Kerstin Volland Zeitspieler
Medienbildung und Gesellschaft Band 11 Herausgegeben von Johannes Fromme Winfried Marotzk...
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Kerstin Volland Zeitspieler
Medienbildung und Gesellschaft Band 11 Herausgegeben von Johannes Fromme Winfried Marotzki Norbert Meder Dorothee M. Meister Uwe Sander
Kerstin Volland
Zeitspieler Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16404-5
Inhalt
Aufblende 1
Einleitung ..................................................................................................................10
2
Temporalität und Medien: Zeitinszenierung .........................................................13
2.1
Auftakt: Zeitmimesis und Zeitinszenierung ......................................................13
2.2 Zeit als Zeicheneffekt...........................................................................................14 2.2.1 Vordenker mediengeprägter Zeiterfahrung: Bergson........................................15 2.2.2 Medieninduzierte Zeitlöschung: Posthistoire ....................................................17 2.2.3 Der Kern der Zeitinszenierung: Zeichenabhängigkeit des Temporalen in poststrukturalistischen und postanalytischen Ansätzen.....................................19 2.3
Resümee: Zeitinszenierung kontra Zeitmimesis ...............................................27
Zoom: Henri Bergson 3
Zeit als schöpferischer Wandel: Bergsons Dauer ..................................................31
3.1
Raum.....................................................................................................................32
3.2
Dauer.....................................................................................................................33
3.3
Homogene Zeit .....................................................................................................35
3.4
Film .......................................................................................................................37
4 4.1
Gegenwart und Vergangenheit in der Dauer .........................................................40 Die Aufwertung der Vergangenheit ...................................................................40
4.2 Gegenwart der Materie und geistige Realität des Vergangenen......................43 4.2.1 Auf der aktuellen Seite der Zeit: Wahrnehmung und Gegenwart .....................43 4.2.2 Auf der virtuellen Seite der Zeit: Erinnerung und Vergangenheit ....................46 5
Resümee Bergson: Zeit und Film ............................................................................56
6
Inhalt
Zoom: Gilles Deleuze 6
Anschlussschnitt Deleuze: die Dauer weiterdenken ..............................................63
7
Auf der aktuellen Seite der Zeit: das Bewegungs-Bild ..........................................65
7.1
Zur Affinität von Film und Dauer......................................................................65
7.2 Einblicke in die Dauer des Aktuellen: die Spielarten der Bewegungs-Bilder71 7.2.1 Das Universum der Dauer und das a-zentrische Bildsystem.............................72 7.2.2 Die Erfahrungswirklichkeit und das zentrierte Bildsystem...............................74 7.2.3 Die Überlegenheit des Films: technische Wahrnehmung des Zeitgrundes .......77 7.3
Zeitformen des Aktuellen im Kino des Bewegungs-Bildes ..............................78
7.4 Zwischenblende: homogene Zeitinszenierung im Erzählkino.........................80 7.4.1 Homogene Zeitinszenierung und Realitätsillusion............................................81 7.4.2 Homogene Zeitinszenierung und Sinnkohärenz der Erzählung ........................82 7.4.3 Homogene Zeitinszenierung: zur Bedeutung der Montage...............................83 7.4.4 Homogene Zeitinszenierung: Effekte................................................................84 8 8.1
Auf der virtuellen Seite der Zeit: das Zeit-Bild......................................................88 Tendenzen und Ziele in ‚Das Zeit-Bild’..............................................................88
8.2 Auf den Spuren des Zeit-Bildes ..........................................................................93 8.2.1 Auftakt: falsche Anschlüsse und rein optische und akustische Situationen ......93 8.2.2 Konturierung durch Abgrenzung: Erinnerungskreisläufe .................................97 8.2.3 Einblick in das Gründungsgeschehen der Zeit: das Kristallbild......................100 8.2.4 Nahaufnahmen des Virtuellen: Vergangenheitsschichten, Gegenwartsspitzen ................................................103 8.2.5 Visuelle Auslöschung der Temporalität: die Serie der Zeit ............................109 8.3 9
Die Ästhetik des Virtuellen im Kino des Zeit-Bildes......................................111 Resümee Deleuze: Zeit und Film...........................................................................113
Zoom: David Lynch 10 10.1
Welcome in Lynchland...........................................................................................119 Zur Diskussion des Zeitfaktors im Lynch-Diskurs .........................................119
10.2 Methodik der Filmanalyse: Neoformalismus und Hermeneutik ...................122 10.2.1 Die neoformalistische Komponente ...........................................................123
Inhalt
7
10.2.2 11
Die hermeneutische Komponente...............................................................126
Temporalität verfilmen: Das Zeit-Kino von David Lynch ............................................................................130
11.1 Lost Highway: Abgründe des Virtuellen .........................................................131 11.1.1 Lost Highway: Synopsis.............................................................................131 11.1.2 Temporale Inszenierung: die Ästhetik des Virtuellen am Beispiel von Lost Highway .............................................................................................132 11.1.3 Lost Highway – Interpretation: im Bildchaosmos der Medienzeit.............147 11.2 Mulholland Drive: Erinnerungsspiele in Hollywood ......................................157 11.2.1 Mulholland Drive: Synopsis.......................................................................157 11.2.2 Temporale Inszenierung: im Inneren eines tödlichen Augenblicks............159 11.2.3 Mulholland Drive – Interpretation: Erinnerungen aus der Traumfabrik.....163 11.3 The Straight Story: Auf der aktuellen Seite der Zeit?....................................167 11.3.1 The Straight Story: Synopsis ......................................................................167 11.3.2 Temporale Inszenierung: den Ablauf der Zeit spüren ................................168 11.3.3 The Straight Story – Interpretation: die Macht des Chronos ......................170 12
Resümee Lynch: Zeit und Film .............................................................................174
Abblende 13
Fazit: Film als zeitanalytisches Medium...............................................................180
13.1
Bergson, Deleuze und Lynch: ein Resümee .....................................................180
13.2
Der Film als Instrument der Zeitanalyse .........................................................183
13.3
Ausblick ..............................................................................................................184
Literaturverzeichnis.........................................................................................................187 Filmverzeichnis.................................................................................................................191
Aufblende
1 Einleitung
Abbildung 1:
Lost Highway: Einem Jazz-Musiker wird durch die Gegensprechanlage der Tod eines Mannes mitgeteilt. Am Ende des Films wird er selbst es sein, der sich diese Nachricht zuflüstert.1
Abbildung 2:
The Straight Story: Ein alter Cowboy macht sich auf den Weg, um seinen kranken Bruder zu besuchen. Seine Reise wird zur Zeitreise in die Vergangenheit.2
Abbildung 3:
Mulholland Drive: Ein hoffnungsvolles Schauspieltalent beginnt eine Karriere in Hollywood. Es erlebt ein Déjà-vu auf der Schattenseite des Filmgeschäfts.3
1
Lynch, David (Regie, Drehbuch) (1996): Lost Highway. USA: CIBY-2000/ Asymmetrical Productions: 135 min. Lynch, David (Regie) (1999): The Straight Story. USA/ France/ UK: Walt Disney Pictures/ Le Studio Canal+/ Les Films Alain Sarde: 112 min. 3 Lynch, David (Regie, Drehbuch) (2001): Mulholland Drive. France/ USA: Asymmetrical Productions/ Le Studio Canal+/ Les Films Alain Sarde: 141 min. 2
Aufblende: Zeitinszenierung
11
Thema und Fragestellung In den bis dato letzten Kinoproduktionen David Lynchs implodiert das vertraute Zeitgefüge der Alltagsrealität. Zeit schreitet nicht voran, sondern vor und zurück, verläuft in Schlaufen und Schleifen, verästelt sich in Parallelwelten und labyrinthischen Gedächtnisräumen. Die Filmfiguren stürzen in eine Zeit, in der sich Dinge anders entwickelt haben – in der sich andere Alternativen eröffnen und nichts mehr so ist wie es scheint. Wenn die Zeit aus den Fugen gerät, zeigt sich die Welt in einem fremden Licht. Schert Zeit aus ihrem Ablauf aus, befinden sich Personen nicht mehr erst hier und dann da, sondern hier oder da oder beides zugleich. Doppelgänger tauchen auf und das Ich wird ein Anderer. Wird Zeit aus dem Korsett der Messungen und Datierungen entlassen, dann folgen Ereignisse nicht mehr aufeinander und Wirkungen nicht mehr auf Ursachen – dann weicht die Eindeutigkeit einem Spiel der Möglichkeiten. Eingehüllt in das Dunkel des Kinosaals wird Lynchs Publikum aus seiner Alltagszeit entführt und in Zeitmysterien hineingezogen, die neben filmischen Experimenten auch Anlass zu philosophischen Spekulationen geben. Die Idee, dass Temporalität mehr ist, als ein Nacheinander von Fakten, drängt sich nicht nur in Lynchs Filmen auf, sondern ist Leitgedanke und Zielhorizont im Denken von Henri Bergson und Gilles Deleuze. Auch sie loten Facetten der Temporalität jenseits des objektiven Zeitbegriffs aus. Sie wenden sich einer Zeit zu, die sich nicht durch Uhren und Kalender kontrollieren lässt, sondern sich ausschließlich dem subjektiven Erleben offenbart: die Zeit der Gedanken und der Erinnerungen. Die theoretischen Zeitkonzeptionen von Bergson und Deleuze ähneln dem temporalen Kosmos, den Lynch auf der Leinwand zum Leben erweckt. Auf dem Feld der Philosophie und des Films haben sich Zeitfiguren entwickelt, deren Nähe den Ausgangspunkt der nachfolgenden zeit- und medientheoretischen Untersuchung bildet. In ihrem Verlauf sollen die zentralen Zeitfiguren bei Bergson, Deleuze und Lynch extrahiert, geschärft und verglichen, ihre Analogien und Modifikationen herausgearbeitet werden. Dabei wird ein gleichberechtigtes Verhältnis von Theorie und Film angenommen. Die Filme werden nicht als Illustrationen der theoretischen Modelle betrachtet. In ihnen findet ein eigenständiges Nachdenken über Zeit statt, lediglich mit anderen – ästhetischen – Mitteln, die zu analysieren sind. Bergson, Deleuze und Lynch setzen sich in unterschiedlichen Medien mit dem Zeitphänomen auseinander. Sie produzieren begriffliche bzw. filmische Zeitbeschreibungen, die sich gegenseitig erhellen sollen. Die Auffassung vom Film als Terrain der Zeituntersuchung impliziert die Frage nach der generellen Beziehung des Mediums zur Temporalität. Wie wird das Verhältnis von Zeit und Film von Bergson, Deleuze und Lynch jeweils eingeschätzt – welche Potenziale und Risiken schreiben sie dem Film im Hinblick auf die Darstellung von Temporalität zu? Kann er in ihre verborgenen Tiefen eindringen und neue Einsichten liefern – ist er ein geeignetes Medium, um über das Phänomen der Zeit nachzudenken? Aus der zeit- und medientheoretischen Dimension ergeben sich für die Arbeit folgende Leitfragen:
Welche temporalen Denkfiguren lassen sich bei Bergson, Deleuze und Lynch eruieren und welche Metamorphosen durchlaufen sie von einem zum anderen? Wie wird das Verhältnis von Zeit und Film gedacht und worin besteht das zeitanalytische Potenzial des Mediums?
12
Aufblende: Zeitinszenierung
Aufbau Das anschließende Kapitel zum Konzept der Zeitinszenierung führt in den Zusammenhang von Zeit und Medien ein. Es soll einen Überblick über die Debatte vermitteln und die Ansätze von Bergson und Deleuze darin verorten. Ferner leistet es eine erste Annäherung an die spezifische Beziehung zwischen Temporalität und Film. Im weiteren Verlauf der Arbeit fungiert das Zeitinszenierungskonzept als Horizont, vor dem Bergsons, Deleuzes und Lynchs Ansichten zu Zeit und Film diskutiert werden. Bergsons Theorie der Dauer steht im Mittelpunkt des zweiten Arbeitsteils. Er gliedert sich in eine Untersuchung ihrer Struktur, die Bergson in Abgrenzung zum objektiven Zeitbegriff und zum Film bestimmt, und eine Analyse der aus der Dauer resultierenden Gegenwarts- und Vergangenheitsauffassung. Der dritte Teil widmet sich den Kinostudien von Deleuze, in denen Bergsons Zeitkonzeption aufgegriffen und zugespitzt wird. Fällt bei Bergson nur ein Streiflicht auf den Film, begreift Deleuze Temporalität in der Auseinandersetzung mit dem filmischen Medium. Er entwickelt seine zeittheoretischen Überlegungen in Bezug auf ein breites Filmspektrum und konturiert unterschiedliche Filmästhetiken im Rekurs auf zeittheoretische Überlegungen. In diesem Kontext wird die Zeitinszenierung im konventionellen Erzählkino erhellt, die bei der späteren Analyse der Lynch-Filme als Kontrastfolie genutzt wird. Deleuzes Nachdenken über Zeit ist zugleich ein Nachdenken über Film und bildet das Relais zur filmischen Zeitreflexion Lynchs. Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story sind Gegenstand des vierten Teils, der sich in eine formal-ästhetische Untersuchung der filmischen Zeitinszenierung und eine theoretische Analyse der inszenierten Temporalität auffächert. Der Zeitbetrachtung wird eine Einführung in den Forschungsdiskurs zu Lynch sowie in die angewandte filmanalytische Methodik – eine Kombination aus neoformalistischem und hermeneutischem Ansatz – vorangestellt. Diese für gewöhnlich in der Einleitung zu erwartenden Darlegungen erfolgen erst hier, um ihren inhaltlichen Bezug zur sich anschließenden Filmanalyse zu wahren. Die Arbeitsteile zu Bergson, Deleuze und Lynch enden jeweils mit einem Fazit, in dem ihre Zeitauffassungen, etwaige Metamorphosen sowie das eruierte Verhältnis von Zeit und Film gebündelt werden. Die Abblende schließlich gibt eine komprimierte Übersicht über die aufgezeigten zeit- und medientheoretischen Entwicklungen, um vor ihrem Hintergrund das zeitanalytische Potenzial des Films abzuwägen.
2 Temporalität und Medien: Zeitinszenierung
Die Zeit ist in weiten Teilen ein unsichtbares Geschehen. Allein die Gegenwart ist wahrnehmbar. Vergangenheit und Zukunft hingegen entziehen sich der sinnlichen Erfahrung und sind nur für ein geistiges Auge sichtbar – es sei denn, man befindet sich im Kino... Auf der Leinwand können Erinnerungen, Vorahnungen und ihre Verwicklungen mit der aktuellen Wahrnehmung in Szene gesetzt werden. Diesem zeitästhetischen Potenzial des Films widmet sich das Konzept der Zeitinszenierung. Die Konzeptentwicklung, die sich auf Überlegungen von Bergson, Deleuze, Jean-François Lyotard und Richard Rorty stützt, die um die Verfassung und mediale Darstellbarkeit von Zeit kreisen, führt in den Zusammenhang von Zeit und Medien ein. In der späteren Auseinandersetzung mit Bergson, Deleuze und Lynch fungiert das Zeitinszenierungskonzept als Folie, vor der das jeweils angenommene Verhältnis von Zeit und Film erhellt wird.
2.1 Auftakt: Zeitmimesis und Zeitinszenierung Film bringt Zeit zur Darstellung. Nicht zuletzt aufgrund dieser Fähigkeit wurde er von Filmtheoretikern wie Siegfried Kracauer und André Bazin als außergewöhnlich realistisches Medium gepriesen. Film schmiegt sich den Bewegungen und Veränderungen der physischen Realität an. Er ist im Stande, ihren zeitlichen Wandel zu repräsentieren und besitzt deswegen eine hohe Affinität „zum Fluß des Lebens“ (Kracauer 1964: 109). Seine beweglichen Bilder lagern nicht nur Abdrücke des Sichtbaren ein, sondern ihre Veränderungen. Der Film mumifiziert, wie Bazin sagt, den zeitlichen Wandel der Dinge und erscheint „(...) wie die Vollendung der fotografischen Objektivität in der Zeit. Der Film will nicht mehr nur den in einem Augenblick festgehaltenen Gegenstand bewahren wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten einer vergangenen Zeit (...). Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, eine sich bewegende Mumie“ (Bazin 1975: 25).
So dokumentiert der Film eine lebensechte Dynamik und bringt ein außenweltliches Zeitgeschehen zur Anschauung. Dabei wird Temporalität ansichtig als Modifikation von Materie und Bewegung von Objekten. Um den Eindruck eines naturgetreuen Zeitflusses nicht zu gefährden, rufen die beiden Vertreter der realistischen Filmtheorie die Kontinuität zum Leitprinzip der kinematographischen Zeit-Wiedergabe aus. Doch vermag die Filmtechnik nicht nur ein temporales Kontinuum auf Celluloid zu bannen und auf die Leinwand zu projizieren. Die Zeitparadoxien in Lynchs Oeuvre legen nahe, dass sich das Potenzial des filmischen Mediums nicht darin erschöpft, ein außenweltliches Zeitgeschehen zurückzuspiegeln. Vermittels stilistischer, erzähl- und tricktechnischer Verfahren öffnet er Räume, in denen unterschiedlichste Variationen von Temporalität sinnlich erfahrbar werden. Um diese ‚zeit-künstlerischen Möglichkeiten’ des Films zu erhellen,
14
Aufblende: Zeitinszenierung
gilt es, ihn von den Beschränkungen zu befreien, die ihm durch eine postulierte Realitätsnähe auferlegt werden: Kracauer und Bazin leiten aus der temporalen Dimension des Films seinen ästhetisch-mimetischen Auftrag her, die physische Realität und ihre temporale Dynamik abzubilden. Dadurch aber wird der Film auf außenweltliche, sichtbare Zeitprozesse und ihre linear-kontinuierliche Verlaufsform festgelegt. Letztere wird zudem in den Rang einer natürlichen Zeitbewegung erhoben, welche der Film lediglich nachbildet. Den ‚mimetischen Zeitauftrag’ des Films rückt das Konzept der Zeitinszenierung in ein kritisches Licht und erweitert damit sein temporales Spielfeld: weder unterstellt es das Wissen um die natürliche Verfasstheit von Zeit noch ein Repräsentationsverhältnis zwischen Zeit und Film. Stattdessen impliziert der Inszenierungsbegriff die Annahme, dass Film Zeit konstruiert. Er setzt Momente auf vielerlei und nicht notwendig linearkontinuierliche Weise zueinander in Bezug. Er variiert Tempi, indem er Zeitspannen verdichtet oder dehnt, Bewegungen beschleunigt oder drosselt. Film strukturiert und rhythmisiert Zeit. Auf diese Weise fungiert er als ein Medium temporaler Gestaltung, das sowohl vertraute als auch innovative Zeitfiguren kreieren kann. So handelt es sich beim Film nicht um ein zeit-mimetisches, sondern um ein zeit-schöpferisches Medium. Als solches ist es nicht länger der Dynamik der physischen Realität verpflichtet. Ebenso wenig ist die potenzielle Ablösung von den hier auftretenden Zeitverhältnissen als Verfehlung seiner künstlerischen Bestimmung oder als artistischer Irrweg zu bewerten. Vielmehr kann das Medium durch solche Abweichungen neue temporale Horizonte neben der physischen Dimension der Zeit – den sichtbaren Bewegungen der Materie – erschließen, wie z.B. die psychische Dimension subjektiver Zeiterfahrung.
2.2 Zeit als Zeicheneffekt Das solchermaßen konturierte Konzept soll im weiteren theoretisch unterfüttert werden durch die These der Zeichenabhängigkeit von Zeit. Sie leitet sich aus der antimetaphysischen Einsicht poststrukturalistischer und postanalytischer Positionen in die Unhintergehbarkeit von Sprache ab. Dieser Einsicht zufolge existieren Sinn, Wahrheit und Wirklichkeit für uns immer nur unter einer Beschreibung. Entsprechend besitzt auch die Zeit keine außersemiotische Realität: der Zugang zu ihr führt stets durch sprachliche Deskriptionen. Die Form der Beschreibungssysteme wiederum prägt unsere Vorstellungen und Empfindungen von Temporalität. So wird Zeit nicht wesenhaft sondern, als Zeichenphänomen bestimmt. Im Hinblick auf die Untersuchung filmischer Zeitinszenierungen ist es angebracht, den Fokus zu weiten und statt sprachlicher Beschreibungssysteme mediale Vermittlungen im allgemeinen ins Auge zu fassen. Nicht nur sprachliche, auch visuelle und auditive Zeichen – gar olfaktorische, wie der Geruch der berühmten Madeleine in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zeigt – übermitteln Zeit. Sowohl semiotische Kommunikationsmedien (z.B. Mimik, Sprache, Schrift, Bilder, Musik) als auch technische Verbreitungsmedien (z.B. Foto, Film, Funk, TV, Internet) stiften temporale Bezüge und vermitteln spezifische Zeit-Impressionen. Temporalität wird also konturiert durch die Form der medialen Vermittlung, d.h. durch die Mediengattung (z.B. Film) und die Anordnung der ihr zugehörigen Zeichen (z.B. Töne und Bilder im Film).4 4 Im Hinblick auf die Medienfunktion folge ich dem Verständnis, das Medien eine Sinnstiftungsleistung zuspricht: Medien fungieren nicht als neutrale Übermittler von Bedeutung sondern formen sie, d.h. Bedeutung ist abhängig
Aufblende: Zeitinszenierung
15
2.2.1 Vordenker mediengeprägter Zeiterfahrung: Bergson Ein Bewusstsein für die mediale Prägung temporaler Erfahrung kündigt sich bereits in der lebensphilosophischen Zeittheorie Bergsons an. Bergson macht es sich zur Aufgabe, das Zeitverständnis von Irrtümern zu reinigen, die nicht zuletzt durch einen unangemessenen Sprachgebrauch hervorgerufen werden. Er beanstandet, dass in der Philosophie mit Hilfe eines räumlichen Vokabulars über Zeit räsoniert wird, das falsche Vorstellungen über ihre Verfassung weckt: „Beim Überprüfen der Lehren schien es, als ob die Sprache dabei bereits eine große Rolle gespielt hätte. Die Dauer drückt sie immer als Ausdehnung aus. Die Ausdrücke, die die Zeit bezeichnen, sind der Sprache des Raumes entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt“ (Bergson 2000: 25).
Missverständnisse hinsichtlich der temporalen Beschaffenheit wurzeln jedoch nicht allein in der Auswahl des Vokabulars, sondern auch in der generellen Wirkung von Begriffen. In der Einführung in die Metaphysik (Bergson 2000: 180 – 225) unterzieht Bergson die wissenschaftliche Methode der Analyse, die ihre Gegenstände mit Hilfe von Begriffen erfassen will, einer kritischen Betrachtung. Die in diesem Kontext formulierten Bedenken hinsichtlich einer adäquaten begriffs-sprachlichen Repräsentation subjektiven Zeiterlebens antizipieren den Einfluss von Deskriptionen auf die Zeitauffassung. Bergsons Argumentation lässt sich ausgehend von der zeitphilosophischen Opposition von objektiver und subjektiver Zeit nachzeichnen: mit der objektiven Zeit verbindet sich die Idee gleichförmiger Gegenwartspunkte, welche sich aneinander reihen und zu einer Zeitgeraden fügen, die sich vermessen lässt. Mit dieser Zeitvorstellung operieren nicht nur die Naturwissenschaften; auch wir greifen im Alltag auf sie zurück, um Ereignisse datieren, temporale Zusammenhänge darstellen oder Handlungen aufeinander abstimmen zu können. Die subjektive Zeit hingegen zielt auf die innere Zeitlichkeit des Subjekts – sowohl auf die einzigartige Qualität seiner Zeiterfahrung als auch auf seine Zeitigungsstrukturen. Die Innenzeit erscheint im Vergleich zur objektiven Zeit als beweglich und äußerst komplex: sie tickt nicht im Gleichmaß von Sekunden, Minuten und Stunden dahin, sondern nimmt wechselnde Tempi an. Auch die Zeitigungsstrukturen des Subjekts, d.h. die temporalen Synthesen, die es im Rahmen seiner Konstitution von Selbst und Welt tätigt, gehen nicht in der linearen Ordnung objektiver Zeit auf. Innere Zeitlichkeit fächert sich auf in die Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche vom Subjekt nicht in linearer Manier hintereinander geschaltet, sondern miteinander vernetzt werden. Objektive und subjektive Zeit firmieren in Bergsons Zeitvokabular als homogene Zeit und Dauer. Diesen beiden Zeitformen wird ein unterschiedlicher Seinsstatus zugesprochen: gegenüber der innerpsychischen Dauer – von Bergson konkretisiert als Bewusstseinsstrom, in dem seelische Zustände singulärer Qualität einander durchdringen – erweist sich das von dem medientypischen Zeichensystem (z.B. Medium Buch: Schriftzeichen; Medium Film: visuelle und auditive Zeichen; Medium Internet: visuelle, auditive und Schriftzeichen) und dem spezifischen Arrangement dieser Zeichen (z.B. lineare Anordnung, Hypertext). Im Hinblick auf die Differenzierung der Mediengattungen folge ich dem weiten Medienverständnis der Medienphilosophie, die unterscheidet zwischen sinnlichen Wahrnehmungsmedien (Raum, Zeit), semiotischen Kommunikationsmedien (Bild, Sprache, Schrift, Musik) und technischen Verbreitungsmedien (Buchdruck, Film, TV, Internet). Vgl.: Sandbothe, Mike: Der Vorrang der Medien vor der Philosophie (Sandbothe 2003: 185 – 197).
16
Aufblende: Zeitinszenierung
starre Nebeneinander distinkter Jetztpunkte der homogenen Zeit als eine abgeleitete Form. In der subjektiven Dauer manifestiert sich das wahre Wesen der Zeit. In der Einführung in die Metaphysik problematisiert Bergson das analytische Unternehmen, die Dauer vermittels begrifflicher Zergliederungen und Synthesen erfassen zu wollen. Die Dauer lässt sich durch Begriffe nicht unbeschadet in ihre Bestandteile bzw. Einzelmomente zerlegen und anschließend wieder zusammenfügen. Eine solche Vorgehensweise verwandelt die Bewegung der Dauer in die qualitätslose Gerade homogener Zeit. Die Ursache dafür liegt in der Eigenart des Begriffs, Bewegtes in Unbewegtes zu transformieren: um etwas bezeichnen zu können, müssen sich Begriffe auf etwas beziehen – sie benötigen Fixpunkte, auf die sie rekurrieren können. Einen Moment der innerpsychischen Dauer zu benennen bedeutet, ihn aus seiner Durchdringung mit anderen Momenten zu isolieren und festzusetzen. Zwar ist es möglich, unbewegte Begriffe aus der Bewegung der Dauer zu extrahieren, doch ist es nicht denkbar, die Bewegung der Dauer aus unbewegten Begriffen zu rekonstruieren: „Aus Ruhepunkten, und mögen sie noch so zahlreich sein, wird man niemals etwas Bewegliches machen; wenn man dagegen vom Beweglichen ausgeht, kann man in Gedanken soviel Ruhepunkte daraus ableiten, wie man will. Mit anderen Worten, man begreift, dass feste Begriffe durch unser Denken aus der Beweglichkeit abstrahiert werden können, aber es gibt kein Mittel, um mit der Festigkeit der Begriffe die Beweglichkeit des Beweglichen wiederzugewinnen“ (Bergson 2000: 213; Hervorhebung im Original).
Anstatt die dynamische Natur der Dauer einzufangen, verfestigen begriffliche Vorstellungen und Darstellungen die Dauer zu einer Reihe wohlunterschiedener, starrer Momente. In dem Werk Schöpferische Entwicklung entlarvt Bergson den Film als neuesten illusorischen Versuch, die Bewegung aus Unbewegtem zu rekonstruieren: „Dies ist das Verfahren des Kinematographen. Mit Momentphotographien, deren jede das Regiment in unbewegter Stellung darstellt, rekonstruiert er die Bewegtheit seines Vorüberziehens. (...) Sollen sich die Momentaufnahmen beleben, so muß irgendwo Bewegung sein. Und in der Tat ist hier die Bewegung durchaus vorhanden, sie steckt im Apparat. Einzig dadurch, daß der kinematographische Film sich aufrollt und die verschiedenen Photographien des Schauspiels dazu bringt, sich Stück für Stück aneinanderzufügen, gewinnt jede Figur des Schauspiels ihre Bewegtheit zurück (...)“ (Bergson 1912: 308 – 309).
Die Filmtechnik zieht den Dingen ihre Beweglichkeit ab. Sie legt sie in einem Apparat nieder und ersetzt so die natürliche Eigendynamik durch eine anonyme, mechanische Bewegung. Indem die Kinematographie kontinuierliche Bewegungen bannt und in Momentaufnahmen zergliedert, verfährt und wirkt sie in derselben Weise wie das begriffliche Denken: „Dies der Kunstgriff des Kinematographen. Dies auch der Kunstgriff unseres Erkennens. (...) Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen so zu verfahren“ (Bergson 1912: 309). In beiden Fällen wird die Bewegung auf den Stillstand bezogen und durch unbewegliche Punkte zusammengesetzt. Entsprechend erblickt Bergson im Nebeneinander der Bilder auf dem Celluloidstreifen ein Sinnbild fixierter Gegenwarten – der Film wird ihm zum Inbegriff der homogenen Zeit. Weder das Medium der Sprache noch das Medium des Films eröffnen demnach einen Zugang zur subjektiven Dauer, die „man fühlt und erlebt (...), die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist“ (Bergson 2000: 23)
Aufblende: Zeitinszenierung
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Dieser kann bei Bergson nur ‚medienfrei’ qua Intuition erfolgen.5 Die Dauer entzieht sich der begrifflichen wie filmischen Objektivierung – jeder mediale Zugriff verfälscht ihr Wesen und überführt es in das Muster homogener Zeit. Dieses verkörpert weder eine originäre Zeiterfahrung noch bietet es das authentische Abbild einer solchen. Es handelt sich um ein Konstrukt, das durch Film oder Begriffssprache hervorgebracht wird. Die homogene Zeit wird kenntlich als medialer Effekt. Im Hinblick auf die homogene Zeit denkt also bereits Bergson die Prägung der Zeitvorstellung durch Medien und Zeichen an. Sobald Medien zur Veranschaulichung subjektiver Zeitempfindung herangezogen werden, speisen sie Zeit in eine zeichenhafte Sphäre ein und überformen sie. Folglich entschlüsseln Medien nicht die Wahrheit der Zeit, sondern erzeugen ein temporales Artefakt: die homogene Zeit. Diese wertet Bergson gegenüber der wesenhaften Dauer nicht ab, sondern stellt ihre Ambivalenz in Rechnung. Die homogenen Zeitmodelle, die in Wissenschaft und Alltag kursieren, besitzen aufgrund ihrer Objektivierbarkeit und Kalkulierbarkeit einen nicht zu unterschätzenden praktischen Wert. Zwar ist die homogene Zeitform „nur eine ungeschickte Nachahmung, eine Nachäffung der wirklichen Bewegung (der Dauer – K.V.), aber diese Nachahmung ist uns im praktischen Leben nützlicher als es die Intuition der Sache selber wäre“ (Bergson 2000: 205). Andererseits verstellen gerade Nützlichkeit und Popularität des homogenen Modells den Blick auf das Wesen der Zeit und führen zur Verdrängung der subjektiv-authentischen Temporalitätserfahrung.
2.2.2 Medieninduzierte Zeitlöschung: Posthistoire Bergsons Hinweis auf die Dependenz von Zeitdarstellung und Zeitbewusstsein nimmt den Brennpunkt einer Debatte vorweg, die ihren Ausgang in den 1980er Jahren nahm und den Zusammenhang von Zeit, Medien und Wahrnehmung verhandelt (vgl. Sandbothe/Zimmerli 1994). Sie entzündete sich an der Frage, welchen Einfluss Medien – insbesondere neue Medientechnologien (Film, TV, Computernetze) – auf die zeitlichen Grundstrukturen menschlicher Wahrnehmung ausüben: verändern Medien die subjektive Zeitwahrnehmung? Verschiebt sich mit ihr der Bezugsrahmen für die Selbst- und Welterfahrung des Subjekts – werden seine Zeitigungsstrukturen durch Medien moduliert? Als Antwort führt der posthistorische Debatten-Strang das Schlagwort vom Zeit- und Geschichtsverlust ins Feld. In ihm gipfelt die pessimistische Prognose, der zufolge das subjektive Zeitbewusstsein nicht nur durch konkurrierende mediale Zeitformen bei Seite gedrängt, sondern durch die Medientechnologie zerschlagen wird: Medien stiften Zusammenhänge in Raum und Zeit. Diese sind infolge der Geschwindigkeit medialer Informationsverbreitung (Live-Übertragungen in Fernsehen, Radio und Internet) sowie der potenziellen Aktualisierung von Vergangenem und Zukünftigem durch Simultaneität und massive Gegenwartsdominanz charakterisiert. Medien schaffen „Gleichzeitigkeits-Plateaus“ (Großklaus 1995: 27) und „Gegenwartsfelder“ (Großklaus 1995: 40), auf denen Punkte aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen nebeneinander liegen. Der Zugriff auf sie erfolgt 5
Bei der Intuition handelt es sich um eine Erkenntnismethode, die Bergson der wissenschaftlichen Analyse entgegensetzt. Anstatt auf begriffliche Zergliederung zielt sie auf eine ganzheitliche Erfassung bzw. eine kontemplative Einsenkung in den Erkenntnisgegenstand: „Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren“ (Bergson 2000: 183).
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instantan, so dass geschichtliche Spannen und räumliche Distanzen übersprungen und gelöscht werden. Die Medienzeit verbindet Ereignisse nicht durch linear-kontinuierliche Entwicklungen miteinander und unterminiert so eine historische Entfaltung des Geschehens. Diese medialen Zeitverhältnisse entziehen auch den subjektiven Zeitlichkeitsstrukturen den Boden. Die Tendenz zur Gleichzeitigkeit wirkt der Wahrnehmung geschichtlicher Abläufe entgegen und damit auch dem Bewusstsein der Entwicklung des Selbst in der Zeit. Letzteres setzt neben einer temporalen Dynamik auch die Differenzierung und Vernetzung von Zeitdimensionen voraus, doch auch diese werden auf den medialen Gegenwartsfeldern eingeebnet. Temporalität gerinnt hier zur Gleichzeitigkeit, die sowohl die Sensibilität für zeitliche Dynamiken betäubt als auch die Entfaltung des Selbst in der Zeit konterkariert. Paul Virilio spitzt diesen Zusammenhang in einer radikalen Destruktionsthese zu, die besagt, dass die Medientechnologien des 20. Jahrhunderts Zeitverhältnisse produzieren, die geschichtliche Temporalstrukturen und mit ihnen die Bedingungen subjektiver Selbst- und Weltkonstitution zerstören.6 Analog diagnostiziert auch Friedrich Kittler die Ersetzung geschichtlicher Zeitlichkeit durch das mediale Zeitformat der Simultaneität infolge einer Entkopplung von Individuum und Kommunikationswandel: „Ohne Referenz auf den oder die Menschen haben Kommunikationstechniken einander überholt“ (Kittler 1993a: 188; vgl. auch Kittler 1993b).7 Sowohl bei Virilio als auch bei Kittler erfährt die Annahme der Zeichen- bzw. Medienabhängigkeit von Zeit eine Radikalisierung, indem sie in die Annahme eines ‚temporalen Formungsmonopols’ der Medien überführt wird. Allein den Medien wird die Macht zugestanden, Zeitverhältnisse zu konfigurieren. Das zeitliche Geschehen entzieht sich dem Zugriff des Subjekts und verselbständigt sich auf der Ebene technischer Apparaturen. Es wirkt nur insofern auf das Individuum zurück, als dass es seine Zeitigungsstrukturen auflöst. So verursachen Medientechnologien die Vernichtung der subjektiven Temporalität auf der einen und die Verabsolutierung einer externen, überindividuellen Medienzeit auf der anderen Seite. Sie erheben die Simultaneität zur universalen temporalen Grundstruktur und begründen eine neue technologische Einheitszeit. Wechselwirkungen zwischen ihr und menschlichen Temporalstrukturen werden von Kittler und Virilio nicht in Betracht gezogen. Sie entkoppeln die Medienzeit vom Zeitbewusstsein der Subjekte und gliedern auf diesem Wege die Zeitgestaltung aus der Sphäre menschlichen Handelns aus. Die pragmatisch-ästhetische Option, dass Subjekte autonom und kreativ auf die Medienzeit reagieren, formend in sie eingreifen, sie transformieren oder gar Medien nutzen, um neue Zeitgestalten hervorzubringen (z.B. in Film- und Fotokunst) scheint nicht auf. Vielmehr wird die durch Medien konstruierte Zeit gleichsam naturalisiert. Solchermaßen aus dem Einflussbereich des Subjekts verwiesen, wird die mediale Zeitfigur der Simultaneität von historischem und kulturellem Wandel ausgeschlossen und zu einer ahistorischen Grundstruktur verfestigt.
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Den Sieg der Geschwindigkeit über geschichtliche Zeitstrukturen behauptet beispielsweise Paul Virilio (vgl. Virilio 1986; 1989; 1992). 7 Zu den Positionen Virilios und Kittlers vgl. Sandbothe, Mike: Mediale Zeiten. Zur Veränderung unserer Zeiterfahrung durch die elektronischen Medien (Hammel 1996: 133 – 156).
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2.2.3 Der Kern der Zeitinszenierung: Zeichenabhängigkeit des Temporalen in poststrukturalistischen und postanalytischen Ansätzen Im Kontrast zur posthistorischen Einschätzung lanciert die These der Zeichen- bzw. Medienabhängigkeit der Zeit in poststrukturalistischen wie postanalytischen Ansätzen kein universales Zeitschema, sondern leitet die Historisierung und Pluralisierung temporaler Modelle ein. Ebenso wie Virilio und Kittler gehen Derrida, Deleuze, Lyotard und Rorty von der Prämisse aus, dass die Form der medialen Darstellung Zeitverständnis und -erfahrung figuriert. Dabei werden allerdings Wechselbeziehungen einkalkuliert: man nimmt an, dass mediale Zeitrepräsentationen das subjektive Zeitbewusstsein beeinflussen und dieses sich im Zuge eines Wandels der Kommunikationsformen – z.B. durch den Wechsel von der gesprochenen Sprache zur „nicht-phonetischen Schrift“ (Derrida 1983: 12) oder durch die Einführung neuer Medientechnologien (vgl. Lyotard 2001) – verändern kann (nicht aber zerstört wird). Doch auch eine umgekehrte Wirkungsrichtung zeichnet sich ab. Derrida, Deleuze, Lyotard und Rorty leiten eine pragmatische Akzentverschiebung ein und eröffnen den Blick auf einen zeitgestalterischen Medienumgang der Subjekte. Weder werden mediale Zeitverhältnisse den Subjekten oktroyiert noch sind sie zwangsläufig mit der Eliminierung subjektiver Zeitlichkeit verbunden. Stattdessen können Medien durchaus eingesetzt werden, um sich subjektiven Zeitigungsstrukturen zu nähern, ihre Dynamik anzuregen und Zeiterlebnisse zu evozieren. Die temporale Formungskraft von Medien muss die Zeit weder von den Zeitigungsstrukturen des Subjekts entkoppeln noch seiner Handhabe entziehen. Im Bereich der Ästhetik rücken Medien – von sprachlichen Deskriptionsweisen bis zu audiovisuellen Darstellungsmodi – die Zeit wieder in seine Reichweite. Medien begründen keine autoritäre Zeitherrschaft, sondern werden als Instrumente einer aktiven Zeitgestaltung – als Mittel der Zeitinszenierung – sichtbar. Damit wird Zeit wieder in die Sphäre der subjektiven Gestaltbarkeit integriert. Hier unterliegt sie sowohl historischen und kulturellen Veränderungen als auch der Pluralisierung, da eine Vielfalt von Zeitgestaltungen bzw. Zeitbeschreibungen denkbar ist.
2.2.3.1 Die Zweiseitigkeit medialer Zeitzeichen: Derrida, Lyotard, Deleuze Die Zweiseitigkeit der Zeitzeichen am Beispiel der Jetzterfahrung nach Lyotard Der Beitrag letzt genannter Theoretiker zum Begriff der Zeitinszenierung ist noch zu differenzieren. Im Gegensatz zu Rorty, dem nicht daran liegt, hinter die temporalen Beschreibungen zurückzugehen, schimmert in den poststrukturalistischen Ansätzen Derridas, Lyotards und Deleuzes noch immer eine ‚metaphysische Sehnsucht’ durch, den medialen Schleier der Zeit zu lüften und ihre ursprüngliche Verfassung zu ermitteln. Ähnlich wie bei Bergson scheint auch hier das subjektive Erleben von Zeit der Schlüssel zu ihrem Wesen zu sein. So stellt man sich die Frage nach der Beziehung temporaler Deskriptionen zum Zeiterleben, ob sie ihm gerecht werden oder es verzerren. Dabei tritt auch in poststrukturalistischen Betrachtungen die Zweiseitigkeit der Zeitzeichen zu Tage. Auf der einen Seite wird die semiotische Realität der Zeit konstatiert. „Raum und Zeit gäbe es nicht unabhängig von einem Satz“, so Lyotard, „(sie) sind Titel, die situative Wirkungen zusammenfassen, die in den Satz-Universen hervorgebracht wurden, von Ausdrücken wie: zurück, um einiges spä-
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ter, gerade darunter, wurde geboren, zu Beginn usw. (und: usw.)“ (Lyotard 1989: 135; Hervorhebung im Original). Ebenso vermerkt Derrida, dass es das Spiel der Zeichen ist – das Prinzip der différance –, welches Raum und Zeit erzeugt: „Als Ursprung der Erfahrung des Raumes und der Zeit macht es die Schrift, das Gewebe der Spur, möglich, daß sich die Differenz zwischen Raum und Zeit artikuliert und als solche in der Einheit der Erfahrung (...) erscheint“ (Derrida 1983: 114f.). Auf der anderen Seite steht der Zeit als Zeicheneffekt die Einsicht gegenüber, dass Zeichen Temporalität eben konstruieren und nicht ihr Wesen abbilden. Damit offenbart sich die Relation medialer Zeichen zur Zeit als ambivalent. Zwar wird die Zeit überhaupt erst durch zeichenhafte Beschreibungen erfahrbar, zugleich aber haftet den Zeichen das Risiko an, ein temporales Wesen zu deformieren. Besonders deutlich zeigt sich diese Spannung in Lyotards Überlegungen zur Verfassung des Jetzt. Er stellt die Entzugsstruktur des gegenwärtigen Moments heraus, welcher keinem fixen Punkt auf einer Zeitschiene gleicht, sondern einer amorphen Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, die sich permanent verschiebt und jeglichem Zugriff entgleitet: „Das Jetzt ist nicht jetzt, sondern noch nicht oder schon nicht mehr, man kann nicht jetzt jetzt sagen, dafür ist es zu früh (vorher) oder zu spät (nachher). Was zukünftig war, ist jetzt vergangen, das heißt die Zeit eines Satzes. Die Grenze ist nicht punkt- oder linienförmig, das Spätere greift unaufhörlich auf das Frühere über. Das Jetzt ist genau das, was nicht fortbesteht“ (Lyotard 1989: 131f.; Hervorhebung im Original).8
In Anbetracht der transitorischen Natur des Jetzt unterscheidet Lyotard zwischen zwei Gegenwartsformen: einer vergegenständlichten und einer nicht-gegenständlichen. Erstere bezieht sich auf eine Gegenwart, die benannt wird – eine Gegenwart, die durch ihre sprachliche bzw. mediale Überformung zum Ausdruck gelangt und sich in einer diskursiven Zeichenordnung manifestiert. Die nicht-gegenständliche Form hingegen verweist auf „(d)as Jetzt (...), was nicht fortbesteht“ und aufgrund seiner Flüchtigkeit der Darstellung entweicht. Es kann immer nur nachträglich bezeichnet werden, da es im Augenblick seiner Bezeichnung (Formgebung) immer schon vergangen ist. Die nicht-gegenständliche Gegenwart wird nicht durch ihre sprachliche Darstellung hervorgebracht, sondern erlischt in ihr. Es handelt sich um eine apräsente Präsenz, die stirbt, sobald sie in eine Form gegossen oder mit einem Bedeutungsgehalt gefüllt wird. Diese apräsente Präsenz kann gleichsam als Intensität erlebt, nicht aber adäquat veranschaulicht werden. Sie wird spürbar als Schock oder Plötzlichkeit, als unvermittelter Einbruch eines unberechenbaren Geschehens. Lyotard bezeichnet die nicht-gegenständliche Gegenwart als Ereignis oder auch als Vorkommnis des ‚Es gibt’. „Das Es gibt findet statt, ist ein Vorkommnis (ein »Ereignis« [i. O. dt.]), aber es stellt nichts für niemanden dar, es stellt sich nicht dar und ist weder das Anwesende noch die Anwesenheit. Sofern eine Darstellung >setzbar< (denkbar) ist, wird sie als Vorkommnis verfehlt“ (Lyotard 1989: 134). „Folglich bedeutet ist nicht: ist da, noch weniger: ist wirklich. Ist bedeutet nichts und würde das Vorkommnis »vor« der Bedeutung (dem Inhalt) des Vorkommnisses bezeichnen. Würde es
8 Zur Unmöglichkeit der Jetzt-Fixierung vgl. Derrida: „Man glaubt, von der Gegenwart (dem Präsens) aus die Zeit denken zu können, indem man die umgekehrte Notwendigkeit, die Gegenwart von der Zeit aus als *Differenz zu denken, ausschaltet“ (Derrida 1983: 285).
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bezeichnen und bezeichnet es nicht, da es das Vorkommnis situiert (»vor« der Bedeutung), indem es dieses bezeichnet, (...)“ (Lyotard 1989: 140).
Gleichwohl aber meint dieses undarstellbare Ereignis des absoluten Jetzt eine Gegenwart im ausgezeichneten Sinne: als Präsenz, die vor ihrer medialen Vergegenwärtigung liegt, bildet sie die Bedingung der Möglichkeit, um überhaupt etwas als gegenwärtig bestimmen zu können. Das Jetzt-Ereignis selbst jedoch liegt außerhalb der Zeichen-Sphäre; es subsistiert im Bereich des Undarstellbaren. Erfolgt eine zeichenhafte Fixierung wird das Jetzt zwar sichtbar, doch treibt man ihm zugleich seinen wesenhaften Ereignischarakter aus. Eben darin liegt die Janusköpfigkeit sprachlicher Zeichen: sie machen Temporalität fassbar, kommunizierbar und reflektierbar, jedoch nicht ohne sie ihren diskursiven Spielregeln gemäß zu (ver-)formen. Ohne eine Verfremdung ihres subjektiven Erlebnischarakters ist Zeit nicht zu haben.
Poststrukturalistische Kritik an linearen Zeitbeschreibungen Sowohl Lyotard wie auch Derrida und Deleuze weisen bestimmten Formen medialer Zeitdarstellung stärkere Verfremdungswirkungen zu als anderen. Ihre Skepsis richtet sich vor allem gegen lineare Deskriptionen, die Zeit als Aneinanderreihung von Gegenwarten konzipieren, wie z.B. der objektive Zeitbegriff oder narrative Muster. Letztere – ob in Sprache oder Film – bändigen Lyotard zufolge den Ereignischarakter der Jetzt-Erfahrung. Als unvorhergesehener Einbruch dessen, was sich einer Form- und Sinngebung versperrt, löst das nicht-gegenständliche absolute Jetzt eine verstörende Gefühlsintensität aus. Diese Qualität subjektiver Gegenwartswahrnehmung wird durch die Narration gezähmt. Erzählungen modellieren Zeit als Fortgang, in deren Verlauf sich Sinn sukzessiv entfaltet. Aufgrund seiner Undarstellbarkeit und ‚Bedeutungsresistenz’ müsste das absolute Jetzt einen Bruch im Sinnkontinuum entfachen. Dieser wird jedoch durch die folgerichtige Logik der narrativen Bewegung überspielt. So wird der Ereignischarakter des Jetzt gleichsam in der Verkettung der Momente aufgelöst und die subjektive Erlebnisqualität des Moments entschärft: „Andererseits wird die Entfesselung des Jetzt / durch die Rekurrenz des Vorher/ Nachher gezähmt. Der Operator der Diachronie oder Sukzessivität wird nicht wieder infrage gestellt, selbst wenn er moduliert ist. Er »verschlingt« das Ereignis und den Widerstreit, den jenes nach sich zieht. Die Erzählungen stoßen das Ereignis an die Grenzen zurück“ (Lyotard 1989: 252).
Während Lyotard die Relativierung der Gegenwartsempfindung fokussiert, akzentuiert Derrida eine weitere Konsequenz linearer Repräsentationsformen: sie abstrahieren von der Komplexität menschlicher Zeitlichkeit. Sie wird diszipliniert und in eine lineare Anordnung von fixen Momenten überführt, die den trügerischen Glauben an Augenblickspräsenz und Zeitkontrolle begünstigt – trügerisch, weil er die temporale Entzugsstruktur negiert. Auch Derrida kennzeichnet die Zeit als unaufhaltsame Bewegung, die dem Zugriff von Datierungen und Momentangaben entweicht. Augenblicke werden nicht als positive, zählbare Entitäten definiert, sondern als Produkte der Differenz zwischen Vergangenem und Zukünftigem, denen die Zerstreuung (dissemination) von Beginn an eingepflanzt ist. Entsprechend gerät Temporalität bei Derrida zu einem ausufernden, wuchernden Geschehen. Es ist die Zeichenhaftigkeit der Zeit selbst, welche ihre Wucherung bedingt: Zeit wird
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generiert durch das differenzielle Spiel der Signifikanten, die différance. In diesem Spiel gewinnen Signifikanten Bedeutung durch ihre Unterscheidung von anderen Elementen – ein Prozess, der unabschließbar ist. Entsprechend sind Bedeutungen niemals anwesend, sondern werden aufgeschoben in einer Dynamik ausgreifender Differenzierungsvorgänge. In gleicher Weise wie die Sinnpräsenz verhindert das Prinzip der différance auch die Präsenz des Augenblicks. Eingespeist in „(...) das systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen“ (Derrida 1986: 67 – 68), lässt sich der Augenblick nicht länger als gegebenes, unzerlegbares Absolutes begreifen. Stattdessen zerfasert er in einer sich ursprungs- und endlos verzweigenden Spur. Demnach kann Zeit als Effekt der différance nicht länger als linear-kontinuierliche Sukzession distinkter Momente gedacht werden. Vielmehr handelt es sich um ein dynamisches Gewebe, in dem sich Augenblicke – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – aufspalten, zu wuchern beginnen und ineinander wachsen. Aufgrund einer derartigen Verfasstheit von Temporalität erscheint Derrida auch die Unterteilung in Zeitdimensionen als unzulässig. So plädiert er sowohl für die Verabschiedung des linearen als auch des dimensionierten Zeitvokabulars: „Die Begriffe Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, alles, was in den Begriffen von Zeit und Geschichte deren klassische Evidenz unterstellt – der metaphysische Zeitbegriff schlechthin -, kann die Struktur der Spur nicht adäquat beschreiben“ (Derrida 1983: 116). Lyotards und Derridas Kritiken an der linearen Zeitkonzeption verschränken sich in Deleuzes zeit- und filmtheoretischen Überlegungen. Deleuze identifiziert den Umgang mit der Zeit als Wurzel spezifischer Filmästhetiken. In den Kino-Bänden Das Bewegungs-Bild (Deleuze 1998) und Das Zeit-Bild (Deleuze 1999) legt er die filmgeschichtliche Entwicklung temporaler Ästhetiken dar und sucht die Wirkungsmodi und -potenziale filmischer Zeitzeichen zu bestimmen. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass lineare Codes sowohl die Intensität der Augenblickserfahrung einebnen (Lyotard) als auch die komplexe Dynamik des subjektiven Zeitgeschehens beschneiden (Derrida). Im Rekurs auf Bergsons Unterscheidung von homogener Zeit und Dauer erläutert Deleuze die Verkürzung der Temporalität durch sogenannte sensomotorische Schemata. Indem diese auf die Kontinuität von Bewegung, Zeit und Sinn zielen, bilden sie die Grundbausteine filmischer Linearität. Es handelt sich um Einstellungsverklammerungen, welche für korrekte Bewegungsanschlüsse sorgen und so das Zeit- und Sinnkontinuum auf der Bildebene stabilisieren. Sensomotorische Schemata sichern ein folgerichtiges Nacheinander der Momente an der Basis und unterwerfen das lebendige Zusammenspiel der Zeitdimensionen – die Synthesen von Erinnerungen, Wahrnehmungen und Erwartungen – der Mechanik der Abfolge. Neben der Transformation temporaler Verflechtungen in ein gerichtetes Geschehen bergen sensomotorische Verbindungen auch das Risiko, die Erlebnisqualität des Moments – wie z.B. den lyotardschen Ereignischarakter – zu verschütten. Sie koppeln Einstellungen schlüssig aneinander, treiben so den Fortgang der Zeit voran und verhindern gleichsam das Eintauchen in ihre Tiefendimension. In der Tiefe der Zeit breitet sich bei Deleuze eine umfassende, unpersönliche Vergangenheit aus. Diese Vergangenheitsform, die Deleuze bei Bergson vorfindet und ausbaut, trägt weder historischen Charakter (im Sinne vergangener außenweltlicher Ereignisse) noch psychologischen Charakter (im Sinne vergangener innerweltlicher Ereignisse). Gemeint ist eine Vergangenheit in ihrem allgemeinsten Seinszustand: eine ontologische Vergangenheit. Aus ihr wird die Zeit gleichsam geboren. Ihre Existenz ist die Voraussetzung dafür, dass gegenwärtige Momente zu vergangenen werden
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und temporale Prozesse stattfinden können. Die gängige Auffassung, nach der zuerst etwas gegenwärtig sein muss bevor es zur Vergangenheit wird, erfährt bei Deleuze eine Umkehrung: „Die Vergangenheit folgt nicht der Gegenwart, sondern wird von dieser im Gegenteil als Bedingung schlechthin vorausgesetzt, ohne die sie nicht vergehen könnte“ (Deleuze 2001: 79).9 Die ontologische Vergangenheit entwickelt sich nicht aus der Gegenwart, sondern besteht vor und gleichzeitig mit ihr: „Vergangenheit und Gegenwart bezeichnen nicht zwei aufeinanderfolgende Momente, sondern zwei koexistierende Sphären; die eine, die Gegenwart, die ständig vergeht; die andere, die Vergangenheit, die nicht zu sein aufhört, durch die aber jede Gegenwart hindurchgeht. In diesem Sinne gibt es eine reine Vergangenheit, eine Art »Vergangenheit im allgemeinen«“ (Deleuze 2001: 78 – 79).
Ohne die Präexistenz des Vergangenen könnte sich ein aktueller Moment nicht in einen vergangenen verwandeln und müsste auf immer gegenwärtig bleiben. Damit erstarrte die Zeit zur Ewigkeit. Die vorgelagerte Vergangenheit aber ermöglicht das Vergehen von Zeit. Sie bedingt den Ablauf der Gegenwart, das Nachrücken der Zukunft und die Entstehung der konkreten Vergangenheit eines Individuums oder einer Gesellschaft, die sich aus spezifischen abgelaufenen Gegenwarten zusammensetzt. Die ontologische Vergangenheit ist die Voraussetzung von Temporalität. Durch lineare Narrations- und Zeitmuster im konventionellen Erzählkino wird nun sowohl die Bedeutung der Vergangenheit stark eingeschränkt als auch die Möglichkeit der Annäherung an sie von vornherein unterbunden. Indem sie Zeit als Folge von Jetztpunkten entwerfen, räumen sie der Gegenwart Priorität ein. Auf dem Zeitstrahl gerät die Vergangenheit nicht anders als vormalige Aktualität in den Blick und wird damit zugleich reduziert auf die konkrete Gestalt einer früheren Begebenheit. Zudem operieren lineare Codes mit einem vereinfachten Bild des Moments. Sie fassen ihn als Jetztpunkt auf einem Zeitstrahl auf und abstrahieren so von seiner Beweglichkeit ebenso wie von einer weiteren Eigenschaft, auf die Deleuze hinweist: seiner inneren Gespaltenheit. Ausgehend von der Annahme einer grundsätzlichen Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart begreift Deleuze den gegenwärtigen Moment im Anschluss an Bergson als Doppelfigur. Während eine Seite in der Gegenwart aufscheint, ragt die andere in die Sphäre der Vergangenheit hinein, eine Zweiseitigkeit oder auch inhärente Differenz des Moments, die an Derridas Konzept der dissemination erinnert. Indem lineare Deskriptionen diese innere Differenz negieren und dem Moment als Jetztpunkt eine positive Identität verleihen, isolieren sie ihn von seiner Anbindung an die Vergangenheit. Sie schneiden den Weg ins Innere der Zeit ab, den ein Momenterlebnis eröffnen könnte.
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Die Präexistenz der ontologischen Vergangenheit ist keinesfalls deterministisch zu deuten: sie weist keine konkrete Gestalt auf, d.h. ein spezifisches gegenwärtiges Ereignis ist nicht als solches bereits in der Vergangenheit vorgebildet. Die ontologische Vergangenheit gibt die Gegenwart nicht vor, sondern stellt die Bedingung der Möglichkeit ihres Ablaufens dar. Zu Deleuzes Auffassung der Vergangenheit, die er ausgehend von Bergson entwickelt vgl. Deleuze 2001: Kapitel 3: „Das Gedächtnis als virtuelle Koexistenz“. Zu Bergsons Vergangenheitsauffassung vgl. Bergson 1991: Kapitel III: „Vom Weiterleben der Bilder. Gedächtnis und Geist“.
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Filmstrategischer Einsatz wider die Linearität Der Durchgang durch zeittheoretische Auffassungen von Lyotard, Derrida und Deleuze hat ein Spannungsverhältnis zwischen Konstruktcharakter und Wesenhaftigkeit der Zeit zu Tage gefördert. Trotz der Einsicht in die Zeichenabhängigkeit von Zeit hat man sich von der Annahme einer grundlegenden temporalen Verfassung noch nicht gänzlich verabschiedet, die unterhalb der zeichenhaften Oberfläche liegt. Wird sie vermittels von Medien ans Licht gehoben und in die Sphäre von Repräsentation, Kommunikation und Reflexion eingespeist, wird sie ihren Zeichensystemen gemäß geformt bzw. verformt (Doppelcharakter der Zeitzeichen). Vor diesem Hintergrund wird vor allem die Wirkung linearer Zeichenordnungen kritisch durchleuchtet. Ihre einfache, klare Struktur produziert überschaubare wie objektivierbare Zeitverhältnisse und erweist sich im praktischen Leben als äußerst zweckdienlich. Eine adäquate Deskription der temporalen Dynamik, des Augenblicks und der Vergangenheit liefert sie jedoch nicht, noch ist sie dazu angetan, Zeitempfindungen hervorzurufen, welche diese antizipieren könnte. Ein Einblick in die innere Verfassung der Zeit wird demnach von linearen Codes sowohl auf intellektueller als auch auf sensitiver Ebene verstellt. Aus diesem Grund werden alternative mediale Zeichenkonstellationen ausgelotet, um sich der grundlegenden Fasson des Temporalen anzunähern. Während Derrida die Entwicklung eines philosophischen Vokabulars vorschlägt bzw. „(d)ie Konstituierung einer Wissenschaft oder einer Philosophie der Schrift“ (Derrida 1983: 169), welche die Zeit als Phänomen der différance beschreibt, verschieben Deleuze und Lyotard die Sensibilisierung für die Essenz des Zeitlichen in den Bereich der Ästhetik. Sie entdecken den Film als vortreffliches Feld, auf dem das subjektive Zeiterleben, von dem man sich einen Durchbruch in das Innere der Zeit verspricht, angeregt werden kann. Die von Deleuze und Lyotard aufgezeigte Filmästhetik versucht das Zeitbewusstsein durch die Unterwanderungen linearer Zeichenordnungen zu animieren. Die Bewegungskontinuität und narrative Sukzession des Erzählkinos wird z.B. durch Stockungen oder Zäsuren gestört. Bilder werden der Logik des Nacheinanders enthoben und perforieren das Zeit- und Sinnkontinuum des Films. Kinematographische Zeichen, die den Fortgang der Zeit blockieren, um in ihre innere Verfassung einzudringen, bezeichnet Deleuze als Zeit-Bilder. Sie sprengen sensomotorische Verbindungen und schließen nicht mehr sinnvoll an vorherige und nachfolgende Einstellungen an, so dass sie aus der Erzählfolge ausscheren und sich verselbständigen. Der Zweck der Zeit-Bilder besteht allerdings nicht schlicht darin, Linearität zu zerstören, sondern die Aufmerksamkeit vom Ablauf der Ereignisse – der Filmstory – abzuziehen und sie auf die Bilder selbst zu konzentrieren. Auf diese Weise intensivieren sie das Erlebnis des filmischen Moments, ermöglichen eine kontemplative Augenblickserfahrung und erschließen einen sensitiven Zugang in die Tiefendimension der Zeit. Nach Deleuze liegt in den Zeit-Bildern die Chance, den filmischen Moment aus seiner Vereinnahmung durch das aktuelle Handlungsgeschehen zu lösen und auf die Sphäre der Vergangenheit hin zu öffnen. Sie erhellen den Konnex von Vergangenem und Gegenwärtigem im Inneren des Moments und deuten auf die Existenz einer allgemeinen Vergangenheit hin, die allen temporalen Prozessen zugrunde liegt. Die Isolation des filmischen Moments aus der Narration stellt ein zentrales Motiv auch in Lyotards Äußerungen zur Filmästhetik dar. Ihm geht es jedoch nicht darum, die Vergangenheit heraufzubeschwören, sondern den Augenblick mit der Intensität des absoluten Jetzt aufzuladen. In L’acinéma (Lyotard 1982: 25 – 34) widmet Lyotard sein Interesse ‚ungehor-
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samen Aufnahmen’, die sich wie die deleuzianischen Zeit-Bilder nicht in die Erzähl- und Bewegungsökonomie narrativer Filme fügen. Stattdessen injizieren sie „sterile Differenzen“ (Lyotard 1982: 26) in den Bildfluss – narrative wie visuelle Schismen, die mit den sensomotorischen Brüchen korrespondieren. Sie lassen Einstellungen unvermittelt aufeinanderprallen und zwingen Unvereinbares direkt nebeneinander. So klafft zwischen den Einstellungen ein unbestimmtes Dazwischen auf, welches das absolute Jetzt in seiner Undarstellbarkeit und Plötzlichkeit spürbar macht. Indem sterile Differenzen das Bewegungsund Sinnkontinuum des Films zersetzen, bewirken sie „die Entfesselung des Jetzt“ aus der „Rekurrenz des Vorher/ Nachher“ (Lyotard 1989: 252) – kurz: die Erzählung wird zerschlagen und das Ereignis des Jetzt frei gesetzt. Dieses radikale Plädoyer für die Diskontinuität entschärft Lyotard in seiner Idee eines souveränen Films (Lyotard 1996). Zwar geht er auch in diesem Fall Aufnahmen nach, welche sich der Narration verweigern, sie jedoch nicht zerstören. Anstatt die Filmstory voranzutreiben, verweisen die sogenannten ‚souveränen Bilder’ primär auf sich selbst und die Singularität des gezeigten Moments. Es handelt sich um rein deskriptive Einstellungen, die beim Gezeigten verweilen, ohne ihm eine Funktion für die Erzählung beizumessen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, das absolute Jetzt aus der Aporie zwischen den Bildern in die Bildlichkeit selbst zu verschieben: ohne den flüchtigen Augenblick mit einer spezifischen Bedeutung für die Filmstory zu versehen, verleihen ihm souveräne Bilder eine ephemere Leinwandpräsenz – sie machen das Jetzt sichtbar, ohne ihm eine Form zu geben.10 Sowohl Deleuze als auch Lyotard konstatieren einen engen Zusammenhang zwischen Film und temporaler Erfahrung, der für das Konzept der Zeitinszenierung von elementarer Bedeutung ist. Sie erschließen den Film als Medium, das vermittels spezifischer Inszenierungsweisen das Zeitbewusstsein aktivieren kann und erhellen so seine temporalen Sensibilisierungs- und Gestaltungspotenziale. Doch wird Film im Hinblick auf subjektive Temporalität noch nicht in letzter Konsequenz als zeit-konstruierendes Medium gedacht, sondern eher als zeit-animierendes: Zeit-Bilder, sterile Differenzen und souveräne Bilder sollen das subjektive Zeitbewusstsein beleben, das in die Tiefendimension der Zeit – zum absoluten Jetzt oder zur Vergangenheit – vordringen kann. Damit fungieren die filmischen Zeitästhetiken letztlich als mediale Annäherungsstrategien an eine unterstellte, grundlegende Temporalstruktur. So schwingt in Deleuzes und Lyotards Überlegungen ein Begehren mit, die Wahrheit der Zeit gleichsam filmisch zu ergründen. Mit diesem Vorhaben jedoch begeben sich die Autoren hinter die Auffassung der Zeit als Zeichenphänomen zurück – und in ein paradoxes Unterfangen hinein: sie behaupten die Zeichenabhängigkeit von Zeit und fahnden zugleich nach medialen Organisationsformen, die möglichst authentische temporale Perzepte und Ideen generieren. Anders gesagt: man versucht mit Hilfe von Zeichen hinter die zeichenhafte Überformung der Zeit zurückzugehen.
2.2.3.2 Anerkennung der Zeichenabhängigkeit: Rorty Dieses erkenntnistheoretische Erbe, das Derrida, Deleuze und Lyotard noch immer mit sich tragen, wird von Rorty endgültig aufgegeben. Ihm liegt nicht mehr daran, die mediale Überformung der Zeit zu lüften. Anstatt Zeitgestaltungen auf ihre Beziehung zu einem 10 Lyotard zum ‚Bild des Augenblicks’ vgl. auch: Lyotard, Jean-François: Der Augenblick, Newman (Lyotard 2001: 95 – 105).
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originären subjektiven Zeiterleben hin abzuklopfen, ist mit Rorty die subjektive Zeit selbst als medialer Effekt zu bestimmen. Auch wenn er keine explizite Zeittheorie formuliert, kann sein Ansatz dazu beitragen, das Konzept der Zeitinszenierung zu schärfen und den Film als Gestaltungsinstrument individueller und kollektiver, privater und öffentlicher Zeithorizonte fassbar zu machen. Von zentraler Bedeutung für den kontingenztheoretischen Pragmatismus Rortys ist „die »Kontingenz der Sprache« (...) – die Tatsache, daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen (...)“ (Rorty 1992: 16). Denken, Urteilen, Wahrnehmen und Fühlen finden nur innerhalb spezifischer Sprachspiele statt; Sinn, Wahrheit und Wirklichkeit existieren für uns immer nur unter einer Beschreibung. Kognitive und sensitive Abläufe, Ideen und Perzepte sind in die Sphäre von Medien und Zeichen eingebettet – sie stellen Produkte sprachlicher Handlungen dar, deren Eigenart von dem angewandten Vokabular abhängig ist. Diese These trifft in derselben Weise auf Zeit und Zeiterfahrung zu. Sowohl die Artikulation als auch die Wahrnehmung von Temporalität führt stets durch sprachliche Deskriptionen bzw. mediale Vermittlungen, die Zeitempfindungen, -vorstellungen und -verhältnisse in spezifischer Weise prägen. Da sich dieser mediale Filter nicht ausblenden lässt, erweisen sich philosophische Spekulationen über die Beschaffenheit von Temporalität letzten Endes als müßig. Die Zeit ist ein medialer Effekt, hervorgebracht durch spezifische Zeitvokabulare. Bei diesen nun handelt es sich nicht um konstante Gefüge. Zeitvokabulare entstehen unter kontingenten Bedingungen in bestimmten historischen und kulturellen Konstellationen. Ihre jeweiligen Konfigurationen sowie ihr Zusammenspiel ändern sich im Zuge wandelnder lebenspraktischer und technischer Gewohnheiten. Als Resultat veränderlicher Vokabulare unterliegt folglich auch die Zeit selbst einem zeitlichen Wandel. Die Annahme einer ahistorischen temporalen Grundstruktur ist somit nicht mehr haltbar.11 Stattdessen empfiehlt es sich, Rortys Plädoyer, „(...),daß wir versuchen sollten, an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkt von Zeit und Zufall behandeln“ (Rorty 1992: 50; Hervorhebung im Original) auch auf die Zeit selbst auszudehnen. Rortys uneingeschränkte Anerkennung des temporalen Konstruktcharakters führt in letzter Konsequenz zu einer „radikale(n) Verzeitlichung der Zeit“ (Sandbothe 2002: 5). Im Vergleich zu Deleuze und Lyotard leitet Rortys Auffassung von der Zeit als Effekt wandelbarer Zeitvokabulare zwei weitere Akzentverschiebungen ein, die auch für das Konzept der Zeitinszenierung fruchtbar sind: von der Privilegierung zur Pluralisierung temporaler Gestaltungen; von der filmischen Zeitinspiration zur filmischen Zeitschöpfung. Deleuzes und Lyotards Festhalten an einer essenziellen temporalen Dynamik, die allein im subjektiven Erleben aufscheint, begründet die Privilegierung spezifischer Zeitvokabulare. So ziehen sie gegenüber linearen Zeit-Codes filmische Figuren wie Zeit-Bilder, sterile Diffe11 In diesem Kontext ist auf Rortys Kritik an Derridas différance hinzuweisen, die als ,quasi-transzendentale’ Grundstruktur allem Sein – also auch der Zeit – vorausliegt (vgl. Rorty 1992: Kapitel 6: „Von der ironistischen Theorie zur privaten Anspielung: Derrida“). Als zeitgenerierendes Prinzip gleicht die différance einer universalen temporalen Grundstruktur, die sich selbst dem zeitlichen Wandel entzieht. Rortys Kritik lässt sich auch auf Deleuze und Lyotard übertragen. Sowohl Lyotards Konzept des absoluten Jetzt als auch Deleuzes Annahme einer der Temporalität zugrundeliegenden ontologischen Vergangenheit affirmieren die Idee einer ahistorischen temporalen Grundstruktur. Zu Rortys Kritik an der Re-Etablierung einer temporalen Einheitsform vgl. auch Sandbothe (Sandbothe 1996: 150f.; Sandbothe 2002).
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renzen und souveräne Bilder vor, weil diese temporalen Empfindungen intensivieren und damit näher gegen eine temporale Wahrheit konvergieren. Erachtet man jedoch mit Rorty die Zeit als medialen Effekt, dann wird durch filmische Gestaltungen nicht der Zugang zu einem verschütteten temporalen Wesen freigeräumt, sondern ein medien-abhängiges Zeiterlebnis produziert. Demnach handelt es sich beim Film um ein zeitgenerierendes Medium. Mit Rorty wird aber nicht nur das zeit-schöpferische Potenzial des Films evident. Auch sind die zeitphilosophischen Konzeptionen von Bergson, Derrida, Deleuze und Lyotard als Vokabulare zu interpretieren, die nicht die tatsächliche Verfasstheit von Zeit aufdecken, sondern weitere mögliche Zeiterfahrungen lancieren. Ebenso wie lineare Zeichenordnungen figurieren auch Dauer, différance, absolutes Jetzt, ontologische Vergangenheit, Zeit-Bilder, sterile Differenzen und souveräne Bilder die Temporalität auf spezifische Art. Es handelt sich um philosophische und filmische Zeitkonstruktionen, die Zeit hervorbringen – jede auf ihre Weise. Entsprechend lässt sich keine von ihnen aufgrund höherer Authentizität oder geringerem Verfremdungsrisiko favorisieren. Wird Zeit konsequent als medialer Effekt gedacht, dann ist der Privilegierung von Zeitvokabularen eine Absage zu erteilen und statt nach ihrer ‚Wahrheit’ nach ihrem Nutzen zu fragen. Damit wird die Tür zu einer Vielfalt gleichberechtigter zeitlicher Deskriptionen aufgestoßen, die unterschiedliche Zwecke erfüllen: z.B. tragen dimensionierte Zeitmuster individuelle Selbstentwürfe, während lineare Modelle die Koordination alltagspraktischen Handelns ermöglichen; lineare Schemata kennzeichnen obendrein Entwicklungen (dabei zielt der Zeitpfeil auf die Zukunft, während Geschichtsschreibung und Biographien die Vergangenheit akzentuieren und der kollektiven wie individuellen Erinnerungsarbeit dienen); temporale Zyklen wiederum markieren Routinen und mediale Gleichzeitigkeiten fokussieren die Ereignisdichte der Gegenwart.
2.3 Resümee: Zeitinszenierung kontra Zeitmimesis Der aus Rortys Ansatz extrahierte temporale Konstruktcharakter sowie die in ihm gründende Pluralisierung von Zeit und Zeiterfahrung bilden das Herzstück des Zeitinszenierungskonzepts. Dieses wurde in den vorangegangenen Abschnitten durch die Auslotung zeitphilosophischer Positionen entwickelt, wobei die These von der Zeichen- bzw. Medienabhängigkeit der Zeit als Leitmotiv fungierte. Der Einfluss der medialen Deskription auf die temporale Vorstellung wird bereits von Bergson im Hinblick auf die homogene Zeit vermerkt. In jüngeren zeittheoretischen Ansätzen werden der Dependenz von Zeichen und Zeit eine zentrale Bedeutung und unterschiedliche Konsequenzen zugeschrieben. So mündet sie in den posthistorischen Diagnosen Kittlers und Virilios in einem apokalyptischen Szenario. Die Zeit gerät hier zu einem intermedialen Simultaneitäts-Geschehen jenseits der Subjekte, dem menschliche Zeitlichkeitsstrukturen zum Opfer fallen. Diese pessimistische Schlussfolgerung wird durch poststrukturalistische Positionen umgewertet. Auf dem Feld des Films konnte mit Deleuze und Lyotard gezeigt werden, dass die temporale Formungskraft der Medien nicht zwangsläufig eine entfremdende Zeitherrschaft installiert, sondern im Gegenteil künstlerisch-kreativ eingesetzt werden kann, um subjektives Zeitbewusstsein und temporale Sensibilität anzuregen. Dieses sich ankündigende pragmatische Verständnis vom Film als zeitfigurierendes Medium ließ sich durch Rortys kontingenztheoretischen Ansatz untermauern und ausbauen. Hier treten die bei Lyotard und Deleuze noch bestehenden
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Vorbehalte gegenüber zeitlichen Deskriptionen, die Zeit nach ihrem Bilde formen, nicht aber ihr Wesen aufdecken, hinter die Bejahung des prinzipiellen temporalen Konstruktcharakters zurück – gerade in ihm liegt die Chance für das Subjekt, Temporalität mit Hilfe von Medien zu gestalten. Mit Rorty konnte die unhintergehbare zeichenhafte Überformung von Ideen- und Erfahrungsbestände herausgestellt und die Zeit radikal als medialer Effekt definiert werden, dessen Charakter durch spezifische Zeitvokabulare bestimmt wird. In diesem Licht erscheint die Zeit nicht als Macht, der man passiv ausgeliefert ist, sondern als beeinflussbarer und aktiv veränderbarer Faktor. Der Film wiederum macht „Raum und Zeit als kreativ gestaltbare Konstrukte“ (Sandbothe 2002: 15) erfahrbar und offenbart sich als Medium, welches Temporalität moduliert. Indem Film einzelne Momente ins Bild setzt, sie relationiert und ihrer Dynamik wechselnde Tempi verleiht, kann er das temporale Geschehen in verschiedener Weise strukturieren und rhythmisieren. Dabei eröffnet ihm die Kombinatorik von narrativen, montage-, trick- und digitaltechnischen Kunstgriffen ein breites Spektrum zeitinszenatorischer Alternativen, aus denen temporale Impressionen unterschiedlichster Couleur entspringen. Film ermöglicht die Modulation von Zeit und Zeiterfahrung durch kinematographische Zeichen und konstituiert einen Raum temporaler Pragmatik. Schlägt man von hier aus den Bogen zurück zu den eingangs angerissenen Positionen Kracauers und Bazins, wird deutlich, dass das Zeitinszenierungskonzept dem Film in Anbetracht des zeitlichen Konstruktcharakters eine umfassende temporale Darstellungsfreiheit einräumt. Kracauer und Bazin hingegen operieren mit einem positivistischen Zeitbegriff, der dem zeitästhetischen Spielraum des Films enge Grenzen steckt. Ihnen zufolge wird Temporalität ansichtig in den Veränderungen und Bewegungen der Materie. Sinnlich fassbar ist einzig die Dimension der Gegenwart, die sich in den aktuellen Wahrnehmungsbildern materialisiert. Film fängt sie ein und fügt sie zu einem Bewegungskontinuum aneinander. Zu dem außenweltlichen Zeitgeschehen scheint der Film eine gleichsam natürliche Beziehung zu besitzen, da seine bewegten Bilder es angemessen wiedergeben können und von der Warte des filmischen Realismus aus auch wiedergeben sollen – dem Film obliegt „die Vollendung der fotografischen Objektivität in der Zeit” (Bazin 1975: 25). Durch das Postulat zeitlicher Mimesis avanciert die Gegenwart zur dominanten Zeitdimension des Films und die linear-kontinuierliche Verlaufsform zur einzig zulässigen filmischen Zeitstruktur. Das Postulat selbst gründen Kracauer und Bazin auf einen natürlichen Bezug zu einer temporalen Grundform – ein Bezug, der durch das Zeitinszenierungskonzept in zweifacher Hinsicht relativiert wird: zum einen handelt es sich bei den außerfilmischen Zeitverhältnissen, auf die der Film rekurrieren kann, keineswegs um natürliche Begebenheiten, sondern um durch Zeitvokabulare hervorgebrachte Konstruktionen. Zum anderen spiegelt der Film außerfilmische Zeitkonstruktionen nicht wieder, sondern (re-)konstruiert sie mit den ihm eigenen filmischen Mitteln. Die kinematographische Zeit-Mimesis entpuppt sich als filmische Rekonstruktion temporaler Konstruktionen. Da weder die Auffassung einer temporalen Grundform haltbar noch eine natürliche Bindung des Films zu ihr anzunehmen ist, ist es nicht länger legitim, den Film auf die Darstellung dieser temporalen Grundform – sprich auf die naturgetreue Repräsentation eines außenweltlichen Zeitgeschehens – festzulegen. Indem nun das Zeitinszenierungskonzept sowohl die unauflösbare Dependenz von Zeit und medialer Beschreibungsweise zu bedenken gibt als auch die Pluralität und Diversität temporaler Horizonte, die ihr erwachsen, befreit es den Film aus den Schranken zeitlicher Mimesis. Die Einsicht, dass Film Zeit nicht aufzeichnet, sondern gestaltet, erweitert
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das Feld der Zeitdarstellung und erlaubt es ihm neben sichtbaren, außenweltlichen Zeitprozessen auch unsichtbare, subjektive Temporalitäten auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Er kann in Bereiche subjektiver Zeitlichkeit wie Zukunftsvisionen, Vorahnungen, Erinnerungen oder Déja-vu-Effekte eindringen, die dem Blick üblicherweise verborgen bleiben und temporale Welten jenseits der aktuellen Wahrnehmung audiovisuell erlebbar machen. Immaterielle Vergangenheit und Zukunft können auf der Leinwand dieselbe Präsenz erlangen wie das gegenwärtige Wahrnehmungsgeschehen und werden ihm gegenüber aufgewertet. Durch die Ablösung des Films von den sichtbaren Zeitprozessen der Außenwelt wird die Gegenwartsdominanz im Film gebrochen und das Zeitgeschehen nicht länger auf die lineare Abfolge von Jetztpunkten reduziert. Stattdessen vermag der Film Zeit in ihrer Mehrdimensionalität zu ästhetisieren und die temporalen Dimensionen in unterschiedlichster Weise miteinander zu verbinden. Ihm stehen die gleichberechtigte Vielfalt diverser Zeitbeschreibungen zur Verfügung (linear-progressiver, dimensionierter, zyklischer, mosaikartiger, vernetzender, simultaner etc.), die er übernehmen, verfremden oder miteinander kombinieren und mit deren Effekten er experimentieren kann. Er kann verbreitete objektive ebenso wie subjektive Zeitmuster aufgreifen und vertraute Zeiteindrücke erzeugen (wie z.B. der Zeitpfeil oder biographische Zeitmuster im Erzählkino), aber auch unbekannte, hochgradig individuelle, verstörende, gar pathologische Zeituniversen erschaffen (wie z.B. in Filmen von Lynch). Ohnehin muss eine Entsprechung der filmischen mit außerfilmischen Zeitmodellen nicht gegeben sein. Film vermag temporale Eindrücke zu evozieren, die allein durch Montage-, Trick- und Digitaltechnik, d.h. durch filmische Zeitvokabulare generiert werden können (z.B. optische Simultaneität durch Parallelmontage, visuelle Präsenz von Erinnerungen durch Rückblenden, Zeitverdichtungen und -dehnungen durch Zeitraffer, Zeitlupe, Freezing oder Bullet-Time12). Somit reicht das zeitästhetische Potenzial, das die Zeitinszenierung dem Film zuspricht, von der Rekonstruktion außerfilmischer Zeitverhältnisse über die Inspiration und Modulation des subjektiven Zeitbewusstseins bis hin zur Kreation vollkommen neuartiger Formen temporalen Erlebens. Das Zeitinszenierungskonzept nimmt die Zeit als medialen Effekt ernst und trägt der inhärenten Pluralität der Zeitbeschreibungen Rechnung. Dementsprechend werden sowohl die in der Arbeit analysierten Zeittheorien wie auch die Filme als Vokabulare begriffen, die spezifische Vorstellungen und Erfahrungen von Zeit entfachen. Es handelt sich um temporale Deskriptionen unterschiedlicher medialer Provenienz – begrifflicher und filmischer –, die sich gegenseitig erhellen können. Den Einstieg in das facettenreiche Universum der Zeit eröffnet Bergsons Konzept der Dauer.
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Zu spezifisch filmischen Zeiteffekten vgl. Becker, Andreas: „... eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung“ Von Eadweard Muybridges Zeitkonzeption zu Tim Macmillans Time-Slice-Studien (Röwekamp/Pohl/Steinle 2003: 15 – 25); Volland, Kerstin: Die Ästhetik der ‚RaumZeit’. Zeitoptik in der Matrix-Trilogie (Barth/Betzer/ Eder 2005: 117 – 125).
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3 Zeit als schöpferischer Wandel: Bergsons Dauer
Im Denken Bergsons nimmt die Zeit eine herausragende Stellung ein. Verstanden als permanente Bewegung und qualitative Veränderung bildet sie das Wesen des inneren wie des äußeren Lebens. Das Leben macht Bergson „(...) entschlossen zum Ersten und Zentralen, stellt es in den Absolutheitspunkt des Daseins; alles was nicht den Charakter des Lebens, d.h. der Einheit des fortwährend sich Wandelnden hat, ist sekundäres Gebilde“ (Simmel 1922: 144). Damit stellt er sich der platonischen Tradition entgegen, welche den Variationen und Ausdifferenzierungen der Wirklichkeit konstante Gesetzmäßigkeiten zugrunde legt.13 Gegenüber der Existenz unveränderlicher Ideen erachtet Bergson Bewegung, Werden und Entwicklung als primär – „die Zeit (...) ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden“ (Bergson 2000: 23), sie gilt ihm nicht als Schleier der Ewigkeit, sondern als Wirkungsprinzip des lebendigen Seins. Nichts geringeres als dieses steht also auf dem Spiel, wenn Bergson sich daran begibt, Irrtümer auszuräumen, die sich in exaktnaturwissenschaftliche und philosophische Zeitbetrachtungen eingeschlichen haben. In beiden Fällen wird Temporalität methodisch und thematisch reduziert auf eine quantitative Sukzession (homogene Zeit). Von diesem Zeitverständnis grenzt Bergson die wahre Zeit als qualitative Veränderung ab (Dauer). Tatsächlich handelt es sich bei der messbaren, homogenen Zeit um eine räumlich imprägnierte Vorstellung, die auf die unzulässige Analogsetzung von Zeit und Raum zurückgeht: „Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit“ (Bergson 2000: 24).
Die homogene Zeit erwächst der Vermischung von Raum und Zeit, welche „(...) unsre Begriffe von der äußeren und inneren Veränderung, von der Bewegung und der Freiheit an der Quelle (vergiftet)“ (Bergson 1999: 59) und den Blick auf die Temporalität im eigentlichen Sinne verstellt. Um diese freizulegen, versucht Bergson das Gemisch aufzulösen. Er dividiert Raum und Zeit auseinander und gelangt so zu seiner zentralen zeittheoretischen Konzeption der innerpsychischen Dauer – der erlebten Zeit des Ich. Diese berücksichtigt 13
„Aber in Wahrheit hat die Philosophie niemals diese fortgesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem offen anerkannt. Die Alten sträubten sich schon dagegen, weil sie sich, – die alle mehr oder weniger Platoniker waren, – das Sein ein für alle Mal vollständig und vollkommen im unveränderlichen System der Ideen gegeben dachten: die Welt, die vor unseren Augen abrollt, konnte dem also nichts hinzufügen; sie war im Gegenteil nur eine Verminderung oder Entartung; (...). Die Zeit war es, die alles verdorben hatte. Die Modernen stellten sich allerdings auf einen völlig anderen Standpunkt. Sie behandelten die Zeit nicht mehr als einen Eindringling, einen Störenfried der Ewigkeit; aber sie möchten sie gern zu einem reinen Scheindasein reduzieren. Die Zeit ist nur die verworrene Form des Rationellen. Was wir als eine Folge von Zuständen wahrnehmen, begreift unsere Intelligenz, wenn die Nebel einmal gefallen sind, als ein Bezugssystem. Das Wirkliche wird wiederum zum Ewigen mit diesem einzigen Unterschied, daß an die Stelle der Ewigkeit der Ideen, die den Erscheinungen zum Muster dienen, hier die Ewigkeit der Gesetze tritt, in die sie sich auflösen. “ (Bergson 2000: 124 – 125).
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Kontinuität und Komplexität der temporalen Bewegung ebenso wie die Qualität und Singularität des Moments, welche der homogene Zeitbegriff ignoriert oder gar eliminiert. Im Folgenden geht es zunächst um die Konfiguration der Dauer im Kontrast zur homogenen Zeit. Der anschließende Abschnitt vertieft das aus der Dauer resultierende Gegenwartsverständnis sowie die Auseinandersetzung mit der Dimension der Vergangenheit, der im Kontext der Dauer eine besondere Bedeutung zuwächst. Abschließend steht Bergsons Einschätzung des Verhältnisses von Zeit und Film zur Debatte.
3.1 Raum Während Bergson in späteren Arbeiten die Dauer zur Quintessenz der inneren und äußeren Wirklichkeit ausweitet und zum originären Seinsprinzip erhebt, erscheint sie in seinem ersten Hauptwerk Zeit und Freiheit noch als reine Bewusstseinstatsache. Das innerpsychische Erleben ist temporal organisiert, die Idee des Raumes hingegen ordnet Bergson der ausgedehnten, äußeren Materie zu. Raum und Zeit referieren auf unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche, de facto wird diese Aufteilung jedoch ständig unterlaufen. Einerseits nehmen wir die Materie als bewegte wahr, weil wir der äußeren Realität die innere Dynamik der Dauer unterspannen. Andererseits dringt die Raumvorstellung ins Gebiet des Bewusstseins ein und infiltriert unsere Auffassung der Zeit. In Zeit und Freiheit macht Bergson es sich zur Aufgabe, diese Verquickungen aufzulösen und Zeit und Raum in Reinform zu definieren. Er untersucht die Gegenpole Raum und Dauer sowie ihren Zusammenschluss in der homogenen Zeit. Während die Dauer die Dinge in ihrem Verlauf zeigt, existieren im Raum nur Stellungen. Bergson deklariert ihn als Idee, die sich bei intelligenten Lebewesen im Verlauf der Evolution entwickelt hat. Der Raum stellt ein Wahrnehmungsmedium dar, das die Elemente der Erfahrung nicht nacheinander, sondern simultan nebeneinander organisiert (Simultaneität). Indem er Entwicklungen ausblendet und das gleichzeitige Auftreten einzelner Erfahrungsaspekte an einem aktuellen Zeitpunkt umfasst, bleibt der Raum der Gegenwart verhaftet. Er ist vergleichbar mit einer Momentaufnahme, die das Zusammenspiel zahlreicher Elemente festhält. Diese bestehen im Raum nebeneinander, ohne dabei ineinander zu greifen oder einander zu überlappen. Sie sind geschieden und einander äußerlich (Exteriorität). Die Scheidung der Elemente im Raum erfolgt allerdings nicht aufgrund ihrer individuellen Eigenart. Beim Raum handelt es sich um ein homogenes Medium, das von der heterogenen Qualität der Erfahrungstatsachen absieht und sie in gleichförmige Momente transformiert, die sich allein durch ihre räumliche Position voneinander unterscheiden (Homogenität). Indem die Individualität der Dinge ausgeblendet wird, wird die Komplexität der Wirklichkeit reduziert und der Boden für Quantifizierungen bestellt. „Denn es ist wohl keine andre Definition vom Raum möglich als: er ist das, was uns gestattet, mehrere identische und simultane Empfindungen voneinander zu unterscheiden: wir hätten also ein anderes Differenzierungsprinzip als das der qualitativen Differenzierung, und mithin eine Realität ohne Qualität“ (Bergson 1999: 73 – 74).
Die Raumvorstellung zeichnet sich aus durch Gegenwärtigkeit, Simultaneität, Exteriorität und Homogenität. Sie fixiert einen Ausschnitt des gegenwärtigen Geschehens und führt seine Bestandteile simultan und wohlunterschieden vor Augen. Nach Bergson stellt sie ein
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Instrument des begreifenden, praktischen Verstandes dar, mit dessen Hilfe er schnell und effektiv auf die äußere, physische Realität zugreift, sie in Einzelaspekte aufspaltet und ihre intellektuelle Ermächtigung vorbereitet. Die Idee des Raumes, „die der menschliche Verstand klar begreift, erlaubt uns, genaue Unterscheidungen zu vollziehen, zu zählen, zu abstrahieren und vielleicht auch zu sprechen“ (Bergson 1999: 75).
3.2 Dauer Während Bergson die Außenwelt zum Anwendungsbereich der Raumvorstellung erklärt, identifiziert er die Dauer mit der Innerlichkeit des Subjekts: sie wird konstituiert durch die konkrete Mannigfaltigkeit abrollender Bewusstseinszustände. Diese verbinden sich im Kontrast zur räumlichen Gleichzeitigkeit distinkter Momente zu einer kontinuierlichen Veränderung. Die Momente der Dauer wirken ineinander, durchdringen sich und bilden eine fortwährende Bewegung. Einschnitte in die Dauer sind künstlich und verwandeln ihre innere Organisation. Im Gegensatz zum Raum lässt sich die Dauer nur um den Preis ihrer Wesensveränderung teilen. In dieser Unteilbarkeit liegt eine der zentralen zeittheoretischen Thesen Bergsons begründet: die These der generellen Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart. Da die Momente in der Dauer untrennbar ineinander fließen, lässt sich auch die Vergangenheit nicht von der Gegenwart abspalten. Ein Schnitt, der die beiden Dimensionen scheidet, kann in einer kontinuierlichen Bewegung nur willkürlich und gewaltsam gezogen werden: „Es genügt, daß man ein für allemal sich davon überzeugt hat, daß die Wirklichkeit Veränderung bedeutet, daß die Veränderung unteilbar ist, und daß bei einer unteilbaren Veränderung die Vergangenheit mit der Gegenwart ein Ganzes bildet“ (Bergson 2000: 176). Demnach, so Deleuze, bezeichnen „Vergangenheit und Gegenwart (...) nicht zwei aufeinanderfolgende Momente, sondern zwei koexistierende Sphären; (...)“ (Deleuze 2001: 78). Die Dauer ist weniger durch ein Nacheinander als durch eine Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit bestimmt. Diese Gleichzeitigkeit darf jedoch nicht mit der räumlichen Simultaneität verwechselt werden. In der Dauer stehen vergangene Momente nicht neben dem gegenwärtigen Moment, sondern werden in ihm eingeschlossen und bewahrt. Die durchgängige Koexistenz der vergangenen Dauer mit der Gegenwart und ihre Akkumulation in der Gegenwart bringt Bergson später in Materie und Gedächtnis durch die geometrische Figur des Kegels zum Ausdruck (vgl. Bergson 1991: 147f.). An der Kegelspitze befindet sich der gegenwärtige Augenblick, der Körper des Kegels birgt die Vergangenheit und zwar auf verschiedenen Ebenen. Jede der Ebenen umfasst die Totalität der vergangenen Dauer, allerdings in mehr oder minder kontrahiertem Zustand. An der Kegelbasis sind die Momente der vergangenen Dauer sehr locker miteinander organisiert. Je mehr sich der Kegel verjüngt, umso mehr verdichtet sich die vergangene Dauer, bis sie sich schließlich komplett in der Gegenwartsspitze des Kegels zusammenzieht. Der gegenwärtige Augenblick bildet die am höchsten angespannte Ebene der Vergangenheit und trägt das Ganze der vergangenen Dauer in sich. Die Dauer „(...) läßt sich also ohne die Wohlunterschiedenheit und wie eine gegenseitige Durchdringung, eine Solidarität, eine intime Organisation von Elementen begreifen, deren jedes das Ganze vertritt und von diesem nur durch ein abstraktionsfähiges Denken zu unterscheiden und zu isolieren ist“ (Bergson 1999: 78).
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Die Vergangenheit überlebt im gegenwärtigen Augenblick aufgrund der Kontinuität der Dauer. Sie führt die Vergangenheit stets mit sich und lässt sie während des Vorrückens in der Zeit unablässig anwachsen. So ist die Bewegung der Dauer zugleich progressiv und expansiv. Die Dauer ist kumulierend – „(...) ein beständiges Aufrollen wie beim Faden auf einem Knäuel, denn unsere Vergangenheit folgt uns, sie wächst unaufhörlich mit der Gegenwart, die sie unterwegs aufnimmt; (...)“ (Bergson 2000: 185). Indem die Dauer die Vergangenheit ansammelt und erhält, erweist sie sich im Unterschied zur Gegenwärtigkeit des Raumes als Gedächtnis: „Die innere Dauer ist das kontinuierliche Leben eines Gedächtnisses, das die Vergangenheit in die Gegenwart verlängert, sei es daß die Gegenwart das unaufhörlich wachsende Bild der Vergangenheit deutlich in sich einschließt, oder sei es, daß sie durch ihre fortgesetzte Änderung in der Qualität die immer schwerere Last bezeugt, die man hinter sich her schleppt in demselben Maße wie man älter wird. Ohne dieses Überleben des Vergangenem im Gegenwärtigen gäbe es keine Dauer, sondern nur Augenblicklichkeit“ (Bergson 2000: 201).
Die Dauer als Gedächtnis ist keine starre Registratur vergangener Ereignisse, sondern eine lebendige Realität, die in permanenter Umbildung begriffen ist – sowohl im Hinblick auf die sie konstituierenden Momente als auch im Hinblick auf ihre Gesamtorganisation. So wandelt sich die in der Dauer erhaltene Vergangenheit durch das Hinzutreten neuer Augenblicke. Diese werden nicht neben vorhandene Momente gestellt, sondern gleichsam melodisch mit ihnen organisiert. Sie beeinflussen die Gesamtkomposition der Dauer, welche Bergson vergleicht mit einer „(...) musikalischen Phrase, die fortwährend im Begriffe steht aufzuhören und sich unausgesetzt in ihrer Totalität durch das Hinzukommen eines neuen Tones modifiziert“ (Bergson 1999: 81). Zum einen ist die Bewegung der Dauer also nicht als lineares Fortschreiten, sondern als Wandel eines Gesamtzusammenhangs – als ganzheitliche, qualitative Veränderung ihrer Konfiguration aufzufassen. Zum anderen ist die in ihr angehäufte Vergangenheit nicht stabil, sondern erfährt durch die Einverleibung neuer Momente eine unablässige Umformung.14 Doch nicht nur der Augenblick variiert die Qualität des Vergangenen. Diese wirkt umgekehrt auf den Augenblick zurück und verleiht ihm ein individuelles Gesicht. Die Realität des Vergangenen verwandelt sich durch die Einfügung neuer Momente. Diese wandelbare Realität wiederum mündet in den gegenwärtigen Augenblick ein, so dass die Fortdauer des Vergangenen im Gegenwärtigen unvergleichliche, niemals da gewesene und nie wiederkehrende Momente gebiert. Es ist unmöglich „(...) zu behaupten, daß sich je ihrer zwei vollkommen gleichen, weil sie nämlich zwei verschiedene Momente eines geschichtlichen Verlaufs bilden“ (Bergson 1999: 149) und in einem solchen „(enthält) der folgende Augenblick immer gegenüber dem vorhergehenden noch die Erinnerung (...), die jener zurückgelassen hat“ (Bergson 2000: 186). Anders als in der homogenen Raumvorstellung sind die Momente der Dauer nicht miteinander identisch. Stattdessen gewinnen sie durch das Fortleben der Vergangenheit ihre unverwechselbare Qualität.15 Aus der Anbindung an die Vergangenheit resultiert die Unwiederbringlichkeit und Singularität des Augenblicks in der Dauer. Sie produziert keine homogenen Zeitpunkte, sondern bringt einzigartige Momente, 14 Als Beispiel lässt sich die stete Neuinterpretation vergangener Erfahrungen im Lichte der aktuellen Situation nennen. 15 Als Beispiel für diesen Fall lässt sich anführen, dass gegenwärtige Erlebnisse vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen gedeutet werden.
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radikale Neuheiten und überraschende Entwicklungen hervor – sie besitzt eine schöpferische Potenz, die sich aus der ihr innewohnenden Vergangenheit speist. Damit wird die Dauer sichtbar als Kontinuität unkalkulierbarer Veränderung, die sich nicht im Voraus berechnen lässt und der Kategorie der Kausalität entgleitet. Sie zeichnet sich durch eine Ereignisstruktur im lyotardschen Sinne aus. Mit der Dauer „(...) bricht eine wahrhaft spontane und schöpferische Bewegung in die Wirklichkeit ein; hier wird jede Isolierung starrer, amorpher Elemente unmöglich, weil sich alle Momente in intimer Organisation durchdringen zu einer rein qualitativ sich differenzierenden Entwicklungsbewegung (...): hier verliert die Zeit jeden bloß formalen Charakter und wird zu einem konstitutiven schöpferischen Prinzip der Wirklichkeit“ (Kottje 2000: 11).16
In der Dauer integriert Bergson widerstrebende Pole. So denkt er in ihr das Eine und das Viele – die Kontinuität und die Mannigfaltigkeit heterogener Momente – zusammen. Sie werden in einer ganzheitlichen Veränderung vereint, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander koexistieren. Die Dauer ist paradoxerweise zugleich einheitlich und in sich vielfältig, sukzessiv und expansiv, dynamisch und bewahrend, bewahrend und schöpferisch. Es handelt sich um eine produktive Kraft, die der Vergangenheit entspringt. Im Kontrast zum Raum, der Elemente homogenisiert, separiert und simultan nebeneinander arrangiert, verschmelzen in der Dauer heterogene Momente zu einem ungebrochenen, qualitativen Wandel ereignishafter Natur.
3.3 Homogene Zeit Die subjektive Zeitfigur der Dauer fokussiert die Qualität des individuellen Zeiterlebens und trägt seiner komplexen immanenten Dynamik und Heterogenität Rechnung. Nun ist Bergson zufolge jedem Individuum – sogar jeder Lebensform – eine spezifische Dauer zu eigen. Es wird durchpulst von einem unvergleichlichen inneren Zeitstrom. Die Dauer wird ausgeweitet zu einem universellen Zeittypus, der “(...) die Gesamtheit singulärer Zeiten umfasst und die von genau diesen gebildet wird. Diese umfassende oder universelle Zeit ist unteilbar, denn würde eine konkrete Dauer entfernt oder hinzugefügt werden, wäre es eine andere Zeit. Als Gesamtheit der Zeiten ist sie Eins und es gibt nichts außerhalb oder vor ihr. In der universellen Zeit, sind alle differenten Zeiten gleichzeitig, d.h. daß sie nach wie vor unterschiedliche Zeiten sind, dies aber zur oder präziser gesagt: in der gleichen Zeit, die sie bilden“ (Jäger 1997: 55).
Die Dauer erscheint als umfassendes Zeitgewebe, in das singuläre Dauern eingebettet sind. Sie bildet eine Einheit temporaler Pluralität, die sich auszeichnet durch das undurchdringliche Ineinanderwirken individueller Bewegungs- und Zeitrhythmen. Ein solcher Zeitbegriff erweist sich jedoch in der sozialen Interaktion als nicht handhabbar: er gestattet weder die exakte zeitliche Verortung von Situationen, noch temporale Vergleichungen oder die Koordination von Handlungen. Sowohl in der Alltagspraxis als auch in den exakten Naturwis16 In der Konsequenz der Auffassung von der Dauer als einer schöpferischen Entwicklung sieht Bergson in ihr das evolutionäre Prinzip, das die Ausdifferenzierung des Lebens in immer neue Formen motiviert (vgl. Bergson 1912).
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senschaften hat sich deswegen eine Zeitbeschreibung durchgesetzt, die von der komplexen Bewegung der subjektiven Dauer abstrahiert. Sie konzipiert Zeit als quantitative Sukzession – als Abfolge gleichförmiger Jetztpunkte -, die Zeitmessungen, Datierungen und eine exakte Einteilung des Geschehens in Vorher und Nachher erlaubt. Das objektive, qualitätslose Zeitmuster zur Strukturierung der Erfahrungswirklichkeit nennt Bergson die homogene Zeit. Sie „entsteht durch ein echtes Phänomen von Endosmose“ (Bergson 1999: 169) und resultiert aus der Verquickung räumlicher Attribute (statische Gleichzeitigkeit, Exteriorität, Homogenität) mit den Merkmalen der Dauer (ganzheitliche Veränderung, Kontinuität, Heterogenität). Die Idee homogener Zeit ist ein „Bastardbegriff (...), der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewußtseins verdankt“ (Bergson 1999: 76). Man überträgt die Raum-Indizes auf die Dauer und verfährt mit ihr, wie mit dem Raum. In der Folge kommt es zur Fixierung und Disziplinierung der Dauer. Unter den räumlichen Vorzeichen von Exteriorität und Simultaneität erstarrt die Dauer zu einer Anordnung unbewegter, separierter Momente. Sie werden aus ihrer solidarischen Organisation in der Dauer gelöst und wie im Raum wohlunterschieden und simultan nebeneinandergestellt – eine notwendige Maßnahme, um Temporalität zu objektivieren und zu kontrollieren. Der Zugriff auf einzelne Zeitpunkte setzt ihre raumtypische Isolation und Unbewegtheit voraus. Für die Berechnung von Zeitspannen ist darüber hinaus die Annahme der räumlichen Gleichzeitigkeit von Zeitpunkten notwendig, denn wie sollte sich der Abstand zwischen ihnen messen lassen, wenn nur einer von ihnen vorhanden wäre und nicht beide zugleich? Die solchermaßen getilgte Bewegung der Dauer wird nachträglich wieder eingeführt, indem die stillgestellten Momente nicht en bloc aufgefasst, sondern nacheinander abgegriffen werden. Dadurch wird die nonlineare Dynamik der Dauer als Wandel des Gesamtzusammenhangs begradigt und erscheint als lineare Sukzession – die Dauer wird gerichtet und in eine eindimensionale Chronologie konvertiert. Auch in diesem Kontext ist nochmals auf die Differenz zwischen räumlicher und zeitlicher Simultaneität hinzuweisen: Simultaneität im Raum bedeutet Nebeneinander, Simultaneität in der Dauer hingegen Ineinander. Durch die Übertragung der Raumvorstellung auf die Dauer wird das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit auseinandergezogen und in die Übersichtlichkeit des sukzessiven Verlaufs geordnet – die ursprüngliche Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart wird transformiert in die praktische Abfolge des Vorher-Nachher. Durch die Beimengung des Raumes nimmt die Dynamik der Dauer „(...) für uns die Form einer stetigen Linie oder einer Kette an, deren Teile sich berühren, ohne sich zu durchdringen“ (Bergson 1999: 78). Die Desintegration der Momente aus der Kontinuität der Dauer entzieht ihnen zugleich ihre Singularität: erwerben sie in der Dauer ihre unverwechselbare Prägung durch ihre Anbindung an die Vergangenheit, wird diese nun gekappt und der Augenblick seiner spezifischen Qualität entleert. Was übrig bleibt ist ein homogener Zeitpunkt. Die Anwendung der Raumvorstellung überführt das kontinuierliche Werden der Dauer in eine starre, kalkulierbare Ordnung, die alle Merkmale des Raumes aufweist: Simultaneität, Unbeweglichkeit, Exteriorität und Homogenität. Die Dauer wird verfestigt und in eine Reihe gleichartiger Zeitpunkte zerlegt.
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3.4 Film In der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts Bahn brechenden Kinematographie entdeckt Bergson eine prägnante technische Metapher für die Wirkungsweise der Raumvorstellung. Dem Kinematographen vergleichbar nimmt die Raumvorstellung von der vorüberziehenden Dauer unbewegte Momentbilder auf und fügt sie aneinander. Aus diesem Grund wurde ihm das Nebeneinander der Bilder auf dem Celluloidstreifen zum Inbegriff der homogenen Zeitstruktur. Diesem Vergleich soll nachgegangen werden, da Bergson ihn nutzt, um die inhärente räumliche Logik der homogenen Zeit zu enthüllen und deren Konsequenzen für die Zeitauffassung aufzuzeigen. Bergson parallelisiert messbare Zeit und Film und denkt ihre Homologie wie folgt weiter: „Wenn die Bewegung nur eine Reihe von festen Punkten und die Veränderung eine Reihe von Zuständen ist, so besteht die Zeit aus scharf abgegrenzten und nebeneinandergesetzten Teilen. Zweifellos sagen wir wohl noch, daß sie aufeinanderfolgen, aber dieses Folgen gleicht dann den abrollenden Bildern eines Films: der Film könnte zehnmal, hundertmal, tausendmal schneller ablaufen, ohne daß irgendetwas an dem, was abläuft, geändert würde. Wenn er unendlich schnell abliefe, wenn der Ablauf (diesmal außerhalb des Apparates) so beschleunigt würde, daß er sich für uns in einem Moment zusammendrängte, so wären es immer noch die gleichen Bilder. Die so verstandene Aufeinanderfolge fügt ihnen also nichts Neues hinzu: sie würde ihnen eher etwas nehmen, sie würde ein Defizit, eine Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmung ausdrücken, die verurteilt wäre, den Film Bild für Bild zu zerlegen, statt ihn als Ganzes auf einmal zu erfassen. Kurz die so verstandene Zeit ist nur ein idealer Raum, wo man sich alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse nebeneinander aufgereiht denkt und dazu noch ihre Unfähigkeit, uns en bloc zu erscheinen“ (Bergson 2000: 28 – 29).
Die Kinematographie zergliedert ein natürliches Bewegungskontinuum in Momentaufnahmen und bannt sie auf Celluloid. Im Zuge der Filmprojektion wird die mortifizierte Dynamik wiederbelebt bzw. auf mechanische Weise wieder in Gang gesetzt. Ein Filmbild nach dem anderen wird durchleuchtet und auf die Leinwand geworfen, so dass erneut der Eindruck einer fortlaufenden Bewegung entsteht. Dieser unterliegt jedoch ein Filmstreifen, auf dem sämtliche Augenblicke bereits festgelegt und simultan vorhanden sind. Die kinematographische Bewegungsillusion basiert auf einer Gleichzeitigkeit diskreter, fixierter Gegenwarten, welche lediglich durch das Nacheinander der Bildprojektion kaschiert wird. Im Film hat man es demnach mit einer Dynamik zu tun, deren Grundlage durch räumliche Exteriorität und Simultaneität markiert ist – mit einer Scheinbewegung, die der Unbeweglichkeit entspringt. Gleiches gilt für die homogene Zeit. Wie die Kinematographie, so isoliert auch die Anwendung der Raumvorstellung auf die Dauer Momente aus dem Strom steter Veränderung, setzt sie fest und reiht sie aneinander. Der homogene Zeitentwurf überführt die Dynamik der Dauer in eine Reihe von Gegenwarten, denen er eine gesonderte und simultane Existenz unterstellt. Analog dem Filmstreifen sind in der homogenen Zeit Momente auf der konstitutiven Ebene zwar gleichzeitig gegeben, werden auf der ‚Erlebnisebene’ jedoch nicht gleichzeitig aufgefasst, sondern nacheinander. Dieses Nacheinander ist signifikant für die Film- wie für die temporale Wahrnehmung. In beiden Fällen täuscht es über die raumtypische Geschiedenheit und Stagnation der Momente hinweg und überspielt ihre untergründige Simultaneität. Der Präsentationsmodus der Abfolge lenkt von der räumlichen
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Statik ab und generiert den Anschein von Bewegung und Temporalität. Film und homogene Zeit repräsentieren Bewegungsillusionen, die im Inneren Unbeweglichkeit sind. Mit Hilfe der Filmmetapher vermag Bergson den eigentlichen Unterschied zwischen homogener Zeit- und Raumvorstellung zu erhellen. So hebt sich die homogene Zeit nicht dadurch vom Raum ab, weil Erfahrungstatsachen in ihr nicht simultan vorhanden sind, sondern dadurch, dass sie nicht simultan aufgefasst werden: „die Zeit ist das, was verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist. Sie hemmt, bzw. sie ist eine Hemmung“ (Bergson 2000: 112). In der homogenen Zeitkonzeption steigt das temporale Nacheinander ab zur verhinderten räumlichen Gleichzeitigkeit und die Zeitwahrnehmung zum defizitären Modus der Raumwahrnehmung. Die homogene Zeit lässt sich damit in der platonischen Tradition verorten, in der Zeit zum Scheindasein reduziert wird. Ihre Abfolge ist nicht mehr als eine Illusion – ein Schleier, der das Sein, das „ein für alle Mal vollständig und vollkommen im unveränderlichen System der Ideen“ (Bergson 2000: 124) gedacht wird, verhängt. Wenn man diesen Schleier der Abfolge in einem Gedankenexperiment lüftet, dann tritt die homogene Zeit als das zu Tage, was sie ist: ein „idealer Raum, wo man sich alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse nebeneinander aufgereiht denkt (...)“ (Bergson 2000: 29). Unabhängig von unserer Wahrnehmung sind in ihr alle Elemente gleichzeitig und immer schon vorhanden. Die Beziehungen zwischen ihnen liegen fest, sind berechenbar und vorhersagbar. Es ereignen sich weder Neuschöpfungen noch Entwicklungen. Als Raum betrachtet steht die Zeit still, sie wird unvergänglich und versteinert zur Ewigkeit. Am Grunde der homogenen Zeit herrscht Zeitlosigkeit, denn ihre Momente existieren simultan, „(...), wie die Bilder, die vor ihrem Ablauf im Film alle vorhanden sind. Aber was soll dann das Ablaufen? Warum entfaltet sich die Wirklichkeit? Warum ist sie nicht schon von vornherein entfaltet? Wozu dient also die Zeit?“ (Bergson 2000: 112). Das homogene Zeitkonzept verabschiedet sich von der Zeit als einer wirksamen, veränderlichen Kraft (im Sinne der Dauer). Stattdessen gerinnt sie zu einem „unbeweglichen Milieu“ – „zu einem bloße(n) Schauplatz der Veränderung“ (Bergson 2000: 202), in dem temporale Vorgänge zur Schimäre einer limitierten Wahrnehmungskapazität abgewertet werden. Die natürliche Wahrnehmung reicht nicht aus, um alle Bestandteile der Erfahrungswirklichkeit en bloc zu erfassen. Wir wandern gleichsam mit Scheuklappen durch eine erstarrte raumzeitliche Ordnung, die uns zwingen Moment für Moment zu perzipieren und sie dann hintereinander zu schalten, so dass der Eindruck ablaufender bzw. voranschreitender Zeit entsteht. In der homogenen Zeitvorstellung bewegt sich die Zeit nicht selbst, sondern gerät zum Attribut sich bewegender Körper. Entsprechend avanciert die Raumbewegung von Objekten zum Anzeiger einer zeitlichen Dynamik. Die Überwindung räumlicher Distanzen werden temporal interpretiert und mit der Progression von Zeit gleichgesetzt. Dieses raumabhängige Zeitverständnis haben wir gut verinnerlicht. Ganz selbstverständlich ziehen wir zur Beschreibung zeitlicher Dynamik Wendungen heran, die mit räumlicher Bewegung assoziiert sind: wir sprechen von zeitlichem Fortschritt, Zeiträumen, Zeitstrecken und -abständen. Bergsons Vergleich von Film und homogener Zeit zeigt, dass hinter der temporalen Illusion des homogenen Zeitentwurfs dasselbe Nebeneinander geschiedener Momente steckt, wie hinter der Bewegungsillusion auf der Leinwand. Doch erschöpft sich das Sinnbild des Films nicht in seiner strukturellen Analogie zur homogenen Zeit. Seine Aussagekraft gewinnt es als Folie, vor der Bergson die Raumverwandtschaft des homogenen Zeitentwurfs und seine Folgen herauspräpariert. Durch die Vergleichung mit dem Film demonstriert er,
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dass „(...) die in Form eines unbegrenzten und homogenen Mediums gedachte Zeit nur das Phantom des Raumes (ist), das das reflektierte Bewußtsein im Banne hält“ (Bergson 1999: 77). Er entlarvt die inhärente Statik der homogenen Zeit – die Zusammensetzung der temporalen Dynamik aus unbeweglichen Zeitpunkten -, vor deren Hintergrund sich temporales Erleben nicht anders als trügerisch begreifen lässt. Im Gegensatz zur Dauer wird Temporalität im homogenen Modell nicht als Entwicklungsprinzip konzipiert, sondern als Ordnungsstruktur. Diese Ordnungsstruktur grenzt Bergson von der essenziellen Dauer als artifizielles Konstrukt ab. Sie stellt ein abgeleitetes Zeitformat dar, welches das amorphe Bewegungsspiel der Dauer vereinfacht und für den kognitiven wie praktischen Umgang aufbereitet. Indem die homogene Zeitidee eine räumliche Logik in die Temporalität injiziert, stellt sie das unaufhörliche Werden still, unterteilt es in separate Momente und schafft so Angriffspunkte für unser Denken und Handeln: „(...) diese Unterschiedenheit und gleichzeitig diese Verfestigung (...) erlauben (uns), ihnen (den Momenten – K.V.) stabile Namen zu geben, trotz ihrer Unstabilität, und wohl unterschiedene Namen, trotz ihrer gegenseitigen Durchdringung. Sie erlauben uns, sie zu objektivieren und so gewissermaßen in die Strömung des sozialen Lebens einmünden zu lassen“ (Bergson 1999: 171).
Handelt es sich bei der Dauer um das Wesen innerer und äußerer Realität selbst, lässt sich die homogene Zeit neben der Raumvorstellung als weiteres Wahrnehmungsmedium verstehen, welches wir auf die bewegliche Wirklichkeit anwenden, um ihre Aspekte zu sortieren und hintereinander zu arrangieren. Dabei wird von der individuellen Eigenart der Zeiterfahrung abgesehen und die qualitative Veränderung der subjektiven Dauer eingeebnet zu Gunsten der Kalkulierbarkeit und Objektivierbarkeit temporaler Relationen. Das homogene Zeitmodell substituiert temporale Dynamik durch temporale Ordnung – es tauscht die schöpferische Kraft der Temporalität ein gegen Zeitkontrolle.
4 Gegenwart und Vergangenheit in der Dauer
4.1 Die Aufwertung der Vergangenheit In den Strukturen von Dauer und homogener Zeit ist eine jeweils unterschiedliche Gewichtung der Zeitdimensionen angelegt. Während die homogene Zeit von der Gegenwart aus bestimmt wird, wächst in der Dauer der Dimension der Vergangenheit eine überragende Bedeutung zu. Ihre Eigenart, ihr Ursprung und Erhalt sowie der mit ihr assoziierte Vorgang der Erinnerung sollen in diesem Abschnitt ausgeleuchtet werden. Der homogene Zeitentwurf ersetzt den Entwicklungszusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch eine Schiene diskreter Gegenwarten. Es resultiert der Eindruck, man könne bei einem Jetztpunkt ansetzen und von hier aus die temporalen Bezüge durch ein überschaubares Schema des ‚vorher – nachher’ ordnen. So avanciert die Gegenwart zum Grundstein eines chronologischen Ordnungsgefüges, in dem Vergangenheit und Zukunft als von ihr abgeleitete Modi erscheinen. Die Vergangenheit wird als das definiert, was nicht mehr ist und die Zukunft als das, was noch nicht ist. Damit weist die homogene Zeit allein der Gegenwart einen Realitätsstatus zu: nur die Gegenwart ist existent, Vergangenheit und Zukunft hingegen sind es nicht mehr oder noch nicht und mithin irreal. Bergsons Konzept der Dauer bewirkt eine Bedeutungsverschiebung der Zeitdimensionen und stellt den Realitätsstatus der Gegenwart in Frage. Während Bergson Zukunft als potenzielle Gegenwart begreift und sich ihr nur am Rande widmet, legt er den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf die Vergangenheit und stärkt sie gegenüber der Gegenwartsdominanz in der homogenen Zeitordnung. Die hier statthabende Derealisierung der Vergangenheit kann Bergson mit dem Hinweis auf die Kontinuität der Dauer abwenden. Da Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmolzen sind, lässt sich logisch nicht begründen, warum erstere unwirklicher sein sollte als letztere. Irreal wird die Vergangenheit in der homogenen Zeit ja nur, weil sie durch eine künstliche Segmentierung der Dauer von der Gegenwart abgetrennt wird. In der Dauer jedoch ist die Vergangenheit an die Gegenwart angeschlossen bzw. in ihr eingeschlossen. Diese Anbindung verleiht nun nach Bergson nicht nur der Vergangenheit Realität, sondern auch der Gegenwart selbst. Letztere ist nur erfahrbar, weil sie der Vergangenheit aufsitzt und von ihr durchtränkt wird. Theoretisch lässt sich der gegenwärtige Augenblick zwar als mathematischer Punkt begreifen, jedoch besitzt dieser eine ideale Existenz und keine sinnlich wahrnehmbare. Die Augenblickserfahrung bedarf der Gedächtnistätigkeit. Die Gegenwart teilt sich immer nur mit als Kontraktion flüchtiger Einzelmomente, die vom Gedächtnis festgehalten und zu einem kompletten Wahrnehmungsbild zusammengezogen werden. Das Gedächtnis erinnert unzählige, bereits vergangene Momente und verdichtet sie zu einem sinnlich greifbaren Augenblick (vgl. Bergson 1991: 58 – 59). Es ist also die Vergangenheit, welche die gegenwärtige Wahrnehmung grundiert und ermöglicht. Diese wiederum bildet den Auftakt zukünftiger Handlungen. Die Wahrnehmung des Augenblicks, d.h. die konkrete, erlebte Gegenwart,
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beansprucht demnach eine gewisse Dauer. Sie erstreckt sich von der Vergangenheit in die Zukunft hinein: „Es gäbe für (das Bewusstsein – K.V.) keine Gegenwart, wenn die Gegenwart sich auf den mathematischen Augenblick beschränkte. Doch dieser Augenblick ist nur die rein theoretische Grenze, die die Vergangenheit von der Zukunft trennt; man kann ihn allenfalls konzipieren, doch man kann ihn nicht perzipieren; wenn wir ihn zu fassen glauben, ist er uns auch schon entschlüpft. Was wir tatsächlich perzipieren, ist eine gewisse Dichtigkeit der Dauer, die sich aus zwei Teilen zusammensetzt: aus unserer allerletzten Vergangenheit und aus unserer allernächsten Zukunft. Auf diese Vergangenheit stützen wir uns, zu dieser Zukunft neigen wir uns hin; (...)“ (Bergson 1928: 6).
Die punktuelle Gegenwart ist eine Abstraktion, die sich der temporalen Wahrnehmung des Subjekts entzieht. Tatsächlich umfasst die Gegenwart eine Spannweite ineinandergedehnter Momente und steht „mit einem Fuße in meiner Vergangenheit und mit dem anderen in meiner Zukunft (...)“ (Bergson 1991: 132). Die Auffassung, dass die Gegenwart selbst dauert, teilt Bergson mit William James: “In short, the practically cognized present is no knife-edge, but a saddle-back, with a certain breadth of its own on which we sit perched, and from which we look in two directions into time. The unit of composition of our perception of time is a duration, with a bow and a stern, as it were – a rearward- and a forward-looking end” (James 1890: 609; Hervorhebung im Original).
Während James lediglich die Spannweite der Gegenwartswahrnehmung herausstellt, geht Bergson noch einen Schritt weiter: nicht nur lässt sich Gegenwart allein deswegen erleben, weil sie in die Vergangenheit zurückreicht, diese Vergangenheit scheint die Gegenwart zu schlucken. Bergson konstatiert, dass die erlebte Gegenwart selbst bereits Vergangenheit ist. „Nichts ist so wenig wie der gegenwärtige Augenblick, wenn man darunter jene unteilbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht. Wenn wir uns diese Gegenwart als sein werdend denken, ist sie noch nicht; und wenn wir sie als seiend denken, ist sie schon vergangen. Wenn man dagegen die konkrete und vom Bewußtsein wirklich erlebte Gegenwart ansieht, kann man sagen, daß diese Gegenwart großenteils in der unmittelbaren Vergangenheit besteht. (…) So besteht unsere Wahrnehmung, so momentan sie sein mag, aus einer unzählbaren Menge erinnerter Elemente, und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Praktisch nehmen wir nur die Vergangenheit wahr, die reine Gegenwart ist das unfaßbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt“ (Bergson 1991: 145; Hervorhebung im Original).
Der Realitätsstatus, mit dem das homogene Zeitmodell den gegenwärtigen Moment auszeichnet, wird von Bergson radikal aberkannt: unser Bewusstsein von der Gegenwart ist bereits Gedächtnis – die aktuelle Wahrnehmung bereits Erinnerung. In der subjektiv erlebten Zeit existiert nur die Vergangenheit. Im Vergleich zur homogenen Zeit, die mit Gegenwartsdominanz und der Derealisierung der Vergangenheit verbunden ist, wird das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Dauer neu bestimmt. Die Vergangenheit wird nicht von der Gegenwart abgeschieden und fällt der Irrealität anheim. Stattdessen bleibt sie in der Kontinuität der Dauer erhalten und erweist sich als Bedingungsgrund der Gegenwart. Letztere nehmen wir erst wahr, wenn sie sich der Vergangenheit anverwandelt hat. Damit erhebt Bergson die Dimen-
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sion der Vergangenheit zur Bedingung der Möglichkeit erlebter Gegenwart. Bildet die Vergangenheit die Prämisse der Gegenwartswahrnehmung, muss die Vergangenheit der Gegenwart jedoch bereits vorausliegen. Diese Annahme, die in Bergsons Idee einer vergangenheitsdurchtränkten Gegenwart nur implizit enthalten ist, entfaltet Deleuze in seiner Bergson-Studie. Der homogenen Zeitvorstellung gemäß gehen wir gemeinhin davon aus, dass das Vergangene sich erst konstituiert, nachdem es gegenwärtig gewesen ist. Dieses Verhältnis erfährt bei Bergson eine Umkehrung. Wie Deleuze zeigt, nimmt Bergson neben der spezifischen Vergangenheit individueller Erinnerungsbilder eine allgemeine, ontologische Form der Vergangenheit an, die der Gegenwart bereits vorgelagert ist und mit ihr zusammen existiert. Diese „ewige, allzeitige Vergangenheit“ (Deleuze 2001: 76) liefert die Voraussetzung dafür, „daß jede besondere Gegenwart den »Durchgang« zum Vergehen finden kann“ (Deleuze 2001: 76). Erst so kann eine konkrete Vergangenheit vormaliger Aktualitäten überhaupt entstehen und Zukunft nachrücken. Die ontologische Vergangenheit gleicht einem Magneten oder einem ‚schwarzen Loch’, welches Gegenwart wie Zukunft anzieht und einsaugt. Sie nimmt die abgelaufene Zeit in sich auf und ist zugleich Ursache ihres Ablaufens: würde der Augenblick nicht von der koexistenten Vergangenheit angezogen, bliebe er gegenwärtig. „Die Vergangenheit folgt nicht der Gegenwart, sondern wird von dieser im Gegenteil als Bedingung schlechthin vorausgesetzt, ohne die sie nicht vergehen könnte“ (Deleuze 2001 79). Deleuze fasst den bei Bergson angelegten Konstitutionszusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart wie folgt zusammen: „Wie sollte eine neue Gegenwart auftauchen, wenn nicht die alte Gegenwart, die aber gegenwärtig ist, im gleichen Atemzug verginge? Wie sollte irgendeine Gegenwart vergehen, die nicht im gleichen Atemzug schon als Gegenwart vergangen wäre? Das Vergangene könnte sich niemals konstituieren, wenn es sich nicht schon vorweg, zu dem Zeitpunkt, an dem es gegenwärtig war, konstituiert hätte. (...) Die Vergangenheit ist eine Zeitgenossin der Gegenwart, die gewesen ist“ (Deleuze 2001: 78; Hervorhebung im Original).
Ohne die Ko- und Präexistenz einer allgemeinen, unbestimmten Vergangenheit würde weder eine individuelle, erinnerbare Vergangenheit entstehen, noch könnte die Zeit verrinnen. Sie würde zum ewigen Augenblick erstarren – das Ende von Entwicklung und Wandel. Die ontologische Vergangenheit jedoch ermöglicht unkalkulierbare Tendenzen und unvorhersehbare Neuerungen, indem sie die zeitliche Bewegung in Gang setzt. Insofern ist sie als Potenzialität zu begreifen, als produktiver Quell einer schöpferischen temporalen Entwicklung: der Dauer. Ihre Bewegung wird durch die Vergangenheit hervorgerufen – sie wird gleichsam aus ihr geboren. Im Kontrast zur Präsenzorientierung homogener Zeit bestimmt Bergson die Dauer von der Vergangenheit her und definiert den aktuellen Moment als ihren äußersten Ausläufer – als ‚Kegelspitze der Vergangenheit’. Die Vergangenheit rollt sich der Gegenwart entgegen wie ein „Schneeball“ (Bergson 1912: 9) und verleibt sie sich ein – „(...) Dauer ist ununterbrochenes Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt“ (Bergson 1912: 11). Die Vergangenheit bei Bergson offenbart sich zugleich als Ursprung und finale Bestimmung temporaler Dynamik – als Aus- und Eingang der Zeit.
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4.2 Gegenwart der Materie und geistige Realität des Vergangenen Das Konzept der Dauer leitet eine Expansion und mit ihr eine außerordentliche Bedeutungszunahme der Vergangenheit ein. Nicht nur erklärt Bergson sie zur Domäne, in der sich die subjektive Zeiterfahrung abspielt. Er erachtet die Vergangenheit als Ursprung der temporalen Bewegung und damit als Herzstück der Zeit. Mit der Dimension der Vergangenheit befasst sich Bergson detailliert in seinem zweiten Hauptwerk Materie und Gedächtnis. Er greift hier ein zentrales Problem der Philosophie auf: den Dualismus von Materie und Geist. Ihre Beziehungen versucht er auf dem Feld des Gedächtnisses zu klären. Die zeittheoretische Bedeutung dieses Unterfangens liegt darin, dass Bergson die Trennung von Materie und Geist in die Zeit hineinverlängert. Der Materie ordnet er die aktuelle Wahrnehmung zu, die auf die Dimension der Gegenwart zielt, und dem Geist die Erinnerung, in der die Vergangenheit aufscheint. Bergson grenzt den Komplex ‚Materie -Wahrnehmung – Gegenwart’ von dem Komplex ‚Geist – Erinnerung – Vergangenheit’ ab. Diese Zuordnungen laufen ein weiteres Mal der philosophischen wie psychologischen Tradition entgegen. Deren Auffassungen versucht Bergson zu korrigieren, da sie den gravierenden Unterschied zwischen Erinnerung und Wahrnehmung – und mit ihnen zwischen Vergangenheit und Gegenwart – verwischen: Wahrnehmungen wie Erinnerungen werden als unausgedehnte Kognitionen der ausgedehnten Materie gegenübergestellt, wobei man die Erinnerungen lediglich für eine ältere, verblasste Wahrnehmung hält. Für Bergson allerdings besteht zwischen Wahrnehmung und Erinnerung nicht nur ein gradueller Unterschied der Intensität, sondern ein Wesensunterschied. Während er die Erinnerung als geistiges Phänomen erachtet, schlägt er die Wahrnehmung der Sphäre der Materie zu. Diese ungewohnte Setzung ist erklärungsbedürftig und wird einsichtig vor dem Hintergrund der Wahrnehmungstheorie, die Bergson im ersten Kapitel von Materie und Gedächtnis entwickelt. Von hier aus lässt sich seine Charakterisierung von Vergangenheit und Gegenwart nachvollziehen.
4.2.1 Auf der aktuellen Seite der Zeit: Wahrnehmung und Gegenwart Bilderreigen: Bergsons Theorie der Wahrnehmung Wahrnehmungen sind gegenwarts- Erinnerungen vergangenheitsbezogen. Wie gezeigt, sind auch für die bewusste Gegenwartserfahrung Vergangenheitsanteile konstitutiv. Bergson blendet sie jedoch aus, um die Eigenart von Wahrnehmung und Erinnerung bzw. Gegenwart und Vergangenheit klären zu können. Die solchermaßen gereinigte, gegenwärtige Wahrnehmung nun begreift Bergson nicht als kognitive Repräsentation der materiellen Wirklichkeit, sondern als Weiterleitung von Bewegung und Auftakt von Handlungen. Auch diese Umdeutung bedarf näherer Erläuterung. Anders als noch in Zeit und Freiheit erscheint Bergson die Dauer in Materie und Gedächtnis nicht mehr auf eine psychologische Erfahrung reduzierbar zu sein. Bewegung gibt es auch außerhalb des Bewusstseins. Sie ist den materiellen Dingen genauso zugehörig wie dem Bewusstsein und setzt nicht länger die Perspektive eines dauernden Subjekts voraus, d.h. auch in der äußeren Wirklichkeit wirkt die Dauer. Ebenso wie die innerpsychische Realität befindet sich auch die Materie in permanenter Bewegung und Veränderung. Sie gleicht einem großen Bewegungszusammen-
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hang, in dem alle Bestandteile aufeinander reagieren. Eingespeist in ein Spiel von Reaktion und Aktion empfangen sie Bewegungen und geben Bewegungen weiter. Die Bestandteile der Materie bezeichnet Bergson als „Bilder“. Allerdings ist sein Bildbegriff nicht zu verwechseln mit mentalen Abbildern oder Vorstellungsbildern, die sich auf ausgedehnte Gegenstände der äußeren Wirklichkeit beziehen. Bergsons Bilder existieren nicht nur in unserem Kopf, sondern unabhängig und außer uns: „Da sehe ich mich dann umgeben von Bildern – das Wort im unbestimmtesten Sinne verstanden -, Bildern, die ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne öffne, und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe“ (Bergson 1991: 1). Wenn Bergson dem Bild dieselbe Seinsweise zuspricht wie der Materie, stellt es dann nicht lediglich eine Verdoppelung dar? Worin liegt der Nutzen des Bildbegriffs? Bergson verwendet ihn, um die Scheidung zwischen Erscheinung und Existenz aufzuheben, die Idealismus und Realismus eingeführt haben. Während der Idealismus die Materie auf geistige Vorstellung reduziert, weil für ihn ein Gegenstand nur in Abhängigkeit vom wahrnehmenden Bewusstsein existiert, nimmt der Realismus zwar ein independentes Sein der Materie an, schreibt ihr jedoch eine andere Natur zu, als unserer Vorstellung von ihr (vgl. Bergson 1991: I – II). Die Diskrepanz zwischen materieller Existenz und mentaler Erscheinung – zwischen Gegebenem und Wahrnehmung – muss dem gesunden Menschenverstand als wenig plausibel anmuten. Bergson vertritt daher die Ansicht, „(...) daß die Materie von der Vorstellung ganz erfaßt wird; daß sie kein Inneres, nichts Hintergründiges hat; daß sie also nichts verbirgt, nichts einschließt, daß sie weder Kräfte noch Virtualitäten irgendwelcher Art besitzt; daß sie ganz sozusagen in Oberfläche aufgeht und in jedem Augenblick ganz das ist, als was sie erscheint“ (Bergson 2000: 135).
... und aus genau diesem Grund darf die Materie mit ihrem Bild gleichgesetzt werden. Es ist diese grundlegende Übereinstimmung von Materie und ihrer Auffassung, von Existenz und Erscheinung, die Bergsons Bildbegriff zum Ausdruck bringen will.17 Die materielle Wirklichkeit lässt sich also beschreiben als Gesamtheit von Bildern bzw. als ein dynamischer Zusammenhang von Bildern, die Bewegungen prozessieren. Da sie dieses in unterschiedlicher Weise tun, unterscheidet Bergson zwischen zwei Bildsystemen: den Bildern der Materie und den Wahrnehmungsbildern. Das erste System enthält diejenigen Elemente der Materie ohne bewusste Wahrnehmung (Anorganisches, Pflanzen, Tiere niedriger Entwicklungsstufe). Die Bilder der Materie reagieren mit all ihren Komponenten aufeinander. Sie setzen sämtliche Bewegungen, die auf sie entreffen, automatisch und in immer gleicher Weise fort. Die Wechselwirkungen zwischen den Bildern gestalten sich nach konstanten Regeln und lassen sich durch Naturgesetze beschreiben. Im System der Wahrnehmungsbilder hingegen, welches Elemente mit bewusster Wahrnehmung (höher entwickelte Lebewesen) umfasst, sind die Bildbewegungen veränderlich und unkalkulierbar. Verantwortlich für die Varianz sind die Bilder des Leibes. Sie bilden „Zentren der Indeterminiertheit“ (Bergson 1991: 21), da sie nicht auf alle Bewegungen antworten, die von den umgebenden Bildern ausgesandt werden, sondern nur auf solche, die relevant sind. Diese selektive Weiterleitung von Bewegung ist es, welche Bergson als Wahrnehmung bezeichnet: „Materie nenne ich die Gesamtheit der Bilder, und Wahrnehmung der Materie
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Weil Bergson die Materie mit ihrer Erscheinung gleichsetzt, wurde ihm von Kritikern ein naiver Realismus vorgeworfen.
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diese selben Bilder bezogen auf die mögliche Wirkung eines bestimmten Bildes, meines Leibes“ (Bergson 1991: 6; Hervorhebung im Original). Da der Leib nur Bildbewegungen fortführt, die für seine Bedürfnisse, Funktionen und Handlungsmöglichkeiten von Interesse sind, ist Wahrnehmung pragmatische, auf die Zukunft gerichtete Intention. Sie bereitet die anschließenden Aktionen vor und wird von Bergson als werdende Tätigkeit begriffen. Besteht der Wahrnehmungsvorgang in einem Ausfiltern der irrelevanten Bildelemente, erscheint das Wahrnehmungsbild als ein durch unsere „virtuellen Handlung(en)“ (Bergson 1991: 44) gefiltertes, reduziertes Bild der Materie. Es entsteht nicht durch Transformation von Materie in geistige Vorstellung, sondern durch Subtraktion. Die Materie ist also zweifellos reicher als das Bild, das wir uns von ihr machen, doch in ihr ist nichts grundsätzlich Andersgeartetes gegeben. Das Wahrnehmungsbild verhält sich zur Materie nicht wie der Schein zur Wirklichkeit, sondern wie ein Teil zum Ganzen – es ist bereits in der Materie enthalten. Mit Bergson ist Wahrnehmung weder idealistisch als geistige Konstruktion noch realistisch als Rekonstruktion aufzufassen. Als reduziertes Bild der Materie ist sie nicht in der Sphäre des Geistes, sondern in der Materie verortet: „Unsere Wahrnehmung ist, wenn sie rein ist, wirklich ein Bestandteil der Dinge selbst“ (Bergson 1991: 52). Bergson unterscheidet demnach nicht dualistisch zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, sondern definiert Welt monistisch als Wechselwirkung bewegter Bilder. Wahrnehmung bezieht sich hier auf ein „System beginnender Handlungen (...), das seine Wurzeln tief in der Wirklichkeit hat (...)“ (Bergson 1991: 57). Welche Konsequenzen hat diese Wahrnehmungsdefinition nun für die Gegenwart, auf die sie sich bezieht?
Bewegungsspiel der Materie: Bergsons Auffassung der Gegenwart Die Gegenwart ist der ‚temporale Aggregatzustand’ der Materie. Diese ist ohne Bewusstsein und somit erinnerungs- und gedächtnislos. Zwar mögen sich Spuren vergangenen Geschehens in sie eingraben, einen selbstreflexiven Zugriff auf ihre vergangene Dauer besitzt die Materie jedoch nicht, weswegen sie der Gegenwart verhaftet bleibt. Allerdings ist die Gegenwärtigkeit der Materie nicht statisch, sondern dynamisch zu denken – nicht seiend, sondern werdend. Wie die Wahrnehmung bettet Bergson auch die wahrgenommene Gegenwart in den dynamischen Wirkungszusammenhang der materiellen Wirklichkeit ein und deutet sie hier nicht „als das was ist“, sondern als das, „was geschieht“ (Bergson 1991: 145; Hervorhebung im Original). In diesem Kontext meint Gegenwart nichts anderes als die Einmündung und Weitergabe von Bewegung – „(...) unsere Gegenwart (ist) die Materialität unseres Daseins, d.h. ein System von Empfindungen und Bewegungen, nichts anderes“ (Bergson 1991: 133). Anstatt als Zustand begreift Bergson Gegenwart als Aktion. Sie empfängt Bewegungen und leitet sie weiter. Damit wird die Gegenwart aufgedehnt zu einem sensorisch-motorischen Wirkungszusammenhang, der der Materie innewohnt. Die wahrgenommene (erlebte) Gegenwart bindet Bergson an den Leib. Dieser ist „der Durchgangsort der empfangenen und zurückgegebenen Bewegungen, der Bindestrich zwischen den Dingen, welche auf mich wirken, und den Dingen, auf welche ich wirke, der Sitz mit einem Worte der sensorisch-motorischen Vorgänge“ (Bergson 1991: 147; Hervorhebung im Original). Die erlebte Gegenwart wird in der Materialität des Körpers fundiert, sie entspringt der Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit: „Das bedeutet, daß meine Gegen-
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wart in dem Bewußtsein besteht, das ich von meinem Körper habe. (...); er ist von dieser materiellen Welt der Teil, dessen Ablauf wir direkt fühlen; in seiner Aktualität besteht die Aktualität unserer Gegenwart“ (Bergson 1991: 133). Die erlebte Gegenwart des Ich manifestiert sich in seinem unmittelbaren Körperbewusstsein – sie ist leibliche Selbstpräsenz. Damit wird die reine, von Vergangenheitsanteilen befreite Wahrnehmung der Gegenwart auf einer elementaren Empfindungsebene angesiedelt. Neben der sensorischen Seite weist die Gegenwart nach Bergson weiterhin die Seite der motorischen Wirkung auf. Sie betrifft die Bahnung ausgewählter, dem Individuum nützlicher Bewegungen, die in Handlungen einmünden. Aufgrund ihrer motorischen Seite ist Gegenwart Aktualität – sie ist aktuell im Sinne aktiver Einflussnahme: „Meine Gegenwart ist, was mich interessiert, was mir lebendig ist, mit einem Worte, was mich zur Tätigkeit anreizt, (...)“ (Bergson 1991: 131). Damit definiert Bergson die Gegenwart pragmatisch und verankert sie in der Sphäre des tätigen Lebens. Im Kontrast zur homogenen Zeitauffassung, die der Gegenwart eine ideale Existenz als Jetztpunkt zuschreibt, situiert Bergson die Gegenwart in der sinnlichen Erfahrungswirklichkeit. Er weitet sie aus zu einem dynamischen, verzweigten Interaktionszusammenhang, der das materielle Dasein durchwirkt. Gegenwart ist, was unseren Sinnen gegeben ist und sich in Handlungen fortsetzt – der Kurzschluss von Reaktion und Aktion. Als solcher manifestiert sie sich nicht in einem greifbaren Augenblick. Vielmehr ist die sensomotorische Gegenwart das Passieren selbst. Sie ereignet sich zwischen den Dingen und bildet eine Aktions-Reaktions-Relation. In dieser Hinsicht erinnert sie an das, was Lyotard später als nicht-gegenständliche Form der Gegenwart beschreiben wird: Bergsons sensomotorische Gegenwart trägt den lyotardschen Ereignischarakter des ‚es geschieht’.18
4.2.2 Auf der virtuellen Seite der Zeit: Erinnerung und Vergangenheit Machtloses Sein: die Eigenart der Vergangenheit Gehören Wahrnehmung und Gegenwart der Materie an, verortet Bergson Vergangenheit und Erinnerung in der Sphäre des Geistes. Gegenüber der mit Wirksamkeit und materiellem Werden assoziierten Gegenwart zeichnet sich die Vergangenheit aus durch Machtlosigkeit und virtuelles (d.h. geistiges) Sein. Mit dem Hinweis auf das Sein der Vergangenheit verschiebt Bergson grundlegende Zuordnungen der homogenen Zeitauffassung. Diese hält Vergangenheit und Zukunft für nicht existent und betrachtet einzig den gegenwärtigen Moment als gegeben. Bergson hingegen akzentuiert seinen dynamischen Charakter. Die Gegenwart ist in permanentem Werden begriffen und solches impliziert zugleich ihre Vergänglichkeit – Gegenwart wird und vergeht von Moment zu Moment. Das Vergangene aber wird in der kontinuierlichen Dauer bewahrt und hat dort Bestand. Das Sein ist demnach nicht der flüchtigen Gegenwart zueigen, sondern der andauernden Vergangenheit: die Gegenwart geschieht, die Vergangenheit aber ist – und bleibt. Deleuze erläutert Bergson:
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In Bergsons sensomotorischer Gegenwart ist nicht nur das Ereignis vorgebildet, wie es von Lyotard und vergleichbar auch von Deleuze charakterisiert wird. Zudem ist in der Aufdehnung der Gegenwart zu einem Wirkungszusammenhang die Tendenz zur Verräumlichung des Augenblicks angelegt, wie sie sich bei Derrida findet.
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„Wir verwechseln also das Sein mit dem Gegenwärtig-Sein. Aber das Gegenwärtige ist nicht, es ist vielmehr reines Werden, das immer außer sich ist. Es ist nicht, sondern agiert. (...) Das Vergangene hingegen, so könnte man sich ausdrücken, hat zu agieren aufgehört und das NützlichSein verlassen. Aber es hat nicht aufgehört zu sein. Ohne Nutzen, inaktiv und ungerührt ist es in einem emphatischen Sinne des Wortes: Es fließt ununterscheidbar mit dem Sein in sich zusammen. Man kann nicht sagen es »war«, denn es ist das In-Sich-Sein des Seins, es ist die Form, in der sich das Sein in sich erhält (im Gegensatz zum Gegenwärtigen, das die Form ist, in der sich das Sein verzehrt und sich außer sich setzt). Spitzt man es zu, verkehren sich geradezu die üblichen Bestimmungen: Vom Gegenwärtigen darf man sagen, daß es in jedem Augenblick »war«, und vom Vergangenen, daß es »ist«, daß es ewig ist, zu allen Zeiten“ (Deleuze 2001: 74; Hervorhebung im Original).
Bergson misst der Vergangenheit einen eigenen Seinsstatus zu, ontologisiert sie. Sie besitzt eine virtuelle Existenz und ist nicht unwirklicher als das aktuelle Werden – nur ist ihre Realität nicht sinnlicher, sondern geistiger Natur.19 Neben diesem Wesensunterschied herrscht zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein ‚Effizienzunterschied’: im Gegensatz zur Gegenwart hat die Vergangenheit ihre Wirkungsmacht und Nützlichkeit verloren. In ihr setzen sich – anders als in der Gegenwart – keine Empfindungen in Handlungen um. Sie ist nicht eingespannt in den Reaktionszusammenhang des materiellen Daseins und zeitigt keinen Einfluss auf das aktuelle Geschehen. Bergson kennzeichnet die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart nicht als irreal, sondern lediglich als macht- bzw. wirkungslos – als einen eigenständigen, von Gegenwartsfunktionen unabhängigen Bereich: „Wir antworten, daß es ja gerade die Frage ist zu wissen, ob die Vergangenheit aufgehört hat zu existieren oder ob sie nicht nur einfach aufgehört hat, nützlich zu sein“ (Bergson 1991: 145). Die machtlose Vergangenheit des Subjekts liegt vor in „persönlichen Erinnerungsbildern, die alle ihre Ereignisse mit Umrissen, Farbe und zeitlicher Bestimmtheit einzeichnen“ (Bergson 1991: 78).20 Auch diese partizipieren nicht direkt am Bewegungszusammenhang der Materie. Bringen Wahrnehmungsbilder potenzielle Einwirkungen auf ein gegenwärtiges Objekt zum Ausdruck, handelt es sich bei Erinnerungsbildern um Vorstellungen vergange19 Der Fortbestand des Vergangenen resultiert aus der konsequenten Anwendung der These, die Bergson im Kontext seiner Wahrnehmungstheorie entfaltet hat: den Dingen bzw. Bildern kommt eine von der menschlichen Wahrnehmung unabhängige Existenz zu. Bergson gilt dieser Satz sowohl für die materielle Außenwelt als auch für die geistige Innenwelt. Er überträgt ihn auf Momente in Raum und Zeit gleichermaßen und rüttelt so am alltäglichen Raum-Zeit-Verständnis. Diesem fällt es nicht schwer zu akzeptieren, dass Momente im Raum fortbestehen, auch wenn wir unsere Aufmerksamkeit von ihnen abziehen. Im Hinblick auf die Zeit aber erkennen wir ihnen ein wahrnehmungs-unabhängiges Weiterleben ab. Getreu der homogenen Zeitvorstellung erscheint uns lediglich der aktuelle Augenblick real. Seine Existenz erlischt, sobald er sich dem Wahrnehmungsfokus entzieht. Demnach scheint „(...) der Raum in ihm nebeneinandergestellte Dinge für alle Ewigkeit aufzubewahren, die Zeit aber in ihr aufeinanderfolgende Zustände in ihrem Ablauf zu zerstören (...)“(Bergson 1991: 138). Im Kontrast zur gängigen Auffassung existieren für Bergson Momente sowohl im Raum als auch in der Zeit unabhängig von der aktuellen Wahrnehmung. Demzufolge gibt es nicht mehr Grund „zu sagen, daß die einmal wahrgenommene Vergangenheit erlischt, als anzunehmen, daß die materiellen Gegenstände aufhören zu existieren“ (Bergson 1991: 136 – 137). 20 Neben den Erinnerungsbildern führt Bergson eine weitere Erinnerungsfigur an: Erinnerungen in Form von Bewegungsmustern, die Bergson als „Knickfalten“ (Bergson 1991: 72) bezeichnet. Es handelt sich um Gewohnheiten, welche durch die Wiederholung derselben Bewegungsabläufe erworben werden. In diesem Fall ist die Vergangenheit in Form von motorischen Mustern in den Leib eingeschrieben, die sich, sobald sie durch Wahrnehmungen ausgelöst werden, aktuell vollziehen. Wie die Wahrnehmung ist diese leibgebundene Erinnerungsform auf Wirksamkeit und Tätigkeit abgestellt und steht damit der Gegenwart näher als der machtlosen Vergangenheit. Den beiden Erinnerungsgestalten entsprechen zwei Gedächtnisformen: das wiederholende Gedächtnis (mémoirehabitude) greift auf die Gewohnheiten zu, das vorstellende Gedächtnis (mémoire-souvenir) auf die Erinnerungsbilder.
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ner Gegebenheiten. Ihr Gegenstand ist keiner des materiellen Daseins, sondern virtueller Art. Damit ist ihre direkte Verbindung zum tätigen Leben gekappt. Anders als Wahrnehmungen veranlassen sie nicht unmittelbar einen handelnden Eingriff in die Welt. Sie sind machtlos und nicht den Nützlichkeitsanforderungen des praktischen Lebens unterworfen. Um Erinnerungen zu wecken und in die Vergangenheit einzutauchen, muss man sich gar vom Wirkungszusammenhang der Materie abwenden: „Um die Vergangenheit in Form eines Bildes wachzurufen, muß man vom gegenwärtigen Tun abstrahieren können, muß man dem Nutzlosen einen Wert geben können, muß man träumen wollen“ (Bergson 1991: 72). Während die gegenwärtigen Wahrnehmungsbilder der Materie selbst inne liegen, sind Erinnerungsbilder und ihre Objekte dort nicht aufzufinden. Sie sind virtuell und in der Sphäre des Geistes beheimatet.
Entstehung der Vergangenheit: Gleichursprünglichkeit von Vergangenheit und Gegenwart Der wesenhafte Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern wurzelt in der Zeit selbst, die nach Bergson durch eine grundlegende Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit bzw. von Aktualität und Virtualität charakterisiert ist. Ein Vortrag über Die Erinnerung des Gegenwärtigen und das falsche Wiedererinnern (Bergson 1928: 98 – 136)21 aus dem Jahre 1908 wirft ein Licht auf die zweiseitige Verfassung der Temporalität. Bergson stellt hier seine These zur Genesis von Vergangenheit und Erinnerung auf, die sowohl dem homogenen Zeitverständnis als auch der psychologischen Position widerspricht. Ihnen zufolge konstituiert sich die Vergangenheit nach der Gegenwart und wird als früherer Jetztpunkt oder vormalige Wahrnehmung interpretiert. Bergson hingegen behauptet die Gleichursprünglichkeit von Vergangenheit und Gegenwart – von Wahrnehmung und Erinnerung: „Ich behaupte nun, die Erinnerung bildet sich niemals später als die Perzeption, sondern gleichzeitig mit ihr.“ (Bergson 1928: 115; Hervorhebung im Original). Der Augenblick wird als Doppelfigur konzipiert, die einen wirksamen Wahrnehmungs- und einen machtlosen Erinnerungsaspekt aufweist. Wir verkürzen ihn lediglich auf die Wahrnehmungskomponente aufgrund unserer natürlichen Ausrichtung auf das tätige Leben.22 Tatsächlich aber ist der Augenblick aktuell und virtuell zugleich und ragt sowohl in die Dimension der Gegenwart als auch der Vergangenheit hinein. Die Gegenwart „(...) teilt sich in jedem Augenblick, schon bei ihrem Auftauchen in zwei symmetrische Strahlen, von denen der eine in die Vergangenheit zurückfällt, während der andere sich in die Zukunft schwingt“ (Bergson 1928: 117).23 Nur aus Sicht eines auf Handlung ausgerichteten Gegenwartsbewusstseins erscheint die temporale Dynamik als lineare Sukzession aktueller Momente. Bergson hingegen begreift Zeit als Ausdifferenzierung. Sie wird geboren aus einer inhärenten Spaltung des Augenblicks und produziert flüchtige Gegenwarten auf der materiellen und eine anwachsende Vergangenheit auf der virtuellen Seite. Zeit ereignet sich an dem Schnittpunkt von Verschwinden und Bewahren. Sie „(...) ist stets als die paradoxe 21
Unter dem falschen Wiedererinnern versteht Bergson Déjà-vu-Erlebnisse. Entsprechend vermutet Bergson die Ursache für Déjà-vu-Erlebnisse in einem Nachlassen der Anspannung, die normalerweise das virtuelle Erinnerungsbild zurückdrängt. Dieses tritt nun zusammen mit dem aktuellen Wahrnehmungsbild ins Bewusstsein, so dass der Eindruck entsteht, man habe das gegenwärtige Geschehen schon einmal erlebt. 23 Zur Gleichursprünglichkeit von Vergangenheit und Gegenwart und der Zeit als Spaltungsgeschehen vgl. Deleuze 1999: 108 – 113. 22
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Einheit zu begreifen, in der einerseits alles vergeht in Form der vorüberziehenden jeweiligen Gegenwart, andererseits nichts vergeht, weil es als Vergangenes aufbewahrt wird“ (Engell/Fahle 2003: 237). Die Zeit oszilliert an ihrem Entstehungsgrund zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei verhält sich letztere zur ersteren wie eine Reflexion. In den virtuellen Erinnerungen spiegeln sich die aktuellen Wahrnehmungen wieder: „(D)ie Erinnerung ist für die Wahrnehmung dasselbe, was das im Spiegel gesehene Bild für den davor befindlichen Gegenstand ist. Den Gegenstand kann man ebenso gut berühren, wie man ihn sieht; er wird auf uns reagieren, wie wir auf ihn; er ist von möglichen Akten trächtig; er ist aktuell. Das Bild aber ist virtuell, und obwohl es dem Gegenstand gleicht, unfähig, irgend etwas von dem zu tun, was dieses tut. Unsere aktuelle Existenz, je mehr sie sich in der Zeit abrollt, wird solcherart durch eine virtuelle Existenz, durch ein Spiegelbild verdoppelt“ (Bergson 1928: 121; Hervorhebung im Original).
Als virtuelle Reflexion der Wahrnehmung ist die Erinnerung zwar wirkungslos, aber sie ist bleibend. Während das gegenwärtige Wahrnehmungsbild in das Bewegungsspiel der Materie eingespeist ist und durch eine neue Aktualität ersetzt wird, sobald es auftaucht, erhält sich seine virtuelle Spiegelung in der Sphäre des Geistes: sie besteht fort in der unteilbaren Dauer, welche die Funktion eines virtuellen Gedächtnisses übernimmt. Die in der Dauer konservierten Erinnerungsbilder liefern die Voraussetzung dafür, dass wir Gegenwart überhaupt bewusst erleben und Zeit reflektieren können. Sie verleihen dem Augenblick eine wahrnehmbare Präsenz, die er, wäre er reine Gegenwärtigkeit, nicht hätte: „(...) der gegenwärtige Augenblick, der ja immer in Bewegung ist, als flüchtige Grenze zwischen der letzten Vergangenheit, die schon nicht mehr ist, und der unmittelbaren Zukunft, die noch nicht ist, würde zu einer bloßen Abstraktion zusammenschrumpfen, wäre er nicht eben der bewegliche Spiegel, der unaufhörlich die Wahrnehmung als Erinnerung reflektiert“ (Bergson 1928: 121).
Reine Gegenwärtigkeit ist unreflektiert. Sie spielt sich auf einer elementaren körperlichen Empfindungsebene ab. Ins reflektierende Bewusstsein tritt der Augenblick nur, weil er mit der Vergangenheit verquickt ist bzw. weil eine virtuelle Erinnerungsspur von ihm überdauert, auf die das Gedächtnis zugreifen kann. Diese Überlegungen Bergsons verschärfen seine These von der Vergangenheit als Bedingung des Gegenwartserlebens. Sie bekräftigen die Bedeutung des Erinnerungsvermögens, das dem Gegenwartserleben die erforderliche Dauer verleiht. Allerdings zeigt sich, dass nicht das Subjekt mittels seines Erinnerungsvermögens die Zeit festhält, sondern dass die Zeit von sich aus virtuelle Erinnerungsspuren hinterlässt, auf die sich das Subjekt beziehen kann. Das Erinnerungsvermögen des Subjekts wird also erst durch die innere Verfassung der Zeit, d.h. durch die Fortdauer und Koexistenz der virtuellen Vergangenheit mit der Gegenwart, ermöglicht. Bergson verlegt damit die Prämisse des Erinnerns in die Zeit hinein. Erinnerungen leben nicht in den Köpfen der Individuen fort. Es ist die Zeit an sich, die Dauer, welche die Vergangenheit bewahrt.
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Erhaltung der Vergangenheit: die Dauer als virtuelles Gedächtnis Die Idee, dass sich die Vergangenheit in der Zeit selbst erhält, führt Bergson gegen physiologische und psychologische Gedächtnistheorien ins Feld.24 Sie gehen zum einen davon aus, dass Erinnerungen in Form physiologischer Verbindungen in der Gehirnsubstanz eingraviert sind, und zum anderen, dass sie von der Gegenwart aus abgerufen werden können. Beide Annahmen werden von Bergson problematisiert und verabschiedet. Ihm zufolge verkennen Physiologie und Psychologie mit der Auffassung vom Gedächtnis als materiellen Speicher das geistige Wesen von Vergangenheit und Erinnerungsbildern. Zwar kennt auch Bergson ein ‚Körpergedächtnis’ – das wiederholende Gedächtnis (mémoire-habitude) – in dem die Vergangenheit in Gestalt motorischer Bewegungsmuster eingeschrieben ist. Von ihm jedoch trennt er das vorstellende Gedächtnis (mémoire-souvenir), welches er als Gedächtnis im eigentlichen Sinne markiert. Es birgt die Vergangenheit als geistige Vorstellung – in ihm leben die Erinnerungsbilder. Aufgrund ihrer virtuellen Natur schließt Bergson aus, dass Erinnerungsbilder in materieller Form vorliegen und hält das vorstellende Gedächtnis für „absolut unabhängig von der Materie“ (Bergson 1991: 174). Zur Auffassung eines leibgebundenen Erinnerungsarchivs verleitet letztlich die Übertragung der Raumvorstellung auf die Dauer: weil sie die Momente aus der Dauer freisetzt und vergangenes Geschehen von der Gegenwart absondert, wird es erforderlich, einen Ort anzunehmen, an dem Vergangenes für einen erinnernden Zugriff bereitgestellt wird. Berücksichtigt man die Unteilbarkeit der Dauer, dann wird man feststellen, dass die Vergangenheit nicht von der Gegenwart abgeschieden und vernichtet wird. Stattdessen bildet sie mit ihr eine Kontinuität, in welcher sie überlebt: „Da erst bemerkten wir, daß die Frage der Lokalisation der Erinnerungen von vornherein eine überflüssige gewesen war und gar nicht hätte gestellt werden dürfen, nachdem die reine innere Erfahrung uns eine „Substanz“ gibt, deren Wesen in der reinen Dauer besteht, so daß eine unzerstörbare Vergangenheit sich unaufhörlich in die Gegenwart fortsetzt in einer unteilbaren Kontinuität. Die Erinnerung erhält sich also selber, (...)“ (Bergson 2000: 92).
Die Verfassung der Dauer macht die Annahme eines materiellen Gedächtnisses außerhalb der Zeit überflüssig: „Die Vergangenheit erhält sich aus eigener Kraft automatisch“ (Bergson 2000: 174; vgl. Bergson 1991: 1444f.) in ihrer kontinuierlichen Bewegung – die Dauer selbst ist Gedächtnis.25 Allerdings offenbart sich die inhärente Vergangenheit dem Be-
24 Vor dem Hintergrund heutiger neurologischer Erkenntnisse ist Bergsons Position nicht mehr haltbar. Ziel dieser Arbeit ist jedoch die Nutzung der bergsonschen Überzeugung für die Filmanalyse. In dieser Hinsicht verspricht sie eine fruchtbare Denkfigur zu sein. 25 Um zu verdeutlichen, dass sich die Vergangenheit in der Kontinuität bewahrt, führt Bergson das sprachliche Sinnverständnis als Beispiel an: „Die Erinnerung erhält sich also selber, wie wir alle es ohne weiteres zugeben müssen, wenn wir z.B. ein Wort aussprechen. Um es auszusprechen, müssen wir uns seiner ersten Hälfte noch erinnern, in dem Augenblick, wo wir die zweite artikulieren“ (Bergson 2000: 92). Die artikulierten Laute eines Wortes erhalten ihren Sinn nur im Anschluss an zuvor geformte Laute, das Wort wiederum nur durch die vorher gesprochenen Worte des Satzes, der Satz nur vor dem Hintergrund vorangegangener Sätze usw. Bergson schließt: „So glaube ich denn freilich, daß unser ganzes inneres Leben etwas ist wie dieser einzige Satz, den ich schon beim ersten Erwachen meines Bewußtseins begonnen habe (...). Und ich glaube daher auch, daß unsere ganze Vergangenheit da ist, unterbewußt, (...)“ (Bergson 1928: 51). Das Unter- bzw. Unbewusste Bergsons ist nicht zu verwechseln mit dem Unbewussten Freuds. Während ersteres der Vergangenheit zugeschrieben wird und nicht wirksam ist, erweist sich letzteres, indem es sich z.B. in Neurosen oder unkontrollierten Handlungen äußert, als ge-
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wusstsein nicht in vollem Umfang. Eine limitierte Aufmerksamkeitsspanne zieht künstliche Grenzen in die Dauer ein und beschränkt sich auf jene Abschnitte der Vergangenheit, die für das aktuelle Handeln relevant sind. Bergson identifiziert das Gedächtnis mit der Dauer und beschreibt so ein Gedächtnis, das der Temporalität selbst innewohnt. Die Vergangenheit lagert sich nicht im Gehirn der Individuen ab, sondern erhält sich aus sich selbst heraus in der Dauer. Damit ist sie nicht auf die leibliche Existenz des Individuums angewiesen, sondern lebt jenseits von ihm eigenständig fort. Bergson löst das Sein der Vergangenheit vom materiellen Sein des Subjekts ab und begreift das Gedächtnis als eine unabhängige, geistige Realität. Deleuze erläutert, dass dieses Gedächtnis nicht psychologisch zu denken ist, sondern die Dauer „ein nicht erinnerbares, ontologisches Gedächtnis“ (Deleuze 2001: 76) konstituiert. Dieses birgt die „»Vergangenheit im allgemeinen«, die nicht die besondere Vergangenheit dieser oder jener Vergangenheit, sondern gleichsam ein ontologisches Element ist, eine ewige, allzeitige Vergangenheit, die Bedingung, daß jede besondere Gegenwart den »Durchgang« zum Vergehen finden kann. Dies ist die Vergangenheit, die alle Vergangenheiten ermöglicht“ (Deleuze 2001: 75 – 76).
Die kontinuierliche Beschaffenheit der Dauer bewirkt das Überleben und mithin das Sein der Vergangenheit an sich. Diese ontologische Vergangenheit ist unpersönlich und undarstellbar. Sie nimmt keine konkrete Gestalt an und manifestiert sich nicht in subjektiven Erinnerungsbildern. Vielmehr sorgt sie dafür, dass sich konkrete Erinnerungen bilden können, indem sie den Ablauf von Zeit bedingt. Die ontologische Vergangenheit öffnet „jede(r) besondere(n) Gegenwart »den Durchgang« zum Vergehen“ und schafft somit die Voraussetzung für die besonderen Vergangenheiten der Individuen. Erst das Sein einer allgemeinen Vergangenheit, welche temporale Bewegungen motiviert, sich spezifische Augenblicke bzw. ihre virtuelle Erinnerungsseite einverleibt und sie konserviert, macht die Entstehung und Erhaltung individueller Erinnerungen überhaupt möglich. „Kurz, die Vergangenheit erscheint als die allgemeine Form eines Schon da (déjà-là), einer allgemeinen Präexistenz, die unsere Erinnerungen voraussetzen, ja sogar unsere erste Erinnerung, falls es jemals eine gab, und die unsere Wahrnehmungen, einschließlich der ersten, benutzen“ (Deleuze 1999: 132 – 133; Hervorhebung im Original).
Die Dauer ermöglicht das Sein der Vergangenheit und konstituiert den virtuellen Gedächtnisraum, in den persönliche Erinnerungen einmünden und aus dem sie auftauchen. Betrachtet man die Dauer mit Bergson als universelle Dynamik – als Zeitgewebe, das aus zahllosen singulären Dauern gesponnen wird – wird sie erkennbar als umfassendes Gedächtnis, das unzählige konkrete Vergangenheiten umfängt. Sie gleicht einem Netzwerk individueller wie kollektiver Erinnerungsbahnen, die sich kreuzen, austauschen und verwickeln können – ein unermessliches virtuelles Gedächtnis, an dem das vorstellende Gedächtnis des Einzelnen angeschlossen ist und partizipiert oder wie Deleuze es beschreibt: „Das Gedächtnis ist nicht in uns, wir sind es, die wir uns in einem Seins-Gedächtnis, in einem Welt-Gedächtnis bewegen“ (Deleuze 1999: 132).
genwärtig und wirkungsvoll. Das Unbewusste Freuds bezeichnet eine psychologische Realität, Bergson hingegen bezieht es auf eine ontologische Realität: das Sein der Vergangenheit.
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Sprung in die Vergangenheit: der Erinnerungsprozess Vom virtuellen Gedächtnis grenzt Bergson das materiell bestimmte Gehirn ab. Bei ihm handelt es sich um ein Organ der Auswahl, mit dessen Hilfe Erinnerungen selektiert und aktualisiert werden.26 In der Tat vermutet Bergson im Gehirn Rezeptoren, die virtuelle Bilder aus der Dimension des Geistes empfangen genauso wie unsere Sinne Wahrnehmungsbilder aus der Materie: „Wir dagegen behaupten, daß nichts von einem Bilde in der Gehirnsubstanz bleiben kann und daß auch kein Apperzeptionszentrum existieren kann, sondern daß sich einfach in jener Substanz Organe der virtuellen Wahrnehmung befinden, welche durch die Absicht der Erinnerung beeinflußt werden, wie es an der Peripherie wirkliche Organe der Wahrnehmung gibt, welche durch die Tätigkeit des Gegenstandes beeinflußt werden“ (Bergson 1991: 123).
Offenbar führt die Vergangenheit ein independentes Eigenleben, denn es unterliegt nicht dem Willen des Subjekts, sich ihrer zu ermächtigen und sie zu aktualisieren. Stattdessen drängt die Vergangenheit von sich aus auf Vergegenwärtigen, d.h. auf Wiedererlangung ihrer eingebüßten Wirksamkeit. Ihren verlorenen Einfluss gewinnt sie zurück, indem sie an die momentane Wahrnehmung herangleitet und sich mit ihr vereinigt.27 Letztere wiederum bliebe ohne die Anbindung an ein Erinnerungsbild unbewusst – eine unreflektierte Gegenwartsempfindung, die lediglich mechanische Reaktionen des Körpers hervorruft. Erst durch die Vermittlung der Erinnerung lassen sich vergangene Erfahrungen für gegenwärtiges Tun und zukünftiges Handeln heranziehen. Auf geeignete Erinnerungen vermag das Subjekt allerdings nicht zuzugreifen wie auf Daten in einem Archiv. Vielmehr scheint die Erinnerung selbsttätig und spontan zu sein. So ist es eine verbreitete Alltagserfahrung, dass sich Erinnerungen hartnäckig ihrer Aktualisierung verweigern oder aber plötzlich und ungebeten ins Bewusstsein treten können. Sie erscheinen und verschwinden unabhängig von unserem Willen. Dieses Phänomen veranlasst Bergson dazu, den Erinnerungsprozess als einen Vorgang zu interpretieren, der von der Vergangenheit selbst initiiert wird: nicht das Subjekt bewegt sich auf die Erinnerungen zu, sondern die Erinnerungen auf das Subjekt. Sie tauchen auf und reizen die für sie vorgesehenen sensorischen Zentren. Normalerweise nimmt das Bewusstsein nur solche Erinnerungen entgegen, die eine Beziehung zur aktuellen Wahrnehmung haben und dem gegenwärtigen Handeln von Nutzen sind. Es herrscht eine natürliche „Spannung“ (Bergson 1991: 74), die das Leben der virtuellen Vergangenheit zum Zwecke der Tätigkeit beschränkt. Diese Spannung aber kann auch nachlassen. In dem Fall werden wir von der Vergangenheit überwältigt. Sie lässt uns keine Chance, sich ihr zu entziehen und entführt uns aus dem Jetzt in ferne Zeiten. Es ist also nicht das Subjekt, das autonom mit der Zeit umgeht und von seiner Gegenwart aus in die Vergangenheit zurückschreitet, um dort Erinnerungsbilder seines Interesses aufzufinden. Stattdessen verläuft der 26
„Das ist die Rolle des Gehirns bei der Wirkungsweise des Gedächtnisses: es ist nicht dazu da, das Vergangene aufzubewahren, sondern es zunächst zu verdecken und dann davon durchscheinen zu lassen, was praktisch nutzbar ist“ (Bergson 1928: 52). 27 Um sich aktualisieren zu können, suchen Erinnerungsbilder ‚bewegungs-verwandte’ Wahrnehmungsbilder auf: „Unser Nervensystem macht uns zu Wesen, bei denen sich gegenwärtige Eindrücke in geeignete Bewegungen fortsetzen: wenn nun frühere Bilder finden, daß sie sich in diesen selben Bewegungen auch fortsetzen können, so wird das für sie der Weg, um an die aktuelle Wahrnehmung heranzugleiten und sich von ihr aufnehmen zu lassen“ (Bergson 1991: 86).
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Erinnerungsprozess umgekehrt und die Vergangenheit kommt eigenmächtig auf das Subjekt zu. Ihm gestattet Bergson nur, darauf zu reagieren. Damit wird die Zeit- und Erinnerungskontrolle des Subjekts erheblich vermindert. Weder vermag es den Andrang des Vergangenen in vollem Umfang zu steuern, noch Erinnerungen nach Bedarf abzurufen. Um Erinnerungen wiederzufinden, können „wir (...) uns lediglich geschickt (machen), sie zu empfangen, indem wir eine geeignete Haltung einnehmen“ (Bergson 1991: 128). Damit Erinnerungsbilder, die ihrem Wesen nach nicht auf Pragmatik gepolt sind, ohne Rücksicht auf ihre Verwertbarkeit einströmen können, bedarf es einer Abkehr von den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation (d.h. einer Lockerung der Spannung). Deleuze erklärt: „Man versetzt sich mit einem Schlag in die Vergangenheit, man springt in das Vergangene wie in ein eigenes Reich. Wie wir die Dinge nicht in uns wahrnehmen, sondern dort, wo sie sind (an der Materie – K.V.), erfassen wir das Vergangene nur dort, wo es ist, in ihm selbst und nicht in uns, in unserer Gegenwart“ (Deleuze 2001: 75).
Die Erkenntnis der Vergangenheit geschieht in der virtuellen Vergangenheit selbst und das Eintauchen in sie erfordert einen Rückzug von der Aktualität sowie die Aufgabe von Handlungsorientierung, Kontrolle und Autonomie – kurz: die Quittierung des Subjektstatus. Erinnern bedeutet, sich von der Gegenwart zu verabschieden und in die Vergangenheit hineinzuspringen, sich an sie auszuliefern und ihren eigenwilligen Aktualisierungsbewegungen zu überlassen. Bergson beschreibt diesen Vorgang als einen „Vorgang sui generis“, bei dem wir „uns erst einmal ganz allgemein in die Vergangenheit“ (Bergson 1991: 127; Hervorhebung im Original) zurückversetzen. Das bedeutet, wie Deleuze zu bedenken gibt, nichts anderes als den „(...) Sprung in die Ontologie. Wir springen wirklich ins Sein, ins Sein an sich, ins Sein an sich des Vergangenen. (...) Erst danach, wenn dieser Sprung vollzogen ist, gewinnt die Erinnerung nach und nach eine psychologische Existenz: »vom virtuellen geht sie in den aktuellen Zustand über«“ (Deleuze 2001: 76; Hervorhebung im Original).
Die Erinnerung beginnt mit einem Sprung in die allgemeine, ontologische Vergangenheit – mit einem Sprung in das umfassende virtuelle Gedächtnis, in welches unsere persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind. Sie liegen hier in Form reiner Erinnerungen vor, welchen wirkliche Dauer zukommt: sie bilden einen Erinnerungsstrom, dessen Elemente einander durchdringen und miteinander koexistieren. Die reinen Erinnerungen lassen sich als solche vom Subjekt nicht erfassen. Ebenso wie die allgemeine Vergangenheit gehören sie für Bergson nicht zum temporalen Erlebnisfeld. Der Sprung in die Vergangenheit an sich jedoch liefert die Voraussetzung für den psychologischen Erinnerungsprozess, d.h. für die Vergegenwärtigung der individuellen Vergangenheit. Da wir Erinnerungen nur dort antreffen können, wo sie residieren, müssen wir uns in die allgemeine Vergangenheit hineinversetzen, erst dann – und nur dann – beginnt sich eine konkrete Erinnerung zu materialisieren: „Nach und nach erscheint sie wie ein dichter werdender Nebel; vom virtuellen geht sie in den aktuellen Zustand über; und je schärfer ihre Umrisse, je fertiger ihre Oberflächen werden, um so mehr neigt sie, die Wahrnehmung nachzuahmen“ (Bergson 1991: 128).28 Reine Erinnerungen entwickeln sich zu Erinnerungsbildern, die abgerufen werden können. 28 Marcel Proust ließ sich von Bergsons Überlegungen – dem Eintauchen in das Reich der Vergangenheit und die selbsttätige Materialisierung konkreter Erinnerungsbilder – inspirieren und entwickelte das Konzept der unwillkür-
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Der Aktualisierungsvorgang ist gekennzeichnet durch Kontraktion und Separation. Es ist hilfreich, ihn im Hinblick auf die bereits angesprochene Kegelmetapher nachzuzeichnen (vgl. Bergson 1991: 147f.). Bergson beschreibt die Vergangenheit als Koexistenz von Ebenen. Jede von ihnen umfasst die gesamte Vergangenheit, allerdings in mehr oder minder komprimierten Zustand. Der gegenwärtige Moment an der Kegelspitze bildet so die am stärksten kontrahierte Ebene der Vergangenheit. Die Dauer der reinen Erinnerung bildet demnach ein Schichtwerk, in dem sie in unterschiedlichen Spannungsgraden vorliegt. Um sich zu aktualisieren, muss sie sich immer stärker zusammenziehen – bis sie schließlich in der Gegenwartsspitze aufgeht. Der erste Schritt der Aktualisierung, die Kontraktion reiner Erinnerungen, involviert also immer die komplette Vergangenheit: „Unsere Vergangenheit ist als Ganze im Spiel und auf einmal im Vollzug, sie wiederholt sich gleichzeitig auf all den Stockwerken, die sie aufgetürmt hat“ (Deleuze 2001: 80). Nun tritt bei der Erinnerung aber nicht das Ganze unserer Vergangenheit ins Bewusstsein, sondern spezifische Gebiete oder Ereignisse. Einzelne Aspekte der Vergangenheit manifestieren sich in Bildern, die von der kontrahierten reinen Erinnerung zu unterscheiden sind.29 Während sich Erinnerungsbilder aus diskreten Elementen zusammensetzen und voneinander abheben, zeichnet sich die reine Erinnerung, egal wie kontrahiert sie ist, durch Dauer aus. Ihre Bestandteile durchdringen einander, so dass der zu aktualisierende Aspekt noch immer mit der Gesamtheit der Vergangenheit verschmolzen ist und mit ihr ein Kontinuum bildet. Um zum Bild zu werden, muss er herausgelöst werden. Hier greift der zweite Schritt der Aktualisierung: die Separation. Ähnlich wie die Übertragung der Raumvorstellung auf die Dauer Einzelmomente isoliert und nebeneinander stellt, werden die ineinanderliegenden Elemente der kontrahierten reinen Erinnerung auseinandergefaltet in die gegeneinander abgegrenzten Elemente eines Erinnerungsbildes – die Dauer reiner Erinnerungen verwandelt sich zu Erinnerungsbildern mit separaten Bestandteilen und scharfen Konturen. Durch ihre Bildwerdung werden Erinnerungen greifbar, doch zugleich besitzen sie nun eine gänzlich andere Natur als im Reinzustand: „(...); aber sobald meine Vergangenheit Bild wird, verläßt sie den Zustand der reinen Erinnerung und schmilzt mit einem Teil meiner Gegenwart zusammen. Die zum Bilde vergegenwärtigte Erinnerung unterscheidet sich also gründlich von der reinen Erinnerung. Das Bild ist ein gegenwärtiger Zustand und kann an der Vergangenheit nur teilhaben durch die Erinnerung, aus der es hervorgegangen ist“ (Bergson 1991: 135).
Das Erinnerungsbild stammt von der virtuellen reinen Erinnerung ab und aktualisiert sie, doch dürfen beide nicht miteinander verwechselt werden. Während die reine Erinnerung in der Sphäre der virtuellen Vergangenheit verbleibt – „wie ein »Magnetiseur« hinter den Halluzinationen, die sie hervorruft“ (Deleuze 1999: 163), tritt das auf sie zurückweisende Erinnerungsbild in den Kreis des Gegenwärtigen ein und nimmt eine mentale Existenz an. Von nun an bezieht es sich sowohl auf eine andere Vergangenheit als auch auf ein anderes Gedächtnis als die reine Erinnerung. So bezeichnen letztere eine virtuelle Vergangenheit in der Tiefe der Zeit, die nicht fassbar ist: „Das virtuelle Bild (reine Erinnerung) ist weder ein lichen Erinnerung (mémoire involontaire). Die Szene in In Swanns Welt, in welcher der Geruch einer Madeleine verloren geglaubte Kindheitserinnerungen heraufbeschwört, stellt eine eindrückliche literarische Adaption des von Bergson geschilderten Erinnerungsvorganges dar (vgl. Proust 1997: 63 f.). 29 Bergson bezeichnet die kontrahierte Dauer reiner Erinnerungen als Schema. Zur Umwandlung des Schemas in ein Erinnerungsbild vgl. Bergson 1928: 168f.
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psychischer Zustand noch ein Bewußtsein: es besteht außerhalb des Bewußtseins und in der Zeit“ (Deleuze 1999: 110). Reine Erinnerungen bewahren sich in der Dauer und gehören damit dem umfassenden ontologischen Gedächtnis an, das der Temporalität selbst innewohnt. Anders als die reinen Erinnerungen sind Erinnerungsbilder nicht virtuell, sondern sie kontrahieren, separieren und aktualisieren Teile der virtuellen Vergangenheit – sie extrahieren konkrete Momente, die zuvor in die allgemeine Vergangenheit eingegangen sind. „Deswegen liefert uns das Erinnerungsbild nicht das Vergangene (an sich – K.V.), sondern repräsentiert einzig die vergangene Gegenwart, welche die Vergangenheit »gewesen ist«“ (Deleuze 1999: 77). Damit begründen Erinnerungsbilder ein psychologisches Gedächtnis, das erlebte Augenblicke bzw. die konkrete Vergangenheit des Subjekts bereithält. Es handelt sich um die individuelle Vergangenheit, die sich in Erinnerungsbildern vergegenwärtigt. Die Gegenwart der Erinnerungsbilder unterscheidet sich allerdings von der Gegenwart der Materie. Sie ist gleichsam machtlos und kann sich nur jenseits der Wirksamkeit konstituieren. Sobald sich das Erinnerungsbild an ein Wahrnehmungsbild fügt, verwandelt sich seine machtlose Gegenwart in Wirkung und damit in aktuelle (aktive) Gegenwart. Erinnerungsbilder können sichtbar werden, aber nicht ‚aktiv’ – sie verlöschen, sobald sie in Handlung umgesetzt werden und so ihre verlorene Macht zurückerlangen. Erinnerungsbilder sind von ephemerer Präsenz, sie befinden sich in der Schwebe zwischen unfassbarer reiner Vergangenheit und wirksamer Gegenwart – um sie zu betrachten, muss man von aktuellen Erfordernissen und Tätigkeiten absehen, man muss gleichsam stillhalten und die Produktivität gegen Rezeptivität eintauschen. Das pragmatische Bewusstsein ist somit blind für die Vergangenheit, denn sobald es sie in Betracht zieht, wird sie ihm zur Gegenwart. Bei Bergson kann man sich nur der geistigen Erfahrung der Vergangenheit öffnen und sie kontemplativ erleben. Das Eintauchen in die Vergangenheit erfordert jedoch die Aufgabe des Subjektstatus. Erinnern bedeutet Desubjektivierung, denn für Bergson ist die Vergangenheit alles andere als totes Erinnerungsmaterial, das sich nach Belieben aufbereiten und beanspruchen lässt. Er kennzeichnet sie als eine lebendige, autarke Realität, die sich dem Subjekt nur zeigt, wenn es auf Intentionalität, Handlungssouveränität und Autonomie verzichtet. Es kann sie nicht regulieren, sondern muss sich ihrer Eigenlogik anvertrauen. Gleiches gilt auch für die Zeitbewegung der Dauer, in deren Kontinuität die Vergangenheit eingelagert ist. Weder lässt sich ihre nonlineare Dynamik vermessen noch lässt sich ihre Entwicklung – die ganzheitliche, qualitative Veränderung temporaler Bezüge – vorhersagen. Kalkulations- und Quantifizierungsversuche verfestigen die Dauer zur Aneinanderreihung gleichförmiger Jetztpunkte. So verweigert auch sie sich wie die Vergangenheit einer temporalen Kontrolle. Beide entziehen sich einer pragmatischen Handhabung. Während die Vergangenheit dabei unter der Hand zur Gegenwart wird, verwandelt sich die subjektive Dauer in ihren Schatten: die objektive, homogene Zeit. Ein authentisches Erlebnis von Dauer und Vergangenheit tritt nur dann ein, wenn das Subjekt seine Souveränität aufgibt und sich ihren unkalkulierbaren Wendungen überlässt – wenn es den Ereignischarakter von Zeit anerkennt und sie geschehen lässt. Bergson erkennt damit der Temporalität ein wesenhaftes Eigenleben zu, welches die Vorstellungen von Zeitherrschaft und Zeitkontrolle unterläuft.
5 Resümee Bergson: Zeit und Film
Nach einer Zusammenfassung der temporalen Denkfiguren konzentriert sich das Interesse im abschließenden Resümee auf das Verhältnis von Zeit und Film, das von Bergson angedacht wird. Zwar diskutiert er die Beziehung des Films zur Temporalität nicht ausführlich, doch die eingestreuten Bemerkungen lassen Rückschlüsse auf seinen diesbezüglichen Standpunkt zu.
Temporale Denkfiguren In der subjektiven Dauer entdeckt Bergson das Wesen der Zeit. Ihre Wahrheit ist dem subjektiven Erleben vorbehalten. Allein der Blick nach innen offenbart die raum-unabhängige Form der Temporalität – die reine Dauer. Gegenüber dem homogenen Zeitkonstrukt, welches Objektivierungen, Datierungen und Zeitkontrolle ermöglicht, handelt es sich bei der Dauer um eine unberechenbare, schöpferische Entwicklung. Sie beschreibt eine nonlineare Dynamik, welche Momente aufnimmt und miteinander liiert. Die Dauer konstituiert keine Abfolge, sondern ein bewegliches Zeitgewebe – sie bedeutet kontinuierliche, ganzheitliche Veränderung eines Zusammenhangs. Dieser qualitative Wandel lässt sich weder kontrollieren noch kalkulieren. Stattdessen vollzieht er überraschende Wendungen und gebiert neuartige Konstellationen. Die Dauer ist ein unvorhersehbares, produktives Werden. Dieses Werden der Dauer ist gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Koexistenz von virtueller Vergangenheit und aktueller Gegenwart. Nach Bergson konstituieren sich beide Zeitdimensionen zeitgleich. Jeder Augenblick besitzt eine virtuelle und eine aktuelle Facette und teilt sich bei seinem „Auftauchen in zwei symmetrische Strahlen, von denen der eine in die Vergangenheit zurückfällt, während der andere sich in die Zukunft schwingt“ (Bergson1928: 117). So ist die Dauer zugleich fortschreitend und bewahrend. Sie faltet sich auseinander in eine aktuelle Seite, auf der flüchtige Gegenwarten vorüberziehen, und eine virtuelle Seite, auf der sich die Vergangenheit ansammelt. Die aktuelle Seite definiert Bergson als sensomotorischen Wirkungszusammenhang auf der Ebene der Materie. Gegenwart ist ein System aus empfangenen und weitergeleiteten Bewegungen – ein verzweigtes Netzwerk aus Aktion und Reaktion. Auf der virtuellen Seite hingegen breitet sich das Vergangene in Schichten aus, die miteinander und mit der Gegenwart koexistieren. Die Vergangenheit erhält sich in der Kontinuität der Dauer und formt dort eine eigenständige geistige Realität jenseits des aktuellen Handlungszusammenhangs aus. Die bewahrende Dauer konstituiert ein unermessliches, virtuelles Gedächtnis, das die Totalität der Vergangenheit – die Gesamtheit aller Erinnerungen – birgt und an dem das vorstellende Gedächtnis des Einzelnen partizipiert. Bergson verlegt das Gedächtnis in die Zeit selbst hinein. Damit weist er dem Gedächtnis und der Vergangenheit eine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit zu. Die Autonomie des Vergangenen kommt im Erinnerungsprozess deutlich zum Ausdruck. Es ist nicht das Subjekt, das Erinnerungen abruft, sondern es ist die Vergangenheit, welche
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sich auf das Subjekt zubewegt. Um sich zu erinnern, muss es seine Souveränität aufgeben und sich der Eigenlogik der Dauer überlassen. Die Theorie der Dauer rückt den Bereich der Zeit ins Licht, der in ihrer alltäglichen wie wissenschaftlichen Betrachtung weitestgehend ausgeklammert wird: die Vergangenheit. Bei Bergson bestimmt sich Temporalität nicht allein durch abrollende Gegenwarten, sondern auch – und vor allem – durch die Vergangenheit, welche unter der Oberfläche des Aktuellen anwächst. Der präsenzorientierten homogenen Zeit wird die Dauer gegenübergestellt, welche sich ausdifferenziert in die sensomotorische Gegenwart der Materie und die geistige Realität des Vergangenen.
Zeit und Film Kann das Medium Film, das sich ebenso zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wie Bergsons Zeittheorie, die Komplexität der Dauer wiedergeben? Worin liegen Potenziale und Risiken filmischer Zeitinszenierung aus der Sicht Bergsons? Bei einem Zeittheoretiker, der wie Bergson zugleich Zeitzeuge der Kinematographie ist, würde man ein reges Interesse an einem Medium vermuten, dessen Stärke gerade in der Darstellung von Bewegung und Temporalität liegt. Doch erstaunlicherweise zollt Bergson der neuen technischen Errungenschaft nur wenig Beachtung. Lediglich in seinem dritten Hauptwerk Schöpferische Entwicklung sowie der Einleitung in die Aufsatzsammlung Denken und schöpferisches Werden finden sich explizite Anmerkungen. Im ersten Fall bezieht sich Bergson auf das Verfahren der Kinematographie, um die Wirkungsweise des Intellekts darzulegen. Im zweiten Fall führt er den Film als Sinnbild der homogenen Zeit ein, um ihre räumliche Binnenlogik auszuleuchten. Bergsons geringes Interesse am Film ist im Kontext seiner generellen medienkritischen Haltung zu sehen. Er bezweifelt, dass die kontinuierliche Veränderung der Dauer durch Medien adäquat zur Anschauung gebracht werden kann. So problematisiert er in der Einführung in die Metaphysik das analytische Projekt, die Dauer mit Hilfe von Begriffen zu erschließen. Er untersucht die Auswirkungen einer begriffssprachlichen Beschreibung der Dauer und zieht den Schluss, dass allgemeine Begriffe von der konkreten Qualität der Dauer abstrahieren und ihre unteilbare Dynamik in einzelne Zustände, Ereignisse und Episoden zerlegen. Begriffliche Vorstellungen und Darstellungen strukturieren die Dauer in eine überschaubare Abfolge von Stationen um. Sie verwandeln ihre Entwicklungsbewegung in die qualitätslose Ordnung der homogenen Zeit. Aus den Ausführungen in Schöpferische Entwicklung lässt sich schließen, dass Bergson dem Film einen ähnlichen Effekt zuschreibt wie dem Begriffsmedium. In dem Kapitel über den kinematographischen Mechanismus des Denkens parallelisiert Bergson Wahrnehmungs- und Verstandestätigkeit mit dem technischen Verfahren der Kinematographie. Beide abstrahieren von dem kontinuierlichen Wandel der Wirklichkeit – sie zersetzen und verfestigen den veränderlichen Entwicklungszusammenhang der Dauer: „Dies der Kunstgriff des Kinematographen. Dies auch der Kunstgriff unseres Erkennens. Statt uns dem innern Wesen der Dinge hinzugeben, stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu rekonstruieren. Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen Momentbilder auf und weil diese die Realität charakteristisch zum Ausdruck bringen, so genügt es uns, sie längs eines abstrakten, gleichförmigen, unsichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnisapparats liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden, was das Charakteristische dieses Werdens selbst ist. Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen so zu
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Zoom: Henri Bergson verfahren. Ob es sich nun darum handle, das Werden zu denken oder auszudrücken, ja es wahrzunehmen – wir tun nichts weiter, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Derart also, daß alles vorhergehende sich in den Worten zusammenfaßt: d e r M e c h a n i s m u s u n s e r e s g e w ö h n l i c h e n D e n k e n s i s t k i n e m a t o g r a p h i s c h e n W e s e n s“ (Bergson 1912: 309; Hervorhebung im Original).
Bergsons Darlegung der kinematographischen Methode macht deutlich, dass er den Film keinesfalls für geeignet hält, einen authentischen Eindruck der Dauer zu vermitteln. Die Kinematographie zergliedert Bewegungen und Veränderungen, d.h. temporale Abläufe, in Einzelbilder, die auf Celluloid fixiert werden. Die Kontinuität der Dauer wird in ein Nebeneinander distinkter Momentaufnahmen überführt, welche sich nachträglich durch das Abrollen des Celluloidstreifens wieder zu einer Bewegung zusammenfügen. Film rekonstruiert Bewegung aus Unbewegtem. Diese mechanisch erzeugte Scheinbewegung verfehlt aber sowohl den ganzheitlichen Wandel der Dauer als auch ihre schöpferische Kraft. Die kinematographische Zerlegung der kontinuierlichen Dauer bedeutet, dass Momente aus ihrer solidarischen Organisation herausgelöst werden. Sie werden aus dem variablen Zeitgewebe der Dauer isoliert und nacheinander angeordnet. Film begradigt die umfassende Variation zu einem linearen Scheinkontinuum – zum Sinnbild der falschen Vorstellung, die man sich gemeinhin von der Verfassung der Zeit macht. Die vom Film generierte Zeitillusion, die sich aus der Aneinanderreihung unbewegter Momente speist, hat mit dem schöpferischen Werden der Dauer nichts zu tun. Während letztere neue Momente und Konstellationen hervortreibt, geht die filmische Bewegung zurück auf „(...) Bilder, die vor ihrem Ablauf im Film alle vorhanden sind“ (Bergson 2000: 112). Die filmische Bewegung ist nicht Produktion von Neuem, sondern Reproduktion von bereits Gegebenem: „(D)er Film könnte zehnmal, hundertmal, tausendmal schneller ablaufen, ohne daß irgendetwas an dem, was abläuft, geändert würde. Wenn er unendlich schnell abliefe, wenn der Ablauf (diesmal außerhalb des Apparates) so beschleunigt würde, daß er sich für uns in einem Moment zusammendrängte, so wären es immer noch die gleichen Bilder. Die so verstandene Aufeinanderfolge fügt ihnen also nichts Neues hinzu (...)“ (Bergson 2000: 29).
Film wiederholt die immergleichen Bilder in immergleicher Folge. Die Einzigartigkeit des Augenblicks verliert sich in der Reproduktion und die unkalkulierbare temporale Entwicklung gerät zu einem vorhersagbaren Ablauf. Die Begeisterung über das zeitästhetische Vermögen der Kinematographie wird von Bergson nicht geteilt. Im Gegenteil: ihm zufolge zerstört sie die kontinuierliche Dynamik der Dauer, verkürzt ihre Komplexität und eliminiert ihren produktiven Charakter. Von Bergsons Warte aus erscheint der Film nicht als zeitästhetisierendes, sondern als zeitabtötendes Medium. Er vermag die Realität der Dauer nicht wiederzugeben, sondern verfälscht ihr Wesen in ähnlicher Weise wie begriffliche Beschreibungen. Die Dauer wird in eine kalkulierbare Folge von Momenten transformiert und die Zeit als wirksame, veränderliche Kraft ausgelöscht. Bergson bestimmt die Zeitlichkeit des filmischen Mediums als linearprogressive Abfolge distinkter Momente und diagnostiziert damit eine fundamentale Diskrepanz zur Zeitlichkeit der Dauer: als Streifen fixierter Gegenwarten kann Film den unvorhersehbaren, qualitativen Wandel zeitlicher Relationen unmöglich einfangen. Die temporale Verfassung des Films ist mit dem homogenen Zeitbegriff verwandt, den Bergson zu
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überwinden versucht. Aus diesem Grund setzt er sich mit dem Film nicht intensiver auseinander. Da sprachliche wie filmische Beschreibungen, d.h. mediale Repräsentationen, die Dauer verzerren, ermöglicht einzig eine ‚medienfreie Zeitbetrachtung’ wie die Methode der Intuition eine Erkenntnis ihres Wesens. Sie filtert die Dauer nicht durch Zeichen, sondern öffnet einen direkten Zugang zu ihr durch Kontemplation. Der Geist muss sich „in die bewegliche Wirklichkeit hineinversetzen, ihre unaufhörlich wechselnde Richtung annehmen, kurz, sie intuitiv ergreifen“ (Bergson 2000: 213). Während Begriffssprache und Film sich der beweglichen Wirklichkeit von außen nähern und sie durch unbewegte Momentbilder reproduzieren, lässt sich die Intuition in der Veränderung selbst nieder. Sie senkt sich in die Dauer ein, sympathisiert mit ihrer Dynamik und vollzieht ihre Wendungen mit. Nur auf diese Weise lässt sich ihr Wesen erfassen. Die Dauer offenbart sich nur jenseits aller Versuche, Zeit zu kontrollieren und dingfest zu machen – jenseits aller pragmatischen Zugriffe und medialen Offerten. Sie lässt sich nur unverfälscht erleben, nicht aber darstellen. Die Dauer verweigert sich einer medialen Objektivierung und muss letztlich im Bereich privater geistiger Vorstellung verbleiben.30 Bergsons Einschätzung des Verhältnisses von Zeit und Film steht im Kontrast zum Konzept der Zeitinszenierung. Während Bergsons medienkritische Position aus seiner essentialistischen Auffassung der Dauer herrührt, strebt das Konzept der Zeitinszenierung nicht danach, das wahre Wesen der Zeit (filmisch) aufzudecken und abzubilden. Vielmehr geht es davon aus, dass zahlreiche gleichberechtigte Zeitauffassungen und -erfahrungen existieren, die allesamt mediengeneriert sind. Es apostrophiert das Potenzial des Films, eine breite Varianz von Zeitfiguren darstellen bzw. kreieren zu können und nicht zuletzt subjektive Temporalitäten auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Das Zeitinszenierungskonzept ersetzt die epistemologische durch eine pragmatische Ausrichtung und erklärt Zeit zu einem medialen, aktiv gestaltbaren Produkt. Das Bewusstsein für die Zeichenabhängigkeit der Temporalität ist Bergson keineswegs abzusprechen. Es steht sowohl hinter den aufgezeigten Verfremdungen der Dauer durch mediale Beschreibungen als auch hinter der Definition der homogenen Zeit. So führt Bergson die räumliche Prägung homogener Zeit auf den Gebrauch eines räumlichen Vokabulars seitens der Naturwissenschaft und der Philosophie zurück: „Beim Überprüfen der Lehren schien es, als ob die Sprache dabei bereits eine große Rolle gespielt hätte. Die Dauer drückt sie immer als Ausdehnung aus. Die Ausdrücke, die die Zeit bezeichnen, sind der Sprache des Raumes entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt“ (Bergson 2000: 25).
Bergson markiert die homogene Zeitidee als Produkt philosophischer und wissenschaftlicher Zeitbeschreibungen. Doch auch die Versuche, die Dauer begrifflich oder filmisch darzustellen, transformieren sie und enden bei der homogenen Zeitvorstellung. Die homogene Zeit wird hervorgebracht durch einen spezifischen Medien- und Zeichengebrauch. Als Effekt medialer Deskriptionen unterliegt sie historischen Gegebenheiten und erweist sich als relatives und veränderliches Konstrukt. Die Methode der Intuition jedoch soll hinter 30 Verfälscht jede mediale Darstellung die Eigenart der Dauer, ergibt sich für Bergson die Schwierigkeit seinen Untersuchungsgegenstand zu beschreiben. Er versucht sich aus diesem Dilemma durch einen metaphorischen Sprachgebrauch zu befreien, welcher der Dauer gerechter werden soll als raumlogisches Vokabular (die Rede von Zeitstrecken und –punkten) und analytische Begriffssprache.
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mediale Deskriptionen zurückgehen und eine authentische Erfahrung des temporalen Wesens vermitteln. So avanciert die Dauer zur zeichen-unabhängigen Essenz der Zeit. Im Gegensatz zum homogenen Zeit-Konstrukt ist die Dauer abgelöst von medialen Beschreibungen und damit resistent gegen gesellschaftlichen wie zeitlichen Wandel. Sie wird als ahistorische, metaphysische Wahrheit der Zeit etabliert.31 Der Unterschied zwischen homogener Zeit und Dauer ist der zwischen Konstrukt und Wesen – zwischen mediengenerierter und medien-unabhängiger Zeit. Da Bergson die Dauer aus der Sphäre der Zeichen herausstellt, diskutiert er auch nicht die Abhängigkeit der Dauer von der eigenen Beschreibung. Dieser von Bergson ignorierte Nexus zwischen Theorie und Temporalität jedoch wird durch das Zeitinszenierungskonzept fokussiert. Es begreift jede Form von Temporalität als Zeicheneffekt und verneint die Möglichkeit, die Wahrheit der Zeit intuitiv, d.h. jenseits ihrer zeichenhaften Überformung, zu ergründen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Dauer nicht als Essenz der Temporalität, welche durch Intuition erkannt und von Bergson nachträglich umschrieben wird, sondern als temporales Format, welches erst durch seine Zeitbeschreibung hervorgerufen wird. Zeit kann nur deswegen als Dauer perzipiert werden, weil Bergsons Zeittheorie spezifische Akzente setzt und Wahrnehmungsdispositionen schafft. So betont sie im Kontrast zur homogenen Zeit die Eigenart des subjektiven Zeiterlebens. Das Vokabular der Dauer stellt die Bewegung der Zeit nicht als zukunftsgerichtete Progression dar, sondern als komplexe nonlineare Dynamik. Anstatt des geordneten Nacheinanders von Zeitpunkten werden die Koexistenz der Zeitdimensionen und ihre wechselseitige Einflussnahme aufeinander hervorgehoben. Sie werden zueinander in Beziehung gesetzt und Momente verschiedener Zeitzonen miteinander verknüpft. Das Vokabular der Dauer figuriert Temporalität als Gewebe und zeitliche Entwicklung als ganzheitliche Veränderung netzwerkartiger Relationen. Dabei prononciert es die Unvorhersehbarkeit dieser Entwicklung und setzt die Kategorie der Kausalität außer Kraft. Während der lineare Code homogener Zeit das Fundament für Zeitkontrolle und kalkulierbare Ursache-Wirkungs-Abfolgen bereitet, fokussiert die DauerBeschreibung den Ereignischarakter temporaler Prozesse und öffnet so das Tor für die Plötzlichkeit, das Unerwartete und den Zufall. Sie initiiert eine Erwartungshaltung, die jedoch nicht nur Gegenwart und Zukunft betrifft, sondern vor allem die Vergangenheit: sie sensibilisiert für Erinnerungsprozesse und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Vergangenen, seine Eigenmächtigkeit und unkontrollierbare Wiederkehr. In der Perspektive der Zeitinszenierung streift die Dauer ihren metaphysischen Gehalt ab. Sie wird sichtbar als temporales Deskriptionsmuster und ihre Erfahrung als zeichengenerierter Effekt. Bergsons Zeittheorie antizipiert nicht das Wesen von Temporalität, sondern bewirkt eine weitere temporale Vorstellung neben anderen. Bergsons Vorbehalt gegen den Film resultiert aus seiner essentialistischen Zeitauffassung. Erst wenn die Dauer nicht mehr als temporales Wesen, sondern als temporales Konstrukt verstanden wird, wird die Sicht frei für die zeitästhetischen Möglichkeiten des Mediums – erst wenn die Zeichenabhängigkeit der Zeit anerkannt wird, erscheint Film als ein Medium aktiver Zeitgestaltung, das diverse Spielarten der Temporalität kreieren kann, so 31 Vgl. z.B. Max Horkheimers Kritik an Bergson: „Die Einbeziehung der Erkenntnis in den geschichtlichen Zusammenhang bricht jedoch bei Bergson sogleich ab, wo nicht mehr von der Wissenschaft, sondern von der Metaphysik die Rede ist. Daß auch diese von geschichtlichen Bedingungen abhängt und gesellschaftliche Funktionen ausübt, hat er nicht erkannt, sondern die Resultate der Intuition genannten Selbstbeobachtung ebenso hypostasiert und verklärt wie die anderen Metaphysiker die begrifflichen Produkte der Naturwissenschaft“ (Horkheimer 1968: 181).
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auch Facetten der Dauer. Das Potenzial des Films das Erlebnis der Dauer aus dem Bereich des Subjektiven zu befreien und einem Publikum zu kommunizieren übersieht Bergson, weil ihm jede Form medialer Objektivierung eine Deformierung der Dauer bedeutet. Obendrein verstellt ihm eine mechanistische Betrachtungsweise des Films die Sicht auf seinen zeitästhetischen Gehalt. Bergson interessiert ausschließlich die technische Seite des Mediums. Es ist die Konzentration auf die Mechanik von Aufzeichnung und Projektion, welche ihn schlussfolgern lässt, dass der Film kontinuierliche Bewegungen in Einzelmomente zergliedert, das Zeitgewebe der Dauer in einen linearen Ablauf presst und ihren Ereignischarakter verschüttet. Bergson begreift den Film als Abfolge von 24 Bildern pro Sekunde und klammert das Erleben des Zuschauers aus. Diese Erlebnisebene bezieht Deleuze siebzig Jahre später in seine Filmbetrachtung ein und entdeckt den Film als Medium, das sich hervorragend eignet, die Zeitbeschreibung der Dauer umzusetzen. In Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild entwickelt Deleuze bergsonsche Denkfiguren wie das schöpferische Werden, das Zeitgewebe, die Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart, die Doppeldeutigkeit des Augenblicks als aktueller und virtueller sowie die Autarkie der Vergangenheit weiter und findet im Film eine Bühne, auf der sie zur Aufführung gebracht werden. Das filmische Medium vermag Aspekte der Temporalität zu veranschaulichen, die bei Bergson allein der subjektiven Zeiterfahrung zuteil werden. In seiner Kinostudie verschränkt Deleuze zeittheoretische und filmästhetische Überlegungen miteinander – sein Nachdenken über Zeit ist zugleich ein Nachdenken über das Medium Film.
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6 Anschlussschnitt Deleuze: die Dauer weiterdenken
Zeit ist ein schöpferisches Werden – mit diesem bergsonschen Credo lassen sich auch die Zeit-Reflexionen von Deleuze überschreiben. Anders als Bergsons explizite und systematische Auseinandersetzung mit dem Zeitphänomen, begegnet Deleuze ihm auf zahlreichen Untersuchungsfeldern (Philosophiegeschichte, Differenzphilosophie, Psychoanalyse, Malerei, Literatur), bringt Temporalität unter verschiedenen Decknamen ins Spiel, bis sie in den Kinobänden Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild32 in das Spotlight der Betrachtung rückt. Durch sämtliche Reflexionen Deleuzes zieht sich die Identifikation der Zeit mit einer schöpferischen Energie, die neue Formen und unvorhersehbare Entwicklungen aus sich heraustreibt. Wie für Bergson ist auch für Deleuze die Zeit „ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden“ (Bergson 2000: 23). Auf diesen ‚produktiven Zeitgrund’ wird sowohl die materielle bzw. empirische als auch die geistige Realität fundiert. Im ersten Fall assoziiert Deleuze den Zeitgrund mit der sinnlichen Mannigfaltigkeit und spricht ihn als Immanenzplan an. Bestehend aus singulären Momenten und den zwischen ihnen wirksamen Kräften erinnert er an ein molekulares Schwingungsfeld, das der Erfahrungswirklichkeit vorausliegt. Die empirischen Gegebenheiten verdanken sich erst der Verkettung von Kräften und der Zusammenballung von Singularitäten – das Aktuelle resultiert aus temporären Kontraktionen von Molekülen. Die Zeitlichkeit auf der Ebene der Immanenz wird von Deleuze als eine variierende Verbindung heterogener Momente beschrieben; als eine der bergsonschen Dauer vergleichbaren qualitativen Veränderung, die immer neue Formationen generiert. Zeit bedingt jedoch nicht nur die aktuellen Bewegungen und Metamorphosen der Materie, sondern auch die Ausbildung einer geistigen Dimension, die allein dem Denken zugänglich ist: Jede Aktualisierung erzeugt eine Wolke nicht-aktualisierter Möglichkeiten – Möglichkeiten, die ebenfalls hätten eintreten können, es aber nicht getan haben. Konstellationen und Entwicklungslinien, die sich nicht in die Materie einschreiben, verbleiben im Zustand reiner Potenzialität und konstituieren eine eigenständige Realität des Möglichen: die Virtualität. So bringt die Zeit bei Deleuze zwei Wirklichkeitsordnungen hervor: die Aktualität materieller Verkörperungen auf der einen und die Virtualität denkbarer Möglichkeiten auf der anderen Seite. Unter Zeit versteht Deleuze die permanente Gabelung in Aktualität und Virtualität, die miteinander koexistieren. Dieser Gedanke, der auch in den Kinostudien ausgeführt wird, erklärt Deleuzes Interesse an Bergson. Das temporale Teilungsgeschehen ist in der Dauer vorgebildet. So nimmt Bergson die Gleichursprünglichkeit von Wahrnehmung und Erinnerung bzw. von Gegenwart und Vergangenheit an. Jeder Augenblick ist zugleich aktuell und virtuell und teilt sich in vorübergehende Gegenwarten und eine sich bewahrende Vergangenheit. Die Dauer tritt aus einer Spaltung hervor und entfaltet eine aktuelle Seite, die Bergson mit dem sensomoto-
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Beziehen sich Bewegungs-Bild und Zeit-Bild nicht auf Bildtypen, sondern auf die gleichnamigen Werke, wird eine kursive Schreibweise verwendet.
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rischen Wirkungszusammenhang der Materie identifiziert33, und eine virtuelle Seite, auf der sich die Vergangenheit in koexistenten Schichten ausbreitet. Diese Zeitauffassung greift Deleuze auf und geht ins Kino, um sie auszuloten. Ausgerechnet der von Bergson kritisierte Film erscheint ihm als adäquates Medium, mit dessen Hilfe sich die Doppelbewegung der Dauer denken lässt. Er offeriert ein ästhetisches Feld, auf dem sich die Zeit als Teilungsgeschehen entäußern und ihre Wirkungen zeigen kann. So lassen sich Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild auch als Fortsetzung der 1966 erschienenen Monographie über Bergson lesen (vgl. Deleuze 2001). Deleuze knüpft an Aspekte der Dauer wie ihren qualitativen Wandel, das Miteinander von Aktualität und Virtualität oder die Idee einer autonomen Vergangenheit an und bringt sie in Kontakt mit konkreten Filmen. Durch die Zusammenführung mit filmischen Zeitdarstellungen werden zeittheoretische Vorstellungen erweitert und bereichert. Doch nutzt Deleuze nicht nur den Film als philosophisches Medium, sondern erschließt umgekehrt die Dauer als filmisches Konzept. Er leitet aus ihr filmanalytisch hilfreiche Begrifflichkeiten ab, mit denen sich Zeitinszenierungen erhellen lassen: das Bewegungs- und das Zeit-Bild. Den Verständnisschlüssel zu den Bewegungs- und Zeit-Bildern sowie den mit ihnen verbundenen Formen filmischer Zeitinszenierung liefert die zentrale Denkfigur der Kinostudie: die Zweiteilung der Zeit in einen aktuellen und einen virtuellen Strahl. Während sich Bewegungs-Bilder auf die Dimension des Aktuellen beziehen, referieren Zeit-Bilder auf das Virtuelle. Der erste Teil dieses Kapitels beschäftigt sich mit den Varianten und Verkettungen des Bewegungs-Bildes und nutzt Bergsons Wahrnehmungstheorie als Bezugsrahmen. Die Zeitlichkeit des Virtuellen dient als theoretischer Hintergrund des zweiten Teils, in dem es um die Spielarten des Zeit-Bildes geht. Das Kapitel endet mit dem Verhältnis von Zeit und Film bei Deleuze.
33 Vgl. Bergson: „(...) unsere Gegenwart (ist) die Materialität unseres Daseins, d.h. ein System von Empfindungen und Bewegungen, nichts anderes“ (Bergson 1991: 133).
7 Auf der aktuellen Seite der Zeit: das Bewegungs-Bild
7.1 Zur Affinität von Film und Dauer Im Bewegungs-Bild erstellt Deleuze eine Klassifikation filmischer Bilder und Zeichen. Es mag erstaunen, dass er sich dabei neben der Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce auf Bergson stützt, der dem Film ausgesprochen skeptisch gegenüberstand. Doch Deleuze findet in Bergsons Ausführungen zur Bewegung der Materie eine tiefgreifende Übereinstimmung mit der Natur des Films vor und schreibt ihm den Verdienst zu, das kinematographische Bewegungs-Bild in Materie und Gedächtnis theoretisch vorgezeichnet zu haben. Für Deleuze steht „(t)rotz der allzu summarischen Kritik, die Bergson wenig später am Film erheben wird, (...) einer Verbindung seiner Auffassung des Bewegungsbildes mit der des kinematographischen Bildes nichts im Wege“ (Deleuze 1998: 11). Um eine solche Verbindung zwischen Bergsons Philosophie und dem Film herzustellen, muss Deleuze zunächst Bergsons Vorbehalte gegen den Film entkräften. Degradierte letzterer die filmische Abfolge unbewegter Momente zum Sinnbild der vereinfachten Vorstellung, die man sich gewöhnlich von der Zeit macht, versucht Deleuze eine generelle Affinität des Mediums zur Dynamik der Dauer nachzuweisen. Dazu setzt er bei Bergsons Gegenüberstellung von wirklicher und falscher Bewegung an. Der Begriff der wirklichen Bewegung taucht bei Bergson als Synonym der Dauer auf. Genaugenommen bezieht er sich auf ihre aktuelle Seite und umschreibt die Dynamik auf der Ebene der Materie, welche nicht „ohne einige Analogie mit der Kontinuität unseres eigenen Bewußtseins“ (Bergson 1991: 201) ist. So zeichnet sich auch die wirkliche Bewegung durch eine solidarische Organisation von Momenten aus, die in steter Umbildung begriffen ist. Sie steht für die Verwandlung eines offenen Entwicklungszusammenhangs, aus der neue Verbindungen und Konstellationen erwachsen. Wirkliche Bewegung bedeutet universelle Variation und unvorhersehbare Produktion – Evolution und schöpferisches Werden der Materie. Diesen Charakter der Bewegung aber verkennt die Philosophie, da sie seit Zenon von Elea einer Bewegungsauffassung anhängt, die von der Raumvorstellung infiltriert ist: Bewegung wird in Abhängigkeit vom Raum definiert und nicht als qualitativer Wandel, sondern lediglich als räumliche Positionsveränderung erachtet. Die räumliche Bewegung von Körpern wiederum meint man aus unbewegten Punkten bilden zu können. Dieser Irrtum resultiert aus einer „Verwechslung der Bewegung mit dem durchlaufenen Raum, oder zum mindesten (aus der) Überzeugung, dass man die Bewegung genau so behandeln könne wie den Raum, sie teilen könne ohne Rücksicht auf die ihr eigene Gliederung“ (Bergson 2000: 164). Während sich der durchlaufene Raum in unzählige Punkte zerlegen lässt, welche der Körper im Zuge seiner Bewegung passiert hat, weist Bergson darauf hin, dass es sich bei der Bewegung selbst um einen unteilbaren Akt handelt – um „(e)ine einzige, einheitliche Geschnelltheit“ (Bergson 1912: 312). Diese grundlegende Differenz wird jedoch übersehen, die Bewegung selbst mit der räumlichen Bewegungsbahn gleichgesetzt und als Aneinanderreihung unbewegter Punkte missverstanden. Eine Bewe-
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gung, die der Aufeinanderfolge von Unbewegtem erwächst, ist jedoch illusorisch. Es ist ein falsche Bewegung, da sie sich aus Momenten konstituiert, welche (im Raum) bereits gegeben sind, während die wirkliche Bewegung ein Werden bezeichnet, das seine Momente erst hervorbringt. Bergson betrachtet den Film als jüngsten technischen Ausläufer der uralten Bewegungsillusion. Die Kinematographie stellt nichts anderes dar, als eine „Zenonische Maschine par excellence“ (Fihman 1999: 75), welche Bewegung aus Unbewegtem rekonstruiert: „Dies ist das Verfahren des Kinematographen. Mit Momentphotographien, deren jede das Regiment in unbewegter Stellung darstellt, rekonstruiert er die Bewegtheit seines Vorüberziehens. (...) Einzig dadurch, daß der kinematographische Film sich aufrollt und die verschiedenen Photographien des Schauspiels dazu bringt, sich Stück für Stück aneinanderzufügen, gewinnt jede Figur des Schauspiels ihre Bewegtheit zurück (...)“ (Bergson 1912: 308 – 309).
Der Film ist exemplarisch für eine falsche Bewegung. Die filmische Aufzeichnung lässt Bewegung erstarren, zerlegt sie in Momentbilder und bannt sie auf einem linearen, unumkehrbaren Kontinuum, das sich dann bei der Projektion mit einer Rate von 24 Bildern pro Sekunde voranbewegt. Die Dynamik auf der Leinwand bezieht sich auf Momente des Stillstands, denen nachträglich eine mechanische Bewegung zugeführt wird – Film reproduziert Bewegung aus Unbewegtem. Etwas Neues wie bei der wirklichen Bewegung entsteht dabei jedoch nicht. Film kann kein Werden offenbaren, sondern immer nur den Ablauf von bereits (auf dem Celluloidstreifen) Gegebenem. Genau diesen Vorbehalt Bergsons versucht Deleuze auszuräumen und den Film als zeitästhetisches Medium zu rehabilitieren. In drei Schritten stellt er die Beziehung des Films zur wirklichen Bewegung und damit zur Dauer wieder her. 1. 2. 3.
Film konstituiert sich aus Bewegungen. Film antizipiert eine schöpferische Bewegung. Film offenbart den umfassenden Wandel der Dauer.
1. Film konstituiert sich aus Bewegungen Vermutlich wurde Bergsons Auffassung vom Film als Aneinanderreihung erstarrter Momente nicht zuletzt durch den damaligen technischen Entwicklungsstand und die Verwendungsweise des Mediums beeinflusst. Zum einen steckte der Film noch in seinen Kinderschuhen und hatte seine Beweglichkeit auf Kamera- und Montageebene noch nicht erworben. Ein fixierter Aufnahmestandpunkt und rare Kameraschwenks ließen die Einstellungen statisch wirken. Auch wurden Filme nicht selten in einer einzigen Kameraeinstellung durchgedreht, da der Gebrauch der Montage noch nicht ausgereift war. In der Tat wies der Film in seinen Anfängen wenig ‚Eigendynamik’ auf (in Gestalt von Kamerabewegungen, fahrten, Schnittfolgen, wechselnden Schauplätzen und Zeiten) und beschränkte sich auf die Wiedergabe von Objektbewegungen. Zum anderen wurde die kinematographische Technik zur Erforschung und Analyse von Bewegungen eingesetzt, denen die natürliche Wahrnehmung nicht folgen kann, weil sie zu schnell oder zu langsam sind. Die filmische Aufzeichnung bewegungsimmanenter Punkte bzw. Nachzeichnung einzelner Bewegungsstationen
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wurde durch das chronofotographische Verfahren perfektioniert, das in den Bewegungsstudien von Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge zum Zuge kam. Abbildung 4:
Eadweard Muybridge: Galloping Horse, 1887.34
Unter diesen Voraussetzungen lag es für Bergson nahe, den Film als Medium zu begreifen, das Bewegungen in Momentaufnahmen einfriert, die erst durch das Abrollen des Celluloidstreifens wiederbelebt werden. Deleuze hingegen fasst das kinematographische Bild nicht als ein nachträglich bewegtes Bild auf. Für ihn gehört die Bewegung zum kinematographischen Bild genuin dazu: „Kurz, der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild“ (Deleuze 1998: 15). Deleuze zielt auf den Umstand, dass die Bewegung für den Betrachter gleichzeitig mit dem Erscheinen des Bildes sichtbar wird. Er schwenkt auf die Ebene des Filmerlebens ein, die von Bergson ausgeklammert wurde. Während dieser ausschließlich die Mechanik von Aufzeichnung und Projektion in Betracht zog und das Filmbild mit dem erstarrten Einzelbild auf dem Celluloidstreifen gleichschaltete, stützt sich Deleuzes Bestimmung des kinematographischen Bildes auf eine unmittelbare Erfahrungstatsache: für ihn zählt, dass sich das kinematographische Bild dem Publikum als bewegliches zeigt – als Bild, das die Dynamik gefilmter Objekte direkt zur Anschauung bringt. Gerade dadurch unterscheidet es sich ja von der Fotographie. Das kinematographische Bild friert den Augenblick nicht ein, sondern repräsentiert ein dynamisches Geschehen zwischen zwei Montage-Schnitten: „Die Einstellung ist das Bewegungs-Bild“ (Deleuze 1998: 40). Bei den Einzelbildern auf dem Celluloidstreifen handelt es sich also noch nicht um kinematographische Bilder. Letztere konstituieren sich erst im Zusammenspiel des technischen mit dem physiologischen Apparat des Betrachters. Es handelt sich um die beweglichen Einstellungen des Films, die erst auf der Leinwand zum Leben erwachen. Ihnen ist die Bewegung wesenhaft, so dass sich Film eben nicht, wie Bergson meinte, aus Unbewegtem zusammensetzt, sondern aus Bewegungen. Zu diesen Bewegungen verhält sich der Film seinerseits beweglich. Er steigert sie durch die mobile Kamera und die beweglichen Schnitte der Montage, die Bewegungsabläufe nicht nur unterbrechen, sondern immer auch neue initiieren. Film verdankt sich einer Vielzahl ineinandergreifender Bewegungen. In Deleuzes Perspektive erscheint er nicht als kaschierter Stillstand, sondern als bewegungsbezogen und bewegungspotenzierend. 34 Online available at: http://www.masters-of-photography.com/images/full/muybridge/muybridge_galloping_horse.jpg
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2. Film antizipiert eine schöpferische Bewegung Deleuzes zweite Entgegnung schlägt eine Brücke zwischen dem schöpferischen Charakter der wirklichen Bewegung und dem Film. Eine solche Annäherung lehnte Bergson kategorisch ab: „(D)er Film könnte zehnmal, hundertmal, tausendmal schneller ablaufen, ohne daß irgendetwas an dem, was abläuft, geändert würde. Wenn er unendlich schnell abliefe, wenn der Ablauf (diesmal außerhalb des Apparates) so beschleunigt würde, daß er sich für uns in einem Moment zusammendrängte, so wären es immer noch die gleichen Bilder. Die so verstandene Aufeinanderfolge fügt ihnen also nichts Neues hinzu (...)“ (Bergson 2000: 29).
Die filmische Dynamik erwächst aus vorab gegebenen Momenten und lässt nichts Neuartiges entstehen. Während der Film aus bergsonscher Sicht das Werden aufgrund seiner technischen Beschaffenheit verfehlt, vermag er Deleuze zufolge durchaus eine schöpferische Entwicklung zu antizipieren. Deleuze stellt auch in diesem Fall das Filmerlebnis in Rechnung. Er definiert den Film als „System, das die Bewegung als Funktion eines beliebigen Moments reproduziert, das heißt in Abhängigkeit von Momenten in gleichem Abstand, die so ausgewählt werden, daß ein Eindruck von Kontinuität entsteht“ (Deleuze 1998: 18; Hervorhebung im Original). Film rekonstruiert Bewegung durch die Aneinanderreihung beliebiger, bewegungsimmanenter Momente. Auf der Ebene des Filmerlebens verschmelzen die technisch isolierten Momente erneut zu einer kontinuierlichen Bewegung. Diese lässt sich nicht zwangsläufig mit der immergleichen Abfolge der Bilder auf dem Celluloidstreifen gleichsetzen. Vielmehr kann jeder Moment zum Einbruch des Unerwarteten geraten. Er kann zum Punkt werden, an dem vertraute Bewegungsabläufe, chronologische Entwicklungslinien und Kausalzusammenhänge aufbrechen und überraschende Wendungen eintreten. In jedem beliebigen, bewegungsimmanenten Moment können völlig neue Möglichkeiten aufblühen. So lässt der Film das Unvorhergesehene direkt aus der Bewegung entstehen und kommt damit der wirklichen Bewegung nahe. Im Film wie in der wirklichen Bewegung kann potenziell jeder Moment unverhoffte Entwicklungen zeitigen und sich auf eine unbestimmte Zukunft hin öffnen – auf der Erlebnisebene zeigt sich die filmische Bewegung verwandt mit dem schöpferischen Werden.
3. Film offenbart den umfassenden Wandel der Dauer Im dritten Schritt seiner Filmrehabilitierung legt Deleuze dar, dass jedes Bewegungs-Bild ein ‚Stück Dauer’ in sich birgt. Den Hintergrund seiner Ausführungen liefern die bergsonschen Zuordnungen ‚wirkliche Bewegung / Dauer = qualitativer Wandel’ und ‚falsche Bewegung = räumliche Bewegung’. Während die wirkliche Bewegung sich auf die aktuelle Seite der Dauer bezieht und mit der ganzheitlichen Verwandlung eines Entwicklungszusammenhangs identifiziert wird, verbirgt sich hinter der falschen Bewegung eine relativierte Form: die Bewegung als Stellungswechsel von Objekten im Raum. Deleuze argumentiert, dass Film nicht allein Raumbewegungen zum Ausdruck bringt, sondern immer auch auf die Veränderung eines Entwicklungszusammenhangs hindeutet. Jedes Bewegungs-Bild bzw. jede Einstellung verweist zugleich auf Objektbewegungen und Entwicklungsbewegungen – auf den Raum und auf die Zeit.
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Zunächst zur räumlichen Seite. Filmische Einstellungen eröffnen einen Bildraum, der sich aus ausgewählten Elementen zusammensetzt: der Kulisse, den Requisiten und den Figuren. Diese räumlichen Arrangements von Objekten, die Deleuze auch als Ensembles bezeichnet, sind veränderlich.35 So können Objekte und vor allem Figuren neue Positionen im Bildraum beziehen. Sie können aufeinander zugehen oder sich voneinander entfernen, sich umarmen oder gegeneinander kämpfen, sich lieben oder sich töten. Die Einstellung veranschaulicht Aktionen und Vorgänge im Raum. Doch darin erschöpft sie sich nicht, denn jede Verlagerung im Raum deutet zugleich auf eine umfassendere Veränderung hin: auf die wirkliche Bewegung bzw. auf die aktuelle Dimension der Dauer. Ihre Verfassung ist entscheidend für das Verständnis von Deleuzes Argumentation. Unter der aktuellen Dimension der Dauer versteht Deleuze mit Bergson „ein System von Empfindungen und Bewegungen“ (Bergson 1991: 133). Mit ihr ist ein mobiler Zusammenhang angesprochen; eine wandelbare Verbindung von Momenten. Anders als im Raum stehen Momente in der Dauer nicht neben-, sondern in Beziehung zueinander, d.h. sie sind in einem relationalen Gefüge aufgehoben. Dieses ist variabel, denn die Beziehungen zwischen den Momenten liegen nicht fest. Sie entstehen, verschieben, teilen oder lösen sich, so dass sich der Charakter des relationalen Gefüges verwandelt. Diese Neuformierung von Relationen ist es, die Deleuze mit Bergson als temporalen Wandel begreift. Deleuze fügt an dieser Stelle eine begriffliche Differenzierung ein. Das Netzwerk der Relationen, sprich der umgreifende Entwicklungszusammenhang, wird von ihm als das offene Ganze bezeichnet. Offen ist es, weil es sich unaufhörlich verändert, immer neue Konstellationen hervorbringt und deswegen unbestimmbar ist. Mit dem offenen Ganzen wird so ein weiterer Deckname für den eingangs beschriebenen ‚produktiven Zeitgrund’ eingeführt. Bei der Dauer handelt es sich um die Dynamik, die das offene Ganze – den Zeitgrund – durchwirkt.36 Sie ist die kontinuierliche Transformationsbewegung des universalen Entwicklungszusammenhangs – keine fortschreitende, sondern eine ausufernde Bewegung, die sich durch die permanente Verschiebung und Verzweigung von Relationen auszeichnet. Bergson wird nicht müde zu betonen, dass eine Auffassung von der Bewegung als Raumbewegung verkürzt ist: „aber warum stellen wir nicht einfach fest, daß die Gesamtheit sich verändert hat, als ob man ein Kaleidoskop gedreht hätte? Kurz, warum suchen wir durchaus in der Bewegtheit des Ganzen nach Einzelfährten bewegter Körper?“ (Bergson 1991: 195) – denn dadurch wird die Dauer als ganzheitliche Verwandlung zu einem einfachen Ortswechsel zusammengezogen. Deleuze gibt nun zu bedenken, dass dieser Ortswechsel nicht nur als Abstraktion von sondern immer auch als Indiz für eine ganzheitliche temporale Veränderung zu begreifen ist. So weist jede räumliche Verlagerung auf eine Transformation des temporalen Netzwerks hin. Wenn sich Dinge im Raum bewegen, kommt es zu Modifikationen der Relationen und damit zu einer qualitativen Umwandlung des temporalen Zusammenhangs. Wann immer sich eine Bewegung zwischen Objekten im Raum einstellt, stellt sich auch eine Veränderung in der Zeit ein. Zur Erläuterung greift Deleuze folgendes Beispiel Bergsons auf: 35 Der technische Vorgang zur Bestimmung des Bildraumes ist die Kadrierung: „Kadrierung sei die Festlegung eines – relativ – geschlossenen Systems, das alles umfaßt, was im Bild vorhanden ist – Kulissen, Personen, Requisiten. Das Bildfeld (cadre) konstituiert folglich ein Ensemble, das aus einer Vielzahl von Teilen, das heißt Elementen besteht, die ihrerseits zu Sub-Ensembles gehören“ (Deleuze 1998: 27; Hervorhebung im Original). 36 „(W)enn das Ganze nicht bestimmbar ist, dann deswegen, weil es das Offene ist und die Eigentümlichkeit hat, sich unaufhörlich zu ändern oder plötzlich etwas Neues zum Vorschein zu bringen, kurz, zu dauern“ (Deleuze 1998: 24).
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„Ein Tier bewegt sich, allerdings nicht grundlos, sondern auf Nahrungssuche, auf Wanderung usw. Man könnte sagen, daß die Bewegung einen Spannungsunterschied voraussetzt, den sie auszugleichen sucht. Wenn ich die Teile und Orte – A und B – abstrakt auffasse, werde ich die Bewegung, die von einem Punkt zum anderen geht, nicht verstehen. Anders dagegen, wenn ich mich in A befinde, sehr hungrig bin und es in B etwas zu essen gibt. Wenn ich in B angelangt bin und gegessen habe, hat sich nicht nur mein Zustand geändert, sondern der Zustand des Ganzen, das A,B und alles zwischen ihnen einschloß“ (Deleuze 1998: 22).
Was an der Oberfläche als räumliche Verlagerung erscheint, zeugt von einer qualitativen Umwandlung in der Tiefe – von der Umbildung des Zeitgrundes. „Somit hat die Bewegung gewissermaßen zwei Gesichter. Zum einen ist sie das, was sich zwischen Objekten oder Teilen ereignet; zum anderen gibt sie die Dauer oder das Ganze wieder“ (Deleuze 1998: 26). Bewegungen sind nicht ausschließlich räumlich, sondern immer auch temporal zu interpretieren: als Fingerzeig der wirksamen Dauer. Jede räumliche Dynamik weist über sich hinaus auf den großen temporalen Zusammenhang, „ein wenig so, wie der Zug der Vögel einen Wechsel der Jahreszeiten ausdrückt“ (Deleuze 1999: 304). Man könnte auch sagen, sie gibt einen Ausschnitt aus dem Zeitgeflecht – dem Geflecht veränderlicher Relationen – preis, in das sie selbst eingesponnen ist. Die Veränderung dieses Flechtwerks, die Dauer, lässt sich dementsprechend denken als übergreifende Mobilität, die aus einer unbegrenzten Zahl einfacher Raumbewegungen gewoben ist. Diesen Zusammenhang bringt Deleuze in folgender Gleichung zum Ausdruck (vgl. Deleuze 1998: 23): unbewegte Schnitte Bewegung
=
Bewegung als beweglicher Schnitt qualitative Veränderung
Das erste Verhältnis referiert auf die relative Bewegung durch den Raum, das zweite auf die wirkliche Bewegung der Dauer. So wie erstere aus unbewegten Einzelmomenten (Schnitten) konstruiert wird, lässt sich letztere aus Einzelbewegungen zusammengefügt denken. Jede Bewegung bildet ein bewegliches Segment des temporalen Wandels. Als solches ist jede Bewegung zugleich „ein beweglicher Schnitt (der Dauer – K.V), das heißt eine zeitliche Perspektive oder Modulation“ (Deleuze 1998: 43; Hervorhebung im Original). Beim kinematographischen Bewegungs-Bild – der Einstellung – handelt es sich nun um das filmgewordene Sinnbild dieses beweglichen Schnitts. Auch „(d)ie Einstellung ist Bewegung unter einem Doppelaspekt: Verlagerung von Teilen eines räumlich ausgedehnten Ensembles, Wandel eines sich in der Dauer transformierenden Ganzen“ (Deleuze 1998: 37). Ihre Bedeutung ist nicht zu beschränken auf die Wiedergabe räumlicher Bewegungen, sondern sie artikuliert immer auch die Modifikation temporaler Relationen. So erfüllt sie dieselbe Relaisfunktion wie die Bewegung: „Die Einstellung ist das Bewegungs-Bild. Insofern sie die Bewegung auf ein sich veränderndes Ganzes bezieht, ist sie der bewegliche Schnitt einer Dauer“ (Deleuze 1998: 40). Mit ihr wird ein lebendiger Ausschnitt der Dauer auf die Leinwand projiziert. Jede Einstellung fängt ein Stück der zeitlichen Variation ein. Folglich muß schon „das Bewegungs-Bild als Matrix oder Zelle der Zeit betrachtet werden“ (Deleuze 1999: 54). Die einzelnen Einstellungen werden nun verbunden durch die Montage. Sie koppelt die ‚Zeit-Zellen’ aneinander und verweist so auf die Transformation des temporalen Netzwerks – die Dauer:
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„Was sich der Montage als innerer oder äußerer verdankt, ist das indirekte Bild der Zeit, der Dauer. Nicht einer homogenen Zeit oder einer verräumlichten Dauer, wie Bergson sie ablehnt, sondern einer effektiven Dauer, einer wirklichen Zeit, die sich von der Artikulation der Bewegungsbilder ableitet“ (Deleuze 1998: 49 – 50).
Wie die Dauer, so ist auch Film Komposition von Bewegungen. Seine Praxis macht evident, wie Temporalität von Deleuze im Rekurs auf Bergson gedacht wird: als Zusammenspiel aktueller Bewegungen, die sich zu einem umfassenden temporalen Wandel vereinen. Deleuzes Argumentation enthüllt eine außerordentliche Nähe des filmischen Mediums zur Dauer. Ausgehend vom Filmerlebnis zeigt sie in drei Schritten, dass Film die wirkliche Bewegung, d.h. die Dauer als umfassende Wandlung von Bezügen, nicht eliminiert, sondern offenbart: die Bausteine des Films sind Bewegungen (1), welche jede für sich genommen auf Verschiebungen im temporalen Netzwerk anspielt und die in ihrer Kombination einen Eindruck von der unkalkulierbaren Variation der Dauer vermitteln (2,3). Deleuze verdeutlicht, dass „(d)ie Welt, wie sie sich im Film begreift, (...) zutiefst dynamisch, zeitgegründet und zeitdurchwirkt (ist); es ist die Welt ständiger, steter und unsteter Veränderung, die Welt der Bewegung und der Dauer; und als solche ist sie ausschließlich im Film auffindbar“ (Engell/Fahle 2003: 222). Anstatt als technische Apparatur einer falschen Bewegung wird der Film bei Deleuze als ein Medium begreifbar, in dem sich die komplexe Dynamik der Dauer entfalten kann.
7.2 Einblicke in die Dauer des Aktuellen: die Spielarten der Bewegungs-Bilder Nachdem Deleuze die generelle Nähe von Film und Dauer herausgearbeitet hat, widmet er sich nun dem kinematographischen Bewegungs-Bild im besonderen: seinem Wesen, seinen Spielarten und Verkettungsmodi. Dazu stützt er sich auf die Wahrnehmungstheorie Bergsons, in der er die Idee des Bewegungs-Bildes bereits vollständig enthalten sieht. Im ersten Kapitel von Materie und Gedächtnis befasst sich Bergson mit der wirklichen Bewegung der Materie, d.h. mit der aktuellen Seite der Dauer, unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung. Die Dauer bzw. die universelle Veränderlichkeit der Materie wird als sensomotorischer Bewegungszusammenhang gedacht, in dem alle Elemente miteinander reagieren. Entscheidend für die Wesensbestimmung des kinematographischen Bewegungs-Bildes ist, dass Bergson „eine absolute Identität von Bewegung, Materie und Bild“ (Deleuze 2005: 139) behauptet. Ihm zufolge besteht die materielle Realität aus Bildern, die Bewegungen empfangen und beantworten. Die Bilder fungieren als ‚Bewegungsleiter’; sie sind der „Weg, über den in allen Richtungen die Modifikationen verlaufen, die sich in der Unermeßlichkeit des Universums verbreiten“ (Deleuze 1998: 86 – 87). Solchermaßen werden Bild und Bewegung in Eins gesetzt: die Idee des Bewegungs-Bildes ist geboren. Die materielle Realität beschreibt Bergson nun als Wechselwirkung dieser Bewegungs-Bilder, womit er ein Universum entwirft, das eklatant filmische Züge trägt. Sowohl bei der Materie als auch beim Film handelt es sich um eine Interaktion von Bildern, die Bewegungen prozessieren. Weil sie dieses in unterschiedlicher Weise tun, unterscheidet Bergson zwischen zwei Bildsystemen: den Bildern der Materie und den Wahrnehmungsbildern. Die Systeme mit ihren Bildarten und Bewegungsmustern werden von Deleuze aufgegriffen, um filmische Bildtypen und ihre Konnexionen zu erläutern.
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7.2.1 Das Universum der Dauer und das a-zentrische Bildsystem In dem System, das durch die Bilder der Materie konstituiert wird, kommen BewegungsBilder in ihrer Urform vor. Sie geben alle eintreffenden Bewegungen automatisch und ohne Verzögerung weiter. Die Bewegung pflanzt sich unmittelbar fort und breitet sich in alle Richtungen aus. So entsteht ein a-zentrisches Bildsystem, in dem Bild-Bewegungen ohne Bezugspunkt verlaufen. Das a-zentrische Bildsystem ist ein ‚Chaosmos’, in dem Bewegungs-Bilder in all ihren Bestandteilen variieren und mit all ihren Seiten aufeinander reagieren. Sie changieren ineinander und produzieren ein Universum absoluter Beweglichkeit, in dem die Bilder bzw. die Dinge ihre Konturen verlieren und sich in molekulare Schwingungen verdünnen. Wie Bergson denkt auch Deleuze an einen Zustand, in dem sich die Materie auflöst „in zahllose Erschütterungen (...), die alle zu einer ununterbrochenen Kontinuität verbunden und unter sich solidarisch sind und wie Wellenringe nach allen Richtungen verlaufen“ (Bergson 1991: 207). „Dieser Materiezustand ist zu heiß, als daß man noch feste Körper unterscheiden könnte. Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des universellen Plätscherns: in ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum, weder rechts noch links, weder oben noch unten ...“ (Deleuze 1998: 87).
Im a-zentrischen Bildsystem existiert nichts außer Bewegung. Ein Stein würde hier nicht als fester Körper, sondern als eine vibrierende, molekulare Masse erscheinen. Entsprechend lassen sich Bewegungen in diesem System nicht mehr als räumliche Positionsveränderung distinkter Objekte fassen. Festkörper und ihre Bewegungsbahnen verlieren sich in molekularen Wechselwirkungen und münden in eine umfassende Mobilität ein. In dem azentrischen System wirkt die Dynamik der Dauer, deren Momente einander in einem ganzheitlichen Wandel durchdringen – hier entfaltet sich die Dauer als universelle Variation der Materie, welche den Aktualitäten der Erfahrung vorausliegt und sie bedingt. Damit bezieht sich das Bildsystem auf den produktiven Zeitgrund, den Deleuze als Immanenzplan anspricht. Auf diesen Immanenzplan gründet Deleuze die Grundform des kinematographischen Bewegungs-Bildes. Es leitet sich ab aus dem ‚heißen Materiestrom’; aus den ungerichteten, ungebremsten Bewegungen auf der Ebene der Immanenz, deren schnellste Form das Licht ist: „die Ebene der Immanenz (ist) ganz und gar Licht (...). Die Menge der Bewegungen, Aktionen und Reaktionen ist sich verteilendes, »ohne Widerstand und Verlust« sich verbreitendes Licht“ (Deleuze 1998: 89).37 Als direkter Abkömmling des Immanenzplans repräsentiert das unspezifizierte Bewegungs-Bild weder Gegenständliches noch Konturen. In ihm offenbart sich nichts anderes als die Ausbreitung von Licht und Energie: „Im Bewegungsbild gibt es noch keine Körper oder harten Linien, sondern nichts als Lichtlinien oder Lichtfiguren“ (Deleuze 1998: 89). Es taucht in die Ordnung aus Licht und Bewegung unterhalb der Oberfläche der vertrauten Wirklichkeit und zeigt die Dinge, bevor sie zu Objekten der Wahrnehmung werden. So wenig unspezifizierte Bewegungs-Bilder im Film Gegenstände der Alltagserfahrung abbilden, sowenig ist ihr Zusammenschluss narrativ. Aus 37
Das reine Bewegungs-Bild „(...) is an image derived from the movements of molecules, the propagation of radiation, the exchange of heat, and the pull of gravity. It is an image warmed by the molten core of the earth and illuminated by the cold light of stars light-years distant” (Rodowick 1997: 31).
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ihrer Verbindung resultiert keine Geschichte, sondern ein dynamisches Licht- und Farbenspiel. Dieses ist vorwiegend im Bereich des Experimentalfilms anzutreffen.38 Doch auch in Lynchs Werken finden Öffnungen auf die Ebene der Immanenz statt. So schneidet Lynch immer wieder Sequenzen ein, in denen er realisiert, was Deleuze als flüssige bzw. gasförmige Wahrnehmung bezeichnet (vgl. Deleuze 1998: 103f.; 115f.). Z.B. zoomt die Kamera Feuer oder Rauch heran, bis die Leinwand nur noch Flackern, Flirren und Lodern – reine Beweglichkeit – ist (Abb.5). In anderen Fällen setzt Lynch stroboskopische Lichteffekte ein, welche die Umrisse der Figuren auflösen in ein Flimmern von Farben und Formen (Abb.6), oder aber er hellt Einstellungen extrem auf und lässt die Szene in einem strahlenden Leuchten verglühen (Abb. 7). Abbildung 5:
Lost Highway: Feuer und Rauch.
Abbildung 6:
Lost Highway: im Stroboskop flackert Fred wie eine Projektion.
Abbildung 7:
Lost Highway: Alice löst sich in einer Lichtfigur auf.
38 „Wir werden Gelegenheit haben zu sehen, daß eine wichtige Tendenz des sogenannten Experimentalfilms darin besteht, die nichtzentrierte Ebene der reinen Bewegungs-Bilder wieder zu erzeugen, um sich auf ihr einzurichten. Dazu verwendet er häufig komplizierte technische Mittel“ (Deleuze 1998: 99).
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In diesen Einstellungen ereignet sich ein Rückgang aus der Alltagsrealität auf die materielle Grundlage von Welt und Kino überhaupt: Licht und Bewegung. So löst Lynch filmisch ein, was bereits Bergson theoretisch antizipierte. „Das war Bergsons Wunsch: vom Körper – oder vom in Bewegung befindlichen Körper aus – dem unsere natürliche Wahrnehmung Bewegung zuschreibt wie einem Vehikel, einfach einen »farbigen Fleck« behalten, das Bewegungsbild, das lediglich eine Reihe äußerst rascher Schwingungen, »in Wirklichkeit nur eine Bewegung von Bewegungen ist«“ (Deleuze 1998: 41).
Die abgebildeten Einstellungen gewähren einen Blick in das Universum der Dauer und machen die universelle Veränderlichkeit der Materie evident. Sie stoßen auf die Ebene vor, die Deleuze mit Bergson ins theoretische Visier gefasst hat: den schöpferischen Zeitgrund bzw. den Immanenzplan. Auf ihn stützen sich bei Deleuze sowohl die Materie als auch der Film. „Das Bewegungs-Bild und der Materiestrom sind genau dasselbe.(...) Das materielle Universum, die Ebene der Immanenz, ist die automatische Anordnung der Bewegungsbilder“ (Deleuze 1998: 87 – 88; Hervorhebung im Original). Zwischen Film und Materie existiert für Deleuze kein substanzieller Unterschied. Beide basieren auf der automatischen, ungeregelten Anordnung von Bewegungs-Bildern, die Bergson in Materie und Gedächtnis dargelegt hat. Nicht nur wird hier (unbeabsichtigt) der Boden für die Wesensbestimmung des Films bereitet. Letztlich avanciert das Medium selbst zum ontologischen Modell der Wirklichkeit: Bergson „sieht das Universum als Film an sich, als Meta-Film, und das bedeutet für den Film eine ganz andere Betrachtungsweise als jene, die er in seiner expliziten Kritik entwickelte“ (Deleuze 1998: 88).
7.2.2 Die Erfahrungswirklichkeit und das zentrierte Bildsystem Auf den Bild- und Bewegungsarten des zweiten Systems fußt die Zeitgestaltung im populären Erzählkino, welche später einer genaueren Untersuchung unterzogen wird. Auch in dieses zweite Bildsystem steigt man am besten mit einer kurzen Rückblende auf Bergson ein. Den Bildern der Materie stellt Bergson das System der Wahrnehmungsbilder gegenüber. In ihm wird der chaotische Zustand des a-zentrischen Systems diszipliniert. Die unspezifischen Bewegungs-Bilder gewinnen konkrete Konturen und die allseitigen Bewegungen werden selektiert und ausgerichtet. Sie verlaufen nicht länger ungebremst in alle Richtungen, sondern orientieren sich an dem privilegierten Bild des Leibes. Dieses filtert die eintreffenden Bewegungen und leitet nur solche weiter, die ihm relevant erscheinen. Es bildet ein Zentrum, nach dessen Maßgabe die übrigen Bilder variieren – entsprechend ist bei Deleuze die Rede von einem zentrierten Bildsystem. Seine Zentren – die Leibbilder – erfordern eine eingehendere Betrachtung. Deleuze zufolge bewirken sie eine Unterbrechung der allseitigen Dynamik. Sie fügen ein Intervall, eine zeitliche Verzögerung, zwischen eingegangener und ausgesandter Bewegung ein. In der Folge verwandelt sich die universelle Variation des a-zentrischen Systems in jene ‚normalen Bewegungen’, die uns in der Alltagswirklichkeit begegnen. Ferner differenzieren sich reine Bewegungs-Bilder zu speziellen Bewegungs-Bildern aus, deren Hauptformen die Wahrnehmungs-, Aktions- und Affektbilder sind. Die Einführung eines Bewegungsintervalls in die unmittelbare Durchdringung der Bewegungs-Bilder bringt die Bilder auf Distanz und schafft einen Abstand zwischen Reaktion und Aktion. Das Bewegungsintervall erzeugt so zwei Seiten, eine sen-
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sorische, die Bewegungen empfängt, und eine motorische, die sie weitergibt. Auf diesen beiden Seiten formen sich konturierte Bilder: ein Wahrnehmungsbild auf der sensorischen und ein Aktionsbild auf der motorischen Seite. Die Mitte – das Intervall selbst – wird besetzt durch das Affektbild.
Wahrnehmungsbilder Zunächst zum Wahrnehmungsbild auf der sensorischen Seite. Auf ihr verwandeln sich eintreffende Bewegungen in Objekte der Wahrnehmung. Hier vollzieht sich die Transformation der universellen Veränderung der Dauer in die motorische Bewegung von Festkörpern. Die Intervalle verhindern die unmittelbare Fortsetzung von Bewegungen. Sie werden auf der sensorischen Seite gefiltert und aufgefangen wie Lichtstrahlen auf einer Leinwand. Im Film kommt diese Funktion der Kadrierung zu: „Das ist genau der Vorgang, aus dem eine Kadrierung besteht: bestimmte Einwirkungen werden in der Bildfeldbegrenzung isoliert, und von nun an werden sie vorweg genommen, vorhergesehen“ (Deleuze 1998: 91; Hervorhebung im Original). Auf der sensorischen Seite des Intervalls zeichnen sich nur ausgesuchte Bewegungen ein, so dass sich ein Wahrnehmungsbild mit scharfen Konturen ausbildet. Anders als das unbestimmte Bewegungs-Bild macht es keine molekularen Schwingungen, ‚farbigen Flecken’ oder diffuse Lichtspiele ansichtig. Stattdessen malen sich voneinander geschiedene Elemente und scharf umrissene Objekte ab. Licht und Dynamik verdichten sich zu festen Körpern. Die umfassende Mobilität wird gleichsam verfestigt und auf Körper verteilt, die so zu Bewegungsträgern werden. Im zentrierten Bildsystem des Films tritt Bewegung also nicht mehr an sich zu Tage. Die universelle Variation wird zusammengezogen zu einem Ortswechsel von Körpern, d.h. zu einer motorischen Bewegung im Raum. Damit artikuliert sich die materielle Wirklichkeit auf die Art, wie sie für die natürliche Wahrnehmung typisch ist. Was nun zeigen Wahrnehmungsbilder im Film? Neben spezifischen Perzeptionen von Figuren, die durch point of view shots realisiert werden, präsentieren sie Situationen im Allgemeinen. Sie bezeichnen deskriptive Bilder, in denen Settings geschildert und Handlungsräume etabliert werden (establishing shots). Die dominante Einstellungsgröße der Wahrnehmungsbilder ist die Totale.
Aktionsbilder Der sensorischen Seite des Intervalls liegt die motorische Seite gegenüber, auf der die selektierten Einwirkungen bearbeitet und beantwortet werden. Sie werden in Handlungen umgesetzt, welche das Aktionsbild konstituieren. Handlungen stellen gerichtete Bewegungen dar, die mit bestimmten Intentionen versehen sind. Sie beeinflussen die umgebenden Bewegungs-Bilder gezielt, so dass letztere sich nach ihrer Maßgabe verändern und im Licht tatsächlicher oder möglicher Taten erscheinen. Das bildhafte Bewegungsuniversum krümmt sich um das Aktionszentrum und bildet einen Handlungshorizont aus. Im Aktionsbild verkörpern sich Bewegungen in konkreten Handlungs- und Verhaltensweisen, die ihrerseits spezifische Milieus hervorbringen. Kurz: jedes Verhalten schafft sich seine Umwelt. Dieser Zusammenhang von Verhalten und Umwelt – von Aktion und Situation – wird im Aktions-
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bild erfasst. Es zeigt Aktionen und Reaktionen und etabliert so die Ursache-WirkungsVerkettungen, die dem großen realistischen Erzählkino zugrunde liegen: „Was den Realismus ausmacht, sind Milieus und Verhaltensweisen: das Milieu aktualisiert, und das Verhalten verkörpert. Das Aktionsbild ist die Beziehung zwischen beiden in all ihren möglichen Variationen“ (Deleuze 1998: 193).39 Das Aktionsbild leitet also bereits über von der Charakterisierung einzelner Einstellungen zu Bildverknüpfungen und damit zur Komposition eines Films.
Affektbilder Das Affektbild schließlich ist zwischen Wahrnehmung und Handlung lokalisiert und besetzt das Intervall selbst. Es entsteht, wenn Einwirkungen der umgebenden Bilder vom Intervall absorbiert werden. Sie verlängern sich zwar über die Wahrnehmung hinaus, münden jedoch nicht in eine Aktion ein. Im Affektbild verwandeln sich Reizungen nicht in motorische, sondern in Ausdrucksbewegungen. Sie verdichten sich zu Empfindungen oder Eigenschaften. Diese werden durch Großaufnahmen – primär von Gesichtern aber auch von anderen Objekten – an den Tag gebracht. Die Großaufnahme ist von entscheidender Bedeutung für die Konstitution des Affektbildes, da sie dargebotene Empfindungen oder Eigenschaften aus ihrem audiovisuellen wie narrativen Kontext isolieren kann. Sie hat die Kraft, „das Bild aus seinen raumzeitlichen Koordinaten zu lösen, um den reinen Affekt in seinem Ausdruck zu zeigen“ (Deleuze 1998: 135). Die Großaufnahme setzt den Affekt aus seinen spezifischen Verkörperungen frei, so dass er als Entität in den Vordergrund tritt: nicht das angstverzerrte Gesicht, sondern das Grauen; nicht die geballte Faust, sondern der Zorn; nicht das Messer, sondern das Schneidende werden sichtbar. Zwar existiert der Affekt nicht unabhängig von dem, was ihn ausdrückt, aber er ist nicht dasselbe: das Grauen ist nicht das Gesicht, die Wut nicht die Faust und das Schneidende nicht das Messer. Der Affekt löst sich von seinem aktuellen Träger ab und besteht als solcher. Der Träger weicht in den Hintergrund und wird zum bloßen Indiz. Hier liegt der gravierende Unterschied des Affektbildes zum Aktionsbild. Auch im Rahmen des Aktionsbildes kommen Affekte zur Darstellung. Allerdings schlagen sie sich hier in konkreten raumzeitlichen Bestimmungen – in Zuständen, Verhaltensweisen, Personen oder Gegebenheiten – nieder. Im Affektbild hingegen offenbaren sich Affekte jenseits ihrer Verwirklichung und bleiben reines Vermögen. Das Affektbild zeigt „(...) Qualitäten oder Potentiale als solche, ohne Bezug auf irgend etwas anderes, jeder Frage nach ihrer Aktualisierung enthoben: etwas, was so beschaffen ist, daß es an und für sich ist. Beispielsweise das »Rot«, das in dem Satz »dies ist nicht rot« ebenso vorkommt wie in dem Satz »das ist rot«“ (Deleuze 1998: 137).
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Die Beziehung zwischen Aktion und Situation begründet zwei Formen des Aktionsbildes: die große und die kleine Form. Die große Form charakterisiert Deleuze durch die Formel Situation-Aktion-Situation’: Eine gegebene Situation ruft bestimmte Aktionsweisen der Figuren hervor, die wiederum auf die Situation zurückwirken und sie modifizieren. In der kleinen Form hingegen ist die Situation nicht von Anfang an ersichtlich. Sie wird erst nach und nach durch die Aktionen der Figuren freigelegt, wobei jeder aufgedeckte Teil neue Aktionen nach sich zieht. Die kleine Form verläuft von der Aktion über die Situation zu einer neuen Aktion und trägt die Formel AktionSituation-Aktion’.
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Im Gegensatz zum Aktionsbild, das sich aus der konkreten Realisierung eines Vermögens ergibt, bezieht sich das Affektbild immer auf die Qualitäten oder das Vermögen selbst, das potenziell auch eine andere Gestalt annehmen könnte. Mit anderen Worten: im Affektbild manifestiert sich ein nicht-aktualisiertes Potenzial. Damit stellt es bereits einen Kontakt zur Dimension des Virtuellen her, die dann im Kino des Zeit-Bildes zur vollen Entfaltung gebracht wird. Durch die Einführung von Intervallen wird die für das a-zentrische System charakteristische allseitige Dynamik unterbrochen. Es entstehen Zentren, an denen Bewegungen gefiltert und gerichtet werden. Die universelle Variation wird kontrahiert zu einzelnen Objekten und ihren motorischen Bewegungen, kondensiert zu Affekten oder kanalisiert in zielorientierte Handlungen. Kurz: filmische Bewegungs-Bilder teilen sich in Wahrnehmungs-, Affekt- und Aktionsbilder, die Ansichten der physischen, psychischen und sozialen Welt vermitteln. Diese spezifizierten Bilder fusionieren zu sensomotorischen Ensembles, in denen Wahrnehmung, Affekt und Aktion eine feste Bindung eingehen. Sensomotorische Bildzusammenhänge sorgen für die Verkettung von eintreffender und fortgesetzter Bewegung. Sie stellen die Verknüpfung von Reiz und Antwort sicher und überführen auf diese Weise die unzentrierte Dynamik in eine Reaktions-Aktions-Folge. Durch sensomotorische Schemata werden sinnhafte Strukturen in den Bilderstrom implementiert und ‚realistische Bewegungsabläufe’ evoziert, welche uns aus der Wahrnehmungswirklichkeit vertraut sind. Im Gegensatz zum a-zentrischen System mit seiner ungeregelten Durchdringung von Bewegungs-Bildern zeichnet sich das zentrierte System aus durch Bilddifferenzierung und Bewegungsregulation. Kreieren in ersterem reine Bewegungs-Bilder eine autonome, mittelpunktlose Welt, artikuliert sich in letzterem die Selbstbewegung der Materie unter Einbeziehung des Menschen. Das zentrierte Bildsystem des Films deckt sich mit der natürlichen Wahrnehmung – in ihm kommt die empirische Welt zum Vorschein.
7.2.3 Die Überlegenheit des Films: technische Wahrnehmung des Zeitgrundes Mit Hilfe der bei Bergson vorgefundenen Bildsysteme erhellt Deleuze die zwei grundlegenden Bildordnungen im Kino des Bewegungs-Bildes. Im gleichen Zug zeichnet er den Film als ein Medium aus, das mit beiden Bildsystemen operieren und somit zwei Versionen des Aktuellen, d.h. des Bewegungsgeschehens der Materie, vermitteln kann: Erscheint die Welt im a-zentrischen System des Films im Aggregatzustand universeller Veränderlichkeit, gerinnt der ‚heiße Materiestrom’ im zentrierten System zur vertrauten Erfahrungsrealität. Das Medium Film kann auf beide Bildsysteme zugreifen und hat damit der natürlichen Wahrnehmung des Menschen etwas voraus. Diese schreitet immer nur von dem azentrischen zum zentrierten System. Sie ist auf Effizienz gepolt und kann nicht anders, als den dynamischen Bildchaosmos im Lichte subjektiver Bedürfnisse, Handlungsmöglichkeiten und Intentionen wahrzunehmen, d.h. ihn zu zentrieren und zu filtern. Film hingegen vermag auch vom zentrierten zum nichtzentrierten Zustand zurückzugehen und sich dem ungeordneten Zusammenspiel von Bewegungs-Bildern zu nähern, wie es vor der subjektiven Erfassung gegeben ist. Dies gelingt ihm z.B. durch den flüssigen bzw. gasförmigen Wahrnehmungsmodus, der im Kontext des unbestimmten Bewegungs-Bildes angesprochen wurde. Filmische Wahrnehmung ist nicht wie die natürliche Wahrnehmung allein auf Fest-
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stoffe zugeschnitten, sondern kann unter die verhärtete Oberfläche dringen und das Spiel der Moleküle aufdecken – es handelt sich um „eine feinere, ausgedehntere Wahrnehmung, eine molekulare Wahrnehmung, die für das »Kinoauge« charakteristisch ist“ (Deleuze 1998: 114). Eine weitere Möglichkeit, sich dem a-zentrischen System anzunähern, besteht darin, das Bezugszentrum der Wahrnehmung durch Kamerabewegungen und Montagetechniken in Bewegung zu versetzen. „Wenn die natürliche, subjektive Wahrnehmung für den Film keineswegs Modell ist, dann deswegen, weil die Beweglichkeit seiner Zentren, die Veränderlichkeit seiner Kadrierungen immer zu einer Wiederherstellung von ausgedehnten Zonen ohne Zentrum, ohne Bildfeldbegrenzungen, führt; er tendiert also zu einer Rückkehr zum ersten System der Bewegungsbilder: universelle Variation, totale, objektive und diffuse Wahrnehmung“ (Deleuze 1998: 94).
Die Mobilisierung der Bezugszentren entzieht dem Zuschauer Standpunkte, welche ihm einen Überblick über das filmische Geschehen gewähren und von denen aus er raumzeitliche Beziehungen innerhalb der Diegese zuverlässig beurteilen kann. So untergraben Kamerabewegungen wie das Rollen40 die Orientierung im Bildraum. Vor allem aber die Montage ist es, welche Bezugszentren unterminieren kann. Sie kann sensomotorische Bindungen trennen und Bilder aus vollkommen unterschiedlichen Kontexten kombinieren. So stiftet sie Relationen zwischen Punkten, die aus der Perspektive der menschlichen Wahrnehmung inkommensurabel sind. Die Montage kann diverse Einstellungen des Films miteinander kommunizieren lassen, so dass sich der Referenzpunkt der Wahrnehmung (und das heißt das Subjekt) auflöst in ein offenes Kraftfeld, in dem sämtliche Bilder Wechselwirkungen unterhalten. Mit einer solchen Montage-Konzeption konfrontiert Lynch sein Publikum in Lost Highway ebenso wie in Mulholland Drive, doch dazu später mehr. Sowohl der molekulare Wahrnehmungsmodus als auch die Mobilisierung des Bezugszentrums bewirken eine Dezentrierung des Bildsystems. Der Film erzwingt die Aufgabe des anthropozentrischen Standpunkts und tendiert zu einer mittelpunktlosen Welt, in der das Subjekt nicht mehr Referenzpunkt des wahrgenommenen Geschehens ist. Er ermöglicht eine entpersonalisierte Wahrnehmung, welche „die Licht-Immanenzebene (...), die Materieebene und ihr kosmisches Flimmern von Bewegungs-Bildern“ (Deleuze 1998: 99) erfasst. Das Medium Film enthüllt die Welt der Dauer und der universellen Veränderlichkeit – ihm gelingt eine Ästhetisierung des Zeitgrundes, welcher den menschlichen Sinnen verborgen bleibt.
7.3 Zeitformen des Aktuellen im Kino des Bewegungs-Bildes Die Zusammenfassung der Zeitmuster im Kino des Bewegungs-Bildes leitet zur temporalen Inszenierung im realistischen Erzählkino über. In Anlehnung an Bergsons Dauer denkt Deleuze Zeit als permanente Gabelung in Aktualität und Virtualität. Das Kino des Bewegungs-Bildes und seine beiden Bildsysteme referieren auf die aktuelle Seite der Zeit bzw. der Dauer, welche als Bewegungsgeschehen auf der Ebene der Materie definiert wird. Die40
Beim Rollen dreht sich die Kamera um die Bildachse, so dass das gezeigte Objekt seine Lage innerhalb des Bildraums verändert.
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ses entfaltet sich unverfälscht im a-zentrischen Bildsystem des Films. In ihm „(...) wirkt (jedes Bild) auf andere und reagiert auf andere, in »allen seinen Ansichten« und »durch all seine Grundbestandteile«“ (Deleuze 1999: 87; Hervorhebung im Original). Wie die Momente in der Dauer grenzen sich die reinen Bewegungs-Bilder des a-zentrischen Systems nicht voneinander ab, sondern sind durch Wechselwirkungen miteinander verbunden. Zwischen ihnen entspinnen sich vielseitige Relationen, so dass ein variables Beziehungsnetz entsteht. Was das a-zentrische Bildsystem offenbart, ist die Dauer als kontinuierliche Transformation eines Entwicklungszusammenhangs – das offene Ganze, das von der Dauer durchwirkt wird. In diesem System wird der schöpferische Zeitgrund bzw. Immanenzplan erkennbar, der immer neue Gegebenheiten aktueller Erfahrung gebiert. Auf dieser Ebene gewinnt Zeitlichkeit Substanz als bewegliche Zeitmaterie. Sie wird mit der molekularen Dynamik assoziiert, die sich zu fest umrissenen Körpern verlangsamt oder zur Ausbreitung von Licht und Energie beschleunigt. Diese Vorstellung wird filmisch übersetzt in einen veränderlichen Bildkosmos, in dem sich Bilder und ihre Elemente zu immer neuen Konstellationen zusammenfinden und der sich im Extremfall in Farbschwingungen und Lichtfiguren auflöst. Insofern das reine Bewegungs-Bild die elementaren Bewegungen auf dem Zeitgrund sichtbar macht, handelt es sich hier bereits um ein direktes Bild der Zeit. Im azentrischen Bildsystem des Films wird das aktuelle Wirken der Dauer im originären Zustand evident – die ungeregelte Interaktion reiner Bewegungs-Bilder ist die universelle Variation der Materie. Das uneingeschränkte Wirken der Dauer wird im zentrierten System gebändigt durch sensomotorische Bildzusammenhänge. Sie spielen für das temporale Design eine fundamentale Rolle, denn sie ziehen die Dauer zu räumlichen Prozessen zusammen, von denen die Zeitbestimmung abhängig gemacht wird. Durch die Einführung von Intervallen wandelt sich die universelle Variation um in Bewegungen, Eigenschaften und Aktionen von Objekten, die sich im Raum entfalten. Die umfassende Mobilität verdichtet sich zu einzelnen Objekten und ihren physischen Bewegungen. Im zentrierten Bildsystem vollziehen sich jene ‚normalen Bewegungen’, die durch die Motorik bestimmt sind. Die motorischen Vorgänge wiederum werden reguliert von sensomotorischen Schemata. Sie koordinieren die Anschlüsse von eintreffender und ausgehender Bewegung und gewährleisten so die Verknüpfung von Reiz und Antwort, Reaktion und Aktion, Ursache und Wirkung. Auf diese Weise wird die expansive, allseitige Dynamik begradigt und ein linearer Bewegungsverlauf etabliert. Dem sensomotorischen Gesetz gehorcht auch die Montage, welche verantwortlich ist für die Komposition der Einstellungen und damit auch für ihr temporales Arrangement. Die Synthese der Bilder orientiert sich an motorischen Abläufen und Ursache-WirkungsZusammenhängen. Dabei wird auf die Einhaltung korrekter Bewegungsanschlüsse geachtet: darauf, dass sie sich kontinuierlich gestalten, Bewegungen und Handlungen möglichst fließend ineinander übergehen und nicht von Schnitten unterbrochen werden. Um das Greifen sensomotorischer Schemata zu sichern, hat sich im klassischen Erzählkino ein Komplex von Montagevorschriften ausgebildet, das sogenannte continuity system.41 In welcher Form nun figuriert der sensomotorische Verkettungsmodus die Zeit im zentrierten System des Films? Zeit resultiert hier aus dem Vorher und Nachher der motorischen Bewegungen. Sie teilt sich mit in den durch sensomotorische Muster gerichteten Bewegungsabläufen, so dass sie als Aufeinanderfolge einzelner Bewegungsmomente erscheint. Anders gesagt: Sensomotorische Schemata überführen die Dauer in eine lineare 41
Vgl. nachfolgende Ausführungen zum Erzählkino.
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Sukzession von Augenblicken. Sie konstituieren „die Zeit in ihrer empirischen Form, im zeitlichen Verlauf: eine sukzessive Gegenwart in einem äußerlichen Verhältnis des Vorher und Nachher, die Vergangenheit als gewesene Gegenwart und die Zukunft als künftige Gegenwart“ (Deleuze 1999: 346). Sensomotorische Bildkonnexionen begründen das, was Bergson als homogene Zeitidee definiert: eine chronologische Abfolge, die einzig der Gegenwart Realität zugesteht. Diese homogene Zeitidee hat Bergson als räumliche Vorstellung entlarvt. Sie erfasst Zeit nicht als produktive Kraft, sondern als statische Ordnung. Die homogene Zeitvorstellung substituiert die komplexe Dauer durch eine Schiene gleichförmiger Jetztpunkte – Zeit und Bewegung werden voneinander getrennt, wobei die Zeit dann als Maß der Bewegungen im Raum dient. Die Zeit wird der räumlichen Dynamik untergeordnet. Ebenso verhält es sich im zentrierten Bildsystem des Films. Zeit tritt hier nicht mehr direkt zu Tage als universelle Variation, d.h. in Gestalt von tanzenden Molekülen oder Lichtfiguren, sondern leitet sich ab aus der motorischen Bewegung von Körpern im Raum. Sie wird nur noch indirekt repräsentiert, vermittelt durch Raumbewegungen und ihren Verkettungen. Das zentrierte System „läßt nur indirekt eine Repräsentation der Zeit zu, nämlich durch Vermittlung der Montage als organische Zusammensetzung der relativen Bewegung. (Deleuze 1999: 60). Während das Wirken der Dauer im a-zentrischen System unmittelbar zur Darstellung kommt, enthält das zentrierte System ihre abgeleitete Form: die verräumlichte homogene Zeit. Sie bildet die temporale Standardfigur filmischer Zeitinszenierung. Ihre Funktionsund Wirkungsweise sind Gegenstand des anschließenden Abstechers in Hollywoods Erzählkino.
7.4 Zwischenblende: homogene Zeitinszenierung im Erzählkino Das populäre Erzählkino wird einer eingehenderen Betrachtung unterzogen, weil es die Zeitlichkeit des zentrierten Bildsystems verdeutlicht und sowohl bei der nachfolgenden Bestimmung des Zeit-Bildes als auch bei der Analyse der Lynchfilme eine hilfreiche Kontrastfolie offeriert. In den narrativen Filmen des Mainstreamkinos, die auf den spezifizierten Bewegungs-Bildern und ihren Kombinationen beruhen, nimmt das zentrierte System konkrete Gestalt an: „Uns dagegen scheint der narrative Charakter lediglich eine Konsequenz der selbst sichtbaren Bilder und ihrer direkten Kombinationen zu sein, niemals aber etwas Gegebenes. Die sogenannte klassische Erzählung leitet sich direkt ab aus der organischen Zusammensetzung der Bewegungs-Bilder (Montage) oder – gemäß den Gesetzen eines sensomotorischen Schemas – aus ihrer Spezifizierung zu Wahrnehmungsbildern, Affektbildern oder Aktionsbildern“ (Deleuze 1999: 43).
Die sensomotorischen Ensembles liefern die Grundbausteine narrativer Filme. Sie evozieren ‚realistische Bewegungsabläufe’, kreieren Ursache-Wirkungs-Ketten und sorgen dafür, dass Bilder zu nachvollziehbaren Handlungsfolgen zusammenfinden. So stiften sie eine Nähe zur menschlichen Wahrnehmungswirklichkeit und bereiten den Boden für eine kausale Entwicklung der Filmstory. Damit arbeiten sensomotorische Schemata den beiden großen Zielen des Erzählkinos zu: Realitätsillusion und kohärente Narration. Von Beginn an haben diese Ziele den Stil von Hollywoods Filmwelten geprägt. Ihre formal-ästhetische
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Struktur wurde von den amerikanischen Filmwissenschaftlern David Bordwell und Kristin Thompson analysiert. Sie haben narrative wie ästhetische Regeln – so auch temporale Darstellungskonventionen – eruiert, die sich in den klassischen Filmen der Studiozeit (1917 – 60) ausgebildet haben und das Blockbuster-Kino bis heute bestimmen (vgl. Bordwell 1985; Bordwell/Staiger/Thompson 1985; Thompson 1988; Thompson 1999). Vor dem Hintergrund der Arbeiten von Bordwell und Thompson lässt sich die Funktion der für das Erzählkino charakteristischen homogenen Zeitgestaltung erhellen. Es lässt sich zeigen, inwiefern die Inszenierung einer homogenen Zeit, die aus den sensomotorischen Bildzusammenschlüssen resultiert, die realistische Wirkung des Films wie auch die Einheit seiner Erzählung stützt.
7.4.1 Homogene Zeitinszenierung und Realitätsillusion Zunächst zur Bedeutung der homogenen Zeitfigur für die Realitätsillusion. Das Erzählkino will sein Publikum mit Geschichten fesseln und in eine aufregende Welt entführen. Damit ihm dies gelingt und der Zuschauer sich orientieren und identifizieren kann, soll die Fiktion möglichst realistisch wirken.42 Sie muss denselben Gesetzen gehorchen, wie die vertraute Erfahrungswirklichkeit (d.h. Berücksichtigung von Naturgesetzen, Kausalität und RaumZeit-Kontinuität). Narrative Filme stiften Realitätsnähe, indem sie alltägliche Prinzipien der Wirklichkeitskonstruktion bestätigen, Perzeptionsgewohnheiten imitieren und Wahrnehmungsplausibilität herstellen. Um die Illusion nicht zu gefährden, wird jeglicher Hinweis darauf vemieden, dass die Diegese ein mit film- und erzähltechnischen Mitteln konstruierter, artifizieller Raum ist: „Hollywood creates an ’invisible’ and ’transparent’ representational regime“ (Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 21). „Concealment of artifice, technicians claim, makes watching the film like viewing reality“ (Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 37). Indem das Erzählkino die Gemachtheit seiner Fiktionen kaschiert, erweckt es den Eindruck, als gebe es objektive Gegebenheiten wieder. Es scheint, als eröffne die Kamera den Blick auf eine unabhängige Wirklichkeit. An dem objektivierenden Darstellungsgestus des Erzählkinos ist nicht zuletzt die homogene Zeitinszenierung beteiligt. Um Realitätstreue zu erzielen, kommt in den klassischen Filmwelten die Zeitbeschreibung zur Anwendung, mit der Wahrnehmungseindrücke für gewöhnlich auch im Alltag organisiert werden: das objektivierte Zeitmuster, das sich aus den Raumbewegungen in der Außenwelt ableitet und Temporalität als lineare Folge von Gegenwarten konzipiert. In diesem Muster gilt die räumliche Dynamik von Körpern als Indiz zeitlicher Progression. Um das Fortschreiten der Zeit authentisch zu gestalten, bemüht sich das Erzählkino um eine kontinuierliche Darbietung des außenweltlichen Geschehens. In der Fertigkeit, Bewegungen in ihrem Ablauf sichtbar zu machen und so auch die temporale Dimension der Realität einzufangen, wurzelt Kracauer und Bazin zufolge die realistische Kraft des Mediums. So wie das Subjekt die Welt nicht außerhalb der Zeit 42 Unter (filmischem) Realismus ist nicht die mimetische Repräsentation einer gegebenen Wirklichkeit oder Wahrheit zu verstehen. Die Wirklichkeit selber ist ein Resultat soziokultureller Prozesse und medialer Beschreibungen, d.h. sie ist immer schon eine konstruierte. Film imitiert keine natürliche Realität, sondern ein Konstrukt. Er erscheint dann realistisch, wenn seine Darstellungsweise mit den derzeitigen gesellschaftlichen und medialen Standards der Realitätskonstruktion übereinstimmen. „Our ideas about reality are not direct, natural knowledge of the world, but are culturally determined in various ways. (...) realistic motivation is an appeal to ideas about reality, rather than an imitation of reality as such” (Thompson 1988 :17).
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wahrnehmen kann, trägt auch der narrative Film dem unaufhaltsamen Zeitfluss Rechnung. Er schert nicht aus ihm aus oder friert ihn ein, sondern lässt einen Moment auf den anderen folgen. Dem homogenen Schema gemäß reiht er Einstellungen aneinander und weist ihnen einen Platz auf dem Zeitpfeil zu. Kurz gesagt: so wie wir das homogene Zeitschema auf die bewegliche Wirklichkeit anwenden, um ihre Aspekte zu sortieren und nacheinander anzuordnen, verbindet auch das Erzählkino seine Bewegungs-Bilder zu einer kontinuierlichen, linear-chronologischen Progression. Im Erzählkino tickt die objektivierte, homogene Zeit, die wir der Außenwelt unterbreiten und mit der wir im Alltag operieren. An diesem idealen Konstrukt orientieren sich narrative Filme, um die angestrebte Realitätsillusion zu stabilisieren – Bewegungskontinuität, Linearität und Progression der Zeit haben sich als realistische Darstellungskonvention in Hollywoods populärem Erzählkino durchgesetzt.
7.4.2 Homogene Zeitinszenierung und Sinnkohärenz der Erzählung Die homogene Zeitfigur unterstützt jedoch nicht nur die kinematographische Inszenierung objektiver Erfahrungswirklichkeit, sondern auch das zweite Hauptziel: die Sinnkohärenz der Filmerzählung. Um das Publikum in den Bann einer Filmstory zu ziehen, muss es nachvollziehen können, warum etwas passiert ist, sowie Hypothesen hinsichtlich der weiteren Entwicklung aufstellen können – es sollte sich ein Kausalzusammenhang der Ereignisse herauskristallisieren. Entsprechend wird in einem klassischen Hollywoodfilm jedes Ereignis, jede Wendung, jedes Detail kausal motiviert. Die verschiedenen Erzählstränge bilden durchgängige Ursache-Wirkungsketten, in denen jede Handlung eine weitere initiiert. Die einzelnen Handlungsstränge wiederum werden ebenfalls kausal miteinander verknüpft. In einem kausal durchkomponierten Erzählfilm beziehen sich alle Teile des Geschehens aufeinander, werden sämtliche Fäden aufgenommen und schlüssig miteinander verwoben. Es verbleiben weder lose Enden noch offene Fragen. Narrative Filme führen in ihrem Verlauf zu einer Zunahme von Sinnkohärenz und Eindeutigkeit; Kausalität ist ihr oberstes Prinzip. Das homogene Zeitdesign bildet das Fundament einer kausal-schlüssigen Erzählung. Damit sich die Folge von Ursache und Wirkung ungehindert abrollen kann, muss die Zeit kontinuierlich und linear-chronologisch ablaufen. Wenn sich eine Begebenheit zeitlich nicht situieren lässt, wenn nicht mehr klar ist, was vorher und was nachher, was Vergangenheit, was Gegenwart und was Zukunft ist, wie soll dann erkennbar werden, was Ursache und was Wirkung ist? Um Kausalität zu sichern, dominiert in Hollywoods Erzählkino die homogene Zeitbeschreibung. Sie gewährleistet die folgerichtige Entwicklung der Story. Zwar sind Abweichungen von der Chronologie möglich – häufig in Form von Flashbacks, welche die Erinnerungen einer Figur veranschaulichen -, doch derartige Einlassungen individuellen Zeiterlebens werden deutlich markiert (z.B. durch eine andere Farbqualität, Auf- / Abblenden oder Zeitlupeneffekte) und entfachen keine filmübergreifende Dynamik. Meistens schreitet die Zeit auch innerhalb der Rückblenden linear voran. Werden mentale Prozesse durch assoziative Bildverbindungen nachempfunden, bleiben diese auf einzelne Sequenzen begrenzt. Die Einblendungen einer subjektiven Zeitdynamik lassen sich problemlos in die Chronologie der Ereignisse einreihen. Sie werden von der homogenen Zeitdeskription gleichsam gebändigt und vereinnahmt, so dass ein schlüssiger Sinnzusammenhang garantiert bleibt. Im Erzählkino wird der chronologische Fortschritt der Zeit in eine lineare Narration übersetzt – in ihr gelangt eine einsträngige geschichtliche Zeitlichkeit zum Ausdruck.
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Die homogene Zeit fungiert als Vehikel der narrativen Logik und sorgt dafür, dass die Geschichte realitätsnah und kausallogisch voranschreiten kann. Neben dem temporalen Arrangement der Einstellungen und Sequenzen wird auch ihre Zeitdauer – die Länge der gezeigten Passagen – in den Dienst von Realitätsillusion und sinnkohärenter Story gestellt. So wird das Tempo verfilmter Bewegungsvorgänge an ihre entsprechende Alltagserfahrung angepasst. Im Sinne der Realitätsillusion beanspruchen sie eine vergleichbare Zeitspanne wie in der außerfilmischen Realität. Filmtechnische Verfahren zur temporalen Beschleunigung (Zeitraffer) oder Dehnung (Zeitlupe, Bullet-Time, crosscutting, overlapping cutting) erschüttern die Wirklichkeitsimpression. Sie denaturalisieren den lebensecht wirkenden Zeitlauf und lenken das Augenmerk auf seine mediale Konstruiertheit. Besonders realistisch hingegen würde ein Film wirken, der durchgängig in Echtzeit aufgenommen ist, in dem also die Erzählzeit (Dauer des Erzählvorgangs, z.B. 120 min) mit der erzählten Zeit (Zeitspanne, über die der Film berichtet, z.B. zwei Wochen) übereinstimmt.43 In der Regel ist die erzählte Zeit größer als die Erzählzeit. Eine durch narrative Strategien, d.h. durch Auslassungen bzw. Ellipsen, erzielte Zeitraffung ist der Normalfall und erforderlich für die Gestaltung eines spannenden Plots. Unter Berücksichtigung der Chronologie spart der narrative Film Zeitspannen aus. Es werden lediglich die Ausschnitte der Geschichte präsentiert, die eine narrative Relevanz besitzen – die dargestellte Zeit ist Handlungszeit. Jede Szene, Sequenz oder Einstellung sollte die Erzählung vorantreiben: „‘No scene (shot) which does not advance the action can be allowed to have a place in the script. Every scene must be in its proper place’” (Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 196). Ob ein Ereignis gezeigt wird und wie lange, hängt von der Bedeutung ab, die ihm in der Narration zukommt. Verweilt der Film bei Sequenzen, die für die Handlung belanglos und rein deskriptiver Natur sind, zieht die Zeit die Aufmerksamkeit auf sich selbst: „(...) when the narration dwells upon ‘dramatically meaningless intervals’, duration comes forward as a system in the film and vies with causality for prominence. (...) Time in the classical film is a vehicle for causality, not a process to be investigated on its own”(Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 47). Ausgedehnte deskriptive Zeitspannen widersprechen der narrativen Logik, filmtechnische Manipulationen der Zeitdauer unterlaufen den Realismus. In beiden Fällen spielt sich die Zeit selbst unerlaubt in den Vordergrund. Im Sinne von Realitätsillusion und kohärenter Story handelt es sich bei den ausgewählten Zeitblöcken, welche das Erzählkino zur Darstellung bringt, um Handlungszeit in Echtzeit.
7.4.3 Homogene Zeitinszenierung: zur Bedeutung der Montage Die Diskussion von Zeitordnung und Zeitdauer soll durch einen Blick auf das filmische Mittel komplettiert werden, welches beide Aspekte modelliert: die Montage. Sie bildet das zeitstrukturierende Mittel des Films schlechthin, denn sie figuriert sowohl seine Rhythmik als auch seine temporale Form. Von ihr hängen Dauer und Arrangement der Einstellungen ab. Im Gegensatz zu den frühen Stummfilmen handelt es sich bei den heutigen Produktionen um multiple-shot-Filme, die sich aus zahlreichen Kameraeinstellungen zusammensetzen. Sie stellen Collagen aus diversen Raum-Zeit-Fragmenten dar. Die Montageart bestimmt, ob sich diese zu einem mosaikartigen, netzähnlichen oder zyklischen Zeitdesign zusammenfinden oder den Anschein eines linear-kontinuierlichen Progresses hervorrufen. 43
So z.B. in dem TV-Format der Echtzeitserie wie 24.
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Auf letzteren zielt die vorherrschende Montageform des Erzählkinos: die narrative Montage. Sie dient einem reibungslosen Ablauf der Erzählung und bemüht sich darum raumzeitliche Kontinuität und Handlungskontinuität zu wahren. So soll der Schnitt weder Bewegungen unterbrechen noch mit der Handlung kollidieren. Die Montage gehorcht, wie Deleuze es ausdrücken würde, dem sensomotorischen Gesetz. Sie folgt den Bewegungen, Blicken und Aktionen der Figuren, respektiert Spannungsbögen und setzt Schnitte erst nach Handlungshöhepunkten. Angestrebt wird ein ‚unsichtbarer Schnitt’, der vom Betrachter nicht bewusst wahrgenommen wird. Aus diesem Grund müssen Einstellungen, Sequenzen und Szenen möglichst nahtlos miteinander verklammert werden. Sowohl auf Bild- als auch auf Storyebene versucht man Schnitte zu überbrücken. So sorgen auf der ersteren ‚visuelle Brückenköpfe’ für kontinuierliche Bildanschlüsse: Bewegungsvorgänge werden in der nächsten Einstellung fortgesetzt (match on action); Blicke, die aus der Einstellung hinausgehen, werden in der folgenden Einstellung erwidert (shot / reverse shot, eyeline matches); weisen Gesten von Figuren auf einen Gegenstand hin, wird er in der nachfolgenden Einstellung gezeigt etc. Auf der Ebene der Story trägt die kausale Verknüpfung von Szenen oder Sequenzen – die sogenannte scene-by-scene structure – zum Eindruck temporaler Kontinuität bei (vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 63f.). Die Kausalität der Geschichte, welche sich auf die Chronologie der Zeit gründet, verhindert ihrerseits, dass die Blöcke des Films auseinanderfallen. „Tight causality yields not only consequence but continuity, making the film progress ‘smoothely, easily, with no jars, no waits, no delays’” (Bordwell/ Staiger/ Thompson 1985: 18). Aus der Gesamtheit der Montagevorschriften, die eine schlüssige, ungebrochene Entwicklung des Geschehens befördern, ist das continuity system hervorgegangen. Es gebietet die unmerkliche Montage der Bilder, so dass sie zu sensomotorischen Ensembles verschmelzen und die Verkettung der Einstellungen vom Zuschauer als natürliche Dynamik empfunden wird. Das continuity system bildet die filmtechnische Übersetzung der homogenen Zeit – es beinhaltet das spezifische homogene Zeitvokabular des Films, dem sich die formal-ästhetische Gestalt des Erzählkinos in nicht unbeträchtlichem Ausmaß verdankt.
7.4.4 Homogene Zeitinszenierung: Effekte Als prominentes Beispiel für ein zentriertes Bildsystem zeichnet sich das klassische narrative Kino Hollywoods durch die indirekte Repräsentation von Zeit aus. Es setzt die objektivierte Zeit in Szene, die an der Motorik von Körpern bzw. dem Handlungsgeschehen in der Außenwelt festgemacht wird. Das temporale Arrangement im Erzählkino orientiert sich an der Form der äußeren Sukzession, die als Nacheinander von Jetztpunkten beschrieben wird. Die temporale Beziehung zwischen Begebenheiten wird in ihrer einfachen, d.h. linearen Aufeinanderfolge erfasst: Ereignisse werden als gegenwärtig dargestellt und reihen sich chronologisch aneinander, so dass sie ein bruchloses oder leicht rekonstruierbares Kontinuum bilden. Die auf der Leinwand sichtbaren Aktionen werden mit der Gegenwart in der Diegese gleichgesetzt – die fiktive Welt existiert im Modus des Präsens. Das Erzählkino fokussiert die Gegenwart, unterwirft die Zeitdimensionen der Mechanik des Nacheinanders und entwickelt sich suspense-gerecht in Richtung Zukunft. Der Rückgriff auf die im Alltag verbreitete Idee einer linear fortschreitenden Zeit garantiert die Übereinstimmung von filmischer und empirischer Welt und damit den Realitätseffekt sowie eine schlüssige Narrati-
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on. Dem Zuschauer wird temporale Orientierung ermöglicht und eine Schiene offeriert, entlang der er Sinnbezüge herstellen kann – die Zeitgerade fungiert als Koordinate der Bedeutungskonstruktion. Die homogene Zeitinszenierung ist unabdingbar für das Verständnis des Filmgeschehens und festigt den großen Raum von Identifikation und Projektion – den Raum von Fantasie, Sehnsucht und Abenteuerlust, den Hollywood eröffnen will. Das Bild, das Hollywood von der Zeit entwirft, ist jedoch ein undifferenziertes. So tritt sie weder als Produkt einer medialen Inszenierung zu Tage, noch gibt sich Film als Medium der Inszenierung zu erkennen, das Zeit auf vielfältige Weise modulieren und modellieren kann. Stattdessen wird Temporalität limitiert auf ihr homogenes Design und so leicht der Aufmerksamkeit entzogen.
1. Zeitaufzeichnung statt temporaler Inszenierung: das Erzählkino verschleiert den Konstruktcharakter der Zeit Erzählfilme möchten ihr Publikum mit einer perfekten Wirklichkeitsimpression verzaubern. Daher nehmen sie sich selbst als Medium sehr zurück und setzen film- und erzähltechnische Mittel äußerst dezent ein. Die Künstlichkeit der Filmwelt wird durch formalästhetische Strukturen verdeckt. Das klassische narrative Kino reflektiert weder die Gemachtheit seiner Fiktionen noch thematisiert es den Konstruktcharakter der außerfilmischen Realität, welche ebenfalls ein Produkt medialer, kultureller, sozialer und individueller Deskriptionen ist. Erzählfilme verheimlichen ihre eigene Konstruiertheit wie die Konstruiertheit von Wirklichkeit generell. In der Folge erscheint das Dargestellte als naturgegeben und wird dem historischen Wandel entzogen. Selbst wenn das Erzählkino Geschichtlichkeit auf inhaltlicher Ebene verhandelt wie z.B. in Monumental- und Science-Fiction-Filmen, leistet es auf stilistischer Ebene einer Entzeitlichung des Dargestellten Vorschub. Auf ihr wird das Gemachte naturalisiert, objektiviert und zu einer überzeitlichen Wahrheit verfestigt. Dieser objektivierende Gestus wirkt sich auch auf die Zeitrepräsentation aus: durch die Kaschierung zeitgestaltender Strategien gerät der linear-kontinuierliche Zeitlauf nicht als etwas durch das Medium Kreiertes in den Blick, sondern als natürliche Gegebenheit, die der Film lediglich aufzeichnet. So wird einerseits der mediale Konstruktcharakter von Zeit verschleiert und die homogene Zeit naturalisiert. Das homogene Schema wird der temporalen Veränderung enthoben, so dass es zur ahistorischen Grundstruktur – zum Wesen – der Zeit avanciert. Andererseits gibt das Erzählkino vor, Film sei ein neutrales Medium, das Zeit lediglich aufzeichnet und wiedergibt, nicht aber bearbeitet, formt und figuriert. Damit wird ironischerweise gerade auf dem Gebiet des Films die maßgebliche Stoßrichtung des Konzepts filmischer Zeitinszenierung unterminiert: die Exposition der Medienabhängigkeit von Zeit und die daraus resultierende Pluralität temporaler Beschreibungsmöglichkeiten. Das Realismusgebot des Erzählkinos legt die Zeit auf ihr homogenes Format fest und naturalisiert sie. Es unterschlägt Zeit als Medieneffekt und verpflichtet den Film zur Selbstbeschränkung seines zeitfigurierenden Potenzials. Seine Möglichkeiten werden auf eine vermeintliche Zeitwiedergabe reduziert. Damit wendet sich im Erzählkino die filmische Zeitinszenierung gleichsam gegen sich selbst.
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2. Zeit-Ordnung und Zeit-Anästhetik: die Zeit als unsichtbares Fundament der narrativen Logik Das Erzählkino visiert primär eine kausal durchkomponierte Narration an. Die narrative Logik verkörpert die Dominante, welcher sich Temporalität in all ihren Aspekten – in Ordnung, Richtung und Dauer – unterzuordnen hat (vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 12). Im Erzählkino tritt die Zeit nicht autonom auf, sondern verläuft im Auftrag der Filmstory. So wie die Zeitdauer von Einstellungen und Sequenzen sich nach ihrer narrativen Relevanz richtet, dient die chronologisch-progressive Ordnung der Momente einer linearen Handlungsentwicklung. Die Zeitinszenierung im Erzählkino motiviert eine durchgängige Ursache-Wirkungs-Verkettung und mit ihr die Kalkulierbarkeit und Vorhersagbarkeit des Geschehens. Sie dämmt den Zufall ein und verhindert den plötzlichen Einbruch des Unerwarteten. Die Zeitdarstellung narrativer Filme führt zu dem, was Lyotard als Zähmung des Ereignisses gefasst hat: „(...) die Entfesselung des Jetzt (wird) / durch die Rekurrenz des Vorher/ Nachher gezähmt. Der Operator der Diachronie oder Sukzessivität wird nicht wieder infrage gestellt, selbst wenn er moduliert ist. Er »verschlingt« das Ereignis (...). Die Erzählungen stoßen das Ereignis an die Grenzen zurück“ (Lyotard 1989: 252). Narrative Filme entschärfen die Ereignisqualität des Moments und verschließen sich somit jener schöpferischen Dynamik der Zeit, die das filmische Medium nach Deleuze zum Ausdruck zu bringen vermag. Im Film kann potenziell jeder beliebige Moment zum Punkt werden, an dem kontinuierliche Bewegungsabläufe, chronologische Entwicklungslinien und Kausalzusammenhänge aufbrechen und überraschende Möglichkeiten erblühen – jeder Moment kann unverhoffte Entwicklungen zeitigen. Jedoch nicht im Erzählkino. Hier verselbständigt sich Temporalität nicht, sondern formiert sich in Abhängigkeit von den Kausalgesetzen der Narration: „(...) Time in the classical film is a vehicle for causality, not a process to be investigated on its own” (Bordwell/Staiger/Thompson 1985: 47f.). Dem klassischen narrativen Film geht es nicht um die ästhetische oder intellektuelle Exploration der vielfältigen Facetten von Temporalität, sondern er verwendet sie als Ordnungsmuster, welches das linear-logische Arrangement von Handlungselementen ermöglicht. Mit Bergson kann man sagen, dass die Zeit im Erzählkino ihre Qualität abstreift, d.h. ihre Veränderlichkeit und produktive Kraft einbüßt: „(D)a sie aber ohne Qualität ist, ein bloßer Schauplatz der Veränderung, wird sie zu einem unbeweglichen Milieu“ (Bergson 2000: 202). Das Erzählkino gibt Zeit nicht zu erkennen als Macht, welche Ereignisse zeitigt. Stattdessen macht es sich die verräumlichte Zeit zu nutze, die ihre Veränderlichkeit und Entwicklungskraft verloren hat und zu einem Raster erstarrt ist, mit dessen Hilfe sich das Geschehen sinnvoll und übersichtlich sortieren lässt. Somit erfüllt die homogene Zeitinszenierung im Erzählkino denselben Zweck wie im alltäglichen Gebrauch. Hier wie da erscheint Zeit nicht länger ereignishaft, sondern tritt als Schauplatz der Ereignisse in den Hintergrund – im Fall des Erzählkinos in den Hintergrund der erzählten Geschichte. Narrative Filme kanalisieren Chronologie in eine durchgängige Ursache-Wirkungskette und übersetzen den homogenen Zeitpfeil in eine geradlinige Erzählstruktur. Die Zeit arbeitet der Narration zu und geht in ihr auf, so dass sie sich der sinnlichen Wahrnehmung wie der bewussten Reflexion entzieht. Das temporale Erleben wird eingeebnet und Zeit gerät zum unsichtbaren Fundament der Filmstory – statt einer Zeitästhetik bewirkt die temporale Inszenierung des Erzählkinos eine Zeitanästhetik.
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Drei Tendenzen kennzeichnen die Zeitinszenierung im klassisch komponierten Erzählkino: sie orientiert sich am Begriff der homogenen Zeit, verhüllt ihren medialen Konstruktcharakter und bewirkt eine Zeitanästehtik. Temporalität im Erzählkino dient als wirkungsmächtige aber unsichtbare Ordnungsstruktur. So ist sie zwar von entscheidender Bedeutung für Realitätsillusion und Sinnkohärenz, doch wird sie selbst nicht der Reflexion und dem sinnlichen Erleben preisgegeben – eine bewusste Zeitwahrnehmung wird im Erzählkino unterbunden. Aus diesem Grund versagen sich narrative Filme temporale Experimente und schöpfen die zeitästhetischen Möglichkeiten des Mediums nicht aus. Klassisches Erzählkino ist kein Zeit-Kino. Einem solchen wendet sich Deleuze mit dem zweiten Teil seiner Kinostudie zu. In dem Band Das Zeit-Bild widmet er sich Filmen, die mit Hollywoods Realitätsillusion brechen und Zeit in ein subjektives Licht tauchen – Filmen, in denen sich die Zeit von der Narration emanzipiert und selbst zum Thema wird.
8 Auf der virtuellen Seite der Zeit: das Zeit-Bild
Das Zeit-Bild schildert eine Suche nach Temporalität im reinen Zustand. Auch im zweiten Band seiner Kinostudie folgt Deleuze den Spuren Bergsons und fahndet auf dem Terrain des Films nach einer vom Raum unabhängigen Deskription der Zeit: „Dies ist Sinn und Richtung (sens) des cinéma direct, ja geradezu des Kinos überhaupt: die direkte Präsentation der Zeit zu erreichen“ (Deleuze 1999: 57; Hervorhebung im Original). Deleuze durchforscht die Filmgeschichte nach einer Ästhetik der unverfälschten Dauer. Dabei stößt er vorwiegend im europäischen Avantgardekino (italienischer Neorealismus, Nouvelle Vague) auf Inszenierungsweisen, die Zeitlichkeit nicht wie das klassische Erzählkino von motorischen Bewegungen in der Außenwelt ableiten, sondern sie direkt zur Darstellung bringen. Die homogene Zeitgestalt wird verabschiedet und eine Temporalität jenseits des Raumes repräsentiert, wie sie sich in der Innenwelt des Subjekts auftut. Anstatt der Zeiterfahrung, die sich einstellt, wenn man nach außen in die Welt schaut, verhilft das cinéma direct einer Zeitdynamik zum Ausdruck, die sich allein der nach innen gerichteten Kontemplation offenbart. Es dringt in eine Zeitlichkeit ein, die nicht den Sinnen zugänglich, sondern dem Denken vorbehalten ist. Bevor es um das Zeit-Bild und seine Effekte geht, sollen Deleuzes Intentionen und Ziele im zweiten Part des Kinowerks verdeutlicht werden. Zum besseren Verständnis wird nochmals die temporale Schlüsselfigur der Zeitspaltung eingeblendet und vertieft.
8.1 Tendenzen und Ziele in ‚Das Zeit-Bild’ Im Ausgang von Bergsons Gleichursprünglichkeitsthese – der zeitgleichen Genese von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit – begreift auch Deleuze „(...) die Zeit in ihrer doppelten Bewegung, die darin besteht, die Gegenwarten vorübergehen zu lassen, die eine Gegenwart durch die andere zu ersetzen, um sich der Zukunft hinzuwenden; aber genauso besteht sie darin, die Gesamtheit der Vergangenheit zu bewahren, sie in eine dunkle Tiefe fallen zu lassen“ (Deleuze 1999: 119).
Temporalität ist permanente Gabelung in Aktualität und Virtualität. Sie tritt aus einer Spaltung hervor und entfaltet eine aktuelle Seite – den Wirkungszusammenhang der Materie – und eine virtuelle Seite. Auf ihr sammeln sich all diejenigen Möglichkeiten an, die sich nicht aktualisiert, d.h. nicht in die Materie eingeschrieben haben. So treibt die Zeit zwei koexistente Wirklichkeitsordnungen aus sich heraus: das Aktuelle und das Virtuelle. Beziehen sich Bewegungs-Bilder und ihre sensomotorischen Verknüpfungen auf die aktuellen Bewegungen der Materie, deuten die Zeit-Bilder und ihre Kombinationen auf die Domäne des Virtuellen hin. Sie verweisen auf die unendlich vielen Aspekte und Entwicklungslinien, die sich nicht materialisieren, sondern im Zustand purer Potenzialität im Bereich des Denkbaren verbleiben. Das Kino des Zeit-Bildes wendet sich von der Materie zur Virtualität, von
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der Außen- zur Innenwelt und von der verräumlichten zur reinen Zeit – in ihm vollzieht sich ein Wechsel von der Motorik der Körper zur Dynamik der Gedanken, von sensomotorischen zu mentalen Beziehungen und von physischen zu psychischen Prozessen. ZeitBilder erschließen die Zeitlichkeit des Virtuellen und des Denkens. In dieser Hinsicht verlangen drei Aspekte eine nähere Erläuterung: 1. 2. 3.
Wie ist die temporale Fasson des Virtuellen beschaffen? In welchen Zusammenhang stellt Deleuze Zeit und Denken? Worin liegt das zeittheoretische Potenzial des Films?
1. Die temporale Fasson des Virtuellen Im ersten Kinoband hat Deleuze eine Komplexitätsreduktion der Dauer nachgezeichnet. Ihre aktuelle Wirkung, d.h. die universelle Variation der Materie wird von der menschlichen Wahrnehmung in einen empirischen Zeitlauf umgewandelt. Das Aktuelle wird kontrahiert zu einer homogenen Sukzession von Gegenwarten. Das Virtuelle jedoch wird von dieser temporalen Logik nicht erfasst. Da es sich nicht in sinnlich-konkreten Gegenwarten verkörpert, mündet es nicht in die Sukzessionsordnung des Aktuellen ein. Im Kontrast zum Aktuellen vergeht das Virtuelle nicht. Es tritt nicht aus sich heraus, sondern erhält sich. Mit jeder unverbrauchten Möglichkeit wächst die Virtualität an und breitet sich in einer endlosen Simultanzeit aus. In ihr kann jeder Moment mit jedem Beziehungen unterhalten, so dass das Virtuelle als ein expandierendes Feld temporaler Bezüge begreifbar wird – auf ihm vollzieht sich die Dauer als Transformation eines offenen relationalen Gefüges. Die Dauer teilt sich in Aktualität und Virtualität, doch während ihre ausufernde Dynamik auf der Seite der Materie von der aktuellen Wahrnehmung limitiert und nur als Sukzession ersichtlich wird, gelangt sie auf der Seite des Virtuellen zur vollen Entfaltung. Was der aktuellen Wahrnehmung auf der Ebene der Materie verborgen bleibt, offenbart sich dem Denken, wenn es sich dem Virtuellen zuwendet: das originäre Wirken der Dauer. Deleuze spricht die temporale Form von Aktualität und Virtualität auch als Chronos und Äon an und akzentuiert so ihre existenzielle Bedeutung (vgl. Schaub 2003a). Als Aufeinanderfolge sinnlich-fassbarer Gegenwarten regiert Chronos die Dimension des Aktuellen. Er entkleidet die Momente ihrer Potenzialität und identifiziert sie mit ihrer spezifischen Aktualisierung. So wie die Gegenwart auf ihre materielle Realisierung begrenzt wird, wird zeitliche Dynamik auf das beschränkt, was wirklich geschah, geschieht und geschehen wird. Die Chronos- und chronologiefixierte Temporalität ist die Zeit, die sich in die Materie einschreibt. Es handelt sich um die Zeit der Körper, deren unerbittliches Vergehen mit Vergänglichkeit und Tod assoziiert ist. Äon hingegen referiert auf eine nonchronologische Temporalität jenseits der aktuellen Verkörperungen. Im Kontrast zum Chronos mangelt es ihr an Gegenwart, denn sie wird gestiftet durch virtuelle Momente, die keine materielle Gestalt angenommen haben oder annehmen werden – durch Momente, die niemals gegenwärtig waren oder sein werden. In der äonischen Zeit akkumulieren sich nicht-realisierte Möglichkeiten und unterbundene zukünftige Entwicklungen. Eine unermessliche Vergangenheit, die nicht stattgefunden hat, und eine grenzenlose Zukunft, die vielleicht nie eintreten wird, schließen sich zusammen – virtuelle Vergangenheit und virtuelle Zukunft bilden ein eigenständiges Kontinuum aus: die äonische „Vergangenheits-Zukunft“ (Schaub 2003a:
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130). Sie stellt die achronologische, gegenwartslose Zeitlichkeit unausgeschöpfter Möglichkeiten dar – die unendliche Simultanzeit dessen, was denkbar ist. Im Anschluss an Bergson definiert Deleuze Zeit als Einheit von Aktualität und Virtualität. Sie differenziert sich aus in eine Aufeinanderfolge aktueller Gegenwarten und in eine Akkumulation virtueller Momente. Allerdings arbeitet Deleuze prononcierter als Bergson die temporale Verfassung beider Dimensionen heraus. Er buchstabiert die Koexistenz von Aktualität und Virtualität als Koexistenz zweier unterschiedlicher zeitlicher Vollzüge aus: als Einheit von Aktualität und Virtualität zeichnet sich Zeit durch die paradoxe Verschränkung von Sukzession und Simultaneität aus. Die Zeit ist eine Doppelfigur, Chronos und Äon zugleich. Sie bedingt sowohl die Vergänglichkeit des Aktuellen als auch die Unerschöpflichkeit des Denkmöglichen.
2. Zeit und Denken Deleuzes Beschäftigung mit der Zeit ist nicht selbstgenügsam, sondern berührt den Kern der Philosophie: das Denken. Zeit ist der Raum des Denkens. Denken findet in der Zeit statt und wird durch temporale Vollzüge beeinflusst. Mit der Idee von der Zeit verbindet sich bei Deleuze eine bestimmte Auffassung vom Denken selbst. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt die Stoßrichtung in Das Zeit-Bild – die Aufwertung des Simultanen gegenüber dem Sukzessiven – ihren Sinn: Deleuze erachtet die Simultanzeit des Virtuellen als Zone, in der sich Denken ungehindert und produktiv ereignen kann. Die Sukzessionslogik hingegen engt das Denken ein, weil sie die Realität des Virtuellen verkennt. Sie stilisiert die Gegenwart zur einzig realen, da sinnlich beglaubigten Zeitdimension, während Vergangenheit und Zukunft bewusstseinserzeugte Zeiten darstellen. Sie werden abgewertet zum nicht-mehroder noch-nicht-Gegenwärtigen. Eingespannt in die irreversible Aufeinanderfolge der Momente wird ihnen ein unabhängiges Eigenleben abgesprochen. So verneint ein sukzessionslogisches Verständnis beispielsweise, dass ein Ereignis nur in der Vergangenheit existiert, ohne jemals gegenwärtig oder zukünftig gewesen zu sein. Temporale Modi existieren nicht getrennt und unabhängig voneinander. Ebenso undenkbar scheint es, dass ein Ereignis vergangen, gegenwärtig und zukünftig zugleich ist. Die Sukzessionslogik schließt sowohl die Autonomisierung der Zeitmodi als auch ihre Gleichzeitigkeit kategorisch aus. Sie hält das Denken dazu an, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als logischen Widerspruch zu verwerfen. Ferner fokussiert die gegenwartsdominierte, invariante Abfolge der Modi das Denken auf den Wirklichkeitsbereich des Aktuellen und leitet es in lineare, folgerichtige Bahnen. Die Sukzessionsordnung begünstigt eine kausale, diskursive Logik. Gegenüber dem Ausschlusscharakter der Sukzession bekräftigt Deleuze die nonchronologische Temporalität des Virtuellen. Sie reguliert das Denken nicht durch die Struktur des Nacheinanders, sondern unterbreitet ihm ein Gleichzeitigkeitsfeld, auf dem es sich in geradezu anarchischer Freiheit entfalten kann – und muss. Die Simultaneität konfrontiert das Denken mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, so dass vertraute Vorstellungen ad acta gelegt und neue Wege eingeschlagen werden müssen. Sie schärft den Blick für das Mögliche, zwingt zu einem Denken in Paradoxa und regt neuartige Begriffsbildungen an. Zeitliche Vollzüge konstituieren Felder, auf denen sich das Denken in unterschiedlicher Weise organisiert. Die Sukzessionslogik sichert Nachvollziehbarkeit und Verstehen. Sie bereitet den Boden für eine geordnete, logische Argumentation, jedoch um den Preis, den
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offenen Horizont des Denkens zu limitieren. Auf dem Simultanfeld des Virtuellen hingegen verlaufen Gedanken in ungewohnten Bahnen – ebenso unsystematisch wie kreativ und experimentell. Deleuzes Einsatz für die Simultanzeit des Virtuellen erklärt sich vor dem Hintergrund seiner Auffassung vom Denken. Im Gegensatz zum traditionellen Bild des Denkens nimmt er weder einen Logos an, der dem Denken vorausliegt und es absichert, noch dass das Denken der willentlichen Steuerung des Subjekts unterliegt. Deleuze begreift das Denken als Ereignis. Es bedarf einer fundamentalen Begegnung, die den Denkakt initiiert: „Das Denken ist nichts ohne irgendetwas, das es zu denken zwingt, das dem Denken Gewalt antut. Wichtiger als der Gedanke ist das, >was zu denken gibt<“ (Deleuze 1993c). >Was zu denken gibt< ist das temporale Gefüge des Virtuellen. In ihm prallen heterogene Momente aufeinander, die gedanklichen Neuverbindungen forcieren und innovative Ideen hervorbringen. Die Virtualität repräsentiert ein kontingentes Ereignisfeld, auf dem schöpferisches Denken gedeiht – und genau deswegen bestärkt Deleuze sie gegenüber der Sukzessionslogik des Aktuellen. Deleuze will die Zeitlichkeit des Virtuellen entfesseln, um das Ereignis des Denkens zu retten.44 Aus diesem Impetus resultiert die leitende Fragestellung in Das Zeit-Bild: Wie kann Film den Durchgang zur Virtualität öffnen und das Ereignis des Denkens entfachen?
3. Das zeittheoretische Potenzial des Films Die Bildlichkeit des Films ist der Schlüssel zur Virtualität. Die temporale Verfassung von Bildern widersetzt sich sowohl der Sukzessionsordnung als auch der Modalzeitlichkeit. Während erstere Momente nur nacheinander erfassen kann, veranschaulicht das Bild sie auf einen Schlag. Es vermag Ungleichzeitiges simultan zu zeigen und unterläuft so Ausschlusslogik wie Aufeinanderfolge der Zeitmodi: „Verschiedene Zeitlichkeiten im Medium des Bildes löschen sich nicht gegenseitig aus, so wie sie innerhalb der Sprache unsinnig würden; sondern variieren, überlagern sich, konkurrieren miteinander“ (Schaub 2003b: 231). Im Unterschied zur Sukzession sind Bilder nicht auf eine akkurate Unterscheidung zeitlicher Modi angewiesen. Indizieren modalzeitliche Attribuierungen nicht präsente Zeiten, gibt es im Bild kein Nacheinander, welches dieses erforderlich machte. Mehr noch: durch die Gleichzeitigkeit im Bereich des Sichtbaren wird eine Trennung von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit oder Zukunft unmöglich. Der Darstellungsmodus des Bildes ist ein präsentischer, d.h. Momente werden automatisch vergegenwärtigt, sobald sie erfasst werden. Damit kommt virtuellen Momenten im Bild dieselbe optische Präsenz zu wie aktuellen Momenten – sie lassen sich im Bild nicht auseinanderhalten. Bilderzeit ist Simultanzeit, in der alle Momente gleichermaßen real sind. Damit ebnen Bilder die Hierarchie der Zeitdimensionen ein bzw. machen sie ununterscheidbar. Sie geben einem temporalen Netzwerk Raum, in dem sich die Abgrenzungen der Zeitdimensionen verwischen. Bilder sind von sich aus immer mehrdimensional und oszillieren zwischen Aktualität und Virtualität. 44 Deleuzes Eintreten für die Simultanzeit des Virtuellen sollte nicht vergessen machen, dass sich produktives Denken auf eine Kombination simultaner und sukzessiver Vollzüge gründet: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen inspiriert neue Betrachtungsweisen und Gedankengänge, doch ihre Entfaltung kommt nicht ohne Logik und Systematik aus, sonst verliert sich kreatives Denken im Chaos. Denken sollte offen sein für ungewöhnliche Wege aber ebenso logisch, um sie schlüssig entwickeln zu können.
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Die dem Bild eigene temporale Mehrdeutigkeit wird jedoch von der weit verbreiteten Ansicht zurückgebunden, das empirisch gegenwärtige Filmbild repräsentiere die Gegenwart innerhalb der Fiktion. Deleuze erhebt Einspruch gegen „(...) die Evidenz, der zufolge das kinematographische Bild sich in der Gegenwart und ausschließlich in der Gegenwart ereignet“ (Deleuze 1999:56). Zwar werden Momente im Bild gegenwärtig, doch „(d)ie Gegenwärtigkeit des Bildes beglaubigt nichts anderes als die eigene Existenz“ (Schaub 2003b: 182; Hervorhebung im Original). Filmbilder bezeugen keine Realzeiten. Der Grund dafür liegt in der Trennung von Aufnahme und Projektion. Zwar sind kinematographische Bilder im Moment ihrer Entstehung an ein spezifisches raumzeitliches Geschehen gebunden, vorgeführt werden können sie aber zu jeder Zeit. Im Augenblick seiner Projektion besitzt das Filmbild keinen aktuell gegebenen Referenzpunkt. Solchermaßen entkoppelt wird es frei, sich auf alle Zeiten – aktuelle, ehemals aktuelle oder virtuelle – zu beziehen. Es zeichnet sich aus durch eine zeitliche Polyvalenz. Die Verpflichtung auf die (diegetische) Gegenwart ist also durch keine genuin temporale Verfassung des kinematographischen Bildes gedeckt. Es ist nicht von Natur aus in der Gegenwart. Diese muss ebenso behauptet werden, wie das, was vergangen oder zukünftig sein soll. Der ins Bild gesetzte Zeitmodus ist immer eine künstliche Zuschreibung – die Festlegung des Filmbildes auf die Gegenwart ein Produkt zeitlicher Inszenierung. Die Identifikation von Filmbild und Gegenwart entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage. Sie ist auch abzulehnen, weil sie die temporale Polyvalenz des Bildes beschneidet. Die homogene Zeitinszenierung des klassischen Erzählkinos beispielsweise setzt Filmbilder mit der Gegenwart der Fiktion gleich und fädelt sie in eine Sukzessionsordnung ein. Dadurch wird sowohl die Komplexität der Zeit als auch die des Films verfehlt. Temporalität geht nicht in Sukzession auf, sondern umfasst in ihrer Ganzheit die Koexistenz von Sukzession und Simultaneität, von Gegenwart und Vergangenheit, von Aktuellem und Virtuellem. Die Fokussierung der Sukzession im Erzählkino verkürzt Temporalität auf ihre aktuelle Dimension. Auch vermittelt sie eine eingeschränkte Idee von der Zeitlichkeit des filmischen Mediums, denn diese zeichnet sich ebenfalls aus durch die Einheit von Sukzession und Simultaneität. Film ist sukzessiv, indem er seine Bilder abspult und Bewegungsabläufe demonstriert, doch entfaltet er in seinen Bildern zugleich eine Simultanzeit, die sich der Sukzession und Modalzeitlichkeit widersetzt. Film vereint in sich zwei temporale Vollzüge und ist damit bestens gerüstet, um auf die paradoxe Verfassung der Zeit anzuspielen. „Die einfache Sukzession affiziert die vorübergehende Gegenwart, aber jede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren. Filmen, was vorher und was nachher kommt ...“ (Deleuze 1999: 57; Hervorhebung im Original).
In Deleuzes Augen ist „(d)as Postulat, Bilder seien in der Gegenwart, (...) fatal wie kaum ein anderes für jegliches Kinoverständnis“ (Deleuze 1999: 59) ... und für jegliches Zeitverständnis. Es verstellt den Blick auf das temporale Teilungsgeschehen und verdunkelt die Zeitlichkeit des Virtuellen. Um der Komplexion von Aktualität und Virtualität gerecht zu werden, müssen Bilder in ihrer temporalen Vieldeutigkeit offen gehalten werden. Die der Bildlichkeit eigene Ununterscheidbarkeit zwischen Aktuellem und Virtuellem muss gewahrt werden, um „(...) Kontakt her(zu)stellen zu jener großen Virtualitätsordnung, deren Aufdeckung sich seine Philosophie verschrieben hat“ (Schaub 2003b: 13).
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Die temporale Fasson des Virtuellen, ihre Bedeutung für das Ereignis des Denkens sowie die Instrumentalisierung des Films zu ihrer Erschließung bilden Leitmotive im zweiten Teil der Kinostudie. In ihr beschreibt Deleuze eine temporale Gegenbewegung zu Das Bewegungs-Bild. Während letzteres eine Kontraktion der Dauer zur Sukzession des Aktuellen schildert, vollzieht sich im Kino des Zeit-Bildes die Aufdehnung der Sukzession zur virtuellen Simultaneitätszone. Zeit-Bilder vermitteln Ansichten von der äonischen Zeitlichkeit des Virtuellen und mit ihr vom Ereignisfeld des Denkens. Ihre Spielarten und Kombinationen heben die interne Aufeinanderfolge und Hierarchie der Zeitdimensionen aus den Angeln, um eine Koexistenz aller Möglichkeiten und die des Möglichen mit dem Wirklichen zu evozieren. Kinematographische Zeit-Bilder sind Fenster zur Virtualität. Für Deleuze wird die Zeitlichkeit des Virtuellen im Film lebendig und das Kino zum Raum des Denkmöglichen. Die nachfolgenden Abschnitte sollen die Charakteristika direkter Zeit-Bilder freilegen.
8.2 Auf den Spuren des Zeit-Bildes Zeit-Bilder sind kinematographische Zeichen des Virtuellen. Deleuze schärft ihre Konturen in der Auseinandersetzung mit Bergson und macht Denkfiguren wie die Gleichursprünglichkeitsthese, den Erinnerungsvorgang oder die Idee einer autonomen Vergangenheit fruchtbar. Die einzelnen Etappen der Zeit-Bild-Entwicklung – falsche Anschlüsse und rein optische und akustische Situationen, Erinnerungs- und Kristallbilder, Gegenwartsspitzen, Vergangenheitsschichten und die Serie der Zeit – werden abgeschritten und sowohl in zeittheoretischer als auch in filmästhetischer Hinsicht erhellt. Der Weg von einer Station zur nächsten ist durch eine zunehmende Gegenwartsflucht der kinematographischen Bilder charakterisiert – durch eine fortschreitende Kontaktaufnahme mit dem Virtuellen und damit einhergehend einer Abkehr von der Sukzessionslogik zur Simultaneität. Den Einstieg in die Ordnung des Virtuellen eröffnen neuartige Montage- und Bildtypen, die sich nach dem zweiten Weltkrieg zuerst im italienischen Neorealismus herauskristallisiert haben: falsche Anschlüsse und rein optische und akustische Situationen.
8.2.1 Auftakt: falsche Anschlüsse und rein optische und akustische Situationen Falsche Anschlüsse Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung des Zeit-Bildes ist die Krise, in die das Kino des Bewegungs-Bildes bzw. das Erzählkino nach dem zweiten Weltkrieg gerät. Die kriegstypischen Erfahrungen von Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit spiegeln sich auch im Film wieder. Wie gelähmt nehmen Figuren dort nur noch wahr, ohne auf das Geschehen reagieren oder aktiv eingreifen zu können. Wahrnehmungen werden von ihrer motorischen Fortsetzung abgeschnitten, die Verkettungen zwischen Reiz und Aktion werden irritiert und Bewegungsabläufe unterbrochen – das sensomotorische Band zwischen den Einstellungen zerreißt. Damit wird die grundlegende Kompositionsregel im Kino des Bewegungs-Bildes, die sowohl die räumliche Dynamik koordiniert als auch die empirische Form der Zeit konfiguriert, außer Kraft gesetzt. An die Stelle motorischer treten abweichende Bewegungen,
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deren Verlauf für den beobachtenden Zuschauer keinen Sinn ergibt. Logische Verbindungen weichen falschen visuellen, auditiven und narrativen Anschlüssen. Das sensomotorische Gesetz wird abgelöst von einer diskontinuierlichen Montageordnung, die bestimmt ist durch abweichende Bewegungen und falsche Anschlüsse. Diese heben das sukzessionslogische Zeitgefüge des Erzählkinos aus den Angeln und leisten den ersten Schritt auf dem Weg zum Zeit-Bild. Falsche Anschlüsse verhelfen einer grundlegenden achronologischen Temporalität zum Ausdruck, wie sie sich jenseits des Raumes entfaltet. Im Erzählkino wird das Fortschreiten der Zeit angezeigt durch Bewegungen und Aktionen im Raum. Zeit wird nur indirekt, in Abhängigkeit von einer räumlichen Dynamik, repräsentiert. Indem falsche Anschlüsse sensomotorische Verknüpfungen auflösen und motorische Abläufe stören, wird die Raumbewegung als Anzeige der vergehenden Zeit beeinträchtigt. „Davon wird jedoch nicht die Zeit als solche bedroht; sie erhält damit vielmehr die Gelegenheit, direkt zu erscheinen und ihre Abhängigkeit von der Bewegung abzuschütteln und umzukehren“ (Deleuze 1999: 55). Falsche Anschlüsse entlassen die Zeit aus ihrer Abhängigkeit von der Raumbewegung und leisten so einer direkten Präsentation der Zeit Vorschub. Wenn aber Zeit direkt zur Darstellung kommt, wird sie in ihrer Ganzheit – als paradoxe Ausdifferenzierung in Aktualität und Virtualität – spürbar. Die auf sensomotorischen Bildverbindungen basierende chronologische Zeitinszenierung des Erzählkinos abstrahiert von diesem komplexen Teilungsgeschehen. Sie kapriziert sich auf seine aktuelle Seite und verschattet die gleichzeitige Expansion des Virtuellen. Wenn jedoch sensomotorische Bindungen zerreißen, kann sich Temporalität aus ihrem sukzessionslogischen Korsett befreien. Der Bruch sensomotorischer Schemata führt zur Entfesselung der vorgängigen, zutiefst achronologischen Zeitlichkeit. Von ihren Wirkungen zeugen abweichende Bewegungen und falsche Anschlüsse – anders herum gesagt: wird der differenziellen Dynamik der Zeit freier Lauf gelassen, produziert sie abweichende Bewegungen und falsche Anschlüsse. Damit kehrt sich das Verhältnis zwischen Zeit und Bewegung um. Es sind nicht mehr die motorischen Bewegungen, welche die Zeit hervorbringen, sondern es ist die Zeit, welche Bewegungen und Anschlüsse fälscht: „Nicht mehr haben wir es mit einem indirekten Zeit-Bild zu tun, das sich von der Bewegung ableitet, sondern mit einem unmittelbaren Zeit-Bild, von dem sich die Bewegung ableitet. Wir haben es nicht mehr mit einer chronologischen Zeit zu tun, die durch möglicherweise anormale Bewegungen erschüttert werden kann, sondern mit einer chronischen, achronologischen Zeit, die notwendigerweise »abweichende« und ihrem Wesen nach »falsche« Bewegungen hervorbringt“ (Deleuze 1999: 172 – 173).
Falsche Anschlüsse erlauben unmittelbaren Rückschluss auf die dezentrierenden Kräfte einer achronologischen Zeit. Sie künden von einer Temporalität, die nicht in der Sukzessionsordnung des Aktuellen aufgeht, sondern auch die Simultanzeit des Virtuellen inkludiert, deren Inhalte sich in Schichten ausbreiten und miteinander kommunizieren. Indem falsche Anschlüsse die Sukzession aufspalten, werfen sie ein Licht „auf eine andere Zeit, die all das enthält, was sich ereignet hat oder ereignen wird, aber im Augenblick nicht, nicht mehr oder noch nicht geschieht“ (Vogl 1996: 261). Die fortlaufende Filmhandlung wird als Scheinkontinuum entlarvt, das die zeitgleiche Ausdehnung des Virtuellen verdeckt und lediglich einen künstlich hergestellten Ausschnitt aus der Zeit zeigt. Dieser Verkürzung wirken falsche Anschlüsse entgegen, indem sie Beziehungen zwischen Filmbildern stiften, die weder motorisch noch logisch aufeinander folgen. Auf diese Weise spielen sie auf die
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vernetzende Bewegung der Dauer an, die sich unbeschnitten durch sensomotorische Schemata auf der virtuellen Seite der Zeit ausbreitet. Falsche Anschlüsse perforieren die Sukzession des Aktuellen und stoßen vor in die Zeitlichkeit des Virtuellen, die sich außerhalb des Films nur dem Denken offenbart. Vor diesem Hintergrund sind Bewegungen im Kino des Zeit-Bildes nicht mehr als Verlagerungen im Raum, sondern als Verschiebungen in der Zeit zu denken. Kamerabewegungen schildern keine physischen Bewegungen in einem materiellen Universum, sondern gedankliche Bewegungen in der Zeit – „Kadrierung und Kamerabewegung manifestieren mentale Relationen“ (Deleuze 2005: 147). Der falsche Anschluss tritt in Kontakt mit dem Denkbaren und bereitet den Boden für die Zeit-Bilder als „cartographies of thought, mappings or visualizations of the movements of thought in and as time” (Rodowick 1997: 84). Er löst die Zeit aus ihrer Abhängigkeit vom Raum und begründet so die erste Etappe auf dem Weg in die Virtualität.
Rein optische und akustische Situationen Neben einer diskontinuierlichen Montageordnung erzeugt der falsche Anschluss auch einen neuen, vom Bewegungs-Bild verschiedenen Bildtypus: die rein optische und akustische Situation. Sie tritt aus dem Bruch des sensomotorischen Schemas hervor und wird weder durch eine Aktion bewirkt noch setzt sie sich in Aktion fort. Bei rein optisch-akustischen Bildern handelt es sich um verselbständigte Wahrnehmungsbilder, die nicht mehr mit Aktionsbildern fusionieren. Die Wahrnehmungssituation verlängert sich nicht in Handlung, sondern bleibt als eine rein optische und akustische bestehen. Ansichtig werden Figuren in Lagen, die ihre motorischen Fähigkeiten übersteigen. „Es geht um etwas, was zu gewaltig, zu ungerecht, aber manchmal auch einfach zu schön ist und von nun an unsere sensomotorischen Vermögen übersteigt“ (Deleuze 1999: 32). Figuren können nicht mehr reagieren, nur noch registrieren und werden so von Handlungsträgern zu Zuschauern. Abbildung 8:
Lost Highway: Pete gebannt von Alice – er kann nur noch wahrnehmen.
Die rein optisch-akustischen Bilder lenken die Aufmerksamkeit auf die Grundelemente des filmischen Mediums: Zeit und Bildlichkeit. Durch die Unterbrechung sensomotorischer Ensembles, die im Kino des Bewegungs-Bildes den Fortgang der Zeit garantieren, staut sich der Zeitfluss in den rein optisch-akustischen Situationen an. Besonders eindrücklich wird dies dort, wo Film der Fotographie am nächsten kommt: in erstarrten Einstellungen, in denen sich nicht bewegt, was sich im Film bewegen sollte. Sie veranschaulichen die leere, nicht durch Bewegung ausgefüllte Form der Zeit selbst – „(d)ie Zeit (als) Fülle, das heißt die unveränderliche, durch die Veränderung ausgefüllte Form“ (Deleuze 1999: 31). In ihrer unbeweglichen Ausprägung konstituieren rein optische und akustische Situationen temporale Stillleben, die das Verstreichen der Zeit selbst bewusst machen. Ausgehend von Deleuze bezeichnet Lyotard solche Einstellungen als „souveräne Bilder“ (Lyotard 1996: 21), die
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nicht mehr der Autorität der Narration unterstehen. Anstatt sie voranzutreiben, lassen sie die Erzählung für einen Moment vollständig stagnieren und schaffen zweckentbundene, „>rohe(..)< Zeiträume (espace-temps)“ (Lyotard 1996 : 28). In ihnen verrinnt eine rein deskriptive Zeit, die das Filmgeschehen nicht vorantreibt. In optisch-akustischen Situationen emanzipiert sich die Zeit vom System der Narration und zieht das Interesse auf sich selbst. Ebenso wie die Zeit löst sich auch die Bildlichkeit von ihrem narrativen Auftrag. Von all seinen Fortsetzungen abgekoppelt hat das optisch-akustische Bild seinen Wert nur in sich selbst. Es wird sichtbar in seinen vielfältigen ästhetischen, emotionalen wie konnotativen Schattierungen, welche durch sensomotorische Schemata limitiert werden. Eingefügt in den sensomotorischen Aktionszusammenhang der Story tritt das Gezeigte nur in seiner funktionalen Bedeutung für die Narration in Erscheinung. Das rein optisch-akustische Bild jedoch schert aus der Erzählökonomie aus und exponiert die irreduzible Eigenart und pure Faktizität seines Gegenstands. Die Bilder sind von einer „visuellen und akustischen Nacktheit, Rohheit und Brutalität (...), die sie unerträglich machen und geradezu traumartig, ja sogar alptraumhaft erscheinen lassen“ (Deleuze 1999: 14). Entbunden von der Filmhandlung ist „das rein optische Bild nichts weiter als eine Beschreibung (...)“(Deleuze 1999: 65 – 66), die – anders als die Bewegungs-Bilder des Erzählkinos – auch nicht mehr vorgibt, ein unabhängiges Reales zu repräsentieren. Es handelt sich um eine kristalline Beschreibung (vgl. Deleuze 1999: 64 – 65), die ihren eigenen Gegenstand erschafft: das, was gezeigt wird, ist vollständig abhängig davon, wie es gezeigt wird – es existiert in dieser spezifischen Weise nur in dem Bild. Rein optische und akustische Situationen sind selbstreflexive Bilder, die keine Referenz zu einer außerfilmischen Wirklichkeit behaupten, sondern auf ihre eigene Künstlichkeit verweisen. Befreit von Narration und Wirklichkeitsreferenz enthüllen sie ihren Konstruktcharakter sowie die in sie involvierte Zeitlichkeit. Auch wenn rein optisch-akustische Situationen die ablaufende Zeit zu Bewusstsein heben, stellen sie noch keine Zeit-Bilder im eigentlichen Sinne dar, denn als verselbständigte Wahrnehmungssituat ionen verbleiben sie auf der Ebene des Aktuellen. Entlassen aus Narration und Wirklichkeitsreferenz allerdings beginnen sie eindeutige Festlegungen zu unterlaufen. So lässt sich nicht verlässlich beurteilen, ob das Bild sich auf eine physische oder imaginäre Realität innerhalb der Diegese bezieht, ob es der objektiven Wirklichkeit oder einem subjektiven Bewusstsein entstammt. Doch jenseits von Erzählung und Realitätsillusion ist eine solche Zuschreibung auch nicht mehr relevant: „Wir haben es hier in der Tat mit einem Unbestimmbarkeits- oder Ununterscheidbarkeitsprinzip zu tun: man weiß nicht mehr, was imaginär oder real, körperlich oder mental in der Situation ist, nicht weil man die Merkmale vermengte, sondern weil man es nicht mehr zu wissen braucht und es auch keinen Anlaß mehr gibt, danach zu fragen. Als ob das Reale und das Imaginäre hintereinander herliefen und sich beide im jeweilig anderen in der Nähe eines Ununterscheidbarkeitspunktes spiegelten“ (Deleuze 1999: 19).
Optisch-akustische Bilder etablieren eine „Ordnung des Austauschs (régime d’échange)“ (Deleuze 1999: 21) zwischen Subjektivem und Objektivem, die sich beständig ineinander umwandeln. So changiert das Bild zwischen Außen- und Innenwelt und bereitet damit die Ununterscheidbarkeit von Aktualität und Virtualität vor, die Deleuze den Zeit-Bildern abverlangt. In rein optisch-akustischen Situationen ist eine Offenheit des Bezugs angelegt, die in den Zeit-Bildern verschärft wird zur temporalen Vieldeutigkeit. Sie bildet die grundle-
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gende Voraussetzung, um nicht von der Gegenwart geschluckt und Verbindungen zur äonischen Zeitlichkeit des Virtuellen aufnehmen zu können. Rein optische und akustische Situationen und falsche Anschlüsse sind Ecksteine eines ZeitKinos, dessen Bilder aus ihrer Verpflichtung auf die Gegenwart entlassen werden und Kontakt zur Domäne des Virtuellen knüpfen. Ihre Verkettungen fangen das temporale Teilungsgeschehen mit der ihr eigenen Koexistenz von Aktualität und Virtualität ein. Deren Zusammenspiel manifestiert sich in Erinnerungskreisläufen und Kristallbildern, den beiden nächsten Haltepunkten der Zeit-Bild-Recherche.
8.2.2 Konturierung durch Abgrenzung: Erinnerungskreisläufe Wiederum sind es die falschen Anschlüsse, die das Eintauchen in die Tiefe der Zeit ermöglichen. Sie blockieren die temporale Progression und führen hinab zu der virtuellen Vergangenheit und den dort residierenden Erinnerungen. Falsche Anschlüsse trennen rein optische und akustische Situationen von ihrer motorischen Fortsetzung im Raum, so dass sie an „aus der Zeit und dem Denken herkommenden Bildern“ (Deleuze 1999: 68) andocken können: „Die rein optische und akustische Situation (Beschreibung) ist ein aktuelles Bild, das sich jedoch nicht in Bewegung fortsetzt, sondern mit einem virtuellen Bild verkettet und mit ihm einen Kreislauf bildet“ (Deleuze 1999: 68). Ein solcher Kreislauf entsteht, wenn Erinnerungsbilder aus der Vergangenheit auftauchen und in die aktuelle Wahrnehmung einfließen, so dass ein Austausch zwischen beiden Polen stattfindet. In Filmen werden Erinnerungsvorgänge zumeist konventionell als Flashback oder in Form assoziativer Montagesequenzen realisiert. Ersterer blendet ein zurückliegendes, ebenfalls chronologisch geschildertes Geschehen in die Gegenwart der Diegese ein. Im Kontrast zum Flashback, in dem Erinnerungsbilder denselben sensomotorischen Verkettungsregeln gehorchen wie aktuelle Bilder, folgen Montagesequenzen der Logik mentaler Prozesse. Auch hier entzünden sich Erinnerungen an einem gegenwärtigen Moment, jedoch entfalten sie eine Eigendynamik. Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder verweisen wechselseitig aufeinander und kreisen um einen Punkt der Ununterscheidbarkeit, um schließlich zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Handelt es sich bei diesen filmischen Erinnerungsbildern bereits um direkte ZeitBilder, d.h. um Ansichten des Virtuellen? Deleuze geht dieser Frage vor dem Hintergrund von Bergsons Annahmen zum Erinnerungsprozess nach. Dieser beginnt mit einem Sprung in die allgemeine, ontologische Vergangenheit. Sie ist nicht zu verwechseln mit der persönlichen Vergangenheit des Subjekts. Selbst nicht erinnerbar bildet die allgemeine Vergangenheit die Voraussetzung dafür, „daß jede besondere Gegenwart den »Durchgang« zum Vergehen finden kann. Dies ist die Vergangenheit, die alle Vergangenheiten ermöglicht“ (Deleuze 2001: 76). Die allgemeine Vergangenheit ist mit der eigenständigen virtuellen Realität liiert, in welche konkrete Erinnerungen einmünden und in der sie aufgesucht werden. Sie erhält sich aus sich selbst heraus in der Kontinuität der Dauer, d.h. sie liegt dem umfassenden ontologischen Gedächtnis inne, das die Zeit selbst errichtet. So gilt es in die Zeit einzutauchen, um Erinnerungen aufzufinden: „Es ist die Zeit, in der sie (die Erinnerung – K.V.) sich bewahrt: sie ist das virtuelle Element, in das wir eindringen, um die »reine Erinnerung« aufzufinden, die sich in einem »Erinnerungs-Bild« aktualisieren wird“ (Deleu-
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ze 1999: 132). Erinnerung vollzieht sich, indem sich reine Erinnerungen zu Erinnerungsbildern verdichten und an eine aktuelle Wahrnehmung anfügen. Zwischen Erinnerungsbild und reiner Erinnerung konstatiert Bergson jedoch einen gravierenden Unterschied: die reine Erinnerung ist Vergangenheit – das Erinnerungsbild aktualisiert sie. Zwar leitet sich das Erinnerungsbild von der reinen Erinnerung her, doch während letztere in der allgemeinen Vergangenheit verbleibt und wahrhaft virtueller Natur ist, handelt es sich beim Erinnerungsbild um eine Aktualisierungsform des Virtuellen. Es konkretisiert sich im Bewusstsein oder in einem psychischen Zustand und stellt kein virtuelles Bild dar, sondern ein mentales. Erinnerungsbilder gehören zum Bereich des Psychologischen, nicht aber zum Virtuellen. Warum mentale Erinnerungsbilder nicht in die Virtualität vorzustoßen vermögen, so wie Zeit-Bilder es leisten sollen, wird klar, wenn man Deleuzes Auslegung Bergsons hinzuzieht. Deleuze identifiziert die allgemeine Vergangenheit Bergsons mit der Virtualität. Im Unterschied zur konkreten Vergangenheit des Subjekts, welche die Vergangenheit sinnlichkonkreter Gegenwarten enthält, bewahren sich in der allgemeinen Vergangenheit darüber hinaus auch all jene Aspekte, die sich nicht realisiert haben, aber denkbar gewesen wären. In sie fallen sowohl unverbrauchte Potenziale als auch die mit ihnen verhinderten zukünftigen Entwicklungen zurück. Die reine Vergangenheit ist reicher an Möglichkeiten als die konkrete. Allerdings ist sie nicht erinnerbar, da sie niemals gegenwärtig gewesen ist. Im Normalfall beziehen sich Erinnerungsbilder auf die Augenblicke und Ereignisse, die das Subjekt erlebt hat.45 Sie reproduzieren Inhalte eines individuellen Gedächtnisses. In persönlichen Erinnerungsbildern manifestieren sich ausschließlich ehemalige Aktualitäten, nicht aber ihre unverwirklichten Facetten, die ebenfalls in die allgemeine Vergangenheit eingegangen sind. Aus eben diesem Grund, „besteht eine Unzulänglichkeit des Erinnerungsbildes in bezug auf die Vergangenhei.“ (Deleuze 1999: 76; Hervorhebung im Original). Es „repräsentiert einzig die vergangene Gegenwart, welche die Vergangenheit »gewesen ist«“ (Deleuze 1999: 77) ... nicht aber all die Formierungen, die auch möglich gewesen wären. Erinnerungsbilder halten Rückschau auf eine zurückliegende Chronologie vormals aktueller Momente, nicht aber Ausschau auf die äonische Zeitlichkeit des Virtuellen, in der sich die Vergangenheit des ebenfalls Denkbaren ausbreitet. Letztlich sind also auch Erinnerungsbilder immer noch der aktuellen Seite der Zeit verhaftet. Sie sind nur insofern virtuell zu nennen, weil sie kein gegenwärtiges Referenzobjekt mehr besitzen. In die Virtualität auf der anderen Seite der Zeit – in die Gefilde unausgeschöpfter Möglichkeiten – dringen sie allerdings nicht vor. Doch zu genau dieser Zone sollen filmische Zeit-Bilder den Durchgang öffnen. Sie sollen Einblick geben in die allgemeine Vergangenheit, die nicht erinnert werden kann, weil sie niemals stattgefunden hat – in die Domäne, in welche persönliche Erfahrungen einmünden und über sie hinaus all das, was auch hätte sein können, aber nicht geschehen ist. Zeit-Bilder sollen hineinführen in das unermessliche, produktive Gedächtnis, das in der Zeit selbst liegt. Bei den filmischen Inszenierungsweisen von Erinnerungskreisläufen handelt es sich demnach nicht um echte Zeit-Bilder. Sie visualisieren die konkrete Vergangenheit einer Figur, d.h. Inhalte eines psychologischen Gedächtnisses, nicht aber Ansichten von der umfassenden Virtualität. Auch wenn Deleuze die Erinnerungsbilder als Zeit-Bilder verwirft, 45 Vgl. Bergson zu Erinnerungsstörungen: in ihnen lässt die natürliche Anspannung nach, die normalerweise den Andrang der Vergangenheit zurückdämmt. In pathologischen oder Traumzuständen beispielsweise werden Personen von Bildern aus der virtuellen Vergangenheit heimgesucht.
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lassen sich aus ihrer Ablehnung dennoch Kennzeichen des filmischen Zeit-Bildes extrahieren. So können Zeit-Bilder als Ansichten des Virtuellen nicht dem sensomotorischen Gesetz unterliegen, welches die Aktualität reguliert. Hierin liegt die erste stilistische Differenz zu mentalen Erinnerungsbildern, welche sich schlussendlich in die sensomotorische Montageordnung einfügen. Sobald sich ein Erinnerungsbild aktualisiert und in Bewegung fortsetzt, wird das sensomotorische Schema wieder hergestellt. „Die Erinnerungs- oder Traumbilder sind in den sensomotorischen Schemata auf dem Wege der Aktualisierung und legen deren Ausweitung oder Abschwächung nahe, nicht aber den Bruch mit ihnen zugunsten von etwas anderem“ (Deleuze 1999: 173). Filmische Erinnerungskreisläufe gehören somit noch zum Regime des Bewegungs-Bildes. Sie beschreiben lediglich kurze Zeitschleifen, die sich von der sensomotorischen Gegenwart der Diegese ablösen, aber dann wieder auf sie zurückführen, um sich in die Sukzession des Aktuellen einzufädeln. Anders als das Wechselspiel von Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern speisen Zeit-Bilder Vergangenes nicht in die Aktualität ein, sondern tauchen ab in das autarke Reich des Virtuellen. Die Verbindung zur sensomotorischen Gegenwart nehmen sie nicht wieder auf. Sie knüpfen weder motorisch noch logisch an benachbarte Einstellungen an, sondern bleiben in einer unversöhnlichen Diskrepanz zu ihnen stehen. Im Kino des Zeit-Bildes werden sensomotorische Schemata nachhaltig irritiert und falsche Anschlüsse zum Prinzip der Bildverbindung erhoben. Genauso wie gegen sensomotorische Verkettungen leisten Zeit-Bilder Widerstand gegen zeitliche Fixierungen. Zeit-Bilder verweigern sich der Chronologie, während mentale Erinnerungsbilder sie respektieren. Letztere aktualisieren sich in bezug auf eine neue Gegenwart, gegenüber der sie sich als früher erweisen, so dass sie sich in eine chronologische Ordnung integrieren lassen. Um dem Zuschauer den Einschub eines früheren Geschehens zu signalisieren, hat sich eine Reihe von Darstellungskonventionen eingebürgert wie Zeitangaben im Bild (Uhren, Daten, Kalender), Einfärbungen, Eintrübungen oder Überbelichtungen der Sequenzen, Zeitraffer, Zeitlupe etc. Erinnerungsbilder behaupten ihre Nichtgegenwärtigkeit vermittels temporaler Indizes. Mit ihrer Hilfe ordnen sie sich zeitlich eindeutig der Vergangenheit zu, genauer gesagt: der Vergangenheit einer konkreten Gegenwart, die einen spezifischen Platz in der Chronologie des Films besetzt. Das Erinnerungsbild gibt die temporale Unbestimmtheit auf, die entscheidend für das Zeit-Bild ist, um virtuelle Momente einfangen zu können. Zeit-Bilder zielen nicht auf die konkrete Vergangenheit des ehemals Aktuellen, sondern auf die allgemeine Vergangenheit nicht-realisierter Möglichkeiten. Da diese jedoch nicht von der Sukzession des Aktuellen erfasst werden, gehen sie auch nicht in die Chronologie der Ereignisse ein. Stattdessen sammeln sie sich an in der koexistenten Realität des Virtuellen. Temporale Indizierungen greifen hier nicht, zum einen, weil das Virtuelle simultan verfasst ist, zum anderen, weil sich einzig ehemalige Gegenwarten chronologisch lokalisieren lassen, nicht aber Dinge, die niemals stattgefunden haben. Kurz gesagt: temporale Indizierungen stehen im strikten Widerspruch zur Virtualität. Für die filmische Inszenierung des Zeit-Bildes bedeutet dies den Verzicht auf temporale Markierungen, da diese das Virtuelle durch den Hinweis auf das ehemals Aktuelle verschütten. In Zeit-Bildern scheint auf, was sein könnte, nicht das, was ist oder gewesen ist, und so dürfen sie sich weder unmittelbar noch im Nachhinein in der Chronologie unterbringen lassen. Um das Potenzielle zu betonen, müssen Zeit-Bilder in temporaler Hinsicht mehrdeutig bleiben – ein Stückchen purer Virtualität kann einzig in zeitlich unbestimmten Bildern zum Ausdruck kommen.
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Ebenso wie gegen sensomotorische und chronologische Eingliederungen zeigen sich Zeit-Bilder schließlich immun gegen personale Zuordnungen. Im Unterschied zu mentalen Erinnerungsbildern sind Zeit-Bilder unpersönlich. Sie repräsentieren Ansichten der überindividuellen Virtualität, nicht aber Inhalte eines individuellen Gedächtnisses. Entsprechend stammen sie weder von einem perzipierenden noch von einem schlafenden oder erinnernden Subjekt ab. Zeit-Bilder können keiner Figur eindeutig zugeschrieben werden. Sie erscheinen im Film, ohne dass sich nachvollziehen ließe, woher sie rühren und zu wem sie gehören – unautorisierte, herrenlose Bilder. Aus der Abgrenzung von mentalen Erinnerungsbildern ließen sich Merkmale des ZeitBildes gewinnen. Während Erinnerungsbilder aus der Virtualität auftauchen, führen die Zeit-Bilder direkt in sie hinein. Aus diesem Grund sperren sie sich gegen sensomotorische und chronologische Eingliederungen wie auch gegen personale Zuschreibungen. Im Film treten Zeit-Bilder als herkunftslose Bilder in Erscheinung, die einer Figur ebenso wenig zugewiesen werden können wie einem aktuellen oder ehemals aktuellen Ereignis. Weder ist es möglich, den Ursprung dieser Bilder in einem Subjekt festzumachen, noch ihren Referenten zu bestimmen. Zeit-Bilder erweisen sich als resistent gegen jegliche Attribuierung. Diese Unbestimmbarkeit löst sich im Kristallbild ein, dem es gelingt, die Koexistenz des Virtuellen mit dem Aktuellen einzufangen.
8.2.3 Einblick in das Gründungsgeschehen der Zeit: das Kristallbild Beim Kristallbild handelt es um ein ‚echtes Zeit-Bild’, das Zeit direkt zur Darstellung bringt: „was man in dem Kristall sieht, (ist) die Zeit selbst, ein geringer Teil der Zeit in reinem Zustand, (...)“ (Deleuze 1999: 112). Das Kristallbild gewährt einen Blick auf das achronologische Gründungsgeschehen der Zeit, wie es bei Bergson vorgezeichnet und von Deleuze ausgebaut wird. Nach Bergson konstituiert sich die Vergangenheit zeitgleich mit der Gegenwart. Die Zeit „(...) teilt sich in jedem Augenblick, schon bei ihrem Auftauchen in zwei symmetrische Strahlen, von denen der eine in die Vergangenheit zurückfällt, während der andere sich in die Zukunft schwingt“ (Bergson 1928: 117). Die Gleichursprünglichkeit von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit avanciert bei Deleuze zur Prämisse der temporalen Sukzession: „Es ist notwendig, daß sie (die Gegenwart – K.V.) vergeht, damit die Ankunft einer neuen Gegenwart sich ereignen kann, und es ist gleichermaßen notwendig, daß sie im selben Augenblick vergeht, in dem sie gegenwärtig ist, im selben Augenblick, in dem sie dies ist. Folglich ist es notwendig, daß das Bild gegenwärtig und vergangen ist, noch gegenwärtig und schon vergangen, beides zur gleichen Zeit. Wenn das gegenwärtige Bild nicht gleichzeitig schon vergangen wäre, dann würde die Gegenwart niemals vergehen. Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist“ (Deleuze 1999: 108 – 109).
Deleuze führt die konventionelle Annahme, die Vergangenheit folge aus der Gegenwart, ad absurdum: würde die Vergangenheit erst nach der Gegenwart entstehen, dann könnte die Gegenwart den Durchgang zum Vergehen nicht finden, und wenn die Gegenwart nicht vergeht, könnte die Vergangenheit selbst nicht entstehen. So muss man notwendigerweise die interne Verdoppelung des Augenblicks annehmen, um das Vergehen von Zeit erklären
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zu können. Der aktuelle Moment „und seine zeitgleiche Vergangenheit“ (Deleuze 1999: 109; Hervorhebung im Original) müssen zugleich in die Existenz treten, damit Zeit verstreichen kann. Mit dem aktuellen Moment konstituiert sich allerdings nicht nur sein symmetrisches virtuelles Double, d.h. seine konkrete Vergangenheit, sondern auch die Vergangenheit all dessen, was nicht der Aktualisierung zugeführt wurde und unverbraucht in die Virtualität eingeht. Zeit lässt sich nicht begreifen als Abfolge ungeteilter Jetztpunkte, sondern nur als Verschränkung von Doppelung und Spaltung: jeder Augenblick bildet eine Einheit von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit und teilt sich in zwei heterogene Stränge: in die Sukzession aktueller und die Expansion virtueller Momente. Das Kristallbild nun vermittelt einen Einblick in diese grundlegende differenzielle Produktion. „Der Kristall enthüllt den verborgenen Grund der Zeit, das heißt ihre Differenzierung in zwei Strahlen, den der vorübergehenden Gegenwarten und den der sich bewahrenden Vergangenheiten“ (Deleuze 1999: 132). Dort, wo sich die Zeit in ihren aktuellen und ihren virtuellen Strang spaltet, formt sich das Kristallbild. In ihm manifestiert sich der Augenblick in seiner ursprünglichen Komplexion von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit. Es zeigt den aktuellen Moment und seinen virtuellen Reflex. Das Kristallbild ist ein wechselseitiges Bild, das zwischen Aktualität und Virtualität oszilliert. „Der Kristall tauscht unaufhörlich die beiden Bilder aus, die es konstituieren, das vorübergehende aktuelle Bild der Gegenwart und das sich bewahrende virtuelle Bild der Vergangenheit (...)“ (Deleuze 1999: 12). Damit erweitert sich die Ordnung des Austausches, wie sie in optisch-akustischen Situationen vorbereitet und in Erinnerungskreisläufen fortgesetzt wird. Während sich in rein optisch-akustischen Situationen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Imagination auf der Ebene des Aktuellen verwischen, verursacht das Kristallbild eine gravierendere Unentschiedenheit zwischen dem Aktuellen und dem, was sich weder in der empirischen Realität noch in einem individuellen Bewusstsein jemals aktualisiert hat. Das Kristallbild begründet eine Ordnung des Austausches zwischen der Wirklichkeitsordnung des Realen und des Möglichen – zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen. Es besetzt den Punkt der Ununterscheidbarkeit, um den Erinnerungskreisläufe mit ihrem Wechselspiel von Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern zirkulieren. Jagen in ihnen virtuelle und aktuelle Momente hintereinander her, werden sie im Kristallbild zusammengeführt. Kristallbilder sind Simultanbilder, in denen das Aktuelle und das Virtuelle zugleich sichtbar werden, allerdings ohne dass sich die beiden Terme miteinander vermischen würden Im Unterschied zu Erinnerungskreisläufen veranschaulichen Kristallbilder nicht, wie das Virtuelle aktualisiert und von der Gegenwart vereinnahmt wird, sondern wie es mit dem Aktuellen koexistiert, ohne in ihm aufzugehen: „Verschiedenartig, aber ununterscheidbar sind das Aktuelle und das Virtuelle, die sich unentwegt austauschen“ (Deleuze 1999: 98). Dabei entsteht die Ununterscheidbarkeit von virtuell und aktuell nicht im Kopf des Betrachters, sondern stellt das objektive Merkmal des kinematographischen Bildes dar – das Kristallbild ist die „unteilbare (...) Einheit eines aktuellen und »seines« virtuellen Bildes“ (Deleuze 1999: 108). Eine verbreitete Möglichkeit, wie Film die Simultaneität von Aktualität und Virtualität in Szene setzt, sind Spiegelfiguren. Es kann sich dabei um konkrete Spiegeleffekte wie Spiegelbilder, Brechungseffekte von Glas oder Wasser handeln, aber auch um Spiegelungen auf dramaturgischer und audiovisueller Ebene, wie z.B. spiegelbildliche Bildkompositionen, Handlungsstränge oder Figurenkonstellationen.
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Abbildung 9:
Mulholland Drive: Spiegeleffekte im Kristallbild.
Spiegelungen verdoppeln nicht einfach das Geschehen, sondern sie offenbaren eine verborgene Seite. Im Spiegel erscheint, was sich sonst dem Blick entzieht. Das aktuell Sichtbare wird durch seine unsichtbaren virtuellen Facetten ergänzt und potenziert. Im Kristallbild geht es um „(...) die Öffnung des aktuell Sichtbaren und Hörbaren hin auf das virtuell im selben Raum und in der selben Zeit ebenfalls Mögliche, Auch-Sichtbare, Auch-Hörbare; Depotenzierung des Aktuellen; um das Aufweichen der Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem und damit einhergehend eine Dehierarchisierung der Bilder; um Entfachung einer Reihe von Simulacren, die gegen das ’eine Urbild’ des Aktuellen opponieren (...)“ (Schaub 2003b: 137; Hervorhebung im Original).
Kristallbilder überschreiten das Aktuelle auf den Raum des Denkbaren hin. Sie verschaffen dem Gezeigten eine weitere Sinndimension, indem sie seine virtuelle Kehrseite einblenden: Vergangenheitsaspekte, die sich nicht zugetragen haben, sowie dadurch verstellte zukünftige Entwicklungen. Diese äonische Zeitlichkeit des Virtuellen formt im Kristallbild eine eigenständige, abgekapselte Realität aus. Sie wird in das Aktuelle hineinreflektiert, ohne sich mit ihm zu vermengen. Vielmehr beginnt das Kristallbild zwischen beiden Polen zu changieren. So kann das Gezeigte sowohl eine virtuelle wie auch eine aktuelle Realität beanspruchen. Es kann sich um etwas handeln, das sich tatsächlich oder möglicherweise zuträgt – Aktualität oder reine Potenzialität. Das Kristallbild lässt sich weder in einer Zeitzone noch in einer Wirklichkeitsordnung eindeutig situieren. Seine Unentscheidbarkeit durchkreuzt temporale Fixierungen. Sie wirkt der Reduktion des Augenblicks auf seine realisierte Wirkung entgegen und entfesselt seine ursprüngliche Möglichkeitsfülle. Das Kristallbild erhält die temporale Mehrdeutigkeit aufrecht, welche Bildlichkeit von Natur aus impliziert. Nur sie kann die Vereinnahmung des Bildes durch das Aktuelle verhindern und der Virtualität zu einem eigenständigen Wert verhelfen. Anders als Erinnerungsbilder sind Kristallbilder echte Zeit-Bilder, die Temporalität in ihrer originären Komplexität – als Koexistenz von Aktualität und Virtualität – in sich einschließen.
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8.2.4 Nahaufnahmen des Virtuellen: Vergangenheitsschichten, Gegenwartsspitzen In den nun zu diskutierenden Zeit-Bild-Varianten – den koexistenten Vergangenheitsschichten und den simultanen Gegenwartsspitzen – vollzieht sich eine Radikalisierung der im Kristallbild angelegten Tendenz: bringt das Kristallbild die Realität des Virtuellen mit ins Spiel, handelt es sich bei den Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen um Ausgestaltungen der virtuellen Ordnung. „Der Kristall enthüllt den verborgenen Grund der Zeit, das heißt ihre Differenzierung in zwei Strahlen, den der vorübergehenden Gegenwarten und den der sich bewahrenden Vergangenheiten. Die Zeit läßt die Gegenwart vorübergehen und bewahrt zugleich die Vergangenheit in sich. Folglich gibt es zwei mögliche Zeit-Bilder; das eine gründet in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Jedes ist komplex und gilt als das Ganze der Zeit“ (Deleuze 1999: 132).
Mit dem Ganzen der Zeit, das sich sowohl in den vergangenheits- als auch in den gegenwartsgesättigten Zeit-Bildern artikulieren soll, spricht Deleuze die Zeit in ihrer uneingeschränkten virtuellen Fülle – in ihrem schöpferischen Potenzial – an. Dieses Potenzial schürfen Vergangenheitsschichten in der Vergangenheit frei, während Gegenwartsspitzen es im Inneren des Augenblicks aufspüren. Beide Spielarten des Zeit-Bildes gehen hinter das Aktuelle zurück und fördern die virtuelle Seite der Zeit in ihrem vollen Ausmaß zu Tage. „Die Koexistenz der Schichten der virtuellen Vergangenheit und die Simultaneität der Spitzen der de-aktualisierten Gegenwart bilden die zwei unmittelbaren Zeichen der Zeit als solcher“ (Deleuze 1999: 140). In beiden Zeit-Bildern gelangt die charakteristische Irritation sensomotorischer, temporaler und personaler Zuschreibungen zu einer ebenso umfassenden wie verstörenden Wirkung. Die irreduzible Unbestimmbarkeit beschränkt sich nicht nur, wie im Kristallbild, auf einzelne Motive, Einstellungen oder Sequenzen, sondern infiziert nachhaltig die gesamte Ordnung des Films. Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen bezeichnen keine Einzelbilder, die aus dem Filmverlauf herausbrechen. Es handelt sich um Montageordnungen, welche die achronologische Organisation des Virtuellen lebendig machen. Die filmische Realisierung beider Zeit-Bilder kann aufgrund großer Ähnlichkeiten gemeinsam verhandelt werden, zunächst jedoch zu ihrer jeweiligen zeittheoretischen Rahmung.
Koexistente Vergangenheitsschichten Die Vergangenheitsschichten forschen nach der virtuellen Fülle der Zeit in den Tiefen der Vergangenheit, genauer gesagt, in der allgemeinen Vergangenheit, welche sich jenseits des aktuellen Handlungszusammenhanges und unerreichbar für die Erinnerung in der Zeit selbst bewahrt. Sie bildet dort eine eigenständige, virtuelle Realität aus – einen unabhängigen, nonsubjektiven Gedächtnisraum, der von Deleuze als Raum des Denkbaren entdeckt wird. Die Verfassung der allgemeinen Vergangenheit stiftet den theoretischen Bezugsrahmen der Vergangenheitsschichten. Da die Vergangenheit im Gegensatz zur Gegenwart nicht vergeht, sondern sich erhält, ist sie nicht durch Progression, sondern durch Expansion charakterisiert. Sie verleibt sich Momente ein, bewahrt sie und wächst so permanent an. Ihre Inhalte sind nicht chronologisch geordnet. Vielmehr breiten sie sich flächig in Regionen, Sedimenten und Lagen aus.
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Die Organisation des Vergangenen wurde von Bergson mit einem Kegel verglichen, auf dessen Ebenen sie in unterschiedlichen Kontraktionsgraden vorliegt und an dessen Spitze sich die Gegenwart als ihre höchste Anspannungsstufe befindet. Die Totalität der Vergangenheit ruht in einem Zustand simultaner Koexistenz, in der sämtliche Schichten sowohl miteinander als auch mit der aktuellen Gegenwart zugleich bestehen. In einem weiteren Schritt lässt sich diese simultane Verfassung präzisieren und ihr genuiner Bezug zur Virtualität aufdecken. Im Unterschied zur konkreten nimmt die allgemeine Vergangenheit die gesamte Möglichkeitsfülle eines Augenblicks auf. Sie konserviert all die virtuellen Aspekte, die sich der Aktualisierung entzogen haben, „(...) all jene nicht realisierten Möglichkeiten, die in einem bestimmten Moment Gegenstand einer Wahl oder eines Zufalls hätten sein können, weil sie in ’Reichweite des Wirklichen’ existierten, ohne letztlich den Ereignisverlauf bestimmen zu können“ (Schaub 2003b: 146). Mit den ungenutzten Potenzialen, die in die Vergangenheit zurückweichen, ohne gegenwärtig gewesen zu sein, fallen auch zukünftige Entwicklungen zurück, die von ihrer Realisierung abgeschnitten wurden. So birgt die allgemeine Vergangenheit eine Vergangenheit, die niemals präsent war und eine Zukunft, die zur Vergangenheit wurde, ohne zuvor präsent gewesen zu sein. Die durchgängige Koexistenz der allgemeinen Vergangenheit lässt sich so exakter fassen als gegenwartslose VergangenheitsZukunft – als äonische Simultanzeit, welche die nicht verkörperten, inaktuellen Konstellationen auffängt. Deleuze übersetzt das Schichtwerk des Vergangenen in ein Gleichzeitigkeitsfeld des Möglichen. Die allgemeine Vergangenheit wird erkennbar als Domäne des Denkbaren und damit als Virtualitätsordnung selbst – sie offenbart sich als Ereignisfeld des Denkens.46 Die Kontemplation in die allgemeine Vergangenheit bzw. das Einsenken in das virtuelle Gedächtnis, in dem sie aufgehoben ist, setzt sukzessionslogische Denkmuster außer Kraft. In dieser Zeitregion ist die strenge Abfolge der Zeiten aufgehoben. Vergangenheit und Zukunft führen ein von der Gegenwart unabhängiges Eigenleben und verbinden sich zum gegenwartslosen Äon. Auch besitzen sukzessionslogische Ausschlussbestimmungen keine Gültigkeit. In der allgemeinen Vergangenheit herrscht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, denn hierher ziehen sich sämtliche ungenutzten Alternativen zurück, somit auch solche, die einander konterkarieren, widersprechen oder gar ausschließen. Die allgemeine Vergangenheit stellt einen Raum des Inkompossiblen dar, in dem Divergentes zugleich existiert. In ihm muss zusammengedacht werden, was sich unter den Vorzeichen der Sukzession als unvereinbar erweist. Die äonische Zeitlichkeit des virtuellen Gedächtnisses erzeugt Paradoxien, welche eine an der Sukzession orientierte kausale Logik nicht erklären kann und denen sie sich verschließt, weil sie sie nicht erklären kann. Die allgemeine Vergangenheit motiviert ein Spiel der Möglichkeiten, welches das Denken in neue Bahnen lenkt – ihre simultane Verfassung entfacht das Ereignis des Denkens. Dieses Ereignisfeld setzt das vergangenheitsorientierte Zeit-Bild in Szene. Es fordert die Seh- und Deutungsgewohnheiten des Publikums heraus, indem es einen Eindruck von der achronologischen Selbstbewegung der virtuellen Vergangenheit vermittelt. Es malt ein ontologisches Gedächtnis aus, in dem abweichende Erinnerungssegmente miteinander konkurrieren und zu einer polymorphen, wandelbaren Vergangenheit verschmelzen. Vergan46 Die allgemeine Vergangenheit konserviert reines Potenzial, hält es für spätere Realisierungen bereit und wird so zum Ereignisreservoir der Zeit. Damit erfährt die bei Bergson sich abzeichnende Auffassung von der Vergangenheit als Quell schöpferischer zeitlicher Entwicklung durch Deleuze eine Bestätigung und Verstärkung.
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genheitsschichten führen dorthin, wo die schöpferische Zeit all ihre ungenutzten Entwicklungsmöglichkeiten hinterlässt: in den Raum des Denkbaren am Vergangenheitsgrund der Zeit.
Simultane Gegenwartsspitzen Kann die Gegenwart ähnlich wie die allgemeine Vergangenheit ebenfalls das Ganze der Zeit, d.h. die Zeit in ihrer unbeschnittenen schöpferischen Kraft, enthalten? Ja, denn Deleuze zufolge erschöpft sich die Gegenwart nicht in der Aktualität. Jedem Augenblick ist ein Entwicklungspotenzial inhärent, das seine konkrete Realisierung übersteigt. Es ist die Möglichkeitsfülle der Gegenwart, auf die das Zeit-Bild der Gegenwartsspitzen Bezug nimmt. Um das Potenzial des Augenblicks zu enthüllen, isoliert Deleuze ihn aus der Sukzession des Aktuellen und dringt in seine innere Verfassung ein. Er tauscht „die pragmatische Blickrichtung (vue) auf die Längsachse der Dinge durch eine rein optische, vertikale oder vielmehr in die Tiefe gehende Sicht (vision)“ (Deleuze 1999: 134 – 135; Hervorhebung im Original) aus. Diese Sichtweise zeigt die Gegenwart nicht länger als Bestandteil einer Abfolge, in der sie abgegrenzt von ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft auftritt, sondern offenbart eine Gleichzeitigkeit der Zeitdimensionen in ihrem Inneren. „Es gibt diesmal keine Aufeinanderfolge von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit mehr, entsprechend dem genau bestimmten Übergang unterscheidbarer Gegenwarten. Einer schönen Formulierung des heiligen Augustinus zufolge gibt es eine Gegenwart der Zukunft, eine Gegenwart der Gegenwart, eine Gegenwart der Vergangenheit, alle einbegriffen und aufgerollt im Ereignis, folglich simultan und unerklärlich. Vom Affekt zur Zeit: man entdeckt eine dem Ereignis innerliche Zeit, die sich aus der Simultaneität dieser drei impliziten Gegenwarten zusammensetzt, dieser de-aktualisierten Spitzen der Gegenwart“ (Deleuze 1999: 135; Hervorhebung im Original).
Die Simultaneität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Inneren des Augenblicks knüpft an Augustinus an, der auf die Gegenwart aller drei Modi im Bewusstsein des Subjekts verwies.47 Deleuze geht jedoch über Augustinus hinaus. So geht es ihm nicht darum, dass dem Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen im Bewusstsein gleichermaßen Präsenz zukommt. Er nimmt die Kopräsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Bewusstseins an. Deleuze behauptet die simultane Gegenwart der drei Zeitdimensionen für ein und denselben Moment – für ein und dasselbe Ereignis. Die Simultaneität der drei Dimensionen wird entsubjektiviert und veräußerlicht zur objektiven Eigenschaft des Augenblicks selbst. So ist ein Ereignis zugleich vergangen, gegenwärtig und zukünftig; es hat sich zugetragen, es trägt sich zu und es wird sich zutragen, alles zur selben Zeit. Das modalzeitliche Nacheinander wird zusammengezogen in ein und derselben Gegenwart. Dies gilt allerdings nur, solange sich die Gegenwart noch nicht aktualisiert hat, d.h. solange sie sich noch nicht verkörpert und in die Sukzession des Aktuellen eingegliedert hat. Das gegenwartsbestimmte Zeit-Bild fängt die Gegenwart 47
Augustinus bestreitet das Nacheinander der Modalzeiten für die Seele. Er bestimmt die drei Modalzeiten als Haltungen des Denkens gegenüber dem, was sich ereignet (Vergangenheit = Erinnerung, Gegenwart = Wahrnehmung, Zukunft = Erwartung) und konstatiert, dass ihnen im Bewusstsein gleichermaßen Präsenz zukommt – alle drei Zeiten existieren dort im Modus der Gegenwart.
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ein, bevor sie aus sich heraustritt in eine übersichtliche Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es erfasst den Moment der zeitlichen Genese und visualisiert die Zeit im modal noch ungeschiedenen Zustand. Damit wird der Gedanke vom gegenwärtigen Augenblick als Keimzelle des temporalen Teilungsgeschehens weitergetrieben, den Deleuze bereits für das Kristallbild fruchtbar machte. Gegenwartsspitzen bauen den ungespaltenen Augenblick aus, der sich noch nicht in die beiden dissymmetrischen Ordnungen des Aktuellen und des Virtuellen auseinandergelegt hat. Sie veranschaulichen eine deaktualisierte Gegenwart, in der virtuelle Vergangenheit und Zukunft noch eingefaltet sind – einen Moment zusammengeballter Virtualität, der noch sein komplettes Entwicklungspotenzial in sich trägt. In diesem Stadium purer Potenzialität zeichnet sich weder eine konkrete Form der Gegenwart ab noch eine wahrscheinliche Vergangenheit oder Zukunft. Vor der Aktualisierung ist alles möglich und zwar alles zugleich, aufgehoben und verdichtet im Inneren des Augenblicks. So erscheint die Simultanzeit des Inaktuellen, welche sich in der allgemeinen Vergangenheit in Schichten und Regionen ausdehnt, in der de-aktualisierten Gegenwart gleichsam komprimiert. Indem Gegenwartsspitzen die simultane Verfassung im Inneren des Augenblicks ausgestalten, demontieren sie die Ausschlusslogik der Sukzession in derselben Weise wie die Vergangenheitsschichten. Sie ersetzen die Sukzession von Momenten durch die Fragmentierung des Moments in die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Anstatt die Zeitdimensionen nacheinander zu durchlaufen, geschieht ein Ereignis zeitgleich in allen Dimensionen. So könnte ein Film von einem Paar erzählen, das sich zugleich geliebt hat, liebt und lieben wird – von zwei Menschen, die auseinandergehen, ihr Leben teilen oder sich suchen – von Verlust, Glück und Sehnsucht. Jeder temporale Modus formt eine eigene Ereigniswelt aus. Die Simultaneität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mündet in eine Pluralität unvereinbarer Welten. „Es handelt sich dabei nicht um subjektive (imaginäre) Blickpunkte innerhalb derselben Welt, sondern um dasselbe Ereignis in verschiedenen objektiven Welten, die alle in dem Ereignis enthalten sind: unerklärbares Universum“ (Deleuze 1999: 138). Wie die allgemeine Vergangenheit stellt auch die deaktualisierte Gegenwart einen Raum des Inkompossiblen dar, in dem widersprüchliche Versionen desselben Geschehens kursieren. Die Gegenwart markiert nicht länger die Grenze zwischen vorher und nachher, sondern vereint das Verschieden-Zeitliche in sich selbst. In ihr gipfelt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Gegenwartsspitzen loten das Spiel der Möglichkeiten im Inneren des Augenblicks aus. Sie gewähren einen Blick in den Abgrund der Gegenwart und damit auf all das, was denkbar ist – auf ein Stückchen purer Virtualität.
Zur filmischen Realisierung von Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen Vergangenheitsschichten zeugen von einem umfassenden, expandierenden Gedächtnisraum, Gegenwartsspitzen schildern einen einzigen Augenblick, und doch beschwören beide Zeit-Bilder das Ganze der Zeit herauf. Während Gegenwartsspitzen all die Möglichkeiten thematisieren, welche die Gegenwart vor ihrer Aktualisierung bereithält, verweisen Vergangenheitsschichten auf all die Optionen, die nach der Aktualisierung ungenutzt in die Vergangenheit zurückweichen. Sie eröffnen zwei unterschiedliche temporale Perspektiven auf dieselbe virtuelle Fülle der Zeit. Beide Zeit-Bild-Varianten repräsentieren Nahaufnah-
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men der Virtualität, dabei ähnelt sich ihre filmische Realisierung stark. So lässt sich häufig nicht klären, ob ein Film als Aufnahme einer de-aktualisierten Gegenwart oder als Ansicht eines virtuellen Gedächtnisses zu verstehen ist. Zwar dehnt sich das Virtuelle in der Vergangenheit in Flächen und Regionen aus, während es sich in der Gegenwart unendlich verdichtet und zuspitzt, doch lassen sich die filmischen Umsetzungen der unterschiedlichen Kontraktionsgrade des Virtuellen kaum voneinander unterscheiden. Sowohl die Innenschau des Augenblicks als auch der Einstieg in die allgemeine Vergangenheit bedingen einen Wechsel von der Sukzession des Aktuellen zur Simultanzeit des Virtuellen. Um letztere spürbar zu machen, bieten sich den Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen dieselben filmästhetischen Strategien. Die simultaneitätslogische Verfassung der Filmbilder lässt sich aktivieren, um auf die Virtualitätsordnung anzuspielen. Bildern ist es möglich, einander ausschließende Dinge zeitgleich als gleichmöglich darzubieten. So können in Einstellungen tot geglaubte Filmfiguren wieder unter den Lebenden weilen oder Charaktere aus verschiedenen Zeitaltern einander begegnen. Das Sichtbare kann Vorher und Nachher sowie Sinn und Gegensinn gleichzeitig enthalten. Werden das Vorher und das Nachher simultan ins Bild gesetzt, geraten temporale wie kausale Zusammenhänge aus den Fugen, die zuvor durch die Sukzession der Bilder etabliert wurden. Die beiden zeitlichen Vollzüge, auf denen der Film beruht – die Simultanzeit in den Bildern und die Sukzession der Bilder – werden gegeneinander verschoben und geben die Sicht auf das Virtuelle frei: Bilder veranschaulichen Fragmente eines virtuellen Gleichzeitigkeitsfeldes, welche die Abläufe des Aktuellen verzerren und in Frage stellen. Folglich ist in vergangenheits- wie gegenwartsbestimmten Zeit-Bildern mit irritierenden Einstellungen zu rechnen, welche divergierende Sinneffekte vereinen und die logische Abfolge desavouieren. Zeit-Bilder spielen den Gehalt der Bilder gegen den Handlungsverlauf aus. Doch nicht nur die innere Komposition der Bilder, auch ihre Verknüpfung lässt sich gegen die Ausschlusslogik der Sukzession wenden. Durch falsche Anschlüsse wird die Simultaneität in beiden direkten Zeit-Bildern auf den Gesamtfilm ausgeweitet. So kehrt die Betrachtung zurück zur eingangs erörterten Bedeutung von Fehlanschlüssen für die Entstehung von Zeit-Bildern: sie sind die filmästhetische Konsequenz aus der achronologischen Zeitlichkeit des Virtuellen bzw. die filmische Strategie, um das Simultanfeld des Virtuellen zu illustrieren. In Montageordnungen, die sich wie Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen dem Virtuellen verschreiben, avancieren falsche Anschlüsse zum Prinzip der Bildverkettung. Sie adaptieren das filmische Gefüge an die temporale Verfassung des Virtuellen, der nicht durch chronologische Bildfolgen, sondern durch ‚simultane Bildarrangements’ entsprochen wird. Indem falsche Anschlüsse sensomotorische, narrative und audiovisuelle Übergänge unterbrechen, stellen sie Einstellungen und Sequenzen eher nebeneinander, als sie folgerichtig hintereinander zu reihen. Statt schlüssiger Bildfolgen werden Allianzen zwischen Elementen angeregt, die von der Warte der Chronologie aus nichts miteinander zu tun haben, jedoch auf dem Gleichzeitigkeitsfeld des Virtuellen koexistieren. Falsche Anschlüsse versuchen der technisch bedingten Sukzession der Filmbilder ein audiovisuelles Verweisungsspiel entgegenzusetzen und sie durch Anspielungen zwischen den Einstellungen umzuwandeln in ein Gleichzeitigkeitsfeld. Falsche Anschlüsse spalten die Sukzession auf und geben die Sicht frei auf das Ereignisfeld des Virtuellen, das sich unter ihrer Oberfläche erstreckt. Sie deuten auf „auf eine andere Zeit, die all das enthält, was sich
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ereignet hat oder ereignen wird, aber im Augenblick nicht, nicht mehr oder noch nicht geschieht“ (Vogl 1996: 261). Die Hinwendung zur Temporalität des Virtuellen führt letztendlich zu unkonventionellen filmischen Erzählmustern. Der enge Zusammenhang zwischen temporaler und narrativer Form konnte am Beispiel des Erzählkinos aufgezeigt werden, in dem die zeitliche Sukzession als Fundament einer linearen Narration dient. Im Erzählkino sichert die homogene Zeitinszenierung die Sinnkontinuität und kausale Einheit der Filmstory. Im Kino des ZeitBildes hingegen entwickelt sich Zeit nicht linear-progressiv, sondern vergeht in Form inkompossibler Gegenwarten oder nonchronologischer Gedächtnis-Bewegungen. Sie teilt sich in unvereinbare Parallelwelten und konkurrierende Vergangenheitsalternativen. Die Zeit bringt abweichende Versionen desselben Ereignisses hervor und vereitelt so eine sukzessive Handlungsentwicklung. Die Inszenierung der Simultanzeit des Virtuellen bewirkt eine Fragmentierung und Delinearisierung der Narration. Diese beginnt widersprüchliche Pfade des Geschehens zu schildern oder diskontinuierlich durch die verschiedenen Regionen der Vergangenheit zu springen, ohne dass eine Chronologie und damit eine kausale Entwicklung rekonstruierbar wäre. Das zeitliche Nacheinander weicht einer simultanen Anordnung einander ausschließender Möglichkeiten. So wenig wie sich Vergangenheitssegmente und Gegenwartsoptionen stimmig zusammenfügen lassen, lässt sich entscheiden, welcher Alternative der Vorzug zu geben ist. Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten verhindern eine eindeutige Interpretation des Films. Sie potenzieren damit die Unentschiedenheit, die auch Kristallbilder induzieren: handelt es sich bei Kristallbildern um einzelne Einstellungen, die mit Vieldeutigkeit aufgeladen werden, versetzen Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten den gesamten Film in Schwingung und unterbinden ein auch nur annähernd kohärentes Sinngefüge. Ausschnitte aus dem Simultanfeld des Virtuellen docken aneinander an, ohne sich logisch oder motorisch zusammenzuschließen. Sie prallen unvermittelt aufeinander und entfachen Widersprüche und Divergenzen. Der Sinn des Gezeigten wird im Verlauf der Erzählung nicht zunehmend deutlich, sondern gebrochen, dynamisiert und vervielfältigt. Infiziert durch die achronologische Zeitlichkeit des Virtuellen verzweigt sich die Narration in disparate Lesarten. Die vom Erzählkino angestrebte kausal durchkomponierte Story wird ersetzt durch eine produktive Differenzordnung, welche immer neue Deutungsvarianten des Films generiert. Auf der Basis der achronologischen Virtualität formieren sich statt stringenter Geschichten vieldeutig schillernde Erzählgeflechte. Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten markieren die höchste Entwicklungsstufe der Zeit-Bilder und stehen damit der Zeitinszenierung im Erzählkino diametral gegenüber: ihre Bildkompositionen orientieren sich nicht an der Sukzession des Aktuellen, sondern an der Simultaneität des Virtuellen. Entsprechend wird sowohl die Hierarchie der Zeitdimensionen als auch ihre unumkehrbare Abfolge demontiert. Die Zeit-Bilder betreiben eine Autonomisierung und Vergleichzeitigung zeitlicher Modi. Auf diese Weise unterminieren sie die vom Erzählkino angestrebte kausale Einheit wie auch den realistischen Eindruck der Geschichte und ersetzen sie durch ein offenes Spiel virtueller Möglichkeiten. Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten beschreiben filmische Streifzüge durch den Raum des Denkbaren. Die Zeit-Bilder sind ausgereift zu Bildern des Denkens.
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8.2.5 Visuelle Auslöschung der Temporalität: die Serie der Zeit Nachdem die ästhetische Entwicklung der Zeit-Bilder mit Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen ihren Höhepunkt erreicht hat, kann eine weitere Steigerung nur noch zur Selbsterschöpfung führen. Diese Tendenz zeichnet sich im dritten direkten Zeit-Bild, der Serie der Zeit, ab: „Das dritte Zeit-Bild betrifft die Serie der Zeit, die das Vorher und Nachher in einem Werden zusammenführt, statt beide voneinander zu trennen: sein Paradox besteht darin, ein Intervall einzuführen, das im Augenblick selbst andauert“ (Deleuze 1999: 204; Hervorhebung im Original). Auch dieses Zeit-Bild widmet sich, wie bereits Kristallbilder und Gegenwartsspitzen, dem Augenblick der temporalen Genese. Allerdings verschiebt es den Akzent. Erhellen Kristallbilder und Gegenwartsspitzen die inhärente Möglichkeitsfülle des Augenblicks, fokussiert die Serie der Zeit den Akt der Spaltung, welcher die Fülle freisetzt. Das Zeit-Bild der Serie visualisiert die Differenz, aus welcher die zeitliche Entwicklung heraustritt und leitet so das Verlöschen der Bildlichkeit selbst ein. Den Verständnishintergrund zu diesem Zeit-Bild liefert der Begriff der Serie, den Deleuze mit dem Werden der Zeit in Verbindung bringt. Die Serie deutet nicht auf eine gerichtete temporale Entwicklung hin, sondern auf die schöpferische Kraft der Zeit – auf die Zeit als qualitative Veränderung, die den Wandel und die Entstehung von Neuem ermöglicht. Der Begriff der Serie zielt auf ein unberechenbares, unvorhersehbares Werden. Dieses Werden begreift Deleuze im Ausgang von Bergson als Spaltungsgeschehen, das einer internen Verdoppelung des Augenblicks nachfolgt. Der Augenblick, der seine aktuelle Form wie ungenutzte Potenziale einschließt, teilt sich. Dabei reiht sich seine aktuelle Komponente in die vorüberziehenden Gegenwarten ein, während seine virtuellen Anteile in die allgemeine Vergangenheit zurückfallen. Die Spaltung des Augenblicks entlässt eine Zeitlichkeit, welche Fluchtlinien in Vergangenheit und Zukunft ausbildet. Das zeitliche Werden entspringt seiner eigenen Mitte und entwickelt sich von dort aus simultan in zwei Richtungen: es schreitet zugleich voran gen Zukunft und weicht zurück in die Vergangenheit. Vorher und Nachher werden zu einer paradoxen Koexistenz zusammengeführt. Das Werden ist eine Bewegung in zwei Zeit- und somit immer auch in zwei Sinnrichtungen zugleich. Seine simultane Natur zwingt zu einem Denken in Paradoxa und wird von Deleuze in der Logik des Sinns anhand eines Beispiels verdeutlicht: „Wenn ich sage ’Alice wächst’, will ich sagen, daß sie größer wird, als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner, als sie jetzt ist. Sicherlich ist sie nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner. Es ist aber die gleiche Zeit, in der sie es wird. Sie ist jetzt größer, und sie war zuvor kleiner. Man wird jedoch zur gleichen Zeit mit einem Schlag größer, als man war, und macht sich kleiner, als man wird. Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenart es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen“ (Deleuze 1993a: 15).
Die Gegenwart des Werdens ist nicht greifbar, weil sie die Mitte – den Spalt – besetzt, aus dem das Werden hervortritt. Als Mitte des Werdens ist der Augenblick nicht nur geballte Virtualität, sondern zugleich Zäsur. Die Serie der Zeit beleuchtet die Keimzelle der Temporalität von einer anderen Seite als Kristallbilder und Gegenwartsspitzen. Veranschaulichen letztere den Augenblick in einem Zustand, in dem er mit unerschöpflichen Entwicklungsmöglichkeiten begabt ist, demonstriert die Serie der Zeit den Augenblick auf dem Höhepunkt seiner Virtualität und Potenz als Spaltung. Die Keimzelle der Zeit erscheint nicht mehr als Fülle, sondern als Öffnung, aus der das Werden hervorsprudelt – sie wird zu einer
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Leerstelle, die selber nicht mehr ins Bild gesetzt werden kann. Die Serie der Zeit verlagert die direkte Darstellung der Zeit aus dem Bildraum in die Intervalle zwischen den Einstellungen. Der Schnitt avanciert zum Sinnbild des Spaltungsakts.48 Derartig mit Bedeutung aufgeladen wird der Schnitt nicht länger wie im Erzählkino durch sensomotorische Verkettungen kaschiert (der unsichtbare Schnitt). Stattdessen wird er exponiert und erhält einen eigenen Wert. Im dritten direkten Zeit-Bild werden die Differenzen zwischen den Bildern unhintergehbar und die Zwischenräume unüberwindbar. „Wir haben es mit der Methode des ZWISCHEN zu tun (...). Zwischen zwei Aktionen, zwischen zwei Affekten, zwischen zwei Wahrnehmungen, zwischen zwei visuellen Bildern, zwischen zwei akustischen Bildern, zwischen dem Akustischen und dem Visuellen: das Ununterscheidbare, das heißt die Grenze sichtbar machen (...)“ (Deleuze 1999: 234).
Die Serie der Zeit beruht auf einer Operation der „Differenzierung“ oder „Disparation“ (Deleuze 1999: 234), deren entscheidendes Prinzip der falsche Anschluss ist. Indem er sensomotorische Übergänge aufbricht und Bilder aufeinanderprallen lässt, injiziert er unüberbrückbare Intervalle in den Bildfluss. Diese Intervalle werden autonom. Sie weiten sich aus und erscheinen als solche, z.B. als Stille auf akustischer oder als weiße oder schwarze Leinwand auf optischer Ebene. Die für die Serie der Zeit charakteristische Ausweitung und Verselbständigung der Bildzwischenräume wirkt sich auf die Filmästhetik aus. Sie bedingt eine neue Rhythmik sowie eine Auflösung der Bilder. Durch die Exponierung der Intervalle verwandeln sich schlüssige Bildfolgen in Serien. Bilder werden voneinander abgegrenzt, vereinzelt und verweisen nicht mehr auf den Lauf der Handlung, sondern nur noch auf sich selbst als Bild. Die Serie der Zeit begründet „ein serielles oder atonales Kino“ (Deleuze 1999: 275), in dem sich Bilder nicht mehr zu Sinnfolgen verbinden, sondern nur noch aufgezählt werden; „(...) es gibt keine Verkettung assoziierter Bilder mehr, sondern nur noch Neuverkettungen unabhängiger Bilder. Statt daß ein Bild auf ein anderes folgt, gibt es nur immer noch ein zusätzliches Bild (une image plus une autre), (...)“(Deleuze 1999: 275; Hervorhebung im Original). Das autonom gewordene Intervall zerschlägt die Zusammenhänge zwischen den Einstellungen und transformiert die Narration in eine unkalkulierbare Bilderserie, deren Richtung und Verlauf unmöglich vorherzusagen ist. Das Dazwischen gerät zum Quell überraschender Bezüge und Entwicklungen – der Spalt zwischen den Bildern öffnet den Film auf das schöpferische Werden hin. Das autonome Intervall initiiert jedoch nicht nur die Produktion von Bildern, sondern auch ihr Ende. Es ist verantwortlich für ihre Schöpfung und Erschöpfung zugleich. In der Serie der Zeit sind Intervalle weniger zwischen den Bildern lokalisiert, sondern dehnen sich aus zu einer Leere, welche die Bilder umfängt. „Was nun zählt, ist der Zwischenraum zwischen den Bildern, zwischen zwei Bildern: eine Verräumlichung, die bewirkt, daß sich jedes Bild von der Leere losreißt und in sie zurückfällt“ (Deleuze 1999: 233; Hervorhebung
48 Die ‚Serie der Zeit’ akzentuiert die Ursprungslosigkeit der Zeit bei Deleuze. Er betrachtet Zeit als Teilung, die keinen Ursprung – keinen Anfangspunkt, hinter den man nicht zurückgehen könnte – kennt. Jeder Moment ist Teilung. Die Zeit nimmt ihren Ausgang nicht von einem positiven ersten Augenblick, sondern entspringt der Differenz. Zeit ist ursprungsloses Teilungsgeschehen: „Mit Deleuze über Zeit nachzudenken, bedeutet, das Zeitproblem ’aus der Mitte’ heraus zu begreifen, sie als eine medienabhängige creatio continua zu betrachten, die das Ursprungsproblem hinter sich zu lassen versucht“ (Schaub 2003a: 102; Hervorhebung im Original).
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im Original). In der Eingangssequenz von Lost Highway wird dieses Aufscheinen und Verlöschen der Bilder in beklemmender Weise vorgeführt. Abbildung 10: Lost Highway: die Serie der Zeit.
Schwärze trennt die einzelnen Einstellungen voneinander. Sie steigen aus dem Dunkel auf und sinken ins Dunkel zurück – wie in einer Atembewegung tauchen Bilder auf und wieder ab. Auf der Leinwand schlägt sich der Atem der Zeit nieder, auf ihr offenbart sich das Werden und Vergehen der Bilder selbst. Die Serie der Zeit gewichtet das Verhältnis von Bildern und Bildintervallen im Film um. Sie verschiebt den Schwerpunkt von den Bildern auf das Dazwischen, das immer weiter ausufert und in letzter Konsequenz die Bildlichkeit selbst verschlingt. Die Zeit ist nicht mehr in den Bildern zu finden, sondern nur noch dazwischen. Sie zieht sich in die Leere zwischen den Einstellungen zurück und reißt die Filmbilder mit sich. In der Serie der Zeit schüttelt Temporalität ihre Sichtbarkeit ab. Die Serie der Zeit zeigt Zeit auf dem Höhepunkt ihrer virtuellen Potenz und überschreitet damit die Grenzen des Darstellbaren. Dringen Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen in die Virtualität ein, dokumentiert die Serie der Zeit ihren Ausbruch. Der Ausbruch des Virtuellen aber entzieht sich der Darstellung und verzehrt die Bildlichkeit des Films. Als Allegorie des schöpferischen Werdens leitet das Zeit-Bild der Serie sein eigenes Verlöschen und das der Filmbilder überhaupt ein: die Inszenierung der Zeitspaltung hinterlässt auf der Leinwand eine unauffüllbare Leere. So verweist das dritte direkte Zeit-Bild das Denken der Zeit aus dem Film wieder zurück in das Reich des Intelligiblen, NichtSichtbaren.
8.3 Die Ästhetik des Virtuellen im Kino des Zeit-Bildes In Das Zeit-Bild entfaltet Deleuze Schritt für Schritt eine filmische Ästhetik des Virtuellen. Ihren Ausgang nimmt sie von Fehlanschlüssen, welche die Zeitdarstellung aus ihrer Abhängigkeit von motorischen Bewegungen lösen. Sie leiten die direkte Darstellung einer Zeitlichkeit ein, die sich in Aktualität und Virtualität ausdifferenziert. Mit den falschen Anschlüssen treten rein optische und akustische Bilder auf, die aus dem sensomotorischen Zusammenhang des Aktuellen ausscheren und Austauschbeziehungen zwischen Aktuellem und Virtuellem anstoßen. Sie markieren den Ausgangspunkt von Erinnerungskreisläufen, welche virtuelle Momente in die Dimension des Aktuellen einspeisen. Auch wenn diese Erinnerungskreisläufe selbst noch nicht als echte Zeit-Bilder gelten können, da sie Inhalte eines psychologischen Gedächtnisses reproduzieren, nicht aber Ansichten des Virtuellen vermitteln, ließ sich in Abgrenzung zu ihnen ein prägnantes Charakteristikum von ZeitBildern ableiten: die Resistenz gegen sensomotorische, chronologische und personale Fixierungen. Diese Resistenz konnte dem Kristallbild nachgewiesen werden, das die virtuelle
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Kehrseite des aktuellen Moments einblendet und ununterscheidbar zwischen beiden Polen changiert. Es handelt sich um ein echtes Zeit-Bild, in dem die grundlegende Koexistenz des Aktuellen und des Virtuellen evident wird. Die drei direkten Zeit-Bilder schließlich stellen umfassende Ausgestaltungen der Virtualitätsordnung dar. Während Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten in die Simultanverfassung des Virtuellen eindringen und sensomotorische Montagegesetze und lineare Erzählstrukturen endgültig aufheben, verschlingt der Ausbruch des Virtuellen in der Serie der Zeit die Bildlichkeit des Films. Der Weg von einer Zeit-Bild-Station zur nächsten zeichnet sich aus durch eine fortschreitende Kontaktaufnahme mit dem Virtuellen. Diese ist verbunden mit einer Hinwendung zu Gleichzeitigkeitsverhältnissen. Im Namen des Virtuellen zielt Deleuze auf eine Überwindung des sukzessionslogischen Zeitbegriffs. An die Stelle seiner restriktiven Ausschlussbestimmungen setzt er die Simultaneität aller Möglichkeiten und die des Möglichen mit dem Wirklichen. Eben diese kopräsente Möglichkeitsordnung des Virtuellen wollen Zeit-Bilder zum Leben erwecken. Aus diesem Grund opponieren sie gegen Hierarchie und Abfolge der Zeitdimensionen ebenso wie gegen temporale Indizierungen, welche zur Wiederherstellung einer sukzessionsbasierten und chronologiefixierten Zeitlichkeit führen könnten. „Zeitbilder bedeuten nicht: Vorher und Nachher, bedeuten nicht Aufeinanderfolge (succession). Die Aufeinanderfolge war von Anfang an als Gesetz der Narrativität da. Das Zeit-Bild ist verschieden von dem, was in der Zeit abläuft – es besteht in neuen Formen der Koexistenz, der Serialisierung, der Transformation ...“ (Deleute 1993b: 178; Hervorhebung im Original).
Zeit-Bilder nehmen keinen Bezug auf die temporale Organisation des Aktuellen, sondern erschließen Verbindungen in einem ontologischen Gedächtnis, ergründen die virtuelle Ereignisdichte des Augenblicks und beschreiben das schöpferische Werden der Zeit. Sie öffnen sich der „’Materialität des Möglichen’, die sich trotz temporärer Verkörperungen in diesen nie erschöpft (...)“ (Schaub 20003a: 123) und verweisen auf einen virtuellen „’Ereignisvorrat’, der nie versiegt, sondern immer neue Möglichkeiten, Verhältnisse und Mischungen generiert.“ (Schaub 2003a: 123). In Zeit-Bildern scheint auf, was uns denken lässt: die Zeit als unerschöpfliche, produktive Virtualität.
9 Resümee Deleuze: Zeit und Film
Temporale Denkfiguren In Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild begegnen sich Zeit und Film auf ebenso kreative wie produktive Weise. Der Film wird als ästhetisches Feld entdeckt, auf dem Denkfiguren der Zeit realisiert und zeittheoretische Reflexionen vertieft werden. So nimmt Deleuze zeittheoretische Überlegungen Bergsons auf und entwickelt sie in der Auseinandersetzung mit Filmen weiter. Ebenso wie Bergson geht auch Deleuze hinter die Auffassung vom Zeitpfeil zurück und begreift Temporalität als ein variables Netzwerk von Momenten. Zeit bedeutet ihm Neuformierung von Relationen – Transformation und qualitative Veränderung eines Entwicklungszusammenhangs. Das temporale Werden versteht Deleuze ausgehend von Bergsons Dauer als Spaltung. Die Dauer entwickelt sich nicht linear-progressiv, sondern jeder Augenblick teilt sich und entlässt Fluchtlinien in Vergangenheit und Zukunft. Sie differenziert sich aus in vorübergehende Gegenwarten auf der einen und eine sich bewahrende Vergangenheit auf der anderen Seite. Deleuze interpretiert Bergsons Dauer als schöpferisches Werden, das sowohl die aktuellen Bewegungen und Formationen der Materie bedingt als auch die Entstehung eines virtuellen Gedächtnisraums. Die Gabelung der Zeit in die grundsätzliche Koexistenz von Aktualität und Virtualität wird von Deleuze fortgeschrieben und angereichert, indem er den Ausgangspunkt der Gabelung präzisiert, das Teilungsgeschehen erweitert und die Konfiguration der aktuellen wie der virtuellen Seite durchleuchtet. So erklärt er den von Bergson als Einheit von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit angedachten Augenblick zur Mitte des temporalen Werdens bzw. zum Zentrum des zeitlichen Teilungsgeschehens. Er bestimmt den doppelseitigen Augenblick als Moment der temporalen Genese, welcher mit unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten begabt ist und sich noch nicht in Aktualisierungen verausgabt hat. Die Keimzelle der Zeit ist ein Moment der virtuellen Fülle, der durchdekliniert wird als Komplexion von Aktualität und Virtualität (Kristallbild), als Zeit im modal noch ungeschiedenen Zustand (Gegenwartsspitzen) und als Spaltung auf dem Höhepunkt seiner Virtualität und Potenz (Serie der Zeit). Bei Deleuze avanciert der Augenblick – jeder Augenblick – zum Ereignis, das eine Temporalität freisetzt, welche sich in eine flüchtige Gegenwart, eine expandierende Vergangenheit und eine unvorhersehbare Zukunft verzweigt. Jeder Moment zerfasert und wird eingesponnen in ein sich ausbreitendes, zentrumsloses Zeitrhizom. Ebenso wie die Keimzelle der Zeit spielt Deleuze auch das temporale Teilungsgeschehen durch und erhellt seine unterschiedlichen Implikationen. Er macht die Zeit, welche Entwicklungslinien in Vergangenheit und Zukunft ausbildet, als ein simultanes Werden in zwei gegenläufige Zeit- und Sinnrichtungen sichtbar. Ferner betont er mit Nachdruck, dass die Zeitgabelung zwei koexistente Wirklichkeitsordnungen hervorbringt: die Aktualität materieller Verkörperungen und die Virtualität nicht-realisierter Möglichkeiten – die Zeit
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generiert die sinnliche Erfahrungswelt und den geistigen Raum des Denkbaren. Schließlich wird die Aufspaltung der Zeit in Aktualität und Virtualität ausbuchstabiert als paradoxe Verschränkung zweier zeitlicher Vollzüge. Während das Aktuelle sukzediert, breiten sich die nicht-aktualisierten Momente in der Simultanzeit des Virtuellen aus. Deleuze charakterisiert Temporalität als Verquickung von Sukzession und Simultaneität. Sie teilt sich in die Chronologie des Aktuellen und die äonische Zeitlichkeit des Virtuellen. Bei der chronologischen Form des Aktuellen handelt es sich, wie Das Bewegungs-Bild ausführt, allerdings um eine Abstraktion, die der Wahrnehmungs- und Verstandestätigkeit geschuldet ist. Sie begradigen den sensomotorischen Bewegungszusammenhang der Materie, in dem alle Elemente miteinander reagieren, d.h. die ursprüngliche Dauer des Aktuellen, wie Deleuze sie bei Bergson vorfindet. Dauer des Aktuellen heißt für Deleuze universelle Variation der Materie. Sie bedeutet umfassende Mobilität und Wechselwirkung von Molekülen. Als solche wird Dauer stofflich. Sie gewinnt Substanz als bewegliche Zeitmaterie, welche den Gegebenheiten der empirischen Wirklichkeit vorausliegt und sie bedingt. Gegenüber den zwei Zeitformaten des Aktuellen – der universellen Variation und der abgeleiteten Sukzession – zeichnet sich das Virtuelle aus durch Koexistenz und Expansion. Bergsons Gedanke, dass sich die Vergangenheit zugleich mit der Gegenwart konstituiert, in der Kontinuität der Dauer fortlebt und dort eine eigenständige geistige Realität ausformt, wird im Zeit-Bild in mehrerlei Hinsicht verschärft. So verstärkt Deleuze die von Bergson konstatierte Gleichursprünglichkeit von Vergangenheit und Gegenwart zur Präexistenz einer ontologischen Vergangenheit, welche die Prämisse für das Vergehen der Gegenwart darstellt. Die Auffassung, nach der zuerst etwas gegenwärtig sein muss, bevor es zur Vergangenheit wird, wird von Deleuze umgekehrt: „Die Vergangenheit folgt nicht der Gegenwart, sondern wird von dieser im Gegenteil als Bedingung schlechthin vorausgesetzt, ohne die sie nicht vergehen könnte“ (Deleuze 2001: 79). Die Präexistenz der ontologischen Vergangenheit bildet damit zugleich die Voraussetzung für die Entstehung der persönlichen Vergangenheit, die aus vergangenen Gegenwarten konstituiert wird. Die ontologische Vergangenheit sowie die Erinnerungen, die in sie einmünden, erhalten sich in der Zeit. Der bewahrende Aspekt der bergsonschen Dauer wird von Deleuze ausgebaut zu einem nonsubjektiven, ontologischen Gedächtnis, das die Totalität der Vergangenheit birgt – die konkrete Vergangenheit ehemaliger Gegenwarten ebenso wie die allgemeine Vergangenheit, in welche all jene Optionen zurückweichen, die sich nicht vergegenwärtigt haben. Sowohl das ontologische Gedächtnis als auch die allgemeine Vergangenheit werden von Deleuze mit der Virtualität identifiziert und tauchen als Decknamen des Denkmöglichen auf. Während sich hinter der allgemeinen Vergangenheit ein anwachsendes Terrain ungenutzter Möglichkeiten verbirgt, gleicht das ontologische Gedächtnis einem Ereignisreservoir, in dem die schöpferische Zeit Entwicklungsalternativen für spätere Realisierungen bereit hält. Deleuze steigert die von Bergson konstatierte Gedächtnisfunktion der Dauer zu einem unabhängigen, produktiven Gedächtnis, das in der Zeit selbst liegt – Zeit und Virtualität werden in Eins gesetzt. In letzter Konsequenz führt die Autonomisierung von Vergangenheit und Gedächtnis zu einer Inversion von Innen und Außen. So bedeutet die Kontemplation in die Vergangenheit nicht die Einkehr des Subjekts in eine ihm innerliche Erinnerungszeit. Stattdessen tritt es aus sich heraus und begibt sich hinein in ein umfassendes, ontologisches Gedächtnis: „Das Gedächtnis ist nicht in uns, wir sind es, die wir uns in einem Seins-Gedächtnis, in einem Welt-Gedächtnis bewegen“ (Deleuze 1999: 132). Analog beschreibt auch das sub-
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jektive Zeiterleben keinen Rückzug in eine innere Zeitlichkeit des Subjekts, sondern den Ausgang in die Zeit selbst. Es eröffnet den Durchgang zur Essenz der allumfassenden Zeit, in der das Subjekt mit seinem Fühlen, Denken und Handeln aufgehoben ist. Die Zeit ist nicht in uns, sondern wir sind in der Zeit. Der vermeintliche Gemeinplatz gewinnt seine Brisanz durch die Konnexion von Zeit und Subjektivität: nicht nur konstituiert die Zeit das Gedächtnis und mithin das Bewusstsein – ohne die Fähigkeit zur Erinnerung könnten Individuen nur intuitiv reagieren, nicht aber ihr Tun reflektieren –, sondern Zeit ist auch das Virtuelle, in dem sich das Denken vollzieht. Subjektivität wird erst möglich durch die Zeit, oder wie Deleuze zuspitzt: Zeit ist Subjektivität. Befindet sich die Zeit aber nicht in uns, sondern wir uns in ihr, so befindet sich auch die Subjektivität nicht in uns, sondern wir uns in ihr. Mit der Zeit stülpt Deleuze den Kern des Subjekts selbst – seine Subjektivität – nach außen. „Die Zeit ist nicht das in uns befindliche Innerliche, sie ist, ganz im Gegenteil, die Innerlichkeit, in der wir sind und leben, in der wir uns bewegen und verändern. (...) Die Subjektivität ist niemals die unsrige, denn sie ist die Zeit, das heißt die Seele oder der Geist, das Virtuelle“ (Deleuze 1999: 113).
Kontemplation in die Zeit ist Ausgang in die Subjektivität – wenn das Subjekt sich in sein Selbst zurückzieht, dann tritt es aus sich heraus in die Zeit. Fühlen, Erinnern, Denken und Selbstreflexion vollziehen sich nicht im Inneren des Subjekts, sondern in der umgreifenden, achronologischen Koexistenz von Aktualität und Virtualität, die einander durchdringen, sich spiegeln, konterkarieren oder aneinander brechen.
Zeit und Film Deleuzes Nachdenken über Zeit lässt sich vom Nachdenken über den Film nicht trennen. Er zeichnet den Film als Medium aus, welches das temporale Teilungsgeschehen zur Aufführung bringen und seine Wirkungen demonstrieren kann. Attestierte Bergson dem technischen Verfahren der Kinematographie einst Zerlegung und Verfälschung der Dauer, wechselt Deleuze auf die Ebene des Filmerlebens und exponiert eine tiefreichende Affinität des Mediums zu beiden Seiten der Temporalität. Das Bewegungs-Bild macht den Film als ein Ineinander beweglicher Einstellungen evident, das sich den aktuellen Bewegungen und Veränderungen der Materie anschmiegt. Filmbilder veranschaulichen Ausschnitte aus dem unkalkulierbaren Entwicklungszusammenhang der Dauer. Sie enthalten Partikel der ganzheitlichen temporalen Variation und verbinden sich mittels Montage zum Bild eines umfassenden temporalen Wandels. Diesen kann Film auch in einer Weise zum Ausdruck bringen, die der natürlichen Wahrnehmung verschlossen bleibt. Während letztere die Dauer der Materie als Raumbewegung von Festkörpern auffasst und ihre allseitige Bewegung zur Sukzession begradigt, vermag der Film unter die Oberfläche der vertrauten Erfahrungswirklichkeit zu tauchen. Durch nonchronologische Montage, die Veränderlichkeit seiner Kadrierungen und die Mobilisierung seiner Bezugszentren ist er in der Lage, sich der ungerichteten, unzentrierten Dynamik der Dauer anzunähern. Er kann die Welt universeller Veränderlichkeit und molekularer Wechselwirkung in Szene setzen – die Welt aus Licht und Bewegung, welche den Perzepten des Aktuellen zugrunde liegt. Dem Film gelingt eine Ästhetisierung der beweglichen Zeitmaterie,
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die den menschlichen Sinnen verborgen bleibt. Von der mechanistischen Bewegungsillusion bei Bergson avanciert der Film bei Deleuze zu einem philosophischen Medium, das die aktuelle Wirklichkeit als dauernde begreifbar machen kann. Er stellt zur Debatte, „(...) daß der Film in dieser Hinsicht ein wesentlicher Faktor ist, ja, daß er bei der Entstehung und Entwicklung dieses neuen Denkens, dieser neuen Art zu denken, eine wesentliche Rolle zu spielen habe?“ (Deleuze 1998: 21). Deleuzes Betrachtungsweise ermöglicht „(...) eine andere Sicht des Films: dieser ist nicht mehr eine perfektionierte Apparatur für eine sehr alte Illusion, vielmehr zu perfektionierendes Werkzeug der neuen Wirklichkeit“ (Deleuze 1998: 21). Per Bild- und Montagetechnik vermag Film nicht nur zu den Metamorphosen des Aktuellen vorzustoßen, sondern auch, wie Das Zeit-Bild ausführt, die Virtualität – den Raum des Denkbaren – zu ergründen. Wo auf Sukzessionslogik und Modalzeitlichkeit beruhende sprachliche Beschreibungen zu kurz greifen, bereitet der Film ein ästhetisches Terrain, auf dem die Temporalität des Virtuellen und ihre Verflechtung mit dem Aktuellen reflektiert werden können. Falsche Anschlüsse lösen die temporale Dynamik von der Sukzession ab und zeugen von mentalen Relationen und gedanklichen Bewegungen auf dem Gleichzeitigkeitsfeld des Virtuellen. Seine Koexistenz mit dem Aktuellen gerät ins Visier, wenn im Film die Simultanzeit gegen die Sukzession des Aktuellen aufgeboten wird. Sukzessiv im narrativen Ablauf und simultan in seiner Bildlichkeit umfasst Film beide zeitlichen Vollzüge. Indem er die narrative Sukzessionslogik und visuelle Simultaneitätsverhältnisse gegeneinander ausspielt, entfesselt er die Wirkungen einer achronologischen Zeit, in der sich die Sukzession des Aktuellen und die Simultanzeit des Virtuellen zugleich vollziehen, sich gegeneinander verschieben und einander abfälschen. Das Kino „bewahrt, aber immer nur zur Unzeit, weil die filmische Zeit nicht die Zeit ist, die zerrinnt, sondern die Zeit, die dauert und koexistiert“ (Deleuze 1993b: 109). Film kann die Variation der Materie antizipieren, mentale Bewegungen durch den Raum des Denkbaren nachzeichnen sowie das Ineinander von Aktualität und Virtualität heraufbeschwören. Im Gegensatz zu Bergson gesteht Deleuze dem Film eine äußerst komplexe Zeitlichkeit zu. Von Bergsons mechanistischem Standpunkt aus ließ sich Film nur als Streifen fixierter Gegenwarten und damit als Inbegriff der homogenen Zeitvorstellung verstehen. Deleuze hingegen verdeutlicht, dass die erlebte filmische Zeitdynamik sich nicht zwangsläufig gleichsetzen lässt mit der linear-progressiven Abfolge distinkter Momente auf der technischen Ebene. Die Zeit im Film ist ausufernd und unberechenbar. In der Diegese kann potenziell jede Einstellung aus der chronologischen Entwicklung der Erzählung ausscheren, auf abwegige Momente verweisen und unverhoffte Wendungen provozieren. Auch können die visuellen Simultaneitätsverhältnisse in den Einstellungen ihrer narrativen Abfolge entgegenarbeiten und Mehrdeutigkeiten oder Widersprüche entfachen. Filmbilder können sich zu einem audiovisuellen Zeitgewebe vernetzen, in dem sich die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit, Reellem und Potenziellem manifestiert. Die Affinität des Films zu einer sich in Aktualität und Virtualität teilenden Temporalität rückt erst in Sichtweite, wenn der technische Blick auf das Medium aufgegeben und sowohl stilistische Strategien als auch das filmtypische Zusammenspiel simultaner und sukzessiver Zeitvollzüge in Betracht gezogen werden. Insbesondere die temporale Struktur des Films als Einheit von Sukzession und Simultaneität prädestiniert ihn, die Paradoxien eines grundlegenden achronologischen Teilungsgeschehens bewusst zu machen. Anders gesagt: Deleuze nutzt die medial involvierte Zeitlichkeit des Films, um die originäre Ver-
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fassung der Zeit zu reflektieren. Damit schlägt er eine Brücke zwischen zwei konträren zeittheoretischen Positionen: der Vorstellung von einem temporalen Wesen und einer mediengenerierten Zeit. Beide Positionen klingen in der Filmstudie an. Auf der einen Seite halten die Suche nach Zeit-Bildern, die Temporalität direkt präsentieren sollen, und die Konzeption einer ontologischen Vergangenheits- und Gedächtnisdimension den Gedanken an eine temporale Essenz lebendig. Auf der anderen Seite geht Deleuze mit dem Konzept der Zeitinszenierung konform und erkennt die Gestaltung der Zeit durch den Film an. Bewegungs- und Zeit-Bilder modellieren und inszenieren Temporalität. Sie konstituieren filmische Zeitvokabulare, die vielfältige Vollzüge der Zeit wie die universelle Veränderlichkeit, die homogene Zeit, oder das virtuelle Simultanfeld aktualisieren. Filmische Zeitzeichen animieren das temporale Teilungsgeschehen, indizieren seine Wirkungen und verleihen Zeitzonen wie der autarken Vergangenheit Gestalt, die sich bei Bergson dem temporalen Erlebnisfeld entziehen. Ist bei Bergson Temporalität in ihrer komplexen Ausdifferenzierung in Aktualität und Virtualität nur unterhalb der zeichenhaften Oberfläche zu finden, kommt Temporalität bei Deleuze nur durch und in medialen Zeichen zum Ausdruck – sie setzt sich in Medien ab und offenbart nur hier ihre Wirkungen. Insbesondere in den audiovisuellen Strukturen von Filmen wird die grundlegende temporale Doppelbewegung manifest. Aus diesem Grund weist Deleuze der filmischen Zeitdarbietung eine Erkenntnisfunktion zu: er instrumentalisiert die technischen Möglichkeiten und die zeitliche Verfassung des Mediums – die Verquickung von Simultaneität und Sukzession -, um das wesenhafte Teilungsgeschehen der Zeit zu antizipieren. So wird der Film in den Rang eines zeittheoretischen Mediums erhoben, in dem sich die Doppelbewegung der Zeit denken lässt – mit seiner Hilfe lassen sich das Aktuelle, das Virtuelle und ihre Verflechtungen ästhetisch wie theoretisch erforschen. Film ermöglicht ein Denken über Zeit, „(...) das anderswo, etwa in anderen Medien oder auch in Formen philosophischer Sprache und Wissenschaft, nicht in gleichem Maße einholbar ist. So sind Bewegungen und Zeit, Gedächtnis und Erinnerung, letztere vor allem als zentrale Kategorien des Zeit-Bildes, visuell verfasste Denkfiguren, die in der Moderne vor allem vom Film hervorgebracht werden können“ (Fahle 2002: 97).
Auch wenn Deleuze sich von Bergson absetzt und akzentuiert, dass Zeit in Medien sichtbar und denkbar wird, hat er sich – anders als das Zeitinszenierungskonzept – noch nicht endgültig von einer epistemologischen Orientierung verabschiedet. Er verwendet die filmischen Zeitästhetiken letztlich als mediale Annäherungsstrategien an eine unterstellte Grundverfassung der Zeit, die er von Bergson aus weitertransportiert hat. Die Medienzeit des Films wird eingespannt, um zur Zeit im reinen Zustand – zum Wesen der Zeit – vorzustoßen. Dennoch: zur Auffassung vom Film als temporalem Reflexionsmedium gelangt Deleuze nur, weil er auf seine zeitformierende Wirkung setzt. Er führt filmische Zeitästhetik und Zeittheorie zusammen und erklärt die filmische Zeitinszenierung zur filmischen Zeitreflexion. Nach Bergsons Filmkritik und der zeittheoretischen Aufwertung des Mediums durch Deleuze soll es anschließend um die zeitästhetische Praxis gehen: um die Verfilmung von Zeitlichkeit bei David Lynch.
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10 Welcome in Lynchland
Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story lösen sich von der homogenen Zeitordnung und ziehen ihr Publikum in den Bann eines subjektiven Zeiterlebens. So beschwört Lost Highway – die Geschichte eines vermeintlichen Mörders, der sich seiner Tat nicht entsinnen kann – das Schreckszenario einer unkontrollierbaren Vergangenheit herauf. The Straight Story wiederum zeichnet mit der letzten Reise eines alten Mannes ein melancholisches Bild der Vergänglichkeit. Mulholland Drive schließlich lässt zwei Versionen einer Hollywood-Karriere miteinander konkurrieren und schöngefärbte Erinnerungen an ihrem alptraumhaften Gegenstück zerschellen. Lynchs bis dato letzten Kinoproduktionen formieren Temporalität in einer Weise, die den Konzeptionen von Bergson und Deleuze sehr ähnlich ist. Protagonisten tauchen in ein autarkes Gedächtnis ab und streifen auf Gleichzeitigkeitsfeldern umher – sie werden in Zeitspaltungen hineingezogen und in virtuelle Möglichkeitsspiele verwickelt. In jedem der Filme gerät das subjektive Erlebnis der Zeit zur Grenzerfahrung. Es führt die Figuren an die dunklen Ränder ihrer Erinnerungen, in den Wahnsinn oder an das Ende ihres Lebens. Vor dem Einstieg in Lynchs Zeitkosmos, soll zunächst die Diskussion des Zeitfaktors im Lynch-Diskurs skizziert und die Methodik der Filmanalyse vorgestellt werden.
10.1 Zur Diskussion des Zeitfaktors im Lynch-Diskurs Lynch ist ein Regisseur, der Eindeutigkeiten sprengt. Seine enigmatischen Filmfantasien zwischen Kunst- und Genrekino polarisieren – den Einen erscheinen sie hermetisch und unverdaulich, auf Andere wirken sie elektrisierend. Lynchs Filme sind unbehaglich – beunruhigend, weil sie sich den Abgründen unter der vertrauten Oberfläche widmen. Die Ahnung einer ebenso reizvollen wie gefährlichen ‚Unterwelt’ trieb Lynch bereits in seiner Kindheit um: „Ich erkannte, dass es unter der Oberfläche eine zweite Welt gibt, und noch mehr andere Welten, wenn man tiefer gräbt. Ich wusste es als Kind, aber ich konnte es nicht beweisen. Es war nur so ein Gefühl. Ein blauer Himmel und Blumen sind etwas Friedvolles, doch daneben gibt es eine zweite Macht – wilder Schmerz und Verwesung“ (Rodley 1998: 24).
Zwanzig Jahre später beginnt Lynch diesem Gefühl seiner Kindheit filmisch nachzuspüren: „Was die Oberflächen zeigen, ist nur ein Teil der Wahrheit. Darunter steckt das, was mich am Leben interessiert: die Dunkelheit, das Ungewisse, das Erschreckende, die Krankheiten. (...) In jedem meiner Filme geht es um die Oberfläche der Dinge und was sich darunter verbirgt. Kann sein, daß ich besessen bin von den verborgenen Dingen, vielleicht werde ich von diesem Thema immer besessen sein“ (Fischer 1992: 23).
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Der Film wird wie eine Sonde in die ‚zweite Welt’ eingeführt, die unter der amerikanischen Kleinstadtidylle, der bürgerlichen Moralvorstellung und dem rationalen Bewusstsein lauert. Lynch erkundet gewalttätige und sexuelle Exzesse jenseits gesellschaftlicher Normen und Wertevorstellungen, taucht ab in die finsteren Winkel der individuellen Psyche und geht dem Leben, wenn er mit der Kamera Organisches und Gewebestrukturen seziert, buchstäblich unter die Haut. So entstehen bildintensive Werke, die oftmals weder den Gesetzmäßigkeiten der Alltagswirklichkeit noch den Konventionen ihrer kinematographischen Darstellung folgen, sondern einer undurchsichtigen Eigenlogik gehorchen – Werke, die in rationalen Deutungen und filmischen Sehgewohnheiten nicht aufgehen. Mit Deleuze lassen sich Lynchs Filme treffend als ‚Nervenkunst’ beschreiben, die vorhandene Klischees filmischer Repräsentation und Interpretation durchbrechen, um „einen Schock im Denken entstehen zu lassen, Vibrationen auf die Gehirnrinde zu übertragen, unmittelbar das Gehirn und das Nervensystem zu beeinflussen“ (Deleuze 1999: 205; Hervorhebung im Original). Unter Umgehung des Verstandes wirken Lynchs Filme direkt auf die Emotionen ihres Publikums. Das Aufplatzen der Oberfläche, die Zerstörung des vertrauten Scheins der Dinge verursacht einen Schock im Denken. So werden Rationalisierungsbestrebungen paralysiert, welche die Intensität der Gefühlsreaktionen abfedern könnten. Es bleiben ungezähmte Empfindung und tiefgreifende, intellektuelle Verunsicherung. Diese versucht Lynch auch in den Kommentierungen seiner Arbeiten nicht zu beschwichtigen. Im Gegenteil: er weigert sich, seinen Filmen nachträglich eine Sinnstiftung zu verleihen oder sie in die beruhigende Eindeutigkeit einer Interpretation zu pressen: „Es ist auch schrecklich einschränkend, Dinge zu definieren. Sie sind dann lediglich das, was sie sind. Und ich mag Dinge, die mehr sind“ (Rodley 1998: 45). Offenheit und Vieldeutigkeit der Werke werden gar potenziert, indem Lynch sie in einen dichten Verweisungszusammenhang einbettet, in dem Motive zirkulieren, ähnliche Figuren wiederkehren, Filme aufeinander anspielen und sich gegenseitig zitieren. So erzeugte Lynch im Verlaufe seines Schaffens eine bizarre Gegenwelt zur Alltagswirklichkeit. Durch die Jahre haben sich seine Arbeiten zu einer kafkaesken Filmlandschaft zusammengefügt – zum ‚Lynchland’, in dem jederzeit Bekanntes in Groteskes und Idylle in Horror umschlagen kann. Sowohl die Vieldeutigkeit seiner Filme als auch ihre formal-ästhetische Gestaltung haben das filmwissenschaftliche Interesse an Lynch stets wach gehalten. Seine Erzählgefüge sind komplex, die Filmwelten unübersichtlich. Üblicherweise stellt sich eine Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Sphäre in Lynchland als schwierig dar. Gewalttätige Männer und verführerische Frauen, mächtige Überväter und bedrohliche Mütter, skurrile Geschöpfe und rätselhafte Doppelgänger scheinen der Psyche der Protagonisten entstiegen zu sein und nun ihre Umwelt zu bevölkern. Die Figuren treiben durch ein Geschehen, das sich weniger mit kausal-logischer als mit psycho-logischer Notwendigkeit entwickelt und finden sich in Situationen wieder, deren Absurdität den Filmen einen fantastischen Charakter verleiht. Wachträumen ähnlich sind Lynchs Arbeiten in einem Zwischenreich beheimatet, in dem sich Imagination und Realität vermischen. Die innere Wirklichkeit der Figuren greift auf ihre Außenwelt über, setzt physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft und etabliert eine mentale Logik. Erinnerungsprozesse, die Wiederkehr des Verdrängten oder traumähnliche Verdichtungen und Verschiebungen avancieren zu filmischen Formprinzipien. Das Filmgeschehen erscheint so in einem persönlichen Licht.49 49 Aufgrund ihrer Tendenz zur Subjektivierung regen Lynchs „Mentalen Landschaften“ Lesarten freudianischer und lacanscher Prägung an (vgl. Jerslev 1996; Zizek 2000; Seesslen 2003; Herzogenrath 1999; Blanchet 2005).
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An dieser Subjektivierung der Filmwelten sind Lynchs unorthodoxe Zeitkonstruktionen maßgeblich beteiligt. Die temporale Gestaltung fungiert als Stellschraube, die reguliert, ob ein Film mit der äußeren Erfahrungswelt übereinstimmt und damit im landläufigen Sinne realistisch wirkt oder nicht.50 Gemeinhin wird dem Film eine sehr große Nähe zur äußeren Realität zugesprochen, denn er vermag die empirische Wirklichkeit nicht nur fotographisch abzubilden, sondern auch ihre temporale Dimension – sprich Bewegungen, Veränderungen, Verwandlungen – wiederzugeben. Aus diesem Grund ist Kracauer und Bazin zufolge das filmische Medium seinem Wesen nach realistisch und die getreue Darbietung äußerer Wirklichkeit seine wahre künstlerische Bestimmung (vgl. Kracauer 2001a; Kracauer 2001b; Bazin 1975).51 Diese Auffassung setzte sich bis in Hollywoods Erzählkino fort, in dem sich die Wahrung eines Zeitkontinuums – die Inszenierung homogener Zeit – als Darstellungskonvention etabliert hat, um eine Ähnlichkeit mit der vertrauten Erfahrungswelt und so eine Realitätsillusion zu erzeugen. Im Umkehrschluss kann die Manipulation des temporalen Kontinuums eine realistische Wirkung empfindlich stören. In dem Moment, wo die filmische Zeitinszenierung eine linear-kontinuierliche Abfolge untergräbt, aufbricht oder krümmt, wird der Anschein objektiver Realität verzerrt und das Filmgeschehen subjektiv getönt. Die temporale Organisation verursacht eine Entfremdung der Film- von der alltäglichen Wahrnehmungswirklichkeit, weswegen sie in Beiträgen von Anne Jerslev, Georg Seesslen oder Burkhard Röwekamp als ästhetische Strategie der Derealisierung und Subjektivierung verhandelt wird (Jerslev 1996; Seesslen 2003; Seesslen 2004; Röwekamp 2003).52 Neben der ästhetischen Relevanz als Subjektivierungsverfahren kommt der Zeitgestaltung eine erzähltechnische Bedeutung zu, mit der sich narratologisch orientierte Lynch-Analysen befassen (vgl. Orth 2005; Liptay 2005; Elsaesser/Buckland 2002; Jerslev 1998; Kallweit 1998; Celeste 2005). Bei der temporalen Ordnung eines Films handelt es sich letztlich um das Arrangement von Einstellungen und Sequenzen, d.h. die Zeitgestaltung eines Films bildet das Fundament seiner narrativen Architektur. Während ein linearer Zeitverlauf eine schlüssige Kausalentwicklung der Story sichert, können Eingriffe in die Chronologie ein kohärentes Erzähl- und Sinngefüge aus den Angeln heben. Aus diesem Grund erweisen sich für die Narratologie insbesondere Lost Highway und Mulholland Drive als interessant. Aus ihrer nonlinearen Zeitordnung erwachsen labyrinthische Narrationen, welche die traditionelle Erzählweise und eine sukzessive Sinnentfaltung in Frage stellen. Von hier aus schlagen narratologische Untersuchungen wie die von Dominik Orth und Fabienne Liptay den Bogen zurück zur ästhetischen Bedeutung des Zeitfaktors. Sie zeigen, dass das der temporalen Struktur aufliegende Erzählgefüge für die Ineinanderschiebung von subjektiver und objektiver Wirklichkeit innerhalb der Diegese verantwortlich ist. Diese Gemengelage kann durch den Begriff des filmischen Realismus nicht mehr adäquat beschrieben werden. Auch Röwekamp erhellt das Dreieck ‚Zeit – Erzählung – Ästhetik’, indem er ausführt, dass 50 Der Begriff des filmischen Realismus wird hier als Übereinstimmung mit der alltäglichen Wahrnehmungswirklichkeit definiert (vgl. Hickethier 2001: 155f.). Ausgehend von einer solchen Realismus-Definition beleuchten filmwissenschaftliche Einführungen und Standardwerke den Einfluss der Zeitgestaltung auf die realistische Wirkung eines Films n (vgl. Korte 2001; Borstnar/Pabst/Wulff 2002; Bordwell 1985; Bordwell/Staiger/Thompson 1985; Thompson 1999). 51 Einen Überblick über klassische filmtheoretische Auffassungen vom Bezug des Films zur äußeren wie inneren Wirklichkeit vgl. Brütsch 2003. 52 Weitere Arbeiten zur Darstellung subjektiver Erfahrungswelten in Filmen von Lynch vgl. Nochimson 1997; Langer 1998; Lahde 1998; Höltgen 2001.
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die temporale Delinearisierung die Ablösung des herkömmlichen Erzählcodes initiiert und so einer subjektivierenden Darstellungsweise Vorschub leistet, die sich vom ästhetischen Gestus in Hollywoods Erzählkino abhebt. „Ausschlaggebend für das subjektivierende Verfahren ist die Abweichung von einer ästhetischen Norm linearen Erzählens, wie sie insbesondere während der Phase des Studiosystems in Hollywood durchgesetzt werden konnte. Und diese Abweichung hat die Form der Subjektivierung der Erzählperspektive“ (Röwekamp 2003).
Demnach ist der Zeitfaktor sowohl in narrative Neuformierungen als auch in die subjektive Einfärbung der Filmwelt involviert. Das temporale Design affiziert sowohl das ästhetische als auch das narrative Gefüge, kurz: die Untersuchung der Zeitinszenierung zielt auf einen neuralgischen Punkt der filmischen Gesamtkomposition. Diese Arbeit nun stellt eine Verbindung zwischen Lynchs Zeitinszenierung und den zeittheoretischen Ansätzen von Bergson und Deleuze her. Aus dem Brückenschlag ergeben sich zeitästhetische und zeittheoretische Fragen an die Filme. Erstere zielen auf die stilistischen und erzähltechnischen Verfahren, mit deren Hilfe Lynch Zeitfiguren ästhetisiert, die Bergson und Deleuze theoretisch konzipieren. Da Film aber nicht nur ein Aufführungsort des Temporalen ist, sondern ein ästhetisches Reflexionsfeld darstellt, schließt sich die zeittheoretische Frage an, in welcher Weise die Zeitfiguren modifiziert und welche Wirkungen ihnen zugeschrieben werden. Aus diesen Untersuchungsfragen ergibt sich für die Filmanalyse eine Methodenkopplung, die im Folgenden vorgestellt wird.
10.2 Methodik der Filmanalyse: Neoformalismus und Hermeneutik Nicht Lynchs gesamtes Oeuvre sondern lediglich drei seiner Werke – Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story – stehen im Mittelpunkt einer zeitästhetischen wie zeittheoretischen Untersuchung. Die begrenzte Auswahl ergibt sich aus der Entscheidung, kein Panorama lynchscher Zeitkonstruktionen zu erstellen, sondern in ihre Tiefe einzudringen. Die konkrete Auswahl verdankt sich dem Umstand, dass in diesen Produktionen die Zeit selbst die eigentliche Hauptrolle spielt: einerseits stellt der Umgang mit Temporalität ein prägnantes Merkmal der Filmästhetik dar, andererseits werden Fragen zur Verfassung und Gestaltbarkeit von Zeit aufgeworfen. Die werkorientierte Analyse setzt an der auffälligen Analogie zwischen den filmischen Zeitmodellen und den theoretischen Zeitfiguren bei Bergson und Deleuze an und verfolgt zwei Leitfragen: Mit Hilfe welcher Strategien werden die Zeitfiguren ästhetisiert? Wie werden sie modifiziert und welche Wirkungen erzeugen sie? Die Bearbeitung der Fragen erfordert das Aufsplitten des Filmmaterials in zwei Untersuchungsebenen. Während die filmästhetische Frage nach den temporalen Gestaltungsmitteln die formale Ebene des Films betrifft, richtet sich die zeittheoretische Frage nach den Veränderungen und Auswirkungen der Zeitidee auf die Bedeutungsebene. De facto lassen sich formale und konnotative Ebene nicht voneinander trennen, denn der zeittheoretische Gehalt der Lynch-Filme wird durch die spezifische Form ihres temporalen Designs generiert. Aus methodischen Gründen aber ist eine Differenzierung notwendig, da die Beantwortung filmästhetischer und zeittheoretischer Fragestellungen unterschiedliche Vorgehensweisen verlangt. Zur Analyse der ästhetischen Zeitgestaltung wird das neoformalistische Verfahren herangezogen, welches formale
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Elemente und Strukturen des Filmmaterials ins Blickfeld rückt. Die zeittheoretischen Implikationen hingegen werden durch eine hermeneutische Vorgehensweise freigelegt, die sich der Zeitkonzeptionen von Bergson und Deleuze bedient. Sie fungieren als Beschreibungsinstrumente der filmischen Zeitdynamik.
10.2.1 Die neoformalistische Komponente Der unter anderem von Thompson und Bordwell entwickelte neoformalistische Ansatz der Filmanalyse rekurriert auf die Literaturtheorie russischer Formalisten. Die hier vertretenen Auffassungen und Analysekategorien des Ästhetischen wurden von Thompson und Bordwell in die Filmwissenschaft transferiert und für ein analytisches Verfahren fruchtbar gemacht (vgl. Thompson 1988; Bordwell/Staiger/Thompson 1985; Bordwell/Thompson 1990; Hartmann/Wulff 1995). Dieses zielt auf die Beschreibung der Poetizität, die sich in formalästhetischen Strukturen von Filmen manifestiert. Dem Neoformalismus geht es weniger darum was, sondern primär wie etwas repräsentiert wird. Damit distanziert er sich von theoriegeleiteten, hermeneutischen Vorgehensweisen, die auf die inhaltliche Ebene des Films abheben: Methoden, die verborgene Bedeutungen im Lichte eines bestimmten Ansatzes (z.B. Psychoanalyse, Strukturalismus, Poststrukturalismus) auslegen, erscheinen von neoformalistischer Warte aus als wenig filmgerecht (vgl. Thompson 1988). Bordwell und Thompson zufolge liegt im Theorieprimat die Gefahr einer dogmatischen und reduzierten Lesart. Die jeweiligen theoretischen Prämissen lenken die Interpretation und programmieren ihre Resultate vor – auf diese Weise findet man immer nur das, was man sucht. Obendrein vernachlässigt die an außerfilmischen Konzeptionen orientierte Bedeutungssuche „die spezifischen gestalterischen, semiotischen und stilistischen Eigenschaften des Films“ (Hartmann/Wulff 1995). Sie zwängt seine Komplexität in das knappe Korsett einer abstrakten Theorie und produziert ähnliche Lesarten stilistisch und thematisch vollkommen unterschiedlicher Filme. Diese Taktik der übergestülpten Methode (imposed-method tactic, vgl. Thompson 1988: 4) verkürzt den Film zur Demonstration eines theoretischen Konzepts. Um die Risiken eines theoriegeleiteten und damit zwangsläufig gefilterten und begrenzten Blicks auf den Film zu vermeiden, setzt das neoformalistische Verfahren direkt am Filmmaterial an und nimmt „’besondere’ und ’konkrete’ Eigenschaften des filmischen Repräsentationsapparates“ (Hartmann/Wulff 1995) ins Visier. Es versucht das Zusammenspiel stilistischer, narrativer, und semantischer Elemente zu durchleuchten, die Funktionen und Motivationen formaler Komponenten zu beschreiben und die narrativen und ästhetischen Strukturen des Films zu erhellen. Aufgrund dieses Untersuchungsinteresses verspricht die neoformalistische Analyse der ästhetischen wie narrativen Relevanz des Zeitfaktors gerecht zu werden. Sie bietet sich an, um den formalen Charakter filmischer Zeitinszenierungen und ihre Effekte zu eruieren. Zwei Aspekte des Neoformalismus sind dabei besonders hilfreich: das Verhältnis von Form und Bedeutung sowie das Konzept der Verfremdung.
1. Form und Bedeutung Unter der Form eines Films versteht der Neoformalismus das Gesamtsystem sämtlicher Filmelemente (stilistische, narrative, semantische). Vor diesem Hintergrund wird die tradi-
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tionelle Hierarchie von Form und Bedeutung nivelliert: die Form erscheint nicht als Vehikel oder Verpackung der Bedeutung, sondern die Bedeutung als Element der Form. Sie bildet neben stilistischen und narrativen Mustern eine weitere Komponente des formalen Systems – ist in das filmspezifische Zusammenspiel formaler Elemente eingebunden. Würde das Bedeutungselement mit einer anderen Montageform, einer anderen Farbgebung oder Musik kombiniert, würde ein anderes formales System – ein anderer Film – entstehen. Bordwell gibt folgendes Beispiel: „For exampel, consider a historical subject, such as the United States Civil War. (…) in a film such as D.W.Griffith’s The Birth of a Nation the Civil War is not neutral “content”. It entres into relationships with other elements: a story about two families, political ideas about Reconstruction, and the epic film style of the battle scenes. The form of Griffith’s film includes elements depicting the Civil War in a way that is coordinated with other elements in the film. A different film by another filmmaker might draw on the same subject matter, the Civil War, but there the subject would play a different role in a different formal system” (Bordwell/Thompson 1990: 35).
Im Neoformalismus wird Bedeutung nicht aufgehoben aber relativiert. Sie wird nicht länger als Essenz des Kunstwerks begriffen, sondern tritt als Element der Form auf. Anstatt die formalen Verfahren dem Inhalt unterzuordnen und ihren Gebrauch im Hinblick auf eine kohärente Bedeutung zu bewerten, gilt es nun zu untersuchen, in welcher Weise der Formaspekt Bedeutung mit anderen Formaspekten interagiert: wie ist das Zusammenspiel der Formelemente beschaffen – kongruieren konnotative, bilddramaturgische und musikalische Komponenten oder konterkarieren sie einander? Verleiht vielleicht eine ungewöhnliche Montageform einer bekannten Thematik ein neues Gesicht? Deuten narrative und ästhetische Strukturen auf einen Sinn hin, der explizit nicht benannt wird – rufen sie ihn überhaupt erst hervor? „(W)e should strive to make our interpretations precise by seeing how each film’s thematic meanings are suggested by the film’s total system” (Bordwell/Thompson 1990: 42). Der Neoformalismus akzentuiert das Ineinander von Inhalt und Form. Die tendenzielle Aufhebung ihrer traditionellen Trennung macht den Ansatz für die Analyse der LynchFilme interessant, da diese typischerweise Inhalt und Form, Sujet und Stil in Eins setzen. Zentrale Themen im Umkreis der Temporalität wie Gedächtnisverlust, Möglichkeitsspiele und Vergänglichkeit existieren nicht unabhängig von ihrer formalen Gestaltung – werden erst durch die formale Gestaltung hervorgebracht (z.B. durch spezifische Montagemuster, Bildverweise, Lichtdramaturgie, Bewegungsrhythmik, Musik etc.). So liegt es nahe, den Weg zur filmischen Erzeugung der Zeitfiguren über die Untersuchung formaler Strategien wie die Erzähltechnik, die Montageverfahren, die Bild- und Tondramaturgie zu wählen. Um die Funktion und Wirkungsweise dieser Strategien herauszuarbeiten bietet sich das neoformalistische Konzept der Verfremdung an (defamiliarization, vgl. Thompson 1988: 10).53
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Das Konzept der Verfremdung geht zurück auf den Verfremdungsbegriff (ostranenie) russischer Formalisten.
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2. Das Konzept der Verfremdung Die Funktion der Verfremdung erklärt sich vor dem Hintergrund der neoformalistischen Kunstauffassung, in der die (Film-)Kunst als eine Sphäre der Wahrnehmungserneuerung definiert wird. Kunst und ästhetische Wahrnehmung sind von der Alltagswelt und dem in ihr herrschenden Perzeptionsmodus abzugrenzen. Während letzterer praktischen Zwecken dient und Dinge auf ihre handlungsrelevanten Aspekte reduziert, kann uns die ästhetische Wahrnehmung die Dinge umfassend – in ihrer Einzigartigkeit, Lebendigkeit, Schönheit oder Grausamkeit – sehen lassen. Da an die ästhetische Wahrnehmung keine praktischen Anforderungen gestellt werden, vermag sie Facetten einzufangen, die dem praktisch orientierten Blick entgehen. Zur Verdeutlichung führt Thompson eine eindringliche Passage des Formalisten Victor Shklovsky an: „The object, perceived in the manner of prose perception, fades and does not leave even a first impression; ultimately even the essence of what it was is forgotten. … Habitualization devours work, clothes, furniture, one’s wife, and the fear of war. … And Art exists that one may recover the sensation of life; it exists to make one feel things, to make the stone stony. The purpose of art is to impart the sensation of things as they are perceived, and not as they are known” (Shklovsky 1965: 11- 12).
Soll die (Film-)Kunst unsere Wahrnehmungsfähigkeit erneuern und erweitern, muss sie Seh- und Deutungsgewohnheiten aufbrechen. Eingeschliffene Wahrnehmungsschemata müssen entautomatisiert werden. Diese Entautomatisierung wird durch Verfremdungsprozesse erzielt. Vermittels formaler Verfahren, welche die Wahrnehmung und das Verständnis erschweren, werden gängige Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata – sogenannte perzeptive Normen (perceptual norms, vgl. Thompson 1988: 21) – herausgefordert und der bewussten Reflexion ausgesetzt: „(T)he aesthetic film seeks to prolong and roughen our experience – to induce us to concentrate on the processes of perception and cognition in and of themselves, rather than for some practical end“ (Thompson 1988: 36). Die Aufrauung des Perzeptionsvorgangs leisten die zu analysierenden Lynch-Filme nicht zuletzt im Hinblick auf die Zeit: die temporale Wahrnehmung wird entautomatisiert, indem vertraute Zeitvorstellungen (z.B. lineare oder dimensionierte Muster) manipuliert bzw. verfremdet werden. Lynch spinnt komplexe, oftmals unklare Zeitbezüge, die verhindern, dass der Ablauf der dargestellten Zeit lediglich unterschwellig registriert wird. Stattdessen lenken sie das Augenmerk des Betrachters auf die temporale Dynamik und animieren ihn zeitliche Indizes bewusst zu sortieren – mitunter auch vergeblich. Ebenso wie die Kunst bzw. künstlerische Filme perzeptive Normen zu unterlaufen suchen, die sich durch Alltagserfahrungen herausbilden, müssen sie auf Gewöhnungen reagieren, die im Bereich der Ästhetik stattfinden. Auch hier etablieren sich Darstellungskonventionen, welche die Entwicklung neuer Verfremdungsverfahren notwendig machen, um eine erneute Automatisierung der Wahrnehmung zu vermeiden. Darstellungskonventionen und perzeptive Normen stellen eine Folie bereit, vor deren Hintergrund das Verfremdungspotenzial eines Films, d.h. sein Festhalten an oder sein Abweichen von ästhetischen und alltäglichen Erfahrungsstandards, analysiert werden kann. Damit lässt sich das neoformalistische Untersuchungsinteresse genauer definieren: formale
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Verfahren werden daraufhin geprüft, inwieweit sie Verfremdungen bewirken.54 Einen hilfreichen Referenzrahmen für die Verfremdungsanalyse liefert Hollywoods Erzählkino. Einerseits bedient es aufgrund seiner angestrebten Realitätstreue alltägliche Perzeptionsmuster, andererseits ist es für die perzeptiven Normen im Bereich der Filmästhetik verantwortlich. Thompson hält das Erzählkino für einen äußerst hilfreichen filmanalytischen Bezugsrahmen: „(...) I consider it one of the most pervasive and helpful backgrounds against which we can examine many films. Historically, the type of filmmaking associated with Hollywood from the mid-1910s to the present has been widely seen by audiences and widely imitated by other filmmaking nations all over the world. As a result, vast numbers of viewers have developed their most normative viewing skills by watching classical films. Moreover, many filmmakers who have worked in original ways have set up formal systems that play off and challenge those normative skills” (Thompson 1988: 24).
Auch die Analyse der Lynch-Filme nutzt das Erzählkino und seine an der alltäglichen Zeiterfahrung orientierte homogenen Zeitgestaltung als Kontrastfolie. Vor diesem Hintergrund lässt sich zeigen, wie Lynch die Wahrnehmung von Temporalität entautomatisiert und ungewohnte Zeithorizonte erzeugt. Durch die Kontrastierung lassen sich temporale Manipulationsweisen und ihre Effekte herausarbeiten. Um die Eigenart der Zeitinszenierung genauer ausleuchten und sprachlich fassen zu können, wird neben der filmischen Kontrastfolie ein begrifflicher Referenzrahmen herangezogen. Die Zeittheorien von Bergson und Deleuze offerieren Konzepte und Begriffe, mit deren Hilfe sich die temporalen Bewegungen in Lynchland beschreiben und verstehen lassen. An dieser Stelle klinkt die hermeneutische Komponente des Untersuchungsverfahrens ein, die sich dem zeittheoretischen Gehalt widmet.
10.2.2 Die hermeneutische Komponente Während das neoformalistische Verfahren die Wirkungen und das ästhetische Zusammenspiel formaler Elemente herauspräpariert, sucht die Hermeneutik Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge der Elemente zu erfassen und zu interpretieren. Ihr geht es darum, den Sinn eines Films zu verstehen. Das hermeneutische Verstehen geht über das Erklären, welches Tatsachen auf Ursachen zurückführt, hinaus: „Im Verstehen wird ein sinnlich Gegebenes als ein Menschliches und dieses in seinem Sinn erkannt“ (Danner 1989: 46 – 47; Hervorhebung im Original). Setzt die Erklärung eines Phänomens bei den sinnlichen Tatsa54
Ein häufiger Kritikpunkt, der gegen formale Strukturanalysen gerichtet wird, betrifft die Nichtbeachtung geschichtlicher Veränderungen und Entwicklungen. Werkorientierte Strukturanalysen fokussieren die Komposition eines Werks und klammern den Wandel von Schemata und Formen weitestgehend aus. Das neoformalistische Verfahren jedoch rückt sowohl die Filme als auch die Analyse ihrer formalen Strukturen in eine historische Perspektive. Zum einen erklärt das konstante Bedürfnis nach Abweichung von perzeptiven Normen filmästhetische Innovationen und Entwicklungen. Zum anderen ist das Verfremdungspotenzial formaler Strategien und Strukturen für den Neoformalismus nur historisch zu verstehen: Es wird erst erkennbar vor dem Hintergrund von Erfahrungsnormen in Alltag und Filmkunst, die sich im Verlauf der Zeit wandeln. Z.B. finden heute rasante Schnittfrequenzen, die zuvor eine anstrengende Seh-Erfahrung bewirkten, in Werbespots, Videoclips Kino- und TV-Filmen eine breite Anwendung, so dass mittlerweile eher von langsamen Tempi eine Entautomatiserung der Wahrnehmung zu erwarten ist.
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chen an und ist auf der Beschreibungsebene lokalisiert, meint das Verstehen ein Erkennen von etwas als etwas – es erfasst seine Bedeutung: z.B. kann die Geste einer Person durch das Auf und Ab ihres Armes erklärt werden; der Umstand, dass mich die Person mit ihrer Armbewegung herbeiwinkt hingegen ist ein Akt des Verstehens. Ein Rücksprung in vergangenes Filmgeschehen (Flashback) kann in formaler Hinsicht durch eine Wiederholung bereits gezeigter Sequenzen erklärt werden; der Umstand, dass der Film auf diese Weise die Erinnerungen einer Figur visualisiert beruht auf dem Verständnis der Wiederholung. Erklärungen basieren auf Beschreibungen des empirisch Gegebenen, das Verstehen hingegen schließt Auslegungen und Sinnstiftungen ein. Vor dem Hintergrund einer solchen Unterscheidung wird der Neoformalismus als ein erklärendes Verfahren auf der Ebene konkreter Anschaulichkeit sichtbar: ästhetische Effekte werden auf das Ineinander formaler Bestandteile zurückgeführt. Dieses Ineinander wird auch als Grundlage der Bedeutungsproduktion aufgefasst. So kann der Neoformalismus durchaus erklären, wie Bedeutungszusammenhänge zustande kommen. Allerdings unternimmt er es nicht, diese Zusammenhänge zu interpretieren, weil er fürchtet, Filmen ein nicht mediengerechtes, dogmatisches Verständnis aufzudrücken. Diese Sorge ist berechtigt, birgt jedoch zugleich das Risiko im Deskriptiven stecken zu bleiben und die inhaltliche Dimension von Filmen auszublenden. Bezogen auf die filmische Zeitanalyse würden temporale Strukturen lediglich beschrieben und die erzeugenden Strategien aufgelistet. Was die beschriebene Zeitfigur dann jedoch darstellt – ob es sich z.B. um die Inszenierung eines Gedächtnisraums oder um das Innere eines Augenblicks handelt – wird ausgespart. Es ist wichtig die neoformalistische Relativierung des Bedeutungsaspekts nicht in eine umgekehrte Hierarchisierung, d.h. in eine Überbewertung der Form gegenüber dem Inhalt, zu wenden. Sowenig Filme in einer abstrakten Bedeutung aufgehen, sowenig sind sie ausschließlich auf einen sinnlichen Wahrnehmungshorizont zu reduzieren. En gros handelt es sich bei Filmen weder um undifferenzierte audiovisuelle Ströme noch um versprengte Bild- und Tonfragmente. Stattdessen knüpfen Einstellungen aneinander an, stoßen sich ab oder verweisen aufeinander. Auf diese Weise entstehen sinnhafte Strukturen. Indem Filme eindeutige oder mehrdeutige, assoziative oder kausale Verbindungen zwischen ihren Einstellungen stiften, erzählen sie Geschichten, schildern Träume, Fantasien oder individuelle Empfindungen. Diese appellieren ebenso an unseren Intellekt wie an unsere Sinne. Die Kombination von neoformalistischem und hermeneutischem Ansatz integriert die synästhetische Komplexität der Filme und ihren Sinnaspekt. Um den Sinnaspekt zu erfassen, greift die hermeneutische Vorgehensweise auf einen Bedeutungsrahmen zurück. Er gleicht einer theoretischen Brille, die den Film auf bestimmte Art perspektiviert, einige seiner Inhalte scharf stellt und andere ausfiltert. Der hermeneutische Deutungsanspruch erstreckt sich demnach nicht auf das komplette Bedeutungsspektrum eines Films, sondern nur auf spezifische Stränge. Um den zeittheoretischen Strang der Lynch-Filme zu fokussieren, stellen die temporalen Konzeptionen von Bergson und Deleuze eine hilfreiche theoretische Brille dar, denn sie weisen strukturelle Analogien zu den filmischen Zeitgestaltungen auf: sowohl in den Lynch-Filmen als auch in den Zeittheorien stehen Formen subjektiver Zeiterfahrung im Mittelpunkt. Temporalität wird als vielschichtige, bewegliche Organisation von Momenten beschrieben, in der aktuelle und virtuelle Momente gleichzeitig miteinander existieren. Die theoretischen Zeitnetzwerke kommen dem zeitlichen Einstellungsarrangement, das sich bei Lynch beobachten lässt, sehr nahe und versprechen daher, es zu erhellen. Auch Lynchs Interesse an der Dimension der Vergangenheit lässt sich mit Hilfe genannter Ansätze auffangen. Versucht Lynch die Bedeu-
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tung von Vergangenheit, Erinnerung und Gedächtnis filmisch zu erkunden, betreiben Bergson und Deleuze dasselbe Unternehmen auf theoretische Weise. Entsprechend können ihre Überlegungen genutzt werden, um die filmische Vergangenheitsbehandlung zu durchleuchten. Aufgrund der Parallelen von filmischen und theoretischen Zeitmodellen lassen sich letztere zu Beschreibungs- und Interpretationszwecken verwenden. Die Berührungspunkte von Film und Zeittheorie – vernetzende temporale Dynamik, Ausdifferenzierung der Zeit in die Koexistenz von Aktuellem und Virtuellem, die Tendenz von der Sukzession der Ereignisse zur Simultaneität des Möglichen sowie die Idee einer autonomen Vergangenheit – fungieren als analytische Orientierungspunkte der Zeit-Untersuchung. Natürlich klinkt an dieser Stelle die neoformalistische Warnung ein, Lynchs Filme in ein Deutungskorsett zu zwingen und zu Illustrationen zeitphilosophischer Theoreme zu degradieren. Es liegt jedoch auch nicht im Sinne der hermeneutischen Methode dem Untersuchungsgegenstand eine Lesart zu oktroyieren. Daher verläuft die Richtung des SinnVerstehens nicht nur von den theoretischen Prämissen hin zum Untersuchungsgegenstand, sondern von hier aus wieder zurück. Es wird eine Kreisbewegung vollzogen, in der sich beide Pole wechselseitig erhellen (hermeneutischer Zirkel). Vor dem Hintergrund eines theoretischen Vorverständnisses wird ein Gegenstand untersucht, sein Verständnis wiederum ändert oder korrigiert das theoretische Vorverständnis, das korrigierte Vorverständnis wiederum korrigiert das Gegenstandsverständnis usw. Um einen Top-Down-Effekt zu vermeiden und der Besonderheit der filmischen Zeitinszenierung gerecht zu werden, wird dem hermeneutischen Zirkel gemäß von der Zeittheorie aus auf die Filme und von den Filmen zurück auf die Zeittheorie geschaut. Es geht nicht um eine Bestätigung der Zeittheorie durch die Filme, sondern um ihre gegenseitige Bespiegelung. Film und Theorie werden in Relation zueinander gesetzt – sie treten in Kommunikation. Nur auf diese Weise lässt sich die Eigenart der filmischen Zeitgestaltung sowie die filmischen Modifikationen der theoretischen Zeitmodelle eruieren. Film ist ein Terrain, auf dem Zeitfiguren erkundet und weiterentwickelt werden. Ihn lediglich als Bühne temporaler Ideen zu begreifen würde hinter Deleuzes Antizipation des Films als zeittheoretisches Medium zurückfallen. Lynchs Filme eröffnen einen künstlerischen Zugang zu abstrakten zeittheoretischen Ideen und schaffen das, was Deleuze als „nicht-philosophische(s) Verständnis der Philosophie“ (Deleuze 1993b: 237) bezeichnet. „Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst und bedeutet, daß die Philosophie nicht hinlänglich auf bloß philosophische Weise verstanden werden kann, sondern sich in ihrem Wesen auch an die Nicht-Philosophen wendet“ (Deleuze/Guattari 1996: 49).
Die zirkuläre Bewegung hermeneutischen Verstehens bzw. die Bespiegelung von Film und Zeittheorie baut die Spannung zwischen hermeneutischer und neoformalistischer Komponente ab und trägt zur Verbindlichkeit der Filminterpretation bei. Sie verringert das vom Neoformalismus angemahnte Risiko Lynchs Werken eine theoriegeprägte Lesart überzustülpen. Stattdessen können im Zuge der Bespiegelung die Filme auch die Theorie herausfordern. Es wird ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Theorie und Film installiert, das auch aus neoformalistischer Sicht akzeptabel ist: „The critic could, of course, truly use the analysis of a film as an actual test of the method, to challenge and perhaps change it” (Thompson 1988: 4; Hervorhebung im Original).
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Ferner sichert die Bespiegelung von Film und Theorie die Verbindlichkeit der Filmanalyse. Gegen hermeneutische Vorgehensweisen wird von Kritikern der Einwand erhoben, sie seien subjektiver Natur und damit unwissenschaftlich. In der Tat ist hermeneutisches Verstehen an das Subjekt gebunden und damit zwangsläufig subjektiv gefärbt. Da es weder objektiven Gesetzmäßigkeiten unterliegt noch wiederholbar und von jedem jederzeit überprüfbar ist, erfüllt es nicht den Anspruch der Allgemeingültigkeit. Dennoch ist hermeneutisches Verstehen nicht beliebig. Zum einen muss es durch andere Subjekte vor dem Hintergrund des soziokulturellen Kontextes nachvollziehbar sein.55 Zum anderen wird die Verbindlichkeit des Verstehens nicht vom Subjekt sondern vom Objekt her bestimmt: „Kriterium für die Verbindlichkeit ist hier also nicht die Zugänglichkeit für jeden und zu jeder Zeit, sondern die »Angemessenheit der Erkenntnis an ihren Gegenstand«“ (Danner 1998: 53; Hervorhebung im Original). Diese „Angemessenheit der Erkenntnis“ an den filmischen Gegenstand kann durch die Bespiegelung kontrolliert werden. Sie offenbart Passungen und Diskrepanzen zwischen Theorie und Film auf der Bedeutungsebene und verhindert so die theoretische Vereinnahmung des Films – die Eigenart der im Film entfalteten Zeitidee wird gewahrt und seine Abwertung zur Illustration der Theorie verhindert. Auf formaler Ebene sorgt die neoformalistische Sichtweise für eine Angemessenheit der Interpretation. Indem sie formal-ästhetische Strukturen des Films ins Auge fasst, verhindert sie hermeneutische Verkürzungen oder Überinterpretationen. Sie fundiert inhaltliche Auslegungen auf formalem Boden und stellt sicher, dass sich die zeittheoretischen Deutungen der Filme nicht von ihrer zeitästhetischen Gestaltung entkoppeln. Durch die Integration hermeneutischer und neoformalistischer Verfahrensweisen lässt sich die Angemessenheit der Erkenntnis an den Gegenstand überprüfen und somit die Verbindlichkeit der zeittheoretischen Deutung absichern. Die auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinende Methodenkopplung liegt in der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes begründet: Filme sprechen die Sinnlichkeit und das Sinnverständnis an und erfordern demnach einen analytischen Zugriff sowohl auf die ästhetische als auch auf ihre inhaltliche Dimension. Erst die Kombination von Neoformalismus und Hermeneutik ermöglicht es, die filmästhetischen und die theoretischen Facetten der filmischen Zeitinszenierung zu bearbeiten. Dabei lassen sich die Risiken beider Verfahren – die hermeneutische Ausblendung der spezifischen Anschaulichkeit des Films sowie die neoformalistische Vernachlässigung der Bedeutungsebene – wechselseitig abfedern. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Ansätzen schließt ihre Integration nicht aus. Vielmehr lassen sich ihre unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen filmgerecht und produktiv ergänzen. Nach dem methodischen Vorlauf können Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story nun unter die ‚Zeit-Lupe’ genommen werden. Nach einer Zusammenfassung des zu analysierenden Films richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst auf seine formale Ebene und die temporalen Inszenierungsstrategien, um sich dann dem zeittheoretischen Gehalt – den bei Lynch getätigten Änderungen bergsonscher und deleuzianischer Zeitannahmen – zuzuwenden. 55 Die Nachvollziehbarkeit ergibt sich vor dem Hintergrund des „objektiven Geistes“. „Dieser stellt das Gemeinsame eines historisch bedingten Kulturraumes dar, an dem jedes Subjekt Anteil hat. Der »objektive Geist« ist die Summe der Gemeinsamkeiten von Sinngebungen, aufgrund derer gegenseitiges sinnhaftes Verstehen möglich ist; (...)“ (Danner 1998: 54).
11 Temporalität verfilmen: Das Zeit-Kino von David Lynch
Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story sind Zeit-Filme im deleuzianischen Sinne. In ihnen wird Temporalität künstlerisch durchdacht. Lynch verleiht subjektiven Zeiterfahrungen formalen Ausdruck und erkundet temporale Wirkungsfacetten, welche der homogenen Zeitinszenierung des Erzählkinos entgehen. Die Filme wenden sich vom Bewegungs-Bild dem Zeit-Bild, d.h. einer Ästhetik des Virtuellen, zu und machen eine Zeitlichkeit lebendig, die den Sinnen sonst verborgen bleibt. Temporalität wird von den motorischen Bewegungen der Außenwelt gelöst, so dass sich die Kamera nicht durch ein Netz räumlicher Beziehungen bewegt, sondern durch ein Netz unsichtbarer mentaler Relationen. Anstatt auf dem Zeitpfeil voranzuschreiten, führen die Filme vielmehr in die Zeit hinein und das bedeutet bei Lynch hinein in die Vergangenheit. Während dies in The Straight Story in Form einer melancholischen Lebensrückschau geschieht, wird in Lost Highway und Mulholland Drive ein verstörendes Spiel von Vergangenheitsentfremdung und -erfindung entfacht. Wie Bergson und Deleuze wertet auch Lynch die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart auf, und auch er identifiziert sie mit der Virtualität – mit der unausgeschöpften Fülle von Möglichkeiten, die sich ebenso unerwartet wie unkontrolliert Bahn brechen können. Die unheimlichen Gefilde des Denkbaren breiten sich unter der vertrauten Oberfläche des Aktuellen aus und verzerren sie. Anders als das konventionelle Erzählkino beschränken sich Lynchs Zeitinszenierungen nicht auf die Sukzession des Aktuellen, sondern beziehen das sich zeitgleich erstreckende Denkmögliche mit ein – sie greifen auf das Simultanfeld des Virtuellen aus, auf dem chronologische Verortungen sowie die Scheidung der Zeitdimensionen obsolet werden und sich Figuren wie Zuschauer im Extremfall zu verlieren drohen. Zeit wird in Lynchs Filmen beunruhigend, weil sie direkt zur Darstellung kommt als komplexe Koexistenz von Aktuellem und Virtuellem. Die formalen Verfahrensweisen, mit deren Hilfe es Lynch gelingt, die Simultanverhältnisse des Virtuellen und seine Durchdringung mit dem Aktuellen einzufangen, werden am Beispiel von Lost Highway aufgezeigt. Die Untersuchung konzentriert sich auf diesen Film, weil die temporalen Inszenierungsstrategien hier ebenso vielfältig wie prägnant sind und Lynch von ihnen auch in den späteren Filmen Mulholland Drive und The Straight Story Gebrauch macht. Insbesondere Mulholland Drive lehnt sich stark an Lost Highway an, aber auch in The Straight Story kehren einige bekannte Techniken wieder, weswegen sich die formale Analyse dieser beiden Filme auf abweichende Verfahren und ihre Effekte beschränken wird.
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11.1 Lost Highway: Abgründe des Virtuellen 11.1.1 Lost Highway: Synopsis Lost Highway ist ein bedrohlich-labyrinthischer Thriller, der sich um ein dunkles Geheimnis in der Vergangenheit rankt. Der erste Teil des Films erzählt von der Beziehung zwischen dem Jazzsaxophonisten Fred Madison (Bill Pullman) und seiner Ehefrau Renee (Patricia Arquette). Fred fürchtet von Renee hintergangen zu werden – Misstrauen und Anspannung prägen ihren Umgang. Wie in einem Kammerspiel setzt Lynch die Szenen der Entfremdung in dem finsteren Haus der Madisons in Szene, das kaum Tageslicht einlässt und alle Helligkeit aufsaugt. Die Dialoge sind karg, die Worte quälen sich hervor und wiegen schwer. Licht und Laute scheinen von der dunklen Leere des Hauses verschluckt zu werden. Extrem lange Auf- und Abblenden sowie das beständig-dumpfe Dröhnen auf der Tonspur lassen die klaustrophobische Atmosphäre körperlich spürbar werden. In diese beklemmende Isolation dringen merkwürdige Nachrichten. So wird Fred durch die Gegensprechanlage von einer anonymen Stimme der Tod Dick Laurents mitgeteilt – Worte, die ihm nichts zu sagen scheinen. Ebenso befremdlich wirken die absenderlosen Videobänder, die wenig später vor der Haustür der Madisons abgelegt werden. Es sind Aufnahmen ihres Anwesens zu sehen, die Renee zunächst vermuten lassen, die Bänder müssten von einem Immobilienmakler stammen. Das letzte Band jedoch zeigt Fred im Schlafzimmer neben der grässlich verstümmelten Leiche seiner Frau. Fassungs- und erinnerungslos wird er wegen des Mordes an seiner Ehefrau zum Tode verurteilt. Ob Fred die Tat wirklich begangen hat? Ob der Mord tatsächlich geschehen ist? Die filmische Inszenierung wird diese Frage nicht beantworten. Stattdessen blendet sie in eine andere Geschichte über: eines Morgens findet ein Gefängniswärter anstelle von Fred den Automechaniker Pete Dayton (Balthazar Getty) in dessen Zelle vor. Der junge Mann ist ahnungslos. Was vorgefallen sein könnte, klafft als Erinnerungslücke in seinem Gedächtnis. Aus dem Gefängnis entlassen, nimmt Pete seine Arbeit in der Werkstatt wieder auf. In diesen zweiten Filmabschnitt, der nicht nur durch den plötzlichen Wechsel des Protagonisten, sondern auch durch seine opulenten Farben und schnelleren Schnittfolgen stilistisch vom ersten Part abgesetzt wird, schleichen sich nach und nach irritierende Reminiszenzen ein. Es tauchen Doppelgänger und bekannte Figuren auf, wie z.B. der namenlose Mystery Man (Robert Blake), mit dem bereits Fred zusammentraf, oder der zwielichtige Mr. Eddy (Robert Loggia), der seine Fahrzeuge von Pete warten lässt und von zwei Polizisten als der in der Fred-Geschichte tot geglaubte Dick Laurent erkannt wird. Ausgerechnet mit dessen Geliebter Alice Wakefield (Patricia Arquette), dem platinblonden Double der brünetten Renee, lässt sich Pete auf eine Affäre ein. Was leidenschaftlich beginnt, entwickelt sich verhängnisvoll, als Mr. Eddy alias Dick Laurent den beiden auf die Spur kommt. Sie beschließen zu fliehen und verschaffen sich auf Betreiben von Alice hin die nötigen Mittel durch einen Raubüberfall auf Andy – eine dubiose Liebschaft von Alice – der dabei zu Tode kommt. Im Zuge dieser Ereignisse wird es zunehmend fraglich, ob Alice Pete um seinetwillen verführt hat oder lediglich, um ihn für ihre Zwecke zu benutzen. Sie scheint Petes Begehren nicht zu erwidern, sondern mit ihm zu spielen. Unerfülltes Verlangen, Misstrauen und Demütigung aus dem ersten Filmteil schreiben sich auch in die PeteGeschichte ein und kulminieren, als Alice und Pete in der Wüste auf einen Hehler warten. Es kommt zu einem letzten Liebesakt, auf dessen Höhepunkt Alice die Worte „You’ll never
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have me“ in Petes Ohr haucht, um sich ihm dann endgültig zu entziehen. Der Mann, der sich anschließend vom Boden aufrichtet ist nicht Pete, sondern Fred. Der Schlussteil des Films krümmt sich in rascher Ereignisfolge in den Anfang zurück: Renee ist zu sehen, die ein Hotel verlässt, nachdem sie dort Fred mit Mr. Eddy / Dick Laurent hintergangen hat; anschließend sucht Fred das Hotel auf, schlägt den vermeintlichen Liebhaber seiner Frau zusammen, zerrt ihn aus dem Hotelzimmer und ermordet ihn gemeinsam mit dem Mystery Man. „Dick Laurent is dead.“ Der Film schließt mit der Eingangsbotschaft, die sich Fred durch die Gegensprechanlage seines Hauses zuspricht, bevor er verfolgt von Sirenen und Blaulicht auf dem Lost Highway in die Wüste flieht. Was passiert in Lynchs Film? Ist Fred die Rachefantasie des gedemütigten und verzweifelten Pete? Oder ist Pete die Kopfgeburt eines schizophrenen Mörders, der sich in eine andere Identität flüchtet? Ist überhaupt ein Mord geschehen? Der Film teilt sich in zwei Geschichten, die einander reflektieren, ohne sich dabei zu erhellen. Stattdessen werden Verweise gespannt und Déjà-vus provoziert, die jedoch weder Erinnerungslücken auffüllen noch die entscheidenden Fragen beantworten. Es entsteht ein Delirium von Andeutungen, die nicht eingelöst werden – ein Labyrinth von Möglichkeiten, deren jede in eine Sackgasse führt. Einen Überblick über die Ereignisse, welche sich weder chronologisch noch kausallogisch rekonstruieren lassen, scheint einzig der diabolische Mystery Man zu besitzen. Er blendet sich in die verschiedenen Erzählteile des Films ein und verbündet sich mal mit Mr. Eddy / Dick Laurent und mal mit Fred. Er ist am Telefon zu hören, filmt das Geschehen mit einer Handkamera oder zeigt den Figuren kompromittierende Videomitschnitte auf mobilen TV-Geräten. Qua Medien ist der Mystery Man omnipräsent und allwissend. Mit ihrer Hilfe scheint er das Geschehen in Lost Highway zu überwachen – oder aber zu inszenieren. Vielleicht zeichnet er verantwortlich für das Spiel mit den Verdopplungen und Spaltungen, in dem nichts ist, wie es scheint – in dem nichts sicher, aber alles möglich ist.
11.1.2 Temporale Inszenierung: die Ästhetik des Virtuellen am Beispiel von Lost Highway 11.1.2.1 Bilder, Intervalle und Fehlanschlüsse: Perforation des Aktuellen In Lost Highway weicht die gesicherte Chronologie des Geschehens vagen Anspielungen auf vorstellbare Ereignisse. Die verlässliche Ordnung des Aktuellen verwandelt sich in den mentalen Raum des Denkbaren, in dem vieles möglich ist und alles zugleich. Diese Belebung des Virtuellen ist in zeitstruktureller Hinsicht mit der Hinwendung zu Simultaneitätsverhältnissen verbunden. Lynch irritiert die Sukzession des Aktuellen, um die Aufmerksamkeit auf das Simultanfeld des Möglichen umzulenken. Dabei stellen die eingestreuten filmtechnischen Zeit-Spielereien, wie die einstellungsweise Umkehr des Zeitlaufs, Zeitlupen und Zeitraffer, lediglich die offenkundigsten Manipulationen dar. Weniger auffällige Strategien, die Lynch zur direkten Präsentation der Zeit verwendet, sind die Störung sensomotorischer Bildverbindungen sowie die Dekonstruktion der homogenen Zeitordnung, welche im Erzählkino die Oberfläche des Aktuellen gegen den Einbruch des Virtuellen abdichten. Um die sensomotorischen Konnexionen zu lockern, führt Lynch selbstbezügliche Bilder, Bildintervalle und logische Verwerfungen ein.
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Selbstbezügliche Bilder Selbstbezügliche Bilder kündigen die Referenz zu identifizierbaren Objekten auf und stornieren so den Ablauf des aktuellen Geschehens. In Lost Highway fungieren reine Bewegungs- und ’haptische Bilder’ in dieser Weise. Während erstere Durchschläge auf die LichtImmanenzebene darstellen, in denen sich die Umrisse von Gegenständen in Farb- und Lichtschwingungen verdünnen, handelt es sich bei den haptischen Bildern um extreme Nahaufnahmen, in welchen die Kamera die Objekte abtastet und ihre Textur erforscht. Abbildung 11: Lost Highway: Farb- und Lichtspiele – reine Bewegungs-Bilder.
Abbildung 12: Lost Highway: Texturen abtasten – haptisches Bild.
In beiden Fällen lässt sich das Gezeigte nicht mehr mit einem konkreten Gegenstand in Verbindung bringen. Form und Bedeutung lösen sich auf in Licht, Farbe und Textur, so dass die Einstellung keine narrative Funktion mehr erfüllen kann und die Sukzession der Ereignisse unterbricht. In vergleichbarer Weise entbinden auch die von Lynch kreierten rein optischakustischen Situationen das Gezeigte von seiner Verweisfunktion auf ein aktuelles Ereignis der Diegese. Laut Deleuzes Definition ist die rein optisch-akustische Situation von ihrer motorischen Fortsetzung abgeschnitten. Sie bezeichnet eine rein deskriptive Einstellung, die den Zeitfluss arretiert und ein ästhetisches Verweilen ermöglicht. Immer wieder zoomt sich in Lost Highway die Kamera an Objekte der Wahrnehmung heran, saugt sich an ihnen fest und blockiert den Fortgang der Handlung. Unbehaglich verharrt sie in der Betrachtung von Spinnen, die an Wänden hängen, Deckenlampen und Nachtfaltern, die von ihrem Schein angezogen werden.
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Abbildung 13: Lost Highway: Spinnen und Falter – rein optisch-akustische Situationen.
Die Einstellungen vertiefen sich in die Ästhetik des Gezeigten und verweisen auf nichts anderes als auf sich selbst. Sie stilisieren Elemente der Diegese und lassen ihre Relevanz für die Narration in den Hintergrund treten. In Lynchs optisch-akustischen Situationen weicht die Bedeutung hinter die Sensation zurück. So entstehen Gefühlsintensitäten, welche die kontinuierliche Sukzession zersetzen. Die stilisierten Bilder schließen den Film mit den Affekten des Publikums kurz und leiten von der Erzähl- zur Nervenkunst über – zu einer filmischen Ästhetik der Sensationen, die nicht den Verstand, sondern das Gefühl anspricht (vgl. Hainge 2004). Der Nexus von Ästhetisierung und Emotionalisierung wird besonders deutlich in den Affektbildern Lost Highways. Auch hier werden Elemente durch ihre Stilisierung aus dem aktuellen Geschehen getrennt. Abbildung 14: Lost Highway: durch das Dunkel isolierte Großaufnahmen – Affektbilder.
Die Großaufnahmen des Zweifels, der sich in Freds Gesicht einzeichnet, und der Lippen, die ins Telefon sprechen, verhindern eine Übersicht über das Geschehen und setzen die dargebotene Empfindung aus ihrem audiovisuellen wie narrativen Kontext frei. In diesen Einstellungen wird es unwichtig, wessen Lippen es sind, die sprechen, und was sie sagen – wer zweifelt und warum. Stattdessen konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das Sprechen und das Zweifeln selbst. Wir befinden uns im Kreis des Affektbildes, in dem sich Affekte von ihren aktuellen Trägern ablösen und als reine Entität bestehen bleiben: die Einstellung zeigt nicht Fred, der zweifelt – sie zeigt das Zweifeln als solches. Fred ist nur eine temporäre Aktualisierung dieses Potenzials und verhilft ihm zum Ausdruck. Lynch veranschaulicht „(...) Qualitäten oder Potentiale als solche, ohne Bezug auf irgend etwas anderes, jeder Frage nach ihrer Aktualisierung enthoben“ (Deleuze 1998: 137) und durchstößt so die Oberfläche des aktuellen Geschehens auf den Raum des Virtuellen hin, in dem
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das Zweifeln als solches existiert – das Zweifeln, das diverse Ursachen haben kann, sich auf mannigfaltige Art äußern und sich in diversen Gesichtern einschreiben kann. Während Bewegungs-Bilder, haptische und optisch-akustische Bilder das aktuelle Handlungsgeschehen zersetzen, indem sie selbstreferenziell werden und nicht länger für ein konkretes Objekt der Diegese einstehen, nehmen Affektbilder darüber hinaus Kontakt zur Sphäre des Virtuellen auf. Sie lassen einen virtuellen Überschuss ahnen, der die Aktualisierung auf der Leinwand übersteigt.
Bildintervalle Das filmische Zusammenspiel von Aktualität und Virtualität ist immer auch das Zusammenspiel von sichtbarem On und unsichtbarem Off, das zu jedem Zeitpunkt der Projektion viel größer ist als das On: es umfasst alle nicht aktualisierten Inszenierungsmöglichkeiten und wird von Deleuze als das filmische Sinnbild für die kopräsente, sinnlich jedoch nicht beglaubigte Virtualität betrachtet. Auf das Off oder unsichtbare Außen der Bilder spielt Lynch durch Bildintervalle an. Insbesondere im ersten Part von Lost Highway finden für das Zeitbild der Serie charakteristische Ausweitungen von Bildzwischenräumen statt, sowohl auf optischer als auch auf akustischer Ebene. Lynch lässt seine Figuren durch dunkle Hausflure irren, flüchtig zeichnen sich ihre Umrisse in einem schwachen Lichtschein ab und verschwinden dann wieder im umgebenden Dunkel. Abbildung 15: Lost Highway: aus dem Dunkel ins Dunkel treten – Bildintervalle.
So wie sich Bilder in der Leere verlieren, bleiben Sätze in der Stille hängen. In den sparsamen Dialogen zwischen Fred und Renee dehnen sich die Pausen zwischen den Worten. Es werden unüberbrückbare Intervalle in den Bild- und Gesprächsfluss eingelassen, die das Sichtbare und das Hörbare aufzuzehren scheinen. Lynch zieht den Abstand zwischen Frage
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und Antwort, Reiz und Reaktion auseinander und spannt das sensomotorische Band bis zum Zerreißen an. Zwischen Worten und Bildern wächst die Zeit und füllt sich mit all den Möglichkeiten, die keine Leinwandpräsenz erlangt haben. Die Intervalle machen darauf aufmerksam, das (filmische) Wirklichkeit mehr ist, als das aktuell im On sichtbare. Sie zeugen von der Existenz des Off, aus dem diese Bilder auftauchen und das unendlich mehr an Konstellationen und Relationen bereit hält, als die, die im On aktualisiert werden. Zwischen Worten und Bildern erscheint – richtiger gesagt: erscheint nicht – das unsichtbare Außen der Bilder: das Virtuelle. Während die sensomotorischen Verkettungen im Erzählkino die Kontinuität des Geschehens sichern und Ansichten des Virtuellen zurückdämmen, erwirkt Lynch das Gegenteil. Intervalle klaffen auf, perforieren die Sukzession des Aktuellen und öffnen sie auf den produktiven Raum der Virtualität hin. Aus ihm tauchen Bilder und Töne auf, um sich einen Moment lang im Kinosaal zu materialisieren und dann wieder zurückzusinken. Intervalle sind Zeitlöcher im aktuellen Filmgeschehen, die auf das unausgeschöpfte Potenzial verweisen, das im Dunkel der Zeit verbleibt.
Narrative Fehlanschlüsse Anders als im Erzählkino ordnen sich bei Lynch Intervalle und Bilder nicht dem sensomotorischen Montagegesetz unter. Sie werden ungehorsam und machen die Oberfläche des Aktuellen brüchig. Etwas anders gelagert ist das dritte Verfahren, welches Ansichten des Virtuellen in die fortlaufende Sukzession einbettet oder diese nahtlos in das Virtuelle kippen lässt. Es sind narrative Fehlanschlüsse – logische Verwerfungen -, die von der Koexistenz des Virtuellen künden. Die narrativen Fehlanschlüsse schlagen sich jedoch nicht in audiovisuellen Zäsuren nieder, wodurch sie umso verstörender wirken. In den Metamorphose-Sequenzen beispielsweise, in denen sich Fred in Pete und Pete in Fred verwandelt, erzeugt Lynch eine sensomotorisch ungebrochene Bildfolge. Bis auf den unerklärlichen Austausch des Protagonisten werden die continuity-Vorschriften durchaus respektiert. Nachdem sich Fred des Nachts im Inneren seiner Zelle mit heftigen Kopfschmerzen und Halluzinationen gequält hat, ist ein Wärter zu sehen, der am folgenden Morgen einen ungläubigen Blick durch Freds Zellentür wirft und dort einen fremden Mann entdeckt. Der Fehlanschluss wird durch die vertraute Einheit des Raumes und den chronologischen Ablauf der Zeit überformt. Dasselbe gilt im Falle der zweiten Mutation: nach dem Liebesakt geht Alice im Licht der Autoscheinwerfer davon und lässt Pete auf dem sandigen Wüstenboden liegend zurück. Unsicher richtet er sich mit dem Rücken zur Kamera auf, dreht sich in den grellen Lichtkegel hinein ... und ist Fred. In beiden Sequenzen werden frappierende narrative Fehlanschlüsse in eine schlüssige Bildfolge eingeschmuggelt und leiten nahtlos in ein Paralleluniversum über. Anschlussschnitte führen nicht in der Zeit voran, sondern in die virtuelle Region der Zeit hinein, die von anderen Möglichkeitsformen einer Figur bewohnt wird. Die Überleitung zum Virtuellen vollzieht sich besonders effektvoll beim ersten Auftritt des Mystery Man. Sein Antlitz wird in einen Blickwechsel zwischen Fred und Renee eingeschnitten: es ist Nacht, sie liegen in ihrem Bett. Fred schaut Renee an, die Kamera zeigt eine Großaufnahme seines Gesichts. Gegenschuss auf Renee, sie schaut zurück. Schnitt zurück zu Fred. Schnitt zum Mystery Man. Schnitt zu Fred, der schockiert das Licht einschaltet.
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Abbildung 16: Lost Highway: der Schock eingebettet in eine kontinuierliche Bildfolge – narrativer Fehlanschluss.
Das unvermittelt auftauchende Gesicht des Mystery Man erschreckt, weil es in eine SchussGegenschussfolge einmontiert wird, die normalerweise Berechenbarkeit und raumzeitliche Kontinuität verspricht. Das Verfahren zeigt den einen aus der Perspektive des jeweils anderen. Dabei bürgt der Blick des einen zugleich für die Anwesenheit des anderen, auch wenn dieser auf der Leinwand – im On – gerade nicht zu sehen ist. Formal wiegt Lynch uns zunächst durch das Hin und Her von Schuss und Gegenschuss in Sicherheit. Die Kamera erfasst abwechselnd Fred und Renee und beteuert so eine Stabilität von Raum und Zeit – die sich als trügerisch herausstellt, denn plötzlich landet der Gegenschuss nicht mehr dort, wo man Renee erwarten würde, sondern in einem anderen Raum und einer anderen Zeit (vgl. Robnik 1998: 32f.). Der Gegenschuss weist in das parallele Universum des Virtuellen – in die Sphäre, die Deleuze als das absolute Off des Films anspricht: „Zum einen bezeichnet das Off das, was woanders, nebenan oder im Umfeld, existiert; zum anderen zeugt es von einer ziemlich beunruhigenden Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie existiert, sondern eher, daß sie »insisitiert« oder »verharrt«, ein radikaleres Anderswo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit“ (Deleuze 1998: 34).
Diesem radikalen Anderswo leiht der Mystery Man sein Gesicht. Sein unvermitteltes Auftauchen signalisiert die Existenz der virtuellen Seite von Temporalität, die bei Lynch jederzeit – z.B. im kontinuierlichen Ablauf des Blickwechsels – aufscheinen und die Ordnung des Aktuellen durcheinander bringen kann. In Lost Highway werden logische Fehlanschlüsse durch ungebrochene Bildfolgen gedeckt. Die sensomotorischen Verkettungen selbst
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speisen das Virtuelle in das Aktuelle ein. Sie halten das Virtuelle nicht zurück und garantieren keinen empirischen Zeitlauf wie im Erzählkino. Stattdessen kann jeder Schnitt und jede Einstellung in die Virtualität führen – bei Lynch bewegt man sich auf dünnem Eis. Selbstbezügliche Bilder, Intervalle und logische Verwerfungen bewirken einen den von Deleuze beschriebenen falschen Anschlüssen vergleichbaren Effekt: sie lenken den Fokus vom Fortgang des aktuellen Geschehens auf das sich zeitgleich ausbreitende Feld des Virtuellen. Seine charakteristische Simultanzeit wird heraufbeschworen durch Bildverweise und die zyklische Zeitstruktur Lost Highways. Mit Hilfe dieser Strategien schafft Lynch Gleichzeitigkeitseffekte und mehrdeutige Zeit-Bilder, welche das homogene Zeitgefüge endgültig aus den Angeln heben.
11.1.2.2 Zyklische Zeit und Bildverweise zum Ersten: Gleichzeitigkeitseffekte Anfangs scheint sich die Handlung in Lost Highway auf gewohnt chronologische Weise zu entwickeln. Auch die Pete-Erzählung, in die der Film nach Freds Verschwinden einschwenkt, nimmt zunächst einen linearen Anlauf. Dass mit der Zeit etwas nicht stimmt, wird erst erkennbar, als Doppelgänger auf den Plan treten und bereits bekannte Orte, Vorkommnisse und Personen erwähnt werden. Anspielungen und Querverweise unterlaufen allmählich die vordergründige Progression des Geschehens. Ereignisse wiederholen sich: sowohl Fred als auch Pete leiden an einer Gedächtnislücke; sie werden von Visionen heimgesucht, die sie nicht einordnen können (Renees Leiche) und von der begehrten Frau zurückgewiesen. Die beiden Erzählstränge Lost Highways beginnen einander zu zitieren bis hin zu spiegelbildlichen Einstellungskompositionen. So stellen sich Déjà-vu-Effekte und Assoziationen mit vorangegangenen Sequenzen ein. Lynch überschreitet das filmtechnisch bedingte Nacheinander der Bilder durch interikonische Verweise und schafft den Eindruck zweier simultaner Geschichten, die ineinander changieren. Er inszeniert ein Gleichzeitigkeitsfeld, auf dem Einstellungen und Vorgänge gleichzeitig präsent sind – nicht auf der Leinwand, sondern in den Assoziationen der Zuschauer. Dieser Gleichzeitigkeitseindruck wird durch den temporalen Zirkelschluss in Lost Highway verstärkt. Mit dem Statement „Dick Laurent is dead“ schließt das Ende des Films an die Eingangssequenz an und mündet in eine Zeitschleife – oder besser eine Zeitspirale, da der Film noch ein Stückchen weiterläuft und zeigt, wie Fred vor der Polizei flüchtet, während anzunehmen ist, dass der in der Wohnung zurückgebliebene Fred nun seine Reise auf dem Lost Highway antritt. Die Spiralbewegung des Films verdunkelt endgültig, was sich wann zugetragen hat – was vorher und was nachher geschah. Mit der Zeit geraten auch die Verhältnisse von Ursache und Wirkung ins Kreisen. Egal, an welcher Stelle man in den Film einsteigt, eine chronologische bzw. kausalschlüssige Rekonstruktion der Ereignisse ist nicht möglich. Fasst man den Beginn des Plots auch als Beginn der Geschichte auf, wieso tauchen dann die hier totgesagten Figuren Dick Laurent und Renee im Schlussteil des Films wieder auf? Wieso liegt die Nachricht über Dick Laurents Tod seiner Ermordung voraus – beschreibt Lost Highway eine self-fulfilling prophecy? Stellt man den Schlussteil dem ersten Part voran, so lässt sich zwar der Hinweis auf Laurents Tod erklären, doch nicht warum er in der Pete Geschichte als Mr. Eddy wieder aufersteht. Selbst wenn man den Auftakt der Ereignisse noch weiter zurückverlegt und die Pete-Geschichte an den Anfang setzt, bleiben
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Fragen offen. Wie kommt es, dass Pete von Bildern der getöteten Renee geplagt wird, die zu dieser Zeit noch gar nicht tot sein dürfte? Wie kann Fred zu einem späteren Zeitpunkt Andys Party besuchen, der in diesem Abschnitt eine tödliche Begegnung mit einer Tischplatte hat? Die irritierende Gleichzeitigkeit der beiden Geschichten ist irreduzibel und lässt sich auch nicht zähmen, indem man Pete als Hirngespinst von Fred deutet oder vice versa. Die Zeitstruktur untergräbt die Scheidung von Wirklichkeit und Imagination innerhalb der Diegese, denn wenn sich nicht festlegen lässt, was zuerst geschah, lässt sich auch nicht klären, wer gezwungen ist, ein Alter Ego zu fantasieren. Die Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Realität wird durch die stilistische Gestaltung der Erzählwelten unterstrichen, der zufolge das gedämpfte Schattenreich Freds ebenso sehr an einen Alptraum erinnert wie die übersättigten Farben und der high-key-Stil der Pete-Geschichte an einen Wachtraum. In der Rondostruktur von Lost Highway werden die Grenzen zwischen Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung, Wahn und Wirklichkeit eingeebnet. Stattdessen entsteht der Eindruck zweier simultaner Geschichten, die sich gegenseitig bespiegeln, jedoch ohne sich zu erhellen. Keine von ihnen wird durch mehr Realität ausgezeichnet als die andere. Vielmehr scheint es sich um zwei mögliche Versionen eines Geschehens zu handeln, das um einen dunklen Fleck in der Vergangenheit – einen vermeintlichen Mord – kreist. Was anfänglich nach einem linear-progressiven Zeitlauf aussieht, krümmt sich zum Möbiusband – zur zyklischen Bewegung eines doppelseitigen Erzählbandes, in dem die Vorderseite der einen Geschichte zugleich die Rückseite der anderen darstellt.56 Zirkuläre Zeitstruktur und Bildverweise ersetzen die Sukzession der Ereignisse durch Gleichzeitigkeitsverhältnisse, wie sie für das Feld des Virtuellen signifikant sind. Bevor es um seine filmische Aufbereitung geht, soll der Fokus enger gestellt und auf die kinematographischen Einzelbilder gerichtet werden, die infolge von Zeitspirale und Bildverweisen anfangen zwischen den Zeitdimensionen zu schillern. Die Filmbilder verwandeln sich in mehrdeutige Zeit-Bilder, in denen sich das Virtuelle einnistet.
11.1.2.3 Zyklische Zeit und Bildverweise zum Zweiten: Zeit-Bilder Zirkuläre Bewegung und Verweise bringen Zeit-Bilder hervor, welche nach Deleuze die originäre temporale Unbestimmbarkeit des Bildlichen aufweisen. Bilder erheben Virtuelles wie Aktuelles gleichermaßen und ggf. auch gleichzeitig zur Sichtbarkeit, so dass eine Tren56
Die zyklische Zeitbewegung in Lost Highway ähnelt weniger der ewigen Wiederkehr des Gleichen nach Nietzsche oder der analogen Wiederaufführung eines verdrängten Geschehens nach Freud, sondern der produktiven, differenzschaffenden Wiederholung, die Deleuze im Sinn hat. Er versteht Wiederholung als Suchbewegung. Sie findet statt, weil Dinge unfassbar und Fragen offen geblieben sind: „Man wiederholt, weil man nicht weiß, weil man sich nicht erinnert usw., weil man nicht zur Tat fähig ist“ (Deleuze 1992: 367). Die Wiederholung wird das, was sich entzieht, jedoch nicht sicher stellen, denn sie stimmt niemals mit dem überein, was wiederholt wird. Sie konstituiert sich immer im und als Unterschied, da die aktuelle Wiederholung gegenüber dem Wiederholten seine Erinnerung mit einschließt. In der Wiederholung verschränken sich Vergangenheit und Gegenwart, so dass neue Sinnbezüge, Bedeutungen und Deutungen hervorgebracht werden – in der Wiederholung verändert sich alles. So auch in Lost Highway. Wenn der Film am Ende in seinen Anfang zurückläuft, beginnt nicht alles wieder von vorne, sondern Sinn- und Bildbeziehungen verschieben sich vor dem Hintergrund des ersten Durchlaufs. Man kann nicht anders, als den Anfang des Films von seinem Ende her zu begreifen, das Vorwissen mit einzubeziehen und so die Geschichte umzuschreiben. Das Kreisen der Zeit in Lost Highway erzeugt immer neue Versionen dessen, was geschehen sein könnte, ohne das Rätsel jemals zu lösen.
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nung zwischen den Zeitdimensionen unmöglich wird. Da Bilder simultaneitätslogisch verfasst sind, sind sie von sich aus immer mehrdimensional und oszillieren zwischen Aktualität und Virtualität. Zeit-Bilder bewahren diese temporale Offenheit des Bildlichen, um die Koexistenz des Virtuellen mit dem Aktuellen (Kristallbilder) oder pure Ansichten des Virtuellen (direkte Zeit-Bilder) einfangen zu können. Um das Denkmögliche aufblitzen zu lassen – nicht das, was ist oder gewesen ist, sondern das, was sein könnte – dürfen Filmbilder weder mit dem Aktuellen identifiziert noch zeitlich indiziert und in der chronologischen Ordnung des Aktuellen untergebracht werden, wie dies im Erzählkino der Fall ist. Während seine homogene Zeitinszenierung die originäre temporale Polyvalenz der Filmbilder zurückbindet und ihren Zugang zum koexistenten Reich des Möglichen abschnürt, reaktiviert Lynch ihre ursprüngliche Mehrdeutigkeit durch die zyklische Zeitstruktur und stellt so den Kontakt zur Virtualität wieder her. In der zirkulären Zeitstruktur ist nicht mehr klar, ob eine Einstellung vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Geschehen wiedergibt. Festlegungen auf einen temporalen Modus erweisen sich als ebenso beliebig wie unhaltbar. Wenn die Zeit ein Kreislauf ist, dann kehrt die Vergangenheit wieder und die Zukunft ist schon gewesen. Es wird bedeutungslos, zwischen den Zeitdimensionen zu unterscheiden, denn Vergangenheit und Zukunft sind immer und gleichzeitig im gegenwärtigen Augenblick präsent – sie sammeln sich in jedem einzelnen Filmbild an. Jedes von ihnen enthält die Zeit im dimensional ungeschiedenen Zustand und damit in ihrer ganzen Möglichkeitsfülle. Die Bilder in Lynchs Film stehen weder für eine tatsächliche Gegenwart noch für eine wahre Vergangenheit oder eine mutmaßliche Zukunft ein, sondern lassen offen, ob das Gezeigte sich tatsächlich oder möglicherweise zuträgt, zugetragen hat oder zutragen wird. In der Zeitspirale beginnt jedes Bild zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen zu schillern. Aufgeladen mit temporaler Vieldeutigkeit bilden sie die Grundbausteine der Möglichkeitswelten in Lost Highway. Das Oszillieren der Bilder zwischen Aktualität und Virtualität fällt besonders dort auf, wo sich Einstellungen des Films gegenseitig zitieren. Lynch kreiert Bildpaare, d.h. er streut analoge Einstellungen in die Erzählstränge ein, die sich im Hinblick auf Bildinhalt, Bildaufbau, Kameraperspektive, Lichtdramaturgie und Farbgestaltung präzise gleichen. Abbildung 17: Lost Highway: zwei Blicke in den Spiegel.
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Abbildung 18: Lost Highway: zwei Liebesakte.
Abbildung 19: Lost Highway: zwei Lippenpaare am Telefon.
Abbildung 20: Lost Highway: zwei verzweifelte Männer.
Diese Paralleleinstellungen lassen sich als besondere Sorte von Kristallbildern begreifen, in denen sich der Augenblick in seiner ursprünglichen Komplexion von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit manifestiert. Das Kristallbild ist ein wechselseitiges Bild, das den aktuellen Moment und seinen virtuellen Reflex zeigt. Es flackert unentscheidbar zwi-
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schen zwei Wirklichkeitsordnungen und klärt nicht auf, ob es ein reales oder ein denkbares Geschehen illustriert. Bei den oben abgebildeten Bildpaaren handelt es sich um gespaltene Kristallbilder, in denen das Aktuelle und sein virtueller Reflex entzweit und an zwei unterschiedlichen Stellen im Filmplot platziert werden. Die beiden Seiten bespiegeln sich über den gesamten Film hinweg und reflektieren so zwei komplette Erzählstränge ineinander. Durch die gespaltenen Kristallbilder werden Ereignisse nicht nur verdoppelt, sondern von ihrer Kehrseite gezeigt, verschoben oder verstärkt. Während die Beischlaf-Sequenz in der Fred-Erzählung die Kränkung des Mannes fokussiert, rückt die Sequenz in der PeteGeschichte die Überlegenheit der Frau in den Vordergrund (Abb. 18). Informieren Renees Lippen die Polizei über eine ungreifbare Gefahr, machen Alice Lippen Mr. Eddy für diese Gefahr verantwortlich und warnen Pete (Abb. 19). Die nachfolgende Ansicht, die Pete in seinem Zimmer sitzend zeigt und seine Furcht einfängt, kommuniziert auf unheimliche Weise mit der Darstellung Freds in der Todeszelle, in der sich Furcht zur Gewissheit des nahen Todes verschärft (Abb. 20). Zwar enthüllt die eine Hälfte des gespaltenen Kristallbildes verborgene Anteile der anderen, jedoch fügen sie sich nicht wie Puzzlestücke zu einem vollständigen Bild bzw. zu einem eindeutigen Sinn zusammen. Die eine Seite reicht nicht Fragmente des Geschehens nach, welche die andere ausgespart hätte, vielmehr generiert sie eine zusätzliche denkbare Version. Dabei bleibt unentscheidbar, welcher Teil des Bildpaares ein Faktum dokumentiert und welcher eine virtuelle Alternative. Das Gezeigte wird nicht vervollständigt, sondern vervielfacht. Wie in einem Polygon mit einer zunehmenden Anzahl von Spiegelseiten vermehren sich in Lynchs Kristallbildern die Ansichten des Ereignisses – seine Aktualität wird von virtuellen Spiegelerscheinungen umstellt und absorbiert. Die Bildpaare multiplizieren die Perspektiven auf das Gezeigte und zersplittern es in Möglichkeitsfacetten. Eingelassen in die verschiedenen Erzählstränge des Films potenzieren sie die unbehagliche Ununterscheidbarkeit von Aktualität und Virtualität und breiten sie über den gesamten Film aus. Die gesamte auf der Leinwand sichtbare Aktion wird auf den Raum des Denkbaren hin überschritten. Zyklische Zeitgestaltung und Bildverweise bringen das Virtuelle mit ins Spiel. Zum einen verhindern sie die temporale Fixierung und chronologische Eingliederung der Filmbilder – sie entziehen sie der Ordnung des Aktuellen und laden sie mit virtuellem Potenzial auf. Zum anderen unterminieren die Strategien die lineare Sukzession und evozieren Gleichzeitigkeitseffekte. Auf diese Weise bereiten sie den Boden für die Simultanzeit des Virtuellen, auf dem divergierende, widersprüchliche oder inkompossible Alternativen nebeneinander bestehen. Dieses paradoxe Möglichkeitsfeld erweckt Lynch durch ein interikonisches Gewebe zum Leben, dessen Entstehung im folgenden Abschnitt untersucht werden soll.
11.1.2.4 Bildgewebe: Subversion des Aktuellen durch die Virtualität Zeitspirale und Bildverweise arbeiten einem Bildgewebe – besser: einem bildhaften Zeitgewebe – zu, das hinter dem Rücken der Sukzession aufkeimt, sie überwuchert und schließlich in ein offenes Spiel des Möglichen auflöst. In Lost Highway werden Bilder und Motive hintereinander gereiht und mit Hilfe der Zeitspirale wieder übereinandergeschichtet, so dass sich mannigfaltige, interikonische Bezüge entspinnen. Die Filmbilder scheinen nicht mehr aufeinander zu folgen, sondern gleichzeitig und miteinander zu existieren. Sie spielen auf-
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einander an und vernetzen sich zu einem Bildgeflecht, das an das variable Zeitnetzwerk erinnert, wie es von Bergson und Deleuze beschrieben wird. Zwischen Einstellungen und Sequenzen entfalten sich vielseitige Relationen, die sich durch das Hinzutreten neuer Einstellungen permanent verschieben und verzweigen. Jedes neue Bild bedingt die Neuformierung von temporalen Verbindungen und führt zu unberechenbaren Permutationen des filmischen Gesamtsystems. Die Variation des Bildgeflechts erzeugt einen lebhaften Eindruck von der Komplexität des zeitlichen Wandels, der immer ein ganzheitlicher ist. In diesem filmischen Verweisungsgeflecht beginnen Bilder die Narration zu hintertreiben und sich gegenseitig zu fälschen. Wenn in Einstellungen Figuren wiederkehren, die zuvor für tot erklärt wurden, dann drängt in ihnen etwas nach, was im linearen Erzählfluss längst untergegangen sein müsste. Die filmischen Bilder ignorieren temporale wie kausale Zusammenhänge, die durch ihre Sukzession errichtet wurden. Sie scheren aus dem Nacheinander aus, verschieben sich gegen den behaupteten Ereignisverlauf und durchkreuzen die Aussage auf der Erzählebene. Im Extremfall führen sie zusammen, was die Story hintereinander platziert hat. Abbildung 21: Lost Highway: Pete: „Are you both?“
Renee und Alice, deren Anwesenheit durch die Sukzessionslogik der Narration getrennt wird, treten auf einem Foto gemeinsam in Erscheinung. Die Simultanzeit der Fotographie erfasst, was in der Sukzessionsordnung unvereinbar ist und konterkariert die Erzählung. Die Einstellung zeugt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf dem Simultanfeld des Virtuellen – sie paktiert mit der Virtualität und sprengt die schlüssige Ereignisfolge. Indem Lynch die Zeitkomponenten des Films – die narrative Sukzession der Bilder und die Simultanverhältnisse in den Bildern – gegeneinander ausspielt, macht er die Wirkungen des zeitlichen Teilungsgeschehens spürbar. Die achronologische Spaltung der Zeit in Sukzession und Simultaneität wird von Lynch in die Konfrontation von Story und Bild übersetzt. Doch arbeiten die Bilder nicht nur gegen die Story, sondern auch gegeneinander. Sie beginnen übereinander zu reden und sich dabei gegenseitig in Frage zu stellen. Das Verweisungsgeflecht entzieht den Bildaussagen ihre Zuverlässigkeit. Wenn die Anfangssequenz Fred als Empfänger einer Botschaft und die Schlusssequenz ihn als Überbringer derselben zeigt – wenn eine Einstellung die zerstückelte Leiche Renees und eine spätere Einstellung dieselbe Renee beim Ehebruch abbildet, dann dementieren sich die Bilder gegenseitig. Das frühere Bild erklärt das spätere für unmöglich oder aber das spätere Bild denunziert das frühere als falsch. Ein Urteil über ihren Wahrheitsgehalt lässt sich in dem audiovisuellen Gewebe Lost Highways nicht fällen. Einstellungen visualisieren Fragmente
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eines virtuellen Gleichzeitigkeitsfeldes, auf dem paradoxe Bildgehalte, divergierende Ansichten und einander ausschließende Alternativen gleichermaßen und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Es gibt keine absolute Position, von der aus die Zuverlässigkeit und Bezugsstruktur der Bilder zu klären ist. Durch die Vernetzung der Bilder beschwört Lynch die Simultanzeit des Denkmöglichen herauf und entwickelt damit eine alternative Inszenierungsstrategie zu dem von Deleuze hervorgehobenen Montageverfahren des falschen Anschlusses. Anstatt die Sukzession des Aktuellen durch sensomotorische Brüche aufzuspalten und so die Sicht auf die koexistente Zeitlichkeit des Virtuellen zu eröffnen, geht Lynch subversiv vor: er knüpft Allianzen zwischen den Einstellungen und vernetzt sie im Zuge des Filmverlaufs zu einem interikonischem Verweisungsgeflecht, das die vordergründige Sukzession zunehmend in Frage stellt, sie abfälscht und ad absurdum führt. In Lost Highway wird die Ordnung des Aktuellen dekonstruiert und in ein schwankendes Möglichkeitsfeld umgewandelt, auf dem Doppelgänger herumlaufen, sich Figuren spalten und zeitgleich an verschiedenen Orten befinden – auf dem sich chronologische Zuordnungen auflösen, Zeitdimensionen ineinanderschieben und unsicher wird, ob etwas tatsächlich oder nur vielleicht geschehen ist. Lynchs Film setzt das Ganze der Zeit als achronologisches Zusammenspiel von Aktualität und Virtualität in Szene. In Lost Highway dehnt sich die Simultanzeit des Virtuellen unter der Oberfläche des Aktuellen aus, verzerrt und verschluckt sie schließlich – spätestens dann, wenn das Ende des Films in den Anfang mündet und das Spiel der Möglichkeiten in eine neue Runde geht.
11.1.2.5 Ästhetik des Virtuellen: Effekte Lost Highway steht beispielhaft für ein Kino der Zeit, in dem Temporalität direkt – als Verquickung von Aktualität und Virtualität – repräsentiert wird. Während selbstbezügliche Bilder, autonome Intervalle und logische Verwerfungen die Sukzession des Aktuellen brüchig machen, initiieren zyklische Zeitinszenierung, Einstellungsverweise und Bildgewebe die Gleichzeitigkeitsverhältnisse des Virtuellen. Die einzelnen Strategien konstituieren ein filmisches Zeitvokabular, welche Temporalität als achronologisches Teilungsgeschehen aktualisieren. Die Effekte dieser filmischen Zeitgestaltung werden im Vergleich zur homogenen Zeitfigur des Erzählkinos deutlich. Letzteres bezieht sich auf die aktuelle Dimension der Zeit und stiftet eine Nähe zur alltäglichen Erfahrungswirklichkeit. Lynch hingegen ergänzt Temporalität um ihre virtuelle Dimension und erschüttert so das gewohnte Zeitverständnis und mit ihm die Hauptziele des Erzählkinos: Realitätsillusion und kausale Kohärenz. Lynchs Manipulation der homogenen Zeitordnung untergräbt den objektivistischen Gestus des Erzählkinos. Die Filmwelt erscheint irreal und fremd, da sie nicht mehr durch das objektive Zeitschema, sondern durch ein subjektives Zeiterlebnis organisiert wird. Diese Subjektivierung der Zeit bedeutet im Licht von Bergson und Deleuze nichts anderes als den Eingang in die Zeit selbst – die Erfahrung der Koexistenz von Aktualität und Virtualität, die (außerhalb des Kinos) den Sinnen verschlossen und der Einkehr nach Innen vorbehalten ist. Das Erzählkino sieht im Sinne der Wirklichkeitsnähe von dieser Verflechtung ab und beschränkt sich darauf, die wahrnehmbare Sukzession des Aktuellen nachzuzeichnen, d.h. die kontinuierlichen Bewegungen und Handlungen in der Außenwelt. Motorisch, chro-
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nologisch und kausal korrekte Anschlüsse der Einstellungen erzeugen Realitätseffekte und begründen eine geordnete, ganzheitliche Wirklichkeitsvorstellung: ohne Sprünge, ohne Brüche, ohne Lücken. Das Erzählkino konstruiert ein harmonisches Bild von Welt und Wirklichkeit. Diese heile Welt jedoch bekommt Risse, sobald die filmische Zeitinszenierung die subversiven Kräfte des Virtuellen mit einbezieht, welche die Vollzüge des Aktuellen irritieren oder unterbrechen. Die Subjektivierung der Zeit bzw. ihre Komplettierung durch ihre virtuelle Seite erschüttert also nicht nur die Realitätsillusion, sondern auch das ganzheitliche Weltbild des Erzählkinos. Die unterstellte einheitliche Verfassung der Wirklichkeit wird durch die filmische Subjektivierung in Zweifel gezogen. So auch die ebenfalls vom Erzählkino unterstellte ‚Wahrhaftigkeit’ der Zeit: die Manipulation des chronologischen Ablaufs lässt die Zeit als gemachte hervortreten. Während das Erzählkino die ‚Natürlichkeit’ der homogenen Zeitstruktur durch die Kaschierung der zeitgestaltenden Mittel zu forcieren sucht, zieht Lynch alle zeitästhetischen Register des Mediums – film- und montagetechnische, bildstilistische und narrative -, um uns in keinem Moment an die Natürlichkeit der Zeit glauben zu lassen. Er exponiert Temporalität als Produkt der filmischen Inszenierung und den Film als zeiterzeugendes Medium, das sie bearbeitet, formt und figuriert. Neben der Derealisierung führt die direkte Präsentation der Zeit zum Aufbruch des kohärenten Erzählgefüges. Sichert die Zeitinszenierung des Erzählkinos den reibungslosen Ablauf der Story, motivieren die temporalen Verschlingungen von Aktualität und Virtualität permanente Sinnverschiebungen und konfligieren mit der kausalen Einheit der Narration. Sie bedingen eine Erzählform, die Deleuze als „falsifizierende Erzählung“ (Deleuze 1999: 174) bezeichnet. Diese verabschiedet sich von der temporalen wie kausalen Linearität und „(...) setzt in der Gegenwart unerklärbare Differenzen und in der Vergangenheit unentscheidbare Alternativen zwischen dem Wahren und dem Falschen“ (Deleuze 1999: 175). Die falsifizierende Erzählung schlägt – wie in Lost Highway zu beobachten ist – widersprüchliche Pfade des Geschehens ein und verzweigt sich in ein Nebeneinander gleichberechtigter Möglichkeiten. Bilder scheren aus der Chronologie aus, stehen nicht mehr für wahrhafte Vergangenheiten oder tatsächliche Gegenwarten ein und beginnen einander zu widersprechen. Anstatt der aktuellen Sukzessionslogik gehorcht die falsifizierende Erzählung der virtuellen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Simultanverhältnisse des Virtuellen stellen die Einheit von Sinn und Wahrheit in Frage. Diese wird im Erzählkino durch die Inszenierung einer homogenen Zeit gesichert: „Die wahrhaftige Erzählhandlung entwickelt sich organisch, gemäß den gesetzmäßigen Konnexionen im Raum und den chronologischen Beziehungen in der Zeit“ (Deleuze 1999: 177). Die sensomotorische Montageordnung des Erzählkinos gewährleistet eine progressive und schlüssige Handlungsentwicklung. Im Zuge der sukzessiven Erzähllogik erhält jedes Detail seinen Platz, werden Informationslücken gefüllt und Sinnzusammenhänge Stück für Stück komplettiert und geschlossen. Das Erzählkino strebt die Auflösung von Rätseln und die Aufdeckung des tatsächlichen Geschehens an – es zielt auf die Eindeutigkeit von Sinn und Wahrheit. Steht die homogene Zeitinszenierung des Erzählkinos mit der Wahrheit im Bunde, führt die direkte Präsentation der Zeit in Lost Highway die Wahrheit in die Krise. Es ist nicht möglich, bei einer für die Länge des ganzen Films gültigen Interpretation stehen zu bleiben. Jede hinzutretende Einstellung lässt das Gezeigte in einem neuen Licht erscheinen und zwingt zur Korrektur von Hypothesen. So kommt es zu fortwährenden Permutationen von Deutung und Bedeutung. Hinter jeder Wahrheit tritt eine andere auf, so dass alle Wahrheiten temporalisiert werden. Die Form der eindeutigen Wahrheit wird ersetzt durch unent-
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scheidbare Alternativen zwischen dem Wahren und dem Falschen. „Eine Macht des Falschen substituiert und verdrängt die Form des Wahren, weil sie die Gleichzeitigkeit der inkompossiblen Gegenwarten oder die Koexistenz der nicht notwendigerweise wahren Vergangenheiten setzt“ (Deleuze 1999: 174). Anders gesagt: die Macht des Falschen keimt auf dem Simultanfeld des Möglichen, das in Lost Highway aufgespannt wird. Auf ihm bestehen widersprüchliche Ereignisvarianten nebeneinander, ohne dass sich entscheiden ließe, welche von ihnen aktuell und welche virtuell ist. Es existiert kein Anhaltspunkt, von dem aus sich beurteilen ließe, was wahr und was falsch ist. Stattdessen muss man die Gleichzeitigkeit mehrerer Perspektiven anerkennen. Zeit simultaneitätslogisch zu denken, bedeutet, eine Kopräsenz dessen, was vergangen, gegenwärtig und zukünftig ist anzunehmen und damit ein Nebeneinander unterschiedlicher Verfassungen von Wirklichkeit und Wahrheit, die sich konterkarieren, ausschließen oder gegenseitig dementieren können. Die Wirkungen der achronologischen Zeitlichkeit zerstreuen die Einheit von Wahrheit und Sinn – aus den Simultaneitätsverhältnissen „(...) entwickelt sich ein neuer Status der Erzählhandlung: sie hört auf, wahrhaftig zu sein, nämlich das Wahre anzustreben, und setzt sich im wesentlichen als fälschend“ (Deleuze 1999: 174). Die Erzählung produziert Wahrheiten, weil der achronologischen Zeitlichkeit freier Lauf gelassen wird, d.h. im Kino der Zeit wird die konventionelle Hierarchie von Zeit und Erzählung auf den Kopf gestellt. Das temporale System des Films dient nicht länger einer linearen Narration, sondern es verselbständigt sich und bedingt seinerseits die Erzählstrukturen – nicht die kausale Narration, sondern die Zeit bildet die Dominante des Films. Die Dominanz der Zeit bedingt neben der Erzählform auch eine erneute Ästhetisierung von Temporalität. Ordnet sich die Zeit nicht mehr der Story unter, tritt sie selbst in den Vordergrund. Solange der Film nicht mit einer komplexen Zeitfolge arbeitet oder zeitliche Abläufe technisch verändert, wird die dargestellte Zeit nahezu automatisch registriert. Indem Lynch die Chronologie verfremdet, veranlasst er sein Publikum, nach temporalen Orientierungspunkten zu fahnden – nicht selten vergeblich. Die Zeitwahrnehmung wird entautomatisiert und Temporalität erneut der bewussten Reflexion preisgegeben. Im Kino der Zeit weicht die temporale Ordnung der temporalen Ästhetik. Lynchs Zeitinszenierung durchbricht die Einheit von Wahrheit, Sinn und Wirklichkeit. Im Vergleich zum Erzählkino zeichnet sie sich zusammengefasst durch vier Tendenzen aus: von der objektiven zur subjektiven Zeit, von der medial aufgezeichneten zur medial konstruierten Zeit, von der story-abhängigen zur dominanten Zeit, von der Zeitanästhetik zur Zeitästhetik. Im Zuge dieser Akzentverschiebungen verlagert sich die Aufmerksamkeit von der narrativen auf die audiovisuelle Ebene. Es entwickelt sich eine an Bild- und Tonwerten orientierte Filmästhetik. Auf dem Zeitfeld des Virtuellen, wo Sukzessionslogik und Erzählfolge scheitern, werden Bilder autonom und selbstreferenziell. Sie scheren aus der Erzählökonomie aus, so dass ihre irreduzible Eigenart sichtbar und ihre Wirkung intensiviert wird. Die filmische Inszenierung des Virtuellen begründet eine Ästhetik der Sensationen, die sich nicht durch intellektuelle Deutungen und Rationalisierungen zähmen lässt. Lynchs Kino der Zeit ist ein affektgeladenes Kino – eine filmische Nervenkunst, welche den Verstand unterlaufen und Emotionen wecken will. Nach der Analyse der Zeitinszenierungsstrategien richtet sich das Interesse nun auf den zeittheoretischen Gehalt in Lost Highway und Mulholland Drive: welche temporalen Figuren Bergsons und Deleuzes tauchen auf und wie werden sie modifiziert? In beiden
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Filmen wird ein Zusammenhang von Vergangenheit, Virtualität und Medienrealität formuliert, der zunächst im Hinblick auf Lost Highway ausgeleuchtet werden soll.
11.1.3 Lost Highway – Interpretation: im Bildchaosmos der Medienzeit 11.1.3.1 Spiele eines Mediengedächtnisses Lost Highway ist, wie Lynch sagt, „(e)ine Art Horrorfilm, eine Art Thriller, aber im Grunde ein Geheimnis. Das ist er. Ein Geheimnis“ (Rodley 1998: 309). Es kursieren Verdachtsmomente aber keine Beweise, es gibt Spekulationen aber keine Fakten. Ereignisse ziehen sich in dunkle Korridore und Nischen einer labyrinthischen Möglichkeitswelt zurück. Der Film entfaltet eine äonische Zeitlichkeit: er weicht der Gegenwart aus und schildert etwas, das vermeintlich geschehen ist oder noch geschehen wird – virtuelle Möglichkeiten, aber keine greifbare Aktualität des Geschehens. Dieses Spiel der Möglichkeiten entspringt einem dunklen Fleck in der Vergangenheit, der sich hartnäckig der Aktualisierung entzieht. In beiden Erzählsträngen wird eine mysteriöse Begebenheit durch eine Amnesie verschattet: Fred wird wegen eines Mordes verurteilt, an den er sich nicht entsinnen kann, und Pete will nicht einfallen, was ‚an jenem Abend’ geschah. Diesem Vergangenheitsverlust steht ein Vergangenheitsüberschuss gegenüber. So tauchen im Umkreis der Gedächtnislücken schreckliche Bilder einer zerstückelten Frauenleiche auf, die weder Fred noch Pete in ihren persönlichen Erinnerungen unterbringen können. In Lost Highway entzieht sich die Vergangenheit dort, wo sie gesucht wird, erscheint, wo sie nicht erwartet wird, und gibt preis, was nicht erkannt wird. Die Vergangenheit gehört nicht dem Subjekt, sondern besitzt jene autonome Realität, die Bergson und Deleuze ihr zuschreiben. Sie führt ein Eigenleben und schickt unheimliche Phantome, die die Figuren an den Rand des Wahnsinns treiben. Lost Highway ist ein Zeit-Bild der Vergangenheitsschichten, in dem die unkontrollierbare Selbstbewegung des Vergangenen in Szene gesetzt wird. In die Verflechtung von Vergangenheitsverlust und Vergangenheitsentfremdung sind Medien involviert. So tritt die fremd gewordene Vergangenheit in Form eines Videobandes auf den Plan, das Fred den Mord an seiner Frau unterstellt. Die technischen Aufnahmen ihrer entstellten Leiche kehren sowohl in Freds Erinnerungen wieder als auch in Form von Halluzinationen, die Pete heimsuchen.
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Abbildung 22: Lost Highway: Videoaufzeichnung des Tatorts.
Abbildung 23: Lost Highway: Freds Erinnerungen.
Abbildung 24: Lost Highway: Petes Halluzinationen.
Die unbekannte Vergangenheit manifestiert sich in Medienbildern bzw. in Reflexen auf Medienbilder. Sollten Medien offenbaren, was in den Erinnerungen der Figuren fehlt? Sollten sie die Gedächtnislücken füllen und Aufschluss über das verborgene Geschehen Lost Highways geben können? Diese Frage schein Lynchs Film zunächst zu bejahen, denn er beschwört ein mediales Überwachungsszenario herauf, in dem es kaum möglich scheint, dass Taten nicht entdeckt und aufgezeichnet werden. Der Mystery Man, der das Geschehen mit seiner Videokamera verfolgt, über kompromittierende Filmaufnahmen verfügt oder Personen am Telefon zu verstehen gibt, dass er über ihr Tun Bescheid weiß, zeugt von einer umfassenden medialen Beobachtung. Ihr korrespondiert die Beunruhigung der Madisons durch einen unerklärlichen Kamerablick, der in das Innere ihres Hauses vordringt und seine intimsten Winkel erforscht. Ihm bleibt nichts verborgen und er hält alles fest – auch das, was dem Blick der Figuren und dem des Publikums entgeht. Vieles, was Lost Highway
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nicht direkt als Wirklichkeit präsentiert, wird durch Medien enthüllt und nachgereicht: ein Video zeigt die Ermordung Renees, Alices Mitwirkung in einem Porno erscheint auf Videoleinwand und das Mobil-TV des Mystery Man dokumentiert Renees Affäre mit Mr. Eddy / Dick Laurent. Auf Projektionsflächen, Fernsehbildschirmen und Displays tritt Ungesehenes und Ungewusstes zu Tage – sie spiegeln sexuelle und gewalttätige Exzesse in die Geschichte hinein, die sich der Erkenntnis und der Erinnerung der Figuren entziehen. Medien sehen alles und vergessen nichts. Dies könnte der Grund sein, warum Fred Madison die Installation einer Überwachungskamera ablehnt. Von einem Polizeibeamten gefragt, ob die Madisons eine Videokamera besäßen, erklärt Fred, er erinnere sich an die Dinge lieber auf seine Weise: „What do you mean by that? – How I remember them. Not necessarily the way they happened.” Freds Kommentar spielt einerseits auf die subjektive Perspektive in Lost Highway an, andererseits behauptet er eine Objektivität der Medien. Der neutrale Blick der Kamera wird mit der beschränkten Sicht des Subjekts und die mediale Speicherung mit der individuellen Erinnerungsarbeit konfrontiert. Offenbar konstituieren Medien ein unfehlbares Gedächtnis, denn dort, wo die natürliche Wahrnehmung selektiert und die Erinnerung beschönigt, reproduzieren Medien lückenlos und ungeschönt – dort, wo dem Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen des Subjekts nicht zu trauen ist, sollen Medien beweisen, was wirklich geschehen ist. Vielleicht treten also die Medienbilder an die Stelle der Erinnerungsbilder, die Fred und Pete nicht abrufen können, und weisen uns zuverlässig den Weg in die Vergangenheit Lost Highways. Vielleicht aber führt Lynch auch eine naive Mediengläubigkeit aufs Glatteis, der zufolge stattgefunden haben muss, was Medien vermitteln. Es ist ratsam die Beziehung der Medienbilder zu Realität und Vergangenheit nochmals zu überprüfen, denn die vermeintliche Beweiskraft der Medien bleibt nicht ungebrochen.
Medien und Realität Geht der kleine Diskurs über individuelle und mediale Erinnerung von einem Abbildverhältnis der Medien zur Wirklichkeit aus, deuten andere Sequenzen die Möglichkeit medialer Realitätserzeugung an. Eines Nachts erzählt Fred Renee von einem Traum: „I had a dream last night ... You were inside the house ... You were calling my name ... but I couldn’t find you.“ Fred ist zu sehen, der suchend um sich schaut. Die Kamera übernimmt seine Perspektive und streicht an roten Vorhängen entlang durch düstere Zimmer und Korridore. Aus dem Off ertönt Renees ängstliche Stimme: „Fred? Fred, where are you?“ Die Kamera steuert auf das Schlafzimmer zu und findet Renee im Bett liegend vor. „Then there you were ... lying in bed ... but it wasn’t you – it looked like you, but it wasn’t.“ Ein abrupter close up auf Renees Gesicht zeigt ihr nacktes Entsetzen. Im weiteren Verlauf des Films scheint sich die Sequenz zu wiederholen, als Fred und Renee von Andys Party in ihr Haus zurückkehren: dieselben tastenden Kamerafahrten durch die nächtliche Wohnung, Renees vorsichtiges Rufen aus dem Off. Zum letzten Mal erscheint das Durchstreifen der Flure, als Fred das dritte Videoband abspielt, das den Madisons zugeschickt wurde. Die Kamera bahnt sich den bekannten Weg durch die Wohnung in das Schlafzimmer hinein und ertappt Fred blutüberströmt neben seiner getöteten Frau. Die Wanderung durch die Dunkelheit wird auf einer imaginären, einer realen und einer medialen Ebene durchgespielt, wobei auf der letzteren etwas Grauenvolles sichtbar wird, das die beiden anderen aussparen. Es
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scheint, als lösten sich geträumte und reale Handlung in der medialen Repräsentation ein und würden hier zu Ende gebracht. Ein Traum wird real und nachträglich durch das Medium bestätigt oder anders gesagt: subjektive Bilder werden durch Medien objektiviert und damit zur Realität. Die Videoaufzeichnungen verwirklichen Freds Traum. Durch die Schachtelung imaginärer, realer und medialer Bilder wendet Lynch die vermeintliche Realitätsbeglaubigung durch Medien gegen sich selbst: die Videoaufnahmen behaupten nicht nur, dass sie Wahres – etwas, das sich tatsächlich ereignet hat – abbilden, sie machen wahr, was sie abbilden. Das aber heißt, sie reproduzieren nicht die Wirklichkeit, sondern sie produzieren sie. Medien schaffen ihre eigene Realität – schließlich wird Fred für den Videomord zum Tode verurteilt. Ein weiterer Fingerzeig auf die mediale Realitätserzeugung findet sich im Showdown des Films. Kurz bevor Mr. Eddy / Dick Laurent von Fred und dem Mystery Man erschossen wird, klärt ihn der Mystery Man über den Grund seiner anstehenden Hinrichtung auf. Er reicht ihm ein mobiles TV-Gerät, das den Angeklagten mit Freds Ehefrau bei einer Privatvorführung eines Pornofilms zeigt, in dem Renee selbst mitwirkt. Die Aufzeichnung bezichtigt ihn der Verwicklung in das Pornogeschäft sowie der sexuellen Verbindung zu Renee. Als der Beweisfilm abbricht, erscheinen Fred und der Mystery Man auf dem Display. Das Medium verdoppelt die Realität, so dass sich Mr. Eddy / Dick Laurent seinen Henkern und ihren medialen Vertretern ausgeliefert sieht. Abbildung 25: Lost Highway: Verdoppelung der Bedrohung auf dem TV-Schirm.
Noch bevor der Mystery Man in persona sein Gerät zurückverlangt, streckt sein virtuelles Double Mr. Eddy / Dick Laurent fordernd die Hand entgegen. Der virtuelle Repräsentant entwickelt seine eigene Realität und greift dem Mystery Man vor, der die Geste lediglich fortführt. Damit kehrt sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Original und Abbild um. Die Bildschirmereignisse folgen nicht der Realität, sondern die Realität den Bildschirmereignissen. In baudrillardscher Manier hinkt die Wirklichkeit den Medienbildern hinterher und passt sich ihnen an (vgl. Baudrillard 1982). In den beschriebenen Sequenzen wird die Repräsentationslogik der Medien durchbrochen und der Akzent von der Wirklichkeitsaufzeichnung zur Wirklichkeitserzeugung verschoben. Medienbilder referieren nicht mit Sicherheit auf eine vorgängige reale Begebenheit, sondern veranschaulichen etwas, bei dem offen bleibt, ob es tatsächlich stattgefunden hat – aber das ist auch nicht wichtig: selbst wenn es sich bei den Videoaufzeichnungen, die Fred und Mr. Eddy / Dick Laurent belasten, um Simulationen handeln sollte, ziehen sie tödliche Konsequenzen nach sich. Medienschöpfungen stoßen ihre eigene Realität aus. Auf diesen produktiven Zug der Medien verweist Lynch und weicht ihre Glaubwürdigkeit auf: sie dokumentieren, inszenieren und generieren Wirklichkeit. Lost Highway erfasst mediale Bilder in dieser Ambiguität, weswegen man ihnen nicht alles abkaufen sollte....
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Medien und Vergangenheit In Anbetracht ihres Inszenierungspotenzials wird unsicher, ob Medien eine wahre Vergangenheit ans Licht bringen, die vergessen oder verdrängt wurde. Ebenso ist es möglich, dass sie eine Vergangenheit kreieren und den Protagonisten künstliche Erinnerungen einpflanzen. Die von Fred aufgestellten Gleichungen ‚persönliche Erinnerung = subjektiv und fehlerhaft – mediengespeicherte Erinnerung = objektiv und unverfälscht’, wird im Verlauf des Films hinfällig. Zum einen wird die Authentizität der mediengespeicherten Erinnerungen fragwürdig, zum anderen wird die angenommene Unterscheidbarkeit zwischen den eigenen und den Medienerinnerungen zunehmend schwierig. Die Problematik lässt sich im Hinblick auf die befremdlichen Vergangenheitsbilder der getöteten Renee verdeutlichen, die zunächst in Gestalt eines Videofilms auftauchen. Abbildung 26: Lost Highway: Videotape.
In die unscharfen schwarz-weiß Aufnahmen wird plötzlich ein farbiger Flashcut eingeblendet. Er wirkt wie eine plötzliche Erleuchtung oder ein jähes Wiedererkennen. Für eine Sekunde scheinen sich Videoaufzeichnung und Freds Erinnerung zu decken, was die Glaubwürdigkeit des Videomaterials bestätigen würde. Der Schauplatz des Verbrechens hingegen wirkt stilisiert und erinnert mit dem zerlegten Körper und dem Fleisch, das grellweiß gegen das blutdurchtränkte Laken absticht, eher an Gemälde des von Lynch geschätzten Francis Bacon als an einen Tatort. Durch die überzeichnete Grausamkeit mutet die Einblendung gestellt und surreal an. Die Stilistik der Videosequenz liefert keinen Aufschluss, ob hier ein zurückliegender Mord dokumentiert oder kunstvoll in Szene gesetzt und Fred eine mediengenerierte Erinnerung untergeschoben wird. Nach dem schockierenden Videoerlebnis kann Fred die quälende Erinnerung an Renees Leichnam nicht abschütteln und auch in Petes Vorstellung blitzen die Bilder der Ermordeten auf (vgl. Abb. 23 – 24). Der grobkörnige, unscharfe Charakter dieser Erinne-
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rungssplitter rückt sie in die Nähe zu den verrauschten Videoaufnahmen. So bleibt weiterhin unklar, ob es sich um authentische Erinnerungsbilder handelt oder um Reflexe auf ein Medienerlebnis. Wie das Konzept des „prosthetic memory“ (vgl. Landsberg 2004; Burgoyne 1997) beschreibt, können Erinnerungen nicht nur durch persönliche Erfahrung entstehen, sondern sich auch auf Medienerfahrungen gründen. Das Medium Film beispielsweise verleiht Dingen eine der natürlichen Wahrnehmung vergleichbare Anschaulichkeit und Sinnlichkeit, so dass etwas, das nicht selbst erlebt wurde, sich im Rückblick dennoch so anfühlen kann – und auch ebenso ausschlaggebend für die Konstruktion von Biographie und Identität sein kann. Mediengenerierte Erinnerungen sind ebenso wirksam wie persönliche Erinnerungen und können nicht unbedingt zweifelsfrei von ihnen unterschieden werden. Medienbilder – auch solche, die frei erfunden sind – können sich in den Köpfen einnisten und zum Bestandteil der persönlichen Erinnerungswelten werden. Es ist also denkbar, dass die Erinnerungsfragmente der Protagonisten das Echo einer medialen Simulation sind. Es ist denkbar, dass sie eine mediengenerierte mögliche Vergangenheit zu ihrer eigenen machen und ihre Geschichte um artifizielle Erinnerungen herumspinnen. Subjektive und mediale Bilder, wahre und mögliche Vergangenheit schwimmen in Lost Highway ineinander.
Medien, Zeit-Bilder und Gedächtnis Sowohl im Hinblick auf die Realität als auch auf die Erinnerung bringt Lynch die produktive Seite der Medien mit ins Spiel: Realität wird dokumentiert und simuliert, Vergangenes reproduziert und produziert, Erinnerung gespeichert und erfunden. Mediale Repräsentationen in Lost Highway sind zweischneidig: vielleicht veranschaulichen sie tatsächliche, vielleicht denkbare Begebenheiten. Sie schillern zwischen Authentizität und Simulation – zwischen Aktualität und Virtualität. In dieser Offenheit übernehmen sie nicht die Funktion von filmischen Erinnerungsbildern. Letztere aktualisieren Deleuze zu folge vergangene Gegenwarten – d.h. Augenblicke, die das Individuum durchlebt hat – und speisen sie in eine Chronologie der Ereignisse ein. Das kann man von Medienbildern nicht mit Sicherheit behaupten, bei denen es sich ebenso um Trugbilder einer nicht stattgefundenen Vergangenheit handeln kann. Im Ausgang von ihnen werden in Lost Highway Erinnerungen ersonnen und ersponnen. Durch sie werden individuelle Erinnerungen nicht komplettiert und korrigiert, sondern konstruiert und vervielfältigt. In ihrer Unentschiedenheit zwischen Aktuellem und Virtuellem sind die Medienbilder eher den Zeit- als den Erinnerungsbildern verwandt und stehen der allgemeinen Vergangenheit denkbarer Möglichkeiten näher als der konkreten Vergangenheit einstiger Aktualitäten. Sie verweisen auf eine reichere Vergangenheit, die über das Aktuelle hinaus auch all jene unverbrauchten Varianten enthält, die sich niemals vergegenwärtigt haben. Medienbilder sind Zeit-Bilder im deleuzianischen Sinne und zeugen von der allgemeinen Vergangenheit, die Deleuze mit der Virtualität – der Ordnung des Möglichen, Unbekannten, Denkbaren – gleichsetzt. Diese wird bei Lynch ins Bedrohliche gewendet. Audiovisuelle Medien veranschaulichen ungezügelte Begierden, exzessive Sexualität und Gewalt. Sie führen archaische Kräfte vor Augen, die sich Bahn brechen und in die Realität einschreiben können. Das Denkmögliche wird gefährlich und in Lost Highway niemals direkt, sondern immer nur medienvermittelt erfahren.
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In Lost Highway nehmen Medienbilder Kontakt zur Virtualität auf, so dass sie die Gedächtnislücken der Protagonisten nicht zuverlässig schließen. Vielmehr konstituieren sie einen umfassenden, nonsubjektiven Gedächtnisraum, in dem sich die Gesamtheit allen denkmöglichen Geschehens erhält. Deleuze hat dieses Gedächtnis im Rekurs auf Bergson als ontologisches beschrieben – als autarke geistige Realität, die unabhängig vom Subjekt in der Zeit selbst liegt. Bei Lynch materialisiert sich das geistige Zeitgedächtnis und wird zu einem autarken und produktiven Mediengedächtnis. Dieses generiert Abbilder und Trugbilder des Vergangenen. Es sendet Medienbilder, die zwischen Aktualität und Virtualität changieren. Sie durchkreuzen die Erinnerungsarbeit der Protagonisten und stürzen sie in ein Chaos möglicher Vergangenheiten. Vor dem Hintergrund von Bergson und Deleuze erscheint Lost Highway weder als psychologischer noch als psychoanalytischer Film. Er offeriert keine Innenschau in ein individuelles Gedächtnis, sondern folgt den Protagonisten in ein überpersönliches Mediengedächtnis, in dem sie ihre Vergangenheit und sich selbst zu verlieren drohen.
11.1.3.2 Medien und Virtualität Medienbilder in Lost Highway führen auf die verborgene Seite der Zeit, d.h. in die unsichtbare Domäne des Virtuellen, die mit dem Aktuellen koexistiert. Auf Leinwänden und Bildschirmen wird Denkmögliches erkennbar, das der natürlichen Wahrnehmung verschlossen bleibt. AV-Medien erheben Ereignisfacetten zu Bewusstsein, die sich nicht mehr in die bisherigen Konstruktionen von Selbst und Welt einfügen wollen. Der Gebrauch der Kommunikationsmedien verursacht einen ähnlich verstörenden Effekt. Auch Telefone und Gegensprechanlagen berichten von der Kehrseite des Aktuellen und erschüttern die vertraute Wirklichkeit.
Stimmen aus der Virtualität Auf einer Party hat Fred eine merkwürdige (Telefon-)Begegnung (vgl. Schaub 2006). Er steht an der Bar und hat gerade seinen zweiten Drink geleert, als ihm der diabolische Mystery Man entgegen tritt. Musik und Geräuschkulisse verstummen, das optische Umfeld weicht zurück. Die Zeit scheint zu gefrieren, als der Fremde Fred anspricht. Er behauptet, Fred schon einmal getroffen zu haben – im Haus der Madisons, wo er sich auch jetzt – in diesem Augenblick – aufhalte. „What do you mean? You’re where right now? (...) That’s absurd.“ Fred zweifelt, doch der Mystery Man reicht ihm ein Mobiltelefon: „Call me. (...) Dial your number.“ Tatsächlich wird bei den Madisons abgehoben: „I told you I was here.” Fred ist schockiert. Die Vorstellung einer Person, die zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten präsent ist, ist ungeheuerlich. „How did you do that?“ fragt er. „Ask me“ kontert sein Gegenüber und die Telefonstimme des Mystery Man setzt nach, er würde nirgendwohin gehen, wohin er nicht eingeladen worden sei. Fred wird von der rätselhaften Doppelpräsenz des Unbekannten in die Zange genommen. „Who are you?“ fragt er und erhält von seinem Gegenüber und aus dem Telefon ein höhnisches Gelächter zur Antwort. In der Sequenz wird eine temporale Vorstellung entfaltet, die einem sukzessionslogischen Zeitverständnis grotesk erscheinen muss: der Mystery Man erklärt, sich im Haus der
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Madisons zu befinden, obwohl er sich mit Fred im selben Augenblick auf einer Party unterhält. Dabei kommt dem Telefon eine entscheidende Funktion zu, denn es soll seine Anwesenheit in Freds Wohnung beweisen. Das Medium belegt die Präsenz ein und derselben Person an zwei verschiedenen Orten und ist verantwortlich für das irritierende Gleichzeitigkeitsverhältnis dieser Szene. Lynch nimmt hier ein inhärentes Potenzial der Kommunikationsmedien ernst: räumliche Simultaneität herzustellen und den Mediennutzer zu spalten. Das Telefon ermöglicht es einer Person, die sich körperlich an einem Ort A aufhält, akustisch via Telefon an Ort B aufzutreten. Die leibhaftige Person wird durch ihre Stimme an einem anderen Ort repräsentiert. Das Telefon teilt das Subjekt in ein aktuelles Körper-Ich und ein virtuelles Stimm-Ich und ermöglicht ihm so, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. In der Sequenz wird Fred Zeuge dieser medial bedingten Ich-Spaltung, die uns normalerweise verborgen bleibt, weil aktuelles und virtuelles Ich an zwei getrennten Orten erscheinen. Werden sie im selben Raum zusammengeführt, wird die Spaltung augenfällig und zur Verdoppelung. Auf der Party tritt der Mystery Man gemeinsam mit seinem akustischen Double auf und spricht zu Fred aus dem Hier und aus dem Anderswo. Nicht nur wird Fred mit dem Körper- und dem Stimm-Ich seines Gegenübers zugleich konfrontiert – das kann er noch als Trick abtun. Unheimlich wird es, als ihm aufgeht, dass die Stimme aus dem Anderswo ja einer Person zugedacht ist, die sich dort befindet. Die Telefonstimme bürgt für die simultane Gegenwart des Unbekannten in der Wohnung der Madisons. Der virtuelle Doppelgänger ist in Freds Heim – er weilt zugleich hier und dort: die mediale Spaltung wird real. Das telefonische Medium begründet eine paradoxe Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es stößt die homogene Raum-Zeitordnung des Aktuellen um, in der etwas nur nacheinander, nicht aber zugleich an zwei verschiedenen Orten existieren kann. Was Fred am Telefon hört, widerspricht dem, was er sieht. Er stürzt in eine tiefgreifende Wahrnehmungsverwirrung, weil das Telefon seinen Sinnen etwas offenbart, was sich ihnen sonst entzieht: die koexistente Realität des Virtuellen. Der Mystery Man und seine Telefonstimme zeugen davon, dass das Ich eine aktuelle und eine virtuelle Existenz besitzt – dass sich auf der Rückseite der Erfahrungswirklichkeit ein anderes Geschehen zuträgt. Die Telefonverbindung führt in ein virtuelles Paralleluniversum, in dem sich Fred und der Mystery Man kennen und in dem sie vielleicht gemeinsam Renee töten, so wie sie Dick Laurent töten... In Anfangs- und Schlusssequenz Lost Highways erfährt Fred das subjektspaltende Potenzial der Medien am eigenen Leibe. Die Verdoppelung erfolgt durch eine Gegensprechanlage, an der er sowohl als Empfänger wie auch als Sender der Botschaft von Dick Laurents Tod zu sehen ist. Im Gegensatz zur Telefonbegegnung mit dem Mystery Man wird hier die Doppelpräsenz einer Figur nicht nur durch eine medienvermittelte Stimme behauptet, sondern zudem visuell bestätigt. Die Stimme wird einem Besitzer zugeordnet, der unten vor der Haustür steht. Irritierenderweise nimmt er jedoch auch am anderen Ende der Gegensprechanlage Gestalt an, wo er durch seine Stimme vertreten wird. Die Stimme materialisiert sich gleichsam an beiden Enden des Mediums. Die Gegensprechanlage zerteilt Fred in Sender und Empfänger: er spricht zu sich selbst, jedoch ohne sich zu erkennen. Damit wird eine klassische Figur der Selbsterkenntnis aufgerufen, die im selben Zuge demontiert wird: im „Sich-hören-Sprechen (s´entendre parler)“ (Kimmerle 2000: 41) artikuliert sich das Ideal einer auf sich selbst gerichteten Vernunft. Die Stimme, die sich selbst vernimmt, minimiert das Risiko von Übertragungsfehlern und Missverständnissen, die den Sinn des Gesagten verzerren könnten. Der Sinn bleibt eindeutig, kehrt in einer selbstreflexiven
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Schleife zu seiner Quelle zurück und sichert die Identität des Sprechers. Das Selbstgespräch sichert die Präsenz von Sinn und Selbst. Fred jedoch versteht weder die Bedeutung des Gesagten, noch erkennt er, wer da zu ihm spricht oder zu wem er spricht. Das Medium führt seine Stimme auf Abwege. Sie findet nicht zu ihm zurück, sondern zu einer anderen Möglichkeitsversion seines Ichs. Der vermeintliche Mörder Fred kommuniziert mit einem ahnungslosen Fred, der den Umlauf in der Zeitspirale noch vor sich hat. Wie das Telefon so deutet auch die Gegensprechanlage auf die Koexistenz des Virtuellen hin. Beide Medien erschließen Kommunikationskanäle zwischen den Wirklichkeitsordnungen. Sie schalten Verbindungen, übermitteln Botschaften aus einer fremden Parallelwelt und stiften Kontakt zu möglichen Ichs auf der anderen Seite der Zeit.
Medienzeit als Koexistenz von Aktualität und Virtualität Wie Wahrnehmungsprothesen dringen Medien in die Virtualität vor, kleiden denkmögliche Aspekte in ein sinnliches Gewandt und blenden sie in die aktuelle Erfahrungswirklichkeit ein. Medien führen das Virtuelle und das Aktuelle zusammen – jedoch ohne, dass sich letzteres das Virtuelle einverleiben würde. Wenn sich das Virtuelle in die aktuelle Erfahrungswirklichkeit einschreibt, erlischt es. Es tritt aus sich heraus und nimmt eine spezifische Form von vielen möglichen Formen an, verursacht eine spezifische Wirkung von vielen möglichen Wirkungen. Das Denkmögliche limitiert sein Potenzial und wird zum Faktum in der materiellen Welt. Im Medium hingegen kann sich das Virtuelle verkörpern, ohne sein Möglichkeitspotenzial abzustreifen. Anders als in der Erfahrungswirklichkeit wird in der Medienrealität nicht nur wahrnehmbar, was de facto geschieht, sondern auch solches, was nicht mehr aktuell ist oder noch niemals aktuell war. Medien produzieren Trugbilder, die nicht auf Tatsächliches, sondern auf Denkbares referieren. Mediale Simulation ist sinnlich gewordene Virtualität. Anders formuliert: die Medienrealität stellt ein ‚Zwischenreich’ dar, in dem Wahrnehmbares und Denkbares verschmelzen. Hier wird das Virtuelle sichtbar und zum Simulakrum. Von diesen können Medien unzählige generieren. Sie können unendlich viele Versionen desselben Ereignisses in Umlauf bringen und ein Simultanfeld des Möglichen aufspannen. Damit zieht die Medienrealität mit der Virtualität gleich. Der geistige Raum unausgeschöpfter Möglichkeiten wird bei Lynch als schöpferischer Raum der Medien erkennbar, der Simulakra und Phantome ausschüttet, welche die aktuelle Wirklichkeit durchsetzen. Von dieser verwirrenden Medienrealität, in der Aktuelles und Virtuelles gleichermaßen erscheinen, erzählt Lost Highway. Er veranschaulicht den Bilderreigen einer visuellen Kultur, in der die Grenze zwischen den Wirklichkeitsordnungen aufgehoben wird und Realität und Fiktion ineinanderschwimmen. Der Film klärt nicht auf, wann Medien reproduzieren und wann sie simulieren. Abbilder und Trugbilder werden ununterscheidbar und infiltrieren Wahrnehmung und Erinnerung der Protagonisten. Die subjektiven Bilder des Aktuellen – die Primärerfahrungen – vermischen sich in einer mediatisierten Welt mit medialen Abbildern und medialen Simulationen. Ansichten des Virtuellen beginnen mit Ansichten des Aktuellen zu konkurrieren. Mit Lynch wird das Ganze der Zeit, das Bergson und Deleuze als Komplexion von Aktuellem und Virtuellem begreifen, als temporale Verfassung der Medienwelt sichtbar. Lynch übersetzt die achronologische Durchdringung von Aktuel-
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lem und Virtuellem in einen Bildchaosmos authentischer Bilder und mediengenerierter Simulakra. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Definition zu erweitern, welche die Medienzeit als absolute Gegenwart erfasst und sie auf den Bereich des Aktuellen limitiert. Die Definition basiert auf der Speicherkraft der Medien. Sie ermöglicht es, zeitliche Distanzen in ein und derselben Gegenwart zusammenzuziehen und ein vergangenes Geschehen im Jetzt zu repräsentieren: „Intervall-Löschung ist das Prinzip von Vergegenwärtigung. Minimieren wir die zeitlichen Abstände zum Vergangenen und zum Zukünftigen, wird die Gegenwart zum alleinigen Schauplatz aller Zeiten“ (Großklaus 1995: 45). Allerdings wird die Medienzeit so nur mit einem Geschehen verbunden, das gegenwärtig ist, war oder sein wird und als Gleichzeitigkeit auf der Ebene des Aktuellen bestimmt. Darüber hinaus aber schließt Medienzeit in Form von Simulakra immer auch das Denkmögliche jenseits seiner Aktualisierungen ein – sie ist die sinnliche Kopräsenz von Aktuellem und Virtuellem. In Lost Highway werden Medien und Virtualität zusammengeschlossen und zwei temporale Denkfiguren Bergsons und Deleuzes modifiziert: zum einen wird das ontologische Gedächtnis als produktives Mediengedächtnis ausbuchstabiert, zum anderen wird die Koexistenz von Aktualität und Virtualität als Definiens der Medienzeit evident. Medien bringen ein virtuelles Geschehen zum Ausdruck, welches das Ich und seine Erinnerungen in inkompossible Alternativen zerstreut. Die achronologische Medienzeit wird in Lynchs Film für Figuren und Zuschauer zum Problem: sie bewegen sich zwischen aktuellen und virtuellen Bildern und geraten in einen Strudel aus Mimesis und Simulation, der die Wahrnehmung wie den Verstand überfordert. Ebenso wie Fred an seinem Verstand zweifelt, als sein Gegenüber auch am Telefon zu ihm spricht, traut auch Pete seinen Augen nicht, als er Alice auf einem Foto in doppelter Ausführung erblickt. Die Medien konfrontieren Figuren mit simultanen Handlungsräumen, alternativen Vergangenheiten und unbekannten Persönlichkeitsfacetten, die sich nicht sinnvoll in ihre Auffassungen von Selbst und Wirklichkeit integrieren lassen. Der einzige, der gekonnt in der Medienrealität agiert, ist der Mystery Man. Er nutzt Medien, um die Gleichzeitigkeit allen denkbaren Geschehens zu überschauen. Ausgestattet mit Kamera und Telefon ist er allwissend und omnipräsent. Er wartet bereits an allen entscheidenden Orten des Geschehens, die Kamera im Anschlag, um es aufzuzeichnen – oder wie ein Regisseur in Szene zu setzen. Der Mystery Man kontrolliert die Medienrealität. Er ist der Bildmanipulator im Hintergrund, der die Protagonisten in den Sog aus aktuellen und virtuellen Bildern hineinzieht.
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Lost Highway: Der Mystery Man als Beobachter und Inszenator.
11.2 Mulholland Drive: Erinnerungsspiele in Hollywood 11.2.1 Mulholland Drive: Synopsis Vier Jahre nach Lost Highway präsentiert Lynch 2001 mit Mulholland Drive eine weitere Variation über die Vergangenheit und ihre mediale Inszenierung. Wieder steht eine Amnesie im Mittelpunkt und wieder treten Mediengeschichten an die Stelle der individuellen Erinnerung. Mulholland Drive erkundet das Vergessen und Erfinden der Vergangenheit in der Traumfabrik Hollywoods. Schon vor dem Einstieg in die eigentliche Geschichte startet der Film mit einer kleinen, bedeutsamen Sequenz. Junge Paare tanzen ausgelassen in einem unbestimmten, farbdurchfluteten Raum. Ein anschwellender Jubel übertönt die beschwingte Musik und über der Szenerie erscheint das strahlende Gesicht einer blonden jungen Frau, die wir später als Betty Elms (Naomi Watts) kennen lernen. Die Einstellung wird abgedunkelt und in eine verschwommene Nahaufnahme übergeblendet. Untermalt von schweren Atemzügen tastet die Kamera etwas Rotes ab, das als zerwühlter Bettüberwurf erkennbar wird. Abblende. Die Handlung beginnt hoch über Los Angeles mit einem Unfall auf dem nächtlichen Mulholland Drive. Aus einem der Autowracks kann sich eine Frau (Laura Elena Harring) befreien und so ihrer bevorstehenden Ermordung entkommen. Sie wankt die angrenzende Böschung hinab, irrt durch die Straßen und findet schließlich Zuflucht in einem leerstehenden Apartment. Es gehört Bettys Tante. Selbst zu Dreharbeiten verreist, hat sie es ihrer Nichte zur Verfügung gestellt, damit sie in Hollywood an einigen Vorsprechen teilnehmen kann. Betty träumt von einer Karriere als Filmschauspielerin, wie sie den beiden freundlichen Senioren erzählt hat, mit denen sie in LA ankommt. Die Sonne scheint, die Farben leuchten und die Menschen sind liebenswürdig – Hollywood empfängt Betty mit offenen Armen. „Remember, I’ll be watching you on the big screen“, wünscht die ältere Dame Glück – „O.k. Irene, won’t that be the day“... Als Betty die Wohnung ihrer Tante bezieht, trifft sie auf die verstörte Fremde. Diese kann sich weder entsinnen, was ihr zugestoßen ist, noch wer sie ist. Das einzig verbliebene Bruchstück ihrer Vergangenheit ist ein Unfall auf dem Mulholland Drive. Betty möchte der Unbekannten, die sich von einem Filmplakat den Namen der Schauspielerin Rita Hayworth leiht, helfen. In Ritas Handtasche finden sich mehrere Bündel Dollarnoten und ein blauer Schlüssel, jedoch keine Hinweise auf ihre Identität. Immerhin bestätigt ein anonymer Anruf bei der Polizei den Unfall. Auch fällt Rita nun ein Name – vielleicht ihr eigener – ein: Dia-
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ne Selwyn. Kurz entschlossen ruft Betty bei ihr an. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter ist nicht Ritas, doch sie ist ihr vertraut. Vielleicht ist Diane eine Freundin und so beschließt man, sie am nächsten Tag zu besuchen. Übrigens sind Betty und Rita nicht die einzigen, die Nachforschungen anstellen. Es hat den Anschein, als würde Rita auch von einigen mächtigen Filmbossen vermisst. Mit ihnen macht der aufstrebende Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) seine eigenen unerfreulichen Erfahrungen, die Lynch in einem eingeflochtenen Erzählstrang schildert. Kesher ist gerade dabei, die weibliche Hauptrolle in seinem Film umzubesetzen, und man legt ihm unmissverständlich nahe, dass er die Rolle an Camilla Rhodes zu vergeben habe. Keshers und Bettys Wege kreuzen sich kurz am Filmset. Nachdem Betty durch ein aussichtsreiches Vorsprechen auf sich aufmerksam gemacht hat, soll sie ihm vorgestellt werden. Es kommt jedoch nur zu einem verheißungsvollen Blickwechsel, denn Betty bricht vorzeitig auf, um mit Rita zu Diane Selwyn zu fahren. Dieser Besuch leitet die Wende in Mulholland Drive ein. In Dianes Apartment machen Rita und Betty eine schauerliche Entdeckung: auf einem zerwühlten Bett, das die Nahaufnahme der Eingangssequenz wachruft, finden sie Dianes Leichnam. Betty reagiert schockiert – Rita aber gerät vollkommen außer sich, fühlt sich selbst unmittelbar bedroht. Panisch schneidet sie daheim bei Betty ihr dunkles Haar ab, setzt sich eine blonde Perücke auf und verwandelt sich in Bettys Ebenbild. Unter dem Eindruck des Erlebten kommen sich die Frauen sehr nahe und schlafen miteinander. Fortan entwickelt sich das Geschehen zunehmend surreal. Später in der Nacht besuchen Rita und Betty eine Bühnenshow im Club Silencio, in der ein Magier Illusionen beschwört und auslöscht. An diesem Ort flüchtiger Träume und Täuschungen findet Betty in ihrer Handtasche ein blaues Kästchen, zu dem der Schlüssel aus Ritas Tasche passt. Als Rita zurück im Apartment die Schatulle öffnet ist es, als würde man auf die Schattenseite der Erzählung fallen. Eine Reihe von Ab- und Aufblenden leitet zu einer etwas verwahrlosten blonden Frau über, die sich mühsam von dem Bett mit dem roten Überwurf aufrichtet. Sie wurde zuvor als Betty vorgestellt und trägt nun den Namen Diane Selwyn. Das vielversprechende Schauspieltalent hat sich in eine erfolglose Komparsin verwandelt, die gerade von ihrer Geliebten Camilla Rhodes verlassen wurde – einem umworbenen Filmstar, der uns im ersten Erzählteil als Rita begegnete. Als Camilla ist sie mit dem Regisseur Adam Kesher zusammen und Hauptdarstellerin seines aktuellen Filmprojekts. Diane leidet unter Camillas Zurückweisung, die ihren Höhepunkt auf einer Party erreicht, zu der sie von Camilla eingeladen wird. Nicht nur muss sie hier die Geschichte ihrer gescheiterten Schauspielkarriere zum Besten geben, sondern auch Camillas Küsse mit Adam und ihrer neuen Geliebten ertragen. Die letzten Minuten des Films legen nahe, dass Diane sich für die erfahrenen Demütigungen rächt, Camillas Ermordung in Auftrag gibt – zusammen mit einem Foto Camillas überreicht sie einem Mann ein wohlbekanntes Bündel Geldscheine – und daran endgültig zerbricht. Hollywoodträume schlagen in Wahnvorstellungen um und treiben Diane in den Selbstmord: sie erschießt sich auf dem Bett mit dem roten Überwurf. Der Erzählkreis schließt sich. Die Schlusseinstellung zeigt den gefallenen Vorhang im Club Silencio: the show is over.
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11.2.2 Temporale Inszenierung: im Inneren eines tödlichen Augenblicks Mulholland Drive beginnt als Thriller, der in Genremanier Suspense und Romanze miteinander verquickt. Dann aber bricht sich die Geschichte und führt in Spiegelungen und Variationen zum Anfang zurück. Spätestens als sich das blaue Kästchen öffnet, zeigt sich, dass Lynchs Film kein aktuelles Geschehen wie das Erzählkino, sondern eine Gedankenwelt entfaltet – dass er nicht in der Erfahrungswirklichkeit, sondern im Bereich des Mentalen angesiedelt ist. Als sich der Deckel der Schatulle hebt, schwingt eine Tür in eine Parallelwelt auf, in der Doppelgänger existieren, Motive wiederkehren und Déja-vu-Effekte eintreten. Die Erzählung verdoppelt sich. Neben der bevorstehenden gibt es eine gescheiterte Hollywoodkarriere, neben der jungen eine enttäuschte Liebe. Lynch spaltet den Film in zwei konträre Geschichten und leitet von der anfänglichen Sukzessionslogik zu Simultaneitätsverhältnissen über. Mulholland Drive erzählt vom gleichfalls Möglichen und realisiert eine Ästhetik des Virtuellen. Da Lynch auf Verfahrensweisen wie Sukzessionsblockaden, Verweisstruktur und Zeitspirale zurückgreift, die er bereits in Lost Highway erprobt hat, beschränkt sich die formal-ästhetische Analyse Mulholland Drives auf die Änderungen oder Ergänzungen der bekannten Strategien.
Erzählfragmente und Groteskes: Perforation des Aktuellen Selbstbezügliche Bilder, autonome Intervalle und narrative Fehlanschlüsse konnten bei Lynch als Strategien ausgemacht werden, die das aktuelle Handlungsgeschehen perforieren und die Aufmerksamkeit von ihm abziehen. Sie lösen die sensomotorischen Konnexionen, lockern das filmische Bildgewebe gleichsam auf und bereiten es für den Eintritt des Virtuellen vor. Etwas sparsamer als in Lost Highway wendet Lynch diese Mittel in Mulholland Drive an. So konzentrieren sich Fehlanschlüsse und autonome Intervalle auf den Umschlagpunkt der Geschichte. Als Rita und Betty aus dem Club Silencio in das Apartment zurückkehren, um die blaue Schatulle aufzuschließen, verschwindet Betty gleichsam in einem Kameraschwenk: Die Frauen betreten das Schlafzimmer. Die Kamera folgt Betty, die das Kästchen auf dem Bett ablegt und wendet sich mit ihr zu Rita um, die den versteckten Schlüssel aus einem Schrank hervorholt. Als Rita sich umdreht und auf das Bett zugeht, ist Betty plötzlich nicht mehr da. Um das Zimmer zu verlassen, hätte sie den aktuellen Bildraum durchqueren müssen. Wo ist Betty geblieben? „In den falschen Anschlüssen...“ (Deleuze 1999: 61), wird man mit Deleuze sagen bzw. in einem logischen Fehlanschluss, der durch eine ungebrochene Kameraarbeit überbrückt wird. Lynch fegt Betty mit einem Schwenk aus dem aktuellen Bildraum in das Off. Sie landet in einer noch unsichtbaren Nebenwelt, in die erst das Öffnen der Schatulle Zutritt gewährt: der Zuschauerblick wird in das Off eingesaugt und Schwärze verschlingt die umgebende Szenerie. Wir befinden uns im Außen der Bilder – im Raum denkbarer Möglichkeiten. Aus ihm wird eine neue Erzählung geboren. Einzelne Einstellungen steigen aus der Dunkelheit bis schließlich Dianes verwohntes Apartment Gestalt annimmt. Der Film hat sich in eine andere mögliche Welt umgestülpt. Neben Intervallen und Fehlanschlüssen zersetzen selbstreferenzielle Einstellungen die Sukzession des Aktuellen. Auch in Mulholland Drive werden stilisierte Bilder eingelassen, die ihre eigene Ästhetik exponieren und vom Fortgang der Ereignisse ablenken, so z.B., als
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die Kamera nach dem Unfall interessiert auf das Aufflammen eines Wagens wartet und die Rauchentwicklung aufnimmt. Vor allem aber wird eine kontinuierliche Entwicklung durch die Einblendung von diversen Handlungsfragmenten und grotesken Szenen irritiert. Der Film beginnt mit einer Aneinanderreihung von Versatzstücken. An den ästhetizistisch anmutenden Vorspann schließen Ritas Unfall und Flucht an. Daraufhin schildert ein Mann in einem Bistro einen schrecklichen Alptraum, der kurz darauf zur Realität wird. Telefonate spielen auf eine vermisste Frau an. Die Erzählung springt zu Bettys Ankunft in LA, von da aus zu Keshers Treffen mit seinen Produzenten und dann zu einer slapstickartigen Sequenz, in der ein Gangster seinen Kollegen ermordet – und zur Sicherheit auch noch zwei Zeugen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Einheit der Handlung wird durch den Zusammenschnitt narrativer Fragmente aufgebrochen. Lynch initiiert neue Erzählstränge, deren Bezüge höchstens vage angedeutet werden. Lose Fäden und offene Fragen erschweren die Nachvollziehbarkeit des Geschehens. Zudem fügt Lynch Szenen ein, die durch ihre Absurdität aus dem Filmverlauf herausstechen. Zu denken ist hier sowohl an Bettys erotisch aufgeladenes Vorsprechen und die surreale Show im Club Silencio als auch an bizarre Episoden der Kesher-Geschichte wie die ‚Espresso-Verkostung’ am Rande eines desaströsen Arbeitstreffens oder die Verabredung mit ‚dem Cowboy’ in dem nächtlichen Korral. Abbildung 28: Mulholland Drive: Casting und Club Silencio.
Abbildung 29: Mulholland Drive: ‘Espresso-Test’ und der Cowboy.
Die narrative Relevanz des Gezeigten wird durch seine Skurrilität zurückgedrängt. Die Sequenzen verselbständigen sich und bilden eigenständige kleine Variationen über das Groteske. Der schlüssige Fortgang der Handlung wird durch Erzählfragmente und skurrile Kabinettstückchen durchkreuzt. Die Störung der Sukzessionslogik wird verschärft durch Simul-
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taneitätsverhältnisse, die auch in Muholland Drive durch Anspielungen und eine zyklische Zeitstruktur evoziert werden.
Bildverweise: Erzeugung von Parallelwelten Mulholland Drive teilt sich in zwei Erzähldimensionen. Resonanzen und Reminiszenzen verschränken sie miteinander und bewirken den Eindruck ihrer Koexistenz. Durch das Öffnen des blauen Kästchens wird eine Pforte in ein Paralleluniversum aufgestoßen, in dem dieselben Figuren unter neuem Namen und in anderen Rollen auftreten. Betty verwandelt sich in Diane, Rita in Camilla, die vorherige Camilla in ihre Geliebte und die Vermieterin Coco in Keshers Mutter. Neben Schauplätzen wie Dianes Wohnung oder Keshers Villa kehren auch Motive wieder. So tauchen Geld und Schlüssel aus Ritas Handtasche wieder auf, als Betty den Auftragsmörder bezahlt und dieser ihr einen Schlüssel zeigt, den sie später als Zeichen für den erledigten Auftrag in ihrer Wohnung finden wird. Requisiten erscheinen in neuen Funktionen, Personen in anderen Rollen. Die Filmteile werden durch Ersetzungen und Verschiebungen – durch eine Traumarbeit, wie Freud sie beschreibt – miteinander vernetzt. Auf diese Weise werden sie deutlicher in Verbindung gesetzt als in Lost Highway. Während hier die Bezüge zwischen den Episoden durch dezente Anmerkungen und Einstellungszitate angeregt werden und sich erst allmählich entwickeln, werden sie in Mulholland Drive gleich nach dem Umschlag der Geschichte ausgestellt. Durch die Übereinstimmung von Figurenpersonal, Schauplätzen und Requisiten wird der zweite Erzählkosmos sofort als Spiegelung des ersten evident. Sie verhalten sich zueinander wie Positiv und Negativ eines Filmbildes. Trugen die Personen im ersten Abschnitt ein freundliches Gesicht, offenbaren sie im zweiten ihre Schattenseite – ging es zuvor um Zukunftsträume, geht es nun um Misserfolg, Zurückweisung und zerstörte Hoffnungen. Der zweite Teil wirkt wie eine pessimistische Reinszenierung des ersten. Er spielt das Leben und Lieben in Hollywood nochmals unter negativen Vorzeichen durch und schildert eine weitere Möglichkeit, die ebenfalls hätte eintreten können – vielleicht eingetreten ist. Dem vermeintlich aktuellen Geschehen der ersten Episode wird eine Alternative zur Seite gestellt, welche ihm rückwirkend die Glaubwürdigkeit entzieht. Die Sukzessionsordnung wird auseinandergelegt in zwei simultane Möglichkeitsversionen des Geschehens. Die Zusammenschau denkbarer Ereignisversionen veranschaulicht, dass jede Beziehung einen anderen Verlauf nehmen und jede Erfahrung sich potenziell auch anders zutragen könnte. Ein Ereignis kann sich auf vielfältige Weise realisieren. Mulholland Drive verdeutlicht, dass jeder Moment eine virtuelle Fülle birgt, die seine konkrete Aktualisierung übersteigt. In ihm liegen gegenläufige Entwicklungslinien eingefaltet, die von Lynch ausfabuliert und nebeneinandergestellt werden. Erfolg und Misserfolg, gefundene und verlorene Liebe begründen unvereinbare Gegenwelten. Der virtuelle Facettenreichtum eines Geschehens – sein Möglichkeitspotenzial – führt in Mulholland Drive zur Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Wirklichkeitsverfassungen, die als gleichfalls mögliche präsentiert werden.
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Tödliche Unterbrechung einer Zeitschleife Der durch Anspielungen erzeugte Gleichzeitigkeitseffekt zweier Erzähldimensionen wird durch einen temporalen Zirkelschluss stabilisiert. Auch Mulholland Drive entwickelt sich in seinen Anfang zurück und führt das Vorher und Nachher zusammen – allerdings nicht zu einer endlosen Zeitspirale wie im Falle Lost Highways. In Mulholland Drive wird der zyklischen Zeitbewegung ein radikales Ende gesetzt... Als sich Kesher gegen Ende des Films anschickt, seine Verlobung mit Camilla zu verkünden, verliert Diane ihre Contenance und – Match Cut – stößt in einem Bistro ein Glas um, als sie einem Mann Geld und Camillas Foto aushändigt. Geht man davon aus, dass Diane ihn für die Tötung ihrer Ex-Geliebten bezahlt, knüpft die Handlung an die Eröffnung des Films an, in der Rita nur knapp ihrer Ermordung entrinnt, die von Diane in Auftrag gegeben wurde. Bald werden sich die beiden Frauen wieder begegnen, ohne sich aneinander zu erinnern. Sie werden sich erneut verlieben und trennen. Ebenso gut wie der zweite Part des Films die tragische Fortsetzung des ersten bilden und Dianes bzw. Bettys Scheitern von Karriere und Beziehung beschreiben könnte, könnte umgekehrt der erste Part dem zweiten folgen und seine beschönigende Umschrift darstellen. Die beiden Episoden verbinden sich zu einem Teufelskreis von Sehnsucht und Desillusionierung und schlagen in der Manier des Möbiusbandes ineinander um. Statt aufeinander zu folgen sind Licht- und Schattenseite der Geschichte immer zugleich im Spiel. Auch in Mulholland Drive würden Zeit und Narration endlos zirkulieren, würden sie nicht durch Dianes Selbstmord arretiert. Der Entschluss, Camilla töten zu lassen, zerstört Diane endgültig. Sie erfährt, was der angekündigte Schlüssel öffnet, dessen Bedeutung der Killer lediglich mit einem abschätzigen Lachen kommentiert: er öffnet das Tor zum Wahnsinn – befreit gescheiterte Hollywoodträume und unerwünschte Erinnerungen. Sie verkörpern sich in boshaft lachenden Chimären der beiden Senioren, die gemeinsam mit Betty in LA eintrafen. Mit hohnverzerrten Gesichtern setzen sie Diane nach und treiben sie in die Enge. In ihrer Verzweiflung erschießt sie sich und sackt auf dem zerwühlten Bett zusammen, das im Prolog des Films von der Kamera inspiziert wurde. Abbildung 30: Mulholland Drive: Ausgangs- und Endpunkt des Films ist ein zerwühltes Bettlaken.
Der tödliche Schuss am Ende und die Nahaufnahme im Vorspann greifen ineinander und errichten eine minimale Rahmenhandlung: Dianes Selbstmord. Vor seinem Hintergrund erscheinen die Zeitverhältnisse in Mulholland Drive in neuem Licht. Die Simultaneität der beiden Episoden ist in eine Rückschau eingebettet, welche Diane zugeordnet wird. Der
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Film zeichnet sich durch eine Flashbackstruktur aus. Im Vorspiel weist er auf den tödlichen Augenblick hin, dann springt er zurück in die Vergangenheit und folgt den möglichen Entwicklungen, bis er diesen Moment einholt. Die Parallelität zweier Ereigniswelten, die Deleuze im Kontext der Gegenwartsspitzen ausführt, wird in Mulholland Drive in die Vergangenheit verlegt. Es entsteht ein vergangenheitsorientiertes Zeit-Bild, in dem die beiden Erzählteile zwei Erinnerungsversionen beschreiben. Allein Vorspann und Schlusssequenz (sowie der Blick auf Dianes Leiche im ersten Filmabschnitt) sind in der Gegenwart der Diegese lokalisiert. Die Vergangenheit bildet die dominante Zeitdimension, während das Aktuelle auf den Augenblick des Todes zusammenschrumpft. In Mulholland Drive setzt Lynch einen ‚bergsonschen Moment’ in Szene, d.h. einen einzigen Moment, der das Ganze der Vergangenheit – ihre Möglichkeitsfülle – enthält. Er erkundet ein Erinnerungsschauspiel, das im Augenblick des Todes aufflackert. Dianes Leben zieht ein letztes Mal an ihr vorüber, allerdings in zwei Varianten. Stellt sich auch hier die Frage, welcher von ihnen zu trauen ist...
11.2.3 Mulholland Drive – Interpretation: Erinnerungen aus der Traumfabrik 11.2.3.1 Die Erfindung der Vergangenheit In Mulholland Drive treten zwei Vergangenheitsverfassungen zueinander in Konkurrenz. Stilistik und Selbstkommentare des Films verleiten dazu, den desillusionierenden zweiten Teil als Realversion des Vergangenen zu lesen und den ersten Teil als geschönte Erinnerung, in welcher sich die Protagonistin mit ihrer Geliebten in eine Hochglanz-Filmwelt träumt. Seine Farb- und Lichtdramaturgie zitieren den Stil von Hollywoods Studiofilmen und lassen das Szenario überaus künstlich erscheinen. „I just came from Deep River, Ontario and now I’m in this dreamplace“, erklärt Betty und deutet an, dass wohl alles zu schön ist, um wahr zu sein. Diese Ahnung holt sie ein, als sie mit Rita den Club Silencio besucht. Ein Magier führt vor, dass die Wirklichkeit nicht so ist, wie sie scheint. Er lässt Musiker auftreten, die Instrumente spielen, und entlarvt das Gehörte im selben Zug als Tonbandaufnahme. Man sollte nicht unbedingt glauben, was man sieht: „It’s all recorded. No hay banda. Il n’y a pas des orchestre. It is an illusion.“ Auf die Worte des Magiers reagiert Betty mit einem heftigen Zittern und scheint von ihnen aus ihrer Traumwelt wachgerüttelt zu werden. Entsprechend ähnelt die anschließende Verwandlung des Erzähluniversums einem Erwachen. Als die blaue Box aufgeschlossen wird, breitet sich Schwärze über die Leinwand aus. Die folgenden Auf- und Abblenden gleichen einem trägen Blinzeln nach tiefem Schlaf. Einzelne Bilder tauchen aus der Dunkelheit auf: Bettys Tante schaut in ihr Schlafzimmer, ein Mann mit Cowboyhut spricht eine schlafende Frau an „Hey pretty girl, time to wake up“, eine Frauenleiche liegt auf dem Bett. Jemand kommt allmählich zu sich, doch erwacht er in der Realität oder in einem anderen Traum? Die Verschachtelung von Erinnerungen und Wunschvorstellungen, die den zweiten Erzählteil einleiten, lassen ihn nicht unbedingt glaubwürdiger erscheinen. Das von Abblenden und Wahrnehmungsstörungen durchsetzte Geschehen wirkt nicht eben realer. So wie der erste Teil traumhafte trägt der zweite Teil alptraumhafte Züge. Die These, letzterer gebe die Wirklichkeit bzw. eine tatsächlich erlebte Vergangenheit wieder, dürfte zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Mulholland Drive spielt in Hollywood – in einer Medienwelt, in der es schwer zu
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sagen ist, welche Geschichten authentisch und welche erfunden sind. Was bleibt, ist die Simultaneität zweier denkbarer Vergangenheiten, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Ein weiteres Mal greift Lynch auf das Simultanfeld des Denkmöglichen aus, auf dem widersprüchliche Versionen des Geschehens koexistieren. Er setzt eine allgemeine Vergangenheit in Szene, in der sich durchlebte und erfundene Erinnerungen mischen, so dass mehrere Versionen der persönlichen Geschichte bereit stehen. Die allgemeine Vergangenheit konstituiert eine Zone der Virtualität und „(...) wiederholt nicht einfach das, was gerade geschieht oder einmal geschehen ist, sondern bildet eine grundlegende Differenz zu dem aus, was gerade ’wirklich ist’ oder einmal ’wirklich war’ im Sinne der Gesamtheit der stattfindenden Prozesse und bestehenden Sachverhalte. Diese Vergangenheit ist ein selbständiges Kontinuum des Denkbaren, Möglichen, ein imaginäres Kontinuum als die Gesamtheit dessen, was an der Verwirklichung hic et nunc gehindert wurde oder ihr immer aufs neue ausweicht“ (Schaub 2003a: 220; Hervorhebung im Original).
Die ungenutzten Entwicklungsmöglichkeiten, welche die Zeit in der allgemeinen Vergangenheit hinterlässt, brechen sich in Mulholland Drive im Moment des Todes Bahn – sie werden in einem Kopfkino zur letzten Aufführung gebracht. Das durch den Suizid ausgelöste Erinnerungsgeschehen ist dementsprechend als schöpferisches zu begreifen. Hier wird ein Gedächtnis aktiviert, das nicht die gewesene Vergangenheit im Sinne einstiger Aktualitäten reproduziert, sondern denkmögliche Vergangenheiten kreiert. Das Gedächtnis offenbart sich als „Produktionskategorie“ (Schaub 2003a: 218), die Erinnerungen hervorbringt, umformt und neugestaltet. Lynchs Film erzählt nicht vom Wiederfinden, sondern vom Erfinden der Vergangenheit. Dabei verweist er erneut auf die diesbezügliche Bedeutung der Medien. So sind die denkbaren Vergangenheiten durch Medien- bzw. Filmerfahrungen überformt. In Mulholland Drive infiltrieren nicht einzelne Medienbilder die persönliche Erinnerungsarbeit. Vielmehr werden nun Identität und Biographie in Anlehnung an stereotype Hollywoodgeschichten erdichtet. Dies gilt sowohl für Rita, die sich aufgrund ihrer Amnesie die Persönlichkeit eines Filmstars borgen muss, als auch für Betty, deren Vergangenheitskonstruktionen von Filmklischees über den Aufstieg und Fall in Hollywood inspiriert sind. Mediengenerierte Selbst- und Vergangenheitsentwürfe ersetzen die persönlichen Erfahrungen – die Produktionsstätte Hollywood versorgt die Figuren mit Erinnerungen, die sie selbst nicht durchlebt haben (prosthetic memories). Anders gesagt: in der Welt des Kinos wird eine allgemeine Vergangenheit lebendig, die niemals stattgefunden hat – und allein hier kann sie lebendig werden, da es Medien vorbehalten ist, neben dem tatsächlichen auch ein denkmögliches Geschehen sichtbar zu machen. Eine virtuelle Vergangenheit, die niemals aktuell war, d.h. niemals vom Subjekt erlebt wurde, kann nicht psychologisch erfahren, sondern immer nur medial vermittelt werden – sie kann nicht erinnert, sondern nur simuliert werden. Diese virtuelle Vergangenheit manifestiert sich in Mulholland Drive in Filmerzählungen und Hollywoodfiktionen, die von Figuren übernommen werden und an die Stelle authentischer Erinnerungen treten. Als Geschichtenmaschine fungiert Hollywood selbst als produktives Gedächtnis, das immer neue Vergangenheitsbeschreibungen generiert.
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11.2.3.2 Selbstverlust im Mediengedächtnis Wie Lynchs Film demonstriert, ist es nicht unproblematisch, einem produktiven Mediengedächtnis ausgeliefert zu sein. Vergangene Erfahrungen beeinflussen das Denken und Handeln des Subjekts und stehen somit in unmittelbarer Beziehung zu seiner Identität. Diese aber ist in Mulholland Drive gefährdet, weil sie sich auf eine simulierte Vergangenheit gründet, die sich der Kontrolle des Subjekts entzieht. Über die mediengenerierten Erinnerungen kann es nicht nach Belieben verfügen, die Inszenierung der Vergangenheit liegt in fremden Händen. Zum einen liefert das übergeordnete Machtgefüge Hollywoods, das dem Regisseur Kesher die Besetzung seines Films aufzwingt, einen Fingerzeig darauf, dass nicht das Subjekt bestimmt, wie und welche Geschichten erzählt werden. Zum anderen existiert eine unheimliche Gestalt hinter den Kulissen, die die Fäden des Erinnerungsschauspiels in den Händen zu halten scheint. Gleich zu Beginn des Films taucht sie in einem der kleinen Erzählfragmente auf, die den Haupthandlungsstrang durchsetzen. In einem Bistro schildert ein angespannter Mann seinem Bekannten einen sich wiederholenden Alptraum. Er handelt von jemandem mit einem schrecklichen Gesicht, der sich hinter dem Restaurant befinde. Dieser furchterregende Mann soll die Ursache von allem sein: „He is the one who is doing it.“ Der Träumer hofft, ihn niemals außerhalb seines Traums erblicken zu müssen. Doch wie es bei Lynch so ist, werden Alpträume wahr, wenn sie ausgesprochen wden, und der Blick in den Hinterhof bestätigt die schlimmen Befürchtungen. Zu dem Hinterhof des Bistros kehrt der Film gegen Ende noch einmal zurück. Nachdem Diane Camillas Ermordung in Auftrag gegeben hat, blendet die Kamera in eine surreale Szenerie über, in welcher der Mann mit dem bösartigen Gesicht als Urheber irrwitziger Wahnvorstellungen auftritt. Er kauert hinter dem Restaurant an einem Feuer und wiegt die blaue Schatulle – die Büchse der Pandora – in seinen Händen. Er steckt sie in eine Papiertüte, sie fällt zu Boden und entlässt die wild kreischenden Hirngespinste, die Diane heimsuchen werden. Er inszeniert das Erinnerungsschauspiel in Mulholland Drive – he is the one who is doing it. Abbildung 31: Mulholland Drive: die Befreiung des Wahnsinns.
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Die Halluzinationen der Vergangenheit werden von einer Macht im Hintergrund gehütet. Sie beschwört trügerische Erinnerungen herauf, die das Subjekt überwältigen, und Geschichten, die es nicht autorisiert hat. Wie die Vergangenheit bei Bergson und Deleuze unterliegt auch die mediengenerierte Vergangenheit Lynchs nicht dem Willen des Subjekts. Zurückgeworfen auf ein autarkes Mediengedächtnis fällt es schwer zu sagen, wer man ist, da man in ihm nicht auf Bilder der einen, wahren Vergangenheit stößt, sondern auf eine Vielzahl gleichfalls möglicher Optionen. In Mulholland Drive „(...) gibt (es) nicht mehr die eine ’definitive’ Vergangenheit eines Menschen, sondern es gibt viele verschiedene, bei denen wir als ZuschauerInnen nicht einmal mehr in der Lage sind, die eine der anderen vorzuziehen. In gewisser Weise dementieren und fälschen sich all diese Schichten gegenseitig: Nichts ist mehr eindeutig“ (Schaub 2003b: 187; Hervorhebung im Original).
Das Mediengedächtnis bewahrt widersprüchliche Erinnerungen und inkompossible Vergangenheiten, die sich nicht in eine kohärente Biographie bzw. ein einheitliches Ich integrieren lassen. Infolge der Koexistenz denkbarer Vergangenheitsalternativen wird das temporale Fundament, auf dem Identität sich gründen soll, rissig und das Ich zersplittert in seine Möglichkeitsformen: die tatkräftige Betty und die resignierte Diane, die abhängige Rita und die überlegene Camilla. Mit den Vergangenheitskonstruktionen vervielfältigt sich das Ich. Seine potenziellen Formen treffen auch in Mulholland Drive aufeinander, ohne sich zu erkennen. Ähnlich wie Fred Madison an der Gegensprechanlage vernimmt sich Betty am Telefon. Sie ruft bei Diane an, doch fällt ihr die Stimme auf dem Anrufbeantworter nicht als die eigene auf. Unwissend hört sie sich sprechen – das egologische Paradigma des „Sich-hören-Sprechen (s´entendre parler)“ (Kimmerle 2000: 41) scheitert. Ein morbider Moment misslungener Selbstreflexion ereignet sich, als Rita und Betty Dianes Leiche entdecken. Der Film exponiert die paradoxe Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart und zeigt Betty, die ihrem Selbst begegnet, das in der Gegenwart der Diegese bereits tot ist. Auch an dieser Stelle wird Betty die Konfrontation mit ihrem Ich nicht bewusst. Selbstreflexive Schleifen laufen ins Leere. In Hollywoods Medienrealität löst sich die Wahrheit der Vergangenheit in ihren medialen Inszenierungen auf und die Aktualität des Ich in seinen potenziellen Konstruktionen. Im Rückgriff auf ein Mediengedächtnis ist das Ich ein anderer. Wie schon Lost Highway lotet auch Mulholland Drive die Verbindungen von Virtualität, Gedächtnis und Medien aus. Dabei verkörpert die Traum- und Alptraumfabrik Hollywoods die Domäne des Virtuellen, welche mit erfundenen Erinnerungen aushilft, wo die eigenen unbefriedigend oder unzureichend sind. Im Moment des Todes ziehen Lebens- und
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Liebesgeschichten aus dem Kino – und wie im Kino – am inneren Auge des Subjekts vorüber. Die Chance, sie irgendwann doch in der Realität auszuleben, wird durch den Suizid verhindert – die Erinnerungen einer Toten sind und bleiben Film.
11.3 The Straight Story: Auf der aktuellen Seite der Zeit? 11.3.1 The Straight Story: Synopsis Die Reise eines alten Mannes in The Straight Story bildet einen erstaunlichen Kontrast zu den Irrwegen auf den virtuellen Gleichzeitigkeitsfeldern in Mulholland Drive und Lost Highway. Der Titel des Roadmovies, das auf eine wahre Begebenheit zurückgeht, ist Programm: in ungebrochener Linearität erzählt es von Alvin Straights ungewöhnlicher Fahrt von Laurens, Iowa nach Mount Zion, Wisconsin – 510 Kilometer, die er auf einem Rasenmäher zurücklegt. Zu Beginn des Films senkt sich der Kamerablick aus einem Sternenhimmel auf herbstliche Getreidefelder hinab, streift durch das kleine Städtchen Laurens und nähert sich dem Haus von Alvin Straight (Richard Farnsworth), in dem er zusammen mit seiner Tochter Rose (Sissy Spacek) lebt. Die Kamera hält einen Moment inne, beobachtet Rose, die gerade aus dem Haus tritt, und eine Nachbarin, die sich im Garten sonnt. Dann bewegt sie sich weiter um das Haus herum und fährt auf ein verschlossenes Fenster zu. Plötzlich ertönt aus dem Inneren ein dumpfer Aufprall, dann herrscht Stille. Lynch-erfahrene Zuschauer machen sich auf etwas Schlimmes gefasst, doch in diesem Film lösen sich unheilvolle Vorzeichen in Wohlgefallen auf. Alvin ist lediglich gestürzt und kann sich nicht alleine aufrichten. Öfter noch lockt uns Lynch auf falsche Fährten. Jedes Mal aber erweist sich der Verdacht als unbegründet: in The Straight Story gibt es keine heimtückischen Abgründe hinter den freundlichen Fassaden. Nach seinem Sturz muss Alvin seiner Tochter versprechen, einen Arzt aufzusuchen – eine Zusage, die er nur widerwillig einlöst. Die medizinischen Ratschläge nimmt er nicht an, auf Hilfsmittel und Untersuchungen lässt er sich nicht ein. „If you don’t make some changes quickly“, ermahnt ihn der Arzt, „there will be some serious consequences.“ Alvin aber ist stur. Er spürt sein Alter und weiß, dass man den Lauf der Zeit nicht aufhalten kann. Als Alvin erfährt, dass sein Bruder Lyle (Harry Dean Stanton), mit dem er sich vor Jahren überworfen hat, einen schweren Schlaganfall erlitten hat, will er sich mit ihm aussöhnen, bevor es zu spät ist. Er beschließt, nach Wisconsin zu fahren, um Lyle zu besuchen. Da Alvin schlecht sieht und kein Auto mehr besitzt, kommt er auf die Idee, die Strecke auf seinem Aufsitzrasenmäher zurückzulegen. Alvin ist ein eigensinniger Mensch und seine Tochter kann ihn von diesem verrückten Vorhaben nicht abbringen. „Rosie, I’ve got to go to see Lyle and I’ve got to make this trip on my own. I know you understand”, erklärt Alvin ihr. Und so macht er sich mit seinem seltsamen Gefährt auf den Weg. Lynch gestaltet diese Reise als wunderschönen Bilderbogen. Aufsichten auf Wälder und Kornfelder wechseln ab mit Panoramaeinstellungen, die die Weite der herbstlichen Landschaft einfangen. Langsam ziehen Natur und Städte auf der Leinwand vorüber. Immer wieder Nahaufnahmen der Reifen, die über den Asphalt rollen. Untermalt von der melancholischen Musik Angelo Badalamentis fährt Alvin dahin. Er begegnet den unterschiedlichsten Menschen und in seinen Gesprächen mit ihnen erfahren wir mehr über ihn – über
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seine Familie, die traurige Geschichte seiner Tochter Rose, der man die Kinder nahm, über Krieg, Alkohol und eine entbehrungsreiche Kindheit. Das Tragische und die Gewalt sind nicht aus The Straight Story verbannt. Allerdings tauchen sie nicht mehr direkt auf, sondern zeichnen sich nur noch auf Alvins Gesicht ab, wenn er von seinen Erinnerungen erzählt. Alvins Reise ist eine Zeitreise zurück in seine Vergangenheit – eine ganz persönliche Reise, auf der sein Leben Revue passiert. Sie endet bei seinem Bruder. Als die beiden gemeinsam auf Lyles Terrasse sitzen, bedarf es keiner Aussprache mehr. Gemeinsam schauen sie in den Sternenhimmel auf, so wie früher. Alvin ist angekommen.
11.3.2 Temporale Inszenierung: den Ablauf der Zeit spüren Überzeichnung der Geradlinigkeit Aus den Zeitschleifen und Möglichkeitsmysterien Mulholland Drives und Lost Highways kehrt Lynch mit The Straight Story zurück in die Welt progressiver Zeit. Die Temporalität beruhigt sich und kommt nicht mehr direkt zur Darstellung als Verwicklung von Aktualität und Virtualität. Die virtuelle Seite wird gezähmt und nicht mehr veranschaulicht. Der Film führt durch vertraute homogene Zeitgefilde des Aktuellen. Temporalität wird – wie könnte es in einem Roadmovie anders sein – indirekt in Abhängigkeit von Raumbewegungen präsentiert. Die Durchquerung der weiten Landschaft symbolisiert das Vergehen von Zeit. Der durchfahrene Raum verwandelt sich in Zeitspannen. Zwischen Laurens und Mt. Zion liegt die Straße wie eine Zeitgerade, auf der Alvin seinem Ziel entgegenfährt und auf der sich ein Ereignis an das andere reiht. Dabei spart der Film Vorgriffe auf die Zukunft ebenso aus wie Rückblenden. Alvins Erinnerungen haben ihren Ort in seinen Gesprächen, visualisiert und einmontiert werden sie nicht. Die Film-Erzählung nutzt allein den Modus des Präsens und zeichnet sich aus durch eine geradlinige Entwicklung des Geschehens. Diese wird weder durch sensomotorische Brüche oder Fehlanschlüsse gestört noch lenken Abschweifungen, Nebenhandlungen oder Handlungsverkreuzungen von ihr ab. The Straight Story beschränkt sich auf einen Erzählstrang, welcher sich durch eine strikte Chronologie der Ereignisse auszeichnet. Selbst Alvins Reisebekanntschaften sind den aufeinanderfolgenden Lebensphasen Jugend, Reife und Alter entsprechend geordnet. Revolten gegen die Chronologie und Manipulationen der homogenen Zeit finden in The Straight Story nicht statt. Der Filmaufbau gleicht den schnurgeraden Straßen und Ackerfurchen, die die Eingangssequenz sinnbildhaft vorausschickt. Die Zeit verläuft „so straight (...), dass sie einem mitunter schon wieder surreal erscheint“ (Körte 1999). Die linear-kontinuierliche Sukzession wird übertrieben und ausgestellt. Darin unterscheidet sich Lynchs Zeitgestaltung von der homogenen Zeitinszenierung im klassischen Erzählkino. Während in letzterem die Zeitgerade im Hintergrund steht und von hier aus für Wirklichkeitsnähe und Sinnkohärenz sorgt, gefährdet ihre Überzeichnung die angestrebte Realitätsillusion. Sie entzieht dem linearen Zeitlauf seinen vermeintlich natürlichen Charakter und kennzeichnet ihn als Produkt der filmischen Inszenierung. Die Überzeichnung entlarvt die homogene Zeitfigur als medialen Effekt und hebt sie in einer Weise hervor, die im Erzählkino nicht gewünscht ist. Die Tendenzen zur Aufdeckung des temporalen Konstruktcharakters und zur Ästhetisierung der Zeit zeichnen sich also auch in Lynchs Hommage an den narrativen Film ab.
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Langsamkeit und ‚leere Zeiten’ Ebenso wie die Überzeichnung lenken auch das langsame Filmtempo und eine Fülle deskriptiver Einstellungen die Aufmerksamkeit auf die Sukzession der Zeit. In dem ruhigen Erzählrhythmus, den bedächtigen Kameraschwenks und langen Einstellungen spiegelt sich das Tempo eines alten Menschen. „So rasend, wie in LOST HIGHWAY die Mittelstreifen über die Leinwand huschten, so langsam ziehen sie nun vor dem Kameraauge vorbei. Das läßt uns Zeit, Risse in der Strasse zu sehen, Verwerfungen, Details, seltsame Bilder. (...) Und tatsächlich ist die lange gerade Strasse, und die Wolken, der Weg vorbei an den Mähdreschern, an den endlosen Weizenfeldern, ein wunderschönes, und doch immer um einen Kick widerspenstiges Bild, (...) ein nicht minder heftiger Wahrnehmungsschock als wir ihn aus früheren Lynch-Filmen kennen“ (Seesslen 2003:190 – 191).
Die langsame Geschwindigkeit macht sichtbar, was sich bei hoher Geschwindigkeit dem Blick entzieht. Sie schafft Zeit für nachhaltige und intensive Wahrnehmungseindrücke. In The Straight Story reihen sich zahlreiche rein deskriptive Einstellungen aneinander, die sich in die Ästhetik des Indian Summer versenken und das Filmgeschehen nur unwesentlich vorantreiben. Entgegen der Darstellungskonvention des Erzählkinos bemisst Lynch die Dauer des Gezeigten nicht nach seiner Relevanz für die Story. Vom Standpunkt der Handlungsentwicklung aus betrachtet injiziert er ‚leere Zeiten’ – Einstellungen, die nicht mit Aktion gefüllt sind – in den Film. Er erschließt Bildräume, in denen sich eine ereignislose Zeit dehnt. So entstehen Zeit-Bilder in ihrer einfachsten Ausprägung. In ihnen geschieht nichts weiter, als dass Zeit verrinnt: die des Films, Alvins Zeit, unsere Zeit. Die temporale Sukzession wird in ihrer Wahrnehmung intensiviert und in ihrer Bedeutung existenziell. Indem The Straight Story den Ablauf der Zeit akzentuiert, bildet der Film einen Gegenpol zur Medienzeit. Diese ist charakterisiert durch Simultaneitätsverhältnisse, die aus der Geschwindigkeit medialer Informationsverbreitung und der Speicherfunktion der Medien resultieren. Medien können Ereignisse an fernen Orten zeitgleich im Hier und ferne Zeiten im Jetzt repräsentieren. So werden räumliche und zeitliche Distanzen in ein und derselben Gegenwart zusammengezogen, Raum und temporales Nacheinander ausgelöscht. Nicht so in The Straight Story. Die Langsamkeit, mit der Alvin das Land durchmisst, macht es in seiner Weite bewusst und markiert eine Gegenbewegung zur raumtilgenden medialen Hochgeschwindigkeit – zwischen Laurens und Mt. Zion liegen sehr viel Raum und sehr viel Zeit. Letztere rollt in Form einer wohlgeordneten Ereignisfolge ab. An diese hält sich Lynch strikt, so dass Erinnerungen nur berichtet, nicht aber bildhaft in die Gegenwart der Diegese eingeblendet werden. Anders als in Lost Highway und Mulholland Drive liegen Gegenwärtiges und Vergangenes nicht auf einer optischen Ebene. Augenblicke werden nicht synchronisiert, sondern nacheinander abgewickelt. Der medialen Tendenz zur Gleichzeitigkeit, die den Dingen Dauer und Folge nimmt, setzt The Straight Story geschichtliche Zeitlichkeitsstrukturen entgegen. In The Straight Story gestaltet Lynch eine ungebrochene Sukzession des Aktuellen. Im Unterschied zur homogenen Zeitinszenierung des Erzählkinos aber wird die temporale Sukzession in Lynchs Film ästhetisiert und exponiert. Die formale Strategie der Überzeichnung, das langsame Filmtempo sowie eine Fülle rein deskriptiver Einstellungen machen Zeit in ihrem unaufhaltsamen Ablauf eindringlich spürbar und erheben ihr Vergehen zur
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zentralen Thematik. In The Straight Story geht es nicht um die qualitätslose homogene Zeit, sondern um die subjektive Erfahrung der Vergänglichkeit – nicht um Chronologie als Ordnung, sondern um die Macht des Chronos.
11.3.3 The Straight Story – Interpretation: die Macht des Chronos Unsichtbare Subversion des Chronos: die temporale Doppelbewegung Als Aufeinanderfolge sinnlich-fassbarer Gegenwarten regiert Chronos die Dimension des Aktuellen. Die Chronos- und chronologiefixierte Temporalität ist jene, die sich in die Materie einschreibt und sie mit sich reißt. Sie spiegelt sich in Alvins Gebrechlichkeit und den Zügen seines verwitterten Gesichts. Abbildung 32: The Straight Story: Alvin.
The Straight Story erzählt vom Wirken des Chronos, das mit Vergänglichkeit und Tod assoziiert ist. Alvin ist 73 Jahre alt und ihm wird, wie aus den Warnungen seines Arztes spricht, nicht mehr viel Zeit bleiben, wenn er seinen Lebensstil nicht ändert. Die abschiedliche Herbststimmung und die warmherzigen Begegnungen verwandeln Alvins Reise in eine sehr persönliche, an deren Ende sein Tod zu erahnen ist: die Reise wird mit seinem Lebensweg parallelisiert. Nahegelegt wird diese Lesart sowohl durch Alvins behutsame Erklärung, er müsse den Trip alleine und auf seine Art bewältigen, als auch durch die Abfolge der Menschen, denen er begegnet. Sie verkörpern die verschiedenen Phasen des Lebens. Gleich am Anfang seiner Tour lädt Alvin ein junges Mädchen zu sich ans Lagerfeuer ein, das ungewollt schwanger wurde. Darauf campiert er zusammen mit einem Team sportlicher junger Männer und später, nachdem sein Aufsitzmäher auf einer abschüssigen Straße einen Getriebeschaden davongetragen hat, bekommt er Unterstützung von einem hilfsbereiten Ehepaar in den 50ern. In einem Altersgenossen findet er schließlich einen sensiblen Gesprächspartner, mit dem er über die Last schlimmer Kriegserinnerungen reden kann. Je länger Alvin unterwegs ist, desto älter werden seine Reisebekanntschaften. Mit jeder von ihnen rückt er dem Ende des Lebensweges etwas näher. Bezeichnenderweise überquert er auf seiner letzten Etappe den Mississippi, um sein Nachtlager nahe einem Friedhof aufzuschlagen. Lynchs Film schreitet die Etappen eines Lebensweges ab und verleiht so der temporalen Sukzession eine individuelle Färbung. Die dahinstreichende Zeit wird als ablaufende Lebenszeit markiert – Macht des Chronos. In dieser unaufhaltsamen Zeitbewegung
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gen Zukunft geht The Straight Story jedoch nicht auf. Sie wird konterkariert durch eine Bewegung zurück in die Vergangenheit. Das Gewicht der Vergangenheit nimmt im Verlauf des Films zu und kehrt die Richtung des Zeitpfeils um. Alvin schaut nicht mehr voraus auf das Ziel der Fahrt, sondern zunehmend zurück auf das verbrachte Leben. Dabei spart der Film Rückblenden aus und schildert Alvins Geschichte durchgängig im Präsens. Dennoch lässt sich The Straight Story nicht auf die Sukzession von Gegenwarten reduzieren, denn ihr unterliegt eine Vergangenheit, welche in Gesprächen heraufbeschworen und in Alvins Erinnerungen lebendig wird. Jedes Gespräch besitzt eine virtuelle Erinnerungsunterseite, jeder Reisebegegnung korrespondiert eine Episode aus Alvins Leben. Die Unterhaltungen rufen Erfahrungen wach, an denen er sein Gegenüber teilhaben lässt: die Stärke der Familie, die Freude an der Jugend, Erinnerungen an die Kindheit und an den Krieg. Alvin hat Erinnerungen angehäuft, die mit der erlebten Gegenwart koexistieren. So erscheint Zeit nicht als ein Strom, der vorüberzieht, sondern als etwas, das sich zugleich ansammelt und ablagert. Insofern liegt auch The Straight Story auf einer Linie mit Bergson und Deleuze. Die Zeit ist zugleich fortschreitend und bewahrend, sie teilt sich in flüchtige Gegenwarten und eine expandierende Vergangenheit. Allerdings wird nur die Sukzession des Aktuellen in Szene gesetzt. Anders als in Lost Highway und Mulholland Drive kommt die sich simultan ausbreitende Vergangenheit nicht zur Darstellung: man sieht nicht Alvins Erinnerungen, sondern wie Alvin sich erinnert. Die Einkehr in die Vergangenheit erfolgt nicht mehr sichtbar im Film, sondern unsichtbar im Geiste. Abbildung 33: The Straight Story: Kriegeserinnerungen.
Erinnerung und Identität: Einkehr in ein individuelles Gedächtnis Auch erweist sich die Einkehr in die Vergangenheit nicht als desubjektivierend. Alvin leidet weder unter Gedächtnisverlust noch sind ihm die auftauchenden Erinnerungen fremd. Er wird nicht mit erfundenen bzw. medial inszenierten Erinnerungsbildern konfrontiert, sondern mit persönlichen Erfahrungen – mit Momenten, die er durchlebt hat. Bei der Vergangenheit, in die Alvin einsteigt, handelt es sich nicht um die allgemeine Vergangenheit des Möglichen, sondern um die konkrete Vergangenheit des Subjekts, welche sich aus einstigen Aktualitäten konstituiert. Diese lassen sich im Unterschied zu den nichtaktualisierten Momenten der allgemeinen Vergangenheit chronologisch anordnen. Während letztere ein Simultanfeld darstellt, auf dem sich Erinnerungspfade labyrinthisch zwischen diversen Alternativen verzweigen, führt durch Alvins Erinnerungslandschaft ein gerader
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Pfad. In der konkreten Vergangenheit greifen lineare bzw. geschichtliche Zeitstrukturen, mit deren Hilfe sich Erinnerungen organisieren lassen. Damit vollzieht sich in The Straight Story eine Umwertung des chronologischen Zeitmusters. Wird dieses gängigerweise mit der außenweltlichen, objektiven Zeit identifiziert, gerät es nun zum Ausdruck eines subjektiven Zeithorizonts. In Lynchs Film tritt der Zeitpfeil als individuelles Zeitvokabular in Erscheinung, das Alvin anwendet, um seine Vergangenheit zu sortieren und seine Erfahrungen biographisch aufzuarbeiten. Im Rückblick stellt er eine Sinnkontinuität her und arrangiert seine Vergangenheit zu einer Lebensgeschichte, so dass sich nachvollziehen lässt, was ihn prägte und zu dem ebenso besonnenen wie sturen Mann machte, der er ist. Die geschichtlichen Zeitlichkeitsstrukturen ermöglichen ein Bewusstsein für die Entwicklung des Selbst in der Zeit. Im Gegensatz zum Gleichzeitigkeitsraum der allgemeinen Vergangenheit sind im Raum der konkreten Vergangenheit Biografie- und Identitätskonstruktionen möglich. Auf dem unübersichtlichen Feld des Vergangenen gleicht die konkrete Vergangenheit einem kleinen überschaubaren Bezirk, den das Subjekt sein Eigen nennen kann. Diese Vergangenheitsparzelle kann das Subjekt bearbeiten, es kann über Erinnerungen verfügen und sie produktiv in seine Gegenwart einbringen. Die individuelle Erinnerungszeit, die in jedem Moment mit dem aktuellen Erleben existiert, bildet einen Erfahrungsschatz, vor dessen Hintergrund das Subjekt sein Handeln und sein Ich bestimmt. So bietet The Straight Story einen positiven Gegenentwurf zu Lost Highway und Mulholland Drive: dem Protagonisten gelingt eine identitätsstiftende Erinnerungsarbeit. Nicht mehr Spielball einer medial inszenierten Vergangenheit, sondern Autor seiner Erinnerungen ist es in The Straight Story das Subjekt, welches Temporalität bewusst gestaltet – allerdings dringt es auch nicht in die Domäne des Virtuellen vor, sondern verbleibt im Bereich des Psychologischen und damit auf der aktuellen Seite der Zeit. Während die Erinnerungsbewegung in Lost Highway und in Mulholland Drive in dem nonsubjektiven virtuellen Gedächtnis (bzw. Mediengedächtnis bei Lynch) endet, führt sie in The Straight Story in ein individuelles Gedächtnis – in die persönliche Erinnerungszeit des Subjekts, die sich aus einstigen Aktualitäten zusammensetzt. Die Koexistenz von Aktualität und Virtualität wird gezähmt und eingegrenzt auf die Koexistenz der erlebten Gegenwart mit der durchlebten Vergangenheit.
Die Macht des Chronos im Licht der temporalen Doppelbewegung Trotz des optimistischen Blicks auf einen gelungenen Zeitumgang wird auch in The Straight Story die subjekt-unabhängige Realität von Temporalität unterstrichen. Die Zeitund Erinnerungskontrolle, die dem Subjekt auf der Seite des Aktuellen eingeräumt werden, konterkariert ein existenzieller Zeitverlust. Gerade vor dem Hintergrund der bleibenden Vergangenheit drängt sich das unaufhaltsame Verstreichen von Zeit schmerzlich ins Bewusstsein. Von einem jungen Mann gefragt, was die schwerste Bürde des Alters sei, antwortet Alvin: „The worst part of being old is remembering when you were young.“ Die Gebrechen des Alters und der Verschleiß des Körpers, dem Chronos im Lauf der Jahre zugesetzt hat, werden durch die Erinnerung an die Jugend umso deutlicher fühlbar. Auch in Alvins Kriegserinnerungen sind die Gesichter der gefallenen Kameraden noch immer jung und es quält ihn, dass ihre verlorenen Jahre sich mehren, je älter er wird: „There is one thing that I can’t shake loose. All my buddies’ faces are still young. And the thing is, the more years I have the more they have lost.” Die wachsende Zeitspanne zwischen Erinne-
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rungsbild und Erinnerungsakt gemahnt Alvin an die Vergänglichkeit von Zeit im allgemeinen und der eigenen Lebenszeit im besonderen. Die im Gedächtnis aufbewahrte Zeit gerät zum Gradmesser menschlicher Zeitlichkeit und Endlichkeit. Kurz: die Koexistenz des Vergangenen verschärft den Eindruck der unerbittlich ablaufenden Zeit. Im Licht der Vergangenheit erscheint „Chronos in seiner ganzen Grausamkeit“ (Deleuze 1998: 172). Doch gerade Chronos in der „Rolle eines unerbittlichen Geschicks“ (Deleuze 1998: 176) lässt Alvin den Entschluss fassen, wieder auf Reisen zu gehen, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen. Er zwingt Alvin, Prioritäten zu setzen. Dem Bewusstsein der vergehenden Zeit kommt eine wichtige Funktion zu, denn nur so lässt sich entscheiden, wie die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen ist. Nur im Wissen um die eigene Endlichkeit vermag Alvin die Wichtigkeit von Unternehmungen einzuschätzen und die ihm verbleibenden Möglichkeiten zu erkennen. Aus der Aussicht auf den Tod zieht er die nötige Energie zum Handeln. So teilt sich in Lynchs Film ein Zukunftsbezug mit, wie er von Martin Heidegger gedacht und von Michael Theunissen folgendermaßen pointiert wird: „Indem wir uns bewußt machen, was wir bestenfalls noch tun und was wir keinesfalls mehr tun können, gewinnen wir aus der Vergegenwärtigung unseres Todes Kraft zum Handeln. Wir verwandeln die Ohnmacht des Auf-den-Tod-hin-Lebens, durch dessen Umkehrung zu einem VomTod-her-Leben, in Macht“ (Theunissen 1991: 208).
Nur durch das Vorlaufen auf den Tod wird ein verantwortliches, praktisches Leben möglich. Alvin scheint das „Vom-Tod-her-Leben“ zu gelingen. Er lässt sich nicht durch das Vergehen der Zeit lähmen, sondern münzt die Macht des Chronos in Tatkraft und einen Blick für das Wesentliche um – oder wie Alvin es formuliert: „I can’t imagine anything good about being blind and lame at the same time. But still at my age I’ve seen about all that life has to dish out. I know to separate the wheat from the chaff and let the small stuff fall away.” Temporalität geht in The Straight Story nicht in der zukunftsgerichteten Sukzession auf, die auf der formalen Ebene dargeboten wird. Auch in diesem Lynch-Film teilt sich die Zeit in vorüberziehende Gegenwarten und eine sich ausbreitende (konkrete) Vergangenheit. Ausgehend von der Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit wird eine temporale Doppelbewegung entfaltet, so dass die Zeit zugleich dem schon ahnbaren Tod entgegenläuft und in das Reich der Erinnerungen zurückweicht. Alvin reflektiert sich und sein Tun vor dem Hintergrund der Vergangenheit und in Anbetracht seiner Zukunft. Er lässt sich auf die temporale Teilungsbewegung ein und söhnt sich mit der Zeit aus. Vielleicht liegt darin das melancholische Glück, von dem The Straight Story in wunderschönen Bildern erzählt.
12 Resümee Lynch: Zeit und Film
Lynchs Protagonisten durchstreifen Gedächtnisräume und treffen auf vertraute oder fremde Erinnerungen. Sie reisen zurück in die Vergangenheit oder rotieren in Zeitschleifen. Zeit will nicht mehr einfach nur ablaufen, sondern teilt sich in eine Doppelbewegung (The Straight Story) oder verzweigt sich in die Gleichzeitigkeit denkmöglicher Entwicklungen (Lost Highway, Mulholland Drive). In den ausgewählten Filmen ist der Gedanke des temporalen Teilungsgeschehens zentral: Zeit spaltet sich in die Gleichzeitigkeit von Aktualität und Virtualität. Die Oberfläche des Aktuellen wird durchlässig und lässt das Simultanfeld des Virtuellen durchschimmern. Ein Resümee der Modifikationen der bei Bergson angelegten und von Deleuze weiterentwickelten Zeitfigur sowie ein Blick auf das Verhältnis von Zeit und Film bei Lynch sollen die Filmdiskussion beenden.
Temporale Denkfiguren In The Straight Story wird die Auseinandersetzung mit der Virtualität auf einen kleinen Bereich beschränkt: auf die konkrete Vergangenheit. Die Zeitspaltung wird als Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Erinnerungszeit des Subjekts verhandelt, die sich aus einstigen Aktualitäten zusammensetzen. Deswegen greifen hier keine achronologischen Wirkungen um sich – deswegen sind Biografie und Identität möglich. Offeriert die gebändigte Koexistenz von Aktuellem und Virtuellem in The Straight Story die Grundlage für zielgerichtetes Handeln und Selbstgewissheit, wird die Zeitspaltung in Lost Highway und Mulholland Drive für die Protagonisten problematisch, denn hier erstreckt sich unter der Sukzession des Aktuellen die allgemeine Vergangenheit – die Virtualität im eigentlichen Sinne. Beide Filmen zeichnen ein Zeit-Bild der Vergangenheitsschichten, das einen Eindruck von der eigenständigen Realität des Vergangenen vermittelt. Auf die Erinnerungsbemühungen des Subjekts antwortet keine spezifische, von der Person autorisierte Erinnerung, sondern „eine allseitige und anarchische Mobilisierung der Vergangenheit“ (Deleuze 1999: 79), „ein instabiles Ensemble von freischwebenden Erinnerungen und Bildern einer Vergangenheit im allgemeinen, die in schwindelerregendem Tempo vorüberziehen, als ob die Zeit eine tiefgründige Freiheit gewinnen würde“ (Deleuze 1999: 79; Hervorhebung im Original). Die Erinnerungsversuche des Subjekts enden in einem nonsubjektiven Gedächtnis, d.h. in dem autarken, vom Subjekt nicht beeinflussbaren Raum des Denkmöglichen. Diesen setzt Lynch in Beziehung zu den Medien und geht damit über Bergson und Deleuze hinaus. Dem Virtuellen, dem Deleuze und Bergson eine geistige Realität zuschreiben, kommt bei Lynch eine mediale Realität zu. Medien können Simulakra erzeugen, die nicht auf aktuelle Vorgänge referieren, sondern einem denkbaren Geschehen Ausdruck verleihen. Medien können simulieren, d.h. Virtualität visualisieren. Dasselbe wie für die Visualisierungskraft gilt für die Speicherfunktion der Medien: auch diese bezieht sich neben dem Aktuellen auf das Denkbare, so dass Medien ein dem ontologischen Gedächtnis vergleichbares produkti-
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ves Gedächtnis konstituieren, das inkompossible Alternativen des Vergangenen birgt. Bei Lynch wird der Gedächtnisraum, der bei Bergson und Deleuze unabhängig vom Subjekt in der Zeit selbst liegt, durch Medien konstituiert und zum Mediengedächtnis verdinglicht.57 Medien generieren, veranschaulichen und bewahren Denkmögliches und speisen es auf Projektionsflächen und Fernsehschirmen in die aktuelle Wahrnehmungswirklichkeit ein. Die temporale Figur der Koexistenz von Aktuellem und Virtuellem wird bei Lynch in einen Bildchaosmos übersetzt, in dem sich aktuelle Erfahrungsbilder, ihre medialen Reproduktionen und Simulakra vermischen. Das Aktuelle und das Virtuelle existieren in der Medienrealität an der Oberfläche des Sichtbaren. So wird es schwierig zu unterscheiden, was wirklich geschah und was medial inszeniert wurde, ob die Medien ein tatsächliches Geschehen wiedergeben oder umgekehrt die Realität den medialen Inszenierungen hinterherhinkt. Die von Lynch verfilmte Medienwelt bestimmt sich durch die Verquickung von Mimesis und Simulation. In ihr jagen Aktualität und Virtualität hintereinander her – sie changiert beständig zwischen beiden Polen. Die Koexistenz von Aktualität und Virtualität tritt bei Lynch als temporale Verfassung der Medienrealität zutage. In Lost Highway und Mulholland Drive zeigt Lynch, welche Auswirkungen diese Temporalität auf Erinnerung, Selbstreflexion und Identität, kurz: auf die Konstitution von Subjektivität hat. Die Filme beleuchten, was es für das Individuum bedeuten kann, in einer sich teilenden Medienzeit aufgehoben zu sein. Auf einer Linie mit Deleuze wird Zeit als Medium dargestellt, in dem das Subjekt existiert: „Die Zeit ist nicht das in uns befindliche Innerliche, sie ist, ganz im Gegenteil, die Innerlichkeit, in der wir sind und leben, in der wir uns bewegen und uns verändern“ (Deleuze 1999: 113). So führt in Lost Highway und Mulholland Drive die Erinnerung des Subjekts nicht in seine persönliche Vergangenheit, sondern in einen autarken Gedächtnisraum – hinein in ein nonsubjektives Mediengedächtnis, in dem Erinnerungen von medialen Simulakra infiltriert (Lost Highway) oder von Hollywoodgeschichten überformt werden (Mulholland Drive). In Übereinstimmung mit Bergson und Deleuze ist das subjektive Zeiterleben des Erinnerns auch bei Lynch keine Einkehr in eine intime Innenzeit, sondern der Ausgang in die Zeit selbst – der Ausgang in eine umfassende Medienzeit, in der sich Ansichten des Virtuellen mit dem Aktuellen vermischen. In Lost Highway und Mulholland Drive wird keine subjektive Innenzeit in Szene gesetzt, sondern die subjekt-unabhängige Realität der Zeit ästhetisiert, die jedoch nur subjektiv erlebt werden kann: die Koexistenz von Aktualität und Virtualität, die das Subjekt umfängt und die Lynch als Medienzeit ausbuchstabiert. In ihr vollziehen sich Erinnerung, Selbstreflexion und Identitätsbildung. Wie Lost Highway und Mulholland Drive zeigen, bedeutet sich in der Medienzeit zu erinnern nicht, in der Chronologie zurückzuspringen oder sich wie in Time-Travel-Filmen vor und zurück auf einer Zeitlinie zu bewegen. Vielmehr bedeutet es, durch ein Labyrinth potenzieller Vergangenheiten zu irren. Simulakra fälschen die Erinnerungsbewegung ab und durchkreuzen die identitätsstiftende Rekonstruktion der persönlichen Vergangenheit. Die Biographie des Subjekts verzweigt sich in hypothetische Pfade und seine Identität zerstreut sich in mögliche Alternativen. Das Ich zerspringt in virtuelle Varianten mit widersprüchlichen Geschichten. Diese vermag auch der Akt der Selbstreflexion nicht wieder zur Einheit des Ichs zusammenzufügen. Der Blick des Subjekts auf sich selbst wird in der sich teilenden 57
Von hier aus lässt sich eine Linie zu Arbeiten von Heike Klippel ziehen, in denen der kinematographische Gedächtnisraum vor dem Hintergrund der Gedächtnistheorie Bergsons untersucht wird (vgl. Klippel 1997; Klippel 1998).
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Zeit fortgetragen und kehrt nicht zu seinem Ausgangspunkt zurück. So veranschaulichen sowohl Lost Highway als auch Mulholland Drive zahlreiche Momente verfehlter Selbstreflexion: ahnungslos hören sich Figuren an der Gegensprechanlage und am Telefon oder stehen gar ihrer eigenen Leiche gegenüber. Abbildung 34: Lost Highway: Scheitern des s’entendre parler – Fred an der Gegensprechanlage.
Abbildung 35: Mulholland Drive: Scheitern des s’entendre parler – Betty am Telefon.
Abbildung 36: Mulholland Drive: morbider Moment der Selbstbegegnung – Betty und Dianes Leiche.
Die Protagonisten begegnen sich selbst, doch sie erkennen sich nicht. Die Selbstreflexion wird gleichsam im Zeitkristall gebrochen: dem Subjekt, das auf sich schaut, blicken virtuelle Wiedergänger entgegen, die ihm fremd bleiben. In der Medienzeit führt die Selbstreflexion des Cogito anstatt zur Selbsterkenntnis zur Fragmentierung und Vervielfältigung des Ichs. Lost Highway und Mulholland Drive richten den Fokus auf den Zusammenhang von Zeit und Subjektivität. Sie entwerfen zwei pessimistische Szenarien davon, was es heißen
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kann, einer Medienzeit innerlich zu sein, die sich in Aktualität und Virtualität ausdifferenziert: in ihr sind Vergangenheitsbewältigung sowie kohärente Biografie- und Identitätskonstruktion nicht möglich – hier ist Identität eine Illusion und Schizophrenie der Normalfall. Das Ganze der Zeit als Komplexion von Aktualität und Virtualität wird bei Lynch sichtbar als eine krankmachende, desubjektivierende Zeitlichkeit, der die Figuren zum Opfer fallen.58 In Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story bringt Lynch mögliche Konsequenzen des temporalen Teilungsgeschehens zur Aufführung. Seine Entfesselung kann das Subjekt Erinnerung und Identität kosten, die gebändigte Koexistenz der Gegenwart mit der Vergangenheit hingegen das Bewusstsein für Geschichte und Zukunft des Ichs vertiefen und mithin seine Konturen schärfen. Somit beschäftigen sich die Filme letztlich mit der praktischen Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Leben. Zeitinszenierung bei Lynch ist mehr als ein film- und erzähltechnisches Experiment. Mit ihr treten existenzielle Themen auf den Plan wie Vergangenheits- und Identitätsverlust, Wahnsinn, Tod und Vergänglichkeit ... und manchmal, wie in The Straight Story, geht es auch um ein melancholisches Glück.
Zeit und Film Angefangen bei der medienkritischen Einschätzung Bergsons, die filmische Zeitbeschreibung verschütte das temporale Wesen, über Deleuze, der den Film als Aufführungsort des temporalen Teilungsgeschehens auslotet, ist man mit Lynch in der Medienpraxis angekommen: Temporalität wird verfilmt – theoretische Zeitkonzeptionen auf der Leinwand realisiert. In Lynchs Kino der Zeit lebt Temporalität als ganzheitlicher und unberechenbarer Wandel auf; hier teilt sie sich in ihre aktuelle Seite, auf der The Straight Story das unerbittliche Vergehen der Gegenwart fokussiert, und in ihre virtuelle Seite, auf der Lost Highway und Mulholland Drive sich ausbreitende Gedächtnis- und Möglichkeitsfelder ausmalen. Jeder Film offeriert ein Bild der Zeit: The Straight Story ein Bild des Chronos, Mulholland Drive ein Bild der (medialen) Gedächtniszeit, Lost Highway ein Bild der Medienzeit. Blendet man das Zeitinszenierungskonzept auf die analysierten Regiearbeiten, ist zu erkennen, dass es komplett in ihnen aufgeht. Die Filme lösen die Kerngedanken des Konzepts ein: in jedem von ihnen wird Temporalität als Medieneffekt und Film selbst als zeitgestalterisches Medium apostrophiert. Um die genannten Zeitfiguren zu erzeugen, kombiniert Lynch bereits von Deleuze beschriebene Gestaltungsmittel (selbstbezügliche Bilder, autonome Intervalle, Fehlanschlüsse) mit Bildverweisen, zyklischem Zeitaufbau oder einer überzeichneten Linearität. Da sich diese Inszenierungsstrategien von den Darstellungskonventionen des Erzählkinos absetzen und die Wahrnehmung des Temporalen entautomatisie58 In Lost Highway und Mulholland Drive werden die Figuren zum Spielball einer mediengenerierten Zeitlichkeit. Sie schaffen es weder ihre Vergangenheit noch sich selbst zu beschreiben. Die menschlichen Zeitlichkeitsstrukturen fallen einer umfassenden Medienzeit zum Opfer. Damit entfalten Lost Highway und Mulholland Drive auf inhaltlicher Ebene ein posthistorisches Szenario, wie es von Kittler und Virilio ausgemalt wird. Die Ohnmacht des Subjekts wird jedoch auf formaler Ebene zurückgenommen. Indem Lynch narrative, montage-, und tricktechnische Zeitgestaltungsmittel exponiert, macht er Zeit als Produkt einer filmischen Inszenierung deutlich, für die der Regisseur verantwortlich zeichnet. Auf diese Weise wird das posthistorische Szenario einer sich verselbständigenden, desubjektivierenden Medienzeit relativiert, Zeit als beeinflussbarer und aktiv veränderbarer Faktor ausgewiesen und an die Handhabung des Subjekts zurückgebunden.
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ren, fallen sie auf. Ziehen aber die temporalen Gestaltungstechniken die Aufmerksamkeit auf sich, setzt sich einerseits das Medium Film als Instrument der Zeitgestaltung in Szene und wird andererseits Temporalität als Produkt der medialen Inszenierung evident: die Teilung der Zeit in die Koexistenz von Aktualität und Virtualität erscheint als Medieneffekt. Zeit und Film gehen bei Lynch ineinander auf – mit ihm endet die Annäherungsentwicklung von Zeit und Film, die ausgehend von Bergson verfolgt wurde. Letzterem zufolge ist Temporalität in ihrer komplexen Ausdifferenzierung in Aktualität und Virtualität nur jenseits zeichenhafter bzw. medialer Überformungen zu finden. Die Vorstellung eines temporalen Wesens durchzieht auch Deleuzes Überlegungen, doch räumt er ein, dass Temporalität nur durch und in medialen Zeichen zum Ausdruck gelangt. Deleuze begreift den Film als Erkenntnisinstrument, welches das wesenhafte Teilungsgeschehen der Zeit denkbar und sichtbar machen kann. Im Licht von Lynchs Arbeit, in der das temporale Gestaltungspotenzial des Films akzentuiert wird, kann die Zeitspaltung schließlich nicht länger als temporales Wesen verstanden werden, das Film lediglich zur Darstellung bringt. Vielmehr muss es als Zeitformat aufgefasst werden, das der Film hervorbringt – als Zeitformat, das nicht außerhalb des Films existiert. Bei Deleuze wird die Zeitteilung durch den Film erkennbar, bei Lynch wird sie vom Film produziert – die Temporalität ist eine Medienrealität.
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13 Fazit: Film als zeitanalytisches Medium
Die Arbeit schließt mit einer Rückblende auf den Anfang und einer Vorausblende auf mögliche nachfolgende Untersuchungen: welche Fragen konnten beantwortet werden und welche schließen sich an? Die Wanderung durch die Zeit- und Möglichkeitswelten bei Bergson, Deleuze und Lynch nahm ihren Ausgang von einer zeit- und einer medientheoretischen Fragestellung:
Welche temporalen Denkfiguren lassen sich bei Bergson, Deleuze und Lynch eruieren und welche Metamorphosen durchlaufen sie? Wie wird das Verhältnis von Zeit und Film gedacht und worin besteht das zeitanalytische Potenzial des Mediums?
Sowohl der Wandel der Zeitauffassung als auch der Wandel in der Einschätzung der Beziehung von Film und Temporalität wurde in den jeweiligen Schlussbetrachtungen zu Bergson, Deleuze und Lynch resümiert. Daher soll an dieser Stelle eine stark komprimierte Übersicht der Entwicklungen genügen, vor deren Hintergrund das zeitanalytische Potenzial des Films erörtert wird.
13.1 Bergson, Deleuze und Lynch: ein Resümee In Bergsons und Deleuzes Ansätzen sowie in Lynchs Filmen hat sich die Zeitspaltung als zentrale Denkfigur herauskristallisiert. Temporalität teilt sich in eine aktuelle Seite, auf der sich die Erfahrungswirklichkeit formiert und eine virtuelle Seite, auf der sich Gedankenbewegungen und Möglichkeitsspiele zutragen – sie differenziert sich aus in eine materielle und eine geistige Dimension. Auf dieses temporale Teilungsgeschehen stößt Bergson, als er sich auf die Suche nach dem Wesen der Zeit begibt: der raumunabhängigen Dauer. Im Kontrast zum homogenen Zeitbegriff bezeichnet sie keine vermessbare Gerade distinkter Gegenwarten, sondern die unkalkulierbare, qualitative Veränderung eines Gesamtzusammenhangs. Bei der Dauer handelt es sich um ein produktives Werden, das der Struktur nach nicht Abfolge sondern Teilung ist: auf ihrer aktuellen Seite bildet die Dauer ein Netzwerk aus Aktion und Reaktion, den sensomotorischen Wirkungszusammenhang der Materie aus – auf ihrer virtuellen Seite einen subjekt-unabhängigen Gedächtnisraum, in dem sich die Vergangenheit in Schichten ausbreitet. Zeit gabelt sich in vorüberziehende Gegenwarten und eine sich bewahrende Vergangenheit. Dieses Wesen der Zeit kann Bergson zufolge nur medienfrei, qua Intuition erfasst werden, nicht aber durch den Film. Das Medium, das Bergson ausschließlich unter dem technischen Gesichtspunkt von Aufzeichnung und Projektion betrachtet, reduziert Zeit auf ihre aktuelle Seite. Es reproduziert die Bewegungen der Materie und zwingt ihre Komplexität obendrein in eine lineare Abfolge statischer Momentaufnahmen. Der Film transformiert die schöpferische Dauer des Aktuellen in eine
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berechenbare Reihe von Gegenwarten – in die Ordnung homogener Zeit. Die Dauer und die Technik des Films sind für Bergson nicht vereinbar. Die Kinematographie ist eine Maschine temporaler Verräumlichung – der Film ein zeitabtötendes Medium. In zeittheoretischer Hinsicht schreibt Deleuze Bergson fort. Er kommt allerdings zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Temporalität und Film. Indem er Bergsons enge mechanistische Perspektive aufgibt und den Blick auf das Filmerleben lenkt, kann er den Film als Medium sichtbar machen, das die aktuelle und die virtuelle Dimension der Dauer zur Darstellung bringt. So exponiert Deleuze in Das Bewegungs-Bild die Affinität des Mediums zur aktuellen Seite der Zeit. Die aktuellen Wirkungen der Dauer spezifiziert er in Übereinstimmung mit Bergson als universelle Variation der Materie – als Wechselwirkung von Molekülen, die den empirischen Gegebenheiten vorausliegt und sie bedingt (Immanenzplan, ‚Zeitmaterie’). Während die menschliche Wahrnehmung das molekulare Bewegungsspiel zur räumlichen Dynamik von Festkörpern zusammenzieht und die Dauer der Materie zur Sukzession begradigt, vermag der Film unter die Oberfläche der Erfahrungswirklichkeit zu tauchen. Als Ineinander beweglicher Einstellungen kann er in die grundlegende Bewegung des Aktuellen eindringen, welche der natürlichen Wahrnehmung verborgen bleibt. In Das Zeit-Bild, dem zweiten Teil seiner Kinostudie, befasst sich Deleuze mit der Beziehung des Films zum temporalen Teilungsgeschehen. Er durchleuchtet die Koexistenz des Virtuellen mit dem Aktuellen auf dem ästhetischen Terrain des Films. Im Anschluss an Bergson nimmt auch Deleuze ein nonsubjektives Gedächtnis auf der virtuellen Seite der Zeit an, in dem sich neben der konkreten Vergangenheit des Aktuellen auch Alternativen erhalten, die nicht aktualisiert wurden. Deleuze hebt das virtuelle Gedächtnis als produktives hervor, das unverbrauchte Potenziale birgt und zeichnet es so als Raum des Denkmöglichen selbst aus. Dieser ist im Kontrast zur Aktualität der Materie, deren Bewegungen die natürliche Wahrnehmung zur Sukzession kontrahiert, durch Simultaneität charakterisiert: nicht-realisierte Möglichkeiten bestehen zeitgleich nebeneinander. Sie konstituieren ein Gleichzeitigkeitsfeld, auf dem Gedanken springen und Verbindungen von einem Punkt zum anderen ziehen. Mit Hilfe diskontinuierlicher Montagetechniken vermag Film einen Eindruck der gedanklichen Bewegungen und mentalen Relationen auf dem Gleichzeitigkeitsfeld des Virtuellen zu evozieren. Deleuze verdeutlicht, dass sich Temporalität in die Koexistenz zweier Wirklichkeitsordnungen auseinanderlegt, die zeitlich unterschiedlich strukturiert sind: in die Aktualität der Materie, die sukzessionslogisch organisiert ist und die geistige Realität des Denkmöglichen, die simultan verfasst ist. Die Aufspaltung der Zeit in Aktualität und Virtualität wird als paradoxe Verschränkung zweier temporaler Vollzüge ausbuchstabiert. Die Verquickung von Sukzession und Simultaneität kann Film nun aufgrund seiner eigenen temporalen Struktur direkt zum Ausdruck bringen. Er ist Bild- und Erzählmedium zugleich, d.h. simultan in seiner Bildlichkeit und sukzessiv im narrativen Ablauf der Bilder. Wenn sich die visuellen Simultaneitätsverhältnisse gegen die narrative Sukzessionslogik verschieben, tritt die Koexistenz der beiden zeitlichen Vollzüge zu tage. Das filmische Medium kann das temporale Teilungsgeschehen, das sich bei Bergson allein der subjektiven Intuition offenbart, veranschaulichen und der Reflexion aussetzen. Deleuze exponiert eine tiefreichende Affinität des Mediums zu beiden Seiten der Zeit: es vermag die aktuellen Bewegungen der Materie einzufangen ebenso wie virtuelle Gedanken- und Möglichkeitsspiele. Bei Deleuze avanciert Film zum Erkenntnismedium, das in
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die materielle und die geistige Dimension der Zeit vordringen und ihr achronologisches Zusammenspiel ausloten kann. Mit der Auszeichnung des Films als Aufführungs- und Reflexionsort des Temporalen schlägt Deleuze die Brücke zur filmischen Zeitpraxis bei Lynch. Das bei Bergson fundierte und auch bei Deleuze noch durchschimmernde essentialistische Verständnis der Zeitspaltung wird in Lost Highway, Mulholland Drive und The Straight Story aufgehoben. In ihnen wird Temporalität als Produkt der filmischen Inszenierung markiert. Anders als im Erzählkino erscheint der Film bei Lynch nicht als neutrales Medium, das eine film-unabhängige Zeit lediglich aufzeichnet und wiedergibt. Stattdessen werden zeitästhetische Strategien in den Vordergrund gespielt, so dass die Zeitspaltung als medialer Effekt kenntlich wird und Film als sein Erzeuger. Lynch verschiebt den Akzent vom Film als temporalem Erkenntnismedium zum Film als temporalem Konstruktionsmedium. Der Konnex von Zeit und Medien wird nicht nur auf der formalen Ebene der LynchFilme ausgestellt, sondern auch auf ihrer inhaltlichen Ebene verhandelt. In den drei Produktionen wird das temporale Teilungsgeschehen durchdekliniert und in seinen verschiedenen Wirkungsfacetten sichtbar. Dabei erfährt die Figur der Zeitspaltung ihre entscheidende Modifikation in Lost Highway und Mulholland Drive, in denen sie mit der Konstitution der Medienwelt identifiziert wird. In beiden Filmen stellt sich der virtuelle Raum des Denkmöglichen als Raum der Medien dar. Medien generieren und visualisieren Denkbares, indem sie Simulationen erzeugen. Dem Virtuellen, dem Deleuze und Bergson eine geistige Wirklichkeit zuschreiben, verleiht Lynch eine mediale Realität. Durch Medien veranschaulicht wird das Virtuelle zum Bestandteil der Wahrnehmungswirklichkeit. In ihr kursieren nun Ansichten des Virtuellen und des Aktuellen an der Oberfläche des Sichtbaren. Lynch übersetzt die Koexistenz von Aktualität und Virtualität in einen Bildchaosmos aktueller und simulierter Bilder und weist sie damit als temporale Verfassung der Medienrealität aus. In dieser ereignet sich eine Zusammenschau von Fakten und Möglichkeiten zwischen denen das Subjekt – zumindest in Lost Highway und Mulholland Drive – zerrieben wird: beide Filme erzählen vom Scheitern der Erinnerungsarbeit, der Selbstreflexion und der Identitätsbildung in einer sich teilenden Medienzeit. Die Schlüsselfigur der Zeitspaltung erfährt Verschärfungen oder Erweiterungen an ihren Rändern, bleibt im Kern jedoch stabil. Ob es sich bei diesem Zeitmuster um das Wesen der Zeit oder um ein Konstrukt handelt, wird von Bergson, Deleuze und Lynch hingegen unterschiedlich eingeschätzt. Erachtet Bergson die Zeitteilung als die ‚medienresistente’ Wahrheit des Temporalen, die nur kontemplativ erfahren werden kann, begreift Deleuze sie als temporales Wesen, das im Film zum vollen Ausdruck gelangt. Lynch schließlich kennzeichnet sie als Medienrealität, die erst vom Film hervorgebracht wird. Mit dieser Verschiebung geht eine Veränderung in der Bewertung der Beziehung des Films zur Temporalität einher. So zeichnet sich eine Entwicklungslinie ab von der medienkritischen Position Bergsons, der den Film als zeitzersetzendes Medium ablehnt, über Deleuzes zeittheoretische Nutzung des Mediums hin zur kreativen Zeitpraxis bei Lynch, in der Film als temporales Gestaltungsmedium hervortritt.
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13.2 Der Film als Instrument der Zeitanalyse Die besondere Leistung des Films im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Zeit ergibt sich aus der Kombination seines temporalen Erkenntnis- und Gestaltungspotenzials. Letzteres erwächst seinen bilddramaturgischen, digitalen, montage- und tricktechnischen Verfahren, mit deren Hilfe er diverse Zeitbeschreibungen bzw. Zeiterfahrungen generieren kann: solche, die mit der Alltagserfahrung des Publikums übereinstimmen wie die homogene Zeit des Erzählkinos; solche, die allein dem subjektiven Zeitbewusstsein zuteil werden wie Erinnerungsspiele und Zeitspaltungen oder aber solche, die an spezifische Filmtechniken gebunden sind und außerhalb des Kinos nicht erlebt werden können (z.B. Bullet-Time, Zeitlupe, Zeitraffer). Zeit wird durch kinematographische Zeichen und ihre Kombinationen moduliert – das Kino ist ein Raum temporaler Pragmatik, in dem Zeit konstruiert und als aktiv zu beeinflussender Faktor erkennbar wird. Doch werden im Kino nicht nur Zeitmodelle entworfen. Hier können sie zugleich analysiert, ihre Konfigurationen seziert und ihre Wirkungen erforscht werden. Filme eröffnen zugleich einen theoretischen Raum der Zeitreflexion, den man am besten mit Deleuze besucht. Bei Deleuze lässt sich die Diskussion von Zeit und Film nicht voneinander trennen. Zeittheoretische Überlegungen werden in der Auseinandersetzung mit Filmen entwickelt und die Untersuchung filmischer Ästhetiken vor dem Hintergrund zeittheoretischer Annahmen aufgespannt. Deleuze denkt Zeittheorie und Filmästhetik zusammen. In ihrer Begegnung liegt die Chance der Erneuerung temporaler Ideen oder wie Deleuze es auch allgemeiner fasst: die Chance, die Philosophie durch das Nicht-Philosophische zu befruchten, damit ihre Begriffe nicht in einer logischen Selbstabschließung verkümmern. Wie der Vergleich von Bergsons und Deleuzes Konzeptionen mit Lynchs Filmen gezeigt hat, können theoretische Zeitbegriffe durch den Kontakt zum Nicht-Philosophischen belebt, erweitert und flexibilisiert werden. „Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst und bedeutet, daß die Philosophie nicht hinlänglich auf bloß philosophische Weise verstanden werden kann, sondern sich in ihrem Wesen auch an die Nicht-Philosophen wendet“ (Deleuze/Guattari 1996: 49).
In diesem Sinne nimmt Deleuze den Film ernst als Aufführungs- und Lösungsort philosophischer Probleme. Indem abstrakte Zeitkonzeptionen in Geschichten gekleidet und ihre etwaigen Konsequenzen in Filmwelten exemplifiziert werden, werden sie auf eine sinnlichkonkrete Erfahrungsebene heruntergebrochen und dort verdeutlicht. Film übersetzt die Bedeutung theoretischer Begriffe in Wahrnehmungen und Empfindungen und erschließt so einen nicht-philosophischen, ästhetischen Zugang zu den zeittheoretisch-abstrakten Ideen – oder, wie Deleuze formuliert: der Begriff bewegt sich „nicht nur in sich selbst (philosophisches Verstehen), er bewegt sich auch in den Dingen und in uns; er inspiriert uns zu neuen Perzepten und neuen Affekten, die das nicht-philosophische Verständnis der Philosophie bilden“ (Deleuze 1993b: 237; Hervorhebung im Original). Film stellt eine Bühne dar, auf der philosophische Theoreme sinnliche Gestalt annehmen. Damit ist das Medium zwar als Aufführungs-, jedoch noch nicht als Lösungsort philosophischer Probleme bestimmt. Deleuze interessiert nicht allein, wie Theoreme audiovisuell verpackt werden, d.h. die Verfilmung von Philosophie. Vor allem beschäftigt ihn die Frage, wie mit Film philosophiert
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wird – welche Zeitvorstellungen den Filmbildern und ihren Verbindungen inhärent sind und wie sich mit dem Medium Film über Zeit nachdenken lässt. „Sie fragen mich, warum so viele Leute übers Kino schreiben. (...) Mir scheint, eben deswegen, weil das Kino viele Ideen enthält. Was ich Idee nenne, das sind Bilder, die zu denken geben. (...) In jedem Fall sind die Gedanken von den Bildern nicht ablösbar, sie sind den Bildern vollständig immanent. Es gibt keine abstrakten Gedanken, die sich gleichgültig in diesem oder jenem Bild realisieren würden, sondern konkrete Gedanken, die nur in diesen Bildern und ihren Mitteln existieren“ (Deleuze 2003: 194; vgl. Ott 2005: 128).
Film denkt über Temporalität in Bewegungs- und Zeit-Bildern nach. Ihre Kompositionen sowie die zeitliche Struktur des Films – die Verschränkung simultaner und sukzessiver Vollzüge – ermöglicht ein spezifisches Denken über Zeit, das so in anderen Medien nicht stattfinden kann. Film kann durch die Montage seiner Einstellungen Gedanken- und Erinnerungsbewegungen auf dem Simultanfeld des Virtuellen antizipieren oder den Eindruck einer achronologischen Zeitteilung heraufbeschwören und ihren Konsequenzen nachgehen. Das Sprachmedium hingegen, das sukzessionslogisch operiert, oder auch die Fotographie, die unbeweglich und allein durch die Simultaneität des Visuellen charakterisiert ist, sind dazu nicht in der Lage. Der Film „konstituiert (...) eine Welt, indem er in Bildern und Tönen ein Denken entwirft, das anderswo, etwa in anderen Medien oder auch in Formen philosophischer Sprache und Wissenschaft, nicht in gleichem Maße einholbar ist“ (Fahle 2002: 97). In Filmen werden temporale Vorstellungen entwickelt und durchleuchtet. Das Zusammenspiel seiner zeittheoretischen und seiner zeitpragmatischen Komponente macht das Medium zum effektiven Untersuchungsinstrument des Zeitphänomens. Von der philosophischen oder wissenschaftlichen Zeitbetrachtung unterscheidet sich die filmische Reflexion durch ihre ästhetische Dimension. Die Zeitentwürfe verbleiben nicht auf einer konzeptuellen Ebene, sondern werden in einen ästhetischen Erfahrungsraum hineingestellt, in dem sie kognitiv, sinnlich und emotional aufgefasst werden. Filme ziehen ihr Publikum in ihre temporalen Konstruktionen hinein – der Zuschauer bewegt sich durch ihre Architektur und betrachtet sie von Innen. Im Film wird Zeit zum Erlebnis und in ihren Konsequenzen für das Verstehen, Handeln und Fühlen spürbar. Anders gesagt: Film eröffnet einen Simulationsraum des Temporalen, in dem Zeitvorstellungen Gestalt annehmen und bearbeitet werden können – in dem abstrakte Zeitbeschreibungen animiert und ihre Auswirkungen durchgespielt werden können. Zeit denken und erfahren wird im Kino eins: der Film ist ein Medium des empathischen Denkens und ästhetischen Lernens über Zeit.
13.3 Ausblick Am Anfang einer Untersuchung stehen Fragen, an ihrem Ende auch. Im Verlauf der Arbeit wurden Themenfelder angeschnitten, die nicht vertieft werden konnten und Fragen aufgeworfen, die andernorts beantwortet werden müssen. So konnte der Zusammenhang von Zeit- und Denk- bzw. Verstehensmustern im Rahmen dieser Arbeit lediglich andiskutiert werden. Er wurde sowohl im Kontext der Beschäftigung
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mit Deleuze angesprochen, demzufolge zeitliche Vollzüge Denkprozesse formieren59, als auch im Hinblick auf die Bedeutung der Zeitinszenierung für die Sinnkohärenz eines Films.60 Von hier aus lässt sich weiterfragen nach der Art und Weise, wie mediale Zeitbeschreibungen im Film aber auch in anderen Medien (z.B. dem Internet oder in Computerspielen) die Verstehensprozesse der Mediennutzer prägen. Wenn man annimmt, dass Zeitbeschreibungen das Denken beeinflussen, ist auch von einem Einfluss auf das Handeln auszugehen. Die Frage nach dem Konnex von Temporalität und Handlungsfähigkeit und mit ihr nach der Autonomie des Subjekts legen nicht zuletzt Lynchs Filme nahe, in denen mit der Zeitgestaltung existenzielle Themen auf den Plan treten wie Ohnmacht, Wahnsinn, Identitätsverlust, Vergänglichkeit aber auch, wie in The Straight Story, die Möglichkeit eines gelingenden Lebens. Begünstigen bestimmte Zeitmodelle Wahnsinn, Gewalt oder Identitätsverlust, während andere Handlungsfähigkeit und Selbstfindung fördern? Welche Zeitvokabulare lassen sich zu welchen Zwecken nutzen und worin bestehen ihre Konsequenzen für das Subjekt? Diese Fragen verlangen nach einer praxisorientierten Beschäftigung mit der Zeit, d.h. nach einer praktischen Zeitphilosophie. Auch die Untersuchung des zeitanalytischen Filmpotenzials ist auf Weiterführung angelegt. Dazu müssen andere Regisseure, die mit Zeitebenen experimentieren (z.B. Christopher Nolan, Steven Soderbergh, Michel Gondry) in Betracht gezogen werden ebenso wie filmtechnische Innovationen, die neue Zeiteffekte hervorrufen (z.B. Digitalisierungstechniken). Last but not least steht Film als ästhetischer Versuchsraum natürlich nicht nur Zeitideen offen. In gleicher Weise können hier auch andere Theoreme und Problemzusammenhänge konkretisiert und durchgespielt, erprobt und reflektiert werden. Film konstituiert einen Erfahrungs- und Lernraum, den es weiter zu erforschen und zu konturieren gilt. Das Medium Film hat das Potenzial Wahrnehmungen und Gedanken zu schärfen – nicht nur im Hinblick auf Zeitspaltungen und Möglichkeitsspiele.
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Während die Sukzessionslogik Nachvollziehbarkeit und eine diskursive Logik begründet, ereignet sich das Denken auf dem Simultanfeld des Virtuellen assoziativ und experimentell. 60 Die homogene Zeitinszenierung des Erzählkinos soll Kausalität und Nachvollziehbarkeit des Geschehens sichern.
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Filmverzeichnis
Lynch, David (Regie, Drehbuch) (1996): Lost Highway. USA: CIBY-2000/ Asymmetrical Productions: 135 min. Lynch, David (Regie) (1999): The Straight Story. USA/ France/ UK: Walt Disney Pictures/ Le Studio Canal+/ Les Films Alain Sarde: 112 min. Lynch, David (Regie, Drehbuch) (2001): Mulholland Drive. France/ USA: Asymmetrical Productions/ Le Studio Canal+/ Les Films Alain Sarde: 141 min.