Christoph Butterwegge · Gudrun Hentges (Hrsg.) Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung
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Christoph Butterwegge · Gudrun Hentges (Hrsg.) Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung
Interkulturelle Studien Band 5 Herausgegeben von Georg Auernheimer Wolf-Dietrich Bukow Christoph Butterwegge Hans-Joachim Roth Erol Yildiz
Christoph Butterwegge Gudrun Hentges (Hrsg.)
Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung Migrations-, Integrationsund Minderheitenpolitik 4., aktualisierte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2000 2., überarbeitete Auflage 2003 3. Auflage 2006 4., aktualisierte Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16086-3
Inhalt Inhalt
Einleitung.............................................................................................................. 7 Globalisierung, Flucht und Migration Johan Galtung Globale Migration ......................................................................................................... 11 Franz Nuscheler Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung? ......................... 23 Steffen Angenendt Wanderungsbewegungen und Globalisierung Zusammenhänge – Probleme – Handlungsmöglichkeiten .................................. 37 Christoph Butterwegge Globalisierung als Spaltpilz und sozialer Sprengsatz Weltmarktdynamik und „Zuwanderungsdramatik“ im postmodernen Wohlfahrtsstaat ................................................................................................... 55 Annette Treibel Migration als Form der Emanzipation? Motive und Muster der Wanderung von Frauen ............................................... 103 Der politische Umgang mit Flucht, Migration und Minderheiten in Europa Petra Bendel Die Migrationspolitik der Europäischen Union Inhalte, Institutionen und Integrationsperspektiven.......................................... 123
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Inhalt
Carolin Butterwegge Fit für die Globalisierung? Deutschland auf dem Weg zur Modernisierung seiner Migrations- und Integrationspolitik............................................................................................. 137 Sigrid Baringhorst Nationaler Zusammenhalt versus kulturelle Vielfalt Die britische Einwanderungs- und Integrationspolitik zwischen globalem Wettbewerb und nationaler Identität................................................................. 171 Gudrun Hentges „Brücken für unser Land in einem neuen Europa“? Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich ..................................... 191
Integration und Perspektiven einer multikulturellen Demokratie Dieter Oberndörfer Das Ende des Nationalstaates als Chance für die offene europäische Republik........................................................................................ 237 Peter Kühne Flüchtlinge und der deutsche Arbeitsmarkt Dauernde staatliche Integrationsverweigerung ................................................. 253 Erol Yildiz Multikulturalität und Demokratie im Zeitalter der Globalisierung ................... 269
Literaturauswahl ............................................................................................... 287
Autor(inn)en ..................................................................................................... 303
Einleitung Einleitung
In der Diskussion über das Thema „Globalisierung“ fand die Zuwanderung bisher wenig Berücksichtigung, obgleich sie eine Schlüsselrolle für diesen Prozess spielt. Ein politischer Grundwiderspruch des „Zeitalters der Globalisierung“ liegt darin, dass man zwar die weltweite Mobilität des Kapitals begrüßt, aber (Grenz-) Polizei und Militär auf Menschen hetzt, die es ihm gleichtun wollen. Die westdeutsche Migrationsgeschichte und -politik war jahrzehntelang durch ein ähnliches Paradoxon gekennzeichnet: Obwohl viele Millionen Menschen in die Bundesrepublik einwanderten – zuerst „Deutschstämmige“ aus den ehemaligen Ostgebieten und Flüchtlinge aus Osteuropa, ab Mitte der 50er-Jahre Arbeitsmigrant(inn)en aus den Mittelmeerländern und nach dem im November 1973 verhängten Anwerbestopp nur noch Familienangehörige der sog. Gastarbeiter –, wurde das Faktum der Einwanderung schlichtweg geleugnet. Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 trugen zu einer weiteren Verschiebung der Koordinaten bei: Einerseits kam es zu einer verstärkten Einwanderung sog. Spätaussiedler/innen aus dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich, die aus dem verfassungsrechtlich verankerten Abstammungsprinzip (Ius sanguinis) einen Anspruch auf Einbürgerung ableiten konnten, andererseits suchten zunehmend mehr Menschen, die vor (Bürger-) Kriegen flohen, Zuflucht in der Bundesrepublik. Ungeachtet dieser Wanderungsbewegungen und der sich daraus ergebenden Anforderungen im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration galt das Dogma fort, Deutschland sei kein Einwanderungsland und solle es auch nicht werden. Gleichwohl entbrannte die Debatte über Erleichterungen, Möglichkeiten und Grenzen der Zuwanderung nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 neu. Den entscheidenden Anstoß dazu gab die Befürchtung, dass „die Deutschen“ längerfristig wenn nicht aussterben, so doch als Volk zunehmend „vergreisen“ könnten und dass „unser Wirtschaftsstandort“ aufgrund fehlender Fachkräfte auf dem Weltmarkt bald nicht mehr konkurrenzfähig sei. Das Jahr 2000 markierte in migrationspolitischer Hinsicht einen Paradigmenwechsel: Am 1. Januar trat ein neues Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft, welches das noch aus dem Kaiserreich stammende Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz ablöste. Da seither alle in Deutschland geborenen Kinder, deren Eltern dauerhaft im Bundesgebiet leben, zumindest vorübergehend die deutsche
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Einleitung
Staatsangehörigkeit erhalten und die im Laufe der letzten zehn Jahre im Bundesgebiet geborenen Kinder auf Antrag ihrer Eltern Deutsche werden konnten, trat das Territorial- bzw. Geburtsortprinzip (Ius soli) neben das Abstammungsprinzip. Zudem führte die rot-grüne Bundesregierung auf Drängen der deutschen Wirtschaft am 1. August 2000 für IT-Expert(inn)en aus sog. Drittländern eine Green Card (fünfjährige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis) ein, der jedoch kein großer Erfolg beschieden war, weil Hochqualifizierten in vergleichbaren Aufnahmeländern eine dauerhafte Lebensperspektive geboten wird. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rückten Terrorismusbekämpfung und Innere Sicherheit, die Aufhebung des Datenschutzes und Rasterfahndungen sowie die Gefahr des islamischen Fundamentalismus in den Mittelpunkt des politischen Interesses. Bei seinem „Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ orientierte sich der damalige Bundesinnenminister Otto Schily nur partiell an den Vorschlägen, welche die sog. Süssmuth-Kommission im Juli 2001 präsentiert hatte. Nach mehrfachen Verschlechterungen des ursprünglichen Gesetzentwurfes wurde das Zuwanderungsgesetz am 1. März 2002 mit den Stimmen der rot-grünen Koalition im Bundestag verabschiedet. Die bundespolitische Debatte endete jedoch nicht mit dessen umstrittener Verabschiedung im Bundesrat am 22. März und der Unterzeichnung durch den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau knapp drei Monate später. Das Bundesverfassungsgericht gab vielmehr der Klage von sechs CDU/CSU-geführten Ländern am 18. Dezember 2002 statt und erklärte das erste Gesetzgebungsverfahren für gescheitert. Beim zweiten Anlauf machte die Regierung der Union weitere Zugeständnisse, bis das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungs(begrenzungs)gesetz kaum noch Fortschritte gegenüber der alten Gesetzeslage mit sich brachte. In der 4. Auflage des Buches werden die jüngsten Veränderungen reflektiert und kritisch analysiert. Die Aufsätze im ersten Teil beleuchten den Zusammenhang zwischen Globalisierung und Wanderungsbewegungen; die folgenden behandeln den Umgang mit Flucht, Migration und Minderheiten; der abschließende Teil konzentriert sich auf Fragen der Integration und Perspektiven einer multikulturellen Demokratie. Aktualisiert und erweitert wurde auch die Bibliografie am Ende des Bandes, welche – nach Themenfeldern geordnet – Hinweise auf die wichtigste Fachliteratur gibt. Köln/Fulda, im Spätherbst 2008 Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges
Globalisierung, Flucht und Migration
Globale Migration Globale Migration
Johan Galtung
Bei dem hier zu diskutierenden Thema geht es weder um die traditionellen innerstaatlichen Wanderungsbewegungen vom Land in die Stadt noch um die damit zusammenhängende gegenläufige Bewegung, also das Phänomen, dass Menschen aus den Städten leer stehende Häuser in Dörfern aufkaufen, sich immer seltener in ihren städtischen Büros sehen lassen und den Daten-Highway dem konventionellen Highway vorziehen. Im Mittelpunkt stehen die als „neue Völkerwanderung“ firmierenden massenhaften Migrationen von Menschen, nicht das vereinzelte „Hereintröpfeln“ legaler oder illegaler Einwanderer, die meist auf der Suche nach Arbeit sind. Die Entscheidung zur Migration ist das Ergebnis von „Push“- und „Pull“Kräften, „push away“ vom Ort des Weggangs, „pull“ zum Ankunftsort, der überall sein kann. Der Push-Faktor verweist auf einen niedrigeren Lebensstandard, auf das Leiden derjenigen, die eine Migration in Erwägung ziehen; der Pull-Faktor auf einen Überschuss an Wissen, auf Ideenreichtum und Netzwerke. Push- und Pull-Faktoren treffen selten zusammen, was z.T. erklärt, dass die weltweite Migration nicht noch größere Ausmaße annimmt. Damit massenhafte Migration stattfindet, müssen sowohl der Leidensdruck potenzieller Migrant(inn)en als auch die Attraktivität des Zielortes oder -landes sehr groß sein. Mit dem immer weiter abnehmenden Lebensstandard in einigen Teilen und dem ansteigenden Konsum in anderen Teilen der Welt entstehen die Voraussetzungen für eine massenhafte Migration. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine grundsätzlich neue Entwicklung: Seitdem menschliche Gesellschaften sesshaft geworden sind, wurde der Wohlstand in den Städten – oft auf Kosten ländlicher Regionen – angehäuft. Auch der „Nomadismus“ ist eine Form massiver Migration, die sich zyklisch vollzieht, weil Nomaden immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. Jeder Punkt innerhalb des Zyklus markiert sowohl den Weggang als auch die Ankunft. Migration nomadisierender unterscheidet sich von der sesshafter Gesellschaften dadurch, dass – wohin man auch immer geht – entweder schon jemand da ist, da war oder Migrant(inn)en auf eine Grenze treffen, welche die Zwangsmacht eines Staates repräsentiert. *
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Carolina Depiereux
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Johan Galtung
Neu an dem Phänomen ist das Aufkommen eines vergleichenden Bewusstseins, d.h. einer ausgeprägten Wahrnehmung der extremen Unterschiede im Lebensstandard. Diese komparative Perspektive wird ermöglicht durch die Massenmedien (wobei Radio und Fernsehen auch die Analphabeten „versorgen“) sowie durch Reisen und Berichte darüber. Nur sehr wenige Orte auf der Welt sind so weit weg, dass man ihnen nicht begegnen kann. Defizite im Lebensstandard werden daher nicht nur absolut – im Sinne einer unzureichenden Befriedigung der Grundbedürfnisse – bemessen, sondern relativ, im Sinne wahrgenommener Ungleichheiten.
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Grundbedürfnis-, Angleichungs- und Gleichheitsprojekte
Alternativen zu massenhafter Migration bilden die ausreichende Befriedigung der Grundbedürfnisse, die mit den Bedürftigsten zu beginnen hat, sowie die Angleichung der verschiedenen Lebensstandards, beginnend mit den am wenigsten Privilegierten, den „Habenichtsen“. Derartige Vorhaben werden normalerweise „Entwicklung“ genannt, es gibt aber keinerlei Entwicklungsprojekte weltweiten Ausmaßes: Weder das moderate Grundbedürfnis- noch das ambitionierte Angleichungsprojekt werden weltweit umgesetzt. Lediglich hier und da gibt es kleinere Ansätze. Die Gründe hierfür liegen darin, dass ein drittes Projekt, nämlich eines zur Beseitigung der grundlegenden strukturellen Hindernisse, bislang noch nicht realisiert worden ist. Das Haupthindernis besteht in der Aufteilung der Welt in Zentrum und Peripherie sowie in den durch den Weltmarkt erzeugten regionalen und nationalen Ökonomien. Das kapitalistische Wirtschaftssystem proklamiert die Freiheit aller, Besitz zu nutzen, um mehr Besitz zu erwerben. Dieses System dringt jedoch in die Länder der Peripherie ein und kauft den dort erworbenen Besitz einfach auf. Die (Über-)Lebensbedingungen von Menschen der Peripherie verschlechtern sich laufend. Die Hauptbestrebungen, den massiven Strukturen der Ungleichheit entgegenzuwirken, haben keine großen Chancen: Das „indigene“ Projekt stirbt aus, das kommunistische Projekt ist zusammengebrochen und das Projekt „grünes Wirtschaften“ noch nicht ausreichend in Gang gekommen. Käme es in Gang, wäre vorauszusehen, dass es vom Weltkapitalismus zerstört werden würde. Die obigen Überlegungen sprechen dafür, dass die Umsetzung des Grundbedürfnis- und Angleichungsprojekts die Realisierung des Gleichheitsprojekts voraussetzt. Folglich ist die einzige Alternative zur massenhaften Migration von Menschen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse und die weltweite Angleichung des Lebensstandards.
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Globale Migration
Migrationsbewegungen entstanden historisch immer dann, wenn die der Bevölkerung zugänglichen Ressourcen knapp wurden. Menschen migrierten also dorthin, wo es (noch) genügend Ressourcen gab, oder sie nahmen Einfluss auf die demografische Entwicklung. Unzureichende Ressourcen, gemessen an der Anzahl der Bewohner/innen, werden einer der zentralen Migrationsfaktoren bleiben. Hieraus lassen sich folgende Verlaufsformen von Migration ableiten: Migration vollzieht sich
aus überbevölkerten in unterbevölkerte Regionen (Hypothese 1), aus ressourcenarmen in ressourcenreiche Regionen (Hypothese 2), aus Regionen mit hohem in Regionen mit niedrigem Bevölkerungswachstum (Hypothese 3).
Im Folgenden werden Länder oder Regionen dann als „überbevölkert“ verstanden, wenn der dort lebende Anteil an der Weltbevölkerung höher ist als ihr Anteil am Weltlandgebiet, über den sie verfügen. Im Umkehrschluss wird ein Land dann als „unterbevölkert“ bezeichnet, wenn sein prozentualer Anteil an der Weltbevölkerung unterhalb seines prozentualen Anteils am Weltlandgebiet liegt. Länder können danach eingestuft werden, in welchem Verhältnis der Weltbevölkerungs- zum Weltlandanteil steht. Tabelle 1: Die ersten Zehn der überbevölkerten und unterbevölkerten Länder Ü1 Ü2
China Indien
Ü3 Ü4 Ü5 Ü6 Ü7 Ü8 Ü9 Ü 10
Japan Bangladesch Indonesien Pakistan Nigeria Deutschland Vietnam Großbritannien
+ 14,32 + 13,38
U1 U2
ehem. SU Kanada
+ 2,19 + 1,97 + 1,90 + 1,48 + 1,33 + 1,27 + 1,02 + 0,97
U3 U4 U5 U6 U7 U8 U9 U 10
Australien Brasilien USA Grönland Sudan Argentinien Saudi-Arabien Algerien
- 10,78 - 6,83 - 5,33 - 3,41 - 1.98 - 1,60 - 1,43 - 1,40 - 1,31 - 1,29
Wenn wir U-6 bis U-10 (Grönland, Sudan, Argentinien, Saudi-Arabien, Algerien) aufgrund des in diesen Ländern zu großen Anteils an landwirtschaftlich nicht nutzbarer Fläche ausklammern, sagt Tabelle 1 etwas über mögliche Migrationsbewegungen aus, die von den überbevölkerten Ländern ausgehen und ein
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Johan Galtung
benachbartes (unterbevölkertes) Zielland anstreben. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie potenzielle Migrant(inn)en in eines der „unterbevölkerten“ Länder gelangen können. Folgende vier Varianten sind in diesem Zusammenhang relevant: 1.
2.
Der vollziehenden Gewalt eines Staates kann entgegengewirkt werden durch die eigene vollziehende Gewalt, sprich: Eroberung. Diese Variante wählten die expansionistischen Nationen der heutigen Welt, um den Bevölkerungsdruck in ihren Staaten zu reduzieren. Die okzidentalen Kolonialmächte praktizierten dies während der ersten 500 Jahre seit 1492, Japan seit dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/95). Bei dieser Variante handelt es sich um Flüchtlinge, die gewaltlos dauerhaften Aufenthalt im aufnehmenden Land suchen. Solche Menschen sehen sich zur Flucht gezwungen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen:
Sie fliehen, um nicht getötet zu werden, sondern zu überleben; um der Unterdrückung in einem Land zu entkommen, das Menschenrechte missachtet (Flucht auf der Suche nach Freiheit); um dem Elend zu entkommen, oder aber vor ökologischen Katastrophen (Suche nach Wohlergehen); vor Entfremdung (Suche nach Identität und Sinn).
Die ersten beiden Kategorien bezeichnet man normalerweise als „politische Flüchtlinge“, die dritte Kategorie firmiert unter dem Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“, bei der vierten Gruppe handelt es sich um „Kulturflüchtlinge“, beispielsweise um Muslime, die vor weltlichen Regimen fliehen. Menschen sehen sich also nicht nur zur Flucht gezwungen, wenn sie einer physischen Bedrohung ausgesetzt sind, Fluchtmotivationen haben vielmehr auch kulturelle und psychische Komponenten. 1.
2.
Mitunter übersteigt die Reproduktionsrate von Migrant(inn)en in den Aufnahmeländern diejenige der Einheimischen, oder Regierungen und Medien des Aufnahmelandes suggerieren, die Anzahl der Migrant(inn)en könne die der Inländer/innen übersteigen. Insbesondere reagieren jene Länder besonders anfällig, die zahlenmäßiges Übergewicht mit Übermacht verwechseln. Eine weitere Strategie besteht in der Schwächung des Aufnahmelandes. Diese Form der indirekten Gewalt ist viel wirksamer als die der direkten Gewalt: der primitiven militärischen Eroberung, die mit Tötungen und Verwüstungen oder mit deren Androhung einhergeht.
Globale Migration
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Wirtschaftliche, politische und kulturelle Schwächung
Wirtschaftliche Schwäche trifft Menschen überall in Orten und Regionen der ökonomischen Peripherie, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, als massive strukturelle Gewalt und reduziert allmählich ihren Lebensstandard. Bevölkerungen und Regierungen dieser Regionen bitten um eine spezielle Form der Einwanderung: die finanzkräftiger Unternehmer, welche in ihrem Land investieren oder Firmenniederlassungen gründen sollen. Als ein Beispiel für die politische Schwächung eines Landes ist die Sowjetunion anzuführen. Sie wurde unter so massiven Wettrüstungsdruck gesetzt, dass autoritäre Regime gestärkt und demokratische Prozesse unterdrückt wurden. Das heute sichtbare Ergebnis ist eine faktische Übernahme durch den Westen. Die kulturelle Schwächung eines Landes und von dessen Bevölkerung erfolgt dann, wenn die Sinnstiftung verschwindet und Menschen zu Alkohol, Drogen etc. greifen. Die westlichen Kolonialherren haben in der Vergangenheit Alkohol und Drogen eingesetzt, um die zu kolonisierenden Völker ruhig zu stellen und besser unterwerfen zu können. Die Technik des Einsatzes von Drogen wurde jedoch nicht nur gegen die Bevölkerung in den Kolonien eingesetzt, sondern auch gegen die früheren Kolonisatoren. So kooperiert die peruanische Guerillaorganisation „Leuchtender Pfad“ mit den Drogenproduzenten der Anden und bedient somit den massiven Drogenkonsum von US-Amerikaner(inne)n, die dem System völlig entfremdet sind. Aus diesen Überlegungen lassen sich einige Hypothesen ableiten, um die allgemeine Richtung massenhafter Migration vorherzusagen. Migrationen vollziehen sich demnach
aus Regionen mit niedrigem in Regionen mit hohem Menschenrechtsstandard (Hypothese 4), aus Regionen mit niedrigem in Regionen mit hohem ökonomischem Wohlstand (Hypothese 5), aus Regionen mit niedriger in Regionen mit hoher kultureller Identität (Hypothese 6).
Es muss darauf hingewiesen werden, dass ökonomischer Wohlstand nicht gleichbedeutend mit Wirtschaftswachstum ist. Ein Land kann hohen wirtschaftlichen Wohlstand und ein weniger hohes Wirtschaftswachstum haben und dennoch sehr attraktiv sein, wie etwa die USA. Ein anderes Land kann einen niedrigen wirtschaftlichen Wohlstand und ein hohes Wirtschaftswachstum haben und sehr unattraktiv sein. Lebensstandard wird vom wirtschaftlichen Niveau abgeleitet, nicht nur vom Wachstum. Menschen, die eine Migration in Erwägung zie-
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Johan Galtung
hen, können sich auch zu vergangenen Mythen hingezogen fühlen, beispielsweise zum „american dream“. Dass dieser Traum unrealistisch ist, spielt dabei keine wesentliche Rolle, entscheidend ist vielmehr, dass er häufig der gegenwärtigen Abwesenheit eines Traums vorgezogen wird. Der Faktor der kulturellen Identität ist besonders wichtig für Minderheiten in der Diaspora, die sich nach dem „Mutterland“ sehnen. Juden sind hier als Beispiel zu nennen, Palästinenser könnten eines Tages ein weiteres Beispiel werden, ebenso wie Millionen von Menschen, die in den GUS-Staaten leben und aus Ex-Jugoslawien stammen. Die Geschichte der kolonialen Unterwerfung brachte es mit sich, dass das Mutterland zur Kolonialmacht wurde. Ungeachtet dessen, dass der Kolonialismus abgelehnt wurde, ging und geht auch weiterhin von den kolonialen Metropolen eine große Attraktivität aus. Die Zentrum-Peripherie-Struktur wirkt nicht zentrifugal, sondern zentripetal; dies gilt auch für Migrationsprozesse. Die Menschen verlassen die ländlichen Gegenden, wandern in die kolonialen Zentren und scheinen dabei der Devise „Jetzt sind wir an der Reihe“ zu folgen. Nachdem wir die ersten beiden Hypothesen auf Tabelle 1 bezogen haben, können wir nun untersuchen, welche Relevanz die in den anderen Hypothesen genannten Faktoren für Migrationsprozesse der Zukunft haben. Dafür wird ein Bild der politischen Welt benötigt, um Bevölkerungswachstum, Menschenrechtsstandards, Wirtschaftsleistung und kulturelle Faktoren – nach Ländern und Regionen ausdifferenziert – zu lokalisieren und zu prognostizieren. Das hier verwendete Bild ist hauptsächlich an ethnischer bzw. kultureller Zugehörigkeit orientiert. Aber da es eine starke Korrelation zwischen Kultur und Geografie im Sinne von Nord und Süd, West und Ost, aber besonders im Sinne von Nordwest, Nordost, Südwest und Südost gibt, spielt auch die Geografie im Kompass-Sinn eine Rolle. Die Grenze zwischen Nord und Süd, so wie sie hier wahrgenommen wird, verläuft zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, durch das Mittelmeer und das Schwarze Meer, um dann den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion zu folgen. Die Grenze zwischen West und Ost belässt die slawischen Völker im Osten und trennt Muslime und Hindus von den buddhistischen Völkern Asiens. Der Kalte Krieg fand zwischen Nordwest und Nordost statt, der „NordSüd“-Konflikt zwischen Nordwest und Südwest (sog. Dritte Welt). Der Kampf zwischen den zwei Wachstumszentren Nordwest und Südost ist ein Kampf um Marktanteile und -beherrschung; ein Kampf, in dessen Verlauf sich die neue Peripherie des Weltkapitalismus herausbilden wird: der Südwesten und der Nordosten. Im Norden, dessen Bewohner/innen vorwiegend „Weiße“ sind, leben ca. 20 Prozent der Weltbevölkerung. Abgesehen von den hier als „Islamistan“ bezeich-
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Globale Migration
neten Ländern (Türkei, ehemalige Sowjetrepubliken mit einem mehrheitlich muslimischen Bevölkerungsanteil, Pakistan und Iran) liegt das Bevölkerungswachstum in den anderen Ländern des Nordens unterhalb der Reproduktionsrate. Tabelle 2: Die vier Ecken der Welt WESTEN
NORDEN
OSTEN
I. Nordwesten
II. Nordosten
Nordamerika
Osteuropa
Westeuropa
ehem. Sowjetunion
USA
EU
III. Südwesten SÜDEN
Gemeinschaft Islamischer Staaten („Islamistan“) IV. Südosten
Lateinamerika Arabische Welt Karibik
Afrika
Westasien
Südasien Indien
Südostasien Ostasien Pazifische Inseln China
Japan
80 Prozent der Weltbevölkerung leben im Süden. Das Bevölkerungswachstum liegt hier oberhalb der Reproduktionsrate, sodass Hypothese 3 zutrifft: eine Migrationsbewegung von hohen zu niedrigen Bevölkerungswachstumsregionen. Die Länder mit einer demokratischen Verfassung befinden sich im nordwestlichen Teil der Erde, sodass sich – entsprechend der Hypothese 4 – die Wanderungsbewegungen von Regionen mit niedrigem zu Regionen mit hohem Menschenrechtsstandard vollziehen. Da die nordwestlichen und südöstlichen Regionen der Erde ein hohes Maß an ökonomischem Wohlstand aufweisen (Hypothese 5), erhöht sich der Migrationsdruck auf diese Länder zusätzlich. Obwohl sich die Hautfarbe von Menschen immer wieder als ein zu vernachlässigender Faktor erwiesen hat und andere Momente zumindest gleichwertig sind, kommt ihr eine große Bedeutung zu, denn sie ist sichtbar und verschärft folglich Konflikte. Wenn man die sechs Hypothesen für Massenmigration betrachtet, korrelieren alle Faktoren mit der ethnischen Zugehörigkeit. Sehr stark ist diese Korrelation insbesondere dann, wenn die Aspekte der kolonialen Un-
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Johan Galtung
terwerfung (Kolonial-/Mutterland) und der kulturellen Identität einbezogen werden. Hinzu kommt der ethnisch-kulturelle Faktor: Weiße, die hauptsächlich jüdisch, christlich und muslimisch sind; Gelbe buddhistisch-konfuzianisch; Braune hindu-muslimisch sowie Schwarze und Rote animistisch etc., auch wenn sie eigentlich muslimisch und christlich sind. Abbildung 1:
Die „rassische“ Zusammensetzung der Weltbevölkerung
Oberklasse
Weiß (22,8 %)
Mittelklassen
Gelb (33,1 %)
Unterklasse
Braun (24,6 %) Schwarz (11,7 %)
Unterste Klasse
Rot (1,4 %)
6,4 Prozent aller Menschen sind gemischt oder nicht klassifiziert. Am schlechtesten (von den Weißen) behandelt wurden die Roten (durch Ausrottung, Genozid) und die Schwarzen (durch Sklaverei). Weiße Vorherrschaft beruht darauf, die anderen beiden etwas besser zu behandeln, sodass sie einer oberen Mittelklassenallianz (81 Prozent) und nicht einer verletzlichen Minderheit (23 Prozent) angehören. Aber diese Allianz könnte zerbrechlich sein. Die Gelb-Schwarzen dürften eines Tages ihre Zukunft eher gegen die Weißen als mit ihnen sehen. Abbildung 2:
Expansionistische Zivilisationen als zentrifugale Kräfte Westliche Zivilisation (500 Jahre)
Afrikanische Zivilisationen
Indianische Zivilisationen
Indische Zivilisation
Sinische Zivilisation Nipponische Zivilisation (50 Jahre)
Dies sind die geopolitischen Realitäten, die Basis dessen, dass hier von einer Alternative gesprochen wird: massenhafte Migration oder massive Entwicklung. Dies wird noch klarer, wenn wir die ganze Problematik unter einer mehr historischen Perspektive betrachten.
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Globale Migration
Der christliche Okzident expandierte mit vernichtender Wirkung auf die afrikanischen und indianischen Zivilisationen (heute sind ihre Wachstumsraten die niedrigsten der Welt), etwas weniger vernichtend für die indischen und sinischen Zivilisationen; Japan war fast unberührt, bekam dann aber „seine Lektion“ in einem totalen Krieg. Man expandierte in die sinische Sphäre, in die AsienPazifik-Region und versuchte auch, Indien zu erreichen. Außerdem drang der christliche und jüdische in den muslimischen Okzident vor. Die jüdische Kolonisierung Palästinas dauert immer noch an. Drehen wir das Bild im Einklang mit Hypothese 6, der Migration von Regionen mit niedriger zu Regionen mit hoher kultureller Identität, um: Abbildung 3:
Geschichte in Umkehrung: zentripetale Kraft mit Vergeltung Westliche Zivilisation (500 Jahre)
Afrikanische Zivilisationen
Indianische Zivilisationen
Indische Zivilisation
Sinische Zivilisation Nipponische Zivilisation (50 Jahre)
Die Verbindungslinien verlaufen genau so wie in Abbildung 2, nur mit umgekehrter Richtung. Außerdem gäbe es die entsprechenden Pfeile für muslimische Migration in christliche Gebiete, später möglicherweise auch bis in den jüdischen Staat. Die deutlichsten Beispiele heute sind wahrscheinlich die afrikanische, indische und sinische Migration nach England, die afrikanische und muslimischafrikanische (arabische) Migration nach Frankreich, die indianische („Chicano“-) Migration in die USA (auch als Antwort auf den Neokolonialismus) und die koreanische Migration nach Japan. Die Muster in England und Frankreich können als „Tageszeitenbesetzung“ bezeichnet werden. Teile Englands sehen bei Tageslicht sehr weiß aus, aber von 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr herrschen farbige Migrant(inn)en als Dienstleister/innen vor. Die genannte Zeitspanne könnte sich in einigen Jahren auf zwölf Stunden ausweiten. Es gibt dabei auch einen Raumaspekt.
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Johan Galtung
Zusammenfassend sei hier ein Bild für die nächsten 500 Jahre entworfen: Tabelle 3: Sechs Migrationsfaktoren, die Einfluss auf die vier Ecken der Welt haben Nordwesten
Nordosten
Südwesten
Südosten
H 1: Bevölkerungsdichte
+
+
–
–
USA, Kanada
ehem. SU
Brasilien
Australien
H 2: Ressourcendichte
+
+
–
–
USA, Kanada
ehem. SU
Brasilien
Australien
H3: Bevölkerungswachstum
+
+
–
–
H 4: + Menschenrechtsstandard
–
–
–
H 5: Wirtschaftlicher Wohlstand
+
–
–
+
H 6: Kulturelle Identität
+
–
–
+
Summe
6
3
0
2
Japan, Australien, Neuseeland
Die Schlussfolgerungen daraus sind klar: Die nordwestliche Welt hat mit Einwanderungsbewegungen zu rechnen, und zwar nicht nur aus den südwestlichen
Globale Migration
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Teilen der Erde (von Lateinamerika und der Karibik auf die USA und Kanada, von ehemaligen Kolonien auf die EU-Staaten), sondern auch von der nordöstlichen Welt (besonders auf Deutschland und andere EU-Staaten). Insbesondere wegen der geringen Bevölkerungsdichte in den GUS-Staaten werden diese – wenn auch in geringem Maße – mit Migrationen zu rechnen haben. Die südwestlichen Staaten haben keine Einwanderungsbewegungen relevanten Ausmaßes zu erwarten. In einem geringen Maße dürften die südöstlichen Staaten mit Einwanderungsbewegungen zu rechnen haben. Im Fall von Australien (und Neuseeland) liegt dies im Verhältnis der Ressourcen zur Bevölkerung begründet, von Japan aus den letzten drei Gründen; vor allem von der sog. Dritten Welt im weitgehend reichen Südosten (wachstumsstarkes China, Indonesien, Thailand, Philippinen und Pazifische Inseln) sowie ehemaligen japanischen Kolonien im asiatischpazifischen Raum. Wie werden Länder dem Migrationsdruck entgegenwirken? Mit der Variante der polizeilichen und militärischen Abschottung der Grenzen, mit dem Recht des Blutes (Ius sanguinis) statt dem Recht des Bodens (Ius soli), mit entwicklungs- und bevölkerungspolitischen Projekten? Japan und Australien/Neuseeland mögen ihre geografische Insellage nutzen und können Migrant(inn)en leichter daran hindern, die Grenzen zu überschreiten. Doch wie reagieren Japan, Australien und Neuseeland, wenn gigantische U-Boote nachts an einsamen Küsten anlegen? Eine mögliche Abwehrreaktion bestünde darin, die sechs Faktoren umzudrehen, um das Land weniger attraktiv zu machen. So könnten stur alle Gerüchte über vorhandene Ressourcen dementiert werden, damit das Verhältnis der Ressourcenvorkommen zur Bevölkerungszahl ungünstig erscheint. Medien könnten – entgegen der herkömmlichen Praxis – verstärkt über Fälle von Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant(inn)en berichten, statt sie zu verheimlichen, und damit Rassismus fördern. Auch ließe sich die Nachricht verbreiten, dass Migrant(inn)en gegenüber allen anderen Gruppen der Bevölkerung benachteiligt werden. Man könnte zudem lediglich promovierten oder finanzkräftigen und investitionsbereiten Migrant(inn)en die Einreise/Einwanderung gestatten. Sollte es zu kulturellen Konflikten kommen, könnte man klar machen, dass nicht beides zu haben ist: Entweder sollten Menschen in ihrem Herkunftsland bleiben und sich dort ihrer Kultur erfreuen oder aber migrieren und sich im Aufnahmeland den Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft und Kultur unterwerfen, sich die jeweilige Kultur aneignen und der Mehrheitsbevölkerung zu Diensten stehen. Massenhafte Migration, massive Entwicklung oder massenhafte Tötungen: Wir haben die Wahl. Zu glauben, das gegenwärtige krasse Elend und die offenkundigen Ungleichheiten könnten fortdauern, ist nicht nur unmoralisch, vielmehr auch und vor allem – töricht!
Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung? Franz Nuscheler
Die im Titel gestellte Frage enthält mehrere irreführende Suggestionen: Erstens gerät die Welt nicht erst jetzt, sondern war schon immer „in Bewegung“. Die ältesten historischen und literarischen Quellen berichten von Flucht und Vertreibung. Homers „Odyssee“ wurde zu einer literarischen Metapher, obwohl sie eher die Geschichte einer erfolgreichen Heimkehr erzählt. Die Bibel enthält viele Fluchtgeschichten und im 1. Buch Mose, Kap. 45, wo Joseph seine Brüder zur „Flucht“ aus dem verdörrten Kanaan nach Ägypten überredet, den Archetyp einer „Wirtschaftsflucht“: „Denn dies sind zwei Jahre, dass es teuer im Lande ist, und es sind noch fünf Jahre, dass kein Pflügen noch Ernten sein wird.“ Folglich wäre Joseph selbst vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) nicht als Flüchtling anerkannt worden, von den bei Asylbegehren noch weit restriktiver verfahrenden Behörden der meisten Nationalstaaten ganz zu schweigen. Zweitens ist die Globalisierung kein neues Phänomen, vielmehr die Beschleunigung eines Prozesses, der vor gut 500 Jahren mit der „Europäisierung der Welt“ begonnen hat. Schon damals setzten große Bevölkerungsverschiebungen ein, welche die politische Weltkarte völlig veränderten. Die koloniale Eroberungs-, Besiedlungs- und Arbeitsmarktpolitik bewegte Heerscharen von Arbeitskräften rund um den Globus, zunächst Sklaven, dann Kontraktarbeiter, deportierte Sträflinge und Glücksritter, schließlich Auswanderer in die verheißungsvolle „neue Welt“, wo sie die „Natives“ aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben (vgl. Bade 2000). Ganze Kontinente (wie Nord- und Südamerika, die Karibik, Ozeanien, das früher sog. weiße Afrika) veränderten ihr ethnisches und kulturelles Gepräge. Stephen Castles und Mark J. Miller (1997) sprechen zutreffend von einer „Formung der modernen Welt durch globale Migration“. Thomas Faist (1997) stellt die überraschende Frage: „Warum gibt es relativ wenige internationale Migranten?“ Die Behauptung, das 20. Jahrhundert habe entgegen landläufigen Vorstellungen nicht das Migrationsvolumen des 19. Jahrhunderts erreicht, wird allerdings nur durch den präzisierenden Zusatz „im Falle von sog. freiwilligen Migranten“ (wie den europäischen Auswanderern in die USA und in die damaligen Kolonialgebiete) verständlich. Kennzeichnend für das
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zu Ende gegangene „Jahrhundert der Flüchtlinge“ war aber gerade die Unfreiwilligkeit der Migration, die Flucht von anderen Migrationsformen unterscheidet. Der gravierende Unterschied zwischen damals und heute liegt auch in den Größenordnungen, vor allem aber in einer Verengung der Flucht- oder Migrationsräume, die zwangsläufig Konflikte heraufbeschwört. Die Welt ist also nicht durch Prozesse in Bewegung gesetzt worden, die heute gemeinhin auf den Allerweltsbegriff „Globalisierung“ gebracht werden. Vielmehr sind die globalen Wanderungen der letzten Jahrhunderte nur eine Begleiterscheinung der Globalisierung. Die sog. OECD-Welt, die gewissermaßen den Centre Court der Globalisierung darstellt, ist auch ein Produkt von globaler Migration (vgl. die verschiedenen Beiträge in Husa u.a. 2000). Drittens gebraucht die Titelfrage mit dem Bild einer „Welt in Bewegung“ die Überschrift einer Grafik in der Zeit (v. 26.8.1994), welche eine völlig verzerrte Wahrnehmung der Migrationsbewegungen enthält. Sie suggeriert nämlich mit kräftigen Richtungspfeilen, dass die allermeisten Migrant(inn)en – seien es Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge – aus dem Süden nach Norden oder aus dem Osten nach Westen strömen. Dadurch entstand der Eindruck, als liege besonders Westeuropa im Fadenkreuz von Massenbewegungen aus allen Himmelsrichtungen, was überhaupt nicht stimmt, weil die große Mehrheit der inzwischen auf fast 200 Mio. geschätzten Migrant(inn)en innerhalb des Südens unterwegs ist, nämlich dorthin, wo es Arbeit gibt: sei es am Golf, in den fernöstlichen „Tigerstaaten“, in den Küstenzonen Westafrikas und den Bergwerken Südafrikas, in lateinamerikanischen Staaten und auf den karibischen Inseln mit einem höheren Lohnniveau. Überall sind Grenz- auch Migrationsräume. Die Mehrzahl der Flüchtlinge verbleibt in den Herkunftsregionen. Wenn von einer Internationalisierung oder „Entregionalisierung“ der Migration die Rede ist, dann kann diese Aussage nicht für Flüchtlinge verallgemeinert werden (vgl. Zlotnik 1999).
1
Globalisierung und Migration
Das weltweite Wanderungsgeschehen wurde im ausgehenden 20. Jahrhundert angetrieben durch langfristig wirksame strukturelle Spannungen und Probleme, die sich wechselseitig verstärkten. Vordergründig haben sich die Schub- und Sogfaktoren von Migration nicht verändert: Es waren auf der einen Seite immer der Bevölkerungsdruck und das unzureichende Erwerbsangebot, die Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen oder politische Repression, welche – laut Albert Otto Hirschman (1974) – die Suche nach einer „exit-Option“ verstärken, auf der anderen Seite das Angebot oder die Erwartung besserer Lebensbedingungen und persönlichen Glücks. Bei der – sei es durch Krieg, politische Gewalt
Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung?
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oder Umweltkatastrophen erzwungenen – Flucht steht die Suche nach Schutz und Überlebenschancen im Vordergrund. Die Globalisierung hat nicht nur die quantitative Entwicklung und Dramatik, sondern auch die qualitativen Ursachen, Formen und Folgen der internationalen Migration verändert. Sie besitzt viele Dimensionen, die der im Jahr 2005 vorgelegte Bericht der Global Commission on International Migration ausführlich analysierte. Sie bedeutet aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht die zunehmende Entgrenzung der nationalen Ökonomien, die Vermehrung und Verdichtung transnationaler Interaktionen und die durch die Welthandelsorganisation (WTO) beschleunigte Öffnung der Grenzen für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Kommunikationsmedien. Johan Galtung (1998, S. 181) fügt hinzu: „Sie gilt auch für Arbeiter, Konsumenten, Frauen, die Indigenen, Umweltschützer und andere“ – mithin für alle, weil sie alle in unterschiedlicher Weise betrifft.
1.1
Schafft Migration „transnationale Sozialräume“?
Ludger Pries (1997, S. 35) entdeckt das qualitativ Neue der Globalisierung aus soziologischer Sicht in der Lockerung der Kongruenz von Flächen- und Sozialraum, also von Territorialstaat und Lebensraum, sowie im Anwachsen „transnationaler sozialer Räume“: „Auch die global operierenden Konzerne, die neuen Kommunikationstechnologien des hyperspace, der weltumspannende Konsum massenmedialer Kulturproduktionen und der Ferntourismus spinnen am Geflecht der globalisierten Transaktion von Informationen, Gütern und Menschen (...). Aber die internationalen Wanderungsbewegungen haben die wohl umfangreichsten und nachhaltigsten neuen sozialen Verknüpfungen zur Folge (...).“ Es fragt sich allerdings, zwischen wem diese „sozialen Verknüpfungen“ entstehen: innerhalb von ethnischen Kolonien oder jenseits von Arbeitsbeziehungen und anderen unvermeidlichen Kontakten auch zwischen den ethnischen Subkulturen und den ökonomisch, politisch und kulturell dominanten Mehrheitsgesellschaften (vgl. Seidel-Pielen 1998). Pries beobachtet auch die „Abschottung und Einkapselung des Sozialraumes im Flächenraum“ – was nichts anderes bedeutet als die ethnisch-kulturelle Desintegration. Die global cities bilden zwar Knotenpunkte der internationalen Migration, aber gleichzeitig Schauplätze solcher „Abschottungen und Einkapselungen“. Ein „transnationaler Sozialraum“ ist mehr als das zusammengewürfelte Nebeneinander von Menschen verschiedener Herkunft und setzt Verknüpfungen voraus, die ethnische Segmentierungen im „Flächenraum“ überwinden. Andernfalls ist der Sozialraum der Einwanderungsgruppen nicht wirklich transnational, sondern bildet doch eher eine „ethnische Kolonie“, die häufig zu den Herkunfts-
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ländern engere Beziehungsgeflechte aufrechterhält, als sie zum „Flächenraum“, in dem man lebt und arbeitet, zu gewinnen vermag. Die raumtheoretische Interpretation internationaler Migrationsprozesse kann daher nicht ganz überzeugen, obwohl sie die schleichende Erosion der „Weltkultur der Nationalstaaten“ veranschaulicht.
1.2
Wirkungszusammenhänge von Globalisierung und Migration
Erstens verengte die Revolutionierung des Verkehrswesens die Räume. Sie erhöhte die Mobilität der Menschen auch über größere Entfernungen und ermöglichte damit eine „Entregionalisierung“ der Migration. Ein Flug von Rio de Janeiro nach New York benötigt weniger Zeit als die Busfahrt vom Inneren Brasiliens nach Rio. Zweitens bewirkte die grenzenlose Globalisierung der Telekommunikation eine kommunikative Vernetzung der Welt. Sie erzeugt neben gewollten Effekten des Wertetransfers und der Konsumanreize auch ungewollte Migrationsanreize, weil sie Bilder vom „besseren Leben“ anderswo in die letzten Slumhütten (mit Stromanschluss) transportiert sowie das regionale und internationale Wohlstandsgefälle sichtbar und bewusst macht. Je schlechter die Lebensbedingungen sind, desto größer ist einerseits die Sogwirkung solcher Bilder, die alle Schwierigkeiten der Migration und des Lebens in den medial konstruierten Scheinwelten und Schlaraffenländern ausblenden. Andererseits kann man den Willen und ggf. die Entscheidung zum „exit“ durchaus als „rational choice“ nach sachlichen Kriterien bewerten. Auswanderern aus nördlichen Breitengraden wurden immer die Tugenden der Mobilität, Risikobereitschaft und kreativen Neugierde zugeschrieben. Drittens hat die Globalisierung der Produktions- und Arbeitsmarktstrukturen neben der Formenvielfalt auch eine soziale Klassendifferenzierung der Migration hervorgebracht. Manager und Ingenieure zirkulieren als hoch bezahlte Beschäftigte multinationaler Unternehmen, Wissenschaftler als Angehörige der zunehmend internationalisierten scientific community, Diplomaten und Beamte als Mitglieder internationaler Organisationen rund um den Globus. Migrant(inn)en mit geringeren Qualifikationen – häufig begrüßt von Unternehmerverbänden und bekämpft von Gewerkschaften – finden als billige Arbeitskräfte in privaten Haushalten oder als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, in der Gastronomie und im Bauwesen Verwendung. Am unteren Ende der sozialen Leiter stehen die „neuen Heloten“ der internationalen Arbeitsteilung: rechtlose und ausgebeutete illegale bzw. (gemäß einer UN-Sprachregelung) irreguläre Arbeitsmigrant(inn)en und Opfer des von Syndikaten organisierten Frauenhandels. Der Menschenhan-
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del avancierte inzwischen neben dem Drogen- und Waffenhandel zu einem lukrativen Geschäft von international organisierten Schleuserbanden, denen die Verengung legaler Migrationspfade in die Hände spielt. Der wachsende weibliche Anteil, nicht nur unter Flüchtlingen – zu etwa drei Vierteln Frauen mit Kindern –, sondern auch innerhalb der regulären und irregulären Arbeitsmigration, ist eine Folge globalisierter Nachfrage nach geschlechtsspezifischen Dienstleistungen in Pflegeberufen, Haushalten und in der Prostitution sowie größerer Mobilität. Für Frauen gibt es eine Vielzahl von Motiven und Chancen zur Migration: Sie reichen von der Überlebenssicherung der Familien durch zeitweilige Arbeit im Ausland (die dann häufig, falls es die Arbeitskontrakte und Aufenthaltsgenehmigungen erlauben, länger als geplant dauert) über den Wunsch, aus familiärer Bevormundung und gesellschaftlicher Diskriminierung auszubrechen, bis zur Partnersuche in fernen Landen mit der Aussicht auf ein besseres Leben („Heiratsmigration“). In einigen Ländern – wie auf den Philippinen, in Indonesien und auf Sri Lanka – wird dieser „Frauenexport“ von staatlichen und privaten Agenturen mit Beziehungen zu allen potenziellen Zielländern organisiert. Migration hat viele Formen und Mischformen, die quer zu simplifizierenden Idealtypen liegen. Viertens fördern die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung sowie die Herausbildung einer globalen Wissensgesellschaft die Elitenmigration. Hoch entwickelte Industrieländer, allen voran die USA, picken sich aus allen Weltregionen die Besten heraus, fördern sie durch ihre kapitalkräftigen Stiftungen und können sich sogar erlauben, das eigene Schulwesen zu vernachlässigen. Umgekehrt kann der Braindrain in den Herkunftsländern zu einem gravierenden Substanzverlust an Humankapital führen. Auch die Entwicklungshilfe fördert durch Stipendien nicht nur die Herausbildung einer „globalen Lern- und Forschungsgemeinschaft“, wie sie der frühere Bundespräsident Roman Herzog etwas romantisierend herbeiwünschte, sondern auch einen absurden Kreislauf, der darin besteht, dass viele Wissenschaftler und Ärzte nach dem Auslandsstudium ihre Heimatländer verlassen und durch Entwicklungshelfer/innen ersetzt werden müssen.
1.3
Gewinne und Verluste aufgrund der Migration
Diesem gesamtgesellschaftlichen Verlust an Humankapital stehen – neben Gewinnen für die Familien der Migrant(inn)en – auch beträchtliche Vorteile für die Herkunftsländer gegenüber, sodass gelegentlich eine positive Wanderungsbilanz gezogen wird (vgl. Braun/Topan 1998, S. 25 ff.):
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Entlastung der häufig überlasteten heimischen Arbeitsmärkte, somit auch Erfüllung einer sozialen Ventilfunktion; Überweisungen (remittances), die teilweise höher sind als die Deviseneinkünfte aus Güterexporten, die Zahlungsbilanz erheblich entlasten, die Importkapazität erhöhen und den Schuldendienst erleichtern. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bezifferte die registrierten Finanztransfers von Migrant(inn)en inzwischen auf 120-150 Mrd. US-Dollar, denen eine internationale Entwicklungshilfe von nur 65 Mrd. US-Dollar gegenüber steht. Deshalb ist inzwischen nicht nur von einem brain drain, sondern auch von einem brain gain die Rede. Was zunächst paradox erscheinen mag, erweist sich in längerfristiger Perspektive als eine vernünftige Maxime: Wer die unerwünschte Migration begrenzen will, muss Migration zulassen. Wohlfahrtseffekte, weil die Überweisungen den Lebensstandard der zurückgebliebenen Familien deutlich verbessern können; Entwicklungseffekte, weil daraus oft in den Aufbau von Kleinbetrieben zur Existenzsicherung nach der Rückkehr von Auslandsaufenthalten investiert wird.
Da aber vor allem die jungen und gut ausgebildeten Fachkräfte zu migrieren versuchen und noch die besten Chancen haben, anderswo eine gut bezahlte Arbeit zu finden, bedeutet der Braindrain gerade für die ärmsten Länder mit einem unterentwickelten Humankapital einen Verlust an Entwicklungschancen. Der Humankapitalverlust wurde im Falle eines qualifizierten Migranten, den das Heimatland ausgebildet hat, auf etwa 20.000 US-Dollar geschätzt. Hinzu kommt ein hoher Risikofaktor, weil der Export von Arbeitskräften stark von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in den Zielländern abhängt. Der (zweite) Golfkrieg von 1991 kostete Millionen von Arbeitsmigrant(inn)en aus arabischen und asiatischen Ländern die Arbeitsplätze und zerstörte abrupt Lebensplanungen und Existenzsicherungen. Thailand und Malaysia wiesen im Gefolge der Asien-Krise mit ziemlich rabiaten Methoden Millionen von Gastarbeiter(inne)n aus. Arabische und afrikanische Staaten setzten wiederholt Massenausweisungen als Waffe in der politischen Auseinandersetzung mit Nachbarn oder als populistisches Instrument zur Ablenkung von Regimekrisen ein. Die durch die Globalisierung verstärkten Interdependenzen in Weltgesellschaft und -wirtschaft erzeugen besonders in ökonomisch, sozial und politisch labilen Ländern einen hohen Grad an Verwundbarkeit, deren Opfer häufig Flüchtlinge und Arbeitsmigrant(inn)en sind.
Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung?
1.4
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Strukturelle Schubfaktoren ohne Automatismus
Strukturelle Faktoren weisen auf Bedingungen hin, unter denen eine Zunahme von Migrationspotenzialen erwartet werden kann. Alle Trendanalysen der Globalisierung gehen davon aus, dass sie Armutsregionen wie Südasien und das subsaharische Afrika noch weiter marginalisieren, also dort den Migrationsdruck verstärken wird. Bevölkerungswachstum, Verelendung oder zunehmende Entwicklungsunterschiede begründen aber noch keinen quasi-automatischen „Massenansturm der Armen“, den manche effekthaschenden Medientitel schon früh ankündigten. Die gegenwärtigen Wanderungen weisen weder auf einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und zunehmender Migration noch zwischen Entwicklungsfortschritten und sinkender Abwanderung hin: Die Länder mit den weltweit höchsten Geburtenraten zählen nicht zu den Hauptherkunftsländern der heutigen Migrant(inn)en. Und erfahrungsgemäß gehen nicht die Armutsgruppen, sondern Angehörige der städtischen Mittelschichten auf die interkontinentale Wanderschaft, weil nur sie die Kosten für teure Passagen und Schlepperdienste tragen können. Wenn es überhaupt eine gesetzmäßige Regel für Wanderungsbewegungen gibt, dann liegt sie in der Kettenmigration: Eine Wanderung tendiert dazu, weitere Bewegungen auszulösen, weil Familienangehörige und Freunde wichtige Informationen über die Aufenthaltsbedingungen liefern und bereits bestehende Emigrantengemeinschaften das Leben in zunächst völlig fremden Gesellschaften erleichtern. Diese Kettenmigrationen werden oft durch die Migrationspolitiken der Zielländer gestützt: Traditionelle Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Australien fördern über Quoten die Familienzusammenführung früherer Einwanderer. Auch in den westeuropäischen Zielländern macht der Familiennachzug einen Großteil der Zuwanderung aus.
2
Prognosen für das Jahr 2000 + x
Stephen Castles und Mark J. Miller (1993) sagten für die Zukunft vier Haupttendenzen im weltweiten Migrationsgeschehen voraus: 1.
2.
eine weitere Globalisierung der Migration, d.h. die Einbeziehung von immer mehr Staaten (als Herkunfts- oder Zielländer) in das internationale Migrationsgeschehen; eine weitere Zunahme der Migration aufgrund der Verschärfung der Schubfaktoren;
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3.
eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Migrationsformen; eine zunehmende Feminisierung der Migration, die zwar schon immer viele Fluchtbewegungen kennzeichnete, aber auch zu einem Phänomen der legalen und illegalen Arbeitsmigration wurde.
4.
Peter Opitz (1998) spitzt diese Prognosen in seinem Buch über den „globalen Marsch“ sogar noch zu – allerdings mit fragwürdigen Begründungen. Sicherlich wird das hohe Bevölkerungswachstum, besonders in den ärmsten Ländern Afrikas, den Migrationsdruck verstärken, weil es die Fähigkeit der armen Gesellschaften überfordert, den hohen Anteil von jungen Menschen produktiv zu absorbieren. Aber die vorliegenden demografischen Daten und Tendenzen widersprechen der Behauptung, das Bevölkerungswachstum bleibe „anhaltend“ so hoch und werde nach dem (längst widerlegten) „Bevölkerungsgesetz“ von Thomas Robert Malthus noch größere Armut, Hungerkrisen und Fluchtwellen von Elendsflüchtlingen produzieren. Nach den Erkenntnissen der jüngsten Weltbevölkerungsberichte sinken die Geburten- und Fertilitätsraten weltweit, sodass inzwischen eine Zuwachsrate der Weltbevölkerung möglich ist, die vor einigen Jahren noch kaum erreichbar schien. Das Worldwatch Institute spricht schon von einer „demografischen Ermüdung“, gerade auf dem Problemkontinent Afrika mit dem bisher höchsten Bevölkerungswachstum der Menschheitsgeschichte. Diese Korrektur von Prognosen liefert zwar noch keine bevölkerungspolitische Entwarnung. 97 Prozent des Wachstums der Weltbevölkerung finden in den Entwicklungsländern statt, die größtenteils schon heute unter einer Verknappung der Ressourcen (Land, Wasser und Arbeitsplätze) sowie begrenzten Möglichkeiten zur Befriedigung der Grundbedürfnisse leiden. Aber sie mahnen zum Überdenken des Geredes von einer „Bevölkerungsexplosion“, aus der dann weitere Horrorszenarien der Hungerkatastrophen und „neuen Völkerwanderungen“ von Elendsflüchtlingen abgeleitet werden (vgl. Nuscheler 2002 und 2004). Richtig ist auch, dass die junge Altersstruktur eine demografische Eigendynamik erzeugt und gerade die arbeitslosen Schulabgänger das größte Migrationspotenzial bilden. Dieses hat immer weniger Chancen zur Migration, weil immer mehr Staaten ihre Grenzen abschotten und sich mit Massenausweisungen innerer Konflikte zu erwehren suchen. Ich gehöre zu den von Opitz gescholtenen Narren, die aus erkennbaren Fakten folgern, dass die Abwehrmechanismen, die juristisch und logistisch ständig verstärkt werden, dem Zuwanderungsdruck standhalten können. Den größten Personalzuwachs im rot-grünen „Sparpaket“ des Jahres 1999 hatte der Bundesgrenzschutz. Es gibt Risse in den Dämmen, aber keine Dammbrüche. Obwohl in manchen Jahren sogar mehr Ausländer/innen aus Deutschland aus- statt einreisten,
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steht das Migrationsproblem immer noch im Vordergrund der von Sicherheitspolitikern konstruierten „neuen Bedrohungen“ und behält einen hohen Rang im Prioritätenkatalog der „erweiterten Sicherheit“ (vgl. Bundesakademie für Sicherheitspolitik 2001).
3
Bedrohungsszenarien und Strategien zur Krisenprävention
Viele Skeptiker gehen davon aus, dass sich die Migration verursachenden Krisenfaktoren vor allem durch die Vermehrung von Verteilungskonflikten, die im Gewande „ethnisierter Konflikte“ auftreten (vgl. Bade 1996), noch verschärfen werden, also Hoffnungen auf eine Erfolg versprechende Prävention trügerisch sind und nur von rechtzeitigen Einsichten in das Unvermeidliche ablenken: einer militärischen Absicherung der „Festung Europa“. Sie findet bereits statt und dürfte noch intensiviert werden, befreit uns aber nicht von der Einsicht, dass das Migrationsproblem mittel- und langfristig nur durch Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, durch Eindämmung der Umweltzerstörung und durch eine friedenspolitische Absicherung des Bleiberechts gelöst wird, möglichst durch Instrumente der Gewaltprävention, wie sie Boutros BoutrosGhali in seiner „Agenda für den Frieden“ vorgeschlagen hat, notfalls aber auch durch einen humanitären Interventionismus.
3.1
Rettungsanker Entwicklungspolitik?
Angesichts der Gefahr, dass „übermäßige Migration“ eine der „wirklichen Bedrohungen menschlicher Sicherheit im nächsten Jahrhundert“ sein könnte, betonte der Bericht der Global Commission on International Migration (2005) die Notwendigkeit verstärkter Entwicklungsanstrengungen. Während der UNHCR früher hauptsächlich auf Krisen reagierte und nicht im Herkunftsland tätig wurde, befürwortet er nunmehr das Konzept der „soft intervention“, um das Recht von Menschen auf ein sicheres Leben in ihrer Heimat zu stärken: Diplomatische Initiativen, verstärkte Entwicklungszusammenarbeit und die Überwachung der Einhaltung von Menschenrechten zählen zu den Maßnahmen, welche die Eskalation von Flucht auslösenden Konflikten vermeiden und die Rückkehr von Flüchtlingen ermöglichen sollen. Natürlich mag die Hoffnung, durch Entwicklungspolitik die Migrationsursachen bekämpfen zu können, derzeit aus mehreren Gründen als trügerisch erscheinen: Erstens ist die Entwicklungspolitik nach dem Ende des Ost-WestKonflikts immer weiter in die Irrelevanzfalle geraten. Zweitens haben die Haus-
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haltsprobleme in fast allen OECD-Staaten dazu geführt, dass die Entwicklungsetats nicht nur stagnierten, sondern teilweise drastisch abgeschmolzen wurden. Drittens hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die strukturellen Migrationsursachen mit punktueller Projekthilfe nicht wirksam bekämpft werden können. Auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) stellte in einem Memorandum vom Januar 1994 fest, angesichts der Vielschichtigkeit der Migrationsursachen komme der Entwicklungshilfe als Mittel zur Eindämmung der Migration „bestenfalls eine sekundäre Rolle“ zu. Eine internationale Strategie fordernd, die humanitäre Maßnahmen zur Folgenbekämpfung mit friedens- und entwicklungspolitischen Schritten zur Vorbeugung verbindet, sah der Beirat am Ende doch Chancen, die „Konflikte, zu denen Zuwanderung führen kann, durch präventive Maßnahmen zu vermeiden oder wenigstens zu entschärfen“. Genau darum geht es: bequemen Ohnmachtsgefühlen zu widerstehen und die Chancen zu nutzen, die Johan Galtung (1998) in seinen „Perspektiven für eine zivilisierte Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert“ unter dem richtungweisenden Titel der „anderen Globalisierung“ oder die erwähnte Global Commission on International Migration in ihren Handlungsempfehlungen aufzeigten. Peter Opitz (1998, S. 51) gibt sich einem gefährlichen Defätismus hin, der auch für die Politik falsche Signale setzt, wenn er resignierend feststellt: „Je lauter der Ruf nach ‚global governance‘ wird, um so weniger geschieht; und je eindringlicher ‚globale Verantwortung‘ angemahnt wird, um so erbitterter wird der globale Kampf aller gegen alle.“ Im Gegenteil: Global Governance ist notwendig, um den „globalen Kampf aller gegen alle“ zu vermeiden. Dieses Projekt der kooperativen Problembearbeitung ist keineswegs illusorisch, weil der Problemdruck und die hohen Transaktionskosten bei der Verweigerung kooperativen Handelns auch die weltpolitischen Global Players zu einer Verdichtung der internationalen Zusammenarbeit und zur „Public Private Partnership“ mit dem Potenzial der zunehmend transnational vernetzten und agierenden Zivilgesellschaft zwingen. Wie der Bericht der Global Commission on International Migration in seinen Handlungsempfehlungen betont, ist die wachsende Massenarmut das Schlüsselproblem. Aber auch sie muss nicht nach den angeblich gesetzmäßigen Vorgaben von Malthus weiter wachsen und das von Opitz angedrohte Menetekel des „globalen Kampfes aller gegen alle“ heraufbeschwören. Man mag einwenden, dass der Human Development Report 1997 tatsächlich eine Illusion nährte, als er feststellte: „Die Beseitigung der Armut überall auf der Welt ist mehr als ein moralischer Imperativ und ein Eintreten für menschliche Solidarität. Sie ist eine praktische Möglichkeit“ – unter der Bedingung einer deutlichen Steigerung der Entwicklungshilfe, die aber nicht vorausgesetzt werden kann. Realistischer ist das vom „Millenniumsgipfel“ in New York (2000) anvisierte Ziel, die Zahl der
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Armen bis zum Jahr 2015 zu halbieren – vorausgesetzt, dass Industrie- und Entwicklungsländer ihre Entwicklungspolitik auf den proklamierten Primat der Armutsbekämpfung ausrichten. Es geht nicht um das Wissen, was getan werden müsste, auch nicht um das Können, sondern um den politischen Willen, das verfügbare Wissen und Können zielgerichtet einzusetzen.
3.2
Geringe Chancen für ein internationales Migrationsregime
Da auch die EU nur zögerlich, aber seit dem am 2. Oktober 1997 unterzeichneten Vertrag von Amsterdam doch mit einigen wichtigen Schritten zu einer Harmonisierung ihrer Ausländer- und Asylpolitik fähig war, stehen die Chancen für ein internationales Migrationsregime nicht gut, weil ihm erhebliche Interessendifferenzen zwischen Entsende- und Zielländern entgegenstehen und deshalb Entwürfe schon in einem frühen Verhandlungsstadium stecken blieben. Die große Lösung wird so bald nicht erreicht werden, aber es könnten zumindest Teilbereiche geregelt werden, woran auch die Zielländer interessiert sein müssten (und ohne ein solches Interesse kommen Regime nicht zustande):
Vereinbarungen zur Unterbindung des Schlepperunwesens, aus dem skrupellose Organisationen durch brutale Ausbeutung der irregulären Migrant(inn)en einen auf 7 Mrd. US-Dollar geschätzten Jahresgewinn ziehen (vgl. Chabaké 2000), während sie den Menschenhandel zu einem ebenso lukrativen Geschäft wie den Waffen- und Drogenhandel machen; Vereinbarungen zur geordneten Repatriierung von Flüchtlingen und ausgewiesenen Personen, die vor allem willkürliche Massenausweisungen ohne rechtzeitige Vorbereitung der Herkunftsländer verhindern müssten; Schutzgarantien für Migrant(inn)en, auch wenn sie illegal eingereist sind, sowie die Sicherung von Rechtsbeistand und eines menschenwürdigen Existenzminimums; Universalisierung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951, die nur ein Teil der Staaten ratifiziert hat und sehr unterschiedlich gehandhabt wird, also keine Rechtssicherheit für Menschen in Not schafft.
Während die Staatengemeinschaft für das Flüchtlingsproblem im engeren Sinne der GFK schon ein – freilich revisionsbedürftiges – Regelwerk aufgebaut hat und mit dem UNHCR über eine zwar häufig überforderte, aber dennoch handlungsfähige Hilfsorganisation verfügt, reagiert sie auf das umfassende Migrationsproblem mit defensiven Konzepten der „erweiterten Sicherheit“, also Bekenntnissen zur Krisenprävention und praktischen Schritten zum Festungsbau.
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Franz Nuscheler
Wo bleibt die globale Verantwortungsethik?
Die Globalisierung wird aus den genannten Gründen den Migrationsdruck verstärken. Dieser kann aber für alle, die nicht nützliche Rädchen im Getriebe der Globalisierung sind, immer weniger durch Migration nach außen abgeleitet werden, weil sie in den potenziellen Zielländern immer mehr als Bedrohung für den inneren Frieden und als „Risiko für die Wohlfahrt“ perzipiert wird. Unter dem Druck von Wirtschafts- und Sozialkrisen greift der „Wahn des Nationalen“ (Oberndörfer 1993) um sich. Dies gilt nicht nur für die OECD-Länder, sondern ist ein ubiquitäres Phänomen – freilich mit dem gewichtigen Unterschied, dass sich die „OECD-Welt als zivilisierte Welt mit einem hochentwickelten Bestand an Humanität begreift“. Andererseits dürfte die demografische Entwicklung – und nicht so sehr die Globalisierung – eine weitere Zuwanderung in die an Alterssklerose leidenden OECD-Länder erzwingen. Diese werden aber nur jenes Humankapital hereinlassen, das sie brauchen und das ihre kulturellen Homogenitätsvorstellungen nicht allzu sehr stört. Dementsprechend werden die Zuwanderungsbarrieren gegenüber dem Osten durchlässiger sein als gegenüber dem „kulturell fremd(er)en“ Süden. Die Globalisierung öffnet zwar die Grenzen für die Güter-, Kapital- und Dienstleistungsmärkte, aber nicht für die Arbeitsmärkte – und schon gar nicht für Menschen in Not, denen nur noch sehr enge asylrechtliche Tore den legalen Zugang zur „OECD-Welt“ und zu anderen Wohlstandsinseln offen halten. Sie wird ganze Regionen noch weiter marginalisieren und dort den Migrationsdruck verstärken, der zwar auch die Wohlstandsinseln unter Stress setzen und zu einem hohen Grenzsicherungsaufwand zwingen, aber vor allem das lokale und intraregionale Konfliktpotenzial vergrößern dürfte. Dann stehen die von der Commission on International Migration (2005) der Staatengemeinschaft abverlangten Handlungsprinzipien vor einer schweren Bewährungsprobe. Das Migrationsproblem kann nur entschärft werden, wenn die globale Verantwortungsethik kein folgenloses Schmuckstück von Fest- bzw. Sonntagsreden und die „globale Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“ keine pathetische Rechtfertigungsformel für teure Weltkonferenzen bleibt, die sich in der Serienproduktion von folgenlosen Resolutionen und Aktionsprogrammen erschöpfen.
Literatur Bade, Klaus J. (Hrsg.) (1996): Migration – Ethnizität – Konflikt: Systemfragen und Fallstudien, Osnabrück
Globalisierung und ihre Folgen: Gerät die Welt in Bewegung?
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Wanderungsbewegungen und Globalisierung Zusammenhänge – Probleme – Handlungsmöglichkeiten Steffen Angenendt
Internationale Migration wird oft als zwangsläufige Folge der wirtschaftlichen Globalisierung angesehen. Tatsächlich aber trifft dies nur für bestimmte Wanderungsbewegungen zu. Oft besteht zwischen Globalisierung und Migration nur ein mittelbarer, gelegentlich aber gar kein plausibler Zusammenhang. Diese Unterscheidung ist notwendig, um die mit den verschiedenen Wanderungsbewegungen verbundenen Probleme zu identifizieren und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen zu können. Im Folgenden wird zunächst der Begriff „Globalisierung“ präzisiert, sodann die Migration klassifiziert und nach Weltregionen unterschieden. Abschließend werden Handlungsmöglichkeiten analysiert, etwa das in den vergangenen Jahren häufig diskutierte Konzept der „Global Governance“. Die entscheidende Frage ist hier, inwieweit die Staaten bereit sind, zur gemeinsamen Steuerung von Wanderungsbewegungen auf nationale Souveränität zu verzichten.
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Terminologische und theoretische Grundlagen
1.1 Zum Begriff der Globalisierung In der politischen Diskussion wird der Begriff „Globalisierung“ erst seit Anfang der 1970er-Jahre verwendet, als Ausdruck der zunehmenden internationalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtung. Der Begriff ist entsprechend facettenreich, und es lassen sich mindestens zwei grundlegende Stränge der Debatte unterscheiden (vgl. Müller 2002): So wird beispielsweise in der politischen Soziologie vor allem über die als „Erosion der Moderne“ bezeichnete Transformation von Gesellschaften und Staaten, über die Auflösung von Sozialsystemen und die Deregulierung staatlicher Aufgaben sowie über Identitätsverlust und transnationales Regieren diskutiert (vgl. Beck 1997 und 1998; Giddens 2001). In der politischen Ökonomie geht es hingegen insbesondere darum, inwieweit die Dynamik der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung aus dem Konflikt zwischen politischem Machterhalt und einer Ausweitung der Märkte zu
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erklären ist, wie politische Akteure die Produktion und die Verteilung von Investitionen noch beeinflussen können und wie sich die globalen Marktprozesse auf die Verteilung von Macht und Einfluss zwischen den Staaten und den gesellschaftlichen Gruppen auswirken (vgl. Wallerstein 1989 und 2001; Woods 2000; Altvater/Mahnkopf 2007). Insgesamt ist die sozialwissenschaftliche Debatte über Globalisierung durch eine große Vielfalt von Erklärungsansätzen gekennzeichnet, ohne dass aber bislang eine umfassende und integrierende Theorie vorläge (vgl. Held u.a. 1999; Osterhammel/Peterson 2003; Bhagwati 2004). Weitgehende Einigkeit besteht aber über die Disziplingrenzen hinweg darüber, dass die als Globalisierung bezeichneten Zusammenhänge keine neuen Erscheinungen sind, sondern dass es um die Folgen des arbeitsteiligen Wirtschaftens geht, das schon seit jeher mit Tausch bzw. Handel verbunden war. In diesem Sinn kann die ökonomische Globalisierung als Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung verstanden werden. Der historische Rückblick zeigt auch, dass es sich nicht um einen linearen Prozess gehandelt hat, sondern dass es immer wieder Phasen gab, in denen die Akteure diese Entwicklung zu begrenzen suchten, so etwa die merkantilistischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrer Strategie der Importbegrenzung oder die Staaten des 19. Jahrhunderts mit ihrer Schutzzollpolitik (vgl. Franzmeyer 1999). Auch während der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren gab es Rückschritte. Seitdem aber hat die Globalisierung eine beispiellose Dynamik entfaltet, vor allem durch den Abbau internationaler Handelshemmnisse, wozu insbesondere die Gründung des Internationalen Währungsfonds, des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens sowie der Welthandelsorganisation beitrug. Neu an den Globalisierungsprozessen der Nachkriegszeit sind die Intensität sowie die räumliche und materielle Qualität der Internationalisierung des Kapital-, Waren-, Dienstleistungs-, Informations- und Personenverkehrs sowie die Stärke des Anpassungsdrucks, dem einzelne Länder und Regionen ausgesetzt werden. Für den hier diskutierten Zusammenhang ist wichtig, dass die Globalisierung nicht unkontrolliert verlief, sondern wesentlich auf politischen Entscheidungen der Staaten beruhte. Es waren Regierungen, welche die einzelnen Stufen der außenwirtschaftlichen Liberalisierung beschlossen haben, ebenso wie die damit einhergehende Deregulierung, also den Abbau staatlicher Vorschriften im Innern und die Verringerung staatlicher Aufgaben u.a. in Hinblick auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Dieser Aspekt von Globalisierung ist wichtig, weil er eine Frage betrifft, die für den hier behandelten Zusammenhang größte Bedeutung hat: Welche Rolle spielt der Nationalstaat, der traditionelle „Wächter über Grenzen“, im Zeitalter der Globalisierung, und ist er überhaupt noch in der Lage, grenzüberschreitende Phänomene wie internationale Wanderungsbewegungen zu steuern?
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1.2 Nationalstaat und Globalisierung Es ist in der politischen und wissenschaftlichen Debatte unstrittig, dass die Globalisierung die traditionelle Vorstellung des Regierens im Nationalstaat in Frage stellt, wonach eine Regierung für ihr Territorium und ihre Bevölkerung Regeln erlässt und dafür sorgt, dass diese auch befolgt werden. Von demokratischen Staaten wird neben dieser Territorialität und der Souveränität auch noch verlangt, dass das Regieren demokratisch legitimiert ist. Dies bedeutet eine transparente und gemeinwohlorientierte Regelsetzung unter Beteiligung der Bevölkerung. Als vierte Bedingung modernen Regierens gilt, dass das Regieren effektiv ist: Die angestrebten Ziele müssen auch erreicht werden. Diese vier Grundsätze sind wechselseitig voneinander abhängig (vgl. Brozus/Zürn 1999). Sämtliche Prinzipien und damit die Regierungsfähigkeit im Nationalstaat werden durch Globalisierungsprozesse beeinflusst. Ein Beispiel ist der aus der internationalen Mobilität des Finanzkapitals resultierende Standortwettbewerb, welcher die lokal oder national politisch Verantwortlichen zu infrastrukturellen oder steuerlichen Vorleistungen zwingt, was in Zeiten knapper öffentlicher Ressourcen oft auch mit Ausgabenkürzungen bei sozialen Transferleistungen einhergeht. Das wiederum kann einen Aspekt staatlicher Legitimität beeinträchtigen, der zumindest für die westlichen Industrieländer grundlegend ist, nämlich die Fähigkeit des Staates, die Existenzgrundlagen für die gesamte Bevölkerung durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen und durch eine auf Vollbeschäftigung zielende Arbeitsmarktpolitik zu sichern. Diese Entwicklungen werden zusätzlich durch Unterschiede im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten kompliziert: Die reichen, hoch industrialisierten Staaten verfügen noch über Handlungsmacht gegenüber Entwicklungen, denen die armen, „schwachen“ Staaten der sog. Entwicklungsländer schon hilflos ausgeliefert sind. In diesem Zusammenhang ist eine Debatte über die Rolle des Staates im wirtschaftlichen Globalisierungsprozess entbrannt. Man hat vorhergesagt, der Nationalstaat sei ein „Auslaufmodell“ und die globalen Unternehmen übten zunehmend auch politische Macht aus. Dagegen wurde eingewandt, dass die Nationalstaaten auch weiterhin die wichtigsten politischen Akteure blieben und sogar in einigen Bereichen noch an Macht zulegten. Die Wirklichkeit ist komplizierter: Es gibt Bereiche, in denen der Nationalstaat trotz der Globalisierungsprozesse seine Handlungsmöglichkeiten behält, und andere, in denen er solche Kompetenzen aufgeben muss. Das gilt auch für die Fähigkeit der Nationalstaaten, mit internationalen Wanderungsbewegungen umzugehen.
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1.3 Globalisierung und Wanderungsbewegungen Das internationale Migrationsgeschehen ist durch eine Gleichzeitigkeit von „Regionalisierung“ und „Globalisierung“ gekennzeichnet: Es gibt sowohl eine Zunahme von regionalen als auch von globalen Wanderungen, wobei die intraregionalen Wanderungen quantitativ erheblich bedeutsamer sind als die interregionalen. Die Zahl der außerhalb ihres Geburtslandes lebenden Menschen wurde für das Jahr 2005 von der UN-Bevölkerungsabteilung weltweit auf rund 191 Mio. geschätzt (vgl. UN Population Division 2006). Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) war Ende 2007 für 11,4 Mio. internationale Flüchtlinge zuständig, das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge zusätzlich noch für 4,6 Mio. palästinensische Flüchtlinge (UNHCR 2008). Hinzugerechnet werden müssen noch die innerhalb ihres Heimatlandes Vertriebenen, die sog. displaced persons. Die Zahl der durch gewalthaltige Konflikte Vertriebenen schätzt der UNHCR auf 25 Mio., die Zahl der durch Naturkatastrophen Vertriebenen nochmals auf 26 Mio. Menschen. Unbekannt ist, wie viele Menschen innerhalb ihres Heimatlandes auf der Suche nach Arbeit sind: Allein in China sollen es weit über 100 Mio. Menschen sein. Die Zahl der internationalen Migrant(inn)en nimmt beständig zu: Von 1970 bis 2000 hat sie sich mehr als verdoppelt und ist seitdem wahrscheinlich nochmals um 15 Prozent gestiegen. Zudem wachsen die transnationalen Wanderungen seit Jahrzehnten schneller als die Weltbevölkerung: Im Zeitraum von 1970 bis 2000 beispielsweise nahm die Weltbevölkerung jährlich durchschnittlich um 1,7 Prozent zu, die der transnationalen Wanderer aber um 2,5 Prozent (vgl. IOM 2005). Diese Entwicklung hat auch in den 1990er-Jahren angehalten. Zu bedenken ist allerdings, dass internationale Migrant(inn)en auch derzeit – wie bereits in den vergangenen vier Jahrzehnten – nicht mehr als 3 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Von den grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen sind vor allem die ärmsten Länder der Welt betroffen. Nur ein sehr kleiner Teil der transnationalen Wanderer gelangt in die Industrieländer, der größte Teil verlässt die jeweilige Region nicht. Dies gilt sowohl für Flüchtlinge als auch für Arbeitsmigrant(inn)en, von denen allerdings ein zunehmender Teil Beschäftigung auch in geografisch weit entfernten Gebieten sucht. Insgesamt ist die Dynamik der internationalen Wanderungen nicht mit jener der wirtschaftlichen Globalisierung zu vergleichen. Ein entscheidender Unterschied liegt in den beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Zum einen nimmt die Bedeutung des Faktors „Kapital“ weltweit im Produktionsprozess zu, während die des Faktors „Arbeit“ abnimmt – abgesehen vom „Kampf um die besten Köpfe“, also um die vergleichsweise sehr kleine Gruppe von Hochquali-
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fizierten. Ein Beispiel für die prinzipielle Abnahme des Produktionsfaktors Arbeit ist die Entwicklung und Herstellung technischer Konsumgüter, die zunehmend automatisiert oder in Billiglohnländer verlagert wird. In beiden Fällen werden weniger einheimische Arbeitskräfte benötigt. Der Verlust an industriellen Arbeitsplätzen konnte und kann in den meisten Industriestaaten nur zum Teil durch neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor aufgefangen werden. Zum anderen besteht ein Unterschied hinsichtlich der Mobilität beider Produktionsfaktoren: Während für die Mobilität des Kapitals wegen der weltweiten Deregulierung und Internationalisierung der Finanzmärkte kaum noch Hindernisse bestehen, wird die Mobilität der Arbeit nach wie vor in vielfältiger Weise beschränkt, insbesondere durch die Grenzsicherungen der Staaten, die Zuwanderungen verhindern wollen und die zu solchen Grenzkontrollen auch finanziell und organisatorisch fähig sind. Dabei gibt es in den Industriestaaten widerstreitende Interessenlagen, vor allem zwischen den gesellschaftlichen Kräften, welche die zunehmende internationale Mobilität und Durchlässigkeit der Grenzen als Chance betrachten, und denjenigen, die darin vor allem Risiken sehen. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich, dass die Mobilitätshindernisse nicht für alle Wanderer gleichermaßen gelten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Wanderungsbewegungen zu kategorisieren.
1.4 Migrationstypen Im Folgenden soll nicht wie üblich zwischen politisch und ökonomisch motivierten Wanderungen, also zwischen Flüchtlingen und Migrant(inn)en, unterschieden werden. Die traditionelle Kategorisierung – so wichtig sie für den Rechtsstatus und für den Schutz der betroffenen Personen ist – erscheint für den hier behandelten Zusammenhang nicht sinnvoll. Stattdessen wird Sarah Collinson (1999) gefolgt, die zwischen globalen Wanderungsbewegungen, solchen, die durch regionale Integrationsbewegungen zustande kommen, und sonstigen Wanderungsbewegungen unterscheidet. Letztere werden dann noch einmal nach regionalen Aspekten differenziert. Die erste Kategorie, die „globale Migration“, enthält Wanderungsbewegungen, die unmittelbar mit der weltwirtschaftlichen Globalisierung zusammenhängen. Hierzu gehört die bereits angesprochene Migration von Hochqualifizierten, vor allem von Managern und Technikern im Rahmen transnationaler Konzerne. Die Mobilität dieser Hochqualifizierten wird kaum durch Zuwanderungsbeschränkungen begrenzt. Auch wenn solche Migranten nicht einfach offene Grenzen vorfinden, gibt es doch in der Regel in den Zielländern starke politische und wirtschaftliche Kräfte, die sich vor allem mit dem Argument, dass wissensbasier-
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te Volkswirtschaften auf einen ständigen Import von Wissen und Fähigkeiten angewiesen sind, um konkurrenzfähig zu bleiben, für ihre Aufnahme einsetzen. Ähnliches gilt für zwei weitere Gruppen von „globalen“ Migranten, nämlich für Wissenschaftler/innen und Dozent(inn)en sowie für Mitarbeiter/innen multilateraler und internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Da die meisten Regierungen einen solchen Austausch für sinnvoll halten und unterstützen, haben diese Migranten meist keine Probleme, eine Einreise- und Arbeitserlaubnis zu erhalten, oder sie genießen sogar Freizügigkeit. Die zweite Kategorie betrifft Wanderungen, die nur mittelbar mit der weltwirtschaftlichen Globalisierung zusammenhängen, nämlich diejenigen innerhalb regionaler Integrationsgebiete wie der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) oder der Europäischen Union (EU), also in ökonomischen und politischen Verbänden, zu denen sich die Staaten zusammengeschlossen haben, um gemeinsam eine größere Handlungsmacht in einer zunehmend globalisierten Welt zu erhalten. Das heißt aber nicht, dass für diese Wanderer keine Mobilitätsbeschränkungen bestünden: Auch wenn, wie in der EU, dem in dieser Hinsicht am weitesten entwickelten Integrationsverband, aufgrund des Gemeinschaftsrechts im Prinzip Freizügigkeit besteht und damit die Entscheidungsbefugnisse der Nationalstaaten bezüglich der Gewährung von Aufenthaltsrechten eingeschränkt sind, versuchen viele Regierungen, unerwünschte Wanderungen aus den Partnerstaaten vor allem durch Verwaltungsvorschriften zu behindern – zum Teil mit Erfolg. Ein Indikator dafür ist die Tatsache, dass nach EU-Angaben derzeit lediglich 1,5 Prozent der EU-Bürger/innen in einem anderen EU-Staat arbeiten, ein anderer sind die Übergangsfristen, die viele der „alten“ EU-Staaten gegenüber den Bürger(inne)n der Beitrittsstaaten verhängt haben. Von diesen beiden Kategorien internationaler Migration ist schließlich die dritte Kategorie der „transnationalen“ Migranten zu unterscheiden (vgl. zum Begriff: Pries 1997). Für sie stellen zwischenstaatliche Grenzen nach wie vor erhebliche Mobilitätshindernisse dar. Zu dieser Kategorie gehören alle bisher nicht genannten Wanderungstypen, also die legale und irreguläre Arbeitsmigration, der Familiennachzug und die Fluchtbewegungen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie von Zuwanderungsregeln abhängig sind, die der betreffende Staat in Ausübung seiner Souveränität festlegt. Diese Regeln haben sich historisch entwickelt und sind wirtschaftlich, politisch, humanitär, zum Teil auch kulturell bedingt. In den Industriestaaten gehören hierzu beispielsweise erleichterte Einwanderungsmöglichkeiten für Menschen aus den ehemaligen Kolonial- und Staatsgebieten, wie etwa von Nordafrikanern nach Frankreich und Spätaussiedlern aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, sowie das Einwanderungsrecht von Familienangehörigen früher angeworbener Gastarbeiter und ihrer Nachkommen. Unter diese Zuwanderungsregeln fallen aber auch die zunehmend
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restriktiven Vorschriften über die Zuwanderung von Flüchtlingen oder die verstärkte Abwehr und Verfolgung illegaler Zuwanderer. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten sind die transnationalen Wanderungsbewegungen äußerst heterogen. Es ist daher sinnvoll, sie nochmals danach zu unterscheiden, zwischen welchen Weltregionen sie stattfinden und welchen sozioökonomischen Entwicklungsstand die betreffenden Staaten haben.
Wanderungen in die reichen Industriestaaten Die durch die Globalisierung zunehmende Einschränkung der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Handlungsfähigkeit von Regierungen in den Industriestaaten wurde schon angesprochen. Dort ist zu beobachten, dass jene Teile der Bevölkerung, die eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen befürchten, nach einer Abschottung gegenüber neuen, als Konkurrenten um Arbeitsplätze oder staatliche Sicherungsleistungen empfundenen Zuwanderern verlangen, also nach einer restriktiven Zuwanderungspolitik. Auch nimmt bei vielen, die durch den schnellen sozialen und kulturellen Wandel verunsichert sind, die Suche nach nationalen, regionalen und lokalen Identitäten zu, was nicht nur gegenüber neuen Zuwanderern, sondern auch gegenüber den schon im Land lebenden Einwanderern ausgrenzend wirken kann. Vor allem die Zunahme irregulärer Migration wird als Zeichen des Autoritätsverlustes des Staates interpretiert, und bestimmte Zuwanderungen werden partiell als Bedrohung der „nationalen Identität“ aufgefasst, derzeit in den europäischen Staaten vor allem die Zuwanderung von Muslimen. Obwohl vielen Regierungen bewusst ist, dass sie kaum Möglichkeiten haben, sich gegen diese unerwünschten Folgen der Globalisierung zu wehren, sind sie doch häufig zu einer restriktiven Politik gegenüber Zuwanderern bereit. Die Asyl- und Migrationspolitik wird sowohl von Teilen der Öffentlichkeit als auch von vielen Entscheidungsträgern als einer der wenigen Politikbereiche angesehen, wo sich noch die Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen und der Erhalt staatlicher Autorität demonstrieren lassen. Zumindest die Regierungen wissen sehr wohl, dass es sich hierbei vor allem um symbolische Politik handelt, weil die tatsächlichen Möglichkeiten, Wanderungsbewegungen zu steuern, zwar durchaus vorhanden, aber in demokratischen Staaten grundsätzlich begrenzt sind (vgl. Hollifield 1999; Sachverständigenrat Zuwanderung und Integration 2004). Trotzdem wird auch in Zukunft die Einwanderungs- und Asylpolitik in vielen Industrieländern, insbesondere in Zusammenhang mit innerer Sicherheit sowie in Wahlkampfzeiten, ihren herausgehobenen Stellenwert behalten. Das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien ist ein Indikator für die politische Kraft, die dem Thema „Zuwanderung“ innewohnt, und oft genug erliegen auch bürgerliche
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Parteien der Versuchung, durch die Ankündigung einer restriktiven Politik Wahlentscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen (vgl. dazu: Butterwegge/ Hentges 2008). Die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten wird noch weiter eingeschränkt, wenn sie Mitglieder regionaler Integrationsverbände sind. Die EUStaaten haben bereits in einigen Bereichen migrationspolitische Kompetenzen an gemeinschaftliche Einrichtungen abgegeben, beispielsweise hinsichtlich der gemeinsamen Kontrolle der EU-Außengrenzen, der Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen und der Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für den Umgang mit Asylbewerbern. In anderen Bereichen, vor allem bezüglich einer gemeinsamen Steuerung der Arbeitsmigration oder zur Verbesserung der sozialen Integration der Zuwanderer, sind solche Regelungen trotz intensiver Bemühungen der EU-Kommission, die sich im vergangenen Jahrzehnt zur Triebkraft der gemeinschaftlichen Politik in diesem Bereich entwickelt hat, noch nicht weit gediehen (vgl. Angenendt 2008). Die Konzentration der Regierungspolitik auf die Kontrolle der irregulären Wanderungsbewegungen und weniger auf die soziale Integration der Zugewanderten hat nicht nur Auswirkungen auf die Fähigkeit, tragfähige Einwanderungskonzepte zu entwickeln, sondern auch auf den Umgang mit Flüchtlingen (vgl. Angenendt 2007). Da die reichen Länder den Flüchtlingen wie potenziellen Arbeitsmigrant(inn)en kaum noch eine legale Einreise gestatten, nehmen diese zunehmend die Dienste von Schlepperbanden in Anspruch, deren kriminelle und menschenverachtende Praktiken häufig der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Verbunden mit dem Missbrauch von Asylverfahren zu Einwanderungszwecken und der in vielen Industriestaaten mittlerweile üblichen Inhaftierung abgelehnter Asylbewerber/innen hat dies dazu beigetragen, dass Flüchtlinge in der öffentlichen Wahrnehmung kriminalisiert worden sind und dass die Bereitschaft, ihnen im Rahmen von Asylverfahren Schutz zu gewähren, deutlich gesunken ist. Dem widerspricht auch nicht jene großzügige Aufnahme, die etwa Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in westlichen Staaten gefunden haben. Das größte Hindernis für einen der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Flüchtlingsschutz ist inzwischen, dass Flüchtlinge keine legale Möglichkeit mehr finden, in ein sicheres Land einzureisen, um dort Asyl zu beantragen. Durch eine Reihe von Instrumenten, insbesondere durch sog. Drittstaatenregelungen, Listen von „sicheren“ Herkunftsländern und beschleunigte Asylverfahren bspw. auf Flughäfen wird Flüchtlingen der Zugang zu den Asylverfahren verwehrt. Vielen Flüchtlingen wird zudem nur noch ein temporärer Schutzstatus zugestanden, und mit ihrer Rückführung wird unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen begonnen, wie in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise nach Afghanistan, in den Irak sowie in andere Kriegs- und Krisengebiete.
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Wanderungen zwischen Staaten mittleren Reichtums Jene große Gruppe von Staaten, die sich weder der „Ersten“ noch der „Dritten“ Welt zuordnen lassen, also die Transformationsstaaten in Osteuropa, die Schwellenländer in Afrika, Asien und Südamerika sowie die Golfstaaten, verzeichnen zwar zum Teil erhebliche wirtschaftliche, soziale und politische Fortschritte, bleiben aber häufig von Ungleichheit, Instabilität und wirtschaftlichen Risiken nicht verschont. Die meisten dieser Staaten sind zumindest in militärischer Hinsicht nicht schwach, leiden zum Teil jedoch unter einer zunehmenden Erosion staatlicher Autorität. Hinzu kommt, dass diese Entwicklung oft von einer gespannten innenpolitischen Situation, belasteten Beziehungen zu Nachbarstaaten, einer sich beschleunigenden Umweltzerstörung und einer Missachtung grundlegender Menschenrechte begleitet wird (vgl. Collinson 1999). Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme und Unterschiede zwischen diesen Staaten erschweren es ihnen, sich zur Abwehr von unerwünschten Folgen der weltwirtschaftlichen Globalisierung in regionalen Integrationsverbänden zusammenzuschließen oder sich an internationalen Regimen zu beteiligen, wie etwa an den internationalen Verträgen zum Schutz der Wanderarbeiter oder der Menschenrechte. In diesen Staaten dürften sich auch künftig verschiedene Arten von Flüchtlingsbewegungen mit diversen Formen zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Arbeitsmigration vermischen. Da es dort oft keinen Flüchtlingsschutz gibt, der den internationalen Konventionen entspräche (vgl. Angenendt/Hernandez 2004), werden beispielsweise viele Flüchtlinge als Arbeitsmigrant(inn)en einreisen müssen, was bedeutet, dass sie keinen oder nur geringen rechtlichen Schutz genießen. Folglich unterliegen diese Menschen, gleichgültig, ob sie faktisch Flüchtlinge sind oder nicht, der erheblichen Gefahr einer Ausweisung oder Rückführung ohne Rücksicht auf eine mögliche Verfolgung im Herkunftsstaat. Ihr einziger Schutz in den Aufnahmeländern ist daher der Markt, präziser: die Nachfrage nach ihrer billigen Arbeitskraft, welche in Phasen wirtschaftlicher Stagnation kurzfristig versiegen kann. Hinzu kommt, dass der Umgang mit Flüchtlingen und Migrant(inn)en vom Zustand der politischen Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten abhängig ist. Immer häufiger werden solche Menschen zum strategischen Instrument, zur Verhandlungsmasse in zwischenstaatlichen politischen Konflikten. Grundsätzlich wird – solange diese Staaten nicht die Schutzstandards des internationalen Flüchtlingsregimes und der Menschenrechtskonventionen übernehmen – jede starke Volatilität regionaler und globaler Märkte die Unsicherheit der Arbeitsmigrant(inn)en in solchen Ländern erhöhen, einschließlich die der vielen De-facto-Flüchtlinge unter ihnen.
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Wanderungen zwischen den armen Staaten Viele der von den armen Staaten auf dem Weltmarkt angebotenen Güter erfahren eine abnehmende Nachfrage. Das gilt für die substituierbaren Rohstoffe und für ungelernte Arbeitskräfte. Folglich werden viele arme Länder, vor allem in Afrika, im Hinblick auf ihre Beteiligung an der Weltwirtschaft noch weiter marginalisiert und auf eine Art Selbstversorgung auf niedrigstem Niveau zurückgeworfen (vgl. auch Strange 1997). Diese Marginalisierung bedeutet aber nicht, dass ihre Randposition sie vor den negativen Wirkungen der weltwirtschaftlichen Globalisierung schützen würde. Solche Staaten sind im Gegenteil weltwirtschaftlichen Instabilitäten am stärksten ausgeliefert. Regierungen dieser Staaten sind meist schwach oder gescheitert, es ist ihnen in der Regel nicht gelungen, politische Identitäten über Clanstrukturen und primäre ethnische Bindungen hinaus zu entwickeln, die Nationsbildung kommt nicht über den engen Kreis der politischen Eliten hinaus, und ihre Bevölkerungen erleiden den gesamten Teufelskreis von wirtschaftlicher Not, schnellem Bevölkerungswachstum und grassierender Umweltzerstörung. In vielen Staaten erwachsen daraus fatale Entwicklungen: Erstens werden autoritäre politische Strukturen gestärkt, weil der Staat, mag er noch so schwach sein, niemals vollständig verschwinden wird, denn es gibt immer Kräfte, die sich so organisieren, dass sie die wenigen verbliebenen Ressourcen ausbeuten können. Zweitens werden Formen tribalistischer Politik zunehmen, weil ethnische Mobilisierung in vielen Fällen der einzige verbleibende Weg zur politischen Mobilisierung auf nationaler Ebene sein wird. Drittens ist eine Zunahme von Guerillabewegungen und Sezessionsbestrebungen wahrscheinlich, weil diejenigen Gemeinschaften, die sich ethnisch organisieren können, versuchen werden, sich gegen die schwache Zentralgewalt aufzulehnen. Viertens wird es zu einem weiteren Rückzug der Landbevölkerung aus der Geldwirtschaft und zum Anwachsen des informellen Wirtschaftens kommen. Die genannten Entwicklungen werden dazu führen, dass ethnische Konflikte und Verteilungskämpfe zunehmen, vor allem innerhalb der, aber möglicherweise auch zwischen den Staaten. Komplexe humanitäre Katastrophen, in denen gewalttätige politische Auseinandersetzungen, wirtschaftliche Not, Überbevölkerung und Umweltkatastrophen zusammenfallen, werden wahrscheinlich verstärkt auftreten (vgl. Eberwein/Chojnacki 1998; Ruf 2003; Schubert 2005), begleitet von einem weiteren Abbau der ohnehin rudimentären politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte in den betroffenen Ländern. Zwangsläufig dürften Armutswanderungen und Fluchtbewegungen zunehmen, und die Wanderungsursachen werden sich auch hier immer weniger nach der üblichen Unterscheidung zwischen politischen und anderen Motiven kategorisieren lassen. Zudem ist mit
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einem Anstieg innerstaatlicher Fluchtbewegungen zu rechnen, wodurch sich das Problem der Versorgung und des Schutzes für Binnenvertriebene in neuer Schärfe stellen wird. Im Hinblick auf den Umgang mit Migrant(inn)en und Flüchtlingen ist zu befürchten, dass die zunehmende Aushöhlung des Asylrechts in den reichen Staaten der Welt die Staaten des Südens veranlasst, sich auch immer weniger um die Einhaltung solcher Schutzstandards zu bemühen. Das Risiko sowohl für Flüchtlinge als auch für Arbeitsmigrant(inn)en, ausgewiesen oder abgeschoben zu werden, dürfte auch hier wachsen. Zusammenfassend lässt sich prognostizieren, dass die grenzüberschreitenden und internen Wanderungsbewegungen zunehmen, ihre Erscheinungsformen und Motive komplexer werden und die Fähigkeit der einzelnen Nationalstaaten, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen solcher Wanderungsbewegungen zu bewältigen, weiter abnehmen wird. Grundsätzlich sind grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen und die Bewältigung ihrer Folgen im Zeitalter der weltwirtschaftlichen Globalisierung nur noch in zwischenstaatlicher und internationaler Kooperation steuerbar, und zwar auch nur dann, wenn vielfältige nationale und internationale staatliche wie nichtstaatliche Akteure in die Entwicklung und Ausführung der Migrations- und Asylpolitik eingebunden werden. Sollten die Nationalstaaten – wie zu befürchten ist – auch weiterhin an der Illusion einer autonomen Handlungsfähigkeit festhalten, dürfte gerade das die Entwicklung der konzeptionellen und organisatorischen Voraussetzungen für eine solche Politik verhindern. Solange hier kein Umdenken einsetzt und die Asyl- bzw. Migrationspolitik nur als innen- und nicht auch als außenpolitisches Thema wahrgenommen wird, kann es keine wirksame Politik und auch kein globales Schutzregime für grenzüberschreitende Wanderer geben.
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Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Global Governance
Die Analyse der Wanderungsprobleme in den verschiedenen Weltregionen hat gezeigt, wo die Ursachen von transnationalen Wanderungs- und Fluchtbewegungen vor allem zu finden sind: in der durch die weltwirtschaftliche Globalisierung vorangetriebenen sozialen Ungleichheit sowohl innerhalb von als auch zwischen Staaten und Weltregionen, in der wachsenden politischen Instabilität vieler Weltregionen und der zunehmenden Gewalttätigkeit vor allem ethnischer Konflikte, in der Vermehrung ökologischer Katastrophen sowie in den in vielen Teilen der Welt zunehmenden Menschenrechtsverletzungen. Und auch die Entwicklungsperspektiven sind deutlich geworden: Es ist sicher, dass weiterhin ein zwar kleiner, aber zunehmender Teil dieser Wanderungsbewegungen Staatsgrenzen über-
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schreiten und auch die reichen Länder erreichen wird. Grenzkontrollen können zwar die Zahl der Zuwanderer verringern, vollständig verhindern können sie Zuwanderungen aber nicht. Dies könnten nur Grenzschließungen, die aber von den meisten Aufnahmeländern aus ökonomischen, politischen, sozialen und humanitären Gründen nicht gewollt sind. Die Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten sind also prinzipiell begrenzt. Daraus ergibt sich die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten auf der internationalen Ebene bestehen. Eine von Willy Brandt mit initiierte internationale Kommission hat vor einigen Jahren ein Ordnungsmodell umrissen, mit dem das Problem der Regierbarkeit in einer globalisierten Welt und damit auch die Bewältigung transnationaler Schwierigkeiten wie der internationalen Wanderungsbewegungen angegangen werden könnte.
2.1 Das Konzept der Global Governance Das als „Global Governance“ bezeichnete Konzept meint ein neues Verständnis von Politik und Souveränität, nämlich einen „breit angelegten, dynamischen und komplexen Prozess interaktiver Entscheidungsfindung, an dem viele Akteure beteiligt sind. Die Nationalstaaten bleiben zwar Hauptakteure der internationalen Politik und behalten eine unverzichtbare Scharnierfunktion zwischen den verschiedenen Handlungsebenen der Global-Governance-Architektur (...), aber sie sind nicht mehr die einzigen Akteure. Die ‚geteilte Souveränität‘ nimmt ihnen nicht das Gewaltmonopol nach innen, fordert ihnen aber Souveränitätsverzichte ab, um die kollektive Bearbeitung von globalen Problemen zu ermöglichen.“ (Messner/Nuscheler 1996, S. 5) Mit dem Konzept ist daher nicht gemeint, dass eine wie auch immer geartete Weltregierung etabliert werden sollte, und auch nicht einfach die Summe der Aktivitäten der Nationalstaaten. Es geht weder um ein Mehr an Multilateralismus noch lediglich um eine global orientierte Außenpolitik, das Konzept meint vielmehr das Zusammenwirken von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren von der lokalen bis zur globalen Ebene. Die Handlungsebenen der Global Governance sind äußerst vielfältig: Sie betreffen die Nationalstaaten, die lokale Politik, die nationale und globale Zivilgesellschaft, die UN-Organisationen, die regionalen Integrationsprojekte und schließlich die internationalen Regime. Dabei bleibt der Nationalstaat die entscheidende Instanz, welche das Gemeinwohl definiert und wahrnimmt. Allerdings muss er zahlreiche Funktionen mit anderen Akteuren teilen oder an sie abgeben: Beispielsweise ist die Früherkennung globaler Probleme, also auch von Wanderungsbewegungen, besser auf der internationalen Ebene aufgehoben.
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Umgekehrt muss der Staat mehr Kompetenzen an seine lokalen oder regionalen Gliederungen abgeben, etwa an die Kommunen. Manche Probleme können zudem besser in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Institutionen wie den Sozialverbänden, Kammern und Gewerkschaften gelöst werden, weil hier oft größerer Sachverstand vorhanden ist. In zahlreichen Staaten nehmen Nichtregierungsorganisationen wie Menschenrechts- und Flüchtlingsunterstützergruppen mittlerweile vielfältige und wichtige Aufgaben wahr, beispielsweise in der Migranten- und Flüchtlingsbetreuung, und üben Kontroll- bzw. Korrektivfunktionen gegenüber der Regierungspolitik aus. Global Governance kann aber nur entstehen, wenn sie auf den vorhandenen regionalen Integrationsprojekten aufbaut, wie etwa der EU, dem Verband Südostasiatischer Staaten, der NAFTA etc., deren Mitglieder bereits Teile ihrer Souveränität abtreten, um gemeinsam eine größere Handlungskompetenz zu erreichen. Ein entscheidender Baustein der Global Governance sind schließlich die internationalen Institutionen und Regime, in denen sich die Staaten durch vertragliche Vereinbarungen zur gemeinsamen Bearbeitung von Problemen verpflichten.
2.2 Internationale Regime für Migrant(inn)en und Flüchtlinge Für Migrant(inn)en gibt es bislang nur ein rudimentäres internationales Regime, das völkerrechtlich und institutionell schwach abgesichert ist. Dessen Aufgabe besteht darin, internationale Mindeststandards für Arbeitsmigrant(inn)en durchzusetzen, wofür die Zuständigkeit bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) liegt, sowie Wiedereingliederungshilfen für rückkehrende Migrant(inn)en zu leisten, was unter anderem Aufgabe der Internationalen Migrationsorganisation (IOM) ist. Angesichts der schwachen rechtlichen Absicherung dieses Regimes – bislang (Stand: September 2008) wurde die ILO-Konvention Nr. 97 über die Arbeitsmigration aus dem Jahr 1949 lediglich von 48 Ländern, die ILOKonvention Nr. 143 über Wanderarbeiter aus dem Jahr 1975 von 23 Staaten sowie die UN-Konvention über den Schutz der Rechte von Wanderarbeitern und ihren Familien aus dem Jahr 1990 von 37 Staaten ratifiziert – bleibt die Politik gegenüber Migrant(inn)en faktisch eine alleinige Angelegenheit der Nationalstaaten. Sie entscheiden weiterhin im Rahmen ihrer Souveränität darüber, wer Zugang zu ihrem Territorium erhält. Ihre Souveränität bröckelt zwar aufgrund der beschriebenen Globalisierungsprozesse, bislang wehren sich aber die meisten Staaten, ihre Souveränitätsrechte einzuschränken, etwa durch die Unterzeichnung der entsprechenden internationalen Konventionen. Es gibt auch keine Anzeichen, dass sich dies in naher Zukunft ändern könnte.
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Einen besseren Schutz ihrer Rechte genießen Flüchtlinge aufgrund internationaler Regime. Für den hier diskutierten Zusammenhang zwischen Globalisierungsprozessen, Wanderungsbewegungen und Global Governance ist es aber interessant zu sehen, dass das mittlerweile ein halbes Jahrhundert bestehende internationale Schutzsystem unter einem starken Veränderungsdruck steht und die damit beauftragten internationalen Institutionen zunehmend Aufgaben in der Steuerung von Fluchtbewegungen wahrnehmen. Die Basis dieses Schutzsystems bildet die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951. Danach sind als Flüchtlinge solche Menschen anzusehen, die ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verlassen haben. Mittlerweile von 144 Staaten unterzeichnet (Zusatzprotokoll von 1967: 141 Staaten), definiert die Konvention zwar präzise, was unter einem politischen Flüchtling zu verstehen ist, verpflichtet aber die Unterzeichnerstaaten nicht generell zur Aufnahme jedes Flüchtlings. Vielmehr interpretieren die Staaten die Definition unterschiedlich, weshalb sich die Praxis der Asylgewährung in den einzelnen Staaten zum Teil erheblich unterscheidet. Grundsätzlich aber verbietet die Konvention, Flüchtlinge in Gebiete zurückzuweisen oder abzuschieben, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist. Mit der zunehmenden Zahl von Staaten, welche die GFK und das Zusatzprotokoll unterzeichnet haben, ist ein internationales Flüchtlingsregime entstanden, dem das Prinzip zugrunde liegt, wonach ein Staat Asyl gewähren kann, aber nicht muss. Bei den Vereinten Nationen wurde das Amt des Hochkommissars für Flüchtlinge geschaffen, heute der wichtigste internationale Akteur im Bereich des Flüchtlingsschutzes. In der Schlussdekade des 20. Jahrhunderts hat sich der Charakter des UNHCR tiefgreifend gewandelt: Zwar ist die Organisation immer noch der „Wächter über die Genfer Konvention“ und versucht, die Zahl der Unterzeichnerstaaten zu vergrößern und in diesen Staaten für die Einhaltung des Flüchtlingsschutzes zu sorgen. Gleichzeitig aber wurden unter der Leitung der Japanerin Sadako Ogata die operativen Fähigkeiten der Organisation gestärkt: Früher trat man hauptsächlich als Finanzier von Hilfseinsätzen auf, die andere UNOrganisationen oder Nichtregierungsorganisationen durchführten. Schon seit einigen Jahren wird der UNHCR selbst operativ tätig (vgl. Angenendt 2002). Dieser Funktionswandel lässt sich vermutlich zumindest teilweise auf Globalisierungsprozesse und veränderte Interessen der wichtigsten Geldgeber zurückführen: Der UNHCR hilft durch sein Engagement in grenzüberschreitenden Flüchtlingskrisen, vor allem durch humanitäre Hilfe, die ja immer auch der regionalen Bevölkerung im Aufnahmeland und der lokalen Infrastruktur zugute kommt, solche Fluchtbewegungen zu regionalisieren. Dies liegt nicht nur im
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Interesse der Aufnahmestaaten, sondern auch der wichtigsten Geldgeber der Organisation, die neue Flüchtlingsströme in ihre Staaten verhindern wollen. Hinzu kommt, dass der UNHCR zunehmend in der Repatriierung von Flüchtlingen aktiv wird und – nach der Herstellung geeigneter Aufnahmebedingungen und oft in Zusammenarbeit mit der IOM – Flüchtlinge auch aus den Industrieländern zurück in ihre Heimatländer bringt. Der ohnehin schwierige Balanceakt zwischen dem Mandat des UNHCR einerseits und den Wünschen seiner großen Geldgeber andererseits wird zudem dadurch erschwert, dass ein immer größerer Teil des Haushalts der Organisation „earmarked“ ist. Dies bedeutet, dass Zuwendungen von den jeweiligen Geldgebern mit Verwendungszwecken für bestimmte geografische Gebiete oder Krisensituationen versehen wurden.
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Schlussfolgerungen
Für die Perspektiven einer Global Governance in der Asyl- und Migrationspolitik lassen diese Entwicklungen der bestehenden internationalen Regimes leider nur pessimistische Schlussfolgerungen zu: Hinsichtlich der Migrationspolitik achten die Nationalstaaten nachdrücklich darauf, dass ihre Souveränität, zu entscheiden, wer unter welchen Bedingungen zuwandern darf, nicht durch völkerrechtliche Verbindlichkeiten eingeschränkt wird. Eine internationale Kooperation, gar der Aufbau eines entsprechenden internationalen Regimes, dürfte auf absehbare Zeit nur unter dieser Prämisse stattfinden. In der Flüchtlingspolitik existiert zwar ein internationales Schutzsystem für Betroffene. Der rechtliche Schutz von Verfolgten wird aber zunehmend dem Interesse der einflussreicheren Staaten untergeordnet, die weitere Zuwanderung von Flüchtlingen zu begrenzen. Das Flüchtlingsschutzsystem könnte durchaus als Vorstufe zu einer Global Governance im Bereich der Migrationspolitik verstanden werden, weil der UNHCR sowohl hinsichtlich der Aufgabe, den Gedanken des Flüchtlingsschutzes zu stärken, als auch hinsichtlich seiner operativen humanitären Einsätze intensiv mit Regierungen, mit Repräsentanten von regionalen Integrationsverbänden und mit Nichtregierungsorganisationen kooperiert. Wenn man jedoch betrachtet, in welcher Weise sich wessen Interessen in der humanitären Arbeit durchsetzen, sind erhebliche Zweifel angebracht, ob dies dem Grundgedanken der Global Governance, nämlich ein „Kontrastmodell zu hegemonialen Weltordnungskonzepten“ zu sein, entspricht. Die pessimistische Bewertung des bisherigen Stellenwertes der Global Governance in der Migrations- und Asylpolitik darf aber nicht so interpretiert werden, als wäre dieser Ansatz falsch. Ganz im Gegenteil: Es gibt hinsichtlich der Bewältigung von transnationalen Wanderungsbewegungen in einer globalisierten
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Welt keine Alternative zu einer intensiveren internationalen und zivilgesellschaftlichen Kooperation, wie sie das Konzept fordert: Ohne eine stärkere kooperative internationale Zusammenarbeit der Regierungen, der regionalen Integrationsverbände, der Nichtregierungsorganisationen und der internationalen Organisationen, ohne eine frühzeitige Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für entstehende wirtschaftliche, politische, soziale und ökologische Katastrophen, ohne multilaterale präventive Diplomatie, ohne eine auf die Vermeidung von Fluchtbewegungen gerichtete humanitäre Hilfe, ohne eine Stärkung der internationalen Menschenrechtsregime sowie ohne friedenserhaltende und möglicherweise auch friedensschaffende internationale militärische Einsätze dürften weder die Ursachen von Massenfluchtbewegungen bekämpft noch die Chancen geregelter Migration genutzt werden können.
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Globalisierung als Spaltpilz und sozialer Sprengsatz Weltmarktdynamik und „Zuwanderungsdramatik“ im postmodernen Wohlfahrtsstaat Christoph Butterwegge
„Die neue Völkerwanderung“ überschrieb die Welt am 2. Juli 2008 einen Gastbeitrag von Hans-Werner Sinn, Leiter des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, um die aktuelle Migrationssituation zu kennzeichnen. Das seit Mitte der 90er-Jahre viel beschworene Zeitalter der Globalisierung wird als „Migrationsära“ (Castles/Miller 1993) charakterisiert, weil die Wanderungsbewegungen quantitativ an Bedeutung gewonnen und sich qualitativ verändert haben. Durch die anhaltende Massenmigration wird Globalisierung in jeder Aufnahmegesellschaft praktisch erfahrbar, viel mehr noch als durch die Fülle exotischer Waren oder undurchschaubarer Finanzmarktprodukte (Derivate) aus aller Herren Länder, die während der Weltfinanzkrise 2007/08 wesentlich zu den Bankzusammenbrüchen und Börsencrashs beigetragen haben. Wenn es die „Globalisierung von innen“ gibt, von der Elisabeth Beck-Gernsheim (2004, S. 156 ff.) sowohl „Lernschübe“ wie auch eine Verringerung der „Kulturblindheit“ von Migrationsforschern im Sinne einer „selbstreflexiven Soziologie“ erhofft, beruht sie auf jenen Wanderungsprozessen, welche die Postmoderne mit ausmachen. Migration existiert zwar schon, solange Menschen leben; im Zeichen der Globalisierung nimmt sie jedoch neue Züge an, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Man kann heute mit Karl Schlögel (2006) von einem „Planet der Nomaden“ sprechen, sollte aber nicht übersehen, dass diese griechische Stammesbezeichnung in einer beinahe rassistischen Weise negativ konnotiert ist (vgl. den neuen Namen „Mietnomaden“ für Menschen, die Vermieter um ihre Einkünfte prellen) und vermutlich auch in Zukunft bleibt. Globalisierung und Zuwanderung bilden kein harmonisches Wechselverhältnis, sondern ein konfliktreiches Spannungsfeld. Albert Scharenberg (2006, S. 76) bringt die Widersprüchlichkeit der Globalisierung zum Ausdruck, wenn er vier Ebenen, auf denen sich dieser Prozess abspielt, zueinander in Beziehung setzt: „Ökonomisch betrachtet erfordert die Globalisierung eine wachsende internationale Migration, technologisch gesehen ermöglicht sie die verstärkte Mobilität und Kommunikation, sozial beschleunigt sie die Migration durch wach-
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sende Ungleichheiten. Politisch aber wird die Migration im Zuge der Globalisierung zunehmend begrenzt.“ (Hervorh. im Original, Ch.B.) Zuwanderung stößt in den Zielländern selten auf ungeteilte Zustimmung, umso weniger, wenn sie mit Belastungen für die Aufnahmegesellschaften verbunden ist und dort gerade wirtschaftliche Krisen und/oder gesellschaftliche Umbrüche für Unsicherheit bzw. soziale Verwerfungen sorgen. Struktur- und Legitimationsprobleme moderner Gesellschaften kulminieren vielmehr im öffentlichen Streitfall der Migration. Ursula Birsl (2005, S. 77 f.) erklärt dies damit, dass nationalstaatliche Grenzen überschreitende Wanderungsprozesse die unterschiedlichen Bezüge und Konstitutionen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Räume offenbaren. Migration als „Teilphänomen von Globalisierung“ symbolisiere wie diese einen Kontroll- bzw. Steuerungsverlust des Nationalstaates. Darüber hinaus bilden Integration und Inklusion von Menschen anderer Herkunft künftig eine Kernaufgabe, die der National- als Sozialstaat übernimmt. „Migration wird zum Medium öffentlicher Kommunikation von Problemen moderner Gesellschaften. Dies ist der Grund, warum Migration heute solche Resonanz als Problem findet. Die Skandalisierung von Migration ist weniger darauf zurückzuführen, daß Migranten Leid erfahren (das war schon immer so), sondern darauf, daß Migration sich dafür eignet, die Reproduktionsprobleme moderner Gesellschaften neu zu denken.“ (Eder 1998, S. 72) Eng mit umstrittenen „Reformen“ des Wohlfahrtsstaates à la Peter Hartz, Gerhard Schröder („Agenda 2010“) oder Bert Rürup verbunden, die besonders Neoliberale und Wirtschaftslobbyisten vorantrieben, erhielt die Bundesrepublik schrittweise ein ganz anderes Gesicht. Nicht nur die rot-grüne Bundesregierung, sondern auch die sie im November 2005 ablösende Große Koalition glaubte offenbar, die Globalisierung durch einen Um- bzw. Abbau seit Jahrzehnten bewährter Strukturen flankieren zu müssen. Hier soll untersucht werden, warum es zu solch tiefgreifenden Veränderungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kommt, welche Folgen sich daraus für das multikulturelle Zusammenleben ergeben und ob mehrheitsfähige, soziale und humane Alternativen der Migrationsbzw. Integrationspolitik existieren.
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Globalisierung, neoliberale Modernisierung und Krise des Sozialen
Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und dem Kollaps aller „realsozialistischen“ Wirtschaftssysteme in Ostmitteleuropa erfasste die Herrschaft des Marktes den ganzen Planeten. Die bestehende Marktwirtschaft war zwar immer schon auf den Weltmarkt orientiert, ihrem Expansionsdrang und dem freien Kapitalfluss hatte der Staatssozialismus aber seit der sowjetischen
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Oktoberrevolution 1917, zumindest aber von 1945 an partiell Grenzen gesetzt. Nach dessen Zusammenbruch gab es ein ideologisches Vakuum, in das neoliberale Kräfte vor allem deshalb mit Erfolg hineinstoßen konnten, weil sie die Vision einer klassenlosen Gesellschaft mit den aufklärerischen Traditionen des Bürgertums verbanden: „Die Vorstellung von einer Weltgesellschaft, ähnlich der Fortschrittsidee, wie sie im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, verkörpert den faszinierenden Traum von der einen Welt, in der es keinen Krieg, keinen Hunger und keine Vorurteile gibt und in der gleichzeitig alle Menschen über mehr Freizeit verfügen sowie ihren Lebens- und Konsumstil frei wählen können.“ (Touraine 2001, S. 44) Nichtsdestoweniger enthält der Globalisierungsbegriff ein zutiefst ideologisches Moment: „Er verschleiert die Beziehungen zwischen Macht und Herrschaft, indem er sie als natürlich oder technologisch uminterpretiert.“ (ebd., S. 57) Der französische Sozialwissenschaftler Alain Touraine betont denn auch, dass die Globalisierung einem kapitalistischen Modernisierungsprozess entspricht und keinen neuen Gesellschaftstyp (nach der Industriegesellschaft) konstituiert. „Globalisierung“ ist nicht nur die Große Erzählung des neoliberalen Zeitalters, mit welcher die Transformation des Sozialstaates und die Entwicklung zur Marktgesellschaft als unausweichliche Sachzwänge gerechtfertigt werden (vgl. hierzu: Butterwegge 2008b, S. 143 ff.), sondern auch eine Schlüsselkategorie und ein Megathema der Sozialwissenschaften, über das bereits ganze Bibliotheken geschrieben worden sind (vgl. als Überblicksdarstellungen z.B. Brock 2008; Jahnke 2008; Dörre 2009). Dass der Terminus „Globalisierung“ eine so überragende Resonanz in öffentlichen und Fachdiskussionen findet, hängt wesentlich mit seiner Ambivalenz zusammen: Einerseits transportiert er die Hoffnung von Millionen Menschen, uralte Fesseln, Beschränkungen und soziale Borniertheiten abschütteln zu können, wenn ferne Länder und Kontinente einander durch moderne Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien näher rücken, andererseits die Furcht, als Folge von deren Instrumentalisierung durch die (ökonomisch) Herrschenden traditionelle Bindungen und bewährte Sicherungsgarantien im Alltagsleben einzubüßen. Armin Nassehi (1998, S. 151) hat diesen Januscharakter des Begriffs im Auge, wenn er schreibt: „Die Rede von der Globalisierung legitimiert sowohl soziale Grausamkeiten in politischen Entscheidungen als auch Hoffnungen darauf, daß die ‚Eine Welt‘, von der in den 70er Jahren Alternativ- und Dritte-Welt-Bewegungen noch als Provokation gesprochen haben, nun Realität geworden sei.“ (Hervorh. im Original, Ch.B.) Nicht die Globalisierung selbst, wohl aber der verbreitete Irrglaube, die neoliberale Modernisierung als ihre dominante Erscheinungsform mehre den Wohlstand aller „Wirtschaftsstandorte“ (Städte, Regionen, Nationen) und sämtlicher Bürger/innen, ist ein Mythos, welcher von den bestehenden Herrschafts-
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verhältnissen, wachsender sozialer Ungleichheit und zunehmendem Machtmissbrauch ablenkt. Claus Leggewie (2003, S. 13) fällt über den von ihm als „exklusiv“ bezeichneten Prozess ein vernichtendes Urteil: „Nichts ist in Ordnung an einer Globalisierung, die so viele ausschließt und zurücklässt, die es erheblich fehlen lässt an Verantwortung für die Umwelt und künftige Generationen, die Verschiedenheit weder biologisch noch kulturell fördert und die nicht zuletzt einen eklatanten Mangel an Demokratie und Beteiligung aufweist und damit die Idee des Politischen selbst im Keim zu ersticken droht.“ „Globalisierung“ sollte m.E. jede Form der Aufweichung bzw. Überwindung nationalstaatlicher Grenzen heißen, sei es im Bereich der wissenschaftlichtechnischen, ökonomischen, sozialen, politischen oder kulturellen Beziehungen. Im gegenwärtigen „Turbokapitalismus“ (Edward N. Luttwak) verbindet man damit meist die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die Internationalisierung der Finanzmärkte sowie ein schrankenloses Profitstreben auf Kosten von Belegschaften, Erwerbslosen, Kranken und Rentner(inne)n. Als gutes Beispiel für eine ganz andere, nicht auf Erwerbsinteressen und Gewinnmaximierung gerichtete Variante der Globalisierung gilt das weltweite Netzwerk Attac, in dem sich engagierte Kritiker/innen des Neoliberalismus sammeln (vgl. dazu: Grefe u.a. 2002; Attac Deutschland 2004; Shahyar/Wahl 2005). Seinen bis heute dauernden Siegeszug trat der Neoliberalismus, anfänglich „Neokonservatismus“ genannt, bereits gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980erJahre an. Hierzulande hatte er sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Gestalt des Ordoliberalismus formiert, einer weniger antietatistischen bzw. „staatsfeindlichen“ Version, als sie im angloamerikanischen Raum dominiert (vgl. dazu: Ptak 2004). Später setzte sich der Terminus „Neoliberalismus“ durch, welcher deshalb missverständlich ist, weil die Aufwertung wirtschaftlicher Kennziffern und der Mechanismen kapitalistischer Marktsteuerung keineswegs mit Engagement für individuelle Bürgerrechte, Hauptmerkmal des zur Bedeutungslosigkeit absinkenden politischen Liberalismus, einherging (vgl. Bischoff 1998, S. 55 f.; ergänzend: Butterwegge u.a. 2008b und 2008c). Bei der neoliberalen Modernisierung handelt es sich um eine Deformation von Globalisierung und ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, das noch mehr soziale Ungleichheit schafft und schaffen soll, als es sie aufgrund der ungerechten Verteilung von Ressourcen, Bodenschätzen, Grundeigentum, Kapital und Arbeit ohnehin gibt. Armut ist denn auch kein „(un)sozialer Kollateralschaden“ dieser Globalisierung, vielmehr im Gesellschaftsmodell des Neoliberalismus, der nach einem leistungsorientierten Entgelt für Arbeitnehmer/innen und einer stärkeren Lohnspreizung ruft, durchaus funktional: Sie führt den Armen vor Augen, dass sie mehr leisten (d.h. nach neoliberaler Lesart: ökonomischen Erfolg haben) müssen, und illustriert den (noch) nicht davon Betroffenen, was ihnen droht,
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wenn sie den Anforderungen einer Hochleistungs- und Konkurrenzökonomie nicht mehr genügen sollten. „Standortsicherung“ fungiert als Schlachtruf (einfluss)reicher Gruppen im gesellschaftlichen Verteilungskampf. Großunternehmer und Topmanager, die eigentlichen Verursacher der Arbeitslosigkeit, blieben dadurch weitgehend von öffentlicher Kritik an ihrem Handeln verschont. Höchstens wenn sie auf Bilanzpressekonferenzen gleichzeitig Milliardengewinne und Massenentlassungen verkünden, nehmen Medienvertreter/innen gelegentlich Anstoß am Treiben multinationaler Konzerne, das dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes, etwa seiner Maxime „Eigentum verpflichtet“, meist eklatant widerspricht. Wer der neoliberalen Standortlogik folgt, reduziert die Globalisierung im Grunde auf eine „Gegenreform“, nämlich die Restauration des Kapitalismus vor John Maynard Keynes (vgl. Huffschmid 1998); seine Politik bezweckt und/oder betreibt Umverteilung von Reichtum, Macht und Lebenschancen. Was als „Modernisierung“ klassifiziert wird, tendiert zur Rücknahme demokratischer und sozialer Reformen bzw. Regulierungsmaßnahmen, mit denen die Staaten das Kapital einer gewissen Kontrolle unterwarfen. Es geht dabei um die Ökonomisierung (fast) aller Gesellschaftsbereiche, deren Restrukturierung nach dem privatkapitalistischen Marktmodell und die Generalisierung seiner betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und Konkurrenzmechanismen. Durch die Erschütterung des internationalen Finanzmarktes geriet der Neoliberalismus zwar in eine schwere Legitimationskrise, die selbst eingefleischte Wirtschaftslobbyisten vorübergehend zu Kritikern der Privatisierungs-, Liberalisierungs- und Deregulierungswelle machte, seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hierzulande büßte er jedoch keineswegs ein. 2
Kritik des Neoliberalismus am Wohlfahrtsstaat und an (Folgen) der Zuwanderung
Solange es ihn gibt, bemängeln bürgerliche Autoren das „Überborden“ des Wohlfahrtsstaates. Durch den hegemonialen Globalisierungsdiskurs als ideologische Legitimationsbasis des Neoliberalismus, das Projekt des „Umbaus“ vieler Gesellschaftsbereiche nach dem Vorbild des Marktes sowie die Verabsolutierung des Wettbewerbs- und Leistungsgedankens ist der moderne Wohlfahrtsstaat – die soziale Errungenschaft der Moderne schlechthin – stark unter Druck geraten. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er in den Medien als überholt, zu teuer bzw. dysfunktional dargestellt und zwecks Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes D“ seiner Reform, genauer: seiner neoliberalen Restrukturierung, das Wort geredet wird (vgl. hierzu: Butterwegge 2006a).
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Die neoliberale Kritik am Sozialstaat und an (einer in der Vergangenheit angeblich unkontrollierten) Zuwanderung dominiert den öffentlichen Diskurs über die Gesellschaftsentwicklung und -politik gegenwärtig in allen westlichen Industrieländern, wodurch folgende Behauptungen fast schon zum Alltagsbewusstsein gehören:
Durch seine Hypostasierung der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit missachte der Wohlfahrtsstaat die Freiheit des Individuums und entmündige nicht zuletzt jene Bürger/innen, deren Besserstellung ihm am Herzen liege (vgl. Kersting 2000). Aufgrund seiner übertriebenen Großzügigkeit bei der Leistungsgewährung locke er nicht nur viele „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Ländern der sog. Dritten Welt an, sondern verführe auch Einheimische zur missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen (vgl. kritisch dazu: Wogawa 2000). Der massenhafte Leistungsmissbrauch durch Zuwanderer (und Einheimische) wirke demotivierend auf die „normalen“ Arbeitnehmer/innen als Beitragszahler/innen und eigentliche Stützen des Sozialstaates, was diesen längerfristig destabilisiere. Gerade ein gut funktionierender Wohlfahrtsstaat wirke kontraproduktiv bzw. als „Wachstumsbremse“ für die Volkswirtschaft, erhöhe die Arbeitslosigkeit, weil sich Erwerbsarbeit in einem solchen System der mühelosen Alimentation durch die Bürokratie „nicht mehr rechne“, die hohen Personalzusatzkosten aber auch das Kapital von Investitionen abhielten, und bringe auf diese Weise letztlich mehr Armut hervor, als er zu bekämpfen vorgebe. Die steigenden Kosten eines viel zu umfassenden sozialen Sicherungssystems gefährdeten Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des heimischen Wirtschaftsstandortes für (potenzielle) Investoren. Schließlich untergrabe die demografische Entwicklung das Fundament des Wohlfahrtsstaates, welcher – man denke vor allem an das Umlageverfahren in der Gesetzlichen Rentenversicherung – auf ein ausgeglichenes, sich selbst tragendes Verhältnis zwischen den Generationen angewiesen sei. Durch seine Bevorzugung der Älteren und Benachteiligung der Jüngeren stelle der Wohlfahrtsstaat die Generationengerechtigkeit in Frage: Während er Senior(inn)en überflüssige und selbst irrsinnig teure medizinische Behandlungen ermögliche, entziehe der Sozialstaat jungen Familien die zur Lebensführung benötigten Mittel, wodurch eine lange nicht mehr gekannte, bisher auf die sog. Dritte Welt beschränkte Kinderarmut entstehe.
Die referierten Hypothesen wurden ausnahmslos empirisch widerlegt oder lassen sich nicht beweisen. Vergleicht man beispielsweise die Inanspruchnahme wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wie der Sozialhilfe seitens einheimischer und zuge-
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wanderter Untersuchungskohorten, stellt man bereits nach einem Zeitraum von fünf Jahren eine Konvergenz der gezahlten Geldbeträge fest, die zunächst als Integrationshilfe wirken. Felix Büchel, Joachim Frick und Wolfgang Voges (1997, S. 272) wiesen nach, dass „die Wahrscheinlichkeit eines Sozialhilfebezugs mit zunehmender Aufenthaltsdauer abnimmt“. Wenn länger ansässige Ausländer/innen signifikant höhere Sozialleistungen beziehen, ist dies nach der zitierten Studie nicht ihrer Nationalität bzw. Herkunft, vielmehr einer gegenüber deutschen Vergleichsgruppen problematischeren sozialen Zusammensetzung geschuldet. „Aufgrund der tendenziell günstigen demographischen Struktur der Zuwanderer – mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil Jüngerer und wenig Älteren – kann entsprechend davon ausgegangen werden, daß Zuwanderung auf lange Sicht das System der sozialen Sicherung tendenziell eher ent- als belastet.“ (ebd., S. 289) Auch durch „Illegale“ (Zuwanderer ohne Aufenthaltsrecht bzw. Duldung), deren Zahl besonders stark wächst, wenn sich ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik Deutschland abschottet und die Möglichkeiten des legalen Aufenthalts weiter beschneidet, wird das System der sozialen Sicherung kaum belastet (vgl. Röseler/Vogel 1993, S. 29; ergänzend: Vogel 1996). Teilweise drängt sich der Eindruck auf, dass neoliberale Sozialstaatskritiker die durch Zuwanderung bedingten Herausforderungen für den Wohlfahrtsstaat missbrauchen, um seine Legitimationsgrundlage generell zu erschüttern. Meinhard Miegel (1997, S. 103) beispielsweise betrachtet Zuwanderung in die Bundesrepublik von 1973 bis heute als „wirtschaftliche und soziale Belastung der einheimischen Bevölkerung“ und beurteilt die Wirkung künftiger Migrationsbewegungen auf die hoch produktiven Teile der Volkswirtschaft ausgesprochen negativ: „Deutschland muß sich (...) umgehend damit befassen, daß möglicherweise wenig qualifizierte und produktive Menschen in großer Zahl zuwandern werden und daß nicht zuletzt deshalb Wissen und Kapital abwandern könnten. Zugleich könnte in Deutschland auch aufgrund der demographischen Veränderungen die Fähigkeit, Wissen und Kapital zu generieren, abnehmen. Hier liegt das eigentliche Spannungsverhältnis von Zuwanderung und Sozialstaat.“ (ebd., S. 104) Miegel übersieht jedoch, dass die seit dem Anwerbestopp im November 1973 forcierte Familienzusammenführung auch bevölkerungspolitische Ziele verfolgte: Kinder von Zuwanderern wurden gebraucht, weil sie die durch sinkende Geburtenraten der Inländerpopulation entstandenen Lücken schließen helfen sollten (vgl. Potts 1988, S. 265). Glaubt man den Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik, bilden Migration und multikulturelle Gesellschaft künftig vielleicht die einzige tragfähige Basis für den ansonsten bedrohten „Standort D“ (vgl. z.B. Tichy 2001; Sesselmeier 2002). Ohne mehr Zuwanderer wird es demnach weder sichere Renten für die heutige Erwerbsbevölkerung noch andere Sozialleistungen auf dem gewohnten Niveau geben können, was Miegel indes auch gar nicht für wünschenswert hält.
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Herwig Birg gehört zu jenen Bevölkerungswissenschaftlern, die den demografischen Wandel (als „Zeitenwende“) dramatisieren. Für ihn hängt die ökonomische eng mit der demografischen Globalisierung zusammen: „Im Verlauf des Globalisierungsprozesses polarisiert sich die Welt immer mehr in eine kleine Gruppe von wirtschaftlich starken Ländern mit demographischer Stagnation oder Schrumpfung und in eine wesentlich größere Ländergruppe mit Bevölkerungswachstum und niedriger Wirtschaftskraft.“ (Birg 2001, S. 30) Die zunächst von Rechtsextremisten geäußerte, mittlerweile auch von vielen anderen Kräften geteilte Sorge, das „deutsche Volk“ könne aussterben, korrespondiert teilweise mit dem bereits im Kaiserreich verbreiteten Wunsch nach imperialer Machtentfaltung. Ein von Rainer Münz (2003) verfasster Zeit-Artikel unter dem Titel „Mehr Kinder, mehr Macht“ brachte dieses Kalkül zum Ausdruck. Wird mehr Immigration unter Hinweis auf die Demografie nach dem Motto „Die Deutschen brauchen Zuwanderer, um ihre Renten zu retten“ (Schumacher 1995, S. 93) legitimiert, handelt es sich um sozialpolitische Demagogie, die vermehrt um sich greift (vgl. hierzu: Butterwegge/Klundt 2003). Gegenwärtig thematisiert man Migration fast nur noch im Kontext einer angeblichen „Vergreisung“ unserer Gesellschaft. Typisch hierfür war die Überschrift „Zuwanderer bremsen Alterung“ in der linksliberalen Frankfurter Rundschau vom 7. Juni 2006. Durch junge Migrant(inn)en soll der Arbeitsmarkt flexibel und das System der sozialen Sicherung funktionsfähig gehalten werden. Ein solcher Begründungszusammenhang für Migrations- und Integrationspolitik entzieht jedoch dem um sich greifenden Rassismus keineswegs die Grundlage; ganz im Gegenteil finden rechtsextreme Einstellungen aufgrund der Dominanz „nationaler Interessen“ und volkswirtschaftlicher Wanderungsbilanzen neue Nahrung. Außerdem ist die Wirkung eines instrumentalen Einsatzes der Zuwanderungspolitik möglicherweise geringer und weniger nachhaltig als erhofft (vgl. Straubhaar 1997, S. 62). Umgekehrt kann die Bedeutung der Wirtschafts- und Sozialpolitik für die Durchsetzung einer demokratisch-humanistischen Zuwanderungs-, Integrationsund Minderheitenpolitik gar nicht überschätzt werden. Albert Statz (1993, S. 257) räumt ihr eine Schlüsselrolle auf diesem Gebiet ein, wenn er konstatiert: „Die politische Auseinandersetzung um die Einwanderungs- und Asylpolitik wird auf dem Terrain der Sozialpolitik entschieden.“ Die früheren europäischen Kolonialmächte sowie die von ihnen geprägten „klassischen“ Einwanderungsländer USA, Australien und Kanada haben einen Nationalstaat, der großzügiger ist als ihr sehr liberaler, wenig entwickelter Wohlfahrtsstaat; in der Bundesrepublik Deutschland ist der Sozialstaat dagegen großzügiger als der Nationalstaat: Sozialleistungen sind hier leichter zu erhalten als die Staatsbürgerschaft; dort verhält es sich genau umgekehrt. Da es sich bei der Bundesrepublik in Bismarck’scher Tradition um einen Sozialversicherungsstaat
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handelt, hängt die Inklusion zuwandernder Personen ganz entscheidend von deren Integration auf dem Arbeitsmarkt ab (vgl. Schmähl 1995, S. 251). Corinna Kleinert (2000, S. 355) konstatiert, „dass eine Inklusion von Einwanderern in das soziale System, auch wenn sie verwirklicht ist, ohne Vollinklusion in das politische System immer prekär und von Zurücknahme der Rechte bedroht bleibt.“ Nach dem durch jahrelange Streitigkeiten zwischen den etablierten Parteien verzögerten Inkrafttreten des Zuwanderungs(begrenzungs)gesetzes am 1. Januar 2005 ist viel häufiger als vorher von einer zu verbessernden Integration der Migrant(inn)en die Rede, welche jedoch oft genug auf gute Kenntnisse der deutschen Sprache reduziert wird, aber mit Inklusion, d.h. auch gleichberechtigter politischer Partizipation (vgl. Büttner/Meyer 2001), einhergehen muss, soll sie dauerhaft sein. Integration darf nicht mit Assimilation verwechselt werden und bedeutet vor allem die bürgerschaftliche Gleichberechtigung und Einbindung von Migrant(inn)en in den National-, Inklusion die umfassende Gleichstellung sowie ihre Einbeziehung in die gesellschaftliche Willensbildung und den Sozialstaat. Nur wenn die beiden – miteinander korrespondierenden – Prozesse erfolgreich verlaufen, kann ernsthaft von einer zivilen bzw. einer multikulturellen Bürgergesellschaft die Rede sein.
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Spaltungstendenzen als Konsequenzen der neoliberalen Modernisierung
Unter den bestehenden Herrschafts-, Macht- und Mehrheitsverhältnissen wirken Globalisierungsprozesse nicht nur als gesellschaftspolitische Spaltpilze, bergen vielmehr auch sozialen Sprengstoff in sich. Die als neoliberale Modernisierung frontal gegen das Projekt sozialer Gleichheit gerichtete Spielart der Globalisierung führt zu Ausdifferenzierungs- bzw. Polarisierungsprozessen in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat (vgl. ergänzend: Butterwegge 2003). Genannt und im Anschluss daran – unterschiedlich detailliert – analysiert seien: 5. 6.
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die soziale Polarisierung zwischen Zentrum und Peripherie, d.h. Metropolen und Entwicklungsländern, wie innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft; die Aufspaltung des Gemeinwesens entwickelter Industrieländer in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat, welcher Menschen auf einem Minimalniveau versorgt, die keine Chance haben, ihre Lebensbedürfnisse und Sicherheitsinteressen als Käufer/innen auf jenem zu befriedigen; die Herausbildung einer Doppelstruktur der Armut („underclass“ und „working poor“);
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die Dualisierung des Prozesses transkontinentaler Wanderungen in Experten- bzw. Elitenmigration einerseits und Elendsmigration andererseits; 9. die Ausdifferenzierung der Migrationspolitik in positive Anreize für Erstere sowie Restriktionen und negative Sanktionen für Letztere; 10. eine Krise bzw. ein Zerfall der Städte, bedingt durch die soziale Marginalisierung und siedlungsräumliche Segregation von (ethnischen) Minderheiten; 11. die Modernisierung und Fraktionierung des organisierten Rechtsextremismus durch Ausdifferenzierung des Nationalismus (in einen völkischen und einen Standortnationalismus).
3.1 Die soziale Polarisierung nimmt zu: Zerfall der (Welt-)Gesellschaft in Arm und Reich In einer Welt, die so reich ist wie nie zuvor, verbreitet und verfestigt sich die Armut. Fast die Hälfte aller Erdenbürger/innen, ca. 2,8 Milliarden Menschen, lebten um die Jahrtausendwende von weniger als 2 US-Dollar pro Tag, und ein Fünftel, ca. 1,2 Milliarden Menschen, gar von weniger als 1 Dollar pro Tag (vgl. Weltentwicklungsbericht 2001, S. 3). Not und Elend sind schlimm, noch schlimmer ist aber, dass gleichzeitig Luxus und Überfluss wachsen. Birgit Mahnkopf (2006, S. 818) spricht von einer „globalen Klassengesellschaft“, deren Spaltung so abgrundtief sei wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Die globale Pauperisierung verbindet sich mit einer sozialen Polarisierung ohne Vorbild: Milliardenvermögen wie das des US-amerikanischen Computerunternehmers Bill Gates einerseits sowie Seuchen, Hungertod und Verzweiflung von Milliarden Menschen (besonders in der südlichen Hemisphäre) andererseits bestimmen das Bild einer Welt, die zunehmend zerfällt. Eine der Konsequenzen ist die Militarisierung, Brutalisierung und Verrohung vieler Gesellschaften wie der internationalen Beziehungen, wodurch sich Putsche, Bürgerkriege und Kriege häufen, aber auch der Form nach wandeln (vgl. dazu: Kaldor 2000; Chossudovsky 2003; Uesseler 2006). Die beschriebene Kluft zwischen Arm und Reich existiert nicht nur auf der individuellen Ebene (materiell unterschiedlich ausgestatteter Personen), sondern reproduziert sich auch im Weltmaßstab sozialräumlich: Metropolen und Peripherie des globalisierten Kapitalismus entwickeln sich immer weiter aus-, teilweise auch gegeneinander (vgl. Boris 2002). Während die nordwestlichen Industriestaaten und hier wiederum hauptsächlich deren ökonomisch leistungsfähigste Bevölkerungsschichten von der neoliberalen Modernisierung profitierten, wurde die südliche Hemisphäre, ganz besonders Afrika, weitgehend von der wirtschaft-
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lichen und sozialen Entwicklung abgekoppelt. Die sich dort seither ausbreitende Hoffnungslosigkeit riesiger Landstriche trifft – wie Armut, Unterversorgung bzw. Verelendung generell – besonders Kinder und Jugendliche (vgl. z.B. Sifuna 2002, S. 110 ff.). Robert Hunter Wade (2005, S. 196) hält die ganze Entwicklung für verfehlt, der man die Bezeichnung „Globalisierung“ gegeben hat: „Wenn die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen nicht sinkt und sich die weltweite Ungleichheit weiter ausbreitet (sowohl entsprechend verschiedener plausibler Maßstäbe als auch vor allem hinsichtlich der absoluten Einkommensunterschiede), dann können wir nicht schlussfolgern, dass die Globalisierung – die Ausbreitung von freien Marktbeziehungen innerhalb der gegenwärtig herrschenden Rahmenbedingungen – die Welt in die richtige Richtung treibt und lediglich die Armut Afrikas als Spezialfall noch internationaler Aufmerksamkeit bedarf. Wahrscheinlicher ist, dass die Welt – wie bei der Klimaerwärmung – in die falsche Richtung treibt.“ Hierzulande führt das neoliberale Konzept nicht nur zur Auseinanderentwicklung von Gesellschaft und Staat (privater Reichtum – öffentliche Armut), sondern auch zur Ausdifferenzierung der Ersteren in (relativ) Arm und (ganz) Reich. Auf der personellen Ebene heißt dies: Reiche werden immer reicher, Arme immer zahlreicher (vgl. Gilges 1998). Bei den Mittelschichten weichen die Aufstiegshoffnungen massiven Abstiegsängsten. Schließlich geht die Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung von immer mehr Lebensbereichen mit der Marginalisierung vieler Menschen einher, die sich langlebige Konsumgüter, personenbezogene Dienstleistungen und sogar Waren des täglichen Bedarfs immer weniger leisten können: „Während im oberen Segment der Gesellschaft Personen bzw. Haushalte einen enormen Reichtum anzuhäufen vermögen, wächst am unteren Ende die Zahl der Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch das erzielte Einkommen sichern können und sich zur Beschaffung auch von alltäglichen Gebrauchsgütern ggf. verschulden müssen und/oder zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse auf öffentliche Hilfeleistungen angewiesen sind.“ (Mansel/ Heitmeyer 2005, S. 67) Die neoliberale Hegemonie hat in der Gesellschaft bisher allgemein verbindliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf gestellt. Galt früher der soziale Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Klassen und Schichten als Ziel staatlicher Politik, so steht heute den Siegertypen alles, den „Leistungsunfähigen“ bzw. „-unwilligen“ nach offizieller Lesart hingegen nichts zu. In einer „Winner-take-all“-Gesellschaft (Robert H. Frank/Philip J. Cook) zählt nur der ökonomische, sich möglichst in klingender Münze auszahlende Erfolg. Wenn davon heute überhaupt noch die Rede ist, wird meist nach „Generationengerechtigkeit“ gerufen, die wachsende Ungleichheit innerhalb aller Generationen aber ignoriert (vgl. hierzu: Butterwegge/Klundt 2003).
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Die neoliberale Globalisierung ist keineswegs hypermodern, wie ihre Protagonisten und Wirtschaftslobbyisten glauben machen wollen, sondern völlig antiquiert. So bildet sich in der Bundesrepublik eine Dienstbotengesellschaft nach US-amerikanischem Muster heraus (vgl. Häußermann/Siebel 1995, S. 81 ff.). Hierbei spielen Migrantinnen, die aufgrund ihrer persönlichen Notlage schlecht bezahlte Jobs in Privathaushalten annehmen müssen, eine Schlüsselrolle (vgl. dazu: Hess 2005; Rerrich 2006; Lutz 2008). Die ehedem als „Perlen“ bekannten Dienstmädchen, aber auch Hausdamen, Kinderfrauen und Stiefelknechte lassen grüßen. Je stärker die Bundesregierung niedrig bezahlte Jobs im personennahen Dienstleistungsbereich durch Ausbau der steuerlichen Abzugsmöglichkeiten für private Arbeitgeber förderte, umso mehr uralte Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse kehrten zurück. Das neoliberale „Reform“-Projekt einer größeren sozialen Ungleichheit macht die historischen Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789 rückgängig und bedeutet nicht nur ökonomisch, vielmehr auch sozialpolitisch und demokratietheoretisch einen Rückfall ins Mittelalter (vgl. hierzu: Butterwegge u.a. 2008b).
3.2 Reprivatisierung der sozialen Risiken: Spaltung des Gemeinwesens in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat Noch nie wurde die zwischenmenschliche Solidarität in der modernen Gesellschaft auf eine ähnlich harte Probe gestellt wie heute. „Globalisierung“ fungiert dabei als Kampfbegriff, der die Entsolidarisierung zum Programm erhebt. Maßnahmen zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen, sozialer Dienstleistungen und allgemeiner Lebensrisiken, zur Liberalisierung der (Arbeits-)Märkte, zur Deregulierung gesetzlicher Schutzbestimmungen und zur Flexibilisierung der tarifvertraglich abgesicherten Beschäftigungsverhältnisse sind Schritte auf dem Weg in eine „Kapital-Gesellschaft“, die Konkurrenz und Kommerz prägen. Die soziale Sicherheit wird (re)privatisiert und die Erwerbsarbeit prekarisiert (vgl. dazu: Kraemer/Speidel 2005), was zu einem Teufelskreis führt, weil sich die „besseren Risiken“ aus dem Sozialversicherungssystem zurückziehen, wodurch dieses noch unattraktiver wird und niemanden mehr richtig absichern kann. Darunter haben Personen mit einem hohen Gefährdungspotenzial und relativ niedrigen Einkommen wiederum am meisten zu leiden. Walter Schöni (1994, S. 72) wirft dem Neoliberalismus vor, die soziale Ungleichheit mit dem Ziel individueller Leistungssteigerung zu instrumentalisieren und eine soziale Auslese zu betreiben, die zur Spaltung zwischen Zentren und Randregionen, Einheimischen und Ausländer(inne)n sowie höher und niedriger Qualifizierten führt. Die staatliche Regulation erfährt einen Funktionswandel,
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welcher die Ausdifferenzierung, Polarisierung und Segmentierung im sozialen Bereich noch verstärkt: „Der vormalige Anspruch einer solidarischen wohlfahrtsstaatlichen Inklusion wird durch die Praxis einer exklusiven, d.h. partikular-selektiven – bisweilen repressiven, disziplinierenden – Sozialversorgung verdrängt. Darin ist auch die klassenpolitische Dimension dieser Transformation angelegt.“ (Deppe 2006, S. 30 f.) Daraus resultiert eine Gerechtigkeitslücke, die so lange wächst, wie man ihr auf der (sozial)politischen Ebene nicht konsequent begegnet. Durch die Hegemonie des Neoliberalismus bzw. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus ist „Globalisierung“ zu einem Schlüsselcode der gesellschaftspolitischen Diskussion avanciert, welcher für die meisten Teilnehmer/innen auch eine ganz bestimmte Entwicklung des Wohlfahrtsstaates impliziert: Wenn die Volkswirtschaften miteinander verwachsen, der Weltmarkt die Politik der Nationalstaaten diktiert und Gesellschaften nur noch als „Wirtschaftsstandorte“ gelten, deren Wettbewerbsfähigkeit über das Wohlstandsniveau ihrer Bürger/innen entscheidet, kann das Soziale keine (große) Rolle mehr spielen. Aus dem Wohlfahrtsstaat wird vielmehr ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), der die Aufgabe hat, durch seine Politik die Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes auf dem Weltmarkt, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Perspektivisch wird das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt einerseits sowie einen Wohltätigkeits-, Almosen- und Suppenküchenstaat andererseits gesplittet. Wegbereitend wirkten die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch Einführung der sog. Riester-Rente, die Beschränkung der Finanzierung des Zahnersatzes und des Krankengeldes auf die Versicherten (Zahlung eines Sonderbeitrages in Höhe von 0,9 Prozent des Bruttoeinkommens bis zur Bemessungsgrenze) durch die Gesundheitsreform 2004 sowie die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Fürsorge durch Hartz IV, wovon Zuwanderer übrigens in besonderer Weise betroffen sind (vgl. hierzu: Butterwegge/Reißlandt 2005). Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich jene Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Versicherungspolicen der Assekuranz zur Altersvorsorge). Dagegen stellt der postmoderne Fürsorgestaat nur noch euphemistisch als „Grundsicherung“ bezeichnete Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, sie ansonsten jedoch der Privatwohltätigkeit und karitativer Zuwendung seitens ihrer besser situierten Mitbürger/innen überantworten. Man spricht im „Hartz-Kapitalismus“ (Dörre 2005) viel vom „Fördern und Fordern“ sowie von der Notwendigkeit, „mehr Eigenverantwortung“ zu praktizieren, meint damit aber eine massive Zusatzbelastung für Arbeitnehmer/innen bzw. Rentner/innen und eine öffentliche Verantwortungslosigkeit, die mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes unvereinbar ist.
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Auch hinsichtlich des Sozialstaates ist die Dualisierung das dominante Strukturmerkmal neoliberaler Standortsicherung. „So bereitet es der wohlhabenderen Bevölkerung (industrielle Kernbelegschaften, neue und alte Mittelklassen) keine Probleme, wenn die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr nach dem Kostendeckungsprinzip funktionieren und eine stärkere Eigenbeteiligung verlangen; es bringt ihnen eher noch Vorteile. (...) Für die sozial Schwachen führen die Kürzungen in der allgemeinen Grundversorgung hingegen dazu, daß die Löcher im Sicherungsnetz immer größer werden.“ (Bieling 1996, S. 83) Falls die „US-Amerikanisierung“ des Sozialstaates fortschreitet, was auch und gerade nach der von dort ausgehenden Weltfinanzkrise mit ihren globalen Konsequenzen für die Realwirtschaft zu erwarten ist, dürfte eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich) nicht ausbleiben. Damit wäre eine weitere soziale Polarisierung verbunden, die in den Vereinigten Staaten seit langem beobachtet und von den Befürwortern des europäischen Sozialmodells kritisiert wird: „Während sich an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie eine kleine, finanziell unabhängige, leistungsfähige und kosmopolitische Elite herausbildet, die sich immer mehr von der Masse zu entfernen scheint und sich sozialer Verpflichtungen entledigt, deren Wahrnehmung sogar den traditionellen Adel auszeichnete, so der besorgte Tenor der Forscher, kulminieren an der gesellschaftlichen Peripherie die sozialen und ökonomischen Probleme.“ (Gebhardt 1998, S. 19) Der neoliberale Minimalstaat ist seiner Bestimmung nach eher Kriminal- als Sozialstaat, weil ihn die drastische Reduktion der Wohlfahrt zur Repression gegenüber Personen(gruppen) zwingt, die als „Modernisierungs-“ bzw. „Globalisierungsverlierer/innen“ zu den Hauptopfern seiner im Grunde rückwärts gerichteten „Reformpolitik“ zählen. Obwohl bzw. vielleicht gerade weil dieser „schlanke Staat“ zur Magersucht in der Sozialpolitik tendiert, ist er ein ordnungspolitisch im wahrsten Sinne des Wortes schlagkräftiger Staat. Martin Kutscha (2001) spricht von einem „Polizeistaat neuen Typs“ und betont, dass der öffentliche Raum zunehmend dem Diktat der globalisierten Ökonomie unterliege. Aufenthaltsverbote und vergleichbare Polizeimaßnahmen, die hauptsächlich Arme, Ausländer/innen, Drogenabhängige, Obdachlose und Mitglieder anderer „Randgruppen“ treffen, sollen seiner Meinung nach nicht mehr nur „Gefahrenabwehr“ im klassisch-polizeirechtlichen Sinne bewirken, sondern durch Beseitigung „störender Elemente“ ein angenehmes Konsum- und Investitionsklima schaffen, wozu das Gefühl der eigenen Sicherheit gehöre (ebd., S. 218). Zuerst werden die Grundrechte von Menschen angetastet, denen man einen Missbrauch staatlicher Sozialleistungen umso eher vorwerfen kann, als sie sich als Leistungsempfänger/innen ohnehin in einer prekären Situation und extrem schwachen Rechtsposition befinden (vgl. dazu: Sonnenfeld 1998). Nachdem man
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Kürzungen und Zwangsmaßnahmen zu Beginn der 90er-Jahre an Flüchtlingen „ausprobiert“ (Baumann 1998, S. 35) hatte, gerieten auch Einheimische ins Visier: Verdachtsunabhängige Personenkontrollen, Platzverweise und Aufenthaltsverbote für Bettler/innen, Obdachlose, Drogensüchtige sowie Punker sind in allen größeren Städten nicht erst seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 an der Tagesordnung. „Von den alten Armenordnungen bis zu ‚Zero Tolerance‘ besteht eine nahezu bruchlose Kontinuität des repressiven Umgangs mit Gruppen, die die vormals feudalistische und heute bürgerliche Ordnung des öffentlichen Raums zu stören drohen.“ (Simon 2001, S. 149)
3.3 Zweiteilung der Unterprivilegierten in „arme Arbeitslose“ und „arbeitende Arme“ Jenseits der Spaltung in Arm und Reich, die sich verschärft und zu einer Gefahr für den sozialen Frieden wird, lässt sich immer deutlicher eine weitere Trennlinie erkennen, die innerhalb der Armutspopulation selbst verläuft und sie in zwei Teilgruppen zerlegt. Durch die neoliberale Standortpolitik wirkt der Globalisierungsprozess als „soziales Scheidewasser“, das die Bevölkerung der Bundesrepublik wie die anderer Länder in Gewinner und Verlierer/innen, Letztere jedoch noch einmal in völlig Marginalisierte (Dauerarbeitslose, total Deprivierte und Langzeitarme) einerseits sowie Geringverdiener/innen (prekär Beschäftigte, von Überschuldung Bedrohte und Kurzzeitarme) andererseits spaltet. Während die Dauerarbeitslosen quasi den „sozialen Bodensatz“ im postmodernen Kapitalismus bilden, verkörpern Niedriglohnempfänger/innen, oftmals Migrant(inn)en bzw. ethnischen Minderheiten entstammend, gewissermaßen das „Treibgut“ des Globalisierungsprozesses. Aufgrund jener Dualisierung der Armut, welche Familien, Frauen und Kinder besonders hart trifft (vgl. dazu: Butterwegge u.a. 2004, S. 98 ff.; Butterwegge u.a. 2008a, S. 64 ff.), kann sich keine „politische Einheitsfront aller Überflüssigen“ herausbilden, die noch am ehesten in der Lage wäre, kollektive Gegenwehr zu organisieren und der sozialen Ausgrenzung erfolgreich Widerstand zu leisten. Die klassische Devise „Teile und herrsche!“ bewährt sich vielmehr erneut, weil sie Betroffene wehrlos einer Entwicklung ausliefert, die Martin Kronauer (2002, S. 231) im Auge hat, wenn er schreibt: „Die Gesellschaft entwickelt sich in Richtung einer Demokratie der Eliten, gestützt auf Repression gegen Minderheiten.“ Ulrich Beck (1986, S. 122) beschreibt in seinem Buch „Risikogesellschaft“ einen sozialen „Fahrstuhl-Effekt“, der sämtliche Schichten und Klassen gemeinsam nach oben befördert habe: „Es gibt – bei allen sich neu einpendelnden oder
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durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“ Knapp 20 Jahre später sah Beck (2005, S. 47) die Bundesrepublik, obwohl sie noch nie so reich war wie heute, als eine „Gesellschaft des Weniger“ auf der sozialökonomischen Talfahrt: „Jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, lauern überall Gefahren – und der Fahrstuhl bewegt sich nach unten.“ Dabei übersah der Münchener Soziologe erneut, dass sich die Gesellschaft dialektisch entwickelt und ein Paternoster-Effekt dominiert: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangten, ging es für die anderen nach unten. Mehr denn je existiert im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt. Man kann nicht nur von einer Dualisierung des Arbeitsmarktes, sondern auch von einer Doppelstruktur der Armut sprechen: Einerseits sind davon (bis in den Mittelstand hinein) mehr Personen betroffen, und zwar auch solche, die früher – weil meist voll erwerbstätig – im relativen Wohlstand des „Wirtschaftswunderlandes“ lebten. Deutlich zugenommen hat die Zahl jener Haushalte, deren Einkommen trotz Lohnarbeit in Form eines oder sogar mehrerer Beschäftigungsverhältnisse nicht oder nur noch knapp über der relativen Armutsgrenze liegt („working poor“). Andererseits verfestigt sich die Langzeit- bzw. Mehrfacharbeitslosigkeit älterer und/oder gering qualifizierter Personen zur Dauerarbeitslosigkeit, wodurch ansatzweise eine Schicht total Deklassierter, d.h. ganz vom Arbeitsmarkt wie auch von der gesellschaftlichen Teilhabe Ausgeschlossener („underclass“), entsteht. Allerdings rät Max Koch (1999, S. 40) von der Benutzung dieses Terminus ab: „Es spricht wenig dafür, daß sich der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und die Pauperisierung von Teilen der Bevölkerung in Westeuropa bereits so weit verdichtet hätten, daß man von ghettoartigen Zuständen in den sogenannten Problembezirken europäischer Großstädte auszugehen hätte.“ Neben den sich verschärfenden Oben-unten-Gegensatz tritt jedoch seit geraumer Zeit ein sozialer Innen-außen-Gegensatz: Immer mehr Dauerarbeitslose, Migrant(inn)en, Obdachlose und (psychisch) Kranke werden nicht nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sondern zum Teil darüber hinaus, was als „multiple Deprivation“ bzw. „Exklusion“ (dazu: Kronauer 2002) bezeichnet wird. „Exklusion führt dann in eine eigenständige soziale Lage hinein, wenn die Abhängigkeit von öffentlicher Fürsorge anhält, weil die Betroffenen an der ökonomischen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft nicht teilnehmen, im ökonomischen Sinne ‚überflüssig‘ geworden sind, aber auch sonst – und diese weitere Bedingung ist wichtig – keinen positiv definierten Platz in der Gesellschaft (Rentner, Vorruheständler etc.) einnehmen können.“ (Kronauer 1999, S. 69 f.) Auch in der Bundesrepublik hat sich, wenngleich mit erheblicher Verzögerung gegenüber anderen westlichen Industrieländern, ein breiter, seinem Umfang
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nach oft unterschätzter Niedriglohnsektor herausgebildet, der nicht mehr nur typische Frauenarbeitsplätze umfasst (vgl. dazu: Bosch/Weinkopf 2007; Keller/ Seiffert 2007; Pape 2007). Den armen Erwerbslosen, die niedrige oder gänzlich fehlende Lohnersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwerfen, traten die erwerbstätigen Armen zur Seite. Längst reichen viele Vollzeitarbeitsverhältnisse nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren, sodass ergänzend ein oder mehrere Nebenjobs übernommen werden und nach Feierabend bzw. an Wochenenden („schwarz“) weitergearbeitet wird. „Zwischen die Ausgegrenzten und die Arbeitnehmer mit zunächst noch gutem Einkommensniveau (bei Industrie, Banken und Versicherungen und beim Staat) schiebt sich die rapide wachsende Schicht der ‚working poor‘. Auf mittlere Sicht wird diese schlecht bezahlte Arbeitnehmerschaft im Service-Sektor das Lohnniveau in Deutschland maßgeblich mitbestimmen.“ (Welzk 2000, S. 28) Der Berliner Stadtforscher Hartmut Häußermann (1998, S. 165) prognostiziert im Hinblick auf Tendenzen zur Deindustrialisierung und zur Etablierung einer Dienstleistungsökonomie in der Bundesrepublik: „Die postindustrielle Gesellschaft wird geprägt sein von einer Dualisierung bzw. Polarisierung der Lebenslagen, die sich mit der Durchsetzung der tertiarisierten Ökonomie ergibt.“ Offen sei bisher noch, welche Form diese Polarisierung annehmen wird. Dafür gebe es im Prinzip zwei Alternativen: einerseits die Möglichkeit, dass sich die Tätigkeiten je nach Qualifikation und Verdienst innerhalb der Beschäftigung polarisierten („amerikanisches Modell“), andererseits die Möglichkeit, dass die Spaltung zwischen „Arbeitsplatzbesitzern“ und Arbeitslosen zunehme, die Polarisierung sich also zwischen dem Segment der Beschäftigten und dem Segment der dauerhaft Erwerbslosen herausbilde. Martin Kronauer und Berthold Vogel (1998, S. 340) konstatieren, dass sich – unabhängig von den Strukturbrüchen zwischen Ost und West – heute erstmals nach 1945 eine deutliche Spaltungslinie der In- bzw. Exklusion quer durch Deutschland ziehe: „Sie trennt diejenigen, die zum Erwerbssystem gehören oder zumindest in bestimmten Abstufungen noch Zugang zu ihm haben, von den anderen, die am Arbeitsmarkt dauerhaft und gegen ihren Willen von diesem Zugang ausgeschlossen werden.“ (Hervorh. im Original, Ch.B.)
3.4 Dualisierung der Zuwanderung in Eliten- und Elendsmigration Wanderungsbewegungen, denen unterschiedliche Motive zugrunde liegen, hat es immer gegeben und wird es zumindest vorübergehend vermehrt geben, weil nicht nur die neuen Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien bessere Möglichkeiten hierfür bieten (vgl. Köppen 2000), sondern globale Prob-
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leme wie Umweltkatastrophen, Hungersnöte oder Epidemien einerseits und dadurch initiierte oder intensivierte Repressalien autoritärer Regime, Bürger- und Interventionskriege wie gegen die Bundesrepublik Jugoslawien oder den Irak andererseits auch die (subjektiv wahrgenommene) Notwendigkeit dazu erhöhen dürften. Allenthalben wird auf die Steigerung der weltweiten Mobilität und die Bedeutung des globalisierten Verkehrswesens für die Entstehung von Migrationsströmen hingewiesen (vgl. Müller-Schneider 2000, S. 111 f.), weniger häufig indes auf die im selben Maße zunehmenden Grenzkontrollen, Überwachungstechniken und anderen Restriktionen. Petrus Han (2000, S. 63) geht von einer „Globalisierung der Migrationsbewegungen“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus und konstatiert eine „Diversifizierung der Migrationsformen“, worunter er die Arbeitsmigration, die Familienzusammenführung, die Flucht, den Auslandsaufenthalt von Studierenden, die Migration ethnischer Minderheiten sowie die „illegale“, irreguläre bzw. undokumentierte Zuwanderung versteht. Wenn man den Globalisierungsbegriff präziser fasst und ihn nicht nur im Sinne einer Ausbreitung vormals geografisch begrenzter Phänomene bzw. Prozesse über die ganze Welt deutet, kommt das Neue an der momentanen Migrationssituation noch besser zum Ausdruck: Arbeitsmigration als wichtigster Migrationstyp der Gegenwart teilt sich noch einmal vertikal in eine Luxus- und eine Pariavariante. Robert Hunter Wade (2005, S. 197 f.) spricht vom „Matthäus-Effekt“ einer global zunehmenden Armut und Ungleichheit, welcher Bemühungen der davon im negativen Sinne unmittelbar Betroffenen nach zieht, den Folgen durch Auswanderung zu entkommen: „Steigende Ungleichheit kann für die gebildeten Menschen in armen Ländern den Anreiz erhöhen, in reiche Länder zu emigrieren, für die gering qualifizierten Menschen steigt der Anreiz, sich illegal Zutritt zu verschaffen.“ Für Albert Kraler und Christof Parnreiter (2005, S. 338) hängen Migration und Globalisierung auf drei Ebenen zusammen: „Erstens beschleunigen die Globalisierungsdynamiken die Entwurzelung von Menschen in den Peripherien. Zweitens beseitigt die Formierung eines transnationalen Raums, der durch die globalen Bewegungen von Kapital, Gütern, Dienstleistungen, Informationen etc. geschaffen wird, Mobilitätsbarrieren. (...) Drittens bringt Globalisierung auch einen neuen Bedarf an marginalisierter Arbeitskraft in den Zentren hervor.“ Die soziale Spaltung der Weltgesellschaft löst neue Wanderungsprozesse aus und führt zu einer Spaltung der Migration wie der Migrant(inn)en (vgl. dazu: Schröer/Sting 2003). Je mehr die sog. Dritte Welt im Globalisierungsprozess von der allgemeinen Wirtschafts- bzw. Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird, umso eher wächst der Migrationsdruck, welcher Menschen veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und gezielt nach Möglichkeiten der Existenzsi-
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cherung in ferneren Weltregionen zu suchen, was wiederum verschärfend auf die Einkommensdisparitäten zwischen den und innerhalb der einzelnen Gesellschaften zurückwirkt. Gleichzeitig werden soziale Zusammenhänge labiler und die Menschen gezwungenermaßen sowohl beruflich flexibler wie auch geografisch mobiler. Sie überwinden leichter und viel schneller als in der Vergangenheit riesige Entfernungen. Einen zentralen Unterschied, den die „Globalisierungsmigrant(inn)en“ selbst im Vergleich zu früheren Wanderungsprozessen empfinden, benennt Bernhard Nauck (2001, S. 256), wenn er schreibt: „Wanderungsentscheidungen verlieren zunehmend den Charakter einer Zäsur im Lebensverlauf, bei dem der Herkunftskontext ‚ein für allemal‘ zugunsten einer ‚Einwanderung‘ aufgegeben und allenfalls sporadischer Kontakt unterhalten wird. Moderne Informationstechnologien ermöglichen es, den Kontakt zu Bezugspersonen im Herkunftskontext dauerhaft zu unterhalten und sich kontinuierlich über das Geschehen in der Herkunftsgesellschaft zu informieren. Verkehrstechnologien ermöglichen es, zeit- und kostengünstig den Herkunftskontext regelmäßig zu besuchen, Migrationsentscheidungen zu revidieren oder durch neue zu erweitern.“ Neben die Migrationsform eines intentionalen, direkten und definitiven Wohnsitzwechsels, der in aller Regel einer prekären oder Notsituation im Herkunftsland geschuldet ist (Elends- bzw. Fluchtmigration), tritt eine neue Migrationsform, bei der sich Höchstqualifizierte, wissenschaftlich-technische, ökonomische und politische Spitzenkräfte sowie künstlerische und Sportprominenz heute hier, morgen dort niederlassen, sei es, weil ihre Einsatzorte rotieren, der berufliche Aufstieg durch eine globale Präsenz erleichtert wird oder Steuervorteile zum „modernen Nomadentum“ einladen (Eliten- bzw. Expertenmigration). Ludger Pries (2003, S. 115) spricht in diesem Zusammenhang von „transnationaler“ bzw. „Transmigration“ als einem neuen Migrationstypus: „Transmigranten zeichnen sich dadurch aus, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern für sie kein singulärer Vorgang ist, sondern zu einem Normalzustand und zu einer Normalitätserwartung wird, indem sich ihr gesamter Lebensraum pluri-lokal über Ländergrenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten aufspannt.“ Migrationsprozesse lassen sich weder von den persönlichen Schicksalen der Betroffenen noch von den gesellschaftlichen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen ablösen, die sie determinieren sowie ihr Ausmaß und ihre Richtung bestimmen. Was im tagespolitischen und Mediendiskurs mit Schlagworten wie „Armutsmigration“, „Wirtschaftsflucht“ oder „Asylantenschwemme“ belegt wird, geht als soziale Problemlage auf Formveränderungen und die wachsende Dynamik des Weltmarktes zurück: „Entwurzelung großer Menschengruppen und durch sie bedingte Ausbreitung der Marginalität sowie darauf folgende Migrationsprozesse sind vom Prozeß der Globalisierung nicht zu trennen.“ (Kößler 1997, S. 331)
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Man könnte aus denselben Gründen von „Globalisierungsmigration“ sprechen, die H. Gerhard Beisenherz (2002) veranlassen, von Kinderarmut als „Kainsmal der Globalisierung“ zu reden. Wanderungsbewegungen als Folge des neoliberalen Umstrukturierungsprozesses auf der ganzen Welt zu betrachten heißt aber nicht zwangsläufig, die entwickelten Industrieländer als Opfer riesiger Flüchtlingsströme zu sehen, wie es fälschlicherweise häufig geschieht. „Die weltweiten Migrations- und Asylprobleme spielen sich vor allem auf der südlichen Halbkugel ab.“ (Meier-Braun 2002, S. 173) Transkontinentale Wanderungen verändern gleichwohl die Welt, deren Gesellschaften immer weniger dem Muster homogener Nationalstaaten entsprechen. Migrant(inn)en, die heute ihr Land verlassen und im Zuge der Globalisierung nach einer neuen Heimat suchen, sind nicht nur mehrheitlich weniger betucht, sondern hierzulande auch selten in der Lage, sozial aufzusteigen. Denn ihnen drohen zumeist Stigmatisierung, Kriminalisierung und Marginalisierung. Zuwanderer gehören nur in wenigen Ausnahmefällen zu den Gewinnern eines Spaltungsprozesses, der längst die ganze Gesellschaft erfasst hat. „Migrantinnen und Migranten werden von sich abzeichnenden gesellschaftlichen Verarmungsprozessen vermutlich stärker betroffen sein, weil sie in Relation zu den Deutschen hinsichtlich ihrer strukturellen Integration weiterhin deutliche Defizite aufweisen.“ (Leibold u.a. 2006, S. 10)
3.5 Ausdifferenzierung des Migrationsregimes: Anwerbung der „besten Köpfe“ und Flüchtlingsabwehr Bedingt durch zunehmende Spaltungstendenzen zwischen den wie innerhalb der einzelnen Nationalstaaten, gestaltet sich die Migrationspolitik immer weniger einheitlich: Während die Industrienationen der Triade (Nordamerikas unter Führung der USA, Westeuropas unter Führung der Bundesrepublik und Südostasiens unter Führung Japans) gut ausgebildete Fach- bzw. Führungskräfte aus aller Herren Länder zu gewinnen suchen, gilt ihnen unerwünschte Armutsmigration bzw. Flucht als „Standortnachteil“, den man tunlichst zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren sucht. Zu- bzw. Einwanderung wird fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen Nutzens für das in erster Linie als „Wirtschaftsstandort“ begriffene Aufnahmeland bewertet (vgl. z.B. Sinn 2008). Dies gilt hierzulande umso mehr, als die Konkurrenzfähigkeit des „Standorts D“ in einer weitgehend vom Neoliberalismus beeinflussten Öffentlichkeit zum Maß aller Dinge avanciert ist. In der aktuellen Einwanderungsdiskussion verkehren sich die Fronten: Während (national)konservative Kreise die Staatsgrenzen „dichtmachen“ und
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möglichst wenige oder gar keine Migrant(inn)en mehr aufnehmen wollen, setzen sich (wirtschaftsliberale) Unternehmer und ihre Verbände für eine Lockerung der bestehenden Zuwanderungsrestriktionen ein. Aus einer unternehmerischen oder unternehmernahen Perspektive erscheint begrenzte Zuwanderung (vor allem gut ausgebildeter, möglichst williger und billiger Arbeitskräfte) als ökonomischer Standortvorteil. Bernd Hof (1993, S. 293) kam in einer Studie für das Institut der deutschen Wirtschaft zu dem Ergebnis: „Wenn Europa ein leistungsfähiger Standort bleiben will, ist es auf Zuwanderung angewiesen. Aber es kann nur das Ausmaß zulassen, das im Inneren verkraftbar ist.“ Scheinbar positiv besetzt ist Zuwanderung auch im Rahmen der neoklassischen Angebotstheorie, die darin ein Indiz für die Konkurrenzfähigkeit eines bevorzugten Aufnahmelandes gegenüber anderen Wirtschaftsstandorten sieht: „Zuwanderung ist der beste empirische Beleg für die relative Attraktivität eines Standortes im Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren. Zuwanderung vergrößert den Pool an Arbeitskräften, erhöht so das verfügbare Humankapital, dadurch steigt die Kapitalrentabilität, und das wirtschaftliche Wachstum wird stimuliert.“ (Straubhaar 1997, S. 61) James F. Hollifield (2003, S. 37) spricht von einem „liberalen Paradox“, weil man die Migration aus volkswirtschaftlicher Sicht positiv, unter Sicherheitsaspekten negativ bewertet: „Die ökonomische Logik des Liberalismus verlangt Offenheit, die politische und rechtliche Logik verlangen eher Abschottung.“ Obwohl oder gerade weil Neoliberale (viele, aber nicht alle) Zuwanderer als Gewinn bzw. Aktivposten für die eigene Volkswirtschaft begreifen, sie „vorurteilsfrei“ ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen und ihre Arbeitskraft als „Humankapital“ betrachten, führt eine „Herrschaft des Marktes“ zu weniger Humanität und bedingt den Abschied von moralischen Kategorien. Mit den Wanderungsbewegungen erfährt die Zuwanderungspolitik in den westlichen Wohlfahrtsstaaten eine Ausdifferenzierung: Die Elendsmigration folgt, unterliegt jedoch auch ganz anderen Gesetzen als die Eliten- bzw. Expertenmigration. Erstere stößt nicht nur auf offene Ablehnung in der öffentlichen Meinung, wie etwa die alarmistisch geführte Asyldebatte zu Beginn der 1990erJahre zeigte, sondern gilt als Existenzbedrohung für den „eigenen“ Wirtschaftsstandort; Letztere wird zwar im Standortinteresse akzeptiert, aber je nach Konjunktur- bzw. Arbeitsmarktlage limitiert. Globalisierung macht die Grenzen also nicht durchlässiger, bietet Menschen, die als „Edelmigrant(inn)en“ bevorzugt ins Land gelassen, wenn nicht gar gelockt werden, jedoch winzige Schlupflöcher. „Die Grenzen sind offen, aber nur für die Gebildeten und Erfolgreichen.“ (von Lucke 2000, S. 911) Wenn man so will, entsteht ein duales und selektives Migrationsregime: Die „guten“ (sprich jungen und möglichst hoch qualifizierten) Zuwanderer werden
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angeworben bzw. willkommen geheißen, die „schlechten“ (sprich älteren und niedrig qualifizierten) Zuwanderer systematisch abgeschreckt. „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ dienen als Instrumente einer Migrationspolitik, die ökonomischen bzw. demografischen Interessen folgt, wiewohl die Menschenrechte in Sonntagsreden zur obersten Richtschnur des Handelns erklärt werden. Selbst die sog. Süssmuth-Kommission, welche einvernehmlich und engagiert für mehr Zuwanderung plädierte, musste dies mit den Interessen des „Industriestandorts D“ begründen, was weite Passagen ihres Berichts, den sie am 4. Juli 2001 vorlegte, prägte. Schon die Einleitung beginnt mit einem Satz, dessen Subjekt die Nation bzw. der Wirtschaftsstandort ist: „Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderer.“ (Bundesministerium des Innern 2001, S. 11) Markterfolg und Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik bilden den Ausgangspunkt aller Überlegungen: „Deutschland muss für die Zuwanderer, die wir brauchen, attraktiv werden. In der Verknüpfung einer Zuwanderung von Hochqualifizierten und eigenen Anstrengungen kann eine Chance zur Stärkung von Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit liegen.“ (ebd., S. 17) Bei diesem wirtschaftsnahen Konzept wundert es nicht, dass man Zuwanderer im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ (ebd., S. 26) gewinnen möchte und Migrant(inn)en aufgrund des Geburtenrückgangs als Wohlstandsmehrer/innen, ökonomische Leistungsträger und/oder demografische Lückenbüßer/innen fungieren. Demnach fehlen nur die richtigen Arbeitskräfte bzw. kinderreiche Familien, um eine größere Gesamtgütermenge zu produzieren bzw. sich als „Gesellschaft im Niedergang“ biologisch überhaupt noch zu reproduzieren. Je mehr sich die einzelnen Nationalstaaten gemäß der neoliberalen Heilslehre als „Wirtschaftsstandorte“ verstehen, umso stärker wetteifern sie um das schärfste Asylregime in der Überzeugung, eine hohe Zahl gering qualifizierter Zuwanderer verschlechtere ihre Position auf dem Weltmarkt, belaste die Sozialsysteme und gefährde zumindest tendenziell den Wohlstand ihrer Bürger/innen. Jörg Alt (2003, S. 522) wiederum spricht mit Blick auf die irreguläre bzw. undokumentierte (Arbeits-)Migration von einem „Globalisierungssystem“, das totalitären Charakter habe und daher den Samen des eigenen Untergangs in sich trage. Als „jüngstes Stadium des Kapitalismus“ ist die ökonomische Globalisierung durch eine umfassende, Zollschranken, Handelsbarrieren und Devisenkontrollen transzendierende Internationalisierung der Märkte gekennzeichnet, nicht aber durch eine Liberalisierung der Migrationspolitik. Vielmehr sind Maßnahmen neoliberaler Deregulierung, die den Abbau von arbeits- und sozialrechtlichen Schutzbestimmungen für abhängig Beschäftigte sowie baurechtlichen und ökologischen Auflagen für Unternehmen bezwecken, durchaus mit einer bürokratischen Überreglementierung der Zuwanderung vereinbar. Sabine Dreher (2003, S. 14) weist zudem darauf hin, „dass Immigration im ‚neoliberalen Pro-
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jekt‘ zwar einerseits Wettbewerbsfähigkeit sichern soll und daher weiterhin notwendig ist. Andererseits dient Immigrationspolitik auch dazu, die Handlungsfähigkeit des Staates zu beweisen, ohne dass das ‚neoliberale Projekt‘, die Herstellung eines globalen Marktes, dabei gefährdet wird. Restriktive Migrationspolitik, die auf bewusste Ausgrenzung des ‚Anderen‘ hinausläuft, sichert die Legitimation des Staates.“ Während im Bereich der Flucht- wie der „illegalen“ und der „normalen“ Arbeitsmigration rigide Kontroll- und Schließungsmechanismen des einzelnen Nationalstaates greifen, der seine vom Globalisierungsprozess bedrohte Souveränität durch die Weigerung, Minderprivilegierte und Schutzsuchende aufzunehmen, wieder herstellen zu können glaubt, geschieht im Bereich der Expertenund Elitenmigration genau das Gegenteil: Der einzelne Nationalstaat verzichtet auf Kompetenzen zugunsten transnationaler Konzerne, die als Global Player ihre Personalplanung nicht von staatlichen Zuwanderungsentscheidungen abhängig machen wollen. Saskia Sassen (2000, S. 8) prognostiziert gar eine Privatisierung jener Bereiche der Zuwanderungspolitik, die Personen mit hoher Berufsposition bzw. -qualifikation betrifft: „Sie werden Objekte effektiver Regulierung und Unterstützung – ganz im Sinne der neuen Ideologie von Freihandel und freien Investitionen. Im Extremfall könnte den Regierungen nur die Überwachung von ‚schwierigen‘ und ‚unterqualifizierten‘ Immigranten verbleiben – also Arme, Niedriglohnempfänger, Flüchtlinge, Sozialhilfeempfänger und Querulanten.“ (Hervorh. im Original, Ch.B.) Mit der Dubliner Asylrechtskonvention vom 15. Juni 1990 und den vier Tage später verabschiedeten Durchführungsbestimmungen zum Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 (Schengen II) gab die Europäische Union ihrer Politik auf diesem Gebiet in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts ein juristisches Korsett, das die Aufnahme von Flüchtlingen stark reglementiert. Überhaupt vollzogen alle wichtigen OECD-Länder während der 1990er-Jahre eine restriktive Wende ihrer Asylpolitik (vgl. dazu: Holzer/Schneider 2002). Sie reagierten auf die wachsenden Flüchtlingsströme, indem Grenzkontrollen verstärkt und die Anerkennungsprozeduren nicht nur formalisiert, sondern auch strenger gehandhabt wurden. Nach dem am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag behalten die EU-Mitgliedstaaten zumindest vorerst ihre Entscheidungsgewalt im Hinblick auf die Ausländer- und Asylpolitik, deren Harmonisierung allerdings voranschreitet. Öffnung und Schließung gegenüber bestimmten Gruppen mehr oder weniger erwünschter Zuwanderer stellen strategische Optionen der Migrationspolitik dar, über die nationale Regierungen verfügen. „Staaten sind also (...) nicht einfach ‚Opfer‘ von Globalisierungsprozessen, auf die sie dann reagieren, sondern sie sind Akteure, die nachweisbar selbst globale Strukturen produzieren und durch ihre Handlungsweisen immer stärker stabilisieren.“ (Bös 1997, S. 181)
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Durch den sog. Asylkompromiss zwischen den damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP mit der SPD als führender Oppositionspartei, welcher eigentlich ein „Doppelbeschluss“ war und auf eine umfassende Neuregelung von Zuwanderung abzielte, wurde am 6. Dezember 1992 im vereinten Deutschland der Übergang zu einem gespaltenen Migrationsregime eingeleitet (vgl. Karakayali/Tsianos 2002, S. 260). In nur scheinbar paradoxer Weise ging die Schleifung des Grundrechts auf Asyl (Einfügung von Art. 16a Abs. 2 ff. GG), also der härteste Eingriff in die Rechtsposition politisch Verfolgter, den die deutsche Verfassungsgeschichte nach 1949 überhaupt kennt, mit einem Konsens über Erleichterungen im Bereich der Arbeitsmigration einher. Auch wenn die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl bis zu dessen Abwahl am 27. September 1998 kein Zuwanderungsgesetz mehr in Angriff nahm und die Umsetzung des zweiten Teils der Parteienübereinkunft so lange verschleppte, bis sie nicht mehr im Amt war, hatte der am 18. Dezember 2002 vom Bundesverfassungsgericht suspendierte Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition hier seinen Ursprung. Die strukturelle Dualisierung des Migrationsgeschehens spiegelt sich nicht nur im öffentlichen bzw. medialen Diskurs über „Asylschmarotzer“, die systematisch den deutschen Sozialstaat missbrauchen, und ausländische Experten, die den heimischen Arbeitsmarkt beleben, sondern auch im Handeln der Regierungen bzw. Verwaltungen unterschiedlicher Couleur wider: Den begehrten ITFachleuten bot man ostentativ eine „Green“ bzw. „Blue Card“ an, wohingegen das Ausländer- und Asylrecht für Flüchtlinge national wie auf EU-Ebene immer mehr verschärft wurde. Auf der kommunalen Ebene spaltet sich die Politik gegenüber Migrant(inn)en gleichfalls in zwei „unterschiedliche Handlungs-, Gestaltungs- und Versorgungskonzepte: da ist einerseits das Handlungsfeld der ‚Anwerbung von Spitzenkräften‘ (deren Beweglichkeit scheinbar unbegrenzt ist) und da ist andererseits das Handlungsfeld der ‚Armutswanderer und politisch Verfolgten‘ (deren Beweglichkeit im Aufnahmeland äußerst begrenzt ist).“ (Schmals 2000, S. 15) Überall stoßen politisch Verfolgte sowie weniger gut (aus)gebildete Migrant(inn)en auf eine Mauer des Misstrauens, bürokratischer Abwehr und institutioneller Diskriminierung (vgl. z.B. Gomolla/Radtke 2007). In den Massenmedien werden die Vorteile einer transnationalen Experten- und Elitenmigration meistens mit den negativen Konsequenzen von Armutswanderungen und Fluchtbewegungen für das Aufnahmeland kontrastiert (vgl. dazu: Butterwegge u.a. 2002; Butterwegge/Hentges 2006). Die soziale Polarisierung der Zuwanderer spiegelt sich auch in der Migrationsberichterstattung deutscher Zeitungen und Zeitschriften wider (vgl. Butterwegge 2006b, S. 208; Hentges 2006, S. 108 ff.). Man darf eine Wechselwirkung zwischen diesem Medienecho und einer am ökonomischen Nutzwert der Zuwanderer orientierten Migrations- bzw. Integrati-
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onspolitik vermuten, denn beide schaukeln einander hoch: Ohne entsprechende Medienberichte über „massenhaften Asylmissbrauch“ und „ausländische Sozialschmarotzer“ könnte die Bundesregierung keinen scharfen Abschottungskurs betreiben; Letztere wiederum leitet eben dadurch Wasser auf die Mühlen von Journalist(inn)en, die Horrorstorys der genannten Art lancieren wollen.
3.6 Krise der (Groß-)Stadt aufgrund sozialräumlicher Segmentierung ihrer Bewohner/innen In den urbanen Zentren massiert sich seit jeher die soziale Ungleichheit, und zwar hauptsächlich in Form einer residenziellen Segregation, wie sie ethnische Gruppen aufweisen (vgl. Friedrichs 2000, S. 174). Die sozialen Verwerfungen vor allem in den Metropolen des Südens führen nicht nur zu einer Ausbreitung der Slums, sondern vergrößern auch die Ungleichgewichte innerhalb der und zwischen den Städten unterschiedlicher Größe und ökonomischer Spezialisierung, wie Mike Davis (2007, S. 12) betont. Wegen der neoliberalen Modernisierung spitzen sich fast überall Ab- und Ausgrenzungsprozesse zu, von denen insbesondere Migrant(inn)en und deren Abkömmlinge betroffen sind, was einer sozialräumlichen Spaltung der Großstädte gleichkommt. Man spricht in diesem Zusammenhang von „ethnischer Segregation“, die sich derzeit verfestigt (vgl. dazu: Keller 1999, S. 47 ff.; Bremer 2000, S. 173 ff.). Was seit geraumer Zeit unter dem (Tot-)Schlagwort „Globalisierung“ mehr mythologisiert als entmystifiziert wird, verstärkt den Trend zum Einwanderungsland und schafft neue Konfliktlinien innerhalb der Aufnahmegesellschaft. Denn durch das neoliberale Konzept der „Standortsicherung“ als seiner Haupttriebkraft spitzen sich nicht nur die Verteilungskämpfe zwischen Einheimischen und Ausländer(inne)n, wie man die Migrant(inn)en in der Bundesrepublik paradoxerweise immer noch nennt, sondern auch die im traditionellen Wohlfahrtsstaat sozial abgefederten Interessengegensätze zwischen gut oder besser situierten und subalternen Bevölkerungsschichten zu. Migrant(inn)en unterliegen verstärkt der Gefahr sozialer Desintegration, sozialräumlicher Segregation und Exklusion (vgl. Hanesch u.a. 1994, S. 173). Wiewohl es nicht zur allgemeinen ethnischen Unterschichtung der Residenzgesellschaft kommt, verändern sich durch Migration die Sozialstruktur und die politische Kultur des betreffenden Landes, weil die sozioökonomischen Spaltungen zu sozialen Spannungen führen. Der sozialen Diskriminierung und räumlichen Segmentierung von Migrant(inn)en folgt die Marginalisierung jener Stadtteile, die sie bewohnen, auf dem Fuß. Auf zwei territorialen Ebenen findet eine Polarisierung statt: zwischen den Städten und (zwischen Quartieren) innerhalb der Städte (vgl. Ottersbach
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2004, S. 107). Françoise Dubet und Didier Lapeyronnie (1994, S. 220) haben mit Blick auf die französischen Banlieues beschrieben, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet: „Die großstädtischen Trabantensiedlungen sind nur ein ‚unnützer‘ Rand, der sich allein durch die von ihm ausgehende Gewalt und die Angst in Erinnerung zu bringen vermag, die er bei der extremen Rechten des politischen Spektrums auslöst. Dadurch entsteht das Bild einer Zweiteilung der Gesellschaft.“ Seit der nächtlichen Randale bzw. Unruhen, die Frankreich im Oktober/November 2005 erschütterten, gewann die Frage auch hierzulande an Bedeutung, ob die Integration der dritten Generation von Migranten gelungen oder eine Ausweitung und Eskalation dieser Form der Jugendgewalt zu befürchten sei. Kemal Bozay (2005) zeigt, wie die Ausgrenzungserfahrungen „türkischer“ Jugendlicher in Deutschland deren soziale Rückzugs-, Renationalisierungs- und Radikalisierungstendenzen fördern. Durch ihre Konzentration auf die eigene Community wirken Migrantenorganisationen, deren partizipatorische Kraft und emanzipatorische Funktion im Allgemeinen unterschätzt werden, zum Teil kontraproduktiv, was die Nutzung der vorhandenen Integrationsmöglichkeiten betrifft: „Aus Selbstorganisation können Selbstausgrenzung und Befestigung von Ethnostratifikation entstehen, und zwar in einem Eskalationsprozeß wechselseitiger Lieferung von Distanzierungsgründen zwischen altansässiger Mehrheit und neuanlangenden Minderheiten.“ (Fijakowski 1999, S. 214) Loïc Wacquant (2001, S. 486) warnt allerdings vor einer Dramatisierung der Situation in Westeuropa, wo ethnische Diskriminierung und Segregation, aber keine Ghettoisierung zu erkennen sei: „Es bilden sich keine kulturell homogenen, sozialräumlichen Enklaven heraus, in denen bestimmte, stigmatisierte Bevölkerungsgruppen zu leben gezwungen sind und dort sozial- und ortsspezifische Organisationen entwickeln, die den fehlenden institutionellen Rahmen der Gesellschaft ersetzen, wenngleich auch nur mangelhaft und minderwertig.“ Jenseits des Atlantiks ist die siedlungsräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen mitsamt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft hinsichtlich einer hohen (Gewalt-)Kriminalität, des massenhaften Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur tatsächlich sehr viel deutlicher erkennbar. Statt des „wohltätigen“ bzw. Sozialstaates setzte sich dort mehr und mehr der „strafende“ Kriminal- bzw. Polizeistaat durch. Die unter Präsident Bill Clinton verwirklichte Reform der Sozialhilfe substituierte das soziale Netz durch disziplinierende und diskriminierende Maßnahmen mit dem Ziel, die Staatsausgaben im Wohlfahrtsbereich weiter zu senken, die Armen in die untersten Bereiche des Arbeitsmarktes zu drängen und solche, die noch immer Unterstützungsansprüche stellen, streng zu bevormunden (vgl. Wacquant 1997, S. 61; ergänzend dazu: Wilke 2002).
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Der soziale Status eines Menschen entscheidet nicht bloß über seine Konsummöglichkeiten, weil Einkommen und Vermögen dafür ausschlaggebend sind, welchen Lebensstandard man sich leisten kann; das Quartier, in dem man wohnt, determiniert umgekehrt vielmehr auch die Aufstiegschancen im Beruf. Jens S. Dangschat und Ben Diettrich (1999, S. 98) weisen auf die steigende Bedeutung des Raumes für die Reproduktion der sozialen Ungleichheit hin. Vor allem den „global cities“ kommt demnach eine überragende Rolle bei dieser Ausdifferenzierung der postmodernen Gesellschaft in Arm und Reich zu. Stadtentwicklungsplanung, die als Standortpolitik der Kapitallogik folgt, schafft auf der einen Seite glamouröse Schaufenster des Konsums („Räume der Sieger“) und auf der anderen Seite vernachlässigte Wohnquartiere („Räume der Verlierer“), die kaum noch etwas miteinander zu tun haben. Besonders in boomenden Zentren verbindet sich der Mangel an finanziellen Ressourcen, wie ihn die Zuwanderer mit ihren meist miserabel entlohnten Arbeitsplätzen („bad jobs“) verzeichnen, mit einer prekären Situation auf dem Wohnungsmarkt: „Bezahlbar ist, wenn überhaupt, nur schlecht ausgestatteter Wohnraum, welcher sich zudem in infrastrukturell defizitären Quartieren befindet. Hier konzentriert und ghettoisiert sich Armut.“ (Hahn 1999, S. 204) Migrant(inn)en leben überwiegend in benachteiligten Wohngebieten (vgl. Friedrichs/Blasius 2000), die als „soziale Brennpunkte“ diskreditiert, mit einer überhöhten „Ausländerkriminalität“ assoziiert oder euphemistisch als „Stadtteile mit besonderem Entwicklungs-“ bzw. „Erneuerungsbedarf“ tituliert werden. Natürlich ist räumliche Segmentierung als solche völlig unproblematisch; schließlich praktizieren sie die gesellschaftlichen Oberschichten in Luxusquartieren seit jeher. Man muss auch kein idealistischer Schwärmer sein, um erkennen zu können, dass in der „multikulturellen Stadt“ ethnische Communities eine wichtige Quelle sozialen und kulturellen Kapitals bilden (vgl. dazu: Bukow u.a. 2001). Entscheidend dürfte letztlich sein, ob es sich um freiwillige oder erzwungene Zusammenschlüsse von Migrant(inn)en bzw. deren Nachkommenschaft handelt. „Nicht (...) das sozialräumliche Phänomen der Segregation ist das Problem, sondern die Art und Weise seines Zustandekommens.“ (Siebel 1997, S. 40) Was als „Krise der sozialen Stadt“ (Häußermann 2000) bezeichnet wird, kann harte Konflikte bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen nach sich ziehen, die – rassistisch aufgeladen – das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Kultur und Religion erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Umso dringlicher erscheint es, dem Konzept neoliberaler Modernisierung, das zutiefst inhumane Folgen zeitigt, eine attraktive, soziale und demokratische Alternative entgegenzusetzen.
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3.7 Ethnisierung der sozialen Konflikte, Dualisierung des Nationalismus und „Modernisierung“ des Rechtsextremismus Die neoliberale Modernisierung stützt bzw. bestätigt scheinbar Ideologien der Ungleichheit, wie sie Nationalismus, Rassismus und Sozialdarwinismus als geistige Triebkräfte des Rechtsextremismus verkörpern. Globalisierung, weltweite Pauperisierung und Ethnisierung der sozialen Beziehungen gingen Hand in Hand; Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus feierten hierzulande fröhliche Urständ (vgl. hierzu: Butterwegge 2002). Auch in einem Rechtspopulismus à la Jörg Haider (FPÖ/BZÖ), Silvio Berlusconi (Forza Italia/PdL), Pim Fortuyn (LPF) oder Christoph Blocher (SVP) und in einem separatistischen Regionalismus à la Umberto Bossi (Lega Lombarda/Lega Nord) manifestierten sich die politischen „Schattenseiten der Globalisierung“ (Loch/Heitmeyer 2001; vgl. ergänzend hierzu: Butterwegge 2008a). Je mehr die ökonomische Konkurrenz im Rahmen der „Standortsicherung“ verschärft wird, umso leichter lässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft politisch aufladen und als Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerber(inne)n um wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen instrumentalisieren. Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre gewann die Ethnizität spürbar an Bedeutung. Wolf-Dietrich Bukow (1990, S. 425) begreift die Ethnisierung als einen gesellschaftlich inszenierten Vorgang: „Es handelt sich um eine (...) soziogenerative Strategie zur Bereitstellung von gesellschaftlich-praktischen wie politisch-symbolischen Verfügungspotentialen.“ Vordergründig geht es bei der Ethnisierung um die „kulturelle Identität“; dahinter stecken aber meist Konflikte um knappe gesellschaftliche Ressourcen. Gewalt gegenüber (ethnischen) Minderheiten nimmt zu, wenn – trotz eines weiterhin wachsenden Bruttoinlandsproduktes und privaten Wohlstandes – der Eindruck vorherrscht, dass sich die Verteilungsspielräume verengen. Verteilungskämpfe werden zu Abwehrgefechten der Einheimischen gegen „Fremde“ und interkulturellen Konflikten hochstilisiert, sofern ausgrenzend-aggressive Töne in der politischen Kultur eines Landes die Oberhand gewinnen. Wo die Umverteilung von unten nach oben mit dem Hinweis auf Globalisierungsprozesse als für den „eigenen“ Wirtschaftsstandort nützlich, ja unbedingt erforderlich legitimiert wird, entsteht ein gesellschaftliches Klima, das (rassistische) Ausgrenzungsbemühungen stützt. Wenn selbst renommierte Wissenschaftler von einem „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) oder einem „Krieg der Zivilisationen“ (Bassam Tibi) sprechen, wundert es kaum, dass meist männliche Jugendliche zur physischen Gewalt gegenüber Migranten greifen, die sie als Konkurrenten um knapper werdende Arbeitsplätze, Lehrstellen, Wohnungen und Sexualpartnerinnen empfinden (vgl. hierzu: Butterwegge/Lohmann 2001).
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Ethnisierungsprozesse haben zwei Seiten: Neben einer Stigmatisierung „der Anderen“ bewirken sie die stärkere Konturierung „des Eigenen“ bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. „Volksgemeinschaft“, mit der dann politisch weiter reichende Ziele verfolgt werden. „Deutsche(s) zuerst!“ lautet jener Slogan, der solche Vorstellungen zusammen mit „Ausländer raus!“-Parolen im Massenbewusstsein verankert. Minderheiten fungieren dabei als Feindbilder (vgl. Bukow 1996), auf die sich Frustration und Hassgefühle projizieren lassen; umgekehrt stilisiert man sich selbst zum „Herrenmenschen“ hoch. Mit der Ethnisierung sozialer Beziehungen korrespondiert eine „Kulturalisierung“ der Politik, die nicht mehr auf materielle Interessen zurückgeführt, sondern auf die Wahrung kollektiver Identitäten reduziert wird, was zu einer Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte beiträgt. „Die konkurrierenden ‚Standortgemeinschaften‘ machen das Ethnische zur Grundlage einer vorgeblichen ‚Solidarität‘, und die ‚Herausgefallenen‘ werden mittels ethnisch-kultureller Stigmata ausgeschlossen.“ (Terkessidis 1995, S. 286) Die deutsche „Globalisierungshysterie“, auf der neoliberalen Hegemonie fußend, die nicht nur den Sozialstaat, vielmehr auch die Demokratie im Kern bedroht, fördert Tendenzen zur Ausgrenzung, Diskriminierung und Anwendung physischer Gewalt gegenüber (ethnischen) Minderheiten: „Die Marktchancen für rechtsextreme Gesellschaftsentwürfe sind insofern günstig. Als Reaktion auf Globalisierungsängste werden sie nationalistisch sein, als Reaktion auf die westliche liberale Weltgesellschaft autoritär, dies auch schon der eigenen Tradition wegen, und neu inspiriert durch die westliche Konkurrenzideologie sozialdarwinistisch.“ (Welzk 1998, S. 42) Dass sich die Erscheinungsformen des Rassismus in jüngster Zeit nicht unwesentlich verändert haben, beruht auf seinem grundlegenden Funktionswandel: Legitimiert wird heutzutage nicht mehr eine kolonialistische Politik der Expansion von europäischen Großmächten, sondern die Abwehr ihrer durch Arbeitsmigrant(inn)en und Armuts- bzw. Ökoflüchtlinge aus der sog. Dritten Welt personifizierten Folgen mittels verschärfter Asylgesetze, technisch perfektionierter Grenzkontrollen und Abschottung der „Wohlstandsfestung“ Westeuropa (vgl. hierzu: Butterwegge 1993). Rassismus lässt sich in letzter Konsequenz auf die Konkurrenz zurückführen, aber nicht darauf reduzieren, denn Brutalität gegenüber (ethnischen) Minderheiten erzeugt die ökonomische Rivalität nur, wenn ein geistiger Nährboden dafür existiert. Politisch-kulturelle Traditionen, die dafür sorgen, dass sich keine anderen, etwa demokratisch-sozialistische Deutungsmuster, durchsetzen können, müssen hinzukommen, damit eine Umbruchsituation mittels rassistischer Kategorien erklärt bzw. kollektiv „verarbeitet“ wird (vgl. hierzu und zum Folgenden: Butterwegge 2002, S. 126 ff.).
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Seit der historischen Zäsur 1989/90 befindet sich der Nationalismus weltweit im Umbruch. Bedingt durch die Globalisierung, teilt er sich gegenwärtig fast überall in zwei Strömungen: einen völkisch-traditionalistischen, meist protektionistisch orientierten Abwehrnationalismus, der besonders in den sog. Schwellenländern überwiegt, die ihre Marktöffnung als „Globalisierungsverlierer“ mit ökonomisch-sozialen Verwerfungen bezahlen (z.B. Russland), sowie einen Standortnationalismus, der als Begleiterscheinung des Neoliberalismus gelten kann und einer ökonomisch-technologischen wie geistig-moralischen Aufrüstung bzw. Aufwertung des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes dient, wo hoch entwickelte Industrieländer – etwa die Bundesrepublik – mit Erfolg modernisiert werden. Der zeitgenössische Nationalismus nimmt eine Doppelstruktur an, die sich innerhalb des organisierten Rechtsextremismus reproduziert. Obwohl weder die „Nation“ noch der eigene „Wirtschaftsstandort“ eine Antwort auf die zentralen Zukunftsfragen geben (vgl. Gessenharter 1997), fokussieren Alte und sog. Neue Rechte ihr Programm auf die eine oder den anderen. Hierzulande hat die 1991/92 kampagnenartig zugespitzte Asyldebatte nicht nur dem Grundrecht geschadet, sondern auch die Verfassung und die demokratische Kultur der Bundesrepublik lädiert (vgl. dazu: Söllner 1993; Prantl 1994). Von der Asyldiskussion führte ein gerader Weg zur Standortdebatte, die das Einfallstor für eine neue Spielart des Nationalismus bildete. Das verbreitete Bewusstsein, auf den internationalen Märkten einer „Welt von Feinden“ gegenüberzustehen und die wirtschaftsimperiale Überlegenheit des eigenen Volkes durch Erfindungsgeist, größeren Fleiß und Opferbereitschaft unter Beweis stellen zu müssen, kann man „Standortnationalismus“ (zu diesem Begriff: Butterwegge 1998, S. 131 ff.) nennen. Standortnationalismus bezieht die traditionelle „Sorge um das deutsche Vaterland“ auf den Fetisch „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ und macht die Verteidigung des „eigenen“, meist als substanziell bedroht dargestellten Wirtschaftsstandortes im Rahmen einer „Globalisierung der Märkte“ zum Fixpunkt politischen Handelns: „Ein tragendes Motiv der Standortdebatte, die stellenweise wie der Streit um des Kaisers neue Kleider klang, war die Vorstellung, daß die deutsche Nation eine Art Exportfirma sei, mit der es bergab gehe, die sich im hegemonialen Wettbewerb mit den anderen Vormächten der weltwirtschaftlichen Triade, Japan und den USA, nicht mehr behaupten könne, ihre führende Position an erster Stelle des Welthandels verliere.“ (Hengsbach 1997, S. 228) Die Totalidentifikation der Einheimischen mit ihrer Nation ist wieder ausdrücklich erwünscht, geht es für diese heute doch darum, den Weltmarkt zu erobern und im Wettkampf mit anderen „Wirtschaftsstandorten“ alle Kräfte zu mobilisieren. In den Massenmedien dominiert vom Wirtschaftsteil bis zu den Sportnachrichten die Botschaft, dass man auf die Leistungen deutscher Mitbür-
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ger/innen, handle es sich um Tennisstars, Boxer oder Rennfahrer, stolz sein und ihnen auf dem eigenen Tätigkeitsfeld nacheifern soll. Typisch dafür war die von 25 Medienunternehmen getragene Sozialmarketingkampagne „Du bist Deutschland“, die 2005/06 für mehr nationales Selbstbewusstsein werben und damit ökonomische Aufbruchstimmung erzeugen wollte. In dieselbe Richtung wies der medial erzeugte Hurrapatriotismus während der Fußballweltmeisterschaft, die vom 9. Juni bis zum 9. Juli 2006 in der Bundesrepublik stattfand, sowie abgeschwächt während der Fußballeuropameisterschaft, die vom 7. bis zum 29. Juni 2008 in Österreich und der Schweiz ausgetragen wurde. 4
Bekämpfung der Armut, Ausbau des Wohlfahrtsstaates und Entwicklung einer neuen Kultur der Solidarität
Globalisierung, soziale Polarisierung und Pauperisierung großer Teile der Weltbevölkerung fördern die Migration, der im multimedialen Zeitalter noch mehr Bedeutung als bisher zukommen dürfte. Umso dringender bedarf die Globalisierung einer ideologiekritischen Relativierung, weil sie in der öffentlichen Diskussion hierzulande verherrlicht oder bezüglich der Folgen eines neoliberalen „Umbaus“ fast aller Lebensbereiche nach Marktgesetzen und Konkurrenzprinzipien verharmlost wird: „Der telekommunikative Mythos vom freien Zugang in die Cyberräume einer globalen Informationsökonomie hat die politische Funktion der Vortäuschung gigantischer Freiheitsgewinne, obwohl wir es doch eher mit einer (sozial)technisch vermittelten Retotalisierung von anonymer Herrschaft zu tun haben, für die m.E. der Ausdruck Globalitarismus angemessen erscheint.“ (Ahlers 1999, S. 27; Hervorh. im Original, Ch.B.) Individuen und Gruppen von Menschen dürften auch künftig dorthin wandern, wo mehr Wohlstand herrscht und sie auf ein besseres Leben durch Partizipation daran hoffen können. „Die Migration der Armen wird in einer Welt, in der man nur noch durch Polizeigewalt an die Heimaterde gebunden ist, zu einem bedeutenden Faktor nicht nur der Wirtschaft, sondern auch jener Politik, die im kommenden Jahrhundert neu bestimmt werden wird.“ (Guéhenno 1994, S. 26 f.) Dies gilt auch und gerade im Hinblick auf Wanderungsbewegungen, die einen ausgesprochenen Zwangscharakter haben. Selten wird über die ökonomischen und sozialen Schattenseiten des Globalisierungsprozesses wie den Menschenhandel und die moderne Sklaverei gesprochen. Gerade weil sie heute überall verboten ist, findet die Versklavung außerhalb legaler Räume und damit vielleicht noch brutaler statt (vgl. Arlacchi 2000, S. 153; ergänzend: Bales 2001; Naim 2005, S. 112 ff.). Denn es lohnt sich nicht mehr, in die „Ware Mensch“, also die Ernährung, Erziehung und Ausbildung von Sklav(inn)en, zu investieren. Billiger ist es, schnell für weiteren Nachschub an „Menschenmaterial“ zu sorgen.
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Die fortschreitende Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung der Gesellschaft macht offenbar auch vor einer Vermarktung des Menschen selbst nicht Halt. Pino Arlacchi (2000, S. 41) betrachtet die moderne Sklaverei denn auch als Auswuchs einer globalisierten Marktwirtschaft, in der die Warenbeziehungen von der Güterwelt auf das Individuum und seine Arbeit ausgedehnt werden: „Entgegen den Vorhersagen der Abolitionisten, die Sklaverei und modernen Kapitalismus für unvereinbar hielten, sind niemals mehr Menschen zur Herstellung von Waren und als Dienstleister versklavt worden als gegen Ende des 20. Jahrhunderts.“ Sich armen Zuwanderern mit dem natürlich nicht falschen Hinweis auf die Notwendigkeit einer intensiveren Entwicklungszusammenarbeit zu verweigern, wie es Thomas W. Pogge (2002) empfiehlt, ist kein Konzept zur Bewältigung der Migrationsproblematik, die letztlich nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt verlangt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: „Sofern die bessergestellten Länder nicht tun, was in ihrer Macht steht, um die ökonomischen Aussichten der gravierend Schlechtgestellten in ihrem Herkunftsland entscheidend zu verbessern, haben sie grundsätzlich keine Berechtigung, ein Einwanderungsgesuch der Betroffenen abzulehnen.“ (Schlothfeld 2002, S. 95) Auch wenn man nicht die Naivität bzw. den Optimismus von Jeffrey D. Sachs (2005) teilt, der glaubt, die Armut in der sog. Dritten Welt durch Erhöhung und Verbesserung der Entwicklungshilfe allein beseitigen zu können, sondern die Schaffung einer anderen Weltwirtschaftsordnung für erforderlich hält, darf diese Aufgabe nicht vernachlässigt werden. Begleitet sein muss der Kampf gegen Armut, Unterversorgung und Hunger von einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus sowie einer umfassenden Entmythologisierung seiner Form der Globalisierung. Jean Ziegler (2007), UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, geißelt das Globalisierungssystem als „Imperium der Schande“ und leistet einen gleichermaßen fundierten wie engagierten Beitrag zur Entwicklung sozialer Alternativen. Damit die Menschen geografisch mobil und beruflich flexibel sein können, wie es der Standortwettbewerb, dessen Protagonisten und transnationale Konzerne von ihnen verlangen, muss sie der Wohlfahrtsstaat vor elementaren sozialen Risiken und den Wechselfällen des Lebens schützen. Es geht darum, wie er auf (teilweise neuartige) Problem- und Unterversorgungslagen seiner Bewohner/innen vorbereitet werden kann, ohne jene Grundlagen, zentralen Funktionsmechanismen und Gestaltungsprinzipien, die sich bewährt haben, zu zerstören. Um einen hohen Lebensstandard für das Gros der Bevölkerung zu gewährleisten, bedarf diese eines ausgebauten und leistungsfähigen Wohlfahrtsstaates. Individualisierung erfordert soziale Sicherheit, die Globalisierung der Ökonomie und
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die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse bedingen ein Mehr an (innovativer) Regulierung und Erwartungssicherheit, wenn sie nicht zu einem Verlust von Handlungsperspektiven der Individuen und Unternehmen sowie zu einem Verlust an sozialer Kohäsion führen sollen (vgl. Epskamp/Hoffmann 1999, S. 239). Da es im Zeichen der Globalisierung offenbar weniger und schlechter bezahlte Arbeit, aber mehr Armut gibt, muss sich der Wohlfahrtsstaat seiner beschäftigungspolitischen Verantwortung stellen (Verkürzung der Arbeitszeit, Schaffung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors) und für ausreichende Arbeitseinkommen sorgen (Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohnes, Senkung der Steuern für Geringverdiener/innen). Notwendig wäre es, das Versicherungssystem sukzessive von der Erwerbsarbeit zu entkoppeln (Umbau der Sozial- zu einer Volksversicherung, der alle erwachsenen Wohnbürger/innen angehören, mit allgemeiner Versicherungspflicht und staatlicher Subventionierung der Beiträge für Personen ohne ausreichendes Einkommen) sowie eine bedarfsorientierte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung einzuführen. Problematisch erscheint hingegen das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens, welches zuletzt größere öffentliche Aufmerksamkeit fand (vgl. hierzu: Butterwegge 2007). Entscheidend ist die Frage, wie der Globalisierungsprozess organisiert und ob er wohlfahrtsstaatlich flankiert, also mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen domestiziert wird. Sollen die Chancen des Globalisierungsprozesses allen Menschen, nicht bloß wenigen Gewinnern (Spezialisten, Spekulanten, Konzerngiganten, Brokern und Bankern) zugute kommen, muss er stärker reguliert, durch supranationale Institutionen, Regime und Abkommen zwischen den Nationalstaaten umwelt- und sozialverträglich gestaltet werden. Damit sich die Globalisierung der Ökonomie ohne Nachteile für Arbeitnehmer/innen, Erwerbslose und/oder Arme vollziehen kann, muss ihr eine Globalisierung, zumindest eine Europäisierung der Sozialpolitik folgen. Mögen viele Beobachter das Ziel eines Weltwohlfahrtsstaates für utopisch halten, nach Meinung anderer Fachleute existiert ein solches Regime zumindest in Ansätzen bereits (vgl. Hoffmann-Nowotny 2002, S. 33). Diese lassen sich erweitern, sofern das „Versprechen“ der Globalisierung ernst genommen und gegenüber Arbeitsmigrant(inn)en, Flüchtlingen und Vertriebenen eingelöst wird. Letzteren muss die Möglichkeit der Inklusion wie der Integration eröffnet werden, was Staatsbürgerrechte, einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen sowie geeignete Fördermaßnahmen für Zuwanderer bzw. Kinder mit Migrationshintergrund erfordert. Denn die beste Vorsorge gegenüber der ethnischen Unterschichtung einer Aufnahmegesellschaft bildet die Qualifizierung sowohl der jungen Migrant(inn)en wie auch der Neuzuwanderer, weil Kulturation in signifikantem Zusammenhang mit der sozialen Platzierung, begriffen als „Teilhabedimension von Integration“ (Halm/Sauer 2006, S. 24), steht.
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Ditmar Brock (1999, S. 103) spricht von der „Perspektive einer die Grenzen des Wohlstandsegoismus überspringenden Solidarität“ und erwartet, dass sich in absehbarer Zeit „neben den Nationalstaaten neue, nicht mehr territorial, sondern sozial definierte gesellschaftliche Gemeinschaften bilden, die punktuell und themenspezifisch globale Politik betreiben, die im Sinne einer schwachen Normierung wirksam sein kann.“ Innerhalb der Nationalstaaten wiederum kann das von Thomas H. Marshall (1992) entwickelte Konzept sozialer Staatsbürgerrechte als Grundlage eines gesellschaftlichen Reformprojekts dienen. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an hohe soziokulturelle und materielle Standards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise wird soziale Sicherheit bzw. Verteilungsgerechtigkeit zum konstitutiven Bestandteil einer neuen Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das Funktionieren der Parlamente und die Existenz einer unabhängigen Justiz. Kooperation statt Konfrontation, Inklusion statt Exklusion, Öffnung statt Schließung nach außen lauten die Leitlinien einer Sozialpolitik, die den Globalisierungsprozess nicht ohnmächtig begleitet, sondern seine Impulse nutzt, um das wohlfahrtsstaatliche Arrangement von den nationalstaatlichen Beschränkungen zu befreien. Entscheidend für die Realisierung einer sozialen Bürger- bzw. Zivilgesellschaft ist, ob es in Zukunft gelingt, das gesellschaftliche Klima im Rahmen einer politischen (Gegen-) Mobilisierung zu verbessern und eine neue Kultur der Solidarität zu entwickeln, die Zuwanderer und ethnische Minderheiten genauso selbstverständlich umfasst wie Einheimische.
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Migration als Menschenrecht und Normalität in einer offenen Welt
Was in der Ökonomie als Globalisierung begrüßt wird, lässt sich hinsichtlich der Migrations-, Integrations- und Sozialpolitik wenn überhaupt wohl nur längerfristig durchsetzen. Nachholbedarf in dieser Hinsicht besteht auch und gerade in der Bundesrepublik, die mehr Liberalität, Bürgerrechte, Partizipationsmöglichkeiten und Öffnungsbereitschaft braucht, wenn sie ihrem Anspruch, ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat zu sein, entsprechen will: „Es müssen rechtliche und sozialpolitische Wege gefunden werden, um erstens die Spannung zwischen Wohlfahrts- und Nationalstaat zu verringern und um zweitens Migranten in die Aufnahmegesellschaft einzuschließen.“ (Kleinert 2000, S. 355) Deutschland braucht eine Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, die den Menschenrechten verpflichtet, sozial und demokratisch ist. Bisher genießt nur das Kapital fast ungeschränkte Freizügigkeit, während viele Menschen – manchmal sogar mit Gewalt – an den Staatsgrenzen zurückgehalten wer-
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den. Weltoffenheit kann nicht bedeuten, die Grenzpfähle zu zerstören und alle Personen einwandern zu lassen, beinhaltet aber sehr wohl, dass jedes Land entsprechend seiner durch Wirtschaftswachstum, Reichtum und Wohlstand gebotenen Möglichkeiten den humanitären Mindeststandards für Zuwanderung folgt. Migrant(inn)en sind gewissermaßen die Sendboten einer umfassenden Globalisierung und müssten als solche akzeptiert werden, was aber selten geschieht: „Die Boten der Globalisierung werden von denjenigen, die im Land ausharren und als ‚Ureinwohner‘ über althergebrachte Macht- und Anspruchsstrukturen verfügen, nicht nur aus ‚Futterneid‘ abgelehnt, sondern ihnen werden noch dazu ganz einseitig die Globalisierungsrisiken aufgebürdet: Arbeitslosigkeit, Entprofessionalisierung, soziale Randständigkeit usw. Die Globalisierung wird mit ihnen ‚abgerechnet‘. Wie schon im alten Athen wird der Bote für seine folgenreiche Nachricht belangt.“ (Bukow 2000, S. 15) Mit der Globalisierung wird die multikulturelle Gesellschaft von einer Utopie zur unabweisbaren Realität, an der selbst Rassisten nicht mehr einfach vorbeisehen können, die sie jedoch noch energischer und fanatischer bekämpfen. Ulrich Beck (1997, S. 154) weist auf entsprechende Tendenzen zu Abschottung, Intoleranz und Xenophobie hin, betont jedoch auch und vor allem die positiven Implikationen veränderter Kräftekonstellationen in Zeiten der Globalisierung: „Wenn die Ambivalenzen der Weltgesellschaft am Ort konfliktvoll aufbrechen, ist das kein Zeichen des Scheiterns ‚multikultureller Gesellschaftsexperimente‘, sondern möglicherweise Zeichen des Beginns einer neuen Gesellschaftsepoche, in der transnationale, transkulturelle Lebensformen Normalität werden.“ Man sollte Migration nicht auf ein Problem der Vermischung von Kulturen bzw. der Verunsicherung kollektiver Identitäten, aber natürlich auch nicht auf ein sozioökonomisches, ausschließlich in der durch Globalisierungsprozesse wachsenden Ungleichheit von Lebensbedingungen und Disparitäten des Welt(arbeits)marktes wurzelndes Massenphänomen reduzieren (vgl. Bommes/Scherr 1991, S. 296). Sowenig die Zuwanderer nur hilflose Objekte der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung ohne eigene Handlungsspielräume sind, sowenig kann man ihre subjektiven Wahrnehmungen und daraus resultierenden Entscheidungen ohne deren Rückbindung an objektive Rahmenbedingungen verstehen, zu denen Weltmarktdynamik, Beschäftigungsmöglichkeiten und Machtstrukturen gehören. Identitätsprobleme lassen sich meistenteils auf Interessengegensätze zurückführen; kulturelle sind von ökonomischen und sozialen Fragen schwer zu trennen. Auch eine „Politik der Anerkennung“, für die Charles Taylor (1997) in seinem berühmten Essay gleichen Titels plädiert, basiert auf der Bereitschaft zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Klassen, Schichten und Gruppen. Der entwickelte Wohlfahrtsstaat schafft Seyla Benhabib (1999, S. 35) zufolge überhaupt erst die soziale Basis für eine Ausprägung unterschiedli-
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cher kultureller Identitäten durch (ethnische) Minoritäten: „Weil er das Netz sozialer Gleichheit über eine bloße Einkommensverteilung hinaus ausdehnt, um in den wichtigsten Bereichen der Gesellschaft wie Gesundheit, Ausbildung und Wohnung Chancengleichheit zu erreichen, erzeugt der Wohlfahrtsstaat eine Form der öffentlich-politischen Kultur, die die Bildung von kollektiven Gruppenidentitäten fördert.“ Wohlfahrtsstaat und Zuwanderung bilden keinen Widerspruch, können vielmehr dann in einer nützlichen Wechselbeziehung stehen, wenn die Politik eines reichen Landes wie der Bundesrepublik angemessen auf Migration reagiert, sie weder negiert noch diabolisiert (vgl. Butterwegge 2000, S. 276 ff.). Migration muss als gesellschaftliche Normalität, konstitutiver Bestandteil des Globalisierungsprozesses und politische Gestaltungsaufgabe von höchster Priorität begriffen werden. Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 23. Februar 2000 die Computermesse CeBIT in Hannover mit einer Rede eröffnete, griff er die von Verbänden der High-Tech-Industrie lancierte Idee auf, für hoch qualifizierte Arbeitskräfte ihrer Branche möglichst unbürokratisch zeitlich befristete Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. In der Diskussion über eine „Green Card“, wie man die Neuregelung in Anlehnung an das großzügigere US-Pendant nannte, ohne deren Inhabern nach amerikanischem Vorbild ein dauerhaftes Niederlassungsrecht zu gewähren, dominierte erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder das „deutsche Interesse“, wobei weniger völkischer als Standortnationalismus die politisch-ideologische Triebfeder bildete. Obwohl sie das Rotationsprinzip wiederbelebte, bedeutete die im August 2000 eingeführte Green-Card-Regelung keine Rückkehr zum „Gastarbeiter“Modell der Nachkriegszeit, wie Dieter Oberndörfer (2000, S. 214) fälschlicherweise mutmaßte; diesmal ging es nämlich nicht um die Entlastung und Aufwertung deutscher Arbeitskräfte durch Anwerbung ausländischer, sondern um die Implementierung eines Verdrängungswettbewerbs zwischen ihnen. Gleichzeitig wurde im Unterschied zur „Gastarbeiter“-Diskussion 1970 bis 1973 einerseits und zu den beiden Asyldebatten 1980 bis 1983 bzw. 1991 bis 1993 andererseits um die Jahrtausendwende weitgehend ohne rassistische Untertöne für eine behutsame Öffnung der Bundesrepublik und (begrenzte) Einwanderung plädiert. Vorübergehend schien es um die Jahrtausendwende, als bilde sich nach mehreren Dekaden massiven Widerstandes nun auch in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik ein parteien- bzw. lagerübergreifender Grundkonsens darüber aus, dass es im Zeichen der Globalisierung keine Alternative zur Einwanderungsrealität gibt und man sich damit irgendwie arrangieren muss. Seit dem Anwerbestopp 1973 bestanden jedenfalls nie so große Chancen für eine breite Akzeptanz von Immigration wie um die Jahrtausendwende, obwohl kri-
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tisch einzuschränken bleibt, dass Interessen am Import bzw. an der Verwertung von Arbeitskräften den Anstoß dazu gegeben hatten und der „eigene“ Nutzen bei der Diskussion über eine befristete Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltserlaubnis für ausländische IT-Fachleute als Leitmotiv fungierte. Matthias Hell (2005, S. 126) wertet Gerhard Schröders diesbezüglichen Vorstoß daher nicht als dessen „originäre Idee“, sondern als „Paradebeispiel für die gewachsenen politischen Einflussmöglichkeiten einer selbstbewusst agierenden Wirtschaft“ und als Erfolg systematischer Lobbyarbeit: „Der von Standortsorgen bestimmte wirtschaftspolitische Hintergrund des Vorstoßes zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch die folgende Diskussion um die Einführung eines deutschen Zuwanderungsgesetzes.“ Das „mit der ausländerpolitischen Wende nach 1982“ weitgehend „verschüttete“ Argumentationsmuster, welches Martin Wengeler (2006, S. 13 und 18) als „Topos vom wirtschaftlichen Nutzen“ bzw. als „NotwendigkeitsDiskurs“ bezeichnet, rückte neuerlich in den Vordergrund. Die hierzulande millionenfach gestellte Frage „Nutzen uns die Zuwanderer oder nutzen sie uns aus?“, verbunden mit einer noch stärkeren Hierarchisierung der Migranten durch Politik und Publizistik, Medien und öffentliche Meinung, beruht auf nationalistischen bzw. rassistischen Prämissen, die der gleichzeitig proklamierten Weltoffenheit eigentlich Hohn sprechen. Sie grenzt ein nationales Kollektiv, die „Wir“Gemeinschaft „der Deutschen“, gegenüber „den Anderen“ bzw. „den Fremden“ ab. Aufgrund solcher rassistischen Ressentiments befinden sich etwa Asylsuchende in folgendem Dilemma: Wenn sie einem Arbeitsverbot unterliegen, wirft man ihnen vor, faul und „Sozialschmarotzer“ zu sein; wenn sie arbeiten dürfen, wirft man ihnen vor, den Einheimischen die Arbeitsplätze wegzunehmen. Aus diesem Teufelskreis permanenter Diffamierung führt längerfristig nur eine Politik der Antidiskriminierung sowie der gezielten Gleichstellung von (ethnischen) Minderheiten auch und gerade im Wohlfahrts- und Wirtschaftsbereich heraus, verbunden mit Aufklärungskampagnen sowie energischeren Maßnahmen gegen rechtsextreme Organisationen, Strömungen und Bestrebungen. Bislang ist auf diesem Gebiet trotz des im Herbst 2000 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündeten „Aufstandes der Anständigen“ und des – am 18. März 2003 vom Bundesverfassungsgericht aus formalen Gründen eingestellten – Verbotsverfahrens gegen die NPD jedoch wenig passiert, noch seltener etwas wirklich Sinnvolles (vgl. dazu: Lynen von Berg/Roth 2003). In der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft spielen die Massenmedien eine Schlüsselrolle für die Bewusstseinsbildung (vgl. hierzu: Butterwegge u.a. 1999; Butterwegge/Hentges 2006). Sie können Migration als Herausforderung, Chance oder Gefahr erscheinen lassen. Migrant(inn)en werden oftmals als „Belastung“ (des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme), als „Be-
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drohung“ (der Inneren Sicherheit und der „nationalen Identität“) oder als (materielle und kulturelle) „Bereicherung“ des Aufnahmelandes wahrgenommen bzw. dargestellt. Davon, welches Bild der Zuwanderung die Medien zeichnen und welche Form der Integration von Migrant(inn)en sie propagieren, bleiben die Einstellungen der meisten Gesellschaftsmitglieder und das Massenbewusstsein, aber teilweise auch das Image, der soziale Status und selbst die beruflichen Zukunftsperspektiven der Zuwanderer heute nicht unberührt. Der ökonomische Globalisierungsprozess ist ambivalent, weil er zur Öffnung wie zur Schließung gegenüber Migrant(inn)en führen kann. Ähnliches gilt für die Art und Weise, wie man im Aufnahmeland mit den Neuankömmlingen umgeht. Weder ist Transnationalisierung per se Ursache und Katalysator für ethnisch aufgeladene Konflikte, noch garantiert sie deren Pazifizierung (vgl. Treichler 2000, S. 291). Sehr viel hängt in dieser Beziehung von der Einstellung und vom Verhalten jener nationalen Eliten ab, die mit Abstand am meisten von der Globalisierung bzw. neoliberalen Modernisierung und (Arbeits-)Migration profitieren. Mag es auch nach den Terroranschlägen von New York bzw. Washington D.C. am 11. September 2001, von Madrid am 11. März 2004 und von London am 7. Juli 2005, zum Teil heuchlerischen Reaktionen darauf und einer seither noch mehr um sich greifenden Verkürzung des Sicherheitsbegriffs auf militärische Optionen, polizeiliche Interventionen und Geheimdienstaktionen schwer sein, für Offenheit, Toleranz und Solidarität in der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft zu werben, so eröffnet doch dies allein Perspektiven für ein dauerhaftes friedliches und humanes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, ethnischer Herkunft und Religion, über das nicht der (Welt-)Markt entscheiden sollte.
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Migration als Form der Emanzipation? Motive und Muster der Wanderung von Frauen Annette Treibel
„Von jedem von uns wird eine Abenteuergeschichte erwartet. Wie jeder in dieser Gesellschaft haben wir auch bestimmte Funktionen und Eigenschaften, und zwar als ein Ganzes. Zu unseren Eigenschaften gehört eben auch, daß wir interessante Geschichten über unser Leben erzählen können. Letztens wurde ich gefragt, ob wir hierher geflohen seien. Da war jemand ganz scharf auf eine Fluchtgeschichte, wie sie im Bilderbuch steht. Ist ja jetzt in, wo alle von der Flucht aus der Türkei reden. ‚Nein‘, habe ich gesagt, ‚wir sind weder geflohen, noch haben wir in der Türkei gehungert. Wir sind schlicht und einfach eingewandert.‘ Das ist die Wahrheit, und alle müssen diese Wahrheit akzeptieren. Es gibt hier viele Ausländer, die Geschichten erzählen können, daß einem ganz anders dabei wird. Aber es gibt mindestens genauso viele, die hier leben, ganz normal. Sie haben nichts Außerordentliches zu berichten, und ihr Lebenslauf liest sich wie der eines Deutschen, nur der Name ist nicht deutsch und vielleicht das Gesicht. Das soll aber nicht heißen, daß wir wie die Deutschen sind.“ (Statement einer als „Mihriban, 30, Gemüseverkäuferin“ bezeichneten Einzelhandelskauffrau, in: Zaimoglu 1998, S. 45 f.)
1
Migration und Emanzipation – eine irritierende oder eine selbstverständliche Verbindung?
Es scheint ungewöhnlich, Migration ausgerechnet mit Emanzipation zu verbinden. Nach dem Alltagsverständnis sind Migrantinnen oder Migranten – als Flüchtlinge oder als Arbeitssuchende – gehetzte oder unzufriedene Menschen, die mit der Migration ein existenzielles oder zumindest gravierendes Problem lösen, nämlich ihr Leben zu retten oder ihre Lebenssituation erträglicher zu machen. Migration befriedigt also die menschlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unversehrtheit, Sicherheit, Freiheit vor Verfolgung, kurz: nach einer Lebensperspektive. Demgegenüber wird Emanzipation nicht als etwas Existenzielles, sondern als zusätzliche Aktivität jener verstanden, welche die übrigen Bedürfnisse schon befriedigt haben. Emanzipation bedeutet allgemein die Befreiung aus einem Zustand der Abhängig-
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Annette Treibel
keit und ist heute meist auf die „Befreiungsbewegung“ der Frauen von den Männern gemünzt. Sie gilt als Mittelschichtphänomen und wird gerade nicht mit einer Notsituation verbunden, die zur Migration führt. Fliehen Frauen aus der Abhängigkeit von Männern und werden zu Migrantinnen, so geschieht dies aufgrund von Gewalt, die sie von den Männern der eigenen bzw. von Männern fremder Gruppen erfahren. Weniger dramatische Erfahrungen wie Sexismus, Patriarchalismus oder ungleiche Entlohnung werden zwar als Emanzipationsanlässe, aber weniger als Migrationsursachen verstanden. Über Migration und Emanzipation wird also in unterschiedlichen Kontexten verhandelt – dies ist die erste Irritation. Hieraus ergibt sich als zweite Irritation, dass Emanzipationsprozesse mit relativ etablierten Einheimischen und nicht mit weniger etablierten Zuwanderinnen und Zuwanderern verbunden werden. Insbesondere in der Perspektive derjenigen, welche die eigene Gesellschaft kritisch sehen, gelten die Zugewanderten als diskriminierte, ausgebeutete und klein gehaltene Gruppe, für die kein Etikett weniger zu passen scheint als das der Emanzipation. Wenn schon, dann emanzipieren „‚wir‘ uns auf Kosten der ‚Fremden‘“ – eine Konstellation, die Saskia Sassen (1998, S. 207 f.) folgendermaßen zuspitzt: „In einem lange Zeit unterschätzten Ausmaß ist damit eine neue Klasse von ‚Bediensteten‘ entstanden: Die Immigrantin, welche die weiße, hochqualifizierte Mittelschichtsfrau bedient, hat das traditionelle Bild der schwarzen Diener des weißen Hausherren abgelöst.“ Als passendes Etikett für die Zugewanderten erscheint das der Unterdrückung – dies gilt erst recht, wenn es sich um weibliche Zugewanderte handelt. Diese sind gleich mehrfach diskriminiert, als Frauen, als Arbeiterinnen und als Ausländerinnen. Sind ihre Partner oder Männer gleichfalls Migranten, so gelten die Migrantinnen als „Opfer der Opfer“. Man kann die Verbindung von Migration und Emanzipation auch als durchaus selbstverständlich begreifen, nämlich dann, wenn man das historische und soziologische Bedeutungsspektrum von Emanzipation näher betrachtet. Historiker weisen darauf hin, dass nach römischem Recht mit emancipatio die Freilassung eines Sohnes aus der väterlichen Gewalt gemeint war; erst mit der Freilassung wurde er zu einer Person eigenen Rechts. Als politisches Schlagwort trat Emanzipation verstärkt seit der Französischen Revolution und der Aufklärung auf den Plan: Von verschiedenen und für verschiedene Gruppen wurden gleiche Rechte gefordert, Sklaven in den USA, Juden und Frauen (sämtliche Postulate stammen aus den 1830er-Jahren). Die soziologische Perspektive ist stärker auf die Metaebene gerichtet und hebt auf Emanzipation als politische Zielvorstellung und Leitbild einer kritischen Gesellschaftstheorie ab. Allgemein ist Emanzipation als Phänomen der Neuzeit zu begreifen, das im Übergang von der feudalistischen zur bürgerlichen Gesellschaft entstand (vgl. die detaillierte Aufarbeitung durch Grass/Koselleck 1998). In diesem Kontext
Migration als Form der Emanzipation?
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erscheint die Verbindung von Migration und Emanzipation als nahe liegend und schlüssig – ist es doch ein zentrales Motiv von Migrant(inn)en, sich aus feudalen oder quasifeudalen Abhängigkeitsbeziehungen zu lösen und in einem städtisch„moderneren“ Umfeld ein neues Leben zu beginnen. Danach würden Frauen, die vor Ort blieben, in geringerem Umfang mit Männern gleichgestellt, in geringerem Maße Bewusstseinsprozesse durchlaufen, mehr Kinder bekommen und hätten schlechtere Bildungschancen als Frauen, die wandern. Sind also nur diejenigen „emanzipiert“, die ihrer Herkunft(sregion) den Rücken zukehren und dadurch eine „Person eigenen Rechts“ werden? Eine derartig vereinfachte Zusammenhangsbehauptung würde der Heterogenität von Wanderungsprozessen und der Gruppe der Migrantinnen nicht gerecht. Die Frage ist nun: Wie hängen Migration und Emanzipation genau zusammen? Um darauf eine Antwort zu finden, werde ich zunächst einen Überblick über die Migration von Mädchen und Frauen geben. Dabei geht es um die Ursachen der unterschiedlichen Formen weiblicher Migration, den Aufenthaltsstatus und die Arbeitssituation in den Aufnahmeländern sowie die Bedeutung der „alten“ und der „neuen“ Netzwerke von Migrantinnen. Im Anschluss daran sollen die verschiedenen Prozesse und Indikatoren im Hinblick auf Emanzipation diskutiert werden.
1.1
Ursachen und Formen weiblicher Migration
Die Wanderungsgründe von Frauen sind ähnlich breit gestreut wie die von Männern: „Armut, Abenteuer, Kalkulation, Verzweiflung“ (Stalker 1994, S. 21; Übersetzung von mir, A.T.). Sie entscheiden sich zur Migration
aus existenzieller Notwendigkeit, zur Sicherung des Lebensunterhalts für sich und/oder Angehörige (Beispiele hierfür bieten griechische Gastarbeiterinnen, die sich Ende der 1960er-Jahre in die Bundesrepublik Deutschland, Belgien oder Frankreich anwerben ließen, sowie philippinische Frauen, die gegenwärtig als Hauspersonal in den Staaten der Golfregion arbeiten); aus Lust am Abenteuer oder an der Veränderung, auf der Suche nach einer neuen Heimat (Beispiele hierfür bieten Mädchen und Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts aus Norwegen oder Schweden in die USA kamen und dort als Dienstmädchen arbeiteten, sowie deutsche Aussteigerinnen, die während der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in das „ursprünglichere“ Andalusien auswanderten); zu Ausbildungs- oder Studienzwecken (beispielsweise als deutsche Politologiestudentinnen in London);
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weil ihre Firmen sie als Expertinnen für eine befristete Zeit ins Ausland schicken (etwa als Managerinnen einer japanischen Konzernniederlassung in Düsseldorf oder Dresden); weil sie verfolgt werden (etwa als jüdische Intellektuelle durch das NaziRegime oder als Kosovo-Albanerinnen im ehemaligen Jugoslawien).
Bezüglich der Wanderungsformen gilt Entsprechendes. Frauen sind beteiligt
an freiwilliger Migration (sog. Arbeitsmigration) und an Zwangsmigration (Flucht, Vertreibung); an Armuts- und Expertenmigration; an Binnen- und internationaler/interkontinentaler Migration; an temporärer und permanenter Migration.
An den beiden Auflistungen ist zu erkennen, wie vielfältig die Wanderungsgründe und -formen sind und wie problematisch eine scharfe Abgrenzung der Migrationsmotive wäre. Dies gilt insbesondere für die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration, eine langjährig gültige Grundannahme der Migrationsforschung. Ein großer Teil der Migrantinnen und Migranten sieht sich zur Wanderung gezwungen, selbst wenn es niemand Konkreten gibt, der oder die sie direkt nötigen würde. Gleichzeitig sind selbstverständlich auch Flüchtlinge darauf angewiesen, sich ökonomisch zu reproduzieren. Was ist nun geschlechtsspezifisch und was -neutral? Die Wanderungsmotive (drohende) Armut, Verfolgung, Arbeitssuche und mangelnde Lebensperspektive gelten für beide Geschlechter. Neben diesen geschlechtsneutralen kommen als geschlechtsspezifische Wanderungsmotive bei Frauen verschärfte Mittellosigkeit, strukturelle Diskriminierung und besondere Verfolgungssituationen hinzu.
1.2
Fluchtmigration
Weltweit betrachtet, machen Frauen und Kinder 75 bis 80 Prozent der etwa 50 Mio. Flüchtlinge aus (vgl. UNHCR 2002). Der überwiegende Teil von ihnen sind Binnenflüchtlinge; bei den Fluchtbewegungen über Staatsgrenzen oder gar bei der interkontinentalen Fluchtmigration ist der Frauenanteil niedriger: „Lediglich 20 bis 30 Prozent der erwachsenen Asylsuchenden in Westeuropa sind Frauen, in Deutschland liegt ihr Anteil an den etwa 140.000 Asylsuchenden bei 35 Prozent.“ (Hummel 1999) Zu den geschlechtsneutralen Fluchtmotiven wie politische Verfolgung, Krieg, Hunger und Vertreibung kommen als geschlechtsspezifische Ursachen bei
Migration als Form der Emanzipation?
107
Frauen hinzu: Beschneidung, sexuelle Gewalt, drohende Mitgiftmorde und ähnlich dramatische Umstände. Eine weniger auffällige, aber nicht minder bedeutsame Ursache stellen sog. Verstöße gegen die Moral dar, etwa der Verlust der Jungfräulichkeit. Dieser gilt in manchen Gesellschaften als derart ehrenrührig, dass die Betroffene nur durch Flucht ihr Leben retten kann. Die Kategorie „Geschlecht“ hat im Kontext von Verfolgung einen zentralen Stellenwert. Das Charakteristische an frauenspezifischer Verfolgung liegt auf zwei Ebenen: zum einen in der Verfolgung mittels sexueller Gewalt und zum anderen in der Verfolgung von Frauen aufgrund (der Existenz bzw.) des Verstoßes gegen ausschließlich für sie geltende Normen und Gesetze. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede verfolgte Frau ein Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung geworden ist, wie auch nicht jede Verfolgung zur Flucht führt. Auf internationaler Ebene wird in zunehmendem Maße anerkannt, dass der alleinige Blick auf die staatlichen Akteure dem meist nichtstaatlichen und privaten Kontext der Verfolgung und Diskriminierung von Frauen nicht gerecht wird. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit für die sexuellen Übergriffe auf Mädchen und Frauen etwa in Flüchtlingslagern durch andere Flüchtlinge oder gar durch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen geschärft (vgl. UNHCR 2005).
1.3
Arbeits- und Heiratsmigration
Betrachtet man Migration weltweit, so machen die Flüchtlinge den geringeren Teil aus: Auf 158 Mio. Menschen werden die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten geschätzt. Der Frauenanteil in dieser Gruppe betrug im Jahr 2000 knapp 50 Prozent (vgl. Weltkommission für Internationale Migration 2005) mit steigender Tendenz. Die große Bedeutung der weiblichen Migration schlägt sich im Begriff „Feminisierung der Migration“ nieder (vgl. Wichterich 1996; Morokvasic u.a. 2003). Als Hauptgründe für diese Entwicklung werden angeführt: Familienzusammenführung, Zunahme frauendominierter Beschäftigungen, Überlebensstrategien von Familien und wachsende Unabhängigkeit der Frauen (vgl. Stalker 1994, S. 106 ff.). Die Suche nach Arbeit und Einkommen für sich (und die Angehörigen) stellt häufig nur ein Element im Geflecht der Wanderungsmotive dar: „Frauen fliehen nicht nur aus Arbeitslosigkeit, sondern streben auch nach größerer Freiheit und Selbstverwirklichung. Ein ständiger Strom von jungen Japanerinnen bricht jährlich in die Vereinigten Staaten auf, frustriert durch die begrenzten Optionen zwischen Heirat oder einem zweitklassigen Job in einer konformistischen Gesellschaft – diese Frauen verstehen sich als ‚soziale Flüchtlinge‘.“ (ebd., S. 107; Übersetzung von mir, A.T.)
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Die Expansion des privaten Dienstleistungssektors (weibliche Hausangestellte) ist besonders bei Arbeitsmigrantinnen aus asiatischen Staaten zu beobachten. Hauptherkunftsländer sind die Philippinen, Indonesien, Sri Lanka und Thailand: „Allein auf den Philippinen gibt es (...) etwa 700 registrierte Agenturen, die für horrende Gebühren jährlich über 700.000 Arbeitsverträge vermitteln.“ (taz v. 6.6.1996 unter Hinweis auf Lim/Oishi 1996) Hauptzielländer sind Saudi-Arabien, Kuwait und andere Golfstaaten sowie (innerhalb Asiens) Japan, Malaysia, Hongkong, Taiwan und Singapur. In ihrer Untersuchung über Migrantinnen von den Philippinen, aus Thailand sowie lateinamerikanischen und karibischen Staaten im Stuttgarter Raum konstatieren Elvira Niesner u.a. (1997, S. 28 f.): „Ihr primäres Migrationsmotiv liegt in der Verbesserung ihres materiellen Lebensstandardes sowie in der Unterstützung von zuhause gebliebenen Familienangehörigen. Mit der Ausreise ist zudem die Hoffnung auf eine stabile Partnerschaft verbunden. Dabei wird die Entscheidung für einen dauerhaften Auslandsaufenthalt nicht immer sofort getroffen. Diese entwickelt sich manchmal aus einer zeitlich befristeten Erwerbsarbeit in Übersee oder aus einem vorwiegend touristisch motivierten Verwandtschaftsbesuch. In den meisten Fällen war ein engagiertes Suchen nach Migrationswegen und -möglichkeiten nicht notwendig. Die konkrete Idee zur Migration entstand aus einer realen Chance, die gleich beim ersten Versuch erfolgreich zur Ausreise genutzt wurde.“ Mit dem genannten Motivbündel ist eine zunehmend wichtige Form weiblicher Wanderung angesprochen, die jedoch nicht unter Arbeitsmigration im üblichen Sinne fällt, die Heiratsmigration. Vielen der betroffenen Frauen bietet die Ehe mit einem wohlhabenden Westeuropäer eine der wenigen Möglichkeiten, für sich selbst und häufig auch für ihre Angehörigen im Herkunftsland eine neue Perspektive aufzubauen (vgl. Lauser 2004). Für das Wachstum dieses Sektors sind mehrere Faktoren verantwortlich: die Armut und Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern, die offensichtliche Müdigkeit westlicher Männer im Umgang mit partnerschaftlichen Beziehungen zu einheimischen Frauen und vor allem die immer größer werdenden Schwierigkeiten, als „normale Arbeitsmigrantin“ legal einreisen zu können: „Da seit dem Anwerbestopp der frühen 70er Jahre die Möglichkeiten der Arbeitsmigration nach Westeuropa nahezu gänzlich verschlossen sind, bilden die Einreise als Hausgehilfin, die durch Agenturen vermittelte Heirat eines EG-Staatsbürgers oder auch die Anwerbung zur Prostitution die im wesentlichen noch verbliebenen Kanäle der Immigration bzw. Arbeitsaufnahme in der EG.“ (Baringhorst 1993, S. 72) Heiratsmigration beschränkt sich nicht nur auf die autochthone Bevölkerung. So heiraten Zuwanderer mit gesichertem Aufenthaltsstatus Frauen aus ihren Herkunftsländern bzw. werden Frauen mit im Ausland lebenden Angehöri-
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gen oder Bekannten verheiratet. Nach Angaben des Zentrums für Türkeistudien kamen 1998 ca. 30.000 Eheschließungen zwischen Deutschtürkinnen und Türken bzw. Deutschtürken und Türkinnen zustande: „Die in Deutschland lebenden jungen Türken und Türkinnen flirten zwar gerne mit ihren Altersgenossen. Aber wenn sie einen Partner fürs Leben suchen, dann reisen sie oft in die Türkei, um dort die wahre Liebe zu finden.“ (zit. nach: FAZ v. 25.9.1999)1 Arbeitsmigration ist – sofern sie es überhaupt je war – längst kein männliches Privileg mehr. Frauen sind nicht nur „nachgeholt“ worden, also nicht bloß Familienmigrantinnen, sondern wanderten besserer Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten wegen in den 1880er-Jahren von Norddeutschland nach Minnesota, in den 1970er-Jahren aus Südkorea oder der Türkei nach Deutschland und in den 1990er-Jahren von den Philippinen nach Kuwait, Italien oder Deutschland. Innerhalb der Familienmigration sind Frauen die treibende Kraft: Migrationsbewegungen werden häufig von Frauen angeführt. Transnationalen oder gar interkontinentalen Wanderungen gehen häufig Binnenwanderungen voraus, wie man auch bei den neueren Frauenmigrationen in und aus Südostasien im Zuge der Globalisierung des Weltmarktes sehen kann. Wie „prädestiniert“ gerade Frauen für Wanderungen sind, konnte die auf Netzwerke von Migrantinnen und Migranten spezialisierte Forschung belegen (vgl. auch Stalker 1994, S. 33; Hillmann 1996; Pries 1997): „Junge Mädchen und Frauen gelten als ‚loyal‘ gegenüber ihrer Herkunftsgruppe und als zuverlässig im Transfer von Ersparnissen. Der Aufbruch in die Stadt ist dabei vielleicht nur eine Etappe im Migrationsweg der Frauen, der über die Grenzen hinaus fortgesetzt werden kann. Denn günstige Aufnahmebedingungen gibt es für sie nicht nur in den nahen städtischen Zentren, wo sie sich häufig als Prostituierte, Hausmädchen oder Arbeiterinnen in der Elektro- oder Textilindustrie verdingen, sondern auch in den Metropolen der Industrieländer.“ (Morokvasic 1991)
1.4
Frauenhandel
Eine Mischform aus erzwungener und freiwilliger Migration von Frauen, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen 1
Vgl. aus einer anderen Perspektive hierzu den Bericht von Jeanette Goddar (1999), die ausschließlich das Interesse von Männern an dieser Form der Heiratsmigration betont: „Denn auch die Fälle, in denen Frauen von Migranten nachgeholt werden, häufen sich in letzter Zeit enorm. ‚Viele Männer kommen mit den Frauen der zweiten Generation überhaupt nicht klar‘, beobachtet Pekyigit. ‚Dann werden aus der Türkei Frauen eingeflogen, die sie für gefügiger halten. Sie kommen hier an und sind völlig hilflos, weil sie kein Wort Deutsch sprechen und keine Menschenseele kennen‘.“ Auf diese Weise wandert kontinuierlich eine neue Erste Generation ein.
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hat, bildet der sog. Frauenhandel. Von Menschenhandel ist mit Elvira Niesner u.a. (1997, S. 15), die eine sorgfältige Begriffsreflexion vorgenommen haben, dann zu sprechen, wenn Gewalt, Zwang oder Täuschungsmanöver gegen die Betroffenen eingesetzt werden, aber nicht bei jeder hierarchischen Arbeitsbeziehung. Auch in dieser Hinsicht erreichen Frauen tendenziell eine Spitzenposition: „Aufgrund einer spezifischen Nachfrage nach ihrer Arbeits- und Reproduktionskraft haben sie, im Gegensatz zu den Männern, in zunehmendem Maße Chancen, sich im Aufnahmeland niederzulassen.“ (Niesner u.a. 1997, S. 14) Trotz der häufig gewaltsamen Bedingungen, unter denen diese Form der Zuwanderung stattfindet, verwahren sich Niesner u.a. (1997) dagegen, einfach von „Sklaverei“ oder „Ausbeutung“ zu sprechen,2 und betonen, dass Frauen auch hier eigenverantwortlich entscheiden können. Das Etikett „Frauenhandel“ betrifft „Migrantinnen, die selbstbestimmt in der Prostitution arbeiten, (...) Frauen in bikulturellen Partnerschaften (...) wie illegal tätige Putz- und Haushaltshilfen“ (ebd., S. 17). Die Heterogenität der Migrantinnengruppe wird allein bei Betrachtung des Aufenthaltsstatus sichtbar: Eine wachsende Zahl von Migrantinnen weltweit verfügt nicht über einen regulären Aufenthaltstitel, in Deutschland also mit einem Visum, einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis (vgl. Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz – vom 30. Juli 2004; siehe Kissrow/Maaßen 2004), sondern lebt illegal bzw. irregulär in den Aufnahmegesellschaften. Entsprechend unterschiedlich ist die Arbeitssituation. Auf beide Aspekte – die rechtliche wie die ökonomische Situation von Migrantinnen – wird im Folgenden kurz eingegangen.
2
2.1
Aufenthaltsstatus und Arbeitssituation von Migrantinnen in den Aufnahmeländern Aufenthaltssituationen in Deutschland
Betrachtet man den Aufenthaltsstatus von Migrantinnen in Deutschland, so reicht das Spektrum von „sich durchschlagenden“ Frauen ohne Aufenthaltstitel (sog. Illegale bzw. Irreguläre) über von Abschiebung bedrohte nicht anerkannte Asylbewerberinnen oder langjährig Geduldete mit ungesichertem Bleiberecht bis zu Expertenmigrantinnen mit einer Niederlassungserlaubnis für Hochqualifizier2
Die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes (2006) unterscheidet beim Frauenhandel drei Formen: den Handel in die Prostitution, den Handel in die Ehe und den Handel in illegale Beschäftigungsverhältnisse.
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te, EU-Angehörigen mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, Angehörigen der zweiten und dritten Generation mit erleichterten Einbürgerungsmöglichkeiten und Aussiedlerinnen, die als deutsche Staatsbürgerinnen keinen Aufenthaltsrestriktionen unterliegen. Die genannten rechtlichen Bedingungen sagen jedoch noch nicht zwangsläufig etwas über die sozioökonomische Situation aus, in der sich die jeweilige Migrantin befindet. Möglicherweise ist die Lebenslage einer Migrantin mit irregulärem Status, die jedoch einer einträglichen Beschäftigung nachgeht, besser als die einer Geflüchteten, die ständig mit dem Ablauf ihrer Duldung und der Abschiebung rechnen muss.
2.2
Arbeitssituation
Das Bildungsniveau und die Erwerbsquoten von Migrantinnen sind je nach Herkunftsland unterschiedlich, jedoch im Schnitt höher, als aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaften zu erwarten wäre. Nach einer bereits zitierten Untersuchung für die Bundesrepublik ist das Bildungsniveau von philippinischen Migrantinnen relativ hoch und das von thailändischen Migrantinnen relativ niedrig. „Auch die Erwerbsarbeit der Frauen in der Heimat sieht je nach dem Herkunftsland der Frauen sehr unterschiedlich aus. Während die philippinischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Frauen besonders häufig in Angestelltenberufen tätig waren, haben vergleichsweise viele thailändische Frauen in der Heimat im informellen Sektor gearbeitet. Entgegen der Klischees handelt es sich bei den Migrantinnen weder um ehemalige Prostituierte noch um Frauen, die sich zwangsläufig oder gar natürlich an der Hausfrauenrolle orientieren.“ (Niesner u.a. 1997, S. 34 f.) Dies gilt auch schon für die sog. Gastarbeiter-Ära. Auf die gesamte Anwerbezeit gesehen, waren 20 Prozent der angeworbenen Arbeitskräfte Frauen (vgl. hierzu: Schöttes/Treibel 1997; Treibel 2008). In jüngerer Zeit wird bezüglich der Erwerbstätigkeit von ausländischen Frauen konstatiert, dass 2003 bei den abhängig Beschäftigten die Teilzeitquote etwas über jener der einheimischen Frauen (23,3 Prozent zu 22,4 Prozent) lag. Betrachtet man jedoch den Bereich der Selbstständigen, so sind hier ausländische Frauen aktiver als deutsche Frauen. Von Arbeitslosigkeit waren ausländische Frauen in deutlich geringerem Maße betroffen als deutsche (vgl. Sechster Bericht 2005, Abschnitte 2.3 und 2.4). Abhängig Beschäftigte mit ausländischem Pass verdienen, so eine Expertise im Rahmen des Gender-Datenreports, tendenziell weniger als die Einheimischen. Unter den ausländischen Beschäftigten seien die Frauen gegenüber den Männern nochmals im Nachteil, wobei sich ein Wandel abzeichne: „In ihren Herkunftsländern haben ältere Migrantinnen oft eine schlechtere oder hier weniger ver-
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wertbare Ausbildung als Migranten gehabt. Dass sich in der jetzt hier heranwachsenden Generation mit nichtdeutschem Pass oft junge Frauen als die qualifizierteren erweisen, wird sich erst langfristig auf die Durchschnittseinkommen von Migrantinnen auswirken. Nichtdeutsche Frauen sind vermutlich wie die deutschen von der schlechteren Bezahlung in Frauenbranchen, in kleineren Betrieben und bei geringeren Betriebszugehörigkeiten betroffen.“ (Cornelißen u.a. 2005, S. 203) Was den schulischen Bereich anbelangt, so bestätigen Mädchen mit Migrationshintergrund3 die generelle Gender-Relation: sie sind besser als die Jungen. Die schulische Schlechterstellung der Jungen mit Migrationshintergrund, so wird vermutet (vgl. Heß-Meining 2004, S. 169), hat mit ihrer im Vergleich mit den Mädchen geringeren Lesekompetenz zu tun. Im Ausbildungs- und Berufssektor verliert sich der Vorsprung der Mädchen jedoch und es setzt sich die „Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit“ (Granato/Schittenhelm 2004, S. 38) wieder durch. In einer qualitativen Studie zur Medienkompetenz von Hauptschüler(inne)n mit Migrationshintergrund4 bestätigt sich die Besser- oder Schlechterstellung der Jungen gegenüber den Mädchen nicht; im Vergleich der Migrantengruppen ist jedoch auffällig, dass die Mehrheit der russlanddeutschen Familien Onliner und die Mehrheit der türkischen Familien Offliner sind (vgl. Treibel 2006b). In vielen Bereichen nähert sich der Frauenanteil der Ausländerinnen dem einheimischen Geschlechterverhältnis immer mehr an: So beträgt der Frauenanteil bei den türkischen Studierenden 24 Prozent und bei den türkischen Selbstständigen 10 Prozent (vgl. Zentrum für Türkeistudien 1995). Während der letzten 15 Jahre stieg die Anzahl der türkischen Studentinnen um rund das Sechsfache (vgl. SZ v. 22.-24.5.1999). Diese Aufstiegsprozesse werden jedoch konterkariert durch die Stabilität des ethnisch und geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarktes. Das „Scheitern ausländischer Jugendlicher auf dem Ausbildungsstellenmarkt“ ist besonders auffällig mit Blick auf die jungen Frauen: „Untersuchungen 3
4
Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist hilfreich, um unterschiedliche Migrantengruppen zusammenfassend bezeichnen zu können. „Personen mit Migrationshintergrund“ sind im deutschen Kontext Ausländer/innen (Nichtdeutsche), Deutsche mit mindestens einem (Groß-)Elternteil, der nach Deutschland zugewandert ist, und Aussiedler/innen (Zugewanderte mit deutscher Staatsangehörigkeit). Welche datenschutzrechtlichen und methodologischen Probleme der allseits gewünschte Wechsel in der amtlichen Statistik vom „Ausländer“ zur „Person mit Migrationshintergrund“ nach sich zieht, wird in einer Veröffentlichung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2005) erörtert. Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsverbundes „Kompetenzzentrum für Genderforschung und Bildungsfragen in der Informationsgesellschaft“ (KGBI), der vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg gefördert wurde (vgl. www.kompetenzgbi.de).
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belegen immer wieder das hohe Interesse der jungen Frauen ausländischer Herkunft an beruflicher Qualifizierung; auch der Unterstützung der Eltern können sie sich überwiegend gewiss sein. Dennoch und trotz – im Vergleich zu den männlichen ausländischen Schulabgängern – besserer Schulabschlüsse und ihres größeren Engagements bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz bleibt ein großer Teil der jungen Frauen (44% …) ohne anerkannten Berufsabschluss und damit ohne reelle Chance auf eine nachhaltige berufliche Integration.“ (Sechster Bericht 2005, S. 38 f.) Die Ursachen dieser Situation sind noch nicht ausreichend geklärt; die bisherigen Befunde weisen auf eine Kumulation von Faktoren wie verengtes Berufsspektrum, mangelnde Sprachkenntnisse, ambivalente Einstellungen und Diskriminierung hin.
3
Bedeutung der „alten“ und der „neuen“ Netzwerke für die Migrantinnen
Ungeachtet der skizzierten, z.T. prekären Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen im Aufnahmeland entschließen sich viele Frauen zur Wanderung. Ausgehend von einer vereinfachten emanzipationspolitischen Annahme, wie ich sie einleitend formuliert habe, wäre zu vermuten, dass ihnen diese Entscheidung deshalb relativ leicht fällt, weil sie den beengten familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Heimat um jeden Preis entkommen wollen. So einfach stellt sich die Situation jedoch nicht dar.
3.1
Netzwerke in den Herkunftsländern
Die Migrantinnen bleiben dem Netzwerk ihrer Herkunftsfamilie eng verbunden, und zwar emotional wie materiell (vgl. zum Folgenden: Niesner u.a. 1997, S. 37 ff.). Die Familie in der Heimat stellt unterschiedliche, aber z.T. auch unangemessen hohe finanzielle Anforderungen, denen nachzukommen die Migrantinnen meist jedoch für selbstverständlich halten. Eine ausgeprägte Unterstützungsbereitschaft, nicht nur gegenüber in der Heimat verbliebenen eigenen Kindern und den Eltern, sondern auch noch für die Geschwister, ist verknüpft mit einem starken Verpflichtungsgefühl. Eine Flucht aus dem familiären Verbund und der damit einhergehenden Kontrolle unternimmt nur eine Minderheit der Frauen (vgl. ebd., S. 55). Für die Mehrheit der Migrantinnenfamilien, wie man die zurückgebliebenen Angehörigen nennt, ist die Auswanderung der Tochter oder Schwester mit einem deutlich sichtbaren sozialen Aufstieg verbunden. Das neu
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gebaute Haus signalisiert Wohlstand, wobei darüber hinweggesehen werden kann, wenn die Migrantin ihren Verdienst durch Prostitution erzielt hat. Die Migration gewährleistet für die Migrantin selbst wie für ihre Familie eine Statusverbesserung.5 Felicitas Hillmann (1996) bemerkt in ihrer Untersuchung über Migrantinnen in Italien, die aus Peru, Somalia und von den Philippinen zugewandert waren, dass die Migration dieser Frauen ein Kalkül ihrer jeweiligen Familien darstellt. Neben den ökonomischen Gründen könne „die interne Organisation der Migration (...) weitgehend auf die Einbindung der Immigrantinnen in Familienbzw. Haushaltsstrategien zurückgeführt werden“ (ebd., S. 6). Es geht also gerade nicht um eine Loslösung von der Familie, sondern um eine neue Form der Einbindung, die der Migrantin eine große Verantwortung zuweist: Manchmal unterhält der Verdienst der Migrantin die gesamte Familie im Herkunftsland (vgl. ebd., S. 144 und 252). Insbesondere für die Peruanerinnen kann Hillmann zeigen, dass sich – ungeachtet des ungeschützten Status der meisten Migrantinnen (Illegalität) – regelrechte Migrationsketten bilden: Freundinnen, Kolleginnen und weibliche Verwandte aus der Heimat folgen der Pioniermigrantin.
3.2
Netzwerke in den Aufnahmeländern
Aus diesen Migrationsketten und neuen Kontakten im Aufnahmeland entstehen dort wiederum Netzwerke von Migrantinnen – in der Regel von Frauen derselben nationalen bzw. ethnischen Herkunft. Diese Netzwerke, so Felicitas Hillmann, sind teils lose (Somalierinnen), teils sehr fest (Philippininnen) geknüpft. Auf stabile und ausschließlich auf die eigene ethnische Gruppe festgelegte Netzwerke weist auch die Untersuchung von Elvira Niesner u.a. (1997) hin. Hier sind es vor allem die Thailänderinnen, welche die Wir-Gruppe ausschließlich ethnisch definieren, bis hin zu einer „Idealisierung der eigenen Herkunft“ (ebd., S. 189). Dies ist umso interessanter, als die Entscheidung zur Migration mit einer Aufwertung der deutschen und einer Abwertung der thailändischen Ehemänner einherging. Nach der Migration, im deutschen Kontext, werden „die Deutschen“ (wg. mangelnder „Wärme“, Höflichkeit u.a.) einer z.T. harschen und pauschalen Kritik unterzogen. Die ethnic communities wirken stabilisierend und ambivalent zugleich. Sie ermöglichen den Migrantinnen den Aufbau einer ethnischen Identität, die insbe5
Vgl. auch Ruedi Leuthold/Marc-Oliver Schulz (1997), die in ihrer Reportage über Migrantinnen aus der Dominikanischen Republik auch darauf eingehen, dass für die „zurückbleibenden“ Männer die erfolgreiche Migration ihrer Frauen eine prekäre Angelegenheit darstellt, weil es keine Alternative zu ihr gibt, sie für die Männer jedoch zu einer Statusverschlechterung führt.
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sondere bei etablierteren Zuwanderinnen als Option gelten kann (vgl. Villa 2000). Auf diese Weise bietet die community Aufstiegsmöglichkeiten und einen Sicherheitsanker. Auf der anderen Seite übt sie eine starke soziale Kontrolle aus. In den Worten der 30-jährigen „Mihriban“, die bereits einleitend zitiert wurde, kommt die zentrale Bedeutung der community oder – wie sie es nennt – der „eigenen Gesellschaft“ zum Ausdruck: „Man kann es nehmen, wie man will: Wir werden nie ein Teil der deutschen oder der türkischen Gesellschaft sein. Wir können höchstens der Teil unserer eigenen Gesellschaft sein. Für uns ist nichts vorbereitet. Wir müssen um alles kämpfen, was wir haben wollen: um Aufenthalt, um Sprache, um Bildung, um Staatsbürgerschaft, um Anerkennung, um Respekt, um alles. Und wollen wir eine Heimat, so müssen wir sogar darum kämpfen. Es bringt nichts, die Leute zu beneiden, die das alles in die Wiege gelegt bekommen haben. (...) Kämpfen oder Klappe halten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ (zit. nach: Zaimoglu 1998, S. 46) Nach der Studie „Viele Welten leben“ (Boos-Nünning/Karakaolu 2006) ist für die Mehrheit der Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund die Situation weniger dramatisch. Es wird die Verbindung von Familialismus und Individualismus betont, die den Migrantinnen auf unspektakuläre Weise gelinge. Die Aufwärtsmobilität ist, gemessen am geringen Bildungsniveau insbesondere der türkischen Mütter, beachtlich. Die ethnische Identifikation ist mehrheitlich an der Herkunftsgruppe orientiert,6 die Peergroups sind ethnisch relativ homogen. Interpretiert man diese Ergebnisse assimilationstheoretisch (vgl. Esser 2001; Treibel 2008), so ist festzuhalten, dass eine Assimilation im Sinne der sozialen und identifikativen Angleichung an die Aufnahmegesellschaft nicht stattfindet. Die Bindungen an die Herkunftsfamilie sind stark, ohne von den Befragten als restriktiv empfunden zu werden. Diese Befunde, welche für eine wachsende Autonomie von Migrantinnen sprechen, stellen die eine Seite des Spektrums dar. In diesem Kontext wird auch die Entscheidung muslimischer Migrantinnen, ein Kopftuch zu tragen, als Akt der Selbstvergewisserung und Behauptung von „Neo-Musliminnen“ in einer als skeptisch, wenn nicht feindlich eingestellten Umgebung gesehen (vgl. Nökel 2002). Demgegenüber konstatieren andere Untersuchungen Gewalt- und Disziplinierungsprozesse im Kontext von Patriarchalismus und Islamisierung (vgl. Kelek 2005) und interpretieren die öffentlich verhandelten „Ehrenmorde“ als Taten zur Frauendisziplinierung (vgl. Treibel 2006a), die noch nicht ausreichend wissenschaftlich analysiert worden sind.
6
Wie eine Studie zur Medienkompetenz von Migrantenjugendlichen ergab, lässt sich für Mädchen eine stärkere Orientierung auf die eigene ethnische Gruppe konstatieren als für Jungen (vgl. Treibel 2006b).
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Migration als Emanzipation? – Zusammenfassung der Muster weiblicher Wanderung
Hinsichtlich der Arbeitsmigration ist zu konstatieren, dass gerade Frauen wandern. Denn diese sind wegen der ihnen zugeschriebenen Verlässlichkeit und Loyalität dafür prädestiniert. Die Nachfrage nach weiblichen Dienstleistungen in vielen Aufnahmeländern kann man nahezu als eigenständigen Pull-Faktor bezeichnen. Frauen werden in die Metropolen oder ins Ausland geschickt, um die Existenz des Familienverbandes zu sichern. In diesen Fällen ist von einer relativ starken Familienbindung der Migrantinnen auszugehen, die durchaus mit dem Bedürfnis, beengten gesellschaftlichen und familiären Verhältnissen zu entkommen, korrespondieren kann. Stärker eingeschränkt sind die Handlungsspielräume jener Frauen, die ihre wandernden Ehemänner begleiten (müssen). In vielen Regionen der Welt ist der „typische Arbeitsmigrant“ nicht mehr männlichen, sondern weiblichen Geschlechts. Dies rechtfertigt, von einer Feminisierung der Migration zu sprechen. Die Migrantinnen finden Arbeit, weil sie in mehrfacher Hinsicht diskriminiert werden (können), nutzen die neuen Lebensumstände aber auch zur Veränderung ihrer persönlichen Situation. Die Weltkommission für Internationale Migration (2005, S. 14) prognostiziert: „Diese Entwicklungen werden sich in den kommenden Jahren fortsetzen, nicht zuletzt aufgrund des steigenden Bedarfs der Industriestaaten an Arbeitskräften in Sektoren, die traditionell mit Frauen in Verbindung gebracht werden: in der Hausarbeit, der Krankenpflege und im privaten Pflegebereich, bei Reinigungsarbeiten, in der Unterhaltungs- und Sexindustrie sowie im Einzelhandel und in der arbeitsintensiven Produktion. Negative Einstellungen in den Herkunftsländern gegenüber geschiedenen, verwitweten, kinderlosen und alleinstehenden Frauen und die Tatsache, dass viele Frauen nunmehr Zugang zu einer besseren Ausbildung und ein größeres Bewusstsein für ihre Menschenrechte haben, werden für Frauen aller Bildungsniveaus weitere Anreize darstellen, Arbeit und neue Erfahrungen im Ausland zu suchen.“ Frauen übernehmen unterschiedliche Parts im Migrationsgeschehen und sind nicht nur abhängige Familienangehörige und/oder abhängig Beschäftigte. Und schließlich würde auch die Zahl weiblicher Flüchtlinge kaum in die Millionen gehen, ließen Mädchen und Frauen sich auf die ihnen zugeschriebene passive Rolle festlegen. Migration setzt Aktivität voraus und Aktivität frei – bei Männern wie bei Frauen. Setzt sie auch Kräfte der Emanzipation frei? Sind Migrantinnen besonders emanzipiert? Oder dienen sie, die häufig als „neue Klasse von Bediensteten“ bezeichnet werden, allenfalls der Emanzipation von einheimischen Frauen der Mittelschicht? Sowohl die eine Sicht, Migrantinnen als besonders emanzipierte,
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wie auch die andere Sicht, Migrantinnen als besonders abhängige Frauen (die von einer Abhängigkeit in die andere geraten) zu begreifen, erweist sich als nicht realitätsadäquat. Der sozialen Wirklichkeit angemessen ist eine Perspektive, welche die schon mehrfach angesprochene Heterogenität unter den Migrantinnen berücksichtigt. Neben den stärker „erforschten“ niedrig qualifizierten ist eine beträchtliche Anzahl hoch qualifizierter Migrantinnen zu berücksichtigen, Hochschulabsolventinnen also gleichermaßen wie Analphabetinnen (vgl. hierzu illustrativ: Sezgin 2006). Allerdings gibt es auch bei mittlerer bis höherer Qualifikation für die Migrantinnen keine Gewähr, eine befriedigende, angemessen entlohnte Arbeit im Aufnahmeland zu finden, akzeptiert und nicht ausgebeutet zu werden. Wahrscheinlicher ist eine – gemessen an der Qualifikation – relativ niedrige Platzierung im Beschäftigungssystem des Aufnahmelandes. Die Emanzipationsvorstellungen von Migrantinnen können u.U. von denen der Einheimischen abweichen; Emanzipation kann auch heißen, Erwerbstätigkeit als notwendiges Übel zu begreifen und letztlich das Leben einer nichterwerbstätigen bürgerlichen Hausfrau anzustreben. Migrantinnen sind nicht mehr, aber auch nicht weniger emanzipiert als einheimische Frauen – zumal die Einheimischen häufig emanzipierter scheinen, als sie sind, wie eine Studie zu den gegenwärtigen Beziehungsstrukturen von Arbeiter- und Mittelschichtspaaren illustriert (vgl. Koppetsch/Burkart 1999). Migration und Emanzipation gehen weder eine irritierende noch eine selbstverständliche Verbindung ein. Die Situation vor und die nach der Migration unterscheiden sich nicht so eindeutig, wie man es vermuten würde; nicht nur Pendelmigration ist ein fließender Prozess. Migrant(inn)en verabschieden sich nur zu einer Minderheit „auf immer“ von ihrem Herkunftsmilieu, ihrer Familie und den Netzwerken in ihrer Heimat. Insbesondere Mädchen und Frauen wandern nicht, um sich aus der Familie zu befreien, sondern um diese zu unterstützen. Sie tun es für sich, aber eben nicht nur für sich. Insofern reicht ein vereinfachter westlich-soziologisch-feministischer Blick auf Migration als eine Form der Emanzipation, die als Freisetzung begriffen wird, nicht weit genug. Ein Individualisierungsschub, von dem Norbert Elias (2001), Elisabeth Beck-Gernsheim (1983) und Ulrich Beck (1986) gerade im Hinblick auf Frauen sprechen,7 ist im Kontext von Migration sehr wahrscheinlich. Dazu trägt die Eigendynamik von Migrationsprozessen bei: Wanderungen zeitigen Folgen, die weder für die Wandernden noch für die Zurückbleibenden kalkulierbar sind. Bei aller Loyalität zu den Netzwerken ihrer Herkunftsgesellschaft werden Migrantinnen im Laufe der Zeit in der Aufnahmegesellschaft neue Perspektiven im Sinne eines „eigenen 7
Als Überblicksdarstellung vgl. Annette Treibel (2004), Kapitel VIII und X; für theorievergleichende bzw. kritische Diskussionen zur Individualisierung: Jürgen Friedrichs (1998) und Markus Schroer (2001)
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Lebens“ (vgl. Beck u.a. 1995) entwickeln. Dies gilt idealtypisch für die Mehrheit der Arbeitsmigrantinnen und ihre Töchter. Es gilt jedoch zu beachten, dass die mit Individualisierung einhergehende Freisetzung durchaus nicht unwidersprochen bleiben muss, sondern bei männlichen wie bei weiblichen Familienmitgliedern auf Widerstand stoßen und neue Restriktionen aktivieren kann. Die Migration von weiblichen Flüchtlingen findet in der Regel unter erschwerten Bedingungen statt, wobei es weniger um Freisetzung und Emanzipation als um neue Restriktionen und Abhängigkeiten geht. Gewalterfahrungen sind für Frauen mit der Flucht häufig nicht beendet, sondern setzen sich im Aufnahmeland in Form von körperlichen, sexuellen und psychischen Gewalterfahrungen fort (vgl. Sechster Bericht 2005, S. 163). Wird der Flüchtlingsstatus anerkannt, mag wiederum ein grundlegender und endgültiger Ablösungsprozess von der Herkunftsgesellschaft erfolgen, was rechtfertigt, den Emanzipationsbegriff eher für Flucht- als für Arbeitsmigrantinnen zu verwenden. Migration ist also auch ein Emanzipationsprozess. Wann und wo dieser jedoch einsetzt, ist von den strukturellen Rahmenbedingungen einerseits sowie den Interessen und individuellen Erfahrungen der Migrantinnen andererseits abhängig.
Quellen und Literatur Baringhorst, Sigrid (1993): Migrantinnen in Europa – Aspekte der Mehrfachdiskriminierung, in: Peripherie 49, S. 68-78 Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main Beck, Ulrich/Vossenkuhl, Wilhelm/Ziegler, Ulf E. (1995): Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München Beck-Gernsheim, Elisabeth (1983): Vom „Dasein für andere“ zum Anspruch auf ein Stück „eigenes Leben“ – Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang, in: Soziale Welt 34, S. 307-341 Boos-Nünning, Ursula/Karakaolu, Yasemin (2006): Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster Brieskorn, Norbert/Lesch, Walter/Pries, Ludger/Treibel, Annette (2004): Grenzenloses „Recht auf Freizügigkeit“? – Weltweite Mobilität zwischen Freiheit und Zwang, Stuttgart Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2005): Die Datenlage im Bereich der Migrations- und Integrationsforschung. Ein Überblick über wesentliche Migrations- und Integrationsindikatoren und die Datenquellen (Verfasserin: Sonja Haug), Working Papers 1, Nürnberg Cornelißen, Waltraud/Dressel, Christian/Lohel, Vera (2005): Erwerbseinkommen von Frauen und Männern, in: Gender-Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, München, S. 149-213
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Elias, Norbert (2001): Die Gesellschaft der Individuen, hrsg. v. Michael Schröter, Frankfurt am Main Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung, Mannheim (Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 40) Friedrichs, Jürgen (Hrsg.) (1998): Die Individualisierungsthese, Opladen Goddar, Jeanette (1999): Einbürgerungshemmnis Frau, in: taz v. 13./14.2. Granato, Mona/Schittenhelm, Karin (2004): Junge Frauen: Bessere Schulabschlüsse – aber weniger Chancen beim Übergang in die Berufsausbildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 28, S. 31-39 Grass, Karl Martin/Koselleck, Reinhart (1998): Emanzipation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Bd. 2, 4. Aufl. Stuttgart, S. 153-197 Heß-Meining, Ulrike (2004): Geschlechterdifferenzen in der Bildungssituation von MigrantInnen, in: Iris Bednarz-Braun/Ulrike Heß-Meining (Hrsg.), Migration, Ethnie und Geschlecht. Theorieansätze – Forschungsstand – Forschungsperspektiven, Wiesbaden, S. 133-174 Hillmann, Felicitas (1996): Jenseits der Kontinente. Migrationsstrategien von Frauen nach Europa, Pfaffenweiler Hummel, Katrin (1999): Menschenrechte der Frauen. Beim Asylbegehren werden nur selten geschlechtsspezifische Gründe anerkannt, in: FAZ v. 6.3. Kelek, Necla (2005): Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln Kissrow, Winfried/Maaßen, Hans-Georg (2004): Ausländerrecht mit den Vorschriften des neuen Zuwanderungsgesetzes. Textausgabe mit einer erläuternden Einführung, Stuttgart Koppetsch, Cornelia/Burkart, Günter (1999): Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich, Konstanz Lauser, Andrea (2004): „Ein guter Mann ist harte Arbeit“. Eine ethnographische Studie zu philippinischen Heiratsmigrantinnen, Bielefeld Leuthold, Ruedi/Schulz, Marc-Oliver (1997): Straße der Freiheit. Frauenemigration aus der Dominikanischen Republik, in: NZZ v. 12./13.7. Lim, Lin/Oishi, Nan (1996): International Labour Migration of Asian Women: Distinctive Characteristics and Policy Concerns, Genf (ILO) Morokvasic, Mirjana (1987): Jugoslawische Frauen. Die Emigration – und danach, Basel/Frankfurt am Main Morokvasic, Mirjana (1991): Frauenmigration – kaum ernstgenommen, in: World Media 2: „Die neue Völkerwanderung“, taz v. 8.6. (Sonderausgabe) Morokvasic, Mirjana/Erel, Umut/Shinozaki, Kyoko (Hrsg.) (2003): Crossing Borders and Shifting Boundaries, Vol. I: Gender on the Move (Schriftenreihe der internationalen Frauenuniversität „Technik und Kultur“, Bd. 10), Opladen Niesner, Elvira/Anonuevo, Estrella/Aparicio, Marta/Sonsiengchai-Fenzl, Petchara (1997): Ein Traum vom besseren Leben. Migrantinnenerfahrungen, soziale Unterstützung und neue Strategien gegen Frauenhandel, Opladen Nökel, Sigrid (2002): Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld
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Annette Treibel
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Der politische Umgang mit Flucht, Migration und Minderheiten in Europa
Die Migrationspolitik der Europäischen Union Inhalte, Institutionen und Integerationsperspektiven Petra Bendel
Migration und Integration stehen gegenwärtig ganz oben auf der EU-Agenda, wie der zuständige Kommissar Jacques Barrot und die Ratspräsidentschaft gleichermaßen betonen. Dafür verabschiedete der Europäische Rat am 16. Oktober 2008 eigens den „Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl“. Die Kommission startete in demselben Jahr mehrere neue Initiativen zum Gesamtansatz der Migration, zur Asyl- und Flüchtlings- sowie zur Integrationspolitik (vgl. Commisson of the European Communities 2008a, 2008b und 2000c). Rat und Kommission wollen die Einwanderungspolitik der EU in all ihren Einzelteilen stärker aufeinander abstimmen und diesen Bereich, der traditionell zur Innen- und Justizpolitik gehört, mit der Außen- und Entwicklungspolitik in Übereinstimmung bringen. Der „Pakt“ als zunächst juristisch nicht bindendes, politisches Dokument muss mit dem unter der schwedischen Präsidentschaft 2009 abzuschließenden Nachfolger des Programms von Den Haag konform gehen, mittels dessen die Leitlinien für die Justiz- und Innenpolitik der kommenden fünf Jahre festgelegt werden. Zunächst wird damit die legale Einwanderung den Bedürfnissen und Aufnahmekapazitäten der Mitgliedstaaten entsprechend gesteuert. Dazu sollen vor allem Hochqualifizierte und Studierende angeworben werden, denen man positive Integrationsmöglichkeiten unterstellt. Außerdem will der Immigrationspakt die irreguläre Einwanderung bekämpfen. Die Unterbindung des Menschenhandels ist eines der erklärten Ziele, dem die Verstärkung der Außengrenzen dient. Der Ausbau der Grenzschutzagentur „European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the member states of the EU“ (FRONTEX) steht im Zentrum des Programms. Bis 2010 sollen die EUMitgliedstaaten dem Pakt zufolge endlich auch ein gemeinsames Asylsystem und einen gemeinsamen Flüchtlingsstatus entwickeln. Die Herkunftsstaaten sollen im Tausch gegen eigene Anstrengungen zur Verhinderung von Auswanderung für ihre Bürger/innen gewisse Visaerleichterungen bzw. Arbeitsmöglichkeiten in der EU erhalten, Investitionsprogramme rückkehrender Migrant(inn)en unterstützt werden.
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Seit die Europäische Union mit dem Vertrag von Amsterdam im Mai 1999 wichtige Kompetenzen für den Bereich der Einwanderung erhielt, hat sich die Migrations- und Integrationspolitik von den Rändern der „dritten Säule“ inhaltlich und institutionell zum Zentrum der EU-Politik bewegt. Von mehreren Migrationsforscher(inne)n wurde sie sogar als eines der aktivsten Politikfelder der europäischen Integration bezeichnet. Quantitativ wie auch qualitativ haben Kommission und Rat die gesetzgeberische Tätigkeit der EU in Einwanderungsfragen allmählich immer weiter ausgedehnt: Beschränkte sich diese anfangs fast ausschließlich darauf, Migrationsbewegungen zu kontrollieren bzw. zu begrenzen und Schritt für Schritt ein gemeinsames Asylsystem zu errichten, so wurden die Gemeinschaftsaktivitäten zuletzt auch auf Bereiche wie die „faire Behandlung von Drittstaatsangehörigen“ und die „Partnerschaft mit den Herkunftsländern“ erweitert. Selbst dort, wo die EU nicht über eigene, den Mitgliedstaaten vorgeschaltete Kompetenzen verfügt, bemüht sich die Europäische Kommission immer wieder, über die Identifikation von „best practices“ hohe Standards zu setzen und eigene Entscheidungsbefugnisse zu erlangen, nämlich bei der Arbeitsmigration und der Integration. Diese Tendenz zeigt sich deutlich auch in den neueren Vorschlägen. Obschon die Mitgliedstaaten auf Subsidiarität bei der Integrationspolitik drängen und der Europäischen Union die Regelungskompetenz offen absprechen, lässt sich infolge dieser schleichenden Vergemeinschaftung eine zunehmende Kongruenz der Integrationspolicies in den Mitgliedstaaten beobachten. 1
Inhalte der Einwanderungspolitik
Die inhaltliche Ausrichtung der Politik auf die Herausforderung der Einwanderung oszillierte in der vergangenen Dekade zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“, wobei sich vor allem durch die Ereignisse des 11. September 2001 eine Zäsur ergab. Nachdem bis zum Europäischen Rat von Tampere 1999 eher restriktive Aspekte der Einwanderung im Vordergrund gestanden hatten, fand um die Jahrtausendwende ein Perzeptionswechsel statt: Migration wurde nunmehr als Chance wahrgenommen und auch dargestellt, wohingegen die Vorstellung, Migration sei eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, zumindest zeitweise in den Hintergrund trat. Dieser Eindruck bestätigt sich in den grundlegenden Leitlinien für die europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Asyl und Einwanderung, die der Europäische Rat von Tampere 1999 festlegte, sowie im Wiener Aktionsprogramm, das diese neuen Politikziele operationalisierte. Dennoch konnten sich bei der Normensetzung auf der EU-Ebene letztlich fast nur diejenigen Bereiche und Interpretationen von Einwanderung durchsetzen, die im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten lagen.
Die Migrationspolitik der Europäischen Union
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1.1 Flucht und Asyl Flucht und Asyl sind die am meisten „europäisch“ regulierten Politikfelder: In einer ersten Phase zur Errichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zwischen 1999 und 2004 (Tampere-Programm) stellten die Mitgliedstaaten darüber einen Konsens her, welcher Staat jeweils für die Behandlung eines Asylbegehrens zuständig sein soll, und errichteten finanzielle Ausgleichsfonds. Außerdem schufen sie einen Rahmen von Aufnahmebedingungen für Asylbewerber/innen bzw. für die Asylverfahren und benannten gemeinsame Voraussetzungen für die Anerkennung eines Zuwanderers als Flüchtling: die bis heute umstrittene „Qualifikationsrichtlinie“ (2004/83/EG des Rates). Migrantenverbände und Menschenrechtsorganisationen werfen der EU allerdings vor, das derart fixierte Schutzniveau für die Aufnahme von Asylbewerber(inne)n und die Anerkennung von Flüchtlingen sei lediglich der kleinste gemeinsame Nenner und lege kaum mehr als Mindeststandards fest. Selbst innerhalb der Asylpolitik ist die EU von einer gemeinsamen Linie noch weit entfernt: Nach einer Studie des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR 2007) werden Asylbegehren in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt, wie sich auch die Anerkennungsquoten weiterhin erheblich unterscheiden. Die EU blieb damit weit hinter dem selbst gesetzten Ziel des Haager Programms (2004) zurück, bis 2010 ein effektives gemeinsames Asylsystem zu schaffen, in dem der Informationsaustausch erleichtert, die praktische Zusammenarbeit verstärkt und einheitliche, qualitativ gute Asylverfahren gewährleistet werden. Mit der im Juni 2008 neu aufgelegten Asylstrategie möchte die Europäische Kommission in einer zweiten Phase 2009/10 die Schutzstandards konkretisieren und die praktische Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten verfestigen. In diesem Zusammenhang will sie die Drittstaaten stärker in die Pflicht nehmen, ihrerseits Asylbewerber/innen aufzunehmen. 1.2 Irreguläre Migration und Grenzsicherung Der zweite, relativ stark vergemeinschaftete Bereich der Migrationspolitik betrifft die irreguläre Migration und die Grenzsicherung. Bereits das Schengener Abkommen (von 1985, in Kraft seit 1995) hatte durch seine verstärkte Sicherung der Außengrenzen und die Errichtung eines gemeinsamen Informationssystems (Schengen Information System, SIS) der EG/EU den Vorwurf einer „Festung Europa“ eingetragen. Der im Aufbau eines gemeinsamen Visasystems angelegte Kontrollaspekt der Migrationspolitik verschärfte sich eindeutig nach dem 11. September 2001, als die Kommission ein Konzept unter dem Titel „Towards integrated management of the external borders of the member states of the EU“ vorlegte.
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Das Fünfjahresprogramm von Den Haag betonte nach den weiteren Anschlägen von London und Madrid sowie im Vorfeld der EU-Osterweiterung den Kampf gegen den Terrorismus, gegen irreguläre Einwanderungsnetzwerke und gegen den Menschenhandel als Zielsetzungen der Innen- und Justizpolitik. 2005 gründete die EU die Grenzschutzagentur FRONTEX in Warschau, deren Mitarbeiterstab und Budget sich rasch ausdehnten (vgl. Jorry 2007; Kasparek 2008). Die Koordination der Grenzsicherung durch Risikoanalyse, Planung, Forschung und Entwicklung liegen ebenso in ihrem Aufgabenbereich wie die Bereitstellung sog. Rapid Border Intervention Teams (RABITs), mit denen FRONTEX innerhalb von fünf Arbeitstagen technische und operative Unterstützung durch Gastoffiziere nationaler Grenzschutzagenturen leisten kann. Nichtregierungsorganisationen haben teils sehr kritische Gutachten zum Funktionieren von FRONTEX erstellt (vgl. Human Rights Watch 2006; Frontexwatch 2007; IAS 2007). Hiermit sei, so deren Tenor, eine Agentur geschaffen worden, die vor allem der Rückweisung diene. Das fundamentale Recht des „non-refoulement“ aus der Genfer Flüchtlingskonvention werde unterlaufen, ebenso die Asylverfahrensrichtlinie, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet, denjenigen Personen einen Zugang zum Asylverfahren zu verschaffen, welche die Grenzen ihres Territoriums erreichen. Meerespatrouillen drängten die Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen, hieß es weiter. Die Europäische Kommission legte 2008 ein neues Maßnahmenpaket vor, das die biometrische Datenerfassung und elektronische Reisegenehmigungen umfasst. Ein neues Überwachungssystem, „European Border Surveillance System“ (EUROSUR), soll unrechtmäßige Grenzübertritte an den Süd- und Ostgrenzen verhindern sowie die grenzüberschreitende Kriminalität bekämpfen und irreguläre Einwanderer sowie „overstayers“ aufspüren und verfolgen können. Umstritten ist in diesem Zusammenhang insbesondere die drei Jahre lang verhandelte Richtlinie zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (KOM 2005/0391; vgl. hierzu: Bendel 2008). Sie eröffnet die Möglichkeit einer Gewahrsamsnahme von bis zu 18 Monaten bei Fluchtgefahr oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Auch unbegleitete Minderjährige, Opfer von Menschenhandel und andere gefährdete Gruppen könnten nach dieser Richtlinie festgehalten werden. Kritisiert wurde auch die Regelung, wonach abgeschobene Personen mit einem Wiedereinreiseverbot von bis zu fünf Jahren belegt werden können. Mehrere bereits verabschiedete Richtlinien mit den Zielgruppen Transportunternehmen und Arbeitgeber richten sich ferner gegen den Menschenhandel. Dieser steht auch im Mittelpunkt der neueren Kommissionsvorschläge, die aber stärker auf den Schutz der betroffenen Migrant(inn)en zielen. Neben der oben erwähnten Rückführungsrichtlinie steht im Kampf gegen irreguläre Einwanderung eine Richtlinie zur Bestrafung solcher Arbeitgeber zur Abstimmung im Parlament und im Rat an, die irreguläre Migrant(inn)en beschäftigen.
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1.3 Kooperation mit den Herkunftsländern Die Kommission betonte in ihrem mehrfach (2006, 2007 und 2008) erneuerten bzw. erweiterten „Global Approach to Migration“ (zuerst 2005), dass sie die EU in der Pflicht sieht, ihre Politik stärker auf die Herkunftsländer hin zu orientieren. Damit ist die externe Dimension von Migrationspolitik angesprochen, die in jüngerer Zeit stärker in den Fokus gerückt ist und mit der die Kommission einen erneuten Perspektivenwechsel anmahnt: „The Global Approach reflects a major change in the external dimension of the European migration policy over recent years, namely the shift from a primarily security-centred approach focused on reducing migratory pressures, to a more transparent and balanced approach guided by a better understanding of all aspects relevant to migration, improving the accompanying measures to manage migratory flows, making migration and mobility positive forces for development, and giving greater consideration to decent work aspects in policies to better manage economic migration.“ (Commission of the European Communities 2008c, S. 3) Zum Teil geht es darum, zusätzliche Kontrollen bereits in den Herkunftsländern vorzunehmen und auch Verantwortung an die Nachbarstaaten abzugeben. Anreize für Drittstaaten können über negative oder positive Konditionalisierung erfolgen, aber auch über Einreise- bzw. Visumserleichterungen für ausgewählte Herkunfts- und Transitstaaten als Gegenleistung für Wanderungskontrolle in Form sog. Kooperationsplattformen (mit Äthiopien), „Mobilitätspartnerschaften“ (mit den Kapverden und Moldau, Gespräche mit Senegal) und „zirkulärer Migration“, welche durch wiederholte befristete Beschäftigungen zum Transfer von Kenntnissen und Investitionen zwischen Herkunfts- und Aufnahmestaaten beitragen könnten.1 Ein Migrationsportal, das über legale Möglichkeiten der Einwanderung informiert, ist in Planung. „Benchmarking“ oder „monitoring“ in den „European Neighbourhood Programm Action Plans“ soll die allmähliche Identifikation mit den EU-Zielen fördern; Rücknahmeübereinkommen oder auch Grenzmanagementvorhaben wurden zwischen der Gemeinschaft und derzeit elf Herkunftsstaaten fixiert. In Mali wurde als Pilotprojekt 2008 ein EU-Migrationszentrum („Zentrum für Information und Migrationsmanagement“, CIGEM) eröffnet, das die Regierung des afrikanischen Staates dabei unterstützen soll, eine eigene Migrationspolitik zu entwickeln. Wenngleich sich hinter der humanitären Rhetorik gegenüber den Drittstaaten selbstverständlich auch handfeste Eigeninteressen verbergen, geht es bei dem Nexus von Migration und Entwicklung auch um Präventivmaßnahmen: die Be1
Vgl. Commission of the European Communities 2008c; dazu kritisch: Angenendt 2007 sowie Berichte der Europäisch-Mediterranen Forschergruppe CARIM http://www.carim.org (16.10.2008)
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kämpfung von Armut, die Förderung von „good governance“ sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Herkunftsländern. Es geht um eine Verbindung von Migration mit Gesundheits- und Bildungspolitik, Wirtschaftsreformen und der Ausbildung von Humankapital sowie die Einbeziehung von Migrantenselbstorganisationen in die Politikplanung. Neu ist schließlich die Beschäftigung mit Auswirkungen des Klimawandels auf Wanderungsbewegungen. Für Afrika hat die Gemeinschaft nach mehreren interministeriellen Treffen (in Rabat 2006, Tripoli 2006, Albufeira 2007, Lissabon 2007 und Paris 2008) eine eigene Strategie entwickelt, die Africa-EU Partnership on Migration, Mobility and Employment.2 Der Global Approach wurde 2007, entsprechend der Europäischen Nachbarschaftspolitik, der Heranführungshilfe für Beitrittskandidaten und dem Erweiterungsprozess auch auf die südlichen und südöstlichen Nachbarregionen der EU sowie z.T. auf den Mittleren Osten und Asien ausgedehnt. Andere Regionen, für die ein hohes Wanderungspotenzial ausgemacht wird, könnten folgen. Dabei ist insbesondere die Kohärenz zwischen Migrations- und Entwicklungspolitik zu fördern.
1.4 Arbeitsmigration Die Mitgliedstaaten verhinderten wiederholt Kommissionsinitiativen zu einer stärkeren Vergemeinschaftung der Arbeitsmigration, um ihre Arbeitsmärkte zu schützen. Inzwischen ist die Kommission dazu übergegangen, die Richtlinien nach Zielgruppen aufzusplitten – Höchstqualifizierte, Saisonarbeiter/innen, Werkvertragsarbeitnehmer/innen und bezahlte Trainees sowie schließlich, in je separaten Richtlinien, Forscher/innen und Studierende. Vorschläge für eine europäische „Blue Card“, mit der die Kommission bürokratische Barrieren niederreißen wollte, die den alten Kontinent für qualifizierte Zuwanderer unattraktiv machen, werden derzeit neu aufgelegt, haben aber aufgrund der erwartungsgemäßen Intervention der Mitgliedstaaten nicht jene Bedeutung erlangt, die ihnen die Kommission zugedacht hatte.
1.5 Integration Speziell die Integrationspolitik stellte sich, entsprechend den spezifischen Vorstellungen von „Nation“ oder „nationaler Zugehörigkeit“ je nach Mitgliedstaat traditionell unterschiedlich dar und erweist sich daher als schwierig zu koordinie2
Vgl. dazu: http://europafrica.org/jointstrategy/migration/; http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/ l14542.htm (16.10.2008)
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ren (vgl. Carrera 2006). Ein Interludium in den 1980er- und Anfang der 1990erJahre mit einem Trend hin zu einer Integrationspolitik, die den ethnischen Minderheiten Rechnung trug, wurde Ende der 1990er-Jahre vom rechtebasierten Ansatz eingeholt, der sich vor allem auf die Rechte von Drittstaatsangehörigen bzw. auf eine Art „postnationaler Bürgerschaft“ bezog. Die Europäische Kommission (KOM/2003/336 endg., S. 19) hat in ihren Mitteilungen von 2000, 2001 und 2003 Prinzipien eines recht weitreichenden und ihrer Auffassung nach EU-weit gemeinsam zu realisierenden Integrationskonzepts entwickelt. Der Rat hat in einem Elf-Punkte-Plan nur einen sehr groben Rahmen für das Integrationsverständnis festgelegt und sieben Handlungsfelder für die Integration definiert: Beschäftigung, Kenntnisse der Landessprache, Geschichte und Institutionen, Bildung, Zugang zu Institutionen sowie öffentlichen und privaten Gütern und Dienstleistungen, häufige Interaktion zwischen Einwanderern und Bewohner(inne)n der Mitgliedstaaten, Bewahrung eigenständiger Kulturen und Religionen sowie Partizipation der Migrant(inn)en am politischen Prozess, v.a. auf der kommunalen Ebene. Die Integrationsmaßnahmen an sich verbleiben allerdings im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten; dabei sind je nach Land auch noch die subnationalen bis hinunter zu den lokalen Ebenen der Integrationspolitik von Belang. Der inhaltliche Schwerpunkt der bisherigen EU-Integrationspolitik dreht sich um die Gewährung annähernd gleicher Rechte und Pflichten für Drittstaatsangehörige. Personen aus Nicht-EU-Ländern, die sich längere Zeit in den Mitgliedstaaten aufhalten, sollten der Intention nach Zugang zu Beschäftigung, Bildung, sozialer Sicherheit, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit sowie zum Recht auf Familienzusammenführung erhalten. Derzeit verfolgt die Kommission über die Entwicklung von „soft law“ einen eher inkrementalistischen Ansatz, den sie auf beiden Feldern durch die offene Koordinierungsmethode verfolgt, wobei sie „best practices“ und „benchmarkings“ einpflockt, nationale Kontaktstellen fördert und Förderprogramme (INTI) für Pilotprojekte in den Mitgliedstaaten auflegt, die allmählich zu einer stärkeren Harmonisierung der Integrationspolitiken führen. Integrationsindizes und Handbücher zur Antidiskriminierung und Gewährleistung höherer Chancengleichheit wurden entwickelt, um solche Standards zu verbreiten, die deutlich machen, dass „Integration“ als ein zweiseitiger Prozess verstanden wird. Was bleibt, ist die Nichtanerkennung gleicher Rechte für die Niederlassung und den Zugang zu den Arbeitsmärkten – beides steht im Gegensatz zur Mobilität in Europa. NGOs (etwa: Socialplatform 2008) fordern explizit, die Rechte aller Migrant(inn)en auch zum Wohnen, zur Gesundheitsversorgung, zur sozialen Absicherung und zu öffentlichen Dienstleistungen zu stärken, denn Hochqualifizierte haben derzeit einen weitaus besseren Zugang zu den Arbeitsmärkten als Unqualifizierte sowie mehr Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Ebenfalls in den Bereich „Integration“ fällt die Richtlinie zur Familienzusammenführung
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(2003/86/EG des Rates). Die Europäische Kommission hat auf der Grundlage mehrerer Untersuchungen einen Bericht über deren Anwendung vorgelegt und eine erneute Konsultation über ein Grünbuch angekündigt.
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Institutionelle Entwicklungen und Defizite
Institutionell hat sich das Gefüge um die Einwanderungspolitik zwischen den EU-Organen in den vergangenen zehn Jahren entscheidend verändert. Obwohl die Migrationspolitik vornehmlich im Bereich Justiz und Inneres angesiedelt ist, betreffen Kernaspekte auch andere Ressorts wie Beschäftigung und Soziales, Bildung, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder die Außenhandelspolitik der EU. Je weiter und umfassender die Kompetenzen sind, desto größer wird auch der Koordinationsbedarf dieser Querschnittspolitik.
2.1 Amsterdam Der Amsterdamer Vertrag ermöglichte nach seinem Inkrafttreten, die Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie die Einwanderungspolitik zu vergemeinschaften (vgl. Art. 61-65 EG-Vertrag in der Fassung vom 2. Oktober 1997). Das europäische Einwanderungsrecht ist seither in zwei Kategorien geteilt: Ein Teil bezieht sich auf die stärker regulierte erzwungene Migration, mithin auf Flucht und Asyl. Er betrifft die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und das entstehende gemeinsame europäische Asylsystem und ist bereits recht stark vergemeinschaftet. Der andere Teil erstreckt sich auf die Wirtschaftsmigration und die Integration sowie die „gerechte Behandlung der Drittstaatsangehörigen“. Hier bestehen Vorbehalte der Mitgliedstaaten, ihre Kompetenzrechte auf supranationale Einrichtungen zu übertragen. So sah der Amsterdamer Vertrag zwischen 1999 und 2004 auch de jure noch einen Übergangszeitraum vor, innerhalb dessen die Initiativfunktion für Gesetzesvorhaben nicht vollständig auf die Europäische Kommission überging, sondern zwischen Kommission und Mitgliedstaaten geteilt blieb. Das Europäische Parlament musste im Konsultationsverfahren nur gehört werden. De facto beauftragten die Mitgliedstaaten in Tampere außerdem die Kommission schon fünf Jahre vor dem im Amsterdamer Vertrag enthaltenen Zeitplan damit, in Asylfragen das ausschließliche Initiativrecht zu übernehmen. Im Gegenzug behielten sie sich aber das Recht vor, Initiativen zum Migrationsmanagement einzubringen.
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2.2 Nizza Der Nizza-Vertrag nahm demgegenüber einige Modifizierungen vor: Gemäß Artikel 63 Absatz 1 und 2 lit. b EGV von Nizza und gemäß dem Haager Programm sollten die qualifizierte Mehrheitsregel und das Mitentscheidungsverfahren entsprechend Artikel 241 EGV zumindest auch auf die Bereiche Asyl und Flüchtlinge, für die Bereiche des Artikel 63 Absatz 3 und Artikel 63 Absatz 3 lit. b EGV ab 1. Mai 2004 auch auf die Migrationspolitik angewandt werden. Dabei hatten die Mitgliedstaaten allerdings einen Vorbehalt formuliert, nach dem zunächst „die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze“ für diesen Bereich festgelegt sein müssten. Vor allem Deutschland, aber auch einige andere Mitgliedstaaten waren nicht bereit, das geltende Einstimmigkeitsprinzip in der legalen Einwanderung aufzugeben, weil sie gerade den Zugang zu den Arbeitsmärkten als nationale Aufgabe betrachteten (vgl. Jahn u.a. 2006). Die Regel der Einstimmigkeit im Rat für diesen speziellen Teilbereich stellte ein gravierendes Hindernis für eine Ausdehnung der Gemeinschaftskompetenzen dar, da jedem einzelnen Mitgliedstaat weiterhin de facto eine Vetoposition zukam. Taktische Blockaden und Verzögerungen im Gesetzgebungsprozess haben in der Vergangenheit verschiedentlich die von der Kommission gemachten Richtlinienvorschläge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, so etwa im Falle der viel kritisierten Richtlinie zur Familienzusammenführung (2003/86/EG des Rates). 2.3 Lissabon Der Entwurf des inzwischen gescheiterten Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) nahm in Kapitel IV Abschnitt 4 die Wirtschaftsmigration aus dem Kompetenzbereich der Europäischen Union aus, und auch in der Integrationspolitik beschränkte er diese auf eine reine „Unterstützung“ und „Förderung“ der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Der Text des noch nicht ratifizierten Vertrages von Lissabon (Vertrag über die Europäische Union, EUV, und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) etabliert das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ (zuvor: Mitentscheidungsverfahren) als Standardverfahren für die gemeinsame Visapolitik, Kontrollen beim Überschreiten der Außengrenzen, Voraussetzungen, unter denen sich Drittstaatsangehörige während eines kurzen Zeitraums innerhalb der Union frei bewegen können, Maßnahmen für die schrittweise Einführung eines integrierten Grenzsystems an den Außengrenzen und die Abschaffung der Kontrolle von Personen gleich welcher Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen (Art. 77, früher Artikel 62 EGV). Ebenfalls dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren von Parlament und Rat unterliegt das weiter oben beschriebene „gemeinsame europäische Asylsystem“
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(Art. 78) sowie die „gemeinsame Einwanderungspolitik“ (Art. 79). Neu ist, dass auch die Normen für einen langfristigen Aufenthalt sowie die Rechte von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, einschließlich der Bedingungen, unter denen sie sich in den anderen Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen, der Gemeinschaftsregelung unterliegen – mithin Regelungen, die auch die Integrationsfrage betreffen. Allerdings bleibt auch hier zu beachten, dass die Tür für eine gemeinsame Anwerbepolitik zur Wirtschaftsmigration weiterhin expressis verbis verschlossen bleibt (vgl. Art. 79, Abs. 5 EGV). Die in vielen Politikbereichen als „agenda setter“ fungierende Kommission ist mit den Generaldirektionen „Justiz, Freiheit und Sicherheit“ sowie „Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit“ beteiligt. Sie hat – wie auch in anderen Rechtsetzungsbereichen – in der Migrationspolitik der vergangenen zehn Jahre die Rolle der Impulsgeberin bzw. eines „Motors der Integration“ übernommen. Bis vor kurzem aber galt der Rat der Innen- und Justizminister als die letzte Gesetzgebungsinstanz in Migrationsfragen. Als „Gegenspieler“ der Kommission fungierte der Ministerrat in der Migrations- und Integrationspolitik bislang eher als Bremser und Blockierer. Häufig kamen die Kommissionsvorschläge aus dem Rat „zerrupft und zerhackt“ heraus. Als Vertretung der Mitgliedstaaten wacht der Rat eifersüchtig darüber, dass im Politikfeld nicht alles vergemeinschaftet werden kann, was die Kommission für vergemeinschaftungsfähig und -notwendig hält. Allerdings darf der Rat nicht unabhängig von seiner politisch-ideologischen Zusammensetzung gesehen werden; es spielt durchaus eine Rolle, ob er mehrheitlich sozialdemokratisch-liberal oder konservativ besetzt ist. Obwohl im Prinzip jeder Akteur im Rat ungeachtet seiner politischideologischen Ausrichtung ein Vetospieler sein könnte, schließen die Minister de facto häufig Kompromisse und sind daher auf (parteipolitisch-ideologisch) kompatible Allianzpartner angewiesen. Im Mehrebenensystem der Europäischen Union haben bisher nicht nur nationale, sondern auch subnationale Akteure, namentlich die deutschen Bundesländer, (mittelbare) Macht erlangt. Mit diesen Vetospielern ist selbstverständlich angesichts der zu erwartenden Reformen der Verträge auch in Zukunft zumindest dort zu rechnen, wo die nationalen und zum Teil auch subnationalen Kompetenzen erhalten bleiben, nämlich in der Anwerbepolitik und in all jenen Bereichen, welche konkrete Integrationsmaßnahmen betreffen. Im Rat und in den angelagerten Gremien werden diese Akteure auch künftig ihren formellen wie informellen Einfluss in den (Komitologie-)Ausschüssen geltend machen. Der noch zur Ratifizierung anstehende Vertrag von Lissabon sieht eine „passerelle“-Klausel vor. Sie erlaubt es, diejenigen Bereiche der Justiz- und Innenpolitik zu vergemeinschaften, die sich noch in der sog. Dritten Säule befinden, und die qualifizierten Mehrheitsbeschlüsse vor allem auf jene Bereiche auszudehnen, die im Zusammenhang mit Asyl, Einwan-
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derung, polizeilicher Zusammenarbeit und justizieller Kooperation in Strafsachen, Kontrolle der Außengrenzen sowie diplomatischem und konsularischem Schutz stehen. Diese Regelung verbessert in jedem Fall die Handlungsfähigkeit der EU und vermeidet Blockaden im Ministerrat (Kriterium der Effizienz), erhöht aber die Gefahr von „package deals“ über Politikfelder hinweg, die sachlich nicht miteinander verbunden sind. Die Vorherrschaft der Innen- und Justizminister im Rat wird derzeit durch die Kompetenzen aufgeweicht, welche die supranationalen Institutionen Kommission und Parlament allmählich errungen haben, aber auch durch die Ausdehnung der Migrationspolitik auf andere Politikfelder. Trotzdem gelang es den Ministern, durch die Kooperation von „Kernstaaten“ außerhalb des EU-Rahmens vorab Vereinbarungen über gemeinsame Politiken zu treffen, die sie dann fern der Kontrolle durch das Parlament und den Europäischen Gerichtshof quasi durch die Hintertür zum Bestandteil der gemeinsamen Verträge erhoben. Diese Verfahren mögen im Sinne der Effizienz sein, dienen aber weder der demokratischen Transparenz noch der Kohärenz der Politik. Sollten derlei Verträge oder das ebenfalls übliche Verhandeln am Rande von G-8-Gipfeln künftig Schule machen, unterlaufen sie vielmehr systematisch die angestrebte Schlüssigkeit der europäischen Einwanderungspolitik. Zudem dehnen die Minister auch über die externe Dimension der Einwanderung ihren Einfluss und ihre sicherheitspolitischen Ziele auf Drittstaaten aus (vgl. Maurer/Parkes 2006). Schließlich suchen sie über die Einbeziehung der übrigen Organe in informelle Verhandlungen ihre Interessen in das Europäische Parlament hineinzutragen. Das Europäische Parlament wurde zu Beginn der gemeinsamen Migrationspolitik lediglich konsultiert und konnte entsprechend diesem Verfahren den Vorschlag der Kommission mit einfacher Mehrheit annehmen, abändern, ablehnen oder gar keine Stellungnahme abgeben. Seit 2005 aber hat es sich das Mitentscheidungsverfahren für alle Bereiche der legalen Migration und der Integration mit Ausnahme der Wirtschaftsmigration erkämpft, sodass es in Teilen des Politikfeldes inzwischen zu einem wichtigen Gesetzgeber neben Rat und Kommission herangewachsen ist. Neben dem Parlament werden der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie der Ausschuss der Regionen obligatorisch gehört, wobei ihre Stellungnahmen lediglich empfehlenden Charakter haben. 3
Fazit
Die europäische Migrationspolitik folgt ganz unterschiedlichen Anforderungen und Zielsetzungen zwischen Anwerbung und Migrationskontrolle. Sie schwankt zwischen menschenrechtlichen Ansprüchen und menschenunwürdiger Praxis. Vielfach fällt im Rat der Innen- und Justizminister dabei die politische Entschei-
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dung zugunsten der Kontrolle und zuungunsten der Menschenrechte, der präventiven Entwicklungspolitik, des Flüchtlingsschutzes sowie der Liberalität von Bewegung und Arbeitsplatzwahl aus. Dies gilt selbst dort, wo die Europäische Kommission betont, dass man von der alleinigen Fokussierung des Sicherheitsaspekts abweichen müsse. Dabei sind die einzelnen Elemente von Migrationspolitik unbedingt aufeinander abzustimmen, wie es die Kommission seit Jahren in einem „Gesamtansatz“ fordert, um nicht durch Maßnahmen in der einen sub-policy kontraproduktive Folgen in einer anderen zu provozieren. Erhöhter Koordinationsbedarf entsteht im de facto immer noch „versäulten“ Gesetzgebungssystem überall dort, wo sich die Einwanderung als Querschnittsbereich ausnimmt wie zwischen Außen(handels)- und Innenpolitik oder zwischen Entwicklungs- und Innenpolitik, und wo bislang erst wenige Gremien für den regelmäßigen Austausch von Wissen, Logiken und Interessen sorgen. Das ist es, wo die Kommission in ihren jüngeren Mitteilungen ansetzt und Kohärenz durch Mainstreaming fordert. Europäische Migrationspolitik ist Dienerin vieler Herren, die, ihren nationalen Traditionen und Interessen folgend, nur bedingt willens sind, eine gemeinsame Linie zu verfolgen, Souveränität abzutreten, noch so gut vorbereitete Initiativen der Kommission zu akzeptieren und die einmal beschlossenen Richtlinien in den Mitgliedstaaten auch konsequent umzusetzen. Zwar hat das Europäische Parlament mehr Kompetenzen in der Migrationspolitik errungen, doch zeichnen sich deutliche Tendenzen des Rates ab, es zu umgehen. Damit entsteht statt einer Öffnung der Einwanderungspolitik ein Transparenz- und letztlich ein Legitimationsdefizit, das eine weitere Vergemeinschaftung zumindest fraglich erscheinen lässt.
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Die Migrationspolitik der Europäischen Union
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Fit für die Globalisierung? Deutschland auf dem Weg zur Modernisierung seiner Migrationsund Integrationspolitik Carolin Butterwegge
Jahrzehntelang folgte die (west)deutsche Migrations- bzw. Integrationspolitik dem Dogma, dass die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei und es auch nicht werden dürfe. Bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 erhielten SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine Mehrheit der Stimmen, übernahmen die Regierung und damit auch die Verantwortung für dieses umkämpfte Politikfeld. Sie versuchten, die Migrations- und Integrationspolitik zu modernisieren und an die Bedingungen der Globalisierung anzupassen, stießen jedoch auf energischen Widerstand, etwa beim Zuwanderungsgesetz. Mittlerweile erkennen (Regierungs-)Politik und Verwaltung die Einwanderungsrealität zwar faktisch an, gleichwohl enthält das erst nach mehreren Anläufen verabschiedete Zuwanderungsgesetz eine Akzentverschiebung von der Steuerung hin zur Begrenzung von Einwanderung, was die Frage nach der Zukunftsfähigkeit einer solchen Migrationspolitik im Zeitalter der Globalisierung erneut aufwirft. Um die Zusammenhänge zwischen der offiziellen Doktrin, kein Einwanderungsland zu sein, und sozialstrukturellen Integrationsprozessen bzw. Lebenslagen von Zuwanderern deutlich zu machen, werden im ersten Teil die historischen Wurzeln der Migrations- und Integrationspolitik skizziert. Denn die Weichenstellungen der 80er- und 90er-Jahre – genannt seien hier nur das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Ausländergesetz sowie die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im Mai 1993 – bilden bis heute die Basis für migrationspolitische Reformen. Aus diesen gewachsenen politisch-rechtlichen Vorgaben leiten sich auch zu großen Teilen die aufenthalts- und statusrechtlichen Differenzierungen der zugewanderten Bevölkerung ab. Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten Reformprojekte der rot-grünen Bundesregierung vorgestellt. Beantwortet werden soll die Frage, wie die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildete Koalition die Herausforderungen der sich globalisierenden Migration gemeistert und das Erfordernis einer aktiven Gestaltung von Integrationspolitik bewältigt hat. In diesem Kontext werden mögliche Auswirkungen der sog. Hartz-Gesetze auf die Prekarisierung der Lebenslagen eines Teils der Zuwanderer erörtert, bevor das dritte Kapitel mit einer Bilanz zur rot-grünen Migrations-
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und Integrationspolitik schließt. Im vierten Kapitel wird erörtert, welche neuen Akzente die Große Koalition auf dem genannten Politikfeld setzte und wo sie eher für Kontinuität hinsichtlich der Migrations- und Integrationspolitik sorgte. Abschließend wird die Kritik an der Regierungspolitik noch einmal in Form eines Fazits zusammengefasst.
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Migration und Integration(spolitik) bis 1998
Beim ersten Blick auf die gewachsene Migrationsrealität in Deutschland zeichnet sich gegenwärtig folgendes Bild ab: Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ca. 6,7 Mio. Ausländer(inne)n, rund 4 Mio. Spätaussiedler(inne)n und einer wachsenden Zahl Eingebürgerter bei knapp 82 Mio. Einwohner(inne)n insgesamt (vgl. Statistisches Bundesamt 2005) sowie einer über 50-jährigen Zuwanderungsgeschichte seit langem ein Einwanderungsland. Gleichwohl wurde diese Tatsache bis Ende der 90er-Jahre zwar de facto weitgehend akzeptiert, politisch und juristisch jedoch appellativ dementiert (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 43 f.). Mittlerweile leben über ein Drittel der Ausländer/innen seit mehr als 20 Jahren und rund zwei Drittel länger als acht Jahre in der Bundesrepublik; fast zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen mit ausländischem Pass sind hier geboren. Trotz langen Aufenthaltszeiten ist der Aufenthaltsstatus insbesondere vieler Drittstaatsangehöriger weiterhin unbefriedigend: Ende 2003 verfügten nur etwa 10 Prozent der Ausländer/innen in Deutschland über den sichersten Status einer Aufenthaltsberechtigung; eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaßen 27 Prozent. Eine nicht auf Dauer angelegte Aufenthaltsgenehmigung besaßen weitere 22 Prozent (mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis); rund 6,7 Prozent verfügten über eine Aufenthaltsbefugnis oder eine Duldung, die gleichfalls keinen Daueraufenthalt erlauben (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2004, S. 13; dies. 2005, S. 309). Die Gründe dafür, dass ein Großteil der schon seit langem in Deutschland lebenden und arbeitenden Zuwanderer immer noch einen perspektivisch unsicheren Aufenthaltsstatus besitzt sowie von politischer Partizipation und nicht wenigen sozialen Rechten weitgehend ausgeschlossen bleibt, liegen in ausländerrechtlichen und -politischen Traditionen der Bundesrepublik, die sich selbst lange als Nichteinwanderungsland begriff und infolgedessen „ihren“ Ausländer(inne)n vergleichsweise geringe Möglichkeiten von Aufenthaltsverfestigung, Einbürgerung und politischer Partizipation einräumte. Im Unterschied zu Staaten wie Großbritannien, Australien oder Kanada, die eine vergleichbare Zuwanderung aufweisen, zielte die deutsche Migrations- und Integrationspolitik traditio-
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nell auf eine Unterscheidung zwischen In- und Ausländern, die Begrenzung weiterer Zuwanderung und (zeitweise) eine Rückkehrförderung bereits im Land lebender Migrant(inn)en. Bereits die Anwerbepolitik von Arbeitsmigrant(inn)en aus Ländern des Mittelmeerraumes in den 50er- und 60er-Jahren war auf eine zeitlich befristete Zuwanderung gerichtet, die den Arbeitskräftemangel innerhalb bestimmter Zweige der westdeutschen Nachkriegsökonomie ausgleichen sollte. Die angeworbenen Zuwanderer, in der Mehrheit jung und männlich, lebten damals ohne Familienangehörige separiert von der deutschen Bevölkerung in Baracken oder Sammelunterkünften und erhielten überwiegend Industriearbeitsplätze, die wegen des relativen Stellenüberhanges und des steigenden Anspruchsniveaus einheimischer Arbeitnehmer immer seltener mit diesen besetzt werden konnten (vgl. Bade 2001, S. 231 f.). Somit übernahmen sie wichtige ökonomische Ersatz-, Erweiterungs- und Pufferfunktionen in Zeiten der Hochkonjunktur. Zumindest rein theoretisch galt noch das „Rotationsprinzip“, das nach dem Ende des befristeten Arbeitsaufenthalts die Rückkehr eines „Gastarbeiters“ in sein Herkunftsland vorsah (vgl. dazu: Meier-Braun 2002, S. 43 ff.). Diese Form staatlich organisierter Arbeitsmigration endete 1973 mit dem Anwerbestopp, der die ausländischen Arbeiter/innen vor die Alternative stellte, entweder in ihr Herkunftsland zurückzukehren oder die Bundesrepublik Deutschland zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen. Der Übergang von temporären Arbeits- zu Daueraufenthalten mit Familiennachzug ist also paradoxerweise dem 1973 erfolgten Anwerbestopp geschuldet (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 38). Obwohl die Migrationspolitik verstärkt zur Zuwanderungsbegrenzung tendierte, wurde in der westdeutschen Öffentlichkeit bereits damals die Frage gestellt, ob die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sei. Weil sich die soziale Lage der angeworbenen Arbeitsmigrant(inn)en und ihrer nachgezogenen Familien massiv verschlechterte, forderte der damalige erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung 1979 in dem nach ihm benannten „Kühn-Memorandum“, endlich die faktisch bestehende Einwanderungssituation von Gastarbeitern der nun schon zweiten Generation auch politisch zu akzeptieren (vgl. Herbert 2001, S. 245 f.). Seinerzeit entstand bereits, wie der Osnabrücker Migrationshistoriker Klaus J. Bade (1994, S. 17) rückblickend formulierte, ein „echtes Einwanderungsproblem“, das regierungsamtlich dementiert, im politischen Entscheidungsprozess verdrängt und im Verwaltungshandeln tabuisiert wurde. Seit den frühen 80er-Jahren war eine legale, ökonomisch begründete Zuwanderung in die Bundesrepublik lediglich Bürger(inne)n der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. der späteren Europäischen Union (EU) im Rahmen der ihnen vertraglich garantierten Freizügigkeit gestattet. Die Zuwanderung anderer Personen erfolgte nur in seltenen Ausnahmefällen, die per sog. Anwerbestopp-
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ausnahmeverordnung geregelt wurden. Eine aktive Politik der „Rückkehrförderung“ war begleitet von eher symbolischen Debatten über Möglichkeiten zur Einschränkung des Familiennachzuges wie die Herabsetzung des Nachzugsalters für Ausländerkinder (vgl. Meier-Braun 2002, S. 63 ff.). In Politik und Medien zeichnete sich seitdem auch eine gezielte Politisierung des „Ausländerthemas“ ab, die 1981 erstmals in einer „zu Horrorvisionen verzerrten Asyldiskussion“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 40) gipfelte. Die 80er-Jahre mit einem immer stärker ausdifferenzierten Migrationsgeschehen, steigenden Zuzugszahlen, drängender werdenden sozialen Problemlagen von Migrant(inn)en und weiterhin fehlenden Integrationskonzepten hat Klaus J. Bade (1994, S. 19) im Hinblick auf die Gestaltung der Einwanderungssituation als „verlorenes Jahrzehnt“ bezeichnet. Bedingt durch den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung 1989/90, änderte sich die Zuwanderung nach Deutschland in den 90er-Jahren gänzlich. Neben die Flüchtlinge und Asylsuchenden aus anderen Weltregionen sowie die nachziehenden Familienangehörigen der Arbeitsmigrant(inn)en aus den Anwerbestaaten traten neue Migrantengruppen, insbesondere Zuwanderer aus Osteuropa (Spätaussiedler/innen) sowie Flüchtlinge aus den jugoslawischen Bürgerkriegsgebieten. Die bis dahin im Kreuzfeuer der Kritik stehende Rückführungs- und Zuzugsbegrenzungspolitik, welche sich auf die sog. Gastarbeiter und ihre Familien konzentriert hatte, wurde zunehmend von einer Debatte um Restriktionen im Bereich Flucht und Asyl überlagert. Vor diesem Hintergrund erfolgten zu Beginn der 90er-Jahre mit dem Ausländergesetz, dem sog. Asylkompromiss und dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz unter dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mehrere migrationspolitische Weichenstellungen, die bis heute nachwirken: Am 1. Januar 1991 trat ein komplexes, selbst für Expert(inn)en bloß schwer durchschaubares und auf einem Entwurf von Schäuble basierendes Ausländerrecht in Kraft, das den Familiennachzug sowie die Einbürgerung erleichterte, den Schutz von Ehepartner(inne)n und Kindern politisch Verfolgter ausdehnte und eine sog. Altfallregelung für geduldete Asylbewerber/innen einführte. Gleichzeitig wurden jedoch Ausweisungsbefugnisse (z.B. bei Straftaten) verschärft und Ermessensspielräume der Ausländerbehörden im Aufenthaltsrecht ausgeweitet (vgl. Nuscheler 1995, S. 186 f.). Nach einer mehrmonatigen Diskussion über den angeblich massenhaften Missbrauch des in der Verfassung verankerten Grundrechts auf politisches Asyl durch „Wirtschaftsflüchtlinge“ schlossen CDU/CSU, FDP und SPD am 6. Dezember 1992 den sog. Asylkompromiss. Dieser sah die Einführung sicherer Drittstaaten und Herkunftsländer sowie im Asylverfahrensgesetz (§ 18a) das Flughafenverfahren vor und schränkte das Grundrecht auf politisches Asyl in
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dem neu eingeführten Art. 16a GG somit stark ein. Das neue Asylverfahrensgesetz und das nicht minder umstrittene Asylbewerberleistungsgesetz, mit dem (noch) nicht anerkannte Flüchtlinge vom Sozialhilfebezug ausgeschlossen und in ein neues Sozialleistungssystem mit eigens für dessen Adressatenkreis abgesenktem Existenzminimum eingegliedert wurden, traten 1993 in Kraft. Der Adressatenkreis und die maximale Bezugsdauer von Asylbewerberleistungen wurden seither in zahlreichen Novellen erweitert bzw. verlängert; zuletzt mittels des Zuwanderungsgesetzes, das diesem Leistungssystem weitere Flüchtlingsgruppen mit humanitärem, ungesichertem Aufenthaltsstatus zuordnete. Die Aussiedlergesetzgebung der 90er-Jahre (vgl. dazu: Treibel 2003, S. 36 ff.) war aufgrund der anfangs sehr hohen Zuzugszahlen durch eine schrittweise Verschärfung der Voraussetzungen zur Einreise (hinsichtlich abstammungsbezogener Diskriminierung im Herkunftsland, deutscher Sprachkenntnisse u.a.) sowie durch eine sukzessive Einschränkung des umfangreichen Entschädigungs- und Eingliederungsinstrumentariums gekennzeichnet, die auf eine Steuerung und Begrenzung des Zuzugs Deutschstämmiger zielten. Die Integration(sförderung) bereits hier lebender Migrant(inn)en wurde in den 90er-Jahren weitgehend vernachlässigt, weil eine „Einwanderungssituation“ politisch nach wie vor negiert wurde. Mit Ausnahme der Eingliederungsmaßnahmen für Spätaussiedler/innen existierte nur eine unsystematische, vor allem auf der Ebene von Ländern und Kommunen angesiedelte Integrationsförderung für kleine Teile der ausländischen Wohnbevölkerung (Frauen, Minderjährige). Dass die damalige Integrationsförderung weder in ihrer Komplexität und Wechselwirkung von der Politik thematisiert noch umfassend gestaltet wurde (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 43 f.), kritisierten Wissenschaftler/innen verschiedener Disziplinen im „Manifest der 60“ (Bade 1994) und auch viele andere Bürger/innen. Trotz einiger kleinerer ausländerpolitischer Projekte wie dem Rückführungsabkommen für Vietnames(inn)en 1995 oder der Novellierung des Ausländergesetzes 1996, welche die Einbürgerung und den Familiennachzug erleichterte, blieben die zentralen Probleme der Migrationspolitik unter der damaligen CDU/CSU/FDP-Koalition ungelöst.
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Die Migrations- und Integrationspolitik der rot-grünen Bundesregierung
Vor dem eingangs skizzierten Hintergrund verbanden sich mit dem Regierungswechsel 1998 große gesellschaftliche Erwartungen an eine Neuausrichtung der immer weniger zeitgemäßen Ausländer- und Integrationspolitik. Reformen auf diesem Politikfeld hatten in der ersten rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom
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20. Oktober 1998 denn auch einen hohen Stellenwert. Erstmalig bekannten sich zwei Regierungsparteien darin zur Anerkennung der faktischen Einwanderungsrealität bzw. dazu, dass ein „unumkehrbarer Zuwanderungsprozess in der Vergangenheit stattgefunden“ habe, weshalb sie „auf die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen“ (Koalitionsvereinbarung 1998, S. 47), setzten. Die Ablösung des aus dem Jahr 1913 stammenden Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStAG) durch ein modernes, auf dem Geburtsortsprinzip beruhendes Staatsangehörigkeitsrecht sollte dies als zentrales migrationspolitisches Reformvorhaben der Legislaturperiode untermauern (vgl. hierzu: Hentges/Reißlandt 2001, S. 179 ff.). Die erste rot-grüne Koalitionsvereinbarung war migrationspolitisch recht ambitioniert, sah sie doch eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Einführung des Kommunalwahlrechts für Nicht-EU-Ausländer/innen sowie ein ganzes Bündel von Maßnahmen im asylpolitischen Bereich vor: Das „Flughafenverfahren“ und die Dauer der Abschiebehaft sollten im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überprüft und die geschlechtsspezifische Verfolgung durch eine Änderung der Verwaltungsvorschriften als Asylschutzgrund anerkannt werden. „Wir setzen uns mit Nachdruck“, versprach man, „für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ein, die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet“ (Koalitionsvereinbarung 1998, S. 47). Im Bereich der Integrationspolitik sollten Ehegatt(inn)en früher als bislang ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten; die Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe von Zuwanderern wollten SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit einem Gesetz gegen Diskriminierung und zur Förderung der Gleichbehandlung unterstützen, das Benachteiligungen aufgrund von Behinderung, Herkunft, Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung verhindern sollte (vgl. ebd., S. 49).
2.1 Migrationspolitische Projekte der 14. Legislaturperiode (1998 bis 2002) Bevor migrationspolitische Meilensteine der rot-grünen Regierungszeit in den Blick genommen werden, sei noch an eine Entwicklung erinnert, der seit einigen Jahren eine wachsende Bedeutung zukommt: die europarechtliche Dimension von Migrations- und Asylpolitik. Sie hat im Laufe der ersten rot-grünen Legislaturperiode durch eine Bestimmung des im Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrages erheblich an Relevanz gewonnen, wonach Teile der Migrationsund Flüchtlingspolitik dem Gemeinschaftsrecht zugeordnet und deshalb seither schrittweise durch europäische Richtlinien und Verordnungen geregelt werden (vgl. Holzberger 2003; Bendel 2005). Wie im Fall der Antidiskriminierungs-
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richtlinien müssen sie durch eine nationale Gesetzgebung umgesetzt werden, womit der Gestaltungsspielraum nationaler Migrationspolitik zugunsten einer Harmonisierung europäischen Rechts eingeschränkt wird. Lässt man die supranationale Dimension außen vor, verblieben in der 14. Legislaturperiode zwei zentrale Projekte rot-grüner Migrations- und Integrationspolitik, deren Gesetzgebungsverfahren erneut heftige Kontroversen und aufgeregte Debatten in Politik wie Medien begleiteten: die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1999 und das zu einem späteren Zeitpunkt wieder revidierte, im Juli 2002 verabschiedete Zuwanderungsgesetz. 2.1.1 Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1999/2000 Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, legte der neue Innenminister Otto Schily im Januar 1999 den ersten Entwurf zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vor, welchen die Unionsparteien mit einer umstrittenen Unterschriftenaktion gegen doppelte Staatsbürgerschaften im Vorfeld der hessischen Landtagswahl (Februar 1999) beantworteten (vgl. dazu: Klärner 2000, S. 79 ff.; Storz 2002, S. 22). Im Juni desselben Jahres wurde die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts nach monatelangen Debatten verabschiedet. Sowohl die „Doppelpass-Kampagne“ als auch die Oppositionsmehrheit im Bundesrat hatten zur Abkehr von der ursprünglichen Gesetzesfassung geführt, die – gemäß der Koalitionsvereinbarung – u.a. die Duldung von Mehrstaatigkeit vorsah. Zentrales Element der Reform blieb zwar die Ergänzung des bis dahin fast ausschließlich geltenden Ius sanguinis (Abstammungsprinzip) um das Ius soli (Geburtsortsprinzip), das in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern seither unter bestimmten Voraussetzungen zusätzlich zu der ihrer Eltern automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkennt. Ein Zugeständnis bestand in der von der FDP vorgeschlagenen „Optionspflicht“, wonach sich Jugendliche mit zwei Pässen i.d.R. im Alter von 18 bzw. 23 Jahren zwischen einer der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen; unterbleibt dies, verlieren sie die deutsche Staatsangehörigkeit wieder (vgl. dazu: Spindler 2002, S. 60 ff.). Das Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit wurde – entgegen der Koalitionsvereinbarung – auch für alle anderen Einbürgerungsmöglichkeiten verankert, wenngleich zahlreiche Ausnahmen (z.B. bei EU-Bürgern und Asylberechtigten) zugelassen wurden (vgl. Aydin 2002, S. 116). Ferner wurden die Voraussetzungen für Einbürgerungen nach dem Ausländergesetz erheblich verändert: Die notwendige Mindestaufenthaltsdauer wurde bei Anspruchseinbürgerungen von 15 auf acht Jahre gesenkt, zugleich wurden aber „ausreichende“ (und nicht wie zuvor „einfache“) Kenntnisse der deutschen Sprache festgeschrieben (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S. 30 ff.).
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Da weder die Befürchtungen der Gegner/innen noch die Erwartungen der Befürworter/innen eingetreten sind, wird die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts inzwischen meist ambivalent als kleiner Schritt in die richtige Richtung bewertet (vgl. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, S. 247 f.; Interkultureller Rat 2002). Migrantenselbstorganisationen bewerten den Kompromiss vor allem wegen der Nichthinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft meist deutlich kritischer. So spricht der frühere Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde von einer „gescheiterten Reform“ (Keskin 2005, S. 30 ff.). Die damalige Bundesintegrationsbeauftragte Marieluise Beck berichtete zwar von insgesamt rückläufigen Einbürgerungszahlen seit Inkrafttreten der Reform (von 186.000 Einbürgerungen im Jahr 2000 auf 140.000 im Jahr 2003), konstatierte aber statistisch um Altfälle u.a. bereinigt von 2000 bis 2002 „eine deutliche Steigerung (der Einbürgerungen, C.B.) und im Jahr 2003 eine Stabilisierung auf hohem Niveau“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 188). Der wesentliche, als historisch bewertete und durch diese Zahlen nicht abgebildete Effekt der Staatsangehörigkeitsreform liegt in der „Einbürgerung“ von im Inland geborenen Kindern ausländischer Eltern durch das Geburtsortsprinzip, was eine integrationspolitische Errungenschaft darstellt, weil damit „ein Konzept der Staatsangehörigkeit beendet wird, das Menschen über Generationen hinweg zu ‚Ausländern‘ gemacht hat, obwohl sie bereits dauerhaft zur deutschen Gesellschaft dazugehörten“, wie die Bundesintegrationsbeauftragte formulierte (ebd.). 2.1.2 Von der „Green Card“-Diskussion zum ersten Zuwanderungsgesetz (2000 bis 2002) Kaum war das Staatsangehörigkeitsrecht novelliert, begann im Frühjahr 2000 eine öffentliche Debatte über die Zeitgemäßheit des Anwerbestopps für hoch qualifizierte Zuwanderer. Laut Bertelsmann Stiftung (Pressemitteilung v. 21.2.2000) fehlten in Deutschland „80.000 qualifizierte Fachkräfte für Informationstechnologie“, woraufhin Bundeskanzler Schröder, von Arbeitgebern und ihren Verbänden gedrängt, eine stärkere branchenbezogene Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Spezialisten ankündigte. Medienwirksam wurde eine „Green Card“-Initiative vorgestellt, die ab August 2000 einem Kontingent von 20.000 IT-Experten einen auf fünf Jahre befristeten Aufenthalt in der Bundesrepublik ermöglichte, der jedoch einen Familiennachzug ausschloss (vgl. Welsch 2000, S. 1473 f.). „Der besondere Charme der Idee bestand (...) darin“, so kommentierte die FAZ am 15. Juli 2000, „daß der Kanzler die Ausländerpolitik erstmals mit deutschen Interessen und nicht nur mit deutschen Verpflichtungen in Verbindung brachte“.
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Ungeachtet der konkret genannten Zahlen waren sich die führenden Vertreter der deutschen Wirtschaft einig, dass es langfristig einer massiven Zuwanderung bedürfe, um den aktuellen und vor allem künftigen Mangel an qualifizierten Fachkräften zu beheben. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau (2000) regte deshalb in seiner ersten Berliner Rede neben einer breiten Debatte über die Frage, wie eine von sozialen, humanitären und wirtschaftlichen Interessen geprägte Einwanderung in Deutschland gestaltet werden könne, eine Diskussion darüber an, wie eine neue, ganzheitliche Integrationspolitik auszurichten sei. Besonders die Förderung der Integration sei, so betonte Rau, „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe allererster Ordnung“ (ebd., S. 34), die insbesondere in Kindergärten, Schulen, der Jugendarbeit, der Ausbildung und im Arbeitsleben wahrgenommen werden müsse. Die aufkeimende Debatte um Zuwanderung und Integration entwickelte im Sommer 2000 eine ungeahnte Dynamik, als Bundesinnenminister Schily die „Unabhängige Kommission ‚Zuwanderung‘“ der Bundesregierung unter Vorsitz von Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU) einrichtete, die alle mit Migration einschließlich der Integration verbundenen Fragen prüfen und Empfehlungen für ein Gesamtkonzept entwickeln sollte, wie es lange gefordert worden war (vgl. Bade/Oltmer 2004, S. 130). Der am 4. Juli des folgenden Jahres veröffentlichte Bericht der Zuwanderungskommission macht einerseits deutlich, wie weit die überparteiliche Debatte um Integration damals gediehen war, zeigt aber auch, dass – guten Willen vorausgesetzt – viele Streitpunkte in einem sachorientierten Diskussionsprozess konsensuell hätten gelöst werden können: Neben ausdifferenzierten Instrumentarien zur Steuerung der ökonomisch begründeten, am Arbeitsmarkt ausgerichteten Neuzuwanderung empfahl der Bericht ein umfassendes Gesamtkonzept zur Integrationsförderung, das nicht nur bereits ansässige und künftig einreisende Migrant(inn)en, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft einbeziehen sollte (vgl. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001). Freilich währte die Diskussion um den z.T. hoch gelobten Bericht nicht lange, weil Bundesinnenminister Schily nur einen Monat später seinen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgearbeiteten – Referentenentwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorstellte. Verbunden mit einem strikten Zeitplan für die parlamentarischen Beratungen sollte der Entwurf ursprünglich innerhalb von drei Monaten den Bundestag passiert haben, was sich wegen des 11. September 2001 aber nicht realisieren ließ. Nach mehrmaliger Nachbesserung einzelner Punkte einigte sich das Bundeskabinett nach langen Debatten, bei denen Bündnis 90/Die Grünen drohten, die Koalitionsfrage zu stellen, Anfang November auf einen gemeinsamen Entwurf, der – abgesehen von diversen Entschärfungen zugunsten des grünen Koalitionspartners – im Wesentlichen auf dem Referentenentwurf des Innenministeriums basierte.
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Aufgrund der sich weiterhin abzeichnenden Ablehnung des Zuwanderungsgesetzes durch CDU und CSU ging Schily Ende Februar 2002 nach kurzen Verhandlungen mit dem grünen Koalitionspartner in vielen Punkten auf Forderungen der Union ein und veränderte den Entwurf ein weiteres Mal (vgl. Nelles 2001), ohne dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre ablehnende Haltung revidierte (vgl. Grassmann 2002). Das Gesetz passierte deshalb am 1. März nur mit den Stimmen der rot-grünen Koalition den Bundestag (vgl. Dokumentation der zweiten und dritten Beratung des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes 2002). Es enthielt zwar Kernelemente einer liberalen, auf ein Mehr an Einwanderung zielenden Migrationspolitik, ließ sich in seiner Gesamtheit jedoch als eine ebenfalls auf Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung zielende Regelung charakterisieren (vgl. Hell 2005, S. 166). Drei Wochen später befasste sich der Bundesrat in einer außergewöhnlich turbulenten Sitzung damit. Sein damaliger Präsident, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, wertete die entscheidenden Stimmen des Landes Brandenburg, dessen Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) – anders als Sozialminister Alwin Ziel (SPD) – gegen das Gesetz opponiert hatte, nach mehreren Rückfragen als Zustimmung (vgl. Dokumentation der 774. Sitzung des Bundesrats am 22. März 2002). Diese von Unionspolitikern auch als „Verfassungskrise“ kritisierte einheitliche Wertung der Stimmen des Landes Brandenburg (vgl. Kerscher 2002) und der darauf folgende Eklat in der Bundesratssitzung veranlassten Bundespräsident Rau, sich drei Monate Zeit für die Auszeichnung des Gesetzes zu lassen. In einer Erklärung für seine Unterschrift und die folgende Verkündung im Bundesgesetzblatt konstatierte Rau (2002), dass er das (umstrittene) Zustandekommen des Gesetzes sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft, einen zweifelsfreien und eindeutigen Verstoß jedoch nicht habe feststellen können. Nachdem das Zuwanderungsgesetz am 25. Juni im Bundesgesetzblatt erschienen und zumindest in Teilen bereits in Kraft getreten war, klagten mehrere unionsregierte Bundesländer unter Federführung des Saarlandes bzw. von dessen Ministerpräsidenten und CDU-Zuwanderungsexperten Peter Müller beim Bundesverfassungsgericht, um die Rechtmäßigkeit seines Zustandekommens überprüfen zu lassen. Zudem sollte die Debatte über die formelle Verfassungsmäßigkeit hinaus auch über die Inhalte des Gesetzes geführt werden, weil dies kein „Begrenzungs-“, sondern ein „Zuwanderungserweiterungsgesetz“ sei (vgl. Süddeutsche Zeitung v. 21.6.2002).
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2.2 Zuwanderungs- und Integrationspolitik in der 15. Legislaturperiode (2002 bis 2005) Nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl im Oktober 2002 ging man innerhalb der rot-grünen Koalition und der (Medien-)Öffentlichkeit allenthalben noch davon aus, dass das Zuwanderungsgesetz wie geplant zum 1. Januar 2003 in Kraft treten würde. Entsprechend legten die Regierungsparteien in der zweiten Koalitionsvereinbarung (2002, S. 64) fest, sich für eine den humanitären Zielsetzungen entsprechende Umsetzung und weitere Ausführung des Gesetzes (durch Anwendungshinweise und Verwaltungsvorschriften) einzusetzen. Zugleich wollte man Integrationsförderung als Querschnittspolitik aufwerten und damit fortfahren, Fehler und Versäumnisse der „Gastarbeiterära“ zu korrigieren. Beispielsweise sollte die sog. nachholende Integration für bereits hier lebende Migrant(inn)en und vor allem ihre Kinder intensiviert werden. Es kam allerdings anders als erwartet. Die Verhandlungen um das Zuwanderungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht endeten am 18. Dezember 2002 mit dem überraschenden Urteil, dass das Gesetz verfassungswidrig zustande gekommen und somit nichtig sei (vgl. Migration u. Bevölkerung 2003). Damit wurde eine zweite Runde der Debatte um das Zuwanderungsgesetz eingeläutet, die erst im Juli 2004 mit der Verabschiedung eines Kompromissentwurfs durch SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP enden sollte.
2.2.1 Verabschiedung und Regelungsbereiche des Zuwanderungsgesetzes Das zweite Gesetzgebungsverfahren für das Zuwanderungsgesetz begann im Frühjahr 2003 und dauerte bis Ende Juni des folgenden Jahres. Im Januar 2003 brachte die Bundesregierung den Entwurf trotz heftiger Kritik der Unionsparteien unverändert in den Bundestag ein, der ihn am 9. Mai verabschiedete. Allerdings lehnte der von der Opposition dominierte Bundesrat den Entwurf am 20. Juni 2003 erwartungsgemäß ab, woraufhin der von der Bundesregierung angerufene Vermittlungsausschuss im Oktober desselben Jahres seine Arbeit aufnahm. Die vom Vermittlungsausschuss ins Leben gerufene Arbeitsgruppe kam auch nach mehr als zwölf Sitzungen bis Mai 2004 zu keinem gemeinsamen Ergebnis, zumal die Unionsparteien nach den Terroranschlägen von Madrid am 11. März des Jahres erneut sicherheitspolitische Verschärfungen des Gesetzentwurfs forderten (vgl. Schwelien 2004, S. 206). Die Bündnisgrünen erklärten die Verhandlungen daraufhin am 3. Mai 2004 für beendet, wohl auch, um weitere Verschärfungen der ursprünglichen Fassung im sicherheitspolitischen Bereich zu verhindern. Da seine führende Regierungspartei zur Fortsetzung der Gespräche
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bereit war, lud Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vorsitzenden von SPD, Bündnisgrünen, CDU, CSU und FDP zu „Konsensgesprächen“ auf höchster Ebene ein (vgl. SZ 2004), die mit einem Kompromiss endeten. Dieser wurde von einer Arbeitsgruppe mit Innenminister Schily, dem damaligen bayrischen Innenminister Beckstein und dem saarländischen Ministerpräsidenten Müller in einem zweiten Gesetzentwurf ausformuliert, der im Juli 2004 nunmehr problemlos Bundestag und Bundesrat passierte (vgl. Renner 2004, S. 267; Zuwanderungsgesetz 2004). Mit dem kurz als „Zuwanderungsgesetz“ bezeichneten Artikelgesetz, das vollständig „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ heißt, wurde zum 1. Januar 2005 eine grundlegende Neuregelung des gesamten Ausländer- und Asylrechts vorgenommen (vgl. dazu: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 220 ff.). Sein Herzstück bildet mit Artikel 1 das neue Aufenthaltsgesetz, welches das alte Ausländergesetz samt seinen Verordnungen und Durchführungsbestimmungen abgelöst hat (vgl. im Einzelnen: Frings/Knösel 2005; Renner 2004, S. 266 ff.). Weitere Artikel änderten u.a. das Asylverfahrens- und das Asylbewerberleistungsgesetz, das 2000 in Kraft getretene neue Staatsangehörigkeitsgesetz sowie das Bundesvertriebenengesetz und führten das Freizügigkeitsgesetz/EU als Aufenthaltsrecht für EU-Bürger/innen neu ein. Im Aufenthaltsgesetz wird das gesamte Einreise- und Aufenthaltserlaubnisrecht von Drittstaatsangehörigen neu geregelt. Es knüpft zwar an wesentliche Strukturen des alten Ausländerrechts an, führt aber mit der (befristeten) Aufenthaltserlaubnis sowie der (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis eine neue, grob nur noch zweigeteilte Systematik von Aufenthaltstiteln ein, welche die vielen zuvor bestehenden Aufenthaltsgenehmigungsformen mit Ausnahme der Duldung ersetzen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 218 ff.). Allerdings stellt dies nur auf den ersten Blick eine Vereinfachung dar. Die befristete Aufenthaltserlaubnis wird zwar (fast) allen Migrantengruppen mit noch nicht dauerhafter Bleibeperspektive gleichermaßen gewährt, aber neuerdings mit einem je nach Aufenthaltszweck differierenden Vermerk zum individuellen Arbeitsmarktzugang versehen. Die nach altem Recht unterschiedenen Statusgruppen (z.B. Saisonarbeitnehmer, Studierende, Asylbewerber, GFK-Flüchtlinge und geduldete Flüchtlinge) werden beibehalten, indem sie eine jeweils mit höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Teilhaberechten verbundene Aufenthaltserlaubnis erhalten (vgl. dazu im Einzelnen: Knösel/Frings 2005, S. 40 ff.). Die wohl wichtigsten Vermerke auf der Aufenthaltserlaubnis betreffen den Arbeitsmarktzugang, die Zuordnung zum Empfängerkreis von Asylbewerberleistungen sowie die jeweils existenten Mög-
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lichkeiten der Aufenthaltsverfestigung, aus denen sich weitere, etwa soziale (Inanspruchnahme der Grundsicherung für Arbeitsuchende) oder partizipative Rechte (Aufenthaltsverfestigung und Einbürgerung) indirekt ableiten. Besonders deutlich weicht das zweite vom ersten Zuwanderungsgesetz im Bereich der Arbeitsmigration ab, weil die Begrenzung der arbeitsmarktbezogenen Neuzuwanderung gegenüber deren Steuerung deutlich in den Vordergrund gerückt ist. Zwar erleichterte das Gesetz die Einreise und Erwerbstätigkeit hoch Qualifizierter verschiedener Berufsgruppen (Wissenschaftler, Computerspezialisten, Manager, leitende Angestellte) bzw. von Selbstständigen (die mindestens 1 Mio. EUR investieren mussten) und ermöglichte ausländischen Absolvent(inn)en deutscher Hochschulen, in der Bundesrepublik zeitlich befristet Berufserfahrungen zu sammeln. Allerdings nahm man die zuvor festgelegte, von der Wirtschaft besonders positiv aufgenommene Regelung eines Auswahlverfahrens zur Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte zurück, während die Regelungen des Anwerbestopps und seiner Ausnahmen für gering Qualifizierte wieder eingeführt und für die Zukunft festgeschrieben wurden (vgl. hierzu: Reißlandt/Schneider 2005). Im Asylbereich wurde unter weitgehender Beibehaltung der im alten Ausländerrecht verankerten Hierarchie von Flüchtlingsgruppen eine Neuordnung der humanitären Aufenthaltstitel vorgenommen. In dem Bemühen um mehr Humanität im Umgang mit Flüchtlingen traf man (mit EU-Vorgaben konforme) Regelungen zur Aufnahme geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung als Asylschutzgründe. Außerdem konnten bedeutsame Fortschritte, etwa aufenthaltsrechtlicher Art für Kontingentflüchtlinge oder bezüglich der Einrichtung von Härtefallkommissionen, erzielt werden (vgl. dazu im Einzelnen: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 221 ff.). Die häufig geforderte Verbesserung des Aufenthaltsstatus von geduldeten Flüchtlingen (mit Abschiebehindernissen) durch Abschaffung der „Kettenduldung“ war vom Gesetzgeber zwar intendiert, aber gleichzeitig mit so großen Ermessensspielräumen ausgestaltet worden (vgl. ebd., S. 222 f.), dass in der bundesländer- und behördenspezifischen Praxis bald eine ebenso restriktive Handhabung wie zuvor herrschte. Die wesentlichen Neuerungen des Zuwanderungsgesetzes liegen im Bereich der Integrationsförderung. Erstmalig wurden in der Verantwortung des Bundes liegende Maßnahmen zur Förderung der Integration (insbesondere Sprach- in Verbindung mit Orientierungskursen) verankert, die Teilung der finanziellen Aufwendungen dafür zwischen Bund und Ländern verbindlich geregelt und als neues Kompetenzzentrum für Integrationsförderung das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge benannt (vgl. Griesbeck 2002; Renner 2004, S. 267). Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes sind Neuzuwanderer (mit Ausnahme von Flüchtlingen ohne geklärten Aufenthalt) dazu verpflichtet, an Integrations-
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kursen teilzunehmen, die aus einem 600 Unterrichtsstunden umfassenden Deutsch- sowie einem 30-stündigen Orientierungskurs bestehen. Sog. Altzuwanderer sind dazu berechtigt bzw. müssen (unter Androhung aufenthaltsrechtlicher Sanktionen) diese Kurse sogar besuchen, sofern sie als Sozialleistungsbezieher/innen dazu angehalten worden sind (vgl. dazu: Hentges u.a. 2008). Die Bewertung des Zuwanderungsgesetzes fällt erwartungsgemäß höchst unterschiedlich aus (vgl. Migration-Info 2005). Während Bundesinnenminister Schily als „Vater des Zuwanderungsgesetzes“ von einer historischen Zäsur und dem modernsten Zuwanderungsrecht in Europa sprach, hoben Vertreter/innen der großen Parteien seinen Charakter als Steuerungs- und Begrenzungsinstrument hervor. Der Rat für Migration beurteilte das schließlich zustande gekommene Gesetz nur noch als zweitbeste Lösung (vgl. Renner 2004, S. 267). Klaus J. Bade (2005, S. 218) ist der Auffassung, das Gesetz sei zwar nicht mehr als der „ursprünglich ins Auge gefasste historische Schritt mit Sieben-Meilen-Stiefeln, aber dennoch als Überschreitung einer historischen Schwelle“ zu bewerten, weil Migration und Integration nunmehr erstmalig legislativ und institutionell in einem gemeinsamen Gesetzeswerk zum Katalog politischer Kernthemen gehörten. Allerdings warnt er davor, dass durch den Wegfall der ursprünglich geplanten Förderung der „nachholenden Integration“ bereits hier lebender Migrant(inn)en die historischen Versäumnisse fehlender Integrationsförderung nicht ausreichend korrigiert werden könnten (vgl. ebd., S. 222). Flüchtlingsverbände und Menschenrechtsorganisationen begrüßten insbesondere die Aufnahme geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung sowie die im humanitären Bereich erzielten Verbesserungen. Auch Heribert Prantl (2004), Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, lobte die dort erreichten Fortschritte, kritisierte aber die „Rohrstock-Integration“ und das Scheitern der versprochenen Abschaffung der Duldung, weil sich die Situation geduldeter Flüchtlinge mit dem Gesetz gravierend verschlechtert habe.
2.2.2 Das gescheiterte Antidiskriminierungsgesetz Die Debatte um das vor allem integrationspolitisch bedeutsame Antidiskriminierungsgesetz, zu dem die Bundesregierung seit dem Jahr 2000 mittlerweile vier Gleichbehandlungs-Richtlinien der EU verpflichteten, begann in der 14. Legislaturperiode und währte mehrere Jahre (vgl. dazu: Forum gegen Rassismus 2001, S. 4 ff.; Keskin 2005, S. 153 ff.). Anfang Dezember 2001, also rund drei Jahre, nachdem SPD und Bündnis 90/Die Grünen sich in ihrer ersten Koalitionsvereinbarung auf ein Antidiskriminierungsgesetz verständigt hatten und die Debatte um Zuwanderung bereits voll entbrannt war, stellte die damalige Bundesjustizminis-
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terin Herta Däubler-Gmelin einen ersten Gesetzentwurf vor. Er ging vor allem im zivilrechtlichen Regelungsbereich über das in den EU-Richtlinien geforderte Mindestmaß hinaus; auch im Arbeitsrecht sollte ein umfassender Schutz vor Diskriminierung verankert werden. Menschen, die sich wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, Alters, ihrer Religion, Weltanschauung oder sexuellen Orientierung benachteiligt sehen, sollten ihre Ansprüche einklagen können. Der damit sehr weit gehende Entwurf stieß allerdings nicht nur auf erhebliche Kritik von Wirtschaftsverbänden und Oppositionsparteien, sondern war auch innerhalb der Kirchen und der SPD umstritten. Bundeskanzler Schröder kündigte darauf u.a. im Focus (v. 15.4.2002) an, dass es innerhalb der laufenden Legislaturperiode keinen Gesetzentwurf mehr geben werde. Trotz Widerstandes des bündnisgrünen Koalitionspartners, der im Juni 2002 erneut versuchte, das Gesetz noch vor der Bundestagswahl einzubringen, verlief so der erste Versuch, ein Antidiskriminierungsgesetz fristgemäß zu verabschieden, ergebnislos im Sande, bevor überhaupt ein Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden konnte. Bis ein weiterer Anlauf zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien unternommen wurde, war die zweite rot-grüne Legislaturperiode bereits zur Hälfte verstrichen. Vermutlich war dieser Umstand politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition geschuldet. Da die Gleichbehandlungsrichtlinien nicht fristgemäß umgesetzt und auch keine Aktivitäten dazu bekannt geworden waren (vgl. Rath 2004), leitete die EU-Kommission im August 2004 gegen Deutschland und vier andere Mitgliedstaaten ein Strafverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ein, das im April 2005 zu einer Verurteilung führte (vgl. Forum gegen Rassismus 2005, S. 9 f.). Presseberichten zufolge sollte „im Herbst des Jahres“ (Schweibert 2004) ein Gesetzentwurf eingebracht werden, aber wieder zogen mehrere Monate ins Land, bevor ihn die neue Bundesjustizministerin Brigitte Zypries am 16. Dezember 2004 präsentierte. Der zweite Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes wurde Ende Januar 2005 in erster Lesung im Bundestag behandelt (vgl. Özcan 2005). Die Verhandlungen mit den Oppositionsparteien gestalteten sich nicht weniger konfliktträchtig als zwei Jahre zuvor, allerdings liefen dieses Mal insbesondere Wirtschaft und Arbeitgeberverbände Sturm gegen den Gesetzentwurf, weil sie ein Übermaß an Bürokratie und unkalkulierbare Prozessrisiken befürchteten (vgl. Sievers 2005). Nachdem sich der Streit verschärft hatte und auch SPD-Spitzenpolitiker auf Distanz gegangen waren, fasste der Bundesrat am 18. Februar 2005 den Beschluss, das Gesetz nicht zu verabschieden, weil es über das europarechtlich Geforderte hinausgehe. Obwohl der Entwurf daraufhin in 40 strittigen Punkten – hauptsächlich im arbeitsrechtlichen Teil – entschärft wurde, hielt die Kritik von Unternehmerverbänden und Wirtschaftsinstituten am Antidiskriminierungsgesetz als „drohendem bürokratischen Monster“, das zu hohen
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Schadensersatzzahlungen von Unternehmen führen und unzulässig in deren Vertragsfreiheit eingreifen würde, an (vgl. Institut der deutschen Wirtschaft 2005, S. 8). Auch die Unionsparteien erneuerten ihre Kritik an dem Entwurf, weshalb SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihn am 17. Juni 2005 nur mit ihrer eigenen Stimmenmehrheit im Bundestag verabschiedeten. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch schon klar, dass die Bundestagswahl vorzeitig stattfinden würde. In Verbindung mit der Ablehnung des Antidiskriminierungsgesetzes durch die Oppositionsparteien war aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss somit absehbar, dass es bis zum Wahltag nicht mehr würde verabschiedet werden können (vgl. Forum gegen Rassismus 2005, S. 8).
2.2.3 Migrationsspezifische Auswirkungen der rot-grünen Sozial- und Arbeitsmarktreformen Am 1. Januar 2005 hat eine Fülle rot-grüner „Reform“-Gesetze zentrale Stützpfeiler des deutschen Sozial(versicherungs)staates umgestaltet, auf den Migrant(inn)en in besonderem Maße angewiesen sind, weil sie häufiger als Deutsche arbeitslos und einkommensarm sind. Zusammen mit einer Sozialhilfereform, die durch eine in der Höhe unzureichende Pauschalierung wiederkehrender Einmalleistungen das Leistungsniveau absenkte, trat das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV) in Kraft, dessen Auswirkungen für verschiedene Betroffenengruppen (Langzeitarbeitslose, Niedriglohnempfänger/innen, Frauen sowie Alleinerziehende) politisch heftig umstritten waren und zum Teil immer noch sind (vgl. dazu: Agenturschluss 2006; Rudolph/Niekant 2007; Klute/Kotlenga 2008). Für die Armutsentwicklung in der Bundesrepublik markierten das besagte Gesetzespaket sowie die gleichzeitig erfolgte Sozialhilfereform eine Zäsur, weil sie tief in das deutsche Arbeits- und Sozialrecht eingriffen (vgl. Butterwegge 2006, S. 184 ff.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich insbesondere das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in Verbindung mit dem zeitgleich in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz integrationspolitisch auswirkt, etwa hinsichtlich der Einkommenslagen und Armutsrisiken von Migranten(gruppen) und ihren Familienangehörigen (vgl. dazu: Reißlandt/Butterwegge 2006). Vor allem weil die Gesetze parallel „mit heißer Nadel“ gestrickt worden waren, ergaben sich Widersprüche, die mit dem „Gesetz zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze“ vom 17. März 2005 behoben werden sollten. In der Praxis führte dies zu erheblichen Unsicherheiten bei der Auslegung der Gesetzestexte und Verwaltungsvorschriften durch die Behörden,
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die nicht selten zu Ungunsten von Migrant(inn)en entschieden (vgl. Bundesintegrationsbeauftragte 2005, S. 232 und 292 ff.). 2.2.3.1 Der Kreis ausländischer Bezieher von SGB-II-Leistungen (Alg II) Kernstück des vierten „Hartz-Gesetzes“ bilden Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die im Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) verankert sind und im Wesentlichen aus dem Arbeitslosengeld (Alg) II bzw. der Grundsicherung für Arbeitsuchende inklusive Sozialgeld für deren Familienangehörige, Leistungen zur Integration in Arbeit sowie einem Anreiz- und Sanktionssystem bestehen. Generell anspruchsberechtigt, das Alg II zu beziehen, sind „erwerbsfähige Hilfebedürftige im Alter von 15 bis 65 Jahren“, und zwar unabhängig von einer zuvor erfolgten oder gleichzeitig erfolgenden Erwerbstätigkeit. Der Kreis ausländischer Anspruchsberechtigter ist vom Gesetzgeber allerdings auf Migrant(inn)en mit „gewöhnlichem Aufenthalt“ eingegrenzt worden (vgl. TießlerMarenda 2005, S. 10; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 239); zudem sind nur jene anspruchsberechtigt, bei denen die „Voraussetzungen nach § 8 Abs. 2 (SGB II, C.B.) vorliegen“ und die nicht zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz zählen. Der Ausschluss von Asylbewerberleistungsberechtigten aus SGB-II-Leistungen dürfte zu einer Verschlechterung der finanziellen Spielräume vieler arbeitsloser Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthaltsstatus geführt haben. Betroffene, die trotz nachrangigem Arbeitsmarktzugang bis dahin eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und dadurch Anspruch auf anschließendes (gehaltsabhängiges) Arbeitslosengeld erworben hatten, dürfen seit Anfang 2005 nur mehr (Sach-)Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen. Folglich führt die im Zuwanderungsgesetz enthaltene Ausdehnung des Geltungsbereiches des Asylbewerberleistungsgesetzes (vgl. Classen/Rothkegel 2006, S. 13) in Verbindung mit Hartz IV zur Exklusion weiterer Flüchtlingsgruppen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus von Leistungen der Arbeitsförderung nach dem SGB II und anderer sozialer Sicherungssysteme in Deutschland (wie etwa der „neuen“ Sozialhilfe nach dem SGB XII), womit sich die ohnehin schwierige finanzielle Lage und die Arbeitsmarktsituation von Flüchtlingen mit prekärem Status noch problematischer gestalten. Die Angehörigen dieser Migrantengruppen – auch Ehegatt(inn)en und Kinder – wurden auf die mit 225 EUR für einen Haushaltsvorstand erheblich niedrigeren (Sach-)Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes verwiesen.
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Paragraf 8 Abs. 2 SGB II regelt die Frage, ab wann eine Person als „erwerbsfähig“ einzustufen und damit zum Kreis der potenziell Anspruchsberechtigten zu zählen ist. Bei den Verhandlungen über Hartz IV war umstritten, ob Ausländer/innen mit nachrangigem Arbeitsmarktzugang überhaupt dazu gehören sollten; man einigte sich darauf, Nichtdeutsche nur als erwerbsfähig einzustufen, „wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte“ (SGB II 2003). Hinsichtlich der Frage, ob auch Zugewanderte mit nachrangigem Zugang zum Kreis der Anspruchsberechtigten von SGB-II-Leistungen zu zählen sind, bestanden weiterhin erhebliche Auslegungsunsicherheiten, wie Marieluise Beck, damalige Bundesintegrationsbeauftragte, bemängelte. Nach ihrer Ansicht reicht die „Möglichkeit einer nachrangigen Zulassung“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005, S. 292) aus, um als erwerbsfähig eingestuft zu werden; es komme also darauf an, ob zumindest theoretisch eine Zustimmung zur Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit erteilt werden könne, auch wenn eine Vorrangprüfung dies im Einzelfall ggf. verhindere.
2.2.3.2 Konsequenzen von Hartz IV für verschiedene Zuwanderergruppen Die migrationsspezifischen Folgen der 2005 in Kraft getretenen Sozial-, Arbeitsmarkt- und Zuwanderungsrechtsreformen sind durchaus vielschichtig und zudem für unterschiedliche Migrantengruppen differenziert zu bewerten. Gewisse, wenngleich immaterielle Verbesserungen ergaben sich durch Hartz IV vor allem für jene Ausländer/innen, die bis Ende 2004 auf Sozialhilfe angewiesen waren und seither (die pauschalierten) Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen. Sie können seitdem von Maßnahmen der Arbeitsförderung profitieren, die jedoch bloße Kann-, also keine Mussleistungen sind, und werden in die Gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen. Die grundsätzliche Stoßrichtung von Hartz IV ist insbesondere für niedrig qualifizierte Migrant(inn)en mit nachrangigem Arbeitsmarktzugang problematisch: Die verschärften Zumutbarkeitsregeln für Alg-II-Bezieher/innen dürften vor allem im Niedriglohnsektor dazu führen, dass Stellen, die für Einheimische früher wenig attraktiv waren und Migrant(inn)en überlassen wurden, nunmehr von Deutschen und bevorrechtigten EU-Bürger(inne)n besetzt werden, womit die Konkurrenz um solche Beschäftigungsverhältnisse sich weiter erhöht. Eine nicht unerhebliche Verschlechterung ihrer sozialen Lage erlebten außerdem nicht wenige der rund 200.000 ausländischen Bezieher/innen der alten Arbeitslosenhilfe. Ebenso wie Deutsche sahen sie sich mit empfindlichen Einkommenseinbu-
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ßen konfrontiert, weil nicht nur Partnereinkommen stärker berücksichtigt wurden, sondern das Alg II im Gegensatz zur Arbeitslosenhilfe gehaltsunabhängig ist und besonders für Familien, die häufiger als Kinderlose Einmalleistungen bei besonderen Anlässen erhielten, letztlich noch unter dem Niveau der früheren Sozialhilfe liegt. Darüber hinaus hatten Zugewanderte mit ungefestigtem Aufenthaltsstatus zunächst mögliche aufenthaltsrechtliche Folgen einer Inanspruchnahme unterhaltssichernder Leistungen des SGB II zu befürchten. Im Änderungsgesetz zum Aufenthaltsgesetz stellte man deshalb nachträglich richtig, dass der Bezug des Alg II keinen Grund für eine Ermessensausweisung darstellt; allerdings gilt dies weiterhin nicht für Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit nach dem neuen SGB XII, die – wie zuvor auch der Sozialhilfebezug – ausländerrechtlich als Begründung für eine Ausweisung im Ermessen der Ausländerbehörden herangezogen werden können. Insbesondere für ältere, arbeitslos gewordene Drittstaatsangehörige ohne gefestigten Aufenthaltsstatus ergibt sich dadurch das neue aufenthaltsrechtliche Risiko, wegen eines (infolge harter körperlicher Arbeit) schlechten Gesundheitszustandes als „nicht erwerbsfähig“ in die Sozialhilfe abgedrängt zu werden. Bei einer Reihe von Möglichkeiten der Aufenthaltsverfestigung verringerten sich ferner bedeutsame Rechte Alg-II-beziehender Drittstaatsangehöriger erheblich. Indem die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 36 auf 12 Monate (bzw. 18 Monate für Ältere) reduziert wurde, verkürzte man gleichermaßen den Zeitraum, in dem Zuwanderer eine Aufenthaltsverfestigung beantragen können. Aufgrund einer Ergänzung im Änderungsgesetz zum Aufenthaltsgesetz steht ein Bezug von Alg II, das im Unterschied zur früheren Arbeitslosenhilfe in diesem Punkt als Sozialhilfeleistung gewertet wird, seither u.U. dem Familiennachzug, der Verlängerung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für Ehegatt(inn)en sowie der Erteilung eines unbefristeten eigenständigen Aufenthaltsrechts von Kindern entgegen. Schließlich dürfte Hartz IV für einen Teil der arbeitslosen Spätaussiedler/innen mit einer Verschlechterung der Einkommenslage einhergehen, weil die bis Ende 2004 nach Angaben des DGB-Bundesvorstandes (2004) rund 17.000 bedürftigen und arbeitslos gemeldeten Spätaussiedler(inne)n gewährte Eingliederungshilfe durch das deutlich niedrigere Arbeitslosengeld II ersetzt wurde. 3
Eine Bilanz der rot-grünen Migrations- und Integrationspolitik
Die gegenwärtige, hochgradig nach aufenthaltsrechtlichen u.a. Kriterien stratifizierte soziale Statushierarchie von ausländischen Migrant(inn)en, entlang deren sich politische und soziale (Teilhabe-)Rechte und Lebenslagen konstituieren
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(vgl. Mohr 2005), ist das Resultat eines Jahrzehnte währenden Gestaltungsprozesses, in dem sowohl die Migrationspolitik als auch die Integrationsförderung (etwa hinsichtlich ihrer Adressaten und Maßnahmen) immer weiter ausdifferenziert wurden. Während der siebenjährigen Regierungsperiode von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist die lange vornehmlich als Handlungsfeld von Sicherheits- und Ordnungspolitik begriffene Ausländerpolitik der Bundesrepublik in zentralen Bereichen neu justiert worden. Insbesondere die Einführung des Ius soli mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sowie das später für nichtig erklärte Zuwanderungsgesetz dokumentierten diese Fortschritte, weil sich die Bundesrepublik damit erstmalig als Einwanderungsland begriff und dieses Novum mit den entsprechenden (rechtlichen) Neuregelungen, wie etwa Integrationsförderungsmaßnahmen und einem Auswahlverfahren für die Zuwanderung hoch Qualifizierter, ausgestaltete (vgl. Hell 2005, S. 165 ff.). Gleichzeitig wurde jedoch der dauerhaft mindere Rechtsstatus von rund 10 Prozent der (ausländischen) Bevölkerung Deutschlands insbesondere im Bereich der politischen Partizipation weitgehend beibehalten, was Hakki Keskin (2005, S. 161), damals Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, als „institutionalisierte Diskriminierung“ und „versteckte Form von Apartheid“ wertete. Nachdem ihr erstes Zuwanderungsgesetz gescheitert war, knüpfte die rotgrüne Koalition im zweiten Gesetzgebungsverfahren jedoch wieder an historisch gewachsene Traditionen der alten, restriktiveren Ausländerpolitik (wie die Beibehaltung des Anwerbestopps) an. Dies lag wohl auch daran, dass – um die Zustimmung der Unionsparteien im Bundesrat zu erhalten – der nach dem Scheitern des Verfahrens im Vermittlungsausschuss initiierte politische Einigungsprozess zuletzt ausschließlich zwischen den Spitzen von SPD und CDU/CSU erfolgte. Bündnis 90/Die Grünen blieben nach ihrem freiwilligen Rückzug aus den Verhandlungen weitgehend außen vor, weshalb sie später eher zurückhaltend auf den geschlossenen Kompromiss reagierten. Im Ergebnis führten die Verhandlungen um das Zuwanderungsgesetz nicht nur zu einer Rücknahme der von vielen Beobachter(inne)n als besonders fortschrittlich bewerteten Möglichkeiten zur Anwerbung hoch qualifizierter Arbeitskräfte im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ (Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, S. 26) und zu einer Beibehaltung des Anwerbestopps samt seiner Ausnahmen. Vielmehr wurden auch die Einreise-, Beschäftigungs- und Aufenthaltsbedingungen für hoch qualifizierte und selbstständige Zuwanderer sowie EU-Bürger/innen verbessert. Zugleich wurde die von der Vorgängerregierung im aufenthaltsrechtlichen Bereich verankerte Stratifizierung der sozialen Rechte der zugewanderten Bevölkerung von der rotgrünen Bundesregierung stringent – und für einige Gruppen wie Geduldete unter verschärften Bedingungen – fortgeführt und weiter ausdifferenziert.
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Neben den durch europäisches Recht vorgegebenen Verbesserungen für Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie für Kontingentflüchtlinge ergaben sich für alle (bedürftigen) Migranten mit humanitärem Aufenthaltsstatus – ausgenommen Asylberechtigte, nach der Genfer Konvention anerkannte Flüchtlinge und solche mit rechtlichen Abschiebehindernissen – in Verbindung mit den zeitgleich 2005 in Kraft getretenen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformgesetzen eklatante Verschlechterungen ihrer materiellen Spielräume. Sie wurden aus den Adressatenkreisen von SGB-II- und SGB-XIILeistungen ausgegliedert und dem Empfängerkreis des Asylbewerberleistungsgesetzes zugeordnet. Es zeigt sich, dass die Migrations- und Integrationspolitik nicht nur eine Diversifizierung bewirkt, vielmehr sogar eine tendenzielle Polarisierung der Einkommens- und Lebenslagen von Zuwanderern begünstigt hat. Die im Zuwanderungsgesetz festgeschriebenen Sprach- und Orientierungskurse für Neu- und Altzuwanderer erscheinen – insbesondere angesichts der zwischenzeitlich geführten Diskussionen um die Gestaltung einer umfassenden, zweiseitigen Integrationspolitik und in Anbetracht der komplexen sozialen Problemlagen vieler Migrant(inn)en aus Anwerbestaaten, die immer noch nicht explizite Adressaten von Integrationskursen sind – als unzureichend. Anstatt Integrationspolitik (ohne zusätzliche Mittel) symbolisch als Querschnittspolitik auszuweisen und Integration nur zu fordern, aber nicht wirklich zu fördern, wäre es ferner mit Blick auf die Minderung von Verarmungs- und Exklusionsrisiken von Zuwanderern angemessen, die sog. Hartz-Gesetze (auch) mit Blick auf ihre migrationsspezifischen Auswirkungen grundlegend zu korrigieren und das Zuwanderungsgesetz mit dem Ziel zu novellieren, sozial ausgrenzende Bestimmungen zu eliminieren. Auch das von der rot-grünen Bundesregierung lange hinausgezögerte Antidiskriminierungsgesetz hätte frühzeitig zur Verbesserung der sozialen Integration von Migrant(inn)en, auch und vor allem im Arbeitsmarkt(zugang), beitragen können. Die integrationspolitisch überaus positive symbolische Bedeutung, die eine ambitionierte Politik der Gleichbehandlung, ohnehin in zahlreichen völkerrechtlichen Konventionen und Normen zum Schutz vor Diskriminierung festgeschrieben, hätte gewinnen können, spielte während der zähen Debatten um ein Antidiskriminierungsgesetz, das vornehmlich als „Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ kritisiert wurde, jedoch kaum noch eine Rolle. Hinsichtlich des Widerstandes der Oppositionsparteien, der Konfliktlinien innerhalb der Regierungskoalition und der mehrere Legislaturperioden währenden Dauer vieler, z.T. erfolgloser Anläufe fallen Parallelen zwischen den Debatten um das Zuwanderungs- und das Antidiskriminierungsgesetz ins Auge. Viele ursprünglich liberaler geplante Bestimmungen vornehmlich im Hinblick auf Maßnahmen der Integration und den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz
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wurden nach und nach wieder zurückgenommen. Dabei kommt der (auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 18. November 2005 kaum thematisierten) Frage, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Integrationsprozesse bereits hier lebender Migrant(inn)en – etwa hinsichtlich eines chancengleichen Bildungswesens oder einer sog. nachholenden Integrationsförderung – politisch gestaltet werden sollen, eine herausragende integrationspolitische Bedeutung zu. Die u.a. von der sog. Süssmuth-Kommission geforderte Zweiseitigkeit des Integrationsprozesses, wonach auch die Aufnahmegesellschaft vor der Herausforderung steht, die mit einer wachsenden interkulturellen Vielfalt verbundenen Chancen nutzen zu lernen, scheint dabei gänzlich aus dem Blickfeld geraten zu sein. Die vorhandenen Möglichkeiten, mit einer neu als Querschnittsaufgabe ausgerichteten Migrations- und Integrationspolitik auf durch Globalisierungsprozesse veränderte Rahmenbedingungen in der Gesellschaft zu reagieren, die gesellschaftliche Vielfalt auch mit Blick auf einen oft überzeichneten demografischen Wandel diskriminierungsfrei und chancengleich zu gestalten und sie als Wert schätzen zu lernen, wie das z.B. die migrantenspezifischen Ergebnisse der PISA-Studie nahelegten, ließen SPD und Bündnis 90/Die Grünen weitgehend ungenutzt verstreichen. Wohl aber zeigt sich im Zuwanderungs(begrenzungs)gesetz, dass Migration nach wie vor unter dem Primat von nationalen Interessen und Innerer Sicherheit steht, wobei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus eine größere Bedeutung als früher zukommt. Viele Fragen blieben indes offen. Wurde Deutschland mit seinem neuen Staatsangehörigkeitsrecht und dem zweiten, restriktiven Zuwanderungskompromiss nach der rot-grünen Ära nun zu einem faktischen, bekennenden Einwanderungsland, obwohl man die Neuzuwanderung von Hochqualifizierten für die Jahre danach so rigide begrenzte?
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Die Migrationspolitik der Großen Koalition
Nach dem Regierungswechsel im November 2005 begann das CDU/CSU/SPDKabinett, neue migrations- und integrationspolitische Akzente zu setzen, was sich mit einem Personalwechsel in dafür relevanten Ämtern verband. So löste Prof. Dr. Maria Böhmer (CDU) die langjährige Amtsinhaberin Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) als Bundesintegrationsbeauftragte ab. Zugleich wurde das Amt aufgewertet, indem man Böhmer, die mittlerweile sehr umstritten ist (vgl. Denkler 2008), zur ersten Staatsministerin für Integration im Bundeskanzleramt ernannte.
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4.1 Der Koalitionsvertrag vom November 2005 und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Schwerpunkte des Koalitionsvertrages lagen auf der Förderung der Integration von Migrant(inn)en und der stärkeren Steuerung weiterer Zuwanderung. Die Integrationspolitik müsse als Querschnittsaufgabe vieler Politikfelder begriffen und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Kompetenzzentrum für Integration gestärkt werden, hieß es (vgl. Alscher 2005). Zur Bekämpfung der Fluchtursachen wollte man verstärkt mit den Herkunfts- und Transitstaaten zusammenarbeiten und ein Gesetz zur Umsetzung von EU-Richtlinien auf den Weg bringen. Im Januar 2006 brachten Bündnis 90/Die Grünen den bereits 2005 gescheiterten Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz unverändert erneut in den Bundestag ein. Dies veranlasste die Große Koalition, sich ihrerseits auf einen modifizierten Entwurf zu einigen, der nunmehr zum „Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung“ umgetauft, Ende Juni den Bundestag und Anfang Juli den Bundesrat passierte. Das Gesetz trat am 18. August 2006 in Kraft. Sein lange kontrovers diskutiertes Kernstück ist der Artikel 1, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dessen Paragraf 1 beschreibt das Ziel des Gesetzes, wonach Benachteiligungen aus Gründen der „Rasse“ oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindert oder beseitigt werden sollen. Das Gleichbehandlungsgesetz, nach Streitigkeiten zwischen CDU/CSU und SPD gerade im arbeitsrechtlichen Teil nochmals abgeschwächt, verkam im Endeffekt jedoch zu einem relativ „zahnlosen“ Instrument, da es im Bereich des Arbeitsrechts in für Diskriminierungsopfer besonders zentralen Punkten (wie dem Verbandsklagerecht und der Beweislasterleichterung) erheblich hinter die EU-Vorgaben eines möglichst wirksamen, umfassenden Diskriminierungsschutzes im Erwerbsleben zurückfiel. Obwohl (entgegen den Befürchtungen seiner Gegner/innen) kaum Klagen vor Arbeitsgerichten eingereicht wurden und auch die freiwilligen Selbstverpflichtungen bei vielen Unternehmen bislang kaum mehr als ein prestigeträchtiges, aber unverbindliches Engagement für mehr Chancengleichheit bewirkten, ist das AGG nicht gänzlich wirkungslos, sondern besitzt für von Diskriminierung Betroffene zumindest einen hohen Symbolwert. 4.2 Integrationspolitik Nachdem Anfang 2006 die Deutschpflicht auf zwei Berliner Schulhöfen sowie ein „Hilferuf“ des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Schule mit der Bitte um
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Auflösung der Schule eine erneute Debatte um Integration(spolitik) ausgelöst hatten (vgl. Hummitzsch 2006), geriet diese zu dem wohl wichtigsten Handlungsfeld der Migrationspolitik von CDU/CSU und SPD. Sie lässt sich, unter dem Motto „Fördern und Fordern“ stehend, in drei Stränge einteilen: die Integrationsgipfel mit der Verabschiedung des Nationalen Integrationsplans, die Islamkonferenzen und die verabschiedeten Gesetze, welche die Ziele der praktizierten Integrationsrhetorik zum Teil konterkarieren. Als ersten Schwerpunkt initiierte die Bundesregierung unter der Schirmherrschaft des Kanzleramtes einen „Integrationsgipfel“ am 14. Juli 2006, um den Dialog mit Migrant(inn)en und deren Selbstorganisationen aufzunehmen. Anschließend wurde gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren und Migrantenverbänden ein „Nationaler Integrationsplan“ entwickelt, der auf dem zweiten Integrationsgipfel am 12. Juli 2007 präsentiert wurde (vgl. dazu: Hummitzsch/ Engler 2007). Der Integrationsplan enthält Ideen, Handlungsempfehlungen und über 400 Selbstverpflichtungen, mit denen sich Bund, Länder und Kommunen sowie nichtstaatliche Akteure aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft zum Teil konkrete Aufgaben vornehmen, um die Integration von Migrant(inn)en zu fördern (vgl. Bundesregierung 2007). Bisher lässt sich kaum beurteilen, ob der Integrationsplan substanzielle Fortschritte gebracht hat. Im Vorfeld des dritten Gipfeltreffens am 6. November 2008 verabschiedeten mehrere Migrantenselbstorganisationen eine Erklärung, in der sie den Nationalen Integrationsplan zwar insgesamt begrüßten, zugleich aber faktische Rückschritte etwa bei der Bildungschancengleichheit von Migrantenkindern oder der restriktiven Migrationsgesetzgebung der Bundesregierung z.B. im Bereich der Einbürgerung und des Ehegattennachzugs als integrationspolitisch kontraproduktiv kritisierten (vgl. TGD 2008b). Anders als die Integrationsbeauftragte sieht der DGB im Integrationsplan zwar „einen wichtigen Schritt“, sagte Annelie Buntenbach, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes und dort zuständig für Migrations- und Antirassismuspolitik. Der Plan sei aber „leider nicht der große neue Wurf in der Integrationspolitik“, schon gar nicht gemessen an dem, was sich die Bundesregierung selbst zur Aufgabe gemacht habe (zit. nach: Denkler 2007). So stelle Maria Böhmer zwar gern den Erwerb der deutschen Sprache in den Mittelpunkt, zwischen 2005 und 2007 habe man die Mittel für Sprachförderung im Bundeshaushalt jedoch gekürzt. Der DGB (2008) kritisierte zudem, dass insbesondere rechtliche und politische Rahmenbedingungen ausgeblendet würden. Anlässlich der Pläne zur Einstellung von „Radio multikulti“, einem mehrsprachigen Hörfunkprogramm des RBB, stellten auch Migrantenverbände die Glaubwürdigkeit des Nationalen Integrationsplans infrage. So erklärte Seref Erkayan, stellvertretender Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde: „Eine Schließung von Radio
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Multikulti wäre ein enormer Verlust auf dem Weg zu Realisierung der im nationalen Integrationsplan (NIP) definierten integrationspolitische Ziele.“ (zit. nach: TGD 2008a) Das Ansehen sowie die Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten würden angekratzt, da sich die ARD im NIP klar zur Integration und zur kulturellen Vielfalt verpflichtet habe. Der zweite von der Großen Koalition verfolgte migrationspolitische Schwerpunkt, der Dialog mit den Muslimen – das ist in Deutschland eine heterogene Gruppe von rund 3,5 Mio. Menschen – begann mit der ersten sog. Islamkonferenz am 26. September 2006, der zwei weitere Veranstaltungen dieses Typs im Mai 2007 und im März 2008 folgten. Auslöser waren verschiedene Ereignisse, bei denen der Islam im Zentrum der politischen Diskussion stand. Die Öffentlichkeit debattierte zu dieser Zeit z.B. darüber, ob und wie eine „Einbürgerung des Islams“ auf Basis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglich sei, über den sog. Karikaturenstreit, die (gescheiterten) Kofferbomben-Anschläge auf Regionalzüge sowie die vorübergehende Absetzung einer Mozart-Oper in Berlin aus Furcht vor Terroranschlägen. Innenminister Wolfgang Schäuble als Initiator der Islamkonferenz bezweckte, einen mehrjährigen Dialog mit islamischen Verbänden und muslimischen Einzelpersonen aufzunehmen. Dessen Ziele, nämlich die Integration von Muslimen zu fördern sowie integrationspolitisch bedeutsame und teils konfliktbeladene Fragen im Umgang des Staates und der Gesellschaft mit dem Islam wie die Anerkennung von Grundwerten, den Bau von Moscheen oder die Teilnahme von Mädchen am Schwimmunterricht gemeinsam zu klären, ist bislang nur in wenigen Punkten erreicht worden (vgl. dazu: Schneider 2008, ergänzend: BMI 2008a). Ein Beispiel: Die flächendeckende Einführung des islamischen Religionsunterrichts scheitert weiterhin erstens daran, dass nicht alle Bundesländer als nach der Föderalismusreform Hauptzuständige willens sind, ihn einzuführen, zweitens an der fehlenden Anerkennung des Islams als anerkannte Religionsgemeinschaft (woran auch die Gründung des „Koordinierungsrates der Muslime in Deutschland“ nichts änderte; vgl. hierzu: Wöhrle 2007), was Voraussetzung für einen Bekenntnisunterricht an öffentlichen Schulen wäre, und drittens an einem Mangel an in Deutschland ausgebildeten Lehrer(inne)n für dieses Fach. 4.3 Die Gesetze der Großen Koalition zur Migration Den dritten migrationspolitischen Schwerpunkt der Großen Koalition bilden die in der 16. Legislaturperiode (2005 bis 2009) verabschiedeten Gesetze. Sie fanden zwar in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit als das Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Koalition, folgten jedoch derselben Logik und verschärften dessen restriktiven Inhalt eher noch, wie nunmehr exemplarisch gezeigt werden soll.
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4.3.1 Konterkarierung der Integrationsbemühungen durch das EU-RichtlinienUmsetzungsgesetz Da sich die migrationspolitischen Vorgaben der Europäischen Union durch den Erlass zahlreicher neuer Richtlinien ausgeweitet und verändert hatten, wurde für deren Umsetzung in deutsches Recht alsbald eine Novellierung des Zuwanderungsgesetzes notwendig. Kritisch von der Öffentlichkeit begleitet, brachte der Gesetzgeber diese im Frühjahr 2007 auf den Weg. Die bereits im Zuwanderungsgesetz angelegten Grundzüge des Ausländer- und Aufenthaltsrechts wurden dabei weiterentwickelt, neu justiert und – wie nichtstaatliche Organisationen betonen – zum Teil verschärft. Das Zuwanderungsänderungsgesetz namens „Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union“ wurde am 14. Juni in zweiter und dritter Lesung im Bundestag beschlossen, passierte am 6. Juli den Bundesrat und trat in weiten Teilen am 28. August 2007 in Kraft. Ein Kernpunkt des Gesetzes sind Zuzugserleichterungen für Selbstständige. Für sie senkte man die Hürden bei Firmengründungen, indem nur noch fünf Arbeitsplätze entstehen und 500.000 Euro investiert werden müssen, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen. Das Gesetzespaket enthielt außerdem eine Altfallregelung für Geduldete, die eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ sowie einen gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen können, sofern sie sich mindestens acht (haben sie minderjährige Kinder sind es sechs) Jahre in Deutschland aufhalten, straffrei sind und über ausreichend Wohnraum sowie Deutschkenntnisse verfügen (vgl. Schneider 2007). Ihre Aufenthaltserlaubnis kann verlängert werden, sofern sie ihren Lebensunterhalt bis Jahresende 2009 selbstständig bestreiten. Außerdem birgt das Gesetz im Bereich des Aufenthaltsrechts teils restriktive Neuregelungen, so etwa verschärfte Bestimmungen zur Ausweisung. Einbürgerungswillige unter 23 Jahren stellt es älteren Bewerber(inne)n insofern gleich, als sie dieselben Voraussetzungen bezüglich der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts zu erfüllen haben. Eine Verletzung der Teilnahmepflicht bei Integrationskursen zieht nunmehr möglicherweise finanzielle Sanktionen (Kürzung von Sozialleistungen) nach sich. Beim Ehegattennachzug führte der Gesetzgeber als Mindestnachzugsalter 18 Jahre sowie als weitere Voraussetzung ein, dass Ehepartner/innen aus bestimmten Nicht-EU-Staaten erst nach Deutschland ziehen dürfen, wenn sie deutsche Sprachkenntnisse nachweisen können. Insbesondere türkische Migrantenverbände kritisierten das Gesetzespaket als integrationsfeindlich, weil die den Familiennachzug erschwerenden Restriktionen zahlenmäßig hauptsächlich für Zuwanderer dieser Herkunftsgruppe gelten, während andere Herkunftsgruppen davon verschont wurden. Aus Protest blieben einige Dachverbände türkischer Migrantenselbstorganisationen – die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED), die Türkische Gemeinde in
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Deutschland (TGD) sowie die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) – dem zeitgleich zur Verabschiedung des Gesetzes stattfindenden zweiten Integrationsgipfel fern, was bei großen Teilen der Öffentlichkeit auf Kritik stieß. Die drei Organisationen begründeten ihre Absage damit, dass das Gesetz kontraproduktiv sei und die Rechte von Migrant(inn)en beschneide; zudem habe man die von den Verbänden formulierten Wünsche und Erwartungen beim Gesetzgebungsverfahren unberücksichtigt gelassen (vgl. TGD 2007).
4.3.2 Einbürgerungstests Im Jahr 2006 schlugen die Innenministerkonferenz sowie eine gemeinsame Bundesratsinitiative der Länder Hessen, Bayern und Schleswig-Holstein vor, Deutsch- und Einbürgerungstests für Bewerber/innen um die deutsche Staatsbürgerschaft einzuführen, die man mit einem Kursangebot, einer abschließenden Prüfung sowie einer feierlichen Zeremonie verbinden wollte (vgl. Wöhrle 2006). Ein Jahr später verständigte sich die Innenministerkonferenz in einer sog. Einbürgerungstest-Verordnung auf bundesweit einheitliche Standards für die Tests, welche anschließend vom Bundeskabinett beschlossen wurde und am 1. September 2008 in Kraft trat. Seither müssen sich alle Einbürgerungswilligen ohne deutschen Schulabschluss dem Test unterziehen, der beliebig oft wiederholt werden kann. Trotzdem ist er innerhalb der Opposition und bei Migrantenverbänden heftig umstritten. Kritisiert wird, dass die Einbürgerung erschwert werde, anstatt sie zu erleichtern, selbst Deutsche die Fragen oftmals kaum beantworten könnten und diese ebenso wie die Antwortvorgaben teils missverständlich ideologisch gefärbt seien (vgl. dazu: Pape 2008). 4.3.3 Das Aktionsprogramm zur Anwerbung Hochqualifizierter und das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz Das Kabinett Merkel/Steinmeier beschloss am 16. Juli 2008 in einem Aktionsprogramm „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland“ erneute Schritte, um die Zuwanderung von Hochqualifizierten zu erleichtern (vgl. BMI 2008b). Am 27. August 2008 folgte der vom Bundesministerium des Innern formulierte Entwurf für das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz samt den entsprechenden Verordnungen, die Anfang 2009 in Kraft treten sollten. Das Gesetz, welches u.a. Änderungen im Aufenthaltsgesetz und den Beschäftigungsverordnungen enthält, will die Erwerbstätigkeit von Akademiker(inne)n aus dem Ausland in begrenztem Umfang erleichtern. Einerseits sinkt die jährliche Einkommensgrenze für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis
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an Hochqualifizierte von 86.400 EUR – das Doppelte der Beitragsbemessungsgrenze der Gesetzlichen Krankenversicherung – auf 63.600 EUR, was der Beitragsbemessungsgrenze der Gesetzlichen Rentenversicherung entspricht. Der Bundesrat plädierte in seiner Sitzung am 10. Oktober 2008 für eine noch niedrigere Mindestverdienstgrenze, als sie der Gesetzentwurf vorsah. Andererseits entfällt bei Akademiker(inne)n aus den neuen EU-Mitgliedstaaten die Vorrangprüfung, bei der Unternehmen nachzuweisen haben, dass freie Stellen nicht mit Bevorrechtigten besetzt werden können. Für Drittstaatsangehörige gilt jedoch weiterhin das Vorrangprinzip (vgl. Engler 2008). Verbesserungen im Bereich des Arbeitsmarktzugangs bringt das Gesetz insbesondere für Geduldete, die einen Aufenthaltstitel bekommen können, sofern sie in Deutschland eine Berufsausbildung abgeschlossen oder einen hierzulande anerkannten Hochschulabschluss in einem Beruf erworben haben, den sie bisher auch ausübten. Ihnen will man auch die Aufnahme einer Berufsausbildung, die Geduldeten bis dato meist wegen des Fehlens einer Arbeitserlaubnis verwehrt war, erleichtern. Für Akademiker/innen aus dem EU-Ausland entfällt zudem die Vorrangprüfung und für jene aus Drittstaaten wird der Arbeitsmarkt geöffnet, sofern keine inländischen Arbeitsplatzbewerber/innen zur Verfügung stehen. 5
Schlussbilanz: Spaltung der Migrationspolitik und Symbolpolitik statt Gleichberechtigung
Die Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel führte die gespaltene Migrations- und Integrationspolitik, deren Grundstein bereits ihre rot-grüne Vorgängerin gelegt hatte, nahtlos fort. Auf der einen Seite symbolisieren die durch verschiedene Reformen gestiegenen Hürden für eine Einbürgerung und den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen die politische Abwehrhaltung, welche man diesen häufig weniger qualifizierten und folglich aus wirtschaftlichem Eigeninteresse „unerwünschten“ Migrant(inn)en entgegenbringt. Auf sie ebenso wie auf Flüchtlinge, Asylsuchende und Illegalisierte zielte bereits die Formulierung „Begrenzung“ im Titel des 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes. Auf der anderen Seite reifte selbst bei der Unionsfraktion, welche sich bis dahin noch vehement für eine Begrenzung jeglicher Zuwanderung ausgesprochen hatte, die bereits von der Süssmuth-Kommission im Jahr 2001 vermittelte Erkenntnis, dass die als Wirtschaftsstandort begriffene Bundesrepublik Deutschland „im Kampf um die besten Köpfe“ Hochqualifizierte aus dem Ausland benötigt, um dem auch wegen der Vernachlässigung der Ausbildung im Inland drohenden Arbeitskräftemangel vor allem im Bereich qualifizierter Tätigkeiten zu begegnen. Zwar wurde das seinerzeit von der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ vorgeschlagene Punktesystem noch nicht realisiert, mit dem Ar-
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beitsmigrationssteuerungsgesetz begab sich die Regierung aber auf den Weg, die Elitenzuwanderung künftig erfolgreicher zu fördern, als es mit dem EURichtlinien-Änderungsgesetz im Jahr 2007 zaghaft und weitgehend folgenlos versucht worden war. Noch durchwachsener ist die Bilanz der Integrationspolitik der Großen Koalition. Die Aufwertung dieses Politikfeldes sowie die Bereitschaft zum Dialog mit Migrant(inn)en und ihren Selbstorganisationen im Rahmen der Integrationsgipfel, der Islamkonferenzen und des Nationalen Integrationsplans sind ehrenwerte Anfänge, das jahrzehntelang sträflich vernachlässigte Feld zu bestellen. Wirkliche Erfolge sind aber (noch) nicht zu verzeichnen. Zugleich wurde durch die Migrationsgesetzgebung insbesondere die größte Gruppe unter den Einwanderern hierzulande, nämlich Migrant(inn)en türkischer Herkunft, in der Praxis vielfach benachteiligt. Statt die Einbürgerung für sie zu erschweren, wäre etwa durch die Abschaffung des Optionsmodells eine Politik für mehr Einbürgerungen wünschenswert und notwendig, die Migrant(inn)en vor allem als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder begreift und auf ihre Gleichstellung zielt. Verbunden mit dem beherzten Abbau von Chancenungleichheiten insbesondere in dem von den Bundesländern bestimmten Bildungswesen, wie ihn die Abschaffung des gegliederten Schulsystems und die Einführung der Gemeinschaftsschule („Eine Schule für alle“) nach skandinavischem Vorbild ermöglichen würden, wäre die Integrations- dann auch mehr als nur Symbolpolitik. Auf dem von Angela Merkel einberufenen Bildungsgipfel am 22. Oktober 2008 war zwar sehr viel von einer Benachteiligung der Kinder bzw. Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Schule und Berufsausbildung, aber leider nicht von den Strukturreformen die Rede, welche erforderlich wären, um mit der „strukturellen Diskriminierung“ (Gomolla/Radtke 2007) auf diesem Gebiet zu brechen. Quellen und Literatur Agenturschluss (Hrsg.) (2006): Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand – eine Zwischenbilanz, Berlin/Hamburg Alscher, Stefan (2005): Deutschland: Zuwanderungspolitik der neuen Bundesregierung, in: Newsletter Migration und Bevölkerung Nr. 10 (Dezember) Angenendt, Steffen (2005): Migration weltweit, in: Online-Dossier Migration der Bundeszentrale für politische Bildung (http://www.bpb.de/themen/PUBLMG,0,0,Migration_weltweit.html 22.12.2005) Aydin, Kadriye (2002): Eine erste Bilanz. Erfahrungen des Interkulturellen Rates in Deutschland, in: Henning Storz/Carolin Reißlandt (Hrsg.), Staatsbürgerschaft im Einwanderungsland Deutschland. Handbuch für die interkulturelle Praxis in der Sozialen Arbeit, im Bildungsbereich, im Stadtteil, Opladen, S. 105-127
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Nationaler Zusammenhalt versus kulturelle Vielfalt Die britische Einwanderungs- und Integrationspolitik zwischen globalem Wettbewerb und nationaler Identität Sigrid Baringhorst
Ein viel zitiertes Motto der britischen Integrationspolitik bildet bis heute die Erklärung des ehemaligen Innenministers Roy Jenkins (Labour Party) aus dem Jahr 1966, worin er ein Junktim zwischen Einwanderungskontrolle und Integration herstellte, aber auch ein Bekenntnis zu ethnischer Vielfalt ablegte und eine eindimensionale Politik der Assimilation verwarf: „Ich definiere Integration (…) nicht als Unterschiede einebnenden Prozess der Assimilation, sondern als Chancengleichheit, verbunden mit kultureller Vielfalt, in einer Atmosphäre der gegenseitigen Toleranz.“ (zit. nach: Freeman 1979, S. 57; eigene Übersetzung, S.B.) Im Prinzip gilt Jenkins’ Formel zwar noch immer, die britische Integrationspolitik hat, wie im Folgenden gezeigt werden soll, unter den Blair-Regierungen nicht zuletzt ausgelöst durch die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 in New York und Washington D.C. sowie den Anschlag in London (7. Juli 2005) die Verhinderung ethnischer Segregation jedoch deutlicher akzentuiert und den nationalen Zusammenhalt stärker gefördert. Trotz seiner Hinwendung zur Assimilation, die den britischen Mehrheitsdiskurs inzwischen dominiert (vgl. Berg 2006, S. 491), kann das Land noch immer nicht nur auf eine im europäischen Rahmen vorbildliche Antidiskriminierungspolitik verweisen, sondern auch auf einen im Vergleich zu deutschen und französischen Kopftuch-Debatten sachlicheren Umgang mit migrationsbedingten kulturellen Konflikten. Dieser relativ pragmatische Umgang mit Fragen der Integrationspolitik zeigt sich auch in der Zuwanderungspolitik. Hier mischen sich restriktive mit liberalen Tendenzen: Während die Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren entsprechend dem EU-weiten Trend sukzessive strenger gestaltet wurde, haben die New-Labour-Regierungen zwecks Steigerung der globalen Wettbewerbsfähigkeit frühzeitig auf den in Großbritannien gewachsenen Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften reagiert und ohne nennenswerte gesellschaftliche oder politische Konflikte eine Öffnung des Landes für Arbeitnehmer/innen mit gesuchten Qualifikationen sowie für investionsbereite Unternehmer bewirkt.
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Arbeitsmarktorientierte Migrationssteuerung (managed migration) „No integration without immigration control, no immigration control without integration“ – so lautet seit Mitte der 1960er-Jahre die Devise, nach der Labour und Tories alle Einwanderungsprozesse im Parteienkonsens zu steuern versuchen. In dem Weißbuch „Secure Borders, Safe Haven“, das die Labour-Regierung 2002 zur Reform der Einwanderungsregelung und zur Begründung der „Nationality, Immigration and Asylum Bill“ vorlegte, erklärt sie neben der Stärkung des nationalen Zusammenhalts vor allem die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Einwanderungskontrolle zur unverzichtbaren Rahmenbedingung von Einwanderungsprozessen: „Migration hat große Vorteile: bessere Qualifikationen, eine erhöhte Erwerbsquote, kulturelle Vielfalt und weltweite Beziehungen: falsch verstanden und schlecht gesteuert, kann sie jedoch auch Spannungen erzeugen. Länder, die Verfolgten und Kriegsflüchtlingen Asyl bieten und Migration aus wirtschaftlichen Gründen befürworten, um zentralen ökonomischen Erfordernissen zu genügen und Qualifikationsdefizite zu beheben, müssen in ihrer Identität und ihrem Gefühl der Zugehörigkeit gefestigt sein und darauf vertrauen, dass ihre Einwanderungs- und Asylregelungen gerecht und effektiv sind. Die Menschen haben nur dann das Vertrauen, Asylbewerber und Migranten willkommen zu heißen, wenn ihr Zusammenleben auf starken bürgerschaftlichen und gemeinschaftlichen Bindungen aufbaut. Sie müssen den Regelungssystemen ihrer Regierungen vertrauen und überzeugt sein, dass diese gerecht sind und nicht missbraucht werden.“ (Home Office 2002, S. 9; eigene Übersetzung, S.B.) Migration, so die Kernaussage, kann volkswirtschaftlich betrachtet von großem Nutzen sein, sofern zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllt sind: erstens im Zielland eine ausgeprägte kollektive nationale Identität vorhanden ist („confidence in national identity and sense of belonging“) und zweitens Wanderungsbewegungen effektiv gesteuert und kontrolliert werden, sodass unerwünschte Zuwanderung verhindert und gewünschte Migration ermutigt wird. Während der Aspekt der nationalen Identität und Kohäsion weiter unten näher beleuchtet wird, sollen zuerst die wichtigsten Maßnahmen geschildert werden, mit denen die Blair-Regierungen im Rahmen ihrer Politik der „managed migration“ (Tony Blair, in: Home Office 2005, S. 5) Zuwanderung nach Großbritannien, wie es im Weißbuch von 1998 heißt, „fairer, faster, and firmer“ (Home Office 1998) gestalten möchte. Der entscheidende Wandel in der migrationspolitischen Steuerung erfolgte im Vereinigten Königreich ähnlich wie in Deutschland mit dem Regierungswechsel von den Konservativen zu den Sozialdemokraten in den 1990er-Jahren: Erst die 1997 gewählte Blair-Regierung brach mit dem Dogma, Einwanderung sei ausschließlich ein zu kontrollierendes Übel – eine Position, die den Diskurs über Einwanderung drei Jahrzehnte lang beherrscht hatte.
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Neben der Familienzusammenführung gibt es gegenwärtig zwei legale Wege zur Immigration für Menschen, die nicht aus Gründen der Familienzusammenführung einen Niederlassungsanspruch im Vereinigten Königreich haben: erstens die Arbeitsmigration und zweitens die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylbewerbern (vgl. Home Office 2002, S. 41; Dobson u.a. 2001). Bemerkenswert und in gewisser Hinsicht die neue deutsche Zuwanderungsregelung vorwegnehmend ist die seit Ende der 1990er-Jahre stark angestiegene Zahl der vergebenen zeitlich befristeten Arbeitserlaubnisse. 2005 kamen neben Arbeitsmigrant(inn)en aus der EU und EEA ca. 137.000 Zuwanderer zwecks Arbeitsaufnahme nach Großbritannien (vgl. Home Office 2006). Seit der Jahrtausendwende öffnet die Regierung den britischen Arbeitsmarkt für bestimmte Arbeitnehmerkategorien. Diese Öffnung bezieht sich vor allem auf Arbeitsplatzbewerber/innen mit Mangelberufen, d.h. solchen, für die auf dem heimischen Arbeitsmarkt keine geeigneten Arbeitnehmer/innen aus Großbritannien oder EU-Ländern gefunden werden. Dies gilt zum einen für hoch qualifizierte Bewerber/innen: In der IT-Branche und im Gesundheitswesen werden ca. ein Fünftel aller gewährten Arbeitserlaubnisse vergeben, die – zeitlich begrenzt – bis zu fünf Jahren gelten. Zum anderen wurde der britische Arbeitsmarkt für wenig verdienende personale Dienstleister/innen wie Au-Pairs oder Dienstmädchen geöffnet. Während von 1971 bis 2002 Personen mit Mangelberufen nur dann eine Arbeitsgenehmigung erhielten, wenn ein Unternehmen sie anforderte und den Nachweis erbrachte, dass für diese Tätigkeit keine geeigneten britischen oder EU-Arbeitnehmer/innen zur Verfügung standen, räumt die Blair-Regierung hoch qualifizierten Bewerber(inne)n seither im Rahmen des „Highly Skilled Migrant Program“ die Möglichkeit ein, sich ohne konkreten Arbeitsplatznachweis um eine Arbeitserlaubnis zu bewerben. Dadurch erhofft sich die Regierung – wohl nicht unberechtigt – einen Vorteil im europäischen und globalen Wettbewerb um die fähigsten Köpfe. „Upskilling the resident labour force“ heißt die Handlungsdevise im Fünfjahresplan, den Innenminister Charles Clark unter dem Titel „Controlling our borders: Making migration work for Britain“ im Februar 2005 der Öffentlichkeit vorstellte (vgl. Home Office 2005, S. 37). Nicht zuletzt geht es auch darum, dem chronischen Ärztemangel im nationalen Gesundheitssystem (NHS) entgegenzuwirken. Die Labour Party hatte vor ihrer Wiederwahl im Mai 2005 angekündigt, das bestehende System der unterschiedlichen Zugangskategorien (Arbeitserlaubnisse, Au-Pairs, Dienstmädchen etc.) durch die Einführung eines vereinfachten und allgemeinen Punktesystems regeln und sich damit an der Praxis klassischer Einwanderungsländer orientieren zu wollen. Wesentliches Kriterium für die Punktezuteilung wird demnach die Qualifikation der Bewerber/innen sein. Diese werden in fünf Kategorien eingeteilt:
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Highly skilled migrants (Ärzte, Wissenschaftler/innen, Ingenieure, IT-Spezialisten u.ä.). Ihnen werden die besten Zuwanderungschancen eingeräumt. Die Zuwanderung ist unabhängig von einer Jobzusage. Lediglich gute Englischkenntnisse werden vorausgesetzt. Bonuspunkte gibt es für nachweisbare Jobzusagen und Gehaltsnachweise. Nach zwei Jahren erhalten die Hochqualifizierten ein Recht auf Niederlassung. Skilled migrants, d.h. qualifizierte Angestellte, in vielen Sektoren von Handel, Industrie und öffentlichen Dienstleistungen mit nachgewiesenem Arbeitsplatzangebot. Die den Antragsteller(inne)n zugewiesenen Punkte richten sich danach, ob sie eine Jobzusage in einem Mangelbereich wie etwa im Gesundheitswesen nachweisen können. Ein Recht auf Niederlassung wird ihnen erst nach fünf Jahren gewährt. Low skilled migrants. Personen dieser Kategorie müssen eine Anfrage von einem Arbeitgeber nachweisen, der die Verantwortung dafür übernimmt, dass angeworbene Migrant(inn)en nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung auch wieder das Land verlassen. Wegen dieser zeitlichen Befristung (maximal ein Jahr) gilt die Regelung auch nur für Angehörige von Staaten mit „satisfactory return arrangements with the UK“ (Home Office 2005, S. 37), weshalb der Bedarf an diesen Arbeitnehmer(inne)n möglichst aus EUMitgliedstaaten gedeckt werden soll. Für gering qualifizierte Migrant(inn)en besteht (im Gegensatz zu hoch qualifizierten oder qualifizierten Zuwanderern) keine Möglichkeit, Familienangehörige nachziehen zu lassen. Specialists and students. Diese Kategorie umfasst Migrant(inn)en, die „no significant issue of competition“ haben, deren Aufenthalt jedoch einen wirtschaftlichen Nutzen verspricht (z.B. Gebühren zahlende Studierende, Berufssportler/innen, Imame und Botschaftsangehörige). Der Aufenthalt schließt das Recht auf Familienzusammenführung aus und ist wie bei Geringqualifizierten grundsätzlich zeitlich befristet. Visiting workers. Diese Kategorie umfasst vor allem Musiker/innen und andere Künstler/innen sowie Mitarbeiter/innen von ausländischen Firmen, die sich nur kurzfristig im Land aufhalten, und Jugendliche, die auf der Basis eines working holiday visa Ferienjobs annehmen wollen.
Jedes Jahr sollen die Punktwerte für bestimmte Qualifikationen und Berufsgruppen neu festgelegt werden, um das ab 2008 wirksame Punkte- und damit Migrationssystem insgesamt flexibel zu halten und nach den jeweiligen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu gestalten. Zwei Sanktionsmöglichkeiten verhindern, dass Migrant(inn)en versuchen, länger im Land zu bleiben, als es ihr Visum vorsieht: Zum einen muss bei der Einreise eine Kaution hinterlegt werden, die erst bei der Ausreise wieder ausgehändigt wird, zum anderen müssen Arbeitgeber eine Strafe von 2.000 Pfund zahlen, falls der von ihnen beschäftigte Arbeitnehmer seine
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Aufenthaltsfrist ohne Genehmigung überzieht. Nur hoch qualifizierte Arbeitnehmer/innen, die finanziell unabhängig sind, können sich um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bewerben. Haben die Hochqualifizierten innerhalb eines Jahres einen qualifizierten Job gefunden, wird die Aufenthaltserlaubnis verlängert. Nach zwei Jahren können sie die Niederlassungsberechtigung, nach fünf Jahren und bei Nachweis ausreichender Englischkenntnisse die britische Staatsbürgerschaft erwerben. Dabei gilt in Großbritannien wie in vielen klassischen Einwanderungsländern das Prinzip der doppelten Staatsbürgerschaft, die Eingebürgerten können also ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten. Ein Teilbereich der arbeitsmarktorientierten managed migration policy von New Labour bezieht sich auf die Rationalisierung und Beschleunigung der Antragsverfahren. Da die britischen Behörden in der Vergangenheit eher träge reagierten, hat die Blair-Regierung den Verwaltungsablauf derart beschleunigt, dass inzwischen 90 Prozent der komplett vorliegenden Anträge von Unternehmen innerhalb eines Tages entschieden werden. Bemerkenswert sind die britischen Bemühungen, den „Wettbewerb um die klügsten Köpfe“ schon auf der Ebene der Universitäten und Colleges zu gewinnen. Ähnlich wie im deutschen Zuwanderungsgesetz vorgesehen, können sich ausländische Studierende nach erfolgreichem Studienabschluss auf dem britischen Arbeitsmarkt umsehen. Insbesondere promovierte Mediziner/innen, Zahnärzte und auch student nurses (Krankenschwestern werden in Großbritannien an Hochschulen ausgebildet) können sich um eine Arbeitserlaubnis bewerben. Aufgrund ihres britischen Hochschulabschlusses werden die Integrationschancen dieser Akademiker/innen besonders hoch eingestuft und man räumt ihnen im Wettbewerb mit Antragsteller(inne)n aus dem Ausland bessere Startbedingungen ein. In diesem Kontext verfolgt die Labour-Regierung das Ziel, den Anteil ausländischer Studierender an britischen Universitäten von derzeit ca. 17 Prozent auf 25 Prozent zu steigern. Insgesamt orientiert sich das ab dem Jahr 2008 geltende zuwanderungspolitische Steuerungsprogramm primär an den Bedürfnissen eines Arbeitsmarktes, der im europäischen Vergleich in den letzten Jahren von außerordentlich geringer Arbeitslosigkeit und einer steigenden, vom heimischen Arbeitskräfteangebot nicht mehr zu deckenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitnehmer(inne)n geprägt ist. Neben Schweden und Irland ist das Vereinigte Königreich das einzige EU-Land, das seinen Arbeitsmarkt nach der Osterweiterung am 1. Mai 2004 auch für Arbeitnehmer/innen aus den neuen Beitrittsstaaten geöffnet hat. Eine erste Bilanz zeigt, dass zwischen dem 1. Mai 2004 und dem 30. September 2007 715.000 Migrant(inn)en aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen des Worker Registration Scheme zur Arbeitsaufnahme nach Großbritannien kamen (vgl. Hansen 2007, S. 3 f.). Hauptherkunftsländer waren bisher Polen, die Slo-
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wakei und Litauen. Um ein weiteres Anwachsen der Zuwanderung von Arbeitskräften aus Osteuropa zu verhindern, entschied die Regierung 2006, Arbeitsmigrant(inn)en aus den neuen Beitrittsländern Rumänien und Bulgarien vorerst die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verwehren, wobei diese Entscheidung jedoch jährlich überprüft werden soll. Mit einer Gesamtzahl von 400.915 zugewanderten Arbeitskräften zwischen 2004 und 2005 hatte Großbritannien nach Deutschland die höchste Zahl an registrierten neu zugewanderten Arbeitsmigrant(inn)en in Europa.
Erwünschte vs. unerwünschte Migrant(inn)en – restriktive Tendenzen in der Asylpolitik Auch in Großbritannien ist der Übergang von einer strikten Politik der Einwanderungsverhinderung zu einer Politik der gezielten, an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientierten Einwanderungssteuerung parteipolitisch umstritten. Im Unterschied zu den Konservativen in Deutschland lehnen die britischen Tories jedoch die Einführung eines Punktesystems nicht generell ab. Zur stärkeren Regulierung des Asylbewerberzuzugs möchten sie im Gegensatz zu Labour nach australischem Vorbild fixe Quoten für bestimmte Migrantengruppen einführen und dabei auch die Zuwanderung von Asylbewerber(inne)n, die Labour zufolge nicht dem allgemeinen Migrationsprogramm unterworfen werden sollen, durch die Festlegung von Jahreshöchstzahlen begrenzen. Damit versuchen sie, politisches Kapital aus der einwanderungsfeindlichen Stimmung zu schlagen, die sich vor allem gegen die Zuwanderung von Asylbewerber(inne)n richtet. In einer Ende Januar 2005 durchgeführten Umfrage unterstützten 80 Prozent der befragten Briten die Forderung nach strikteren Einwanderungskontrollen; übrigens sprachen sich auch 52 Prozent der Angehörigen ethnischer Minderheiten dafür aus. Wird in den letzten Jahren in der britischen Presse über Zuwanderungsfragen diskutiert, geht es selten um Arbeitsmigrant(inn)en, die legal ins Land kommen. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen in der Regel die unerwünschten Asylbewerber/innen. Deren Zahl hatte nicht zuletzt aufgrund der außerordentlich niedrigen Arbeitslosenquote in Großbritannien (April 2005: 4,7 Prozent) und aufgrund der zunehmend restriktiver gestalteten Asylpolitik auf dem europäischen Festland gegen Ende der 1990er-Jahre signifikant zugenommen: von 4.000 im Jahr 1988 auf 103.100 im Jahr 2002. Die Konservativen suchten insbesondere die als zu generös kritisierte Asylpolitik im Frühjahr 2005 zu einem zentralen Thema des Wahlkampfes zu machen. Doch steht die Entwicklung der neueren Aufnahmezahlen einer Politisierung der Asylfrage entgegen. So war im Jahr 2003 die Zahl der Asylbewer-
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ber/innen im Vereinigten Königreich dem allgemeinen EU-Trend folgend stark rückläufig. Im Vergleich zu 2002 sank die Zahl der Asylbewerber/innen im Jahr 2003 um 41 Prozent auf 61.050, und im Jahr 2006 wurde der niedrigste Stand seit 1993 verzeichnet (vgl. Hansen 2007, S. 9). Nur ca. ein Drittel der 2005 gestellten Asylanträge wurde positiv beschieden, bloß 8 Prozent der Antragsteller/innen wurde Asyl gewährt, und 12 Prozent wurde aus humanitären und Ermessensgründen Schutz gewährt (vgl. ebd.). Auch wenn man berücksichtigt, dass relativ viele Asylbewerber/innen aus humanitären Gründen nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden können und insofern ein zeitlich begrenztes Bleiberecht besitzen, lag Großbritannien in der EU, wenn es um den Pro-KopfAnteil an Asylbewerber(inne)n geht, 2002 nur an neunter Stelle. In der alarmierenden Darstellung des Asylthemas in den britischen Medien seit Ende der 1990er-Jahre findet die Relativierung der absoluten Zahlen jedoch kaum Resonanz. Insbesondere im Jahr 2005 geriet die Thematik der irregulären Migration in die Schlagzeilen der britischen Medien. Nachdem der Ressortleiter für Abschiebung der Direktion für Zuwanderung und Nationalität, David Robert, öffentlich zugegeben hatte, die Anzahl der illegal aufhältigen Migrant(inn)en im Land nicht zu kennen, legte das Innenministerium rasch Zahlen vor. Danach gab es im April 2001 ca. 430.000 Personen mit irregulärem Status. Darunter wurden Personen subsumiert, die illegal eingereist waren, und solche, deren Aufenthaltsvisum abgelaufen war, sowie abgelehnte Asylbewerber/innen, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen waren. Methodisch errechnet wurde die Zahl, indem von der Gesamtzahl der im Ausland geborenen Personen, welche die letzte Volkszählung erfasst hatte, die Zahl der sich legal im Land aufhaltenden subtrahiert wurde (vgl. Woodbridge 2005, S. 1). An einer Kontrolle der unerwünschten Einwanderung haben sich, so die zentrale Annahme der Regierung, Glaubwürdigkeit und Effektivität der gesamten Migrationspolitik zu bewähren. Um Handlungsautonomie und nationale Souveränität in Einwanderungsfragen nicht zu verlieren, hat sich Großbritannien bisher nicht dem Schengener Abkommen und dem damit verbundenen Abbau von Grenzkontrollen für EU-Bürger/innen angeschlossen. Die Blair-Regierung argumentiert zur Begründung folgendermaßen: Für die Länder des europäischen Kontinents seien interne Kontrollen wichtiger als Grenzkontrollen, weil sie über nur schwer zu kontrollierende lange Landesgrenzen verfügten. Aufgrund seiner Insellage sei das Vereinigte Königreich dazu gezwungen, sich bei den Grenzkontrollen auf die sog. Entry Points – die Häfen und Flughäfen – zu konzentrieren. Faktisch folgt Großbritannien in seiner Flüchtlingspolitik und seiner Politik zur Kontrolle illegaler Zuwanderung weitgehend europäischen Trends, die Folgendes beinhalten:
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eine restriktive Visapolitik in Abstimmung mit den übrigen EU-Ländern; eine verbesserte Identifikation der Bewerber/innen, Einführung von IDCards, ein zentrales Meldesystem und die Abnahme „elektronischer Fingerabdrücke“; die Verminderung finanzieller Zuwanderungsanreize: Absenkung der Hilfe für Asylbewerber/innen unter den Sozialhilfesatz; zügigere Asylverfahren; die beschleunigte Abschiebung von Personen ohne Aufenthaltsberechtigung; eine zentrale Verteilung von Asylbewerber(inne)n im Land; die harte Bestrafung von Menschenschmugglern und Schleppern; Sanktionen für Fluggesellschaften, die Personen ohne Einreiseerlaubnis transportieren; die Verbesserung der Einreisekontrollen von Nichteinreiseberechtigten schon in den Herkunftsländern: internationale Kooperation und Liaison mit Arbeitern in den internationalen Flughäfen der Herkunftsländer (vgl. Home Office 2005, S. 25 ff.).
Die Politik der managed migration verbindet somit restriktive und instrumentelle Aspekte einer zuwanderungspolitischen Steuerung. Während hoch qualifizierte Migrant(inn)en leichter Zugang zum britischen Arbeitsmarkt erhalten, bekommen Geringqualifizierte aus EU-Drittstaaten unabhängig von der restriktiver gewordenen Asylpolitik kaum noch eine Chance auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis. Neu ist vor allem auch die Einbeziehung von Arbeitgebern in die Umsetzung der Maßnahmen zur Einwanderungskontrolle. Kritische Stimmen, etwa aus dem „Institute of Race Relations“, befürchten deshalb, dass durch Androhung von Geldstrafen für die Beschäftigung von sog. Illegalen die Machtverhältnisse in den Betrieben weiter zugunsten der Arbeitgeber verschoben und nicht autorisierte Zuwanderer verstärkt der unternehmerischen Ausbeutung ausgesetzt werden. Wenn man Arbeitsverträge für illegal erkläre, so die Argumentation, würden Arbeitnehmer mit irregulärem Status davon abgehalten, Arbeitnehmerrechte und Gleichbehandlungsansprüche durchzusetzen. Die aufgezwungene Unterscheidung zwischen „workers“ (Arbeitern) und „employees“ (Beschäftigten) im Arbeitsrecht habe eine machtlose Klasse von Leih- und Zeitarbeitern geschaffen, die sich nicht gegen unfaire Entlassungen wehren könnten und daher der Arbeitsplatzunsicherheit, geringen Löhnen und unsozialen Arbeitszeiten schutzlos ausgesetzt seien (vgl. Singh 2005).
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Kritik am Multikulturalismus Spricht man gegenwärtig von Großbritannien als Einwanderungsland, so ist ungeachtet der vielen irischen und anderen europäischen Einwanderer vor allem die Migration aus den ehemaligen Kolonien gemeint. Dies wohl nicht zuletzt, weil es sich bei den asiatischen und afrokaribischen Einwanderern um sichtbare Minderheiten handelt, d.h. um solche, die vor allem das Bild der britischen Großstädte prägen und manchen Stadtteilen ein Flair der Karibik oder des indischen Subkontinents verleihen (vgl. hierzu: Baringhorst 1998). Nichtweiße Einwanderungsgruppen machen nach der letzten, im Jahr 2001 durchgeführten Volkszählung 7,9 Prozent der britischen Bevölkerung aus. Das sind in absoluten Zahlen 4,6 Mio. von insgesamt 58,7 Mio. Einwohnern. Sie setzen sich zu mehr als 50 Prozent aus asiatischen Einwanderergemeinschaften zusammen. Unter den nichtweißen ethnischen Gruppen bilden die Inder/innen mit ca. 1 Mio. die größte ethnische Minderheit. Dies entspricht 22,7 Prozent der Nichtweißen. Neben den Inder(inne)n sind vor allem 747.285 Pakistani, 283.063 Bangladeshi, 247.403 Chines(inn)en und 247.664 andere Asiaten relevante ethnische Minderheiten. Die zweite Großgruppe wird in der Volkszählung als „Black“ oder „Black British“ bezeichnet. Sie umfasst 565.876 „Black Caribbean“, 485.277 „Black African“ und 97.585 andere Schwarze (vgl. Office for National Statistics 2004, S. 2). In der o.g. Formel „No integration without immigration control, no immigration control without integration“ manifestiert sich eine bis heute wirksame Janusköpfigkeit der britischen Migrations- und Integrationspolitik. Einwanderungsund Integrationspolitik bedingen sich demnach gegenseitig. Die restriktive Einwanderungspolitik war und ist nur deshalb und so lange legitim, wie dadurch die Integration der schon im Lande befindlichen Einwanderer gesichert wird. Integration ist jedoch bekanntlich ein recht vager Begriff, der von Assimilation bis zu ethnischem Pluralismus oder Multikulturalismus die verschiedensten Varianten der Inkorporation von Minderheiten bedeuten kann. Auch in Großbritannien gibt es unterschiedliche Meinungen und Lager im öffentlichen Diskurs:
Die Neue Rechte versteht darunter die Anpassung an den „British Way of Life“ und Assimilation in den sog. British stock. Vertreter/innen der ethnischen Selbstorganisationen und namhafte Sozialwissenschaftler/innen subsumieren darunter nicht nur Toleranz gegenüber unterschiedlichen Wertvorstellungen und Lebenspraxen in der privaten Lebensführung, sondern auch eine weitgehende Neudefinition von nationaler Identität und politischer Kultur zugunsten eines multikulturellen Nationsverständnisses (vgl. z.B. Parekh 2006).
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Die regierungsoffizielle Interpretation des Integrationsbegriffs folgt hingegen eher einer klassisch liberalen Konzeption. Demnach gilt das Prinzip der Anerkennung und Toleranz der pluralistischen Vielfalt von Formen der privaten Lebensführung. So lehnte Roy Jenkins als Innenminister in den 1960er-Jahren, wie oben erwähnt, eine Begriffsinterpretation ab, die Integration als „flattening process of assilimation“ definierte, in dem die Einwanderer zu einer „series of carbon copies of someone’s misplaced vision of the stereotyped Englishman“ würden. Sattdessen plädierte er für ein Verständnis von Integration als „equal opportunity accompanied by cultural diversity in an atmosphere of mutual tolerance“ (zit. nach: Parekh 2000, S. 208). Institutionell abgesichert wurde die Anerkennung kultureller Differenzen in einer umfassenden und im europäischen Kontext beispielhaften Antidiskriminierungsgesetzgebung. In den „Race Relations Acts“ (RRA) wird sichergestellt, dass Angehörige ethnischer Minderheiten nicht aufgrund ihrer ethnischen, rassischen oder religiösen Merkmale benachteiligt werden dürfen. Dies gilt nicht nur für den Wohnungs- und Arbeitsmarkt, sondern nach dem RRA aus dem Jahre 2000 auch für alle staatlichen und öffentlichen Institutionen wie Polizei, Einwanderungsbehörden und den Bildungsbereich. Diskriminierung von Schüler(inne)n aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bzw. des Tragens von religiösen Symbolen – sei es der Turban oder das Kopftuch – widerspricht den grundlegenden Prinzipien des britischen Integrationskonzepts, verstanden als Chancengleichheit auf der Basis der Anerkennung kultureller Differenzen. In den 1980er-Jahren wurden im Zeichen der multikulturellen Anerkennungspolitik in einigen Labour-regierten Großstädten zahlreiche Initiativen vor allem im Bereich der Schul-, Jugend- und Altenpolitik entwickelt. Seit Ende des besagten Jahrzehnts erlebt diese Politik der pluralistischen Integration jedoch herbe Rückschläge, die es meines Erachtens rechtfertigen, von einem Backlash zu sprechen (vgl. auch Hewitt 2005). Bei aller Idealisierung der britischen Toleranz sollte nicht vergessen werden, dass schon in den 1950er-Jahren in Regierungskreisen wie im Parlament Stimmen laut wurden, die vor der Gefahr zukünftiger Integrationsprobleme und möglichen Rassenkonflikten warnten (vgl. Schönwälder 2000 und 2001). Zwar ist Großbritannien ein Jean-Marie Le Pen oder Pim Fortuyn bisher erspart geblieben. Doch gab es auch in dem für seine Toleranz gepriesenen Inselstaat bis tief in die Reihen der Konservativen hinein immer wieder Stimmen, die nicht den Rassismus der einheimischen Bevölkerung, sondern ausschließlich die Präsenz nichtweißer Einwanderer für Rassenhass und ethnische Konflikte vor allem in den verarmten und heruntergekommenen Innenstadtbezirken der industriellen Ballungszentren verantwortlich machten. Erinnert sei an die apokalyptischen Reden des Konservativen Enoch Powell Ende der 1960er-Jahre, aber auch an
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Margaret Thatchers berühmt-berüchtigte Ansprache im Wahlkampf 1979, in der sie die einwanderungsfeindliche Stimmung unter den Bürgern mit dem Hinweis auf die legitime Angst, von Zuwanderern überschwemmt zu werden, verteidigte (vgl. dazu: von Freyhold 1993, S. 173). Nachhaltig in die Defensive geraten sind die in den 1980er-Jahren entwickelten multikulturellen Integrationsstrategien vor allem seit der Rushdie-Affäre von 1989, seit den gewalttätigen Konflikten zwischen vornehmlich asiatischen Jugendlichen und der britischen Polizei in den nordenglischen Städten Bradford, Burnley und Oldham im Jahr 2001 sowie insbesondere seit den terroristischen Bombenanschlägen in London vom Juli 2005. Wie in den Niederlanden, so wurden auch auf den britischen Inseln in den letzten Jahren die assimilatorischen Elemente im Integrationskonzept deutlich gestärkt. Während in den 1980erJahren die Anerkennung kultureller Differenzen im Vordergrund stand, geht es in letzter Zeit primär um die Neuausrichtung der Integrationspolitik im Sinne einer Bindung der Anerkennungspolitik an vorgegebene Grenzen der Toleranz. Im Zentrum der Kritik steht dabei die muslimische Einwanderergemeinschaft. Roy Jenkins lamentierte etwa im Nachhinein bezogen auf die Zuwanderung von Pakistani und Bangladehsi, dass man in den 1950er-Jahren vorsichtiger gewesen wäre, die Bildung einen umfangreichen muslimischen Minderheit zu erlauben, wenn man die gegenwärtigen Probleme vorausgesehen hätte (vgl. AlibhaiBrown 2000, S. 183). Diese späte Selbstkritik wurde mit Enttäuschung im linken und Genugtuung im rechten Spektrum Großbritanniens aufgenommen. Im linken Lager ist das Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt und zu einer Politik der Anerkennung kultureller Gruppenrechte angesichts der seit Ende der 1980er-Jahre lauter werdenden Ansprüche der muslimischen Minderheiten auf Gleichstelllung mit anderen religiösen Gemeinschaften etwa im Bereich der staatlichen Anerkennung von Konfessionsschulen und des staatlichen Schutzes vor Blasphemie sowie der steigenden Resonanz islamistischer Gruppierungen vor allem unter jugendlichen Muslimen einer Wahrnehmung gewichen, in der kulturelle Diversität als schädlich für nationale Solidarität und Demokratie betrachtet wird. Beispielhaft für die Abkehr vom Multikulturalismus sind die Reaktionen auf einen Artikel von David Goodhart, Herausgeber des linksliberalen Monatsmagazins „Prospect“, der eine Debatte zum sog. progressive dilemma auslöste. Unter dem Titel „Discomfort of strangers“ griff Goodhart im Guardian (v. 24.2.2004) die in der Wissenschaft schon seit längerem geführte Kontroverse zum Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Einwanderung auf. Kulturelle Vielfalt, so seine schlichte These, gefährde den moralischen Konsens unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft, schwäche die Gefühle der Solidarität bzw. Verbundenheit und damit die immateriellen Grundlagen eines starken Wohlfahrtsstaates.
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„Die Fortschrittlichen wollen Vielfalt, aber damit untergraben sie einen Teil des moralischen Konsensus, auf dem ein großer Wohlfahrststaat beruht.“ (Goodhart 2004; eigene Übersetzung, S.B.) Referenzländer seiner Argumentation waren einerseits Schweden und Dänemark Länder, in denen Wohlfahrtsstaatlichkeit nur auf der Basis einer ausgeprägten kulturellen Homogenität der Gesellschaft ausbildet sei , sowie anderseits die USA, deren kulturell differente, individualistische Gesellschaft Verpflichtungen gegenüber Mitbürger(inne)n entgegenstehe. Politische Schlussfolgerungen aus dieser simplen Sicht sind: 1.
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eine Reduktion der wohlfahrtsstaatlichen Kosten der Asylpolitik mit dem Ziel, das zweijährige Arbeitsverbot von Asylbewerber(inne)n aufzuheben bzw. zeitlich zu reduzieren; eine Politik zur Verhinderung segregativer Tendenzen, denn Einwanderer aus gleichen Herkunftsgebieten tendieren laut Goodhart dazu, zusammenleben zu wollen. Die Politik muss sie seiner Meinung nach daran zu hindern suchen, damit sich keine segregierten Lebenssphären herausbilden, weder im Bereich des Wohnens und Arbeitens noch in der Schule oder bei der Religionsausübung (vgl. ebd.). Gegen eine Politik des Multikulturalismus, die eine gemeinsame nationale Kultur ablehne, und eine nationalistische Politik der erzwungenen Assimilation wird eine nationale Identitätsförderung postuliert, in der durch Einbürgerungszeremonien, Sprachunterricht und Staatsbürgerkunde „a British version of the old US melting pot“ (ebd.) geschaffen werden soll. Steuerzahler/innen brauchten die Zusicherung, dass ihr Geld für Personen verwendet werde, für deren Lebensbedingungen sie Verständnis hätten. Aus diesem Grunde sollten staatliche Wohlfahrtsleistungen an Bedingungen geknüpft werden. „Die Vergabekriterien müssen transparent und blind gegenüber ethnischer Zugehörigkeit, Religionszugehörigkeit oder sexueller Identität sein, jedoch nicht blind hinsichtlich des Verhaltens von Antragstellern. Personen, die regelmäßig die Regeln zivilisierten Verhaltens brechen, sollten keine bedingungslosen Unterstützungsleistungen erhalten.“ (ebd.; eigene Übersetzung, S.B.)
Die Vielzahl von Kommentaren zu Goodharts Text belegt, wie sehr er einen Nerv der britischen Linken getroffen hat. Der ehemalige BBC-Journalist und Vorsitzende der nationalen Gleichstellungsstelle, Trevor Phillips, sprach in seiner Replik auf den Artikel von „genteel xenophobia“ und wies zu Recht darauf hin, dass es dabei weniger um Kritik an kultureller Diversität schlechthin als um Kritik an der Präsenz einer muslimischen Kultur in Großbritannien gehe. Das seien liberale Powell-Anhänger, so der Vorwurf von Phillips. Eigentlich gehe es
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ihnen nur um Fragen von race and culture: „Wenn die heutigen Einwanderer Weiße wären und aus dem Old Commonwealth kämen, würden Goodhart und seine Freunde, da sie die angelsächsischen Werte teilen, nicht sagen, sie stellten eine Bedrohung dar. Vermutlich haben sie sogar nichts gegen anglophile Inder, solange es bloß keine Muslime sind.“ (Phillips 2004; eigene Übersetzung, S.B.) Auch wenn der Vorsitzende der halbstaatlichen Gleichstellungsstelle die einwanderungsfeindliche Ausrichtung der Position Goodharts moniert, rückt er doch von einer Politik des Multikulturalismus, wie sie etwa noch sein Vorgänger Bikhu Parekh forderte, ab. Gegen eine Verstetigung von Gruppendifferenzen plädiert er für eine stärkere Akzentuierung von Chancengleichheit und Antidiskriminierung sowie die Stärkung einer gemeinsamen Wertebasis und Staatsbürgerschaft: „Ich argumentiere nicht gegen diejenigen, die für Vielfalt eintreten. Ich streite mich jedoch mit denjenigen, die aus unseren historischen Differenzen einen solchen Fetisch machen, dass Multikulturalismus, so wie er praktiziert wird, lächerlich wird, oder noch schlimmer, eine gefährliche Form der gut gemeinten Vernachlässigung und Ausgrenzung. (…) Unsere Forderung nach Chancengleichheit in einer integrierten Gesellschaft basiert auf der Sicherheit unserer Staatsbürgerschaft – auf dem, was wir gemeinsam haben, nicht auf dem, was uns trennt.“ (zit. nach: CRE 2005, S. 10; eigene Übersetzung, S.B.) In wissenschaftlichen Kreisen wurden Goodharts Thesen sowohl hinsichtlich der zugrunde liegenden Annahmen zum Zusammenhang zwischen Einwanderung und Wohlfahrtsstaat als auch hinsichtlich des vorausgesetzten Verständnisses von Multikulturalismus kritisiert. So weist Nick Pearce vom „Institute for Public Policy Research“ auf die positive Beziehung zwischen kultureller Differenz und starker Wohlfahrtsstaatlichkeit in Kanada hin. Solidarität, so seine Gegenthese, entstehe nicht einfach aus normativem Konsens, sondern aus gemeinsam ausgetragenen Konflikten um redistributive Politiken. Ein hohes Bildungsniveau sowie ein hohes Einkommen seien darüber hinaus für die Herausbildung interpersonellen Vertrauens, der Grundvoraussetzung für die Entstehung gesellschaftlicher Solidarität, bedeutsamer als kulturelle Gemeinsamkeiten (vgl. Pearce 2004). Unterstellt wird in der Kritik am Multikulturalismus zudem ein verengtes und verzerrtes Begriffsverständnis: Demnach ist die Anerkennung von Gruppenrechten nicht mit dem nationalen Zusammenhalt in Einklang zu bringen, und Multikulturalismus wird mit gesellschaftlicher Segregation gleichgesetzt. Betrachtet man jedoch die vorliegenden theoretischen Konzepte multikultureller Politik von Will Kymlicka, Iris Marion Young oder Charles Taylor, so geht es nicht nur um kulturelle Anerkennungsrechte, die aus dem Anspruch auf gleichen Respekt abgeleitet werden, sondern auch um gleiche Teilhabechancen und interkulturellen Dialog über die gemeinsame Wertebasis der Gesellschaft. Nationale
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Identität wie z.B. Britishness wäre danach, wie Tariq Modood (2005, S. 67) in seiner „Defence of Multiculturalism“ hervorhebt, nicht einfach vorauszusetzen, sondern aus der gemeinsamen Verständigung abzuleiten und zu redefinieren. Dies würde bezogen auf die kulturellen Gruppen in Großbritannien nicht zuletzt auch eine Neudefinition des Säkularismus bzw. der Grenzen zwischen Religion und Staat bedeuten. Die geheime Agenda der gegenwärtigen Kritik am Multikulturalismus scheint genau darin zu bestehen, diese Grenzziehung einer Revision zu unterwerfen.
Integration und ziviler Nationalismus Nach der siegreichen Wahl der Labour Party 1997 dominierte in Downing Street No. 10 noch die euphorische Marketingvision eines Rebranding der Nation als multikulturelle „cool Britannia“ (Tony Blair) oder einer „chicken tikka masala eating nation“, so der ehemalige Außenminister Robin Cook. 2001 kann in gewisser Hinsicht als Wendejahr in der britischen Integrationspolitik betrachtet werden: Einige Monate nach dem Amtsantritt des neuen Innenministers David Blunkett kam es in den nordenglischen Städten Bradford, Burnley und Oldham zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und vornehmlich jungen asiatischen Migranten. Kurze Zeit später erschütterten die Bilder vom 11. September die Welt. Auch im öffentlichen Diskurs Großbritanniens wurden sie als Anzeichen eines globalen Zusammenstoßes der Kulturen (Clash of Civilisations) gedeutet, welcher nicht zuletzt aufgrund der symbolischen Unterstützung, die den Attentätern von einigen islamistischen Gruppierungen auch im Vereinigten Königreich zuteil wurde, als Bedrohung des Zusammenlebens der Mehrheitsgesellschaft mit den muslimischen Zuwanderern gilt. In der Folge knüpfte man die Anerkennung kultureller Differenzen im privaten Bereich, im öffentlichen Diskurs wie in Regierungsverlautbarungen eng an die Geltung einer von allen Gruppen geteilten politisch-kulturellen Wertebasis. Dabei wird als Kern der eingeforderten Loyalität zu den Werten der nationalen Gemeinschaft nicht mehr der simple „Pledge of Allegiance to Her Majesty The Queen“ (Treueid auf die Krone) verstanden. Neu im Integrationskonzept von New Labour ist der deutliche Akzent auf staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten als Kern der politischen Kultur des Landes. Konkret heißt es über die nicht zu relativierenden Schlüsselelemente der Nationalkultur im Weißbuch von 2002: „Der Human Rights Act von 1998 ist die zentrale Quelle von Werten, die britische Staatsbürger teilen sollten. Die Gesetze, Regeln und Praxen, die unsere Demokratie bestimmen, verpflichten uns, allen Staatsbürger(inne)n den gleichen Wert und die gleiche Würde zuzuerkennen. Zuweilen wird es nötig sein, kultu-
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relle Praktiken, die mit diesen grundlegenden Werten konfligieren, anzuprangern – wie z.B. solche, in denen Frauen gleiche staatsbürgerliche Teilhaberechte abgesprochen werden. Zugleich bedeutet dies, dass alle Individuen die Voraussetzungen – wie Kenntnisse der gemeinsamen Sprache – mitbringen, um als aktive Bürger/innen am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben teilnehmen zu können. Und dies bedeutet auch die Bekämpfung von Rassismus, Diskriminierung und Vorurteilen, wo immer sie auftreten.“ (Home Office 2002, S. 30; eigene Übersetzung, S.B.) Nach den Unruhen des Jahres 2001 in Nordengland wurde unter David Blunkett eine „United Kingdom Advisory Group“ eingesetzt. Sie fasst die britischen Kernwerte und das Schlüsselwissen über Großbritannien, das in Zukunft Neuzuwanderern abgefordert wird, in einem vom Innenministerium herausgegebenen Handbuch mit dem Titel „Life in the United Kingdom. A Journey to Citizenship“ (Dezember 2004) zusammen. Der Inhalt des Buches bildet die inhaltliche Basis des Citizenship Test, der seit 2002 von neuen Staatsbürger(inne)n zu bestehen ist. Zum abfragbaren Wissen über den britischen Nationalcharakter gehören z.B. „We British are very fond, for instance of the ‚Dunkirk Spirit‘“, „the Nelson touch“, oder „she’s a real nightingale“, ein Attribut, das auf Florence Nightingale (1820-1910) rekurriert, eine Pionierin der modernen Krankenpflege, die in Großbritannien vor allem wegen ihres Einsatzes im Krimkrieg verehrt wird. Da die britische Geschichte darin geschönt erscheint, kommt das „Institute of Race Relations“ zu einem eindeutig negativen Urteil: Die Publikation lasse den Schluss zu, dass es der Regierung eher um die Vermittlung eines idealisierten Bildes britischer Kultur gehe als darum, den neuen Bürger(inne)n das kontextuelle Wissen zu vermitteln, das sie für eine wirkliche Gleichstellung benötigten (vgl. Firth 2005). Wie in den Niederlanden, so scheint auch in Großbritannien eine integrationspolitische Wende weg vom Multikulturalismus hin zu einer stärker assimilationsorientierten Integrationspolitik begonnen zu haben, die dem nationalen Zusammenhalt absolute Priorität gegenüber kulturellen Differenzansprüchen gibt. Zwar enthalten Regierungsverlautbarungen weiterhin ein Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt und weisen den Vorwurf gegenüber der Blair-Regierung, Assimilationspolitik zu betreiben, etwa in dem integrationspolitischen Programm „Improving Opportunities – Strengthening Diversity: The Government’s strategy to increase race equality and community cohesion“ vom Januar 2005 zurück. Erklärte Absicht der Regierung ist die Stärkung des nationalen sozialen Zusammenhalts und des gemeinsamen staatsbürgerlichen Bewusstseins: „Es geht nicht um die Assimilation kultureller Unterschiede. Aber es soll in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und den betroffenen Gemeinschaften ein
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Signal gesetzt werden für eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und eine verbesserte soziale Teilhabe auf nationaler wie lokaler Ebene.“ (Home Office 2005, S. 21; eigene Übersetzung, S.B.) Die konkret eingeleiteten Maßnahmen weisen jedoch deutlich auf eine Akzentverschiebung zugunsten nationaler Kohäsion hin (vgl. Statham 2003, S. 144). Das von New Labour propagierte Integrationskonzept kann treffend mit dem Begriff des „zivilen Nationalismus“ charakterisiert werden. Dessen Ziele sind, entsprechend den Forderungen von Goodhart und anderen liberalen Kritikern multikultureller Reformen, die Verhinderung ethnischer Segregation und Koloniebildung sowie die Förderung einer staatsbürgerlichen Inklusion auf der Basis demokratischer und politisch-kultureller Leitlinien. Auch wenn die Loyalitätsforderungen primär an die schon seit Jahrzehnten im Land ansässigen muslimischen Minderheiten gerichtet sind, adressieren die konkreten Schritte zur Politikumsetzung primär die Neuzuwanderer. Von ihnen erwartet man den Besuch von Englischkursen sowie von Seminaren zur Vermittlung staatbürgerlicher Grundkenntnisse auf der Basis des genannten Handbuches. In dieser Hinsicht gibt es bemerkenswerte Parallelen zwischen der britischen und der deutschen Zuwanderungspolitik, zumal das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz die Neuzuwanderer hierzulande ebenfalls verpflichtet, an Integrationskursen teilzunehmen, die Sprach- und Orientierungskurse umfassen. Im Unterschied zu dem Leitfaden für die Gesprächsführung mit Einbürgerungswilligen, den Baden-Württemberg eingeführt hat (vgl. Gesinnungsprüfung 2006), sind die Staatsbürgerschaftstests in Großbritannien jedoch eher kognitiv als gesinnungsorientiert. Zudem gibt es keine Diskriminierung nach Herkunftsländern oder religiöser Zugehörigkeit. Seit 2004 finden auch in Großbritannien wie in den USA, Kanada und Australien Einbürgerungszeremonien in den Kommunen statt, mittels deren die symbolische Bedeutung der staatsbürgerlichen Inklusion durch öffentliche Rituale wie vor allem den öffentlichen Treueeid auf die Königin und das Vereinigte Königreich aufgewertet wird. Die von den Blair-Regierungen begonnene Ausrichtung der Einbürgerungspolitik auf das Ziel des nationalen Zusammenhalts wird unter der seit 2006 amtierenden Brown-Regierung durch weitere Restriktionen im Zugang zur britischen Staatsbürgerschaft fortgeführt. Nach einer im November 2007 eingebrachten Gesetzesinitiative soll Einbürgerung nicht nur an Staatsbürgerschaftstests gebunden sein, sondern als Vertrag verstanden werden, in dem die Verleihung der britischen Staatsbürgerschaft an die Übernahme von nachgewiesener aktiver Verantwortung durch den Anwärter/die Anwärterin gekoppelt wird. Nach dem geplanten neuen Einbürgerungsverfahren wird zwischen EU- und Nicht-EUBürger(inne)n unterschieden. Für Letztere wird die Wartezeit auf sechs bis sieben Jahre verlängert: Nach fünf Jahren legalen Aufenthalts muss sich ein Be-
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werber/eine Bewerberin um die britische Staatsbürgerschaft zunächst in einer Probezeit bewähren und als probationary citizen Punkte für soziales Engagement sammeln. Je nach gesammelten Punkten beträgt die Probezeit zwei Jahre oder ein Jahr, bei Vergehen wie z.B. Trunkenheit am Steuer kann die Probezeit auch auf fünf Jahre ausgedehnt werden. Bei schweren Delikten verliert der Bewerber/die Bewerberin die bisher gesammelten Punkte (vgl. Migration und Bevölkerung 2008). In Großbritannien gibt es kaum zu übersehende Anzeichen für ethnische Segregation in Schulen und ganzen Stadtvierteln. Die vor allem nach den Terroranschlägen in London laut werdende Skandalisierung segregativer Phänomene verkennt allerdings, dass Ethnizität und Hautfarbe keine kollektiven Identitäten erzeugt haben, die der nationalen Identität entgegenstehen. Stattdessen ist die britische Identität zunehmend zu einer Bindestrichidentität geworden. Unter den nichtweißen Einwanderern ist das Bekenntnis zur nationalen, britischen Zugehörigkeit weitaus stärker, als es die Integrations- und Loyalitätsforderungen der Regierung nahelegen. Im Unterschied zu den Einwanderern in Deutschland bekennen sich die Einwanderer im Vereinigten Königreich, wie die Ergebnisse der letzten Volksbefragung dokumentieren, in hohem Maße zur britischen nationalen Identität. So sahen sich z.B. 67 Prozent der Bangladesher als Briten, während nur 6 Prozent von ihnen angaben, Engländer, Schotten, Waliser oder Iren zu sein. Weniger britisch fühlt sich demgegenüber ein wachsender Teil der weißen Briten. Sie geben häufig an, sich einer regionalen schottischen, walisischen oder zunehmend auch englischen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen und nicht der nationalen britischen (vgl. Office for National Statistics 2004, S. 4). Selbsteinschätzungen der kollektiven Zugehörigkeit vermitteln ein positiveres Bild über die angeblich segregativen Folgen der bisherigen multikulturellen Reformpolitik, als die ständigen Forderungen nach nationalen Loyalitätsbekundungen vermuten lassen. Insofern scheint New Labour wie zuvor schon Margaret Thatcher den Verlockungen populistischer Diskursgewinne und nationaler Symbolpolitik nicht ganz zu widerstehen. Doch bei aller vorschnellen Gleichsetzung von New Labour und Thatcherismus sollten die signifikanten Differenzen nicht vergessen werden: So ist erst unter New Labour die von Expert(inn)en schon lange geforderte Reform der Migrationspolitik realisiert und ein Programm zur gezielten Steuerung von Arbeitsmigration entwickelt worden. Zudem hat die Labour-Regierung die staatliche Antidiskriminierungspolitik insofern reformiert, als nun alle staatlichen Stellen, auch Polizei und Einwanderungsbehörden, ihren Regeln unterworfen sind und auch Benachteiligungen aus Gründen der religiösen Zugehörigkeit mit in die Reihe der nicht geduldeten Diskriminierungen aufgenommen wurden.
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„Brücken für unser Land in einem neuen Europa“? Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich Gudrun Hentges
„Im Schatten der Globalisierung“ kämpften Minderheiten noch immer um ihre Rechte, behauptet Marjan Pipp (1998), Präsident des österreichischen Volksgruppenzentrums und Geschäftsführer von Radio Korotan, einem kommerziellen slowenisch-deutschsprachigen Radioprogramm in Kärnten. Eine genauere Lektüre lässt deutlich werden, dass Pipp dezidiert nicht die sog. neuen Minderheiten – Arbeitsmigrant(inn)en und politische oder (Bürger-)Kriegsflüchtlinge – meint, wenn er von Minderheiten spricht, also auch nicht jene Menschen, die im Zuge von Globalisierungsprozessen die Grenzen ihrer Herkunftsländer überschritten haben, sondern die alteingesessenen Minderheiten, sog. autochthone Volksgruppen. Die „ethnisch-kulturellen Gegebenheiten in Europa“, so umreisst Pipp das Grundproblem, stimmten nicht mit der staatspolitischen Organisation des Kontinents überein. Vielmehr stünden den in Europa lebenden 70 verschiedenen Völkern nur 36 Staaten gegenüber. Ein besonderes Augenmerk legt Pipp auf die slowenischen und kroatischen Minderheiten in Österreich, deren Existenz er als bedroht ansieht, falls es nicht zu einem politischen Umdenken komme. Um das von ihm entworfene Szenario eines „volksgruppenfreien Österreich“ zu verhindern, bedürfe es eines kollektiven Minderheitenschutzes – sowohl dort wie auch in ganz Europa. Während hier lediglich terminologisch auf die Globalisierung Bezug genommen wird, um einen kollektiven Minderheitenschutz zu fordern, leitet Matthias Ellmauer, seit 1995 für die Österreichische Volkspartei (ÖVP) im Nationalrat, die Bedeutsamkeit der Volksgruppenpolitik aus der wachsenden Dynamik der Globalisierung ab: „Brauchtum und Kulturformen autochthoner Volksgruppen“ betrachtet er als Bestandteil der österreichischen Kultur; ihre Vielfalt sei ein Teil der österreichischen Identität. „Aber trotz dieses Wandels“, so Ellmauers Warnung, „dürfen wir diese Wurzeln unserer heutigen Identität und Kultur nicht verdrängen.“ Gerade in Zeiten der Globalisierung sei es wichtig, eine eigene Identität zu bewahren, „die eigenen Ursprünge nicht plötzlich auf Grund eines Modetrends zu verneinen“. Ausgehend vom christlich-sozialen Verständnis wolle die ÖVP ihre Vorstellungen verwirklichen und den autochthonen Volksgruppen einen „verfassungsrechtlichen Anspruch auf gesicherten Bestand und
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Erhaltung“ zuerkennen (Nationalrat, 7.7.2000). Die Rückbesinnung auf die eigenen (vorgeblichen) Wurzeln und die österreichische Identität fungiert als Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung, die vermeintliche Gewissheiten in Frage stellt. Der Jurist Franjo Schruiff (2001), Experte für Minderheitenrecht und Mitarbeiter im Burgenländisch-Kroatischen Zentrum in Wien, stellt provokante Thesen zum Verhältnis von Globalisierung und Minderheiten auf: „Traditionelle Minderheiten konnten entstehen, weil es bestimmte Phänomene historisch nicht gab, die heute einen Teil der Globalisierung ausmachen.“ Unter den Bedingungen eines beschleunigten Globalisierungsprozesses würden die traditionellen Minderheiten, meint Schruiff, ihre Bedeutung sukzessive verlieren und sog. neue Minderheiten an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen. Die in Österreich geltenden politischen Regelungen, dass traditionelle Minderheiten nach 100 Jahren Ansässigkeit als Volksgruppen anerkannt werden, haben nach Schruiffs Einschätzung längst den Anschluss an moderne Entwicklungen verloren. Ein Jahrhundert reiche unter den Bedingungen der heutigen Globalisierung aus, um Minderheiten entstehen und wieder vergehen zu lassen. Bis die Politik darauf aufmerksam werde, sei schon wieder alles ganz anders. Vergeblich sucht man diese Auffassung in einem später publizierten Beitrag (vgl. Schruiff 2005), erschienen in einer Broschüre zum Thema „Die Zukunft Europas und die Europäische Verfassung“, als deren Herausgeberin eine Organisation unter dem Namen „Jugend Europäischer Volksgruppen“ firmiert.1 Im Folgenden soll die Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich – ausgehend von den oben skizzierten Thesen – in historischer, rechtlicher und politischer Hinsicht nachgezeichnet werden. Dabei geht es um völkische Traditionslinien, Minderheitenschutzbestimmungen, volkstumspolitische Aktivitäten der Zwischenkriegszeit wie jener nach 1945, einschlägige Argumentationslinien, die am Beispiel eines prominenten Volkstumstheoretikers referiert werden, österreichische Rechtsvorschriften bezüglich des Minderheiten- bzw. Volksgruppenschutzes und die Positionen der einzelnen Parteien, wie sie etwa in Nationalratsdebatten formuliert wurden.
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Die beiden Organisationen „Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV) und „Jugend Europäischer Volksgruppen“ (JEV) sind politisch und organisatorisch aufs Engste miteinander verknüpft: Das Jugendkomitee der FUEV wurde 1963 im Rahmen einer FUEVTagung in Aosta aus der Taufe gehoben. 1984 erfolgte die Auflösung des FUEV-Jugendkomitees und die Gründung der JEV als eigenständige Organisation. Ungeachtet der organisatorischen Eigenständigkeit, welche die JEV Mitte der 1980er-Jahre erlangte, bleiben FUEV und JEV weiterhin institutionell miteinander verbunden: So ist die JEV korrespondierendes Mitglied der FUEV und nimmt an deren Präsidiumssitzungen regelmäßig teil (http://www. yeni.org/default.php?user Lang=german; http://www.fuen.org/pages/ deutsch/ d_1_2002.html).
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Volksgruppenpolitik als Reaktion auf die Boykottmaßnahmen gegen die ÖVP/FPÖ-Regierung Auf die Boykottmaßnahmen von 14 EU-Staaten gegen die erste, im Februar 2000 vereidigte Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ reagierte deren damaliger Vorsitzender Jörg Haider, der am 11. Oktober 2008 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte, siegessicher mit den Worten: Ein Vergleich, wie man die Volksgruppen zu Hause behandle, werde Österreich als vorbildlich erscheinen lassen (vgl. SZ v. 8.7.2000). Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung verwies auf österreichische Minderheitenschutzbestimmungen und verteidigte die Alpenrepublik gegen Angriffe aus anderen EU-Staaten: „Während in Spanien der Mob Jagd auf Ausländer machte“, kommentierte sie, „ist in Wien der schon vorbildliche Minderheitenschutz in der Verfassung zum Staatsziel erklärt worden.“ (FAZ v. 29.7.2000) Was hat es nun mit dieser so hoch gelobten Minderheitenpolitik auf sich? Völkische Traditionen Vom deutschen Volk war vor Ausgang des 18. Jahrhunderts nicht die Rede. Der Begriff „deutsche Nation“ bezeichnete keine kollektive Identität, sondern ein Territorium und eine Verfassung. In der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und während der Französischen Revolution wurde unter dem Volk (engl./amerik.: people; frz.: peuple) eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen verstanden, die sich für berechtigt und befähigt halten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. „Volk“ war somit die Gesellschaft der (besitzenden und männlichen) Bürger eines bestimmten Staates, d.h. ein Staatsvolk. In den deutschsprachigen Ländern entwickelte sich, bedingt durch die ausgebliebenen bzw. gescheiterten bürgerlichen Revolutionen und die direkte Konfrontation mit den napoleonischen Armeen, ein grundlegend anderes, nämlich metaphysisches Volksverständnis. Das deutsche Volk wurde nicht etwa als politische Willensgemeinschaft im Sinne eines Staatsvolkes verstanden, sondern als Abstammungsgemeinschaft. Intellektuelle und Philosophen leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Ausformulierung der spezifisch deutschen Konzeption von Volk und Nation. Johann Gottlieb Fichte, Rektor der neu gegründeten Berliner Universität (heute: Humboldt-Universität), behauptete die Existenz spezifischer Eigenschaften von Völkern, die sog. Volkseigentümlichkeit, der er Ewigkeitswert zusprach und die er als unaufhebbar betrachtete: „Diese Eigentümlichkeit ist das Ewige, dem er (der „edle Mensch“, G.H.) die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge.“ (Fichte [1808] 1928, S. 346)
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Fichte (ebd., S. 460 f.) ging von der Annahme aus, dass jene Völker (u.a. die Deutschen) zur Entwicklung der Menschheit beitragen, die „selbst ihre Eigentümlichkeit beibehalten, und dieselbe geehrt wissen wollen“, diese Eigentümlichkeit jedoch „auch den anderen Völker(n) (...) zugestehen“. Die Kehrseite dieses Konzepts ist eine scharfe Kritik an einer möglichen „Vermischung“ der Völker. Eine „Einmischung und Verderbung durch irgendwen Fremdes“, meinte Fichte, müsse vermieden werden. Die eigentliche Grenze eines Volkes sei eine „durch die geistige Natur des Menschen selbst gezogene“. Ein Volk könne „kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen“, es sei denn um den Preis von Verwirrung und Beeinträchtigung des Fortgangs der Bildung (siehe Fichte [1808] 1928, S. 445 f.). Völkische Homogenitätsvorstellungen wie die Fichtes, aber auch jene Johann Gottfried Herders, waren eng verknüpft mit antisemitischen Ideologien (vgl. zu Fichtes Antisemitismus: Hentges 1999, S. 110 ff.; Brumlik 2000, S. 75 ff.). In seiner sog. Revolutionsschrift warnte Fichte vor der angeblich von einem jüdischen „Staat im Staate“ ausgehenden Bedrohung: „Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt, es ist das Judentum.“ (Fichte [1793] 1957, S. 129 f.) Politisch virulent wurden die skizzierten Positionen nach der Niederlage der preußischen Armee in der Schlacht von Jena und Auerstedt (1806) sowie im Zusammenhang mit der französischen Besatzung. Die Bildung eines deutschen Nationalstaates konnte sich aufgrund der mangelnden sozialen Basis und Bewegung, vor allem wegen einer schwachen Bourgeoisie, nicht im Zuge gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse vollziehen, erfolgte vielmehr – in Abgrenzung zu Frankreich – unter Rekurs auf angeblich gott- und naturgegebene Tatsachen. Volksgruppen-Propaganda in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 Die Beschäftigung mit dem Grenz- und Auslandsdeutschtum hatte in der Zwischenkriegszeit enorm Konjunktur: Weltweit wurden Volksgruppen „entdeckt“, und als Sprachrohr der sog. europäischen Minderheiten tagte in den Jahren zwischen 1925 und 1938 der „Europäische Nationalitätenkongreß“ (vgl. Plake 1994, S. 124 ff.; Goldendach/Minow 1999, S. 42 ff.; Salzborn 2005, S. 69 f.). Das Auswärtige Amt, welches in Zusammenarbeit mit deutschen Minderheitenpolitikern die politische Linie festlegte, unterstrich die deutsche Hegemonie und die bedeutsame Rolle dieser Tagungen zur Durchsetzung nationaler Interessen: „Den deutschen Minderheiten bietet der Kongreß eine internationale Plattform für die Vertretung ihrer Interessen in der breitesten Öffentlichkeit. Dies um so mehr, als die deutschen Volksgruppen im Nationalitätenkongreß
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nicht nur zahlenmäßig das Übergewicht haben, sondern auch zum weitaus größten Teil die Mittel für die Unterhaltung des Büros und die Durchführung der jährlichen Hauptversammlungen und periodischen Ausschußsitzungen aufbringen.“ (zit. nach: Plake 1994, S. 125) 1927 wurde „Nation und Staat – Deutsche Zeitschrift für das europäische Minoritätenproblem“ aus der Taufe gehoben, ein aufs Engste mit den Nationalitätenkongressen verflochtenes Organ, das bis 1944 erschien und offiziell vom „Verband der Deutschen Volksgruppen in Europa“ herausgegeben wurde. Inoffiziell handelte es sich jedoch um ein von der Berliner Reichsregierung und vom Auswärtigen Amt finanziertes Projekt zum Zwecke der Destabilisierung und Grenzrevision: „Die Autonomie-Forderungen der Minderheitenfunktionäre zielten auf die innere Aushöhlung der Nachbarstaaten.“ (Goldendach/Minow 1999, S. 48) In der Zeitschrift wurde beispielsweise die These aufgestellt, eine Volksgruppe verfüge über eine Rechtspersönlichkeit und die Heimat sei für sie konstitutiv (vgl. Neuwirth 1936; Uexküll-Güldenband 1936). Eine weitere Ausgabe berichtete über Umsiedlungsmaßnahmen von sog. Volksdeutschen, den „Gottscheer“ (vgl. Klein 1942). Unter der Überschrift „Germanisieren?“ war im Oktober 1942 die Zusammenfassung eines Artikels aus dem Schwarzen Korps der SS zu lesen. Ein wenige Monate später publizierter Beitrag des Herausgebers Werner Hasselblatt (1943), überschrieben mit „Der 30. Januar 1933 und die Volkstumspolitik“, stellte die positiven Effekte der nationalsozialistischen Machtübernahme heraus. Für „Bücher (...) über das Weltjudentum“, an deren antisemitischer Ausrichtung kein Zweifel besteht, wurde in der Dezember-Ausgabe 1942 geworben. In einem weiteren Beitrag zum Thema „Die deutschen Volksgruppen und die Juden“ war zu lesen, „das Volksdeutschtum“ werde „auch in Zukunft den Kampf gegen das Judentum mit aller Kraft fortsetzen“ (Nation und Staat, Juni/Juli 1943, S. 269). Explizit an dieses antisemitische Organ knüpfte ab 1961 eine Zeitschrift mit dem Titel „Europa Ethnica“ an. Nation und Staat war 1944 im 17. Jahrgang eingestellt worden; Europa Ethnica setzte diese Zählung mit dem 18. Jahrgang fort. Herausgegeben von Guy Héraud (Strasbourg/Frankreich), Johann W. Mannhardt (Marburg/Lahn), Povl Skadegård (Rolighed/Dänemark) sowie Theodor Veiter (Feldkirch und Wien/Österreich), verbreitete „Europa Ethnica“ die „offiziellen Mitteilungen der ‚Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen‘“ und wies – abgesehen von den offen antisemitischen Äußerungen des Vorgängerorgans – inhaltlich weitgehende Übereinstimmungen mit diesem auf.
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„Minderheiten“ oder „Volksgruppen“? Die Terminologie verweist immer auch auf tiefer liegende ideologische Fragen. So wurde der 1922 gegründete „Ausschuß der europäischen deutschen Minderheiten“, welcher später die Zeitschrift Nation und Staat herausgab, 1930 in „Verband der deutschen Volksgruppen in Europa“ umbenannt. Ein Theoretiker der nationalsozialistischen „Volkstumspolitik“ grenzte 1937 die Begriffe folgendermaßen voneinander ab: „Während im Mittelpunkt des Minderheitenrechts das Individuum und der Schutz seiner geheiligten und unveräußerlichen Rechte steht, dreht sich das nationalsozialistische Denken ausschließlich um die Volksgemeinschaft und begreift das Individuum nur als Glied einer solchen. Während das Minderheitenrecht in liberal-demokratischer Weise befangen einen Ausgleich gegenüber der Mehrheit schaffen will, geht der Nationalsozialismus von dem ursprünglichen Tatbestand, dem Volke, aus und erkennt die organische Gleichberechtigung aller Völker an. Er spricht nicht mehr von Minderheiten, sondern von Volksgruppen.“ (Klauss 1937, S. 5) Wie noch zu zeigen sein wird, vollzog sich in Österreich ab Mitte der 1970er-Jahre eine terminologische Wende in dem Sinne, dass dem Minderheitenbegriff eine Absage erteilt wurde und der Volksgruppenbegriff eine Renaissance erlebte. Einer der einflussreichsten Protagonisten der Volksgruppenpolitik, wenn nicht sogar der einflussreichste überhaupt, war Theodor Veiter. Prof. Dr. Theodor Veiter2 als Volkstumstheoretiker Einer der Herausgeber von Europa Ethnica, Theodor Veiter, fungierte ab 1960 – trotz der von ihm in den 30er-Jahren vertretenen antisemitischen Positionen – sowohl in NGOs als auch in Regierungsorganisationen als Politikberater in Sachen Volksgruppenrecht: u.a. im „Bund der Vertriebenen“ (BdV), in der „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV), als Gründungsmitglied des „Internationalen Instituts für Nationalitätenrecht und Regionalismus“ (INTEREG), als Vizepräsident der „Association Internationale pour la Défense des Langues et Cultures Menacées“ (A.I.D.L.C.M.) oder als Mitglied der „Studienkommission für Probleme der slowenischen Volksgruppe in Kärnten“ beim Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz. 2
Veiter (1907-1994) studierte in seiner Geburtsstadt München sowie in Grenoble und Wien Rechtswissenschaft, promovierte in Wien und war bis März 1938 als Assistent an der dortigen Universität bei Prof. Karl Gottfried Hugelmann beschäftigt. Honorarprofessuren hatte er ab 1966 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Königstein/Ts. und ab 1976 an der Universität Innsbruck (Lehrstuhl: Allgemeine Staatslehre, Flüchtlings- und Volksgruppenrecht) inne (vgl. Veiter 1977; Habel 1993).
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1977 wurde nach Beratungen mit der FUEV-Spitze das INTEREG gegründet. Entgegen der Behauptung, als private Einrichtung wirken zu wollen, wurde es vom Freistaat Bayern getragen. Institutspublikationen von Theodor Veiter (1977) oder Felix Ermacora (1978) gab die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit heraus (vgl. Veiter 1977; Ermacora 1978; Veiter 1984a; Gerdes 1985, S. 84 f.; Goldendach/Minow 1999, S. 84). Vom 16. bis 18. Mai 1985 fand die „Wiedergründung des Europäischen Nationalitätenkongresses“ (Europa Ethnica 1/1985, S. 65) statt, initiiert und einberufen von der FUEV und der A.I.D.L.C.M. sowie vom INTEREG. „Zu Beginn des Kongresses sprach Professor Dr. Theodor Veiter, der in allen drei einladenden Organisationen eine führende Position innehat“, berichtete Europa Ethnica (1/1985, S. 67). Ethnos statt Demos Die volkstumspolitischen und -rechtlichen Positionen von Theodor Veiter sollen im Folgenden vorgestellt werden, weil er einer der prominentesten Volkstumstheoretiker des 20. Jahrhunderts war und selbst in einer antirassistischen österreichischen Zeitschrift von Marjan Pipp (1998) als „anerkannte(r) Völkerrechtler“ positiv rezipiert wurde. In den Veröffentlichungen von Veiter (1967, 1977, 1979 und 1984a) bilden Frankreich und Deutschland das zentrale Gegensatzpaar. Die Französische Revolution und insbesondere der Jakobinismus beförderten laut Veiter einen engstirnigen Nationalismus, während die geistesgeschichtlichen Strömungen in Deutschland – allen voran die deutsche Romantik – dem Nationalstaatsgedanken eine Absage erteilten. In der französischen Tradition sei fortwährend versucht worden, eine Identität zwischen Nation und Staat herzustellen, wobei man dem Staat das Primat zugewiesen habe. Demgegenüber werde die Nation in der deutschen Tradition naturrechtlich durch präpositive Rechtsgrundsätze begründet und rangiere über dem Staat, sodass zwischen Nation und Staat ein dauerhaftes Spannungsverhältnis bestehe. Der französischen Willens- als Staatsnation stehe die große deutsche Kulturgemeinschaft gegenüber. Besonders in der deutschen Romantik sei die individualistische und mechanistische Volkstumsauffassung des Nachbarlandes zugunsten der organischen Volksbegriffstheorie, wie sie u.a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel und Adam Müller verträten, kritisiert worden. Das Volk („ethnos“) begreift Veiter als „ens sociale“, d.h. als natürliche Gemeinschaft, die eine gemeinsame Abstammung aufweise und sich von anderen natürlichen Gemeinschaften durch kulturelle und geistige, meist sprachliche Eigenartung und ein entsprechendes Bewusstsein unterscheide. Für den Innsbru-
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cker Hochschullehrer war das Volk „zeitewig“. Seinen volksgruppenrechtlichen Forderungen liegt die prinzipielle Absage an eine Konzeption des Volkes im Sinne von „demos“ und eine Parteinahme für Volk im Sinne von „ethnos“ zugrunde (vgl. Hentges/Reißlandt 2001; Salzborn 2005, S. 98 ff.). Begrifflich unterscheidet Veiter zwischen Minderheiten, nationalen Minderheiten und Volksgruppen. Der Minderheitenbegriff sei negativ konnotiert, denn darin schwinge etwas Minderberechtigtes, Minderwertiges und rein Mechanisches mit. Minderheiten seien lediglich Zahlenminderheiten. Unter den Begriff „nationale Minderheiten“ subsumiert Veiter Zuwanderungsminoritäten ohne ausgegliedertes Gesellschaftsgefüge, die folglich nicht notwendig ethnische Substanz aufwiesen. Seine rechtstheoretischen Ausführungen gelten der Volksgruppe, die Veiter (1977, S. 165) folgendermaßen definiert: „Volksgruppe ist eine erlebte und gelebte Gemeinschaft, gekennzeichnet durch das Leben im Verbande, durch eine Heimat, nämlich die Heimat der Gruppenangehörigen, das Eingebundensein in die Geschlechterfolge, dies als Volk oder Teil eines Volkes, die als ethnos (ethnische Schicksalsgruppe) in einem nicht von ihr allein beherrschten Staat oder Gliedstaat sich zur Selbstbehauptung gegenüber einer zahlenmäßigen oder wirkungsmächtigen anders-ethnischen Mehrheit gezwungen sieht, wenn sie nicht eingeengt werden oder untergehen will.“ Volksgruppen seien mit Persönlichkeitsrechten ausgestattete Gruppen der obersten Kategorie, die im Schöpfungsplan Gottes einen der tragenden Pfeiler menschlicher Gemeinschaft darstellten. Die geistige Zielsetzungsgemeinschaft sei nicht materialistisch im Sinne einer Rassenlehre zu verstehen; geistige Komponenten, etwa Sprache, Religion, bejahte gemeinsame Geschichte und „rassische Differenzierung“, gehörten vielmehr dazu.
Individual- oder Gruppenschutz? Die von Veiter zum Individual- und Gruppenschutz angestellten Überlegungen seien kurz resümiert: Zum Schutz der (nationalen) Minderheiten – besser: Angehöriger solcher Minderheiten – reichten Individual-, also letztlich Menschenrechte, vollkommen aus. Sie stellten sicher, dass die betreffenden Individuen nicht aufgrund ihrer „Rasse“ (Anführungszeichen von mir, G.H.), Religion oder Sprache diskriminiert würden. Das Manko des Individualschutzes bestehe jedoch darin, dass die Volksgruppe nicht vor „Umvolkung“ (Anführungszeichen von mir, G.H.), Assimilierung und dem Erlöschen als Minderheit bewahrt werde. Dies könne nur durch gruppenrechtliche Maßnahmen geschehen. Ein Gruppenrecht erachte die Volksgruppe als solche, nicht nur die Individuen, als schützenswert. Aus dieser Zielbestimmung leitete Veiter konkrete Maßnahmen, etwa
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die Förderung bzw. den Erhalt der Sprache, der Kultur und der geistigen Besonderheit, ab. Volksgruppen seien als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu betrachten. Sie sollten über ein Verbandsklagerecht verfügen, und der jeweilige Staat müsse dazu verpflichtet werden, für ihren Fortbestand Sorge zu tragen. Die Unterscheidung zwischen den individual- und gruppenrechtlichen Formen des Minderheitenschutzes korrespondiert mit der Differenzierung zwischen einem „duldenden“ und einem „fördernden Nationalitätenrecht“.3 Veiter erachtete Letzteres als die einzig mögliche Form des Volksgruppenrechts. Ein so verstandenes Nationalitätenrecht gehe einher mit einem ethnischen Föderalismus über Staatsgrenzen hinweg, einem „Europa der Völker“ (Guy Héraud), und erfordere auf europäischer Ebene z.B. einen „Ombudsmann für Minderheitenschutz“ (Felix Ermacora). Aufgrund dieser völkischen Ideologie und seiner Konzeption der sog. Volksgruppe gelangte Veiter zu dem Schluss, dass nur ein gruppenrechtliches Schutzsystem dem Volksgruppenrecht entspreche. Bezogen auf das österreichische Rechtssystem konstatierte er, der (noch zu behandelnde) Staatsgrundsatz aus dem Jahre 1867, in dem von (laut Veiter mit „Volksgruppen“ zu übersetzenden) „Volksstämmen“ die Rede ist, genüge den gruppenrechtlichen Anforderungen, die mit den Alliierten geschlossenen Verträge von Saint-Germain (1919) und der Staatsvertrag aus dem Jahre 1955 sähen jedoch lediglich individualrechtliche Maßnahmen vor. Im Gegensatz dazu beinhalte das 1976 beschlossene Volksgruppengesetz neben Elementen des Individual- auch solche des Gruppenrechts.
Volksstämme, Minderheiten und Volksgruppen im österreichischen Recht Die Verfassung, welche sich Österreich im Jahre 1867 gab, ging von der Prämisse aus, dass auf dem Staatsgebiet verschiedene „Volksstämme“ lebten, und schrieb im Art. 19 deren Gleichberechtigung fest: „1. Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. 2. Die Gleichbe3
Sie geht auf den NS-Volkstumsforscher Dr. Heinz Kloss zurück, der 1940 Chef der Abteilung für Volksforschung und von 1941 bis zum Kriegsende Leiter der Publikationsstelle Stuttgart/Hamburg (Nachrichtenstelle und Archiv für Zeitdokumentation) war (vgl. Fahlbusch 1999, S. 446 f., S. 728 f. und S. 731 ff.). 1941 veröffentlichte Kloss „Das Volksgruppenrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika“. Veiter übernahm in seinen Publikationen (1969, S. 69; 1977, S. 140 ff.) die von Kloss entwickelte und in „Nation und Staat“ (vgl. Kubiak 1941, S. 129) gelobte Unterscheidung zwischen förderndem und duldendem Nationalitätenrecht. Während der 60er-Jahre unterhielt Kloss (1965) eine „Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachenfragen“ in Marburg.
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rechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. 3. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet werden, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.“ (Staatsgrundsatz 1867) Ein von Prof. Dr. Karl Gottfried Hugelmann im Jahre 1934 herausgegebenes Standardwerk, das u.a. auch einen Beitrag seines damaligen Assistenten Theodor Veiter enthält, trägt den Titel „Das Nationalitätenrecht des alten Österreich“ (vgl. Buchanzeigen in: Nation und Staat 7/1934 sowie 11-12/1937).4 Veiter setzte die von Hugelmann begründete Interpretation des Art. 19 Staatsgrundsatz fort und vertrat den Standpunkt, dass es sich bei dem altösterreichischen Nationalitätenrecht, welches die Gleichberechtigung aller „Volksstämme“ sowie die Wahrung und Pflege von deren Nationalität und Sprache garantierte, um ein vorbildliches Recht handle, da mit ihm gruppenrechtliche Maßnahmen festgeschrieben seien. Mit seiner Position, dass Art. 19 im damaligen österreichischen Rechtssystem immer noch Gültigkeit habe, vertrat Veiter (1971, S. 2; 1979, S. 29 ff.; vgl. zur Frage der Weitergeltung des Art. 19: Okresek 1997, S. 99) zwar innerhalb der Fachwissenschaft eine aus verschiedenen Gründen zweifelhafte Position; auf eine umso größere Resonanz stieß seine Interpretation allerdings bei den Protagonisten eines Gruppenrechts, die sich wiederholt auf den Volkstumstheoretiker bezogen, um ihrer Forderung nach Aufnahme gruppenrechtlicher Schutzbestimmungen in die Gesetzgebung mehr Gewicht zu verleihen.5 Im September 1919 hatten die alliierten Siegermächte mit Österreich einen Friedensvertrag geschlossen. Das in Saint-Germain-en-Laye unterzeichnete Ab4
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Der Professor für Rechts- und Staatswissenschaften, welcher seine wissenschaftliche und politische Arbeit in den Dienst des NS-Staates stellte, lehrte an den Universitäten Wien, Münster und Göttingen. Bereits 1932 begründete Hugelmann – ein „fanatischer Anschlußanhänger“ (Veiter 1984b, S. 259) – juristisch den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Volksgemeinschaft (vgl. Fahlbusch 1999, S. 78). Auftraggeber des von Hugelmann herausgegebenen Sammelwerkes war die von Max Hildebert Boehm geleitete, in Berlin-Steglitz ansässige „Deutsche Gesellschaft für Nationalitätenrecht“ (vgl. Veiter 1984b, S. 209). Seinen 1934 in Nation und Staat veröffentlichten Beitrag schloss Hugelmann (1934, S. 291) mit der Bemerkung: „(E)s wird eine besonders dankbare Aufgabe sein, zu untersuchen, welche Möglichkeiten eines Volksgruppenrechtes sich im Rahmen von Staaten ergeben, in denen das Führerprinzip der beherrschende Gedanke der Verfassung ist.“ Im Zusammenhang mit der verfassungsmäßigen Verankerung der Staatszielbestimmung „Volksgruppenschutz“ unterbreitete das Bundeskanzleramt im April 2000 den Vorschlag, den noch aus dem 1867er-Staatsgrundsatz stammenden Art. 19 zu eliminieren. Mehrere Volksgruppenorganisationen und Teresija Stoisits protestierten vehement, woraufhin man diesen Plan aufgab (vgl. News-Service v. 24.5.2000).
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kommen sah neben Gebietsabtretungen auch die Eigenständigkeit von Ungarn, der Tschechoslowakei, von Polen sowie Jugoslawien vor und regelte Österreichs Umgang mit jenen Staatsangehörigen, „die einer Minderheit nach Rasse, Religion oder Sprache angehören“ (Staatsvertrag von Saint-Germain 1919, Art. 67). Gemäß der Vereinbarungen des Staatsvertrages garantierte die Regierung, dass keinem österreichischen Staatsangehörigen im freien Gebrauch irgendeiner Sprache Beschränkungen auferlegt würden. Trotz der Einführung einer Staatssprache seien nicht Deutsch sprechenden österreichischen Staatsangehörigen Erleichterungen beim Gebrauch ihrer Sprache vor Gericht zu gewährleisten (Art. 66). Österreichischen Staatsangehörigen, „die einer Minderheit nach Rasse, Religion oder Sprache angehören“, wurden laut Art. 67 Staatsvertrag dieselbe Behandlung und Garantien zugesichert; „insbesondere haben sie dasselbe Recht, auf ihre eigenen Kosten Wohltätigkeits-, religiöse oder soziale Einrichtungen, Schulen und andere Erziehungsanstalten zu errichten, zu verwalten und zu beaufsichtigen mit der Berechtigung, in denselben ihre eigenen Sprachen nach Belieben zu gebrauchen und ihre Religion frei zu üben.“ Die österreichische Regierung verpflichtete sich dazu, „in den Städten und Bezirken, wo eine verhältnismäßig beträchtliche Zahl anderssprachiger als deutscher österreichischer Staatsangehöriger wohnt, angemessene Erleichterungen (zu, G.H.) gewähren, um sicherzustellen, daß in den Volksschulen den Kindern dieser österreichischen Staatsangehörigen der Unterricht in ihrer eigenen Sprache erteilt werde.“ (Art. 68) Ungeachtet dessen sollte der Unterricht der deutschen Sprache verpflichtend sein (vgl. ebd.). In Städten und Bezirken, wo eine relativ hohe Zahl anderssprachiger Staatsbürger wohnte, werde den Minderheiten „von allen Beträgen, die etwa für Erziehung, Religions- oder Wohltätigkeitszwecke aus öffentlichen Mitteln in Staats-, Gemeinde- oder anderen Budgets ausgeworfen werden, ein angemessener Teil zu Nutzen und Verwendung gesichert“. Waren die Minderheitenschutzbestimmungen des Jahres 1867 in erster Linie gruppenrechtlich ausgerichtet, so fanden sich im Friedensvertrag von SaintGermain aus dem Jahre 1919 nur individualrechtliche Bestimmungen. Deutlich wird die unterschiedliche Ausrichtung der Vertragswerke vor allem daran, dass der Art. 19 aus dem Jahre 1867 von „Volksstämmen“ sprach und diese als Träger des Rechts fungierten, während die Regelungen nach dem Ersten Weltkrieg jenen Staatsbürger(inne)n galten, „die einer Minderheit nach Rasse, Religion oder Sprache angehören“. Nunmehr waren Individuen und nicht etwa Gruppen oder Kollektive Rechtsträger/innen. Fortgesetzt wurde die Abkehr vom gruppen- und die Hinwendung zum individualrechtlichen Minderheitenschutz auch im Staatsvertrag von Wien, den
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Österreich im Mai 1955 mit den Alliierten schloss.6 „Österreichische Staatsangehörige der slowenischen und kroatischen Minderheiten in (den Bundesländern, G.H.) Kärnten, Burgenland und Steiermark“, so lautet Art. 7 des betreffenden Vertrages, „genießen dieselben Rechte auf Grund gleicher Bedingungen wie alle anderen österreichischen Staatsangehörigen einschließlich des Rechtes auf ihre eigenen Organisationen, Versammlungen und Presse in ihrer eigenen Sprache.“ (Der Österreichische Staatsvertrag von 1955, dok. in: Stourzh 1998, S. 689) Den Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe wird der „Anspruch auf Elementarunterricht in slowenischer oder kroatischer Sprache“ zugestanden sowie eine „verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen“ (ebd., S. 689 f.). Weiter heißt es: „In den Verwaltungs- und Gerichtsbezirken Kärntens, des Burgenlandes und der Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder gemischter Bevölkerung wird die slowenische oder kroatische Sprache zusätzlich zum Deutschen als Amtssprache zugelassen. In solchen Bezirken werden die Bezeichnungen und Aufschriften topographischer Natur sowohl in slowenischer oder kroatischer Sprache wie in Deutsch verfaßt.“ (ebd., S. 690) Verboten sind laut Staatsvertrag alle Tätigkeiten von Organisationen, die der kroatischen oder slowenischen Bevölkerung ihre Eigenschaft und ihre Rechte als Minderheit zu nehmen bezwecken. Theodor Veiter, dessen Positionen oben vorgestellt wurden, kritisierte den Staatsvertrag von 1955 dahingehend, dass dieser „nur die ‚slowenischen und kroatischen Minderheiten‘ als Schutzobjekt“ (Veiter 1979, S. 12) kenne, damit noch hinter dem Friedensvertrag von Saint-Germain zurückbleibe und „auch hier wiederum vorwiegend, vielleicht sogar ausschließlich nur einen Individualschutz“ vorsehe, also nicht auf die „Erhaltung der ethnischen Gruppe“ als solche abziele. Deutlich wird an diesen Äußerungen, aus welcher Perspektive der Volkstumspolitiker Theodor Veiter die völkerrechtlichen Verträge kritisierte: Als vehementer Verfechter der Gruppenrechte bezog er sich positiv auf die aus der Verfassung des Habsburgerreiches stammende Verpflichtung zum Schutz bzw. zur Förderung der „Volksstämme“ und bemängelte an den mit den Alliierten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen (aus den Jahren 1919 und 1955) die vorwiegend individualrechtliche Ausrichtung der Minderheitenschutzbestimmungen. Die vom österreichischen Bundeskanzler eingerichtete „Studienkommission für Probleme der slowenischen Volksgruppe in Kärnten“, welche bis zum Sommer 1975 tagte, wurde von Veiter ausdrücklich erwähnt, denn – so seine Einschätzung – der Name dieser Kommission, in dem der Begriff „Volksgruppe“ 6
Gerald Stourzh rekonstruiert in seiner Monografie „Um Einheit und Freiheit“ die Entstehung des Minderheitenschutzartikels im Staatsvertrag von 1955. Die Verhandlungen darüber fanden zwischen dem 17. und 24. August 1949 statt; Verhandlungsführer waren die Sonderbeauftragten der Alliierten. „De facto ist der von den Sonderbeauftragten im August 1949 vereinbarte Text im Mai 1955 mit nur einer ganz geringfügigen Änderung als Art. 7 in den endgültigen Text des Staatsvertrags übernommen worden“, lautet das Resümee von Stourzh (1998, S. 160 f.).
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vorkomme, mache deutlich, „daß Österreich den Weg von der bloßen ‚Minderheit‘ (...) hin zur Volksgruppe beschreiten wollte“ (Veiter 1979, S. 13). Schließlich sprach Veiter (ebd.) von einer „Wende zugunsten eines modernen Volksgruppenrechts“. Im Juli 1976 trat das sog. Volksgruppengesetz in Kraft, welches festschrieb, dass die Volksgruppen in Österreich und ihre Angehörigen den Schutz der Gesetze genießen: „Die Erhaltung der Volksgruppen und die Sicherung ihres Bestandes sind gewährleistet. Ihre Sprache und ihr Volkstum sind zu achten.“ (Bundesgesetz vom 7. Juli 1976 über die Rechtsstellung von Volksgruppen in Österreich, § 1 Abs. 1) Volksgruppen wurden als „in Teilen des Bundesgebietes wohnhafte und beheimatete Gruppen österreichischer Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache und eigenem Volkstum“ (§ 1 Abs. 2) definiert. Durch Verordnung der Bundesregierung und im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates waren nach Anhörung der betreffenden Landesregierungen folgende Vereinbarungen zu treffen: Erstens musste festgelegt werden, für welche Volksgruppen ein Volksgruppenbeirat einzurichten ist; zweitens waren jene Gebietsteile festzuschreiben, in denen man wegen des relativ hohen Anteils von Volksgruppenangehörigen (mindestens 25 Prozent) zweisprachige Ortsschilder anbringen musste; drittens sollte vereinbart werden, bei welchen Behörden und Dienststellen die Verwendung der Sprache einer Volksgruppe zugelassen war (vgl. § 2 Abs. 1). Aufgaben und Funktion der Volksgruppenbeiräte bestanden laut 1976erGesetz darin, Bundesregierung, -minister und ggf. auch Landesregierungen in Volksgruppenangelegenheiten zu beraten. Die Bundesregierung bestellte die Mitglieder der Volksgruppenbeiräte nach vorheriger Anhörung der in Betracht kommenden Landesregierungen für die Dauer von vier Jahren (vgl. § 4 Abs. 1). Volksgruppenbeiräte sollten das „kulturelle, soziale und wirtschaftliche Gesamtinteresse der Volksgruppen (...) wahren und (...) vertreten“ (§ 3 Abs. 1) sowie „die in der betreffenden Volksgruppe wesentlichen politischen und weltanschaulichen Meinungen entsprechend“ repräsentieren (vgl. § 4 Abs. 1). Laut Gesetz war der Bund seither dazu verpflichtet, „Maßnahmen und Vorhaben“ zu fördern, „die der Erhaltung und Sicherung des Bestandes der Volksgruppen, ihres Volkstums sowie ihrer Eigenschaften und Rechte dienen“ (§ 8 Abs. 1). Es stellt sich die Frage, ob das Volksgruppengesetz – vergleichbar mit den völkerrechtlichen Bestimmungen der Verträge von Saint-Germain und Wien – ausschließlich individual- oder auch kollektivrechtliche Elemente enthält. Zahlreiche Indizien sprechen für die These, dass kollektivrechtliche Elemente in das Gesetz Eingang gefunden haben. Schon die Tatsache, dass es als Volksgruppenund nicht als Minderheitengesetz firmiert, verweist auf eine Trendwende – nicht nur in der Terminologie, sondern auch in der ideologischen Konzeption. „Die
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Änderungen im Bereich der ethnischen Grundrechte, die seit 1945 in Österreich erfolgt sind, werden schon durch die Änderung der Begriffe deutlich“, konstatierte ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes: „Bezeichnete (...) die österreichische Rechtsordnung (nach 1945, G.H.) die ethnischen Gruppen noch als ‚Minderheiten‘, zumeist mit den Adjektiven ‚sprachlich‘ oder ‚national‘, so hat der Bundesgesetzgeber 1976 mit dem Volksgruppengesetz den Begriff der ‚Volksgruppe‘ festgelegt.“ (Tichy 1994, S. 240) Kollektivrechtliche Elemente finden sich ferner in jenen Passagen des 1976er-Volksgruppengesetzes, wo die „Erhaltung der Volksgruppen“ und die „Sicherung ihres Bestandes“ als gesetzlicher Auftrag formuliert werden. Es geht demnach nicht lediglich darum, die Angehörigen der sog. Volksgruppen, d.h. die Individuen, vor Diskriminierung zu schützen, sondern um die Sicherung der Fortexistenz einer als homogen konstruierten Gruppe, d.h. eines Kollektivs. Das Gesetz geht von der Prämisse aus, dass die entsprechenden Gruppen nicht nur über eine eigene Sprache, sondern auch über ein eigenes „Volkstum“ verfügen. Auch der Rekurs auf das „Volkstum“ als konstitutives Element einer Minderheit bzw. Volksgruppe entspringt nicht einer individual-, vielmehr einer kollektivrechtlichen Tradition. Es ist also festzuhalten, dass sich in Österreich – unter maßgeblichem Einfluss von Volkstumstheoretikern wie Theodor Veiter und Felix Ermacora – der Begriff „Volksgruppe“, das Volksgruppengesetz und Elemente eines kollektivrechtlichen Minderheitenschutzes durchsetzen konnten. Theodor Veiter (1979, S. 30) postulierte die Identität zwischen Volksstämmen und -gruppen: „Daß ‚Volksstämme‘ mit den im alten Österreich häufig so bezeichneten ‚Nationalitäten‘ und damit mit den ‚Volksgruppen‘ nach heutigem Sprachgebrauch identisch sind, wird (...) nicht bezweifelt werden können.“ Als zentral erachtete der Politikberater in Sachen „Volksgruppen“ die Tatsache, dass durch das Volksgruppengesetz die „irrige, mechanistische Auffassung des VerfGH (...) überholt ist, der nur noch von der Existenz von (Zahlen-)Minderheiten spricht“ (Veiter 1979, S. 30). Demnach behauptete Theodor Veiter inhaltliche Kontinuitäten und Affinitäten zwischen dem 1867er-Staatsgrundsatz und dem 1976er-Volksgruppengesetz. Gemeinsam sei beiden Rechtssystemen, dass dem Staat die Aufgabe zukomme, „Volksstämme“ bzw. „-gruppen“ – also Kollektive als solche – zu erhalten und der Schutz nicht nur einzelnen, isoliert betrachteten Angehörigen der Volksgruppen gelte (vgl. ebd., S. 26). Volksgruppenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Anfang der 1990er-Jahre erlangte die Volksgruppenpolitik in Österreich eine neue Dynamik: Wenige Wochen, nachdem sich Slowenien als souveräner Staat konstituiert hatte, wandte sich der damalige Außenminister Dr. Alois Mock an die
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neue Regierung und meldete einen Vertretungsanspruch für jene dort lebenden „Altösterreicher deutscher Sprachzugehörigkeit“ an, die FPÖ-Politiker/innen auch gern als „Altgottscheer“ und „Deutsch-Untersteirer“ bezeichnen (vgl. Drs. 2766/J). Die slowenische und die österreichische Regierung vereinbarten, Historikerkommissionen zur Erforschung der Geschichte und aktuellen Lebenssituation der jeweiligen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet, d.h. der sog. Altösterreicher in Slowenien und der Slowenen in Österreich, einzurichten. Prof. Dr. Dušan Neak (Universität Ljubljana/Laibach) und Prof. Dr. Stephan Karner (Universität Graz, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung Graz/Wien) untersuchten die Geschichte der deutschsprachigen Volksgruppe in Slowenien von 1939 bis zur Gegenwart (vgl. Karner 2000). Zur Situation der slowenischen Volksgruppe in Österreich arbeiteten Prof. Dr. Horst Hasselsteiner und Prof. Dr. Arnold Suppan vom Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut (vgl. folgende Anfragen an die Ministerien und Anfragebeantwortungen zum Thema österreichisch-slowenische Historikerkommissionen: 377/AB, 527/AB, 2343/AB, 2752/AB). In zahlreichen mündlichen und schriftlichen Anfragen sowie Debatten im National- und Bundesrat forderten vor allem FPÖ-Politiker/innen wiederholt, dass die Förderung der Volksgruppen nicht an den österreichischen Grenzen Halt machen dürfe, und behaupteten, dass die in Slowenien lebenden „Altgottscheer“ und „Deutsch-Untersteirer“ bereits seit 1991 auf ihre Anerkennung als Volksgruppe warteten. „Werden Sie dafür sorgen“, fragte der damalige Bundesrat und FPÖ-Politiker Dr. Peter Harring seinen Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten und Vizekanzler Dr. Wolfgang Schüssel (ÖVP), „daß es spätestens im Zuge eines allfälligen EU-Beitritts Sloweniens zur Anerkennung der Altösterreicher deutscher Muttersprache als Volksgruppe kommt sowie die Rechte der Vertriebenen gewährleistet werden?“ (Bundesrat, 12.2.1998) Schüssel versicherte, dass er das Thema bereits mehrfach in Slowenien angesprochen und die Außenminister Zoran Thaler und Davorin Kracun „auch massiv mit den ganz konkreten Wünschen“ (ebd.) vertraut gemacht habe. Ein weiterer Anlass für die erneute Dynamik der Debatte über Volksgruppenrechte und insbesondere für die Forderung nach einer Verankerung des Volksgruppenschutzes als Staatsziel war nach Aussage der grünen Nationalratsabgeordneten Teresija Stoisits die Ermordung von vier Roma mittels einer Rohrbombe in Oberwart (Burgenland) im Februar 1995. Seither wurde die Volksgruppenpolitik wiederholt im Parlament thematisiert: Der österreichische Nationalrat debattierte im Januar 1996 über einen von der Bundesregierung vorgelegten Bericht zur Volksgruppenförderung 1993/94; im April desselben Jahres wurde der von Dr. Harald Ofner (FPÖ) und Genossen eingebrachte Entschließungsantrag betreffend die besondere Förderung der Volksgruppen im „Millenniums-
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jahr“ vom Nationalrat verhandelt; im Februar 1997 fand im Nationalrat die Debatte über den Bericht der Bundesregierung zur Volksgruppenförderung 1995 statt; im Juni schließlich wurde das „Memorandum der österreichischen Volksgruppen an die Österreichische Bundesregierung und den Nationalrat“ (1997) veröffentlicht.
Das Memorandum der österreichischen Volksgruppen Das Memorandum sollte die Weichen für den weiteren Verlauf der volksgruppenpolitischen und -rechtlichen Diskussionen – besonders im Hinblick auf die Staatszielbestimmung „Volksgruppenschutz“ – stellen, denn die verfassungsmäßige Verankerung des Bekenntnisses der Republik Österreich zu ihrer ethnischen Vielfalt war eine der zentralen Forderungen. „Eine pluralistische und wahrhaft demokratische Gesellschaft“, so konstatierte das Memorandum, „achtet nicht nur auf die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität aller Angehörigen einer nationalen Minderheit, sondern schafft auch Bedingungen, die es ihnen ermöglichen, ihre Identität zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und zu entwickeln.“ Man unternahm keinen Versuch, den Begriff „Volksgruppen“ in einer anderen Weise zu definieren und auf die neuen Minderheiten (Arbeitsmigranten und Flüchtlinge) auszuweiten, sondern orientierte sich an der Begriffsbestimmung, die im österreichischen Recht enthalten war. „Um das Ziel der Erhaltung ethnischer Minderheiten zu gewährleisten“, so die Argumentation des Papiers, reiche eine bloße rechtliche Gleichstellung mit den Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung nicht aus, da auf diese Weise die faktische Ungleichheit zwischen Mehrheit und Minderheit nicht kompensiert werden könne. Vielmehr forderte das Memorandum zusätzliche Rechte für die Angehörigen der Volksgruppen. Bezüglich der Kontroverse um kollektiv- oder individualrechtlichen Schutz trat das Memorandum für den Letzteren ein. Eine Forderung nach einem Volksgruppenmandat in öffentlich-rechtlichen Körperschaften sowie der öffentlichrechtlichen Vertretung (Ethnokammer) wurde nicht erhoben, denn eine solche Forderung stünde, so der Hinweis der Kommission, in Widerspruch zur individualrechtlichen Konzeption des Volksgruppenschutzes. Man hatte auch die Frage des Verbandsklagerechtes diskutiert und stellte fest: Da sich „die Kommission für die Annahme der Staatszielbestimmung und das damit einhergehende individualrechtliche Minderheitenschutzkonzept“ ausspreche, werde „die Forderung nach einem Verbandsklagerecht nicht weiter verfolgt“. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes diente der Kommission als Vorbild für eine Festschreibung der Staatszielbestimmung. Diese solle ein „Bekenntnis zur spezi-
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fischen österreichischen Identität“ ablegen, „die ihre Wurzeln auch in der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie hat“. Im November 1998 brachte die Abgeordnete Teresija Stoisits (Die Grünen) einen Entschließungsantrag zur rechtlichen Umsetzung des Memorandums der österreichischen Volksgruppen ein (vgl. Drs. 11/AE), der die Wiener Regierung u.a. dazu aufforderte, eine Staatszielbestimmung zum Minderheitenschutz in die Bundesverfassung aufzunehmen. Ihr Antrag wurde an den Verfassungsausschuss überwiesen.
Die ÖVP/FPÖ-Regierung und der Volksgruppenschutz als Staatszielbestimmung Angesichts der Tatsache, dass bereits seit 1997 verstärkt die Forderung nach einer verfassungsmäßigen Verankerung des Volksgruppenschutzes erhoben wurde, muss es auf den ersten Blick verwundern, dass die von den österreichischen Vertreter(inne)n anerkannter „Volksgruppen“ (Kroaten, Roma, Slowaken, Slowenen, Tschechen und Ungarn) erhobene Forderung ausgerechnet kurz nach der Regierungsübernahme durch die ÖVP/FPÖ-Koalition verwirklicht wurde. Die FPÖ hatte sich jedoch in den vergangenen Jahren – sowohl in parlamentarischen Debatten und Initiativen wie auch in ihrem Parteiprogramm von 1997 – als Verfechterin eines österreichischen und europäischen (kollektivrechtlichen) Volksgruppenschutzes präsentiert. Ihre klare Parteinahme für den Volksgruppenschutz führte dazu, dass sie mit rassistischen und antisemitischen Parolen Wahlkampf betrieb oder Zeitschriften wie die Aula unterstützte, in denen geschichtsrevisionistische Positionen vertreten werden (vgl. Gärtner 1996; Anti-Semitism Worldwide 2001/2002; Bailer 2004).7 7
Als Ergebnis innerparteilicher Lagerkämpfe, die zwischen Jörg Haider und dem Kreis um Heinz-Christian Strache, Andreas Mölzer und Ewald Stadler ausgetragen wurden, verkündeten Haider und die FPÖ-Regierungsmitglieder am 4. April 2005 ihren Parteiaustritt und gaben die Gründung der neuen Partei „Bündnis Zukunft Österreich“ (BZÖ) bekannt. Innerparteiliche Flügelkämpfe und daraus resultierende Abspaltungstendenzen ließen sich bereits vorher feststellen: Einerseits war offensichtlich, dass sich unter dem Dach der FPÖ Vertreter/innen verschiedener – einander widersprechender – wirtschaftspolitischer Konzeptionen versammelt hatten, andererseits wurden diese ideologischen Differenzen durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ weiter verschärft. Kurt Richard Luther (2005, S. 20 f.) führt die Gründung des BZÖ darauf zurück, dass die FPÖ-internen Widersprüche zwischen der „stark marktorientierten Wirtschaftspolitik“ und einer Sozialpolitik, die vorgab, sich an den Interessen des „kleinen Mannes“ zu orientieren, nicht mehr zu überbrücken waren. In eine ähnliche Richtung weist die Einschätzung von Heribert Schiedel (2005, S. 27): „Damit ist nun auch in Österreich der parteiförmige Rechtsextremismus in eine neoliberale (postfordistische) und eine national-soziale (fordistische) Fraktion zerfallen.“ Diese Wiederspruchskonstellation durchzieht die einzelnen Parteien der extremen Rechten, teilt aber auch das rechtsextreme Lager in einen traditionellen
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Die Kehrseite des paternalistischen Protegierens der sog. autochthonen Volksgruppen bildete eine schroffe Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen und Migrant(inn)en. Antisemitische Töne klangen nicht nur in der von der FPÖ forcierten Kampagne gegen die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter/innen an (vgl. Der Standard v. 9.7.2000); mit der polemischen Aussage „Ich verstehe nicht, wie jemand, der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann“ (zit. nach: Der Standard v. 28.2.2001) nahm Jörg Haider Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien, ins Visier und eröffnete eine offen antisemitische Debatte, die auch den Wahlkampf 2002 prägte (vgl. Pelinka/Wodak 2002). Haiders antisemitische Rhetorik dominierten drei Klischees: erstens das Zerrbild vom „angeblichen Holocaust-Überlebenden“, der weder besser noch schlechter sei als ein Nazi, zweitens das Stereotyp des „ehrlichen Juden“, der die Wahrheit über „die Juden“ enthülle, und drittens als sein Pendant das des „verräterischen Österreichers“, der gemeinsam mit jüdischen Verbündeten im Ausland gegen seine Heimat vorgehe (vgl. Peri 2002). Wichtige Faktoren, die einen Allparteienkompromiss in der Frage des Staatsziels „Volksgruppenschutz“ ermöglichten oder beförderten, waren der Boykott Österreichs durch alle übrigen 14 EU-Staaten und das internationale Monitoring. Franjo Schruiff bemerkte, dass der Bundeskanzler den Minderheitenfragen eine weitaus größere Bedeutung einräumte als in den vorangegangenen Wahlperioden: „In der letzten Zeit hat Kanzler Schüssel es bei keiner Rede verabsäumt zu erklären, bei den Volksgruppen etwas machen zu wollen. Das war sonst nicht so bei ihm, obwohl er seit Jahren in der Regierung ist.“ Schruiff konkretisierte dies an Schüssels Rede auf einem Parteitag in Wien, seiner Rede zum Regierungsprogramm, seinem Beitrag zur Haushaltsdebatte und seiner Erklärung zum Antirassismustag (vgl. Eurolang v. 27.3.2000). Der Rechtfertigungsdruck und die internationale Beobachtung, unter der die ÖVP/FPÖ-Regierungskoalition stand, führten schließlich dazu, dass die Staatszielbestimmung „Volksgruppenschutz“ am 7. Juli 2000 im Nationalrat beschlossen wurde und drei Wochen später in Kraft trat. Der Wortlaut des in Art. 8 der österreichischen Verfassung eingefügten Absatzes entsprach – von kleineren Änderungen abgesehen – der Regierungsvorlage: „Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zu ihrer gewachsenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt, die in den autochthonen Volksgruppen zum Ausdruck kommt. Sprache und Kultur, Bestand und Erhaltung dieser Volksgruppen sind zu achten, zu sichern und zu fördern.“ (zit. nach: Parlamentskorrespondenz v. 20.6.2000) An der Formulierung der Staatszielbestimmung wird deutlich, dass staatliches Handeln nicht Angehörige von sprachlichen oder nationalen Minderheiten und in einen modernisierten Rechtsextremismus; Letzterer firmiert in der Literatur auch als „Standortnationalismus“ (vgl. Butterwegge 1999).
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gegen Diskriminierung verteidigen und schon gar nicht Flüchtlinge oder Migrant(inn)en vor rassistischen Überfällen schützen, sondern Kollektive erhalten soll. Autochthone Volksgruppen stehen künftig im Mittelpunkt der Minderheitenpolitik, und der Staat ist laut Verfassung dazu verpflichtet, Volksgruppen als „zeitewig“ (Theodor Veiter) zu konservieren. In Anlehnung an die Terminologie von Heinz Kloss ließe sich bilanzieren, dass die österreichische Verfassung nunmehr auf das fördernde und nicht nur duldende Nationalitätenrecht abhebt. Bemerkenswert war die traute Eintracht, in der sämtliche im Nationalrat vertretene Parteien – sowohl die an der Regierung beteiligten Parteien FPÖ und ÖVP als auch die Oppositionsparteien SPÖ, Grüne und Liberales Forum – der Verfassungsänderung zugestimmt haben.
Die Debatte über den Schutz der Volksgruppen im Österreich-Konvent Ausgelöst durch die Debatte über die Verschiebung der für 2003 geplanten Steuerreform verschärften sich die Flügelkämpfe innerhalb der FPÖ. Parteichefin und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer sowie Fraktionschef Peter Westenthaler traten von ihren Parteiämtern zurück, und Finanzminister Karl-Heinz Grasser wechselte zum Koalitionspartner ÖVP. Aufgrund der parteiinternen Streitigkeiten beschloss der damals amtierende Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, die Zusammenarbeit mit der FPÖ zu beenden (vgl. Bailer 2004, S. 171). Infolge des Zerbrechens der schwarz-blauen Regierungskoalition fanden am 24. November 2002 vorgezogene Neuwahlen zum Nationalrat statt. Die ÖVP ging daraus als deutliche Siegerin hervor, denn sie konnte ihren Stimmenanteil von ca. 27 Prozent (1999) auf ca. 42 Prozent (2002) steigern und errang 79 Sitze im Nationalrat. Die FPÖ hingegen musste eine Niederlage hinnehmen und erreichte – gemessen an der Nationalratswahl 1999 – nur noch ca. ein Drittel der Stimmen: Vereinigten die Freiheitlichen damals noch ca. 27 Prozent aller Stimmen auf sich, so fielen sie 2002 auf einen Stimmenanteil von ca. 10 Prozent zurück und zogen nur noch mit 18 Abgeordneten ins Parlament ein. Obgleich die beiden Oppositionsparteien SPÖ und Die Grünen einen Stimmenzuwachs verzeichneten (SPÖ: von 33 auf 36,5 Prozent; Die Grünen: von 7,4 auf ca. 9,5 Prozent), reichte es nicht für eine Regierungsbildung. Koalitionsverhandlungen der ÖVP mit den drei anderen Parteien führten im Februar 2003 zu einer Fortsetzung der schwarz-blauen Regierung. Dabei musste die FPÖ jedoch auf mehrere Ministerposten verzichten. Auf Initiative des ehemaligen Bundesrates Herwig Hösele und anknüpfend an Erfahrungen mit dem Europäischen Konvent und an den Konvent zur Zukunft Europas, der sich im März 2002 konstituierte, fasste der Nationalrat den Be-
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schluss zur Schaffung eines Österreich-Konvents, der eine grundlegende Staatsund Verfassungsreform vorbereiten sollte (vgl. Pollak/Slominski 2005; Hämmerle 2005). In diesem Kontext kam die Frage einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Volksgruppenschutzes erneut auf die Tagesordnung. Am 2. Mai 2003 – also kurz nach Bildung der neuen Regierung – wurde ein Gründungskomitee8 eingerichtet, welches die Zusammensetzung des Österreich-Konvents festlegen und dessen Aufgaben präzisieren sollte. Das Präsidium des Österreich-Konvents bestand aus sieben Mitgliedern: Als Vorsitzender des Präsidiums fungierte Dr. Franz Fiedler, als stellvertretende Vorsitzende wurden Dr. Peter Kostelka und Angela Orthner berufen; Mitglieder des Präsidiums waren ferner: Dr. Eva Glawischnig-Piesczek, Dr. Claudia Kahr, Dr. Andreas Khol und Herbert Scheibner. Folgende Institutionen bzw. Organisationen entsandten Vertreter/innen in den Österreich-Konvent: die Bundesregierung, die Höchstgerichte, die Volksanwaltschaft, der Rechnungshof, die Landtage, die Landesregierungen, der Städte- und Gemeindebund, die Sozialpartner und die o.g. Parteien. Anwesend waren ferner sog. Virilist(inn)en, „die als Experten für eine fachlich und sachlich ausgewogene Zusammensetzung des Konvents sorgen sollten.“ (Hämmerle 2005, S. 368) Der Österreich-Konvent umfasste folgende Ausschüsse: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Staatsaufgaben und Staatsziele Legistische Strukturfragen Staatliche Institutionen Grundrechtskatalog Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden Reform der Verwaltung Strukturen besonderer Verwaltungseinrichtungen Demokratische Kontrollen Rechtsschutz, Gerichtsbarkeit Finanzverfassung Gemeinsame Beratungsgruppe der Ausschüsse VI und VII
Der aus 70 Mitgliedern bestehende Konvent konstituierte sich am 30. Juni 2003 und beendete seine Tätigkeit am 31. Januar 2005. Neben den Vollversammlun8
Dieses setzte sich zusammen aus dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler, den drei Präsidenten des Nationalrates, dem Präsidenten des Bundesrates, den Vorsitzenden der im Nationalrat vertretenen politischen Parteien, dem Vorsitzenden der Landeshauptleutekonferenz, dem Vorsitzenden der Landtagspräsidenten, dem Präsidenten des Städtebundes und dem Präsidenten des Gemeindebundes.
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gen des Konvents tagten insgesamt zehn Ausschüsse, die Sachfragen arbeitsteilig diskutierten und Vorschläge für einen Verfassungsentwurf machten. Fragen des Volksgruppenschutzes wurden in den Ausschüssen I und IV thematisiert. Die insgesamt drei Hearings des Österreich-Konvents fanden am 21. November 2003, am 15. Dezember 2003 und am 26. Januar 2004 statt. Im Rahmen der ersten Anhörung erhielten Vertreter/innen gesellschaftlicher Organisationen und Interessenvertretungen – u.a. aus dem Bereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der Volksgruppen und der Menschenrechtsorganisationen – die Möglichkeit zur Stellungnahme und Positionsbestimmung. Im Unterschied zu anderen Vertreter(inne)n gesellschaftlicher Gruppen und Verbände hatten sich die christlichen Kirchen und die Vertreter der Volksgruppen zuvor inhaltlich abgestimmt und nutzten damit den Auftritt vor dem Konvent optimal (vgl. Hämmerle 2005, S. 374). Den Vertretern der Volksgruppen standen insgesamt 30 Minuten Redezeit zu. Martin Ivancsics, Sprecher der Konferenz der Beiratsvorsitzenden der Volksgruppenbeiräte, Vertreter der burgenländischen Kroaten und Menschenrechtskoordinator der dortigen Landesregierung, akzentuierte bei der Expertenanhörung, dass im Zuge der EU-Osterweiterung vier Sprachen der österreichischen Volksgruppen – Ungarisch, Slowenisch, Tschechisch und Slowakisch – zu Amtssprachen der EU geworden seien. Die autochthonen Volksgruppen verfügten somit über Sprachkompetenzen, die geeignet seien, neue Beziehungen zu knüpfen und (sprachliche) Hindernisse zu überwinden. „Ich wünsche uns allen, dass durch die Beratungen des Österreich-Konvents“, so Ivancsics’ Fazit, „unsere Volksgruppen auch wirklich jene Möglichkeit bekommen, ihre Aufgabe zu erfüllen, die sie als österreichische Staatsbürger sehen, nämlich als Brücken für unser Land in einem neuen Europa zu fungieren.“ (Österreich-Konvent, 21. November 2003, 5. Sitzung, S. 64) Ivancsics sprach sich ferner für eine „grundlegende Reform des Verfahrens zur Anerkennung von Volksgruppen“ aus (ebd., S. 61), um zu einer eindeutig objektivierbaren Regelung zu gelangen. Seine Kritik an den nicht vorhandenen bzw. intransparenten Kriterien illustrierte er am Beispiel der österreichischen Polen, denen die Anerkennung als Volksgruppe versagt bleibe, obwohl sie „seit Generationen in unserem Land leben, Staatsbürger sind, seit mehr als 100 Jahren Vereine und Organisationen betreiben, sich auch kulturell, politisch, gesellschaftlich in unserem Staat einbringen.“ (ebd.) Ernst Kulmann, Vertreter der ungarischen Volksgruppe, hob in seiner Stellungnahme vor allem auf die Frage der Finanzierung ab. Seine Kritik galt der Tatsache, dass die Förderungsmittel ohne Kriterien des Bundeskanzleramts vergeben würden, was einer dringenden Änderung bedürfe, da es ansonsten die ungarische Volksgruppe in kürzester Zeit nicht mehr geben werde (vgl. ebd., S. 64). Ing. Karl Hanzl, Vertreter der tschechischen Volksgruppe, stellte dar, wie es dieser im Laufe der letzten Jahre gelungen sei, in Wien eine tschechische Schule
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zu etablieren, die mittlerweile von 360 Kindern besucht werde und damit unter einer großen Überlast leide. An den Österreich-Konvent appellierend, merkte er an, dass es nicht ausreiche, Staatszielbestimmungen in die Verfassung aufzunehmen, sondern dass man diese Verpflichtungen auch umsetzen müsse. Dr. Marjan Sturm, Vertreter der slowenischen Volksgruppe, konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die Vereinheitlichung der Gesetzeslage, auf den Grundrechtskatalog, der alle bisherigen Rechte zusammenfassen solle, auf die Herausforderung der Modernisierung der Volksgruppenrechte sowie auf die europäische Dimension. Sturms Stellungnahme im Rahmen der Expertenanhörung war sicherlich die weitreichendste: Er schlug vor, dass man im 21. Jahrhundert darüber nachdenken müsse, die Volksgruppenrechte zu modernisieren. Im Zuge einer Anpassung von Art. 7 des Österreichischen Staatsvertrages müsse man z.B. Kindergärten und Medien in einem stärkeren Maße berücksichtigen, da diese eine bedeutende Rolle in einer modernen Gesellschaft spielten. Die Kontroverse zwischen individual- und kollektivrechtlichen Regelungen aufgreifend, regte Sturm an, der Konvent möge über die verfassungsrechtliche Verankerung des Verbandsklagerechts diskutieren, also über „das Recht, dass auch Organisationen sich an den Verfassungsgerichtshof wenden können sollten.“ (ebd., S. 66) Im Zuge der Erweiterung und Vertiefung des Prozesses der europäischen Integration lasse sich beobachten, so Sturm, dass die nationale – österreichische – Identität durch eine weitere – die europäische – ergänzt werde. „Das heißt, wir alle werden eine multiple Identität, eine mehrfache Identität haben.“ (ebd.) Sturm plädierte in Anlehnung an Prof. Dr. Dietmar Larcher, emeritierter Hochschullehrer für Lehrerfortbildung an der Universität für Bildungswissenschaften Klagenfurt, für den Abbau von Vorurteilen: „In ethnisch gemischten Gebieten gibt es zwei Mentalitäten: Das so genannt legitimistische Geschichtsverständnis der Mehrheit, die sagt, im Zusammenleben haben wir immer alles recht gemacht und – auf der anderen Seite – das heroische Geschichtsverständnis von Minderheiten, die sagen, wir waren immer Opfer, wir wurden immer geschlagen. Beide Mentalitäten müssen wir überwinden.“ (ebd., S. 66) In inhaltlicher Übereinstimmung mit Ivancsics’ Vorschlag einer „grundlegende(n) Reform des Verfahrens zur Anerkennung von Volksgruppen“ (ebd., S. 61) plädierte auch der Vertreter der „Österreichischen Liga für Menschenrechte“, Dr. Hannes Tretter, für die „Neukodifikation des Schutzes der Volksgruppen“ (ebd., S. 68) und meinte damit eine „verfassungsrechtliche Verankerung eines Anerkennungsprozesses für (...) neue Minderheiten.“ (ebd.) Darunter fasste er österreichische Staatsbürger/innen, die bereits in der dritten Generation in der Alpenrepublik leben und deshalb als traditionell ansässig angesehen werden können. Diese „neuen Minderheiten“ sollten – zusätzlich zu den autochthonen Minderheiten – ebenfalls in den Genuss des Volksgruppenschutzes kommen, so Tretter. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Verankerung von Verbandskla-
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gen besteht gleichfalls ein Konsens zwischen Marjan Sturm als Vertreter der slowenischen Volksgruppe und Hannes Tretter: „Auch eine Verankerung der Möglichkeit, für Interessenvertretung kollektive Rechtsansprüche beziehungsweise objektives Recht durchzusetzen, etwa im Volksgruppenbereich durch Realisierungen des Rechts oder Geltendmachung des Rechts auf topografische Aufschriften, wäre zu überlegen.“ (ebd., S. 70)
Autochthone vs. allochthone Minderheiten Auch im Rahmen des zweiten Hearings griff einer der Redner, Marko Iljic (Wiener Integrationsfonds), den Gedanken einer Neubestimmung des Minderheitenbegriffs auf. Er sah eine „rechtspolitische Herausforderung (...) darin, dass sich Österreich in ähnlicher Weise – wie im Art. 8 Abs. 2 des BVG eingefügt – im Jahre 2000 auch zu seinen allochthonen, in jüngerer Zeit zugewanderten neuen Minderheiten bekennt. So sollte neben dem Schutz der alten so genannten autochthonen Minderheiten der Schutz von neuen ethnischen, sprachlichen, religiösen und kulturellen Minderheiten, die auf österreichischem Staatsgebiet leben, in der neuen Verfassung verankert und deren Identität, Sprache und kulturelle Traditionen in ähnlicher Weise geschützt und gefördert werden.“ (Österreich-Konvent, 15. Dezember 2003, 6. Sitzung, S. 32) Während die Vertreter der Volksgruppenbeiräte im Wesentlichen am traditionellen Verständnis von Volksgruppenpolitik festhielten, präsentierte eine „Ökumenische Expertengruppe“ einen „Beitrag zur Konsensbildung im Österreich-Konvent zu Fragen der Volksgruppenrechte“. Neuregelungen sollten Veränderungen in der Lage ethnischer Minderheiten seit dem Zweiten Weltkrieg beachten: die sukzessive Auflösung der traditionellen Siedlungsgebiete, Migrations- und Fluchtbewegungen, Auswirkungen der beruflichen Mobilität sowie Änderungen der Rechtslage in Europa. Die Expertengruppe schlug vor, das Staatsziel beizubehalten, räumte jedoch ein, dass sich die ethnische Pluralität heute nicht mehr allein in den autochthonen Minderheiten ausdrückt. Insofern werde die Staatszielbestimmung (Art. 8 B-VG) der aktuellen Realität kaum mehr gerecht, sondern sei obsolet: „Die allgemeine Forderung nach Toleranz und Anerkennung aller Volksgruppen und der Volksgruppen untereinander fehlt in Art. 8 B-VG.“ (Ökumenische Expertengruppe: Zu „Volksgruppenrechten“, 6.10.2004, S. 1) Als essenziell erachtete die Expertengruppe den Grundsatz „Das Bekenntnis zu einer Volksgruppe ist frei.“ Damit sollte festgeschrieben werden, dass dem Angehörigen einer Volksgruppe aus seinem Bekenntnis zu einer Volksgruppe oder aus seiner Ablehnung der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe kein Nach-
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teil erwachsen darf. In einer Neufassung des Volksgruppengesetzes sollte das bisherige Anerkennungsverfahren für Volksgruppen rechtsstaatlich ausgebaut werden, um Transparenz zu sichern und die zugrunde liegenden Kriterien aufzudecken. In dem von der Ökumenischen Arbeitsgruppe präsentierten Vorschlag für die verfassungsrechtliche Verankerung wurde empfohlen, die relevanten Artikel des Vertrages von St. Germain (1919) und des Staatsvertrages von Wien (1955) als Bestandteil der Bundesverfassung aufzunehmen (vgl. Vorschlag der Ökumenischen Expertengruppe 24.2.2004 bzw. 14.9.2004, S. 22). Die hier kurz skizzierten Stellungnahmen, Positionsbestimmungen, Vorschläge für eine verfassungsrechtliche Verankerung der Volksgruppenrechte sowie für eine Reform des Volksgruppengesetzes und Ideen zur Volksgruppenpolitik spannen einen weiten Bogen, der von den autochthonen bis zu den allochthonen Minderheiten reicht. Nun stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise diese vielfältigen Vorschläge und Anregungen in die weitere Arbeit Eingang fanden. Als Ergebnis der Arbeit des Österreich-Konvents übergab sein Vorsitzender Dr. Franz Fiedler an den damals amtierenden Kanzler Schüssel den Entwurf für eine Bundesverfassung, welcher vorsieht, dass die „Rechte der Volksgruppen“ in den Grundrechtekatalog übernommen werden. Im Wortlaut heißt der Art. 39: „(1) Die Republik Österreich bekennt sich zu ihrer gewachsenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt, die in den autochthonen Volksgruppen zum Ausdruck kommt. Sprache und Kultur, Bestand und Erhaltung dieser Volksgruppen sind zu achten, zu sichern und zu fördern. Die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten nach Art. 7 des Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich bleiben unberührt. (2) Österreichische Staatsangehörige der slowenischen und kroatischen Volksgruppe in Burgenland, Kärnten und Steiermark haben Anspruch auf Elementarunterricht in slowenischer oder kroatischer Sprache und auf eine verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen. (3) In durch Gesetz festzulegenden Gebieten und Schulen in Burgenland ist österreichischen Staatsangehörigen der kroatischen und ungarischen Volksgruppe das Recht zu gewähren, die kroatische oder ungarische Sprache als Unterrichtssprache zu gebrauchen oder als Pflichtgegenstand zu erlernen. (4) In durch Gesetz festzulegenden Gebieten und Schulen in Kärnten ist österreichischen Staatsangehörigen der slowenischen Volksgruppe das Recht zu gewähren, die slowenische Sprache als Unterrichtssprache zu gebrauchen oder als Pflichtgegenstand zu erlernen.“
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Mit diesem Vorschlag hat Dr. Franz Fiedler im Grunde genommen die geltende Rechtslage fortgeschrieben. Art. 39 Abs. 1 entspricht (fast) wortgleich der im Jahre 2000 in die Bundesverfassung (Art. 8) aufgenommene Staatszielbestimmung. Die weiteren Präzisierungen des Art. 39 in den Abs. 2 bis 4 rekurrieren auf den im Volksgruppengesetz des Jahres 1976 festgeschriebenen muttersprachlichen Unterricht für die slowenische und die kroatische Volksgruppe im Burgenland, in Kärnten und der Steiermark, für die kroatische und die ungarische Volksgruppe im Burgenland sowie für die slowenische Volksgruppe in Kärnten. Vorschläge wie die einer grundlegenden Reform des Verfahrens zur Anerkennung von Volksgruppen (ggf. der Aufnahme der österreichischen Polen als Volksgruppe), der stärkeren Berücksichtigung von Kindergärten und Medien, der verfassungsrechtlichen Verankerung eines Verbandsklagerechts für Volksgruppen oder der Ausweitung des Volksgruppenbegriffs auf die neuen allochthonen Minderheiten fanden nicht Eingang in den von Fiedler präsentierten Entwurf eines neuen Bundesgesetzes.
Exkurs: „Schutzmacht Österreich“ „Selbstbestimmung ist seit 1989, dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa zu einem politischen Fanal geworden.“ – Mit diesen Worten leitete Prof. Dr. Felix Ermacora (1991, S. 7), der sich nicht nur mit Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht, sondern auch mit der Südtirol-Frage (Ermacora 1984) befasste, sein Buch mit dem programmatischen Titel „Südtirol. Die verhinderte Selbstbestimmung“ ein. Die Hauptthese dieses Bändchens lautet: Während das von Woodrow Wilson proklamierte Recht auf Selbstbestimmung nicht universell war, sei infolge der Ereignisse von 1989/90 die Epoche europäischer Geschichtlichkeit angebrochen, in der Selbstbestimmung zum politischen Grundsatz werde. Selbstbestimmung betreffe alle Staaten, vor allem „künstliche Staatengebilde“ (Tschechoslowakei und Jugoslawien), die nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden, aber auch „Territorien mit staatsfremder Bevölkerung“ oder Völker, die nicht in demokratischen Staatswesen leben. Obwohl einige der Voraussetzungen im Fall Südtirol gegeben seien, so Ermacora, greife die Selbstbestimmungsidee dort nicht mehr. Der Volkstumspolitiker profilierte sich als scharfer Kritiker der Autonomielösung in Südtirol: „Sie ist in Wahrheit ein Kompromiß der Kompromisse zwischen staatlichen und internationalen Interessen. (...) Einen Volkstumskampf scheint es nicht mehr zu geben.“ (ebd., S. 8; vgl. dazu auch: Langer 1988; Stuhlpfarrer 1988; Steininger 2000; Warasin 2002; Hafner 2005)
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Im Folgenden gehe ich kursorisch darauf ein, wie die Südtirolfrage im Österreich-Konvent diskutiert wurde und zu welchen Reaktionen sie innerhalb Südtirols führte. Im Rahmen der zweiten Anhörung des Österreich-Konvents war mit Josef Mitterhofer der Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB) als einziger Repräsentant Südtirols geladen. Dabei handelt es sich um eine 1974 von den Südtiroler politischen Häftlingen der 50er- und 60er-Jahre gegründete Organisation, die das Ziel einer Rehabilitierung der politischen Häftlinge verfolgt (vgl. http://www.suedtiroler-freiheitskampf.net). Entsprechend seiner Statuten strebt der SHB die „Durchsetzung des seit 1919 verwehrten Selbstbestimmungsrechtes (an, G.H.), das die Entscheidung über die Wiedervereinigung des geteilten Tirol bis zur Salurner Klause zum Gegenstand hat. Die angestrebte Wiedervereinigung soll entweder durch einen einzigen Volksentscheid oder durch schrittweisen Vollzug verwirklicht werden.“ (Statuten des SHB, zit. nach: Josef Mitterhofer, in: Österreich-Konvent, 15. Dezember 2003, 6. Sitzung, S. 36) Der SHB betrachtet zwar die „heute erweiterte Autonomie“ Südtirols als brauchbare „Übergangslösung“, die den Südtirolern einen „beachtenswerten Wohlstand“ gebracht habe, die „fortschreitende Assimilierung“ und den „Tiroler Identitätsverlust“ könne sie aber nicht aufhalten (vgl. http://www.suedtiroler-freiheitskampf.net v. 15.3.2006). Der SHB bezeichnet Italiener in Südtirol als „politische Gegner“ und polemisiert vor allem gegen die binationalen Ehen: „Die vielen tausend Mischehen, von denen heute kein Mensch mehr spricht, sind die gleich große Gefahr für uns Südtiroler. Sie zersetzen unsere Tiroler Volkssubstanz und die Kinder (Mischkultur), die daraus hervorgehen, sind die Leidtragenden, sie wissen nicht, zu welcher Kultur sie sich bekennen sollen.“ (ebd.) Getragen vom Gedanken der kulturellen und sprachlichen Homogenität und von volkstumspolitischen Überlegungen, verfolgt der SHB das Ziel der Herstellung eines vereinten Tirols, das – in der Konsequenz – Sezession und neue Grenzziehungen mit sich bringen würde: „Darum gibt es nur eine gerechte Lösung, die Ausübung des Rechtes auf Selbstbestimmung und die Zusammenführung der drei politisch getrennten Landesteile Nord-, Süd- und Osttirol!“ (ebd.) Folglich stellt der SHB seine Arbeit unter das Motto des Volkstumspolitikers Felix Ermacora (zit. nach: ebd.): „Keine Macht der Erde kann einem Volk auf längere Zeit die Selbstbestimmung vorenthalten, auch Italien den Südtirolern nicht, aber wollen und verlangen muß man sie!“ Während im Ausschuss „Grundrechtskatalog“ des Österreich-Konvents vor allem über die in Österreich ansässigen autochthonen Volksgruppen verhandelt wurde, waren die österreichischen Volksgruppen im Ausland und vor allem die österreichische Volksgruppe in Italien (Südtirol) Gegenstand des Ausschusses I „Staatsaufgaben und Staatsziele“. Wie aus dem Bericht (v. 25.2.2004) hervorgeht, einigte man sich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Verankerung
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der „Schutzmacht Österreich“ auf folgende Position: „Z25 Verankerung des Schutzes und der Vertretung der Interessen der deutschen Altösterreicher in der Verfassung. Das Anliegen des Verbandes der volksdeutschen Landmannschaften wurde vom Ausschuss zur Kenntnis genommen. Es wurde Konsens erzielt, dass es nicht angebracht ist, eine solche Zielsetzung als Staatsziel in der Bundesverfassung zu verankern. (...) Z46 Die Aufnahme eines Südtirol-Paragraphen in die Verfassung. Der Ausschuss ist einhellig der Meinung, dass Österreich seine Verantwortung als Schutzmacht bereits in der Vergangenheit wahrgenommen hat, und geht davon aus, dass dies weiterhin der Fall sein wird. Daher kann von einer expliziten Verankerung als Staatsziel Abstand genommen werden.“ (Bericht des Ausschusses I Staatsaufgaben und Staatsziele, 25.2.2004, S. 21 und S. 26; Hervorh. im Original, G.H.) Ungeachtet der Tatsache, dass der Ausschuss 1 die Aufnahme der Staatszielbestimmung im Februar 2004 ablehnte, brachte Oliver Henhapel – in Vertretung von Elisabeth Gehrer (ÖVP) – wenige Monate später abermals eine „Südtirol-Formulierung“ in den Konvent ein, die er in die Präambel der neuen Bundesverfassung aufgenommen wissen wollte. Im Wortlaut heißt es hier: „Eingedenk der Verantwortung für die österreichische Volksgruppe in Italien (Südtirol) und alle anderen österreichischen Volksgruppen im Ausland (...).“ Auch weitere Textvorschläge wurden kontrovers diskutiert. Die FPÖ schlug folgende Variante vor: „Österreich tritt für den Schutz der mit ihm geschichtlich verbundenen deutschsprachigen Volksgruppen ein.“ ÖVP und FPÖ unterbreiteten gemeinsam einen Vorschlag, bei dem die „Südtiroler“ explizit Erwähnung fanden: „Österreich tritt für den Schutz der mit ihm geschichtlich verbundenen deutschsprachigen Volksgruppen, insbesondere der Südtiroler, ein.“ Weil auch diese Variante nicht durchsetzbar war, schlugen FPÖ und ÖVP folgenden Text vor: „Österreich fördert die mit ihm geschichtlich verbundenen deutschsprachigen Volksgruppen, insbesondere die Südtiroler.“ (Bericht des ÖsterreichKonvents, 31. Januar 2005, S. 117 f.; vgl. auch Protokoll über die 15. Sitzung des Ausschusses I am 6. Oktober 2004) Unterstützt wurde Henhapels Vorschlag von dem Ausschussmitglied Roland Dietrich (in Vertretung von Herbert Haupt, FPÖ). Innerhalb des Ausschusses I bestand darüber Einigkeit, dass die verfassungsrechtliche Verankerung eines solchen Textvorschlags als Staatsziel nicht angebracht sei. Protokollarisch wurde festgehalten, dass der „Auftrag des Präsidiums hinsichtlich des Begriffsumfangs ‚Altösterreicher‘ nicht klar definiert“ sei. In der Debatte wiesen einige Ausschussmitglieder darauf hin, dass der Begriff „Altösterreicher“ in der Literatur sämtliche Bewohner der ehemaligen k.u.k. Monarchie umfasse, das von Henhapel vorgebrachte Anliegen sich jedoch vermutlich auf die deutschsprachigen Bewohner beschränke. Ferner wurde aus den Reihen der SPÖ und der Grünen
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sowie von dem Staats- und Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Bernd-Christian Funk die mangelnde Begriffspräzision kritisiert. Schließlich war keine der hier vorgestellten Varianten konsensfähig, sodass sich im Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung – der jedoch im Präsidium gleichfalls umstritten blieb – keine Formulierung findet, die in diese Richtung weist (vgl. Endbericht des Österreich-Konvents, Teil 4 b: Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung v. 12.1.2005). Ein Jahr nach der Präsentation des Endberichts des Österreich-Konvents und des Verfassungsentwurfs sorgte die Südtirolfrage abermals für Schlagzeilen: Der „Bund der Tiroler Schützenkompanien“ überreichte Dr. Andreas Khol, dem damaligen Präsidenten des Nationalrates, anlässlich des Tiroler Balls im Wiener Rathaus eine Petition „betreffend Formulierungen für eine Präambel bei den derzeit laufenden Beratungen zur Verfassungsreform“ (Petition der Tiroler Schützenkompanien an den Präsidenten des Nationalrates, Dr. Andreas Khol, 17. Januar 2006). Die Unterzeichner (113 Bürgermeister der insgesamt 116 Gemeinden Südtirols, sich selbst als „Schützenkompanien und Bürgermeister aus allen Teilen des historischen, großen Tirol“ titulierend), die mehrheitlich in der Südtiroler Volkspartei (SVP) – Mitgliedsorganisation der FUEV – organisiert sind, erhoben die Forderung, folgende Formulierung möge Eingang in die Präambel einer neuen Bundesverfassung finden: „1. Die Republik Österreich anerkennt die historisch gewachsenen Volksgruppen in Österreich und setzt sich für Schutz und Förderung der geschichtlich verbundenen deutschsprachigen Minderheiten, insbesondere auch der Südtiroler ein. 2. Die Republik Österreich bekennt sich zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des vom Land Tirol abgetrennten Tiroler Volkes deutscher und ladinischer Sprache und zum besondern Schutz der Rechte der Südtiroler auf der Grundlage des Völkerrechts.“ Während bundesdeutsche Medien den Vorstoß des „Bundes der Tiroler Schützenkompanien“ als Kuriosum behandelten (vgl. Die Welt v. 28.1.2006; FAZ v. 31.1.2006; Deutschlandradio v. 31.1.2006), gerät leicht in Vergessenheit, dass einer der prominentesten Verfechter einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Schutzmachtfunktion Österreichs der ehemalige (2002-2006) Nationalratspräsident Dr. Andreas Khol persönlich ist. Dieser versicherte im April 2004 in seinem Grußwort an die SVP-Landesversammlung in Meran, dass er „gemeinsam mit dem Konvent-Vertreter des Landes Tirol, Landtagspräsident Helmut Mader, eine geeignete Form suchen (werde, um; G.H.) die Rolle Österreichs für Südtirol in der Verfassung zu verankern.“ (Parlamentskorrespondenz/05/19.04.
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2004/Nr. 276) Jedoch werde Österreich nur dann aktiv werden, wenn die Südtiroler es dazu aufforderten. Die Petition der Tiroler Schützenkompanien kann als eine deutliche Aufforderung an die Adresse der österreichischen Regierung interpretiert werden und führte prompt zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Österreich und Italien. Der damalige italienische Regionalminister Enrico La Loggia (Forza Italia) beharrte darauf, die Südtirol-Autonomie sei Sache des italienischen Staates, weshalb sich andere Länder nicht einmischen sollten; der frühere Innenminister Giuseppe Pisanu (Forza Italia) nahm die Petition als ernsthafte Bedrohung wahr und zog Initiativen zur Verteidigung der nationalen Einheit in Erwägung (vgl. FAZ v. 31.1.2006; Schutzmacht-Klausel, in: www.german-foreign-policy.com v. 19.2.2006). Die Petition der Tiroler Schützenkompanien, die in Italien politische Irritationen auslöste, wurde vom Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen an den Präsidenten des Nationalrats verwiesen. Dr. Andreas Khol betraute den Außenpolitischen Ausschuss mit der weiteren Behandlung (vgl. Bericht des Außenpolitischen Ausschusses über die Petition Nr. 80/PET). In diesem Ausschuss wurde schließlich im Juli 2006 mit den Stimmen der ÖVP, der SPÖ und des BZÖ – gegen die Stimmen der Grünen – ein Entschließungsantrag mit folgendem Wortlaut angenommen: „Der Nationalrat unterstützt bei einer Verfassungsreform die Aufnahme einer Bestimmung in die österreichische Bundesverfassung, welche die Schutzfunktion für die österreichische Volksgruppe in Südtirol verankert. Die Beachtung der Schutzfunktion anderer Staaten für ihre in Österreich lebenden Volksgruppen (Art. 8 Abs. 2 B-VG) soll gleichermaßen in die Verfassung aufgenommen werden. Die Bundesregierung wird ersucht, in diesem Sinne vorzugehen.“ (Entschließungstext des Außenpolitischen Ausschusses v. 5.7.2006) Demnach ist zu erwarten, dass eine solche „Schutzfunktion für die österreichische Volksgruppe in Südtirol“ im Rahmen der Veränderung der Bundesverfassung im Nationalrat mehrheitlich angenommen und damit verfassungsrechtlich verankert werden wird. Hier schließt sich also der Kreis: Der Nationalratspräsident forderte die südtiroler Volkstumspolitiker dazu auf, aktiv zu werden. Die öffentlichkeitswirksam präsentierte Petition der Schützenkompanien belebte die Debatte um die Schutzfunktion Österreichs und wird von den Parteien ÖVP, SPÖ und BZÖ unterstützt. Damit sind die Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung erfüllt. In seinem Beitrag „Die Südtirolfrage“ gelangt der Historiker Rolf Steininger (2000, S. 229), Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, zu folgendem Schluss: „Die Südtiroler gehören heute zu den am besten geschützten Minderheiten auf der Welt. Bis dahin war es ein weiter und
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schwieriger Weg. Aber jetzt ist es offensichtlich geschafft: völlige Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache und Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst, wesentliche autonome Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnisse (…), ethnischer Proporz im öffentlichen Dienst (…), ausreichende finanzielle Ausstattung.“ Steininger hat die Entwicklung der Südtirolfrage von 1919 bis zur Gegenwart überzeugend dargelegt. Umso mehr erstaunt die Energie, mit der südtiroler Volkstumspolitiker das Recht auf Selbstbestimmung fordern, die verfassungsrechtliche Verankerung der Schutzmachtfunktion Österreichs propagieren und den volkstumspolitischen Kampf auf die Agenda setzen. Die volksgruppenpolitischen Positionen der Parteien Bei einem Vergleich der Positionen von FPÖ, ÖVP, SPÖ und Grünen, der Redebeiträge von Abgeordneten, parlamentarischer Initiativen (Anfragen an Bundesregierung und -ministerien) sowie der parteipolitischen Programmatik erweisen sich die Gemeinsamkeiten in Sachen Volksgruppenpolitik trotz eher zu vernachlässigender Differenzen und Akzentuierungen als vorherrschend. Nur so lässt sich auch das Zustandekommen der verfassungsmäßigen Verankerung der Staatszielbestimmung erklären. FPÖ: Volksgruppenpolitik – keine Einbahnstraße Dr. Harald Ofner, früherer Bundesminister für Justiz (1983-1987), langjähriger Abgeordneter des Nationalrates (von 1979 bis 1983 und von 1986 bis 2002) sowie FPÖ-Bereichssprecher für Justiz und Minderheiten, begründete in einer Plenardebatte am 18. November 1999, weshalb er den Begriff „Volksgruppe“ jenem der Minderheit vorziehe: „Ich habe mir abgewöhnt, von ‚Minderheiten‘ zu reden. ‚Minderheit‘ ist – das sei in diesem Zusammenhang angemerkt – ein mathematischer Begriff. Natürlich sind Volksgruppen der Zahl nach geringer an Köpfen als die Mehrheitsbevölkerung, aber der Begriff ‚Minderheit‘ hat etwas Diminuierendes an sich. Ich verwende lieber den Begriff ‚Volksgruppe‘. Ich will niemandem etwas vorschreiben, aber ich glaube, die Betroffenen sind besser dran, wenn man sie als ‚Volksgruppen‘ sieht und bezeichnet und nicht den Ausdruck ‚Minderheit‘, der – vielleicht auch aus der Vergangenheit – irgendwie etwas Abschätziges an sich hat, für sie verwendet.“ In seiner Rede verdeutlichte Ofner, dass er in einer bestimmten historischen Tradition steht, nämlich jener der Volkstumspolitik. In Einklang damit wandte er sich entschieden dagegen, „daß neue Volksgruppen erfunden werden, neue Volksgruppen aus nicht autochthonen Bereichen, nicht in angestammten Heima-
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ten“ (Nationalrat, 31.1.1996). Das Volksgruppenrecht wollte Ofner auf „die Slowenen in Kärnten, die Kroaten im Burgenland, die Slowaken und die Tschechen in Wien, die Ungarn im Burgenland und in Wien, die Roma und die Sinti in einer umfassenderen geographischen Positionierung“ (ebd.) begrenzen. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass es „keine solchen Maßnahmen außerhalb der autochthonen Gebiete der Volksgruppen geben kann“ und „sich aus Neuzuwanderungen keine Volksgruppen im Sinne des Volksgruppengesetzes (...) bilden können, weil diesen Neuzuwanderungsgruppierungen der für autochthone Volksgruppen unverzichtbare Beitrag zur Entwicklung der österreichischen Identität eben mangelt“ (Nationalrat, 23.4.1996). Die Unterstützung der österreichischen Volksgruppenpolitik erfüllt in Ofners Reden die Funktion einer gezielten Überleitung zur Kritik an Frankreich, der Türkei und osteuropäischen Ländern wie der Tschechischen Republik, Bulgarien oder Slowenien. Insbesondere widmen sich die „Freiheitlichen“ in Kleinen Anfragen und auch bei Plenardebatten der Lage einer Minderheit in Slowenien, die sie „Altösterreicher deutscher Zunge“ (Nationalrat, 31.1.1996) nennen.9 Zur Erforschung ihrer Geschichte und Lebenssituation wurde – wie erwähnt – eine Historikerkommission eingesetzt, nach deren Forschungsstand sich die „Freiheitlichen“ wiederholt in Kleinen Anfragen erkundigten. Als Versuch der Einflussnahme auf die innenpolitische Situation im benachbarten Slowenien ist Ofners Vorschlag zu werten, in Zukunft slowenischösterreichische bzw. österreichisch-slowenische Volksgruppenbeiräte einzusetzen, die sich einerseits der in Kärnten lebenden Slowenen und andererseits der in Slowenien lebenden sog. Altösterreicher annehmen sollen. Die Installierung solcher grenzüberschreitender Gremien möchte der „freiheitliche“ Abgeordnete auch bei den Ungarn, Tschechen, Slowaken und „bei den vielen anderen Volksgruppen“ erreichen. Im Rahmen der Arbeit dieser Beiräte solle festgestellt werden, „auf welcher Seite der jeweiligen Grenze das höhere Niveau bei der Förderung der Volksgruppen und ihrer Angehörigen besteht“, und bilateral eine Anhebung der Standards auf der anderen Seite erfolgen (siehe Nationalrat, 31.1.1996). Mittelfristig verfolgen die „Freiheitlichen“ das Ziel, ein gesamteuropäisches Volksgruppenrecht durchzusetzen (vgl. Nationalrat, 23.4.1996). Während in Ofners Reden die Parteinahme für das kollektivrechtliche Schutzmodell nur anklingt, erhob Prof. Dr. Peter Böhm – von 1996 bis 2005 Mitglied des Bundesrates und von 1999 bis 2002 Vorsitzender der FPÖ-Bundesratsfraktion – in einer Debatte über das „Rahmenübereinkommen zum Schutz 9
Anlass für die parlamentarischen Initiativen der „Freiheitlichen“ war, dass in der slowenischen Verfassung die Minderheiten der Italiener, der Ungarn sowie (in abgeschwächter Form) der Roma und Sinti erwähnt und anerkannt wurden, nicht aber jene der sog. Altösterreicher deutscher Zunge.
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nationaler Minderheiten“ am 12. März 1998 in aller Deutlichkeit die Forderung nach Kollektivrechten: „Ein weiteres gravierendes Manko des Übereinkommens sehe ich darin, daß man sich erklärtermaßen nicht dazu durchringen konnte, nationalen Minderheiten auch kollektive Rechte einzuräumen. (...) In diesem Zusammenhang stellt sich eher eine grundsätzliche Frage: Kann es einen echten Schutz nationaler Minderheiten überhaupt geben, wenn man ihn auf die an sich selbstverständlichen, weil schon durch den Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten, individuellen Rechte verkürzt? – Daher bestreite ich entschieden die dem Übereinkommen zugrunde liegende These, daß der Schutz einer nationalen Minderheit allein schon durch den Schutz der Rechte der einzelnen Angehörigen dieser Minderheit erreicht werden kann! (...) In der Tat ist die Ausübung von Minderheitenrechten aus der Natur der Sache heraus ein intersubjektiver Prozeß unter gruppenspezifischen Aspekten. Drastisch formuliert: Ich kann nicht als isoliertes Individuum meine ethnisch-kulturelle, sprachliche oder religiöse Identität ausleben, da diese stets eine entsprechende überindividuelle Gemeinschaft voraussetzt.“
ÖVP: Volksgruppenpolitik und die „internationale Verantwortung“ für die Durchsetzung von Minderheitenrechten Dr. Christof Zernatto, für die ÖVP bis zum 19. Dezember 2002 im Nationalrat, stellte heraus, dass die Diskussion über Volksgruppen- nicht mit der Zuwanderungspolitik vermischt werden dürfe. Ausschließlich gewachsene und nicht wachsende Minderheiten dürften in den Genuss der Bestimmungen zur Volksgruppenförderung kommen (vgl. Nationalrat, 18.11.1999). Der frühere Landesparteiobmann der ÖVP Kärnten führte die seiner Einschätzung nach in Österreich weit verbreiteten und stetig ansteigenden „Vorurteile und Ängste gegenüber dem Fremden“ auf die Zuwanderung von Ausländern sowie die Entstehung neuer ethnischer Gruppen zurück und warnte davor, diese Entwicklungen zu ignorieren (vgl. Nationalrat, 7.7.2000). In seiner Rede zog er nicht nur eine scharfe Trennlinie zwischen den alten und den neuen Minderheiten, sondern legte auch nahe, dass eine politische Begrenzung der Einwanderung zur Prävention gegen Rassismus beitragen könne. Die hier von Zernatto verwendete Argumentationsfigur konstruiert eine Kausalbeziehung zwischen Einwanderung und Rassismus, die so zweifellos nicht besteht. Während Minderheiten bzw. Volksgruppen früher von den Nationalstaaten als potenzielle Irredentisten und Gefahr für die territoriale Integrität angesehen worden seien, erkenne man sie heute eher als Bereicherung und nehme sie in ihrer Brückenfunktion wahr, konstatierte der frühere langjährige ÖVP-Abgeord-
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nete Dr. Walter Schwimmer in seiner Rede vor dem Nationalrat am 26. Februar 1998. Von den ÖVP-Abgeordneten werden Minderheiten- als integraler Bestandteil der Menschenrechte betrachtet. Die Realisierung der Menschen- und Minderheitenrechte sei nicht länger interne Angelegenheit eines Staates, sondern der europäischen Völkergemeinschaft und demnach eine internationale Verpflichtung. Insofern lag es nahe, dass ÖVP-Abgeordnete wie Dr. Alois Mock oder Dr. Walter Schwimmer ihre Ausführungen zu Menschen- und Minderheitenrechten am 26. Februar 1998 im Nationalrat auf die konkreten politischen Auseinandersetzungen bezogen und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens und des Kosovos forderten.10
SPÖ: „Moderne Volksgruppenpolitik“ als Lehre aus dem NS-Staat und Antwort auf Formen des Nationalismus Dr. Dieter Antoni, der die SPÖ von 1990 bis 2002 im Nationalrat vertrat, sprach in seiner Rede davon, dass in den damals 36 europäischen Staaten 184 nationale Minderheiten bzw. Volksgruppen lebten, die schätzungsweise 100 Millionen Menschen umfassten. Europa sei erschüttert von einem „ethnisch-nationalen“ Erdbeben, welches die politische Landkarte stärker verändere, als dies die beiden Weltkriege vermocht hätten (vgl. Nationalrat, 31.1.1996). Deutlicher, als dies bei Abgeordneten anderer Fraktionen der Fall war, suchten die Nationalratsabgeordneten Walter Posch und Katharina Pfeffer (beide SPÖ) die Volksgruppenpolitik als eine Lehre aus dem österreichischen Nationalsozialismus (vgl. Nationalrat, 26.2.1997) und als „Kontrapunkt gegen das Umsichgreifen verschiedenster Formen des Nationalismus“ (Nationalrat, 18.11.1999) darzustellen. Posch und Pfeffer forderten neben der Staatszielbestimmung im Verfassungsrang die „Einrichtung einer gesamt-österreichischen Konferenz der Beiratsvorsitzenden der Volksgruppen zur Koordinierung der innerstaatlichen Ziele und Vorstellungen“ (Nationalrat, 31.1.1996 und 18.11.1999).
Die Grünen: Plädoyer für eine weiter gefasste Minderheitendefinition Mag. Terezija Stoisits, Minderheitensprecherin der Grünen, Nationalratsabgeordnete seit 1990 und Vorsitzende des Menschenrechtsbeirates im Wiener Bun10
Die Nationalratsabgeordneten der ÖVP befürworteten in der XX. Gesetzgebungsperiode (1996 bis 1999) die Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, ließen jedoch nach Angaben von Mag. Teresija Stoisits (Die Grünen) und Mag. Walter Posch (SPÖ) das Projekt einer verfassungsmäßigen Verankerung des Volksgruppenschutzes scheitern.
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desparlament, setzt sich seit vielen Jahren für Maßnahmen der Minderheitenund Volksgruppenpolitik ein. In ihrer Stellungnahme „Das Volksgruppengesetz 1976: Ein Gesetz hat sich überlebt“ benannte sie folgende Kritikpunkte (vgl. Stoisits 2000):
Das Gesetz definiere Volksgruppen als „in Teilen des Bundesgebietes wohnhafte und beheimatete Gruppen österreichischer Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache und eigenem Volkstum“. Bei der Anerkennung der Roma und Sinti als Volksgruppe habe diese Definition bereits Probleme aufgeworfen; auch werde sie der „allgemeinen modernen Mobilität der Menschen nicht mehr gerecht“ (ebd., S. 1). Das Volksgruppengesetz knüpfe eine Förderung an die Bedingung, dass sich Volksgruppenangehörige in bestimmten Gebieten konzentrieren und mindestens ein Viertel der Bewohner/innen einer Region stellen. Teresija Stoisits (ebd.) forderte eine Änderung dieser Bestimmungen, damit beispielsweise auch den Roma und Sinti, Slowaken, Tschechen und Ungarn in Wien sowie den Slowenen in der Steiermark der faktische Zugang zu Minderheitenrechten eröffnet werde. Stoisits (ebd.) merkte kritisch an, dass im geltenden Gesetz keine Grenzen zwischen alten und neuen Minderheiten gezogen würden. „Die maßgeblichen Juristen haben aber das Kriterium ‚beheimatet‘ stets restriktiv ausgelegt und mit ‚mindestens drei Generationen im jeweiligen Siedlungsgebiet ansässig‘ übersetzt. Neue Gruppen, die Interesse an einer Anerkennung als Volksgruppe haben, sehen sich daher gezwungen, nach verschütteten Spuren in der Monarchie zu suchen, um die eigene Existenz zu rechtfertigen.“ Die grüne Abgeordnete warf die Frage auf, ob ein Staat seinen Bürgern, „die real existieren und aufgrund sprachlicher und kultureller Besonderheiten faktisch eine Volksgruppe bilden, die Anerkennung verweigern darf“ (ebd.), und plädierte für eine weiter gefasste Minderheitendefinition. Der Minderheitenbegriff beziehe sich nach einer modernen und zeitgemäßen Definition auf eine Gruppe, „die zahlenmäßig kleiner ist als die übrige Bevölkerung eines Staates, sich in einer nicht-dominanten Position befindet, deren Angehörige – als Bürger dieses Staates – ethnische, religiöse oder sprachliche Eigenheiten besitzen, die von jenen der übrigen Bevölkerung verschieden sind, und welche, wenn auch unausgesprochen, einen Sinn für Solidarität zur Erhaltung ihrer Kultur, Traditionen, Religion und Sprache zeigen“ (Capotorti 1977, zit. nach: Stoisits 2000, S. 2).
Während Terezija Stoisits (2000, S. 2) in der skizzierten, im Internet publizierten Stellungnahme den „derzeitigen Ansatz: Blut und Boden“ sowie die damit verbundenen „bedenklichen, angeblich historisch und biologisch gewachsenen
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Rechte einer bestimmten Ethnie am Boden und Territorium“ kritisierte, bezog sie sich in den parlamentarischen Debatten weitgehend positiv auf den Ansatz der Volksgruppenpolitik. Im Rahmen einer Plenardebatte monierte sie, dass zwar das Dokumentations- und Kulturzentrum der Roma in Österreich 1,5 Mio. Schilling im Rahmen der Volksgruppenförderung bekommen habe, dass „diejenigen aber, die tatsächlich, im wahrsten Sinne des Wortes, am Rande der Gesellschaft in Oberwart leben“, keinerlei materielle Zuwendung erhalten hätten: „Ein Jahr ist vergangen, die Oberwarter Roma wollten ein Telefonhüttel in der Nähe ihrer Siedlung, und das gibt es noch immer nicht.“ (Nationalrat, 31.1.1996) Aufgrund dieser Kritik an der konkreten Umsetzung der Volksgruppenförderung plädierte Stoisits für eine Anerkennung der steirischen Slowenen als Volksgruppe, für zweisprachige topografische Bezeichnungen in jenen Regionen, in denen Volksgruppenangehörige einen relevanten Anteil an der Bevölkerung ausmachen, für Zweisprachigkeit in Kindergärten und Schulen sowie für die Möglichkeit, in bestimmten Regionen Volksgruppensprachen in Ämtern und Behörden zu verwenden. Eines ihrer zentralen Anliegen war die rechtliche Umsetzung des Memorandums der österreichischen Volksgruppen sowie die Aufnahme der Staatszielbestimmung zum Minderheitenschutz in die Bundesverfassung (vgl. 955/AE XX.GP, Entschließungsantrag v. 26.11.1998). Terezija Stoisits’ Kritik konzentrierte sich auf wenige Aspekte (Definition von Volksgruppen, Konzentration von Volksgruppenangehörigen in bestimmten Regionen als Voraussetzung für das Volksgruppengesetz und restriktive Auslegung des Begriffs „beheimatet“); sie hinterfragte jedoch nicht grundsätzlich die völkische Ideologie, auf der die Volksgruppenpolitik basiert. Fazit: Vom Kollektiv- zum Individualrecht und zurück? Lässt man die letzten 140 Jahre Minderheiten- bzw. Volksgruppenschutz in Österreich Revue passieren, so zeigt sich, dass die Phase des kollektivrechtlichen Minderheitenschutzes (1867 ff.) nach dem Ersten Weltkrieg durch individualrechtliche Schutzmechanismen abgelöst wurde. Auch die Vereinbarungen im Vertrag zur Wiederherstellung der Souveränität Österreichs (1955) schrieben den vorrangig individualrechtlichen Minderheitenschutz fest. Ab Mitte der 70erJahre setzte sich der Begriff „Volksgruppe“ zunehmend durch und wurde schließlich im 1976 verabschiedeten Volksgruppengesetz definiert. Kollektivrechtliche Elemente hielten Einzug in die gesetzlichen Bestimmungen und erlangten schließlich im Juli 2000 Verfassungsrang. Die Kontinuität des Wirkens von zentralen Organisationen (1925 bis 1938: Europäische Nationalitätenkongresse; seit 1949: FUEV; seit 1985: Wiederaufnahme der Europäischen Nationalitätenkongresse), von Zeitschriften, die den
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Volksgruppengedanken propagieren (1927 bis 1944: Nation und Staat; seit 1961: Europa Ethnica), und von prominenten Volkstumstheoretikern (z.B. Theodor Veiter und Heinz Kloss) ist hinlänglich belegt. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Volkstumspolitik ein Bestandteil der NS-Ideologie war, findet in den erwähnten Organisationen, Periodika und Publikationen nicht statt. Der nach 1945 diskreditierte Begriff der „Volksgruppe“ setzte sich in der österreichischen Öffentlichkeit sukzessive durch. Weder historisch noch aktuell stand bzw. steht Volksgruppenpolitik im Widerspruch zu Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus. In dem Maße, wie völkisch verstandene Minderheitenpolitik die „Heimat“, das „Verwurzeltsein“, die Generationenabfolge innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes, die „autochthonen Volksgruppen“, die kulturelle Identität sowie damit letztlich Prinzipien von „Blut und Boden“ als zu verteidigende Werte stilisiert, richtet sie sich gegen Zuwanderer, Migrant(inn)en, Flüchtlinge sowie gegen Einwanderung und Mobilität, also gegen diese Folgen der Globalisierung. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Volksgruppen und sog. neuen, zwischen autochthonen und allochthonen Minderheiten ist eng verknüpft mit einem Politikansatz, der die autochthonen Volksgruppen als förderungswürdig erachtet, die allochthonen Minderheiten hingegen als Störfaktor begreift. Am deutlichsten findet sich diese Polarisierung im Politikkonzept der „Freiheitlichen“, die sich in ihrer Programmatik gegen Einwanderung aussprechen und in ihrer Ideologie bzw. Propaganda den Hass auf Migrant(inn)en sowie Jüdinnen und Juden schüren. Mit der ablehnenden Haltung zu Einwanderung und Österreich als Asylland stehen FPÖ und BZÖ nicht allein. Beispielsweise war auch ein anlässlich der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft vom damaligen Innenminister Karl Schlögl (SPÖ) verfasstes Papier zur Migrations- und Asylpolitik darauf gerichtet, Österreich für Flüchtlinge faktisch unerreichbar zu machen (vgl. Holzberger 2003, S. 111 ff.). Politisch hat die österreichische Volksgruppenpolitik die Funktion, nur den „Vorzeigeminderheiten“, also einer sehr kleinen Zahl anerkannter Volksgruppen, Minderheitenrechte zuzugestehen, der weitaus größeren Gruppe von Migrant(inn)en nichtösterreichischer Staatsangehörigkeit jedoch elementare Bürgerrechte zu verweigern, denn ähnlich wie in Deutschland orientiert sich das österreichische Staatsangehörigkeitsgesetz am Abstammungsprinzip (Ius sanguinis). Neben der „Vorzeigefunktion“ eröffnet die Volksgruppenpolitik in Österreich die Möglichkeit, auf benachbarte Staaten Einfluss zu nehmen. So profiliert sich die FPÖ in ihrem Programm als „Schutzmacht“ der in Südtirol lebenden Deutschen, und Jörg Haider forderte auf einer in Venedig stattfindenden Pressekonferenz gar die Schaffung einer Großregion, bestehend aus Kärnten sowie den italienischen Regionen Friaul-Julisch-Venetien und Veneto (vgl. Die Presse, Hamburger Abendblatt und Stuttgarter Zeitung v. 24.7.2000).
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Was die Lage in Slowenien betrifft, erweist sich die FPÖ als Protagonistin von Minderheitenrechten der angeblich entrechteten „Gottscheer“ und „DeutschUntersteirer“ im Nachbarland und sieht in der Errichtung binationaler Volksgruppenbeiräte, die sich mit der Situation der sog. Altösterreicher in der Tschechischen Republik, der Slowakei, Slowenien und Ungarn befassen sollen, die Möglichkeit, auf die osteuropäischen Nachbarn stärker als bisher Einfluss zu nehmen. Hauptfeind der Volkstumspolitiker ist eine Nation, die sich nicht als Abstammungs-, sondern als politische Willensgemeinschaft versteht. Verständlich wird in diesem Kontext die Polemik gegen Frankreich, das wegen seiner angeblich minderheitenfeindlichen Politik wiederholt ins Kreuzfeuer der volkstumspolitischen Kritik geriet bzw. gerät. Welche Alternative gibt es zur Volksgruppenpolitik? Eine Republik, deren konstituierendes Prinzip ein politisches ist, eröffnet Einwanderern die Möglichkeit, sich gesellschaftlich und politisch zu integrieren. Versteht sich ein Staatsvolk als demos und nicht als ethnos, ist gesellschaftliche Integration nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert. Um rassistische oder antisemitische Diskriminierung zu bekämpfen und rassistisch bzw. antisemitisch motivierte Gewalttaten oder Propagandadelikte strafrechtlich zu verfolgen, bedarf es keines Volksgruppenschutzes, sondern einer wirksamen Antirassismus- und Antidiskriminierungspolitik. Letztlich geht es also um Individual- und damit um Menschenrechte. Was die FAZ als hervorragende Minderheitenpolitik pries, war die vorgestellte Volksgruppenpolitik, und wenn Jörg Haider triumphierend behauptete, Österreich verfüge über einen vorbildlichen Minderheitenschutz, so sprach er von den sechs staatlich anerkannten Volksgruppen, zu denen sich die österreichische Verfassung bekennt und denen gegenüber sie sich verpflichtet, ihre Sprache und Kultur sowie deren Bestand und Erhaltung zu achten, zu sichern und zu fördern. Deutlich wurde an den Ausführungen, dass eine so verstandene und konzipierte Minderheitenpolitik in einer völkischen Tradition steht, die integraler Bestandteil der NS-Ideologie war, nach 1945 von Volkstumspolitikern neuerlich etabliert wurde und keineswegs geeignet ist, die Situation der Flüchtlinge oder der neuen Minderheiten zu verbessern, geschweige denn, Rassismus, Antisemitismus oder die extreme Rechte zu bekämpfen.
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Parlamentarische Initiativen 377/AB, Die Expertenkommission zwischen Österreich und Slowenien – Anfragebeantwortung durch den Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten Dr. Wolfgang Schüssel zu der schriftlichen Anfrage (506/J) des Abg. MMag. Dr. Willi Brauneder und Genossen an den Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten betreffend die Expertenkommission zwischen Österreich und Slowenien 527/AB, Die Expertenkommission zwischen Österreich und Slowenien – Anfragebeantwortung durch den Bundesminister für Wissenschaft, Verkehr und Kunst Dr. Rudolf Scholten zu der schriftlichen Anfrage (508/J) des Abg. MMag. Dr. Willi Brauneder und Genossen an den Bundesminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst betreffend die Expertenkommission zwischen Österreich und Slowenien, 26.6.1996 955/AE XX.GP, Entschließungsantrag vom 26. November 1998 der Abgeordneten Mag. Terezija Stoisits, Freundinnen und Freunde, betreffend die rechtliche Umsetzung des Memorandums der österreichischen Volksgruppen 1997
Debatten im Nationalrat III-7 d.B. Volksgruppenförderung im Jahre 1993. Bericht der Bundesregierung gemäß § 9 Abs. 7 des Volksgruppengesetzes über die Volksgruppenförderung im Jahre 1993, und III-6 d.B. Volksgruppenförderung im Jahre 1994. Bericht der Bundesregierung gemäß § 9 Abs. 7 des Volksgruppengesetzes über die Volksgruppenförderung im Jahre 1994, Nationalrat, XX. GP, Stenographisches Protokoll, 31.1.1996 76/UEA – Die besondere Förderung der Volksgruppen im „Millenniumsjahr“, unselbständiger Entschließungsantrag des Abgeordneten Dr. Harald Ofner und Genossen betreffend die besondere Förderung der Volksgruppen im „Millenniumsjahr“, 23.4.1996 Zu III-58 d.B. – Volksgruppenförderung im Jahre 1995. Bericht der Bundesregierung gemäß § 9 Abs. 7 des Volksgruppengesetzes über die Volksgruppenförderung im Jahre 1995, Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 63. Sitzung/110, 26.2.1997
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Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 110. Sitzung/57, 26.2.1998 (Bericht des Verfassungsausschusses über die Regierungsvorlage), 889 der Beilagen: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten samt Erklärung (1067 der Beilagen) Beschluß des Nationalrates vom 26. Februar 1998 betreffend ein Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten samt Erklärung (889 und 1067/NR sowie 5647/BR der Beilagen) Stenographisches Protokoll, 2. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXI. Gesetzgebungsperiode, 18.11.1999 Stenographisches Protokoll, 34. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXI. Gesetzgebungsperiode, 7.7.2000
Debatten im Bundesrat Stenographisches Protokoll, 636. Sitzung des Bundesrates, 12.2.1998 Stenographisches Protokoll, 637. Sitzung des Bundesrates, 12.3.1998
Österreich-Konvent 2003 Tonbandabschrift des Österreich-Konvents, 5. Sitzung, 21.11.2003 Tonbandabschrift des Österreich-Konvents, 6. Sitzung, 15.12.2003 2004 Bericht des Ausschusses I Staatsaufgaben und Staatsziele, 25.2.2004 Vorschlag der Ökumenischen Expertengruppe (24.2.2004 bzw. 14.9.2004), dok. in: Sitzung des Besonderen Ausschusses zur Vorberatung des Berichtes des ÖsterreichKonvents (III-136 d.B.) am 17. Jänner 2006: Synopse der Gesamtvorschläge und Positionen der parlamentarischen Klubs zum Themenbereich „Grundprinzipen und Staatsziele“ Protokoll über die 15. Sitzung des Ausschusses I am 6.10.2004 Südtirol-Formulierung für Präambel, eingebracht von Mag. Oliver Henhapel (für Elisabeth Gehrer) zur 15. Sitzung des Ausschusses I am 6.10.2004 2005 Endbericht des Österreich-Konvents, 31.1.2005 Endbericht des Österreich-Konvents, Teil 4 b: Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung, 12.1.2005 2006 Sitzung des Besonderen Ausschusses zur Vorberatung des Berichtes des ÖsterreichKonvents (III-136 d.B.) am 17. Jänner 2006: Synopse der Gesamtvorschläge und
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Positionen der parlamentarischen Klubs zum Themenbereich „Grundprinzipen und Staatsziele“ Petition der Tiroler Schützenkompanien an den Präsidenten des Nationalrates, Dr. Andreas Khol, 17.1.2006 Entschließungstext des Außenpolitischen Ausschusses, 5.7.2006, 1610 der Beilagen XXII. GP – Ausschussbericht NR Bericht des Außenpolitischen Ausschusses über die Petition Nr. 80/PET: „betreffend Beratungen über eine neue Bundesverfassung“, überreicht vom Präsidenten des Nationalrates Dr. Andreas Khol und den Abgeordneten Klaus Wittauer, Astrid Stadler, Georg Keuschnigg, Mag. Karin Hakl, Maria Grander, Johannes Schweisgut, Helga Machne und Hermann Gahr, 1610 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP, 5.7.2006
Zeitungen und Zeitschriften Der Standard Die Presse Die Welt Dolomiten Eurolang Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland (FAZ) Hamburger Abendblatt hrvatske novine Parlamentskorrespondenz Stuttgarter Zeitung Süddeutsche Zeitung (SZ) Südtiroler Freiheitskampf Zoom
Integration und Perspektiven einer multikulturellen Demokratie
Das Ende des Nationalstaates als Chance für die offene europäische Republik Dieter Oberndörfer
Für den modernen Nationalstaat gelten Fremde und Fremdes als Störfaktoren oder gar als Gefährdung seiner Identität. Die Zukunft der Migration – die Aufnahme und humane Integration von Migranten oder ihre Abwehr und Exklusion – wird ganz entscheidend von der ideologischen Entwicklung des Nationalstaates abhängen. Der folgende Beitrag weist auf die mögliche globale Bedeutung hin, die der Auseinandersetzung über die Zukunft des Nationalstaates insbesondere in Europa zukommt. Die Idee des Nationalstaates entstand in Europa und wurde von hier aus in die ganze Welt exportiert. National- sind Territorialstaaten, deren Regierungen im Sinne der Lehre, die von dem französischen Staatsphilosophen Jean Bodin im 16. Jahrhundert entwickelt wurde, souverän sein sollen. „Souverän“ im Sinne Bodins sind Regierungen dann, wenn sie ihre wie auch immer definierten politischen Interessen nicht nur im Innern, sondern auch nach außen aus eigener Kraft durchsetzen können. Nationale Politik hat demnach dafür zu sorgen, dass der Souveränitätsanspruch des eigenen Staates nicht eingeschränkt wird. Nationalstaaten und ihre Souveränität sind sakrosankt, und der Nationalstaat ist auf eine ewige und unauflösbare Existenz hin angelegt (vgl. Oberndörfer 1993, 1994, 1999a, 1999b, 2000, 2001, 2005, 2006, 2007a und 2007b).
Nationalstaat am Ende? Schon ein Blick auf die politische Landkarte der Welt scheint das Fragezeichen zu widerlegen. Alle Staaten der Welt definieren sich heute als Nationen, die meisten sind Mitglieder der Vereinten Nationen und beteiligen sich am Wettbewerb der Nationen bei den Olympischen Spielen. Sie alle haben sich die Symbole des Nationalstaates, -flaggen und -hymnen zugelegt, und an nationalen Feiertagen wird die eigene Nation kultisch zelebriert. Alle Regierungen berufen sich bei der Legitimierung ihrer Politik auf nationale Interessen und die nationale Souveränität. Gerade in den Vereinigten Staaten erleben wir seit dem 11. September 2001 eine wahre Explosion des Nationalismus und der nationalen Souve-
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ränitätsidee: „America first!“ Ein Weltgerichtshof zur Verurteilung von Kriegsverbrechen wird unter Berufung auf die eigene nationale Souveränität abgelehnt. Die Manifestationen des heutigen US-amerikanischen Nationalismus erinnern an den Nationalismus der Europäer in der Zeit vor und zwischen den beiden europäischen Bürgerkriegen. In Europa selbst ist trotz der bisherigen großen Erfolge bei der politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas eine deutliche Ernüchterung früherer Hoffnungen auf ein Ende seines nationalen Provinzialismus zu beobachten. Weiter gehende Forderungen nach Abbau der Nationalstaaten und Bildung eines neuen europäischen Staates nach dem Muster der USA werden heute von den meisten als realitätsfremde Utopie abgelehnt, und sogar die Bildung eines europäischen Staatenbundes wird von vielen für unwahrscheinlich gehalten. Dennoch ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet auf jenem Kontinent, der zuerst Nationalstaaten hervorgebracht hatte, die zur Vorlage für die weltweite Staatenbildung der Moderne avancierten, heute die Erosion des Nationalstaates konstatiert, seine Überwindung gefordert und in der Politik diskutiert wird. Die Debatte um die Zukunft oder das Ende des Nationalstaates weist zwei Argumentationsstränge auf: Im Zentrum des ersten stehen der mögliche Abbau der nationalen Souveränität und die Beschränkungen nationaler Politiken durch globale und regionale Vernetzungen von Wirtschaft und Politik. Durch sie werde, so die Argumentation, die nationale Souveränität der einzelnen Staaten sukzessive abgebaut und ausgehöhlt, und ein Ende nationalstaatlicher Politik zeichne sich ab. An dieser These ist viel Richtiges, insbesondere im Hinblick auf das Szenario der europäischen Staatengemeinschaft, der Verflechtung ihrer nationalen Ökonomien und Politiken seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang aber doch, ob diese Debatte – wenn sie auf die Vergangenheit zielt –, nicht von einem unhistorischen Idealtypus des Nationalstaates ausgeht. Die europäischen Nationalstaaten waren auch im 19. Jahrhundert und in den vorausgehenden Jahrhunderten miteinander verflochten, allerdings nie in dem von der klassischen Souveränitätslehre geforderten Umfange souverän. Ein anderer Argumentationsstrang orientiert sich an der Auflösung bisheriger klassischer nationalstaatlicher Legitimitätsmuster. Es geht hier um die Frage nach der künftigen normativen Orientierung der derzeitigen Nationalstaaten: Sollten sich Nationalstaaten auch weiterhin als unauflösbar definieren und sich primär an ihren Eigeninteressen orientieren? Oder sind sie dazu bereit, ihren eigenen politischen Bestand in Frage zu stellen, ihre bisherigen nationalen Grenzen als auflösbar zu betrachten und den Staat nicht wie im klassischen Nationalstaatsdenken als quasi außerkonstitutionell vorgegebene sakrosankte Größe wahrzunehmen? Der Staat könnte nun – wie früher in den zahlreichen griechischen Polisgründungen – als Zweckorganisation angesehen und an seinen Leistungen gemessen werden. Zu diesen Leistungen müssten heute sowohl die Ori-
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entierung staatlicher Politik an den normativen menschenrechtlichen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates als auch seine weltbürgerliche Substanz gehören. Die Nation steht in diesen Debatten für das Partikulare, mit dem sich Nationalstaaten voneinander abgrenzen und legitimieren. Die Überwindung oder das Ende des Nationalen steht hingegen für das weltbürgerliche normative Fundament der Republik, des modernen Verfassungsstaates, für universal gültige individuelle Menschenrechte und für die Ableitung der Rechte der Bürger aus der Natur „des“ Menschen. Republiken sind daher per sé offene Republiken, die sich nicht nach außen abschließen, sondern im Rahmen des Möglichen Fremde aufnehmen und ihnen Bürgerrechte zugestehen. Die Geschichte der modernen Nationalstaaten wird seit ihren Anfängen in der französischen Revolution und der amerikanischen Staatsgründung von diesem Gegensatz zwischen dem Partikularismus der Nation und dem weltbürgerlichen Universalismus der Republik bestimmt. Alle derzeitigen Nationalstaaten sind in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Nation und Republik zugleich. So sind heute nach internationalem Sprachgebrauch alle Staaten der Welt „nation states“, Nationalstaaten, die sich größtenteils als Mitglieder der Vereinten Nationen zu den individuellen Menschenrechten bekennen. Das Partikulare, mit dem sich Nationen legitimieren und abgrenzen, sind kollektive Eigenschaften oder Werte: ihre kollektive Kultur. Die Bürger/innen müssen diese politische Substanz der Nation bewahren und sich ihr unterordnen. Die politische Substanz der Republik hingegen ist die individuelle Freiheit ihrer Bürger/innen. Sie wird durch die republikanische Verfassung, durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte geschützt. Die Kultur der Republik ist daher nicht eine aus der kollektiven Nationalkultur abgeleitete und den Bürger(inne)n verbindlich vorgegebene Orientierungsgröße, vielmehr ein von ihnen unterschiedlich interpretierbares Gebilde. In der Republik, im modernen Verfassungsstaat, ist die Kultur deshalb immanent pluralistisch und veränderlich, offen für kulturelle Innovation, und sie kann Fremde bzw. Fremdes in sich aufnehmen. Im Gegensatz zur Behauptung der Ideologen der Nation ist diese keineswegs eine à priori vorhandene und naturwüchsige Größe. Sie erschafft sich vielmehr selbst durch Abgrenzung von anderen Staaten und Selbsthomogenisierung im Inneren. Die definierten Inhalte nationaler Identität müssen im eigenen Staatsverband durchgesetzt und sog. artfremde Elemente ausgeschieden werden: Fremde und Fremdes sind Störfaktoren. Wer nicht an der „Substanz der Gleichheit“ (Carl Schmitt) des Staatsvolkes teilhat, also z.B. nicht die Sprache der Sprachnation spricht, nicht dem Staatsvolk des völkischen Nationalstaates angehört oder sich nicht zur Staatsreligion des religiös legitimierten Nationalstaates bekennt, gilt als Stör- und Risikofaktor der nationalen Einheit und ist – sofern
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gestattet – einem Assimilierungszwang ausgesetzt. Häufig jedoch werden diese Menschen in ein Ghetto minderen Rechts verwiesen, vertrieben oder sogar physisch vernichtet. In allen Varianten des Nationalstaates ist diese Tendenz zur Selbsthomogenisierung eingebaut. In der Sprachnation sollen Minderheiten ihre eigene Sprache aufgeben, um die des Staatsvolkes bzw. die Staatssprache zu übernehmen, die von „Fremdwörtern“ gereinigt wird. Dialekte und Sprachen von Minderheiten werden als sprachliche Ausdrucksformen minderen Ranges oder sogar als politische Gefährdung der nationalen Einheit abgewertet und verfemt. Einer neueren Studie zufolge wurde die sprachliche Reinheit Frankreichs erst im ausgehenden 19. Jahrhundert geschaffen.1 Noch um 1800 verstanden und sprachen nur 20 Prozent der Bewohner/innen Frankreichs Französisch. Erst nach dem DeutschFranzösischen Krieg (1871) und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wurde mit Hilfe der Einführung der Volksschulen und der allgemeinen Wehrpflicht die sprachliche Einheit Frankreichs geschaffen. In Italien sprachen um 1890 lediglich 10 Prozent der Staatsangehörigen Italienisch, so das Ergebnis sehr sorgfältiger Untersuchungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die sprachliche Einigung Italiens durch den Ausbau des Schulsystems sowie durch Rundfunk und Fernsehen hergestellt. Auch die Masse der bäuerlichen Bevölkerung Südund Norddeutschlands konnte noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts sprachlich nicht miteinander kommunizieren. Im völkischen Nationalismus werden die ethnischen Minderheiten vom Staatsvolk unterdrückt oder vernichtet. Demgegenüber ermöglichten sowohl das Habsburger als auch das Osmanische Reich über Jahrhunderte hinweg eine buntscheckige, regional oft stark durchmischte Koexistenz zahlreicher Völker. In den neuen ethnischen Nationalstaaten, die sich in Ost- und Südosteuropa nach dem Ersten Weltkrieg unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht „der Völker“ bildeten, wurde diese Koexistenz zerstört. Die ethnische Homogenisierung avancierte zum Staatsziel und mit Hilfe ihrer ideologischen Legitimierung galt es als selbstverständliches „Recht“ eines jeden „Staatsvolkes“, Minderheiten zwangsweise zu assimilieren oder zu vernichten. Zur Verwirklichung ethnischer Homogenität führten die Türkei und Griechenland nach dem Ersten Weltkrieg millionenfache Austreibungen ihrer Minderheiten durch. Die Ermordung von einer Million Armeniern gilt als der erste Völkermord in der Geschichte des modernen Nationalstaates. Wie der sprachliche und ethnische ist auch der religiöse Nationalismus auf Selbsthomogenisierung angelegt. Religiöse Minderheiten verlieren ihre politischen Rechte, „Abtrünnige“ werden als Feinde Gottes und der Staatsreligion erbarmungslos verfolgt oder sogar getötet. 1
Zur späten Durchsetzung der sog. Nationalsprachen Europas als Volkssprachen liegen sehr genaue Untersuchungen vor. Vgl. hierzu die Daten und Dokumente in: Oberndörfer 1999b, S. 27 ff.
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In den aus dem Kolonialismus hervorgegangenen Geschichtsnationen Afrikas und Asiens konstruierten die Ideologen auf Kosten der überlieferten ethnischen und kulturellen Vielfalt Einheitsstaatsbürger. Nach der amtlichen nationalen Mythologie Indiens, Kenias und Tansanias – religiös-kulturell und ethnisch gemischten Staaten – gab es nur noch „den“ Inder, „den“ Kenianer und „den“ Tansanier. In den meisten Staaten Afrikas werden daher Statistiken über die Stammeszugehörigkeit von den Behörden als Verschlusssache behandelt; ihre Veröffentlichung wäre ein Akt der Subversion. In vielen Geschichtsnationen leben unterschiedliche religiöse und ethnische Gruppen in relativ friedlicher Koexistenz miteinander, eine Leistung, die jedoch oft mit ausgeprägter Abgrenzung nach außen verbunden ist. In der Schweiz wurde beispielsweise über Jahrzehnte hinweg durch das Rotationsprinzip verhindert, dass Ausländer/innen nach langer Ortsansässigkeit die Forderung nach Einbürgerung erheben konnten.2 Der Geschichtsstaat Nigeria – ein Vielvölkerstaat – hat nach dem Ende des Erdölbooms Hunderttausende von Gastarbeiter(inne)n aus westafrikanischen Nachbarstaaten in brutaler Art und Weise zwangsdeportiert, ungeachtet dessen, dass viele der westafrikanischen Arbeiter/innen mit Angehörigen nigerianischer Stämme verwandt waren. In allen Nationalstaaten wurde versucht, die Inhalte ihrer „Identität“ aus der „eigenen“ Historie zu bestimmen, wobei die Geschichts- zur Ideologiewissenschaft des Nationalstaates avancierte. Geht es um den Nachweis der Besitzrechte auf bestimmte Gebiete, wird häufig auch die Archäologie bemüht, die dann zu belegen hat, dass schon „früher“ Vorfahren der eigenen Nation in strittigen Territorien lebten und diese ihr deshalb „gehören“. Alte Landkarten werden für die Rechtfertigung der gewünschten Grenzziehungen herangezogen. Insbesondere Philologie und Theologie fungieren in Sprach- und Religionsnationen als weitere Ideologiedisziplinen. Während die nationale Philologie die Ursprünge erforscht und die verbindliche Gestalt der Nationalsprache definiert, bestimmt die Theologie in den Religionsnationen die Inhalte und wahren Gründe. Die von der Geschichtswissenschaft und ihren Hilfsdisziplinen konstruierten Mythen – oder besser Märchen – einer kontinuierlichen und definierbaren „wahren“ nationalen historischen Überlieferung, deren Ursprünge in der Vergangenheit angeblich zeitweilig verfälscht wurden und sich in der Gegenwart wieder neu entfalten sollen, wurden und werden zur Richtschnur für die inhaltlichen Bestimmungen der eigentlichen, der „echten“ nationalen Substanz. Die nationale Geschichte wird dadurch immer zum vereinfachenden und verfälschenden Konstrukt. Bei der Ermittlung der sog. nationalen Identität wird die tatsächliche Vielgestaltigkeit der Völker und Staatengeschichten im Nachhinein 2
Vgl. hierzu die tiefschürfende Einleitung Yves Bizeuls (2000) zu dem von ihm herausgegebenen Band.
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selektiv eingeschränkt, müssen bestimmte Aspekte ausgewählt, in einer künstlich konstruierten Zwangsjacke nationaler Kontinuität und Identität festgeschrieben und für die Zukunft verbindlich gemacht werden. In Wirklichkeit weist aber die Geschichte der Kulturen und Völker niemals nur „eine“ und noch dazu homogene Identität auf. Kulturen und Völker sind immer vielgestaltig und dynamische, sich in ihrer Geschichte verändernde Gebilde. Die Geschichte aller Völker und Kulturen war stets eine Geschichte kulturellen Austauschs, der kulturellen Überlagerung, der Neuinterpretation, der Differenzierung und der Evolution kultureller Werte. Eine „wahre“, von anderen Kulturen unbeeinflusste „eigene“ Kulturtradition, die sich wie eine Pflanze allein aus dem genetischen Potenzial ihres Samens entwickelt, hat es nie und nirgendwo gegeben. Sie existierte immer nur in Form der ideologischen Kunstprodukte „nationaler“ Geschichtsschreibung. Bei den von der nationalen Geschichtsschreibung produzierten und definierten Inhalten nationaler Identität verarmt die individuelle und kollektive kulturelle und ethnische Vielfalt. Sie wird dem Moloch angeblich wissenschaftlicher Kunstprodukte – „der“ nationalen Identität – geopfert. Da diese Identität aus der Geschichte und hier wiederum nur aus einer künstlich verengten Perspektive gewonnen wird, sind alle ihre inhaltlichen Bestimmungen zwangsläufig ausgrenzend und restaurativ auf Vergangenes bezogen. Die einmal „definierte“ nationale Identität ist statisch. Der Blick in die Zukunft, auf neue, bessere Möglichkeiten der kollektiven und individuellen Existenz, wird durch die Messwerte einer nach politisch-ideologischen Kriterien und Interessen zurechtgestrickten Vergangenheit verstellt, und diese Interessen waren stets die politischer Herrschaftseliten. Die dem Nationalismus immanente restaurative Orientierung an ferner, toter Vergangenheit und die dafür benutzten Geschichtsklitterungen und Mythen finden sich in der ideologischen Selbstlegitimierung aller europäischen Nationalstaaten. Die Franzosen, Italiener und Spanier leiteten die Merkmale ihrer nationalen Identität von den Römern, Galliern oder Kelt-Iberern ab. Die Deutschen, Skandinavier, Balten, Slawen, Ungarn und Türken verlegten den Zeitpunkt ihrer Nationswerdung in jene ferne Vorzeit, in der „ihre“ Vorfahren von der nationalen Geschichtsschreibung angesiedelt worden waren – bei den Germanen, Urslawen, Urbalten, Hunnen oder Urtürken. Im 19. Jahrhundert, zu Beginn der technisch-wissenschaftlichen Revolution und der von ihr eingeleiteten Auflösung vorindustrieller Lebensformen, wurde für den deutschen völkischen Nationalismus die romantisch verklärte bäuerliche Lebenswelt der Germanen zum Leitbild für die Gestaltung der Zukunft. So hat die deutsche Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert mit hohem intellektuellem Aufwand auch eine quasi naturwüchsige und zwangsläufig lineare Kontinuität der deutschen Geschichte von ihren Anfängen bei den Germanen
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bis zu ihrer Erfüllung im Zweiten Deutschen Reich nachträglich konstruiert. Der in Rom erzogene Cherusker-Fürst Arminius – „Hermann der Befreier“ –, der Reformator Luther sowie Friedrich der Große, „König von Preußen“, der Französisch sprach und schrieb, Deutsch hingegen nur radebrechen konnte und, um Menschen zu gewinnen, Tartaren anzusiedeln bereit war, wurden zu Helden des Kampfes um den deutschen Nationalstaat. Das Heilige Römische Reich Karls des Großen und seiner Nachfolger, das gerade in seiner Blütezeit ein Vielvölkerimperium war, wurde zur angeblichen Kernzelle des ethnisch-deutschen Staates verfälscht. In allen Fällen konstruierte man eine künstliche, fiktive Kontinuität zwischen den angeblichen Anfängen der Nation in der fernen Vergangenheit und dem eigenen, neuen Nationalstaat, die es in der wahren, immer komplexen Geschichte nie gegeben hat. Diese Kontinuität wurde als ein von Anbeginn einsetzender Kampf um nationale Selbstbestimmung dargestellt, der sich erst in der Gegenwart vollendet. In Europa entstanden die Nationalstaaten in Gesellschaften, in denen das „nation-building“, der Aufbau einer Nation, als mindestens ebenso wichtig, ja noch wichtiger als die Einführung demokratischer Normen, Regelmechanismen und Institutionen angesehen wurde. Die Ideologen und Ideologien der neuen Nationalstaaten waren davon überzeugt, dass die Nation nicht nur einer eigenen nationalen Kultur bzw. Nationalkultur bedurfte, sondern dass diese schon längst existierte. Sie musste lediglich neu entdeckt, durchgesetzt und geschützt werden. Die Wiederentdeckung, der Wiederaufbau und der Schutz der nationalen Kultur prägten vor allem den völkischen Nationalismus, die dominante politische Ideologie der neuen Nationalstaaten Mittel-, Nord-, Ost- und Südeuropas. Die Nationalkultur galt im völkischen Nationalismus – noch viel radikaler als in anderen Formen des Nationalismus – als die eigentliche Substanz der Nation. Nach Johann Gottfried Herder, philosophischer Vordenker der Ideologie des ethnischen Nationalismus, waren alle Nationalkulturen seiner Zeit durch frühere Mischungen mit fremden Elementen verunreinigt und daher verkommen. Für die Wiederherstellung der wahren eigenen „nationalen“ Kultur mussten die fremden Überlieferungen ausgeschieden werden. Die unverfälschten nationalen Traditionen selbst wurden in der Urzeit der Völker gesucht, etwa bei den Germanen, Ariern, Galliern oder Urtürken, als die eigene Nation noch jung und eben noch nicht durch fremde Elemente verdorben war. Alle reinen, unvermischten und daher „echten“ Nationalkulturen betrachtete man als gleichrangig. Der romantische Nationalismus sah in jedem Volk und jeder nationalen Kultur „einen Gedanken Gottes“, wodurch sie unmittelbar durch Gott geheiligt waren. Der Republikaner und Aufklärer Herder ging dabei von dem naiven Glauben aus, dass alle Nationen in ihrer Jugendzeit republikanische Gemeinwesen gewesen
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seien, die in Harmonie und Frieden miteinander gelebt hätten. Die Wiederherstellung der „echten“ Nationen müsse deshalb den ewigen Frieden bringen. „Echte“ Nationen vergriffen sich niemals an den Rechten anderer Nationen, eine Behauptung, die auch heute noch – allen geschichtlichen Erfahrungen zum Trotz – ein Glaubenssatz zeitgenössischer Nationalisten ist. Die romantische Philosophie behauptet die Existenz kollektiver Nationalkulturen und verkündet ihre Gleichwertigkeit, wohingegen Kultur im Sinne der Aufklärung ein von Individuen getragener pluralistischer Prozess ist: Kultur im eigentlichen Sinne stellt ein Produkt der Vernunft und der Tugend eines vernünftigen moralischen Diskurses dar. Der Mensch wird als vernunftbegabtes moralisches Wesen gesehen. Daher ist ein vernünftiger und moralischer Diskurs auch zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen möglich. Bestimmte Normen und Rechte – universale Menschenrechte – sind für Menschen aller Nationen gültig und einleuchtend, „self-evident“. Kultur ist ein Prozess der Vernunft, der schrittweise zu höheren Stufen der Erkenntnis, der Sensibilität und Zivilisation führt. Daher müssen alle Menschen ein Interesse an der Teilnahme an kulturellen Prozessen haben. In der romantischen Philosophie des 19. Jahrhunderts wurde diese aufklärerische Idee einer dynamischen, durch individuelle Vernunft und durch vernünftigen Diskurs in Bewegung gehaltenen Kultur durch die Idee einer statischen ersetzt und zugleich durch das Prinzip der Toleranz gegen Kritik geschützt. Die Romantik eignete sich also die Toleranz, diesen Schlüsselbegriff der Aufklärung, an und forderte in ihrem Namen die Akzeptanz für ein Verständnis von Kultur, das mit der aufklärerischen Vorstellung einer auf individuelle Vernunft und Pluralismus gegründeten Kultur unvereinbar war, ja dem sie selbst zutiefst feindselig gegenüberstand. Die Toleranz und die kollektiven Kulturen der Romantik wurden zum Selbstzweck (Alain Finkielkraut). Kulturen wurden nicht mehr auf der Grundlage der Leistungen, Verdienste, Werte oder des Verhaltens ihrer Angehörigen beurteilt. Sie waren von nun an inhärent gut und mussten ohne Ansehung ihrer Inhalte toleriert werden. Diese Sicht der Welt als eines riesigen, sorgfältig zu bewahrenden Völkerkundemuseums, die bis heute die Hausphilosophie der völkischen Nationalisten oder ethnokulturellen Schwärmer geblieben ist, war tief in der Feindschaft der romantischen Philosophie gegen den Rationalismus der Aufklärung und die Prinzipien und Institutionen des Republikanismus verankert. Von dieser Grundlage aus begannen nunmehr Ethnologen, Historiker und Philologen, kollektive Nationalkulturen zu entdecken und zu konstruieren. Um für ihre selbst geschaffenen Konstrukte kritiklosen Respekt zu fordern, bedienten sie sich des aufklärerischen Prinzips der Toleranz, das sie übernahmen und missbrauchten.
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Die geforderte Unantastbarkeit aller kollektiven Nationalkulturen wurde politisiert, die individuelle kulturelle Freiheit hingegen, die im Republikanismus vor politischer Unterdrückung geschützt werden muss, vernachlässigt oder sogar marginalisiert. Mit der Heiligsprechung und Verehrung der von Ideologen erst im Nachhinein geschaffenen kollektiven Nationalkulturen und ihrer ebenso künstlich konstruierten kontinuierlichen nationalen Geschichte – in Wirklichkeit waren sie alle diffuse Konglomerate von Gütern und Werten meist fremden Ursprungs – wurde das Fundament einer neuen, säkularen Religion gelegt. Sie stiftete Sinn und Zusammenhalt für die Angehörigen der neuen Nationalstaaten, füllte das Vakuum, das durch die zunehmende Säkularisierung und die Schwächung der Überlieferung und ihrer Ordnungen entstand und verlangte von ihren Gläubigen totale Unterwerfung. Rechtssysteme, Ziele und politische Ordnungen der Nationen sollen aus der jeweiligen „nationalen“ Tradition abgeleitet werden, müssen demnach mit ihr „übereinstimmen“ und gelten nur dann als legitim. Die oberste politische Norm der Nation ist ihr eigenes Überlebensrecht. In dem von Nationalisten stolz zitierten, nach moralischen Kriterien aber schrecklichen Satz „Right or wrong, my country“ kommt dieses Rechtsverständnis zum Ausdruck. Ein übernationales Recht oder übernational gültige Rechtsprinzipien wie die Menschenrechte sind für die Idee der Nation unannehmbar. Jede Nation setzt ja ihr je eigenes Recht. In der Nation können nur die Angehörigen des Staatsvolkes vollberechtigte Staatsbürger sein. Die Menschheit bildet für den Nationalismus hingegen keine Einheit, sodass eine republikanische Weltordnung, ein „Weltbürgerrecht“ (Immanuel Kant) oder weltweite mitmenschliche Solidarität auf Ablehnung stoßen. Die Welt zerfällt in einen Kosmos ewig miteinander rivalisierender Nationalstaaten, in dem der Nationalismus als politische Abgrenzungs- und Integrationsideologie der Staaten fungiert. In allen Nationalstaaten wird Gemeinschaft gestiftet – die Gemeinschaft der Nation. Bei ihrem Aufbau sowie ihrer Verteidigung gegen innere und äußere Feinde entfalten sich die sozialen Tugenden des Menschen: Einsatz und Hingabe für das Ganze, Treue zu den Menschen und den Überlieferungen des Staatsvolkes. Die Geschichte der Nationalstaaten ist eine bewegende und eindrucksvolle Geschichte unsäglicher Leiden, selbstverleugnender Opfer und heldenhafter Taten für die Nation. Die im Nationalstaat gestiftete Gemeinschaft schließt aber nur die Angehörigen der eigenen Nation ein. Sie wird durch die Abgrenzung von „den Anderen“ geschaffen. Wie immer bei der Bildung sozialer oder politischer Kollektive – der Familie, dem Clan, dem Stamm, der Kaste, der Klasse, der sozialen Schicht oder auch profaner Zusammenschlüsse wie der Anhängerschaft von Fußballvereinen –, bildet sich ein Wir-Bewusstsein, welches mit einer „die Anderen“ ausgrenzenden und abwertenden Binnenmoral einhergeht. Das eigene
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Kollektiv, hier die Nation, ist „den Anderen“ überlegen und bildet einen höherwertigen Teil der Menschheit. Die für Angehörige der Nation gültigen Gesetze der Moral finden gegenüber „den Anderen“ nur in begrenztem Umfang oder überhaupt keine Anwendung. Die „Anderen“ sind prinzipiell Menschen minderen Ranges. Diese dem Nationalismus inhärente Aufteilung der Menschheit in das gute eigene Kollektiv und die weniger wertvollen „Anderen“ hat es seit den Anfängen der menschlichen Geschichte gegeben. Sie lieferte immer wieder die Rechtfertigung für schauerliche Verbrechen von Menschen an Menschen. Schon bei manchen Urvölkern bezeichnet der sprachliche Terminus für den Menschen nur die Angehörigen des eigenen Volkes. Menschen anderer Völker ordnet man damit der Welt der Tiere zu, über die nach Kriterien subjektiver Zweckmäßigkeit verfügt werden darf: Sie dürfen getötet, gequält oder als Arbeitstiere gehalten werden. Auch für die Griechen gehörten die Barbaren und „die von Natur aus sklavenhaften Sklaven“ (Aristoteles) nicht zur Gemeinschaft der Menschen. Diese schizophrenen Einstellungen liegen uns – wie der Rassenwahn der Nationalsozialisten veranschaulichte – nicht fern. Einen Volksgenossen selbst unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten, wenn er gegen den Ertrinkungstod kämpfte, war eine selbstverständliche Pflicht. Der Artfremde jedoch, der sich mit letzter Kraft ans Land rettete, durfte wieder ins Wasser gestoßen werden. Diese uralte und weltweite Menschheitstradition der schizophrenen Begrenzung der Menschlichkeit auf die Angehörigen des eigenen Kollektivs bildete auch die geistigpsychische Voraussetzung für die großen neuzeitlichen Menschheitsverbrechen, für die Unterwerfung und Dezimierung der Indianer Amerikas, den Sklavenexport aus Afrika und den westlichen neuzeitlichen Kolonialismus. Schon die stichwortartige Erinnerung an diese Verbrechen veranschaulicht das in der Binnenmoral der Kollektive enthaltene Potenzial der Rechtfertigungen unreflektiert und bedenkenlos praktizierter Barbarei. Im Unterschied zum Idealtypus der Nation schützt der Idealtypus des Verfassungsstaates, die Republik, die individuelle Freiheit der Kultur, die Freiheit der Religion und Weltanschauung, damit aber zugleich kulturelle gesellschaftliche Vielfalt und Dynamik. Die Republik ist daher nicht nur de facto, sondern auch de lege multikulturell. Anders gesagt mit einem allgemein akzeptierten Begriff aus der Zeit vor der Debatte über den Multikulturalismus: Die Republik ist pluralistisch. In der Geschichte des westlichen Verfassungsstaates ist die Freiheit der Religion und der Weltanschauung der eigentliche Kern der kulturellen Freiheit: die Mutter der politischen Freiheit. Durch die politischen Freiheiten der Bürger/innen soll die kulturelle Freiheit gesichert werden. Die Geburt des modernen Verfassungsstaates bildet den Schlusspunkt einer über Jahrhunderte andauernden
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Geschichte religiöser Bürgerkriege in Europa. So wurden die Vereinigten Staaten, die älteste westliche Demokratie, als Fluchtburg für religiös Verfolgte und als Heimstatt für Gläubige unterschiedlicher Konfessionen gegründet. Zum Schutz der individuellen religiösen Freiheit und religiösen Praxis gegen Eingriffe des Staates erfolgte die Trennung von Staat und Kirche. Für die Sicherung des kulturellen Pluralismus musste der Staat eine weltanschaulich neutrale Instanz, ein säkularer Staat werden. Zur individuellen Freiheit der Kultur gehören insbesondere die Freiheit des religiösen Glaubens und der religiösen Praxis, der Weltanschauung und der Kunst. So heißt es in Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“ sowie „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Durch Art. 5 Abs. 3 GG „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ wird die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und Lehre ausdrücklich als Teil der kulturellen Freiheit aufgeführt. Dieser Schutz der Freiheit der Religion, der Weltanschauung und Kunst durch die Verfassung sichert den Bürger(inne)n einen weiten Spielraum (der Freiheit) bei der Bestimmung ihrer individuellen kulturellen Präferenzen auch im Alltag. Zudem werden religiöse Überzeugungen und kulturelle Werte von Minderheiten nicht nur geduldet, sondern dürfen auch aktiv vertreten werden. So besagt Art. 5 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (...). Eine Zensur findet nicht statt.“ Auch der verfassungsrechtliche Schutz der Versammlungsfreiheit ist für die kulturelle Freiheit der Bürger/innen von zentraler Bedeutung. In der Republik gibt es also keine nationalen Religionen oder Kulturen, die für ihre Bürger/innen verbindlich gemacht werden dürfen. Jeder Versuch, einem Deutschen, Franzosen oder US-Amerikaner eine bestimmte Religion oder Konfession als nationale Pflicht oder Eigenschaft vorzuschreiben, wäre ein Anschlag auf den Geist und die Bestimmungen ihrer Verfassungen. Die Kultur der Deutschen, der Bundesbürger/innen, kann daher immer nur der gesamte und in sich sehr vielfältige Güterkorb der kulturellen Werte aller heutigen deutschen Staatsbürger/innen sein. „Die“ oder „eine“ für alle verbindlich definierte deutsche Kultur kann es im Verfassungsstaat nicht geben. Sofern der Begriff der Nation mit kulturellen Überlieferungen und Werten verbunden wird, geschieht dies immer nur als selektive individuelle Entscheidung und Aneignung, die für die übrigen Bürger/innen nicht zwingend verbindlich sind. Auch wenn dies autoritären nationalen Volkserziehern missfällt: Es bleibt den Bürger(inne)n der Bundesrepublik Deutschland überlassen, ob sie deutsche oder englische Liebesromane, ob sie Goethe, den Koran oder die Bild-Zeitung lesen, ob sie Bach, Jazz, Ku-
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schelmusik oder Heavy Metal hören, ob sie in ihrer Freizeit Museen besuchen oder Sport treiben, ihren Urlaub in Deutschland oder im Ausland verbringen. Kulturelle Werte dürfen in der Republik individuell interpretiert, akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Die Kultur der Republik wird somit unvermeidlich zu einer Mischung unterschiedlicher oder sogar konfliktiver Güter und Werte. Begrenzt wird ihr Pluralismus allein durch die Grundwerte der Verfassung sowie deren rechtliche und politische Ordnung. Beide bilden ihrerseits die Voraussetzung für die Offenheit und Vitalität des kulturellen Pluralismus der Republik. Die individuelle kulturelle Freiheit und ihr Pluralismus machen die Kultur der Republik, das komplexe Amalgam der kulturellen Werte und Güter ihrer Bürger/innen, zu einem permanenten Prozess des Wandels individueller oder kollektiver kultureller Präferenzen. In diesem Prozess ist es legitim, wenn sich einzelne oder bestimmte Gruppen engagiert für die Erhaltung und auch Verbreitung von Überlieferungen einsetzen, die ihnen selbst lieb und teuer sind. Die Kultur der Republik selbst jedoch umfasst die Gesamtheit der kulturellen Güter und Präferenzen aller ihrer Staatsbürger/innen. Wenn etwa in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl der Staatsbürger/innen muslimischen Glaubens zunehmen wird, werden deren religiöse Überzeugungen in noch stärkerem Umfang als schon bisher zu einem Bestandteil der Kultur Deutschlands. In der pluralistischen Kultur der Republik müssen kulturelle Werte und Überlieferungen sehr viel überzeugender und engagierter vertreten werden als in einer Gesellschaft, in der „die“ Überlieferung ungefragt und unkritisch Gegenwart und Zukunft prägen soll. Dies begünstigt eine ungleich tiefer gehende individuelle Aneignung kultureller Güter durch die Bürger/innen. Die Freiheit der Kultur in der Republik richtet sich also nicht gegen die Bewahrung kultureller Traditionen, sie schafft indes den politischen Rahmen für eine ständig neue kritische Überprüfung ihrer Geltung und verbessert die Chancen für kulturelle Vielfalt und Innovation. Bei den Abgrenzungen der Staaten voneinander entstehen wie in vielen anderen menschlichen Vereinigungen auch – in Stammeshorden, Stadtstaaten, Imperien oder politischen Parteien und Fußballvereinen – kollektive WirGefühle, in denen die eigene Gemeinschaft als der eigentlich wertvolle, „den Anderen“ überlegene Teil der Menschheit eingestuft wird. Im Widerspruch zu ihrer weltbürgerlichen Wertesubstanz bilden so auch republikanische Verfassungsstaaten ein „die Anderen“ abwertendes Wir-Bewusstsein aus. Wie in Nationalstaaten befördert auch hier die Berufung auf eine angeblich eigene Überlieferung oder eine eigene kollektive Kultur die Substanz des Wir-Bewusstseins und seines Überlegenheitsdünkels. Die politische Legitimität republikanischer Verfassungsstaaten misst sich demgegenüber daran, inwieweit die weltbürgerli-
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chen Normen der Republik in der Innen- und Außenpolitik im Rahmen des Möglichen gegen partikulare „nationale“ Interessen engagiert durchgesetzt werden. In den „nationalen“ Kulturen republikanischer Verfassungsstaaten drücken sich in der Regel die kulturellen Überlieferungen der jeweils dominanten Bevölkerungsgruppen aus, ein Vorgang, der gerade auch durch das demokratische Mehrheitsprinzip begünstigt wurde. Obwohl sich die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika darauf berufen hatte, „that all men are created equal“, interpretierte die Mehrheit der US-Amerikaner/innen ihren neuen Staat als eine weiße, angelsächsische und protestantische Nation. Die Indianer wurden dezimiert und von der Nation ausgeschlossen, und in den Südstaaten blieben den Schwarzen die Bürgerrechte noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts vorenthalten. Im kalvinistisch geprägten Amerika des 19. Jahrhunderts, dies ist heute vergessen, brachte die Einwanderung irischer und deutscher Katholiken noch weit mehr sozialen und politischen Zündstoff mit sich als heute die Einwanderung von Muslim(inn)en in säkularisierte westliche Gesellschaften. Erst in den späten 1960er-Jahren, als eine neue Masseneinwanderung aus Lateinamerika, Asien und Afrika zugelassen wurde und die USA zur ersten kosmopolitischen Republik machte, wurde der kulturelle Nationalismus der USamerikanischen Einwanderungspolitik überwunden. In der Abgrenzung gegen außen bleibt dabei auch hier jederzeit der Rückfall in archaische Varianten des „mörderischen“ Nationalismus eine Möglichkeit. Der Schatten Kains begleitet die Geschichte menschlicher Kollektive wohl auch in Zukunft.
Recht und Freiheit als Basis des Verfassungspatriotismus Die Republik erkennt prinzipiell alle Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft und Kultur als potenzielle Staatsbürger/innen an. Die Lebensgrundlage der Republik ist der Verfassungspatriotismus, die aktive Identifikation der Bürger/innen mit der politischen Ordnung und den Werten der Republik. Verfassungspatriotismus bildet sich, wenn Recht und Freiheit das politische Handeln leiten. Hieraus entstehen in der Geschichte der Republiken ihre Mythen, der Wurzelboden des Verfassungspatriotismus. Die Aneignung und Verinnerlichung von Recht und Freiheit, eben der Verfassungspatriotismus, äußert sich in Großbritannien und den USA in stolzen Formeln wie „rule of law“ („Herrschaft des Rechts“) oder „This is a free country“ („Dies ist ein freies Land“). Die Zugehörigkeit zur Republik basiert nicht wie die Mitgliedschaft im Nationalstaat auf bloßer Abstammung und unfreiwilliger Einbindung in den mystischen Leib der Nation, sondern auf der Zustimmung der Bürger/innen zur republikanischen politischen Ordnung und ihren Werten. Die Republik wurde daher
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als „Willensnation“ (Ernest Renan, 1823-1892) bezeichnet, die sich durch ein tägliches Plebiszit („plébiscite de tous les jours“) ihrer Mitglieder als politische Gemeinschaft ständig neu konstituieren und festigen muss. Es hätte eine große politische Symbolwirkung, wenn es in Europa gelänge, die inhumanen und provinziellen Erbschaften des klassischen Nationalstaates sowie die Hypostasierung der Nation und ihrer Binnenmoral zum Endzweck der Geschichte zu überwinden und den weltbürgerlichen Prämissen der Republik Geltung zu verschaffen. Ob der Nationalstaat überwunden und durch offene Republiken ersetzt werden kann, wird sich in Zukunft daran zeigen, wie sich die Staaten gegenüber Migrant(inn)en verhalten, ob sich die Strategie der Inklusion oder der Exklusion durchsetzt. Die europäischen Staaten, die eine lange nationalstaatliche Tradition haben, werden nur langsam in ein vereintes republikanisches Europa hineinwachsen. Allein auf die Kraft der wirtschaftlichen Integration zu vertrauen, wäre falsch. Im Gegenteil, ein Europa, das nur durch ökonomische Interessen zusammengehalten wird, in dem gleichzeitig aber die alten, nationalen Vorstellungen und Ordnungen bestehen bleiben, würde bei politischen und Wirtschaftskrisen wieder auseinandergesprengt. Die nationalen Ressentiments und Vorurteile könnten ihre frühere Fliehkraft entfalten. Die deutsche Republik und Europa dürfen sich nicht am Status quo einer angeblich einmal irgendwo vorhanden gewesenen, in Wirklichkeit aber immer nur von Ideologen konstruierten nationalen Identität orientieren. Sie müssen vielmehr das weltbürgerliche Wertesubstrat ihrer politischen Ordnungen konkretisieren. Hierbei ist der notwendige Bruch mit dem Nationalismus kein Ausstieg aus der eigenen Geschichte, sondern nur eine Absage an die ideologischen Kunstprodukte der nationalen Geschichtsschreibung. In ihr wurde Geschichte als notwendige und zwangsläufige Entfaltung „der“ Nation gesehen, zu welcher es keine sinnvolle Alternative geben darf. Die Geschichte ist aber selten nur passiv erfahrenes Schicksal einer zwangsläufigen „Entwicklung“. Sie bietet vielmehr Raum für individuelle Gestaltung, für die Wahl zwischen Möglichkeiten, für große, geschichtsverändernde Taten, vor allem auch für die Absage an das, was in der Vergangenheit falsch war. Nach den bitteren geschichtlichen Folgen des Nationalismus in Europa muss die wahre Geschichte und ein der historischen Wirklichkeit angemessenes Bewusstsein erst noch gefunden werden. Geschichte muss als Geschichte der Menschen wie der Menschheit entdeckt und als Chance zur Humanisierung der individuellen und kollektiven Existenz durch das Recht sowie eine freiheitliche politische Ordnung erfahren werden. Der Nationalstaat wurde in Europa geboren. Er muss hier durch den Aufbau einer europäischen republikanischen Ordnung überwunden werden. Nur so behalten die ursprünglich europäischen Grundwerte und freiheitlichen Ordnungen
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der Republik ihre Ausstrahlungskraft. Im 19. Jahrhundert war die Idee des Nationalstaates geschichtsmächtig und zukunftsweisend; heute ist dies die Idee der Republik. Der Nationalstaat muss dort überwunden werden, wo er entstand. Die ideologischen Grundlagen der europäischen Nationalstaaten, ihre romantischen Geschichtsmythen, haben ihre intellektuelle Glaubwürdigkeit verloren. Dies trifft auch und vor allem für die Ideologie des deutschen Nationalstaates, den völkischen Nationalismus, zu. Weiterleben wie bisher nur als müde Traditionskompanien überholter und provinzieller nationalstaatlicher Ideologien in einer zur Einheit zusammenwachsenden Welt? In der Geschichte ist alles möglich, auch das Versagen vor der großen historischen Aufgabe – hier einer Aufschmelzung der Nationalstaaten Europas durch die Orientierung an der Idee der Republik, durch ihre Konkretisierung in einer offenen europäischen Republik. So gilt es jetzt, sich nicht von dem Weihrauch – oder besser: Qualm – restaurativer Ideologien erneut betäuben zu lassen, sondern sich gedanklich auf die notwendige republikanische Ordnung Europas und den Auftrag ihrer Ausstrahlung in die Weltgesellschaft vorzubereiten.
Literatur Oberndörfer, Dieter (1993): Politik für eine offene Republik. Die ideologischen, politischen und sozialen Herausforderungen einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München, S. 133-147 Oberndörfer, Dieter (1994): Der Wahn des Nationalen. Die Alternative der offenen Republik, 2. Aufl. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien Oberndörfer, Dieter (1999a): Integration or Separation. On the Way to the post-national Republic, in: Theodor Hanf (Hrsg.), Dealing with Difference. Religion, Ethnicity, and Politics, Baden-Baden, S. 409-443 Oberndörfer, Dieter (1999b): Nationalstaat, Sprache und Nationbildung in Europa und der außereuropäischen Welt, in: Karl Rohe/Klaus Dicke (Hrsg.), Die Integration politischer Gemeinwesen in der Krise?, Baden-Baden, S. 27-52 Oberndörfer, Dieter (2000): Deutschland ein Mythos? – Von der nationalen zur postnationalen Republik, in: Yves Bizeul (Hrsg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Polen und Frankreich, Berlin, S. 161-196 Oberndörfer, Dieter (2001): Leitkultur und Berliner Republik. Die Herausforderung der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ist das Grundgesetz, in: Das Parlament v. 12.1., S. 27-30 Oberndörfer, Dieter (2005): Deutschland in der Abseitsfalle. Politische Kultur im Zeichen der Globalisierung, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien Oberndörfer, Dieter (2006): Sprache und Nation, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2, S. 41-49
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Oberndörfer, Dieter (2007a): Einwanderungsland Deutschland: Worüber reden wir eigentlich?, in: Siegfried Frech/Karl-Heinz Meier-Braun (Hrsg.), Die offene Gesellschaft. Zuwanderung und Integration, Schwalbach im Taunus, S. 59-88 Oberndörfer, Dieter (2007b): Nation, Multikulturalismus und Migration. Auf dem Weg in die postnationale Republik?, in: Peter Molt/Helga Dickow (Hrsg.), Kulturen und Konflikte im Vergleich. Festschrift für Theo Hanf, Baden-Baden, S. 700-712
Flüchtlinge und der deutsche Arbeitsmarkt Dauernde staatliche Integrationsverweigerung Peter Kühne
Entscheidender Indikator sozialer Integration in einer von ökonomischen Austauschbeziehungen geprägten Aufnahmegesellschaft ist das Recht bzw. die Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Dieser Indikator ist ökonomisch grundlegend, weil nur so eine unabhängige Einkommenssicherung erzielt, also die stigmatisierende Abhängigkeit von staatlicher Alimentierung überwunden werden kann. Zudem ist die Erwerbstätigkeit psychologisch, d.h. im Sinne einer Bestätigung des Selbstwert- und des Gefühls der Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft, von zentraler Bedeutung. Schließlich hat sie als Einstieg in das Rollengefüge und Statussystem der Aufnahmegesellschaft sowie als Chance verstetigter und gleichzeitig „normalisierter“ Interaktionen bzw. Kommunikationen eine sozial-emanzipative Funktion (vgl. Kühne 2004). Nebenbei würden dadurch die kommunalen Sozialhaushalte entlastet, die Systeme sozialer Sicherung gestützt und aufgrund vermehrter Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen neue Erwerbsmöglichkeiten sowohl für Einheimische wie Einwanderer geschaffen. Diese Effekte wären – ebenso wie der demografische Hinweis auf das relativ niedrige Durchschnittsalter zahlreicher Flüchtlinge – geeignet, größere Akzeptanz auch bei jenen Teilen der ansässigen Mehrheitsbevölkerung zu schaffen, die sich humanitären Argumenten verschließen und dem Schicksal Zufluchtsuchender mehr oder weniger teilnahmslos gegenüberstehen. Für die Gruppe bloß geduldeter Flüchtlinge ist der Zugang zum Arbeitsmarkt schon deshalb von grundlegender Bedeutung, weil sie einen Aufenthaltstitel in der Regel nur erhalten, wenn sie in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.1 So legt es auch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz samt zugehöriger Rechtsverordnung und Durchführungsanordnung fest. Obwohl der Gesetzgeber für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels extrem hohe Anforderungen stellt und die Erwerbstätigkeit zum zentralen Prüfstein 1
Nur jene Asylbewerber/innen, die auf der Basis des Grundgesetzes oder der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge anerkannt wurden, sind auch zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit berechtigt.
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in allen bisherigen Altfall- bzw. Bleiberechtsregelungen erhoben hat, wird der Zugang zum Arbeitsmarkt durch zahlreiche juristische bzw. bürokratische Barrieren für bestimmte Gruppen blockiert. Geduldete Flüchtlinge und selbst solche mit einem humanitären Aufenthaltstitel sind als lediglich „nachrangige“ Arbeitsmarktteilnehmer/innen definiert und, sofern sie einen einstellungswilligen Arbeitgeber gefunden haben, einem strengen Selektionsverfahren durch die Ausländerbehörde und die Bundesagentur für Arbeit unterworfen. „Nachrangigkeit“ bedeutet somit in der Mehrzahl aller Fälle den Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Bereits im Vorfeld bleibt eine Mehrheit der Flüchtlinge von allen Integrationsangeboten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausgeschlossen. Der Begriff „Integration“ erscheint zwar bereits im Titel des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).2 Daraus lässt sich schließen, dass der Gesetzgeber solchen Aspekten besonderes Gewicht beimisst. Auch in der öffentlichen Resonanz auf das Gesetz wird hier das eigentlich Neue, Innovative gesehen: ein Paradigmenwechsel weg von einer bloß ordnungsrechtlichen Behandlung des Aufenthalts von Ausländern hin zu dessen inhaltlich-perspektivischer Ausgestaltung. § 43 Abs. 1 AufenthG schränkt den Kreis der zu Integrierenden dann allerdings deutlich ein: Nicht allen hier lebenden Flüchtlingen wird ein Integrationsangebot zugebilligt, sondern nur der Minderheit mit Asylstatus.3 Einer Mehrheit sog. Defacto-Flüchtlinge, ob mit oder ohne humanitären Aufenthaltstitel, enthält man dieses Angebot vor.4
Strukturprobleme des Arbeitsmarktes: „underclass“ und „social exclusion“ Auch ohne ein rigides Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungsrecht würde die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt auf konjunkturelle, noch mehr jedoch auf strukturelle Barrieren stoßen. Hinzu kämen Wahrnehmungsdefizite und eine weiterhin unterentwickelte Bereitschaft zahlreicher Arbeitsmarktakteure, sich auch der Flüchtlinge als einer Gruppe gezielt anzunehmen, die nach Beschäftigungsmöglichkeiten sucht. Der Arbeitsmarkt ist kein integrales Gebilde, sondern segmentiert, also z.B. in einen primären und sekundären Sektor aufgeteilt. Die hochwertigen Arbeits2 3 4
„Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet“ Dieser Personenkreis umfasste am 31. Dezember 2004 knapp 300.000 Personen (vgl. BAMF 2004, S. 79 f.). Dieser Personenkreis umfasste am 31. Dezember 2004 knapp 400.000 Personen, darunter selbst diejenigen ergänzend Geschützten, denen das BAMF Abschiebungshindernisse gemäß § 53 des alten Ausländergesetzes bzw. nun gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG attestierte. Hinzu kommen 86.000 Asylbewerber/innen im Verfahren (vgl. BAMF 2004, S. 40 ff. und S. 79 f.).
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plätze des primären Sektors werden dem sozialen Besitzstand zunächst der Deutschen und allenfalls bevorrechtigter Migrant(inn)en zugerechnet. Die niedrigwertigen Jedermann-Arbeitsplätze des sekundären Sektors umfassen das Gesamtspektrum von sog. Anlerntätigkeiten und „bad jobs“. Hier haben Flüchtlinge durchaus Zugang. In manchen extrem belastenden und/oder niedrig entlohnten Berufsfeldern sind sie sogar ausgesprochen gefragt und bilden insoweit eine am unteren Rand des sekundären Sektors angesiedelte „ethclass“. Gerade dieses sekundäre Arbeitsmarktsegment unterliegt aber einem erheblichen Erosionsprozess, der u.a. technologisch bedingt ist: Selbst wirtschaftliches Wachstum wird zum Motor unternehmensinterner Rationalisierung und der Vernichtung insbesondere industrieller Arbeitsplätze. Möglichkeiten eines Beschäftigungswachstums scheinen so auf den Bereich der (wiederum einfachen) Dienstleistungen beschränkt zu sein. Über eine Mobilisierung des Beschäftigungswachstums wird gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland ebenso heftig wie interessenbezogen gestritten. Noch unterhalb des sekundären Arbeitsmarktsektors hat sich eine – das bisherige vertikale Arbeitsmarktgefüge um eine zusätzliche Ungleichheitsdimension erweiternde – Schicht der „Entbehrlichen“ gebildet, also jener, die dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit und damit einem gesellschaftlich anerkannten Status ausgeschlossen sind. Sozialwissenschaftler/innen benutzen in diesem Zusammenhang die Fachtermini „social exclusion“ und „underclass“ als Metaphern einer sozialen Transformation, deren Konturen seit Längerem in den angelsächsischen Ländern erkennbar sind, nun aber auch im sozialstaatlich geprägten Kontinentaleuropa an Schärfe gewinnen (vgl. Kronauer 2002; Mackert 2004; Bude/Willisch 2006; Bude 2008; Bude/Willisch 2008). Die „underclass“ lässt sich mittels ethnischer Zuschreibungen zusätzlich stigmatisieren. Pierre Bourdieu (1997) hat das Elend hiervon betroffener Menschen in den Banlieues französischer Großstädte bereits während der 1990erJahre umfassend protokolliert (vgl. auch Häußermann/Oswald 1997). Jürgen Habermas (1995 und 1996) benennt eine doppelte Gefahr, welche sich aus der Dynamik einer solchen Marginalisierung ergeben kann: die Gefahr einer Entsolidarisierung im Inneren und einer repressiven Abschottung nach außen. Beide Phänomene seien geeignet, die Demokratie bzw. deren „universalistischen Kern“ zu gefährden. Haben Flüchtlinge unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine Chance? Sind sie als Segment einer „underclass“ nicht von vornherein zur „social exclusion“ verdammt, die ihnen höchstens Möglichkeiten gelegentlicher und prekärer Erwerbstätigkeit lässt, beispielsweise im Rahmen (erlaubter) geringfügiger Beschäftigung bzw. niedrig entlohnter Tätigkeiten oder (unerlaubter) schattenwirtschaftlicher Betätigung?
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Ein Teilarbeitsmarkt für Flüchtlinge Immerhin stimmen alle Statistiken und fachwissenschaftlichen Untersuchungen darin überein, dass es einen Teilarbeitsmarkt für Flüchtlinge gibt, und zwar keineswegs nur im Bereich der Schattenwirtschaft, sondern auch im Bereich sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse (vgl. zusammenfassend: Kühne/Rüßler 2000; Kühne 2001). Bundesweit wurde bereits während der 90er-Jahre eine wachsende Nachfrage nach Zuwanderern auf Berufsfeldern z.B. des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes sowie der Gebäudereinigung registriert – eine Tendenz, die auch in Jahren konjunkturellen Abschwungs und außerordentlich hoher Arbeitslosigkeit anhielt. Im regionalen Kontext ließen sich weitere Facetten eines Teilarbeitsmarktes für Flüchtlinge ermitteln. Sowohl im Saarland wie auch in Niedersachsen fanden sich „Mangelberufe“ im Bereich der genannten Dienstleistungen, in Gesundheits- und Pflegeberufen, weiterhin in produktionsnahen Dienstleistungen (etwa den Berufen des Kraftfahrers, Lageristen, Gabelstaplerführers und C-Schweißers), sodann im Garten- und Landschaftsbau, in Gärtnereien, handwerklichen Berufen, der Metall- und Elektroindustrie sowie im Baugewerbe (vgl. Bruhn-Wessel u.a. 1993; Meinhardt/Schulz-Kaempf 1994; Müller 1995). Eine in Hessen getätigte Umfrage bestätigt diese Resultate und zeigte noch weitere – breit gestreute – Berufsfelder, wo Flüchtlinge – jedenfalls in den 90erJahren – beschäftigt wurden (vgl. Blahusch 1992). Eigene Untersuchungen im östlichen Ruhrgebiet (Arbeitsamtsbezirk Dortmund), also einer Region/Stadt unter den besonders schwierigen Bedingungen des Strukturwandels und hoher registrierter Arbeitslosigkeit, haben nachgewiesen, dass auch hier Flüchtlinge beschäftigt werden (vgl. Kühne/Rüßler 2000). Zugänglich sind insbesondere jene – zum Teil noch expandierenden – einfachen Dienstleistungen, die zwar schlecht entlohnt werden, für Flüchtlinge jedoch zumindest auf Zeit als attraktiv gelten. Hier lassen sich Tätigkeitsfelder identifizieren, auf denen sie nicht nur akzeptiert, sondern regelrecht begehrt sind. Es handelt sich um das Gebäudereinigerhandwerk, die Systemgastronomie, das Taxigewerbe, die ambulante wie stationäre Alten- bzw. Krankenpflege und verschiedene kommunale Dienstleistungen im Rahmen eines öffentlich subventionierten zweiten Arbeitsmarktes. Im Bereich der Gebäudereinigung und des Taxigewerbes finden sich auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. In der Systemgastronomie herrschen Teilzeitarbeitsverhältnisse vor. In sämtlichen genannten Tätigkeitssektoren wird nach Tarif entlohnt, wenn auch vergleichsweise niedrig. In zumindest einem Bereich, der Systemgastronomie, waren Fragen der Eingruppierung, allgemeiner Beschäftigungsbedingungen und der Arbeitnehmerbeteiligung in Form von Be-
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triebsräten zeitweilig Gegenstand heftiger unternehmensinterner Auseinandersetzungen, in deren Zentrum auch beschäftigte Flüchtlinge standen. Hier ließen sich im Übrigen erste Anzeichen eines gewerkschaftlichen Engagements sogar von Seiten der besonders gefährdeten Geduldeten erkennen. Alle Untersuchungen ergeben, dass Flüchtlinge zu erheblichen Anteilen ein hohes oder jedenfalls beträchtliches Qualifikationsniveau aufweisen. Dies gilt in besonderer Weise für Menschen aus dem Iran, Irak und Afghanistan, in unterschiedlichem Ausmaß aber auch für die Mehrzahl der Mitglieder anderer Communities. Das Gesagte trifft auf Männer wie Frauen zu (vgl. Frick/Wagner 1996; Goldschmidt u.a. 1997; Foda/Kadur 2005). Mangelberufe und Qualifikationen sind nicht immer kongruent. Häufig können Flüchtlinge deshalb nicht im erlernten Beruf tätig werden, worunter vor allem die akademisch und künstlerisch Ausgebildeten leiden. Die in diesem Zusammenhang zu verzeichnende horrende Vergeudung von Humanressourcen ließe sich allerdings in zahlreichen Fällen vermeiden. Das betrifft zum einen die ebenso hybride wie erstarrte Praxis einer Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüssen wie auch im Ausland gesammelter Berufserfahrungen (vgl. Foda/Kadur 2005, S. 14 ff.) und zum anderen die herrschende Arbeitsgenehmigungspraxis. So führte der dringende Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten IT-Kräften zur Einführung der sog. Green Card. Bereits in der Bundesrepublik anwesenden Flüchtlingen mit entsprechender Qualifikation, insbesondere Geduldeten, wurde hierzu die Arbeitsgenehmigung verweigert. Man forderte sie dazu auf, doch ins Herkunftsland zurückzukehren, um von dort aus die Green Card zu beantragen. „Erst durch den Einsatz einer Vielzahl von Akteuren gelang es, diesen Menschen eine qualifizierte Beschäftigung zu ermöglichen, was allerdings teilweise bis zu neun Monaten gedauert hat. Dies ist nicht nur Menschen verachtend, es entspricht auch nicht den Interessen der Bundesrepublik Deutschland.“ (Beer-Kern 2005, S. 14) Viele Hochqualifizierte scheuen sich im Übrigen nicht – sofern man sie nur lässt –, „irgendwo“ in das System der Erwerbsarbeit einzusteigen. Den damit einhergehenden Statusverlust kompensieren sie durch die Hoffnung, über einen beruflichen Neuanfang gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen und einen (begrenzten) beruflichen Aufstieg zu realisieren. Das relativ niedrige Durchschnittsalter der Asylsuchenden begünstigt diese Sichtweise. Spracherwerb, berufsvorbereitende Beratung und Bildung sowie berufliche Aus- und Weiterbildung führen überall da, wo Flüchtlinge einbezogen sind, zu hohen Erfolgsquoten. Das gilt für die zu vergebenden Zertifikate ebenso wie für Vermittlungsergebnisse auf dem Arbeitsmarkt. Dies wurde durch die erste Runde (2003 bis 2005) der EU-Gemeinschaftsinitiative EQUAL (2001) eindrucksvoll bestätigt. Die Gruppe der Asylbewerber/innen und geduldeten Flücht-
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linge war hier erstmals in ein europaweites arbeitsmarktpolitisches Qualifizierungsprogramm einbezogen. In der Bundesrepublik Deutschland konnten sich trotz erheblicher politischer Widerstände und bürokratischer Hemmnisse acht einschlägige, „Entwicklungspartnerschaften“ genannte Netzwerke konstituieren, die schließlich ein überzeugendes Lernergebnis vorzulegen vermochten (vgl. z.B. Albrecht u.a. 2005; Didden-Zopfy/Martens 2005; Flüchtlingsrat SchleswigHolstein 2005). Für eine zweite Runde (2005 bis 2007) wurden deshalb erneut acht Entwicklungspartnerschaften gebildet. Der Diakonie Wuppertal gelang es bereits in der ersten Runde, das neue Berufsbild eines „Sprach- und Kulturmittlers“ im Gesundheits- und Sozialwesen zu kreieren, das insbesondere in großstädtischen Einrichtungen des Gesundheitswesens mit hohem nichtdeutschem Patientenanteil große Beachtung fand. Ein erheblicher Anteil der dazu Ausgebildeten wurde inzwischen eingestellt (vgl. Migrationsdienst 2002; Morales 2005). Auch bei befragten Unternehmern lässt sich eine große Bereitschaft feststellen, Flüchtlinge zu beschäftigen. Dies scheint weder nur in Niedriglohnbereichen (beispielsweise der Gastronomie) der Fall zu sein, noch sich bloß auf eine den Flüchtlingen zugeschriebene hohe Belastbarkeit und Flexibilität bei Arbeitseinsatz und Zeitregime zu beziehen. Was darüber hinaus für Unternehmer zählt, ist die gute Arbeitsmotivation, berufsbezogene Lernbereitschaft und überdurchschnittlich hohe Verlässlichkeit. Nur so erklären sich die landesweiten Proteste mittelständischer Unternehmer gegen die Abschiebung von Bosniern und Kosovaren, die sie eingestellt hatten. Unterstützt von Kommunalparlamenten und Bürgermeistern (z.B. in Konstanz, Singen, Esslingen, Arnsberg und Hamm i.W.) konnten sie die Innenminister zunächst einiger Bundesländer und dann die Konferenz der Innenminister zum Einlenken in Gestalt einer nachholenden Altfallregelung bewegen.5
Die Schranke des Arbeitsgenehmigungsrechts Ohne die Schranke des geltenden Arbeitsgenehmigungsrechts wären sehr viel mehr Asylbewerber/innen und Status-quo-Flüchtlinge regulär beschäftigt und befänden sich erheblich weniger teils auf schattenwirtschaftlichen Tätigkeitsfeldern, teils in Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Ein Blick auf den Paragrafen 4 des seit dem 1. Januar 2005 geltenden AufenthG zeigt zunächst, dass es auch nach dem neuen Recht Aufenthaltstitel mit und ohne Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit gibt. Die Paragrafen 22 bis 25 konkretisieren, was dies für Flüchtlinge bedeutet. Wie bereits nach dem 5
Vgl. Beschlussniederschrift über die 165. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und Senatoren der Länder am 23./24. November 2000 in Bonn, TOP 8
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alten Recht erhalten nur die bisherigen Kontingentflüchtlinge (§ 22), die Asylberechtigten gemäß Grundgesetz sowie Konventionsflüchtlinge (§ 25 Abs. 1 u. 2) mit der Aufenthaltserlaubnis die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Hinzu kommt eine Öffnung für jene Flüchtlinge, die aufgrund der neuen Härtefallregelung des § 23a einen Aufenthaltstitel erhielten. Für die Gesamtheit aller sonstigen aus humanitären Gründen geschützten Flüchtlinge (§§ 23, 24 und 25 Abs. 3, 4 und 5 AufenthG) gilt dies nicht, erst recht nicht für Asylbewerber/innen im Verfahren, die zusätzlich – wie bisher – im ersten Jahr ihres Aufenthalts einem vollständigen Arbeitsverbot unterliegen, und auch nicht für die bloß Geduldeten gemäß § 60a AufenthG. Sie alle gelten als „nachrangig“ beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Dies heißt, dass sie zur Ausübung einer Beschäftigung eine Genehmigung der Ausländerbehörde brauchen, welcher auch die zuständige Agentur für Arbeit ihre Zustimmung erteilt haben muss (vgl. § 39 AufenthG). Die Ausländerbehörde nimmt zunächst eine aufenthaltsrechtliche Prüfung vor. Sollten sich hier keine Versagungsgründe ergeben, prüft die Agentur für Arbeit unter arbeitsgenehmigungsrechtlichen Aspekten (sog. Vorrangprüfung). Sie erteilt ihre Zustimmung nur dann, wenn sich durch die Beschäftigung des Antragstellers keine nachteiligen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt ergeben und deutsche Arbeitnehmer/innen sowie Ausländer/innen, die Letzteren hinsichtlich der Arbeitsaufnahme rechtlich gleichgestellt sind, oder andere Ausländer/innen, die nach dem Recht der Europäischen Union einen Anspruch auf vorrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, nicht zur Verfügung stehen (vgl. § 39 AufenthG). Die Zustimmung wird für die Dauer der Beschäftigung erteilt, längstens jedoch für drei Jahre (vgl. § 13 Abs. 2 der Beschäftigungsverfahrensverordnung – BeschVerfV – als zugehöriger Rechtsverordnung). Bei geduldeten Flüchtlingen wird sie jeweils zu einer bestimmten Duldung erteilt und behält bei weiteren Duldungen ihre Gültigkeit (vgl. § 14 Abs. 3 BeschVerfV). Ausnahmen regeln die §§ 5 bis 9 BeschVerfV. So kann die Zustimmung ohne Vorrangprüfung erteilt werden, „wenn der Ausländer seine Beschäftigung nach Ablauf der Geltungsdauer einer für mindestens ein Jahr erteilten Zustimmung bei demselben Arbeitgeber fortsetzt“ (§ 6 BeschVerfG). Personen mit Aufenthaltserlaubnis kann die Zustimmung ohne Vorrangprüfung erteilt werden, wenn sie bereits „drei Jahre rechtmäßig eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Bundesgebiet ausgeübt haben“ oder „sich seit vier Jahren im Bundesgebiet ununterbrochen erlaubt oder geduldet aufhalten“ (§ 9 BeschVerfV). Entsprechendes gilt für Jugendliche und junge Erwachsene mit Aufenthaltserlaubnis. Hier sind allerdings noch weitere Voraussetzungen zu erfüllen: Einreise vor Vollendung des 18. Lebensjahres; Schulabschluss einer allgemeinbildenden Schule oder Teilnahme an einer einjährigen schulischen Berufsvorbereitung,
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an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme nach dem SGB III oder an einer Berufsbildungsvorbereitung nach dem Berufsbildungsgesetz, wobei regelmäßige Teilnahme unter angemessener Mitarbeit nachzuweisen ist (vgl. § 8 BeschVerfV). Eine Härtefallregelung für Geduldete sieht vor, dass die Zustimmung auch dann ohne Vorrangprüfung erteilt werden kann, „wenn deren Versagung unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des einzelnen Falles eine besondere Härte bedeuten würde“ (§ 7 BeschVerfV). Eine den Sachbearbeiter(inne)n an die Hand gegebene Durchführungsanordnung erkennt besondere Härten allerdings nur bei Traumatisierten an, deren Beschäftigung noch dazu als Bestandteil einer Therapie anerkannt sein muss. So können geduldete Jugendliche, welche die Schule verlassen und eine Ausbildung oder Arbeit aufnehmen wollen, nach wie vor nicht als Härtefälle bewertet werden. Auch wenn die Beschäftigungsverfahrensverordnung den Regeln der alten Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) entspricht, also keine formalrechtliche Verschärfung für Flüchtlinge vorsieht, erweist sich die Tatsache, dass nunmehr die Ausländerbehörden die Arbeitserlaubnis erteilen und alleinige Ansprechpartner der Antragsteller/innen sind, als nachteilig für zahlreiche geduldete Flüchtlinge. So schreibt § 11 BeschVerfV – wie zuvor schon § 5 ArGV – vor, dass geduldeten Ausländer(inne)n die Ausübung einer Beschäftigung dann nicht erlaubt werden darf, „wenn sie sich in das Inland begeben haben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen oder wenn bei diesen Ausländern aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können“. Dies gelte insbesondere, wenn ein Ausländer „das Abschiebungshindernis durch Täuschung über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit oder durch falsche Angaben herbeiführt.“ Gestützt auf diesen Paragrafen erteilen Ausländerbehörden in großer Zahl Arbeitsverbote. So wird Ersteres z.B. dann unterstellt, wenn Romaflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, ohne einen Asylantrag zu stellen. Letzteres wird unterstellt, wenn Flüchtlinge über keinen Pass verfügen und sich – häufig aus gutem Grund – weigern, bei der Botschaft ihres Herkunftslandes einen Antrag auf Passersatzpapiere zu stellen.6 Selbst solche Flüchtlinge, die bereits erwerbstätig sind, trifft nunmehr – auch zur Überraschung und Empörung ihrer Arbeitgeber – der Bannstrahl der Ausländerbehörde. Einzelne Ausländerbehörden erteilen selbst dann Arbeitsverbote, wenn Flüchtlinge um Passersatzpapiere nachweislich bemüht waren, die Botschaften der Herkunftsländer sich aus irgendwelchen Gründen jedoch nicht in der Lage sahen, sie auszustellen (vgl. Flüchtlingsrat NRW 2005; Pro Asyl 2005). Den derart Ausgegrenzten wird 6
Das Vorhandensein von Passersatzpapieren ermöglicht der Ausländerbehörde eine Abschiebung ins Herkunftsland.
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im Übrigen kein Arbeitslosengeld (I) gezahlt. Die örtlichen Agenturen für Arbeit begründen dies damit, dass die Betroffenen aufgrund des Arbeitsverbotes dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stünden und deshalb keinerlei Ansprüche an die Sozialversicherung geltend machen könnten. Migrant(inn)en gehören zu den Hauptleidtragenden der sog. Hartz-Gesetze (vgl. Butterwegge/Reißlandt 2005). Beispielsweise sind zahlreiche Flüchtlinge, die zwar keinem Arbeitsverbot unterliegen, aber durch Kündigung ihren Arbeitsplatz verlieren, von der Grundsicherung gemäß SGB II (Arbeitslosengeld II) ausgeschlossen (vgl. § 7 Abs. 1 SGB II). Es handelt sich um folgende Gruppen:
Asylbewerber/innen im Verfahren; Geduldete gemäß § 60a AufenthG; Ausländer/innen mit humanitärem Aufenthaltstitel gemäß § 23 Abs. 1, § 24 oder § 25 Abs. 4 u. 5 AufenthG; Ausländer/innen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist; Ehegatt(inn)en oder minderjährige Kinder der genannten Personengruppen; Ausländer/innen, die einen Folgeantrag gemäß § 71 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) oder einen Zweitantrag gemäß § 71a AsylVfG stellen.
Die genannten Personengruppen erhielten nach bisherigem Recht Arbeitslosenhilfe, die zum 1. Januar 2005 mit der Sozialhilfe zusammengelegt bzw. abgeschafft wurde. Nun aber werden sie, obgleich erwerbsfähig, auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verwiesen. Dies bedeutet eine katastrophale finanzielle und soziale Verschlechterung. So können die Behörden statt Bargeld die Ausgabe von Wertgutscheinen oder Sachleistungen anordnen. Viele Betroffene mussten ihre Wohnungen aufgeben und wieder in Sammelunterkünfte ziehen. Hinzu kommt, dass von Förderungsmaßnahmen zur Arbeitsmarktintegration ausgeschlossen ist, wer keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II hat. Die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt ist damit erheblich erschwert. Dies wiederum hat Konsequenzen für eine – ohnehin nur langfristig erreichbare – Verfestigung des aufenthaltsrechtlichen Status. Denn die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß Paragraf 9 AufenthG ist an die Sicherung des Lebensunterhalts geknüpft (vgl. Heinhold/Classen 2004; Classen 2005).
Flüchtlinge „ohne Papiere“ Einsehbare Statistiken und Untersuchungen beziehen sich nahezu ausschließlich auf die Großgruppe derjenigen Flüchtlinge, die einen – wenn auch noch so pre-
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kären – Aufenthaltsstatus und, sofern erwerbstätig, eine Arbeitsgenehmigung haben. Über die Teilgruppe jener, die über derartige rechtliche Zugangsvoraussetzungen zum Arbeitsmarkt nicht verfügen, ist nur sehr wenig bekannt. Statistiken existieren lediglich über Personen, die beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffen worden sind. Dies gilt auch für die von der Bundesagentur für Arbeit bei Kontrollen festgestellten Rechtsverstöße. Damit aber ist kaum zu durchschauen, welchen Anteil irregulär erwerbstätige Flüchtlinge an der Gesamtgruppe der sog. Illegalen haben. Gutachten und fachliche Darstellungen identifizierten unter ca. 20 sog. Fallkonstellationen nichtlegaler Beschäftigung immerhin vier, die Flüchtlinge betreffen, und zwar solche Personen, die
aus einem sicheren Drittland eingereist sind und deshalb einen Asylantrag gar nicht erst stellen; als Asylbewerber/innen rechtskräftig abgelehnt und zur Ausreise verpflichtet wurden, sich einer Abschiebung aber entziehen; noch während des Verfahrens aus dem Wahrnehmungskreis des BAMF verschwinden; als nicht registrierte Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Bundesrepublik verweilen (vgl. Lederer/Nickel 1997; Erzbischöfliches Ordinariat Berlin 1997; Alt 1999).
Bei den Tätigkeiten, die von solchen Menschen in bestimmten Branchen wahrgenommen werden, handelt es sich um zeitlich begrenzte oder saisonabhängige Hilfs- bzw. Aushilfstätigkeiten, übrigens auch, wie die Migrationsbeauftragte des Erzbistums Berlin hervorhebt, in mittelständischen Privathaushalten (vgl. Erzbischöfliches Ordinariat 1997). Für die Nachfrage ist der Aspekt einer Kostenminimierung zentral. Mindeststandards im Bereich der Löhne, des Arbeitsschutzes und mancher Sozialleistungen werden rücksichtslos unterlaufen. Die allgemeine Lebenssituation der „Papierlosen“ ist durch die Angst vor Entdeckung und Abschiebung bestimmt, was u.a. zur Folge hat, dass Wohnungen häufig gewechselt und Untermietverhältnisse in Privatwohnungen gesucht werden müssen oder der Zwang besteht, in Wohnungen von Freunden und Bekannten zu nächtigen. Kinder werden – aus Angst vor Entdeckung – häufig nicht zur Schule geschickt. Außerdem fehlen reguläre Möglichkeiten medizinischer Behandlung.
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Elemente einer Politik der Anerkennung und sozialen Integration Grundvoraussetzung für eine Veränderung bisheriger staatlicher Handlungsweisen wäre die Erkenntnis, dass die Anwesenheit von De-facto-Flüchtlingen keinen transitorischen Charakter hat, sondern angesichts anhaltender äußerst zerrütteter bzw. bedrohlicher Zustände in zahlreichen Herkunftsländern auf Dauer angelegt ist. Auch abgelehnte Asylbewerber/innen, die gleichwohl ihren Herkunftsstaaten nicht einfach ausgeliefert und deshalb in der Bundesrepublik „geduldet“ werden, sind letztlich Einwanderer. Sie werden es umso offenkundiger, je häufiger ihre Duldung erneuert werden muss, weil humanitäre und rechtsstaatliche Gesichtspunkte einer Ausweisung oder gar zwangsförmigen Rückführung entgegenstehen. Noch so humanitär gemeinte „Duldungen“ schlagen dann in Inhumanität um, wenn sie über Jahre hinweg andauern und dafür herhalten müssen, den Betroffenen eine langfristige Aufenthalts- und Lebensperspektive zu verweigern. Was für eingewanderte Erwachsene gilt, trifft in erhöhtem Maß auf Kinder und Jugendliche zu, die mit ihren Eltern oder unbegleitet eingewandert und hier aufgewachsen oder sogar in der Bundesrepublik Deutschland geboren sind. Sie fallen nach dem Besuch der Schule sozusagen ins Leere. Denn auch für sie gilt das Prinzip der Nachrangigkeit beim Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Auch sie sind von Integrationsangeboten weitestgehend ausgeschlossen (vgl. BAG JAW 2001; Flüchtlingsrat NRW/RAA 2003; Klingelhöfer/Rieker 2003). Ein Hochschulstudium scheitert zumeist am Ausschluss von jeglicher staatlichen Förderung bei gleichzeitigem Entzug der bis dahin gewährten Sozialleistungen. Die inzwischen veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit faktischer Einwanderung bedarf deshalb einer nachholenden politischen wie rechtsförmigen Anerkennung. Das aber heißt: Geduldete und De-facto-Flüchtlinge insgesamt sind als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen und den bereits anerkannten Flüchtlingen rechtlich gleichzustellen. Auch bei ihnen würde damit ein Aufenthaltstitel und ein – jedenfalls von Verbotsnormen – ungehinderter Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt bzw. zu einem Hochschulstudium zur Regel. Selbstverständlich hätten sie an jenen Maßnahmen, Sofortprogrammen und Projekten teil, die der sozialen Integration von Zuwanderern nichtdeutscher Staatsangehörigkeit dienen. Umgekehrt würde ihnen als zumeist jüngeren Menschen mit häufig hohem Vorbildungsniveau, einer außergewöhnlichen Motivation zu Erwerbstätigkeit bzw. den dazu erforderlichen vorbereitenden Lernprozessen sowie zu politisch-gesellschaftlicher Beteiligung – endlich – die Möglichkeit gegeben, sich umfassend in die Aufnahmegesellschaft einzubringen. Auch nach Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes steht somit eine weitere Revision
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des Flüchtlingsrechts auf der politischen Agenda (vgl. Kühne 2005 und 2008) – dies umso mehr, als die zuletzt noch in das Aufenthaltsgesetz (durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, in Kraft getreten am 28.8.2007) eingefügte Altfallregelung des § 104 a ein Bleiberecht für geduldete Flüchtlinge eher verhindert denn befördert (vgl. Kirsch 2008; Stiegeler 2008). Ausgerechnet diejenigen, die bisher den ausgrenzenden Schranken des Arbeitsgenehmigungsrechts ausgeliefert und zusätzlich von jeglicher Sprach- und Integrationsförderung ausgeschlossen waren (vgl. auch Farahat u.a. 2008; Hentges 2008), sollen nun den Nachweis erbringen, dass sie ihren und ihrer Familien Lebensunterhalt eigenständig – und dies nicht nur vorübergehend – zu sichern in der Lage sind. Erste Statistiken der Bundesregierung vom März 2008 (BT-Drs. 16/8362) zeigen Folgendes: Nur 22.858 von ca. 95.000 Geduldeten mit einem Aufenthalt von mindestens sechs Jahren beantragen überhaupt eine Aufenthaltserlaubnis gemäß Altfallregelung. Von ihnen erhielten bisher nur 1.770 Personen die Zusicherung einer Aufenthaltserlaubnis. Weiteren 9.088 Personen wurde lediglich eine bis zum 31. Dezember 2009 befristete Aufenthaltserlaubnis auf Probe erteilt. Ist der Lebensunterhalt bis dahin nicht gesichert, wird die Erlaubnis nicht verlängert. Sollten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nicht letztlich doch politisch einlenken, besteht ab dem 1. Januar 2010 die Gefahr, dass Zehntausende geduldete Flüchtlinge gegen ihren Willen in ihr Herkunftsland abgeschoben werden – mit all den furcht- und schreckenerregenden Konsequenzen, die dies für jeden Einzelnen und jede Einzelne mit sich bringen wird.
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Multikulturalität und Demokratie im Zeitalter der Globalisierung Erol Yildiz
Der Terminus „multikulturelle Gesellschaft“ ist nicht nur zu einem modischen Schlagwort in der breiten Öffentlichkeit geworden, sondern auch zu einem Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe man vermehrt die Gesellschaft zu analysieren sucht. Er scheint geradezu als Motto des Jahrzehnts und Grundbegriff einer Wachstumsbranche in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu fungieren, obwohl keineswegs immer ganz klar ist, ob es sich dabei um ein Ziel, eine Gefahr oder gar um eine urbane Selbstverständlichkeit handelt (vgl. Neubert u.a. 2008). Hier drängt sich die Frage auf, warum „Kultur“ in den letzten Jahren eine solche Aufwertung erfahren hat und zunehmend als relevante Beschreibungskategorie ins Spiel gebracht wird. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn eine moderne Gesellschaft als „multikulturell“ identifiziert wird? Tritt „Kultur“ im Multikulturalismusdiskurs eher als ein verbindendes oder trennendes Element in Erscheinung? Welches Kulturverständnis ist zu erkennen, und welche Rolle spielen kulturelle Elemente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Handelt es sich dabei um „das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit“ (Nassehi 1997), oder geht es um die „Konstruktion des Fremden im Diskurs des Multikulturalismus“, um eine „Neukonzipierung von Innen/Außen“, wie Frank-Olaf Radtke (1991) meint, und damit um einen „Sortierungsvorgang“? Kann eine halbwegs demokratisch verfasste Gesellschaft überhaupt mono- oder nichtmultikulturell sein? – Diese und ähnliche Fragen sind es, die sich im Diskurs des Multikulturalismus stellen. Bei der Bestimmung und Verortung von Multikulturalität bzw. kultureller Vielfalt ist es m.E. dringend erforderlich, die Konstitutionsbedingungen der (post)modernen Gesellschaft zum Referenzrahmen zu machen. „Multikulturalität“ muss in den historischen, gesamtgesellschaftlichen und globalen Kontext gestellt und von da aus interpretiert werden. In einem zweiten Schritt wird die Perspektive radikal umgekehrt und gefragt, wie die Menschen im Alltag leben, wo sie miteinander in Kontakt kommen, wie sie miteinander umgehen, welche kulturellen Formationen, formellen und informellen Netze dabei sichtbar werden und welche Relevanz diese für die Gestaltung des Alltagslebens von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern besitzen.
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Erst wenn eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung erfolgt und eine Umkehrung der Perspektive vorgenommen wird, eröffnen sich weitere Möglichkeiten und ergeben sich neue „Relevanzstrukturen“ (Schütz 1971), unter denen „Multikulturalität“ in einem anderen Licht erscheint. So wird eine lebenspraktisch angelegte Multikulturalität sichtbar, die zu einem selbstverständlichen Bestandteil des urbanen Alltags gehört. Aus dieser Perspektive gewinnen multikulturelle Zusammenhänge einerseits eine größere Relevanz für die Einzelnen im Alltag, andererseits ergibt sich daraus eine andere Gewichtung der Multikulturalität im gesamtgesellschaftlichen Gefüge. Auf diese Weise kristallisiert sich ein anderes Verhältnis zwischen demokratischer Gleichheit, kultureller Vielfalt (Differenzen im Alltag) und Partizipation im Zeitalter der Globalisierung heraus (vgl. Benhabib 1999). In der Wissenschaft sind vornehmlich zwei Positionen der Gesellschaftsbeschreibung zu unterscheiden: Aus der ersten Perspektive, deren Einfluss in den öffentlichen Debatten deutlich spürbar ist, werden im Allgemeinen negative Entwicklungen, anomische Zustände konstatiert und düstere Prognosen für die Zukunft erstellt. In dieser auf Emile Durkheim zurückgehenden Gesellschaftsbeschreibung, die durch eine bloße „Verfallssemantik“ (Neckel 1993) geprägt ist, werden Tendenzen wie Desintegration (vgl. Heitmeyer 1998) oder Entsolidarisierung (vgl. Dangschat 1999) in der Gesellschaft festgestellt, die in letzter Zeit stärker im Zusammenhang mit der Globalisierung diskutiert werden (vgl. Sennett 1998). Ausgehend von dieser Verfallsdiagnose deutet man das Phänomen „Individualisierung“ als desintegrativ und entsolidarisierend und somit als Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Um diesem prognostizierten Zerfall entgegenzuwirken, wird eine moralische Therapie der Gesellschaft gefordert. Die Probleme und Risiken moderner gesellschaftlicher Entwicklung werden auf einen mangelhaften „moralischen Dialog“ (siehe Etzioni 1995, S. 27 ff.) zurückgeführt. Diese Position, welche die Bindungsfrage zur neuen sozialen Frage macht, läuft auf eine „traditionsfixierte Bindungssehnsucht“ (ebd., S. 10) hinaus und rückt automatisch bestimmte Einheitsmythen wie nationale Identität, Gemeinschaft oder „Gesellschaftskultur“ (Kymlicka 1999) als Heilmittel in den Vordergrund, um dem unterstellten gesellschaftlichen Zerfall Einhalt zu gebieten, den Zusammenhalt wieder herzustellen. In vielen problemzentrierten Untersuchungen wird ein Raster verwendet, das die Behauptung zugrunde legt, die Integration in den Städten habe früher besser funktioniert, als es heute der Fall sei. Auf diese Weise wird erreicht, dass die „reale Integrationsleistung“ heutiger Städte aus dem Blick gerät. Der Fokus richtet sich dann automatisch auf Desintegration; andere Dimensionen des städtischen Lebens bleiben oft außen vor. Die Entscheidung, „was gut und was böse ist“, wird in solchen Diskussionen – so Thomas Krämer-Badoni (2000, S. 422 f.) – schon im Vorfeld getroffen. In die-
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sem Zusammenhang stellt Uwe Sander (1998, S. 55) zu Recht fest: „Je stärker sich die Gesellschaftsanalysen durch Kategorien festlegen, die die Logik sozialen Handelns nicht im Handeln selbst suchen, sondern vorgängig als Norm setzen, desto wahrscheinlicher ergeben sich Krisendiagnosen.“ (Hervorh. im Original, E.Y.) Eine zweite Position steht dieser Zerfallsperspektive kritisch gegenüber und macht in erster Linie die emanzipativen Potenziale der Modernisierung zur Grundlage weiterer Überlegungen. Aus dieser Perspektive wird die „Krisengesellschaft“ (Ortfried Schäffter) als produktiver Zustand bzw. Chance interpretiert und zum Anlass genommen, künftige Prozesse angemessen zu gestalten. Der ironische Titel „Tugend der Orientierungslosigkeit“ (Goebel/Clermont 1997) bringt das deutlich zum Ausdruck. Individualisierung meint in diesem Kontext zunächst individuelle Entscheidungsfreiheiten, welche durch die Herauslösung der Subjekte aus ihren vorgefundenen und angestammten Herkunftsbedingungen entstanden sind. Nach dieser Lesart heißt Individualisierung nicht automatisch Desintegration, Desorientierung oder Entsolidarisierung, sondern ist die Grundlage für neue Orientierungen, für neue Formen der Integration und Solidarität auf individueller Basis. Die neuen Entwicklungen erfordern andere Verarbeitungsformen von Risiken und Krisen als unter den Bedingungen kollektivierender Interpretationsmuster (vgl. zu Individualisierung und Integrationsformen: Beck/ Sopp 1997). Phänomene wie Bindungslosigkeit, soziale Distanz oder Gleichgültigkeit, die im Allgemeinen eher negativ aufgefasst werden, eröffnen erst die Optionsspielräume für verschiedene soziale Beziehungen, Vernetzung, Pluralisierung individueller Lebensformen, neue kulturelle Lebenswelten usw. So kann Multikulturalität – anders als durch ein ethnozentriertes Herangehen – als selbstverständliche Alltagsnormalität rekonstruiert werden. Aus dieser Perspektive kommt es in erster Linie darauf an, das Alltagsleben von Individuen nicht als „Defizit eines vorgegebenen Soll-Zustandes“ zu betrachten, welcher mit der faktischen Alltagswelt zunächst kaum korrespondiert. Vielmehr geht es darum, die Lebenszusammenhänge erst einmal so zu nehmen, wie sie im Alltagsleben zur Entfaltung kommen. In diesem „So-gegeben-Sein“ verbergen sich – laut Sander (1998, S. 47) – die „Ordnungsprinzipien des menschlichen Miteinanders“.
Referenzrahmen Seit der Industrialisierung haben sich tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, welche die Reorganisation des urbanen Zusammenlebens zur Folge hatten. Um diesen fundamentalen Veränderungen gerecht zu werden, wa-
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ren die modernen Gesellschaften genötigt, ihre Grundstrukturen immer wieder zu modifizieren, ja sogar zum Teil erheblich umzubauen. In den vergangenen Jahren ließ sich eine Beschleunigung von Transformationsprozessen in struktureller, kultureller, politischer und globaler Hinsicht beobachten, die in Zukunft wahrscheinlich mehr gesellschaftliche Umbauprozesse erforderlich machen werden als bisher. Durch die radikalen Veränderungen haben sich – zumindest tendenziell – einige Grundstrukturen durchgesetzt, die für heutige (post)moderne Gesellschaften typisch sind. Die Charakterisierung der Gesellschaft als „funktional ausdifferenziert“ (Niklas Luhmann), „enttraditionalisiert“ und „pluralisiert“ (Jürgen Habermas), „reflexiv“ (Ulrich Beck), „polykontextuell“ (Peter Fuchs) oder „global“ (Martin Albrow), wie vor allem in den Sozialwissenschaften gebräuchlich, ist als Hinweis auf diese fundamentalen Veränderungen und – damit zusammenhängend – auf die Vieldimensionalität der Gesellschaft zu deuten.
Die polykontextuell verfasste (post)moderne Gesellschaft Wir leben in einer zunehmend mobilen Gesellschaft, die aus formal-rationaler Perspektive eine postmoderne Gesellschaft darstellt, aus lebensweltlicher Perspektive – vermehrt mit unterschiedlichen Lebensstilen, Milieus, Kulturen etc. konfrontiert – eine multikulturelle Gesellschaft ist und in politisch-diskursiver Hinsicht auf eine Zivilgesellschaft hinausläuft. „Polykontextualität“ als eine Grundeigenschaft der Gesellschaft stellt die Basis dar, auf der das urbane Zusammenleben gestaltet und organisiert wird: Als Käufer einer Ware bewegt man sich vorrangig im ökonomischen Kontext, als Schüler automatisch im Bildungskontext, als Klient einer Rechtsanwaltskanzlei im juristischen Kontext, als Familienvater oder als Zugehöriger einer Religionsgemeinschaft hauptsächlich im privaten Rahmen, als Diskursteilnehmer einer politischen Initiative vor allem in einem zivilgesellschaftlichen und als Mitglied einer Partei im politischen Kontext. In verschiedenen Kontexten ist man folgerichtig mit unterschiedlichen „Relevanzstrukturen“ (Alfred Schütz) konfrontiert. Was z.B. in einem ökonomischen Kontext als relevant erscheint, ist im familialen Kontext eher belanglos, und was im privaten Rahmen bedeutungslos erscheint, kann in einem metakommunikativen Kontext ausschlaggebend für Diskussionen sein. Auch wenn diese verschiedenen Dimensionen des sozialen Handelns im urbanen Alltag aus der Außenperspektive zusammenhanglos erscheinen mögen, treten sie im Alltagsleben verzahnt auf. Sie werden also von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern im Vollzug des Alltags biografisch sinnhaft zusammengefasst. So wird der urbane Alltag zumindest aus drei Perspektiven (systemisch, lebensweltlich und metakommunikativ) lebbar, lesbar, verstehbar und gestaltbar.
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Die strukturellen Zusammenhänge bieten dabei die formalen Voraussetzungen, in deren Rahmen sich persönliche Lebensstile, multikulturelle Zusammenhänge usw. entwickeln, die wiederum als eine Plattform für gemeinsame Aktivitäten und Aktionen fungieren können. Deutlich wird in diesem Kontext, dass im Verlauf der Modernisierungsprozesse die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen nicht nur zur Entstehung der Polykontextualität des Alltags geführt, sondern gleichzeitig auch – wie Feldforschungsergebnisse bestätigen (vgl. Bukow u.a. 2001) – eine „soziale Grammatik des urbanen Lebens“ hervorgebracht haben, die den Umgang mit dieser Komplexität ermöglicht und regelt.
Praktische Multikulturalität Systemische Verfasstheit der postmodernen Gesellschaft bedeutet, dass im Prozess der Modernisierung Systeme und Subsysteme mit jeweiligen Leitdifferenzen entstanden, die an die Stelle der die ganze Gesellschaft überwölbenden Moralvorstellungen und Sinninstanzen der Vormoderne getreten sind. Auf diese Weise werden persönliche Lebensstile, kulturelle und religiöse Einstellungen etc. schrittweise ins Private abgedrängt, wo sie zunehmend für die Entfaltung der Individualität des Einzelnen an Bedeutung gewonnen haben. Aus dieser systemischen Perspektive heraus sind die Gesellschaftsmitglieder nur nach formalrationalen Kriterien gefragt, also in erster Linie über bestimmte Funktionen inkludiert. In systemischen Kontexten treten die Individuen als Funktionsträger (Patient/in, Schüler/in, Lehrer/in, Käufer/in usw.) auf. Dadurch garantiert die Gesellschaft tendenziell für alle den Anschluss an die wichtigsten Systeme (systemische Inklusion). Aufgrund der systemischen Ausdifferenzierung und der Universalisierung von Leitdifferenzen erhält das einzelne Gesellschaftsmitglied unter bestimmten gesellschaftlichen Vorgaben im Alltag immer mehr Möglichkeiten, sich zu individualisieren, sein Leben in eigener Regie zu führen, die eigene Biografie zu entwerfen, Traditionen zu rekonstruieren sowie neue Lebensformen zu erfinden und zu erproben. Aus einer lebensweltlichen Perspektive treten die Individuen – je nach Situation – als Situationsteilnehmer/innen mit ihren persönlichen Überzeugungen und Wertorientierungen in den Vordergrund. Die Strukturen der Gesellschaft bieten die formalen Bedingungen, unter denen sich die kulturelle Vielfalt entfaltet. Daher wird diese als strukturell erzeugt aufgefasst (vgl. Yildiz 1997). Somit gehört die Multikulturalität in der polykontextuell verfassten Gesellschaft zur selbstverständlichen und fraglosen Alltagsnormalität. In dem Maße, wie sich Systeme ausdifferenzieren und eine formal rationale Logik entfalten, nach der die Einzelnen bloß noch partiell in Frage kommen,
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entsteht eine Optionsvielfalt für individuelle Formen sozialer Vernetzungen und neue Bindungen im Alltag. Menschen werden sogar zur Individualität verdammt. Auf diese Weise ist also eine Vielfalt diverser Lebensstile denkbar. Die Diversifizierung der Lebenswelten lässt sich als ein Indiz kultureller Demokratisierung deuten. Traditionelle Schichten und klassische Strukturen verlieren ihre prägende Kraft, wenn auch immer wieder versucht wird, die polykontextuelle Gesellschaft nach überwölbenden Mustern, wie etwa durch Konstruktion nationaler Identitäten, zu homogenisieren. Wird die systemische Integration mittels der Inklusion des Einzelnen definiert, heißt soziale Integration jetzt Pluralität bzw. Multikulturalität. So gesehen entwickelt sich die Alltagswelt (post)moderner Gesellschaften unabhängig von der Einwanderung zu einer multikulturellen Wirklichkeit. Praktische Multikulturalität meint in diesem Diskussionszusammenhang, individuelle Lebensstile zu entfalten und sie immer wieder von Neuem durch Transformationsprozesse (über verständigungsorientierte Kommunikation) zu verbinden. So differenzieren sich die Stadtgesellschaften in eine Reihe von Lebensbereichen aus, wo zum Teil sehr unterschiedliche Regeln, Normen, Werte und Relevanzstrukturen gelten, die der einzelne Mensch „gleichzeitig leben können muss“ (Radtke 1991, S. 91). Der Alltag ist durch komplexe Verschachtelungen von nebeneinander existierenden Sub- und Partialkulturen charakterisiert (vgl. Schiffauer 1997). Selbst wenn diese unterschiedlichen Lebensformen, Mikrokulturen und Milieus auf den ersten Blick eher als kohärente, gegeneinander abgegrenzte, durch tiefgreifende Differenzen getrennte Teilkulturen erscheinen mögen, handelt es sich bei genauerer Betrachtung eher „um relativ variable Collagen kultureller Elemente, um Variationen oder Rekombinationen eines alles in allem bekannten kulturellen Inventars“ (Peters 1997, S. 235). Ganz allgemein bilden sich in der urbanen Lebensweise heute in zunehmendem Maße Verflechtungen mit immer längeren Interdependenzketten aus (vgl. Giddens 1992). Sie beruhen auf sozialer und funktionaler Differenzierung. Gerade deshalb erscheinen schon die lokalen Alltagsräume für verständigungsorientiertes Handeln von besonderer Bedeutung. Die den Alltag eines Quartiers oder Stadtteils kennzeichnenden routinisierten sozialen Praktiken bilden eine tragfähige Grundlage für eine „Fortschreibung“ entsprechender Wirklichkeitsentwürfe. Gerade die lokalen Gegebenheiten wie öffentliche Plätze, Gaststätten, Bürgerinitiativen u.a.m. bieten eine Plattform zur Entfaltung transzendierender, verständigungsorientierter Praktiken, Verfahren und Methoden der Verständigung, mithin „praktischer Multikulturalität“. Der urbane Raum wird zu einem Ort, an dem „die verschiedenen Traditionen von Fall zu Fall neu verschmolzen“ (Bukow/Llaryora 1998, S. 17) werden. Die immer wieder neu konstruierten und nicht mehr historisch gesicherten Orientierungen mögen zwar flüchtiger „als früher“ (Beck 1993, S. 124) und damit
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weniger fest in sozialstrukturellen Gegebenheiten verankert sein, bleiben jedoch deutlich fixiert, einerseits in Richtung lokaler Öffentlichkeit und andererseits in Richtung eines sozial-biografischen Lebensentwurfs. So ergeben sich neue Möglichkeiten für eine zunehmende Individualisierung wie auch für eine Ausbildung neuer, vermehrt generalisierender, verständigungsorientierter Praktiken (vgl. ebd., S. 15 ff.).
Multikulturalität im öffentlichen Diskurs Oben wurde darauf hingewiesen, dass (post)moderne Gesellschaften mit stärker ausdifferenzierten Strukturen und mit zunehmender lebensweltlicher Diversifizierung kaum noch in der Lage sind, die verschiedenen Kontexte und Zusammenhänge nach überwölbenden Modellen einheitlich zu verschränken. Trotzdem ist aber zu beobachten, dass man diese Vielfalt durch Konstruktion von Einheitsmythen wie nationale Identität oder Ethnizität zu homogenisieren sucht. Gerade in den offiziellen Debatten über Multikulturalität bzw. die multikulturelle Gesellschaft dominiert häufig diese Vereinheitlichungsstrategie. Der Diskurs ist bestimmt von einer ethnischen Überdimensionierung der städtischen Multikulturalität, die angesichts der kulturellen Pluralisierung (post)moderner Gesellschaften eine künstliche nationale Homogenisierung betreibt und zugleich gesellschaftliche Machtstrukturen verschleiert. Wirft man einen Blick auf den öffentlichen Diskurs um städtische Multikulturalität, stellt man fest, dass die Debatte in hohem Maße von Negativbildern, Alltagsmythen sowie kulturalisierenden und ethnisierenden Deutungsmustern geprägt ist. Die Konstitutionsbedingungen (post)moderner Gesellschaften rücken oft in den Hintergrund, sobald es um „eingewanderte Minderheiten“ geht. Hörbar wird eine zunehmend ethnisch zentrierte Grundmelodie, wie etwa in der Auseinandersetzung um den „Doppelpass“ (vgl. hierzu: Bukow/Yildiz 1999). Dabei sind Tendenzen zu erkennen, die auf eine Ethnisierung der sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens hinauslaufen. Auffallend ist auch, dass ein ethnisch definiertes Kulturverständnis in den Vordergrund tritt, wohingegen die anderen gesellschaftlichen Dimensionen, etwa System- oder politische Zusammenhänge, oft nicht thematisiert werden. Die Kultur ins Zentrum der wichtigsten strukturellen, sozialen und politischen Fragen zu stellen, wie es in den öffentlichen Debatten immer wieder geschieht, bedeutet Kulturreduktionismus. Michel Wievorka (1998, S. 13) weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei diesem Multikulturalismusdiskurs um ein Konstrukt handelt, das eher zur Verschleierung dient, weil dadurch unterschiedliche Kontexte und Wirklichkeiten auf derselben Ebene diskutiert werden. Auffallend ist auch, dass von Anfang an
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mit einem vorgängig bestimmten Deutungsmuster gearbeitet wird (vgl. Bukow/ Ottersbach 1999, S. 13). Indem im Multikulturalismusdiskurs Pluralität bzw. kulturelle Vielfalt automatisch mit ethnischer Herkunft zusammen gedacht ist, wird Ethnizität als ontologische Kategorie aufgefasst und anthropologisiert (vgl. Radtke 1991, S. 91). Schon länger ist zu beobachten, dass in einer Reihe empirischer Untersuchungen, welche die Situation von Minderheiten und damit das „multikulturelle Zusammenleben“ in den Städten behandeln, vor fundamentalistischen Entwicklungen bei Minoritäten, vor allem türkischen Jugendlichen, gewarnt wird (vgl. z.B. Heitmeyer u.a. 1997). Man kritisiert Gettobildungen und beklagt, dass viele Stadtteile, wenn es so weitergehe, zu türkischen Quartieren verkämen, sodass man sich demnächst als Einheimischer womöglich in der eigenen Stadt nicht mehr zurechtfinde. Während die einen für eine „ausgewogene Mischung“ in den Stadtteilen plädieren und auf „überforderte Nachbarschaften“ (Neuhöfer 1998) hinweisen, heben die anderen die positiven Aspekte einer freiwilligen Segregation hervor. Auch die Wissenschaft ist in diesen Prozess involviert. Immer wieder gerät sie in den Sog einer (rechts)populistischen Politik. Sie konzentriert sich immer noch einseitig auf Konflikte zwischen „Deutschen“ und „Türken“, das Abweichen und die Kriminalität der allochthonen Bevölkerung sowie auf Schulversagen und autoritäre Erziehungsstile, wobei sie Differenzen der Lebenswelt zu politisch-gesellschaftlichen Konflikten emporstilisiert. Die Diskussion um die „Grenzen der Belastbarkeit“ einer Gesellschaft durch Minderheiten rückt in den Vordergrund. Fragen der Segregation oder der „ausgewogenen Mischung“ werden unter dem Aspekt der Verträglichkeit für die einheimische Bevölkerung diskutiert (vgl. Bukow/Yildiz 2002, S. 81 ff.). Polemisch formuliert, geht es um die Frage, wie viel Fremdheit eine Nachbarschaft, eine Schule usw. verkraften, bevor man zuschlägt. In dieser Diskussion, auf der die Festlegung von Höchstquoten, die Verhängung von Zuzugssperren und Strategien zur Verstreuung der Minderheitenbevölkerung über die Stadtgebiete basieren, wird der hohe Migrantenanteil in den Stadtteilen oder auch in den Schulen als „besondere Belastung“ wahrgenommen. In demselben Kontext spricht Aye S. Çglar (2001, S. 338) von „Auswirkungen der Ghetto-Metaphorik“. Man setzt die Präsenz von Minderheiten automatisch mit einer sozialen Benachteiligung und Belastung von Stadtteilen gleich. Ausgehend davon wird eine Zuzugssperre gefordert (vgl. Hanhörster 1999, S. 98 ff.). Im öffentlichen Multikulturalismusdiskurs gibt es mehrere problematische Aspekte, weil sowohl Befürworter/innen als auch Gegner/innen des Konzepts oft davon ausgehen, dass wir nicht in einer polykontextuell, sondern einer ethnisch verfassten Gesellschaft mit verschiedenen ethnischen Gruppen leben. Neben
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dieser ethnischen Überdimensionierung der Multikulturalität fällt die Tendenz zur Ethnisierung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte auf. Es findet eine „Umdeutung sozioökonomischer in ethnische Krisenprozesse“ (Butterwegge u.a. 1999, S. 8; Hervorh. im Original, E.Y.) statt, die durch ihre mediale Vermittlung weiter verstärkt wird (vgl. dazu auch: Schulte 1999, S. 189; Butterwegge 2006, S. 188 f.). Zudem werden Minderheiten automatisch als „Belastungsfaktor“ und somit als Konfliktpotenzial identifiziert, woraus als Lösungsstrategie eine „Dosierung“ der Multikulturalität folgt. Schließlich diagnostiziert man eine fehlgeschlagene Multikulturalität.1 Es wird suggeriert, das favorisierte Multikulturalismuskonzept und die interkulturelle Kommunikation seien trotz gut gemeinter Maßnahmen untauglich. Auch ist der Multikulturalismusdiskurs nicht frei von Doppelmoral: Was bei der einheimischen Bevölkerung als selbstverständlich akzeptiert wird, gilt bei allochthonen Bevölkerungsgruppen als abwegig, ja sogar abartig (vgl. Bukow 1999, S. 267 f.; Nikodem u.a. 1999, S. 304 f.). Im öffentlichen Diskurs treten drei Grundpositionen auf: Multikulturalismus als Chance, als Bedrohung und als Anlass kritischer Auseinandersetzung (vgl. dazu Nassehi 1997, S. 195 f.; Yildiz 1997, S. 235 ff.). Wegen seiner Sonderstellung in dieser Debatte soll hier die Position von Frank-Olaf Radtke kurz erläutert werden. Radtke (1990, S. 32) sieht in den öffentlich geführten Multikulturalismusdebatten eine Strategie zur „Ethnisierung der Migranten“ und eine „Selbstethnisierung sozialer Gruppen“ vornehmlich mit dem Ziel, gesellschaftliche Konflikte als „ethnisch verursachte Probleme“ zu interpretieren: „Nationalismus und Fundamentalismus gedeihen auf dem Boden einer als ‚multikulturell‘ wahrgenommenen Gesellschaft so prächtig, weil diese Konstruktion der Gesellschaft die Kategorien ‚Nation‘, ‚Volk‘ und ‚Gemeinschaft‘ als soziale Deutungsmuster aktualisiert. (...) Der Multikulturalismus stellt die Konzeptionen zur Verfügung, mit denen Grenzlinien gezogen und Konflikte aufgebaut werden, deren Lösung zu sein er vorgibt.“ Radtke spricht von einer dem Multikulturalismus inhärenten Ambivalenz von Partikularismus und Universalismus. Er vertritt die Auffassung, dass der partikulare Multikulturalismus dazu tendiere, „die Bedeutung ethnischer Grenzen als eine Form der Ausübung des kollektiven kulturellen Selbstbestimmungsrechts zu legitimieren.“ Stattdessen plädiert Radtke für ein universelles Multikulturalismuskonzept, in dem das egalitäre Prinzip bestimmend für den politischen und sozioökonomischen Status sein soll. Die Heranziehung von ethnischen Dif1
So berichtete der Spiegel im April 1997 über „das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ und darüber, wie gefährlich „Fremde“ hier sein können. Vgl. kritisch dazu und zu dem Medienecho des Artikels: Sarigöz 1999. Dieser Vorgang wiederholte sich, als der Focus nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh im November 2004 „Unheimliche Gäste. Die Gegenwelt der Muslime in Deutschland. Ist Multi-Kulti gescheitert?“ titelte.
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ferenzen bei der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen korrespondiere mit der „Ethnisierung sozialer Konflikte“ und führe zur Unterminierung der Grundlagen einer liberal verfassten Gesellschaft (siehe Radtke 1994, S. 235). Auf diese Weise verstärke und fördere der Multikulturalismusdiskurs eher „das traditionelle Denken“ (Radtke 1991, S. 93). Zusammenfassend sei festgehalten, dass Menschen, Alltagszusammenhänge etc. im ethnisch imprägnierten Multikulturalismusdiskurs zunächst auseinanderdividiert und anschließend nach ethnisch definierten und am „Gemeinschaftsdenken“ orientierten Kriterien wieder zusammengesetzt werden. Dabei handelt es sich nicht um die Beschreibung von Alltagswirklichkeiten, sondern um einen Selektionsvorgang. Michael Bommes (1998, S. 358) spricht zu Recht von einem „sortierenden Blick“. Statt zu hinterfragen, welche Mechanismen vorhanden sind, die ethnisch-kulturelle Differenzen als Unterscheidungskriterium markieren, und warum die polykontextuelle Gesellschaft für solche traditionsfixierten Formen der Vergemeinschaftung überhaupt Räume zur Verfügung stellt, werden Kulturen als „transhistorische Essenzen“ (Bourdieu/Wacquant 1996) behandelt und bei der Beschreibung der Gesellschaft in den Vordergrund gerückt. Obwohl die gesellschaftlichen Systeme (Politik, Recht, Erziehung usw.) tendenziell nach formal-rationalen Kriterien organisiert werden, in denen ethnisch-kulturelle oder religiöse Spezifika als Inklusionskriterien von der Struktur her nicht vorgesehen sind (institutionelle Demokratisierung und Universalisierung von Leitdifferenzen), wird in bestimmten systemischen Kontexten auf Ethnizität als „Deutungsressource“ zurückgegriffen, um Krisen, Risiken und Verwerfungen zu interpretieren.2 Statt die nach ethnischen Kriterien konstruierten Differenzen und Konflikte als quasi „anthropologische Konstante“ zu betrachten, was mit Reethnisierungsprozessen in der Gesellschaft korrespondiert, wäre eine „methodologische Reflexion“ (Frank-Olaf Radtke) geboten. Statt ethnisch orientierte Konstruktionen einfach zu übernehmen und zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen, sollte zunächst nach den gesellschaftlichen Faktoren gefragt werden, die solche Konstruktionen erst real werden und zu unlösbaren Konstellationen avancieren lassen. Auch Wolf-Dietrich Bukow (1999) plädiert dafür, den reduktionistischen Blick zu überwinden und sich einer sachadäquaten Rekonstruktion der Minderheitenthematik zuzuwenden. Deshalb gehen wir von einer Multikulturalität aus, die lebenspraktisch angelegt und ein selbstverständlicher Bestandteil der Alltagsnormalität ist. Praktische Multikulturalität wird als Folge funktionaler Ausdifferenzierung, d.h. als Konsequenz demokratischer Gleichheit, gedeutet. Hier 2
Michael Bommes (1994, S. 368) spricht von einer „Revalorisierung“ der Ethnizität im systemischen Kontext.
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stellt sich nicht die Frage, ob die Gesellschaft „multikulturell“ ist oder in Zukunft sein wird, ob Multikulturalität eine Chance oder eine Bedrohung darstellt, sondern es geht um die grundsätzliche Frage, ob eine funktional ausdifferenzierte, polykontextuell verfasste Gesellschaft, die durch Komplexität und Vielfalt charakterisiert ist und ständig „symbolisch ausgedeutete Sinnhorizonte“ (Nassehi 1997, S. 198) hervorbringt und damit im Alltag eine lebensweltliche Diversifizierung zulässt, überhaupt nichtmultikulturell sein kann.
Multikulturalität und Demokratie Nunmehr drängt sich die Frage auf, welche Bedeutung und welchen Stellenwert Multikulturalität bzw. kulturelle Vielfalt in einer polykontextuellen Gesellschaft hat und wie das Verhältnis zwischen funktionaler Ausdifferenzierung (demokratischer Gleichheit), lebensweltlicher Diversifizierung (kultureller Vielfalt) und politischer Partizipation zu bestimmen ist.3 Da wir in der (post)modernen Gesellschaft mit verschiedenen Kontexten (System, Lebenswelt und Metakommunikation) konfrontiert sind, scheint man bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen demokratischer Gleichheit, also „Inklusion“, kultureller Vielfalt und politischer Partizipation von verschiedenen Demokratisierungsprozessen auszugehen, die sich gegenseitig bedingen und eng zusammenhängen. Dabei geht es um drei Arten der Demokratisierung: soziale, kulturelle und politische. Die Logik funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft beinhaltet die Idee formaler Gleichheit in systemischen Kontexten (soziale Demokratisierung). Die moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft greift in ihren zentralen Instanzen (Ökonomie, Politik, Recht, Bildung und Verwaltung) aus struktureller Sicht nicht mehr auf „ganze Personen“ zu (vgl. Nassehi 1997, S. 205). Eine „vollständige Integration“ (Bahrdt 1998) als ganze Person ist in systemischen Kontexten weder vorgesehen noch erforderlich. Durch diesen modernen Inklusionsmodus, der tendenziell auf demokratische Gleichheit hinausläuft, eröffnen sich immer mehr Möglichkeiten und Optionsspielräume, in denen kulturelle Vielfalt, Gruppendifferenzen und Individualität frei entfaltet werden können. Funktionale Differenzierung erzwingt Individualisierung (vgl. Brunkhorst 1994, S. 115), lebensweltliche Diversifizierung und damit kulturelle Demokratisierung. Die Inklusion nach funktionalen Gesichtspunkten lässt immer mehr Optionsspielräume für Differenzen im Alltag und bietet optimale Bedingungen für eine „kulturelle Demokratisierung“. Dies bedeutet, dass erst die demokratische Gleichstellung Spielräume für individuelle 3
Seyla Benhabib (1999) behandelt eindrucksvoll die Zusammenhänge zwischen demokratischer Gleichheit, kultureller Vielfalt und politischer Partizipation im globalen Zusammenhang.
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und kulturelle Entfaltung im Alltag des Einzelnen, also für kulturelle Vielfalt schafft. Kulturelle Demokratisierung heißt im fundamentalen Sinne, dass Individuen „gleich und verschieden sein können und sollen“ (Beck u.a. 1999, S. 17; Hervorh. im Original, E.Y.). Seyla Benhabib (1998, S. 20) bezeichnet dies in Anlehnung an Hannah Arendt als „Dialektik von Gleichheit und Differenz“. Um das Verhältnis zwischen funktionaler Ausdifferenzierung, also der Idee formaler Gleichheit, und kultureller Vielfalt zu verdeutlichen, verweist Hauke Brunkhorst (1994) darauf, dass die Demokratie auf Differenzen basiert und sie gleichzeitig auch fördert. Bei der letzten, als „politische Demokratisierung“ bezeichneten Form handelt es sich um die Durchsetzung politischer Freiheitsrechte aufgrund der Französischen Revolution, die von Menschen im Verlauf des Modernisierungsprozesses schrittweise verinnerlicht wurden. Historisch gesehen, spielte die politische Demokratisierung bei der Durchsetzung der Idee formaler Gleichheit eine unerlässliche Rolle. Heute schlägt sich die politische Demokratisierung der Gesellschaft in einer zivilgesellschaftlichen Infrastruktur nieder, die wir in Gestalt verständigungsorientierter Praktiken, Diskussionen, gemeinsamer Aktionen, Bürgerinitiativen usw. im urbanen Alltag beobachten. Dabei handelt es sich um kommunikative Prozesse, in denen Risiken und Krisen der Modernisierung zum Gegenstand diskursiver Handlungen gemacht werden. „Subpolitik“ (Beck 1993), „life politics“ (Giddens 1997) und „Politik der Lebensstile“ (Neckel 1993) sind neue Politikformen, welche die politische Demokratisierung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Dies deutet auch darauf hin, dass der (post)moderne Alltag zunehmend doppelreflexiv wird, indem die Menschen in „Krisenzeiten“, über die kulturelle Vielfalt hinausgehend, gemeinsam diskursive Vernetzungen und neue Interventionsstrategien hervorbringen, so auf städtische Gegebenheiten verändernd einwirken und dabei immer wieder situativ neu gewichtete Wirklichkeiten produzieren. Mit anderen Worten: Das dialektische Verhältnis zwischen demokratischer Gleichheit (formaler Inklusion) und kultureller Vielfalt (Differenzen in der Lebenswelt) wird durch metakommunikative Verständigungsprozesse (Zivilgesellschaft) im Fluss gehalten.4 Je eher formale Gleichheit herrscht, desto mehr Möglichkeiten zur Entfaltung lebensweltlicher Differenzen gibt es. Je mehr Differenzen bestehen, umso dringlicher wird die Herstellung formaler Gleichheit und desto eher wächst der Zwang zum verständigungs- und konsensorientierten Handeln bei der Bearbeitung von Risiken und Krisen; Solidarität wird zu einer Notwendigkeit. „Wenn Gleichheit Differenz ermöglicht, so provoziert Differenz kommunikative Rationalität.“ (Bukow 1996, S. 76) 4
In diesem Zusammenhang spricht Jürgen Habermas (1992) von der „zivilgesellschaftlichen Infrastruktur“.
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Multikulturalität im globalen Zusammenhang Historisch betrachtet ist Globalisierung5 – auch wenn darüber seit einigen Jahren in unterschiedlichsten Zusammenhängen kontrovers diskutiert wird – kein neues Phänomen. Zu jeder Zeit gab es Entwicklungen globaler Art, welche die Prozesse der Modernisierung und Demokratisierung begleitet und zum Teil auch geprägt haben. Denken wir nur an die Schlagworte der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die weit über nationale Grenzen und die damalige Zeit hinaus Wirkung zeigten. Globalisierungsprozesse haben jedoch in letzter Zeit eine Intensivierung und Radikalisierung erfahren. „Gelebte Globalität“6 gehört heute zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags der Einzelnen, auch wenn sie zunächst als solche nicht wahrgenommen wird. Zwischen lokalen und globalen Prozessen existiert ein dialektisches Verhältnis. Globale Ereignisse beeinflussen das lokale Handeln weltweit und lokale Handlungen wiederum die Globalisierungsprozesse. Der Begriff „Glokalität“ (Robertson 1998) verdeutlicht diese Entwicklung. Globalisierung impliziert nach Anthony Giddens primär Aktivitäten über Distanzen hinweg. Es geht um eine Entwicklung, die u.a. durch die Transformation von Raum und Zeit in der Folge globaler Kommunikationsmedien und Massentransportmöglichkeiten entsteht. So bilden sich nicht nur weltweite Netzwerke, sondern werden auch lokale und personale Erfahrungshorizonte aufgebrochen, von innen her verändert. Die allgemeine Tendenz geht in Richtung umfassender Interdependenzen, was von Giddens (1993, S. 447) als „globales Experiment der Moderne“ interpretiert wird. Globalisierung heißt für ihn „Handeln aus der Ferne“ (ebd., S. 476). Auf diese Weise stellen die Globalisierungsprozesse überall das nationalstaatliche System in Frage. Die Nationalstaaten sind zunehmend hilflos bei der Beantwortung neuer globaler Fragen und bei der Lösung globaler Risiken (vgl. Benhabib 1999, S. 28). Im Zeitalter der Globalisierung ist die „integrative Leistung“ des Nationalstaates, eine kohärente nationale und ethnische Identität zu schaffen und zu wahren, in Frage gestellt (ebd., S. 29). Diese Dialektik zunehmender globaler Systemintegration, die mit sozialer und kultureller Fragmentierung einhergeht, stellt nach Seyla Benhabib eine der großen Herausforderungen an das soziale und politische Denken der Gegenwart dar. Im selben Kontext stellt sich die Frage, was Multikulturalität bzw. kulturelle Vielfalt im Zeitalter der Globalisierung bedeutet. Führt die Globalisierung zur 5 6
Hier ist deutlich „zwischen Globalisierung und ihren neoliberalen Erscheinungsformen“ (Butterwegge 2002, S. 74) zu unterscheiden (vgl. auch Butterwegge u.a. 2008a und 2008b). Anstelle eines rein politökonomischen wird hier ein soziologischer Begriff der Globalisierung verwendet, der sie nicht nur als eine neue Phase in der Entwicklung des Weltmarktes versteht, sondern auch als die Entstehung eines neuen Modus sozialen Handelns.
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kulturellen Vereinheitlichung, wie oft behauptet wird? Oder erhöht Globalisierung die Chancen für kulturelle Vielfalt? Ich vertrete die These, dass Globalisierung die Pluralisierungstendenzen auf lokaler Ebene deutlich verstärkt. Städte oder Stadtteile bilden dabei die konkreten Orte, an denen sich die kulturelle, ökonomische und politische Dynamik lokaler und globaler Prozesse immer wieder aufs Neue in Übergangs- und Zwischenräumen auf lokaler Ebene vermischen. Betrachtet man z.B. Ehrenfeld, einen Stadtteil im Kölner Westen, finden sich dafür mancherlei Belege. Dort existiert ein komplexes und verschachteltes Nebeneinander von Subkulturen, Partialkulturen und verschiedenen Milieus, die sich auf vielfältige Weise aufeinander beziehen und tendenziell globale Dimensionen aufweisen. In Ehrenfeld bestehen verschiedene Jugendkulturen (Punk, Techno, HipHop, Heavy Metal usw.), verschiedene Szenen wie die Schwulen-, Lesben- oder Alternativszene, verschiedene Milieus wie das kölsche, kölsch-türkische oder kölsch-italienische eng nebeneinander, was ohne globale Mobilität und Interdependenzen nicht möglich wäre. Die globale Stadt ist ein Ort, der Unterschiede zulässt und Vielfalt in jeder Hinsicht begünstigt (vgl. Yildiz 1999, S. 105 ff.). Man könnte sogar von „globalen Biografien“ reden.7 Aufgrund der zunehmenden globalen Mobilität ist es möglich geworden, dass viele Menschen nicht dort leben, wo sie geboren sind, in Städten arbeiten, wo sie nicht wohnen, Verwandte und Bekannte in anderen Ländern haben, nach Urlaubsreisen Freundschaften in aller Welt pflegen oder auszuwandern planen. Man könnte die Reihe von Beispielen beliebig fortsetzen. In den (post)modernen und vermehrt global gerahmten Gesellschaften, wo „narrative Unbestimmtheit“ (Seyla Benhabib) die Lebenswelten der Einzelnen zunehmend prägt, spielen demokratische Gleichheit und politische Partizipation eine wesentliche Rolle (vgl. hierzu: Yildiz 2008, S. 33 ff.). Es muss jedoch politisch dafür Sorge getragen werden, dass die Voraussetzungen einer freien Entfaltung verschiedener Kulturen vorhanden sind. In diesem Zusammenhang ist die wesentliche Aufgabe des liberal verfassten Staates, den gleichen Wert der bürgerlichen, individuellen Freiheiten für alle durchzusetzen, also eine für Deutungen und Lebensentwürfe überhaupt offene kulturelle Matrix zu schaffen. In der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit müssen Bedingungen hergestellt werden, unter denen einzelne Personen und Gruppen „Teilnehmer eines öffentlichen Dialogs werden und alle Beteiligten bzw. Betroffenen ihre eigenen Erzählungen von Identität und Differenz selbst repräsentieren können“ (Benhabib 1999, S. 69). Dass die Globalisierung den Trend zu kulturellen und politischen Demokratisierungsprozessen verstärkt und tendenziell zur Entstehung einer „globalen Zivilgesellschaft“ beiträgt, steht außer Frage. Durch die Globalisierungsprozesse 7
Ulf Hannerz (1995, S. 81) spricht hier von der „transnationalen Biographie“.
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werden aber auch Tendenzen sichtbar, die zur Bildung und Etablierung eines neuen Verhältnisses globaler Inklusion und Exklusion führen sowie neue Marginalisierungen und Ungerechtigkeiten für bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Folge haben. Zur gemeinsamen Bearbeitung und Entschärfung solcher Risiken und Krisen sowie zur Durchsetzung und Sicherung der allgemein anerkannten Rechte für alle betont Georg Auernheimer (1999) die Bedeutung und Notwendigkeit der „Konsensbildung durch den Dialog“ auf globaler Ebene. Er ist der Auffassung, dass gerade auf dieser Ebene Mehrheitsentscheidungen in einigen Fragen nicht sinnvoll seien und daher nur bedingt weiterhelfen würden. In diesem Kontext plädiert Auernheimer (ebd., S. 62) für „dialogische Einigungsverfahren“, die dem Konzept des „deliberativen Universalismus“ entsprechen. Daher muss eine Theorie der politischen Gerechtigkeit notwendigerweise auch eine Theorie internationaler Gerechtigkeit sein (vgl. Benhabib 1999, S. 87). Wenngleich wir in letzter Zeit überall eine Erschöpfung utopischer Energien erleben und die Vorstellungskraft uns gerade da zu verlassen scheint, wo wir sie am nötigsten brauchen, muss die Aufgabe kritischer Intellektueller darin bestehen, den globalen Trend zur Demokratisierung voranzutreiben und die emanzipativen Potenziale der Globalisierung auszuschöpfen (vgl. Yildiz 2005, S. 239 ff.).
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Literaturauswahl
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Sauer, Karin Elinor: Integrationsprozesse von Kindern in multikulturellen Gesellschaften, Mit einem Geleitwort von Josef Held, Wiesbaden 2007 Schiffauer, Werner (u.a., Hrsg.): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern, Münster 2002 Sezgin, Hilal: Typisch Türkin? – Porträt einer neuen Generation, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2006 Strobl, Rainer/Kühnel, Wolfgang: Dazugehörig und ausgegrenzt. Analysen zu Integrationschancen junger Aussiedler, Weinheim/München 2000 Weber, Martina: Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede, Opladen 2003 Weiss, Karin/Rieker, Peter (Hrsg.): Allein in der Fremde. Fremdunterbringung ausländischer Jugendlicher in Deutschland, Münster 1997
Deutsches Reich und Bundesrepublik als Ein- bzw. Auswanderungsland Bade, Klaus J. (Hrsg.): Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München 1994 Bade, Klaus J. (Hrsg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992 Bade, Klaus J.: Homo Migrans. Wanderungen aus und nach Deutschland, Essen 1994 Blahusch, Friedrich: Zuwanderungspolitik im Spannungsfeld ordnungspolitischer und ethnisch-nationalistischer Legitimationsmuster, Frankfurt am Main 1999 Currle, Edda/Wunderlich, Tanja (Hrsg.): Deutschland – ein Einwanderungsland? – Rückblick, Bilanz und neue Fragen, Stuttgart 2001 Davy, Ulrike/Weber, Albrecht (Hrsg.): Paradigmenwechsel in Einwanderungsfragen? – Überlegungen zum neuen Zuwanderungsgesetz, Baden-Baden 2006 Dresel, Irene: Migration. Eine theoretische und ökonometrische Analyse der Wanderungsbewegungen in Deutschland und der Europäischen Union, Frankfurt am Main 2005 Faulenbach, Bernd/Helle, Andreas (Hrsg.): Zwangsmigration in Europa. Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Essen 2005 Finkelstein, Kerstin E.: Ausgewandert. Wie Deutsche in aller Welt leben, Berlin 2005 Finkelstein, Kerstin E.: Eingewandert. Deutschlands „Parallelgesellschaften“, Berlin 2006 Gorenflos, Walter: Keine Angst vor der Völkerwanderung, Hamburg 1995
296
Literaturauswahl
Hell, Matthias: Einwanderungsland Deutschland? – Die Zuwanderungsdiskussion 1998-2002, Wiesbaden 2005 Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999 Hoerder, Dirk/Knauf, Diethelm (Hrsg.): Einwandererland USA – Gastarbeiterland BRD (Argument-Sonderband 163), Hamburg/Berlin 1988 Hoffmann, Lutz: Die unvollendete Republik. Einwanderungsland oder deutscher Nationalstaat, 2. Aufl. Köln 1992 Keskin, Hakki: Deutschland als neue Heimat. Eine Bilanz der Integrationspolitik, Wiesbaden 2005 Kühne, Peter/Öztürk, Nihat/West, Klaus-W. (Hrsg.): Gewerkschaften und Einwanderung. Eine kritische Zwischenbilanz, Köln 1994 Ludwig, Ralf/Ness, Klaus/Perik, Muzaffer (Hrsg.): Fluchtpunkt Deutschland, Marburg 1992 Mehrländer, Ursula/Schultze, Günther (Hrsg.): Einwanderungsland Deutschland. Neue Wege nachhaltiger Integration, Bonn 2001 Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungsland, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2003 Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hrsg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004 Motte, Jan/Ohliger, Rainer/Oswald, Anne von (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt am Main/New York 1999 Münz, Rainer/Seifert, Wolfgang/Ulrich, Ralf: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, 2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 1999 Schumacher, Harald: Einwanderungsland BRD, 3. Aufl. Düsseldorf 1995 Tessmer, Carsten (Hrsg.): Deutschland und das Weltflüchtlingsproblem, Opladen 1994 Weber, Albrecht (Hrsg.): Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union: Gestaltungsauftrag und Regelungsmöglichkeiten, Osnabrück 1997 Wenning, Norbert: Migration in Deutschland. Ein Überblick, Münster/New York 1996 Winter, Bernd: Gefährlich fremd. Deutschland und seine Einwanderung, Freiburg im Breisgau 2004
Literaturauswahl
297
Ausländer- bzw. Asylpolitik (im historischen/internationalen Vergleich) Angenendt, Steffen: Deutsche Migrationspolitik im neuen Europa, Opladen 1997 Barwig, Klaus (u.a., Hrsg.): Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes. Entwicklungen in Deutschland und Europa, Baden-Baden 1994 Birsl, Ursula: Migration und Migrationspolitik im Prozess der europäischen Integration?, Opladen 2005 Bischoff, Detlef/Teubner, Werner: Zwischen Einbürgerung und Rückkehr. Ausländerpolitik und Ausländerrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Berlin 1991 D’Amato, Gianni: Vom Ausländer zum Bürger. Der Streit um die politische Integration von Einwanderern in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, 3. Aufl. Münster 2005 Brubaker, Rogers: Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Mit einer Einführung von Ulrich Bielefeld, Hamburg 1994 Dickel, Doris: Einwanderungs- und Asylpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende Studie der 1980er und 1990er Jahre, Opladen 2002 Dominik, Katja (u.a., Hrsg.): Angeworben – eingewandert – abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland, Münster 1999 Egtved, Peer: Multikulturell oder liberal? – Die Politik und die Zuwanderung im deutsch-britischen Vergleich, Opladen 2002 Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001 Höfling-Semnar, Bettina: Flucht und deutsche Asylpolitik. Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung, Münster 1995 Holzer, Thomas/Schneider, Gerald: Asylpolitik auf Abwegen. Nationalstaatliche und europäische Reaktionen auf die Globalisierung der Flüchtlingsströme, Opladen 2002 Hunger, Uwe (u.a., Hrsg.): Migrations- und Integrationsprozesse in Europa. Vergemeinschaftung oder nationalstaatliche Lösungswege?, Wiesbaden 2008 Knight, Ute/Kowalsky, Wolfgang: Deutschland nur den Deutschen? – Die Ausländerfrage in Deutschland, Frankreich und den USA, 2. Aufl. Erlangen/Bonn/Wien 1992 Knopp, Anke: Die deutsche Asylpolitik, Münster 1994 Körner, Heiko/Mehrländer, Ursula (Hrsg.): Die „neue“ Ausländerpolitik in Europa. Erfahrungen in den Aufnahme- und Entsendeländern, Bonn 1986 Luft, Stefan: Mechanismen, Manipulation, Missbrauch. Ausländerpolitik und Ausländerintegration in Deutschland, Köln 2002
298
Literaturauswahl
Münch, Ursula: Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung und Alternativen, 2. Aufl. Opladen 1993 Noiriel, Gérard: Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, Lüneburg 1994 Pieper, Tobias: Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik, Münster 2008 Schönwälder, Karen: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001 Steeg, Marcus ter: Das Einwanderungskonzept der EU. Zwischen politischem Anspruch, faktischen Regelungsbedürfnissen und den primärrechtlichen Grenzen in Titel IV des EG-Vertrages, Baden-Baden 2006 Tomei, Verónica: Europäische Migrationspolitik zwischen Kooperationszwang und Souveränitätsansprüchen, Bonn 1997 Tomei, Verónica: Europäisierung nationaler Migrationspolitik. Eine Studie zur Veränderung von Regieren in Europa, Stuttgart 2001 Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Das europäische Einwanderungskonzept. Strategien und Optionen für Europa, Gütersloh 1994 Wolter, Achim (Hrsg.): Migration in Europa. Neue Dimensionen, neue Fragen, neue Antworten, Baden-Baden 1999
Konzepte und Modelle der Integration von Zuwanderern: „MultiKulti“, „offene Republik“ usw. Appelt, Erna (Hrsg.): Demokratie und das Fremde. Multikulturelle Gesellschaften als demokratische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Innsbruck/Wien/München 2001 Auernheimer, Georg (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Opladen 2002 Bade, Klaus J. (Hrsg.): Die multikulturelle Herausforderung. Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen, München 1996 Balke, Friedrich (u.a., Hrsg.): Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, Frankfurt am Main 1993 Benz, Wolfgang (Hrsg.): Integration ist machbar. Ausländer in Deutschland, München 1993 Beyersdörfer, Frank: Multikulturelle Gesellschaft. Begriffe, Phänomene, Verhaltensregeln, Münster 2004 Bizeul, Yves (Hrsg.): Integration von Migranten. Französische und deutsche Konzepte im Vergleich, Wiesbaden 2004
Literaturauswahl
299
Büttner, Christian/Meyer, Berthold (Hrsg.): Integration durch Partizipation. „Ausländische Mitbürger“ in demokratischen Gesellschaften, Frankfurt am Main/New York 2001 Bukow, Wolf-Dietrich (u.a.): Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag, Opladen 2001 Bukow, Wolf-Dietrich: Leben in der multikulturellen Gesellschaft. Die Entstehung kleiner Unternehmer und die Schwierigkeiten im Umgang mit ethnischen Minderheiten, Opladen 1993 Bukow, Wolf-Dietrich/Yildiz, Erol (Hrsg.): Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell?, Opladen 2002 Cohn-Bendit, Daniel/Schmid, Thomas: Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie, Hamburg 1992 Fischer, Martina (Hrsg.): Fluchtpunkt Europa. Migration und Multikultur, Frankfurt am Main 1998 Jansen, Mechtild M./Baringhorst, Sigrid (Hrsg.): Politik der Multikultur. Vergleichende Perspektiven zu Einwanderung und Integration, Baden-Baden 1994 Krummacher, Michael/Waltz, Viktoria: Einwanderer in der Kommune. Analysen, Aufgaben und Modelle für eine multikulturelle Stadtpolitik, Essen 1996 Kürat-Ahlers, Elçin/Tan, Dursun/Waldhoff, Hans-Peter (Hrsg.): Globalisierung, Migration und Multikulturalität. Werden zwischenstaatliche in innerstaatliche Demarkationslinien verwandelt?, Frankfurt am Main 1999 Leggewie, Claus: Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin 1990 Mintzel, Alf: Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde, Passau 1997 Möbius, Ben: Die liberale Nation. Deutschland zwischen nationaler Identität und multikultureller Gesellschaft, Opladen 2003 Neubert, Stefan/Roth, Hans-Jürgen/Yildiz, Erol (Hrsg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, 2. Aufl. Wiesbaden 2008 Nick, Peter: Ohne Angst verschieden zu sein. Differenzerfahrungen und Identitätskonstruktionen in der multikulturellen Gesellschaft, Frankfurt am Main/ New York 2002 Oberndörfer, Dieter: Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1991 Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 2002
300
Literaturauswahl
Schulte, Axel: Zwischen Diskriminierung und Demokratisierung. Aufsätze zu Politiken der Migration, Integration und Multikulturalität in Westeuropa, Frankfurt am Main 2000 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1997
Maßnahmen, Folgen und Alternativen deutscher Integrationspolitik Auernheimer, Georg (Hrsg.): Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen, Opladen 2001 Budzinski, Manfred: Die multikulturelle Realität. Mehrheitsherrschaft und Minderheitenrechte, Göttingen 1999 Diefenbach, Heike/Renner, Günter/Schulte, Bernd: Migration und die europäische Integration. Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe, München 2002 Diehl, Claudia: Die Partizipation von Migranten in Deutschland. Rückzug oder Mobilisierung?, Opladen 2002 Frech, Siegfried/Meier-Braun, Karl-Heinz (Hrsg.): Die offene Gesellschaft. Zuwanderung und Integration, Schwalbach im Taunus 2007 Granato, Nadia: Ethnische Ungleichheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt, Opladen 2003 Haug, Frigga/Reimer, Katrin (Hrsg.): Politik ums Kopftuch, Hamburg 2005 Klärner, Andreas: Aufstand der Ressentiments. Einwanderungsdiskurs, völkischer Nationalismus und die Kampagne der CDU/CSU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, Köln 2000 Kroker, Eduard J.M./Dechamps, Bruno (Hrsg.): Deutschland auf dem Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft?, Frankfurt am Main 1996 Lamura, Giovanni: Migration und kommunale Integrationspolitik. Vergleich der Städte Bremen und Bologna, Wiesbaden 1998 Lefringhausen, Klaus (Hrsg.): Integration mit aufrechtem Gang. Wege zum interkulturellen Dialog, Wuppertal 2005 Oestreich, Heide: Der Kopftuch-Streit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2005 Roß, Bettina: Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft. Perspektiven für eine antirassistische und feministische Politik und Politikwissenschaft, Wiesbaden 2004 Sackmann, Rosemarie: Zuwanderung und Integration. Theorien und empirische Befunde aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, Wiesbaden 2004
Literaturauswahl
301
Schmalz-Jacobsen, Cornelia/Hinte, Holger/Tsapanos, Georgios: Einwanderung – und dann?, Perspektiven einer neuen Ausländerpolitik, München 1993 Sieveking, Klaus (u.a., Hrsg.): Das Kommunalwahlrecht für Ausländer, BadenBaden 1989 Sommerfeld, Franz (Hrsg.): Der Moscheestreit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration, Köln 2008 Steinbach, Anja: Soziale Distanz. Ethnische Grenzziehung und die Eingliederung von Zuwanderern in Deutschland, Wiesbaden 2004 Storz, Henning/Reißlandt, Carolin (Hrsg.): Staatsbürgerschaft im Einwanderungsland Deutschland. Handbuch für die interkulturelle Praxis in der Sozialen Arbeit, im Bildungsbereich, im Stadtteil, Opladen 2002 Vahsen, Friedhelm: Migration und Soziale Arbeit. Konzepte und Perspektiven im Wandel, Neuwied/Kriftel 2000 Wagner, Bernd: Die Erstförderung von Neuzuwanderern in der Bundesrepublik Deutschland. Perspektiven von Fremdsein und Statuspassage, Frankfurt am Main 2007 Winkler, Beate (Hrsg.): Zukunftsangst Einwanderung, München 1992 Yildiz, Erol: Die halbierte Gesellschaft der Postmoderne. Probleme des Minderheitendiskurses unter Berücksichtigung alternativer Ansätze in den Niederlanden, Opladen 1997 Yildiz, Erol: Fremdheit und Integration. Ausführungen zum besseren Verständnis – Anregungen zum Nachdenken, Bergisch Gladbach 1999
Medien, Migration und Integration Ausländerbeauftragte der Freien und Hansestadt Hamburg/Hamburgische Anstalt für neue Medien (Hrsg.): Medien – Migration – Integration. Elektronische Massenmedien und die Grenzen kultureller Identität, Berlin 2001 Bonfadelli, Heinz/Moser, Heinz (Hrsg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum?, Wiesbaden 2007 Brosius, Hans-Bernd/Esser, Frank: Eskalation durch Berichterstattung? – Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt, Opladen 1995 Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun/Sarigöz, Fatma (Hrsg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999 Butterwegge, Christoph (u.a.): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002 Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.): Massenmedien, Migration und Integration. Herausforderungen für Journalismus und politische Bildung, 2. Aufl. Wiesbaden 2006
302
Literaturauswahl
Çelik, Hidir: Die Migrationspolitik bundesdeutscher Parteien und Gewerkschaften. Eine kritische Bestandsaufnahme ihrer Zeitschriften 1980-1990, Bonn 1995 Esser, Frank/Scheufele, Bertram/Brosius, Hans-Bernd (Hrsg.): Fremdenfeindlichkeit als Medienthema und Medienwirkung, Wiesbaden 2002 Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (Hrsg.): Integration durch Massenmedien/Mass Media-Integration. Medien und Migration im internationalen Vergleich/Media and Migration: A Comparative Perspective, Bielefeld 2006 Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (Hrsg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie, Bielefeld 2005 Höhne, Thomas/Kunz, Thomas/Radtke, Frank-Olaf: Bilder vom Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten lernen sollen, Frankfurt am Main 2005 Jäger, Margret (u.a.): Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden. Medien und Straftaten, Duisburg 1998 Jäger, Siegfried/Link, Jürgen (Hrsg.): Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien, Duisburg 1993 Jung, Matthias/Wengeler, Martin/Böke, Karin (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag, Opladen 1997 Jung, Matthias/Niehr, Thomas/Böke, Karin: Ausländer und Migranten im Spiegel der Presse. Ein diskurshistorisches Wörterbuch zur Einwanderung seit 1945, Wiesbaden 2000 Koch, Ralf: „Medien mögen’s weiß“ – Rassismus im Nachrichtengeschäft. Erfahrungen von Journalisten in Deutschland und den USA, München 1996 Niehr, Thomas/Böke, Karin (Hrsg.): Einwanderungsdiskurse. Vergleichende diskurslinguistische Studien, Wiesbaden 2000 Röben, Bärbel/Wilß, Cornelia (Hrsg.): Verwaschen und verschwommen. Fremde Frauenwelten in den Medien, Frankfurt am Main 1996 Schatz, Heribert/Holtz-Bacha, Christina/Nieland, Jörg-Uwe (Hrsg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk, Wiesbaden 2000 Scheffer, Bernd (Hrsg.): Medien und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten und Zynismen, Opladen 1997 Winkler, Beate (Hrsg.): Was heißt denn hier fremd? – Thema Ausländerfeindlichkeit: Macht und Verantwortung der Medien, München 1994
Autor(inn)en Autor(inn)en
Dr. Steffen Angenendt, Senior Associate bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP, Global Issues Division Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen PD Dr. Petra Bendel, Politikwissenschaftlerin, Akademische Oberrätin und Geschäftsführerin des Zentralinstituts für Regionenforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Carolin Butterwegge, wiss. Mitarbeiterin im Landtag NRW und Doktorandin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Hochschullehrer für Politikwissenschaft und Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln Prof. Dr. Johan Galtung, Hochschullehrer für Friedensstudien an mehreren Universitäten und Direktor von Transcend, einem internationalen Friedens- und Entwicklungsnetzwerk Prof. Dr. Gudrun Hentges, Hochschullehrerin für Politikwissenschaft an der Hochschule Fulda und Leiterin des Studiengangs „B.A. Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Interkulturelle Beziehungen“ (BASIB) Prof. Dr. Peter Kühne, em. Hochschullehrer für Soziologie am Zentrum für Weiterbildung der Universität Dortmund Prof. Dr. Franz Nuscheler, em. Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF)
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Autor(inn)en
Prof. Dr. Dieter Oberndörfer, em. Hochschullehrer für Politikwissenschaft und Direktor des Arnold-Bergsträsser Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Freiburg Prof. Dr. Annette Treibel, Hochschullehrerin an der PH Karlsruhe (Abteilung Soziologie/Politik) Prof. Dr. Erol Yildiz, Hochschullehrer für Interkulturelle Bildung an der AlpenAdria-Universität Klagenfurt