Zum Anfang der Zeit Version: v1.0
Landru wankte, ohne in seinem Vorwärtsdrang innezuhal ten. Seit er den Marsch durch...
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Zum Anfang der Zeit Version: v1.0
Landru wankte, ohne in seinem Vorwärtsdrang innezuhal ten. Seit er den Marsch durch diesen endlosen Korridor an getreten hatte, überfielen ihn immer neue, wundersame Im pressionen. Seine Hände verkrampften sich um das Artefakt aus grauer Vergangenheit: die Opferschlange. Der breite Pfad war nicht still, nicht friedlich. Denn von überall her bettelten die Seelen der Kinder, die der Lilienkelch auf sei nen Reisen durch die Welt verschlungen hatte! Sie flehten um nichts Geringeres als ihre Erlösung. Doch dafür, dachte Landru, bin ich kaum die richtige Adresse. Vielleicht wäre SIE es, Lilith, von der ich immer noch nicht weiß, was sie im Schilde führt. Warum sie sich einen runenübersäten Dämon zum Komplizen genommen hat und mit ihm vorauseilt … …WOHIN?
Was bisher geschah Ein Korridor unter der Wüstenstadt Uruk führt in vergangene Epochen, die bedeut sam waren für das Vampirgeschlecht. Hier erleben Duncan Luther und George Roma no die Vorbereitungen, den Nexius, ein amorphes Monstrum, das einst dem Kelch ent sprang, in eine unterirdische Pyramide einzukerkern. Und sie erfahren von einer »Dunklen Arche«, auf der die Vampire die Sintflut überlebten. Als die beiden beim Bau der Arche umkommen, werden sie ans Ende der Zeit ver setzt. Felidae langt in Uruk an, wo das LICHT sie zum Wächter über den Korridor macht und ihr eine Vision schickt: Landru wird noch vor Lilith hier eintreffen und de ren Mission gefährden! Als Ablenkungsmanöver soll Lilith den Nexius befreien! Fast gelingt es; nur knapp kann Landru den Ausbruch verhindern. Lilith begibt sich unterdessen in die Türkei, wo sie ein eiförmiges Gebilde bergen soll: die Agrippa. Sie findet sie im »Dunklen Dom« – und stößt auf die bislang uner weckten Kelchhüter, denen auch Landru angehörte: die Vampire, die damals die Sint flut überlebten! Mit der Agrippa hofft Lilith das LICHT zu klaren Aussagen zu zwin gen, doch als sie es versucht, wird Beth vom LICHT versklavt. Sie formt ein Abbild von Lilith und schaltet deren Willen aus. Wie Marionetten werden die beiden nach Uruk dirigiert, wo schon Liliths Diener – die Opfer, die ihren Keim in sich tragen – auf sie warten. Sie öffnet das Tor zum Korridor und findet Felidaes Überreste. Im Herz der Vampirin ist noch Blut; Lilith füllt es in den Lilienkelch. Und während ihre Diener im Gang verschwinden, trinkt sie daraus. Als Folge büßt Lilith ihre menschliche Seite ein, und als Beth aus der Beeinflussung des LICHTS erwacht … bringt die ehemalige Freundin sie kaltblütig um! Nun will sie selbst den Korridor betreten – aber Soldaten sind auf die Aktivitäten bei der Ausgra bungsstätte aufmerksam geworden und stürmen die Anlage! Das Wächterwesen tötet viele, doch die Männer können die Agrippa rauben und zerren auch die verletzte Li lith mit sich. Noch während der Fahrt zum Militärlager flieht Lilith. Aber sie kann nicht verhin dern, daß man die Agrippa öffnet. Ein Dämon, auf dessen Haut Schriftzeichen in stän diger Bewegung sind, entsteigt dem Ei. Da keiner der Männer in der Lage ist, »von ihm zu lesen«, wütet er schrecklich unter ihnen. Erst in Lilith erkennt er seine Meiste rin und zieht sich wieder in die Agrippa zurück. Inzwischen ist auch Landru mit dem Schlangenstab, einem Relikt aus der Dunklen Arche, in Uruk angekommen. Er beobachtet Lilith, als sie nun zur Ausgrabungsstätte zurückgeht, und folgt ihr in den Korridor …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin. 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Nun kämpft sie gegen die Vampire, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont er nährt sich von Vampirblut. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm da mals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht. Sie verfolgt einen Plan, der die Welt der Menschen und Vampire verän dern wird. Duncan Luther & George Romano – Zwei Tote, die Liliths Keim in sich tragen. Sie haben einen Korridor in Uruk/Irak freigelegt. An seinem Ende soll sich Liliths Bestimmung erfüllen. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit sei nem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Die nerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben.
Es gab nur noch geringe Zweifel daran, daß Felidae nicht in betrüge rischer Absicht, sondern legitimiert Ansprüche auf den Lilienkelch angemeldet hatte. Legitimiert von der Macht, die so eng verflochten war mit Wohl und Wehe der Vampire und die ihren dunklen Segen offenbar vor 268 Jahren von der Alten Rasse zurückgezogen hatte … … WARUM? Noch während die Frage in Landru bohrte, überfiel ihn eine neue Erkenntnis: FALSCH! Falsch? DIE ABKEHR HAT SCHON FRÜHER BEGONNEN … SEHR VIEL FRÜHER …! Der unmögliche Korridor schien sich wie ein atmendes Tier um ihn herum zusammenzuziehen, und im nächsten Moment überkam ihn eine Erinnerung, die unglaublich lange in den Tiefen seiner See le geruht hatte und die einen Namen trug: Salena! Ich suche die Gesetzesbrecherin und folge ihrer Fährte bis Edo. Sie, die sich über die verzeihliche Lust hinaus mit einem Sterblichen eingelassen hat. Sie, die den Samen eines Menschen in sich trägt … Ich habe Faruk befragt. Er war redselig – und seither finde ich keine Ru he. Die Dreigetaufte muß wahnsinnig geworden sein! Ich spüre sie am Rande der Stadt auf, wo sie Zuflucht genommen hat, um … um ZU GEBÄREN! Ihre Hände liegen mit gefährlichem Stolz auf dem stark gewölbten Bauch, als ich sie in dieser Nacht zur Verantwortung ziehe.* Wie von Sinnen breche ich in das Haus ein und habe nur Verachtung für *siehe VAMPIRA 36: ›Der Geist der Vampirin‹
diejenige übrig, die so lange meinen Pfaden folgte. Meine Magie entlädt sich unkontrolliert. Ich zerstöre, was sich meinen Blicken bietet, SIE aber spare ich mir bis zum Ende auf! »Wahnsinnige!« keuche ich und halte den Lilienkelch wie eine Waffe von mir gestreckt. Seine Kraft durchpulst mich, obwohl sie mir seltsam … zö gerlich dabei wirkt. »Wie konntest du einem solchen Monstrum die Chance geben, in dir zu wuchern? Du mußt von allen schlechten Geistern befallen sein … Landru wird dich dafür in der Hölle braten!« Sie versucht sich von ihrem Lager zu erheben, aber mein Bannstrahl trifft sie und zermalmt ihren Willen. »Du hast dich auf die Stufe der Menschen hinabbegeben, so sollst du auch eines Menschen Ende erfahren«, sage ich zürnend zu der geilen Hure, die mich ein halbes Jahrhundert schönredend überallhin begleitete. »Befrage den Kelch«, krächzt sie. »Beratschlage mit ihm und laß dir be stätigen, daß ich in seinem Sinne handele – nein, auf seinen Befehl …!« Ich versiegele ihre verdorbenen Lippen, so daß sie zu keiner weiteren ir ren Rechtfertigung mehr ansetzen kann. Wie ein Hund folgt sie mir dann hinaus in die Nacht zum Richtplatz, den ich erkoren habe: ein Friedhof. Dort öffne ich das frische Grab einer Frau. Ihr Leichnam ist noch gut er halten – aber nur so lange, bis ich ihn in Kelchmagie hülle, worauf er spur los zerfällt. Das gegenteilige Schicksal habe ich für die Verbrecherin erdacht. Purpur licht durchströmt sie ein letztes Mal. Es tötet sie und den ungeborenen Ba stard! Sie wird ewig darin braten, blind und taub, EWIG! Wer sollte sie je von diesem Fluch erlösen …? Salena? Landru blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand ge prallt.
Er stöhnte. Er begriff nicht mehr, was um ihn herum geschah, und noch weni ger, was in ihm vorging! Lilith war nicht der erste Balg, der im Bauch einer Vampirin her angereift war – nur der erste, der auch dem Schoß entschlüpft war …! Wie hatte er das vergessen können? Wie hatte er … DA WAR NOCH MEHR! Noch mehr? Er spürte, wie sich seine Beine wieder in Bewegung setzten, als be säße das schwarze Blut darin einen Magnetismus, der von etwas am Ende des Korridors angezogen wurde. Unwiderstehlich. Landru lauschte den Schwingungen, die verrieten, daß Lilith ir gendwo vor ihm unterwegs sein mußte. Daß er sie nicht verloren hatte. Er konnte sie wittern. Und auch jener andere Kontakt war wie derhergestellt, seit Landru die Schwelle des zerborstenen Tores überschritten hatte: Der Kontakt zu dem Erweckten. Dem Spion, den die indische Sippe erschaffen und Landru zum Geschenk gemacht hatte, damit er stets jemanden in Liliths Nähe hatte, dem sie traute – und dem auch Landru vertrauen durfte. Doch dann war alles anders gekommen … Landru versuchte, Lilith vor sich in der Weite des Tunnels zu se hen. Aber es war ihm nicht möglich, woran sich die erschütternde Länge dieses unterirdischen Bauwerks erkennen ließ. Es war nicht von Menschenhand erbaut, nicht einmal von Men schengeist ersonnen. Es war magisch. Landru hatte die Wände berührt, um ihre Beschaffenheit zu erkun
den. Aber auch dies hatte nicht mehr bewirkt, als verschwommene Empfindungen am Grund seiner Seele zu entfachen. Nicht ausrei chend, sie zu verstehen. Ihm war nur, als besäße er zu diesem Materi al eine besondere Affinität. Als hätte er vor langer, langer Zeit selbst schöpferisch damit umzugehen vermocht … WER BIN ICH? Wieder erschütterte ihn die eigene Identitätsfrage. Vor mehr als zwölf Jahrhunderten war er im Dunklen Dom des Ararat ›erwacht‹ und hatte sein Hüteramt angetreten. Aber seine ei gentliche Entstehung, der Zeugungsakt, dem er entsprungen war, lag immer noch im Nebel der Geheimnisse verborgen! Vor allem … wer ihn gezeugt hatte – und womit … Landru blieb erneut stehen, als ihn das schwindelerregende Ge fühl überkam, Antwort auf all diese Fragen erhalten zu können. Möglicherweise nicht erst am Ende dieses Korridors, sondern bereits während der Wanderung durch ihn hindurch! Er mißtraute diesem Gefühl. Er fürchtete es … Im Weitergehen lauschte er den verlorenen Seelen, die nicht nur er zu verantworten hatte, sondern schon andere Hüter vor ihm. Harlor kis … Anum … Landru schrie erstickt auf. Woher kamen die Namen? Er hatte nie die Namen seiner Vorgänger erfahren! Woher strömten sie jetzt? Landru preßte die Fäuste gegen die Schläfen und ahnte nicht, daß er nicht der einzige Heimgesuchte war, der sich durch den Korridor der Zeit bewegte …
* Dieser Ort war ihr Auge und ihr Ohr … … doch als es geschah, als es weit hinter ihr begann, warnte Lilith nichts und niemand! Irgendwann wußte sie nicht einmal mehr, wie lange sie schon tau melnd, atemlos laufend und schließlich wie von Sinnen voranstür zend in diesem ungeheuerlichen Korridor aus Zwielicht und Kälte und Ewigkeit unterwegs war. Ein entsetzlich tiefes Empfinden von Klaustrophobie hüllte sie in eisigen Schweiß und trieb sie weiter. Sie war eine Kreatur der Nacht, und tief in ihr wisperten Nachtge danken. Ich kenne nun meine Aufgabe. Wandern ins Damals. Zum An fang der Zeit. Und zu meiner Bestimmung … Liliths Seele war zu purem Eis erstarrt. Nur ihre Wahrnehmungen gaukelten ihr beruhigende Bilder vor von dunklen Luftströmungen, die sie trugen und liebkosten. Es war ein Sog. Eine bizarre Umkehrung eines jener aberwitzigen, anfangs lächerlichen und schließlich nur noch furchtbaren menschli chen Träume, in denen man rannte und rannte und rannte und den noch nie das Empfinden hatte, von der Stelle zu kommen. Sie rannte und hatte das Empfinden zu fliegen. Sie spürte sogar den Wind in ihrem erhitzten Gesicht, sie witterte das nasse, struppi ge Fell ihres Körpers, genoß die Macht ihrer Schwingen und das fer ne, knochenbleiche, magische Strahlen des Mondes – und rings um sie her war doch nur die Monotonie dieses realen/irrealen Schachtes durch die Zeit … … und die Aura der Toten, die vor ihr diesen Weg gegangen wa ren.
Es kam ihr vor, als existiere sie doppelt – einmal als Fledermaus, draußen (wo auch immer dieses draußen liegen mochte) und einmal, in menschlicher Gestalt und so gut wie nackt, inmitten dieser Unge heuerlichkeit, dieser Illusion von Abermillionen Tonnen sie umge benden Gesteins. Vage begriff sie noch, daß es einen Grund geben mußte für dieses Eintauchen in eine laterna-magica-Realität, und für einen gräßlichen, zeitlosen Moment glaubte sie tatsächlich, ALLES zu begreifen. Zu hören, daß etwas tief in ihr selbst ihr eine Warnung zukreischte – davon, daß etwas geschah, hinter ihr, und rasend schnell näherkam – Dann war der Moment bereits wieder vergangen. Zurück blieb nur dieses entsetzliche Gefühl der Ohnmacht … und ein Zorn, der kaum mehr menschlich war, sondern von berserkerhafter, bluttrie fender Kraft und Wildheit. Und Panik. Diese beständig anschwellende Panik eines im Fangeisen des Jä gers eingeschlossenen Tieres … Vom Animalischen angetrieben, transformierte ihr Körper tatsäch lich! Begleitet von reißendem Schmerz verging Liliths menschliche Hülle und wurde zu einer dunklen, flügelschlagenden Fledermaus. Ledrige Schwingen peitschten den neu geformten Körper so heftig empor, daß er gegen die Korridordecke schmetterte, zappelnd daran entlangschrammte und schließlich wie von Sturmgewalten herum gerissen in weiten Spiralen vorangedroschen wurde. Der Tunnel vor ihr schien in einen Mahlstrom aus Staub verwan delt, in ein träges, beständiges Kreisen und Wirbeln. Plötzlich war der Kupfergeschmack von Blut wieder allgegenwär tig auf ihren Reißzähnen und Lefzen, und damit einher kam eine ra sende Gier nach mehr! Sie war kein Menschwesen mehr, seit sie aus dem Kelch getrunken
hatte. Sie war ein Dämon! Ein Schemen, lebendig, aber … Aber? Nur einen Sekundenbruchteil dachte Lilith noch an die Agrippa: So schwer, so schwer, darf sie nicht verlieren … Dann verlor selbst dies seine Bedeutung. Ihre Sinneswahrnehmun gen waren ins Unermeßliche erweitert und geschärft. Vor ihren Au gen wirbelten dunkle Funken. Und dann vernahm sie, was sie schon seit Stunden oder Jahrhun derten hätte vernehmen müssen … Es war – Die Bestie in ihr weigerte sich noch, die Erkenntnis zu formulieren … Instinktiv begriff sie, daß ihr neues DUNKLES SEIN von dieser Er kenntnis bedroht war. – Das DUNKLE SEIN … Sie hatte ihr Leben um gebracht und war tot, und sie wußte es. Totes Leben, das nicht sterben konnte, das SEIN mußte, um – Um WAS zu vollbringen? Ich habe aus dem Lilienkelch getrunken … Felidaes Blut … Nichts und niemand vermag mich jetzt noch aufzuhalten! Und ein Kaleidoskop alter, längst gedachter Gedanken durch brauste sie, während sie noch einmal durchlebte, wie sie unter Zwang den Lilienkelch an ihre Lippen hob und daraus trank und das Gift ihren Geist und ihr menschliches Erbe zersetzte und die Bestie tief in ihr stählte. Es ist gar nicht, wie ich fürchtete … Es ist … SCHLIMMER. Um alles in der Welt … Niemals werde ich …! O doch, du wirst, du wirst … Sie erinnerte sich an den Blutrausch in Warka. So viele Tote. So viel Blut. Und … solche WONNE. Ein Druck wie von einer himmelhoch schäumenden Brandungs
welle legte sich auf sie, und in seinem Gefolge kam zuerst eine so vollkommene, abgründige Stille, daß ihre Atemzüge, das Geräusch ihrer peitschenden Schwingen wie Explosionen klangen. Was geschieht? – Felidae, hilf …! Jenseits der Explosionen klangen jene anderen, leiseren und gräßli cheren Geräusche auf, denen sie sich nicht mehr verschließen konn te. Jetzt wollte sie sie hören. Zumindest ihr nahezu vergangenes menschliches Ego wollte es. Es schien, als wäre die Wirklichkeit mit einem Schlag zurückge kehrt! Da waren Echos – sehr gemächlich und sacht, wie von Schneeflo cken, die stetig und gleichmäßig aus einem basaltgrauen Dezember himmel herabsanken. Stimmen. Es waren Stimmen, die sie vernahm. Die Stimmen all jener Kinder, die in Jahrtausenden schwarzes Blut aus dem Lilienkelch getrunken hatten und, ihrer Seelen beraubt, sterbend zu Vampiren geworden waren …
* Zuerst war es nur ein halbherziges Fauchen, das an einen jähen Windhauch über schroffen, eisüberwucherten Berggraten erinnerte. Dann frischte dieser Wind, der kein Wind war, auf und wurde zu einem beständigen Raunen, zu einem Säuseln, einem hundert- und tausendfachen Tuscheln. Hörunszu … Hör … Hörunssszu … Und aus dem Wind wurden Stimmen, wurde ein Flüstern und Wispern, das wie Eiter aus den Wänden des Korridors quoll und schließlich zu einem allgegenwärtigen Orkan aus Schreien und Krei
schen und Weinen von Kindern anschwoll … (Höreunsssss …) … der die Bestie weiter und tiefer in den Korridor peitschte! Lilith hörte die Stimmen, aber noch nicht die Geschichten, die sie zu erzählen wußten. Diese mitleiderregenden, entsetzlichen, grauen vollen Geschichten von ihrem Sein als Mensch-Wesen oder vom Ende desselben; vom Trunk des Schwarzen Blutes aus dem Lilien kelch und dem Werden des neuen Lebens, dem ersten Tanz in den Abendwinden und der ersten Witterung von Menschenblut … Sie sperrte sie aus. Sie war stark genug … noch. Sie dachte: Ich … will … keine … solchen … Geschichten … hören. Sie dachte, zunehmend panischer: Darf nicht hören … Sie … schwä chen mich! Felidae … Halb blind wirbelte Lilith erneut gegen die Decke des Schachtes. Ein fürchterlicher Schlag durchraste sie, etwas brach mit lautem Knirschen. Schmerzen explodierten in grellen Zuckungen und grif fen wie eine unheilige Feuersbrunst um sich. Ein Ruck warf sie her um, und noch einer und noch einer. Oben und unten wurden nahezu eins. Ihre rechte Schwinge war kaum mehr zu gebrauchen. Jenseits des Mahlstroms, den ihre Au gen ihr vorgaukelten, gab es harte – sehr, sehr harte – und schroffe Mauern. Und noch etwas anderes. Etwas Großes, Pulsierendes, etwas, das mit ehernen Klauen nach ihr griff und mit kreischenden Mäulern nach ihr schnappte und ra siermesserscharfe Reißzähne in sie hineinschlug, so oft es ihrer hab haft wurde. Sie keuchte vor Entsetzen. Für einen nicht meßbaren Sekunden bruchteil glaubte sie, die Rückverwandlung würde – müßte – einset zen. Dabei starrte sie aus einem völlig verdrehten, knochenbersten den Blickwinkel auf ihren Fledermauskörper – und war bereits wie
der weitergespült von der Flutwelle, dem Inferno aus Stimmen. Fetzen aus Haut und Sehnen wurden aus ihrer rechten Schwinge gerissen und wirbelten in einem Sprühregen aus dunklem Blut nach hinten weg. Mit wuchtigen Flügelschlägen gelang es ihr, den rasenden Flug durch den Korridor zu stabilisieren. Die Wände schienen näher heranzurücken. Das Gefühl der Klaustrophobie wurde so entsetzlich, daß es sie würgte. Echos ihrer menschlichen Stimme klangen wie zerrissenes Donnergrollen in ihr und mischten sich mit den Schreien und dem Weinen und Plappern der Kinder zu einem Chaos, das dem Geist ei ner Tobsüchtigen entsprungen sein mußte. Eine tollwütige, knisternde Energie fraß in ihr, statt sie zu nähren. Der Mahlstrom des Korridors verengte sich immer mehr – und gleich darauf starrte Lilith im taumelnden Flug aus scheinbar gigan tischer Höhe auf mächtige, fugenlos aneinander gefügte Steinquader hinab, die sich wie heißes Wachs verformten … Dort unten und links und rechts wischten dunkle Vierecke vorbei: Ausgänge in frühere Realitäten. Die Illusion von weiten Himmelsräumen, vom übermütigen Da hingleiten im Schutz der Dunkelheit, von Jagden mit der Witterung warmen, süßen Blutes in den Nüstern verwandelte sich endgültig in Ascheflocken. Und die Bestie in ihr BEGRIFF. Es war die ganze Zeit bereits ein Kampf gewesen. Das letzte Auf begehren dessen, was in ihr – tief, tief in ihr – noch menschlich war. So wie die Bestie in ihr unablässig mit dem Lilienkelch jenseits der Mauern aus Zeit in Verbindung stand, so war auch dem menschli chen Erbe in den tiefen Käfigen ihrer Seele noch einmal der Kontakt
zur Oberfläche gelungen. Es bediente sich der im Kelch gefangenen Kin derseelen, um gegen die HARTHERZIGE Lilith zu kämpfen! Diese Stimmen …, dachte sie. Diese – Geschichten … … waren der armselige Versuch, die Wanderschaft doch noch auf zuhalten, das RITUAL zu vereiteln! Grenzenloses Mitgefühl … Mitleid mit den Kindern überwältigte die Hartherzige … … und rang ihr ein animalisches Fauchen ab. Sie WEHRTE sich. Natürlich. Sie schlug zurück. Was sonst? Kein Vampir lebte nur von Blut, sondern auch – und vor allem – von Seelen. Und so kostete Lilith von dem, was die kindlichen Stimmen zu ihr trugen, von den schrecklichen Geschichten, die sie ihr zutuschelten. Kein Mitleid, o nein! Falls es das war, was ihre menschliche Seite wieder zuerwecken beabsichtigte … so war es vergebens! Sie labte sich an der köstlichen Aura aus kindlichem Leid, aus psy chischem und physischem Schmerz, aus jähem Hoffen und ab grundtiefer Enttäuschung. Sie genoß den Geschmack der alptraumhaften Erlebnisse, die den auserwählten, gestohlenen Kindern widerfahren waren, bis der Trunk aus dem Unheiligtum sie erlöst und zu neuen, starken, zu überlebensfähigen Prinzen der Finsternis gemacht hatte. Zu spät begriff die Bestie, daß dies die heimtückischste Falle von allen gewesen war. Daß der Alptraum – der KAMPF um den gemeinsamen Leib und mehr, viel mehr – jetzt erst richtig begann. Wieder warf sich der Fledermauskörper herum. Muskeln wie ge
schmolzener Stahl spannten und härteten sich. Die zerfetzte Schwinge flatterte nur noch kraftlos im Flugwind. Schartige Klauen fetzten in einem sinnlosen Versuch, irgendwo Halt zu finden und diesen Irrsinnsflug zu stoppen, mit einem häßlichen Laut über uralten Stein. Ein Schwall eiskalter, nach Fäulnis stinkender Luft schlug Lilith entgegen, als sei eine äonenlang gehütete Gruft geöffnet – und sofort wieder geschlossen worden. Vielleicht war genau das geschehen. Der Gang veränderte sich in rasender Folge – ähnlich einem Stro boskopflackern. Und aus den Mauern des Korridors, die als Mahl strom vorüberrasten, wurden … Ascheflocken …, dachte Lilith in einer bizarren Mischung aus Panik und Fassungslosigkeit, weil sie genau wußte, was nun kommen würde. Asche, die …
* … wie Schnee aus einem hohen Himmel fiel? »Das ist wie im Märchen«, sagte Beth MacKinsay mit einem ganz kleinen Auflachen, fast wie ein Kind. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, sah kurz zu mir herüber und drehte sich dann noch einmal um die eigene Achse. »Aber es gefällt dir …?« »Vielleicht! Ascheflocken, die wie …« Sie verstummte, als ich sie in die Arme nahm, ganz sanft, aber doch bestimmt, und sie fest an mich zog.
Ich wollte Beth’ Brüste auf den meinen spüren – und spürte doch mehr als alles andere den harten Puls ihres Herzens; witterte die Blutanziehung so intensiv, wie ich die Schwerkraft des Planeten füh le … Am Ende der Straße brannte ein großes Warenlager. Die Flammen leckten wie lüsterne Zungen in die Nacht, aber lau ter noch als das Prasseln, als Feuerwehr, Ordnungskräfte und Schaulustige zusammen waren die technoharten Rhythmen, die aus einer der großen Loft-Wohnungen des Gebäudes hinter Beth und mir dröhnten. Als wir uns umwandten, standen junge Leute an dunklen Fens tern. Sie applaudierten frenetisch und kommentierten jede Gasver puffung, jede Feuerlanze, die wie eine Sonnenprotuberanz aus die sem Scheiterhaufen des Konsums hervorschoß, mit Gelächter und Gegröle. Zufällig waren Beth und ich während eines Spaziergangs hierher gelangt. Zuletzt, wie die vielen anderen, angelockt vom Lärm, vom Brandgeruch und vom fett nach den Sternen greifenden, jedes klare Funkeln erstickenden Qualm. Beth hatte gleich wieder gehen, nicht ›mitgaffen‹ wollen; nur nicht die Reporterin herauskehren in einer Nacht voller Magie und eroti scher Spannung! Doch dann hatte es unversehens zu schneien begonnen. Grauschwarzer, mürber Schnee – mitten im Sommer. Fast wie damals, als die Wondjinas Sydney in ihrem die Wirklich keit unterhöhlenden Würgegriff gehalten hatten.* Noch immer wuß te ich nicht wirklich, was damals vorgegangen war – und ich war of fensichtlich nicht die einzige. Allein schon die Tatsache, daß diese Apokalypse niemals in die Weltmedien gelangt war, obwohl sie sich *siehe VAMPIRA 13-16
vor aller Augen abgespielt hatte, war ein nicht lösbares Rätsel. Die australischen Schöpferwesen mußten die Realität mehr manipuliert haben, als mir bewußt geworden war. Aber das war nicht der Zeitpunkt, um über längst vergangene Ka pitel nachzudenken … »Laß uns mitfeiern!« sagte ich. »Mitfeiern?« Ich nickte. Übermütig wegen eines Gefühls grenzenloser Freiheit, wie ich es selten zuvor erlebt hatte. Eine Nacht ohne Feinde. Eine Nacht ohne die Frage, warum ich in der Paddington Street erwacht war und wie es nun weitergehen mochte. Ein guter Freund, Duncan, war in Indien gestorben – auch die Trauer und die Traurigkeit darüber opferte ich auf dem Altar des JETZT. »Wir gesellen uns zu denen da oben!« Beth sah mich seltsam an, und ich nahm sie bei der Hand, zog sie in den Eingang des Gebäudes, betrat das unverschlossene Treppen haus und rannte mit ihr die Stufen empor. Wir stolperten fast über eine dahockende Gestalt, die gegen die Wand lehnte und mit einem langen Krickettschläger gegen den Schalter der Treppenbeleuchtung schlug, als das Licht ausging. Er verfehlte den Schalter. Er lachte. Ich höre es, als geschähe es JETZT. Er lachte, bis ein neu er Schlag die Plastikabdeckung nach allen Seiten davonspritzen ließ! Glasig sah er zu uns auf, aber ohne ein Wort zu sagen. Wir glitten an ihm vorbei in die offenstehende Wohnung, die bis auf ein paar brennende Kerzen und glimmende Räucherstäbchen finster wie ein Keller war. Offenbar hatte man das Licht gelöscht, um den Brand am Ende der Straße noch besser, noch stimmungsvoller goutieren zu
können … »Was willst du hier?« fragte Beth. »Laß uns zu mir gehen. Laß uns –« Ich riß sie an mich. Inmitten all der Pärchen, die sich um uns herum vergnügten und die es nicht kümmerte, daß wir Fremde waren, fiel ich über Beth her, wie in keiner Nacht davor und in keiner danach. Ich genoß den Schlag ihres Herzens und den Duft ihres Blutes durch die Wälle ih res Fleisches hindurch – aber nur gerade soweit, daß ich es nicht schmecken mußte, um davon berauscht zu werden. Woran sie sich ergötzte, weiß ich nicht. Aber sie tat es. Sie fand die Zunge, die mit der ihren focht, genauso erregend, genauso enthem mend, wie ich es mir wünschte. Sie stahl sich unter die Decke der Nacht, um sich fallen zu lassen. Um einen Zustand zu erreichen, in dem sie nicht einmal den eigenen Namen hätte buchstabieren kön nen – geschweige denn meinen. Unsere Körper rangen miteinander. Es war nicht Liebe, es war nicht Kampf! Archaisch, sanft, befreiend, fesselnd, erschöpfend, auf putschend … Es war ALLES. Alles und mehr! Die Nacht der Nächte … »Auch ma’ zieh’n …?« Plötzlich stand er neben uns, triefäugig und bekifft, und er hielt uns seinen Joint hin, bot uns, die wir berauscht waren, billigsten Be trug an … Der Zauber verging. Beth war wieder Beth. Nicht mehr: Was kostet die Welt? – son dern: Was wird morgen sein?
»Laß uns gehen – bitte!« Ich wollte auch nicht mehr bleiben. Aber als ich mich ein wenig für das verlorene Glück rächen wollte, stellte ich fest, daß der Junkie sich keinen fremden Willen aufzwingen ließ. Und dann wurde er sogar eklig. Und die anderen wurden es auch. Ich weiß nicht mehr, woher sie kamen. Ob das Feuer draußen sei nen Reiz verloren hatte und sie nach anderem Amüsement Aus schau hielten … Jedenfalls waren wir umringt von Gesichtern, die leer und trotz dem gierig blickten. Und dann wurden sie handgreiflich, zerrten an unseren Armen, rissen uns auseinander … Natürlich war es meine Schuld. Es war meine Idee gewesen, hier her zu kommen. Aber es entschuldigte nicht ihre Roheit und die grobe Anmache, mit der sie erst nach Beth’ Bluse grabschten, dann nach meiner … Mehr ließ ich nicht zu. Ich zeigte ihnen, was in mir schlummerte; zeigte es im Kerzen schein, zwischen süßlichen Schwaden, die die Schreie meiner tum ben Gegner nicht dämpften. Als wir aus der Wohnung eilten, folgte uns niemand. Auch nicht, als wir die Straße hinunter zu einem nahen Park lie fen; nur weg, fort von hier. Dort im Park sanken wir nebeneinander ins taunasse Gras … … und die Magie kehrte zurück. Was zurücklag, war nie passiert. War Traum. War nichts. Wir küßten uns den Geschmack von Rauch und Räucherwerk von der Haut, liebten uns, weil wir uns brauchten, und sprachen kein Wort.
Der Boden bebte – ob wirklich oder nur in unserer Vorstellung, war eins geworden. Wir tranken voneinander ohne Blutvergießen, und der Durst wurde nicht weniger! Beth’ Gesicht glühte. Meine Küsse brachten kaum Linderung, schürten vielmehr die Glut, bis … Bis … … sich meine Geliebte veränderte! Bis der verführerische, verlo ckende Takt ihres Herzens aussetzte. Bis ihre Zunge hart wurde. Steinhart. Und die weichen Lippen welkten, austrockneten, schmerzhaft rauh und rissig wurden … Der Körper, auf dem ich lag, sank unter meinem Gewicht zusam men. Fleisch, das kein Fleisch mehr war, brach ein! Beth’ Augen starrten mich noch einen Moment lang an – dann ver schwanden sie irgendwo in dem Schädel, von dessen bleichen Kno chen sich die Haut schälte, sich zusammenrollte und, wie das blutlo se Gewebe darunter, zu Staub verrottete! Ich versuchte noch zurückzuweichen, aber entblößte Knochen hielten mich zurück, bohrten sich in meinen Leib und versuchten, meine Lippen auf den zungenlosen, hohlen Mund hinabzuziehen, der in diesem Moment krächzte: »DU hast es getan! DU hast mich ge tötet! Wie konntest du nur …? Wie konntest du vergessen, daß ich dich liebte …«
* Vergessen! Lilith wollte nichts lieber als vergessen! Nie mehr die Anklagen einer Toten hören, nie wieder …
Torkelnd, verletzt an Leib und Seele, schreiend mit der Stimme des Tiers, in das sie sich verwandelt hatte, irrte Lilith entlang des Stroms der Zeit. Entlang von Myriaden ausgehauchter oder im Wer den begriffener Leben. Geburt, Martyrium, Sterben, Tod … Geburt, Martyrium … Die Spirale hörte nicht auf, sich zu drehen! Der Kreis wurde nie unterbrochen! Außer, wenn ER … ER? Da waren wieder die Stimmen. Seufzer erstickter Seelen, die auf gehört hatten zu schweigen. Die spürten, daß – endlich! – jemand ge kommen war, der sie anhörte! Der ihre Geschichten in sich einsog, um die fast erloschene Flamme des Widerstands zu nähren … Die HARTHERZIGE aber spürte, wie der umgebende Mahlstrom sie zwischen den notleidenden armen Seelen zerreiben wollte. Der Flugwind war voller Geschichten, deren Magie sie sich nicht zu entziehen vermochte; voller viel zu kurzer Leben, die wie glü hender Hagelkörner auf sie einprasselten! Sternschnuppen gleich …
* HÖRMIRZU! (Mein Name ist … war Anne/Gesine): »Du darfst dir etwas wünschen«, pflegte Mutter zu sagen, wann immer sich bei Dunkelheit einer dieser seltenen glühenden Striche am Himmel zeigte. (Ich wünschte mir, der Krieg würde aufhören. Der böse, böse
Krieg, der schon über das Land getobt hatte, als ich noch nicht gebo ren war!) »Wünschen?« fragte ich hohl, unfähig, dieses mächtigste Wollen auszusprechen. Mein Vater saß im finstersten Winkel der Stube. Großvater hatte ihn dorthin gesetzt. Großvater mit den trüben Augen. Vater mit den abgeschnittenen Beinen … Er sah seltsam aus. Komisch und zum Fürchten in einem. Ich bekam Angst, wann immer ich ihn anschaute, und heißer Schrecken durchfuhr mich, wenn er mit seinen Fingern durch mein wirres Haar kämmte! Als er damals fortging, war ich noch in Mutters Bauch, und als ihn kürzlich ein paar Landsknechte heimbrachten, war er ein ebensol cher Krüppel, wie man sie oft in diesen Tagen sieht. Die meisten kehrten nicht einmal mehr heim. Und ich wünschte (ich weiß, Gott wird mich dafür in die Hölle stoßen), er hätte es auch nicht getan. Aber ich kannte und ich mochte ihn nicht, um so weniger, weil er Mutter Nacht für Nacht zum Weinen brachte, sie quälte, bis sie leise aufstöhnte und flüsternd um Schonung flehte. Doch er kannte kein Erbarmen. Immer wieder hörte ich, wie er sie peinigte, bis sie schluchzte und wimmerte, und es hörte sich an, als würde sie sich die Faust in den Mund stecken, um mich nicht aufzu wecken. Mich, die ich kein Auge zutat, seit er unter einem Dach mit uns lebte. Ich haßte ihn, noch bevor es geschah! Wie oft hörte ich ihn schmat zen, als hinge ein voller Krug an seinem Mund. Nie sah ich, was er Mutter antat, doch wurde sie von Tag zu Tag blasser und dürrer und ging kaum noch aus dem Haus.
Er selbst verließ das Haus NIE. Manchmal fragte Großvater seinen Schwiegersohn, wie es gewe sen sei im Krieg. Aber er erzählte nie, bei welcher Gelegenheit er sei ne Beine verlor. Schon seit seiner Rückkehr trug er um den Hals ein breites, leder nes Band wie ein Stück Vieh. Ohne dies sah man ihn nie. Dann, eines Mittags, kam der fremde Reiter, der aussah wie ein Edelmann – wiewohl ich nie dergleichen gesehen hatte. Wie sollte ich auch? Mit meinen sechs Jahren hatte ich die Grenzen des Weilers nie überschritten, und wäre der böse Krieg nicht gewesen, auch von den Männern hätte es keinen fortgetrieben von zuhaus. Was ich doch von Edelmännern wußte oder zu wissen glaubte, hatte ich aus den Geschichten, die mir Mutter manchmal des Abends erzählte; sie selbst hatte sie von ihrer Mutter erfahren. Es waren Geschichten von … BLUT! PLÖTZLICH WAR DA … ÜBERALL … BLUT …!! Wie hatte es begonnen? Wie hatte der Streit angefangen? Mutter wankte mir plötzlich mit blutigem Gesicht entgegen. In ih rem Kopf war ein Loch wie eine Faust! Man sah die graue, wäßrige Masse dahinter, wenig anders als das, was Großvater aus dem Schä del der geschlachteten Kaninchen brach, um es in der Pfanne zu schmoren. Sie fiel direkt vor mir zu Boden. Ihr Gesicht schlug auf. Die Hände schabten über die Streu, als versuchten sie, noch nach mir zu grei fen, sich an mir hochzuziehen … Dann zuckte und schüttelte sie sich und hörte auf zu schreien oder irgend etwas zu tun. Sie lag nur noch ganz, ganz still. Großvater stürmte durch die hintere Tür. Zuerst sah er mich an.
Dann – als gäbe es Mutter zu meinen Füßen gar nicht – den Mann, der in der Eingangstür stand. Großvater fing an, sich zu bekreuzigen, aber hämisches Gelächter brachte ihn zum Erstarren. Seine Augen waren voller Gilb, trübe wie ein aufgerührter Tümpel! Alles ahnend, wenig sehend, und doch wissend, daß der Tod ins Haus gekommen war! Der Tod … Ich wollte flüchten, Reißaus nehmen! Aber Vaters Hand schoß von hinten auf mich zu. Packte mich am Schlafittchen und hielt mich fest. Knotige Finger legten sich wie eine Klammer aus Holz um meinen Arm – oder wie eine Falle aus Eisen! Ich mußte mitansehen, wie Großvater starb. Wie er neben Mutter zusammenbrach. »Das ist sie, Meister!« Meines Vaters Stimme hatte nie fremder geklungen als in dem Mo ment, da er Demut zeigte. Demut! – Vor IHM! Vor dem Mann in Seide, dem Mann in Gold … Dem Mann, der nun unbeirrt auf mich zutrat. Ich sammelte alle Kraft, warf mich nach vorn und zog meinen beinlosen Vater wie einen Klotz von der Ofenbank! Er verfluchte mich und drohte, bis der fremde Herr ihm Einhalt gebot, indem er ihn an ein Abkommen zu erinnern schien: »Ich sag te, ich würde mich erkenntlich zeigen, falls sie mir gefällt …« Sein Augen ruhten begehrlich auf mir. Auf einem Kind! Unter seinem Blick schmolz die ärgste Angst und wich verwirren der … Neugierde! Ich war entsetzt über mich! Die Angst, so erdrückend sie auf mir
gelastet hatte, war mir lieber gewesen … »Komm her!« Ich folgte, denn etwas in mir behauptete, ich würde diesem Frem den denselben Gehorsam schulden wie mein Vater … »Du wirst einmal wunderschön werden und meine Gattung berei chern«, schmeichelte mein Gebieter. Seine Stimme klang honigsüß, und nur zu gerne ließ ich mich loben. Fasziniert beobachtete ich, wie er mir noch einmal den Rücken kehrte und dann den größten Be weis seiner Liebe gab: Er ging zu dem Krüppel und strich ihm durch das strähnige, klebrige Haar, das sein bärtiges Gesicht umrahmte. Speichel troff aus meines Vaters Mund, als er das Verzücken eines Idioten in Laute und mimische Grimassen formte. »Du hast es dir verdient«, sagte der edle Herr sanft. »Zum ersten mal, seit du unter meinem Durst starbst und mir im Kriege dientest, hast du mich nicht enttäuscht …!« Dann brach er mit spielerischer Bewegung das Genick des Beinlo sen und wandte sich wieder mir zu. »Hast du schon einmal auf einem Pferd gesessen? Ich meine, ei nem richtigen Rassepferd?« Ich kannte nur die zottigen Ackergäule, die vor Pflug und Wagen gespannt wurden. »Nein«, sagte ich, das Glück nicht fassend, end lich befreit zu sein von … Vater! »Dann komm!« Er ging mit mir nach draußen, wo ein schwarzer Hengst mit ge blähten Nüstern und unruhigem Tänzeln auf ihn wartete. Nachdem er selbst aufgestiegen war, half er mir in den Sattel und zeigte mir, wie ich mich dem Rhythmus des feurigen Tieres anpassen mußte. So ritten wir aus dem Weiler. Wir ritten bis zum Abend und dann noch eine ganze Nacht hin
durch, ehe wir zu einem Schloß gelangten, wo der dunkle Ritter, dessen Name Gilles de Rais war, mich vom Pferd herabgleiten ließ. Ich hatte geschlafen, und als ich nun erwachte, war ich zunächst völ lig orientierungslos und … ICH HATTE SOLCHE ANGST! Sie war zurückgekehrt: die Panik! Das Entsetzen – und das Wissen, in wessen Gesellschaft ich war! Es war nicht nur die Desorientie rung, die einen oft befällt, wenn man jäh aus dem Schlaf geschreckt wird und dann auch sofort auf die Beine muß, es war … »Es gehört dazu«, sagte Gilles, der hinter mir stand, als erriete er meine Gedanken. Überhaupt war jede falsche Freundlichkeit von ihm abgefallen. Ich las nur Niedertracht in seinen Zügen. Eine mich und alle Menschen verachtende Häme! (Er hatte Mutter getötet, Großvater … – An den Krüppel wollte ich nicht denken!) »Die Angst gehört dazu! Du mußt damit auskommen, denn du mußt bei dem, was dich erwartet, bei Bewußtsein sein! Geknechtet hatte ich dich nur um eines ruhigen Rittes willen. Ich hätte dich ebenso niederschlagen oder fesseln können … Doch genug davon!« Er stieß mich grob auf die Tür eines Anbaus im Schatten der Zin nen zu, die bereits geöffnet wurde, als wir nahten. Eine fahle, haar lose, mit Geschwüren übersäte Gestalt erschien darin. Sie erinnerte mich an Vater, obwohl dessen eigentliche Häßlichkeit von innen ge kommen war … »Er ist bereits eingetroffen«, sagte der Diener mit mißklingenden Stimme. »Früher, als du es angekündigt hattest … Einer deiner Kna ben mußte sterben, und ich glaube, er tat es nur, um dir seinen Un mut, was Verspätungen angeht, zu zeigen …« Für einen flüchtigen Moment sah es aus, als würde Gilles meine Gegenwart vergessen. »Wen hat er umgebracht?«
»Maurice …« Es schien nicht der schmerzlichste Verlust, denn sofort wirkte Gil les wieder gefaßt. Mich aber überkam ein Grauen, wie es nicht tiefer hätte wurzeln können. Ich dachte an Flucht – war aber zugleich wie gelähmt. Als der fah le, wie von Aussatz befallene Diener nach mir greifen wollte, folgte ich lieber freiwillig dem Mann, der mich von zuhause fortgeholt hat te. Ich bewegte mich hastig und wurde Zeuge der Begegnung Gilles’ mit einem anderen wohlhabend aussehenden Herrn, der sogar noch größere Ausstrahlung besaß als der Vernichter meiner Familie. Sie begrüßten einander in einer weiten Halle. Hier war es kalt, ob wohl ein Feuer im Kamin brannte und obwohl die nackten Gestalten – älter als ich und alle Knaben – nicht das geringste Tuch am Körper trugen. Sie waren schön gewachsen, tuschelten leise miteinander und bewegten sich ansonsten geziert, wie ich es noch nie gesehen hatte. Eine glockenhelle Knabenstimme sang ein trauriges Lied, aber niemand achtete darauf – abgesehen von mir. Und auch ich tat es nur so lange, bis die Rede der Herren auf mich kam. »Ist sie das?« fragte der fremde Ritter (ich nahm an, es wäre einer – oder noch Höheres). »Ja«, sagte Gilles, während sein Blick kurz zwei Knaben streifte, die sich gegenseitig streichelten. Zwischendurch küßten sie sich oder leckten mit ihrer Zunge über die Haut des anderen, was mich mehr befremdete, als ich es mir eingestehen wollte. Ich wußte nicht, was da vorging – aber Gilles schien es sehr genau zu wissen. Seine bleichen Wangen füllten sich mit düsterer Röte. Und es hatte den Anschein, als müßte er sich gewaltsam von dem Anblick losreißen. »Ich habe noch andere in den Verliesen – aber
diese Blüte hier ist die Beste von allen. Um sie geht es!« »Noch andere …«, der Besucher hielt kurz inne, »… Kinder?« Gilles nickte, als würde ihn längst anderes interessieren – als wäre er in Gedanken schon weiter geeilt. »Wie alt?« »Manche etwas jünger, andere etwas älter als sie.« »Was wird mit denen geschehen?« »Ich weiß es nicht. Ich denke, die Türen, hinter denen sie plärren, werden sich nicht mehr öffnen, bis es still geworden ist … Aber warum interessiert dich das?« »Mich interessiert vieles. Auch und besonders, warum du dir nur einen Sproß erbittest!« Gilles machte eine unwirsche Geste. »Mir ist danach! Was soll ich sonst noch sagen …?« Er verzog das Gesicht und sagte zerknirscht: »Ich ahnte gleich, daß du Schwierigkeiten machen würdest … Egal! Wenn du es nicht tun willst, dann laß es! Aber dann geh! In diesen Mauern ist nur Platz für Freunde …!« »Glaubst du wirklich, diese bedauernswerten, ihres Willens und ihrer Würde beraubten Knaben sähen dich als Freund?« Der Hohn kam schneidend. Doch sofort im Anschluß wurde der Besucher ver söhnlicher. »Ich wäre nicht gekommen, hätte ich nicht entweder vor, dir deinen Wunsch zu erfüllen – oder dich für die Anmaßung, ihn zu erbitten, zu bestrafen!« Gilles zuckte zusammen. »Willst du das?« fragte er furchtlos, ja re gelrecht kämpferisch. Seine Augen funkelten kalt. »Mich strafen?« »Nein! Manchmal erfülle ich auch ausgefallene Wünsche. Du bist nicht der Erste, der darum ersucht. Es müssen nicht immer Sippen gegründet werden … Außerdem bist du ein zu großer Einzelgänger, als daß du als Oberhaupt geeignet wärest! Als ›Vater‹ … vielleicht!
Aber ich verknüpfe eine Bedingung damit!« »Welche?« Gilles straffte sich. Mein Unbehagen wuchs. Es ging um mich! Hier wurde über mein Leben entschieden wie bei einem Kuhhandel! »Die anderen Kinder … Wohlgemerkt: Ich rede nicht von diesen fast erwachsenen Knaben deiner Lust, sondern von den wirklich kleinen Kindern – Mädchen, wenn ich recht verstehe – in deinen Kerkern … Laß sie mich sehen! Oder schone ihr Leben!« Gilles’ Mundwinkel zogen sich nach unten. »Was sollen diese Sen timentalitäten? Bist du der Hüter – oder bist du ein …?« »Es geht nicht um Sentimentalitäten! Es geht um Vergeudung! Einst taufte ich ein Kind namens Salena im Jemen. Dieses Kind, jetzt eine Frau – eine von uns! – erfuhr die Kelchtaufe nicht nur einmal, und auch sie war der besondere Wunsch eines besonderen Vampirs. An fangs hielt ich ihn nur für besonders verrückt wegen seiner fixen Idee – später aber begann ich, ihre Wahrscheinlichkeit nicht mehr völlig auszuschließen.« »Von was für einer Idee redest du?« »Ich rede von der Möglichkeit, daß nicht nur den Menschen einst ein Heiland erschienen ist – sondern daß auch uns ein Messias gebo ren worden könnte: ein Auserwählter der Mächte, die uns schufen. Ein Wesen von unvorstellbarer Überzeugungskraft, dem es gelingen könnte, die eifersüchtig ihre Pfründe hütenden Sippen zu vereinen und ihnen eine neue, gemeinsame Aufgabe zuzuweisen! Eine Visi on! Etwas für die Zukunft, denn ich sehe den Tag kommen …« »Geschwafel!« unterbrach ihn Gilles de Rais schroff. »Und wegen solchen Geschwafels willst du alle Kinder schonen?« Er lachte brül lend, und nicht nur für mich klang es beleidigend. »Wie willst du das tun? Dein ›Messias‹ könnte in jeder dreckigen Wiege der Welt an Fieber oder sonst etwas sterben, ohne daß du je davon erfahren
würdest! Er könnte von einer Hure, die keine Kinder will, bei der Geburt erwürgt werden – oder bereits erwürgt worden sein, so daß du einem Phantom nachjagest, das längst seine Chance vertan hat …!« Der Besucher mit dem hinter dem Kopf zusammengebundenen Haar sah ihn beinahe mitleidig an. »Ähnlich wie du dachte ich anfangs wohl auch. Wenn auch nie so erschreckend phantasielos … Wenn wirklich ein Gesandter der Mächte kommen sollte, dann wird er sich bemerkbar machen, und er wird auch in keinem schmutzigen Kindbett sterben! Er wird von Anfang an stark sein – und anders. Wer ihn sieht oder Umgang mit ihm hat, wird dieses Anderssein erfühlen! Und nichts sonst erbitte ich von dir: Laß mich die Kinder sehen, die du nicht getauft haben willst!« Gilles de Rais schüttelte den Kopf. »Wäre eines davon ›anders‹, hätte auch ich es erspürt!« beharrte er stur. »Aber keines der Mäd chen, die ich in die Wahl zog, weist solches Geblüt auf! Überhaupt: Was ist mit den Kindern, die du taufst? Was wäre, wenn sich dein Messias darunter befände? Würde er es sich gefallen lassen, von dir getötet und wiedergeboren zu werden …?« »Ich weiß nicht, was geschähe«, gestand der Besucher ein. »Aber der Kelch würde ihn bestimmt pfleglich behandeln …« Gilles de Rais schüttelte mürrisch und zunehmend um seine Fas sung ringend den Kopf. »Also gut«, sagte er schließlich. »Meinetwegen: Wirf einen Blick auf sie! Mehr aber nicht! Sie gehören mir, und nur ich entscheide, was mit ihnen weiter geschieht!« »Ein verstanden.« »Willst du es zuerst tun?« fragte der Ritter. »Nein. Zuerst vollziehen wir die Taufe. Gleich hier und jetzt. Bist du bereit, mir von deinem schwarzen Blut zu geben?«
»Anders geht es nicht, oder?« »Nein.« »Dann bin ich bereit!« »Auf welchen Namen soll ich sie taufen? Soll sie dein Initial füh ren?« »Ja«, antwortete er heiser. »Nenne sie Gesine!« »Ich wundere mich, daß du keinen Sohn erbeten hast«, sagte der Besucher und wies zu den Knaben, die sich abseits bewegten, als wären sie völlig unter sich. »Ich habe lange mit mir gestritten und bin zu dem Entschluß ge langt«, sagte Gilles des Rais, »daß es besser ist, mir meine Vorliebe für Knaben selbst so offen einzugestehen, daß mein Sproß unmög lich jenes Geschlechts sein darf, das mich zu mehr als väterlicher Liebe verführen könnte!« »Ich verstehe.« Der Besucher öffnete eine Tasche und nahm etwas so Beklemmendes heraus, daß ich aufstöhnte, obwohl es – flüchtig betrachtet – nur ein Trinkgefäß zu sein schien. Trotzdem strahlte et was Unheimliches davon aus. »Komm her!« sagte der Fremde. »Kommt beide und tretet vor mich!« Ich schüttelte den Kopf. Abwehrend streckte ich die Arme von mir, aber Gilles de Rais, der schreckliche Ritter, packte mich an der Hüfte und trug mich, gleich wohl ich trat und boxte, zu dem Tischchen, auf den der Besucher das Gefäß gestellt hatte. Als ich weiterzappelte, schlug er mir mit den Knöcheln einer Faust auf die Schläfe, so daß ich augenblicklich das Bewußtsein verlor … … und als ich wenig später wieder zu mir kam, hielt mir der Fremde schon den Kelch an die Lippen, und durch meine Kehle
rann ein Saft, der … der …? … MICH INNERLICH ZERFRASS! Mich umbrachte, mein Gedärm verbrannte, meinen Verstand ins Fegefeuer schleuderte … OH, ICH BRANNTE … UND BRENNE … EWIG … ICH HÖRTE AUF ZU SEIN … UND FÜHLTE DEN UNWIDERSTEHLICHEN SOG, DER MICH AUS MEINER HÜLLE RISS … FORT! DORTHIN, WO ICH NOCH HEUTE BIN … ICH WAR EINMAL – UND WÜR DE ACH SO GERNE WIEDER SEIN … Hörr-mirr-zzu!
* Hörrmirdochzzuu … Landru lief schneller. Magie formte ein Band um die Opferschlan ge, das er sich über den Kopf streifte, so daß das Artefakt wie ein martialischer Schmuck vor seiner Brust baumelte. Dann verwandel te er sich in einen eisgrauen Wolf, der mit hechelndem Atem dorthin hetzte, wohin SIE ihm vorauseilte … Er erinnerte sich an Gesine, die er, damals noch in Amt und Wür den, zu Gilles de Rais’ dunkler Tochter geformt hatte. Woher drang ihre Stimme? War sie hier in diesem absurden Korri dor gefangen – oder in etwas, das sich durch den Korridor bewegte? Trug Lilith den Lilienkelch, das unersetzliche Fortpflanzungsinstru ment der Alten Rasse, bei sich? Wohin wollte sie damit? Und warum? Er hatte sie nur mit dem sonderbaren ›Ei‹ in den Korridor schrei ten gesehen. Über die Geröllberge hinweg, die von irakischer Artil lerie herrührten. Durch den Eingang, den ein Wächterwesen be
wachte, in dem er die veränderte Felidaes wiedererkannt hatte … ES WAR ALLES SO WAHNSINNIG! Wer bin ich? Die Frage rumorte immer wieder in Landrus Wolfsschädel. Manchmal hatte er das Gefühl, die Natur dieses Tunnels benennen zu können. Sie schien etwas mit seiner Magie zu tun zu haben, mit seinen aus dem Blut seiner Opfer genährten Talenten … Oder mit ei ner Fähigkeit, die zu beherrschen er verlernt hatte … ES WAR ALLES SO – – – Landru krümmte sich, als hätte ihn ein Schlag in vollem Lauf ge troffen! Er wußte auf Anhieb, was sich urplötzlich verändert hatte. Der Kontakt! Eine der zwei Fährten, denen er folgte, war … ver wischt worden! Den Erweckten spürte er immer noch, aber von der wichtigeren Person, von Lilith, war von einem Atemzug zum anderen nichts mehr zu wittern …! Sie war nicht dort, wo Duncan Luther zu sein schien, am Ende des Korridors … Sie war einfach fort! Nicht so, als hätte es sie nie gegeben – sondern als würde es sie nie wieder geben … Was war geschehen?
* HÖRMIRZU! (Mein Name war Miguel): Es war die letzte Nacht meines Lebens, aber das wußte ich damals nicht. Der Wind weinte draußen um die Mauern des vielstöckigen
grauen Hauses mitten im Herzen der Altstadt von Sierra Leone, und auch drinnen wurde – wie jede Nacht – geweint. Ich hatte einen Freund, der hieß Raoul. Wir waren Nachbarn; sein Bett stand neben meinem, und in manchen Nächten, wenn Gewitter tobten, oder wenn am Tag zu viele ungerechte Schläge auf einen von uns – manchmal auf uns beide – niedergeprasselt waren, kro chen wir wie zwei Verschwörer unter die Decke und erzählten uns flüsternd, ganz, ganz leise, wie es wohl sein würde, wenn wir ein mal erwachsen wären. Welche Abenteuer uns erwarteten in der Welt, die jenseits der hohen Waisenhausmauern lag. Raoul war ein begabterer Erzähler als ich, und so hing ich oft und gerne gebannt an seinen Lippen, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Unser beider Atem füllte das ›Zelt‹, das wir über uns ge spannt hatten, und unsere Geschichten schlugen eine Brücke in die Freiheit. Kein Schloß hielt ihnen stand, keine Mauer war hoch ge nug, um sie zu halten. Geschichten sind voller Magie … Plötzlich hielt Raoul inne. »Hast du das auch gehört, Miguel?« Er fragte mit ernster Stimme, und im ersten Moment glaubte ich, er wollte mir Angst einjagen, weil es zu seiner gruseligen Erzählung gepaßt hätte: eine Geschichte von Friedhöfen, auf denen nächtliche Wanderer schmatzende Geräusche aus Gräbern dringen hörten und wo bestattete Tote wieder ausgegraben wurden und man manchmal feststellte, daß sie anders in ihren Särgen lagen, als man sie hinein gelegt hatte … »Hör auf!« flüsterte ich. »Mich kannst du nicht –« Da hörte ich es auch. Nein, ich fühlte es! Jemand war gekommen. Es waren Schritte.
Schwere Schritte, wie wenn bedächtig Fuß vor Fuß gesetzt wurde, und nach kurzer Zeit stand fest, daß zwei Besucher gekommen wa ren. Mit der Zeit hatten wir gelernt, die Schrittfolge dem Heimpersonal zuzuordnen, und natürlich kam es manchmal vor, daß spät in der Nacht jemand nach uns sah. Besonders wenn es so stürmte wie heu te. Aber dies hier war in beiden Fällen kein uns bekannter Takt. Es hörte sich nicht einmal nach Frauen an, sondern … Andere Geräusche lenkten uns ab. Das Quietschen von Bettfedern, etwas anderes, das wie das heftige Blättern in einem Buch klang – und hie und da ein Dielenknarren. Ich wollte erneut etwas sagen, aber Raoul machte: »Psst!« – und ich schwieg. Die Schritte kamen näher, als flanierte jemand an jedem Bett vor bei, das den Mittelgang zu beiden Seiten säumte. Nach einer Weile war es wieder unnatürlich still geworden war. Niemand schluchzte mehr verschämt in sein Kissen. Niemand hustete, schnarchte oder murmelte im Schlaf … Ich bekam eine Gänsehaut. Raoul und ich lagen wie erstarrt unter der Decke. Für kurze Zeit übertönte der rasende Schlag unserer Herzen sogar die Schrittge räusche. Mir brach der Schweiß aus, und als dann eine nie zuvor vernommene Stimme sagte: »Ihr auch!«, erschrak ich zu Tode … Raoul warf die Decke zurück – sonst hätte ich es getan. Aber es blieb weiter so finster, als befänden wir uns noch unter dem Tuch. Mein Atem stockte. Unmittelbar vor uns … war etwas! »Aaaaaahh …«, seufzte eine Kehle in der Dunkelheit.
Ich wollte schreien, aber es ging nicht. Augen, die ich nicht sehen konnte, bohrten ihren Blick aus der Schwärze hinein in meine Seele, und ich wußte, was von mir erwartet wurde. Wußte zugleich auch, daß Raoul und ich nicht die einzigen waren, die aus ihren Betten schlüpften und neben den vorderen Pfosten Aufstellung nahmen. Die Reihe stand bereits. Wir vervollständigten sie. Und wieder flanierten zwei Unsichtbare an uns vorbei, als ginge es darum, eine Wahl zu treffen. »Ihn!« hörte ich eine saugende, fauchende Stimme voller Aggressi on. »Und den da! – Dieser dort! Ihn! Ihn! Und ihn …!« »Wie es dir beliebt«, antwortete eine andere, mich tief im Kern ver letzende Stimme. »Mir ist alles recht, denn du kennst meine Zeitnot! Laß uns beginnen – hier und jetzt. Dann muß ich weiter! Ich erhielt Nachricht von einer lange vermißten Person. Sie hat Vorrang!« »Wer ist es?« »Ein Bruder in der Nacht …« Es klang wie eine Ausflucht. Selbst für mich. »Ich wußte nicht, daß es Dringlicheres für den Hüter geben kann als sein Amt … Als die Erfüllung seiner Pflicht …« Darauf kam keine Antwort. »Fangen wir an!« Die Finsternis gerann zu etwas, das ich nicht benennen konnte. Es hatte eine Farbe – die Farbe Purpur. Und es lebte. Es griff … nach uns … Die Szene, die es erhellte, brannte sich in meine Netzhäute. Ich war ein dummer Junge. Aber selbst ein Genie hätte keinen Ausweg zu erdenken vermocht. Rettungslos verloren standen wir da. Ein Kind neben dem anderen. Und keines wußte, auf wen vor hin in der Dunkelheit gedeutet worden war. Ihn! Ihn! Und ihn …!
Ich erfuhr erst, daß ich darunter war, als Raoul neben mir nach Luft zu japsen begann. Er fing an zu zittern, und mit ihm keuchten viele andere in den Reihen. Sie … röchelten, rissen die Arme in die Höhe, schabten mit den Fingernägeln über ihre Hälse oder griffen in ihre Münder – weil sie erstickten! Weil eine unhörbare Stimme ihnen befohlen hatte, mit dem Atmen aufzuhören! Auch Raoul war darunter, mein einziger Freund! Er ging zu Boden, und nur daran, daß ich, wie eine Handvoll an derer, stehenblieb und weiteratmen konnte, wurde deutlich, daß ich erwählt worden war! Ich war nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu krümmen, um Raoul zu helfen. Er starb wie die vielen anderen unseres Alters. Ich litt beim Zusehen und konnte doch nicht die Augen abwenden … Dann beruhigten sich die zuckenden, in Purpur getauchten Leiber, und eine furchterregende Gestalt mit einem Kelch in der Hand trat auf mich zu. Ich sollte der erste sein. »Trink!« Es gab keinen Ungehorsam. Ich nahm den Kelch und führte ihn an die Lippen. Er leuchtete. Er war der Quell, aus dem sich die unwirk liche Helligkeit ergoß. Und dann füllte etwas Schwarzes, Kaltes, Klebriges meinen Mund. Ich hörte auf zu sehen, und ich hörte auf zu hören. Ich fühlte die Glut und das Gift, das sich durch meine Kehle hinab in meine Einge weide wälzten. Was lebte, wurde tot. Was sich aufbäumte, wurde niedergeschmettert. Ich glaubte, ich würde Raouls Weg folgen … … aber meiner führte nicht hinauf zum Himmel. Meiner führte lotrecht in die Hölle hinab, deren Feuer nie erlischt, das immer noch
in mir zehrt, mich aussaugt und martert … Ewig … Endlos … Hörst-du? Hörrmirrzzuu …!
* Da waren so viele nie erzählte Geschichten. So viele Stimmen, die um Mitleid heischten … Ich will sie nicht hören! dachte Lilith. Sie sind ohne Bedeutung. Der Tod ist ohne Bedeutung! Wieder schlug sie mit der bereits zertrümmerten Schwinge gegen die Wand des Korridors. Sie wußte nicht, wie sie sich überhaupt noch in der Luft halten konnte. Wie der zertrümmerte Flügel sie tiefer in die Ewigkeit zu tragen vermochte. Hörrmirdochzzuu …! Sie wollte nichts mehr hören! Sie spähte und lauschte zum Ende des Korridors, das schon ganz nahe lag, und doch … »DU hast mich getötet! Wie konntest du nur …? Wie konntest du ver gessen, daß ich dich liebte?« Beth’ Totenschädel. Beth’ wunderbarer, jetzt unter Geröll verwesender Körper … WERTLOS! SIE HATTE KEINEN WERT MEHR BESESSEN, DENN DER KEIM WAR AUFGEZEHRT WORDEN VON DEM LICHT, DAS SIE UND MICH GEISSELTE …! Liliths Kraft versagte. Ihre Sinne schwanden. Sie hatte ein Gefühl, als würde auch der zweite Flügel am Korridor der Zeit zerschellen –
jedenfalls spürte sie einen Aufprall! Und dann … eine Berührung! Was war das? Was kam jetzt über sie? Was kroch über das blutige, struppige Fell ihres zuckenden Lei bes? Lilith versuchte etwas zu erkennen. Wie schon einmal bog sie ih ren Hals zu einer unnatürlichen Verrenkung und sah sich am Boden liegen. Sah, daß sie trotz aller Widrigkeiten immer noch die Agrippa zwischen den Fängen hielt, als wäre sie damit verwachsen. Als hät ten sich die scharfen Krallen durch die Schale gebohrt und würden dort von dem Dämon umklammert, der schon einmal daraus her vorgequollen war. War er es, der über sie kam? Nein! Lilith begriff die Wahrheit. Sie sah, was Halt unter der dichten Fellbehaarung suchte – und auch fand! Und was wie mit tausend glühenden, mit Widerhaken versehenen Zähne in ihr verwandeltes Fleisch biß, als wollte es schreien: DA BIN ICH WIEDER! DACHTEST DU, ES WÄRE SO LEICHT, MIR ZU ENTKOMMEN? Es war der Symbiont! Das amöbenhafte Monstrum, das von ihr abgeglitten und geflohen war, als es von der chemischen Fackel eines der Soldaten getroffen wurde. Nun erkannte Lilith, daß er ihr ein langes Stück des Wegs, den auch sie jetzt nahm, vorausgeeilt war. Zum ENDE des Korridors … Zum ANFANG der Zeit … Er war wieder da – und er drängte sofort, den Weg fortzusetzen! Unbeholfen flatternd und nicht ganz freiwillig versuchte sie, den
verletzten Fledermauskörper mit der unersetzlichen Last zwischen den Fängen wieder in die Lüfte zu erheben. Selbst die gebrochene Schwinge gehorchte, aber anfangs schien der Sog der Schwerkraft stärker. Erst als der Symbiont ein gräßliche Feuer in ihr entfachte, er reichte die Verzweiflung jenes Maß, das alles möglich machte! Torkelnd hob die Fledermaus vom Boden ab. Hob ab und …
NEIN! NICHT ZUM ENDE DES KORRIDORS! DU DARFST ES NICHT TUN! WAS DU VORHAST, IST FALSCH! Es war die Stimme der ›Anderen‹, der menschlichen Seite in ihr. Die erstickt geglaubte Närrin, die sich dem einzigen Sinn ihres Da seins verweigern wollte, obwohl sie das Blut aus dem Kelch getrun ken und erfahren hatte, worum es ging – was auf dem Spiel stand! Die Geschichten … All die im Korridor herumschwirrenden Ge schichten waren schuld daran, daß sie noch immer kämpfte! Sie sog das Leid der unschuldigen Kinder in sich auf, um die Kraft daraus zu schöpfen, sich noch einmal zu Wort zu melden! Noch einmal Herr schaft über diesen Körper zu erlangen …! Es ging schnell. Es ging auch schnell wieder vorbei. Aber der Zufall – falls es Zufälle im Plan der Schöpfung, im ewi gen Krieg des Chaos gegen die Ordnung überhaupt gab – wollte es, daß das kurze Aufflackern der weichherzigen Lilith dramatische und tragische Folgen hatte! Sie wußte um die Tore rechts und links des Ganges, die in ver schiedene Epochen der Weltgeschichte mündeten – aber sie hatte nicht geahnt, daß es noch andere Schlupflöcher gab, und daß eines
davon direkt über ihr lag, in der Decke des Korridors – nur erreich bar im Fluge. Alles ging rasend schnell. Liliths geflügelter Körper tauchte, die Agrippa in den Fängen, in die feuchte Schwärze ein, die sich über ihr öffnete! Es war, als zerrisse eine Membrane. Als versuchte etwas ohne die rechten Mittel, den Durchgang zu verhindern … Aber es war nicht mehr zu verhindern. Die Schwärze entwickelte einen Sog, dem auch die hartherzige Li lith nicht zu widerstehen vermochte. Und dann … Dann war sie in der Sackgasse …
* Es war Thuuls Reich. Allein sein. Nicht von Gott gegeben, sondern selbst genommen. Denn von Gott hatte er nichts mehr zu erwarten. Gott hatte ihn verlassen. Wie er all Seine anderen Geschöpfe verlassen hatte, die Er einst zu dem Zwecke schuf, die Erde zu füllen und sich Untertan zu machen … Sie alle hatten sich als Seine Kinder fühlen dürfen. Eine Ewigkeit lang. Bis Gott jenes Wesen nach Seinem Bilde schuf, das sich fortan allein Seiner Gunst erfreute. Weil es vollkommen schien. Nach Seinem Bilde geformt. Fürwahr ein Gotteskind. Was zuvor gewesen war, mochte der Vergessenheit anheimfallen. Oder dem Verderben. Es war unnütz für diese Welt und würde ir
gendwann getilgt werden von ihrem Antlitz. Auch deswegen verstecke Thuul sich hinter diesem Antlitz – oder vielmehr darunter. Vielleicht konnte er hier, unter dem Wasser, dem sturmhaften Atem Gottes entgehen, mit dem Er den Erdboden von allem Entbehrlichen reinigen mochte. Vielleicht würde Er Thuul übersehen. Oder gar vergessen. Ihn und das kleine Reich, das er sich genommen und Untertan gemacht hatte. Wie es ihm vor einer Ewig keit geheißen worden war. Und doch empfand Thuul das Leben, das er führte, aller beschei denen Behaglichkeit zum Trotz als leer. Weil der selbstgewählte Sinn nur Schein war … Als mächtigster unter vielen Schatten, die das trübe Wasser des Sees bevölkerten, zog Thuul seine Kreise und tauchte hinab zum Grund. Er suhlte sich im Schlick und genoß die weiche, alles umhül lende Berührung, die ihn an die Liebkosungen seiner Gefährtin erin nerte, die Gott ihm einst zur Seite gestellt hatte, auf daß sie fruchtbar wären und sich mehrten. Doch seine Gefährtin schien nicht dafür geschaffen. Als die tote Frucht ihren Schoß verlassen hatte, war gleichsam das Leben aus ihr gefahren. Andere waren an ihrer beider Stelle gesetzt worden. Viele andere. Und alle hatten sie versagt. Bis jenes Wesen namens Mensch gekommen war … Eine Traube silbriger Perlen entfloh Thuuls Mund, und ein finste res Grollen wehte dumpf durch die Schatten des Wassers. Haß als solcher war ihm fremd. Doch wußte er wohl, was seinem Reich den Untergang beschert hätte. Wenn sie es jemals wagen sollten, hierher vorzudringen. Menschen … Mit einem angenehmen Gefühl erfüllte ihn indes der Gedanke, daß auch sie den wunderbaren Garten, den Gott ihnen bereitet hatte,
hatten verlassen müssen. Weil sie sich über Sein Wort hinweggesetzt und Seinen Unmut erregt hatten. Vielleicht, mutmaßte Thuul, hatte Er die Menschen allzu sehr nach Seinem Bilde erschaffen … Um wieviel erfreulicher waren da doch all jene, die sich hier in sei nem Reich tummelten. Sie waren ihm Gefährten und Nahrung zu gleich, ohne zu murren. Ein Laut tiefer Zufriedenheit löste sich aus Thuuls Brust, als er mit kräftigen Zügen dicht über den Grund dahinglitt. Sein geöffneter Mund füllte sich mit kleinem Getier, das zwischen seinen Kiefern knirschend zu Brei wurde, der warm seine Kehle hinabfloß. Wieder gab Thuul seinem Wohlbehagen Ausdruck. Gut, daß der Mensch nicht für ein Leben hier in seinem Reich geschaffen war. Und sollte es je einer wagen, seinen Fuß über die feuchte Schwelle zu setzen, so würde Thuul ihm die Lust darauf für alle Zeit verder ben … Ungewohnt heftige Bewegungen ganz in der Nähe ließen ihn plötzlich innehalten. Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger, und der Widerstand, dem die Häute dazwischen dem Wasser boten, ließ ihn langsamer werden. Thuul wußte, daß alles in seinem Reich von natürlicher Trägheit war. Bewegungen wie diese hatte er hier noch nie wahrgenommen. Und auch kein … Wesen wie dieses. Denn Thuul kannte sie alle, die mit ihm hier lebten, und vielen hatte er sogar Namen gegeben. In der Beziehung hielt er es ganz mit Gott … Dieses Wesen indes hatte er nie zuvor gesehen. Und es war ohne Zweifel auch nicht für das Leben im Wasser gemacht. Thuul überlegte, ob es wohl schmackhaft war. Vermutlich nicht besonders, da es pelzig war. Eines aber war das zappelnde kleine Ding ganz sicher: dumm näm
lich. Denn warum sonst sollte es versuchen – – unter Wasser zu fliegen?
* Die Schwärze erschien mir wie ein rettender Hort. Alles blieb drau ßen, jenseits des Siegels, zurück: die flehenden Stimmen der Kelch kinder, die Geschichten, der mörderische Mahlstrom … Diese bloße Empfindung von Ruhe und Geborgenheit genügte, den Schmerz in meiner zerfetzten Schwinge erträglich werden zu lassen. Was kei neswegs bedeutete, daß er mich nicht mehr beeinträchtigte. Aber die Ahnung, vielleicht eine allerletzte Möglichkeit gefunden zu haben, meiner Bestimmung zu entgehen, vom Weg abzuweichen, mobili sierte Kräfte, die nicht irgendwelchen geheimen Quellen in mir ent sprangen, sondern vielmehr neu entstanden. Höher und höher schraubte ich mich in den finsteren Schlund em por. Meine eigenen Laute, geboren aus Anstrengung und Qual, wur den von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen und marterten mei ne empfindlichen Sinne. Doch es ging immer noch ein Stückchen weiter. Und noch eines. Und weiter. Und – dann doch nicht mehr. Meine ledrigen Flügel versagten mir schlicht den Dienst. Als wür den die Befehle meines Gehirns auf ihrem Weg dorthin irgendwo ungehört verhallen. Einen winzigen Augenblick hing ich ohne jede Bewegung wie schwerelos in der Finsternis. Gleich mußte mein kleiner Körper den
Gesetzen der Schwerkraft gehorchen und wie ein Stein zurück in den Korridor stürzen, wo er unter einem Sturm neuer Schmerzen aufschlagen würde. Ich wünschte mir, es gäbe einen Schmerz, stark genug, mich um zubringen. Ich wäre bereit gewesen, ihn zu ertragen, wenn er nur das Ende brachte. Die Zeit gerann zu etwas träge Fließendem, bis sie vollends ste henblieb. Nie gekannte Leichtigkeit kam über mich. Ich spürte nicht einmal mehr das Gewicht der Agrippa in meinen Fängen, und ich fühlte mich nicht einfach nur frei und bar aller Schmerzen – ich war es. Für einen Augenblick – oder eine Ewigkeit. Dann fühlte ich mich berührt, wie von zarten Händen ergriffen und behutsam angeschoben, in eine Richtung, die in der völligen Schwärze um mich herum unbestimmbar war. Wie auf Wolken trieb ich … … bis das Unsichtbare seinen Griff unvermittelt verstärkte, zu packte und mich zu sich riß – – und von sich stieß! Ich schaukelte nicht länger auf sanften Wogen. Sondern schwamm. Um mein Leben!
* Mit einem Grunzen, das Verwirrung und Belustigung in einem war, näherte sich Thuul dem zappelnden Pelzding. Vorsichtig und nur ein kleines Stück. Körpergröße und Gefährlichkeit standen nicht im
mer im Einklang. Das kleine Wesen mochte durchaus über Möglich keiten verfügen, sich auch größeren gegenüber zu behaupten. Got tes Schöpfung war reich an Beispielen dafür. Von diesem Tier jedoch schien keine Bedrohung auszugehen. Zu mindest im Moment nicht. Dazu war es viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aus geringerer Entfernung konnte Thuul das Ding nun näher in Augenschein nehmen. Der Körper glich dem eines pelzigen Nagers. Doch die spitzen Zähne, die in dem kleinen Maul blitzten, erinner ten mehr an einen Räuber. Die winzigen Beinchen schienen nicht zum Laufen geschaffen. Das Element des Wesens schienen eher schon die Lüfte zu sein, darauf ließen die merkwürdigen Flughäute schließen, von denen eine in Wolken dunklen Blutes gehüllt war. Wie auch immer – jetzt war das Tier weder in der Luft noch an Land, sondern drauf und dran, zu ertrinken! Ganz gleich, wie es auch in sein Reich geraten sein mochte, so fühlte Thuul sich von dem Todeskampf des kleinen Pelzfliegers tief berührt. Leben zu schützen und zu bewahren – auch diese Pflicht hatte Gott ihm einst übertragen gehabt. Und wenn Er seine frühen Kinder auch verlassen hatte, so sah Thuul doch keinen Grund, nicht mehr nach Seinem Willen zu handeln. Überdies ließ sich, wenn er das bedauernswerte Tierchen rettete, hinterher wenigstens klären, was es hier zu suchen hatte. Oder ob es nicht doch von der wohlschmeckenderen Art war … Mit einem kraftvollen Zug überbrückte Thuul die Distanz und reckte die Hand, um das vollgesogene Pelztier zu ergreifen – – und glaubte noch im selben Augenblick, das Wasser um ihn her um würde übergangslos gefrieren! Denn das Tier war nicht länger ein solches.
Etwas Unbeschreibliches ging mit dem kleinen Wesen vor. Etwas, das sich Thuuls Verstand völlig entzog und das er deswegen kaum zu sehen in der Lage war. Erst als das Ungeheuerliche vorüber war, sah er wieder wirklich. Und konnte doch nicht glauben, was seine Augen ihm zeigten. Denn vor ihm – hier, inmitten seines Reiches! – schwamm plötz lich – ein Mensch!
* Gewichte stürzten von allen Seiten zugleich auf mich ein, so schwer, als könnten sie mich zermalmen. Schattendurchsetzte Helligkeit war um mich, in der es nichts zu sehen gab. Doch selbst wenn es da etwas gegeben hätte, so würde ich nicht darauf geachtet haben. Denn mein Trachten galt allein dem Überleben. Obwohl ich mir eben noch gewünscht hatte, daß alles ein Ende ha ben möge, so konnte ich jetzt doch nichts gegen die instinktgesteuer ten Reflexe meines tierischen Körpers tun. Noch nicht einmal, als ich sie als völlig sinnlos erkannte. Nicht nur wegen der Verletzung gab es keine Chance, die rettende Wasseroberfläche zu erreichen. Fleder mäuse waren nun einmal nicht fürs Wasser geschaffen … Mein Pelz sog sich voll wie ein trockener Schwamm, und das zu sätzliche Gewicht ließ mich wieder auf den schlammigen Grund zu sinken, der mich gerade erst ausgespien hatte. Die Sauerstoffreserven meiner winzigen Lungen waren schon nach Sekunden restlos aufgebracht. Ich wußte, daß einem Menschen in solcher Situation schwarz vor Augen wurde – und erfuhr jetzt, wie es einer Fledermaus im Moment des Sterbens erging.
Die Sinne eines solchen Tieres, soviel fremdartiger wie menschli che, liefen Amok! Etwas in meinem Gehirn gaukelte mir Bilder vor, die ich nie gesehen hatte. Nur in manchen schien sich meine Umge bung, grotesk verzerrt, zu spiegeln. Lebewesen, die mit dem bloßen Auge kaum erkennbar sein mochten, ragten mit einemmal riesen groß vor mir auf; Einzeller, die mich zu studieren schienen, wie es in der Wirklichkeit Wissenschaftler mit ihnen taten. Eine allerletzte Chance witterte ich noch. Die Rückverwandlung! In dem Chaos, zu dem meine Gedanken sich verwirrt hatten, war der dazu erforderliche Impuls schlichtweg untergegangen. Ich such te in dem Orkan meiner Empfindungen danach, fand und nutzte ihn. Fast augenblicklich war ich wieder Herrin meiner Sinne und mei nes Körpers. Einen winzigen Moment brauchte ich noch, um festzu stellen, wo oben und unten war. Dann setzte ich an, der Wasserober fläche entgegenzuschwimmen. Alles in mir schrie nach Luft! Ich wollte nur noch eines: atmen! Es blieb beim Wollen. Denn eine unglaublich kräftige und vor allem große Hand um schloß scheinbar aus dem Nichts heraus meinen Kopf – – und drückte mein Gesicht tief in den Schlick des Seegrundes!
* Thuul sah so klar, als gäbe es das trübe Wasser um ihn herum nicht. Etwas nie zuvor Verspürtes schärfte seine Augen und ließ ihn deut lich jedes Detail des strampelnden Wesens unter sich erkennen. Ein Mensch!
Er hatte es gewagt, Thuuls Reich zu betreten. Doch er würde es nie mehr verlassen. Er würde Thuul nichts streitig machen und ihn nicht verraten kön nen. Der Pflicht, Leben zu schützen und zu wahren, hatte der Herr des Sees sich entbunden. Sie konnte nur gelten, wenn es ihn selbst nicht bedrohte. Hier aber stand alles auf dem Spiel – sein Reich, sein Volk, sein Leben. Mit einem rauhen Gurgeln verstärkte Thuul seine Anstrengungen und drückte den Kopf der schwarzhaarigen Menschin noch tiefer in den Schlamm. Sie war nicht geschaffen für das Leben im Wasser. Nur für das Sterben darin.
* Fauliger Brei füllte meine Nase, meinen Mund, quoll in meinen Hals und machte mich taub und blind für jeden Eindruck, der da um mich sein mochte. Ein Mensch wäre längst daran zugrundegegangen. Aber auch ein Wesen wie ich konnte das nicht sehr lange überste hen. Wenn ich leben wollte, blieb mir nur eine Möglichkeit: Ich mußte mich tot stellen. Wer immer es war, der mich hier angriff, er würde aufhören, wenn er sein Ziel erreicht hatte. Und es gab keinen Zweifel daran, daß er mich umbringen wollte. Ich entspannte mich; versuchte es zumindest. Im Angesicht des
Todes ein hartes Stück Arbeit. Ich ließ die Kraft in mir verebben. Das Zucken meiner Glieder ließ nach und erstarb. Wie tot lag ich da. Doch die Hand des anderen ließ nicht locker. Lange nicht. Erst dann spürte ich, wie zumindest der mörderische Druck um meinen Kopf schwächer wurde, und schließlich löste sich der Griff vollends. Ich zwang mich, noch eine Sekunde regungslos zu verharren. Zu einer zweiten konnte ich mich selbst nicht überreden. Dann war mein ganzer Körper Bewegung! Zwar nahm das Wasser meinem Schwung einen Großteil seiner Kraft und all seine Eleganz, aber ich hatte das Moment der Überra schung auf meiner Seite. Auch wenn es mir schwerfiel, es zu nutzen. Denn das, was ich im Bruchteil einer Sekunde von meinem Angrei fer sah, lähmte mich beinahe. Doch ich schüttelte die Starre ab, ehe sie mich wirklich erfassen konnte, und brachte mich mit Zügen, die meine Kraft fast zur Gänze aufzehrten, wenigstens aus der unmittelbaren Reichweite dieses – Geschöpfs. Dreimal bewegte ich kreisend die Arme und glitt über den Grund dahin. Erst dann änderte ich die Richtung und schoß nach oben. Dabei erlaubte ich mir einen Blick zurück. Und schöpfte Hoffnung. In den grauen Koloß unter mir geriet erst jetzt wieder Leben. Bis lang hatte er mir mit seltsam leerem Blick nachgeschaut, gerade so, als reichte die Palette der ihm möglichen Regungen nicht aus, etwas wie Wut zu empfinden und Kraft daraus zu schöpfen. Nun jedoch kam er. Und er kam schnell!
Wie ein Fisch, der nur durch eine Laune der Natur in grob menschliche Form gebracht worden war, folgte er mir. Sein Körper bewegte sich auf schwer zu beschreibende Weise ›wellenartig‹, die Arme lagen dicht an, so daß sie keinen Widerstand boten. Pfeilschnell jagte er heran. Auf mir unbegreifliche Weise forcierte ich meine Anstrengungen. Das graue Licht über mir gewann an Intensität, wurde heller und heller, je näher ich ihm kam, und schließlich durchstieß mein Kopf die Wasseroberfläche. Luft strömte in meine Lungen, stickig, stinkend und feucht zwar, aber ich genoß sie mehr als den köstlichsten Bluttrunk. Doch ich gönnte mir kaum eine Sekunde des Auskostens. Dazu war später Zeit. Vielleicht … Denn ich spürte plötzlich eine harte Berührung an meiner Wade. Doch die Hand war zu heftig geführt, als daß sie mich hätte packen können. Ich schwamm los, trat dabei noch um mich und traf auf Wider stand. Das brachte mir einen winzigen Vorsprung. Der allerdings trotz der Nähe des Ufers fast nicht reichte. Als ich schon Boden unter den Füßen spürte und mich noch ein mal mit Macht nach vorne werfen wollte, um vollends in seichtes Gewässer zu gelangen, legte sich ein grauer Arm um meinen Hals und versuchte mich nach hinten zu ziehen. Ich reagierte und gab dem Zug nach, so daß mir noch ein winziges bißchen Bewegungsspielraum blieb. Den nutzte ich, um mich umzu drehen – und das Knie ruckartig hochzureißen. Denn daß es sich bei jenem Wesen um ein männliches handelte, war mir nicht entgangen. Zu unübersehbar war der ansonsten ›klei ne Unterschied‹ …
In der Art seiner Reaktion unterschied sich der Grauhäutige je doch überhaupt nicht von menschlichen Geschlechtsgenossen. Er klappte in bester Taschenmessermanier zusammen und ließ von mir ab. Ich erreichte das Ufer, das weitenteils gesäumt war von dschun gelartigem Gewächs, und erlaubte mir nun doch, obwohl ich mich noch nicht wirklich außer Gefahr wußte, eine Verschnaufpause. Wenigstens vorerst war ich gerettet. Doch die Erleichterung zerstob unter einem Gedanken, der wie ein Blitz hinter meiner Stirn einschlug. Die Agrippa! Sie war verloren …
* Der Gedanke an die Agrippa löschte meinen Wunsch, zumindest ein paar Sekunden Kraft zu sammeln oder mich einfach nur vom Ärgs ten zu erholen. Etwas wie Fieber breitete sich in mir aus, das mich nervös machte und nicht still liegen ließ. Doch mir fehlte selbst das kleinste Quentchen Kraft, diese Unrast in die rechte Bahn zu lenken, die nur sein konnte: aufzustehen und zurückzukehren in den See, um die Agrippa vom Grund zu bergen. Ein Weg, der an einem Hindernis vorbeiführte, das in meiner mo mentanen Lage schier unüberwindlich war. Das Wesen stand ein Stück entfernt im brackigen Wasser des Sees, an einer Stelle, von der ich wußte, daß mir das Wasser dort bis zum Hals gereicht hätte. Ihm jedoch schwappte es gerade um die Hüften. Jetzt ging es in die Knie. Vielleicht bestand Gefahr, daß seine Haut austrocknete. Vielleicht brauchte es das Wasser auch zum Leben.
Denn ein Mensch war dieses Ding nicht. Allein sein Kopf genügte, um den Gedanken zu vergessen, er könnte einer sein. Alles an ihm war mehr Fisch als Mensch. Schuppig und aalglatt in einem bot sich seine reich gemusterte Haut. Das breite Maul enthielt Zähne, wie selbst ich sie fürchten mußte. Sie waren winzig, aber von der Prä senz eines Haigebisses – von derselben tückisch zermalmenden Kraft, die aus den Backenmuskeln betrieben wurde. Die hervorquel lenden, grünlich glimmenden Augen verstärkten die lähmende Fremdheit, die dieses amphibische Wesen ausstrahlte. Von seiner Schädeldecke lief ein Flossenkamm, der potentielle Waffe und Fort bewegungshilfe in einem zu sein schien, über die Rückenpartie bis hinab ins trübe Wasser, wo er meinen Blicken entschwand. Und obwohl keine spürbare Gefahr von ihm ausging, genügte seine bloße Präsenz, mir den Gedanken auszutreiben, ich hätte auch nur den Hauch einer Chance, ihn zu überwinden. Es war nicht allein die Erschöpfung, die mir zu schaffen machte. Jetzt, da die schlimmste Gefahr gebannt und mein Denken wieder frei war für andere Empfindungen, meldete sich der Schmerz zu rück. Nicht mehr so heftig wie bei dem irren Flug durch den Korri dor, aber doch stark genug, um mich mehr als nur zerschlagen und elend zu fühlen. Er sengte wie glühende Lava über meine Nerven, durch meine Muskeln, mein Fleisch. Am schlimmsten brannte er – – ich wunderte mich selbst: in meinem linken Arm! Obwohl in Fle dermausgestalt doch meine rechte Schwinge fast zerfetzt worden war! Ich hatte mir nie wirklich Gedanken über die Transformation gemacht, aber hier erhielt ich eine Ahnung davon, was dabei mit meinem Körper geschah … Dennoch – zu sehen war von den Verletzungen jetzt nichts mehr. Es mochte also nur eine Art Phantomschmerz sein, der mich peinig te. Zum einen Strafe für meinen Eigenwillen, mich dem Ritual zu versagen. Zum anderen furchtbare Erinnerung daran, daß ich der
Bestimmung nicht entgehen konnte. Doch einen Unterschied machte das im Grunde nicht. Der Schmerz beeinträchtigte mich in gleichem Maße, als wäre er wirk lich. Und in jedem Fall genug, um in einem neuerlichen Kampf mit dem Seewesen unweigerlich zu unterliegen. Aber – wer sagte, daß es zum Kampf kommen mußte? Möglicher weise ließ der Graue ja mit sich reden! Er verstand gewiß keine der Sprachen, die in ›meiner‹ Zeit gespro chen wurden. Aber wozu besaß ich das Talent, mich in jeder erfor derlichen Sprache verständlich zu machen? Vielleicht funktionierte es auch hier, in der Zeit oder Welt hinter dem Tor, dessen Siegel ich durchbrochen hatte und von der ich nicht wußte, wo sie lag. Im Grunde nicht einmal, was sie war. Ich ließ es auf den Versuch ankommen. »Kannst du mich verstehen?« rief ich dem Grauen zu. Meine Wor te und meine Stimme klangen wie gewohnt. Kein Wunder, denn noch hatte das Wesen nicht geantwortet. Erst wenn ich seine Stimme vernahm, konnte ich mich darauf einstellen. Es dauerte eine Weile, bis sein Gesicht sich regte. Es kam mir vor, als wäre er des Sprechens zwar mächtig, hätte es jedoch so lange nicht mehr getan, daß er sich kaum mehr daran erinnerte. Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen. Es war ein bißchen so, als redete man mit einem sprachbehinderten Menschen – und doch ganz an ders. Die Worte klangen dumpf, seltsam feucht. »Du hast mein Reich betreten. Verboten.« Als ich antwortete, hatte sich meine vampirische Wahrnehmung auf sein Idiom eingestellt. Ich wußte nicht einmal, wie die Sprache hieß, derer er sich bediente – aber ich konnte sie artikulieren. »Ich wußte nichts von einem Verbot.«
»Kein Mensch darf mein Reich betreten.« »Ich muß es aber noch einmal betreten. Ich habe dort unten etwas verloren, das ich mir zurückholen muß, und dann werde ich dein Reich verlassen und niemals wiederkehren«, erwiderte ich, unbe wußt langsam und mit übertriebener Betonung sprechend. »Du wirst es nie mehr betreten.« Die Sicherheit, die in den Worten lag, ließ mich aufhorchen. Sie klang nicht einfach dahingesagt. Im nächsten Moment erfuhr ich, woher sie rührte. »Kein Mensch wird unsere Reiche betreten.« Der Mund des grauen Riesen hatte sich nicht bewegt. Er hatte auch nicht gesprochen. Die Worte erreichten mich aus einer anderen Richtung, und sie klangen auch anders als die des Fischwesens. Noch dumpfer, kehlig und rauh, unter Mühen geformt. Ich wandte mich um. Und erstarrte. An dieser Stelle war das Ufer bis hin zum Rand des Dschungels, der den See umschloß, einige Meter weit frei. Frei gewesen. Völlig lautlos mußten sich die rund zwei Dutzend gedrungener Gestalten aus dem Urwald gestohlen haben, um hinter mir Aufstel lung zu nehmen. Selbst im Vollbesitz meiner Kräfte hätte mich ihr Anblick zur Ta tenlosigkeit verdammt. Ich bekam eine vage Ahnung davon, wo ich mich befand. Oder vielmehr wann. Von den Gestalten, ausnahmslos Männer, soweit ich es erkennen konnte, reichte mir keine weiter als bis zur Schulter. Doch mangeln de Größe machten sie unübersehbar durch Kraft wett. Die Muskeln schienen die Haut unter dem natürlichen Körperpelz fast zu spren
gen. In den meisten der schmutzstarrenden Gesichter hielten sich annähernd menschliche und affenartige Züge die Waage. »Kein Mensch wird unsere Reiche ungestraft betreten«, kam es grollend und mit kehligen Lauten durchsetzt aus dem Mund des mir am nächsten Stehenden. »Ich …« Weiter kam ich nicht. Derjenige, der gesprochen hatte, hob den Arm und schleuderte mir etwas entgegen; das einen Lidschlag später mein gesamtes Blickfeld füllte. Der faustgroße Stein schien an meiner Stirn zu explodieren. Und ich befand mich genau im Zentrum des Infernos aus Schmerz und grellem Licht. Bis mich die Schwärze aufnahm …
* Thuul versank im Wasser, langsam wie in zähem Sumpf. Als nur noch seine Augen darüber hinweg sahen, beobachtete er, wie die an deren Verstoßenen die reglose Menschin aufhoben und mit sich nah men. So war es ihm selbst am liebsten. Er war den Eindringling los und hatte nicht einmal selbst dafür Sorge tragen müssen. Also auch kein Leben ausgelöscht. Ein weiterer Grund, weshalb Gottes reinigender Atem in naher oder ferner Zukunft vielleicht an ihm vorüberstrei chen mochte … Doch so leicht vergaß Thuul den Zwischenfall natürlich nicht. Schon deshalb nicht, weil er noch immer nicht wußte, woher die Menschin überhaupt gekommen war. Ihre Verwandlung indes von
einem pelzigen Flügeltier in ihre jetzige Gestalt beschäftigte ihn nicht mehr. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran. Weil das Ge sehene sich seinem Verständnis entzogen hatte, hatte es sich auch nirgendwo in ihm verankern können. Die Frage allerdings, weshalb die Menschin in seinem Reich aufge taucht war, bedurfte der Klärung. Denn wo eine den Weg fand, konnten weitere folgen. Und dem galt es vorzubeugen. Sich wie ein Delphin bewegend, tauchte Thuul hinab auf den Grund. Mühelos fand er die Stelle, wo er die Menschin entdeckt hat te. Jede Handbreite des Bodens kannte Thuul in seinem Reich, und so fiel ihm die Veränderung gleich ins Auge. Der – Stein? Das – Ei! »Ich habe dort etwas verloren …« Die Worte der Menschin hallten in Thuul nach wie ein Echo. Dieses Ei mußte es sein, das sie verloren hatte. Thuul kannte Eier. Manche der Wesen, die in seinem Reich lebten, legten Eier, und daraus entsprang ihr Nachwuchs. Und außerhalb seines Reiches gab es Flügeltiere, die Eier … Flügeltiere … Der Gedanke weckte etwas in Thuul, das eigentlich schon dem Vergessen anheimgefallen war. Es gelang ihm nicht wirklich, eine sinnmachende Verknüpfung herzustellen. Doch es schien ihm ange raten, dieses graue, steinern aussehende Ei mitzunehmen. Alle Eier bargen etwas in sich. Dieses vielleicht die Antwort auf die Frage, wie die Menschin in sein Reich gelangen konnte. Thuul nahm die Agrippa und schwamm davon. An einen Ort, an dem er die Schale knacken und das Geheimnis
lüften wollte.
* Ich erwachte als Gefangene in einem Netz, über das ich normaler weise gelacht hätte. Es war aus trockenen Pflanzensträngen gefertigt und hätte einem ernsthaften Versuch, es zu zerreißen, nicht standge halten. Nur sah ich mich momentan nicht in der Lage, einen solchen Ver such zu unternehmen. Ich konnte ja kaum darüber nachdenken. Die vielen kleinen Schmerzquellen waren in der Ohnmacht nicht etwa versiegt, sondern hatten sich zu einer einzigen vereint. Ich fühlte mich, als bestünde ich aus Schmerz. Doch das war es nicht allein, was meine Pein schürte. Die unter drückte menschliche Seite brodelte und wogte in mir, wollte sich ausweiten, wieder Besitz von mir ergreifen. Und meinem dunklen Ich fehlte die Kraft, sie zu bezwingen. Ich brauchte das besondere, lebenspendende Elixier, um dem Schmerz Herr zu werden. Blut wäre in reichem Maße vorhanden gewesen. In jeder der Ge stalten, die mich in dem Netz über einen Dschungelpfad schleiften, pulste es literweise. So nah und doch unerreichbar. So blieb mir nichts, als wenigstens zu versuchen, nicht nachzuden ken. Nur abzuwarten. Bis sie mich dorthin geschafft hatten, wo sie mich haben wollten. Um mit mir zu tun, was immer sie wollten. Es gelang mir natürlich nicht, mein Denken völlig auszublenden. Meine Gedanken befaßten sich mit dieser Zeit, in der ich gelandet war, nachdem ich das versiegelte Tor, das aus dem Korridor führte, durchbrochen hatte.
Ein Tor, das nicht wirklich Teil des Korridors zu sein schien, der im Uruk der Gegenwart begann und an den Anfang der Zeit führte … Nun, wenn ich mir die Kreaturen besah, in deren Gewalt ich mich befand, so mochte diese Zeit hier ziemlich dicht am Anfang alles Seins liegen. Und doch – störte mich etwas daran. Ich forschte in jenem Wissen, das mit Felidaes Blut in mich geflos sen und noch neu für mich war, nach Hinweisen. Nach Dingen, wie sie hier, hinter den Toren, sein mußten. Doch ich fand wenig Über einstimmendes … Zu weiteren Überlegungen reichte die Zeit nicht. Wir waren am Ziel. Auf einer Dschungellichtung, die von über wachsenem Felsgestein gesäumt war und deren Zentrum eine ge waltige Feuerstelle markierte. Mich ließ man in dem Netz, das man an den Rand der Lichtung zerrte und dort achtlos niederwarf. Eine der Gestalten mußte zu rückbleiben, um ein Auge auf mich zu haben. Ich nutzte die Gelegenheit, sein Gesicht näher zu betrachten. Und plötzlich wußte ich, was mich störte: Das Gesicht meines Bewachers unterschied sich doch sehr von denen der anderen. Und auch sie äh nelten einander kaum, wenn man genauer hinsah und sich die Mas ke aus Dreck und Fell wegdachte. Nun gleichen auch die Menschen der Gegenwart einander nicht wirklich, aber diese hier schienen mir nicht einmal von derselben Ras se zu sein. Vielmehr kam es mir so vor, als stammten sie aus weit auseinanderliegenden Entwicklungsphasen und wären nur hier zu sammen, weil – – weil was? Die Antwort auf diese Frage mußte der Schlüssel zum Geheimnis dieser Zeit sein.
Sie zu suchen, war müßig. Wichtiger war es, über meine Situation nachzudenken. Und vor allem darüber, wie ich sie verändern konn te. Mein Wächter mochte ein Weg dahin sein. Doch ehe ich ihn nutzen konnte, wurde ich abgelenkt. Die anderen hatten sich um das mittlerweile entfachte Feuer versammelt und be gannen, in kehligem Ton zu beratschlagen. Darüber, was mit mir ge schehen sollte. »Strafe für Menschen, die herkommen«, verstand ich. »Tod.« »Fressen«, sagte ein anderer, zeigte auf das Feuer und sorgte da mit für allgemeine Belustigung, die sich noch steigerte, als ein ande rer genießerisch über seinen pelzbewachsenen Bauch strich. Für mich klang das seltsame Gelächter wie das Knurren eines Lö wenrudels, das sich um die geschlagene Beute versammelt hatte. Einer, ich glaubte ihn als den zu erkennen, der den Stein nach mir geworfen hatte, erhob sich und gebot den anderen mit Gesten, ruhig zu sein. »Nicht fressen. Nicht töten.« Dafür erntete er wenig zustimmendes Gemurmel. »Menschin unsere Rettung«, fuhr er fort. »Menschen unser Tod!« begehrte ein anderer auf. Derjenige, der so etwas wie der Anführer zu sein schien, zeigte zu mir herüber. »Menschin nicht. Gehört uns. Menschin wichtig. Weil –« Trotz der Entfernung spürte ich seinen Blick auf mir wie eine kör perliche Berührung. »Sie wird Mutter unserer Kinder!«
* Er war pure Macht. Und doch Gefangener, Knecht fremden Willens. Bloßes Mittel zu Zwecken, die nicht die seinen waren. Von denen er nicht einmal wußte, ob er sie guthieß. Denn solche Urteile zu fäl len, stand ihm nicht zu. Er konnte so viel. Und wußte doch so wenig. Nur eines war ihm stets bewußt, seit Ewigkeiten. Seit Anbeginn seines Seins. Daß er einsam war. Und verdammt. Verdammt, in einem Kerker auszuharren, den er zu jeder Zeit hät te sprengen können, wäre er Herr seiner Kräfte … Oder wenn jemand draußen ihm Anlaß dazu gab, wie es jüngst ge schehen war. Er hatte den Tod hinausgetragen – bis die Erlöserin ihm Einhalt gebot. Und ihn nach einer winzigen Spanne freien Wal tens zurück in den Ort gezwungen hatte, der so zerbrechlich schien und ihn doch bannte, als handelte sich um die stärksten Mauern der Welt. Auf den geringsten Teil seines Seins zusammengestaucht, einem Konzentrat von Leben gleich, ergab sich der Geist der Agrippa sei ner Bestimmung. Dem Warten, bis jemand ihn rief. Jetzt spürte er wieder Nähe. Wärme. Leben. Ob das Gefühl gut oder schlecht war, wußte er nicht. Die Deutung von Gefühlen war nicht seine Aufgabe.
Nur das Gehorchen fremden Willens.
* Die Nacht raubte dem Urwald die Farben, aber nicht die Geräusche. Die Dunkelheit schien sie im Gegenteil regelrecht anzufachen. Wäh rend die Männer sich um das Feuer zur Ruhe legten, erwachte rings um eine Unzahl von Geschöpfen zum Leben, die von ihrer Anwe senheit lautstark kundtaten. Wie man bei diesem Lärm schlafen konnte, war mir ein Rätsel. Wenn auch eines, dessen Lösung mich im Moment herzlich wenig interessierte. Vielmehr beschäftigte mich, was die Kerle mit mir vorhatten. Die Mutter ihrer Kinder sollte ich werden. Und das Überleben ihrer Rasse garantieren? Der Gedanke lag nahe, denn mir war natürlich aufgefallen, daß in dem ›Stamm‹ – ich wußte nicht, wie ich die Gruppe nennen sollte – keine ›Weibchen‹ lebten. Wie dem auch sein mochte – ihrem Vorhaben würde schon aus biologischen Gründen kein Erfolg beschieden sein. Wie eine echte Vampirin, so konnte auch ich als Halbwesen keine Kinder bekom men. Nicht wie ein Mensch jedenfalls. Vampirinnen konnten nur unter bestimmten Voraussetzungen ein lebendes Kind gebären – ein Mensch mußte der Vater sein und wahre, tiefe Liebe zwischen bei den bestehen. Und selbst dann starb die Vampirin bei der Nieder kunft. Wie es bei meiner Mutter Creanna der Fall gewesen war. Vor fast genau hundert Jahren … Hundert Jahre lang hatte ich in jenem Haus in der Paddington
Street im australischen Sydney meiner wahren Bestimmung entge genreifen sollen. Mein Vater Sean Lancaster hatte die Weichen dafür gestellt. Und doch war ich zwei Jahre vor der Zeit ›erwacht‹ und in die Welt entschlüpft. Zu sehr Mensch, um meine wahre Bestim mung zu erfassen. Zwei Jahre, die angefüllt gewesen waren mit Ge fahren – und Tod. Tod, den ich über Menschen gebracht hatte, die mich meines Weges begleiteten, die mir etwas bedeuteten, die ich geliebt hatte. Duncan Luther. Beth MacKinsay … Der Gedanke an sie rührte meine Seele von neuem auf. Ich verbat mir, weiter an Beth zu denken. An ihr Gesicht. An das Staunen und den Schmerz, die sich in ihren Zügen mengten und festfraßen, als ich ihr das Genick brach … Das DUNKLE in mir brodelte. Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen. Die Möglichkeit zu nutzen. »Hey!« Ich rief leise genug, daß mich die am Feuer Ruhenden nicht hör ten, aber so laut, daß mein Bewacher aufmerksam wurde. Für Überraschung oder eine ähnliche Regung war in seinem Ge sicht mit der kaum vorhandenen Stirn und der vorstehenden Mund partie kein Platz. Der tumbe Ausdruck saß darin wie aus Ton ge formt und gebrannt. Nur in den tiefliegenden Augen sah ich etwas wie eine Gemütsregung, wenn auch ziellos, unbestimmt. »Komm zu mir«, zischte ich. Der andere traf keine Anstalten, auch nur irgend etwas zu tun. Ich wußte nicht, ob er mit den Mitteln einer Frau zu reizen war. Aber ich ließ es auf den Versuch ankommen und befahl dem Symbi
onten, der meine Haut wie schwarzes Netzwerk umflocht, sich von meinem Oberkörper zurückzuziehen. Dann richtete ich die prallen Brüste mit den Händen so, daß der andere sie richtig sah. Er stand tatsächlich auf und trat näher. Doch weder in seinem Ge sicht noch in seinen Bewegungen erkannte ich etwas wie Lust. Al lenfalls Interesse wie für etwas nie Gesehenes war darin. Aber selbst das mochte ich in meiner Verzweiflung hineininterpretieren. Womöglich besaß er kein Schönheitsideal. Vielleicht fand er mich sogar häßlicher noch als ich ihn. Ich leckte an meinen Fingern und strich über die Höfe meiner Brustwarzen, die sich unter der kühlen Feuchte verhärteten und auf richteten. Mein Bewacher legte fragend den Kopf schief. »Komm her«, raunte, gurrte ich ihm zu. Ich ›vertrieb‹ mein Mimikrygewand aus meinem Schritt, fuhr mit den Fingern durch meine leidlich feuchte Spalte und hielt ihm die Hand hin. Plötzlich kam doch Bewegung in sein so ausdrucksloses Gesicht. Die Flügel seiner breiten Nase blähten sich wie die eines Tieres, das Witterung aufnahm. Dann wandte er sich um zu seinen schlafenden Gefährten – – um sie zu rufen! Um ihnen zu zeigen, was er da Aufregendes oder wenigstens In teressantes entdeckt hatte! »Nein!« Mein erschrockener Ruf ließ ihn innehalten. Mir blieb nur eine Möglichkeit, wenn ich ihn stoppen wollte. Wenn ich verhindern wollte, daß die ganze Horde sich auf mich stürzte, der ich hoffnungslos unterlegen sein mußte.
Ich hatte dieses Mittel nicht anwenden wollen, ohne sagen zu kön nen, weshalb. Vielleicht graute mir vor der womöglich simplen oder auch völlig fremdartigen Beschaffenheit dieses Geistes. Nun konnte ich nicht mehr anders, als hineinzutauchen. Mit unsichtbaren Fingern griff ich zu. Formte seinen Willen zu meinem. Und fand – Wissen. Wissen, das der andere in sich trug, ohne Verstehen aus der Erin nerung zu schöpfen. Doch ich verstand es. Und begriff …
* Die Schatten vor ihm wurden dunkler und tiefer, und in den fins tersten von allen tauchte Thuul schließlich ein. Er glitt durch Schwärze, geleitet nur vom Wissen des Weges. Sein mächtiger Kör per schrammte über rauhen Fels. Neue Narben würden seine graue Haut zeichnen. Vielleicht sollte er sich nach einer anderen Heimstatt umsehen. Ei ner leichter zugänglichen. Doch keiner der anderen Orte, die er des wegen schon in Augenschein genommen hatte, erfüllte die Voraus setzungen, die Thuul an ein Heim stellen mußte. Weit vor ihm schälte sich ein kleiner Fleck Helligkeit aus dem Dunkel, wurde größer, und schließlich durchbrach Thuuls Kopf die Wasserfläche. Tief trank er feuchte, fast nasse Luft in seine Lungen, während er das steinerne Ei vor sich am Rand des Beckens im Felsendom ableg
te. Nach einer Weile, in der sein Körper sich an die veränderte Um gebung gewöhnte, hievte er sich selbst aus dem Wasser. Im matten Widerschein des glimmernden Pflanzenwerks, das die Wände seiner Heimstatt bedeckte, und des Getiers, das darüber hin wegkroch, nahm er seinen Fund zur Hand und besah ihn sich. Seine wulstigen Finger glitten über die rauhe, wie zerklüftet ausse hende Oberfläche des Dings, das in etwa die Größe von Thuuls ge ballter Faust besaß. Er roch daran und konnte kein verräterisches Aroma ausmachen. Mit einer Sanftheit, die seinen gewaltigen Hän den niemand zugetraut hätte, befühlte er die Schale, die unnachgie big und fest war wie der Stein, aus dem sie geschaffen schien. Er hob es an sein Ohr, lauschte an dem Ei und hörte nichts. Er schüttel te es ganz sacht und bemerkte keine Bewegung darin. Und doch spürte er etwas. Etwas, das nichts mit seinen Untersu chungen zu tun hatte. Etwas, das von selbst aus dem Ei heraus zu ihm drang. Etwas, das er mit keinem seiner Sinne erfaßte, sondern das ihn dort anrührte, wohin ihm einst der Keim des Lebens ge pflanzt worden war … Als könnte er es mit Händen ertasten, so fuhr Thuul sich über die breite Brust … Natürlich erfühlte er nichts. Trotzdem gelang es ihm, das Spürbare einzuordnen. Es schien ihm selbst – ähnlich. Wie das Echo eines eigenen Rufes. Eines Schreis, wie er ihn selbst manchmal ausstieß, wenn die Einsamkeit übermächtig wurde. Thuul spürte – Verwandtschaft?
*
Ich las in den fremden Erinnerungen wie in einem reichbebilderten Buch … Von Horizont zu Horizont erstreckte sich eine Landschaft, für die es nur einen Begriff gab, gerade so, als wäre er eigens für sie gemacht. Paradiesisch. Nirgends sonst, zu keiner Zeit und an keinem anderen Ort, vermochte die Natur in solch überreichem Maße zu blühen und Früchte zu tragen. An keinem anderen Ort tummelte sich eine solche Vielfalt unterschied lichsten Getiers jeglicher Größe und Art. Keines Menschenhand konnte dieses Land je berührt, keines Menschen Fuß es je betreten haben. Allein die Ahnung von menschlicher Gegenwart mußte den gleichsam spür- wie sichtbaren Zauber zerstören. Nur eine Hand konnte hier gewirkt haben. Die Hand desjenigen, der all dies und mehr geschaffen hatte. Und doch war es der Schöpfungsmacht nicht genug damit. Licht erstrahlte, gleißender und heller als tausend Lichter von der Art, wie es droben am Himmelszelt brannte. So grell war es, daß alles unter ihm verbrennen mußte. Doch so geschah es nicht. Als das Licht schwand, sich in sich zurückzog, schienen im Gegenteil alle Farben des Landes noch kräftiger, alles Leben noch üppiger – und es war neues hinzugekommen. Es erhob sich von der Erde und wartete. Auf einen Windhauch, der aus dem Nichts heranwehte, sein Gesicht fä chelte und in es einfuhr, auf daß Denken und Bewegen, Atem, in ihm wa ren. UND GOTT SAH, DASS ES GUT WAR … Momente und Ewigkeiten mengten sich zu nicht Meßbarem. Die Ansicht des paradiesischen Landes verblaßte hinter Bildern und Eindrücken, die
sich darüber schoben und Veränderung ausdrückten. Versuche, sich die Erde Untertan zu machen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, die Erde zu füllen mit Leben von gleicher Art. Doch irgendwann war der eine allein. Seine Gefährtin war entseelt von der Anstrengung, sich zu mehren … … DOCH NICHT GUT GENUG … ER schuf weiteres Leben und setzte es an seinen Platz. Und wurde nicht müde, ließ sich von keinem Fehlschlag entmutigen, versuchte es weiter und weiter und immer weiter …
* Etwas geschah. Veränderte sich. Sein Kerker, das Ei, in dem er nicht nur seines Willens, sondern selbst seines Körpers beraubt für Ewigkeiten darbte, befand sich in fremder Hand. Fremd? Nein, nicht wirklich fremd. Zwar konnte er fühlen, daß es nicht die Hand der Erlöserin war, die sich jenseits der Zelle an den Wänden zu schaffen machte, aber sie schien ihm auf fast erschreckende, weil nie erfahrene Weise – vertraut. Als strecke sie sich nach ihm – damit sie ihn befreien konn te? Um selbst Erlösung zu erlangen? In eisig tauber Seele erwachte Verbotenes. Wärme. Sehnsucht. Neugier.
Und er tat, was ihm mehr noch tabu war als bloßes Darandenken. Er gab dem allen nach.
* Ich las die fremden Erinnerungen und sah darin ewiges Kommen immer neuer Wesen, eines scheinbar vollkommener als das vorheri ge, doch nie perfekt, bis feuchter Lehm schließlich ihn gebar. Den Menschen. Doch das Wohlgefallen an der Krone allen Seins währte nicht lange. Zu sehr nach Seinem Bilde hatte der Schöpfer sich das neue Geschlecht gemacht, so daß es zu sehr selbst war. Es setzte sich über bestehende Re geln hinweg und glaubte, mit dem, was ihm nur anvertraut worden war, nach eigenem Dünken verfahren zu können. Der Mensch schuf sich neue Gesetze und meinte sich mit der Allmacht gleichsetzen zu dürfen. So ward ihm genommen, was ihm geliehen war, und er wurde von Stur meszorn vertrieben aus dem Garten, in dem jeder Halm und jeder Stein Wunder war. Der Mensch wollte selbst sein, und das durfte er. Er wurde sein eigener Herr, doch mußte er sich dazu auch selbst schaffen, was es zum Herrsein brauchte. Mit ihm ward auch alles andere denkende Leben aus dem paradiesischen Garten gesandt. Jedoch an einen anderen Ort. Denn es wäre nicht gut, wenn Unvollkommenes sich mit dem Menschen mengte und mehrte. Mochte er allein sein und versuchen, seine Art über alles zu erheben, sich zu entwickeln und ein Reich zu gründen, in dem das Leben lohnte. Nichts und niemand sollte sich ihm dabei in den Weg stellen. Und so geschah es, daß alle, die vor dem Menschen gewesen waren, ihr ureigenstes Refugium erhielten. Eine Zeit, die nie enden und immer wieder von Neuem beginnen mochte, in der sie gefangen und doch freier waren als
der Mensch. Ein Reich, in dem sie leben durften. Denn Gott ließ ohne Not keines seiner Kinder fallen.
* Die Feuchtigkeit der Luft in seiner Heimstatt legte sich wie Schweiß auf Thuuls graue Haut und überzog sie mit dem Glanz eines Fischleibs. Das Ei gab ihm Rätsel auf, dieses steinerne Ding, das der Menschin gehört haben mußte, die ihn jedoch längst nicht mehr interessierte. Was zählte sie noch in Anbetracht dessen, was er aus dem Ei her aus spürte? Etwas seiner Art! Mutmaßungen taumelten träge durch Thuuls zähen Geist. Vielleicht, so überlegte er, stammte das Ei von einem seiner Art. Von einem, den die Allmacht vor oder nach ihm auf die Erde gesetzt haben mochte. Und vielleicht barg es etwas in sich, das des Lebens willens war und nur darauf wartete, daß jemand die Wände um es herum niederriß und es befreite? Vielleicht konnte er, Thuul, es freisetzen und zu seinem Begleiter machen? Zu einem wirklichen Gefährten, mit dem er alles teilen konnte – sein Reich, sein Leben. Seine Einsamkeit … Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Thuul schabte mit einer seiner spitzen Krallen vorsichtig über die rauhe Schale. Und als nichts geschah, verstärkte er sein Bemühen ein klein wenig. Und noch ein bißchen.
Der Riß, der den Stein plötzlich durchzog, rührte dennoch nicht von seinem Kratzen her. Etwas aus dem Inneren hatte ihn geschaffen. Und verbreiterte den Riß jetzt zum fast fingerbreiten Spalt. Thuul spürte, wie sich der Eindruck des Gleichseins mit einemmal mehrte, als platzte er wie etwas Stoffliches aus dem Ei heraus, um sich in ihn zu ergießen. Und doch wagte er dem Gefühl in diesem Moment nicht länger zu trauen. Denn das, was ihn da aus dem Spalt heraus ansah, mit einem Blick, der wie scharfkantiger Stein in seine Haut schnitt, schien ihm nicht annähernd verwandt. Sondern unsagbar, unendlich fremd. Und feindlich? Ich ›schloß‹ das ›Buch der Erinnerungen‹, als ich mich aus dem Geist des Affengesichtigen zurückzog, von dem ich nunmehr wußte, wer er war – und vor allem, was er war. Ein mißlungener Akt der Schöpfung. Jemand, der den Menschen als Konkurrenten ansah und doch Got teskind war. Mehr als ich und alle anderen Wesen meiner Zeit Got teskind. Vielleicht schien sein Denken mir nicht zuletzt deshalb so fremd und anders. Ich befreite mich mühsam daraus wie aus klebrigem Gespinst, das mich nicht loslassen wollte. Als hätte es meine Gegen wart genossen und würde dieses Wohlempfinden nicht missen wol len. Vielleicht hatte ich ihm ja mit meinem Zugriff geholfen, selbst zu verstehen. Und vielleicht gab es noch mehr, daß er mit meiner Hilfe gern verstanden hätte. Doch darum scherte ich mich nicht.
Ich hatte selbst alle Mühe, wirklich zu verstehen. Ich wußte nun, wo ich war. Aber nicht, wann. Es gab kein echtes Wann für diesen Ort. Er war eine Zone, eine Blase oder was auch immer, die aus der Zeit herausgeschält war. Sich selbst überlassen, weil sie keinen Schaden nehmen konnte, da sie nicht verging. Sie war einfach nur. So mochte der Plan ursprünglich gewesen sein. Doch auf irgendeine Weise hatte dieser Ort, oder das, worin er ein gebettet lag, sich der Zeit wieder genähert. Angezogen wie von ei nem Magneten. Dorthin, wo Zeit sich konzentrierte. Und hatte ›angedockt‹ an jenen Korridor, der durch die Zeit bis an ihren Anfang führte! Ihr Anfang … Der Gedanke weckte den dunklen Satz am Grund meiner Seele und wirbelte ihn erneut auf. Die Hartherzige erstand, und hier gab es keine wimmernden Stim men bluttrinkender Kinder, deren Klang und Geschichten ihr Ein halt geboten. Mein Körper wurde einmal mehr zur Arena wider streitender Wesen, die ich doch beide war, und trotzdem mußte ich eines verloren geben. Das schwächere. Das sanfte. Das menschliche … Im gleichen Maße, in dem die Bestie ihren Gegenpart niederrang, verebbte das Bemühen der Weichherzigen. Reines Zweckdenken bestimmte zur Gänze mein Handeln. Gerade noch rechtzeitig. Denn der Nichtmensch hatte sich mittlerweile soweit von meinem geistigen Zugriff erholt, daß er nun auszuführen imstande war, was
er schon vorhin hatte tun wollen. Er drehte sich zu seinen Gefährten um, wollte sie herbeirufen. Doch noch bevor auch nur ein einziger kehliger Laut über seine wulstigen Lippen fliehen konnte, griff, nein, packte ich erneut zu. Nicht sanft und vorsichtig wie vorhin, sondern brutal und rück sichtslos stieß ich Kraft meines Geistes in ihn. Unsichtbare Hände brachen, was ihnen im Weg stand, zerstörten, was nicht gebraucht wurde. Der andere wurde zu meiner Marionette und würde nie mehr etwas anderes sein können, weil unter meinem Ansturm alles zu Bruch ging, was je sein eigenes Dasein ausgemacht hatte. »Befreie mich«, befahl ich. Nur zum Schein eigentlich. Denn ich war es selbst, die sein Handeln lenkte. Ich benutzte seine Hände, um das Pflanzennetz zu zerreißen, in dem ich gefangen lag. Und mit sei nen muskulösen Armen zog ich mich selbst aus dem Gewirr heraus. Als ich auf schwachen Beinen vor ihm stand, war ich einen Mo ment lang versucht, sofort aus ihm zu trinken. Doch ich bezähmte meine Gier noch eine Weile. Warum sollte ich mir den belebenden Trank nicht so schmackhaft wie nur irgend möglich machen? Ich trat zu dem Fellbewachsenen und fand unter dem Haar seiner Lenden ein selbst in schlaffem Zustand unglaublich mächtiges Glied. Aufgerichtet mußte es geradezu animalisch sein. Und das war es auch. Ich sorgte dafür, daß sein Pfahl zu schier gigantischer Größe an schwoll, und labte mich sekundenlang allein am wilden Rauschen seines Blutes, das wilden Sturzbächen gleich durch seine Adern schoß. Der Versuchung, seinen Schaft zu probieren, widerstand ich. Das DUNKLE, das ich nun völlig war, versagte sich den wahrhaft urge waltigen Genuß. Wichtigere Dinge harrten meiner. Kein Schmerzlaut drang über die aufgeworfenen Lippen des ande
ren, als ich ihm am Hals den Pelz büschelweise ausriß, um ungehin dert zubeißen zu können. Den Ekel vor der stinkenden Haut über windend, schlug ich meine Zähne in seine schwellende Ader, aus der das Blut fontänengleich in meinen Mund spritzte. Es schmeckte – köstlich. Unverfälscht, rein, und jeder einzelne Schluck kräftigte mich mehr, als ich es je zuvor erlebt hatte. Der Strom aus dunklen Kanälen schien nie versiegen zu wollen, und ich glaubte, Ewigkeiten lang zu saugen. Vielleicht lag der Ein druck an der Beschaffenheit dieses Ortes, vielleicht führten die Adern dieses Nichtmenschen tatsächlich mehr Blut als die seiner Nachfahren. Irgendwann versiegte doch der letzte Tropfen. Ich fühlte mich satt, aber längst nicht übersättigt. Mit einer beiläufigen, fast automatischen Bewegung brach ich dem Wesen das Genick. Ein Geräusch wie von einem brechenden Ast hallte durch die Nacht. Obwohl es keineswegs still war umher, fügte sich ein Laut wie dieser nicht ein in die Klangkulisse. In einer Welt wie dieser mochte er Gefahr verheißen und drang selbst in das Unterbewußtsein von Schlafenden. Rings um das Feuer in der Mitte der Lichtung schreckten Schatten hoch, formierten sich und kamen näher. Gut. Das sparte mir einen Weg. Die Hartherzige war bereit. Und noch immer durstig.
* Das Schaben und Kratzen der fremdvertrauten Hand an der Agrip pa quälte seine bloßliegenden Sinne. Dröhnend fraß es sich durch den winzigen Raum hinter der Schale, den er körperlos ausfüllte. Wäre da nicht jenes Gefühl der Verwandtheit gewesen, hätte er seinen Kerker kurzerhand gesprengt und für Ruhe gesorgt. So aber bezwang er sich, ließ Ruhe in sich einkehren und versagte sich jede Regung, die Zorn oder Gewalt schüren konnte. Nur dieses andere Gefühl durfte in ihm sein und sich sammeln, bis er glaubte, in ihm würde etwas vor heißem Sehnen vergehen. Etwas, von dem er nicht einmal gewußt hatte, daß er es besaß. Ein Punkt oder Ort in ihm, der den Schlüssel zur Freiheit barg. Dann, endlich, gestattete er sich, seinem Durst nach Wissen und Erfahrung nachzugeben. Er öffnete die Agrippa, schuf erst einen Riß, dann einen Spalt. Und sah hinaus. Doch was er erblickte, schien ihm nicht annähernd verwandt. Sondern unsagbar, unendlich fremd. Und feindlich?
* Die Bestie, deren grausame Natur nicht länger in mir, sondern die ganz ich war, lachte hinter der Maske aus Harmlosigkeit, mit der ich die Herannahenden täuschte. Sie mochten erkennen, daß ich ihren Gefährten getötet hatte. Doch sie wußten weder, wie ich es getan hatte, noch, was ich war.
Sie glaubten mich durch bloße zahlenmäßige Überlegenheit nicht fürchten zu müssen. Sollten sie nur. Um so größer würde die Wonne an dem Mahl sein, das ich mir aus ihrem wutgepeitschten Blut bereiten würde. Aus Steinen geschlagene oder grob mit Holz und Pflanzensträn gen ergänzte Waffen wurden mir entgegengereckt. Und einen Lid schlag später flog die erste heran. Erstarkt wie ich war, bereitete es mir keine Mühe, dem axtähnli chen Ding auszuweichen, so daß es hinter mir funkensprühend ge gen den Fels schlug. Entmutigen ließen sich meine Gegner – Opfer! – dadurch nicht. Mehr ihrer Waffen wurden gegen mich geschleudert, scharfe Steinkanten ritzten meine nackte Haut, unter der aller Schmerz ver ebbt war. Schmerz war etwas für Weichherzige … Dennoch wurde ich meiner Rolle überdrüssig. Ich gab den Schein der Hilflosigkeit auf und stürzte vor. Noch in der Sekunde wurde ich zu dem, was mich früher zutiefst entsetzt hatte, in einem Leben, das mir nicht zu führen bestimmt gewesen war. Jetzt genoß ich es, die fleischliche Tötungsmaschine zu sein, ge speist von dunkler Kraft. Als ich über die Nichtmenschen kam, mußten sie mich für das al lerschlimmste Gezücht der Schöpfung ihres Gottes halten. Die meis ten von ihnen jedenfalls, denn zweien ließ ich keine Gelegenheit mehr, auch nur irgendeinen Gedanken zu fassen. Die Laute, mit de nen sie unter den Hieben messerscharfer Krallen verendeten, unter schieden sie nicht im geringsten von ›echten‹ Menschen. Und ihr zu ckendes Fleisch dampfte nicht minder verlockend …
Dann jedoch geschah das Unfaßbare. Eine alte und kränklich wirkende Gestalt stellte sich mir in den Weg. Alle anderen Angreifer wichen zurück. Sie bildeten einen wei ten Kreis, in dem es bald nur noch mich und jenes andere, gebeugte Wesen gab, dessen Fell nicht einfach nur struppig und schmutzig wie das der anderen war, sondern deutliche Bemalung erkennen ließ. Die Farbe der auf Brust, Arme und Stirn geschriebenen Symbole war – Blut, kein Zweifel. Das Blut von unbekannten Tieren, die nie den Weg auf die Erde gefunden hatten, sondern hier auf den Müllplatz der Schöpfung ver bannt worden waren. Der Alte erweckte den Anschein, ein Anführer zu sein; zumindest eine Respektsperson. Es war lächerlich, mich vor ihm zu fürchten, und doch hatte ich bei jeder vagen Bewegung, die er vollführte, das Gefühl, daß er genau wußte, wie er mich für das, was ich dem Stam mesangehörigen angetan hatte, zur Verantwortung ziehen konnte. »Wer bist du?« fauchte ich, ohne mir etwas anmerken zu lassen. »Wenn du das Gefühl hast, lange genug gelebt zu haben, komm ru hig noch einen Schritt näher!« Er sah mich nur an. Seine Augen hinter den Wülsten schienen Bereiche in mir auszulo ten, in die ich ihm keinesfalls Einblick gestatten wollte. »Hör auf!« Ich versuchte seinen Geist zu packen, wie ich es bei dem Primiti ven vorhin auch getan hatte. Es war unmöglich. Ich fand keinen Halt! »Wurde gerufen und kam so schnell ich konnte. War auf dem ho hen Berg, dem Himmel nah. Du keine gute Mutter«, sagte er in die sem Moment, laut genug, daß alle ihn verstehen konnten, die sich
respektvoll zurückgezogen hatten. »Du keine gute Mutter! Du nimmst Leben, statt zu geben. Die Jungen würden werden wie du! Nicht gut, nicht gut …« Er gestikulierte mit den Armen, und keine dieser Bewegungen wirkte fahrig, sondern – im Gegenteil – von einer beneidenswerten Ruhe getragen, die mich betroffener machte, als ich mir eingestehen wollte. »Schweig, alter Narr! Ich wollte nie die ›Mutter‹ eurer Brut wer den! Ihr habt Glück: Ich bin nicht mehr durstig – was ich mir nahm, genügt mir! Ich werde jetzt gehen, und wenn ihr mir nicht folgt, werde ich euch schonen. Ganz einfach deshalb, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren …!« Sein Blick ließ mich nicht los. »Zeit«, wiederholte er, als wüßte er mit diesem Wort, das ich in seiner einfachen Sprache mit der Spanne zwischen Auf- und Unter gang der Sonne gleichsetzte, nichts anzufangen. Gar nichts. Und dann, mit den nächsten fast tonlos hingestreuten Worten, er klärte mir dieses dürr in seinem Fell schlackernde Wesen den Krieg. »Du wirst gehen. Aber nicht, wohin es dich zieht, sondern wohin wir wollen!« »Ihr?« höhnte ich. Meine Augen schweiften über die Horde, die ihn ebenso ungläu big ansahen wie ich. Die neben mir liegenden Kadaver sprachen eine deutliche Sprache. Nur ein Narr konnte glauben, daß … »Es könnte sein«, sagte der Alte und streichelte die Stellen seines Fells, wo sich die Blutkrusten abzeichneten, in einer Weise, als ver ständigte er sich mit ihnen, »daß du geschickt wurdest.« Er blickte empor zum nächtlichen Himmel. Dorthin, wo die Baumkronen eine Lücke ließen und das Sterngeflimmer durchschimmerte. »ER könnte
dich gesandt haben. Siehst zwar aus wie die, die ER uns vorzog. Aber du wärst nie hierher gelangt, wenn du IHM gefallen hättest …« Ich spürte einen Kloß im Hals und beschloß, ihm den Hals umzu drehen. Es konnte nicht gut sein, ihn seine Thesen weiterspinnen zu lassen. Wir hatten Zuhörer. Und bei diesem Publikum besaß seine Meinung ganz offenbar Gewicht. Sie schienen, als sich ihre exotische Beute im Pflanzennetz ver strickt hatte, nach ihm geschickt zu haben. Ihr Ruf hatte ihn auf sei nem ›Berg nah am Himmel‹ erreicht … Vielleicht war er das, was man einen ›Weisen‹ nannte – den Vor läufer künftiger Schamanen in der realen Welt … Ohne länger zu zögern, warf ich mich auf ihn. Und wurde Opfer seiner Hinterlist und Tücke.
* Furchtlos wie ein Monument erwartete mich der dürre Zweibeiner, der nicht Mensch und nicht Affe war, sondern ein ›Zwischenglied‹, von dem die menschliche Wissenschaft nie erfahren würde. Ich kannte nicht einmal seinen Namen. Vielleicht gaben sie einan der gar keine. Es war ohne Belang, als er spielerisch ausholte und mir die bislang geschlossene Faust ansatzlos entgegenschleuderte, sie öffnete und die Finger spreizte! Ich sah das Pulver zu spät. Und reagierte zu spät. Die Lider meiner Augen schlossen sich erst, als die feinen Körner bereits meine Pupillen trafen und ein Feuer entzündeten, das mich in eine taumelnde Blinde verwandelte!
Wie schwer der Verlust meines Scouts wog, erkannte ich erst in diesem Moment. Das magische Tattoo, das die Agrippa im Dunklen Dom aus dem Altarstein befreit hatte*, hätte mein Augenlicht erset zen können. Aber die Fledermaus-Tätowierung gab es nicht mehr … Dann hörte ich sie kommen! Von allen Seiten stürmten sie, vielleicht auf einen Wink des Alten, heran – und schon prasselten Schläge auf mich nieder! Hiebe voller Wut, voller Zorn. Ich war sicher, daß sie mich hier an Ort und Stelle erschlagen, steinigen oder auf spitze Stöcke spießen würden. Ich fühlte mich überflutet von ihrer simplen Sprache und dem, was sie einander im Rausch der Rache zuschrien. Die einzige Chance, die ich noch hatte, war die Verwandlung. Die Flucht. Ich mußte meinen Körper auf das reduzieren, was Flügel be saß, und – Noch während ich den Impuls in die Zellstrukturen schicken woll te, traf mich eine Keule oder Steinaxt gegen die Schläfe. Das Brennen in meinen Augen hörte auf. Aber nur, weil die Blindheit anderer Dunkelheit wich. Mir schwanden die Sinne …
* Die Chance, noch einmal zu erwachen, war gering. Als es doch geschah, als mein Geist sich durch Untiefen zurück an die Oberfläche kämpfte und trübes Licht durch meine verquollenen Augen zu sickern begann, konnte ich es erst nicht glauben. *siehe VAMPIRA 44: ›Das Strafgericht‹
Warum sollten sie ihr Werk nicht vollendet haben? Noch immer schwammen meine Pupillen in Tränen, die versuch ten, das Gift herauszuspülen. Aber die Umgebungsgeräusche hatten sich kaum verändert. Die Melodie des Dschungels verwob sich mit dem monotonen Summen, das aus den Kehlen derer kam, die mich niedergerungen hatten. Primitive! Fehlversuche der Schöpfung! Ich bebte vor Zorn. Meine Rage richtete sich gegen mich selbst – gegen mein Versagen! Während ich meine Sinne ordnete und die Nebel vor meinem Blick niederzuringen versuchte, erwog ich die Möglichkeit, es mit ei nem kannibalischen Stamm zu tun zu haben, der sich seine Feinde einverleibten, um deren Stärke in sich aufzunehmen. Der Platz, an dem ich zu mir kam, war nicht mehr derselbe, an dem ich bewußtlos geworden war. Es war nicht mehr der Lager platz, an dem das Feuer gebrannt hatte, sondern eine kleine Höhle. Die Luft war voller Rauch, der mir einen Hustenreiz verursachte, meine Entführer aber nicht zu beeinträchtigen schien. Vereinzelte kleine Feuer brannten. In ihren Schatten bewegten sich Gestalten, deren Schritte so monoton wirkten wie die Töne, die ihren Mündern entsprangen. Und doch haftete beidem auch eine faszinierende Ordnung an. Meine Blicke schweiften weiter und suchten den Alten, den ich als ersten töten wollte. Aber ich fand ihn nicht. Ich lag mit dem Rücken auf dem Boden. Es gab keinerlei Fessel, die mich hielt. Ich spürte nur Linien, die man mir mit Tierblut auf verschiedene, nicht vom Symbionten bedeckte Hautstellen gemalt hatte.
Ein lächerlicher Zauber … Aber hatte ich diese Wesen nicht schon einmal unterschätzt? Um nicht leichtfertig mit meiner vielleicht letzten Chance umzuge hen, blieb ich eine Weile abwartend liegen und wußte nicht einmal, ob man bereits bemerkt hatte, daß ich aus meiner Ohnmacht er wacht war. Indes schwollen die warnenden Stimmen in mir zu Sturmstärke an. Ich entwickelte immer größere Abscheu gegen diese ›Welt‹ und wollte sie so schnell wie möglich verlassen. Mit der Agrippa. Ich lauschte in die Winkel meines Leibes, der ein Wunder an Rege nerationsvermögen darstellte, und fand ihn bereit, sich in die Waffe zu verwandeln, mit der ich diesen Stamm vernichten wollte. Mit Stumpf und Stil ausrotten. Damit er mich nicht noch einmal aufhalten und in Bedrängnis bringen konnte … Doch wieder kam mein Entschluß Sekunden zu spät. Wieder ließ ich mich überrumpeln, und dieses erneute Versagen konnte nur mit den Verhältnissen in dieser mit keinerlei Dynamik mehr erfüllten ›Welt‹ zusammenhängen. Die Trägheit schien mich infiziert zu haben. Denn erneut reagierte ich so langsam, daß es dem dürren Alten, der wie aus dem Nichts neben mir auftauchte, mög lich war, einen scharfkantigen, länglichen Keil wuchtig in die Senke zwischen meinen Brüsten zu stoßen und dabei gellend einen Namen zu schreien, den ich nicht verstand. Ich riß die Arme empor, wollte mich zur Seite rollen … Aber es war bereits geschehen. Der Keil zerfetzte mein Fleisch. Er zertrümmerte die Rippenkno chen – und womöglich fehlten nur Zentimeter, um mein Herz zu
durchbohren. Zu pfählen! Was wäre dann geschehen? Wäre ich zu Staub zerfallen wie ein reinblütiger Vampir? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Eine dunkle Explosi on in meinem Schädel drohte mich erneut in die Ohnmacht zu rei ßen. Aber meine hochzuckenden Hände bekamen noch den Alten zu fassen, ehe er zurückweichen konnte. Die Nägel meiner Rechten trafen sein fellbedecktes Gesicht, gruben sich hinein und fanden, mehr zufällig denn gezielt, die Augen. Ich spürte den warmen Strom, der sich über meinen Handrücken ergoß. Ich hörte den Alten wie ein waidwundes Tier brüllen – und brüllte selbst, weil der Schmerz in meiner Brust höllisch war. Mit einem zornigen Streich zerfetzte ich ihm den Hals. Sein Schrei endete. Ich versuchte, den sprudelnden Quell zu mir herabzuziehen, um meine Lippen darüber zu stülpen und die Kraft, die aus mir schwand, zu ersetzen. Doch in diesem Moment geriet der Boden unter mir in Bewegung. Ich lag nicht auf festem Fels, sondern auf einer Ansammlung einzel ner, faustgroßer Steine. Geröll, das sich urplötzlich verschob, als veränderte etwas darun ter seine Position … Ich roch des Alten Blut. Und mein eigenes. Ich war besudelt mit beidem – und schleuderte den verendenden Körper von mir, um mich vor dem Beben, das die Höhle durchlief, in Sicherheit zu brin gen. Erst als meine Blicke die starren Gestalten ringsum einfingen, be griff ich die wahre Situation.
Es gab kein Erdbeben. Es gab nur das in Bewegung geratene Ge röll unter mir. Die anderen standen auf festem Boden. Dorthin mußte ich auch! Aber das, was sich unter mir befand und jetzt die losen Steine durchstieß, hatte nicht die Absicht, mich entkommen zu lassen! In einem hellsichtigen Moment ahnte ich die Zusammenhänge. Daß der immer noch in mir steckende Keil mich nicht hatte töten, sondern womöglich nur mein Blut freisetzen sollen, um das zu kö dern, was hier unter mir lebte … Als es zu meinen Füße hervorbrach, endeten meine Gedanken. Zumindest die, die nach Erklärung verlangten. Ich riß die Knie zurück – aber es war zu spät. Etwas aus der Tiefe hatte sich bereits bis über meine Knöchel ge stülpt. Etwas Saugendes, das mich warm umhüllte und mir einen absurden Moment lang vorgaukelte, alles wäre gut … Seit der dürre Alte mich durchbohrt und ich ihn getötet hatte, wa ren nur Sekunden verstrichen – mit Sicherheit noch keine einzige volle Minute! Und auch alles weitere geschah so unfaßbar schnell (oder war ich so unfaßbar langsam?), daß ich nur noch reagierte, nicht mehr agier te. Ich wollte etwas tun. Aber ich war auch damit beschäftigt, meine Blutung zu stillen. Meine Wunde zu versorgen, die nicht heilen konnte, solange der Keil darin steckte … Ein häßliches Geräusch entstand, als mein Körper mit den Füßen voran hinab in die Gerölltiefe gezerrt wurde! Und ich begriff, daß nicht ein paar primitive Zweibeiner meine
Gegner waren, sondern diese ganze Welt voller Schöpfungsmüll MEIN FEIND WAR! Alles, was hier kreuchte und fleuchte, wollte MICH, als hinge es der absurden Hoffnung an, das eigene Schicksal mit meiner Ver nichtung positiv verändern zu können … Diese gefährlich Verrückten, an denen sich nicht einmal mein Symbiont vergreifen wollte! Er versagte mir seine Hilfe, als wäre dies ein Ort, eine Zeit oder eine Sphäre, die ihn lähmte … Über mir schloß sich die Decke aus Stein. Es war fast wie im Ararat, als ich in einem Boden versunken war, der sich unter wenigen Tropfen Blut in einen verschlingenden Sumpf verwandelt hatte … … aber dort im Ararat hatte nichts darunter gelauert! Nichts, das mich festgehalten und zu fressen versucht hatte …! Ich erlitt Schürfwunden am ganzen Körper. Aber schlimmer war das Gefühl, daß etwas begonnen hatte, mich von den Füßen auf wärts in sich hineinzusaugen! Brennender Schmerz machte mir deutlich, daß bereits säureartige Verdauungssäfte begonnen hatte, Haut und Fleisch aufzulösen! Meine Kräfte schwanden. Meine Lungen schnappten vergeblich nach ausreichend Luft. Wie tief im Geröll ich bereits steckte, wußte ich nicht. Aber das Unbekannte, das mich hineingezogen hatte, war bereits über den Knien zu spüren. Wie ein enger, heißer, feuchter Schlauch, der sich höherschob, weiter und weiter … Ich hatte das Tier nur zu einem geringen Teil zu sehen bekommen, aber dieses Wenige hatte an einen gigantischen Wurm mit tückisch funkelnden Augen erinnerte. Augen, in denen ich das Dilemma aller hierher verbannter Wesen
hatte lesen können. Die Verzweiflung, verstoßen worden zu sein … Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Falsch: Es existierte nicht! Ich war solcher Gefühle nicht mehr fähig. Der schwache (und doch so starke) menschliche Teil tief in mir trug die Schuld daran, daß ich überhaupt in diese ›Nebendatei‹ der Geschichte verschlagen worden war, fort vom geraden Weg meiner Bestimmung! Aber nun war er wieder zurückgedrängt in den hintersten Winkel meiner selbst. Könnte ich ihn doch nur endgültig ausmerzen! Mir schwanden Sinne und Kräfte, während das weiche, schleimige Fleisch der Kreatur bereits über meine Hüften glitt und beißenden Schmerz verströmte. Aber ich wollte nicht in dieser Grube enden, im Loch eines Wurmes, der von den Primitiven vielleicht wie ein Er satzgott verehrt und genährt wurde! Meine Arme wühlten durch das Geröll. Aus immer mehr Wunden strömte Blut, und ein Teil meiner Konzentration war damit beschäf tigt, diese Herde weiterer Schwächung zu schließen, sonst hätte ich vielleicht entschlossener agieren können. Wie auch immer, ich bekam zu fassen, was der Alte mir in die Brust gerammt hatte. Mit ersterbender Kraft zog ich es heraus und zwang meine Arme unter Höllenqualen durch das lockere Gestein nach unten, wo das Entsetzliche an mir fraß! Ich tastete nur flüchtig die Grenzen ab, wo mein Körper aufhörte und das Fremde begann. Ich nahm in Kauf, mir selbst weitere Ver letzungen zuzufügen – und durch diese Rücksichtslosigkeit gegen mich selbst gelang es mir, meinen Feind zu treffen! Allseits umschlossen von Steinen stieß ich das scharfe Werkzeug dorthin, wo ich das Schwammige erspürte, das mich bei lebendigem Leib zu verschlingen suchte.
Vor meinen Augen wogte Schwärze. Es fiel mir schwer, überhaupt noch Schnitte auszuführen, die mich von dem lösen sollten, was mich immer noch nicht freigeben wollte! Doch dann, als ich schon nicht mehr an ein Gelingen meiner Ver suche glaubte, begann die pumpende Bewegung, die mich herabge zogen hatte, erneut. Diesmal in umgekehrter Richtung. Begleitete von einem Ton, einem Schrei, wie ich ihn noch von kei nem Geschöpf gehört hatte. Was immer ich angerichtet hatte, es war genug, um das wurmarti ge Ungeheuer zu veranlassen, mich dorthin zurückzuschleudern, von wo es mich geholt hatte! Ich fühlte mich wie von einem Vulkan ausgespien. Umgeben von durch die Luft fliegenden Steinen tauchte ich aus dem Bodenkrater und wurde gegen die nächste Wand geschleudert, an der ich halb besinnungslos zu Boden rutschte … … und sofort, mit letzten Kräften, in Abwehrhaltung ging! Allerdings erwies sich dies als unnötig. Der Wurm – oder was immer es war – tauchte sofort wieder zu rück in die Tiefe. Das einzige, was er mitnahm, war der Leichnam des Alten, der neben dem Geröllfeld lag. Dieses Bild prägte sich mir ein. Von den anderen Stammesangehörigen sah ich keinen mehr. Ent weder hatten sie geglaubt, ihr Vorhaben sei geglückt – oder sie hat ten gemerkt, daß es ihrer Kontrolle entglitt, und waren rechtzeitig geflohen. Sekundenlang lag ich da und pflegte meine Wunden. Starrte dort hin, wo die losen Steine allmählich zur Ruhe kamen. Der Klagelaut des dort hausenden Wesens war verstummt. Nur im Rauschen, das
meinen Schädel erfüllte, glaubte ich noch ein Echo davon zu hören. Und dann nahmen meine Sinne etwas wahr, das mich hochputsch te, auf die Beine stellte und tiefer erschütterte als aller Schmerz, alle Qual der letzten Minuten. Deshalb, weil es nicht sein durfte. Nicht hier. Nicht an diesem Ort und zu dieser Unzeit! Es war zu früh. Irgendwo öffnete sich die Agrippa … Und entließ, was darin bis zum RITUAL hätte eingesperrt bleiben müssen …! Das Erschrecken währte nur kurz. Eine primitive Steinaxt, die knapp neben meinem Kopf auf einen Felsen prallte und Funken schlug, ließ mich herumfahren. Gerade noch rechtzeitig, um einem zweiten Wurfgeschoß auszuweichen. Die Wilden kamen zurück! Was der Wurm nicht geschafft hatte, wollten nun sie vollenden. Und ich war derart ausgepumpt und geschwächt, daß ich mich kaum zu wehren wußte! Im nächsten Augenblick waren die Affenmenschen heran …
* Die Agrippa teilte sich in zwei fast gleichgroße Hälften mit gezack ten Rändern und entließ, was Thuul darin erspürt hatte. Aber – war es wirklich das, was er gefühlt hatte? Diese Entladung unbändiger Macht, die vor seinen Augen aufstieg und sich ausweitete, als wollte sie den gesamten Felsenraum erfül len? Die Aura, in der Thuul beinahe zu ersticken glaubte, widersprach
so sehr seinem vorherigen Empfinden. Aber da war noch etwas. Etwas, das sich dahinter verbarg. Oder versteckt wurde. Der wah re Kern dieser Macht vielleicht. Und der war – anders. Vertraut. Fast verwandt. Die Macht formte sich. Aus Energie wurde Gestalt. Ein Wesen. Seine Größe war die einzige sichtbare Gemeinsamkeit mit Thuul. Der massige, fette Körper des Geschlechtslosen ruhte auf zwei säulenartigen Beinen. Aus seinen Schultern wuchsen je zwei gewal tige Arme, die in spitzen Krallen endeten. Auf den Schultern saß ein kuppelartiger Kopf, in dem ein Paar großer, runder Augen von nie gesehenem Blau ruhten. Von gleicher Farbe war die ledrige Haut, auf der sich – – etwas bewegte, für das Thuul keinen Begriff fand. Von dunklem Grün waren diese Zeichnungen, und sie bewegten sich wie etwas Lebendiges, formten sich immer wieder neu, ohne irgendeinen Sinn zu machen. »KANNST DU VON MIR LESEN?« stellte der Runendämon die Frage, die er jedem Lebewesen, dessen er ansichtig wurde, zu stellen gezwungen war. Die Stimme war so laut, daß sie Thuul in den Ohren schmerzte und die Wände seiner Heimstatt mit einem Netz feiner Sprünge überzog. »Lesen?« echote er schließlich, beinahe taub. Der Blaue schwieg. Mußte er nicht jeden töten, der die Frage nicht bejahte? Auch ein Wesen, das ihm so vertraut, ähnlich, GLEICH erschien
wie dieser Graue? »SPRICH«, forderte seine donnernde Stimme, ohne daß er selbst sich zum Sprechen veranlaßt hätte. »Ich … fühle wie du«, kam es feucht über Thuuls Lippen. Die Ver wirrung stand ihm in die grauen Züge geschrieben. Was redete er da? Und was fühlte er nur? »ICH MUSS DICH TÖTEN!« Der Runendämon richtete sich zu be drohlicher Größe auf, spreizte die vier Arme und öffnete sein scharf zahniges Maul, weit genug, daß er Thuul mit einem Biß den Kopf von den Schultern trennen konnte. »Mich töten?« fragte der Graue. »Aber warum –« Das letzte Wort wollte ihm nicht über die Lippen. Er kannte es nicht, wußte nicht wirklich um seine Bedeutung. Nur, daß es ihm Wohlbefinden bereitete. Daß es – gut war. »– Bruder?«
* Der Runendämon, mein Diener, ohne den ich das RITUAL nicht würde vollziehen können, hatte die Agrippa verlassen. Ich brauchte ihn, denn ich war die, DIE VON IHM LESEN KONNTE, die Erlöse rin! Er hatte nur mir zu gehorchen, Knecht meines Willens zu sein. Wie konnte er seinen Kerker nur verlassen haben? Wenn ich noch länger tatenlos darüber nachsann, würde ich es mangels Gelegenheit nicht mehr ergründen können. Denn die Nichtmenschen waren dabei, mir den Garaus zu machen. Ob es ihnen gelingen konnte, wollte ich nicht erproben. In jedem
Fall konnten sie mich erneut so schwächen, daß ich nicht in den Kor ridor zurückkehren und die Wanderung ins Damals vollenden konnte. Ich strich alles aus meinem Geist, was nicht überlebensnotwendig war, raffte meine zerflossene dunkle Kraft zusammen und zwang sie, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Verwandlung. Mein Körper schrumpfte unter zupackenden Pranken und zusto ßenden Steinwaffen. Ein alter, nicht vermißter Bekannter meldete sich in meiner rechten Schwinge zurück. Bruder Schmerz. Trotzdem schwang ich mich in die Dschungelnacht empor und entkam, wenn auch mehr zufällig torkelnd denn gezielt fliegend. Aber nicht etwa ziellos. Mein DUNKLES ICH leitete mich wie ein Kompaß, der nicht die Himmelsrichtungen anzeigte, sondern sich einzig an der Agrippa orientierte. Denn ohne sie brauchte ich den Rückweg in den Korri dor erst gar nicht anzutreten.
* »WAS REDEST DU?« Nur die Lautstärke des Runendämons täuschte Entrüstung vor. Dahinter lag etwas gänzlich anderes. Verstehen. Gleichklang. »Du bist wie ich«, behauptete Thuul mit einer Sicherheit, die er aus nichts bezog, sondern die einfach in ihm war. Dort, wo der Keim
seines Lebens sproß. »WIR SIND VERSCHIEDEN«, meinte der Runendämon, um seine persönliche Auffassung von Zimmerlautstärke bemüht. »SIEH UNS NUR AN.« »Nur unsere Körper«, sagte Thuul. »Dahinter sind wir Wesen, die einander gleichen. Körper sind nur Hüllen, die uns gegeben wur den. Darin steckt, was wir sind.« »WAS SIND WIR?« »Zwei Einsame, die nach Sinn suchen und alleine nicht fündig werden.« Der Blaue schwieg. Lange. Der Blick seiner großen Augen war nach innen gerichtet. Als suchte er dort nach einer tatsächlichen Be stätigung dessen, was der Graue ihm gesagt hatte. Daß etwas in ihm war, für das sein Körper nur Behältnis war. War es so? So einfach? »FINDEN ZWEI EINSAME, DIE GEMEINSAM SUCHEN, SINN?« »Zwei Einsame, die gemeinsam suchen, haben schon einen Sinn gefunden«, zeigte Thuul sich überzeugt. »WELCHEN?« »Sie sind nicht länger einsam.« »Einsam möchte ich nicht sein. Nie mehr.« Die Stimme des Runendämons war nicht länger Donner. Gefühle, sein wahres Sein, bar von Zorn und fremdem Willen, diktierte nun seinen Ton. »Es ergeht dir wie mir«, meinte Thuul. »So bleib bei mir. Mein Reich ist weit genug für zwei unserer Größe.« »So sei es.« »Dann befreie dich«, sagte Thuul.
»Wie?« »Fliehe aus den Hüllen, die dich halten, und vernichte sie.« Der Graue zeigte hinab auf die beiden Hälften der aufgebrochenen Agrippa.
* Diese ›Zeitblase‹ – oder wie immer man das auch nennen mochte, wohin mich das versiegelte Tor geführt hatte – war ein Phänomen, das nirgends seinesgleichen fand. Hoch über den Wäldern und Felsanhäufungen flog ich dahin und rechnete insgeheim damit, irgendwo die Grenzen dieser Zone der Nichtmenschen sehen zu müssen. Doch da war nichts. Nur Horizont, hinter dem es weiter und immer weiterging. Als hätte Gott seinen frühen Kindern eine ganze, eine wirkliche Welt geschenkt. Und vielleicht war es so. Es interessierte mich im Grunde nicht. Allein der Agrippa galt mein Denken und Tun. Und dem, was darin zu sein hatte, wenn ich in den Korridor zurückkehrte. Der blaue Dämon, von dessen Haut nur ich zu lesen verstand. Ich spürte seine Nähe immer deutlicher. Also näherte ich mich dem Ort, an dem er sich aufhielt. Schließlich fand ich mich über dem See wieder, an dessen Grund das Tor mich ausgespuckt hatte. Die Agrippa, so deuteten es meine dunklen Sinne, befand sich noch immer dort unten im Wasser. Und mit ihr der Runendämon.
Ich stellte mir nicht die Frage nach Möglichem und Unmöglichem, nach Sinn und Unsinn, sondern handelte. Im Sturzflug raste mein verletzter Fledermauskörper dem See ent gegen. Und verwandelte sich noch, bevor er ins Wasser eintauchte. Die Sturzgeschwindigkeit nutzend, schoß ich auf den Grund hin ab. Dort orientierte ich mich neu und folgte der Peilung, die das Ar tefakt für mich aussandte. Die Luft in meinen Lungen sparsam rationierend, schwamm ich dem Signal entgegen. Allerlei Getier, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, beäugte mich und nahm erst Reißaus, als es die Aura spürte, die mich wie eine giftige Wolke umgeben mußte. Vor mir zeichneten sich dunkle Höhlenöffnungen in der Trübe ab, und ich wußte, welche ich zu wählen hatte. Ein finsterer Schlund nahm mich auf, in dem ich mich nicht verirren konnte. Es gab nur eine Richtung, in die er führte. Keine Windungen, die das Signal hätten abfälschen können. Irgendwann sickerte Licht in die Schwärze herab, färbte sie grau, und dann brach mein Kopf aus dem Wasser. Ich brauchte nur einen einzigen Blick, um zu sehen und zu verste hen, was hier geschah – – was nicht geschehen durfte!
* »Du meinst –?« Der Blick aus den großen Augen des Runendämons wanderte zwi schen der aufgeplatzten Agrippa und Thuul hin und her. »Möchtest du etwa da hinein zurückkehren?« fragte der Graue verwundert.
»Nein.« »Dann sorge dafür, daß du nie mehr in diese Gefahr gerätst.« Der Runendämon sah seinen neuen Gefährten an, als wäre er noch immer unsicher, was zu tun war. »Zerstöre sie!« ermunterte Thuul den Blauen. »Kann ich das?« »Du kannst es, wenn es dein Wille ist.« »Mein Wille«, murmelte der Runendämon, »er ist mir fremder als der Wille derjenigen, der ich diene.« »Gedient hast«, verbesserte Thuul ihn. »Jetzt bist du nur noch dein eigener Diener.« Der Blick seiner lidlosen Augen ruhte auf dem Ru nendämon und ging hinter die blaue Haut mit den unruhig wan dernden Zeichnungen. Dann setzt er hinzu: »Bruder.« Und das gab den Ausschlag. Der Runendämon trat zurück, hob eines seiner mächtigen Säulen beine über die Agrippa – »NEIN!!!« – und trat zu! »Bruder.« Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Was ging hier vor? Doch was gesprochen wurde, war im Moment nicht wichtig für mich. Es zählte, was getan wurde! Der Runendämon hob den mächtigen Fuß, um die Agrippa zu Staub zu zertreten. Um sein Gefängnis zu vernichten und sich zu befreien! Das durfte nicht geschehen!
Das RITUAL würde nicht vollzogen werden können. Meine Be stimmung wäre hinfällig, mein Leben ohne Sinn, alles verloren. Doch wie sollte ich, trotz meiner dunklen Macht, einen Koloß wie den Runendämon daran hindern? Ich wußte es in dem Moment, da mein Blick auf seine blauen Haut fiel. Auf die grünschwarzen Zeichen darauf. Die Runen, die unter meinen Augen zur Ruhe kamen und Sinn er gaben. Vielfältig nutzbaren Sinn. Ich nutzte ihn. Und las.
* Laute quälten sich aus meiner Kehle. Rauh wie scharfkantige Steine kratzten sie, jeder einzelne in Begleitung eines schmerzvollen Tons. Doch ich hörte nicht auf, Befehle aus den Runen zu lesen. Formte immer weitere Worte aus der uralten Sprache, die damals gespro chen worden war, als alles begonnen hatte … … und die ihre Wirkung noch nicht verloren hatte. Ich schmeckte mein eigenes dunkles Blut im Mund. Die Laute, die ich sprach, schmerzten mich nicht nur, sie verletzten mich wirklich. Weil es noch nicht an der Zeit war, sie zu sprechen. Doch ich mußte sie nutzen. Jetzt! Und ich gab nicht nach. Was war Schmerz, wenn das RITUAL, die Bestimmung, einfach
ALLES auf dem Spiel stand? Nichts. Worte, Laute, Töne quollen aus mir, als würde ich sie erbrechen. Und ich spie sie auf den Runendämon.
* Der blaue Fuß blieb eine Fingerbreite über den Hälften der Agrippa hängen, als wäre er unversehens auf unsichtbaren Widerstand ge troffen. Worte lähmten das Fleisch des Runendämons, umspannen seinen Willen und knechteten ihn. Zwangen ihn, nicht zu tun, was er tun wollte, und zu tun, was er nicht tun wollte. Er hatte Freiheit besessen und genossen. Er konnte davon zehren, wenn getan war, was getan werden mußte. Weil fremder Wille es so wollte. Fremder Wille, der ein grausames Spiel mit ihm trieb und ihm selbst die Zunge lenkte. Der Graue sah ihn mit einer Mischung aus plötzlich aufwallender Angst und Unverständnis an, als der Runendämon sich ihm zu wandte. »Was ist?« kam es über Thuuls Lippen. »DIE ZEIT DES ABSCHIEDS IST GEKOMMEN«, donnerte der Blaue. »DIE RÜCKKEHR IN DIE EINSAMKEIT STEHT BEVOR.« »Warum? Du bist frei!« »NICHT MEHR«, erwiderte der Runendämon. Und leise fügte er hinzu:
»Bruder …« Mit einem Biß fraß er Thuuls Gesicht und schlang es mühsam hin unter, während die Kraft der uralten Sprache sich seiner vier Arme bemächtigte und den Körper seines grauen Bruders in blutige Fet zen riß.
* »Komm her.« Meine Stimme troff vor Befriedigung. Ich hatte mich am Anblick des blauhäutigen Monstrums ergötzt, als es seinen ›Bruder‹ hatten töten müssen. Und ich empfand dunkle Freude, als sich der närri sche Riese jetzt zu mir umwandte und mit hängenden Schultern nä herstampfte. Ich hatte die beiden Hälften der Agrippa aufgehoben und hielt sie dem Runendämon einladend hin. »Kehre zurück«, befahl ich ihm. Seine Gestalt wandelte sich, schrumpfte, bis sie sich fast verflüch tigte. Dann trieb etwas wie eine stahlblaue Schliere zwischen die Schalenhälften, die sich ohne mein Zutun aneinanderfügten und fu genlos schlossen. In dem Moment, da die Verwandlung des Runendämons einsetz te, hatte ich noch einen Blick in das Gesicht seines Kuppelkopfes werfen können. In seine riesigen, stählernen Augen, in denen ich bei unserer ersten Begegnung nur bedingungslosen Gehorsam erkannt hatte. Hier und jetzt war etwas anderes darin gewesen. Ein Schimmer, ein nasses Glänzen, das gewiß nicht von der sticki gen Luftfeuchtigkeit in diesem Felsendom herrührte …
Ich lachte aus vollem, dunklem Herzen. Lachte noch, als ich zurück ins Wasser glitt. Silberne Perlen, die in krassem Gegensatz zu meiner finsteren Freude standen, markierten meine Spur zurück in den See, zum Tor, dessen gieriger Sog mich willig verschlang, um mich in den Korridor der Zeit, heraus aus die ser Sackgasse der Schöpfung, zu stoßen. Ein weinender Dämon … Sein Leid belebte mich wie ein delikates Blutmahl. Beinahe zumindest …
* Epilog – Am Anfang der Zeit Als er die Stufen hinaufhetzte, war der Wolf froh, wenigstens den Stimmen entronnen zu sein. Den Geschichten erzählenden Seelen der ermordeten Kelchkinder, die hinter ihm im Korridor zurückblieben. Nacht umfing den Wolf. Dunkelheit von tieferer Präsenz, als er es gewöhnt war. Die Gewölbe des Himmels waren von abgründiger Weite und er drückender Schwere. Aber wirklich fremd, wirklich anders wirkten sie erst durch die urgewaltige Drohung und die erschütternde Leere, die darin schwebten! Vergeblich suchte der silbrig-graue Wolf das ihm vertraute Ster nenmeer. Aber die Konstellationen, die ihn so viele Jahrhunderte be gleitet hatten, waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Oder – als gäbe es sie noch nicht … Nachdem er die letzte der 22 Stufen mit seinen Hinterläufen ver
lassen hatte, verwandelte sich der Wolf in jenes Wesen zurück, das sich seiner kraftvoll-geschmeidigen Gestalt nur als Maske und Mittel zur schnelleren Fortbewegung bedient hatte. Landrus angestammter Körper wuchs in die Nacht hinein … … und was dann geschah, kam so unvorbereitet, daß es ihn wie unter einem Peitschenhieb zusammenfahren ließ. Er begann zu zittern. Ein Gefühl, vertraut, aber in dieser Potenz noch nie empfunden, überkam ihn. Nein, rann es durch sein Denken. Wie … geschieht mir …? Antwort darauf erhielt er in den kommenden Stunden. Und er erfuhr auch, was wahre Angst war. Furchtbare, unentrinnbare Angst unter den Blicken der MACHT … ENDE
Das Ritual von Adrian Doyle Nachdem der unglaubliche Korridor ihn ausgespien hatte, fühlte sich Landru schier überwältigt von der Nacht, die ihn umgab. Von der Luft, die er einsog und die eine schwindelerregende Frische be saß – zugleich aber ebenso fremd, ebenso abstoßend war wie alles um ihn herum! Wo – bin ich? Wie geschieht mir …? Landrus Blicke bohrten sich in die Nacht. Er fühlte sich erdrückt von diesem Gebirge aus Schwärze, in dem kaum ein Stern leuchtete und auch kein Mond! Kein sichtbarer Mond, versuchte er sich zu beruhigen. Doch eine untrügliche Ahnung sagte ihm, daß es keinen Mond gab …! Nir gends über dieser Welt! Und er begriff, daß es falsch war, sich zu fragen, wo er sich auf hielt. Richtiger mußte es heißen: WANN BIN ICH?