Amos Oz
Wie man Fanatiker kuriert edition suhrkamp SV
edition suhrkamp 2309
Die Eskalation der Gewalt im Nahen Oste...
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Amos Oz
Wie man Fanatiker kuriert edition suhrkamp SV
edition suhrkamp 2309
Die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten, genauer zwischen Israelis und Palästinensern, bildet den Hintergrund, vor dem Amos Oz im Januar 2002 seine Vorlesungen in Tübingen hielt. Hier schildert er, der bereits seit Mitte der sechziger Jahre für zwei unabhängige Staaten auf israelisch-palästinensischem Territorium plädierte, wie er zum Schriftsteller wurde. In der zweiten Vorlesung wendet sich der »Fanatismusexperte« Amos Oz dem Thema zu, das wie ein roter Faden sein gesamtes literarisches wie essayistisch-publizistisches Werk durchzieht: Ursachen und Konsequenzen des Fanatismus. Und um ein praktisches Beispiel sowohl für Nicht-Fanatismus wie für das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern zu geben, hat Amos Oz den palästinensischen Schriftsteller Izzat Ghazzawi gebeten, über die Bedeutung von Kultur und Literatur in Konfliktgebieten zu reden. In dieser Weise wirft vorliegender Band ein Schlaglicht auf die Situation und setzt ein kleines optimistisches Zeichen: nämlich daß Koexistenz zwischen beiden Völkern möglich ist.
Amos Oz Wie man Fanatiker kuriert Tübinger Poetik-Dozentur 2002 Mit einer Vorlesung von Izzat Ghazzawi Aus dem Englischen von Julia Ziegler
Suhrkamp
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; http://dnb.ddb.de
edition suhrkamp 2309 Erste Auflage 2004 © Amos Oz 2004 © Izzat Ghazzawi 2004 © der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia Publishing, Fahnau Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany isbn 3-518-12309-2
Inhalt Amos Oz Wie man Fanatiker kuriert Erste Vorlesung: 17. Januar 2002 9 Zweite Vorlesung: 21. Januar 2002 37 Dritte Vorlesung: 23. Januar 2002 61 Izzat Ghazzawi Die Rolle von Kultur und Literatur in Krisengebieten Vorlesung an der Universität Tübingen 85
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Erste Vorlesung 17. Januar 2002 Meine Damen und Herren, um Mißverständnisse zu vermeiden, lassen Sie mich gleich zu Beginn etwas klarstellen: Ich bin nicht gegen die Liebe, ich bin nur dagegen, Liebe und Frieden zu verwechseln, denn eine solche Verwechslung ist immer sentimental. Ich bin heute jedoch nicht hier, um über Krieg und Frieden, Frieden und Liebe, Liebe und Feindseligkeit zu sprechen – darüber werden wir, hoffentlich, an einem anderen Abend in der nächsten Woche diskutieren oder auch an mehreren Abenden. Heute bin ich hier, um mit Ihnen über mein Schreiben zu sprechen. Es ist eine inzestuöse Angelegenheit für einen Schriftsteller, über sein eigenes Schreiben zu sprechen. Vor einigen Jahren habe ich ein Kinderbuch mit dem Titel Sumchi geschrieben. Es ist ein sehr persönliches Buch, verfaßt in der ersten Person, in dem ich ein wenig von meiner eigenen Kindheit offenbart habe. Ein Journalist sprach mich darauf an und sagte: »Herr Oz, können Sie uns bitte in Ihren eigenen Worten erzählen, wovon dieses Buch handelt?« Genau das ist im Grunde auch heute mein Problem. Ich soll Ihnen in meinen eigenen Worten sagen, um was alles es mir bei meinem Schreiben geht. Ich sage Ihnen, was ich nicht tun werde: Ich werde nicht an-
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fangen zu analysieren, ich werde mich nicht bemühen, die Experten in Ihrem eigenen Spiel zu schlagen, und ich werde nicht einmal versuchen, Ihnen zu erzählen, wie gut ich als Schriftsteller bin. Ich möchte Ihnen dagegen einige Geschichten darüber erzählen, wie ich Schriftsteller geworden bin, wie ich schreibe und wie ich damit ein paar meiner Frustrationen und Vergnügungen ausgleiche. Ich weiß, daß es insbesondere in Deutschland, in der deutschen Tradition üblich ist, darüber zu sprechen, welche Qual und welches Leid das Schreiben mit sich bringt. Ich kenne sogar das deutsche Wort »Schmerz« in diesem Zusammenhang. Heute möchte ich Ihnen etwas über die Freude dabei erzählen oder über einige der Freuden, die das Schreiben mit sich bringt. Ich neige fürchterlich zum Abschweifen, es wird daher bei meinem Vortrag viele Exkurse geben. Und der erste kommt gleich jetzt, wenn ich über die Freude spreche: Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, besuchte ich eine religiöse jüdische Knabenschule, die sehr puritanisch, extrem viktorianisch war – einmal abgesehen davon, daß niemand wußte, wer Viktoria eigentlich war. Eines Tages bestellte die Schulschwester, die kühnste Frau, die mir je in meinem Leben begegnet ist, alle Buben, wir waren fünfunddreißig oder vielleicht vierzig, in einen Klassenraum. Sie machte die Fenster zu, verschloß die Tür und weihte uns zwei Stunden lang in die Geheimnisse des Lebens ein, einschließlich aller Mechanismen, aller geheimer Verfahren, was wo hineinkommt, Trompeten, Tuba und all so was. Und ich erinnere mich daran, wie wir alle blaß, fassungslos und
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schockiert dasaßen, weil sie, nachdem sie uns all diese schrecklichen Abläufe geschildert hatte, nun auch noch auf die beiden berühmten Ungeheuer des Geschlechtslebens zu sprechen kam, die Al Qaida und die Hisbollah der Sexualität: ungewollte Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten. Wir fielen fast in Ohnmacht, und ich erinnere mich daran, wie der kleine Amos aus dem Klassenzimmer ging und sich fragte: »Nun gut, die Technik verstehe ich, aber warum sollte ein vernünftiger Mensch jemals in solche Schwierigkeiten verwikkelt werden wollen?« Offensichtlich hat diese mutige Schwester, die alles so genau erklärt hatte, vergessen uns mitzuteilen, daß sich da ein Gerücht hält, die ganze Sache könne mit einem gewissen Vergnügen verbunden sein. Möglicherweise wußte sie es nicht. Aber immer, wenn es zum Thema Schreiben kommt, und sehr oft, wenn ich Schriftsteller über den Schmerz, die Anstrengungen und das Leid ihres eigenen Schreibens reden höre, werde ich an diese kühne Schwester erinnert. Meine Freunde, die Gründe, warum ich Schriftsteller geworden bin, sind Armut, Einsamkeit und Eiscreme. Ich war das einzige Kind einer Familie aus dem unteren Mittelstand, genaugenommen einer ziemlich armen Familie in Jerusalem. Mein Vater war Bibliothekar, und meine Mutter gab gelegentlich Privatstunden in Geschichte und Literatur. Wir lebten in einer kleinen Wohnung, die vom Platzangebot her an ein Unterseeboot erinnerte, vollgefüllt mit Büchern in vielen Sprachen. Aber von den Büchern einmal abgesehen, gab es dort nicht viel anderes. Meine Eltern gingen gewöhnlich in Cafés, um ihre Freunde zu treffen. Und da ich ein Ein-
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zelkind war und es niemanden gab, der mit mir zu Hause hätte bleiben können, nahmen sie mich immer mit. Jedesmal sagten sie zu mir, sie werden mit ihren Freunden reden müssen, und ich werde mich zu benehmen haben, und wenn ich mich benommen habe, dann gibt es am Ende auch ein Eis für mich. Nun muß man sagen, daß zu dieser Zeit in Jerusalem Eiscreme noch seltener war als heutzutage Frieden im Nahen Osten. Gerüchte rankten sich darum, Legenden, und nur wenigen glücklichen Menschen war es vergönnt, sie zu genießen. Ich sehnte mich nach der Eiscreme, aber meine Eltern hatten die Angewohnheit, mit ihren Freunden sieben Tage und sieben Nächte am Stück zusammenzusitzen und miteinander zu reden, zumindest hatte ich diesen Eindruck. Und so mußte ich mit mir selbst irgend etwas anfangen, um nicht loszuschreien oder verrückt zu werden. So saß ich dann immer wie ein kleiner Detektiv da und beobachtete das Spektakel im Café – Leute kommen herein, gehen wieder hinaus … Wie ein kleiner Sherlock Holmes schaute ich mir immer wieder ihre Kleider an, ihre Gesichter, ihre Gesten, studierte ihre Schuhe, dachte über ihre Handtaschen nach und verbrachte meine Zeit damit, kleine Geschichten über diese Menschen zu erfinden. Wer kommt von woher, in welcher Beziehung stehen die beiden Frauen und der Mann genau zueinander, die an dem Tisch in der Ecke sitzen. Die beiden Frauen rauchen, der Mann nicht. Eine von beiden hat einen sehr schmerzvollen Gesichtsausdruck. Der Mann spricht kaum, eine Frau spricht die meiste Zeit, die andere sehr leise. Da mußte ich einfach eine Geschichte erfinden. Oder das – ein großer, selt-
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samer, unheimlich aussehender junger Mann, der in der Nähe der Tür sitzt. Er hat eine Zeitung vor der Nase, aber er liest nicht. Er schaut auf die Tür, er wartet, eine Stunde, zwei Stunden, auf mein Eis wartet er sicher nicht, er wartet auf jemand anderen. Ich dachte mir aus, auf wen er wartet und warum. Und so lernte ich irgendwie meine Einsamkeit zu mindern, indem ich Menschen beobachtete, Vermutungen anstellte, mir etwas ausdachte, manchmal zufällig Gesprächsfetzen mithörte und sie zusammenfügte wie ein Stasi-Mann, kleine Informationsdetails, um von Zeit zu Zeit eine belastende Geschichte daraus zu erschaffen. Nun, ich muß zugeben, daß ich das heute immer noch mache, wenn ich am Flughafen die Zeit – wie man so sagt – »totschlagen« muß, oder wenn ich im Wartezimmer des Zahnarztes sitze oder in einer Schlange stehe. Ehe ich Zeitung lese oder mir den Kopf zerbreche, fantasiere ich lieber. Auch wenn einige meiner Fantasien heute sicher nicht mehr so unschuldig sind wie meine Kindheitsträume aus den Eiscreme-Tagen, so träume ich dennoch. Und ich sage Ihnen, das ist ein sinnvoller Zeitvertreib, nicht nur für einen Romanautor, nicht nur für einen Schriftsteller, sondern für jeden von uns. An jeder Straßenecke, an jeder Bushaltestelle, im Wartezimmer jeder Klinik, in jedem Café ereignen sich so viele Dinge … Tatsächlich kreuzt jeden Tag so viel Menschlichkeit unser Gesichtsfeld, und die meiste Zeit interessieren wir uns nicht dafür. Wir nehmen nicht einmal Notiz davon, wir sehen nur Silhouetten anstelle von wirklichen Menschen. Wenn man sich dagegen angewöhnt, Fremde zu beobachten, so wird
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man mit ein wenig Glück schließlich Geschichten darüber schreiben, indem man sich vorstellt, was Menschen miteinander anstellen und auf welche Weise sie zusammengehören. Wenn nicht, dann war es zumindest ein guter Zeitvertreib, und am Ende bekommt man ein Eis. Es ist ein Spiel ohne Verlierer. Ich wurde auch deshalb Schriftsteller, weil ich der Nachkomme einer Familie von untröstlichen Flüchtlingen bin. Alle Mitglieder meiner Familie, väterlicherseits und mütterlicherseits, alle waren sie hingebungsvolle Europäer. Tatsächlich empfanden sie eine große Liebe zu Europa. Sie sprachen die Sprachen, sie kannten die Geschichten und die Kulturen. Sie hatten eine grenzenlose Schwäche für Europa. In jenen Tagen der zwanziger und dreißiger Jahre, als sie Europa verlassen mußten – verschiedene Mitglieder meiner Familie wanderten in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren aus – waren Juden, wie meine Eltern und meine Familie, leider die einzigen Europäer in Europa. Alle anderen waren Pangermanen, oder Panslawen oder einfach portugiesische Patrioten. Mein Vater pflegte mir scherzhaft zu sagen, daß es in der Tschechoslowakei drei Nationalitäten gibt: die Tschechen, die Slowaken und die Tschechoslowaken, und letztere sind wir, die Juden. In Jugoslawien gibt es neun Nationalitäten, die Serben, die Kroaten, die Montenegriner und so fort – und die Jugoslawen, also uns, die Juden. Und natürlich England, dort gibt es Engländer, Waliser und Schotten – und Briten, die wiederum wir sind. Aber ihre Liebe zu Europa war selbstverständlich eine unerwiderte. Hatten sie Glück, wurden sie rausgeschmissen, hatten sie kein
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Glück, konnten sie Europa nicht lebend verlassen. Diese unerschütterliche vernarrte Verbundenheit mit Europa brachten meine Eltern jedoch mit nach Jerusalem, die Bücher, die Erinnerungen, die Vorstellungen, die Landschaften, die Musik, die Sehnsucht. Ich konnte ihre Sehnsüchte nur erahnen, weil sie mich mit ihrem Verlangen nicht belasten wollten. Sie wollten mich nicht hineinziehen in ihr von Haßliebe geprägtes Verhältnis zu Europa. Sie wollten, daß ich ein neuer Anfang bin, so wie viele israelisch-jüdische Eltern zu dieser Zeit eben wollten, daß ihre Kinder der Inbegriff eines Neubeginns werden. Sie waren sehr sprachbegabt. Mein Vater konnte sechzehn oder siebzehn Sprachen lesen. Er sprach elf Sprachen, alle mit einem starken russischen Akzent. Selbst Arabisch sprach er mit diesem harten russischen Akzent. Meine Mutter konnte sechs oder sieben Sprachen sprechen. Im Alltag unterhielten sie sich gewöhnlich auf russisch oder polnisch. Sie lasen deutsch, französisch und englisch um der Kultur willen. Ich glaube, ihre Träume träumten sie in Jiddisch. Mir jedoch brachten sie nur Hebräisch bei, weil sie offenbar Angst davor hatten, ich könnte, wenn ich der Sprachen mächtig wäre, von dem tödlichen Charme Europas verführt werden, nach Europa gehen und mir den Tod holen. Das war der Hintergrund für mein Leben. Jahrelang sagten meine Eltern zueinander, aber ebenso zu mir, daß dieses Jerusalem irgendwann einmal, nicht mehr in ihrem Leben, aber vielleicht in meinem, eine echte Stadt werden wird. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinten. Für mich war Jerusalem so echt, wie es nur sein
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kann. Es war der einzige echte Ort, in den ich hineingeboren war. Andere Orte waren unecht. Erst Jahre später fand ich heraus, was meine Eltern unter einer »echten Stadt« verstanden: Eine echte Stadt muß von einem dichten Wald umgeben sein, zerteilt von einem Fluß mit Brücken. Sie hofften, daß es das irgendwie im Laufe der Zeit auch in Jerusalem geben würde: Wald, einen Fluß, Brücken. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich eine traurige und schmerzhafte Geschichte, und die Ironie der Geschichte ist: Als mein Vater ein junger Mann in Litauen war – er kam ursprünglich aus Rußland, aber seine Familie ist nach Litauen, zu dieser Zeit ein Teil Polens, geflüchtet; dann wurden sie glücklicherweise hinausgeworfen und schafften es durch viele Launen des Schicksals in den frühen dreißiger Jahren nach Britisch-Palästina –, in jenen Tagen also war ganz Europa mit einem Schriftzug besprüht: »Juden, geht nach Palästina!« Als er viele Jahrzehnte später wieder als Besucher durch Europa reiste, fand er es überzogen mit dem Schriftzug: »Juden raus aus Palästina!« Wo genau gehören wir also hin? Vielleicht gehören wir nirgendwo hin. Es gibt keine einfache schwarze oder weiße Antwort auf diese Frage, genausowenig wie auf irgendeine andere. Ich bin aufgewachsen in einem Umfeld von Ambivalenz, Doppeldeutigkeit, gemischten Gefühlen, von Haßliebe geprägten Beziehungen und unerwiderter Liebe. Die Nachbarschaft war voll von »Möchtegernweltverbesserern«, Idealisten und Ideologen, jeder davon mit seinem eigenen Rezept für sofortige Erlösung. Jeder von ihnen war ein großartiger Red-
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ner, niemand hörte je zu. Die Nachbarschaft war voll von Tolstoianern, Menschen, die an die Philosophie von Tolstoi glaubten, manche von ihnen sahen sogar aus wie Tolstoi oder waren gekleidet wie er. Sie ließen sich diesen weißen Bart wachsen und trugen eine Kordel um eine Art russischen Mantel gebunden. Sie sahen tolstoischer aus als Tolstoi selbst. Als ich zum ersten Mal ein Bild von Tolstoi auf der Rückseite eines seiner Romane sah, war ich davon überzeugt, daß er aus unserer Nachbarschaft kommt. Habe ich ihn nicht schon viele Male gesehen? Und nicht nur ihn – auch seine Familie, seine Brüder? Er ist einer von uns. Ja, sie waren Tolstoianer, aber Tolstoianer, die geradewegs aus einem Roman von Dostojewski gesprungen sind, aufgrund ihrer gequälten Seelen, ihres gequälten Geistes – voll von Widersprüchen, Zorn und Konflikten. Und doch gehörten diese dostojewskischen Tolstoianer eigentlich in eine Erzählung von Tschechow. Der wirkliche, echte Geist, der durch das Viertel wehte, war weder Tolstoi noch Dostojewski, es war Tschechow. Diese Sehnsucht nach weit entfernten Orten. Irgendwo hinter dem Horizont lag das geliebte Moskau. Moskau, Moskau. Aber jenes »Moskau«, das auch Berlin oder Wien oder Paris oder Warschau oder was auch immer hätte sein können – jenes »Moskau hinter dem Horizont« wollte diese jüdischen Menschen nicht. Es wollte sie außer Sichtweite, aus dem Kopf und manchmal sogar aus der Welt. Sie konnten es sich nicht einmal leisten, ihre Liebe zu diesen Kulturen zuzugeben, die sie zurückgelassen hatten. Darüber hinaus gab es einen alltäglichen Konflikt: Jerusalem war in meiner Kindheit eine gemischte Stadt.
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Es gab arabische Viertel, jüdische Viertel, armenische Viertel und ein deutsches Viertel, es gab eine amerikanische und eine griechische Kolonie – Jerusalem war eine der kosmopolitischsten kleinen Städte der Welt. Tatsächlich war es weniger eine Stadt als vielmehr ein loser Zusammenschluß von Vierteln. Zwischen den verschiedenen Vierteln lag ein Feld oder ein leeres Stück Land. In jedem dieser Viertel betete man auf unterschiedliche Art und Weise, sprach eine andere Sprache und trug andere Kleidung. Ja, sie redeten miteinander. Im täglichen Leben während der vierziger Jahre gab es zwar Spannungen, aber keine Gewalt. Jeder glaubte irgendwie, daß die anderen im Hintergrund stehen. Das einzige, was allen gemeinsam war, war der heimliche messianische Eifer. Alle dachten, daß sie das wahre Erbe Jerusalems repräsentieren, die wahre Religion, den wahren Glauben. Alle waren überzeugt, daß nur sie wirklich nach Jerusalem gehören, während all die anderen nur als Hintergrund tolerierbar sind. Noch vielmehr dachten alle, daß Jerusalem ihnen gehöre. Und natürlich gab es in Jerusalem solchen religiösen Wahn und solche Spannungen zwischen den Glaubensrichtungen, daß man entweder verrückt werden konnte oder einen guten Sinn für Humor entwickeln mußte. Man mußte einen Sinn für Relativismus entwickeln, eine Erkenntnis, daß jeder eine Geschichte hat, aber niemandes Geschichte mehr wert oder überzeugender ist als die eines anderen. Ich erinnere mich an eine alte Geschichte, in der einer dieser Typen, natürlich in Jerusalem, wo sonst, in einem kleinen Straßencafé sitzt. Ein alter Mann setzt sich zu ihm, und sie beginnen ein Gespräch. Und es stellt sich
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heraus, daß der Alte Gott höchstpersönlich ist. Nun, der Typ glaubt nicht sofort daran, aber nach einigen verheißungsvollen Anzeichen ist er davon überzeugt, daß tatsächlich Gott ihm gegenüber am Tisch sitzt. Und er stellt Gott eine Frage, eine sehr dringliche natürlich: »Lieber Gott, bitte sage mir ein für allemal, wer hat den wahren Glauben? Die Katholiken oder die Protestanten oder vielleicht die Juden, oder sind es die Moslems – wer hat den wahren Glauben?« Und Gott antwortet in dieser Geschichte: »Um dir die Wahrheit zu sagen, mein Sohn, ich bin nicht religiös. Ich war niemals religiös. Ich bin nicht einmal an Religion interessiert.« Ich war noch sehr jung, als ich im britischen Mandatsgebiet lebte. Die ersten englischen Worte, die ich als Kind aussprechen konnte, bevor ich in der Schule Englischunterricht hatte – die ersten englischen Worte, die ich außer »yes« und »no« lernte, waren die Worte »British, go home!« Das war es, was wir jüdischen Kinder in Jerusalem gewöhnlich geschrieen haben, wenn wir während unserer eigenen »Intifada« 1945, 1946, 1947 Steine auf die britischen Patrouillen in Jerusalem warfen. Ich kann nicht umhin, einen Sinn für Relativismus, für Perspektive und einen gewissen Sinn für traurige Ironie zu entwickeln, wenn ich sehe, wie aus Besetzten Besatzer werden, wie aus Unterdrückten Unterdrücker werden können, wie das Opfer von gestern leicht zum Schikanierer von morgen werden könnte, wenn ich also sehe, wie leicht sich die Rollen tauschen lassen. Vor 1948 existierten im westlichen Teil von Jerusalem einige arabische Viertel. Dann kam die Belagerung, der Beschuß, das Bombardement des jüdi-
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schen Jerusalem durch die jordanische und die ägyptische Armee, Artillerie und Luftwaffe. Und dann, als das alles vorbei war, gab es keine Araber mehr in den arabischen Vierteln. Ungeachtet der Tatsache, daß ich eine sehr eindeutige Meinung darüber habe, wer den größten Teil der Schuld an 1948 trägt – und ich denke, es ist die arabische Regierung –, ist das für mich als Jerusalemer nicht der ausschlaggebende Punkt. Der Punkt ist vielmehr die Tragödie an sich. Ob man nun die arabischen Regierungen beschuldigt oder die Zionisten oder ob die Schuld unter beiden aufzuteilen ist – Tatsache bleibt, daß im Jahr 1948 mehrere hunderttausend Palästinenser ihr Heim verloren haben. Ich weiß, daß im selben Jahr, im selben Krieg ebenso annähernd eine Million orientalischer Juden aus arabischen Ländern ihr Heim verloren haben. Und viele von ihnen wurden rausgeschmissen und landeten in Israel, in eben jenen Häusern, die vorher den palästinensischen Arabern gehörten. Diese jüdischen Flüchtlinge – Überlebende aus dem Irak, aus Nordafrika, Ägypten, Syrien und dem Jemen –, die drei, vier, fünf Jahre in Auffanglagern gelebt hatten, besaßen am Ende Wohnungen und Arbeit, die palästinensischen Flüchtlinge dagegen nicht. Diese Angelegenheit bleibt ungeklärt und schmerzhaft. Als Erzähler und Romancier kann ich gar nicht anders, als zu sehen, daß dies keine Schwarzweißgeschichte ist, keine Geschichte über gute und böse Jungs. Es ist kein Wildwestfilm, in dem die zivilisierten Guten die blutrünstigen Eingeborenen bekämpfen oder umgekehrt. Obwohl ich hier in Europa sehr oft, sogar größ-
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tenteils, ungeduldigen Menschen begegne, die immer, bei jeder Geschichte und bei jedem Konflikt, wissen wollen, wer »die Guten« und wer »die Bösen« sind, wen sie unterstützen und gegen wen sie protestieren sollen … So habe ich die Ahnung, so sagt mir meine mich prägende Erfahrung, daß der Konflikt zwischen den israelischen Juden und den palästinensischen Arabern nicht die Geschichte von »den Guten« und »den Bösen« ist. Es ist eine Tragödie: ein Konflikt zwischen Recht und Recht. Und ich habe dies so oft gesagt, daß ich dafür in den Augen vieler meiner israelisch-jüdischen Landsleute den Titel »geprüfter Verräter« verdient habe. Gleichzeitig ist es mir nie gelungen, meine arabischen Freunde vollends zufriedenzustellen, teilweise weil sie denken, daß meine Position nicht radikal genug ist oder nicht militant pro-palästinensisch und pro-arabisch. Tatsächlich fühle ich mich in dieser Atmosphäre der Ambivalenz irgendwie heimisch. Vielleicht ist es nur fair, die Frage zu stellen, worin das besondere Recht oder die besondere Qualifikation eines Romanciers oder Erzählers begründet liegt, Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Gibt es überhaupt irgend etwas, das Romanautoren, Erzähler oder Schriftsteller besser wissen als Taxifahrer oder Computer-Programmierer oder selbst Politiker? Nun, die schlichte Antwort wäre: Ich komme aus einem Land, in dem jeder über alles debattiert, warum also nicht auch ich? Ich komme aus einem Land, in dem jeder Taxifahrer genau weiß, wie das Land und die Welt zu regieren ist, warum nicht auch ich? Wenn Sie versprechen, das Folgende mit einer großen Portion Vorsicht zu genießen, dann sage
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ich Ihnen, daß Israel weder ein Land noch eine Nation ist. Es ist eine hitzige, schreiende Ansammlung von Diskussionen, ein immerwährendes Straßenseminar. Jeder diskutiert, jeder weiß alles besser. Es gibt eine anarchische Ader nicht nur in Israel, sondern, denke ich, im kulturellen Erbe der Juden. Nicht umsonst hatten die Juden nie einen Papst oder könnten jemals einen haben. Wenn einer oder eine sich selbst je zum Papst der Juden ernennen würde, dann käme jeder auf diesen Papst zu, würde ihm oder ihr auf die Schulter klopfen und sagen: »Hey Papst, du kennst mich nicht, ich kenne dich nicht, aber mein Großvater und dein Onkel haben früher Geschäfte miteinander gemacht, damals in Minsk oder in Casablanca. Daher bist du jetzt mal für fünf Minuten still und läßt dir von mir ein für allemal erklären, was Gott wirklich von uns will.« Dies liegt, nebenbei, sehr tief in den Genen der jüdischen Kultur. Angefangen beim Gottesbegriff streiten sich die Juden für gewöhnlich über alles. Nicht umsonst findet man nie einen von uns, der mit irgend jemandem über irgend etwas einer Meinung ist. Tatsächlich ist es schwer, einen Juden zu finden, der mit sich selbst über irgend etwas einer Meinung ist, da in der Brust eines jeden von ihnen zwei Seelen wohnen. Jeder ist ein dostojewskischer Tolstoianer oder umgekehrt. Dies ist zurückzuführen auf die Tage, da Juden von hohem Rang Gott selbst sehr offen herausforderten. Und von Zeit zu Zeit zitierten sie Gott sogar vor ein Gericht. Sie können sich vielleicht daran erinnern, als Abraham, der heilige Patriarch Abraham, Stammvater der Juden und der Araber, damals versuchte, die sündige Stadt Sodom vor
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dem Zorn Gottes zu retten, der die Stadt zerstören wollte. Und er feilschte mit Gott wie ein gewiefter Gebrauchtwagenhändler. Fünfzig Gerechte, vierzig Gerechte, dreißig, zwanzig, vielleicht zehn. Als er den Streit zu verlieren drohte, und im allgemeinen gewinnt man nicht, wenn man mit Gott streitet, da richtete er seine Augen gen Himmel und stellte die ausgesprochen kühne Frage: »Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Gerechtigkeit üben?« Das ist gotteslästerlich und ungeheuerlich und soll Gott zeigen: Du bist vielleicht der Chef der Exekutive, aber du stehst nicht über dem Gesetz. Du bist vielleicht der Gesetzgeber, aber du stehst nicht über dem Gesetz. Du magst die Quelle der Autorität sein, aber du wirst dich selbst vor einem Hohen Gericht zu rechtfertigen haben. Die Gerechtigkeit steht über dir – eine Vorstellung, die in anderen Religionen vielleicht schwerlich denkbar ist. Das ist nicht das einzige Beispiel. Es war üblich, daß die Propheten mit Gott debattierten und gelegentlich kamen sie mit ihren Anschuldigungen gegen Gott sogar weiter. Meine Lieblingsparabel aus dem Talmud ist seit jeher diejenige über die beiden hoch angesehenen Rabbinen Rabbi Jehoschua und Rabbi Eliezer, die sich, in ihrer Aufgabe als Richter, nicht über eine bestimmte Interpretation der Thora, des göttlichen Gesetzes, einigen können. Sie diskutierten, und in der höchst ehrbaren jüdischen Tradition stritten sie Tag und Nacht und Tag und Nacht, sie aßen nicht, sie schliefen nicht, sie diskutierten. Nach sieben Tagen und sieben Nächten hatte Gott Mitleid mit ihnen, er befürchtete, daß sie bis an ihr Ende weiterdiskutieren würden. Also mischt Gott sich
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ein und eine Stimme von oben, eine BAT KOL, ist zu hören, die sagt: »Rabbi Eliezer hat recht, Rabbi Jehoshua hat unrecht, geht schlafen.« (»Geht schlafen« steht nicht im Text, geht aber aus dem Kontext hervor.) Das ist nicht das Ende der Geschichte. Der Verlierer, Rabbi Jehoshua, richtet seine Augen nach oben und sagt: »Allmächtiger Gott, du hast den Menschen die Thora gegeben, jetzt halte dich bitte aus dieser Diskussion heraus.« Und kein himmlischer Blitz erschlug ihn und kein Schwefel wurde auf ihn geschleudert! Tatsächlich sagte Gott noch etwas, was ich mir wie ein kurzes Zögern vorstelle: »Meine Kinder haben mich besiegt.« Und er ging weg, sozusagen mit eingezogenem Schwanz, und die beiden Rabbinen setzten ihren Streit fort. Diese Tradition, diese anarchische Ader, diese argumentative Ader ist die Crux unserer Zivilisation, und trotzdem mag ich sie. Selbst wenn ich sie manchmal nicht ausstehen kann, selbst wenn sie sich gegen mich richtet, so mag ich sie dennoch. Warum also nicht auch ich? Lassen Sie mich zu einer anderen kleinen Geschichte abschweifen: 1967 an der ägyptischen Front, dem Sechstagekrieg, bin ich als Jungoffizier für eine Panzereinheit der israelischen Armee rekrutiert worden. Ich war Reservist und schon Anfang dreißig oder vielleicht Ende zwanzig. Wir alle hatten die unterschiedlichsten Berufe, waren also keine jungen Soldaten mehr. Aber wir waren zusammen in einer Panzereinheit, und in der letzten Nacht vor dem tatsächlichen Ausbruch der Schlacht saßen wir rund um ein Lagerfeuer und sannen darüber nach, was passieren würde. Irgendwann kam der General in unsere Mitte. Er, General Tal, war der
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oberste Kommandant der israelischen Armee im Krieg von 1967. Es wurde still, und General Tal begann, einige seiner Gedanken über die bevorstehende Schlacht mit uns zu teilen. Nach ungefähr vier Sätzen wurde er von einem bebrillten, rundlichen Korporal mittleren Alters unterbrochen, der sehr höflich sagte: »Entschuldigen Sie, General, aber haben Sie jemals Tolstois Krieg und Frieden gelesen?« Der General antwortete: »Was für eine Frage, natürlich habe ich es gelesen, viele Male sogar.« »General, sind Sie sich dessen bewußt, daß Sie genau den gleichen konzeptionellen Fehler begehen wollen, den – nach Tolstoi – die Russen in der Schlacht bei Borodino begangen haben?« Sogleich war die gesamte Einheit in eine lautstarke, hitzige Debatte über Tolstoi, über Strategie, Literatur und Übersetzung, über einfach alles vertieft. Dabei schrie jeder so laut er konnte, jeder nannte den anderen einen kompletten Idioten, inklusive den General, inklusive den Korporal. Schließlich stellte sich heraus, daß der Korporal Professor für russische Literatur an der Universität von Tel Aviv war, der General dagegen einen höheren Abschluß in Philosophie von der Universität Jerusalem hatte. Warum also nicht auch ich? Israelis diskutieren, ich diskutiere. Und dennoch bin ich derjenige, der jeden Morgen aufsteht, einen kleinen Spaziergang in die Wüste macht, sich eine Tasse Kaffee kocht, sich an seinen Tisch setzt und sich selbst zu fragen beginnt: »Wie würde ich empfinden, wenn ich sie wäre? Wie wäre es, in seiner Haut zu stecken?« – was man eben tun muß, wenn man auch nur den einfachsten Dialog schreiben möchte. Man muß nicht nur seine Loyalität teilen, son-
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dern ebenso seine instinktiven Gefühle. Ich denke, daß ich D. H. Lawrence in eigenen Worten wiedergebe, der einmal gesagt hat, daß man, um einen Roman schreiben zu können, in der Lage sein muß, ein halbes Dutzend widersprüchlicher, miteinander in Konflikt stehender Gefühle mit dem gleichen Grad an Überzeugung, an Vehemenz und an innerer Unterstützung gutzuheißen. Vielleicht bin ich ein wenig besser ausgerüstet als andere, um von meinem israelisch-jüdischen Standpunkt aus beurteilen zu können, wie es sich anfühlt, ein vertriebener Palästinenser zu sein oder ein palästinensischer Araber, dessen Heimatland von Fremdlingen eines anderen Planeten eingenommen wurde. Wie fühlt es sich an, ein israelischer Siedler in der Westbank zu sein? Ja, manchmal schlüpfe ich in die Haut dieser ultraorthodoxen Menschen, oder ich versuche es zumindest. Das qualifiziert mich möglicherweise dazu, meine Stimme zu erheben und Kritik zu üben. Und zusammen mit drei oder vier anderen Israelis – wir waren nur sehr wenige und die meisten davon Romanautoren und Dichter – begannen wir schon 1967, noch vor der Gründung der Friedensbewegung Peace Now, ein paar Wochen nach dem spektakulären Sieg Israels im Sechstagekrieg von 1967, für die Zweistaatenlösung einzutreten, Palästina direkt neben Israel. Das war in den Tagen der nationalen Euphorie von 1967 nicht nur Verrat, sondern komplette Idiotie. Es gab so wenige von uns in diesen Tagen, daß wir die Treffen der israelischen Friedensbewegung, daß wir alle, aus dem ganzen Land, einen nationalen Kongreß nahezu in einer Telefonzelle hätten abhalten können. Aber wenn ich auf diese Tage
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zurückblicke, dann war meine Einstellung nicht das Ergebnis eines besonderen Geschichtsverständnisses oder der Kenntnis des arabischen Konflikts oder der palästinensischen Ideologie. Vielleicht lag es an meiner »professionellen« Angewohnheit, mich in die Lage oder in die Haut von anderen zu versetzen. Das heißt nicht, daß ich diese anderen immer rechtfertige, sondern nur, daß ich die Fähigkeit habe, den Standpunkt anderer Menschen wahrzunehmen. Das immerwährende Dilemma ist, daß man sich fragt, was man tun soll, wenn man fortwährend Tür an Tür mit Schmerz, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt und Demagogie, Chauvinismus, religiösem Fundamentalismus und Fanatismus lebt, was soll man tun? Wie benutzt man seine Stimme, vorausgesetzt, man ist ein Mann von Stimme, jemand, der einen Stift hat und ihn zu benutzen weiß? Wäre es richtig zu sagen, da wird Blut vergossen, direkt bei mir um die Ecke, es ist daher nicht an der Zeit, Liebesgeschichten zu erzählen, es ist nicht die Zeit für gebildete, subtile, komplexe, experimentelle Geschichten, es ist an der Zeit, gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen? Ja, ich mache das von Zeit zu Zeit und dabei fühle ich mich jedesmal wie ein Verräter an meiner Kunst, an meinem Geschick für Ambivalenz und Nuancierung. Zur gleichen Zeit sitze ich zu Hause und arbeite an den zahlreichen syntaktischen Alternativen eines bestimmten Satzes oder den idiomatischen Problemen irgendeines Ballasts oder gar an der melodisch-musikalischen Beziehung zwischen zwei Sätzen in meinem Roman, und doch ist da immer diese kleine Stimme in meinem Inneren, die mich einen Ver-
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räter nennt: »Wie kannst du nur? Menschen werden getötet zehn Meilen, zwanzig, fünfzehn Kilometer von dort, wo du gerade sitzt und schreibst – wie kannst du nur?« Wie verhält man sich in so einer Situation? Man ist sowieso ein Verräter. Egal, was man tut, man ist entweder ein Verräter an seiner Kunst oder ein Verräter an seinem inneren Gefühl für die Pflichterfüllung als Bürger. Meine Antwort darauf ist meine Antwort auf viele Dinge: Ich finde einen Kompromiß. Ich glaube ungemein an Kompromisse. Ich weiß, daß das Wort Kompromiß in den idealistischen Kreisen Europas einen furchtbaren Ruf hat, insbesondere bei den jungen Menschen. Kompromisse werden betrachtet als Mangel an Integrität, Mangel an moralischem Rückgrat, Mangel an Standhaftigkeit, an Ehrlichkeit. Kompromisse stinken, Kompromisse sind verlogen. Nicht in meinem Vokabular. In meiner Welt sind Kompromisse ein Synonym für das Wort Leben. Und wo Leben ist, da gibt es Kompromisse. Das Gegenteil von Kompromissen ist nicht Integrität, und das Gegenteil von Kompromissen ist nicht Idealismus und nicht Entschlossenheit. Das Gegenteil von Kompromissen sind Fanatismus und Tod. Ich bin seit zweiundvierzig Jahren mit derselben Frau verheiratet, ich weiß das eine oder andere über Kompromisse. Und lassen Sie mich gleich hinzufügen, wenn ich von Kompromissen rede, dann meine ich nicht Kapitulation, ich rede nicht davon, einem Rivalen, einem Feind oder einer Ehefrau die andere Wange hinzuhalten. Ich rede davon, dem anderen auf halbem Weg entgegenzukommen. Und es gibt keine glücklichen Kompromisse. Ein glücklicher Kompro-
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miß ist ein Widerspruch, ein Oxymoron. Und so gehe ich auch bei meinem Schreiben Kompromisse ein: Jedesmal wenn ich denke, daß ich mit mir selbst in jeder Hinsicht hundertprozentig übereinstimme, dann schreibe ich keine Erzählung. Ich schreibe einen verärgerten Artikel, in dem ich meiner Regierung sage, was sie zu tun hat, manchmal auch, wohin sie sich allesamt scheren sollen, nämlich zur Hölle. Aus irgendeinem Grund hören sie nie auf mich. Obwohl ich ihnen so viele Male laut und deutlich gesagt habe, sie mögen zur Hölle fahren, sind sie immer noch da. In solchen Fällen aber, und das kommt sehr häufig vor, wenn ich bei einer Problematik mehr als eine Stimme in mir höre, wenn ich mehr als eine, manchmal mehr als zwei Perspektiven einnehmen, wenn ich in mir ein kleines Streitgespräch hören kann, dann weiß ich, daß ich zumindest mit einer Erzählung schwanger gehe. In dem Moment, da ich sage »schwanger mit einer Erzählung oder einem Roman«, muß ich sofort hinzufügen, daß es zumindest in meiner Vergangenheit viel mehr Abtreibungen und Fehlgeburten als Geburten gab. Daher gehe ich einen Kompromiß ein, ich schreibe Artikel und ich schreibe Erzählungen, ich vermische sie niemals. Ich habe nie eine Erzählung oder einen Roman geschrieben mit der Absicht, einfach eine politische Botschaft zum Ausdruck zu bringen wie »Stoppt den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten!« oder »Erkennt das Recht der Palästinenser auf Ost-Jerusalem an!« Nie schreibe ich einen Roman, einen allegorischen Roman, in der Absicht, meinem Volk oder meiner Regierung irgend etwas zu sagen. Das fließt in meine Arti-
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kel ein. Wenn es eine metapolitische Botschaft in meinen Romanen gibt, dann ist es in der einen oder anderen Weise immer die Botschaft über die Notwendigkeit von Kompromissen, schmerzvollen Kompromissen, und die Notwendigkeit, das Leben dem Tod vorzuziehen, die Unvollkommenheit des Lebens über die Vollkommenheit eines glorreichen Todes zu stellen. Dies ist mein persönlicher Kompromiß. Einer von vielen, so vielen, daß ich sogar zwei Stifte auf meinem Schreibtisch liegen habe, zwei ganz einfache, sehr billige Kugelschreiber, die ich alle zwei Wochen nachfüllen muß, aber immer habe ich zwei davon, einen schwarzen und einen blauen. Einfach nur, um mich selbst daran zu erinnern, daß es eine Sache ist, wenn ich einen politischen Essay schreibe, eine andere, einen Roman zu schreiben. Und ich vermische das nicht. In Israel lesen die Menschen nicht nur Artikel und Manifeste, sondern auch Romane. Sie lesen wie besessen. Nach Statistiken der UNESCO lesen die Israelis mehr als jede andere Nation unter der Sonne, abgesehen von den Menschen in Island, aber die leben sowieso nicht unter der Sonne. Anders jedoch als Menschen in Europa, anders als Menschen in Deutschland, anders als Menschen in Island lesen die Israelis Romane nicht, um sie zu genießen. Sie lesen keine Literatur mit der Absicht, sich auszuruhen oder ihren Horizont zu erweitern. Sie lesen, um sich zu ärgern! Sie lesen, um anderer Meinung zu sein! Sie lesen, um einen Streit anzufangen, mit dem Autor, mit einer der Figuren oder mit beiden. So heftig, daß ein zynischer Verleger in Israel mir einmal gesagt hat, daß die Tatsache, warum sich meine Romane
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und die Romane meiner Kollegen in Israel so gut verkaufen, darauf zurückzuführen sein muß, daß es einige Kunden gibt, die zehn Exemplare des gleichen Buches kaufen, um sie dann alle zu zerstören. Taxifahrer diskutieren häufig mit mir oder sogar mit meinen Figuren durch mich. Sie sagen mir nicht, daß das Buch anders hätte enden oder anders hätte geschrieben werden sollen oder daß dieses Buch überhaupt nicht hätte geschrieben werden sollen. Aber sie wollen von mir, daß ich meinen Figuren in ihrem Namen sage, daß sie eine gefährliche Auffassung haben, daß ihre Ideen verräterisch sind, daß sie nicht wissen, was die Juden durchmachen mußten oder daß sie die Araber nicht kennen – »sag ihnen an meiner Stelle, daß ich die Araber kenne, ich komme aus einem arabischen Land«. Diese Art Botschaften von meinen Taxifahrern muß ich meinen Figuren überbringen. Und sie sind nicht die einzigen. Wissen Sie, Israel ist ein komisches Land. Es kommt häufig vor, daß der Premierminister einen Dichter, Schriftsteller oder Stückeschreiber zu einem spätnächtlichen Tête-à-tête einlädt, um eine Gewissensprüfung vorzunehmen. Nicht in seinem Büro, in den Privaträumen des Premierministers. Man bekommt eine Tasse Tee, einen Drink, das hängt davon ab, wer man ist und wer der Premierminister ist, und der Premierminister sagt zu einem – in einigen Fällen zu mir –: »Gut, gut, Herr Oz, wo läuft es mit dem Land schief? Wie soll es jetzt weitergehen?« Er wird meine Antworten oder die meiner Kollegen mit Bewunderung anhören. Er wird jedes Wort bewundern und völlig mißachten. Um realistisch zu bleiben: Selbst die Propheten hatten zu ihrer
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Zeit nicht viel Erfolg darin, Geist und Herz der Regenten und Könige oder der Menschen zu verändern. Es wäre unrealistisch von meinen Kollegen und mir, der heutigen Generation israelischer Schriftsteller und Dichter, zu erwarten, daß wir in dem Geschäft der Geistesveränderung von Regenten und Menschen erfolgreicher sind als die Propheten. Ich bin nicht über Nacht zum Schriftsteller geworden. Natürlich habe ich immer kleine Geschichten und Episoden geschrieben. Aber als ich weggezogen bin, um im Kibbuz zu leben, da mußte ich auf den Baumwollfeldern arbeiten, wie jeder andere auch, und die Tatsache, daß ich Geschichten und Gedichte geschrieben habe, beeindruckte niemanden. Tatsächlich war es eine Belastung. Schriftsteller sind keine richtigen Landmenschen. Intellektuell zu sein, das ist ja alles ganz schön und gut, aber haben solche Leute wirklich ein Gefühl für körperliche Arbeit und für egalitäres Leben? Und so kam es, daß ich mir erst, nachdem ich zwei oder drei Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht hatte, die Frechheit herausnahm, vor dem Kibbuz-Komitee zu erscheinen und pro Woche einen freien Tag für mein Schreiben zu beantragen. Es gab eine Debatte, eine ernsthafte Debatte, und in jeder Hinsicht starke Argumente. Einige Leute sagten: »Schaut, dieser Mann hat eine starke künstlerische Neigung, er schreibt, er publiziert, wir müssen ihm ein wenig Zeit für sich gewähren.« Andere sagten: »Nein, nein, so einfach ist das nicht. In einer sozialistischen Gemeinschaft kann sich jeder Künstler nennen. Und es ist nicht am Komitee, zu entscheiden, wer ein Künstler ist und wer nicht. Am
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Ende ist womöglich jeder ein Künstler, und wer will dann draußen auf den Feldern arbeiten?« Nach einer langen Debatte kam es zu einer Abstimmung, und sie haben sich entschieden, mich einen Tag in der Woche von der körperlichen Arbeit freizustellen, um schreiben zu können, wenn ich an den restlichen Tagen doppelt so hart arbeiten würde. Dann veröffentlichte ich einen Roman, noch einen Roman, beantragte einen weiteren Tag und endete schließlich damit, drei Tage zum Schreiben für mich zur Verfügung zu haben. Es war eine schleichende Aneignung, nicht von Territorium, sondern von Zeit. Aber das lustige Ende davon ist, als meine Romane zu einer Einkommensquelle für die Kibbuzgemeinschaft wurden, kam der Schatzmeister sehr vorsichtig auf mich zu und sagte: »Schau, da deine Bücher nun beträchtliches Geld einbringen, denkst du, daß wenn wir dir zwei ältere Mitglieder des Kibbuz, die nicht länger draußen auf dem Feld arbeiten können und bei schlechter Gesundheit sind, zur Seite stellen würden, um dir ein wenig zu helfen, denkst du, daß das die Produktion ein wenig steigern könnte?« Ich sagte: »Schau, das ist nun wirklich eine Arbeit, die man drinnen verrichtet, nicht in der Sonne. Ihr könnt drei ältere Leute mit diesem Job beauftragen und mich zum Kühemelken schikken.« Mein Arbeitsalltag beginnt früh am Morgen. Ich muß früh da sein. Ich kann nicht einmal die Zeitung auf dem Weg zur Arbeit lesen, da mein Arbeitszimmer direkt unter meinem Schlafzimmer liegt, ein paar Schritte, und ich bin dort. Aber ich ärgere mich nicht mehr über mich selbst, wenn ich nicht produktiv bin. Es gab Tage, da
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haßte ich mich selbst dafür, herumzusitzen und nichts zustande zu bringen. Besonders als ich noch im Kibbuz lebte und den ganzen Morgen lang rumsaß und vielleicht drei Zeilen schrieb und dafür vier wieder auslöschte, so daß ich mich im Verhältnis zum Vortag in einem Defizit befand. Und dann ging ich in den gemeinschaftlichen Speisesaal und habe mich dafür geschämt, etwas zu essen. Hier waren Menschen, die Quadratkilometer von Land bestellt, die Hunderte von Kühen gemolken hatten, Menschen, die eine Wand gemauert hatten, und sie aßen zu Mittag – und ich hatte vier Zeilen geschrieben und fünf gelöscht, wie konnte ich es wagen, zu essen? Aber im Laufe der Jahre habe ich mir die Einstellung eines Ladenbesitzers zugelegt. Es ist mein Job, jeden Morgen dorthin zu kommen, den Laden aufzumachen, dazusitzen und auf Kunden zu warten. Und nichts anderes zu tun. Wenn ich Kunden hatte, war es ein erfolgreicher Tag. Wenn nicht, so habe ich dennoch meinen Job getan, indem ich dasaß und wartete. Ich warte aber nicht einfach, weil sich, selbst wenn ich nicht schreibe, Dinge in meinem Geist abspielen, genauso wie damals, als ich noch ein kleines Kind mit einem heftigen Verlangen nach Eiscreme war, das darauf wartete, daß die Gespräche seiner Eltern zu einem Ende kommen würden. Ich beobachte, ich stelle mir etwas vor, ich fantasiere. Ich versetze mich in die Lage anderer Menschen oder schlüpfe in ihre Haut. Ich habe Ihnen heute nichts über Stil oder Techniken oder Themen oder Parabeln erzählt – die Experten verstehen das sehr viel besser als ich. Vielmehr wollte ich
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mit Ihnen einige der Freuden aus der Erfahrung temperamentvollen Geschichtenerzählens teilen. Woher das eigentliche Bedürfnis kommt, Geschichten zu erzählen, und wie es sich, auch in zeitlicher Hinsicht, vom Leiden, von den Vorurteilen, von der Tragödie, dem Verlust und der Niederlage lebt. Daß dieses Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, ein sehr altes ist. Ich denke, es existiert in jedem menschlichen Wesen, nicht nur in Schriftstellern und Romanciers – das Bedürfnis, eine Geschichte zu erzählen, sich den anderen vorzustellen. In die Haut einer anderen Person zu schlüpfen, ist schließlich nicht nur eine ethische Erfahrung, nicht nur ein großer Akt der Demut, nicht nur eine gute politische Führung, sondern letzten Endes – erzählen Sie es nicht der Schwester aus meiner Schule – ein ungemeines Vergnügen. Ich danke Ihnen allen sehr für Ihre Geduld und Toleranz.
Zweite Vorlesung 21. Januar 2002 Meine Damen und Herren, Freunde, guten Abend, shalom und erev tov Ihnen allen. Ich weiß, einige von Ihnen bedauern, daß es mir unmöglich ist, auf deutsch zu Ihnen zu sprechen. Ich bedauere es fast noch mehr, die Vorlesung heute abend nicht in meiner eigenen hebräischen Sprache zu halten. Aber, wie Sie wissen, bin ich ein Mann der Kompromisse, und so wird Englisch an diesem Abend unser Kompromiß sein. Wie kuriert man also Fanatiker? Einen Haufen Fanatiker in den Bergen Afghanistans zu jagen ist eine Sache, gegen den Fanatismus anzukämpfen ist eine andere. Ich fürchte, ich habe keine besonderen Vorschläge, wie man die Fanatiker in den Bergen fängt, aber über das Wesen des Fanatismus und die Möglichkeiten, ihn, wenn schon nicht zu heilen, dann zumindest in Grenzen zu halten, habe ich mir den einen oder anderen Gedanken gemacht. Bei dem Angriff auf Amerika am 11. September ging es nicht einfach um Arm gegen Reich. Der Konflikt zwischen Armut und Reichtum ist weltweit eines der furchtbarsten Probleme. Aber wir schätzen den 11. September falsch ein, wenn wir denken, daß es ein Angriff der Armen auf die Reichen war. Es geht hier nicht einfach nur um die »Besitzenden« und die »Be-
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sitzlosen«. Läge der Fall derart einfach, würde man eher erwarten, daß der Angriff von Afrika ausgegangen wäre – dem ärmsten Teil der Welt – und sich möglicherweise gegen Saudi-Arabien oder die anderen ölfördernden Staaten am Golf – den reichsten Teil der Welt – gerichtet hätte. Nein, meine Damen und Herren, dies ist eine Schlacht zwischen Fanatikern, die denken, daß der Zweck, jeder Zweck, alle Mittel heiligt, und dem Rest von uns, der denkt, daß kein Zweck alle Mittel heiligt. Es ist ein Kampf zwischen jenen, die die Gerechtigkeit – was auch immer dieses Wort für sie bedeutet – über das Leben stellen, und auf der anderen Seite denjenigen von uns, für die das Leben Priorität hat gegenüber vielen anderen Werten, Überzeugungen oder Glaubensrichtungen. Die gegenwärtige Krise in der Welt, im Nahen Osten oder in Israel/Palästina dreht sich nicht um die islamischen Werte und bestimmt auch nicht, wie einige Rassisten behaupten, um die arabische Mentalität. Es geht um den alten Kampf zwischen Fanatismus und Pragmatismus, zwischen Fanatismus und Pluralismus. Beim 11. September ging es nicht einmal um die Frage, ob Amerika gut oder schlecht ist, ob der Kapitalismus bedrohlich oder notwendig ist, ob die Globalisierung gestoppt werden sollte oder nicht. Es geht um den typisch fanatischen Anspruch: Wenn ich der Meinung bin, daß etwas schlecht ist, dann zerstöre ich es, zusammen mit allem, was es umgibt. Fanatismus, meine Damen und Herren, ist älter als der Islam, das Christentum, das Judentum, älter als jeder Staat oder jede Regierung, jedes politische System, älter als jede Ideologie oder jeder Glaube in der Welt. Fanatismus ist unglück-
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licherweise eine allseits präsente Komponente der menschlichen Natur, ein schlechtes Gen, wenn man es so nennen will. Menschen, die in Amerika Abtreibungskliniken in die Luft sprengen, die hier in Deutschland Moscheen und Synagogen in Brand stecken, unterscheiden sich von Bin Laden nur im Ausmaß, nicht in der Art ihrer Verbrechen. Natürlich hat der 11. September Zorn, Fassungslosigkeit, Schock, Melancholie und Desorientierung hervorgerufen und, ja, auch einige rassistische Reaktionen – anti-arabische und anti-muslimische Reaktionen überall. Wer hätte gedacht, daß auf das zwanzigste Jahrhundert unmittelbar das elfte folgen würde. Meine Damen und Herren, meine eigene Kindheit in Jerusalem hat mich zu einem Experten in vergleichender Fanatismusforschung gemacht. Das Jerusalem meiner Kindheit in den vierziger Jahren war voll von selbsternannten Propheten, Erlösern und Messiassen. Selbst heute hat jeder einzelne Bewohner Jerusalems sein oder ihr eigenes persönliches Rezept für eine sofortige Erlösung. Jeder sagt, er sei nach Jerusalem gekommen – und ich zitiere hier nach einer berühmten Zeile eines alten Liedes –, um die Stadt zu bauen und von ihr erbaut zu werden. Tatsächlich sind einige davon, Juden, Christen und Muslime, Sozialisten, Anarchisten und Weltverbesserer, nach Jerusalem gekommen, nicht sosehr, um zu bauen und erbaut zu werden, sondern vielmehr, um gekreuzigt zu werden oder andere zu kreuzigen oder beides. Es gibt eine bekannte Geistesgestörtheit, eine anerkannte Geisteskrankheit, das sogenannte »Jerusalem-Syndrom«: Menschen kommen nach Jerusalem, atmen die wunder-
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bare, klare Bergluft ein und springen dann plötzlich auf und setzen eine Moschee, eine Kirche oder eine Synagoge in Brand. Oder sie ziehen sich einfach ihre Kleider aus, klettern auf einen Felsen und fangen an, Prophezeiungen zu verkünden. Niemand hört ihnen je zu. Selbst jetzt, im heutigen Jerusalem – wie ich an unserem letzten Abend bereits erzählt habe –, kann sich jede Warteschlange an einer Bushaltestelle entfachen und in ein hitziges Straßenseminar verwandeln, bei dem völlig Fremde miteinander über Politik, Moral, Strategie, Geschichte, Identität, Religion und die wahre Absicht Gottes diskutieren. Während die Teilnehmer an einem solchen Straßenseminar über Politik, Theologie und Gut und Böse debattieren, versuchen sie nichtsdestoweniger, unter Einsatz ihrer Ellbogen zum Anfang der Schlange vorzudringen. Alles schreit, keiner hört zu. Abgesehen von mir. Ich lausche manchmal, denn so verdiene ich ja mein Geld. Und dennoch muß ich Ihnen, meine Damen und Herren, gestehen, daß ich als Kind in Jerusalem selbst ein kleiner, ganz und gar hirngewaschener Fanatiker war. Selbstgerecht, chauvinistisch, taub und blind gegenüber jeder Darstellung, die sich von der damaligen einflußreichen jüdisch-zionistischen Darstellung unterschied. Ich war ein Steine werfendes Kind, ein jüdisches Intifada-Kind. Tatsächlich waren die ersten Worte – wie Sie sich erinnern –, die ich in englischer Sprache zu sagen gelernt habe, mal abgesehen von »yes« und »no«: »British go home!«; das waren die Worte, die wir jüdischen Kinder gewöhnlich riefen, während wir Steine auf britische Patrouillen in Jerusalem geworfen haben.
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Wo wir gerade über die Ironie der Geschichte sprechen: 1995 beschrieb ich in meinem Roman Panther im Keller, wie der Junge mit Namen oder vielmehr Spitznamen Profus seine fanatische Einstellung und seinen Chauvinismus verliert, bis zu einem gewissen Grad zumindest, und sich durch einen Sinn für Relativismus oder vielmehr einen Relativismusschock innerhalb eines Zeitraums von nur fast zwei Wochen verändert. Er hat sich heimlich mit einem Feind angefreundet, einem sehr lieben, unaffektierten Sergeant der britischen Polizei. Der Junge und der Sergeant treffen sich heimlich und bringen einander die englische und hebräische Sprache bei. Und der Junge entdeckt, daß dieser andere weder Hörner noch einen Schwanz hat, und zur gleichen Zeit entdeckt er ebenso, daß Frauen weder Hörner noch einen Schwanz haben. Das war für diesen Jungen eine ebenso schockierende Enthüllung wie die Entdekkung, daß Briten und Araber weder Hörner noch Schwanz haben. In gewisser Weise entwickelte der Junge einen Sinn für Ambivalenz, eine Fähigkeit, seine schwarzweißmalerischen Ansichten aufzugeben. Der Preis aber, den er zwangsläufig dafür zahlen muß, ist, daß er am Ende des Romans kein Kind mehr ist; er ist ein kleiner Erwachsener geworden. Viel von der Lebensfreude, der Faszination, dem Eifer und der Unkompliziertheit des Lebens sind verlorengegangen. Und nebenbei wird er noch gehänselt und von seinen alten Freunden als Verräter beschimpft. Ich erlaube mir, Ihnen aus der deutschen Version von Panther im Keller die ersten eineinhalb Seiten vorzulesen, weil ich denke, daß diese
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Darstellung mir, was das Thema Fanatismus angeht, so nah wie möglich kommt. Dies ist der Anfang, das erste Kapitel von Panther im Keller: »Viele Male in meinem Leben hat man mich Verräter genannt. Das erste Mal, als ich zwölfeinviertel Jahre alt war und in einem Stadtteil am Rand von Jerusalem wohnte. Es war in den Sommerferien, weniger als ein Jahr bevor die britischen Machthaber das Land räumten und aus dem Krieg der Staat Israel geboren wurde. Eines Morgens erschien in schwarzer, fetter Farbe auf der Mauer des Hauses, in dem wir wohnten, unter dem Küchenfenster eine Aufschrift: ›Profus ist ein gemeiner Verräter‹. Das Wort gemein ließ eine Frage aufkommen, die mich auch jetzt, da ich hier sitze und diese Geschichte niederschreibe, interessiert: Kann es sein, daß ein Verräter nicht gemein ist? Wenn nicht, warum hatte Chita Resnik (ich hatte seine Handschrift erkannt) sich dann die Mühe gemacht, das Wort gemein hinzuzufügen? Und wenn ja, wann ist ein Verrat keine gemeine Tat? Der Spitzname Profus hing mir an, seit ich diese Eigenart entwickelt hatte. Er kam von der Abkürzung für Professor und rührte von meiner Manie her, Worte genauen Untersuchungen zu unterziehen. (Bis heute hege ich eine Vorliebe für Worte, liebe es, sie zu sammeln, zu arrangieren, zu mischen, zu drehen, zusammenzufügen. Ungefähr so, wie die Liebhaber des Geldes es mit Münzen und Scheinen tun und die Freunde des Kartenspiels mit Spielkarten.) Vater hatte um sechs Uhr dreißig das Haus verlassen,
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um die Zeitung zu holen, und die Aufschrift unter dem Küchenfenster entdeckt. Beim Frühstück, als er gerade dabei war, eine Scheibe Schwarzbrot mit Himbeermarmelade zu bestreichen, steckte er jäh das Messer fast bis zum Schaft ins Marmeladenglas und sagte mit seiner gemessenen Stimme: ›Sehr schön. Eine Überraschung. Was hat seine Exzellenz denn angestellt, daß uns nun diese Ehre zuteil wird?‹ Meine Mutter sagte: ›Quäl ihn nicht schon am frühen Morgen. Es genügt, daß die Kinder ihm zusetzen.‹ Vater trug khakifarbene Kleidung, wie die meisten Männer unseres Viertels in jenen Tagen. Er hatte die Gebärden und auch die Stimme eines Menschen, der definitiv im Recht war. Er förderte mit seinem Messer einen zähen Himbeerklumpen vom Boden des Glases, bestrich beide Hälften der Brotscheibe gleichermaßen und sagte: ›Die Wahrheit ist, heutzutage nimmt nahezu jedermann das Wort Verräter allzu leicht in den Mund. Was ist eigentlich ein Verräter? In der Tat. Ein ehrloser Mensch. Ein Mensch, der heimtückisch, hinterhältig, für irgendeinen zweifelhaften materiellen Vorteil dem Feind behilflich ist, gegen das eigene Volk zu handeln. Oder seiner eigenen Familie und seinen Freunden Schaden zufügt. Schmählicher als ein Mörder. Bitte iß dein Ei auf. In der Zeitung schreiben sie, daß in Asien Menschen vor Hunger sterben.‹ Mutter zog meinen Teller zu sich heran und aß das Ei und den Rest der Marmeladenschnitte, nicht aus Appetit, sondern aus Friedfertigkeit. Und sagte: ›Wer liebt, ist kein Verrätern.‹«
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Meine Damen und Herren, später im Roman wird der Leser herausfinden können, daß meine Mutter total falsch lag. Nur der, der liebt, kann zum Verräter werden. Verrat ist nicht das Gegenteil von Liebe, Verrat ist eine der Möglichkeiten der Liebe. Ein Verräter ist meiner Meinung nach jemand, der sich in den Augen derjenigen verändert, die sich nicht ändern können, sich nicht ändern werden, Veränderung hassen und sie sich nicht vorstellen können, einmal abgesehen davon, daß sie dich ständig verändern wollen. Mit anderen Worten: In den Augen der Fanatiker ist jeder ein Verräter, der sich verändert. Und man ist somit vor die ungemein schwierige Wahl gestellt, zum Fanatiker oder zum Verräter zu werden. Das bedeutet, wer nicht zum Fanatiker wird, ist in den Augen der Fanatiker bis zu einem gewissen Grad ein Verräter. Ich habe meine Wahl getroffen, wie Ihnen dieses Buch erzählen wird. Meine Damen und Herren, vorhin habe ich mich selbst als Experten für vergleichende Fanatismusforschung bezeichnet. Das ist kein Scherz. Sollten Sie je von einer Schule oder Universität hören, die einen Fachbereich für vergleichende Fanatismusforschung einrichtet, bewerbe ich mich hiermit um einen Lehrauftrag. Als ehemaliger Bewohner Jerusalems, als geheilter Fanatiker fühle ich mich vollends qualifiziert für diese Tätigkeit. Vielleicht ist es höchste Zeit, daß jede Schule, jede Universität wenigstens ein paar Kurse in diesem Fach anbietet, da Fanatismus ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Ich meine nicht nur die offensichtlichen Manifestationen von Fundamentalisten und Eiferern. Ich beziehe
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mich nicht nur auf diese deutlich erkennbaren Fanatiker, die wir im Fernsehen sehen, an Orten, an denen hysterische Menschenmassen ihre Fäuste gegen die Kameras erheben und Parolen in Sprachen schreien, die wir nicht verstehen. Nein, Fanatismus ist allgegenwärtig, und in seinen stilleren, zivilisierten Ausprägungen ist er überall um uns herum präsent und vielleicht ebenso in uns selbst. Kennen wir nicht die Anti-Raucher, die einen am liebsten bei lebendigem Leib verbrennen würden, wenn man sich in ihrer Nähe eine Zigarette anzündet! Kennen wir nicht die Vegetarier, die einen bei lebendigem Leib verspeisen würden, weil man Fleisch ißt! Kennen wir nicht die Pazifisten, wie manche meiner Kollegen aus der israelischen Friedensbewegung, die mir am liebsten eine Kugel direkt in den Kopf jagen würden, nur weil ich eine etwas andere Vorstellung davon habe, mit welcher Strategie man mit den Palästinensern Frieden schließt! Natürlich sage ich nicht, daß jeder, der seine Stimme gegen irgend etwas erhebt, ein Fanatiker ist. Ich unterstelle auch nicht, daß jemand mit einer starken Meinung gleich ein Fanatiker ist, sicherlich nicht. Ich sage, daß die Wurzel des Fanatismus in der kompromißlosen Selbstgerechtigkeit liegt, einer Plage vieler Jahrhunderte. Natürlich gibt es viele Abstufungen des Bösen. Ein militanter Umweltschützer kann kompromißlos selbstgerecht sein, aber er oder sie wird wenig Schaden anrichten verglichen mit, sagen wir, einem, der ethnische Säuberungen begeht, oder einem Terroristen. Dabei haben alle Fanatiker doch ein oder zwei Dinge gemein. Sehr oft haben Fanatiker eine besondere Neigung,
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einen besonderen Sinn für Kitsch. Sehr oft können Fanatiker nur bis eins zählen, zwei ist eine zu große Zahl für sie, sie zählen bis eins. Zur gleichen Zeit kann man feststellen, daß Fanatiker sehr häufig hoffnungslos sentimental sind. Lassen Sie mich in eine Geschichte abschweifen. Ich bin ein notorischer Abschweifer, ich schweife immer ab. Ein lieber Freund und Kollege von mir, der wunderbare israelische Romancier Sami Michael, machte einmal die Erfahrung, die wir alle von Zeit zu Zeit machen, einer sehr langen Autofahrt mit einem Chauffeur von einer Stadt zur anderen, und der Chauffeur hielt ihm den üblichen Vortrag darüber, wie wichtig es für uns Juden ist, die Araber zu töten. Und anstatt zu schreien »Was für ein schrecklicher Mensch sind Sie, sind Sie ein Nazi, ein Faschist?«, hörte er ihm zu; er hatte entschieden, auf andere Art und Weise damit umzugehen, und fragte den Chauffeur: »Und wer, denken Sie, soll all die Araber töten?« Der Chauffeur sagte: »Was meinen Sie? Wir! Die israelischen Juden! Wir müssen! Wir haben keine Wahl, schauen Sie nur, was die uns jeden Tag antun!« »Aber wer genau soll Ihrer Meinung nach den Job ausführen, die Polizei oder vielleicht die Armee oder die Feuerwehr oder Ärzteteams, wer soll die Arbeit machen?« Der Chauffeur kratzte sich am Kopf und sagte: »Ich denke, das sollte schön auf uns alle aufgeteilt werden. Jeder von uns sollte ein paar von denen töten.« Und Sami Michael spielte das Spiel noch weiter, er sagte: »O. K. ich nehme an, Sie greifen sich einen Wohnblock in Ihrer Heimatstadt Haifa heraus, klingeln oder klopfen an jede Tür und sagen: ›Entschuldigen Sie, mein
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Herr oder meine Dame, sind Sie zufällig Araber?‹ Und wenn die- oder derjenige mit ›ja‹ antwortet, dann erschießen Sie sie. Dann sind Sie fertig mit dem Block und wollen gerade nach Hause gehen, und just da«, sagte Sami zu dem Chauffeur, »hören Sie irgendwo im vierten Stock ihres Blocks ein Baby schreien. Würden Sie zurückgehen und das Baby erschießen? Ja oder nein?« Es war einen Moment still, und dann sagte der Chauffeur zu Sami Michael: »Wissen Sie, Sie sind ein sehr grausamer Mensch.« Dies ist eine bezeichnende Geschichte, weil da etwas in der Natur des Fanatikers liegt, was im Grunde sehr sentimental ist und zur gleichen Zeit jeder Vorstellungskraft entbehrt. Und das gibt mir manchmal eine Hoffnung, in der Tat eine sehr eingeschränkte Hoffnung, daß es vielleicht helfen kann, wenn man einigen Menschen etwas Vorstellungskraft injiziert, um ihr fanatisches Eifern zu reduzieren. Sich das schreiende Baby vorzustellen kann dazu führen, sich unbehaglich zu fühlen. Das ist kein schnelles Heilmittel, keine schnell wirkende Medizin, aber es könnte helfen. Konformität und Uniformität, das Bedürfnis, dazuzugehören, und der Wunsch, dafür zu sorgen, daß alle anderen auch dazugehören, mögen die am weitesten verbreiteten, nicht jedoch die gefährlichsten Formen des Fanatismus sein. Erinnern Sie sich an diesen wunderbaren Film »Das Leben des Brian« von Monty Python, als Brian zu der riesigen Menge seiner Möchtegernjünger sagt: »Ihr seid doch alle Individuen!« Und die Menge schreit zurück: »Ja, wir sind alle Individuen!«, und Brian insistiert: »Und Ihr seid alle völlig verschieden!«, und die Menge brüllt einstimmig: »Ja,
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wir sind alle völlig verschieden!«, abgesehen von einem von ihnen, der verlegen mit leiser Stimme sagt: »Ich nicht.« Aber alle anderen versuchen wütend, ihn zum Schweigen zu bringen. Wenn ich allerdings sage, daß Konformität und Uniformität milde, aber weitverbreitete Formen des Fanatismus sind, muß ich hinzufügen, daß sehr oft Persönlichkeitskult, die Idealisierung politischer oder religiöser Führer oder die Verehrung glamouröser Individuen eine andere weitverbreitete Form des Fanatismus sein kann. Das zwanzigste Jahrhundert scheint sich in beidem hervorgetan zu haben. Totalitäre Regimes, tödliche Ideologien, aggressiver Chauvinismus, gewalttätige Formen von religiösem Fundamentalismus auf der einen Seite und die universelle Verehrung von Madonna und Maradona auf der anderen. Vielleicht ist der schlimmste Aspekt der Globalisierung die Infantilisierung der Menschheit. Ein globaler Kindergarten voller Spielzeug und technischen Spielereien, Bonbons und Lutschern. Bis ins 19. Jahrhundert hinein, meine Damen und Herren, ungefähr um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum, das variiert von einem Land zum anderen, von einem Kontinent zum anderen; aber ungefähr bis ins 19. Jahrhundert hinein hatten die meisten Menschen in den meisten Teilen der Welt mindestens drei Sicherheiten: Wo werde ich mein Leben verbringen, wie werde ich meinen Lebensunterhalt verdienen, und was passiert mit mir nach meinem Tod? Vor ungefähr hundertfünfzig Jahren wußte fast jeder in der Welt, daß er sein Leben an dem Ort seiner Geburt oder zumindest in der Nähe, vielleicht im nächsten Dorf, verbringen würde.
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Jeder wußte, daß er sich seinen Lebensunterhalt auf die gleiche oder zumindest sehr ähnliche Art und Weise verdienen würde wie seine Eltern. Und jeder wußte, wenn er sich anständig benehmen wird, geht er nach dem Tod in eine bessere Welt über. Das zwanzigste Jahrhundert hat diese und andere Sicherheiten erodiert, oft zerstört. Der Verlust dieser elementaren Sicherheiten hat vielleicht zu dem halben Jahrhundert geführt, das am stärksten ideologisch aufgeladen war, gefolgt von dem selbstsüchtigsten, hedonistischsten und am meisten an technischen Spielereien orientierten halben Jahrhundert. Für die ideologischen Bewegungen der ersten Hälfte lautete das Mantra »Morgen wird ein besserer Tag sein«. Laßt uns heute Opfer bringen, laßt uns selbst anderen Menschen Opfer auferlegen, so daß unsere Kinder in der Zukunft ein Paradies erben werden. Irgendwann in der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde diese Vorstellung ersetzt durch das Streben nach unmittelbarem Vergnügen. Sie wurde nicht nur durch das berühmte Recht ersetzt, nach Glück zu streben, sondern durch die momentan weitverbreitete Illusion, daß das Glück in den Regalen ausliegt und man einfach nur reich genug zu werden braucht, um dieses Glück mit der Brieftasche erwerben zu können. Das Bedürfnis nach »glücklich für alle Zeiten«, die Illusion immerwährenden Glücks, ist eigentlich ein Oxymoron. Entweder gibt es eine Ebene oder Höhepunkte. Immerwährendes Glück ist kein Glück, so wie auch ein permanenter Orgasmus niemals ein Orgasmus ist. Ich denke, das Wesen des Fanatismus liegt in dem Verlangen, andere Menschen dazu zu zwingen, sich zu
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ändern. Das weitverbreitete Bedürfnis, den Nachbarn zu verbessern oder die Ehefrau, das Kind nach seinen Vorstellungen zu formen, den Bruder »zurechtzurükken«, anstatt ihn sein zu lassen. Der Fanatiker ist die uneigennützigste Kreatur. Der Fanatiker ist ein ungemeiner Altruist. Oft ist der Fanatiker mehr an Ihnen interessiert als an sich selbst. Er will Ihre Seele retten, Sie erlösen, Sie von der Sünde befreien, vom Irrtum, vom Rauchen, vom Glauben oder Unglauben, er will Ihre Eßgewohnheiten verbessern, Sie vom Trinken heilen oder von Ihren Wahlgewohnheiten. Dem Fanatiker liegt viel an Ihnen, er fällt Ihnen entweder permanent um den Hals, weil er Sie wahrhaft liebt, oder er will Ihnen den Hals umdrehen, sollten Sie sich als nicht erlösbar erweisen. Topographisch gesehen ist »jemandem um den Hals fallen« und »jemandem den Hals umdrehen« fast die gleiche Geste. So oder so ist der Fanatiker mehr an Ihnen interessiert als an sich selbst, aus dem sehr einfachen Grund, daß der Fanatiker nur ein sehr kleines Ego besitzt oder gar keines. Herr Bin Laden und seine Mannen hassen den Westen nicht einfach. So simpel ist das nicht. Ich denke eher, daß sie Ihre Seelen retten wollen, Sie oder uns befreien wollen, von unseren schrecklichen Werten, vom Materialismus, vom Pluralismus, von der Demokratie, von der Redefreiheit, der Befreiung der Frau … All diese Dinge, beteuern die islamischen Fundamentalisten – genauso wie die jüdischen Fundamentalisten oder die christlichen Fundamentalisten –, sind sehr, sehr schlecht für Ihre Gesundheit. Sicherlich war das unmittelbare Ziel von Bin Laden nicht Amerika, sein unmittelbares Ziel war es,
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moderate pragmatische Muslime in wahre Gläubige zu verwandeln, in seine Vorstellung davon, wie Muslime zu sein haben. Der Islam wurde durch die »amerikanischen Werte« geschwächt, um den Islam aber zu verteidigen, reicht es nicht aus, den Westen zu attackieren und hart zu attackieren, nein, man muß den Westen gegebenenfalls bekehren. Frieden wird sich nur durchsetzen, wenn die Welt nicht nur einfach zum Islam, sondern zu der fundamentalistischsten, erbittertsten und starrsten Form des Islam bekehrt worden ist. Das wird gut für Sie sein. Im Grunde liebt Bin Laden Sie. Der 11. September war ein Akt der Liebe. Er hat es zu Ihrem Besten getan, er will Sie verändern, er will Sie erlösen. Sehr oft, meine Damen und Herren, beginnt all das in der Familie. Der Fanatismus beginnt daheim, denke ich. Genaugenommen beginnt es mit dem sehr verbreiteten Drang, geliebte Familienmitglieder zu ihrem eigenen Besten zu ändern, dem Drang, sich für einen innig geliebten Nachbarn zu opfern. Es beginnt mit dem Drang, unserem Kind zu sagen: »Du mußt so werden wie ich, nicht wie deine Mutter«, oder »Du mußt so werden wie ich, nicht wie dein Vater«, oder »Bitte werde etwas ganz anderes als deine beiden Eltern«. Oder, unter verheirateten Paaren, »Du mußt dich ändern, du mußt so werden wie ich, anders wird diese Ehe nicht funktionieren«. Sehr oft beginnt es mit dem Bedürfnis, sein eigenes Leben durch das Leben eines anderen zu leben. Sich selbst aufzugeben, um die Erfüllung des anderen zu erleichtern oder das Wohlergehen der nächsten Generation. Selbstaufopferung für einen anderen hat oft zur Folge, daß dieser unter aufgezwungenen schrecklichen
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Schuldgefühlen leidet; auf diese Weise manipuliert man ihn oder sie, kontrolliert ihn sogar. Wenn ich die Wahl hätte zwischen den beiden stereotypen Müttern in dem berühmten jüdischen Witz – die Mutter, die zu ihrem Kind sagt: »Iß dein Frühstück auf oder ich bringe dich um« und die andere, die sagt: »Iß dein Frühstück auf oder ich bringe mich um«, würde ich wahrscheinlich das geringere der beiden Übel wählen. Das heißt, ich würde lieber mein Frühstück nicht aufessen und sterben, als für den Rest meines Lebens von Schuldgefühlen geplagt zu werden. Lassen Sie uns nun zu der düsteren Rolle der Fanatiker und des Fanatismus im Konflikt zwischen Israel und Palästina, zwischen Israel und einem großen Teil der arabischen Welt kommen. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist im Grunde kein Bürgerkrieg zwischen zwei Gruppen derselben Bevölkerung, derselben Menschen oder derselben Kultur. Es ist kein interner, sondern ein internationaler Konflikt. Glücklicherweise handelt es sich um einen internationalen Konflikt, da internationale Konflikte leichter zu lösen sind als interne Konflikte, Religionskriege, Klassenkämpfe, Kriege um Werte. Ich sagte leichter, ich sagte nicht leicht. Eigentlich ist der Kampf zwischen israelischen Juden und palästinensischen Arabern kein religiöser Krieg, obwohl die Fanatiker auf beiden Seiten sich ernstlich darum bemühen, ihn zu einem solchen zu machen. Es handelt sich im Prinzip um nicht mehr als eine territoriale Auseinandersetzung über die Frage: »Wem gehört das Land?« Und da ich darüber an diesem Ort am Mittwoch reden werde, führe ich das jetzt nicht
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weiter aus, weil sonst niemand mehr zu meiner nächsten Vorlesung kommen wird. Ich sage Ihnen, daß es sich im Grunde genommen um eine Auseinandersetzung zwischen Recht und Recht handelt, zwischen zwei sehr vehementen, sehr überzeugenden Ansprüchen auf dasselbe kleine Land. Es ist kein religiöser Krieg, kein Krieg der Kulturen, keine Uneinigkeit zwischen zwei Traditionen, sondern ganz einfach ein Disput über Grundbesitz, darüber, wessen Heimat das Land ist. Und ich denke, hier kann eine Lösung gefunden werden. Ich habe Ihnen vorhin erzählt, daß ich daran glaube, daß Vorstellungskraft auf einem kleinen, auf einem vorsichtigen Weg vielleicht zu einer partiellen und beschränkten Immunität gegen Fanatismus führen kann. Ich denke, daß ein Mensch, der sich vorstellen kann, was seine oder ihre Ideen implizieren, wenn er tatsächlich zu dem schreienden Baby im vierten Stock kommt, zu einem weniger bedingungslosen Fanatiker werden kann, was eine kleine Verbesserung ist. Ich wünschte, ich könnte Ihnen nun an dieser Stelle sagen, daß Literatur in jedem Fall die Antwort ist, weil Literatur durch das Injizieren von Vorstellungskraft ein Gegenmittel gegen Fanatismus enthält. Ich wünschte, ich könnte einfach ein Rezept verschreiben, das lautet: Lies Literatur, und du wirst von deinem Fanatismus geheilt sein. Bedauerlicherweise ist es nicht so einfach. Leider wurden im Laufe der Geschichte viele Gedichte, Erzählungen und Dramen dazu benutzt, um Haß oder nationalistische und sexuelle Selbstgerechtigkeit oder solche in Klassenfragen zu schüren. Aber es gibt doch einige lite-
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rarische Werke, die, wie ich glaube, bis zu einem gewissen Punkt helfen können. Shakespeare kann eine Menge helfen. Jeder Extremismus, jeder kompromißlose Kreuzzug, jede Form von Fanatismus endet bei Shakespeare entweder in einer Tragödie oder in einer Komödie. Der Fanatiker ist am Schluß nie glücklicher oder zufriedener, er ist entweder tot oder wird zur Witzfigur. Das ist eine gute Injektion. Und Gogol kann hilfreich sein. Gogol macht dem Leser in einer grotesken Art und Weise bewußt, wie wenig er doch weiß, selbst wenn er hundertprozentig recht hat. Gogol lehrt uns, daß unsere eigene Nase zu einem erbitterten Feind, sogar zu einem fanatischen Feind werden kann, und daß man sich letzten Endes dabei entdecken könnte, fanatisch die eigene Nase zu jagen. An sich keine schlechte Lektion. Kafka ist in dieser Hinsicht ein guter Lehrmeister, obwohl ich sicher bin, daß er niemals die Absicht hatte, zur Erziehung gegen den Fanatismus benutzt zu werden. Aber Kafka zeigt uns, daß es selbst dort Dunkelheit und Rätsel gibt, wo wir denken, überhaupt nichts falsch gemacht zu haben. Das hilft. Und wenn wir jetzt genug Zeit hätten, dann würde ich noch viel länger über Kafka und Gogol sprechen und über die untergründige Verbindung, die ich zwischen diesen beiden sehe. Aber das soll einem anderen Seminar überlassen werden. Ich denke, auch William Faulkner kann hilfreich sein. Der israelische Dichter Yehuda Amichai drückt all dies besser aus, als ich es jemals hoffe ausdrücken zu können, wenn er sagt: »An dem Ort, an dem wir recht haben, werden im Frühjahr niemals Blumen wachsen.« Das ist ein sehr nützlicher Satz. So können
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also einige literarische Werke bis zu einem gewissen Grad hilfreich sein, aber nicht alle. Wenn Sie versprechen, das, was ich Ihnen als nächstes erzählen werde, mit Vorsicht zu genießen, dann sage ich Ihnen jetzt, daß ich glaube, zumindest im Prinzip eine wirksame Medizin gegen Fanatismus gefunden zu haben. Ein Sinn für Humor ist ein starkes Heilmittel. Ich habe niemals in meinem Leben einen Fanatiker mit Sinn für Humor gesehen, noch habe ich jemals gesehen, daß ein humorvoller Mensch zum Fanatiker geworden wäre, außer, der- oder diejenige hätte seinen Sinn für Humor verloren. Fanatiker sind oft sehr sarkastisch, und einige von ihnen haben einen sehr scharfsinnigen Sarkasmus, aber keinen Humor. Humor beinhaltet die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Humor ist Relativismus, Humor ist die Fähigkeit, zu realisieren, daß, egal wie recht man hat und wie großes Unrecht einem angetan wird, es da dennoch immer eine Seite an der ganzen Angelegenheit gibt, die etwas Komisches an sich hat. Je mehr man im Recht ist, desto komischer wird man. Und deshalb kann man ein selbstgerechter Israeli, ein selbstgerechter Palästinenser oder ein selbstgerechter Irgendwer sein, wenn man einen Sinn für Humor hat, dann könnte man teilweise immun gegen Fanatismus werden. Wenn es mir nur gelänge, den Sinn für Humor in Kapseln zu pressen und dann ganze Bevölkerungen davon zu überzeugen, meine Humorpillen einzunehmen und auf diese Weise gegen Fanatismus immun zu werden, dann würde ich mich eines Tages für den Nobelpreis für Medizin, nicht für Literatur qualifizieren.
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Aber schauen Sie mich an! Allein die Idee, Humor in Kapseln zu pressen, allein die Idee, andere Menschen dazu zu bringen, meine Humorpillen zu ihrem eigenen Wohl einzunehmen und sie auf diese Weise von ihren Leiden zu kurieren, allein diese Idee ist ein ganz klein wenig mit Fanatismus kontaminiert. Seien Sie sehr vorsichtig, Fanatismus ist extrem ansteckend, ansteckender als jeder Virus. Man kann sich Fanatismus schnell zuziehen, selbst wenn man versucht, ihn zu bekämpfen oder zu schlagen. Lesen Sie Ihre Zeitung oder schauen Sie fern, dann werden Sie jeden Tag vor Augen geführt bekommen, wie leicht Menschen zu antifanatischen Eiferern werden können, zu antifundamentalistischen Kreuzfahrern gegen den Dschihad. Wenn wir Fanatismus letzten Endes auch nicht besiegen können, so können wir ihn vielleicht doch in Grenzen halten. Wie ich schon sagte, die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, wirkt schon sehr heilsam, die Fähigkeit, uns selbst so zu sehen, wie andere uns sehen, ist eine andere Medizin. Die Fähigkeit, in Situationen zu existieren, die einen ungewissen Ausgang haben, ja, diese selbst zu genießen und zu lernen, die Vielfalt zu genießen, kann genauso hilfreich sein. Ich predige keinen totalen moralischen Relativismus, sicher nicht. Ich versuche die Notwendigkeit hervorzuheben, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sich in den anderen hineinversetzen, wenn man streitet, wenn man sich beklagt, insbesondere dann, wenn wir fühlen, daß wir zu hundert Prozent im Recht sind. Selbst wenn man hundertprozentig recht hat und der andere hundertprozentig unrecht, ist es immer noch von Nutzen, sich in den
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anderen hineinzuversetzen. Tatsächlich tun wir es die ganze Zeit. Sie wissen, mein letzter Roman Allein das Meer handelt von einer Gruppe von sechs oder sieben Menschen, die über die ganze Welt verstreut sind und untereinander eine nahezu mystische Gemeinschaft bilden. Sie spüren einander, sie kommunizieren die ganze Zeit miteinander in telepathischer Art und Weise, obwohl sie in vier unterschiedlichen Ecken der Erde leben. Der Fähigkeit, in Situationen mit ungewissem Ausgang zu existieren, zum Beispiel einen Roman zu schreiben, wohnt neben anderen Bürden die Notwendigkeit inne, jeden Morgen aufzustehen, eine Tasse Kaffee zu trinken und damit anzufangen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Was wäre, wenn ich er wäre oder sie? Vor meinem eigenen persönlichen Hintergrund, meiner persönlichen Lebens- und Familiengeschichte kann ich gar nicht anders, als oft darüber nachzudenken, daß ich bei einer Veränderung meiner Gene oder der Lebensumstände meiner Eltern er oder sie sein könnte, ein Siedler auf der Westbank, ein ultraorthodoxer Extremist, ein orientalischer Jude aus einem Dritte-WeltLand – ich könnte jemand anderer sein. Ich könnte einer meiner Feinde sein. Sich das vorzustellen ist immer eine hilfreiche Übung. Vor vielen Jahren, meine Damen und Herren, als ich noch ein kleines Kind war, erklärte mir meine Großmutter in sehr einfachen Worten den Unterschied zwischen Juden und Christen – nicht zwischen Juden und Moslems, aber zwischen Juden und Christen: »Du siehst«, sagte sie, »Christen glauben, daß der Messias schon einmal hier war und irgendwann wiederkommen wird. Die Juden bleiben dabei, daß der
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Messias noch kommen wird. Deswegen«, sagte meine weise Großmutter, »deswegen hat es soviel Zorn, Verfolgung, Blutvergießen und Haß gegeben … Warum? Warum«, sagte sie, »warum kann man nicht einfach abwarten und sehen was passiert? Wenn der Messias kommt und sagt ›Hallo, schön, euch wiederzusehen‹, dann müssen die Juden zugeben, daß sie unrecht hatten. Wenn der Messias andererseits kommt und sagt ›Wie geht es euch, schön, euch kennenzulernen‹, dann müßte sich die ganze Christenheit bei den Juden entschuldigen. Bis dahin«, sagte meine Großmutter, »– leben und leben lassen.« Sie war definitiv immun gegen Fanatismus. Sie kannte das Geheimnis, in Situationen mit ungewissem Ausgang zu leben, mit ungelösten Konflikten, mit der Andersartigkeit von anderen Menschen umzugehen. Fanatismus beginnt – wie ich gesagt habe – daheim. Ich sollte damit schließen, Ihnen zu sagen, daß das Gegenmittel genauso daheim gefunden werden kann, Sie brauchen einfach nur die Hand auszustrecken. »Niemand ist eine Insel«, sagt John Donne, aber ich wage es, diesem wundervollen Satz etwas hinzuzufügen: Niemand, kein Mann und keine Frau, ist eine Insel, jeder von uns ist eine Halbinsel, halb mit dem Festland verbunden, halb mit Blick auf den Ozean; halb angeschlossen an Familie und Freunde, Kultur und Tradition, Land und Nation, Sex und Sprache und an viele andere Bezugspunkte. Die andere Hälfte möchte allein gelassen werden und den Blick auf den Ozean richten. Und ich denke, daß es uns gestattet sein sollte, eine Halbinsel zu bleiben. Jedes soziale und politische Sy-
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stem, das uns in eine darwinistische Insel verwandelt und den ganzen Rest der Menschheit in einen Feind, einen Rivalen, ist ein Monstrum. Aber zur gleichen Zeit ist jedes soziale, politische oder ideologische System, das jeden von uns einfach zu einem Molekül des Festlands machen möchte, ebenso eine Monstrosität. Der Zustand der Halbinsel ist der wahrhaft menschliche Zustand. So sind wir, und so verdienen wir zu bleiben. In gewisser Weise gibt es in jedem Haus, in jeder Familie, in jedem zwischenmenschlichen Verhältnis, in jeder menschlichen Beziehung eine Verbindung zwischen einer Zahl von Halbinseln, und daran erinnern wir uns besser, bevor wir versuchen, einander zu formen und zu verdrehen und dafür zu sorgen, daß andere Menschen unserem Weg folgen, während er oder sie eigentlich eine Zeitlang auf den Ozean schauen wollte. Und das gilt für soziale Gruppen, für Kulturen, für Zivilisationen und Nationen und eben auch für Israelis und Palästinenser. Keiner von ihnen ist eine Insel, keiner kann sich vollständig mit den anderen vermischen. Diese zwei Halbinseln sollten verbunden werden und zur gleichen Zeit ihre Unabhängigkeit behalten. Ich weiß, daß dies eine ungewöhnliche Botschaft ist in Zeiten von Gewalt, Zorn, Rache, Fundamentalismus, Fanatismus und Rassismus, wie man sie im Nahen Osten oder anderswo findet. Sinn für Humor, die Fähigkeit, sich in den anderen hineinversetzen zu können, die Halbinseln anzuerkennen – wenn wir alle uns darum bemühen, so kann das zumindest eine partielle Verteidigung gegen das fanatische Gen sein, das wir alle in uns tragen.
Dritte Vorlesung 23. Januar 2002 Meine Damen und Herren, Freunde, erlauben Sie mir zuallererst, meinen Freund und Kollegen, den scharfsinnigen und bewegenden palästinensischen Autor Izzat Ghazzawi willkommen zu heißen: ein Mensch, mit dem ich in vielerlei Hinsicht Meinungsverschiedenheiten habe, den ich aber vor allem als eine engagierte palästinensische Stimme betrachte, als ein echtes Fenster zur schmerzvollen Erfahrung der palästinensischen Menschen im letzten halben Jahrhundert, als einen exzellenten Schriftsteller, ein wundervolles menschliches Wesen, und, wie ich sagen kann, auch als einen lieben Freund. Meinungsverschiedenheiten werden Sie mit Sicherheit heute, morgen und übermorgen hören können, unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Ideen. Das ist nur natürlich – selbst innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ist es schwer, zwei Menschen dazu zu bringen, einer Meinung zu sein, und selbst innerhalb der israelischen Gesellschaft ist dies sehr schwer. Aber Sie könnten überrascht sein, auf wie vielen Gebieten indes zwischen Izzat Ghazzawi und mir Übereinstimmung oder zumindest teilweise Übereinstimmung herrscht. Meine Damen und Herren, gutmeinende Europäer, linksgerichtete Europäer, intellektuelle Europäer, libe-
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rale Europäer müssen immer zuallererst wissen, wer die Guten und wer die Bösen in dem Film sind. Nun, in dieser Hinsicht war Vietnam sehr leicht zu beurteilen, man wußte sehr gut, daß die vietnamesische Bevölkerung das Opfer und die Amerikaner auf der Seite der Bösen waren. Bei der Apartheid war es ebenso einfach. Es war leicht zu sagen, daß Apartheid Sünde ist, und der Kampf für nationale Befreiung, für Gleichberechtigung und menschliche Würde rechtens. Die Auseinandersetzung zwischen Kolonialismus und Imperialismus auf der einen Seite und den Opfern von Kolonialismus und Imperialismus auf der anderen Seite ist relativ simpel – man kann leicht sagen, wer die guten und wer die bösen Jungs sind. Wenn es um Grundlagen des israelisch-arabischen Konflikts geht, insbesondere des israelisch-palästinensischen Konflikts, dann liegen die Dinge nicht mehr so einfach. Und ich befürchte, daß ich die Angelegenheit mit meiner heutigen Vorlesung für Sie nicht einfacher machen werde, indem ich Ihnen sage: Das sind die Engel und das sind die Teufel, Sie müssen nur die Engel unterstützen, und das Gute wird über das Böse siegen. So einfach ist das nicht, meine Freunde, so einfach nicht, weil es sich bei dem israelisch-palästinensischen Konflikt nicht um einen Wildwestfilm handelt. Es ist kein Kampf zwischen Gut und Böse. Ich betrachte ihn eher als eine Tragödie, im klassischen und präzisesten Sinn des Wortes Tragödie: ein Zusammenstoß zwischen Recht und Recht, ein Zusammenprall zwischen einem sehr starken, sehr nachhaltigen und sehr überzeugenden Anspruch und einem anderen, sehr unterschiedlichen, aber nicht weniger überzeugenden,
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nicht weniger starken, nicht weniger menschlichen Anspruch. Meine Damen und Herren, die Palästinenser sind in Palästina, weil Palästina ihr Heimatland ist und das einzige Heimatland der palästinensischen Menschen. In der gleichen Weise wie Holland das Heimatland der Holländer ist oder Schweden das Heimatland der Schweden. Die israelischen Juden sind in Israel, weil es kein anderes Land in der Welt gibt, das die Juden als Volk, als Nation je Heimat nennen konnten. Als Individuen schon, aber nicht als Volk, nicht als Nation. Die Palästinenser haben – unfreiwillig – versucht, in anderen Ländern zu leben. Sie wurden von der sogenannten »arabischen Familie« zurückgewiesen, manchmal sogar gedemütigt und verfolgt. Ihr »Palästinensertum« wurde ihnen in der schmerzhaftesten Weise bewußt gemacht, sie waren nicht erwünscht als Libanesen, als Syrer, als Ägypter oder Irakis. Sie mußten auf die harte Tour lernen, daß sie Palästinenser sind und daß dies das einzige Land ist, in dem sie bleiben können. In einer sonderbaren Weise machten die Juden wie die Palästinenser im Laufe ihrer Geschichte eine nahezu parallele Erfahrung. Vor ungefähr siebzig Jahren hat man die Juden, hat man meine Eltern praktisch aus Europa rausgeschmissen. Genauso wie die Palästinenser zunächst aus Palästina und dann aus den arabischen Ländern vertrieben oder zumindest nahezu vertrieben wurden. Als mein Vater ein kleiner Junge in Polen war, das hatte ich ja schon erzählt, sah man die Straßen Europas mit dem Schriftzug bedeckt: »Juden, geht nach Palästina« oder manchmal sogar noch weniger freundlich: »Verdammte Juden,
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geht nach Palästina«. Fünfzig Jahre später, als mein Vater Europa wieder besuchte, waren die Wände mit dem Schriftzug bemalt: »Juden raus aus Palästina«. Viele Menschen hier in Europa schicken mir immer wieder tolle Einladungen, um zusammen mit palästinensischen Partnern, Kollegen und Freunden ein rosiges Wochenende in einem reizenden Ferienort zu verbringen, damit wir einander kennenlernen, einander mögen lernen. Wir trinken gemeinsam eine Tasse Kaffee, wir stellen fest, daß keiner von uns Hörner hat oder einen Schwanz, und alle Probleme lösen sich in Wohlgefallen auf. Das basiert auf einer in Europa weitverbreiteten sentimentalen Vorstellung, daß nämlich jeder Konflikt im Grunde nie mehr ist als ein Mißverständnis. Eine kleine Gruppentherapie, ein wenig psychologische Familienberatung, und jeder ist glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende. Da habe ich wohl ein paar schlechte Nachrichten für Sie: Meine Damen und Herren, ich befürchte, es gibt kein essentielles Mißverständnis zwischen palästinensischen Arabern und israelischen Juden. Die Palästinenser wollen das Land haben, das sie Palästina nennen. Und sie haben gute Gründe, es zu beanspruchen. Die israelischen Juden wollen genau dasselbe Land aus exakt den gleichen Gründen, was ein völliges gegenseitiges Verständnis zwischen den beiden Parteien ermöglicht, und gleichzeitig ist es eine schreckliche Tragödie. Ströme von gemeinsam getrunkenem Kaffee können die Tragödie zweier Völker nicht vergessen machen, die dasselbe kleine Land als ihr einziges Heimatland auf der ganzen Welt für sich beanspruchen und meiner Meinung nach zu Recht beanspruchen. So
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ist es zwar wunderbar, gemeinsam Kaffe zu trinken, und dafür arbeite ich – insbesondere, wenn es sich um arabischen Kaffee handelt, der unendlich viel besser ist als israelischer –, aber Kaffee trinken kann keine Probleme aus der Welt schaffen. Wir brauchen keine gemeinsamen Kaffeestunden und auch kein besseres gegenseitiges Verständnis, was wir brauchen, ist ein schmerzhafter Kompromiß. Und wie ich schon am letzten Abend hier gesagt habe, hat das Wort Kompromiß einen ungemein schlechten Ruf in der europäischen Gesellschaft, besonders unter den jungen Idealisten. Für sie sind Kompromisse Ausdruck von Opportunismus, sie betrachten sie als etwas Unehrenhaftes, etwas Kriecherisches und Fragwürdiges, ein Syndrom für Feigheit. Nicht so in meinem Vokabular. Das Wort Kompromiß bedeutet für mich Leben. Und das Gegenteil von einem Kompromiß sind nicht Idealismus und Treue, das Gegenteil von einem Kompromiß sind Fanatismus und Tod. Und am letzten Abend habe ich über die Natur des Fanatismus gesprochen. Wir brauchen einen Kompromiß – einen Kompromiß, keine Kapitulation. Einen Kompromiß zu schließen heißt nicht, daß das palästinensische Volk irgendwann auf die Knie gehen soll, genausowenig wie das israelisch-jüdische Volk. Heute abend werde ich Ihnen etwas über die Natur dieses Kompromisses erzählen. Ich möchte Ihnen jedoch schon gleich zu Anfang sagen, daß dieser Kompromiß teuflisch weh tun wird. Weil beide Völker ihr Land lieben, weil beide Völker, israelische Juden wie palästinensische Araber, tiefe, unterschiedliche, aber tiefe, historische und emotionale Wurzeln in diesem Land ha-
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ben. Eine Komponente der Tragödie, einer der Aspekte, denen ein mißverständliches Element innewohnt, ist die Tatsache, daß viele israelische Juden nicht erkennen, wie tief die emotionale Bindung der Palästinenser an ihr Land ist. Und viele Palästinenser schaffen es nicht, zu erkennen, wie tief eben gerade die jüdische Bindung an dasselbe Land ist. Die Erkenntnis über diese Tiefe der Wurzeln kommt jedoch auf eine qualvolle Weise und ist ein schmerzhafter Prozeß für beide Nationen. Der Weg dorthin wird auf beiden Seiten mit gescheiterten Träumen, zerbrochenen Illusionen, verletzten Hoffnungen und aufgeblasenen Slogans aus der Vergangenheit gepflastert sein. Ich habe viele Jahre für die israelische Bewegung Peace Now gearbeitet. Tatsächlich habe ich mich, lange bevor Peace Now 1978 gegründet wurde, für einen israelisch-palästinensischen Frieden eingesetzt. Damals, 1967, direkt nach dem Sechstagekrieg, war ich unter den allerersten und sehr wenigen israelischen Juden, die sich unmittelbar dafür engagierten, die Zukunft der Westbank und von Gaza nicht mit Jordanien oder Ägypten, sondern mit dem palästinensischen Volk, mit der palästinensischen Führung und, ja, mit der PLO auszuhandeln, die es zu dieser Zeit ablehnte, das Wort Israel überhaupt auszusprechen. Das war in jenen Tagen eine seltsame Erfahrung. Ich glaube, daß die israelische Friedensbewegung zu dieser Zeit so klein war, daß wir alle zusammen unsere nationalen Treffen beinahe in einer öffentlichen Telefonzelle hätten abhalten können. Heute liegen die Dinge anders, obwohl die israelische Friedensbewegung geschwächt ist. Aber eines muß ich jetzt
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deutlich klarstellen. Die israelische Friedensbewegung ist keine Zwillingsschwester der Friedensbewegung hier in Deutschland, in Europa oder in Amerika zu Zeiten des Vietnamkriegs. Wir sind nicht der Auffassung, daß ein Rückzug Israels über Nacht die Lösung aller Probleme bringt. Genausowenig haben wir die schlichte Vorstellung, daß Israel der böse Junge oder der einzig gute Junge in der Geschichte ist. Wir sind für den Frieden, aber nicht unbedingt pro-palästinensisch. Wir sind ausgesprochen kritisch gegenüber der palästinensischen Führung. Persönlich bin ich ebenso kritisch gegenüber der palästinensischen Führung, wie ich es gegenüber der israelischen Führung bin. Darauf werde ich später noch näher eingehen. Aber die Auseinandersetzung zwischen uns und einigen europäischen Friedensbewegungen geht noch tiefer. Ich war zweimal in meinem Leben persönlich auf dem Schlachtfeld. Das erste Mal als Reservist einer Panzereinheit 1967 an der ägyptischen Front im Sinai, und dann an der syrischen Front im Krieg von 1973. Es waren einfach die schrecklichsten Erfahrungen meines gesamten Lebens, und dennoch schäme ich mich nicht dafür, in diesen beiden Kriegen gekämpft zu haben. Ich bin kein Pazifist im sentimentalen Sinn des Wortes. Wenn ich noch einmal die reale Gefahr fühlen würde, daß mein Land vollständig weggewischt und mein Volk abgeschlachtet werden könnte, würde ich wieder kämpfen, obwohl ich ein alter Mann bin. Allerdings nur dann, wenn es um Leben und Tod geht, oder falls jemand versuchen würde, mich oder meinen Nächsten zu versklaven. Eine Sache, für die ich niemals kämpfen würde – eher ginge ich ins Gefäng-
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nis –, ist mehr Land. Ich würde nie wegen eines Extraschlafzimmers für die Nation in den Krieg ziehen. Nie würde ich um heilige Stätten oder Heiligtümer kämpfen, nie für sogenannte nationale Interessen. Leben und Freiheit, dafür würde ich kämpfen, kämpfen wie ein Teufel, aber für nichts sonst. Das mag eine gewisse Kluft zwischen mir und dem regulären europäischen Pazifisten sein, der behauptet, daß Krieg das ultimative Übel dieser Welt ist. In meinem Vokabular ist Krieg schrecklich, das ultimative Übel jedoch ist nicht der Krieg, es ist die Aggression. Wenn abgesehen von Deutschland die ganze Welt 1939 behauptet hätte, daß Krieg das schrecklichste Phänomen überhaupt ist, dann wäre Hitler heute Herr des Universums. Wenn man also Aggression erkennt, dann muß man dagegen kämpfen, woher auch immer diese kommt. Aber nur für das Leben und die Freiheit. Meine Damen und Herren, als ich den Satz »Make Peace not Love« gesagt oder geprägt habe, habe ich natürlich nicht gegen die Liebe gepredigt. Aber ich habe bis zu einem gewissen Grad versucht, den sentimentalen »Mischmasch« über Frieden, Liebe, Brüderschaft, Mitgefühl, Vergebung, Zugeständnisse und so weiter auszuräumen, der die Menschen zu der Vorstellung treibt, daß die Bösen nur die Waffen niederlegen müßten, und die Welt würde sich sofort in einen wunderbar liebevollen Ort verwandeln. Ich persönlich glaube, daß Liebe ein sehr seltener Rohstoff ist. Ich denke, daß ein Mensch, zumindest meiner Erfahrung nach, zehn Menschen lieben kann. Wenn er sehr großzügig ist, dann ist er fähig, zwanzig zu lieben. Ein glücklicher, ein sehr
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glücklicher Mensch kann sogar von zehn Menschen geliebt werden. Wenn er außerordentlich viel Glück hat, dann kann er von zwanzig Menschen geliebt werden. Wenn einer zu mir sagt, daß er Lateinamerika liebt oder die Dritte Welt oder die Menschheit, dann ist das zu dünn, um echt zu sein. So wie die Beatles vor vielen Jahren einmal beklagt haben: »Es gibt einfach nicht genug Liebe dafür.« Ich glaube nicht, daß Liebe die Tugend ist, mit der man internationale Probleme löst. Dafür sind andere Tugenden notwendig. Was wir brauchen, ist ein Sinn für Gerechtigkeit, aber auch gesunden Menschenverstand, wir brauchen Fantasie und eine enorme Vorstellungskraft für den anderen, manchmal sogar die Fähigkeit, in dessen Haut zu schlüpfen. Wir benötigen die rationale Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, manchmal sogar Opfer zu bringen und Konzessionen zu machen, aber um des Friedens willen Selbstmord begehen, das müssen wir nicht. »Ich bringe mich um, damit du glücklich wirst« oder »Ich möchte, daß du dich umbringst, weil mich das glücklich machen wird« – diese beiden Haltungen sind einander nicht unähnlich, sie liegen näher beieinander, als man denkt, aber darüber haben wir an dem Abend diskutiert, als wir über Fanatiker gesprochen haben. So ist meiner Ansicht nach das Gegenteil von Krieg nicht Liebe, nicht Mitgefühl und nicht Großzügigkeit, das Gegenteil von Krieg ist Frieden. Nationen müssen in Frieden leben. Wenn ich noch zu Lebzeiten den Staat Israel und den Staat Palästina Tür an Tür nebeneinander existieren sehe, als anständige Nachbarn ohne Unterdrückung, ohne Ausbeutung, ohne Blutvergießen, ohne Terror,
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ohne Gewalt, dann werde ich zufrieden sein, auch wenn die Liebe sich nicht durchsetzt. Liebe werde ich an anderer Stelle finden, hoffe ich, zumindest werde ich es versuchen. Und wie der Dichter Robert Frost sagt: »Gute Zäune machen gute Nachbarn.« Meine Damen und Herren, einer der Umstände, die den israelisch-palästinensischen Konflikt besonders hart machen, ist die Tatsache, daß der israelisch-palästinensische, der israelisch-arabische Konflikt im Grunde ein Konflikt zwischen zwei Opfern ist. Zwei Opfern desselben Unterdrückers. Das Europa, das die arabische Welt kolonialisiert hat, sie ausgebeutet und gedemütigt hat, auf ihrer Kultur herumgetrampelt ist und sie als imperialistischen Spielplatz benutzt hat, ist dasselbe Europa, das die Juden diskriminiert hat, sie verfolgt und gejagt hat und schließlich einen Massenmord an ihnen begangen hat, einen beispiellosen verbrecherischen Genozid. Nun haben Sie vielleicht gedacht, daß zwei Opfer automatisch ein Gefühl der Solidarität untereinander entwickeln, wie zum Beispiel in den Gedichten von Bertolt Brecht. In seiner Dichtung werden die Opfer unmittelbar zu Brüdern, sie marschieren gemeinsam auf die Barrikaden und singen dabei die Lieder Bertolt Brechts. Aber im wirklichen Leben, denke ich – einige von Ihnen werden das aus eigener Erfahrung kennen –, im wirklichen Leben sind die schlimmsten Konflikte gerade die Auseinandersetzungen zwischen zwei Opfern ein und desselben Unterdrückers. Zwei Kinder desselben grausamen Elternteils sind nicht notwendigerweise von Liebe zueinander erfüllt. Sehr oft sehen sie in dem anderen das exakte Ebenbild des grausamen
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Elternteils. Genauso verhält es sich im Fall von Juden und Arabern, nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen Juden und Arabern. Jede der beiden Parteien schaut auf die andere und sieht in ihr das Bild ihrer ehemaligen Unterdrücker. In einem Großteil der zeitgenössischen arabischen Literatur, die ich lese – und ich muß sofort eine Einschränkung vornehmen, denn leider kann ich arabische Literatur nicht im Original, sondern nur in Übersetzungen lesen –, nicht überall, aber in einem Großteil werden die Juden, insbesondere die israelischen Juden, als eine Fortsetzung des weißen, kultivierten, tyrannisierenden, kolonisierenden, grausamen, herzlosen Europäers aus der Vergangenheit dargestellt. Sie sind die gleichen Kolonialherren, die noch einmal in den Nahen Osten eingefallen sind, zwar verkleidet als Zionisten, aber genauso, um zu tyrannisieren, zu kolonialisieren und auszubeuten. Dies sind die gleichen Menschen, wir kennen sie. Sehr oft schaffen es die Araber nicht – selbst empfindsame arabische Schriftsteller –, uns als das zu sehen, was wir, die israelischen Juden, wirklich sind: eine Gruppe von halbhysterischen Flüchtlingen und Überlebenden, gejagt von entsetzlichen Alpträumen, traumatisiert, nicht nur durch Europa, sondern auch durch die Art und Weise, wie wir in arabischen und islamischen Ländern behandelt wurden. Die Hälfte der israelischen Bevölkerung sind Menschen, die aus arabischen und islamischen Ländern rausgeschmissen worden sind. Aber sie betrachten uns nicht auf diese Weise, was sie in uns sehen, ist eine Fortsetzung des Kolonialismus der Vergangenheit.
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Vor demselben Hintergrund betrachten wir israelischen Juden sicher oft die Araber, insbesondere die Palästinenser. Wir sehen sie nicht als das, was sie sind, Opfer von jahrhundertelanger Unterdrückung, von Ausbeutung, von Kolonialismus und Demütigung. O nein, wir sehen sie als Anstifter von Pogromen, als Nazis, die sich nur in Kafias hüllen, sich Bärte wachsen und bräunen lassen. Aber sie befinden sich in dem gleichen alten Spiel, bei dem man den Juden aus Spaß an der Freude die Kehlen durchschneidet. Kurz gesagt, sie sind die Inkarnation unserer früheren Unterdrücker. In dieser Hinsicht gibt es eine tiefe Ignoranz auf beiden Seiten, keine politische Unklarheit, nicht einmal eine Unkenntnis der Zwecke und Ziele, aber eine Ignoranz der Hintergründe, der tiefen Traumata bei beiden Opfern. Viele Jahre lang war ich sehr kritisch gegenüber der palästinensischen Nationalbewegung. Einige Gründe dafür sind historischer Art, einige nicht. Aber hauptsächlich war ich kritisch gegenüber der palästinensischen Nationalbewegung, weil es ihr nicht zu erkennen gelang, wie genuin die jüdische Verbindung mit dem Land Israel ist. Es gelingt ihnen nicht zu erkennen, daß das moderne Israel kein Produkt eines kolonialistischen Unternehmens ist, oder zumindest gelingt es ihnen nicht, ihrem Volk das mitzuteilen. Aus eben demselben Grund stehe ich Generationen von israelischen Zionisten genauso kritisch gegenüber, denen es nicht gelingt, sich vorzustellen, daß es ein palästinensisches Volk gibt, ein reales Volk mit realen und legitimen Rechten. So sind beide Führungen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, entweder schuldig, die Tragödie
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nicht als Tragödie begriffen zu haben, oder zumindest schuldig, ihrem Volk dies nicht mitgeteilt zu haben. Gut, ich glaube nicht an plötzliche Flitterwochen, ich bin nicht sentimental. Ich erwarte nicht, daß irgendwann wie durch ein Wunder eine Formel entdeckt wird und die beiden Antagonisten einander plötzlich weinend in den Armen liegen, wie zwei lang verschollene Brüder in einer Szene bei Dostojewski – »O mein Bruder, kannst du mir jemals vergeben, wie konnte ich so schrecklich sein, nimm das Land, wen kümmert schon Land, schenk mir nur deine Liebe«. Leider erwarte ich nichts von dem. Ich erwarte auch keine Flitterwochen. Wenn überhaupt, erwarte ich eine faire und gerechte Scheidung zwischen Israel und Palästina. Und Scheidungen sind nie glücklich, selbst wenn sie gerecht sind oder mehr oder weniger gerecht, so tun sie dennoch weh, sie sind einfach schmerzhaft. Gerade diese spezielle Scheidung, die eine sehr komische Scheidung werden wird, weil die beiden Scheidungsparteien definitiv in der gleichen Wohnung bleiben werden, keiner zieht aus. Und da die Wohnung sehr klein ist, wird es notwendig sein, darüber zu entscheiden, wer Schlafzimmer A bekommt und wer Schlafzimmer B und was mit dem Wohnzimmer passiert. Und natürlich muß es besondere Arrangements hinsichtlich des Badezimmers und der Küche geben. Sehr lästig. Aber besser als diese lebendige Hölle, durch die im Moment jeder in diesem geliebten Land gehen muß. Palästinenser, die täglich von der grausamen israelischen Militärregierung unterdrückt, gejagt, gedemütigt, ausgehungert und beraubt werden. Israelische Menschen, die täglich durch erbarmungslose
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willkürliche Terrorattacken auf Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Schüler, Teenager oder Kunden eines Einkaufszentrums terrorisiert werden. Alles ist dem vorzuziehen! Ja, eine faire Scheidung. Und erst dann, möglicherweise, wenn wir diese schmerzliche faire Scheidung vollzogen haben durch die Errichtung zweier Staaten, die grob der demographischen Realität entsprechen – ich werde jetzt nicht versuchen, hier eine Landkarte an die Tafel zu malen, aber ich kann Ihnen sagen, daß die Grenze sich im großen und ganzen an den Grenzlinien vor 1967 ausrichten sollte, mit einigen beiderseitig abgestimmten Änderungen und besonderen Vereinbarungen für die umstrittenen Heiligen Stätten in Jerusalem, das ist kurz und bündig die Formel –, dann, wenn die Scheidung vollzogen und eine Teilung erreicht ist, glaube ich, wird es nicht lange dauern, bis Israelis und Palästinenser die Grenze überspringen, um zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken. Dann wird die Zeit dafür gekommen sein, um gemeinsam Kaffee zu trinken. Ich denke sogar, daß wir kurz darauf auch in der Lage sein könnten, unsere Mahlzeiten zusammen in der kleinen Küche zu kochen, ich spreche hier von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Vielleicht ein gemeinsamer Markt im Nahen Osten. Vielleicht eine einzige Währung für den Nahen Osten. Eine Sache kann ich euch Europäern versichern: Unser Konflikt im Nahen Osten ist schmerzhaft und blutig und grausam und dumm, aber wir werden keine tausend Jahre benötigen, um unser Äquivalent zum Euro im Nahen Osten zu bekommen, wir werden es schneller schaffen als ihr. Bevor ihr also geneigt seid, auf uns jü-
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dische Idioten oder arabische Idioten, uns grausame, extremistische, fanatische, gewalttätige Menschen herabzuschauen, überlegt gut, bevor ihr mit dem Finger auf uns zeigt. Unsere blutige Geschichte wird kürzer sein als eure blutige Geschichte. Ich weiß, daß es sehr gefährlich ist, Prophezeiungen zu verkünden, wenn man aus meinem Teil der Welt kommt, denn es gibt dort eine große Konkurrenz im Geschäft mit den Prophezeiungen. Aber ich riskiere Kopf und Kragen dafür, daß wir nicht Hunderte von Jahren damit zubringen werden, uns gegenseitig in der altehrwürdigen europäischen Tradition abzuschlachten. Darin werden wir schneller sein. Um wie viel schneller? Ich wünschte, darauf wüßte ich die Antwort. Ich unterschätze niemals die Kurzsichtigkeit und Einfältigkeit der politischen Führung auf beiden Seiten. Aber es wird passieren. Überdies sollte, muß der erste Schritt – und das ist äußerst wichtig –, der erste Schritt muß eine Zweistaatenlösung sein. Israel muß zurückkehren zu dem, was einst die israelischen Vorschläge waren, im Grunde genommen seit Anbeginn dieser hundert Jahre Einsamkeit. Der grundlegende Vorschlag seit 1948, und selbst vor 1948, von Anfang an ist: Anerkennung für Anerkennung, Souveränität für Souveränität, Unabhängigkeit für Unabhängigkeit, Sicherheit für Sicherheit. Gute Nachbarschaftlichkeit für gute Nachbarschaftlichkeit, Respekt für Respekt. Die palästinensische Führung muß sich an ihr eigenes Volk wenden und schließlich laut und deutlich sagen, was sie niemals geschafft hat auszusprechen: daß Israel kein Unfall in der Geschichte ist, daß Israel keine gesetzwidrige Inbesitznahme ist,
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daß Israel nun einmal zufällig das Heimatland der israelischen Juden ist, unabhängig davon, wie schmerzhaft das für die Palästinenser auch sein mag. Genau wie wir israelischen Juden laut und deutlich sagen müssen, daß Palästina das Heimatland des palästinensischen Volkes ist, so ungelegen es uns auch kommen mag. Seine schlimmste Ausprägung erlebt der israelischarabische, der israelisch-palästinensische Konflikt nicht jetzt, sondern in diesen vielen Jahren, vielen Jahrzehnten, da die beiden Parteien nicht einmal den Namen der jeweils anderen über die Lippen bringen konnten, als Palästinenser und andere Araber echte Schwierigkeiten damit hatten, das dreckige Wort Israel auszusprechen. Sie nannten es gewöhnlich die »Zionistische Einheit«, die »künstliche Kreatur«, die »Intrusion«, die »Infektion«, den »al-daula al-mazuuma« – den »künstlichen Staat« oder das künstliche Wesen. Lange Zeit behaupteten viele Araber und die meisten Palästinenser, daß Israel eine Art Wanderausstellung ist. Wenn sie nur laut genug protestieren, dann wird die Welt Israel wegnehmen und woandershin verpflanzen, vielleicht nach Australien oder an einen anderen weit entfernten Ort. Sie behandelten Israel wie einen Alptraum, wie einen »koshmar«, und wenn sie ihre Augen nur fest genug reiben, dann wird Israel verschwinden. Sie behandelten Israel wie eine vorübergehende Infektion, und wenn sie kratzen und kratzen, wird sie irgendwie abheilen. Und tatsächlich haben sie ein paarmal, oder besser gesagt dreimal versucht, Israel mit Hilfe von Streitkräften zu vernichten, sie scheiterten und waren sehr frustriert über ihr Versagen. Aber in diesen Jahren waren die Is-
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raelis nicht besser. Ihrerseits gelang es den Israelis nicht, das explizite Wort »Palästinensisches Volk« auszusprechen. Wir griffen zurück auf Euphemismen wie »die Hiesigen« oder »die arabischen Einwohner des Landes«, wir waren gewöhnlich noch panarabischer als das Regime unter Nasser in Ägypten, denn in dem Moment, da man pro-panarabisch ist, gibt es kein Palästinenserproblem. Die arabische Welt ist riesig. Viele Jahre lang waren wir blind gegenüber der Tatsache, daß das palästinensische Volk selbst in arabischen Ländern keine Heimat finden konnte. Wir wollten das nicht sehen und nicht hören. Meine Damen und Herren, diese schrecklichen Zeiten sind vorbei. Beide Völker wissen jetzt, daß das jeweils andere real ist, und die meisten Menschen auf beiden Seiten wissen, daß die anderen nicht weggehen werden. Sind sie darüber glücklich? Keineswegs. Ist das ein fröhlicher Moment? Keineswegs. Es ist ein schmerzvoller Augenblick. Es ist für beide Seiten eher so, als ob man nach einem Narkoseschlaf in einem Krankenhaus aufwacht und herausfindet, daß man amputiert wurde. Und das hier, lassen Sie sich das gesagt sein, ist ein schlechtes Krankenhaus, und die Ärzte sind nicht wunderbar, und die beiden Familien vor der Tür verfluchen sich gegenseitig und sie verfluchen die Ärzte. Das ist genau in diesem Augenblick das Bild des Nahen Ostens. Aber wenigsten weiß jeder, daß der Eingriff unvermeidlich ist. Jeder weiß nun, daß das Land irgendwie in zwei nationale Heimatländer zerteilt werden muß. Ein Land, das überwiegend, nicht ausschließlich, aber überwiegend jüdisch sein wird, weil die Juden das Recht
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haben, eine Mehrheit in einem kleinen Land zu bilden, das nach dem israelischen Rückzug etwa ein Drittel der Größe Baden-Württembergs ausmachen wird. Aber das wird ein Ort sein, der von den israelischen Juden, von jedem, selbst von ihren Nachbarn, als ihre nationale Heimstätte anerkannt werden wird. Allein zu dem Preis, daß das palästinensische Volk dasselbe Recht haben wird. Sie werden ein Heimatland haben, das noch kleiner ist als Israel, aber es wird eine Heimat sein, ihre Heimat. Meine Damen und Herren, dringender als die Frage des Grenzverlaufs, dringender als die Frage der umstrittenen Heiligen Stätten, dringender als irgendeine andere Frage ist die Frage nach den palästinensischen Flüchtlingen von 1948. Diese Menschen, die im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 ihre Häuser, in manchen Fällen ihr Heimatland und oft einfach alles verloren haben. Es gibt eine große Uneinigkeit darüber, wer die Schuld oder die größte Schuld daran trägt. Sie werden einige moderne israelische Historiker finden, die Israel die Schuld geben. Ich vermute, man wird in ein paar Jahren möglicherweise auch einige moderne arabische Historiker finden, die den arabischen Regierungen die Schuld für diese Zeit geben. Aber diese Angelegenheit ist dringlich und unmittelbar. Jeder einzelne palästinensische Flüchtling, der obdachlos ist, arbeitslos und ohne Land, sollte versorgt werden mit einem Obdach, einer Arbeit und einem Paß. Israel kann diese Menschen nicht aufnehmen, nicht in großer Zahl. Wenn es das tut, wird es nicht länger Israel sein. Aber Israel sollte ein Teil der Lösung sein. Israel wird seinen Teil der Verantwortung
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an ihrer Tragödie zugeben müssen. Wie groß dieser Anteil an der Verantwortung ist, ist eine sehr akademische und möglicherweise eine sehr subjektive Frage. Aber ein Teil der Verantwortung liegt bei Israel. Der andere Teil liegt bei der palästinensischen Führung von 1947 und der arabischen Regierung von 1948. Israel sollte einen Teil der Verantwortung übernehmen. Israel muß dabei helfen, die Flüchtlinge im zukünftigen Palästina anzusiedeln, das in der Westbank liegt oder in Gaza oder sonstwo. Natürlich hat Israel die perfekte Legitimation, seinerseits das Thema von einer Million jüdischer Flüchtlinge aus arabischen Ländern aufzuwerfen, die ebenso ihr Zuhause, ihren Besitz und ihre Länder verloren haben. Sie wollen nicht in die arabischen Länder zurückgehen. Aber sie haben alles zurückgelassen. Im Irak, in Syrien, in Ägypten, in Nordafrika, im Iran, in vielen Ländern, aus denen sie praktisch hinausgestoßen wurden, manchmal hinausgezwungen wurden. Auf das alles sollte man achten. Wenn ich israelischer Premierminister wäre, dann würde ich keine Vereinbarung mit den Palästinensern unterzeichnen, die nicht auch eine Lösung für die Flüchtlingsproblematik enthält. Eine Lösung, die zwar hauptsächlich außerhalb des israelischen Territoriums liegt, aber eine Lösung ist. Weil jedes Abkommen, das die Flüchtlingsproblematik ignoriert, eine Zeitbombe ist. Nicht nur aus moralischen Gründen, selbst aus eigennützigen Gründen der israelischen Sicherheit muß dieses menschliche und nationale Problem im Rahmen eines sofortigen Friedensprozesses gelöst werden. Zum Glück sprechen wir nicht von ganz Afrika oder Indien oder der Dritten Welt. Wir re-
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den von ein paar hunderttausend Wohn- und Arbeitsplätzen. Nicht jeder palästinensische Flüchtling ist im Augenblick obdach- und heimatlos. Aber diejenigen, die obdach- und heimatlos sind und unter unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingscamps verrotten – ihr Problem ist mein Problem. Wenn es keine Lösung für diese Menschen gibt, wird Israel weder Frieden noch Ruhe haben, selbst wenn es eine Vereinbarung mit seinen Nachbarn getroffen hat. Eines möchte ich Ihnen sagen, die Erkenntnishindernisse sind beseitigt. Ich denke, daß das erste gemeinsame Projekt, das Israelis und palästinensische Araber am Tag, nach dem die Scheidung vollzogen und die Zweistaatenlösung implementiert ist, angehen müssen, das erste gemeinsame Projekt, für das sie überhaupt keine ausländische Hilfe in Anspruch nehmen sollten und in das beide Nationen gleichermaßen investieren sollten, Dollar für Dollar, ein gemeinsames Denkmal für unsere früheren Dummheiten, unsere früheren Idiotien ist. Weil jeder nun weiß, daß das palästinensische Volk dann, wenn der Friedensvertrag eines Tages implementiert sein wird, viel weniger bekommt, als es vor zweiundfünfzig Jahren, vor fünf Kriegen und vor einhundertfünfzigtausend Toten, unseren und ihren Toten, hätte bekommen können. Wenn nur die palästinensische Führung in den Jahren 1947/48 etwas weniger fanatisch, weniger einseitig und weniger kompromißlos gewesen wäre und die Teilungsresolution der Vereinten Nationen akzeptiert hätte. Aber auch die israelische Führung wird etwas zu diesem Denkmal der Dummheit beitragen müssen, da auch wir Israelis ein viel besseres,
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ein überzeugenderes Geschäft hätten machen können, wenn wir nach unserem großen militärischen Sieg 1967 weniger arrogant, weniger machttrunken, weniger selbstsüchtig und weniger fantasielos gewesen wären. Die beiden Nationen werden hinsichtlich ihrer früheren Dummheiten viel zu feiern haben. Die Erkenntnisblockade jedoch, das ist die gute Nachricht, die ist verschwunden. Wenn man jetzt ein Referendum abhalten würde oder eine öffentliche Meinungsumfrage zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, wenn man jedes einzelne Individuum ungeachtet der Religion, des Status, der Politik, des Passes oder auch ohne Paß – einfach jeden – nicht danach fragen würde, welche Lösung gerecht ist, welche Lösung man gern sehen würde, sondern vielmehr danach fragen würde, was nach seiner momentanen Einschätzung am Ende des Tages passieren wird, dann vermute ich, daß ungefähr achtzig Prozent sagen würden: »eine Teilung und eine Zweistaatenlösung«, und einige Leute würden sofort hinzufügen: »Und das wäre das Ende von allem, das wäre eine schreckliche Ungerechtigkeit.« Menschen auf beiden Seiten würden das sagen. Aber zumindest sind sich die Menschen dessen bewußt. Und meiner Meinung nach besteht die gute Nachricht darin, daß sowohl das jüdisch-israelische Volk als auch das palästinensisch-arabische Volk seinen Führern weit voraus ist, zum ersten Mal in hundert Jahren. Und wenn endlich ein visionärer Führer auf beiden Seiten aufsteht und sagt: »Das ist es! Das ist es! Biblische Träume – die könnt ihr alle weiterträumen, Träume über die Situation vor 1947, die Situation nach 1967, diese Fantasien, jene Fantasien, ihr
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könnt sie weiterträumen, Träume unterliegen keiner Zensur mehr. Aber die Realität liegt im großen und ganzen bei den Grenzen von 1967.« Hier oder da ein Zentimeter mehr oder weniger im Rahmen einer beiderseitigen Übereinkunft. Und irgendeine unbefristete Lösung für die umstrittenen Heiligen Stätten, weil dort nur eine unbefristete Lösung funktionieren kann. In dem Moment, da die Führer beider Seiten dazu bereit sind, das zu sagen, werden auch die beiden Völker traurig bereit dazu sein. Nicht glücklich, aber bereit dazu. Bereiter als je zuvor. Auf die harte Tour durch Schmerz und Blutvergießen, aber bereit. Meine Damen und Herren, ich möchte eine letzte Sache ansprechen. Was können Sie tun? Was kann Deutschland tun? Was können öffentliche Meinungsmacher tun? Was können Europäer tun? Was kann die Welt draußen tun, abgesehen davon, sich bei den Händen zu halten und zu sagen: »Wie schrecklich!«? Nun, da gibt es zwei oder vielleicht drei Dinge. Zum einen haben eure öffentlichen Meinungsmacher in Deutschland, in ganz Europa, die Angewohnheit, wie eine alte viktorianische Schulleiterin mit erhobenem Finger auf diese oder jene Partei zu zeigen: »Schämt ihr euch denn nicht über euch selbst?« Zu oft entdecke ich in den Zeitungen in diesem Land und in anderen europäischen Ländern entweder schreckliche Dinge über Israel oder schreckliche Dinge über die Araber und den Islam. Einfältige Sachen, engstirnige, selbstgerechte Dinge. Ich will damit sagen, daß ich zwar in keiner Hinsicht mehr ein Europäer bin, abgesehen von dem Schmerz meiner Eltern und meiner Vorfahren, die für alle Zeit dieses Ge-
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fühl einer enttäuschten Liebe, einer unerwiderten Liebe zu Europa in meine Gene gepflanzt haben. Aber ich bin keine europäische Person mehr. Wenn ich jedoch Europäer wäre, dann würde ich sehr vorsichtig damit sein, jemandem, irgend jemandem mit meinem Finger zu drohen. Anstatt den Finger zu erheben, die Israelis zu beschimpfen, dies zu sein, die Palästinenser zu beschimpfen, jenes zu sein, leisten Sie bitte jeden Beitrag, den Sie zu leisten imstande sind, um beiden Seiten zu helfen, weil beide nahe daran sind, die schmerzhafteste Entscheidung ihrer Geschichte zu treffen. Durch den Verzicht auf die besetzten Gebiete und das Verlassen der Siedlungen werden die Israelis nicht nur ihr eigenes Selbstbild aufgeben müssen und einen ernsthaften inneren Konflikt und eine innere Spaltung ertragen müssen. Sie werden sehr ernste Sicherheitsrisiken auf sich nehmen, nicht von Seiten Palästinas, sondern durch zukünftige extremistische arabische Mächte, die eines Tages palästinensisches Territorium dazu benutzen könnten, Israel anzugreifen, das nach seinem Rückzug in seiner Mitte nur noch zwölf Kilometer breit sein wird. Das bedeutet, die Grenze des zukünftigen palästinensischen Staates wird ungefähr sieben Kilometer weit entfernt von unserem einzigen internationalen Flughafen beginnen. Palästina wird in Reichweite von zwanzig Kilometern von ungefähr der Hälfte der israelischjüdischen Bevölkerung sein. Jerusalem wird an der Grenze liegen, Tel Aviv ungefähr fünfzehn oder siebzehn Kilometer von der Grenze entfernt. Das ist keine einfache Entscheidung, die die Israelis zu treffen haben, und doch müssen sie sie treffen. Die Palästinenser ihrer-
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seits werden Gebiete opfern müssen, die ihnen ursprünglich gehörten, und das wird weh tun. Auf Wiedersehen Haifa, auf Wiedersehen Jaffa, auf Wiedersehen Beer-Sheva und viele andere Städte und Dörfer, die arabisch waren und es nicht länger sind und nicht länger palästinensisch sein werden. Das wird höllisch weh tun. Jede Unze Hilfe und Sympathie für beide Seiten, materielle Zuwendung, politische Zuwendung und vor allem emotionale Zuwendung sollten Sie beiden Patienten zukommen lassen. Sie werden sich nicht länger entscheiden müssen, ob Sie nun pro-israelisch oder propalästinensisch sind, Sie werden für den Frieden sein müssen. Vielen Dank.
Izzat Ghazzawi (1951–2003) Die Rolle von Kultur und Literatur in Krisengebieten
Vorlesung an der Universität Tübingen Ich werde mir die Freiheit herausnehmen, mich an dieser Diskussion zu beteiligen, anstatt mich nur auf ein Thema zu konzentrieren. Es ist mir völlig bewußt, welcher Art Publikum ich hier gegenüberstehe, und ich bin dankbar, daß mir eine derartige Ehre zuteil wird. Ich werde mit einer kleinen Anekdote beginnen. Als einige deutsche Schriftsteller zu Besuch bei israelischen Schriftstellern waren, wurde ich zusammen mit ein paar anderen palästinensischen Kollegen dazu eingeladen. Ein Tagesordnungspunkt war die Frage, wie man sich in einer Übergangszeit zwischen einem Konflikt und der Hoffnung auf dessen Lösung verhalten soll. Als wir Palästinenser an diesem Morgen ankamen, wir waren ein wenig spät, saßen alle anderen da und schauten betreten aneinander vorbei. Es war erstaunlich, daß unsere Ankunft jedem die Gelegenheit gab, sich zu bewegen und irgend etwas zu sagen. Aber nach ein paar Augenblicken lebhafter Begegnung waren alle, auch wir, wieder still. Es gab für diese drei Gruppen, von denen eine jede sich entweder als Opfer oder als diskriminiert erachtet, keinen Punkt, an dem man hätte beginnen können. Schließlich sagte ich, daß wir alle Opfer einer von Unterdrükkung geprägten Vergangenheit sind und daß es unsere Aufgabe ist, diesen Kreislauf der Schuld zu durchbrechen und uns dieses Gefühls zu entledigen, ein Opfer zu sein oder diskriminiert zu werden. Danach hatten wir ein sehr schönes Gespräch, aber leicht war es nicht.
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Vielleicht gehe ich noch ein wenig weiter und erzähle Ihnen von meiner ersten Begegnung mit den »Anderen«. Dieser weit zurückliegende Tag im Oktober 1967 ist mir in der Tat unvergeßlich. Es war an einem dieser Freitagvormittage, als ich faul draußen vor der Tür unseres winzigen Zimmers stand, das mein Vater beharrlich einen »Laden« nannte. Ich hatte eine große Schüssel voll Popcorn, um es den Kindern aus der Nachbarschaft zu verkaufen. Plötzlich lief eine Gruppe von fünf Soldaten, die volle Bewaffnung geschultert und mit Landkarten in der Hand, die Straße entlang. Es wurde heiß, und die Soldaten schienen müde zu sein. Als sie mich an der Tür sahen, blieben sie stehen, und ihre Augen starrten auf das Popcorn. Ein Soldat trat vor und deutete mit dem Finger auf mich. Ich wußte, daß er mir nichts tun wollte. Sie wollten Popcorn. Sie sprachen in einer anderen Sprache und holten komische kleine Münzen hervor, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Meine Mutter, eine grundsätzlich besorgte Frau, kam zufällig vorbei und sah sie da herumstehen … alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Als sie aber verstanden hatte, daß es nur das Popcorn war, was sie wollten, nahm sie etwas davon und gab es ihnen. Sie gingen sofort weg und studierten weiter ihre Karten. Es war das erste Mal, daß ich die Anderen als Soldaten in Uniform sah, weil Krieg kam und ging, ohne daß man die Helden des Kriegs je zu Gesicht bekommen hätte. Von da an erfaßte ich die Sprache der Region durch ihre Medien und durch ihre Politik. Der Krieg hatte uns gelehrt, Angst vor den Anderen und vor uns selbst zu haben. Wir sprachen über den Frieden in der
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Sprache des Krieges, weil wir wirklichen Frieden nicht kennengelernt hatten. Uns fehlte die Erfahrung, wie man mit dem Anderen umzugehen hatte, weil wir ihn aus seinem Verhältnis zu uns heraus betrachteten. Aus diesem Grund wurde der Krieg fortgesetzt, jedoch in der Sprache des Friedens. Der Frieden hat eine eigene Sprache. Auch Krieg hat eine eigene Sprache. Der Krieg war die Quelle für unsere Geschichten, unsere Mythen und unsere Sprache. Der Andere war ein Feind, der uns töten wollte. Was wir über ihn in unseren Gedanken und unseren Herzen trugen, das war seine Aggression. Wir überzeugten uns selbst immer wieder davon, daß dies endgültig und unabänderlich ist. Der Krieg hat uns verstümmelt und unsere Logik zerstört. Was sollen wir ohne einen Feind anfangen? Wie werden wir unsere Tage und Nächte verbringen? Wie ist es möglich, ohne Angst zu leben? Die Menschen entwickelten ein mythisches Konzept von Mut und Heldentum. Jeder von uns beiden wollte den Anderen auf tausend Arten loswerden. Jeder betrachtete den Anderen als eine Fliege, ein Insekt, das man zerquetschen muß. Für jede Seite waren die eigenen Helden unvergleichliche Märtyrer, die nicht fallen, bevor sie nicht zehn Soldaten getötet oder ganze Dörfer zerstört haben. Jede Seite lebte ein Zeitalter der Mythen und verfaßte ihr eigenes Epos, das vollständig der Fantasie entsprang und nichts mit der Realität zu tun hatte. Jede Seite glaubte an ihre Mythen. Jede Seite entwickelte eine Sprache für das Leben: Der Tod ist heilig, das Leben ist bedeutungslos. Auch die Literatur hatte ihre eigene Sprache: Der Dichter ist ein Prophet, ein Bote
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Gottes. Dichter fanden es fantastisch, über die Verwundungen zu singen, den Stein oder das Gewehr. Die Geographie hat uns gelehrt, daß New York uns näher war als Jerusalem. Aber jede Seite befürchtete, daß die Lügen ans Licht kommen, daß ihre Mythen in sich zusammenfallen könnten. Jedes Jahr im Mai feiert Israel seine Unabhängigkeit. Zur gleichen Zeit erinnern die Palästinenser an den Tag, an dem sie ihre Städte und Dörfer verlassen mußten. In ein und demselben Land gibt es Menschen, die die Freiheit bejubeln, und andere, die sich danach sehnen. Es ist ein Land unmöglicher Widersprüche. Die dort leben, hassen es. Die aus ihm verbannt wurden, beten es an und wollen unbedingt zurückkehren. Beide führen einen endlosen Kampf um das Land, weil sie es lieben. Ist es so leicht, diese Liebe einfach aufzugeben? Beide betrachten es als das Heilige Land, können sie sich auf einen Kompromiß für den Frieden einigen? In fünfzig Jahren haben wir die ganze Geschichte und alle Mythen wieder auferstehen lassen … selbst all die toten Propheten – Abraham, Ismael, Jakob, Moses, Mohammed und Jesus – haben wir ins Leben zurückgerufen, um sie zu Kämpfern für die historischen Rechte an diesem Land zu machen. Das ist, kurz gesagt, die Atmosphäre aus Liebe und Haß, in der ich seit 1967 aufgewachsen bin. Das ist die komplette Lektion, die wir jeden Tag sehen und lernen mußten. Aber ich habe herausgefunden, daß diese Atmosphäre, die aus der Kontroverse zwischen Arabismus und Israelismus geschaffen wurde, keinesfalls realistisch ist. Diejenigen, die nicht innerhalb dieser Besatzung lebten, waren frei, die Umstände auf ihre Art zu
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sehen, aber ich konnte ihre Vorstellungen und Gefühle nicht teilen. Für mich spricht die Realität des Landes zwangsläufig von zwei Völkern, die keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können. Sie müssen jedoch auf Basis der Gerechtigkeit einen Punkt erreichen, an dem sie sich gegenseitig anerkennen. Die wenigen Soldaten, die ich 1967 gesehen habe, wurden später zu einem gewohnten Anblick. Als ich 1970 zum Studieren nach Jordanien geschickt wurde, mußten wir eine Brücke über den Jordan passieren. Diese Jahre waren so rauh, sie konnten nichts anderes als nur Haß und Zorn lehren. Trotz der wenigen Kilometer dauerte es einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, bis man am Ziel war. Im Laufe der Reise mußte man sich vollständig entkleiden und endlosen Verhören unterziehen. Man bekam zwar die Erlaubnis, das Land zu verlassen, durfte aber erst nach Ablauf von neun Monaten zurückkehren. Keine Begründung für eine Rückkehr zählte, nicht einmal ein Todesfall in der Familie, so wie es der Fall war, als mein Vater im Mai 1971 verstarb. Ich konnte mich nicht verabschieden, wie ein guter Sohn es von seinem Vater tun sollte. Es ist schwer vorstellbar, wie hart das für mich war, insbesondere, weil unsere Kultur dieser Angelegenheit viel Aufmerksamkeit beimißt. Es ist wirklich unmöglich, diese Jahre in wenigen Worten zusammenzufassen. Ich möchte es bei meiner Untertreibung bewenden lassen. Aber die Realitäten des Lebens waren hart. Es war nicht einmal leicht, mit dem eigenen Ich einen Kompromiß zu finden, weil die, die gegen die Besatzung kämpften, entweder getötet
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oder gefangengehalten wurden. Es war nicht leicht, neutral zu bleiben, weil man nicht einfach neutral bleiben kann. Während der Periode wirklicher Unruhen, die 1980 begann, schrieb ich meinen ersten Roman The Woman Prisoner. Es ist die Geschichte einer Frau, die ihren Sohn nicht im Gefängnis besuchen durfte, obwohl sie es drei Jahre lang versucht hat. Als ihr ein Besuch schließlich doch gestattet wurde, dachte sie, daß es für ihn das beste Geschenk wäre, ihm einfach Geschichten zu erzählen, Geschichten über diejenigen im Dorf, die gestorben sind, die geboren wurden oder geheiratet haben. Sie verbrachte so viele Tage damit, die besten Geschichten zum Erzählen herauszufinden, daß sie sich, als sie ihn dann hinter den Gitterstäben sah, an keine mehr erinnern konnte. Sie sagte nicht ein Wort. 1989 mußte ich selbst für siebenundzwanzig Monate ins Gefängnis. Es war mir unmöglich, nicht in den Ruf nach Befreiung von der Besatzung einzustimmen. Es war nicht zu akzeptieren, daß eine Nation für immer von einer anderen Nation ungerecht regiert werden sollte. Selbst für die jüdische Seele war die Besatzung hart. Es war sehr deutlich, daß sich auch in der israelischen Gesellschaft starke Stimmen erhoben, die von der Besatzung genug hatten. Das bekräftigte uns noch in unserer Überzeugung, daß etwas getan werden mußte, um ein Gleichgewicht herzustellen, daß man sich für zwei Heimatländer für die beiden Völker stark machen mußte. Während meiner Gefangenschaft schrieb ich Letters Underway, das nicht nur an mein eigenes Volk gerichtet war, sondern auch an die Anderen. Der Protagonist dieses Buches ist ein einzigartiges Gedicht, das
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unseren Herzen und unserem Geist entspringt. Es ist ein Versuch, das Gute und Noble in uns selbst und in den Anderen aufzurütteln, damit eine bessere Zukunft entstehen kann. Als ich im Mai 1991 schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte sich zwischen einigen von uns und den Anderen ein Dialog entwickelt. Wir wußten, es wird nicht einfach werden, aber allein die Tatsache, daß es uns möglich war, uns zu treffen und wie zivilisierte Menschen miteinander zu reden, die Bedürfnisse des Anderen zu spüren, war sehr befriedigend. Das Jahr 1993 war sehr stürmisch. Es begann mit meinem Roman The Edges, einer Selbstkritik der korrumpierten Intifada-Führung. Unschuldige Menschen wurden verhört und sogar getötet, weil man sie fälschlich der Kollaboration beschuldigte. Gleichzeitig handelt das Buch vom tragischen Tod eines wahrhaften Helden; dessen Tod war von seinen eigenen Kollegen schon so gut wie geplant worden. In der Mitte des Jahres nahm ich in Oslo an einem Dialog zwischen einigen palästinensischen und israelischen Schriftstellern teil. Im September dieses Jahres wurde das Oslo-Abkommen unterzeichnet und uns allen dadurch viel Hoffnung gegeben. Das Dilemma des historischen Anspruchs auf das Land Israel/Palästina befand sich auf dem Weg zu einer Lösung. Gegen Ende des Jahres verlor ich einen meiner Söhne, er war 17 Jahre alt, im Laufe einer zivilen Auseinandersetzung, als er versuchte, einen verwundeten Freund zu retten. Dieses Erlebnis hat den Geschmack von allem in meinem Leben verändert und tut es noch immer. Aber gleichzeitig gab es mir eine Vorstellung davon, wie man persönliches Leid als
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heilende Kraft nutzen kann, anstatt es nur als Tragödie zu empfinden, die einen selbst und andere quält. Aber das Leben war nicht nur rauh. Es gab Momente der Freude und des inneren Friedens. Tief in mir existierte eine Hoffnung, die mir Zufriedenheit gab. Ich versuchte eine Welt ins Gleichgewicht zu bringen, die multidimensional sein muß, eine Welt, die nicht nur feindselig oder nur friedlich ist. Der Schriftsteller in mir versuchte an der Sprache zu arbeiten und glaubte an sie als Quelle von Schönheit und Hoffnung. Als Schriftsteller gab es für mich zwei Stilmittel von zentraler Bedeutung. Das erste ist die stärkere Betonung der Figuren gegenüber dem Geschehen. Die Figuren sind wichtig, nicht die Ereignisse. Es sind vor allem die Menschen, die zählen, nicht die Geschehnisse, die sie geprägt haben. Das zweite Schlüsselelement ist Untertreibung dort, wo Dinge zurückhaltend geäußert werden. Understatement ist das Gegenteil von Übertreibung … Es ist ein Weg, um Chancen für Toleranz und Kompromisse zu eröffnen. Understatement läßt uns jederzeit glauben, daß wir die Hoffnung nicht verlieren werden oder explodieren oder den Punkt erreichen, an dem wir nicht mehr zurückkönnen. Diese beiden zentralen Stilmittel erfordern jedoch eine Sprache ganz anderer Natur: eine Sprache, die kraft ihrer tiefen und lautlosen Kommunikation tanzen, singen und schreien kann. Eine Sprache, die genau wie ein menschliches Wesen empfinden kann. Die tatsächliche Konfrontation mit dem eigenen Ich ist eine Mixtur aus Erfahrung, Vertrauen und Sprache. Manchmal durchdringt uns auch eine Konfrontation
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mit der Dunkelheit und läßt uns an dem Guten in der Welt zweifeln. Das muß eine Konfrontation mit dem Anteil des Bösen sein, der in jedem von uns existiert. An dieser Stelle muß ich sagen, daß ein Schriftsteller keine starke Person ist. Schreiben ist eine Weisheit, die versucht, die eigene Schwäche zu verhüllen. Hier halte ich es mit Kafka. Ein Schriftsteller sieht die Dinge nicht in ihrer wirklichen Proportion. Er fürchtet sich mehr als andere. Er ist besorgter und instabiler als gewöhnliche Menschen. Leider ist es nicht nur unser eigenes Krisengebiet, das uns belastet. Wir sind ein Teil der gesamten Welt, und die Ereignisse des 11. September haben uns eine neue Bürde auferlegt. Ich verweise hier auf die arabischen Intellektuellen, die hin- und hergerissen sind zwischen den andauernden sozialen Problemen, unter denen ihr Volk zu leiden hat, und der Anwendung von Gewalt, die gewisse fundamentale Gruppen als Ausweg propagieren. Während die Beweggründe verständlich sind, sind die Mittel absolut inakzeptabel. Terror ist keine Kultur und kann es niemals sein. Terror und alle seine begleitenden Abnormitäten sind Epochen der Vergangenheit, die uns beschämen sollten. Durch die ganze Geschichte hindurch haben Ungerechtigkeiten, Armut und die Unfähigkeit, mit den Notwendigkeiten des Lebens zurechtzukommen, menschliche Gruppen zu allen Arten von Terror getrieben. Das kann zurückverfolgt werden bis hin zu vergangenen Epochen, als die Wikinger plündernd durch Europa zogen oder Stämme aus Südostasien im 12. Jahrhundert den Nahen Osten überschwemmten, oder bis hin zu der Zeit des aufkommen-
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den Kolonialismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das waren Epochen der Geschichte, die keine Zivilisation hervorgebracht haben … Es waren die gleichen Entwicklungen, von denen die ganze Welt während der Weltkriege heimgesucht wurde, als Faschismus und Nazismus an die Macht kamen. Ebenso verhielt es sich in jenen Zeiten, als die Indianer in verschiedenen Teilen Amerikas vollständig ausgerottet wurden und Versklavung als natürlicher Vorgang gepriesen wurde. Es waren die gleichen Zeiten, als die Atomkraft zur Auslöschung ganzer Städte und in Vietnam ganzer Einwohnerschaften verwendet wurde. Es sind die gleichen Hände, die Amerika im September 2001 einen Schlag versetzt haben. Die Geschichte lehrt uns die Lektion, daß Wohlergehen, finanzieller Wohlstand, individuelle Freiheit und die Achtung der Menschenrechte eine Zivilisation ausmachen. Armut, Diktatur und Mißachtung des Individuums schaffen Haß und Gewalt. Die zivilisierte Welt von heute wurde nicht zivilisiert geboren … Sie hat eine lange Geschichte der Schuld, die so weit reicht wie der Arm, der den Konflikt zwischen den Supermächten vor ungefähr zwanzig Jahren nach Afghanistan gebracht hat. Abnormitäten aller Art haben keine Rasse, keine Religion oder eine bestimmte Herkunft. Nur die Zivilisation hat ihre eigene Religion, ihren eigenen Glauben, ihre eigene Heimat. Uns allen graut vor den Abnormitäten, die vor und während des Zweiten Weltkriegs über Europa hereingebrochen sind. Uns alle hat der Terror nachdenklich gestimmt, der Irland, Spanien, Rußland,
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den Irak und Afghanistan getroffen hat. Wir alle mußten mit unseren eigenen Augen sehen, wie der politische Islam Frieden, Gnade und Toleranz, die eigentlich genau die Qualitäten des wahrhaften Islam sind, vernichtend treffen kann … Tausende und Abertausende unschuldiger Menschen wurden in einigen Teilen der Welt getötet, herzlos und brutal. Die jüngste Furcht vor einem Konflikt zwischen den Kulturen kommt nicht von ungefähr. Es gibt Menschen, die sich die Frage stellen, ob unser Globus aus seiner Umlaufbahn gerät. Es ist seltsam, daß die revolutionäre Entwicklung von Technologie, Kommunikation und Welthandel unsere Welt nicht kleiner gemacht hat, trotz all der Scheinheiligkeit, mit der wir es behaupten. Wir geben uns damit zufrieden zu sagen, daß unsere Welt toleranter denn je ist, toleranter, als sie es seit Anbeginn jemals war. Das ist eine Illusion, eine Fantasiegeschichte, die niemand als wahr erachten kann. Das Geschick, einen »Herrn der Fliegen« zu erfinden, war ein Meisterstück unserer Zeit. In »alten« Zeiten erzählt uns die Geschichtsschreibung von einer Vielzahl an Greueltaten gegen die Menschen. Für Propheten war das ein fruchtbarer Boden, um alle möglichen Arten spiritueller Heilung für das Volk »zu kommerzialisieren«. Sie legten dabei den Wert von Liebe, Gerechtigkeit und Toleranz haargenau fest. Sobald sie, physisch, verschwunden waren, nahmen ihre Nachfolger die »Religion« wie eine heilige Kuh auf und verbannten die eigentlichen Gedanken, aus denen heraus die Propheten einst geboren wurden. Eine Zeit der Un-
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Sicherheit und der Skepsis, wie die unsere, kann keine »Propheten« hervorbringen, die eine Religion erschaffen. Auf diejenigen, die es versuchten, wie Gandhi und Martin Luther King, wurden tödliche Attentate verübt. An sich ist an den Religionen selbst nichts Verkehrtes. Wir haben sie gebraucht und brauchen sie noch immer, gerade als Bestandteil einer menschlichen Kultur, die so viel von unserem Verhalten und unserer Einstellung gegenüber dem Leben geprägt hat. Wir müssen sie als Schutz unserer individuellen Freiheit verstehen anstatt als Werkzeuge, um unsere Körper und unsere Seelen zu peitschen. Wir brauchen sie als optionale Werte, um den Weg zu Ehrlichkeit und Schönheit, zu menschlicher Fürsorge und Frieden aufzuzeigen. Die Welt ist zwar kleiner, doch hat sie sich selbst weit davon entfernt, von allen geteilt zu werden. Der Norden schenkt dem zornigen Schrei des armen Südens keine Beachtung. Dem Süden gelingt es seinerseits nicht, sich in einer Weise »zu erschaffen«, daß ein »Rationalismus« befriedigt wird, der sich dem Mystizismus, der magischen und religiösen Hitze entzieht. Die neue und die antike Welt finden zu keinem Kompromiß trotz der schwindenden geographischen Grenzen. Jeder klammert sich so sehr an eine bestimmte Kultur; eine ist Wasser, die andere Öl, und beides vermischt sich nicht. Wie soll sich das von allein lösen? Die Krise der arabischen Intellektuellen liegt in der Unfähigkeit, einen gangbaren Weg zwischen der soziopolitischen Einstellung gegenüber ihrem Zeitalter und gegenüber ihrem eigenen Schreiben zu finden. Niemand könnte einem Dichter oder Schriftsteller verbie-
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ten, sich seine eigene politische Meinung zu seinem Zeitalter zu bilden, aber diese Position existiert nicht außerhalb eines bestimmen Verhältnisses. Ein Dichter oder Schriftsteller kann nicht Teil eines Regimes sein, das sein eigenes Volk unterdrückt oder sich gegen die Freiheit stellt, weil das sicherlich im Konflikt mit der außergewöhnlichen Mission des Schreibens steht. Ein Schriftsteller ist dazu verdammt, ein beobachtendes Auge im Prozeß der Geschichte zu sein, sofern er ein richtiger Schriftsteller ist. Er kann keine kleine Maschine innerhalb dieses Prozesses sein. Er sollte versuchen, die Geschichte aus dem Bann der Illusionen zu befreien. In solchen Fällen sind Schriftsteller gezwungen, ihre eigene politische Position zu haben, aber sie sollten niemals ihre Dichtung gegen die Politik eintauschen oder eine Utopie gegen die Realität. Heutzutage ist auf der arabischen kulturellen Agenda eine der grundlegenden Fragen, wie man eine Position gegenüber dem Frieden formuliert. Zweifelsohne verfügt keiner unter den arabischen Intellektuellen, weder diejenigen, die für eine Friedensvereinbarung sind, noch diejenigen, die sich dagegen aussprechen, über ausreichende Informationen. Ebenso fehlt es ihnen an einer ausgereiften Vorstellungskraft. Frieden und Normalisierung sind zwei grundlegende Begriffe im zeitgenössischen politischen Diskurs der Araber. Da sie auf kritische Fragen überhaupt keine Antwort finden, werden die arabischen Intellektuellen viel Zeit benötigen, die wirkliche Bedeutung von Normalisierung zu definieren. Ist Normalisierung ein Hirngespinst, oder was dann? In jedem Fall wirft sie die beiden
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Fragen nach der Geschichte und der Welt auf. Eine Entscheidung über Akzeptanz oder Ablehnung eines Normalisierungsprozesses kann letztlich erst dann getroffen werden, wenn es uns möglich ist, unsere Identität und unsere Mission zu definieren. Auf diese Weise kommen inmitten dieses Chaos eine ganze Reihe von Fragen auf. Befinden wir uns in einer Phase der Senilität, einem Zeitalter des Rückzugs, einem Zeitalter kultureller Sterilität? Warum ist es so schwer, Freiheit zu erlangen? Wer sind wir inmitten dieses technischen Fortschritts? Die Fragen sind zunehmend schwerer zu beantworten. Einige Schriftsteller machen einen Schritt zurück in die Vergangenheit und halten Ausschau nach einer alten strahlenden Kultur, die der Welt einst Erleuchtung gebracht hat. Es gibt eine Zukunft, die nach ihnen ruft. Schriftsteller haben über Tod und Wahnsinn geschrieben, die heute die einzigen möglichen Lösungen für den arabischen Menschen sind. Sie schrieben über einen drastischen, spürbaren, schmerzhaften Tod. Der Mensch von heute wird ermordet. Alles stellt sich gegen ihn, weil er nicht verstanden wird. Dazu konnte es kommen, weil sich über die Jahre hinweg eine Reihe von Klischees herausgebildet haben, die man nun für selbstverständlich hält. Im Herzen dieser Klischees standen stark und furchtbar die Politiker. Auf ihre Art übten die Politiker ihre Gewalt indirekt aus. Es regierte der Geist des Stammes, und das nährte alle möglichen Arten der Zensur einschließlich der Selbstzensur, die dem Schriftsteller seine Grenzen aufzeigt. Aber trotz alledem wurde eine Menge großartiger Literatur über das Gefängnis verfaßt. Über das Gefängnis zu schreiben ist
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wirklich gefährlich, weil es an die Beziehung zwischen Regierung und Volk rührt. Ich sollte jedoch sagen, daß die objektive Realität politischer Gefangenschaft viel weiter geht, als die Kunst sie je entwerfen kann. Sie ist grausamer. Für mich bedeutet das, daß die arabische Literatur ihren Weg in dieses Gebiet noch nicht ganz gefunden hat. Aber inmitten dieses Chaos gab es viele Gespräche und viele künstlerisch wertvolle Versuche, der Krise zu begegnen. Mehr und mehr Intellektuelle zeigen ihre Abneigung gegenüber den Methoden, die sich die fundamentalen religiösen Gruppen zu eigen gemacht haben. Diese Intellektuellen glauben, daß all die religiösen Bewegungen nichts anderes sind als politische Parteien, die versuchen, ihre politischen Ziele im Namen Gottes zu erreichen. Einige Intellektuelle betrachten diese fundamentalen religiösen Bewegungen sogar als Abarten des Patriarchats, die als solche das ultimative Wissen, die letztgültige Wahrheit und daher die rechtmäßige Urheberschaft für sich beanspruchen. Von diesen Intellektuellen wird jedoch die Auffassung vertreten, daß man den Praktiken patriarchalischer Systeme mit gewaltlosen Mitteln entgegentreten sollte. Eine Annäherung an die Modernität und ein Weg, die Dinge in Ordnung zu bringen, muß einem zivilisierten System in zweierlei Hinsicht folgen: Zunächst muß man sich den sozialen Realitäten annähern und versuchen, ihre Probleme durch Bewußtsein und Willenskraft zu lösen. Zum zweiten muß man einen Säkularisierungsprozeß einleiten, der bereit und willens ist, die Wurzeln des Metaphysischen und Übernatürlichen zu sprengen.
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Ich denke, daß ich mich nunmehr meinem Ausgangspunkt wieder ein wenig nähere. Die Rolle eines Schriftstellers in einem Krisengebiet wie dem unseren stellt hohe Anforderungen und ist tatsächlich so außergewöhnlich. Zunächst einmal ist es notwendig, daß wir die Krankheit identifizieren. Das ist recht kompliziert, was aber hauptsächlich mit der Tatsache zu tun hat, daß weder wir selbst noch die Anderen in der Lage sind, ein gegenseitiges Verständnis für unsere jeweiligen Bedürfnisse aufzubringen. Das heißt nicht, daß das bei jedem einzelnen auf jeder Seite der Fall ist. Da gibt es natürlich Unterschiede, aber eine jede Seite ist in ihrer Gesamtheit noch nicht völlig bereit, die Bedürfnisse der jeweils Anderen zu verstehen. Motti Lerner, ein berühmter israelischer Dramatiker, hat es so ausgedrückt: »Diese Krankheit ist nicht weit entfernt vom Rassismus. Die Besetzung palästinensischer Gebiete durch die Israelis impliziert die indirekte Annahme, daß die Palästinenser die Besatzung akzeptieren werden. Mit anderen Worten, sie sind der Unabhängigkeit nicht würdig, und daher werden sie nicht dafür kämpfen.« Für die palästinensische Seite würde ich es so sagen: Die Palästinenser werden gebeten, die Israelis von ihrer Absicht zu überzeugen, für immer und ewig zu koexistieren. Deshalb ist es an dem Schriftsteller, seine eigene Kultur zu heilen. Man schreibt nicht für die Anderen. Man schreibt für das eigene Volk. Es ist unsere Aufgabe, es zu heilen und zu verändern. Mit dieser Strategie muß etwas anderes einhergehen. Ein Schriftsteller ist nicht dazu verpflichtet, das Leiden zu vergrößern, das seinem Volk in einer Art und Weise auferlegt wurde, die alle mensch-
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liche Toleranz übersteigt. Vielleicht ist es ja eine gute Idee, über die Art von Leiden zu schreiben, welches die Menschen sich selbst auferlegen, wenn sie miteinander kämpfen. In einem Konflikt gibt es immer auch ein gewisses Maß an nobler Gesinnung, das als Brücke genutzt werden muß. Ein Schriftsteller muß daher in der Illusion handeln, seine Gesellschaft durch sein Schreiben retten zu können. Obwohl es nur eine Illusion ist, so ist es dennoch notwendig, weil die Öffentlichkeit nur durch die Anstrengungen derjenigen verändert werden kann, die die Mythen und Vorbilder darstellen können und daran glauben. Ich bin mir seit jeher unsicher, wie erfolgreich Schriftsteller dabei waren, einander die Dinge näherzubringen. Ich bin mir jedoch sicher, daß keiner von uns seine Gefühle neutralisieren kann, wenn es dazu kommt, daß gegen unser Volk Gewalt verübt wird. Ich frage mich, ob das überhaupt möglich sein kann. Aber die Richtlinien einer endgültigen Lösung für zwei Völker, die auf der gleichen Karte der Realität leben, sollten in der Lage sein, sowohl den Verstand als auch die Emotionen zu leiten. In diesem Teil der Welt stellt man sich vielleicht die Frage, warum die Schriftsteller aus unserer Gegend nicht fähig waren, eine grundlegende Veränderung in dem Konflikt herbeizuführen. Es gibt keine einfachen Antworten, aber es scheint mir, daß die Kultur der Verzweiflung hier sehr viel stärker war als die Kultur der Hoffnung. Warum waren wir so still? Ist es eine selbstgewählte Isolation, oder ist es nur eine Art von Protest? Im Grunde haben wir unser Vorhaben aus den Augen
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verloren. Wir spüren, daß wir einer Vielzahl unserer Träume beraubt worden sind. Vielleicht haben wir mitten in unserer Hoffnung auf Frieden und auf eine neue Ära die Geschichte zu sehr vereinfacht. Wir tragen für das, was geschehen ist, die Verantwortung. Auch deshalb, weil wir nicht mutig genug waren, der Realität ins Auge zu sehen. Wir waren unfähig, deutlich zu machen, daß es ein Frieden zwischen den Menschen ist, der gebraucht wird, und nicht einer zwischen den Regierungen. Es ist jedoch überraschend, wie zerbrechlich die Jahre des Friedensprozesses waren. Beide Völker sind mit einer brutalen Gewalt konfrontiert worden, die jede Verhältnismäßigkeit überschritten hat. Warum? Es gab keinen soliden kulturellen Hintergrund, um den Mythos der Koexistenz in die Herzen des gemeinen Volkes zu pflanzen. Anstelle des Mythos der Koexistenz wurden in unserer Gegend zwei arrogante Illusionen genährt. Die Israelis nährten die Illusion des Sieges aufgrund ihrer militärischen Stärke. Es war an der Zeit zu erkennen, daß man über eine ganze Nation keinen Sieg erringen kann. Die Palästinenser nährten die Illusion immerwährenden Widerstands. Es war an der Zeit, zu erkennen, daß das Leiden nicht die letztgültige Lösung irgendeines Konflikts sein kann. Sieg und Widerstand sind das Vokabular zweier Völker, die nur an den Krieg denken. Hinter der ersten Illusion steht die Philosophie, daß man seine eigenen Bedingungen nur auferlegen kann, wenn man Menschen besiegt und ihren Geist zerstört. Hinter der zweiten Illusion steht die Philosophie, daß die Siegreichen die Bedürfnisse der Besiegten erst dann
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spüren können, wenn die Besiegten Widerstand leisten und zurückschlagen. Das ist keine versteckte Botschaft. Sie ist vollständig und direkt ausgesprochen. An dieser Stelle muß ich ein paar Worte über Furcht verlieren. Es ist eher eine Furcht vor den Absichten als eine konkrete Furcht vor dem, was bereits in die Tat umgesetzt wurde. Ich spreche hier nicht von den Gewaltakten, die sehr real und schmerzvoll sind. Ich spreche von den Lösungen, die für die Zukunft vorgeschlagen wurden. Die Israelis fürchten die zukünftigen Absichten der Palästinenser, wenn sie einmal ihren eigenen Staat haben. Die Palästinenser fürchten, daß die Israelis niemals einer endgültigen Lösung zustimmen werden, die ihren eigenen Ambitionen zuwiderläuft. Es war an der Zeit, zu erkennen, daß man auf Furcht kein anständiges Leben aufbauen kann. Diese Furcht läßt uns erbärmlich werden. Wegen ihr sterben wir. Wir fordern das Recht unserer Kinder auf ein anständiges Leben, aber wir leben dieses anständige Leben nicht einmal selbst. Und dennoch … Welche Mission ein Schriftsteller auch immer verkündet, sie sollte ihn nicht daran hindern, ihn zu den Quellen von Wahrheit und Gerechtigkeit zu führen. Er sollte betonen, daß Ungerechtigkeit unsere Existenz in ihrem Kern bedroht. Er sollte niemals müde werden zu sagen, daß das Leben ungemein anspruchsvoll ist und diese Anforderungen bis jetzt auch verdient … Daß das Leben die größte Quelle ist – daß es die einzige Kraft ist, die sich allen Wegen, die die Menschheit bestreitet oder nicht bestreitet, widersetzt.
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Ich muß mit ein paar Zitaten schließen, um die Lücken, die durch die Zerstreuungen in meinem Beitrag entstanden sind, auszufüllen: Von Yousi Belin: »Es ist schwer zu glauben, daß das israelische und palästinensische Volk anormal sind und daher das gegenseitige Töten weitergeht. Dieser Glaube gibt mir die Kraft, weiterzumachen, im Vertrauen darauf, daß dieser Konflikt lösbar ist. Es ist schwer zu glauben, daß diese Individuen, die wir seit Beginn der 90er Jahre so gut kennengelernt haben, urplötzlich Feinde sein könnten.«
Von Mahmoud Darwish: »Kann man in einer anormalen Realität jemals normal sein? Es gibt keine bessere Aufgabe für die großen Träume, als eine geeignete Atmosphäre für die kleinen normalen Träume zu schaffen … Ich meine die Träume, die man erst träumen kann, wenn man mit den anderen in Frieden lebt.«
Von David Grossman: »Wenn man einen Blick auf die Karte von Palästina wirft, die der Oslo-Prozeß entworfen hat, dann vermittelt uns das eine Vorstellung von der Demütigung, die die Palästinenser fühlen … Genauso wird man zu der Erkenntnis kommen, daß sie nach all ihrem Leiden und ihrem Widerstand keinen richtigen Staat erhalten werden, sondern eine Anzahl von durch die israelischen Besatzer herausgerissenen und umzingelten Inseln, die von nationaler Identität zermalmt werden.«
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Von Marzouq Hulabli: »Die schwerste Prüfung für die Unterdrückten ist die, den Unterdrücker von seiner Tendenz zur Unterdrückung zu befreien. Wir sollten uns nicht derartig vor unserem Unterdrükker fürchten, daß wir ihn zu zerstörerischer Aggression treiben. Wir müssen alle nackten Tatsachen und Akten ans Licht bringen.«
Und von Amos Oz zitiere ich: »Ich habe von Anfang an überlebt. Ich möchte nicht überleben. Ich möchte einfach auf normale Art und Weise leben.«
Und ich zitiere aus einem Brief, den ich an Shimon Peres geschrieben habe: »Ich glaube, daß der Weg zum Frieden niemals verlockender ist als tatsächlicher Frieden. Wir brauchen keine Generäle, die vom großen Blutvergießen träumen, um dorthin zu gelangen. Ich frage mich, wie viele Familien nicht schlafen können, weil sie ihre Lieben vermissen. Niemand weiß es, aber wir sind sicher, daß wir wieder in unsere Herzen schauen müssen, wenn unsere Kinder vor Angst weinen, und wenn wir, die Erwachsenen, nicht wissen, wie wir sie beschützen können … Denken Sie nicht auch, daß wir alle feige sind, wenn es uns nicht gelingt, unsere Kinder zu beschützen?«
Ich möchte auch gern den israelischen Dichter Avot Yahoron zitieren: »Es gibt einen Moment in unser aller Leben, der uns kontrolliert. Die Nadel trifft uns zufällig, mitten ins Herz, dann verschwindet sie und läßt uns wach zurück. Langsam aber sicher trifft uns die Nadel jede Nacht zu einer bestimmten Zeit. Sie
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kommt bestimmt. Sie vergibt mir. Sie sagt mir: Schau, was geschehen ist … Was können wir tun? Ein Mensch allem kann das nicht ertragen. Wie könnte er? Tage und Nächte ziehen vorbei, und man ist allein mit der Bürde. Der einzige Weg ist, stetig nach einer anderen Person zu suchen, einer zusätzlichen Kraft, die einem hilft, die Nadel zu ertragen. Das könnte alles und jeder sein: ein menschliches Wesen, ein Gott … Ich weiß es nicht.«
Schließlich Abraham Yehoshua: »Helft uns, zur Normalität zurückzukehren. Ihr könnt davon profitieren. Es stimmt, daß ihr einen Teil eures Landes verloren habt, aber dennoch könnt ihr davon profitieren, wenn ihr uns erst einmal geholfen habt. Schließt Frieden mit uns und zwingt uns dazu, unsere eigenen nationalen Grenzen zu ziehen. Wenn ihr eure Grenzen habt, dann werden wir auch unsere Grenzen haben. Auf diese Weise werden wir einander helfen, eine Nation zu werden. Das Problem ist, daß es eine Kraft in uns gibt, die eine Normalisierung ablehnt.«
Viele beharren auf der Vorstellung, daß die Normalität mit dem Anormalen im Konflikt steht. Vielleicht erfordert das Krankheitsbild unserer Region viel Hilfe von der gesamten Welt. Während die Israelis Frieden brauchen, brauchen die Palästinenser Befreiung, und es gibt einen Preis, der für beides, für Frieden und für Befreiung, bezahlt werden muß. Die beiden Völker müssen entscheiden, welchen Preis sie bezahlen: Blut oder ein Kompromiß. Wir alle kennen den Weg des Bluts. Das existierende Leid gibt uns eine sehr klare Vorstellung davon. Wir müssen den Weg zu Kompromissen kennenlernen. Während wir aber darüber entscheiden, wer-
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den die Unschuldigen leiden und die Führer ihren Verbrechen weitere hinzufügen. Wenn es eine Belohnung dafür geben sollte, sich die Geschichten aus dem Osten, insbesondere aus dem blutenden Teil des Nahen Ostens anzuhören, dann ist es die, daß wir die Dinge gewöhnlich von einem vergleichenden Standpunkt aus betrachten. Auf eine gewisse Weise tragen wir – wir alle – die Verantwortung für das Leben, das uns geschenkt worden ist, und vielleicht werden wir zwangsläufig mit den jeweiligen Erfahrungen des Anderen in Berührung kommen, um unser menschliches Format zu testen. Wir haben gelernt, Gott oder wem auch immer oder selbst unseren Herzen für jeden Tag zu danken, der uns gegeben wurde, um uns an unserem Körper und unserem Geist inmitten von Tod und Gewalt zu erfreuen. Sie können genauso irgend jemandem dafür danken oder sich selbst, daß Sie fähig sind, Ihr Glück mit dem anderer Menschen in der Welt zu vergleichen, die noch nicht die Möglichkeit hatten, einen Augenblick der Erlösung zu erreichen. Ich danke Ihnen.
Sollten Sie je von einer Schule oder Universität hören, die einen Fachbereich für vergleichende Fanatismusforschung einrichtet, bewerbe ich mich hiermit um einen Lehrauftrag. Als ehemaliger Bewohner Jerusalems, als geheilter Fanatiker fühle ich mich vollends qualifiziert für diese Tätigkeit. Vielleicht ist es höchste Zeit, daß jede Schule, jede Universität wenigstens ein paar Kurse in diesem Fach anbietet, da Fanatismus ein allgegenwärtiges Phänomen ist.
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