Vom selben Autor erschienen in den Heyne-Büchern die Kriminalromane Klopfzeichen drei-eins-zwei • Band 1122
Venus in ...
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Vom selben Autor erschienen in den Heyne-Büchern die Kriminalromane Klopfzeichen drei-eins-zwei • Band 1122
Venus in Schwarz • Band 1040
Darius der Letzte • Band 1372
sowie die utopischen Romane Die grünen Teufel vom Mars • Band 3038
Alpträume • Band 3046
Der Unheimliche aus dem All • Band 3050
FREDERIC BROWN
ZWERGE
STERBEN HALB SO SCHWER
Kriminalroman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 1410
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DEAD RINGER
Deutsche Übersetzung von Hans Maeter
gescannt von Brrazo
Copyright © 1969 by Frederic Brown
Frinted in Germany 1970
Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann,
München Gesamtherstellung: Ebner, Ulm
1
Es war überhaupt nicht die richtige Stimmung für einen Mord. Der Nachmittag war zwar trübe, aber recht warm gewesen. Unser Jahrmarkt war gut besucht, und die Kasse stimmte. Es war Donnerstag, der 15. August, unser vierter Tag in Evansville, Indiana. Ungefähr um halb sieben, als wir uns gerade auf das Abendgeschäft vorbereiteten, begann es zu regnen. Normalerweise fürchteten wir den Regen, weil er alle Besucher verscheuchte, aber diesmal war er uns willkommen. Seit Wochen hatten wir mit dem Wetter Glück gehabt, während unserer ganzen Reise durch Ohio und Kentucky. Jeder Tag war ein gutes Geschäft gewesen, und alle hatten Geld in der Tasche. Ein freier Abend kam uns gerade recht. Onkel Am hatte gerade die Zeltfront unserer Wurfbude hochgerollt, als die ersten schweren Tropfen fielen. Ein paar davon trafen sein Gesicht. Er ließ den Vorhang wieder herunter und grinste mich an. »Es sieht so aus, als ob wir einen freien Abend hätten, Ed.« »Vielleicht ist es nur ein Schauer«, meinte ich. »Nein, es wird die ganze Nacht regnen. Vielleicht 5
kommt auch noch etwas Wind auf. Hilf mir, das Zelt zu befestigen.« Wir verstauten die Bälle, die hölzernen Milchflaschen und die Preise, die zu gewinnen waren, und zogen unsere Regenmäntel an. Ich setzte meinen Hut auf. Onkel Am hatte seinen bereits auf. Er trug ihn immer, außer im Bett. Wir befestigten das Zelt mit Seilen. Es regnete jetzt ziemlich heftig. Überall sahen wir die Schausteller ihre Buden schließen und mit Seilen gegen den zu erwartenden Sturm sichern. »Ich gehe mal zum Spielzelt hinüber«, sagte Onkel Am, als wir fertig waren. »Warum fährst du nicht in die Stadt und siehst dir einen Film an?« »Ich bleibe lieber hier und übe auf meiner Posaune.« Er nickte mir zu und ging. Ich betrat unser Wohnzelt und machte Licht. Dann packte ich die Posaune aus, die Onkel Am mir geschenkt hatte, als ich vor einem Jahr — nach dem Tod meines Vaters — zum Jahrmarkt gekommen war. Ich war richtig verliebt in diese Posaune. Eine Weile saß ich nur da und sah sie an. Ihr Bügel ließ sich so leicht bewegen, daß man weder die Reibung noch das Gewicht spürte. Sie glänzte wie ein Juwel. 6
Ich begann Tonleitern zu üben und spielte dann ein paar Schlager aus dem Gedächtnis. Das klappte schon sehr gut. Aber als ich ein paar hohe Noten anblies, kippte der Ton, und das klang ziemlich übel. Ich hörte jemand lachen und wandte mich um. Hoagy streckte den Kopf durch die Zelttür, grinste mich an und kam herein. Sein regenfeuchter Mantel glänzte im Licht der Lampe. Hoagy war so groß und breit, daß er das ganze Zelt auszufüllen schien. Er mußte den Kopf gesenkt halten, um nicht gegen das Dach zu stoßen. »Ich dachte schon, hier wird jemand umgebracht«, sagte er. »Bist du schon zurück, Hoagy?« »Eben angekommen. In South Bend ist alles klar für die nächste Woche. Wir haben einen sehr schönen Platz bekommen.« Hoagy reiste uns immer voraus, um den nächsten Standplatz zu sichern. Er hatte zwar eine eigene Show, aber die kam seit einiger Zeit nicht mehr so gut bei den Leuten an, und da hatte er für den Rest der Saison aufgegeben. »Wie geht's dem Schimpansen?« fragte ich. Sein Gesicht wurde ernst. »Immer noch ziemlich schlecht. Ich habe gerade nach ihm gesehen. Wo ist Am? Wieder im Spielzelt?« 7
Ich nickte, und er ging. Der Regen trommelte auf das Zeltdach, und in der Ferne grollte Donner. Ich wußte, daß es nur Wolken waren, die am Himmel zusammenstießen, aber mir kam es eher vor wie das drohende Knurren eines wilden Tieres, so unheimlich und schwarz wie die Nacht, riesig und tödlich. Ich zog den Regenmantel an und ging die Hauptstraße des Jahrmarktplatzes entlang. Der Regen trommelte auf den Boden, der sich in Morast verwandelte. Glücklicherweise fiel der Platz ein wenig ab, so daß sich kein Wasser ansammelte. Ich überquerte die Straße und ging auf das Zelt der Abnormitätenschau zu. In dem grünen Wohnwagen hinter dem Zelt war noch Licht. Ich klopfte an, und Lee Carey ließ mich eintreten. »Du willst wieder ein paar Platten hören, was?« sagte er, als ich eintrat. »Mach dir's bequem, ich gehe für eine Stunde weg.« »Hast du was Neues?« »Ja, eine Goodis-Platte. Ist ganz gut, finde ich.« Er zog seinen Regenmantel an und ging. Ich legte die Goodis-Platte auf. Sie gefiel mir, aber der Donner wurde immer lauter, und ich konnte mich nicht auf die Musik konzentrieren. Ich schaltete den Apparat aus und ging wieder. 8
Es schüttete jetzt wie aus Eimern. Der reinste Wolkenbruch. Ich rannte zu unserem Zelt zurück. Onkel Am war auch schon dort. Er stand auf der windgeschützten Seite der Wurfbude und prüfte die Seilbefestigungen. Ich stellte mich neben ihn, bis der Regen wieder etwas nachließ. Dann gingen wir beide zum Spielzelt. Nur Schausteller hatten dort Zutritt, damit sie sich nach Feierabend noch etwas zerstreuen konnten. Außenseiter waren nicht zugelassen. Es war sozusagen eine reine Familienangelegenheit. Ich blieb eine Weile und sah den Leuten beim Pokern zu. Schließlich kehrte ich wieder zu unserem Wohnzelt zurück. Der Regen war mir in den Kragen gelaufen. Ich zog mich aus und rieb mich mit einem Handtuch trocken. Während ich noch damit beschäftigt war, ging plötzlich das Licht aus. Nicht nur in unserem Zelt, sondern überall auf dem Jahrmarkt. Ich steckte meinen Kopf aus dem Zelt und sah, daß es überall stockdunkel war. Ich fluchte und suchte nach Streichhölzern. Als ich sie gefunden hatte, entzündete ich die kleine Karbidlampe, die für solche Notfälle gedacht war. Ich zog mir gerade eine trockene Hose an, als Onkel Am hereinkam. 9
»Alles in Ordnung, Junge?« »Klar«, sagte ich. »Was ist passiert?« »Der Blitz hat irgendwo in die Leitung eingeschlagen und den Generator im Dieselwagen verschmort. Das kriegen wir heute nicht mehr hin.« Er verschwand wieder. Ich holte mir einen Kriminalroman und versuchte zu lesen. Aber ich war zu müde dazu. Der Regen trommelte auf das Zeltdach. Ich hörte eine Uhr schlagen, und irgendwo pfiff eine Lokomotive. Das leise Zischen der Karbidlampe, das monotone Trommeln des Regens und die langweilige Geschichte ließen mich einschlafen. Ich glaube nicht, daß ich den Schuß hörte. Und wenn ich ihn hörte, dann als Teil eines wirren Traums, den ich gerade träumte. Was mich weckte, war Onkel Ams Stimme vom Zelteingang. »Alles in Ordnung, Ed?« fragte er. Ich richtete mich auf. »Klar, Onkel. Was ist denn los?«
»Ich habe eben einen Schuß gehört und dachte ...« Er beendete den Satz nicht. Er hatte wohl befürchtet, ich hätte mit der Pistole herumgespielt, die er in seinem Koffer aufbewahrte. 10
Hinter ihm war eine massige Gestalt ins Zelt getreten. Hoagys tiefe Stimme sagte: »Jemand hat gesagt, der Schuß sei vom Zirkuszelt gekommen. Kommst du mit, Am?« Sie gingen wieder, und ich blieb allein im Zelt zurück, noch ein wenig schlaftrunken. Ich schwang die Beine von der Pritsche und zog meine Stiefel an. Als ich hinaustrat, hörte ich viele Stimmen und schlurfende Schritte. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich begann zu laufen und knöpfte meinen Regenmäntel zu. Er klebte kühl und feucht auf meiner nackten Haut. Ich sah ein paar Leute in die gleiche Richtung laufen, Taschenlampen in den Händen. Ich war noch zu schläfrig gewesen, um an eine Lampe zu denken. Ich folgte den anderen über den Mittelweg bis zum Zirkuszelt und hatte Glück, daß ich nicht über irgend etwas stolperte. Aber dann rannte ich doch noch gegen den Zaun vor dem Zelt. Ich kletterte hinüber, tastete mich an den Verspannungsseilen zur Zeltwand entlang und kroch unter ihr hindurch ins Innere. Das Zelt wurde von mindestens zwanzig Taschenlampen erhellt. Ihr Schein konzentrierte sich auf eine Stelle mitten in der Arena. Die Leute standen um diesen hellen Lichtfleck herum. Ich konnte nicht 11
sehen, auf was sie starrten. Ich rannte hin und streckte mich, so daß ich über ihre Köpfe hinwegsehen konnte. Und ich wünschte, ich wäre weniger neugierig gewesen. Im Schein der zwanzig Taschenlampen sah ich einen Jungen im Gras liegen, einen Jungen, der etwa acht Jahre alt war. Er war nackt, und aus seinem Rücken ragte das Heft eines Messers. Es war ein schwerer flacher Griff, wie ihn die Wurfmesser hatten, die der Australier für seine Vorstellung benutzte. Ich kannte den Jungen nicht. Jedenfalls konnte ich ihn von hinten nicht erkennen. Immer mehr Leute strömten herein, und alle redeten aufgeregt durcheinander. Pop Janney kniete neben dem Jungen nieder und berührte ihn an der Schulter. »Mausetot«, sagte er. »Du darfst ihn nicht berühren«, sagte jemand, und ein anderer sagte etwas von »Polizei holen«, und irgend jemand fluchte. Ich wandte mich ab und entdeckte Onkel Am und Hoagy. Sie standen bei einer anderen, kleineren Gruppe. In der Mitte des kleinen Kreises, auf der Einfassung der Arena, saß jemand und weinte, und dieses Weinen klang ziemlich hysterisch. Ich merkte, 12
daß es ein Mädchen war, das da schluchzte. Ein sehr verängstigtes Mädchen. Mir war auch nicht wohl in meiner Haut. Ich war nicht verängstigt, aber ich hatte einen komischen Druck im Magen. Ich verließ das Zelt und lehnte mich gegen die hohe Plattform. Wer, zum Teufel, hatte ein Interesse daran, einen kleinen Jungen zu ermorden? Ich fragte mich, wer der Junge sein mochte, fand aber keine Antwort. Dabei gab es nur ein paar Kinder auf dem Jahrmarkt, und ich kannte sie alle. Einer von den Jungen war sogar so etwas wie ein Freund von mir. Er hieß Jigabo und arbeitete als Steptänzer bei der Jig-Show. Jigabo war ungefähr sieben Jahre alt und hatte in seinen Füßen mehr Rhythmus als ein Profi. Aber Jigabo konnte nicht der Tote sein. Jigabo war so schwarz wie die Nacht. Doch der Junge, der dort im Zirkuszelt lag, mußte zum Jahrmarkt gehören. Ein anderer Junge hätte sich zwar auch um diese Zeit hier herumtreiben können, aber doch nicht völlig nackt. Für einen Jungen, der zum Jahrmarkt gehörte, war es nicht außergewöhnlich, bei heißem Wetter im Adamskostüm zu schlafen. 13
Mein Magen hatte sich wieder etwas beruhigt. Ich hatte immer noch einen komischen Geschmack im Mund, aber ich wußte, daß ich mein Abendessen im Magen behalten würde. Ich hörte Onkel Am nach mir rufen und ging wieder auf den Zelteingang zu. Onkel Am, Hoagy und ein Mädchen kamen mir entgegen. Das Mädchen ging zwischen den beiden Männern, und sie stützten es. Sie trug einen grünen Regenmantel, eine grüne Mütze und ziemlich verschmutzte hochhackige Schuhe. Auch ihre nackten Beine waren von Schmutz bespritzt. Sie ging ein wenig vornübergebeugt und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. Und sie schluchzte immer noch. Onkel Am sprach beruhigend auf sie ein. Als sie mich erreichten, sagte er: »Kennst du eigentlich meinen Neffen Ed, Rita? Er kann dich etwas herumfahren. Das wird dir guttun.« Sie hörte auf zu schluchzen und nahm die Hände vom Gesicht. Ich erkannte sie nun. Sie war eins der Mädchen von der »Lebende-Bilder-Schau«. Sie war erst seit einer Woche beim Jahrmarkt. Ich hatte sie ein paarmal gesehen und wußte, daß sie ein verdammt hübsches Mädchen war. Aber jetzt war ihr Gesicht verweint, verschwollen und schmutzig. »Hallo, Ed«, sagte sie und versuchte ein Lächeln. 14
Ich lächelte zurück und fragte mich, ob der tote Junge vielleicht ein Bruder oder etwas Ähnliches von ihr war. Ihr Sohn konnte er jedenfalls nicht sein. Sie war genauso alt wie ich, höchstens ein, zwei Jahre älter. Und sie sah aus wie achtzehn. Onkel Am trat nahe an mich heran und sagte leise, so daß sie es nicht hören konnte: »Sie hat ihn gefunden. Sie ist im Dunkeln über ihn gefallen, als sie durch das Zelt ging. Wahrscheinlich wollte sie aufs Klo. Sie ist fast verrückt geworden vor Angst. Nimm Hoagys Wagen und fahr sie ein bißchen ...« »Wer ist der Junge?« fragte ich. »Kennt sie ihn? Oder kennst du ihn?« »Nein. Laß das jetzt. Hoagy und ich müssen hier bleiben. Hier sind die Wagenschlüssel. Lenk sie ein bißchen ab. Vielleicht fällt dir was ein.« »Mach ich. Aber wenn sie es war, die den Toten gefunden hat, werden die Polizisten doch sicher mit ihr reden wollen.« Er machte eine ungeduldige Bewegung. »Wir kümmern uns schon darum. Wenn die sie jetzt ausfragen, kriegt sie bestimmt einen Nerven zusammenbruch. Verdammt, wenn nicht so viele Leute den Schuß gehört hätten, würde ich sagen, daß ich den Jungen gefunden hätte.« 15
»Moment mal!« Etwas hatte ich völlig vergessen, bis er mich jetzt daran erinnerte. »Der Junge ist doch erstochen worden. Wer hat denn geschossen?« »Rita. Sie hatte eine kleine, mit Perlmutt besetzte Pistole in der Manteltasche. Sie hat sie eingesteckt, weil sie Angst davor hatte, so allein im Dunkeln über den Platz zu gehen, nachdem alles dunkel geworden war. Sie ist noch neu hier und kennt sich auf Jahrmärkten nicht aus. Sie hatte ihre Hand in der Manteltasche, an der Pistole, und sie ging los, als sie über den Jungen fiel.« »Hat sie sich weh getan?« »Nein. Die Kugel ging in den Boden, als sie hinfiel. Nur die Manteltasche hat ein Loch. Und jetzt hör endlich auf zu fragen und hau ab.« Er gab mir die Wagenschlüssel, und ich wandte mich Rita zu. »Gehen wir?« »Gut, Eddie«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte immer noch ein wenig, aber sie schluchzte nicht mehr. Der Regen war einem dünnen Sprühnebel gewichen, gegen den die Scheibenwischer nichts ausrichten konnten. Außerhalb der Halbkreise, die von den Wischern erfaßt wurden, war die Windschutzscheibe so undurchsichtig wie Milchglas, genau wie die 16
Seitenfenster und das Rückfenster des Wagens. Wir saßen in einer kleinen abgeschlossenen Welt, aus der wir nur durch die kleinen Halbkreise hinausblickten. Neben mir saß ein bildschönes Mädchen, aber davon hatte ich nicht viel. Ich mußte mich ganz auf die regennasse Straße konzentrieren, die sich in engen, unvorhersehbaren Kurven durch die Landschaft wand. Jedoch nach einer Weile fragte ich mich, warum ich eigentlich so schnell fuhr und wohin ich überhaupt fahren wollte. Ich nahm den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen ausrollen. Ich lächelte das Mädchen an, und sie lächelte zurück. »Ich habe mich schon gefragt, wo du so schnell hinwillst«, sagte sie. Es war ganz selbstverständlich, daß sie etwas näher rückte, und daß ich den Arm um ihre Schultern legte. Ich schaltete das Licht und die Scheibenwischer aus, und sofort wurden auch die Halbkreise auf der Windschutzscheibe wieder undurchsichtig. Wir waren nun völlig in unsere kleine rechteckige Welt eingeschlossen. Ich wandte den Kopf und sah sie an. Sie war wirklich hübsch, sogar ohne Make-up. Ihre Augen waren hellblau und blickten mich offen an. 17
»Bitte nicht, Eddie«, sagte sie.
»In Ordnung.«
»Weil ich dich wirklich mag.«
Ich lachte. »Wenn das kein Grund ist.«
»Ich weiß, es klingt etwas albern, aber . . . Bitte, sieh mich nicht so an, Eddie. Ich weiß, daß ich schrecklich aussehe.« »Finde ich nicht.« Ich knipste auch die schwache Armaturenbeleuchtung aus. »Ist es so besser?« »Danke. Tut mir leid, Eddie.« »Was tut dir leid?« »Das ... Das eben. Aber weißt du, seit ich beim Jahrmarkt bin, mußte ich mich immer nur zur Wehr setzen. Diese Schausteller sind solche Schweine.« »Doch nicht alle, Rita. Denk an meinen Onkel und an Hoagy und . ..« »Die meinte ich auch nicht. Hoagy ist sogar eine Art Onkel von mir. Kein wirklicher Onkel, nur ein Freund meiner Eltern. Er hat mir den Job hier verschafft. Außerdem ist er immer noch so in seine Frau verliebt, daß er gar nicht daran denkt, mich anzurühren.« »Marge ist auch eine tolle Frau«, sagte ich. 18
»Deinen Onkel habe ich heute zum erstenmal getroffen. Wie heißt er eigentlich?« »Ambrose Hunter. Und er ist so ziemlich der beste Kerl, der herumläuft.« »Vielleicht hast du recht. Aber diese anderen Leute, die ich hier bisher kennengelernt habe ...» »Du darfst nicht alles so ernst nehmen, Rita. Auf einem Jahrmarkt hat man nun mal nicht die gleichen Ansichten von Moral wie in einer presbyterianischen Kirche. Aber wenn du mal in der Klemme sitzen solltest, geben sie ihr letztes Hemd her, um dich 'rauszuholen.« »Vielleicht hast du recht.« »Natürlich habe ich recht. Wenn du mit den Leuten auskommen willst, mußt du sie zuerst mal verstehen lernen. Sie sind ehrliche Gauner, sozusagen.« »Du meinst, sie geben den Armen und nehmen es von den Reichen?« »So ungefähr.« »So bin ich auch, Eddie. Und irgendwann werde ich mir mal einen reichen Kerl an Land ziehen. Aber einen wirklich reichen. Ich habe keine Lust, ein ganzes Leben lang von der Hand in den Mund zu leben.« 19
Es war ihr ernst damit, das wußte ich. »Du hältst mich jetzt sicher für geldgierig, nicht wahr? Aber das bin ich auch.« »Von mir aus«, sagte ich. »Das ist schließlich kein Grund, um sich aufzuregen. Leg lieber deinen Kopf an meine Schulter und ruh dich aus.« Sie lachte ein wenig und legte dann den Kopf an meine Schulter. »Du bist ein komischer Kerl, Eddie. Aber ich mag dich wirklich. Schade, daß du nicht reich bist. Dann würde ich jetzt versuchen, dich zu verführen. Aber du bist nicht reich, oder?« »Ich besitze genau neunzehn Dollar und eine Posaune«, sagte ich. »Ach ja, und einen fast neuen Anzug. Schade, daß ich ihn nicht angezogen habe. Ich friere allmählich. Unter dem Regenmantel habe ich nämlich nur Shorts an. Ich war schon im Bett, als die Geschichte losging.« »Ich auch. Ich bin aufgewacht, weil ich — weil ich mal wohin mußte, und da ...« »Sprich nicht davon, wenn es dich aufregt.« »Ich bin schon drüber weg, Eddie. Ich war vorhin wohl etwas hysterisch.« »Also gut. Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn du dir's von der Seele redest. Trägst du eigentlich immer eine Pistole in der Tasche, wenn du mal mußt?« 20
»Natürlich nicht. Aber die Lichter waren aus, und ich konnte die Taschenlampe nicht finden. Und ich fürchte mich im Dunkeln. Ich meine, wenn ich allein bin. Jetzt nicht.« Sie drückte meinen Arm. »Normalerweise schlafe ich ja nicht auf dem Platz, weißt du. Ich habe ein Zimmer im Hotel. Aber heute hat Darlene mich gebeten, bei ihr zu bleiben.« »Darlene? Das ist doch diese Rothaarige, oder?« »Stimmt. Ihr Mann ist für ein paar Tage verreist, und sie fühlte sich nicht gut. Deshalb hat sie mich gebeten, in ihrem Wohnwagen zu schlafen. Als ich vor ungefähr einer Stunde aufwachte, konnte ich die Taschenlampe nicht finden. Und ich wollte auch Darlene nicht wecken. Also habe ich einfach Walters Pistole genommen. Ich wußte, daß er sie immer in der Schublade hatte.« Sie fröstelte ein wenig. Vielleicht dachte sie wieder daran, was passiert war, nachdem sie den Wohnwagen verlassen hatte. Ich zog sie noch näher an mich heran. »Denk nicht mehr daran, Rita.« »Schon gut, Eddie. Ich friere nur etwas. Ich habe nicht mehr an unter dem Mantel als du.« »Stell dir vor, die Polizei würde uns so finden. Übrigens, die müßte jetzt längst auf dem Jahrmarkt sein. Wir sollten besser zurückfahren.« 21
»Gut.« »Fühlst du dich stark genug, den ganzen Zirkus über dich ergehen zu lassen?« »Ja. Danke, Eddie. Und jetzt küß mich. Nur einmal, und nur freundschaftlich.« Ich küßte sie. Nur einmal, und nur freundschaftlich. Und es war sehr freundschaftlich. Mir blieb fast die Luft weg dabei. »Wollen wir wirklich zurückfahren?« flüsterte ich. »Ja, Eddie, bitte.« »Gut. Aber vielleicht ein andermal?« »Ja, vielleicht ein andermal.« Ich startete den Motor, und der Scheibenwischer wischte wieder seine Halbkreise wie ein betrunkenes Metronom. Ich fühlte mich selbst etwas betrunken. Wir sprachen kein Wort auf dem Rückweg.
22
2
Auf dem Jahrmarkt blinkten jetzt schon mehr Lichter. Der Generator war zwar noch nicht wieder in Ordnung, aber die Leute hatten ihre Petroleum- und Karbidlampen hervorgeholt. Es sah gespenstisch aus. Das matte flackernde Licht der Lampen machte die Dunkelheit noch schwärzer und unheimlicher. In Hoagys Wohnwagen brannte ebenfalls Licht. Als ich den Wagen auf den Parkplatz fuhr, trat Onkel Am heraus. Er trat an den Wagen, öffnete die Tür und fragte: »Na, Kinder, wie war's?« »Schön«, sagte ich. »Ich habe mich wieder gefangen«, sagte Rita. »Ist hier alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung«, sagte Onkel Am. »Die Polizei hat sich im Zelt der Abnormitätenschau einquartiert. Sie wollen mit dir sprechen. Reine Routine.« »Soll ich mit ihr gehen, Onkel Am?« »Du hältst dich da 'raus, Junge. Ich habe gesagt, daß wir Rita für eine Weile fortgeschickt haben, aber ich habe nicht gesagt,mit wem sie weg war. Du kannst also ruhig wieder zu Bett gehen.« Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, weil ich jetzt wirklich fror. 23
»Vielen Dank, Eddie«, sagte Rita. »Wir sehen uns morgen.« Sie gab mir die Hand. »Also bis morgen«, sagte ich und sah ihr nach, als sie zum Zelt der Abnormitätenschau ging. Ich stand noch eine Weile fröstelnd herum, dann kehrte ich in unser Schlafzelt zurück. Ich trocknete mich noch einmal ab und kroch dann wieder unter die Decke. Ich war wohl müde, konnte aber nicht sofort einschlafen. Ich hörte Onkel Am hereinkommen und sich ausziehen und sagte »Hallo«, damit er wußte, daß ich noch wach war. »Gefällt sie dir?« fragte er. »Ziemlich.« »Das klingt nicht gerade begeistert. Ist auch besser so. Sie ist hinter Geld her.« »Scheint so. Sie hat mir selbst gesagt, daß sie mich angeln würde, wenn ich reich wäre.« Onkel Am schüttelte langsam den Kopf. »Das ist gefährlich, Junge. Wenn eine Frau so offen und ehrlich ist, wird's gefährlich.« Ich wußte nicht, ob er das ernst meinte oder nicht. »Und wenn eine Frau lügt, ist es dann ungefährlich?« 24
»Das weiß man nie.« Er löschte die Karbidlampe und kroch ins Bett. Die Federn knarrten. »Wer war der Junge?« fragte ich. »Welcher Junge?« »Der ermordet wurde, natürlich. Gehörte er zu uns?« »Verdammt«, sagte Onkel Am, »ich habe ganz vergessen, daß du ja nicht hier warst. Das war kein Junge, Ed, sondern ein Liliputaner.« Ich fuhr auf. »Moto?« Wir hatten nur einen Liliputaner auf dem Jahrmarkt. »Nein. Ein fremder. Niemand kennt ihn. Niemand hat ihn jemals hier gesehen.« Das war doch unmöglich! Ein Liliputaner, der nicht zum Jahrmarkt gehörte und erstochen und nackt im Zirkuszelt gefunden worden war. Das war doch völlig
verrückt!
»Haben sie seine Kleider gefunden?« fragte ich.
»Nein.«
»Aber wieso, zum Teufel...«
»Darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, Ed«, unterbrach er mich. »Das ist Sache der Polizei.« 25
»Na schön.« Ich ließ mich wieder zurücksinken, und kurz darauf war ich eingeschlafen. Am nächsten Morgen stand ich ziemlich früh auf. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht bin ich so früh aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Onkel Am sagte immer, daß Nachdenken gefährlich sei. Das war einer seiner Lieblingssätze. Nachdenken sei schlimmer als saufen, meinte er, und nur Marihuana sei gefährlicher. Aber natürlich meinte er das nicht ernst. Ich stand auf und zog meinen guten Anzug an. Onkel Am wachte nicht auf. Der Himmel war immer noch bedeckt, aber es regnete nicht mehr. Es war heiß und schwül. Eine Weile stand ich vor unserem Zelt und fragte mich, warum, zum Teufel, ich so früh aufgestanden war. Wahrscheinlich nur, um nicht nachdenken zu müssen. Ich krempelte die Hose hoch, damit sie nicht schmutzig wurde, und ging den Mittelweg entlang. Hinten bei den Karussells schaufelten ein paar Männer Sägespäne von einem Lastwagen. Sonst war kein Mensch zu sehen. Ich ging zu Hoagys Wohnwagen hinüber. Marge,
wußte ich, stand meistens früh auf. Ich war ehrlich
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genug, mir einzugestehen, daß ich sie nur sehen wollte, um mit ihr über Rita zu sprechen. Aber Hoagys Wohnwagen war noch dunkel. Und auch bei Darlene und Walter rührte sich noch nichts. Langsam ging ich wieder zum Mittelweg zurück, vorbei an dem hohen Sprungbrett, unter dem der kleine Wassertank stand. Ich blickte hinauf und fröstelte bei dem Gedanken, von da oben in den knapp eineinhalb Meter tiefen Tank springen zu müssen. Nicht, daß ich je die Absicht gehabt hätte. Allein schon der Gedanke war schrecklich. Als ich zum Zirkuszelt schlenderte, sah ich einen Mann davor stehen, den ich nicht kannte. Er saß auf der Kante der Plattform und rauchte eine Zigarette. Er war ein kräftiger Kerl und hatte ein ziemlich blödes Gesicht. Er sah aus wie ein Polizist. Und als ich seine Schuhe sah, wußte ich, daß er wirklich Polizist war. Aber sogar mit einem dämlichen Polizisten zu reden war mir lieber, als so aHein durch die Gegend zu latschen. Ich sagte »Hallo«, und er sagte auch »Hallo«. Nicht interessiert oder erfreut, mit höflicher Gleichgültigkeit. Ich blieb stehen. »Polizei?« fragte ich. 27
»Kann man das nicht sehen? Ich ziehe mich doch immer absichtlich so an, wie ihr's von einem Polizisten erwartet. Dein Freund und Helfer und so weiter.« Das war besser, als ich erwartet hatte. Ich setzte mich neben ihn. »Wie geht's?« erkundigte ich mich. »Lausig. Mit diesen verdammten Schaustellern ist überhaupt nichts anzufangen. Gehören Sie auch zu dem Verein?« »Ja. Ich habe gehört, es war ein Liliputaner. Wissen Sie schon, wie er hieß?« »Eben nicht. Das ist ja das Seltsame an der Geschichte. Kein Mensch kennt ihn, niemand hat ihn je gesehen, niemand hat je was von ihm gehört. Wir finden einen Liliputaner völlig nackt in einem Zirkuszelt, und niemand hat je was von ihm gehört. Behaupten sie jedenfalls.« Er warf seine Zigarette in das feuchte Gras, zog ein zerdrücktes Päckchen aus der Tasche und steckte sich eine neue an. »Ich weiß, es klingt merkwürdig. Aber ich war die ganze Saison bei diesem Verein. Wir haben nur einen einzigen Liliputaner hier.« Er nickte abwesend. »Das sagen sie alle. Wo waren 28
Sie eigentlich, als das Theater hier losging? Ich habe Sie jedenfalls gestern nicht gesehen.« »Ich war im Bett«, sagte ich. »Ich habe so fest geschlafen, daß ich nicht mal den Schuß gehört habe. Aber mein Onkel hat mich später aufgeweckt und mir erzählt...« »Moment mal«, sagte er. »Machen wir's doch gleich offiziell, dann sparen wir später Zeit.« Er zog einen Bleistift und ein Notizbuch aus der Tasche. »Name?« »Ed Hunter, neunzehn Jahre alt, fast zwanzig, seit ungefähr einem Jahr bei diesem Jahrmarkt. Ich wohne und arbeite bei meinem Onkel, Ambrose Hunter.« »Ja. Ich erinnere mich an ihn. Etwas dick und mit einem grauen Schnauzbart, nicht wahr?« »Stimmt.« »Sie schlafen beide in einem Zelt hinter Ihrer Bude, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich und erzählte ihm, daß ich mit Onkel Am zum Zirkuszelt gegangen war, nachdem er mich geweckt, und den Toten gesehen hatte. Aber dann schwindelte ich ein bißchen, weil Onkel Am ihnen nicht erzählt hatte, daß ich mit Rita weggefahren war. Ich sagte, ich wäre zum Schlafzelt zurückgegangen und hätte schon wieder fest geschlafen, als die Polizei eingetroffen war. 29
Er blickte mich nachdenklich an. »Und Sie haben bis jetzt durchgeschlafen ? « »Sicher.« »Und wie lange sind Sie schon auf?« »Zwanzig Minuten, würde ich sagen.« »Und mit wem haben Sie heute morgen gesprochen?« »Mit niemandem.« Er steckte das Notizbuch ein und sah mich an, und ich fühlte mich nicht sehr wohl unter seinem Blick. »Ihr habt wohl alle was gegen Polizisten, wie?« »Wieso?« »Weil ihr alle lügt. Sie auch.« »Ich verstehe nicht.« »Sie sagten, Sie wären gestern sofort wieder zu Bett gegangen und hätten bis jetzt durchgeschlafen. Stimmt's? Und Sie hätten mit niemandem gesprochen. Trotzdem wußten Sie, daß der Tote ein Liliputaner war und kein Junge. Von wem? Bis wir hier ankamen und ihn auf den Rücken drehten, hat es niemand auch nur geahnt.« »Verdammt.« Ich hätte mir selbst in den Hintern treten können, weil ich so dämlich war. »Ich bin aufgewacht, als Onkel Am ins Zelt zurückkam. Er hat mir's erzählt.« 30
»Ach so«, sagte er, als ob er mir wirklich glaubte. »Aber Sie kennen den Liliputaner auch nicht?« »Nein«, sagte ich. Dann sah ich, wie sein Gesicht rot anlief, und fügte rasch hinzu: »Immer ruhig. Kein Grund zur Aufregung. Ich habe natürlich sein Gesicht nicht gesehen. Aber trotzdem bin ich sicher, daß ich ihn nicht kenne. Weil ich überhaupt keinen Liliputaner außer Moto kenne, und Onkel Am hat mir gesagt, daß der Tote nicht Moto ist.« Er nickte. »Na gut, Eddie. Nur der Ordnung halber möchte ich, daß Sie sich das Foto ansehen, das wir letzte Nacht von ihm gemacht haben.« Er zog ein Foto aus der Brusttasche und reichte es mir. Ich sah es an. Es war kein Bild für einen Schönheitswettbewerb. Es zeigte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, aus dem tote Augen starrten. Es war an der Stelle gemacht worden, wo er gestorben war. Man hatte ihn nur auf den Rücken gedreht. »Nein.« Ich gab ihm das Foto zurück. »Ich habe ihn noch nie gesehen.« »Nur noch eine Frage. Haben Sie gestern nacht irgend etwas Außergewöhnliches bemerkt? Irgend etwas, das bei euch nicht oft vorkommt?« 31
»Nein. Nichts. Nur daß der Generator verschmort ist. Das kommt nicht jede Nacht vor.« »Ja. Ich weiß. Vielen Dank, Ed.« Es klang wie eine Verabschiedung, aber ich hatte noch keine Lust zu gehen, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. »Haben Sie die ganze Nacht durchgemacht?« fragte ich ihn. »Reden wir nicht davon, sonst fange ich gleich zu gähnen an. Und an Schlaf ist vorläufig überhaupt nicht zu denken. Wann gibt's bei euch Frühstück?« »Gegen zehn ungefähr.« Er zog eine altmodische Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit. »Ich werde es überleben, hoffe ich.« »Passen Sie auf, daß die Ihnen kein Zyankali in den Kaffee mischen«, sagte ich. »Einer von den Köchen hat zweimal gesessen.« Ich ging zum Mittelweg zurück. Daß er vom Essen gesprochen hatte, hatte mich hungrig gemacht, und ich hatte keine Lust, bis zehn Uhr zu warten. Beim Haupteingang war die Endhaltestelle einer Buslinie, und ich stieg in den wartenden Bus. Während der Fahrt zur Stadt wurde mir klar, daß der Mann alles andere als ein dämlicher Polizist war. Und auch kein schlechter Kerl. 32
Evansville, stellte ich fest, als ich in der Innenstadt ausstieg, war größer, als ich angenommen hatte. Keine Großstadt wie Chicago, natürlich, aber doch mehr als ein paar Häuser um eine Kirche. Ich frühstückte in einer Cafeteria, ließ mir die Schuhe putzen und schlenderte dann die Hauptstraße entlang. Ich wußte nicht, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte. Es war noch nicht mal elf, und die Kinos waren noch nicht geöffnet. Also sah ich mir die Schaufenster an, die Schaufenster von Schuhläden, Konfektions geschäften, Musikalienhandlungen und Kurzwaren läden. Bei einem Zeitungsstand kaufte ich mir das Morgenblatt. Die Story stand auf der ersten Seite: LILIPUTANER AUF JAHRMARKT ERMORDET. Ich setzte mich in die Halle eines Hotels und las den Artikel. Ich erfuhr jedoch nichts Neues, nur den Namen der Polizisten, die den Fall bearbeiteten. Der Polizeichef hieß Harry Stratfort, und der Captain der Kriminalabteilung Armin Weiß. Vielleicht sagte das gewissen Leuten etwas. Sie brachten zwei Bilder, ein kleines von dem toten Liliputaner, und ein großes von dem Zirkuszelt, in dem er ermordet worden war. Es war aufgenommen worden, nachdem man die Leiche fortgebracht hatte. 33
Ein großes X markierte die Stelle, wo sie gelegen hatte.
Ich las noch einmal die Schlagzeile: LILIPUTANER AUF JAHRMARKT ERMORDET. Das klang ganz selbstverständlich. Ich meine, für einen Mord an einem Liliputaner war kaum ein anderer Tatort denkbar. Nur stimmte hier etwas nicht ganz. Ein Wort fehlte. Sie hätten schreiben müssen: LILIPUTANER AUF FALSCHEM JAHRMARKT ERMORDET. Nur ein Wort, und doch machte es aus einem sonst völlig einleuchtenden Satz einen sinnlosen Satz. Ich überlegte mir, wie man sich als Liliputaner fühlen mußte. Natürlich nicht als Liliputaner. Aber alle anderen Menschen wären plötzlich Riesen. Jeder einzelne wäre ein Riese, groß und stark genug, um einen aufzuheben und an die Wand zu werfen. Oder einem ein Messer in den Rücken zu rammen. Ich sah wieder das Bild des toten Gesichts vor mir und begriff, daß er genau gewußt hatte, daß man ihn ermorden würde. Aber er hatte nicht geschrien. Jedenfalls hatte niemand ihn schreien hören. Vielleicht hatte so ein Riese, doppelt so groß und doppelt so schwer wie er, ihn festgehalten, eine Hand auf seinen Mund gepreßt, und mit der anderen ... Zwerge sterben ja nur halb so schwer. 34
Ich wollte es mir nicht weiter ausmalen, und um mich abzulenken, las ich die anderen Seiten der Zeitung. Eine Tankstelle war ausgeraubt worden, und irgendwo hatte man eingebrochen. Nicht sehr aufregend. In Louisville, einer Stadt, die hundert Meilen nördlich lag, war ein Kind entführt worden. Der siebenjährige Sohn des Fabrikbesitzers James Potley war nachts aus dem Bett geholt worden, und in einem Brief, den man gefunden hatte, hatten die Entführer fünfzigtausend Dollar Lösegeld verlangt. Das war fast so schlimm wie Mord, fand ich, wie der Mord an einem Liliputaner jedenfalls. Wenn sie sich wenigstens Opfer gesucht hätten, die ihnen gewachsen wären, und nicht Kinder und Zwerge. Ich trat an das Fenster der Hotelhalle und blickte hinaus. Der Himmel war immer noch bedeckt und grau wie geschmolzenes Blei. Es sah aus, als ob es jeden Moment wieder zu regnen beginnen würde, als ob es vielleicht überhaupt nicht wieder aufhören würde zu regnen. Verdammt. Ich fühlte mich nervös und unruhig. Ich wollte irgend etwas tun und wußte nicht, was. So was überkommt einen ab und zu. Man findet das ganze Dasein sinnlos und weiß überhaupt nicht mehr, wozu man lebt. 35
Beim Empfangspult stand ein Mädchen und sprach mit dem Portier. Von hinten sah sie besser aus als alles, was man in einer Stadt wie Evansville hoffen darf zu finden. Ihr Haar hatte einen goldenen Schimmer und hing bis auf ihre Schultern hinab. Sie trug ein malvenfarbenes Kleid, das ihre Figur wie eine zweite Haut umgab. Der Himmel und was sonst noch vor dem Fenster war, hatte plötzlich jedes Interesse für mich verloren. Ich wartete nur darauf, daß sie sich umwandte, um zu sehen, ob die Vorderpartie der Rückenansicht entsprach. Nicht, daß ich irgendwelche kühnen Pläne hatte. Schließlich war ich nur ein Junge vom Jahrmarkt mit achtzehn Dollar in der Tasche. Und auch sonst stand ich nicht auf dem gleichen Niveau. Aber vielleicht sollte ich es doch lieber erklären: Bis jetzt hatte ich die Hotelhalle ganz nett gefunden, hübsch möbliert, geschmackvoll eingerichtet. Bis ich das Mädchen entdeckte. Und im Vergleich zu ihr wirkte die Halle plötzlich schäbig und verkommen wie eine alte Bruchbude. Und auch ich kam mir mit einemmal schäbig vor. Bis jetzt hatte ich mich für einen netten, anständig angezogenen und einigermaßen gut aussehenden jungen Mann gehalten, aber seit sie da war, fühlte ich mich wie ein kleiner Schuljunge, der die ganze Nacht in seinen Kleidern geschlafen hat. 36
Und dann wandte sie sich um, und ich kniff die Augen zusammen, weil ich nicht glauben konnte, was ich sah. Sie war von vorn genauso schön wie von hinten. Und ich kannte sie. Es war Rita. Sie wandte sich zur Tür, und dann entdeckte sie mich und kam auf mich zu. »Hallo, Eddie«, sagte sie und lächelte mich an. Zumindest ihre Stimme war noch die gleiche wie gestern nacht. Ich stammelte irgend etwas. »Woher hast du gewußt, daß ich hier wohne?« fragte sie. »Hab' ich gar nicht gewußt. Ich bin ganz zufällig hier 'reingekommen. Wirklich. Willst du einen Drink oder so was?« Sie zögerte eine Sekunde. »Frühstück wäre nicht schlecht. Hast du schon gegessen?« »Nein«, log ich. Wir bestellten Kaffee und Brötchen. Ich wandte keine Sekunde den Blick von ihr. Ich konnte es immer noch nicht glauben, daß ein bißchen Schmutz im Gesicht, ein formloser Regenmantel und eine zerknautschte Mütze dieses Mädchen so verändert hatten. 37
»Haben sie schon 'rausgekriegt, wer der Liliputaner ist?« fragte sie über ihre Kaffeetasse hinweg. Ich schüttelte den Kopf. »Aber das kann doch nicht so schwer sein. So viele Liliputaner gibt's doch gar nicht.« Ich hatte mal darüber mit Moto gesprochen. »Ein paar tausend sind es schon«, sagte ich. »Hätte ich nie geglaubt.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Kann ich noch eine Tasse Kaffee haben?« »Die kann ich mir schon noch leisten. Ich sagte dir doch gestern, daß ich neunzehn Dollar besitze. Achtzehn davon habe ich noch.« »Eddie! Hast du den Dollar etwa mit leichten Mädchen verpraßt?« »Vielleicht. Wenn man bei Kaffee bleibt, kann man mit einem Dollar eine ganze Weile auskommen.« »Dann bleiben wir bei Kaffee. Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, Eddie.« »An was? An Kaffee?« »Nein. An den Unterschied zwischen heute und gestern. In dem Anzug hatte ich dich fast nicht wiedererkannt.« 38
Ich konnte nicht anders. Ich lachte lauthals los. Sie wollte wissen, warum ich lachte, und ich erklärte es ihr. Und dann lachte sie auch. Sie war hinreißend, wenn sie lachte, und auch ihr Lachen war hinreißend. Seltsam, daß ich bis jetzt nie bemerkt hatte, was für eine hübsche Stimme sie hatte. »Hast du nicht bei Darlene übernachtet?« fragte ich.
Sie nickte. »Ja und nein. Nachdem die Polizei mich verhört hatte, hatten wir beide keine Lust mehr, in ihrem Wohnwagen zu bleiben. Wir fuhren in die Stadt und haben hier in meinem Hotelzimmer geschlafen. Darlene ist schon wieder zum Jahrmarkt zurückgefahren, weil Walter heute morgen zurückkommt.« Nach der zweiten Tasse Kaffee sah Rita auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten jetzt auch gehen. Ich muß allerdings erst noch kurz zur Bank. Willst du hier auf mich warten?« »Natürlich warte ich.«
Der Kaffee lief mir nun schon zu den Ohren hinaus, aber ich trank noch eine Tasse, während ich auf sie wartete. Dann fuhren wir mit dem Bus zum Jahrmarkt. Rita wollte nicht, daß ich ein Taxi bestellte. Mit achtzehn Dollar, sagte sie, muß man sparsam umgehen. 39
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Onkel Am war bereits aufgestanden, als ich zurückkam. »Morgen, Junge«, begrüßte er mich. »Warst du in der Stadt?« »Ja. Ich konnte nicht mehr schlafen. Was hältst du vom Wetter?« »Wird wohl noch etwas nieseln heute. Warum bist du in der Stadt nicht in ein Kino gegangen?« »Ich habe Rita getroffen. Ganz zufällig. Sie sollte herausfahren, und da habe ich sie begleitet.« Er sah mich nachdenklich an. »Vorsicht, Junge.« »Du hast mich nicht gewarnt, als ich gestern nacht mit ihr spazierenfahren sollte.« Ich grinste ihn an. »Was gibt's sonst Neues?« »Nichts Besonderes. Weiß war vorhin hier.« »Weiß?« »Ja. Armin Weiß. Captain oder so was. Du hast anscheinend heute morgen schon mit ihm gesprochen.« Ich nickte. »Ein hartnäckiger Bursche. Er wollte wissen, ob du wach gewesen bist, als ich gestern nacht zu Bett ging.
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Ich sagte ja. Was ist eigentlich los? Hast du was gesagt, was du nicht hättest sagen sollen?« »So ungefähr. Ich wußte, daß der Tote ein Liliputaner war. Und vorher hatte ich behauptet, daß ich schon vor dem Eintreffen der Polizei geschlafen und auch heute morgen noch mit keinem Menschen gesprochen hätte.« »So was Ähnliches habe ich mir gedacht. Du würdest einen perfekten Verbrecher abgeben, Junge.« »Ich weiß. Darum bleibe ich auch lieber ehrlich. Weiß hält sowieso alle Schausteller für Lügner und Betrüger.« Onkel Am setzte sich auf die Kante der Wurfbude und jonglierte mit drei Bällen. Es sah sehr einfach aus, aber als ich es auch versuchte, verbrachte ich die meiste Zeit damit, sie vom Boden aufzuheben. »Gib's auf, Junge«, sagte Onkel Am nach einer Weile. »Zum Jongleur hast du kein Talent.« »Wozu dann?« »Ich weiß nicht. Zum Posaunisten vielleicht.« »Nein. Wenn ich regelmäßig übe, kann ich vielleicht mal ganz ordentlich vom Blatt spielen, aber ein Star werde ich nie. Das weiß ich.« »Es gibt viele Musiker, die keine Stars sind. Und sie leben auch.« 41
»Das ist mir zuwenig. Ich werde natürlich weiter Posaune spielen. Aber es soll nur ein Hobby sein, verstehst du.« Ich streckte mich. »Brauchst du mich, Onkel Am? Ich würde gern etwas Spazierengehen.« »Viel Spaß, Junge.« Ich ging langsam zum Haupteingang. Die ersten Besucher kamen auf den Platz, aber der Andrang war noch ziemlich spärlich. Der Himmel sah noch immer so aus, als ob es jeden Moment wieder zu gießen beginnen könnte. Ich ging an den Buden vorbei, an den noch stillstehenden Karussells, an den Zelten der »Lebenden Bilder« und an der Geisterbahn. Vor dem Zelt der Abnormitätenschau hatte sich schon eine kleine Menschenmenge gebildet, und Harry Stulz, der Ausschreier, redete auf sie ein. Ab und zu schlug er auf eine Trommel, um noch mehr Kundschaft anzulocken. Ich drängte mich an den Menschen vorbei und wollte weitergehen. Aber bevor ich das Ende der Plattform erreicht hatte, sagte jemand: »Hallo, Ed.« Es war der Bulle, Armin Weiß, und er saß immer noch, oder schon wieder, auf der Kante der Plattform. »Schlafen Sie eigentlich überhaupt nicht?« fragte ich ihn. Er lachte. »Heute nacht vielleicht. Mit genügend Kaffee halte ich schon noch ein paar Stunden durch.« 42
»Und was tun Sie hier?« »Ich warte auf eine Erleuchtung oder so was. Oder auf einen Blitz, wie den, der gestern nacht den Generator durchgeschmort hat.« »Sie meinen, es war gar kein Blitz?« »Ich weiß noch nicht. Ich muß noch mit dem Elektriker sprechen, der das Ding repariert hat. Sobald ich in die Stadt zurückkomme. Gefällt Ihnen Evansville?« »Hübsche Stadt«, sagte ich. »Solange niemand ermordet wird.« Er bot mir eine Zigarette an und gab mir Feuer. »Ed, meine Frau ist die beste Köchin im Umkreis von vierzig Meilen. Essen Sie gern Knödel?« »Manchmal.« »Sie haben noch nie richtige Knödel gegessen, sonst wären Sie begeistert. Meine Frau macht Knödel, die so locker sind, daß man sie mit der Gabel auf dem Teller festhalten muß. Die Knödel, die Sie gegessen haben, waren wahrscheinlich steinhart und teigig.« »Wahrscheinlich.« »Das ist das Ende der Welt.« Er schüttelte traurig den
Kopf. »Heute ist Freitag. Da gibt es Schweinebraten
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und Knödel. Das haben wir jeden Freitag zum Essen. Ich wohne nicht weit von hier. Warum kommen Sie nicht mal vorbei?« »Mr. Weiß«, sagte ich, »ich weiß wirklich nichts von dem Liliputaner. Es hat keinen Sinn, mich weiter auszufragen. Auch nicht bei Schweinebraten und Knödeln.« Er grinste. »Ich weiß. Ich glaube es jedenfalls. Aber das ist auch nicht der Grund. Erstens sind Sie und Ihr Onkel die einzigen Menschen hier, die mich nicht so behandeln, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte. Außerdem hat Ihr Onkel mir gesagt, daß Sie Posaune spielen. Ich habe eine Trompete. Als Junge habe ich in einer Band gespielt, und meine Frau spielt Klavier. Nicht ganz so gut wie ein Künstler, aber sie trifft manchmal die richtigen Tasten. Wir könnten doch heute abend zusammen ein bißchen Krach machen.« »Klingt sehr hübsch. Und haben Sie wirklich keine Karte im Ärmel versteckt?« »Natürlich habe ich eine Karte, aber ich verstecke sie nicht. Sie kennen doch alle Leute hier. Sie könnten mir ein bißchen von ihnen erzählen. Vielleicht finde ich dadurch einen Ansatzpunkt.« »Ich weiß nicht...« »Also abgemacht. Ich wohne Arlington Street 44
Nummer sechzehn, das ist nur sechs oder sieben Blocks von hier entfernt. Wir essen um sechs, und meine Frau kann sehr wütend werden, wenn man zu spät kommt. Und vergessen Sie Ihre Posaune nicht.« »In Ordnung.« Er glitt von der Plattform herunter und ging auf den Haupteingang zu. Und ich ärgerte mich, daß ich ihm zugesagt hatte. Ich wollte mich nicht in die Geschichte hineinziehen lassen. Sie ging mich schließlich überhaupt nichts an. Irgend jemand starrte mich an. Ich fühlte es im Nacken. Ich drehte mich um und sah Skeets Geary, den Besitzer der Abnormitätenschau, am Zelteingang stehen und mich angrinsen. Und es war kein nettes Grinsen. Aber er hatte ja auch nicht das Gesicht für ein nettes Grinsen. Skeets sah aus wie die Karikatur eines Wettbetrügers. Aber soviel ich wußte, hatte er nichts gegen mich. »Hallo, Skeets«, sagte ich. Er ließ das Grinsen von sich abfallen. »Hör mal, Ed«, sagte er, »wenn du dich mit den Bullen anfreundest, machst du dich nicht gerade beliebt bei uns.« »Habe ich auch gar nicht vor.« Ich ließ ihn stehen und drängte mich mit der Menschenmenge ins Zelt. 45
Sie hatten sich etwas einfallen lassen. Mitten in der Manege war ein Quadrat eingezäunt worden, etwa zwei mal zwei Meter groß, und die Leute drängten sich um den Zaun herum. Es war der Platz, an dem in der letzten Nacht der Tote gelegen hatte. Er war natürlich nicht mehr da, aber sie hatten die Umrisse des Körpers markiert, so wie die Polizei die Position einer Leiche mit Kreide markiert. Nur hatten sie keine Kreide genommen, weil Kreide im Gras keine Spur hinterlassen würde. Sie verwendeten statt dessen eine dicke Schnur. Und innerhalb dieser Markierung lag ein Messer, an dessen Schneide getrocknetes Blut klebte. Es war natürlich nicht die Tatwaffe. Die hatte die Polizei beschlagnahmt. Aber es war wenigstens ein ähnliches Messer, ein Wurfmesser des Australiers. Ich weiß nicht, woher Skeets das Blut hatte, aber es war bestimmt nicht sein eigenes. Die Leute drängten sich in morbider Neugier um die Umzäunung und schoben mich beiseite. Ich war wütend. Man konnte es mir wahrscheinlich ansehen, als ich zu Skeets trat. Aber als ich vor ihm stand, wußte ich nicht mehr, was ich ihm sagen wollte. Also gab ich ihm nur einen Stoß vor die Brust, so daß er rücklings über ein straffgespanntes Seil fiel. Ich wartete, bis er wieder auf den Beinen war, und 46
hoffte, daß er auf mich losgehen würde. Ich hätte ihm nur allzugern die Visage poliert. Aber er sagte kein Wort. Er sah mich nur an, und seine Augen waren kalt wie Stein. Dann wandte er sich ab und ging hinaus. Ich wurde wieder ruhiger und sah ein, daß ich mich sehr dämlich benommen hatte. Und weil er nicht zurückgeschlagen hatte, schämte ich mich sogar ein wenig. Kurz darauf klopfte ich an die Tür von Hoagys Wohnwagen. Er und Marge saßen in der winzigen Frühstücksecke. Der Konstrukteur des Wohnwagens hatte bestimmt nicht an Riesen wie Hoagy gedacht, als er die Frühstücksecke ersann. Er füllte sie fast vollständig aus, und ich glaubte, er würde sich nie wieder herauswinden können. »Morgen, Ed«, grinste er. »Hol dir einen Stuhl. Aber sprich nicht zu laut.« Er nickte in Richtung auf das Bett, und ich sah Rita dort schlafen. Sie hatte ihr Kleid ausgezogen, um es nicht zu zerdrücken, und trug nur einen cremefarbenen Unterrock. Der Anblick nahm mir ein wenig den Atem. »Kaffee, Ed?« Ich wollte eigentlich keinen, aber ich nickte trotzdem
und holte mir eine Tasse aus dem Wandschrank. Dann
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rückte ich mir einen Stuhl ans Ende des kleinen Tisches. Von dort aus konnte ich das Bett mit dem cremefarbenen Unterrock nicht mehr sehen. Und das war besser so. Marge schenkte mir Kaffee ein. Sie sah müde aus, und ich bemerkte zum erstenmal, daß sie graue Strähnen in ihrem dunklen Haar hatte. Sie war sorgfältig gekämmt, hatte aber noch kein Make-up aufgelegt. Sie ahnte sicher, was ich dachte. »Sieh mich nicht so an, Ed«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich scheußlich aussehe.« »Im Gegenteil.« Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Wie geht es Susie?« Hoagy schüttelte den Kopf. »Gar nicht gut. Vielleicht hätte ich sie nicht kaufen sollen. Sie ist ziemlich krank.« »Hundertfünfzig Dollar für einen kranken Schimpansen«, sagte Marge vorwurfsvoll. »Wenn ich daran denke, wie viele Kleider ich dafür hätte kaufen können ...« Hoagy machte eine wegwerfende Bewegung. »Na und? Was sind schon hundertfünfzig Dollar und das bißchen für die Medikamente und das Futter. Wenn sie 48
wieder gesund wird, haben wir eine schöne Stange Geld verdient. Weißt du, was ein Schimpanse kostet, Ed?« »Keine Ahnung.« »Fünfhundert mindestens. Das ist ein hübscher Profit, nicht wahr? Aber darum geht's mir gar nicht. Im Winter werde ich sie dressieren, und dann würde ich sie nicht mal für fünftausend hergeben. Ich bau eine richtige Nummer auf, und in der nächsten Saison trete ich mit ihr im Zirkuszelt auf. Das bringt dann wirklich Geld.« »Wenn Susi wieder gesund wird«, dämpfte ich seinen Enthusiasmus. »Hast du schon einen Veterinär kommen lassen?« Hoagy grinste. Marge sagte: »Hast du nicht gewußt, daß er eigentlich Veterinär ist, Eddie?« »Wirklich?« »Ja, wirklich. Wenn du mal die Tollwut kriegen solltest, kannst du jederzeit zu mir kommen. Aber die Landpraxis war mir auf die Dauer zu langweilig. Da bin ich zu einem Zirkus gegangen. Dort habe ich auch Marge kennengelernt.« »Du warst als Veterinär beim Zirkus?« fragte ich. 49
»Zuerst. Später habe ich auch als Dompteur gearbeitet. Ich hatte eine Hundenummer.« Ich stand auf und trat zu dem kleinen Käfig, den Hoagy im vorderen Ende des Wohnwagens installiert hatte. Er reichte von einer Seitenwand zur anderen und war etwa einen Meter tief. Susie, die Schimpansin, lag zusammengerollt auf einer Strohschütte und schlief. Zumindest hoffte ich, daß sie schlief. Sie lag so reglos, als ob sie tot wäre. Aber dann sah ich, daß sich ihr Brustkorb hob und senkte, daß sie atmete. »Weck sie nicht auf«, bat Hoagy. Ich hörte das Knarren des Bettgestells hinter mir und wandte mich um. Rita hatte sich aufgerichtet, gähnte und reckte die Arme. »Hallo, Eddie«, sagte sie verschlafen. »Sei nett und dreh dich noch mal um, bis ich das Kleid übergezogen habe.« Ich wandte mich wieder dem Holzkäfig zu, aber diesmal dachte ich nicht an die kranke Schimpansin. Als ich mit Rita aus dem Wohnwagen trat, schien wieder die Sonne. Ich begleitete sie bis zur »LebendeBilder-Schau« und ging dann zu unserer Bude, um zu sehen, ob Onkel Am mich brauchte. Vor unserer Wurfbude standen ein paar Kunden. 50
Nicht viele, aber mehr konnte man an einem solchen Nachmittag nicht erwarten. Onkel Am war froh, daß ich zurückkam. Er wurde langsam hungrig, und nachdem ich ihn abgelöst hatte, ging er zum Küchenzelt. Als er zurückkam, erzählte ich ihm von Captain Weiß und der Einladung zu Dinner und Hausmusik. Onkel Am lachte. »Also deshalb war er so interessiert, als ich ihm erzählte, daß du Posaune bläst. Klar, Ed, geh nur. Ich werde Marge bitten, mir heute abend zu helfen. Die Bude kann ein bißchen SexAppeal gut vertragen.« »Marge?« »Klar. Warum nicht? Die braucht immer etwas Geld. Ich glaube, Hoagy spart bei ihr an Kleidern.« »Von mir aus.« Mir fiel mein Zusammenstoß mit Skeets Geary ein, und ich erzählte Onkel Am davon. Zuerst schien er amüsiert, aber dann wurde er ernst. »Du solltest dich etwas mehr zurückhalten, Ed. Sicher, es ist sehr schäbig, aus dem Mord ein Geschäft zu machen. Aber Skeets Moral geht dich nichts an, solange er dir nicht auf die Zehen tritt.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich komme mir auch ziemlich dämlich vor.« 51
»Da hast du recht. Aber trotzdem, Junge, ich wünschte, ich wäre dabeigewesen, als er auf den Arsch fiel. Immer näher treten, meine Herrschaften, treten Sie doch näher. Wenn Sie die Milchflaschen umwerfen, gewinnen Sie eine hübsche Puppe für die lieben Kinder!« Um halb sechs packte ich meine Posaune ein und ging los. Weiß wohnte in einem hübschen kleinen Haus, das durch einen breiten Vorgarten von der Straße abgeschirmt wurde. Und ich fragte mich ernsthaft, warum, zum Teufel, ich eigentlich wie ein Vagabund mit den Schaustellern umherzog. Weiß öffnete mir die Tür. »Guten Abend, Junge. Kommen Sie 'rein. Ma, das ist Ed Hunter.« Ma war eine kleine hagere Frau um die Vierzig. Sie blieb eine Weile bei uns stehen und verschwand dann wieder in der Küche. Weiß packte seine Trompete aus, und wir spielten ein paar leichte Nummern zusammen. Auftreten konnten wir nicht damit, aber es klang nicht schlecht. Ab und zu kam Ma aus ihrer Küche herein und versicherte uns, wie gut wir wären. Und es klang so, als ob sie es wirklich ehrlich meinte. Kurz darauf rief sie uns in die Küche zum Essen. Die
Küche war geräumig und nett eingerichtet. Und mir
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gefiel, daß sie sich nicht dafür entschuldigte — wie es die meisten Frauen tun —, daß sie in der Küche gedeckt hatte. Ich glaube, man sollte immer in der Küche essen. Irgendwie schmeckt es besser. Weiß hatte nicht übertrieben. Das Essen war zwar einfach — es gab Schweinebraten und Klöße —, aber wie es zubereitet war ... Allein die Soße ... Damit hätte man mir auch eine Portion Sägespäne servieren können. Ich stopfte mich so voll, daß ich beim Nachtisch passen mußte. Und dabei gab es Kirschpudding. Weiß nannte mich einen Schwächling und nahm sich zweimal, obgleich er mehr Braten und Klöße zu sich genommen hatte als ich. Ma Weiß wollte sich nicht beim Geschirrspülen helfen lassen. Also zogen Weiß und ich uns zu Kaffee und Zigaretten zurück und sprachen über alles mögliche, nur nicht über den Mord. Er fragte mich, ob wir noch etwas Musik machen sollten, aber ich war zu vollgefressen, um Posaune blasen zu können, und er gab zu, daß es ihm auch nicht besser ging. Er holte ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Und dann sprachen wir wieder über alles mögliche, nur nicht darüber. 53
Ich verlor als erster die Nerven und fragte ihn, ob er den ermordeten Liliputaner schon identifiziert hätte. »Nein«, sagte er. »Und das ist das Schwierigste bei diesem Fall. Wir können überhaupt nichts unternehmen, bevor wir nicht wissen, wer er ist. Aber das haben wir bald.« »Wie?« »Presse, Fernsehen. Wenn irgendwo ein toter Liliputaner auftaucht, muß irgendwo ein lebender Liliputaner vermißt werden. Klar? Wir haben die Story an die Nachrichtenagenturen gegeben, und ich bin sicher, daß fast jede Zeitung sie bringen wird. Und morgen oder übermorgen wird uns jemand sagen, daß ihm ein Liliputaner fehlt. Und dann können wir anfangen.« »Glauben Sie nicht, daß eine Suchanzeige im Billboard, der Fachzeitschrift für Wanderunternehmen, wirkungsvoller wäre? Ich weiß, daß unsere Schausteller kaum eine Zeitung in die Hand nehmen. Aber den Billboard lesen sie alle.« »Klar, wir haben auch an den Billboard geschrieben. Aber das Blatt kommt nicht täglich heraus wie die Zeitungen. Es kann eine Woche dauern, bis sich da jemand meldet. Und inzwischen ist euer Jahrmarkt längst weitergezogen. Aber einer von euren Leuten kennt den Toten, da bin ich völlig sicher.« 54
»Oder irgend jemand aus Evansville, der überhaupt nichts mit unserem Jahrmarkt zu tun hat.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Darauf würde ich mich nicht verlassen, Ed. Ich will nicht behaupten, daß es in Evansville keinen Mörder gibt. Aber für diesen Fall kommt keiner von unseren Leuten in Frage. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Messer. Es gehört eurem Messerwerfer. Es lag in einem Koffer auf der kleinen Bühne, wo er seine Vorstellungen gibt. Nur jemand von euch konnte das gewußt haben. Ein Außenstehender wäre niemals darauf gekommen.« »Nehmen wir doch einmal an, ein Dieb hätte sich ins Zelt geschlichen und den Koffer geöffnet. Er wird dabei überrascht, greift sich ein Messer ...« »Und dann zieht er einen nackten Liliputaner aus der Tasche und ersticht ihn.« Weiß lachte amüsiert. »Nein, Ed, der Mörder ist einer von euren Leuten, da bin ich ganz sicher.« »Haben Sie schon mit dem Elektriker gesprochen, der den Generator repariert hat?« fragte ich. »»Wollen Sie mich jetzt vernehmen, Ed? Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Es war wirklich ein Blitz. Der Mörder hat sich die Dunkelheit zwar zunutze gemacht, aber er ist nicht dafür verantwortlich. Warum werden Sie eigentlich nicht Polizist oder Detektiv, Ed? Sie sind verdammt neugierig.« 55
»Finden Sie?« »Sie sind mindestens genauso an dem Fall interessiert wie ich. Und ich werde dafür bezahlt, Sie nicht. Noch eine Flasche Bier?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern holte noch zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. »Um ehrlich zu sein, Ed«, sagte er dann, »als ich Sie eingeladen habe, hatte ich vor, Sie noch etwas auszuhorchen. Aber dann habe ich eingesehen, daß es wenig Sinn hat. Bevor wir nicht wissen, wer der Tote ist, weiß ich nicht einmal, was ich Sie fragen soll. Sie könnten mir überhaupt nichts sagen.« Ich nickte. »Vielleicht knöpfe ich Sie mir später noch mal vor«, fuhr er fort. »Bis dahin möchte ich Sie um einen Gefallen bitten: Halten Sie Augen und Ohren offen, und wenn Sie irgend etwas Ungewöhnliches bemerken, irgend etwas, das auch nur entfernt mit dem Mord zusammenhängen könnte, lassen Sie es mich wissen. Würden Sie das für mich tun?« »Ich — ich weiß nicht recht.« »Sie können doch auch keine Mörder leiden, nicht wahr?« »Natürlich nicht. Aber ich kann auch keine Denunzianten leiden.« 56
»Wenn Sie es so sagen, klingt es auch ziemlich übel. Aber wollen Sie einen Mörder decken, nur weil er zufällig ein Kollege ist, der auf dem gleichen Jahrmarkt arbeitet?« »Jetzt haben Sie mich wieder in die Ecke gedrängt«, sagte ich unsicher. »Absichtlich. Überlegen Sie es sich gründlich, Ed. Ich will Sie nicht drängen. Und seien Sie vorsichtig.« »Wieso vorsichtig?« »Stellen Sie keine Fragen. Das wäre sehr gefährlich für Sie. Ich meine es ernst. Mörder haben etwas gegen Leute, die Fragen stellen. Sagen Sie, weiß irgend jemand außer Ihrem Onkel, daß Sie hier sind?« »Nein«, sagte ich. »Gut, ich will's mir überlegen, Captain. Aber wahrscheinlich werde ich sowieso nichts hören oder sehen, was Sie interessieren könnte.« Ich trank mein Bier aus und stand auf. »Ich muß jetzt gehen und meinen Onkel noch unterstützen.« Er bat mich nicht zu bleiben. Er gab mir etwas feierlich die Hand. Und Mrs. Weiß kam herein, wischte sich die Hände an der Schürze ab und verabschiedete mich sehr herzlich. Mir war das fast etwas peinlich. »Lassen Sie sich von ihm zu nichts überreden«, sagte sie noch. 57
»Keine Angst«, sagte ich. Und auf dem Weg zurück zum Jahrmarkt nahm ich mir vor, auch wirklich nichts zu tun. Wenn ich mich nur um meinen eigenen Kram kümmerte, so stellte ich mich damit noch lange nicht auf die Seite des Mörders. Wieder hatte der feine Sprühregen eingesetzt. Er malte Heiligenscheine um die Lampen. Das Riesenrad wirkte wirklich riesenhaft, und die gedämpften Geräusche schienen irgendwie unwirklich. Noch unwirklicher, als es ein Jahrmarkt ohnehin ist. Fünfzig Meter vor dem Haupteingang blieb ich stehen und blickte den breiten Mittelweg entlang, an dem die Buden, Zelte und Karussells standen. Ich hörte das Poltern der Achterbahn, das Schreien der Anpreiser und ein Gewirr von tausend Stimmen, die typische Geräuschkulisse des Jahrmarkts. Und mir war, als ob ich es noch nie gehört und noch nie gesehen hätte. Menschen drängten sich an mir vorbei und strömten zum Eingang. Der Besuch war besser als sonst an Wochenenden, trotz des Nieselregens. Und die Besucher sahen auch so aus, als ob sie das Geld ausgeben würden, das sie in der Tasche trugen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen zahlreichen Besuchern und guten Besuchern. Heute abend hatten wir beides. 58
Ich wollte schon den Mittelweg entlanggehen, überlegte es mir aber dann anders und ging zwischen den Wohnwagen und Traktoren hindurch zu unserem Schlafzelt. Man brauchte mich nicht unbedingt mit der Posaune unter dem Arm zu sehen und sich zu fragen, wo ich damit wohl gewesen war. Ich legte das Instrument auf mein Bett und kroch dann unter der Zeltwand hindurch in die angrenzende Ballwurfbude. Ich sollte das eigentlich nicht tun. Weil ich dabei leicht einen Ball ins Auge kriegen konnte. Aber ich hatte Glück. Onkel Am und Marge standen hinter der Barriere, und das Geschäft ging gut. »Ist das Kino schon aus, Ed?« fragte Onkel Am. Ich wußte, daß er mir damit sagen wollte, daß er Marge erklärt hatte, ich würde mir in der Stadt einen Film ansehen. Also spielte ich mit. »Ich bin nicht bis zum Schluß geblieben«, erwiderte ich. »Es war ziemlich lausig.« Onkel Am zog mich zur Seite, so daß Marge uns nicht hören konnte. »Bleib nicht hier, Ed. Ich habe Marge für den ganzen Abend hergebeten, und wenn du dableibst, glaubt sie vielleicht, sie sei jetzt überflüssig. Amüsier dich gut, mein Junge, aber irgendwo anders. In Ordnung?« 59
»Klar, aber ... »Kein Aber. Marge kann das Geld gebrauchen. Hoagy hat nicht viel verdient in der letzten Zeit. Und er hat ziemlich viel beim Pokern verloren. Fünfzig Dollar Anfang der Woche, und sechzig gestern nacht.« »Und du hast sie gewonnen?« »Die sechzig gestern. Also laß ich Marge wenigstens einen Teil davon zurückverdienen. Und nun hau ab, Junge.« »Schon gut«, sagte ich. »Ich bin schon weg.« »Hier hast du zehn Cents. Kauf dir einen Hamburger davon.« Er steckte mir was in die Brusttasche. Und ich wußte, daß es ein Schein war, keine Zehn-Cent-Münze. Ich schob mich wieder in die Menge, die sich den Mittelweg entlangdrängte, und ließ mich einfach von ihr treiben. Sie trieb mich zu einem großen Menschenknäuel, das sich vor dem Zelt der Abnormitätenschau staute. Ich wunderte mich darüber, weil dort niemand auf der Plattform stand, um sie anzulocken. Skeets Geary saß im Hintergrund auf einem Stuhl, den Hut im Nacken, und würdigte die Menge keines Blickes. Trotzdem verkauften die beiden Schalter Tickets am
laufenden Band, und die Menschen drängten sich in das
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Zelt. Ein Ellenbogen fuhr mir in die Seite. Ich wandte den Kopf und sah eine fette Frau, eine wirklich fette Frau. Sie war ungefähr so groß wie ich und wog dreimal so viel. Sie keuchte wie ein Nilpferd. »Entschuldigen Sie, Mister. Mein Gott, ist das ein Gedränge.« Wir wurden an die Einlaßschalter gedrückt. »Was ist denn los?« fragte ich. »Was wollen die Leute denn alle hier?« Sie sah mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. »Hier ist doch dieser Zwerg ermordet worden. Lesen Sie denn keine Zeitung?« »Natürlich, aber ...« »Eben hat mir jemand gesagt, daß sie heute doppeltes Eintrittsgeld verlangen. Wissen Sie was davon?« Ich zuckte die Schultern. »Ist ja auch egal. So was kriegt man schließlich nicht alle Tage zu sehen. Angeblich zeigen sie sogar das Messer, mit dem er erstochen worden ist. Sogar mit dem Blut dran, hat mir meine Schwester gesagt. Man kann auch fotografieren, aber das kostet einen Dollar extra. »Aha«, sagte ich. 61
Ich wandte mich ab und kämpfte mich durch die Menge auf den Mittelweg zurück. An einem Stand kaufte ich mir eine Limonade, um den schlechten Geschmack aus dem Mund zu spülen. Während ich trank, zog, ich den Geldschein heraus, den mir Onkel Am in die Tasche gesteckt hatte. Es war eine ZwanzigDollar-Note. Der Umsatz muß gut gewesen sein, dachte ich, angewidert von der Vorstellung, daß auch Onkel Am von dem Tod des Liliputaners profitierte. Aber das war Unsinn. Es war schließlich nicht sein Verschulden, daß gestern nacht ein Mensch ermordet worden war. Was sollte er denn tun? Den Laden dicht machen und die Kunden wegjagen? Er machte schließlich nicht wirklich ein Geschäft mit dem Mord, wie es Skeets tat. Als ich die Limonade getrunken hatte, ging ich ziellos den Mittelweg entlang und blieb eine Weile vor der Plattform der Jig-Show stehen. Jigabo, der siebenjährige schwarze Wundertänzer, gab den Leuten eine kurze Kostprobe seines Könnens, um sie zur Kasse zu locken. Ich mußte den kleinen Kerl wirklich bewundern. Nachdem er im Zelt verschwunden war, ging ich weiter. Vor allen Buden und Zelten drängten sich die Menschen. Jeder verdiente heute abend, jeder schlug seinen Profit daraus, daß ein Liliputaner ermordet worden war. Selbst ich, wenn man die zwanzig Dollar 62
berücksichtigt, die Onkel Am mir zugesteckt hatte. Er war wirklich nicht umsonst gestorben.
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4 Vor dem Zelt der »Lebende-Bilder-Schau« drängte sich ebenfalls eine dichte Menschenmenge. Rita und die anderen vier Mädchen standen auf der Plattform. Sie trugen Bademäntel. Der Anpreiser brüllte ins Mikrophon. Es war Charlie Wheeler, einer von der alten Garde mit den Lederlungen, die schon vor der Erfindung des Mikrophons gearbeitet hatten. Irgendwie konnte er sich nicht daran gewöhnen, daß man nicht mit voller Kraft zu brüllen brauchte, wenn man Verstärker und Lautsprecher hatte. Rita trug etwas zu viel Make-up, fand ich, aber das taten auch die anderen Mädchen. Sie war trotzdem die hübscheste von ihnen. Und die jüngste. Ich versuchte, ihren Blick zu erhaschen, aber es gelang mir nicht. Charlie kam zum Ende und winkte die Leute zur Kasse und die Mädchen hinter den Vorhang. Ich ließ die Leute an mir vorbeiziehen und wünschte, ich könnte auch 'reingehen. Aber das ging nicht. Onkel Am hatte mir gleich zu Anfang erklärt, daß diese Schau für uns tabu war. Die Mädchen, die auf der matt erleuchteten Bühne
die »Lebenden Bilder« darstellten, mit so gut wie
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nichts an, genierten sich nicht vor dem Publikum, das dafür bezahlte. Die Besucher zählten einfach nicht. Sie waren Außenstehende. Aber für uns wäre es unschicklich gewesen, die Mädchen so zu sehen. Das wäre so schlimm gewesen, als ob wir sie durch Schlüssellöcher beobachtet hätten. Das klingt zwar etwas seltsam, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es eigentlich ganz logisch. Ich schlenderte weiter und überlegte mir, ob ich nach Schluß der Vorstellung mit Rita ausgehen könnte. Aber bis dahin mußte ich noch einige Zeit warten, und als ich in Hoagys Wohnwagen noch Licht sah, ging ich hin. Ich weiß nicht, warum ich ein paar Sekunden zögerte, bis ich anklopfte. Es war nur so ein Gefühl. Aber dann sagte ich mir, daß solche Gefühle Unsinn sind, und klopfte trotzdem. Er bat mich herein, und ich öffnete die Tür. Marge hatte anscheinend aufgeräumt, bevor sie zu Onkel Am gegangen war. Alles wirkte sauber und ordentlich. Mit Ausnahme von Hoagy. Er saß immer noch in der engen Frühstücksnische, aber statt Kaffee hatte er eine fast leere Whiskyflasche vor sich stehen. Er war so besoffen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Setz dich, Ed«, sagte er mit schwerer Zunge. »Nimm dir'n Glas und trink einen mit mir.« 65
Eigentlich wollte ich nicht trinken, holte mir aber trotzdem ein Glas. »Aber nur einen Kleinen«, sagte ich, als er eingoß.
Hoagys Vorstellung von einem kleinen Drink entsprach es, das Bierglas nur zu drei Vierteln zu füllen, ungefähr sieben oder acht Zentimeter hoch. »Auf Susie«, sagte ich und nahm einen Schluck. »Auf Susie«, sagte Hoagy und trank ebenfalls, nur erheblich mehr. Dann lehnte er sich zurück und starrte mich mit verschwommenem, verschleiertem Blick an. Wenn ich ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte ich mich vor ihm gefürchtet. Ich hätte nie geglaubt, daß er ein stiller, heimlicher Säufer war. »Wie geht es Susie«, fragte ich nach einer Weile, nur weil mich sein langes Schweigen bedrückte. »Ich fürchte, sie wird sterben, Ed. Verdammt noch mal, ich habe wirklich getan, was ich konnte.« »Tut mir leid, Hoagy.« »Mir geht es gar nicht so sehr um das Geld. Was sind schon hundertfünfzig Dollar. Ich wußte, daß sie krank war, als ich sie kaufte. Deshalb habe ich sie ja so billig bekommen. Aber ich habe mich schon richtig an sie gewöhnt.« 66
Ich stand auf und wollte nach Susie sehen. Aber Hoagy hielt mich zurück. »Laß sie in Ruhe, Ed. Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben, und es fängt gerade an zu wirken.« »In Ordnung.« Ich setzte mich wieder. Er goß mir einen zweiten Whisky ein, und diesmal leerte ich das Glas mit einem Zug. Es schmeckte scheußlich, und es brannte im Magen. Aber ich war zu stolz, um mir ein Glas Wasser zum Nachspülen zu holen. Als ich wieder sprechen konnte, fragte ich: »Kommt Rita nach der letzten Vorstellung wieder zu euch?« »Nein. Sie hat eine Verabredung.« »Was?« Hoagy blinzelte mir zu und kicherte. Dann goß er mir noch einen Drink ein, bevor ich protestieren konnte. »Ja, sie hat ein Rendezvous, Ed. Mit irgendeinem reichen Trottel, den sie ausnehmen kann. Ein Bankier aus Evansville, glaube ich.« »Ach so.« Ich erinnerte mich, daß Rita zur Bank ging, als wir zusammen in der Stadt waren. Aber ich hatte geglaubt, es wäre rein geschäftlich gewesen. »Mach dir keine Illusionen wegen Rita«, sagte Hoagy und gab sich Mühe, einigermaßen deutlich zu sprechen. »Die kennt den Unterschied zwischen einer Dollarnote und einem Fetzen Papier. Sie ist kein schlechtes Mädchen, Ed. Ich kannte sie, als sie noch Zöpfe trug, 67
und das ist noch gar nicht so lange her. Aber sie hat keine leichte Kindheit gehabt, und so was bleibt hängen. Davon wird ein Mensch hart wie ein Stahlnagel.« »Wirklich?« Ich wollte, daß er weitersprach. Ich wußte selbst nicht, warum, aber er sollte weiterreden. »Ihre Mutter starb, als sie zwölf war«, fuhr er fort. »Das ist jetzt sechs oder sieben Jahre her. Ihr Vater, Howie Weiman, ist ein guter Freund von mir. Ein netter Kerl, wenn er nüchtern ist. Aber wann ist er schon mal nüchtern. Rita hat es mit ihm ausgehalten, bis sie fünfzehn war, dann ist sie durchgebrannt.« »Und was hat sie seitdem getan?« »Alles mögliche. Tischdame, Serviererin und so weiter. Bis sie krank wurde. Sie lag bis vor ein paar Wochen im Krankenhaus. Zufällig hat sie meinen Namen im Billboard gesehen und mir sofort geschrieben. Ich habe ihr dann den Job hier verschafft.« »Ach so«, sagte ich. »Aber die bleibt nicht lange hier. Sie ist zu hübsch für einen Jahrmarkt, und zu schlau und zu ehrgeizig. Und ich wette, sie schafft den Sprung ins große Geschäft. Irgendwie wird sie es schaffen.« »Ein Bankier aus Evansville klingt nicht gerade nach großem Geschäft, Hoagy.« »Das nicht. Aber vielleicht ist er die erste Stufe der Leiter. Du mußt das verstehen ...« 68
»Schon gut, du brauchst mir das nicht erst unter die Nase zu reiben. Ich verstehe einen zarten Wink, wenn man ihn mit einem Baseballschläger gibt.« »Noch 'nen Whisky?« Diesmal hatte ich nichts dagegen, und ich vergaß, um einen kleinen zu bitten. Also goß er das Glas bis zum Rand voll. »Es geht mich ja eigentlich nichts an«, sagte er. »Aber du bist ein netter Junge, Ed, und ich wollte dir ersparen...« »Nicht nötig, Hoagy. Ich bin nicht in Rita verknallt, falls du das glauben solltest. Sie ist ein nettes Mädchen, und ich mag sie ganz gern. Aber das ist alles.« Ich kippte meinen Drink hinunter, aber diesmal holte ich mir doch ein Glas Wasser zum Nachspülen. Als ich das Wasser getrunken hatte, holte ich tief Luft und stellte erleichtert fest, daß der Whisky unten bleiben würde. »Ich gehe jetzt nach Hause, Hoagy«, sagte ich dann. »Also bis morgen.« Ich verließ den Wohnwagen und ging zum Mittelweg zurück. Einmal stolperte ich über eine Spannleine. Aber das lag sicher an der Dunkelheit und nicht am Whisky. 69
Aber ich begann, die Drinks zu spüren. Immerhin hatte ich mindestens sechs oder sieben normale Whiskys zu mir genommen. Ich bemühte mich, aufrecht und gerade zu gehen und nicht zu torkeln. Physisch hatte ich mich ganz gut in der Hand. Psychisch nicht so sehr. Die Mitteilung, daß Rita sich mit einem reichen Trottel verabredet hatte, hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen. Sie hatte mir ihre Absichten schließlich schon gestern abend deutlich klargemacht. Trotzdem war es wie eine Ohrfeige. Als ich Lee Careys Wohnwagen passierte, hörte ich eine Stimme hinter mir: »Hallo, Ed.« Lee kam auf mich zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Mein Gott, was für ein Gedränge heute abend. Skeets ist wütend, weil er die Leute nicht schneller aus dem Zelt bringt und nicht noch mehr 'reinlassen kann. Dabei scheucht er sie sowieso schon nach einer knappen Minute wieder 'raus. Ich bin vollkommen fertig. Ich mach ein paar Minuten Pause. Und ich brauche einen Drink.« Er öffnete die Wohnwagentür, und wir traten ein. »Leg 'ne Platte auf, Eddie. Musik muntert mich immer auf.« »Klar. Was willst du hören?« »Irgendwas Heißes und Unanständiges.« 70
Ich legte Swamp Fire auf, und er nickte zufrieden. Er holte zwei Gläser und eine Flasche Whisky aus dem Hängeschrank in der Küchenecke. Bevor ich ihm sagen konnte, daß ich schon genug hatte, hatte er eingegossen. Und seine Gläser waren nicht kleiner als die von Hoagy. »Cheers«, sagte er und kippte den Whisky mit einem Zug hinunter. Dann sah er mich prüfend an. »Sag mal, Junge, du siehst so komisch aus. Fühlst du dich nicht gut?« »Wieso? Mit mir ist alles in Ordnung.« »Dann stimmt irgendwas mit meinen Augen nicht«, murmelte er. Die Platte war zu Ende, und ich legte eine neue auf. Dann nahm ich einen kleinen, vorsichtigen Schluck von meinem Whisky. Als ich das Glas wieder auf den Tisch zurückstellte, wäre es beinahe umgefallen. Weil ich es auf einen winzigen Gegenstand gestellt hatte, der im Schatten des Plattenspielers kaum zu bemerken gewesen war. Ich hob ihn auf. Es war ein kleiner Würfel aus rotem durchsichtigem Kunststoff. »Davon hatte ich mal zwei«, sagte Carey. »Ich brauchte sie für einen Zaubertrick.« Ich sah mich nach dem anderen Würfel um. »Den zweiten habe ich irgendwo verloren«, sagte 71
Carey, »und daher kann ich auch den Trick nicht mehr vorführen. Behalte den Würfel, wenn du willst, oder wirf ihn weg.« Ich wußte zwar nicht, was ich mit einem kleinen Plastikwürfel anfangen sollte, aber ich sagte »Danke« und steckte ihn in die Tasche. Die Platte war zu Ende. Carey gähnte und streckte sich. »Zurück ins Joch«, sagte er. »Bleib hier, wenn du willst. Ich laß die Flasche auf dem Tisch stehen.« »Gut«, sagte ich. Ich legte noch ein paar Platten auf und entdeckte, daß mein Glas leer war. Ich geriet in Versuchung, es noch einmal zu füllen, tat es aber dann doch nicht. Ich hatte wirklich genug, und ich fragte mich, ob ich diesmal richtig betrunken war. Ein paarmal war ich schon ziemlich angesäuselt gewesen, aber über den Strich war ich noch nie gekommen. Man sollte es wirklich mal probieren. Ich zog den kleinen Würfel aus der Tasche. Wenn ich eine niedrige Zahl werfe, dachte ich, trinke ich nichts mehr. Wenn es eine Vier, Fünf oder Sechs ist, genehmige ich mir noch einen. Ich schüttelte den Würfel zwischen den Händen, aber
er war so winzig, daß er mir aus den Fingern rutschte
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und zu Boden fiel. Er rollte über das Linoleum und verschwand unter dem Tisch, Ich kroch auf Händen und Knien hinter ihm her und entdeckte ihn schließlich in der hintersten Ecke. Ich mußte mich flach auf den Boden legen, um ihn zu erreichen. Erst als ich ihn wieder in die Tasche steckte, fiel mir ein, daß ich gar nicht nachgesehen hatte, welche Zahl oben gewesen war. Zum Teufel damit, dachte ich, und goß mir noch einen Whisky ein. Allerdings nur einen kleinen. Und weil mir niemand zusah, holte ich mir ein Glas Wasser dazu. Ich legte noch eine Platte auf und ließ mir Zeit beim Trinken. Ich wünschte, Lee Carey würde zurückkommen. Ich hätte mich gern mit jemandem unterhalten. Ich wußte, daß das nur vom Whisky kam, aber ich brauchte jetzt einen Menschen, dem ich meine Meinung sagen konnte. Über Frauen zum Beispiel. Aber Carey kam nicht zurück, und so goß ich mir noch einen Kleinen ein, schloß dann den Wohnwagen ab und ging zum Mittelweg zurück. Das Gedränge hatte etwas nachgelassen, aber noch immer schoben sich die Leute in das Zirkuszelt, um den Platz zu sehen, wo der Zwerg ermordet worden war. Trotzdem, in einer Stunde ungefähr würde alles 73
vorüber sein. Vielleicht sogar früher. Ein paar Karussells und die Achterbahn hatten schon geschlossen. Aber die schlossen immer zuerst. Ich lehnte mich gegen den Kassenschalter der Achterbahn und versuchte nachzudenken. Über Rita natürlich. Ich mußte sie sehen. Und warum eigentlich nicht? Sie war schließlich nur ein billiges Flittchen, wie alle Weiber. Und warum, zum Teufel, sollte ich irgendwelche Hemmungen haben, in ihre Show zu gehen, wenn sie hinterher mit irgendeinem Knacker ins Bett stieg. Ich ging zum Zelt der »Lebende-Bilder-Schau«. Der Ausschreier kündigte gerade die letzte Vorstellung an. Rita und die anderen Mädchen standen hinter ihm auf der Plattform. Sie bemerkte mich nicht. Charly Wheeler winkte die Mädchen ins Zelt und die Kundschaft zur Kasse. Dann zog er den Mikrophonstecker heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ich wartete, bis er verschwunden war, damit er mich nicht bemerkte. Dann folgte ich den letzten Kunden zum Kassenschalter. Das Mädchen an der Kasse kannte ich nicht, und ich hoffte, daß sie mich ebenfalls nicht kannte. Ich schob ihr die Münze über den Tresen, nahm mein Ticket und betrat das Zelt. 74
Es war ziemlich dunkel im Zelt, und es gab keine Bänke oder Stühle. Die Leute standen in einem rechteckigen Raum, der durch ein Seil von der etwas erhöhten Bühne getrennt wurde. Ein Plattenspieler hinter dem schwarzen Vorhang, der die Bühne verdeckte, spielte eine getragene, sinnliche Musik. Nach etwa einer Minute ging der Vorhang auf zum ersten Bild. Es wurde von zwei der Mädchen dargestellt, aber Rita war nicht dabei. Es sollte natürlich irgend etwas darstellen, aber ich weiß nicht, was. Und das interessierte mich auch nicht, und auch niemanden von den anderen im Zelt. Die Mädchen trugen nichts als flitterbesetzte winzige Höschen und durchsichtige BHs, wie sie das Gesetz als Minimum vorschrieb. Und sie waren wunderbar gewachsen. Nach etwa fünfzehn Sekunden wurde der Vorhang geschlossen. Man legte die Platte »My Angel« auf, und dann hob sich der Vorhang wieder. Diesmal stand Rita auf der Bühne. Allein. Wahrscheinlich sollte sie so etwas wie einen Engel darstellen. Sie stand dem Publikum zugewandt und hatte beide Arme erhoben. Irgendein Flitterzeug, das wohl die Flügel darstellen sollte, hing ihr über den Rücken bis zu dem winzigen goldglänzenden Höschen herab. Ihr Körper war sehr blaß, aber so wunderbar 75
gewachsen, daß ich unwillkürlich die Luft anhielt. Anstelle eines BHs trug sie nur ein Chiffontuch, das in losen Falten von ihren Schultern herabhing und mehr zeigte, als verdeckte. Ihre Brüste waren von einer Vollkommenheit, wie ich sie nur in Museen bei griechischen Statuen gesehen hatte. Ihren Kopf hatte sie leicht zurückgebogen, und sie schien mir direkt in die Augen zu blicken. Aber das war natürlich Unsinn. Es war viel zu dunkel, als daß sie die Zuschauer hätte erkennen können. Nur ihr Gesicht wurde von der Rampenbeleuchtung erhellt. Und dann fiel wieder der Vorhang. Ich konnte wieder ruhiger atmen. Ich drängte mich durch die Zuschauer nach hinten und verließ das Zelt. Auf dem Mittelweg blieb ich stehen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Also ging ich zu Careys Wohnwagen zurück. Und ich ging immer noch einigermaßen gerade, stellte ich mit einigem Stolz fest. Der Wohnwagen war immer noch dunkel Ich setzte mich auf das Trittbrett und wartete. In meinem Kopf begann sich allmählich alles zu drehen, und ich wußte jetzt, daß ich ziemlich betrunken war. Am liebsten hätte ich geheult. Oder jemandem die Zähne eingeschlagen. Oder beides. Plötzlich fiel mir ein, daß Hoagy mich ja auch 76
angelogen haben könnte. Er hatte eigentlich keinen Grund, mich anzulügen, aber möglich war es immerhin. Vielleicht hatte Rita gar keine Verabredung mit diesem Bankmenschen, weder für heute abend noch überhaupt. Warum sollte ich ihm eigentlich ohne weiteres alles glauben? Ich hatte ungefähr zehn Minuten auf dem Trittbrett gesessen. Rita mußte sich jetzt umgezogen haben. Bald würde sie das Zelt verlassen. Ich sprang auf und lief den Mittelweg entlang zum Umkleidezelt ihrer Show. Als ich die Rückwand des Umkleidezeltes erreichte, hörte ich die Stimmen der Mädchen hinter der Zeltleinwand. Ich blieb stehen und wartete. Als erste kam Darlene heraus, und dann ein anderes Mädchen, das ich nicht kannte. Und als dritte kam Rita. Ich trat auf sie zu und wollte sie ansprechen. Aber bevor ich den ersten Ton herausbringen konnte, knallte sie mir eine. Es war keine schwache Ohrfeige. Und weil ich etwas betrunken war, taumelte ich ein paar Schritte zurück und hätte mich beinahe auf den Hintern gesetzt. Meine Ohren dröhnten, und die linke Wange brannte. Während ich so dastand und zu überrascht war, um etwas zu sagen, wandte sie sich um und ging mit schnellen Schritten den Mittelweg entlang. 77
Eins der anderen Mädchen kam aus dem Zelt. »Hallo, Ed«, sagte sie. Es war Estelle, eine kleine Brünette, die schon die ganze Saison über bei uns war. Sie war ein hübsches Mädchen, etwas burschikos vielleicht, aber sonst sehr nett. »Hallo, Estelle«, sagte ich. »War das eben eine Ohrfeige, was ich gehört habe?« Sie lachte, wahrscheinlich über den dummen Ausdruck, den mein Gesicht noch hatte. Aber es war ein freundliches Lachen, humorvoll und nicht bösartig. Sie trat einen Schritt näher. »Laß sie laufen, Ed. Sie hat eine Verabredung mit einem reichen Kerl. Mit einem richtigen Bankier.« Also hatte Hoagy mich doch nicht angelogen. »Mein Typ war er ja nicht«, sagte Estelle. »Spendierst du mir einen Drink, Eddie?« Warum eigentlich nicht? Ich hatte fünfunddreißig Dollar in der Tasche, und Estelle war wirklich ein hübsches Mädchen. Ich nahm ihren Arm, und wir gingen den Mittelweg entlang zum Hauptausgang, zusammen mit den letzten Besuchern. Onkel Ams Bude war schon geschlossen. Ich war wieder völlig nüchtern, oder zumindest fühlte 78
ich mich so. Meine Ohren dröhnten immer noch, aber das Dröhnen schien irgendwie gedämpft zu sein, wie alle anderen Geräusche. Wir gingen durch das Haupttor und überquerten die Straße. Ich sah mich nach einem.Taxi um. Aber es war keins zu sehen. »Da unten ist eine Bar«, sagte Estelle und deutete die Straße hinunter. »Nur zwei, drei Blocks von hier entfernt und ganz nett. Dort können wir was trinken. Und wenn der größte Andrang vorbei ist, bestellen wir uns ein Taxi. Was hältst du davon?« »Gut«, sagte ich. In der Bar klemmten wir uns in eine Nische und bestellten Highballs. Ich war ziemlich schweigsam, aber Estelle redete ununterbrochen. Nach dem Whisky erschien mir der Highball ziemlich wäßrig. Nach einer Weile bestellte ich ein Taxi, und als ich zurückkam, fragte ich Estelle, ob sie noch einen Drink haben wolle. »Später, Eddie, in der Stadt. In meinem Hotel ist eine sehr nette Bar.« Sie sagte nicht »vorher«, aber sie schmiegte sich vielsagend an mich. Nettes Mädchen, dachte ich. Netter Abend. Als der Taxifahrer hereinkam, trank ich den Rest meines Highballs, und wir gingen hinaus. 79
Bevor wir in den Wagen stiegen, nahm ich Estelles Arm und sagte: »Hör zu, Estelle. Es ist besser, wenn du allein in die Stadt fährst. Ich — ich hab' ziemlich viel getrunken, erst mit Hoagy und dann mit Carey. Und mir ist ganz übel davon. Tut mir leid, wirklich, aber ich glaube ...« »Macht nichts, Eddie«, sagte sie. »Und du brauchst meinetwegen nicht zu lügen. Ich weiß, du bist in Rita verknallt. Also was soll's.« »Tut mir wahnsinnig leid, Estelle«, sagte ich. »Ich bin wirklich ziemlich durcheinander.« Ich setzte sie in das Taxi, gab dem Fahrer einen Dollar und starrte dem Wagen nach, bis seine Rücklichter im Nebel verschwunden waren. Und ich wußte, daß ich ein verdammter Idiot war. Ich überlegte, ob ich in die Bar zurückkehren sollte. Aber das hatte auch keinen Sinn. Wenn ich noch mehr trank, würde ich vielleicht wirklich kotzen müssen. Und das war alles, was ich noch brauchte, um diesen Abend wirklich unvergeßlich werden zu lassen. Onkel Am war nicht in unserem Schlafzelt, als ich nach Hause kam. Wahrscheinlich pokerte er wieder im Spielzelt. Ich zog mich aus und kroch ins Bett. Ich war noch wach, als Onkel Am zurückkam, aber 80
ich tat so, als ob ich schon schlief. Zum erstenmal hatte ich keine Lust, mit ihm zu reden.
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Als ich am nächsten Tag aufwachte, war es fast Mittag. Es regnete wieder, und Onkel Am war schon fort. Ich hatte einen ziemlich schlechten Geschmack im Mund. Aber nachdem ich einen Schluck Kaffee aus der Thermosflasche getrunken hatte, konnte ich mich entschließen, aufzustehen. Onkel Am kam zurück, als ich mich anzog. Er setzte sich auf die Bettkante und sah mich prüfend an. »Wie fühlst du dich, Junge?« fragte er dann. »Es geht.« »Und wie geht's dem anderen Knaben?« »Welchem anderen Knaben?« »Dem, der dir eine 'reingehauen hat. Links bist du ziemlich angeschwollen. Ich glaube, das kurieren wir am besten mit einer Scheibe Speck.« »Speck?« »Innerlich angewandt, zusammen mit Spiegeleiern, Toast und Kaffee.« Wir gingen zum Küchenzelt und frühstückten. Danach fühlte ich mich schon viel besser. Ich wartete darauf, daß Onkel Am mich ausfragen würde, aber ich wartete vergebens. Also fing ich an. 82
»Wer hat es dir erzählt?« fragte ich. »Hoagy oder Carey?« »Keiner von beiden. War auch nicht nötig. Als ich gestern ins Zelt kam, stank es wie in einer Whiskybrennerei. Wer hat dich besoffen gemacht?« »Es war meine Schuld. Hoagy hat mich eingeladen, und dann Carey. Die letzten Drinks habe ich mir bestellt.« Ich wartete auf seine Reaktion, aber er sagte nichts. Also fragte ich: »Gibt's was Neues heute?« »Was meinst du damit?« »Nichts Bestimmtes.« »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wir brechen schon heute auf und nicht erst morgen.« »Am Samstag? Dann haben wir doch für das Sonntagsgeschäft noch nicht wieder aufgebaut.« »Hier ist nichts mehr zu machen. Nach der Wettervorhersage wird es noch mindestens drei Tage regnen, und in South Bend scheint die Sonne. Wir brechen schon heute nachmittag alles ab. Dann sind wir morgen früh in South Bend und haben am Mittag schon alles wieder aufgebaut.« »Und der Mord? Läßt die Polizei uns einfach abfahren?« 83
»Die können doch nicht den ganzen Jahrmarkt an die Kette legen. Übrigens habe ich vorhin Captain Weiß getroffen. Sie wissen noch immer nicht, wer der Liliputaner ist. Aber er sagte, daß du sehr gut Posaune spielst. Er kann dich anscheinend gut leiden, seltsamerweise.« »Er ist ein netter Kerl«, sagte ich. »Für einen von der Polizei.« »Ach ja, noch etwas. Marge sagte mir, daß Rita nach Indianapolis gefahren ist.« Ich starrte ihn wortlos an. »Sie hat gestern nacht, kurz vor Schluß ein Telegramm bekommen. Ihr Vater ist von einem Lastwagen überfahren worden. Es geht ihm ziemlich schlecht, und vielleicht wird er es nicht überleben. Er wollte sie sehen.« »Oh«, sagte ich. Kurz vor Schluß, überlegte ich. Dann hat sie es also schon gewußt, als sie dort auf der Bühne stand und ich sie anstarrte wie ein besoffener Bauer. Ich schämte mich. Dann hatte sie also auch keine Verabredung mit diesem Bankier gehabt, oder zumindest hatte sie abgesagt. Ich weiß selbst nicht, warum ich so froh 84
darüber war. Ich hatte bei ihr bestimmt nichts mehr zu melden. Es regnete den ganzen Vormittag und auch den Nachmittag hindurch. Es regnete so stark, daß nicht einmal Neugierige kamen, um die Stelle zu sehen, wo der Zwerg ermordet worden war. Wir bauten unsere Bude ab und packten. South Bend war ziemlich weit entfernt. Wir wollten deshalb nicht mit der Kolonne fahren, sondern nahmen den Zug. Weil wir noch etwas Zeit hatten, gingen wir in ein Kino. Kurz vor Mitternacht stiegen wir in unseren Schlafwagen. Ich konnte nicht einschlafen, weil ich immer an Rita denken mußte. Ich war wirklich froh, daß sie diese Verabredung nicht eingehalten hatte. Das war natürlich albern. Sie war nun mal hinter einem reichen Mann her und sie würde noch viele andere Gelegenheiten haben. Es war völlig egal, ob sie nun diesen Bankier oder irgend jemand anders angelte. Und wer sagte mir denn, daß die Sache mit dem Telegramm wirklich stimmte? Vielleicht war das nur ein Vorwand gewesen, um mit dem Kerl übers Wochenende verreisen zu können. Hatte überhaupt irgend jemand dieses Telegramm gesehen? Das Rollen und Stoßen der Räder hielt mich wach. 85
Ich versuchte mir einzureden, daß es völlig gleichgültig sei, ob sie jetzt bei ihrem sterbenden Vater war oder mit einem fetten Bankier im Bett lag. Ich hatte bei ihr sowieso keine Chancen mehr. Aber schließlich muß ich doch eingeschlafen sein. Ich wachte auf, als das Stoßen und Rattern der Räder aufhörte. Ich richtete mich auf und sah auf die Uhr Es war kurz vor fünf. In South Bend sollten wir erst gegen sieben eintreffen. Ich sah aus dem Fenster und fragte mich, wo wir waren. Es war ein ziemlich großer Bahnhof mit viel Betrieb. Und dann sah ich das Schild: Indianapolis. Ich sprang aus dem Bett und griff nach meinen Sachen. Ich konnte Onkel Am später alles erklären. Er würde mich verstehen. Ich war gerade dabei, in die Hose zu steigen, als der Zug mit einem Ruck wieder anfuhr und langsam aus der Halle glitt. Und ich sah ein, daß mein Einfall ziemlich idiotisch gewesen war. Aber ich war jetzt hellwach und machte nicht einmal mehr den Versuch, noch weiterzuschlafen. Ich zog mich an und trat auf den Gang hinaus. Ich sah die letzten Häuser von Indianapolis im dämmrigen Morgenlicht verschwimmen und wußte, daß ich Rita nie wiedersehen würde. 86
In South Bend war der Himmel ebenfalls bedeckt, aber es regnete nicht. Wir erreichten unseren Standplatz, bevor die Wagenkolonne eintraf, und warteten auf sie. Der Platz war trocken und die Standplätze der verschiedenen Zelte, Karussells und Buden waren schon abgesteckt. Gegen zehn Uhr traf die Wagenkolonne ein. Wir luden unser Material ab und bauten die Zelte auf. Am Abend war es immer noch bewölkt, aber das Geschäft lief trotzdem gut. Und am Montag war es genauso. Am Dienstag begann es auch hier zu regnen. Die ersten Tropfen fielen am frühen Nachmittag. Bis dahin hatten wir ganz gut verdient, aber jetzt verliefen sich die Leute. Onkel Am meinte, wir könnten schließen. Ich wollte gerade die Plane herunterlassen, als mich jemand anrief: »Hallo, Ed.« Es war Armin Weiß, der Polizist aus Evansville. Ich sagte auch »Hallo« und ließ ihn aus dem Regen in unsere Wurfbude treten. »Wir haben den Toten endlich identifiziert«, sagte er. »Er heißt Lon Staffold. Schon mal von ihm gehört?« Er sah erst mich und dann Onkel Am an und wir schüttelten die Köpfe. »Er wohnte in Cincinnati«, fuhr Weiß fort, »in einer 87
Pension in der Vine Street. Er hatte einen Zeitungsstand an der Ecke. Früher hat er auch auf Jahrmärkten gearbeitet. Aber nie, soweit ich feststellen konnte, in dieser Gegend.« »Wer hat ihn denn vermißt?« fragte Onkel Am. »Die Pensionswirtin. Sie war früher auch mal beim Jahrmarkt und liest immer noch den Billboard. Durch das Blatt erfuhr sie auch von dem Mord. Sie gab der Polizei in Cincinnati eine Beschreibung von ihrem Mieter. Und die stimmt haargenau.« »Weiß sie auch, wer ihn ermordet haben könnte, und warum?« fragte Onkel Am. Weiß zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich fahre jetzt nach Cincinnati, um mit ihr zu reden. South Bend war für mich zwar ein kleiner Umweg, aber ich wollte feststellen, ob einem von Ihnen der Name Lon Staffold etwas sagt. Aber bisher habe ich nur Nieten gezogen.« Er wandte sich mir zu. »Haben Sie etwas beobachten können, Ed?« Ich schüttelte den Kopf. »Merkwürdig«, sagte er. »Staffold hat Cincinnati vor etwa zehn Tagen verlassen. Und letzten Dienstag, das heißt vor fünf Tagen, ist er in Ihrem Zirkuszelt gefunden worden. Wo hat er sich die ersten fünf Tage aufgehalten? Wenn wir das herauskriegen, sind wir schon ein großes Stück weiter.« 88
»Wollen Sie einen Drink, Captain?« fragte Onkel Am. »Könnte nicht schaden bei dem Wetter.« Wir gingen ins Schlafzelt, und Onkel Am holte eine Flasche und drei Aluminiumbecher hervor. Mir gab er nur einen kleinen, und ich war ihm dankbar dafür. Nach dem ersten Schluck sagte Weiß: »Er hat seinen Zeitungsstand vor seiner Abreise verkauft. Für zweihundert Dollar. Also hatte er nicht vor, nach seiner Rückkehr wieder Zeitungen zu verkaufen. Aber er hatte die Absicht zurückzukehren. Er hat sein Zimmer zwei Wochen im voraus bezahlt. Das heißt, daß er innerhalb dieser Frist wieder in Cincinnati sein wollte. Er hat angedeutet, daß er nach seiner Rückkehr mehr Geld haben würde, als er je zuvor besessen hatte. Woher dieser Segen kommen sollte, hat er allerdings nicht verraten.« »Die Kollegen in Cincinnati haben Ihnen viel Arbeit abgenommen«, sagte Onkel Am. »Nicht ganz«, sagte Weiß. »Ich habe sie gestern telefonisch ausgefragt. Sie heißt Mrs. Czerwinski.« Onkel Am grinste, und ich wußte nicht, warum. »Noch einen kleinen, Captain?« »Nein, danke. Ich muß noch fahren. Sagen Sie, Ed, haben Sie nicht Lust mitzukommen? Bei dem Regen ist hier doch sowieso nichts los.« 89
Ich schüttelte den Kopf. »Nett von Ihnen, Captain, aber ich habe schon was anderes vor.« »Na gut, Ed. Also halten Sie die Ohren offen.« »Mach ich«, sagte ich. Nachdem er gegangen war, fragte ich mich, warum ich eigentlich nicht mitgefahren war. Als ich abends ins Küchenzelt ging, sah ich Charly Wheeler, den Ausschreier der »Lebende-BilderSchau«, und setzte mich neben ihn. »Was von Rita gehört?« fragte ich betont gleichgültig. Er schüttelte den Kopf. »Wieso denn? Die kommt nicht mehr zurück.« »Woher weißt du das?« »Ist nur eine Vermutung. Aber du wirst sehen, daß ich recht habe. Hör mal, Ed.« »Ich höre.« »Ich meine es gut mit dir. Vergiß sie. Sie ist hinter Geld her. Und soviel Geld, wie die sucht, wirst du nie haben. Aber ich habe bald was anderes für dich. In einer Woche kriegen wir eine tätowierte Lady für unsere Show. Das wäre doch mal was Neues. Du läßt das Licht brennen, und wenn du nicht einschlafen kannst, siehst du dir die hübschen Bilder auf ihrer Haut an.« 90
»Mach ich, Charlie«, sagte ich. »Ganz bestimmt.« Am nächsten Tag regnete es immer noch. Onkel Am schickte mich in die Stadt, und ich sah mir drei Filme hintereinander an. Donnerstag hörte es auf zu regnen, aber das Geschäft ging immer noch sehr schlecht. Und am Abend nieselte es wieder, Es hatte gar keinen Zweck, erst aufzumachen. Ich übte ein bißchen auf der Posaune, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. »Mein Gott, Junge«, stöhnte Onkel Am nach einer Weile. »Ich weiß.« Ich legte die Posaune weg. »Es klingt heute verdammt schräg.« »Ich spreche nicht von der Posaune, sondern von dir. Was ist eigentlich los? Oder willst du nicht darüber reden?« »Lieber nicht.« Er wußte genau, was los war. Es hatte keinen Sinn, ihn anzulügen, aber ich war zu erledigt, um ihm die Wahrheit zu sagen. »Hat doch keinen Sinn, Trübsal zu blasen, Junge«, sagte Onkel Am. »Ich habe eine Idee. Du ziehst dir jetzt deinen guten Anzug an, ich gebe dir zwanzig Dollar, und davon betrinkst du dich, bis du alles vergessen hast. In Ordnung?« 91
»Das hat auch keinen Zweck.« Onkel Am seufzte. »Das habe ich befürchtet. Ich hoffte, mit zwanzig Dollar davonzukommen. Na gut, hier hast du hundert. Wird das reichen?« Er schob mir zwei Fünfziger hin. »Reichen wofür?« »Das weißt du doch ganz genau. Stell fest, was wirklich los ist, damit du die Sache hinter dich bringst, so oder so. Wenn du dich beeilst, kannst du den Abendzug noch erwischen.« »Du meinst, ich sollte — ich sollte nach Indianapolis fahren?« »Nein, zum Mond, verdammt noch mal! Die Rakete startet am Nordpol!« Er stand auf, ging hinaus und ließ das Geld neben mir auf dem Bett liegen. Ich sah es eine Weile an, dann steckte ich es in meine Brieftasche und zog mich um. Zuerst ließ ich mir Zeit dabei, aber dann hatte ich es plötzlich verdammt eilig, weil ich nicht wußte, wann der Zug ging, und ich hatte Angst, ihn zu verpassen. Dann fiel mir noch ein, daß ich vielleicht ein paar Tage wegbleiben würde. Ich wußte ja nicht, wie sich alles entwickeln würde. Also warf ich ein paar Hemden und Unterwäsche in einen kleinen Koffer. 92
Onkel Am war sicher im Spielzelt und erwartete nicht, daß ich mich von ihm verabschiedete. Also schrieb ich auf einen Zettel: Danke. Ich melde mich. Ich legte ihn auf sein Kopfkissen. Ich erwischte ein Taxi und fuhr zum Bahnhof. Und dort stellte ich fest, daß ich fast zwei Stunden auf den Zug nach Indianapolis warten mußte. Während der Fahrt überlegte ich mir, daß es drei Möglichkeiten gab, Ritas Adresse ausfindig zu machen: über die Krankenhäuser, die Zeitungen oder die Polizei. Falls es am Freitag wirklich einen Unfall gegeben hatte, bei dem ihr Vater verletzt worden war. Es war fast ein Uhr morgens, als ich in Indianapolis eintraf. Der Zeitungsstand auf dem Bahnhof war zwar noch geöffnet, aber sie hatten kein Exemplar vom vergangenen Wochenende mehr. Ich wechselte einen Dollar in Kleingeld um und trat in eine Telefonzelle. Ein Howard Weiman stand nicht im Telefonbuch. Hatte ich auch nicht erwartet. Wenn Weiman wirklich so verkommen war, wie Hoagy ihn mir geschildert hatte, besaß er weder eine eigene Wohnung noch ein Telefon. Wahrscheinlich hatte er in irgendwelchen Absteigen gehaust. Es gab fast zwanzig Krankenhäuser in der Stadt.
Aber ich wollte wenigstens etwas tun, bevor ich mir ein
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Zimmer suchte. Also rief ich als erstes das Unfallkrankenhaus an. Das war die beste Chance, ihn zu finden. »Nein, einen Weiman haben wir nicht hier«, sagte das Mädchen in der Aufnahme. »Vielleicht ist er schon entlassen worden«, sagte ich schnell, bevor sie aufhängen konnte. »Er ist letzten Freitag eingeliefert worden, nach einem Unfall. Könnten Sie nicht bitte nachprüfen . . .« »Einen Augenblick.« Ich hielt den Hörer ans Ohr, bis ich ihre Stimme wieder hörte: »Ja, ein Howard Weiman ist am Freitag eingeliefert worden. Am Sonntag ist er in eine Privatklinik in Pinelawn verlegt worden.« »Danke«, sagte ich. »Das heißt also, daß irgend jemand die Privatklinik für ihn bezahlt hat, nicht wahr?« »Ja, natürlich.« »Wissen Sie vielleicht auch, ob es seine Tochter war?« Und als sie mit der Antwort zögerte, fügte ich schnell hinzu: »Ich bin ein Freund der Familie, von außerhalb. Und ich weiß nicht, wie ich mich sonst mit ihnen in Verbindung setzen kann.« Das schien ihr glaubhaft genug zu sein. »Nach 94
unseren Unterlagen wurde die Oberweisung von einer Miß Rita Weiman veranlaßt. Ich weiß allerdings nicht, ob das seine Tochter . . .« »Danke«, sagte ich. »Vielen Dank.« Ich warf ein neues Geldstück in den Apparat und wählte die Nummer vom Pinelawnd Hospital. Weimans Zustand, wurde mir gesagt, sei »nicht schlecht«. Und das war alles, was ich erfahren konnte. Die Besuchszeit war zwischen zwei und vier Uhr nachmittags. Falls sie Ritas Adresse kannten, behielten sie sie für sich. Aber alles in allem war das nicht schlecht für zwei Anrufe um zwei Uhr morgens. Ich beschloß, alles Weitere morgen zu erledigen. Ich war sicher, daß ich Rita treffen würde, wenn ich mich morgen zur Besuchszeit in der Klinik einfinden würde. Falls sie wirklich nur wegen ihres Vaters hier war, würde sie ihn bestimmt jeden Tag besuchen. Ich nahm mir ein Zimmer in einer kleinen Absteige gegenüber dem Bahnhof und kroch in die Falle. Nach dem Frühstück ging ich zur Redaktion der Lokalzeitung und suchte mir die Nummer vom letzten Sonntag heraus. Ich ging sie sorgfältig durch und fand schließlich den Artikel, den ich suchte. Es war eine kurze Notiz auf der Lokalseite: 95
VON LASTWAGEN ÜBERFAHREN Howard Weiman, 53, wohnhaft Euory Street 430, wurde am Freitag um 8 Uhr abends an der Kreuzung Emory und Blaine Street von einem Lastwagen angefahren und schwer verletzt. Er wurde sofort ins Unfallkrankenhaus gebracht. Der Fahrer des Lastwagens wurde nicht festgenommen. Ich nahm mir ein Taxi und fuhr zur Emory Street 430. Es war ein altes billiges Mietshaus in einem alten billigen Mietshausviertel. Ein fast unleserliches Pappschild Zimmer zu vermieten hing im Parterrefenster. Ich klopfte an die Parterrewohnung, und eine Frau, die genauso aussah wie das Haus, öffnete. »Ich habe gehört, daß Mr. Weiman überfahren worden ist«, sagte ich. »Wissen Sie vielleicht, wie es ihm geht?« »Ganz gut«, sagte sie. »Für eine Weile stand er ziemlich auf der Kippe. Aber ich glaube, er schafft es noch mal. Sagen Sie den Leuten, daß er zurückkommt. Aber wann, das wissen die Götter.« »Welchen Leuten?« »Von der Baufirma natürlich. Sie sind doch von der Firma, bei der er arbeitet, oder?« »Nein. Ich bin nur ein Freund.« 96
»So sehen Sie aber gar nicht aus«, sagte sie und sah mich mißtrauisch an. »Genauer gesagt, ein Freund seiner Tochter«, verbesserte ich mich. Das nahm sie mir ab. »Sonntag war sie hier. Hat sein Zimmer für eine Weile im voraus bezahlt, damit er ein Zuhause hat, wenn er wieder 'rauskommt. Nettes Mädchen, die Tochter.« Sie schien Zutrauen zu mir gefaßt zu haben. »Kommen Sie doch kurz 'rein.« »Danke.« Ich folgte ihr in ein unordentliches Zimmer mit einem ungemachten Bett, einem Ausguß, der mit dreckigem Geschirr gefüllt war, und einem Tisch mit einer schmuddeligen Wachstuchdecke. Sie watschelte zu einem Stuhl und setzte sich. Ich blieb lieber stehen. Die Stühle sahen so aus, als ob man sich anstecken könnte. »Wissen Sie zufällig, wo Rita wohnt?« fragte ich. »Nein. Sie sagte nur was von einem Hotel. Ich weiß nicht, welches. Aber Sie erreichen sie bestimmt über die Klinik, in der ihr Vater liegt.« »Danke«, sagte ich. »Vielen Dank.« Damit war ich genauso schlau wie vor meinem Besuch. Pinelawn war eine kleine saubere Privatklinik. Trotzdem wunderte ich mich, wie sie zu dem Namen 97
gekommen war. Es stand keine einzige Pinie auf dem Rasen, weil es auch keinen Rasen gab. Das dreistöckige Gebäude stand direkt an der asphaltierten Straße. Ich stellte mich gegenüber dem Eingang in eine Türnische und wartete. Bis drei Uhr wollte ich auf Rita warten. Wenn sie bis zu dieser Zeit nicht aufgetaucht war, wollte ich versuchen, unter irgendeinem Vorwand selbst zu Weiman vorgelassen zu werden. Aber das war nicht nötig. Kurz nach zwei hielt ein Taxi am Straßenrand, und Rita stieg aus. Während sie den Fahrer bezahlte, überquerte ich die Straße, und als sie sich umwandte, stand ich vor ihr. »Hallo, Rita«, sagte ich. Falls sie überrascht war, zeigte sie es nicht. »Hallo, Ed«, sagte sie so gelassen, als ob wir hier verabredet gewesen wären. »Wie geht es deinem Vater?« »Nicht sehr gut, Eddie. Er hat auch innere Verletzungen. Das haben sie jetzt erst festgestellt. Gestern ist er operiert worden. Sie hoffen, daß die Operation Erfolg haben wird, aber sicher sind sie nicht.« »Tut mir leid, Rita .. .« 98
»Komm, Eddie, wir erkundigen uns, wie es ihm heute geht.« Sie nahm meinen Arm, und wir stiegen die Freitreppe hinauf zur Anmeldung. Ich wartete, während sie mit einer Schwester sprach. Eine Minute später kam sie wieder zu mir und sagte: »Es geht ihm etwas besser. Er schläft jetzt, und der Arzt hat für heute alle Besuche verboten. Also gehen wir.« Sie nahm wieder meinen Arm. Wir nahmen ein Taxi. Als der Wagen anfuhr, legte ich meinen Arm um sie. »Warum bist du gekommen, Ed?« fragte sie mich. »Das weißt du doch ganz genau.« »Ja. Es wäre besser, wenn du mich vergessen würdest.« Ich lachte. »Das gibt mir wieder Hoffnung, Rita. Liebst du mich?« »Was ist Liebe?« »Was ich für dich empfinde, zum Beispiel.« Sie lehnte sich zurück und sah mich an. »Du willst wahrscheinlich nur mit mir schlafen, wie alle andern.« »Das auch«, gab ich zu. »Du hast mir sehr gefehlt, Rita.« 99
»Du mir auch, verdammt noch mal! Aber ich will dich nicht lieben, hörst du! Ich will Geld, und zwar eine ganze Menge. Und das hast du nicht. Und das wirst du auch nie haben. Du bist ein zu netter Kerl...« »Du meinst, ein netter Kerl kann nicht zu Geld kommen?« Sie nahm das ernst. »Nein, Eddie. Oder kannst du dich dir als Millionär vorstellen?« »Nein«, gab ich ehrlich zu. »Du hast recht, ich bin nicht der Typ, der reich wird. Ich wüßte nicht mal, was ich mit einer Million anfangen sollte. Und du?« »Ich?« Sie lachte. »Ich würde eine Villa kaufen, Kleider, Juwelen, Pelze . . .« »Könnte ich dann auch in deiner Villa wohnen?« »Mein Mann hätte wahrscheinlich was dagegen. Aber ich könnte dir irgendwo in der Nähe eine Wohnung mieten, und zwei- oder dreimal die Woche . . .« »Mindestens achtmal pro Woche«, sagte ich. »Jeden Tag einmal und sonntags zweimal.« »Wenn mein Mann das erlaubt. Du glaubst mir wohl nicht, daß ich es ernst meine, Eddie?« »Wenn es so ist, dann mach den Mund zu.« 100
»Warum tust du es nicht für mich?« Ich tat es. Ich schloß ihr den Mund, und sehr gründlich. Ich fühlte den Kuß bis in die Zehenspitzen. Ich hatte so was noch nie erlebt. Als ich wieder Luft bekam, fühlte ich mich schwindlig. Das Taxi hielt vor Ritas Hotel. Rita führte mich durch die Halle zum Grill Room, und wir setzten uns in eine Nische. »Hungrig, Eddie?« »Nicht auf Essen.« »Benimm dich. Die Kellnerin kommt. Und ich habe Hunger.« Sie bestellte ein Lunch. Ich beschied mich mit einem Kaffee. Als die Kellnerin wieder gegangen war, sah mich Rita strafend an. »Warum bist du damals in die Vorstellung gekommen, Eddie?« »Ich weiß, daß das dumm war«, gab ich zu. »Aber ich — ich hatte ziemlich viel getrunken, und mir war alles egal. Erst als ich drin war und dich auf der Bühne sah ... Ach, was soll's? Ich war eben völlig durcheinander, und du hast mir ja auch eine geschmiert dafür.« »Na gut, Eddie. Vergessen wir's. Aber tu das nicht 101
wieder, hörst du. Ob ich nun wieder zurückkomme
oder nicht.« Sie lächelte. »Besonders, wenn diese
Estelle dabei ist. Die ist wild auf dich. Hat sie es noch
nicht bei dir versucht?«
»Nein«, sagte ich.
»Das kommt noch. Also ...«
»Aber du kommst doch zurück, Rita, oder?«
»Ich weiß nicht recht. Ich kann diese ›LebendeBilder-Schau‹ nicht leiden.« »Ich auch nicht. Ich meine, mir gefällt es nicht, daß du dabei bist. Kannst du nicht irgend etwas anderes machen?« »Was denn? Striptease vielleicht?« »Verdammt noch mal, du weißt genau, was ich meine.« »Natürlich weiß ich, was du meinst. Aber das kannst du dir ruhig aus dem Kopf schlagen. Ich bin nun mal nur für eine Show oder zum Tanzen zu gebrauchen.
Hübsche Verpackung, aber kein Hirn.«
»Wieviel sind zwei und zwei.«
»Fünf. Siehst du, was ich meine?«
»Na gut. Ich geb's auf.«
Die Kellnerin brachte Ritas Lunch und meinen 102
Kaffee. Ich sah Rita beim Essen zu, und selbst beim Essen war sie schön. Ich war der glücklichste Mensch auf der Welt. Vielleicht. Ich hatte nur Angst davor zu erfahren, was mein Glück wirklich wert war. Wir sprachen nicht, bis sie mit dem Essen fertig war. »So, und jetzt bringe ich dich zum Bahnhof, Eddie«, sagte sie dann. »Du mußt zurückfahren.« »Zurückfahren? Aber ich bin doch eben erst angekommen. Ich kann ohne weiteres eine Woche dableiben. Ich will eine Woche dableiben, oder auch länger, bis dein Vater außer Gefahr ist. Und dann fahren wir zusammen zurück.« »Nein, Eddie. Du mußt zurückfahren. Es wäre schön, wenn du bleiben könntest, aber das geht nicht. Solange Vater in Lebensgefahr schwebt... Das wäre sehr taktlos, Eddie.« »Wir könnten ja ... Ich meine, wenn wir ganz brav sein würden ... « »Das können wir eben nicht, Eddie. Genausowenig, wie Pulver und Feuer brav sein können.« Ich wußte, daß sie recht hatte, aber ich wollte immer noch nicht aufgeben. Sie beugte sich über den Tisch und verschloß meine 103
Lippen mit ihrem Finger. »Mach es mir nicht so schwer, Eddie. Ich verspreche dir auch, daß ich zum Jahrmarkt zurückkomme. Sobald ich kann. Und dann ...« Ich küßte die Innenfläche ihrer Hand. »Gut«, sagte ich. Sie brachte mich zum Bahnhof. Der Zug nach South Bend ging in ein paar Minuten. An der Sperre küßte ich sie. Es war das drittemal, daß ich sie küßte. Und es war der schönste Kuß. Sie löste sich ein wenig aus meinen Armen und lehnte sich zurück. »Verdammt, Eddie. Hast du wirklich keine Million?« »Ich werde es versuchen.« Ich hatte wohl vergessen, den Lippenstift abzuwischen. Ein paar Stunden später, kurz bevor wir South Bend erreichten, ging ich in den Waschraum, um mir die Hände zu waschen. Ich entdeckte den Lippenstift und das dämliche Grinsen auf meinem Gesicht, und ich fragte mich, ob ich auch das seit Indianapolis draufgelassen hatte.
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6
Am Sonntagabend, nachdem alle Besucher gegangen waren, bauten wir die Bude wieder ab. Gegen vier Uhr morgens brach die Wagenkolonne auf, und schon am nächsten Vormittag waren wir in Fort Wayne. Wie bei allen kurzen Strecken fuhren Onkel Am und ich auch diesmal mit dem Lastwagen. Gleich nach der Ankunft bauten wir alles wieder auf, obwohl wir erst am Abend eröffnen wollten. Aber so konnten wir in Ruhe durchschlafen. Das Abendgeschäft war nicht schlecht. Und in dieser Nacht geschah der zweite Mord. Wenn man es Mord nennen kann ... Das Opfer war Susie, Hoagys Schimpansin. Gegen zwei Uhr nachts, eine Stunde nach Schluß, saßen wir in Careys Wohnwagen. Außer Onkel Am und mir waren noch Estelle, der Liliputaner Moto und Lee Carey anwesend. Carey legte ein paar Platten auf und stellte eine Flasche Whisky auf den Tisch. Wir tranken alle etwas, aber niemand trank zuviel. Onkel Am und Carey begannen über Politik zu diskutieren. Soweit ich folgen konnte, war Carey für Politik, und Onkel Am war dagegen. Es war etwas 105
albern, aber ich hörte amüsiert zu. Nur Estelle sah gelangweilt aus. Der Liliputaner Moto saß auf dem Bett und starrte stumm vor sich hin. Er sah aus wie eine etwas zu groß geratene Puppe. Und dann stürzte Marge herein und schrie: »Susie ist verschwunden!« »Verdammt!« sagte Carey. »Ausgebrochen?« Unmöglich, dachte ich. Das Tier war doch todkrank. Hoagy hatte jeden Tag mit seinem Tod gerechnet. Als ich es gesehen hatte, war es kaum fähig gewesen, sich zu bewegen. Und nun sollte es ausgebrochen sein? Marge nickte. »Um zehn Uhr, als Hoagy von Milwaukee zurückkam, war sie noch da. Wir sind ein paar Minuten weggegangen, Hoagy und ich, und als wir zurückkamen ...« »Wo ist Hoagy?« fragte Onkel Am. »Er sucht sie. Ich sah bei euch noch Licht, und da dachte ich...« »Klar«, sagte Carey, »wir helfen euch suchen. Willst du vorher noch einen Drink, Marge?« »Danke, Lee.« Sie ging wieder hinaus, und wir folgten ihr. Alle, außer Moto, dem Liliputaner. Ich sah ihn an, als wir hinausgingen. Er saß immer noch auf der Bettkante, aber er war in sich zusammengekrochen, als ob er vor irgend etwas Angst hätte. Tödliche Angst. 106
»Was ist los, Moto?« fragte ich ihn. »Kommst du nicht mit?« Er blickte mich an, aber er antwortete nicht. Er schien mich überhaupt nicht zu sehen. »Beeil dich, Ed«, rief Onkel Am von draußen. Ich ging hinaus und schloß die Tür hinter mir. Bevor ich die anderen erreicht hatte, hörte ich hastige Schritte aus dem Wohnwagen, und dann wurde von innen der Riegel vorgeschoben. Moto hatte sich eingeschlossen. Onkel Am blickte auf die verschlossene Tür. »Was hat der kleine Kerl eigentlich?« »Angst«, sagte ich und wandte mich an Lee. »Wieviel hat er getrunken?« »Zwei«, sagte Carey. »Nur zwei.« »Na ja, er ist eben ziemlich klein. Den werfen zwei Drinks vielleicht schon um.« Carey schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe schon selbst gesehen, wie er sieben oder acht Whiskys hinter die Binde gegossen hat und stocknüchtern blieb.« Er zuckte die Schultern. »Kümmern wir uns erst mal um den Schimpansen.« Estelle und Marge waren schon im großen Zirkuszelt verschwunden. Irgend jemand, wahrscheinlich Hoagy, hatte dort bereits Licht eingeschaltet. 107
Hoagy kam uns in der Mitte der Manege entgegen. Er hatte eine Taschenlampe in der Hand. »Hier ist sie nicht«, sagte er. »Ich habe unter der Bühne und unter allen Bänken nachgesehen. Sie wird sich wahrscheinlich irgendwo verkrochen haben.« »Wie ist sie eigentlich 'rausgekommen?« fragte Onkel Am. »Sie hat den Riegel zerbrochen. Verdammt, ich hätte nie geglaubt, daß sie die Kraft dazu hat.« »Dabei hast du mir immer erzählt, was für eine Kraft ein Schimpanse hat«, sagte Marge. »Und dann hast du . ..« »Laß das, Marge«, unterbrach sie Onkel Am. »Schimpfen kannst du später. Zuerst müssen wir mal den Schimpansen finden. Glaubst du, daß er weit gelaufen ist, Hoagy?« »Nein. Ich glaube, er hat sich hier irgendwo verkrochen. Kranke Tiere suchen sich immer ein Versteck.« »Vielleicht ist er in den Wald gelaufen«, meinte Marge.
Onkel Am schien das Kommando übernommen zu haben. »Wir müssen etwas System in die Sache bringen«, sagte er. »Möglich, daß Susie in den Wald gelaufen ist, aber da finden wir sie bestimmt nicht in 108
der Dunkelheit. Vielleicht ist sie auf einen Baum geklettert, und dann ... Also, das könnten wir erst feststellen, wenn es wieder hell ist. Außerdem ist sie bestimmt hier irgendwo auf dem Platz. Wie krank war sie eigentlich, Hoagy?« »Ich bin ein paar Tage fort gewesen«, sagte Hoagy. »Aber als ich sie das letztemal sah, konnte sie sich kaum aufrichten. Verdammt, ich war drauf und dran, ihr eine Chloroformspritze zu geben, um sie von dem Elend zu erlösen. Aber Marge ...« »Und habe ich nicht recht gehabt?« sagte Marge. »Heute nachmittag hat sie sich aufgesetzt und sogar ein paar Bananen gefressen.« »Gut«, sagte Onkel Am. »Zehn zu eins, daß sie noch hier auf dem Platz ist.« Er teilte unseren Standplatz in sieben Sektoren ein und wies jedem von uns einen Sektor zu. »Holt euch zuerst Taschenlampen«, sagte er. »Und wenn ihr eure Sektoren abgesucht habt, treffen wir uns wieder bei meiner Bude. Aber sucht gründlich, vor allem unter Bühnen und Wagen. Und seht auch nach oben. Affen können gut klettern.« Als die anderen gegangen waren, rief er Hoagy zurück, und ich blieb auch bei ihm. »Hoagy, du solltest die Polizei benachrichtigen«, sagte er. 109
»Die Polizei?« »Ja, die Polizei. Das ist die einzig richtige Vorsichtsmaßnahme. Für dich, für den Jahrmarkt, und auch für den Schimpansen. Du willst doch nicht, daß irgendein Bulle sie abknallt, wenn sie wirklich weggelaufen ist und irgendwo draußen entdeckt wird.« »Natürlich nicht. Du hast recht. Wenn sie gesund genug ist, um auszubrechen ...« »Also mußt du die Polizei benachrichtigen. Sag ihnen, daß sie zahm und ungefährlich ist, und außerdem krank, und daß sie dich benachrichtigen sollen, wenn sie irgendwo auftaucht, anstatt einfach loszuballern. Und dann noch eins. Wenn sie nicht so krank ist, wie du glaubst, und irgendwelchen Schaden anrichtet . . .« »Quatsch. Susie ist zahm wie ein Kaninchen.« »Gut, gut. Aber Tiere greifen auch manchmal aus reiner Angst an. Oder vielleicht steigt sie irgendwo ein, und eine alte Jungfer kriegt vor Angst einen Herzschlag, oder sonst irgendwas. Schon zu deinem eigenen Schutz hättest du die Polizei benachrichtigen sollen, als du gemerkt hast, daß sie verschwunden war.« Hoagy seufzte. »Du hast ja recht, Am«, gab er zu. 110
Aber es war mir klar, daß ihm der Gedanke überhaupt nicht gefiel. »Aber ich möchte jetzt nicht weggehen. Wenn Susie gefunden wird, muß ich hier sein. Ich komme am besten mit ihr zurecht. Könntest du nicht anrufen, Am?« »Könnte ich das nicht übernehmen?« fragte ich. »Das wäre nett von dir.« Hoagy zog seine Wagenschlüssel aus der Tasche und reichte sie mir. »Fahr los«, sagte Onkel Am. »Ich finde schon jemanden, der deinen Sektor übernimmt.« Ich nahm Hoagys Wagen und fuhr in die Richtung der Stadt, bis ich eine Telefonzelle entdeckte. Der Polizist, mit dem ich sprach, fuhr fast aus der Wäsche vor Aufregung. Ich glaube, er hielt Susie für einen Gorilla, eine Art King Kong, der plötzlich auf die schlafende Gemeinde von Fort Wayne losgelassen worden war. Aber ich konnte ihn schließlich beruhigen, und er versprach, die Streifen in dieser Gegend zu benachrichtigen. Er wollte auch zwei Streifenwagen zu uns herüberschicken, aber diesen Unsinn konnte ich ihm wieder ausreden. Als ich zurückkam, war die Suche noch in vollem Gange. Die Lichter am Mittelweg waren eingeschaltet, und auch die meisten Zelte waren beleuchtet. Immer 111
mehr von den Schaustellern schlössen sich bei der Suche an. Ich sah mich nach Onkel Am um, konnte mich aber nicht erinnern, welchen Sektor er übernommen hatte. Ich setzte mich auf die Theke der Limonadenbude und versuchte nachzudenken. Vielleicht fiel mir etwas ein, was alle anderen übersehen hatten. Kurz bevor der geniale Einfall kam, sagte jemand: »Hallo, Eddie.« Es war Estelle. »Kein Glück gehabt?« »Doch. Im Umkleidezelt und in unserem Vorführzelt habe ich keinen Schimpansen entdecken können. Gott sei Dank. Ich hätte vor Angst einen hysterischen Anfall bekommen.« »Schäm dich. Ein großes Mädchen wie du hat Angst vor einem kleinen Affen.« »Wenn du bei mir wärst, hätte ich keine Angst, bestimmt nicht. Wie groß ist diese Susie eigentlich? Hast du sie schon mal gesehen?« »Ja. Ein paarmal. Mir ist gerade eingefallen, wo wir sie noch suchen können. Kommst du mit?« Ich ließ mich von der Theke auf den Boden gleiten, und sie ging neben mir den Mittelweg entlang. »Wo willst du sie suchen, Eddie?« 112
»An dem Ort, an den keiner gedacht hat. In Hoagys Wohnwagen.« »Was?« »Ich wette, als Hoagy und Marge entdeckten, daß Susie aus dem Käfig ausgebrochen war, sind sie sofort aus dem Wagen gestürzt und haben zu suchen begonnen, ohne sich zuerst im Wohnwagen umzusehen. Vielleicht hat sie sich in irgendeinem Schrank verkrochen, oder unter dem Bett.« »Mein Gott«, sagte Estelle ehrfürchtig. »Du bist wirklich ein kluger Junge.« Wir gingen zwischen Zelten und Buden hindurch zu Hoagys Wohnwagen. Ich hielt Estelle am Arm fest, damit sie nicht über die Spannseile fiel. Und dann erst fiel mir ein, daß sie eine Taschenlampe bei sich hatte. Ich erinnerte sie daran, und sie schaltete sie ein. Ich glaube, daß sie dabei amüsiert kicherte, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Ich drückte die Türklinke des Wohnwagens herunter, und sie gab sofort nach. Das heißt, die Tür ging schon auf, bevor ich die Klinke heruntergedrückt hatte. Weil die Klinke halb herausgerissen war. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Türfutter. Es war ebenfalls herausgesplittert. 113
»Schade. Da habe ich danebengedacht. Der Affe ist doch ausgebrochen, sogar aus dem Wohnwagen.« Schloß und Türfutter waren nicht sehr solide, stellte ich fest. Man brauchte nicht viel Kraft, um die Tür zu sprengen. Ich fragte mich, ob der Riegel an Hoagys selbstgebautem Käfig auch so wenig widerstandsfähig gewesen war. Wir traten ein und schalteten das Licht an. Der Käfig am anderen Ende des Wohnwagens lag auch jetzt noch im Dunkeln. Hoagy hatte die Lampe so abgeschirmt, daß sie das kranke Tier nicht stören konnte. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in den Käfig. Der Riegel war an der Außenseite der Gittertür. Er war nicht zerbrochen, und auch das Vorhängeschloß war völlig intakt. Die Schimpansin hatte die Schrauben aus dem Holzrahmen gerissen. Zwei davon hingen noch in dem abgerissenen Riegel. Die anderen waren zu Boden gefallen. Es waren ziemlich lange Schrauben, und das Holz wirkte sehr stabil. Man mußte ziemlich viel Kraft aufwenden, überlegte ich, um den Riegel sozusagen mit den Wurzeln 'rauszureißen. Selbst ein kräftiger Mann würde das nicht schaffen. Es war ein bißchen unheimlich, sich vorzustellen, wieviel brutale Kraft in so einem Schimpansen steckte. Und zu wissen, daß dieser 114
Schimpanse, zahm oder nicht, sich jetzt irgendwo draußen im Dunkeln herumtrieb. Estelle beugte sich über mich, und ich spürte ihren Atem im Nacken. »Hast du irgend etwas entdeckt, Eddie?« Ich schüttelte den Kopf. Ich öffnete die Tür und trat in den Käfig. Sie hatten ihn sehr saubergehalten. Frisches Stroh lag auf dem Boden. Der einzige Abfall waren zwei Bananenschalen. Der Käfig, um es genau zu sagen, war eigentlich gar kein Käfig. Es war nur eine Front von Latten, die von einer Seitenwand des Wohnwagens zur anderen und vom Boden bis zur Decke reichte. Es war ein kleines Abteil hinten im Wagen. Als ich ihn etwas genauer betrachtete, wurde mir wieder ein wenig leichter. Der Käfig war etwa einen Meter tief. Auch ein durchschnittlich kräftiger Mann konnte den Riegel aus seiner Halterung reißen, wenn er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und mit den Füßen gegen die Tür drückte. Und natürlich konnte das auch ein Affe, wenn er auf die Idee gekommen war, seine Füße zu benutzen. Für einen Affen war es die natürlichste Sache der Welt, mit den Füßen zu arbeiten. Es war also keine übermenschliche Kraft nötig gewesen, um den Käfig zu sprengen. 115
Jemand öffnete die Tür, und dann kam Hoagy herein. »Ich sehe, ihr habt die gleiche Idee gehabt wie ich«, sagte er. »Habt ihr euch schon umgesehen?« »Ja. Aber es war keine gute Idee, Hoagy. Susie ist wirklich ausgebrochen. Auch aus dem Wohnwagen, meine ich.« »Weiß ich. Ich habe nur gehofft, sie wäre vielleicht zurückgekommen. Aus Angst, oder nur so. Sehen wir noch einmal gründlich nach.« Wir durchsuchten zu dritt alle Ecken und Schränke. Wir blickten überall hinein und unter jedes Möbel. Aber Susie fanden wir nicht. Hoagy bot uns Drinks an. Estelle war sofort einverstanden, und da nahm ich auch einen. Während Hoagy einschenkte, ging ich hinaus und sah auch noch unter dem Wohnwagen nach, für alle Fälle. Dann tranken wir unseren Whisky. Ich gab Hoagy seine Wagenschlüssel zurück und zeigte ihm, wie Susi wahrscheinlich aus dem Käfig ausgebrochen war. »Möglich«, sagte er. »Sie ist schlauer, als ich dachte. Darauf wäre ich natürlich nie gekommen. Als ich den Riegel anbrachte, habe ich versucht, ihn von außen herauszureißen. Aber ich habe es nicht geschafft.« Er zuckte die Achseln. »Na, ist ja jetzt auch egal. Kommt, gehen wir zurück zu den anderen.« 116
Mindestens zwei Dutzend Menschen hatten sich an der Suche beteiligt, und niemand hatte eine Spur von Susie gefunden. Wir suchten noch eine halbe Stunde länger, hatten aber auch jetzt kein Glück. Es war jetzt schon nach drei. Hoagy sagte, Susie sei wahrscheinlich doch in den Wald gelaufen. Wir sollten dort weitersuchen, wenn es wieder hell geworden war, und bis dahin etwas schlafen. Es waren nur noch zwei Stunden bis zum Hellwerden, und Onkel Am und ich fanden, daß es wenig Sinn hatte, ins Bett zu gehen. Estelle war ziemlich müde, und Hoagy und Marge fuhren sie in die Stadt zu ihrem Hotel. Onkel Am, Carey und ich gingen zu Careys Wohnwagen zurück. Die Tür war immer noch von innen abgeriegelt. Carey hämmerte mit der Faust gegen das Holz, aber drinnen rührte sich nichts. Selbst als wir alle klopften, blieb es still. Dabei brannte noch das Licht im Wohnwagen. Aber den Liliputaner konnten wir nicht sehen. Ich ging um den Wagen herum zum anderen Fenster. Und jetzt sah ich Moto. Er lag vor dem Bett auf dem Boden. Er lag auf dem Rücken, seine kurzen Arme ausgestreckt. Im ersten Moment dachte ich, er sei tot. 117
Aber dann sah ich, daß er den Kopf hob. Als ob er aufstehen wollte und es nicht schaffte. Ich ging zu den anderen zurück. »Dieser verdammte Idiot«, sagte Carey. »Jetzt müssen wir die Tür einschlagen.« Es war schließlich seine Tür, und so ließen wir ihn gewähren. Der Wohnwagen stank wie eine Schnapsbrennerei. Die Whiskyflasche lag neben Moto auf dem Boden. Onkel Am beugte sich über den Zwerg. Lee riß die Fenster auf. »Er ist nur besoffen«, sagte Onkel Am, hob Moto hoch und legte ihn auf das Bett. »Er hatte vor irgend etwas Angst«, sagte ich. Lee holte eine neue Flasche und ein Kartenspiel, das angeblich nicht gezinkt war. Wir spielten Romme, während wir auf Hoagy und Marge warteten. Und trotz der ungezinkten Karten nahm Carey jedem von uns einen Dollar ab. Es wurde schon hell, als Hoagy und Marge endlich kamen. Hoagy sah müde und zerschlagen aus. Seine Augen waren rotgeädert. Er war ja in Milwaukee gewesen, um unseren nächsten Standplatz zu sichern. Wahrscheinlich hatte er auch 118
schon die vergangene Nacht nicht geschlafen. Wir warteten, bis es wirklich hell geworden war. Dann durchsuchten wir das Waldstück nördlich von unserem Platz. Es gab kaum Unterholz, und die Bäume waren nicht zu dicht belaubt. Daher waren wir nach zwei Stunden ziemlich sicher, daß Susie nicht im Wald steckte. Wir waren alle ziemlich müde geworden, aber wir hatten auch Hunger, und das Küchenzelt war noch geschlossen. Hoagy fuhr uns in ein Restaurant in der Stadt, und wir frühstückten dort. Ich rief noch einmal die Polizei an und erfuhr, daß niemand einen herrenlosen Affen gesehen hatte. Wir fuhren zum Jahrmarkt zurück. Hoagy sagte: »Wahrscheinlich ist sie in die Stadt gelaufen und hat sich irgendwo verkrochen. In einer Garage vielleicht. Aber wir können schließlich nicht die ganze Stadt durchsuchen. Wir können nur warten, bis sich jemand meldet. Trotzdem, vielen Dank für die Hilfe.« »Vielleicht sollten wir jetzt, bei Tageslicht, noch einmal den Standplatz absuchen«, sagte Onkel Am. »Könnte sein, daß wir etwas übersehen haben.« »Wir haben alles getan, was wir tun konnten«, erwiderte Hoagy. »Gehen wir schlafen.« 119
Und auch Carey meinte: »Sie kann unmöglich auf dem Standplatz sein.« Da irrte er sich, aber das erfuhren wir erst am Nachmittag. Wir trennten uns, und ich ging zu unserem Schlafzelt. Ein paar Minuten später kam auch Onkel Am. Wir waren zu müde, um zu reden. Onkel Am schlief sofort ein. Bei mir dauerte es eine Weile. Ich war zu müde, um sofort einschlafen zu können. Ich fragte mich, wo Susie stecken könnte. Aber mir fiel nichts mehr ein. Und dann dachte ich an Moto. Ich fragte mich, warum er solche Angst gehabt hatte. Vielleicht wußte er etwas und hatte wirklich einen Grund zur Angst. Vor zehn Tagen war ein Liliputaner auf unserem Jahrmarkt ermordet worden, und Moto war auch Liliputaner. Vielleicht hatte er deshalb Angst. Wir waren alle fortgegangen und hatten ihn allein zurückgelassen, als er bewußtlos in Careys Wohnwagen lag. Das war nicht gerade sehr kameradschaftlich gewesen. Aber wahrscheinlich war nichts passiert. Sonst hätte Carey schon Alarm geschlagen. Meine Gedanken liefen im Kreis herum, bis ich an Rita dachte. Bald würde sie zurückkommen. Vielleicht heute schon. 120
Und dann schlief ich ein. Es war ein Besucher, der Susie schließlich fand. Auf dem Jahrmarktplatz, den wir alle so gründlich abgesucht hatten. Er fand sie am Nachmittag, als Hochbetrieb war und alle Buden und Zelte und Karussells dem Publikum geöffnet waren, mitten auf dem Platz. Sie trieb tot im Wasser des kleinen Bassins, in das Hilo Peterson, der Todesspringer, jeden Abend, kurz vor Schluß, vom zehn Meter hohen Podest sprang. Der Mann entdeckte Susie, als er auf dem Riesenrad fuhr. Das heißt, er sah irgend etwas im Wasser des Tanks treiben. Er konnte nicht erkennen, was es war, und das machte ihn neugierig. Nachdem die Riesenradfahrt beendet war, ging er zum Tank und schaute über den Rand. So wurde Susie gefunden. Die Nachricht machte schnell die Runde, und als Onkel Am und ich davon erfuhren, schlossen wir sofort unsere Bude und liefen hin. Als wir ankamen, hatten sie Susie schon herausgefischt und in ein Stück Segeltuch gewickelt. Irgend jemand hatte auch Hoagy benachrichtigt, und er war dabei, das tote Tier fortzuschaffen. Onkel Am sagte, wir könnten nun auch nichts mehr 121
tun und sollten uns besser um unseren eigenen Kram kümmern. Und das taten wir dann auch. Während der Abendpause gingen wir noch einmal zum Tank zurück. Sie waren gerade dabei, das Wasser abzulassen. Maury, der Jahrmarkt-Manager, sagte: »Benimmt sich wie eine Primadonna, der Kerl. Er weigert sich, in das Bassin zu springen, weil dort ein toter Affe 'rumgeschwommen ist. Jetzt müssen wir es neu füllen.« Ich ging zur Rampe und blickte in den fast leeren Tank. Ich konnte mir vorstellen, wie es passiert war. Der Tank war etwa zwei Meter hoch. Selbst ein ziemlich großer Mann konnte nicht über den Rand sehen. Deshalb hatte auch niemand Susie entdeckt. Das Wasser war ungefähr eineinhalb Meter tief. Das heißt, der Wasserspiegel lag etwa einen halben Meter unter dem Rand des Tanks. Ich konnte mir vorstellen, was passiert war. Susie war wahrscheinlich gegen ein Uhr nachts ausgebrochen, als schon alles dunkel war. Vielleicht war sie durstig gewesen, hatte das Wasser gewittert und war über die Rampe zum Rand des Wassertanks geklettert. Als sie sich herunterbeugte, um zu saufen, hatte sie das Gleichgewicht verloren und war hineingefallen. Und geschwächt und krank wie sie war, hatte sie nicht mehr die Kraft, um sich hinaufzuziehen. 122
Als ich wieder zu den anderen trat, sagte Maury: »Übrigens, Ed, im Büro liegt ein Brief für dich.« »Hol ihn dir, Junge«, sagte Onkel Am. »Wir treffen uns dann bei Hoagy.«
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Der Brief war von Rita und lautete:
Lieber Ed, Vater geht es schlechter statt besser. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkommen kann. Aber wart auf mich. Du weißt, was ich meine. Rita. Ich ging zu Hoagys Wohnwagen, trat aber nicht ein, sondern rief nach Onkel Am. Als er herauskam, zeigte ich ihm den Brief und sagte: »Ich möchte sie anrufen. Vielleicht...« »In Ordnung, Junge.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Brauchst du Geld, falls du zu ihr fahren willst?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe noch fast nichts von den hundert Dollar ausgegeben, die du mir das letztemal zugesteckt hast. Das reicht jedenfalls, wenn ich nach Indianapolis fahren sollte.« »Marge hat uns zum Essen eingeladen. Willst du vorher anrufen oder später?« »Jetzt gleich. Ich will wissen, was los ist. Wie geht's Hoagy?« »Er ist ziemlich deprimiert. Also lauf schon, Junge. Seh ich dich noch?« 124
Ich sagte ihm, daß ich nicht abreisen würde, ohne mich zu verabschieden, und daß ich immerhin ein paar Sachen brauchte. Falls ich reisen würde. Ich rief Ritas Hotel von einer Kneipe aus an. Sie war nicht auf ihrem Zimmer. Ich bestellte mir was zu essen, und etwas später versuchte ich es noch einmal. Diesmal war sie da. »Hör zu, Rita«, sagte ich. »Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich zu dir kommen?« Und ich wußte im gleichen Augenblick, daß es albern war, das zu fragen. »Bitte nicht, Eddie. Du kennst den Grund. Und du könntest mir nicht helfen.« »Wie geht es ihm?« fragte ich. »Es ist eine Krise, sagen die Ärzte. Entweder schafft er es in zwei, drei Tagen, oder überhaupt nicht.« »Ich wünschte, ich könnte irgend etwas tun.« »Warte auf mich, Ed. Ich komme bestimmt zurück.«
»Das ist schön.« »Ich hasse den Jahrmarkt, Eddie, aber ich komme trotzdem zurück. Deinetwegen. Und — ich habe eine Idee. Für uns beide.« »Ich auch.« »Das meine ich doch nicht. Das heißt, natürlich auch. 125
Aber ich denke an etwas, mit dem man Geld verdienen kann. Und sogar ehrlich.« »Kann man wirklich auf ehrliche Weise Geld verdienen?« »Ja, sicher. Ich erzähl dir alles später. Liebst du mich, Eddie?« »Ein bißchen.« »Ich dich auch ein bißchen. Und wenn du was mit dieser Estelle anfängst, kratze ich ihr die Augen aus.« »Die würde ich nicht mal mit einem Besenstiel anfassen.« »Angeber. Bis bald, Eddie.« »Bis bald, Rita.« Ich fühlte mich plötzlich so stark, daß ich im Laufschritt zum Jahrmarkt zurückspurtete. Nachdem wir abends die Bude geschlossen hatten, ging Onkel Am nicht, wie gewöhnlich, noch kurz ins Spielzelt, sondern kam mit mir ins Schlafzelt. Ich setzte mich auf mein Bett, und er setzte sich auf seins. Ich wußte nicht, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte. Zum Lesen hatte ich keine Lust, und auch sonst... »Du hast lange nicht Posaune gespielt«, sagte Onkel Am. 126
»Ich weiß. Morgen fange ich wieder an.«
»Und heute?«
»Ich weiß nicht. Ich habe eigentlich zu nichts Lust.«
»Müde?«
»Nein.«
»Sag mal, Junge, du bist wirklich in die Blonde
verschossen, oder?« »Sieht so aus.« »Und sie?« »Auch, glaube ich. Falls sie nicht nur hinter meinem Geld her ist.« Onkel Am grinste. »Wann kommt sie zurück?« Ich erzählte ihm von dem Anruf. »Ihr scheint wirklich beide verknallt zu sein.« »Ist das schlimm?« »Es ist dein Leben, Junge«, sagte er. »Ich würde dir nie sagen, was du tun sollst.« »In jedem Fall?« »Junge«, sagte er. »Wenn du mir sagen würdest, daß du Einbrecher werden willst, würde ich dir ein
Brecheisen zum Geburtstag schenken. Es ist dein
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Leben, du mußt es leben. Und was tun wir heute abend?« »Ich weiß nicht.« »Zieh dich um. Wir fahren in die Stadt. Ich habe schon ewig lange keinen Striptease mehr gesehen. Wollen doch mal feststellen, ob es noch immer so komisch ist wie früher.« »Zum Donnerwetter, was ist denn mit dir los, Junge?« fragte Onkel Am eine Stunde später. Wir saßen in einem Nachtklub in Fort Wayne. Die Luft war voller Rauch, die Band machte ordentlich Krach, und wir mußten uns anschreien, um uns verständlich zu machen. »Nichts«, sagte ich. »Gar nichts.« »Dann hör auf, in dein Bier zu flennen. In ein paar Minuten geht es los.« Es ging wirklich los, und es war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich tat so, als ob ich mich amüsierte, um Onkel Am nicht zu enttäuschen. Als es vorbei war und die Tanzerei wieder losging, ließ sich Onkel Am die Rechnung geben. Sie verlangten neuneinhalb Dollar für zwei Sandwiches und drei Biere. Onkel Am zwinkerte mir zu. »Und du glaubst, daß 128
wir auf dem Jahrmarkt den Leuten das Fell über die Ohren ziehen. Von diesen Kneipen können wir noch eine Menge lernen.« Er zahlte, und wir gingen hinaus. Draußen stand ein Taxi, und wir kletterten hinein. »Hören Sie«, sagte Onkel Am zu dem Fahrer, »wo kann man in diesem Nest eigentlich ein Spielchen machen?« Der Fahrer wandte sich um und schob die Mütze ins Genick. »Das Spielen ist hier genauso verboten wie überall in den ...« »Spar dir die Predigt, wir sind vom Jahrmarkt«, sagte Onkel Am. »Ach so. Ich bring euch in den Club Sixty.« Er ließ den Motor an. »Hat dir der Striptease nicht gefallen?« fragte Onkel Am. »War nicht schlecht.« Ich sagte ihm nicht, daß ich immer nur an Rita denken mußte. »Klingt nicht sehr begeistert. Was willst du eigentlich?« Seine Stimme klang ein wenig sarkastisch, aber ich spürte, daß er sich Sorgen machte. Warum benahm ich 129
mich eigentlich wie ein Trottel? Nur weil Rita noch nicht zurück war? Verdammt, ich hatte doch viel mehr Glück, als ich erwarten konnte. Sie würde doch zurückkommen. Und nur meinetwegen. »Entschuldige, Onkel Am«, sagte ich. »Ich bin heute wirklich ziemlich albern.« Und ich suchte nach einem Thema, über das ich mit ihm reden konnte. »Was ist eigentlich mit Captain Weiß? Hat er aufgegeben?« »Der wird sich schon wieder melden. Vielleicht schon morgen.« »Warum morgen?« »Susie.« »Wie bitte? Was hat denn ein Schimpanse mit dem Mord zu tun?«
ertrunkener
Onkel Am zuckte die Achseln. »Vielleicht gar nichts. Aber du kannst dich darauf verlassen, daß die Polizei hier den Jahrmarkt im Auge behält und jedes Ereignis nach Evansville meldet. Und Evansville bedeutet Captain Weiß. Der hat sich inzwischen sicher um den toten Liliputaner gekümmert. Wie hieß er doch gleich?« »Lon Staffold.« »Richtig. Wenn ich mir bloß solche Details besser merken könnte. Ich bin sicher, daß Weiß noch keine 130
Spur gefunden hat, die zu unserem Jahrmarkt führt. Sonst wäre er schon längst wieder aufgekreuzt. Hast du eigentlich deine Augen offengehalten?« »Was meinst du damit?« »Weiß hat dich doch darum gebeten. Hast du ihm irgend etwas zu melden?« »Nein.« Er sah mich aufmerksam an. »Warum sagst du das so ablehnend? Was ist los?« »Mir gefällt es nicht, das ist alles. Ich hasse Denunzianten.« Onkel Am war eine Weile still, und Licht und Schatten huschten über sein Gesicht. Dann sagte er: »Das ist nicht der richtige Standpunkt, Junge. Vielleicht ist es meine Schuld. Ich weiß, alle Jahrmarktleute haben was gegen die Polente. Aber das gilt nur für die Behinderungen und die Auflagen, die sie uns machen. Mord ist was anderes.« Er hatte natürlich recht. Aber ich war heute eben etwas aggressiv. »Warum suchst du dann nicht den Mörder?« fragte ich. »Weil das Sache der Polizei ist«, sagte er geduldig. »Aber es ist unsere Pflicht, Captain Weiß alles zu 131
sagen, was ihm dabei helfen könnte. Wenn ich wüßte, wer der Mörder ist, würde ich es ihm sagen. Und das wäre keine Denunziation. Oder?« »Eigentlich nicht«, sagte ich. Das Taxi hielt vor einem elegant aussehenden Nachtklub. Die Bar war fast leer. Sie war auch nur Staffage. Der glatzköpfige Barkeeper musterte uns ein paar Sekunden lang. Dann öffnete er die Tür, die zum Spielsaal führte. Hier war ein ziemliches Gedränge. Die Leute sahen alle nach Geld aus, und mehr als die Hälfte waren Frauen. Es gab zwei Roulette-Tische, einen BlackjackTisch, einen Pokertisch und einen Würfeltisch. »Was willst du spielen, Ed?« fragte Onkel Am. Ich sagte ihm, daß ich mir den Spaß nur ansehen wollte. Er ging zu einem Ecktisch, wo ein Mann mit dunkler Brille Chips verkaufte. Er gab mir drei blaue und ungefähr zwanzig weiße Chips. »Das sind fünfunddreißig Dollar«, sagte er mir. »Wenn du keine mehr hast, hol dir neue. Ich bin am Pokertisch.« Ich sah eine Zeitlang beim Würfeln zu, setzte aber nichts. Ich spielte zweimal Blackjack für einen weißen Chip, gewann vier Chips und tat dann, was alle 132
Anfänger tun: Ich setzte meinen ganzen Gewinn, und am Ende hatte ich genauso viel wie am Anfang: fünfunddreißig Dollar. Ich schlenderte zu einem der beiden Roulette-Tische. Das Rad hatte, wie ich bemerkte, dreimal die Null, die für den Croupier gewann. Ich spielte ein paarmal rot und schwarz mit einem weißen Chip und beobachtete dabei das Spiel und die anderen Spieler. Ein fetter Glatzkopf im Smoking setzte am meisten. Er hatte überhaupt keine weißen Chips, nur blaue und gelbe. Er setzte nie auf Zahlen, sondern nur auf RotSchwarz, Gerade-Ungerade und so weiter. Die Wasserstoffblonde, die er dabei hatte, machte genau das Gegenteil. Sie setzte Haufen von weißen Chips auf Zahlen, manchmal ein Dutzend gleichzeitig. Ich begann, zwei oder drei weiße Chips auf Farbe zu setzen, manchmal sogar fünf. Ich gewann etwa soviel, wie ich verlor, und allmählich wurde es langweilig. Vielleicht bin ich eben kein Spieler, dachte ich. Sonst würde mich das mehr aufregen. Am liebsten wäre ich zum Pokertisch gegangen und hätte Onkel Am zugesehen. Zum Pokern brauchte man Intelligenz und Nerven. Es war nicht nur Zufall und Glück, wie bei so einem präparierten Rad mit drei Nullen. Dabei fiel mir ein, daß bis jetzt die Null noch nicht 133
gekommen war. Also setzte ich, statt auf eine Farbe, einen Chip auf jede der drei Nullen. Sie kamen nicht, aber ich versuchte es noch einmal. Jetzt wurde ich wenigstens meine Chips schneller los. Ich verlor immer drei bei jedem Spiel. Und dann fing ich an, drei Chips auf jede Null zu setzen. Beim viertenmal gewann ich. Der Croupier schob mir einen Haufen blauer Chips zu, einhundertundfünf Dollar. Ich steckte sie ein und setzte für ein Spiel aus. Ich hatte jetzt einhundertdreizehn Dollar. Ich beschloß, so lange weiterzuspielen, bis ich entweder hundert gewonnen oder dreizehn verloren hatte. Ich setzte zehn Dollar auf schwarz und drei auf ungerade. Die Kugel fiel auf rot und gerade. Ich wechselte die blauen Chips gegen hundert Dollar ein und steckte sie in meine Brieftasche. Dann ging ich zum Pokertisch und sah Onkel Am zu. »Schon pleite, Junge?« fragte er mich. »Willst du mehr haben?« Ich schüttelte den Kopf. »Hundert gewonnen.« »Gut so.« Er wandte sich wieder dem Spiel zu. Der Einsatz war ziemlich hoch. Onkel Am hatte Karo neun, Bube und König in der Hand. Damit konnte er einen Straight oder einen Flush schaffen. 134
Er zog die vierte Karte. Karo drei. Er setzte noch einmal hundert Dollar. Zwei Spieler stiegen aus. Jetzt waren nur noch Onkel Am und der Geber im Spiel. Onkel Am zog die fünfte Karte. Pik Bube. Damit war der Flush geplatzt. Aber er hatte immerhin zwei Buben in der Hand. »Schluß«, sagte Onkel Am und legte die Karten auf den Tisch. »Zwei Buben.« Der andere hatte einen Flush. Onkel Am stand auf. »Ich muß ein bißchen Nachschub holen.« Ich ging mit ihm zum Wechseltisch, und er kaufte noch einmal für zweihundert Dollar Chips. Ich sah, daß er nun nichts mehr in der Brieftasche hatte. »Keine Angst, Ed«, beruhigte er mich. »Zu Hause hab' ich noch was.« Er ging zum Spieltisch zurück, und es dauerte nicht lange, bis er wieder alles verloren hatte. »Den Rest des Abends mußt du jetzt finanzieren, Junge«, sagte er, als er aufstand. »Lädst du mich zu einem Bier ein?« »Klar«, sagte ich und zog meine Brieftasche. Ich wollte ihm die hundert Dollar geben, die ich gewonnen hatte, aber davon wollte er nichts wissen. Doch nach einigem Sträuben nahm er die fünfunddreißig Dollar an, die er mir als Spielgeld geschenkt hatte. 135
Wir gingen an die Bar und tranken ein Bier, und ich fragte mich, wieviel er wohl verloren hatte. Er mußte erraten haben, was ich dachte. »Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte er und kicherte. »Aber du machst mir Sorgen, Junge. Du hast überhaupt kein Talent zum Spielen. Du gewinnst, und dann hörst du auf, bevor du den ganzen Laden ausgenommen hast.« »Mir hat es gereicht«, sagte ich. »Vielleicht hast du recht. Ich bin auch kein richtiger Spieler. Sonst würde ich jetzt zurückgehen und auch noch diese fünfunddreißig Dollar auf den Kopf hauen.« »Und warum tust du es nicht?« Er lachte, und wir gingen zu den Spieltischen zurück. Es dauerte nicht lange, bis er wieder blank war. »Es gibt Tage, an denen man zwei linke Hände hat«, sagte er. Ich bestellte uns noch ein Bier und sagte: »Nachdem das geregelt ist, könnten wir uns wieder über den Mord unterhalten. Ich begreife immer noch nicht, warum Captain Weiß zurückkommen will, nur weil die Schimpansin ertrunken ist.« »Er wird kommen«, sagte Onkel Am. »Darauf kannst du dich verlassen.« »Wie kommst du darauf?« beharrte ich. 136
Onkel Am seufzte und schwenkte das Bier im Glas umher. »Ich habe dir doch erzählt, daß ich mal ein paar Jahre für eine Detektei gearbeitet habe. Erinnerst du dich?« »Ja.« »Natürlich hatten wir keine Mordfälle, darin habe ich also keine Erfahrung. Aber du kannst mir glauben, bei Mord gibt es drei Möglichkeiten: Entweder erwischen sie den Mörder mit der Kanone in der Hand, oder er marschiert ein paar Stunden später auf die Polizeiwache und sagt: »Ich habe eben meine Frau umgebracht.« »Und die dritte Möglichkeit?« »Die kostet dich noch ein Bier.« Ich bestellte ihm eins. »Die dritte Möglichkeit kommt relativ selten vor«, sagte er. »Das sind die Fälle, von denen man in Kriminalmagazinen liest. So wie dieser Mord zum Beispiel, wenn die Polizei den Mörder suchen muß.« »Und?« »Die einzige Chance, ihn zu erwischen, besteht darin, alle möglichen Fakten zusammenzutragen, Tausende von scheinbar völlig unwichtigen Fakten, dann herauszufinden, welche von ihnen nicht unwichtig sind, 137
und die dann so zusammenzusetzen, daß sie den Namen des Mörders ergeben.« Ich dachte nach, und dann nickte ich. »Weiß ist nicht dumm«, sagte Onkel Am. »Und ist es nicht wirklich etwas ungewöhnlich, daß ein Schimpanse im Wassertank ersäuft?« »Kann sein. Aber wie hängt das mit dem Mord an dem Liliputaner zusammen?« Er stellte sein Glas auf den Tisch und malte damit feuchte Kreise. »Wie ist der Liliputaner auf den Jahrmarkt gekommen?« fragte er schließlich. »Warum wurde er ermordet? Und wer hat von seinem Tod einen Vorteil gehabt?« »Ich weiß nicht.« »Wenn du das nicht weißt, wie kannst du dann behaupten, daß kein Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Tod der Schimpansin besteht? Zumindest haben die beiden Ereignisse viel Gemeinsames. Erstens geschahen sie beide auf unserem Jahrmarkt, und zweitens sind sie beide ungewöhnlich.« »Das schon«, gab ich zu. »Trotzdem sehe ich noch keinen Zusammenhang.« »Dazu müßten wir auch noch mehr wissen. Aber das 138
ist die Aufgabe von Weiß, nicht unsere. Was wirst du ihm sagen, wenn er kommt?« Ich steckte mir eine Zigarette an und dachte nach. »Ich werde ihm von Moto erzählen, daß er sich in den Wohnwagen eingeschlossen hat.« »Sehr gut. Und warum?« »Weil Moto ein Liliputaner ist, genau wie das Mordopfer.« »Du hast wirklich Talent zum Detektiv«, sagte Onkel Am. »Hast du nicht Lust dazu?« Ich dachte ernsthaft darüber nach. »Ich weiß nicht recht.« »Na, du hast ja noch Zeit. Aber zurück zu Moto: Für seine Angst gibt es eine ganz logische, simple Erklärung.« »Natürlich. Er hatte Angst vor dem Schimpansen. Für einen Liliputaner muß ein Schimpanse ein riesiges Ungeheuer sein, wie für uns ein Berggorilla.« »Siehst du, Junge. Da hast du gleich eine Aufgabe für morgen: Finde doch mal heraus, ob Moto jetzt, da keine Schimpansen mehr frei herumlaufen, immer noch Angst hat.« »Mach ich«, sagte ich ohne Enthusiasmus. 139
»Hast du sonst noch bemerkt, daß jemand Angst hatte?« »Hm. Rita, in der Mordnacht. Aber das ist ja verständlich. Schließlich ist sie über die Leiche gefallen.« »Natürlich. Das hätte jeder Frau Angst eingejagt. Sonst noch jemand?« »Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich nichts weiter bemerkt.« »Denk an Marge«, sagte Onkel Am. »Seit der Mordnacht hat sie Angst. Ist dir das nie aufgefallen?« Ich schüttelte den Kopf. Dann sagte ich: »Jetzt, nachdem du es mir gesagt hast, finde ich allerdings auch, daß sie sich in letzter Zeit etwas merkwürdig benimmt. Und was ist mit Hoagy?« »Der würde sich nicht mal vor dem Teufel fürchten.« »Bei seiner Figur hätte er kaum Grund dazu«, sagte ich. »Aber Marge .. . Vielleicht hat sie vor Hoagy Angst. Er trinkt in letzter Zeit ziemlich viel.« »Nicht mehr, als er vertragen kann. Nein, das ist es nicht. Hoagy ist weder gewalttätig noch jähzornig, besoffen oder nüchtern. Und außerdem ...« »Was?« 140
»Außerdem würde Marge niemals Angst vor ihm haben. Dazu liebt sie ihn zu sehr. Die würde für ihn quer durch die Hölle marschieren, wenn es sein müßte.« »Übrigens«, fiel mir ein, »was ist eigentlich aus Moto geworden?« »Den hat Carey gleich in ein Taxi gesetzt und in sein Hotel fahren lassen. Er war schon wieder wach, aber immer noch nicht ganz da.« »Dann ist es ja gut«, sagte ich erleichtert. »Noch ein Bier?« Er nickte, und ich trank auch noch eins. Dann fanden wir, daß wir genug hatten, und fuhren nach Hause.
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Der erste Mensch, den ich am nächsten Morgen sah, war Armin Weiß. Während Onkel Am und ich uns anzogen, rief jemand: »Wie, zum Teufel, klopft man an eine Zelttür?« »Man schreit einfach, wie Sie es tun«, antwortete Onkel Am und ließ ihn herein. Weiß setzte sich auf einen der Klappstühle und wollte alles über den Tod des Schimpansen wissen, und wir sagten es ihm. Er hatte bereits mit Hoagy und Marge gesprochen und das Wichtigste erfahren. Aber er wollte von uns möglichst noch Einzelheiten erfahren. Besonders interessierte er sich dafür, wie der Schimpanse aus dem Käfig ausgebrochen war. Ich war froh, daß ich mich darum gekümmert hatte und ihm nun Details mitteilen konnte. Weiß erzählte uns dann, wie weit er bisher gekommen war. In Cincinnati hatte er eine Menge über Lon Staffold erfahren, aber nichts, das den Mord erklären konnte. Er war ziemlich niedergeschlagen und sah kaum noch Hoffnung, den Fall zu klären. »Ein Jahrmarkt ist wirklich das Letzte«, fluchte er. »Bei jedem anderen Mord bleibt zumindest der Tatort unverändert. Aber ich muß hinter einem transportablen Tatort herreisen. Der Mord ist in Evansville passiert, 142
und ein paar Tage später ist der Tatort in South Bend, und mit ihm alles, was damit zusammenhängt, und dann in Fort Wayne, und dann ... Wo geht es eigentlich jetzt hin?« »Milwaukee«, sagte Onkel Am. Weiß stöhnte. »Ein Glück, daß ich wenigstens Kilometergeld kriege.« Er wandte sich an mich. »Haben Sie irgend etwas Besonderes bemerkt?« Ich erzählte ihm von Motos Angst in der Nacht, als Susie verschwunden war. »Könnte etwas zu bedeuten haben«, sagte er. »Aber vielleicht ist es wirklich so, wie Sie vermuten: Er hatte einfach Angst vor dem frei herumlaufenden Affen. Ich habe übrigens auch über ihn Nachforschungen angestellt. Nur weil ein Liliputaner das Mordopfer war, und weil Moto auch Liliputaner ist. Er und Lon Staffold haben nie gemeinsam auf einem Jahrmarkt gearbeitet. Wahrscheinlich haben sie sich nie im Leben getroffen.« Er schob seinen Hut ins Genick. »Ein gottverdammter Fall. Als wenn man eine schwarze Katze in einem dunklen Tunnel suchen müßte.« Erst lehnte er den angebotenen Drink ab, aber dann besann er sich doch und nahm an. 143
»Ich bleibe eine Weile hier in der Stadt«, sagte er dann. »Warum, weiß ich selber nicht. Aber was soll ich sonst tun?« Er nahm noch einen Drink und dann ging er. Das war Mittwochmorgen gewesen. Jetzt war es Mittwochabend, dreizehn Tage nach dem Mord. Eine Nacht, die ich nie vergessen werde, weil in dieser Nacht der dritte Mord geschah. Und weil ich in dieser Nacht einen Geist sah. Die Leute gingen an diesem Abend früh nach Hause. Es gab keinen besonderen Grund dafür. Das kommt manchmal vor. Kurz nach elf waren kaum noch Besucher auf dem Mittelgang, und wir schlössen unsere Bude schon vor Mitternacht. Ich packte meine Posaune aus und übte ein paar Dorsey-Nummern. Aber die waren ziemlich schwierig, und ich hatte bald die Nase voll. Also übte ich Tonleitern und Arpeggien und machte dann Schluß. Onkel Am lag auf seinem Bett und las. Als ich das Instrument einpackte, legte er das Buch weg und sagte: »Gehen wir noch kurz zu Carey.« »Gut«, sagte ich. Wir gingen zu Careys Wohnwagen. Estelle war schon bei ihm, und das Radio lief mit voller Lautstärke. Wir traten ein. Onkel Am stellte den Kasten auf 144
normale Lautstärke. »Seid ihr taub geworden?« fragte er. Carey sagte etwas sehr Unfeines. »Wollt ihr Whisky?« fragte Estelle. Ich sagte: »Nein, danke, jedenfalls jetzt noch nicht.« Aber Onkel Am bediente sich. Die Radiomusik war nicht schlecht. Ich stellte sie wieder etwas lauter und fragte Estelle, ob sie tanzen wolle. Aber sie schüttelte den Kopf. Das war mir auch recht. Ich hatte eigentlich auch keine Lust dazu. Ich setzte mich, und Estelle setzte sich auch, auf meinen Schoß. »Onkel Am, du mußt ein bißchen auf mich aufpassen«, sagte ich. Estelle lachte amüsiert, und Onkel Am grinste amüsiert und wandte sich wieder Carey zu. »Reich mir die Flasche 'rüber«, sagte Estelle. Sie nahm einen Schluck und ich nahm auch einen. Der Whisky schmeckte nicht schlecht, aber er brannte fürchterlich in der Kehle. »Ich fühle mich etwas schwindlig, Eddie«, sagte Estelle. »Kein Wunder. Wenn du so weitermachst, werde ich 145
dich noch nach Hause tragen müssen.« »Fein. Trag mich nach Hause, Eddie. Jetzt gleich.« »Nein.« »Bist du immer so romantisch?« »Noch ein Wort, und du liegst auf dem Boden.« »Mit dir, Eddie?« »Du kleine .. .« Mir fiel das rechte Wort nicht ein. »Kannst du nicht mal an was anderes denken?« »Und du solltest öfter daran denken. Sag mal, ist der Whisky wirklich so gut? Mein Herz schlägt so. Fühl mal.« Sie legte meine Hand dahin, wo sich nach ihrer Meinung ihr Herz befand. Ich zog die Hand rasch wieder weg. Mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet, und ich mußte schlucken, um wieder reden zu können. »Laß das«, sagte ich grob. »Ich bin schließlich nicht aus Holz, verdammt noch mal.. .« »Wirklich nicht?« Sie richtete sich auf und sah mich ernsthaft an. »Willst du mir eine Frage beantworten, Eddie?« »Ja.« »Aber ehrlich. Bist du wirklich in Rita verliebt? Ich meine, richtig?« 146
»Ich glaube schon. Mein Gott, ja!« Sie seufzte ein wenig, und dann lächelte sie. »Na schön, Eddie, dann laß ich dich in Ruhe. Wollen wir Freunde sein?« »Die besten.« »Gut. Aber erst küß mich noch mal. Nur einmal. Und nur freundschaftlich.« Die gleichen Worte, die Rita gebraucht hatte, als ich sie vor zwei Wochen zum erstenmal geküßt hatte. Estelle legte die Arme um meinen Hals, und als unsere Lippen sich berührten, dachte ich an den ersten Kuß, den ich Rita gegeben hatte, und ich bildete mir ein, wieder Rita zu küssen. Estelle löste sich aus meinen Armen. Sie richtete sich steil auf und sah mich an. Ihre Augen wirkten verschwommen. »War das ein freundschaftlicher Kuß, Eddie? Na ja, ich hab' dich schließlich dazu provoziert.« Ich lächelte sie an, aber sie lächelte nicht zurück. »Es ist mir wirklich ernst, Eddie. Ich weiß jetzt, daß du zu Rita gehörst. Von jetzt an bist du für mich tabu. Ehrlich. Stört es dich, wenn ich auf deinem Schoß sitze?« 147
Ich sagte nein, und es war eine Lüge. Sie nahm wieder die Flasche vom Tisch: »Du zuerst, Eddie.« Ich trank einen großen Schluck und gab die Flasche weiter. Und während sie trank, blickte ich über ihre Schulter zum Fenster. Vielleicht war es der Geruch, der mich aufblicken ließ, ein Geruch nach frischer, feuchter Erde. Ich sah ein Gesicht im Fenster. Jemand saß vor dem Fenster und starrte herein. Es war ein Affe, ein Schimpanse. Entweder Susie oder ihr Doppelgänger. Das Affengesicht wurde von der Innenbeleuchtung des Wohnwagens nur matt angestrahlt, doch ich konnte es sehr deutlich sehen. Es war das Gesicht eines Schimpansen, der durch die Scheibe starrte. Eigentlich war es sehr komisch. Aber ich fand es überhaupt nicht komisch. Ich fand es entsetzlich. Der Geruch frischer, feuchter Erde, wie aus einem Grab, kam von dem Fell des Schimpansen. Ich sah, daß Gesicht und Kopfteil mit feuchter Erde verklebt waren. Und dann verschwand das Affengesicht. Und mit ihm auch der Erdgeruch. Estelle reichte mir die Flasche zurück. »Schmeckt
schauderhaft, dieses Zeug. Aber trotzdem mußt du
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noch einen ... Was ist los, Eddie? Bist du krank?« Sie sprang von meinem Schoß und starrte mich an. Und der besorgte Tonfall ihrer Stimme ließ auch Carey und Onkel Am aufhorchen. Onkel Am war sofort auf den Beinen und trat auf mich zu. »Mein Gott, Junge, du bist ja so weiß wie die Wand. Ist was passiert?« Irgendwie hatte ich jetzt Hemmungen, es ihnen zu erzählen. Ich begann mich zu fragen, ob es nicht vielleicht nur der Whisky gewesen war. Andere Leute sahen zwar nur weiße Mäuse, wenn sie besoffen waren .. . Nein, entschied ich, kein Mensch kriegt plötzlich Halluzinationen, nur weil er etwas getrunken hat. Aber trotzdem ... Ich schüttelte meinen Kopf, um wieder klar denken zu können. »Schon gut. Mir war nur ein bißchen schlecht. Ich muß mal an die frische Luft.« Ich stand auf und ging zur Tür. Estelle wollte mir wahrscheinlich folgen, denn ich hörte, wie Onkel Am sie zurückrief und ihr sagte, sie solle mich allein lassen, wenn ich kotzen müßte. Und als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich, wie Estelle Carey sagte, er solle Kaffee machen, aber schnell. Ich hatte im Wohnwagen schon Angst gehabt, aber 149
das war noch gar nichts gegen das, was ich empfand, als ich allein im Dunkeln stand. Am liebsten hätte ich mich sofort wieder im Wohnwagen verkrochen und die Tür hinter mir abgesperrt, wie Moto vor ein paar Tagen. Es kostete mich den Rest meiner Nerven, um den Wagen herumzugehen, zu dem Fenster, durch das ich den Affen gesehen hatte. Aber ich fand keine Spur von einem Affen, weder von einem toten noch von einem lebendigen. Aber unter dem Fenster entdeckte ich eine Packkiste. Sie war so groß, daß ein Schimpanse darauf stehen und ins Fenster sehen konnte. Meine Angst ließ etwas nach. Ich rückte die Packkiste zur Seite. Sie war leer. Auch unter dem Wohnwagen war nichts zu entdecken. Jedenfalls kein Schimpanse. Ich überlegte, ob ich mir eine Taschenlampe holen und nach Fußspuren suchen sollte. Aber der Boden war zu hart, um Abdrücke aufzunehmen. Ich setzte mich auf die Packkiste und versuchte nachzudenken. Susie war die einzige Schimpansin auf dem Jahrmarkt gewesen, und Susie war tot. Darüber gab es nicht den geringsten Zweifel. Sie war tot und begraben. Hoagy und ein paar andere Männer hatten sie in dem 150
Waldstück begraben, in dem wir gestern früh nach ihr gesucht hatten. Oder war sie vielleicht gar nicht wirklich tot gewesen? Ich war zwar nicht selbst dabeigewesen, aber eine Menge Leute hatte gesehen, daß sie im Wassertank lag und kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Und Hoagy war Veterinär. Er würde doch nicht ein lebendes Tier ... Unsinn. Ich begann mich im Ernst zu fragen, ob ich nicht doch Halluzinationen gehabt hatte. Ich versuchte, es mir einzureden, aber ganz konnte ich nicht daran glauben. Nach einer Weile ging ich in den Wohnwagen zurück. Estelle stand am Elektrokocher, und es roch nach gutem starkem Kaffee. »Geht's wieder, Ed?« fragte Carey. »Ja. War nicht so schlimm. Den Kaffee brauche ich nicht, Estelle.« »Entweder trinkst du ihn, oder ich gieße ihn dir über den Kopf«, sagte sie. »Sie hat recht«, sagte Onkel Am. »Du bist immer noch etwas blaß um die Nase.« Ich setzte mich an den Tisch. Carey holte eine Tasse,
und Onkel Am stellte sich neben mich und sagte so
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leise, daß die anderen ihn nicht hören konnten: »Was ist los, Eddie? Es war doch nicht der Whisky, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sag's dir später.« Estelle brachte den Kaffee. Er war so dick, daß der sprichwörtliche Löffel in ihm stehen blieb, und heiß wie die Hölle. Aber ich mußte ihn trinken. Dabei hätte ich viel lieber noch einen Whisky gehabt. Ich fühlte mich immer noch etwas schwach von dem Schreck. Aber ich konnte nicht gut weitertrinken, solange Carey und Estelle glaubten, mir sei nur von dem Whisky schlecht geworden. Ich würgte den Kaffee hinunter, aber als Estelle mir eine zweite Tasse einschenken wollte, sagte ich, daß frische Luft viel besser für mich sei, und ging zur Tür. »Ich komme mit«, sagte sie, und das war mir sehr recht.
Wir gingen den jetzt dunklen Mittelweg entlang. »Noch einen Drink?« fragte ich sie, als wir beim Haupttor waren. »Gerne, Eddie. Aber du solltest nichts mehr trinken heute.« »Quatsch. Ich bin völlig in Ordnung.« »Wenn du meinst...« Wir gingen die Straße entlang bis zu der Bar, in der 152
wir schon einmal gewesen waren. Sie war noch offen.
Wir setzten uns in eine Nische und bestellten Highballs.
»Eddie«, fragte Estelle nach einer Weile, »was hat es eigentlich zwischen dir und Skeets Geary gegeben?« »Warum?« »Nimm dich in acht vor ihm. Ich weiß nicht, was er gegen dich hat, aber er ist gefährlich. Der wartet einen Monat oder ein Jahr, um sich zu rächen. Und wenn du dann gar nicht mehr daran denkst...« »Der ist doch feige.« »Sicher, Eddie. Darum ist er ja so gefährlich. Der wird sich nie selbst die Hände schmutzig machen, sondern ...« »In Ordnung«, unterbrach ich sie. »Wenn mir mal ein Zeltpfosten auf den Kopf fällt, weiß ich, an wen ich mich zu wenden habe.« Ich streichelte ihre Hand. »Vielen Dank, Estelle. Ich paß schon auf mich auf.« Sie zog ihre Hand fort. »Nicht, Eddie. Wir sind Freunde, nicht wahr?« Ich lachte. »Na schön.« Und dann bestellte ich noch zwei Highballs. Ich wünschte, ich hätte ihr nicht gesagt, daß der Whisky mir nicht gut bekommen sei. Der Highball 153
schmeckte ziemlich dünn, und ich hätte lieber was Stärkeres zu mir genommen. »Eddie?« »Ja?« »Ich hab' dich damals angelogen, wegen Rita.« »So?« »Ja. Damals war ich eifersüchtig auf sie. Aber jetzt ... Sie ist ein sehr nettes Mädchen, Ed.« »Und was ist mit dem Bankier?« »Was soll schon sein? Wahrscheinlich war es eine geschäftliche Verabredung.« »Um Mitternacht?« »Und warum nicht?« Sie beugte sich über den Tisch und sah mich ernsthaft an. »Und selbst wenn es nicht geschäftlich gewesen wäre, was sagt das schon. Warum soll sie sich nicht mit jemandem nach Schluß der Vorstellung verabreden und mit ihm irgendwo etwas trinken. Das bedeutet noch lange nicht, daß sie mit ihm auch ins Bett steigt.« »Eigentlich hast du recht«, gab ich zu. Ich bestellte noch zwei Drinks, und allmählich begann ich mich wohl zu fühlen. Als der Barkeeper uns die Highballs brachte, sagte er, daß er jetzt schließen 154
müsse. Also tranken wir aus. Ich kaufte noch eine halbe Flasche Bourbon für unterwegs und dann kehrten wir zum Jahrmarkt zurück. In der Bar hatte ich den Vorfall von heute abend fast vergessen, aber nun fiel mir alles wieder ein. Und als wir durch das Haupttor gingen, wußte ich auch, was ich zu tun hatte. Am liebsten hätte ich gewartet, bis es Tag geworden war. Aber solange durfte ich nicht warten. »Estelle, weißt du, wo Hoagy die Schimpansin begraben hat?« fragte ich. »Warum?« »Nur so.« »Ich weiß auch nicht. Ich habe nur gesehen, wie Hoagy und Pop Janney gestern nachmittag in den Wald'gegangen sind. Pop trug einen Spaten und Hoagy den Schimpansen.« »Bist du sicher, daß es der Schimpanse war?« »Er war in ein Stück Segeltuch gewickelt. Aber warum sollte es nicht Susie gewesen sein?« »Das ist eben die Frage. Du hast jedenfalls nicht gesehen, daß es Susie war.« »Das nicht. Aber ich war dabei, als sie sie aus dem Tank gefischt haben. Sag mal, bist du plötzlich übergeschnappt, oder was ist los?« 155
Ich blieb stehen und dachte nach. Die ganze Geschichte war ein so irrsinniges Durcheinander, daß ich eine richtige Gänsehaut bekam. »Eddie!« Estelle packte meine Arme und schüttelte mich. »Bist du betrunken, oder was ist los?« »Ich bin stocknüchtern«, sagte ich. »Aber. .. Ach, was soll's. Ich werde dir sagen, was los ist.« Und ich erzählte ihr, daß ich Susie oder einen anderen Schimpansen durch das Fenster des Wohnwagens gesehen hatte. Sie stand eine ganze Weile reglos da und starrte mich an. »Ich habe Angst, Eddie«, flüsterte sie dann. »Ich auch. Geh nach Hause, Estelle. Soll ich dir ein Taxi bestellen?« »Und was wirst du tun? Du hast doch nicht etwa die Absicht ...« »Doch«, sagte ich. »Ich muß Gewißheit haben.« »Dann komme ich mit.« Ich wollte es ihr ausreden, aber ich gab mir keine allzu große Mühe dabei. Ich war nicht versessen darauf, allein eine Leiche auszugraben. Selbst wenn es nur die Leiche einer toten Schimpansin war.
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9 Estelle wartete auf mich vor dem Spielzelt, bis ich einen kleinen Spaten und eine Taschenlampe geholt hatte. Ich hatte auch einen Mantel übergezogen, unter dem ich den Spaten verstecken konnte. Nur für alle Fälle. »Vielleicht hat Hoagy einen neuen Schimpansen gekauft«, sagte Estelle, als wir auf den Ausgang zugingen. »Er ist doch nicht verrückt.« »Wieso? Wenn man schon verrückt genug ist, einen Schimpansen zu kaufen, warum dann nicht auch einen zweiten?« »Das ist doch albern.« »Hast du ihn denn gefragt? Wir müssen sowieso an ihrem Wohnwagen vorbei. Wenn sie noch Licht haben ...« Sie hatten noch Licht. »Ich halte es zwar für Unsinn«, sagte ich. »Aber meinetwegen fragen wir ihn, um ganz sicher zu sein.« Um nicht lange aufgehalten zu werden, bat ich sie, allein hineinzugehen und so zu tun, als ob sie Lee Carey suchte. Ein paar Minuten später war sie wieder zurück. »Du
hast recht gehabt, Eddie«, gab sie zu. »Ich brauchte sie
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nicht einmal zu fragen. Hoagy hat schon den Käfig abgerissen.« Wir überquerten ein offenes Feld und erreichten den Waldrand. Gestern, bei Tageslicht, war es sehr hübsch gewesen, zwischen den Bäumen hindurchzugehen. Jetzt wirkte alles düster und unheimlich. Ich erinnerte mich an den Weg, der durch den Wald führte. Wahrscheinlich hatten sie Susie irgendwo am Wegrand begraben. Ich leuchtete mit der Taschenlampe umher, bis wir den Weg fanden. Estelle zitterte, als wir immer tiefer in den Wald gingen. Sie umklammerte meinen Arm so fest, daß es weh tat. Ich leuchtete mit der Lampe beide Seiten des Pfades ab und hielt Ausschau nach einem Hügel oder nach frisch aufgeworfener Erde. Wir fanden das Grab fünf Minuten später. Es war ein kleiner Hügel, kaum ein Dutzend Schritte vom Pfad entfernt, etwa einen Meter lang. Es sah aus wie ein Kindergrab. Ich zog den Spaten unter dem Mantel hervor. »Bitte, Eddie . . .« Estelle versuchte, mich zurück zuhalten. Ich nahm ihren Arm. »Gut, Baby. Ich bring dich vorher zurück.« 158
»Nein. Wenn du es wirklich tun mußt, bleibe ich bei dir. Gib mir die Lampe.« »Danke.« Ich gab ihr die Taschenlampe, und sie leuchtete mir, als ich das Grab aushob. Die Erde war noch locker. Nach etwas mehr als einem halben Meter stieß ich auf die Segeltuchhülle. Ich nahm Estelle die Lampe aus der Hand. »Dreh dich lieber um«, riet ich ihr. »Das ist kein schöner Anblick.« Sie trat ein paar Schritte zurück und wandte sich ab. Ich schlug das Segeltuch auseinander und sah mir das, was darin lag, sehr genau und gründlich an. Dann faltete ich die Leinwand wieder zusammen und richtete mich auf. »Eddie, ist es . ..« »Ja«, sagte ich, »es ist Susie.« Sie kam wieder näher heran. Ich gab ihr die Taschenlampe zurück und füllte das Grab wieder auf. Keiner von uns beiden sprach, als wir zurückgingen. Erst als wir den Waldrand erreicht hatten und als wir die Silhouetten unserer Zelte und die Umrisse der Karussells, das Riesenrades und der Achterbahn vor uns sahen, sagte Estelle: »Bitte, Eddie, ich möchte noch nicht zurückgehen. Ich wette, ich bin so bleich wie ein 159
Gespenst. Und meine Hände sind ganz zittrig. Hast du noch die halbe Flasche Bourbon, die du vorhin gekauft hast?« »Mein Gott, die habe ich ja völlig vergessen. Wir hätten vorhin beide einen Drink gebrauchen können, als ich Totengräber spielte.« Für einen Augenblick fiel der Strahl der Lampe auf Estelies Gesicht. Sie hatte nicht übertrieben. Sie war wirklich totenblaß. Sie mußte wirklich Todesangst ausgestanden haben, vorhin im Wald. Und trotzdem hatte sie durchgehalten. »Komm«, sagte ich. »Wir werden uns etwas ausruhen.«
Ich zog den Mantel aus und breitete ihn auf dem Boden aus. Wir setzten uns. Ich holte die Flasche aus der Tasche und öffnete sie. Estelle nahm einen großen Schluck und reichte mir die Flasche. Es war ein guter Bourbon, auf jeden Fall besser als Careys Whisky. Er wärmte Kehle und Magen. »Laß mir was übrig, du Egoist«, sagte Estelle. »Mir ist kalt.« Sie zitterte wirklich, und ich legte den Arm um sie, als ich ihr die Flasche reichte. Sie schmiegte sich an mich und sagte: »Du bist wunderbar warm, Eddie. Aber du weißt ja. Wir sind nur Freunde.« 160
»Sicher«, sagte ich. Es war schön, einfach nur dazusitzen, auf die Lichter des Jahrmarkts zu sehen und an nichts zu denken. Ich wünschte nur, daß Rita neben mir säße. Ich versuchte nachzurechnen, wie viele Tage ich sie nicht gesehen hatte, aber bevor ich zu einem Ergebnis gekommen war, reichte mir Estelle die Flasche. Wir tranken sie aus und ließen uns Zeit dabei, denn wir hatten ja sonst nichts zu tun. »Jetzt geht es mir wieder besser«, sagte Estelle nach einer Weile. »Wollen wir gehen?« »Wenn du willst.« »Ich will nicht«, sagte ich. »Ich auch nicht.« Ihr Gesicht war ein heller und vager Umriß in der Dunkelheit, und ich spürte die Wärme ihres Körpers. Und dann flüsterte sie: »Warum stellst du dir nicht einfach vor, ich sei Rita?« Genau das hatte ich auch gedacht. Aber ich sagte: »Das wäre sehr unfair, Estelle. Dir gegenüber.« »Wieso? Wir brauchen es ja nicht ernst zu nehmen. Wir tun es einfach ... Nur so.« 161
Und genau das hatte ich mir auch überlegt. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Onkel Am auf seinem Bett und zog sich gerade die Socken an. Sein Gesicht wirkte wach und angespannt. Ich richtete mich auf. Er nickte mir zu. »Irgend etwas ist los, Eddie. Fühlst du es nicht?« Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber ich ließ es bleiben und horchte hinaus. Ich hörte nichts. Trotzdem schien irgend etwas anders zu sein als sonst. Ich konnte es nicht ausdrücken. Vielleicht war es auch nur meine Einbildung. Noch ein Mord, war mein erster Gedanke. Und dann die Frage: Wer? Aber die Raterei führte zu nichts. Ich schwang die Beine aus dem Bett und zog mich so rasch wie möglich an. Ich war gleichzeitig mit Onkel Am fertig. Wir traten auf den Mittelweg hinaus. Es wimmelte von Polizisten. Das jedenfalls war mein erster Eindruck. Als ich genauer hinsah, war es nur ein Dutzend, und als ich wirklich nachzählte, waren es schließlich nur sechs. Der Mittelpunkt der ganzen Aufregung schien das
Zelt der Jig-Show zu sein. Vor dem Eingang hatte sich
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ein dichtes Menschenknäuel angesammelt, vor allem Mulatten von der Jig-Show, aber auch Schausteller. Ich hörte eine Frau weinen. Ich wollte hingehen, als jemand mich zurückrief: »He, Sie.« Ich wandte mich um. Es war einer von den Bullen, der auf mich zukam. »Sind Sie schon vernommen worden?« »Nein«, sagte ich. »Was ist denn los?« Onkel Am trat neben mich, und der Polizist zog sein Notizbuch. »Ihr Name?« »Ed Hunter. Was ist passiert?« »Gehören Sie zum Jahrmarkt?« Ich nickte. »Wollen Sie mir nicht sagen ...« »Was tun Sie hier?« »Er arbeitet bei mir«, sagte Onkel Am. Er war neben mich getreten und stieß mich leicht mit dem Ellbogen an, um mir zu sagen, daß ich den Mund halten sollte. »Wir haben eine Wurfbude. Wenn Sie sonst noch Fragen haben, beantworten wir sie natürlich gerne. Aber Sie werden verstehen, daß wir wissen wollen, was los ist. Wir sind eben aufgewacht. Es würde uns und Ihnen eine Menge Zeit ersparen, wenn Sie uns sagen 163
würden, was passiert ist. Und außerdem täten Sie uns einen persönlichen Gefallen.« Der Polizist grinste. »Na gut, Jack. Vergangene Nacht ist ein Nigger ermordet worden. Er hieß Booker Brent. Und wie heißen Sie?« Onkel Am sagte es ihm, und er schrieb es auf. »Hat einer von Ihnen gestern nach Mitternacht den Jahrmarkt verlassen?« Onkel Am sagte nein, und ich wollte auch nein sagen, besann mich dann aber. »Ich war in einer Bar. Zwei, drei Blocks von hier entfernt.« »Feltners Bar?« Ich sagte ihm, daß ich den Namen nicht wüßte, gab ihm aber eine kurze Beschreibung. Er nickte. »Um welche Zeit?« »So genau weiß ich das auch nicht mehr. Es muß aber kurz nach Mitternacht gewesen sein. Wir waren etwa eine halbe Stunde dort und sind dann zum Platz zurückgekommen.« Er wollte wissen, mit wem ich dort gewesen war, und ich sagte es ihm. »Kennen Sie den Niggerjungen, der ermordet worden ist?« 164
Ich schüttelte den Kopf, aber Onkel Am sagte: »Natürlich kennst du ihn, Ed. Nur nicht seinen richtigen Namen. Es ist Jigabo.« »Mein Gott.« Verdammt, warum denn Jigabo? Er war ein so netter Junge, so voller Leben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß er tot war. »Ja, so stand er auf dem Programm: Jigabo«, sagte der Polizist. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Ich überlegte. »Gegen Abend. Ich war hungrig und bin zum Küchenzelt gegangen, und da habe ich ihn auf
der Plattform der Jig-Show gesehen.«
»Und später nicht mehr?«
»Nein.«
Onkel Am hatte ihn auch zuletzt auf dieser Plattform gesehen, nur etwas früher als ich. »Gut«, sagte der Polizist. »Ist das hier Ihre Bude?« Onkel Am nickte. »Arbeitet sonst noch jemand bei Ihnen?« »Nein. Nur wir beide.« »Und schlafen Sie auch hier auf dem Platz?« »Ja. In einem Zelt, gleich hinter der Bude.« 165
»Gut«, sagte der Polizist, steckte sein Notizbuch ein und ging den Mittelweg hinunter. Ich wollte wieder auf die Menschenansammlung zugehen, aber Onkel Am hielt mich zurück. »Warte, Ed.« »Aber ich will doch bloß herausfinden ...« »Natürlich, Ed. Aber doch nicht so.« »Wie denn?« »Captain Weiß ist noch in der Stadt. Er hat es uns gestern gesagt. Wie ich ihn kenne, wird er bald hier sein.« »Glaubst du etwa, daß das auch mit dem Mord an dem Liliputaner zusammenhängt?« »Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht mal, wo und wie der Junge ermordet worden ist. Sag mal, ist ein Telefon in der Bar, in der ihr gestern abend wart?« »Ja.« Wir gingen zu der Bar. Onkel Am bestellte ein Bier, und ich gab mich mit einer Cola zufrieden. »Du mußt mit Estelle sprechen, bevor die Polizei sie vernimmt«, sagte Onkel Am. »Wenn sie erzählt, daß ihr gestern nacht die ganze Zeit über auf dem Jahrmarkt gewesen seid, oder sonst irgend etwas, das von deiner 166
Version abweicht, sitzt einer von euch beiden ganz schön in der Tinte. Weißt du, in welchem Hotel sie wohnt?« »Ja, im Ardmore.« »Worauf wartest du dann noch? Ruf sie an und sag ihr, daß wir zum Frühstück 'rauskommen.« Ich trat in die Telefonzelle und rief Estelle an. »Hallo, Eddie.« Ihre Stimme klang verschlafen. »Ich bin eben erst aufgewacht.« »Dann hast du also noch nicht gehört, was passiert ist?« Sie verneinte, und ich berichtete ihr. Dann sagte ich ihr, daß Onkel Am und ich mit ihr reden wollten, bevor die Polizei sie vernehmen würde. Sie sagte, sie würde auf uns warten. Als ich schon auflegen wollte, sagte sie: »Du, Eddie?« »Ja?« »Wegen gestern nacht. Ich weiß, es war nicht so. Ich — ich wollte es nicht. Wirklich nicht. Ich möchte mich nicht zwischen Rita und dich drängen.« »Danke, Estelle. Du bist ein feiner Kerl.« »Und du brauchst es niemand zu erzählen, hörst du. Ich meine, deinem Onkel zum Beispiel.« 167
»Bestimmt nicht. Aber ich fürchte, er weiß es auch so. Er ist verdammt schlau, und er liest meine Gedanken wie ein offenes Buch.« Sie lachte. »Gut, Eddie. Bis nachher.« Ich hängte auf und sagte Onkel Am, daß alles in Ordnung sei. »Schön. Dann gehen wir noch schnell nach Hause.« »Wozu denn?« fragte ich verblüfft. »Damit du dich umziehen kannst. Oder willst du etwa so in die Stadt fahren?« Ich sah an mir hinunter. In der Eile hatte ich den alten Arbeitsanzug angezogen, den ich gestern nacht getragen hatte. Er war zerknautscht und voller Grasund Erdflecken. »Ich möchte nur wissen«, sagte Onkel Am grinsend, »wo du dich so dreckig gemacht hast, im Wald oder auf einer Wiese.«
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Wir nahmen uns ein Taxi und fuhren in die Stadt. Unterwegs sagte Onkel Am: »Sag mal, Ed, weißt du zufällig, in welchem Hotel Moto wohnt?« »Keine Ahnung. Warum?« »Der kleine Kerl hat wieder Angst. Lee sagte mir vorhin, er sei am frühen Morgen zum Platz gekommen, und kurz darauf habe er ein Taxi gerufen und sei wieder in die Stadt gefahren.« »Als er hörte, daß Jigabo ermordet worden ist?« »Ja.« Das Taxi hielt vor dem Hotel, und wir stiegen aus. Estelle wartete schon auf uns. Sie saß an einem Tisch in der Ecke und behielt die Tür im Auge. Als sie uns kommen sah, winkte sie uns zu. Wir setzten uns zu ihr, und sie fragte uns, wie Jigabo gestorben sei. »Sei still«, unterbrach Onkel Am. Weil eine Kellnerin an den Tisch trat. Wir bestellten und warteten, bis sie außer Hörweite war. Dann sagte Onkel Am: »Gut, ich erzähle euch alles, was ich von Lee erfahren habe. Jigabo wurde früh am Morgen, gegen vier Uhr, gefunden. Nicht auf
dem Platz, sondern irgendwo auf der Straße. Zuerst glaubten sie, daß er von einem Wagen angefahren worden sei. Man brachte ihn ins Leichenschauhaus, wie alle Verkehrsopfer.« »Und weshalb glaubt die Polizei, daß er ermordet worden ist?« »Sie werden schon ihre Gründe dafür haben«, sagte Onkel Am. »Und jetzt zu dir, Estelle.« »Ja?« Er erzählte ihr, daß wir mit Captain Weiß in Verbindung stünden und daß er hier in Fort Wayne sei. »Ich bin dafür, daß ihr beide ihm sagt, was ihr vergangene Nacht getan habt.« Estelle blickte mich vielsagend an. »Nur in dem Teil der Nacht, in dem ihr Susi ausgegraben habt«, sagte Onkel Am, ohne die Miene zu verziehen. »Aber wenn du dich lieber 'raushalten willst, Estelle, können wir auch sagen, daß Ed das allein gemacht hat.« Estelle blickte erst Onkel Am und dann mich an. »Ich weiß nicht. Warum sollte ich nicht zugeben, daß ich bei dir war und die Taschenlampe gehalten habe? Daraus können sie uns doch keinen Strick drehen, oder?« 170
Onkel Am schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Es gibt kein Gesetz, das verbietet, Tiergräber zu öffnen.« »Gut.« Estelle sah mich an. »Aber wir brauchen doch nicht zu sagen ...« »Aber nein«, sagte ich. »Nach der Buddelei habe ich dich sofort in ein Taxi gesetzt, weil du dich nicht wohl gefühlt hast. In Ordnung.« »In Ordnung?« Die Kellnerin brachte unser Frühstück. Während des Essens sprachen wir nicht viel. Als wir fertig waren, sagte Estelle, daß sie zum Platz hinausfahren müsse. Wir begleiteten sie zum Bus. Als sie fort war, rief Onkel Am die Polizei an und fragte, in welchem Hotel Captain Weiß abgestiegen sei. Sie sagten es ihm, und wir gingen hin. Der Portier teilte uns mit, daß Weiß auf seinem Zimmer sei. Wir fuhren in den vierten Stock hinauf und klopften an. »Herein«, sagte Weiß. Er sah abgekämpft und müde aus. »Habt wenigstens ihr etwas Neues für mich?« fragte er ohne viel Hoffnung. »Vielleicht«, sagte Onkel Am. »Der Junge hatte ein komisches Erlebnis letzte Nacht. Erzähl es ihm, Ed.« 171
Ich berichtete, daß wir gestern abend bei Lee gewesen waren und daß ich plötzlich dieses Affengesicht im Fenster des Wohnwagens gesehen hatte. Er unterbrach mich ein paarmal, um nach Einzelheiten zu fragen, aber sonst ließ er mich in Ruhe erzählen. Als ich ihm sagte, daß ich sicher sein wollte, daß Susie wirklich tot und begraben war, fragte er: »Warum? Glaubten Sie etwa, sie sei wieder auferstanden?« »Ich weiß selbst nicht, was ich geglaubt habe. Ich habe einen Schimpansen gesehen, und Susie war der einzige Schimpanse in der Gegend. Ich — ich wollte nur sichergehen, daß es nicht Susie war.« »Gut. Also gingen Sie und dieses Mädchen in den Wald und gruben sie wieder aus. Und dann?« »Nichts weiter. Als ich sah, daß Susie wirklich in diesem Grab lag, habe ich es wieder zugeschüttet.« Er fuhr mit der Hand durch sein schütteres Haar. »Soweit ich erfahren habe, wurde der Affe in ein Segeltuch eingewickelt, bevor er begraben wurde. Haben Sie das Segeltuch geöffnet und sich wirklich davon überzeugt, was darin war?« »Natürlich. Und ich bin überzeugt, es war Su ... 172
Moment mal! Um genau zu sein: ich könnte natürlich nicht beschwören, daß es Susie war. Aber es lag ein Schimpanse in dem Grab, und der war tot.« »Ein weiblicher?« »So intim bin ich nicht mit ihm geworden.« Weiß machte ein unzufriedenes Gesicht. »Wie hoch ist das Fenster des Wohnwagens? Könnte ein Mann hineinsehen?« »Ein Mann vielleicht. Ein Schimpanse nicht. Es sei denn, er hätte irgendein Podest.« Ich erzählte ihm von der Packkiste, die ich hinter dem Wohnwagen entdeckt hatte. »Ich habe sie heute morgen auch bemerkt«, sagte Onkel Am. »Sie steht noch da. Und Lee sagte mir, daß sie auch vorgestern schon dort gewesen sei. Sie ist also nicht erst dafür aufgestellt worden, um einen Schimpansen in den Wohnwagen blicken zu lassen.« »Eine leere Kiste?« »Ja. Sie ist Anfang der Woche angekommen, mit einer Bestellung für Lee. Zauberartikel oder so was, glaube ich.« »Vielleicht war die Sache mit dem Affen auch nur eine Art Zauberei?« sagte Weiß und sah mich prüfend an. 173
»Wenn Sie glauben, daß Lee ...« »Nicht Lee, sondern Sie selbst, Ed. Sind Sie sicher, daß Sie sich die Geschichte nicht nur eingebildet haben?« Und bevor ich protestieren konnte, fuhr er fort: »Nicht aufregen, Junge. So was ist mir auch schon passiert. Ich habe einen Mann in meinem Büro stehen gesehen. Habe ihn sogar gefragt, was er wollte. Und als ich richtig hinsah, war es nur der Kleiderständer, an dem ein Mantel und ein Hut hingen. Für einen Sekundenbruchteil ergänzt die Vorstellungskraft die fehlenden Teile, und so ...« »Aber nicht in diesem Fall«, unterbrach ich ihn erregt. »Erstens sah ich den Affen nicht nur für einen Sekundenbruchteil, sondern mehrere Sekunden lang, und zweitens war es dunkel draußen. Das einzige Licht kam aus dem Wohnwagen. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß es kein Affe gewesen ist, sondern ein Mensch, aber trotzdem glaube ich nicht...» »Ein Neger vielleicht«, sagte Weiß und nickte. »Davon habt ihr ja einige auf dem Jahrmarkt. Und bei dem schwachen Licht...« »Möglich«, sagte Onkel Am. »Aber ich glaube es nicht. Der Junge hat nicht viel Phantasie, Captain. Also, das wär's, was wir Ihnen sagen wollten.« »Vielen Dank.« Es klang fast sarkastisch. »Wenn ich 174
noch irgendwas gebraucht hätte, das mich völlig zum Wahnsinn treibt, das ist es.« »Und darin wäre noch die Sache mit Moto«, sagte Onkel Am. »Der Kerl ist völlig durcheinander vor Angst.« »Ich weiß«, unterbrach ihn der Captain. »Vor ein paar Tagen hat er sich vor Angst einen Rausch angetrunken. In Careys Wohnwagen, genau wie Ed gestern. Vielleicht hat er auch einen Schimpansen am Fenster gesehen.« Ich blickte Onkel Am an. Der starrte Weiß überrascht an. »Susie war schon tot«, erinnerte ich ihn. »Gestern nacht war sie auch tot«, sagte Weiß. »Warum hätte Moto nicht die gleiche Erscheinung haben sollen wie Sie?« Ich dachte nach, bevor ich antwortete: »Ich glaube es trotzdem nicht. Er kann nichts gesehen haben. Er bekam damals Angst, als Marge hereinkam und uns sagte, daß Susie ausgebrochen sei. Bis dahin hatte er sich ganz normal verhalten. Er war nur etwas schlechtgelaunt, glaube ich. Aber als Marge uns die Sache von dem Schimpansen erzählte, hatte er plötzlich Angst. Das habe ich deutlich bemerkt.« 175
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Weiß. »Schade, es wäre eine hübsche, logische Erklärung gewesen.« »Und was halten Sie von Jigabos Tod?« fragte Onkel Am. »Das, was ich nicht weiß, würde ein dickes Buch füllen«, sagte Weiß bitter. »Sind Sie besser informiert?« , Onkel Am sagte ihm, was er wußte. »Viel ist das auch nicht«, sagte Weiß. »Er wurde ungefähr eine Meile vom Jahrmarkt entfernt am Straßenrand gefunden. Ein Autofahrer, der die Straße entlangkam, hat ihn zufällig entdeckt. Er hielt an, und weil er sah, daß der Junge tot war, nahm er ihn nicht mit zum nächsten Hospital, sondern rief das Büro des Sheriffs an. Die schickten einen Streifenwagen und den Leichentransporter. « Onkel Am zuckte die Achseln. »Vielleicht war es wirklich ein Unfall.« »Vielleicht«, sagte Weiß. »Aber ich glaube es nicht. Der Junge war nämlich völlig nackt, als er gefunden wurde.« »Genau wie der Liliputaner«, sagte ich, und ein Frösteln lief mir über den Rücken. 176
Onkel Am fluchte leise vor sich hin, und Weiß nickte. »Ja. Sonst sah es wirklich wie ein ganz normaler Unfall aus. Todesursache: Schädelbruch. Außerdem Quetschungen und Prellungen an Kopf und Körper. Blut auf der Straße. Alles deutete darauf hin, daß der Junge am Straßenrand entlangspaziert und angefahren worden war. Aber wie kommt jemand — selbst ein siebenjähriger Junge — dazu, völlig nackt spazierenzugehen?« »Vielleicht war er Schlafwandler?« schlug ich vor. Onkel Am warf mir einen strafenden Blick zu. »Und was haben Sie bisher festgestellt?« fragte er Weiß. »Nichts. Die Polizisten haben alle Leute auf dem Jahrmarkt vernommen. Niemand will den Kleinen nach Mitternacht gesehen haben. Niemand hat ihn vermißt oder nach ihm gesucht. Bis heute morgen. Der Arzt meinte nach der Untersuchung, daß er schon eine oder zwei Stunden tot gewesen sei, als man ihn fand. Das heißt, er ist zwischen zwei und drei Uhr gestorben. Um diese Zeit war nicht viel Verkehr auf der Straße.« »Und seine Kleider?« fragte ich. »Die lagen in dem Wohnwagen, in dem er meistens schlief. Er besaß ja nicht mehr als einen Overall.« »Und das Kostüm? Ich meine, was er bei seiner Show trug?« 177
»Das hat er anscheinend gleich nach der Vorstellung ausgezogen und im Vorführzelt gelassen. Beim Umkleiden, als er den Overall anzog, wurde er auch zuletzt gesehen. Von allen seinen Kollegen.« »Das war kurz nach Mitternacht«, überlegte Onkel Am. »Ist er nicht schlafen gegangen?« »Es scheint so. Aber dann muß er wieder aufgestanden sein. Oder irgend jemand — oder irgendwas — hat ihn aus dem Bett geholt.« »Irgendwas?« fragte ich. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich weiß es selbst nicht, Ed. Aber vielleicht . . . Ein Schimpanse könnte doch ein Kind tragen, nicht wahr? Und Sie haben doch gestern nacht einen Schimpansen gesehen.« Onkel Am räusperte sich. »Hören Sie auf, Captain. Das klingt ja wie eine Gruselstory.« Ich stand auf, trat ans Fenster und starrte in den Hinterhof des Hotels. Hinter mir hörte ich Onkel Am aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen. »Übrigens«, sagte er nach einer Weile, »wissen Sie zufällig, in welchem Hotel Moto wohnt?« »In gar keinem«, hörte ich Weiß antworten. »Er ist
abgehauen. Wenn Susies Tod ihn schon so verängstigt
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hat, so muß die Geschichte mit Jigabo ihn völlig zum Wahnsinn getrieben haben. Der Portier seines Hotels sagte mir, er hätte seine Sachen in den Koffer geworfen und ein Taxi bestellt und sei sofort zum Bahnhof gefahren. Als er seine Rechnung bezahlt hat, sei er so aufgeregt gewesen, daß er kaum sprechen konnte.« Ich setzte mich wieder und suchte in meinen Taschen nach Zigaretten. Ich fand keine, aber meine Finger ertasteten einen winzigen Gegenstand. Ich zog ihn heraus, um zu sehen, was es war. Es war der kleine rote Plastikwürfel, den Lee mir gegeben hatte. »Wo hast du denn den her?« fragte Onkel Am. Ich sagte es ihm, und er begann wieder unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. »Captain«, sagte er dann, »wenn wir annehmen, daß Susies Tod damit zusammenhängt, dann haben alle drei Todesfälle zwei Dinge gemeinsam.« Weiß nickte. »Eine Gemeinsamkeit ist, daß alle drei Leichen nackt waren. Aber ein Schimpanse hat ja nur selten einen Anzug an. Und die andere?« »Der kleine Würfel dort hat mich auf die Idee gebracht«, sagte Onkel Am und deutete auf meine Hand, die immer noch mit dem Plastikwürfel spielte. »Der kleine Würfel, Captain. Die drei Toten waren alle 179
klein: Ein Liliputaner, ein Schimpanse, ein Junge. Und von fast gleicher Größe.« »Verdammt, Sie haben recht.« Ich starrte auf den kleinen Würfel und rollte ihn in der Hand hin und her. Irgend etwas zerrte in meinem Gehirn. Ein Gedanke, ganz hinten, der nach draußen wollte. Ich versuchte, ihn herauszuziehen, aber er rutschte mir wieder fort. »Komm, Ed«, sagte Onkel Am. »Gehen wir nach Hause.«
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Die Jig-Show war an diesem Abend geschlossen. Alle anderen hatten geöffnet. Aber es war nicht viel los. Ich fragte mich, warum die Besucher nicht in Scharen kamen, wie nach dem ersten Mord in Evansville. Damals war es doch zugegangen wie in einem Tollhaus. Ich fragte Onkel Am danach. »Ich glaube, die wissen gar nicht, daß es ein Mord war«, sagte er. »Vielleicht hat die Polizei gegenüber der Presse die Sache als Verkehrsunfall dargestellt.« »Soll ich schnell eine Zeitung holen?« »Ja, tu das. Du brauchst dich dabei nicht zu beeilen. Vielleicht mach ich die Bude bald zu. Was soll's.« Ich ging zum nächsten Drugstore, kaufte die Lokalzeitung und bestellte mir ein Soda. Die Nachricht von Jigabos Tod stand auf Seite zwei. Kein Wort von Mord oder davon, daß der Junge nackt aufgefunden worden war. Sie teilten nicht einmal mit, daß er zum Jahrmarkt gehört hatte. Ich kehrte zurück und sagte Onkel Am, daß er recht habe. »Aber warum hält die Polizei die Wahrheit zurück?« Er zuckte die Achseln. »Geheimniskrämerei
vielleicht. Die Bullen machen sich immer wichtig. Es
gibt ihnen ein Überlegenheitsgefühl, wenn sie Informationen zurückhalten. Da kommen sie sich schlauer vor als die andern.« »Weißt du, wer Jigabo umgebracht hat, Onkel Am?« Er starrte mich an. »Mein Gott, Junge, wie kommst du denn darauf?« »Du warst schließlich mal Detektiv.« »Ich war Angestellter einer Detektei, Junge, das ist alles. Ich habe durchgebrannte Ehemänner gesucht, fremdgehende Ehefrauen beobachtet und so weiter. Das ist was anderes als Mord. Und außerdem liegt das schon lange zurück.« »Und seitdem bist du älter und erfahrener geworden. Warum versuchst du nicht . ..« »Vorgestern wolltest du nicht mal für Captain Weiß die Augen offenhalten«, unterbrach er mich. »Und jetzt erwartest du von mir, daß ich den ganzen Mordfall für ihn aufkläre. Was glaubst du eigentlich? Bin ich Sherlock Holmes?« Er schien wirklich wütend zu sein. Zum erstenmal, seit ich bei ihm war. Und Onkel Am war wirklich der ruhigste Mensch, den ich kannte. Ich antwortete nicht. Ich setzte mich auf die Theke unserer Bude und schwieg. Und das muß ihn noch wütender gemacht haben. 182
»Verdammt, Eddie, die Polizei wird dafür bezahlt, Morde aufzuklären. Warum soll ich meinen Kopf riskieren und ihnen die Arbeit abnehmen? Selbst wenn ich könnte?« »Du könntest es schon«, sagte ich hartnäckig, ohne ihn anzusehen. »Als der Liliputaner ermordet wurde, ging es uns wirklich nichts an. Und trotzdem, wenn wir uns damals mehr um die Sache gekümmert hätten, wäre Jigabo vielleicht noch am Leben.« »Jetzt hör mal zu, Eddie . . .« Es war das erstemal, daß er wirklich wütend war. Auf mich jedenfalls. Ich sah ihn nicht an. Vielleicht, dachte ich, ist dies das Ende unserer Gemeinschaft. Ich fühlte mich ziemlich elend. »Du bist wütend, weil ich recht habe«, sagte ich. »Du hast doch Verstand, Onkel Am. Mehr als diese Bullen jedenfalls. Sogar mehr als Armin Weiß. Und du kennst dich hier aus. Du hättest längst herausfinden können, wer den Liliputaner und Susie umgebracht hat.« Ich vermied immer noch seinen Blick. »Du hättest es wenigstens versuchen können, anstatt im Spielzelt zu pokern. Das gilt auch für mich. Wir hätten es versuchen müssen, auch wenn es uns eigentlich nichts anging. Vielleicht hätte dann Jigabo nicht sterben müssen.« Für eine lange Zeit sagte keiner von uns beiden ein 183
Wort. Es war sicher nur eine Minute, aber mir kam es vor wie ein Jahr. Ich stand auf und suchte nach einem Ball, der fortgerollt war. Ich fürchtete mich vor Onkel Ams Antwort. Aber als ich zurückkam, grinste er mich nur an und sagte: »Sag mal, Ed, du hast doch immer gesagt, daß mich dieser Hut zu alt macht. Gefällt er dir so besser?« Und er setzte sich den Hut quer auf. Ich gab mir Mühe, um ernst zu bleiben. Aber ich schaffte es nicht. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich: »Hör zu, Onkel Am. Wir wollen das Thema begraben, bis wir heute abend die Bude zumachen. Einverstanden?« »Wie du willst, Ed. Ich habe aber eigentlich heute keine Lust zum Arbeiten. Also machen wir den Laden gleich dicht.« Er begann, den Segeltuchvorhang herabzulassen. Ich half ihm dabei, als jemand sagte: »Hallo, Ed.« Es war Armin Weiß. »Kommen Sie 'rein«, sagte Onkel Am. Er trat ein, und wir setzten uns auf die Theke. »Warum schließt ihr schon?« fragte er. 184
»Wir sind eben nicht geldgierig«, antwortete Onkel Am. »Man soll es mit der Arbeit auch nicht übertreiben.« Weiß seufzte. »Ihr habt ein Leben.« »Was gibt's Neues?« fragte ich ihn. »Nicht viel. Ich habe nach eurem Liliputaner Moto fahnden lassen, und sie haben ihn in St. Louis aufgegabelt.« »Und?« »Nichts und. Er kommt nicht zurück. Jedenfalls nicht freiwillig.« »Und warum nicht?« »Angst«, sagte Weiß. »Er befürchtet, daß er der Nächste auf der Liste unseres Mörders ist. Und er hat einen Horror vor Affen.« »Aber wieso fürchtet er denn, auch ermordet zu werden?« »Er sagt, schon der Mord an dem anderen Liliputaner hätte ihn unruhig gemacht. Er konnte keinen Grund für seine Befürchtung nennen, irgend jemand hätte einen Privatkrieg gegen Zwerge eröffnet. Aber es muß schon ein komisches Gefühl sein, wenn man der einzige Liliputaner in der Gegend ist, und plötzlich taucht ein 185
zweiter auf, mit einem Messer im Kreuz.« Weiß steckte sich eine Zigarette an. »Und dann kam die Geschichte mit Susie. Das war wieder eine andere Art von Angst. Er hat einen echten Horror vor Affen. Nicht nur eine Abneigung, sondern echte Angst, wie sie manche Menschen vor Schlangen haben. Er sagte, er wollte schon auf der Stelle kündigen, als Hoagy die Schimpansin kaufte, er hätte sich aber dann doch entschlossen, die paar Wochen bis Saisonschluß durchzuhalten.« »Aber nachdem Susie tot aufgefunden worden war, hatte er doch keinen Grund mehr, um wegzulaufen.« »Sie vergessen, daß Jigabo ermordet wurde. Das hat ihm gereicht. Er fragte nicht mal, wo und warum. Er hatte den gleichen Einfall wie ihr Onkel heute nachmittag: Alle Toten hatten die gleiche Größe. Seine Größe. Er bildet sich ernsthaft ein, daß irgendein Schwachsinniger seine Opfer nach der Größe aussucht und dem Jahrmarkt von Stadt zu Stadt folgt.« »Der Jahrmarktsmörder«, sagte ich. Es sollte sarkastisch klingen. Aber irgendwie fand ich nicht den richtigen Ton. ».Vielleicht hat er gar nicht mal so unrecht«, sagte Onkel Am nach einer Weile. »Ich meine, weil doch sonst überhaupt kein Sinn in diesen drei Morden liegt.« 186
»Wie wahr«, seufzte Armin Weiß. »Na, dann werde ich mich mal wieder verdrücken. Ich will mich noch etwas umhören. Ich weiß zwar auch nicht, warum, aber irgendwie muß ich ja meine Zeit herumbringen.« »Fahren Sie nach St. Louis?« fragte ich. »Wozu? Ihr Liliputaner wird mir nicht mehr sagen können, als ich schon weiß. Ich wüßte auch gar nicht, was ich ihn fragen sollte. Außerdem ist er schon wieder unterwegs. Nach Florida.« »Florida? Wenn er nach Florida wollte, war doch St. Louis ein ziemlich großer Umweg, nicht wahr?« »Schon. Aber das war ihm egal. Er hat den ersten Zug genommen, der wegfuhr. Und der ging zufällig nach St. Louis. Er wäre auch über Kanada nach Florida gefahren, nur um von hier wegzukommen.« »Vielleicht hatte er wirklich Grund dazu«, sagte ich. »Ja, vielleicht. Übrigens, die Verhandlung wegen Jigabo ist morgen um zehn. Sie brauchen nicht zu kommen, wenn Sie nicht wollen. Sie sind ja keine Zeugen. Das heißt, wir haben überhaupt keine Zeugen. Außer jemand, der die Leiche identifizieren kann, und dem Mann, der sie gefunden hat.« »Wollen Sie, daß wir hinkommen?« fragte Onkel Am. »Wozu? Wie kommt man eigentlich hier 'raus?« 187
»Zeltwand hochheben«, sagte ich. Er tat es. »Na, dann bis bald.« Er kroch unter der Zeltwand hindurch nach draußen. »Na, Ed?« fragte Onkel Am. Ich zuckte die Achseln. Er dachte nach. »Gehen wir zu Carey«, sagte er dann. »Wir könnten natürlich auch hier reden, aber ich werde allmählich genauso hysterisch wie Moto. Ich habe immer das Gefühl, jemand steht vor der Zeltwand und horcht.« Wir gingen den Mittelweg entlang, und plötzlich blieb er stehen. »Blumen«, sagte er. »Wir sollten ein paar Blumen für Jigabos Begräbnis kaufen. Nimm dir ein Taxi und erledige das, ja?« »In Ordnung. Treffe ich dich dann bei Lee?« »Ja.« Er drückte mir zwanzig Dollar in die Hand. »Kauf was Hübsches und laß unsere Namen auf die Schleife drucken. Nur die Vornamen, Ed und Am.« Ich nahm ein Taxi und fuhr in die Stadt. Selbst hätte ich bestimmt nicht daran gedacht, Blumen für Jigabos Begräbnis zu kaufen. Ich kaufte rote Rosen. Der Kleine hatte helle Farben so geliebt. 188
Anschließend ging ich in ein Hotel und rief Ritas Hotel in Indianapolis an. Ich hatte Glück. »Ist das schön, deine Stimme zu hören, Rita«, sagte ich. »Wie geht's deinem Vater?« Sie antwortete nicht sofort, und dann sagte sie: »Er ist gestern abend gestorben. Heute nachmittag ist die Beerdigung.« Ihre Stimme klang sehr ruhig, sehr gefaßt. »Ich — es tut mir leid, Rita. Warum hast du mich nicht angerufen? Ich wäre sofort gekommen.« »Ich wollte es zuerst, habe es aber dann doch nicht getan. Du hast ihn ja überhaupt nicht gekannt.« »Wann kommst du zurück?« »Morgen abend. Der Zug kommt, glaube ich, ungefähr sieben Uhr an. Holst du mich ab?« »Natürlich. Aber warum erst morgen? Warum kommst du nicht heute nacht?« »Ich muß hier noch einiges erledigen, Rechnungen bezahlen und . .. na, und so weiter.« »Brauchst du Geld?« »Aber nein. Er hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen. Das heißt, Mutter hatte sie abgeschlossen und vorsichtigerweise auf meinen Namen registrieren lassen. Sonst hätte er das Geld bestimmt ausgegeben.« 189
»Das ist gut.« Wenn sie Geld gebraucht hätte, hatte ich ihr gern alles gegeben, was ich besaß. Notfalls würde ich sogar meine Posaune versetzen. Aber es war natürlich besser so. »Oh, Eddie, ich bin so froh, daß ich bald wieder bei dir bin.« »Ich auch, Rita.« »Aber komme bitte nicht her. Es wäre nicht .. . sehr taktvoll, wenn wir so kurz nach Vaters Tod zusammen wären. Ich möchte sogar noch etwas warten, wenn ich zurückgekommen bin. Du verstehst mich doch, Eddie?« »Natürlich«, versicherte ich. »Aber nicht zu lange. Eine Woche vielleicht. Wenn ich wieder zurückkomme.« »Wieder zurückkomme?« »Ja. Morgen komme ich nur für einen Tag, um meine Sachen abzuholen und dich wiederzusehen. Dann muß ich für ein paar Tage nach Chicago.« »Chicago?« »Du sprichst wie ein Echo, Eddie. Ich kann dir jetzt nicht alle Einzelheiten erklären, aber ich habe eine sehr gute Idee. Für uns beide.« »Ich verstehe nicht ...« »Bist du morgen am Bahnhof?« unterbrach sie mich. »Ich weiß zwar nicht genau, wann der Zug ankommt ...« 190
»Das finde ich schon heraus.« »Gut, Eddie. Liebst du mich noch?« »Ein bißchen«, sagte ich. »Dann ist es gut. Bis morgen.« »Bis morgen, Rita.« »Bis morgen.« Ich war so glücklich, daß ich überhaupt nicht mehr an unsere Morde dachte. Ich hatte nicht die geringste Lust, zu Onkel Am zurückzugehen. Aber ich tat es dann natürlich doch. Als ich in Lee Careys Wohnwagen trat, saß er dort mit Hoagy und einer angebrochenen Flasche Whisky. Sie spielten Romme, und Onkel Am hatte etwas gewonnen, wie ich mit einem Blick auf den Block feststellte. Ich sagte ihm, daß ich die Blumen bestellt hätte, und Hoagy sagte, es sei schade, daß er nicht davon gewußt hätte, weil ich dann auch für ihn hätte Blumen bestellen können. »Na, ist nicht so schlimm«, sagte er dann. »Ich muß morgen vormittag sowieso in die Stadt.« »Gehst du zur Verhandlung?« fragte ich. »Wozu? Geht ihr hin?« 191
»Nein.« Onkel Am legte seine Karten auf den Tisch. »Handromme.« »Verdammt«, sagte Hoagy und begann, seine Karten zu zählen. Ich schaltete das Radio an und spielte ein bißchen daran herum, bis ich Musik fand. Ich stellte sie so leise, daß sie unsere Unterhaltung nicht stören konnte. Onkel Am steckte sich eine Zigarette an und ließ sich viel Zeit dabei. »Hoagy«, sagte er dann, »wir haben uns Gedanken darüber gemacht, wer die Morde auf dem Gewissen hat. Was denkst du darüber?« »Wie soll gerade ich ...« Er nahm einen Schluck von seinem Whisky. »Den Liliputaner habe ich genauso wenig gekannt wie alle anderen hier. Also habe ich mich um die Sache überhaupt nicht gekümmert. Aber wenn Jigabo auch ermordet und nicht von einem Wagen überfahren worden ist, dann gehört der Kerl, der dafür verantwortlich ist, auf den elektrischen Stuhl. Ich bin durchaus nicht scharf darauf, den Bullen zu helfen, aber in diesem Fall...« »Er ist ermordet worden, Hoagy. Es war kein Unfall.« Hoagy beugte sich vor. »Ich habe auch so was läuten hören. Aber warum? Er wurde schließlich an der Straße gefunden. Wieso soll es kein Unfall gewesen sein?« 192
»Er war nackt«, sagte Onkel Am. »Genau wie der Liliputaner. Das ist der Zusammenhang zwischen den beiden. Und was ist mit Susie?« Hoagy blickte Onkel Am verblüfft an. »Susie? Was soll mit Susie sein?« »Allem Anschein nach ist sie aus ihrem Käfig ausgebrochen und ertrunken. Aber es gibt ein Merkmal, das sie mit den beiden Morden in Verbindung bringt: die Größe. Lon Staffold, Susie und Jigabo waren alle drei gleich groß, oder gleich klein, wenn du willst. Und alle drei starben innerhalb von zwei Wochen eines gewaltsamen Todes. Selbst wenn Susies Tod wie ein Unfall wirkt, es war ein seltsamer Zufall, nicht wahr?« Hoagy goß sich endlich den Drink aus der Flasche ein, die er über sein Glas gehalten hatte, seit Onkel Am zu sprechen angefangen hatte. Er füllte sein Glas bis an den Rand. »Völlig verrückt«, sagte er dann. »Warum sollte irgend jemand . . . Wirklich, es ist irrsinnig. Oder glaubst du vielleicht, daß ein Wahnsinniger hier auf dem Jahrmarkt ...« »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Onkel Am. »Sieh mal, Hoagy, als du Susie aus dem Wassertank gezogen hast, gab es für dich natürlich keinen Grund, mißtrauisch zu werden. Aber hast du vielleicht trotzdem irgend etwas bemerkt, das darauf hindeuten 193
könnte, daß es kein Unfall war?« Hoagy schüttelte langsam den Kopf. Dann sagte er: »Warte mal! Ja, mir ist etwas aufgefallen. Aber damals habe ich der Sache überhaupt keine Bedeutung beigemessen.« Ich stellte das Radio ab. »Du hast recht, ich bemerkte es, als ich sie aus dem Tank zog. Ich ergriff sie an den Armen, und die nassen Haare klebten an ihrem Körper. Und an einer Stelle, wo die Haare sich teilten, bemerkte ich winzige rote Flecken, wie sie eine Injektionsspritze hinterlassen würde.« »Hast du ihr irgendwelche Spritzen gegeben?« »Nein. Alle meine Medikamente mischte ich ins Futter. Im ersten Moment überlegte ich sogar, ob irgend jemand ihr vielleicht Spritzen gegeben haben könnte, aber dann fand ich den Gedanken so blödsinnig, daß ich ihn wieder fallenließ. Wahrscheinlich, dachte ich, hat sie sich beim Ausbrechen an Splittern vom Käfig verletzt, oder so etwas. Verdammt, Am, ich glaube immer noch, daß es so war. Es ist doch Irrsinn. Warum, in aller Welt, sollte jemand Susie umbringen wollen?« »Warum in aller Welt, sollte jemand Jigabo umbringen wollen?« erwiderte ich. »Das ist doch genauso irrsinnig.« 194
Onkel Am nickte. »Sag es ihm, Ed.« Ich erzählte Hoagy von der letzten Nacht und davon, was ich durch das Fenster gesehen hatte. Er ließ nicht gerade die Kinnlade fallen, aber sein Mund stand ein wenig offen. Und er wandte sich um und starrte zum Fenster hinauf, als ob er glaubte, daß auch jetzt ein Affe zu uns hereinstarren würde. Aber da war kein Affe.
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Gegen halb elf kam Carey herein. Er nahm einen
kleinen Schluck aus der Whiskyflasche und setzte sich.
»Ich habe da ein Gerücht gehört«, sagte er und begann, mit einem Stoß Spielkarten zu spielen. »Maury will den Jahrmarkt verkaufen.« »Was du nicht sagst«, rief Onkel Am. »Stimmt das auch?« »Keine Ahnung. Du weißt doch, wie solche Gerüchte aufkommen.« »Möglich wär's schon«, sagte Hoagy. »Maury hat schon oft davon gesprochen, sich zurückzuziehen.« »Gehört ihm denn der ganze Jahrmarkt?« fragte ich. Hoagy schüttelte den Kopf. »Nicht alles. Aber er hat die Majorität der Anteile. Warum hast du das Radio abgestellt, Ed? Die Musik war doch sehr hübsch.« Ich stellte das Radio wieder an, aber nur leise, nur als Geräuschkulisse. Ich wollte mich ganz auf die Gespräche konzentrieren. Aber es schien kein Gespräch mehr zustande zu kommen. Onkel Am ging zur Tür, blickte in die Dunkelheit hinaus und schnippte dann seine Zigarettenkippe fort. 196
»Es wird kühler«, sagte er. Das fand niemand sehr aufregend. Er trat wieder ans Bett, setzte sich und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Und ich fragte mich, ob er der Musik zuhörte oder nachdachte oder einfach nur döste. Wir schlagen hier nur die Zeit tot, dachte ich ärgerlich. Bis jetzt hatten wir nur eins festgestellt. Falls es wirklich eine Tatsache war und nicht ein Produkt von Hoagys Phantasie: die Nadeleinstiche an Susies Arm. Aber trotzdem: wenn man mehrere solcher Mosaiksteinchen zusammentrug, erhielt man vielleicht ein vollständiges Bild. Aber das hätten wir auch durch eine einzige klare Frage an Hoagy erfahren können. Wir hätten nicht einen ganzen Abend dafür verschwenden müssen. Hoagy stand auf und reckte die Arme. »Will man sehen, ob Marge schon zurück ist. Sie wollte Walter am Glücksrad helfen.« Er mußte sich bücken, um durch die Tür zu kommen. Dabei wandte er sich noch einmal um und fragte: »Bleibt ihr noch hier, Am? Vielleicht kann ich Marge noch zu ein paar Runden Romme überreden.« »Wir haben noch zu tun, Hoagy«, sagte Onkel Am. 197
»Wir gehen auch gleich.« »Was haben wir denn zu tun?« fragte ich, als Hoagy gegangen war. »Wir müssen noch einen Drink zu uns nehmen, zum Beispiel«, sagte Onkel Am. »Willst du auch einen?« »Ja, danke.« Lee Carey schenkte uns ein. Wir leerten unsere Gläser, und dann sagte Onkel Am, daß wir nun nach Hause gehen müßten. Wir schlenderten langsam den Mittelweg entlang, und ich fragte: »Was tun wir nun wirklich, Onkel Am?« »Du solltest mal an etwas anderes denken, Junge«, sagte er und runzelte die Stirn. »Ich wollte doch nur fragen . ..« »Hör zu, Ed, wenn ich alle Antworten wüßte, könnte ich dir auch sagen, was wir zu tun hätten.« »Alle Antworten? Soll das heißen, daß du wenigstens schon einige kennst?« »Ich glaube schon.« »Willst du sie mir sagen?« »Nein.« 198
»Danke«, sagte ich. Er grinste. »Wenn du unbedingt etwas tun willst, dann komm mit.« »Wohin?« »Zum Riesenrad.« Ich wußte nicht, ob das ernst gemeint war oder nicht. Aber als er sich wirklich dem Riesenrad näherte, ging ich mit. Beim Riesenrad wechselten wir ein paar Worte mit den Jungs, die dort arbeiteten, und stiegen dann ein. Ein paar Minuten später hatte das Riesenrad unsere Gondel nach oben getragen. Aus der Höhe blickte ich auf die dunkle Wasserfläche des Bassins hinunter, in dem Dienstag nachmittag die tote Schimpansin Susie entdeckt worden war. Aber jetzt schwamm nichts darin. Ich fragte mich, was Onkel Am hier oben wollte. Nur einen Blick von oben in das Bassin werfen? Aber soweit ich sehen konnte, blickte er kein einzigesmal nach unten. Das Riesenrad setzte sich wieder in Bewegung, und ein paar Minuten lang fuhren wir einfach Karussell. Nach einer Weile gab Onkel Am den Leuten ein Zeichen, als unsere Gondel gerade unten war. Nach der nächsten Runde hielten sie das Rad an. Wir stiegen aus. 199
»Und was jetzt?« fragte ich etwas sarkastisch. »Fahren wir jetzt auch noch mit der Geisterbahn und kaufen uns Zuckerwatte, wie die anderen Besucher?« »Kein schlechter Gedanke. Was hältst du von einer kleinen Eisenbahnfahrt ?« Ich dachte, er wollte mit der Kinderbahh fahren, die in engen Kurven durch eine Märchenlandschaft aus Holz und Pappe zuckelte, aber er ging daran vorbei zum Ausgang. Ein Taxi lud gerade neue Besucher aus, und Onkel Am stieg ein. »Zum Bahnhof«, sagte er zum Fahrer. Ich blieb stehen, einen Fuß auf dem Trittbrett. »Moment mal«, sagte ich verblüfft. »Wohin willst du?« »Hast du nicht gehört, was ich dem Mann gesagt habe?« »Natürlich. Und wohin willst du vom Bahnhof aus?« »Nach Cincinnati.« »Ich kann nicht mitkommen, Onkel Am. Ich habe mit Rita telefoniert. Sie kommt morgen abend zurück, nur für ein paar Stunden, und ich habe ihr versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen. Ich kann sie doch nicht .. .« »Keine Sorge. Wir sind rechtzeitig zurück. Also halt den Mund und steig ein.« 200
Ich tat es. Auf dem Weg zum Bahnhof erzählte ich ihm, daß Ritas Vater tot sei. Und alles übrige. Ich erwähnte die Lebensversicherung, und daß sie sich mit der Versicherungssumme auf eigene Füße stellen wollte. Ich sagte nichts davon, daß sie mich dabeihaben wollte. Davon wollte ich erst reden, wenn ich wußte, was sie vorhatte. Dann fragte ich Onkel Am, was er in Cincinnati wollte.
»Irgendwo müssen wir schließlich anfangen, Junge«, sagte er. »Und Cincinnati scheint mir ein guter Anfang zu sein. Lon Staffold kam von dort, und mit ihm fing ja schließlich alles an.« »Weiß war schon in Cincinnati«, erinnerte ich ihn. »Glaubst du, daß wir mehr herausfinden können als er?« »Das wollen wir ja eben feststellen.« Wir hatten Glück. Am Bahnhof erfuhren wir, daß wir nur zehn Minuten auf den nächsten Zug warten mußten und schon kurz nach zwei Uhr in Cincinnati sein würden. Wir sprachen nicht viel während der Fahrt. Onkel Am wollte offenbar seine Ruhe haben und antwortete nur einsilbig, wenn ich ihn ansprach. Also ließ ich ihn in Ruhe und versuchte, etwas 201
nachzudenken. Aber der Erfolg war nur mäßig. In meinem Kopf tanzte ein Reigen von Zwergen und Kindern und Affen. Je mehr ich versuchte, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen, desto konfuser wurden sie. Nach einer Weile gab ich es auf und versuchte zu schlafen. Aber auch das gelang mir nicht. Als wir in Cincinnati angekommen waren, ging Onkel Am sofort auf dem Bahnsteig in eine Telefonzelle. Er rief aber niemanden an, sondern suchte nur eine Adresse. Dann gingen wir zum Taxistand. Er nannte dem Fahrer eine Adresse in der Vine Street. »Vine Street«, sagte ich, »das ist doch die Adresse der Pension, in der der Liliputaner gewohnt hat, nicht wahr?« »Stimmt. Bei Mrs. Czerwinski.« »Und dort willst du jetzt hin? Um halb drei Uhr morgens?« »Und warum nicht?« fragte er und grinste mich an. »Halb drei ist eine Zeit wie jede andere auch.« Das Taxi bog um die Ecke und hielt vor einem altersgrauen Haus. In einem Parterrefenster hing ein Schild: »Keine Zimmer frei.« Onkel Am bezahlte den Fahrer, und wir gingen zur 202
Haustür. Alle Fenster waren dunkel. Onkel Am ließ den Daumen ziemlich lange auf dem Klingelknopf liegen. Eine ganze Weile geschah nichts. Er wollte gerade wieder klingeln, als im zweiten Stock, genau über uns, ein Fenster hell wurde. Eine Frau steckte ihren Kopf heraus und blickte auf uns herab. Sie hatte karottenrotes Haar, und es glänzte wie ein Schlußlicht im Schein einer Straßenlaterne. Ihr Gesicht lag im Schatten, so daß ich es nicht erkennen konnte. »Was wollt ihr?« rief sie, und der Ton ihrer Stimme sagte mir, daß halb drei Uhr morgens eben doch keine Besuchszeit war. Onkel Am trat ein paar Schritte zurück, so daß sein Gesicht von der Straßenlaterne beleuchtet wurde, und rief hinauf: »Hallo, Flo. Liegst du etwa schon im Bett?« »Irgendwie kommst du mir ja bekannt vor«, sagte sie, nicht mehr ganz so unfreundlich, »aber ich weiß nicht .. .« Und dann schrie sie plötzlich: »Mein Gott, Am Hunter! Ich bin sofort unten!« Und der Kopf verschwand. Ich sah Onkel Am an und fragte: »Ist das Mrs. Czerwinski? (Warum, zum Teufel, hast du mir nicht gesagt, daß du sie kennst?« »Du hast mich ja nicht danach gefragt.« 203
»Quatsch. Weiß hast du auch nichts davon gesagt.« »Der hat mich ja auch nicht gefragt«, grinste er. »Flo und ich waren vor vielen Jahren mal zusammen bei einem Jahrmarkt. Sie war damals Wahrsagerin.« »Und war der Liliputaner vielleicht auch dabei? Danach habe ich dich auch noch nicht gefragt.« »Nein, Ed.« Sein Gesicht war wieder ernst. »Du mußt dir eines merken, Junge: Du darfst nie davon ausgehen, daß die Menschen dir etwas ungefragt sagen. Denk an Hoagy, zum Beispiel. Er hätte diese Nadelstiche an Susies Arm nie erwähnt, wenn wir ihn nicht gefragt hätten, ob er etwas Ungewöhnliches an ihr bemerkt hätte.« Im Hausflur ging das Licht an. Wir hörten schlurfende Schritte, und dann wurde die Tür geöffnet. »Mensch, Am! Laß dich ansehen! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Ich glaubte schon, sie würde ihn gerührt an ihren umfangreichen Busen drücken, aber Onkel Am schob mich als eine Art Puffer vor sich her. »Das ist Ed, mein Neffe«, stellte er mich vor. »Mein Bruder ist vor einem Jahr gestorben, und seitdem ist er bei mir.« »Freut mich, Ed«, sagte sie und drückte mir die Hand. »Aber nun kommt doch endlich herein.« 204
»Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte Onkel Am, als wir die Treppe hinaufstiegen. »Außer, daß du ein paar Pfunde zugenommen hast. Steht dir aber sehr gut.« »Heuchler«, sagte sie, aber sie grinste doch geschmeichelt. Es waren sicher mehr als ein paar Pfunde, dachte ich, und das meiste davon war an Hüften und Busen hängengeblieben. Sie war ziemlich umfangreich. Aber ihr Gesicht war überraschend hübsch, mit feinen Zügen und schönen humorvollen Augen. Als sie noch schlanker gewesen war, muß sie eine wirkliche Schönheit gewesen sein. Wir betraten ein Zimmer am Ende des Korridors. Es war sauber und ganz nett eingerichtet, obwohl die Farben mir etwas zu grell erschienen. Wenn man das Bett übersah, aus dem sie gerade aufgestanden war, hatte man den Eindruck, daß sie eben erst gründlich aufgeräumt hatte. Wir setzten uns, und Flo ließ sich in einen Schaukelstuhl fallen, der unter ihrem Gewicht aufseufzte. Sie fragte Onkel Am, auf welchem Jahrmarkt wir arbeiteten, und als er es ihr gesagt hatte, erwiderte sie: »Ist das nicht derselbe, auf dem Lon ermordet worden ist?« 205
Onkel Am nickte. »Ja, Flo. Darüber will ich ja mit dir sprechen.« »Gut, Am.« Sie hatte sich vom Treppensteigen wieder erholt und stand auf. Sie zog ihren Morgenrock enger um ihre ausladenden Formen und ging zu einer Tür, die offenbar in die Küche führte. »Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, ob du einen Drink willst, Am.« »Nein. Das brauchst du nicht«, grinste er. Dann wurde eine Tür zugeschlagen, wahrscheinlich die Kühlschranktür, und sie sagte: »So ein Mist. Es ist nichts mehr da.« Sie kam wieder ins Zimmer zurück. »Einen Augenblick. Ich hole Nachschub.« »Nicht nötig, Flo. Setz dich doch wieder.« »Ich brauche einen Drink, wenn wir reden wollen. Einer meiner Gäste wird schon was Trinkbares haben. Wozu bin ich denn die Pensionsmutter hier?« Sie ging hinaus, und kurz darauf hörten wir sie gegen eine andere Zimmertür klopfen. Onkel Am grinste. »Tolles Mädchen, was?« »Mir macht sie etwas Angst«, sagte ich. »Aber ich mag sie trotzdem. Seit wann kennst du sie?« 206
»Das ist schon lange her. Sie war damals mit einem Dompteur verheiratet, der ein paar Jahre später starb, wie ich hörte. Irgend jemand hat mir dann erzählt, daß sie den Jahrmarkt verlassen und eine Pension aufgemacht hätte.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie war eine wirkliche Schönheit damals.« »Wie gut hast du sie eigentlich gekannt, Onkel Am?« »Du bist ziemlich vorlaut, findest du nicht auch?« »Deine Schuld. Du hast mir eben gesagt, daß man die Leute direkt fragen muß, wenn man eine Antwort erhalten will.« Er lachte amüsiert. Die Antwort blieb ihm erspart, weil Flo Czerwinski mit einer Literflasche unter dem Arm hereinkam. »Gin«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob du so was magst oder nicht, aber das ist alles, was ich auftreiben konnte. Mach die Flasche auf. Gläser sind da drüben.« Sie setzte sich wieder in den Schaukelstuhl und blickte mich prüfend an. »Du hast einen netten Neffen, Am«, sagte sie dann. »Jedenfalls ist er hübscher als du es in seinem Alter gewesen bist. Ich wette, die Mädchen sind verrückt nach ihm.« »Ja. Er muß sie mit einem Baseballschläger wegjagen.«
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Sie blickte mich immer noch an. »Sag mal, kann er auch reden?« »Klar«, antwortete ich. »Was soll ich denn sagen?« Sie seufzte. »Wirklich, er ist genau wie du, Am. Nur größer. Laß mich mal deine Hand sehen, Ed.« Ich reichte ihr meine Hand, und sie drehte die Handfläche nach oben. »Du liebst Musik, nicht wahr, Ed? Aber trotzdem wirst du nie Musiker werden.« Onkel Am stellte die geöffnete Flasche und drei Gläser auf den Tisch. »Laß das, Flo.« Sie beachtete ihn nicht. »Du hast ein langes Leben vor dir«, fuhr sie fort. »Aber du wirst viel Kummer haben. Wie alt bist du jetzt? Zwanzig, einundzwanzig?« »Fast zwanzig«, sagte ich. »Dann steht ein Unglück unmittelbar bevor. Ich sehe einen plötzlichen Tod, und .. .« »Du sollst aufhören mit dem Unsinn!« sagte Onkel Am scharf. Ich blickte in Flos Gesicht. Es war ernst, todernst. Sie ließ meine Hand los. »Der glaubt sowieso nicht an den Unsinn«, sagte
Onkel Am. »Und das ist am allerschlimmsten. Weil
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solche Menschen die guten Voraussagen einfach überhören. Nur die schlechten bleiben ihnen im Gedächtnis haften, und sie haben Angst vor ihnen. Auch wenn sie nicht an deinen Hokuspokus glauben.« »Ich weiß, Am«, sagte sie. »Tut mir leid.«" Sie lächelte mich an. »Es ist natürlich alles Unsinn, Ed.« Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Glas. Ihre Hand zitterte ein wenig, und sie verschüttete Gin auf den Teppich. Onkel Am sah mich prüfend an und setzte sich dann auf das Sofa. Allmählich entspannte sich sein Gesicht wieder. Flo Czerwinski hob ihr Glas. »Trinken wir erst mal. Auf — auf. ..« »Auf Lon Staffold«, sagte Onkel Am. »Ich habe ihn zwar nicht gekannt, aber trinken wir trotzdem zu seinem Gedenken.« »Gut, Am«, sagte Flo, »auf Lon. Er war zwar ein widerlicher kleiner Bastard. Aber irgendwie habe ich ihn doch ganz gern gehabt.«
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Das Gespräch der beiden verlor sich für eine Weile in Erinnerungen, die mich nicht besonders interessierten. Dann fiel plötzlich wieder der Name »Lon«, und ich hörte wieder aufmerksamer zu. »Wirklich«, sagte Flo, »es war nicht leicht, mit ihm auszukommen. Alle Liliputaner sind ja etwas schwierig, und Lon war es besonders. Aber wenn man sich an seine Art gewöhnt hatte, war er ganz erträglich. Er hat nie von sich gesprochen. Das wenige, was ich über ihn erfahren konnte, habe ich von anderen gehört. Du weißt, was ich meine.« »Wie lange hat er hier gewohnt?« »Vier Jahre, fast fünf. Er war — laß mich mal nachdenken — er war fast dreißig, als er herkam. Irgend etwas hatte ihn vom Jahrmarkt verjagt. Er haßte ihn und schwor, daß er nie wieder auf Jahrmärkten arbeiten würde. Und er haßte es, seine Abnormität zur Schau zu stellen. Wenn man mit ihm auskommen wollte, durfte man niemals davon sprechen.« »Was hat er gemacht, bevor er zu dir kam?« fragte Onkel Am. »Weiß hat mir gesagt, daß er sechs oder acht Jahre nicht mehr auf Jahrmärkten gearbeitet hat, und bei dir hat er nur knapp fünf Jahre gewohnt. Weißt du, was er in der Zwischenzeit getrieben hat?«
»Er war in Toledo. Er hat es mir nicht direkt gesagt, aber ich glaube, er hat dort einen Zeitungsstand gehabt. Jedenfalls war er kein Neuling mehr in dem Geschäft, als er hier anfing.« »Hat er gut verdient dabei?« »Aber nein. Er ist zwar nicht verhungert, aber viel Geld hat er nie gehabt. Immer hat er geschimpft, daß er keinen Pfennig in der Tasche hätte.« »Und trotzdem hat er die Miete für zwei Wochen im voraus bezahlt, als er abreiste«, sagte Onkel Am. »Ja, von dem Geld, das er für seinen Zeitungsstand bekam. Er hat ihn für zweihundert Dollar verkauft.« »Ja, Weiß hat es mir erzählt«, sagte Onkel Am. »Ich hatte es vergessen. Mit anderen Worten: er wollte zwar nach Cincinnati zurückkommen, hatte aber nicht die Absicht, weiter Zeitungen zu verkaufen. Hat er dir gesagt, was er vorhatte?« »Nein. Er hat doch nie den Mund aufgemacht. Aber ich hatte den Eindruck, daß er mit den Taschen voll Geld zurückkommen wollte.« »Das war vor fast drei Wochen, Flo. Und vor zwei Wochen ist er ermordet worden. Als er abreiste, waren wir gerade unterwegs nach Evansville. Ist er dort hingefahren?« 211
»Ich weiß nicht. Die Polizei sagte mir, sie hätten alle Eisenbahn- und Busstationen kontrolliert. Aber niemand kann sich an einen Liliputaner erinnern.« »Verdammt, er kann sich doch nicht versteckt haben«, sagte Onkel Am. »Ein Liliputaner fällt doch auf. Er muß doch irgendwo gewesen sein, bevor er bei uns als Leiche auftauchte. Wie viele Anzüge hat er eigentlich besessen, Flo?« »Drei, glaube ich. Einen hat er getragen, als er wegfuhr. Die beiden anderen hat er hiergelassen. Er hat nur eine Aktentasche mitgenommen, keine Koffer.« »Wenn er zwei Wochen fortbleiben wollte«, warf ich ein, »hätte er doch mehr mitnehmen müssen als das, was in eine Aktentasche hineingeht.« Flo Czerwinski sah mich überrascht an und sagte dann zu Onkel Am: »Mein Gott, der kann ja wirklich sprechen.« »Und sogar das Richtige«, sagte Onkel Am. »In einer Aktentasche kann er doch höchstens ein paar Toilettensachen und etwas Unterwäsche gehabt haben.« »Liliputanerkleidung nimmt nicht viel Platz weg«, sagte Flo. »Außerdem hat er nicht mit zwei vollen Wochen gerechnet. Er glaubte, er würde vielleicht schon in ein paar Tagen wieder zurück sein, es könnte aber auch etwas länger dauern.« 212
»Hat er irgendwann unseren Jahrmarkt erwähnt, oder daß er jemanden von uns kannte?« »Nein. Er hat nie über seine Vergangenheit gesprochen. Und er hat auch nie einen Brief bekommen, soviel ich weiß. Also hat er mit keinem Menschen, den er vielleicht von früher gekannt hat, Kontakt gehabt. Auch hier hatte er keine Freunde.« »Mein Gott«, sagte Onkel Am. »Was hat er dann in seiner Freizeit gemacht?« »Er hat viel gelesen und ist fast jeden Abend ins Kino gegangen. Und manchmal hat er Gedichte geschrieben.« »Gedichte?« sagte Onkel Am überrascht, »Ja, Gedichte. Er war klüger als die meisten Liliputaner. Vielleicht nur, weil er so viel las. Wenn er kein Zwerg gewesen wäre, hätte wirklich etwas aus ihm werden können. Aber wer will schon einen Liliputaner. Außer Zirkus und Jahrmarkt, meine ich.« »Hat er dir nie eines von seinen Gedichten gezeigt, Flo?« »Nein. Er hat sie keinem Menschen gezeigt. Aber manchmal hat er vergessen, sie wegzuräumen, wenn er fortging, und ich habe sie gesehen, als ich sein Zimmer aufräumte.« »Waren sie gut?« »Woher soll ich das wissen? Ich bin doch kein
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Kunstkritiker. Es war merkwürdiges Zeug. Ich meine, es war nicht zum Lachen. Es war verdammt . . . ich weiß nicht, wie man es nennt.« »Bitter?« schlug ich vor. »Ja, das ist es. Bitter. Immer ist von Gräbern und vom Sterben die Rede. Und es reimt sich nicht einmal. Wollt ihr es mal lesen?« »Hat die Polizei seine Sachen nicht beschlagnahmt?« »Nein. Sie liegen alle auf dem Boden. In einem Koffer. Als die Polizei hier war, haben sie zwar alles sehr gründlich durchsucht, aber nichts gefunden, was ihnen weiterhelfen konnte.« »Könnten wir die Sachen auch mal sehen, Flo?« »Sicher. Aber ohne mich. Ich bin zu dick, um zwei Treppen hochzusteigen. Der Koffer steht auf dem Boden, gleich rechts von der Tür.« »Wir werden ihn schon finden.« Onkel Am stand auf. »Übrigens, hast du noch ältere Nummern der Zeitung Billboard?« »Kann sein. Warum?« »Hat Lon auch den Billboard gelesen?« »Aber nein. Er haßte doch alles, was mit Jahrmärkten zusammenhing. Und das galt auch für diese Zeitung.« »Ich würde trotzdem gerne mal 'reinsehen.« »Na schön.« Sie hievte sich aus dem Stuhl, holte einen 214
Packen der Zeitung Billboard aus einem Schrank und legte ihn auf den Tisch. »So, und hier ist der Bodenschlüssel«, sagte sie. »Aber beeil dich. Wir haben noch eine Menge Gin in der Flasche.« Und damit füllte sie wieder unsere Gläser. Ich versuchte, mich zu drücken, aber damit kam man bei Flo nicht durch. »Du bist doch kein Kind mehr«, sagte sie strafend und füllte das Glas randvoll. »Trink, davon wachsen dir Haare auf der Brust. Sag mal, Am, erinnerst du dich noch an den Sturm in Bridgeport?« Und sie waren wieder bei ihren Erinnerungen. Aber nicht sehr lange diesmal. Nach einer Viertelstunde brach Onkel Am das Gespräch ab. Er nahm die Zeitungen, ich den Bodenschlüssel, und wir stiegen die Treppe hinauf. Der Koffer stand wirklich hinter der Bodentür. Ganz oben lagen die Anzüge. Einer war frisch gebügelt und fast neu. Der andere, sein Arbeitsanzug, war ziemlich abgetragen. Onkel Am breitete die Zeitungen auf dem Boden aus. »Leg das Zeug hier drauf, Ed«, sagte er, »damit wir es wieder so zurücklegen können, wie wir es gefunden haben.« 215
»In Ordnung«, sagte ich. »Aber was suchen wir eigentlich?« »Keine Ahnung, Junge. Vielleicht wissen wir das erst, wenn wir es finden. Wahrscheinlich aber werden wir gar nichts finden. Weiß hat es ja schon vor uns versucht. Aber vielleicht können wir uns hinterher ein besseres Bild von ihm machen.« »Ich verstehe.« Die Fragen, die er Flo Czerwinski gestellt hatte, hatten uns keinen Schritt weiter gebracht. Aber wir sahen jetzt doch den Liliputaner als einen Menschen und nicht mehr nur als gesichtsloses Opfer eines Mordes. Ich will sagen, bisher war er für mich nur ein Foto gewesen. Das Foto eines toten Gesichts vor dem Hintergrund zertrampelten Grases. Allmählich wurde er ein Mensch, ein Mensch, dessen Zwergenkörper ihn gehindert hatte, wirklich ein Mensch zu sein, der darunter gelitten hatte und der sein Leiden vor den Menschen verborgen hatte, indem er sie vermieden und sich in Filme und Bücher vergraben hatte. Ich hatte ihn gerade kennengelernt. Es wäre vielleicht interessant gewesen, mit ihm zu reden. Falls man seinen Panzer von Abwehr und Menschenscheu hätte durchdringen können. Aber dazu war es nun zu spät. Alles, was von ihm 216
übriggeblieben war, befand sich hier in diesem Koffer. Und in einem Grab auf dem Friedhof von Evansville. Onkel Am durchsuchte die Taschen der beiden kleinen Anzüge. Er fand nur einen abgebrochenen Zahnstocher in der Brusttasche. Ich legte die Anzüge sorgfältig zusammen, bevor ich sie auf die Zeitungen breitete. Ich wußte auch nicht, warum. Er würde sie nie wieder tragen. Niemand würde sie je wieder tragen. In einem Jahr würde Mrs. Czerwinski das Zeug wahrscheinlich in die Heizung stecken. Unter den Anzügen fanden wir winzige Hemden und Kindersocken. Die zumindest hatte er gleich kaufen können. Alles andere hatte er nach Maß anfertigen lassen müssen. Wie zum Beispiel den winzigen Mantel, der darunter lag. Wir hatten fast den Boden des Koffers erreicht. Unter der Kleidung befand sich nur noch ein Stoß beschriebenen Papiers und ein Paket neuen Schreibpapiers, das noch verschlossen war. Onkel Am prüfte das Paket sorgfältig. Er stellte fest, daß es nicht geöffnet und wieder zugeklebt worden war, und legte es zur Seite. »Keine Bücher«, sagte ich erstaunt. »Müßte er keine 217
Bücher haben, wenn er so viel gelesen hat?« »Nicht unbedingt, Ed. Manche Menschen, die viel lesen, wollen keine Bücher besitzen. Vor allem Menschen, die viel unterwegs gewesen sind, und die eines Tages wieder unterwegs sein könnten. Ich glaube, daß er seinen ganzen Lesestoff aus Leihbüchereien bezogen hat.« Onkel Am sah die beschriebenen Bogen durch. »Nicht ein einziger Brief dabei«, sagte er nach einer Weile. »Sieht aus wie Gedichte.« Er begann zu lesen, und ein eigenartiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Nur Gedichte?« fragte ich ihn. »Nichts anderes?« »Nicht anderes. Aber verdammt gute Gedichte, wenn du mich fragst. Jedenfalls besser als ich angenommen habe.« Er reichte mir ein Blatt, und ich las: Die Blätter des Verzweifeins wehen hernieder und sammeln sich zu meinen Füßen; eine kühle Stimme stört sie auf, und sie flüstern mit den sanften Stimmen der Nie-Gewesenen in Träumen unter einem fahlen Himmel. Ich las es noch einmal. »Ich verstehe das nicht. Das gibt doch überhaupt keinen Sinn. Das sind doch nur Worte.« »Natürlich sind das nur Worte. Was hast du denn 218
erwartet, vielleicht Orgelbegleitung?« »Wahrscheinlich ist es einfach zu hoch für mich.« Ich nahm ein zweites Blatt. Wie das erste hatte es keinen Titel. Die erste Verszeile lautete: »Deckt meinen Sarg langsam zu.« Es war sehr still hier. Die Ecken des Bodenraums lagen in tiefem Schatten, und ich fröstelte etwas, wenn ich daran dachte, daß Lon, der tote Liliputaner, diese Zeilen geschrieben hatte. Es war natürlich Unsinn. Jeder Mensch mußte einmal sterben, jeder Mensch wird mal begraben. Also was soll's? Ich steckte mir eine Zigarette an, bevor ich das Gedicht weiterlas : Deckt meinen Sarg langsam zu,
damit ich jede Scholle einzeln fallen höre.
Mit Ohren, die keinen anderen Laut mehr vernehmen,
nicht einmal mehr im Traum.
Bald wird der Regen kommen
und die Erde in einen Lehmteig verwandeln,
in dem ich eine der vielen Rosinen sein werde.
So ist es.
Ja, so ist es. Ich las das Gedicht noch einmal und reichte es dann wieder Onkel Am. Er wollte mir noch eins geben, aber ich schüttelte den Kopf. 219
»Nein, danke«, sagte ich. »Zu makaber.« Er sah mich an und las weiter. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und dachte über die Gedichte nach. Das letzte hatte mir überhaupt nicht gefallen. Aber vielleicht war das auch nicht beabsichtigt. Die Verse hatten irgend etwas in meinem Inneren aufgewühlt. Und vielleicht war das ihr eigentlicher Sinn. Ich stellte mir vor, wie der Zwerg in seinem Zimmer gesessen und diese Zeilen geschrieben und empfunden hatte, und mir wurde unheimlich zumute. Und in Evansville hatte es geregnet, als sie ihn begraben hatten. Und, verdammt noch mal, wenn man es richtig überlegte, so war die Erde wirklich ein riesiger Lehmbrei, mit Milliarden von Toten als Rosinen darin. Onkel Am legte die Bogen zusammen. Wir räumten alles wieder in den Koffer ein und schlössen ihn. »So, das war's«, sagte Onkel Am. »Hast du irgend etwas erfahren?« fragte ich. »Nicht über den Mord. Aber ich weiß jetzt, warum er Gedichte geschrieben hat.« »Muß ich fragen, warum?« »Das kannst du halten, wie du willst. Ich könnte dir 220
jedenfalls keine Antwort geben. Es ist etwas, das man nur fühlen kann, wie . .. Könntest du jemand erklären, warum du Posaune spielst?« »Ich verstehe, Onkel Am. Ich weiß auch, daß Mrs. Czerwinski recht hatte, als sie sagte, daß ich nie Musiker werden würde.« »Mein Gott, Junge«, sagte er ärgerlich. »Du fällst doch nicht etwa auf diesen Hokuspokus herein?« »Natürlich nicht. Das habe ich auch schon vorher gewußt.« »Hoffentlich, Junge.« Er warf mir noch einen prüfenden Blick zu und hob dann die Nummern des Billboard vom Boden auf. Er schob mir etwa die Hälfte der Hefte zu. »Hier, Ed, hilf mir beim Suchen.« »Wo? Bei den Inseraten?« »Ja, vor allem Stellenangebote und persönliche Anzeigen. Und wenn irgendeine sich auf Liliputaner bezieht.. . Ach, Unsinn. So deutlich kann es nicht sein. Halte einfach die Augen offen. Ich weiß selbst nicht, auf was wir achten müssen.« »In Ordnung«, sagte ich, nahm die Zeitschriften auf den Schoß und las die Inserate durch. In der ersten Nummer fand ich nichts. In der zweiten stand ein Stellengesuch von einem Liliputaner. Aber unter dem 221
Inserat standen ein Name und eine Anschrift in Birmingham, Alabama. Das kam also nicht in Frage. Ich bog trotzdem die Seite um. Für alle Fälle. In der dritten Nummer fand ich es dann. Das Inserat, das wir finden wollten, meine ich. Ich brauchte es nicht mal zu suchen. Es war mit dicken Bleistiftstrichen eingerahmt. Es stand unter der Rubrik Persönliches und lautete: LON S. - VIEL GELD. SHORTY
Box D—4, Billboard, Cincinnati 1. au—17.
»Ich hab's«, sagte ich aufgeregt und reichte Onkel Am die Zeitschrift. »Das ist es wirklich, Junge. Hast du die Anzeige angestrichen, oder . . .« »Nein, das war schon. Was soll ›au—17‹ bedeuten?« »Das ist die letzte Nummer, in der das Inserat erscheinen sollte. Wollen mal nachsehen. Dies ist die Ausgabe vom 3. August. Ich habe die letzte Julinummer, und in der steht es nicht. Also ist es für die drei ersten Augustnummern aufgegeben worden, die am dritten, zehnten und siebzehnten herausgekommen sind. Sehen wir mal nach, ob das stimmt.« Seine Vermutung erwies sich als richtig. Das Inserat stand auch in den beiden folgenden Augustnummern, war jedoch nicht angestrichen wie in der ersten. 222
»Jetzt müssen wir feststellen, wer es angestrichen hat, Ed. Flo behauptete, daß der Liliputaner niemals den Billboard las. Aber vielleicht hat er ihre Hefte gelesen, ohne daß sie es merkte.« »Möglich«, sagte ich. »Nein, wenn man es richtig überlegt. Ein Mensch, der eine Zeitung liest, wird sich hüten, irgend etwas anzustreichen. Na, das werden wir ja gleich feststellen. Komm.« Er hob die Zeitschriften auf und ging zur Treppe. Ich folgte ihm. Von der Bodentreppe aus warf ich einen letzten Blick auf den Koffer. Er sah aus wie ein Kindersarg. Oder wie der Sarg eines Liliputaners. Und in einem gewissen Sinn war er das auch. Kein Sarg für den Körper, sondern für die Gedanken, die auf einem Stoß Papier festgehalten worden waren und die eines Tages verbrannt werden und für immer ausgelöscht sein würden. Genauso wie der Körper. Ich löschte das Licht, schloß die Tür und stieg die Treppe hinunter. Ich fragte mich, ob noch irgend jemand nach uns die Gedanken lesen würde, die oben in dem Koffer lagen. Onkel Am klopfte an Flo Czerwinskis Tür. »Du willst sie doch nicht um diese Zeit noch einmal 223
wecken?« fragte ich. Es war inzwischen fast vier Uhr morgens. »Natürlich werde ich sie wecken. Die Sache ist wichtig genug.« Er klopfte noch einmal. Ich hörte die Bettfedern ächzen und sah das Licht aufflammen. Dann hörte ich schlurfende Schritte auf die Tür zu. Flo Czerwinski öffnete. »Tut mir leid, daß ich noch mal stören muß, Flo«, sagte Onkel Am. »Aber ich muß Gewißheit haben. Wegen dieser Anzeige.« Er schlug die Zeitschrift auf und reichte sie ihr. »Ach das. Verdammt, das habe ich völlig vergessen. Kommt 'rein.« »Nein, danke. Wir gehen gleich wieder. Ich wollte nur wegen des Inserats . ..« »Da ist nicht viel zu sagen. Ich habe es zufällig entdeckt und dachte, ›Lon S.‹ könnte vielleicht Lon Staffold heißen. Also habe ich es angestrichen und ihm gezeigt. Aber er sagte, es könnte nicht für ihn sein, weil er niemand namens Shorty kenne.« »Und das war alles, was er dazu gesagt hat?« Sie nickte. »Ja. Darum ist es mir auch völlig entfallen.« Ihre Augen wirkten gar nicht mehr schläfrig. »Sag mal, glaubst du, es könnte trotzdem für 224
ihn gedacht gewesen sein? Aber dann verstehe ich nicht, warum er es vor mir verheimlichen wollte. Er hat sich nichts aufgeschrieben, und . . .« »Das Inserat ist so kurz, daß er sich den Text leicht merken konnte«, sagte ich. »Stimmt. Also hat er vielleicht nur so getan, als ob es ihn nichts anginge, und es doch beantwortet. Hältst du das für möglich, Am?« »Ich weiß nicht. herauszubekommen.«
Ich
werde
versuchen,
es
»Sehe ich euch noch, bevor ihr wieder zurückfahrt?« »Das kann ich noch nicht sagen, Flo. Aber ich rufe dich auf jeden Fall an.« Wir gingen, und als wir auf die Straße traten, erschien schon das erste fahle Licht der Morgendämmerung am Himmel. Zwei oder drei Taxis fuhren an uns vorbei, aber Onkel Am hielt sie nicht an. »Frierst du, Ed?« fragte er mich nach einer Weile. »Nein. Aber Hunger habe ich.« »Dann müssen wir etwas essen, bevor wir uns ein Hotel suchen. Als nächstes gehen wir zum Opera Place 25, aber das hat Zeit bis morgen vormittag. Heute vormittag, meine ich natürlich.« 225
Ich nickte. Opera Place 25 war eine Adresse, die jeder, der mit dem Jahrmarkt zu tun hatte, kannte. Es war die Adresse des Billboard-Verlags. »Glaubst du, die sagen uns, wer die Anzeige aufgegeben hat?« »Ich kannte mal einen, der dort gearbeitet hat.« »Und wenn der nicht mehr dort arbeitet?« »Wenn sie mir keine Auskunft geben wollen, hole ich Captain Weiß her. Dem müssen sie es sagen. Aber ich habe sowieso keine große Hoffnung, daß es uns weiterbringt. Höchstwahrscheinlich hat der Kerl, der die Annonce aufgegeben hat, einen falschen Namen und postlagernd als Adresse angegeben.« »Wozu dann alles?« »Weißt du was Besseres?« »Leider nicht«, gab ich zu. »Ich bin nur müde und hungrig.« Wir fanden ein Restaurant, das schon oder noch geöffnet hatte und aßen etwas. Dann nahmen wir uns ein Doppelzimmer in einem kleinen Hotel am Fountain Square. Onkel Am bat den Portier, uns um neun Uhr zu wecken. Als wir im Zimmer waren, sagte er: »Du brauchst nicht so früh 'raus, Eddie. Die Sache beim Billboard erledige ich lieber allein. Ich wecke dich, wenn ich 226
zurückkomme. Du kannst zwei Stunden länger schlafen.« »Schön«, sagte ich. »Aber laß mich nicht zu lange schlafen. Ich muß heute abend um sieben in Fort Wayne sein, um Rita abzuholen.« »Keine Sorge, Eddie, du bist rechtzeitig dort.« Ich war schon im Bett. Onkel Am schaltete das Licht aus und stieg ebenfalls ins Bett. Und als ich ihn kurz darauf etwas fragen wollte, war er schon eingeschlafen.
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Ich hörte um neun Uhr das Telefon klingeln, aber weil ich wußte, daß es nicht mir galt, schlief ich sofort wieder ein. Ein paar Sekunden später schüttelte Onkel Am mich an der Schulter. Ich schlug die Augen auf und sagte: »Was ist denn los? Du hast doch gesagt, ich könnte noch ein paar Stunden . ..« Ich sah, daß er schon fertig angezogen war. »Es ist Mittag, Junge«, grinste er. »Und wenn du rechtzeitig in Fort Wayne sein willst, mußt du dich beeilen.« Er setzte sich auf die Bettkante und legte ein Paket auf den Stuhl, auf den ich meinen Anzug gehängt hatte. Aber der war nicht mehr da. Bevor ich Fragen stellen konnte, sagte Onkel Am: »Ich habe ihn zum Bügeln gegeben. Wenn wir in Fort Wayne ankommen, hast du keine Zeit mehr dazu. Bis du dich geduscht hast, ist er fertig.« Er öffnete das Paket, und ich sah, daß es ein neues Hemd, Unterwäsche, Socken und eine wirklich tolle Krawatte enthielt. »Du bist der beste Onkel, den es gibt«, sagte ich. »Weiß ich«, sagte er. »Aber ich bin vor allem ein sehr hungriger Onkel. Also beeil dich gefälligst.« 228
Erst als wir im Speisesaal des Hotels bei einem reichhaltigen Frühstück saßen, fiel mir ein, ihn zu fragen, was er beim Bill-board-Verlag erreicht hatte. »Genau das, was ich erwartet habe«, erwiderte er. »Der Name des Inserenten ist angeblich John Smith, und seine Adresse postlagernd, Louisville, Kentucky.« »Louisville«, sagte ich. »Dort haben wir doch um diese Zeit gearbeitet, nicht wahr?« »Richtig. Vom fünften August, also zwei Tage, nachdem das Inserat aufgegeben worden ist, bis zum fünfzehnten. Weiß hat recht behalten, Ed. Der Mörder ist unter uns, auf unserem Jahrmarkt.« Als wir gegessen hatten, erinnerte ich Onkel Am daran, daß er Flo Czerwinski versprochen hatte, sie anzurufen. Er rief sie beim Friseur an, wo wir uns rasieren ließen, weil wir kein Rasierzeug mitgenommen hatten. Dann begaben wir uns zum Bahnhof. Unser Zug ging kurz vor zwei. Während der Fahrt waren wir zunächst recht schweigsam. Ich hörte auf das Klicken und Rollen der Räder und dachte daran, daß jede Minute, die verging, mich dem Wiedersehen mit Rita näherbrachte. Onkel Am zog schließlich einen Briefumschlag aus seiner Tasche und begann, sich Notizen zu machen. 229
»Wann ist eigentlich Lon ermordet worden?« fragte er mich nach einer Weile. »Donnerstag nacht«, antwortete ich. »Das war der fünfzehnte August. Das heißt, eigentlich war es schon Freitag, der sechzehnte, weil er ja nach Mitternacht starb.« »Donnerstag nacht also«, sagte er und trug das Datum ein. »Auch wenn es nach Mitternacht war, lassen wir's bei Donnerstag, dem fünfzehnten. Und Susie?« »Susie verschwand am Abend unseres ersten Tages in Fort Wayne. Das war vergangenen Montag, dem sechsundzwanzigsten August. Wir haben sie zwar erst am folgenden Nachmittag im Tank gefunden, aber gestorben ist sie am Montag.« Er notierte »Montag, 26. August«. »Und Jigabo ist vorgestern gestorben, also Mittwoch, den achtundzwanzigsten August.« Er trug auch dieses Datum ein. »Am selben Abend hast du auch Susie — oder einen Doppelgänger von Susie — durch das Fenster gesehen.« Ich nickte. »Was wissen wir sonst noch? Lon hat Cincinnati am zehnten August verlassen, also fünf Tage, bevor er ermordet würde.« 230
»Das war unser zweiter Tag in Louisville«, ergänzte ich. Er trug ein: »L. S. verläßt Cincinnati, 10. 8.« »Du könntest noch ein Datum eintragen«, schlug ich vor. »Den dritten August, an dem Billboard das Inserat brachte.« Er nickte und trug auch das ein. »Wenn Lon es am selben Tag gesehen und sofort beantwortet hat, könnte sein Brief am fünften August in Louisville angekommen sein. Es paßt alles genau zusammen, Junge. Aber trotzdem sehe ich noch keinen Sinn darin.« Der Zug fuhr in den Bahnhof von Lima ein, wo wir umsteigen mußten. Wir gingen in ein Restaurant und bestellten Kaffee. Onkel Am legte den Briefumschlag mit der Datenliste zwischen uns auf den Tisch. »Irgend etwas fehlt uns noch, Ed«, sagte er. »Irgend etwas haben wir übersehen. Wenn wir es finden, ist mit einem Schlag alles klar.« Ich nickte und trank einen Schluck Kaffee. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die Bahnhofsuhr. Es war fünf Uhr vierzehn, nur noch eine Stunde und sechsundvierzig Minuten bis sieben. »Denk mal nach, Junge«, sagte Onkel Am. 231
»Vielleicht finden wir es.« Ich riß den Blick von der Uhr los. »Uns fehlt noch immer das Motiv«, sagte ich. »Weder du noch Weiß glauben daran, daß die Morde von einem Irren verübt worden sind, aus reiner Lust am Töten. Aber sonst kann ich kein Motiv entdecken. Wer hatte denn einen Vorteil von den Morden? Vielleicht hat irgend jemand einen alten Haß auf Lon mit sich herumgetragen und sah jetzt eine Gelegenheit, sich an ihm zu rächen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Onkel Am. »Aus Haß tötet man im Affekt, in einem Zustand plötzlicher Wut. Dieser Mord aber war vorausgeplant. Irgend jemand hat durch ihn einen Vorteil gehabt. Was sonst, Ed?« »Wir müßten herausbekommen, warum alle drei Opfer die gleiche Größe hatten. Wenn ich nur wüßte . ..« Ich starrte wieder auf die Liste. Aber sie sagte mir nichts. Nichts Neues jedenfalls. »Denk nach, Junge«, hörte ich Onkel Am sagen. »Du hast das bessere Gedächtnis von uns beiden. Schließ die Augen, konzentriere dich ganz auf die Dinge, die du eben erwähnt hast: Motiv, Geld, gleiche Größe, die Größe eines Liliputaners, eines Kindes, eines Schimpansen.« 232
Ich schloß die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren, aber es kam nichts dabei heraus. In der Ferne pfiff eine Lokomotive. »Mir ist da etwas eingefallen«, sagte ich schließlich. »Aber ich sehe keine Möglichkeit ...» »Das ist im Augenblick auch nicht so wichtig. Was war es?« »Am Tag nach Lons Ermordung habe ich mir in Evansville eine Zeitung gekauft, um zu sehen, was sie über den Fall geschrieben hatten. Darin wurde auch eine Kindesentführung gemeldet. Der Entführer verlangte fünfzigtausend Dollar. Die Entführung hatte in der vergangenen Nacht stattgefunden. Also in der Nacht, in der Lon ermordet wurde. Der entführte Junge war sieben Jahre alt. Auch hier also die gleiche Größe wie Lon, Susie und Jigabo. Deshalb bin ich überhaupt darauf gekommen. Und die fünfzigtausend Dollar als Motiv.« »Und wo ist das passiert?« Ich dachte nach, und dann fiel es mir wieder ein. »In Louisville«, sagte ich und fröstelte unwillkürlich. Wieder pfiff die Lok. Sehr nah jetzt. Ich stand auf. »Komm, Onkel Am, wir müssen zum Zug.« Er rührte sich nicht. Er saß unbeweglich da und 233
starrte ausdruckslos vor sich hin. Als ob er einen Geist gesehen hätte. »Onkel Am, der Zug!« Er hob langsam den Kopf. »Du mußt allein fahren, Junge. Ich komme nach. Morgen ...« Ich verstand nichts. Was ich ihm eben gesagt hatte, mußte ihn sehr hart getroffen haben. Diesen starren Blick hatte ich bisher nur einmal auf seinem Gesicht gesehen. Als ich ihm mitteilen mußte, daß mein Vater — sein Bruder — gestorben war. Der Zug fuhr ein, und in einer Minute würde er weiterfahren. Ohne mich. Und wenn ich ihn versäumte, würde ich nicht rechtzeitig in Fort Wayne sein. Rita würde vergeblich auf mich warten, und . . . »Worauf wartest du denn noch?« fuhr Onkel Am mich an. »Verschwinde endlich, damit du den Zug nicht versäumst.« »Aber . . .« Er griff nach dem Salzstreuer und machte eine Bewegung, als ob er ihn nach mir werfen wollte. »Hau endlich ab!« Die Lok pfiff. Ich rannte zum Bahnsteig und sprang auf den anfahrenden Zug. 234
Rita trug ein schwarzes Kleid. Es machte sie noch schöner. Sie sah wie ein Engel aus. Aber nicht wie ein Engel, den man nur aus der Ferne anbeten möchte. Sie verstehen schon, was ich meine. Ich sprach von ihrem Vater, aber sie fügte hinzu: »Bitte, wir wollen nicht davon sprechen, Ed.« Doch dann sprach sie doch von ihm. »Ich möchte nicht, daß du einen falschen Eindruck bekommst«, sagte sie. »Ich will ehrlich sein: Ich habe meinen Vater nicht geliebt. Man soll zwar von den Toten nichts Schlechtes sagen, aber ... Er hat nicht viel getaugt, Ed. Er hat meine Mutter sehr gemein behandelt. Nicht, daß er sie geschlagen hätte oder so was. Und wenn er fremd gegangen ist, dann habe ich nichts davon gemerkt. Aber der Alkohol hat ihm mehr bedeutet als alles andere, einschließlich seine Familie. Ich glaube, meine Mutter ist nur meinetwegen bei ihm geblieben. Sie hatte ein kleines Einkommen. Davon hat sie die Lebensversicherung bezahlt. Und weil sie meinen Vater kannte, hat sie Vorsorge getroffen, daß er nicht an das Geld herankommen konnte. Sie ist an Krebs gestorben, Ed. Sie wußte also lange vorher, daß sie sterben würde, und hat Zeit gehabt . ..« »Das brauchst du mir doch nicht alles zu erzählen«, sagte ich und legte meine Hand auf die ihre. »Es ist doch gar nicht so wichtig.« 235
»Doch, es ist wichtig, Eddie. Weil er der Grund war, warum wir so lange getrennt gewesen sind, obwohl wir uns gerade kennengelernt hatten. Es hat mir weh getan, daß er so sterben mußte. Gerade weil ich ihn nie leiden konnte. Er war kein schlechter Mensch, weißt du. Aber man lernt die Menschen immer erst richtig kennen, wenn es zu spät ist. Er war wirklich nicht schlecht, Eddie, nur schwach. Und er war mein Vater . . .« »Sprich nicht davon, Rita.« »Ich wollte auch nicht davon sprechen. Er wußte von Anfang an, daß er sterben würde, und er war froh darüber ...» »Ich verstehe.« Und dann, um sie abzulenken, fragte ich: »Was ist das für eine Sache in Chicago?« »Wir werden uns auf eigene Füße stellen, Eddie.« »Und wie?« »Ich habe fünftausend Dollar von der Versicherung bekommen. Davon sind noch über viertausend da. Ich habe für ihn ein würdiges Begräbnis ausrichten lassen, seine Schulden bezahlt und ein paar Kleider gekauft, weißt du.« »Das hier steht dir ausgezeichnet«, sagte ich und blickte sie bewundernd an. »Aber mit viertausend Dollar ...« 236
»Ich weiß, das ist nicht gerade ein Vermögen. Man könnte gerade ein Jahr lang davon leben. Aber wenn man es richtig anlegt, kann man damit einen Haufen Geld verdienen. Ich werde für uns eine Illusions-Show kaufen, Eddie.« »Eine was?« »Du weißt doch, was eine Illusions-Show ist. Die, an die ich denke, hat fünf Nummern: ein Schwertkabinett, eine Guillotinen-Nummer, eine schwebende Jungfrau, und noch zwei andere. Damit können wir uns eine neue, eigene Existenz aufbauen, Eddie.« Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte, und bevor ich meine Gedanken wieder geordnet hatte, fuhr sie fort: »Ich würde gerne Onkel Am bei uns haben, wenn er Lust dazu hat. Wir drei, und noch ein zweites Mädchen für die Bühne. Wie würde ich dir als »schwebende Jungfrau« gefallen, Eddie?« »Hinreißend würdest du aussehen«, sagte ich. »Aber die Saison ist fast vorbei, und . . .« »Wir haben noch zwei Monate. Genug, um unsere Schulden zu bezahlen, und in der nächsten Saison ...« »Schulden zu bezahlen? Willst du damit sagen, daß die viertausend nicht reichen?« »Für das Zelt, die Bühne und alles? Der Mann 237
verlangt achttausend, aber ich glaube, ich kann auf sechs herunterhandeln. Und ich zahle nur dreitausend an. Dann bleiben uns tausend als Startkapital.« Ich wollte ihr sagen, daß Onkel Am genug Gold hatte, um die Show sofort zu kaufen, aber ich ließ es bleiben. Wenn er einsteigen wollte, so war es seine Sache, es ihr zu sagen. Ich hatte kein Recht dazu. »Klingt nicht schlecht«, sagte ich statt dessen, »aber ich fürchte . ..« » Aber was, Eddie? Hast du keine Lust?« » Natürlich, Rita. Es ist nur ... Ich wünschte, es wäre mein Geld und nicht deins. Ich habe es nicht gern . . .« »Sei doch nicht albern. Es ist unser Geld. Wenn wir zusammengehören, gibt es kein Mein und Dein mehr. Oder willst du mich nicht mehr?« »Und wie.« Ich blickte sie so an, daß sie den Blick senkte. »Aber wir wollen uns nicht kopfüber in dieses Abenteuer stürzen. Sprich erst mit Onkel Am, bevor du dein Geld riskierst.« »Ich habe schon mit Maury darüber gesprochen. Und der arbeitet schon länger beim Jahrmarkt, als du dir vorstellen kannst. Er hat mir sogar den Tip gegeben. Wir saßen vor ein paar Wochen zusammen, Maury, 238
Marge, Hoagy und ich, und er erwähnte, daß der Mann, dem die Illusions-Show gehört, krank geworden sei und sein Unternehmen verkaufen wolle.« »Gut, Rita, aber ...« »Als ich das Geld von der Versicherung bekam, rief ich Maury an und habe mich über alles gründlich informiert. Er sagte, es sei eine gute Sache, wenn ich die Show mit weniger als zehntausend Dollar kaufen könnte.« »Dann scheint es wirklich in Ordnung zu sein. Trotzdem würde ich lieber auch noch Onkel Ams Meinung dazu hören, Rita. Vor allem dann, wenn er mit einsteigen soll. Wir kommen mit unserer Bude sehr gut zurecht. Vielleicht will er das Risiko nicht eingehen?« Sie lächelte. »Dein Onkel und Angst vor Risiko? Sei nicht albern, Ed. Aber einverstanden, ich werde vorher mit ihm reden. Also fahren wir zum Jahrmarkt.« »Onkel Am ist nicht da«, sagte ich. »Er ist geschäftlich unterwegs. Ich weiß auch nicht genau, wann er zurückkommt. Vielleicht morgen.« »Oh. Dann kann ich also gar nicht mit ihm sprechen. lch muß den Mitternachtszug nach Chicago nehmen.« Ich hatte eigentlich vorgehabt, sie zum Bleiben zu 239
bewegen, aber ich machte keinen Versuch. »In Ordnung, Rita. Gehen wir.« Als wir im Taxi saßen und die Stadt hinter uns lag, küsste ich sie. Wir hatten uns noch nie so geküßt wie jetzt. Es war wie ein Feuer. Und ich wußte nun endgültig, daß ich sie wirklich liebte. Ich hatte nicht umsonst auf sie gewartet. Und ich wünschte plötzlich, ich hätte wirklich auf sie gewartet und nicht mit Estelle ... Aber das zählte eigentlich nicht. Trotzdem, es würde nie wieder vorkommen, das schwor ich mir. Von jetzt an gab es für mich nur Rita. Die anderen Frauen existierten überhaupt nicht mehr. Sie atmete schwer, als sich meine Lippen von ihrem Mund lösten. Ihr Gesicht wurde von der matten Straßenbeleuchtung erhellt, und ich sah wieder, wie schön sie war. Und ich fragte mich wieder, warum gerade ich das Glück hatte, von ihr geliebt und begehrt zu werden. Es war wunderbar zu wissen, daß sie den Mitternachtszug fahren lassen würde, wenn ich sie jetzt darum bitten würde. Aber ich bat sie nicht darum. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht wollte ich mich selbst für die Affäre mit Estelle bestrafen. Das klingt natürlich ziemlich unsinnig, aber es war die einzig mögliche Begründung. Das Taxi hielt beim Haupteingang des Jahrmarkts. 240
Wir stiegen aus und und gingen den Mittelweg entlang. Plötzlich blieb Rita stehen und umklammerte meinen Arm. »Ich liebe den Jahrmarkt, Eddie«, sagte sie leise. »Erst seit ich weggefahren bin, weiß ich, wie sehr ich ihn liebe. Die Atmosphäre, die Gerüche, die Menschen ... Ich habe das sehr vermißt während der letzten zwei Wochen. Natürlich nicht so sehr wie dich, aber trotzdem ...« »Ja«, sagte ich. »Wenn man einmal diese Luft geatmet hat, kommt man nie wieder davon los. Und das beweist, daß ein Lehrsatz, den ich in der Schule gelernt habe, nicht stimmt.« »Was meinst du, Eddie?« »Einen geometrischen Lehrsatz: ›Das Ganze ist gleich der Summe seiner Teile.‹ Auf den Jahrmarkt jedenfalls trifft er nicht zu. Ein Jahrmarkt — das Ganze — ist mehr als die Summe von Karussells und Zelten und Buden. Aber das gilt auch für viele andere Dinge.« »Welche Dinge, Eddie?« »Für dich und mich, zum Beispiel. Wir sind auch zusammen mehr als jeder für sich allein.« »Ja, Eddie.« Sie drückte meinen Arm. »Alles wirklich Wichtige ist mehr als die Summe seiner Teile. Musik, zum Beispiel. Hast du schon mal 241
ein Violinkonzert gehört? Was tut der Solist schon, wenn man es nüchtern betrachtet. Er kratzt mit Haaren aus einem Pferdeschwanz über Katzendärme. Und doch ...« Ritas Lachen unterbrach mich. »Du bist wirklich komisch, Eddie. Ich habe noch nie gehört, daß man es auch so sehen kann.« Ich lachte mit und kam mir wirklich etwas albern vor. Aber meine Gedanken liefen weiter. Ein Jahrmarkt war wirklich wie eine Violine. Er bestand aus Dingen, die genauso unromantisch waren wie Pferdehaare und Katzendärme, aber als Ganzes war er irgendwie zauberhaft. Er war eben mehr als nur ein paar Neonlichter und Musik und Zelte und Menschen und Karussells. Ich konnte es nicht erklären, aber es war nun einmal so. Rita zog mich weiter. »Ich muß zu meiner alten Show, Eddie. Meine Sachen zusammenpacken und ein paar Worte mit den anderen Mädchen sprechen. Wartest du bei Hoagy und Marge auf mich?« »Da ist niemand zu Hause«, sagte ich. »Hoagy ist unterwegs, um unseren nächsten Standplatz auszukundschaften, und Marge hilft irgendwo aus.« »Oh. Wo treffen wir uns dann?« 242
»Bei Lee«, sagte ich. »In einer Stunde?« »Gut. Und komm bis dahin nicht auf Abwege, Eddie.«
»Dann nimm mich doch mit«, grinste ich. »Zu unserem Umkleidezelt? Da würde ich dir erst recht nicht trauen. Nicht einmal, wenn ich dabeistünde.« Sie küßte mich leicht auf die Wange und ging. Ich sah ihr nach, bis sie in der Menge untergetaucht war. Ich blieb noch ein paar Minuten stehen. Es tat mir leid, daß ich sie angelogen hatte, was Hoagy betraf. Aber es mußte sein. Ich setzte mich in Bewegung, und meine Füße brachten mich zu Hoagys Wohnwagen. Ich weiß nicht, warum ich dorthinging und was ich dort erwartete. Ich klopfte an die Tür und Hoagy rief »Herein«. Weiß war da. Er saß auf einem Stuhl, und sein Gesicht sah aus, als ob er tagelang nicht geschlafen hätte. Hoagys riesiger Körper klemmte wieder in der Frühstücksecke, und er hatte eine Flasche vor sich auf dem Tisch. Marge saß auf dem Bett, in sich zusammengekrochen, als ob sie fror. Oder als ob sie Angst hätte. »Hallo, Junge«, sagte Hoagy. »Einen Whisky?« 243
»Nein, danke«, sagte ich. Weiß nickte mir nur schweigend zu. Die Stimmung war ziemlich gedrückt, und ich wünschte, ich wäre nicht gekommen. Aber jetzt konnte ich nicht einfach wieder hinausgehen. Nach einer Weile fragte Weiß: »Wie geht es Ihrem Onkel, Ed?« »Danke, gut. Er ist in Cincinnati. Geschäftlich.« Er starrte mich ein paar Sekunden lang an, und ich wußte, daß er sich fragte, was Onkel Am geschäftlich in Cincinnati zu tun hatte. Aber ich hielt seinem Blick stand. Nur deshalb, weil ich nicht Hoagy und Marge ansehen wollte. Warum war ich hergekommen? Ich hatte genau gewußt, daß ich nicht herkommen durfte. Die Atmosphäre im Wohnwagen war wie in einem Trauerhaus. Hoagy schenkte sich einen neuen Whisky ein. Das Kluckern unterbrach beinahe provozierend die drückende Stille. Dann wandte er sich an Marge. »Ich glaube, es wird Zeit, daß du wieder Pete hilfst«, sagte er ruhig. Marge stand auf. »Ja, du hast recht. Ich komme zurück, sobald ich kann.« Sie ging so rasch hinaus, als ob sie froh sei wegzukommen. 244
»Setz dich doch, Ed«, sagte Hoagy. Ich setzte mich auf die Bettkante, von der Marge eben aufgestanden war. Dort brauchte ich Hoagy nicht anzusehen. Er kehrte mir den Rücken zu. Weiß hob den Kopf und sah mich an. »Sagen Sie, Ed, wissen Sie etwas von den Nadeleinstichen in Susies Arm?« Ich nickte. »Hoagy hat mir gestern davon erzählt.« »Wir haben sie auch gefunden«, sagte Weiß. »Wir haben die Schimpansin heute morgen ausgegraben. Sie war voller Morphium.« »Sie meinen, daß sie gar nicht ertrunken ist?« »Doch, sie ist ertrunken. Oder besser gesagt, sie wurde ertränkt. Sie hatte zu viel Morphium in sich, um allein bis zum Wassertank laufen zu können. Irgend jemand hat sie betäubt, damit sie sich nicht wehren konnte, und sie dann zum Tank getragen und ertränkt.« »Aha«, sagte ich, und es klang sicher nicht sehr überrascht. Ich hatte nie so recht an einen Unfall geglaubt. Und jetzt fand ich auch noch ein Mosaiksteinchen, das bisher gefehlt hatte: Ich wußte, warum Hoagy uns gestern von den Nadeleinstichen in Susies Arm erzählt hatte. Er wußte genau, daß die Polizei das Tier ausgraben und untersuchen würde. 245
Es war wieder still. So still, daß ich die leisen Schritte von draußen hörte. Ich glaube nicht, daß die anderen sie auch hörten. Jedenfalls blickte weder Weiß noch Hoagy auf. Jemand näherte sich der Tür des Wohnwagens, blieb dort kurz stehen und ging dann weiter, um den Wohnwagen herum, wie ich glaubte. Ich blickte an Weiß vorbei zum Fenster hinauf und fürchtete, wieder das Gesicht eines Schimpansen zu sehen. Aber es war kein Schimpanse, der jetzt dort hereinblickte, sondern Onkel Am. Er fing meinen Blick ein und schüttelte den Kopf, damit ich ihn nicht verriet. Dann blickte er auf Hogay hinab, der mit der Whiskyflasche spielte, und ich wußte, daß er Hoagys Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. »Du, Hoagy«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an die Nacht, als ich glaubte, Susie durch Lees Fenster starren zu sehen?« Er nickte. »Ja, Ed.« Und dann tat er das, was ich mit den Worten bezweckt hatte: Er blickte unwillkürlich zum Fenster und sah Onkel Am. Und Onkel Am gab ihm durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß er hinauskommen solle. Hoagy blickte zu Weiß hinüber, und als er sah, daß der ihn nicht beachtete, nickte er zurück. 246
Dann stand er auf, goß sich noch einen Whisky ein — bis zum Rand — und sagte: »Ich will doch mal sehen, ob Marge zurechtkommt. Vielleicht braucht sie etwas Hilfe. Bin gleich wieder zurück. Weiß nickte ihm schweigend zu. Hoagy starrte auf die klare Flüssigkeit in seinem Glas. Dann setzte er es an seine Lippen und leerte es mit einem Zug, wie Wasser. Er stellte das Glas auf den Tisch zurück und ging hinaus. Als er gegangen war, fragte Weiß: »Was habt ihr in Cincinnati gemacht, Ed?« »Wir haben Mrs. Czerwinski besucht und Lon Staffolds Koffer angesehen. Und Onkel Am war noch im Billboard-Verlag.« »Dann habt ihr also auch das Inserat gefunden?« Ich nickte. Es überraschte mich, daß Weiß auch davon wußte. Er erhob sich und begann auf und ab zu gehen. Dann blieb er vor mir stehen. »Ed, ich kenne jetzt den Mörder. Aber ich weiß noch immer nicht, warum er gemordet hat.« »Hoagy?« fragte ich. 247
»Ja, Hoagy. Aber warum? Ein Zwerg, ein Schimpanse, ein Negerjunge. Wo ist da der Zusammenhang? Ich kann ihn nicht finden.«
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Die Tür öffnete sich und Onkel Am trat ein. »Hallo, Captain«, sagte er. »Sie haben ein verdammt lautes Organ. Ich konnte Sie bis zum Riesenrad hören.« Er setzte sich rücklings auf den Stuhl, von dem Weiß aufgestanden war, und legte die Arme auf die Rückenlehne. »Haben Sie alle Antworten gefunden?« fragte Weiß. »Die meisten. Wieviel hat Ed Ihnen schon gesagt?« »Nichts«, sagte Weiß. »Weiß er auch Bescheid?« »Ich glaube, er kann sich den Rest zusammenreimen. Stimmt's, Ed?« »Ich glaube schon«, sagte ich. Weiß blickte von Onkel Am zu mir. »Hoagy war es«, sagte er. »Aber warum?« Onkel Am griff nach der Whiskyflasche und nahm einen großen Schluck. Dann sagte er: »Sag es ihm, Ed.« Ich nickte. »In der Nacht, als Lon Staffold ermordet wurde, wurde in Louisville ein Kind entführt. Und das ist das Motiv, das Sie suchen. Der Junge war sieben Jahre alt, hatte also etwa die Größe aller drei Mordopfer, Lon Staffold, Susie und Jigabo.« 249
»Und Hoagy hat auch den Jungen entführt?« Ich nickte. Und Onkel Am sagte: »Ich habe heute nachmittag die Zeitungen von Louisville durchgesehen. Der entführte Junge ist am sechsundzwanzigsten August gegen Zahlung von fünfzigtausend Dollar zurückgebracht worden. Er war am Leben, aber stark geschwächt, weil er während der elf Tage, die er in den Händen des Entführers gewesen war, unter Drogen gehalten wurde. Er ist immer noch in ärztlicher Behandlung.« »Der sechsundzwanzigste«, sagte Weiß. »Das war Montag, der Tag, an dem Susie starb.« »Ja«, sagte Onkel Am. »Hoagy muß diese Entführung mindestens einen Monat lang vorbereitet haben. Er wollte wohl mit einem Schlag sehr viel Geld verdienen, um sich für den Rest seines Lebens zur Ruhe setzen zu können. Die größte Schwierigkeit bestand natürlich darin, den Jungen zu verbergen. Man kann nicht plötzlich ein Kind im Wohnwagen haben, ohne daß sich die anderen Gedanken darüber machen.« Ich wußte nicht ganz, worauf Onkel hinauswollte, und sah ihn aufmerksam an.
Am
»Und doch war der entführte Junge die ganze Zeit hier in Hoagys Wohnwagen, ohne daß jemand ihn entdeckte. Weil er ständig Schlafmittel bekam, und 250
weil er in einem Schimpansenfell steckte. Es existierte damals überhaupt kein Schimpanse. Der Junge lag hinter den Latten des Käfigs im Halbdunkel, so daß niemand ihn genau sehen konnte. Und es wäre wohl auch niemand auf den Gedanken gekommen, daß es kein Affe, sondern ein Mensch war, der dort lag. Selbst wenn man das Kind auf dem Jahrmarkt gesucht hätte, wäre es nicht gefunden worden.« Weiß nickte und behielt die Tür des Wohnwagens im Auge. »Und wozu der Liliputaner?« fragte er. »Damit es nicht auffiel. Der kranke Schimpanse sollte nicht erst an dem Tag auftauchen, an dem der Junge entführt wurde, damit nicht doch irgend jemand einen Zusammenhang vermuten konnte. Die Leute sollten sich schon an die Anwesenheit eines Affen gewöhnt haben, wenn die Entführung bekanntwerden würde. Deshalb mußte der Liliputaner Lon Staffold fünf Tage lang mit dem Affenfell bekleidet im Käfig liegen und einen kranken Schimpansen spielen. Er war Hoagys Komplice. Vielleicht hat er ihm sogar bei der Entführung des Jungen ... Nein. Als er ermordet wurde, war er nackt. Also hat er das Affenfell bis zu seinem Tod getragen. Wahrscheinlich hatte er es gerade ausgezogen, als der Mörder kam.« 251
»Aber warum ein Liliputaner? Warum hat sich Hoagy nicht gleich einen richtigen Schimpansen besorgt?« Ich wußte auch keine Antwort auf diese Frage, aber Onkel Am sagte: »Was hätte er mit einem richtigen Schimpansen tun sollen, während der entführte Junge dessen Rolle spielte? Lon konnte verschwinden, sobald der Junge hergebracht worden war, und er konnte nach dessen Rückgabe wiederauftauchen und noch einmal für ein paar Tage die Rolle des kranken Affen spielen. Und dann würde der Affe eines Tages verschwunden sein, oder so ähnlich.« Weiß nickte. »Hoagy muß Lon von früher her gekannt haben«, sagte ich. »Damals hat er wohl den Spitznamen ›Shorty‹ gehabt. Deshalb fiel er ihm wieder ein, als er einen Liliputaner suchte, der die Rolle des Schimpansen übernehmen konnte, und er ließ ihn durch das Inserat suchen.« »Wahrscheinlich hat der Kleine ihn dann aufs Kreuz legen wollen«, sagte Weiß. Er blickte immer noch zur Tür, und ich wußte, daß er sich jetzt fragte, wann Hoagy endlich zurückkommen würde. Ich sah, daß er unter die Jacke griff und die Pistole zurechtschob. »Ja, wahrscheinlich. Und ich bin fast sicher, daß er es 252
versucht hat, als Hoagy mit dem entführten Jungen ankam. Vielleicht hat er die Hälfte des Lösegeldes verlangt, anstelle der zwei- oder dreitausend Dollar, die Hoagy ihm für seine Rolle geben wollte. Vielleicht wollte er auch aussteigen, als er merkte, daß er in eine Kindesentführung hineingezogen werden sollte. Es ist doch durchaus denkbar, daß Hoagy ihm nicht den wirklichen Grund für seine Rolle als Affe verraten hat. Vielleicht hat er Hoagy sogar damit gedroht, zur Polizei zu gehen, falls er den Jungen nicht sofort zu seinen Eltern zurückbringen würde.« »Das halte ich für das Wahrscheinlichste«, sagte Onkel Am. »Damit sind wir beim sechsundzwanzigsten August«, fuhr ich fort, »dem Tag, an dem Hoagy den Jungen gegen Zahlung von fünfzigtausend Dollar zu seinen Eltern zurückgebracht hat. Inzwischen muß er eine Gelegenheit gefunden haben, einen echten Schimpansen zu kaufen. Aber er wollte nicht riskieren, das Tier bei sich zu behalten. Also betäubte er es mit Morphium und ertränkte es im Wassertank. Dann erzählte er uns, daß seine Susie ausgebrochen sei, und ließ uns die ganze Nacht nach ihr suchen. Bis dahin war alles glatt gegangen — abgesehen davon, daß er Lon ermordete. Der Junge war zurückgebracht worden, er hatte das Geld bekommen, die Schimpansin hatte ein 253
glaubhaftes Ende gefunden, und die Polizei tappte völlig im Dunkeln, was den Mord an Lon betraf. Aber dann ging wieder etwas schief, und wieder mußte er einen Menschen umbringen, um sich nicht zu gefährden: den Negerjungen Jigabo.« »Wegen des Affenfells«, sagte Weiß. »Ja«, sagte ich. »Jigabo hat das Affenfell gefunden. Als ich es sah — Jigabo trug es, als er durch das Fenster in Lees Wohnwagen blickte — bemerkte ich feuchte Erde an dem Fell. Es war also vergraben worden. Wahrscheinlich hat Hoagy das Fell irgendwo im Wald verscharrt, als er den Schimpansen begraben hat. Ich könnte mir denken, daß Jigabo zufällig in der Nähe herumstrich, ihm dabei zusah und das Fell später wieder ausgrub. Und an diesem Abend, nach der Show, zog er es an, um uns ein bißchen zu ärgern.« Mich fröstelte, wenn ich daran dachte. »Und ich fiel auch prompt auf ihn herein. Er war ein perfekter Doppelgänger von Susie, als ich ihn durch das Fenster des Wohnwagens sah. Irgendwie muß auch Hoagy ihn bemerkt haben. Und das war sein Todesurteil.« Weiß schüttelte den Kopf. »Ein Doppelgänger für einen Schimpansen, den es überhaupt nicht gab, der nur ein Ersatz für einen Liliputaner war, der wiederum einen entführten Jungen ersetzen mußte. Kein Wunder, 254
daß wir keinen Zusammenhang sehen konnten.« Seine Stimme war hart. Er. stand auf und ging zur Tür, und ich sah, daß ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn standen. »Ich möchte nur wissen, wo er solange bleibt.« Plötzlich wandte er sich um und starrte Onkel Am an. »Verdammt, Hunter, haben Sie ihm einen Wink gegeben?« Onkel Am wich seinem Blick aus, und auch seine Antwort wich ihm aus. »Er wird Ihnen nicht weglaufen, Captain«, sagte er ruhig. »Er wird die Angelegenheit auf seine Weise erledigen.« Weiß starrte ihn einen Augenblick an. Dann wandte er sich um und ging hinaus. Wir saßen schweigend da und starrten vor uns hin, Onkel Am und ich. Nach einer Weile sah ich ein Kartenspiel auf dem Fensterbrett liegen und spielte eine Partie Patience. Kurz bevor ich damit fertig war, kam Weiß wieder herein. Er hatte zwei Männer bei sich. Kriminalbeamte aus Fort Wayne. »Sie müssen jetzt gehen«, sagte er. »Wir wollen den Wohnwagen durchsuchen. Er hat das Geld nicht bei sich gehabt.« Onkel Am blickte ihn fragend an. Weiß starrte 255
wütend zurück und sagte dann: »Ja, wir haben sie gefunden, Hoagy und Marge. Zwei Meilen von hier entfernt. Frontal gegen einen Brückenpfeiler. Sie waren beide sofort tot.« Onkel Am nickte, und wir gingen zu unserem Schlafzelt. Ungefähr zehn Minuten später kam Weiß und sagte, daß sie das Geld gefunden hätten. »Fünfundvierzigtausend, jedenfalls. Aber die fehlenden fünftausend werden wir auch noch finden.« Onkel Am nickte. »Whisky, Captain?« »Nein, danke. Eigentlich war es am besten so, wenn ich es richtig überlege. Wegen seiner Frau, meine ich. So, und jetzt muß ich gehen. Vielleicht sehen wir uns mal irgendwo wieder.« Erst jetzt fiel mir ein, daß Rita mich in Lees Wohnwagen erwartete, und ich lief hin. Ich hatte mich um fast eine Stunde verspätet, aber sie war noch da. Sie saß auf den Treppenstufen und weinte. Ich wußte, daß ich ihr nichts mehr zu erzählen brauchte, und war sehr froh darüber. Es war höchste Zeit für sie, zum Bahnhof zurückzufahren. Wir nahmen ein Taxi in die Stadt, setzten uns ins Bahnhofsrestaurant und schwiegen. Einmal sprach Rita wieder von der Show, die sie 256
kaufen wollte, und ich erwiderte: »Warum wollen wir nicht noch ein bißchen damit warten? Sieh sie dir meinetwegen an, oder nimm ein Option darauf, aber lege dich noch nicht endgültig fest.« »Gut, Eddie«, sagte sie. »Ich werde nichts tun, bis wir uns wiedersehen. Am Montag in Milwaukee.« »Soll ich dich vom Bahnhof abholen?« »Ich weiß noch nicht, mit welchem Zug ich ankomme. Ich ruf dich vom Hotel aus an.« Der Zug lief ein, und ich brachte sie in ihr Abteil. Ich küßte sie nicht zum Abschied. Ich wollte sie nicht küssen nach allem, was heute abend passiert war. Aber als der Zug aus der Halle fuhr, war mir plötzlich zumute, als sei ein riesiges Loch in mein Leben gerissen. Ich zählte, wie viele Stunden ich bis Montag abend warten mußte. Ich fuhr zum Jahrmarkt zurück. Onkel Am war noch nicht zu Bett gegangen. Er saß angezogen auf dem Bett, den Hut auf den Hinterkopf geschoben. »Ich versuche, mir einzureden, daß ich müde bin«, sagte er. »Aber irgendwie klappt es nicht.« Mir ging es genauso. »Whisky?« fragte er. 257
»Nein, danke.« Er schüttelte den Kopf. »Na, hat's dir Spaß gemacht, Detektiv zu spielen, Junge? Es ist manchmal ein verdammt häßliches Gewerbe.« »Mord ist noch häßlicher.« »Stimmt.« »Mir tut nur Marge leid. Aber trotzdem würde ich es wieder tun. Verdammt, Onkel Am, ich glaube manchmal wirklich, daß ich gern Detektiv werden würde.« »Es ist ein hartes Brot, Junge, und ganz anders als man's in den Kriminalstories liest. Viel Arbeitsstunden und wenig Geld. Und meistens geht es um Lappalien. Wirklich, ein hartes Brot, Junge.« »Das hast du mir auch von der Arbeit auf dem Jahrmarkt gesagt, als ich zu dir kam. Und das stimmt nicht. Mir jedenfalls macht es Spaß hier. Trotzdem möchte ich es nicht mein ganzes Leben lang tun.« »Und du glaubst, daß Rita sich in so einem Leben wohl fühlen würde? Als Frau eines Detektivs, meine ich.« Die Frage hatte ich mir noch gar nicht gestellt. Ich dachte eine Weile darüber nach, und sagte dann: »Gut, lassen wir's.« 258
Onkel Am stand auf und sagte: »Ich gehe noch ein bißchen an die Luft, Ed. Bis nachher.« Ich wußte, daß er sich jetzt betrinken würde, und ich wünschte, daß ich es auch tun könnte. Aber auch das lag mir nicht. Ich fragte mich ernsthaft, ob es überhaupt etwas gab, was mir lag. Als Detektiv war ich nicht unbegabt, das hatte ich bei der Suche nach dem Mörder erfahren. Aber vielleicht gehörte noch mehr dazu? Konnte ich auch die Routinearbeit schaffen? Ich hatte zum Beispiel noch nie versucht, einen Menschen unauffällig zu beschatten. Plötzlich faßte ich einen Entschluß. Ich stand auf und verließ das Zelt. Warum denn nicht? Onkel Am hatte höchstens eine Minute Vorsprung. Ich wollte sehen, ob ich ihn finden und für eine Weile beschatten konnte, ohne ihn aus den Augen zu verlieren und ohne von ihm entdeckt zu werden. Ihm konnte es egal sein, und mir würde es auf jeden Fall die Zeit vertreiben. Als ich den Ausgang erreichte, entdeckte ich ihn einen Häuserblock entfernt auf dem Weg zur Stadt. Ich überquerte die Straße, ließ ihm hundert Meter Vorsprung und benahm mich möglichst unauffällig, damit er mich nicht entdeckte, falls er sich zufällig mal umdrehte. 259
Aber er drehte sich nicht um. Er ging den ganzen Weg in die Stadt zu Fuß und Heß einen Bus und mehrere Taxis vorbeifahren. Als wir die Innenstadt erreichten, wurde die Straße belebter, und ich konnte den Abstand etwas verringern. Ich war sehr stolz darauf, daß er mich noch nicht bemerkt hatte. Aber dann war ich überhaupt nicht mehr stolz, sondern schämte mich. Weil er vor einem Gebäude stehenblieb und dann eintrat. Es war keine Kneipe, sondern eine Kirche. Ich schämte mich, weil ich geglaubt hatte, er würde sich betrinken. Und statt dessen ging er in eine Kirche, um für Marge zu beten. Und vielleicht auch für Hoagy. Ich nahm ein Taxi und fuhr zurück. Am liebsten hätte ich mir selbst in den Hintern getreten. Aber irgendwie war ich auch froh. Ein Detektiv wühlt eben doch nicht immer nur im Schmutz. Er kann auch Gutes in den Menschen finden, wenn etwas Gutes zum Finden da ist. Am nächsten Tag öffneten wir unsere Bude wieder. Das war Samstag, und am Sonntag war der Jahrmarkt gestopft voll. Wir arbeiteten wie die Sklaven. Sofort nach Schluß bauten wir ab, und gegen drei Uhr hatten wir alles auf den Transportern verstaut. Onkel Am und ich waren so müde, daß wir uns auf der Ladefläche 260
unseres Lastwagens zwischen den Zeltleinen verkrochen und während der ganzen Fahrt bis Milwaukee schliefen. Es war fast Mittag, als wir dort eintrafen. Ich beeilte mich mit dem Aufstellen unserer Bude, um fertig zu sein, wenn Rita anrufen würde. Ich schaffte es nicht ganz. Als ich zum Bürowagen kam, in dem sich das Telefon befand, sagte mir Maury: »Sie hat eben angerufen. Sie wohnt im Wisconsin Hotel, Third Street, und erwartet dich in der CocktailBar.« Ich rannte zum nächsten Taxistand. Rita war schon da, als ich in die Bar trat, und sie war schöner als je zuvor. Sie hatte sich in eine Nische gesetzt, und ich setzte mich ihr gegenüber. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte ich. »Du bist viel zu weit weg, Eddie. Komm neben mich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Wenn ich dir jetzt zu nahe komme, könnte ich für nichts garantieren. Und wir sind hier in einem öffentlichen Lokal.« Der Kellner kam, und ich bestellte zwei Martinis. Als sie vor uns standen, hob ich mein Glas und sagte: »Auf uns, Rita.« 261
Sie lächelte. »Liebst du mich noch?« »Das würde ich gern selbst feststellen. Wie lange müssen wir eigentlich noch hier herumsitzen und uns gesittet benehmen?« »Ich habe mir vorgenommen, sehr ungesittet zu sein, Eddie. Ich habe ein Doppelzimmer genommen.« »Das ist der beste Einfall deines Lebens«, sagte ich. »Ich kann noch immer nicht glauben, daß alles Wirklichkeit ist. Da muß doch irgendwo ein Haken sein, und ich glaube . . .« Irgend etwas in ihrem Gesicht ließ mich der Satz abbrechen. Sie war plötzlich ernst und beugte sich vor. »Was meinst du damit, Eddie?« Ich hatte überhaupt nichts damit gemeint. Ich fand es nur unglaublich, daß dies alles keine Täuschung war, daß diese wunderbare Frau mich liebte, ausgerechnet mich. »Das war doch nur Spaß, Eddie, oder?« Sie lächelte wieder. Ja, es war Spaß gewesen. Bis jetzt. Aber dieser plötzliche Wandel ihres Gesichtsausdrucks, dieser Anflug von Sorge und Angst ließ einen Gedanken wieder hervorkommen, den ich seit Freitag in die hinterste Ecke meines Hirns geschoben hatte. Es gelang mir jetzt nicht mehr, ihn zurückzudrängen. 262
»Du warst an dieser Entführung beteiligt, Rita«, sagte ich. Sie starrte mich betroffen an, aber ich wußte, daß sie nur Theater spielte. »Ich will nicht sagen«, fuhr ich fort, »daß du von Anfang an dabei warst. Aber du bist so oft bei Hoagy und Marge im Wohnwagen gewesen, daß du etwas von der Sache bemerkt haben mußt. Vielleicht hast du gemerkt, daß ein Liliputaner in dem Affenfell steckte. Oder vielleicht hat sich auch Marge dir gegenüber verraten. Du hattest Angst, das weiß ich jetzt. Deshalb hattest du in jener Nacht die Pistole bei dir. Und als du über die Leiche des Liliputaners gestolpert bist, hast du zumindest geahnt, daß Hoagy ihn ermordet hatte.« Ihre Zunge feuchtete ihre Lippen an, bevor sie sprach. »Ich habe einen Verdacht gehabt, Eddie, das stimmt. Aber ich habe nichts gewußt. Ja, es ist etwas geschehen, was mir klarmachte, daß Susie kein wirklicher Affe war. Einmal, als ich in den Wohnwagen kam, hat er — ich meine der Liliputaner in dem Schimpansenfell — sich mit Marge unterhalten. Marge hatte eine Höllenangst vor Hoagy, und ich mußte ihr versprechen, mit keinem Menschen darüber zu reden.« »Aber als der Liliputaner ermordet worden war, 263
hättest du dir doch denken können, daß Hoagy ihn umgebracht hatte.« »Aber ich habe es nicht gewußt, Eddie. Und ich hatte doch Marge versprochen . . .« Sie griff nach meiner Hand, und die Berührung war wie ein elektrischer Schlag. »Wir wollen nicht mehr darüber reden, Eddie. Es ist vorbei. Aber wenn du unbedingt davon sprechen mußt, sollten wir das in unserem Zimmer tun.« Das war ein vernünftiger Vorschlag. Viel zu vernünftig. Oben, im Zimmer, würde ich an alles mögliche denken, nur nicht an die Morde. »Sofort, Rita«, sagte ich. »Ich brauche nur etwas Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen.« Es spielt wirklich keine Rolle, dachte ich. Es war nur ein unglücklicher Zufall, daß sie hineingezogen wurde. Ich wollte ihr glauben, daß sie von der Entführung wirklich keine Ahnung gehabt und auch sonst keine Beweise besessen hatte. Sie war schließlich nicht verpflichtet, ihre Mutmaßungen bekanntzugeben. Solange ich sie anblickte, glaubte ich ihr. Ich schloß eine Zeitlang die Augen, um sie nicht ansehen zu müssen, und als ich sie wieder öffnete, sagte ich: »Es ist durchaus möglich, daß du in der Mordnacht in Evansville wirklich keine Ahnung von der Entführung gehabt hast. Aber am nächsten Morgen, bevor ich dich 264
in der Hotelhalle traf, könntest du davon in der Zeitung gelesen haben. Du hattest jedenfalls auf der Bank zu tun, und für den Abend hattest du eine Verabredung mit einem Bankier. Soll ich mal raten, zu welchem Zweck? Du hattest Angst, Hoagy könnte dich umbringen, weil du zuviel wußtest, oder wenigstens zuviel ahntest. Immerhin hatte er schon einen Menschen umgebracht. Also hast du sicherheitshalber etwas bei der Bank hinterlegt. Wahrscheinlich einen Brief, der nur im Fall deines Todes geöffnet werden sollte. Habe ich recht?« Wieder fuhr ihre Zunge über die Lippen. »Ich habe richtig Angst vor dir, Eddie. Du redest wie — wie ein Polizist. Wenn ich dich nicht so lieben würde . . .« Sie brach den Satz ab und sagte, in anderem Tonfall: »Wollen wir das alles nicht vergessen, Eddie? Es ist doch vorbei. Ich habe den Brief vor unserer Abreise aus Evansville wieder an mich genommen und verbrannt. Und ich hatte wirklich Angst vor Hoagy.« Vielleicht, dachte ich. Möglich wäre es schon. Und ich wollte ihr so gern glauben. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Ein Wort, und die Sache war erledigt. Wir würden in unser Zimmer gehen und wirklich alles vergessen. Aber ich sagte das Wort nicht. Statt dessen fragte ich
sie: »Welche Versicherung hat dir eigentlich
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fünftausend Dollar ausgezahlt, Rita?« Ich sah ihr dabei ins Gesicht. Sie zuckte zusammen, und diesmal war der Schreck nicht gespielt. Also doch. Bisher hatte ich noch eine kleine Chance gehabt, die leise Hoffnung, daß die fehlenden fünftausend Dollar, von denen Weiß gesprochen hatte, von Hoagy ausgegeben worden waren, daß es nur ein Zufall war, daß die Versicherungssumme auf Ritas Vater ausgerechnet auch fünftausend Dollar betragen hat. Sie antwortete nicht. Ich konnte immer noch sagen: »Gut, vergessen wir's.« Und ich konnte mit ihr auf unser Zimmer gehen. Wir konnten uns von dem Lösegeld ein hübsches Leben machen, Rita und ich, von dem Geld, für das ein kleiner Junge entführt worden war und für das ein anderer kleiner Junge sterben mußte. Ein kleiner Junge, der eine schwarze Haut hatte und tanzen konnte wie kein anderer. Und ich sagte wirklich: »Gut, Rita, vergessen wir's.« Aber ich meinte: Vergessen wir alles, was einmal zwischen uns war und was zwischen uns noch hätte sein können. 266
Ich ging hinaus und wanderte ziellos die Straßen entlang. Ich kam an einen See, setzte mich ans Ufer und blickte über das Wasser. Ich saß dort, bis es dunkel wurde. Dann ging ich langsam weiter. Von einer Telefonzelle aus rief ich den Jahrmarkt an und fragte nach Onkel Am. »Er ist in die Stadt gefahren«, sagte mir Maury. »Er wollte mit Rita und dir zu Abend essen.« Wahrscheinlich hatte er uns in Ritas Hotel treffen wollen. Sicher war er jetzt schon wieder fort. Ich ging trotzdem zum Hotel zurück. Er saß in der Halle. »Ich habe mir gerade überlegt, wo ich dich suchen könnte, Junge«, sagte er. »Der Portier hat mir erzählt, daß Rita schon wieder abgereist ist. Habt ihr — euch entzweit?« Er sah an mir vorbei. »War es deshalb, weil du erraten hast, welche Rolle sie bei der Geschichte gespielt hat?« »Du hast es gewußt!« sagte ich. »Warum hast du mir kein Wort davon gesagt?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich hatte Angst, Ed. Und ich war mir nicht völlig sicher. Du kanntest sie viel besser als ich, und ich dachte mir, daß du es selber herausfinden würdest, falls sie Hoagy wirklich erpreßt hat.« 267
»Reden wir nicht mehr davon«, sagte ich. »Wollen wir zurückgehen und die Bude wieder aufmachen? Es ist erst acht Uhr.« »Wir machen nie wieder auf, Ed.« »Was?« Er nickte. »Deshalb bin ich ja hier. Ich wollte dir sagen, daß Maury seinen Anteil am Jahrmarkt verkauft hat. Und der neue Besitzer heißt Skeets Geary.« Onkel Am grinste. »Und er wollte mir neue Bedingungen stellen.« »Das kann er doch gar nicht, mitten in der Saison.« »Das habe ich ihm auch gesagt, aber er war anderer Meinung. Sieht so aus, als ob er uns beide nicht leiden kann, Ed. Ich habe ihm gesagt, was ich von ihm halte, und dann unsere Bude und alles, was wir sonst besitzen, kurzerhand an Pop Janney verkauft. Dann habe ich unsere Koffer gepackt und zur Bahnstation bringen lassen. Wir sind frei wie die Vögel, Eddie.« »Und du hast Skeets nur deine Meinung gesagt, weiter nichts?« »Nur meine Meinung, Junge. Aber nicht mit Worten. Wenn du mich genau ansiehst, wirst du bemerken, daß mein linkes Auge allmählich blau wird. Aber du solltest erst mal Skeets sehen.« Er grinste genüßlich. 268
»Keine Sorge, Ed. Wir haben genug Geld, jedenfalls für ein paar Monate. Verhungern werden wir auf keinen Fall.« »Und was machen wir?« »Ich glaube, wir haben beide einen längeren Urlaub verdient. Was hältst du davon?« »Meinetwegen.« Er legte die Hand auf meine Schulter. »Du wirst darüber hinwegkommen, Junge.« »Ich bin schon drüber hinweg.« »Gut. Heute nacht bleiben wir noch hier, und morgen fahren wir irgendwohin. Und weil die Leute Touristen immer ausnehmen, wollen wir nicht allzuviel Geld mitnehmen. Jetzt wollen wir erst mal das alte Milwaukee kennenlernen. Was meinst du dazu?« Ich nickte nur. »Übrigens, da fällt mir gerade ein: Estelle hat auch keine Lust, unter Skeets Geary zu arbeiten. Sie hat auch gekündigt. Und zufällig wohnt sie hier im Hotel. Wir könnten sie eigentlich mitnehmen, oder?« Ich grinste. »Und wo kriegen wir eine Frau für dich her? Warum chartern wir nicht ein Flugzeug und holen Flo Czerwinski aus Cindnnati her?« 269
Das sollte natürlich ein Witz sein. Aber ich hätte Onkel Am besser kennen sollen. Genau das taten wir nämlich. ENDE
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