhundert Männer und Frauen, und aus den be nachbarten Dörfern kamen immer noch mehr. Catherine stand einige Schritte von Etienne entfernt. In der Menge entstand eine Bewegung. Die alte Brule wollte nach vorn. Sie sah er schreckend mager aus, Hals und Arme waren bloß. Sie lief so rasch, daß das flatternde graue Haar ihre Stirn und ihre Augen bedeckte. »Da bin ich endlich!« keuchte sie. »Pierron hatte mich im Keller einge schlossen.« Sie fiel über die Soldaten her. »Ihr Kanaillen! Ihr Lumpen volk! Ihr leckt euren Vorgesetzten die Hintern und seid nur mutig ge genüber armen Leuten.« Ein Hagel von Schimpfworten ergoß sich über die Soldaten. »Nieder mit den roten Hosen!« Der Kapitän hatte den Degen gezogen, und als die Menge immer weiter vordrängte und die Soldaten an die Wand zu drücken drohte, ließ er sie das Bajonett fällen. Sie gehorchten. Eine doppelte Reihe blin kender Stahlspitzen richtete sich gegen die Streikenden. Die Brule heulte: »Die erbärmlichen Kerle!«, aber sie wich zurück. Nicht für lange. Auch die anderen Frauen drängten vor. »Tötet uns! Tötet uns! Wir verlangen unser Recht!« Levaque faßte mit beiden Armen ein Bündel Bajonette. »Stoßt zu! Stoßt doch zu«, schrie er, »wenn ihr mutige Kerle seid!« Maheu fiel ein. »Ihr Feiglinge, ihr wagt es ja nicht! Hinter uns stehen noch zehntausend. Ihr könnt uns beide töten, aber dann bleiben noch zehntausend übrig!« 394
Die Lage der Soldaten war kritisch. Sie hatten den Befehl, nur im äu ßersten Notfall von der Waffe Gebrauch zu machen. Aber der freie Raum um sie wurde enger und enger. Sie waren bis zur Wand zurück gedrängt und konnten nicht mehr weiter zurück. Die vom Kapitän an geforderte Verstärkung kam nicht. Seine sechzig Mann konnten dem Andrang der bereits auf fünfhundert Köpfe angeschwollenen Streiken den nicht länger standhalten. Er befahl den Soldaten, die Gewehre zu laden. Die Soldaten führten den Befehl mit Präzision aus. Doch die Aufregung der Menge wurde nur um so größer. Ohne vorherige Verabredung, nur von dem gleichen Verlangen nach Rache getrieben, stürzten sich die Streikenden auf die in der Nähe auf geschichteten Ziegelhaufen. Kinder schleppten Ziegel herbei, Frauen füllten ihre aufgerafften Kleider. Bald lag zu Füßen eines jeden die nö tige Munition. Die Brule eröffnete den Steinhagel. Sie zerbrach die Zie gel über ihrem mageren Knie und schleuderte die Stücke mit der Rech ten und der Linken zugleich. Die kleine Schar Soldaten verschwand unter dem Steinhagel. Drei mal war der Kapitän nahe daran, Befehl zum Feuern zu geben. Aber eine unerklärliche Angst und widerstreitende Empfindungen hielten ihn davon ab. Der Mensch lag mit dem Soldat im Streit. Er öffnete den Mund, um »Feuer!« zu rufen, als die Gewehre von selbst losgingen. Erst schossen drei, dann fünf, dann mehr, und schließlich lange nach her schon erklang in die tiefe Stille ein einzelner Schuß. Entsetzen ergriff die Soldaten und die Streikenden. Es war geschos sen worden! Die Menge stand reglos. Keiner vermochte es zu glauben. Während ein Trompetensignal dem Feuer Einhalt gebot, erhob sich ein herzzerreißendes Geschrei. Die Brule war getroffen worden. Sie war mit offenem Mund gefallen. Eine Kugel hatte Mouquet gefällt. Die Mouquette hatte zwei Schüsse in den Magen bekommen und war mit einem lautem Schrei zusammen gesunken. Etienne wollte sie aufheben und davontragen, doch sie gab ihm durch eine Handbewegung zu verstehen, daß alles zu Ende sei. Im Todeskampf lächelte sie noch Catherine und Etienne zu, die ne beneinander standen – so als ob sie glücklich wäre, die beiden jetzt 395
vereint zu sehen. Der letzte Schuß, der unvermutet gefallen war, hatte Maheu mitten ins Herz getroffen. Er drehte sich um seine eigene Ach se und fiel mit dem Gesicht in eine Kohlenpfütze. Starr vor Entsetzen bückte sich die Maheude zu ihm nieder. »Steh, auf, mein Alter! Es ist nichts, nicht wahr?« Da das Kind im Arm sie hinderte, ihre Hände zu gebrauchen, legte sie es neben sich, um den Kopf ihres Mannes um kehren zu können. »Sprich doch, wo bist du verletzt?« Seine Augen waren starr, blutiger Schaum stand vor dem Mund. Nun war ihr alles klar. Maheu war tot. Das Kind wie ein Paket unter dem Arm, hockte sie im Kot und starrte ihn stumpfsinnig an.
XVII
Die Schüsse, die in Montsou gefallen waren, waren bis Paris gehört worden. Alle Oppositionszeitungen veröffentlichten entrüstet Artikel. Der Aufruhr der öffentlichen Meinung mußte beschwichtigt werden, der bedauernswerte Zusammenstoß im Kohlenrevier in Vergessenheit geraten. Die Grubengesellschaft erhielt von der Regierung den Auf trag, dem Streik, dessen befremdend lange Dauer zu einer allgemeinen sozialen Gefahr wurde, ein Ende zu machen. Am Mittwoch kamen drei Direktoren der Grubengesellschaft in Montsou an. Sie verabschiedeten die belgischen Arbeiter. Sie machten der militärischen Besetzung der Gruben ein Ende und ließen gelbe Pla kate in der ganzen Gegend anbringen. Darauf stand in großen, weit hin sichtbaren Buchstaben: »Arbeiter von Montsou, wir wollen nicht, daß die Verwirrungen, deren traurige Folgen Ihr in den letzten Tagen selbst gesehen habt, die vernünftigen und willigen Arbeiter ihrer Exi stenzmittel berauben. Wir eröffnen daher Montag früh die Arbeit in sämtlichen Gruben wieder. Wir werden mit Sorgfalt und Wohlwollen 396
prüfen, welche Verbesserungen eingeführt werden können. Wir wer den tun, was recht ist.« Zehntausend Kohlenarbeiter lasen diese Plakate. Keiner sprach ein Wort. Die meisten gingen kopfschüttelnd mit ihrem schleppen den Gang weiter. Kaum ein Dutzend Männer fuhren ein. Tiefe Stil le herrschte in den niedrigen Häusern des Arbeiterdorfs. Hunger spiel te jetzt keine Rolle mehr, nachdem alle so eng mit dem Tod in Be rührung gekommen waren. Auch das Haus Maheus lag in düsterem Schweigen. Seitdem die Maheude der Leiche ihres Mannes zum Friedhof gefolgt war, hatte sie den Mund nicht wieder geöffnet. Sie hatte Etienne nicht gehindert, als er Catherine ins Haus gebracht hatte. Sie hatte kein Wort an Catherine gerichtet und auch nicht an Etienne. Nur hin und wieder warf sie ihm und Catherine einen boshaften Blick zu. Sie schien fragen zu wollen, was sie denn in ihrem Hause wollten. Am Nachmittag des fünften Tages verließ Etienne, den der Anblick der schweigenden Frau zur Verzweiflung brachte, die Küche und ging langsam in das Dorf. Er wanderte eine halbe Stunde umher, als er be merkte, daß Kameraden in die Haustüren traten und ihm nachblick ten. Nach der Gewehrsalve war der letzte Rest seiner Popularität ver schwunden. Wenn er den Kopf hob, sah er Männer mit drohenden Ge bärden vor sich, und die Frauen schoben die Gardinen zurück. Ange sichts dieser stummen Anklage, angesichts des unterdrückten Zorns in den Augen, die durch Hunger und Tränen weit geworden waren, wurde es Etienne unbehaglich zumute. Er kehrte zitternd in das Haus der Maheude zurück. Die Szene, die ihn dort erwartete, brachte ihn vollends außer Fas sung. Die Maheude hatte Estelle auf den Tisch gelegt und stand mit drohend erhobener Faust vor Catherine: »Sag das noch einmal, was du jetzt gesagt hast!« »Was willst du denn von mir, Mutter?« stammelte Catherine. »Ich muß in den Voreux zurück. Ich kann doch nicht müßig bleiben. Wir werden dann wenigstens Brot haben.« 397
»Brot vom Voreux!« Die Maheude schrie. »Den ersten von euch, der zur Arbeit geht, erdrossele ich. Das wäre zu stark. Erst den Va ter töten und dann die Kinder noch weiter ausbeuten. Lieber will ich euch alle auf der Bahre sehen, so wie ihn, den sie schon fortgetragen haben.« Etienne wagte nicht, sich einzumischen. Er galt nichts mehr in die sem Hause. Selbst die Kinder wichen ihm mißtrauisch aus. Doch die Tränen der unglücklichen Frau erregten ihn. »Nur Mut!« sagte er. »Wir werden es schon irgendwie überwinden.« Die Maheude trat nahe an ihn heran. »Sprichst du am Ende davon, daß wir in die Grube zurückkehren sollen, nachdem du uns alle ins Unglück geritten hast?! Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber wenn ich an deiner Stelle wäre, dann wäre ich schon längst vor Gram über das Unheil, das du über alle gebracht hast, gestorben.« Etienne zuckte verzweifelt die Achseln. Was nützten Erklärungen, für die sie in ihrem Schmerz kein Verständnis haben konnte. Er ver ließ das Haus. Aber draußen schien das ganze Arbeiterdorf auf ihn zu warten. Die Männer standen in den Türen, die Frauen an den Fen stern. Geballte Fäuste erhoben sich gegen ihn. Zacharias, der ihm, ein gehängt in Philomene, entgegenkam, stieß ihn an und lachte boshaft. Die Levaque rief: »Der Spitzbube geht spazieren.« Etienne wollte ausweichen. Was konnte er anderes tun? Einen Au genblick hatte er Lust, sich mit dem ganzen Dorf zu schlagen. Doch das war sinnlos. Er beschleunigte seine Schritte und stellte sich taub gegen alle Schmähreden. Nicht weit von Rasseneurs Haus traf er auf die Schar, die vom Voreux kam. Der alte Mouquet und Chaval waren darunter. Seit dem Tode seiner Tochter Mouquette und seines Soh nes Mouquet versah der Alte seinen Dienst als Stallknecht, ohne zu klagen. Als er aber Etienne erblickte, übermannte ihn die Wut. »Du Schmutzfink! Du Schweinekerl!« heulte er auf. »Du sollst mir für mei ne Kinder bezahlen!« Er hob einen Ziegel auf und schleuderte ihn gegen Etienne. »Schlagt ihn tot!« schrie Chaval, entzückt über diese Gelegenheit, sich zu rächen. Er begann ebenfalls, Etienne mit Steinen zu bombar 398
dieren. Auch alle anderen hoben Ziegel auf und schleuderten sie ge gen Etienne. Er war ganz betäubt. Er dachte nicht an Flucht. Er ver suchte, die Schreienden durch Zureden zu beschwichtigen. Er sprach dieselben Worte, die früher so viel Beifall gefunden hatten. Aber sei ne Macht war geschwunden, Steinwürfe waren die einzige Antwort. Er wurde am linken Arm verletzt und wich immer weiter zurück, bis er an das Haus Rasseneurs gedrängt war. Rasseneur hatte die Szene schon eine Weile, im Rahmen seiner Tür stehend, beobachtet. »Tritt ein«, sagte er einfach. Etienne zögerte. »Tritt ein, ich werde mit ihnen sprechen.« Etienne entschloß sich, der Auffor derung zu folgen, während Rasseneur mit seinen breiten Schultern den Eingang versperrte. Er hatte endlich Gelegenheit, seinen Einfluß zu beweisen. Er rief den Aufgeregten zu: »Seid doch vernünftig, ihr wißt doch, daß ich euch niemals getäuscht habe.« Er ließ seiner Beredsam keit freien Lauf. Beifällige Rufe wurden laut. Er hatte Erfolg wie früher. Er schloß die Tür, nachdem die Schar sich zerstreut hatte. »Trinken wir ein Bier miteinander«, schlug er Etienne.
XVIII
Am Sonntag schlich sich Etienne gegen Abend aus dem Dorf. Er stieg zum Kanal hinunter und folgte langsam der steilen Böschung in der Richtung nach Marchiennes. Das war sein liebster Spaziergang. Hier gab es keine Begegnungen. Es überraschte ihn, als er einen Mann auf sich zukommen sah. Die beiden einsamen Spaziergänger erkannten sich. »Ah, du bist es«, sagte Etienne. Souvarine nickte nur, ohne zu antworten. Einen Augenblick standen sie einander schweigend gegenüber. Dann schritten sie Seite an Sei 399
te weiter. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, als ob er weit weg von dem anderen wäre. »Hast du in der Zeitung von Plucharts Erfolg in Paris gelesen?« frag te Etienne. Souvarine zuckte die Achseln. Er verabscheute die Schönredner, die se Burschen, die sich der Politik widmeten, um sich durch ihre Phra sen ein gutes Einkommen zu schaffen. »Hast du die neuen Plakate gesehen?« »Ja, ich habe sie gesehen.« »Na, wie denkst du darüber?« »Ich denke, daß alles zu Ende ist. Die Herde wird wieder einfahren. Ihr seid alle zu feig!« Auf dem Kirchturm von Montsou schlug es neun Uhr. Souvarine er klärte, er gehe nun heim, um zu Bett zu gehen. Ohne Etienne die Hand zu reichen, sagte er: »Lebe wohl. Ich verlasse Montsou.« »Du willst fort?« »Ich habe mein Arbeitsbuch zurückverlangt.« Etienne sah ihn erstaunt an. »Du willst wirklich fort? Wohin?« »Das weiß ich selbst noch nicht.« »Aber ich werde dich wiedersehen!« »Das glaube ich nicht.« Beide standen einander einen Augenblick schweigend gegenüber. Sie wußten nicht, was sie noch sagen sollten. »Also, lebe wohl!« »Leb wohl.« Während Etienne ins Dorf zurückging, wandte sich Souvarine wie der dem Kanal zu. Als es Mitternacht schlug, verließ er die Böschung und kehrte zum Voreux zurück. Um diese Zeit lag der Voreux verödet da. Souvarine begegnete nur einem verschlafenen Aufseher. Die Kes sel sollten erst in zwei Stunden für den Wiederbeginn der Arbeit ge heizt werden. Erst holte Souvarine aus einem Schrank einen Rock, den er vorgab, vergessen zu haben. In diesem Rock befanden sich allerlei Werkzeuge: Ein Bohrer, eine kleine, aber sehr starke Säge, ein Ham mer und ein Meißel. Dann ging er hinaus. Doch anstatt zum Tor zu 400
gehen, bog er in einen schmalen Gang ein, der zu den Leitern führ te. Den Rock unter dem Arm haltend, stieg er langsam in das Dun kel hinunter. Er zählte die Sprossen der Leitern, um zu wissen, wie tief er war. Nachdem er Sprossen von fünfundvierzig Leitern gezählt hat te, tastete er mit der Hand nach der Verzimmerung. Das war die Stel le, die er suchte. Er ging mit der Gewandtheit und Kaltblütigkeit eines Arbeiters, der seine Arbeit wohl überlegt hat, ans Werk. Er sägte ein Stück der Schachtfüllung aus, um zum Förderschacht zu gelangen. Dort lockerte er die Schrauben, so daß ein kräftiger Stoß genügte, um sie herauszu treiben. Das war ein tollkühnes Unterfangen. Souvarine war nahe dar an, die hundertachtzig Meter hinunterzustürzen, die ihn vom Grund der Grube trennten. Er mußte sich an der Leitung anklammern und stieg, über dem Abgrund schwebend, auf die Querbalken. Nur auf ei nen Ellbogen oder ein Knie gestützt, schob er sich in ruhiger Todes verachtung weiter. Nachdem Souvarine die Schrauben gelockert hatte, griff er die Wand selbst an. Er suchte das Stück, das alle anderen hielt, während das durch Löcher und Spalten in dünnen Strahlen hervordringende Wasser ihn blendete und eisiger Schauer ihn durchnäßte. Tiefe Nacht umgab ihn. Er schlug blindlings auf die Verzimmerung los. Ärgerlich über sich selbst, holte er tief Atem und ging ohne Überstürzung in den Schacht zurück: Das Ungetüm hatte nun seine Wunde. Es würde sich zeigen, ob es am Abend noch am Leben war. Souvarine verbarg seine Werkzeuge sorgfältig im Rock und stieg langsam nach oben. Es schlug drei Uhr. Er blieb auf dem Weg stehen und wartete.
Um die gleiche Zeit erregte ein leises Geräusch die Aufmerksamkeit Etiennes. Er konnte nicht schlafen. Deutlich unterschied er den leich ten Atem des Kindes, das Schnarchen Bonnemorts und der Maheude. Er hörte, daß ein Strohsack knisterte. Wolle jemand aufstehen und be 401
mühte sich, jedes Geräusch zu vermeiden? Fühlte sich Catherine nicht wohl? Er fragte leise: »Bist du es? Was fehlt dir?« Niemand antwortete. Etienne hörte nur das Schnarchen. Fünf Mi nuten rührte sich nichts. Dann begann es wieder zu knistern. Er taste te sich im Dunkel zu Catherines Bett und stellte fest, daß sie am Bett rand saß. »Warum antwortest du nicht? Was machst du denn?« »Ich stehe auf«, flüsterte sie. »So früh?« »Ich will in die Grube zur Arbeit gehen.« Etienne setzte sich neben sie auf den Bettrand. Sie erklärte: »Dieses Leben hier ist mir eine Last. Ich ziehe die Mißhandlungen Chavals vor. Laß mich. Ich will mich anziehen.« Er hörte ihre bittende Stimme: »Du wirst mich doch nicht verraten, nicht wahr?« »Ich gehe mit dir«, sagte Etienne. Er staunte über sich selbst. Er hatte doch geschworen, nicht wieder einzufahren. Woher kam dieser unver mutete Entschluß, ohne daß er auch nur einen Augenblick lang über legt hätte? Sie zogen sich beide mit der größten Vorsicht im Finstern an. Sie wu schen sich nicht, um sich nicht durch ein Geräusch zu verraten. Alle schliefen. Sie hörten die tiefen Atemzüge, schlichen sich sacht hinaus und verschlossen die Haustüre. Sie gingen zur Grube.
Souvarine war in der Nähe von Rasseneurs Haus stehengeblieben. Seit einer halben Stunde beobachtete er die Kohlenarbeiter, die zur Ar beit gingen. Er zählte sie, wie die Fleischer die Tiere zählen, die ins Schlachthaus getrieben werden. Plötzlich zuckte er zusammen. Unter den Vorübergehenden, deren Gesichtszüge er nicht unterschied, hatte er Etienne wahrgenommen. Er trat auf ihn zu und hielt ihn an: »Wohin gehst du?« »Bist du noch da?« 402
Souvarine erkannte an der verlegenen Haltung Etiennes, wohin er wollte. »Ich will zur Arbeit«, sagte Etienne. Er erklärte: »Ich kann die Hände nicht in den Schoß legen und auf Ereignisse warten, die viel leicht in hundert Jahren eintreten werden.« Souvarine griff ihn an der Schulter. »Geh heim! Ich will es!« Etienne protestierte: »Ich gestehe niemandem das Recht zu, ein Ur teil über meine Handlungsweise zu fällen.« Als Catherine näherkam, erkannte Souvarine sie. Er trat mit einer Gebärde, die eine plötzliche Verzweiflung ausdrückte, einen Schritt zurück. Wenn das Herz eines Mannes das Bild einer Frau umschloß, war auf ihn nicht mehr zu rechnen. Der Tod war die einzige Lösung. »Geh!« sagte er. Etienne blieb verlegen stehen und suchte ein freundliches Wort zum Abschied. »Du verläßt uns also wirklich?« fragte er. »Ja.« »Nun, so gib mir die Hand. Glückliche Reise, und nichts für un gut!« Souvarine reichte ihm eine eisige Hand. »Leb wohl«, sagte er und verfolgte mit seinen Blicken Etienne und Catherine, die in den Vor eux eintraten.
Um vier Uhr begann die Einfahrt. Niemand sprach, als der Fahr stuhl eingehakt wurde und in die Tiefe versank. Als der Förderkorb schon zwei Drittel der Fahrt zurückgelegt hatte, hörten die Einfahren den schreckliches Scharren. Das Eisen krachte. »Verdammt noch mal«, fluchte Etienne. »Wollen sie uns hier platt drücken? Ihre Verzimme rung wird uns noch alle den Kragen kosten. Und da sagen sie noch, sie sei ausgebessert worden.« Der Förderkorb hatte inzwischen das Hindernis überwunden, aber von oben kam jetzt ein so heftiger Wasserstrahl, daß die Arbeiter be sorgt wurden. Pierron, den die Einfahrenden befragten, da er schon seit einigen Tagen unten arbeitete, wollte sich seine Angst nicht an 403
merken lassen. »Oh, das ist keine Gefahr«, erwiderte er. »Das war schon immer so. Man hat nur keine Zeit gehabt, die Pflöcke fest ein zutreiben.« Es rauschte über ihren Köpfen. Ein Wasserfall ging auf sie nieder, als sie unten ankamen. Aber kein Aufseher dachte daran, die Sache nä her zu prüfen. Chaval kam zu der Abteilung, der Etienne und Catherine angehör ten. Das war kein Zufall. Er hatte sich erst hinter den Kameraden ver steckt gehalten und sich dann dem Aufseher aufgedrängt. Der Arbeits platz dieser Abteilung war am Ende des Nordstollens, fast drei Kilo meter weit. Ein Erdsturz versperrte den Weg. Etienne, Chaval und fünf andere Männer räumten das Geröll fort, während Catherine und zwei Jungens den Wagen zur Rollbahn schoben. Als sie den ersten Wagen fortgeschoben hatte, kam Catherine er schreckt mit der Meldung zurück, auf der Rollbahn sei niemand mehr. »Ich habe gerufen, aber niemand hat mir geantwortet. Alle sind fort.« Die Aufregung wurde so groß, daß alle zehn Mann ihr Werkzeug fortwarfen und davonliefen. Der Gedanke, daß sie so allein in der Grube zurückgeblieben seien, machte sie toll. Der Aufseher verlor den Kopf, rief in die Stollen hinein, immer mehr erschreckt durch diese Stille in den endlosen Gängen. Was ging denn vor, daß sie niemandem begegneten? Die Unkenntnis der Gefahr, deren drohende Nähe sie fühlten, er höhte das Entsetzen. Als sie sich endlich dem Förderschacht näher ten, versperrte ihnen entgegenströmendes Wasser den Weg. Das Was ser stand ihnen bis an die Knie. Sie konnten nicht mehr laufen. Sie wa teten mühsam durch die Flut vor. »Die Verzimmerung ist geplatzt!« schrie Etienne. »Ich sagte es ja, daß es uns noch das Leben kosten wird.« Seit der Einfahrt hatte Pierron besorgt beobachtet, wie das in den Schacht dringende Wasser zunahm. Er zuckte zusammen, als er be merkte, daß sich der zehn Meter tiefe Schacht unter ihm mit Wasser zu füllen begann. Das war ein Anzeichen dafür, daß das Pumpwerk den Wasserandrang nicht mehr bewältigen konnte. Mouquet erschien mit 404
seinem Pferd. Er mußte es mit beiden Händen halten, denn das alte, schwerfällige Tier zitterte am ganzen Körper. Fast in demselben Au genblick krachte der Einsturz. Ein Stück Verzimmerung hatte sich los gelöst und stürzte hundertachtzig Meter hinunter, von einer Wand zur anderen prallend. Der Aufseher schrie nach dem Ingenieur. Ein entsetzliches Gedrän ge entstand. Aus allen Stollen eilten die Arbeiter herbei und stürzten sich Hals über Kopf zum Aufzug. In diesem Augenblick erreichte die Gruppe mit Etienne und Chaval den Schacht. Sie sahen den Aufzug verschwinden und stürzten vor. Doch die zusammenbrechende Ver zimmerung zwang sie zurückzuweichen. Der Schacht verstopfte sich, der Aufzug würde nicht mehr herunterkommen können. »Wir müssen versuchen, durch Requillart hinauszukommen!« schrie Chaval. Der Gedanke, daß sie durch die alte Grube entkommen könnten, trieb alle zur Eile an. Das Wasser stieg nicht mehr. Sie begannen wie der zu hoffen. Ein alter Arbeiter murmelte längst vergessene Gebete. Bei der ersten Kreuzung gab es eine Meinungsverschiedenheit. Die einen wollten links abbiegen, die anderen beteuerten, man könne den Weg abkürzen, wenn man sich nach rechts wende. »Laßt meinetwegen eure Haut hier, mir kann's gleich sein!« rief Cha val barsch. »Ich gehe hier.« Etienne war der letzte im Zug. Er half Catherine, die vor Erschöp fung und Angst nicht mehr weiterkonnte. Er hatte sich mit Chaval nach rechts gewandt, denn er glaubte, das sei der richtige Weg. »Hänge dich an meinen Hals, ich werde dich tragen«, sagte Etienne zu Cathe rine, als er sah, daß ihre Kräfte schwanden. »Nein, laß mich, ich kann nicht mehr, ich will lieber sofort sterben.« Sie waren etwa fünfzig Meter hinter den anderen zurückgeblieben. Er hob sie trotz ihres Widerspruchs hoch, als sich plötzlich der Stollen vor ihnen schloß. Ein gewaltiger Brocken stürzte herab und trennte sie von den anderen. Sie mußten auf dem Weg zurückkehren, auf dem sie gekommen waren. Sie wußten nicht mehr, in welcher Richtung sie gin gen. Etienne erkannte den Wilhelms-Schacht. Das Wasser umbrande 405
te ihre Brust. Sie konnten sich nur langsam vorwärtsarbeiten. So er reichten sie den Rollweg. Ihre Flucht dauerte jetzt bereits sechs Stunden. Würde man ihnen zu Hilfe kommen? Etienne sprach von sechs Stunden, ohne zu wissen, wie spät es war. In Wirklichkeit war der ganze Tag vergangen, wäh rend sie im Wilhelms-Schacht immer höher stiegen. Ganz durchnäßt und zitternd vor Kälte, richteten sie sich darauf ein, lange Zeit an Ort und Stelle zu warten. Catherine entkleidete sich ohne Scheu, um ihr nasses Gewand auszuwringen. Da sie barfuß war, nötig te Etienne sie, seine Schuhe zu nehmen. Sie hatte die Lampe niedrig ge schraubt, so daß sie nur ein schwaches Licht erhellte. Doch nun melde te sich der Hunger. Nach einer kleinen Weile schlief Catherine vor Er schöpfung auf dem kalten Boden ein. Etienne scheute sich, sie zu wek ken. Wäre es nicht grausam, sie aus dieser Ruhe zu reißen, vielleicht aus einem Traum, in dem sie sich in freier Luft und im goldenen Son nenschein sah? Wohin sollten sie auch fliehen? In welche Richtung? Etienne überlegte und erinnerte sich, daß der Rollweg in diesem Teil des Schachtes mit einem anderen Rollweg in Verbindung stand. Das war ein Ausweg. Er weckte Catherine zart auf. »O mein Gott!« rief sie. »Es geht wieder los!« »Beruhige dich«, flüsterte er. »Der Weg ist frei, ich schwöre es dir!« Sie mußten gebückt bis an die Schultern im Wasser gehen, um zu dem Rollweg zu gelangen. Das Steigen war viel gefährlicher als zuvor. Der Weg war durch herabgestürztes Erdreich versperrt. Sie mußten in einen Stollen einbiegen. Sie blieben überrascht stehen, als sie das Licht einer Lampe vor sich erblickten. Ein Mann schrie ihnen zornig ent gegen. »Da sind noch ein paar Schlauköpfe, die so dumm waren wie wir!« Sie erkannten Chaval, dem der Weg durch einen Erdrutsch versperrt worden war. Seinen beiden Kameraden war dabei der Schädel zer schmettert worden. Obwohl er am Arm verwundet war, hatte er doch den Mut gehabt, auf den Knien zu ihnen zu kriechen, um ihre beiden Lampen zu holen und sich ihrer Brotschnitten zu bemächtigen. Als er Etienne und Catherine sah, begann er zu lachen. »Ah, du bist 406
es, Catherine! Du kommst also zu deinem Mann. Gut! Gut! Wir kön nen hier zusammen tanzen.« Er stellte sich so, als sehe er Etienne nicht, und lachte immer noch, obwohl das Wasser stieg. Der Rückzug war abgeschnitten. Chaval richtete sich häuslich ein. Zunächst stellte er die Lampen längs der Wand auf. Dann legte er die beiden Brotschnitten auf einen Balken. Er konnte zwei Tage damit aus kommen, wenn er vernünftig war. Er wandte sich zu Catherine. »Die Hälfte ist für dich, wenn du Hunger hast.« Sie schmiegte sich an Etienne, beunruhigt durch die Blicke, die ihr ehemaliger Geliebter ihr zuwarf. Die Stunden vergingen. Ein seltsames Geräusch veranlaßte Etienne und Catherine aufzublicken. Chaval hatte zu essen begonnen. Er kau te langsam und schmatzte. Mit vollen Backen fragte er Catherine: »Du willst also nicht essen?« Sie senkte die Augen aus Angst, der Versuchung zu erliegen. So verging der ganze Tag. Als Chaval in seine zweite Brotschnitte biß, brummte er: »So komm doch, du dummes Ding.« Um ihr volle Freiheit zu lassen, hatte Etienne sich zurückgezogen. Er flüsterte ihr zu: »Geh doch! Iß, mein Kind.« Sie konnte nur mehr weinen. Chaval setzte sich neben sie und teilte mit ihr seine letzte halbe Brotschnitte. Chatherine kaute mühsam und bezahlte jeden Bissen mit einer Umarmung, die Chaval erzwang. Er wollte nicht sterben, ohne angesichts Etiennes wieder von ihr Besitz er griffen zu haben. Sie war völlig erschöpft und ließ ihn gewähren. Doch als er sie nehmen wollte, stieß sie einen Klageruf aus. »Laß sie in Ruhe!« schrie Etienne. »Was geht das dich an«, sagte Chaval und preßte seinen roten Bart auf den Mund Catherines. »Wenn du sie nicht in Ruhe läßt, erwürge ich dich.« Etienne war völ lig von Sinnen. Er hatte eine Schieferplatte in der Felswand erfaßt, lok kerte sie und zerrte sie hervor: Ein breites, schweres Stück. Er schwang die Platte mit beiden Händen und ließ sie mit aller Kraft auf Chavals Schädel niedersausen. Mit zerschmetterter Hirnschale sank Chaval zu Boden. Das Blut 407
spritzte zur Decke des Stollens. Das trübe Licht der Lampe spiegelte sich auf dem Boden in der Blutlache. Etienne sah starren Blickes auf die Leiche. Der kleine Soldat mit dem Messer tauchte vor ihm auf. Jetzt hatte auch er getötet. Catherine schluchzte laut. »Du bedauerst es?« fragte Etienne wild. »Ach, töte mich auch«, stammelte sie und sank in seine Arme. »Laß uns beide sterben.« Er preßte sie fest an sich. Sie hofften, daß sie nun sterben würden. Doch der Tod hatte keine Eile, ihre Arme lösten sich wieder. Etienne schleppte die Leiche Chavals fort und warf sie in die Rollbahn, wäh rend Catherine die Augen bedeckte. Sie hatten die letzte Lampe angezündet und sahen bei ihrem Schein das Wasser unaufhaltsam steigen. Sie flüchteten in den Hintergrund des Stollens. Das gab ihnen einige Stunden Frist. Das Wasser holte sie ein und ging ihnen schon bis an die Hüften. Die Lampe brannte immer matter. Plötzlich erlosch sie. Da erwach te in beiden der Lebensdrang. Etienne begann, mit dem Haken der Lampe den Schiefer zu bearbeiten, während Catherine mit ihren Nä geln nachhalf. So schafften sie sich eine Art erhöhter Bank. Sie saßen nebeneinander mit gekrümmten Rücken. Tiefe Stille herrschte. In der ertränkten Grube rührte sich nichts mehr. Noch ein letztes Mal hat ten sie an den Felsen klopfen wollen, doch der Stein lag jetzt im Was ser. Wer sollte sie übrigens hören? In ihr Schicksal ergeben, lehnte sich Catherine erschöpft an die Fels wand. »Höre«, flüsterte sie. Etienne lauschte ebenfalls. Einige Sekunden qualvollen Wartens vergingen. Dann vernahmen sie beide aus der Ferne schwache Schläge in langen Zwischenräumen. Noch zweifelten sie, daß eine Rettung möglich sei. Sie wußten auch nicht, womit sie den Zeichen antworten sollten. Da kam Etienne der Gedanke: »Du hast doch die Holzschuhe, versuch es damit.« Sie pochten und pochten wieder. Sie lauschten. Wieder unterschie den sie in der Ferne ganz deutlich drei Schläge. Sie weinten und um armten sich auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Bald 408
vernahmen sie die Schläge der Spitzhacke wieder. So verging ein Tag. Zwei Tage. Das Wasser, das ihnen bis an die Hüften gereicht hatte, war weder gestiegen noch gefallen. Im eisigen Bad erstarrten ihre Beine. Nur mühsam vermochten sie ihre Füße hochzuziehen. Anfangs litt Catherine unter Hungerqualen. Ihr Ledergürtel verschaffte ihnen Er leichterung. Es beschäftigte ihre Kinnbacken, wenn sie kauten, und er hielt sie im Wahn, daß sie äßen. Als Catherine sich einmal bückte, um zu trinken, berührte sie einen schwimmenden Körper. »O mein Gott. Er ist es!« »Wer denn?« »Du weißt doch, wer. Ich habe seinen Bart gefühlt.« Es war der Leichnam Chavals, der angeschwemmt worden war. Eti enne berührte den Bart und die Nase. Ein Schauer überlief ihn. »War te«, stammelte er, »ich will ihn zurückschicken.« Er gab der Leiche einen Fußtritt. Bald fühlten sie sie aufs neue an ih ren Beinen. Immer wieder brachte die Strömung die Leiche zurück. Chaval war also noch bis zum letzten Augenblick da, um ihr Beisam mensein zu stören. Die Schläge der Spitzhacken näherten sich. Das Wasser fiel. Cha vals Leiche schwamm fort. Sie konnten einige Schritte durch den Stol len gehen, als eine furchtbare Erschütterung Catherine zu Boden warf. Etienne tastete sich zu ihr. Sie blieben fest umschlungen, ohne zu be greifen, was geschehen war. Catherine lachte leise vor sich hin. »Es muß schön sein draußen … Komm, laß uns hinausgehen.« Alle abergläubischen Vorstellungen ihrer Kindheit regten sich in Ca therine. Sie glaubte, den schwarzen Mann zu sehen: das Grubenge spenst. Plötzlich fiel sie Etienne um den Hals und suchte seinen Mund. Sie preßte ihre Lippen leidenschaftlich auf die seinen. Er zitterte, als er sie so nahe bei sich fühlte, halb nackt unter ihren zerfetzten Klei dern. Er drückte sie fest an sich. So waren Catherine und Etienne end lich vereint. In dieser tiefen Gruft liebten sie sich. Während sie an al lem verzweifelten, liebten sie sich im Tode. Und dann war alles vorbei. Etienne hockte auf dem Boden, immer 409
noch in derselben Ecke, und Catherine lag reglos auf seinen Knien. Stunde um Stunde verging. Lange Zeit glaubte er, daß sie schlafe. Als er sie dann berührte, war sie eiskalt. Sie war tot. Er aber bewegte sich nicht, aus Furcht, sie zu wecken. Er hörte irgend etwas, das über seinem Kopf pochte. Mächtige Schlä ge kamen immer näher. Er träumte, daß Catherine vor ihm hergehe und daß er das leise Klappern ihrer Schuhe hörte. Die Zeit verging, ohne daß er sich bewegte. Dann fühlte er einen Stoß. Stimmen wur den laut. Gestein rollte vor seine Füße. Als er das Licht einer Lampe er blickte, begann er zu weinen. Die Kameraden trugen Etienne hinaus, einen abgezehrten Mann mit schneeweißem Haar. Man flößte ihm Fleischbrühe zwischen die fest aufeinander gepreßten Zähne. Als Etienne zu sich kam und sich wieder aufrichten konnte, traten alle zur Seite beim Anblick dieses Greises. Sogar die Maheude, die ne ben der toten Catherine niedergesunken war, unterbrach ihr Jammern und sah Etienne mit großen, starren Augen voll Entsetzen an.
410
Von der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart
Kaiserliche und königliche
Konflikte:
Der Erste Weltkrieg
I Die Romane Emile Zolas, die so eindringlich die Nöte armer und oft hilfloser Arbeiter schilderten, trugen dazu bei, das aufstrebende Bür gertum zu ›sozialem Bewußtsein‹ anzuregen. Es gehörte um die Wen de zum zwanzigsten Jahrhundert beinahe zum guten Ton, für oder ge gen die Arbeiterschaft Stellung zu nehmen, die mit Recht in allen zi vilisierten Ländern der Erde eine Verbesserung ihrer Lebensbedin gungen erstrebte. Sie forderte nicht nur eine gerechtere Verteilung des Ertrages von Arbeit und Kapital, d.h. kürzere Arbeitszeit und höhe re Löhne, sondern verständlicherweise auch Arbeitsschutzgesetze, die Freiheit der Meinungsäußerung und des Zusammenschlusses. Leider begnügten sich die hartnäckigsten Vorkämpfer für eine gesellschaft liche Umwälzung nicht mit dem Ausbau und der Neugründung von Gewerkschaften und der gesetzmäßigen Wahl von Interessenvertre tern in politische Verbände und Parlamente, sondern versuchten tö richterweise auch durch die Schockwirkung eines unerwarteten, auf sehenerregenden Geschehens, die gleichgültige Mitwelt aufzurütteln und zur Anteilnahme am Schicksal der Minderbemittelten und Minderberechtigten zu zwingen. Die besonders in Rußland von einigen dieser gefährlichen Propagandisten verübten Attentate auf Herrscher und Staatsmänner wollten oft nur Unruhe und Unsicherheit verbrei 412
ten und Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Umsturz er wecken. So wurde im Jahre 1881 der russische Zar, Alexander II. bei einem Mordanschlag getötet. Daneben gaben in diesen Jahrzehnten auch ›Anarchisten‹ ihrer Unzufriedenheit mit jeder Gesellschaftsord nung Ausdruck. Dem Messer eines Italieners fiel 1898 Kaiserin Elisa beth von Österreich zum Opfer, obwohl sie sich in den letzten Lebens jahren aller Politik ferngehalten und, wie die meisten großen Damen ihrer Zeit, in kunstverständige Schöngeisterei geflüchtet hatte. Die vornehme Ausschmückung von Heim und Garten, die späte re Jahrzehnte oft ihrer Schwülstigkeit wegen als Kitsch bezeichne ten, das geistreiche Geplauder in den Salons der Fürsten und Hoch adligen, deren Glanz von den reichen Bürgern ehrgeizig nachgeahmt wurde, traten in immer schrofferen Gegensatz zu der schier ausweg los scheinenden Not der breiten Masse. Der Begriff des ›sozialen Ge wissens‹, das immer weitere Kreise empfindlich berührte, mochte auf wirkliche Schuldgefühle und auf die Furcht der verhältnismäßig we nigen vor den vielen zurückzuführen gewesen sein. In England beug ten fortschrittliche Maßnahmen vorausschauender Staatsmänner be drohlich Ausbrüchen vor; unter anderem wurde durch mehrere Parla mentsreformen allen Arbeitern das Wahlrecht zugesprochen und 1901 die Gründung der Labour-Party, der großen Arbeiterpartei, gebilligt. Der tief verwurzelte Liberalismus der englischen Behörden und eine gesicherte Rechtssprechung verhinderten willkürliche Übergriffe. In Rußland dagegen wurde jede soziale Bewegung, besonders unter dem politisch völlig unfähigen Alexander III. als ›revolutionär‹ verurteilt und gewaltsam erstickt. Die für verantwortlich Befundenen wurden zu grausamen Strafen verurteilt. Die furchtbaren Zuchthäuser und die schauerlichen Strafverschik kungen nach Sibirien, zu denen nicht nur geständige und verdächti ge Revolutionäre, sondern auch aufgeschlossene Verteidiger der Men schenrechte verdammt wurden, waren, nicht zuletzt seit Dostojewskijs ›Aufzeichnungen aus einem Totenhaus‹, das Schreckgespenst der rus sischen Arbeiterbewegung. Dennoch setzten die russischen Vorkämp fer des Sozialismus ihre Tätigkeit mit ungebrochenem Mut fort, denn 413
sie hielten es für unmenschlich, daß ein Großteil der Landbevölke rung, auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, sehr arm und elend blieb. Sie waren nicht nur ›Proleten‹, wie sie gering schätzig von den herrschenden Offiziers- und Adelskreisen bezeich net wurden, sondern auch dem Kleinadel und dem Bürgertum ent stammende Studenten, wie der angehende Jurist Wladimir Iljitsch Ul janow, der sich den Namen Lenin (nach dem ostsibirischen Fluß Lena) zulegte. Während Lenin als politischer Häftling in Sibirien die Philosophie des aktiven Kommunismus, den ›dialektischen Materialismus‹, mit dem Ziel der ›Diktatur des Proletariats‹ begründete, wurde der erste Partei tag der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Minsk ab gehalten. Aber auch diesmal wurden die bedeutendsten Mitglieder des veranstaltenden Komitees verhaftet und nach Sibirien verschleppt. Ei nige von ihnen konnten ihre unterirdische Tätigkeit in Rußland durch verläßliche Mittelsmänner fortsetzen. Der Druck der Polizei ließ nicht nach. Dennoch verstärkte sich die revolutionäre Strömung mit un heimlicher Schnelligkeit. Einige Jahre nach ihrem ersten Parteitag spaltete sich die russische Sozialdemokratie auf einem zweiten Partei tag, der in Brüssel begann und dann nach London verlegt wurde, in die ›Bolschewiken‹ unter der Führung Lenins, der ›aktive Revolutio näre‹ verlangte, und in eine gemäßigte Minderheit, die ›Menschewi ken‹, die zu taktischen wirtschaftlichen und politischen Zugeständnis sen bereit waren. Die Partei Lenins gewann die Oberhand. Im mitteleuropäischen Raum, in dem die Sozialdemokratie mit gemäßigten Forderungen unter sicherer Leitung Fuß fassen konn te, versuchten die jeweiligen Machthaber durch Polizeimaßnahmen einschüchternd zu wirken. Aber das waren, besonders in der öster reichisch-ungarischen Monarchie, um so erfolglosere Versuche, da es nicht einmal genug Spitzel gab, um die sich auch dauernd verschär fende Nationalitätenpropaganda zu überwachen. Der von Rußland ge förderte Panslawismus unterhöhlte das Kaiser- und Königreich, das von dem vorzeitig uralt gewordenen Franz Josef I. eigentlich nur noch sinnbildlich beherrscht wurde. 414
II Es war Kaiser Franz Josef nichts erspart geblieben. Er hatte seine Frau verloren und vorher seinen einzigen Sohn Rudolf, der angeblich mit seiner Geliebten Selbstmord in Mayerling begangen hatte. Die Hin tergründe dieses traurigen Vorfalls blieben ungeklärt. Jene, die Rudolf gekannt hatten, widersprachen der Verlautbarung, daß der Kronprinz sinnesverwirrt gewesen sei. Sie rühmten seinen klaren Verstand, sei ne Lebenslust und seine durch und durch liberale, völkerversöhnende Gesinnung, die er unter anderem in geheimgehaltenen Unterredungen mit dem damals noch ziemlich unbekannten französischen Politiker Georges Clemenceau zum Ausdruck gebracht hatte. Rudolf hatte sich vom ›Berliner Gängelband‹ loslösen wollen. Die ›preußische Bevormundung‹ erschien ihm unerträglich, seit der Enkel Wilhelms I. Kaiser des Deutschen Reiches geworden war. Der Kron prinz hatte seine Abneigung anläßlich eines Besuchs Wilhelms II. in Wien deutlich gezeigt und auch gegen die Vorwürfe seines Vaters mit der Begründung vertreten, daß die Aufrechterhaltung des Bündnis ses Österreich-Ungarns mit dem militanten Deutschen Reich eine un abwendbare Katastrophe mit sich bringen müsse. Nur ein Bündnis Österreich-Ungarns mit Frankreich könne zu der für den Bestand der Monarchie unerläßlichen, friedlichen Einigung mit Rußland führen. Diesen Standpunkt verfocht Kronprinz Rudolf auch in Zeitungsarti keln, deren politische Richtung er beeinflußte oder die er unter Deck namen in bürgerlichen Zeitungen veröffentlichte. Das vielverbreitete Gerücht, daß der Kronprinz den Kaiser zur Ab dankung habe zwingen wollen und gemaßregelt worden sei, fand kei ne Beweise. Aber es bestand in eingeweihten Kreisen kaum ein Zwei fel, daß die als ›umstürzlerisch‹ bezeichneten Meinungsäußerungen des Thronerben dem Kaiser lästig gewesen waren. 415
Der Tod Rudolfs kam Kaiser Wilhelm II. um so gelegener, als er den Ehrgeiz des neuen österreichisch-ungarischen Thronfolgers, Erzher zog Franz Ferdinand, des Neffen Franz Josefs, durch bewährte Mit telsmänner anspornen und schließlich in jede Richtung lenken konn te, die ihm genehm war. So blieb die österreichisch-ungarische Außen politik an die des Deutschen Reiches gebunden, und Franz Josef mach te mit greisenhaft zitternden Fingern jedes Säbelrasseln Wilhelms II. mit, obwohl es ihn selbst erschreckte und er viel lieber friedlich zu Ende gelebt hätte. Welche Ziele verfolgte der deutsche Kaiser, der sich kurz nach seiner Thronbesteigung der mit dem Zepter ererbten Vormundschaft des Für sten Bismarck auf zwar unschöne Weise, aber auch teilweise berech tigten Gründen entzogen und den Reichskanzler in den unerwünsch ten Ruhestand versetzt hatte? Seine Beurteilung ist schwierig und be lastet von der Katastrophe, in die seine Politik schließlich führte. Zwar war er weitaus begabter als seine Vorgänger, Wilhelm I. und Fried rich III. phantasievoll und geistreich, aber doch auch von verhängnis voller Unausgeglichenheit. Bei internen Beratungen durchaus maßvoll und vernünftig, verstieg er sich bei seinen berüchtigten Stegreifreden in der Öffentlichkeit zu haltlosen und großzügigen Tiraden. Falsche Erziehung, vor allem durch die Mutter, hatten aus einem Manne, der ein fähiger Staatsmann hätte werden können, einen geltungssüchti gen, großsprecherischen Menschen werden lassen, der leider nur einer einzigen Äußerung Bismarcks mit fester Überzeugung anhing: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!« Diese Furchtlosigkeit zu beweisen, war Wilhelm II. unaufhörlich be müht, und ihm lag daran, Deutschland zur mächtigsten Nation der Erde zu machen. England hatte die stärkste Flotte der Welt – Wilhelm II. wollte eine mindestens ebenso starke Kriegsmarine. England hat te das größte Kolonialreich – Wilhelm II. setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um Stützpunkte für den von ihm beabsichtigten, gewalti gen Ausbau der deutschen Kolonialmacht zu erwerben. Als das Königreich Spanien die Philippinen und Portoriko nach ver lorenen Seeschlachten an die Vereinigten Staaten von Nordamerika ab 416
treten und zustimmen mußte, daß die Insel Kuba eine Republik werde, erwarb Kaiser Wilhelm II. die Karolinen-, die Marianen- und die Pa lauinseln von Spanien. Der mit Wilhelm vielfältig verwandte Zar Ni kolaus II. von Rußland betrieb den schon von seinem Vorgänger be gonnenen Bau der Transsibirischen Eisenbahn; Rußland wollte – dem Beispiel der Vereinigten Staaten folgend – das ungeheure asiatische Hinterland bis zur Meeresküste erobern und erschließen. In England argwöhnte man daraufhin, daß auch der deutsche Kaiser Eroberungs absichten im Fernen Osten habe. Das Kaiserreich China, durch das die Bahn führen mußte, war von dem durch preußische Instruktoren ausgebildeten, mit modernen Waffen versorgten japanischen Heer besiegt worden und hatte die In sel Formosa an Japan abtreten und die Unabhängigkeit Koreas aner kennen müssen. Erst hatte die Kaiserinwitwe von China ein gehei mes Verteidigungsbündnis gegen einen neuerlichen japanischen An griff mit Rußland abgeschlossen und dagegen den Bau der sibirischen Eisenbahn durch die Mandschurei genehmigt, dann aber, als Rußland Port Arthur widerrechtlich besetzte, um sich einen Kriegshafen im Fernen Osten zu sichern, eine Einigung mit Japan erzielt, um vor weiteren Übergriffen Rußlands geschützt zu sein. Später schloß Japan auch ein Bündnis mit England zur Rückendeckung. Die Haltung Wil helms II. dessen Offiziere noch immer in der japanischen Armee tä tig waren, hatte Japan mißtrauisch gemacht, denn der deutsche Kai ser hatte als Vergeltung für die Ermordung zweier deutscher Missio nare in China Kiautschou besetzt und dann in einem Abkommen auf 99 Jahre gepachtet. Wilhelm II. freilich war nach wie vor davon über zeugt, daß ihm bei der vorgesehenen Erweiterung des deutschen Kolo nialbesitzes im Fernen Osten Japan behilflich sein werde. Der Deutsche Reichstag hatte die von Wilhelm angeregten ›Flotten gesetze‹ genehmigt; man war dabei von der Überlegung ausgegangen, daß eine starke deutsche Flotte jede Macht der Erde, besonders Eng land, daran hindern würde, Deutschland zur See anzugreifen, da das ›Risiko‹ für sie zu groß sei. Inzwischen kam China nicht zur Ruhe. Das vergebliche Aufbegeh 417
ren des Staates im Opiumkrieg und die chaotischen Verwüstungen, die der Taiping-Aufstand mit sich brachte, hatten den Widerstand der kaiserlich chinesischen Regierung gegen die ›Europäisierung‹ gebro chen. Es hatte der Errichtung von Gesandtschaften und Handelsver tretungen in Peking zustimmen müssen, aber die Politik der ›offenen Türe‹ ins Reich der Mitte führten zu einem willkürlichen Freibeuter tum der europäischen Mächte und ihrer Bevollmächtigten auf chine sischem Boden. Dagegen erhob sich der fremdenfeindliche Geheim bund der ›Boxer‹. Der deutsche Gesandte in Peking wurde ermordet. Wilhelm II. verlangte Sühne. Alle Großmächte beteiligten sich an der Niederwerfung des ›Boxeraufstands‹, und die Kaiserinwitwe von Chi na mußte die im ›Boxerprotokoll‹ festgelegten ›Sühnebedingungen‹ an nehmen, die neben der Zahlung von 450 Millionen chinesischen Dol lar eine demütigende Entschuldigung beim deutschen Kaiser beinhal teten. Alle europäischen Großmächte sicherten sich Verträge mit Chi na, die ihnen Gebiete, Eisenbahnen und Bergwerkskonzessionen zu gestanden. War der Kaiser von China der ›kranke Mann Asiens‹, wie der Sultan der Türkei der ›kranke Mann Europas‹ gewesen war? Und wer würde den größten Nutzen aus dem scheinbar unmittelbar bevor stehenden Zerfall des Reiches der Mitte ziehen? Natürlich Deutsch land, äußerte vertraulich Wilhelm II. Und um seine ehrgeizigen Ab sichten zu bemänteln, sprach er bei jeder Gelegenheit von der ›gelben Gefahr‹.
III Nach dem Tode der Königin Victoria wurde der ›ewige‹ Prinz von Wa les endlich als Eduard VII. König von England. Lange hatte er auf die Thronfolge gewartet und sich diese Zeit so heiter wie möglich vertrie ben. Seine Pariser Aufenthalte, seine Beziehungen zu französischen Damen waren kein Geheimnis. Aber er hatte auch Menschenkennt nis und Weltblick erworben und erkannte nun, daß von Deutschland 418
eine Gefahr ausging, der am ehesten mit einem englisch-französischen Bündnis begegnet werden konnte. So schuf er die ›Entente cordiale‹, die auch die französisch-englischen Unstimmigkeiten im Mittelmeer raum beseitigen sollte. In England hatte die Arbeiterschaft durch die Gründung der LabourParty politische Bedeutung gewonnen. Die Liberalen hatten die Regie rung von den Konservativen übernommen, und der neue Außenmini ster Sir Eduard Grey ließ sich aufgrund der ihm vorliegenden Geheimberichte nicht davon abbringen, daß Wilhelm II. die Oberherrschaft über Europa und die Welt anstrebte. Diese Überzeugung bestimmte seine Haltung in allen internationalen Fragen und führte auch zu ei ner Annäherung Englands an Rußland. Um den Bau der Transsibirischen Eisenbahn endgültig zu sichern, hatte Rußland die Mandschurei militärisch besetzt. Die japanische Re gierung, die alles Interesse an der Aufrechterhaltung des ›Status quo‹ in China und auch an der Unabhängigkeit Koreas hatte, erhob Ein spruch gegen die Besetzung. Als die Unterhandlungen scheiterten, lief die japanische Flotte ohne vorhergehende Kriegserklärung aus und überfiel mit einem überraschenden Torpedoangriff die im Hafen von Port Arthur verankerten russischen Kriegsschiffe. Starke japanische Truppenverbände landeten in Korea. Port Arthur fiel. Die gewalti ge Schlacht zwischen Russen und Japanern bei Mukden, auf chinesi schem Boden, endete mit einem japanischen Sieg. Die russische Ost seeflotte, die mit deutscher Kohle nach dem Fernen Osten ausgefahren war, wurde bei Tsushima von den Japanern vernichtet. Durch die Ver mittlung Theodore Roosevelts, des Präsidenten der Vereinigten Staa ten, kam es zum Frieden, in dem Rußland Port Arthur an Japan ab trat und sich verpflichtete, die Mandschurei zu räumen. Die russische Expansion im Osten war durch diese demütigende Niederlage geschei tert; neue außenpolitische Erfolge ließen sich vorerst nur noch im We sten erhoffen, vor allem von den ›vielversprechenden‹ Unruhen auf der Balkanhalbinsel. Doch im Innern kam das zaristische Riesenreich nicht mehr zur Ruhe. Eine Streikbewegung in Petersburg schlug Anfang 1905. in eine 419
wilde Revolution um, die fast ganz Rußland erfaßte. Die Intelligenz stand durchweg auf der Seite der Arbeiterschaft; auf dem Lande wur den fast 200 Gutshäuser, vor allem bei Großgrundbesitzern deutscher Abstammung, niedergebrannt. Ein kaiserliches ›Manifest‹ kündigte im Oktober des Jahres die Einführung der bürgerlichen Freiheit und des allgemeinen Wahlrechts in Rußland an. Die unfreundliche Einstellung der Londoner Presse gegen Wilhelm II. hielt an. Wann immer ein versöhnlicher Aufsatz über den deut schen Kaiser erschien, der doch ein Vetter des Königs von England war, wurde die ›Krüger-Depesche‹ aus der Versenkung hervorgeholt, jener telegrafische Glückwunsch Wilhelms an den Präsidenten der Burenrepublik, der den Einfall englischer Streifscharen nach Trans vaal erfolgreich abgewehrt hatte. Es hieß, Wilhelm habe damals ›pro vozieren‹ und sich eines tüchtigen Partners für einen Kolonialkrieg ge gen England versichern wollen. Wenn er sich jetzt auch manchmal be scheidener zeigte, galt er doch nur als ›Wolf im Schafspelz‹. Das Miß trauen gegen Wilhelm II. war so tiefgreifend, daß auch seine Haltung in der sogenannten ›Ersten Marokkokrise‹ von England als feindlich bezeichnet wurde. Da der Sultan von Marokko immer weniger Herr im Lande war, wollte Frankreich ein Protektorat errichten; England hatte durch die ›Entente cordiale‹ den französischen Plan gebilligt. Das Deutsche Reich aber mischte sich ein, und der deutsche Kaiser traf zu einem demonstrativen Besuch beim Sultan von Tanger ein. Reichs kanzler Bernhard von Bülow, der die großartige Kundgebung in Sze ne gesetzt hatte, wurde in den Fürstenstand erhoben, als der französi sche Außenminister zurücktrat, um sein Mißfallen über die Hinnah me des deutschen Affronts durch das französische Kabinett zum Aus druck zu bringen. Wilhelm II. der schon Marokko oder doch einen Teil Nordafrikas sein eigen geglaubt hatte, sah sich plötzlich auf der internationalen Konferenz von Algeciras einer französisch-englisch-russischen Front gegenüber, der sich auch Italien anschloß. Frankreich setzte seinen Standpunkt durch; der Kaiser war gezwungen, seine Ansprüche auf Marokko aufzugeben, um einen aussichtslosen Krieg zu vermeiden. 420
Diesen Prestigeverlust konnte Wilhelm II. nicht verwinden, um so weniger, als der Sozialdemokrat Bebel einen scharfen Angriff gegen die Politik Bülows im Reichstag vorbrachte; der Reichskanzler erlitt dar auf einen Ohnmachtsanfall. Gegen solche Unverschämtheiten der ›Zi vilisten‹ gab es noch Gegenmittel, meinte Wilhelm: die Vertiefung des militärischen Denkens und die Vermehrung der militärischen Macht!
IV Neuartige Verständigungsmittel, vor allem Edisons und Marconis Er findungen, zu telefonieren und ›drahtlos‹ zu telegrafieren, verbesser ten die Verständigung zwischen den Herrschern untereinander und ihren Völkern nicht. Auch die immer schnelleren Verkehrsmittel tru gen kaum zu politischer Annäherung bei. Die wichtigsten Städte der Erde waren durch Eisenbahnen miteinander verbunden oder rasch mit Dampfschiffen zu erreichen. Es gab schon Automobile und Flug zeuge – aber die Kaiser und Könige, die Präsidenten und ihre Minister ließen sich von althergebrachten und überlieferten Machtbegriffen lei ten, als ob die technischen Fortschritte und die damit verbundenen sozialen Umwälzungen nicht den Beginn einer neuen Zeit eingeleitet hätten. Die Ausweitung der näheren und ferneren Einflußgebiete, die Ausdehnung und Verlegung von Grenzen blieb nach wie vor das End ziel der ›Kabinette‹ – während doch die Veränderungen der Lebensfor men des einzelnen eine grundlegende Änderung der Weltanschauun gen und Zielsetzungen nötig gemacht hätten. Nur auf dem Boden der Vereinigten Staaten entstand eine neuartige Lebensweise, die sich der technischen und sozialen Entwicklung anzu passen begann. Die allmähliche Entstehung dieses ›American way of life‹ war durch die ursprüngliche Verfassung bedingt, die die Freiheit und Gleichheit der Menschen gewährleistete und ihr Recht zum Wi derstand gegen Bedrückung betonte. Die amerikanische Demokratie sicherte durch den Kongreß ihrer Volksvertreter die Souveränität des 421
Volkes, die in der Mehrheitswahl des Präsidenten zum Ausdruck kam. Seine ausübende Gewalt wurde ebenso wie die gesetzgebende Gewalt durch das Oberste Bundesgericht kontrolliert und in ihrer Willkür be schränkt. Das stand nicht nur in der Verfassung, sondern wurde auch in die Tat umgesetzt, beispielsweise durch die ›Antitrustgesetze‹, als die ›Trusts‹, die Zusammenballungen von Großbetrieben, die Freiheiten der Bevölkerung bedrohten. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten hatte einen so gewaltigen Aufschwung genommen, daß die unterneh mungslustigen Fabrikanten und ihre Geldgeber einen überwältigen den Einfluß auf die Politik und die Gestaltung der Lebensführung ge wonnen hatten. Durch den nicht abreißenden Strom der Einwanderer hatte die Be völkerungsdichte in den Vereinigten Staaten rasch zugenommen. Im gleichen Verhältnis waren die Innenmärkte für Verbrauchsgüter ange wachsen. Der Mangel an Hausgehilfen zum Beispiel hatte einen erhöh ten Bedarf von Haushaltsmaschinen zur Folge und brachte eine Ver einfachung der Lebensweise mit sich. Um die Mühe der von ihrer Be rufsarbeit ermüdeten Arbeiter zu sparen, wurden die Wohnräume auf das unbedingt nötige Ausmaß beschränkt und so Bequemlichkeit ge schaffen. Die in Wellen aus aller Welt eingewanderten Neuankömmlinge wur den mit überraschender Schnelligkeit aufgesogen. Obwohl Gruppen bildungen nach Volk und Sprache theoretisch möglich waren und den Einwanderern Zeitungen in allen Sprachen zur Verfügung standen, verschmolz die amerikanische Bevölkerung zur Einheit und bedien te sich, zumindest im Berufsleben, fast ausschließlich der englischen Sprache, die allerdings eine eigene Tönung und Färbung gewann. Die Vereinigten Staaten waren kein Paradies. Der Lebenskampf war hart. Er erforderte Anspannung in jeder Hinsicht. Aber die Möglich keiten, die sich dem einzelnen eröffneten, waren größer als die Schwie rigkeiten, die er überwinden mußte, und der Wettkampf der Bewäh rung schärfte die Aufmerksamkeit, stählte die Zähigkeit und beflügel te den Ehrgeiz. Es ging hart auf hart zu. Aber jeder konnte und sollte ›an allem teilhaben‹. 422
Diesen Grundsatz machte sich auch der erste Großerzeuger des neu erfundenen Automobils, Henry Ford, zu eigen. Jede amerikanische Familie, die einen Gas- oder Elektroherd, ein Telefon und ein Gram mophon besaß, sollte auch ein Automobil besitzen. ›Happy motoring‹ wurde das Werbeschlagwort der Erdölindustrie, die Benzin erzeug te. Und ›Happy motoring‹, ein glückliches Durch-die-Länder-Fahren, wurde der beliebteste Zeitvertreib der Neuen Welt, die der Alten Welt vorauszueilen begonnen hatte. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die von den europäischen Mächten so oft benützt, aber doch nur über die Schulter angesehen worden waren, nahmen schon nach dem russisch-japanischen Krieg, in dem Theodore Roosevelt als Friedensstifter und -richter vermittelt hatte, eine – wenn auch noch mit Neid und Mißtrauen betrachtete – Schlüsselstellung ein. Sie waren nicht nur reich, sondern auch mäch tig geworden.
Die europäische Lage vor Ausbruch des ersten Weltkrieges war so verworren, daß nur neutrale Außenstehende sie überblicken konn ten. England hatte, erschreckt durch die vielleicht übertrieben einge schätzte Angriffslust Wilhelms II. die ›splendid isolation‹ aufgegeben. Er wollte nicht geduldig die Daumen drehen, während die deutsche Kriegsflotte Jahr um Jahr wuchs und die deutsche Industrie im atem losen Wettlauf mit der Konkurrenz immer mehr produzierte – Waffen und Gebrauchsgegenstände. An allen Ecken und Enden des Erdkrei ses boten deutsche Verkäufer ihre Waren an und unterboten die Ange bote anderer Verkäufer, wenn nicht im Preis, so doch durch die Zah lungsbedingungen. Wo immer eine politische Krise eintrat, zeigte sich gleich auch die deutsche Pickelhaube Wilhelms II. Als Österreich-Un garn die Herzegowina und Bosnien annektierte, um den von Rußland geförderten, großserbischen Plänen durch die Errichtung eines groß kroatischen Staates als dritten im Zweibund der Monarchie entgegen zuwirken, geschah dies wohl mit scheinbarer Zustimmung Rußlands, 423
dem Österreich dafür die Öffnung der Dardanellen versprochen hat te – ein Versprechen, das es nicht einhalten konnte –, aber in Wirklich keit nur durch das drohende Dazwischentreten des Deutschen Reiches zugunsten Österreich-Ungarns. Wilhelm II. bot sich eine ausgezeichnete Möglichkeit, die persön liche Freundschaft des österreichischen Thronfolgers zu gewinnen. Erzherzog Franz Ferdinand hatte, von seinem kaiserlichen Onkel ge zwungen, auf die Thronfolge etwaiger Kinder aus seiner ›unebenbür tigen Ehe‹ mit einer schlichten Gräfin verzichten müssen. Dieser Ver zicht konnte vielleicht für null und nichtig erklärt werden, wenn Franz Ferdinand einmal Kaiser geworden war und sein Bundesgenosse auf dem deutschen Thron ›kaiserlich‹ zustimmte! Franz Ferdinand war ein begeisterter Verfechter des Gedankens vom Dreistaatenbund, des ›Trialismus‹, der die Bedeutung Ungarns und den russischen Einfluß innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie schwächen muß te. Rußland hatte die Annexion Bosniens und der Herzegowina nicht bekämpft, aber hatte es ihr wirklich zugestimmt? In Böhmen hörte der Sprach- und Machtkampf zwischen Tschechen und Deutschen nicht auf – eine Folgeerscheinung der panslawistischen Strömung, die von Petersburg aus unaufhörlich genährt wurde – und die Ungarn wehr ten sich dagegen, ihre so mühselig errungene Stellung durch den Tria lismus gefährden zu lassen. Der Zerfall der Reiche Franz Josefs kündigte sich bedenklich an, aber die Schwäche seines Bündnispartners hinderte Wilhelm II. nicht, auf seine eigene Stärke zu pochen. Er hatte die diplomatische Niederla ge nach der ersten Marokkokrise nicht verwunden. Als nun offensicht lich wurde, daß Frankreich immer mehr über das hinausging, was ihm in der Konferenz von Algeciras zugestanden worden war, schick te Deutschland das Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir, angeblich auf Bitten deutscher Kaufleute zu deren Schutz, in Wirklichkeit aber, um sich endlich ein Stück des Landes zu sichern. Durch das Dazwischentreten der europäischen Mächte endete auch diese ›Zweite Marokkokrise‹ in Verhandlungen, die die Anerkennung Frankreichs in Marokko mit sich brachten, aber Wilhelm II. doch Ent 424
schädigungen im mittelafrikanischen Kongogebiet zubilligten. Das war immerhin ein Erfolg, aber die bald darauf abgehaltenen deut schen Reichstagswahlen zeigten ein mächtiges Anschwellen der Sozi aldemokratie, die in schärfster Opposition zu Wilhelms Außenpoli tik stand, und das empfand der Kaiser als Herausforderung. Er brach te eine neue ›Flottenvorlage‹ ein und ließ sich auch durch den Besuch des englischen Kriegsministers Haidane nicht dazu bestimmen, die se Pläne zum weiteren Ausbau der Reichsmarine fallenzulassen. Sein Wunsch nach einer englischen Neutralitätserklärung in internationa len Fragen, die England nicht unmittelbar betrafen, wurde dann eben falls abgelehnt. Die Folge der gescheiterten Verhandlungen war eine Vertiefung des gegenseitigen Mißtrauens. Wollte Frankreich die ›Revanche‹ für 1870, die Vergeltung, von der der neue Ministerpräsident Poincare immer offener sprach, nachdem Georges Clemenceau, einer seiner bedeutenden Vorgänger im Amt, so inhaltsreich geschwiegen hatte? Jedenfalls blieb es nicht bei der ›En tente cordiale‹ allein: Ein französisch-russisches Marineabkommen von 1813 vereinbarte die Zusammenarbeit der Seestreitkräfte im Kriegsfall. Mußte es zum Krieg kommen? War der Krieg unvermeidbar?
V Die ersten kriegerischen Ereignisse, die den Ablauf des Weltgesche hens beschleunigen sollten, fanden ohne das militärische Eingreifen der Großmächte statt. Aber die Balkanhalbinsel wurde von Einge weihten bereits als ›Versuchsgelände‹ bezeichnet, als sich die Könige von Bulgarien und Serbien mit den Herrschern von Montenegro und Griechenland verbanden, um die längst geplante Aufteilung der euro päischen Türkei unter die ›Balkanslawen‹ vorzunehmen. Daß der rus sische Gesandte diese Bündnisse vermittelt und die Herrschaft über den Bosporus als das Ziel für die ›Balkanslawen‹ gesteckt hatte, über raschte die zeitgenössischen Beobachter nicht. Irgendwie mußte Ruß 425
land, wenn es seine mehr als hundertjährige Macht- und Handelspo litik fortsetzen wollte, die ungehinderte Durchfahrt durch die Darda nellen erzwingen. Dennoch griffen die Großmächte nicht ein, als die Türken vernichtend geschlagen wurden, aber der Friedensvertrag wur de in London geschlossen und legte die Grenzen der Eroberungen fest. Die Dardanellen verblieben der Türkei. Noch im gleichen Jahr griff Bulgarien das benachbarte Serbien an. Weder der König von Bulgarien noch der König von Serbien waren mit den ihnen in London zugesprochenen Grenzen zufrieden. Griechen land und Rumänien beteiligten sich diesmal als Bundesgenossen der Türken am Krieg gegen die Bulgaren. Die Türken gewannen Adriano pel zurück, und der Frieden von Bukarest bestätigte die Niederlage der Bulgaren, die an alle ihre Feinde Gebiete abtreten mußten. Anläßlich des Friedensschlusses wurde ein neues Fürstentum geschaffen: Alba nien, zu dessen erstem Fürsten der deutsche Prinz Wilhelm zu Wied bestellt wurde. Es herrschte wieder Frieden. Die Türkei jedoch, die schon vorher im ›Tripolisfeldzug‹ ihre letzten Besitzungen in Nordafrika an Italien ver loren hatte, war bereit, das Angebot des deutschen Kaisers zur Reor ganisation ihres Heeres anzunehmen, gleichzeitig aber stimmte sie zu, daß ein englischer Admiral den Ausbau ihrer Flotte überwachte, so als ob ein geheimer Bündnisvertrag des Sultans mit Kaiser Wilhelm II. nicht schon in Vorbereitung gewesen wäre. Es herrschte Frieden, aber Frankreich gewährte Rußland eine gewal tige Rüstungsanleihe und ergänzte die bestehenden militärischen Ver einbarungen durch ausgearbeitete Pläne für einen Heeresaufmarsch an den deutschen Grenzen – im Kriegsfall. Wilhelm II. setzte sich er neut für eine deutsche Heeresverstärkung ein. Im übrigen aber standen Kaiser Wilhelm, Nikolaus II. von Rußland und Georg V. der Nachfolger seines Vaters Eduard VII. von England, als nahe Verwandte weiterhin auf freundschaftlichem Fuß. Sie besuch ten und beschenkten sich und waren eifrig bemüht, die verwandt schaftlichen Beziehungen durch die Besprechung neuer Eheschließun gen ihrer fürstlichen Familienmitglieder zu festigen. Dies persönliche 426
Zusammenhalten der gekrönten Häupter wurde vielleicht dadurch be gründet, daß die ›Propaganda der Tat‹ jeden von ihnen zum Opfer for dern konnte, wie den König von Portugal, Carlos I. der mit seinem äl testen Sohn bei einem Attentat umgekommen war. Auch sie konnten den Thron verlieren wie Manuel II. von Portugal, der durch einen Auf stand zur Abdankung gezwungen worden war; sein Land wurde Re publik. Revolutionen drohten hier wie dort, offen oder versteckt. So war auch in China die kaiserliche Mandschudynastie gestürzt und die Republik ausgerufen worden. Jeder Herrscher konnte durch ein Atten tat heimgeholt oder durch eine Volkserhebung abgesetzt werden, und nicht jeder vermochte den Verlust des Thrones mit soviel Würde zu tragen wie Pedro II. von Brasilien, der seine Kaiserkrone lächelnd mit einem Filzhut vertauscht hatte.
VI Das Automobil begann, den Pferdewagen zu ersetzen. Mit Gas gefüll te, lenkbare Ballons bezwangen das Gesetz der Schwere und beweg ten sich durch die Luft. Von immer stärkeren Motoren angetriebene Flugzeuge stellten Schnelligkeitsrekorde auf. Die industrielle Revoluti on hatte zur Herrschaft der Maschinen geführt, die alle nur erdenkli chen Gebrauchsgegenstände erzeugten, um ein besseres Leben zu er möglichen. Da wurde an einem sonnigen Juni-Vormittag des Jahres 1914 der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand, der sich auf einer Inspek tionsreise in Sarajewo befand, um der Verwirklichung seines Lieb lingsplanes, dem großkroatischen Staat, näherzukommen, von einem serbischen Attentäter erschossen. Auch die unebenbürtige, aber im merhin schon zur Herzogin erhobene Frau des Thronfolgers, die ihn in ehelicher Zuneigung auf Schritt und Tritt begleitete, fiel den mörde rischen Kugeln zum Opfer. War das Attentat von König Peter I. von Serbien oder seinen über 427
eifrigen Offizieren, großserbischen Nationalisten, veranlaßt worden, um den Vorkämpfer eines katholischen Slawenstaates aus dem Weg zu räumen? Mord und Gewalttaten waren im ›serbischen Pulverfaß‹ nichts Neues; 1903 hatte man den eigenen König und die Königin bru tal umgebracht. War es vielleicht auch ein wenig die Folge der uralten, illyrischen Feindschaft, die durch die gefährliche, von Kaiser Theo dosius gezogene Trennungslinie entstanden war, als er das ost- vom weströmischen Kaiserreich abgegrenzt hatte? Die Kroaten waren seit diesen Zeiten katholisch geblieben, die Serben griechisch-orthodox. Solange die in fremden Glaubensfragen so duldsamen mohammeda nischen Sultane keinen Anstoß an den Bekenntnissen der unter ih rer Oberherrschaft stehenden Völker genommen hatten, war es nur zu persönlichen Zwistigkeiten zwischen den kroatischen Katholiken und den griechisch-orthodoxen Serben gekommen. Die Feindschaft war aufgeflackert und mit allen politischen Mitteln genährt worden, seit der gemeinsame Feind, der Sultan der Türkei, sowohl den Serben als auch den Kroaten genommen worden war.
VII Die unmittelbare Folge der Ermordung Franz Ferdinands war ein Ul timatum Österreich-Ungarns an Serbien. Im Namen Kaiser Franz Jo sefs I. wurde die Unterdrückung aller Propaganda und aller Aktio nen gefordert, die auf österreichisch-ungarische Staatsgebiete zielten, und die gerichtliche Untersuchung gegen die Teilnehmer am Mordan schlag – soweit sie sich in Serbien befanden. Das Ultimatum war auf achtundvierzig Stunden befristet. Der Kö nig von Serbien sollte genügend Zeit haben, sich mit seinem traditio nellen Beschützer, dem Kaiser von Rußland, zu beraten. Der Kron rat Nikolaus' II. entschied, daß Rußland Serbien unterstützen würde, falls österreichische Truppen die serbische Grenze überschritten, ›auch wenn man dazu die Mobilmachung erklären und Kriegshandlungen 428
beginnen müsse‹. Trotz dieser Rückendeckung war die Antwortnote Serbiens nicht ganz ablehnend; im übrigen hätte kein einziger souve räner Staat auf alle Forderungen der Doppelmonarchie eingehen kön nen. Dennoch erfolgte sofort der Abbruch der diplomatischen Bezie hungen. Österreich-Ungarn und Serbien begannen zu ›mobilisieren‹, während eine rege diplomatische Tätigkeit der Großmächte einsetzte, um blutige Feindseligkeiten noch in letzter Stunde zu vermeiden. Wer trug die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges? Österreich, das Serbien ein geradezu unannehmbares Ultimatum gestellt hatte, des sen Beantwortung trotzdem so ausfiel, daß Wilhelm II. meinte: »Dar auf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen«? Österreich, das die Kriegserklärung dann mit der ausdrücklichen Feststellung verband, daß es keine Gebietserweiterungen zu fordern beabsichtigte? Zar Ni kolaus II. dessen Außenminister erklärte, man könne nicht ruhig dul den, daß Österreich die vorherrschende Macht auf dem ganzen Bal kan werde? Nikolaus ließ sich nach einem einlenkenden Telegramm Wilhelms II. erst nur zu einer Teilmobilmachung bewegen, ordnete dann aber unter dem Druck seines Außenministers doch die Vollmo bilmachung an. Oder war der deutsche Generalstabschef von Moltke mit schuld, der an den österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf die telegrafische Aufforderung richtete, gegen Rußland zu mobilisieren, und die deutsche Mobilmachung voraussagte? Das ge schah aber erst, nachdem in Berlin die russische Mobilmachung be kanntgeworden war. Dieses Telegramm wurde angeblich ohne Wissen des deutschen Kai sers verfaßt und abgesandt. Aber wenige Stunden später erfolgte ein von Wilhelm II. gutgeheißenes Ultimatum an Rußland, in dem die deutsche Mobilmachung angedroht wurde, falls nicht jede Kriegsmaß nahme von Seiten Rußlands gegen Österreich-Ungarn und das Deut sche Reich eingestellt werde. Und wer veranlaßte die befristete deut sche telegrafische Anfrage an Frankreich, ob es im Falle eines deutsch russischen Krieges neutral bleiben würde? Alle kriegführenden Mächte erklärten sich nach der ungeheuren Ka tastrophe für unschuldig. Zwangslage durch vertragliche Bindungen, 429
Mißverständnisse, falsch bewertete Antworten auf unklar gestellte An fragen, unglückselige Verkettungen von Umständen wurden von den Siegern und den Besiegten in ihren Rechtfertigungen, Ausflüchten, Er klärungen und Entschuldigungen aufgebauscht. Sachliche Beobachter müssen dem teilweise recht geben; die vielfältigen europäischen Bünd nissysteme mußten beinahe jeden Staat in einen Krieg hineinziehen, sobald eine Großmacht beteiligt war. Eine bedeutende Persönlichkeit, die das zu verhindern gewußt hätte, fand sich leider nicht. Die in atem loser Eile zu den Waffen gerufenen Russen und Franzosen, Deutschen, Serben, Österreicher und Ungarn erfuhren durch stolze Verlautbarun gen, daß ihre nationale Ehre auf dem Spiel stünde und ihren Staats oberhäuptern keine andere Wahl geblieben sei, als zum Wohle des Va terlands zu kämpfen. Der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Rußland folgte nach der französischen Mobilmachung die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich. Deutsche Truppen brachen in Luxemburg ein, um die luxemburgischen Eisenbahnen für den Aufmarsch des Hee res zu sichern. Mit dem Hinweis darauf, daß der bevorstehende Zweif rontenkrieg das Deutsche Reich in Zwangslagen versetze, rechtfertig te die oberste Heeresleitung auch den gegen das herrschende Völker recht verstoßenden Einfall in das Königreich Belgien, das seine Neu tralität bewahren wollte. In einer Sitzung des Deutschen Reichstags bestätigte der Kanzler Bethmann Hollweg, daß auch er den Einbruch in Belgien als ein völkerrechtliches Unrecht betrachte, aber er begrün dete die widerrechtliche Handlung mit Notwehr, da keine Zeit zu ver lieren gewesen sei. Dieses ehrliche Zugeständnis an die empörte öf fentliche Meinung allerdings war nicht ganz so ehrlich, wie es klang, denn der deutsche Aufmarsch und Einmarsch in Belgien war vorge sehen und erfolgte plangemäß, entsprechend dem im Jahre 1905 ent standenen ›Schlieffen-Plan‹, der unter der Voraussetzung eines Ein frontenkrieges im Westen ausgearbeitet worden war. Daß England nur der Verletzung der Neutralität Belgiens wegen den Krieg an Deutsch land erklärte, wurde später bestritten und so ausgelegt, als ob England auf jeden Fall in den Krieg eingetreten wäre, um Frankreich zu hel 430
fen. Aber Großbritannien hatte zunächst wirklich kein Interesse an ei nem Krieg, der ein Zwist zwischen Österreich und Serbien war. An ders glaubte es handeln zu müssen, wenn dieser Konflikt sich zu einem Kampf um die Vorherrschaft in Europa entwickelte und Frankreich so in Mitleidenschaft zog, daß seine Kanalküste in deutsche Hände fiel. Die Verletzung der belgischen Neutralität gab England den Anlaß zum Kriegseintritt und machte das Volk und das Parlament kriegswillig. Weder die zahllosen Schlachten und Gefechte, die fürs erste die mi litärische Überlegenheit des Deutschen Reiches sowohl im Westen als auch im Osten zeigten, noch die in der Kriegsgeschichte verzeichne ten Erfolge deutscher und alliierter Generäle galten nach Beendigung des Weltkrieges. Nicht die sonst üblichen, für die Feldherren errichte ten Standbilder wurden im Gedenken der Hinterbliebenen und Über lebenden bekränzt, sondern lediglich das Denkmal des ›Unbekannten Soldaten‹. Ob er nun an der Marne oder vor Verdun gefallen war, deutsche oder französische Uniform getragen hatte, ob er bei den Masurischen Seen als Deutscher oder Russe umgekommen war oder als Österreicher in Polen, als Serbe jenseits der Donau vor Belgrad: Der ›Unbekannte Sol dat‹ war das Opfer. Als Franzose hatte dieser ›poilu‹ erst für die ›Revanche‹ gekämpft und dann, um zu überleben; als deutscher ›Landser‹ erst für Ehre und Glanz des Deutschen Reiches und dann, weil er schon als Rekrut ge lernt hatte, den Offizier mehr zu fürchten als den Tod; als englischer ›Tommy‹ mit sportlicher Verbissenheit und dem Entschluß zu siegen. Und als Österreicher, von seinen deutschen Kriegsgefährten spöttisch als ›Kamerad Schnürschuh‹ bezeichnet, hatte er auch nur gekämpft, weil ihm, wie allen Soldaten, nichts anderes übriggeblieben war. Die österreichisch-ungarischen Soldaten waren nicht kriegsbegei stert. Sie gehörten nicht einer einheitlichen Nation an, die durch völ kische Propaganda hätte aufgeführt werden können. Im Gegenteil: sie gehörten Völkern an, die vom Doppeladler, unter dem sie kämpften, wegstrebten; er war ein Symbol, an das sie nicht glaubten. Die öster reichisch-ungarischen Niederlagen wurden vom Großteil der Bevölke 431
rung, sofern sie nicht der Heldentod Angehöriger persönlich berührt hatte, mit jenem traurigen Spott besprochen, der unter der verlustrei chen Herrschaft Franz Josefs zur resignierten Gewohnheit, selbst der ›Kaiser- und Königstreuen‹, geworden war. Um Serbien niederzukämpfen, bedurfte Österreich-Ungarn der Hil fe des deutschen Heeres und des Königs von Bulgarien, der seine Ver luste im zweiten Balkankrieg wettmachen wollte. Auch die Türkei trat auf die Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns und war damit unverzüglich englischen Angriffen ausgesetzt, deren Überle genheit unausbleiblich war. Auf dem europäischen Festland war das Kriegsglück fürs erste ein deutig auf Seiten der Deutschen. Die großen militärischen Erfolge Hin denburgs und seines Generalstabschefs Ludendorff im Osten, gipfelten in der Schlacht bei Tannenberg, der gewaltigsten Umfassungsschlacht seit Cannae; sie führten zur Ernennung Hindenburgs zum General feldmarschall und Chef des Generalstabs des gesamten Feldheeres; Ludendorff wurde zum Ersten Generalquartiermeister ernannt. Im Westen drangen die deutschen Truppen rasch bis zur Marne vor, sa hen bereits in der Ferne Paris – da wurden sie gestoppt und zurück gezogen, weil Lücken in der Front entstanden waren. War durch diese vielleicht unnötige, jedenfalls aber verhängnisvolle Entscheidung der deutschen Heeresleitung der ›Schlieffen-Plan‹ gescheitert? Auch der französisch-englische Gegenangriff im Herbst 1915 unter dem franzö sischen Marschall Joffre, die ›große Offensive‹, kam ohne großes Er gebnis zum Stillstand. Die gegenseitigen Truppenbewegungen stock ten, aber der Krieg ging weiter.
Wichtig war auch der Kampf zur See. Erst schien es, als ob seine Ent scheidung in der Nordsee fallen würde, aber trotz der Überlegenheit der englischen ›Grand Fleet‹ (37 Großkampfschiffe gegen 21 deutsche) und trotz der fast doppelt so hohen Verluste der Engländer, brachte die Seeschlacht vor dem Skagerrak keine Entscheidung. Die gegenseitige 432
Vernichtung von Großkampfschiffen änderte nichts an der Tatsache, daß es im erbitterten Kampf zur See nicht um heldenhafte Leistun gen der Admiräle und ihrer Mannschaften, nicht um die Treffsicher heit von Schiffsgeschützen und die Widerstandskraft der Panzerungen ging, sondern um die Frage, wie und wodurch die Zufuhr von lebens wichtigen Materialien in das eine oder andere Lager ermöglicht oder verhindert werden könne. Schon in den ersten Monaten des Weltkrieges hatte das Deutsche Reich den U-Boot-Krieg gegen England befohlen, um die ›britische Blockade‹ gegen Deutschland zu brechen. Dieser grausamen Krieg führung zur See waren Verhandlungen der Vereinigten Staaten mit den kriegführenden Mächten vorausgegangen, mit dem Zweck, die gegenseitige Blockade dem geltenden Seekriegsrecht unterzuordnen. Die Verhandlungen zerschlugen sich. Ein deutsches U-Boot versenk te den englischen Passagierdampfer ›Lusitania‹, der von New York aus gefahren war und auch Kriegsmaterial an Bord hatte; mehr als tau send Reisende fanden den Tod, darunter mehr als hundert amerika nische Staatsbürger. Eine scharfe Note der Vereinigten Staaten führ te zu einer Einschränkung des U-Boot-Krieges. Neutrale Schiffe und feindliche Passagierdampfer sollten geschont werden. Der verschärfte U-Boot-Krieg begann später wieder als Antwort auf die Hungerblocka de trotz des Einspruchs Wilhelms II. Schließlich war beinahe der ganze Erdkreis in den Krieg verwickelt. Während sich die französisch-deutschen und die österreichisch-italie nischen Feindseligkeiten im Stellungskrieg verhärteten und auch die Kampfbewegungen im Osten auf beiden Seiten in Schützengräben er starrten, fanden blutige Kriege in den deutschen Kolonien statt, die trotz unermeßlicher Anstrengungen an die Alliierten verlorengingen. Die alte Freundschaft Japans mit dem Deutschen Reich fand durch die japanische Kriegserklärung ein Ende. Die Festung Tsingtau, die die deutschen Kolonien im Fernen Osten beschützen sollte, fiel nach hartnäckiger Gegenwehr. Auch die von Bismarck und Wilhelm II. mit so viel Aufwand erworbenen ozeanischen Inseln wurden von den Ja panern in Besitz genommen. 433
VIII
Noch vor Ausbruch des Krieges war Woodrow Wilson zum Präsiden ten der Vereinigten Staaten gewählt worden. Er war ein Gelehrter, der seine theoretischen Grundsätze auf das praktische Leben übertra gen wollte. Unter seiner Präsidentenschaft wurde die ›Federal-Reser ve-Bank‹ zur übersichtlichen Zusammenfassung des Kreditwesens in den Vereinigten Staaten geschaffen und die ›progressive Bundesein kommensteuer‹ eingeführt. Je nach der Höhe seines Einkommens soll te jeder Amerikaner einen Beitrag zum Staatshaushalt leisten. Diese unfreiwillige, wirtschaftliche Solidarität der Verdienenden mit dem Staatsschatz ermöglichte die finanzielle Bereitschaft der Vereinigten Staaten für jede Eventualität und den Ausbau öffentlicher Werke, wie das gewaltige Straßennetz, das durch den zunehmenden Autoverkehr nötig wurde. Woodrow Wilson war davon überzeugt, daß die Vereinigten Staaten die ausschlaggebende Macht im Mächtespiel wären und daher auch humanitäre Verpflichtungen hätten. Er war vom ›American way of life‹, der amerikanischen Lebensführung, die ein maßvolles Gleichge wicht zwischen arm und reich zu finden suchte, überzeugt und wollte sie allen Menschen der Erde vermitteln. Dieser humanistischen Auf fassung Wilsons legten die großen Bank- und Industrieherren Ameri kas nichts in den Weg. Sie waren schon für die ›cooling off treaties‹ ge wesen, die vorschlugen, daß sich alle Völker und Länder bei Streitig keiten einem Schiedsgericht unterwerfen sollten, anstatt zu den Waf fen zu greifen. Aber der europäische Krieg war ausgebrochen. Die Ver mittlungsversuche Wilsons waren erfolglos geblieben. Die amerika nische Öffentlichkeit war durch den deutschen Einmarsch in Belgi en und den verschärften U-Boot-Krieg eingenommen gegen das Deut sche Reich. Der allgemeine Wunsch nach Neutralität nahm um so 434
mehr ab, als die englische Blockade die gewaltigen Kriegsheferungen Amerikas nur in alliierte Häfen zuließ. Die endgültige Entscheidung wurde durch die Mission Lord Readings beschleunigt, eines angesehe nen Rechtsanwalts, der zum höchsten Richter Englands erhoben wor den war und den amerikanischen Wirtschaftsführern zu erklären ver mochte, wo ihre Vorteile lägen: Eine Niederlage der Alliierten hätte sie um die Zahlung der ungeheuren Forderungen gebracht, die ihnen auf grund ihrer Kriegslieferungen an die Alliierten gutgeschrieben wor den waren. In der politischen Werbung Wilsons, die seiner Wiederwahl zum Präsidenten vorangegangen war, hatte an erster Stelle der Satz gestan den: »Er hält uns aus dem Krieg heraus.« Seine eindeutige Absicht, die Vereinigten Staaten nicht an den Feindseligkeiten teilnehmen zu las sen, hatte er auch durch die Entsendung seines Vertrauensmannes, des Obersten House, zu den kriegführenden Mächten bewiesen, um den von ihm entworfenen ›Frieden ohne Sieg‹ zu verwirklichen; die Al liierten jedoch hatten unerfüllbare Forderungen gestellt. Er hatte die Zustimmung des amerikanischen Kongresses und Senats gewonnen, um den Achtstundentag für die Arbeitnehmer bei den Eisenbahnge sellschaften zu erreichen, und war so besorgt um die weitere Durch führung seines sozialen Programms, daß er nur schweren Herzens er klärte: »Das Recht ist kostbarer als der Frieden.« Freilich, wenn er sei ne Grundsätze einhalten und sein Gesicht wahren wollte, konnte Wil son nicht anders, als den Krieg an das Deutsche Reich zu erklären, nachdem eine deutsche Note den unbeschränkten U-Boot-Krieg ange kündigt hatte; er gab aber im Kongreßausschuß zu, daß die USA auch ohne die Zwischenfälle des U-Boot-Krieges in den Weltkrieg eingetre ten wären. Amerika sei zu diesem Entschluß gekommen, erklärte der Präsident, um ›die Welt gegen die Kriegsherren im Interesse der De mokratie zu schützen‹. Und er ordnete die Verschiffung amerikani scher Truppen nach Europa an.
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IX Mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln wurde Krieg geführt, wäh rend alle am Krieg beteiligten Mächte bereits vom Frieden sprachen, insgeheim und offen die Bedingungen erörterten, unter denen er zu stande kommen könnte. Auch der Nachfolger Franz Josefs unternahm es unverzüglich nach seiner Thronbesteigung, einen Sonderfrieden an zubahnen. Kaiser Karl bediente sich seines Schwagers, des Prinzen Six tus von Bourbon-Parma, als Vermittler zur französischen Regierung. Während der ernsthaft geführten Gespräche kam es jedoch zutage, daß Prinz Sixtus auch die Möglichkeit einer Wiederkehr der Bour bonen nach Frankreich in Betracht zog, und dieser Gedanke war den französischen Unterhändlern zuviel. Die abgebrochenen Verhandlun gen nahm der österreichische Außenminister Graf Czernin wieder auf. Aber seine Bemühungen scheiterten an der Undurchführbarkeit der von ihm vorgeschlagenen Gebiets- und Hoheitsverschiebungen. Vor allem sprach sich Italien gegen eine friedliche Verständigung der Alliierten mit Österreich-Ungarn aus. Es war bekannt geworden, daß Graf Czernin dem Deutschen Reich gegenüber erklärt hatte, Öster reich-Ungarn könne nicht länger als bis zum Herbst 1917 durchhaken. Der Standpunkt Roms war: Warum sollte man verhandeln und han deln, wenn man bald würde diktieren können?
Es waren schicksalsschwere, verhängnisvolle Monate in allen La gern. Der unglückliche Verlauf des Krieges, die vergeblichen Offensi ven seit 1915 hatten nicht nur die Mehrzahl der Bevölkerung der rus sischen Städte und große Teile der russischen Armee für die soziali stische Werbung reif gemacht, sondern auch zu gefährlichen Partei 436
bildungen und Intrigen in der nächsten Umgebung von Nikolaus II. geführt. Sowohl bei Hof als auch in den Ministerien schob einer dem anderen die Schuld an den russischen Niederlagen und der mangeln den Versorgung der kämpfenden Truppen zu. So wie es war, konnte es nicht bleiben. Das war die Überzeugung der Hofkreise, der Generäle, der Intelligenz – vor allem aber der Arbeiterschaft, die zum Umsturz bereit war, und der Kleinbauern in den übervölkerten Dörfern, die im mer noch so für die Großgrundbesitzer arbeiteten, als wäre die Leibei genschaft nie aufgehoben worden. Wieweit die angeblichen Orgien des Wundermönches Rasputin, der einen beherrschenden Einfluß auf die Kaiserin von Rußland gewonnen hatte, schon damals in der breiten Öffentlichkeit bekannt waren, konnte nachher nicht eindeutig festge stellt werden. Die Ermordung Rasputins durch den Fürsten Jussupow, der die Hofluft vom ›zersetzenden Einfluß‹ reinigen wollte, galt je doch als das erste unleugbare Zeichen dafür, daß ›der Kopf vom Fisch stank‹, wie die Revolutionäre sagten. Am 8. März 1917 begannen Indu striestreiks und blutige Unruhen in Petersburg. Die Garnison ging zu den Aufständischen über. Die Arbeiterräte, die ›Sowjets‹, übernahmen die Macht. Es kam zur Bildung einer provisorischen Regierung. Zar Nikolaus II. dankte ab und wurde gefangengesetzt. Die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika an das Deutsche Reich war am 6. April 1917 erfolgt. Das bedeutete für die deutsche Heeresleitung, die die Lage richtig beurteilte, eine neue un tragbare Belastung der Westfront, wenn nicht die gewaltigen Heeres massen von der russischen Front abgezogen und nach dem Westen ge worfen werden konnten. Es war im Hauptquartier des deutschen Kai sers bekannt, daß die Verschiffung amerikanischer Truppeneinhei ten unmittelbar bevorstand. Dieser Vermehrung der alliierten Kriegsmacht mußte begegnet werden. Der Plan, der das zuwege bringen soll te, war verwegen und teuflisch zugleich und in seiner Wirkung für die Welt und das Deutsche Reich so verhängnisvoll, daß der anfängliche Erfolg, den er diesem einbrachte, kaum in die Waagschale fiel. Die russische Revolution hatte im Frühjahr 1917 noch nicht das gan ze Riesenreich erfaßt und daher auch noch nicht die gesamte russi 437
sche Kriegsmaschine lahmgelegt. Die provisorische Regierung stand unter der Leitung des Fürsten Lwow und des linksgerichteten Justiz ministers Kerenskij, der ein begeisterter Patriot war. Es stand zu be fürchten, daß Kerenskij imstande wäre, die Zügel zu ergreifen und den Kampfgeist der Fronttruppe doch noch zu entfachen. Dann aber wäre es nicht möglich gewesen, deutsche Truppen vom russischen Kriegs schauplatz abzuziehen. Eine überlegene Persönlichkeit mußte Keren skij entgegengestellt werden. Die deutsche oberste Heeresleitung setzte ihre Hoffnungen auf Wladimir Iljitsch Uljanow, der unter dem Namen Lenin in Zürich lebte. In einem versiegelten Eisenbahnwagen wurde Lenin von den Deutschen auf russischen Boden gebracht: am 16. April kam er in St. Petersburg an und hielt eine begeistert aufgenommene Rede über die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Er forderte die Beendigung des Krieges. Genau darauf war es der deutschen Hee resleitung angekommen. Daß Lenin sich nicht unverzüglich durchsetzte, daß die von ihm begehrte Republik der Arbeiterräte, die Enteignung von Grund und Boden, die Kontrolle über die Produktion und ihre Verteilung durch die ›Sowjets‹ nicht unverzüglich zustande kam, daß das von der deutschen Heeresleitung so sehnsüchtig erwartete Friedensangebot nicht unverzüglich gestellt wurde, war auf die Tatkraft Kerenskijs zu rückzuführen, der zwar die Republik ausrufen ließ, aber ihr Diktator wurde. Es fanden noch blutige Kampfhandlungen an den russisch deutschen und russisch-österreichischen Fronten statt und erschüt ternde politische Kämpfe in Rußland, ehe die Wahlen zur konstituie renden Nationalversammlung abgehalten wurden, bei denen die Bol schewiken die Stimmenmehrheit gewannen. Als das Parlament zum erstenmal zusammentrat, hatten die Friedensverhandlungen in BrestLitowsk schon begonnen. Die Waffen ruhten an den Fronten. Rote Truppen jedoch sprengten das Parlament; Lenin hatte gegen die par lamentarische Demokratie und für die sowjetische Räterepublik ent schieden. Diesem Beschluß Lenins war eine fieberhafte Tätigkeit vorangegan gen, die wilde Revolution zu meistern. Er wollte Frieden schließen, da 438
mit ›die Diktatur des Proletariats‹ sich ungehindert auswirken könne. Er wollte eine Atempause.
Mit dieser Atempause hatte die deutsche Heeresleitung gerechnet. Der Abzug der Truppen aus dem Osten hatte das deutsche Westheer ge stärkt. Es mußte schnell gehandelt werden, ehe die zunehmenden ame rikanischen Truppenlandungen das Kräfteverhältnis endgültig ver schoben. Aber eine deutsche Offensive nach der anderen brach sich am Widerstand der Alliierten; Anfangserfolge und Geländegewinne aller fünf Offensiven zwischen März und Mitte Juli 1918 brachten keine ent scheidenden Vorteile. Die deutschen Generäle ließen nicht nach, die deutschen Soldaten kämpften ohne Rücksicht auf Verluste – aber dann setzte die Gegenoffensive des alliierten Generalissimus Foche ein. Jetzt entschied der Masseneinsatz von Tanks die Gefechte. Gegen die an al len Orten auffahrenden beweglichen Festungen war selbst der äußer ste Todesmut sinnlos. Es kam zur Schlacht von Amiens, zum ›schwar zen Tag‹ (8.8.1918) des deutschen Heeres. Den Engländern gelang ein tiefer Einbruch in die deutsche Front, die auf die ›Siegfried-Stellung‹ zurückgezogen werden mußte. Auch die Überlegenheit der alliierten Luftstreitkräfte machte sich empfindlich bemerkbar. Es wurde eindeu tig klar, daß der Krieg für das Deutsche Reich verloren war. Dennoch wurde verzweifelt weitergekämpft, da weder Kaiser Wilhelm II. noch seine hohen Offiziere die unausbleibliche Niederlage anerkennen woll ten.
Kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns veröffentlichte Woodrow Wilson seine be rühmten ›vierzehn Punkte‹ als Richtlinien für den Weltfrieden. Er for derte unparteiische Gerechtigkeit im Völkerleben und die Gründung einer Friedensorganisation, die er als ›General common family of the 439
league of nations‹ kennzeichnete. Diese letzte Forderung, die Grün dung eines ›Völkerbundes‹, war der vierzehnte Punkt Wilsons. Die vorhergegangenen Punkte waren im wesentlichen Friedensbedingun gen der Sieger, mit Ausnahme der ersten fünf allerdings, die der allge meinen Völkerversöhnung dienen sollten: »Öffentlichkeit aller inter nationalen Vereinbarungen – Freiheit der Meere – Freiheit des Welt handels – Rüstungsbeschränkung – internationale Regelung der Kolo nialfragen.« Alle nicht nur auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen zie lenden Punkte Wilsons behandelten die wichtigsten ungelösten Pro bleme der folgenden Jahrzehnte.
Verhängnisvoller Irrtum
und entfesselter Irrsinn
I Mit dem Waffenstillstand von Compiegne war der erste Weltkrieg fak tisch zu Ende gegangen, aber noch gab es keinen Frieden. Als schließ lich im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die Friedenskonferenz eröffnet wurde, war Kaiser Wilhelm II. bereits nach Holland geflohen, und Kaiser Karl hatte ›auf jeden Anteil an den Regierungsanteilen‹ verzichtet und sich in die Schweiz begeben. Die Fronten waren zerfal len. In vielen großen Städten des Deutschen Reiches hatten sich Ar beiter- und Soldatenräte gebildet. Sollte auch das Deutsche Reich dem Bolschewismus verfallen wie Rußland? Die ›Großen Vier‹ – der Präsident der Vereinigten Staaten, die Mini 440
sterpräsidenten von England, Frankreich und Italien – nahmen es auf sich, dem Deutschen Reich den Frieden zu diktieren. Die Wahl des Or tes, an dem Bismarck Wilhelm I. zum Kaiser des Deutschen Reiches hatte ausrufen lassen und an dem er damals Frankreich seinen Frieden vorgeschrieben hatte, sollte auf die deutschen Unterhändler bewußt de mütigend wirken. Zu den mündlichen Verhandlungen wurden sie gar nicht zugelassen. Jede Milde, die Lloyd George vorgeschlagen hatte, war abgelehnt worden. Georges Clemenceau, der den Beinamen der ›Tiger‹ erhielt, beharrte unerbittlich auf Bedingungen, die der Revanche und Sicherheit Frankreichs dienten. Er erzielte die Rückgabe Elsaß-Lothrin gens, während seine Forderung nach Abtretung von weiteren Gebieten westlich des Rheins auf den Widerstand der Angelsachsen stieß. Insge samt verlor Deutschland 13% seines Gebietes, 10% seiner Bevölkerung und alle Kolonien. Vor allem aber forderte Clemenceau die Entmilita risierung des Deutschen Reiches: Deutschland mußte schließlich fast sein gesamtes Kriegsmaterial ausliefern, das Heer auflösen, die Wehr pflicht aufheben. Lediglich ein Berufsheer von etwa 100.000 Mann wurde ihm zugestanden. Auch die Kriegsentschädigungen und die üb rigen Bedingungen, die dem Deutschen Reich auferlegt wurden, wa ren erbarmungslos streng. Daneben wurden Strafbestimmungen fest gesetzt, die jedoch nicht zur Ausführung kamen, wie die Forderun gen, daß Wilhelm II. ›wegen schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge‹ unter Anklage gestellt und daß von der durch eine Nationalversammlung in Weimar neugegründeten Deutschen Republik die ›Kriegsverbrecher‹ ausgeliefert werden sollten. Die Entmachtung Deutschlands sollte eine vollkommene sein, nicht nur auf militärischem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Das für die Zukunft wohl Verhängnisvollste in diesem ganzen Frie densvertrag aber war sein Artikel 231, der die ungerechte Feststellung traf, daß Deutschland und seine Verbündeten allein schuld am Krieg gewesen seien. Der liberal denkende Jude Arnold Mendelson sprach später von 1918 als von einem Verbrechen, und Theodor Heuß stell te einmal fest, daß Versailles die Geburtsstätte der nationalsozialisti schen Bewegung gewesen sei. 441
Der Friedensvertrag von St.-Germain-en Laye behandelte die öster reichische Frage. Um sich aus persönlichen Gründen zu keiner Nach giebigkeit verleiten zu lassen, die seinen Grundsätzen widersprochen hätte, verbat sich Clemenceau die Teilnahme eines seiner ältesten und engsten Freunde an der österreichischen Friedensdelegation, obwohl dieser hervorragende österreichische Publizist der Vermittler seiner Beziehungen zu Kronprinz Rudolf gewesen und auch später immer für ein Bündnis Österreichs mit Frankreich eingetreten war. Die Doppel monarchie sollte zerbrochen werden, in ihre Teile zerfallen, ganz un bekümmert um die geschichtlichen und wirtschaftlichen Vorausset zungen und auch gegen die Erklärung Napoleons L: »Wenn Österreich nicht bestehen würde, müßte es erfunden werden, um den Zerfall Eu ropas zu verhindern.« Das neue Österreich, das durch den Friedensvertrag von St.-Ger main geschaffen wurde, war ein Wasserkopf mit einem verkümmer ten Körper: die ehemalige Kaiserstadt Wien mit einem spärlichen Hin terland. In Neuilly, Trianon und Sevres wurden die neu geschaffenen Staa ten – die Tschechoslowakei und das aus Serbien und Kroatien vereinig te Jugoslawien – abgerundet, die bulgarisch-rumänischen Grenzen ge zogen, die Türkei mit neuen Grenzen bedacht. Ungarn war von Öster reich abgetrennt, Polen eine unabhängige Republik geworden. Die ›Großen Vier‹ hatten gesprochen, und der ›Völkerbund‹, dessen Ver fassung in der Vollversammlung der Friedenskonferenz angenommen wurde, trat in seine Rechte – und sollte eine Organisation des Friedens und der Sicherheit für die neuen, in den Friedensverträgen festgelegten Grenzen auch jener Völker sein, die ihm nicht angehörten.
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II Die spöttische Hinwegsetzung über alle Punkte Wilsons, die auf eine ehrliche Völkerversöhnung hinzielten, hatte zur Folge, daß der im ›Viererrat‹ von Versailles sozusagen als idealistischer Phantast über stimmte amerikanische Präsident halb unverrichteterdinge in die Ver einigten Staaten zurückkehrte. Der amerikanische Kongreß lehnte die Ratifizierung des Versailler Vertrages und der zusätzlichen Friedens verträge ab. Die Vereinigten Staaten traten auch nicht dem von Wilson angeregten Völkerbund bei. Sie zogen sich in eine machtvolle Isolati on zurück, und ihre Staatsmänner und Geschäftsleute sorgten für den als ›fabelhaft‹ bezeichneten wirtschaftlichen Aufschwung der zwanzi ger Jahre, der auch durch gelegentliche Rückschläge nie gefährdet war. Diese ›fabulous twenties‹ brachten eine noch nie dagewesene Belebung der Wirtschaft und Vervollkommnung der amerikanischen Tech nik, die beispielgebend für alle Länder der Erde wurde, aber auch den Drang zur Lösung sozialer Probleme auf friedlichem Weg. Die Mehr heit der amerikanischen Bevölkerung machte sich die Gedanken John Deweys zu eigen und verwirklichte seinen Grundsatz: »Jeder kann sich durch tätiges Leben die Alittel zu sozialem Aufstieg und luxuriösem Leben erwerben.« Das ›tätige Leben‹ und seine folgerichtige Auswirkung wurde der Leitgedanke der Amerikaner, die auch die Frauen in das tätige Leben mit einbezogen und ihnen politische und gesellschaftliche Gleichbe rechtigung gaben. Ein anderer Zug der amerikanischen Bevölkerung, die sich immer größeren Wohlstands erfreute, war der zunehmen de Wunsch nach Wohltätigkeit – auch dem Feind gegenüber. Nach dem die Vereinigten Staaten den ›Friedensvertrag von Berlin‹ mit der Deutschen Republik geschlossen hatten, waren sie darauf bedacht, das übertrieben harte Los der Besiegten durch Liebesgabenaktionen, 443
Schulspeisungen und ähnliches zu lindern. Diese humanitäre Einstel lung den Deutschen gegenüber schloß nicht aus, daß die Vereinigten Staaten die gefährlichen Strömungen im Fernen Osten erkannten und die Einwanderung von Chinesen und Japanern in die USA durch ein neues Einwanderungsgesetz verboten. Die Japaner waren die Kriegsgewinner des Fernen Ostens. Ihre Ho heitsgebiete waren gewaltig vermehrt und erweitert worden. Sie berei teten eine zielbewußte Eroberung des chinesischen Festlandes vor. Die Republik China, die durch die von Sun-Yatsen gelenkte Revolution der Jungchinesen entstanden war, schien jetzt, da der europäische Wettbe werb beschränkt war, zur Aufteilung reif zu sein. Die chinesischen Ge neräle, die die nördlichen Provinzen wie unabhängige Fürstentümer regierten, führten untereinander einen ständigen Bürgerkrieg. Sun Yat-sen beherrschte den Süden des Reiches der Mitte, mit dem Ziel, nach dem durchgreifenden Sieg der Revolution eine freie Demokratie in ganz China einzuführen. In Rußland war die Union der Sozialisti schen Sowjetrepubliken geschaffen und das Programm Lenins verwirk licht worden. Die ›Diktatur des Proletariats‹ hatte allen Grundbesitz enteignet, die Bodenschätze in Besitz genommen und ihre Verarbei tung verstaatlichten Industrien übertragen. Die meisten europäischen Mächte erkannten die Sowjetunion als Realität an – viele in der Erwar tung, daß das kommunistische Wirtschaftssystem, das eine grausame Hungersnot in Rußland zur Folge gehabt hatte, sich selbst zugrunde richten würde. Das Kaiserreich Japan schloß sogar einen Neutralitäts pakt mit der Sowjetunion, um sich Rückendeckung und freie Hand für seine Unternehmungen in China zu verschaffen. Angesichts der ungeheuren Umwälzungen, die auf dem asiatischen Erdteil schon vor sich gegangen waren und sich offenkundig noch vor bereiteten, erschienen den Politikern der Vereinigten Staaten die Er eignisse in der Alten Welt verhältnismäßig unwichtig. Für die Nach folger Wilsons, Harding und Coolidge, waren die europäischen Pro bleme nur von nebensächlicher Bedeutung. Auch die amerikanischen Zeitungen, die die öffentliche Meinung auf dem laufenden hielten, nahmen das europäische Geschehen nur dann ernst, wenn sie Sen 444
sationen berichten konnten. Großbritannien war von den Schwierig keiten der Verwaltung und Umschichtung seines Kolonialreiches in Anspruch genommen. In Deutschland waren dem Zusammenbruch 1918 schwere innere Unruhen gefolgt. 1919 war es zur Wahl der Na tionalversammlung gekommen, die eine Reichsverfassung beschloß, der man nachsagte, sie sei die freiheitlichste der Welt. Das Deutsche Reich war zur parlamentarisch-demokratischen Republik mit starker Stellung ihres Reichspräsidenten geworden und arbeitete nun verzwei felt, um die ihm auferlegten Kriegsentschädigungen zu bezahlen. Aber die deutsche Währung verlor ihren Wert, und das Volk wurde immer wieder von Aufruhrbewegungen erschüttert, die oft von extrem aus gerichteten Parteien angezettelt wurden. Politische Morde waren kei ne Seltenheit mehr. Bald nach dem tödlichen Attentat auf den hervorragenden Reichsau ßenminister Walther Rathenau, den die Attentäter in erster Linie er mordet hatten, weil er Jude war, wurde die Weltöffentlichkeit auf ei nen als ›bizarr‹ bezeichneten Mann aufmerksam, der die Vernichtung des Judentums zu einem der Schlagworte seiner politischen Propagan da gemacht hatte. Dieser verhängnisvolle politische Abenteurer Adolf Hitler, der aus verworrenen Familienverhältnissen kam (sein Vater al lerdings hatte es zum kleinen Beamten gebracht) und der dunkle, un ruhige Jugendjahre hinter sich hatte, in denen er immer wieder beruf lich gescheitert war, hatte 1920 das Programm seiner Nationalsoziali stischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) verkündet. Mittels seiner unbestritten gewaltigen, ja teuflischen Redegabe und der straffen Orga nisation seiner Parteimitglieder, die vor Gewaltanwendung, Schleich wegen und Lügen nie zurückschreckten, gelang ihm in den Jahren der großen deutschen Schwierigkeiten zwischen 1920 und 1923 ein rascher Aufstieg. Seine völkische Ideologie, sein Antimarxismus und Antise mitismus waren für die Wirkung auf unkritische Massen geschickt formuliert und hatten, manchmal sogar für selbständig Denkende, in ihrer Einfachheit und Ausschließlichkeit etwas Bestechendes, moch ten sie im Grunde auch entsetzlich verlogen sein. In seinen Anfängen freilich nahm es Hitler mit seinen Grundsätzen nicht so genau, weder 445
als gelegentlicher Hilfsarbeiter bei der Ausspeisung jüdischer Univer sitätsstudenten noch als Bewohner Wiener Obdachlosenasyle – auch später noch nicht zu Beginn seiner politischen Laufbahn. Hitler nahm Beiträge zur Ausrüstung seiner bewaffneten und uniformierten An hänger von jeder Seite an, die ihm Beiträge gab. Vielen ging es dar um, daß er dazu beitrage, das Schreckgespenst des Kommunismus in Deutschland zu bekämpfen. Der erste namhafte Partner Hitlers wur de der General Ludendorff, der mit ihm im November 1923 in Mün chen einen Putsch versuchte. Die Hoffnung seines sogenannten ›Mar sches zur Feldherrnhalle‹ mit SA und einigen ›Kampfbünden‹ erfüll te sich jedoch nicht; die bewaffnete Macht schlug sich nicht auf seine und Ludendorffs Seite, und so blieb der Sturz der Reichsregierung und seine angemaßte Ernennung zum Reichskanzler vorerst ein Traum. Einige Salven von Maschinengewehren zerstreuten die Demonstran ten. Hitler wurde festgenommen, aber nur zu Festungshaft verurteilt, da man ihm angeblich keine unehrenhaften Handlungen vorwerfen konnte. Schließlich wurde er sogar noch ›wegen guter Führung‹ Ende 1924 wieder entlassen. Die Zeit seiner Haft in Landsberg hatte er zum Verfassen seines programmatischen Buches ›Mein Kampf‹ benutzt.
Der Münchner Aufmarsch Hitlers, sein Marsch zur Feldherrnhal le, war eine bescheidene Nachahmung des ›Marsches auf Rom‹ gewe sen, den der ehemalige Sozialist Benito Mussolini in Italien veranstal tet hatte. Schon zu Beginn des Weltkrieges hatte sich Mussolini für den Krieg seintritt Italiens eingesetzt und die Partei der Faschisten gegründet, die er nach den ›fasces‹, den Rutenbündeln der römischen Liktoren des Altertums, benannt hatte. Er schmiedete den Plan, die beiden ge waltigen Strömungen der Zeit, die sich noch nicht ausgelebt hatten, den Nationalismus und den Sozialismus, in einer von ihm neu gestal teten Form zu vermischen und zu verwischen und mit dem beliebten Schlagwort des ›ewigen Rom‹ zu verbinden, das schon im neunzehn 446
ten Jahrhundert so volkstümlich geworden war. Mussolini fand An hänger, vereinigte sie zu einer Kampftruppe und faßte den verwege nen Entschluß, durch einen ›Marsch auf Rom‹ die Macht in Italien an sich zu reißen. Ein Jahrzehnt später erschien ein Buch Malapartes, der damals noch kein Gegner Mussolinis war, unter dem Titel: ›Die Technik des Staats streiches‹. Dieses Lehrbuch für ehrgeizige, abenteuerlustige, beden kenlos Machthungrige lag schon im Manuskript vor, als Benito Mus solini die Macht übernahm und sich vom König von Italien zum Mi nisterpräsidenten ernennen und zur Wiederherstellung der Ordnung und der Durchführung eines ›Reformprogramms‹ mit diktatorischer Gewalt ausstatten ließ. Er wurde Führer genannt, ›Duce del Fascismo‹, und hatte um so eher internationalen Erfolg, als seine gegen den Kom munismus gerichtete Innen- und Außenpolitik den Beifall englischer Staatsmänner fand. Die Angst vor dem Kommunismus, der sich nach dem Tode Lenins in Rußland behauptet und Parteigänger in den mei sten Ländern der Erde gefunden hatte – besonders im notleidenden Deutschland – war stärker als die Erkenntnis, daß auch der diktato rische Faschismus auf die Dauer zu Erschütterungen des Weltfriedens führen müsse. Das mit dem Schlagwort des ›ewigen Rom‹ und der fa schistischen Aufforderung zur Wiederherstellung des Römischen Im periums aufgerührte italienische Volk mußte den Frieden im Mittel meer stören. Aber diese Gefahr schienen die anderen europäischen Mächte, die ihre eigenen Ziele verfolgten, nicht wahrhaben zu wollen. Sie beobachteten mit Genugtuung die Übergriffe der Kampfverbän de Mussolinis, die nicht nur die Kommunistische Partei, sondern auch die Sozialdemokraten Italiens gewalttätig entmachteten. Die Faschi sten trugen schwarze Hemden. Diese Tracht sollte eine anfeuernde Er innerung an die Rothemden Garibaldis sein, der damals allerdings für die demokratischen und freiheitlichen Grundsätze eingetreten war – bis zu dem Augenblick, in dem er dem König von Italien gehuldigt hat te. Auch Benito Mussolini huldigte dem König; daß die Hemden sei ner Kämpfer schwarz waren, statt rot, das wurde ihm zugute gehalten, denn rot war die Farbe der Sozialisten. 447
Im deutschen Straßenbild tauchten zuerst vereinzelt, dann aber rasch immer mehr braune Flecken auf: die Hemden der von Adolf Hitler or ganisierten nationalsozialistischen Sturmabteilung der SA. Noch heu te ist es zum Teil unklar, aus welchen dunklen Kanälen die Unterstüt zungsgelder flossen, mit denen Hitler seine politische Umsturzarmee aufstellen und ausrüsten konnte. Nicht alle Gönner Hitlers wurden be kannt. Wer diese Schutzherren waren und wie sie alle hießen, die Kö der auswarfen, um vor allem Anhänger für den Kampf gegen linksge richtete Bewegungen zu angeln, konnte später kaum noch festgestellt werden, da Hitler und seine Helfershelfer nach der ›Machtergreifung‹ anscheinend alle Unterlagen vernichten ließen. Möglicherweise wäre auch zuviel Undankbarkeit Hitlers an den Tag gekommen, wenn die ersten ›Spender der Bewegung‹ bekannt geworden wären. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sollte, wie der Name besagte, eine werbekräftige Verbindung des Nationalismus und des Sozialismus darstellen – im Programm der NSDAP freilich wa ren auch, wie beim Faschismus, die romantischen Unterströmungen des neunzehnten Jahrhunderts enthalten, vor allem eine: die Wieder errichtung des Römischen Reiches Deutscher Nation, allerdings nicht unter einem Kaiser, sondern unter dem ›Führer‹. Das war das Neue an der Bewegung, die sich als großdeutsch ausgab und keine Mißdeu tung unversucht ließ, um die geschichtlichen Grundlagen des künfti gen ›Dritten Reiches‹ aufzuzeigen. Mussolini war ein ausgezeichnetes Vorbild. Auf seine politischen Spiegelfechtereien waren die ehemaligen alliierten Staatsmänner so verblendet eingegangen, daß Adolf Hitler es auf sich nahm, den ita lienischen Faschismus in vielem mit deutscher Gründlichkeit nachzu ahmen. Mussolini war humanistisch gebildet. Er bezog die Vergleiche, die seine bombastischen Reden schmückten, aus klassischen Werken. Hit lers Wortschwall war oft gespickt mit falsch verstandenen und unrich tig verwendeten Zitaten, die er jedoch mit so echtem Pathos vorzubrin gen vermochte, daß sich die Verfälschungen im Auf und Ab seiner er regten Stimme verwischten. Viele seiner ursprünglichen Zuhörer wa 448
ren Halbgebildete, wie er selbst in schwerer Zeit in Not Geratene und Gescheiterte, deren Selbstbewußtsein er durch Versprechungen hob. Und wenn er sich später als ›der größte Deutsche, der je gelebt hat‹ aus gab, und sie als Angehörige des ›Herrenvolkes‹ bezeichnete, so glaub ten sie ihm auch das. Die Resonanz, die Hitler in weiten Kreisen des deutschen Volkes fand, war weitgehend bedingt durch die Notlage der Massen. Seine Anklagen gegen ›den Dolchstoß von hinten‹, der das deutsche Heer im ersten Weltkrieg geschwächt, und gegen den ›Schmachfrieden von Versailles‹, der das Volk erniedrigt habe, wurden von Millionen ver nommen, die nicht mehr ein und aus wußten und nach den Schuldi gen für Deutschlands Versagen und seine jahrelang verzweifelte wirt schaftliche Lage suchten. Zum Hauptfeind Deutschlands und Schuldigen für all sein Un glück machte Hitler das ›internationale Judentum‹. Sein Antisemitis mus wurde rassenbiologisch ›begründet‹: die jüdische Rasse (die es in Wirklichkeit gar nicht gibt) war angeblich minderwertig, eine Rasse mit lauter bösen Eigenschaften, die nur Böses gebären konnte und vor allem der arischen, germanischen Rasse, die als charakterlich hoch stehend bezeichnet wurde, aus einem zerstörerischen Trieb heraus Schlechtes zufügte. Damit wurde jedes Unglück des deutschen Volkes begründet – ein Unfug, der seinesgleichen sucht und den auch Hit ler, zumindest zeitweise, nicht ganz ernst genommen, sondern nur als Mittel zum Zweck benutzt hat. So äußerte er einmal, daß man die Ju den erfinden müßte, wenn es sie nicht schon gäbe.
Im chinesischen Raum hatte der ›große Marsch‹ Mao-Tse-Tungs begon nen. Ungeheure Menschenmassen der bereits kommunistischen Süd ostprovinzen setzten sich in Bewegung, als Tschiankaischek, der Füh rer der 1927 errichteten Nanking-Regierung, einen Feldzug gegen sie unternahm. Die Kommunisten wollten den Nordwesten Chinas errei chen, um das Beispiel der Sowjetunion auf chinesischem Boden nach 449
zuahmen. Die Bedeutung dieser gewaltigen Völkerwanderung wur de von den europäischen Staatsmännern unterschätzt. Das ›russische Experiment‹, wie die Anstrengungen der Sowjetunion, ihren Staatenverband zu festigen, bezeichnet wurden, galt keineswegs schon als ge glückt. Die Auffassung, daß sich soziale Umwälzungen zu entzündli chen, krisenhaften Krankheiten entwickeln müßten, bevor es zur Ge sundung kommen könne, war vorherrschend. So erfuhr die breite eu ropäische und amerikanische Öffentlichkeit nur verhältnismäßig we nig über die neue chinesische Revolution. Man war gewiß, daß Tschi ankaischek, der Generalissimus der von Sun-Yatsen gegründeten chi nesischen Republik, der revolutionären Bewegung Mao-Tse-Tungs Herr werden würde. Daß ein ähnlicher Marsch wie der Mao-Tse-Tungs, wenn auch in ge ringerem Ausmaß und mit anderen Zielen, beinahe zur gleichen Zeit im Innern des südamerikanischen Erdteils stattfand, wurde wenig beachtet. Dieser Marsch brasilianischer Offiziere und Mannschaften wurde um so weniger als Sensationen von der europäischen und ame rikanischen Presse gewertet, als sich die ›Kolonne‹ der mit dem un demokratischen Wahlsystem in Brasilien unzufriedenen Offiziere und Mannschaften schließlich auf neutrales Gebiet zurückzog. Einer ih rer Befehlshaber, Leutnant Prestes, trat offen zum Kommunismus über und galt in der aufgerührten südamerikanischen Bevölkerung als ›Rit ter der Hoffnung‹. Hoffnung? Worauf? In den noch unterentwickelten Wohngegenden und Urwäldern Brasiliens und der anderen südamerikanischen Repu bliken fehlten die Voraussetzungen zur industriellen Revolution. Aber die Propaganda fand willige Aufnahme, trotz des tiefverwurzelten christlichen Glaubens der Bevölkerung, und wurde lebendig, als der große Börsenkrach des Jahres 1929 das kapitalistische Wirtschaftssy stem in aller Welt bedrohte. Der ›Schwarze Freitag‹ an der New Yorker Börse war das widersin nige Ergebnis der amerikanischen Prosperität, der florierenden Wirt schaft, die sich selbst übersteigert hatte. Der durch die bedenkenlo se Habgier von Erzeugern herbeigeführte Überschuß an Produkten, 450
die keinen Absatz finden konnten, führte zum Stillstand und zur Zah lungsunfähigkeit zahlreicher gewaltiger Industrien und der mit ih nen verbundenen Bankinstitute. Die Kurse der an der Börse gehan delten Wertpapiere fielen in sich zusammen. Unzählige Sparer, die ihr Geld in Aktien angelegt hatten, wurden von einer Stunde zur näch sten zu Bettlern. Die dadurch herabgeminderte Kaufkraft der Bevöl kerung entzog den meisten Waren ihren Wert, und der so entstandene Kreislauf wurde zur Sturzwelle, die die europäischen Geld- und Wa renmärkte mitriß. Hatten zunächst schon die deutsche Inflation, die Millionen Deut sche um ihre Spargroschen gebracht hatte und 1923 durch eine radika le Geldentwertung beendet worden war, und die Krisen anderer euro päischer Währungen die Wirtschaft Europas ins Schwanken gebracht, so drohte jetzt das völlige wirtschaftliche Chaos. Eine gefährliche Ar beitslosigkeit in den Vereinigten Staaten führte zu einer ebenso ver heerenden Arbeitslosigkeit in Europa. Aber die Wirtschaft Amerikas war glücklicherweise zu gesund, um dem gefürchteten Zusammenbruch anheimzufallen. Sichere und klu ge Maßnahmen führten allmählich wieder zur Besserung der Lage, besonders nach der Wahl des körperbehinderten Franklin D. Roose velt, der das ›New Deal‹ schuf. Der Begriff ›New Deal‹ war dem Kar tenspiel entnommen und bedeutete, daß die Spielkarten neu zu ver teilen seien, um jedem wieder eine Chance im Spiel zu geben. Eine neue soziale Ordnung war nötig geworden, ein neuer, echter Gemein schaftsgeist. Die Industrie mußte wieder gesunden. Zur Erleichterung des Geldverkehrs mußte der Dollar abgewertet werden. Damit begann der neue Aufschwung der Vereinigten Staaten. Ein sachkundig ausgearbeitetes Sozialprogramm und eine gut organisierte Arbeitsbeschaffung wirkten der Arbeitslosigkeit entgegen. Altersren ten verhinderten, daß jemand im Alter vor dem Nichts stand. Gleich zeitig übernahm es Präsident Roosevelt, der Außenpolitik Amerikas neue Richtlinien zu geben. Er erkannte die UdSSR durch die Herstel lung diplomatischer Beziehungen an und bekundete gleichzeitig, daß er die zunehmenden japanischen Eroberungen in Ostasien verurteile. 451
Wie wohl kein amerikanischer Staatsmann vor ihm sah Roosevelt ihm zwangsläufig erscheinende Entwicklungen voraus. Ein Beweis für seine unglaubliche Kombinationsfähigkeit und politische Weitsicht war der Geheimvertrag, den er mit Vargas, dem Präsidenten von Bra silien, über die Benützung brasilianischer Küstengebiete schloß, die im Falle einer allzu erfolgreichen deutschen Kriegführung nötig sein würden, um eine Landung amerikanischer Truppen in Nordafrika zu ermöglichen. Dieser Vertrag wurde im Jahre 1936 geschlossen. Damals war Hitler zwar schon die ›Machtergreifung‹ gelungen, aber kein ande rer Staatsmann hätte es für möglich gehalten, daß er jemals Nordafri ka würde erobern wollen.
Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nutzte in ih rer Propaganda den durch die harten Reparationen und die allgemei ne Weltkrise entstandenen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft unbedenklich aus. Im Jahre 1932 gab es sechs Millionen Arbeitslose in Deutschland; Hitler prangerte ›Schuldige‹ dafür an und versprach die Beseitigung jeder Notlage durch die NSDAP. Viele glaubten ihm, und bei den Reichstagswahlen im Sommer 1930 stiegen die Mandate seiner Partei sensationell von 12 auf 107. Aber bei der Wahl des Reichsprä sidenten im Jahre 1932 unterlag Hitler dem alten Feldmarschall Hin denburg, obwohl seine Werbung alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat te; die Nazis waren niedergeschlagen. Äußerst unangenehm war ih nen auch die wenige Tage später von Reichskanzler Brüning erlassene Notverordnung ›zur Sicherung der Staatsautorität‹, die die SA und SS verbot. Aber Brünung wurde ›… hundert Meter vor dem Ziel …‹ zum Rücktritt gezwungen. Franz von Papen wurde Reichskanzler und bil dete im Juni 1932 ein ›Kabinett der nationalen Konzentration‹. Papen war mit seinen Verhandlungen über das Ende der Repara tionen erfolgreich, aber bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 er hielt die NSDAP 37,8 Prozent der Wahlstimmen (230 der 608 Man date). Hitler forderte den Reichskanzlerposten. Hindenburg lehnte ab. 452
Er mochte den ›österreichischen Gefreiten‹ nicht. Am 10. Oktober 1931 war es zu einer ersten Unterredung zwischen ihm und Hitler gekom men, nach der der Reichspräsident geäußert hatte, ›höchstens Postmi nister‹ könnte Hitler werden. Im November 1932 mußten bereits wie der Reichstagswahlen stattfinden, bei denen die NSDAP zum ersten mal nach den Jahren wachsender Erfolge eine Schlappe hinnehmen mußte: sie verlor 34 Mandate. War damit ihr Schicksal schon besiegelt? Auch finanziell stand sie in diesem Augenblick am Rande des Bank rotts und drohte gar, sich zu spalten, als der in ihr einflußreiche Gre gor Strasser abfiel. Da rettete Hitler vielleicht, daß die Stimmen der Kommunisten auffallend angewachsen waren und man es angesichts der Gefahr von links doch lieber mit den Nazis zu tun haben wollte, die man verhängnisvoll unterschätzte. Entscheidend wurde schließlich für Hitlers ›Machtübernahme‹ das Zerwürfnis zwischen Papen und Schleicher. Schleicher hatte Papen Ende 1932 gestürzt und war ihm im Amte des Reichskanzlers gefolgt. Papen traf sich kurz darauf mit Hit ler im Hause eines Kölner Bankiers, um seinerseits den Sturz Schlei chers einzufädeln. Kurz nachdem die Nazis einen Wahlsieg Mitte Ja nuar 1933 im Miniaturländchen Lippe errungen hatten und Reklame mit ihm machten, kam es zu politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Schleicher und Hindenburg. Schleicher trat zurück. Hitler wurde am 30.1.1933 zum Reichskanzler berufen. Kaum einen Monat später brannte das Reichstagsgebäude in Berlin. Und damit begann die ›Schlachtung der Sündenböcke‹. Wenn die Na zis das Reichstagsgebäude vielleicht auch nicht angezündet haben, wie später behauptet wurde – ausgenutzt haben sie dies Ereignis gründlich. Der Brand wurde von ihnen prompt den Kommunisten zur Last ge legt. Die kommunistische und sozialistische Presse wurde verboten, die kommunistischen Funktionäre wurden zum großen Teil verhaftet und in Kerkern und Konzentrationslagern unschädlich gemacht. Kaum acht Tage nach diesem ›Fanal‹ des Reichstagsbrandes fanden die Reichstags wahlen statt, bei denen die Nationalsozialisten 44 Prozent der Sitze er rangen. Gemeinsam mit der Kampffront ›Schwarz-weiß-rot‹ aber hat ten sie nur eine knappe Mehrheit: 52 Prozent der Stimmen. 453
Diese Ziffern zeigten, daß die NSDAP keineswegs die tatsächliche Mehrheit des deutschen Volkes hinter sich hatte, obwohl Hitler ver kündete: »Ein Volk – ein Reich – ein Führer!« Doch die bestürzende Tatsache bleibt, daß die Nazis überhaupt zur stärksten deutschen Par tei geworden waren. Wie hatte das geschehen können? Der Hauptgrund lag unbestreitbar im politischen Desinteresse und in der naiven Ahnungslosigkeit weitester Bevölkerungskreise. Die De mokratie, die Hitler mit Gewalt, Lüge und List ausgespielt hatte, war dem deutschen Volk eine fremde Sache geblieben, und besonders bei den Intellektuellen, im Beamten- und Mittelstand galt nach wie vor der weltfremde Grundsatz: »Politisch Lied, ein garstig Lied!« Ande rerseits sah man das allgemeine Chaos, die Arbeitslosigkeit, den Hun ger, die Ohnmacht, die demokratischen Torheiten, und so resignierten schließlich auch viele, die jahrelang den Tiraden Hitlers nur Verach tung entgegengebracht hatten. »Gebt ihm eine Chance«, hieß es, »viel schlimmer, als es schon ist, kann es sowieso nicht mehr werden!« Doch es wurde schlimmer! Was die politische Wirklichkeit ihm versagte, erzwang Hitler nach der ›Machtübernahme‹ mit Gewalt. In dem ›Bündel von Weltan schauungen‹, deren Bruchstücke er zur nationalsozialistischen Welt anschauung zusammengeschweißt hatte, stand an erster Stelle: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Der Zweck war die größenwahnsinnige Vor stellung, daß ein einziger Mann ein Reich und ein Volk und dann den ganzen Erdkreis beherrschen könne und müsse. Um dies zu verwirk lichen, scheuten Hitler und seine Helfershelfer kein Mittel. Die Ge walt wurde zum Recht, das Vorurteil zum Urteil. Dem ›Führer‹ und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war nichts hei lig als der Zweck. Hitler hatte einen unübertrefflichen Gehilfen in Josef Goebbels ge funden, einen Propagandaminister, dessen zynische Gewandtheit in der Behandlung der Massen so überlegen war, daß er es in einer Volks versammlung auf sich nehmen konnte, offen zu erklären: »Nur die großen Lügen haben eine Wirkung!« Das stimmte allerdings nicht; in Wirklichkeit hatten auch die klei 454
nen Lügen eine Wirkung auf das durch Hoffnungen geblendete deut sche Volk, dem Hitler nicht nur ›Arbeit und Brot‹ und damit das Ende seiner Not, sondern bald auch die Herrschaft über den ›Lebensraum der Erde‹ versprach. Aus tiefstem Elend taumelte bald ein ganzes Volk in den Rausch der Macht, nationaler Größe und Selbstüberschätzung, und wo sich eine Stimme dagegen erhob, wurde sie sofort mit rück sichtsloser Brutalität zum Verstummen gebracht. In Italien hatte Mussolini die Macht des Faschismus durch die ge schickte Behauptung der italienischen Ansprüche und Forderungen in internationalen Zusammenkünften gestärkt. Man hatte in London und Paris durch die Finger geschaut, als er seine Absicht, das ›Römi sche Imperium‹ wiederherzustellen, durch die Eroberung Abessiniens zu verwirklichen begonnen hatte. Ganz Frankreich war erschüttert, als Hitler entgegen allen Verträgen die entmilitarisierte Zone des Rheinlands besetzte und die englischen Staatsmänner nur mißbilligend die Köpfe schüttelten, da sie doch von den drängenden Ereignissen im Fernen Osten und den Schwierigkei ten in der Verwaltung ihrer Kolonien so ganz und gar in Anspruch ge nommen waren. Nur ein einziger namhafter englischer Staatsmann warnte die Welt öffentlichkeit vor Hitler und den italienischen Faschisten und hatte damals alle Mühe, seine Zeitungsaufsätze durch literarische Agenten unterzubringen. Dieser Winston Churchill, der dem englischen Hoch adel entstammte, wurde als ›Kriegshetzer‹ verschrien, weil er, ebenso wie sein späterer Freund und Kriegsgefährte Präsident Roosevelt, den zwangsläufigen Ablauf der Ereignisse voraussah. Der grausame Bürgerkrieg in Spanien, der Abwehrkampf der republi kanischen Volksfront gegen den Offiziersputsch Francos, der von ita lienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten entscheidend unterstützt wurde, lenkte die Aufmerksamkeit für kurze Zeit von Hit ler ab. Aber man sprach von Spanien schon als von einem ›Versuchsge lände für einen kommenden Krieg‹, vom beachtenswerten Beispiel ei nes örtlichen Kräftespiels, bei dem sich herausstellen würde, wer stär ker sei: die linksgerichteten Kräfte, die mit Hilfe Sowjetrußlands die 455
bestehende Ordnung verändern wollten, oder die rechtsgerichteten, die sie erbittert bekämpften. Obwohl Hitler und Mussolini keineswegs wünschten, daß alles so werde, wie es gewesen war, wurden sie von Konservativen aller Länder gestützt und gefördert. Sie wurden als Vorkämpfer gegen den Kommu nismus anerkannt und konnten vorübergehend sogar diplomatische Vorteile erringen. Nicht viel später allerdings zeigte, wie Churchill schrieb, ›der Leopard seine Flecken‹. Die ständige Redensart in konservativen englischen Kreisen, die an die Unvermeidbarkeit eines von Hitler so gründlich vorbereite ten Krieges nicht glauben wollten, war: »Es kann nicht so schlimm sein.« Viele wollten nicht wahrhaben, daß die deutschen Juden enteig net, verfolgt und in Konzentrationslager geschleppt wurden, obwohl das Deutsche Reich 1935 öffentlich die berüchtigten Nürnberger Ge setze ›zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‹ erlas sen hatte, die Deutschen verboten, Juden zu heiraten, und auch sonst extrem antisemitischen Inhalts waren. Auch die grausame Behand lung, der viele deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten und vom bekennenden Christentum erfüllte Katholiken und Protestanten aus gesetzt waren, verursachte anscheinend kein Entsetzen. »Es kann nicht so schlimm sein«, hieß es – denn warum half zum Beispiel die Sowje tunion nicht den verfolgten deutschen ›Genossen‹ und linksgerichte ten Arbeitern? Die Erklärung, daß Stalin, der allmächtige Sekretär der Kommunistischen Partei Rußlands, die Zerstörung des Kommunis mus in Deutschland mit Genugtuung beobachtet habe, wurde weder geglaubt noch verstanden, obwohl die Einzelheiten des Machtkampfes Stalins mit Trotzkij, der die Internationalisierung des Kommunismus verfocht, aufschlußreich waren. Vermutlich wollte Stalin unter allen Umständen und mit allen Mitteln verhindern, daß die deutsche Kom munistische Partei das Übergewicht über die Kommunistische Par tei Rußlands in der ›Internationale des Kommunismus‹ gewänne. Die großen Schauprozesse, in denen hohe, sowjetische Funktionäre wegen ihrer früheren Zusammenarbeit mit Deutschland verurteilt wurden, waren deutliche Hinweise. 456
Eine echte politische Sensation war dann der 1939, unmittelbar vor Kriegsausbruch, abgeschlossene Nichtangriffspakt zwischen Deutsch land und Rußland. Zwei auf den Tod verfeindete Systeme, die sich im Grunde in vielem ähnelten, sich aber stets unflätig beschimpft und brutal bekriegt hatten, verbündeten sich plötzlich um strategischer Vorteile willen. Hitler wurde schließlich, ohne es zu ahnen oder be greifen zu können, der Handlanger Stalins, als er seine kriegerischen Eroberungen vom Zaune brach. 1938 annektierte Hitler Österreich und nannte es ›Anschluß‹, als sei ne Truppen in das kleine Land einmarschierten, wobei allerdings ge sagt werden muß, daß ein Großteil der österreichischen Bevölkerung diesem Schritt begeistert zustimmte, denn die staatliche Vereinigung Deutschlands und Deutsch-Österreichs war auch der Wunsch vieler, die zwar Nationalisten, aber keineswegs Nationalsozialisten waren. Er besetzte und zerschlug die Tschechoslowakei, obwohl er kurz vorher dem englischen Premierminister Chamberlain geschworen hatte, daß alle seine Ansprüche befriedigt seien, wenn ›die deutschen Volksge nossen aus den Sudeten ins Reich heimkehrten‹. Hitler stützte sich auch auf sein Bündnis mit Mussolini, auf die ›Ach se Rom-Berlin‹, die zum ›Stahlpakt‹ führte, der Mussolini gar nicht so angenehm war, wie er unter dem Zwang des übermächtigen deutschen Partners verlautbaren mußte. Er wäre am liebsten aus dem Bünd nis herausgeschlüpft, er hatte Angst vor der Zukunft, obwohl die Ge genwart und die Versprechungen und Zusagen Hitlers so verlockend schienen. Aber trotz seiner raschen Auffassungsgabe erfaßte Mussoli ni, der schwachen englischen Verhandlungspartnern am Beratungs tisch gegenübergesessen hatte, die tatsächliche Stärke Englands nicht. Daß der französische Generalstab die Maginotlinie zur Abwehr eines deutschen Angriffs bis zur Grenze des neutralen Belgien errichtet hat te, beeindruckte Mussolini wenig. Er wußte aus eigenen Erfahrungen, die ihn bedrückten, daß Hitler sich nicht an Neutralität und Verein barungen hielt, die er mit ›treudeutschem‹ Handschlag besiegelt hat te. Mussolini mißtraute auch der deutsch-russischen Annäherung und scheute persönlich vor den unmenschlichen Greueltaten zurück, die 457
auf Befehl oder zumindest mit Wissen und Zustimmung Hitlers von den Nationalsozialisten verübt wurden. Dennoch blieb der Duce ein Gefangener seines Ehrgeizes und der Furcht, sein Lebenswerk zu ge fährden, wenn er nicht an der ›Achse‹ festhielt.
III Als der zweite Weltkrieg mit noch nie dagewesenen militärischen Er folgen Hitlers und seiner Generäle begonnen hatte, war das Deut sche Reich schon verloren. Es hatte fürs erste zwar ›unschlagbare Ar meen‹, die im Osten bis an die mit den Russen vereinbarte Linie vor rollten und die Polen überrannten, es wiederholte den schon einmal von einer obersten deutschen Heeresleitung begangenen Neutralitäts bruch durch den Einmarsch in Belgien und diesmal auch in Holland, umging die Maginotlinie und brach in Frankreich ein, das in einem ›Blitzkrieg‹ (10.5.-25.6.40) zur Kapitulation gezwungen wurde, es be setzte Dänemark und eroberte Norwegen, es überrannte auch den Bal kan – aber das ›Volk in Waffen‹, das zunächst alle Völker, die ihm ent gegentraten, auf den Schlachtfeldern schlug, war schon von Anfang an ein geschlagenes Volk. Es hatte sein menschliches Rückgrat dadurch verloren, daß es sich jedem ›Führerbefehl‹ gebeugt hatte. Es hatte sich zumindest indirekt der Teilnahme an den ungeheuerlichsten Barbareien anläßlich der Ju den- und Sozialistenverfolgungen mitschuldig gemacht. Die von Vä tern und Vorvätern überkommenen Begriffe von Ehre und Anstand, von Treu und Glauben waren falschen Vorstellungen gewichen, die eine unerbittliche Propagandamaschine so lange wiederholt hatte, bis selbst jene die geschickt formulierten Phrasen glauben mußten, die sie nicht glauben konnten und nicht glauben wollten. Der Entzug vieler Berichte durch die zensurierte Presse und den den Machthabern ge fügigen Rundfunk hatte zu einer Beschränkung des Wissens um das Zeitgeschehen geführt. Der Entzug vieler Bücher wegen der ›Rasse‹ 458
oder des Glaubens ihrer Autoren, die Verstümmelung des Schulun terrichts um der fragwürdigen Grundsätze und der ›Weltanschauung‹ des Nationalsozialismus willen hatten das Denken des deutschen Vol kes verdunkelt. Rechtsbegriffe waren durch die willkürliche Gesetzge bung und Rechtssprechung Hitlers ins Wanken geraten. Die Zerstö rung der überlieferten Lebensformen, um den gleichmachenden Vor schriften der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu ent sprechen, hatte manche Deutsche, die ihre ›nicht-jüdische‹ Herkunft durch ›Ahnenpässe‹ bestätigen mußten und dadurch zu sogenannten ›Ariern‹ wurden, zu ›Prolet-Ariern‹ in der üblen Auslegung des Wor tes gemacht. Das Gewissen wich der Gewalt oder wurde der ›großen Idee‹ geopfert, und wenn es nur dadurch geschah, daß man Gerüch te von Unmenschlichkeiten ebenso bewußt überhörte wie man Un zulänglichkeiten und Korruption der Parteibonzen übersah, denn es ging ja doch schließlich ›um die große Linie‹, und die war, so glaubten die verführten ›Idealisten‹, gut und edel. Die Untersuchung der nationalsozialistischen Gesetzgebung, der sich jeder unterwerfen mußte, wenn er nicht ins Konzentrationslager kommen wollte, ergab, daß sie so viele Vergehen und Verbrechen ge gen die Grundbegriffe von Ethik und Moral enthielten, daß es nicht zu verwundern war, wenn alle Deutschen, die so leben mußten, wie der ›Führer‹ es befahl, eine Zeitlang als Verbrecher angesehen wurden, be sonders in Amerika. Die unbarmherzige Kriegführung mit U-Booten und schließlich mit V-Geschossen, die vom deutschen Oberkommando befohlenen Bom bardierungen offener Städte, die zum Auftakt des später so grausam gegen alle Zivilisten geführten Luftkrieges wurde, brachte auch jene Kreise zum Schweigen, die zunächst noch gewisse innen- und außen politische Erfolge Hitlers vor Ausbruch des Krieges anerkannt hatten. Viele Millionen Juden wurden in den Konzentrationslagern zu Tode gemartert oder vergast, eine so unvorstellbares, unmenschliches Ge schehen, ein mit solcher Mordlust und Konsequenz durchgeführtes Verbrechen, daß historische Vergleiche einfach nicht durchzuführen sind. 459
Daß eine solche Grausamkeit Menschen gegenüber, die keine Schuld auf sich geladen hatten, außer geboren zu werden, möglich war, konnte die Weltöffentlichkeit fürs erste noch nicht glauben. Dann fragte man entsetzt: war das alles geschehen, ohne daß das deutsche Volk davon gewußt hätte? Hatten Menschen wirklich geduldet, daß ihre Mitmen schen, nur um der angeblichen ›Rasse‹ oder des Glaubens oder der po litischen Gesinnung willen, hingemordet wurden? Die Vereinigten Staaten von Nordamerika traten in den Krieg ein, als der zweite Verbündete Hitlers, das Kaiserreich Japan, den Überfall auf Port Arthur, ohne den Krieg zu erklären, durch einen Luft- und U-Boot-Angriff auf Pearl Harbour wiederholte. Das geschah, als es schien, Hitler habe seinen ehemaligen Verbündeten Stalin auf die Knie gezwungen. Das deutsche Heer war in Rußland eingefallen, nachdem Hitler die beabsichtigte Landung in England nicht durchzuführen ge wagt hatte. »Blut, Schweiß und Tränen«, hatte Winston Churchill, der endlich zum englischen Ministerpräsidenten ernannt worden war, sei nen Landsleuten versprochen, als er sein Amt angetreten hatte, ›Blood, sweat and tears‹, wenn sie die von ihm als ›hunnischen Angreifer‹ be zeichneten Feinde abwehren und weiter als freies Volk leben wollten. Die englische Widerstandskraft erhielt durch den Eintritt Amerikas in den Krieg eine ungeheure Stärkung. Rußland konnte sich gegen die deutschen Heere erfolgreich zur Wehr setzen, als amerikanische Panzer und Lastwagen und alles ande re Kriegsmaterial, an dem es schon überall fehlte, durch die von deut schen Unterseebooten unsicher gemachten Meere nach Rußland be fördert wurden. Jetzt bewährte sich auch die Voraussicht Roosevelts, der Luftbrücken von der Küste Brasiliens nach Nordafrika schlagen konnte und längst schon alle Vorbereitungen für den ihm unvermeid lich scheinenden Krieg getroffen hatte. So wie die deutsche Heeresmacht im ersten Weltkrieg der Übermacht alliierter Tanks nicht gewachsen war, so mußte sie jetzt der Übermacht amerikanischer Flugzeuge erliegen. Als den Alliierten am 6.6.1944 un ter Einsatz schier ungeheurer Luftstreitkräfte die Landung in der Nor mandie gelang, die geplante große Invasion, war der militärische Zu 460
sammenbruch Deutschlands an der Westfront nur noch eine Frage der Zeit. Tag und Nacht hämmerten erbarmungslos die alliierten Luftan griffe auf die deutschen Städte nieder. Sie trafen weniger die deutsche Rüstungsmaschinerie, die in ausgelagerten und getarnten Betrieben fie berhaft weiterproduzierte, als die Millionen von Frauen, Kindern und alten Leuten, die Hitler seine ›Heimatfront‹ nannte. Stadt um Stadt wur de vernichtet, unersetzliche Kulturwerte sanken in Schutt und Asche, mehrere hunderttausend Menschen kamen im Bombenhagel um, allein beim Angriff auf Dresden am 13. und 14. Februar mindestens 60.000. Doch die Verantwortlichen saßen in sicheren Bunkern und führten den schon längst sinnlos gewordenen Krieg noch immer weiter, gaben Durchhalteparolen aus, an die sie selbst nicht mehr glaubten. In Italien brach der Faschismus zusammen. Mussolini wurde als Flüchtling von Partisanen hingerichtet. Und schließlich verübte Hitler – man konn te es später leider nicht eindeutig beweisen – am 30.4.1945 Selbstmord in seinem Berliner Bunker. An dieser Selbstvernichtung beteiligte sich auch sein Propagandaminister Josef Goebbels mit Frau und Kindern. Im Osten war mit der deutschen Niederlage bei Stalingrad Anfang 1943 die Wende des Krieges eingetreten; von da an hatte es nur noch ei nen unaufhaltsamen deutschen Rückzug gegeben. Die im Januar 1945 begonnene russische Winteroffensive machte die deutschen Ostgebie te zum Kriegsschauplatz. Und nun rächte sich das Vorgehen der Na zis gegen die als ›Untermenschen‹ bezeichneten Osteuropäer; auf un menschliche Weise zahlten sie allen erreichbaren Deutschen heim, was man ihnen angetan hatte. Tausende kamen im strengen Winter auf der Flucht vor den russischen Truppen um. Ungezählte wurden von ihnen geschändet, verschleppt, erschlagen. Anfang Mai 1945 mußte die Kapitulation aller deutschen Streitkräfte erfolgen; die Gesamtkapitulation wurde am 7. und 8. Mai unterzeich net. Im Fernen Osten kapitulierte Japan vor den Amerikanern, nach dem die ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki zur Ex plosion gebracht worden waren und das abschreckende Beispiel un menschlicher Vernichtung gesetzt hatten. Der Krieg war zu Ende. 461
IV
Nur ganz wenigen bedeutenden Deutschen war es gelungen, der natio nalsozialistischen Hölle zu entfliehen. Einige Schriftsteller, deren Bü cher im Kampf des Hitlerschen Ungeistes gegen den Geist verbrannt worden waren, entkamen nach England und nach Amerika. Darunter befanden sich die Brüder Thomas und Heinrich Mann, Lion Feucht wanger und Bertold Brecht. Auch österreichische Dichter, wie Franz Werfel und Stefan Zweig, fanden Zuflucht in Übersee. Die weltbekann ten Namen der dem Dritten Reich und dem angeschlossenen Öster reich entronnenen Künstler überschatteten die Ausstrahlung der we niger bekannten, die es in fremden Ländern nicht zu solchem Ansehen bringen konnten. Das gleiche galt für die deutschen und österreichi schen Wissenschaftler, die mit offenen Armen Aufnahme fanden, für die Ärzte und Ingenieure. Unter den Gelehrten, die das Deutsche Reich und Österreich verlassen mußten, befanden sich so großartige Wissen schaftler wie Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, und Lise Meitner, die die mathematischen Grundlagen zur Atomphysik schuf und ihre Forschungen ursprünglich rein friedlichen Zwecken gewid met hatte. Viele dieser so unerbittlich Verfolgten stellten sich gegen den soge nannten ›Morgenthauplan‹, der 1945 eine vernichtende Entmachtung Deutschlands forderte, und traten für den ›Marshallplan‹ ein, der den zusammengebrochenen Ländern Hilfe bringen sollte.
462
V
War der Frieden gewonnen? Nach dem frühen Tod Roosevelts versteif ten sich die während des zweiten Weltkriegs so freundlichen Bezie hungen Stalins zu den sogenannten ›Westmächten‹. Der ›Eiserne Vor hang‹ fiel und schien die erstrebte Völkerverständigung unmöglich zu machen. Die nach dem Krieg wiederhergestellten Staaten des östlichen Europa wurden vom Westen abgegrenzt und zur Annahme der kom munistischen Lebensformen genötigt. Auf der anderen Seite des ›Ei sernen Vorhangs‹ lebte die freie Welt, bemüht, die durch die ›Char ta von San Franzisko‹ begründeten Freiheiten zu verwirklichen. Das Vorwort der Charta der Vereinten Nationen lautete: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, kom mende Geschlechter vor der Geißel des Krieges, die in unserer Ge neration zweimal unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, zu bewahren, den Glauben an die Grundrechte des Menschen, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Mann und Frau und aller Nationen, der großen und der kleinen, neuerlich zu bekräftigen, Verhältnisse zu schaffen, in denen Gerech tigkeit und Achtung vor den Verpflichtungen, die sich aus Verträgen und anderen grundlegenden Dokumenten des Völkerrechts herleiten, gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen höheren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern und zu diesem Zweck Toleranz zu üben und miteinander in Frieden und als gute Nachbarn zu leben.«
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VI Neue Staaten waren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstan den. Die Republik Israel zum Beispiel, die den über die Erde verstreu ten Juden die geschichtliche Heimstätte ihres Glaubens bot und die ›Heimkehrenden‹ durchaus nicht aus rassischen Gründen aufnahm, denn die Juden, die sich in Israel ansiedelten, waren Abkömmlinge der Länder, in denen sie geboren worden waren: die Nachkommen der zum Judentum bekehrten Chazaren, die in Rußland, Polen und dem Deutschen Reich gelebt hatten und die sich in ihrem Äußeren kaum von den Wenden unterschieden, die die Urbevölkerung großer deut scher Gebiete gewesen und zum Christentum bekehrt worden waren. Das Aussehen der in Israel lebenden Siedler bewies den Betrachtern, daß diese blonden und blauäugigen, diese schwarzhaarigen und dun keläugigen neuen Pioniere ihres Glaubens nicht auf einen rassischen Nenner zu bringen waren; eine jüdische Rasse, die man doch so un sagbar grausam verfolgt hatte, gab es gar nicht. Die Juden sind jedoch durch die Heilige Schrift zu einer moralischen und religiösen Einheit verbunden. Auch der Hitlersche Schrei nach ›Lebensraum‹, nach dem ›Platz an der Sonne‹, erwies sich als eine längst durch den Ablauf der Ereignisse widerlegte Vorstellung. Der Weltkrieg, den der ›Führer‹ entfacht hat te, führte in der folgerichtigen Entwicklung der Menschheit zur Über zeugung, daß sich das Kolonialsystem der vergangenen Jahrhunder te überlebt hatte. Die Versuche, »unterentwickelten« Völkern zu hel fen, abhängige Territorien unabhängig zu machen und die Sklaverei jeder Form zu beseitigen, wurde das Ziel der großen Mächte, die teils vorsichtig, teils entschlossen die koloniale Welt in die Brüderschaft der Nationen einzuschließen begannen. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit wurde auch durch die Nachfol 464
gerin der ›industriellen Revolution‹, die ›Marktrevolution‹, ausgelöst. Das war ein neuer Begriff, der in sich den auch wirtschaftlich beding ten Wunsch einschloß, die Güter und Erzeugnisse, die der Menschheit zum besseren Leben dienen sollten, richtig und gerecht zu verteilen. Die Marktrevolution wird durch zwei einander entgegengesetz te Grundsätze angetrieben: auf der einen Seite bemüht sich die ›freie Welt‹ durch freien Wettbewerb und die Ausschließung von Mittels männern, die Erzeugnisse der Erde und der Arbeit den Verbrauchern zum niedrigsten Preis in größter Menge zuzuführen, auf der anderen Seite unternimmt es die ›kommunistische Welt‹, das gleiche Ziel durch staatliche Kontrolle zu erreichen.
VII Die Vereinten Nationen hatten bald Gelegenheit, ihre Entschlos senheit zur Wahrung ihrer Grundsätze mit allen Mitteln zu bewei sen. Das geschah zum erstenmal, sichtbar für alle Welt, in Korea, als das kommunistische Nordkorea das Südkorea angriff. Es kam nach schweren Kämpfen zur Einstellung der Feindseligkeiten. Aber bedeu tete das den Frieden? Zuvor schon, 1948, war eine Weltkrise um das viergeteilte Berlin, seither ständiges Spannungsfeld der internationa len Politik, entbrannt: die Sowjets blockierten die Versorgung West berlins, doch die Alliierten machten durch eine gewaltige Luftbrük kenaktion dem Störmanöver ein Ende. Der kalte Krieg hatte begon nen, und eines seiner Hauptgebiete wurde das willkürlich gespaltene Deutschland. Während sich unter russischer Besatzungsherrschaft in Mitteldeutschland eine kommunistische Diktatur entwickeln konn te, schlossen sich 1949 die drei westlichen Besatzungszonen zur Bun desrepublik Deutschland zusammen, die mit amerikanischer Unter stützung einen raschen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung nahm. Dazu trugen nicht zuletzt der Aufbauwille und die Tatkraft der Millionen von Heimatvertriebenen aus den Gebieten östlich der Oder 465
Neiße-Grenze und der Tschechoslowakei bei, die in ihrer überwiegen den Mehrzahl im Westen Deutschlands untergekommen waren. Die chinesische Räterepublik, die den Generalissimus Tschian kaischek besiegt hatte, war nicht in die Vereinten Nationen aufgenom men worden. Hunderte Millionen Chinesen gehörten der Gemein schaft der Völker nicht an. Auf der dem asiatischen Festland vorgela gerten Insel Formosa sammelte und rüstete Tschiankaischek ein Heer aus mit dem immer wieder verlautbarten Zweck, das chinesische Fest land zu erobern. Die Vereinigten Staaten hatten, gewitzigt durch den Überfall Japans, ihre Verteidigungslinien weit in den Pazifischen Ozean vorgeschoben. Präsident Eisenhower, der der Oberkommandierende des amerikani schen Heeres in Europa gewesen war, verweigerte die Anerkennung der chinesischen Volksrepublik trotz des Drängens Chruschtschows, des Nachfolgers Stalins, der realistischer und, trotz aller oft tempe ramentvollen Attacken gegen die westliche Welt, kompromißwilliger eingestellt war als seine Vorgänger. Die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum gefährlichen Pfänderspiel der miteinander im ›kalten Krieg‹ liegenden Großmächte. Ein beabsichtigtes Gipfeltref fen des Präsidenten Eisenhower mit Chruschtschow, dem Minister präsidenten der Sowjetunion, kam nicht zustande. Die Entscheidung wurde verschoben – sowohl in der chinesischen wie auch in der deut schen Frage. Der Beschluß der Großmächte über die Zukunft der Völker, denen sie in ihren Grundgesetzen Selbstbestimmung zugesichert hatten, soll te nach der Wahl des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten ge fällt werden. Die Wahl des jungen John F. Kennedy, dessen freiheitliches Programm eine baldige Lösung der schwebenden Fragen versprach, gab großen Teilen der von Angst und Sorge um die Zukunft erfüllten Menschheit neue Hoffnung auf das bessere Leben.
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ZEITTAFEL
Die Neuzeit
1765-1790 Kaiser Joseph II.
1772 Polen: Erste Teilung Polens
1767-1835 Wilhelm von Humboldt, deutscher Philosoph
1772-1801 Friedrich von Hardenberg (Novalis), dt. Dichter
1768-1774 Rußland: Krieg gegen die Türkei
1773 Aufhebung des Jesuitenordens
1774 Friede von Kütschük-Kainardschi 1768 Korsika an Frankreich 1769 James Watt ›erfindet‹ (d.h. verbessert) die Dampfmaschine 1770-1827 Ludwig van Beethoven 1770-1843 Friedrich Hölderlin, deutscher Dichter
1774-1792 Frankreich: Ludwig XVI. 1775-1783 England und USA: Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Kolonien 1775-1854 Friedr. Wilh. Schelling, deutscher Philosoph 1776 Nordamerika: Am 4. Juli Unabhängigkeitserklärung von 13 ›Vereinigten Staaten‹
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1776-1822 E.T.A. Hoffmann, deutscher Dichter
1786-1797 Friedrich Wilhelm II. König in Preußen
1777-1811 Heinrich von Kleist, deutscher Dichter
1786-1826 Carl Maria von Weber, deutscher Komponist
1778-1842 Clemens Brentano, deutscher Dichter
1787-1791 Rußland: 2. Krieg gegen die Türkei; Friede zu Jassy
1778/79 Bayrischer Erbfolgekrieg 1780-1867 Jean Auguste Ingres, französischer Maler 1781-1831 Achim von Arnim, deutscher Dichter 1782-1840 Niccoló Paganini, italienischer Violinvirtuose und Komponist 1783-1842 Stendhal, frz. Dichter 1785 Gründung des deutschen Fürstenbundes
1788-1824 Lord George Byron, englischer Dichter 1788-1857 Joseph von Eichendorff, deutscher Dichter 1788-1860 Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph 1789-1797 Nordamerika: George Washington Präsident 1789-1795 Frankreich: Französische Revolution (14. Juli 1789 Stürmung der Bastille; 1792-97 Erster Koalitionskrieg 468
gegen Österreich und Preußen; 1793 Ludwig XVI. hingerichtet; 1793/94 Schreckensherrschaft Robespierres) 1790-1792 Kaiser Leopold II. 1792-1806 Kaiser Franz II. 1792-1868 Gioacchino Rossini, italienischer Komponist 1792-1797 Erster Koalitionskrieg zwischen Frankreich und Österreich/Preußen 1793-1815 England: Teilnahme am Krieg gegen Frankreich 1793 Polen: Zweite Teilung Polens 1795 Polen: Dritte Teilung Polens
1795-1799 Frankreich: Direktorialregierung. 1795 Friede von Basel mit Preußen; Eroberung Hollands 1797 Feldzug Bonapartes in Italien 1797 Frankreich: Friede von Campo Formio mit Österreich; Beginn des Kongresses in Rastatt 1797-1828 Franz Schubert, deutscher Komponist 1797-1840 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1798 Ägypten: Landung Bonapartes 1798-1863 Eugene Delacroix, französischer Maler 1798-1799 Frankreich: Kriegszug Bonapartes nach 469
Ägypten; 1798 Sieg der englischen Flotte unter Nelson bei Abukir 1799-1802 Frankreich: Zweiter Koalitionskrieg europäischer Mächte gegen Frankreich 1799-1804 Frankreich: Napoleon Bonaparte Erster Konsul 1799-1837 Alexander Puschkin, russischer Dichter 1799-1850 Honore de Balzac, französischer Dichter 1801-1825 Rußland: Alexander I. 1802 England/Frankreich: Friede von Amiens 1802-1855 Victor Hugo, französischer Dichter
1803 Reichsdeputationshauptschluß zu Regensburg 1803-1869 Hector Berlioz, französischer Komponist 1804-1875 Eduard Mörike, dt. Dichter 1804-1814/15 Frankreich: Napoleon I. Kaiser, nachdem seit 1802 Konsul auf Lebenszeit 1805 Dritter Koalitionskrieg gegen Frankreich, Sieg Napoleons bei Austerlitz; Preußen neutral 1805 Italien: Napoleon König von Italien; ab 1806 Verwandte Napoleons eingesetzt 1805 Rußland: Niederlage in der Drei-KaiserSchlacht bei Austerlitz
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1805-1868 Adalbert Stifter, österreichischer Dichter 1805 Frankreich: Dritter Koalitionskrieg europäischer Mächte gegen Frankreich; Sieg Napoleons bei Austerlitz; Niederlage bei Trafalgar (Nelson †); Friede von Preßburg 1806 Errichtung des Rheinbundes; Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 Kontinentalsperre Napoleons gegen England 1806/07 Frankreich: Errichtung des Rheinbundes; Kontinentalsperre gegen England; Krieg gegen Preußen und Rußland; 1806 Siege bei Jena und Auerstädt; 1807 unentschiedene Schlacht bei Preußisch-Eylau, Sieg über die Russen bei Friedland; Juli 1807 Friede von Tilsit
1806/07 Krieg Napoleons gegen Preußen und Rußland; 1806 Sieg über die Preußen bei Jena und Auerstädt; 1807 unentschiedene Schlacht bei PreußischEylau zwischen Preußen und Franzosen, Friede von Tilsit 1806-1812 Rußland: Dritter Krieg gegen die Türkei 1806-1817 Balkan: Serbischer Freiheitskampf ab 1807 Pyrenäenhalbinsel: Volkskrieg gegen Napoleon 1807-1814 Reformen in Preußen 1808-1814 Frankreich: Krieg in Spanien/Portugal; England (Wellington) auf spanischer Seite 1809 Krieg Österreichs gegen Frankreich; bei Aspern 471
Napoleon geschlagen, dann sein Sieg bei Wagram 1809 Frankreich: Krieg mit Österreich; Oktober 1809 Friede von Schönbrunn/Wien 1809-1852 N. Gogol, russischer Dichter 1809-1882 Charles Darwin, englischer Naturwissenschaftler seit 1810 Amerika: Freiheitskampf der spanischen Kolonien 1810-1849 Frederic Chopin, polnischer Komponist 1810-1856 Robert Schumann, deutscher Komponist 1811-1886 Franz von Liszt, deutscher Komponist
1812 Frankreich: Napoleons vergeblicher Zug nach Rußland 1812-1870 Charles Dickens, englischer Romancier 1813 Bündnis PreußenRußland zu Kalisch 16.-19.10.1813 Völkerschlacht bei Leipzig 1813-1815 Frankreich: Befreiungskriege gegen Napoleon; 1813: Niederlage Napoleons bei Leipzig; 1815 Niederlage Napoleons bei Waterloo 1813/14 Rußland: Teilnahme an den Befreiungskriegen 1813-1855 Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph
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1813-1863 Friedrich Hebbel, deutscher Dichter 1813-1883 Richard Wagner, deutscher Komponist 1813-1901 Guiseppe Verdi, italienischer Komponist 1814 Polen/Rußland: »Kongreß-Polen« russisch 1814 Skandinavien: Norwegen an Schweden (Personalunion); Dänemark mit dem Herzogtum Lauenburg entschädigt 1814/15 Wiener Kongreß 1814/15 Frankreich: April 1814, Abdankung Napoleons, Rückkehr der Bourbonen (1814/15-1824 Ludwig XVIII.); 1815 Rückkehr Napoleons, ›Herrschaft der
hundert Tage‹; Juli 1815 Napoleon nach St. Helena verbannt 1815 ›Heilige Allianz‹ 1815 Schweiz: Vom Wiener Kongreß für neutral erklärt 1815 Holland/Belgien: Holland und Belgien vom Wiener Kongreß zum Königreich der Niederlande vereinigt 1815-1866 Deutscher Bund unter Österreichs Leitung 1815-1905 Adolf Menzel, deutscher Maler 1817-1888 Theodor Storm, deutscher Dichter seit 1818 Schweden: Haus Bernadotte
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1818-1883 Iwan Turgenjew, russischer Dichter 1819 Karlsbader Beschlüsse 1820-1830 England: Georg IV. 1821-1829 Balkan: Erhebung Griechenlands; 1829 unabhängig 1821-1867 Charles Baudelaire, französischer Dichter 1821-1880 Gustave Flaubert, französischer Dichter 1821-1881 F. M. Dostojewskij, russischer Dichter 1823 Nordamerika: Monroedoktrin 1823 Amerika:
Mexiko Republik (1822 Kaiserreich) 1824-1830 Frankreich: Karl X.; 1830 Julirevolution unter Adolphe Thiers; Karl dankt ab 1825-1855 Rußland: Nikolaus I.; 1828/29 Russ.-Türk. Krieg 1825-1898 C.F. Meyer, Schweizer Dichter 1828-1906 Henrik Ibsen, norwegischer Dichter 1828-1910 Leo N. Tolstoi, russischer Dichter 1830/31 Polen/Rußland: Polnischer Aufstand; niedergeschlagen 1830-1848 Frankreich: ›Bürgerkönig‹ Louis Philippe nach Julirevolution
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1830 Belgien: Londoner Konferenz erkennt Unabhängigkeit Belgiens an
Sozialistische Chartistenbewegung 1838-1875 Georges Bizet, französischer Komponist
1831-1833 Ägyptisch-Türkischer Krieg
1839-1842 England: Krieg gegen China
1832 Hambacher Fest
1839-1842 China: ›Opiumkrieg‹ mit England; Hongkong britisch
1833 Gründung des Deutschen Zollvereins 1833-1897 Johannes Brahms, deutscher Komponist 1834-1917 Edgar Degas, französischer Maler 1835-1848 Ferdinand I. Kaiser von Österreich 1837-1901 England: Königin Viktoria; Hannover selbständig ab 1838 England:
1839-1906 Paul Cezanne, französischer Maler 1840-1861 Friedrich Wilhelm IV. König in Preußen 1840-1902 Emile Zola, französischer Dichter 1840-1917 Auguste Rodin, französischer Bildhauer 1841-1919 Auguste Renoir, französischer Maler
475
1848 Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes (Marx, Engels) 1848 Frankreich: Februarrevolution, Republik ausgerufen; Louis Napoleon Präsident 1848/49 Italien: Aufstände gegen Österreich; Siege Radetzkys 1848-1916 Kaiser Franz Joseph I. von Österreich 1848/49 Revolution in Deutschland; Zusammentritt einer ›Deutschen Nationalversammlung‹ 1848-1850 Krieg Schleswig-Holsteins gegen Dänemark; 1850 Friede zu Berlin; 1852 Londoner Protokoll 1849 Friedrich Wilhelm IV. lehnt Kaiserwürde ab
1851 Frankreich: Staatsstreich Louis Napoleons; 1852-1870: Kaiser Napoleon III. 1853/54 Japan: Handelsvertrag mit den USA 1853-1856 Rußland: Krimkrieg; 1856 Friede von Paris 1853-1856: Frankreich/England: Beteiligung am Krimkrieg gegen Rußland; 1856 Friede von Paris 1853-1890 Vincent van Gogh, niederländischer Maler 1855-1881 Rußland: Alexander II. 1856-1950 George Bernard Shaw, irischer Dichter 1858-1872 Amerika: 476
Juárez Präsident Mexikos (1867 Kaiser Maximilian hingerichtet) ab 1859 Italien: Einigungskämpfe; 1861 Einigung; Viktor Emanuel II. König; 1871 Rom Hauptstadt 1859-1952 Knut Hamsun, norwegischer Dichter 1859 Balkan: Fürstentum Rumänien 1860-1904 Anton Tschechow, russischer Dichter 1861-1865 Nordamerika: Sezessionskrieg; Kapitulation der Südstaaten 1861-1867 Frankreich: Unternehmungen in Mexiko 1861-1888 Wilhelm I. von Preußen
ab 1862 Bismarck preußischer Ministerpräsident 1862 China: Indochina französische Kolonie 1862-1946 Gerhart Hauptmann, deutscher Dichter 1863-1944 Edvard Munch, norw. Maler 1864 Dänemark/Deutschland: Deutsch-Dänischer Krieg 1864 Gründung des Roten Kreuzes durch H. Dunant 1864 Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864-1949 Richard Strauß, deutscher Komponist 1865-1936 Rudyard Kipling, englischer Dichter 477
1866-1945 W. Kandinsky, russischer Maler 1866 Sogenannter ›Deutscher Krieg‹ 1867 Norddeutscher Bund; Doppelmonarchie Österreich/Ungarn 1867 Nordamerika: USA kaufen Alaska von Rußland 1868 England: Krieg gegen Abessinien 1868 Japan: Revolution: Wiedereinsetzung des Mikado; Modernisierung des Staates 1868-1936 Maxim Gorki, russischer Dichter 1869 Ägypten: Suezkanal erbaut (Lesseps)
1869-1951 Andre Gide, französischer Dichter 1870-1938 Ernst Barlach, deutscher Bildhauer und Dichter 1870/71 Frankreich: Krieg mit Deutschland; Niederlage bei Sedan; Napoleon III. kriegsgefangen 18.1.1871 Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 Frankreich: Aufstand der Commune 1871-1937 Ernest Rutherford, englischer Physiker 1871-1888 Wilhelm I. Deutscher Kaiser 1871-1873 Frankreich: Thiers Präsident der Republik
478
1871-1890 Bismarck deutscher Reichskanzler
1875 Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands
1872 Drei-Kaiser-Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Rußland
1877 England: Königin Viktoria ›Kaiserin von Indien‹
1872 Beginn des ›Kulturkampfes‹
1877/78 Vorderasien: Türkisches Großreich aufgelöst
ab 1873 Frankreich: MacMahon Präsident
1877/78 Rußland/Balkan: Russisch-Türkischer Krieg; 1778 Berliner Kongreß: Bulgarien, Serbien, Montenegro, Rumänien selbständig
1874-1880 England: Konservativer Premierminister Disraeli
1879 Zweibund zwischen Deutschland und Österreich/Ungarn; 1882 durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert
1874-1951 Arnold Schönberg, deutscher Komponist 1875-1926 Rainer Maria Rilke, deutscher Dichter
1879-1955 Albert Einstein, Physiker
1875-1955 Thomas Mann, deutscher Dichter
ab 1881 Großzügige soziale Gesetzgebung in Deutschland
479
1881 Frankreich: Besetzung von Tunis 1881 Pablo Picasso, spanischer Maler, geboren 1881 Balkan: Rumänien Königreich 1881-1890 Rußland: Alexander III. 1882 Italien: Unter König Humbert (1878 1900) Beitritt zum Dreibund 1882 England: Besetzung Ägyptens 1882-1941 James Joyce, irischer Dichter 1882 Igor Strawinsky, russischer Komponist, geboren 1884/85 China: Französisch-Chinesischer Krieg
1885 Frankreich: Madagaskar unter französischer Schutzherrschaft 1885/86 Balkan: Serbisch-Bulgarischer Krieg 1886-1956 Gottfried Benn, deutscher Dichter 1887 Marc Chagall, französischer Maler, geboren 1887 Rußland: Rückversicherungsvertrag mit Deutschland 1887 Rückversicherungsvertrag Deutschlands mit Rußland 1888 Sogenanntes ›Drei-Kaiser-Jahr‹: nach dem Tode Wilhelms I. Regierung von neunundneunzig Tagen Friedrichs III. dem Wilhelm II. folgt
480
1888-1918 Wilhelm II. 1888-1953 Eugene G. O'Neill, amerikanischer Dichter 1890 Bismarcks ›Entlassung‹, Caprivi Reichskanzler 1890 Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert 1890 Luxemburg: Luxemburg, seit 1867 neutral, wird unabhängig 1892 Frankreich: Französisch-Russische Militärkonvention
1897 Balkan: Griechisch-Türkischer Krieg 1897 William Faulkner, amerikanischer Dichter, geboren 1898 Nordamerika: Krieg der USA gegen Spanien; Gebietserwerb 1898 England/Frankreich: Faschodakrise 1899-1902 England: Zweiter Burenkrieg; 1902 Frieden von Pretoria: Südafrika britisch 1899-1936 F.G. Lorca, spanischer Dichter
1894/95 Ostasien: Japanisch-Chinesischer Krieg
1900/01 China: ›Boxer‹-Aufstand
1894-1917 Rußland: Nikolaus II.
1900-1938 Thomas Wolfe, amerikanischer Dichter
481
1900-1944 Italien: König Victor Emanuel III.
1905 Jean Paul Sartre, französischer Schriftsteller, geboren
1901-1905 Frankreich: Kulturkampf
1905 Skandinavien: Trennung Norwegens von Schweden
1901-1910 England: König Eduard VII. 1902 Japan: Bündnis mit Großbritannien 1904 Frankreich/England: Entente Cordiale 1904 Amerika: Panama-Kanal eröffnet (1903 Panama selbständig) 1904/05 Japan: Erfolgreicher Krieg gegen Rußland 1904/05 Rußland: Krieg gegen Japan, Mißerfolg
1905 Wilhelm II. Landung in Tanger; Erste Marokkokrise 1905 Rußland: Revolutionäre Unruhen 1905/06 Erste Marokkokrise; Konferenz von Algeciras 1907 Rußland: Abkommen mit England und Frankreich (Entente) 1910 Jean Anouilh, französischer Dichter, geboren 1910-1936 England: Georg V.
482
1911 Zweite Marokkokrise (Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir gesandt) 1911 Portugal: Republik Portugal (seit 1910) anerkannt 1911 China: In Südchina Revolution Sun Yatsens; 1912 China Republik; Bürgerkrieg 1911/12 Balkan/Italien: Italienisch-Türkischer Krieg 1912 Frankreich: Französisch-Russisches Marineabkommen 1912/13 Balkan: Balkankriege 1913-1920 Frankreich: Poincare Präsident der Republik
1913-1960 Albert Camus, französischer Dichter 1914-1918 I. Weltkrieg; Niederlage des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten 1917 Rußland: Bolschewistische Oktoberrevolution (Entstehung der Sowjetrepubliken) USA: Wilson Präsident (bis 1921) 1918 Deutschland, Österreich: Thronverzichte Kaiser Wilhelms II. und Kaiser Karls (1916-1918) 1918 Osteuropa: Polen, Finnland und die Baltischen Staaten selbständig 1918 Balkan: Jugoslawien selbständig 1919 Alle deutschen Kolonien unter Mandatsverwaltung 483
1919 Versailler Frieden mit Deutschland 1919 Weimarer Republik begründet 1919-1925 Ebert Reichspräsident 1919 Völkerbund gegründet 1919 Frankreich: Elsaß-Lothringen von Deutschland 1919 Italien: Südtirol und Triest an Italien 1920 Kapp-Putsch 1920 Irak unabhängig 1920-1922 Balkan: Griechisch-Türkischer Krieg; 1922 Türkei Republik; 1924 Griechenland wird Republik
1922 Ägypten unabhängig 1922 Deutschland/Rußland: Vertrag von Rapallo 1922 England: Freistaat Irland (Dominion-Status) 1922 Italien: Sieg des Faschismus; Mussolini 1923 Vorderasien: Türkei Republik 1923 Frankreich besetzt Ruhrgebiet; in Deutschland Inflation 1924 England: Erstes Labour-Kabinett 1925 Europa: Locarno-Vertrag 1925-1934 Hindenburg Reichspräsident 484
ab 1926 Japan: Kaiser Hirohito
1933-1945 Hitler Reichskanzler; Ende der parlamentarischen Republik
1928 China: Nationalregierung
1933-1945 F.D. Roosevelt Präsident
1928 Europa: Kellog-Pakt von vielen Staaten unterzeichnet 1929 Italien: Lateranverträge 1931 Spanien: Spanien Republik 1932 Portugal: Salazar Ministerpräsident 1932 Europa: Genfer Abrüstungskonferenz gescheitert 1932 Japaner in der Mandschurei
1934 Balkan: Balkanpakt zwischen der Türkei, Griechenland, Rumänien, Jugoslawien 1935 England: Flottenabkommen mit Deutschland (Hitler) 1935 Frankreich: Beistandspakt mit Rußland 1935/36 Italien: Unterwerfung von Abessinien 1935/36 Afrika: Italien unterwirft Abessinien 1936 Deutsch-Italienischer Vertrag, ›Achse‹ Berlin-Rom 485
1936 England: Januar bis Dezember: Edward VIII.; Dezember 1936 bis 1952: Georg VI. 1936-1938 Frankreich: Volksfront-Kabinett
(Leon Blum, ab 1937 Chautemps)
1936-1939 Spanien: Bürgerkrieg 1937-1939 England: Chamberlain Premierminister 1937-1945 China/Japan: Krieg Japans gegen China 1938 Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes durch deutsche Truppen 1938-1940 Frankreich: Kabinett Daladier
1939 Italien: Besetzung Albaniens 1939 Besetzung Böhmens und Mährens 1939-1945 2. Weltkrieg: Deutschland gegen Polen, Frankreich, England, Sowjetunion, USA u.a. 1945 Bedingungslose Kapitulation Deutschlands; Einteilung in Zonen und Verwaltungsgebiete; Vertreibung der Ost- und Sudetendeutschen ab 1945 Osteuropa: Gründung von kommunistischen ›Volksrepubliken‹ (Satellitenstaaten der UdSSR) 1945 England: Labour-Regierung (Attlee) 1945 Nordamerika: USA am Ende des 2. 486
1947 Europa/USA: Marshallplan
Weltkriegs mächtigstes Staatengebilde der Erde 1945 Gründung der UNO
1947 Spanien: Spanien wieder Königreich
1945/46 Italien: Mussolini erschossen;
1948 Währungsreform in Deutschland
1946 Italien Republik
1949 Errichtung der Bundesrepublik und der sogenannten DDR auf dem Boden des Deutschen Reiches
1947 Bildung der Bi-Zone (gültig ab 1.1.1948) 1947 Indien: Indien als Dominion im Verband des Britischen Reiches 1947 Europa: Pariser Friedensverträge mit ehem. Verbündeten Deutschlands 1947 Europa/USA: Außenministerkonferenz in Moskau
1949 China: Kommunistischer Aufstand Mao Tse-tungs; Tschiang Kaischek (seit 1926) gestürzt 1949 Europa: Osteuropäischer Wirtschaftsrat 1949 Europa/USA: Nordatlantikpakt (NATO) 1949 England/Irland:
487
Irlands Austritt aus dem Verband des Commonwealth
verliert Japan alle seit 1875 gemachten Eroberungen
1949 und 1954 Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt
1951 Westmächte erklären den Kriegszustand mit Deutschland für beendet
ab 1949 Regierung einer ›Kleinen Koalition‹ unter Führung der CDU/CSU; Bundeskanzler Adenauer 1950 Europa: Londoner Zehnmächtepakt; erste Tagung des Europarats (Ministerausschuß) 1950 USA/Europa: Außenministerkonferenz in New York (USA, Großbritannien, Frankreich) 1950-1953 Asien: Korea-Krieg; militärisches Eingreifen der UNO 1951 Japan: Im Frieden von San Franzisco
1951 Europa: Montanunion gegründet 1951 Frankreich/Benelux: Teilnahme an der Montanunion 1951 Skandinavien: Nordischer Rat geschaffen 1952-1960 Nordamerika: Eisenhower Präsident der USA; Außenminister Dulles; 1954 Antikommunistengesetz 1952 England: Elisabeth II. gekrönt 1952 Europa: Europäische 488
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1952 Frankreich/Benelux: Teilnahme am Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1953 UdSSR: Tod Stalins 1954 Europa: Berliner und Genfer Konferenz; Pariser Konferenz (Gründung der Westeuropäischen Union) 1955 UdSSR beendigt Kriegszustand mit Deutschland 1955 Europa: Warschauer Militärpakt 1956 Ungarn: Großer Aufstand gegen das kommunistische Regime
1956 Ägypten: Suezkrise; Eingreifen Englands und Frankreichs 1957 UdSSR: Start des 1. Erdsatelliten 1958 Frankreich: De Gaulle Ministerpräsident (1959 Erster Präsident der V. Republik) 1959 Heinrich Lübke Bundespräsident1960 USA: J.F. Kennedy Präsident 1961 UdSSR: Erster bemannter Weltraumflug
Deutsche Geschichte
1764-1850 J. G. Schadow, Bildhauer 1765-1790 Kaiser Joseph II. 489
1770-1827
Ludwig van Beethoven 1770-1831
G.W. Friedrich Hegel, Philosoph 1770-1843
Friedrich Hölderlin, Dichter 1772
Erste Teilung Polens 1776-1822
E.T.A. Hoffmann, Dichter 1776-1840
Caspar David Friedrich, Maler
1781-1841
Karl Friedrich Schinkel, Maler und Baumeister 1785
Gründung des deutschen Fürstenbundes durch Friedrich den Großen 1786-1797
Friedrich Wilhelm II. König in Preußen 1786-1826
Carl Maria von Weber, Komponist
1777-1811
Heinrich von Kleist, Dichter
1787-1791
Zweiter Türkenkrieg; Österreich an russischer Seite
1777-1857
Christ. Daniel Rauch, Bildhauer
1788-1857
Joseph von Eichendorff, Dichter
1778/79 Bayrischer Erbfolgekrieg
1790-1792
Kaiser Leopold II. (Bruder Josephs II.)
1778-1842
Clemens Brentano, Dichter 1781-1831
Achim von Arnim, Dichter
1792-1806
Kaiser Franz II. 1792-1797
Erster Koalitionskrieg 490
zwischen Frankreich und Österreich/Preußen 1793 Zweite Teilung Polens 1795 Dritte Teilung Polens 1797-1828 Franz Schubert, Komponist 1797-1840 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1797-1856 Heinrich Heine, Dichter 1799-1802 Zweiter Koalitionskrieg europäischer Staaten gegen Frankreich; Preußen neutral 1803 Reichsdeputationshauptschluß zu Regensburg 1803-1884 Ludwig Richter, Maler und Zeichner 1804-1875 Eduard Mörike, Dichter
1805 Dritter Koalitionskrieg gegen Frankreich, Sieg Napoleons bei Austerlitz 1805-1868 Adalbert Stifter, österreichischer Dichter 1806 Errichtung des Rheinbundes; Folge: Franz II. legt die deutsche Kaiserkrone nieder 1806 Sieg der Franzosen über die Preußen bei Jena und Auerstädt 1806/07 Krieg Napoleons gegen Preußen und Rußland 1807 Unentschiedene Schlacht bei Preußisch-Eylau zwischen Preußen und Franzosen Sieg Napoleons über die Russen bei Friedland Friede von Tilsit 1807-1814 Reformen in Preußen, z.B. unter dem Freiherrn von und zum Stein 491
1808-1885 Carl Spitzweg, Maler 1810-1856 Robert Schumann, Komponist 1811-1886 Franz von Liszt, Komponist 1809 Krieg Österreichs gegen Frankreich; bei Aspern Napoleon geschlagen, siegt bei Wagram; Erhebung der Tiroler unter Andreas Hofer 1813 Bündnis zwischen Preußen und Rußland zu Kalisch 1813-1937 Georg Büchner, Dichter 1813-1863 Friedrich Hebbel, Dichter 1813-1883 Richard Wagner, Komponist Mai 1813 Niederlagen der Verbündeten gegen Napoleon bei Großgörschen und Bautzen
Aug./Sept. 1813 Siege Bülows bei Großbeeren, Blüchers an der Katzbach (Wahlstatt); Sieg Napoleons bei Dresden über Schwarzenberg; Siege von Kleists bei Kulm und Nollendorf, Bülows und Tauentziens bei Dennewitz 16.-19.10.1813 Völkerschlacht bei Leipzig, Napoleon entscheidend geschlagen; Folge: Auflösung des Rheinbundes, Sieg der Verbündeten und Einzug in Paris 1814/15 Wiener Kongreß: Neuordnung der europäischen Verhältnisse 1815 ›Heilige Allianz‹ der Monarchen von Rußland, Preußen, Österreich 1815 Blücher entscheidet Schlacht von Belle-Alliance (Waterloo): Sieg, zusammen mit Wellington, über Napoleon 1815-1905 Adolf Menzel, Maler 492
1815-1866 Deutscher Bund unter Österreichs Leitung 1817-1888 Theodor Storm, Dichter 1819 Karlsbader Beschlüsse 1819-1890 Gottfried Keller, Schweizer Dichter
süddeutschen (radikalen) Liberalisten 1832-1908 Wilhelm Busch, Humorist 1833 Gründung des deutschen Zollvereins 1833-1897 Johannes Brahms, Komponist
1819-1898 Theodor Fontane, Dichter
1835-1848 Ferdinand I. Kaiser von Österreich
1824-1896 Anton Bruckner, österreichischer Komponist
1840-1861 Friedrich Wilhelm IV. König in Preußen
1825-1899 Johann Strauß (Sohn), österr. Komponist
1844-1909 Detlev von Liliencron, Lyriker
1827-1901 Arnold Böcklin, Maler 1829-1880 Anselm Feuerbach, Maler 1832 Hambacher Fest der
1848-1850 Krieg Schleswig-Holsteins gegen Dänemark; 1850 Friede zu Berlin; 1852 Londoner Protokoll 1848-1916 Kaiser Franz Joseph I. 1848/49 Revolution in Deutschland; 493
Zusammentritt einer ›Deutschen Nationalversammlung‹ 1849 Friedrich Wilhelm IV. lehnt die Kaiserwürde ab, die ihm die Frankfurter Nationalversammlung angeboten hatte 1858-1948 Max Planck, Physiker 1861-1888 Wilhelm I. von Preußen ab 1862 Bismarck preußischer Ministerpräsident 1862-1946 Gerhart Hauptmann 1864 Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark; Friede von Wien 1864-1908 Frank Wedekind, Dichter 1864-1949 Richard Strauß, Komponist
1866 Sogenannter ›Deutscher Krieg‹ zwischen Preußen und Österreich, entscheidende österreichische Niederlage bei Königgrätz, Verständigungsfriede zu Prag; Auflösung des Deutschen Bundes 1867 Norddeutscher Bund unter preußischer Führung; Bismarck Bundeskanzler 1870-1938 Ernst Barlach, Bildhauer und Dichter 1870/71 Deutsch-Französischer Krieg, entscheidende Schlacht: 1.9. 1870 bei Sedan, Napoleon III. gefangen; Vorfriede von Versailles 18.1.1871 Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Schloß von Versailles 1871-1888 Wilhelm I. Deutscher Kaiser
494
1871-1890 Bismarck deutscher Reichskanzler 1872 Beginn des ›Kulturkampfes‹ 1872 Drei-Kaiser-Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Rußland 1874-1951 Arnold Schönberg, Komponist 1875 Gründung der ›Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands‹ 1875 Gründung des Weltpostvereins auf deutsche Anregung (H. v. Stephan)
1879 Zweibund zwischen Deutschland und Österreich/Ungarn; 1882 durch den Beitritt Italiens zum Dreibund erweitert 1879-1955 Albert Einstein, Physiker 1879 Otto Hahn, Chemiker, geboren 1879-1940 Paul Klee, Maler 1880-1916 Franz Marc, Maler ab 1881 Großzügige soziale Gesetzgebung in Deutschland 1883 Karl Jaspers, Philosoph, geboren
1875-1955 Thomas Mann
1884 Franz Kafka, Dichter, geboren
1875 Albert Schweitzer geboren
1884/85 Gründung deutscher Kolonien in Afrika und im Fernen Osten
1875-1926 Rainer Maria Rilke, Dichter
1886-1956 Gottfried Beim, Dichter 495
1887 Rückversicherungsvertrag Deutschlands mit Rußland 1888 Sogenanntes ›Dreikaiserjahr‹: nach dem Tode Wilhelms I. Friedrich III. dem Wilhelm II. folgt 1888-1918 Wilhelm II. (gest. 1941) 1889 Martin Heidegger, Philosoph, geboren 1890 Bismarcks Rücktritt (›Entlassung‹), Caprivi Reichskanzler 1890 Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert 1895 Paul Hindemith, Komponist, geboren 1905/06 Erste Marokkokrise, beendet durch die Konferenz von Algeciras
1911 Zweite Marokkokrise (Kanonenboot ›Panther‹ nach Agadir gesandt) 1914-1918 1. Weltkrieg, Niederlage des Deutschen Reiches 1919 Versailler Frieden mit Deutschland Februar 1919 Weimarer Republik begründet; August Unterzeichnung der Verfassung 1919-1925 Ebert Reichspräsident 1920 Kapp-Putsch 1922 Vertrag von Rapallo 1923 Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen In Deutschland Inflation Im November Hitler-LudendorffPutsch in München, mißglückt 496
1925 Vertrag von Locarno (Stresemann) 1925-1934 Hindenburg Reichspräsident 1928 Kellogg-Briand-Pakt auch von Deutschland unterzeichnet 1930 Das Rheinland geräumt 1932 Erledigung des Reparationsproblems (Konferenz von Lausanne) 1933-1945 Hitler Reichskanzler; Ermächtigungsgesetz bedeutet Ende der parlamentarischen Republik
1935 Deutschland führt allgemeine Wehrpflicht ein; deutsch englisches Flottenabkommen 1936 Deutsche Truppen besetzen entmilitarisiertes Rheinland 1936 Deutsch-italienischer Vertrag, ›Achse‹ Berlin-Rom 1936 Antikominternpakt mit Japan 1938 Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes 1939 Militärbündnis DeutschlandItalien; deutsch-russischer Nichtangriffspakt
1934 Nichtangriffspakt Deutschland-Polen
1939 Besetzung Böhmens und Mährens
1934 Tod Hindenburgs, Hitler Reichspräsident
1939-1945 Krieg Deutschlands gegen Polen, Frankreich, UdSSR, USA usw.; vollständige deutsche Niederlage; bedingungslose Kapitulation 497
1939-1945 2. Weltkrieg; Krieg JapanUSA (1941-1945) 5.6.1945 Deutschland aufgeteilt; von Kontrollrat verwaltet 1947 Auflösung Preußens durch Gesetz 1947 Bildung der Bi-Zone (gültig ab 1.1.1948) 1948 Währungsreform 1949 Errichtung der Bundesrepublik und der sogenannten ›DDR‹
1953 (17. Juni) Aufstand in Mitteldeutschland; mit Hilfe der Besatzungsmacht niedergeschlagen 1955 Nach Wehrgesetz Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO 1956 ›Nationale Volksarmee‹ in der ›DDR‹ gebildet 1956 KPD in der Bundesrepublik verboten 1959 Heinrich Lübke Bundespräsident 1961 Dt.-frz. Freundschaftsvertrag
1949 und 1954 Theodor Heuss Bundespräsident ab 1949 Regierung der ›Kleinen Koalition‹ (Führung: CDU/ CSU; Bundeskanzler Adenauer) in der Bundesrepublik 1953 Tod Stalins 498