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Wo die Schlangen-Insel versank
Den Tip erhielt der Seewolf von einem alten Freund, näml...
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Seewölfe 499 1
Burt Frederick
Wo die Schlangen-Insel versank
Den Tip erhielt der Seewolf von einem alten Freund, nämlich von dem alten Schlitzohr Diego, dem Kneipenwirt auf Tortuga, wo so allerlei Vögel einkehrten, auch Galgenvögel. Ein solcher war One-Eye-Doolin aus Cornwall, der sich etwas zu auffällig bei Diego nach Philip Hasard Killigrew erkundigt hatte, dem er das Fell über die Ohren ziehen wollte. Ein frommer Wunsch war das, und One-Eye-Doolin vergaß ihn, als er über die Caicos-Bänke segelte und Erstaunliches entdeckte. Hier brauchte man nämlich nur mit einem Draggen zu fischen –und schon hing was Goldenes am Haken. Und die Kerle von der „Scorpion“ fischten auf Teufel komm raus – bis der Seewolf aufkreuzte und sie davonjagte. Denn unter der See war eine Grabstätte... Die Hauptpersonen des Romans: One-Eye-Doolin – der Kapitän der „Scorpion“ hat es nur einem Zufall zu verdanken, daß er mit seinem einen „blauen“ Auge davonkommt. Edmond Bayeux – mit seinen „Le Griffons“ haut er tüchtig auf die Pauke. Philip Hasard Killigrew – der Seewolf hat eine traurige Pflicht zu erfüllen. Matt Davies – der Hakenmann wird auf „wundersame“ Weise geheilt.
1. Es war ein merkwürdiger Tag, dieser 6. Juni im Jahre des Herrn 1595. Das Sonnenlicht war anders als sonst, irgendwie gedämpft, als befände sich hoch oben am Himmel eine Glasscheibe, durch die der Feuerball sein Licht schicken mußte. Selbst der Nordost, der mit mäßiger Kraft über die vor Treibanker liegenden Schiffe strich, hatte eine ungewohnte Art zu wehen. Sein Atem war stickig und verursachte nicht jenes vertraute Singen in Wanten und Pardunen. Ja, es war in der Tat eine sonderbare Stille, die über dem Seegebiet im Bereich der Caicos-Inseln lag. Die Stille des Todes? Ein lähmender Trübsinn im Angesicht menschlicher Sterblichkeit? „Hol's der Teufel!“ knurrte Ed Carberry leise, als er über die Verschanzung der „Isabella“ starrte und sich die Bartstoppeln an seinem Rammkinn rieb. Die übrigen Männer unter dem Kommando des Seewolfs schwiegen. Einige jedoch nickten zustimmend. Der Profos drückte genau das aus, was sie alle empfanden. Der Teufel sollte sie samt und sonders holen,
wenn sie begreifen konnten, was mit ihnen vorging. Es war nicht etwa die Sonne, die ihnen in den Schädel gebrannt und ihr Hirn durcheinander gebracht hatte. Es war auch nicht die Stille, die ihre Laune auf einen Tiefpunkt sinken ließ. Und es war auch nicht der laue Wind, der ihre Gedanken zu einer seltsamen Dumpfheit ausgedörrt hatte. Sicher, es hing mit der Position zusammen, auf der sie sich befanden. In der Tiefe unter dem Kiel ihres Schiffes ruhten die Toten, die einst ihre Freunde gewesen waren. Arkana, die Schlangenpriesterin, hatte das Ende vor ihrem wissenden Auge gesehen. Die Nachricht vom Tod ihrer und des Seewolfs Tochter Araua war für sie ein Vorzeichen gewesen. Die Schlangen-Insel war untergegangen, im Meer versunken, als hätte es sie nie gegeben. Ein feuriger unterseeischer Schlund hatte sich aufgetan und jegliches Leben ausgelöscht. Auch Coral Island, die Timucua-Indianer und ihre spanischen Freunde hatten ein grausiges Ende gefunden. All dies war den Männern an Bord der „Isabella“, der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ bewußt. Zumindest für die
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Arwenacks und die .Männer unter SiriTongs Kommando war der Schmerz, den sie seinerzeit im Angesicht der Katastrophe empfunden hatten, noch in bester Erinnerung. Sie waren damals zurückgekehrt und hatten Überreste der einstmals stolzen kleinen Ansiedlung in der Bucht der Schlangen-Insel auf der Wasseroberfläche treiben sehen. Sie, die sie die versunkenen Seelen als Menschen aus Fleisch und Blut gekannt hatten, waren über den schlimmsten Schmerz hinweg. Das Leben hatte ihnen neue Aufgaben und neue Ziele gesetzt. Der entstehende Stützpunkt in der CherokeeBucht war das äußere Zeichen dieses Neubeginns. Die Erinnerung verblaßte nicht. Niemals würde auch nur einer aus dem Bund der Korsaren vergessen, wie sie alle gemeinsam dafür gekämpft hatten, ihr Leben in Freiheit auf der Schlangen-Insel zu verwirklichen. Sie hatten ganz einfach gelernt, mit der Erinnerung umzugehen. Es war etwas anderes, das tief in ihnen stumme Wut und grenzenlose Niedergeschlagenheit hervorrief. Es war das unglaubliche Geschehen, dessen Zeugen sie durch einen Zufall geworden waren. Galgenstricke, denen nichts heilig war, hatten die Grabesruhe gestört. Die toten Freunde von der Schlangen-Insel und von Coral Island hatten ein Recht darauf, daß ihre Ruhe unangetastet blieb - wie jedem Menschen nach seinem Dahinscheiden dieses Recht gewährt wurde. Sicher, Grabschänder wie One-Eye-Doolin würde es auf der Welt immer wieder geben. Und man konnte nicht einmal erwarten, daß der Küstenpirat aus Cornwall das frevelhafte seines Tuns begreifen würde, wenn man es ihm auseinandersetzte. Nein, dieser Doolin gehörte zu den Unverbesserlichen. Und er würde alles daran setzen, um die auf dem Grund verstreuten Schätze der Schlangen-Insel in seine habgierigen Finger zu kriegen.
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Eben dies wirkte so niederschmetternd auf die Arwenacks und ihre Freunde. Das war auch der Punkt, den Edmond Bayeux und seine normannischen Schrats auf der „Le Griffon“ um keinen Deut anders empfanden. Sie waren nicht Zeugen des Untergangs der Schlangen-Insel gewesen, und sie gehörten auch erst seit kurzem zum Bund der Korsaren, seit sie von den Seewölfen aus der Gefangenschaft bei den Spaniern befreit worden waren. Doch der Zorn über das Verhalten des räuberischen Gesindels war bei Bayeux und seinen Mannen ebenso stark wie bei den Crews auf der „Isabella“ und der „Caribian Queen“. Deshalb gab es an Bord der drei Schiffe vom Bund der Korsaren niemanden, der etwas daran auszusetzen gehabt hätte, hier auf die Schnapphähne zu warten. Denn zurückkehren würden sie garantiert. Sie hatten Blut geleckt und ahnten, welcher Reichtum auf dem vulkanisch zerklüfteten Meeresboden zu finden war. Zu welcher unbeschreiblichen Gier Menschen angesichts von Gold, Silber und Edelsteinen fähig waren, hatten die Arwenacks und ihre Freunde erst vor wenigen Tagen in der Schatzbucht bei Batabano erlebt. Jetzt, da die drei Schiffe mit den von Don Antonio de Quintanilla angehäuften Schätzen beladen waren, wurden Philip Hasard Killigrew und seine Gefährten abermals mit den Auswüchsen menschlicher Raffsucht konfrontiert. * Dem Seewolf war keineswegs entgangen, wie sehr sich die Stimmung ' an Bord der „Isabella“ und auch drüben auf der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ in den letzten Stunden verändert hatte. Bei der Begegnung mit One-Eye-Doolin, dem Halunken aus Cornwall, waren sie alle noch zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was sich gerade abgespielt hatte. Nun aber, in der Stille danach, gab es für jeden mehr als genug Zeit zum Nachdenken.
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Vergeblich hatte Hasard versucht, die Dinge völlig nüchtern zu betrachten. Ausgeschlossen. Er konnte seine Gefühle nicht mit einer Handbewegung beiseite schieben. Diese Gefühle besagten ganz einfach, daß niemand in diesem Seegebiet bei den Caicos-Inseln etwas zu suchen hatte. So empfanden es auch Siri-Tong und die Männer. Aber wie wollte man das kontrollieren? Nicht im Ernst konnte man ständig darüber wachen, daß die letzte Ruhe der toten Freunde ungestört blieb. Es war das erste Mal seit dem Untergang der Inseln, daß sie hierher zurückkehrten. Wenn Diego, der Schildkrötenwirt auf Tortuga, ihnen nicht von One-Eye-Doolin und seinen Galgenstricken erzählt hätte, wären sie zweifellos direkt zur CherokeeBucht zurückgekehrt, ohne auch nur auf die Idee zu verfallen, daß im Gebiet der Schlangen-Insel Leichenfledderer am Werk sein könnten. Im Augenblick hatte jeden einzelnen an Bord der drei Schiffe dieses Gefühl gepackt, nicht mehr von der Stelle weichen zu dürfen. Vielleicht würden realistischere Gedanken Platz greifen, wenn man den Halunken aus Cornwall erst richtig Dampf unter dem Hintern gemacht hatte. Natürlich ahnte Doolin nichts von den wahren Gründen, die zu seinen „Funden“ auf dem Meeresboden geführt hatten. Mittels Jollen und Draggen hatten sie heraufgefischt, was sie für Schatzteile einer gesunkenen spanischen Galeone hielten. Wenn sie jemals die Wahrheit erfuhren und ungeschoren mit dieser Erkenntnis das Weite suchten, würde es für den Bund der Korsaren mit dem Frieden wieder einmal vorbei sein. One-Eye-Doolin war der Typ Mensch, der sein Wissen prahlerisch hinausposaunen würde. Angelockt wie Maden vom Speck würden sie in die Karibik einfallen, die Schnapphähne aus der Alten Welt. Und dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis sie alles über den Seewolf herausgefunden hatten und auch den neuen Stützpunkt an der Cherokee-Bucht ernsthaft gefährdeten. Das Risiko, das
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One-Eye-Doolin verkörperte, mußte von vornherein beseitigt werden. In den Gerüchteküchen der englischen Hafenstädte schien es ohnehin mächtig zu brodeln. Durch den kurzen Besuch bei Diego hatten Hasard und seine Gefährten zum ersten Mal seit langem wieder etwas aus Plymouth gehört. Beim dicken Nathaniel Plymson, dem Schankwirt der „Bloody Mary“ wurden offenbar die wildesten Geschichten erzählt. Mittelpunkt dieser zweifellos haarsträubenden Geschichten war niemand anders als Philip Hasard Killigrew. Und es gab eine Menge Leute im alten England, von den Hochwohlgeborenen bei Hofe bis hinunter zu den Küsten-Schnapphähnen aus Cornwall, die nur allzu gern gewußt hätten, wo sie den Seewolf, seine legendären Reichtümer oder möglichst beides erwischen konnten. Wenn ein Bursche wie One-Eye-Doolin nach England zurückkehrte, würde in der Karibik sehr bald eine regelrechte Invasion von Glücksrittern aller Schattierungen einsetzen. Das konnten adlige Strolche sein, wie sie seinerzeit in der Begleitung von Sir John Killigrew in die Neue Welt eingefallen waren. Oder es würden ganze Heerscharen von Burschen im Kaliber des One-Eye-Doolin aufkreuzen. Was man dagegen tun konnte, mußte getan werden. Es stand für Hasard unumwunden fest, daß der Einäugige zurückkehren würde. Daß die Gefährten vom Bund der Korsaren ihn als Grabschänder verachteten, konnte Doolin natürlich nicht wissen. Doch wenn er noch einmal zum Zug kam, würde er über kurz oder lang herausfinden, daß die Reichtümer hier auf dem Meeresboden keineswegs von einer gesunkenen spanischen Schatzgaleone stammten. Der Seewolf riß sich selbst aus seiner Nachdenklichkeit heraus und stieß sich von der Heckbalustrade ab, wo er nun schon eine ganze Weile ausgeharrt hatte. Ben Brighton, der an der SteuerbordVerschanzung des Achterdecks stand, wandte sich zu ihm um. Die beiden
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Männer kannten sich seit vielen Jahren, waren gemeinsam durch die schlimmsten Höllenfeuer gegangen und hatten die wildesten Stürme und Gefechte auf allen Weltmeeren erlebt und überlebt. Nach einer solchen Zeit der Gemeinsamkeit gab es buchstäblich nichts mehr, was man dem anderen nicht an der Nasenspitze ablesen konnte. Der Seewolf war zu einem Entschluß gelangt. Das sah der Erste Offizier der „Isabella“, ohne zweimal hinschauen zu müssen. „Es muß sein“, sagte Ben leise. „Wir würden die Erinnerung sonst nur als eine ständige schwere Last mit uns herumschleppen.“ Der Seewolf zog die Brauen hoch und sah ihn erstaunt an. „Du bist ausnahmsweise der gleichen Meinung wie ich?“ „Das dürfte hin und wieder schon vorgekommen sein. Du hast es wahrscheinlich nur vergessen.“ „So wird es sein.“ Hasard nickte und erwiderte das Lächeln des Ersten. Gleich darauf wurde er wieder ernst. „Ben, ich glaube tatsächlich; wir können nur das eine tun. Wir müssen die Dinge zurückgeben.“ „Natürlich. Ein Grab wurde geplündert oder besser, man hat begonnen, es zu plündern. Wir stellen den ursprünglichen Zustand wieder her. Arkana und die anderen würden genauso handeln, wenn sie an unserer Stelle wären.“ „Davon bin ich überzeugt“, entgegnete Hasard. Er konnte nichts gegen den seltsamen Druck tun, den er auf einmal in der Kehle verspürte. Seit er die verdammten Galgenstricke bei ihrem Treiben beobachtet hatte, war dieses beklemmende Gefühl immer wieder in ihm aufgestiegen. Er gab sich einen Ruck. „In Ordnung, Ben. Laß die kleine Jolle für mich abfieren. Du übernimmst das Kommando an Bord, bis wir es hinter uns gebracht haben.“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Erste Offizier mit rauher Stimme. Er trat an die vordere Schmuckbalustrade des Achterdecks, und
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gleich darauf hallten seine Befehle über die Decks. Smoky und eine Gruppe von Männern begannen, die kleine Jolle aus den Verzurrungen zu lösen. „Mister Carberry!“ rief Ben Brighton. „Sir?“ Der narbengesichtige Riese ruckte herum und schob das Rammkinn vor. In seinen Augen blitzte die Freude über das Ende der Tatenlosigkeit. „Teile acht Männer als Jollenbesatzung ein, Ed. Hasard wird die gestohlenen Gegenstände den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte der Profos knapp. Die Worte des Ersten hatten ein wenig vibrierend geklungen, und es war deutlich geworden, daß Ben Brighton über die Grabschändung genauso dachte wie alle anderen. 2. Der Seewolf übernahm es persönlich, die Rückgabe der Fundstücke vorzubereiten. In der zum Fieren fertigen Jolle breitete er ein Stück Persenning vor der Achterducht aus. Als Rudergasten standen neben Ed Carberry mit steinernen Gesichtern Ferris Tucker, Batuti, Smoky, Bob Grey, Big Old Shane, Luke Morgan und Al Conroy bereit. Alle an Bord hatten sich freiwillig gemeldet, um den toten Gefährtinnen und Gefährten in der Tiefe der See den Dienst der Ehre zu erweisen. Aber jene, die nun auf der Back und vor der Kombüse stumme Halbkreise bildeten, wußten auch, daß es sich nicht um ein lärmendes Massenunternehmen mit allen verfügbaren Booten handeln durfte. Jeder der Seewölfe verspürte den Wunsch, die Ruhe der Toten zu respektieren. Den Freunden an Bord der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ erging es nicht anders. Sie hatten inzwischen erkannt, was der Seewolf beabsichtigte. Schweigend stand die Rote Korsarin auf dem Achterdeck des düsteren Schiffes, das einst einer erbitterten Feindin des Bundes
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der Korsaren gehört hatte. Ungewollt dachte Siri-Tong an jene bedrohlichen Tage, als es der Black Queen und ihrer blutrünstigen Meute gelungen war, die Schlangen-Insel aufzuspüren. Sie hatten die Gefahr eben noch abwenden können. Eine tödliche Feindschaft hatte sich entwickelt, und es hatte beinahe ewig gedauert, bis die Black Queen endgültig besiegt worden war. Auch Edmond Bayeux und seine Mannen beobachteten das Geschehen an Bord der „Isabella“ mit stummer Anteilnahme. Hasard trug als erstes den Kasten mit der in Kork gebetteten Statue in die Jolle. Die Statue war armlang und stellte ein geflügeltes Fabelwesen dar. Durch die Korkfüllung war dieser Kasten aufgetrieben und hatte One-Eye-Doolin und seine Halunken erst darauf gebracht, daß hier noch mehr zu holen sein könnte. Das nächste Stück, das der Seewolf vorsichtig auf die Persenning legte, war eine goldene Kette. Wie alle anderen Kostbarkeiten hatte Siri-Tong sie aus der Kapitänskammer von Doolins „Scorpion“ geborgen. Es folgten eine gekrümmte goldene Schlange mit Augen aus Edelsteinen und einer großen Perle auf dem Kopf, zwei Silberketten und eine kleine Kiste mit Smaragden. Mit einem Handzeichen gab Hasard Order, die Jolle abzufieren. Er nahm den Platz auf der Achterducht ein, und die Männer begannen zu pullen - mit verhaltener Kraft, beinahe bedächtig, als wollten sie durch die Ruderschläge niemanden aufschrecken. Keiner der Männer sprach auch nur ein Wort. Etwas schien ihnen im Hals zu stecken. Sie sahen aus wie kleine Jungen, die an der Hand der Mutter zum ersten Mal im Leben den Barbier aufsuchen, damit er ihnen einen schlechten Zahn herausreißt. Doch es war ein unendlich beklemmenderes Gefühl, das sie gepackt hatte. Ed Carberry und Ferris Tucker, die auf der Ducht vor Hasard saßen, hatten Gesichter wie aus Stein gemeißelt. Smoky, der Decksälteste, sah aus wie die oft
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erwähnten drei Tage Regenwetter. Batuti, neben ihm, schien alles von seiner bekannten Heiterkeit verloren zu haben. Nichts war von seinen perlweißen Zähnen zu sehen, die er sonst beim Reden und Lachen nicht verbergen konnte. Bob Grey starrte krampfhaft auf den breiten Rücken seines Vordermannes Smoky. Nicht einmal wagte er, einen Blick auf die Wasseroberfläche zu werfen, als fürchte er, dort mit einer schaurigen Entdeckung konfrontiert zu werden. Big Old Shane, der graubärtige Schmied von Arwenack, musterte beim Pullen verstohlen den Seewolf. Ein wenig Besorgnis lag in den Augen des Mannes, der Hasard schon als Kind gekannt hatte damals, in den Jahren auf der Feste Arwenack in Cornwall. Wenn jemand nachempfinden konnte, wie höllisch dem Seewolf dieses Geschehen an die Nieren ging, dann war es Big Old Shane. Al Conroy gab sich als Schlagmann verbissene Mühe, behutsam und bedächtig zu pullen, und dabei wußte er, daß die anderen dieses Beispiel, das er ihnen gab, richtig einschätzten. Luke Morgan biß sich beständig auf die Unterlippe und gab damit zu erkennen, daß er sich äußerst unbehaglich fühlte. Für die Männer in der Jolle und ebenso für jene, die ihnen von den Schiffen aus zuschauten, war es eine weihevolle Handlung, die sie vollzogen. Sie hatten sich etwa eine Kabellänge von der „Isabella“ entfernt, als Hasard die Hand hob und damit das Kommando zum Streichen gab. Die Männer reagierten im Gleichtakt. Flach auf der Wasseroberfläche verringerten die Riemenblätter die Fahrt des Beiboots. Kein Muskel bewegte sich im Gesicht des Seewolfs. Er ließ die Ruderpinne los, neigte sich langsam, wie zögernd vor und griff in den mit Kork ausgelegten Holzkasten. Wie gebannt blickten die Männer in dieses Gesicht, das ihnen so vertraut war und das sie doch niemals zuvor so erlebt hatten wie jetzt. Wie in einer raschen Folge von Bildern, in düsteren Farben gezeichnet,
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wurden die Geschehnisse seit Potosi und den Galápagos-Inseln in ihnen wach. Deutlicher als in all den Tagen seit jenen Ereignissen schien in diesem Moment die Veränderung, die mit dem Seewolf vor sich gegangen war. Silbergrau bildete sein Schläfenhaar einen scharfgezeichneten Kontrast zu seinem schwarzen Haupthaar. Es war dieser Farbkontrast, der wie sinnbildlich für die furchtbare Stichwunde stand, von der Hasard in einem langwierigen und kräftezehrenden Kampf gegen den Tod genesen war. Zu einer neuen Narbe war die Schnittwunde verheilt, die unter der alten Narbe von der rechten Stirnseite über die linke Augenbraue und die linke Wange verlief. Die manchmal erschreckende Härte in den Gesichtszügen des Seewolfs war in jenen Tagen der schwersten Schicksalsprüfungen entstanden. Seine Gefährten erinnerten sich sehr genau daran, wie die Gewißheit über den Tod Arkanas einen jähen Wandel in Hasard hervorgerufen hatte. Seither war er schweigsamer geworden und oftmals tief in Gedanken versunken. Zwar vermochte er auch heute noch die wilde Ausgelassenheit und die johlende Heiterkeit der Arwenacks zu teilen besonders dann, wenn sie einen mörderischen Kampf heil überstanden hatten. Doch die Zeiten, in denen sie ihn schweigsam erlebten, überwogen mittlerweile. Gelegentlich kam er ihnen auch bissig vor, mißtrauisch wie ein alter, einsamer Wolf. Gewiß, das Schicksal hatte es selten freundlich gemeint mit diesem großen Mann, dessen hochaufgerichtete Statur auch ein äußeres Zeichen seines Charakters war. Schon seine Kindheit war unter finsteren Vorzeichen verlaufen. Von Lady Anne Killigrew als Findelkind geraubt und in die Sippschaft der Küstenpiraten von Arwenack einverleibt, war er unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen herangewachsen. Die Tatsache, daß er sich aus dem Halsabschneider-Milieu freigekämpft hatte, war eines der nicht mehr
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unterdrückbaren Zeichen seiner charakterlichen Geradlinigkeit gewesen. Die Zeit unter dem Kommando von Sir Francis Drake, die Kaperfahrten mit eigener Mannschaft und eigenem Schiff und schließlich der Ritterschlag durch Königin Elizabeth I. waren erhebende Momente für ihn und seine Freunde gewesen. Doch die Schattenseiten des Lebens und die Auswirkungen menschlicher Niedertracht hatten ihn immer wieder eingeholt. Er hatte Gwendolyn verloren, die Mutter seiner Söhne. Die Spurensuche nach seinen unglückseligen Eltern hatte letztlich nur zu der Erkenntnis geführt, daß ihnen ein grausames Schicksal vorbestimmt gewesen war. Er hatte aber seine Söhne wiedergefunden, die der Mutter entrissen worden waren, und sie bedeuteten die wirklich große Freude seines Lebens. Beinahe ein Zufall war es gewesen, daß er seinen Vetter Arne von Manteuffel kennengelernt hatte. Ein Zufall, der zu ihrem heutigen gemeinsamen Kampf für ein freiheitliches Leben geführt hatte. Aber auch diese glückliche Fügung hatte einen Hauch von Bitterkeit. Denn der schlimmste Verlust seines Lebens war für Arnes Entschluß ausschlaggebend gewesen, sich dem Bund der Korsaren anzuschließen. Seine Braut war getötet worden, bevor das Leben für sie beiden auch nur hatte beginnen können. Dunkle Schatten waren auch auf jene festen Überzeugungen gefallen, die für den Seewolf stets unumstößlich gewesen waren. Er hatte lernen müssen, daß der englische Königshof, die adlige Gesellschaft und der hohe Personenkreis aus Regierung und Parlament offenbar nur bei einem einfältig denkenden Menschen als ehrenvoll, stets korrekt und über alle Zweifel erhaben gelten konnte. Philip Hasard Killigrew hatte begreifen müssen, daß Ränke und Intrigen, Niedertracht und Neid, Machtgier und Raff sucht das Denken und Handeln vieler Adliger bestimmten, die sich nach außen hin als sehr ehrenwert und in jedem Sinne
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des Wortes hochwohlgeboren präsentierten. Diese Erkenntnisse waren auch für Hasards Gefährten entscheidend gewesen, als sie damals beschlossen hatten, England den Rücken zu kehren und in der Karibik ein neues Leben zu beginnen. Sie hatten von vornherein gewußt, daß dieses Leben gemeinsam mit Arkana und ihren Brüdern und Schwestern - nicht frei von Gefahren sein würde. Doch sie hatten in ihren düstersten Alpträumen nicht befürchtet, daß es erneute grausame Schicksalsschläge geben würde. Der Tod Arauas war ein solcher Schlag gewesen. Dann die schwere Verwundung Hasards, die fast auch ihn umgebracht hätte. Schließlich der Tod Arkanas und der vielen Freunde. Und der Untergang der Schlangen-Insel. Es hatte den Männern und Frauen vom Bund der Korsaren das Gefühl gegeben, alles verloren zu haben. Aber sie hatten sich aus Trauer und dumpfer Niedergeschlagenheit aufgerichtet und mit neuem Mut zugepackt. Jetzt, in dem Augenblick, da all die Geschehnisse wachgerufen wurden, gedachten sie auch der letzten Worte Arkanas, die Siri-Tong dem Seewolf übermittelt hatte. * Hasard hob die goldene Statue aus dem Holzkasten und hielt sie mit beiden Händen hoch. „Arkana“, sagte er, und sein Blick war dabei durch die Männer hindurch in eine unendliche Ferne gerichtet. „Meine Freunde und ich werden weiter für die Freiheit kämpfen.“ Der Klang seiner Stimme jagte den Männern einen Schauer über den Rücken. Sie wußten alle: Diese Worte, die der Seewolf eben ausgesprochen hatte, waren das Vermächtnis Arkanas für sie. Es war das Vermächtnis der Schlangenpriesterin, die den Untergang der Schlangen-Insel und ihren eigenen Tod vorhergesehen hatte.
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Ebenso, wie auch Araua ihren Tod geahnt hatte. Hasard beugte sich zur Seite, tauchte die Statue unter Wasser und löste seinen festen Griff. Mit einem goldfarbenen Flirren verschwand der kostbare Kultgegenstand in der Tiefe der kristallklaren Fluten. Hasard forderte die Männer mit einem Nicken auf, weiterzupullen. Sie verstanden. Er wollte die Fundstücke in weitem Umkreis verteilen, um etwaigen künftigen Grabschändern die Suche zu erschweren. Diese jetzt so klaren Fluten erinnerten durch nichts mehr an das Bild des Schreckens, das sich den Heimkehrenden damals geboten hatte. Schwarz vom Ruß des unterseeischen Vulkanausbruchs war das Wasser gewesen, und es hatte ihnen allen einen Schauer über den Rücken gejagt. Jerry Reeves und die Männer, die seinerzeit mit der „Isabella“ auf Patrouillenfahrt um Coral Island und die Schlangen-Insel gewesen waren, hatten das furchtbare Geschehen als erste Augenzeugen miterlebt. Doch glücklicherweise waren sie so weit entfernt gewesen, daß ihnen das durch den Vulkanausbruch ausgelöste Seebeben nichts hatte anhaben können. An einen Navigationsfehler hatten Reeves und seine Gefährten anfangs geglaubt. Sie hatten zunächst auf Coral Island nach dem Rechten sehen wollen und geglaubt, die vertraute Insel verfehlt zu haben. Dann aber, durch schwimmende Trümmer der Timucua-Hütten, haben sie die schreckliche Gewißheit erlangt: Coral Island war untergegangen. Es hatte keine Überlebenden gegeben. Nicht minder fassungslos waren auch Hasard und die anderen gewesen, als sie an jenem Nachmittag des 12. April mit der „Goldenen Hen“, der „Caribian Queen“, der „Empress of Sea II.“ und dem „Schwarzen Segler“ die Position der Schlangen-Insel erreichten. Schlagartig war der Frohsinn, den sie alle beim kurzen
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Besuch auf Tortuga genossen hatten, wie weggewischt gewesen. Trümmerstücke, die auf den Wellen dümpelten, hatten den letzten Beweis geliefert, obwohl es keiner der Männer und Frauen glauben konnte. Sie hatten die Kiste gefunden, auf der drei Brieftauben hockten. Gotlinde, die Frau des Wikingers, hatte die Tiere in Gewahrsam genommen. Auch hatte es Trümmerstücke von der „Tortuga“ und der „Lady Anne“ gegeben. Und Aufatmen dann, als die „Isabella“ mit Jerry Reeves und der Wachdienst-Crew auf der Bildfläche erschienen waren. Wenigstens sie hatten überlebt und waren der Katastrophe durch eine gütige Fügung entgangen. Die Männer rissen ihre Gedanken aus der Erinnerung los, als Hasard erneut Befehl zum Streichen gab. In weitem Umkreis übergab er die Kostbarkeiten wieder der See. Die Männer empfanden die gleiche Erleichterung wie der Seewolf, als sie schließlich zur „Isabella“ zurückpullten. Eine schwere Last war von ihnen genommen. Ähnlich erging es auch den Gefährten auf der „Isabella“ und den beiden anderen Schiffen. Die bis eben noch düstere Stimmung hellte sich auf. Philip Hasard Killigrew hatte das Entscheidende getan, um die Dinge ins Lot zu bringen. Die Taten der Leichenfledderer waren ungeschehen gemacht. Und ein zweites Mal sollten sie nicht zuschlagen können. * In den späten Nachmittagsstunden entstand mehr und mehr der Eindruck, als hätte sich die Crew der „Isabella“ buchstäblich aus einer Erstarrung gelöst. Will Thorne hatte mit einer Gruppe von Helfern begonnen, in der Segellast für Ordnung zu sorgen. Auch wenn es dort nichts zu ordnen gab und sämtliches Tuch in einwandfreiem Zustand war, hielten es doch alle Beteiligten für an der Zeit, das
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gesamte Material auf etwaige Schäden zu untersuchen. Möglich war immerhin, daß sich Mäuse oder andere Nager eingenistet hatten. So war es also durchaus sinnvoll, möglichen bösen Überraschungen vorzubeugen, die am allerwenigsten in einem Notfall eintreten durften, wenn man Reservetuch dringend brauchte. Eine weitere Gruppe von Arwenacks hatte unter Führung von Ferris Tucker begonnen, die schlanke Galeone vom Kielschwein bis zu den Masttoppen zu untersuchen. Keiner rechnete damit, irgendwo ernsthafte Schäden zu entdecken, die Reparaturen unter der fachmännischen Anleitung des Schiffszimmermanns erforderten. Was die Männer indessen samt und sonders antrieb, war der Wunsch, nicht länger Löcher in die Luft zu starren. Haargenau so erging es auch den Mannen an Bord der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“. Nach der lähmenden Niedergeschlagenheit der vergangenen Stunden brauchte man das Gefühl, endlich einmal wieder richtig zuzupacken. In den Kombüsen wurde bereits für das abendliche Backen und Banken gebrutzelt und gekocht, und die verlockendsten Düfte wehten über die Decks. Auch waren wieder die ersten Scherze zu hören, und verhaltenes Gelächter wurde hier und da laut. Hatten Ed Carberry und die anderen anfangs noch verstohlen zum Achterdeck gelinst, so stellten sie nun erleichtert fest, daß der Seewolf ihre Wortgefechte wieder mit einem Lächeln quittierte - wie sie es gewohnt waren. Dan O'Flynn, der seinen Posten als Ausguck im Großmars beibehalten hatte, erhielt flügelklatschenden Besuch von Sir John. „Affenarsch! Klosterbruder!“ krakeelte der feuerrote Arara-Papagei und fügte nach einer Atempause hinzu: „Rübenschwein! Gelbgestreifte Miesmuschel!“ Ed Carberry, Smoky und Big Old Shane, die Drehbassenlafetten und Nagelbank auf der Back überprüften, hielten inne, legten den Kopf in den Nacken und grinsten.
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„Welch ein kluger Vogel!“ brüllte Carberry begeistert. „Findet doch für jeden die passenden Worte! Der kann einen Kerl bis auf die Knochen durchschauen, was, wie?“ Auch die anderen an Deck fingen an zu glucksen. Dan O'Flynn musterte unterdessen scharf seinen gefiederten Besucher, der sich auf seinem Unterarm niedergelassen und mächtig aufgeplustert hatte. Mit einem heiseren Krächzen schickte sich Sir John an, einen neuen Wortschwall vom Stapel zu lassen. Dan kam ihm freundlich und mit halblauter Stimme zuvor. „Hühnerbändiger, Goldeierleger.“ Sir John verstummte, sah den schlanken Mann aufmerksam an, legte den Kopf schief und stieß ein erneutes Krächzen aus. Nach einem kurzen Schlafaugenblinzeln drehte er sich um, stürzte sich senkrecht in die Tiefe, segelte gleich darauf haarscharf über die Fockrah hinweg und landete nach einem eleganten Kreis auf der Schulter des Profos. „Kluges Kerlchen“, sagte Ed Carberry lobend. „Triffst immer wieder den Nagel auf den Kopf.“ Sir John räusperte sich kurz und trocken und ließ dann laut und vernehmlich seine Antwort hören. „Hühnerbändiger! Goldeierleger!“ Atemzüge lang herrschte Stille auf der „Isabella“. Dann grölten die Männer los, und auch Hasard und B en Brighton auf dem Achterdeck lachten. Ed Carberry lief krebsrot an. Einen Moment sah es aus, als würde er anfangen zu toben. Doch er verkniff es sich und spähte lediglich besorgt zum Niedergang, als rechne er jede Sekunde damit, daß Mac Pellew aus der Kombüse auftauchte und ihn wegen jener goldenen Eier zur Rede stellte, der die Karavelle „The Golden Hen“ ihren Namen verdankte. „Brav, brav, Sir John!“ rief Dan O’Flynn aus dem Großmars und äffte dabei den Tonfall des Profos nach: „Triffst doch immer wieder den Nagel auf den Kopf! Und was für ein kluges Kerlchen du bist!“
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Sir John plusterte sich auf der Schulter Carberrys auf. „Hühnerbändiger!“ gab er das soeben gelernte Wort noch einmal von sich und wollte fortfahren. Ed Carberry packte ihn am Hals und ließ ihn am ausgestreckten Arm zappeln. „Paß auf, daß ich dich nicht gleich rupfe und in Mac Pellews Kochtopf stecke“, knurrte er. Als der Profos die Riesenpranke öffnete, flatterte Sir John entsetzt zeternd davon und verlor dabei eine seiner roten Schwanzfedern. Abermals johlten die Männer vor Vergnügen. Arwenack, der Schimpanse, turnte von einer Taurolle auf der Kuhl, hüpfte begeistert auf und ab, klatschte in die Hände und ließ ein helles Keckern hören. Plymmie, die Wolfshündin, lag lang ausgestreckt im Schatten der Beiboote und öffnete blinzelnd das linke Auge, um deutlich ihr Mißfallen über die Störung des Nachmittagsschlafes zu äußern. 3. Die Söhne des Seewolfs hatten sich der kleinen Gruppe angeschlossen, die in der Pulverkammer aufzuklaren gedachte. Al Conroy hatte nichts dagegen einzuwenden, denn er war mit Hasard einer Meinung, daß die Jungen alt genug waren, um auch die gefährlicheren Bereiche des täglichen Bordbetriebs genauer kennenzulernen. Mit dabei waren Gary Andrews und Matt Davies. Gary zündete die Lampe an, die in einem gut verschließbaren Glasgehäuse im Vorraum der Pulverkammer untergebracht war. Durch ein Fenster fiel das Licht auch in die eigentliche Pulverkammer. „Grundregel Nummer eins“, sagte Al Conroy, „keiner öffnet das Schott zur Pulverkammer, bevor die Lampe angezündet ist. Weshalb?“ Er sah die Zwillinge an wie ein Schulmeister seine Lieblingsschüler, bei denen die richtige Antwort so sicher war wie das Amen in der Kirche.
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„Offenes Feuer ist in der Nähe von Pulvervorräten zu vermeiden“, sagte Hasard junior. „Beim Hantieren mit Flints, glimmenden Lunten, Lampen und Ähnlichem darf die Pulverkammer niemals geöffnet sein.“ „Begründung?“ sagte der Stückmeister und nickte Philip zu. „Es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren“, antwortete der Zwillingsbruder des jungen Hasard wie aus der Pistole geschossen. „Aus einer Lunte könnten Funken fliegen, Flints könnten rein zufällig aneinandergeschlagen werden, und das gleiche könnte bei einer Lampe durch einen plötzlichen Luftzug passieren. Selbst der kleinste Funke, der durch die Ritze eines Pulverfasses dringt, genügt schon, um ein ganzes Schiff in die Luft zu jagen.“ „Wie so was dann aussieht, habt ihr ja oft genug mitgekriegt“, sagte Matt Davies und grinste. Der Mann mit der Hakenprothese, der von Anfang an zur Crew des Seewolfs gehörte, wußte, wovon er sprach. Wer genügend Gefechte zur See miterlebt hatte, der hatte auch oft genug gesehen, wie ein Schiff von der Explosion seiner eigenen Pulverkammer zerrissen wurde. Auch die Zwillinge, die nun schon lange genug mit ihrem Vater auf den Weltmeeren unterwegs waren, hatten solche schaurigen Anblicke bereits erlebt. „Alles korrekt“, sagte Al Conroy mit zufriedenem Nicken. „Was wißt ihr über Metalle in der Pulverkammer?“ „Wer in der Pulverkammer zu arbeiten hat“, erwiderte Philip junior sofort, „der bindet seine Hose am besten mit einem Strick zu. Schon eine Gürtelschließe könnte durch irgendeinen Umstand Funken schlagen. Grundsätzlich gilt, daß man kein Eisen oder sonstiges Metall bei sich haben darf, wenn man mit Schwarzpulver hantiert. Nicht mal Flints in der Hosentasche.“ „Ausgezeichnet!“ lobte ihn Al Conroy und wechselte augenzwinkernd und voller Stolz einen Blick mit den beiden Männern. „Richtige Musterknaben“, sagte Gary Andrews, der hagere hellblonde Mann mit dem schmalen Gesicht. „Gibt es eigentlich
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irgendwas, was ihr Schlauberger nicht wißt?“ „Noch ein, zwei Jahre“, sagte Matt Davies schmunzelnd, „und die beiden stecken jeden von uns in die Tasche.“ Die Jungen senkten verlegen den Blick. Etwas zu leisten, bereitete ihnen immer wieder mächtige Freude. Doch gelobt zu werden, ließ sie nach wie vor erröten. „Dann mal an die Arbeit“, sagte der Stückmeister und klatschte energisch, aber behutsam in die Hände -wie um zu demonstrieren, daß sein geliebtes Schwarzpulver auch schon durch kleinste Erschütterungen hochgehen konnte. Die Zwillinge wußten allerdings, daß dem nicht so war. Selbst die heftigsten Stöße konnten dem Pulver nichts anhaben, sofern keine Funken im Spiel waren. Matt Davies blieb als Posten im Vorraum der Pulverkammer, während Al Conroy, Gary Andrews und die beiden Jungen alle metallenen Gegenstände ablegten. Ihre Gürtel tauschten sie gegen Kordeln aus, die an Haken bereithingen. Unter der Führung des Stückmeisters begaben sie sich in den gefährlichsten Unterdecksraum an Bord der „Isabella“. Ein Geruch von Staub und Leinen lag in der Luft. Das Licht der Lampe hinter der Glasscheibe erhellte Reihen von säuberlich gestapelten Kartuschen und in der linken und hinteren Hälfte einen mächtigen Vorrat an Pulverfässern. Die Fässer waren mit Buchstaben und Zahlen in schwarzer Farbe beschriftet. Philip und Hasard wußten, daß Al Conroy das jeweilige Datum der Einlagerung und die Herkunft des Pulvers auf diese Weise festhielt. Überaltertes Schwarzpulver - was an Bord der „Isabella“ selten geschah - mußte von Zeit zu Zeit auf seine Brauchbarkeit überprüft werden. Matt Davies schloß das Schott zur Pulverkammer von außen. Die Stille und der Staubgeruch vermittelten eine sonderbare Atmosphäre. Die beiden Jungen empfanden leises Unbehagen, und sie wußten, daß Al Conroy dies auch bemerkte, als er sie lächelnd ansah.
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„Daran müßt ihr euch gewöhnen“, sagte er. „Schwarzpulver ist so harmlos wie Sand, wenn man richtig damit umgeht. Aber das, was wir hier lagern, reicht andererseits aus, um die ‚Isabella' in zigtausend Teile zu zerlegen und in alle Winde zu verstreuen. Wenn man sich das ständig vor Augen hält, kann nichts schiefgehen.“ „Und was gibt es jetzt wohl zu überprüfen?“ fragte Gary Andrews, der auch gern ein wenig den Lehrmeister spielen wollte. „Die Feuchtigkeit“, erwiderte Hasard junior prompt. „Eher die Trockenheit“, verbesserte ihn Philip. „Wenn es hier feucht wäre, müßten wir ja wohl einen Teil des Pulvers vernichten.“ „Genau das habe ich gemeint“, entgegnete sein Bruder. „Du hast es aber nicht richtig ausgedrückt“, sagte Philip beharrlich. „Genauigkeit und Kürze sind das wichtigste in der Kommandosprache.“ „Wir haben hier aber keine Kommandos gegeben“, fauchte Hasard. Al Conroy und Gary Andrews wechselten belustigt_ einen Blick. „Ruhe, Ruhe“, sagte der Stückmeister mahnend. „Ihr wißt beide, um was es geht. Über die richtige Ausdrucksweise könnt ihr euch später immer noch einigen. Jetzt geht's erstmal an die Arbeit.“ Er gab den Jungen Anweisungen, an welchen Stellen sie in den Stapelreihen Kartuschen beiseite zu räumen hatten. Gemeinsam mit Gary Andrews wuchtete Conroy unterdessen an verschiedenen Stellen Pulverfässer aus den Stapeln. Er hatte sein eigenes Kontrollsystem hinsichtlich möglicher Luftfeuchtigkeit entwickelt. Jeweils in der Mitte der Stapel, in unterschiedlicher Höhe und an weit auseinander liegenden Punkten, befanden sich lange Papierstreifen, die der Stückmeister dort angebracht hatte. Nachdem alle Kontrollpunkte freigeräumt waren, begann Al Conroy mit der Sichtung der Papierstreifen. Bereitwillig ließ er sich dabei von den Zwillingen über die Schulter schauen.
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Sämtliche Papierstreifen, so zeigte sich innerhalb der nächsten Minuten, waren unverändert. Die Streifen hatten jenen pergamentenen Farbton, der bei den Papiermachern als besonders erstrebenswert galt. Nirgendwo gab es auch nur den kleinsten Rand oder die winzigste Verfärbung, was Rückschlüsse auf etwaige Feuchtigkeit zugelassen hätte. „Da sieht man mal wieder, was für ein feines Schiffchen die ‚Isabella' ist“, sagte Gary Andrews. „Wer sein Pulver immer schön trocken hält, dem kann nie etwas passieren.“ „Das Lob solltest du an den alten Ramsgate weitergeben“, sagte Al Conroy. „Wenn unsere Lady Isabella eine trockene Pulverkammer hat, dann ist das in erster Linie sein Verdienst.“ Der Stückmeister übergab den Zwillingen neue Papierstreifen, die sie an den Kontrollstellen anzubringen hatten. Während sie die Kartuschen wieder einräumten, wurde ihnen zum ersten Mal bewußt, wie unendlich viele Punkte ein Mann wie Hesekiel Ramsgate bei seiner Arbeit als Schiffsbaumeister berücksichtigen mußte. Und Mister Ramsgate war ein Künstler in seinem Fach, ein Mann, der seiner Zeit weit voraus war. Doch in England hatte man seiner richtungweisenden Arbeit erst Beachtung geschenkt, als es schon keinen Sinn mehr gehabt hatte. Überdies war diese „Beachtung“ aus jenen widerwärtigen und hochnäsigen Kreisen des Adels erfolgt, mit denen Hesekiel Ramsgate niemals und unter keinen Umständen einen SchiffsbauKontrakt abgeschlossen hätte. So war die Entscheidung des derzeit wohl fortschrittlichsten Schiffsbaumeisters in England gefallen, sich Philip Hasard Killigrew und seinen Gefährten vom Bund der Korsaren anzuschließen. Nachdem die Pulverkammer wieder in Ordnung gebracht worden war, begab sich Al Conroy mit den Söhnen des Seewolfs in die angrenzende Kammer, in der Pulverflaschen und Pulver in kleinen Fässern gelagert waren. Philip und Hasard
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wußten, daß es sich um die Vorräte für Hand- und Faustfeuerwaffen handelte. Für Musketen und Pistolen war stets ein ausreichendes Reservoir an vorbereiteten Pulverflaschen vorhanden. Auch Al Conroys selbstgebaute Vorrichtung für das Herstellen von Pulverpfeilen und Flaschenbomben befand sich in dieser Kammer. In der Munitionskammer waren die Zwillinge ohne jedes Stocken in der Lage, die verschiedenen Bleikugeln nach dem Kaliber zu benennen und sie den Waffentypen zuzuordnen, zu denen sie paßten. „Sehr gut“, sagte Al Conroy anerkennend. „Und hier“, er griff in eine kleine Schublade des Schapps mit den verschiedenen Kugeln, „haben wir etwas ganz Besonderes.“ Was er zum Vorschein brachte, hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Es war ein zylindrischer Gegenstand von etwa einem halben Zoll Länge, vorn spitz zulaufend und mit einem ausgehöhlten Boden. „Es ist aus Blei“, sagte Hasard mit gefurchter Stirn. „Pistolenkaliber!“ rief Philip, als der Stückmeister lächelnd eine Rundkugel unter das zylindrische Ding hielt. „Stimmt“, sagte Al Conroy. „Und ihr werdet es nicht für möglich halten, aber es ist ein Pistolengeschoß.“ Die beiden Jungen starrten das Ding an. „Aber es ist keine Kugel“, murmelte Hasard verblüfft. Al Conroy nickte. „Ich weiß, was du damit sagen willst. Eine Kugel dreht sich im Flug ständig um ihre eigene Achse. Dieses Geschoß müßte sich demzufolge regelrecht überschlagen, und es könnte niemals eine geradlinige Flugbahn haben. Es würde sozusagen ins Ziel torkeln, wenn es überhaupt trifft.“ Die Zwillinge nickten eifrig. Er hatte genau das ausgedrückt, was sie nicht in Worte zu kleiden vermochten. Ihre Augen leuchteten voller Wißbegierde. „Im Prinzip ist diese Überlegung richtig“, fuhr Al Conroy fort. Er legte das Geschoß
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weg und nahm eine Kugelzange aus einem anderen Fach. Er öffnete die Zange, und die beiden Gußformhälften für das zylindrische Geschoß wurden erkennbar. „Dieses Ding hat Jussuf in Havanna bei einem Waffenschmied aufgestöbert, der nichts damit anzufangen wußte. Ich muß gestehen, ich habe auch lange herumgerätselt, bis ich endlich klargesehen habe. Die Zange stammt aus Gardone in Norditalien. Das geht aus den Prägestempeln hervor. Gardone ist die Stadt der Waffenschmiede und Büchsenmacher, müßt ihr wissen.“ „Jemand hat also diese neue Geschoßform erfunden“, sagte Hasard junior. „Er muß sich etwas Bestimmtes dabei gedacht haben.“ „Allerdings“, erwiderte der Stückmeister. „Wenn ich es mir richtig zusammengereimt habe, ist er von der Beschaffenheit einer Kugel aus Blei ausgegangen. Wie gesagt, eine Kugel dreht sich im Flug ...“ Der junge Philip sperrte die Augen weit auf. „Das ist es!“ rief er. „Die Streuung einer Kurzwaffe! Die entsteht doch unter anderem durch die Flugbahn des Geschosses!“ „Richtig“, sagte Al Conroy. „Dann ist es klar“, sagte Hasard. „So eine Bleikugel ist nie völlig rund, und auch im Gewicht ergeben sich beim Gießen Ungenauigkeiten. Ich meine, man wird nie eine Kugel zustande bringen, bei der der Schwerpunkt genau in der Mitte liegt.“ „Und eben das ist der springende Punkt“, sagte der Stückmeister, dem es sichtliche Freude bereitete, über sein Spezialgebiet fachsimpeln zu können. „Ich bin überzeugt, dieser italienische Erfinder wollte mit seinem Spezialgeschoß etwas ganz Wesentliches bezwecken, nämlich eine präzisere Flugbahn. Dadurch, daß sich das Geschoß im Flug um seine Längsachse dreht, wird der Mangel des ungenauen Schwerpunkts ausgeglichen.“ „Aber ich denke, dieses längliche Ding muß sich zwangsläufig im Flug überschlagen“, sagte Philip.
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„Das tut es nicht, wenn man einen Lauf mit Zügen und Feldern verwendet.“ Al Conroy legte die Kugelzange weg, bückte sich zu einem der unteren Fächer des Schapps und nahm ein Paket von etwa Unterarmlänge heraus. Er schlug die äußere Umhüllung aus Leinen auseinander und anschließend das Ölpapier. Zum Vorschein kam eine Pistole die ungewöhnlich schlicht gearbeitet war. Das Griffstück bestand aus leicht angerauhtem Nußholz, und der kurze Vorderschaft war blankpoliert. Der Achtkantlauf schimmerte matt vom Fett, mit dem er eingerieben war. „Züge und Felder?“ wiederholte Hasard stirnrunzelnd. „Was, in aller Welt, hat das zu bedeuten?“ Al Conroy hob die Pistole aus dem Ölpapier und wischte sie mit einem Putzlappen ab„Die meisten unserer Kurzwaffen haben noch glatte Läufe“, erklärte er. „Büchsenmacher haben aber Versuche angestellt, so eine Art Spirale in den Lauf zu ziehen. Eine langgestreckte Spirale, muß man wohl sagen, bestehend aus erhabenen und vertieften Streifen. Bei unserer herkömmlichen Lademethode wird die Bleikugel mit dem Schußpflaster in den Lauf getrieben und preßt sich dadurch fest an den Laufstahl. Unser italienischer Fachmann“, er nahm wieder eins der zylindrischen Geschosse heraus und zeigte den Jungen den halbkugelförmig ausgehöhlten Boden, „geht davon aus, daß sich dieses Geschoß durch den Hohlboden ausdehnt und dadurch von der Pulverladung in Züge und Felder gepreßt wird. Es erhält einen sogenannten Drall, das heißt, es schraubt sich gewissermaßen um seine Längsachse durch die Luft.“ „Und überschlägt sich nicht“, folgerte Philip. „Sollte es jedenfalls nicht“, entgegnete der Stückmeister lächelnd und zog dabei die Schultern hoch. Überraschung malte sich in die Gesichter der beiden Jungen. „Heißt das, du hast es noch nie ausprobiert, Mister Conroy?“ fragte Philip.
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„So ist es. Es war einfach noch keine Zeit dafür. Ihr wißt selber, was wir in der letzten Zeit um die Ohren hatten.“ „Und diese Pistole hat so einen Lauf mit Zügen und Feldern?“ fragte Hasard. „Stimmt“, sagte der Stückmeister mit einem Nicken. „Sie stammt noch aus England. Ein Experimentierstück. Diese Waffe ist nie in größerer Stückzahl hergestellt worden.“ „Jetzt haben wir Zeit!“ rief Philip, und die Worte platzten buchstäblich aus ihm heraus. „Da könnten wir diese Drallgeschichten doch mal ausprobieren!“ Sein Bruder hieb ihm in spontaner Begeisterung auf die Schulter. „Einverstanden“, sagte Al Conroy. „Aber das geht nur mit Genehmigung eures Vaters.“ 4. Die Zeit des Wartens konnte leicht zu einer nervtötenden Angelegenheit werden. Deshalb hatte der Seewolf nichts dagegen einzuwenden, daß sich seine Söhne in Sachen Waffentechnik weiterbildeten. Nach dem abendlichen Backen und Banken begaben sich Al Conroy, Gary Andrews, Matt Davies und die Zwillinge auf die Back, wo der Stückmeister einen provisorischen Schießstand aus Kisten und Sandsäcken vorbereitet hatte. Matt und Gary befestigten eine Holztafel mit einem aufgemalten schwarzen Punkt auf dem Bugspriet. Dann nahmen die beiden Helfer des Stückmeisters an der Balustrade rechts neben dem Schießstand Aufstellung. Matt Davies hatte ein Spektiv bereitgelegt, mit dem er die genaue Lage der Einschüsse feststellen konnte. Al Conroy füllte Pulver in den Lauf der Pistole, setzte das zylindrische Geschoß mit dem Ladestock ein und legte die Waffe auf einen Sandsack. Er sah die Zwillinge von der Seite an. „Ich denke, es ist besser, wenn ich anfange. Mit unbekannten Waffen sollte man immer vorsichtig sein. Das ist auch ein Grundsatz, den ihr euch merken müßt.“
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Die beiden Jungen nickten und sahen voller Spannung zu, wie der Stückmeister die Pistole anschlug, in dem er sie auf einen Sandsack stützte. Langsam krümmte er den Zeigefinger, und mit einem trockenen Klicken schlug der Hahn den Flint auf den Reibstahl der Pulverpfanne. Funken sprühten, mit einem hellen Fauchen brannte das Zündkraut ab. Eine kleine weiße Wolke stieg von der Waffe auf. Al Conroy hatte die Pistole um keinen Deut verrissen, als sich der Schuß einen Sekundenbruchteil später krachend löste. Dunkelrot fauchte der Mündungsblitz aus dem Lauf, und beißender Pulverdampf wölkte grauschwarz hoch. Matt Davies hob das Spektiv, hielt es mit dem Haken seiner Handprothese und drehte mit der Linken an der SchärfeEinstellung. „Tut mir aufrichtig leid, Mister Conroy“, sagte er einen Moment später. „Aber unser Stück Holz hat nicht mal einen Kratzer abgekriegt. Willst du selbst nachsehen?“ Er nahm den Kieker herunter und hielt ihn dem Stückmeister hin. Al Conroy schüttelte den Kopf. „Ich zweifle nicht an deiner Feststellung“, sagte er und begann, die Pistole neu zu laden. „Mal sehen, vielleicht haben unsere Jünglinge mehr Glück oder ein besseres Auge.“ Hasard junior übernahm den zweiten Schuß. Den Pistolenlauf auf den Sandsack gelegt und das Griffstück in beiden Fäusten, visierte er an. Die Waffe lag völlig ruhig, als er durchzog. Den kritischen Moment zwischen Abbrennen des Zündkrauts und Zünden des Schusses hielt Hasard durch, ohne daß der Lauf zu schwanken begann. Der Nordost zerfaserte den Pulverdampf über den Decks, und Matt Davies hatte wieder klare Sicht für das Spektiv. Enttäuscht ließ er es nach einem Moment sinken. „Wieder nichts“, sagte er brummend. „Liegt es nun daran, daß die Pistole einen krummen Lauf hat? Oder liegt es daran,
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daß die Schützen einen krummen Blick haben?“ „Das kannst du bei Al wohl kaum annehmen“, sagte Gary Andrews und erntete dafür prompt einen zornigen Seitenblick von Hasard junior. „Aller guten Dinge sind drei“, sagte Philip drängend. „Jetzt bin ich dran. Wetten, daß ich treffe?“ „Wenn ja, fresse ich einen Schwabber“, knurrte sein Bruder. „Dann wünsche ich dir im voraus guten Appetit“, entgegnete Philip feixend. „Und vor allem gute Verdauung.“ Er nahm die nachgeladene Pistole von Al Conroy entgegen und baute sich hinter dem KistenSandsack-Schießstand auf. Sorgfältig richtete er Vorderschaft und Lauf auf dem Sandsack ein und spähte über Kimme und Korn zu dem schwarzen Punkt auf dem Holz, der als Ziel diente. „Du zitterst ja wie ein Rochen“, sagte Hasard abfällig. „So triffst du auf zehn Yards nicht mal einen Pottwal. Wetten?“ „Ich sehe keinen Pottwal“, entgegnete Philip wütend, ohne jedoch aufzublicken. „Du kannst mich mal ...“ Er verstummte, denn er spürte, wie er nun tatsächlich anfing zu zittern -eher vor Zorn als vor Aufregung. Und zu allem Überfluß zog er durch einen ungewollten Reflex auch noch zu früh durch. Das Zündkraut puffte hell, und vergeblich versuchte Philip in der verbleibenden winzigen Zeitspanne, die Zielrichtung noch zu korrigieren. Dumpf krachend trieb die Pulverladung das zylindrische Geschoß aus dem Lauf. Es gab ein schmetterndes, singendes Geräusch und fast im selben Atemzug einen verdutzten Knurr-laut. „Getroffen!“ jubelte Philip in verfrühter Freude. „Aber nicht die Holzplatte“, sagte sein Bruder sarkastisch. Die Köpfe der Männer waren herumgeruckt. Matt Davies hielt mit ungläubigem Gesichtsausdruck den rechten Arm hoch und starrte auf seine Hakenprothese.
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„Pferde haben wir nicht an Bord“, sagte er entgeistert, „also kann mich auch keins getreten haben.“ Al Conroy schnappte sich die Pistole aus der Hand des entsetzten Jungen, schob die Waffe unter den Hosengurt und war mit wenigen schnellen Schritten bei Matt. Der stämmige Mann, dessen Haar seit einer Nacht unter Haien silbergrau war, hatte den Ärmel hochgezogen, und der Stückmeister brauchte nicht zweimal hinzusehen, um zu erkennen, was geschehen war. Das neumodische Zylindergeschoß war in die hölzerne Spezialmanschette eingedrungen und hatte sich auf die Größe eines Achterstücks abgeplattet. Die Einschußstelle befand sich knapp über dem Ende der Manschette, wo sie in einen Metallring mit spitzgeschliffenem Haken auslief. Al Conroy wirbelte herum. Nur sekundenlang ließ er seinen Blick über die Back gleiten. Dann hatte er die verhängnisvolle Geschoßbahn rekonstruiert. Deutlich war die blankgewetzte Stelle an der Gabellafette der Backbord-Drehbasse zu erkennen. Dort war das Geschoß abgeprallt, hatte mit immerhin verminderter Energie seine neue Richtung aufgenommen und Matt Davies' Prothese getroffen. Die Zwillinge standen mit bleichen Gesichtern da. „Dafür könnte ich dir mit wachsender Begeisterung in den Hintern treten“, knurrte Philip seinen Bruder an. Der Seewolf war mit langen, federnden Sätzen vom Achterdeck herübergeeilt und überzeugte sich, daß Matt unversehrt war. Hasard wandte sich um, und seine Söhne brauchten ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß es besser war, jetzt mucksmäuschenstill zu bleiben. „Noch einen Ton von euch beiden“, sagte der Seewolf energisch, „und ich lege euch vor versammelter Mannschaft übers Knie. Ihr solltet froh und dankbar sein, daß die Sache so glimpflich abgegangen ist.
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Schreibt euch das hinter die Ohren, verstanden?“ „Aye, aye, Sir“, antworteten die Jungen kleinlaut und mit gesenktem Kopf. Nach einem Moment sah Philip zu seinem Vater auf. „Darf ich mich bei Mister Davies entschuldigen?“ Auch Hasard junior hob jetzt den Kopf. „Ich möchte mich auch entschuldigen, Sir. Schließlich war ich schuld. Wenn ich Philip nicht zum Zittern gebracht hätte, wäre das nicht passiert.“ Der Seewolf mußte sich anstrengen, um nicht zu grinsen. Er nickte mit gespielt grimmiger Miene. „Das dürfte ja wohl das mindeste sein, was ihr tun könnt. Diese Kugel hätte verdammt größeren Schaden anrichten können.“ Die Zwillinge beeilten sich, zu dem Mann mit der Hakenprothese hinüberzulaufen. Vor ihm nahmen sie eine Art Habtachtstellung ein. „Wir bitten vielmals um Verzeihung, Mister Davies“, sagte Philip. „Es ist nicht mit Absicht passiert“, fügte Hasard hinzu. „Wirklich ein schlimmes Versehen.“ Mit der Linken winkte Matt lächelnd ab. „Schon gut, Gentlemen, schon gut. Ist ja nur ein Materialschaden entstanden, stimmt's?“ Die Zwillinge atmeten erleichtert auf. Al Conroy hatte unterdessen den „Materialschaden“ untersucht und schüttelte fassungslos den Kopf. „Diese Zufallstreffer sind manchmal das verrückteste, was man sich vorstellen kann. Aber eins ist sicher, Matt: Wenn das Geschoß deine Manschette direkt getroffen hätte, wäre davon jetzt nichts mehr vorhanden.“ „Und wie gut, daß nicht sonstige edle Körperteile getroffen wurden“, sagte Matt lachend. Die anderen, die sich inzwischen in der Nähe zusammengeschart hatten, stimmten mit ein. Der Seewolf trat auf den Stückmeister zu. „Himmel, Herrgott, Al, wie konnte das überhaupt passieren?“ Diese Frage war in der Tat mehr als berechtigt, denn Al Conroy war in seinem Fach unübertroffen
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und leistete sich normalerweise nicht einmal den kleinsten Schnitzer. Al zeigte dem Seewolf eines der neuen Zylindergeschosse. „Ich kann es mir nur so erklären: Es wird ohne Schußpflaster geladen, weil sich der .Hohlboden des Bleies durch den Druck des Schwarzpulvers ausdehnen soll. Darin könnte der Fehler liegen. Das Blei dehnt sich eben nicht aus, das Geschoß erhält keinen Drall, und es gibt dadurch eine gewaltige Streuung.“ „Also könnte man mit einer Steinschleuder genauer schießen als mit dieser famosen Neuerung“, folgerte Hasard und gab Al Conroy das Geschoß zurück. „So, wie es jetzt aussieht - ja.“ Der Stückmeister preßte die Lippen auf einander. „Die meiste Schuld habe ich, Sir. Ich hätte die Jungen nicht zu dieser Schießübung verleiten dürfen, zumal ich die Sache selbst noch nicht ausprobiert habe.“ „Nun überbietet euch mal nicht in Schuldbekenntnissen“, sagte der Seewolf. „Wie ich dich kenne, wirst du so lange herumtüfteln, bis dein Zylindergeschoß doch funktioniert.“ Al Conroy lächelte verlegen. „Man müßte es mit einer anderen Sorte Blei versuchen. Vielleicht ist diese hier nicht weich genug und dehnt sich deshalb nicht aus. Andererseits darf das Blei natürlich auch nicht zu weich sein, weil es dann den Lauf verschmieren könnte.“ * „Ich sehe schon, du wirst das Problem lösen“, sagte Hasard. „Aber vorher bleiben wir am besten doch bei unserem guten alten kugelrunden Blei.“ Allgemeines Gemurmel war entstanden. Mutmaßungen über Al Conroys neumodische Schießmethoden wurden angestellt. Es überwog die Meinung, daß der Stückmeister die Angelegenheit in den Griff kriegen würde. Auf vielen anderen Gebieten der Waffen- und Sprengtechnik hatte er oft genug bewiesen, daß es nichts
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gab, was er nicht in funktionierende Verfahren umzusetzen wußte. Pulverpfeile und Flaschenbomben waren das beste Beispiel dafür. In allen Teilen der Welt hatte Al Conroy genau hingeschaut, wenn es auf seinem Gebiet etwas dazuzulernen gab - ob bei den Chinesen, bei den Arabern oder auch nur bei den Spaniern, die letzten Endes auch nicht ausnahmslos Dummköpfe waren. „He, he!“ ließ sich Matt Davies lautstark in dem Stimmengewirr vernehmen. „Habt ihr vergessen, daß ihr einen Schwerverwundeten unter euch habt?“ Er hielt den Arm mit der Hakenprothese hoch. „Das muß ja wohl schleunigst operiert werden. Oder etwa nicht?“ Die Männer wurden still und starrten den Grauhaarigen an, als hätte er behauptet, soeben eine doppelschwänzige Meerjungfrau vor dem Bug der „Isabella“ gesehen zu haben. Hasard wandte sich lächelnd ab, denn er ahnte bereits, was jetzt geschehen würde. Er winkte die Zwillinge mit sich und wies sie an, sämtliche Taurollen und sämtliche Nagelbänke auf dem Hauptdeck auf ordnungsgemäßen Zustand zu überprüfen. Die beiden Jungen fügten sich ohne Murren. Längst waren sie sich darüber im klaren, daß sie wirklich großes Glück im Unglück gehabt hatten. Auf der Back und vor dem Niedergang hatten sich die Arwenacks unterdessen von ihrer Verblüffung erholt. „Moment mal, Matt!“ meldete sich Ferris Tucker zu Wort. „Dann stelle ich mich freiwillig als Feldscher zur Verfügung.“ „Wüßte keinen besseren“, entgegnete Matt Davies grinsend. Ferris enterte über den Niedergang zur Back auf und drehte sich um. „Sam, du holst mir schnellstens meinen Kasten mit den chirurgischen Instrumenten.“ Sam Roskill starrte ihn sekundenlang mit offenem Mund an. Dann begriff er und flitzte los.
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„Ich brauche zwei Assistenten“, fuhr der rothaarige Schiffszimmermann fort. „Wer meldet sich freiwillig?“ Wie ein Chor brüllte die gesamte Horde los. Ferris brachte sie mit heftigen Handbewegungen zum Schweigen. „Ruhe, verdammt noch mal! Der Verwundete kann jetzt keine Aufregung vertragen. Stimmt's, Mister Davies?“ „Und wie!“ schrie Matt begeistert. „Mir ist schon ganz schlecht vor Angst! Wenn ich an die Operation denke - o Mann, o Mann!“ Die anderen glucksten und kicherten. „Also richtet euch gefälligst danach!“ herrschte Ferris Tucker sie an. „Unser Patient braucht absolute Ruhe, damit er sich seelisch auf die Operation vorbereiten kann. Klar?“ Matt meldete sich mit feierlicher Stimme abermals zu Wort. „Zu selbigem Zweck wird dem Verwundeten im allgemeinen ein beruhigendes Mittel verabreicht, Mister Feldscher!“ Spätestens in diesem Moment hatten alle begriffen, welchen Kurs der „Schwerverwundete“ zu steuern gedachte. „Alles zu seiner Zeit“, sagte Ferris Tucker und bemühte sich, eine ernste Miene zu wahren. „Mister Carberry, würdest du es freundlicherweise übernehmen, für einen ausreichenden Vorrat an Beruhigungsmitteln zu sorgen?“ „Ich bin so freundlich“, erwiderte der Profos, wobei er das Narbengesicht zu einem Grinsen verzog, daß die Mundwinkel fast die Ohrläppchen erreichten. Er vollführte eine Kehrtwendung und stapfte durch die Gasse, die ihm die anderen bereitwillig öffneten, in Richtung Achterdeck. Hasard und Ben Brighton blickten ihm mit gespielter Gespanntheit von der Schmuckbalustrade entgegen. „Sir“, sagte Ed Carberry gewichtig, „Mister Tucker hat eine schwierige Operation vor, wie du wohl gehört hast. Ist dem Verwundeten Betäubung genehmigt?“
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Hasard und Ben wechselten einen Blick und grinsten. „Wenn die Betäubung nicht zur totalen Betäubung führt“, schlug Ben vor, „dann dürfte dagegen wohl nichts einzuwenden sein. Oder?“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, der Operateur und die Assistenten brauchen auch so ein Mittel, damit sie eine ruhige Hand haben.“ „Ist anzunehmen, Sir“, erwiderte Ed Carberry dröhnend. „Also gut, genehmigt.“ „Verstanden, Sir, genehmigt. Der Verwundete und die Mitleidenden werden's dir danken.“ Während Ed Carberry ein halbes Dutzend Helfer zum Heranschaffen der „Betäubungsmittel“ einteilte, stürmte Sam Roskill bereits mit Ferris Tuckers Werkzeugkiste zur Back. Al Conroy hatte bereitwillig Pulver, Blei und Pistole fortgeschafft, und die Kisten des provisorischen Schießstands waren zum Operationstisch umgewandelt worden. Als „Assistenten“ hatte Ferris inzwischen Gary Andrews und Jeff Bowie eingeteilt. Letzteren wegen des zu erwartenden besonderen Einfühlungsvermögens, denn Jeff trug am linken Arm eine ähnliche Hakenprothese wie Matt rechts. Der selbsternannte Feldscher half dem „Patienten“ dabei, den „verwundeten Teil“ seines rechten Arms abzuschnallen. Matt erhielt einen Platz auf einer Kiste unmittelbar neben dem improvisierten Operationstisch. Gleich darauf gab es für ihn das besondere Vorrecht, die erste Muck mit „Betäubungsmittel“ entgegenzunehmen. Ed Carberry hatte entschieden, daß nur erstklassiger karibischer Rum für den vorgesehenen Verwendungszweck geeignet war. Eine ausreichende Anzahl von Fässern wurde deshalb von Carberry und seinen Helfern auf der Back deponiert. Dabei hatte der Profos gleich mit einkalkuliert, daß auch die mitfühlenden Seelen der Zuschauer beruhigt werden mußten. Denn im Verlauf der Operation würden sie zweifellos allein durch den
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Anblick aller Schmerzen fast so schlimm nachempfinden wie Matt Davies selbst. Aus seinem „Instrumentenkasten“ nahm Ferris Tucker einen eisernen Dorn und sah seinen „Patienten“ fragend an. „Schon schmerzunempfindlich?“ Matt schüttelte den Kopf, nahm einen hastigen Schluck und hielt Jeff Bowie die Muck zum Nachfüllen hin. „Ich glaube, noch nicht, Mister Feldscher. Wenn's unbedingt sein muß, kannst du's ja mal probieren.“ Während Matt seine nachgefüllte Muck erhielt, begannen auch „Assistenten“ und „Mitleidende“, sich durch die Einnahme des „Mittels“ auf die bevorstehenden Qualen vorzubereiten. Ferris Tucker verständigte sich noch einmal durch einen Blick mit Matt Davies, dann senkte er die Spitze des Dorns auf die „Wunde“ und prüfte vorsichtig, wie fest das Geschoß saß. Matt Davies stöhnte schmerzerfüllt auf und kippte rasch einen Schluck zur weiteren „Betäubung“ in seinen Rachen. Dann klemmte er die Muck zwischen die Knie und wies mit der Linken auf eine Stelle etwa eine Handbreite vor dem Ende seines Armstumpfs. „Hier, Mister Feldscher, genau hier! O verdammt, das tut höllisch weh! Ich glaub, ich steh's nicht durch.“ „Armer Kerl“, sagte Ferris Tucker mitleidig, nahm den Dorn hoch und schnaufte. „Macht mich ganz zitterig,. dich so leiden zu sehen.“ Assistent Gary Andrews war sofort zur Stelle und hielt dem „Operateur“ eine Muck entgegen. „Da, zur Beruhigung, Mister Feldscher. Wäre doch unverantwortlich, wenn du den armen Kerl mit Zitterfingern in die Mangel nimmst.“ „Hast recht.“ Ferris legte den Dorn in seinen „Instrumentenkasten“ zurück und leerte die Muck mit langen, genußvollen Schlucken. Er ließ einen Laut des Wohlbehagens hören und verzog dann in gespieltem Widerwillen das Gesicht. „Schmeckt ja scheußlich, diese Medizin. Kostet einen richtig Überwindung. Aber
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was sein muß, muß sein. Alles zum Wohl des armen Patienten. Ich merke doch tatsächlich schon, wie ich ruhiger werde. Wollen wir's noch mal versuchen, Mister Davies?“ „Mir geht's auch langsam besser“, sagte der Grauhaarige grinsend. „Fragt sich nur, ob alle anderen auch schon so weit sind, daß sie's durchstehen können.“ Er blickte interessiert in die Runde. Ein allgemeines Kopfschütteln war die Folge. „Sieht so aus, als ob wir noch warten müssen“, sagte Ferris Tucker seufzend. „Teufel auch, ich will ja keinem zumuten, daß er zuviel leidet.“ Geraume Zeit, verging, bis alle hinreichend „vorbereitet“ waren und Ferris erneut in seinen „Instrumentenkasten“ greifen konnte. Noch einmal prüfte er mit dem Dorn Sitz und Festigkeit des Geschosses in der „Wunde“. Matt Davies stöhnte zum Herzerweichen und beteuerte, man könne gar nicht genug von dem Mittel nehmen, denn anderenfalls seien die Schmerzen im Arm einfach nicht auszuhalten. Während Ferris lautstark und umständlich einen „Operationsplan“ darüber entwickelte, wie er bei dem bevorstehenden „chirurgischen Eingriff“ vorzugehen gedachte, stärkten die anderen im Einklang mit dem leidenden Matt ihre Nerven und linderten ihr Schmerzempfinden mit kräftigen Schlucken. Äußerst langwierig blieb das Verfahren auch anschließend, als Ferris seinen Plan in die Tat umsetzte. Mit Hammer und Stechbeitel arbeitete er das Geschoß aus dem Holzkern der Prothese und fertigte anschließend einen paßgenauen Holzpfropfen an. Schließlich galt es noch, den Lederbezug des Holzkerns zu flicken. Diese Arbeit übernahm Will Thorne, da der Umgang mit Nadel und Faden mehr in sein Ressort fiel. Die ganze Zeit über gab Matt Davies durch „Schmerzenslaute“ immer wieder zu verstehen, daß die Verabreichung des Betäubungsmittels noch lange nicht eingestellt werden dürfe. Die Mitleidenden
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äußerten sich dementsprechend durch steinerweichende Klagelaute, die jeweils nur von ausgiebigen Schluckgeräuschen unterbrochen wurden. Hasard und Ben Brighton ließen die Männer gewähren. Denn sie wußten, daß keiner der Arwenacks unvernünftig werden und über die Stränge schlagen würde. Dann, als Ferris Tucker ihm die fertig „behandelte“ Prothese wieder angepaßt hatte, brüllte Matt Davies voller Begeisterung: „Die Schmerzen sind weg, Freunde! Alles wieder in bester Ordnung! Wenn das nicht ein Grund zum Feiern ist!“ Der Seewolf gönnte es ihnen, und auch Ben und er holten sich eine Muck mit dem aromatisch duftenden Karibik-Rum. Nach dem, was ihnen allen so höllisch auf dem Magen gelegen hatte, tat es gut, sich auch seelisch ein wenig zu entspannen. 5. Platt vor dem Wind lief die „Scorpion“ mit rauschender Fahrt auf Südkurs. Für die Männer an Bord war es das verteufelte Gefühl, vor dem eigenen Glück davonzulaufen. Wäre es aus freien Stücken geschehen, hätten sie sich selbst verdammte Narren schimpfen können. Aber sie entfernten sich nun einmal nicht freiwillig von dem Ort, an dem jeder einzelne von ihnen zu einem steinreichen Mann geworden wäre. Dabei brauchte man den Reichtum nur aus geringer Tiefe heraufzufischen. So ein Fund ereignete sich vielleicht einmal in einem ganzen Jahrhundert. Und sie, ausgerechnet sie, die Männer der „Scorpion“, waren die Glückspilze gewesen, die den Jahrhundertfund aufgespürt hatten. Die Wut kochte in ihnen mit züngelnder Flamme. Diese verfluchten Bastarde sollten der Teufel holen! Diese Schweinehunde, die sie vom Fundort vertrieben hatten, mußten ihre Denkzettel noch verpaßt kriegen. Vorläufig aber konnte man nichts anderes tun, als sich den Anweisungen zu beugen.
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One-Eye-Doolin unterbrach sein unruhiges Auf- und Abmarschieren auf dem Achterdeck, blieb mit abgehackter Bewegung vor der Heckbalustrade stehen und riß den Kieker hoch. Die nördliche Kimm war wie ein Strich. Keine Segel und keine Mastspitzen mehr zu sehen. Bald konnte man daran denken, es den Kerlen heimzuzahlen. „Ausguck!“ brüllte Doolin. Sein gesundes linkes Auge war gerötet vor Wut, und an seinen Schläfen und am Hals traten die Adern deutlich hervor. Der Rudergänger, der ihm den Rücken zuwandte, zog unwillkürlich den Kopf ein. „Kapitän?“ rief der Mann im Großmars zurück. „Siehst du noch was?“ „Nein, überhaupt nichts! Die sind jetzt hinter der Kimm, diese elenden Hurensöhne!“ „Ich hoffe, du hast keinen Matsch auf den Klüsen, du Trantüte!“ brüllte Doolin. „Sonst kann es dir passieren, daß ich dich eigenhändig kielhole. Klar?“ „Klar, Kapitän! Eigenhändig kielholen! Meldung bleibt unverändert: Keine Mastspitzen über der Kimm.“ One-Eye-Doolin stieß einen Knurrlaut aus und wandte sich wie- der nach achtern. Der Wellengang blieb mäßig, das Waschbrettmuster der dünnen Schaumkronen war nur von vereinzelten Böen in seiner Gleichmäßigkeit unterbrochen. Der Einäugige hatte keinen Blick dafür. Er sah nur immer wieder das Unvorstellbare, das er noch immer nicht fassen konnte. Da. tauchten aus heiterem Himmel diese verfluchten drei Schiffe auf, setzten ihm einen Warnschuß vor den Bug und ließen doch tatsächlich von einem Prisenkommando die gerade erst an Bord gehievte Beute abbergen. Der Anfang des großen Reichtums ... Dahin! Die Kerle aus der Crew gingen ihm wohlweislich aus dem Weg, denn sie kannten ihren Kapitän nur zu gut. Keiner traute sich aufs Achterdeck, und alle bedauerten den Rudergänger, der da in
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seiner Nähe ausharren mußte. Doolin stieg auch nicht hinunter zu ihnen auf die Kuhl, wie er es sonst gelegentlich zu tun pflegte, um hier und da einen Plausch zu halten oder sich an den derben Späßen zu beteiligen. Sie wußten, daß jetzt nur einer zu husten brauchte, und es bestand die Gefahr, daß es das letzte Husten des betreffenden Burschen war. Allerdings konnte es passieren, daß Doolin selbst auch gehörig sein Fett abkriegte, falls er auf den Gedanken verfiel, an jemandem seine Wut auszulassen. Denn die Kerle waren ebenfalls geladen. Und dieser Zustand steigerte sich noch, je mehr sie darüber nachdachten, was ihnen alles durch die Lappen gegangen war. „Diese indianischen Kultgegenstände“, sagte einer gedämpft, „die nehmen die Dons doch nur als Beigabe zu ihren Transporten mit. Hauptsache sind doch Gold- und Silbermünzen.“ „Und Barren“, warf ein anderer ein. Sie redeten nur halblaut, damit Doolin sie nicht hören konnte. Denn er brauchte nicht zu wissen, daß seine Crew eben jenes Thema wälzte, das auch ihn so verdammt in Rage brachte. „Jedenfalls“, fuhr ein dritter fort, „liegen da unvorstellbare Schätze auf dem Grund. Da gibt's gar nichts!“ „Und man braucht den Zaster nur raufzufischen!“ „Einfacher geht's wirklich nicht.“ „Und dann - keine Arbeit mehr, bis ans Lebensende.“ „Ein Schloß auf dem Land, das man so einem adligen Fettsack abkauft!“ „Und jede Menge Weiber, die einem die Füße küssen!“ „Nur die Füße? Traurig, traurig.“ Sie mußten an sich halten, um nicht in brüllendes Gelächter auszubrechen. Als sie doch ein leises Glucksen nicht unterdrücken konnten, spähten sie verstohlen zum Achterdeck. One-Eye-Doolin hatte seine rastlose Wanderung wieder aufgenommen. Die Hände auf den Rücken gelegt, stelzte er in
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unregelmäßigen Kreisbahnen dahin, wobei er den Blick starr auf die Planken richtete. Was sich abgespielt hatte, war einfach empörend. Das war noch gelinge ausgedrückt. Wie Straßenköter hatten diese Fremden sie davongejagt. Mit welchem Recht eigentlich? Doolin gelangte zu der Überzeugung, daß man es nur als das Recht des Stärkeren bezeichnen konnte. Und jetzt würden sich diese Hundesöhne die Schätze selbst unter den Nagel reißen. Eine andere Schlußfolgerung gab es gar nicht. Die Wut brachte Doolins Nerven regelrecht zum Vibrieren. Die Hilflosigkeit und die Ohnmacht, die er empfand, ließen ihn fast den Verstand verlieren. Wenn man sich nur vorstellte, wie sie jetzt dort an der Fundstelle die fetten Sachen abbargen, konnte man wahnsinnig werden! Doolin unterbrach seinen Rundgang jäh wieder an der Heckbalustrade. Er stierte nach Norden, und ein anderes Bild durchzuckte seine Gedanken. Dieses Weib! Auch noch von einem Weib hatte man sich demütigen lassen müssen. Verteufelt gut hatte sie ausgesehen, das mußte man ihr lassen. Wenn die Stunde der Abrechnung kam, so beschloß Doolin, würde er sie sich höchstpersönlich vorknöpfen. Dann würde sie erleben, was ein wirklicher Mann war. O verdammt, sie würde erschauern, wenn sie nur an ihn dachte! Aber nur eine gewisse Zeit. Wenn er genug von ihr hatte, würde er sie den Männern überlassen, und anschließend schickte man sie zweckmäßigerweise zu den Fischen. Aber andererseits - eine Frau, die sich in der Rolle eines Kapitäns behauptete? Irgendwie war so ein Weib natürlich nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Wenn sie es schaffte, eine ganze Mannschaft von nicht gerade harmlos aussehenden Kerlen zu kommandieren, dann mußte sie schon Haare auf den Zähnen haben. Sie war bewaffnet gewesen wie ein Mann, als sie an Bord der „Scorpion“ erschienen war. Und richtig herrisch hatte sie sich aufgeführt.
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Ein verdammtes Teufelsweib also. Umso verlockender war es aber für Doolin, gerade eine solche Frau zu bändigen. Sie kleinzukriegen, war ein ganz anderes Erlebnis, als mit einer Hafenhure herumzuturteln, die einem für genügend Geld jeden Wunschs von den Augen ablas. Nein, sich so ein befehlsgewohntes Piratenweib gefügig zu machen, das war schon etwas, wovon ein Mann träumen konnte. Und wenn man sie dann erst einmal so weit hatte, daß sie einem aus der Hand fraß, dann bescherte sie einem bestimmt den Himmel auf Erden. So eine war das - eine Katze, der man nur die Krallen stutzen musste… Doolin packte den Handlauf der Heckbalustrade. Jäh kniff er die Brauen zusammen. Eine Stimme meldete sich plötzlich in seinem Gedächtnis zu Wort. Dieser Seemann in der „Bloody Mary“ in Plymouth! Bei einer Jagd auf den sagenumwobenen Seewolf war er dabei gewesen. In der Karibik hatten sie den Bastard erwischen wollen, die hochwohlgeborenen Gentlemen. Und sie waren kläglich gescheitert. One-EyeDoolin grinste vor sich hin. Er hatte zwar eine verdammte Schlappe einstecken müssen. Aber scheitern würde er nicht. Er nicht! Dieser Seemann in der „Bloody Mary“ ... Auf einmal erinnerte sich Doolin ganz deutlich an die Worte des Mannes. Da war von einem Teufelsweib die Rede gewesen, von einem Teufelsweib an der Seite des Seewolfs. Die jähe Gewißheit traf den Kapitän der „Scorpion“ fast wie ein Hieb. Der Mann, dem er auf der Kuhl dieser ungewöhnlich schlanken Galeone gegenübergestanden hatte, war niemand anders als der Seewolf gewesen. Philip Hasard Killigrew! Der Bastard, von dem so phantastische Geschichten erzählt wurden. Teufel, ja, es gab keinen Zweifel. Anfangs hatte Killigrew zwar Spanisch gesprochen, dann aber war er ins Englische übergewechselt. Seine Muttersprache sozusagen.
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Doolin verspürte eine plötzlich aufsteigende Erregung. Es war wie ein unterdrücktes Fieber, das von einem Atemzug zum anderen von ihm Besitz ergriff. Himmel, er hatte dem Kerl gegenübergestanden, auf den er es eigentlich und ursprünglich abgesehen hatte. Seinetwegen war er in die Karibik aufgebrochen, seinetwegen hatte er sich in der Nähe der Caicos-Inseln umsehen wollen und war dann unvermutet auf die Schatz-Fundstelle gestoßen. Die Aufregung war es gewesen -die Aufregung über die Reichtümer, die dort so greifbar nahe auf dem Meeresboden lagen. Deshalb, so sagte sich Doolin jetzt, war er nicht gleich darauf gekommen, mit wem er es zu tun gehabt hatte. Zu hart hatte ihn der Verlust der ersten Beute getroffen, und zu quälend war die Schande gewesen, einfach davongejagt zu werden. Jetzt aber sah er klarer. Er, Kapitän Doolin aus West Looe in Cornwall, hatte von Anfang an geplant, den Bastard Killigrew um seine Schätze zu erleichtern. Und, verdammt noch mal, diesen Plan würde er nicht aufgeben, jetzt erst recht nicht. Die Gerüchte, die in Cornwall und hier, in der Neuen Welt, kursierten, waren schlicht überwältigend. Wenn es stimmte, was erzählt wurde, dann sprengte es das Maß aller Vorstellungen, was dieser Killigrew an Schätzen angehäuft hatte. Und eben jener Killigrew war zum Greifen nahe! Doolin erschauerte bei der Vorstellung, welches doppelte Glück da seinen Weg gekreuzt hatte. Zum einen der Schatz, den man durch einfaches Abfischen vom Meeresgrund bergen konnte. Und zum anderen der legendäre Seewolf höchstpersönlich. Besser konnte man es gar nicht erwischen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Fieber packte One-Eye-Doolin voll und ganz und mit verzehrendem Feuer. Jetzt sollten sie ihn kennenlernen, diese Hurensöhne auf den drei lausigen Kähnen, allen voran Killigrew!
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„Wartet nur ab“, knurrte er und starrte mit flammendem Blick zur nördlichen Kimm. Sein gesundes Auge hatte sich noch erschreckender gerötet. „Ihr werdet winseln vor mir, das schwöre ich euch. Wenn One-Eye-Doolin Blut geleckt hat, gibt's das große Heulen und Zähneklappern. Ihr werdet mich kennenlernen, das schwöre ich euch.“ Die unmißverständliche Drohung, die der Seewolf ihm gegenüber ausgesprochen hatte, kümmerte ihn nicht mehr. Bei den Holländern und Franzosen im Kanal war er eine gefürchtete Größe, einer, vor dem man einen Mordsrespekt hatte. Zu genau dieser Erkenntnis würde auch Killigrew gelangen. Der Bastard hatte bei der ersten Begegnung ganz einfach den Vorteil des Überraschungsmoments gehabt. Die zweite Begegnung mit One-EyeDoolin sollte für ihn auch die letzte werden. Darauf konnte dieser ach so gefürchtete Mister Seewolf Gift nehmen. Doolin gab sich einen Ruck, wandte sich von der Heckbalustrade ab und stelzte steifbeinig zum Niedergang an Steuerbord. Der Rudergänger erschrak fast und zwang sich, seinen Kapitän nicht anzusehen. In seiner augenblicklichen Stimmung konnte der Einäugige einem schon für ein ungewolltes Blinzeln den Säbel in den Leib jagen. Der Rudergänger konnte nicht ahnen, daß sich die Stimmung des Einäugigen zwar nicht wesentlich, aber doch ein bißchen aufgehellt hatte. Die Aussicht auf doppelte Beute und auf Rache an dem Bastard, der ihn gedemütigt hatte, wirkte auf Doolin denn doch besänftigend. Die Männer, die im Kreis hinter den festgezurrten Beibooten hockten, brachen ihr gemurmeltes Gespräch schlagartig ab, als sie den Kapitän herannahen hörten. Seine energisch und abgehackt klingenden Schritte verhießen nichts Gutes. Dann, als er auch noch direkt auf sie zusteuerte, sprangen sie eilends auf die Beine. „Lagebesprechung“, befahl Doolin, und es klang wie das heisere Bellen eines
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Wolfshundes, der seine Untergebenen im Rudel zur Räson bringt. Er ließ die Achterdecksleute, die sich noch in den Kojen befanden, wachrütteln. Bis sie zur Stelle waren, stützte er sich auf die Steuerbordverschanzung, starrte über die See und ließ die Kerle rätseln, was sie nun wohl von ihm zu erwarten hatten. „Mannschaft vollzählig“, meldete schließlich sein Stellvertreter und unterdrückte ein Gähnen. One-Eye-Doolin bequemte sich, sich umzudrehen. Er legte die Hände neben sich auf die Verschanzung, was seiner Haltung etwas Sprungbereites und Angriffslustiges gab. „Lagebesprechung“, wiederholte er. „Und ich rate jedem, jetzt seine ungewaschenen Ohren aufzusperren. Vor uns liegen nämlich die besten Zukunftsaussichten, die wir jemals gehabt haben.“ Die Kerle stierten ihn an. Jene, die sich eben noch den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, blinzelten heftig, um schneller wach zu werden. Ihnen allen war jedoch ein Gedanke gemeinsam: One-EyeDoolin hatte mal wieder seine verrückten Minuten. Entweder wollte er sie schikanieren, oder er wollte irgendeinen bösartigen Schabernack mit ihnen treiben. Man mußte in solchen Momenten vor ihm auf der Hut sein, denn man konnte seine hinterlistigen Absichten selten auf Anhieb durchschauen. „Ihr erinnert euch an den Hurensohn, der uns von der feinen Fundstelle vertrieben hat“, fuhr Doolin fort. „Dieser große Kerl mit den schwarzen Haaren und den grauen Schläfen.“ Er tippte mit den Fingerkuppen an die eigene rechte Schläfe, denn er war sicher, daß einige seiner Halunken zu dämlich waren, um zu wissen, was das Wort bedeutete. Ein allgemeines Nicken war festzustellen, als er in die Runde blickte. Sie wußten also, von wem er sprach. Immerhin schon etwas. „Eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“ fragte er lauernd. Er beugte sich vor, und sein funkelndes Grinsen drückte die Überlegenheit desjenigen aus, der den
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Vorteil des größeren Wissens auf seiner Seite hat und überdies sicher sein kann, daß die anderen sowieso nicht herauskriegten, wovon er sprach. Achselzucken, Ratlosigkeit. Keiner wagte, eine Vermutung zu äußern. Denn alle wußten, mit wie viel Verachtung Doolin jemanden zu strafen pflegte, der etwas Falsches daherplapperte. „Der Bursche war niemand anders“, sagte Doolin gedehnt, und er zögerte die Fortsetzung seiner Worte hinaus, um es richtig spannend werden zu lassen, „als der böse, böse Seewolf, vor dem die halbe Welt Angst haben soll.“ Er kicherte wie über einen besonders gelungenen Scherz. Die Kerle rissen die Augen auf, und etliche kriegten den Mund nicht wieder zu. „Ich will euch auch erklären, wie ich das herausgefunden habe“, sagte Doolin in gnädigem Tonfall. Ausführlich schilderte er seine Überlegungen hinsichtlich des „Teufelsweibes“, von dem er bereits in der „Bloody Mary“ in Plymouth gehört hatte. An dem Aufleuchten in den Augen der Männer sah er, daß sie seiner Theorie zu folgen vermochten. Dann gelangte er zu den Schlußfolgerungen. „Wir waren zwar ganz schön blöd, daß wir uns einfach von der Fundstelle verjagen ließen. Hätten wir uns aber auf die Hinterbeine gestellt, hätten wir nie mehr Zeit zum Nachdenken gehabt. Folglich wäre uns die Gelegenheit des Jahrhunderts entgangen.“ Jetzt waren es wieder begriffsstutzige Blicke, die ihn trafen. Keiner der Kerle konnte sich entsinnen, in der Zeit seit der Vertreibung von der Fundstelle nachgedacht zu haben. Es war ihnen noch nicht aufgegangen, daß es lediglich eine der Varianten von Doolins Großspurigkeit war, wenn er von sich in der Mehrzahl sprach. „Dieser Schweinehund Killigrew“, fuhr er knurrend fort, „fischt jetzt wahrscheinlich all die feinen Klunker aus dem Wasser, die eigentlich uns zustehen.“ Die Vorstellung verleitete einen der Kerle unvorsichtigerweise zu einem dämlichen Grinsen.
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Doolin sah es, war mit einem Satz bei ihm und packte ihn an den Schultern. Ehe sich der Verdatterte versah, hatte Doolin ihn herumgerissen und versetzte ihm einen kraftvollen Tritt in den Hintern. Der Mann flatterte armrudernd davon wie ein Riesenhuhn, schrie erschrocken, stolperte und schlidderte der Länge nach über die Decksplanken. Mit dem letzten Schwung knallte er gegen die Nagelbank beim Großmast und streckte alle viere von sich. „Noch jemand, der es lächerlich findet, was ich euch zu verklaren versuche?“ OneEye-Doolin blickte in die Runde und kehrte auf seinen Platz am Schanzkleid zurück. Als niemand antwortete, wies er auf den Bewußtlosen beim Großmast. „Aufwecken, den Blödmann! Habe keine Lust, alles zweimal zu erzählen, nur weil einer pennt.“ Zwei Kerle eilten los, schleppten eine Pütz mit Wasser herbei und leerten sie über dem Kopf des Bewußtlosen aus. Er schnaufte und prustete, und sie zogen ihn auf die Beine. Sie schleiften ihn in den aufmerksamen Zuhörerkreis und hielten ihn senkrecht, damit Doolin nicht abermals die Nerven verlor. „Aber“, fuhr der Einäugige gedehnt fort, „es kann uns natürlich nur recht sein, wenn der Bastard weiter nach den Schätzen fischt. Dann wissen wir nämlich, wo wir ihn erwischen können. Und wenn wir uns genug Zeit lassen, hat er die meiste Arbeit schon für uns erledigt. Anschließend bringt er uns dann zu seinem sagenhaften Riesenschatz, den er ja angehäuft haben soll. Was kann der Mensch noch mehr verlangen, he?“ Die Kerle klatschten begeistert Beifall. Was Doolin da an Überlegungen entwickelt hatte, war so richtig nach ihrem Geschmack. Andererseits lag ihm daran, daß sie auch kapierten, um was es ging. Ein Mann, so sagte er sich immer, setzte sich nur dann richtig ein, wenn er wußte, was für ihn bei einer Sache heraussprang. Doolin übergab seinem Stellvertreter das Kommando an Bord mit der Order, zunächst auf Westkurs zu gehen. Später sollte ein Kurswechsel nach Norden
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folgen. In den Nachtstunden, im Schutz der Dunkelheit, hatte man dann wieder Gelegenheit, sich an die Schatz-Fundstelle heranzupirschen. Die Kerle der Crew widmeten sich mit Feuereifer der Bordroutine. Doolin sah es mit zufriedenem Grinsen, während er sich in die Kapitänskammer zurückzog. Er fühlte sich erleichtert - jetzt, da der Kurs in die Zukunft festgelegt war. Man brauchte nicht mehr herumzugrübeln, konnte sich vielmehr in der Gewißheit sonnen, daß es eine goldene Zukunft werden würde. In dem beruhigenden Gefühl, eine Pause verdient zu haben, streckte Doolin sich in der Koje aus. Er faltete die Hände hinter dem Kopf und empfand Stolz auf sich selbst. Nur durch die Kraft und die Zielstrebigkeit seiner Gedanken hatte er eine Lösung gefunden, von der er vor zwei Stunden noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Daß der Plan funktionieren würde, stand jedenfalls außer Zweifel. Denn bis sie hinter der nördlichen Kimm verschwunden waren, hatte man die drei Schiffe des Bastards Killigrew im Auge behalten. Sie waren haargenau an der Stelle geblieben, an der man die Schätze gefischt hatte. Kein Zweifel, daß sie nun selber fischten, die Mistkerle. Aber sie sollten sich an ihrer Beute nicht lange erfreuen. Das war für Doolin bereits so sicher wie das Amen in der Kirche. Natürlich würden die Herren Schatzfischer auch in der Nacht noch Dasein. Da der versunkene Mammon mit Sicherheit das Ausmaß einer Schiffsladung umfaßte, würden Killigrew und seine Kerle nicht aufgeben, bevor sie in ihrer Raffsucht alles an Bord geholt hatten. Wer einen so gewaltigen Schatz angehäuft hatte wie dieser angeblich so gefürchtete Seewolf, der würde an dieser Fundstelle nicht eher ruhen, bis er sicher war, daß auf dem Meeresgrund nichts mehr vorhanden war, was von dem gesunkenen Schiff stammte. Auch die Taktik, die er anzuwenden gedachte, stand für One-Eye-Doolin bereits
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fest. Einzeln würde er die drei Schiffe knacken. Leise anpirschen und dann drauf! Er grinste bei der Vorstellung. Doch unvermittelt schob sich das Bild der schlanken Galeone und der beiden anderen Schiffe in seine Erinnerung. Alle drei hatten beträchtlichen Tiefgang gehabt, mußten also eine schwere Ladung im Bauch haben. In diesem Punkte konnte sich One-Eye-Doolin auf seinen Kennerblick verlassen. Wenn Killigrew und seine Halunken so beutegierig waren, wie man ihnen nachsagte, dann handelte es sich bei ihrer Ladung wahrscheinlich um das Ergebnis eines soeben erst beendeten Raubzugs. Insofern war es einfach schade, die Killigrew-Kähne zu versenken. Letzten Endes ergab es keinen Sinn, die feinen Sachen, die sie geladen hatten, womöglich anschließend auch noch vom Meeresgrund abzufischen. Folglich mußte man versuchen, ihnen auf andere Weise beizukommen. Geräuschloser Enterkampf, durchzuckte es Doolin. Klar, das war ohnehin die bessere Methode. Putzte man das erste Schiff mit einer vollen Breitseite von der Bildfläche, dann waren die beiden anderen durch den Gefechtslärm gewarnt. Ging man es aber leise an und überwältigte erst die Ankerwachen und anschließend die gesamte Crew des ersten Schiffs im Handstreich, dann hatte man die Chance, auf genau die gleiche Weise auch die beiden anderen Schiffe unbeschädigt in seine Gewalt zu bringen. Doolins Gedanken schlugen Kapriolen. Er sah sich als „Generalkapitän“ einer Flotte von vier Schiffen, die einen sicheren Unterschlupf in einer versteckten Bucht ansteuerten. Natürlich hatte man das Killigrew-Pack vorher beseitigt. Mit unnötigen Belastungen durfte man sich gar nicht erst abgeben. Die Beute von der Schatz-Fundstelle und die Ladungen der drei Seewolf-Schiffe würden der Grundstock für einen erstklassigen Karibik-Stützpunkt sein. Sobald man sich eingerichtet und einige zuverlässige neue Männer angeworben
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hatte, konnte man den Schatz des Seewolfs heben. Die Position dieses sagenumwobenen Schatzes hatte man natürlich aus dem Bastard heraus gepreßt, nötigenfalls mit der Folter, bevor man ihn über die Klinge springen ließ. Hatte man erst einmal den KilligrewSchatz, ging es steil aufwärts. Doolin sah sich bereits als Herrscher eines ganzen karibischen Inselreichs, das nicht einmal die Dons anzugreifen wagten. Er würde gewissermaßen einen eigenen Staat gründen, dessen Wohlstand auf dem Killigrew-Schatz beruhte. Natürlich würde er selbst keinen Finger mehr rühren, als Herr seiner Inseln hatte er das auch gar nicht nötig. Aber er würde eine Flotte befehligen, die in der ganzen Karibik ihresgleichen nicht hatte. Sein Reich würde unangreifbar und unbezwingbar werden. Er konnte sich einen Harem von Insel-Schönheiten leisten und sich nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lassen. Doolin ließ sich das Abendessen in die Kammer bringen und schlug sich den Bauch voll. Anschließend legte er sich wieder lang, schloß die Augen und spann seine Phantasievorstellungen vom karibischen Inselreich weiter. Ja, in dieser traumhaft schönen Neuen Welt würde er sich niederlassen. Hier konnte er all das verwirklichen, was in der Enge des alten England unmöglich war. Doolin Islands würde er sein Reich nennen. Doolin Islands ... Mit dem zauberhaften Klang der Worte Schlief er ein, und die farbenprächtigen Traumbilder formten sich in seinem Hirn. Er sah sich in einer Hängematte, umgeben von einem Dutzend halbnackter Weiber, die nur darauf warteten, daß er mit dem kleinen Finger winkte. Ihm, dem ruhmreichen Herrscher Doolin, bereiteten sie schon auf Erden den Himmel. 6. Siri-Tong und Edmond Bayeux hatten sich zur „Isabella“ pullen lassen und erlebten
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eben noch mit, wie die Feier anläßlich der wundersamen Wundheilung des Matt Davies beendet wurde. Matt ließ es sich nicht nehmen, beiden Gästen an Bord zu zeigen, welche hervorragende chirurgische Arbeit Ferris Tucker in seiner Eigenschaft als „Feldscher“ geleistet hatte. Lachend enterten die Rote Korsarin und der Hüne aus der Normandie zum Achterdeck auf. Hasard und Ben Brighton begrüßten die beiden und begaben sich mit ihnen in die Nähe der Heckbalustrade. „Natürlich ist es mal wieder eure Crew, die über die Stränge schlägt“, sagte Siri-Tong scherzhaft. „Ihr solltet euch ein Beispiel daran nehmen, wie gesittet es auf der ,Caribian Queen' und der ,Le Griffon' zugeht.“ In der Tat war weder von dem Zweidecker noch von der Karavelle ein lautes Wort zu hören. „Sieht so aus, als ob ihr die reinsten Musterknaben an Bord habt“, sagte der Seewolf grinsend. „Unsereins hat die Kerle eben richtig an der Kandare“, entgegnete Edmond Bayeux mit einem breiten Lachen. „Aber Spaß beiseite, Hasard. Es ist gut, daß hier nicht unnötig lange Trübsal geblasen wird. Wir brauchen einen klaren Blick, und den kriegt man nicht, wenn man sich sein Hirn mit schwarzen Wolken umnebelt.“ „Natürlich“, sagte nun auch Siri-Tong mit ernster Miene. „Wir waren richtig erleichtert, als wir gesehen haben, daß bei euch auf der ‚Isabella' wieder normale Stimmung einkehrt.“ Hasard und Ben Brighton nickten. „Was sich der Einäugige und seine Horde geleistet haben, ist ungeschehen gemacht worden“, sagte Ben. „Damit kann man die Dinge auf sich beruhen lassen.“ „Ja, was die Störung der Totenruhe betrifft“, sagte Hasard. „Ich fürchte allerdings, daß wir uns Doolin keineswegs schon für immer vom Hals geschafft haben.“ „Der kehrt zurück“, sagte Edmond Bayeux grollend. „Das ist wie mit einem Straßenköter, dem man einen Tritt gibt.
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Sobald so ein struppiges Vieh Morgenluft wittert, ist es wieder da.“ „In unserem Fall“, sagte Siri-Tong lächelnd, „sind es die Gentlemen Strandräuber aus Cornwall, die mit Sicherheit wieder zur Stelle sind, sobald sie von uns nichts mehr sehen.“ Der Seewolf nickte nachdenklich. „Wenn man die Dinge natürlich nüchtern und objektiv betrachtet, hatten wir überhaupt kein Recht, die Kerle einfach zum Teufel zu jagen.“ Die Rote Korsarin zog überrascht die Brauen hoch. „Nüchtern und objektiv? Das können wir nicht. Wir können nicht so tun, als ob es die Schlangen-Insel und ihre Bewohner niemals gegeben hätte. In der Beziehung müssen wir einfach voreingenommen sein. Ich halte das beileibe nicht für eine Schande.” „So weit, so gut“, entgegnete Hasard. „Im Fall Doolin brauchen wir vielleicht kein schlechtes Gewissen zu haben, weil uns bekannt ist, daß es sich um Galgenstricke übelster Sorte handelt. Was aber, wenn es anständige und ordentliche Seeleute gewesen wären, die zufällig Schatzgegenstände aus dem Wasser gefischt hätten?“' Edmond Bayeux räusperte sich. „Man hätte sie höflich, aber bestimmt darauf hingewiesen, daß es Grabschändung ist, was sie treiben.“ Ben Brighton schüttelte energisch den Kopf. „Um ihnen erst vor Augen zu führen, was hier auf dem Meeresboden ruht? Nein, Edmond, das wäre der verkehrteste Weg, den man sich denken kann. Ob die Störer der Totenruhe nun Piraten waren oder anständige Leute, uns blieb keine andere Wahl, als sie zu verjagen. Und zwar ohne Angabe von Gründen!“ „Ich weiß, was du sagen willst“, entgegnete Hasard. „Niemand könnte sich wahrscheinlich zurückhalten, wenn er wüßte, welche Reichtümer hier zu holen sind.“ „Auf jeden Fall war unser Verhalten richtig“, sagte Siri-Tong energisch. „Und
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ich finde absolut nichts dabei, daß wir die Dinge aus unserer Sicht sehen. Etwas anderes wäre gewesen, wenn wir die Galeone einfach zusammengeschossen hätten. Das konnten wir nicht tun, und wir haben es nicht getan, weil die Kerle uns gegenüber nicht aggressiv geworden. sind. Können wir uns darauf einigen, daß wir uns nichts vorzuwerfen haben?“ Sie blickte in die Runde. „Das Gebot der Fairneß ist schön und gut, aber man sollte es auch nicht übertreiben.“ Hasard lächelte. „Ich weiß, daß das an meine Adresse gerichtet ist, und ich nehme es zur Kenntnis. Ich gebe dir recht, Siri-Tong. Wir haben uns nichts vorzuwerfen.“ Die Rote Korsarin schlug ihm auf die Schulter, trat einen Schritt zurück und sah ihn strahlend an. „Ich sehe, du stehst wieder mit beiden Beinen auf den Planken. Aber ich nehme an, die Behandlung des Gesindels aus Cornwall war nicht das Thema, weswegen du Edmond und mich gerufen hast.“ Bayeux wechselte einen erstaunten Blick mit Ben Brighton. Ben lächelte kaum merklich, denn er wußte, was der Hüne dachte. Siri-Tong verstand es, dem Seewolf deutliche Worte zu sagen und dabei doch seine Gefühle nicht zu verletzten. Dazu war vermutlich ohnehin nur eine Frau in der Lage. „Es geht darum, was wir jetzt tun“, sagte Hasard und deutete mit einer Kopfbewegung zur westlichen Kimm, der sich die sinkende Sonne als glutroter Feuerball immer mehr näherte. „Die Kerle sind zwar abgezogen, und sie werden bei Tageslicht auch garantiert nicht wieder aufkreuzen. Aber ich bezweifle, daß sie meine Warnung beherzigen werden.“ „Berechtigte Zweifel“, sagte Ben Brighton und nickte. Edmond Bayeux meldete sich zu Wort. „Wenn ihr mich fragt, müßten diese Kerle schon strohdämliche Narren sein, wenn sie sich von einer Fundgrube zurückziehen.“ Er sah Hasard mit einem vorsichtigen Seitenblick an. „Verzeih, aber man muß
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die Dinge eben klar und nüchtern sehen. Das hast du selber gesagt.“ Hasard lachte leise. „Und es stimmt, Edmond. Zum Teufel, ja, wir dürfen unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen.“ „Eben drum“, sagte Siri-Tong bekräftigend. „Dieser Einäugige und seine Kerle sind beutegierige Strolche - Gesindel zur See, das mordet und plündert, wo nur genug Beute herausspringt. Das sollten wir bei allem, wozu wir uns entschließen, nicht vergessen.“ „Du meinst, sie werden schon heute nacht wieder aufkreuzen?“ wandte sich Ben Brighton an den Seewolf. Hasard zog die Schultern hoch. „Wenn ich an das anknüpfe, was Edmond gesagt hat, dann müssen wir davon ausgehen. In ihrer Gier werden sie versuchen, so schnell wie möglich wieder an die Quelle des Reichtums zu gelangen.“ „Wo wir ihnen einen heißen Empfang bereiten“, sagte Edmond Bayeux grimmig. „Genau das ist der Punkt, um den es mir geht“, entgegnete Hasard. „Beim ersten Mal haben wir die Kerle schonend behandelt und lediglich gewarnt. Wenn sie jetzt wieder auftauchen, geht es hart auf hart. Es darf kein Pardon mehr geben. Das steht fest. Die Frage ist nur, ob wir allesamt abwarten, bis sich etwas tut, oder ob wir selbst etwas unter-. nehmen wollen.“ Siri-Tong sah ihn mit tatendurstig funkelnden Augen an. „Gib zu, daß du die Entscheidung für dich längst getroffen hast!“ rief sie. „Dir juckt es in den Fingern, den Strolchen die Leviten zu lesen.“ Hasard schüttelte den Kopf. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich schlage sogar vor, mit der ‚Isabella' hierzubleiben.“ „Und die beiden anderen gehen auf Erkundung“, folgerte Ben Brighton. „Aber auf keinen Fall gemeinsam“, sagte Siri-Tong rasch. „Wenn wir etwas erreichen wollen, gibt es nur eine einzig denkbare Taktik.“ Sie sah den Seewolf an
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und lächelte. „Sag, ob wir beide das gleiche denken.“ Er erwiderte ihr Lächeln. Siri-Tong sagte: „Mein Vorschlag: Die ‚Isabella' bleibt gefechtsklar auf der jetzigen Position. Zur Bewachung der Fundgrube gewissermaßen. Die ,Caribian Queen' und die ,Le Griffon' klären nach Osten und nach Westen auf. Wenn deine Theorie richtig ist, Hasard, wird wahrscheinlich einer von uns noch heute nacht auf die ,Scorpion` stoßen.“ Die Rote Korsarin unterbrach sich und sah die Männer nacheinander an. „Übrigens ein übler Name für ein Schiff, wenn ihr mich fragt. Wer sein Schiff so nennt, beweist damit, was für einen niederträchtigen Charakter er hat. Skorpione sind heimtückisch und unberechenbar, und sie töten in blinder Gier.“ Edmond Bayeux lachte. „Dieser Einäugige ist vielleicht ein Tierliebhaber. Und es kann ja sein, daß er Skorpione besonders ins Herz geschlossen hat. In den Palästen Europas soll es sogar Verrückte geben, die sich Schlangen und Krokodile als Haustiere halten.“ „Dann kann es sich nur um jene handeln“, sagte Ben Brighton, „bei denen der geistige Verfall schon am weitesten fortgeschritten ist.“ „Zur Sache“, sagte der Seewolf mahnend und sah die Rote Korsarin an. „Wer auch immer auf die Galgenstricke stößt, er sollte ein hinhaltendes Gefecht aufnehmen.“ „Genau das“, sagte Siri-Tong und nickte. „Dadurch können die beiden anderen Schiffe herangeführt werden.“ Der Seewolf nickte. „Und dann“, sagte er mit plötzlicher metallischer Härte in der Stimme, „wird das Gefecht durchgeschlagen - bis hin zur Vernichtung der ,Scorpion`. Ich stelle diesen Plan hiermit zur Abstimmung. Wer ist dafür?“ Es gab keine Gegenstimme. Siri-Tong und Edmond Bayeux waren auch mit den weiteren Einzelheiten einverstanden. Die „Isabella“ blieb, wo sie war, während die „Le Griffon“ westwärts
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und die „Caribian Queen“ ostwärts aufklärten. Die Rote Korsarin und der Hüne aus der Normandie kehrten auf ihre Schiffe zurück. In der Abenddämmerung gingen der Zweidecker und die Karavelle ankerauf und nahmen den vorgesehenen Kurs auf. Hasard und Ben blickten den Schiffen der Gefährten nach. Ein feuriges Abendrot, das sich über der westlichen Kimm am Himmel erhob, färbte die Segel mit einer durchscheinenden Glut. Der Nordost verlieh der „Le Griffon“ trotz der schweren Ladung rasche Fahrt, da Edmond Bayeux die Karavelle bei raumem Wind über Backbordbug segeln lassen konnte. Siri-Tong hatte es mit der „Caribian Queen“ auf dem Am-Wind-Kurs erheblich schwerer. Doch die Männer unter ihrem Kommando verstanden ihr Handwerk, und es ging vorerst weniger um Geschwindigkeit, als vielmehr um ein möglichst weites Beobachtungsfeld. Letzteres wiederum hing entscheidend davon ab, welche Sichtverhältnisse in der bevorstehenden Nacht herrschen würden. Noch war die Sicht fast so klar wie in den vorangegangenen Nachmittagsstunden. Während Ben Brighton den Befehl zum Herstellen der Gefechtsbereitschaft gab und die Ausführung überwachte, beobachtete Hasard die südliche Kimm mit dem Spektiv. Keine Mastspitze, kein Segel. Nichts. Er hatte auch nichts dergleichen erwartet. Der Einäugige war ein gerissenes Schlitzohr. In der Beziehung gab sich der Seewolf keinen Illusionen hin. Wer als Pirat im Kanal vor Cornwall sein Unwesen trieb und noch nicht gefaßt worden war, der mußte schon ein mit allen Wassern gewaschener Halunke sein. An Bord der „Isabella“ bewiesen die Arwenacks unterdessen, daß sie -bei allem Sinn für das Vergnügen -stets dann zuzupacken wußten, wenn es von ihnen gefordert wurde. „Viehzeug unter Deck!“ brüllte Ed Carberry mit seiner vertrauten Reibeisenstimme. „Hopp, hopp, Junioren,
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das ist eure Arbeit! Seht zu, daß ihr alles wegschafft, was Fell und Federn hat! Und dann meldet ihr euch beim Stückmeister!“ „Aye, aye, Sir!“ riefen die Zwillinge wie aus einem Mund. Knappe Worte genügten, und das gesamte „Viehzeug“ folgte ihnen mit lammfrommer Bereitwilligkeit. Während die Geschützmannschaften an den Culverinen arbeiteten, zogen Philip und Hasard junior mit den ihnen anvertrauten Vier- und Zweibeinern zur Grätingsluke beim Großmast. Plymmie hatte die Ohren angelegt und folgte den Jungen dicht auf. Arwenack hatte bereitwillig Philips Hand ergriffen und marschierte breitbeinig neben ihm über die Planken. Sir John saß auf Hasards Schulter und brabbelte leises und unverständliches Zeug vor sich hin. Ed Carberry beobachtete die reibungslose und zügige Ausführung seines Befehls ungläubig blinzelnd und kratzte sich am Hinterkopf. Diese Rübenschweine hatten doch tatsächlich eine besondere Ader im Umgang mit dem Viehzeug. Der Teufel mochte wissen, warum die Viecher ausgerechnet den Rübenschweinchen aufs Wort gehorchten. Er beobachtete die kleine Marschformation, wie sie unter Deck verschwand und wandte seinen unbestechlichen Blick dann wieder dem Geschehen auf den Decks zu. Und nach einer Weile stemmte er die mächtigen Fäuste in die Hüften und setzte zu seinem Gebrüll an, das allen wie vertraute Begleitmusik in den Ohren klang. „Ho, ho, hurtig, hurtig, ihr Flohhüpfer! Wollt ihr euch wohl bewegen, ihr Traneulen? Das haben wir verdammt schon schneller gesehen! Packt gefälligst zu, ihr Müdmänner! Oder muß ich euch erst eure quergeriggten Affenärsche anlüften, was, wie?“ Die Männer grinsten sich eins und erledigten die vertrauten Handgriffe mit der gewohnten Schnelligkeit. Zug um Zug wurden die Culverinen aus den Laschings gelöst, und in kurzen Abständen rumpelten die hölzernen Lafetten mit den tonnenschweren Bronzerohren so weit
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zurück, daß die Stückpforten geöffnet werden konnten. Die Geschützmannschaften legten ihr Handwerkzeugs bereit - vom Rohrwischer bis zum Luntenstock. Der Seewolf und seine Männer wußten, was sie taten. Alles mußte bis auf den letzten Handschlag vorbereitet sein. Bei Nacht konnte die Sichtweite so weit zusammenschmelzen, daß sie innerhalb von Minuten, ja, vielleicht sogar Sekunden einsatzbereit sein mußten. Denn sicher sein, daß Siri-Tong oder Edmond Bayeux die Galgenstricke aus Cornwall rechtzeitig abfingen, konnten sie keineswegs. Immerhin bestand trotz allem die Möglichkeit, daß sich der Einäugige mit seiner „Scorpion“ ungehindert bis zu seiner heißersehnten Fundgrube durchmogelte. Die Zwillinge erschienen wieder an Deck und meldeten sich bei Al Conroy, der ihnen die bekannten Arbeiten zuwies. Als erstes hatten sie sich als Pulveraffen zu betätigen und Kartuschen aus der Pulverkammer an Deck zu schleppen. Eine Arbeit, die allein schon ausreichte, um sie kräftig ins Schwitzen zu bringen. Doch die Söhne des Seewolfs zeigten keinen Atemzug lang Anzeichen von Müdigkeit oder nachlassendem Elan. Nachdem alle Geschütze mit einem ausreichenden Vorrat an Treibladungen ausgestattet waren, beteiligten sich die Jungen am Stapeln der Geschosse Kettenkugeln und gewöhnliche runde Eisenkugeln, 17-Pfünder und 25-Pfünder, je nach Geschützkaliber. Anschließend war es Aufgabe der Zwillinge, Sand auf den Decksplanken auszustreuen und Pützen mit Wasser bereitzustellen -übliche Vorsichtsmaßnahmen auf allen Kriegsschiffen, um etwaige kleine Brandherde im Ansatz zu ersticken. Ferris Tucker baute seine HöllenflaschenAbschußkanone auf der Back auf. Eine Apparatur, die wie eine Miniaturausgabe einer altrömischen Steinschleuder aussah. Batuti und Big Old Shane klarierten ihre englischen Langbögen und legten sich einen ausreichenden Vorrat an Brandpfeilen und Pulverpfeilen zurecht.
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Philip und Hasard bauten unterdessen bei den Geschützen jene eisernen Becken auf, in die später die glühende Kohle gefüllt wurde, die der Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse vorbereiteten. Mittels der stets erreichbar nahen Glut zündeten die Geschützmannschaften ihre Lunten. Die Dunkelheit war hereingebrochen, rasch und übergangslos, als Al Conroy den Männern auf dem Achterdeck Gefechtsbereitschaft melden konnte. Hasard verzichtete vorerst darauf, Bordlaternen setzen zu lassen. Für den Fall, daß der Einäugige überraschend doch ungehindert aufkreuzte, war es ratsam, die Tarnmöglichkeiten der Nacht auszunutzen. Für die Crew gab es Order, Gespräche nur noch im Flüsterton zu führen. Dan O'Flynn - mit den unbestritten schärfsten Augen im gesamten Bund der Korsaren - war in den Großmars aufgeentert. Seine Aufgabe bestand darin, den gesamten Rundum-Sektor zu beobachten. Und alle an Bord der „Isabella“ konnten sicher sein, daß Dan nichts entgehen würde, was sich innerhalb der Nachtsichtweite abspielte. Hasard und Ben Brighton blieben gemeinsam auf dem Achterdeck, ebenso wie alle Männer an Deck auf ihren Posten waren. Es war alles getan, was bis jetzt getan werden konnte. Die „Caribian Queen“ und die „Le Griffon“ würden bei ihrer Aufklärung natürlich den jeweiligen Halbsektor westlich und östlich absegeln. „Er wird es nicht von Süden her versuchen“, sagte der Seewolf leise. „Ich würde da nicht sicher sein“, entgegnete Ben Brighton, der ewige Skeptiker. „Dieser Doolin ist für Überraschungen gut, das weißt du.“ „Sicher.“ Hasard nickte. „Deshalb haben wir Dan im Großmars. Aber wenn ich der Einäugige wäre, würde ich mich für die Luv-Position entscheiden, also. aus einer nördlichen Richtung zustoßen.“ Ben Brighton brummte zustimmend. „Das könnte in der Tat entscheidend sein. Wenn er sich von Süden nähert, hat er die
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Lee-Position. Aber vielleicht wartet er überhaupt ab, bis wir verschwunden sind.“ „Ein Gefallen, den wir ihm nicht tun werden“, sagte der Seewolf entschlossen. Das Gespräch zwischen den beiden Männern versiegte. Sie konzentrierten sich darauf, in die Dunkelheit hinauszuhorchen und die schwach erkennbare Linie der Kimm zu beobachten. Doch die Sichtweiten erwiesen sich als wechselnd, denn im Verlauf der Abendstunden zogen Wolkenfelder nach Südwesten. Häufig wurden Mond und Sterne durch schwarze Bänke verdeckt. Dann betrug die Sichtweite bestenfalls noch zwei bis drei Seemeilen. 7. „Petit Bouchon“, sagte Edmond Bayeux, „irgendwie habe ich so ein merkwürdiges Gefühl.“ „Irgendwie?“ fragte Marc Alderney, dessen Spitzname „Stöpselchen“ bedeutete und in krassem Widerspruch zu seiner mächtigen Statur stand. „Kannst du dich nicht etwas klarer ausdrücken?“ Die beiden Männer harrten seit Beginn der Aufklärungsfahrt auf dem Achterdeck der „Le Griffon“ aus. Desgleichen die übrigen elf normannischen Schrats, die ihre Gefechtsstationen eingenommen hatten. Keiner von ihnen zeigte auch nur einen Hauch von Müdigkeit. „Gefühle sind nie was ganz Klares“, widersprach Edmond Bayeux. „Da kann man nicht einfach was behaupten und dann Punktum sagen.“ Alderney starrte ihn von der Seite an. Da gerade die Wolkendecke aufgerissen war, konnte er im fahlen Mondlicht Bayeuxs zerklüftete Gesichtslandschaft sehen. Ein einziges Rätsel. Der Teufel mochte wissen, was Edmond mit seinen Andeutungen ausdrücken wollte. Normalerweise hätte Marc Alderney, seines Zeichens Bootsmann der „Le Griffon“ nicht weiter darüber nachgedacht. Wenn aber durch irgendeine krause Idee seines Kapitäns eine Änderung des
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taktischen Vorgehens zu befürchten war, dann wollte er doch ein Wörtchen mitreden. Immerhin gab es in der Gegend auch noch Spanier, vorzugsweise Spanier. Denen konnte man durchaus zufällig ins Gehege geraten. Und Petit Bouchon verspürte wahrhaftig nicht die geringste Neigung, noch einmal von den Dons gefangengenommen zu werden. „Hör mal“, sagte er daher, „ich bin froh und dankbar, daß wir von Philip Hasard Killigrew und seinen Freunden befreit wurden. Ich weiß, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, in den Bund der Korsaren aufgenommen worden zu sein und außerdem noch diese prächtige Karavelle erhalten zu haben. All das weiß ich sehr wohl zu würdigen, mein lieber Edmond Bayeux.“ Bayeux ruckte herum und sperrte die Augen weit auf. „Petit Bouchon“, sagte er entgeistert, „hast du deine rührseligen Minuten? He, was ist in dich gefahren? Liegt's etwa dran, daß es auf Mitternacht zugeht?“ Er hieb ihm auf die Schulter. „Fang mir bloß nicht an, auch noch in Tränen auszubrechen!“ Jeder normale Sterbliche wäre unter dem Schulterhieb in die Knie gegangen. „Stöpselchen“ schüttelte jedoch nur unwillig den Kopf. „Du brauchst nicht über mich zu lachen“, sagte er knurrend. „Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben einen klaren und eindeutigen Auftrag, den wir auszuführen haben. Wenn du anfängst, von ‚irgendwie' zu faseln und von einem merkwürdigen Gefühl, dann kann das einfach nichts Gutes bedeuten. Dir wird's mal wieder zu langweilig, schätze ich.“ „Was heißt ,mal wieder'?” entgegnete Bayeux aufbrausend. „Wann ist mir jemals irgendwas zu langweilig geworden? He, wann?“ „Das brauche ich jetzt nicht im einzelnen zu erklären“, erwiderte Petit Bouchon spitz. „Du willst auch bloß ablenken, das weiß ich.“ „Wovon denn ablenken?“ rief Bayeux fauchend. „Himmel, du schwadronierst
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herum, und dann hast du auch noch die Frechheit, mir vorzuhalten, ich wolle von irgendwas ablenken!“ „Schwadronieren?“ entgegnete Alderney erbost. „Ich schwadroniere? Wie kannst du so was ...?“ Bayeux packte ihn am Kragen. „Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte er gefährlich leise. „Wenn du jetzt nicht augenblicklich zur Sache kommst, ramme ich dich unangespitzt zwischen die Decksplanken. Ist das klar? Also: Was hast du an mir auszusetzen, wenn du noch gar nicht weißt, was ich sagen wollte?“ „Laß mich los“, knurrte Alderney und wischte die Fäuste seines Kapitäns mühelos weg. „Ich befürchte, daß du irgendwas Neues ausgebrütet hast. Aber da spiele ich nicht mit, das schwöre ich dir. Unsere Aufgabe lautet klar und eindeutig: erkunden. Wir im westlichen Halbsektor und Siri-Tong drüben im östlichen. Daran sind wir gebunden. Wenn du glaubst, deine eigene Suppe kochen zu müssen ...“ „Jetzt mach mal halblang!“ zischte Bayeux, packte ihn erneut und schüttelte ihn. „Ich habe nichts dergleichen gesagt. Nicht mal gedacht!“ „Aber irgendwie ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Mann, Edmond, du willst mir doch nicht erzählen, das hättest du einfach nur so dahergeredet.“ „Natürlich nicht, du Wurzelzwerg. Was ich gemeint habe, ist schlicht und einfach was ganz anderes. Ich hab' das verdammte Gefühl, daß in dieser Nacht noch was passiert. So was merkt man doch manchmal! Das heißt überhaupt nicht, daß ich vorhabe, irgendetwas zu ändern.“ „Was soll denn passieren?“ fragte Petit Bouchon mißtrauisch. Bayeux klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Himmel noch mal, womit habe ich das bloß verdient? Wenn ich noch mal auf die Welt komme, möchte ich nur von Menschen umgeben sein, die ...“ „Laß dich nicht weiter aus“, unterbrach ihn Alderney warnend. „Könnte sonst sein, daß ich mich über deinen Rang und sonst was einfach hinwegsetze.“ Er senkte seine
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Stimme zu versöhnlichem Klang. „Also tu mir einen Gefallen und drück dich jetzt endlich klar aus.“ Edmond Bayeux seufzte verzweifelt. Einen Moment war er noch versucht, Petit Bouchon auf seine völlige Verdrehtheit hinzuweisen. Dann aber gab er es auf. „Ich vermute“, sagte er ergeben, „daß wir es sind, die auf den Einäugigen und seinen Schlickrutscher stoßen werden.“ Petit Bouchon riß die Brauen hoch. „Woher willst du das wissen?“ Bayeux verdrehte die Augen. „Himmel hilf!“ ächzte er. „Bitte nicht schon wieder! Bouchon, ich hab gesagt, es ist nur so ein Gefühl. Man könnte es auch eine Ahnung nennen oder ...“ Der halblaute Ruf des Ausgucks unterbrach ihn. „Deck! Schatten Backbord voraus!“ Edmond Bayeux stand eine Sekunde wie erstarrt. Dann bestätigte er, schnappte sich seinen Kieker und kümmerte sich nicht mehr um „Stöpselchen“. Marc Alderney atmete tief durch. Dann beschloß er, sich ebenfalls mit einem Spektiv auszurüsten und die Beobachtung des angeblichen Schattens aufzunehmen. „Tatsächlich“, murmelte Bayeux mit vibrierender Stimme, als Alderney sich neben ihm aufbaute. Bayeux drehte an der Scharfstellung seines Spektivs. Sekunden später hatte auch Alderney den Schatten in der Optik. „Ein Dreimaster“, sagte er nach einer Weile und fühlte sich regelrecht erleichtert, endlich etwas Greifbares vor sich zu haben. Nichts mehr, was nur irgendwie auf einem merkwürdigen Gefühl beruhte. „Eine dreimastige Galeone“, murmelte Edmond Bayeux, ohne das Spektiv abzusetzen. Und ich will verdammt sein, wenn das nicht ...“ Er sprach nicht weiter. „Natürlich ist das die ,Scorpion`“, sagte Petit Bouchon im Brustton der Überzeugung. „Das sehe ich allein schon am Heck, an der Galerie und an der Form der Galion.“ „Du hast recht“, sagte Bayeux heiser. „Es ist der verdammte Einäugige.“ Er setzte den Kieker ab und hieb seinem
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Nebenmann abermals auf die Schulter. „Mann, Petit Bouchon, wenn das der alte O'Flynn miterleben könnte, daß ich das zweite Gesicht habe!“ „Du kannst es ihm ja erzählen“, sagte Alderney trocken. „Das klingt nicht so, als ob du dich als mein Zeuge zur Verfügung stellen willst.“ „Kaum. Für Spinnereien hab ich nichts übrig. Soll ich dir was sagen, Edmond?“ „Heraus damit.“ „So ein irgendwie merkwürdiges Gefühl kann man sich in unserem Fall leicht einbilden. Erstens war es anzunehmen, daß der Einäugige wieder aufkreuzt. Zweitens hatte er nach menschlichem Ermessen nur die beiden Möglichkeiten, in unserem Sektor oder drüben bei Siri-Tong zu erscheinen.“ Bayeux schnaufte. „Du kannst einem auch jede Illusion rauben. Ich werd's trotzdem Old Donegal erzählen. Er freut sich wenigstens über solche Geschichten.“ Der Ausguck meldete sich erneut. „Schatten wandert nach Norden aus!“ Es war das Zeichen für die beiden Männer auf dem Achterdeck, ihr Gespräch vorläufig zu beenden. Marc Alderney begab sich auf die Kuhl, überzeugte sich von der Gefechtsbereitschaft und teilte den Männern leise mit, wen sie gesichtet hatten. Edmond Bayeux hantierte unterdessen mit dem Astrolabium, um eine neue Positionsbestimmung vorzunehmen. Die „Le Griffon“ befand sich jetzt etwa vier Seemeilen nordwestlich der „Isabella“. Die Galeone der englischen Galgenstricke war höchstens eineinhalb Seemeilen entfernt. Mehr Sichtweite war augenblicklich nicht möglich. Bayeux überzeugte sich, daß die „Scorpion“ ihren Nordkurs beibehielt. Die englischen Halunken aus Cornwall hatten keine Laternen gesetzt. Und da auch die „Le Griffon“ ohne Lampen segelte, bestand wenig Gefahr, daß man sich gegenseitig allzu früh entdeckte. Bayeux befahl Kurswechsel nach Nordwest. Hart am Wind über
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Backbordbug segelnd, hängte sich die Karavelle an die unbeirrt dahinrauschende Galeone. Auf der Kuhl der „Le Griffon“ standen die Männer stumm und voller Spannung an den Geschützen. Die ehemalige spanische Kriegskaravelle „Chubasco“ war auf jeder Seite mit acht Culverinen und zwölf Drehbassen bestückt. Durch ihre schwere Ladung war die jetzige „Le Griffon“ nicht so schnell und wendig wie sonst. Doch schon sehr bald konnte Edmond Bayeux feststellen, daß sie aufholten. Sein Bootsmann war auf das Achterdeck zurückgekehrt. „Entweder haben die Kerle überhaupt keinen Ausguck“, sagte er halblaut, „oder sie haben einen mit Quallen auf den Augen.“ „Sie fühlen sich sicher“, entgegnete Edmond Bayeux. „Warum sollten sie? So einfältig kann man doch gar nicht sein.“ „Das nicht. Aber dieser einäugige Galgenstrick geht von anderen Voraussetzungen aus als wir.“ „Wie meinst du das?“ „Ganz einfach so: Doolin hält uns für genauso beutegierig wie sich selbst. Er weiß nichts vom Untergang und von der Position der Schlangen-Insel, und er weiß auch nichts von der besonderen Beziehung, die Hasard und die anderen dazu haben. Also folgert der Strolch aus Cornwall, daß wir nichts anderes zu tun haben, als die Sachen heraufzufischen, für die er sich so brennend interessiert.“ „Mhm.“ Petit Bouchon brummte nachdenklich. „Du meinst, er vermutet unsere sämtlichen drei Schiffe noch am selben Fleck.“ „Klar. Was hätten wir denn auch zu befürchten, wenn es so wäre? Wir wären in der Übermacht. Also könnten wir uns in aller Seelenruhe auf die Beute konzentrieren.“ „Was meinst du, was der Kerl vorhat?“ „Ich denke, er wird bald seinen Kurs ändern. Erst nach Osten, dann nach Süden.
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Dann stößt er von Norden auf die ‚Isabella' zu.“ „In die Mausefalle.“ „Das ahnt er nicht. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch versuchen, die drei Schiffe heimlich im Enterkampf zu nehmen:“ „Die Suppe werden wir ihm gründlich versalzen“, sagte Marc Alderney grimmig. Mit einiger Mühe, doch unaufhaltsam aufholend, arbeitete sich die „Le Griffon“ an die englische Piratengaleone heran. Von Steuerbord achteraus schlich die Karavelle wie ein Schatten auf die Gejagten zu, die von ihrem Jäger noch nichts zu wissen schienen. Sie mußten in der Tat mit Blindheit geschlagen sein, denn zumindest die weißschäumende Bugwelle der „Le Griffon“ mußte in der Dunkelheit zu erkennen sein - wenn man nur einmal hinschaute. Aber One-Eye-Doolin schien andere Überlegungen anzustellen, als sich mit seiner unmittelbaren Umgebung zu beschäftigen. Bayeux schickte die Männer an die vorderen Steuerbord-Drehbassen. Zielstrebig wie ein einsamer Wolf rauschte die tiefliegende Karavelle auf das breite Heck der Galeone zu. Edmond Bayeux zählte die Sekunden und schätzte die Distanz ab, wie sie sich Yard um Yard verringerte. Er durfte es den Männern an den Hinterladern nicht erschweren. Es nutzte nichts, aus zu großer Entfernung zu feuern. Dann würde die Wirkung gleich Null sein. Nur noch drei oder vier Yards trennten sie von der bestmöglichen Schußentfernung, als das Unerwartete geschah. Die „Scorpion“ legte sich mit behäbiger Eleganz auf den anderen Bug und ging auf Ostkurs. Von Bord der Galeone waren Befehle zu hören, und deutlich konnte man bereits die Schatten der Kerle auf den verschiedenen Decks erkennen. Hart am Wind segelte die Galeone ostwärts, und Bayeux wußte, daß seine Vermutung stimmte. Der Einäugige würde diesen mühseligen Kurs
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beibehalten, bis er in geschätzter Höhe der Position der „Isabella“ nach Süden abdrehen konnte. Mit immerhin rauschender Fahrt kreuzte die „Le Griffon“ das Kielwasser der „Scorpion“ und nahm wenig später die Verfolgung auf - um knapp zwei Kabellängen seitlich versetzt Backbord achteraus segelnd. Auf gleichem Kurs und unter gleichen Voraussetzungen stellte sich jetzt heraus, daß die Karavelle der bessere Am-WindSegler war. Das zeigte sich trotz der schweren Ladung. Acht Minuten nach dem Kurswechsel war es soweit. Bayeux ließ die „Le Griffon“ nach Steuerbord abfallen und jagte gleich darauf in das Heckwasser der „Scorpion“. Der Mann an der vordersten BackbordDrehbasse stand breitbeinig und geduckt hinter der schwenkbaren Lafette. Das Rohr des Hinterladers war schräg nach oben auf das steil aufragende Heck der Galeone gerichtet. „Gib ihm den Achterstich“, flüsterte Bayeux, und aus den Augenwinkeln heraus sah er, daß auch Petit Bouchon wie gebannt zum Vorschiff starrte. Der Schuß in die Ruderanlage war eine von den Seewölfen zur Perfektion entwickelte Methode. Besonders gut funktionierte sie bei Nacht, wenn man sich an einen Gegner heranschleichen konnte wie es den Mannen der „Le Griffon“ soeben gelungen war. Eine Lücke in der Wolkendecke goß Mondlicht über die beiden Schiffe aus. Besser kann es nicht kommen, dachte Edmond Bayeux grimmig. Deutlich war die Heckgalerie des Engländers zu erkennen. Hinter den Bleiglasfenstern einer der Achterdeckskammern brannte blakendes Licht. Der Drehbassenschütze senkte die Lunte. Funken sprühten. Eine Feuerzunge stieß aus dem schlanken Rohr, das Brüllen des Schusses ertönte fast im selben Moment. Krachen und Bersten folgten.
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Edmond Bayeux hatte die Hände zu Fäusten geballt und riß bereits den Mund auf, um triumphierend loszubrüllen. Ein Wirbel von Splittern fetzte aus der Heckgalerie. Die Scheiben der Achterdeckskammern lösten sich klirrend in tausend Einzelteile auf. „Zu hoch!“ schrie Petit Bouchon wütend. „Verdammter Mist!“ fluchte Edmond Bayeux, und er steigerte die Lautstärke seiner Stimme. „Nehmt die nächste Drehbasse! Verpaßt ihm noch ein Ding!“ Doch an Bord der „Scorpion“ hatte wüstes Gebrüll eingesetzt. Rauhe Stimmen bellten Befehle. Im selben Augenblick, in dem die „Le Griffon“ anluvte, um die vordere Steuerbord-Drehbasse zum zweiten Achterstich einsetzen zu können, fiel die Galeone ab. Beide Schiffsbewegungen addierten sich zu einer solchen Schnelligkeit, daß dem Drehbassenschützen an Bord der Karavelle keine Zeit mehr zum Visieren blieb. „Hölle und Teufel!“ brüllte Petit Bouchon. „Ihr Schnarchhähne! Muß man denn alles selber machen?“ „Nächstes Mal überlassen wir's dir gern!“ tönte es von der Back zurück. „Besserwisser soll man nie zurückhalten.“ „Ruhe!“ befahl Edmond Bayeux mit Donnerstimme und gab dem Rudergänger Order, ebenfalls abzufallen. Die „Scorpion“ ging auf Südkurs und mußte nach Berechnung des Mannes aus der Normandie ziemlich genau auf die „Isabella“ zulaufen. Die „Le Griffon“ nahm nun ebenfalls ihren neuen Kurs ein und lag schräg Steuerbord achteraus von der Galeone der englischen Galgenstricke. „Der Drehbassenschuß war schwierig“, sagte Edmond Bayeux. „Das mußt du zugeben, Petit Bouchon. Aber jetzt kriegt er Zunder, unser einäugiger Freund und Kupferstecher.“ „Auf was warten wir dann noch?“ rief Petit Bouchon und wandte sich nach vorn. „Klar bei Drehbassen und Culverinen!“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es im Chor zurück. Der Ausguck war abgeentert und hatte sich bei den Geschützmannschaften eingereiht.
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„Drehbassen eins bis vier an Backbord!“ brüllte Bayeux. „Feuerbereit?“ „Feuerbereit!“ tönte es zurück. „Feuer!“ folgte der Befehl Bayeux'. In kurzen Abständen spien die Geschützrohre ihre Ladungen aus gehacktem Blei aus. Wieder waren die schmetternden Einschläge aus dem Heckbereich der „Scorpion“ zu hören. Und wieder erklang wütendes Gebrüll von Bord der Galeone. „Ruder hart Backbord!“ rief Edmond Bayeux mit metallischem Klang. Die anluvende Karavelle lag nahezu auf Ostkurs, als sie das Heck der „Scorpion“ in geringer Entfernung passierte. Fast hätte man hinüberspucken können. „Culverinen an Steuerbord, Feuer!“ brüllte Bayeux. Im nächsten Sekundenbruchteil wurden die Luntenstöcke gesenkt, und nur Atemzüge vergingen, bis die Breitseite der „Le Griffon“ losdonnerte. Acht Feuerzungen leckten auf das Heck der Galeone zu, der Rückstoß der Geschütze ließ die Karavelle nach Backbord krängen. Die rumpelnden Lafetten wurden von den Brooktauen aufgefangen, und als die Karavelle ihre Lage wieder stabilisierte, befand sich die „Scorpion“ bereits Steuerbord achteraus. Edmond Bayeux und Marc Alderney waren herumgewirbelt. Sie mußten Sekunden verstreichen lassen, bis die Wolkendecke wieder aufriß und sie erkennen konnten, welches Ergebnis die Breitseite erzielt hatte. Mehrere Treffer im Heck, das war klar zu erkennen. Aber die Ruderanlage der CornwallHalunken war noch immer intakt. „Hölle und Teufel!“ rief Edmond Bayeux wütend. „Die müssen einen Schutzengel haben, die verdammten Strolche!“ „Erzähle es Old O'Flynn“, empfahl Marc Alderney spöttisch. „Der wird schon eine schaurige Erklärung dafür haben.“ Bayeux verzichtete auf eine passende Antwort. Er wußte, daß nun nichts mehr daraus wurde, den Engländer schnell manövrierunfähig zu schießen. Er mußte sich auf seine eigentliche Aufgabe
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konzentrieren, wie sie mit Hasard und SiriTong abgesprochen war. Er würde die „Scorpion“ immer wieder unter Beschuß nehmen -pausenlos und mit unnachgiebiger Härte. Denn er hatte die Luvposition und konnte den Gefechtsverlauf bestimmen. 8. One-Eye-Doolin hatte das verteufelte Gefühl, in eine Art Vorstufe zum Weltuntergang geraten zu sein. Minutenlang beobachtete er in stummer Wut die hin und her hastenden Kerle auf der Kuhl. Wie die aufgescheuchten Hühner rannten sie durcheinander, als hätte man sie zum ersten Male in ihrem lausigen Leben aufgefordert, Geschütze zu laden. Dann platzte die Wut aus ihm heraus. „Bewegt euch, ihr Drecksäcke!“ brüllte er mit überkippender Stimme. „Hölle und Teufel, geht das nicht schneller! Oder wollt ihr euch von den verfluchten Bastarden zu Klump schießen lassen? Schneller, habe ich gesagt! Habt ihr Bohnen in den Ohren? Hölle und Satan, wenn ihr nicht gleich pariert ...“ Mit einem wilden Ruck riß er die Pistole aus dem Gurt und jagte eine Kugel über die Köpfe der Kerle hinweg. Das Blei sirrte über die Back in die Nacht hinaus. Der peitschende Knall hatte die Galgenstricke zusammenzucken lassen. Fassungslos starrten sie zum Achterdeck. Einiges waren sie von ihrem Kapitän ja gewohnt. Aber dies war denn doch zuviel, um in etlichen von ihnen den Wunsch zu erwecken, ihm auf der Stelle den Hals umzudrehen. Wenn da nicht die drohende Gefahr durch die unheimliche Karavelle gewesen wäre, hätte es für One-EyeDoolin kritisch ausgesehen. So aber konnte er seinem Tobsuchtsanfall freien Lauf lassen. „Hab' ich was von Stehenbleiben. gesagt?“ schrie er schrill, auf den Zehenspitzen wippend. Hätte er eine doppelläufige Pistole in der Hand gehabt, wäre einer der Kerle jetzt reif gewesen. So aber blieb ihm nichts anderes, als mit der Waffe zu
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gestikulieren. „Geschütze klarieren, verdammt noch mal! In zwei Minuten will ich Gefechtsbereitschaft gemeldet haben! Wenn ihr nicht pariert, ist das Meuterei! Wenn noch einer von euch stinkigen Ratten meine Befehle nicht befolgt, verpasse ich ihm eigenhändig eine Kugel! Ist das klar?“ Für Sekunden starrten sie ihn weiter an. Es wurde ein stilles Kräftemessen. Mit einem jähen Ruck griff er zur Pulverflasche, die an seinem Gürtel hing. Doch er verschüttete die Hälfte des Pulvers, als er es in den Lauf zu kippen begann. Seine Hände zitterten zu sehr. „Weitermachen“, sagte einer der Kerle auf der Kuhl leise. „Wir schneiden uns sonst ins eigene Fleisch. Mit Doolin würden wir fertig werden. Aber mit denen da draußen...“ Mehr brauchte nicht gesagt zu werden. Sie alle sahen die schattenhafte Karavelle, die an Backbord achteraus auf Ostkurs lag. Jeden Moment konnten sich die unheimlichen Gegner entschließen, erneut zuzustoßen. Deshalb setzte sich Doolins wilder Haufen wieder in Bewegung. Der Rudergänger, in unmittelbarer Nähe des Einäugigen, war froh, es lebend überstanden zu haben. Doolins Warnschuß hätte ohne weiteres ihn treffen können. Davon war er keineswegs weit entfernt gewesen. Tatsächlich meldeten die Decksleute gleich darauf Gefechtsbereitschaft, und One-EyeDoolin atmete auf. Jetzt würde er es diesen Hunden zeigen, an wen sie sich herangetraut hatten. Mit einer lächerlichen Karavelle wollten sie ihm beikommen! Er würde sie auf die Hörner nehmen und in Stücke reißen! Diese elenden Schwachköpfe sollten ihn kennenlernen. Der Teufel mochte wissen, woher sie die Dreistigkeit nahmen, sich mit ihm anzulegen. Zu Hause, im Kanal, gab es niemanden, der das riskiert hätte. Doolin wurde ruhiger, nachdem er Befehl gegeben hatte, ebenfalls auf Ostkurs anzuluven. „So, Freundchen“, knurrte er voller Grimm und spähte zu dem Schatten der Karavelle
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hinüber. „Nun wollen wir mal sehen, wer hier mit wem Katz und Maus spielt.“ Er mochte es nicht einmal vor sich selbst zugeben, doch seine Wut hatte sich genaugenommen überhaupt nicht auf die Kerle an Deck bezogen. Es war die Wut über seine eigene Fehleinschätzung der Lage gewesen. Denn diese räudigen Bastarde auf der Karavelle gehörten zu den Halunken des Seewolfs. Die Karavelle war eins der drei Schiffe, denen sie am Schatz-Fund ort begegnet waren. Doolin schalt sich einen verdammten Narren, daß er nicht von selbst darauf gekommen war, welche Taktik sie anwendeten. Diese widerwärtigen Hurensöhne suchten die See nach ihm ab, um ihn zu erledigen und dann erst ungestört und in aller Ruhe – nach den Klunkern zu fischen. Teufel, ja, sie wollten eben ganz sicher gehen, daß sie den Reichtum auch für sich behielten. Nun gut, sollten sie es versuchen. Er würde ihnen den Plan nach allen Regeln der Kunst durchkreuzen. Seine Stimmung sank erneut auf den Nullpunkt, als er Augenblicke später beobachten mußte, wie der Hund mit der Karavelle einfach wendete und auf Gegenkurs ging. Der Einäugige mußte begreifen, daß sein Traum von Doolin Islands in weite Ferne gerückt war. Und das war haargenau der Punkt, der ihn am meisten in Raserei brachte. * Dumpf grollend hallte der Geschützdonner von Norden her über die See. Dan O'Flynn hatte die Schußblitze im nächsten Moment gesichtet, und Hasard und Ben Brighton hoben reaktionsschnell die Spektive. Der Erste Offizier der „Isabella“ peilte die genaue Position der Gefechtsgegner ein, als eine volle Breitseite krachte. „Richtung Norden-zum-Westen!“ meldete er. Der Seewolf überlegte nicht lange.
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„Hievt auf Treibanker!“ befahl er mit heller Stimme. „Segel aus dem Gei!“ Hart am Wind über Backbordbug segelnd, lief die „Isabella“ gleich darauf nordwärts. Trotz der beträchtlichen Ladung nahm die schlanke Galeone rasch Fahrt auf. Jeder Fetzen Tuch war gesetzt, und der handige Nordost blähte es zur Brettsteife. In kurzen Abständen rollte erneuter Geschützdonner über die See. Hasard und seine Gefährten konnten den helleren Klang von Drehbassen und das dumpfere Krachen der Culverinen unterscheiden. Etwas mehr als zehn Minuten vergingen, und der Seewolf gewann eine genaue Vorstellung von dem, was sich da vor ihm abspielte. Sie befanden sich genau in einer Phase, in der Edmond Bayeux und seine Mannen mit der „Le Griffon“ westwärts liefen. Dabei wurden sie von der „Scorpion“ verfolgt, die sich schräg Backbord achteraus von der Karavelle befand. Bayeux ließ mit den Drehbassen in die Richtung des Verfolgers feuern. Der Einäugige erwiderte das Feuer mit seinen Steuerbordstücken, aber er war noch nicht nahe genug heran, um auch nur das Geringste ausrichten zu können. Doch Edmond Bayeux war ohnehin darauf bedacht, außerhalb der Schußweite zu bleiben. Letztlich veranstaltete er nur „Feuerzauber“, um die Gefährten vom Bund der Korsaren durch die Peilung der Mündungsfeuer heranzuführen. Rechtzeitig, um das Spiel nicht zu gefährlich werden zu lassen, ging Bayeux wieder auf Ostkurs. Doolin war gezwungen, das gleiche Manöver zu vollziehen, doch zweifellos mußte er allmählich durchdrehen, weil er den Gegner einfach nicht zu fassen kriegte. Entscheidend war nun, ob der Einäugige überhaupt ahnte, welche finsteren Wolken sich über ihm zusammenbrauten. Bereits in Sichtweite der „Isabella“ rauschte von Südosten die „Caribian Queen“ heran. Eine knappe halbe Stunde war nach der Gefechtseröffnung durch Edmond Bayeux
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vergangen, als Dan O'Flynns Stimme aus dem Großmars ertönte. „Deck! Galeone an Steuerbord voraus! Es ist die Galeone des Einäugigen!“ Mit zwei federnden Schritten war der Seewolf an der Steuerbordverschanzung des Achterdecks und hob das Spektiv ans Auge. Durch die Optik des Kiekers sah Hasard die Mündungsblitze, die die Nacht grell zuckend erhellten. Unablässig rollte der Geschützdonner, und vor dem feurigen Hintergrund der Schüsse zeichneten sich die Umrisse der dreimastigen Galeone wie ein Scherenschnitt ab. „Pete!“ rief der Seewolf, ohne den Kieker abzusetzen. „Sir?“ antwortete der Gefechtsrudergänger der „Isabella“, der breitbeinig am Steuerruder stand. Seine Fäuste, so groß wie Ankerklüsen, hielten das Ruder unverrückbar fest. In seiner Erfahrung und Zuverlässigkeit nahm Pete Ballie es mit jedem auf den Weltmeeren auf. „Kurs unbedingt halten!“ „Aye, aye, Sir - Kurs halten!“ Die Karavelle der Normannen und die „Scorpion“ segelten ostwärts, während die Galeone des Seewolfs hart am Wind über Backbordbug heranrauschte. Doolin hatte die Leeposition, und er war gegenüber Edmond Bayeux eindeutig im Nachteil. Doch er schien sich geradezu in die Absicht verbissen zu haben, es mit dem scheinbar schwächeren Gegner aufzunehmen. Hasard war überzeugt, daß Edmond auch allein mit dem Einäugigen fertiggeworden wäre. Die Schäden im Heckbereich der „Scorpion“ sprachen immerhin eine deutliche Sprache. Doch es war andererseits nicht nötig, ein überhöhtes Risiko einzugehen. Doolins Verbissenheit war die einzig denkbare Erklärung dafür, daß weder er noch einer seiner Kerle nach Süden hin beobachtete. Es war ein unverzeihlicher Fehler, den er beging, und er sollte sehr schnell begreifen, was das für ihn bedeutete.
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Innerhalb von Minuten schmolz die Distanz zusammen. Näher und näher schob sich die „Isabella“ an den Gegner heran, der von dem drohenden Verderben noch immer nichts zu ahnen schien. Dan O'Flynn hatte seinen Platz im Großmars Big Old Shane überlassen. Der Schmied von Arwenack baute seine beiden Köcher mit den Brand- und Pulverpfeilen griffbereit auf, außerdem ein Kohlebecken, das ihm von Luke Morgan heraufgebracht wurde. Er brauchte es zum Zünden der Pfeile. Im Fockmars richtete sich unterdessen Batuti auf die gleiche Weise ein. Beide Männer überprüften noch einmal die Spannung ihrer englischen Langbogen und warteten dann auf die günstige Schußposition. Steuerbord voraus zeichneten sich die Schattenlinien der „Scorpion“ wie auf dem Präsentierteller ab. Die Wolkendecke hatte sich ein wenig aufgelockert, und die Mündungsblitze wären nicht einmal erforderlich gewesen, um die dreimastige Galeone zu erspähen. Edmond Bayeux' Karavelle wurde durch die Galeone verdeckt. Daß die „Le Griffon“ aber noch da war, ließ sich daraus entnehmen, wie verbissen der Einäugige versuchte, seinen Gegner zu packen. Auf der „Isabella“ spannten die Männer ungewollt die Muskeln an. Sämtliche Geschützmannschaften standen an Steuerbord bereit, längst waren die Kohlebecken aufgebaut worden. Ferris Tucker kauerte auf der Back hinter seiner Höllenflaschenabschußkanone und lauerte auf eine günstige Gelegenheit, die Apparatur endlich einmal wieder einsetzen zu können. Batuti und Big Old Shane hatten stets die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann der für sie günstigste Zeitpunkt da war. Denn nur sie selbst konnten den günstigsten Schußwinkel berechnen, und eben dies war nur aus ihrer eigenen Position in den Marsen möglich. So stiegen unvermittelt die ersten beiden Brandpfeile von der „Isabella“ auf. Mit feurigem Kometenschweif erhoben sich
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die Glutpunkte in die Nacht und senkten sich dann mit unheimlicher Präzision auf die „Scorpion“ nieder. Erschrockene Schreie waren von Bord der Galeone zu hören. Die Kerle traf es buchstäblich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als sie plötzlich Flammen über ihren Köpfen lodern sahen. Einer der Brandpfeile hatte das Besansegel durchschlagen und steckte züngelnd in einer Achterdecksplanke. Der andere brennende Pfeil war fast senkrecht durch das Fockmarssegel gerast, hing pendelnd in der unteren Hälfte des Tuches und ließ seine züngelnden Flammen aufsteigen. Die beiden erfahrenen Bogenschützen in den Marsen der „Isabella“ ließen die Kerle auf der „Scorpion“ nicht mehr zur Ruhe kommen. In unablässiger Folge stiegen die Pfeile aus den Marsen auf. Batuti und Big Old Shane verwendeten dabei abwechselnd Brandpfeile und Pulverpfeile. Die Ladungen in den Schäften der Pulverpfeile explodierten mit Getöse auf den Decks der „Scorpion“. Das Entsetzensgeschrei der Galgenstricke übertönte noch die Detonationen. Wie Leuchtspurbahnen eines chinesischen Feuerwerks zischten die Pfeile durch die Dunkelheit. Von dem Feuerwerk, das die Chinamänner so meisterhaft zu gestalten verstanden, unterschied sie lediglich, daß sie nicht dort oben am Nachthimmel, sondern haargenau im vorberechneten Ziel auf Schiffsplanken ihren krachenden und hell leuchtenden Spuk veranstalteten. Längst war die „Le Griffon“ auf Distanz gegangen, hatte den Bug nach Norden durch den Wind gedreht und war bereit, erneut zuzustoßen. Und für One-Eye-Doolin und seine Kerle gab es vorerst ohnehin keinen Gedanken mehr daran, daß Gefecht mit der verfluchten Karavelle fortzusetzen. * Für den einäugigen Mann auf dem Achterdeck der „Scorpion“ war es, als würde ihm ein höhnisch grinsender Teufel die Planken unter den Stiefeln wegziehen.
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„Reiß dich zusammen, Mann!“ brüllte er den Rudergänger an, der zitternd an seinem Platz ausharrte und sich jedesmal tief über das Steuerruder duckte, wenn einer der Pfeile herabzischte. Im nächsten Moment sprang Doolin auf einen neuen Brandpfeil zu, der sich in die Achterdecksplanken beim Backbordniedergang gebohrt hatte. Die Flammen züngelten an dem schlanken Schaft hoch, der noch von der Wucht des Einschlags zitterte. Ohne zu überlegen, federte Doolin hoch, um die brennende Pfeilspitze mit den Stiefeln auszutrampeln. Auf der Kuhl explodierte wieder eine von diesen verfluchten Ladungen, die sie ebenfalls mit ihren Bogen herüberschossen. Und die dämlichen Kerle schrien, als würden sie am Spieß geröstet. Mitten im Sprung durchfuhr es Doolin siedendheiß, daß er keine Ahnung hatte, um was für einen Pfeil es sich handelte, der da unter ihm in der Planke steckte. Zumindest düster war die Ahnung, die jäh in ihm Platz greifen wollte. Im nächsten Sekundenbruchteil, als seine Stiefel hinabsausten, brüllte ein glühend roter Schlund unter ihm auf. Er hatte das Gefühl, von einem satanischen Schlund im Fegefeuer verzehrt zu werden. Glühendheiß wurde es jedenfalls unter seinem allerwertesten Körperteil. Im Widerspruch zu dem sich auftuenden Schlund, in den er zu versinken schien, gab es eine plötzlich hervorschnellende unsichtbare Faust, die ihn von der Glut weg auf die Planken schleuderte. Diese Faust war so mächtig, daß er weit schlidderte und erst von der Heckbalustrade gestoppt wurde. Doolin hatte noch nicht begriffen, daß es die Ladung eines Pulverpfeils gewesen war, die ihn auf so harte Weise durch die Luft gewirbelt hatte. Er spürte nur, daß sein Achtersteven noch immer höllisch heiß war. Und als er sich auf die Seite wälzte, stieg ihm durchdringender Brandgeruch in die Nase. Der Rudergänger stieß einen gellenden Schrei aus.
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„Helft!“ schrie er den Kerlen auf der Kuhl zu. „Wasser! Kapitän Doolin brennt! Sein Hintern brennt!“ Doolin wälzte sich verzweifelt und wäre vor Wut am liebsten zwischen die Planken versunken. Er vermochte die Flammen an seiner Kehrseite nicht aus eigener Kraft zu löschen. Erst als zwei Kerle zur Stelle waren und Pützen mit Wasser über ihm entleerten, wurde es um den Achtersteven herum kühler. Sie halfen One-Eye-Doolin auf die Beine. Haargenau in diesem Moment sirrte erneut eins von den kometenhaften Dingern auf das Achterdeck. „Löscht!“ schrie Doolin mit sich überschlagender Stimme. „Los, ihr verdammten Hunde, wollt ihr wohl löschen! Oder sollen wir uns von den dreckigen Bastarden rösten lassen?“ Die „dreckigen Bastarde“ feuerten eine Drehbasse auf ihn ab. Die Ladung zerlegte die Bleiglasscheiben der an Steuerbord befindlichen Achterdeckskammern in einen Scherbenregen. Das gab Doolin den Rest. „Abfallen!“ brüllte er. „Abfallen nach Süden! Wir gehen auf Südkurs!“ Seine Stimme ging unter im unaufhörlichen Krachen der Pulverpfeile. Brandpfeile hingen an den verschiedensten Stellen im Rigg oder steckten in den Decksplanken und in der Steuerbordseite. Die ersten Brandnester entstanden. Dollins Kerle löschten verzweifelt. An eine Gegenwehr war im Augenblick nicht zu denken. One-Eye-Doolin stand mit feuchter Kehrseite da, hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte in die Richtung hinüber, aus der die Kometenbahnen der Brandund Pulverpfeile aufstiegen. Deutlich war der Schattenriß der schlanken Galeone zu erkennen. Der Gedanke, diesem elenden Bastard Killigrew zu unterliegen, brachte Doolin fast um den Verstand. Etwas schwirrte in torkelnder Bewegung von der Back der „Isabella“ herüber, als die „Scorpion“ zwangsläufig das Schiff der Seewolf-Bastarde passieren mußte.
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Doolin fand keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn im selben Moment blitzten mehrere Culverinen an der Steuerbordseite des verhaßten Gegners auf. Doolin hörte das Orgeln der Geschosse und den Donner der Geschütze. Er warf sich auf die Planken und barg den Kopf unter den Armen. Eine brüllende Detonation, stärker als die der Pulverpfeile, war von der Kuhl zu hören. Schmerzensschreie gellten, und Doolin spürte den sengenden Hauch des Explosionsdrucks. Er begriff, daß es sich um dieses torkelnde Ding von der Back der „Isabella“ gehandelt haben mußte. Doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein ohrenbetäubendes Bersten und Krachen vom Vorschiff her ließ ihn zusammenzucken. Deutlich war das Splittern von Holz zu vernehmen, im nächsten Moment ging ein Ächzen und Reißen durch laufendes und stehendes Gut. Zum ersten Male empfand One-EyeDoolin kaltes Entsetzen. Er hob den Kopf und sah, daß seiner „Scorpion“ der Bugspriet samt Blinde abgetakelt worden war. Er hätte heulen können vor Wut und Verzweiflung. Er, der gefürchtete One-Eye-Doolin, war gezwungen, zu fliehen - zu fliehen wie ein geprügelter Straßenköter. Im Kanal, vor den Küsten Cornwalls, war ihm so etwas nie passiert. Dort hatte stets er das Kampfgeschehen diktiert, und dort hatten sie vor ihm Reißaus genommen. Aber dort hatte er auch nicht solche Gegner gehabt wie diesen verfluchten Killigrew. Mehrere Verletzte gab es bereits an Bord der „Scorpion“. Im Heck, in der Wasserlinie, hatten Lecks gedichtet werden müssen. Und jetzt war auch noch der Bugspriet zum Teufel. Es war zum Verrücktwerden. Die Galeone des Seewolfs und diese zähe Karavelle hatten sich jetzt als Verfolger an ihn gehängt. Wieder feuerten sie diese verfluchten brennenden Pfeile ab, und Doolin wußte sich keinen anderen Rat, als
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Zickzack-Kurs steuern zu lassen, um den verfluchten Dingern zu entgehen. Doch wieder und wieder mußten seine Kerle Brandherde löschen. Jäh erklang die warnende Stimme des Ausgucks. „Backbord voraus! Ein Zweidecker!“ Doolin hätte am liebsten geschrien und vor Wut auf den Planken herumgetrampelt. Jetzt kreuzte auch noch dieses elende Teufelsweib mit ihrem verdammten Zweidecker auf! Von Südosten her lief dieses Miststück ziemlich genau auf ihn zu. Doolin tat das einzige, was er noch tun konnte - er fiel nach Steuerbord ab und ging platt vor den Wind - auf Südwestkurs. Jetzt hatte er sie alle drei im Nacken, und wie es aussah, half nur noch Beten. Aber das gab es an Bord der „Scorpion“ nicht. Um so lauter waren die Flüche der Kerle, denen die Panik im Nacken saß. *
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Die Wetterlage hatte wenig Zweifel offen gelassen. Was der Seewolf befürchtet hatte, trat kurze Zeit später ein. Prasselnder Regen ging nieder. Trotz der fehlenden Blinde entwickelte die „Scorpion“ beträchtliche Fahrt und verschwand in den dichten Regenschwaden. Ohne daß eine lange Besprechung erforderlich gewesen wäre, bildeten die Schiffe des Bundes der Korsaren einen Suchstreifen. Die „Caribian Queen“ segelte am südlichen Flügel, die „Isabella“ in der Mitte und die „Le Griffon“ am nördlichen Flügel, an Steuerbord von Hasard. Zwei Stunden lang regnete es Bindfäden. Dann, gegen fünf Uhr morgens, war es schlagartig vorbei. Die Decks dampften. So sehr sich die Ausgucks im beginnenden Tageslicht auch anstrengten, es half alles nichts. Von der „Scorpion“ war weit und breit nichts zu sehen. Hasard beschloß, zum Bereich der früheren Schlangen-Insel zurückzusegeln. Er war überzeugt, daß One-Eye-Doolin dort wieder aufkreuzen würde...
ENDE