Peter Stuhlmacher
· Das Buch beantwortet in fünf Kapiteln die Frage: »Wie treibt man Biblische Theologie?« Es behandelt nacheinan der: die Notwendigkeit der Altes und Neues Testament verbindenden
biblisch-theologischen
Fragestellung;
die
Anlage einer Biblischen Theologie; die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Christologie; das Zeugnis des Apostels Paulus und der Schule des Johannes; das Werden des zweiteiligen Kanons der christlichen Bibel und das Problem der »Mitte der Schrift« sowie die Frage nach der sachgerechten Auslegung der Heiligen Schrift. Ein Literaturverzeichnis, das interessierte Leserinnen und Leser zur eigenen Beschäftigung mit dem Thema anleitet, beschließt den Band. Peter Stuhlmacher, Dr. theol., geb. 1932, ist Professor für
Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen . Sein Hauptinteresse gilt seit Jahren hermeneutischen und biblisch-theologischen Fragen . Er ist unter anderem Mitarbeiter am Evangelisch -Katholischen Kommentar zum Neuen Testament und Mitherausgeber des Jahrbuchs für Biblische Theologie.
neukirchener
Peter Stuhlmacher
Wie treibt man Biblische Theologie?
N eukirchener
Biblisch-Theologische Studien 24 Herausgegeben von Ferdinand Hahn, Hans-Joachim Kraus, Wemer H. Schmidt und Wolfgang Schrage
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Stuhlmacher, Peter: Wie treibt man Biblische Theologie? / Peter Stuhlmacher. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1995 Biblisch-Theologische Studien; 24 ISBN 3-7887-1518-9 NE:GT © 1995 Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow Gesamtherstellung: Breklumer Druckerei Manfred Siegel KG Printed in Germany ISBN 3-7887-1518-9 ISSN 0930-4800
Der Theologischen Fakultät der Universität Lund in Dankbarkeit für die Verleihung der Ehrendoktorwürde
Vorwort
Im Herbst 1993 war ich vom Asbury Theological Seminary (in Wilmore, Kentucky [USA]) eingeladen, die von Rev. Dr. Lowell Ryan und seiner verstorbenen Frau gestifteten Ryan-Lectures zu halten, und zwar über das Thema »How to do Biblical Theology«. Über dieselbe Frage hatte ich auch an der Yale Divinity School (New Haven, Connecticut [USA]) und im Frühjahr 1994 an der Gemeindefakultät in Oslo sowie an der Hochschule für Mission in Stavanger zu sprechen. Der Neukirchener Verlag war dankenswerterweise bereit, die deutsche Fassung meiner Vorlesungen zu drucken; die englische Version soll von Pickwiek Publications (Allison Park, Pennsylvania [USA]) veröffentlicht werden. Ich widme beide Publikationen der Theologischen Fakultät in Lund (Schweden) zum Zeichen meines aufrichtigen Dankes für die mir am 27. Mai 1992 verliehene Würde eines theologischen Ehrendoktors. Biblische Theologie zu treiben, ist eine reizvolle, aber auch kontroverse Sache. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr verwundert (und bekümmert) mich der Umstand, daß man das biblische Gotteswort sowohl in der wissenschaftlichen Theologie als auch in den Kirchen nicht nur dankbar annimmt, sondern sich auch ständig seinem Anspruch widersetzt. Da Biblische Theologie meines Erachtens die Hauptaufgabe hat, den historischen Ursprungssinn und theologischen Anspruch der biblischen Texte herauszuarbeiten, wachsen ihr in dieser Situation drei Zusatzaufgaben zu: Sie muß bei der Exegese der Bibeltexte eine Hermeneutik einüben, »die bestimmt ist von der annehmenden Anerkennung, vom historischen Sich-Identifizieren und vom Erlernen der Wirklichkeit«, die die Tradition zu erkennen gibt!; sie muß die ihr an1 H. Gese, Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte, in: ders., Alttestamentliche Studien, 1991, (249-265) 265.
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Vorwort
vertrauten Texte in Schutz nehmen, wo immer historischer oder auch dogmatischer Unverstand sie verdunkelt; sie darf sich schließlich nicht scheuen, theologische Kritik zu üben, wo aus dem Blick gerät, daß die in einer tiefen Identitätskrise steckenden evangelischen Kirchen nur noch so lange Existenzrecht gegenüber den katholischen haben, als sie ernsthaft versuchen, creatura verbi zu sein und zu bleiben. Ich betone dies, weil mich Jürgen Roloff in seiner dankenswerten Kritik des erstens Bandes meiner »Biblischen Theologie des Neuen Testaments«2 gerügt hat, daß ich »vielfach steile, weithin (zumindest außerhalb Tübingens) kaum konsensfähige historische Thesen« einsetze, um »die Zuverlässigkeit von Fakten, die ungebrochene Geradlinigkeit von Entwicklungen und die fraglose Konstanz von Traditionen zu beweisen«3. Seine Kritik mündet in die Frage, ob denn wirklich »die Einheit des Neuen Testaments nur um den Preis einer historische Spannungen und Aporien nivellierenden Apologetik zu haben ist? «4 Dazu ist in aller Kürze dreierlei zu sagen: 1. Roloffs Kritik berührt ein leidiges Problem gerade der deutschen neutestamentlichen Wissenschaft: Bis auf wenige löbliche Ausnahmen hat sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr auf systematisch-theologische Interpretationsprobleme konzentriert und sich dabei immer weiter von solider philologischer und historischer Forschung abgekoppelt. Dementsprechend schwer fällt es ihr heute, auch in historisch-philologischer Hinsicht wieder Niveau zu gewinnen. In dieser Lage ist es besser, wenn wenigstens ein paar Exegeten (in der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft - in Tübingen und anderswo) versuchen, auch die historischen Aufgaben der biblischen Exegese wieder aufzugreifen, ohne darüber die Verpflichtung zur theologischen Auslegung der Heiligen Schrift zu vernachlässigen. Anders zu verfahren hieße, wie auch Roloff betont, die biblische Exegese preiszugeben an ei2 1, 3 4
P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1992. J. Roloff, ThLZ 119, 1994, (241-245) 245. Ebd.,245.
Vorwort
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nen ganz untheologischen historischen Positivismus oder an Strömungen in der sog. »postmodernen« Hermeneutik, für die schon die bloße Annahme eines maßgeblichen historischen Ursprungs sinns von Texten sinnlos geworden ist. 2. Was die Einheit des Neuen Testaments anbetrifft, habe ich schon in meinem Aufsatz »Die Mitte der Schriftbiblisch-theologisch betrachtet«5 (und verschiedentlich auch im ersten Band meiner »Theologie«!) betont, was dann zum Abschluß des zweiten Bandes meiner» Theologie« vollends herauszustellen ist: Die Einheit des vom Alten nicht ablösbaren Neuen Testaments liegt im Evangelium Gottes von Jesus Christus. Dieses Evangelium war von dem Tag an, da es verkündigt und gelehrt wurde, umstritten, und zwar keineswegs nur zwischen Glauben und Unglauben, sondern z.B. auch zwischen Paulus, Petrus und Jakobus (vgl. Gal 2,14; Jak 2,14-26). Wird die Einheit des Neuen Testaments und der Heiligen Schrift insgesamt in dem (stets umstrittenen) Evangelium gesehen, kann der Eindruck nivellierender Apologetik nur so lange entstehen, als man nicht wirklich historisch genau nach Entstehung und Kontinuität der neutestamentlichen Christusbotschaft fragt. Stellt man sich aber der Frage, wie es trotz der unleugbaren Divergenzen zwischen den Zeugen möglich war, das Evangelium zuerst in Jerusalem, bald aber auch in Damaskus, Antiochien und Rom, dann vor allem in der Schule des Paulus und schließlich im Johanneskreis so klar zu formulieren und zu tradieren, daß die Alte Kirche es wagen konnte, die verschiedenen biblischen Stimmen zu einem Schriftenkanon und einer »Glaubensregel« zusammenzufassen, legt sich die von mir vorgeschlagene Betrachtungsweise der verschiedenen neutestamentlichen Traditionsbildungen sehr viel näher, als Roloff wahrhaben will. 3. Wirklich entscheiden ließen sich die von Roloff aufgeworfenen Streitfragen aber erst dann, wenn man noch einmal in kleinerem Kreis daranginge, grundsätzlich zu 5 In: Wissenschaft und Kirche, FS für E. Lohse, hrsg. von K. Aland / S. Meurer, 1989,29-56; vgl. verschiedentlich auch im ersten Band meiner »Theologie« (s.o.Anm. 2).
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Vorwort
überlegen, was historische Forschung im biblischen Kontext leisten kann und was nicht, wie der biblische Traditionsbegriff strukturiert ist und was es heißt, mit Paulus von der »Wahrheit des Evangeliums« (Gal 2,14) zu sprechen. Ein Symposium über diese Problematik wäre gewiß schwierig, aber sicher auch förderlich und dementsprechend wünschenswert! Frau Hanna Stettler hat mein Manuskript durchgesehen und die Literaturliste erarbeitet. Frau Gerlinde Eisenkolb hat die große Mühe auf sich genommen, die Druckvorlage zu erarbeiten. Dr. Volker Hampel hat sich des Buches mit großem Interesse und aller erdenklichen Sorgfalt angenommen. Ich bin ihnen allen zu großem Dank verpflichtet. Tübingen, im Herbst 1994
Peter Stuhlmacher
Inhalt
Vorwort
..........................................................
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Anlage und Durchführung einer Biblischen Theologie
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Die Notwendigkeit der biblisch-theologischen Fragestellung ........................................ . Die Durchführung der biblisch-theologischen Fragestellung ........................................ .
17
111. . Die Anlage einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments ...................................
24
Die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Christologie .....................................................
26
I.
11.
I. 11.
15
Der Einsatz mit der Verkündigung Jesu
26
Probleme der Darstellung
27
.......................
111.
Der Weg der Evangelientradition
.............
29
IV.
Jesu Person, Botschaft und Weg
...............
31
Die Osterereignisse und der Ursprung der Christologie ...........................................
36
Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schille .............................................................
40
V.
I.
Paillus und seine Schule 1. 2. 3.
...........................
40
Die Berufung des Paulus .................. Das paulinische Evangelium ............. Die paulinische Rechtfertigungslehre .
40 42 44
12 H.
Inhalt
Die Schule des Johannes
1. 2. IH.
48
Das gegenseitige Verhältnis der Johannesschriften ................................... . Die johanneische Christologie .......... .
Rückschau
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Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung ............................................................... I.
H. IH.
60
Die Auslegung des christlichen Kanons
60
Die Mitte der Schrift ...............................
68
Die Auslegung der Heiligen Schrift
71
Gesamtüberblick I.
48 54
77
Der Stand der Arbeit
77
Die inhaltliche Durchführung
86
IH.
Ergebnis
91
IV.
Ausblick
91
H.
Literatur zur Biblischen Theologie
.....................
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Anlage und Durchführung einer Biblischen Theologie l
Eine Biblische Theologie des Neuen Testaments, die mit Recht diesen Namen trägt, muß den biblischen Texten hermeneutisch entsprechen, d.h. sie muß sich bemühen, die alt- und neutestamentliche Überlieferung so auszulegen, wie sie selbst ausgelegt werden wilI.2 Sie darf die ihr vorgegebenen Texte deshalb nicht nur aus kritischer Distanz heraus als historische Quellen lesen, sondern muß sie gleichzeitig als Glaubenszeugnisse interpretieren, die zur Heiligen Schrift der Christenheit gehören. Dementsprechend überschneiden sich bei der Abfassung einer Biblischen Theologie des Alten oder Neuen Testaments (oder auch zu beiden Testamenten gleichzeitig) historische und dogmatische Gesichtspunkte. Außerdem steht von Anfang an die schwierige und bis heute offene Frage zur Debatte, wie sich Altes und Neues Testament zueinander verhalten. Die christliche Bibel besteht seit den Tagen der Alten Kirche aus Altem und Neuem Testament, und die Kirchen gehen mit gutem Recht davon aus, daß der zweiteilige biblische Kanon den dreieinigen Gott bezeugt. Trotzdem ist es in der exegetischen Forschung üblich geworden, beide Testamente getrennt zu bearbeiten und Bei meinen Bemühungen um die Biblische Theologie zehre ich dankbar von den jahrzehntelangen Gesprächen mit meinen Freunden E. Earle Ellis, Hartrnut Gese, Martin Hengel, Otfried Hofius, Ulrich Mauser, Robert Guelich (t) und Friedrich Mildenberger und vom Austausch mit den an der Biblischen Theologie arbeitenden Kollegen vom Alten und Neuen Testament sowie der Dogmatik: Oswald Bayer, Otto Betz, Brevard S. Childs, Klaus Haacker; Traugott Holtz, Hans Hübner, Bernd Janowski, Gisela Kittel, Klaus Koch, Helmut Merklein, Ben F. Meyer, Hans-Peter Rüger (t), Hans Heinrich Schmid, Horst Seebass und Michael Welker. 2 Vgl. H. Gese, Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte, in: ders., Alttestamentliche Studien, 1991, (249-265) 249.
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Anlage und Durchführung einer Biblischen Theologie
die Frage nach ihrer Zusammengehörigkeit in einem christlichen Kanon nur noch bei besonderer Gelegenheit zu erörtern. Diese Entwicklung ist ebenso verständlich wie bedauerlich. Verständlich ist sie, weil es um eine wissenschaftliche Arbeitsteilung geht: Die historische Erforschung und theologische Durchdringung des Alten und Neuen Testaments sind in den vergangenen 150 Jahren so ausgeweitet und spezialisiert geworden, daß einzelne Forscherpersönlichkeiten kaum oder gar nicht mehr in der Lage sind, das komplexe Ganze der Bibelwissenschaften zu überschauen und sowohl im Bereich des Alten als auch des Neuen Testaments wissenschaftlich tätig zu sein. Bedauerlich ist diese Entwicklung, weil sie das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit der beiden Testamente immer stärker verkümmern läßt und dem irrigen Eindruck Vorschub leistet, die beiden Testamente seien erst nachträglich zu einem christlichen Kanon vereinigt worden und ließen sich dort auch nur durch die Klammer der christlichen Lehre zusammenhalten. Bedenkt man außerdem, daß der sog. TeNaK, d.h. die aus Gesetz (Tara), Propheten (Nebi'im) und Schriften (Ketubim) bestehende Hebräische Bibel, die Heilige Schrift des Judentums war und ist, kann man über jenen irrigen Eindruck hinaus zu der Schlußfolgerung verleitet werden, daß das (erst christlich so genannte) Alte Testament ursprünglich und eigentlich die Bibel Israels und (erst und nur) das Neue Testament die Bibel der Christen sei. Man kann dann sogar darüber nachsinnen, ob die (Alte) Kirche durch die Bildung des zweiteiligen christlichen Kanons nicht Israel seiner Bibel beraubt habe. So mißlich solche Fehlschlüsse sind, sowenig läßt sich die Aufteilung der Bibelwissenschaft in eine alt- und neutestamentliche Disziplin rückgängig machen. Gilt dies, muß man wenigstens energisch darauf dringen, daß sich beide Disziplinen nicht aus den Augen verlieren und ihre gemeinsame theologische Aufgabe nicht versäumen! Für die christliche Theologie ist es daher an der Zeit, sich auf die Tatsache zu besinnen, daß Altes und Neues Testament vom Anfang der christlichen Kirche an aufs engste zusammengehört haben. Der Zusammenhalt ist so groß, daß man das Zeugnis des Neuen Testaments ohne das des
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Alten nicht angemessen verstehen kann und die Auslegung des Alten Testaments ohne Blick auf das Neue unvollständig bleibt. 3 Die Besinnung auf diese Tatbestände ist meiner Generation durch die Alt- und Neutestamentler Leonhard Goppelt, Gerhard von Rad, Walther Zimmerli, Claus Westermann und Hans-Walter Wolff sowie den Dogmatiker Karl Barth zur Pflicht gemacht worden, und es ist nunmehr an der Zeit, Ergebnisse vorzulegen, und zwar nicht mehr nur in Form von Erwägungen oder bloßen Thesen, sondern einer inhaltlich ausgeführten Biblischen Theologie des Alten und Neuen Testaments. 1. Die Notwendigkeit der biblisch-theologischen Fragestellung Geht man vom Neuen Testament aus, sind es vor allem vier Umstände, die dazu nötigen, das Alte Testament bei der historischen Analyse und theologischen Auslegung der neutestamentlichen Texte von Anfang an mitzubedenken. 1. Der erste und wichtigste Umstand ist der, daß Jesus von Nazareth und die von ihm erwählten Apostel mit Einschluß des erst nach Ostern berufenen Paulus geborene Juden waren und als solche der Christenheit von Uranfang an Anteil an den Heiligen Schriften Israels gegeben haben. Jesus und die Apostel haben zunächst die jüdischen Männer und Frauen, die ihrer Botschaft glaubten, und später auch Heiden »die Heilige(n) Schrift(en)« (vgl. zum Begriff 2Makk 8,23 und Röm 1,2) lesen gelehrt als das vom Heiligen Geist erfüllte Wort des einen Gottes (vgl. 3 V gl. H. Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, in: ders., Vom Sinai zum Zion, 1974, 11-30. Gese wird seit langem von B.S. Childs vorgeworfen, er konstruiere unzulässig einen Altes und Neues Testament verbindenden einheitlichen Traditionsprozeß und stufe damit das Alte Testament nur als »eine geschichtliche Größe der Vergangenheit« ein, statt seine »fortdauernde Rolle« im Kanon als vom Neuen Testament )>unabhängiges Zeugnis« zu betonen (so zuletzt B.S. Childs, Biblische Theologie und christlicher Kanon, in: JBTh 3, 1988, [13-27] 24). Eine Antwort auf diese (m.E. ganz unberechtigten) Vorwürfe gibt Gese in seinem Aufsatz: Der auszulegende Text, in: ders., Alttestamentliche Studien (s.o. Anm. 2), 266-282.
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Dtn 6,4), der die Welt erschaffen, Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt und seinen Sohn Jesus (von Nazareth) als Christus in die Welt gesandt hat, um Juden und Heiden zu erlösen. Von Jesus und den Aposteln her gehören die Heiligen Schriften nicht Israel allein, sondern zugleich auch all den Juden und Heiden, die an Jesus als Herrn und Christus glauben. 2. Der zweite Umstand ist der: Schon die literarisch älteste Fassung des christlichen Bekenntnisses, die uns im Neuen Testament überliefert ist, das von Paulus in 1Kor 15,3b-5 zitierte »Evangelium«, deutet den Tod und die Auferweckung des Christus »nach den Schriften« (KUTcl TclS ypuq)(1.s) als das von Gott gewirkte und unüberbietbare Heilsgeschehen. Auch das alte narrative Summarium des Evangeliums in Apg 10,36--43 lebt von seinem durchgängigen Bezug auf die Schriften. 4 Beide Texte machen deutlich, daß Jesu Person und Sendung sowie seine Passion und Auferweckung christlich erst vom Zeugnis der Schriften her sachgemäß zu verstehen waren und sind. 3. Der dritte Umstand, der zu bedenken ist, betrifft Text und Umfang der Heiligen Schriften. Die Schriften wurden im 1. Jh. n.Chr. von Juden und Christen in Hebräisch sowie Griechisch gelesen und - unbeschadet des Vorrangs des hebräischen Textes vor dem griechischen in beiden Textformen für inspiriert gehalten. 5 Nach einem Jahrhunderte andauernden innerisraelitischen Traditionsprozeß ist die Hebräische Bibel vom 4. Jh. v.Chr. an in drei Schritten kanonisch fixiert worden: Zuerst wurde die Tora kanonisiert, im 2. Jh. v.Chr. folgten die Propheten, während die Abgrenzung des die sog. »Schriften« enthaltenden dritten Kanonteils bis zum Ende des 1. Jh.s n.Chr. (und darüber hinaus) angedauert hat. 6 Die Entstehungsge4 Vgl. G.N. Stanton, Jesus ofNazareth in New Testament Preaching, 1974, 70ff. 5 Vgl. R. Hanhart, Die Bedeutung der Septuaginta in neutestamentlicher Zeit, ZThK 81, 1984, (395--416) 397ff. 6 Bei dieser Datierung folge ich H. Gese, Die dreifache Gestaltwerdung des Alten Testaments, in: ders., Alttestamentliche Studien (s.o.
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schichte der Septuaginta fällt in denselben Zeitraum: Im 3. Jh. v.Chr. hat man zunächst den Pentateuch und etwas ~päter auch die Propheten ins Griechische übersetzt; die Ubersetzung der »Schriften« ist aber erst nach und nach erfolgt und hat sich bis in das 2. Jh. n.Chr. hingezogen. Da die aus dem Hebräischen und Aramäischen übersetzten Bücher noch um eine Anzahl von jüdisch-hellenistischen Lehr- und Erbauungsschriften (wie z.B. die Weisheit Salomos und das 4. Makkabäerbuch) ergänzt worden sind, die keine semitische Vorlage haben, umfaßt die Septuaginta mehr Bücher als die Hebräische Bibel. Obwohl es auf jüdischer Seite nie den Versuch gegeben hat, die Septuaginta abschließend zu kanonisieren, hat sie für das antike Judentum und das Urchristentum größte Bedeutung gehabt. Die Ausformulierung des neutestamentlichen Christuszeugnisses ist ohne sie nicht zu denken. 7 Das Neue Testament und die Apostolischen Väter setzen auch Kenntnis und Lektüre der Septuaginta voraus und zitieren deren Erbauungsbücher ebenso als »Schrift« (ypaqnl) wie die Tora, die Propheten und die Psalmen (v gl. z.B. Jak 1, 19 mit Sir 5,11 [hebr.]; Mk 10,19 mit Sir 4,1 [LXX]; Barn 19,2.9 mit Sir 7,30 [und 4,31]). Als die wesentlichen neutestamentlichen Traditionen gebildet und die Hauptbücher des Neuen Testaments niedergeschrieben wurden, waren die Hebräische Bibel und die Septuaginta von Juden und Christen fraglos als Heilige Schrift anerkannt, aber sowohl der hebräische als auch der griechische Bibelkanon waren an ihren Rändern noch offen. Die neutestamentlichen Bücher sind also nicht einem längst in sich feststehenden Alten Testament gegenAnm. 2), 1-28; H.P. Rüger, Das Werden des christlichen Alten Testaments, in: JETh 3,1988,175-189. 7 Zum Werden der Septuaginta vgl. R. Hanhart, Septuaginta, in: w.H. Schmidt / W. Thiel / R. Hanhart, Altes Testament, 1989, 176196; M. Hengel, Die Septuaginta als von den Christen beanspruchte Schriftensammlung bei lustin und den Vätern vor Origenes, in: lews and Christians, hg. von J.D.G. Dunn, 1992, 39-84; M. Hengel (unter Mitarbeit von R. Deines), Die Septuaginta als >christliche Schriftensammlung< und das Problem ihres Kanons, in: Verbindliches Zeugnis I: Kanon - Schrift - Tradition, hg. von W. Pannenberg / T. Schneider, Dialog der Kirchen, Bd. 7, 1992,34-127.
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übergestellt worden, sondern sie beziehen sich auf die kanonisch noch unabgeschlossene Sammlung der »Heiligen Schriften« in hebräischer und griechischer Sprache und bezeugen zusammen mit ihnen das heilsgeschichtliche Kontinuum des Wirkens Gottes in und durch Christus von Uranfang der Schöpfung an bis zur Enderlösung (vgl. Lk 16,16 und Hebr 1,1-2). 4. Der vierte Umstand betrifft die Entstehung des christlichen Bibelkanons aus Altem und Neuem Testament: Die Frage, ob das Alte Testament der christlichen Kirche nur den Umfang der Hebräischen Bibel haben oder den Schriftenbestand der Septuaginta umfassen solle, ist in der Alten Kirche bis ins 4. Jh. n.Chr. diskutiert worden (und bis heute nicht völlig erledigt). Interessanterweise wurde die altkirchliche Diskussion über den Schriftenbestand des Alten Testaments so gut wie immer mit der Frage nach dem Umfang des Neuen Testaments und seiner Zuordnung zum Alten verknüpft. In den wichtigsten Zeugnissen der christlichen Kanongeschichte werden deshalb die Bücher des Alten und Neuen Testaments stets zusammen aufgezählt. Das Werden des Alten und die Entstehung des Neuen Testaments lassen sich zwar (z.B. in den sog. Einleitungen in das Alte und Neue Testament) wissenschaftlich getrennt beschreiben, aber diese Beschreibung darf nicht vergessen machen, daß die Beziehung des Neuen Testaments auf das Alte und die Zeugnisse der Kanongeschichte eine sehr enge Verflechtung beider Vorgänge belegen. Wenn man bei den Überlegungen zum Werden des Alten und Neuen Testaments auch noch die Entstehungsgeschichte der Septuaginta bedenkt, ist es vollends geboten, von nur einem vielschichtigen kanonischen Prozeß zu sprechen, dem die Hebräische Bibel, die Septuaginta und das Neue Testament entstammen. 5. Nimmt man die genannten Punkte zusammen, ergeben sich zwei Folgerungen, die für eine Biblische Theologie (des Alten und/oder des Neuen Testaments) von großem Gewicht sind: a) In den christlichen Gemeinden haben die Einzeltraditionen und Bücher des Neuen Testaments von Anfang an
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zusammen mit den »Heiligen Schriften« die Grundlage für den zweiteiligen christlichen Bibelkanon gebildet. b) Das Neue Testament kann und will nicht ohne das Alte verstanden werden. Es will die »Heiligen Schriften« auch nirgends ersetzen. Es will nur das endgültige Offenbarungshandeln des einen Gottes in und durch seinen eingeborenen Sohn Jesus bezeugen. Zu diesem Zeugnis gehört die Belehrung darüber, was der Glaube an Jesus Christus bedeutet und wie die »Heiligen Schriften« auf Gottes letztgültiges Heilshandeln in diesem Christus zu beziehen sind. 11. Die Durchführung der biblisch-theologischen Fragestellung Geht man diesen beiden Thesen weiter nach, muß geklärt werden, in welcher Weise sich das Neue Testament auf das Alte bezieht und wo die inhaltlich entscheidenden Bezugspunkte zwischen dem alt- und neutestamentlichen Zeugnis liegen. 1. Das heute wissenschaftlich übliche Bild von der Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament ist die Folge einer unzulässigen Abstraktion. Statt den gemeinsamen kanonischen Prozeß zu beachten, aus dem die beiden Testamente hervorgegangen sind (s.o.), sieht man in Altem und Neuem Testament zwei voneinander abgegrenzte Schriftenkomplexe, die erst nachträglich zum zweiteiligen Kanon der Kirche vereinigt worden sind. Man geht davon aus, daß der alttestamentliche Kanon aus Tora, Propheten und Schriften grundsätzlich schon im 2./1. Jh. V.Chr. abgeschlossen war, ab ca. 160 n.Chr. die »Zeit zwischen den Testamenten« beginnt und die Bücher des Neuen Testaments erst zwischen 50 und 120 n.Chr. entstanden sind. Wer die christliche Bibel historisch verstehen will, muß daher zuerst das Alte Testament und sein spezifisches Zeugnis zur Kenntnis nehmen, sich dann mit der zwischentestamentlichen Zeit beschäftigen, anschließend das Neue Testament studieren und sich schließlich in einem letzten Schritt bemühen, die Bildung des zweiteiligen christlichen Kanons nachzuvollziehen und dabei das jeweils eigenstän-
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dige Zeugnis des Alten und des Neuen Testaments im Bewußtsein ihrer dogmatischen Bedeutung für die Kirche zusammenzudenken. Nach diesem Verfahren ist das imponierende Werk von Brevard S. Childs aufgebaut: Biblical Theology of the Old and New Testaments (1992). 2. Will man über jene Abstraktion hinauskommen, muß man (mit Childs) dem kanonischen Prozeß, der Altes und Neues Testament hervorgebracht hat, gesteigerte Aufmerksamkeit widmen, aber das Werden und die Wirkung der Septuaginta in ganz anderem Maß in ihn einbeziehen, als dies üblich ist (und bei Childs geschieht). Tut man das, ist es nicht mehr möglich, von einer fast zwei Jahrhunderte langen Zeit zwischen den Testamenten zu sprechen. Wenn es diese Periode als Faktor der Trennung zwischen beiden Testamenten gar nicht gegeben hat, wird es höchst problematisch, das Neue Testament zeitlich und inhaltlich scharf vom Alten zu trennen. Man tut dann gut daran zu sehen und zu berücksichtigen, daß das antike Judentum nicht nur die Hebräische Bibel und die Schriften der Septuaginta hervorgebracht hat, sondern daß ihm auch bei der Erforschung des Neuen Testaments ganz besondere Aufmerksamkeit gebührt!8 Da Jesus und die Autoren des Neuen Testaments Juden waren (s.o.) und sich auch der überwiegende Teil der Christen im 1. Jh. aus dem Umkreis der (Diaspora-)Synagogen rekrutiert hat, war das Judentum für sie alle keineswegs bloß ein Phänomen (unter mehreren) in ihrer religions geschichtlichen »Umwelt«, sondern der religiöse Lebensraum, in dem und für den sie ihre Botschaft entfalteten. Die Autoren und Adressaten des Neuen Testaments haben im jüdischen Glauben gelebt, und für sie waren der TeNaK und die Septuaginta »Heilige Schrift«, die man lernte und aus der heraus man die Stimme des lebendigen Gottes (als des Vaters Jesu Christi) vernahm. 9 Die neutestamentlichen Zeu8 Auf diesen Umstand hat K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, 1977, 190 mit vollem Recht aufmerksam gemacht. 9 Vgl. dazu die schöne Studie von H. Hübner, Gottes Ich und Israel, 1984; R.ß. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, 1989, 154-192.
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gen haben sich bei der Ausformulierung ihrer Botschaft und der christlichen Lehre auch keineswegs einfach den sprachlichen und religiösen Bedürfnissen der hellenistischen Zeit angepaßt, sondern sie haben das Christuszeugnis in denkbar engem Anschluß an die geisterfüllten Heiligen Schriften und die jüdische Glaubenstraditionen formuliert. Nur kraft dieser besonderen Sprachgestalt sind die neutestamentlichen Traditionen dann auch davor bewahrt geblieben, unterzugehen wie andere religiöse Zeugnisse der hellenistischen Zeit. 3. Sollen Fortschritte gegenüber dem geläufigen schematischen Bild der Beziehung des Neuen Testaments auf das Alte erzielt werden, ist außerdem der Bezug des Neuen Testaments auf das Alte nicht nur partiell, sondern in ganzer Breite zu berücksichtigen: a) Jedem Leser des Neuen Testaments fallen die zahlreichen direkten Zitate aus dem Alten Testament auf, die die vier Evangelien, die Paulusbriefe, den Hebräerbrief und z.B. auch den 1. Petrusbrief durchziehen. Die meisten dieser Zitate stammen aus der Tora, den Propheten und den Psalmen. Beispiele erübrigen sich. b) Bei genauer Lektüre des Neuen Testaments bemerkt man außerdem eine Fülle von Anspielungen auf Texte und Begebenheiten aus dem Alten Testament. Sie sind heute zwar schwerer als die Direktzitate zu verifizieren, waren aber im frühjüdisch-urchristlichen Raum leichter verständlich, weil die Heiligen Schriften damals in den urchristlichen Gemeinden allgemein bekannt waren. Als Beispiele bieten sich an: Jesu Schreiben in den Sand (Joh 8,6.8; vgl. mit Jer 17,13), die für Jesus charakteristische Verbindung von Sündenvergebung und Heilung (Mk 2, 10-11 par; vgl. mit Ps 103,3) oder auch sein letzter Ruf am Kreuz nach Joh 19,30: »Es ist vollbracht« (v gl. mit Gen 2,1-2; Jes 55,11). c) Drittens ist zu beachten, daß das Neue Testament mit dem Alten über die Zitate und Anspielungen hinaus verbunden ist durch eine gemeinsame Sprach- und Erfahrungstradition. Sie bekundet sich in gemeinsamer Ausdrucksweise und gemeinsamen Vorstellungen. Beispiele sind der Altem und Neuem Testament gemeinsame Schöp-
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fungsglaube, die gemeinsame Rede von der (in Bälde anbrechenden) Herrschaft Gottes, die Vorstellung von der »Einwohnung« Gottes auf Erden, die Annahme eines festen Zusammenhangs zwischen dem Tun des Menschen und seinem Ergehen sowie die Erwartung der endzeitlichen Auferweckung der Toten. Beachtet man auch diese Gemeinsamkeiten, kann man selbst für die neutestamentlichen Bücher, in denen das Alte Testament nicht direkt zitiert wird (wie z.B. im Kolosserbrief und in den Johannesbriefen) eine Beziehung auf die Heiligen Schriften nicht mehr gut bestreiten. Die dreifache Beziehung des Neuen Testaments auf das Alte legt es nahe, auch bei der Abfassung einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments nicht nur von den a1ttestamentlichen Zitaten und Anspielungen auszugehen 10, sondern die traditionsgeschichtlich komplexen Beziehungen zwischen den beiden Testamenten vollständig zu berücksichtigen. Bemüht man sich darum, ist bei jedem Arbeitsschritt zu bedenken, daß die neutestamentlichen Bücher immer nur zusätzlich zu den »Heiligen Schriften« gelesen werden wollen, und zwar als Zeugnisse von der endgültigen Offenbarung Gottes in und durch Jesus Christus. 4. Zwischen dem Neuen und dem Alten Testament gibt es zahlreiche inha1tliche Bezugspunkte. Ihr beherrschendes Zentrum ist das neutestamentliche Christuszeugnis. Zu Beginn des ersten Bandes seiner »Theologie des Neuen Testaments« hat Leonhard Goppe1t zutreffend festgestellt: »Für das Selbstverständnis des N(euen) T(estaments) ist es u.E. - unbeschadet aller Variationen in den Einzelschriften - grundlegend, daß es ein von dem Gott des A[lten] T[estaments] herkommendes Erfüllungsgeschehen bezeugen will, das von Jesus a1s seiner Mitte ausgeht.«ll
10 So versucht es H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1,1990; Bd. 2,1993. Der dritte Band des Werkes steht noch aus. 11 L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, hg. von J. Roloff, 1975, 50.
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Geht man diesem Grundsatz nach, stößt man auf lauter Tatbestände und Aussagen, die das Neue mit dem Alten Testament verbinden. Die wichtigsten sind folgende: a) Im Vaterunser hat Jesus seine Jünger(innen) gelehrt, den einen Gott (von Dtn 6,4) als »Vater« anzurufen und um die Heiligung seines Namens - d.h. des Namens miT'! zu beten (vgl. Mt 6,9; Lk 11,21). Jesus hat sich selbst als »Sohn« dieses Gottes (vgl. Mt 11,25; Lk 10,21) und, was dasselbe besagt, als messianischer Menschensohn verstanden (v gl. Mk 8,27-33 par; 8,38; 14,61-62 par). Seine (jüdischen) Jünger haben diesen Vollmachts anspruch anerkannt, während seine (jüdischen) Gegner ihn abgelehnt und Jesus als Gotteslästerer zum Tod verurteilt haben. b) Von Ostern an sind Jesu Person, Sendung, Kreuzestod, Auferweckung und Zukunftswerk urchristlich mit Hilfe der Heiligen Schriften gedeutet worden (vgl. nur lKor 15,3-5.20-28; Lk 24,25-27; Joh 2,22; 12,16; 20,9; Apg 10,34-43). Außerdem sind alle neutestamentlichen Christusprädikate, d.h. Christus, Sohn Gottes, Menschensohn, Knecht Gottes, Lamm Gottes, Herr, Retter, Logos usw., alttestamentlich-jüdischen Ursprungs! c) Auch von Gott wird im Neuen Testament so gesprochen, daß alttestamentlich-jüdische und urchristliche Glaubenserkenntnis zusammenfließen. Geradezu klassisch wird die Entwicklung christlicher Bekenntnisaussagen aus alttestamentlich-jüdischen Vorgaben heraus in Röm 4 sichtbar: Nach Röm 4,5 rechtfertigt Gott den an ihn glaubenden Gottlosen (cl flapTWA.Os), nach Röm 4,17 ist er der Schöpfer, der das Nicht-Seiende ins Sein ruft und die Toten lebendig macht (vgl. syrBar 48,8 und die 2. Benediktion des Achtzehn-Bitten-Gebets 12), und in Röm 4,24-25 wird er zusammenfassend der eine Gott genannt, der Jesus, unseren Herrn, »wegen unserer Übertretungen dahin12 Sie lautet nach P. Schäfer, Der synagogale Gottesdienst, in: Literatur und Religion des Frühjudentums, hg. von 1. Maier / J. Schreiner, 1973, (391--413) 404: »Du bist mächtig, erniedrigst Stolze, stark und richtest Gewaltige, du lebst ewig, läßt Tote auferstehen, den Wind wehen, den Tau herabfallen, du ernährst die Lebenden und machst die Toten lebendig. In einem Augenblick möge uns Hilfe sprossen. Gepriesen seist du, Herr, der die Toten lebendig macht«.
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Anlage und Durchführung einer Biblischen Theologie
gegeben und wegen unserer Rechtfertigung auferweckt hat« (vgl. mit Jes 53,11-12).13 Das Zentrum des Neuen Testaments, die Botschaft von Jesus Christus, ist durch und durch alttestamentlich formuliert und bezeugt das von dem einen Gott für Juden und Heiden gewirkte endzeitliche Heil. Dieses Zeugnis bindet das Neue Testament unlöslich an das Alte. Das Alte Testament gehört aufgrund dieser christologischen Klammer Juden und Christen gleichermaßen, und das Evangelium Gottes von Jesus Christus richtet sich »zuerst an den Juden, aber auch an den Griechen« (Röm 1,16). Es lädt zu dem Bekenntnis ein, daß Jesus der Herr ist, den Gott von den Toten auferweckt hat (Röm 10,9-10), und an diesem Bekenntnis entscheidet sich für Juden und Heiden ihre endzeitliche Errettung. Die damit vor Augen stehende wesenhafte Verbundenheit von Altem und Neuem Testament hat nun auch Konsequenzen für Anlage und Abfassung einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments. IH. Die Anlage einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments Nach Karl Barth ist die Theologie insgesamt, wie Ernst Fuchs einmal schön formuliert hat, »gewürdigt ... , Gottes Weg zu den Menschen mitzugehen und dabei die Menschen auf diesem Weg Gottes zu versammeln«.14 Diese Einsicht weist auch einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments den Weg und unterstreicht den methodischen Sachverhalt, auf den wir eingangs hingewiesen haben: Wenn die theologische Exegese der Bibel wirklich den Weg Gottes zu den Menschen in und durch Jesus Christus aufzeigen und dazu noch versuchen darf, die Menschen auf diesem Weg zu versammeln, dann überschneiden sich auf dem Arbeitsfeld der Biblischen Theologie des (Alten 13 Vgl. zur biblisch-theologischen Bedeutung dieser Beobachtung P. Stuhlmacher, Das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu von den Toten und die Biblische Theologie, in: ders., Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie, 1975, 128-166. 14 Zitiert nach H. Diem, Ja oder Nein, 1974,290.
Anlage und Durchführung einer Biblischen Theologie
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und) Neuen Testaments historische und dogmatische Argumentation, und zwar von der aufgegebenen Sache her. Geht man in die Einzelheiten, müssen im Rahmen einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments, die dem Zeugnis der Texte gerecht werden will, vier Tatbestände deutlich gemacht werden. Es muß - erstens - aufgezeigt werden, daß die neutestamentliche Glaubensbotschaft durchgängig vom Alten Testament herkommt und daß die alttestamentlichen Zeugnisse auf das neutestamentliche Erfüllungsgeschehen vorausweisen; es ist - zweitens darzulegen, daß Gott in der Sendung, Passion und Auferweckung Jesu die Juden und Heiden verheißene Rettung bereits zu einem Zeitpunkt verwirklicht hat, als beide noch gottlose und ungläubige Sünder waren (v gl. Röm 5, 6.8); es muß - drittens - die geschichtliche Entfaltung und Vielfalt des nachösterlichen Christus- und Glaubenszeugnisses nachgezeichnet werden; und es ist schließlich viertens - darzustellen, wie Altes und Neues Testament zu einem zweiteiligen christlichen Kanon zusammengewachsen sind, wo die theologische Mitte dieses Kanons liegt und welche hermeneutischen Ansprüche er an die theologische Exegese stellt. Einen konkreten Aufriß für eine Biblische Theologie des Neuen Testaments in dem skizzierten Sinne habe ich in meiner »Theologie« vorgeschlagen 15 : Nach der Klärung der exegetischen und hermeneutischen Grundsatzfragen wird in einem ersten großen Hauptteil die Entstehung und Eigenart der neutestamentlichen Verkündigung aufgezeigt. In einem zweiten Hauptteil werden dann die Entstehung des zweiteiligen christlichen Kanons, die Frage nach der »Mitte der Schrift« und das Problem der biblischen Hermeneutik verhandelt. Aus diesem großen Gesamtrahmen können im folgenden nur drei Komplexe herausgegriffen werden: die Verkündigung Jesu und die Anfänge der Christologie, das Zeugnis des Paulus und der Schule des Johannes sowie die Doppelfrage nach der Mitte der Schrift und ihrer sachgemäßen Auslegung. 15 Vgl. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 1992, 13. Der zweite Band ist in Vorbereitung.
Die Verkündigung J esu und die neutestamentliche Christologie
Es ist umstritten, womit eine Biblische Theologie des Neuen Testaments einsetzen soll: mit der Darstellung der Verkündigung Jesu, mit der Osterbotschaft oder mit der Theologie des Paulus. Mit Paulus ist einzusetzen, wenn man dem Umstand Rechnung tragen will, daß die Paulusbriefe die ältesten uns erhaltenen neutestamentlichen Bücher sind. Mit der Osterbotschaft ist anzufangen, wenn gezeigt werden soll, daß sich die gesamte neutestamentliche Traditionsbildung vor allem den Osterereignissen verdankt, und mit der Verkündigung Jesu ist zu beginnen, wenn man den Weg nachzuzeichnen versucht, den Gott in und durch Jesus Christus zu den Menschen gegangen ist. 1.
Der Einsatz mit der Verkündigung Jesu
Der Einsatz bei der Verkündigung Jesu scheint mir aus mehreren Gründen der biblisch-theologisch gebotene zu sein: 1. Es ist in der Tat wahr, daß erst die Erfahrung und Erkenntnis der Auferweckung Jesu von den Toten die neutestamentliche Traditionsbildung und das urchristliche Missionszeugnis ermöglicht haben (vgl. nur Mk 9,9 par; Joh 14,26; Mt 28,16-20). Gleichwohl weisen das katechetische Summarium des »Evangeliums« aus 1Kor 15,3b-5, der aus dem (im Semitischen) prädikatlosen judenchristlichen Bekenntnis »Jesus ist der Messias!« erwachsene Doppelname '!TjaOVS XPWTOS, das (vorlukanische) Predigtschema in Apg 10,36-43 und Paulus darauf hin, daß das Evangelium Gottes von Jesus Christus nicht durch menschliche (Glaubens-)Erkenntnis begründet wurde, sondern durch das den Glauben stiftende und ihm voran-
Die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Christologie
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gehende geschichtliche Heilshandeln Gottes in und durch Jesus Christus: »Gott hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Röm 5,8). Folgt man diesen Hinweisen, ist in einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments mit der Verkündigung Jesu einzusetzen, um den geschichtlichen Vorsprung des Heilshandelns Gottes in und durch lesus vor dem (erst von Ostern an zu datierenden) Glauben an lesus Christus herauszustellen. 2. Für diesen Einsatzpunkt sprechen auch historische Gründe: Jesus war Jude und hat in Palästina gelebt. Seine jüdischen Jünger und sein prophetischer >Lehrer<, Johannes der Täufer, waren von der Frage bewegt, ob er der verheißene Messias sei (vgl. Lk 7,18-23 par; Mk 8,27-30 par). Von seinen jüdischen Gegnern ist er schließlich als pseudomessianischer Gotteslästerer zum Tode verurteilt worden (v gl. Mk 2,6-7; 14,60-64 par; 15,15.26 par). Jesus hat also gewirkt für und unter Menschen, die zutiefst von der frühjüdischen Glaubenstradition bestimmt waren. Sie haben sich gefragt, ob Jesu Anspruch und seine Taten der Tara und den Verheißungen der Propheten entsprächen. Ein (kleiner) Teil von ihnen hat diese Frage bejaht, während andere sie verneint und den römischen Präfekten Pilatus gedrängt haben, J esus kreuzigen zu lassen. Diese geschichtlichen Umstände geben dem Evangelium von Jesus Christus seine unverwechselbare historische Kontur, und um sie zu bewahren, setzt man bei einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments am besten mit lesus von Nazareth und seiner Verkündigung ein. H.
Probleme der Darstellung
Beginnt man die Biblische Theologie mit der Darstellung der Verkündigung Jesu, muß man sich vor drei Irrwegen hüten. 1. Der erste Irrweg ist gegeben, wenn einzelne Forscher die Quellen für die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu eigenmächtig auswählen und neu arrangieren. Die
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Die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Christologie
Hauptquellen für die Erkenntnis J esu sind und bleiben die vier biblischen Evangelien. Die apokryphen Evangelien aus dem 2. Jh. bieten nur sekundäre Weiterbildungen und Ergänzungen der Evangelientradition. 1 Außerbiblische Nachrichten über Jesus von Nazareth sind sehr spärlich und nur mit großer Vorsicht aufzunehmen. In einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments müssen selbstverständlich die Evangelien Ausgangspunkt der Darstellung sein, und von ihrer Darstellung ist nur dann abzuweichen, wenn historisch oder theologisch zwingende Gründe dafür vorliegen. 2. Der zweite Irrweg besteht darin, das mit wissenschaftlichen Mitteln erarbeitete (und dementsprechend hypothetische) Bild des sog. >historischen Jesus< zur theologischen Norm zu erheben, an der das Zeugnis der Evangelien zu messen ist, oder dieses kritisch erzeugte Bild unbesehen mit dem Zeugnis der Evangelien vom Wirken Jesu gleichzusetzen. Bei der Ausarbeitung einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments muß man zwischen dem >historischen Jesus< und dem biblischen Zeugnis von Jesus Christus unterscheiden und die Differenz theologisch austragen: Nach dem Zeugnis der Evangelien (und der apostolischen Briefe) wird Jesus nur dann richtig verstanden, wenn man ihn von seiner göttlichen Sendung, seiner Passion und seiner Auferweckung her versteht. 3. Der dritte Irrweg besteht darin, das Zeugnis der synoptischen Evangelien vom geschichtlich einmaligen Wirken Jesu für christologisch weniger bedeutsam zu halten als das des J ohannesevangeliums und der apostolischen Briefe. Denn diese Einstellung verkennt, daß gerade die synoptischen Evangelien dazu einladen, Gottes Heilswerk in und durch Christus geschichtlich konkret zu denken, und sich dagegen sperren, dieses Werk Gottes und die Christologie nur in dogmatischen Gedankengängen zu reflektieren.
Anders urteilt z.B. H. Koester, Ancient Christian Gospels, 31992; ihm folgt J.D. Crossan, The Historical Jesus, 1991.
Die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Christologie
IH.
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Der Weg der Evangelientradition
Die Hauptquelle unserer Kenntnis von Jesus Christus sind die vier Evangelien. Daher entscheidet sich die Rekonstruktion des Wirkens J esu schon an der Frage, wie die Evangelientradition zu beurteilen ist. 1. Wenn wir uns zunächst der synoptischen Überlieferung zuwenden, ist zwischen folgenden gegenwärtig diskutierten Urteilsmöglichkeiten zu entscheiden: a) Im Gefolge der klassischen Form- und Redaktionsgeschichte, wie sie in den vergangenen siebzig Jahren durch Forscher wie Rudolf Bultmann2 und Martin Dibelius 3 ausgearbeitet worden ist, wird die synoptische Tradition von den meisten Exegeten sehr kritisch beurteilt: Auf Jesus selbst werden nur wenige Logien, Gleichnisse und Wundergeschichten zurückgeführt. Die Hauptmenge des Stoffes soll sich erst der produktiven geistlichen Einbildungskraft der nachösterlichen Gemeinde und der Lehre urchristlicher Propheten verdanken, die im Namen (des erhöhten) Jesu(s) gelehrt haben. 4 b) Das Bemühen von Joachim Jeremias 5 und Matthew Black6 , dieses Bild der Tradition mit Hilfe einer philologisch genauen Ausarbeitung der aramäischen Muttersprache Jesu zu modifizieren, ist nur teilweise positiv aufgenommen worden. Ebenso hat die seit fünfunddreißig J ahren sukzessive durch E. Earle Ellis 7 , Birger Gerhards2 V gl. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, (1921) 21931 (und Nachdrucke). 3 Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, (1919) 21933 (und Nachdrucke). 4 Klassische Beispiele für diese Betrachtungsweise bieten G. Bomkamm, Jesus von Nazareth, (1956) 14 1988; N. Perrin, Was lehrte Jesus wirklich?, 1972. 5 Vgl. J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie, Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, 21973, 13-46. 6 Vgl. M. Black, Die Muttersprache Jesu. Das Aramäische der Evangelien und der Apostelgeschichte, 1982. 7 Vgl. E.E. Ellis, New Directions in Form Criticism, in: ders, Prophecy and Hermeneutic, 1978, 237-253; ders., Gospels Critici sm: A Perspective on the State ofthe Art, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien, 1983,27-54.
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son 8 , Martin Hengel 9 , Ben F. Meyer 10 , Harald Riesenfeld ll , Rainer Riesner 12 und Heinz Schürmann 13 begründete neue Sicht der (synoptischen) Tradition noch kein allgemeines Gehör gefunden. Nach Auffassung dieser Forscher gehen die entscheidenden Anfänge der synoptischen (Logien-)Tradition auf den irdischen Jesus zurück. Er hat seine Jünger(innen) (j.l.a6T]Tal =Schüler[innen]!) als »messianischer Lehrer der Weisheit« (M. Hengel) in seiner Lehre unterwiesen, zur Mission ausgesandt und (intern) über seinen messianischen Leidensauftrag unterrichtet. Da die Frauen und Männer aus der »Schule Jesu« unmittelbar nach Ostern den Kern der Jerusalerner Urgemeinde gebildet haben (vgL Apg 1,13-14), gibt es nicht nur ein beachtliches Personalkontinuum zwischen der Urgemeinde und dem vorösterlichen Jüngerkreis, sondern auch ein durch diesen Kreis sorgsam gepflegtes Kontinuum zwischen der vorösterlichen Lehre Jesu und der nachösterlichen »Lehre der Apostel« (Apg 2,42) von Jesus Christus, wie sie vor allem in die synoptischen Evangelien eingegangen ist. Da diese Sicht des Werdens der Jesustradition mit viel weniger Hypothesen arbeiten muß als die klassische Formgeschichte und sich zudem besser in den Rahmen des Frühjudentums einfügt, ist sie der eingebürgerten kritischen Sicht vorzuziehen. Es ist also davon auszugehen, daß die synoptische Tradition nur in den Fällen für sekundär gehalten werden muß, wo Worte Jesu oder Berichte von ihm deutlich nachästerlich formuliert oder akzentuiert sind. 14 8 Vgl. B. Gerhardsson, Memory and Manuscript, 1961; ders., Die Anfänge der Evangelientradition, 1977; ders., The Gospel Tradition, 1986. 9 Vgl. M. Bengel, Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit und die Anfänge der Christologie, in: Sagesse et religion (Colloque de Strasbourg, Octobre 1976), 1979, 148-188. 10 Vgl. B.F. Meyer, The Aims of Jesus, 1979; ders., Christus Faber, 1992. 11 Vgl. H. Riesenfeld, The Gospel Tradition and Its Beginnings, 1959, 43-65. 12 Vgl. R. Riesner, Jesus als Lehrer, 31988. 13 Vgl. H. Schürmann, Jesus - Gestalt und Geheimnis, hg. von K. Scholtissek, 1994, 380-389.420-434. 14 O. Cullmann, Heil als Geschichte, 21967,172 rechnet nur in den folgenden Fällen mit der nachästerlichen Bildung eines Jesus-
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2. Die historische Qualität und der Werdegang der johanneischen Tradition werden gegenwärtig zwar auch sehr unterschiedlich beurteilt, aber es besteht eine gewisse Einigkeitdarüber, daß sie ihre sprachliche und inhaltliche Prägung erst nach Ostern in der johanneischen Schule erhalten hat. Bei der Rekonstruktion der vorösterlichen Verkündigung Jesu ist darum die synoptische Tradition der johanneischen vorzuziehen. IV.
J esu Person, Botschaft und Weg
Wenn die synoptische Kemtradition einem auf Jesus selbst zurückgehenden Lehrkontinuum entstammt, muß das von ihr gezeichnete Bild Jesu historisch verständlicher und christologisch einleuchtender sein als die Entwürfe der modemen Evangelienkritik, die mit einer weitgehend erst nach Ostern ausgebildeten Evangelientradition rechnen. Darauf deutet tatsächlich vieles hin. 1. Das Markusevangelium beginnt mit den eindeutig nachösterlichen Worten: »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1,1). Obwohl die Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes (uios ElEOU) in Mk 1,1 (und z.B. Röm 1,3-4; Apg 8,37; lJoh 4,15; Apk 2,18 usw.) nachösterlichen Bekenntnischarakter trägt, sagt sie genau aus, wer Jesus irdisch war. Man kann dies an drei synoptischen Befunden zeigen: a) Im Rahmen der frühjüdischen (Gebets-)Überlieferung ist die in Mk 14,36 im Wortlaut vorliegende und in Lk 10,21 par vorauszusetzende aramäische Anrede Gottes ~~tli (aßßCi, griechisch THlTfp) zwar nicht singulär, aber auffällig direkt. Sie weist auf eine Gottesnähe Jesu, die er selbst schon als Verhältnis von Vater und Sohn bezeichnet hat (vgl. Lk 10,22 par). Nach Lk 11,2 hat Jesus allen Bewortes: »1. wenn dieses Wort einem anderen, auch in alter Überlieferung vorhandenen Jesuswort wirklich so widerspricht, daß sich beide ausschließen; 2. wenn es eine Situation voraussetzt, die für die Zeit Jesu und seine Umgebung wirklich undenkbar ist; 3. wenn der literarische synoptische Vergleich den Schluß nahelegt oder aufdrängt, daß ein Wort erst später geschaffen wurde.«
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tern und Beterinnen des Vaterunsers an dieser seiner eigenen Gottesnähe Anteil gegeben. Die nachösterliche Gemeinde hat deshalb mit gutem Grund aus Jesu cißßu einen liturgischen Anruf Gottes im Geist Jesu geformt; Paulus zitiert ihn in Ga14,6 und Röm 8,15. b) Nach dem Bericht aller drei synoptischen Evangelien hat Jesus in Kapernaum das Recht für sich beansprucht, Sünden zu vergeben und zu heilen wie Gott selbst (vgl. Mk 2,10-11 par mit Ps 103,3). Dieser Anspruch hat ihm schon zu Beginn seiner Wirksamkeit in Galiläa den Vorwurf eingetragen, er lästere Gott (vgl. Mk 2,7 par). Jesu Handeln in göttlicher Vollmacht belegt seine Gottessohnschaft ebenso wie die Abba-Tradition. c) Auf denselben Tatbestand weist die Anfrage Johannes des Täufers aus Lk 7,18-23 par hin, ob Jesus der verheißene »Kommende« (6 EPX6~EVOS) sei oder ob er mit seinen Jüngern auf einen anderen (messianischen Heilbringer) warten solle. Unter den Texten aus Höhle 4 von Qumran hat sich kürzlich ein neues, eindeutig vorchristliches Fragment (4Q 521) gefunden, in dem es von dem in der Endzeit erwarteten Messias heißt: »Dann wird er die Kranken heilen, die Toten zum Leben erwecken, den Armen die frohe Botschaft verkündigen ... « (vgl. Jes 61,1)15 Angesichts dieses Textes gibt es keinen Anlaß mehr, die Täuferanfrage als Bildung erst der nachösterlichen Gemeinde anzusehen. Sie belegt vielmehr eine sehr interessante Spannung zwischen Jesus und dem Täufer und dokumentiert das messianische Sendungsverständnis Jesu: Er selbst ist »der Kommende« in Person, der die Dämonen mit dem» Finger Gottes« austreibt (vgl. Lk 11,20) und den »Armen« die befreiende Botschaft von der Gottesherrschaft verkündigt (vgl. Lk 4,16-21; 7,22 par mit Jes 61, 1-2). Weil er wie Gott selbst die Toten lebendig macht, ist er der Sohn, in dem die Menschen Gott selbst begegnen. 16 2. Die Täuferperikope schneidet bereits die Kernfrage an, an der sich nicht nur Jesu Leben, sondern auch die 15 4Q 521; vgl. O. Betz / R. Riesner, Jesus, Qumran und der Vatikan, 1993, 112. 16 Vgl. entsprechend in der johanneischen Tradition Joh 5,21.26.
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Gemeinschaft zwischen Juden und Christen entschieden hat und entscheidet: Ist Jesus der von den Propheten verheißene Messias oder nicht? Nach Mk: 14,60-62 par ist Jesus diese Frage durch den Hochpriester Kaiphas gestellt worden. Die Verse lauten: »61 ... Da fragte der Hochpriester ihn wieder: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? 62Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.«
Diese Antwort hat Jesus das Todesurteil als Gotteslästerer eingetragen, und seither scheiden sich am Bekenntnis '11)aoDs XPLaToS die Geister. Man versucht heute gerne, der Tragweite und ungeheuren geschichtlichen Last, die auf diesem Bekenntnis liegt, dadurch auszuweichen, daß man die Bezeichnung Jesu als XPLaToS erst auf die Glaubenseinsicht und -überzeugung der christlichen Gemeinde nach Ostern zurückführt und die synoptische Passionsgeschichte pauschal zur sekundären christlichen Bildung erklärt. Historisch zieht man sich dabei gern auch auf die Auskunft zurück, Jesus sei gar nicht durch jüdische Richter, sondern nur von dem Römer Pilatus zum Kreuzestod verurteilt worden. Da es in einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments um die Wahrheit des Werkes Gottes für uns Menschen geht, können wir uns mit solchen ausweichenden Auskünften nicht zufriedengeben, sondern müssen genauer nachfragen. a) Nach der von uns bevorzugten Sicht der synoptischen Tradition (s.o.) werden die Ereignisse der Passion im Markusevangelium weitgehend authentisch beschrieben; nach dieser Sicht hat auch das vorösterliche Messiasbekenntnis Jesu dem christlichen Bekenntnis »Jesus ist der Messias!« den Weg gewiesen. Folgende Gründe sprechen für diese Sicht17 : a) Wie Martin Hengel verschiedentlich herausgestellt hat, wird die Passionsgeschichte historisch von der Mes17 Vgl. zum Folgenden auch P. Stuhlmacher, Der messianische Gottesknecht, in: JBTh 8, 1993, 131-154.
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siasfrage zusammengehalten. 18 Erklärt man sie zu einem nachträglichen christlichen Konstrukt, werden die Passionsereignisse historisch unverständlich. Außerdem ist die noch immer hochgehaltene Meinung zu korrigieren, daß die gesamte Beschreibung des jüdischen Rechtsverfahrens gegen Jesus in den Evangelien sekundär sei, weil es dem in der Mischna kodifizierten Recht widerspreche. Nachdem schon Josef Blinzler19 und Otto Betz20 begründete Einwände gegen diese Sicht erhoben hatten, hat August Strobel21 gezeigt, daß das eilige nächtliche Verfahren gegen Jesus durchaus den Rechtsvorschriften von Tosefta und Mischna entspricht, sofern die jüdische Anklage darauf hinauslief, daß Jesus ein Falschprophet und pseudomessianischer »Verführer« (griech. TI Ad. vos; hebr. 1]'10 oder auch n't;l~) sei, vor dessen Machenschaften Israel um jeden Preis geschützt werden müsse (vgl. Dtn 13,2-12; 17,12-13; 18,20-22). Daß Strobel damit auf der historisch richtigen Spur ist, zeigt der Umstand, daß der jüdische Vorwurf, Jesus sei ein Verführer gewesen, in Mt 27,6364; Joh 7,12; JustDial69,7; 108,2 tatsächlich erwähnt und diskutiert wird. Nimmt man zu diesen Überlegungen die längst von Niels Alstrup Dahl22 aufgewiesene Tatsache hinzu, daß der Titulus am Kreuz, Mk 15,26 par, nicht christlich, sondern römisch formuliert ist und ein historisch verläßliches Element der Überlieferung darstellt, hat man allen Anlaß, die synoptische Passionsgeschichte auch historisch ernst zu nehmen: Nach seiner Entlarvung als »Verführer« haben die jüdischen Oberen, die selbst keine Todesurteile vollstrecken durften (vgl. Joh 18,31), Jesus beim römischen Präfekten als (Pseudo-)Messias angeklagt. Pilatus hat Jesus schließlich kreuzigen lassen, weil 18 Vgl. vor allem M. Hengel, Jesus der Messias Israels, in: Messiah and Christos. Studies in the Jewish Origins of Christianity, FS für David Flusser zum 75. Geburtstag, hg. von l. Grünwald / S. Shaked / G.G. Stroumsa, 1992, (155-176) 165ff. 19 Vgl. J. Blinzler, Der Prozeß Jesu, 41969. 20 Vgl. O. Betz, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW 11 2511, 1982, 565-647. 21 Vgl. A. Strobel, Die Stunde der Wahrheit, 1980. 22 Vgl. N.A. Dahl, The Crucified Messiah, in: ders., The Crucified Messiah, 1974, (10-36) 23ff.
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er den königlichen Anspruch Jesu auf das jüdische Volk für politisch gefährlich hielt, den Jesus ihm gegenüber nicht abgestritten hat (vgl. Mk 15,2 par). ß) Die Passionsgeschichte kreist elliptisch um zwei Brennpunkte. Der erste ist Jesu Entschlossenheit, seine Sache in Jerusalem zur Entscheidung zu bringen und falls es Gott so verlangt (vgl. Mk 14,36 par) - in eigener Person stellvertretend Sühne für Israel zu leisten, und der zweite sein »gutes Bekenntnis« (vgl. 1Tim 6,13) vor Kaiphas und Pilatus. - Jesu Entschlossenheit, in Jerusalem die endgültige Entscheidung über seine Sache herbeizuführen, zeigt sich daran, daß er trotz aller Warnungen (vgl. Mk 8,32 par; Lk 13,31-33) in die heilige Stadt hinaufgezogen ist und dort die mächtige Tempelpriesterschaft mit der sog. Tempelreinigung (Mk 11,15-17 par) vor die Entscheidung gestellt hat, entweder weiterhin an seiner Person vorbei ihren kultischen Dienst zu versehen oder seinem Umkehrruf zu folgen und sich auf den nicht mit Menschenhänden gemachten Tempel in der Gottesherrschaft und den ihm entsprechenden Kult einzustellen. Falls die Priester seinem Entscheidungsruf nicht folgen würden, war Jesus bereit, selbst an die Stelle ihrer nutzlosen Sündopfer für IsraeI23 zu treten und sein eigenes Leben als Lösegeld für Israel dahinzugeben (vgl. Mk 10,45 par).24 Diese Opferbereitschaft Jesu wird auch durch die Stiftungsworte beim Abschiedspassamahl (Mk 14,22.24 par) bezeugt. Beide Male hat Jesus seinen Leidensweg von Jes 43,3-4 und 53,10-12 her gedeutet: Er sah sich berufen, als messianischer Gottesknecht für Israel in den Tod zu gehen. - August Strobel vertritt in seiner genannten Studie die Auffassung, daß die Markustradition das Bekenntnis Jesu 23 Sie bestanden vor allem in dem jeden Morgen und Abend darzubringenden Tamidopfer (vgl. Ex 29,38--42; Num 28,3-8), das aus der (nur von Juden zu bezahlenden) Tempelsteuer bestritten wurde und Israel täglich neu aus seiner Sündenschuld vor Gott auslösen sollte (vgl. Jub 6,14; 50,11). 24 Auf den Zusammenhang von Mk 10,45 par mit dem Tamidopfer und der Tempelreinigung macht J. Adna aufmerksam in seiner Dissertation: Jesu Kritik am Tempel, Diss. masch. TübingenlStavanger 1994, 124ff.573.
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vor Kaiphas in Mk 14,61-62 »in hohem Maße sachgemäß« wiedergegeben habe. 25 Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, weil die Frage des Hochpriesters und die Antwort J esu ganz semitisch formuliert sind und seiner Gewohnheit entsprechen, in Hinsicht auf seine Person die Messias- und Menschensohntradition zu verschränken (vgl. nur Mk 8,29-33 par). Der von Jesus geäußerte Anspruch, selbst der gemäß Dan 7,13 wiederkehrende Menschensohn-Weltenrichter zu sein, vor dem sich die obersten jüdischen Richter alsbald würden verantworten müssen, gab Kaiphas einen klaren Rechtsgrund für den Vorwurf der Gotteslästerung und sein Plädoyer für die Tötung Jesu: Hier maßte sich wirklich ein Mensch aus Galiläa die endzeitliche Gerichtsvol1macht Gottes an. Wir stehen bei Markus also tatsächlich vor einem gerafften, aber historisch authentischen Passionsbericht. Um seine theologische Bedeutung zu erfassen, müssen wir uns nun noch den Osterereignissen zuwenden. V. Die Osterereignisse und der Ursprung der Christologie Wer heute nach dem Ursprung des christlichen Bekenntnisses zu Jesus als dem Messias, Retter und Herrn fragt, erhält zumeist die Antwort, dieses Bekenntnis sei erst aufgrund der Osterereignisse entstanden. Diese Antwort ist insofern richtig, als die Osterereignisse für das Neue Testament von buchstäblich grundlegender Bedeutung sind, aber sie ist gleichzeitig verkürzt, weil sie die Bedeutung von Lehre, Person und Geschick Jesu für die Christologie verdunkelt. 1. Auch die Osterereignisse haben ihre unbestreitbar historische Dimension. Sie wird greifbar in den archäologischen Befunden zum Grab Jesu, wie sie in der Jerusalemer Grabeskirche vorliegen; diese machen es nahezu unmöglich, die Tradition vom leeren Grab Jesu als eine späte apologetische Legende der christlichen Gemeinde ab25
A. Strobel, Stunde (s.o. Anm. 21), 75.
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zutun. 26 Noch wichtiger aber ist es zu sehen, daß erst die Ostererscheinungen Jesu vor den in 1Kor 15,5-8 aufgezählten Zeugen die neutestamentliche Bekenntnis- und Traditionsbildung verursacht haben. Die von diesen Erscheinungen Betroffenen haben in dem Christus, der ihnen vom Himmel her in himmlischer Lichtherrlichkeit begegnete, den gekreuzigten Jesus als den leiblich auferweckten und zur Rechten Gottes erhöhten »Sohn Gottes in Macht« (Röm 1,4) sehen gelernt. Sie haben sich von ihm über den Abgrund seines Todes und ihres eigenen Versagens hinweg neu »angenommen« (vgl. Lk 15,1-2; Röm 15,7) und zum Glauben an ihn berufen gesehen. Kraft dieser Berufung durch den auferstandenen Christus haben sie den Mut gefaßt, in Jerusalern die erste Gemeinde Jesu Christi zu begründen und den erhöhten Christus als endzeitlichen Retter, Herrn und Richter von Juden und Heiden zu verkündigen. Die Erscheinungen Jesu haben diese Wirkung nur auslösen und das urchristliche Bekenntnis zur Auferweckung und Erhöhung Jesu hat seine charakteristische Sprachgestalt nur annehmen können (v gl. nur lKor 15,3b-5; Apg 2,36 und Röm 10,9), weil die Zeugen in der alttestamentlich-jüdischen Auferstehungserwartung gelebt (vgl. Jes 26,19; Dan 12,2-3; 2Makk 7,9 und den Lobspruch aus der zweiten Benediktion des AchtzehnBitten-Gebets: »Gepriesen seist du, Herr, der die Toten lebendig macht!«) und aus den Heiligen Schriften die Verheißung gekannt haben, daß der Messias (v gl. 2Sam 7,12-14; Ps 89,27-28; Ps 110,1; 118,17.22) und ebenso der Gottesknecht (v gl. Jes 49,6; 52,13-53,12) von Gott verherrlicht und in ihre Herrschaft eingesetzt werden würden; die >Schüler Jesu< unter den Erscheinungszeugen hatten zudem Jesu eigene Auferstehungs- und Erhöhungserwartung vor Augen (vgl. Lk 12,8-9 par; Mk 12,18-27 par; 14,25.62 par). Es ist deshalb kein historischer Zufall, daß die urchristlichen Auferweckungsbekenntnisse, beginnend mit lKor 15,4, sämtlich in Kontinuität zur alttestamentlich-frühjüdischen Tradition und zur Lehre Jesu formuliert sind. 26 Vgl. näheres dazu in P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 1992, 175ff.
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2. Angesichts der umstürzenden Erkenntnis, daß Gott den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt und »zum Herrn und Messias gemacht« hat (Apg 2,36), mußten von Ostern an und her auch die Lehre J esu und die Erinnerung an sein Geschick festgehalten und außerdem eine Glaubenssprache entwickelt werden, die die junge christliche Gemeinde zur Anbetung Gottes und des erhöhten Christus sowie zur Mission unter Juden und Heiden fähig machte. Die im Neuen Testament gesammelten Evangelien und apostolischen Briefe, die Apostelgeschichte und die Apokalypse des Johannes verdanken sich diesem österlichen Impuls zur Ausbildung einer eigenständigen christlichen Glaubenstradition. Es ist nur konsequent, daß alle diese Bücher in den christlichen Gemeinden bei der Verlesung in den Gottesdiensten nach und nach zu den Heiligen Schriften hinzutraten und schließlich zusammen mit ihnen den zweiteiligen christlichen Kanon aus Altem und Neuem Testament gebildet haben. 3. Den zentralen Teil der neutestamentlichen Traditionsbildung stellen die christologischen Aussagen dar. An ihnen kann man sehen, daß sie nicht einfach nur von Ostern her formuliert sind, sondern sich gleichzeitig auch der Lehre Jesu und dem geisterfüllten Gotteswort der Heiligen Schriften verdanken. Sie weisen nämlich zumeist folgende Erkenntnisstruktur auf: In der vom Heiligen Geist gewährten Erkenntnis (vgl. IKor 2,10.16; loh 14,26) werden die Person, der Opfergang oder auch das Werk des erhöhten Christus mit den geisteljüllten Worten der Heiligen Schriften so beschrieben, wie es der Lehre lesu und dem (in den Heiligen Schriften bezeugten) Heilswillen Gottes entspricht. a) An Röm 4,25 kann man diese Struktur besonders schön zeigen. Paulus spricht in Röm 4,24 vom Glauben an den Gott, »der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat« und fügt in 4,25 eine im (synthetischen) parallelismus membrorum formulierte Christusformel hinzu: »der preisgegeben wurde wegen unserer Verfehlungen und auferweckt wurde wegen unserer Gerechtsprechung«. Mit den beiden Passiven TTapE868Tj und l)'YEp8Tj wird - typisch judenchristlich - Gottes Handeln an Jesus umschrie-
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ben, und zwar im Anschluß an (den hebräischen Text von) Jes 53,4-6.10-12 und in Entsprechung zu Jesu eigener Todesdeutung (s.o.): Gott hat Jesus zum Gottesknecht bestellt und ihn zum Zweck der Tilgung »unserer« Sündenschuld in den Tod gegeben und zum Zweck »unserer« Gerechtsprechung auferweckt. Kraft des Sühnetodes Jesu sind also »unsere« Sünden gesühnt, und kraft seiner Auferweckung werden »wir« gerechtfertigt, und zwar so, daß der Sühnetod Jesu »für uns« im Gericht geltend gemacht wird und der erhöhte Christus »für uns« Fürsprache vor dem Gerichtsthron Gottes leistet (vgl. Röm 8,3334 mit Jes 53,12). b) Nicht nur Röm 4,25 belegt die dreifache christologische Erkenntnisstruktur, sondern auch die kurzen zweigliedrigen Bekenntnisse »Jesus ist der Messias« ('IllaoDs XpLaTos) und »Jesus ist der Herr« (KUpLOS 'I llaoDs) sowie das Summarium des Evangeliums aus lKor 15,3b-5, die Christusformel aus Röm 1,3-4 und die hymnisch formulierte »Hochchristologie« von Phil 2,6-11; Kol 1,1520; Hebr 1,1-4 und Joh 1,1-18. Schauen wir zurück, ergibt sich tatsächlich ein Blick auf den Weg, den Gott in und durch Christus zu den Menschen und für sie gegangen ist: Der eine Gott, der die Welt geschaffen und Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, hat seinen Sohn Jesus in die Welt gesandt, damit dieser durch seinen ihm von Gott in der Heiligen Schrift vorgezeichneten Opfergang Sühne für Israel leiste und durch seine Auferweckung all denen Rechtfertigung im Endgericht verschaffe, die sich zu ihm als Herrn und Messias bekennen. Die neutestamentliche Christologie bezeugt mit ihren Einzeltexten und als ganze diesen Weg. Die angemessene Weise, die christologischen Texte auszulegen, ist darum die Anamnese: Im Erinnern und Gedenken des Werkes Gottes in und durch Christus versammeln sich Menschen auf dem Weg Gottes und erfahren sich in das Heilswerk einbezogen, das um ihretwillen geschehen ist und geschieht (vgl. Lk 22,19; lKor 11,24-25).
Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule
Die Paulusbriefe und das Johannesevangelium gehören ohne Zweifel zu den Hauptschriften des Neuen Testaments. Eine Biblische Theologie des Neuen Testaments muß daher auf die Nachzeichnung des Zeugnisses dieser Briefe und des 4. Evangeliums ganz besonderen Wert legen. 1.
Paulus und seine Schule
Paulus macht in seinen Briefen deutlich, daß er die für ihn entscheidende Offenbarungs erkenntnis bei seiner Berufung zum Apostel empfangen hat (v gl. Gal 1,1.11-17; 1Kor 9,1; 15,8-10; 2Kor 4,5-6; 5,16; Röm 1,1-5; Phil 3, 7-11); die Schüler des Paulus, die (im Kolosserbrief sowie) im Epheserbrief und in den Pastoralbriefen zu Wort kommen, bestätigen dies (vgl. Kol 1,1.25-28; Eph 3,1-7; 1Tim 1,12-17; Tit 1,3). 1.
Die Berufung des Paulus
Nach Apg 22,3 hat Paulus seine jüdisch-theologische Erziehung in Jerusalem im Lehrhaus Rabban Gamaliels I. erfahren. 1 Läßt man diese Auskunft gelten, hat er in der Heiligen Stadt die Ereignisse der Passion Jesu und der Bildung der Urgemeinde aus der Feme miterlebt und ist auch von hier aus aufgebrochen, um die zum Glauben an Jesus Christus abgefallenen Juden(-Christen) vor Gericht zu bringen. Die Treue zu dem einen Gott und der Tora, für die Paulus eifriger eintrat als viele seiner Altersgenossen (vgl. GaI1,14), schien ihm mit den Bekenntnissen der Abtrünnigen: 'lllO"OVS XPLO"TOS (»Jesus [und kein anZur Frühzeit des Paulus vgl. M. Hengel, The Pre-Christian Paul, 1991; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus, 1994,31-65.
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derer] ist der Messias«) und KUPLOS 'l1laovs (»Jesus [und kein anderer] ist der Herr«; vgl. Ps 110,1) unvereinbar zu sein, weil der hier zum »Messias« und »Herrn« erklärte Jesus kurz zuvor in Jerusalem von den jüdischen Oberen (vgl. 1Kor 2,8; Apg 3,17; 13,27) als pseudomessianischer Gotteslästerer verurteilt worden und am römischen Kreuz unter dem Fluch Gottes gestorben war, den ein solcher Mann verdiente (vgl. Dtn 21,23). Als Paulus auf dem Weg nach Damaskus von der Erscheinung des erhöhten Christus überrascht und zum Apostel berufen wurde, weckte dieses Widerfahrnis bei ihm eine dreifache Erkenntnis: a) Die Begegnung mit dem erhöhten Christus zeigte Paulus, daß der gekreuzigte Jesus tatsächlich von Gott auferweckt und verherrlicht worden war. Damit waren die von Paulus bislang verfolgten Christen mit ihrem Bekenntnis 'l1laovs XpLaTos vor Gott im Recht, er selbst aber trotz seines Eifers für die Tora im Unrecht und genötigt, das christliche Bekenntnis zu bejahen und seine eigene Auffassung von Jesus zu korrigieren (vgl. 2Kor 5,16). b) Die Übernahme dieses Bekenntnisses implizierte die zweite Einsicht, daß Gottes Heilswille fortan zuerst an dem erhöhten Christus und nur noch in zweiter Linie an der Tora zu bemessen war. Das Licht der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht des erhöhten Christus hatte die Herrlichkeit der Tora, der Paulus bisher gedient hatte, überstrahlt (vgl. 2Kor 4,6 mit 2Kor 3,9). c) Als sich Paulus vor Damaskus durch den bisher von ihm verfolgten erhöhten Christus nicht vernichtet, sondern wider Erwarten begnadigt und zum Dienst als Apostel berufen sah (vgl. 2Kor 2,142 ), erfuhr er an sich selbst die gnädige »Annahme« des Sünders durch Christus (vgl. Röm 15,7) und damit die Rechtfertigung des Gottlosen (vgl. Röm 4,5; 5,6), noch ehe er imstande war, sie zu lehren. Nimmt man diese dreifache Erkenntnis zusammen, wird deutlich, daß dem Apostel die wesentlichen Inhalte seines Evangeliums von Jesus Christus und der Rechtfertigung des Gottlosen aus Glauben an diesen Christus allein durch 2 Zum Hintergrund von 2Kor 2,14 vgl. S. Hafemann, Suffering and the Spirit, 1986, 12-39.
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Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule
die Damaskusoffenbarung vorgegeben worden sind. Er ist nicht erst im Lauf der Zeit zum Verkündiger des Evangeliums von der Rechtfertigung des Gottlosen geworden, wie heute verschiedentlich behauptet wird, sondern war es aufgrund seiner Berufungserfahrung von dem Tag an, da Gott ihm »in seiner Gnade seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige« (Gall,15-16). 2.
Das paulinische Evangelium
Als Paulus getauft und in die Christengemeinde von Damaskus aufgenommen worden war, lernte er die Lehre der Christen, die er bisher auszurotten versucht hatte (vgl. Gall,13), von innen her kennen. Er gewann dadurch die Möglichkeit, die ihm eröffnete dreifache Offenbarungserkenntnis (s.o.) im Einklang mit und im Anschluß an diese Lehre zu formulieren. Gleichzeitig begann er, die Heiligen Schriften auf Christus und das Handeln des einen Gottes zu peziehen, der Jesus gesandt und von den Toten auferweckt hatte (vgl. Röm 15,4). Die Lehre des Apostels gründet also in der Offenbarung des erhöhten Christus vor Damaskus, schließt sich aber der Formulierung nach an die ihm schon vorgegebene christliche Bekenntnistradition an und führt diese durch die christologische Auslegung der Heiligen Schrift fort. Dementsprechend hat er das ihm aufgetragene Evangelium als Heilsbotschaft von der Gottesgerechtigkeit in Christus ausformuliert. a) Wenn Paulus von Jesus Christus spricht, prägt er nur selten eigenständige neue Formulierungen (so z.B. in Gal 3,13; lKor 1,23-24; 2,2; Röm 10,4; 15,8-9). Viel häufiger schließt er sich an Formeln und Christustraditionen an, die er übernommen hat von den Christen in Damaskus, Jerusalem und der Missionsgemeinde von Antiochien, in der er vor Antritt seiner großen Missionsreisen ein Jahr lang gewirkt hat (vgl. Apg 11,26). Belegtexte dafür finden sich bereits im 1. Thessalonicherbrief (vgl. 1Thess 4, 14; 5,9) und dann im Galaterbrief (vgl. Gal 1,4; 4,4), in den beiden Briefen an die Korinther (vgl. lKor 1,30; 6, 11; 11,23-25; 15,3b-5; 2Kor 5,21), im Römerbrief (vgl. Röm 1,3-4; 3,24-26; 4,25; 6,3-4; 8,3.15.34; 15,3) sowie im Philipper- und Kolosserbrief (vgl. nur Phil 2,6-11
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und Kol1,15-20). In der Schule des Apostels ist derselbe Vorgang zu beobachten (vgl. Eph 1,20-23; 2,4-6.11-22; 1Tim 2,5-6; 3,16; 6,13; 2Tim 1,9-10; 2,8; Tit 3,4-7). Dieser Befund ist gelegentlich so gedeutet worden, daß Paulus kein selbständiges Interesse an der Christologie entwickelt, sondern »nur Tradition« zitiert habe, während das eigentliche Anliegen des Apostels nicht bei der Christologie selbst, sondern bei der Kreuzestheologie und Anthropologie gelegen habe. Gegen diese in der Schule Rudolf Bultmanns vertretene und bis heute noch nicht überwundene Deutung 3 hat sich schon Georg Eichholz gewandt. 4 Sie greift fehl und behindert das biblisch-theologische Verständnis des Paulus sehr. Ihr sind vor allem zwei Gesichtspunkte entgegenzuhalten. a) Als Jude bzw. Judenchrist hatte Paulus keinen negativen, sondern einen positiven Begriff von Tradition: Der Apostel und seine Schüler argumentieren deshalb mit der Überlieferung und nicht gegen sie, weil ihnen an der Kontinuität der apostolischen Lehre lag, die »vom Herrn her« (ciTro TaU KVpLOV) über die Jerusalerner Apostel bis hin zur Paulusschule verläuft (vgl. 1Kor 11,23; 15,1-3. 11; Röm6,17). Paulus hat gerade seine Gegner dafür gerügt, daß sie einen »anderen Jesus« (vgl. 2Kor 11,4) und ein »anderes Evangelium« (vgl. Gal1,6-9) lehren, selbst aber beansprucht, den einen »für uns« am Kreuz gestorbenen und von Gott auferweckten Christus bzw. das eine apostolische EuaYYEAloV TaU XPlO"TOU zu verkündigen, ohne das aller Glaube vergeblich ist (vgl. 1Kor 15,11.14). Es ist deshalb ganz paulinisch gedacht, wenn in 1Tim 6, 20; 2Tim 1,12.14 betont wird, daß für die Kirche alles an der unverfälschten Weitergabe des (von Paulus überkommenen) Evangeliums hängt, weil dieses Evangelium das ihr durch Offenbarung zuteil gewordene und zur Erhaltung und Weitergabe »anvertraute Gut« (TTapaei)KT"]) ist. ß) Wie Gal 4,4; 1Kor 15,20-28; Röm 1,1-6; 8,18-22; 9,5; 11,25-31; 15,8-9 dokumentieren und im Kolosser3 Sie wirkt nach bis in das Urteil von E.P. Sanders über die paulinische Christologie in seinem Paulusbuch: Paul, 1991,77-83. 4 Vgl. G. Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriß, 71991, 7-13.
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Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule
sowie im Epheserbrief expressis verbis hervorgehoben wird (vgl. Kol 1,25; Eph 1,10; 3,2.9), eröffnet das Evangelium Gottes von Jesus Christus die Erkenntnis des Heilsplans Gottes, der OLKovo~la TOV 8EOV: Der eine Gott, der die Welt erschaffen und Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, hat durch seine Propheten das Kommen seines messianischen Sohnes angekündigt; als die Zeit erfüllt war, hat er diesen (präexistenten) Sohn in die Welt gesandt; der Verheißung (von 2Sam 7,12-14 5) gemäß ist der Gottessohn als Mensch aus der Sippe Davids hervorgegangen und nach Vollendung seines Opfergangs durch seinen himmlischen Vater von den Toten auferweckt und zum »Sohn Gottes in Macht« (Röm 1,4) eingesetzt worden; in ihm ist Juden und Heiden das endzeitliche Heil verbürgt, denn er hat seine himmlische Herrschaft so lange auszuüben, bis alle Feinde Gottes mit Einschluß des Todes überwunden und zur Anbetung Gottes genötigt worden sind (vgl. Phil 2,10 mit Jes 45,23 6); wenn am Ende der Tage »die Vollzahl der Heiden(völker)« (v gl. Gen 10,1-32; 1Chr 1,1-54)1 in die von ihm angeführte Heilsgemeinde eingegangen ist (Röm 11,25), wird er der Verheißung (von Jes 45,17.25) gemäß vom Zion her erscheinen, um auch »ganz Israel« (Röm 11,26) vom Unglauben zu erlösen und für Juden und Heiden die herrliche Freiheit der Kinder Gottes inmitten der vom Fluch der Nichtigkeit befreiten Schöpfung heraufführen. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Strukturen dieser »Heilsökonomie« vor allem den Heiligen Schriften entnommen sind. 3.
Die paulinische Rechtfertigungslehre
Man bezeichnet die Lehre von der Rechtfertigung mit Recht als paulinisches Spezifikum. Diese Sicht sollte aber nicht verdecken, daß die Wurzeln dieser Lehre schon im 5 Zum Zusammenhang von Röm 1,3-4 und der Nathanweissagung vgl. vor allem O. Betz, Was wissen wir von Jesus?, (erweiterte Neuauflage) 1991, II Off. 6 Daß Phil 2,10 eschatologisch zu deuten ist, hat O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6-11, 21991, 18-55 herausgearbeitet. 7 Zum Bild des Paulus von den Heidenvölkem vgl. I.M. Scott, Paul and the Nations (erscheint 1995 in WUNT).
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vorpaulinischen Christentum liegen und von dort zurückreichen in die Verkündigung Jesu (vgl. Lk 18,9-14 sowie Mk 8,37 par [vgl. mit Ps 49,8-9] und Mk 10,45 par), das antike Judentum und die Heiligen Schriften. Will man in einem Satz sagen, worum es für Paulus bei der Rechtfertigung geht, muß man von der Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes in und durch Christus sprechen. a) Für das Alte Testament ist Gottes Gerechtigkeit ein Heilsbegriff. Er bezeichnet das Heil und Wohlordnung stiftende Verhalten Gottes, des Schöpfers (vgl. z.B. Ps 98, 2.9; Jes 45,8). Auch wenn der Ausdruck im Zusammenhang mit dem zeitlichen oder ewigen Gericht gebraucht wird, verliert er seinen positiven Sinngehalt nicht: Gott richtet so, daß den Armen und Rechtlosen ihr Recht zuteil wird (vgl. Ps 35,23-24.27). Deshalb wird in jüdischen Bußgebeten an den Gott appelliert, der gerade in seiner Gerechtigkeit der Gnädige und Barmherzige ist (vgl. Neh 9,8.17.33; Dan 9,7.16; 4Esr 8,34-36). In lQS 11,11-15 preist der Beter, der sich seiner Niedrigkeit und Sünde zutiefst bewußt ist, die Gerechtigkeit Gottes (?to'; n~l~) als schöpferisches Erbarmen und von Sünden reinigende Güte Gottes.s Die von Paulus in Röm 3,25-26 (und 2Kor 5, 21) aufgenommene judenchristliche Paradosis 9 hat diesen Sprachgebrauch von 8lKaLOUlJVT) SEOl) übernommen, und der Apostel hat sich ihm in Röm 1,17; 3,21-26; 10,3 angeschlossen (vgl. außerdem Phi13,9). 8 Nach der Übersetzung von J. Maier, Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1, 1960, 44f lautet der Passus folgendermaßen: »Und ich, wenn 12ich wanke - Gottes Gnadenerweise sind meine Hilfe für immer! Wenn ich strauchle durch Schuld des Fleisches, bleibt meine Rechtfertigung durch Gottes Gerechtigkeit (doch) für die Dauer bestehn, 13wenn Er meine Bedrängnis löst und mich aus Verderben errettet, meinen Fuß nach dem Wege lenkt, in Seinem Erbarmen mich nahen läßt. Durch Seine Gnade kommt 14meine Rechtfertigung, in Seiner wahren Gerechtigkeit richtet Er mich. In der Fülle Seiner Güte entsühnt Er alle meine Vergehen und durch Seine Gerechtigkeit reinigt Er mich von menschlicher Umeinheit 15und der Sünde der Menschen, Gott (für) Seine Gerechtigkeit zu preisen und dem Höchsten Seine Herrlichkeit! « 9 Vgl. zum Traditionscharakter von 2Kor 5,21 und Röm 3,25-26 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 193ff.296ff.
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b) Für das späte Alte Testament, die frühjüdische Apokalyptik und das Neue Testament steht die ganze Welt im Zeichen des herannahenden Endgerichts, in dem der abgrundtiefe Gegensatz zwischen der Heiligkeit Gottes und der Unheiligkeit aller sündigen Kreatur manifest und überwunden werden wird. Ohne diesen Horizont ist die ganze biblische Lehre von der Rechtfertigung nicht zu verstehen. Rechtfertigung (8lKalwalS) heißt in diesem Zusammenhang: im Endgericht von Sünden freigesprochen werden und Einlaß finden in die Gottesherrschaft. Auch Paulus sieht die Dinge so. Nach seinem Evangelium hat Gott selbst angesichts des nahen Endgerichts aus freier Gnade heraus den Grund für die Rechtfertigung für alle Menschen gelegt, weil sie sich vor seinem (oder auch Christi) Gerichtsthron (vgl. 2Kor 5,10; Röm 14,10) mit nichts loskaufen können, auch nicht durch die nach Jysu Kreuzestod sinnlos gewordenen kultischen Sühnopfer oder ihre eigenen Gehorsamstaten nach dem Gesetz lO : Er hat durch die Sendung und Preisgabe seines eigenen Sohnes in den Tod ein für allemal Sühne erwirkt und sie durch die Auferweckung Jesu endzeitlich in Geltung gesetzt. Wer an Jesus Christus glaubt, d.h. ihn als den gekreuzigten und von Gott auferweckten Retter und Herrn bekennt und seiner Weisung folgt, gewinnt an der durch J esu Opfergang erwirkten Gerechtigkeit Anteil (vgl. 2Kor 5,21) und darf der Fürsprache des Erhöhten vor Gottes Thron bis hinein ins Endgericht gewiß sein (vgl. Röm 8,34). In Röm 8,31-34 gibt Paulus der Heilsgewißheit des Rechtfertigungsglaubens unüberbietbaren Ausdruck: »31 ... Wenn Gott für uns (ist), wer (kann dann noch) gegen uns (sein)? 32(Er,) der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle preisgegeben hat, wie sollte er uns zusammen mit ihm nicht alles schenken? 33Wer wird Anklage erheben gegen die Erwählten Gottes? 10 Die Hoffnung auf die Anrechnung von Gesetzeswerken zur Gerechtigkeit vor Gott ist frühjüdisch klar bezeugt in 4Q MMT 21,3.78; 4Esr 9,7. Wenn Paulus davon spricht, daß Werke des Gesetzes nicht zur Rechtfertigung führen können (Ga12,16; Röm 3,20 vgl. mit Ps 143,2), entwirft er also keineswegs ein Zerrbild der frühjüdischen Rechtfertigungserwartung, wie heute viele meinen. Dasselbe ergibt sich aus der Polemik gegen die paulinische Anschauung in Jak 2,24:
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Gott (ist da), der gerecht macht. 34Wer wird verurteilen? Christus Jesus (ist da), der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt ist, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns eintritt.«
Nach dem Römerbrief ist die von Gott in und durch Jesus für alle Glaubenden erwirkte Gerechtigkeit der zentrale Inhalt des Evangeliums (vgl. Röm 1,16-17; 3,21-26), und nach Phil 3,9 hängt an der Gabe dieser Gerechtigkeit das endzeitliehe Heil (oder Unheil) jedes einzelnen Menschen, Paulus voran. c) Die biblischen Konturen dieser Anschauung sind unschwer zu erkennen: Die Rede von der Gerechtigkeit Gottes und die Erwartung des Endgerichts sind ebenso alttestamentlichen Ursprungs wie ihre christologische Ausdrucksweise. Sie fußt auf Jes 53,11-12 und schließt die Erkenntnis ein, daß die von Gott gestiftete Institution der Sühne im Opfergang Jesu ihre Vollendung und Überbietung erfahren hat (vgl. Röm 3,25-26 mit Lev 16,15; 17,11 und Röm 8,3 mit Lev 4,3.14.21). Paulus hat die Reichweite der Rechtfertigungsaussagen noch dadurch erweitert, daß er den gekreuzigten und erhöhten Christus nicht nur die uns von Gott eröffnete Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung in Person nennt (vgl. lKor 1,30), sondern ihn auch von Ps 8,7 und 110,1 her beauftragt sieht, das messianische Werk der Aufrichtung der Gottesherrschaft zu vollenden (vgl. lKor 15,20-28). Nach Röm 8,18-30 und 11,25-32 gehören zu diesem Werk die von Gott (z.B. in Jes 45,17.25) verheißene Errettung ganz Israels und die Befreiung der Schöpfung vom Fluch der Nichtigkeit hinzu. Die Durchsetzung der Gottesgerechtigkeit in und durch Christus hat für den Apostel also dieselbe Weite wie das Mysterium der eben umrissenen göttlichen Heilsökonomie, und dementsprechend umfaßt die paulinische Verkündigung von der Durchsetzung dieser Gottesgerechtigkeit nicht nur einen Teil, sondern das Ganze seiner Theologie. d) Die Schüler des Paulus haben die von Paulus her vorgegebenen endzeitlichen Perspektiven, das sühnetheologische Verständnis des Todes Jesu und die Rede von der Rechtfertigung allein aus Glauben hochgehalten, obgleich sie nicht mehr durch dieselben Gegner bedrängt wurden
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wie ihr Lehrer und das Problem von Rechtfertigung und Gesetz nicht länger dieselbe Aktualität besaß wie für den Apostel selbst. Ihr Bemühen läßt sich in aller Klarheit ablesen aus (der Weiterinterpretation von Kol 1,15-20 und 1,24-29 in) Eph 1,3-14 und 2,1-18 11 sowie aus Lehrtexten wie 1Tim 1,5-6 und Tit 3,3-7. Von der Preisgabe des Pauluserbes durch die Paulusschule kann also nicht gut die Rede sein, und ehe man - wie weithin üblich - die Fixierung dieses Erbes in Lehrformeln durch die Paulusschule kritisiert, sollte man bedenken, daß das originale paulinische Evangelium ohne die Bemühungen seiner Schüler, es als Tradition zu bewahren, nicht unverfälscht erhalten geblieben wäre. H.
Die Schule des Johannes
Das Zeugnis der Johannesschriften ist im Neuen Testament von gleichem theologischen Gewicht wie das der Paulusbriefe, stellt aber die Exegese vor noch größere Probleme als die Interpretation der Paulusbriefe. Die Frage nach dem Verhältnis von Johannesevangelium, den drei Johannesbriefen und der Johannesapokalypse ist historisch (fast) unlösbar. Sie kann aber nicht übersprungen werden, weil die Dimension des Historischen und damit auch die Erfassung der geschichtlichen Abfassungsverhältnisse der neutestamentlichen Bücher ein wichtiger Bestandteil einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments ist, der es darum geht, den Weg Gottes zu uns Menschen in und durch Jesus Christus nicht nur dogmatisch abstrakt, sondern geschichtlich konkret nachzuzeichnen und wirklich den Ursprungs sinn der neutestamentlichen Bücher aufzudecken. 1.
Das gegenseitige Verhältnis der Johannesschriften
Das heute übliche Bild der Johannesschriften ist so ungenau, daß es eine präzise Erfassung des Ursprungssinnes 11 In beiden Texten wird allem Anschein nach die Tradition von Koll,15-20; 3,24-29 aufgenommen und weiterinterpretiert.
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der johanneischen Texte nicht erleichtert, sondern erschwert und zur Revision herausfordert. a) Versucht man eine Zusammenschau 12 , ist die derzeit geläufige Sicht der Johannesschriften etwa folgende: Das Johannesevangelium stellt den Kern der Johannestradition dar, und die drei Johannesbriefe gelten als erst längere Zeit nach dem Evangelium verfaßte »Briefe aus der Schule des Evangelisten«.13 Die das Evangelium und die Briefe verbindende, sie zugleich aber von den Synoptikern 14 sowie den Paulusschriften unterscheidende (Begriffs-) Sprache wird als johanneischer Soziolekt, d.h. als »Schulsprache« gewertet, mit der man sich im Johanneskreis theologisch verständigt hat. Dieser Soziolekt macht die literarkritische Unterscheidung von Tradition und Redaktion in den Johannesschriften sehr schwierig. Da aber das Evangelium klare Spuren von Redaktion aufweist 15 , lassen sich viele Exegeten von dieser Schwierigkeit nicht daran hindern, z.T. weitreichende literarkritische Theorien über die redaktionelle Schichtung und Bearbeitung des Johannesevangeliums (und der Briefe) aufzustellen. Das Verhältnis von Johannesevangelium und Synoptikern wird verschieden bestimmt: Entweder nimmt man eine Bekanntschaft wenigstens mit dem Markus- und dem Lukasevangelium an oder hält Johannes für weitgehend unabhängig von der synoptischen Tradition. Zeitlich rückt 12 Die Zusammenschau stützt sich auf w.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, (1963) 19 1978; P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 1975; E. Lohse, Entstehung des Neuen Testaments, 21975; G. Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, 1992; H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, (1975) 91988; ferner die Kommentare zu Johannesevangelium, Johannesbriefen und Johannesoffenbarung von c.K. Barrett, J. Becker, R. Brown, E. Haenchen, R. Schnackenburg, H.J. Klauck, J. Roloff, G. Strecker u.a. 13 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. von A. Lindemann, 41987, 360. 14 Bis auf die eine Ausnahme Lk 10,21-22 par Mt 11,25-27. 15 Vgl. nur die schon Tatian störende topographisch seltsame Anordnung von Joh 5 und 6, den Einschub von Joh 15-17 zwischen 14,31 und 18,1, die Anfügung von Kap. 21 an das mit 20,30-31 schließende Evangelium und die verschiedenen Glossierungen in 3, 24; 4,2; 18,9.32.
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man die »Schule« des Johannes ans Ende des 1. Jh.s, aber die Frage nach ihrem konkreten Ort und dem Autor von Evangelium und Briefen wird offengelassen. Die sich sprachlich und inhaltlich stark vom Evangelium und den Briefen abhebende Johannesoffenbarung rückt man zumeist weit von ihnen ab und weist sie einem sonst unbekannten kleinasiatischen Propheten mit Namen J ohannes zu. Neuerdings wird sie auch wieder für eine pseudonyme Schrift gehalten (s.u.). Weitgehend einig ist man sich schließlich darüber, daß erst die Alte Kirche im 2. Jh. alle johanneischen Schriften dem Apostel und Zebedaiden Johannes zugewiesen hat. b) Will man über die vielen Unsicherheiten hinauskommen, die dieses Bild in sich birgt, muß (und kann) man historisch genauer vorgehen.!6 Schon wenn man in Rechnung stellt, daß die seit Irenäus übliche altkirchliche Zuschreibung aller Johannesschriften an den Zebedaiden Johannes nicht einfach willkürlich erfolgt ist, und außerdem beachtet, daß der 2. und 3. Johannesbrief von »dem Ältesten« (6 iTpmßvTEpoS) verfaßt sind (vgl. 2Joh 1; 3Joh 1), ist das eben skizzierte Bild von der johanneischen Tradition zu modifizieren. Wie längst gesehen worden ist!7, liegt es nahe, den Presbyter von 2Joh 1 und 3Joh 1 mit dem »Presbyter Johannes« (6 iTpEaßvTEpos 'I wavvTjS) gleichzusetzen, den Papias von Hierapolis um 130 n.Chr. (in seinem Werk über die Exegese der Worte des Herrn, aus dem Euseb, h.e. 3,39,4 zitiert!8) erwähnt. Papias unterscheidet diesen Presbyter klar vom Zebedaiden Johan16 Ich lasse mich im folgenden leiten von den Überlegungen, die M. Hengel1989 in seinen Stone Lectures: »The Johannine Question« vorgetragen und in wesentlich erweiterter und teilweise auch revidierter Form in ders., Die johanneische Frage, 1993 niedergelegt hat. 17 Vgl. z.B. w.G. Kümmel, Einleitung 19 (s.o. Anm. 12),209. 18 M. Hengel übersetzt das von Euseb zitierte Papiasfragment folgendermaßen: »Wenn (mir) aber jemand (zufällig) in den Weg kam, der den Alten (als Schüler) nachgefolgt war, so forschte ich nach den Lehren der Alten, was Andreas oder was Petrus gesagt hatten oder was Philippus oder was Thomas oder was Matthäus oder Jakobus oder was Johannes oder irgend ein anderer von den Herrenjüngern, ferner was auch Aristion und der Alte (bzw. Presbyter) Johannes, des Herrn Jünger, sagen« (Frage [s.o. Anm. 16]79; kursiv im Original).
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nes, nennt aber auch ihn einen »Jünger des Herrn« (TOV ll-aeT]TT1S'). Da Papias den Presbyter noch selbst gehört hat, muß dieser bis zum Ende des 1. Jh.s in Kleinasien gelebt haben. Der Zebedaide dagegen war damals schon tot, weil er - wie Papias und verschiedene andere altkirchliche Zeugnisse belegen - ebenso wie sein Bruder Jakobus (v gl. Apg 12,1-2) das Martyrium »durch die Juden« erlitten hatte. 19 Wenn man nun aufgrund der gemeinsamen Sprache nicht nur den zweiten und dritten, sondern alle drei J ohannesbriefe und dazu noch das Evangelium auf einen gemeinsamen Autor zurückführt20 und beachtet, daß der Verfasser des Evangeliums nach 21,20-23 ein hohes Alter erreicht haben muß, kann der Autor der Johannesschriften nicht der zum Märtyrer gewordene Zebedaide, sondern nur der Presbyter Johannes sein. In ihm wäre dann auch das Haupt der in Kleinasien (Ephesus) bis zum Ende des 1. Jh.s wirksamen johanneischen Schule zu sehen. Wenn dies richtig gesehen ist, ist historisch davon auszugehen, daß die noch zu Lebzeiten des Presbyters verfaßten drei Johannesbriefe zeitlich nicht nach, sondern noch vor der Schlußredaktion des Evangeliums anzusetzen sind, weil in Joh 21,23 bereits der Tod des Verfassers des Evangeliums vor Augen steht. c) Will man die Johannesoffenbarung in das gewonnene Bild einzeichnen, ist davon auszugehen, daß sie nach Apk 1,4; 22,21 ein »Brief« sein will, den der in 1,1.4; 22,8 offen mit Namen genannte Johannes an die sieben kleinasiatischen Gemeinden (und durch sie an die Gesamtkirche) hat ausgehen lassen. 21 Da dieser Johannes in 22,9 zu den Propheten und nicht zu den in Apk 18,20; 21,14 erwähnten zwölf Aposteln gerechnet wird, aber in Kleinasien so allgenieinbekannt war, daß er mit der Akzeptanz seines »Briefes« rechnete, kann es sich kaum um eine anKVPLOV
19 Vgl. ebd., 88ff. Möglicherweise will Apk 10,3-13 auf das Martyrium der beiden Zebedaiden hinweisen. 20 Vgl. E. Ruckstuhl / P. Dschulnig, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium, 1991. 21 Zur Betrachtung der Apokalypse als »Brief« vgl. M. Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief, 1986; J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 1984.
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dere Gestalt handeln als ebenfalls den Presbyter J ohannes, von dem Papias berichtet. Den Grund für sein Exil auf der Insel Patmos (vgl. Apk 1,9) könnte man in den Auseinandersetzungen suchen, die zum Ausschluß des Johanneskreises aus der Synagoge geführt haben (vgl. Joh 9,22; 12,42; 16,2). Die bewußt hebraisierende Sprache der Apokalypse weicht zwar durchgängig vom Soziolekt der Briefe und des Evangeliums ab, stimmt aber in der Wahl der Bilder und teilweise auch im Wortschatz doch auch wieder merkwürdig mit ihm überein. Gleichzeitig werden viele (christolo gis ehe ) Traditionen von der J ohannesoffenbarung in einer Form dargeboten, die älter zu sein scheint als die entsprechenden Aussagen im Evangelium und den Briefen. Es liegt also eine recht verwickelte Traditionsbeziehung zwischen den johanneischen Schriften vor, die man nur noch hypothetisch aufschlüsseln kann. Ähnlich wie Georg Strecker22 kommt Jörg Frey in seinen materialreichen und instruktiven »Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum«, die der Monographie von Martin Hengel über »Die johanneische Frage« als Appendix beigegeben sind23 , zu dem Ergebnis, daß die Apokalypse zwar in den Zusammenhang der johanneischen Schule gehöre, aber »ein Pseudepigraphon« sei, das »dem durch seine Wirksamkeit bekannten kleinasiatischen Johannes« erst »in der redaktionellen Rahmung« zugeschrieben wurde. 24 Hengel hält diese Sicht zwar für sehr plausibel 25, erwägt aber auch, daß das Werk »von einem Glied der johanneischen Schule unter Benutzung älterer apokalyptischer Fragmente herausgegeben« worden sein könnte. 26 Genau diese Sicht kann man traditions geschichtlich präzisieren: Auffälligerweise häufen sich nämlich die sprachlichen Berührungen zwischen den anderen Johannesschriften und der Apokalypse in dem »brieflichen Rahmen« (d.h. in Apk 1,1-3,22 und 22,6-21), der den großen Mittelteil umgibt, während sie in diesem Mittelteil selbst zurücktreten. Bei der Johannesoffenbarung könnte es sich darum um die durch 1,1-3,22 und 22,6-21 gerahmte und aktualisierte Neuedition eines älteren apokalyptischen Werkes handeln, das in der Johannesschule neben der im Evangelium zusammengestellten Jesustradition hochgehalten worden
22 23 24 25 26
G. Strecker, Literaturgeschichte (s.o. Anm. 12), 274f. M. Hengel, Frage (s.o. Anm. 16), 326-429. Ebd., 425. Ebd., 334. Ebd., 334.
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ist. 27 Die Apk 1,1.4 und 22,8.10.21 ganz zuwiderlaufende Erklärung der Apokalypse zu einem Pseudepigraphon durch Strecker und Frey würde damit vermeidbar.
d) Für die theologische Exegese der Johannesschriften ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Vorgaben: Die (kleinasiatische) >Schule< des Johannes, der sie alle entstammen, fußte auf einem zweifachen Traditionsfundament: erstens auf einer Evangelientradition, deren Ursprünge auf den Presbyter Johannes zurückgehen (der seinerseits ein Schüler des Zebedaiden Johannes war28 ). Im Verlauf der Schulgespräche im Johanneskreis ist diese Tradition kraft der Johannes und seinen Schülern durch den >Parakleten< eröffneten vollen Wahrheits erkenntnis (vgl. Joh 14,16-17.26; 16,13) gegenüber der synoptischen Tradition zu christologischen Lehrtexten umgesprochen und ausgestaltet worden. Diese Lehrtexte liegen gesammelt im Johannesevangelium vor, das nach dem Tod des Presbyters Ende des 1. Jh.s von dessen Schülern herausgegeben worden ist. Diese Schüler haben bei der Edition des Evangeliums den Presbyter Johannes mit dem Zebedaiden in der Gestalt des anonymen »Lieblingsjüngers« idealtypisch zusammengeschaut und auf diese Weise beiden ein Denkmal gesetzt (vgl. Joh 1,35-40; 13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20).29 In der im letzten Jahrzehnt des 1. Jh.s n.Chr. im Auftrag des Presbyters Johannes herausgegebe27 G. Eisenkolb, >Endlich schließt die Offenbarung dann das ganze Bibelbuch<, in: Zeitworte, Schülerfestschrift für F. Mildenberger zum 65. Geburtstag, hg. von H. Assel u.a., 1994,224-234 geht im Anschluß an M. Hengel, Frage (s.o. Anm. 16), 315ff davon aus, daß zwischen dem Presbyter und dem Zebedaiden Johannes ein Schülerverhältnis bestand. Sie entwirft für die Abfassung der Apokalypse folgende (noch weiter auszuarbeitende) Perspektive: »Der Presbyter erhielt von seinem Lehrer Johannes Zebedäus vor dessen Martyrium (oder aus dem Nachlaß) eine Grundschrift der Apokalypse, deren Sprachund Bilderwelt ihm auch durch die Predigt des Herrenjüngers vertraut gewesen sein muß. Trotz der Akzentverschiebungen, die die johanneische Theologie durch ihn erfuhr, erinnert er sich in der Situation des Exils dieses Textes, überarbeitet ihn behutsam und bringt ihn den in den Sendschreiben genannten Gemeinden zur Kenntnis« (230). 28 Vgl. M. Hengel, Frage (s.o. Anm.16), 317f. 29 Vgl. ebd., 313-320.
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nen Apokalypse wird der (teilweise ebenfalls auf den Zebedaiden zurückgehende?) andere Teil der johanneischen Schultradition greifbar, der vom Werk des erhöhten Christus, den Wehen der Endzeit und dem nahenden Weltgericht spricht. Die drei Johannesbriefe sind noch zu Lebzeiten des Presbyters verfaßt worden, gehen also sowohl dem Evangelium als auch der Herausgabe der Johannesoffenbarung voran. 3D Sie spiegeln die Auseinandersetzungen, in die der Johanneskreis verwickelt wurde, als in ihm ein Schisma entstand, weil ein Teil der Johannesschüler sich von den anderen abzusondern und doketische Anschauungen zu pflegen begann (vgL lJoh 2,18-19; 3,710; 4,1-3; 5,6-7; Joh 6,60-65; 19,35). Die Reaktion auf dieses Schisma hat die Ausgestaltung der johanneischen Christologie und Glaubenstradition stark beeinflußt. Diese Ausgestaltung erfolgte aber auch in Abgrenzung gegen das synagogale Judentum, das dem (ursprünglich ganz judenchristlichen) Johanneskreis im Verlauf der Jahre die Gemeinschaft aufgekündigt hatte (vgL Joh 9,22; 12,42; 16,2; Apk 2,9; 3,9).31 Für die Denkart der johanneischen Schule ist charakteristisch, daß sie einerseits die Traditionen der Apokalypse sorgsam bewahrte, andererseits aber die Auseinandersetzungen, in die sie verwickelt wurde, zum Anlaß nahm, grundsätzlicher als die Synoptiker das Verhältnis von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist, von Gegenwart und Zukunft, Heil und Gericht, Glaube und Liebe sowie Gemeinde und Welt zu reflektieren. Die so gewonnenen Einsichten werden zuerst in den Johannesbriefen deutlich, prägen dann aber auch die spezifisch johanneische Evangelientradition. 2.
Die johanneische Christologie
Der biblisch-theologisch entscheidende Beitrag der Schule des Johannes liegt in der Ausbildung der Logos-Chri30 Zu dieser auch von G. Strecker vertretenen Sicht vgl. ebd., 155ff. 31 Der Grund dafür könnte in dem klaren Bekenntnis des Johanneskreises zur Gottheit Jesu Christi liegen (vgl. Joh 1,1.18; 20,28; lJoh 1,2).
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stologie. Die Johannesschriften bezeugen sie in dreifacher Weise: a) Die traditions geschichtlich älteste Schicht ist sehr wahrscheinlich in der ganz alttestamentlich und apokalyptisch geprägten Beschreibung des Christus aus Apk 19,1116(-21) zu sehen. Er erscheint an der Spitze der himmlischen Heerscharen zum Weltgericht, sitzt auf einem weißen Schlachtroß, ist mit dem blutbefleckten Gottesmantel (vgl. Jes 63,2-3) bekleidet und kämpft mit dem Schwert seines Mundes die frevlerischen Heidenvölker nieder (vgl. Jes 11,4; Ps 2,9). Auf dem Gurt seines Gewandes (v gl. Jes 11,5) steht »König der Könige« und »Herr aller Herren«. Sein Hauptname ist jedoch »das Wort Gottes« (6 Myos TOV eEOV [Apk 19,13]). Diese Bezeichnung dürfte auf Weish 18,14-16 zurückgehen32 : Der in der Endzeit die Feinde Gottes niederwerfende Christus ist das Wort Gottes in Person, weil sich Gott durch ihn der Welt in der Weise bekannt macht, daß er durch seinen Sohn Gericht übt über alle, die seinem heiligen Willen entgegenstehen. b) In lJoh 1,1-4 verkündigt der Briefschreiber seinen Adressaten Christus als »das Wort des Lebens« (6 Myos Ti)S (wi)s). Er war von Uranfang beim Vater, wurde auf Erden offenbar, und der Presbyter hat ihn selbst gehört, gesehen und (vor und nach Ostern) mit eigenen Händen betastet (vgl. Joh 13,23 und 20,20.27). Er wird das »Lebenswort« genannt, weil er in seiner göttlichen Person das ewige Leben denen erschließt, die in der Gemeinschaft des Glaubens mit ihm stehen (vgl. lJoh 5,10-11). In lJoh 1,1-4 ist Christus nicht mehr der Parusiechristus von Apk 19, sondern der präexistente, inkarnierte, erhöhte und als 32 In der deutschen Ausgabe der Jerusalerner Bibel, die D. Arenhoevel / A. Deissler / A. Vögtle 1968 herausgegeben haben, wird Weish 18,14-16 folgendennaßen übersetzt: »14Denn während tiefes Schweigen alles umfing und die Nacht in ihrem schnellen Laufe bis zur Mitte vorgerückt war, 15da sprang sein allmächtiges Wort vom Himmel her, vom königlichen Thron, gleich einem wilden Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land. 16Als scharfes Schwert trug er seinen unwiderruflichen Befehl, und dastehend erfüllte er alles mit Tod; er berührte den Himmel, während er auf der Erde dahinschritt.«
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solcher verkündigte Gottessohn. Er macht den wesentlichen Inhalt des johanneischen Zeugnisses aus, weil er das Evangelium Gottes in Person ist. 33 Die Aussagen von lJoh 1,1-4 sind mit Joh 1,1-18 (noch) nicht identisch, aber hinter ihnen deutet sich schon die im 4. Evangelium zusammengestellte Schultradition des Johanneskreises an. Diese Schultradition handelt nur noch im Hintergrund vom irdischen Jesus. Ihre Hauptabsicht ist es, Wesen und Werk des der Gemeinde gegenwärtigen erhöhten Christus zu beschreiben und herauszustellen, daß das ewige Leben einzig und allein durch die Begegnung mit ihm und das Bleiben in seinem Wort eröffnet wird (v gl. Joh 15,1-8; 20,30-31). c) Auf die wirkungsgeschichtlich entscheidende Schicht der Logos-Christologie stoßen wir im Johannesprolog Joh 1,1-18. Der heutige Text des Prologs ist sehr wahrscheinlich aus der Bearbeitung eines kunstvoll geformten Hymnus erwachsen, in dem Christus als Wort Gottes in Person gepriesen und mit absolutem 6 Myoc; »das Wort« schlechthin genannt wird. 34 Dieser Name stammt erneut aus der Weisheit und lehrt, Christus als das göttliche Schöpferwort in Person zu bekennen (v gl. Weish 9,14).35 In ihm, dem mit Gott wesensgleichen Logos, offenbart sich Gott der Welt als Schöpfer und Erlöser, so daß die Welt in dem Logos Gott begegnen und ewiges Leben empfangen darf. Das christologische Hauptinteresse des Logos-Hymnus liegt bei dem Lobpreis der göttlichen Seinsart des Logos, seiner Inkarnation und der durch ihn geschehenden Offenbarung der Gnade Gottes. a) Die tiefschürfende theologische Reflexion der johanneischen Schule zeigt sich in J oh 1,1-18 daran, daß dieser Hymnus zu einem dreiteiligen Prolog des Evange33 Man beachte die interessante terminologische Parallelität von Uoh 1,1 und PhiI2,16; das persongewordene Evangelium Gottes ist Christus auch nach Apg 10,36-43. 34 Zur Rekonstruktion dieses Hymnus vgl. O. Hofius, Struktur und Gedankengang des Logos-Hymnus in Joh 1,1-18, ZNW 78, 1987, 1-25. 35 Den weisheitlichen Hintergrund des Johannesprologs hat H. Gese, Der Johannesprolog, in: ders., Zur biblischen Theologie, 21983, (152-201) 173ff aufgezeigt.
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liums ausgestaltet worden ist, in dem über die eben genannten Inhalte hinaus auch noch auf die unterschiedliche Aufnahme des Logos in der Welt hingewiesen wird: Die Erscheinung des Logos auf Erden führt gleichzeitig zum Widerstand gegen und zum Glauben an ihn. In 1,1-5 werden Sein und Wirken des Logos vor, bei und nach der Erschaffung der Welt beschrieben. Dann wird (nach synoptischem Vorbild) in 1,6-8 Johannes der Täufer als irdischer Vorläufer des Christus-Logos eingeführt. Anschließend wird zweimal vom Kommen des Logos in die Welt berichtet: 1,9-l3 handelt von der Erscheinung und Abweisung des Logos in der Welt (die sehr wahrscheinlich mit Israel identisch ist); nur eine kleine Minderheit - unter ihnen der Lieblingsjünger und der Presbyter Johannes hat ihn angenommen und ist mit der Gotteskindschaft beschenkt worden (vgl. 1,12-l3). In 1,14-18 ist noch einmal von der Erscheinung des Christus-Logos auf Erden die Rede, nun aber unter dem Aspekt seiner Anerkennung durch diese (und alle) Glaubenden. Sie bekennen in 1,1418, daß der Logos Fleisch wurde, unter »uns« Wohnung nahm, »uns« die Herrlichkeit Gottes kundtat und sogar Mose übertrifft, weil und indem er der einziggeborene Sohn und Offenbarer Gottes ist. ß) Indem die Glaubenden den Logos in Joh 1,14-18 im Wir-Stil als den 1l0VO'YEVT]S 9EOS (1,18) bekennen, wird die Grenze zwischen dem vorösterlichen Wirken Jesu und der nachösterlichen Wirksamkeit des erhöhten Christus durchbrochen. Christus erscheint nun als das göttliche Schöpferwort, in dem sich Gott der Welt für alle Zeiten mitteilt. 'Y) Von diesem Christus praesens erzählt das 4. Evangelium so, daß es bei seinen Lesern zwar die Kenntnis der synoptischen Tradition (vor allem in Gestalt des Markusund Lukasevangeliums ) voraussetzt36 , der synoptischen Darstellung gegenüber aber immer wieder neue Akzente setzt. Sie treten nicht nur in der neuen Stoffanordnung des Evangeliums, den Offenbarungs- und Abschiedsreden 36 Zu den Berührungen zwischen Markus, Lukas und dem 4. Evangelium vgl. C.K. Barrett, The Gospel according to St. John, 21978, 42-54.
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Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule
sowie den Berichten von Jesu Wunderzeichen hervor, sondern auch in der kühnen Neudatierung des Kreuzestodes Jesu auf den Zurüstungstag für das Passa (= 14. Nisan) und in der Neuerzählung der Passion. Anders als bei den Synoptikern erfüllt sich im Opfergang des johanneischen Christus nicht mehr nur die Schrift (v gl. 19,24.2829), sondern auch Jesu eigene Todesprophetie (vgl. 18,89.31-32). Jesus stirbt nicht erst nach sechs, sondern schon nach drei Stunden (v gl. 19,14). Sein letztes Wort am Kreuz lautet auch nicht mehr wie bei Markus und Matthäus (nach Ps 22,2) »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« (Mk 15,34; Mt 27,46) oder bei Lukas (nach Ps 31,6) »Vater, ich lege meinen Geist in deine Hände« (Lk 23,46), sondern »Es ist vollbracht« (19,30). Mit diesem TETE- AEO"TaL wird der Leser des Evangeliums an Jes 55,11 und Gen 2,1-2 erinnert: Das Schöpferwort hat seinen Lauf vollendet und das Werk der Neuschöpfung der Welt durch die Begründung des Glaubens vollbracht (vgl. 3,16).37 Folgerichtig weicht das 4. Evangelium auch in 19,38-42 von der synoptischen Darstellung ab und berichtet, daß Jesus noch am Karfreitag selbst durch Josef von Arimathäa und Nikodemus ein vollständiges und ehrenvolles Begräbnis erhalten hat: Der Christus-Logos darf an dem nach seiner Grablegung anbrechenden Sabbat im Grab ausruhen von seinen Werken wie Gott am siebten Tag nach Vollendung des Sechstagewerkes (vgl. Gen 2, 2). Von dieser Grabesruhe erhebt er sich »am ersten Tag der Woche« (20,1), gebietet Maria von Magdala, ihn nicht bei seinem Aufstieg zum Vater aufzuhalten (20,17) und erscheint schließlich am Abend des Ostertages seinen verängstigten Jüngern (vom Vater her), um sie zu beauftragen, seine Sendung fortzuführen, und ihnen den Heiligen Geist zu verleihen, der ihnen volle Einsicht in seine Lehre schenkt (vgl. 14,26) und sie mit dem »Schlüsselamt« begabt, d.h. der Vollmacht, Sünden zu vergeben oder zu behalten (v gl. 20,19-23).
37 V gl. M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, in: JBTh 4,1989, (249288) 284ff.
Das Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule
III.
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Rückschau
Schauen wir auf die Verkündigung der Schule des Paulus und des Johannes zurück, zeigt sich, daß beide entscheidenden Anteil an der Ausformung des neutestamentlichen Christuszeugnisses haben. So unterschiedlich die Sprache beider Schulen ist, so klar ist das Bekenntnis, das sie gemeinsam hochhalten: Gott offenbart sich der Welt nur in seinem eingeborenen Sohn, der der Christus ist; nur durch seinen Opfergang und seine Auferweckung von den Toten wird Juden und Heiden das endzeitliche Heil eröffnet; der einzige Weg zu diesem Heil besteht im Glauben an ihn, und dieser Glaube umschließt sowohl das Bekenntnis zu Jesus als Herrn als auch den Gehorsam gegenüber seiner Weisung (vgl. lJoh 4,7-14; Joh 13,34-35; Gal 5,6; 1Kor 13).
Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
Eine biblische Theologie des Neuen Testaments, die den Weg nachzuzeichnen versucht, den Gott in und durch Christus zu den Menschen gegangen ist, kann sich nicht damit begnügen, das Zeugnis der Evangelien, der Paulusschule und der Schule des Johannes (sowie der anderen Bücher des Neuen Testaments) darzustellen, sondern muß auch noch zeigen, wie es zur Ausbildung des zweiteiligen christlichen Kanons aus Altem und Neuem Testament gekommen ist, ob dieser Kanon eine theologische Mitte hat und wie er ausgelegt werden will. Da sie vom biblischen Kanon ausgeht und seine Einzelschriften untersucht, muß sie zum Abschluß ihrer Arbeit zum Kanon zurückkehren, wenn sie ihre Aufgabe wirklich vollständig erfüllen will. I.
Die Ausbildung des christlichen Kanons
Vom Neuen Testament aus gesehen gibt es für die Ausbildung des zweiteiligen biblischen Kanons zwei Hauptimpulse: Alle Autoren des Neuen Testaments sind davon überzeugt, daß der eine Gott und Vater Jesu Christi, der durch die Heiligen Schriften (des Alten Testaments) zur Gemeinde Jesu Christi spricht, sich Juden und Heiden erst in der Person Jesu Christi abschließend offenbart hat. In Hebr 1,1-2 wird dies klassisch zum Ausdruck gebracht: »Nachdem Gott einst vielfältig und vielgestaltig gesprochen hat zu den Vätern in den Propheten, hat er im jetzigen Ende der Tage zu uns gesprochen im Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben von allem, durch welchen er auch die Welten geschaffen hat.«l
Soll das Ganze dieser Offenbarung Gottes deutlich werden, müssen darum - erstens - die Propheten (und mit ihnen Nach H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer, 1988,27.
Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
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die Heiligen Schriften insgesamt) auf Gottes Heilswirken in seinem Sohn bezogen werden und - zweitens - sind die Heiligen Schriften um die direkten Zeugnisse von diesem Heilswirken zu erweitern. Oder anders formuliert: Erst wenn die ypacpal. äYlaL im Licht der Erscheinung Jesu Christi verstanden und zusammen mit dem Zeugnis der Apostel gelesen werden, wird das heilschaffende Wort Gottes ganz gehört. 1. Die Deutung der Heiligen Schriften auf das Heilshandeln Gottes in und durch Jesus Christus ist für alle Autoren des Neuen Testaments charakteristisch. a) Wie wir schon gesehen haben, bilden zum Zeitpunkt der neutestamentlichen Traditionsbildung nur erst - wie es in Lk 24,44 heißt - »das Gesetz des Mose und die Propheten und die Psalmen« den Kernbestand der Heiligen Schriften. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die neutestamentlichen Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament vor allem aus diesen Büchern stammen. Nach dem der 27. Auflage des Nestle(lAland) beigegebenen Register über die Zitate aus dem und Anspielungen auf das alttestamentliche Schrifttum werden im Neuen Testament die Propheten (mit Jesaja an der Spitze) etwa 180mal, die Tora (mit dem Deuteronomium an der Spitze) etwa 150mal und der Psalter etwa 100mal direkt zitiert. Gelegentlich finden sich auch Zitate aus Sir (vgl. Mk 10,19; Jak 1,19), AscJes (vgl. 1Kor 2,9 2) und äthHen (vgl. Jud 14-15). Chronik, Esra, Esther, Hoheslied, Klagelieder und Kohelet werden so gut wie nie erwähnt. Die Anspielungen auf alttestamentliche Texte stammen ebenfalls vor allem aus den Propheten, der Tora sowie den Psalmen und (nur) gelegentlich auch aus Sir, Weish und äthHen. Der Kembestand der Heiligen Schriften, auf die das Neue Testament Bezug nimmt, wird also von Tora, Propheten und Psalmen gebildet, und nur an ihrer Peripherie erscheinen auch Sir, Weish, äthHen 3 u.a. 2 Zu der in 1Kor 2,9 zitierten apokryphen Tradition vgl. H.P. Rüger, Das Werden des christlichen Alten Testaments, in: JBTh 3,1988, (175-189) 178. 3 Diese randständigen Schriften sind für das Verständnis des Neuen Testaments aber keineswegs entbehrlich! Sie haben vielmehr dem weisheitlichen Verständnis der Christologie (z.B. in Kol1, 15-20; Joh 1,1-18) den Weg bereitet, und ohne sie wird nur schwer bzw. gar nicht erklärlich, wie z.B. das Gottesprädikat »Herr der Herrlichkeit« aus äthHen 22,14; 63,2 in 1Kor 2,8 auf Christus übertragen werden
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Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
Das Problem liegt also für die neutestamentlichen Autoren (noch) nicht in der Abgrenzung, sondern in der Deutung des Alten Testaments auf Gottes Heilshandeln in und durch Jesus Christus. b) Bei dieser Deutung werden die Heiligen Schriften als Zeugnisse nach dem Grundsatz gelesen: » ... alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir ... durch den Trost der Schrift Hoffnung haben« (Röm 15,4). Die Methoden der urchristlichen Auslegung des Alten Testaments entsprechen weitgehend jüdischen Vorbildern, wie sie z.B. in den Prophetenkommentaren von Qumran oder in der rabbinischen Halacha sowie in den Midraschim vorliegen. Besonders ausgeprägt ist die typologische Lektüre der Heiligen Schriften (vgl. lKor 10,11).4 Wie das Frühjudentum hält auch das gesamte Urchristentum die 'Ypuepui Ci 'YLUl für inspiriert (vgl. Mk 12,36 par; Joh 5,39; 12,38-41; Apg 4,25; lKor 10,11; 2Kor 3,16-17; 2Tim 3,16; Hebr 3,7-11; 10,1517; IPetr 1,11; 2Petr 1,20-21).5 Der entscheidende Unterschied zum jüdischen Schriftverständnis besteht darin, konnte. Auch die Menschensohn-Prädikation Jesu bleibt ohne Dan 7 und die sog. Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, äthHen 37-71, unverständlicll (vgl. äthHen 46,1-3; 48,2; 62,5-6.9.14; 63, 11). V gl. P. Stuhlmacher, Die Bedeutung der Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments für das Verständnis Jesu und der Christologie, in: Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont, in: Die Bibel in der Welt, Bd. 22, hg. von S. Meurer, 1989, 13-25. 4 Vgl. L. Goppelt, Typos, 1939 (Nachdruck 1973). 5 Vgl. Bill. IV, 443-451. Will man noch näher spezifizieren, darf man davon ausgehen, daß das Neue Testament ebenso wie das Frühjudentum von der sog. Personalinspiration der biblischen Autoren ausgegangen ist. Wie H. Burkhardt, Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, 1988 überzeugend herausgearbeitet hat, gilt diese Sicht auch für Philo von Alexandrien. Man muß deshalb nicht mehr länger die Inspirationsauffassung im palästinischen und hellenistischen Judentum so unterscheiden, wie es J. Jeremias exemplarisch getan hat, wenn er schreibt: » ... während man in Palästina die Mitwirkung der menschlichen Werkzeuge Gottes in Rechnung setzte, neigte die Diaspora (Philo) einer starren Verbalinspiration zu, die in ihnen nur den willenlosen Griffel des Geistes sah« (Die Briefe an Timotheus und Titus, 12 1981, 62), sondern man kann von einer einheitlichen Sicht der Inspiration im Frühjudentum ausgehen, die das Urchristentum übernommen hat.
Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
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daß der die Schriften durchwehende Geist Gottes für das Neue Testament nicht mehr nur der Geist ist, der sich Israel und der ganzen Welt in der vom Sinai durch Mose ausgehenden Lehrtradition mitteilt, sondern der Geist des Vaters J esu Christi und des erhöhten Christus selbst. Die christliche Gemeinde liest deshalb die von Gottes Geist durchwehten Heiligen Schriften mit den Augen, die ihr durch den auferstandenen Christus und durch den von ihm gesandten Geist geöffnet worden sind (vgl. Lk 24,27; Joh 2,22; 12,16; 14,26), und die Worte der Schriften gelten ihr als lebendiges Wort des Vaters Jesu Christi (vgl. Joh 6,44-46; Apg 3,17-26; Röm 1,1-6; 10,19-21; Hebr 4,7; 1Petr 2,6-10; 2Petr 1,17). c) Da der Geist (des Vaters) Jesu Christi aber nicht nur die ypa<j>a"L äYLal durchweht, sondern sich auch und vor allem in J esu Person und Lehre sowie im apostolischen Zeugnis bekundet, sind mit der Zeit die Worte Jesu und die neutestamentlichen Zeugnisse zum Schlüssel für das Verständnis der Schriften aufgerückt. Hinweise darauf finden sich z.B. im 1. Petrusbrief und im Johannesevangelium. . lmentlichen ProIm bringen, glei~ber die Apostel reil es ihnen verBasisbibliothek Unitobler md die Erfüllung lie die Propheten ch Röm 1,1-6). esevangeliums ist Mt 27,9; Lk 22, Anz-;hl ------Preis~~~~T ~t~!l mgen der Schrif[Artikel . .-'-~-~-~,-=~--==.".--=--=-~.=~ (vgl. Joh 19,24. 79 1700 Stk. 0.01 17.00 ::lDu8m wird aber Bücherverkauf pro Seite ~h schon von der I ::>ehen6 : Nach Joh jTotal CHF inkl. MwSt. seinen Häschern 2 2 . .5 % '.'on seine Jünger zu :le, das er gesagt Universitätsbibliothek Basisbibliothek Unitobler ~~u.
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runveröffentlicht ge~gen H.P. Rüger.
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Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast« (vgl. Joh 6,39); parallel dazu heißt es in Joh 18,32, Pilatus sei von den jüdischen Gegnern gedrängt worden, J esus am Kreuz hinzurichten zu lassen, »damit das Wort J esu erfüllt werde, mit dem er angedeutet hatte, auf welche Weise er sterben werde« (vgl. Joh 3,14). Die Parallelität der Erfüllungsaussagen macht deutlich, daß in der Schule des Johannes die Prophetie Jesu schon dieselbe Autorität gewonnen hat wie die 'Ypa>aL, die (nur) für Jesus Zeugnis ablegen (vgl. Joh 5,39). 2. Die sich in diesen Belegen ausdrückende Tendenz markiert den Beginn eines kanonischen Prozesses, der den noch in Bewegung befindlichen Prozeß der Bildung (und Übersetzung) des Alten Testaments überlagert: Die Worte Jesu sowie die Lehre der Apostel werden festgehalten und neben die Heiligen Schriften gestellt, um diese im Sinne des Glaubens an Jesus Christus deuten zu können. Die Spuren dieses neuen kanonischen Prozesses lassen sich von der Mitte des 1. Jh.s an greifen: a) So grundlegend die 'Ypa>at ä'YLaL für Paulus waren, so wichtig hat er auch schon die Jesustradition und die apostolische Überlieferung genommen. Der Apostel hat das »Wort des Herrn« hoch geachtet (vgl. 1Kor 7,10) und Jesusüberlieferungen selbst gekannt und tradiert (vgl. z.B. 1Kor 11,23-25). In 1Kor 15,3b-5 zitiert er außerdem das allen Aposteln gemeinsame »Evangelium«, das er selbst (in der Gemeinde von Damaskus?) gelernt und an die Korinther im (Tauf-)Unterricht weitergegeben hat. Nach Röm 6,17 ist eben dieses Evangelium ein »Lehrtypus« (Tt/lTOS 8L8axfls), dem die Christen bei ihrer Taufe übergeben werden, um ihm fortan gehorsam zu sein. Paulus kann aber auch schon auf die geistliche Qualität seiner eigenen Äußerungen hinweisen (vgl. 1Kor 7,40) und darauf drängen, daß seine Briefe zwischen den Gemeinden ausgetauscht und allen Gemeindegliedern vorgelesen werden (vgl. 1Thess 5,27; Kol 4,16). b) Aus dem Prolog des Lukasevangeliums, Lk 1,1-4, läßt sich ersehen, daß der Evangelist Lukas seine Evangeliumserzählung geschrieben hat, um Inhalte des urchristlichen (Tauf-)Unterrichts, den sein hochgestellter Gönner
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Theophilus genossen hat, näher zu erläutern. Nach dem Missions- und Tautbefehl von Mt 28,19-20 soll sogar alles, was Jesus seinen Jüngern geboten hat, auch Inhalt der Missionsunterweisung sein. Von hier aus stellt sich das Matthäusevangelium als Handbuch zum Zweck der Heidenmission dar. c) Die Schule des Johannes versieht ihr Evangelium in 21,24-25 mit dem Gütesiegel des durch den Lieblingsjünger verbürgten wahren Zeugnisses, und zum Abschluß der Johannesoffenbarung wird jeder mit dem Verlust des Heils bedroht, der die in ihm dargebotene Prophetie verkürzt oder erweitert (vgl. Apk 22,18-19 mit Dtn 4,2; 13,1). 3. Der wohl erst nach der Jahrhundertwende (pseudepigraphisch) verfaßte 2. Petrusbrief markiert dann schon einen Fortschritt des kanonischen Prozesses, der über die genannten Ansätze weit hinausgeht. Nach 2Petr 3,15-16 ist neben die geisterfüllten Heiligen Schriften des Alten Testaments (von denen in 2Petr 1,20-21 die Rede ist) schon eine Sammlung von »allen« Paulusbriefen und »anderen Bücher« getreten (zu denen möglicherweise bereits das in 2Petr 1,17 zitierte Matthäusevangelium gehört). Um nicht häretisch mißverstanden zu werden, müssen nach Meinung des Briefschreibers alle diese Bücher im Sinne des apostolischen Glaubens ausgelegt werden. Wir stehen damit vor den Anfängen des zweiteiligen christlichen Kanons und sehen, daß schon im Neuen Testament selbst ein Konzept von der sachgemäßen Auslegung dieses Kanons ausgebildet worden ist!7 Dieses Konzept entsteht im Gegenzug gegen christliche Irrlehrer, die nichts (mehr) von der Erwartung der Parusie hielten und die angestammte urchristliche Endzeiterwartung für illusionär ansahen (vgl. 2Petr 3,3-4). Angesichts ihrer Kritik argumentiert >Petrus< in 2Petr 1,16-21 folgendermaßen. Die Stimme Gottes: »Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe« (2Petr 1,17; vgl. die Übereinstimmung mit Mt 17,5 [und nicht mit Mk 9,7; Lk 9,35]), die über Jesus ausgerufen wurde, als er selbst, Jakobus und Johannes »mit ihm auf dem heiligen Berg waren«, bestätigt mit Gottes eigenen Worten das 7 V gl. dazu P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 21986, 54f.75f.
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prophetische Wort der Schrift, aus dem sie sich speist, d.h. Ps 2,7 (und Jes 42,1). Nach Ps 2,7-8 soll aber der Gottessohn die Völker zum Erbe erhalten und herrschen bi~ an die Enden der Erde, und nach Jes 42,1 soll der Gottesknecht das Recht Gottes zu den Heiden tragen. Beide Worte sprechen also von einem Herrschaftsauftrag des Gottessohnes. Weil Gott Jesus auf dem Berg der Verklärung in seinem> Amt< als Sohn Gottes bestätigt hat, widersprechen die Zweifel, die die Irrlehrer an der noch bevorstehenden Parusie des Christus äußern (vgl. 2Petr 3,4), dem Jesus von Gott selbst erteilten endzeitlichen Herrschaftsauftrag. Gleichzeitig mißdeuten sie nach 2Petr 1,20 mit ihrer eigenmächtigen kritischen Auslegung (l.8la ElTlAveJlS) das vom Geist erfüllte prophetische Wort der Schrift, dessen christologische Bedeutung Gott selbst (vor den Augen und Ohren der drei Apostel) herausgestellt hat. Dagegen darf die von den Aposteln belehrte Gemeinde an der umstrittenen Parusierwartung festhalten, weil sie die Prophetie der Schrift nicht eigenmächtig, sondern im Sinne der von den Aposteln bezeugten Tradition liest und auslegt. Sie darf nach 2Petr 3,8-9 zudem aus Ps 90,4 (»Denn tausend Jahre sind vor dir wie der gestrige Tag, der verging ... «) entnehmen, daß Gott das Endgericht nur deshalb noch zurückhält, weil er in seiner gnädigen Geduld allen Menschen Raum zur Umkehr lassen will. Auch die teilweise zwar recht schwierig formulierten, aber von göttlicher Weisheit erfüllten Paulusbriefe legen, wenn man sie im Einklang mit der apostolischen Tradition liest, von dieser Geduld Gottes Zeugnis ab (vgl. Röm 2,4; 3,25-26; 9,2223; 11,11-12), während die Unwissenden und Ungefestigten die Äußerungen des Apostels ebenso wie die übrigen Schriften (TUS AOL lTUS 'Ypacj>cis) »zu ihrem eigenen Verderben verdrehen« (2Petr 3,15-16). Die geisterfüllte Prophetie der Heiligen Schriften und die von göttlicher Weisheit erfüllten Paulusbriefe sowie die übrigen Schriften werden also (nur) dann sachgemäß ausgelegt, wenn sie im Sinne der apostolischen Glaubenstradition verstanden werden.
Der kanonische Prozeß ist im 2. Petrusbrief ähnlich weit fortgeschritten wie bei Justin, der in Apol. 1,67,3 berichtet, in der römischen Gemeindeversammlung würden sonntags neben den Schriften der Propheten »die Erinnerungen der Apostel« (Ta a:rrollVTJIlOvdlllaTa TWV aTToO"TOA.wv), d.h. die Evangelien verlesen, und im Anschluß daran werde vom Gemeindevorsteher eine Predigt gehalten. Schon in der ersten Hälfte des 2. Jh.s n.Chr. gehören also die ypaq,al äYLaL, die Evangelien und die Paulusbriefe, zu den Schriften, die in den frühchristlichen Gemeindeversammlungen regelmäßig verlesen werden. Oder anders ausgedrückt: Die genannten alt- und neutestamentlichen Schriften genießen kanonische Geltung.
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4. Verfolgt man den kationischen Prozeß weiter, wurde die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament in der Alten Kirche nur einmal grundlegend in Frage gestellt, nämlich durch Marcion und seine Anhängerschaft in der Mitte des 2. Jh.s. Seine Ablehnung des Alten Testaments konnte sich aber gegen alle anderen Gemeinden nicht durchsetzen. Für sie ging es bis ins 4. Jh. hinein (und länger) nur noch um die Doppelfrage, welchen Umfang der zweiteilige christliche Kanon haben sollte. a) In den Kirchen des Ostens, die stärkere Verbindung zum Judentum hatten als die des Westens, wurden die 22 Bücher des hebräischen Kanons von den Apokryphen der Septuaginta unterschieden; die einen wurden zum festen Bestandteil des biblischen Kanons erklärt, während die nicht kanonisierten Schriften nur als >Schulbücher< für die Katechumenen Verwendung finden sollten. 8 Im Westen dagegen machte man diesen Unterschied nicht und übernahm den Schriftenbestand der Septuaginta ganz. 9 b) Was das Neue Testament anbetrifft, gab es im Osten und im Westen nur jeweils bei einem Buch Probleme, und zwar beide Male wegen der Montanisten: Im Osten war die Johannesoffenbarung umstritten, weil sie dem Schwarmgeist der Häretiker Vorschub leistete, im Westen bereitete der Hebräerbrief Ungelegenheiten, weil er (in Hebr 6,48; 10,26-31) die sog. zweite Buße für unmöglich erklärte und damit den ethischen Rigorismus der Montanisten legitimierte. Aus Gründen der Gewöhnung sind beide Bücher schließlich doch dem Kanon zugerechnet worden. 5. Das Gesamtergebnis des kanonischen Prozesses, in dem sich das Werden des (hebräischen) Alten Testaments, die Übersetzung und Ausjormung der Septuaginta und die Ausbildung des Neuen Testaments verbinden und überschneiden, ist die zweiteilige christliche Bibel. Sie ist den 8 So sieht es der 39. Osterfestbrief des Athanasius aus dem Jahr 367 vor; vgl. die Exzerpte bei E. Preuschen, ANALECTA, 21910, 42-45. 9 V gl. das Reskript Papst Innozenz I. an den Bischof von Toulouse aus dem Jahr 405, in dem die Namen aller alt- und neutestamentlichen Schriften genannt werden, ohne daß beim Alten Testament ein Unterschied zwischen kanonischen und apokryphen Büchern gemacht wird (Text bei Denzinger/Schönmetzer, Nr. 213).
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Kirchen deshalb heilig, weil sie die unüberbietbare Offenbarung des einen Gottes in und durch Christus bezeugt, der sich der christliche Glaube verdankt. Während der Streit um den Rang der Septuaginta-Apokryphen bis heute ungeschlichtet geblieben ist lO , gibt es über den Kernbestand des Alten und des Neuen Testaments keine ernst zu nehmenden Auseinandersetzungen mehr. Es herrscht heute sogar unter evangelischen und katholischen Theologen Einigkeit darüber, daß die Kirchen die Bibel nicht einfach selbst geschaffen haben, sondern daß die biblische Offenbarung die treibende Kraft des kanonischen Prozesses war. Die aus diesem Prozeß hervorgegangene Heilige Schrift aus Altem und Neuem Testament muß deshalb auch den Vorrang vor aller kirchlichen Lehre behalten. II 11.
Die Mitte der Schrift l2
Die Frage nach der theologisch bestimmenden Mitte der Schrift ist zwar erst seit der Reformationszeit intensiver diskutiert worden, hat sich aber kirchlich von früh an gestellt. Die Alte Kirche hat sie unter Hinweis auf die sog. »Glaubensregel« (regula fidei oder auch Kavwv TfjS TTlaTEUlS) beantwortet. Diese Regel faßte den wesentlichen Lehrgehalt der Bibel so zusammen, daß man mit ihrer Hilfe den christlichen Glauben lernen konnte. Ohne eine klare und katechetisch verwendbare Zusammenfassung der Summe der Schrift sind die Kirchen also nie ausgekommen und können sie auch heute nicht schriftgemäß lehren. 13 10 Vgl. den Bericht von H.P. Rüger, Der Umfang des alttestamentlichen Kanons in den verschiedenen kirchlichen Traditionen, in: Die Apokryphenfrage (s.o. Anm. 3), 137-145. 11 V gl. die erstaunliche gemeinsame Erklärung des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen: Kanon Heilige Schrift - Tradition, in: Verbindliches Zeugnis, Bd. I, hg. von w. Pannenberg / T. Schneider, 1992,371-397. 12 V gl. zum Folgenden P. Stuhlmacher, Die Mitte der Schrift - biblisch-theologisch betrachtet, in: Wissenschaft und Kirche, FS für E. Lohse, hg. von K. Aland / S. Meurer, 1989, 29-56. 13 Vgl. K. Beyschlag, Grundriß der Dogmengeschichte, Bd. 1, 1982, 149-172.
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1. Behält man das altkirchliche (und damit zugleich auch ökumenische) Vorbild der Glaubensregel im Blick 14 , leiden drei moderne Varianten der Diskussion über die »Mitte der Schrift« an gravierenden Mängeln. a) Da ist zunächst die Weigerung, überhaupt eine begriffliche Mitte der Schrift zu formulieren, weil allen Büchern der Heiligen Schrift gleichermaßen Autorität und Aufmerksamkeit zukomme. 15 Hält man sich an diese Devise, weicht man der kirchlichen Verpflichtung aus, eine biblisch klar begründete Glaubenslehre zu vertreten, und überspielt außerdem die Tatsache, daß es im zweiteiligen christlichen Kanon Haupt- und Nebenschriften gibt, die inhaltlich unterschiedliches Gewicht haben. b) Sodann gibt es den Versuch, sowohl eine alttestamentliche als auch eine neutestamentliche Mitte der Schrift zu formulieren, und zwar unter Hinweis darauf, daß das Alte Testament nicht nur eine Vorstufe des Neuen darstelle, sondern ihm gegenüber selbständig zu gewichten sei. 16 Bei diesem Vorgehen wird übersehen, daß Altes und Neues Testament aus einem vielschichtigen kanonischen Prozeß hervorgegangen sind. Zudem macht man sich die Schwie14 K. Beyschlag zitiert ebd., 155 als Beispiel Tertullian, De praescr. 13: »Die Glaubensregel ist jene ... derzufolge man glaubt, daß es nur einen und außer ihm keinen (anderen) Schöpfer der Welt gibt, der alles aus dem Nichts hervorbrachte durch sein vor allen Dingen (aus ihm) hervorgegangenes> Wort<, daß dieses> Wort< - sein Sohn genannt - im Namen Gottes auf verschiedene Weise von den Patriarchen geschaut, in den Propheten immerdar vernommen, zuletzt aus dem Geist und der Kraft des Vaters in die Jungfrau Maria herabgestiegen, in ihrem Schoße Fleisch annahm und als Jesus Christus geboren ward, danach das neue Gesetz und die neue Verheißung des Himmelreiches verkündigte, Wunder tat, ans Kreuz geschlagen wurde, am dritten Tage auferstand, in den Himmel entrückt wurde und sich zur Rechten des Vaters gesetzt hat - an seiner Stelle sandte er die Kraft des hl. Geistes, der die Gläubigen leitet - daß er wiederkommen wird in Herrlichkeit, die Heiligen aufzunehmen in den Genuß des ewigen Lebens und der himmlischen Verheißung und die Gottlosen zum ewigen Feuer zu verurteilen, nachdem beide Gruppen (Heilige und Gottlose) von den Toten auferweckt und fleischlich wiederhergestellt sein werden.« 15 Vgl. z.B. G. Maier, Biblische Hermeneutik, 1990, 174-178. 16 Vgl. B.S. Childs, Biblische Theologie und christlicher Kanon, in: JBTh 3, 1988, 13-27; ders., Biblical Theology of the Old and New Testaments, 1992.
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rigkeiten nicht hinreichend deutlich, die entstehen, wenn man das Heilshandeln des einen Gottes in und durch seinen eingeborenen Sohn im Heiligen Geist, das die Bibel bezeugt, aus jeweils selbständigen alt- und neutestamentlichen Teilelementen zusammenzusetzen versucht. c) Schließlich geht es nicht an, die Mitte der Schrift auf den (genuinen) Paulinismus zu reduzieren. 17 Trotz ihres reformatorischen Anstrichs steht diese Reduktion im Widerspruch zum Schriftverständnis Luthers und der Refor- . matoren, die nirgends einer isolierten Wertschätzung nur der Paulusbriefe (oder gar nur einiger Teile von ihnen) das Wort geredet haben.1 8 Die Lehre des Paulus ist in ihrer theologischen Präzision biblisch unvergleichlich, aber sie kann und will weder vom Alten Testament abgelöst werden, noch darf man sie gegenüber dem Zeugnis der anderen Hauptbücher des Neuen Testaments isolieren oder verabsolutieren. 2. Versucht man, die genannten drei Fehler zu vermeiden, ist bei der Formulierung der Mitte der Schrift darauf zu achten, daß die Aussagen zwei Bedingungen genügen: 'Sie müssen umfassend genug sein, um dem Zeugnis der Hauptschriften des Alten und Neuen Testaments gerecht zu werden, aber auch hinreichend genau, um die schon innerhalb der Bibel (und seither auch kirchlich) strittige soteriologische Grundfrage zu beantworten, welchem Geschehen sich der Glaube an Jesus Christus verdankt und was Menschen zu ihrer endzeitlichen Errettung beizutragen vermögen und was nicht. Wagt man eine inhaltliche Aussage, darf man so sagen: Der eine Gott, der die Welt geschaffen und Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, hat in der Sendung, dem Werk, dem Tod und der Auferweckung seines eingeborenen Sohnes Jesus Christus ein für allemal genuggetan für 17 Vgl. ß. Schutz, Die Mitte der Schrift, 1976. 18 Als Beleg dafür braucht man nur zu verweisen auf die Ausführungen Luthers zu der Frage »Welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind«, die seine Vorrede zum Septembertestament von 1522 abschließen. Sie sind bequem zugänglich bei H. Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, 1967, 140f.
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die Rettung von Juden und Heiden. Jesus Christus ist Herr und Hoffnung der ganzen Schöpfung. Wer an ihn als den Versöhner und Herrn glaubt und seiner Weisung gehorcht, darf der Teilhabe an der Herrschaft Gottes gewiß sein. Unter den biblischen Texten, die diese Mitte bezeugen, sind natürlicherweise zuerst neutestamentliche Belege zu nennen: Joh 11,25-26; 14,6; lJoh 2,1-2; 4,9-10; Röm 1, 1-6; 1,16-17 mit 3,21-31; ITim 2,5-6 u.a. Sie gehören aber unlöslich zusammen mit alttestamentlichen Schriftstellen wie Ex 20,1-6; Dtn 6,4-5; Hos 11,8-9; Jes 7,9; 9, 5-6; 25,6-9; 43,1-7; Jes 52,13-53,12; Jer 31,31-34; Ps 139,1-17; Spr 8,22-36 u.a., weil die Aussagen des Neuen Testaments ohne das alttestamentliche Fundament unvollständig und mißdeutbar bleiben.
3. Die Einsicht, daß die christliche Bibel nur eine Mitte hat, ermöglicht es, das biblische Zeugnis differenziert auf diese Mitte zu beziehen. Von ihr her läßt sich nicht nur erkennen, daß Altes und Neues Testament gemeinsam den dreieinigen Gott bezeugen, sondern von diesem Zentrum her ordnen sich auch die biblischen Bücher in Haupt- und Nebenschriften. Diese Mitte erlaubt zudem, eine angemessene Unterscheidung zu treffen zwischen dem indirekten Christuszeugnis des Alten Testaments und dem direkten des Neuen, zwischen Evangelium und Gesetz, Segen und Fluch, Glaube und Unglaube. III.
Die Auslegung der Heiligen Schrift
Für die Auslegung der Heiligen Schrift kommt es entscheidend darauf an, daß der von Hartmut Gese für die Exegese biblischer Texte aufgestellte hermeneutische Grundsatz konsequent durchgehalten wird: »Ein Text ist so zu verstehen, wie er verstanden sein will, d.h. wie er sich selbst versteht«.19 Da die Texte der Bibel als inspirierte Zeugnisse behandelt werden wollen (s.u.), muß bei ihrer Interpretation der vom Alten und Neuen Testament gemeinsam 19 H. Gese, Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte, in: ders., Alttestamentliche Studien, 1991, (249-265) 249.
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bezeugte biblische Erkenntnisweg gebührende Beachtung finden. 2o 1. Dieser Weg verläuft zwischen zwei Polen. Der erste Pol wird durch Israels» Erkenntnistheorie in nuce«21, Spr 1,7, markiert: »Die Furcht des Herrn ist Anfang der Erkenntnis«: Das Geheimnis Gottes begrenzt und begründet alle menschliche Wahrheits erkenntnis, und um sich selbst, die Welt und Gott erkennen zu können, darf und soll sich der Mensch dieses Geheimnis vorgeben lassen. Den zweiten Pol markieren Ga14,9 und lKor 13,12: Die Erkenntnis des Menschen durch Gott geht aller Erkenntnis Gottes durch den Menschen voraus. Der Mensch kann Gott und seine Wege nur insoweit erkennen, als Gott sich dem Menschen zu erkennen gibt. Der entscheidende Testfall für diesen Zusammenhang ist die biblische Offenbarung (vgl. Jes 6,1-10; Bar 3,37; Mt 11,27; 2Kor 4,1-6; lKor 12,3; Joh 6,66-69): Die Erkenntnis der Wahrheit dieser Offenbarung kann nur Gott eröffnen und schenken; von Ez 36, 25-27; Jer 31,31-34; Joh 16,13 und lKor 2,16 her kann man auch sagen: Die Erkenntnis der Offenbarung kann nur vom Heiligen Geist eröffnete Erkenntnis sein, die das Leben mit und in dieser Wahrheit einschließt. Die hermeneutische Konsequenz dieses Sachverhalts läßt sich in den Satz zusammenfassen: Man kann die Wahrheit der biblischen Texte nur ergründen und zur Mitte der Schrift nur vordringen, wenn man den biblischen Erkenntnisweg beachtet und gebührend berücksichtigt, daß diese Texte inhaltlich vor allem (Offenbarungs-)Weisheit mitteilen wollen, deren Wahrheitsgehalt erst dann voll ermessen werden kann, wenn er anerkannt und gelebt wird (vgl. Joh 7,16-17). 2. Wir haben bereits herausgestellt, daß die neutestamentlichen Autoren die »Heiligen Schriften« für inspiriert gehalten und im Geist des Glaubens ausgelegt haben (vgl. 2Tim 3,16; 2Petr 1,20-21); die Inspirationsanschauung ist schon im Neuen Testament auf das Zeugnis Jesu und der Apostel ausgedehnt worden. Warum und wie das geschah, 20 21
Vgl. H. Diem, Ja oder Nein, 1974,282-290. G. von Rad, Weisheit in Israel, 1970,94.
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kann man am schönsten aus der johanneischen Lehre vom Geist-Parakleten, aus lKor 2,6-16 und dem 2. Petrusbrief ersehen. NachJoh 14,26 und 16,13-15 sind Verkündigung und Werk Jesu erst von dem Zeitpunkt an wahrhaft verständlich geworden, da sie von dem »Geist der Wahrheit« in Erinnerung gerufen wurden, den Jesus nach seinem Weggang zum Vater gesandt hat. Joh 21,24-25 deutet an, daß das ganze Johannesevangelium den Anspruch erhebt, Niederschlag solcher geistgewirkter Erkenntnis zu sein. Auch die Prophetie der Johannesoffenbarung gilt als Geschenk Gottes und Gabe des Geistes (vgl. Apk 1,1.10), und eben deshalb darf sie weder ergänzt noch verkürzt werden (vgl. Apk 22,18-20). - Unabhängig von Johannes bietet auch Paulus in 1Kor 2,6-16 einen hermeneutischen Entwurf, der die Inspiration des apostolischen Zeugnisses betont: Während die jüdischen Archonten Jesus verkannt und deshalb den »Herrn der Herrlichkeit« ans Kreuz gebracht haben (vgl. Apg 3,17; 13,27), hat der Apostel (nach seiner Berufung) kraft der Gabe des Geistes erkennen dürfen, wer Jesus in Wahrheit ist, und daß es sich beim Kreuzesgeschehen um Gottes endzeitliche Rettungstat in und durch Christus handelt. Indem Paulus den Geistträgern in Korinth diese geistlichen Sachverhalte in Worten deutet, die der Geist lehrt (lKor 2,13-14), gibt er ihnen die ihm gewährte Offenbarungserkenntnis weiter, und anders als im Geist kann sie von den Adressaten auch nicht verstanden werden. 22 Der 2. Petrusbrief geht nicht nur von der Inspiration der alttestamentlichen Prophetie (vgl. 1,21), sondern auch der von göttlicher Weisheit erfüllten23 Paulusbriefe aus (vgl. 3,15-16), und er zeigt außerdem, daß man aufgrund dieser Anschauung Maßstäbe für die sachgemäße Auslegung der inspirierten Schriften (des Alten und Neuen Testaments) entwickelt hat (s.o.).
3. Nach dem Neuen Testament lassen sich die auf Christus weisenden Heiligen Schriften, die lesustradition und das apostolische Zeugnis nur dann sachgemäß auslegen, wenn die Ausleger an dem Geist partizipieren, der diese Traditionen durchherrscht, und ihre Auslegung kann auch nur dann verständig aufgenommen werden, wenn der Geist die Rezipienten dafür aufschließt. Damit steht die Schriftauslegung, die die biblischen Texte wirklich interpretieren will, wie diese selbst verstanden sein wollen, 22 Vgl. P. Stuhlmacher, Zur hermeneutischen Bedeutung von lKor 2,6-16, TheolBeitr 18, 1987, 133-158. 23 Die Begabung mit Weisheit ist ein Inspirationsvorgang; vgl. Sir 39,6 (und 24,30-34).
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unter dem Vorbehalt, daß erst und nur Gott selbst durch Christus kraft des Heiligen Geistes ein solches Verständnis der Schrift eröffnen kann. Für die neutestamentlichen Autoren ist der natürliche Ort solcher Schriftauslegung die vom Geist erfüllte Gemeinde Jesu Christi (v gl. 1Kor 14,24-25; Eph 2,19-22; 4,4). 4. Da diese Zusammenhänge längst gesehen und bedacht worden sind, ist die kirchliche Hermeneutik seit den Tagen der Alten Kirche von dem Grundsatz ausgegangen, daß »die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«24. Dieser Grundsatz ist auch von Luther und den Reformatoren bejaht worden. 25 5. Die wirklich den Texten der Bibel zugewandte und ihnen entsprechende Exegese hat nicht nur die Pflicht, auf diese ihr biblisch vorgegebenen hermeneutischen Maßstäbe und Befunde aufmerksam zu machen, sondern muß auch selbst den Versuch unternehmen, sich an sie zu halten. Versucht man dies zu tun, kann es bei der biblischen Hermeneutik nicht nur und auch nicht in erster Linie um die Frage gehen, wie wir heute die Bibel verstehen und uns ihre Botschaft aneignen können. Ehe man sich dem Problem der Aneignung zuwendet, ist deutlich zu machen, daß die Heilige Schrift selbst Maßstäbe dafür entwickelt hat, wie sie in ihren Einzelaussagen und insgesamt ausgelegt werden will: Die geisterjüllten Texte der Schrift wollen im Geist ausgelegt werden. 24 Dei Verbum m,12; zitiert nach: O. Semmelroth / M. Zerwick, Vaticanum 11 über das Wort Gottes, 1966, 79; der Grundsatz wird dort auf Hieronymus, In Gal. 5,19-21, Migne PL 26,445A zurückgeführt. 25 Luther schreibt in seiner »Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X novissimam damnatorum« von 1520: »Ich will nicht als der gerühmt sein, der gelehrter als alle ist, sondern ich will, daß die Schrift allein Königin sei, und daß sie nicht ausgelegt werde durch meinen Geist oder den andrer Menschen sonst, sondern verstanden werde durch sich selbst und ihren eignen Geist« (WA 7, 98,40-99,2; Übersetzung nach E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 41964,85).
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a) Das bedeutet methodisch, daß das übliche Ensemble historischer Methoden und der sie lenkende historischkritische Zweifel gegenüber aller geschichtlichen Überlieferung nicht ausreichen, um die Wahrheit der biblischen Glaubensbotschaft zu ergründen. Die historische Kritik stellt nur ein wichtiges (und m.B. auch unentbehrliches) Hilfsmittel dar, um so genau wie möglich in die historischen Dimensionen der biblischen Einzeltexte und Gesamttraditionen einzudringen. Die Arbeit mit diesem Hilfsmittel muß aber umgriffen werden von der Bereitschaft, sich das Geheimnis Gottes in den biblischen Traditionen vorgeben zu lassen (v gl. Spr 1,7), und diese Bereitschaft erwächst am besten aus der Erwartung, daß Gott sich durch die Schrift tatsächlich zu erkennen gibt (vgl. Gal 4,9).26 b) Arbeitet man mit den biblischen Texten in diesem Rahmen, sind die analytischen Ergebnisse der Auslegung nicht das einzige oder letzte, was biblische Exegese zu sagen hat, sondern sie darf und muß die Dimension nur historischer Aussagen überschreiten und selbst zum Wahrheitszeugnis werden. Nur wenn sie auch inhaltlich von der Offenbarung des einen Gottes in und durch Christus spricht und sich dieser Offenbarung selbst unterstellt, kann 26 V gl. K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, 21963, 193f (kursiv im Original): »Biblisch-theologische Wissenschaft arbeitet ... nicht im leeren Raum, sondern im Dienst der Gemeinde Jesu Christi, die durch das prophetisch-apostolische Zeugnis begründet ist. Eben von daher tritt sie in der Erwartung - mehr ist nicht zu sagen, aber auch nicht weniger! - an diese Texte heran: daß ihr dieses Zeugnis in ihnen begegnen werde - wobei sie sich nun doch (eben darum geht es in dem sog. >hermeneutischen Zirkel<) für die Frage rückhaltlos offen hält: ob, inwiefern, in welcher Gestalt und in welchen konkreten Aussagen sich diese ihre Erwartung erfüllen, die Auszeichnung, die diese Texte für die Gemeinde besitzen, sich also bestätigen möchte. >Dogmatische< Exegese? Sie ist das nur insofern, als sie ein Dogma ablehnt, das ihr diese Erwartung zum vornherein verbieten, deren Erfüllung zum vornherein als unmöglich erklären möchte. >Pneumatische< Exegese? Sicher nicht, sofern sie etwa aus irgendeinem ihr vermeintlich eigenen Geistbesitz heraus über die Schrift verfügen zu können meinte. Sie mag aber so genannt werden, sofern sie sich die doch aus der Schrift selbst zu begründende Freiheit nimmt, ernstlich, letztlich und entscheidend nur eben die Frage nach dem in ihr vernehmbaren Selbstzeugnis des Geistes an sie zu richten.«
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Der christliche Kanon, seine Mitte und seine Auslegung
die theologische Exegese der Schrift die Menschen auf dem Weg versammeln, den Gott in und durch Christus zu ihnen gegangen ist, um sie zum Glauben und zur Rettung zu führen. 27 6. Unter diesen Umständen stellt sich die christliche Auslegung der Bibel ganz von selbst als eine Aufgabe dar, die weder von den Fachexegeten des Alten und Neuen Testaments noch auch der wissenschaftlichen Theologie allein bewältigt werden kann. Sie ist eine gesamtkirchliche (und ökumenische) Aufgabe. Man kann sie nur unter der Voraussetzung anpacken, daß das biblische Wort Gottes sich aus eigener Autorität heraus Gehör verschafft, und zwar ehe die Theologie ans Werk geht, und auch dann noch, wenn sie mit ihrer Arbeit am Ende ist. 28 Die Fachexegese des Alten und Neuen Testaments hat im Kreis der anderen theologischen Disziplinen nur die spezielle Aufgabe, Anwalt der Texte zu sein, ihren historischen Ursprungs sinn herauszuarbeiten und sie gegen (alle möglichen Spielarten des) instrumentellen Mißbrauch(s) in Schutz zu nehmen. Angesichts der sich selbst auslegenden Heiligen Schrift bleiben aber alle Fachexegeten mitsamt der Theologenschaft und allen Christen nichts als beschenkte Bettler. 29
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Vgl. P. Stuhlmacher, Geistliche Schriftauslegung?, in: Einfach von Gott reden, FS für F. Mildenberger zum 65. Geburtstag, hg. von J. Roloff / B.G. Ulrich, 1994, 67-8l. 28 F. Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bd. 1, 1991, 11-30 hat die Beziehung der wissenschaftlichen Theologie und Exegese zu der bereits im Gang befmdlichen Selbstauslegung der Schrift auf die einleuchtende Formel gebracht, die wissenschaftliche Theologie habe das Geschehen der »einfachen Gottesrede« kritisch zu begleiten. 29 Vgl. Luthers letzten Zettel, WA.TR 5,318,2 (Nr. 5677).
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I.
Der Stand der Arbeit
Die großen und bekannten Theologien des Neuen Testaments, mit denen wir gegenwärtig arbeiten, sind zwischen 1953 und 1976 erschienen: 1953 lag die in drei Lieferungen erschienene berühmte »Theologie des Neuen Testaments« von Rudolf BuItmann abgeschlossen vor. BuItmanns Schüler Hans Conzelmann hat seinen »Grundriß der Theologie des Neuen Testaments« 1967 veröffentlicht. 1969 erschien »Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen« von Werner Georg Kümmel. 1971 ist der erste (und einzige) Band der »Neutestamentliche(n) Theologie« von Joachim Jeremias gedruckt worden, der die Verkündigung Jesu zum Gegenstand hat. 1974 erschienen »A Theology of the New Testament« von George Eldon Ladd und Eduard Lohses »Grundriß der neutestamentlichen Theologie«. 1975/76 hat Jürgen Roloff die »Theologie des Neuen Testaments« seines Lehrers Leonhard Goppelt postum herausgegeben, und zwischen 1968 und 1976 ist die vierbändige »Theologie des Neuen Testaments« von Karl Hermann Schelkle herausgekommen. Alle diese Werke dokumentieren, wie eine berühmte Generation von Forschern das Neue Testament theologisch verstanden hat, und sie sind mit Recht bis heute (in Nachdrucken und Neuauflagen) in Gebrauch. Seit 1990 setzen jetzt wieder neue zusammenfassende Veröffentlichungen zum Thema ein, und sie werden nolens volens wieder zur Dokumentation, wie die Generation, die bei den eben genannten Autoren studiert hat, das Neue Testament theologisch versteht. Diese Generation ist aber auch stark beeinflußt worden durch Karl Barth und hat bei so berühmten Alttestamentlern wie Gerhard von Rad, Hans Walter Wolff und WaIther Zimmerli gelernt. Sie haben ihren Studenten den Wunsch mitgegeben, die Ex-
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egeten des Alten und Neuen Testaments möchten sich eines Tages daranwagen, wieder eine beide Testamente übergreifende Biblische Theologie zu erarbeiten. Deshalb drängt sich für die neue Forschergeneration ein Thema in den Vordergrund, das in den Theologien ihrer Lehrer nur erst ansatzweise verhandelt worden ist: die Bedeutung des Alten Testaments für das Neue und die Beziehung der bei den Testamente zueinander in der einen christlichen Bibel. Inzwischen liegen drei Theologien vor, die speziell dieses Thema bearbeiten: »Biblical Theology of the Old and New Testaments« von dem in New Haven lehrenden Alttestamentler Brevard S. Childs, die auf drei Bände angelegte »Biblische Theologie des Neuen Testaments« des Göttinger Neutestamentlers Hans Hübner und meine eigene, in zwei Bänden erscheinende Arbeit mit demselben Titel.
1. Das 1992 erschienene Werk von Brevard S. Childs stellt die reife Summe einer Lebensarbeit dar, die der theologischen Auslegung des Alten und Neuen Testaments in ihrer kanonischen Gestalt und im kanonischen Zusammenhang gewidmet war und ist. Childs ist Walther Zimmerli theologisch stark verpflichtet und hat es gewagt, eine wirklich gesamtbiblische Theologie zu schreiben. Mit großem theologischem Sachverstand und bewundernswerter Belesenheit behandelt er nacheinander vier Problemkomplexe: zuerst biblisch-theologische Grundfragen, dann das besondere Zeugnis des Alten Testaments, anschließend das besondere Zeugnis des Neuen Testaments und schließlich die sich aus beiden Testamenten heraus ergebende theologische Lehre von Gott, seinem Bund, von Christus, der Versöhnung, von Gesetz und Evangelium, vom Menschen, vom Glauben, von der Herrschaft Gottes und von der Ethik. a) Childs geht in diesen Schritten vor, weil nach seiner Sicht der zweiteilige christliche Kanon aus Altem und Neuem Testament in folgenden geschichtlichen Etappen entstanden ist: Nachdem die großen alttestamentlichen Traditionscorpora schon einen jahrhundertelangen kanonischen Prozeß durchlaufen hatten, sind sie vom 4. Jh. v.Chr. an zum Kanon der Hebräischen Bibel erhoben
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worden, der aus Tora, Propheten und Schriften besteht. Er lag schon im 2. Jh. v.Chr. fertig vor und ist nach und nach auch ins Griechische übersetzt worden, wobei aber der hebräische Text gegenüber dem griechischen stets den normativen Vorrang behielt. Die aus diesem Übersetzungsprozeß hervorgegangene Septuaginta hat daher nicht dieselbe kanonische Qualität wie der hebräische Kanon. Nach einer etwa 200 Jahre andauernden Zeit zwischen den Testamenten setzt in der ersten Hälfte des 1. Jh.s n.Chr. aufgrund der Osterereignisse die neutestamentliche Traditionsbildung ein und durchläuft ihrerseits einen kanonischen Prozeß von etwa hundert Jahren. Er wird von zwei Impulsen getragen: von dem Gewicht des Christusgeschehens und dem Licht, das die Heiligen Schriften (des Alten Testaments) auf dieses Geschehen werfen, wenn man sie christologisch auslegt. Während das Judentum nach dem Scheitern der beiden Aufstände gegen Rom die Septuaginta abgestoßen und die Hebräische Bibel abschließend fixiert hat, hat die Alte Kirche den zweifachen Impuls der neutestamentlichen Traditionsbildung aufgenommen und die Schriften der Hebräischen Bibel mit den 27 Büchern des Neuen Testaments zu dem zweiteiligen christlichen Kanon verbunden. Im Osten sind die sog. SeptuagintaApokryphen aus diesem Kanon ausgeschlossen worden, während sie im Westen zu ihm hinzu gerechnet wurden. b) Wer den zweiteiligen christlichen Kanon nicht nur historisch-kritisch (und entsprechend subjektiv) analysieren, sondern theologisch interpretieren will, muß nach Childs sowohl von der kanonischen Textgestalt als auch Anordnung der biblischen Bücher ausgehen. Nach dem Durchgang durch das jeweils selbständige Zeugnis des Alten und des Neuen Testaments hat er dann die Lehre beider Testamente in einem Elementarentwurf christlichbiblischer Dogmatik zusammenzudenken. Childs vollzieht alle diese Arbeitsschritte selbst, und man kann seinem profunden Werk nur viele und nachdenkliche Leser und Leserinnen wünschen, die sich von ihm zur theologischen Auslegung der ganzen Heiligen Schrift anleiten lassen. 2. Von der Biblischen Theologie des Neuen Testaments, die Hans Hübner erarbeitet, liegen bisher zwei Bände vor:
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Der erste Band ist 1990 erschienen und behandelt unter dem Untertitel »Prolegomena« ausführlich die theologischen Grundprobleme einer Biblischen Theologie. Der zweite ist 1993 herausgekommen und hat die Theologie des Paulus und ihre neutestamentliche Wirkungsgeschichte zum Gegenstand. Sie ist für Hübner das Herzstück der Biblischen Theologie des Neuen Testaments. Der noch ausstehende dritte Band soll die restlichen neutestamentlichen Zeugen behandeln und das ganze Werk zusammenfassen. Schon jetzt ist jedoch sichtbar, daß sich Hübners »Biblische Theologie« grundlegend von dem Werk unterscheidet, das Childs vorgelegt hat. Er bearbeitet nur das Neue Testament, wählt einen ganz anderen Ansatzpunkt als Childs, bewertet die Septuaginta anders als dieser und verfolgt auch eine andere theologische Interpretationsabsicht. a) Für Hübner liegt der entscheidende Ansatzpunkt für eine Biblische Theologie des Neuen Testaments in den zahlreichen Zitaten aus und Anspielungen auf alttestamentliche Texte, die sehr viele neutestamentliche Bücher durchziehen. Weil in diesen Zitaten und Anspielungen aber nur eine Auswahl alttestamentlicher Texte interpretiert wird, unterscheidet er das Vetus Testamentum per se von dem Vetus Testamentum in Novo receptum. Er gewinnt damit die Möglichkeit, zwischen der Hebräischen Bibel und ihrer nur partiellen christlichen Rezeption zu differenzieren und kann von dieser Basis aus sogar kritisch fragen, ob und inwiefern der Gott der Hebräischen Bibel auch der Gott des Neuen Testaments sei (s.u.). Mit diesem Vorgehen stellt sich Hübner gegen den >canonical approach< von Childs, muß sich aber im Gegenzug von diesem zwei (m.E. zutreffende) Einwände gefallen lassen: Nach Childs erfaßt der Ansatz nur bei den Zitaten und Anspielungen das Verhältnis der beiden Testamente nicht tief und umfassend genug l ; außerdem ist die Unterscheidung eines im Neuen rezipierten Alten Testaments von einem Alten Testament an sich theologisch unannehmbar, weil sie das alt- und neutestamentliche Zeugnis vom Werk 1 Vgl. B.S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments, 1992,225-229.
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und Willen des einen Gottes (vgl. Ex 3,14; Dtn 6,4; Röm 3,30) kritisch unterläuft. 2 b) Was die Septuaginta anbetrifft, macht Hübner mit vollem historischen Recht darauf aufmerksam, daß man ihre Bedeutung für das antike Judentum und das Urchristentum kaum überschätzen kann. Bei der Frage nach dem Verhältnis der beiden Testamente spielt sie nach seiner Auffassung eine viel gewichtigere Rolle, als Childs (stellvertretend für viele Alttestamentler) meint. 3 Nimmt man diesen Einwand auf, ist das von Childs entworfene Bild des kanonischen Prozesses grundlegend zu revidieren: Die Septuaginta ist entstanden, als nur erst die Tora und die Propheten kanonischen Rang erhalten hatten und der dritte Teil des hebräischen Kanons noch im Werden war, und zwar in einem vom 3. Jh. v.Chr. bis zum 2. Jh. n.Chr. andauernden komplexen Prozeß von Übersetzung, Revision der Übersetzung nach den hebräischen Texten und Vermehrung der Übersetzungs schriften durch hellenistischjüdische Unterrichts- und Erbauungsschriften (wie die Weisheit Salomos und die Makkabäerbücher).4 Da die kanonische Endgestalt der Hebräischen Bibel erst am Ende des 1. und zu Beginn des 2. Jh.s n.Chr. erreicht war, die Übersetzung der Septuaginta mindestens ebenso lange gedauert hat, die sog. Septuaginta-Apokryphen bei der Ausformulierung des neutestamentlichen Christuszeugnisses Pate gestanden haben und die Septuaginta überhaupt nur zusammen mit den neutestamentlichen Schriften kanonisiert worden ist, muß man von einem zwar vielschichtigen, aber durchlaufenden kanonischen Prozeß sprechen, dem die Hebräische Bibel, die Septuaginta und das Neue Testament entstammen. Dieser gemeinsame Prozeß macht die Rede von einer langen Epoche zwischen den Testamenten überflüssig und die Gegenüberstellung eines jeweils besonderen Zeugnisses von Altem und Neuem Te2 Vgl. ebd.,77. 3 Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 1990, 57ff. 4 Vgl. M. Hengel, Die Septuaginta als >christliche Schriftensammlung< und das Problem ihres Kanons, in: Verbindliches Zeugnis, Bd. I: Kanon - Schrift - Tradition, hg. von W. Pannenberg / T. Schneider, 1992, (34-127) 89ff.114ff.
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stament ausgesprochen fragwürdig. Oder anders ausgedrückt: Wenn man die historische Rolle gebührend beachtet, die die Septuaginta für das antike Judentum und frühe Christentum gespielt hat, und die komplexen Daten der Kanongeschichte bedenkt, zeigt sich, daß Childs bei der Abfassung seines Werkes einem Bild vom Werden der Hebräischen und der christlichen Bibel folgt, das nicht weniger konstruiert ist als Hübners Unterscheidung von dem Vetus Testamentum per se und in Novo receptum. c) Hübners theologische Interpretationsabsicht liegt bei der biblisch-theologischen Erneuerung der existentialen Interpretation des Neuen Testaments durch Rudolf Bultmann. Um diese Absicht zu erreichen, verbindet er bei seiner exegetisch-theologischen Arbeit die historische Rekonstruktion sofort mit der Frage nach ihrer Bedeutung und Verständlichkeit für den modemen Leser und stellt solche neutestamentlichen Aussagen in den Vordergrund, die diesem Anspruch genügen. Daher arbeitet Hübner im zweiten Band seines Werkes vor allem die Entdeckung und Ausgestaltung der Lehre von der Rechtfertigung durch Paulus heraus und zeigt ihre Bedeutsamkeit für den Menschen (von heute) auf. Dabei bestimmt die existentiale Interpretationsabsicht Hübners Arbeit so sehr, daß er meint, darauf verzichten zu können, historisch genau darzustellen, wie sich der Apostel und seine Schule Gottes Versöhnungstat in und durch Jesus Christus und das endzeitliche Rechtfertigungsgeschehen im einzelnen vorgestellt haben und in welches Bild von Schöpfung und Erlösung es eingebettet war. Anders als bei Childs wird sich darum aus seiner Theologie sehr wahrscheinlich kein detaillierter Entwurf einer biblischen Dogmatik ergeben, sondern nur eine auf paulinische (und sicherlich auch johanneische) Texte gestützte, rechtfertigungstheologisch zugespitzte Lehre vom Glauben an Jesus Christus. d) Angesichts der enormen biblisch-theologischen (und hermeneutischen) Defizite der existentialen Interpretation, auf die in den vergangenen dreißig Jahren zur Genüge hingewiesen worden ist5, steht leider zu befürchten, 5 Einige dieser Defizite habe ich genannt in P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 21986, 199-205.
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daß Hübner mit seinem Ansatz nur einen sehr relativen Erkenntnisfortschritt über Bultmann hinaus erzielen wird. Seine Auslegungsintention saugt schon im Ansatz die Möglichkeiten substantieller biblischer Neuerkenntnis auf, die der gesamtbiblische Durchgang eröffnet. Außerdem führt ihn der Ansatz beim Vetus Testamentum in Novo recepturn (s.o.) zu der höchst problematischen Kernfrage, »ob denn tatsächlich der Jahwäh Israels, der Nationalgott dieses Volkes, mit dem Vater Jesu Christi, dem Gott der ganzen Menschheit, identisch ist«.6 Wer so fragt, kann selbst bei einer positiven Antwort im Alten Testament kaum etwas anderes sehen als nur eine (religions)geschichtliche Vorstufe des Neuen, über deren Rang und Wert erst durch die neutestamentliche Offenbarung entschieden wird. Gegen diese Herabstufung des Alten Testaments haben schon vor Jahren Gerhard von Rad, Hans Walter W olff, Walther Zimmerli und andere führende Alttestamentler Einspruch erhoben, und auch Childs besteht in seinem Werk darauf, daß das Alte Testament und sein Zeugnis ein nicht nur vorbereitender, sondern wesentlicher Teil des zweiteiligen christlichen Kanons ist und bleibt. Von Jesus (vgl. Lk 11,2 par Mt 6,9; Lk 10,21-22 par Mt 11,25-27), Paulus (Röm 4,3-5.17.24-25) und Johannes (vgl. Joh 1,17-18) her ist denn auch die von Hübner gestellte Vexierfrage zurückzuweisen und den genannten Alttestamentlern beizupflichten. 3. Will man weiterkommen, muß man anders ansetzen als Hübner und das Wagnis auf sich nehmen, die z.T. sehr ausgetretenen Pfade der üblichen kritischen Exegese des Alten und Neuen Testaments dort zu verlassen, wo sie historisch und in der Folge auch theologisch in die Irre führen. Ich versuche, in meiner »Biblischen Theologie«7 einen solchen Weg zu gehen, und bin mir des Risikos, den dieses Unternehmen bedeutet, sehr wohl bewußt.B 6 H. Hübner, Biblische Theologie, Bd. 1 (s.o. Anm. 3), 240 (kursiv im Original). 7 Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 1992. 8 Mir ist auch bewußt, daß ich den eingeschlagenen Weg ohne die Arbeit und den Rat vor allem von Hartmut Gese, Martin Hengel und Friedrich Mildenberger nicht hätte finden können und ohne ihre freundschaftliche Kritik auch nicht zu Ende gehen kann.
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Meine biblisch-theologische Arbeit ist von drei Grundentscheidungen bestimmt: a) Wer die Texte der Bibel theologisch durchdringen und zu ihrem Wahrheitskern vordringen will, muß sie so auslegen, wie sie selbst ausgelegt werden wollen, und bereit sein, seine Auslegungsmethode der Eigenart und dem Eigengewicht der Texte anzupassen. 9 Damit-wird der konventionelle historisch-kritische Umgang mit den biblischen Traditionen in gewissem Sinne umgepolt. Während die klassische historische Kritik vom methodischen Zweifel an der Überlieferung geleitet ist und sie in der Absicht analysiert, nur das nach neuzeitlichen Maßstäben Wahre an ihr gelten zu lassen, steht die biblische Exegese einer Überlieferung gegenüber, die nach uralter kirchlicher Erfahrung den Anspruch erhebt, in ganz und gar menschlichen, aber vom Heiligen Geist eingegebenen Worten die unüberholbare Wahrheit der Offenbarung Gottes in und durch Christus zu bezeugen. Diesem Wahrheitsanspruch kann nur eine Auslegung gerecht werden, die es zwar wagt, nach allen Regeln der kritischen Kunst in die historischen Dimensionen des biblischen Zeugnisses einzudringen, zugleich aber bereit ist, die biblische (durchaus >erkenntnistheoretisch< gemeinte!) Maxime aus Spr 1,7 hochzuhalten: »Die Furcht des Herrn ist Anfang der Erkenntnis«. Anders formuliert: Die theologische Exegese der Heiligen Schrift darf und muß sich das Geheimnis des Wirkens Gottes für die Menschheit in und durch Christus vorgeben lassen. Sofern sie sich diese Vorgabe gefallen läßt, ist sie - wie alle Theologie, die sich von Karl Barth her versteht - nach der schönen Formulierung von Ernst Fuchs »gewürdigt ... , Gottes Weg zu den Menschen mitzugehen und dabei die Menschen auf diesem Weg Gottes zu versammeln«.l0 b) Das Verhältnis der heiden Testamente in der christlichen Bibel bestimmt sich von zwei Voraussetzungen her: erstens der Tatsache, daß Jesus und die von ihm erwählten Apostel ebenso wie Paulus geborene Juden waren und der 9 Vgl. H. Gese, Hermeneutische Grundsätze der Exegese biblischer Texte, in: ders., Alttestamentliche Studien, 1991,249-265. 10 Zitiert nach H. Diem, Ja oder Nein, 1974,290.
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Christenheit bleibenden Anteil an den »Heiligen Schriften« (des Alten Testaments) gegeben haben, und zweitens dem komplexen kanonischen Prozeß, dem das hebräische Alte Testament, die Septuaginta und das Neue Testament entstammen (s.o.). Er findet sein Ziel in der Feststellung des zweiteiligen christlichen Kanons im 4. Jh. n.Chr. durch die Alte Kirche. Das theologisch maßgebliche Zentrum dieses Kanons ist das Zeugnis vom Heilshandeln Gottes für Juden und Heiden in und durch Christus. Dieses Zeugnis hat alt- und neutestamentliche Wurzeln, ist aber untrennbar eins, weil der eine Gott, der die Welt geschaffen und Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, in seinem eingeborenen Sohn Jesus Christus für das Heil der Welt ein für allemal genuggetan hat. c) Von diesem Zeugnis her bestimmt sich die Aufgabe einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments: Sie daif und soll von den neutestamentlichen Texten her den Weg Gottes zu den Menschen in und durch Christus aufzeigen. Dieser Weg beginnt mit der Schöpfung, durchläuft die ganze Erwählungsgeschichte Israels, gewinnt seinen Höhepunkt in der Sendung, Passion und Auferweckung Jesu und führt auf das Reich Gottes zu, das der erhöhte Christus heraufführen soll und wird. Die geschichtlich-konkrete Nachzeichnung des apostolischen Zeugnisses von diesem Weg ist nur möglich, wenn man nicht nur den Zitaten alttestamentlicher Bücher und den Anspielungen auf sie im Neuen Testament nachgeht, sondern die Traditionsbezüge zwischen beiden Testamenten bis in die gemeinsame Sprach- und Vorstellungswelt auslotet. Sie erfordert außerdem eine von den Evangelien ausgehende möglichst genaue Rekonstruktion der Sendung J esu, seiner Passion und Auferweckung sowie die eingehende Darstellung der Entstehung und Entfaltung der Christusbotschaft durch die neutestamentlichen (Haupt-)Zeugen. Am Schluß muß sie einmünden in eine Skizze der Ausbildung des zweiteiligen christlichen Kanons und die Frage nach seiner theologischen Bedeutung für die Kirche. Da die biblische (Fach-)Exegese eingebettet ist in das Ganze der wissenschaftlichen Theologie, muß sie zuerst und vor allem Anwalt der biblischen Texte sein, wie sie ihr im biblischen Kanon vorgegeben sind; sie darf und muß das Zeugnis
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dieser Texte nachsprechen und eine theologische Summe daraus ziehen, aber sie braucht nicht auch noch die ganze Aufgabe der Dogmatik zu übernehmen. Sie sollte sich deshalb auch nicht anheischig machen, unter weitgehender Ausblendung der Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift und differenzierter dogmatischer Fragestellungen die Bedeutung der Bibeltexte für die Gegenwart im existential-analytischen Alleingang aufschließen zu wollen. H.
Die inhaltliche Durchführung ll
Versucht man, diese Grundsätze umzusetzen, sollte man sich von neutestamentlicher Seite her auf den Entwurf einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments, die zum Alten Testament hin offen ist, beschränken und darauf hoffen, daß umgekehrt auch vom Alten Testament her eine zum Neuen Testament hin offene Biblische Theologie des Alten Testaments entworfen wird. Ein einzelner Autor ist heute kaum mehr in der Lage, die Forschungssituation in der alt- und neutestamentlichen Disziplin zu durchschauen, und je weiter das Arbeitsfeld ist, das er sich wählt, um so dilettantischer muß er in vielen Fragen urteilen. Das aber ist der zu bewältigenden Aufgabe abträglich. 1. Eine Biblische Theologie des Neuen Testaments sollte einsetzen bei der Darstellung der Verkündigung Jesu nach dem Zeugnis der Synoptiker, weil auf diese Weise deutlich wird, daß sich der christliche Glaube dem ihm vorangehenden Heilshandeln des einen Gottes in der Sendung, dem Werk, der Passion und der Auferweckung Jesu von Nazareth verdankt (vgl. Röm 5,6-8). a) In den vergangenen dreißig Jahren ist durch Forscher wie E. Earle .Ellis, Birger Gerhardsson, Martin Hengel, Heinz Schürmann und Rainer Riesner herausgearbeitet 11 Da im folgenden zusammengefaßt wird, was in den voranstehenden Vorlesungen zur Verkündigung Jesu, zum Zeugnis des Paulus und der johanneischen Schule gesagt wurde, kann auf Anmerkungen verzichtet werden.
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worden, daß das Zeugnis der synoptischen Evangelien auf einer Schultradition fußt, die von Jesus selbst begründet, von den Jüngern bzw. Schülern Jesu (~aeT)TaL) sorgsam bewahrt und an die Urgemeinde weitergegeben wurde, die im Kern anfänglich aus eben diesen ~aeT)TaL bestand (v gl. Apg 1,13-14). Aufgrund dieses Traditions- und Personenkontinuums ist das Jesuszeugnis der synoptischen Überlieferung historisch viel verläßlicher, als weithin angenommen wird. Der irdische Jesus und der von dieser Überlieferung bezeugte Christus sind nahezu deckungsgleich. b) Das Markusevangelium will nach Mk 1,1 Jesus Christus als den »Sohn Gottes« bezeugen. Dies entspricht durchaus dem Sein und der Absicht des irdischen J esus, der sich nach Lk 10,21-22 par Mt 11,25-27 als »Sohn« seines himmlischen Vaters verstanden hat. Die markinische Passionsgeschichte gibt klar zu erkennen, daß Jesus um des Anspruches willen, der messianische Gottessohn zu sein (vgl. Mk 14,61-62 par), verurteilt und gekreuzigt worden ist. Er hat diesen gewaltsamen Tod in der Gewißheit auf sich genommen, der vop Gott gesandte messianische Knecht zu sein, der mit seinem Leben ein für allemal Sühne für Israel (und die Heidenvölker) zu leisten hat; wie die Analyse von Mk 10,45 par und 14,24 par zeigt, haben die Gottesworte aus Jes 43,3-4 und 52,13-53,12 Jesus zu diesem Todesverständnis geführt. Die Entdeckung des leeren Grabes und die Erscheinungen Jesu vom Himmel her vor »den von Gott vorherbestimmten Zeugen« (Apg 10,41) haben Petrus und andere Jesusjünger die umstürzende Erkenntnis eröffnet, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt und »zum Herrn und Christus gemacht« habe (Apg 2,36). Sie haben daraufhin die Urgemeinde in Jerusalem begründet, dort die Jesustradition gesammelt und so den Grund für das Geschichtszeugnis gelegt, das schließlich in Gestalt der synoptischen Evangelien auf uns gekommen ist. 2. Das Zeugnis des Apostels Paulus ist biblisch-theologisch von ganz besonderem Gewicht. a) Der Schlüssel zur Verkündigung und Theologie des Paulus liegt in der Berufung des Christenverfolgers zum
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Apostel Jesu Christi vor Damaskus (vgl. Gal 1,1.15-16; 2Kor 4,5-6; Röm 1,1-5). Dieses Ereignis nötigte Paulus zu einer dreifachen Erkenntnis: Der gekreuzigte Jesus wurde von Gott selbst »eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht aufgrund der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,4); Paulus selbst hatte - indem er in seinem militanten Eifer für das Gesetz (vgl. Gal 1,14) die junge Gemeinde Jesu Christi verfolgte - fundamental gegen Gottes Heilsabsicht in Christus verstoßen; trotzdem war er begnadigt und gewürdigt worden, als Apostel Jesu Christi das Christusevangelium zu verkündigen (vgl. 1Kor 15,9-10). Seit dieser Erfahrung konnte und mußte Paulus verkündigen: Gott hat seinen eigenen Sohn für Juden und Heiden in den Tod gegeben und zum Zweck ihrer endzeitlichen Gerechtsprechung auferweckt (vgl. Röm 4,24-25 mit Jes 53,10-12); deshalb können und sollen sie trotz aller ihrer Sünde und Gottesferne kraft der Fürsprache des erhöhten Christus vor Gottes endzeitlichem Richterthron gerechtfertigt werden, und zwar »(allein) aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes« (vgl. Röm 3,28 und 8,34). b) Nach 2Kor 5,21; Röm 3,21-26 und 10,3-4 sind die Christologie des Apostels und seine Rechtfertigungslehre (fast) identisch. Beide Male geht es um die Durchsetzung der Heil und Wohlordnung schaffenden Gerechtigkeit Gottes (8LKaLOCJUVll SEOU) in und durch Christus. Die paulinische Lehre von Christus, der den Glaubenden von Gott zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung gesetzt ist (vgl. 1Kor 1,30), -gewinnt damit die umfassende Weite, die die Schüler des Paulus im Kolosser- und Epheserbrief mit dem Stichwort »Heilsplan Gottes« (OLKOVOf1La TaU SEaU) zu erfassen suchen (vgl. Ko11,25; Eph 1,10; 3, 2.9): Der eine Gott, der die Welt erschaffen und Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, hat durch seine Propheten das Kommen des Messias angekündigt. Als die Zeit erfüllt war, hat er seinen (präexistenten) Sohn in die Welt gesandt (Gal 4,4). Der Verheißung von 2Sam 7,12-14 gemäß ist dieser Sohn aus der Sippe Davids hervorgegangen und hat den Opfergang angetreten, der ihn an das Kreuz auf Golgatha brachte. Nach seiner Grablegung wurde er am dritten Tage von den Toten auferweckt und zur Rechten Gottes eingesetzt zum »Sohn Gottes in Macht«
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(Röm 1,4); in ihm und durch ihn ist Juden und Heiden das endzeitliche Heil verbürgt (Röm 3,21-26.30). Er muß aber seine himmlische Herrschaft solange ausüben, bis er alle Feinde Gottes überwunden und der Herrschaft Gottes die Bahn gebrochen hat (lKor 15,25). Wenn am Ende der Tage alle von Gott dazu bestimmten Heidenvölker in die Heilsgemeinde Jesu Christi eingegangen sind, wird er selbst vom Zion her erscheinen, um auch »ganz Israel« vom Unglauben zu erlösen (Röm 11,25-31). Dann (erst) wird die Zeit der »herrlichen Freiheit der Kinder Gottes« inmitten der von der Nichtigkeit befreiten Schöpfung anbrechen (vgl. Röm 8,20-21; lKor 15,26). Es ist unschwer zu erkennen, daß die Strukturen dieses Heilsplans den Heiligen Schriften entnommen sind und die Christologie des Apostels im Sinne der endzeitlichen Erfüllung der messianischen Verheißungen verstanden werden will. 3. Neben den synoptischen Evangelien und den Paulusbriefen gehören diejohanneischen Schriften zu den Hauptbüchern des Neuen Testaments. a) Obwohl sich nur noch in Umrissen klären läßt, ob und inwiefern die Johannesoffenbarung, die drei Johannesbriefe und das Johannesevangelium der (kleinasiatischen) Schule des (Presbyters) Johannes zugehören, kann kein Zweifel daran bestehen, daß ihr biblisch-theologisch entscheidender Beitrag in der Ausbildung der Logos-Christologie liegt. Sie wird von diesen Büchern in dreifacher Form bezeugt: a) Die traditions geschichtlich älteste Schicht liegt wahrscheinlich vor in der apokalyptischen Beschreibung des erhöhten Christus aus Apk 19,11-16(-21), der an der Spitze der himmlischen Heerscharen erscheint, um die sich gegen Gott auflehnenden Heidenvölker niederzukämpfen. Sein Name ist 6 AOYOS TOU ElfOU (Apk 19,13). Er heißt so, weil er den gerechten Willen Gottes mit dem Schwert seines Mundes gegen die Gottesfeinde durchsetzt (vgl. Jes 11,4). ß) In lJoh 1,1 wird der präexistente Christus, der vom Vater ausgegangen und auf Erden erschienen ist, »das Wort des Lebens« (6 AOYOS Tf)S (wf)s) genannt. Er heißt deshalb so, weil er das (ewige) Leben erschließt und das
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Zentrum der Botschaft ausmacht, die Johannes zu verkündigen hat. y) Die wirkungsgeschichtlich wichtigste Schicht der Logos-Christologie liegt vor in Joh 1,1-18, dem Prolog des Johannesevangeliums. In dem Christushymnus, der dem Prolog sehr wahrscheinlich zugrunde liegt, wird Christus einfach »das Wort« (6 AOyoS) genannt und mit dem Schöpferwort Gottes gleichgesetzt. Der Christustitel besagt, daß Gott sich der Welt als Schöpfer und Erlöser nur in und durch seinen eingeborenen Sohn mitteilt und die Welt Gott nur in und durch die Person dieses Sohnes begegnen kann (vgl. 1,18 mit 14,6). Das christologische Hauptinteresse des Hymnus liegt bei der Betonung der Wesenseinheit von Gott und dem Logos und dem Bekenntnis zu seiner Inkarnation. Die hochentwickelte theologische Reflexion der johanneischen Schule zeigt sich in Joh 1,1-18 daran, daß der Christushymnus zu einem dreiteiligen Prolog zum 4. Evangelium ausgestaltet worden ist, in dem auf die unterschiedliche Aufnahme des Logos in der Welt abgehoben wird: In Joh 1,1-5 werden Sein und Wirken des Logos vor, bei und nach der Erschaffung der Welt beschrieben. 1,6-8 führt Johannes den Täufer als irdischen Vorläufer des Logos ein, dann wird in zweifacher Weise vom Kommen des Logos in die Welt berichtet: 1, 9-13 handelt von seiner Erscheinung und Abweisung in der Welt, die prototypisch von Israel vertreten wird; nur eine kleine Minderheit erkennt in ihm den Offenbarer und gewinnt durch ihn die Gotteskindschaft (vgl. 1,1213). In 1,14-18 ist dann von der Erscheinung und Anerkennung des Logos in der Welt durch die Glaubenden die Rede. Sie bekennen, daß er Fleisch wurde, unter ihnen Wohnung nahm und im Unterschied zu Mose wirklich die Gnade und Herrlichkeit Gottes offenbart hat. Nach dem Johannesprolog ist die Erscheinung des Logos in der Welt also ein Heilsgeschehen, das zur Scheidung von Licht und Finsternis, Glaube und Unglaube führt. Indem die Glaubenden den Logos in 1,14-18 im Wir-Stil bekennen, wird die Grenze zwischen seinem vorösterlichen und nachösterlichen Wirken durchstoßen und ein Grundzug der johanneischen Christologie überhaupt sichtbar: Das Evangelium bezeugt nicht nur die Heilstaten und die Geschichte
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Jesu, sondern auch und vor allem den erhöhten Christus, der durch seinen Geist und die Verkündigung seiner Zeugen in der Welt gegenwärtig ist. Auf diese Weise sollen Menschen aller Zeiten zum Glauben an den Logos angeleitet werden, der das ewige Leben empfängt (v gl. Joh 20,31).
ur.
Ergebnis
Das Christuszeugnis der Paulusbriefe und der Johannesschriften ist sehr unterschiedlich formuliert und hat doch eine gemeinsame Aussagerichtung: Gott offenbart sich der Welt nur in und durch seinen Sohn Jesus Christus; nur durch den Opfergang und die Auferweckung dieses Christus wird Juden und Heiden das endzeitliche Heil eröffnet; der einzige Weg zu diesem Heil besteht im Glauben an ihn, und dieser Glaube umschließt sowohl das Bekenntnis zu Jesus als Herrn als auch die Erfüllung seiner Weisung (vgl. GaI5,6; lJoh 4,7-10; Joh 13,34-35). IV.
Ausblick
Im Neuen Testament werden die Heiligen Schriften (des Alten Testaments) als vom Heiligen Geist inspirierte Prophetie angesehen, die auf Gottes endzeitliches Heilshandeln in und durch Christus hin auszulegen ist (vgl. Röm 15,4; 2Tim 3,16; Hebr 3,7; 10,15 u.a.); der Schlüssel zu ihrem Verständnis ist das Evangelium von Jesus Christus, in dem sich Gott abschließend offenbart (vgl. Röm 1,1-6; IPetr 1,10-12; Hebr 1,1-2). Als in nachapostolischer Zeit die Evangelien herausgegeben, die Johannesoffenbarung fixiert und die Paulusbriefe gesammelt wurden, ist die Inspirationsanschauung auch auf die neutestamentlichen Bücher ausgedehnt worden (vgl. Joh 21,24; Apk 22,1819; 2Petr 1,20-21; 3,16). Seit dem 2. Jh. n.ChT. bilden sie zusammen mit den ypacpa'L äYLaL den zweiteiligen Kanon der christlichen Bibel. Sie können und wollen das Alte Testament nicht ersetzen, bezeugen aber die endgültige und abschließende Offenbarung Gottes in J esus Christus
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Gesamtüberblick
und geben an, wie die »Heiligen Schriften« auf diese Offenbarung zu beziehen sind. Da beide Teile des Kanons vom Heiligen Geist inspiriert sind, ist die kirchliche Hermeneutik seit den Tagen der Alten Kirche von dem Grundsatz ausgegangen, dem auch die Reformatoren beigepflichtet haben, daß »die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«.12 Dieser Grundsatz gilt bis zur Stunde und verdient besonders dann hermeneutische Beachtung, wenn man eine Biblische Theologie des Neuen Testaments zu erarbeiten versucht, in der die biblischen Texte so interpretiert werden sollen, wie sie selbst ausgelegt werden wollen, nämlich als geisterfüllte Zeugnisse von dem Weg, den Gott in und durch Christus zu den Menschen gegangen ist, um sie zu sich zurück und damit zum Heil zu führen. Indem sie diesen Weg darstellt, legt die Biblische Theologie des (Alten und) Neuen Testaments den Grund für das Glaubenszeugnis der Kirche.
12
Dei Verbum m,12 (s.o. S. 62, Anm. 24).
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