JAMES GUNN
Zeichen aus einer
anderen Welt
BREAKING POINT
Science Fiction-Erzählungen
WILHELM GOLDMANN VERLAG
MÜN...
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JAMES GUNN
Zeichen aus einer
anderen Welt
BREAKING POINT
Science Fiction-Erzählungen
WILHELM GOLDMANN VERLAG
MÜNCHEN
Made in Germany • I • 1110
(c) 1972 by James E. Gunn.
Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr.
Alle Rechte, auch die der
fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages.
Umschlag: F. Jürgen Rogner.
Satz und Druck: Presse-Druck Augsburg.
SF 0219 • AP/pap
ISBN 3-442-23219-8
James Gunn, Autor von 10 Science FictionRomanen und rund 75 Erzählungen, einer Fernsehserie und eines SF-Films, zeigt in dieser Sammlung von Science Fiction-Geschichten nicht nur seine eigene Entwicklung als Schriftsteller, sondern auch die Entwicklung der Science Fiction von den 50er Jahren bis heute.
Die Lauscher
Die Stimmen schwirrten durcheinander. MacDonald hörte sie und wußte, daß sich irgendein Sinn dahinter verbarg, daß sie etwas mitzuteilen versuchten, und daß er sie verstehen und auf sie eingehen konnte, wenn es ihm nur gelang, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagten, aber er brachte es nicht über sich. Er versuchte es noch einmal. »Einfach hinter allem, wie ein stummer Schatten hinter der geschlossenen Tür, steht die Frage, die wir nicht anders als positiv beantworten können: Ist da jemand?« Das sagte Bob Adams, stets Widerspruchsgeist, der die anderen am Konferenztisch nun verdrossen ansah. Auf seinem runden Gesicht standen Schweißtröpfchen, obwohl es im mahagonigetäfelten Raum kühl war. Saunders sog heftig an seiner Pfeife. »Aber das gilt doch für alle Wissenschaften. Der Wissenschaftler, der alle negativen Möglichkeiten eliminiert, macht sich lächerlich. So etwas gibt es nicht, sagt er sich, also macht er nach Glauben und statistischer Wahrscheinlichkeit weiter.« MacDonald sah, wie der Rauch über Saunders’ Kopf in Wölkchen und Schlieren aufstieg, bis er im Luftzug schwankte, zerriß und verschwand. War das nicht seine Aufgabe? fragte sich MacDonald. Den dünnen Rauch des Lebens aufzuspüren, der sich durch das Universum zieht, eine Spur von der anderen zu trennen, Molekül um Molekül, und deren entropische Wege in eine geordnete und sinnvolle, ursprüngliche Form zurückzuverfolgen?
Das Leben selbst ist unmöglich, dachte er, aber die Menschen existieren dadurch, daß sie die Entropie umkehren. Olsen, ganz unten an dem langen Tisch, der von Aschenbechern, Kaffeetassen und bekritzelten Notizblöcken überquoll, sagte: »Wir haben immer gewußt, daß wir lange suchen müssen. Nicht Jahre, sondern Jahrhunderte. Die Computer brauchen genügend Daten, und das heißt Informationsbruchstücke, die sich der Zahl der Moleküle im Universum annähern. Wir dürfen jetzt nicht kneifen.« » – lächerlich«, sagte jemand, dann fuhr Adams dazwischen: »Ihr könnt leicht von Jahrhunderten reden, wenn ihr erst drei Jahre hier seid. Wartet mal, bis ihr zehn Jahre hier arbeitet, wie ich! Oder Mac hier, der seit zwanzig Jahren am Projekt tätig und seit fünfzehn Jahren der Chef ist.« »Was hat es für einen Sinn, über etwas zu streiten, von dem wir nichts wissen können?« sagte Sonnenborn sachlich. »Wir müssen uns auf Wahrscheinlichkeiten stützen. Schklowskij und Sagan schätzen, daß es allein in unserer Galaxis mehr als eine Milliarde bewohnbarer Planeten gibt. Von Hoerner schätzt, daß einer von drei Millionen fortgeschrittene Gesellschaften besitzt, Sagan meint, einer von hunderttausend. So oder so, es spricht vieles dafür, daß da jemand ist – dreihundert oder zehntausend in unserem Bereich des Universums. Unsere Aufgabe besteht darin, am richtigen Ort oder auf die richtige Weise zu lauschen und zu verstehen, was wir hören.« »Was sagen Sie, Mac?« fragte Adams. »Ich sage, daß diese Grundsatzdiskussionen gut für uns sind«, erwiderte MacDonald mild, »und wir müssen uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, was wir eigentlich tun, sonst ersticken wir in einem Datensumpf, Ich sage ferner, es wird Zeit, zur Sache zu kommen – welche Beobachtungen stellen
wir heute nacht und die ganze Woche vor unserer nächsten Sitzung an?« »Ich finde«, sagte Saunders, »wir sollten methodisch die ganze Galaxis absuchen, auf allen Wellenlängen lauschen – « »Das haben wir schon hundertmal gemacht«, sagte Sonnenborn. »Nicht mit meinem neuen Filter – « »Tau Ceti verspricht nach wie vor am meisten«, erklärte Olsen. »Wenn wir uns darauf konzentrieren – « MacDonald hörte Adams halb zu sich selbst brummen: »Wenn da jemand ist, der sich verständigen möchte, wird irgendein Funkamateur die Botschaft mit seinem Gerät auffangen, mit seinem ›James-Bond-Dechiffrierapparat‹ entschlüsseln und dafür sorgen, daß wir mit unseren ein paar hundert Millionen Dollar teuren Anlagen blamiert dastehen – « »Und vergeßt nicht«, sagte MacDonald, »morgen ist Samstag, Maria und ich erwarten euch alle um acht Uhr bei uns zu Bier und Gespräch. Wer noch mehr zu sagen hat, kann es sich bis dahin aufsparen.« »Meine Herren«, sagte er laut, »an unsere Horchposten.«
Noch ehe er an seinem unaufgeräumten Schreibtisch saß, stand Lily bei ihm. »Hier ist die Computeranalyse von gestern nacht«, sagte sie und legte ihm eine dünne Akte vor. »Reynolds meint, da wäre nichts, aber Sie wollen sie trotzdem immer sehen. Hier ist die Niederschrift der Kongreß-Anhörung vom vorigen Jahr.« Ein dicker Band folgte. »Korrespondenz und Bewilligungsbeschluß sind in einer anderen Akte, wenn Sie sie brauchen.« MacDonald schüttelte den Kopf.
»Hier ein Formbrief der NASA mit den Grundsätzen für da; diesjährige Budget und ein persönlicher Brief von Ted Wartinian wonach bestimmte Kürzungen unvermeidlich sind. Er spricht sogar von der Möglichkeit, daß das Projekt abgebrochen wird.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Ausgeschlossen«, sagte MacDonald zuversichtlich. »Ein paar Einstellungsgesuche. Nicht so viele wie früher. Die Briefe der Schüler habe ich selbst beantwortet. Auch die üblichen Briefe von Leuten, die angeblich Botschaften aus dem Weltall empfangen, und von einem, der mit einer Fliegenden Untertasse unterwegs war. Ein Journalist möchte ein Interview mit Ihnen machen, ein paar andere wollen Artikel über das Projekt schreiben. Und einer scheint ein Exposé schreiben zu wollen.« MacDonald hörte geduldig zu. Lily war unersetzlich. Sie erledigte im Büro alles so gut wie er. »Sie haben Fragebögen geschickt, die Sie beantworten sollen. Und Joe möchte mit Ihnen reden.« »Joe?« »Einer von den Hausmeistern.« »Was will er denn?« Einen Hausmeister zu verlieren, konnten sie sich nicht leisten. Ein guter Hausmeister war schwerer zu finden als ein Astronom oder ein Elektroniker. »Er muß mit Ihnen reden, sagt er, aber ich habe vom Kantine personal gehört, daß er sich beklagt, er empfange Botschaften über seine – über sein – « »Ja?« »Über sein falsches Gebiß.« MacDonald seufzte. »Beruhigen Sie ihn irgendwie, ja, Lily? Wenn ich mit ihm rede, sind wir vielleicht einen Hausmeister los.«
»Ich werde mich bemühen. Und Mrs. MacDonald hat angerufen. Es sei nicht wichtig, und Sie brauchten nicht zurückzurufen.« MacDonald war nicht so jovial zumute, wie er sich gab. Er wußte nicht, ob er noch einen solchen Samstagabend mit Trinken, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über das Projekt aushalten konnte. Er war an einem seiner Tiefpunkte, wo alles auf ihn einzudrängen schien. Aber gleichgültig, was er empfand, die Samstagabende waren gut für die Stimmung der anderen. Außerdem hatte Maria etwas davon. Sie kam nicht oft genug aus dem Haus. Sie mußte mit anderen Menschen zusammenkommen. Und schließlich… Und schließlich hatte Adams vielleicht recht. Vielleicht war da gar niemand. Vielleicht schickte niemand Signale hinaus, weil es niemanden gab. Vielleicht war der Mensch im Universum ganz allein. Allein mit Gott. Oder allein mit sich selbst. Vielleicht war das ganze Geld zum Fenster hinausgeworfen, die Mühe und die Vorbereitungen vergeblich – Verstand, Ausbildung und Ideen mochten in einer endlosen Leere versickern. Warum gerade ich? dachte MacDonald. Könnte nicht ein anderer sie besser führen, nicht an der Nase herum, sondern mit echter Weisheit? Vielleicht taugte er gerade für die Zusammenkünfte an den Samstagabenden? Vielleicht war es Zeit für einen Wechsel. Er schüttelte sich. Es war das endlose Warten, das ihn zermürbte, das Warten auf etwas, das nicht eintraf – und die Anhörung im Kongreß stand auch bereits wieder auf dem Programm. Was konnte er vorbringen, das er nicht schon gesagt hatte? Wie konnte er ein Projekt rechtfertigen, das
schon fast fünfzig Jahre ohne Erfolg betrieben wurde und noch Jahrhunderte andauern mochte? »Rufen Sie an«, sagte MacDonald. »Und, Lily – Sie kommen doch morgen abend zur Party, ja?« »Was mache ich auf einer Party mit lauter Genies?« »Wir möchten, daß Sie kommen. Maria hat eigens nach Ihnen gefragt. Außerdem wird nicht nur gefachsimpelt, wissen Sie. Und Frauen haben wir nie genug. Einer von den Junggesellen gefällt Ihnen vielleicht.« »In meinem Alter, Mr. MacDonald. Sie wollen mich doch nur loswerden.« »Nie und nimmer.« »Ich rufe Mrs. MacDonald an.« An der Tür drehte sich Lily um. »Das mit der Party überlege ich mir.« MacDonald blätterte in den Papieren. Das einzige, was ihn interessierte, lag ganz unten – die Computeranalyse des Lauschens gestern nacht. Aber er ließ sie unten liegen, als Belohnung für das Durcharbeiten der anderen Unterlagen. Ted machte sich ernsthaft Sorgen. Und dann die Journalisten. Irgendwann würde er sie einbauen müssen. Wenigstens ein Gutes, – daß man das Projekt nach Puerto Rico verlagert hatte. Niemand kam so einfach vorbei. Und die Fragen. Zwei davon fielen ihm ins Auge. ›Wie sind Sie Projektleiter geworden?‹ Das war die freundliche Art. ›Was qualifiziert Sie zum Direktor?‹ Das war die andere. Wie sollte er sie beantworten? Konnte er das überhaupt? Schließlich gelangte er zur Computeranalyse, und sie war genau wie die für den Rest der Woche und in der Woche, den Monaten und Jahren vorher. Keine bedeutsamen Übereinstimmungen. Geräusche. Ein paar starke Ausschläge – auf dem 21-cm-Band etwa – aber dabei handelte es sich nur
um starke Geräusche. Wasserstoffwolken mit Strahlung, da das Kleine Ohr wie ein gewöhnliches Radioteleskop arbeitete. Wenigstens erbrachte das Projekt einige Ergebnisse. Es lieferte Datenbänder über Himmelsbeobachtungen für die internationale Fachwelt. Nebenprodukte eines Verfahrens, das sonst nur Negatives hervorbrachte. Vielleicht waren die Anlagen nicht empfindlich genug. Vielleicht. Man konnte sie noch weiter verstärken. Dieser Vorschlag mochte immerhin eine erfolgreiche Taktik dem Kongreß-Ausschuß gegenüber sein, Fortschritt, wenigstens bei den Geräten. Man steht nicht still. Man gibt Geld aus, oder sie kürzen einem die Bewilligungen – oder streichen sie. Notiz: Saunders – Pläne für die Steigerung der Empfindlichkeit. Vielleicht waren die Anlagen nicht selektiv genug. Aber sie hatten den Ideenreichtum einer ganzen Generation zur Ausschaltung von Störgeräuschen verbraucht, und bei gelegentlichen Überprüfungen zeigte das Große Ohr an, daß sie bei terrestrischen Geräuschen zumindest ausreichend arbeiteten. Notiz: Adams – neue Selektionsmethode. Vielleicht erkannte der Computer ein Signal nicht, wenn es ihm eingegeben wurde. Vielleicht war er nicht raffiniert genug, um gewisse feine Beziehungen unterscheiden zu können… Und dabei waren raffinierte Verschlüsselungen binnen Sekunden aufgelöst worden. Und das Projekt verlangte nur die Unterscheidung, wo ein Signal vorhanden war, ob der Empfang auf beliebigem Geräusch beruhte oder ein Element des Nicht-Beliebigen enthielt. Auf dieser Ebene brauchte er den Einfluß von Bewußtsein nicht einmal aufzuspüren. Notiz: Computer fragen – entgeht ihm etwas? Albern? Olsen fragen.
Vielleicht sollten sie gar nicht das Radiospektrum absuchen. Vielleicht war Funk eine Besonderheit der menschlichen Zivilisation. Vielleicht hatten ihn andere gar nicht oder waren darüber hinaus und besaßen raffiniertere Methoden der Kommunikation. Laser, etwa. Telepathie, oder was beim Menschen dafür gelten mochte. Vielleicht Gammastrahlen, wie Morrison lange vor Ozma angedeutet hatte. Nun, vielleicht. Aber wenn es so war, würde jemand anderer darauf lauschen müssen. Er hatte weder die Einrichtungen noch die Ausbildung, noch ein ganzes Arbeitsleben dafür übrig, sich mit etwas Neuem zu befassen. Und vielleicht hatte Adams recht. Er drückte auf die Sprechtaste. »Lily, haben Sie Mrs. MacDonald erreicht?« »Es meldet sich niemand – « Grundlose Panik… » – ah, da ist sie jetzt. Mrs. MacDonald ist am Apparat.« »Hallo, Liebling. Ich bin erschrocken, weil du dich nicht gemeldet hast.« Das war dumm, dachte er, und noch dümmer war, davon zu sprechen. Ihre Stimme klang schläfrig. »Ich muß eingeschlafen sein.« Selbst verschlafen klang ihre Stimme aufregend, leise, ein wenig heiser, MacDonalds Pulsschlag beschleunigte sich. »Was wolltest du denn?« »Du hast mich angerufen«, sagte MacDonald. »Ja? Das habe ich vergessen.« »Ich bin froh, daß du dich ausruhst. Gestern nacht hast du nicht gut geschlafen.« »Ich habe Tabletten genommen.« »Wie viele?« »Nur die zwei, die du herausgelegt hast.« »Brav. Wir sehen uns in etwa zwei Stunden. Schlaf wieder! Entschuldige, daß ich dich geweckt habe!«
Aber ihre Stimme hörte sich nicht mehr schläfrig an.
»Du mußt doch heute abend nicht mehr zurück, oder? Den
Abend können wir gemeinsam verbringen?« »Wir werden sehen«, versprach er. Aber er wußte, daß er wieder zurück mußte. MacDonald blieb vor dem langen, niedrigen Betonbau stehen, der Büros, Labors und Computer enthielt. Die Sonne war hinter den grünen Hügeln verschwunden, aber Zirruswolken in Orange und Purpurrot säumten den westlichen Himmel. Zwischen MacDonald und dem Himmel war eine riesige Schüssel, emporgehalten von metallenen Skelettfingern – erhoben, als solle sie den Sternenstaub auffangen, der nachts von der Milchstraße herabwehte. Dann begann sich die Schüssel zu drehen – lautlos, kaum faßbar – und zu kippen. Und es war keine Schüssel mehr, sondern ein Ohr, ein lauschendes Ohr – umgeben von der hohlen Hand der umliegenden Hügel –, das ins flüsternde Universum hineinhorchte. Vielleicht war es das, was das Team bei seiner Arbeit festhielt, dachte MacDonald. Trotz aller Enttäuschungen und vergeblichen Bemühungen war es möglicherweise diese gigantische Anlage, empfindlich wie Fingerspitzen, die sie alle ausharren ließ, um mit dem Unergründlichen zu ringen. Wenn die Wissenschaftler an ihren elektronischen Horchposten müde wurden, wenn ihre Augen sich von dem unablässigen Starren auf stumme Skalen und nichtssagende Diagramme trübten, konnten sie vor ihre Betonzellen treten und ihren stumpfen Geist in der Zwiesprache mit dem Riesenmechanismus erfrischen, den sie lenkten, dem stummen, lauschenden Instrument, in dem die kleinsten Energiequellen, die kleinsten Materiewellen in ihrem wilden, endlosen Flug durch das All entdeckt wurden. Es war das Stethoskop, mit dem Menschen
den Puls des Universums maßen und Geburt und Tod von Sternen verfolgten, die Sonde, mit der sie hier auf einem unbedeutenden Planeten eines unauffälligen Sterns am Rande seiner Galaxis das Unendliche erforschten. Oder vielleicht war es gar nicht die Wirklichkeit, sondern die Vorstellung, poesiegleich, die ihre zweifelnden Seelen tröstete, die Schale erhoben, um Donnes fallenden Stern aufzufangen, das lauschende Ohr, das den vermuteten Schrei auffangen wollte, der, bis er sein Ziel erreichte, zu einem unverständlichen Murmeln geworden war. Und eintausend Meilen über ihnen die gigantische Anlage von fünf Meilen Durchmesser, das größte Radioteleskop, das je gebaut worden war und das Menschen in den Himmel gesetzt hatten, um die Sterne einzufangen. Wenn sie das Große Ohr länger als für gelegentliche Überprüfungen ihrer Peilpräzision bekämen, dachte MacDonald, würden sie vielleicht zu Ergebnissen kommen. Aber er wußte, daß die Radioastronomen für das frivole Beginnen, Signalen zu lauschen, die niemals zu hören waren, keine Zeit gewähren würden. Nur wegen des Großen Ohres hatte das Projekt überhaupt das Kleine Ohr geerbt. In letzter Zeit war von einer neuen Anlage mit zwanzig Meilen Durchmesser die Rede gewesen. Vielleicht würde dabei auch das Große Ohr eingesetzt werden dürfen. Hoffentlich konnten sie bis dahin durchhalten, dachte MacDonald, während sie ihr zerbrechliches Hoffnungsgefährt zwischen der Scylla des Selbstzweifels und der Charybdis der Kongreßbewilligung hindurchsteuerten. Die Utopien waren nicht alle günstig. Es gab einige, die beunruhigten. Da war etwa die Vorstellung vom Menschen, der den stummen Sternen eine Ewigkeit lang lauschte, nach Signalen forschend, die niemals eintreffen würden, weil – entsetzlichster Gedanke – der Mensch allein im All war, ein
kosmischer Zufall des Selbstbewußtseins, der den Trost einer Gesellschaft brauchte, aber nie erhalten würde. Allein zu sein, ohne einen Menschen, mit dem man sprechen konnte – allein in einem Knochengefängnis, ohne zu ahnen, ob draußen jemand war… Vielleicht war es am Ende das, was sie weitermachen ließ – um die Schrecken der Nacht fernzuhalten. Solange sie lauschten, bestand Hoffnung; jetzt aufzugeben, hieße, die endgültige Niederlage eingestehen. Manche sagten, sie hätten nie anfangen sollen, dann hätte sich das Problem der Kapitulation nie gestellt. Manche von den neuen Religionen sagten das. Laßt uns stolz sein auf unsere Einzigartigkeit. Aber die älteren Religionen ermutigten, das Projekt weiter zu betreiben. Wozu sollte Gott die Myriaden anderer Sterne und anderer Planeten geschaffen haben, wenn nicht für lebende Wesen; weshalb sollte allein der Mensch nach Seinem Bild geschaffen sein? Wir wollen das beweisen, sagen einige. Wir wollen mit den Wesen anderer Sterne in Verbindung treten. Welche Offenbarungen haben sie gehabt? Welche Erlöser haben sie errettet? Der Dämmerung war die Nacht gefolgt. Der Himmel war schwarz, die Sterne wurden wiedergeboren. Das Lauschen hatte begonnen. MacDonald ging zu seinem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude, rollte im Leerlauf das Gefälle hinunter und ließ den Motor für die lange Fahrt nach Hause an.
Die Hazienda lag im Dunkeln. Sie machte den verlassenen Eindruck, den MacDonald so gut kannte. Maria besuchte dann gewöhnlich Freunde in Mexico City. Aber jetzt war das Haus nicht leer. Maria war hier. Er öffnete die Tür und knipste das Licht in der Diele an.
»Maria?« Er ging durch die geflieste Halle, nicht zu schnell, nicht zu langsam. »Querida?« Er schaltete das Licht im Wohnzimmer ein, als er daran vorbeiging. Er schaute ins Eßzimmer, ins Gästezimmer, zum Arbeitszimmer hinein, bei der Küche ging er vorbei und erreichte den dunklen Eingang zum Schlafzimmer. »Maria Chavez?« Er machte Licht im Schlafzimmer. Sie schlief mit friedlichem Gesicht, das schwarze Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Sie lag auf der Seite, die Beine unter der Decke angezogen. MacDonald betrachtete sie. Selbst jetzt, da diese dunklen, ausdrucksvollen Augen geschlossen waren, erschien sie ihm als die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Er setzte sich auf die Bettkante und beugte sich vor, um sie auf die Wange und dann auf die Schulter zu küssen. Sie wurde nicht wach. Er schüttelte sie sanft. »Maria!« Sie drehte sich auf den Rücken und streckte sich aus. Sie seufzte, öffnete die Augen und starrte ins Leere. »Ich bin’s, Robby«, sagte MacDonald. Ihre Augen wurden lebendig, und sie lächelte verschlafen. »Robby. Du bist zu Hause.« »Yo te amo«, murmelte er und küßte sie. Als er sich aufrichtete, sagte er: »Ich richte das Essen her. Wach auf und zieh dich an! Wir sehen uns in einer halben Stunde. Oder früher.« »Früher«, sagte sie. Er ging in die Küche. Im Kühlschrank lag Lattich, und er fand ein paar dünne Scheiben Kalbfleisch. Er machte CäsarSalat und geschnetzeltes Kalbfleisch zurecht, geschickt und schnell. Er kochte gerne. Der Salat war fertig, und dem gebräunten Kalbfleisch hatte er Zitronensaft, Estragon, Weißwein und Brühe hinzugefügt, als Maria erschien. Sie stand unter der Tür, schlank, biegsam, wunderschön, und sie schnupperte.
»Ich rieche etwas Köstliches.« Wenn Maria kochte, dann etwas Mexikanisches, ganz Scharfes, das im Magen wie Feuer brannte. Wenn MacDonald kochte, dann etwas Exotisches – französische Küche, italienische oder vielleicht chinesisch. Aber wer auch kochte, der andere mußte sich begeistert zeigen oder die Küche für eine ganze Woche übernehmen. MacDonald füllte ihre Weingläser. »A la tres-bonne, a la tres-belle«, sagte er, »qui fait ma joie et ma sante.« »Auf das Projekt«, sagte Maria. »Auf daß heute ein Signal empfangen werde.« MacDonald schüttelte den Kopf. Man sollte nicht zu oft von seinen Herzenswünschen sprechen. »Heute abend gibt es nur uns beide.« Danach gab es nur sie beide, wie seit zwanzig Jahren. Und sie war so lebendig und fordernd, so voll Liebe und Lachen wie bei ihrem ersten Zusammensein. Und endlich die Ruhe und Zufriedenheit, in der für einige Zeit der Gedanke an das Projekt in den Hintergrund trat. »Maria«, sagte er. »Robby?« »Yo te amo, corazon.« »Yo te amo, Robby.« Langsam, während er neben ihr lag und lauschte, wie ihre Atemzüge ruhiger wurden, kehrte das Projekt in seine Erinnerung zurück. Als er sie eingeschlafen glaubte, stand er auf und zog sich im Dunkeln an. »Robby?« Ihre Stimme klang wach und erschrocken. »Querida?« »Du gehst wieder?« »Ich wollte dich nicht wecken.« »Mußt du gehen?«
»Das ist mein Beruf.« »Nur dieses eine Mal. Bleib heute nacht bei mir!« Er drehte das Licht an. Im Halbdunkel konnte er sehen, daß ihr Gesicht besorgt wirkte, aber nicht hysterisch. »Rast’ ich, so rost’ ich. Außerdem würde ich mich schämen.« »Ich verstehe. Dann geh! Komm bald heim!« Er legte zwei Tabletten auf das kleine Bord im Badezimmer und räumte die anderen wieder weg.
Im Hauptgebäude herrschte in der Nacht am meisten Betrieb, wenn die Radiogeräusche der Sonne am schwächsten waren und man den Sternen am besten lauschen konnte. Mädchen hasteten mit Kaffeekannen durch die Gänge, und an den Wasserspendern standen Männer und unterhielten sich ernsthaft. MacDonald ging in den Kontrollraum. Adams saß an der Steuerkonsole; Montaleone war der Techniker. Adams hob den Kopf, deutete resigniert auf seinen Kopfhörer und zuckte die Achseln. MacDonald nickte ihm und Montaleone zu, dann warf er einen Blick auf die graphische Darstellung. Adams beugte sich vor und deutete auf die starken Ausschläge. »Das könnte etwas sein.« Er hatte den Kopfhörer abgenommen. »Aussicht gering«, sagte MacDonald. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Der Computer hat jedenfalls keinen Alarm gegeben.« »Oder man läßt sich vom Mißerfolg niederdrücken.« »Das auch.« Der Raum, Glas, Metall und Kunststoff, alles wirkte funktionell und steril, und es roch nach Elektrizität. MacDonald wußte, daß Elektrizität keinen Geruch hatte, aber
er empfand so. Vielleicht der Ozon oder erwärmte Isolierung oder Öl. Was es auch war, er hatte keine Zeit, sich damit zu befassen und wollte es auch gar nicht wissen. Er stellte sich lieber den Geruch von Elektrizität vor. Vielleicht war er deshalb als Wissenschaftler ein Versager. ›Wissenschaftler ist derjenige, der wissen möchte, warum‹, hatten seine Lehrer ihm immer gesagt. MacDonald beugte sich über die Konsole und kippte einen Hebel. Ein dünnes, zischendes Geräusch erfüllte den Raum, so, als entweiche Luft aus einem Schlauch. Er drehte an einem Knopf, und das Geräusch wurde zu einem, wie hatte Tennyson das genannt? – ›Summen zahlloser Bienen‹. Er drehte weiter, und das Geräusch glich einem Gewirr ferner Stimmen, manche schreiend, manche kreischend, andere ruhig klingend, andere flüsternd – alle jenseits der Verzweiflung bemüht, sich zu verständigen, und alles knapp unter der Ebene der Verstehbarkeit. Wenn er die Augen schloß, konnte MacDonald fast ihre Gesichter sehen, an eine ferne Scheibe gepreßt, verzerrt von der furchtbaren Anstrengung, sich verständlich zu machen. Aber sie alle bestanden darauf, gleichzeitig zu reden. MacDonald hätte sie am liebsten angeschrien: »Ruhe allesamt! Alle außer dir – mit den purpurnen Fühlern. Einer nach dem anderen, und wir hören euch zu, auch wenn es hundert Jahre oder hundert Leben dauert.« »Manchmal«, sagte Adams, »manchmal glaube ich, daß es ein Fehler war, das Lautsprechersystem einzubauen. Man fängt an zu anthropomorphisieren. Nach einiger Zeit hört man gewisse Dinge. Manchmal erhält man sogar Botschaften. Ich höre nicht mehr auf – die Stimmen. Früher bin ich nachts wach geworden, weil mir jemand ins Ohr flüsterte. Ich war nahe
daran, die Botschaft zu hören, die alles aufklären sollte, und dann wurde ich wach.« Er schaltete ab. »Vielleicht empfängt eines Tages jemand eine Botschaft«, meinte MacDonald. »Dafür gibt es die Audiofrequenzübertragung. Damit die Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt gerichtet ist. Sie kann hypnotisieren und quälen, aber das sind die Bedingungen, aus denen die Inspiration entspringt.« »Und der Wahnsinn«, sagte Adams. »Man muß weitermachen können.« »Ja.« MacDonald griff nach dem Kopfhörer und hielt ihn sich an Ohr. »Tico-tico, tico-tico«, sang es. »Sie hören’s in Puerto Rico. Horchen auf Worte, die nie zu hören sind. Tico-tico, tico-tico. Sie hören’s in Puerto Rico. Ob die Sterne taub sind?« Er lächelte und legte den Kopfhörer weg. »Vielleicht ist die Inspiration auch da.« »Wenigstens denke ich dann nicht an die Nutzlosigkeit.« »Und nicht an die Arbeit, wie? Wollen Sie da draußen eigentlich jemanden finden?« »Warum wäre ich sonst hier? Aber manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn wir es nicht wüßten.« »Das fragen wir uns manchmal alle«, sagte MacDonald. In seinem Büro machte er sich über den Stapel Unterlagen und Briefe zum zweitenmal her. Als er unten angekommen war, seufzte er, stand auf und reckte sich. Er fragte sich, ob er sich wohler, weniger frustriert, weniger unsicher fühlen würde, wenn er sich mit dem Problem beschäftigt hätte, statt einfach zu arbeiten, damit jemand anderer sich damit beschäftige. Aber irgendeiner mußte das Projekt in Gang halten – Personal, Geld auf der Bank, Rechnungen zahlen, Frieden stiften. Vielleicht war es wichtiger, daß er die Kleinarbeit im Büro machte. Natürlich war das eintönig. Lily konnte das so gut wie
er. Aber es kam darauf an, daß er es übernahm, daß jemand die Leitung hatte, der an das Projekt glaubte – oder der seine Zweifel nie bekanntwerden ließ. Wie das Kleine Ohr war er ein Symbol – und die Menschen leben durch ihre Symbole, oder weigern sich, von ihrer Verzweiflung überwältigt zu werden. Der Hausmeister wartete im Vorzimmer auf ihn. »Kann ich Sie sprechen, Mr. MacDonald?« sagte er. »Natürlich, Joe«, sagte MacDonald und sperrte die Tür seines Büros sorgfältig hinter sich ab. »Was gibt es denn?« »Meine Zähne, Sir.« Der alte Mann stand auf und praktizierte mit einer geschickten Bewegung von Mund und Zunge sein Gebiß in die Hand. MacDonald sah leicht angeekelt zu. Das Gebiß war kunstvoll gemacht, aber es wirkte zu echt. MacDonald hatte schon immer eine Abneigung gegen dergleichen gehabt, weil es zu sein schien, was es nicht war, weil es auf irgendeine Art heimtückisch wirkte. »Sie sprechen zu mir, Mr. MacDonald«, mummelte der Hausmeister und starrte seine falschen Zähne beinahe argwöhnisch an. »Nachts, im Glas neben meinem Bett, flüstern sie mir was zu. So von ganz fernen Sachen. Botschaften.« MacDonald starrte den Hausmeister an. Ein seltsames Wort im Munde des alten Mannes, und ohne Zähne schwer auszusprechen: Botschaft. Aber er konnte das Wort in den Büros oder Labors aufgeschnappt haben. Es wäre eher seltsam gewesen, wenn er von dem, was hier vorging, gar nichts mitbekommen hätte. »Ich habe von solchen Dingen gehört«, sagte MacDonald. »Falsche Gebisse wirken als eine Art Kristalldetektorempfänger, die Funkwellen auffangen. Vor allem in der Nähe eines starken Senders. Bei unseren vielen Antennen gibt es alle möglichen Frequenzen. Passen Sie auf,
Joe. Wir vereinbaren einen Termin beim Projekt-Zahnarzt, und er bringt Ihre Zähne in Ordnung, damit Sie nicht mehr gestört werden. Eine ganz kleine Veränderung genügt da schon.« »Danke, Mr. MacDonald«, sagte der alte Mann. Er schob die Zähne wieder in den Mund. »Sie sind ein großartiger Mann, Mr. MacDonald.« MacDonald fuhr die zehn dunklen Meilen zur Hazienda mit einem Gefühl vager Unruhe, als habe er untertags etwas getan oder unterlassen, das anders hätte sein müssen. Das Haus lag im Dunkeln, als er hielt, aber es wirkte jetzt nicht mehr verlassen, sondern gastlich. Maria schlief und atmete friedlich. Die Fenster des Hauses waren erleuchtet. Es war, als ob die Lichtstrahlen ihre Finger in die Nacht streckten, sich zu den dunklen Hügeln vortasteten, das Geräusch vieler Stimmen weckte Echos, bis die ganze Umgebung lebendig zu sein schien. »Kommen Sie rein, Lily«, sagte MacDonald an der Tür und fühlte sich an einen Winterabend erinnert, als eine Lily die Herren an der Tür empfangen und ihnen aus den Mänteln geholfen hatte. Aber das war eine andere Lily, eine andere Gelegenheit und ein anderer Ort, die Vorstellung eines anderen gewesen. »Ich freue mich, daß Sie doch gekommen sind.« Er hatte eine Dose Bier in der Hand und wies damit in die Richtung des größten Lärms. »Bier im Wohnzimmer, etwas Stärkeres im Arbeitszimmer – 95-prozentiger Äthylalkohol, um genau zu sein. Vorsicht damit. Sehr heimtückisch. Aber – nunc est bibendum!« »Wo ist Mrs. MacDonald?« fragte Lily. »Irgendwo dahinten.« MacDonald zeigte wieder in die Richtung. »Die meisten Männer sind im Arbeitszimmer, die Frauen vorwiegend im Wohnzimmer. Die Küche ist gemeinsames Territorium. Sie haben die Wahl.«
»Ich hätte eigentlich gar nicht kommen dürfen«, sagte Lily. »Ich habe Mr. Saunders angeboten, ihn im Kontrollraum abzulösen, aber er sagte, ich sei nicht eingewiesen. Eigentlich könnte der Computer das auch alleine bewältigen, und ich weiß, daß ich jemanden rufen muß, sobald etwas Unerwartetes eintritt.« »Soll ich Ihnen etwas sagen, Lily?« meinte MacDonald. »Der Computer könnte es ganz alleine machen. Und Sie und der Computer könnten es besser als irgendeiner von uns, mich eingeschlossen. Aber wenn die Männer je das Gefühl bekämen, überflüssig zu sein, kämen sie sich unnützer vor als je. Sie würden aufgeben. Und das dürfen sie nicht tun.« »Oh, Mac!« sagte Lily. »Das dürfen sie nicht. Denn einer von ihnen liefert die Eingebung, mit der alles gelöst wird. Ich nicht. Einer von ihnen. Wir schicken jemand hin, der Charley ablöst, bevor der Abend vorbei ist.« Lily seufzte. »Okay, Boss.« »Und amüsieren Sie sich!« »Okay, Boss, okay.« »Suchen Sie sich einen Mann, Lily«, murmelte MacDonald. Und dann ging er auch zum Wohnzimmer, weil Lily die letzte Besucherin gewesen war. Er lauschte einen Augenblick am Eingang und trank langsam aus der schon angewärmten Dose. » – mehr mit Gammastrahlen befassen – « »Wer hat das Geld für den Bau eines Generators? Da noch niemand einen gebaut hat, wissen wir nicht einmal, was er kosten mag.« » –Gammastrahlenquellen müßten millionenmal seltener sein als Radioquellen bei einundzwanzig Zentimeter – «
»Das hat Cocconi schon vor fast fünfzig Jahren gesagt. Dieselben Argumente, immer dieselben Argumente.« »Wenn sie stimmen, stimmen sie.« »Aber die Wasserstofflinie ist so einzigartig logisch. Wie Morrison zu Cocconi gesagt hat – und Cocconi gab ihm recht, wenn Sie sich erinnern – stellt sie einen logischen, vorausbestimmten Treffpunkt dar. ›Ein einzigartiger, objektiver Frequenzmaßstab, der jedem Beobachter des Universums bekannt sein muß‹ – so haben sie sich ausgedruckt.« » – aber der Geräuschpegel – « MacDonald lächelte und ging zur Küche, um sich eine kalte Dose Bier zu holen. » – Bracewells ›automatisierte Boten‹?« sagte eine Stimme nörgelnd. »Was ist mit ihnen?« »Warum suchen wir nicht danach?« »Der springende Punkt bei Bracewells Boten ist, daß sie sich uns von selbst offenbaren!« »Vielleicht stimmt mit den unsrigen etwas nicht. Nach ein paar Millionen Jahren in der Umlaufbahn – « » – Laserstrahlen ergeben mehr Sinn.« »Und verlieren sich im ganzen Sternenlicht?« »Wie Schwanz und Townes betont haben, braucht man nur eine Wellenlänge des Lichts zu nehmen, die von Stellaratmosphären absorbiert wird. Richten Sie einen dünnen Laserstrahl auf die Mitte einer der Kalzium-Absorptionslinien –«
Im Arbeitszimmer sprach man über Quantengeräusche. »Quantengeräusche bevorzugen niedrige Frequenzen.«
»Aber das Geräusch selbst setzt die Grenze für diese Frequenzen tiefer an.« »Drake hat die günstigsten Frequenzen berechnet, und sie liegen, je nach Geräuschpegel, zwischen 3,2 und 8,1 Zentimeter.« »Drake! Drake! Was hat der schon gewußt? Wir haben ihm fast fünfzig Jahre Erfahrung voraus. Fünfzig Jahre technologischen Fortschritt. Vor fünfzig Jahren konnten wir Radiosignale nur tausend Lichtjahre, Lasersignale zehn Lichtjahre weit schicken. Heute sind es mindestens zehntausend und fünfhundert.« »Und wenn nun doch keiner da ist?« meinte Adams düster. Ich bin der Geist, der stets verneint. »Kurzimpulse, wie schon Oliver vorgeschlagen hat. Hundert Millionen Milliarden Watt in einer Zehnmilliardstelsekunde würden das ganze Radiospektrum erfassen. Da, Mac, füllen Sie nach, ja?« Und MacDonald ging zwischen den diskutierenden Gruppen hindurch zur Bar. »Und ich habe zu Charley gesagt«, erklärte eine Frau zwei anderen Frauen in der Ecke, »wenn ich für jede schmutzige Windel, die ich gewechselt habe, einen Penny hätte, säße ich bestimmt nicht hier in Puerto Rico – « » –Neutrinos«, sagte jemand. »Quatsch«, sagte jemand anderes, als MacDonald vorsichtig Äthylalkohol ins Glas goß und es mit Orangensaft auffüllte, »der einzige logische Träger ist eine Q-Welle.« »Ich weiß – die Wellen, die wir noch nicht entdeckt haben, aber in etwa zehn Jahren entdecken werden. Nur sind seit Morrisons Behauptung schon fast fünfzig Jahre vergangen, und wir haben sie immer noch nicht gefunden.« MacDonald ging durch das Zimmer zurück.
»Es ist die Nachtarbeit, die mich schafft«, sagte eine Ehefrau. »Die Kinder den ganzen Tag auf den Beinen, und dann soll ich ihn begrüßen, wenn er im Morgengrauen heimkommt. Mann!« »Oder wenn nun alle zuhören?« sagte Adams düster. »Na gut, dann sollten wir etwas senden.« »Was würden Sie senden?« »Ich müßte erst darüber nachdenken. Primzahlen vielleicht.« »Was ist, wenn eine Zivilisation nicht auf Mathematik begründet ist?« »Blödsinn! Wie würden sie dann eine Antenne bauen?« »Vielleicht über den Daumen gepeilt, wie ein Amateurfunker. Oder vielleicht haben sie eingebaute Antennen.« »Und vielleicht haben Sie eingebaute Antennen und wissen es nur nicht.« MacDonalds Dose war leer. Er schlenderte wieder zur Küche. » – auf gleichen Zeitanspruch beim Großen Ohr bestehen. Selbst wenn niemand sendet, könnten wir den normalen elektronischen Verkehr einer Dutzende von Lichtjahren entfernten Zivilisation auffangen. Das Problem wäre die Entschlüsselung, nicht das Lauschen.« »Sie fangen ihn ja jetzt schon auf, wenn Sie relativ nahe Systeme beobachten. Verlangen Sie ein Band, und arbeiten Sie Ihr Programm aus.« »Na gut, mache ich. Verschaffen Sie mir nur die Gelegenheit, ein Ersuchen – « MacDonald sah Maria neben sich. Er legte den Arm um ihre Hüften und zog sie an sich. »Alles klar?« sagte er. »Alles klar.« Ihr Gesicht wirkt aber müde, dachte MacDonald. Er fürchtete sich vor der Vorstellung, sie könne älter werden, sie sei ins mittlere Alter eingetreten. Für sich selbst konnte er das ertragen. Er konnte spüren, wie die Jahre sich in seinen
Knochen festsetzten. Innerlich hielt er sich immer noch für zwanzig, aber er wußte, daß er siebenundvierzig Jahre alt war, und die meiste Zeit war er froh darüber, Glück, Liebe, Frieden und innere Ruhe gefunden zu haben. Er war sogar dazu bereit, den Preis an jugendlichem Überschwang und Glauben an seine persönliche Unsterblichkeit zu entrichten. Aber nicht Maria! »Bestimmt?« Sie nickte. Er beugte sich an ihr Ohr. »Am liebsten wäre es mir, wenn wir zwei ganz allein wären, wie immer.« »Mir auch.« »Ich gehe dann bald – « »Mußt du?« »Ich muß Saunders ablösen. Er hat Dienst. Er soll auch Gelegenheit haben, mit den anderen ein bißchen zu feiern.« »Kannst du nicht einen anderen schicken?« »Wen denn?« MacDonald wies mit gutmütiger Resignation auf die angeregt debattierenden Gruppen. »Eine gute Party. Niemand wird mich vermissen.« »Ich.« »Natürlich, querida.« »Du bist ihre Mutter, ihr Vater, Priester, alles in einer Person«, sagte Maria. »Du machst dir zu viele Sorgen um sie.« »Ich muß sie zusammenhalten. Wozu tauge ich sonst?« »Zu viel mehr.« MacDonald preßte sie mit einem Arm an sich. »Schau dir Mac und Maria an, ja?« sagte jemand, der Schwierigkeiten mit meinen Konsonanten hatte. »Was für eine gottverdammte Anhänglichkeit!« MacDonald lächelte und ließ sich auf die Schulter hauen, während er Maria mit seinem Körper abdeckte. »Wir sehen uns später«, sagte er.
Als er am Wohnzimmer vorbeikam, sagte jemand: »Wie Eddie schon gesagt hat, wir sollten uns die langen Molekülketten in kohlenstoffhaltigen Chondriten ansehen. Niemand weiß, wie weit sie geflogen – oder geschickt worden – sind, oder welche Botschaften in den Molekülen verschlüsselt sein könnten.« Als er die Haustür hinter sich schloß, sank der Lärm zu einem Brausen und dann zu einem Murmeln herab. Er blieb einen Augenblick am Wagen stehen und schaute zum Himmel hinauf. Der Lärm aus der Hazienda erinnerte ihn an etwas – an die Lautsprecher im Kontrollraum. Alle diese Stimmen, redend und redend, und von hier aus konnte er kein Wort verstehen. Irgendwo lag da eine Idee, wenn er sich nur fest genug auf sie konzentrieren konnte. Aber er hatte ein Bier zuviel getrunken – oder vielleicht eines zuwenig. Nach den langen Stunden des Lauschens auf die Stimmen kam sich MacDonald stets ein bißchen irr vor, aber in dieser Nacht war es noch schlimmer als sonst. Vielleicht lag es an dem Gesprächsdurcheinander vorher oder am Bier, oder an etwas anderem – an einer tiefer liegenden Sorge, die nicht an die Oberfläche wollte. Aber die Lauscher mußten ja schon von Anfang an irr sein – um sich auf ein Projekt einzulassen, das Jahrhunderte dauern mochte, ohne ein Ergebnis zu bringen. Tico-tico, tico-tico… Selbst wenn sie eine Botschaft aufzufangen vermochten, würden sie wahrscheinlich tot und vergessen sein, bevor selbst beim nächstgelegenen, in Frage kommenden Stern an einen Gedankenaustausch zu denken war. Welche Art von irrsinniger Hingabe konnte ein solches Durchhaltevermögen aufbringen?
Die Religion konnte es. Jedenfalls früher hatte sie es gekonnt, in der Zeit, als in Europa die Dome gebaut worden waren, die Dome, an denen man Jahrhunderte gebaut hatte. Die bloßen Steinschichten und diejenigen, die allein für das Geld arbeiteten, verloren sich in der Zeit, und übrigblieben nur jene, die in sich die Konzeption, den Traum lebendig gehalten hatten. Aber sie hatten von Anfang an ein wenig irr sein müssen. Heute hatte er die Stimmen fast die ganze Nacht hindurch gehört. Sie versuchten ihm etwas mitzuteilen, etwas Dringendes, etwas, das er tun sollte, aber er konnte die Worte nicht ganz verstehen. Da war nur das Gewirr ferner Stimmen, drängend und unverständlich. Er hatte dem All zuschreien wollen: Seid still! Einer nach dem anderen! Du zuerst! Aber natürlich gab es dafür keinen Weg. Oder hatte er es ersucht? Hatte er geschrien? Hatte er an der Konsole gedöst, die durcheinanderschwirrenden Stimmen im Ohr, oder hatte er nur geglaubt zu dösen? Oder hatte er nur geträumt, wach geworden zu sein. Oder geträumt, daß er geträumt hatte? Das Ganze hatte etwas vom Wahnsinn, aber vielleicht war es ein göttlicher Wahnsinn, ein schöpferischer Wahnsinn. Und ist es nicht Wahnsinn, der den Menschen in seiner schrecklichen Selbsterkenntnis aufrecht hält, der anstachelnde Wahnsinn, der von einem gleichgültigen Universum Vernunft verlangt, die entsetzliche Einsamkeit, die unter Sternen nach Gesellschaft sucht? Das Schrillen des Telefons durchdrang halb den Nebel der Selbsthypnose. Er griff nach dem Gerät, erwartete halb, daß das Universum am Apparat war, vielleicht mit vornehmem britischem Akzent: »Hallo, Mensch. Hallo. Hallo. Hm, die Verbindung scheint etwas gestört zu sein, wie? Wollte Ihnen nur sagen, daß wir hier sind. Seid ihr da? Hört ihr? Botschaft
ist unterwegs. Kann noch ein, zwei Jahrhunderte dauern. Daß ihr da seid, um sie zu beantworten, ja? Braves Wesen. Also dann – « Aber so war es nicht. Es war die vertraute amerikanische Stimme von Charley Saunders, und sie sagte: »Mac, es hat einen Unfall gegeben. Olsen ist unterwegs, um Sie abzulösen, aber es ist besser, wenn Sie gleich losfahren. Es ist Maria.« Laß es. Laß alles. Was spielt es für eine Rolle? Aber die Steuerung auf Automatik; der Computer kann sich um alles kümmern. Maria! In den Wagen. Motor anlassen. Nicht so hastig! Ja, jetzt. Fahr los. Fahr los. Auto kommt entgegen. Muß Olsen sein. Egal. Was für ein Unfall? Warum habe ich nicht gefragt? Was spielt es für eine Rolle, welche Art von Unfall es war? Maria. Nichts konnte geschehen sein. Nichts Ernstes. Nicht bei all diesen Leuten. Nil desperandum. Und doch – warum hat Charley angerufen, wenn es nichts Ernstes ist? Muß etwas Ernstes sein. Ich muß mich auf etwas Schlimmes vorbereiten, etwas, das die Welt erschüttern, mich innerlich zerreißen wird. Ich darf vor ihnen nicht zusammenbrechen. Warum nicht? Warum muß ich unfehlbar erscheinen? Warum muß ich immer heiter, gelassen, unerschütterlich sein? Warum ich? Wenn es etwas Schlimmes ist, wenn Maria etwas unmöglich Schlimmes zugestoßen ist, was spielt es für eine Rolle? Je wieder? Warum habe ich Charley nicht gefragt, was es ist? Das Schlimme hat Zeit; es wird nicht schlimmer dadurch, daß es unbekannt ist. Was kümmern das Universum meine Qualen? Ich bin nichts. Meine Gefühle bedeuten für niemand außer mir etwas. Meine einzige mögliche Bedeutung für das Universum ist das Projekt. Nur dieses schmale Potential verbindet mich mit der Ewigkeit. Meine Liebe und meine Qual sind ich, aber die Bedeutung meines Lebens oder Todes ist das Projekt.
Bis er die Hazienda erreichte, atmete MacDonald gleichmäßig. Er hatte seine Gefühle unter Kontrolle. Am östlichen Himmel wurde es hell. Für das Projekt-Personal eine gewohnte Zeit der Heimkehr. Saunders empfing ihn an der Tür. »Doktor Lessenden ist hier. Bei Maria.« Der Geruch nach abgestandenem Rauch und die Erinnerung an das Stimmengewirr hingen noch in der Luft, aber irgend jemand hatte sich angestrengt. Die Überreste der Party waren abgeräumt. Kein Zweifel, daß alle mitgeholfen hatten. »Betty hat sie im Badezimmer bei Ihrem Schlafzimmer gefunden. Sie wäre nicht hineingegangen, wenn nicht die anderen belegt gewesen wären. Ich gebe mir die Schuld. Ich hätte mich von Ihnen nicht ablösen lassen sollen. Vielleicht, wenn Sie hiergewesen wären – Aber ich wußte, daß Sie es so haben wollten.« »Niemand trägt die Schuld. Sie war sehr viel allein«, sagte MacDonald. »Was ist geschehen?« »Habe ich das nicht gesagt? Ihre Pulsadern. Mit einer Rasierklinge aufgeschnitten. Wie rosa Limonade, sagte sie.« Ein Faust ballte sich in MacDonalds Eingeweiden und lockerte den Griff wieder. Ja, das war es gewesen. Er hatte es gewußt, nicht wahr? Er hatte gewußt, daß es passieren würde, seit den Schlaftabletten schon, obwohl er sich immer wieder vorgesagt hatte, wie sie es ihm erklärte, daß die Überdosis ein Zufall gewesen sei. Oder hatte er es doch nicht gewußt? Er wußte nur, daß Saunders’ Mitteilung keine Überraschung für ihn war. Dann standen sie an der Schlafzimmertür, und Maria lag unter einer Decke auf dem Bett, kaum, daß die Decke sich wölbte, und ihre Arme lagen auf der Decke, mit den Handflächen nach oben, Verbände wie weißer Anstrich auf der olivfarbenen Vollkommenheit ihrer Haut, jetzt nicht mehr
vollkommen, dachte MacDonald, sondern verunstaltet durch häßliche rote Lippen, die zu ihm von verborgenem Elend und unausgesprochenem Leid sprachen, von einem Leben, das eine Lüge war… Dr. Lessenden hob den Kopf, Schweiß auf der Stirn. »Die Blutung hat aufgehört, aber sie hat sehr viel Blut verloren. Ich muß sie zu einer Transfusion ins Krankenhaus bringen. Der Krankenwagen muß jeden Augenblick hier sein.« Er verstummte. MacDonald blickte auf Marias Gesicht. Es war blasser, als er es jemals gesehen hatte. Es wirkte beinahe wächsern, so, als sei es schon für alle Zeit auf ein Seidenkissen gebettet. »Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig«, sagte Lessenden auf seine unausgesprochene Frage hin. Und dann kamen die Sanitäter mit der Bahre herein. »Betty hat das hier auf ihrem Frisiertisch gefunden«, sagte Saunders. Er gab MacDonald einen einmal gefalteten Zettel. MacDonald faltete ihn auseinander: ›Je m’en vay doer cher un grand Peut-etre.‹
Alle waren überrascht, MacDonald im Büro zu sehen. Sie sagten nichts, und er gestand nicht freiwillig, daß er es nicht aushielt, zu Hause zu sitzen, inmitten der Erinnerungen, und auf die Nachricht zu warten. Aber sie fragten ihn nach Maria, und er sagte: »Doktor Lessenden hat Hoffnung. Sie ist immer noch ohne Bewußtsein. Anscheinend noch geraume Zeit. Der Arzt sagte, ich könne ebensogut hier warten wie im Krankenhaus. Ich glaube, ich habe die Leute nervös gemacht. Man hat Hoffnung. Maria ist immer noch ohne Bewußtsein…« Endlich war MacDonald allein. Er zog Papier und Bleistift heraus und schrieb lange Zeit an der Erklärung, dann knüllte er
sie zusammen und warf sie in den Papierkorb, schrieb einen einzigen Satz auf das nächste Blatt und rief Lily herein. »Schicken Sie das weg!« Sie warf einen Blick darauf. »Nein, Mac.« »Schicken Sie es weg!« »Aber – « »Das ist kein augenblicklicher Impuls. Ich habe es mir gründlich überlegt. Schicken Sie es weg.« Sie ging langsam, das Blatt Papier zwischen den Fingerspitzen. MacDonald schob die Papiere auf seinem Schreibtisch herum und wartete auf das Lauten des Telefons. Aber unangekündigt, ohne zu klopfen, kam Saunders herein. »Das können Sie nicht machen, Mac«, sagte er. MacDonald seufzte. »Lily hat es Ihnen gesagt. Ich würde sie hinauswerfen, wenn sie nicht so treu wäre.« »Natürlich hat sie es mir gesagt. Das sind gar nicht Sie allein. Es betrifft das ganze Projekt.« »Daran denke ich ja.« »Ich glaube, ich weiß, was Sie durchmachen, Mac – « Saunders verstummte. »Nein, natürlich weiß ich nicht, was Sie durchmachen. Es muß die Hölle sein. Aber lassen Sie uns nicht im Stich. Denken Sie an das Projekt!« »Daran denke ich eben. Ich bin ein Versager, Charley. Alles, was ich anrühre, wird zu Asche.« »Sie sind der Beste von uns.« »Ein schwacher Linguist? Ein mittelmäßiger Ingenieur? Ich habe keine Qualifikationen für diese Aufgabe, Charley. Ihr braucht jemand mit Ideen als Leiter des Projekts, jemand mit Dynamik, jemand, der führen kann, jemand mit – Charisma.«
Ein paar Minuten später dasselbe noch einmal mit Olsen. Als er zur Qualifikation kam, sagte Olsen nur: »Sie geben schöne Feste, Mac.« Es war Adams, der Skeptiker, dessen Bemerkung ihn am tiefsten berührte. »Mac, Sie sind das, woran ich glaube, statt an den lieben Gott.« Sonnenborn sagte: »Sie sind das Projekt. Wenn Sie gehen, fällt alles auseinander. Dann ist es vorbei.« »So sieht es immer aus, aber mit Dingen, die Leben in sich haben, geschieht das nie. Das Projekt war schon da, bevor ich kam. Es wird bestehen, wenn ich weg bin. Es muß länger leben als alle von uns, weil wir nur in Jahren denken, und es für die Jahrhunderte bestimmt ist.« Nach Sonnenborn sagte MacDonald müde zu Lily: »Niemand mehr, Lily.« Keiner von ihnen hatte den Mut, Maria zu erwähnen, aber MacDonald betrachtete auch das als Versagen. Sie hatte versucht, vor einem Monat mit ihm ins Gespräch zu kommen, als sie die Tabletten genommen hatte, und er hatte nichts verstanden. Wie konnte er die Rätsel der Sterne lösen wollen, wenn er nicht einmal diejenigen verstand, die ihm am nächsten waren? Jetzt mußte er dafür bezahlen. Was würde Maria wollen? Er wußte, was sie wallte, aber wenn sie am Leben blieb, würde er sie diesen Preis nicht bezahlen lassen. Zu lange war sie dagewesen, wenn er sie gebraucht hatte, wartend wie eine Puppe auf dem Wandbord, bis er zurückkam und sie herunternahm, damit er die Kraft fand weiterzumachen. Und auf irgendeine Weise hatte sich die Qual in ihr angestaut, der schreckliche Ablauf der Jahre, am schrecklichsten für eine schöne Frau, die alt wurde, allein, zu oft allein. Er war egoistisch gewesen. Er hatte sie für sich
allein behalten. Er hatte nicht gewollt, daß Kinder die Perfektion ihres Zusammenseins störten. Perfektion für ihn; weniger für sie. Vielleicht war es für sie beide noch nicht zu spät. Aber wenn sie starb – er würde nicht die Kraft haben, bei etwas weiterzumachen, zu dem er, wie er wußte, nichts beizutragen hatte. Und schließlich kam der Anruf. »Sie wird es schaffen, Mac«, berichtete Lessenden. »Sie möchte Sie sehen.« »Ich komme.« »Sie sagte, ich soll Ihnen etwas ausrichten. ›Sagen Sie Robby, daß ich ein bißchen verrückt im Kopf war. Jetzt geht es mir besser. Das ›Große Vielleicht‹ sieht von hier zu sehr nach Gewißheit aus.‹« MacDonald legte auf, ging hinaus, durch das Wohnzimmer, ein Gefühl in der Brust, als wolle sie alles zersprengen. »Sie wird wieder gesund«, sagte er über die Schulter zu Lily. »Oh, Mac – « Im Flur hielt ihn Joe, der Hausmeister, auf. »Mr. MacDonald – « MacDonald blieb stehen. »Schon beim Zahnarzt gewesen, Joe?« »Nein, Sir, noch nicht, aber es ist noch nicht – « »Gehen Sie nicht hin. Ich möchte eine Weile ein Tonbandgerät an Ihrem Bett aufstellen, Joe. Wer weiß?« »Danke, Sir. Aber es ist – Es heißt, Sie wollen aufhören, Mr. MacDonald.« »Dann macht ein anderer weiter.« »Sie verstehen mich nicht. Gehen Sie nicht, Mr. MacDonald!« »Warum nicht, Joe?« »Sie sind der, dem es was bedeutet.«
MacDonald hatte weitergehen wollen, aber das hielt ihn zurück. Er drehte sich um und ging ins Büro zurück. »Haben Sie das Blatt Papier noch, Lily?« »Ja, Sir.« »Haben Sie es weggeschickt?« »Nein, Sir.« »Böses Mädchen. Geben Sie her.« Er las den Satz noch einmal: ›Ich habe großes Vertrauen in die Ziele und den schließlichen Erfolg des Projekts, aber aus persönlichen Gründen muß ich meinen Rücktritt erklären.‹ Er starrte ihn eine Weile an. ›Ein Zwerg auf der Schulter eines Riesen sieht vielleicht weiter als der Riese selbst.‹ Und er zerriß das Blatt.
Die Kraft und die Herrlichkeit
Die Sonne versank langsam hinter den violetten Bergen. Die zerrissenen Wolken, die am westlichen Himmel strömten, waren orangefarbene, rote und violette Banner, flatternd über einer tragischen Armee, die hinter dem Horizont letztem Ruhm entgegenmarschierte. Sie beobachteten das vom Zimmer aus, der Mann und sein Besucher. Das Fenster, das die Aussicht einrahmte, war, abgesehen von der Tür, die einzige Stelle im Zimmer, die nicht von Büchern überwuchert war. Sie hatten die Wände erklommen, waren in Ecken gekippt und griffen mit lederbewehrten Fingern über den Boden. Der Besucher stand vor dem Fenster; seine stämmige Gestalt zeichnete sich vor dem Licht ab. Er verschwamm ein wenig an den Rändern, wie ein Nachbild, das langsam verblaßt. Aber er war solide genug. Im Zimmer blieb es still. Aber in der Stille kräuselten sich die Ausläufer der gesprochenen Worte – so wie ein Teich sich an die hineingeworfenen Steinchen erinnert. Als die Farben im Westen verglühten, sprach eine heisere Stimme aus der Stille und Dunkelheit, die eine Ecke des Raumes umfing, nur die Armlehne eines Lehnsessels freigebend und eine Hand, die regungslos auf ihr ruhte. Außerdem war ein Fuß zu sehen, steif auf einem Schemel ausgestreckt, dessen dünne Sohle von einem orangeroten Sonnenstrahl beleuchtet wurde. »Wie wird es enden?« fragte die Stimme. Die Antwort kam über die Schulter des Besuchers, mit gebildeten, sonoren Worten und der Andeutung eines Akzents
wie bei einem Ausländer, der die fremde Sprache besser sprechen gelernt hat als der Einheimische. »Im Feuer, im Eis, mit einem Knall, mit einem Wimmern, durch kosmischen Zufall, durch eigenen Willen und die Hand des Menschen. Was spielt das für eine Rolle?« »Ich möchte es wissen.« »Das ist der beharrlichste Zug der Intelligenz.« »Sie wollen es mir nicht sagen?« »Vielleicht weiß ich es nicht. Vielleicht kann ich es nicht sagen. Wir sind keine Götter, nicht wahr.« »Was seid ihr dann?« »Wissenschaftler, Experimentatoren. In eurer Sprache beschreiben uns diese Ausdrücke am besten.« »Und wir sind euer Experiment.« Der Besucher drehte sich um. Auch sein Gesicht war im Schatten. »Ja.« »Und jetzt ist das Experiment abgeschlossen.« »Wir haben herausgefunden, was wir wissen wollten. Wir reinigen das Reagenzglas, sterilisieren die Einrichtung. Das sollten Sie eigentlich begreifen.« »Begreifen? Ich sollte es nicht einmal glauben – aber ich glaube es. Ohne zu wissen, warum.« »Ihr ganzes Leben war Vorbereitung auf diesen Augenblick. Sie können nicht anders als glauben. Aber Sie müssen auch begreifen.« »Verstandesmäßig, ja. Gefühlsmäßig kann ich die Erklärung nicht akzeptieren, daß dieses Experiment seinen Zweck erfüllt hat – daß der Mensch nicht mehr leisten kann.« »Es geht nicht um die Menschen, wohlgemerkt, sondern um das Experiment. Die Menschen hatten Millionen Jahre, Hunderttausende von Generationen, Tausende von
Zivilisationen Zeit. Was die Menschen noch leisten können, ist Wiederholung. Und trotzdem – « »Lassen Sie mir Hoffnung?« fragte die heisere Stimme. »Es gibt keine Hoffnung. Es gibt nur diesen seltsamen Widerspruch im Menschen, von dem Sie reden, diese Spannung zwischen seinem Verstand und seinen animalischen Instinkten. Er nennt das Emotion. Die merkwürdige Wechselbeziehung zwischen Ihrer Vernunft und den Instinkten war es, die uns lange über die geplante Dauer des Experiments hinaus fasziniert hat. Aber das Universum hat noch viele seltsame Facetten, die wir erforschen möchten, und diese kleine Komplikation hat uns zu lange beschäftigt. Wir können uns mit der eigenartigen Tatsache des Menschen auf eine Art und Weise befassen, die nicht so komplex ist – und nicht so kostspielig.« »Laßt uns allein. Überlaßt uns unserem Schicksal.« »Wir sind euer Schicksal. Es gibt euch nur als Experiment. Verläßt der Wissenschaftler sein Labor, um sich ein anderes zu bauen, wenn sein Experiment abgeschlossen ist? Wir tun es auch nicht. Und obwohl dieses Labor – von dem allein schon die Vorstellung eure Phantasie überfordert – nur eines unter vielen ist, verschwenden wir nichts. Verschwendung ist für uns unvorstellbar.« »Wenn ihr schon keine Liebe für das von euch Erschaffene aufbringt – habt ihr kein Mitleid?« »Keines.« »Kein Gefühl?« »Keines. Wir sind rationale Wesen. Unser einziges Motiv ist der Wissensdrang. Vielleicht früher einmal – so weit zurück im Nebel unserer Anfänge, daß sogar wir es vergessen haben – hatten wir diese Verwirrung des Intellekts, die ihr Gefühl nennt. Wenn es so war, ist sie unwiederbringlich verlorengegangen. Wir können ebensowenig aufhören, das
Rationale zu tun, wie ihr aufhören könnt zu atmen. Auf der anderen Seite habt ihr euch in kurzer Zeit schnell entwickelt. Ihr seid eine Ansammlung von Eigenschaften, die teilweise nicht miteinander vereinbar sind.« Der Mann sagte nichts. »Wir hatten angenommen, die Intelligenz sei das überlegene und beherrschende Merkmal«, fuhr der Besucher fort, »kamen aber dahinter, daß das bei den Menschen nur gelegentlich der Fall ist. Solche Menschen nennt ihr Ungeheuer. Wir finden sie langweilig. Aber ihr verwirrten und emotionellen Exemplare habt uns über den euch zugemessenen Zeitraum hinaus fasziniert.« »Ihr seid die Ungeheuer.« »So müssen wir euch erscheinen. Und doch tun wir nichts, das nicht rational wäre, während ihr eure Intelligenz vorwiegend dazu benutzt, die Verbrechen, die ihr euren Mitmenschen gegenüber begeht, rational zu erklären.« »Wir sind schöpferisch«, sagte der Mann. Der Besucher trat vor. Seine Schuhe und Hosenbeine sahen im Licht einer Stehlampe, die in einer fernen Ecke stand, ganz gewöhnlich aus. Schultern und Gesicht blieben im Dunkeln. »Ja, ihr seid schöpferisch – weit über eure berechenbaren Kräfte hinaus. Wahnsinnig, ohne Plan und Vernunft. Eure Schöpfungen sind eine großartige Verschwendung; wir können sie nicht begreifen, weil wir nicht vergeuden können. Wir besitzen nicht, was ihr Kunst oder Musik oder Literatur nennt. Wir verstehen nicht, was ihr Schönheit oder Häßlichkeit nennt – außer in der Theorie.« »Dann hat der Mensch etwas zu bieten – etwas, das ihr nicht habt. Er kann eure rationale Existenz durch seine irrationale Schöpferkraft ergänzen. Mit seiner Unterstützung gibt es nichts, was ihr nicht tun, kein Ziel, das ihr nicht erreichen könntet.«
»Wir wollen nichts tun. Wir wollen nichts erlangen außer Wissen. Und das suchen wir auf unsere eigene rationale Weise – die Zugabe von Emotion würde das nur erschweren. Und nun versucht der Mensch natürlich, aus seinem Reagenzglas, in dem das Experiment mit ihm begonnen hat, herauszukommen und in andere Experimente einzudringen und sie zu zerstören. Euch das zu erlauben, wäre nicht rational. Ihre Verteidigung der Menschheit ist nutzlos. Der Mensch kann nicht gerettet werden. Er ist zum Untergang verurteilt.« Der Mann im Schatten seufzte. Nach einer Pause sagte er: »Sie haben angedeutet, daß es andere Wege gibt, mit der Tatsache Mensch fertigzuwerden.« »Ich habe nichts angedeutet. Wir machen keine Fehler.« »Was sind das für Wege? Wollt ihr versuchen, uns intellektuell zu verstehen? Wollt ihr uns durch eure Computer schleusen, bis wir Sinn ergeben?« »Das ist nicht möglich. Aber schon seit dem Ende des Experiments ist – die letzten drei Jahrtausende – deutlich gewesen, daß wir die Schöpferischsten unter euch ausgesucht haben. Sie sind – in eurer Sprache gibt es keinen ganz treffenden Ausdruck dafür – in eine andere Existenz übertragen worden. Wir haben religiöse Neuerer ausgewählt, militärische Führer, politische Genies, Philosophen, bildende Künstler, Schriftsteller, Komponisten, Wissenschaftler – « »Christus und Mohammed?«
»Und Gautama Siddharta.«
»Macchiavelli?«
»Und Solon und Jefferson.«
»Plato und Aristoteles?«
»Und Kant und Nietzsche.«
»Michelangelo?«
»Und Praxiteles und Picasso.«
»Shakespeare?«
»Und Homer und Hemingway.« »Bach und Beethoven?« »Brahms und Berlioz.« »Archimedes?« »Galilei und Newton und Einstein. Es sind Tausende mehr, und Tausende, deren Namen Sie nie gehört haben. Sie sind Schöpfer. Und deshalb bin ich heute abend hier.« »Ich habe mich schon gewundert. Ich gehöre nicht zu denen. Ich habe nie etwas geschaffen.« »Sie gehören dazu«, sagte der Besucher. »Die Tatsache, daß Sie Ihre schöpferische Kraft noch nicht angewendet haben, ist bedeutungslos. Wir mögen sie selbst nicht besitzen – wir mögen sie nicht einmal verstehen – aber wir haben gelernt, schöpferische Kraft und ihre Anzeichen zu erkennen. In der relativen Ewigkeit vor Ihnen werden Sie Zeit haben, schöpferisch zu sein.« »Ich. Unter ihnen?« »Sie sind einer von ihnen – von gleichem Format. Sie können lange Zeitalter einer von ihnen sein, mit ihnen zusammenwirken, von ihnen lernen, wie sie von Ihnen und wir von allen lernen werden – auf eine Art, die Sie hier zwischen Ihren Büchern nur erahnen konnten.« »Unfaßbar – « »Nach Ihren Maßstäben – ja.« »Meine Träume. Der Himmel.« »Soviel ist uns klar.« »Wenn ich ein abergläubischer Mensch aus einem anderen Zeitalter wäre, würde ich Sie für einen Abgesandten des Teufels halten, der hergekommen ist, mich zu versuchen.« »Wir sind alles Teuflische und alles Göttliche, das ihr euch vorstellt – beides und beides nicht. In einem anderen Zeitalter haben wir in ihrer Sprache und im Rahmen ihres Begriffsvermögens gesprochen, so wie jetzt in Ihrem.«
»In welcher Weise würde die Existenz fortdauern?« Der Mann hatte sich vorgebeugt, bis sein Oberkörper, bekleidet mit einem grauen Pullover, im Licht war, obwohl sein Gesicht noch immer im Dunkeln blieb. »In einer sehr ähnlichen Art wie jetzt, mit bestimmten Maßnahmen, um Ihre Sterblichkeit zu hemmen.« »Und wo würde sie fortdauern?« »Nicht hier, aber an einem Ort, der Ihnen angenehm wäre, ausgestattet mit allem, was Sie schätzen – Essen, Trinken, Bücher, Musik und bildende Kunst – und den Menschen und Gesprächen und Ideen und der Zeit, nachzudenken und schöpferisch zu wirken.« »Hören Sie auf. Sie beschreiben den Himmel.« »So würden Sie das auffassen.« »Sie kennen mich gut.« »Was wir wissen können, kennen wir gut.« Die Stille breitete sich wieder aus, als der Mann in seinem Sessel zurücksank und der Besucher wieder nach Westen blickte, wo der Sonnenuntergang verglüht und aus der Dämmerung Nacht geworden war. Der Abendstern funkelte hell über den Bergen. Schließlich sagte der Mann: »Und meine Frau?« Der Besucher wandte sich ihm zu. »Die Person, die mich hereingelassen hat – aber erst, als ich darauf bestand? Die Sie einen Narren nannte?« »Ja.« »Sie finden sie nicht reizvoll.« »Früher habe ich das getan.« »Sie lieben sie nicht.« »Früher habe ich das getan.« »Sie ist nichts Besonderes. Wir können sie nicht retten. Außerdem wird es Ihnen an weiblicher Gesellschaft angemessenerer Art dort, wo Sie hingehen, nicht mangeln.«
Der Mann lachte. »Nicht nur der Himmel, sondern das Paradies.« »So werden Sie es betrachten.« »Ich glaube, Sie sind doch ein Abgesandter des Teufels – Sie verstehen es so gut, einen Menschen in Versuchung zu führen.« »Wir sind rationale Wesen.« »Und ihr wollt das Irrationale verstehen. Und was ist mit dem Rest der Menschheit?« »Ein paar wie Sie werden wir retten. Der Rest wird vernichtet. Sie sind wertlos und überflüssig. Selbst Sie werden das zugeben.« »In meinen rationaleren Augenblicken – vielleicht, ja. Aber warum kommen Sie so zu mir und erklären mir das alles? Wenn ich diese Dinge als real akzeptieren würde – als mehr denn das seltsame Gerede eines Irren oder die seltsameren Vorstellungen meines eigenen Gehirns – warum nehmen Sie mich nicht einfach mit, wenn Sie den Rest vernichten?« »Vielleicht ist Ihr Verständnis eine Bedingung der Übertragung. Vielleicht gehört es mit zum Experiment. Vielleicht ist es beides.« »Oder keines von beidem. Wenn ich mich nun weigere?« Der Besucher verstummte mitten im Satz. Zum erstenmal wirkte er unsicher. Er trat vor. Er trug eine gewöhnliche blaue Jacke. »Warum sollten Sie? Warum sollten Sie fortwerfen, was Sie am meisten begehren?« »Würden Sie mich trotzdem nehmen?« Der Mann beugte sich vor ins Licht. Er war in mittlerem Alter – noch kraftvoll, aber nicht mehr jung. »Nein. Es würde Ihnen aber nichts nützen, wenn Sie ablehnen. Sie würden Ihre Aussichten auf die Ewigkeit und die
Befriedigung des Schöpferischen durch eine närrische Geste verscherzen. Sie können die Menschheit nicht retten.« »Ich kann auch nicht an ihrer Vernichtung teilnehmen. Wenn die anderen vor mir Ihrem Vorschlag zugestimmt haben – vielleicht brauchten sie sich nicht mit der unmittelbar bevorstehenden Beseitigung aller anderen zu befassen.« Der Besucher trat ins Licht. Er hatte ein ganz gewöhnliches Gesicht. Jetzt wirkte es verstört. »Sie würden sich weigern?« »Ja. Ich weigere mich.« »Aber warum? Was haben Sie davon? Was können Sie zu erreichen hoffen?« »Vielleicht lehne ich die Grundbedingungen Ihres Angebots ab. Vielleicht weigere ich mich durch diese Handlung, mich jenen anzuschließen, die von dem Leiden profitieren, das sie solchen zufügen, die fähig sind, die Art ihres Elends zu begreifen. Vielleicht weigere ich mich, persönlich von einem Vorgang zu profitieren, der meine Rasse vernichtet. Vielleicht ziehe ich es vor, Ihnen auf diese schlüssige Weise zu beweisen, daß Sie den Menschen überhaupt nicht verstehen, daß alle anderen Experimente, die Sie anstellen mögen, neben diesem einen bedeutungslos sind, daß Sie es beenden, nicht weil es abgeschlossen ist, sondern, weil Sie es nicht begreifen können.« »Sie sind entschlossen, soviel zu riskieren?« »Alles.« »Sie wollen es sich nicht anders überlegen?« »Nein.« »Das sehe ich.« »Ich danke Ihnen für das Angebot. Es war verlockend – aber ich muß mit Bedauern ablehnen. Sie finden sicher hinaus.« Der Mann in dem mit Büchern vollgestopften Raum saß lange Zeit ruhig im Sessel, nachdem sein Besucher gegangen
war. Dann stand er auf, ging zu einem Schreibtisch in der Ecke, nahm Papier heraus und begann zu schreiben. Draußen auf der Straße warf der Besucher noch einen Blick auf das Haus, das er eben verlassen hatte, dann schaute er hinüber zu den dunklen Bergen, wo der Abendstern untergegangen war und Orion hinabsank. Er stand lange Zeit da, bevor er wie ein Nachbild verblaßte und verschwand.
Der Mann, der die Zukunft kannte
Er war der traurigste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich war damals noch jung, hatte eben erst eine Praxis als Psychologe eröffnet, und spielte ein kleines Spiel mit mir, indem ich den Beruf meiner Patienten zu erraten versuchte, bevor sie zu reden begannen. Ein Professor, dachte ich, in irgendeinem kleinen, efeubewachsenen College. Oder ein Geschäftsmann, am ehesten zu Hause in einem dunkel getäfelten Konferenzsaal. Oder Arzt, nicht praktischer Arzt, sondern Spezialist – Chirurg, vielleicht. Seinem Äußeren nach hielt ich ihn für etwa fünfzig. Er war hochgewachsen, schlank und sehr gut angezogen mit konservativem Geschäftsanzug, weißem Hemd, dunkler Krawatte. Seine Haare waren an den Schläfen weiß, darüber dunkelgrau; er hatte ein markantes, leicht gebräuntes Gesicht, mit Falten wie von starken Schmerzen. Aber seine Augen waren unfaßbar alt. Alles andere war eine Maske, durch die seine Augen in die Welt blickten. Und die Welt blickte auf seine Augen und konnte den Blick nicht abwenden, weil sie das Elend der Welt in sich bargen, und ein Mitleiden, das jede Phantasie übertraf. Seine Augen waren dunkel und unergründlich. Ich starrte lange Zeit hinein, länger, als höflich, länger, als klug war. »Ja«, sagte er, so, als bestätigte er einen früheren Eindruck. »Ja«, sagte er erneut, aber leiser diesmal, mitleidig. Er sank in einen Sessel vor meinem Schreibtisch und schloß die Augen. Ich senkte den Blick. Als ich ihn nochmals ansah, hatte ich mich wieder in der Gewalt.
»Ich werde Ihnen etwas sagen, was ich noch zu keinem Menschen gesagt habe«, meinte er müde. »Ich kann die Zukunft erkennen.« Ich nickte taktvoll. »Ich werde Ihr Vertrauen zu schätzen wissen. Können Sie das, wann Sie wollen, oder hängst es von Bedingungen ab?« »Jederzeit«, sagte er. »Oder vielmehr immer.« »Worin liegt der Unterschied?« »Es hängt nicht von meinen Wünschen ab«, sagte er ernst. »Es ist dasselbe, wie wenn man die Augen öffnet und sieht.« »Sind Sie mit dieser Gabe geboren, oder hat sie sich entwickelt?« fragte ich. Er zögerte nur einen Augenblick. »Ich nehme an, Sie würden es eine Gabe nennen.« »Es muß eine sehr brauchbare Fähigkeit sein«, meinte ich trocken. »Das möchte man meinen.« Er lächelte schief. »Ich rede aber nicht von der Zukunft im allgemeinen, sondern von der persönlichen Zukunft jedes einzelnen, dem ich begegne.« Ich lehnte mich zurück. »Dann können Sie also auch meine Zukunft erkennen?« »O ja«, sagte er. Ich beugte mich vor. »Erzählen Sie.« »Deshalb bin ich hier«, sagte er. Und das erzählte er mir: Meine Geschichte beginnt wohl mit einem Mann, der in der Nähe einer kleinen ungarischen Ortschaft in einem Zelt starb. Er starb mit einem Messer im Rücken und wand sich vor Schmerzen, aber in seinen Augen war ein Ausdruck des Friedens, den ich nie wieder zu erblicken hoffe. Denn ich sah ihn sterben. Ich war zweiundzwanzig. Ich hatte eben mein Examen gemacht, und mein Onkel, der zugleich
mein Vormund war, hatte mir dafür eine große Europareise geschenkt. Ich brach die Reise ab und fuhr nach Hause. Fast die ganze Fahrt verbrachte ich allein, eingeschlossen in einem Abteil, einer Hotelsuite, einer Schiffskabine. Zuerst wurde mir regelmäßig übel. Aus jedem, den ich ansah, strömte eine Folge von Figuren und Szenen, nur um ein Geringes weniger wirklich als die Person selbst, im Vorbeiziehen verblassend, dazwischen hier und dort eine Szene, die klar und deutlich hervorstach. Die Zukunft ist nicht starr. Jeder hat eine unendliche Zahl von Wahlmöglichkeiten, aber sie unterscheiden sich nach der Wahrscheinlichkeit. Die weniger wahrscheinlichen Wege sind vage und undeutlich. Aber die Zukunft wird stark von Kausalität beherrscht, deren wichtigster Faktor die Art der Person selbst ist. Manche zukünftigen Ereignisse sind nahezu unveränderbar. Dorthin führen Wege von allen Ausgangspunkten. Aber es fiel mir, wie gesagt, schwer, zwischen der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks und den Wahrscheinlichkeiten der Zukunft zu unterscheiden. Ich war oft gezwungen, mich in meinem Zimmer hinzulegen. Aber nach mehreren Monaten paßten sich meine Sinne und mein Verstand der neuen Existenz an. Meine neue Fähigkeit faszinierte mich. Ich mischte mich unter vergleichsweise begüterte Leute, die der Versuchung, der ernsthaften Erkrankung, der Gewalttätigkeit oder einer Tragödie weniger ausgesetzt waren. Die Mehrheit der Geheimnisse, die ich erfuhr, war nur angenehm aufreizend. Ich kam mir in meinem Wissen ziemlich göttergleich vor und genoß einen beachtlichen Ruf als Wahrsager bei Festen. Bei einem Partyabend kam ein schönes junges Mädchen an den Tisch, wo ich den Allwissenden spielte. Fröhlich setzte sie sich zu mir, um sich wahrsagen zu lassen, aber ich zuckte zusammen und rannte hinaus. Später zwang ich mich dazu,
zurückzugehen und mich zu entschuldigen. Den wahren Grund konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Jeder Weg in ihrer Zukunft führte binnen einem Jahr zum Tod durch eine bösartige Geschwulst, die schon in ihr vorhanden war. Ich trat nie mehr als Wahrsager auf. Ich ging aufs College zurück und schrieb mich in der medizinischen Fakultät ein. Ich kehrte nie mehr nach Hause zurück. Alte Freunde waren in meiner Gegenwart unruhig geworden. Und ich konnte mich bei ihnen nicht natürlich benehmen. Ich wußte zuviel über sie; mein Wahrsagen war zu erfolgreich gewesen. Wichtiger war, ich hatte eine neue Welt betreten. Auf den Straßen kam ich an Fremden aus allen Bereichen des Lebens vorbei, die meinem Bewußtsein ihre Schicksale einprägten: Hier ein Mann, dem Verstümmelung durch die Maschine beschieden war, an der er arbeitete, dort einer, der seine Frau umbringen würde. Betrug, Diebstahl, Unterschlagung; Verführung, Ehebruch, Inzest, Vergewaltigung; Gewalt, Krankheit, Tod… Es gab nichts, was ich tun konnte. Ich mied die Straßen; ich lebte ganz allein. Ich hatte begonnen, den schrecklichen Preis für mein Vorauswissen zu begreifen. Nachdem ich das Examen gemacht hatte, eröffnete ich in dieser Stadt eine Praxis. Ich spezialisierte mich auf Diagnostik. Das war naheliegend; kein anderer Arzt konnte sich mit mir vergleichen. Einen kleinen Teil meiner Zeit widmete ich reichen Patienten. Bei ihnen verdiente ich genug, um den Rest meiner Zeit für Leute aufzubringen, die nichts zahlen konnten. Sobald eine Behandlung Erfolg versprach, wußte ich es. Wenn der Patient unheilbar war, konnte ich ihm zu dem Weg verhelfen, auf dem er sich und seine Familie am besten vorbereiten konnte. Es war nicht immer so klar unterscheidbar. Es gab Zeiten, wo die Gesundung eines Patienten nur zu einer Tragödie für sich
und andere führte. Ein Kind war, wenn es am Leben blieb, zum Schwachsinn verurteilt. Ein Mann würde später den langsamen Tod an multipler Sklerose sterben. Eine Frau würde ihr Kind und dann sich töten, ein Mann eine Gestalt des öffentlichen Lebens ermorden. Was sollte ich tun? Ich weigerte mich, den lieben Gott zu spielen. Ich überwies alle solche Fälle kommentarlos anderen Ärzten, zum Leben oder Sterben, wie irgend jemand oder irgend etwas anderes entschied. Vielleicht war das falsch. Ich habe der Versuchung widerstanden, mich in öffentliche Ereignisse einzumischen. Durch eine Andeutung hier, ein Eingreifen dort hätte ich den Verlauf der Geschichte beeinflussen können. Aber ich konnte nie weit genug blicken. Ich konnte die Zukunft nie als Ganzes sehen. Die Welt, die ich formte, mochte ein wenig Freude und eine überwältigende Last des Tragischen oder einen kurzen Augenblick des Friedens und eine Unendlichkeit des Leidens kennen. Ich war nicht weise genug. Vielleicht machte ich es auch hier falsch. Mein Leben ist oft unerträglich gewesen; elend war es immer. Mein Leben, sage ich – dabei habe ich kein Leben gehabt. Meine einzige persönliche Funktion bestand darin, am Leben zu bleiben und Umstände herbeizuführen, die für das, was ich zu tun hatte, notwendig waren. Ich hatte keine Freunde, keine Frau, keine Kinder. Ich war zu verschieden, zu seltsam. Und ich konnte keinen Menschen lieben. Ich wußte einfach zuviel. Wenn ich anderen Menschen zu nahe kam, versuchte ich, sie vor Unglück und Katastrophen zu bewahren, aber früher oder später erweist sich das als unmöglich, und die Versuche allein hätten mich so in Atem gehalten, daß mir für nichts anderes mehr Zeit geblieben wäre. Bald hätten sie kein eigenes Leben mehr gehabt, sondern wären Automaten geworden, die sich nach meinem Geheiß bewegten. Sie hätten es gespürt. Nur zu bald hätten sie mich hassen müssen.
Irgendwann hätten sie versucht, mich umzubringen. Unpersönliches Leid ist schlimm genug, persönliche Tragödien kann man nicht lange ertragen. Ich lernte meine Lektion sehr früh. Das vom tödlichen Krebs gezeichnete Mädchen war meine Verlobte.
Oft dachte ich an Selbstmord. Ich konnte aber sehen, daß ein solcher nicht in meiner Zukunft beschlossen lag. Ich ging so weit, im Trotz eine Schußwaffe auf meinen Kopf zu richten, aber abdrücken konnte ich nicht. Selbst auf diese Art konnte ich am Leben nicht teilnehmen. Meine Rolle gestattete keine Flucht; ich war ein Beobachter des Lebens. Beobachter des Elends. In jedem Leben, gleichgültig, wie ruhig, wie ereignislos, wie beschützt, liegt das Elend auf der Lauer. Und mit ihm Qual, Verzweiflung und Tod. Überall und für ewig. Ich habe alles gesehen. Glück ist etwas Flüchtiges, Leiden von Dauer. Warum konnte ich mich nicht töten? Vielleicht, weil ich in meiner Qual die Qualen der Welt ein wenig lindern konnte. Ich half meinen Patienten und half der Menschheit im allgemeinen. Ich habe viele Krankheiten gesehen; ich habe die verborgenen Ursachen dafür gesehen; ich habe gesehen, auf welche Behandlung der Patient am besten anspricht. Unwillig, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, habe ich andere Menschen zu wichtigen Entdeckungen geführt – mit Artikeln, Reden, Vorträgen, Vorschlägen – stets so unauffällig, daß man es nicht auf mich zurückführen konnte. Es ist nicht klug, den Eindruck zu erwecken, man wisse zu viel; seltsam genug, diese Gabe erregt Neid. Und trotzdem habe ich nicht soviel tun können, wie ich früher für möglich hielt. In vielen Fällen war eine Heilung nicht angezeigt; alle Wege des Patienten führten in den Tod.
Für sie konnte die Welt eine Heilung nicht anbieten; der Mensch mußte erst geboren werden, der die Droge oder Therapie dafür entdecken würde; das technische Niveau der Zivilisation war zu niedrig, um das Erforderliche herzustellen oder das Verfahren durchzudenken. So steht es mit dem Krebs und anderen Leiden. Ich bin davon überzeugt, daß keine Krankheit tödlich ist, selbst das Altern nicht. Ich habe in meiner Zeit erlebt, daß die Lebensspanne beträchtlich verlängert worden ist; in der Ihrigen wird man noch mehr erreichen. Der alte, wahrsagende Zigeuner, der diese Fähigkeit an mich weitergegeben hat, war mutiger als ich; er hatte versucht, den Weg Europas zu ändern. Ob er es gut oder schlecht gemacht hat, weiß ich nicht. Am Ende starb er durch das Messer eines bezahlten Attentäters. Ich habe mich oft gefragt, was mit mir geschehen wäre, wenn ich dieses Zelt nicht betreten hätte. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, daß ich meinem Schicksal nicht hätte entkommen können. Er wußte, daß er im Sterben lag. Vor zwei Wochen kam ein Mann in meine Praxis, um sich eine Diagnose stellen zu lassen. Er gab sich als Geschäftsmann aus, aber ich sah, daß er in Wirklichkeit der Chef einer verbrecherischen Organisation war, die durch Umgehung des Volstead-Gesetzes reich und mächtig geworden war. Er litt an einer seltenen, aber schmerzhaften und letztlich tödlichen Krankheit, die noch nicht einmal einen Namen hat. Ich hätte ihn heilen können, aber der Preis war Elend, Qual und Tod für viele andere Menschen. Ich erklärte ihm, ich könne ihm nicht helfen. Er ist ein bösartiger, gewalttätiger Mensch; in einem halben Jahr wird er tot sein. Unmittelbar danach verringerten sich meine Wahlmöglichkeiten auf einige wenige. Sie alle führten hierher.
»Und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen«, sagte er. »Sehr interessant«, gab ich zurück, »aber ich dachte, Sie wollten mir meine Zukunft weissagen.« »Das ist Ihre Zukunft«, sagte er. »Schauen Sie!« Er starrte mich an. Seine Augen waren groß und kohlschwarz, unergründlich. Mein Sprechzimmer löste sich auf. Ich schien in schwarze Zwillingsgewässer zu stürzen, hinab, immer tiefer hinab… »Schau«, sagte jemand von weit her. »Nein«, versuchte ich zu schreien. »Nein!« Aber ich konnte nicht sprechen. Ich versuchte meine Augen zu schließen. Sie schlossen sich nicht. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich fühlte nichts. Ich schaute mich um. Mein Schädel schien sich auszudehnen, bis er den ganzen Raum umfaßte. Dann schrumpfte er zu seiner normalen Größe, ich befand mich wieder in meinem Körper, und ich hatte ihn wieder in der Gewalt. Alles, bis auf meine Augen. Sie sahen zuviel. Der Raum war voller Menschen, die auf mich eindrangen, von überall her, die mich zu ersticken drohten. Ich konnte nicht atmen. Alle diese Leute waren ich. Ich schrie auf. »Schau!« sagte er wieder. Ich schaute hin. Er war nicht ein Mann, sondern mehrere. Abbilder von ihm strahlten in alle Richtungen aus, wie Radspeichen. Nur eine der Linien hatte Bestand. Ich folgte ihr. Abwehrend, gegen meinen Willen, sah ich ihn mein Sprechzimmer verlassen, durch das Vorzimmer und den Flur gehen. Ich sah, wie er den Aufzug betrat und zum Erdgeschoß hinunterfuhr, wie er durch den Ausgang hinausging und die Straße überquerte. Ein großer, schwarzer Wagen, der in einiger Entfernung geparkt hatte, fuhr an. Eine weiße Hand schob sich durch das
Fenster, etwas Schwarzes, Schimmerndes umklammernd. Der Wagen kam auf gleiche Höhe. Der schwarze, schimmernde Gegenstand zuckte zweimal. Rauch kräuselte sich. Der Getroffene taumelte und brach auf dem Gehsteig zusammen. Der Wagen schoß vorwärts und verschwand hinter blauen Auspuffwolken… Ich schloß die Augen. »Jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte er leise. Ich öffnete kurz die Augen und schloß sie wieder. Mir war übel. »Ich will es nicht«, sagte ich schwach. »Niemand will es«, sagte er. »Aber man kann diese Gabe nicht zurückweisen. Es gibt immer einen, der sie annehmen muß.« »Warum?« »Das weiß ich nicht, aber die Wege sind klar. Wenn sie für einen von uns enden, konzentrieren sie sich vorher alle auf einen anderen. Wenn man so lange damit gelebt hat wie ich, weiß man, daß man manchen Dingen nicht ausweichen kann.« »Es muß doch einen Grund geben«, sagte ich aus einer Welt der Dunkelheit. Meine Augen wollte ich nicht öffnen. »Irgendwo muß es angefangen haben.« »Die Ursprünge sind unauffindbar«, sagte er. »Es ist lange, lange her. Der Zigeuner wußte es nicht. Aber es gibt Legenden. Weise Männer, ihrer Zeit voraus, die gefürchtet, gehaßt, verraten wurden. Die Geschichte vom Ewigen Juden. Es gab einen Mann namens Jesus. Er soll viele seltsame Dinge getan haben. Er heilte die Unheilbaren. Er konnte die Zukunft vorhersagen.« »Aber warum?« sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Warum?« »Das habe ich mich auch gefragt. Ist es von einem anderen Geist geplant, der alle Wege bestimmt, die wir sehen? Oder
war es eine zufällige Entdeckung? Hat ein Seher in der Vorzeit es aus Versehen entdeckt und sich in einer Falle verirrt? Das wird Sie bestimmt von anderen Gedanken ablenken. Ich persönlich neige dazu, einen Plan anzunehmen. Wir haben eine große Kapazität dafür, Gutes zu tun. So groß wie die Kapazität für das Leidenkönnen.« »Der Sündenbock!« stöhnte ich. »Mag sein. Eine menschliche Notwendigkeit, seit es die Menschen gibt. Türme die Sünden des ganzen Stammes auf den Gott und steinige ihn. Aber auf der anderen Seite könnten wir auch eine andere Art von Opfertier sein – jenes, das die Lämmer zur Schlachtbank führt. Aber die Schlachtbank braucht es nicht zu sein. Wir können den Weg zu einer besseren Welt und besseren Menschheit führen. Im ganzen gesehen glaube ich, daß wir es getan haben. Vielleicht sind wir die einzige bewußt lenkende Kraft in der Welt, dazu da, die Zivilisation vor dem Rückfall in die Barbarei der Vorzeit zu bewahren. Vielleicht sind wir das Gewissen der Welt.« »Sie haben mir das aufgezwungen. Kann man das jedem Beliebigen aufzwingen?« fragte ich ihn. »Ich weiß es nicht. Ich habe es nie versucht. Außer bei Ihnen tauchte es nirgends in der möglichen Zukunft irgendeiner Person auf. Und ich habe nie die Rücksichtslosigkeit oder Verwegenheit besessen, auf diesem Gebiet zu experimentieren. Aber wenn Sie vorhaben, es an andere weiterzureichen, um Gesellschaft zu haben, so bedenken Sie: Man wird Sie hassen, so, wie Sie mich hassen. Bei mir spielt das keine Rolle. Aber Sie müssen leben, und Sie werden das unausweichliche Ergebnis voraussehen können. Die Folgen des Bösen zu kennen ist tödlich.« »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte ich wild. »Das Ganze ist ein Trick. Hypnose. Illusion.« Er schwieg.
»Hinaus«, sagte ich. Ich ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich hörte, wie er aufstand. »Ich gehe«, sagte er. »Wissen Sie, wir können nicht Freunde sein, obwohl wir dieselbe Gabe – oder denselben Fluch – besitzen. Im ganzen gesehen, glaube ich, daß ich zu zurückhaltend gewesen bin. Die Welt braucht eine lenkende Hand. Lernen Sie, soviel Sie können. Werden Sie weise. Gebrauchen Sie Ihre Macht gut. Und möge Ihnen Gott helfen.« Ich hörte ihn gehen. Eine Tür öffnete und schloß sich. Eine zweite. Ich hörte die Aufzugtür aufgehen und sich wieder schließen. Dann Stille. Ich stand auf, die Augen noch immer geschlossen. Ich ging zum Fenster, preßte meine Stirn an die Scheibe und öffnete die Augen. Wenn ich hinaussah, war es nicht so schlimm. Dort draußen gab es keine in alle Richtungen ausstrahlenden Figuren, und die Straße, vier Stockwerke unter mir, lag verlassen da. Er trat unten hinaus und ging die Straße entlang, ohne sich umzusehen. Ein langer, schwarzer Wagen, in einiger Entfernung geparkt, fuhr an. Eine weiße Hand schob sich aus einem Fenster, etwas Schwarzes, Schimmerndes umklammernd. Der Wagen kam auf gleiche Höhe. Der schwarze, schimmernde Gegenstand zuckte zweimal. Rauch kräuselte sich. Er taumelte und brach auf dem Gehsteig zusammen. Der Wagen schoß vorwärts und verschwand hinter blauen Auspuffwolken… Ich ging mit geschlossenen Augen zu meinem Schreibtisch zurück, setzte mich und ließ den Kopf wieder auf die verschränkten Arme sinken. Ich hörte, wie die Tür aufging. »Doktor«, sagte meine Sprechstundenhilfe, »ist etwas nicht in Ordnung? Sind Sie krank?« Ich hob den Kopf und öffnete die Augen. Sie schwankte wild vor mir hin und her.
»Ja«, sagte ich und biß die Zähne zusammen. »Ich fühle mich ein bißchen krank. Ich nehme heute keinen Patienten mehr. Ich glaube, ich nehme einige Zeit keine Patienten mehr. Kümmern Sie sich darum?« »Ja, Doktor«, sagte sie. Sie kam näher. »Kann ich irgend etwas tun?« Ich versuchte, den Blick auf sie zu richten. Ich sah sie ein wenig deutlicher, jung, blond, sehr hübsch. Und ein Weg führte zu einer Kirche. Es war ein deutlicher Weg, aber beim Hinsehen schon begann er zu verblassen. »Nein«, sagte ich. »Nichts. Ich schließe die Praxis. Sie finden sicher eine andere Stellung, aber statt einer Kündigung gebe ich Ihnen zwei Monatsgehälter.« »Aber – «, sagte sie, den Tränen nahe. »Bitte, gehen Sie jetzt«, sagte ich. Der Weg, den ich verfolgte, verdunkelte sich völlig. Das ist fünfundzwanzig Jahre her. »Und deshalb«, sagte ich, »bin ich zu Ihnen gekommen.« Ich weiß, Sie denken jetzt, ich sei der traurigste Mensch, den Sie je gesehen haben.
Die Zerreißprobe
1 Sie schickten den Vortrupp hinaus, der den neuen Planeten in der ›Ambassador‹ erkunden sollte, geleitet von den geheimen Signalen eines glatten Kastens, den ein früheres Forschungsteam abgeworfen hatte. Dann lehnte man sich in der Zentrale zurück und begann damit, sich wie bei jedem Vortrupp Sorgen zu machen. Nicht um das Schiff. Die ›Ambassador‹ war eine perfekte Maschine: automatisch, selbstregelnd. Sie war für die Dauer gebaut und konnte ihre Aufgabe fehlerlos erfüllen, unter allen Bedingungen, solange sich rundherum ein Universum befand. Und sie konnte nicht versagen. Darüber gab es keinen Zweifel. Aber ein Vortrupp besteht aus Menschen. Die Sicherheitsfaktoren sind unbestimmbar; die Duplikation ihrer Innenmechanismen ist variabel und auf Vermutungen angewiesen. Die Stärke des Trupps ist die Summe der Stärken seiner Angehörigen. Die Schwäche eines Trupps kann ein einzelnes, kleines Versagen eines einzigen Menschen sein.
Tüüt… tut… »Hab dich!« sagte Ives. Ives war zuständig für Kommunikation. Er hatte schnelle Augen, schnelle Hände. Er war mächtig von Statur, beinahe ein Koloß, aber mit Grazie. »Genau getroffen«, sagte er grinsend und drehte lauter auf. Tüüt… tut…
»Was haben Sie erwartet?« sagte Johnny. Johnny war der Pilot – jung, breit, schlank. Seine Bewegungen waren so kontrolliert und entschieden wie die des Raumschiffs selbst, dem er einen unerschütterlichen Glauben entgegenbrachte. Er schob sich auf den Schalensitz vor der Hauptkonsole. Tüüt…tut… »Wir erwarten, daß das Schiff seine Aufgabe erfüllt«, sagte Hoskins, der Bordingenieur. Er war mild und geschickt, in mittlerem Alter, mit hoher Stirn und großen, hellblauen Augen hinter einer altmodischen Brille. Er teilte Johnnys Zutrauen zu der Maschine, aber mehr aus Kenntnis als aus Bewunderung. Tüüt…tut… »Wunderbar«, sagte Kapitän Anderson leise, und er mochte die Art meinen, wie das Schiff das kleine, glatte Kästchen anpeilte, das der Spähtrupp auf dem unerforschten Planeten abgesetzt hatte, oder den Planeten selbst, oder sogar das glatte Zusammenwirken seiner Besatzung. Tüüt… tut… Paresi sagte nichts. Er hatte Brauen und Nasenflügel, so empfindlich wie, ein Radarskop, und verschleierte Augen von leuchtendem Schwarz. Gesichter und Motive waren für ihn, was Skalen und Logbucheintragungen für den Ingenieur waren. Paresi war der Arzt, und er hatte manche Salbe und manche Schiene für unsichtbare Leiden. Er sah alles und verstand viel. Er lehnte am Schott, und sein Blick glitt von einem Besatzungsmitglied zum anderen. Ab und zu zuckte sein kleiner Schnurrbart wie der einer Katze, die einen Vogel beobachtet. Kaum hörbar, undeutlich wie der blaue Umriß eines fernen Berges, hungrig und verloren wie der halb lautlose Schrei einer Todesfee, kam der dünne Laut hoher Atmosphäre am Schiffsrumpf. Eine Stunde verging…
Tut-tut-tut-tut… »Schalten Sie das verdammte Ding ab!« Ives sah verblüfft zu dem Piloten auf. Er drehte den Lautstärkeregler, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. Paresi richtete sich auf und trat hinter Johnny. »Was ist los?« fragte er. Auch seine Stimme war katzenartig – eine Art Schnurren. Johnny hob hastig den Kopf und grinste. »Ich kann sie landen«, sagte er. »Dafür bin ich da. Ich – denke mir gern, daß ich vielleicht dazukomme, das ist alles. Ich kann nicht nachdenken, wenn der Autopilot die Kursübereinstimmung dauernd hinaustutet.« Er drückte auf die Korrekturdüsensteuerung. Das Schiff ignorierte ihn, auf den Leitstrahl eingepeilt. Das Schiff berechnete Beschleunigung, Höhe, Anziehungskraft, Magnetpolarisation, Luftwiderstand; nutzte alle Daten, brachte sie ins rechte Gleichgewicht, kalkulierte alles ein, sogar die Einmischung von der Handsteuerung her. Es diente den Menschen fehlerlos. Es ignorierte sie völlig. Johnny drehte sich um, schaute hinaus und hinunter. Paresi ebenso. Es war ein herrlicher Planet, eine Schattierung grüner als die blaugrünen Hügel der Erde. Er wirkte auf undefinierbare Weise eher parkartig als wild. Er machte den Eindruck beherrschter Üppigkeit und vollkommenen Friedens. Die Bremsraketen donnerten, als Johnny auf eine Taste drückte. Paresi nickte ein wenig, als er die Hand des Piloten in Bewegung sah, denn er wußte, daß der Autopilot sie ausgelöst hatte und Johnnys Bewegung ein antrainierter Reflex gewesen war. Der junge Mann war wachsam und angespannt, auf Hochempfindlichkeit geschult, bis ins Detail auf Vortäuschung trainiert, daß die Vortäuschung für ihn Wirklichkeit war; eine präzise Vortäuschung, die für sie alle Wirklichkeit werden würde, falls die Maschine versagte.
Aber die Maschine würde natürlich nicht versagen. Felder fegten unter ihnen dahin, wie eine Flickendecke in Pastell. Auf ihnen bewegte sich nichts. Hoskins trat an das Sichtfenster und sah gelassen hinaus. »Sehr ländlich«, meinte er. »Hübsch.« »Weit sind sie nicht gekommen«, sagte Ives. »Oder sehr weit«, sagte Kapitän Anderson. Johnny schnaubte. »Keine Fabriken. Keine Brücken. Kuhfährten und Ziegenpfade.« Der Kapitän lachte in sich hinein. »Manche Kulturen durchschreiten eine Agrarstufe, um zu einer technischen Zivilisation zu gelangen, andere bringen die Technologie hinter sich, um zum Ländlichen zu gelangen.« »Davon sieht man nichts«, sagte Johnny kurz, den Blick nach vorn gerichtet. Paresis Hand berührte den Arm des Kapitäns, und der Kapitän sagte nichts mehr.
Pu-uin-ngg! »Zur Landung fertigmachen«, sagte der Kapitän. Ives und Hoskins gingen achtern zu den Schwingmetallplatten im Achterschott. Paresi und der Kapitän traten in Nischen neben der Konsole. Johnny berührte eine Taste, die seinen Sessel frei in den hydraulischen Kardanringen schweben ließ. Sessel und Nischen und Schwingmetallplatten wurden nicht gebraucht, solange künstlich erzeugte Schwerkraft und trägheitsloses Feld existierten; es war ein Ritual. Das Schiff fegte über Baumwipfel, flog gemächlich zu einer Felsklippe. Ein Flammenstoß aus den Heckraketen, es stemmte sich massiv aufwärts und verfehlte den gezackten Grat knapp.
Ein Feuerstoß vorwärts, ein zweiter, und es ging in einen langen, flachen Gleitflug über, am Abhang eines Vorberges zur Ebene hin. Es behielt den Kurs bei, verringerte die Geschwindigkeit, ließ mehr den Boden zu sich heraufschwellen als hinabsinken. Es gab einen Augenblick des Beinahe-Flugs, Beinahe-Dahinrutschens, dann eine Wolke von Staub und Rauch, die sie überholte und passierte. Als sie sich verzog, waren sie Teil der Ebene, Teil des Planeten. »Gute Landung, John«, sagte Paresi. Hoskins fing seinen Blick auf und runzelte die Stirn. Paresi grinste breit, und es war klar, was zwischen ihnen hin- und herging: Warum ärgern Sie den Jungen? und Ruhe, Maschinenraum. Ich weiß, was ich tue. Hoskins zuckte die Achseln und ging mit Ives zur Funkkonsole. Ives ließ die dicken, geschickten Hände über die Schalter gleiten und blickte auf seine Instrumente. »Mehr als eine gute Landung«, brummte er. »Der Quietschkasten, den wir angepeilt haben, kann keine hundert Meter entfernt sein. Das erstemal, daß ich ein Schiff so ins Schwarze treffen sehe.« Johnny sperrte seine Kardanringe und fuhr mit ruhiger, empfindsamer Hand über die Wölbung der Konsole, als sei sie die Hüfte einer Frau. »Wieso – wie nah kommt ihr sonst?« »Die Landung an sich genügt schon«, sagte der Kapitän. »Ab und zu taucht der Kasten günstig auf einem Kontinent auf. Aber das hier – das ist zu schön, um wahr zu sein. Wir haben uns praktisch draufgesetzt.« Hoskins nickte. »Gewöhnlich liegt er vergraben in einem Urwald oder auf dem Meeresgrund. Aber das hier ist wirklich prima. Was für Daten! 0,98 Erdschwerkraft, Atmosphäre vom Typ Erde – « »Stark argonhaltig«, sagte Ives an der Konsole. »Sehr stark.«
»Das fällt nicht ins Gewicht«, meinte Hoskins. »Temperatur etwa wie im Frühsommer zu Hause… hier scheint eine heimtückische Verschwörung im Gang zu sein, uns alles leichtzumachen.« Paresi sagte, wie zu sich selbst: »Was zu leicht ist, macht mir Sorgen.« »Ja, ich weiß«, schnaubte Johnny und stand auf, um sich zu strecken. »Ihr Klapsdoktoren müßt es euch immer schwer machen. Man darf nichts gegen Reisauflauf haben; das muß ein Geschwister-Syndrom sein. Wenn die kürzeste Entfernung von hier nach dort führt, geh sie nicht – denk an deinen Onkel Ödipus!« Kapitän Anderson lachte leise. »Raketen abschalten, Johnny. Vielleicht wirkt Paresis mühevolle Überlegung an einem so schönen Tag unpassend. Aber vergessen Sie nicht – ewige Wachsamkeit ist nicht nur der Preis für die Freiheit, wie es in den alten Büchern heißt. Sie ist der Preis für das Dasein. Wir wissen, daß wir hier sind – aber wir wissen nicht, wo ›hier‹ ist, und werden es nicht wissen, bis wir zurück sind. Das ist wahrhaftig Terra incognita. Der Standort der Erde oder auch nur der unseres Teils der Galaxis muß um jeden Preis geheimgehalten werden, bis wir sicher sind, daß wir nicht auf eine möglicherweise gefährliche, vielleicht überlegene fremde Kultur stoßen. Was wir nicht wissen, kann der Erde nicht schaden. Keine vorstellbare Methode könnte uns diese Information entlocken, so wenig wie dem Quietschkasten, den das Forschungsteam abgeworfen hat. Darauf müssen Sie Ihr ganzes Denken aufbauen, Johnny. Wenn Ihnen das übertrieben vorkommt, sehen Sie es als Beispiel dafür, wie vorsichtig wir sein, welche Möglichkeiten wir einbeziehen müssen.«
»Menschenskind«, sagte der Pilot. »Das weiß ich doch alles. Ich wollte nur den Doktor auf den Arm nehmen.« Er zog eine Zigarette aus seiner Tunika, führte sein Feuerzeug heran. Er zog die Brauen zusammen, starrte das Feuerzeug an, versuchte es noch einmal. »Funktioniert nicht. Verdammt noch mal!« schimpfte er. »Ich mag Dinge nicht, die nicht funktionieren!« Paresi stand neben ihm, katzenhaft, wachsam. »Da ist Feuer. Immer mit der Ruhe, Johnny! Ein defektes Feuerzeug ist nicht so wichtig.« Johnny betrachtete mürrisch sein Feuerzeug. »Funktioniert nicht«, murrte er. »Trotz Garantie.« »He!« rief Ives. »Vielleicht sind die Eingeborenen doch Primitive. Auf keiner Frequenz irgendein Funkgeräusch. Auch keine Felder von Stromleitungen. Das sind ganz bestimmt Bauern.« Johnny blickte auf das schlafende Tal hinaus. Die Gereiztheit war ihm noch anzumerken. »Stellt euch das vor. Kein 2D- oder 3D-Fernsehen. Keine Düsenrennen, kein Fühlkino. Was machen die Leute hier den ganzen Tag?« »Bücher«, sagte Hoskins wie zerstreut. »Schach. Konversation.« »Ich weiß nicht, was Schach ist, aber Konversation ist gut, wenn man einem etwas sagen möchte, etwa: ›Bring mir ein Steak‹«, meinte Johnny. »Steigen wir endlich aus«, sagte er zum Kapitän. »Nur langsam«, sagte der Kapitän. »Ives, messen Sie die Funkfrequenzen genau. Wenn selbst von der anderen Seite des Planeten nur der Hauch einer Strahlung erkennbar wird, wollen wir sofort Bescheid wissen. Hoskins, prüfen Sie die Landeanzüge – Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Funk, alles. Erdähnlicher Planet oder nicht, wir legen uns nicht mit fremden Viren an. Johnny, ich möchte, daß Sie das Tal hier auf
jede mögliche Art unter die Lupe nehmen und mindestens drei Startvektoren berechnen.«
Die Besatzung machte sich an die Arbeit, Ives und Hoskins eifrig, Johnny lässig, als lasse er sich auf ein Ritual mit Kindern ein. Paresi beugte sich über ein Stereomikroskop, lenkte Arme, die Proben von in der Luft enthaltenen Bakterien und Pilzen hereinholten, und schob sie unter das Objektiv. Kapitän Anderson stellte sich neben ihn. »Wir könnten das Schiff verlassen, als wären wir in Muroc Port«, sagte Paresi. »Die Organismen hier könnten nicht erdähnlicher sein, wenn man sie von zu Hause hergebracht hätte, um uns zu täuschen.« Der Kapitän lachte. »Manchmal neige ich dazu, Johnny rechtzugeben. Einen argwöhnischeren Menschen habe ich noch nicht kennengelernt. Wie haben Sie sich eigentlich dazu überwunden, Ihren Vertrag zu unterschreiben?« »Ein paar Klauseln habe ich einfach überflogen«, sagte Paresi. »Da – sehen Sie sich das an.« In diesem Augenblick gab der gewöhnlich unerschütterliche Ives einen scharfen, halberstickten Laut von sich, dessen Widerhall sich in der Kabine brach. Paresi und der Kapitän drehten sich um. Hoskins kam mit einer Sauerstoffflasche eben aus dem Achtergang und war erstarrt. Johnny fuhr herum, als habe ein Löwe aufgebrüllt. Er stand mit dem Rücken zum Schott, den schmalen, langen Körper angespannt zu Kampf oder Flucht. Er war unbeschreiblich, Ives’ Laut, und es war das einzige Geräusch, das auf so verschiedene Menschen diese Wirkung, auszuüben vermochte – dasselbe Erschrecken, dasselbe Erstarren.
Ives saß wie hypnotisiert an seiner Konsole. Er streckte einen massiven Arm fast zögernd aus und drehte einen Schalter. Ein leises, gleichmäßiges Summen erfüllte die Kabine. »Trägerwelle«, sagte Ives. Dann kamen die Worte. Es waren Worte in Englisch, fehlerlos gesprochen, laut und klar und präzise. Es waren harmlose, sogar angenehme Worte. Sie lauteten: »Männer von der Erde! Willkommen auf unserem Planeten.« Die Stimme hing in der Luft. Die Worte blieben in der Stille stecken, wie Insekten, die sich auf einer Nadel wanden, dann erstarb die Stimme, und die Stille war vollkommen und lastend. Das Summen der Trägerwelle hörte auf. Mit einem durch alle Fasern zuckenden, kurzen Aufblitzen von Hochfrequenzschall prallte Hoskins’ Sauerstoffasche auf den Stahlboden. Dann begannen sie alle wieder zu atmen. »Da sind Ihre Bauern, Johnny«, sagte Paresi. »Springer auf c3«, sagte Hoskins leise. »Was heißt das?« fuhr ihn Johnny an. »Wieder Schach«, sagte der Kapitän. »Ein Eröffnungszug.« Johnny griff nach einer Zigarette, versuchte es mit seinem Feuerzeug. »Verdammt. Geben Sie mir Feuer, Ives.« Ives tat es und sagte über seine breite Schulter zum Kapitän: »Falls Sie sich fragen – keine Peilung. Meine Peilanlagen zeigen an, daß das Signal gleichzeitig von über vierzig Sendern in einem Kreis um das Schiff gekommen ist, womit sie auf ihre Art sagen: ›Weiß nicht.‹« Der Kapitän ging zur Sichtkuppel vor der Konsole und schaute sich um. Er sah das Tal, das warme Licht des Nachmittags, die zu grünen Hügel und die blau-grüne Ferne. Bäume, Felsen, ein schwebender Vogel.
»Funktioniert nicht«, murmelte Johnny. Der Kapitän beachtete ihn nicht. »›Männer von der Erde – ‹«, zitierte er. »Ives, sie sind in den Quietschkasten hineingekommen und haben seine Herkunft analysiert. Sie wissen genau Bescheid über uns.« »Das haben sie nicht, weil das nicht geht«, sagte Ives. »Die Kästen werden durch den Subraum geschleust. Sie tauchen in der Nähe eines Planeten auf und sinken hinunter. Keine Berechnung auf oder außerhalb der Erde könnte ihre Bahn im Normalraum zurückverfolgen, geschweige denn, was im Subraum geschieht. Die Elemente, aus denen der Kasten besteht, sind aus sorgfältig dem Durchschnitt angeglichenen Isotopenformen hergestellt, die aus jeder der neun uns bekannten Galaxien stammen können, vielleicht aus noch mehr. Und er tut nichts anderes, als ein VUHF-Signal auszustrahlen, das auf der einen Seite tüüt und auf der anderen tut macht. Er spricht kein Englisch, erwähnt den Planeten Erde nicht, kündigt keine Auskunft oder Absichten an, lehrt keine Etikette.« Kapitän Anderson breitete die Hände aus. »Irgendwo haben sie es her. Von uns nicht. Das Schiff und der Kasten sind die einzigen Gegenstände von Terra auf diesem Planeten. Also haben sie ihre Information vom Kasten.« »Was zu beweisen war. Sie denken wie Euklid«, sagte Paresi bewundernd. »Aber vergessen Sie nicht, daß die Geometrie etwas Künstliches ist, aufgebaut auf willkürlichen Axiomen. Sie funktioniert dort einfach nicht, wo die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten keine. Gerade ist… Ich schlage vor, daß wir erst Beweis-material sammeln und unsere Schlußfolgerungen zurückstellen.« »Was glauben Sie, wie sie dahintergekommen sind?« fragte Ives.
»Ich glaube, wir können davon ausgehen, daß sie Bescheid wissen. Analysieren läßt sich das erst, wenn wir mehr wissen.« Ives ging zu seiner Konsole zurück und betätigte einen Schalter. »Was machen Sie?« fragte der Kapitän. »Meinen Sie nicht, daß wir antworten sollten?« »Schalten Sie ab, Ives.« »Aber – « »Schalten Sie ab!« Ives tat es. Eine Expedition ist eine zwanglose, überaus demokratische Gruppe und kann sich das leisten, denn wenn die Situation es verlangt, ist es keine Frage, wo die Autorität liegt. Der Kapitän sagte: »Es gibt nichts, was wir ihnen sagen können, womit wir ihnen nicht noch mehr Informationen liefern würden. Nichts. Es kann für sie vielleicht sehr wichtig sein zu erfahren, ob wir ihre Mitteilungen empfangen oder nicht. Sie sollen merken, daß wir bewußt nicht reagieren.« »Sie meinen, einfach hier sitzen und warten, bis sie etwas anderes machen?« fragte Johnny entsetzt. Der Kapitän schlug ihm auf die Schulter. »Keine Sorge. Wir machen schon etwas, aber nicht auf dem Gebiet der Nachrichtenübermittlung. Hoskins – sind die Landeanzüge fertig?« »Fast«, knurrte Hoskins. Er hob die Sauerstoffflasche auf und verschwand. »Wir sagen ihnen etwas, auch wenn wir nicht antworten«, erklärte Paresi. »Wir tun, was wir können, Nick«, gab Anderson zurück. »Wir tun alles, was wir können. Haben Sie eine bessere Idee?« Paresi zuckte die Achseln und lächelte. »Ich klopfe nur ab, Käpt’n. Ich klopfe alles ab. Dann weiß man, was hohl ist.«
»Weiß schon, hat keinen Zweck, Sie anzufahren«, sagte der Kapitän und erwiderte das Lächeln. »Johnny, Hoskins. Fertigmachen zum Erkundungsgang.« »Ich gehe«, sagte Paresi. »Johnny geht«, sagte der Kapitän, »weil das seine erste Reise ist und weil er am Adrenalin erstickt, wenn er nicht etwas zu tun bekommt. Hoskins geht, weil von uns allen der Ingenieur am leichtesten zu entbehren ist. Ives bleibt, weil wir auf erstklassige Kommunikation angewiesen sind. Sie bleiben, weil es mir lieber ist, daß Sie die Leute versorgen, falls etwas schiefgeht, als daß ich versuchen muß, Sie zu versorgen.« Er kniff die Augen zusammen. »Klingt das hohl?« »Nein.« »Sprechversuch, Johnny«, wies Ives in ein Mikrofon. Johnnys doppelte Stimme, aus dem offenen Helm und dem Lautsprecher, sagte: »Hören Sie gut.« »Sprechversuch, Hoskins.« »Wenn ich Sie noch nie gesehen hätte«, sagte der Lautsprecher leise, »möchte ich meinen, Sie stecken hier mit mir im Anzug.« Hoskins’ Helm war offensichtlich geschlossen. Die beiden Männer kamen in die Kabine geschlurft. In ihren Chamäleonanzügen in der Farbe, der Wände sahen sie aus wie schimmernde Gespenster. »Eines Tages wird es einen Anzug geben«, knurrte Johnny, »wo man sich mal kratzen kann, wenn es einen – « »Kratzen Sie sich, wenn Sie zurück sind«, sagte der Kapitän. »Aufpassen. Johnny, Sie sind am schnellsten. Sie gehen als erster hinaus. Warten Sie in der Luftschleuse dreißig Sekunden, sobald sich die Außentür geöffnet hat. Wenn Ives das Signal gibt, springen Sie hinaus, laufen um den Bug herum und stellen sich mit dem Rücken an den Rumpf, dem Fenster genau gegenüber. Die Strahlerpistole im Anschlag, aber nach
unten gerichtet – hören Sie? Nach unten, damit jeder Beobachter sieht, Sie sind bewaffnet, greifen aber nicht an. Hoskins, Sie stehen inzwischen an der Schleuse, bei offener Außentür. Wenn Johnny anzeigt, daß alles klar ist, springen Sie hinaus und stellen sich mit dem Rücken an die Rumpfwand. Dann bleibt ihr beide, wo ihr seid, bis ihr weitere Anweisungen bekommt. Ist das klar?« »Klar.« »Aye.« »Vom Schiff aus seid ihr ausreichend gedeckt. Nicht ohne Befehl feuern. Ihr könnt mit einem Strahler nichts erledigen, was wir nicht schneller mit einem Projektor schaffen – es sei denn, es befindet sich innerhalb von zehn Metern um den Rumpf, und wir können den Projektor nicht tief genug kippen. Selbst dann beschreibt ihr erst und wartet Anweisungen ab, bevor ihr feuert, außer in einem ganz extremen Notfall. Ein einziger Schuß zur falschen Zeit kann uns auf diesem Planeten tausend Jahre zurückwerfen. Vergeßt nicht, das Schiff heißt nicht ›Killer‹ oder ›Hero‹, sondern ›Ambassador‹. Also los, und viel Glück.« Hoskins trat zur Seite und winkte Johnny. »Nach Ihnen, Düsenfritz.« Johnnys Gebiß blitzte hinter der Sichtscheibe. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich steif, einen alten Höfling parodierend, dann stakte er an Hoskins vorbei und drückte auf die Taste für die Luftschleuse. Sie warteten. Nichts. Johnny zog die Brauen zusammen, drückte wieder auf die Taste. Und noch einmal. Der Kapitän wollte etwas sagen, blieb dann aber stumm. Johnny streckte die Hand nach der Taste aus, berührte sie und schlug plötzlich wild zu. Er trat zurück und stolperte wie ein Kind beinahe über seine eigenen Füße. Er drehte sich halb nach den anderen um. In seiner Stimme
schwang Entgeisterung mit, wie der Auftakt zu einer prophetischen und düsteren Symphonie. »Die Tür geht nicht auf«, sagte er.
2 Die Extreme von Mystizimus und Pragmatismus haben ihre eigenen Formen der Anbetung. Jedes hat seine Art, und der Unterschied zwischen ihnen ist der Unterschied zwischen deus ex machina und deus machina. E. Hunter Waldo »Natürlich geht sie auf«, sagte Hoskins. Er ging an dem betäubten Piloten vorbei und drückte zuversichtlich auf die Taste. Die Tür ging nicht auf. Hoskins sagte: »Hm?«, als habe man ihm unhörbar eine Frage gestellt, und versuchte es noch einmal. Nichts geschah. »Käpt’n«, sagte er über die Schulter, »werfen Sie schnell einen Blick auf die Instrumente hinter Ihnen. Haben wir Hilfsstrom?« »Alles in Ordnung hier«, sagte Anderson nach einem Blick auf die Instrumententafel. »Und keine Kurzschlüsse angezeigt.« Es wurde still, und man hörte nur das leise, nutzlose Klicken der Taste, die Hoskins ‘bearbeitete. »Was sagt man dazu?« »Funktioniert nicht«, sagte Johnny klagend. »Natürlich funktioniert es«, sagte Paresi schnell und zuversichtlich. »Nur ruhig, Johnny.« »Funktioniert nicht«, sagte Johnny. »Es funktioniert nicht.« Er wankte durch die Kabine und lehnte sich an das Schott
gegenüber, starrte die geschlossene Tür an und legte den Kopf ein wenig auf die Seite, als rechne er damit, daß sie ihn anbrülle. »Lassen Sie mich«, sagte Ives. Er ging zu Hoskins und streckte die Hand aus. »Nicht!« schrie Johnny auf. »Halten Sie den Mund, Johnny«, sagte Paresi. »Gut, Nick«, sagte Johnny. Er öffnete die Helmscheibe, ging zum Achterschott, ließ durch Knopfdruck eine Liege herausklappen und legte sich auf den Bauch. Paresi beobachtete ihn mit gespitzten Lippen. »Kann ich ihm nicht übelnehmen«, meinte der Kapitän leise und warf Paresi einen Blick zu. »Ist ja auch ein Schock. Das dürfte es einfach nicht geben. Der Sicherheitsfaktor ist zu groß – tausend Prozent oder mehr.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Hoskins. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und glaube es nicht.« Er drückte wieder auf den Knopf. »Ich glaube es«, sagte Paresi. Ives ging zu seiner Konsole, schaltete Sender und Empfänger ein und aus, schob ein paar Regler hin und her. Er griff zu einem Wandschalter hinauf und schaltete einen kleinen Ventilator ein und aus. »Alles andere scheint zu funktionieren«, sagte er zerstreut. »Das ist lächerlich!« platzte der Kapitän heraus. »Das ist so, als ließe man seine Schlüssel zu Hause liegen oder hätte im Theater die Eintrittskarten vergessen. Das ist nicht gefährlich, sondern nur dumm!« »Es ist gefährlich«, sagte Paresi. »Wieso gefährlich?« fuhr Ives auf. »Zum einen – « Paresi wies mit dem Kopf auf Johnny, der angespannt dalag, das Gesicht vergraben. »Zum zweiten die einfache Berechnung, daß, wenn nichts im Innern des Schiffes
den Defekt erzeugt, er von außen hervorgerufen werden muß. Und das gefällt mir nicht.« »Das gibt es nicht«, erklärte der Kapitän sachlich. Paresi schnaufte ungeduldig. »Von welchem der zwei einander ausschließenden Fakten wollen Sie ausgehen? Daß das Schiff nicht versagen kann? Dann ist dieses Versagen kein Versagen, sondern von außen gesteuert. Oder wollen Sie davon ausgehen, daß das Schiff doch versagen kann? Dann brauchen Sie sich keine Gedanken über eine von außen wirkende Kraft zu machen – aber Sie können im Schiff auf nichts mehr vertrauen. Tun Sie, was Ihnen Spaß macht, aber nur eines von beiden. Beides gibt es nicht.« Johnny begann zu lachen. Ives ging zu ihm. »He, Kleiner – « Johnny drehte sich herum, schwang die Beine herunter, setzte sich auf und schob den dicken Mann weg. »Was ihr braucht«, sagte Johnny grinsend, »ist ein lieber, netter Schutzmann, der euch Bonbons gibt und heimführt. Ihr habt euch wirklich verirrt.« »Johnny, beruhigen Sie sich, und seien Sie still, ja?« sagte Ives. »Wir finden schon einen Ausweg.« »Den habe ich schon, Bohnenstange«, sagte Johnny herausfordernd. Er stand auf und ging zur Schleusentür. »Was für ein Trottelverein«, knurrte er. Er ging zwei Schritte an der Tür vorbei und griff nach dem Drehrad auf der anderen Seite. »Du lieber Himmel«, entfuhr es Anderson, »die Handsteuerung! Will vielleicht jemand meinen Posten?« »Sicherheitsfaktor«, sagte Hoskins und hieb sich auf die Stirn. »Überall, wo es geht, gibt es in dem Eimer hier Handsteuerung dazu. Und wir stehen hier und gaffen sie an – «
»Wenn das nicht dem Faß die Krone ins Gesicht – « Ives lachte. Johnny drehte an dem Rad. Es bewegte sich nicht. »Moment mal – « Ives ging hinüber. »Weg da«, sagte Johnny. Er legte beide Hände nebeneinander auf das Rad, straffte die breiten Schultern und setzte seine ganze Kraft ein. Mit einem lauten Krachen brach das Rad in seinen Händen ab. Johnny taumelte und richtete sich auf. Er starrte das Rad an, dann den abgebrochenen Schaft unter der Oberfläche des Schotts. »Na fein – «, flüsterte Ives. Plötzlich warf Johnny den Kopf zurück und brach in schrilles, hysterisches Gelächter aus. Es hallte zwischen den Metallwänden hin und her wie die Flut durch einen gebrochenen Damm. Unaufhörlich, so, als sei die Flut nach dem Dammbruch unerschöpflich. Anderson rief dreimal: »Johnny!«, aber der Befehlston hatte keine Wirkung. Paresi ging auf den Piloten zu und schlug ihm zweimal ins Gesicht. »Johnny, aufhören!« Das Gelächter brach so plötzlich ab, wie es begonnen hatte. Johnny rang nach Atem, in rauhen, fast schluchzenden Stößen. Langsam wurden sie leiser. Er hielt dem Kapitän das Rad hin. »Es ist abgebrochen«, sagte er schließlich dumpf, ohne Betonung. Er lehnte sich an die Wand und rutschte langsam daran herunter, bis er auf dem Boden saß. »Einfach abgebrochen«, sagte er. Ives verschränkte die dicken Finger und bog sie, bis sie knackten. »Was nun?« »Ich schlage vor«, sagte Paresi beherrscht, »daß wir uns zusammensetzen und über alles gründlich nachdenken.«
Hoskins hatte den abgebrochenen Schaft tief in der Wand wie gebannt angestarrt. »Ich möchte wissen, in welche Richtung Johnny das Rad gedreht hat«, sagte er nach einer Weile. »Entgegen dem Uhrzeigersinn«, sagte Ives. »Sie haben ihn doch beobachtet.« »Das weiß ich«, sagte Hoskins. »Ich meine, in welche Richtung: in die richtige, oder in die falsche?« »Oh.« Es blieb kurze Zeit still, dann sagte Ives: »Das werden wir jetzt nie herausbekommen.« »Nicht, bis wir zur Erde zurückkommen«, sagte Paresi schnell. »Sagen Sie ›bis‹ oder ›falls‹?« fragte Ives. »Ich sagte ›bis‹«, erwiderte Paresi ruhig, »und Sie überlegen sich, was Sie daherreden.« »Manchmal sagen Sie das Richtige auf die falsche Art, Nick«, meinte der dicke Mann mit gefährlicher Freundlichkeit. Dann schlug er dem schmalen Doktor auf die Schulter. »Aber ich will brav sein. Wir säen keine Panik, nicht?« »Besser nicht«, sagte der Kapitän. »Das wird wirksam genug von außen gemacht.« »Sie sind überzeugt davon, daß es von außen kommt?« fragte Hoskins und starrte ihn eulenhaft an. »Ich – bin von ganz wenig überzeugt«, sagte der Kapitän schwerfällig. Er ging zur Liege und setzte sich. »Ich will raus«, sagte er. Er winkte, als Paresi etwas sagen wollte, und fuhr fort: »Keine Platzangst, Nick. Aus dem Schiff herauszukommen ist wichtiger, als nur unsere Gefühle zu erleichtern. Wenn das Problem mit der Tür wirklich von einem unvorstellbaren Etwas verursacht wird, erringen wir einen schwerwiegenden Sieg, wenn wir es einfach unbeachtet lassen können.« »Es ist abgebrochen«, murmelte Johnny.
»Lassen Sie das mal unbeachtet«, schnaubte Ives. »Ihr redet dauernd davon, daß das Ganze von außen verursacht wird«, meinte Paresi beinahe klagend. »Wissen Sie eine bessere Erklärung?« fragte Hoskins. »Hoskins«, sagte der Kapitän, »gibt es denn keine Möglichkeit hinauszukommen? Was ist mit den Stahlrohren?« »Man muß ins Dock, um den Antrieb herauszunehmen«, sagte Hoskins, »und selbst wenn es ginge, würde man in den radioaktiven Rohren verschmoren, bevor man halb hinausgekrochen wäre.« »Wir müßten ein Rettungsboot haben«, sagte Ives vor sich hin. »Wozu braucht wohl ein Schiff wie die ›Ambassador‹ ein Rettungsboot?« fragte Hoskins ehrlich verblüfft. Der Kapitän runzelte die Stirn. »Was ist mit den Ventilatoren?« »Wir brauchen Tage, nur um alle Abdeckungen und Reinigungsanlagen zu entfernen«, erwiderte Hoskins, »und dann ständen wir vor den Ansaugöffnungen. Man kann etwa so weit hineinschlendern, wie Ihr Unterarm reicht. Und dann kommt erst die Rumpfwand, Käpt’n. Und die schneiden Sie nicht durch, nicht einmal mit einem Stück vom Sonnenkern.« Der Kapitän stand auf und begann hin- und herzugehen, langsam und gleichmäßig, so als könne man das Problem zertreten wie reife Weintrauben. Er schloß die Augen und sagte: »Ich renne jetzt seit dreißig Minuten um das Problem herum. Schaut mal: Der Rumpf kann nicht aufgeschnitten werden, weil er so konstruiert ist, daß er nicht versagen kann. Er versagt auch nicht. Die Schleusentürsteuerung war auch so konstruiert, daß sie nicht versagt. Sie versagt aber. Das, war uns hier festhält, bleibt in Funktion. Was uns hinauslassen sollte, ist defekt. Ergebnis: Wir bleiben hier. Ursache: Etwas, das uns hier festhalten will.«
»Oh«, sagte Johnny laut. Sie sahen ihn an. Er hob den Kopf, preßte sich mit dem Rücken an das Schott. Paresi lächelte ihn an. »Sicher, Johnny. Die Maschine hat nicht versagt. Sie ist – beeinflußt worden. Alles ist in Ordnung.« Dann wandte er sich dem Kapitän zu und sagte bedächtig: »Ich bestreite nicht, was Sie sagen, Käpt’n. Aber ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn Sie auf diesem Weg weiterdenken und zu keiner Lösung kommen.« »Ich möchte nicht für viel Geld Psychologe sein«, sagte Ives mit Nachdruck. »Zergliedern Sie Ihre Verdauung auch und erschrecken vor dem Gestank, der dabei herauskommen könnte?« Paresi lächelte kalt. »Ich habe meine Überlegungen in der Hand.« Kapitän Andersons Lippen zuckten belustigt, dann wurde seine Miene ernst. »Ich nehme die Herausforderung an, Paresi. Wir haben eine Ursache und eine Wirkung. Irgend etwas hält uns im Schiff fest. Folgerung: Wir – oder vielleicht das Schiff – sind nicht willkommen.« »›Männer der Erde‹«, zitierte Ives, das akzentlose Englisch der Stimme aus dem Lautsprecher perfekt nachahmend, »›willkommen auf unserem Planeten.‹« »Die machen Witze«, sagte Johnny herzlich und stand auf. Er ließ das Rad fallen, daß es klapperte, und schob es mit dem Fuß weg. »Wer kann überhaupt genau sagen, was sie meinen? Wenn wir das Schiff nicht verlassen können, bleibt uns nur noch übrig, den Planeten zu verlassen.« Paresi nickte und beobachtete den Kapitän genau. Anderson wandte sich abrupt von allen ab und starrte mit gespreizten Beinen, gesenktem Kopf, die Hände hinter dem Rücken, durch die vorderen Sichtfenster. In der angespannten Stille konnten
sie seine Fingergelenke knacken hören. Nach langer Zeit sagte er leise: »Dazu sind wir nicht hergekommen, Johnny.« Johnny zuckte die Achseln. »Okay. Kaut es durch, wie ihr wollt, Leute. Die einzige andere Möglichkeit ist, wie Insekten in einer Flasche hier herumzusitzen, bis wir an Altersschwäche sterben. Wenn ihr genug davon habt, darüber nachzudenken, gebt mir Bescheid. Ich fliege euch dann wieder zurück.« »Auf Johnny kann man sich immer verlassen«, meinte Paresi ohne jede Betonung. »Nicht auf mich«, sagte Johnny und hieb die Hand klatschend auf das Schott. »Auf das Schiff. Nichts, was es auf irgendeinem Planeten gibt, kann das Ding hier aufhalten, wenn ich richtig Dampf mache. Dafür ist es einfach zu kräftig.« »Also, Kapitän?« sagte Hoskins leise. Anderson blickte auf das sonnenbeschienene Tal, auf den zu blauen Himmel und die fast schon vertrauten, verwitterten Gipfel. Sie warteten. »Starten Sie«, sagte der Kapitän. »Umlaufbahn in zweihundert Kilometer Höhe. So schnell gebe ich nicht auf.« Ives schlug Johnny auf die breite Schulter. »Das ist Start und Landung, wie ich den Alten kenne. Dann mal los, Düsenfritz.« Johnny grinste breit und marschierte zum Pilotensessel. »Meine Herren, bitte Platz zu nehmen.« »Ich kann das nur noch liegend aushalten«, meinte Ives und streckte sich auf der Liege aus. Die anderen begaben sich auf ihre Startposten. »Alles auf Automatik«, sagte der Kapitän. »Ab!« »Ab!« sagte Johnny heiter. Er streckte die Hand aus und drückte auf den Hauptschalter. Nichts rührte sich.
Johnny schob die Hand wieder zum Schalter. Er bewegte sich, als sei der Schalter von einem Abstoßungsfeld umgeben. Die Hand wurde immer langsamer, je näher sie an den Schalter kam, bis sie über ihm schwebte und zu zittern begann. »Handsteuerung«, knurrte der Kapitän. »Ab!« »Handsteuerung, Sir«, sagte Johnny reflexartig. Seine bebende Hand zuckte zu einem Schalter über seinem Kopf und betätigte ihn. Er griff nach der Steuerstange und ließ die Handballen schwer auf die Zündungstasten sinken. Von irgendwoher kam ein gedämpftes Brausen, ein Flüstern; eine subjektive Andeutung des Donnerns von Reaktormotoren. Über Paresis Gesicht huschte ein Schatten. Das Fauchen der Raketen war erstorben, als das Denken es festhalten wollte, wie ein unterdrückter Gedanke. Die Motoren waren stumm; von einer Vibration nichts zu spüren. Und doch dröhnte irgendwo ein Gespenstermotor, ein Gespensterschiff für einen ungreifbaren Start ins Nichts vorbereitend. Er löste den Verschluß seiner Sicherheitsgurte und ging schnell und lautlos zur Konsole. Johnny saß da wie gebannt. Langsam breitete sich ein befriedigtes Lächeln über seinem Gesicht aus. Sein Blick glitt über Skalen und Regler; er nickte ganz schwach und ließ beide Hände herunterfallen, wie ein Orgelspieler bei einem gewaltigen Akkord. Er beobachtete die Instrumente. Die Zeiger lagen still, am Null-Anschlag, und wo Lämpchen blinken und leuchten sollten, blieb alles dunkel. Paresi sah Anderson an und begegnete einem sorgenvollen Blick. Hoskins hatte den Kopf auf die Seite gelegt und lauschte verwirrt. Ives stand auf und trat neben Paresi. Johnny beherrschte die Tastatur. Seine Finger begannen schnell, lautlos und geschickt ein Konzert zu spielen. Sein Gesicht trug einen Ausdruck stärkster Konzentration und absoluter Zuversicht.
»Tja«, sagte Ives dumpf. »Auch das ist in die Hose gegangen.« Paresi fuhr herum. »Psst!« Er zischte es so heftig, daß Ives unwillkürlich zurückzuckte. Mit einem warnenden Blick auf ihn ging Paresi zum Kapitän und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Mein Gott«, sagte Anderson. »In Ordnung, Doktor.« Er ging auf den Pilotensessel zu. Johnny war immer noch voll konzentriert auf eine nutzlose Aufgabe. Anderson sah fragend zu Paresi hinüber, der ihm zunickte. »Das genügt«, sagte der Kapitän laut. »Gut gemacht, Johnny. Wir sind genau in der vorgesehenen Umlaufbahn. Besser hätte es die Automatik auch nicht machen können. Tut zur Abwechslung einmal gut, wieder im Weltraum zu sein. Sie können die Raketen abschalten. Die Kurskorrektur kann später erfolgen.« »Aye, aye, Sir«, sagte Johnny. Er nahm zwei Feineinstellungen vor, betätigte, den Hauptschalter und drehte sich mit dem Sessel herum. »Hoi!« sagte er. »Das war Arbeit!« Er sah die vier schweigenden Männer an, zog eine Zigarette heraus, führte das Feuerzeug heran, sog tief ein. »Mann, das tut gut – « Die Zigarette brannte nicht. Hoskins wandte sich ab, das Gesicht von Übelkeit und Mitleid verzerrt. Ives griff abrupt nach seinem eigenen Feuerzeug, und der Doktor hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Jedesmal, wenn ich einen Piloten an der Arbeit sehe, bin ich außer mir«, sagte Paresi im Gesprächston. »Diese Konzentration – Sie müssen völlig fertig sein, Johnny.« Johnny sog an seiner unangezündeten Zigarette.
»Ziemlich, ja«, sagte er. »Kann man wohl sagen.« Seine Stimme war plötzlich von zwei seltsamen Untertönen begleitet. Erschöpfung und Eifer. »Ihr Dienst ist vorbei, John«, sagte Paresi. »Legen Sie sich hin.« »Bin wirklich müde«, murmelte Johnny. Er raffte sich auf und ging achtern, wo er sich auf der Liege zusammenrollte und fast sofort einschlief.
Die anderen versammelten sich ganz vorne um die Konsolen und starrten den schlafenden Piloten geraume Zeit an. »Da komme ich nicht mit«, murmelte Ives. »Er hat wirklich gedacht, er hätte uns in eine Umlaufbahn geflogen, nicht?« fragte Hoskins. Paresi nickte. »Blieb ihm nichts anderes übrig. In seinem Kosmos gibt es keinen Platz für Maschinen, die nicht funktionieren. Der Beweis des Gegenteils kann, einfach zu kraß ausfallen. Dann hörte er, für ihn, auf zu existieren. Ein defektes Feuerzeug hat ihn verärgert, eine versagende Luftschleusentür machte ihn zornig und mürrisch und trieb ihn schließlich in die Hysterie. Als der Antrieb nicht reagierte, war er an seiner Belastungsgrenze angelangt. Jeder Mensch hat sie und erreicht sie genau auf diese Weise, wenn man ihn weit genug treibt.« »Jeder?« Paresi blickte von Gesicht zu Gesicht und nickte düster. »Was hat den Zusammenbruch ausgelöst?« fragte Anderson. »Er ist doch darauf geschult, eine viel höhere Belastung auszuhalten.« »Oh, er leidet nicht an einer körperlichen oder bewußten geistigen Erschöpfung. Das eine, was er tun wollte, war, einer schreckenerregenden Situation zu entkommen. Er redete sich
ein, daß er davongeflogen sei. Das Nächstbeste, was er tun konnte, um sich allen anderen Nachstellungen zu entziehen, war zu schlafen. Er war sehr dankbar für meinen Hinweis, er sei erschöpft und müsse sich hinlegen.« »Für so etwas wäre ich auch sehr dankbar«, meinte Ives. »Machen Sie das mit mir auch, Nick.« »Zuerst müssen Sie am Ende Ihrer Kräfte sein«, sagte der Doktor knapp und ging hinüber, um ein Kissen zwischen Johnnys Kopf und das Geländer zu schieben. Hoskins wandte sich ab und starrte auf die friedliche Landschaft hinaus. Der Kapitän beobachtete ihn einen Augenblick und sagte dann: »Hoskins!« »Ja.« »Den Ausdruck kenne ich. Woran denken Sie?« Der Ingenieur sah ihn an, zuckte die Achseln und meinte ruhig: »An das Schachspiel.« »Woran genau?« »Ach, an etwas ganz Allgemeines. An die Wechselseitigkeit des Spiels. Das macht es zu der großartigen Sache, die es darstellt. Die meisten menschlichen Unternehmungen können sich auf einen Menschen stürzen und ihm pausenlos eine Niederlage nach der anderen beibringen. Aber nicht das Schachspiel. Gleichgültig, wer dein Gegner sein mag, jedesmal, wenn er gegen dich etwas unternimmt, bist du am Zug.« »Sehr trostreich. Haben Sie eine Ahnung, welchen Zug wir jetzt machen?« Hoskins sah ihn überrascht an. »Sie haben mich nicht verstanden, Käpt’n. Wir ziehen nicht.« »Ach so«, flüsterte der Kapitän. Sein Gesicht wurde blaß und starr. »Ich – ich verstehe. Wir haben auf den Schleusenknopf gedrückt, um hinauszukommen. Gegenzug: Es funktionierte nicht. Wir haben es mit dem Handrad versucht. Gegenzug: Es
brach ab. Und so weiter, jetzt haben wir versucht abzufliegen. Und dabei ist Johnny zusammengebrochen. Sind das nicht Gegenzüge genug?« »Vielleicht. Möglicherweise war aber gar nicht vorgesehen, daß wir die Antriebssteuerung ausprobieren. Vielleicht war nur generell beabsichtigt, Johnnys Ausfall herbeizuführen.« Er zuckte wieder die Achseln. »Wir werden es bald sehen.« Der Kapitän atmete heftig. »Wir stellen fest, ob wir am Zug sind, indem wir ziehen«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ives! Paresi! Wir gehen das Ganze von Anfang an durch. Zuerst die Tür. Sie, Ives.« Ives brummte etwas und ging hinüber. Dann blieb er stehen. »Wo ist die Schleusentür?« Anderson und Paresi folgten Ives’ entsetztem Blick zur Wand, wo der Umriß der geschlossenen Schleusentür gewesen war, daneben das Loch mit dem Schaft des Handrads, und wo sich jetzt ein glatter, fugenloser Vorhang aus undurchdringlicher Schwärze befand. Aber Hoskins richtete den Blick zuerst auf den Kapitän und sagte: »Jetzt sind wir am Zug.« Erst dann drehte er sich mit den anderen herum und starrte in die Dunkelheit.
3 Das Unbekannte sei das Ungesehene, das völlig Neue und Fremde? Nein. Die Essenz des Unbekannten ist das umgestülpte Bekannte, das auf den Kopf gestellte Bekannte. Betrachte einen vertrauten Ort unter neuen Umständen – ein verlassenes, dunkles Theater, einen leeren Nachtklub am Tag – und du wirst dich vom Gefühl der Fremdartigkeit stärker beeinflußt sehen als bei jeder beliebigen Anzahl nie gesehener
Orte. Such deine alte Nachbarschaft wieder auf und finde alles verändert. Geh in dein eigenes Haus, wenn alle fort sind, wenn kein Licht brennt und die Möbel umgestellt sind – dort will ich dir die fremden und erschreckenden Gespenster zeigen, die übrigbleiben, wenn die Wirklichkeit sich über die Bilder der Erinnerung legt. Die Geister lauern in den Schatten deines eigenen Zimmers… Owen Miller ›Essays über die Nacht und das Unbekannte‹ Einen lähmenden Augenblick lang war es ihnen vorgekommen, als fege die Dunkelheit wie die Krallenhand des Todes auf sie zu. Instinktiv hatten sie sich in der Kabinenmitte zusammengedrängt. Als aber der zweite und der dritte Blick die Gewißheit brachten, daß die Wirkung tatsächlich vorhanden war, auch wenn die Ursache noch ein Rätsel blieb, löste sich das Geheimnis halb auf, und sie strebten wieder auseinander. Jeder kam sich auf die Probe gestellt vor und klammerte sich an sein Ich und das Bild davon, das er in den Augen der anderen bot. Der Kapitän sagte leise: »Es ist – einfach da. Es scheint sich nicht auszubreiten.« Hoskins betrachtete die Stelle kritisch. »Ungefähr einen halben Meter tief«, murmelte er. »Woraus besteht es wohl?« »Kein Gas«, sagte Paresi. »Es hat eine – eine Art Oberfläche.« Ives, der zunächst wie angewurzelt stehengeblieben war, machte zwei Schritte nach vorn. Die Hand, halb erhoben, um die Taste zu berühren, bewegte sich erleichtert vorwärts, als sei sie froh, noch zu funktionieren, auch wenn die Absicht sich geändert hatte. »Nichts anrühren!« zischte der Kapitän.
Ives schaute sich nach dem Kapitän um, zögerte und ließ die Hand sinken. »Warum nicht?« »Bestimmt keine Flüssigkeit«, fuhr Paresi sinnend fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben. »Und wenn es ein fester Körper ist, wo kommt dann diese Menge Materie her? Durch die Rumpfwand?« Hoskins, der die Rumpfwand kannte, wußte, wie sie hergestellt und montiert, wie sie nach der Montage behandelt wurde, schnaubte nur durch die Nase. »Wenn es ein Gas wäre«, sagte Paresi, »müßte es sich ausbreiten. Diffusion. Und Konvektion. Wenn es giftig wäre, wären wir schon alle tot. Wenn nicht, spricht einiges dafür, daß wir es riechen würden. Und der Geigerzähler spricht nicht an – also ist es nicht radioaktiv.« »Sie trauen dem Geigerzähler?« fragte Ives bitter. »Ich traue ihm«, sagte Paresi. Seine beinahe flüsternde Stimme schwankte vor Leidenschaft. »An etwas muß der Mensch glauben. Ich habe diesen Glauben an jede einzelne Funktion jedes Teils dieses Schiffes, bis bei allen und jedem getrennt und klar bewiesen ist, daß sie sich des Glaubens als unwürdig erwiesen haben!« »Dann, bei Gott, werden Sie meinen Glauben an meine eigenen zwei Hände und an das, was sie fühlen, verstehen«, fauchte Ives. Er trat an die Wand und schlug mit der Hand klatschend dagegen. »Touché«, murmelte Hoskins und meinte entweder Ives’ Bemerkung oder das laute Klatschen der Hand auf der Schwärze. Johnny lachte im Schlaf kindlich hell auf. »Wenigstens einer ist glücklich«, sagte Ives. »Paresi«, sagte der Kapitän, »was wird sein, wenn er aufwacht?«
Paresis Brauen ersetzten ein Achselzucken. »Alles ist möglich. Er hat sich in sein Inneres zurückgezogen und irgendwo einen Ausweg gefunden. Für ihn – für sonst keinen von uns. Vielleicht beachtet er nicht, was wir sehen. Vielleicht glaubt er, er sei woanders, oder in einer anderen Zeit. Vielleicht wird er ein anderer sein. Vielleicht wacht er überhaupt nicht auf.« »Vielleicht ist das die beste Idee«, meinte Ives. »Das ist schon die zweite Bemerkung dieser Art von Ihnen«, erklärte Paresi ruhig. »Hören Sie auf damit. Sie können es sich nicht leisten.« »Wir können es uns nicht leisten«, warf der Kapitän ein. »Na gut«, sagte Ives so fügsam, daß Paresi ihm einen erstaunt-argwöhnischen Blick zuwarf. Ives setzte sich an seine Konsole, von den anderen halb abgewandt. »Worauf wollen sie hinaus?« klagte der Kapitän plötzlich. »Was wollen sie?« »Wer?« fragte Paresi, den Blick immer noch auf Ives gerichtet. »Wer eben gesagt hat: ›Willkommen auf unserem Planeten‹«, erklärte Hoskins. Ives wandte sich ihnen zu, und Paresis Erleichterung war unübersehbar. »Sie wollen uns tot sehen«, sagte Ives. »Wirklich?« fragte der Kapitän. »Sie wollen nicht, daß wir das Schiff verlassen, und sie wollen nicht, daß das Schiff den Planeten verläßt.« »Dann wollen sie das Schiff.« »Ja, aber ohne uns«, ergänzte Ives. »Das können Sie aus dem Ganzen nicht schließen, Ives«, erklärte Paresi. »Sie haben uns Unannehmlichkeiten bereitet. Sie haben uns auf uns selbst zurückgeworfen und unsere ungreifbaren Kräfte als Menschen und als Besatzung
gemindert. Aber bis jetzt haben sie uns im Grunde noch nichts getan. Wir haben es selbst getan.« Ives sah ihn verächtlich an. »Wir haben die unzerstörbaren Einrichtungen zerstört, diese steinharte Dunkelheit erzeugt und mit uns selbst über eine Allfrequenz-Trägerwelle ohne Ursprung gesprochen, über Dinge, die kein Außenstehender in Erfahrung bringen könnte?« »Das haben ich alles nicht gesagt.« Paresi machte eine Pause, um seine Worte zu wählen. »Natürlich sind sie für diese Erscheinungen verantwortlich. Aber die Erscheinungen haben uns keinen Schaden zugefügt. Der Schaden entstand durch unsere Reaktionen auf die Erscheinungen.« »Durch einen Sturz hat sich noch keiner wehgetan, hieß es in meiner Kindheit immer«, sagte Ives streitsüchtig. »Es liegt am plötzlichen Haltmachen.« Paresi zuckte nur die Achseln. »Ich sage nach wie vor, daß wir zwar erstaunt, erschreckt, verwirrt und frustriert waren, aber nicht ernsthaft bedroht worden sind. Unsere Vorräte an Wasser, Nahrung und Luft sind praktisch unbegrenzt. Unsere Fähigkeit, in einer Notsituation miteinander zu leben, ist bis zum Gehtnichtmehr getestet worden, und wir brauchen nichts anderes zu tun, als die Notsituation als solche zu erkennen, und die Fähigkeit wird sich optimal entfalten.« Er lächelte plötzlich. »Es könnte schlimmer sein, Ives.« »Natürlich«, sagte Ives. »Die Schwärze da könnte vorrücken, bis sie uns ernsthaft bedrängt, oder – « Hoskins sagte ganz leise: »Sie rückt schon vor.« Kapitän Anderson schüttelte den Kopf. »Nein – « Sie hörten ihn und begriffen langsam, daß die Silbe keine Verneinung, sondern ein Ausruf war. Denn die Dunkelheit an der Rumpfwand war nicht länger einen halben
Meter tief. Niemand hatte es bemerkt, aber sie nahmen plötzlich wahr, daß die fast quadratische Kabine jetzt entschieden rechteckig war, mit den vertrauten Steuerungen, der Funkanlagenwand und dem Querschott achtern als drei Seiten zu der sich nähernden vierten. Ives stand schwankend und mit großen Augen auf. Er gab einen animalischen Laut von sich und stürzte auf die Schwärze zu. Paresi sprang ihm nach, aber nicht schnell genug. Ives prallte auf Übelkeit erregende Weise gegen die seltsame, kohlschwarze Oberfläche und stürzte zu Boden, schwer, hilflos, nicht ausgestreckt, sondern auf weitgespreizten Knien, die Arme unter sich verrenkt, mit der Gesichtsseite auf den Boden. Er lag bewußtlos da, eine krasse Karikatur der Anbetung. Es gab einen ungestüm aktiven, lautlosen Augenblick, als Paresi den dicken Mann auf den Rücken drehte, mit erfahrenen Fingern sein blutendes Gesicht, die Brust, die Halsschlagadergegend abtastete. »Alles in Ordnung«, sagte Paresi, noch immer beschäftigt; dann fuhr er lehrhaft fort, so, als könne er durch Reden das Nachdenken verhindern: »Das ist die andere Angstreaktion. Johnny reagierte mit ›Flucht‹, Ives tut es mit ›Kampf‹. Das empirische Ergebnis ist so ziemlich dasselbe.« »Ich dachte, Kampf und Flucht seien Selbsterhaltungsreaktionen«, meinte Hoskins trocken. Paresi stand auf. »Das sind sie auch. Letzten Endes gehört der Selbstmord dazu.« »Darüber werde ich nachdenken«, sagte Hoskins leise. »Paresi.!« fauchte Anderson. »Arzt hin, Arzt her, überlegen Sie sich, was Sie reden!« »Tut mir leid, Kapitän. Das war ein Panikkeim. Hoskins – «
»Erklären Sie mir nichts«, sagte der Ingenieur ruhig. »Ich weiß, was Sie gemeint haben. Selbstmord ist die direkte Folge von Überlebenszwängen – Antrieben, die etwas zu retten versuchen, so wie Flucht und Kampfbereitschaft Bemühungen sind, etwas zu retten. Ich glaube nicht, daß Sie sich Sorgen zu machen brauchen; Selbstopferung interessiert mich nicht. Mich – interessiert viel zu sehr, was vorgeht. Was wollen Sie mit Ives machen?« »In die Koje schaffen, denke ich, und ihm etwas für seine Kopfschmerzen geben, sobald er aufwacht. Helfen Sie mir, ja?« Hoskins ging zur Wand und klappte eine zweite Liege herunter. Sie mußten alle drei zupacken, um den schweren Körper hinaufzuheben. Paresi öffnete den Sanitätskasten unter der Steuerkonsole und trat zu dem Bewußtlosen. Der Kapitän suchte nach etwas zu tun, etwas zu sagen, und fand es offenbar. »Hoskins!« »Ja.« »Können Sie normalerweise mit leerem Magen besser denken?« »Ich nicht.« »Ich auch nicht.« Hoskins lächelte. »Schon verstanden. Ich sorge für was Heißes und Nahrhaftes.« »Tüchtig«, sagte der Kapitän, als Hoskins achtern verschwand. Anderson ging zum Arzt hinüber und verfolgte, wie er die Platzwunde an Ives’ Stirn säuberte. Paresi sagte, ohne aufzublicken: »Sagen Sie ruhig, was Sie auf dem Herzen haben. Heraus damit.« Anderson lachte beinahe. »Sind Sie Hellseher?«
Paresi warf ihm einen Blick zu. »Kommt darauf an. Wenn Sie meinen, ob sich eine natürliche Empfindlichkeit für die Spannungserscheinungen mit einigen Jahren Erfahrung in der Beobachtung von Menschen verbunden hat – dann ja. Was haben Sie auf dem Herzen?« Anderson schwieg lange Zeit. Es war so, als warte er auf eine Frage, einen Anstoß von Paresi. Aber Paresi lieferte ihn nicht. Paresi wartete nur, das Gesicht abgewandt, ohne zu helfen, ohne zu drängen; er unternahm überhaupt nichts, um den Druck, der im Kapitän rumorte, zu erleichtern. »Also gut«, sagte der Kapitän gereizt. »Ich will es Ihnen sagen.« Paresi nahm eine Pinzette, einen Wundhaken, zwei Skalpelle und ein Etui mit Injektionsspritzen aus dem Kasten und legte alles nebeneinander auf die Liege. Dann hob er sie der Reihe nach auf und legte sie in den Kasten zurück. Als er ganz fertig war, sagte Anderson: »Ich habe mich gefragt – wer ist der nächste?« Paresi nickte und schloß den Kasten. Er sah zu Anderson auf und nickte wieder. »Warum müssen Sie es sein?« fragte er. »Ich habe nicht gesagt, daß ich es bin!« erwiderte der Kapitän scharf. »Nein?« Als der Kapitän keine Antwort wußte, fragte Paresi: »Warum stellen Sie sich dann diese Frage?« »Oh – ich verstehe, was Sie meinen. Wenn man anfängt, Angst zu haben, wird man unsicher – nicht, was die Schwächen anderer betrifft, sondern die eigenen. Meinen Sie das?« »Ja.« Er grinste plötzlich. »Aber Sie haben keine Angst, Käpt’n.« »Daß ich nicht lache!« Paresi schüttelte den Kopf.
»Johnny hat Angst gehabt und die Flucht ergriffen. Ives hatte Angst und griff an. Es gibt nur eine Angst von Bedeutung, und das ist jene, die zum Bruchpunkt führt. Jede andere Angst ist dagegen unwichtig. So unwichtig, daß niemand außer mir sich damit zu befassen braucht.« »Warum dann Sie?« Paresi trug den Sanitätskasten zu seinem Platz zurück. »Ich bin der Schiffsarzt, nicht wahr? Symptome sind meine Sache. Lassen Sie sie mich beobachten, Kapitän. Geben Sie mir Anweisungen, aber drängen Sie sich nicht auf mein Spezialgebiet.« »Sie sind aufsässig, Paresi«, sagte Anderson, »und ein großer Trost.« Sein schwaches Lächeln verschwand, und zwischen den Augen entstanden steile Falten. »Sagen Sie mir, warum ich diese scheußliche kleine Phase des Selbstzweifels hatte?« »Glauben Sie, ich kann das?« »Ja.« »Das ist der halbe Grund. Die andere Hälfte ist Hoskins.« »Wovon reden Sie?« »Johnny ist zusammengebrochen. Ives ist zusammengebrochen. Ihre Frage war: ›Wer ist der nächste?‹ Sie bezweifeln, daß ich es sein werde, weil ich de facto derjenige bin, der alle Antworten kennt. Sie bezweifeln, daß Hoskins es sein wird, weil Sie sich nicht vorstellen können, wie er zusammenbrechen sollte – oder ob er es überhaupt tut. Also bleiben nur noch Sie.« »So hatte ich es eigentlich nicht durchdacht – « »O doch«, sagte Paresi und schlug dem Kapitän auf die Schulter. »Und jetzt vergessen Sie’s. Konfuzius sagt, wer den Blick nach innen wendet, fängt an zu schielen. Einen schielenden Kapitän können wir uns nicht leisten. Unsere Freunde da draußen sind wieder am Zug.« »Nein, das sind sie nicht.«
Paresi und Anderson fuhren herum. »Was soll das heißen, Hoskins?« Der Ingenieur betrat die Kabine, ging zu seiner Konsole und begann Schubladen zu öffnen und zu schließen. »Sie haben schon gezogen.« Aus der untersten Schublade zog er ein zusammengeklapptes Schachbrett und eine rechteckige Schachtel. Erst dann sah er die anderen an. »Die Nahrung ist weg.« »Nahrung? – wohin weg?« Hoskins lächelte müde. »Wo ist die Schleusentür? Wo ist der Außenbordrumpf? Der schwarze Stoff hat alles verschluckt – Toilettenanlagen, Nahrungsbehälter, Abfallanlage, alles.« Er zog zwei Stühle aus den Klammern am Schott und trug sie durch die Kabine. Auf den einen stellte er das Schachbrett, auf das andere setzte er sich und schob das Brett näher an die Dunkelheit heran. »Die Wasserbehälter sind innenbords und noch verfügbar.« Seine Stimme schien mit jedem Wort schwächer zu werden, so, als entferne er sich langsam von ihnen. »Aber es gibt nichts zu essen. Nichts zu essen.« Er stellte die Figuren auf, das Gesicht zur schwarzen Wand gerichtet.
4 Die Grundfunktion der Persönlichkeit ist Selbsterhaltung, aber die Persönlichkeit selbst ist nicht etwas Statisches, sondern etwas Dynamisches. Der grundlegende Faktor bei ihrer Entwicklung ist Integration; jede neue Situation verlangt nach einer neuen Anpassung, die dabei die Persönlichkeit abwandelt oder verändert. Das angemessene Ziel der Persönlichkeit ist demnach nicht Permanenz und Stabilität,
sondern Mobilität. Die Unfähigkeit einer Persönlichkeit, sich an eine neue Lage anzupassen oder sie zu integrieren, der Widerstand der Persönlichkeit gegen Annäherung und ihre Bemühung, die Integrität zu bewahren, werden volkstümlich als Wahnsinn bezeichnet. Morgan Littlefield ›Gedanken zur Psychologie‹ »Hoskins!« Paresi packte den Arm des Kapitäns und riß ihn herum. »Kapitän Anderson! Aufhören!« Ganz leise sagte er: »Lassen Sie ihn in Ruhe. Er tut, was er tun muß.« Anderson starrte den kleinen Ingenieur über die Schulter an. »So, tut er das? Verdammt noch mal, er untersteht nach wie vor meinem Befehl!« »Haben Sie denn etwas für ihn zu tun?« fragte Paresi ruhig. Anderson schaute sich um, zu den Konsolen, blickte hinaus auf die schlafenden Berge. »Eigentlich nicht. Aber ich möchte mich vergewissern, daß er einen Befehl annimmt, wenn ich einen für ihn habe.« »Lassen Sie ihn in Ruhe, bis Sie einen haben. Hoskins ist sehr ausgeglichen, Käpt’n. Aber im Augenblick steht er am äußersten Rand. Sie dürfen ihn nicht stoßen.« Der Kapitän legte die Hand auf die Augen und tastete sich zur Konsole vor. Er drehte sich um und lehnte sich schwerfällig an den Pilotensessel. »Okay«, sagte er. »Das Ganze entwickelt sich zu einem Duell zwischen Ihnen und – und Ihren Kollegen da draußen. Das mindeste, was wir – ich tun kann, ist, Sie nicht zu behindern, während Sie mit ihnen kämpfen.« »Sie sehen das falsch«, sagte Paresi. »Sie kämpfen gegen uns, das ist richtig. Wir kämpfen aber nur gegen uns selbst. Ich
meine nicht gegeneinander, sondern, daß jeder von uns sich selbst bekämpft. Damit müssen wir aufhören, Käpt’n.« Der Kapitän lächelte matt. »Wer kann das schon, selbst im besten Fall?« Paresi erwiderte das Lächeln. »Drogensüchtige… Katatoniker… Illusionisten… und Heilige. Es kommt wohl auf uns an, die Kategorie zu erweitern.« »Und die Toten?« »Ives! Seit wann sind Sie schon wach?« Der dicke Mann stützte sich auf einen Ellbogen. Er schüttelte den Kopf und ächzte, als habe er einen Boxhieb in die Magengrube bekommen. »Wer hat mich womit niedergeschlagen?« sagte er mühsam, mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie dachten offenbar, das Schott sei ein Papierreifen, und wollten hindurchspringen«, sagte Paresi leichthin, aber er beobachtete Ives aufmerksam. »Ooooh – « Ives hielt sich kurz den Kopf und blickte dann zwischen den Fingern hindurch auf die Schwärze. »Es fällt mir ein«, sagte er mit gepreßtem Flüstern. Er schaute sich um, sah den Ingenieur über sein Schachbrett gebeugt. »Was macht er denn?« Sie blickten alle auf den Ingenieur, als er einen Zug machte und wieder vor sich hinbrütete. »He, Hoskins!« Hoskins beachtete Ives’ Baßstimme nicht. »Er spricht zur Zeit nicht«, meinte Paresi. »Er ist – in Ordnung, Ives. Lassen Sie ihn in Ruhe. Im Augenblick interessieren Sie mich mehr. Wie fühlen Sie sich?« »Ich? Großartig. Aber ich habe Hunger. Was gibt es zu futtern?«
Anderson sagte schnell: »Nick möchte jetzt nicht, daß wir etwas essen.« »Danke«, murmelte Paresi mit zorniger Ironie. »Er ist der Doktor«, sagte Ives gutmütig. »Aber schieben Sie es nicht zu lange hinaus, ja? Der Kessel da braucht Dampf.« Er klopfte auf seinen gewaltigen Brustkorb. »Na, das ist ja entmutigend«, meinte Paresi. »Allerdings«, sagte der Kapitän. »Vielleicht ist der Bruchpunkt nur ein Aufprallpunkt. Und dann die Erholung, nicht?« Paresi schüttelte den Kopf. »Wenn etwas bricht, dann bricht es. Manchmal bricht nur eben nichts.« »Muß durchkommen«, sagte eine Stimme. Johnny, der Pilot, regte sich. »Ha!« sagte Anderson triumphierend. »Da kommt der nächste!« »Sind Sie da so sicher?« fragte der Doktor. »Hallo, John«, rief er hinüber. »Muß durchkommen«, erklärte Johnny sorgenvoll. Er schwang die Beine von der Liege. »Wißt ihr«, sagte er ernsthaft, »wenn man Primus ist, hat man es nicht leichter. Man muß den Platz halten und auch die Prüfungen bestehen. Man hat zwei Aufgaben. Der auf dem vierten Platz, zum Beispiel, der hat nur eine Aufgabe zu erfüllen.« Anderson drehte sich verständnislos zu Paresi hinüber, der kurz abwinkte. Johnny stützte den Kopf mit den Händen und sagte: »Wenn eine Variable sich genau wie eine zweite ändert, sind zwei Paare ihren übereinstimmenden Werten proportional.« Er hob den Kopf. »Das soll der Grundstein der ganzen Vektoranalyse sein, heißt es, und ohne Vektoranalyse kann man nicht Pilot werden. Und für mich ergibt das keinen Sinn. Was soll ich bloß machen?«
»Schlafen«, sagte Paresi sofort. »Sie haben sich beim Lernen überanstrengt. Morgen früh wird Ihnen alles klarer werden.« Johnny grinste und gähnte gleichzeitig, und seine Sorgenfalten glätteten sich. »Das war wirklich ein brauchbarer Vorschlag, Martin, alter Kumpel«, sagte er. Er legte sich hin und reckte sich genüßlich. »Das kann ich verstehen. Du darfst mein braunes Trikot anziehen.« Er drehte den Kopf zur Seite und schlief sofort ein. »Wer, zum Teufel, ist Martin?« fragte Ives scharf. »Was für ein Martin?« »Pst. Wahrscheinlich sein Zimmergenosse bei der PilotenVorausbildung.« Anderson riß die Augen auf. »Sie meinen, er sieht sich wieder in der Schule?« »Liegt das nicht nahe?« erwiderte Paresi betrübt. »Ich habe erklärt, daß diese Situation für ihn unerträglich ist. Wenn er nicht räumlich entkommen kann, dann in der Zeit. Er hat nicht die Phantasie vorwärtszugehen, also geht er zurück.« Etwas huschte über den Boden. Ives riß die Beine hoch und saß da wie eine Buddhakarikatur, die Fußknöchel umklammernd. »Was war das, um Himmels willen?« »Ich habe nichts gesehen«, sagte Paresi. »Was war es?« fragte der Kapitän scharf. Aus den Schatten sagte Hoskins: »Eine Maus.« »Unsinn.« »Ich kann nichts ertragen, was huscht und kriecht und schlittert«, sagte Ives. Seine Stimme klang plötzlich feminin. »Laßt so etwas nicht herein!« Aus den Quartieren achtern drang ein leises Scharren herüber, ein Quietschen. Ives wurde blaß. Sein Doppelkinn zitterte.
»Kommen Sie zu sich, Ives«, sagte Paresi kalt. »Im ganzen Schiff gibt es nicht einmal eine Mikrobe, die ich nicht im Inventar hätte. Sitzen Sie nicht da wie eine alte Jungfer beim Spinnen.« »Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Ives. Er stand plötzlich auf, wandte sich der schwarzen Wand zu und brüllte: »Zum Teufel mit euch, schickt jemand, mit dem ich kämpfen kann!« Zwei Mäuse kamen unter der Liege hervor. Eine lief über Ives’ Fuß. Sie verschwanden quietschend achtern. Ives sprang kerzengerade in die Luft und landete stehend auf der Liege. Anderson trat an die Wand zurück und blieb starr stehen. Paresi ging entschlossen zum Sanitätskasten, nahm ein kleines schwarzes Etui heraus und öffnete es. Ives sank auf die Knie und begann ganz offen zu flennen, ohne jeden Versuch, es zu verbergen. Paresi ging auf ihn zu, ein kleines Metallröhrchen in der Hand halb verbergend. Eine huschende Bewegung auf dem Boden erregte Andersons Aufmerksamkeit. Er konnte ein schrill pfeifendes Einatmen nicht unterdrücken, als eine riesige Spinne, behaart und schnellfüßig, zur Liege fegte und hinaufsprang. Sie landete neben Ives’ Knie, sprang wieder. Paresi schlug zu und verfehlte; seine Hand traf Ives mit Wucht unter der Achsel. Die Spinne fiel auf den Boden, glitt ab, richtete sich auf und war schlagartig verschwunden. Ives sackte dort, wo Paresis Hand ihn getroffen hatte, zusammen und rollte sich auf der Liege stumm ein. Anderson lief auf ihn zu. »Jetzt geht es schon«, sagte Paresi. »Lassen Sie nur.« »Erzählen Sie mir nicht, daß er ohnmächtig geworden ist! Nicht Ives!« »Natürlich nicht.« Paresi zeigte ihm den kleinen Zylinder. »Narkotin! Warum?«
»Aus dem Grund, aus dem man es gewöhnlich verwendet«, antwortete Paresi gereizt. »Um einen Patienten für zwei Stunden bewußtlos zu machen, ohne ihm wehzutun.« »Und wenn Sie es nicht getan hätten?« »Was glauben Sie, wieviel von diesem Huschen und Krabbeln er noch ertragen hätte?« Anderson sah den bewußtlosen Nachrichtenmann an. »Sicherlich mehr als das.« Er hob plötzlich den Kopf. »Wo, zum Teufel, ist das Ungeziefer hergekommen?« »Ah. Da haben Sie’s. Er verabscheut Mäuse und Spinnen. Aber sie hatten etwas Besonderes an sich. Sie konnten nicht hier sein und waren da. Er fühlte, daß das eine absichtliche, gegen ihn persönlich gerichtete Attacke war. Viel hätte er nicht mehr ausgehalten.« »Wo ist es hergekommen?« wiederholte der Kapitän. »Weiß ich doch nicht!« fauchte Paresi. »Verzeihung, Käpt’n – ich bin ein bißchen entnervt. Ich bin es nicht gewöhnt, die Halluzinationen eines Patienten mit eigenen Augen zu sehen. Jedenfalls nicht so deutlich.« »Sie waren Ives’ Halluzinationen?« »Können Sie sich entsinnen, was gesprochen wurde, kurz, bevor sie aufgetaucht sind?« »Äh – irgend etwas ist gehuscht. Eine Maus.« »Es war keine Maus, bis jemand sagte, es sei eine.« Der Doktor drehte sich um und sah forschend Hoskins an, der immer noch still über sein Schachbrett gebeugt war. »Bei Gott, es war Hoskins. Hoskins – warum haben Sie das gesagt?« Der Ingenieur rührte sich nicht und gab keine Antwort. Paresi schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Wieder ein Rückzug. Es hat keinen Zweck, Kapitän.« Anderson machte einen Schritt auf Hoskins zu, dann überlegte er es sich offenkundig anders. Er sagte
achselzuckend: »Na gut. Irgend etwas ist dahingehuscht, und Hoskins hat ihm einen Namen gegeben. Akzeptieren wir das, ohne uns näher damit zu befassen. Wer hat dann die Spinne hervorgerufen?« »Sie.« »Ich?« Paresi ahmte die Stimme des Kapitäns nach und sagte: »Sitzen Sie nicht da wie eine alte Jungfer beim Spinnen!« »Mensch«, sagte Anderson. »Vielleicht wäre es am besten, wenn keiner mehr etwas sagen würde.« »Sie glauben, es fällt ins Gewicht, ob wir aussprechen, was wir denken?« sagte Paresi bitter. »Vielleicht – « »Nein«, sagte Paresi entschieden. »Überlegen Sie, wie das zugeht. Zuerst werden wir in eine Falle gelockt, dann zeigt man uns eine wachsende Dunkelheit. Etwas ganz Grundlegendes. Dann nimmt man sich einen nach dem anderen von uns vor. Johnny bekommt Maschinen, die nicht funktionieren, weil er mit ganzer Seele Maschinen verehrt, die Höchstleistungen hervorbringen. Ives bekommt Platzangst von dem schwarzen Zeug da drüben und verliert die Kontrolle.« »Er hat sich wieder gefangen.« »Johnny ist auch aufgewacht. In einem anderen subjektiven Zeitablauf. Ganz harmlos für – für die. Also haben sie ihn in Ruhe gelassen. Aber als Ives Widerstandskraft erkennen ließ, haben sie zugeschlagen. Sie sind auf den Punkt des Zusammenbruchs aus, Kapitän. Auf nichts anderes.« »Hoskins?« »Ich nehme an«, gab Paresi müde zurück. »Wie Johnny ist er von einem Problem, dem er nicht gewachsen war, zu einem geflüchtet, dem er es ist. Nur hat er sich nicht in die Vergangenheit zurückgezogen, sondern auf das Schachspiel.
Ich hoffe, daß Johnny noch eine Weile nicht zu sich kommt. Er ist zu – Kapitän! Er ist weg!« Sie drehten sich um und starrten Johnnys Liege an. Oder – die Stelle, wo die Liege gewesen war, bevor die schwarze Wand nach innen gedrungen war und sie verschluckt hatte.
5 »… und da stand ich, Herr Doktor, während der Mittagszeit in der Hotelhalle, pudelnackt!« »Haben Sie solche Träume oft?« »Ich fürchte, ja, Herr Doktor. Ist m-mit mir alles – in Ordnung? Ich meine – « »Ich möchte Sie etwas fragen: Glauben Sie, daß diese Erlebnisse real sind?« »Natürlich nicht!« »Dann sind Sie, gnädige Frau, schon der Definition nach geistig gesund, denn letzten Endes ist Wahnsinn die Unfähigkeit, zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen zu unterscheiden.« Paresi und der Kapitän liefen gemeinsam achtern, und gemeinsam blieben sie vier Schritte vor der schwellenden Schwärze stehen. »Johnny!« Die Stimme des Kapitäns überschlug sich gequält. Er trat an die schwarze Wand und hieb mit dem Handballen darauf ein. »Er hört Sie nicht«, sagte Paresi tonlos. »Kommen Sie mit zu rück, Kapitän. Kommen Sie.« »Warum er? Warum Johnny? Sie haben ihm alles angetan, was sie konnten, das haben Sie selbst gesagt!«
»Kommen Sie«, sagte Paresi beruhigend. Dann fuhr er mit lebhafter Stimme fort: »Können Sie nicht begreifen, daß sie ihm nichts tun? Sie tun es uns an!« Der Kapitän blieb starr stehen und starrte die glatte, schwarze Wand an. Paresi stand nachdenklich neben ihm, dann ging er stumm zu Hoskins. Der Ingenieur saß in tiefer Konzentration vor seinem Schachbrett. Die gegenüberliegende Kante des Bretts schien undeutlich abgegrenzt zu sein, zum Teil in dem geheimnisvollen schwarzen Vorhang untergegangen, der die Rumpfwand bedeckte. »Hoskins.« Keine Antwort. Paresi legte die Hand auf Hoskins’ Schulter. Hoskins hob langsam den Kopf. Er drehte ihn nicht. Sein Blick richtete sich geradeaus in die Dunkelheit. Aber wenigstens nicht mehr auf das Schachbrett. »Hoskins«, sagte Paresi, »weshalb spielen Sie Schach?« »Schach ist Schach«, sagte Hoskins leise. »Schach mag jede beliebige Art von Konflikt symbolisieren, aber es ist Schach und wird Schach bleiben.« »Mit wem spielen Sie?« Keine Antwort. »Hoskins – wir brauchen Sie. Helfen Sie uns.« Hoskins ließ den Blick langsam wieder sinken, bis er auf dem Schachbrett ruhte. »Das Wort ist es nicht«, sagte er. »Die Zahl ist es nicht. Das Bild, das Ideogramm, das Symbol – sie sind es alle nicht. Umgekehrt – « »Ja, Hoskins.« Paresi wartete. Hoskins bewegte sich nicht und sagte nichts. Paresi legte ihm wieder die Hand auf die Schulter, aber nun blieb die Reaktion aus. Er begann plötzlich zu fluchen, beugte
sich vor und ließ die Faust hinuntersausen, daß Brett und Figuren davonflogen. Als das Klappern aufgehört hatte, sagte Hoskins mit freundlicher Stimme: »Die Figuren sind nicht das Spiel. Die Symbole sind es nicht.« Er saß still da, die Augen auf den leeren Stuhl gerichtet, wo das Schachbrett gestanden hatte. Er streckte die Hand aus und führte eine Figur, wo keine Figur war, zu einem Feld, das es nicht mehr gab. Dann saß er da und wartete. Paresi wich schweratmend zurück, fuhr herum und ging zurück zum Kapitän. Anderson sah zu ihm auf, und in seinen Augen erschien ein humorvolles Glitzern. »Setzen Sie sich lieber hin und reden Sie von etwas anderem, Doktor.« Paresi gab einen leisen Kehllaut von sich, ließ sich neben dem Kapitän hinfallen und knetete einen Augenblick die Hände. Dann lächelte er. »Ganz richtig, Käpt’n. Das empfiehlt sich auch.« Sie schwiegen eine Weile, dann nannte der Kapitän das Stichwort: »Zu den verschiedenen Bruchgrenzen – « »Ja, Kapitän?« »Vielleicht können Sie den Finger auf den entscheidenden Punkt legen, der dazu führt, daß verschiedene Menschen auf verschiedene Weise, aus verschiedenen Gründen zusammenbrechen. Ich meine, bei Johnny ist der Fall wohl ziemlich klar, und was Sie bei Hoskins nicht erläuterten, hat Hoskins recht deutlich vorgeführt. Was Ives angeht – wir können uns das sparen, solange er bewußtlos ist. Aber wenn Sie kalkulieren können, wo Sie und ich zerbrechen, na – da wüßten wir doch, worauf wir achten müssen.« »Sie glauben, das würde etwas nützen?«
»Wir wären vorbereitet.« Paresi sah ihn scharf an. »Unterstellen wir ein Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat. Fragen Sie es, und es wird Ihnen vielleicht sagen, an dunklen Orten sei ein Etwas, das es plötzlich anspringt. Dann versichern Sie ihm mit großer Autorität, es habe nicht nur recht, sondern das Etwas werde jeden Augenblick herausspringen, und was haben Sie angerichtet?« »Schweren Schaden«, sagte der Kapitän nickend. »Aber das würden Sie dem Kind nicht sagen. Sie würden ihm erklären, daß da gar nichts sei. Sie würden ihm beweisen, daß da nichts ist.« »Allerdings«, sagte Paresi. »Aber in unserem Fall könnte ich nichts dergleichen tun. Johnny ist an Maschinen zerbrochen, die wirklich nicht funktioniert haben. Hoskins zerbrach an Erscheinungen, die man weder messen noch begreifen konnte. Ives zerbrach an huschenden und krabbelnden Wesen. Subjektiv wirkliche Erscheinungen, alle miteinander. Was für Urschrecken auch in Ihnen und mir verborgen sein mögen, sie werden uns gegenübertreten, gleichgültig, wie unwahrscheinlich sie sind. Und Sie wollen, daß ich Ihnen sage, welche das sind. Nein, Käpt’n. Lassen Sie sie lieber in Ihrem Unterbewußtsein, wo Sie sie vergraben haben.« »Ich habe keine Angst«, sagte der Kapitän. »Sagen Sie es mir, Paresi! Dann weiß ich es wenigstens. Ich möchte es lieber wissen. Ich möchte es um jeden Preis wissen!« »Sind Sie sicher, daß ich es Ihnen sagen kann?« »Ja.« »Ich habe Sie keiner Psychoanalyse unterzogen, wissen Sie. Manches davon ist sehr schwer zu – « »Sie wissen es aber, nicht?« »Verdammt noch mal, ja!« Paresi befeuchtete die Lippen. »Also gut. Ich mache jetzt vielleicht etwas falsch… Sie haben
sich eingebildet, ich sei ein höchst scharfsinniger Mensch, der automatisch über solche Dinge Bescheid weiß, und das war ein Trost für Sie. Nun, ich habe eine Neuigkeit für Sie. Ich habe diese Dinge nicht alle herausgefunden. Sie sind mir mitgeteilt worden.« »Mitgeteilt?« »Ja, mitgeteilt«, sagte Paresi zornig. »Hören Sie, diese Dinge sind eigentlich geheim, aber der Forschungsdienst verläßt sich, wenn er eine Besatzung zusammenstellt, nicht auf persönliche Eignungsprüfungen allein. Es gibt noch einen Faktor – nennen wir ihn den Nichteignungs-Faktor. Ganz schlicht ausgedrückt, handelt es sich darum, daß eine Besatzung nicht zusammenarbeiten kann, nur wenn jedes Mitglied in seinem Fach die tüchtigste Person ist. Er muß die anderen brauchen, jeden einzelnen von den anderen. Und das Wort brauchen beinhaltet den Mangel. Mit anderen Worten, keiner von uns ist ein im Gleichgewicht befindlicher Mensch. Und die Unausgewogenheiten werden so ausgewählt, daß sie einander ergänzen und zusammenpassen, daß wir als ausgewogene Einheit reagieren. Klar erkenne ich Johnnys Schreckgespenster, und die von Hoskins, und die Ihrigen. Die waren alle in meiner Indoktrinierung enthalten. Ich kenne alle eure Fallgeschichten, alle eure psychischen Auslöser.« »Und Ihren?« fragte der Kapitän. »Nehmen wir Hoskins«, sagte Paresi. »Glücklich verheiratet, keine Kinder. Sein ganzes Leben physisch unterlegen. Unterdrückter Wunsch nach reiner Wissenschaft, der zu mehr als Grundkenntnissen vieler Wissenschaftszweige geführt und einen erstklassigen Ingenieur aus ihm gemacht hat. Hoher idealistischer Quotient; Selbstaufopferung. Sehen Sie ihn an, wie er Schach spielt und aus dieser sehr realen Situation eine theoretische Abstraktion macht… wie er auch seine Ehe für den Weltraum aufgegeben hat.
Über Johnny wissen wir Bescheid. Aufgezogen mit nie versagenden Maschinen. Spielt noch immer mit ihnen, als seien sie Spielzeug, und wendet sich, wie jedes phantasievolle Kind, zur Beruhigung seinen Spielsachen zu. Er muß ein Held sein, daher die Sterne… Ives… immer fett gewesen. Hat gelernt, unbeschwert zu sein, gelernt mitzulachen, wenn andere lachten, und jedesmal den anwachsenden Druck tief in sich zu verschließen. Großer Appetit. Er ist hier, um ihn zu befriedigen; er ist dabei, damit er die Galaxien verschlingen kann…« Eine lange Pause. »Weiter«, sagte der Kapitän. »Wer kommt jetzt? Sie?« »Sie«, sagte der Doktor kurz. »Sie sind mit einer brauchbaren Neugier nach der Natur der Dinge aufgewachsen. Es war aber nicht die Neugier des Wissenschaftlers, sondern die eines Ästheten. Sie sind einer der wenigen noch vorhandenen Menschen, die eine subventionierte Bildung abgelehnt und sich das Geld für ihre fortgeschrittenen Studien als Besatzungsmitglied auf Linien-Raumschiffen verdient haben. Sie sind einer der jüngsten Philosophieprofessoren der neueren Geschichte geworden. Sie haben eine romantische Heirat vorgezogen, und Ihre Frau ist im Kindbett gestorben. Seitdem – fast hundert Aufträge für den Forschungsdienst, zahlreiche Beförderungsangebote zurückgewiesen. Muß ich Ihnen jetzt sagen, was Ihr Schreckgespenst ist?« »Nein«, sagte Anderson heiser. »Aber ich – habe keine Angst davor. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie – « er schluckte, » – daß Sie so genau Bescheid wissen.« »Ich wünsche mir, es wäre nicht so. Ich wünsche mir, es gäbe Dinge, über die – ich mir den Kopf zerbrechen müßte«, sagte Paresi mit überraschender Bitterkeit. Der Kapitän sah ihn prüfend an.
»Weiter mit Ihren Fallgeschichten.«
»Ich bin fertig.« »Das sind Sie nicht.« Als Paresi nicht antwortete, stieß ihn der Kapitän an. »Johnny, Ives, Hoskins, ich. Haben Sie nicht jemand vergessen?« »Nein, habe ich nicht«, fauchte Paresi, »und wenn Sie von mir erwarten, daß ich Ihnen sage, weshalb ein Psychologe sich zwischen den Sternen vergräbt, dann mache ich das nicht.« »Ich will nichts derart Allgemeines hören«, sagte der Kapitän. »Ich möchte nur wissen, warum Sie mitgeflogen sind.« Paresi machte ein finsteres Gesicht. Der Kapitän sah an ihm vorbei und meinte: »Großer Frosch im kleinen Teich, Nick?« Paresi schnaubte nur. Anderson fragte: »Frauen mögen Sie nicht, wie, Nick?« Fast unhörbar sagte Paresi: »Lassen Sie das lieber, Käpt’n.« »Beinahe wie eine Mutter sein – ist es das?« sagte Anderson. Paresi wurde kreidebleich. Der Kapitän schloß die Augen, runzelte die Stirn und sagte schließlich: »Oder vielleicht wollen Sie nur den lieben Gott spielen.« »Ich werde es Ihnen schwermachen«, sagte Paresi mit zusammengebissenen Zähnen. »Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie Sie zerbrechen können, so, wie es mehrere Methoden gibt, einen Baumstamm zu zerstören – in die Luft jagen, zerquetschen, zersägen, verbrennen… Eine der Möglichkeiten besteht darin, gegen mich zu kämpfen, bis Sie siegen. Gegen mich, weil sonst niemand mehr da ist. Also – werde ich nicht mit Ihnen kämpfen. Und Sie sind zu vernünftig, um mich anzugreifen, solange ich nicht anfange. Das ist es, was es so schwermachen wird. Wenn Sie zerbrechen müssen, dann auf eine andere Weise.« »Ist es das, was ich tue?« fragte der Kapitän ganz ruhig. »Das wußte ich nicht. Ich dachte, ich hätte nur versucht, Ihre eigene
Fallgeschichte aus Ihnen herauszuholen, mehr nicht. Wo starren Sie hin?« »Nirgends.« Da war nichts. Wo die vorderen Sichtfenster gewesen waren, gab es nichts mehr. Wo es Steuereinrichtungen gegeben hatte, die Kommunikationsanlage, die Kartenprojektionen und Computer und Radargeräte – dort war nichts. Schwärze; leer, stumm, undurchdringlich. Sie saßen auf einer Liege an einer Wand, an der ein Tisch angebracht war. Rings um sie war leerer Boden und Schwärze. Der Schachspieler starrte in sie hinein, und vielleicht gehörte er ihr zum Teil schon an; man konnte es nur schwer erkennen. Der Kapitän und der Schiffsarzt starrten einander an. Es schien nichts zu geben, was sie sagen konnten.
6 Denn von den Sinnen des Menschen wird fälschlich behauptet, sie seien das Maß der Dinge: im Gegenteil, alle Wahrnehmungen, der Sinne wie des Verstandes, beziehen sich auf den Menschen und nicht auf das Universum; und der menschliche Geist gleicht jenen unebenen Spiegeln, die ihre eigenen Eigenschaften verschiedenen Gegenständen verleihen… sie verzerren und verunstalten… Denn jeder einzelne… besitzt eine eigene Höhle, ein eigenes Lager, welches das Licht der Natur bricht und verfärbt. Sir Francis Bacon 1561-1626 Es war der Kapitän, der als erster reagierte. Er ging zu einem noch nicht betroffenen Schott, drehte an einer Klemmschraube
und öffnete einen Schrank. Er nahm ein Gestell mit RadarErsatzteilen und drei dicke Kabelspulen heraus. Paresi drehte sich verblüfft um und sah, daß Hoskins den Kapitän eulenhaft anstarrte. Anderson nahm Werkzeug heraus, griff tief in den Schrank hinein und holte eine große Flasche heraus. »Oh«, sagte Paresi. »Das – ich dachte, Sie wollten etwas Konstruktives tun.« In den entlegenen Schatten wandte Hoskins sich wieder seinem Spiel zu. Der Kapitän warf einen Blick auf die Flasche, warf sie hoch und fing sie auf. »Das tue ich«, sagte er. »Das tue ich.« Er kam zurück und setzte sich zu Paresi. Er drehte den Stöpsel heraus und trank in großen Zügen. Paresi schaute ihm zu, die Augen so leer wie die Schwärze, die sie gefangenhielt. »Na?« sagte der Kapitän angriffslustig. Paresi hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Hab’ mir nur Gedanken gemacht.« »Warum ich mich vollaufen lasse? Das will ich Ihnen sagen, Klapsdoktor. Weil ich es will, deshalb. Weil es mir Spaß macht. Ich tue etwas, das mir Spaß macht, weil es mir Spaß macht. Ich mache es nicht wegen der Inversion dieser verborgenen Repression, wie sie sich in den verwickelten Gefühlen ausdrückt, die meine Kindheit in meiner Einstellung zum Geschlechtsleben der Biber bewirkt hat, verstehen Sie, Sie Sofa-Katechet? Es macht mir Spaß, und das ist der Grund.« »Ich habe einen Mann gekannt, der mit alten Schuhen ins Bett ging, weil es ihm Spaß machte«, sagte Paresi kalt. Der Kapitän trank noch einmal und lachte rauh. »Sie ändern sich auch nie, was, Nick?« Paresi schaute sich beinahe ängstlich um. »Ich kann mich ändern«, flüsterte er. »Ives ist fort. Geben Sie mir die Flasche.«
Am Saum des schwarzen Vorhangs fiel etwas klappernd auf den Boden. »Wieder ‘ne Halluzination«, sagte der Kapitän. »Komm, heb sie auf, die Halluzination, Nicky.« »Nicht meine Halluzination«, sagte Paresi. »Heben Sie sie selber auf.« »Na klar«, sagte der Kapitän gutmütig. Er wartete, als Paresi trank, griff nach der Flasche, kippte sie an seinen Mund. Er wischte sich die Lippen mit dem Handrücken, atmete aus und ging zu der Schwärze, die sich durch die Kabine zog. »Na, was sagt man dazu«, stieß er hervor. »Was ist jetzt wieder?« Anderson hob das Ding hoch. »Eine Trophäe, das ist es.« Er führte den Gegenstand an die Augen. »Mannschaft der amerikanischen Stars, 2675. Kleine Statue von einem, der einen Siegerkranz hochhält. Nicht übel, Kleiner.« Er marschierte auf Paresi zu und entriß ihm die Flasche. Er goß Schnaps über den Kopf der Figur. »Trink ‘nen Schluck, Kleiner.« »Zeigen Sie her.« Paresi griff danach, drehte die Figur in den Händen. Plötzlich ließ er sie fallen, als sei sie rotglühend. »O mein Gott – « »Was’n los, Nick?« Der Kapitän hob die Statuette auf und glotzte sie an. »Weg damit, weg«, sagte der Doktor mit erstickter Stimme. »Das – das ist – Johnny…« »Oh, richtig, richtig«, stieß der Kapitän hervor. Er stellte die Figur vorsichtig auf den Tisch, zögerte und drehte sie dann so, daß sie das Gesicht abwandte. Schlagartig belebt, fuhr er herum und sah Paresi an. »He! Sie haben nicht gesagt, sie sieht wie Johnny aus. Sie haben gesagt, das sei Johnny!« »Habe ich das gesagt?«
»Jo.« Er grinste breit. »Nicht schlecht für einen Psychologen. Was für ein Guckloch Sie da geöffnet haben! Götzenbilder, wie?« »Halten Sie den Mund, Anderson«, sagte Paresi müde. »Ich habe schon gesagt, ich lasse mich nicht provozieren.« »Aber, aber, ist doch nur Spaß«, sagte der Kapitän. Er ließ sich auf die Liege sinken und legte den Arm um Paresis Schultern. »Sind doch Freunde, oder? Los, wir singen was.« Paresi schob ihn weg. »Lassen Sie mich in Ruhe. Lassen Sie mich in Ruhe.« Anderson wandte sich von ihm ab und betrachtete ernsthaft die Figur. Er hielt ihr die Flasche hin, murmelte einen Gruß und trank. »Möchte wissen – « Die Worte hingen in der Luft, bis Paresi aus seiner Versunkenheit erwachte, um sie herunterzuschlagen. »Verdammt noch mal – was wollen Sie wissen?« »Ach«, sagte der Kapitän jovial, »ich möchte nur wissen, was Sie sein werden.« »Wovon reden Sie überhaupt?« Anderson schwenkte die Flasche in Richtung der Figur, so daß er sie wieder wahrnahm und noch einmal trinken mußte. »Johnny hat sich in das verwandelt, wofür er sich hält. Ein kleiner Kerl mit einem großen Sieg. Hoskins, da hinten, der wird ein Rechenschieber werden, warten Sie nur ab. Bei’m alten Ives ist es einfach. Der wird ein Bierfaß voll Bier. Er hat ja immer einen in der Krone gehabt.« Er lachte maßlos über Paresis verdüsterte Miene. »Ich hab’ keine Geheimnisse mehr. Ich werd’ ein Wappen sein – nutzlose Philosophie, ansteigend auf einem Sternenfeld.« Er preßte den Flaschenhals an seine Stirn, ließ die Flasche sinken und berührte den roten Ring an seiner Haut. »Das Zeichen der Bestie«, sagte er vertraulich. »Ein Kastenzeichen. Null, das bin ich und meine ganze
gottverdammte Familie. Der Kasten ist auf, die Kaste ist tot.« Er brummte anerkennend und wandte sich Paresi wieder zu. »Aber was wird der alte Nicky sein?« »Nennen Sie mich nicht Nicky«, sagte Paresi gereizt. »Ich weiß«, sagte der Kapitän, kniff die Augen zusammen und legte einen Finger an die Nase. »Ein Nachschlagewerk, das wirst du. Eine Abhandlung über die – post-nasale Hysterektomie, oder: wie knöpft man die Vorurteile eines Mannes auf und läßt seinen Stolz herunter… das muß ich irgendwo geklaut haben… « »Nein!« schrie er plötzlich, dann sagte er mit großer Vertraulichkeit: »Buch wirst du keines, Nicky. Buchdeckel sind nicht hart genug. Nicht die richtige Type. Kapiert?« lachte er schallend und gab Paresi einen heftigen Rippenstoß. »Type, das soll ein Witz sein, verstehst du?« Paresi wich vor dem Hieb zurück wie eine Raupe vor einer roten Ameise. Er sagte nichts. »Und ein Buch wirst du schon deswegen nicht sein«, sagte der Kapitän, »weil du keinen festen Rücken hast.« Schlagartig sprang er auf. »Na, was sagt man dazu!« Er bückte sich und hob einen Gegenstand auf, der in dem nächst-liegenden Schatten stand. Es war ein kleines Bierfaß. Er hob es hoch und stemmte es auf den Tisch. »Na los, Nick.« Er lachte in sich hinein. »Wohlan, die Runde. Wie gesagt, da ist der alte Ives.« Paresi starrte das Faß an, die Augen so weit aufgerissen, daß die Lider sichtbar im Takt des Pulsschlags zuckten. »Hören Sie auf, Anderson, Sie Schweinehund!« Der Kapitän warf ihm einen angewiderten Blick zu und schnaubte nur. Aus dem Wust von Radarbauteilen zog er einen Schraubenzieher mit einem massiven kleinen Abwärtstransformator am Griff. Der Spundzapfen verschwand
knallend im Faß, weißer Schaum quoll heraus. Paresi kreischte auf. »Schnauze, Mensch«, knurrte Anderson. Er kramte, bis er eine Röhrenverkleidung fand. Er zog einen Streifen von selbstschweißendem Metallband ab und klebte es über das Anschlußloch, so daß er eine Art Krug hatte. Er wartete einen Augenblick, bis die Schweißnaht abkühlte, dann kippte er das Faß, bis mit dem Schaum Bier zu fließen begann. Er füllte den provisorischen Krug und hielt ihn Paresi hin. »Der gute alte Ives«, sagte er gerührt. »Los, Paresi. Trinken Sie einen auf Ives.« Paresi wandte sich ab und bedeckte das Gesicht wie eine angstvolle Frau. Anderson zuckte die Achseln und trank. »Gutes Bier«, sagte er. Er sah hinunter auf den Arzt, der sich plötzlich bäuchlings auf die Liege warf, so daß sein Kopf auf der anderen Seite herunterhing; er begann zu keuchen und zu würgen. »Armer Nick«, sagte der Kapitän traurig. Er füllte den Krug erneut und setzte sich. Mit der freien Hand tätschelte er Paresis Rücken. »Kann’s nicht aushalten. Armer, armer Nick…«
Danach vertieften sich Stille und Dunkelheit. Paresi war still geworden, atmete ganz langsam, hielt den Atem immer wieder an, stieß die Luft aus und lag drei ganze Sekunden regungslos da, bis er wieder einatmete, so, als sei Atmen ein bewußter, mühsamer Vorgang – mehr noch, als sei Atmen die einzige Aufgabe, der ganze Zweck des Daseins. Anderson sank immer tiefer in sich zusammen. Bei jedem Lidschlag öffneten sich seine Augen einen Spalt weniger, während die Zeit, in der seine Augen geschlossen blieben, um Sekundenbruchteile
zunahm. Die Kabine wartete so angespannt wie die starre Haltung der kleinen Siegestrophäe. Dann kam die Musik. Es war sanfte, großartige Musik; die Musik von Schaugepränge, von Roben aus Goldbrokat und Samt; von Juwelengehängen und vielfarbigem Halbdunkel, das sich hoch oben in Steingewölben verlor. Es war Musik, die auf die Begleitung von Flüsterstimmen, von Tausenden ehrfürchtiger, ritueller Zischlaute wartete, die keinen wißbaren Sinn und nur einen einzigen Zweck kannten. Sanfte Musik, sanft, sanft; nicht leise, denn sie schwoll immer mehr an, sondern weich wie die Wolken, die es trotz ihrer Gebirgsgröße, ihres Leuchtens sind; weich und lebendig wie die Kehle eines Tigers, weich wie eine Frauenbrust, sanft wie Ertrinken, und gewaltig wie eine Wolke. Anderson machte zwei Bewegungen; er hob den Kopf, und er ließ das Bier in seinem Krug kreisen, daß in der Mitte eine Vertiefung entstand und die Luftbläschen wirbelten. Mit erhobenem Kopf und gesenkten Augen saß er da und sah die Bläschen kreisen und langsamer werden. Paresi stand langsam auf, ging zur Mitte des kleinen, beleuchteten Raumes, der ihnen noch geblieben war, und kniete langsam nieder. Seine Arme hoben sich und streckten sich aus, sein emporgewandtes Gesicht war verzerrt und von einem inneren Glanz erfüllt. Vor ihm in der Schwärze war jetzt – oder vielleicht schon seit einiger Zeit – ein blaues Leuchten zu sehen, fast so lichtlos wie das Dunkel ringsherum, aber doch blau und von körperlicher Tiefe. Die Tiefe nahm mehr zu als das Leuchten. Es wurde zur Andeutung einer Grotte, dem Zugang zu einem namenlosen Ort.
Und darin befand sich eine Person. Eine… Erscheinung. Sie winkte. Paresis Gesicht schimmerte feucht. »Mich?« stieß er hervor. »Du willst – mich?« Sie winkte. »Ich – glaube dir nicht«, sagte Paresi. »Mich kannst du nicht wollen. Du weißt nicht, wer ich bin. Du weißt nicht, was ich bin, was ich getan habe. Mich willst du nicht – « Seine Stimme erstarb fast zur Unhörbarkeit. » – oder doch?« Sie winkte. »Dann weißt du«, sang Paresi im Ton der Offenbarung. »Ich habe dich mit den Lippen geleugnet, aber du weißt, du weißt, du weißt, daß tief im Innern… ganz tief… ich keinen Augenblick geschwankt habe. Ich habe dein Bild immer vor Augen gehabt.« Er stand auf. Anderson beobachtete ihn jetzt. »Du bist mein Leben«, sagte Paresi, »meine Hoffnung, meine Erfüllung. Du bist alle Weisheit und alle Barmherzigkeit. Ich danke dir, ich danke dir – Meister. Ich danke dir, o Herr«, stieß er hervor und ging mitten hinein in das blaue Leuchten. Einen Augenblick lang war die Musik eine Hymne, dann verschwand auch sie. Anderson stieß pfeifend den Atem aus. Er hob den Krug, stutzte und stellte ihn vorsichtig zu der Figur des Athleten. Er ging zu der Stelle, wo Paresi verschwunden war, bückte sich und hob einen kleinen Gegenstand auf. Er fluchte und kehrte zur Liege zurück. Er saugte an seinem Daumen und fluchte wieder. »Ihre Dornen sind spitz, Paresi.« Vorsichtig legte er den Gegenstand zwischen das Bierfaß und die Statuette. Es war ein schlichtes Holzkreuz. Um Arme und Schaft, ein wenig verdreht, und tief ins Holz gebohrt, wanden sich Dornenzweige.
»Allmächtiger, Nick«, sagte Anderson düster, »Sie hätten es nicht zu verbergen brauchen. Keiner hätte sich daran gestört.« Er hob den Kopf. »Na?« brüllte er plötzlich in die Schwärze hinein. »Worauf wartet ihr noch? Bin ich euch im Weg? Habe ich irgend etwas getan, um euch aufzuhalten? Los, kommt, kommt doch!« Seine Stimme hallte von dem einen verbleibenden Schott zurück, wurde aber von der Schwärze verschluckt. Er wartete, bis der letzte Nachhall verklungen war, und dann noch, bis die Erinnerung daran schwer festzuhalten war. Er hämmerte vergeblich auf den Kissen herum, schaute sich hastig, angespannt, wie ein gehetztes Tier im Kreis um. Dann atmete er auf, bückte sich und tastete nach der Schnapsflasche. »Was ist los mit euch, da draußen?« fragte er scharf. »Wartet ihr darauf, daß ich nüchtern werde? Ich soll ich selber sein, bevor ihr mich vornehmt? Wollt ihr etwas wissen? In vino veritas, das ist es. Ihr braucht nicht auf mich zu warten, Kinder. Ich bin verdammt mehr ich selber als nachher, wenn ich das überstanden habe.« Er griff nach der Figur und stellte sie auf die andere Seite des Fasses. »Richtig, Johnny. Stell dich auf die andere Seite vom Bierbauch da! Mach Platz für den Alten.« Zu der Schwärze sagte er: »Hört zu, ich bin ein ordentlicher Mensch, laßt mich nicht auf dem Boden herumliegen, ja? Stellt mich neben den Jungs auf. Was soll ich denn sein? Ah ja. Ein Wappen. He, das Motto habe ich vergessen. Also, paßt auf. ›Sic itur ad astra‹ – das heißt: ›Hier geht’s zum Herrenklo.‹« Irgendwo schrie ein Säugling. Anderson preßte den Unterarm auf die Augen. Jemand machte: »Psst!«, aber das Kind weinte weiter. »Wer ist da?« sagte Anderson. »Nur ich, Liebes.« Er atmete zweimal tief ein, dann flüsterte er: »Louise?«
»Natürlich. Psch, Jeannie!« »Jeannie ist bei dir, Louise? Es geht ihr gut? Es geht euch – gut?« »Komm und sieh es dir an«, sagte die süße Stimme leise lachend. Kapitän Anderson sprang in die Schwärze hinein. Sie schloß sich lautlos und ganz um ihn. Auf dem Tisch standen eine Elfenbeinfigur, ein kleines Bierfaß, ein Dornenkreuz und ein Herz. Es war kein physiologisches Modell, sondern das Urbild des sentimentalsten aller Symbole; das gleichmäßige, schwellende, blutrote Liebesschmerz-Herz. Es war von einem goldenen Pfeil durchbohrt, und auf ihm lagen Blumen: Lilien, weiße Rosen und Vergißmeinnicht. Das Herz pulsierte kräftig, und wenn es auch kein Blut pumpte, so zeigte es doch, daß es lebte, so daß es vielleicht doch besser war, als es auf den ersten Blick aussah. Jetzt war es im Raumschiff ganz still und ganz dunkel.
7 … Wir stehen im Begriff, zu landen. Der Planet liegt grün und blau unter uns, und der lange Flug ist vorbei… Es scheint so, als könnte man hier gut leben… Ein Vers aus dem Alten Testament ging mir immer wieder durch’ den Kopf – aus dem Prediger Salomo, glaube ich. Ich erinnere mich nicht wörtlich daran, aber es ging ungefähr so: Alles hat seine Zeit, alles Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde: Weinen und lachen, klagen und tanzen; Suchen und verlieren, behalten und wegwerfen; Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist.
Ich fühle, daß jedenfalls für mich die Zeit gekommen ist. Vielleicht nicht, zu sterben, aber etwas anderes, weniger Endgültiges oder Schrecklicheres. Auf jeden Fall wirst du dich, das weiß ich, an das erinnern, was wir vor langer Zeit beschlossen haben – daß jeder Mensch unbedingt von zwei Dingen eines seinem Planeten, seiner Rasse schuldig ist: die Nachwelt, oder sich selbst. Das erste konnte ich nicht liefern – es ist nur angemessen, daß ich das zweite anbiete und nicht zurückzucke, wenn es angenommen wird… Aus einem Brief Peter Hoskins’ an seine Frau In der Stille und im Dunkel bewegte sich Hoskins. »Schachmatt«, sagte er. Er stand auf und ging durch die Kabine. Ohne zu beachten, was auf dem Tisch stand, öffnete er eine Schublade und zog ein Stahlmaßband heraus. Von einem Bücherregal hob er ein dickes Handbuch herunter. Er setzte sich auf die Liege, das Handbuch auf den Knien, und blätterte, bis er eine Seite mit Maßangaben fand. Er schaute auf den Boden, dort quer hinüber zu dem schwarzen Vorhang, zurück zu der einen freien Wand. Er brummte vor sich hin, legte das Buch weg und trug das Maßband zur Metallwand. Er verankerte ein Ende dort mit dem paramagnetischen Auslöser und zog das Band durch den Raum. Am Beginn der Schwärze las er ab und machte sich eine Notiz. Dann nahm er eine Messung von einem Punkt gegenüber dem vorderen Tischende bis zu einem gegenüber dem hinteren Liegenende vor. Sorgfältig vorgehend, kniete er nieder und errichtete das Lot auf dieser Linie. Er legte das Band zum drittenmal auf den Boden und gelangte wieder an die Außengrenze der Dunkelheit. Er betrachtete sie nachdenklich und steckte dann ohne Zögern den Arm hinein. Er tastete kurz
herum, bewegte die Hand im Kreis, drückte, versuchte es noch einmal. Plötzlich ein Knacken, ein leises Summen. Er trat zurück. Etwas Riesiges stemmte sich aus der Dunkelheit. Es preßte sich ihm entgegen, schob sich an ihm vorbei, kam zum Stillstand. Es war die Schleusentür. Hoskins wischte sich die Schweißtropfen von der Oberlippe und starrte in die Luftschleuse, bis auch die Außentür aufging. Warmes Nachmittagssonnenlicht und eine sanfte, frische Brise drangen herein. Im Wind klang Vogelgesang, es roch nach Pflanzen. Hoskins blickte hinein, mit umflorten Augen. Dann wandte er sich wieder der Kabine zu. Die Dunkelheit war verschwunden. Ives lag ausgestreckt auf der hinteren Liege, anscheinend bewußtlos. Johnny lächelte im Schlaf. Der Kapitän schnarchte laut, und Paresi lag zusammengerollt wie eine Katze auf dem Boden. Sonnenschein flutete durch die vorderen Sichtfenster. Das Handrad glänzte unzerbrochen am Schott. Hoskins betrachtete die schlafende Besatzung und schüttelte mit schwachem Lächeln den Kopf. Dann trat er an die Hauptkonsole und griff nach einem Mikrofon. Er begann mit seiner ruhigen, unauffälligen Stimme leise zu sprechen. Er sagte: »Die Wirklichkeit ist, was sie ist, und nicht, was sie zu sein scheint. Was sie zu sein scheint, ist eine Sache des einzelnen, und selbst bei diesem ändert sie sich ständig. Wenn das eine Binsenwahrheit ist, so bleibt es doch die Wahrheit; es ist so wahr wie die Tatsache, daß dieses Schiff nicht versagen kann. Der Ablauf der Ereignisse nach unserer Landung wäre grundlegend anders gewesen, wenn wir einstimmig akzeptiert hätten, was wir als wahr erkannten. Aber keiner von uns
braucht sich hier schuldig zu fühlen. Wir sind nicht darauf trainiert, die Beweise unserer Sinne abzuleugnen. Was die Bewohner dieses Planeten getan haben, ist im Grunde genommen ganz einfach und klar. Sie mußten wissen, ob die Rasse, die dieses Schiff gebaut hat, das tun konnte, weil sie psychologisch intakt ist – und deshalb fähig war, unter vielen, vielen anderen Dingen auch diesen Bauprozeß zu ergründen – oder ob wir nur mechanisch geschickt sind. Um das festzustellen, haben sie uns auf die Probe gestellt. Sie haben uns geprüft, wie wir Stahl prüfen – um seine Bruchfestigkeit herauszufinden. Und während sie ein Spiel um unsere geistige Gesundheit betrieben, habe ich ein Spiel um unser Leben gespielt. Ich konnte keinen von euch einweihen, weil es ein Spiel war, bei dem nur ich Erfahrung habe. Paresi hatte bis zu einem gewissen Grad recht, als er sagte, ich hätte mich ins Abstrakte zurückgezogen – in die Abstraktion des Schachspiels. Er irrte sich aber, als er zu dem Schluß kam, ich sei dazu getrieben worden. Ihr dürft davon überzeugt sein, daß ich das freiwillig getan habe. Es ging einfach darum, das greifbare Beweismaterial in ein gleichwertiges Ideensystem umzusetzen. Ich lernte sehr schnell, daß sie sich an die Regeln halten, wenn sie ein Spiel spielen. Ich kenne die Regeln des Schachspiels, aber die Regeln ihres Spiels kannte ich nicht. Sie nannten sie mir nicht. Sie gestatteten mir lediglich, ihnen die meinen zu übermitteln. Ich lernte etwas langsamer, daß ihre Macht, unsere Gedanken zu lesen, zwar in allen sieben Galaxien, die wir kennen, unübertroffen ist, aber sie können nur die Ideen an der Oberfläche unseres Bewußtseins ergreifen und verwenden. Mit anderen Worten, Schach war eine Möglichkeit. Man konnte sie zwingen, ein Figurenopfer anzunehmen, und auch, eine eigene Figur aufzugeben. Sie berechnen eine Sequenz auf großartige
Weise – aber man kann sie im Denken übertreffen. Soviel dazu: beim Schach habe ich sie geschlagen. Und da ich meine Bemühungen auf das Schachbrett beschränkte, wo ich die Regeln kannte, die sie achteten, konnte ich meinen Verstand bewahren. Wo ihr verstört gewesen seid, weil die Luftschleusentür verschwand, war ich nicht verstört, weil das Verschwinden mit dem Schachspiel nichts zu tun hatte. Ihr fragt euch natürlich, was sie mit uns gemacht haben. Ich weiß es nicht. Aber ich kann euch sagen, was sie getan haben. Sie besitzen Empathie – das heißt, sie sehen durch unsere Augen, fühlen mit unseren Fingerspitzen – so daß sie wahrnehmen, was wir erkennen. Zweitens können sie diese Wahrnehmungen kontrollieren; wie Ives sagen würde, sie können eine Verzerrungsschaltung zwischen das Sinnesorgan und das Gehirn montieren. Zum Beispiel werdet ihr alle unsere Fingerabdrücke rund um die Schleusensteuerung finden, wo wir der Reihe nach auf der Wand herumgehauen haben, weil wir dachten, wir drückten auf die Taste. Ihr fragt euch auch, was ich getan habe, um ihren Griff um uns zu lösen. Nun, ich glaubte einfach, was ich als die Wahrheit kannte; daß das Schiff unverändert und unbeschädigt ist. Ich habe es mit einem Maßband abgemessen, und es trifft zu. Warum haben sie mich nicht gezwungen, das Band falsch abzulesen? Sie hätten es getan, wenn ich die Messungen vorher vorgenommen hätte. Am Anfang sorgten sie dafür, daß jeder pragmatische Beweis in eine offenkundige Lüge verwandelt wurde. Aber ich habe die Probe überdauert. Als sie mit ihrem ganzen Arsenal von sinnesmäßigen Lügen fertig waren, hatten sie mich noch immer nicht zerbrechen können. Sie gaben mich frei, wie eine Ratte in einem Labyrinth, um zu sehen, ob ich den Weg nach draußen finden konnte. Und wieder hielten sie sich an ihre eigenen Regeln. Sie veränderten das Labyrinth nicht, als ich es endlich in Angriff nahm.
Ich möchte, was ich getan habe, anders formulieren; in der Rolle des Supermanns fühle ich mich nicht wohl. Wir fünf Fußgänger sahen uns auf einer Straße starkem Verkehr gegenüber. Ihr vier habt tapfer versucht, auf die andere Seite zu kommen – taub und mit einer Binde vor den Augen. Ihr seid alle Verkehrsopfer geworden. Ich nicht, und nicht deshalb nicht, weil ich stärker oder schlauer wäre als ihr, sondern nur deshalb, weil ich auf dem Gehsteig geblieben bin und gewartet habe, bis die Ampel umschaltete… Deshalb haben wir gewonnen. Und jetzt – « Hoskins machte eine Pause, um seine Lippen zu befeuchten. Er sah seine Kameraden der Reihe nach an, jeden einen langen, nachdenklichen Augenblick. Wieder zeigte sich das schwache Lächeln auf seinem Gesicht, wieder schüttelte er ein wenig den Kopf. Er hob das Mikrofon. »… In meinem Schachspiel habe ich ihnen eine kleinere Figur angeboten, um zum Sieg zu kommen, und sie haben akzeptiert. Meine Auslegung ist, daß sie mich zur weiteren Erprobung haben wollen. Das braucht euch nicht zu bekümmern. Erstens: Die Entscheidung ist meine eigene. Ich habe einen hohen idealistischen Quotienten, wie Paresi einmal betont hat, also fällt der Entschluß nicht schwer. Zweitens: Ich bin letzten Endes eine ganz unwichtige Figur, und das Spiel ist grandios. Ich bin überzeugt davon, daß es keine Probe mehr gibt, der sie mich unterziehen können, die einer von euch nicht bestehen könnte. Aber ihr dürft auf keinen Fall in einer sinnlosen und unüberlegten Rettungsaktion hinter mir herjagen. Das will ich weder, noch brauche ich es. Und beurteilt die Planetenbewohner nicht streng; wir sind nicht in der Verfassung, das zu tun. Ich bin jetzt überzeugt davon, daß diese Wesen zur galaktischen Gemeinschaft einen großen Beitrag zu leisten haben, ob ich nun zurückkomme oder nicht.
Auf jeden Fall viel Glück. Wenn die Proben nicht zu anstrengend sind, sehen wir uns wieder. Wenn nicht, bedaure ich nur, daß ich auseinanderreiße, was eine gute Mannschaft gewesen ist. Wenn das geschieht, sagt meiner Frau das Übliche, und schickt ihr einen Brief, den ihr bei meinen Papieren findet. Sie hat sich längst mit allen Möglichkeiten abgefunden. Johnny – die Bewohner werden Ihr Feuerzeug reparieren – Und viel Glück noch einmal, lebt wohl.« Hoskins legte das Mikrofon weg. Er griff nach einem Stift und schrieb: ›Spielt mein Band ab.‹ Dann trat er barhäuptig und unbewaffnet hinaus in den goldenen Sonnenschein. Er blieb stehen und berührte kurz mit der Wange die glatte Rumpfwand. Dann ging er ins Tal hinunter.
Ein Monster namens Smith
Panik! Isolierung! Terror! Blind, sinn- und gefühllos. Geruchlos, taub, stumm. Angst. Druck von innen, instinktiv und machtvoll. Ringsherum Zusammenschnürung. Ursache unbekannt. Konflikt. Schmerz. Ein Sinn noch in Aktion. Horch! Schick Fühler durch die Dunkelheit! Irgendwo muß noch etwas anderes Lebendiges sein. Irgendwo gibt es einen Grund für Angst. Horch!
»Die Tafel zeigt eine Lücke bei Harrison. Wenn offen, durch eine Kompanie schließen lassen. Anweisung an alle Suchtrupps: Alle Gebäude sind gründlich zu durchsuchen, innen und außen, von oben bis unten. Alles absuchen. Die Trupps gehen erst weiter, wenn sie sich vergewissert haben, daß alle Gebäude, alle Giebel und Dächer frei sind.« »Stimmt das, Mr. Gardner?« »Fragen Sie mich nicht«, fauchte Gardner. »Mr. Burke führt hier das Kommando.« Er wandte sich Burke zu. »Als Stadtdirektor kann ich nicht zulassen, daß die Stadt auf unbegrenzte Zeit lahmgelegt wird, nur auf einen Verdacht hin. Abgesehen von den persönlichen Problemen kostet das die Stadt in der Stunde Millionen Dollar – « »Möchten Sie lieber ein wandelnder Toter sein – Sie und die Millionen in der Stadt?« »Sie haben eine rege Phantasie. Sie wissen gar nicht, ob das Ding einen Menschen in seine Gewalt bringen kann. Sie sind nicht einmal sicher, daß es entkommen ist. Und wenn etwas
entkommen ist, können Sie nicht sicher sein, daß es noch lebt. Es hat keinen Anlaß gegeben, das Kriegsrecht zu verhängen.« »Ich nenne Ihnen einen Grund«, sagte Burke ruhig. »Das Tier ist tot. Kalt und starr. Kein Zweifel daran. Das Abbremsen hat es getötet. Bei außerirdischer Fauna müssen wir schnell handeln. Wir wissen nicht, wie bald der Zerfall einsetzt, oder wie die inneren Organe betroffen sind. Der Kadaver befindet sich im Untersuchungsraum, auf dem Sektionstisch, Minuten nach der Landung. Aber bevor wir schneiden können, quillt etwas heraus. Ein schwarzer Klumpen.«
»Guter Gott! Was ist das?« Daniels war eher verblüfft als erschrocken. Er starrte das schafähnliche Tier auf dem Sektionstisch an, das Skalpell in der Hand. Burke hatte Angst. Er hatte schon seit langer Zeit Angst. »Parasit«, sagte er. Er zischte es hinaus, wie um damit seine Angst zu vertreiben. Der tintenschwarze Klumpen quoll weiter. Ellis, der, wie Burke, darauf bestanden hatte, als Beobachter dabeizusein, war ruhig und sachlich wie immer. »Nicht unbedingt«, sagte er. »Könnte auch Symbiose sein.« »Symbiose ist ein sorgsames Gleichgewicht«, sagte Burke heftig. »Für uns ist es ein Parasit. Gefährlich. Was ich die ganze Zeit befürchtet habe.« »Okay, okay«, sagte Daniels hastig. »Die Frage ist, was machen wir damit?« »Töten!« »Wie?« »Nicht so schnell«, sagte Ellis. »Wir können nicht wissen, ob es gefährlich ist. Diese Gelegenheit könnte einzigartig sein.«
»Er hat das Wesen hier in seine Gewalt gebracht«, erklärte Burke. »Es ist ein Tier, wie wir. Wir können das Risiko nicht eingehen, daß es sich dem Menschen anpaßt.« Der Klumpen quoll. Er war größer als eine Hand. »Es muß ein Fortbewegungsorgan besitzen«, sagte Burke und unterdrückte ein Schaudern. »Es ist amorph wie eine Amöbe. Zweiteilung liegt nahe. Wenn das zutrifft, ist auf der Erde niemand sicher. Wir hätten es nicht mitbringen sollen.« Der Klumpen quoll. Er hatte die Größe eines Eßtellers. In der Nähe des Kadavers wurde er dünner. Ellis seufzte. »Töten.« Daniels stieß mit dem Skalpell zu. Es glitt mühelos durch den Klumpen, wie durch einen Schatten, und rutschte auf der Tischplatte aus Stahl ab. Der unzerteilte Klumpen befreite sich weiter aus dem Tier. Er sah aus wie ein Tintenklecks. Er hatte keinen Geruch und war vielleicht auch nicht zu tasten, aber niemand erbot sich, ihn anzurühren. Er war einfach schwarz. Unschuldig vielleicht, aber schwarz und fremdartig und deshalb von Übel. Daniels war betroffen. Ohne Grund. »Offenkundig kann man ihn nicht zerschneiden oder durch einen Schuß oder eine andere ähnliche Waffe verletzen«, sagte Burke ungeduldig. »So tut doch etwas«, stammelte Daniels. »Steht nicht einfach da und sprecht darüber. Er befreit sich. Jeden Augenblick wird er hinter uns sein.« Ellis schaute sich im Raum um. »Die Tür ist geschlossen. Niemand geht hier raus.« »Was soll das nützen, wenn er durch Materie dringen kann?« fragte Daniels gepreßt. »Fleisch und Stahl sind zwei verschiedene Stoffe. Er ist nicht in den Tisch eingedrungen.«
»Sie meinen, wir sitzen hier mit dem Ding fest, bis es uns erwischt, oder bis wir eine Methode finden, es zu töten?« schrie Daniels. Ellis nickte ungeduldig. »Offensichtlich.« Er betrachtete den Raum noch einmal. »Irgendwo in diesen vier Wänden müssen wir eine Waffe oder ein Gift finden.« Burke hatte inzwischen aus dem Reagenzienschrank eine Anzahl Flaschen geholt. Er probierte sie an dem Klumpen aus. Säuren und Basen flossen der Reihe nach in die Schwärze und rauchten und tropften auf den Boden, um Löcher in den Gummibelag zu fressen. Der Kadaver des Tiers begann sich in der wachsenden Pfütze auf dem Tisch aufzulösen. Der Gestank nach Chemikalien und ihren Reaktionen wurde beinahe erstickend. Niemand schien es zu bemerken. Der Klumpen dehnte sich, wurde dünner und größer und blieb von den chemischen Stoffen unbeeinflußt. Burke schaute sich hastig um. Er packte einen Bunsenbrenner, drehte den Hahn auf, entzündete das Gas. Es brannte blau und heiß. Er richtete die Flamme auf die schwarze Pfütze. Der Klumpen wand sich. Burke führte den Brenner näher heran. Der Klumpen bewegte sich schnell von der Flamme fort, und der letzte Strang Schwärze löste sich von dem zerfallenden, fremden Tierkörper. »Schnell!« sagte Daniels hysterisch. »Bevor es entkommt! Es fürchtet sich vor dem Feuer!« Burke hatte nicht gewartet. Er hielt die Flamme so nah an den Klumpen, wie es ging. »Wir brauchen einen Schneidbrenner«, sagte er. Der Klumpen bäumte sich auf. Er floß vor der Flamme davon, über den Tisch, und die Flamme schien sich vor der Schwärze zurückzubiegen. Aber daran lag es nicht. Der
Gasdruck war einfach zu gering. Die Flamme kräuselte sich ganz natürlich. Die Dunkelheit waberte, ihre Ränder stülpten sich hoch. Sie wand sich und begann zu schwanken, zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, klatschend, immer abwechselnd. Langsam und ungeschickt begann der Klumpen zu fliegen. Er stieg in die Luft und kreiste lautlos durch den Raum, ein schwarzer Fleck. »Ventilatoren schließen!« sagte Ellis schnell. Burke raste zur Wand und drehte den Schalter, mit dem Stahlklappen vor die Gitter fielen. »O Gott, o Gott!« sagte Daniels immer wieder. Er kauerte am Tisch, am ganzen Körper zitternd, als die Schwärze nah heranflog. »Die Durchdringung ist offenbar variabel«, sagte Ellis. »Sonst könnte das Ding nicht fliegen.« »Oder es kann nur Fleisch durchdringen«, ergänzte Burke. Er suchte vergeblich nach einer anderen Waffe. Der kreisrunde Schatten flatterte hoch in eine Ecke, preßte sich an die Decke und blieb dort regungslos hängen. Sie starrten alle drei hinauf, jeder mit anderen Augen. Ellis war neugierig, Burke von mörderischer Wut erfüllt, Daniels von Entsetzen gepackt. Daniels bewegte sich. »Weg von der Tür!« zischte Ellis. Daniels blieb stehen. Er schaute zitternd über die Schulter. »Wir können es nicht töten«, sagte er. Seine Stimme schwankte. »Was sollen wir tun? Hier warten, bis es sich überlegt, wen von uns es packen will?« »Wenn es sein muß«, sagte Ellis. »Die Frage ist, wie lange kann es unabhängig von einem Wirt leben?« sagte Burke. »Es atmet nicht. Wahrscheinlich kann es in seiner jetzigen Gestalt nicht essen. Aber es verbraucht
Energie. Wenn wir es nicht töten können, dann doch aushungern.« »Außer, wir verhungern zuerst«, stöhnte Daniels. »Vorher ersticken wir«, sagte Ellis. »Wir müssen ein Risiko eingehen. Einer von uns holt einen Schneidbrenner«, sagte Burke. »Ich!« keuchte Daniels. »Ich!« »Ich bleibe hier«, sagte Burke. »Ich will es nicht aus den Augen lassen. Sie bleiben auch, Daniels. Wir brauchen jemand, der wiederkommt.« Er sah Ellis an. Ellis nickte. »Ich halte an der Tür mit dem Bunsenbrenner Wache. Wenn Sie die Tür nur einen Spalt öffnen, können Sie hinausschlüpfen, bevor es sich bewegen kann.« Daniels stand am Tisch, wo das Tier halb zerfallen war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Der Brennerschlauch reichte nicht bis zur Tür. Burke zog das Hemd aus, sah Ellis an, der vor der Tür stand, und hielt das Hemd an die Flamme. Das Hemd rauchte und begann zu brennen. Mit zwei schnellen Schritten stand Burke an der Tür, den Blick auf den schwarzen Klumpen an der Decke gerichtet. »Los!« sagte er. Ellis setzte sich in Bewegung. Und der Klumpen auch, auf Burke herabstoßend. Burke schwenkte das flammende Hemd. Die Tür hinter ihm ging auf. Der Klumpen fegte in der Luft seitlich davon, fort von den Flammen. Er fegte genau auf Daniels zu. Daniels schrie auf. Er legte die Arme um den Kopf und rannte blindlings zur Tür. Der Klumpen folgte ihm, in dreißig Zentimeter Abstand. Burke starrte sie an, Daniels und den Klumpen, und er versuchte, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Er versuchte Daniels mit der Schulter zu rammen und schleuderte dem Klumpen das brennende Hemd entgegen. Er verfehlte beide Ziele. Daniels wich unwillkürlich aus, und der Klumpen schlug einen Haken.
Fleisch klatschte gegen Fleisch. Etwas brach. Als Burke herumfuhr, sah er den Klumpen durch den Türspalt gleiten. Daniels war verschwunden. »Was ist passiert?« stieß Burke hervor. Ellis hob das aschfahle Gesicht vom Boden. »Bein gebrochen«, sagte er und wurde ohnmächtig. Burke rannte zur Sprechanlage. »Schleusenwache«, fauchte er. »Schleuse schließen. Notfall.« Man reagierte sofort. Solche Befehle stellte man nicht in Frage. Burke hörte Motoren surren. Etwas fiel dröhnend zu. »Was ist los?« fragte eine blecherne Stimme. »Ist in den letzten ein, zwei Sekunden etwas durch die Schleuse gekommen?« fragte Burke. »Niemand.« »Etwas, habe ich gesagt!« »Hm, nein – ich meine – ich glaube nicht. Ich hatte so ein Gefühl, daß etwas an mir vorbeihuschte, wie – wie – « »Wie was?« »Na, wie eine Fledermaus. Aber es war keine Fledermaus. Was ist denn überhaupt los?« »Der Teufel! Funkraum! Funkraum! Radar sofort auf ein kleines Objekt richten, Größe etwa wie ein Vogel, aus dem Schiff hinausfliegend! Was ihr auch immer macht, laßt es nicht aus den Augen! Dann sofort Verbindung mit Washington. Raumfahrtminister. Ich bin in fünf Sekunden da. Der Chef hat sich das Bein gebrochen. Und schickt zwei Leute her, die Daniels zur Beobachtung festnehmen sollen. Er ist hysterisch. Bin unterwegs zum Funkraum. Ende!« Schock! Identität! Entsetzen! Konflikt! Schmerz! Isolierung! Wir sind einer. Einst waren wir viele. Denk daran. Denk daran!
Das Objekt fiel vom Himmel, im Sonnenlicht schimmernd, das Schimmern durch eine kürzer werdende Flamme getrübt. Zerstreut euch, Brüder! Viel später öffnete das Objekt einen Mund, schwarz vor dem leuchtenden Himmel. Ist das Objekt hungrig? Flüchtet, Brüder! Wesen kamen heraus, stiegen hinunter, standen auf dem Boden, zweibeinig, hochgewachsen. Wesen. Hört zu, Brüder! »Schafe! Der Teufel soll mich holen. Nichts als Schafe!« »Laßt euch nicht täuschen. Sie sind mehr als Schafe.« »Na, seht sie euch an. Wie würden Sie sie nennen?« »Ja, seht sie euch an. Seht sie da stehen und uns ansehen, als könnten sie alles verstehen, was wir sagen.« »Burke, lassen Sie Ihrer Phantasie nicht die Zügel schießen. Ich gebe zu, es ist unwahrscheinlich, daß sie unseren Schafen auf der Erde entsprechen, aber sie sehen genauso aus, und wir können sie ruhig so nennen.« »Das ist ein gefährlicher Trick, Kapitän. Wir reden uns ein, sie zu verstehen, wenn wir ihnen einen Namen geben.« »Vielleicht sehen sie für Sie so aus, als lauschten sie uns, aber ich vermute, daß es reine Neugierde ist. Schließlich sind wir die einzigen anderen Wesen, die sie je gesehen haben.« »Das ist es ja. Wo ist der Rest der Fauna? Wir haben alle Landmassen abgesucht, und das sind die einzigen Tiere, die wir gesehen haben. Wie erklären Sie sich das?« »Wozu müssen wir das erklären?« »Gott im Himmel!« »Nur Geduld, Burke. Wir sind nicht alle Ökologen. Die anderen sehen vielleicht nicht, was Ihnen so auffällt. Sie wollen damit sagen, daß die Evolution nicht nur eine einzige Art hervorbringen würde.«
»Was denken Sie? Sehen Sie sich diese Welt an. Schön wie ein Frühlingstag. Mild. Sanft. Und von nichts bevölkert als diesen Pflanzenfressern. Und viele sind es auch nicht.« »Ich habe genug gesehen.« »Unter den gegebenen Umständen sind es nicht viele.« »Und Sie glauben, diese Schafe haben den Rest der Fauna ausgerottet?« »Offenbar.« »Es könnten auch die natürlichen Bedingungen gewesen sein.« »Die alles außer diesen Tieren vernichtet haben? Unsinn.« »Nun, dann haben sie eben alle anderen ausgerottet. Na und?« »Wie? Der Mensch ist seit langer, langer Zeit das beherrschende Wesen auf der Erde, und wir sind noch nicht einmal annähernd so weit gekommen, unser Ungeziefer und die Fleischfresser auszurotten. So blutdurstig wir auch sind. Was sind dann diese Wesen hier? Die tödlichsten Kreaturen, denen wir je begegnet sind.« »Diese Schafe? Quatsch!« »Ein bißchen weit hergeholt, Burke.« »Dann überlegen Sie sich folgendes: Was hält ihre Zahl niedrig? Bei diesen riesigen Weideflächen gibt es nur einen Bruchteil der Wesen, die es geben sollte. Ohne natürliche Feinde, ohne Raubtiere, müßten sie sich nach Malthus bei Nahrungsüberschuß bis zur Kapazität des Landes vermehren und etwas darüber hinaus. Wie die Kaninchen in Australien. Oder der Mensch selbst.« »Vielleicht sind ihre natürlichen Feinde klein. Insekten. Bakterien und Viren. Oder vielleicht sind sie fast alle steril.« »Und vielleicht steuern sie ihre Fortpflanzung. Oder sie werden gesteuert. Das haben wir nie geschafft, und es erschreckt mich mehr als alles andere.«
»Sie haben eben den Fuß auf diese Welt gesetzt und haben schon Angst. Wie sehen Sie aus, bevor wir wieder abfliegen?« »Da lalle ich nur noch. Sie halten das für komisch, aber ein vernünftiger Mensch weiß, wann er Angst haben muß. Ich habe sie schon.« Wirte! Der Gedanke war erstaunt und verwirrt. Wirte, Brüder, ohne Lenker! Selbstgesteuerte Wirte, die aus weiter Ferne gekommen sind, mit dem Ding, das sie ›Schiff‹ nennen, aus den Nachtlichtern, wo alle sind wie sie. Gefahr! Später. Viel später. »Ich glaube, das war’s. Die kartographischen Arbeiten sind abgeschlossen. Das Schiff ist vollgestopft mit Proben von allem, was wir finden konnten. Die gründliche Analyse kann erst auf der Erde erfolgen. Aber nach unseren Untersuchungen können wir melden, daß die Expedition unsere kühnsten Erwartungen übertroffen hat. Ich wüßte nicht, warum mit der Kolonisierung nicht sofort begonnen werden sollte. Morgen starten wir.« »Proben von allem? Eine haben Sie vergessen. Wir haben keine Schafe.« »Habe schon seit Wochen keine mehr gesehen. Sie sind verschwunden, kurz nachdem Daniels entschieden hat, daß er eines der Tiere sezieren wollte.« »Finden Sie das nicht bedeutsam?« »Also, Burke – fangen wir nicht wieder damit an.« »Ich schlage vor, daß wir heute nacht draußen Fallen aufstellen. Ich habe das Gefühl, unsere Arbeit ist nicht komplett, wenn wir kein Exemplar der beherrschenden Lebensform haben. Der Lebensform, um genau zu sein.«
»Nein! Ich bin anderer Meinung. Exemplare mitzunehmen, bevor wir verstehen, wäre unglaublich gefährlich. Wir wissen nichts über sie. Laßt sie auf der Erde frei, und die Geschichte mit den Kaninchen in Australien wiederholt sich vielleicht.« »Das ist ausgeschlossen, Burke. Wir geben ihnen keine Gelegenheit, frei herumzulaufen. Und wir haben nichts gesehen, das darauf hindeutet, daß sie gefährlich sind. Wir studieren sie schon seit der Landung und haben nichts entdeckt.« »Eine negative Antwort, die praktisch wertlos ist. Wie Sie vorhin erwähnt haben, sind sie seit Wochen verschwunden. Solange ich die Antwort auf die beiden Fragen nicht kenne, die ich nach der Landung gestellt habe, muß ich sie als die gefährlichsten Wesen ansehen, denen wir je begegnet sind. Wie haben sie ihre Konkurrenten ausgerottet? Und was steuert ihre Fortpflanzung?« »Ich fürchte, im Ministerium würde man das anders sehen. Wir hätten unsere Pflicht nicht erfüllt, wenn wir ohne ein Exemplar zurückkämen. Ihre Einwände nehme ich natürlich zu Protokoll.« »Ein Exemplar, sagten Sie?« »In Ordnung, Burke, nur ein einziges. Dann besteht keine Gefahr, daß sie sich vermehren. Sind Sie damit zufrieden?« »Nein. Wir wissen nicht, ob sie sich durch geschlechtliche Fortpflanzung vermehren. Nicht ohne Obduktion, die wir nicht haben durchführen können. Aber wenn das wirklich das einzige Zugeständnis ist, das ich erhalten kann – « »Allerdings. Und Sie können sich mit der Hoffnung trösten, daß die Fallen morgen früh leer sind, wie bisher jeden Morgen.« Ein Exemplar, Brüder. Einer von uns. Einer? Was ist das? Ein Lenker und ein Wirt. Einer muß gehen. Oder sie kommen
zurück, um uns auszurotten, wie wir die anderen ausgerottet haben. Wer? Einer, der vor der Teilung steht. Einer von uns. Dieser Teil von uns. Geh. Ein Zusammengehören. Wir sind nicht ein Ganzes, sondern ein Teil davon, wir haben einen Auftrag. Der Druck von innen hält an. Es ist qualvoll, aber eine Qual, die aufgefunden und identifiziert ist. Wir müssen uns teilen. Das ist es. Das ist der Druck. Wir sind einer. Einst waren wir viele. Wir müssen wieder viele sein. Aber da ist das Entsetzen, und solange Entsetzen herrscht, können wir uns nicht teilen. Angst ist eine Kraft, die uns fesselt, so daß wir uns nicht teilen können. Wir brauchen Frieden. Wir müssen Frieden haben. Aber wir sind umringt von Feinden, die uns vernichten wollen. Sie werden uns vernichten, wenn wir sie nicht vorher vernichten. Aber wir sind einer, und sie sind viele. Lernen. Die Gefahren dieser fremden Welt kennenlernen. Die Kräfte dieser fremden Wesen studieren. Überleben lernen. Zurück zum Feind…
»Truppen mit Flammenwerfern übernehmen die Vorhut. Sie feuern auf alles, was schwarz ist, auf jeden Fleck, jeden Schatten. Sie feuern und stellen erst hinterher Fragen.« »Guter Gott, Burke! Lassen Sie den Befehl nicht hinausgehen! Sie wissen nicht, was Sie sagen. Überlegen Sie, was passieren wird, wenn Sie Soldaten den Befehl geben, blindlings zu schießen.« »Ich überlege mir, was geschehen wird, wenn sie es nicht tun. In diesem Gebiet sollte sich niemand aufhalten außer den Suchtrupps. Feuerwehren folgen den Soldaten, um die Brände zu löschen… Flugüberwachung! Alle Hubschrauber mit
Flammenwerfern feuern auf jedes kleine fliegende Objekt, ob Vogel oder Fledermaus. Vor allem auf Fledermäuse. Sie bleiben in Verbindung mit den Bodentruppen.« »Aber Sie wissen doch nicht einmal, ob das Ding in der Stadt ist!« »Wir haben es vom Schiff aus mit Radar verfolgt, bis wir es über der Stadtmitte verloren haben. Eine Reihe von Hubschraubern schießt alles ab, was fliegt. Die Radargeräte haben nichts gefunden. Keine Sorge, wir erwischen es schon. Wir finden es und vernichten es.« »Aber ob noch etwas übrig ist, wenn Sie fertig sind? Sie gehören zu den Leuten, die ein Haus niederbrennen, um Termiten loszuwerden!« »Mr. Gardner, Stadtdirektor oder nicht, noch ein Ausbruch, und ich lasse Sie hinauswerfen. Sie sind hier, um uns mit Ihrem Wissen über die Stadt zu helfen, und bis jetzt habe ich nichts gehört als Einwände, was wir auch tun.« »Plünderer, Mr. Burke. Im Sperrbezirk werden Plünderer gemeldet.« »Der Bezirk muß freigehalten werden. Die Soldaten schießen sie beim Auftauchen nieder. Machen Sie das über Funk, Fernsehen, Lautsprecher bekannt. Die Leichen werden verbrannt, wo sie hinfallen. Alle Tiere werden genauso behandelt. Nichts, was sich bewegt, darf durch die Absperrung schlüpfen…« Das ist der Feind. Klug und mörderisch. Wenn wir ihn nur töten könnten… Aber es besteht keine Aussicht. Er ist zu gut bewacht. Wir werden schwach. Für diese Art Dasein sind wir nicht gedacht. Die Flucht, der lange Flug, und jetzt der innere Kampf, sich zu teilen, vom Entsetzen erstickt, hat unsere Kräfte geschwächt. Wir brauchen Nahrung. Dazu müssen wir
einen Wirt haben. Wo sind wir? Wie nah sind die Suchenden und ihre Flammen? Ohne Wirte sind wir blind. Wir verhungern ohne Wirt. Und trotzdem haben wir keine Wahl. Wir mußten unseren alten Wirt verlassen, weil er tot war. Wir mußten ihn verlassen, um uns zu teilen. Und jetzt gibt es keinen Frieden, und wir können uns nicht teilen. Wir können viele von ihnen töten, aber früher oder später werden sie uns vernichten. Wir können auf sie hinabstürzen und sie mit dem Tod berühren, aber sie würden ihre Flammen auf uns richten, und wir würden sterben. Wir haben es im Schiff gespürt, als die Flamme auf uns gerichtet wurde. Wir spürten, was wir nie gekannt hatten, die Möglichkeit des Todes. Wir, die unsterblich sind, könnten sterben. Greift hinaus, greift hinaus! Findet die Suchenden! Wie nah sind sie? Wie gehen sie vor? Stellt es fest, damit wir planen können. Wir greifen hinaus. Wir tasten. Wir sehen…
Die Nacht wurde von kurzen, öligen Flammenstößen erhellt, die die Dunkelheit zerrissen. Die marschierenden Reihen, wachsam, bereit. Die Maschinen, dahinrollend, schwerfällig. Die grellen Lichter, vorauseilend, hinauf, ringsherum. »Mein Gott, Joe, schau dir das an! Eine Armee! Wozu das alles?« »Du weißt soviel wie ich. Sie haben uns mitten in der Nacht herausgeholt und hierhergetrieben. Was suchen die bloß? Ich weiß es nicht. Sie schießen auf alles, was sich bewegt! Schießen auf Schatten! Mit Flammenwerfern! Irgend jemand muß den Verstand verloren haben.« In einer versteckten Ecke springt ein Schatten hoch. Eine Düse speit züngelnde, schmierige Flammen. Holz raucht und
beginnt zu brennen. Ein Wasserstrom ergießt sich darüber und erzeugt Dampf. »Halt!« Die Soldaten bleiben stehen. Die Maschinen kommen zum Stillstand. Nur die Lichter wandern weiter. Die Hubschrauber schweben regungslos in der Luft, mit schwarzen Düsen, die wie die rauchenden Nasenlöcher eines Drachens herausragen, Landelichter richten sich auf Dächer. »Kompanie A übernimmt das Gebäude rechts, Kompanie B das Gebäude links. Bis hinauf zum Dach. Von den Fenstern im oberen Stockwerk ist auf die Giebel zu achten. Verbrennt alles, was schwarz ist, jeden Schatten, alles. Feuerwehrleute kommen mit Handlöschern nach. Die anderen Kompanien bleiben hier, bis die Suche abgeschlossen ist. Marsch!« Hinauf durch das Gebäude, Suche nach Schatten. Lange Treppen hinaufsteigen, in Liftschächte blicken, alle Ecken, Schubläden, Ritzen prüfen. Teppiche aufheben, Möbel umdrehen, Polster entfernen. Flammen auf Schatten werfen. Hinauf und hinauf. Man kommt sich ein bißchen albern vor, aber von der Größe des Unternehmens ist man doch beeindruckt, von der Ernsthaftigkeit, und man ist gründlich, weil der Hauptmann aufpaßt. Ein Schuß unten auf der Straße, widerhallend. Zum Fenster stürzen, hinausstarren. Unten auf der Straße liegt ein Zivilist. Während man hinuntersieht, schwärzen Flammen die Leiche, zerfressen sie, bis nur noch verkohlte Reste bleiben. »Was ist denn, Kleiner? Nervös?« »Verdammt, ja doch! Du nicht?« Und schließlich geht man hinunter und hinaus, und die Reihen marschieren ein Stück weiter und bleiben stehen, und diesmal ist man an der Reihe, auf der Straße zu warten, während andere Kompanien suchen. In der Ferne sieht man andere Hubschrauber mit grellen Scheinwerfern, einen Kreis
bildend. Der Mittelpunkt scheint der schwarze Umriß der Stadtbibliothek zu sein… Hoffnungslos! Sie sind überall, diese fremden Mörder, diese Wirte ohne Lenkung. Wir sind einer, und sie sind viele. Wir verzweifeln. Wir werden hier sterben, wo wir auch sein mögen. Wir können hinausgreifen und sie fühlen, wie sie aus allen Richtungen herankommen. Der Kreis schließt sich um uns, enger, immer enger… Und jemand nähert sich. Wir spüren den Gedanken, langsam und stockend. Es ist keiner von den Suchenden. Sie sind noch ziemlich weit weg. Er hebt den Kopf. »Bibliothek. Nichts da. Nichts als Bücher. Muß mich beeilen. Sie werden bald hier sein. Vorher brauche ich einen Platz zum Schlafen. Sie bringen Leute um. Mensch!« Eine Chance, eine Chance. Der Gedanke durchflirrt uns wie ein Energieschwall. Er ist unten. Wir spüren ihn dort. Das heißt, daß wir über ihm sind, unter dem Dach des Gebäudes hängend, das er Bücherei nennt. Wird er uns begrüßen oder bekämpfen? Ist er schwach oder stark? Es spielt keine Rolle. Wir haben keine Wahl. Wir müssen die Gelegenheit ergreifen. Wenn wir Nahrung und Sehvermögen erlangen, wenn wir an den Verfolgern vorbeikommen, können wir zu einem Ort gelangen, wo wir sicher und in Frieden sind, wo wir ihn verlassen und uns teilen können. Und es muß bald sein. Er wird natürlich sterben, das ist bedauerlich, aber wir haben keine Wahl. Loslassen jetzt. Durch die Luft fallen, flatternd zuerst, dann auf ihn hinabstoßend. Wir greifen hinaus zu ihm, und er ahnt nichts. Sein Gehirn ist beschäftigt mit anderen Dingen, mit Dingen, die er sucht, mit denen, die er in den Taschen versteckt hat.
Hinab zu ihm. Näher. Langsam. Er spürt nichts, als wir landen. Seine Gedanken kreisen weiter, wirr, angestrengt. Laßt die Sonden vorsichtig durch den Nacken hineingleiten. Jetzt! Er steht starr da, unbewegt, während ein Schrei durch sein Inneres hallt, stumm, ohne Stimme. Aber er zuckt zurück, als wir eindringen, wehrt sich nicht, auf irgendeine Weise erleichtert, und wir sind verwirrt. Wir dachten nicht, daß es so leicht sein würde. Wir müssen uns beeilen. Wir sinken durch seinen Nacken hinein, der Sonde folgend, die zu den Kontrollzentren des Gehirns gelangt ist. Schnell senden wir mikroskopisch feine Fühler hinab durch das Nervensystem, bis sie die Enden der Gliedmaßen erreichen und in die tiefsten, kleinsten Organe des Körpers eindringen. Die Steuerung ist vollständig. Wir müssen noch vorsichtig sein. Ruckartig, ungeschickt, lenken wir den Körper in die Schatten. Schwerfällig legen wir den Körper vor das Gebäude. Wir lassen ihn erschlaffen. Die Suchenden müssen fast vor uns stehen, bevor sie uns sehen können. Erschlafft ist der Körper leichter zugänglich, und wir sind begierig, sind hungrig. Fühler greifen durch die Blutgefäße, nehmen unterwegs Nahrung auf. Wenn der Kreislauf geschlossen ist, sind wir satt. Unser Hunger ist gestillt. Wir spüren selbst ein Erschlaffen, ein Abnehmen unserer Aufmerksamkeit, und wir müssen es bekämpfen. Es gibt viel zu tun. Jetzt müssen wir den letzten Schritt tun. wir zögern, wissen nicht, weshalb wir zögern, und schicken ein letztesmal Fühler, durch das fremde Gehirn, zum Sitz der Erinnerung. Wir finden ihn. Wir lernen. Wir lernen mehr, je tiefer wir gehen. Wir lernen eine neue Identität.
Ich heiße Smith. George Smith. Ich bin Arbeiter. Ich habe eine Frau und vier Kinder. Ein Ausweis in meiner Brieftasche beschreibt einen Menschen, aber der bin ich nicht. Dreißig Jahre alt, steht da. Braune Haare, braune Augen. Einsneunundsiebzig. Hundertfünfundvierzig Pfund. Narbe an der rechten Schläfe. Tätowierung am linken Unterarm. Das bin nicht ich. Zahlen lügen. Ich bin größer. Ich betätige mich als Hilfsarbeiter nur, bis etwas Besseres auftaucht. Ich habe Sachen aufgehoben, die die Leute zurückließen, als sie hier herausgeholt wurden. Sie nennen das Plündern, aber das ist es nicht. Es ist nicht gestohlen. Wenn ich es nicht tue, nimmt sie ein anderer. Die Soldaten – erzähl’ mir keiner, daß sie sich nicht bereichern, wenn sie die Häuser durchsuchen. Außerdem gehören mir die Sachen genauso gut wie irgendeinem anderen… So geht das weiter, nicht so, langsam und schwerfällig, sondern so schnell, als umspanne ein Gedanke die Galaxis, bis wir über Smith fast so viel wissen wie er, und vielleicht mehr. Es ist nicht angenehm. Die Unerfreulichkeit des Mannes namens Smith ist nur ein Teil des Preises, den wir zahlen müssen. Aber wir halten uns noch etwas zurück, und es tröstet uns, daß wir ihn verlassen werden, sobald sein Körper uns zu einem sicheren, friedlichen Ort gebracht hat. Aber seine Erinnerungen werden wir behalten, für immer. Die automatischen Prozesse der Fühler haben begonnen. Auf kaum merkliche Weise wird der Körper gekräftigt. Drüsen werden angeregt, Gewebe regeneriert. Schlacken und alte, angesammelte Gifte werden entfernt. Aber im Grunde verändern wir nichts. Der Mann namens Smith muß physisch derselbe bleiben, unaufspürbar. Eine Ironie, daß der Körper, von dem wir Besitz ergriffen haben, jetzt beinahe unsterblich ist, verwundbar nur durch Unfälle. Die Möglichkeiten sind da, aber das unzureichende Gehirn nützt sie nicht. Der Körper ist
unsterblich, aber wenn wir ihn verlassen, muß er trotzdem sterben. Von allen möglichen Wirten auf der Erde hat nun dieser einen Lenker; er kann die Gaben von Vernunft und Lenkung genießen. Es war eine Vergewaltigung, nicht die Begegnung zweier williger Teile, jeder allein unvollständig, gemeinsam eine neue Wesenheit, die mehr ist als die Summe der beiden. Bei unserem früheren Wirt war es angenehm und eine Partnerschaft, von der beide profitierten. Hier besteht keine Aussicht darauf. Wir wußten es von Anfang an. Diese Wesen, die Menschen heißen, sind zu unabhängig. Jetzt haben wir eine Identität. Das Überleben verlangt, daß wir diese Person werden. Wir müssen handeln wie sie; ein Fehler bedeutet Vernichtung. Wir müssen denken wie sie; wir dürfen nicht mehr ›wir‹ sein. Wir sind eins. Wir sind ich. Ich bin ein Mann namens Smith. Ich öffne die Augen und sehe. Lichter rücken heran. Ich sehe sie leuchten, brennen, nur eine oder zwei Straßen entfernt. Auf der anderen Seite werden sie auch so nah herangekommen sein, oder noch näher. Bald werden sie hier sein, und ich muß schnell überlegen. Denn sie werden diesen Körper erschießen, und ich müßte wieder fort, und diesmal gäbe es keine zweite Gelegenheit. In meiner Tasche sind Dinge, die mir nicht gehören. Wenn man sie bei mir findet, gibt es eine Katastrophe. Ich nehme sie heraus, Ringe, Uhren, Geld, und werfe sie durch das Gitter, auf dem ich liege. Aber einen Gegenstand werfe ich nicht hinunter. Eine kleine Flasche, die in meine Hand paßt. Ich hebe sie mit einer fast automatischen Bewegung an die Lippen. Ich trinke. Ich zucke vor der Reaktion des Körpers zurück, dann trinke ich wieder und lasse etwas Flüssigkeit auf mein Kinn, auf meine Kleidung tropfen.
Ich lausche. Ich höre einen Schuß, nicht weit entfernt. Jemand schreit auf und verstummt. Im nächsten Augenblick leuchtet grelles Licht durch meine geschlossenen Lider. »Ach, Mensch, nur ein Betrunkener!« »Wir müßten ihn erschießen. Das ist Befehl.« »Schau ihn dir an. Er liegt schon die ganze Nacht da.« »Ich kann ihn nicht erschießen. Du?« »Bringen wir ihn zum Hauptmann.« »Wach auf, du, los, wach auf!« Augen öffnen sich langsam, starren dumpf ins Licht. Ein Arm legt sich schützend vor die Augen. »He, du! Aufstehen!« »Was’n los? Was’n los?« »Aufstehen.« »Kann sich denn einer nich’ hinlegen? Hm?« »Los, aufstehen! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« »Ja, is ja gut!« Ich erhebe mich schwankend. Ich sehe, wie sie die Nasen rümpfen. Ich rieche wieder das Scharfe. Sie treten heran. Sie führen mich fort. Ich stolpere zwischen ihnen dahin. »Wie heißen Sie?« »Heißen? Heiße Smith. George Smith. Und Sie?« . »Uh! Durchsucht ihn. Seinen Ausweis will ich sehen.« Sie kramen in meinen Taschen und ziehen die Brieftasche heraus. Die Welt will sich um mich drehen. Ich lasse es zu. »Beruf?« »Hm?« »Was für einen Beruf Sie haben.« »Bin bei Rieger. Lagerhaus. Großer Mann, Rieger. Viel Geld, viel Einfluß. Bin in der Gewerkschaft. Bürger. Hab’ Rechte.« »Was machen Sie hier?«
»Kann einer nich’ n bißchen schlafen? Hm? Is nich’ verboten. Hab’ ich was angestellt? Ja? Muß ich was zahlen?« Ich greife nach meiner Brieftasche. Sie ist fort. Ich lasse die Hand sinken. »Ach, was, laßt ihn laufen! Gebt ihm seine Brieftasche wieder, und einer von euch führt ihn am besten durch die Absperrung, sonst knallen sie ihn noch ab.« Ein langer Stolpermarsch durch Dunkelheit und Licht, bis plötzlich alles dunkel bleibt und wir zum Stehen kommen. »So, Freund. Sie sind draußen. Gehen Sie da weiter, und hoffentlich erinnern Sie sich morgen nicht, sonst wird Ihnen scheußlich zumute sein.« Mir ist schon scheußlich zumute. Ich fühle mich schwach, als er im Dunkel verschwindet, und ich weiß nicht, ob ich an diesen fremden Körper nicht gewöhnt bin oder ob es an der Flüssigkeit liegt, die ich getrunken habe. Ich greife wieder hinaus, um den Feind zu berühren, und es ist schwieriger jetzt, wegen des Körpers oder der Flüssigkeit oder meiner Schwäche, aber endlich finde ich ihn.
»Ist nicht vorbei. Die Suche kann nicht vorbei sein. Sie haben es noch nicht gefunden.« »Die Suchtrupps sind zusammengetroffen. Sie haben alles durchsucht, auch die Bücherei. Regen Sie sich ab, Burke, das Ding ist tot.« »Nein, nein, Ellis, es lebt, ich sage es Ihnen. Sie haben es irgendwo übersehen. Ich habe die ganze Operation geleitet und kenne mich aus. Das Ungeheuer treibt sich irgendwo herum. Es ist nicht tot.« »Sie machen das schon zu lange. Überlegen Sie. Die Truppen haben den ganzen Bezirk durchgekämmt. Sie haben nichts
übersehen. Sie waren tüchtig, Burke. Ich sorge dafür, daß das bekanntwird.« »Das interessiert mich nicht. Ich möchte das Ding töten. Ich möchte selbst sehen können, daß es tot ist. Ich will nicht mehr davon träumen.« »Es ist von irgendeinem Flammenwerfer vernichtet worden, glauben Sie mir.« »Oder es versteckt sich irgendwo. In irgendeinem Winkel. Ein Riß im Pflaster. Ein Wasserrohr. Das genügt.« »Dann ist es verhungert. Es kann allein nicht existieren. Es ist ein Parasit, es kommt nicht ohne Wirt aus.« »Nicht unbedingt. Manche Parasiten leben zeitweise unabhängig, andere haben einen oder mehrere Zwischenwirte. Aber diese Vergleiche helfen nicht weiter. Das ist keiner von unseren Parasiten. Er stammt von einer anderen Welt. Eine furchtbare Möglichkeit bleibt bestehen.« »Und die wäre?« »Vielleicht hat er einen Wirt gefunden.« »Ein Tier, meinen Sie? Einen Hund oder eine Katze? Oder einen Vogel?« »Oder einen Menschen.« »Aber Sie haben doch alle Plünderer erschießen lassen.« »Ich weiß, ich weiß. Aber wenn nur ein einziger entwischt ist, durch Nachlässigkeit oder falsch verstandene Weichheit – «
Es ist Torheit, hier im Dunkeln zu bleiben. Aber ich zögere und fange einen letzten Gedanken auf. »Es gibt nur eine Möglichkeit. Niemand verläßt ungeprüft die Stadt. Alle Tiere müssen verbrannt werden. Wir müssen die größte Menschenjagd und Tiervernichtungsaktion durchführen, die es in diesem Land je gegeben hat – «
Ich eile davon. Es ist mir gleichgültig, welche Richtung ich nehme, und ich laufe ziellos durch die dunklen Straßen, über denen nur hier und dort eine Laterne hängt. Ich kann die Stadt nicht verlassen. Jedenfalls nicht jetzt. Ich werde warten müssen, bis ihre Maßnahmen versagen. Sie müssen jetzt versagen, und ihre einzige Chance besteht darin, daß ich einen Fehler mache. Wenn ich mich wie alle anderen Wirte verhalten kann, bin ich ungefährdet, und sie werden schließlich aufgeben. Inzwischen wird der Druck zur Teilung, jetzt noch unterdrückt, in mir, in diesem fremden Körper, immer stärker werden. Ich darf ihm noch nicht nachgeben. Meine Füße tragen mich durch einen beleuchteten Eingang, und ich betrete ein Zimmer, bevor ich mich zurückhalten kann. »George!« sagt jemand. Es ist eine Frau, ein weibliches Wesen. Sie legt einen weichen Arm um meinen Hals und zieht mich ins Zimmer hinein. An den Seiten befinden sich Nischen, in der Mitte Stühle und Tische, am anderen Ende eine Bar. »Wo bist du gewesen?« fragt die Frau. Ich suche in Smiths Erinnerung nach einem Gesicht und einem Namen und finde beides. Dolores. »Ich habe die Soldaten beobachtet, Dolores«, sage ich. Es kommt darauf an, daß ich keinen Verdacht errege. »Was suchen die denn, George?« »Woher soll ich das wissen? Bin ich Gedankenleser oder was?« »Bestimmt eine Bombe. Da hat jemand eine Bombe versteckt, und die suchen sie.« »Vielleicht. Sie haben Leute erschossen.« »Mensch! Komm, trink was.« Ein Glas wird mir in die Hand gedrückt, ein Kopf legt sich an meine Brust.
»Puh! Du hast ja schon ein paar intus.« »Na und?« Sie führt mich zu einer Nische und setzt sich zu mir. »Du trinkst ja nicht, George«, klagt sie laut. Dann beugt sie sich vor. »Was hast du mitgebracht?« flüstert sie. Ich greife in ihr Gehirn und erschrecke vor dem Haufen von verwirrten Gedanken, Ängsten, Hoffnungen und Leidenschaften. »Nichts«, sage ich. »Nichts!« Sie sagt es laut und zornig. Dann flüstert sie wieder: »Was soll das heißen? Warum hast du nichts? Willst du mich reinlegen?« »Ach, halt doch den Mund!« »Du glaubst wohl, du kannst mit mir umspringen, wie du willst«, sagt sie, und ihre Stimme wird lauter. »Du glaubst wohl, du kannst mich übers Ohr hauen. Sei bloß vorsichtig. Vergiß nicht, ich kann ihnen sagen, daß du drinnen gewesen bist. Das paßt ihnen bestimmt nicht. Das gibt bestimmt Ärger für dich.« »Halt doch endlich den Mund!« zische ich. »Du bringst uns alle beide in Schwierigkeiten. Verstehst du denn nicht? Ich konnte nicht rein. Sie haben jeden erschossen, der aufgetaucht ist, und dann verbrannt. Wär’ dir wohl lieber, mich hätt’ es auch erwischt, was?« Sie sinkt zusammen. »Na ja, eine Chance war’s. Was hätten wir nicht mit ein paar tausend anfangen können, was, Georgie? Du hättest deine Alte und die Kinder sausen lassen können, und ich wär’ mit dir weggefahren. Ach was! Trink aus, Georgie.« Ich trinke und ersticke beinahe an dem Getränk. Die Frau legt die Arme um mich. »Wir sind ja wenigstens gesund, was, Georgie?« sagt sie. »Wir haben uns.«
»Ja«, sage ich. »Komm mit auf mein Zimmer«, flüstert sie. »Wir zeigen der Welt, was sie uns kann.« Ich erkenne, was sie denkt, und mir wird übel. Ich versuche, es nicht zu zeigen. Ich spiele den Zögernden. »Kann nicht«, sage ich. »Schon spät. Muß morgen arbeiten. Und Agnes macht ohnehin Krach.« »Komisch, daß du früher nie dran gedacht hast«, schmollt sie. Ich ekle mich vor ihrer Berührung. »Bin ziemlich fertig. Ein paarmal hätten sie mich fast erwischt«, sage ich. »Armer Georgie!« sagt sie schnell und mitfühlend. Sie streichelt mein Gesicht. »Ich hab’ nicht gewußt, daß es so schlimm ist.« Ich versuche aufzustehen. Der Raum schwankt. »Ich muß raus hier«, sage ich. »Fühl’ mich nicht gut.« »Klar, George. Trink aus.« Ich zögere, und das Glas ist an meinen Lippen. Ich leere es. Sie schiebt sich hinaus, ich folge ihr, und sie hält sich an meiner Schulter fest. »Morgen abend?« flüstert sie. Der Körper fühlt sich krank, ich fühle mich krank. Aber es ist noch schlimmer. Ich habe Angst. »Ja«, sage ich mit starren Lippen, löse mich von ihr, trete in die Nacht hinaus und atme tief ein. Bis ich zu mir komme, steige ich Stufen in einem dunklen Korridor hinauf und weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Ich bin nicht allein. Die Angst begleitet mich. Ich bleibe vor einer Tür stehen. Meine Hand hält einen Schlüssel, sperrt auf, öffnet die Tür, schließt sie leise. Ich gehe durch ein Zimmer, gelange zu einer anderen Tür. Sie öffnet sich. Sie knarrt. Ich zögere.
»George?« Es ist eine leise, rauhe Stimme.
»Ja.«
»Du kommst also endlich heim.«
Willkommen bin ich hier nicht. Die Stimme klingt bitter und
bösartig. Ich betrete das Zimmer. Im Bett liegt eine Frau, Smiths gesetzliche Gefährtin. Ich berühre ihr Gehirn und zucke zurück. Haß! Grenzenlos und bösartig. Doppelter Haß, weil er einmal etwas anderes war. Dreifacher Haß, weil er ohnmächtig ist. »Hast du kein Geld mehr, oder will Dolores nichts von dir?« »Quatsch!« sage ich und öffne die Schuhlitzen. »Hast du gegessen?« »Ja.« »Wir hatten Brei.« »Ja.« »Das drittemal diese Woche.« »Na und?« »Man möchte meinen, daß du den Kindern ab und zu was Ordentliches zu essen gönnst.« »Ich geb’ dir Geld«, sage ich laut. »Kann nichts dafür, wenn du’s für Pralinen, Illustrierte und Kino ausgibst.« »Was hab’ ich denn sonst?« sagt sie. »Gibst mir ja soviel!« Irgendwo sagt eine Stimme: »Mama!« »Du hast die Kinder wieder aufgeweckt«, sagt sie müde. Ich höre die Bettfedern quietschen. Dann wird es hell. Sie trägt ein dünnes, geflicktes Nachthemd. Ihr Gesicht ist eingefallen und alt, aber der Körper unter dem Hemd ist jung. Sie geht an mir vorbei, und ich sehe, wie sich meine Hände nach ihr ausstrecken. Sie macht sich los und schaut mich haßerfüllt an. Sie geht hinaus. Ich greife nach den anderen Gehirnen. Sie sind jung. Sie sind frühreif.
»Er ist daheim.« »Hab’ schon gehört. Wieder betrunken.« »Warum kommt er heim? Warum kann er nicht für immer wegbleiben?« »Mama sagt, dann hätten wir nichts zu essen.« »Ist mir egal. Lieber eß’ ich dauernd Brei. Es ist besser, wenn er fort ist.« »Psst. Mama kommt.« »Schlaft wieder, Jungs. Alles in Ordnung.« »Er ist daheim, nicht, Mama?« »Ja. Schlaft weiter!« »Warum bleibt er nicht weg?« »Sag so etwas nicht. Er ist dein Vater.« »Er hat dir doch nichts getan, oder, Mama?« »Nein, natürlich nicht.« »Wenn er dir heute was tut, bringe ich ihn um, ich bringe ihn um.« »Ich auch.« Haß strömt mir entgegen. Umschließt mich. Lastet auf mir… »So etwas dürft ihr nicht sagen. Er ist euer Vater.« »Ist er nicht! Ist er nicht!« »Seid jetzt still und schlaft!« Sie kommt zurück. Ich frage mich, wann ich hier wegkann. Ich frage mich, ob ich hier eine Nacht verbringen muß, oder mehrere, neben dem Körper dieser Frau, die sich vor mir ekelt. Sie ist eine Feindin… Ich habe lange mit der Gefahr gelebt. Seit das Schiff auf unserer Welt landete, hat sie mich begleitet. Dort fiel es nicht so ins Gewicht, weil wir viele waren, aber jetzt bin ich einer und allein, und ich habe Angst. Diese Menschen sind merkwürdige Tiere, und ich, der ich seltsame Kräfte besitze, die sie bis vor kurzem nicht einmal erahnt haben – ich fürchte mich vor ihnen.
Ich bin im Körper eines Mannes namens Smith, und ich hasse ihn. Smith! Smith! Wo bist du, Smith?
Es ist dunkel, und ich lege mich ins Bett zu der Frau. Wir hören einander beim Atmen zu. Ich spüre ihren Haß. Erschrocken finde ich mich in der Mitte des Betts. Die Entdeckung lähmt mich einen Augenblick, dann will ich zurück, aber in mir sind eigenartige, undefinierbare Kräfte am Werk. Der Körper greift nach der Frau. »George!« sagt sie leise und scharf. »Laß mich in Ruhe!« Ich lege die Hand auf sie. Sie windet sich. Sie schlägt mit den Fäusten auf mich ein. Ich halte ihre Hände fest. Ich senke den Kopf und küsse ihre Lippen, die sich wehren. »George! Nicht!« faucht sie, als ich den Kopf hebe. »Die Kinder hören zu!« »Na und?« Der Körper tut weiter Dinge, die ich nicht steuern kann. Ich kann gar nichts mehr steuern. »George«, sagt sie. Ihre Stimme ist weit weg. »George! Du gemeiner Kerl! Krieche nicht zu mir, wenn du bei diesem Weibsstück gewesen bist!« Aber ihre Stimme wird sanfter, und ihr Körper erschlafft. Als ich ihre Hände loslasse, schlagen sie nicht mehr zu. Sie versuchen, mich wegzuschieben, aber sie sind schwach und kraftlos. Entsetzen ist mit mir im Körper, und ich kann nicht verhindern, was der Körper tut. Schweiß perlt von unseren Leibern. »Du Biest!« sagt sie. »Du Biest.« Aber ihre Stimme klingt jetzt anders. Sie schiebt mich nicht mehr weg.
Und das Schlimmste ist, daß unter der Reaktion an der Oberfläche der Haß bleibt, so ungezähmt und grenzenlos wie vorher. Später liege ich wieder auf der anderen Bettseite. Meine Sinne sind vom Entsetzen getrübt, und der Körper schläft ein. »Du Saukerl«, sagt die Frau gepreßt. »Ich hasse dich.« Und der Körper schläft dumpf. Aber ich schlafe nicht. Ich kann nicht, wie der Körper, schlafen und vergessen. Ich muß wachliegen und mich erinnern. Und ein Gedanke, heftig und mächtig, vertreibt alle anderen. Flucht! Fort jetzt, sofort! Befrei dich aus dem Körper, bevor er wieder aufwacht und andere schreckliche, unkontrollierbare Dinge tut. Die Gefahr ist zu groß! Geh fort! Befrei dich, bevor es zu spät ist. Ich weiß, daß ich es nicht mehr aushalten kann. Ich muß wieder frei sein. Vielleicht kann ich diesmal ein Tier finden, irgendein Haustier, oder noch besser ein kleines Tier, eine Ratte vielleicht. Es wird Schlupfwinkel und geheime Wege kennen. Die Gefahr ist groß, aber die Gefahr hier noch größer. Ich versuche mich aus dieser Fleischfalle zu befreien. Aber die langen, zarten Fühler lösen sich nicht aus Nerven und Blutgefäßen. Sie sind verschlungen, festgeklebt. Ist es das? Oder bin ich so schwach, daß ich nicht einmal mehr meine eigenen Projektionen kontrollieren kann? Der Körper hält mich fest. Er gibt mich nicht frei. Ich zögere zuerst, dann sende ich die Impulse von Zerstörung und Auflösung aus. Ich weiß nicht, wie sich das auf mich auswirken wird, aber es ist mir egal. Und es wirkt nicht. Ich sitze in der Falle! Ich erschlaffe, durchflutet von Hoffnungslosigkeit und Qual. Ich bin gefangen, unwiderruflich. Ich kann den Körper nicht
mehr kontrollieren, nicht einmal mehr mich. Die mächtigen, instinktiven Reaktionen dieses monströsen Körpers sind mit mir verschmolzen. Wir sind unauflöslich miteinander verbunden, bis zum Tod. Ein Leben von Schrecken und Grausen erstreckt sich vor mir. Ich bin ein Bewußtsein, in einer Fleischmasse gefangen. Sprachlos, von der Welt abgeschnitten, werde ich leben, nur um zu leiden. Smith! Smith! Wo bist du? Aber es kommt keine Antwort. Smith ist fort. Es ist nicht Smith, der mich hat, der mich nicht freiläßt; es ist dieser Körper! Ein ganzes Leben! Es gibt eine Chance, eine einzige, die Freiheit zu erlangen. Es gibt eine Stelle, wo ich Hilfe finden kann. Der Feind kann mich befreien, und es spielt keine Rolle mehr, ob die Freiheit Tod ist. Ich greife wieder hinaus, verzweifelt. Sucht! Sucht! Findet ihn!
»Ihr Plan ist irrsinnig. Ich lehne es rundweg ab, die Stadt weiterhin zu zernieren.« »Gardner hat recht, Burke. Sie können eine Stadt ein paar Stunden lang abschließen, aber wenn es um Tage geht, scheidet das aus. Und Ergebnisse können Sie nicht erwarten.« »Okay, Ellis. Der Plan war unsinnig. Ich gebe auf.« »Augenblick. Ich bin ganz außer Atem, wollte Sie überzeugen, und jetzt geben Sie auf.« »Ich habe mir das Wesen als Parasiten vorgestellt. Sie sind meist empfindlich, was ihre Wirte angeht. Sie sind an eine bestimmte Art gewöhnt und können sich nicht so schnell umstellen. Wenn das Wesen entkommen ist, wird es seinen Wirt als ungeeignet empfunden haben. Trotzdem müssen wir
ein Schiff hinschicken, das diesen Planeten sofort reinigt. Wir dürfen ihnen keine Gelegenheit geben, sich anzupassen.« »Kurz bevor ich das Schiff verließ, habe ich neue Anweisungen erhalten. Ich nehme an, das Wesen ist tot.«
Ich sehe meine letzte Hoffnung entschwinden. Sie suchen mich nicht. Die Ungeheuer! Die Ungeheuer! Das Wesen ist nicht tot, möchte es aber sein. Es muß leben, bis der Wirt stirbt… Aber ich habe ihn beinahe unsterblich gemacht! Meine Gefangenschaft dauert nicht ein Leben, sondern ewig. Das Ungeheuer namens Smith schläft. Tief im Innern des Körpers schreit eine lautlose Stimme.
Aschenputtel-Story
Alyn war Xenologin. Sie war außerdem eine Frau. Die Xenologin machte sich Sorgen. Die Frau hatte Angst. Die Eingeborenen gaben ein Fest, und sie hatte den schrecklichen Verdacht, daß ihre Teamkameraden darauf bestehen würden, daß sie hinging. Sie eilte über den Marktplatz, am grellen Mittag unbemerkt, und verfluchte die freie Wirtschaft…
Die freie Wirtschaft ermöglichte außerirdische Forschung. Der Staat hätte es tun können, aber er wollte nicht. Das war bewiesen. Der Weltraum war unglaublich groß, außerirdische Forschung unglaublich kostspielig. Sie war aber auch lebenswichtig: die Menschheit brauchte eine Grenze für ihre Seelenruhe; für das Wohl ihres Körpers mußte die Grenze von der Erde so weit wie möglich entfernt sein. Man erließ Gesetze, um die Erforschung zu einem gewinnbringenden Unternehmen zu machen, und die Menschheit wurde auf die Galaxis losgelassen, Jonathan Craddock, Ausbeuter und Importeure, wurden geboren – zusammen mit etwa hundert Konkurrenten. Das Amt für Außerirdische Angelegenheiten entstand gleichzeitig, um die Gesetze durchzusetzen und den Gewinn zu regulieren. Fand ein Forschungsteam eine unbewohnte Welt oder eine Kultur der Klasse 6 – vom AEA genau definiert als für Berührung mit der Erde geeignet – dann erhielt die Firma eine Exklusivlizenz zur Ausbeutung dieser Welt. In der Praxis war
nur die Entdeckung einer Klasse 6-Welt lohnend: Die Ausbeutung einer unbewohnten Welt war theoretisch möglich, aber auf dieser Stufe der technologischen Entwicklung erforderte sie zuviel Kapital. Eine Firma konnte fünf Jahre auf Gewinn warten, aber nicht hundert. Auf der anderen Seite glich eine Klasse 6-Entdeckung tausend Fehlversuche aus. Jungfräuliches Handelsgebiet brachte ungeheure Gewinne. Forschungsteams hatten zwei Stützen: das Fairfax-Feld, jene raffinierte elektronische Einrichtung, die Wesen in ihrem Wirkungsbereich davon überzeugt, daß sie sehen, was sie sehen wollen, und die Qualität ihrer Mitglieder, die vom zuverlässigsten aller Antriebe gesteuert wurden – von der Habgier. Das Entgelt war deutlich abgestuft nach Leistung, bis hinauf zu einer Klasse 6-Ebene, auf der jedes Mitglied für den Rest seines Lebens reich und unabhängig wurde. Gewerkschaften widersprachen dem Anreiz-System; Idealisten erhoben Einwände gegen die Motive. Beides funktionierte. Die Personen, die Verträge unterschrieben, suchten nicht Sicherheit, sondern Abenteuer, nicht Zwecke, sondern Mittel. Sie waren moralisch nicht besser oder schlechter als die anderen Menschen, aber entschlossener, hartnäckiger, einfallsreicher und zuverlässiger. Die Teams hatten auch ihre Nachteile: da die Firmen nicht Jahrhunderte warten konnten, mußten die Teams schnell vorgehen, und schnelle Arbeit bringt Fehler durch mangelndes Verständnis mit sich. Wie bei den Sprachen. Die Übersetzungsmaschinen waren gut, aber nur bei Erfahrung sind Dialekte zu übersetzen…
Der Gedanke störte Alyn am meisten, als sie durch die überfüllte Straße zum Schiff zurückging. Ein Eingeborener
drehte sich plötzlich um und sah sie mit erstaunten violetten Augen an. Dann kam sie näher heran, und sein Blick wurde leer. Alyn fröstelte, obwohl Meißners Stern heiß war, und zog den Mantel enger um sich. Wenn Dreckarbeit zu machen ist, dann bin immer ich dran, dachte sie. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie ihre Namen formte: Davis, Pip, und der Kapitän – ihre Teamkameraden, ihre Männer, ihre Kinder, ihre Liebhaber… Schon vor langer Zeit hatte man die ideale Raumschiffbesatzung gefunden: drei Männer und eine Frau. Sorgfältig ausgewählt, konnte eine Frau für drei Männer ganz leicht alles sein, und wenn sie sich anstrengten, konnten drei Männer alles für eine Frau sein. Aber sie nützten sie aus, wie es Männer mit einer Frau tun, die sie liebt. Sie erwarteten von ihr, daß sie Tag und Nacht Sklavenarbeit leistete, während sie zu Hause herumlungerten… Sie konzentrierte ihre Wünsche darauf, das Raumschiff zu erreichen, das hoch und schillernd in der Ferne stand. Zu Hause. Sie würden auf sie warten. Ihr Gesicht wurde weich, weiblich und schön. Der ruhige, treue Davis – der methodische Wissenschaftler, bei leblosen Dingen in seinem Element, verwirrt bei menschlichen Beziehungen, nie etwas erwartend, stets dankbar für alles, was er empfing. Der kleine, überschäumende Pip – der Techniker mit den geschickten Händen, schlau, frech und leicht verletzbar. Der Kapitän – groß, blond, in sich ruhend, einsilbig, onkelhaft… Er war älter als die anderen, dachte Alyn, aber noch nicht so alt. Ihm mußte sie besonders attraktiv erscheinen… Ein Eingeborener stieß sie an und unterbrach ihren Gedankengang. Sie schrie beinahe auf. Das Fairfax-Feld war eine wunderbare Sache – dadurch wurde xenologische Außenarbeit erst möglich – aber bei Tag war die Täuschung
nicht vollkommen. An der Peripherie erhaschten die Eingeborenen Blicke von ihr, wie sie wirklich war. Bald würden sie das Außergewöhnliche zusammenfügen und ›Fremdes‹ sehen. Dann war das Team, im besten Fall, zum Aufgeben gezwungen – die Firma im Rücken, das Amt im Genick. Weil sie schon dabei war, verfluchte sie auch gleich die Firma. Diese sparte am falschen Fleck und geriet in Gefahr, eine Welt zu verlieren. Ihre Feld-Generatoren waren veraltet, und sie litt unter einer Rückschlagwirkung, die ihre Beobachtungen praktisch wertlos machte. Schön und gut, wenn die Eingeborenen sie als Eingeborene und das Raumschiff als gewöhnliche Behausung sahen, aber wenn sie ihre Welt als verschwommen erdähnlich sah, war das ganze Unternehmen sinnlos. Man konnte nicht mehr unterscheiden, was wirklich und was Fairfax-Wirkung war… Die Stadt war ein englisches Dorf im 18. Jahrhundert, am Beginn der industriellen Revolution… aber noch nicht ganz. Das Bild war ein bißchen schief, so, als zeige das Schild an der Gastwirtschaft eine Enthauptung, bei der ein halbes Dutzend Eingeborene mit geöffneten Mündern am Boden lagen, um das Blut aufzufangen. Tatsächlich war dies das Schild der Dorfwirtschaft. Es war offenbar ein Dialekt – oder zumindest, wie Alyns Gehirn, verstärkt durch die Rückschlagwirkung des Fairfax-Feldes, den Dialekt auslegte. Wahrscheinlich hatte es mit der Wirklichkeit nichts zu tun. So ging es weiter. Die Häuser hatten nicht ganz die richtige Form. Sie waren stabil genug aus Stein oder Ziegeln, aber mit komplizierten, vielfarbigen Mustern bemalt. Sie verließ den Marktplatz und erreichte das Grünland. Sie schlängelte sich zwischen weidenden Wesen hindurch, die nicht ganz Kühe waren, und widerstand der Versuchung
wegzulaufen. Sie ging durch eine Straße mit nicht ganz echtem Kopfsteinpflaster, zwischen Wesen, die nicht ganz menschlich waren. Sie waren menschenähnlich, aber ihre Rümpfe waren zu lang und seltsam verformt, spitzbrüstig, als enthielten sie zu viele Knochen. Ihre Arme waren kurz, ihre Hände hatten nur vier Finger. Ihre Köpfe waren klein, die Züge verformt, mit eingedrückten Nasen, vorquellenden violetten Augen, breiten Mündern und spitzen Zähnen, mit vorspringenden Kiefern. Sie sahen aus wie unbehaarte Pekinesen, eine Karikatur des Menschen, bei der Alyn am liebsten aufgeschrien hätte. Ihr Name für sich war als ›die Leute‹ zu übersetzen. Das Team nannte sie, gegen alle Vorschriften, ›Pekinesen‹. Demgemäß war Meißners Stern zu ›Peking‹ geworden. Die Pekinesen machten Alyn nervös. Sie störten Wesen nicht, die krabbelten, dahinglitten, schwammen oder quollen, aber sie konnte Wesen nicht ertragen, die auf zwei Beinen gingen und ihr in die Augen sahen. Wenn sie keine Menschen waren, empfand sie sie als unheimlich. Sie waren humanoid – das Fairfax-Feld konnte das nicht fälschen. Und genau das machte jede Schlußfolgerung so gefährlich. Alyn kletterte die Leiter hinauf. Die Raumschifftür öffnete sich. Sie ging durch die Luftschleuse und kletterte die Treppe zum Wohndeck hinauf. Davis drehte sich an seiner Werkbank um, ein Reagenzglas in der Hand. Pip hob den Kopf von dem feingemeißelten Lapislazuli, den er mit einer Lupe betrachtete. Der Kapitän kam von der Brücke herunter. Sie sahen sie erwartungsvoll, ein bißchen gierig an. »Sie feiern ein Fest«, sagte Alyn.
Sie ließ Mantel und Kapuze fallen. Darunter trug sie Büstenhalter und Shorts. Sie hatte eine gute Figur – schlank und jugendlich, aber fraulich. Sie hatte ein Gesicht, das man am besten als faszinierend bezeichnen konnte. Zum Teil lag es an ihren roten Haaren, aber mehr am Gesicht: Stirn zu hoch, Backenknochen zu ausgeprägt, Lippen zu straff, Kinn zu trotzig, Augen zu intelligent. Eine Kombination, für Männer unwiderstehlich, aber sie war zu vernünftig, um ihr Vermögen damit zu machen. Vielleicht war sie deshalb zu Jonathan Craddock gegangen. Oder vielleicht lag es am Geld. Nirgends sonst konnte eine Frau mit dreißig Jahren in den Ruhestand treten, so begütert, daß sie für den Rest ihres Lebens tun konnte, was sie wollte – falls ihr Team soviel Glück hatte, auf die eine Klasse 6-Kultur unter Hunderten zu stoßen. Oder vielleicht deshalb, weil sie nur bei Craddock oder einem Konkurrenten Vielmännerei betreiben konnte. Sie wußte es selbst nicht genau. »Vorsichtig mit dem Mantel«, sagte Davis zerstreut. »In den Fetzen ist für zehntausend Dollar eine Fairfax-Feld-Anlage eingewirkt.« Alyn sah ihn böse an. »Und sie funktioniert nicht. Ich habe zu starke Rückschlagwirkungen.« Sie wandte sich achselzuckend ab. »Egal. Untertags gehe ich nicht mehr hinaus. In dem Mantel ist es zu heiß und zu gefährlich.« »Vertrau auf den Ungläubigkeitsfaktor, Alyn«, sagte Pip. »Quatsch nicht.« Aber wahrscheinlich hatte Pip recht. So wirkte das Feld – oder sollte es wirken; es gab Meinungsverschiedenheiten genug. Fairfax selbst hatte immer behauptet, es leiste nicht mehr, als den Sehmechanismus des Gehirns zu befriedigen, den Alpharhythmus; es störe die Wahrnehmung insoweit, daß
der Sehende das Gefühl hatte, etwas zu erblicken, ohne es genau definieren zu können. Von da an griff der Ungläubigkeitsfaktor ein – die Gewohnheit des Gehirns, stets nach der einfacheren Erklärung zu suchen. Daß fremde Wesen unter uns sind, ist eine verrückte Phantasievorstellung; einfacher, anzunehmen, was man sieht, sei etwas ganz Gewöhnliches, nur eben undeutlich erkannt. Aber nicht jedes Gehirn besitzt einen Alpharhythmus, der gestört werden kann – M-Typen, etwa. Manche Epistemologen bezweifelten, daß das Feld das Gehirn überhaupt beeinflußte, und Fotografien bestätigten das: ein Objekt innerhalb eines Fairfax-Feldes erschien optisch verschwommen, selbst für das gehirnlose Auge einer Kamera. Aber wenn das alles war, weshalb dann die seltsame Rückschlagwirkung – und das genaue Einregeln, mit dem man sie zum Verschwinden bringen konnte? »Ich glaube nicht, daß es nur der Ungläubigkeitsfaktor ist«, sagte Alyn langsam. »Die Pekinesen sind gerade humanoid genug, um uns vergessen zu lassen, daß sie fremde Wesen sind. Aber die fremden Wesen sind wir; wir rechnen nicht damit, hier etwas Normales, Gewöhnliches zu sehen, außer das Feld erleidet Streuungsverluste. Und daran glaube ich. Das stört mich, Pip.« »Das Fest«, sagte der Kapitän. »So hat es der Übersetzer genannt«, sagte Alyn. »Tanz mit Musik. Wenn sie tanzen, und wenn sie Musik haben.« »Wer gibt es?« fragte Davis. »Der König, Häuptling, Älteste, Anführer – wie man ihn auch immer nennen will. Wenn er etwas davon ist. Er wohnt in dem großen Haus auf dem Hügel über der Stadt. Er hat einen männlichen Nachkommen – oder einen zum Nachfolger bestimmten Jungen aus dem Ort – jedenfalls ist der junge Mann volljährig geworden, und der König hat alle mannbaren
Mädchen im Reich zu einem Fest gerufen, bei dem der Prinz seine Wahl treffen wird. Zu welchem Zweck, läßt sich nur raten…« Sie sah den Kapitän an und las etwas in seinen Augen, das sie veranlaßte, hastig Pip und noch hastiger Davis anzusehen. »Nein«, sagte sie schwach, und dann trotziger: »Nein! Nein! Kommt nicht in Frage! Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!« »Große Chance«, sagte der Kapitän. »Zeremonie. Wichtiges Beweismaterial.« »Du bist die Frau«, sagte Pip, »und die Xenologin.« »Jetzt oder nie«, fügte Davis hinzu. »Dann nie«, sagte Alyn atemlos. »Sich bei einer solchen Veranstaltung unter die Pekinesen zu mischen! Alles mögliche kann passieren. Mein Mantel kann mir heruntergerissen werden – « »Darum kümmere ich mich schon«, sagte Pip beruhigend. »Geben wir Peking auf. Wir vergeuden unsere Zeit. Das lohnt sich nie. Die Pekinesen sind nicht Klasse 6, nicht mal Klasse 5. Außerdem haben sie nichts, was sie exportieren könnten.« »Mag sein«, sagte der Kapitän achselzuckend. »Eine Chance ist es trotzdem.« »Da sind die Juwelen und die Gravuren«, meinte Davis. »Al hat recht«, sagte Pip. »Wir können im geheimen nicht genug sammeln, daß es sich lohnen würde. Souvenirs bringen auch nicht genug. Aber Klasse 6! Beim Amt weiß man nie. Sag die Wahrheit, Al. Warum willst du nicht hingehen?« Sie brach vor Müdigkeit und Enttäuschung in Tränen aus. »Weil ich nichts anzuziehen habe, Mensch!« »Ist das alles?« fragte Pip listig. »Letzte Chance«, sagte der Kapitän rundheraus. »Warum geht denn von euch keiner?« fauchte Alyn.
»Oho!« sagte Pip lachend. »Das Feld ist gut, aber nicht so gut, daß es uns in mannbare Maiden verwandelt. Es wird sich schon bei dir anstrengen müssen.« »Du bist widerlich!« Alyn stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn wir daheim sind, kann sich einer von uns eine andere Gruppe suchen, das steht fest!« »Sie geht schon«, sagte der Kapitän.
Alyn kam mit rauschender weißer Krinoline aus der Kabine, daß die drei Männer bewundernd die Augen aufrissen. Sie war eine Erscheinung der Eleganz und strahlenden Schönheit, von ihren durchsichtigen Schuhen bis zur Haarkrone, in der winzige Sterne glitzerten. Sie war, was jeder Mann begehrt… Pip erholte sich als erster. »Du hast das Feld eingeschaltet!« »Sag mal«, protestierte Davis. »Wir müssen doch mit dir leben. Das ist einfach nicht fair!« »Richtig«, sagte der Kapitän. Alyn drehte sich auf dem Absatz um und verblaßte. Nicht viel, sondern nur eben soweit, daß sie nur normal begehrenswert erschien. »Geschieht euch recht. Ihr seid ganz gemeine Sadisten, und ich weiß überhaupt nicht, warum ich dabei bin.« Sie blickte an ihrem Kleid hinunter, drehte sich langsam und seufzte. »Herrlich.« Zur Abwechslung blieben einmal alle stumm. Schließlich sagte Davis: »Wir wollen dir etwas schenken.« »Wir haben es für den Augenblick aufgehoben, wo du es am meisten brauchst«, meinte Pip leise. »Überraschung«, sagte der Kapitän. Alyn zog die Brauen zusammen.
»Und das habt ihr mir jetzt gegeben, damit ich euch die schmutzige Arbeit abnehme. Männer!« Sie sah Pip an. »Das Feld habe ich eingeschaltet, weil ich es ausprobieren mußte. Und die Rückschlagwirkung war sehr stark!« Pip grinste. »Wir haben dir gefallen, wie? Na klar. Ein kleines Gerät wie das in deinem rechten Schuhabsatz kann man nicht so abschirmen. Die Batterie hält übrigens nur vier Stunden. Vorher mußt du zurück sein.« »Batteriebetrieb?« entfuhr es Alyn. »Nur der Empfänger. Das Feld selbst wird vom Schiff übernommen. Keine Sorge – solange du binnen vier Stunden zurück bist.« »Fein, wunderbar«, murmelte Alyn. »Acht-neun-zehn-elf zwölf. Ist das nicht ein bißchen übertrieben, Pip? Wen willst du mit dem Märchen eigentlich täuschen?« Pip sah sie verlegen an. »Ein Risiko.« »Du hast verloren. Ich gehe nicht.« »Aber wir können unsere Pläne nicht mehr umstoßen«, wandte Davis ein. »Richtig«, sagte der Kapitän. »Pip bedauert. Ändert nichts. Mußt gehen.« »Märchenstoffe sind endlos wiederholbar«, sagte Pip. »Jedenfalls die guten. Deshalb halten sie sich. Sie drücken etwas Grundlegendes über das Dasein aus.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir werden auch da sein, weißt du.« Alyns Ausdruck wurde weicher. »Ich hätte mir denken können, daß ihr mich nicht ganz allein laßt. Wer trägt die Kamera?« »Ich – « begann Davis und verstummte. Alyn atmete tief ein.
»Gut. Laß sie nicht fallen. Ich weiß nicht, wo ich hingehe, aber ich möchte nachher wissen, wo ich gewesen bin – und wer ich bei dieser Gelegenheit war.« Sie stieg hinunter zur Luftschleuse, und von dort aus die Leiter hinab. Das Kleid behinderte sie, aber es war auch eine Notwendigkeit. Mit einem Mantel wäre sie besser bedient gewesen, aber mit einem solchen konnte sie nicht hingehen. Hinter ihr folgten Davis und Pip. Für sie sahen sie aus wie Davis und Pip mit Mänteln und Kapuzen. Für Pekinesen würden sie aussehen wie Pekinesen – vielleicht. Das war das Schöne am Fairfax-Feld; es verstärkte den erwarteten Eindruck. Oder doch nicht? Angenommen, die Pekinesen waren vom Typ M, minus Alpharhythmus, rein optisch Denkende, deren Gehirne so damit beschäftigt waren, Bilder zu sortieren, daß man das Wahrnehmungsmuster nicht stören konnte? Oder vielleicht waren sie vom Typ B für Beharrlich, völlig abstrakt Denkende, deren Alpharhythmus ununterbrochen lief, ohne daß sie ihn befriedigen mußten? Fairfax hatte sich getäuscht, er mußte sich getäuscht haben. Das Feld konnte, wenn er recht hatte, nur bei R-wie-Reaktions-Typen wirken, deren Wahrnehmung aufhörte, sobald sie wirklich etwas sahen, oder deren Gehirne einen optischen Gedanken erzeugten, der das eigentliche Gesehene vertrat. Das würde die Meinungsunterschiede erklären, denn die Menschen waren Mischtypen – meist Typ R. Wenn die Pekinesen auch Mischtypen waren, blieb nur der Ungläubigkeitsfaktor – völlig ohne Verstärkung, außer durch die optische Wirkung des Feldes. Keine große Stütze. Sie ging in ihren Tanzschuhen, in einem Absatz einen Fairfax-Feld-Empfänger und -Verstärker, durch die Straßen, die nicht ganz Kopfsteinpflasterstraßen waren.
Einmal schaute sie sich nach dem Schiff um. Für sie sah es aus wie ein Raumschiff – eine großartige, schimmernde Festung von Schiff, aber doch ein Schiff. Für die Pekinesen sah es – vielleicht – aus wie eine heimische Festung, die es schon gab, seit sie denken konnten. Vorausgesetzt, die Pekinesen waren alle R-Typen – und vorausgesetzt, das Feld hatte mit dem Alpharhythmus wirklich etwas zu schaffen. Kaum jemand war auf den Straßen: ein paar verspätete Einkäufer, ein Polizist, der dahinschlenderte und nachprüfte, ob die Läden abgeschlossen waren… Ein Polizist! Er sah Alyn und lächelte. »Ah«, sagte er mit stark irischem Akzent, »noch eine Maid für das Fest, wie? Beeil’ dich lieber, sonst hat der Prinz seine Wahl getroffen, und du bist nicht da.« Alyn fröstelte. Die Rückschlagwirkung übertraf alles bisher Dagewesene. Ausgerechnet ein Polizist! Sie senkte den Kopf und hastete auf das große Gebäude auf dem Hügel zu. Aus der Nähe sah es mehr wie ein Palast aus. Sie stieg die glänzenden Marmorstufen hinauf und erreichte zwischen hohen Säulen die großen kupfernen Türen. Sie gingen auf. Ein uniformierter Majordomo verbeugte sich und führte sie in eine große Halle, die mit rotem Samt ausgelegt war. An den Wänden hingen Gobelins… Gobelins! Sie wollte die Flucht ergreifen, sah aber Davis und Pip hinter sich. Sie würden nicht zulassen, daß sie aufgab. Sie wandte sich wieder um. Durch die Halle erreichte sie einen prachtvollen Ballsaal mit dunklem, schimmerndem Parkettboden und Dutzenden von Kronleuchtern. Im Saal drängten sich schöne Frauen und gutaussehende Männer, alle prächtig gekleidet und mit
Schmuck behängt. Sie tanzten zur Musik eines Orchesters auf einem weit entfernten Podium. Als sie zögerte, kamen die Tänzer zum Stillstand. Die Musik erstarb. Alle Augen wandten sich ihr zu. Wieder stieg Panik in ihr auf. Sie biß sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien. Aus dem Gedränge kam langsam ein Mann, dessen dunkle Augen auf sie gerichtet waren. Er war hochgewachsen, breitschultrig und schlank, mit markantem, gutgeschnittenen Gesicht und empfindsamem Mund. Er trug eine betreßte Uniform mit funkelnden Knöpfen und zahlreichen Orden… Er war – der Traumprinz, der Märchenprinz, die Erfüllung des Wunschtraums jeder Jungfrau… Und er war genauso wirklich. Trotzdem konnte Alyn ein erwartungsvolles Prickeln nicht unterdrücken. Seine Augen erforschten ihr Gesicht, bis er ganz nah herangekommen war; ihre Knie wurden ein wenig schwach. Seine Hände streckten sich nach ihr aus. Er beugte sich tief über ihre Hand. Seine Lippen küßten ihre Handfläche. Einen verzweifelten Augenblick lang dachte sie an die nadelspitzen Zähne der Pekinesen… Ihr letzter wirklich vernünftiger Gedanke war: Wie sieht das für Davis und Pip aus…? Was geschieht in Wirklichkeit? Dann überließ sie sich den Illusionen des Fairfax-Feldes und den Armen des Prinzen. Beim Tanzen hatte sie Augen nur für ihn, ein Ohr nur für sein Geflüster. Was sagte er? Nichts und alles – sie konnte sich nicht erinnern, und doch war es das, was gesagt werden sollte, gesagt werden mußte… Sie wußte das in diesen Augenblicken. Nichts geschah, was den Bann brechen konnte – denn es war ein Bann; sie wußte es und konnte es nicht ändern, und sie hätte es nicht geändert, wenn sie gekonnt hätte.
Sie verliebte sich Hals über Kopf. Sie verliebte sich in einen Pekinesen, in ein unfaßbar fremdes Wesen. Sie wußte es, und es fiel nicht ins Gewicht. Das war nicht die Liebe, die sie für Davis und Pip und den Kapitän empfand. Es war ein ganz anderes Gefühl – die romantische Liebe, etwas Glühendes. Der Prinz war die Vollkommenheit; bei seiner Berührung wurde sie schwach. Sie liebte einen Traum, eine vom Feld erzeugte Illusion, aber das spielte jetzt keine Rolle. Das Gefühl allein genügte. Die Zeit verrann wie im Flug. Sie war in einem Delirium, im Fieber, hingerissen… Der Prinz führte sie zu einer kleinen Tür, ihre Hände in der seinen, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet. Sie folgte ihm verträumt. Wohin der Prinz sie auch führen mochte, sie würde ihm folgen. »Alyn!« Jemand rief nach ihr. Wer? Egal. Nichts war wichtig außer dem Prinzen. »Alyn! Alyn! Alyn!…« So ging es weiter, wie das Läuten einer Glocke. Sie konnte es nicht ignorieren; auf irgendeine Weise würde sie es zum Schweigen bringen müssen. Ihre Augen wurden ein wenig klarer. Aus der verschwommenen Umgebung näherte sich ein bekanntes Gesicht. Es gehörte Pip. Es war verzerrt, der Mund aufgerissen, schreiend… »Alyn! Um Himmels willen, die Batterie versagt. Du tauchst auf. Wir müssen hier raus. Was ist los mit dir? Komm zu dir, Alyn!« Die Nebel wurden dünner. Ihre Augen erfaßten die Gesichter ringsumher; Gesichter von Pekinesen. Selbst das Gesicht des Prinzen, so geliebt es auch war, ein Pekinesengesicht… Die Vernunft kehrte zurück wie eine eiskalte Welle. Sie mußte laufen. Sie drehte sich herum und floh durch die Halle. Es war kein Ballsaal mehr, sondern ein großer Raum mit
Steinwänden, voll von Pekinesen. Die Kronleuchter waren offene Gasflammen. Die Pekinesen glotzten sie an. Sie konnten sie noch nicht deutlich sehen, begriffen aber, daß sie sich merkwürdig benahm. Bald würde man sie aufhalten wollen. Hinter ihr rief eine Pekinesenstimme etwas. Der Prinz. Sie wußte es instinktiv. Sie drehte den Kopf, lief aber weiter. Sie erreichte den Ausgang. Die Gobelins waren die Zeichnungen der Pekinesen an den Wänden. Der rote Samt am Boden war eine geflochtene Matte. Ihr Schuh verhakte sich. Sie stürzte beinahe, riß den Fuß heraus und rannte weiter. An der großen Tür starrte der Pekinesenwächter sie mit großen Augen an, konnte sie aber nicht einfangen. Sie hastete hinaus, raste durch die Nacht zum Raumschiff zurück… Auf halbem Weg holte Pip sie ein. Er warf seinen Mantel um sie, und sie liefen miteinander weiter. »Pip!« schluchzte sie dankbar. »Oh, Pip! Was ist passiert, Pip?« »Das wollte ich dich fragen. Der Pekinese ist auf dich zugegangen, als wärst du die große Liebe seines Lebens, und du hast dich in seine Arme geworfen, als wäre dir das klar. Mein Gott, haben wir Angst gehabt!« »Wo ist Davis?« fragte Alyn angstvoll. »Er wollte die Reaktion der Pekinesen auf deine Flucht filmen.« »Du meinst, er wollte sie ablenken, wenn sie mir zu nah auf den Fersen waren«, sagte Alyn keuchend. »Ihr seid großartig, Davis und du. Ich könnte keine besseren Teamkameraden haben.« Teamkameraden… Aber was war mit ihrem Seelengenossen, mit dem Prinzen? »Pip! Ich habe meinen Schuh verloren!« sagte sie plötzlich. »Welchen Schuh?« »Den rechten. Den mit dem Gerät!«
Pip brachte sie zum Stillstand. »Wir müssen ihn holen!« Aber der Hügel war schwarz von Pekinesen, die ihnen nachrannten. »Vielleicht hat Davis ihn aufgehoben«, murmelte Pip. Sie rannten weiter. Endlich erreichten sie das Schiff, kletterten hinein und warteten. Stundenlang liefen die Pekinesen durch die Straßen und suchten nach den unfaßbaren Wesen, die auf unfaßbare Weise verschwunden waren. Nachdem sie aufgegeben hatten, warteten Alyn, Pip und der Kapitän auf Davis. Sie warteten stumm, warteten ohne Mut zur Hoffnung. Kurz vor der Morgendämmerung tauchte er auf. Sie liefen ihm zur Schleuse entgegen. »Mensch!« sagte Davis, als er den Mantel auszog. »Sie hätten einander beinahe die Köpfe abgebissen. Ein paar haben es getan. Der Prinz benahm sich, als hätte ihm jemand eine Axt auf den Schädel gehauen.« Alyn sah ihn an. »Hast du den Schuh?« fragte Pip ungeduldig. »Welchen Schuh?« fragte Davis verständnislos.
Sie saßen im Wohndeck, drei Männer und eine Frau, und warteten darauf, daß etwas geschah. Pip beschäftigte sich mit einem Mikromechanismus und richtete mehr Schaden als Nutzen an. Davis prüfte Erzproben, blickte aber immer wieder zum Fenster. Der Kapitän saß in seinem Sessel, die Hände tief in den Taschen, und schwieg. Alyn saß am Fenster und starrte auf die Straße hinunter. »Was ich nicht verstehen kann«, sagte Davis plötzlich, »ist, warum sie mit dem Pekinesen in das Zimmer gehen wollte.«
»Dazu war ich ja dort«, sagte Alyn, »um herauszufinden, was ich konnte.« »Die Möglichkeit einer Hybridfortpflanzung war nicht einkalkuliert«, meinte Pip. »Logischerweise müßte man das dem Amt für außerirdische Angelegenheiten melden.« »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Alyn ohne Überzeugung. »Du hast natürlich gewußt, daß es sich um eine symbolische Heirat handelte«, fuhr Pip fort. »Nach dem Vollzug wird die Braut als Gefäß der Jugendsünden des Bräutigams geopfert. Er tritt unbefleckt ins Mannesalter.« »Ich begreife nicht, wie du gedacht hast, wieder aus dem Zimmer herauszukommen«, sagte Davis klagend. »Vielleicht wollte sie nicht hinaus«, sagte Pip langsam. »Und jetzt sucht der Prinz sie im ganzen Land.« »Was?« fuhr Alyn auf. »Er hat deinen Schuh. Er hat ihn zu allen Handwerkern bringen lassen, um zu erfahren, ob sie ihn gemacht haben.« Pip ging zum Fenster und starrte hinaus. »Er versucht dich zu finden, Al.« »Nichts wie weg hier!« stieß Davis hervor. »Wir haben uns total in die Nesseln gesetzt!« »Nein!« sagte Alyn. »Warum nicht?« fragte der Kapitän. »Ich habe es mir anders überlegt«, gab Alyn tonlos zurück. »Geht ohnehin nicht«, sagte der Kapitän. »Das Amt würde Peking unter Quarantäne stellen. Die Firma ausschließen. Die Firma würde uns hinauswerfen. Taugt nichts. Zwei Möglichkeiten: Pekinesen Klasse 6 oder Schuh zurückholen.« »Klare Überlegung«, sagte Pip zu Alyn. »Sei still!« fauchte Alyn. »Was habt ihr denn alle?« fragte Davis verwirrt. »Seit dem Fest ist keiner mehr der alte. Alyn war nicht – freundlich.« Er
wurde rot. »Pip hackt auf ihr herum. Der Käpt’n hat kein Wort gesagt. Was ist los?« Keiner antwortete. Pip zuckte die Achseln und starrte zum Fenster hinaus. »Wir warten auf das Ende der Geschichte«, sagte Alyn. »Und da kommt er jetzt«, erklärte Pip. »Wo?« sagte Alyn rauh. Pip deutete hinaus. »Schau, wie er daherkommt, den Schuh in der Hand.« Der Pekinese marschierte entschlossen auf das Schiff zu. »Filmen!« sagte der Kapitän scharf. Davis sprang auf die Leiter zum Kontrollraum. Sie warteten atemlos, als der Pekinese unter der Wölbung des Schiffs verschwand. Davis kam die Leiter wieder herunter. Das Schiff vibrierte, als der Pekinese die Leiter hinaufstieg. Ein Klopfen an der Luftschleusentür. »Na?« sagte Pip. »Laßt ihn rein«, sagte der Kapitän. Alyn wimmerte. »Ich kann nicht.« Sie drehte sich blindlings um und lief zu ihrer Kabine. »Pip«, rief sie über die Schulter, »sperr die Tür auf dieser Seite ab.« Sie warf die Tür hinter sich zu, schob den Riegel vor und wartete, bis sie das Einrasten des Außenriegels hörte. Dann warf sie sich auf ihre Koje und biß ins Kissen, um nicht aufzuschreien. Sie hörte, wie die Schleusentür aufging und Schritte heraufkamen. Stimmen murmelten lange Zeit. Einmal stand sie an der Tür, die Hand am Riegel, bevor ihr einfiel, daß die Tür auf der anderen Seite ebenfalls verriegelt war. Sie warf sich wieder auf das Bett. Die Zeit vertropfte langsam. Stunden später vibrierte das Schiff erneut. Diesmal stiegen die Schritte hinab. Die
Schleusentür öffnete und schloß sich. Jemand hämmerte an die Tür. »Alyn!« schrie Davis. »Wir haben es geschafft. Der Kapitän schwört, daß wir vor jedem Gericht der Galaxis damit durchkommen. Es ist Klasse 6.« Langsam und müde stand Alyn auf und ging zur Tür. Als sie öffnete, stand Davis mit gerötetem Gesicht triumphierend vor ihr. Er packte sie um die Hüften, schwenkte sie herum und rief: »Wir müssen feiern. Wir sind reich, wir sind reich!« Schließlich stellte er sie wieder auf den Boden. »Was ist gewesen?« fragte Alyn. »Er ist dahintergekommen«, erwiderte Pip. »Der Prinz, meine ich. Alle Handwerker bestritten, den Schuh gemacht zu haben. Keiner hatte so etwas schon einmal gesehen. Sie hätten ihn nachmachen, aber nicht erfinden können. Q.E.D. – fremde Wesen. Er ließ alle Leute in der Stadt befragen, die Ergebnisse zusammenfassen und vergleichen, die Widersprüche feststellen. Dann kam er hierher.« »Allein?« sagte Alyn. »Unbewaffnet?« »Er möchte mehr solche Apparate wie diesen«, sagte Davis fröhlich. »Sie zaubern. Er ist bereit zum Handel.« »Was hat er anzubieten?« fragte Alyn scharf. »Geschicklichkeit. Peking ist eine Schatzgrube von MikroFähigkeiten, die zu entwickeln sind. Seit Jahrhunderten hat man sie mit diesen komplizierten Mustern gefördert. Die Pekinesen brauchen nur ein paar einfache Werkzeuge, dann können sie jeden Mikromechanismus nachbauen. Sie sind schnell, schlau und genau. Ich habe doch gesagt, das FairfaxMikrogerät ist Gold wert – seine Leute haben schon zehn Stück angefertigt!« »Aber die Pekinesen sind nicht Klasse 6«, wandte Alyn ein.
»Wenn es nicht Klasse 6 ist, unsere Anwesenheit aus dem Schuh zu folgern und uns durch Vergleichsgespräche zu finden, dann gibt es keine Klasse 6«, sagte Davis. »Beweise auch«, brummte der Kapitän. »Auf Film. Reich. Wir alle.« »Was – hat er – über mich – gesagt?« stammelte Alyn. Pip schüttelte den Kopf. »Dich hat er nicht erwähnt. Aber das hat er dagelassen.« Er warf Alyn den Schuh hin. Sie fing ihn auf und drehte ihn in den Händen. »Der Fuß, dem der Schuh paßte, war seiner«, sagte Pip leise. Alyn nickte ernsthaft und ging in ihre Kabine. »Was hat sie denn?« fragte Davis. Pip schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum sie die Tür von der Seite hier verriegelt haben wollte«, flüsterte Davis. »Sie fürchtete nicht, daß der Pekinese zu ihr kommen wollte«, sagte Pip tonlos. »Sie wußte, daß er kam. Sie fürchtete, er werde sie holen wollen, und sie könne nicht ablehnen.« »Mit einem Pekinesen gehen!« entfuhr es Davis. »Mit einem Prinzen«, sagte Pip. Alyn zögerte an der Tür und sagte: »Wir fliegen heim! Wir haben erreicht, was wir wollten. Fliegen wir zur Erde zurück.« »Und so lebten sie glücklich für alle Zeit«, sagte Pip. Aschenputtel weinte fast den ganzen Heimweg.
Teddybär
Ich tat den letzten Schritt zurück, und mein Fuß sank in etwas Weiches. Ich zog ihn zurück und kam mir albern vor. Ich wußte, was es war. Auf dem Beton der Veranda, die aufklappbaren schwarzen Pupillen starrend in ihren Plastikhornhäuten, als er die Sterne zu verstehen versuchte, lag Brownie – Kits Teddybär. Immer liegt etwas herum, ein Spielzeugauto, eine Walze aus Holz, ein Dreirad… So sind die Kinder. Man will es ihnen klarmachen, und sie sagen: »Aber ich hab’s da nicht liegenlassen, Paps«, und man möchte ihnen glauben, kann es aber nicht. Entweder lügen sie, oder es ist die Tücke des Objekts, die es auf den unvorsichtigen Fuß, das nichtsahnende Schienbein abgesehen hat… Und das kann man nicht glauben. Ich hob Brownie auf. Er rieselte. Ich drehte die Hand um. Sägemehl. Ich drehte ihn herum. Durch einen Schlitz in seinem Bauch quoll Holzwolle. Mir war ein wenig übel, als ich mir vorstellte, wie eine Kinderhand im Zorn Brownie aufgeschlitzt hatte. Oder aus Bösartigkeit. Bitte, dachte ich, nicht Kit. Laß es nicht Kit gewesen sein. Ich versuchte, die Holzwolle wieder hineinzustopfen, als es mir einfiel. Die Szene vom Nachmittag stand plötzlich ganz deutlich vor mir. Hatte ich sie vergessen? Niemand, der sie gesehen hatte, würde sie je vergessen können. Der Unfall war schlimm genug gewesen: das Kreischen der Reifen wie von Lebewesen, der kurze,
mechanische Aufschrei der Frau, plötzlich und endgültig abreißend. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war hinzustürzen, um zu helfen, und dann hilflos dazustehen, den Körper der Frau auf der Straße genauso zu sehen wie Brownie, das Innere herausquellend, viel sauberer und ordentlicher, als man sich das vorstellen mochte, und unendlich grausiger. Sägemehl und Holzwolle. Alles kam zurück, das Gefühl der Betäubung, als mein Gehirn nicht mehr arbeiten wollte und der Mann neben mir mit gräßlichem, unbewußtem Humor sagte: »Na, das hat ihr die Füllung herausgequetscht.« Und dann die kalten Gedanken: Manche von uns sind nicht wirklich. Und: Jemand hat einen Fehler gemacht. Aber das war ein unsinniger Gedanke. Ich war nicht bereit, die unausweichlichen Folgen zu akzeptieren. Es bedeutete – »Mr. Gunn?« Ich fuhr herum. Da waren keine Schritte gewesen – jedenfalls hatte ich keine gehört – aber hinter mir stand ein Mann. Er trug eine blaue Uniform mit funkelnden Knöpfen. Das Licht, das durch die altmodische Eingangstür fiel, schimmerte auf den Knöpfen und spiegelte sich auf dem Abzeichen an seiner Brust. Polizist. »Ja?« Hinter meinem Wagen stand ein Polizeiauto am Randstein. Vor ein paar Sekunden war es noch nicht dagewesen. »Kommen Sie mit.« »Wohin?« »Zur Station. Sie werden als Zeuge gebraucht.« »Wofür?« »Für den Unfall, den Sie heute nachmittag gesehen haben. Wenn Sie mitkommen, Mr. Gunn, haben wir das gleich erledigt. Wir brauchen nur eine Aussage – «
»Ich will nicht mitkommen«, sagte ich, bemüht, entschlossen zu wirken, aber zu meinem Schrecken klang meine Stimme schrill und quietschend wie die eines Kindes, das nicht zum Zahnarzt will. In mir schwoll ein Entsetzensgesang an: Woher wußten sie meinen Namen? Niemand hat meinen Namen aufgeschrieben. Wie haben sie mich gefunden? Wahrscheinlich gab es eine einfache Erklärung, aber sie fiel mir nicht ein. Und ich konnte nicht fragen, weil ich dann zugegeben hätte, dabeigewesen zu sein. Plötzlich hatte ich Angst davor. »Sie haben keine Wahl, Sir«, sagte der Beamte. »Sie können doch nicht einfach zu jemand hingehen – noch dazu praktisch in seine Wohnung – und ihn ohne Haftbefehl und alles mitnehmen – « »Der einzige, der mir sagen kann, was ich nicht tun darf, ist mein Vorgesetzter«, sagte der Beamte höflich. »Kommen Sie jetzt mit.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe keinen Unfall gesehen.« »O doch, Mr. Gunn«, sagte der Beamte entschieden. »Wir haben Ihren Namen auf unserer Liste stehen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie haben ihn nicht nur gesehen, Sie erinnern sich auch daran. Da hat jemand wirklich danebengegriffen.« Ich drehte mich ungläubig um und – saß auf einem harten Gefängnisbett. Die Szene hatte sich verschoben; es gab keinen anderen Ausdruck dafür. In dem einen Augenblick stand ich auf meiner Veranda und sprach mit dem Polizisten; im nächsten saß ich in einer dunklen Zelle. Für die Zwischenzeit gab es keine Erinnerungen. Mein Kopf schmerzte nicht, aber ich berührte ihn trotzdem mit der linken Hand. Keine Beulen. Brownie war in meiner
rechten Hand. Ich starrte den Teddybär dumpf an und versuchte mich zu erinnern. Irgendein neuartiges Gas, dachte ich. Geruchslos. Ungiftig. Nur – weshalb saß ich im Gefängnis? ›Sie haben ihn nicht nur gesehen‹, hatte der Polizist gesagt, ›Sie erinnern sich auch daran. Da hat wirklich jemand danebengegriffen.‹ Er hatte von dem Unfall gesprochen. Natürlich erinnerte ich mich daran. Warum auch nicht? Er war passiert, nicht? Ich hatte ihn gesehen, oder? Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher. Was sich ereignet hatte, war mehr Alptraum als Wirklichkeit gewesen. Niemand ist mit Sägemehl und Holzwolle ausgestopft, nicht mit Kapok oder… Und wenn ich einen solchen Unfall gesehen hätte, ich hätte ihn nie vergessen. Es war ein Traum – der Unfall, der Polizist… Es mußte so sein. Auch das hier? Brownie fühlte sich real genug an, sein Fell borstig an meiner Hand, das Sägemehl zwischen meinen Fingern herausrieselnd. Ich zog mein Taschentuch heraus und wickelte es um Brownie, damit er nicht auslief, bevor ich ihn heimbrachte. Heim? dachte ich plötzlich. Warum war ich nicht daheim? Warum akzeptierte ich das hier als Wirklichkeit? Natürlich war ich daheim, und alles war ein Traum. Der Rahmen des Feldbetts war hart und kalt an meiner Hand. Ich ging zur Zellentür und rief hinaus: »Aufseher!« Keine Antwort. »Aufseher!« Ich rüttelte am Gitter. »Aufseher!« Endlich kam er, ein großer, hagerer, düsterer Mann in Blau. »Was’n los?« knurrte er. »Ich will hier raus!« »Das wollen alle.« »Keiner will reingehören.« »Ich gehöre hier nicht rein.«
»Jemand hat einen Fehler gemacht«, sagte ich beharrlich. »Ich sollte als Zeuge zur Station kommen, wegen einem Verkehrsunfall. Bis ich mich umsah, war ich hier in der Zelle.« »Bei mir brauchen Sie das gar nicht erst zu versuchen, Gunn. Ich sage nicht für Sie aus. Sie brauchen einen Psychiater. Warten Sie auf den Prozeß.« »Auf welchen Prozeß?« sagte ich scharf. »Auf Ihren Prozeß, Gunn. Wenn Sie Glück haben, kommen Sie mit Totschlag davon.« Er wandte sich ab und ging in sich hineinlachend davon. Ich sank schwach auf das Bett. Totschlag? Hatte ich jemanden umgebracht? Den Polizisten? Natürlich nicht. Einen bewaffneten Mann wie ihn, so groß und erfahren, wie er war? Und ich hatte nicht die geringste Erinnerung. Das war der Haken. Keine Erinnerung. Es kommt vor, daß etwas aussetzt. Wahnsinn überwältigt die Vernunft, erstickt die Erinnerung an Gewalttaten… Konnte ich jemanden umgebracht haben? Ich saß starr auf dem Bett, stumm, forschend. Wie empfindet man Wahnsinn? Wie sehen die Symptome aus? Ich konnte keine Anzeichen finden – außer den Erinnerungen, die ich hatte, und jenen, die mir fehlten – aber wenn ich wahnsinnig war, konnte ich kein vertrauenswürdiger Richter sein. Wie verhält sich ein Mensch, wenn er glaubt, wahnsinnig zu sein? Wenn er von der Voraussetzung ausgeht, daß er wahnsinnig ist, kann er es doch nicht sein, oder? Aber zu diesem Schluß kommt letztlich jeder Wahnsinnige: Wenn ich verrückt bin, spielt es keine Rolle, wie ich handle; aber wenn ich normal bin, wäre es verrückt, so zu handeln, als wäre ich wahnsinnig. Ich griff nach Brownie und fragte mich, welcher Tag sein mochte. Wo waren Kit und Jane; was machten sie? Wußten
sie, was mit mir geschehen war, oder dachten sie, ich wäre einfach nicht heimgekommen und hätte sie im Stich gelassen? Was, um alles in der Welt, war mit mir vorgegangen? Kit würde Brownie vermissen. Wann würde ich Kit wiedersehen? In mir krampfte sich alles zusammen, und ich bedeckte das Gesicht mit der Hand. Mein Gedanke nach dem Unfall tauchte wieder auf: Jemand hat einen Fehler gemacht. Der Polizist hatte es ähnlich ausgedrückt: Jemand hat wirklich danebengegriffen. Verrückt, verrückt. Ich war die ahnungslose Zentralfigur in einer enormen, unbegreiflichen Verschwörung. Dahinter steckte jemand, der wußte, warum die von dem Lastwagen angefahrene Frau mit Sägemehl und Holzwolle ausgestopft gewesen war. Ich gebe nicht auf, dachte ich. Ich wehre mich gegen sie. Ich durchsuchte meine Taschen, fand mein Taschenmesser, das einzige, was sie mir gelassen hatten. Merkwürdig, daß sie mir gerade das Messer nicht weggenommen hatten. Vielleicht war es ihnen entgangen. Oder es gehörte zu den unerwarteten Dingen, die bei Gefangenen oft auftauchen: Messer, Gift, Sägen und Pistolen… Ich begann die Klinge methodisch an meiner Schuhsohle zu schärfen und blickte hinunter – auf den hageren Aufseher. Sägemehl und Holzwolle quollen aus einem Loch in seiner Brust. Es kam mir vor, als – sei der Gerichtssaal überfüllt, noch bevor ich mich umschaute. Ich saß an einem dunklen, glattpolierten Tisch. Vor mir ein Richter hinter seinem hohen Tisch. Links von ihm ein Zeuge auf dem Stuhl, ein älterer Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Rechts von mir an der Wand saßen die Geschworenen, zwölf nüchterne Männer und Frauen, die zu entscheiden hatten, ob
jemand schuldig oder unschuldig war, die der Aussage aufmerksam lauschten. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Wieder war es passiert, zweimal sogar. Was hatte das Loch in der Brust des Aufsehers hervorgerufen? Das Messer, das ich geschliffen hatte? Was war geschehen, nachdem ich schockiert, regungslos vor ihm gestanden und verfolgt hatte, wie die Füllung aus ihm herausgequollen war? Der Mann neben mir war Orin Porter, der Anwalt, den ich nehmen würde, wenn ich je einen Anwalt brauchte. »Was geht hier vor?« sagte ich. »Bringen Sie mich hier raus!« »Psst!« warnte er, einen Finger an den Lippen. Er zeigte mit einer Kopfbewegung auf Zeugenstand und Geschworene. »… und ich sah, wie dieser Mann die Frau vor den Lastwagen stieß«, sagte der Zeuge ernsthaft. In seiner Nähe stand ein geschniegelter kleiner Mann im grauen Nadelstreifenanzug. Anwalt? Ankläger? »Haben Sie den Mann vorher schon einmal gesehen?« »Nein, Sir.« »Haben Sie ihn seither gesehen?« »Ja, Sir.« »Wo?« »Hier – im Gerichtssaal.« »Können Sie ihn uns zeigen?« »Ja, Sir. Das ist er. Das ist der Mann.« Der Finger des Zeugen wies direkt auf mich. Ich sprang auf. »Ich habe keinen Menschen gestoßen«, schrie ich. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden – « Porter riß mich auf meinen Platz zurück. »Halten Sie den Mund!« sagte er. »Sie bringen den Richter gegen sich auf – «
»Der Angeklagte beherrscht sich besser, sonst wird das Gericht gezwungen sein, dafür zu sorgen«, sagte der Richter kalt, ein Mann mit schmalem, unduldsamem Gesicht. Seine Augen standen zu eng beieinander, und er war entschlossen, mich hängen zu lassen. Aber man hängte keinen mehr. Nicht in diesem Staat. Ich haßte ihn und wußte, daß es unsinnig war. »Aber ich habe doch keinen Menschen gestoßen«, flüsterte ich Porter zu. »Wenn sie von dem Unfall reden, ich war doch nur Zeuge – « »Sie sind sechsmal eindeutig identifiziert worden«, sagte Porter leise und zog die Brauen zusammen. »Fünf Zeugen haben gesehen, wie Sie das Mädchen gestoßen haben.« »Aber ich kannte sie nicht einmal. Ich hatte keinen Anlaß – « »Es ist bewiesen worden, daß Sie mehrmals, als Sie angeblich in der Arbeit waren, die Wohnung des Mädchens aufgesucht haben.« Porter sah mich angewidert an. »Jane ist völlig fertig.« »Wahnsinn, Wahnsinn«, flüsterte ich und starrte ins Leere. »Ist das Sägemehl erwähnt worden?« »Sägemehl?« »Sägemehl und Holzwolle quollen aus der Frau, die Füllung –« Porter sah mich eine Weile an, bevor er erwiderte: »Vielleicht haben Sie recht. Ihre einzige Hoffnung ist Unzurechnungsfähigkeit.« »Und was ist mit dem Aufseher?« sagte ich flehend. »Ist er tot? Was ist mit ihm?« »Welcher Aufseher?« sagte Porter stirnrunzelnd. »Verschweigen Sie etwas?« Ich schüttelte den Kopf und sank zurück. Das Leben war plötzlich auf den Kopf gestellt. Ich stand vor Gericht, weil ich
eine Frau, die ich nie gesehen hatte, vor einen Lastwagen gestoßen haben sollte. Und der Aufseher war vergessen. Wenn ich nicht wahnsinnig war, gab es nur eine Erklärung. Man machte mich mit eiskalter Berechnung zum Sündenbock für ein Verbrechen, das ich nicht begangen hatte. Warum? Es konnte nur einen Grund geben: Ich hatte den Unfall gesehen und die Wahrheit über die Getötete begriffen. Die Frau war kein Mensch gewesen. Wer mich dafür büßen ließ, wußte ich nicht. Denn jemand, der mich so auszuschalten vermochte, der ein Dutzend Zeugen davon überzeugen konnte, daß sie gesehen hatten, was sie nicht gesehen haben konnten, der mich durch Raum und Zeit versetzte – er war nicht auszumachen, seine Gründe ließen sich nicht erkennen. Nennen wir es das Übernatürliche, und lassen wir es dabei. Dahinter lauerte das Grauen. Aber es erklärte alles so gut: Ich war hinter ein Geheimnis gekommen, das niemand kennen sollte, das Geheimnis, daß manche von uns nicht menschlich, nicht wirklich sind, daß manche – das Mädchen, der Aufseher – mit Sägemehl und Holzwolle ausgestopft sind, wie Teddybären, daß sogar die wirklichen Menschen von gottähnlichen Wesen aus für uns unbegreiflichen Gründen dirigiert werden. Und da ich auf diese Grundwahrheit gestoßen war, mußte ich sterben oder so in Verruf gebracht werden, daß man meine Offenbarungen als Wahnsinn oder vorgetäuschten Wahnsinn zu meiner eigenen Rettung ansehen mußte. Ich schaute mich im Gerichtssaal um. Alle mochten Marionetten sein, Teddybären, die Zeugen, die in den Stand traten und logen, die Geschworenen – »werden über den Schuldspruch beraten«, sagte der Richter grimmig. Mir fielen die Versetzungen kaum noch auf. Meine unfaßbaren Spekulationen gingen ungestört weiter.
Die Theorie erklärte die zu beobachtenden Fakten des Daseins so gut wie unser naiver Realismus. Was wissen wir schon? Nur, was uns gesagt wird. Und was uns gesagt wird, hat keine unausweichliche Beziehung zur Wirklichkeit. Weshalb sollten Leute nicht ausgestopft sein? Ich hatte nie eine Operation oder Obduktion gesehen. Alles, was ich über das Innere des menschlichen Körpers wußte, beruhte auf Hörensagen und dem undeutlichen Bewußtsein von den Vorgängen in meinem eigenen Leib. War es so unvorstellbar, daß es Teddybären unter uns gab, die nach Lust und Laune übernatürlicher Wesen gelenkt wurden? War es so phantastisch, daß die ganze Welt die Bühne für überdimensionale Puppenspieler war? Ja, ja, es war phantastisch, aber nicht unfaßbarer, nicht phantastischer als das, was mir zugestoßen war. ›Die ganze Welt ist eine Bühne‹, hatte Shakespeare gesagt, aber so gigantisch brauchte das Unternehmen gar nicht zu sein. Was wußte ich von anderen Städten, anderen Ländern? Ich hatte ein paar besucht, gewiß – oder ich besaß die Erinnerung daran, was nicht unbedingt dasselbe ist – aber wie wenig hatte ich selbst erfahren. Es war nur ein unermeßlich kleiner Teil dessen, was zu glauben mir abverlangt wurde. Ich nahm China und Indien und den ganzen wimmelnden Osten auf Treu und Glauben hin. Vielleicht war Afrika nur eine Fiktion; es gab keinen zuverlässigen Beweis dafür, daß es Australien oder Europa oder auch nur England wirklich gab. Und wie stand es mit dem Gedächtnis, einem armseligen, fehlbaren Ding, wie wir alle wußten? Gewiß, jetzt war klar, daß man Erinnerungen in die Gehirne von Menschen einpflanzen konnte wie Tulpenzwiebeln in Blumenbeete. Mochten jene, die über ein besonderes Wissen zu verfügen glaubten, über die unaufspürbaren Ursprünge des
Gedächtnisses und den Erfolg von uns untüchtigen Sterblichen bei Hypnose, Psychiatrie und Gehirnwäsche nachdenken… Und ich muß dieser Tyrannei der Erinnerung gegenüber immun sein, weil ich wirklich bin, dachte ich. Ich bin ein Mensch, und deshalb ist mein Wissen gefährlich. Und die Gedanken bewiesen meine Wirklichkeit, mein Menschsein, weil ein Teddybär doch wohl nur das denken kann, was für ihn vorgedacht wird. Teddybär. Ich blickte auf den Stuhl neben mir, und da lag Brownie, noch immer mit dem Taschentuch umwickelt. Ich griff nach ihm; meine tastenden Finger fanden den Schlitz. Das hatte sich nicht verändert. Warum auch? Was wäre Beweis für meinen Verdacht gewesen: Brownie aufgeschlitzt, oder Brownie unbeschädigt? Ich schüttelte zornig den Kopf. Es gab keine Möglichkeit, irgend etwas zu beweisen. Ich saß hoffnungslos in der Falle; ich mochte mich ebensogut in mein Schicksal fügen. Gegen die Götter kommt man nicht an. Ich steckte die Hände tief in die Taschen und berührte das Messer. Ich zog es heraus und klappte es auf. Es war scharf geschliffen, viel schärfer als jemals zuvor. An der Klinge hafteten Sägemehlkrümel. Beweis! Vielleicht nicht für andere, aber für mich. An alles konnten sie nicht denken. Sie begingen Fehler. Und es waren die kleinen Unstimmigkeiten des Lebens, von uns kaum beachtet, die den endgültigen und unerschütterlichen Beweis lieferten, daß wir nicht die Herren unserer Welt oder unseres Schicksals sind. Man nehme das Unerklärliche. Sein Vorhandensein beweist, daß wir nicht in einer Welt der Ordnung existieren, daß die Natur nicht ergründbar, nicht Gesetzen unterworfen ist. In einer Welt der Ordnung und Gesetzmäßigkeit dürfte nichts unerklärlich sein. Es dürfte kein rätselhaftes Verschwinden von
Menschen geben wie bei Ambrose Bierce oder Richter Crater. Hatten sie zuviel erfahren? Die Kleinigkeiten – da entstehen die Blößen, wenn wir nur aufpassen würden. Gegenstände sind nicht dort, wo sie sein sollten, oder man findet sie, wo sie nicht hingehören. Wir vergessen, wie oft das vorkommt, weil es unwichtige Dinge sind: Kleidung, Spielzeug, Geräte… Messer verschwinden, und Nadeln, Spulen und Spateln, Socken verschwinden und Knöpfe und Gürtel, Murmeln sind verschwunden, und Schachfiguren, Mühlesteine, Vorräte nehmen nie langsam ab – schlagartig ist der Schrank leer. Und anderes: Büroklammern, Kleiderbügel, Gummiringe, Schnüre, Bleistifte, Packpapier, Klebstoff, Nägel, Schrauben… Einer findet sie immer, obwohl er davon nie etwas kauft. Ein anderer kauft ständig nach und hat sie nie, wenn er sie braucht. Erklärung? Achselzucken? Verweis auf das menschliche Gedächtnis, das schwache? Die Überlegenheit des Objekts? Es gibt eine bessere Erklärung: Nachlässigkeit. Nicht die unsere. Ihre. ›Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Menschen sind nur Spielers und das Stück ist zu gewaltig und zu dunkel für uns, als daß wir es je verstehen könnten. Kein Wunder, daß die kleineren Requisiten durcheinandergeraten. Warum ist keine echte Wissenschaft der Psychologie entwickelt worden? Warum erscheint eine funktionierende Soziologie unmöglich? Es liegt an den Teddybären. Die Logik ihrer Handlungen ist nie eine menschliche Logik, sondern außermenschliche Willkür. Das Bild ist verschwommen. Warum weigern sich so viele Menschen, die Logik anzuerkennen? Warum klammern sich so viele irregeleitete Idioten störrisch an ihre falschen Werte, warum nennen sie ihre Demagogen Erlöser, warum entstehen Aufstände und Kriege?
Teddybären. Marionetten, von den unsichtbaren Puppenspielern gelenkt. Leithammel, die Schafherden ins Schlachthaus führen. Ich fuhr mit dem Messer über meinen Arm und verfolgte die dünne rote Linie, die dahinter entstand, breiter werdend, als das Blut herausquoll. Ich seufzte. Wenigstens gehörte ich nicht zu den Teddybären. Porter starrte auf meinen Arm und auf das Messer in meiner Hand. »Um Gottes willen, Mann«, zischte er, »stecken Sie das Ding da weg!« Aber der Sprecher der Geschworenen ergriff das Wort. »Schuldig«, sagte er, und der Richter fühlte sich schlaff und leblos unter meiner linken Hand an, die seine Schulter umklammerte. Ich stand hinter ihm, die rechte Hand auf seine Robe gepreßt, und starrte hinaus in den Saal und auf die vielen bleichen, entsetzten Gesichter. Eines davon kannte ich. Es war weißer als alle anderen, und die Qual darin durchzuckte mich wie ein scharfes Messer. Ich trat zurück. Das Messer in meiner rechten Hand wurde herausgezogen. Der Richter sank langsam um und drehte sich im Stuhl ein wenig. Sein hageres, rachsüchtiges Gesicht war entspannt, seine Augen sahen nichts. Sägemehl rieselte aus dem Schlitz in seiner Kleidung. Ich ging blindlings auf Jane zu, trotz der Uniformen, die vor mir auftauchten, trotz der Hände, die mich festhalten wollten, und ich lag flach auf dem Bauch. Es war Nacht, und ich fror. Die Erde unter mir war kalt, kalt das Hemd, die dünne Hose, und ich fragte mich, wo ich war. Vor mir sah ich Gebüsch, dunkel verzweigt vor dem Himmel. Als ich hineingriff, um es zu zerteilen, nahm ich wahr, daß ich das Messer noch in der Hand hielt. Ich klappte es zu und steckte es ein.
Etwas Pelzartiges neben mir. Brownie. Ich lächelte grimmig. Alles andere konnte ich verlieren, Unschuld, Verantwortlichkeit, Liebe, Leben… aber nicht Brownie. Es war tröstlich, ihn dabeizuhaben. Ich begriff jetzt, warum Kit ohne seinen Freund nicht einschlafen konnte. Was für grauenhafte Formen und Dinge die Nacht auch entstellen mochten, Brownie war die vertraute, unveränderbare Erde, an die ein angstvolles Kind sich klammern konnte. Kit und ich, zwei angstvolle Kinder. Von einer Straßenecke leuchtete trüb eine Straßenlampe herüber, und ich erkannte jetzt die gewundene Straße. Porters Haus war das nächststehende, mit dem Licht im Wohnzimmer hinter dem Panoramafenster. Der Mann, der im Stuhl saß und las, mußte Orin sein. Wie hoch das Risiko auch sein mochte, ich begriff, daß ich ihn sprechen mußte. Ich mußte erfahren, was geschehen war. Ich kroch durch das Gebüsch, und die Dornen und Zweige zerfetzten mit ihrer rauhen Wirklichkeit meine dünne Alptraumillusion. Ich kroch vorwärts, im Schatten bleibend, auf Bewegungen oder Autos achtend, zu der Betonplatte am Eingang. Ich drückte auf den Klingelknopf und drehte mich um, so daß ich die dunkle Straße beobachten konnte. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem schlechten Gangsterfilm. Die Tür ging auf. Ich drehte mich herum. Es war Orin, das Licht als Heiligenschein um den Kopf. Er blinzelte in die Dunkelheit. »Wer ist da?« fragte er und knipste die Außenbeleuchtung an. »Jimmie!« stieß er hervor. »Schnell rein!« Im Wohnzimmer sank ich erschöpft in einen Sessel. Orin zog die Vorhänge zu und sah mich ungeduldig an. Ich preßte Brownie an mich und kam mir albern vor.
»Was ist geschehen?« fragte ich. »Richter Marsh ist vor zwanzig Minuten gestorben. Die Polizei stellt die ganze Stadt auf den Kopf. Sie hat Befehl zu schießen, falls Sie sonst entkommen würden – « »Wie bin ich aus dem Gerichtssaal gekommen?« »Erinnern Sie sich nicht?« entfuhr es Porter. »Ich weiß nur noch, daß ein Dutzend Leute nach mir griff.« Porter schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann nicht begreifen, wie Sie so weit gekommen sind. Ihr Bild ist in der ganzen Stadt verbreitet – kein Taxi würde Sie mitnehmen, kein Bus – und es sind beinahe zehn Meilen. Sie sind doch nicht zu Fuß gegangen, oder?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich müde. »Man hat mich zu oft umhergeschoben. Den Richter haben Sie wohl gesehen. Das Sägemehl, das aus ihm herausrieselte?« Porter starrte mich mit Augen an, die plötzlich begriffen. »Sie sind wahnsinnig, nicht wahr?« flüsterte er. »Nein«, sagte ich schnell. »Ich bin es nicht. Es – « Worte reichten nicht aus, um zu erklären, was geschehen war, um Porter zu überzeugen. »Sie würden mir nicht glauben.« »Ich mache Ihnen etwas zu trinken«, sagte er hastig und machte sich auf den Weg zur Küche. »Kommen Sie. Das wird Ihnen guttun. Dann stellen Sie sich. Keine Sorge – wir hauen Sie schon heraus – « »Nein! Das ist es ja, was sie wollen.« »Kommen Sie. Wir unterhalten uns darüber.« Er füllte ein großes Glas und ließ mich allein. Ich schlürfte langsam und versuchte, im Sinnlosen Sinn zu entdecken. Vielleicht ist es, wie Miguel de Unamuno gemeint hat, dachte ich. Ist die ganze Welt – und wir mit ihr – nur ein Traum Gottes? Sind Gebet und Riten nichts als ein Versuch, Ihn noch schläfriger zu machen, damit Er nicht erwacht und unseren Traum beendet?
Aber wenn das unsere ganze Existenz ist, kann die Benennung als Traum ihre Bedeutung nicht mindern. Träume können bluten. Das hatte ich bewiesen. Ich blickte auf meinen Arm. Eine schmale, weiße Narbe. Schnelle Heilung. Wieder ein Schnitzer? Ich zog das Messer heraus, klappte es auf und klopfte mit dem Griff auf meine Handfläche. Sägemehl. Die Klinge war unbefleckt. Wären Aufseher und Richter wirklich gewesen, hätte die Klinge Blutspuren aufweisen müssen. Aber wie konnte ich irgendeinen anderen Menschen davon überzeugen? Sie würden Brownie sehen, und ihre zynische Klugheit würde wissen, woher das Sägemehl stammte. Porter blieb lange fort. Ich stand auf, das Messer in meiner Hand vergessend, und öffnete die Tür. Er hatte den Telefonhörer am Ohr, und seine Augen wirkten ängstlich, bevor sie sich verschleierten. »Gut, machen wir. Vielen Dank für den Anruf.« Er log. Das Telefon hatte nicht geläutet. Ich ging auf ihn zu, verletzt, gequält. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie mich ausliefern«, sagte ich. »Das habe ich nicht getan«, sagte er lahm. »Bestimmt nicht, Jimmie. Ich würde doch nicht – « »Das hätten Sie nicht tun sollen, Orin. Wenn Sie nur wüßten, was ich durchgemacht habe – « »Weg mit dem Messer«, sagte er schrill. »Das brauchen Sie nicht. Sie tun sich nur – « Ich blickte auf das Messer in meiner Hand, und er sprang mich an. Instinktiv wich ich aus. Er stürzte in das Messer. Sein Gesicht verzerrte sich, nah vor dem meinen, dann brach er zusammen, und das Messer glitt aus seinem Körper. Wie leicht sie sterben, dachte ich. Man möchte nicht glauben, daß ein Teddybär so schnell stirbt.
Aus der Wunde in seinem Bauch rieselte gelbes Sägemehl – Staub, von meinen laufenden Füßen aufgewirbelt. Ich spürte ihn tief in der Lunge, er schwebte in der Luft und trübte das Licht der Straßenlampe vor mir. Ich floh durch eine Gasse, ungeteert und uneben. »Halt!« brüllte eine Stimme hinter mir. »Stehenbleiben!« Ich blieb nicht stehen. Einen Augenblick später fiel ein Schuß, und das Geschoß surrte an mir vorbei. Ich hetzte in einen dunklen Hof, duckte mich unter Wäscheleinen, mied die Schatten dunkler Sträucher mit seltsamer Vorahnung, bis ich den schmalen Durchgang zwischen den Häusern erreichte und hindurchstürmte. »Halt!« schrie die Stimme wieder. Aber ich hatte den Verfolger abgehängt. Ich wurde langsamer, sog mühsam Luft in mich hinein, betrat über eine Einfahrt den Gehsteig. Die Gegend war im Dunklen anonym. An der nächsten Ecke würde ich mich zurechtfinden können. Wenn ich nicht verrückt war. Ich dachte: Vielleicht bist du doch verrückt. Jeder hat schon einmal den Gedanken gehabt, daß er ganz allein gegen eine feindselige Welt steht, daß er der einzige wirkliche Mensch in einer Scheinwelt ist, daß sich unsichtbare, bösartige Kräfte gegen ihn verschworen haben… Mein Fall war eine klassische Beschreibung der Paranoia: überzogener Argwohn, der zu einem andauernden, unverrückbaren Wahnsystem von Verfolgung und Größe führte… Und zu Mord. Der einzige Haken dabei war, daß ich inbrünstig daran glauben wollte. Ich wollte mich lieber für wahnsinnig halten, als die Wahrheit meiner Überlegungen eingestehen. Es war besser zu glauben, daß ich verrückt sei, als daß alle außer mir Gegenstände voll Sägemehl sein mußten, gesteuert von einer übernatürlichen oder außer-dimensionalen Intelligenz, die
mich zu Ungeheuerlichem, Unvorstellbarem verlocken wollte… Aber warum? Ich würde es nie erfahren. Die Motive des Übernatürlichen mußten unerklärlich sein, sonst wären sie natürlich. Es gab nur das eine oder das andere, und ich dachte: Laß mich wahnsinnig sein! Aber der Gedanke war zu vernünftig. Ich zögerte an der Ecke, unter der Laterne, und schaute zum Schild hinauf. Bevor ich es lesen konnte, blendete mich ein Lichtstrahl. »Halt!« sagte eine Megaphonstimme. »Keine Bewegung. Hier ist die Polizei.« Ich rannte, eine Treppe hinauf, über einen Rasen, zu einem Eingang, während der Scheinwerfer vergeblich versuchte, mich zu finden, und der Lautsprecher brüllte. Wo sind die Menschen, die im Haus wohnen, dachte ich, oder ist es nur eine Fassade wie im Kino, und keiner wohnt dahinter? Alles nur Fassaden?… Und ich hämmerte an die fremde Haustür – Aber sie war nicht fremd. Es war meine eigene Haustür, und die Straße hinter mir lag still, dunkel und verlassen da. Das Licht im Wohnzimmer flammte auf, und durch die Gardinen an der Haustür sah ich Jane auf mich zukommen. Sie legte den Morgenmantel um sich, dann öffnete sie die Tür bei vorgelegter Sperrkette. »Wer ist das?« und dann»: Du bist es!« Ich betrat das Haus. Es war gut, zu Hause zu sein, selbst als Flüchtling. Ich wollte nicht mehr fliehen. Mochten sie herkommen und mich hier holen. Ich konnte nicht mehr kämpfen.
Ich sank in meinen eigenen Lehnsessel, seufzte und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Laß das Ganze einen Traum sein! flehte ich stumm. Dann hob ich den Kopf und sah Jane an. Ihr Gesicht verriet mir die Wahrheit. »Es ist also wirklich so«, sagte ich. »Ja. Du bist wahnsinnig, nicht wahr?« »Vermutlich«, sagte ich müde. »Das ist die beste Erklärung, nicht?« Sie nickte und wandte sich ab. Das Licht der roten Stehlampe spiegelte sich in den tränenumflorten Augen. Sie wischte die Tränen weg. »Ich kann das nicht verstehen«, sagte sie. »Ich habe es versucht, aber es geht nicht – diese Frau, dann der Richter, dann ein guter Freund – « »Ausgestopft«, sagte ich. »Alle ausgestopft. Der Aufseher auch. Teddybären.« Ich sah auf Brownie hinunter. Er hatte alles mit mir durchgemacht. Ich löste das Taschentuch und hielt ihn Jane hin. »Näh ihn zu«, sagte ich. »Kit soll ihn so nicht sehen.« Sie griff nach dem Teddybären und betrachtete den Schlitz. »Nein«, sagte sie leise, »das wäre das Schlimmste.« Sie dachte, ich wäre das gewesen. Ich wollte aufbegehren, unterließ es aber. Was spielte es noch für eine Rolle? »Wo ist Kit?« »Ich habe ihn zu deiner Mutter gebracht.« »Aber du bist geblieben.« »Ich dachte, du kommst heim, wenn du kannst.« »Ja.« Ich sah ihr zu, als sie mit braunem Faden Brownie zunähte. Bald würde sie fertig sein. Ich wünschte mir, daß alles so leicht zu beheben wäre. Ich wünschte mir, ihr sagen zu können, was mit mir geschehen war. Zwecklos. »Du lieferst mich doch nicht aus, oder?«
»Nein. Das wird nicht nötig sein. Sie überwachen das Haus. Sagst du mir, warum, bevor sie kommen?« »Nein. Wenn du zu den Teddybären gehörst, spielt es keine Rolle. Wenn du ein Mensch bist, könnte es dich zu dem verurteilen, was ich durchgemacht habe.« »Du redest Unsinn«, sagte sie und biß den Faden ab. Ich seufzte. »Na gut. Manche Leute sind wirklich – manche nur ausgestopft, wie Brownie. Gefüllt mit Sägemehl und Holzwolle, in einem gigantischen, außerdimensionalen Spiel herumgeschoben von Wesen hinter der Szene, die Herren von Raum und Zeit sind. Verrückt, nicht wahr? Aber so ist es.« Sie lächelte verächtlich. »Es ist einfach genug zu beweisen, daß ich wirklich bin. Gib mir dein Messer.« Ich klappte es auf und gab es ihr. Ich wartete darauf, daß sie sich in den Arm schnitt, wie ich es getan hatte. Aber mit überlegenem Lächeln stieß sie es sich in den Bauch. Meine Hände krallten sich über die Augen, um den Anblick zu verdecken, aber die Szene prägte sich mir unauslöschlich ein: der Ausdruck von Überraschung auf ihrem Gesicht, und das Sägemehl, das herausstäubte, wo das Messer eingedrungen war. Und endlich erkannte ich die Wahrheit. Es war das erste wirkliche Verrückte, was irgend jemand getan hatte. Es war nach jedem Maßstab unsinnig. Jane hatte nicht gewußt, daß sie ein Teddybär war. Jemand hatte an ihrer Schnur gezogen. Und dafür gab es keinen vorstellbaren Grund. Wenn ich zurückdachte, gab es keinen zureichenden Grund für alle Dinge, die geschehen waren. Aber jetzt kannte ich mich aus, und es war schrecklicher als alles, woran ich vorher gedacht hatte: Man amüsierte sich.
Ein Spiel, wie es ein Kind mit seinen ausgestopften Tieren spielen mochte. Wir waren die Spielsachen für ein außer dimensionales Kind. Wir waren seine Teddybären, die ihn belustigten. Die Stimme aus dem Lautsprecher brüllte: »Kommen Sie heraus, Gunn! Wir wissen, daß Sie im Haus sind!« »Na gut«, murmelte ich. »Ich komme. Ich komme.« Die Frage war: Konnte man sich auflehnen? Ich fand die Pistole in Kits Spielzeugkasten, trat an die Haustür und öffnete sie, kniff die Augen zusammen. Mit einer schnellen Bewegung hob ich die Waffe. Eine Maschinenpistole ratterte. Die Geschosse durchfetzten mich. Ich spürte die Einschläge, als ich langsam zusammenbrach, die Hand auf die Wunde gepreßt. Ich fing das Sägemehl auf, als es auf – den Boden rieselte. Mein Fuß trat auf etwas Weiches. Am Boden lag Brownie – Kits Teddybär. Ich hob ihn auf. Jane hatte ihn gut geflickt, dort am Bauch, als Kit neulich den Doktor gespielt hatte. Das würde er nicht wieder tun. Er begriff jetzt, daß man mit Spielsachen spielte und sie nicht zerstörte, und daß er eines Tages etwas anstellen mochte, das wir nicht beheben konnten. Ich wünschte mir einen Augenblick lang, wieder ein Kind zu sein, damit alle meine zerfetzten Illusionen ebenso leicht zusammenzuflicken wären. Aber ich zuckte die Achseln, öffnete die Tür und sagte: »Jane, Kit, ich bin zu Hause«, so, als geschehe das nicht jeden Abend.