Albert Salomon Werke 3
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Albert Salomon Werke 3
Albert Salomon Werke Band 3: Schriften 1942 – 1949 Herausgegeben von Peter Gostmann und Claudius Härpfer unter Mitarbeit von Karin Ikas und Gerhard Wagner
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Veröffentlicht mit Unterstützung der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung Hamburg. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15698-9
Editorische Notiz
Mit dem dritten Band der Werkausgabe kommt es zu einem Wechsel in der Herausgeberschaft. Claudius Härpfer, der die Herausgeber Peter Gostmann und Gerhard Wagner während der Edition der ersten beiden Bände neben Karin Ikas als Mitarbeiter unterstützt hatte, ist an die Stelle Wagners getreten. Wagner unterstützt nun seinerseits die beiden Herausgeber und wird als Mitarbeiter geführt. Wir bedanken uns bei der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, die die Publikation dieses Bandes jeweils mit einer Druckbeihilfe unterstützt haben. Wir gedenken der im vorvergangenen Jahr verstorbenen Monika Plessner, die uns ihre Übersetzungen einiger Texte Albert Salomons für die Werkausgabe überlassen hat; zwei dieser Übersetzungen, „Adam Smith als Soziologe“ sowie „Hugo Grotius und die Sozialwissenschaften“, sind im vorliegenden Band abgedruckt.
Inhaltsverzeichnis
Schriften 1942 bis 1949 Dirk Kaesler Vorwort: Albert Salomons Ortsbestimmung der Soziologie. Alt-modisch und aktuell zugleich..................................................................................................... 9 Soldatischer Geist und Nazi-Militarismus ..........................................................17 Der Deutsche in der Geschichte und der ewige Nazi ......................................... 37 Charles Péguy und die Berufung Israels ............................................................ 49 Die Deutschen unter Waffen ...………………………………....….………….. 63 Adam Smith als Soziologe ……………...……………………….....…………. 69 Demokratie, Sozialismus und Religion ...………………………….....……….. 89 Hugo Grotius ……………………………………………………………......… 97 Die deutsche Soziologie …………………...……………………………….....103 Jenseits der Geschichte: Jacob Burckhardt .......................................................137 Die Religion des Fortschritts ……………………………………………….... 191 Alexander H. Pekelis ……………………………………….....………...…… 211 Karl Mannheim (1893-1947) ………………………………………………....217 Hugo Grotius und die Sozialwissenschaften …………………………............ 233 Natürliches Judentum ....................................................................................... 253 Einleitung in Epiktets Encheiridion …………………………………….….... 263
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Inhaltsverzeichnis
Eschatologisches Denken in der westlichen Zivilisation ..................................269 Personenregister ................................................................................................281
Vorwort: Albert Salomons Ortsbestimmung der Soziologie. Alt-modisch und aktuell zugleich
Dirk Kaesler
Die in diesem Band versammelten Texte von Albert Salomon wurden während der Jahre 1942 und 1949 veröffentlicht, die meisten von ihnen in der von Hayim Greenberg (1889-1953) und Marie Syrkin (1899-1989) im Jahr 1934 gegründeten Zeitschrift Jewish Frontier, dem Publikationsorgan der US-amerikanischen Labor Zionist Alliance, und in der ebenfalls im Jahr 1934 gegründeten Zeitschrift Social Research, dem Publikationsorgan der Graduate Faculty der New School of Social Research, an der Salomon seit seiner Exilierung im Jahr 1935 bis zu seinem Tod im Jahr 1966 lehrte. Die im Folgenden abgedruckten und größtenteils erstmals ins Deutsche übersetzten Texte sind nicht nur wissenschaftliche Beiträge, sie dokumentieren zugleich das Leiden eines deutschen Intellektuellen, der aus seiner heimatlichen Gesellschaft und aus seiner intellektuellen Heimat verbannt wurde. Sie dokumentieren zudem das Bemühen eines deutschen Soziologen, ein Verständnis seines Faches zu erzeugen, das der ihn umgebenden Fachkultur in den USA weitgehend fremd war. Es sind insgesamt tapfere, kämpferische, aber auch tragische Texte. Tragisch deswegen, weil die heutige soziologische Leserschaft das hier dokumentierte Verständnis von dem, was Soziologie nach Ansicht dieses Autors sein solle, nur noch als „historisch“, wenn nicht als antiquarisch ansehen muss. Ich maße mir nicht an, kommentierend auf jene interessant zu lesenden Beiträge einzugehen, die sich ganz eindeutig an eine US-amerikanische Leserschaft der 1940er Jahre richten, die ich in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht abzuschätzen vermag. Wer mag wohl positiv oder negativ davon beeindruckt gewesen sein, dass Salomon mitten im Kriegsjahr 1942 formulierte, dass „soldatischer Geist“ sich nicht vom grundsätzlichen „Bürgergeist“ unterscheide,1 dass der „deutsche Charakter“ nicht mit dem Nazismus gleichgesetzt werden könne, dass
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Albert Salomon, „Soldatischer Geist und Nazi-Militarismus“, S. 17-36 in diesem Band, hier S. 36.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Dirk Kaesler
„die Deutschen nicht die Nazis und die Nazis nicht die Deutschen“ seien?2 Wer von Salomons US-amerikanischer Leserschaft mag wohl dadurch zum NachDenken gebracht worden sein, dass er ein Jahr vor Kriegsende schrieb, dass es „ein rein akademisches Unterfangen“ sei, zwischen guten, ziemlich guten, schlechten und bösen Deutschen zu unterscheiden?3 Mangels solider Information über Verbreitung und Rezeptionsmuster traue ich mir zu den hier versammelten Texten keine eigene Stellungnahme zu: Zur Lektüre seien sie in jedem Fall empfohlen, auch wenn die Kontexte in denen sie stehen, nicht naiv unterschätzt werden sollten. Für wen – im doppelten Sinn – schrieb Salomon? Wer von den Herausgebern jener Journale, in denen solche Texte erschienen, war es, die solche Argumente publizieren wollten? Was waren deren Motive dabei? An wen wendeten sie sich? Was lässt sich über deren zeitgenössische Wirkung auf eine US-amerikanische, jüdische, sozialistische Leserschaft sagen, heute, über 60 Jahre danach? Auf einigermaßen vertrautem Gelände befinde ich mich jedoch, wenn ich auf jenen Aufsatz hinweise, der mir aus soziologiegeschichtlicher Sicht unter den hier aufgenommenen als besonders bemerkenswert erscheint: German Sociology, der im Jahr 1945 in dem von Georges Gurvitch und Wilbert E. Moore herausgegebenen Sammelband Twentieth Century Sociology publiziert wurde,4 und nur zwei Jahre später erneut, in einer französischen Fassung eines sehr ähnlichen Unterfangens erschien, das von Gurvitch alleine herausgegeben wurde.5 Zwei der damals namhaftesten Soziologen, der russischstämmige Georges Gurvitch (1894-1965), Lehrstuhlinhaber an der Pariser Sorbonne und Gründer der Cahiers internationaux de Sociologie, und Wilbert Ellis Moore (1914-1987), der spätere 56. Präsident der American Sociological Association, luden den aus dem deutschen Wissenschaftssystem vertriebenen Salomon dazu ein, für ein maßgebliches und internationales Standardwerk über die Deutsche Soziologie zu schreiben. Salomon unternimmt in diesem Handwörterbuchartikel den Versuch, sowohl die Entstehungsgeschichte jener Disziplin in jenem Land zu rekonstruieren, die ihn beide – weder die Disziplin noch das Land – nicht wirklich aufnehmen bzw. behalten wollten, als auch jene Gelehrten zu charakterisieren, die für ihn dort stehen, wo in anderen Gesellschaften die Disziplin steht. Seine zentrale These in
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Albert Salomon, „Der Deutsche in der Geschichte und der ewige Nazi“, S. 37-47 in diesem Band, hier S. 45 u. 47. Albert Salomon, „Die Deutschen unter Waffen“, S. 63-67 in diesem Band, hier S.66. Georges Gurvitch und Wilbert E. Moore (Hg.), Twentieth Century Sociology. New York: The Philosophical Library 1945, S. 586-614. Georges Gurvitch (Hg.), La sociologie au XX siècle. Paris: Presses Universitaires de France 1947, S. 593-620.
Vorwort: Albert Salomons Ortsbestimmung der Soziologie. Alt-modisch und aktuell zugleich
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diesem Zusammenhang lautet, „dass es in Deutschland keine Soziologie, nur Soziologen gibt.“6 Der Artikel hat sowohl eine geradezu rührend historische als auch eine überaus aktuelle Aussagekraft. Aktuell ist Salomons Einstiegsargument, dass die Ausprägung nationaler Unterschiede wissenschaftlichen Denkens in zweierlei Hinsicht bemerkenswert sei: Zum einen, weil diese Entwicklung nur in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften möglich gewesen war, eine deutsche Physik oder eine französische Chemie waren und sind undenkbar; zum anderen, weil sich erst in und mit der Moderne diese Ausprägung nationaler Denkmuster vollzog. Weder im (europäischen) Mittelalter noch in der Zeit der (europäischen) Aufklärung sei die Vorstellung einer national gebundenen Wissenschaft vorstellbar gewesen, in beiden Perioden gab die universelle Wahrheit das Ziel jedes Erkennen-Wollens ab, das unmöglich an nationalen Grenzen enden konnte: „Nationale Unterschiede des wissenschaftlichen Denkens sind ein Phänomen der Moderne, mithin ein historisches Phänomen.“7 Salomon konstatiert, dass gerade die Soziologie jenes wissenschaftliche Feld gewesen sei, in dem sich diese nationale Prägung besonders ausgeprägt habe, von Beginn an: „Die Soziologie im Besonderen erscheint in ihren Anfängen als Manifestation der spezifischen soziohistorischen Situation der französischen Gesellschaft.“8 Welche Auswirkungen diese Einschätzung für die Formation einer deutschen Soziologie hatte, wird Gegenstand des nun anschließenden Abschnitts sein; abschließend sei auf die (versteckte) Aktualität der Salomonschen Beobachtung eingegangen.
Eine alt-modische Soziologie Nach Salomons Einschätzung waren es drei kollektive Erfahrungen, die die deutschen Soziologen, zumindest jene, mit denen er sich befasst, teilten: Erstens, ein „Schock“ angesichts der deterministischen Gedankengebäude, die Hegel und Marx errichtet hatten, und gegen die sie revoltierten; zweitens, die „Vision“, dass sich die rationalen Institutionen in der industriellen Welt immer mehr ausbreiten und Druck auf die Individuen ausüben; drittens, das Bewusstsein über die problematische Positionierung des „denkenden Menschen“ in einer Welt kollektiven Handelns. Die von Salomon genannten deutschen Soziologen, die diese drei Erfahrungen eint, entwickelten eine Soziologie, die er „die Soziologie des ver-
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Albert Salomon, „Deutsche Soziologie“, in diesem Band S. 103-135, hier S. 104. Ebd. S. 104. Ebd.
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Dirk Kaesler
zweifelten Liberalismus“ nennt, und mit der er deren dominantes Interesse an Fragen der Theorie erklärt.9 Unter der Überschrift „Die Revolte gegen Hegel“ behandelt Salomon als maßgebliche Gelehrte den Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897), den Philosophen Wilhelm Dilthey (1833-1912) und den Soziologen Hans Freyer (18871969). Burckhardts Beiträge, vor allem dessen Weltgeschichtliche Betrachtungen von 1905, werden als „wertvolle Anregung für den Soziologen, dessen Interesse der historischen Soziologie gilt“, eingeordnet,10 Diltheys methodologische Schriften als „nützlich und anregend“ bewertet, insbesondere für eine „soziologische Wissenschaftslehre“,11und Freyers Beitrag als einer, „der die Entwicklung der Soziologie zur Wissenschaft erheblich befördert hat“, dessen Leistung „bemerkenswert, von hoher Gültigkeit“ sei, ungeachtet der Tatsache, dass ihn seine Überzeugung, dass die gesellschaftlichen Antagonismen nur politisch aufgelöst werden können, „an die Seite der Nazis“ gebracht habe: „gleichwohl bleibt er ein guter Soziologe.“12 Unter der Überschrift „Die Revolte gegen Marx“ behandelt Salomon als maßgebliche Gelehrte den Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936), den „Rechtshistoriker, Staatswissenschaftler, Nationalökonom“ Max Weber (18641920) und dessen „vielfältige Wirkung“ auf Alfred Weber (1868-1958), Ernst Troeltsch (1865-1923), Emil Lederer (1882-1936), Georg Lukács (1885-1971), Karl Mannheim (1893-1947), Franz Oppenheimer (1864-1943); abschließend widmet Salomon jeweils einen eigenen Abschnitt dem „in erster Linie Philosoph>en@“ Georg Simmel (1858-1918), dem Husserl-Schüler Max Scheler (18741928) und seinem Kollegen von der New School Alfred Schütz (1899-1959). Es ist hier nicht der Ort, Salomons Darstellung zu kommentieren: Sie steht in ihrer Zeit und sie dokumentiert die soziologische Ahnengalerie eines Gelehrten, der sich selbst und andere um sich herum im Feld der Soziologie gruppiert. Die meisten jener Bücher, mit denen Salomon sich in jener Zeit wie mit einem „Schutzwall“ umgab,13 stehen schon lange nicht mehr auf den Literaturlisten heutiger Studierender der Soziologie. Salomons Programm einer Soziologie, deren Beginn im europäischen 16. Jahrhundert verortet wird und die sich dem Gedankengut des Humanismus verpflichtet fühlt, steht nicht in den aktuellen 9 10 11 12 13
Ebd. Ebd. S. 107. Ebd. S. 110. Ebd. S. 111. Peter Gostmann, Claudius Härpfer, Karin Ikas, Gerhard Wagner, „Zur Edition der Werke Albert Salomons“. In: Albert Salomon, Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. Herausgegeben von Peter Gostmann und Gerhard Wagner, unter Mitarbeit von Claudius Härpfer und Karin Ikas. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 712, hier S. 9.
Vorwort: Albert Salomons Ortsbestimmung der Soziologie. Alt-modisch und aktuell zugleich
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Curricula des B.A.-Studiums der Social Sciences, wie sich dieses Studium nunmehr an nicht wenigen deutschsprachigen Universitäten nennt. Das für Salomon nicht hinterfragbare Credo, dass die Soziologie zu den Geisteswissenschaften gehört, wird von den heutigen Machthabern im universitären Wissenschaftsbetrieb, den Präsidenten und Rektoren, aber vor allem von den zuweilen noch mächtigeren Hochschulräten eher dazu genutzt, die Existenzberechtigung einer eigenen personellen Vertretung dieses Faches in Frage zu stellen. Wenn Guy Oakes im Vorwort zum zweiten Band dieser Werkausgabe schreibt, dass die von Salomon ausgeteilte Literaturliste, die die Namen von Ignatius von Loyola, Machiavelli, Erasmus, Montaigne, Descartes, Hobbes, Pascal, La Bruyère, La Rochefoucauld, Bodin, Bayle, Montesquieu und SaintSimon beinhaltet, „für einen Soziologiekurs amerikanischer Graduate Students kaum nachvollziehbar“ sei,14 so muss lakonisch festgestellt werden, dass sie auch für heutige Studierende der Soziologie im deutschsprachigen Europa nicht mehr nachvollziehbar ist. Es stellt sich zudem die Frage, wann und wo sie je an einer deutschsprachigen Universität nach 1945 vermittelbar gewesen wäre, ungeachtet der sachlich richtigen Feststellung von Oakes, dass an der New School – zumindest in den Lehrveranstaltungen und Schriften von Albert Salomon >und Bejamin Nelson@ – „eine Auffassung von Soziologie erhalten >blieb@, welche die europäischen Traditionen des soziologischen Denkens bewahrte, während sie von der amerikanischen Tradition weitgehend losgelöst blieb.“15 Im Jahr 2010 wären auch deutsche Literaturlisten für das Modul „Soziologische Theorien“, soweit es das überhaupt noch gibt, auf denen die Namen Burckhardt, Dilthey, Freyer, Alfred Weber, Troeltsch, Lederer, Lukács, Oppenheimer und Scheler auftauchen, zumindest eines fragenden Augenbrauenhochziehens seitens der Kollegenschaft wert. Nicht ganz ohne mein Dazutun16 spricht einiges dafür, dass wenigstens die Namen Tönnies, Max Weber, Mannheim, Simmel und Schütz als (noch) unstrittige „Klassiker“ unseres Faches genannt werden – ob deren Texte tatsächlich gelesen werden, steht auf einem anderen Blatt!
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Guy Oakes, Vorwort: Geschichtlichkeit und Menschlichkeit. Albert Salomon an der New School. In: Albert Salomon, Werke, Bd 2: Schriften 1934-1942. Herausgegeben von Peter Gostmann und Gerhard Wagner, unter Mitarbeit von Claudius Härpfer und Karin Ikas. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 7-14, hier S. 14. Ebd., S. 13. Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz. Fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: C.H. Beck 2006; Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. Fünfte, überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. München: C.H. Beck 2007.
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Dirk Kaesler
Eine Soziologie jenseits nationaler und disziplinärer Grenzen Man kann diesen historischen Text Salomons auch weniger nostalgisch, antiquarisch lesen. Ausgehend von seiner zutreffenden Charakterisierung der nationalen Gebundenheit der Soziologie seit ihrer Formation Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts schärft dieser Text über die Deutsche Soziologie die Augen für aktuelle Entwicklungen der Soziologie des 21. Jahrhunderts als eines „glokalen Unternehmens“.17 Im deutlichen Kontrast zur Situation der internationalen Soziologie zum Zeitpunkt der Salomonschen Darstellung der Deutschen Soziologie am Ende des Zweiten Weltkrieges fallen folgende Muster auf. Zum einen bewegt sich die aktuelle soziologische Theoriediskussion immer mehr in die Richtung einer kosmopolitischen Ausrichtung. Heute zählen wir mehr Soziologen von internationaler Bedeutung, die man zu Recht als kosmopolitisch ausgerichtet charakterisieren, als solche, die man einer rein national orientierten Soziologie zurechnen muss, man denke nur an Shmuel N. Eisenstadt, Zygmunt Bauman, Thomas Luckmann, Immanuel Wallerstein, Michael Mann, Richard Sennett, Ulrich Beck und Bruno Latour. Auch wenn sich über diese Rubrizierung streiten lässt, so sei sie auch deswegen vorgeschlagen, weil damit daran erinnert werden soll, dass die bisherige Entwicklung der wissenschaftlichen Soziologie auch interpretiert werden kann als eine historische Wellenbewegung zwischen den Polen eines anfänglich dominant kosmopolitischen Diskurses auf der einen Seite und eines vielstimmigen Konzerts eher national geprägter Diskurse, zuweilen sogar rein lokaler Diskurse auf der anderen. Konstatieren wir die Nähe zum ersten Pol der dominant internationalen Anfänge des Unternehmens Soziologie bei seinen ersten Gründungsvätern (Comte, Marx, Spencer, Pareto), so verzeichnen wir die allmähliche Verfestigung eines sowohl begrifflichen als auch methodologischen Nationalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wie bei den eher national positionierten Soziologen Frankreichs (Durkheim, Mauss, Halbwachs, Aron, Bourdieu), Deutschlands (Tönnies, Simmel, Weber, Freyer, Gehlen, Schelsky, Luhmann, Habermas), der USA (Mead, Park, Parsons, Homans, Merton, Mills, Goffman, Coleman) und Englands (Giddens), so wie sie Salomon noch zu Recht wahrnahm, soweit er sie eben bis zum Jahr 1945 kannte. Nach der, vor allem erzwungenen, Internationalisierung bei einigen soziologischen Klassikern (Michels, Geiger, Mannheim, Elias, Schütz, Lazarsfeld, Adorno) und der damit häufig verbundenen Einbindung in die dominante anglo-amerikanische Soziologie zeigt jedoch die aktuelle Theorie-Entwicklung die eindeutige Rück17
Verwiesen sei hierzu auf meine Einleitung „Post-klassische Theorien im Haus der Soziologie“ in: Dirk Kaesler (Hg.), Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shumel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne. München: C.H. Beck 2005, S. 11-40.
Vorwort: Albert Salomons Ortsbestimmung der Soziologie. Alt-modisch und aktuell zugleich
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kehr zu einem international und kosmopolitisch ausgerichteten Diskurs der Soziologie. Dass dabei die Kommunikation überwiegend in englischer Sprache geführt wird, bedeutet schon lange nicht mehr eine Dominanz der angloamerikanischen Soziologie. Die aktuelle „theoretische Dreifaltigkeit“ der internationalen Soziologie – Rational Choice-Theorien, Systemtheorien und Phänomenologische Soziologien – ist schon lange weder als lokal noch als allein global zu verstehen, so dass sich auch für die aktuelle Theorielandschaft der Soziologie die inzwischen verbreitete Formel von der „Glokalität“ übernehmen lässt: Wir registrieren unterschiedliche lokale Ausprägungen eines globalen TheorieDiskurses. Insofern könnte man Salomons Darstellung verstehen als die Momentaufnahme einer Situation, von der wir uns in der heute maßgeblichen wissenschaftlichen Soziologie weit entfernt haben. Wenn der selbst zum Kosmopolitentum gezwungene deutsch-jüdische Soziologe Albert Salomon bei dieser Entwicklung eine kleine Station gewesen war, so könnte das auch als später, verspäteter biographischer Triumph gesehen werden. Ein zweites Muster ruft uns die Darstellung Salomons in Erinnerung: Konnte und musste man die Lage der Soziologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch mit den Namen der Erzeuger distinkter Theorien ordnen, gewissermaßen als einen Reigen großer (Männer-)Namen, so befinden wir uns aktuell in einer Situation, in der der jeweilige Theoriezusammenhang nicht mehr einfach durch den Namen des einen Schöpfers beschrieben werden kann: Die „Neuere Historische Soziologie“, die „Soziologische Netzwerkanalyse“, der „Soziologische Neo-Institutionalismus“ und der internationale Postmoderne-Diskurs markieren jene Entwicklung, nach der auch die zukünftige Erzeugung soziologischer Theorien sehr viel eher in komplexen Schulzusammenhängen geschieht, als in hochgradiger Personalisierung am Schreibtisch eines einzigen Theoretikers. Auch hier kann uns der Text Albert Salomons bewusst machen, wie dynamisch die Entwicklung der wissenschaftlichen Soziologie seit seinem Tod im Jahr 1966 verlaufen ist. Das lässt hoffen für die Zukunft unseres Faches.
Soldatischer Geist und Nazi-MilitarismusÜ
„Deutschland möchte das Leben vereinfachen, Deutschlands Einfachheit ist die des Neurotikers, nicht die des Primitiven. [...] Es möchte zerstören und vereinfachen; aber dies ist nicht die Einfachheit des Asketen, die eine des Geistes ist, sondern die Einfachheit des Verrückten, die alle Einrichtungen der Zivilisation bis zur gesichtslosen Monotonie abschleift. Der Prophet möchte die Seele seines Volkes retten, Deutschland möchte den leblosen Körper der Welt beherrschen.“ John Buchana
Der Aufstieg der totalitären Parteien ist Gegenstand zahlreicher soziologischer Untersuchungen. Einige stellen die ökonomischen Klassenverhältnisse in den Vordergrund und schreiben die totalitären Bewegungen entweder einer Gruppe verzweifelter Kapitalisten oder dem Kleinbürgertum zu. Diese Interpretationen sind unzureichend, weil sie den politischen Rahmen unberücksichtigt lassen, in dem erst ökonomische Konflikte ihre revolutionäre Kraft entfalten. Unter den politischen Gruppierungen, die einen maßgeblichen Anteil an der Zerstörung von Rechtsstaatlichkeit hatten, spielte das Militär eine beträchtliche Rolle – in den einzelnen totalitären Staaten auf jeweils unterschiedliche Weise. In Spanien war die Armee die zentrale Kraft, um die Gegner einer fortschrittlichen Demokratie zu organisieren und sie zu einer revolutionären faschistischen Bewegung zusammenzuführen. In Frankreich waren es Gruppierungen unter den Berufssoldaten, insbesondere die Offiziere des aktiven Heeres, die zunächst eine Intervention in Spanien und schließlich die Verteidigung Frankreichs selbst sabotierten; die moralische Gesinnung in den obersten Rängen, der lauwarme Patriotismus, den man hier einer fortschrittlichen, sozialen Demokratie entgegenbrachte, haben ohne Zweifel zur Niederlage beigetragen. Diese Gruppierungen, zu einem großen Teil von feudaler Herkunft und royalistischem Geist, hatten ihre Abneigung gegen die Einrichtungen der Demokratie in einen faschistischen Hass gegen alle für Reform und Fortschritt eintretenden Parteien verwandelt. Zwar gaben sie Frankreich gegenüber Hitler den Vorzug – aber Hitler gegenüber Léon Blum. Ü a
Albert Salomon, „The Spirit of the Soldier and Nazi Militarism“. In: Social Research 9, 1942, S. 82-103. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke. John Buchan, Greenmantle. London: Hodder & Stoughton 1916, S. 102.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Soldatischer Geist und Nazi-Militarimus
Diese politische Opposition überschattete ihr Standesbewusstsein und ihre Berufsehre.1 In Deutschland hat das Militär, teils im Geheimen und teils offen, alle nationalistischen und republikfeindlichen Bewegungen unterstützt, die einen militärischen Aufstand gegen den Vertrag von Versailles befürworteten. Diese Einstellungen deuten auf ein allgemeines Phänomen der historischen Entwicklungen hin: Das Militär bildet einen integralen Bestandteil des Aufbaus der sozialen Welt. Militärische und gesellschaftliche Einrichtungen stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und beeinflussen einander. Wandel und Entwicklung der militärischen Taktik haben sich seit je in der Struktur der politischen Verfassung niedergeschlagen. Diese Behauptung illustrieren eindrucksvoll der Einsatz der griechischen Hopliten oder der eidgenössischen Kampfgruppen, die den Weg für neue politische Verfassungen bereiteten. Die schwer bewaffneten Hopliten, die in breiter Phalanx als freie Bürger in eigener Ausrüstung kämpften, begleiteten die Verbreitung demokratischer Einrichtungen in der Antike und beseitigten die aristokratischen Regimes, Adlige, die zu Pferd oder in Streitwagen in den Kampf zogen. Die rationale Infanterie-Taktik der Schweizer Landsknechte ermöglichte die Zerstörung von Feudalgesellschaften und die Errichtung absolutistischer Verfassungen, denn sobald ein Monarch durch die Veranschlagung von Steuern über die wirtschaftlichen Mittel verfügte, diese neuen Infanterie-Söldner anzuwerben, war er in der Lage, sich aus der Abhängigkeit der feudalen Militärkaste zu lösen. Zu Recht ist die Verfassung des Absolutismus mit der Vergesellschaftung der militärischen und administrativen Produktionsmittel beschrieben worden.2 Neben dem Einfluss militärischer Taktik auf die soziale Verfassung haben auch die besonderen Formen der Organisation Auswirkungen auf die Sozialstruktur, während andererseits die Normen und Verhaltensmuster der Gesellschaft von Bedeutung für Gesinnung und Gebaren der Armee sind. Von höchster Bedeutung für das Überleben einer freien, demokratischen Republik ist es, dass ihre Armee sich aus freien Bürgern, nicht aus Berufssoldaten zusammensetzt, dass der Militärdienst einen natürlichen Bestandteil des demokratischen Lebens bildet, dass militärische und zivile Tugenden miteinander übereinstimmen. So lange die Kriege Athens und Roms von Bürgerarmeen und Bürgerflotten ausgetragen wurden, war die Verfassung der Repulik nicht in Gefahr, wie auch immer die internen Konflikte sich ausnahmen. Doch als der freie Bürger nicht mehr imstande war, seine eigene Ausrüstung zu bestreiten und eine Vielzahl von Jahren Waffendienst zu verrichten, während sein Besitz verfiel, war 1 2
Hans Habe, A Thousand Shall Fall. New York: Harcourt Brace 1941. Otto Hintze, „Wesen und Wandlung des modernen Staates“. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Berlin: Reimer 1931, S. 790-810.
Soldatischer Geist und Nazi-Militarismus
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die Entstehung einer Berufsarmee unausweichlich. Machiavelli wusste nur zu gut um die politischen Folgen, welche die Errichtung eines Berufsheeres für eine Republik hat. In verschiedenen Petitionen an die Republik von Florenz beschwor er seine Mitbürger, eine Art selektiver Wehrpflicht oder ein Volksherr einzuführen, entsprechend dem Modell der Römischen Republik. Eine Bürgerarmee würde Florenz davor bewahren, den Ambitionen und der Gier von Söldnern zum Opfer zu fallen. Diese militärischen Unternehmer sind, da Frieden ihre Geschäfte ruiniert, zwingend gehalten, entweder den Krieg bis zum Äußersten zu verlängern oder aber sich selbst zu Herrschern und Tyrannen der Stadtrepubliken aufzuschwingen, in deren Dienst sie zuvor gestanden haben.3 In Zeiten, die von sozialen Konflikten und Zerfall geprägt sind, gibt es eine Interdependenz zwischen Söldnerheeren und politischer Zwangsherrschaft. Die Entstehung des Römischen Prinzipats kann verdeutlichen, dass eine Berufsarmee eine republikanische Verfassung beseitigen wird, wenn die herrschende Elite ihrer widerstreitenden Interessen wegen paralysiert ist. Als die Gracchen innenpolitische Reformen anregten, welche die Macht der eigenständigen Bauern sichern sollten, spaltete dies die herrschende Aristokratie. Reaktionäre Gruppen weigerten sich, wirtschaftliche Opfer zu bringen, während progressive Gruppierungen und die dem Adelsstand Enthobenen zusammenarbeiteten, um wieder eine zentralisierte, einheitliche Regierung einzurichten. Der folgende revolutionäre Wandel wurde von einigen ehrgeizigen Männern herbeigeführt, die ihre Posten im römischen Magistrat nutzten, um Befehlsgewalt über die Armee zu gewinnen. Um die Republik zu stürzen und unter dem Schutz der Armee ein Regime ihrer Gefolgsleute zu etablieren, missbrauchten sie die Loyalität ihres Heeres. Das Prinzipat bedeutete eine militärische Gewaltherrschaft, grob verschleiert durch den Fortbestand der republikanischen Institutionen, während der Herrscher die Funktionen des militärischen Führers und des demokratischen Volkstribunen in sich vereinte. Im neuen Senat passten sich die dort vertretenen Geschöpfe der Herrscher – Beamten, Abenteurer, Profiteure, Opportunisten und Karrieristen – den Erfordernissen einer Diktatur an, die vom guten Willen und
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Vgl. Niccolo Machiavelli, „Zwei Ordnungen entworfen von Niccolo Machiavelli um eine Nationalbewaffnung in der florentinischen Republik einzuführen“. In: Niccolo Machiavelli, Die Kriegskunst in sieben Büchern nebst den kleinen militärischen Schriften. Sämtliche Werke, Bd. 3. Übersetzt von Johannes Ziegler. Karlsruhe: Groos 1833, S. 197-233; Niccolo Machiavelli, „Briefe: An den Gesandten der Republik am römischen Hofe, die Befestigung von Florenz betreffen – An den General Guicciardini, die Befestigung von Florenz betreffend“. In: Niccolo Machiavelli, Die Kriegskunst in sieben Büchern nebst den kleinen militärischen Schriften. Sämtliche Werke, Bd. 3. Übersetzt von Johannes Ziegler. Karlsruhe: Groos 1833, S. 234-241.
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Soldatischer Geist und Nazi-Militarimus
der Zufriedenheit der Armee abhing. Der alte Adel wurde Schritt für Schritt beseitigt.4 In dieser ‚römischen Revolution’ zeigen sich sowohl die allgemeine als auch die individuelle Richtung militärischen Verhaltens in Antike und Moderne. In beiden Fällen nutzt die Armee den Konflikt innerhalb einer Gesellschaft als deren bestintegrierter und strukturiertester Teil, um ein Militärregime zu errichten, das für ein aufwändiges Sicherheitssystem, für Ordnung und Kontinuität im Inneren wie im Äußeren sorgt. In Rom errichtete die Armee neue Verfassungen, schuf Tyrannen und ermordete sie. Ihre Generäle machten sich den gesetzlichen Rahmen zu eigen, indem sie ihn in Gestalt loyaler Anhänger füllten, die sie in Form von Ehre und mit den Vergünstigungen der Macht belohnten. Im Hintergrund gewann die organisierte Militärmaschinerie die Kontrolle über die Verwaltung des Reichs. Der Fall der römischen Armee deutet auf eine Regel, derzufolge in einer hochgradig geschichteten und kultivierten Gesellschaft die Gruppe obsiegen wird, die über das Monopol der physischen Gewalt verfügt. Wenn in der Moderne Armeen bei sozialen Konflikten intervenieren, ergibt sich ein denkbar anderes Bild, das für das Verständnis der derzeitigen Krise große Bedeutung hat. In modernen Staaten bilden Berufsoffiziere und Unteroffiziere das Gefüge der Armee, während die Masse der Kräfte für ein oder drei Jahre eingezogen wird. Aus diesem Grund ist es unmöglich, diese in gleicher Weise wie die römischen Armeen zu nutzen. Hinzu kommt, dass die Entwicklung der modernen Industriegesellschaften mit ihrem Potenzial für eine rationale Organisation, mit dem Wachstum kollektiven Bewusstseins und mit dem Aufstieg der politischen Religionen es ermöglicht hat, revolutionäre Massen jenseits der Berufsarmeen des Staates zu organisieren und zu bewaffnen. Seit der Französischen Revolution haben sich die Massen selbst organisiert. Sie waren nicht länger der Gegenstand, den sich politisch ambitionierte Splittergruppen innerhalb der herrschenden Schichten zu eigen machen konnten. Diese revolutionären Gruppen kämpften ihre eigenen Kämpfe mit militärischen Mitteln und forderten die Militäreinrichtungen des Staates heraus. Jacob Burckhardt, ein Kenner der Geschichte des Römischen Reiches, der dieser modernen Entwicklung eine sorgfältige Analyse widmete, vermerkte wiederholt, dass in dem bevorstehenden Konflikt zwischen den Kräften einer radikalen Gesellschaft und der Macht eines zentralisierten, 4
Vgl. Ronald Syme, „Das Schicksal der Nobiles“. In: Ronald Syme, Machtkämpfe im Antiken Rom. Grundlegend revidierte und erstmals vollständige Neuausgabe. Übersetzt von Friedrich Wilhelm Eschweiler und Hans Georg Degen. Herausgegeben von Christoph Selzer und Uwe Walter. Mit einem Vorwort zur ersten Auflage von 1939. Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 512532; Ronald Syme, „Pax et Princeps“. In: Ronald Syme, Machtkämpfe im Antiken Rom. Grundlegend revidierte und erstmals vollständige Neuausgabe. Übersetzt von Friedrich Wilhelm Eschweiler und Hans Georg Degen. Herausgegeben von Christoph Selzer und Uwe Walter. Mit einem Vorwort zur ersten Auflage von 1939. Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 532-548.
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militarisierten Staates die Armeen nicht die Rolle spielen würden, die sie während des Niedergangs Roms gespielt hatten. In der auseinanderbrechenden Welt der Moderne würden Demagogen, die in sich die radikalsten militaristischen Ziele mit den ‚Talenten eines Unteroffiziers’ vereinigen, mit Hilfe privater Armeen eine Tyrannei errichten, die an Schrecken und Grausamkeit alles übertreffen würde, was die Welt bisher gesehen hat.5 Diese einleitenden Bemerkungen skizzieren den soziologische Hintergrund, ohne den die heutige Krise nicht angemessen verstanden werden kann. Die deutsche Armee ist der radikalste und vielschichtigste Fall, der sich dem Analytiker des Szenarios der Moderne bietet. In ihm zeigen sich die meisten der allgemeinen, immer wiederkehrenden Muster militärischen Gebarens, und zugleich die Besonderheiten der Situation Deutschlands. Paradoxerweise hat die deutsche Armee sich selbst ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrer Würde beraubt, indem sie den Staat zerschlug und stattdessen eine Militärkörperschaft an die Macht brachte, die ähnlich der traditionellen Armee ist und zugleich in Gegensatz zu ihr steht. Diese problematische Entwicklung im Rahmen der europäischen Geschichte ist zum Teil das Ergebnis der militärischen Bestimmungen des Vertrags von Versailles, der selbst eine historische Paradoxie darstellt. Obwohl die französischen und britischen Militärschriftsteller sich seit 1917 im Klaren waren, dass angesichts der Mechanisierung der Kriegsführung eine leistungsstarke Armee eine Berufsarmee sein wird, zusammengesetzt aus Fachleuten, die hoch qualifiziert für die Handhabung der neuen Gerätschaften sind, zwang der Vertrag von Versailles die Deutschen dazu, eine Berufsarmee genau dieses Zuschnitts zu formen. Dies war in der Tat ein Söldnerheer. Der Vertrag sah vor, dass die Armee auf 100.000 Mann beschränkt blieb. Die einfachen Soldaten mussten sich für einen Zeitraum von zwölf Jahren verpflichten und Offiziere mussten 25 Jahre dienen, um zu verhindern, dass keine Reservistenarmee entstünde. Diese neue Militärverfassung war sehr viel revolutionärer, als die Wei5
Vgl. Jacob Burckhardt, „Historische Fragmente aus dem Nachlaß“. In: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen – Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 7. Herausgegeben von Albert Oeri und Emil Dürr. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1929, S. 209-466, hier S. S. 367-371, 377-378 u. 411412; Jacob Burckhardt, „An Gottfried Kinkel. 7. Januar 1845“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 130-131; Jacob Burckhardt, „An Emma Brenner-Krohn. 1. Dezember 1854“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 217-218; Jacob Burckhardt, „An Friedrich Salomon Vögelin. Montag nach Bettag 1866”. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 290; Jacob Burckhardt, „An Friedrich von Preen. 20. Juli 1870”. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 331-333.
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marer Republik es war. Die neuen Vorschriften und die neue Form der Organisation bildeten ein Element, dass zur Zersetzung der Republik beitrug. Eine Berufsarmee wird zwangsläufig die Neigung entwickeln, die eigene Rolle in kritischer Distanz zum Staat zu bestimmen – immer bleibt sie ein Staat im Staat, eine geplante, rationale Gesellschaft, die sich einer modernen Demokratie gegenüber sieht, die selbst um den richtigen Weg der Planung sozialer Institutionen kämpft. Dieses formale Element der Distanz wurde durch den sozialen Hintergrund des Armee-Personals verstärkt. Die Offiziere waren ehemalige Mitglieder der Preußischen Armee, also Junker, die in der Tradition einer mit Militärmacht herrschenden Klasse erzogen worden waren; auch die einfachen Soldaten wurden sorgfältig nach ihrer physischen und psychischen Gesundheit ausgewählt. Dabei bedeutete psychische Gesundheit, wie den Akten des Reichstags zu entnehmen ist, eine verlässlich konservative, antirepublikanische Haltung, wenigstens aber, dass keine Verbindungen zu den Parteien auf dem linken Flügel der Republik bestanden. Die soziale Zusammensetzung der Reichswehr wirft ein Licht auf das neue Ethos der Armee. Bis 1914 folgten die moralischen Grundsätze, an denen sich die Offiziere der Preußischen Armee orientierten, aus dem Prinzip der Loyalität gegenüber dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn. Der Kaiser galt nicht als Repräsentant der geeinten Nation oder der Verfassung. Es ist eines der besonderen Merkmale einer semifeudalen Armee, den Herrscher der Verfassung überzuordnen. Semifeudal sind zum Beispiel die französische, die spanische oder eben die deutsche Armee, in denen ungeachtet der Fortschritte der Verfassung die in der feudalen Vergangenheit herrschenden Gruppen die meisten der höheren Ränge besetzen. Die Treue zum König oder Kaiser lässt sich unschwer und zutreffend als eine Solidarität um erworbener Rechte willen erkennen. Zweifellos hatten die Einrichtungen der Monarchie die sozioökonomischen Interessen der Militäraristokratie geschützt. Dies für sich genommen war jedoch nicht genug. Für die Junker, eine ihrer beruflichen Ehre verpflichtete Gruppe von Berufssoldaten, war der Monarch das unzerstörbare Sinnbild der militärischen Einrichtungen des Regimes. Es trifft zu, dass die preußische Monarchie mehr als jede andere in Europa das Produkt einer Kooperation von monarchischen Institutionen und Kriegsadel war, einer Gruppe, die nicht durch Geburt oder Vermögen, sondern kraft ihres Amtes über Privilegien verfügte. Die preußischen Herrscher und ihre Armeen bewahrten diese enge Verbindung trotz des Wechsels der Verfassungen. Dieses Residuum einer pseudofeudalen Beziehung zwischen Herr und Vasall, mithin das Ideal der Militärs von der Ehre und Würde des Dienstes, blieb bis zum Ende der Monarchie ungebrochen. Die militärische Niederlage und der würdelose Zusammenbruch der Monarchie erschütterten die Moral und die politischen Prinzipien der militärischen
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Elite, die in den Dienst der Republik trat. Die Niederlage war für sie eine berufliche Demütigung nach einem Jahrhundert der Siege. Der Kollaps der sozialen Ordnung gefährdete ihr Sozialprestige und untergrub ihre erworbenen Rechte in der zivilen und militärischen Verwaltung ebenso wie ihre ökonomischen Interessen als Besitzer riesiger Landflächen. Den Schock des Zusammenbruchs illustriert am Besten die Dolchstoßlegende, mit der die Verantwortung für die militärische Niederlage auf Gruppierungen der Zivilgesellschaft übertragen wurde – ein deutlicher Hinweis auf den Verlust soldatischen Geistes, der mit dem Unvermögen, die Niederlage zu akzeptieren, einherging. Diese feindselige Haltung gegenüber den zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, welche die neue Republik errichteten, sorgten für eine Isolation der Armee, während die heimliche Wiederbewaffnung ein Hauch der Verschwörung umwehte. Dazu müssen wir in Betracht ziehen, dass viele der jungen Offiziere durch die soziale und politische Katastrophe, die ihre Schicht erlebte, in ihren Überzeugungen, ihren Maßstäben und Grundsätzen erschüttert waren. Sie verbanden ihr Ressentiment gegenüber der kapitalistischen Welt mit dem Hass auf die aus der Niederlage hervorgegangene bürgerlich-demokratische Republik und begeisterten sich für eine Idee, die man nationalbolschewistisch genannt hat. Diese Haltung kann man als catilinisch bezeichnen, weil es eine Haltung Deklassierter ist. Die dieser Gruppierung eigenen revolutionären Grundsätze sind äußerst schlicht. Sie zielen auf einen militärischen Despotismus, um die Wohlhabenden auszubeuten. Die selbstgewählte gesellschaftliche Isolation zusammen mit dem verschwörerischen und dem catilinischen Element schufen ein Ethos, das um die Idee beruflicher Ehre kreiste und dem des Berufskriegers vom Typus des Söldners sehr ähnlich ist. Jene drei Elemente des Zusammenbruchs verbreiteten sich in der Armee und ebneten den Weg für die Unterstützung sämtlicher antirepublikanischer, nationalistischer Bewegungen, insbesondere der Nationalsozialistischen Partei. Der Wandel des politischen Ethos ging einher mit dem Wandel des beruflichen Ethos. Bereits während des vorangegangenen Krieges hatten die neuen technischen und taktischen Mittel dafür gesorgt, dass die Strukturen der Massenarmeen sich beträchtlich veränderten. Die neuen Stoßtruppen waren das erste militärische Kennzeichen einer durch und durch industrialisierten, mechanisierten Welt. Ihre Rolle war die einer Elite bestens ausgebildeter Spezialisten, geübt im Gebrauch mechanischer Angriffswaffen, ausgewählt für Spezialkommandos und durch eine besondere Behandlung während ihrer Ausbildungszeit hinter der Front privilegiert. Sie selbst verstanden sich als die Elite der Armee, den Massen in den Schützengräben überlegen, eine Gemeinschaft tapferer Krieger, deren gemeinsame Unternehmungen das Gefälle zwischen einfachen Soldaten und
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Offizieren eingeebnet und Kameradschaft zwischen ihnen geschaffen hatte.6 Die Institutionalisierung dieser Gruppen war nach dem Krieg das Hauptanliegen der Berufsarmee. Die gesamte Armee wurde in sämtlichen Waffengattungen ausgebildet. Alle Soldaten lernten, dass die Kooperation aller modernen Waffengattungen die Voraussetzung für einen Erfolg war. Dieses berufliche Ethos glich dem des Gladiatoren, der sich im Angesicht des Todes zu höchstmöglicher Leistungsfähigkeit schult. Einer solchen Armee von Ingenieuren und technischen Experten konnte leicht der Geist des Patriotismus, das moralische Gespür für die Hingabe an das Land und die Gesellschaft verlorengehen. Sie erneuerten das Ethos des Berufskriegers, dessen höchstes Ideal ein Sieg aus Eigeninteresse ist. All diese Veränderungen der sozialen und beruflichen Grundsätze sorgten dafür, dass die Armee den Nationalismus und Militarismus der totalitären Parteien unterstützte. Ein weiteres Element machte die totalitären Bewegungen attraktiv. Es war zuerst die Armee, die während des Ersten Weltkriegs und zum Zwecke des Krieges eine restlos geplante Gesellschaft entwickelte. Das Erlebnis der Interdependenzen der industriellen Welt hatte sie gelehrt, dass unter den Bedingungen der Moderne höchste gesellschaftliche und höchste militärische Leistungsfähigkeit nur dann erreicht werden kann, wenn ein vollständiger Plan für den Sieg vorliegt. Dies war ein weiterer Grund für die Armee, sich auf die Seite einer totalitären Bewegung zu stellen, die zumindest die Möglichkeit verhieß, die eigene Ehre wiederherzustellen. Indem die Armee diese Bewegung unterstützte, ermöglichte sie den Staatsstreich gegen die Republik; man hatte kein Bewusstsein dafür, dadurch die gesellschaftliche Funktion und die Würde der Armee zu verwirken. Doch genau dies geschah; die Nazis rühmen es als eine der Errungenschaften ihrer Revolution. Als politische Institution gründete der Staat auf einer Arbeitsteilung mit der Gesellschaft. Die Herausbildung einer verfassungsgebundenen, demokratischen Regierung hatte das Aufgabenfeld des Staates erweitert; zugleich umfassten die Bürgerrechte fortan auch die soziale und die ökonomische Ebene. Die allgemeine Tendenz der demokratischen Entwicklung war es, Staat und Gesellschaft in einer wahrhaften Demokratie freier Bürger wieder zusammenzuführen. Politik ist nicht anders denkbar als die Einrichtung gesetzlicher Regelungen, welche die Fortdauer und den friedlichen Ausgleich des menschlichen Miteinanders ermöglichen sollen. Von Solon, der die Segnungen des Lebens in der Polis besingt, bis zu den Vätern der amerikanischen Verfassung haben verantwortungsvolle Denker das Bewusstsein der unverbrüchlichen Einheit von Recht und Politik gepflegt. Die Nazis, überhaupt die totalitären Parteien, haben diese Vorstellung 6
Hans Ernst Fried, „The Demobilized Career Officer and the Rise of National Socialist Militarism in Germany“. Unveröffentlichte Monographie. Ursprünglich verfasst für das Peace Research Project der Graduate Faculty.
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zunichte gemacht. Sie haben die politische Sphäre aufgehoben und ihr eigenes Regime als eine militärische Körperschaft eingerichtet. Dieser Faktor ist es, aus dem der Armee eine höchst problematische Situation erwuchs. Es gibt nun keinen Konflikt mehr zwischen Staat und Gesellschaft oder zwischen den gesellschaftlichen Klassen, sondern eine permanente Spannung zwischen den erworbenen Rechten zweier militärischer Gruppierungen. Die Stufen dieses Konflikts lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in Gänze nachzeichnen. Doch ist anzunehmen, dass sich die widerstreitenden Gruppen vor dem Hintergrund des Krieges und angesichts der britischen Friedenspläne zusammenfinden und ihre Bemühungen bündeln, um einer Niederlage zu entkommen. In diesem Zusammenhang sollte hervorgehoben werden, dass die Armee im Wettbewerb mit anderen militärischen Einrichtungen wie der Waffen-SS, den Sturmtruppen und der Gestapo nicht nur ihren besonderen sozialen Rang verlor. Unter dem Einfluss des Nazi-Geistes starben unter den Berufssoldaten auch die lange gehegten Vorstellungen von fair play und amor fati. Ein Beispiel geben die Erinnerungen eines Nazi-Fliegers an seine Lektüre von Ernst Udets Bericht über ein Gefecht, das er während des Ersten Weltkrieg mit Georges Guynemer, dem Stolz der französischen Luftwaffe, austrug. Udets Maschinengewehr blockierte, und der Franzose, der seinen Gegner wehrlos sah, zog sich zurück, ohne einen Vorteil aus der misslichen Lage seines Kontrahenten zu ziehen. Die Reaktion des Nazis ist äußerst aufschlussreich. Missbilligend merkt er an, das Ereignis habe bei Udet, der derlei Ritterlichkeiten wertschätzte, einen tiefen Eindruck hinterlassen: „Was mich anbetrifft, so bin ich nicht im Geringsten beeindruckt. Zur Hölle mit dem ritterlichen Verhalten.“7 Die Entschlossenheit, mit der er die Vorstellung ablehnt, der Kampf sei eine Partie zwischen Gentlemen, ist das Resultat der Nazi-Erziehung. Sie deckt sich fast wörtlich mit Hitlers Urteil über Ritterlichkeit: „Generäle wollen trotz ihren Lehren vom Kriege, sich wie die Ritter aufführen. Sie glauben Kriege wie die mittelalterlichen Turniere führen zu müssen. Ich brauche keine Ritter, ich brauche Revolutionen. Ich habe die Lehren der Revolution zur Basis meiner Politik gemacht.“8 Folglich kann kein Zweifel über die Geisteshaltung dieser militärischen Körperschaft bestehen. Politik und Krieg haben nichts Spielerisches; es gelten keinerlei Regeln für den Umgang von Nazis mit Nicht-Nazis. Als Herrenrasse sind die Nazis zu jeder Form von Zwang und Gewaltanwendung befugt, um den empirischen Tatbestand ihrer Überlegenheit und Einzigartigkeit durchzusetzen und zu verifizieren. Zahlreiche Beispiele stützen diese These. Britische Flieger boten – als Gentlemen in Uniform – einem Nazi-Flieger, der während des Luft7 8
Gottfried Leske, I Was a Nazi Flier. New York: The Dial Press 1941, S. 351 u. 47. Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler. Zürich, Wien, New York: Europa Verlag 1940, S. 16.
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kampfs über England in Gefangenschaft geraten war, eine Zigarette an; ist die Partie vorbei, pflegen Gentlemen einander ihren Respekt zu erweisen. Der Nazi lehnte die Zigarette kategorisch ab, indem er rief: „Von Mördern und Lügnern nehme ich nichts. Heil Hitler!“ Vorgestellt hatte er sich zuvor mit den Worten: „Ich bin ein deutscher Offizier. Behandeln Sie mich gut, oder ich werde dafür sorgen, dass man mich rächt.“ Nachdem er fortgebracht worden war, bemerkte einer der britischen Flieger: „Da muss etwas falsch laufen mit einer Nation, die so welche ausbrütet.“9 Die Annahme einer natürlichen, selbstverständlichen Überlegenheit, die jede Gemeinsamkeit mit dem Feind ausschließt, denkbar verschieden vom Geist des Gentleman, den der Offizierskorps der alten preußischen Armee erwies, ist ein wiederkehrendes Merkmal der Nazis. Jene Offiziere hegten den höchsten Respekt für einen ehrenhaften Gegner, der seinem Fürsten oder seinem Land diente so wie sie dem ihren. Die Nazis brachten das neu-alte Ideal des entfesselten Kriegers herauf, der allein sein eigenes Herrschaftsrecht kennt und die Pflicht der Welt, von ihm beherrscht zu werden. Nichts verdeutlicht diese Geisteshaltung besser als der Kommentar eines Nazi-Fliegers, nachdem er die Nachricht erhielt, dass die Niederländer mit Büchsen und Maschinengewehren auf Fallschirmjäger schossen: „Es ist ein niederträchtiges, tierisches Geschäft, auf hilflose Fallschirmspringer zu schießen. Typisch Holländer. Ich denke, es entspricht auch nicht dem Völkerrecht.“10 In unterschiedlichen Schattierungen taucht diese Haltung in den Berichten über den französischen Feldzug immer wieder auf, wobei auch religiöse Begeisterung nicht fehlt. Ein katholischer Priester erzählte die Geschichte eines sterbenden Soldaten, der allen seelischen Beistand ablehnte, jedoch nach einem Bild des Führers verlangte. Den gleichen pseudoreligiösen Fanatismus zeigt der in Kriegsgefangenschaft geratener Nazi, der lieber sterben wollte als eine Bluttransfusion von einem ‚schmutzigen Franzosen’ zu empfangen. All dies verrät eine Haltung, die mit den moralischen und geistigen Grundsätzen unvereinbar ist, durch die über alle möglichen Auseinandersetzungen hinweg doch die Idee der Menschheit geschützt und bewahrt werden konnte. Die Anhänger dieser neuen militärischen Körperschaft erkennen nicht, dass ihre Gegner oder Feinde in der gleichen Lage sind wie sie selbst, gebunden an die eigenen Moralvorstellungen und Verantwortlichkeiten. Ihr Bekenntnis verwehrt ihnen die Erkenntnis der geistig-moralischen Grundsätze derer, die ihren Glauben nicht teilen. Diese Ungläubigen sind Aussätzige, denen als Herrscher oder als Vernichter zu begegnen ist. Aus diesem Grund gilt es, die militärischen Grundsätze, auf denen die Naziideologie aufgebaut ist, eingehend zu untersuchen. 9 10
Keith Ayling, R.A.F. The Story of a British Fighter Pilot. New York: Henry Holt 1941, S. 152ff. [nicht nachgewiesen]. Gottfried Leske, I Was a Nazi Flier. New York: The Dial Press 1941, S. 157.
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Alle totalitären Staaten sind nach den militärischen Grundsätzen von Führung, Disziplin, Befehl und Gehorsam organisiert. Diese militärischen Beziehungsformen haben in allen Sphären des Lebens normative Geltung. In den Erziehungsanstalten der Hitler-Jugend ebenso wie in den Schlössern der Elite werden die technischen und psychologischen Voraussetzungen für Befehl und Gehorsam auf denkbar zynische und skrupellose Weise indoktriniert und praktiziert. In der Wirtschaft sollen Arbeiter, Vorarbeiter und Betriebsleiter in einem Verhältnis wie Soldat und Offizier stehen. Eine sorgfältige Analyse der von den Nazis gepriesenen militärischen Tugenden gibt Aufschluss über den spezifischen Charakter ihres militärischen Geistes. Der Nachdruck, den man fortgesetzt darauf legt, dass Disziplin, Gehorsam, Opferbereitschaft und Loyalität die grundlegenden Tugenden dieser militärischen Körperschaft, der Nazi-Partei, sind, ist der deutlichste Beleg für die verwirrende Ambivalenz dieser Begriffe. Denn diese Eigenschaften an sich sind nicht moralisch. Sie können ebenso auf eine Bande Gesetzloser wie auf die Soldaten einer Armee anwendbar sein. Eine Gewalthandlung ist umso wirkungsvoller, je stärker die zentrale Befehlsgewalt ist und je strikter die Befehle befolgt werden. Daher sind Disziplin und Gehorsam in erster Linie technische Anforderungen, die für eine Ausbildung jeglicher Art gelten, ohne eine moralische Bedeutung zu besitzen. Disziplin ist kein Wert an sich. Es ist eine Technik, ebenso geeignet für die Ausübung von Brutalität wie für den Erwerb der mystischen Werte der Yoga-Philosophie. Die Ambivalenz des Begriffs der Disziplin und seines Korrelats, der Ermächtigung, hat Edmund Burke in seiner Untersuchung über die Jakobiner betont, die in erstaunlicher Weise für die totalitären Revolutionäre zutrifft: „Sie bringen Schande über die Geburt der Menschen, sie verderben und versklaven sie während ihres ganzen Lebens, und sie rauben ihnen jedweden Trost am Ende ihrer entehrten und verkommenen Existenz. Bestrebt, ihnen einzureden, dass sie nicht besser sind als Tiere, trägt diese ganze Körperschaft dazu bei, dass die Menschen zu wilden, ungezähmten Raubtieren werden. Zu diesem Zweck hat man den aktiven Teil dieser Körperschaft zu einer Wildheit ohne Gleichen erzogen. [...] Dieselbe Erziehung, die ihre Herzen verhärtet, lockert ihre Moral. [...] Unter all der Not und Nacktheit, inmitten der Aufrufe zum Mord, der kummervollen Tränen und verzweifelten Schreie gingen Tanz und Lied, Schauspiel und Possenreißerei weiter wie in den frohen Stunden des Friedens.“11 Diese Interdependenz von Disziplin und Ermächtigung schafft ein allgemeines soziales Verhaltensmuster, das jedem vertraut ist, der die Gepflogenhei11
Edmund Burke, „First Letter on a Regicide Peace (1796)”. In: The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. 9. Herausgegeben von R. B. McDowell. Oxford: Clarendon Press 1991, S. 197-264, hier S. 246.
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ten einer Armee kennt, die nicht durch die geistig-moralischen Grundsätze des militärischen Dienstes geadelt ist. Darum haben Disziplin und Gehorsam keinen moralischen Wert an sich. Zudem wurde die moralische Qualität von Loyalität und Opferbereitschaft bereits in den Theorien zur strategischen Kriegsführung von Clausewitz bis Ludendorff entstellt. Mit naivem Zynismus benutzten sie den sublimen Begriff des Opfers als technischen Terminus, um in ihren Theorien über Massenangriffe und Sturmattacken die Unvermeidlichkeit von Verlusten zu veranschaulichen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von den NaziPhilosophen. Beiderseits wendet man Ideen von reinster Moralität um technischinstrumenteller Zwecke willen an. Opferbereitschaft ist der höchste moralische Wert, wenn das Opfer willentlich und selbstständig erbracht wird. Helden und Märtyrer opfern ihr Leben. Nie fehlt es dabei an einer religiöse Komponente; Selbstüberwindung und die Identifikation mit einem größeren Ganzen gehören zum Wesen dieses Phänomens. Der Begriff wird verunreinigt, wenn man ihn auf ein zwangsweise veranlasstes, willkürliches Gemetzel anwendet. Es trifft zweifellos zu, dass in allen arrivierten Institutionen die höchsten moralischen Werte von egoistischen Interessenlagen verdrängt werden. Es ist ein romantischer Irrglaube, dass Gier und Selbstsucht verschwinden, wenn der Krieg ausbricht. Ebenso wahr ist indes, dass die moralischen Überzeugungen und Grundsätze einer Nation im Krieg eine Feuerprobe bestehen müssen, dass die Entschlossenheit, mit der sie Grausamkeiten zu ertragen vermag, auf der Güte und Wahrhaftigkeit ihrer moralischen Grundsätze beruht. In der Ambivalenz militärischer Tugenden kommt ein allgemeines Phänomen der modernen Welt zum Ausdruck, die Verwirrung des Verhältnisses von Mittel und Zweck. All jene Tugenden sind dem menschlichen Tun zuträglich, wenn sie eingesetzt werden, um moralische Bedürfnisse zu erfüllen. Werden sie dieser instrumentellen Funktion beraubt und stattdessen als absolute Werte behandelt und zum Selbstzweck erhoben, sind ihrem Mißbrauch in nihilistischer Absicht die Tore geöffnet; Betragenstechniken verwandeln sich in moralische Werte. Wenn das soldatische Ideal seinen Zweck in sich selbst hätte, dann träfe Voltaires Beschreibung des Soldaten als des reinsten Typus der Niedertracht, als Manifestation von roher Gewalt in rationalisierter Form zu.12 Dann gäbe es keinen Unterschied zwischen Soldat und Verbrecher, die beide dieser Eigenschaften bedürfen, um Wirksamkeit zu entfalten, sei das Ziel ihres Tuns ein kriminelles oder sei es die Verteidigung einer gerechten Sache. Tatsächlich ist der entschei12
Voltaire, „Krieg“. In: Voltaire, Philosophisches Wörterbuch. Nach der Textauswahl von Rudolf Noack. Übersetzt von Erich Salewski und Karlheinz Stierle. Herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle. Frankfurt am Main: Insel 1985, S. 138-144.
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dende Unterschied zwischen einem Gesetzlosen und einem Soldaten der Bezugsrahmen ihres Handelns. Die Ehre des loyalen Soldaten gewährleistet, dass sein Streben innerhalb eines legal-moralischen Normgefüges, das seine Welt zusammenhält, verläuft. Der Verbrecher steht außerhalb der Gesetze und sein Erfolg ist ein Triumph der Gewalt. Der revolutionäre Kämpfer ist kein Verbrecher, denn seine Ziele richten sich auf sozial-moralische Werte. Gleichwohl ist sein Ziel nicht eine Welt, in der sich bereits leben lässt und die es zu schützen gilt. Sein Kampf spielt im gesetzlosen Dunkel der Konspiration; er bemisst die Ehrhaftigkeit seiner Grundsätze am Erfolg der Gewalt. In dieser Verwirrung von Zweck und Mittel erhebt der revolutionäre Kämpfer das ihm unverzichtbare Instrumentarium der rohen Gewalt; er erhebt die schiere Macht zum Selbstzweck, gewinnt sie ihm doch die Kontrolle und ein Bewusstsein seiner Ehrhaftigkeit und Wahrhaftigkeit. Das Bild vom Nazi-Militaristen wird angesichts dieser Typen des Gewalthandelns, des Verbrechers und des Revolutionärs, undeutlich. Sie verzerren das menschliche Ideal des Soldaten. Es gibt noch zwei weitere Aspekte, die eine Rolle spielen für das, was die Nazis als ihr militärisches Ideal rühmen: die Grundsätze des Kreuzfahrers und die des Kriegers. Der Kreuzfahrer gebraucht Waffen und Krieg, um sein Evangelium zu verbreiten und um die religiöse Pflicht zu erfüllen, Herrschaft über die Ungläubigen zu erlangen. Die Krieger vergangener Zeiten – Indianer, arabische Horden, Hunnen – machten den Kampf zur Mitte ihres Daseins. Die Einheit von Leben und Kampf war naiv und naturhaft, insofern es hier an den sozioökonomischen Beziehungsformen fehlte, die an die Stelle von Krieg und Kampf hätten treten können. Daher ist die moderne Wiedergeburt des Kriegers in der Nazi-Romantik gleichermaßen zynische Entwürdigung und Eskapismus. Eskapismus ist es, Vernunft und Einsicht als Mittel der Lösung der sozioökonomischen Probleme und Konflikte, welche die moderne Welt mit sich bringt, zu vernachlässigen. Alexander dem Großen noch war es gestattet, den Gordischen Knoten mit dem Schwert zu durchschlagen. Doch der moderne Tyrann, der diese Geste nachahmt, kann nicht als romantischer Held, sondern muss als hoffnungsloser Glücksspieler gelten. Das totalitäre Regime, das die militärische Körperschaft der Nazis errichtet hat, beinhaltet all diese Elemente, die in Widerspruch zum soldatischen Ideal stehen. Die Nazis würden nicht widersprechen, wenn man ihr Regime eine Retribalisierung der Gesellschaft nennt. Sie bringen das zur Anwendung, was ihr Philosoph Carl Schmitt als Basiskategorie des Politischen bestimmt hat: die Unterscheidung von Freund und Feind.13 Diese Theorie gibt Aufschluss über den
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Carl Schmitt, „Der Begriff des Politischen“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58, 1927, S. 1-33.
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spezifischen Charakter des Regimes. Der Gegensatz von Freund und Feind ist der eigentliche Antagonismus im Fall von Krieg und Revolution, von Kreuzzug und Stammesfehde. Für genuin politische Grundsätze aber bedarf es der Kooperation und Verständigung von Menschen, die an der universellen Vernunft teilhaben, welche die Grundlage der Entwicklung einer Urbanitas und die Grundlage von Gesetzmäßigkeit ist. Die Nazis streben kein soldatisches Ideal an. Sie nutzen die Ambivalenz militärischer Begriffe, um ihr eigentliches Ziel zu verschleiern: die Verklärung von Zwang und Gewalt. Der Krieger, der Kreuzritter und der Revolutionär teilen die gleiche Grundhaltung. Der unbedingte Wille zur Gewalt, die Freund-FeindUnterscheidung und das Ziel der vollständigen Vernichtung des Feindes kennzeichnen Personen, die das Monopol der Macht, der Wahrheit und der Erlösung der Gesellschaft besitzen. Sie kämpfen im Dunkel einer noch zu gebärenden oder einer in Auflösung begriffenen Welt. Der Soldat bleibt einer sinnhaften sozialen Welt verbunden. Seine Würde ist die dessen, der ein als Sinnganzes bestehendes Wertgefüge schützt und verteidigt und mithin eine Welt, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt. Das Loblied, das die Nazis Krieg und militärischen Tugenden singen, errichtet von Neuem den von Hobbes beschriebenen Naturzustand, in dem jeder jedes Anderen Feind ist.b Der totale Militarismus des Nazi-Regimes hat diesen Naturzustand institutionalisiert. Wenn ein Modell radikalster Revolution zur bleibenden Einrichtung des gesellschaftlichen Daseins gemacht wird, ist dies das unvermeidliche Resultat; es ist ein Prozess, während dessen Staat und Gesellschaft von einer militärische Körperschaft verdrängt werden. Dieser Militarisierungsprozess ist tatsächlich ein der deutschen Welt eigenes Phänomen, ist das Ergebnis einer langen Geschichte, in der die preußische Militärmonarchie die Vorherrschaft über die Zivilgesellschaft hatte, sie kontrollierte und erniedrigte. Die erste Stufe in diesem Prozess war die Organisation der preußischen Verwaltung unter Friedrich Wilhelm I., in deren Mittelpunkt das Kriegsministerium stand. Dieselben Leute, die für Verwaltung und Versorgung der Armee zuständig waren, trugen auch die Verantwortung für die soziale und wirtschaftliche Wohlfahrt der Zivilgesellschaft, die zugleich als Steuerquelle für militärische Zwecke diente. Die zivile und polizeiliche war der militärischen Verwaltung untergeordnet und abhängig von ihr. Darin unterschied sich der
b
Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1966, S. 111.
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preußische Militärstaat von Österreich, Sachsen oder Bayern, wo die zivile und die militärische Verwaltung klar voneinander getrennt waren.14 Die zweite Stufe der Militarisierung Preußens bildete der fortgesetzte Erfolg der zynischen und skrupellosen Eroberungspolitik des dämonischen Friedrich II., der niemals nachließ, die vorrangige Bedeutung seiner militärischen Elite und die Nebensächlichkeit von Industrie und Zivilgesellschaft herauszustellen.15 Die dritte Stufe war die Revolte der Junker gegen die bescheidenen liberalen Reformen der Regierung Hardenberg zwischen 1810 und 1814. Die Junker nahmen die Parolen der Nazis vorweg und es gelang ihnen, ihre Ideen in das Denken der Intellektuellen der Industriegesellschaft einzuträufeln. Sie lamentierten, dass das ehrbare Preußen untergehe, während ein ganz neuer, ein jüdischer Staat entstehe. Sie kündeten von einem revolutionären Konflikt zwischen Besitzlosen und Landbesitzern, zwischen Industrie und Agrarsektor, zwischen Materiellem und Ideellem, zwischen atomisiertem Individuum und Familie, zwischen Fortschrittsgeist und Historie, zwischen Intellekt und Wesen. Es ist charakteristisch für die Entwicklung Preußens, dass die Gebildeten und Intellektuellen in Industrie und Zivilgesellschaft die reaktionären und antikapitalistischen Parolen der Junker zunächst mit Demut diskutierten und später nachsprachen.16 Die vierte Stufe der Militarisierung bildet die Transformation der liberaldemokratischen Bestrebungen von 1848 in den Nationalismus und Militarismus der Einigungskriege – Bismarcks gerissener Kunstgriff, um die revolutionären Bewegungen in Unterstützer der traditionellen Institutionen umzuwandeln. Die fünfte Stufe bilden die Verfügungen, mit denen Wilhelm II. 1890 und 1891 den Reserveoffizieren soziales Prestige verlieh und ihnen die Möglichkeit einer Karriere im öffentlichen Dienst und allen anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen eröffnete, an die in der altväterlichen Militärmonarchie Wilhelms I. noch nicht zu denken gewesen war. Man kann dies die Einführung der Mittelschicht in die Reihen der angesehenen Militärgesellschaft nennen. Es war der höchst wirksame Versuch, Industrie und gebildetete Gesellschaft ihrer liberalen und fortschrittlichen Grundsätze zu entwöhnen und sie zu loyalen und verlässlichen Untertanen der Militärmonarchie zu machen. Das neue militaristische Regime Wilhelms II. führte zur endgültigen Unterwerfung der Mittelschicht gegenüber den Junkern. Das Regime war militaristisch, insofern es aus Vorstel14
15 16
Otto Hintze, „Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte“. In: Historische Aufsätze. Karl Zeumer zum 60. Geburtstag als Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern. Weimar: Böhlau 1910, S. 493-528. Thomas Mann lieferte ein bemerkenswertes Porträt dieses teuflischen Königs. Vgl. Thomas Mann, Friedrich und die große Koalition. Berlin: S. Fischer Verlag 1915. Friedrich Meusel (Hg.), Friedrich August Ludwig von der Marwitz, Bd. 1. Berlin: Mittler 1908, S. 492; Vgl. Friedrich Meusel (Hg.), Friedrich August Ludwig von der Marwitz, Bd. 2. Berlin: Mittler 1908.
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lungen und Sitten der militärischen Elite ein zivilgesellschaftliches Ideal errichtete. Dieser Militarisierung der Gesellschaft korrespondierte die Entbürgerlichung des Militärs und der herrschenden Klasse. Das Nazi-Regime versteht unter der totalen Militarisierung der sozialen Beziehungen, dass Staat und Gesellschaft abdanken. Die Umwandlung von gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen in Kasernen, Militärlager und Konzentrationslager ist Eskapismus. Die Flucht ins Stammesideal ist das schlußendliche Ergebnis der Revolte gegen Geist und Vernunft. Wenn Staat und Gesellschaft abdanken, so bedeutet dies das Ende der Humana Civilitas. Dante setzte der Verwirklichung einer vollkommenen Gesellschaft dreierlei voraus. Erstens die Entwicklung einer Urbanitas und die Konstitution legaler Normen, um Frieden zu schaffen; zweitens die Ausrichtung individuellen Wollens an sozialmoralischen Bedürfnissen; drittens Gerechtigkeit als Grundlage des menschlichen Miteinanders.17 Die Nazis haben diese drei Postulate in der Theorie bestritten und in der Praxis beseitigt. An die Stelle von Rechtsnormen sind Willkür und Kalkül getreten. Frieden ist ein technischer Begriff, der den Waffenstillstand zwischen den Kriegen bezeichnet, um seiner selbst willen bedeutungslos. Eigenständiges, spontanes Denken ruinieren die Nazis, weil es für das effektive Tun dienstbarer Fachmenschen unerheblich ist. Ihr Gerechtigkeitsideal ist eines, das mit dem Willen und mit den irrationalen Vorstellungen von Führer und Elite übereinstimmt. Die totale Militarisierung der Gesellschaft, wie sie die Nazis vollzogen haben, evoziert ein Ethos der Zerstörung, das Opfer als l’art pour l’art und das Gesetz der Gewalt als die heilige Dreifaltigkeit einer Religion des Irrationalismus. Diese geistig-moralische Korruption entwürdigt und pervertiert die Momente wahrer Verzweiflung und Unausweichlichkeit, die der Situation der Gegenwart innewohnen. In den Tagebüchern Dostojewskis findet sich eine Beobachtung, die sich denkbar gut auf den spezifischen Charakter des totalitären Regimes in Deutschland anwenden lässt: „[Es] wäre [...] doch ganz gewiß nicht überflüssig, einmal zu bemerken, wenn auch nur in Parenthese, daß dieses Deutschland, das in all diesen neunzehn Jahrhunderten seines Daseins nichts anderes getan hat, als eben nur protestieren, bisher selbst sein eigenes neues Wort noch gar nicht gesprochen, sondern die ganze Zeit über nur von der Verneinung und von Protest gegen seinen Feind gelebt hat, so daß in Zukunft zum Beispiel sehr, sehr leicht etwas überaus Merkwürdiges geschehen könnte: daß nämlich, wenn Deutschland bereits endgültig gesiegt und das unwiederruflich zerstört haben wird, wogegen es
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Dante Alighieri, De Monarchia. Dantes Monarchie. Übersetzt und erklärt mit einer Einführung von Constantin Sauter. Freiburg im Breisgau: Herder 1913.
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seit neunzehn Jahrhunderten protestierte, es plötzlich auch selbst wird geistig sterben müssen, gleich nach seinem Feind, weil es keinen Lebenszweck mehr haben wird: es wird ja dann nicht mehr geben, wogegen es protestieren könnte.“18 Was in diesem entfesselten Militarismus zu Tage tritt ist nichts, das die würdevolle Bezeichnung als soldatischer Geist verdiente. Auch verfälscht er die vital-strahlende Kraft des Stammeskriegs, entwürdigt den moralischen Ernst dieses Gefechts, indem er es, von erdrückender Macht zynisch Gebrauch machend, vom letztgültigen Mittel widerstreitender Parteien zum ersten Mittel des Despotismus schmälert. Die Armee, auf deren Kanonen man einmal Ultima ratio regis – ,das letzte Mittel des Königs’ – lesen konnte, ist nun Teil des Arsenals einer umfassenden Bande, auf deren Stukas und Panzern man lesen müsste: ‚Das erste und einzige Mittel der Despoten.’ Diese Aussage sollte in ihrem wörtlichen Sinn ernst genommen werden. Tatsächlich ist dieses Regime Ausdruck entfesselter dämonischer Kräfte, die sich der Kontrolle durch Geist und Vernunft entzogen haben. Darin bietet sich etwas dar, das Max Scheler einmal als mögliche Form einer europäischen Katastrophe beschrieben hat:c eine Triebrevolte, einen Sturmangriff auf alles, aus dem die Zivilisation einmal hervorgegangen ist. auf die Vervollkommnung der Persönlichkeit und die Sphäre der Freiheit. Wie Attilas Horden könnten diese modernen militärischen Körperschaften eine hochentwickelte Zivilisation erobern und verheeren. Sicher werden sie keine neue Ordnung zu gestalten vermögen. Eine entfesselte militärische Körperschaft kann eine zivilisierte Welt beherrschen und ausbeuten, sie kann Gruppen, welche die Zivilisation tragen, vernichten. Doch solange sie Gesetz, Vernunft und Frieden nicht zu achten weiß, wird es ihr niemals gelingen, eine Ordnung, etwas Dauerndes zu schaffen. Dies ist noch nicht das letzte Wort, dass über militärische Tugenden zu sagen ist. Der deutsche Sonderfall ist das Ergebnis unglücklicher historischer Umstände, ohne innere Logik und Notwendigkeit. Die abschließende These dieses Aufsatzes ist es, dass militärische und bürgerliche Tugenden im Grunde zwei Aspekte menschlicher Tugendhaftigkeit, keine fundamentalen Unterschiede darstellen. In Gesellschaften, in denen der Feudalismus frühzeitig abgeschafft wurde und die Demokratie gleichermaßen das Ergebnis von Kämpfen und Pio18
c
Fjodor M. Dostojewski, „Tagebuch eines Schriftstellers [1877]“. In: Fjodor M. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken. Sämtliche Werke. Übersetzt von E. K. Rashin. München: Piper 1952, S. 7-596, hier S. 291. Max Scheler, „Über Gesinnungs- und Zweckmilitarismus. Eine Studie zur Psychologie des Militarismus“. In: Max Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Zweite, durchgesehene Auflage mit Zusätzen und kleineren Veröffentlichungen aus der Zeit der „Schriften“. Herausgegeben mit einem Anhang von Maria Scheler. München, Bern: Francke 1963, S. 187-203.
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nierarbeit war, Tod und Schicksal trotzend, hat man dies immer so gesehen. Großbritanniens liberale Tradition und seine politische Besonnenheit konnten in einer Gesellschaft von Landedelleuten entstehen, nachdem die Herrenhäuser sich in den Rosenkriegen gegenseitig auszulöschen begonnen hatten. In den ältesten ebenso wie in den jüngsten Demokratien – in der Schweiz ebenso wie in Amerika – sind bürgerliche Freiheiten und Militärgeist im Zusammenspiel entstanden. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Widerstandsgeist der amerikanischen Frontier, der Geist der Pionierzeit, von einem Ethos militärischer Tugendhaftigkeit getragen war. Dieser Geist war es, der Amerika groß machte. In Amerika wie in der Schweiz wurde die aus Antike und Mittelalter überlieferte unlösliche Einheit von ziviler Freiheit und militärischer Tugend in eine Tradition freier, wehrhafter Bürger überführt. Mit unfehlbarer Akkuratesse spricht man in der Schweiz vom ,Militär’ als einem Teil des Lebens, nicht von ,der Armee’ als einer staatlichen Institution. Die Franzosen als Individualisten spotten über die Armee; in Deutschland erhöht man sie über die Zivilisten. In wahren Demokratien betonen die Militärtheoretiker die moralische und rationale Komponente militärischer Tugenden. Vom ,Dienst’ sprechen sie als von einer dem sozialen Leben immanenten moralischen Pflicht, ebenso natürlich und selbstverständlich wie der Schutz der Familie oder berufliche Sorgfalt. So lange es freie Republiken gibt, leben die nachdenklichen und verantwortungsvollen unter ihren Menschen im Bewusstsein der Interdependenz von Freiheitsrechten und Dienst, von militärischer Verteidigung und politischer Freiheit. Amerikanische Militärtheoretiker setzen überdies voraus, dass Menschen erst durch den Militärdienst, durch Rückbesinnung auf die alten amerikanische Tugenden, höchste Tüchtigkeit erlangen. Ein amerikanischer General versicherte seine Untergebenen, durch die Mühsal und die Leiden des vergangenen Krieges hätten sie „das großartigste Prädikat eines Menschen“ erworben: „Selbstdisziplin. Wir wurden Männer. Echte Männer. Ganze Kerle“. Diese schmerzliche militärische Schule habe ihnen das Rüstzeug gegeben, um Kümmernisse und Wirren der Nachkriegszeit zu ertragen und beste berufliche Positionen zu erlangen, während die ‚Schwächlinge’ und ‚Drückeberger’ ebenso schnell verschwunden seien, wie sie als bequeme Profiteure der kriegsbedingten Konjunktur in Erscheinung getreten wären.19 Dieses Lob der Selbstkontrolle als Ergebnis militärischer Erziehung belegt die Bedeutung des Dienstes für zivile Tugenden. Es stellt eine demokratische Variation von Sombarts oberflächlicher, romantisch verklärter Studie über Händler und Helden dar.d Sombart, der Hegel und Marx studiert hatte, gelingt es, die bürgerliche Gesellschaft als rein ökonomische Klassenge19 d
Vgl. Clifford R. Powell, First Call. Zeitung der 44. Abteilung, 26. Juli 1941; Sowie New York Herald Tribune, 27. Juli 1941 [nicht nachgewiesen]. Werner Sombart, Händler und Helden. München, Leipzig: Dunker & Humblot 1915.
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sellschaft zu beschreiben, die alle Verbindung zu den Heldentugenden der feudalen Klassen verloren hat. Powell lehnt Sombarts Antagonismus kategorisch ab: Eine militärische Erziehung stärkt und befördert Tugenden, ohne die wir nicht in der Lage wären, die Erschütterungen und Notlagen des Lebens zu erdulden. Zum Leben gehört Mut, gehören Entsagung und Mäßigung, die erst Kooperation und Einverständnis ermöglichen. Zum Leben gehört Disziplin, gehören die verständige Reflexion und die vernünftige Entscheidung. Es gibt keinen Unterschied zwischen militärischen und bürgerlichen Tugenden, nur menschliche Tugendhaftigkeit und verschiedene Aspekte menschlichen Handelns. General Wavell teilt das Menschenbild, das Powells Überlegungen zugrunde liegt. Er nimmt an, dass die Briten den Besitz all ihrer militärischen Eigenschaften ihren Freiheitsrechten verdanken, aus denen sich im hohen Maß Spontaneität und Entschlusskraft entwickelt haben.20 Er ist stolz darauf, dass sie keine militärische Nation bilden und das Ethos des Militärkampfes erst immer wieder neu entwickeln. Es ist charakteristisch, dass dieser britische, antimilitaristische General als die wichtigste Tugend des Generals eine philosophische Haltung schätzt, die man die eines stoischen Weisen nennen kann – eine rational gründende Selbstdisziplin, die es ihm ermöglicht, die Erschütterungen des Krieges und die auf ihm lastende Verantwortung zu ertragen. Es ist bemerkenswert, dass ein General zuerst auf geistige Disziplin Wert legen soll, die den Widrigkeiten des Krieges zu trotzen vermag, bevor er unbezwingbaren Siegesmut fordert. Die kluge Mäßigung, mit der Wavell sämtliche Aspekte militärischen Handelns reflektiert, und seine desillusionierte Bewusstheit, dass Krieg weder Wissenschaft noch Kunst, sondern ein dreckiges Spiel ist, verdeutlicht und rechtfertigt seine Überlegung, dass Tugenden zuerst allgemein menschlich sind, nicht zivil und nicht militärisch. Wiederholt weist er darauf hin, dass wichtiger als allerlei taktische Kenntnisse eine wahrhaftige Kenntnis des Menschseins ist, auf dessen Eigentümlichkeiten – und nicht auf denen von Maschinen – Kriegsführung letztlich gründet. Die Kenntnis des Menschseins selbst bedarf, im Krieg wie im Frieden, Vernunft und Moral. In jeder Situation ist der Mensch ebenso zu Größe wie zu Schlechtem fähig. Ein kluger General wird sämtliche materiellen und geistigen Elemente des Menschseins zu berücksichtigen wissen, um Menschen in Kriegszeiten angemessen zu führen und zu versorgen; stets wird er deren Menschsein in seiner ganzen Bandbreite ins Auge fassen. So ist es kein Zufall, dass Wavell als bürgerlicher Gentleman-General immer wieder zur Frage der geistigen Verfassung von General und Truppe zurückkehrt, obgleich er sich der Bedeutung der materiell-technischen Ausstattung für einen erfolgreichen Krieg bewusst ist.
20
Archibald Wavell, Generals and Generalship. The Lees Knowles Lectures delivered at Trinity College, Cambridge, in 1939. London: The Times Publishing 1941.
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Die letztgültige strategische Überzeugung Wavells ist es, dass schlussendlich die Güte und das Niveau der geistigen Verfassung einer Armee über Sieg und Niederlage entscheiden. Diese Idee überwiegt unter den Offizieren demokratischer Armeen. In revolutionären Kriegen spielen moralische Fragen eine ebenso große Rolle wie Fragen der physischen Verfassung: „Am Ende werden die Kraft des Gefühls und die Tiefe der Überzeugung den Sieg davontragen.“21 Wahrhaftiges Gefühl und ehrliche Überzeugung sind nur in freien Republiken möglich, denn nur hier haben Menschen die Chance, im Austausch über strittige Fragen Vernunft und Einsicht zu gewinnen, die sie als Mittel der Bewältigung der gegebenen Umstände einbringen können. Aus diesem Grund setzen demokratische Offiziere voraus, dass kein Unterschied zwischen zivilen und militärischen Tugenden existiert und dass der Preis des Krieges nicht in ökonomischen Begriffen berechnet werden kann, sondern anhand der Auswirkungen, die er auf die Geltung der Grundsätze von Unabhängigkeit und Würde des Menschen hat. Ein Schweizer Bürgeroberst hat Armee und Nation tief beeindruckt durch eine Rede, in der er mit Nachdruck die Einheit von Bürger und Soldat betonte: „Jenseits aller Kalkulation von Gewinn und Verlust bleiben die moralischen Werte; der Geist; die föderative Idee, deren Erbe wir unseren Nachkommen weitergeben müssen. Deshalb vertrauen wir auf Gott und nicht auf einen Menschen, der wie ein Gott verehrt zu werden vorgibt.“22 In allen freien Ländern, ob in Amerika, in Großbritannien oder in der Schweiz, ist soldatischer Geist Bürgergeist. Der Geist eines freien Bürgers lässt sich definieren als das Bewusstsein des Ineinanderwirkens von Dienst und Freiheit, der Einheit menschlicher Tugend in der Hingabe an das Recht und eine gerechte Sache.
21 22
Charlotte Muret und Denis de Rougemont, „The Army of a Democracy. A Lesson from the Swiss“. In: Harper’s Magazine, September 1941, S. 343. Ebd., S. 346.
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I. Es war einmal eine Zeit, da regierten stolze Könige in prächtigen Rüstungen über die Bauern auf dem Land und die Handwerker in den Städten. Unterstützt wurden die Könige von Feudalherren und kriegshungrigen Rittern. Manchmal attackierten sie ihre Ländereien gegenseitig, um der Eroberung, des Ruhmes und des Spaßes willen. Der Krieg war ein Spiel der Könige und Ritter, die eine internationale Kriegsbruderschaft bildeten. Die Opfer ihrer Kriegsspiele bildeten eine internationale Gemeinschaft von Leidtragenden, die ewigen Märtyrer der Gewalt – Bauern, Arbeiter, Kaufleute und Gelehrte. Wenn die Macht in einer Gesellschaft auf diese Weise verteilt ist, lassen sich militärische Konflikte und Kriege leicht auf einzelne Herrscher und ihre Berater zurückführen. Die Intellektuellen des frühen Mittelalters besaßen eine genaue Vorstellung von Gut und Böse, hinsichtlich des Verhaltens von Regierungen. Sie zweifelten nicht daran, dass die Könige für Krieg oder Frieden verantwortlich waren. Sie erklärten energisch, dass die Könige des Friedens als gut und vernünftig besungen werden sollten, wohingegen die ohne wirklichen Grund in den Krieg ziehenden Fürsten als bösartig und kriminell zu verdammen seien. Ich denke über dieses ‚romantische Märchen’ nach, seit ich mit der Diskussion über das Deutsche Verbrechen und mögliche Strafen in Berührung gekommen bin. In dieser Debatte gab es ein Argument, das eine genauere Betrachtung verdient. Ein Teilnehmer vertrat die Meinung, dass der deutsche Nationalcharakter verdorben sei. Ein anderer Teilnehmer stellte die Idee in Frage, dass allgemeine Aussagen über bestimmte Gruppen möglich sind. Wie die Schriftgelehrten des Mittelalters vertrat der letztere die Meinung, dass es nur individuelle Verantwortlichkeiten gibt. Diese radikale Aussage macht es möglich, die grundsätzliche Frage zu stellen: Gibt es so etwas wie einen Nationalcharakter oder gibt es nur individuelle Verantwortlichkeiten und Persönlichkeiten, die Geschichte schreiben? Es ist zweifellos richtig, dass „die Natur nicht bloß dem Einzelnen seinen Dünkel, sondern auch jeder Nation, um nicht zu sagen jeder Stadt, einen Gesamtdünkel eingepflanzt hat“, was nach Erasmus auf „das Spiel der Torheit“ Ü
Albert Salomon, „The Historical German and the Perennial Nazi“. In: Jewish Frontier 10, 2, 1943, S. 18-22. Übersetzt von Claudius Härpfer und Dorte Huneke.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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hindeutet.a Diese Selbstliebe ist die positive Selbstbestätigung der ingroup, eine Erhöhung des eigenen Lebensstils. Gleichzeitig ist es eine negative Reaktion gegen den Fremden. In vielen urtümlichen Volksgruppen, auch bei den Griechen und Römern, existiert zur Bezeichnung des Fremden nur der Begriff ‚Feind’. Dieser Gemeinschaftssinn, der Familien und größere Sippen verbindet, wird jedoch nicht weiterführend auf die politischen Institutionen des Staates übertragen. Er ist auf die Nachbarschaft und die unmittelbare Umgebung begrenzt. So lange Herrscher und Untertanen als Handelnde und Behandelte, als Verantwortungsträger und Opfer, klar zu unterscheiden sind, so lange treten die Besonderheiten einer Gesellschaft nicht als Nationalcharakter zutage. In diesen Zeiten waren die überstaatlichen und überpolitischen – beispielsweise religiösen – Verhaltenskodizees als allgemeingültig noch immer in Kraft und hätten durchgesetzt werden können. Erst nachdem größere Teile der Bevölkerung begonnen hatten, an der Regierung ihrer Länder mitzuwirken, lösten sich die internationalen Bruderschaften von Königen und Feudalherren auf und ermöglichten so die Entstehung nationaler Einheiten, die auf einer Identifikation der gesamten Gesellschaft mit ihren politischen Institutionen basierten. Die Ausbreitung liberaler und demokratischer Bewegungen zerstörte die überstaatliche Ethik der antiken und der christlichen Zivilisation und ließ nationale Eigenständigkeit innerhalb der Grenzen des Staates und seiner politischen Institutionen entstehen. Der Nationalcharakter erhält auf diese Weise eine neue soziokulturelle Funktion. Er wird zu einem Element des politischen Selbstbewusstseins einer demokratischen, politische Verantwortung tragenden Gesellschaft, die eine neben anderen, vergleichbar autonomen Gesellschaften ist. Nationale Selbstliebe, nationales Selbstbewusstsein sind Entwicklungsstufen des sich wandelnden Selbstverständnisses von Gesellschaften; sie unterliegen äußeren Zwängen und sind zugleich Gegenstand der Befreiung. Ein Nationalcharakter ist kein statisches Apriori, keine unveränderliche Substanz. Es ist ein sich kontinuierlich wandelndes Arrangement von Elementen, aus denen fundamentale Verhaltensmuster, Normen und Wertungen hervorgehen, insbesondere in entscheidenden historischen Momenten. Der Nationalcharakter ist ein historisches Phänomen, keine ewige Idee. Jeder Mensch trägt die Potenzialitäten seiner Persönlichkeit in sich. Deren Entfaltung kann verhindert oder gefördert werden von den Beschaffenheit seiner verwandtschaftlichen Beziehungen, den Moralvorstellungen seines beruflichen Umfelds, seinem gesellschaftlichen Status und nicht zuletzt dem Nationalcharaka
Desiderius Erasmus, „M E μ sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit“. In: Desiderius Erasmus, M E μ sive Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit – Carmina Selecta. Auswahl aus den Gedichten. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Übersetzt von Alfred Hartmann. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 1-211, hier S. 102-103 und S. 58-59.
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ter. Der Einfluss des Nationalcharakters ist am stärksten bei den politischen und ökonomischen Eliten zu spüren. Sie lassen sich in vier Gruppen unterteilen: Berufspolitiker, Wirtschaftslenker, Intellektuelle und die militärische Klasse. In unterschiedlichen Kombinationen prägen diese Gruppen den Nationalcharakter eines Volkes.
II. Die Deutschen haben Jahrzehnte lang darauf bestanden, dass ihr Nationalcharakter sich grundsätzlich vom Charakter der ‚westlichen’ Nationen unterscheidet. Lauthals verkündeten sie, sie hätten nicht einfach nur Zivilisation, sondern Kultur. Die Ironie, die in dieser Auffassung enthalten ist, haben sie nie verstanden. Kultur, also die Bildung der einzelnen Seele, ist sicher nicht auf eine nationale Gruppierung begrenzt; Zivilisation hingegen, also der Prozess, in dem sämtliche gesellschaftlichen Gruppen im Geiste von Rechtschaffenheit und weltmännischer Rationalität zueinander in Beziehung stehen, ist zweifellos das charakteristische Merkmal der ‚westlichen’ Mächte, aber in der deutschen Gesellschaft definitiv abwesend. Dies sind in der Tat grundsätzliche Unterschiede, die aus der einzigartigen Geschichte des deutschen Volkes resultieren. In allen westlichen Gesellschaften konnten die Könige, unterstützt vom Bürgertum in den Städten, die Feudalklassen erfolgreich in die entstehende städtische Zivil- und Rechtsgesellschaft integrieren. Das war Zivilisation: eine Einheit von Macht und Vernunft, ein ausbalanciertes System aus Autorität und Freiheit, ein Gleichgewicht aus Gesetz und persönlicher Initiative zu schaffen. In allen westlichen Nationalgesellschaften gibt es ähnliche Vorstellungen darüber, welche persönlichen Errungenschaften in einer städtischen Zivilisation erstrebenswert sind – das Ideal des Cortegiano, des Gentilhomme, des Gentleman, des christlichen Gentleman und des gelehrten Gentleman. All diese Idealvorstellungen setzen zur Herausbildung moderner, rationaler Institutionen des Staates und der Gesellschaft eine Einheit aus aristokratischen und demokratischen Elementen voraus. In der deutschen Welt fand keine Synthese zwischen den feudalen Kräfte und den machtvollen städtischen Gemeinschaften statt. Der militärische Feudalismus blieb eine auf Ruhm und Eroberung ausgerichtete Macht, eine monopolistisch herrschende Klasse ohne den Willen oder die Möglichkeit, die anderen Gesellschaftsschichten zu assimilieren oder sich ihrerseits diesen anderen Gesellschaftsschichten anzupassen, um eine einheitliche Gesellschaftsordnung herzustellen. Diese eine historische Gegebenheit hatte weitreichende Konsequenzen und bestimmte die Herausbildung des deutschen Nationalcharakters wesentlich. Erstens entstand dadurch eine bleibende Kluft zwischen der militäri-
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schen und der zivilen Gesellschaft. Zweitens zwang sich die deutsche Politik so in die enge Schablone von Eroberung und Ausbeutung. Die Feudalherren unternahmen nie irgendwelche Anstrengungen, um die eroberten Völker für eine Zusammenarbeit zu gewinnen; ihr Ziel lag zu keinem Zeitpunkt darin, die fremden Völker in den eigenen sozialen Orbit zu integrieren oder deren Standards auf ein höheres soziales Niveau zu heben. Die erfolgreiche Integration gelang den Deutschen bei keinem der von ihnen eroberten Völker, weder bei den Polen noch den Dänen, geschweige denn den Elsässers oder den Rheinländern. Was der französische und der englische Imperialismus auch verbrochen haben, man muss ihnen zugute halten, dass sie eine ununterbrochene Reihe herausragender Generäle hatten, die gleichzeitig großartige Kolonialherren waren (der letzte dieser gesitteten Soldaten war Hubert Lyautey). Die Deutschen wussten, wie man andere ausbeutet, aber nicht, wie man eroberte Völker zivilisiert. Drittens führte dieser unzeitgemäße Feudalismus zu einem blinden Fatalismus, einem Mystizismus des Blutes, des Schwertes und des Schicksals, als irrationalem Glauben des Kriegers, der die vollständige Selbstentfremdung im Kampf genießt. Die Lust an dunklen, mystischen Kräften, die Freude, sich dem Wogen des Schicksals zu unterwerfen, sind charakteristische Merkmale der monopolistischen Kriegerkaste. Die Freiheit der aufgeklärten Vernunft und die Befreiung aus blinden Schicksalsglauben, die den Tiefen eines erleuchteten Verstandes entspringt, sind ihr unbekannt. Als Ergebnis der spezifischen historischen Verkettungen des 13. und 14. Jahrhunderts formten Irrationalismus, Ausbeutung und Entzivilisierung schon früh die Merkmale des deutschen Nationalcharakters. Das Fehlen einer integrierenden Zivilisation ermöglicht bestimmte individuelle Handlungen und Erfahrungen, für die es in gewachsenen und konsolidierten Gesellschaften keinen Spielraum gibt. Das Fehlen von Normen der Vernunft und der Rechtmäßigkeit ist die Ursache für jenen spezifischen Extremismus, den wir heute in allen Sphären des deutschen Lebens finden. Im Mittelalter galten die Deutschen als Trunkenbolde der übelsten Sorte; sie hatten den Ruf, skrupellose Kriegsführer zu sein. Andererseits waren sie ebenso radikal in ihren mystischen Betrachtungen und philosophischen Bestrebungen. Schließlich ermöglichte der Mangel an Gelegenheiten des Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen und an einem zivilisierten Sozialzusammenhang teilzuhaben, auch bestimmte abenteuerliche Ideen, Vorstellungen und wissenschaftliche Kreativität. Dies sind die positiven Auswirkungen einer grundsätzlich negativen sozialen Ausgangsposition. Die endgültige Durchsetzung der preußischen Hegemonie brachte die Wesenszüge des – im Mittelalter bereits Gestalt nehmenden – deutschen Nationalcharakters zur Vollendung. Er etablierte den Militarismus als grundlegendes Element des Nationalcharakters und bahnte des Weg für Aufstieg und Sieg des Naziregimes. Die mittelalterliche Situation hatte die Zivilisierung der feudalen
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Klassen verhindert. Preußens Sieg über Deutschland verhinderte kulturell wie ökonomisch eine Ausweitung des Bürgertums und dessen zivilisierenden Einflusses.
III. Die Militarisierung vollzog sich in fünf Schritten. Der erste Schritt war die Organisation der preußischen Verwaltung unter Friedrich Wilhelm I., deren Aufbau vollständig um die Position des Kriegsministers zentriert war. Die Zustände gingen so weit, dass die zivile und polizeiliche Verwaltung der militärischen Verwaltung unterstellt und von dieser abhängig war. Der Militärstaat unterschied sich von Anfang an strukturell von Österreich, Sachsen oder Bayern, wo die zivile und die militärische Verwaltung getrennt waren. Der zweite Schritt war der anhaltende Erfolg der zynischen und skrupellosen Eroberungspolitik des dämonischen Friedrich II., der nicht müde wurde, die herausgehobene Stellung seiner militärischen Elite innerhalb der Gesellschaft und die Zweitrangigkeit der industriellen und bürgerlichen Gesellschaft zu betonen. Der dritte Schritt war die erfolgreiche Auflehnung der Junker gegen die bescheidenen liberalen Reformen des Hardenberg-Regimes in den Jahren 1810 bis 1814. Sie nahmen Schlachtrufe der Nazis vorweg und träufelten ihre Gedanken erfolgreich in die Köpfe der Intellektuellen der Industriegesellschaft ein. Die Junker lamentierten über den Aufstieg eines völlig neuartigen ‚Judenstaates’. Sie beschworen einen revolutionären Konflikt zwischen den Mittellosen und den Landbesitzern, der Industrie und der Landwirtschaft, dem Materiellen und dem Spirituellen, dem atomisierten Einzelnen und der Familie, dem Geist des Fortschritts und dem der Geschichte, zwischen ‚Intellektualismus’ und persönlichem Charakter. Der vierte Schritt war die Transformation der liberalen und demokratischen Züge der Bewegung von 1848 in den Nationalismus und Militarismus der Einheitskriege – Bismarcks geschickt implementiertes Mittel, mit dem er aus den revolutionären Bewegungen eine die traditionelle Monarchie unterstützende Kraft formte. Den fünften Schritt kann man als die Einführung des Bürgertums in die Ränge der gesellschaftlich anerkannten Militärgesellschaft bezeichnen. Die Verordnungen Wilhelms II. von 1890 und 1891 hinsichtlich des Status’ der Reserveoffiziere bescherte diesen gesellschaftliches Prestige und Aufstiegsmöglichkeiten, die es in der altmodischen Militärmonarchie unter Wilhelm I. noch nicht gegeben hatte. Dies war der wirkungsvollste Vorstoß, um die industrielle und
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kultivierte Gesellschaft ihrer liberal-progressiven Grundsätze zu entwöhnen und ihre Protagonisten zu zuverlässigen und loyalen Untertanen der Militärmonarchie zu machen. Dieses brandneue militärische Regime bescherte dem Bürgertum die endgültige Kapitulation gegenüber den Junkern. Dies war insofern ein militärisches Regime, als es die Ideale und sittlichen Vorstellungen der militärischen Elite als Vorbild für das zivile Leben etablierte. Diese Militarisierung der Gesellschaft ist der Verzicht auf die Gesellschaft und ihre Zivilisation.1
IV. Diese soziologische Untersuchung des Nationalcharakters als eines historisch dynamischen Phänomens liefert die Basis, aufgrund derer sich eine philosophische Interpretation des ‚deutschen Nationalgeistes’ ein für allemal ausschließen lässt. Wenn Intellektuelle und Professoren die skrupellose Unmenschlichkeit des Feindes als unmittelbare Folge seiner Philosophie beschrieben haben, so frönten sie damit lediglich selbstschmeichlerischen akademischen Spielereien. Von Veblen und Santayana bis zu Dewey und Lovejoy glaubten Professoren ihr Volk im Krieg unterstützen zu können, indem sie aufzeigten, dass sich die wahre Geisteshaltung der Deutschen in den Werken ihrer Philosophen widerspiegele. Sofern wir nicht von der Hegelschen These ausgehen und die Verbreitung des Weltgeistes durch sämtliche Lebenssphären annehmen,b ist es ein grober methodischer Fehlschluss, eine Verbindung zwischen den Gedanken von Philosophen und sozialen Gegebenheiten herzustellen. Wenn der Nationalcharakter das persönliche Leben nur am Rande berührt, so ist die Existenz des Philosophen, insbesondere wenn er genialer Mann ist, am wenigstens von den allgemeinen Einflüssen des Nationalgeistes tangiert, der in erster Linie die Verhaltensmuster der Massen und ihrer Herrscher prägt. Die Arbeit des Philosophen zielt auf die Offenlegung von Ideen und die Suche nach Wahrheit. Anfang und Ende seines tiefgründigen Strebens ist die geistig-seelische Sphäre, die eine Welt für sich, außerhalb des sozialen Kontextes, ist. Der Philosoph beschäftigt sich mit einer begrenzten Zahl bleibender Probleme und einer bestimmten Anzahl von Lösungen. Dabei mag er – wie jeder Bürger – von den Umständen seines Kulturkreises beeinflusst sein. Diese mögen sein Denken anregen, sich rechtlichen oder sozialen Problemen wie Recht und Gerechtigkeit zuzuwenden. Die Ergebnisse seiner Betrachtungen über 1 b
Vgl. Albert Salomon, „The Spirit of the Soldier and Nazi Militarism“. In: Social Research 9, 1942, S. 82-103. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke, Bd. 12. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.
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Recht und Rechtschaffenheit können vom Soziologen nicht erklärt werden. Philosophische Systeme sind noetische Welten, es sind unaufhörliche Versuche, das sich aus einer unendlichen Vielzahl von Elementen zusammensetzende Leben als sinnvolle Einheit zu begreifen. Sie finden in Zeit und Raum statt und sind gleichzeitig so beschaffen, dass sie Raum und Zeit überschreiten. Mit den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ging eine Politisierung sämtlicher Lebenssphären einher, so dass die intellektuellen Wortführer der Klassen und Nationen fortan keine Hemmungen mehr hatten, die Werke der Philosophen für ihre ideologischen Zwecke zu verwenden. Wir können das Verhalten dieser Intellektuellen mit den Taten der einfallenden Barbaren vergleichen, die Tempel, Paläste und Kunstwerke ruiniert haben, um ihre Festungen aufzurichten. Denn nichts anderes tun die modernen Intellektuellen, treue Diener des Kapitals, der Arbeit oder anderer Interessenverbände, wenn sie die Bücher herausragender Philosophen zum Jagdrevier der Ideologien machen. William James war ein leidenschaftlicher Individualist und Demokrat. Von Papini wurde er als ein Vorläufer des Faschismus ausgeschlachtet.c Derartige Fälle gab es in jüngster Zeit häufiger. Sie sind eigentlich nicht mehr von Belang als jene Entdeckungen nazistischen Gedankenguts in den Schriften herausragender deutscher Philosophen. Es wäre angemessener gewesen, die Wurzeln des Nazismus in der vulgären Propagandaliteratur des Darwinismus, des Monismus und anderer Quacksalbereien, die eine Erlösung der Welt verheißen, zur Schau zu stellen, die Hitlers Vorstellungskraft beflügelt und seinen geistigen Horizont geprägt haben. Die Philosophie ist eine von sozialen Konflikten unabhängige, diesen sogar überlegene Welt in der Welt. Und noch wenn all dies so wäre, bleibt der Zusammenhang zwischen den Werken des Denkens, der Imagination und dem in einer Gesellschaft vorherrschenden Meinungsbild immer noch ganz unbedeutend und philosophisch irrelevant. Hegels eigentliche Fragestellungen haben nichts mit dem preußischen Staat zu tun. Allerdings sprachen sowohl Hegel als auch Marx von der bürgerlichen Gesellschaft nahezu ebenso herablassend wie die preußischen Junker, wenn sie vom industriellen, gewinnstrebenden Bürgertum sprachen. Nietzsches philosophische Vorhaben waren wahrhaftig unverfälscht. Der Ton, in dem er seine Betrachtungen verfasst hat, seine emotionale Anspannung und das tiefe Ressentiment, das er gegenüber seiner Umwelt hegte, ließen ihn indes Urteile formulieren, die allzu leicht Fehlinterpretationen seiner wahren Absichten zuließen. Das deutlichste Beispiel wohl ist der Fall Luthers, der immer wieder als wichtigster ‚Ahne’ der nazistischen Geisteshaltung angeführt wird. Es ist gewiss lächerlich, den seiner augustinischen Theologie innewohnenden mystischem Radikalismus c
Giovanni Papini, Sul Pragmatismo. Saggi e Ricerche. Milano: Libraria Editrice Milanese 1913.
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mit der Nazi-Ideologie in Verbindung zu bringen.d Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der lutherischen Philosophie und dem ‚Nationalgeist’ konnte Erasmus unter Verweis auf einen anderen Aspekt seines Werkes klären. Erasmus war sich wohl bewusst, dass beide, er und Luther, über viele Jahre hinweg die gleiche gute Schlacht für die Reform der Theologie, der Kirche und der Strukturen des Laienglaubens gekämpft hatten. Er hatte Luthers frühe Schriften belobtigt. Bald wurde ihm jedoch klar, dass das Wesen jenes Mannes aufgrund seines tief verwurzelten Radikalismus und eines unbändigen Revolutionsgeistes ein Nährboden für Unruhe und Tragödie war. Er prognostizierte richtig, dass Luther sein positives Werk durch die „Grausamkeit [s]einer Feder“ in Katastrophen und Chaos verwandeln würde.e Er wiederholte diese Begriffe mehrfach: „aufrührerische Frechheit“. Und er sagte voraus, dass Luthers entfesselter Radikalismus die geistige Zivilisation um mehrere Dekaden zurückwerfen werde. Erasmus’ Darstellung Luthers als eines tragischen Charakters lässt blitzartig den Unwillen der Deutschen aufscheinen, die Werte der humanitas anzuerkennen. Humanitas bedeutet das unaufhörliche Bemühen besonnener, verantwortungsbewusster Menschen, Einheit und Harmonie in ihrem Leben herzustellen, indem sie der Philosophie folgen, die wie ein heller Lichtschein die Gesamtheit des Lebens erkennbar und erfassbar werden lässt. Das Streben des aufgeklärten Herzens, eine ‚Welt’, eine Ganzheit zu werden, ist im Grunde die Sehnsucht aller Seelen, die in einer zivilisierten Welt nach Vollkommenheit verlangen. Die Deutschen haben die Ruhe und den Frieden eines ausgeglichenen Lebens nie als Höhepunkt der Vervollkommnung erkannt. Sie wählten die Ideale der entfesselten Kraft und des Radikalismus statt denen des Friedens, der Ordnung und der Harmonie. Einige wenige Deutsche verspüren Sehnsucht nach der humanitas und suchten Zuflucht im griechischen Erbe oder nannten sich ‚gute Europäer’, ein Begriff, der außerhalb des deutschen Chaos kaum anzutreffen ist. Allein in diesem Sinne ist von einem Einfluss des Nationalgeistes auf die geistige Haltung zu sprechen. Nicht Ideen und Fragestellungen an sich sind der Gegenstand einer soziologischen Analyse, sondern deren Auswahl und Bearbeitung.
d e
Vgl. William Montgomery McGovern, From Luther to Hitler. The History of Fascist-Nazi Political Philosophy. Boston: Houghton Mifflin 1941. Desiderius Erasmus, „Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes’ gegen den ,unfreien Willen’ Martin Luthers“. In: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen – Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes’ gegen den ,unfreien Willen’ Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 197-675, hier S. 242-243.
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Diese Deutung scheint sich nicht von den üblichen Erklärungen zu unterscheiden, welche die Nazis als logische Folge des deutschen Charakters betrachten. Der deutsche Charakter kann letzten Endes jedoch nicht mit dem Nazismus gleichgesetzt werden. Es wäre ebenso falsch, den französischen Charakter mit den Jakobinern oder den italienischen mit Mussolini gleichzusetzen, wie die Deutschen als Nazis zu verdammen. Der historische Charakter der Deutschen ist eine gegebene Tatsache, das Produkt einer tragischen Folge von Niederlagen und Frustrationen. Er wurde von den Nazis scharfsinnig einkalkuliert, die ihn sich klug zunutze machten. Ebenso wie der Pionier, der Weise, der Richter und der Mystiker verkörpert der Nazi einen immerwährenden Typus menschlichen Verhaltens. Der Nazi stellt einen bestimmten Aspekt der menschlichen Natur in degenerierter Form dar. Aristoteles wusste, dass wahre sittlich-politische Werte stets in der Mitte zwischen den Extremen angesiedelt sind. Extreme sind immer eine degenerierte Form des Vollkommenen. Wie der Tyrann eine Degeneration des Königs ist, ist der Nazi eine Degeneration des Soldaten: Er ist ein in einem sozialen Vakuum freigesetzter und unabhängiger militärischer Mensch, der seine Zwangsmacht willkürlich ausüben kann. In kritischen Zeiten, etwa anlässlich von Revolutionen oder sozialen Konflikten, wenn die Funktionsweisen aller Institutionen gelähmt sind, wird er Mal zu Mal wieder in Erscheinung treten. Der Nazi ist der ‚furchtbare Vereinfacher’ – er verspricht die Wiederherstellung von Ordnung und Fortbestand im gesellschaftlichen Leben. In einer Gesellschaft mit festem Zusammenhalt leben die Vertreter dieses Typus außerhalb des durch die sozialen Institutionen vorgegebenen Rahmens, als zynische Verbrecher oder verzweifelte Nihilisten. In kritischen Situationen begründet dieser Typus jene soziologischen These, derzufolge in Zeiten des sozialen Flächenbrandes stets jene Gruppierung siegen werde, welche die letzte Entscheidungsmacht besitzt, in der Lage ist, Zwang auszuüben. Hitler – als Vertreter dieses Typus – ist in diesem Sinne ebenso immerwährend wie Catilina und Sylla, Cesare Borgia und die Viscontis, Napoléon und Wallenstein, Kapp und Boulanger. All diese Männer sind mit ihren Organisationen der erste und einzige Grund für Revolutionen der technisch effizientesten Form, der nach militärischem Muster: eine Welt der Planung ohne einen Plan, ein System aus Zwang, das auf roher Gewalt gründet, Disziplin als Gerüst einer technischen Effizienzapparatur, ein vernunfloser Führer bar der Autorität schöpferischer Intelligenz. Hitlers siegestrunkene Sturmtruppen, die entfesselten Söldner singen häufig die Zeilen: „Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt“.f Diese
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Hans Baumann, „Es zittern die morschen Knochen“. In: Hans Baumann, Horch auf, Kamerad. Lieder von Hans Baumann. Potsdam: Voggenreiter Verlag 1937, S. 16-17.
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Passage spiegelt das enge Verhältnis dieser militärischen Truppe zu ihrer ersten Eroberung – Deutschland – wider. Die Terminologie macht den Sinn dieser Eroberung deutlich: Besitz, etwas zu haben und sich daran zu erfreuen, zu herrschen und auszubeuten. Dies ist die Haltung eines Soldaten ohne eine würdige Rolle in der Gesellschaft, der sich der unbegrenzten Möglichkeiten erfreut, durch Waffengewalt Endgültiges zu schaffen. Das gleiche passierte auch, als die tyrannischen Heerführer die römischen Republik stürzten und als der radikale Napoléon die französische Revolution mittels einer Militärdiktatur ausrottete. Das neue Element in diesem alten Muster ist die Heraufkunft von Demagogen mit Privatarmeen, wie es der herausragende Historiker und Philosoph Jacob Burckhardt vor sechzig Jahren vorhergesagt hat. Er sah die sich überlagernden Revolutionen des politischen und des sozialen Radikalismus, die letztendlich eine Tyrannei ins Leben rufen würden, die vulgärer und grausamer sein würde als alles, was die Welt bis dahin gesehen hatte. Demagogen mit den Talenten von Unteroffizieren an der Spitze von Söldnerarmeen würden die zerbröckelnden Institutionen einer urbanen, zivilisierten Welt zu Fall bringen und eine neue Ordnung auf niedrigstem Niveau errichten.g Seine Prophezeiung stimmte. Die Privatarmeen setzten sich aus Männern zusammen, deren soziale Hoffnungslosigkeit sie zum geeignetsten Söldnermaterial machte, da sie – außer ihrem Leben, an dem ihnen nichts lag – nichts zu verlieren hatten; verzweifelte Arbeitslose, Intellektuelle ohne Hoffnung, zynische Deklassierte ohne Glauben – die Dreifaltigkeit der Negation. Typische Merkmale von Tyranneien sind: Eigennutz, Gesetzlosigkeit und Unbarmherzigkeit im Einsatz der Mittel. Vorausgesetzt, diese Eigenschaften teilen alle Tyrannen, so bleiben immer noch Unterschiede des Niveaus zwischen Caesars Milde, Napoléons konstruktivem Rationalismus und dem vulgären Utopismus Hitlers. Dass dieser Typus zum Vorschein kommt, ist eine revolutionären Situation innewohnende Potenzialität. Dass sich dieser Typus schließlich durchsetzt, stärkt keineswegs das Vertrauen in jene Gesellschaft, die sich diesen neuen Herren (wie zögerlich auch immer) ergibt und letztlich mit ihnen kooperiert. In einer potenziell demokratischen Welt sind Völker nie Opfer des Schicksals. Ein Volk, das sich widerstandslos von einer militärischen Truppe erobern lässt, ist mitverantwortlich für sein Schicksal. Im Fall Deutschlands verkompliziert sich die Situation massiv durch die Haltung der Armee, die ihre Schuld nie ganz abstreifen können wird, den Aufstieg der Nazis überhaupt erst ermöglicht zu haben. Die nationale Elite Deutschlands ebnete dem Erfolg der Nazis den Weg. Die deutsche Gesellschaft war ohne inneren Zusammenhalt und feste Strukturen. Es g
Jacob Burckhardt, „An Gottfried Kinkel. 19. April 1845“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 131-134.
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gelang ihr nicht, irgendeine Form sozialer Integration und Interdependenz hervorzubringen. All diese dynamisch-irrationalen Elemente bescherten der NaziBande ihren einfachen Sieg. Dennoch sind die Deutschen nicht die Nazis und die Nazis nicht die Deutschen. Worte sind einfach und brutal, Menschen sind hintergründig und empfindsam. Die Unterschiede zwischen ihnen sind gering – Heroismus und Zynismus, Skrupellosigkeit und wissenschaftlicher Enthusiasmus, Mystizismus und Blutdürstigkeit liegen oft nur um Haaresbreite auseinander. Mögen wir niemals unsere Fähigkeit einbüßen, Differenzen wahrzunehmen. Denn die feinen Unterschiede sind es, worauf es ankommt. Hinter diesen Überlegungen stehen praktische Absichten. Unsere unmittelbare und dringliche Aufgabe ist es, die Welt vom Joch des Nazismus, in allen seinen Spielarten, zu erlösen. Unser nächster Schritt sollte sein, den Frieden so zu gestalten, dass jener andere, auf geistig-mystischen Tugenden aufbauende Radikalismus ein Gegengewicht zum militärischen Radikalismus der deutschen Tradition bilden kann. Ob es gelingt, die Tugenden der Deutschen in allgemeine Normen einer deutschen Zivilisation zu überführen, wird von der hoffentlich weitsichtigen und klugen Politik der siegreichen Demokratien abhängen. Diese Hoffnung ist kein utopischer Traum von einer vollkommenen Welt. Wir sind uns der möglichen Enttäuschungen und all der zu nehmenden Hürden bewusst. Jedoch müssen wir bereit sein, das scheinbar Unmögliche ins Auge zu fassen, wollen wir das Mögliche erreichen.
Charles Péguy und die Berufung IsraelsÜ
I. Es ist fürwahr ein Glück, dass endlich ein kleiner Band mit Essays und Gedichten Charles Péguys in einer englischen Übersetzung erschienen ist.1 Péguy ist in Amerika nahezu unbekannt. Seinem Werk wurde in den englischsprachigen Ländern, die den intellektuellen und geistigen Bewegungen des modernen Frankreich nicht die Bedeutung beigemessen haben wie vergleichbaren Bewegungen in Deutschland, geringe Aufmerksamkeit zuteil. Die nun veröffentlichten Übersetzungen stellen einen Denker vor, dessen Persönlichkeit für die Jugend Nachkriegseuropas zu einem Vorbild an geistigem Heroismus werden mag. Charles Péguy, geboren 1873 in Orléans, der Stadt Jeanne d’Arcs, war stolz darauf, Abkömmling einer langen Reihe von Arbeitern und Bauern zu sein. Aufgrund seiner ungewöhnlichen geistigen Begabung gelang es ihm, die besten Stipendien für das Lycée und eine der Grandes Écoles zu erhalten. An der École Normale Supérieure war er ein herausragender Student, allerdings erreichte er keinen akademischen Abschluss. 1899 trat er in die Sozialistische Partei ein und eröffnete eine sozialistische Buchhandlung. Aber schon im folgenden Jahr rebellierte er gegen die Partei; seither blieb er vollkommen frei von allen formalen Bindungen und Loyalitäten. Er gründete die Halbmonatsschrift Cahiers de la Quinzaine, in der er und einige seiner Freunde sich mit den philosophischen, moralischen und religiösen Aspekten der sozialen und politischen Fragen der Zeit auseinandersetzten. Der größte Teil seiner eigenen Schriften erschien in dieser Zeitschrift. Sein Einfluss über alle Parteigrenzen hinweg nahm beständig zu. Barrès und Suarez standen ebenso unter dem Eindruck Péguys wie Maritain und Bergson. Mounier und die Sozialkatholiken in Frankreich haben dankbar gewürdigt, wieviel sie ihm schuldig sind. Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete Péguy sich freiwillig an die Front. Er wurde am 5. September 1914 im Gefecht getötet, als die Schlacht an der Marne bereits gewonnen war. Kurz vor dem Krieg hatte er geschrieben:
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Albert Salomon, „Charles Péguy and the Calling of Israel“. In: Jewish Frontier 10, 7, 1943, S. 19-24. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 375-386. Übersetzt von Peter Gostmann und Karin Ikas. Charles Péguy, Basic Verities. Übersetzt von Ann und Julian Green. New York: Pantheon Books 1943.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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„Selig, die für ein irdisch Land gefallen, Sofern sie im gerechten Krieg gelitten [...]. Selig, die im gerechten Krieg gefallen. Selig das reife Korn, der Ernte Ähren“.a
Welcher Art war die Kraft, die von diesem Mann ausstrahlte? Worin liegt die Bedeutung seines Werkes? Barrès hat einmal berichtet,b wie er Péguy davon zu überzeugen versuchte, dass es recht sei, die etablierten Institutionen des politischen und intellektuellen Lebens zu nutzen, ebenso um die Sicherheit der eigenen Familie zu verbessern wie auch um den Einfluss seiner Ideen auszuweiten. Péguy war entrüstet. Er erwiderte, seine Aufgabe könne nur in der Einsamkeit des absolut Unabhängigen erfüllt werden. Wie einige der christlichen Humanisten des 16. Jahrhunderts lebte er im Bewusstsein, dass es Augenblicke in der Geschichte der Menschheit gibt, in denen Menschen mit einer Berufung sich von überkommenen Sozialformen und wohlorganisierten Institutionen lossagen müssen, um die verlorene Intensität des Lebens und Denkens wiederherzustellen. Erasmus nannte diese Berufung das Streben nach der evangelischen Freiheit.c Péguys Leben und Werk wurden in dieser humanistischen Tradition verortet. Die Lauterkeit und Kraft seiner Persönlichkeit wirft er in den Kampf um die Freiheit und fordert alle sozialen und kirchlichen Einrichtungen heraus. Sein Bestreben, für die Einheit der menschlichen Persönlichkeit zu kämpfen, und die Kompromisslosigkeit, mit der er dieses Ziel verfolgt, bezeichnen die Würde seiner Leistungen. ‚Die Gesinnung haben wir nie verraten’, lautete der Leitgedanke, der über Péguys Leben stand. Er wurde nie müde zu wiederholen, dass wir der Fülle des geistigen und des weltlichen Lebens zu begegnen nur dann in der Lage sein werden, wenn wir die Reinheit und Rechtschaffenheit haben, Vollkommenheit qua Vervollkommnung zu suchen. Es verwirrte ihn, wenn Leute von seiner ‚Philosophie’ sprachen. Er war felsenfest überzeugt, dass seine Aufgabe eine bescheidene war: die Unschuld und Gewissenhaftigkeit der Vernunft wiederherzua
b c
Charles Péguy, „Prière pour nous autres charnels / Gebet für uns Irdische“. In: Charles Péguy, Die letzten großen Dichtungen. Übertragen von Oswalt von Nostitz und Friedhelm Kemp. Herausgegeben von Oswalt von Nostitz. Wien, München: Herold 1965, S. 182-191, hier S. 183 u. 185. nicht nachgewiesen Desiderius Erasmus, „Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes’ gegen den ,unfreien Willen’ Martin Luthers“. In: Desiderius Erasmus, De libero arbitrio sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen – Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch über die Unterredung ,Hyperaspistes’ gegen den ,unfreien Willen’ Martin Luthers. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 197-675, hier S. 240-241.
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stellen. Péguy glaubte, dass unsere wissenschaftliche Art der Bildung uns irreführt und wir vergessen haben, dass alle großen und wichtigen Wahrheiten einfach und unkompliziert sind. Dies war seine Berufung: die sozialen Probleme der bürgerlichen Welt mit der humanistischen Frage der Wiederherstellung von Würde und Vollkommenheit des freien Menschen und Bürgers zu verbinden. Péguy war sich sehr bewusst, dass es in der Welt Übel gibt, und er war überzeugt, dass der Mensch gelegentlich in der Lage ist, darüber zu siegen. Letztlich war er sicher, dass wir, wenn wir Heilmittel für unsere Mängel und Fehler finden wollen, dies nur können, wenn wir an einer geistigen Ordnung teilhaben. Drei Jahrhunderte hindurch hatte eine artifizielle, pseudowissenschaftliche Denkungsart Humanismus und religiösen Geist voneinander geschieden. In seinem eigenen Leben nahm Péguy noch einmal den Kampf auf, diese beiden bedeutendsten Erbteile der europäischen Zivilisation zu versöhnen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es nur natürlich für einen unabhängig denkenden, empfindsamen jungen Europäer, gegen die etablierten Gesellschaftsformen aufzubegehren. Die meisten Menschen nannten diese ablehnende Haltung Sozialismus; ein Begriff, der viele unterschiedliche Ideen abdeckte. Péguys Sozialismus hatte sicherlich wenig mit Marx’ preußischer Vorstellung vom Klassenkampf gemein. Péguys Sozialismus entsprang einer frommen Hingabe an die altmodischen Tugenden des einfachen Volkes, der Arbeiter, Bauern und Handwerker Frankreichs. Ihr Erbe war der Glaube an Würde und Ehre der Arbeit. Sie waren stolz darauf, Vollkommenheit in Form eines persönlichen Sieges über die rohe Materie zu erreichen. Armut war ihr Schicksal. Doch war dies eine edle Einfachheit, eine nüchterne und reine Lebensweise. Dies war ein Asketizismus ohne Strenge und Zwang; es war die Weisheit des gesunden Menschenverstandes und der Mäßigung, ein Bewusstsein von den wesentlichen Aufgaben und Möglichkeiten des Lebens. Diese Lebensform kam dem militärischen Ideal am nächsten, das Péguy als eine weitere Seite seines entschiedenen Glaubens an den Segen der Armut hegte.d Kameradschaft und Freundschaft, Autorität und Gehorsam, Disziplin und Mut sind am besten in der asketischen Würde des Soldaten verwirklicht, der sich von den Versuchungen und Verführungen des weltlichen Lebens der modernen Bourgeoisie nicht verwirren und behindern lässt. Der Arme und der Soldat sind die beiden vorherrschenden Abbilder des Sozialismus Péguys. Péguy unterscheidet scharf zwischen der Armut seines Sozialismus und dem Elend des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft. Die moderne kapitalistische Bourgeoisie hat das Arbeitsethos beseitigt, durch das die Armut zu
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Charles Péguy, Erkämpfte Wahrheit. Gedanken. Übersetzt von Susi Thieme. Düsseldorf: Bastion 1951, S. 152.
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einer schöpferischen und bejahenden Tugend des arbeitenden Volkes geworden war. Die Bourgeoisie hat den schöpferischen Arbeiter in ein Objekt der Ausbeutung verwandelt, in den Diener einer allmächtigen Maschinerie. Darin besteht das Elend, in Erniedrigung und Entmenschlichung, weil es dem Dasein der Arbeiter Ehre, Sinn und Persönlichkeit entzieht. Die Welt der modernen Bourgeoisie ist die Welt abstrakter Geldinstitutionen. Geld, wiederholt Péguy immer und immer wieder, beherrscht alles. Gier und Bestechlichkeit sind die psychologischen Erzeugnisse dieser Welt moralischen Verfalls. In der Vergangenheit waren Patron und Arbeiter, Gutsherr und Bauer durch gemeinschaftliche Bande geeint. Sie teilten einiges der gemeinsamen Arbeit und eine gemeinsame Verantwortung. Heute ist das einfache Volk alleingelassen, allein mit dem Elend eines leeren und bedeutungslosen Lebens. Die herrschende Klasse hat keinerlei Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen mehr gegenüber ihm; es gibt keine Einigkeit zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft mehr. Am deutlichsten zeigt sich die Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen und sozialer Pflichten in der Sphäre von Wissenschaft und Bildung. Péguy zufolge bilden die modernen Intellektuellen eine eigene, von ihren erworbenen Interessen beherrschte Klasse. Sie sind zu Technikern und Experten, Funktionären und Angestellten geworden. Verschwunden ist die alte Leidenschaft der Gebildeten, die moralischen und geistigen Normen des Gesellschaftsganzen zu wahren und zu betreiben. Péguys eingehende Untersuchung der Stellung des Intellektuellen in der modernen Welt illustriert einen weiteren Aspekt seines Kampfes für den Sozialismus des reinen und ehrbaren Lebens. Er ist beunruhigt von der Perspektive, die sich der bürgerlichen Welt bietet. Die Gebildeten werden vollständig in das Netz der Institutionen verwickelt sein, die den ökonomischen und sozialen Interessen der herrschenden Klasse dienen. Sie werden angestellt werden, um wissenschaftliche Einrichtungen für den Aufbau möglichst effizienter und Respekt einflößender Machtinstitutionen zu schaffen. Sie werden die fortschrittlichste Gesellschaft errichten, die die Geschichte je gesehen hat; doch wird dies eine Gesellschaft sein, in der wir mehr und mehr über immer weniger wissen. Angesichts dieser Gefahr ist Péguy entschlossen, der Jugend zu lehren, das Wesentliche wiederzuentdecken, eben die basic verities. Dies ist die einzige Möglichkeit, dem Menschen, der in seiner Reinheit und Intensität, seiner Würde und Demut mit entblößtem Haupte unter Gottes Gewittern steht,e Leben einzuhauchen. Péguy ist überzeugt davon, dass die Errichtung des Sozialismus in der Welt des ganzen Heroismus menschlicher Rechtschaffenheit bedarf. Zuerst indes gilt es zu begreifen, dass Sozialismus seinen Zweck nicht in sich selbst hat.
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Friedrich Hölderlin, „Wie wenn am Feiertage...“. In: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte und Hyperion. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1999, S. 239-241, hier S. 240-241.
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Das weltliche Heil des humanistischen Sozialismus genügt nicht, sofern sein Ziel nicht zugleich das geistige Heil ist.
II. Sein gesamtes Werk hindurch verweist Péguy auf die Dreyfus-Affäre, die ihm die Augen für die Antriebe und Beweggründe des menschlichen Tuns in der modernen Welt geöffnet habe. Häufig wiederholt er, dass es ein großes Privileg sei, in einer Krisenzeit wie dieser zu leben, welche die Gewohnheiten und Strukturen der bestehenden Gesellschaft in Frage stellt und durchbricht. Krisen sind die Gelenke des historischen Prozesses. Sie zwingen die Menschen, sich den fundamentalen Fragen und grundsätzlichen Entscheidungen zu stellen, die sich selten in ihrer ganzen Gewichtigkeit zeigen, sondern unter der Mechanik gängiger Gewohnheiten und Verhaltensmuster verborgen sind. Krisen sind Prüfungen der Vitalität und Festigkeit von Institutionen. Einrichtungen wie Staaten oder Kirchen werden nur dann fortbestehen, wenn der Glaube an ihren Wert als aufrichtige Daseinsform nicht durch Versäumnisse und unerfüllte Versprechungen erschüttert ist. Péguy nennt diese Formen des Glaubens mystiques,f Mystiken, womit er nicht nur den religiösen Glauben, sondern ebenso politische oder soziale Überzeugungen meint. Es gibt eine sozialistische oder eine demokratische mystique, ebenso wie es anlässlich der Dreyfus-Affäre eine republikanische mystique, eine jüdische und christliche mystique gab. Keine Einrichtung kann ohne solch eine mystique fortdauern, ohne die Gegenwart von etwas, dass die daran Beteiligten als eine Daseinsform verstehen, als eine integrierende und lebendige Kraft, die ihr Dasein als Mensch ausgestaltet. Eben diese Mystik ist es, für die Menschen ihr Leben hingegeben haben und immer noch hingeben. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Mystik etwa auf die Demokratie oder auf eine Religion Bezug nimmt. Was einzig zählt ist, dass der Glaube einleuchtend und angemessen ist, nicht absurd und beliebig. Alle Institutionen, die uns heute einfach als Tatsachen, als Banalitäten erscheinen, wie Wahlen, die freie Rede und die freie Religionsausübung, sind durch den anonymen Heroismus unbekannter Glaubender errichtet worden. Der lebendige Geist demokratischer Gerechtigkeit und liberale Lauterkeit waren es, wodurch die mystique der Dreyfus-Affäre begründetet wurde. Indes, die kreative Kraft der mystique wird durch die erworbenen Interessen der politischen und sozialen Institutionen zerstört. In allen Lebenssphären sind die ‚mystischen’ Glaubenshaltungen verflochten mit den Interessen von politif
Péguy, Erkämpfte Wahrheit, S. 33-34.
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schen, sozialen oder kirchlichen Einrichtungen. Prinzipien und Ideale, wie hochfliegend die mit ihnen verbundenen Ziele auch sein mögen, werden in die Konflikte und Konkurrenzkämpfe der säkularen Welt hineingezogen. Péguy bezeichnet dies als politique; alle mystique mündet in politique. In der Dreyfus-Affäre erlebte Péguy die Wirkungsweise dieser grausamen Regel. Er brach mit Jaurès und der Sozialistischen Partei, als er das Gefühl hatte, dass sie die republikanische mystique betrogen und ihre Siege ausschlachteten, um Beute zu machen. Er fand dafür die treffende Formulierung: „Republikanische Mystik, das gab es, als man für die Republik starb; republikanische Politik, das ist, was man jetzt gesehen hat.“g
III. Wird die Geschichte durch die dialektische Bewegung von mystique und politique geformt, so lässt sich den Geschichtsphilosophien, die auf dem Gedanken des ‚Fortschritts’ basieren, kaum Bedeutung abgewinnen. Geschichte ist ein menschliches Geschäft. Aufstieg und Niedergang, Wachstum und Verfall, Vollendung und Tod, dies sind die natürlichen Kategorien der Geschichte. Es lässt sich unmöglich nachweisen, dass es den Preis lohnt, den wir für unsere Siege zahlen, indem wir für sie alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Péguy lehnt es rundheraus ab, die Kategorie des Fortschritts als einen gültigen Begriff der Geschichte anzuerkennen. Es gibt Platon, es gibt Descartes und es gibt Bergson, aber es gibt keine Fortschrittsbewegung, die von einem von ihnen zu einem anderen führt. Nicht um Sieg und Eroberung geht es, sondern um die bedingungslose Hingabe an die Wahrheit, um die heroische Anstrengung, wieder und wieder die gängigen Auffassungen im Lichte neuer Erfahrungen zu überprüfen, im Lichte jenes Vorstellungsvermögens, das eine Mannigfaltigkeit von Welten in den unterschiedlichen Standpunkten im und zum Universum zu erkennen ermöglicht. Alle politischen, sozialen und religiösen Glaubenshaltungen sind dem Gesetz des Zerfalls, der Metamorphose in ‚Politik’ unterworfen. Péguys Beharren auf diesem Gesetz der Geschichte deutet sein Grundanliegen an – das Bemühen, im unbedingten, unbeeinflussten Streben nach ideellen Gütern die höchste und prächtigste Vervollkommnung des Menschenmöglichen zu verwirklichen. Die wahrhaft ideellen Güter sind die, die Erlösung vom Übel bringen, das ein Teil dieser Welt ist. Erlösung kann etwas Diesseitiges sein, eine Revolution in der sozialen, in der weltlichen Sphäre. Gleichwohl, Péguy war durchtränkt mit dem messianischen Bewusstsein, dass diesseitige Erlösung nur dann von Bedeutung g
Ebd., S. 39.
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ist, wenn sie auf seelische Erlösung verweist. Sein Sozialismus und seine republikanische Gesinnung sind verschiedene Momente des gleichen leidenschaftlichen Verlangens, an der Bannung des Übels in der Welt zu arbeiten. Sein eifriges Bemühen galt der Klärung dieser Frage der Moderne. Die diesseitige sozialistische Revolution ist nur als die weltliche Seite einer geistigen Revolution möglich. Ohne eine geistige Renaissance kann keine humanistische Revolution Wirkung entfalten. Das Königreich Gottes wird nur dann vollständig in uns Wirklichkeit, insofern wir für seinen irdischen Widerschein sorgen. Von Jugend an war Péguy erfüllt von Geheimnis und Schicksal Jeanne d’Arcs. Für ihn ist sie die Größte unter den Heiligen, gelang es doch ihr allein, beide Pflichten, die der weltlichen und die der geistigen Erlösung, miteinander zu verknüpfen. Der weltlichen Revolution gilt das Streben des Humanisten. Sie kann nur dann Wirklichkeit werden, wenn sie von einer Mystik der Gerechtigkeit, vom Maßstab gelebter Gleichheit aller Menschen getragen wird. Doch lässt sich Gerechtigkeit nicht anders begreifen denn als ein Strom, der sich aus göttlicher Ordnung speist. Sein gesamtes Werk hindurch kehrt Péguy immer wieder zurück zur Frage des Zusammenspiels von Natur und Gnade. Wie Erasmus lädt er seine Anhänger ein, die größten Anstrengungen zu unternehmen, um sich des Genusses der göttlichen Gnade würdig zu erweisen. Gnade ist nicht das Ergebnis eines göttlichen Willens, den menschlicher Verstand nicht zu erfassen vermag. Sie entsteht im Zusammenwirken der höchsten Hingabe des Menschen an das Göttliche und dessen umarmender, segnender Entgegnung. 1914 schrieb Péguy: „Der Baum der Gnade schlingt mit feierlichem Band Sich unaufhörlich fest um jenen der Natur, So brüderlich vereint, ist es auf gleicher Spur Des gleichen Wuchses Kraft und dauernder Bestand“.h
Diese Theorie der Gnade zeigt, dass humanistischer Heroismus nur dann vollständig sein wird, wenn es sich mit den Pflichten verbindet, die dem Menschen als Teilhabendem einer geistigen Ordnung auferlegt sind. In einer unvergesslichen Passagei verweist Péguy auf die Lücke, die den humanistischen Heroismus der Griechen vom jüdisch-christlichen Glauben trennt. Die Helden Homers betrachten ihre Götter mit einer Mischung aus Neid und Geringschätzung; mit Neid, weil diesen Göttern nichts zu begehren, nichts zu wünschen übrig bleibt; h
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Charles Péguy, „Ève. Auswahl“. In: Charles Péguy, Die letzten großen Dichtungen. Übertragen von Oswalt von Nostitz und Friedhelm Kemp. Herausgegeben von Oswalt von Nostitz. Wien, München: Herold 1965, S. 129-154, hier S. 151. Charles Péguy, „Unsere Lehrer und unsere Geistlichen …“. In: Charles Péguy, Erkämpfte Wahrheit. Gedanken. Übersetzt von Susi Thieme. Düsseldorf: Bastion-Verlag 1951, S. 144147.
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mit Geringschätzung, weil ihnen die Intensität des menschlichen Lebens, all seine Spannungen, Siege, Niederlagen, Risiken und Abenteuer abgehen. Dies ist die Überlegenheit heroischer Anstrengung gegenüber gebrauchsfertiger Vollkommenheit ohne Kampf und Mühe. Es ist das große Verdienst der Geistesreligionen, Einsicht in eine menschliche Welt zu gewähren, die sich auf die Potenzialitäten eines spirituellen Universums beruft und sie materialisiert. Damit überboten und verdrängten sie das Credo des klassischen Heroismus. Die Vision eines spirituellen Universums ermöglichte es, die Erwartungsgestimmtheit zu einer Grundhaltung des Hoffens zu vertiefen, subjektive Sympathie zu einem objektiv-universellen Habitus der Liebe. Das Ringen um das Heil und die stete Klärung von Fragen der Erlösung, die der messianischen Sehnsucht innewohnen, bilden die Richtwerte für die Zwischenposition des Menschen, zwischen der Welt der Natur und der Welt Gottes. Péguy vertrat leidenschaftlich die These, dass Erlösung keine definitive Tatsache ist. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem Hoffnung und Glaube die nie nachlassenden Anstrengungen des Menschen stützen, Erlösung hier und jetzt schaffen. Wahrhaft spirituelle Erlösung kann erst dann eintreten, wenn in weltlicher Erlösung das schließliche spirituelle Verlangen nach dem Reich Gottes aufscheint. Im letzten Grund sind wahrer Humanismus und wahre Religion nicht voneinander zu trennen. Für den endgültigen Sieg über das Übel bedürfen Gott und Mensch einander in gegenseitigem Zusammenwirken von heroischer Anstrengung und umfassender Gnade.
IV. Der Prozess der Erlösung ist noch nicht abgeschlossen. Nur zu oft wird die Mission der Erlöser vereitelt durch die Trägheit des Menschen, der gefangen ist im Netz von Institutionen, die er selbst geschaffen hat. Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch,j wird das Werk der Erlösung begonnen. Hier ist der bleibende Platz und die immerwährende Rolle der hebräischen Religion in der Skala von Péguys Katholizismus. Immer wieder haben die Juden Propheten und Weise hervorgebracht, die ihre zögernde Nation drängten, ihre Sündhaftigkeit zu erkennen und dem Aufruf zu Erlösung in Zeit und Ewigkeit zu folgen. Heiligkeit ist nicht genug, wenn sie in der Sphäre persönlicher Vervollkommnung verbleibt. Auf dem Spiel steht die Rettung der ganzen Gemeinschaft, der ganzen Stadt. Nichts ist in der Welt erreicht, wenn es nicht an den Geboten des Ewigen j
Friederich Hölderlin, „Patmos”. In: Friederich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe – Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 8: Gesänge – editorischer Teil. Herausgegeben von Dietrich Eberhard Sattler. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 2000, S. 653-664, hier S. 653.
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Seins ausgerichtet ist. Übel und Ungerechtigkeit sind in der Welt und werden in ihr sein. Sie erregen unsere Empörung und spornen uns zur Revolte an, weil wir unter dem Gebot einer ewigen Ordnung leben. Dies war die Vision der hebräischen Propheten und Weisen und ist noch heute der Leitstern für die jüdische Bestimmung. Keiner, der nicht selbst Jude ist, hat in der modernen Zeit die Hebräer so gerühmt für ihren wiederkehrenden Beitrag zur Erlösung der Menschheit im Hier und Jetzt, wie Péguy auf den 40 Seiten seines Notre Jeunesse,k in dem er die Komponenten des Sieges in der Dreyfus-Affäre analysierte. Was fasziniert Péguy an der hebräischen Religion? Er ist tief beeindruckt von der paradoxen Einheit von Ruhelosigkeit und Langmut, in der er die Einzigartigkeit der jüdischen Prägung erkannte. Die Juden sind Jahrhunderte lang verfolgt worden und haben dennoch überlebt. Dies ist ihr Geheimnis und die fortwährende Faszination, die Péguy erlebt. Die Geschichte der Juden kann ihre andauernde Langmut erklären; jederzeit wird ihnen das Leben erträglich sein, werden sie andere zu überzeugen versuchen, dass es auch schlimmer sein könnte, als es ist. Sie werden so lange alle Gesichtspunkte einer Situation abwägen, bis sie in ihr einen Sinn, etwas der Bejahung Wertes entdecken. Diese Langmut ist voll sublimer Melancholie; in ihr ist die Schwermut einer Gruppierung, die über die Würde gottgefälligen Leidens verfügt. Doch wird diese Langmut von einer fortwährenden Ruhelosigkeit begleitet, die der Anwesenheit des Ewigen in ihrem kritischen Bewusstsein menschlicher Missstände entspringt. Für Péguy sind die Juden einzigartig, weil sie niemals restlos von den Einrichtungen der Welt korrumpiert wurden. Sie sind zu jeder Zeit darauf vorbereitet, ihre Zelte abzubauen und einen neuen 40-jährigen Aufenthalt in der Wüste zu beginnen. Es stimmt, der durchschnittliche Jude ist ein durchschnittlicher Mensch. Das Streben des heutigen Juden ist äußerst schlicht: „Die ganze Strategie Israels besteht darin, in der Welt keinen Lärm zu machen. [...]. Frieden durch besonnenes Schweigen zu erringen. [...]. Israel möchte vergessen sein. So viele schmerzende Striemen trägt es noch [...]. Nicht ein Quadratzoll seiner Haut, die nicht vor Schmerz brennt, nicht voll ist alter Striemen und blauer Flecke, dumpfer Schmerz ist und Erinnerung an dumpfen Schmerz, Narbe, Wunde, Riss, beigebracht aus Ost oder West. Dieses Volk trägt nicht allein die Narben der eigenen Kämpfe, sondern die aller Geschlechter. [...]. Aber die ganze mystique Israels fordert von ihm, dass es seine tönende, mühsame Mission in der Welt fortsetzt. Wegen der außerordentlichen Verletzungen ist dies der schmerzlichste innerliche Gegensatz, zwischen
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Charles Péguy, Notre Jeunesse. Paris: Gallimard 1933.
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mystique und politique, den die Welt kennt. Ein Volk von Händlern und zugleich ein Volk von Propheten.“l Aus diesen Reflexionen über den Sinn der jüdischen Geschichte und das Mysterium des jüdischen Charakters gingen die unvergesslichen Seiten hervor, auf denen Péguy das Portrait seines Freundes Bernard Lazare zeichnet, des französisch-jüdischen Schriftstellers, der im Kampf um Dreyfus in der ersten Reihe stritt. Die Familie Dreyfus behandelte Lazare wie einen professionellen Rechtsanwalt, den man für seine Dienste bezahlt, als einen Ratgeber, der mit den durchtriebenen Listen der Politik vertraut ist. Péguy sucht voll Ehrfurcht nach Worten, die das Bild des geliebten Freundes heraufbeschwören mögen: „Ich zeichne das Portrait Bernard Lazares. Es lässt sich nicht leugnen, er hatte etwas Heiliges in sich. Und wenn ich von Heiligkeit spreche, mache ich mich nicht der Rede in Metaphern schuldig. Er besaß Güte, Tugend, mystische Zartheit, Gleichmaß des Gemüts, kannte Bitterkeit und Undank und wußte vollkommen, wie damit umzugehen, eine unübertroffene Tugend, völlig aufgeklärte Tugend von unfassbarem Tiefsinn. Er lebte und starb als Märtyrer. War ein Prophet. Es war ganz richtig, ihn vor der Zeit und still und nachlässig zu begraben. In geplanter Stille. Ganz und gar nachlässig. Er war tot, bevor er starb. [...] Und einmal mehr erfüllte Israel seine ewige Bestimmung auf die weltlichste Weise. [...] Ich war der einzige Freund seiner letzten Jahre. Er war begabt für die Freundschaft, von jener mystischen Treue und Anhänglichkeit, die das Herz der Freundschaft ist. Möglich war ihm dies, weil er auch sich selbst immer treu blieb. Viele politiques verraten, verschlingen, absorbieren ihre mystiques. Selten genug ist eine mystique kein Selbstbetrug. Selbstverständlich, sein Atheismus war ganz aufrichtig. Er war Positivist, von wissenschaftlichem Gemüt, intellektuell ein Moderner in jeder Hinsicht. Doch daneben besaß er ein Herz, das empfindsam war für die leisesten Schwingungen der jüdischen Misere. Sein Herz blutete in allen Ghettos der Welt – vielleicht am meisten in den zerstreuten und zerrütteten wie dem von Paris –, blutete in Rumänien, in der Türkei, in Algerien, in Amerika, in Ungarn, überall dort, wo Juden Verfolgungen erleben, in gewisser Weise überall. Sein Herz blutete für Orient und Okzident. Unsere Mächtigen erkannten nicht, wollten nicht erkennen, dass dies ein Prophet war, der Jude, der Anführer; aber der ärmste rumänische Hausierer wusste es, spürte seine spirituelle Kraft. Er war in einem Zustand ständiger Spannung, ihm auferlegt durch 5000 Jahre alte Gebote. Er trug die Last eines ganzen Geschlechts und das Gewicht einer ganzen Welt auf seinen Schultern. Sein Herz verschlang ein Feuer, das herrührte vom Brennen seines Geschlechts; er wurde von der Flamme seines Volkes verzehrt. Einem l
Charles Péguy, „La Politique Juive / Jewish Policy”. In: Charles Péguy, Basic Verities. Übersetzt von Ann und Julian Green. New York: Pantheon Books 1943, S. 130-139, hier S. 134137.
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Feuer in seiner Seele, einem glühenden Verstand, glühender Kohle von prophetischen Lippen.”m „Nie sah ich einen Juden, der so desinteressiert, so gleichgültig war gegenüber dem Gesetz der Vergeltung. Er wollte nicht geradezu Übles mit Gutem vergelten, aber bestimmt Ungerechtes mit Gerechtigkeit. [...] Er besaß ein Geheimnis, innige Sympathie mit jeder Form spiritueller Kraft. Seinem Hass gegen den Staat und die weltlichen Einrichtungen entsprach seine Liebe und Hingabe für die Macht des Geistes. Er ertrug es nicht, dass diesseitige Einrichtungen die Reinheit des Geistigen störten. Welch eine Paradoxie! Der professionelle Atheist, der die Welt des Ewigen in unvorstellbarer Kraft und Anmut widerhallen ließ. Noch immer sehe ich sein Bild vor mir: der Atheist, auf sein Lager gebettet, zitternd vor dem Wort Gottes. Im Augenblick des Todes ruhte das ganze Gewicht seines Volkes auf seinen Schultern. Nie sah ich einen Menschen, so voll der Last unaufhörlicher Verantwortung. So verantwortlich fühlte er sich für sein Volk, wie wir für unsere unmittelbare Familie.”n Das Bildnis dieses als Journalisten verkleideten Propheten durchzieht Péguys gesamtes Werk und zeigt sich, wo man es nie erwarten würde. In seinen Reflexionen über Louis de Gonzague formulierte Péguy die vier Elemente menschlichen Geistes in der modernen Welt. Diese sind: das Griechische, das Französische, das Christliche, das Jüdische. „Erben, soweit wir es können, soweit wir es wollen, und bisweilen selbst etwas mehr, des Lehrfachs Hebräisch, Erben der alten Juden, Miterbe der alten Juden mit den modernen Juden, wenigstens mit gewissen von ihnen, befreundet mit gewissen neuen Juden, die besonders qualifiziert sind, den adligsten, den ergebensten, den von ihrer irdischen Ewigkeit und ihrer unvergleichlichen Rasse würdigsten, – Tischgenossen der Juden, was heute heißt, am Tisch derselben Stadt zu essen, – des Lehrfachs Hebräisch, alte und neue Juden empfangen diesen Unterricht, dass das Heil der Menschheit in der Welt einen unendlichen Wert hat, dass das Überleben einer Rasse, dass das Überleben einer Rasse in Raum und Zeit, dass das unermüdliche und linienförmige Überleben einer Rasse quer durch alle Wogen aller Zeitalter, dass die Haltung einer Rasse ein Werk ist, ein Wirken von einem unendlichen Wert, dass die Unsterblichkeit einer auserwählten Rasse in Raum und Zeit, trotzdem sie eine einfache menschliche Rasse sein soll, und vor allem, wenn das eine Rasse wie diese von allen modernen Rassen einzig sichtlich auserwählt ist, die französische Rasse, dass diese Haltung und dass diese Unsterblichkeit ein Gegenstand ist, ein Lehrsatz von einem unendlichen Wert, der alle Opfer belohnt.
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Péguy, Notre Jeunesse, S. 77-78. Ebd., S. 74-76.
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Und ich stelle diesen Paragraphen unter die Anrufung des Andenkens, das wir vom großen Bernard-Lazare bewahrt haben.”o Falsch wäre es, diese leidenschaftlichen Zeilen ‚philosemitisch’ zu nennen oder sie mit einem anderen politischen Etikett zu versehen. Streng genommen sind sie philosophisch. Sie legen eine Form der Existenz nahe, die unerlässlich ist für die immerwährende Erneuerung und die fortgesetzte Erlösung der Welt. Die Griechen, die Römer sind vor vielen Jahrhunderten untergegangen. Ihr Geist, der Geist von Urbanitas und Pax Romana, wird weiterleben, solange die Klassikerwerke ein Element unserer überlieferten Bildung bleiben, ihre Kenntnis nicht auf Philologen und Historiker begrenzt ist. In Form wiederkehrender Renaissancen hat die klassische Überlieferung in uns das Bewusstsein von den Interdependenzen der Freiheit wiedererweckt, hat uns erinnert, dass wir die Früchte von Frieden und Gerechtigkeit nur genießen werden, wenn wir willens sind, sie mit Waffengewalt zu verteidigen. Sind wir heute fähig, Republikaner und Bürger zu sein, so wegen des Vermächtnisses eines bürgerlichen Heroismus, das die Menschen der Antike der westlichen Welt hinterlassen haben. In der modernen Welt haben die Franzosen, vor allem die Franzosen, diese Tradition fortgeführt. Péguy hat Reichtum und Fülle seines Daseins als Produkt der Überlieferungen der klassischen Welt erlebt. Als Franzose war er in der Lage, das Erbe dieser Epoche und den christlichen Glauben mit den heimischen Tugenden des Bauern und Arbeiters zu verbinden. Das christliche Element bildet die Aufforderung, das Kreuz zu tragen, zur Demut der höchsten Opfergabe; das jüdische Element bildet der unbestechliche Durst nach göttlicher Gerechtigkeit für die säkulare Welt, der nicht endende Kampf um die unauflösliche Einheit von Geistigem und Zeitlichem im Leben der Menschen. Bei diesen Kategorien handelt es sich keineswegs um historische Begriffe. Sie verkörpern unterschiedliche Elemente, die unterschiedlichen Grundhaltungen, kraft derer sich die Ewige Gegenwart im Prozess menschlicher Selbstverwirklichung zeigt. Für Péguy gibt es keine Geschichte in dem Sinne, wie die Philosophen des 19. Jahrhunderts sie verstanden haben, also: Geschichte als ein Prozess, in Zuge dessen der objektive Sinn des Lebens sichtbar und verständlich wird. Er erkennt die dauernde Dichotomie von mystique und politique. Aber immer ist da die Ewige Gegenwart, ist da die Möglichkeit, die historische Situation zu transzendieren, Ewiges aus dem Fluss der Zeit zu fischen. Jene vier Kategorien, das Jüdische, das Christliche, das Französische und das Klassische, bilden die irreduziblen Elemente von Péguys Philosophie der Gegenwart. Auf seine höchst eigene Weise war er Teil des eifrigen Gefechts, das William James
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Charles Péguy, „Louis de Gonzague”. In: Charles Péguy, Œuvres en Prose 1898-1908. Eingeleitet und kommentiert von Marcel Péguy. Paris: Gallimard 1959, S. 936-949, hier S. 938.
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und Henri Bergson gegen den Determinismus und Materialismus ihrer Zeit führten und dafür, der Wirklichkeit wieder ein dynamisches, freies und schöpferisches Gepräge zu geben. Péguy weiß sehr wohl, dass die Passion, Sinn und Zweck der menschlichen Existenz sich in wissenschaftlichen Gesetzen erschöpfen zu lassen, von einem eigentümlich modernen Verlangen nach Sicherheit, Ruhe, Bestimmtheit geleitet ist; all dies im größtem Maßstab und in allen Bereichen des Lebens: die Sicherheit des status quo im Politischen, die ökonomische Sicherheit der Kleinfamilie, die Illusion, die Moderne offenbare letztgültig den Sinn der Geschichte. All dies verleugnet die vier großen Elemente der Ewigen Gegenwart, deren jedes im Besonderen für die Bedeutung des schöpferischen Abenteuers, des geistigen Heroismus im Gang der Zeit steht. Péguy fragt, welches das Schicksal einer Welt sein wird, deren einziger Zweck im Gegensatz zur Unruhe zu Gottp vergangener Zeiten es ist, ein Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Er verabscheut diese Geisteshaltung, diesen billigen Frieden, um dessentwillen wir den Sinn für Unmittelbarkeit aufgegeben haben, ohne den das Leben, so sieht es Péguy, nur noch ein makabres Geisterspiel ist. Die Form von Modernität, die Péguy zum Gegenstand seiner unermüdlichen Kritik machte, war ein Zustand intellektueller Trägheit, der Erschöpfung des Geistes, der nicht wagt, Ewiges und Zeitliches nach dem Maß des Menschen Greifbaren zusammenzuhalten. Péguy war der Überzeugung, dass diese Geistesverfassung verurteilt ist, sich auf alle Bereiche menschlichen Strebens auszubreiten. Sicherheit wird in jeder Beziehung, wird in allen gesellschaftlichen Klassen zum vorrangigen Zweck werden, und für diese Sicherheit wird ein hoher Preis zu zahlen sein. In der Sphäre der Wirtschaft wird die Fruchtbarkeit des Geschlechts der Sicherheit der kinderlosen Familie geopfert werden; in der emotionalpsychischen Sphäre des individuellen Lebens wird das wahrhaft und gänzlich fesselnde Jetzt dem synthetischen ‚Moment’, gefügt aus Partikeln des Vergangenen, geopfert werden; in moralischer Hinsicht wird unmittelbare, persönliche Entscheidung und Verantwortlichkeit einer gesellschaftlichen Blaupause, illusionären Versprechungen von automatisierter Glückseligkeit und Tugend, geopfert werden. Es wäre irreführend, Péguy als einen Philosophen einzustufen, sofern wir nicht auch Hiob und Dante, Donne und Milton als genuine Philosophen anerkennen. Péguy war ein Dichter, ein Dichterphilosoph, sofern Dichtung in ihrem ursprünglichen Sinn verstanden wird, als Beschwörung der Essenz des Seins. Die zentrale Kategorie seiner Philosophie war die Wirklichkeit des Gegenwärti-
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Aurelius Augustinus, Die Unruhe zu Gott. Gesammelte Texte. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Otto Karrer. Würzburg: Echter 1987.
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gen, das Leitmotiv seiner Dichtung war die Ewige Gegenwart, wie sie in den vier elementaren Geisteshaltungen verkörpert ist, der des christlichen und der des jüdischen Glaubens, der des klassischen und der des französischen Humanismus, deren jede die paradoxe Wahrheit bekundet, dass das Leben „ein Mehr an Leben und mehr als Leben“ sei.q In dieser flammenden Vision schmilzt die technische Terminologie von Philosophie und Wissenschaften dahin. Zurück bleibt das reine Bild vom Menschen, der die arbiträren Grenzen der sozialen Welt, die er und seine Vorväter geschaffen haben, transzendiert. Péguys Stimme ist die eines modernen Intellektuellen, der nie abließ, ein Bauer zu sein, ein verwurzelter Franzose, jederzeit der weitläufigen und vielfältigen Linien bewusst, die in seiner kleinen Welt zusammenliefen. Seine Worte sind nicht die eines littérateur. Er spricht in der Sprache eines lebendigen Menschen, eingedenkend, tadelnd, erörternd, streitend. Seine Freunde und seine Feinde, sein Gott und der Antichrist, alle sind jederzeit in seinem Denken und Schreiben präsent. Wenn er sich an seine Vorfahren im Geiste wendet, wissen wir ihn als einen ihrer Gefährten. Und wenn er anhebt, die jüdischen Propheten und Seher zu rühmen, vernehmen wir eine Stimme, in der ihre Klage und ihre Passion noch immer mit uraltem und unvermindertem Zauber, uralter und unverminderter Kraft nachklingen.
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Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1918, S. 20.
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Vor dem Ersten Weltkrieg war es im deutschen Bildungswesen Tradition, den Kindern zu lehren, dass die Nation unter Waffen weitaus demokratischer sei als viele andere Nationen, die eine demokratische Verfassung haben. ‚Die Nation unter Waffen’ wurde die gängige Formel für das flächendeckende System aus Wehrpflicht und Kriegsdienst, das die militärische Elite Preußens der deutschen Gesellschaft auferlegt hatte. In der Behauptung des demokratischen Charakters der militarisierten Nation lag eine bittere Ironie. Es handelte sich dabei freilich um eine negative Demokratie: eine Gleichheit des Schweigens, des Gehorsams und des Leidens. Dennoch erhellt eben jene Behauptung die spezifische Situation des deutschen Volkes wie ein gleißender Blitz. In einem früheren Artikel1 habe ich zwischen Deutschen und Nazis unterschieden, um die Sinnlosigkeit einer solchen Abgrenzung zu zeigen. Unter der Vorherrschaft Preußens haben die Deutschen das Entstehen der Bürgergesellschaft verhindert, die Grundlage und Hauptachse einer politischen Verfassung hätte sein können. Diese These wird von Herbert Rosinski in einem Buch über die deutsche Armee bekräftigt.2 (Dieses vom Infantry Journal veröffentlichte Buch enthält eine Einführung des Herausgebers dieser exzellenten Zeitschrift, Joseph I. Greene, einem Oberst der amerikanischen Armee.a Es ist das eloquente Zeugnis des Geistes der Gelehrsamkeit und Menschlichkeit der amerikanischen Armee. Indirekt skizziert Greene darin den Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem deutschen Offizier. Beide besitzen das Potenzial zu höchster Gelehrsamkeit und vollkommener Hingabe an ihre Aufgabe. Doch während dem amerikanischen Offizier stets bewusst ist, dass der Krieg ein dreckiges Geschäft ist, genießt der deutsche ihn als romantischen Höhepunkt des Lebens.) Das Buch liest sich atemberaubend. Jenseits der momentanen Moden und Interessen wird es als wissenschaftliches Glanzstück erhalten bleiben. Die Geschichte der deutschen Armee ist im Grunde die Geschichte des deutschen Volkes. Es wäre unmöglich, die Geschichte des französischen oder Ü 1 2 a
Albert Salomon, „The Germans in Arms”. In: Jewish Frontier 11, 11, 1944, S. 28-30. Übersetzt von Dorte Huneke. Albert Salomon, „The Historical German and the Perennial Nazi“. In: Jewish Frontier 10, 2, 1943, S. 18-22. Herbert Rosinski, The German Army. Washington, DC: The Infantry Journal 1944. Joseph I. Greene, „Introduction“. In: Herbert Rosinski, The German Army. Washington, DC: The Infantry Journal 1944, S. I-VIII.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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des spanischen Volkes anhand ihrer Armeen zu beschreiben, beziehungsweise die Geschichte des englischen oder des amerikanischen Volkes über ihre Flotten. Was die Deutschen betrifft, so wurde es uns vorgemacht. Der Autor porträtiert die verhängnisvolle Entwicklung der Deutschen nach Friedrich dem Großen zu Recht als einen Bericht aus der Sicht ihrer Armee. Rosinski zufolge machte Friedrich die Armee bzw. das Offizierskorp zum Eigentümer des Staates und zum Ausbeuter der Bürgergesellschaft. Er hätte hinzufügen können, dass der Primat des Militärs ausgeweitet wurde, bis er auch die kleinsten Details der Verwaltung umfasste. Preußen war einzigartig darin, die zivile Verwaltung zu einem Zweig der zentralen militärischen Verwaltung zu machen, die für sämtliche Verordnungen verantwortlich war – einschließlich des Steuerwesens. Seit den Anfängen der rationalen Organisation des Staates hatten Österreich, Bayern und Sachsen die zivile von der militärischen Verwaltung getrennt. Nur Preußen drehte den Spieß um und verwandelte das gesellschaftliche Leben in ein Militärlager. Lediglich durch ihr gemeinsames Streben, sich von Napoléon zu befreien, waren die Armee und die Bürgergesellschaft für ganz kurze Zeit vereint. Zu jener Zeit waren die großen Reformer der Armee von einem demokratischen Geist und der idealistischen Philosophie beflügelt. Diese romantische Periode währte nur kurz. Während des gesamten 19. Jahrhunderts bedienten sich der König und die Armee aller möglichen Mittel, um die Entwicklung einer liberalen Verfassung aufzuhalten; innerhalb eines Staates, dessen gesellschaftliche Organisation sich vollständig von einer agrarischen zur industriellen gewandelt hatte. Ohne eine offene Gegenrevolution war es dem König gelungen, dem Parlament die Kontrolle über die Armee zu entziehen. Diese Neuorganisation der Armee als ein Staat im Staat gelang ihm durch eine geschickte Umschichtung der wichtigen militärischen Institutionen. Fortan war es Tradition in der preußischen Armee, die Verfassungsautorität zu schmähen. Die Soldaten leisteten ihren Treue-Eid gegenüber dem König als oberstem Kriegsherrn, nicht als Verwalter der Verfassung. Wer sich heute noch an den Reichstag von vor 1914 erinnern kann, wird die parlamentarischen Treffen im Gedächtnis behalten haben, in denen der Kriegsminister mit Abscheu und Verachtung erklärte, er würde lieber auf dem Schlachtfeld für den König sterben als Vorladungen ins Parlament zu folgen. Die Tragödie der liberalen Gesellschaft in Deutschland bestand darin, zunächst von der preußischen Armee 1848 erdrückt und anschließend vom gewitzten Chauvinismus Bismarcks bewegungsunfähig gemacht worden zu sein. Der nationalistische Enthusiasmus der liberalen und demokratischen Klassen für die Monarchie und die Armee veranlasste sie schließlich, sich der schützenden Macht der Monarchie zu ergeben, um dort Sicherheit vor der Bedrohung der an Stärke gewinnenden Arbeiterbewegung zu finden. All diese Faktoren ließen aus
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der Niederlage des Ersten Weltkriegs eine soziale Revolution werden. Es fand keine sozialistische Revolution statt, sondern allein der Niedergang des Militärstaates, den Friedrich der Große errichtet hatte. Es war eine riskante Revolution, denn es gab keine Klasse, die nach der Macht strebte oder es gewohnt war, Macht auszuüben. Der Weimarer Republik gelang es nicht, die Armee strukturell zu integrieren, sie blieb immer ein Staat im Staat. Obendrein hasste und verabscheute die Armee den demokratischen Staat und bereitete sich permanent auf einen Rachefeldzug vor, um die Monarchie wiederherzustellen. Heute ist offenkundig, dass die Nazis die Republik ohne die geneigte Toleranz der Armee niemals hätten erobern können. Diese Hilfe war jedoch ein schlechtes Geschäft für die Eigeninteressen der Armee. Die Armee war ein seit 200 Jahren an das Monopol der bewaffneten Gewalt gewöhntes konservatives und traditionelles Organ. Doch sie hatte eine Partei zur Macht gebracht, die selbst eine Armee war. Diese Partei hatte die traditionellen Kräfte in der Armee langsam und manchmal gewaltsam zu Fall gebracht. Die neuerdings so genannte Verschwörung und die anschließende Säuberung standen im Einklang mit der Logik des ParteiRadikalismus, der auf eine vollständige Auslöschung der aristokratischen und gebildeten Klassen hinauslief. Diese historische Betrachtung legt eine faszinierende These nahe. Soziologisch betrachtet ist die nationalsozialistische Partei die Form und Struktur der preußischen Armee, die mit dem Inhalt einer radikalen sozialen Revolution gefüllt ist. Die preußische Armee war der erste zentralisierte Planungsstab, der das Effizienzprinzip als unabdingbare Tugend einer siegreichen Nation einführte. Sie verbreitete diesen Geist in alle gesellschaftlichen Klassen. Sie formte die zivile Verwaltung und die deutsche Industrie. Der Nationalsozialismus übernahm alle Voraussetzungen und Fertigkeiten des militärischen Geistes und der Organisation als beeindruckende und Furcht einflößende Institution der Macht. Wobei jedoch vorherbestimmt war, dass sich der Nationalsozialismus seinem Mentor gegenüber in jedem Wettstreit durchsetzen würde, denn er konnte etwas bieten, was die Armee nicht hatte. Während die Armee einzig den Sieg auf dem Schlachtfeld versprach, verhieß die Partei sämtlichen Anhängern der Siegernation den märchenhaften Traum eines Lebens im Wohlstand. Die preußische Armee lieferte das Vorbild für eine soziale Revolution in Form der imperialistischen Eroberung eines Kontinents, die es ermöglichte, die Bedürfnisse der radikalen Klassen zu befriedigen. Dies ist der logische und düstere Schluss einer Entwicklung, die von der militärischen Elite Preußens eingeleitet worden war. Der preußische König und seine Armee stellten sich stur gegen eine Vereinigung von Staat und Gesellschaft unter einer liberalen, demokratischen Verfassung. Dementsprechend konnte die Vereinigung nur durch einen revolutionären Akt vollzogen werden, in dem die monopolistische Armee zur ‚demokratischsten’
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und flächendeckenden Institution wurde, während sich die Bürgergesellschaft in eine monopolistische Armee der sozialen Umwälzung verwandelte. Der Mythos des Soldaten wurde auf das Bild des streng disziplinierten und absolut skrupellosen Übermenschen übertragen. Das war das Ende einer Geschichte, die Kultur nicht als Schöpfung der Gesellschaft kannte, sondern allein als Errungenschaft einsamer, isolierter Individuen. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen geschichtlichen Betrachtungen im Hinblick auf einen Friedensschluss mit den Deutschen ziehen? Erstens ist es ein rein akademisches Unterfangen, zwischen guten, ziemlich guten, schlechten und bösen Deutschen zu unterscheiden. Was die Frage nach einer tatsächlichen Verankerung von Frieden betrifft, so haben die Alliierten es mit einer Nation zu tun, die – ob sie wollte oder nicht – durch den wachsenden Druck seiner Feinde geeint wurde. Es ist naiv zu glauben, dass es Menschen in Deutschland gibt, die sich durch Armeen, die zuvor ihre Städte und Häuser zerstört haben, ‚befreit’ fühlen. Ein noch größeres Wunschdenken steht hinter der Hoffnung, die alten Parteien der Weimarer Republik würden tatsächlich kooperieren. Diese Politiker werden durch die deutsche Niederlage wahrscheinlich entweder vernichtet oder handlungsunfähig gemacht. Wir sehen uns einer Situation gegenüber, in der sämtliche Gruppen durch ihr gemeinsames Schicksal verwoben sind, ungeachtet der inneren Aufspaltungen. Das bedeutet zweitens, dass wir den Fehler des vorherigen Krieges nicht wiederholen sollten. Wir müssen den Frieden mit der deutschen Regierung im Amt beschließen. Und wir sollten uns vorsehen, keine Revolte zu provozieren, indem wir Gruppierungen, die für den Krieg keine Verantwortung tragen, die Schuld an einem erniedrigenden Frieden aufbürden. Äußerst wünschenswert wäre es, wenn die gegenwärtige deutsche Regierung den Friedensvertrag unterzeichnet. Was die Beständigkeit des Friedens betrifft, so macht es keinen Unterschied, welche Gruppe in Deutschland die Macht übernimmt. Jede Gruppierung wird Rachepläne schmieden, in der Hoffnung auf bessere Alliierte, bessere Diplomatie. Das bedeutet drittens, dass die alliierten Nationen die Verantwortung für den Erhalt des Friedens tragen müssen. Wobei es nicht so wichtig ist, was sie den Deutschen aufbürden. Entscheidend ist ihre unnachgiebige Entschlossenheit, mit der sie ihre militärische Bereitschaft aufrecht erhalten und sich für eine Kooperation einsetzen, um den Deutschen die Gefahren eines neuen militärischen Abenteuers vor Augen zu halten. Es ist heute sehr einfach, die gesamte Schuld auf Hitler zu schieben. Wir sollten jedoch im Gedächtnis behalten, dass Hitler aller Wahrscheinlichkeit nach von seinem Angriff abgesehen hätte, wenn er davon überzeugt gewesen wäre, dass die Gegner seine Herausforderung erwidern würden.
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Die Verantwortung für einen dauerhaften Frieden liegt nicht bei den Deutschen. Der Frieden wird von der Entschlossenheit der alliierten Nationen abhängen, mit der sie sich für die Durchsetzung desselben einsetzen.
Adam Smith als SoziologeÜ
I. Einheit, Absicht, Ethos Die klassische Soziallehre hat sich als ein Teilbereich der Philosophie entwickelt. Klassische Philosophen hatten ihre Schriften der Erforschung der Wahrheit über das Ganze gewidmet. Die Menschenwelt war für sie nur ein spezifischer Teil eines Universums, das als solches erforscht, erklärt und verstanden werden konnte. Die modernen Sozialwissenschaften dagegen sind im Aufstand gegen die Philosophie entstanden – nicht gegen die Philosophie überhaupt, aber gegen ein philosophisches System, das von christlicher Theologie und Spiritualismus durchtränkt war. Die als Begründer der modernen Sozialwissenschaften geltenden Autoren wollten kein neues System aufbauen. Sie trachteten lediglich nach einer Erneuerung jenes Bereichs der Philosophie, der sich mit moralischem Verhalten befasst hatte. Sie versuchten, die neuen Methoden der Psychologie zu nutzen, um den Einfluss moralischer Maßstäbe auf soziales Handeln zu erklären – ein Unternehmen, das sie die Vielfalt gesellschaftlicher Strukturen und sozialen Wandels im Sinne der nie endenden Transformationen gesellschaftlicher Bedingungen erkennen ließ. Dass sie sich dabei jedoch auf autonomes Gebiet begeben hatten, wurde offenbar, als es ihnen gelungen war, das Wirken moralischer Normen mittels sozialpsychologischer und soziologischer Untersuchungen menschlicher Bedürfnisse, Instinkte und Leidenschaften zu erklären. Dies war ein umfassender Versuch, alle religiösen und metaphysischen Voraussetzungen aus dem Verständnis sozialen Handelns zu eliminieren. Aber obwohl es sich dabei um eine als nahezu total immanent zu bezeichnende Konzeption handelte, hatten sich die meisten dieser Denker bemüht, die Idee einer schöpferischen göttlichen Vernunft zu bewahren. In der psychologischen Dynamik der menschlichen Natur sahen sie das Walten einer allerhöchsten Vernunft, die‚ allen zerstörerischen Kräften zum Trotz, immer wieder von neuem ein Universum der Harmonie und Ordnung errichtet. In vielerlei Hinsicht war dies ein Bestreben, die Natur und die Natur des Menschen, die viele christliche Philosophen gering geachtet hatten, zu rehabilitieren – ein Ü
Albert Salomon, „Adam Smith as Sociologist“. In: Social Research 12, 1945, S. 22-42. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 202-218. Übersetzt von Monika Plessner.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Wagnis, das viele Schriftsteller dazu zwang, sich zu einer teleologischen Auffassung vom Dasein des Menschen in der Welt zu bekennen. Obwohl sie sich nicht auf Aristoteles bezogen, neigten diese Neuerer, die versuchten, das gesellschaftliche Leben aus sich selbst heraus zu begreifen, dazu, eine teleologische Interpretation für die wahrscheinlichste zu halten. In dieser Entwicklung ist Adam Smiths Position einzigartig.1 Sein Werk ist ein Kreuzungspunkt dreier Wege: der traditionellen Naturrechtslehre, der Neigung britischer Philosophen, ihre Reflexion statt über moralische Werte auf die Analyse moralischen Handelns zu verlagern, und der Religion der Natur, des Deismus. Smith ist es gelungen, diese drei Strömungen zu einem ineinandergreifenden System zu vereinigen, das Soziologie, Nationalökonomie und Politikwissenschaft umfasst – die Sozialwissenschaften. In seinem Werk sind sie noch eins und unteilbar und kreisen um die Idee einer ‚Lehre vom Staatsmann’, die den verschiedenen Erfordernissen der Kontrolle sozialen Handelns in seinen vielen Aspekten Rechnung tragen soll. Eine Lehre vom Staatsmann hat Smith sein Leben lang gefesselt. Was war das für eine Wissenschaft? An den schottischen Universitäten gab es damals keine Abteilungen für Politikwissenschaft oder Nationalökonomie. Smith hatte einen Lehrstuhl für Moralphilosophie. Es oblag ihm, über vier Themenkreise zu lesen: natürliche Theologie, Ethik, Naturrecht und praktische Probleme der Politik. Oberflächlich gesehen entsprechen diese Vorlesungen der Einheit seines Werkes: Die Theorie der ethischen Gefühle2 umfasst die beiden ersten Vorlesungen. Vorlesungen über 1
2
Vgl. vor allem Adolf Lowe, Economics and Sociology. London: Allen & Unwin 1935. Des Weiteren folgende Beiträge von Glenn R. Morrow, „Adam Smith, Moralist and Philosopher”. In: Glenn R. Morrow, Adam Smith, 1776-1926. Chicago: University of Chicago Press 1928, S. 168-171; Glenn R. Morrow, „The Ethical and Economic Theories of Adam Smith. A Study in the Social Philosophy of the 18th Century”. In: Cornell Studies in Philosophy 13, 1923, S. 91107; sowie Glenn R. Morrow, „The Significance of the Doctrine of Sympathy in Hume and Adam Smith”. In: Philosophical Review 32, 1923, S. 60-78. Des Weiteren Gladys Bryson, „Sociology Considered as Moral Philosophy”. In: The Sociological Review 24, 1932, S. 26-36; Franklin H. Giddings, The Principles of Sociology. An Analysis of the Phenomena of Association and of Social Organisation. New York: Macmillian 1896, S. V-XVII; sowie Franklin H. Giddings, Studies in the Theory of Human Society. New York: Macmillian 1922; Albion W. Small, Origins of Sociology. Chicago: University of Cicago Press 1924 und Albion W. Small, Adam Smith and Modern Sociology. A Study in the Methodology of the Social Sciences. Chicago: University of Chicago Press 1907; Harris Laurie, Scottish Philosophy in its National Development. Glasgow: Maclehose 1902; James McCosh, The Scottish Philosophy. Biographical, Expository, Critical, from Hutcheson to Hamilton. Glasgow: Macmillian 1875; Richard Schüller, Die klassische Nationalökonomie und ihre Gegner. Zur Geschichte der Nationalökonomie und Sozialpolitik seit A. Smith. Berlin: Heymann 1895. Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments. Or an Essay towards an Analysis of the Principles by which Men naturally judge concerning the Conduct and Character, first of their Neighbours, and afterwards of themselves. Vierte Auflage. London: W. Strahan, J. & F. Rivington, W. Johnston, T. Longman & T. Cadell and W. Creech 1774; Adam Smith, Theorie
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Rechts- und Staatswissenschaften3 ist eine Nachschrift der Vorlesung über Naturrecht und Der Reichtum der Nationen4 handelt von den praktischen Problemen der Politik. Innerlich eint seine Bücher jedoch eine Absicht, von der er nie abwich. Sie alle galten der Vorbereitung einer im Entstehen begriffenen Studie über natürliche Rechtslehre, die Wissenschaft vom Staatsmann. Smith brachte den Wunsch, seine Forschungen über die Prinzipien und Praktiken der Gesellschaft mit einer Theorie des Naturrechts abschließen zu können, „die von allen Wissenschaften weitaus die wichtigste ist, die bisher jedoch vielleicht am wenigsten gepflegt wurde“,5 wiederholt zum Ausdruck. In der kurz vor seinem Tod veröffentlichten sechsten Auflage seiner Theorie der ethischen Gefühle äußerte er immer noch einen Hoffnungsschimmer, sein Lebenswerk mit einem solchen System der Grundsätze und Regularien der gesellschaftlichen Gesetze abzurunden.6 Immer wieder hat er Hugo Grotius als Begründer dieses Systems und – trotz all seiner Unzulänglichkeiten – als dessen umfassendsten Kenner gepriesen.7 Das Ethos der Gelehrsamkeit des Holländers hat ihn fasziniert. Er war mit ihm einig hinsichtlich der Verantwortung des Wissenschaftlers für das aufgeklärte Verhalten der Herrscher und die moralischen Richtlinien der Gesellschaft. Als Fackelträger der Weisheit und Erleuchtung zwischen Herrschenden und Beherrschten müssen die Intellektuellen dafür Sorge tragen, dass Gerechtigkeit und die Werte des rechtschaffenen Lebens auch im Zerfall des christlichen Universums gewahrt bleiben. Aber wenngleich er Grotius’ humanistisches Ethos auf diese Weise weiter gab, hielt er die gesellschaftliche Verantwortlichkeit doch nur für einen Aspekt der Funktion des Wissenschaftlers. Ein Wissenschaftler ist nicht nur für die Aufklärung seiner Gruppe verantwortlich, sondern auch für die Wahrheit des Ganzen. Zur Suche nach Wahrheit gehört die andauernde Überprüfung der Methoden und Praktiken, die das Finden der Wahrheit ermöglichen. Dieses ständige Forschen wird ein dynamischer Faktor, wenn Zwecke und Mittel auseinanderklaffen. Dann empören sich die Forscher gegen die Voraussetzungen, die sich neuen Methoden, zur Wahrheit zu gelangen, als Hindernisse in den Weg stellen.
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der ethischen Gefühle oder Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen, 2 Bde. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und herausgegeben von Walther Eckstein. Leipzig: Meiner 1926. Adam Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms. Herausgegeben von Edwin Cannan. Oxford: Clarendon Press 1896. Adam Smith, Der Reichtum der Nationen, 2 Bde. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Leipzig: Alfred Kröner 1910. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 2, S. 370. Ebd., Bd. 1, S. 2*. Ebd,, Bd. 2, S. 570; Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 40; Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 436.
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Smith und seine Freunde haben den humanistischen Glauben Grotius’ an die moralische Qualität des Ineinanderwirkens von Theorie und Praxis an eine Situation heran getragen, die sie als Notlage in der englischen Gesellschaft ansahen. Smith hat diese Situation in einer umfassenden Untersuchung des englischen Hochschulwesens seiner Zeit beschrieben.8 Seiner Meinung nach verhärteten sich die Universitäten in überholten Formen, die dazu geschaffen worden seien, Theologen und Geistliche, nicht aber Männer von Welt heranzubilden. Sie seien Körperschaften, in denen einige wenige Privilegierte ein angenehmes Leben führten, ohne sich um Forschung und Lehre zu kümmern. Es gab keine Universität, an der ein junger Mann zum aufgeklärten Politiker herangebildet werden konnte. Er selbst und die meisten seiner Freunde und Schüler zogen die dieser Feststellung entsprechende Konsequenz: Sie begleiteten junge Edelleute auf ihrer Grand Tour, die der Ersatz für eine der aristokratischen Jugend angemessene akademische Ausbildung war. Diese Situation trug zur Hinwendung der schottischen Denker zu sozialen Fragen bei – zu ihrem Glauben daran, dass die Reflexion über die Prinzipien des guten und gerechten Lebens Hand in Hand gehen muss mit der Analyse der Praktiken und Mittel, die die Realisierung jener Prinzipien in den sich verändernden Situationen des sozialen Prozesses ermöglichen. Smith hat wiederholt erklärt, dass er nur zwei Wissenschaften als nutzbringend erachte: Ethik und Naturrechtslehre.9 Mehrfach hat er die Ethik mit Kritizismus und die Naturrechtslehre mit Grammatik verglichen. Den hoch im Kurs stehenden Doktrinen der Stoiker und Peripatetiker hielt er vor, Ethik (in ihrem Sinne) sei, wenngleich nützlich und annehmbar, so doch nicht präzise. Andererseits hielt er sich auch mit Lob für die Moralphilosophie zurück. Moralphilosophie und Ästhetik, behauptete er,10 mögen zwar in allgemeinen und unscharfen Ausdrücken mittels Vorschriften und Ermahnungen zur Tugendhaftigkeit ermutigen, aber diese Philosophie sage nichts darüber, wie das vollkommene Leben zu realisieren sei. Ein großer Vorzug der Naturrechtslehre ist dagegen, dass sie die allgemeinen Prinzipien sozialen Handelns und die besonderen Regeln für ihre Anwendung in endgültigen Formulierungen aufstellen und bestimmen kann. Smith glaubte, dass wir die Elemente des rechtschaffenen Lebens genauso lehren können wie die Elemente der Grammatik. Beide seien einfach und unzweideutig, klar und einleuchtend. Jeder Mensch ist fähig, die Regeln der Grammatik richtig anzuwenden. Jeder Mensch kann lernen, sich an die Regeln der Naturrechtslehre zu halten, um ein gutes und gerechtes Leben zu führen.
8 9 10
Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 2, S. 297-324. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 193 u. 243. Ebd., S. 253-257 u. S. 415-417.
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Seine Bewunderung für die systematische Genauigkeit und Klarheit der Naturrechtslehre und für ihre Eignung zu müheloser Anwendung seitens der Herrschenden tritt in häufigen Hinweisen auf Grotius deutlich zutage. Wie bereits erwähnt, enthält seine Konzeption jedoch ein Element, das bei Grotius noch fehlt. Dieser steht noch in der großen juridischen Tradition der normativen Systeme und abstrakten Forderungen. Das neue Element bei Smith, das grundlegend für die Ursprünge der modernen Sozialwissenschaften geworden ist, ist die Hinwendung zum Konkreten. So hat er denn leidenschaftlich und entrüstet gegen die Vertreter einer rein kontemplativen Gelehrsamkeit gewettert, gegen einen Gelehrtentyp, der sich der Verantwortung für die sozialen Probleme seiner Welt entzieht.11 Häufig ging er mit einer abstrakten und spekulativen Weltsicht ins Gericht, die den allumfassenden Charakter der sozialen Wirklichkeit auf ein niedriges Niveau herabdrückt.12 Er tadelte die metaphysischen und abstrakten Theorien dafür, dass sie die geeigneten Analysen sozialen Handelns geradezu verhindern. In dieser allgemeinen Hinwendung zu einer umfassenden Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird die Absicht offenbar, das Leben des Menschen in der Gesellschaft mit all ihren ineinandergreifenden Handlungen zu verstehen. Grotius’ Präzision und Klarheit waren die des Juristen, der Normen systematisiert. Smith dagegen nahm sich vor, moralische und soziale Werte als Tendenzen zu verstehen und zu erklären, die aus den Erfahrungen des Menschen in der Gesellschaft entstehen und sein soziales Leben konstituieren. Grotius hatte die Sphären des Rechts und der Moral einem alles durchwaltenden Geist christlicher Spiritualität zugewiesen. Smith postulierte die Sozialwissenschaften als Wissenschaft vom Menschen in der Gesellschaft: eine transformierte Naturrechtslehre, welche durch eine wissenschaftliche Analyse der Antriebe, Interessen und Intentionen des Menschen im sozialen Handeln den natürlichen Gesetzen Geltung verschafft. Diese Sozialwissenschaften liefern das Werkzeug zur Entdeckung der Kriterien für Recht, für gerechtes soziales Handeln, und das Instrumentarium für die Erlangung der Freiheit von Theologie und Metaphysik als Quelle aller Erkenntnis.
II. Gegenseitigkeit, Sympathie, Socius In seiner Theorie der ethischen Gefühle hat Smith das Fundament für eine empirische Wissenschaft von der Gesellschaft gelegt. Es ging ihm darin hauptsächlich um die Analyse jener Elemente, deren Zusammenwirken Kontinuität und Dauer 11 12
Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 2, S. 401. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 143, 291 u. 312.
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von Gesellschaft ermöglichen. Diese Lehre von der sozialen Verfassung zieht einen Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv nicht in Betracht. Es ist eine Studie über Gegenseitigkeit. Smith betrachtet Gegenseitigkeit als die primäre Gegebenheit der gesellschaftlichen Beziehungen, und seine Theorie der Gegenseitigkeit ist ein Eckpfeiler seiner Soziologie. Geben und nehmen, handeln und behandelt werden, über jemand anderen verfügen und Selbstbeherrschung – dies sind die ursprünglichen Elemente der sozialen Verfassung. Aus ihnen entsteht die dynamische Einheit, ein Ganzes, das man mit einem Kaleidoskop vergleichen kann. Diese Fundamentalbeziehungen weisen auf die essentielle Gleichheit der Menschen hin. Smith hat das häufig betont.13 Geben und Nehmen, Handeln und Behandeltwerden sind jedes Menschen Möglichkeiten. Alle Menschen sind reich und arm, brauchen Güter und haben Güter zu vergeben. Diese Gegenseitigkeit ist ein universales Phänomen, das alle Sphären sozialen Handelns durchdringt und nicht auf ökonomische Bedürfnisse beschränkt ist. Smith betont ausdrücklich, dass von Natur aus alle Menschen gleich sind. Was wir die verschiedenen Charaktere und Talente nennen, resultiert aus Gewohnheiten, Erziehung und Indoktrinierung. Von Natur aus sind wir alle fähig und produktiv, aber auch bedürftig und unvollständig. Erst durch Herstellung von Gegenseitigkeit erschaffen wir ein Ganzes. Aber wir erschaffen diese Einheit nicht verstandesmäßig. Smith teilte Humes tiefes Misstrauen gegen die Macht der Vernunft. Er erkannte, dass die sich entfaltenden Kräfte des Organismus im Dienste der unmittelbaren Interessen des Menschen stehen und sie zugleich verraten: Selbsterhaltung und Sicherheit. In der Gewissheit und Unmittelbarkeit seiner Instinkte hat die Natur den Menschen mit einem vorrationalen Wissen um die Mittel versehen, die er benötigt, um seine Urinteressen zu verfolgen.14 Eigeninteresse und Selbsterhaltung sind jedoch dialektische Begriffe. Tatsächlich realisiert das Selbst sich nur in sozialem Handeln, das heißt, in Zusammenarbeit, im Wettbewerb und in den Konflikten gesellschaftlicher Beziehungen. Der Mensch ist also in erster Linie ein Sozius.15 Seine Gefühle veranlassen ihn dazu, über die Wirkungen seiner Handlungen auf seine Socii nachzudenken. Seine eigene Sicherheit kann er nicht herstellen, ohne die Situation und die Urteile seiner Socii in Betracht zu ziehen. Individuelles Wohlergehen kann er nicht erreichen, wenn er nicht an die Wirkungen seines Handelns auf das gesellschaftliche Ganze denkt. Individuelles Glück ist nur möglich, wenn es die Gesellschaft gutheißt, wenn es in Harmonie mit ihr steht. Alle Menschen und alle Gesell13 14 15
Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 4-9; Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 1, S. 9; Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 238-241. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 130-131. Ebd., S. 12, 34 u. 79.
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schaften streben nach Glück. Aber Glück ist ein kompliziertes Phänomen.16 Einerseits fordert der Organismus sein Recht: Sorge für das Leibliche, Gesundheit und all die ökonomischen Bedürfnisse, deren Befriedigung eine unerlässliche Bedingung für das gute Leben ist. Andererseits stellt der gesellschaftliche Status Forderungen: bescheidene Sicherheit und Unabhängigkeit. Und schließlich gibt es Erfordernisse, die sowohl für das Individuum als auch die Gesellschaft gelten: Frieden, Gelassenheit des Geistes und ein gutes Gewissen. Smith erklärt, dass dem menschlichen Glück nichts mehr hinzugefügt werden kann, wenn diese Forderungen erfüllt sind. Smiths Theorie der Gesellschaft muss zugleich eine Theorie der Sympathie sein. Nur bedeutet Sympathie in diesem Zusammenhang nicht Mitleid, Einfühlung oder irgendeine Form der Imitation von Gefühlen. Smith hat mehrmals erklärt, wie er den Begriff verwendet, am deutlichsten in seiner Kritik an David Hume,17 der Sympathie als Vergnügen an der technischen Perfektion eines Zweckmäßigkeitssystems versteht. Smith weist das zurück und entgegnet, Hume verwechsle Mittel und Zwecke, wenn er Nutzbarkeit zum Kriterium der Tugend erhebe. Hume könne das Ganze nur als eine perfekte Maschine begreifen. Aber die Gesellschaft ist auch ein Ganzes, und zwar eines, in dem die Mittel den Zwecken und Werten untergeordnet sind. Deshalb schlägt Smith vor, den Begriff der Sympathie als Maßstab für vollkommenes Verhalten im Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen einzuführen. Sympathie ist nach Smith das erkennende Gefühl, das aus Verstehen entsteht und im Bewerten besteht. Für den Socius ist es die „Logik des Herzens“, sofern es gestattet ist, Pascals Konzeption auf die Sphäre des sozialen Handelns zu übertragen.a Smith hat ausdrücklich gesagt, dass Sympathie das kritische Verstehen einer sozialen Situation voraussetzt – die Bewertung der Motive des Handelnden, des Objekts seines Handelns und die Reaktion der Person, an der durch ihn gehandelt wird.18 Sympathie verbindet die handelnde und die behandelte Person im Rahmen der strukturierten Situation. Sie ermöglicht Analyse und Würdigung der Elemente, die die Typen der Gegenseitigkeit konstituieren. Zu jeder sozialen Situation gehören handelnde und behandelte Personen. Im Geflecht ihrer wechselseitigen Beziehungen bildet sich die Mannigfaltigkeit sozialen Erlebens heraus. Sympathie als Verstehen und Sympathie als Bewerten sind die beiden Pole, um die herum Gegenseitigkeit – und das heißt: die fundamentale Wechselseitigkeit sozialen Handelns von Menschen entsteht. Sie sind 16 17 a 18
Ebd., S. 63 u. 74; Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 1. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 411. Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Heidelberg: Lambert Schneider 1946. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 10-30.
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die integrierenden Elemente der Gesellschaft, weil ihr Kontext das gesellschaftliche Ganze ist und die Harmonie der Gesamtstruktur spiegelt. Vom so genannten „unparteiische[n] Zuschauer“ her gesehen ist es Sympathie, die die Integration der vielen Spielarten sozialer Beziehungen möglich macht.19 Dank ihrer ist die Gesellschaft ein dynamisches Ganzes, denn sie macht als intuitives Erkennen die Werthaftigkeit der Verhaltensformen transparent, auf der eine Sozialstruktur der Gerechtigkeit und der Schicklichkeit gründet. Aus diesem Sympathiebegriff folgt notwendig, dass die Maßstäbe, die auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft an sie angelegt werden, daraufhin geprüft werden müssen, wie sie entstanden sind und sich entwickelt haben. Gegenseitigkeit impliziert, dass das gesellschaftliche Ganze auf Dualität hin angelegt ist. Dem entsprechend unterscheidet Smith zwischen sozialen Werten und sozialen Gütern, die einander paarweise gegenüberstehen. Als die beiden höchsten Werte bezeichnet er die Tugenden der Ehrbarkeit und der Freundlichkeit, als die höchsten Güter Gerechtigkeit und Mildtätigkeit.20 Diese Gegenüberstellung ist umso interessanter, als sie deutlich macht, wie sehr Smith sich bemüht hat, die immer wieder von den Mystikern aufgeworfene Frage nach der Vereinbarkeit von Recht und Agape, Ordnung und Liebe, auf die wissenschaftliche Ebene psychologischer und soziologischer Betrachtung zu übertragen. Der Mensch braucht beides und ist zu beidem fähig. Und beides ist unerlässlich für das begrenzte Glück, zu dem Gesellschaften gelangen können. Hinsichtlich der Gleichheit ihres Wertes und ihrer Stärke drückt sich Smith nicht ganz deutlich aus. Einerseits sagt er, eine auf Gerechtigkeit gegründete Gesellschaft sei existenzfähig. Andererseits sagt er, keine Gesellschaft sei von Dauer ohne die liebenswerten Tugenden der Güte, Hingabe und Aufopferung. Smith war sich klar darüber, dass die Angewiesenheit des Menschen auf diese im Gegensatz zueinander stehenden Tugenden und die zu erfüllenden Forderungen zu den Antinomien des Lebens gehören. Er hat versucht, jene Antinomie durch die Analyse der Sequenz uns Sphäre, in der unsere sozialen Pflichten statthaben, miteinander in Einklang zu bringen. Er hat jene Philosophen heftig angegriffen, welche die Tugend der Lebensklugheit, nämlich das Streben nach Gesundheit, ökonomischer Sicherheit und sozialem Status, für unmoralisch hielten.21 Obgleich diese Güter auf der Skala menschlichen Glücks an letzter Stelle stehen, sind sie doch unerlässlich. Unerlässlich sind sie als die notwendigen Bedingungen für den Frieden des Geistes. An letzter Stelle stehen sie, weil sie für das wahre Wohl der Person und ihrer Gruppen nur instrumentale Bedeutung 19 20 21
Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 1, S. 150; Vgl. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 198-243. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 30-36 u. 132-160. Ebd., S. 379-384.
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haben. Solange die entsprechenden Aktivitäten instrumental bleiben, handelt es sich um Güter. Dann haben sie einen Sinn in der höheren Sphäre der Gerechtigkeit, das heißt für die korrekte und angemessene Aufteilung von Rechten und Pflichten unter den Socii im Rahmen der Gesellschaft. Die beste und äußerste Möglichkeit wäre die, dass die Tugenden der Lebensklugheit, der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit ineinander aufgehen. Eine Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und Herzensgüte zusammenlaufen, wäre vollkommen. Eine solche Situation, in der die Exaktheit der Gerechtigkeit mit der leuchtenden, schöpferischen Kraft des Herzens übereinstimmt, nennt Smith die Verwirklichung wahrer Weisheit. Er wusste, dass dies eine Utopie ist. So wie die Menschen beschaffen sind, sind sie – als Socii – fähig, Gerechtigkeit einzusetzen, weil sie auf die Interdependenz der Mitglieder der Gesellschaft reflektieren und die Nützlichkeit des Friedens kennen. Als Personen und Freunde wiederum sind sie fähig, vertraute Beziehungen einzugehen, in denen es mehr um Herzensgüte als um Gerechtigkeit geht. Diese Betrachtung der verschiedenen Aspekte sympathischer Erkenntnis führte weiter zur Beschreibung der verschiedenen Stadien der gesellschaftlichen Sympathie und der gesellschaftlichen Pflichten.22 Eine ursprüngliche Sympathie herrscht unter Familienangehörigen, eine habituelle Sympathie unter den Mitgliedern eines Clans oder einer Nachbarschaft. Konventionelle Sympathie auf Grund gemeinsamer Tätigkeiten und Interessen besteht zwischen Vertretern eines Berufsstandes oder eines Gewerbes. Sie treten als Habitus auf, der für die jeweilige Gruppe selbstverständlich ist. Sie ermöglichen die Systeme der Billigung und Achtung, die wir in rationalen Gesellschaften als öffentliche Meinung bezeichnen. Bei der Erörterung dieser Bindeglieder hat Smith eine Gesellschaft im Auge, die die Regeln der Gerechtigkeit vorschreibt und mit Nachdruck für die Erfüllung jener Pflichten sorgt, die der Vollzuggewalt des Staates entzogen sind. Dieser soziologische Denkansatz tritt deutlich in der Beschreibung des „unparteiische[n] Zuschauer[s]“ zutage.23 Gemeint ist eine abstrakte Kunstfigur, in der sich die gemeinsamen Wertmaßstäbe der Socii für das Wohlergehen aller und das Allgemeingut ihrer dauerhaften Beziehungen spiegeln. Aber der unparteiische Zuschauer ist auch das individuelle Gewissen, losgelöst vom Druck der öffentlichen Meinung. Dieser Dualismus eines soziologischen und eines personalistischen Fundamentes für Kontinuität und Dauerhaftigkeit sozialer Beziehungen ist ein Charakteristikum des Denkens von Smith. Einerseits ist der unparteiische Zuschauer der phronimos, der kraft Weisheit tugendhafte Mensch des Aristoteles,b das abstrakte Sinnbild der allgemeinen Maßstäbe, die in einer spezifi22 23 b
Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 1, S. 268-272. Ebd., Bd. 1, S. 150; Vgl. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 198-243. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Adolf Lasson. Jena: Diederichs 1909, S. 126-127 (VI 5, 1140a 25-28).
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schen historischen Situation als selbstverständlich gelten. Zugleich ist er aber auch die Versinnbildlichung des Menschen, der zu sich selbst kommt, wenn er Werte anstrebt, die jenseits der Grenzen sozialer Institutionen liegen. Smith hat die Verfassung des Menschen als Socius so gründlich durchanalysiert, dass man von einer Phänomenologie sozialer Gesinnungen und sozialen Gebarens sprechen kann. Er hat keineswegs geglaubt, dass der Mensch durch die Gewohnheiten, Werte und Auffassungen seiner Gesellschaft völlig erklärbar sei. Nur die Oberflächlichen und Gewöhnlichen, sagt er, unterwerfen sich dem Urteil der gesellschaftlichen Elite, die das unterste Tribunal für die Einsetzung sozialer Sympathie und sozialer Maßstäbe bildet. Nachdenkliche und verantwortungsbewusste Menschen unterwerfen sich dem Urteil des unparteiischen Zuschauers, der als Repräsentant des sozialen Konsenses die wahrhaftige öffentliche Meinung des Gesellschaftsganzen widerspiegelt. Mit ihm stimmen sie überein als Individuen und setzen ihn gleich mit ihrem eigenen Gewissen. Tatsächlich sind diese Urteile des unparteiischen Zuschauers jene des hohen Tribunals unseres eigenen Gewissens.24 Jeder Mensch, der der Willkür und Launenhaftigkeit der Auffassungen einer herrschenden Klasse ausgesetzt ist, kann an dieses Gericht appellieren. Selbst, wenn er sich im Konflikt mit der öffentlichen Meinung befindet, kann er sich auf die teilnahmsvolle Intuition seines Herzens berufen. Dann wird der unparteiische Zuschauer zugleich zum eigenen Gewissen und zum sozialen Erfüllungsgehilfen. Also gibt es immer noch einen obersten Gerichtshof, den der Mensch anrufen kann. Dieses Gericht urteilt jedoch nicht über das Verhalten des Menschen als Socius. Wer gefehlt oder versagt hat oder trotz edler Motive unterlegen ist, kann sich an das oberste Gericht der Gottheit wenden, die allein über die Wahrheit des guten Willens urteilen kann. Aber sein Freispruch gilt dem Menschen, nicht dem Socius. Der Socius wird nur in seinem positiven oder negativen Beitrag zum Glück der Gesellschaft geachtet oder verachtet. Smith hat gewusst, dass der Mensch als bloßer Socius nicht voll erfasst wird, aber er zögerte, diese seine Einsicht auch zuzugeben. Er hat dem individuellen Gewissen die Fähigkeit zugeschrieben, die Wahrheit über das glückliche Leben und die Prinzipien der Gerechtigkeit zu erkennen. Aber er räumte ein, dass das individuelle Gewissen, das er als ‚Institution’ ansieht, weitgehend ableitbar ist aus der Autorität des unteren Tribunals, der Gesellschaft, deren Urteile es häufig ablehnt.c Im Sinne dieser soziologistischen Auffassung hat bei Smith die durch die Gesellschaft repräsentierte totale Kontrolle den Vorrang gegenüber dem erwachenden Verständnis für soziale Werte. Dabei ist es die philosophische Erkenntnis dieser Werte, die den verantwortungsbewussten Menschen möglich 24 c
Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 205-207. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 1, S. 199-205.
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macht. Nur der mit Gewissen ausgestattete einzelne Mensch kann zu vollkommenem Glück gelangen, weil nur er fähig ist, Gelassenheit des Geistes als schöpferische Eigenleistung zu erbringen. Mit dieser These über die Ursprünge des moralischen Bewusstseins hat Smith soziologische Darstellungen der Sittengeschichte, beispielsweise das bekannte Buch von Westermarck, nachhaltig beeinflusst.d Smith hat in seinen Schriften eine mehrdimensionale Theorie der Gegenseitigkeit aufgestellt. Er stellte die Einheit in der Vielheit der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären heraus, und mit seiner Konzeption des Menschen als Socius und Person bringt er widersprüchliche Erfordernisse in Einklang. Zusätzlich setzt er sich in dieser allgemeinen Theorie mit partiellen Problemen auseinander, die ihm wichtig genug erschienen, um sie in all seinen Büchern aufzugreifen. Ein Nebenprodukt seiner Theorie der Sympathie sind beispielsweise die Einlassungen über das Verhältnis zwischen Autorität und Konsensus.25 Sympathie als Anerkennung von Überlegenheit kann auf viererlei Weise vorkommen. Menschen sind gewillt, sich sympathetisch körperlicher oder geistiger Kraft von Individuen zu unterwerfen. Aber nur in primitiven Gesellschaften werden Kriegshelden oder weise alte Männer als höchste Autorität anerkannt. Smith teilte Pascals Auffassung, dass es in modernen Gesellschaften unmöglich ist, derartige persönliche Qualifikationen durch soziale Sympathien anzuerkennen. Es bleiben zwei andere Quellen für Autorität und Überlegenheit: wirtschaftliche Macht und vornehme Herkunft. Da Menschen von Natur aus eine Vorliebe für die hellen und positiven Seiten des Lebens haben, stellen sie ihren Wohlstand gerne zur Schau und verbergen ihr Elend. Es fällt ihnen leichter, Schicksalsschläge zu ertragen – die Weisheit der Stoiker –, als sich der Verachtung der Gesellschaft auszusetzen.26 Deshalb betrachten sie die Reichen und Mächtigen voller Sympathie als die Überlegenen. Sie bewundern sie und dienen ihnen, ohne mit ihrem Wohlwollen zu rechnen. Sie glauben zwar nicht an ihr Glück, aber ihre Überlegenheit beunruhigt sie. Sie bewundern das Potential ihrer Mittel und die Perfektion eines sozialen Gefüges, das solche Errungenschaften ermöglicht. Smith behauptet, es sei ein soziologisches Naturgesetz, dass Menschen sich danach sehnen, Autorität und Überlegenheit als Siegel für Frieden und Ordnung anzuerkennen. Selbst wenn die Zeichen auf Revolution stehen, geben die Socii
d 25 26
Edward Westermarck, Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe, 2 Bde. Übersetzt von Leopold Katscher. Leipzig: Klinckhardt 1907-1909. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 278-289 u. 332-348; Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 2, S. 297-324; Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 3-8. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 106-108.
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den überkommenen Konsens nicht leicht auf.27 Den Philosophen des Widerstandes hält Smith entgegen, die Natur selbst habe die Menschen gelehrt, sich den Eignern von Macht und Vermögen unterzuordnen. Es gibt einen natürlichen Impuls zum Respekt, der zutiefst mit unserer Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit zusammenhängt. So billigen die Socii denn die Rolle der Mächtigen als gegeben und recht, als Wert und als Vorbild. Die Menschen sind bereit zu solcher positiven Sympathie des Konsenses, weil sie Frieden und Ordnung schätzen. Ja, die Socii sind sogar bereit, ihre ursprüngliche Sympathie mit den Armen jener primären Sympathie für Autorität und Macht zu opfern. Die Herrschenden wissen um diesen Hang zur Ehrerbietigkeit. Sie sind ihm mit der Entfaltung von Prunk, Zeremoniell und gewählten Umgangsformen entgegen gekommen. Sie haben ein echtes soziales Bedürfnis mit Bühnenzauber beantwortet, haben auf eine tiefe Sehnsucht mit einem gestellten Bild reagiert. Smith hat erkannt und genau dargestellt, wie notwendig gesellschaftliche Leitbilder und Sinnbilder sind. In der Theorie war er zwar Republikaner. In der Praxis ist er jedoch den Traditionen des alten England treu geblieben. Vaterlandsliebe, sagte er, ist die erste Pflicht in der Rangfolge sozialer Werte – nicht etwa, weil das Vaterland Teil der Menschenwelt ist, sondern weil sich das Ganze in ihm als einem Mikrokosmos spiegelt. Die Liebe zum eigenen Land ist in seiner Definition Respekt für dessen Verfassung und der aufgeklärte Wille, die Verhältnisse im Rahmen dieser Verfassung zu bessern.28 Dem Geiste liberaler Reformen ist er auch nach dem Ausbruch der französischen Revolution treu geblieben. In der letzten Ausgabe der Theorie der ethischen Gefühle weist er den „Parteidoktrinarismus“ und den „Parteidoktrinär“e entrüstet zurück: Denn jene Männer, die sich anmaßen, sie allein besäßen den Schlüssel zum Heil der Gesellschaft, werden letzteres nur durch die gesetzlose Gewalt der Revolution herbeiführen wollen. Smith hat der Analyse der Elite noch eine andere Beobachtung hinzugefügt. Die britischen Mittelklassen, meint er, hätten die Libertinage und Korruption am Hof Karls II. ersetzt durch ein Musterbeispiel zweier Tugenden: Liberalität und Großmut. Sie hatten den frivolen Höfling in seiner Wirklichkeit demaskiert und an seine Stelle das Leitbild des vollkommenen Gentleman gesetzt.29 So hätten sie den Kreis geschlossen, indem sie die asketisch-puritanischen Tugendvorstellungen der unteren Klassen als Laster der Heuchelei und des Geistes lächerlich machten.
27 28 e 29
Ebd., S. 87-90. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 2, S. 393-397. Ebd., Bd. 2, S. 394 u. 395. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 73-77.
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Die Gesellschaft stellt Konsens her‚ sowohl um des Nutzens als auch um der Autorität willen. Tatsächlich weisen – so Smith – die beiden Hauptrichtungen in der Politik darauf hin, dass die eine die Autorität und die andere die Nützlichkeit als Grundlage für den Konsens bevorzuge. Seine These lässt sich auf konservative und liberale Politiker anwenden: Tories sprechen dem Staat und seiner Autorität Priorität vor der Gesellschaft zu. Whigs glauben, dass der Staat von rein instrumentaler Bedeutung für die Ziele und Zwecke der Gesellschaft sei.30 Derlei Beobachtungen regten Smith zu einer höchst brauchbaren Analyse der soziologischen Bedeutung von Sitten und Moden an.31 Bräuche, Sitten und Moden bestimmen ihm zufolge in beträchtlichem Ausmaß gesellschaftliche Einstellungen und Verhaltensmuster. So gewinnen sie die Kraft, rationale Werte in soziale Gewohnheiten zu transformieren. Besonders Handel und Gewerbe sowie die Berufe auf akademischer Grundlage entwickeln gewisse Verhaltensmuster, die sachlichen Erfordernissen entsprechen und standeseigentümlich bleiben. Aber die Gesellschaft transformiert die sachbedingten Verhaltensmuster zu Typen, die sich entweder heroisieren oder karikieren lassen. Es ist ein großes Verdienst von Smith, dass er den Unterschied zwischen Modellen und Leitbildern betont hat. Er hat damit eine soziologische Analyse der Bedeutungen angeregt, die Sitten und Bräuche für die Entstehung von Leitbildern je nach der gängigen Moral und ihren modischen Vorschriften haben. In einer aufgeklärten Gesellschaft ist man schnell dazu bereit, den Soldaten oder den Geistlichen lächerlich zu machen. In einem militaristischen Land dagegen sind der Kaufmann oder der Gelehrte in der gleichen beklagenswerten Lage. Vorgeprägte Bilder für Lebensalter, Ränge, Stände und Berufe gibt es in allen Gesellschaften. Richtungsweisend für sie sind die Maßstäbe der herrschenden Elite. Mit der sich wandelnden Sozialstruktur wandeln sich auch Sitten und Moden. Zur revolutionären Veränderung einer ganzen Gesellschaftsstruktur gehört immer auch die Umwertung der Funktion von Tätigkeiten und Gesinnungen. In den soziologischen Ideen Smiths verbergen sich die Hypothesen seiner Theorie des ökonomischen Prozesses und der Arbeitsteilung. Er meint, das primäre Motiv für soziales Handeln sei kein ökonomisches, denn der arbeitende Mensch könne sich Löhne erwirken, die ihm ein erträgliches Leben sichern. Das Hauptmotiv sei vielmehr soziologischer Natur: das Verlangen nach Beifall und zugestandener Überlegenheit. Das Jagen nach Prestige und Rang war, so Smith, von jeher die Stimulanz für jeglichen zivilisatorischen Fortschritt. An sich könnten die Menschen ihre ökonomischen Bedürfnisse mühelos befriedigen und es selbst in den unteren Rängen der Gesellschaft zu bescheidener sozialer Sicherheit 30 31
Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 8. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 303-324.
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bringen. Die Natur hat jedoch in den Menschen das rastlose und unaufhörliche Streben danach entfesselt, ihren sozialen Status zu verbessern und das Gerüst der Zivilisation immer höher und höher aufzurichten. Die Natur war so weise, den Menschen über den wahren Wert von Reichtum und Macht zu täuschen. Er neigt immer dazu, ihren instrumentellen Charakter zu verkennen und sie für sich genommen als Werte und Ziele zu betrachten. Dieses Missverständnis hat den Fortschritt der Menschheit in allen zivilisatorischen Bereichen möglich gemacht.32 Für die Sphäre des sozialen Handelns gilt die gleiche List der Natur. Noch der habgierigste Grundherr wird nicht umhin kommen, den Profit mit seinen Pächtern und Landarbeitern zu teilen und in seinen Landbesitz zu investieren, da zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse schon ein kleiner Teil des Gewinns ausreicht. Smith war der festen Überzeugung, dass dieser Umschlag böser Triebe in gute Resultate am Ende Harmonie und Gerechtigkeit in der Gesellschaft stiften werde. Sein Realismus schlug also in einen spiritualistischen Naturalismus um. Er wusste, dass Bedürfnisse und Begierden aufhören, wenn sie gestillt sind, während Konkurrenz kein Ende nimmt. Gegenseitigkeit bewirkt nicht automatisch Harmonie. Güte wird nicht automatisch mit Güte erwidert. Nichtsdestotrotz postuliert die Konzeption der Gesellschaft als Natur den optimistischen Glauben, dass soziale Beziehungen die subjektiven und eigennützigen Leidenschaften in objektive Güter einer gerechten und glücklichen Gesellschaft transformieren werden, wenn sie sich jenseits des Pfades politischer Institutionen hin entwickeln. Diese normative These von Smith steht seiner soziologischen Analyse der Natur der Gesellschaft in der Geschichte entgegen.
III. Geschichte, Fortschritt, Natur Smith hat die mittels seiner soziologischen Analyse der natürlichen gesellschaftlichen Beziehungen gewonnenen Einsichten zur Erklärung sozialer Prozesse in der Geschichte und des Wandels der Institutionen genutzt. In diesen Untersuchungen wurde seine soziologische Theorie zu einer universalen Methode für das Verständnis sozialen Wandels. Insbesondere hat er die Stimmigkeit seiner Theorie der Reziprozität als Maßstab für gesellschaftliches Gleichgewicht dargelegt. Dies findet sich in seinen Analysen des Militarismus, akademischer Institutionen und der Kirchen,33 worin er die technischen, ökonomischen, finanziellen und sozialen Bedingungen überprüft, die bestimmend für die wechselnden Aspekte 32 33
Ebd., S. 84-86 u. 272-274. Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 2, S. 245-250 u. 297-324; Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 184-187.
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dieser Institutionen sind. Er kam zu dem Schluss, dass gesellschaftliche Institutionen an Effektivität verlieren und vom Niedergang bedroht sind, wenn die Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen zwischen Lehrer und Schüler, Priester und Gemeinde, Armee und Gesellschaft abgebrochen wird. Wenn die Socii, die soziale Institutionen in Gang halten, ihre sozialen Funktionen vernachlässigen und sich zu Interessengemeinschaften zusammenschließen, ist das gesellschaftliche Ganze als Gleichgewicht von Beziehungen gefährdet und sozialer Wandel wird unvermeidlich. Sozialer Wandel ist unerlässlich für die Herstellung und Wiederherstellung gesellschaftlicher Harmonie. Diese allgemeine Tendenz im sozialen Prozess der Geschichte ist ein soziologisches Gesetz. Die Menschen neigen immer dazu, ihrer Verantwortung für das Ganze auszuweichen und sich als Eigner und Ausbeuter privilegierter Institutionen einzurichten. Dieser eigennützige Eskapismus zerstört das Gleichgewicht von Rechten und Pflichten im Ganzen der Gesellschaft, sodass die Wiederherstellung echter Gegenseitigkeit notwendig wird. In den Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften und im Reichtum der Nationen hat Smith sich eingehend mit dieser Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen in der Geschichte beschäftigt.34 Insbesondere hat er darin jene Bedingungen gründlich untersucht, die den Fortschritt in Landwirtschaft und Industrie bislang behindert haben. Ihm zufolge ist die politische Struktur des Feudalzeitalters die Ursache für den langsamen Fortschritt. Die ständigen Kriege, die Instabilität der Regierungen samt der aus ihr resultierenden Ungesichertheit und Schutzlosigkeit mangels entsprechender Gesetzgebung ließen keine Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion zu. Die feudalistische Vorstellung vom Großgrundbesitz als Basis politischer Macht, die sich in den Primogeniturgesetzen spiegelt, verdrängte alle Rücksichten auf Wirtschaftlichkeit. Ihre Arbeitsbedingungen boten den Landarbeitern keinen Anreiz zu produktiver Arbeit oder Vorratswirtschaft. Sklaven, Leibeigene und Pächter konnten weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich daran interessiert sein, Verbesserungen vorzunehmen. Die Fehler der merkantilistischen Politik des Absolutismus verhinderten die Entfaltung des ländlichen Wirtschaftspotentials. Dabei war es für Smith selbstverständlich, dass Gesellschaft immer auf mehreren ineinander greifenden Ebenen zugleich besteht. Die juristische, ökonomische und politische Sphäre sind miteinander verklammert und befinden sich in ständiger Wechselwirkung. Auf dieselbe Weise hat er städtische Institutionen untersucht. Auch hier betont er die entscheidende Rolle, die die politische Macht für die Organisation von
34
Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, S. 9-37, 51-114 u. 156-171; Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 2, S. 316-324.
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Stadtgemeinden als den neuen gesellschaftlichen Zentren gespielt hat.35 Dieses Mal führt er jedoch ein neues Element als Voraussetzung für Fortschritt ein: das Ethos der herrschenden Elite. Der Feudalherr hatte so vulgäre Beschäftigungen wie Tausch- und Geldhandel verachtet. Für ihn war Macht Reichtum. Nur ohnmächtige Bauern und Handwerker mussten sich abrackern, um zu Wohlstand zu gelangen. Der Edelmann hatte das nicht nötig, weil er Macht besaß. Als Ergebnis dieser Einstellung der Großgrundbesitzer war auch der Fortschritt in den städtischen Gesellschaften langsamer und stets gefährdet. Ein politisches Motiv förderte ihn jedoch. Die absolutistischen Fürsten schätzten die Städte, weil sie ihnen gegen den Kleinadel beistanden, sodass die Stadtgesellschaft sich zur militärisch-ökonomisch orientierten Bürgerschaft entwickeln konnte, die für Ordnung und gute Regierung sorgte und Freiheit und Sicherheit zu Kernpunkten ihrer Verfassung machte. So wurde die Stadt zum Mittelpunkt für das umgebende Land, dem sie durch den Markt neue wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnete. Das führte zu neuen Verhaltensmustern, die wiederum zum ökonomischen Fortschritt des Ganzen beitrugen. Die Gewohnheiten der Kaufleute, Gewerbetreibenden und Handwerker mussten schon deshalb anders sein als die des Landadels, weil sie lernten, ihr Geld gewinnbringend anzulegen und neue unternehmerische Projekte anzupacken. Bei ihnen lag der Nachdruck auf Ordnung, Sparsamkeit und Wachsamkeit, auf Redlichkeit und Zuverlässigkeit in ihren Geschäften. Damit förderten sie auch die Freiheit und Sicherheit der Landbevölkerung. Smith hat jedoch auch die negativen Seiten dieser fortschrittlichen Bewegung analysiert. Er erkannte, dass wachsende Industrialisierung zu erschreckender Ausbeutung der Arbeitskraft führen konnte, und er war sich auch klar darüber, dass Standardisierung und Spezialisierung in der industriellen Arbeit inhumane Wirkungen zeitigen würde. Die Betonung der Wechselseitigkeit gesellschaftlicher Gegebenheiten und das Wissen um die positiven wie negativen Wirkungen des Wandels von Institutionen wurden entscheidend für seine Grundideen zur Geschichte. Smith bezweifelt zwar nicht, dass die spezifisch städtischen Berufsgruppen, Kaufleute, Fachleute und Akademiker, schon deshalb Wesentliches für den Fortschritt in der neuzeitlichen Geschichte geleistet haben, weil sie den aufklärerischen Sinn für Maßhalten und soziales Gleichgewicht verbreiteten. Aber er beharrte darauf, dass dieser Fortschritt ein Nebenergebnis ohne innere Notwendigkeit gewesen sei. Er zählte die Fälle auf, in denen historische Umstände Handel und Industrie begünstigt hätten, ohne die Struktur der ländlichen Gesellschaft zu erneuern – ein Beispiel für das, was Smith eine widernatürliche, rückläufige Ordnung der Geschichte, eine Pervertierung der natürlichen Ordnung der Dinge nennt.36 Ge35 36
Smith, Der Reichtum der Nationen, Bd. 2, S. 150-160. Ebd., S. 20-27.
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schichte, so erklärte er, wird primär durch die Eigeninteressen der jeweils herrschenden Elite bestimmt, durch die Eitelkeit der Großgrundbesitzer und den rücksichtslosen Druck der Geschäftsinteressen. Als Geschichte verstand er den Lauf der Zeit, in der politische Entwicklung stattfindet, das heißt jener Prozess, in dem Fortschritt verzerrt und Wahrheit verdunkelt wird: eine Folge von Irrtümern und menschlichem Versagen, von fehlgeschlagenen Hoffnungen. Fortschritt in der Geschichte ist immer Fortschritt quand même, also Fortschritt trotz all der willkürlichen, irrationalen Situationen des historischen Prozesses. Der Begriff Fortschritt hat fundamentale Bedeutung im Denken von Smith. Was er jedoch damit meinte, ist eben kein historischer Prozess der Gesellschaft, sondern das griechische telos, das Ziel aller gesellschaftlichen Beziehungen. ‚Von der Barbarei zur Zivilisation’ wäre eine passende Definition seines Fortschrittsbegriffs. Es ging ihm um den natürlichen Fortschritt sozialer Gegenseitigkeit, das eigentliche Ziel sozialer Selbstverwirklichung. Als Potentialität ist es immer gegenwärtig, auch hier und jetzt ist es erreichbar als Spiegelung des nie endenden Strebens, die dunklen Mächte in der Natur zu erhellen. Fortschritt ist niemals historische Evolution. Er vergegenständlicht sich vielmehr, wenn die Prozesse der Zivilisation dauernde Harmonie zwischen Stadt und Land, dem urbanisierten Bauern und dem landsässigen Bürger hergestellt haben. Der Begriff Fortschritt steht also für die potentielle Vollkommenheit der Gesellschaft entsprechend der Natur des Menschen als Socius. Die Natur andererseits manifestiert sich in den schöpferischen Akten teilnahmsvoller Gegenseitigkeit, die das Ganze der Gesellschaft als offenes System der Gerechtigkeit, unabhängig vom historisch-politischen Prozess, herstellen und immer wieder herstellen. Die Socii wollen mit ihrem Handeln Glück stiften. Individuen sind glücklich, wenn die Socii glücklich sind. Zum Glück ist eine Reihe von Gütern erforderlich. Erstens braucht der Mensch als Naturwesen die Mittel für seinen Lebensunterhalt, zweitens braucht er wirtschaftliche Unabhängigkeit und drittens ein gutes Gewissen. Deshalb ist es ein Prinzip der natürlichen Gerechtigkeit, dass das Wohl des agrarischen Bereichs, der die Mittel für den Lebensunterhalt liefert, Vorrang hat vor dem der Stadt, die die Mittel für das Wohlleben liefert. Es ist ein Naturgesetz, dass der Produktionsüberschuss des Landes den Lebensunterhalt für die Stadt erbringt. Deshalb besteht der natürliche Fortschritt der Gesellschaft darin, dass eine dauerhafte Harmonie und Gegenseitigkeit zwischen Stadt und Land zustande kommt. Glücklich sind Gesellschaften, denen es gelungen ist, ihre biologischen, ökonomischen und moralischen Bedürfnisse in ihrer wahren Reihenfolge zu befriedigen. In der Gegenseitigkeit gesellschaftlicher Beziehungen ist die Möglichkeit zur Vollkommenheit ewig gegenwärtig. Gegenseitigkeit versöhnt Konkurrenztrieb und Friedenssehnsucht. Die dynamische Mitte der Natur ist die
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Gesellschaft. Die natürlichen Impulse im Verein mit den natürlichen teleologischen Intentionen der Socii ermöglichen die Vereinbarkeit der Harmonie der Natur mit der Gerechtigkeit der Gesellschaft, weil die teilnahmsvolle Einstellung der Socii aufeinander das intuitive Wissen um jene Werte impliziert‚ auf denen sowohl nützliche Kooperation als auch gerechte Organisation des gesellschaftlichen Ganzen gründen. Indem Smith die organische Natur als ‚Siegelbewahrer ewiger Weisheit’ vergeistigte, konnten Utilitarismus und Teleologie zur Übereinstimmung kommen. Der „Schöpfer der Natur“ hat Smith zufolge den Menschen die Verhaltensregeln eingepflanzt, mit denen sie sowohl über ihre eigenen moralischen Maßstäbe als auch über die der Gesellschaft verantwortlich richten können: „Der allweise Schöpfer der Natur [...] hat den Menschen [...] zum unmittelbaren Richter der Menschen gemacht und hat ihn [...] nach seinem Bilde geschaffen und ihn zu seinem Statthalter auf Erden bestellt, damit er das Verhalten seiner Brüder beaufsichtige.“37 Der Mensch als Socius oder die Gesellschaft als ein Ganzes werden so zum Beauftragten Gottes. Das soziale Ganze ist das Zentrum freier Verantwortlichkeit und wahren Gottesdienstes, weil Gott die biologischen Triebe so angelegt hat, dass sie sich in Übereinstimmung befinden mit den wahren Zielen der Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Durch diese Vergeistigung der Natur hat Gott die Gesellschaft zum Schöpfer ihrer eigenen Bestimmung eingesetzt und ihr die Verantwortung für Glück und Gerechtigkeit überlassen. Diese NaturGesellschaft ist ein rational fassbarer Kosmos, der der wissenschaftlichen Erkenntnis und Erklärbarkeit zugänglich ist. Deshalb hat Smith in der Analyse und Erklärung des sozialen Verhaltens die wissenschaftlichen Instrumente erkannt, mit deren Hilfe die Grundsätze und Regeln des guten und gerechten Lebens in Kraft gesetzt werden, damit Einsicht in Gottes schöpferische Weisheit gewonnen werden kann. Aus einer solchen Lobpreisung der Natur spricht ein wissenschaftliches Ethos, dem daran gelegen ist, auf transzendente Faktoren zur Wesensbestimmung der Gesellschaft zu verzichten. So lehnte Smith alle Theorien ab, nach denen die Motive sozialen Gebahrens nur mit Hilfe der Religion erkannt werden können. Nach seiner Überzeugung haben sowohl die Philosophie als auch der Alltagsverstand deutlich gemacht, dass nicht Theologie, sondern natürliches Pflichtgefühl das Verhalten bestimmt. Als Forscher können wir die Regeln und Gesetze erkennen und erklären, die für das Leben in dieser Welt gelten und uns die Kontrolle, aber auch die Voraussehbarkeit gesellschaftlichen Handelns ermöglichen. Unsere Verantwortung vor Gott können wir nicht wissenschaftlich bestimmen, wohl aber unsere Verantwortung für uns untereinander als Socii. 37
Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. 1, S. 193; Vgl. Smith, The Theory of Moral Sentiments, S. 203-204.
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Unserer schöpferisch-tätigen Verantwortung für das Glück der Gesellschaft können wir durch soziales Handeln genügen. Diese Verantwortung hat Gott der Gesellschaft als seinem weisen, selbständigen Platzhalter, als dem Zentrum der Natur, übertragen. Dieses mythisch-religiöse Bild des Menschen als Stellvertreter Gottes auf Erden hat Tradition. Smith war wohl der letzte, der es benützt hat, um die Stellung des Menschen im Kosmos zu umschreiben. Pico della Mirandola hatte in Über die Würde des Menschen als erster dem Schöpfergott die Worte an in den Mund gelegt: „Ich habe Dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.“f Der Renaissancemensch war zu der ebenso schonungslosen wie verzückten Einsicht gelangt, dass er als Gestalter seines Geschicks sowohl zum Erhabenen wie zum Schrecklichen fähig ist. Als Retter wie als Richter seiner selbst kann der Mensch sich erlösen oder verdammen. Für Pico della Mirandola war das Leben Passio Humana, die Summe aller Wonnen und Qualen. Der von Smith konzipierte Socius ist durch derlei radikale Alternativen nicht betroffen. Er ist nicht Schöpfer seiner selbst, sondern er handelt in eigener Verantwortung, orientiert am Sinne göttlicher Weisheit. Er kann das soziale Gleichgewicht nur deshalb herstellen, weil der Urheber der Natur selbst die eigennützigen Triebe des Individuums auf das Gemeingut aller hin ausgerichtet hat. Gutes, besonnenes Verhalten löst gute, freundliche Regungen aus. Die Natur-Gesellschaft kennt keine Alternativen. Ihre Natur ist die eines sozialen Pantheismus, ein normativer Zustand zwischen dem organischen Leben und der Welt der Geschichte. Der von Smith vertretene Mythos einer in Gott ruhenden Gesellschaft erhellt auch die Kriterien für die Selbstverantwortlichkeit und Eigenständigkeit der Gesellschaft in der Geschichte. Die Wirklichkeit jeder historischen Gesellschaft ist jedoch eine Arena, in der Interessen und Leidenschaften die Käuflichkeit und Bosheit des Menschen zur Schau stellen. Was bleibt, ist der zwar illusionslose, aber allgegenwärtige Mut des Forschers. Da er die wahren Maßstäbe der Natur kennt, kann er die Fehler und Mängel im historischen Prozess erklären, indem er f
Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Nebst einigen Briefen und der Lebensbeschreibung Pico della Mirandolas. Ausgewählt und übertragen von Herbert W. Rüssel. Amsterdam: Pantheon 1940, S. 50.
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den Wandel der Bedingungen und Umstände aufzeigt und das gestörte Gleichgewicht in allen sozialen Beziehungen offenbar macht.
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Professor Bradley und dem Verleger Alfred A. Knopf gebührt unserer Dank für diese Neuausgabe von Tocquevilles Democracy in America.1 Bradley hat die beiden Bände nicht nur ansprechend gestaltet und sorgfältig ediert, sondern auch mit einer faszinierenden Einleitung versehen. Tocquevilles Meisterwerk, das einige Jahrzehnte nicht mehr im Druck war, ist weit mehr als nur eine wissenschaftliche Glanzleistung. Es ist ein wertvoller Beitrag zum amerikanischen Humanismus und zum amerikanischen Selbstverständnis. 110 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung bleibt es die tiefgründigste und einsichtigste Studie zur amerikanischen Demokratie. Als solches ist es nicht nur ein Werk von historischer Relevanz, sondern ein wahrhaft unersetzliches und aktuelles Buch. Tocqueville stellte darin die Frage, die für das Schicksal von uns Menschen, die für Entscheidungen Verantwortung tragen, so wichtig ist: Wie können wir die Freiheit sichern, in dieser zunehmend vereinheitlichten, gleichförmigen und normierten Welt? Wer war Alexis de Tocqueville? Er wuchs als Spross einer französischen Adelsfamilie auf, die viele ihrer Angehörigen während der Terrorherrschaft der Französischen Revolution verloren hatte. Er war gefühlsmäßig dazu veranlagt, das positive und kreative Potenzial der Traditionen seines Standes zu schätzen, aber dennoch erkannte er die Notwendigkeit des Liberalismus. Anders als viele Aristokraten, die mit ihrer Akzeptanz des Liberalismus den konservativen Werten entsagten, versuchte er im Geiste Edmund Burkes, alles Wesentliche des Konservatismus mit allem Verheißungsvollen des aufkommenden Liberalismus in Einklang zu bringen. Er wollte nicht zerstören, sondern aufbauen. Dies war die Pflicht, der er sich im französischen Parlament in den Jahren 1831-1852 und in der Gesetzgebenden Versammlung 1848 voller Hingabe widmete. Als Außenminister im einzigen republikanischen Kabinett von Louis Napoléon arbeitete er hart, um zu retten, was zu retten war. Nach dem coup d’état zog er sich jedoch aus allen Staatsgeschäften zurück und widmete die ihm verbleibende Zeit dem Studium der Entstehung des modernen Frankreichs auf der Basis des absolutistischen Staates, dessen revolutionären Charakter er entdeckt hatte.
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Albert Salomon, „Democracy, Socialism and Religion”. In: Jewish Frontier 12, 6, 1945, S. 2225. Übersetzt von Claudius Härpfer und Dorte Huneke. Alexis de Tocqueville, Democracy in America, 2 Bde. Herausgegeben und eingeleitet von Phillips Bradley. New York: Alfred A. Knopf 1945.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Schon als sehr junger Mann beschäftigte er sich mit dem Problem der grundlegenden Relevanz der modernen demokratischen Revolution. Während seines Besuchs der Vereinigten Staaten 1831 gelangte er zu der festen Überzeugung, dass sich die moderne Gesellschaft unausweichlich zur Demokratie hin bewegt. In den Vereinigten Staaten realisierte er, dass die Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern die Basis des modernen sozialen Lebens ist. Er durchreiste Amerika, um sich mit eigenen Augen ein Bild davon zu machen, was eine Demokratie wirklich ist und wie sie funktioniert. In der Einleitung seines zweibändigen Buchs Über die Demokratie in Amerika beschreibt er die Beweggründe, die ihn zu seiner Reise durch die Vereinigten Staaten veranlasst hatten.a Nachdem er seine Reise beendet hatte, machte er in der Schlussbetrachtung des ersten Bandes einige überraschende Vorhersagen: Die angelsächsische Demokratie wird eines Tages zu einer großen Weltmacht aufsteigen und die Hälfte der zivilisierten Welt beherrschen. Die andere große Weltmacht wird die russische Despotie sein.b Hatte die amerikanische Demokratie ihn dermaßen beeindruckt, dass eine historische Erkenntnis für ihn zu einer persönlichen Überzeugung geworden war? Das war tatsächlich der Fall. Die amerikanische Demokratie war zu jener Zeit noch eine Frontier-Demokratie und alle ursprünglichen Elemente der demokratischen Lebensform waren noch intakt. Dieses harmonische Zusammenspiel von Tradition und Fortschritt, von konservativen und radikalen Elementen – je nachdem was für den Moment benötigt wurde –, beeindruckte Tocqueville zutiefst. Vor allem bewunderte er die sakrale Ernsthaftigkeit und die sachliche Entschlossenheit, mit der die Amerikaner immer und immer wieder Lösungen für ein Problem suchten, wenn sie mit den Ergebnissen ihrer bisherigen Anstrengungen nicht zufrieden waren. Die Entschlossenheit, mit nichts als der perfekten Lösung zufrieden zu sein, sobald sie sich ein Ziel gesetzt hatten, schien ihm die herausragende Tugend der Amerikaner zu sein. Tocqueville stellte die amerikanische Wesensart als das Ergebnis eines leidenschaftlichen Verlangens nach Freiheit und Autorität dar. Die Wurzeln dafür sah er im englischen Recht, im religiösen Nonkonformismus der Puritaner und im Pioniergeist einer Kolonialgesellschaft. Wieder und wieder betonte er die unauflösbare Einheit materieller und geistiger Haltungen, die der Eroberung der neuen Welt förderlich war. Für ihn war diese Einheit keine Form der Heuchelei, sondern vielmehr ein Ausdruck der Vergeistigung des Weltlichen und eine Säkularisierung des inneren a
b
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1. Herausgegeben von Jacob Peter Mayer, Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. Übersetzt von Hans Zbinden. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1962, S. 5-19. Ebd., S. 478.
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Lebens, die für die moderne Kolonialgesellschaft charakteristisch war. Herrschaft über die Natur und die dingliche Welt war ein Ausdruck menschlicher Freiheit. Tocqueville war fasziniert von dieser natürlichen Demokratie, die ein Ergebnis der autonomen regionalen und lokalen öffentlichen Körperschaften war. Er war der erste ausländische Besucher der Vereinigten Staaten, der den tiefgründigen Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Demokratie erkannte. Er glaubte, dass in den Vereinigten Staaten die auf die kolonialen Wurzeln gepfropften englischen Traditionen zu einem Baum der Freiheit aufblühen, der die Demokratie als Urbild aller sozialen Beziehungen: als Lebensform in die Welt bringen werde. In Amerika wurde die Demokratie als soziale Wesensart der freien und unabhängigen Menschen eingeführt. In Europa kamen die Demokratien während der Revolutionskämpfe gegen die alte Unterdrückung durch das feudalistische Militärregime zum Vorschein. Dementsprechend war es unvermeidlich, dass diese Revolutionen mit Hass, Rachegelüsten und Neid belastet waren und die revolutionären Massen eine herrschende Mehrheit etablieren würden, die im Wesentlichen nicht weniger despotisch sein würde, als die zu Fall gebrachte Minderheit. Tocqueville glaubte, dass die Amerikaner ihre Demokratie durch ihre Tradition, ihre Religion und ihr Rechtssystems gesichert hatten, dementsprechend sei sie frei von jenem Ressentiment, das im sozialen und politischen Leben in Europa eine wichtige Rolle spielte. Folglich hoffte er, dass in Amerika die Freiheit niemals durch das Aufkommen einer radikalen Massendemokratie gefährdet werden würde. In der zunehmenden Bedeutung der amerikanischen Demokratie sah er einen Garant für die Erhaltung politischer Freiheit. Erst im zweiten Band seiner Studie über die amerikanische Demokratie fasste Tocqueville die Gefahr einer sich dialektisch entwickelnden, aus den inneren Spannungen ihrer ökonomischen Konflikte entstehenden bürgerlichen Demokratie ins Auge.c Man muss jedoch hinzufügen, dass der zweite Band weniger von Amerika handelt, sondern vielmehr von Europa. Dieses Buch ist der erste Versuch einer soziologischen Studie des revolutionären Einflusses der Demokratien auf die Denkweisen, das Gefühlsleben, die soziale Beziehungen und deren moralische Beweggründe. Durch einen detaillierten Vergleich zwischen der aristokratischen und der demokratischen Welt verknüpft Tocqueville diesen Wandel mit der demokratischen Revolution und analysiert deren Bedeutung für eine mobile, industrielle Gesellschaft. Im Laufe dieser Analyse kommt er zu einigen erstaunlichen Vorhersagen. Er sah einige der wichtigsten Veränderungen in der Kriegsführung und der Kriegstheorie, in der Religion und im Geschäftslec
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 2. Herausgegeben von Jacob Peter Mayer, Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. Übersetzt von Hans Zbinden. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1962.
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ben, in Philosophie und in Literatur, in der Lyrik und der wissenschaftlichen Methodik voraus, die im nachfolgenden Jahrhundert stattfinden sollten. Hochinteressant sind auch seine Betrachtungen über den ökonomischen und sozialen Wandel, den die Moderne erwecken würde. Mit seinem ausgeprägten Sinn für die Wirklichkeit bemerkte er, dass durch die Akkumulation von Kapital alle soziale und politische Gleichheit nur noch auf der Gesetzesebene stattfand, ungeachtet der von den unabhängigen Geschäftsleuten erduldeten ökonomischen Unbeständigkeiten. Der Soziologe Tocqueville erkannte den Aufstieg einer Wirtschaftselite, deren Streben nach ökonomischer Macht eine fortwährende Gefahr für die Demokratie darstellte. Er verglich die neue Macht mit der alten Feudalherrschaft. Er erkannte, dass ein industrieller Feudalismus unweigerlich zum Aufstieg einer herrschenden Klasse führen muss, die erbarmungsloser und brutaler sein wird, als das alte Militärregime. Er machte einige sehr treffende Vorhersagen über die unweigerliche Entmenschlichung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern in der industriellen Gesellschaft. Sowohl Arbeiter als auch Unternehmer hatten sich von den alten Traditionen der vorindustriellen Gesellschaft losgesagt, in der es noch Raum für unabhängige Handwerker und Bauern gegeben hatte. Diese negative Freiheit hat eine soziale Ordnung erzeugt, die den Arbeiter schonungslos all den Notlagen eines unkontrollierbaren Konjunkturzyklus aussetzte. Dieses Problem schien Tocqueville so bedeutsam zu sein, dass er eine detaillierte Analyse der verschiedenen Typen von Arbeitern unternahm.d Er begrüßte die hauptsächlich in kleineren Städten aufkommenden Arbeiterorganisationen in der Fertigungsindustrie, die sich für Lohnerhöhungen und verbesserte Arbeitsbedingungen einsetzen. Weniger hoffnungsvoll war er hinsichtlich der Arbeiter in der Schwerindustrie. Hier stand einer kleinen Anzahl von sehr mächtigen Arbeitgebern eine große Anzahl von sehr armen Arbeitnehmern gegenüber, die nicht mehr zurück zu ihren Familien aufs Land konnten. Folglich konnten die Herren der Schwerindustrie ihren Arbeitern ungehindert die Bedingungen diktieren. Ebenso alarmiert war er von den vielen Bauern, die den Schutz der patriarchalisch strukturierten, ländlichen Ordnung verloren hatten. Der Landarbeiter, den man seines Bodens beraubt, wird zu einem heimatlosen Proletarier. Diese Umwälzungen gaben Tocqueville, der in politischen, nicht in ökonomischen Begriffen dachte, Anlass zu größter Sorge. Er sah ganz klar, dass politische Freiheit für den Arbeiter nur eine negative Freiheit war: das ‚Privileg’, die freie Beute des Stärkeren zu sein. Dies führte dazu, dass er in seinen Parlamentsreden unaufhörlich die herrschende Mittelklasse tadelte, zum Beispiel die kapitalistische Elite aus Bankiers und Fabrikanten, denen er ökonomischen Egoismus und politisches Unverständnis vorwarf. d
Ebd., S. 169-178.
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Es ist dies ein Phänomen von größter Wichtigkeit für das Verstehen unserer eigenen Situation. Tocqueville war kein Radikaler und fernab des Verdachts, auch nur einen Hauch von Sympathie für die sozialistischen Massen in Paris zu empfinden. In den Traditionen seines Standes erzogen, wusste er jedoch, dass es sich eine politische Elite nicht leisten kann, den Staat als Instrument der Ausbeutung zu missbrauchen, und es deshalb vorziehen muss, ökonomische Interessen zu opfern, um ihre politische Überlegenheit, ihre Autorität und ihre Freiheit zu sichern. Der Aristokrat darf die moderne Bourgeoisie nicht als politischen Stand ansehen, weil sie den Staat als Wirtschaftsunternehmen benutzt und dabei nicht realisiert, dass er ein Ganzes ist, dessen einzelne Teile von den Herrschenden unaufhörlich reintegriert werden müssen. Die Bourgeoisie neigt zur Vorstellung des Staates als Ergebnis einer Berechnung der verschiedenen Interessen mit der maßgeblichen Macht in den Händen der Gruppe mit den größten Investitionen. Folglich ist Tocqueville beides: Antibourgeois und Antisozialist. Er ist überzeugt, dass die Situation nur zwei Alternativen offen lässt: eine liberal-soziale Demokratie oder sozialen Despotismus. Die moderne Bourgeoisie ist doppelt bedroht, von den im obigen Sinne ökonomisch ‚privilegierten’ Arbeitern und genauso von der Aristokratie, die im selben negativen Sinne politisch ‚privilegiert’ ist. Tocqueville kritisierte die Herrschaft beider Gruppen, weil sie die Maschinerie der Demokratie benutzen, um eine antidemokratische Ordnung zu etablieren, die Revolutionen unvermeidbar macht. Die Französische Revolution führte das Prinzip der Demokratie in die moderne Welt ein. Tocqueville war klar, dass die Revolutionen des 19. Jahrhunderts kein Ende nehmen würden, so lange die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen nicht an den politischen Prinzipien der Demokratie ausgerichtet würden. Und trotz dieser Überzeugung – oder sollten wir sagen: gerade deswegen – war Tocqueville kein Sozialist. Er wusste, dass die sozialen Bewegungen seiner Zeit revolutionäre Bewegungen waren, denn ihre Motivation war nicht nur auf das tägliche Brot gerichtet. Diese Bewegungen werden sich als wahrhaft explosiv erweisen, wenn sie über politische Kriterien verfügen, kraft derer sie ihre eigene Unsicherheit zu ermessen vermögen – dies sind die Grundsätze der Demokratie. Als ein Mann, der von den alten politischen Traditionen förmlich imprägniert war, unterschätzte er die Möglichkeiten politischer Grundsätze nicht, besonders, wenn diese noch nicht voll realisiert waren. Seine Prognose einer sozialistischen Revolution war die eines Staatsmannes, nicht die eines Ökonomen. Der liberale Tocqueville wurde in seinem Denken radikal, indem er erklärte, dass die demokratische Revolution nur dann vollständig wäre, wenn der moderne Mensch genügend Mut gesammelt hätte, um das absolute Recht auf Eigentum im Zaum zu halten und im Einklang mit den demokratischen Grundsätzen die Verbreitung des öffentlichen Wohlstandes auf sich zu nehmen. Er war der erste politische
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Denker, der klar erkannte, dass die 1789 begonnene Revolution erst dann zur Ruhe kommen kann, wenn die entfesselte ökonomische Gesellschaft nach den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit geordnet ist.e Der Sozialismus war ihm nicht weniger ein Dorn im Auge als die Herrschaft des Bürgertums. Beides waren die politische Macht aktuell oder potentiell missbrauchende ökonomische Gruppierungen, die versuchten, ihrer Klasse eine Monopolstellung zu verschaffen, was zwangsläufig zu Tyrannei und Revolution geführt hätte. Die sozialistischen Parteien waren bereit, einen neuen Despotismus zu errichten. Tocqueville war zutiefst betroffen von diesem neuen Despotismus, weil er davon überzeugt war, dass die soziale Demokratie nicht weniger von der Vorsehung beschlossen sei als die politische es gewesen war. Jedoch wusste er ebenso, dass derartige Entwicklungen alternative Lösungen provozieren können, schlechte ebenso wie gute. Eine soziale Demokratie wird nur unter der Bedingung eine liberale sein, dass ein religiöser Grundsatz einen Richtwert bereitstellt, der jedem Menschen individuelle Freiheit garantiert. Um Raum für die mannigfaltigen Formen individueller Freiheit zu lassen, muss in einer sozialen Demokratie den gleichmacherischen Maßnahmen eine klare Grenze gezogen werden. Dies schien Tocqueville nur unter der Voraussetzung möglich, dass demokratische Gesellschaften einen grundlegenden Respekt vor der Einzigartigkeit des menschlichen Individuums bewahren. Ohne den Glauben an die Erhabenheit und den Wert jeder einzelnen Seele kann das soziale Eintreten in die Entwicklung der modernen Demokratie nicht als Instrument der Freiheit dienen. Er war sich bewusst, dass nur die Religion und das Spirituelle die Sicherung des Friedens in einer Demokratie ermöglichen können.f Er war überzeugt, dass der Sieg der sozialistischen Bewegungen als ästhetische und materialistische Weltanschauung unvereinbar mit persönlicher Freiheit ist. Im Gegensatz dazu wird persönliche Freiheit für eine Gruppe, die das Individuelle als bloße Funktion des Kollektivs betrachtet, ein sinnloser Ausdruck. Sozialismus scheint ein sozialer Selbstzweck zu sein und kein Mittel zur Freiheit der spontanen menschlichen Person. Folglich ist der Sozialismus dazu bestimmt, nicht als Gerüst einer freien Gesellschaft verwirklicht zu werden, sondern als absolute Tyrannei. Er stimmte mit den Sozialisten überein, dass die soziale Republik die Gesellschaft der Zukunft sein würde, aber er beharrte darauf, dass sie demokratisch und religiös sein müsse. Die soziale Republik muss darauf abzielen, menschliche Freiheit und soziale Notwendigkeit zu versöhnen. Verantwortungsvolle politische Führer und feinfühlige religiöse Denker sind sich der unerbittlichen Wahrheit bewusst, dass nur eine soziale Umgestaltung der modernen Gesellschaft die Voraussetzungen
e f
Ebd., S. 270-283. Ebd., S. 32-40.
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schaffen könnte, unter denen jeder Mensch gleichermaßen persönliche Freiheit genießen kann, als Bürger und als ein Kind Gottes. Um dieses Ziel zu erreichen, war Tocqueville zu jedem Opfer bereit. Gleichzeitig erinnerte er seine Zeitgenossen (wie auch uns heute noch) immer wieder daran, dass die soziale Demokratie nicht als Selbstzweck gesehen werden darf, sondern in den Dienst einer spirituellen Philosophie gestellt werden muss. Alle seine sozialen Analysen bringen ihn zu seiner Hauptthese zurück, dass nämlich die Größe und Würde der individuellen Seele der Schöpfer ihrer eigenen Möglichkeiten ist. Bis zu seinem letzten Tag blieb die Freiheit der menschlichen Seele der leitende Grundsatz all seiner politischen und sozialen Theorien. Im Namen dieses höchsten Wertes lehnte er die Rassentheorie seines jungen Freundes Gobineaus grundsätzlich ab. Kurz vor seinem Tod schrieb er einen Brief an Gobineau, der eines der großen Dokumente von Menschlichkeit und Liberalismus bleibt. Er bat Gobineau, seine Rassentheorien nicht länger mit ihm zu diskutieren. Dann fügt er hinzu: „Du siehst in unseren Zeitgenossen übergroße Kinder, die völlig degeneriert und schlecht erzogen sind. Also möchtest Du sie an der Leine führen mit Hilfe des Theaters, martialischer Musik, Spektakel und glänzender Uniformen, die nur zu oft an die von Hausdienern erinnern. Ich glaube wie Du, dass die Armut und Schwäche unserer Landsleute hauptsächlich auf einen Mangel an Erziehung zurückzuführen sind. Allein ich bin der festen Überzeugung, dass eine bessere Erziehung diesen Missstand beheben könnte. Man sollte einen solchen Versuch nicht versäumen. Denn es ist möglich, den Menschen all das Gute zu entlocken, wenn man an ihren Anstand und ihren gesunden Menschenverstand appelliert. Ich möchte sie wirklich wie menschliche Wesen behandeln. Ich mag mich irren. Aber ich bin bereit, die Folgen meiner Prinzipien zu tragen, und dies mit Eifer und tiefer innerer Befriedigung. Du verabscheust unsere menschliche Rasse in jedem Fall. Du glaubst, dass sie nicht nur dem Untergang geweiht ist, sondern auch unfähig, sich zu regenerieren. Unsere Rasse scheint Dir für die Sklaverei bestimmt zu sein. Daher empfiehlst Du, diesen Pöbel unter das Gesetz der Peitsche zu zwingen – ohne freilich Deinen eigenen Rücken unter demselben Prinzip zu krümmen. Für mich, der ich mich weder dazu berechtigt sehe, noch Lust dazu habe, solche Ansichten über meine Rasse und mein Land zu vernehmen, denke ich nicht, dass man darob verzweifeln sollte. In meinen Augen konstituieren sich die menschlichen Gesellschaften ebenso wie die einzelnen Personen einzig durch den Gebrauch der Freiheit. Dass die Freiheit in demokratischen Gesellschaften wie den unseren sehr viel schwieriger zu begründen und aufrechtzuerhalten ist als in gewissen aristokratischen Gesellschaften, die uns vorhergegangen sind, habe ich immer gesagt. Aber dass dies unmöglich wäre – solches zu denken werde ich nie die Kühnheit besitzen. Hier die Hoffnung auf ein Gelingen
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aufzugeben, ich bitte Gott, dass ich mich nie von einer solchen Vorstellung leiten lasse. Nein, ich glaube nicht und niemals, dass die menschliche Art, die an der Spitze der für uns sichtbaren Schöpfung steht, zu einer solchen Herde von Geschlagenen geworden ist, wie Sie es uns sagen, und dass es nichts mehr gebe als sich, ohne Zukunft und mittellos, einer kleinen Zahl von Hirten auszuliefern, die mitnichten die besseren Tiere sind als wir, ja oftmals die schlimmeren. Sie gestatten, dass ich in Sie weniger Vertrauen habe als in die Güte und Gerechtigkeit Gottes.“ g Tocqueville verfügte über verblüffende Einsichten hinsichtlich der zukünftigen Relevanz von Gobineaus Rassentheorien. In einem seiner Briefe prophezeite er, dass es in Deutschland sein werde, wo Gobineaus Lehre Erfolg haben würde. Deutschland sei das Land, das es immer vorgezogen habe, die menschliche Gesellschaft als Brutplatz für Tiere anzusehen; hier werde diese Lehre sicher Zuspruch finden. Seit den Anfangstagen seiner literarischen und politischen Karriere widmete sich Tocqueville der Aufgabe, Dinge in Einklang zu bringen, die ihm als Einheit erschienen, aber in der wirklichen Welt zerbrochen waren. Die Konservativen, die sich auf der Seite Gottes, der Tugend und der Tradition sahen, standen den gerechten, liberalen Ansprüchen des Fortschritts halsstarrig gegenüber. Die Fortschrittlichen wiederum hatten den Respekt vor und den Glauben an das Göttliche und absolute Werte verloren. Tocqueville sah sich vor die Aufgabe gestellt, den unnatürlichen Bruch zwischen diesen sich ergänzenden durch sein Leben und Werk zu heilen und dadurch die natürliche Harmonie aus Autorität und Freiheit, Unterwerfung und Herrschaft, Gott und Vernunft wiederherzustellen. Er betonte wiederholt, dass er keiner Klasse oder Partei diene, sondern nur der menschlichen Würde und der Freiheit. So steht der moderne Mensch vor der Alternative: totalitäre Diktatur oder soziale Demokratie auf religiöser Basis.
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Alexis de Tocqueville und Arthur de Gobineau, Correspondence 1843-1859. Herausgegeben von Ludwig Schemann. Paris: Plon 1908, S. 312-313.
Hugo GrotiusÜ
Hugo Grotius starb am 29. August 1645 in einer kleinen Hafenstadt an der Ostsee, versunken in den stillen Herzschmerz der Einsamkeit. Fernab von Freunden und Verwandten war er alleine mit seinen Gedanken. Er war eingesperrt und aus seinem Heimatland verbannt worden, von dem er nicht ohne Schmerzen in der Einleitung seines bekanntesten Werkes De jure belli ac pacis schreibt: „Auch drängt es mich, nachdem ich früher in öffentlichen Ämtern mit dem reinsten Eifer für die Rechtswissenschaft gewirkt hatte, jetzt, wo mich das Vaterland, das ich durch so manche Tat höher gehoben habe, in unwürdiger Weise von sich gestoßen hat, der Wissenschaft wenigsten durch häuslichen Fleiß und Eifer zu nützen.“a Verloren in seiner Einsamkeit schien es, dass er und sein gewaltiges Wissen niemandem mehr von Nutzen waren. Nachdem ihn die schwedische Königin, für die er als Botschafter im Frankreich Richelieus und Mazarins tätig war, abgesetzt hatte, konnte er nicht länger mit seinen Ideen zur Aufklärung jener niederen Begierden beitragen, von denen sich die Staatsoberhäupter leiten ließen. Kein Wunder also, dass er sich kurz vor seinem Tod die Frage stellte, worin überhaupt der Sinn seines enzyklopädischen Wissens liege, wenn es ihn nur aus der Gesellschaft ausschloss und ihm die Möglichkeit nahm, auf andere Menschen einzuwirken. Dass wir ihn heute, nach 300 Jahren, in unser Gedächtnis rufen müssen, ist die Antwort auf diese Frage, die weder er noch irgendjemand sonst an seinem Totenbett beantworten konnte. Wir erinnern uns nicht nur an ihn wegen seiner umfassenden Bildung, die Theologie, Bibelwissenschaft und Bibelexegese, Literatur und Geschichte, insbesondere Rechtsgeschichte, sowie Rechtsphilosophie und die Grundsätze des Völkerrechts abdeckte – eine derartige Spannweite war im 17. Jahrhundert immer noch möglich, wobei nicht gesagt werden soll, dass seine Ideen und Methoden immer eigenständig waren. Wir müssen ihn heute zu Rate ziehen, weil er der Welt weit mehr als nur wissenschaftliche Entdeckungen und methodologische Neuerungen gegeben hat: Er schenkte ihr ein großes Herz, das von ehrenhaften Überzeugungen und einem reinen Glauben erfüllt war.
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Albert Salomon, „Hugo Grotius”. In: Jewish Frontier 12, 1945, S. 29-31. Übersetzt von Claudius Härpfer und Dorte Huneke. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens [Paris 1625]. Neuer deutscher Text übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Walter Schätzel. Tübingen: Verlag J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1950, S. 37 (Vorrede Abs. 30).
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Seine Menschenliebe ist das Band, das sein facettenreiches Werk zusammenhält. Sie war es, die seiner Suche nach den Grundbausteinen des sozialen Lebens die Richtung gab, nämlich die Einheit, die Kontinuität und den Erhalt des Staates, der Gesellschaft, der Religion und der Kirche zu sichern. Grotius sah, wie durch die religiösen Reformationen und die sozialen und politischen Revolutionen seiner Zeit die Allgemeingültigkeit des europäischen Erbes zerstört wurde. Zutiefst beunruhigt bemerkte er, dass die neuen Religionen in ihrem Begriff des göttlichen Wesens nicht weniger irrational waren als Machiavellis Vorstellung eines vorbestimmten Schicksals.b Ihn erschütterte die prangende Anarchie der ‚modernen’ souveränen Nationalstaaten, die sich unter dem zunehmenden Einfluss wissenschaftlicher Technologien und der Finanzwirtschaft in den urprünglichen Kriegszustand aller gegen alle zurückentwickelten. „Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegsführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten. Man greift aus unbedeutenden oder gar keinen Gründen zu den Waffen, und hat man sie einmal ergriffen, so wird weder das göttliche noch das menschliche Recht geachtet, gleichsam als ob auf Befehl die Wut zu allen Verbrechen losgelassen worden wäre.“c Sein Lebenswerk war gegen die Anarchie und den Nihilismus in Staat, Gesellschaft und Religion seiner Zeit gerichtet. Konträr zu diesen Entwicklungen, aber konform mit den intellektuellen Führern seiner Zeit, schuf er sein Werk. Sein Ziel war es, die grundlegende Struktur der Geschichte zu verstehen, indem er sich die Einheit in ihrer Vielfalt vor Augen führte, egal wie verwirrt und verwirrend die historischen Erscheinungen auch auf die wirken mögen, die mangels Aufklärung lediglich individuelle Differenz, nicht aber gemeinsame Strukturelemente wahrzunehmen in der Lage sind. In der wesenhaften, sich selbst transzendierenden Natur des Menschen entdeckte dieser aufgeklärte, erleuchtete Geist die Einheit und Universalität der Menschheit. Er verband die klassischspirituellen Traditionen der Stoa, Ciceros, des Judentums und der Neu-Scholastik mit der Moralität des christlichen Humanismus und des Laienpietismus der liberalen Arminianer. Auf diese Weise vereinte er, was die Realität auseinander gerissen hatte: Recht und Moral. Grotius stimmt mit Machiavelli vollkommen darin überein, dass man den Menschen betrachten muss, wie er ist, nicht wie er sein sollte. Er verneint jedoch, dass alle Menschen von Natur aus ausschließlich egoistisch sind, wie uns
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Niccolo Machiavelli, „Vom Fürsten“. In: Niccolo Machiavelli, Vom Fürsten – Kleinere Schriften. Gesammelte Schriften in fünf Bänden, Bd. 2. Unter Zugrundelegung der Übersetzungen von Johann Ziegler und Franz Nicolaus Baur herausgegeben von Hanns Floerke. München: Georg Müller 1925. Grotius, De jure belli ac pacis, S. 37 (Vorrede Abs. 28).
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Machiavellis Verallgemeinerung glauben lassen möchte.d Er besteht vielmehr darauf, dass gerade das Nützlichkeits- und Praktikabilitätsdenken, sofern es vernunftgeleitet ist, den Menschen nicht zu Krieg und Gewalt treibt, sondern zu Frieden und Ordnung. Das Leitprinzip seiner Theorie der Menschheit ist in den folgenden Worten umrissen: „[D]er Mensch ist nicht bloß ein Lebewesen, sondern das höchste Lebewesen, und der Unterschied von allen anderen lebenden Wesen ist weit größer als die Unterschiede zwischen den übrigen Gattungen. Dies beweisen viele dem menschlichen Geschlecht eigentümliche Tätigkeiten. Zu diesen gehört der gesellige Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen, wie die Stoiker sagten.“e Die menschliche Rationalität beinhaltet ein Rechtsbewusstsein, das man in gewisser Weise als angeborene Rechtstreue bezeichnen könnte, welche eine moralische Persönlichkeit ausmacht. Dies ist eine mögliche Auffassung der menschlichen Natur, gleichermaßen real und empirisch wie Machiavellis Tyrannen. Grotius würde noch weitergehen und sagen, dass die von Machiavelli und Hobbesf beschriebenen Menschenbilder erst auftauchen können, nachdem die wahre Natur des Menschen und der Gesellschaft und damit das Recht zerstört wurden. Entsprechend ist das Werk De jure belli ac pacis nur teilweise ein Beitrag zum internationalen Recht. Der größte Teil ist der erste Versuch eines systematischen, aus der sozialen Natur des Menschen abgeleiteten Naturrechts. Soziabilität ist eine empirische Tatsache und die dazu ins Naturrecht eingegangenen Imperative können aus dem menschlichen Verstandesvermögen hergeleitet werden, ohne den Zwang, sich auf Offenbarung und Theologie berufen zu müssen. Streng genommen beinhaltet das Naturrecht nur Vorschriften, die auf der rationalen und sozialen Natur des Menschen basieren: Gott zu ehren, keinem Unschuldigen etwas zu Leide zu tun, Verträge einzuhalten und Unrecht zu bestrafen. Dies sind die Mindestanforderungen, die Gesellschaft möglich machen. Folglich werden ebendiese benötigt, wenn eine Gesellschaft unter Druck gerät. Alles darüber Hinausgehende fällt unter das ius voluntarium divinum, das positive göttliche Recht. Dieses enthält die selbstlose Liebe gegenüber dem Nächsten, Gutmütigkeit, Sanftmut, Bescheidenheit und Keuschheit. Es bezieht sich auf alles, was der Vervollkommnung der menschlichen Natur dient. Aber die genannten Tugenden können nicht erzwungen werden, sie können nur als Empfehlung ausgesprochen und als Normen aufgestellt werden. Wenn sich der Mensch vervollkommnen d e f
Machiavelli, „Vom Fürsten“, S. 61-105. Grotius, De jure belli ac pacis, S. 32 (Vorrede Abs. 6). Thomas Hobbes, Leviathan oder von Materie, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben von Jacob Peter Mayer. Zürich, Leipzig: Rascher 1936; Thomas Hobbes, „Vom Menschen“. In: Thomas Hobbes, Lehre vom Menschen und vom Bürger. Herausgeben von Max Frischeisen-Köhler. Leipzig: Meiner 1918, S.1-61.
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soll, dann gelingt ihm das nur, wenn die Gesellschaft – vertreten durch den Staat – die Bedingungen schafft, unter denen er sich, durch die unaufhörliche Pflege und die Wiederherstellung von Frieden und Recht, zum Guten und Wahren hin entwickeln kann. Die Möglichkeit eines Krieges ist immer gegeben, aber gewöhnlich könnte er durch Vermittlung und Schlichtung verhindert werden, wenn sich die Menschen mehr von ihrer rationalen Sachlichkeit leiten ließen als von ihren Leidenschaften. Frieden ist das höchste Ziel jeder Gesellschaft, denn er ermöglicht den Bürgern, eine menschliche Persönlichkeit auszubilden, die durch die unmittelbare Erfahrung und die Kenntnis des Göttlichen und der Natur ihre Vervollkommnung erlangt, wie kein Staat sie hervorbringen kann. Was Grotius, als wahrer Erbe des Erasmus, einer Welt, die ihren Sinn verloren hatte, in Form erleuchtender Menschlichkeit gab, war eine Beschreibung der den Menschen möglichen Geistigkeit. In dieser Form menschlichen Daseins ist es den Menschen kraft eigener Anstrengungen und Entwicklungen möglich, Frieden und Recht zu sichern, sofern sie in einem universalen Glauben an die Schöpfungskraft des einzigen, gütigen und gerechten Gottes vereint sind. Über zwei Jahrhunderte lang feierte man ihn als den Begründer des Naturrechts, einer Wissenschaft, die die soziale Existenz des Menschen als eigenständige Sphäre scharf von der religiösen und der spirituellen trennt. Wenn wir nun anlässlich seines dreihundertsten Todestages seiner Bedeutung für uns gewahr werden, ist es an der Zeit, diesen alten Irrtum zu korrigieren: Er ist nicht der Begründer des modernen Säkularismus. Im Gegenteil, mit seinen radikalen Analysen der geistigen, gottverbundenen Natur des Menschen hat er Spiritualität in eine säkulare Welt gebracht. Wir selbst haben Anteil am Göttlichen und es ist die nie endende Pflicht des Menschseins, die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Nur deshalb konnte er – ungeachtet der Wirklichkeit, die er um sich herum wahrnahm – am Ende seines Buches, von einem festen Glauben getragen, feststellen, die Menschen seien carissimum Deo animal – Gottes liebste Geschöpfe.g Als Juden haben wir besondere Gründe, die Erinnerung an Grotius wach zu halten. Er lebte in einer Zeit, in der die Juden in den Niederlanden und Italien mit offener Sympathie empfangen wurden, nachdem sie aus Spanien und Portugal vertrieben und verbannt worden waren. Die Vertreter des Staates verfolgten dabei utilitaristische Motive. Die Humanisten und die Wissenschaftler hingegen erhofften sich von einem Gedankenaustausch mit den jüdischen Gelehrten und Rabbinern neue Einblicke in den Talmud und die Kabbala, um ihren Horizont zu erweitern und dadurch zu einer wahrhaftigeren Quellenkritik und Bibelexegese zu gelangen. Über einen anderen holländischen Gelehrten lernte Grotius den großen Menasseh ben Israel kennen. Daraus entwickelte sich eine langjährige g
Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, S. 598 (Drittes Buch Kap. 25 § VIII).
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Korrespondenz zwischen beiden Denkern. Grotius rezipierte und zitierte Menassehs Arbeiten (insbesondere Conciliator sive de convenientia locorum S. Scripturae, quae pugnare inter se videntur [1632])h in seinen exegetischen Schrifteni und in De jure belli ac pacis.j Durch diesen Austausch und eigene Studien erlangte er eine ungewöhnliche Vertrautheit mit der hebräischen Sprache und Literatur, so dass ihm die jüdische Art der Schriftauslegung ebenso vertraut war wie die christliche. Seine Konkurrenten nannten ihn einen Judenfreund und warfen ihm vor, die jüdischen Exegesemethoden den christlichen vorzuziehen. Wie auch immer das gewesen sein mag, sowohl in seinen apologetischen Arbeiten über die Wahrhaftigkeit der christlichen Religion als auch in all seinen Schriften über eine universale Religion des Geistes, des Schöpfergottes und der unsterblichen Seele, spricht Grotius vom Judentum stets als dem Grundstein jener natürlichen Religion des Geistes, der aus der Vielfalt historischer Religionen im Rahmen seiner kritisch-theologischen, antikischen und sinnverstehenden Analysen religiöser Dokumente immer wieder hervorstach.k Unsere jüdische Religiosität verlangt von uns, die Erinnerung an solch einen Freund aufrecht zu erhalten. Neben Dankbarkeit auf dieser historischen Ebene sind wir mit ihm noch in einer tieferen Schicht unseres Schicksals verbunden. Gerade weil wir ein Volk ohne Macht sind, sind wir uns des fragwürdigen Wertes der Macht als eines unabdingbaren Werkzeugs zur Sicherung von Recht und Frieden bewusst. Deshalb können wir die Einsichten Grotius’, für den Frieden die allumfassendste und vollendetste Form des Göttlichen war, verstehen und nachvollziehen. Im göttlichen Frieden liegt Gottes Gerechtigkeit und in göttlicher Gerechtigkeit ruht Gottes Frieden. Sie transzendieren das Weltliche und sind zugleich Teil seiner. Als ewige Wahrheiten sind sie transzendent und immanent, da das natürliche Licht der Vernunft in uns leuchtet und uns an Gottes ewiger Wahrheit teilhaben lässt. Wir sind zum Guten befähigt, also zum Recht. Wie unvollkommen unser Frieden und unser Recht auch sein mögen, sie sind ein bescheidener Beitrag zu Seinem Königreich. Wir sind Grotius zutiefst zu Dank verpflichtet, weil er die einfachen Erfolge von Gewalt und Brutalität ignorierte und statt dessen eine andere Möglichkeit des menschlichen Daseins in seiner realen Kraft zeigte. Er war dazu h
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Menasseh ben Israel, Conciliator sive de convenientia locorum S. Scripturae, quae pugnare inter se videntur. Opus ex vetustis, & recentioribus omnibus Rabbinis, magnâ industriâ, ac fide congestum. Amsterdam: Selbstverlag 1632. Hugo Grotius, Annotationes in Vetus & Novum Testamentum juxta editionem amstelædamensem. Herausgegeben und eingeleitet von Samuel Moody. London: Jos. Smith, Guil. Mears, Jos. Pote, & N. Moody 1727. Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres. Hugo Grotius, De veritate religionis Christianæ. Von der Warheit der christlichen Religion. Übersetzt von Robert Opitz von Boberfeldt. Breßlau: Fellgibel 1690.
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fähig, weil er wusste, dass die großen und maßgeblichen Wahrheiten elementar sind. Das Licht der Vernunft, das mal heller und mal dunkler in uns leuchtet, ist ein natürliches Licht, ein lumen naturale, aber noch als solches trägt es den Geist Gottes in sich. Grotius wusste, dass Recht ein Modus des Guten ist, denn Geist und Logos sind in der entscheidenden Untersuchung eins und untrennbar. Frieden und Gerechtigkeit sind nur zwei Aspekte der Entfaltung des Göttlichen. Doch noch eine weitere Besonderheit seines Denkens verbindet ihn mit der heutigen Realität und mit uns Juden. Grotius erkannte in der Ausweitung der Rechtssphäre das einzige Mittel, um einen gerechten Frieden zu sichern, wenn neue soziale Kräfte auftauchten und danach strebten, ihren Platz, ihren Zweck zu finden. Ohne eine Rechtsordnung kann ihnen das nicht gelingen, denn allein eine solche Ordnung macht einen sinntragenden Frieden möglich. Recht und Ordnung basieren auf einer unersetzlichen Vorbedingung: auf dem Geist der Moralität in einem Recht, das der Gesellschaft den Rahmen setzt. Solange menschliche Gesellschaften sich empören sind und tätig werden, wenn einer Person oder Gruppe Unrecht widerfährt oder deren sittlichen Rechte grob ignoriert werden, solange können auch Recht, Moral und Frieden sich als der innere Sinn des menschlichen Strebens zeigen. Wir können nur hoffen, dass die Völker und Staatsmänner, die sich heute um eine neue Rechtsordnung und Frieden bemühen, sich vom Geist des Hugo Grotius inspirieren lassen mögen.
Die deutsche SoziologieÜ
I. Einleitung: Über die Klassifizierungsprinzipien Für gewöhnlich klassifizieren wir in der Philosophie und den Wissenschaften gemäß einer systematischen Problemstellung oder des Zusammenhangs bestimmter Denkweisen. Aus dieser Perspektive wäre es ebenso lächerlich, von der deutschen Physik zu sprechen, wie das Wesen der amerikanischen oder der französischen Philosophie zu diskutieren. Dennoch existiert ein Klassifizierungsprinzip nach der Maßgabe nationaler Unterschiede. Setzt man sich ernsthaft damit auseinander, so bezeichnet es einen wissenschaftlichen oder philosophischen Referenzrahmen, geschaffen von einer Nationalgesellschaft, in dem sich universelle Problemlagen in individueller Form entfalten. Nationale Unterschiede des wissenschaftlichen Denkens sind ein Phänomen der Moderne, mithin ein historisches Phänomen. Sie sind dem Philosophen des Mittelalters ebenso unverständlich wie dem Moralisten der Aufklärungsepoche, die ihr Leben der universalen Wahrheit widmeten. Erst die Gesellschaft der Moderne hat, nachdem sie einmal die Teilhabe an der Regierung erlangt hatte, besonderen Wert auf nationale Unterschiede gelegt. In der Tat, der Hang, die Tätigkeit des Geistes als Manifestation einer Nationalgesellschaft zu erachten, ist spezifisch modern. Er entstand mit der Romantik und den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Die Soziologie im Besonderen erscheint in ihren Anfängen als Manifestation der spezifischen soziohistorischen Situation der französischen Gesellschaft. Es ist berechtigt, wenn der Ideengeschichtler von französischer Soziologie spricht, um die Besonderheit der Schule Saint-Simons und der Arbeiten Comtes zum Ausdruck zu bringen. Sie schufen einen Referenzrahmen für das, was wir als ,französische Soziologie’ bezeichnen. Es mag Wissenschaftler geben, die ihren Lebensmittelpunkt in der französischen Gesellschaft haben und dennoch einen anderen Bezugsrahmen für ihre Studien wählen. Sie sind – ganz einfach – über diesen nationalen Referenzrahmen hinaus. Der deutsche Referenzrahmen weist eine Analogie zum französischen auf und unterscheidet sich zugleich radikal von Ü
Albert Salomon, „German Sociology“. In: Georges Gurvitch und Wilbert E. Moore (Hg.), Twentieth Century Sociology. New York: The Philosophical Library 1945, S. 586-614. Französische Übersetzung: Albert Salomon, „La Sociologie Allemande”. In: Georges Gurvitch (Hg.), La sociologie au XX siécle. Paris: Presses Universitaires de France 1947, S. 593-620. Der Lesbarkeit wegen haben die Herausgeber die Überschriften der editorischen Praxis der Albert Salomon Werke angepasst. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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ihm. Man kann ihn als eine Wechselwirkung zwischen den Systemen von Hegel und Marx, als deren Verflechtung miteinander beschreiben. Innerhalb dieser beiden Systeme des dialektischen Spiritualismus und des dialektischen Materialismus haben einige deutsche Gelehrte einen Beitrag zur Soziologie geleistet, den man als ,deutsche Soziologie’ bezeichnen kann. Die These, die ich hier vertrete, lautet, dass es in Deutschland keine Soziologie, nur Soziologen gibt. In Amerika und in Frankreich erfüllt die Soziologie als Instrument pragmatischer Aufklärung und moralischer Erziehung eine objektive Funktion im gesellschaftlichen Zusammenhang. Soziologie ist hier eine soziale Institution. In Deutschland war das Meinungsklima politisch aufgeladen und stand im Gegensatz zu allem, was mit einer unabhängigen Gesellschaft zu tun hat. Hier wurde Soziologie die Angelegenheit von Gelehrten, die auf unterschiedlichen Forschungsfeldern – Geschichte, Ökonomie, Philosophie – begannen und sich schließlich in der Ausarbeitung einer Soziologie als Theorie und Methode trafen. Was war der Grund ihrer Unrast? Warum blieben sie ihren ursprünglichen Disziplinen nicht treu? Sie teilten drei Erfahrungen, die sie dazu bewegten, die überkommene Ordnung der Wissenschaften zu überschreiten und die Soziologie als Theorie und Methode zu begründen. Die erste Erfahrung war der Schock, den sie angesichts der gigantischen deterministischen Systeme empfanden, die Hegel und Marx vorgelegt hatten. Sie revoltierten gegen diese Lehren, die vorgaben, den Sinn der gesellschaftlichen Entwicklung zu kennen. Diese Revolte führten sie im Geist des Positivismus, getragen von tiefem Misstrauen gegenüber aller Metaphysik und voll der Demut vor der unendlichen Vielfalt des Geschehens und Erlebens. Zwar waren sie bereit, die Einheit, das umfassende Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung anzuerkennen. Doch wollten sie wissenschaftliche Instrumentarien finden, die es ermöglichen würden, der eisernen Notwendigkeit des radikalen Determinismus zu entkommen. Die zweite Erfahrung, die sie teilten, war die der Vision, dass sich die rationalen Institutionen in der industriellen Welt zusehends ausbreiten und zunehmend Druck auf die Individuen ausüben würden. Die dritte Erfahrung war das Bewusstsein der schwierigen Lage des denkenden Menschen, seiner Eigenheit und Einsamkeit in einer Welt kollektiven Handelns. Diese drei Erfahrungen sorgten dafür, dass einige Gelehrte, die auf unterschiedlichen Feldern tätig waren, ihre Interessen einer neuen Wissenschaft zuwandten, einer Wissenschaft der Gesellschaft und des sozialen Handelns. Diese deutsche Soziologie mag man die Soziologie des verzweifelten Liberalismus nennen und sie so dem optimistischen Liberalismus der Schottischen Schule gegenüberstellen. Man muss diese Ursprünge zur Kenntnis nehmen, wenn man verstehen will, warum in der deutschen Soziologie das Interesse an Fragen der Theorie vorherrscht und beschreibende, praktische Studien
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fehlen. Unter diesen Umständen ist es einleuchtend, dass sie vorzugsweise auf die Philosophie, die Psychologie und die Ideengeschichte Einfluss ausgeübt hat.
II. Die Revolte gegen Hegel Man kann zwei Tendenzen in der Entstehungsgeschichte der deutschen Soziologie unterscheiden. Die eine entsteht mit der Revolte gegen Hegel, die andere mit der Überprüfung des Werks von Karl Marx. Hegel wurde aus drei Gründen angegriffen. Erstens revoltierten Gelehrte, die im Geist einer positiv-empirischen Wissenschaft erzogen worden waren, gegen seine metaphysische Arroganz. Zweitens waren einige überzeugt, dass für den modernen Gelehrten der religiöse, ja der geistige Horizont verloren war, der in früheren Zeiten den Glauben an die Kennbarkeit eines objektiven Sinns ermöglicht hatte. Drittens wehrten sich einige Wissenschaftler gegen die entmenschlichende Wirkung von Hegels System, in dem der einzelne Mensch die Marionette eines absoluten Geistes ist. Im Zuge dieser Revolte besannen sich verschiedene Denker darauf, dass sich Menschsein nirgends sonst als im Hier und Jetzt einer historischen Situation erreignet. In wahrhaft humanistischem Geist versuchten sie, durch eine umfassende Beschreibung des Menschen und seiner Lebenswelt eine Welt voll des Sinns und der Bedeutsamkeit wiederherzustellen.
Jacob Burckhardt (1818-1897) Jacob Burckhardt hatte einen Lehrstuhl für Geschichte in seiner Heimatstadt Basel. Das Etikett des Historikers ist allerdings falsch. Die Arbeiten, in denen er sich bestimmten geschichtlichen Epochen widmet, beschäftigen sich nicht mit der Frage historischer Kausalität. Der tiefgründige amerikanische Rezensent1 seiner Kultur der Renaissancea war sich sehr bewusst, dass Burckhardts Absicht keine historische Darstellung war, sondern die Beschreibung und Interpretation der Vielfalt menschlicher Handlungsmuster, die sich in einer historischen Situation zeigen. Der Rezensent wusste nicht, dass Burckhardt sich schon in seinem
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Henry (oder Brooks) Adams, Rezension zu Jacob Burckhardt, „The Civilisation of the Renaissance in Italy”, In: New York Herald Tribune vom 8. Oktober 1880. [nicht nachgewiesen] Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 5. Herausgegeben von Werner Kaegi. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930.
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ersten Buch, in dem es um die Epoche Konstantins des Großen gegangen war,b mit einer ähnlichen Zeit des Übergangs beschäftigt hatte. Dennoch verstand er, dass Burckhardt nicht ohne Grund eine Zeit des Verfalls und Übergangs zum Gegenstand gewählt hatte. Für den modernen Betrachter, der sich die problematische Lage des modernen Menschen – als Teil einer Welt, in der Einheitlichkeit und Bedeutsamkeit sozialer Zusammenhänge verloren gegangen sind – bewusst macht, sind solche Übergangszeiten faszinierend. Burckhardt wählte gezielt Epochen zum Gegenstand, in denen nichts als selbstverständlich gelten konnte, außer der Wirklichkeit wirkender Menschen. Er beschrieb die Vielfalt unterschiedlicher Geisteshaltungen und politischer, moralischer und religiöser Handlungsmuster in Form einer Phänomenologie menschlicher Selbstverwirklichung. Diese Beschreibung gründete in der humanistischen Annahme, dass Menschen in Zeiten radikaler Umbrüche eher dazu neigen, spontan und unabhängig zu handeln, weniger aufgrund überkommener, sozial vorgeprägter Wertvorstellungen. Sie implizierte die philosophische Annahme, dass unser Wissen vom Menschen diesen nur in historische Prozesse eingebunden oder aber als ein in der totalen Immanenz eines Hier und Jetzt lebendes Wesen kennt. Mit seinem Ansatz hat Burckhardt eine neue Wissenschaft entdeckt: die historische Anthropologie, eine empirische Sparte der soziologischen Theorie. Seine Arbeiten sind dazu bestimmt, Pascals These über Erhabenheit und Elend des Menschenc wissenschaftlich zu begründen. Allein, Burckhardts Überlegungen sind von wissenschaftlicher, nicht von theologischer Art. Sie antworten auf Hegels intellektuelle Hybris, die alles über den Sinn der Welt zu wissen meint. Was zu wissen wir imstande sind, beschränkt sich Burckhardt zufolge auf Mut und Duldsamkeit, Heroismus und Martyrium, Handeln und Behandeltwerden des einzelnen Menschen. Wir wissen nichts über die Tatsache seiner Erhöhung oder seiner Entwürdigung hinaus, nichts über einen objektiven Sinn. Gleichwohl sind wir in der Lage, eine umfassende Phänomenologie der menschlichen Erfahrungen, Taten und Geisteshaltungen zu erarbeiten, um die Spannweite der Möglichkeiten des Menschen zur Selbstverwirklichung zu zeigen. Es ging Burckhardt um eine empirischwissenschaftliche Untersuchung des historischen Charakters des Menschen, um die menschliche Natur der Geschichte. Systematisch zusammengefasst hat er seine historische Anthropologie in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen,2 wo
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Jacob Burckhardt, Die Zeit Constantin’s des Großen. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 2. Herausgegeben von Felix Stähelin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930. Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gedanken (Pensées). Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth. Heidelberg: Lambert Schneider 1946, S. 36-97 (Frg. 60183). Jacob Burckhardt, Force and Freedom. Reflections on History. Herausgegeben von James Hastings Nichols. New York: Pantheon Books 1943.
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er am Grunde des Daseins des Menschen seine Historizität fand. Er arbeitete den strukturellen Zusammenhang von Macht, Religion und Kreativität des Geistes heraus, miteinander verwoben in einer Mannigfaltigkeit wechselnder Formen. Er analysierte die Antinomien der Menschheitsgeschichte als Ausdruck immerwährenden Strebens nach Ordnung, Fortbestand, nach etwas Dauerndem; er analysierte sie ebenso als Ausdruck des Verlangens nach Unabhängigkeit, Wachstum und Fortschritt. Für die Philosophie bleibt das Werk Burckhardts relevant, so lange die philosophische Anthropologie ein Anliegen der Philosophen bleibt. Sie ist noch immer eine wertvolle Anregung für den Soziologen, dessen Interesse der historischen Soziologie gilt. Wohl wahr, Burckhardts Methode lässt sich nicht nachahmen. Doch hat er ein Programm für eine historische Phänomenologie vorgelegt, welches der soziologischen Analyse dienlich sein kann. Unübertroffen ist bis heute sein historisches Vorstellungsvermögen: seine historische Weitsicht. Seine philosophische Intention hat noch immer Gültigkeit.3
Wilhelm Dilthey (1833-1912) Es ist bezeichnend für das gesellschaftliche Klima, in dem die Revolte gegen Hegel stattfand, dass Burckhardt und Dilthey auch einen Kampf gegen die religiösen Traditionen des Protestantismus führten. Beide entstammten protestantischen Patrizierfamilien, die dem ältesten Sohn die soziale und moralische Pflicht auferlegten, ein geistliches Amt auszuüben. Beide hatten die theologische Laufbahn aufgegeben im Bewusstsein, dass das Christentum nur noch ein historisches Phänomen in einer Welt ohne spirituellen und transzendentalen Referenzrahmen sei. Beide wandten sich stattdessen der Geschichte und der Geschichtsphilosophie zu. Unter den Bedingungen der Moderne ist eine wissenschaftliche Philosophie nur dann möglich, wenn man die totale Immanenz des Menschen, seine umfassende Historizität voraussetzt. Dilthey ist es gelungen, diesen soziologischen Ansatz mit einer deskriptiven Phänomenologie der Gestalten des historischen Lebens zu verbinden, insoweit die Soziologie nach wiederkehrenden, typischen Handlungsmustern im Rahmen sozialer Prozesse sucht. Er entging dem Dilemma, zwischen Idealismus und Soziologismus zu wählen, überwand den Dualismus der Subjekt-Objekt-Beziehung ebenso wie den Dualismus von Individualismus und Kollektivismus und erkannte, dass der Strom des Erlebens und der Strom des Bewusstseins sich zu einem psychischen Ensemble vereinen.
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Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe, 14 Bde. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930-1933.
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Seine Revolte gegen die naturalistische Psychologie von Taine oder John Stuart Mill führte ihn zu einer Lebensphilosophie, in der die traditionellen philosophisch-soziologischen Gegensätze aufgehoben sind. Eine umfassende Lebensphilosophie geht mit dem Prinzip der totalen Immanenz einher. Dilthey gründete seinen Ansatz auf die Hypothese, dass wir unser Leben nicht von außen zu betrachten vermögen. Wir sind gezwungen, es aus sich selbst heraus zu verstehen. Diltheys Ziel ist es, die Weisheit der großen Moralisten in wissenschaftliche Erkenntnis, wissenschaftliches Bewusstsein zu verwandeln. Das Leben, die Welt sind seine elementaren Kategorien. Sie bringen keinen Dualismus zum Ausdruck, sondern bilden die beiden Pole eines Ganzen. Im Leben manifestiert sich die Einheit von Selbst und Welt. Es ist mehr als Subjektivität, ist Leben in Relationen, Leben in Perspektiven, Leben als Aktion. Selbst und Welt stehen in Wechselwirkung miteinander. Die Philosophie hat eine besondere Funktion in dieser Welt des Erlebens. Sie wird zur Übersetzerin des Selbst und der Vielfalt seiner Erlebnisse, ihre Bezugspunkte sind das Handeln und die Beherrschung des Lebens. Denn wir erkennen uns nur handelnd, in der Begegnung mit der widerständigen äußeren Welt. Das Leben des Menschen ist sein wirkendes Tätigsein in der Geschichte. Lebensphilosophie bedeutet die Übersetzung des menschlichen Selbst, wie es sich in den verschiedenen Schichten und den unterschiedlichen Sphären des historischen Daseins zeigt. Dies ist Humanismus als Philosophie. Dilthey verweist die Objekte des Geistes auf ihre konkreten Schöpfungsakte; er spricht nicht von Religion, sondern von Frömmigkeit, verhandelt nicht Dichtung, sondern Vorstellungskraft, analysiert Formen der Übersetzung des menschlichen Selbst, nicht Formen von Philosophie. Die Vielfalt der Erfahrungen, die Verschiedenartigkeit menschlichen Tätigseins lässt sich nur dann verstehen, wenn der Philosoph den soziologischen Determinanten menschlicher Gesinnungen und ihrer Wandlungen Beachtung schenkt. Diltheys Bücher und Abhandlungen, in denen er sich mit Dichtung und Poetik beschäftigt,d seine Aufsätze über die Formen der Weltanschauunge und auch die Arbeiten über die Religion der Romantikf sind d
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Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Dritte Auflage. Leipzig, Berlin: Teubner 1910; Wilhelm Dilthey, Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leipzig, Berlin: Teubner 1933. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Gesammelte Schriften, Bd. 8. Zweite, unveränderte Auflage. Herausgegeben von Bernhard Groethuysen. Stuttgart: Teubner 1960. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. Gesammelte Schriften, Bd. 13. Dritte, unveränderte Auflage. Herausgegeben von Martin Redeker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970; Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Band 2: Schleiermachers System als Theologie. Gesammelte Schriften, Bd. 14. 2 Bde. Herausgegeben von Martin Redeker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966; Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 170-220.
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Musterbeispiele eines verantwortungsvollen, achtsamen Gebrauchs der soziologischen Methode zum Zweck der Ideengeschichte. Dilthey war ein deutscher William James. Seine Suche nach wissenschaftlichen, objektiven Maßstäben für die Sozialwissenschaften, die sich von denen der Naturwissenschaften unterscheiden sollen, verbinden Humanismus und radikalen Empirismus. Mit seinen Untersuchungen zur deskriptiven Psychologieg und zum Aufbau der geschichtlichen Welth hat er die Straßen gebaut, die zur Gestaltpsychologie und zur phänomenologischen Methode führten. Er steht für das Bemühen, die Kategorien des historischen Lebens zu entdecken. Auf der Grundlage einer wachsenden Reihe von Determinanten analysierte er die Struktur menschlichen Erlebens, den Kontext von Bedeutungen, die zerstörerischen und schöpferischen Aspekte der Zeitlichkeit, die Macht der Kreativität und die Begründung der Freiheit. Sein Streben galt wissenschaftlichen Begriffen, die es ermöglichen sollten, die Analyse des Erlebens mit dem Verständnis seiner Ausdrucksformen zu verbinden. Wie George Herbert Mead rang er mit Fragen der Kommunikation, Fragen des Mitwirkens des einzelnen Menschen an der ganzen Menschennatur, um dem Sozialwissenschaftler ein ebensolches Maß an Objektivität zu ermöglichen wie dem Naturforscher.4 Das Werk Diltheys ist von ebenso bleibender Faszination wie das von William James. Beiden ist die Unergründlichkeit menschlichen Lebens, ist das nie endende Streben des Menschen, Brücken aus Sinn und Verstand über den Abgrund seiner Irrationalität zu bauen, bewusst. Beide verfügen über einen seltenen Erfahrungsschatz und eine ungewöhnliche Begabung, ihren Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Insbesondere Diltheys Erkundungen über die wechselnden religiösen Gesinnungen und poetischen Vorstellungswelten sind von bleibendem Wert für den Soziologen, der diese Feldern bestellen will. Auch seine Bemühungen, mittels der Geschichte der Philosophie die Mannigfaltigkeit der Perspektig
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Wilhelm Dilthey, „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894)“. In: Wilhelm Dilthey, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 5. Herausgegeben von Georg Misch Leipzig, Berlin: Teubner 1924, S. 139-240. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7. Herausgegeben von Bernhard Groethuysen. Leipzig, Berlin: Teubner 1927. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, 9 Bde. Leipzig, Berlin: Teubner 1914-1934. Siehe vor allem: Dilthey, „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894)“; Dilthey, Weltanschauungslehre; Wilhelm Dilthey, „Die Jugendgeschichte Hegels“. In: Wilhelm Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus. Gesammelte Schriften, Bd. 4. Herausgegeben von Herman Nohl, Leipzig, Berlin: Teubner 1921, S. 5-187; Vgl. auch: Dilthey, Leben Schleiermachers, 2 Bde; Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung; Wilhelm Dilthey, Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leipzig, Berlin: Teubner 1933.
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ven menschlicher Selbstauslegung darzustellen, sind von großer Bedeutung für die Soziologie. Seine methodologischen Schriften und seine Entwürfe einer wissenschaftlich begründeten Deutungslehrei sind noch immer nützlich und anregend. Sie haben eine größere Nähe zu den Ansätzen einer soziologischen Wissenschaftslehre in der Phänomenologie und in der Gestalt-Schule, als Max Webers Abhandlungen.j Diltheys Ideen und Einsichten sind bis heute nicht vollständig ausgeschöpft.
Hans Freyer (1887-1969) In diesem Zusammenhang muss auch ein Gelehrter Erwähnung finden, der die Entwicklung der Soziologie zur Wissenschaft erheblich befördert hat, indem er das Hegelsche System zu einer Wirklichkeitswissenschaft umformte. Hans Freyer5 setzte das Werk Lorenz von Steins fort, der bereits die revolutionäre Funktion der neuen Wissenschaft von der Gesellschaft als einer Theorie des gesellschaftlichen Umbruchs erkannt hatte.k Freyer begann mit der Beschreibung der Strukturen, in denen sich gesellschaftliche Entwicklungen artikulieren. Dies sind dynamische, lebendige Zusammenhänge, beruhen sie doch auf den Beziehungen konkreter Personen. Bei Freyers Grundkategorien für das gesellschaftliche Strukturgerüst handelt es sich nicht um formale Begriffe. An jene Strukturen sind spezifische psychologische Konnotationen geknüpft. Sie sind gleichermaßen historisch und transhistorisch. Sie treten in einer bestimmten Reihung auf, können aber andererseits zeitweise auch koexistieren und sich, sind sie einmal in Erscheinung getreten, zu einem einzigen Sozialphänomen verbinden.l Freyer bestand auf der Historizität als konstitutiver Kategorie der Soziologie. Weder hat Gesellschaft einen universellen Charakter noch ist ein formales, i
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Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“. In: Wilhelm Dilthey, Die Geistige Welt, Hälfte 1. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 5. Leipzig, Berlin: Teubner 1924, S. 317-331. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Leipzig, Berlin: Teubner 1930; Hans Freyer, Einleitung in die Soziologie. Leipzig: Quelle & Meyer 1931; Hans Freyer, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart. Leipzig: Bibliographisches Institut 1936; Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Zweite, durchgesehene und teilweise veränderte Auflage. Leipzig, Berlin: Teubner 1928. Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. 3 Bde. München: Drei Masken-Verlag 1921. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 221-230.
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inhaltsloses Konzept einer Gesellschaft an sich denkbar. Es gibt lediglich Stadien des gesellschaftlichen Prozesses. Mit Blick auf ihre Ursprünge sind alle sozialen Formen historisch. Alle Strukturmuster sind dynamisch, offen für eine Vielfalt von Verflechtungen, können in Form hierarchischer Schichtungen miteinander verbunden, ja inderdependent sein. Als Wirklichkeitswissenschaft verstanden, zielt die Soziologie auf Konflikte, Antagonismen der Gegenwartsgesellschaften. Sie arbeitet Möglichkeiten zu deren Lösung heraus, gemäß der Kräfteverhältnisse, die sich in unterschiedlicher Tendenz sozialstrukturell auswirken. In diesem Sinne bezeichnete Freyer die Soziologie als eine ethische Wissenschaft,m die gegebene Wertvorstellungen und deren Umsetzung in Prozesse sozialen Handelns in den Blick nimmt. Freyers Leistung ist bemerkenswert, von hoher Gültigkeit. Mit Umsicht verband er Arbeiten Diltheys und Max Webers mit der hegelianischen Tradition. Seine Überzeugung, dass die gesellschaftlichen Antagonismen nur politisch aufgelöst werden können, brachte ihn an die Seite der Nazis. Gleichwohl bleibt er ein guter Soziologe.
III. Die Revolte gegen Marx Die zweite Tendenz, die im Aufstieg des soziologischen Denkens in Deutschland wirkte, war die Überprüfung und kritische Analyse der soziologischen Arbeiten von Marx. Wie im Fall Hegels galten die Angriffe dem absoluten Determinismus seines Systems, stellte man dessen Validität in Frage. Die Kritiker widmeten ihre Aufmerksamkeit Fragen des Aufbaus der Gesellschaft, bemühten sich, die Grundlagen der gesellschaftlichen Beziehungen, des sozialen Gefüges zu entdecken, um die Dynamik des sozialen Wandels, der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen.
Ferdinand Tönnies (1855-1936): Ein Entwurf für eine wissenschaftliche Analyse sozialer Strukturen Man kann die deutsche Soziologie nicht sinnvoll diskutieren, ohne das grundlegende Werk von Ferdinand Tönnies zu berücksichtigen. Er hat die Soziologie als eine eigenständige Wissenschaft begründet, als eine Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, die konstitutiven sozialen Strukturen als soziohistorische Phänomene zu beschreiben und zu analysieren. Diese Pionierleistung geht zurück auf seine m
Ebd., S. 199-212.
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eigensinnige Kritik an Marx, mit der er den wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt von Marx’ Einsichten sichern und zugleich deren dogmatische, unwissenschaftliche Formulierung beseitigen wollte. Tönnies war ein liberaler Sozialist. Hauptsächlich widmete er sich der Untersuchung der Struktur von kapitalistischen und nichtkapitalistischen Gesellschaften. Im Zuge seiner Analysen zu den Fundamenten des Sozialen entdeckte er zwei Strukturtypen, die im Laufe der Geschichte immer wiederkehren. Er sprach von Gemeinschaft und Gesellschaft.n Sie sind das Ergebnis zweier elementarer Formen des menschlichen Willens. Tönnies unterschied einen Wesenwillen von einem Kürwillen.o Der Kürwille bringt die subjektiven, ja egozentrischen Intentionen eines Individuums oder einer spezifischen Gruppe zum Ausdruck. Dies ist die Grundlage für den Strukturtyp Gesellschaft.p Gesellschaftq ist die Struktur der pragmatisch-rationalen, der urban-industrialisierten Zivilisation, in der alle Beziehungen kraft rationallegaler Vereinbarungen und Verträgen Stetigkeit und Dauer gewinnen. Gemeinschaftr ist der gegenteilige Strukturtyp. Hier herrschen in den sozialen Beziehungen nicht-bewusste, gefühlsmäßige Bindungen vor. Diese Strukturtypen – Gemeinschaft und Gesellschaft – sind sowohl historisch als auch transhistorisch. Historisch sind sie, weil sie in einer bestimmten zeitlichen Abfolge auftreten; es gibt keine Gesellschaft, der nicht Gemeinschaft vorangegangen wäre. Transhistorisch sind sie, weil beide koexistieren, ja miteinander verflochten auftreten können, in Gebilden wie der Familie, den politischen Parteien, der Kirche, dem Staat. Gemeinschaft und Gesellschaft sind sowohl psychologisch als auch transpsychologisch. Psychologisch sind sie, insofern alle sozialen Gebilde sich aus lebendigen Menschen zusammensetzen. Transpsychologisch – soziologisch – sind sie, insofern Stetigkeit und Dauer eines Kollektivgefüges auf intersubjektiven Bindungen gründet. Tönnies’ Willensformen geben eine Vorahnung der phänomenologischen Beschreibung im Sinne Husserls, sind Sozialphänomenologie avant la lettre. Der Wesenwille tritt als einigende Kraft der Gemeinschaft auf. Er entsteht aus sich selbst,s in der Verbindung aller organischen Beziehungen, wie sie sich als Autorität, Pietät, Ehrfurcht insbesondere in der Primärgruppe finden; der Kürwille schafft alle rational geplanten, durchorganisierten Institutionen, vor allem die technische, wirtschaftliche und politische Ordnung der industriell-
n o p q r s
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Achte, verbesserte Auflage. Leipzig: Buske 1935. Ebd., S. 87-122. Ebd., S. 159. Ebd., S. 40-83. Ebd., S. 8-39. Ebd., S. 142.
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urbanen Gesellschaften.t Diese modernen Gesellschaften haben ihre angemessene soziologische Interpretation in Hobbes’ Entwurf eines säkularen Naturrechts erfahren. Tönnies widmete der Darlegung seiner These, Hobbes sei der Vater der modernen Soziologie, eine Menge Zeit.u Mehrfach äußerte er, die Soziologie werde mit Hilfe der Instrumentarien der modernen Wissenschaft an die Stelle der alten Naturrechtslehre treten.v Tönnies zufolge begründete Hobbes eine vollkommene soziologische Theorie des gesellschaftlichen Gefüges, ja ein Naturgesetz der Gesellschaft. Tönnies’ Anspruch war es, die Soziologie zu einer umfassenden, vollkommenen Wissenschaft zu machen, indem er ihr ein Gemeinschaftsnaturrecht beifügte. Seine Analysen über Sitten und Bräuche, über die öffentliche Meinung und die philosophische Terminologie dienten dem Zweck, die Elemente, die Gemeinschaft konstituieren, zu erläutern. Er hob den Vorrang von Wir-Beziehungen in gemeinschaftlichen Strukturen hervor, entwickelte eine Kasuistik der Wir-Beziehungen in Zeit und Raum, widmete sich der Nachbarschaft in ländlichen und städtischen Gebieten, der Abfolge der Generationen, den Verhältnissen von Familie, Stammessippe, Nation, wohl wissend, dass er eine soziologische Theorie der Gemeinschaft nur auf der Basis eines Entwurfs, der das Phänomen als Ganzes betrachtet, etablieren konnte.6
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Ebd., S. 146-168. Ferdinand Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Stuttgart: Frommann 1896; Ferdinand Tönnies, „Hobbes-Analekten“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie N.F. 17, 1904, S. 291-317; Ferdinand Tönnies, „Hobbes-Analekten II“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie N.F. 19, 1906, S. 153-175; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 4, 1910/1911, S. 395-410; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 5, 1910/1911, S. 129-136; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 5, 1910/1911, S. 283293; Ferdinand Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Dritte, vermehrte Auflage. Stuttgart: Frommann 1925; Ferdinand Tönnies, „Die Lehre von den Volksversammlungen und die Urversammlung in Hobbes’ Leviathan“. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 89,1930, S. 1-22. Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlungen des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig: Fues 1887; Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Zweite, erheblich veränderte und vermehrte Auflage. Berlin: Curtius 1912; Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922; Ferdinand Tönnies, Fortschritt und soziale Entwicklung, Karlsruhe: Braun 1926; Ferdiand Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken, 3 Bde. Jena: Fischer 19241929; Ferdinand Tönnies, Die Sitte, Frankfurt: Rütten & Loening 1909; Ferdinand Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Dritte, vermehrte Auflage. Stuttgart: Frommann 1925; Ferdinand Tönnies, Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Absicht. Leipzig: Thomas 1906; Vgl. auch: Albert Salomon, „In Memoriam Ferdinand Tönnies“. In: Social Research 3, 1936, S. 348-363.
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Tönnies’ Werk wurde von vielen Soziologen anerkannt und aufgegriffen. Unter anderen würdigten Boas und Sorokin seine Bedeutung.7 Heute verstehen wir es als eine Pionierleistung. Getrübt wird dieser Eindruck allerdings, insofern Tönnies seine Theorie der Willensformen verwirrte, indem er sie mit Instinkt und Gewohnheit vermengte.w Was er im Sinn hatte, war die Darstellung eines für das Gefüge menschlichen Erlebens typischen Dualismus; er wollte die entgegengesetzten Formen dieses Erlebens verdeutlichen, war der Meinung, dass Menschen ihr Erleben entweder im Banne einer Ganzheit oder unter dem Druck egozentrischer Begierden und Bestrebungen organisieren. Fälschlicherweise nannte er diese Willensformen „psychologisch“.x Sie verweisen auf eine phänomenologische Methode, die kontingente, historische und individuelle Momente einer Reduktion unterzieht, um ihre elementare Struktur zu entdecken. Ferner war es ein Fehler, dass Tönnies seine Typologie auf zwei Strukturmuster beschränkte. Herman Schmalenbach, ein Philosoph, verbesserte sie merklich, indem er Tönnies’ Schema um eine dritte Kategorie ergänzte.8 Er entwickelte den Gedanken, dass der Begriff der Gemeinschaft, wie Tönnies ihn definiert hatte, unzureichend sei. Zu Recht kritisiert er, Tönnies habe nicht-bewusste, aber gleichwohl rationale Bindungen – angestammte Gefolgschaftstreue und Autorität, bestehende Normen, die als gegeben hingenommen werden –, mit emotionalen Bindungen – spiritueller, religiöser Ergebenheit – vermengt. Schmalenbach schlägt mit dem ,Bund’ eine ergänzende Kategorie vor, welche die besondere Qualität emotionalen Entscheidens für bzw. freiwilliger Unterwerfung unter eine Heilslehre, kraft dessen Menschen ein Freundeskreis, ein Brüderkreis werden, zum Ausdruck bringt. Diese Qualität unterscheidet sich von der durch die Rationalität überlieferter Lebensformen geprägten Qualität der Gemeinschaft. Diese Modifizierung von Tönnies’ Überlegungen ist berechtigt, stellt einen Fortschritt dar. Nach wie vor ist sie von Wert, um sich der ganzen Frage der sozialen Strukturen von Neuem zu widmen. Auf der Basis der Dichotomie rational vs. irrational lässt sich keine umfassende Typologie begründen. Es bedarf einer neuen Idee der Intersubjektivität, der wechselwirkenden Perspektiven, um die Vielfalt möglicher Strukturen zu beschreiben.
7 w x 8
Vgl. o. Hg., Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935. Leipzig: Buske 1936. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 93 u. 95. Ebd., S. 87. Herman Schmalenbach, „Über die Kategorie des Bundes“. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1, 1922, S. 35-105.
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Max Weber (1864-1920): Historisch-verstehende Soziologie Max Weber, Rechtshistoriker, Staatswissenschaftler, Nationalökonom, wurde im währenden, intensiven Zwiegespräch mit dem Werk von Karl Marx zum Soziologen. Seine Abhandlung zur Soziologie trägt den Titel Wirtschaft und Gesellschaft,y ein Hinweis darauf, dass es dem Autor um die Überprüfung von Marx’ soziologischen Überlegungen ging. In seinen Analysen widmete er sich den soziologischen Fragen der Religion, der Herrschaft, des Rechts und der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwei Aspekte beschäftigten ihn dabei. Erstens wollte er wissenschaftlich nachweisen, dass jene sozialen Phänomene in unterschiedlicher Weise von Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung gewesen sind. Zweitens hob er hervor, dass alle sozialen Sphären ihre eigene Dynamik, ja eine spezifische Autonomie besitzen, die allen ökonomischen Einflüssen übergeordnet ist.z Dieser im Namen der empirischen Wissenschaft vorgebrachte Einwand gegen Marx stellt eine Seite von Webers soziologischem Ansatz dar. Die andere Seite ist die Kritik des totalen historischen Determinismus. Seine Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionena' sind der groß angelegte, enzyklopädische Versuch, diesen Determinismus als wissenschaftlich unhaltbar zu entkräften. Webers hauptsächliche Absicht war es weniger, den Vorrang geistiger über materielle Kräfte zu behaupten, als vielmehr, die individuell-spontane Qualität des heraufziehenden Kapitalismus zu erklären. Seine These war, der moderne Kapitalismus sei das Ergebnis eigentümlicher historischer Umstände, nicht das Ergebnis einer unausweichlichen historischen Notwendigkeit. Marx’ Überlegungen setzte er die potenzielle Freiheit sozialen Handelns entgegen. „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein.“b' Potenzielle Freiheit entfaltet Wirklichkeit in Zeiten des Übergangs, wenn Menschen alles in Frage zu stellen beginnen. In solchen Situationen sind sie in der Lage zu entscheiden, welche Richtung gemäß ihrer eigenen Vorstellungen, ihrer eigenen Einschätzungen zu wählen ist. In solchen Situationen wird Freiheit Teil der Geschichte. In dieser y
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a' b'
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Zweite, vermehrte Auflage. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925. Max Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 536-573. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde. Bde. 2 u. 3 Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920-1921. Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 17-206, hier S. 203.
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ersten Antwort auf Marx war Webers zweite These enthalten; in jenen Krisensituationen, Situationen potenzieller Freiheit, gewinnen in allen Sphären des sozialen Lebens die religiösen Voraussetzungen an Bedeutung. Webers akribische Untersuchungen legten sorgfältig die magischen, rituellen, moralischen und religiösen Elemente dar, die in unterschiedlichen Kulturen den Aufstieg des Industriekapitalismus verhinderten, obwohl die politisch-ökonomischen Umstände dem Entstehen dieser Form der wirtschaftlichen Organisation günstig gewesen wären. Die empirischen Untersuchungen zur Religion bildeten die Grundlage für Webers These, die eigengesetzliche Entwicklung dieser Sphäre geschehe gemäß einer Logik, die auch ihren materiellen Normen immanent sei.c' Sie legten überdies den Gedanken nahe, dass jene autonome Sphäre wirkmächtiger ist, als es die sozialen Umstände sind, die auf sie einwirken. Schließlich gingen aus diesen Untersuchungen die Kategorien hervor, welche die Grundpfeiler von Webers Soziologie bilden: der Begriff der Gewohnheit und der Begriff des Charisma. Sämtliche Kräfte, die zu Dauerhaftigkeit, Stabilität und Kontinuität sozialer Institutionen beitragen, sind Kräfte der Gewohnheit.d' Aus ihnen folgen die Elemente des Bewahrens, der Tradition, der Gesetzmäßigkeit – Manifestationen des Konservatismus. Das erste dynamische Element der Geschichte ist „Charisma“.e' Man kann es definieren als den Glauben einer Gruppe von Menschen, dass eine bestimmte Person über die Gaben eines Erlösers verfügt, sei es in der religiösen, der sozialen oder der politischen Sphäre. Webers Definition zufolge ist es für den Soziologen irrelevant, ob dieser Glaube begründet ist oder nicht.f' Als die eine revolutionäre Kraft in der Geschichte wirkt Charisma sowohl konstruktiv als auch destruktiv. Es zerstört überkommene Einrichtungen, die ihren Sinn eingebüßt haben, und bringt neue hervor, die mit der sozialen Entwicklung in Einklang sind. Die zweite dynamische, ja revolutionäre Kraft in der Geschichte ist der Rationalismus.g' Weber gebrauchte diesen Begriff auf eine bestimmte Weise, um die pragmatisch-wissenschaftliche Verstandeskraft, die der Errichtung der Herrschaft des Menschen über die Welt gilt, herauszustellen.h' Webers These lautete, der Dualismus von Rationalismus und charismatischem Irrationalismus bilde den Kern der geschichtlichen Dialektik. Dieser Gedanke war es, den er Marx entge-
c' d' e' f' g' h'
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 246. Ebd., S. 12. Ebd., S. 142. Ebd., S. 753. Ebd., S. 678. Max Weber, „Vorbemerkung“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 1-16.
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genhielt; er implizierte eine materiale Geschichtsphilosophie.i' Es gibt eine unumkehrbare Rationalisierung in sämtlichen Lebenssphären. In Gestalt charismatischer Führer treten mögliche Gegenkräfte auf, die der Geschichte eine andere Richtung geben können. Solch ein spontaner Zuwachs an Freiheit beschränkt sich allerdings auf Momente der Krise. Webers Geschichtsphilosophie ist damit radikaler und zugleich realistischer als die von Marx. Radikaler war Weber, insofern die unausweichlichliche Logik der technologisch-rationalen Entwicklung der Moderne nicht weniger gültig, ja nicht weniger verhängnisvoll für den Sozialismus ist als für die kapitalistischen Welt.j' Realistischer als Marx war Weber, insofern er angesichts der Bedingungen der technologisch-rationalen Entwicklung, jenem Schicksal der Moderne, keine Hoffnung auf eine freiheitliche Welt hegte. Man könnte mithin Weber einen bürgerlichen Marx nennen. Dieser Begriff indiziert die überwältigende Größe seiner historischen Analysen und zugleich den defätistischen Szientismus eines Gelehrten, der den Wandel des sozialen Ethos ignorierte und damit die Möglichkeit, Kontrolle über den verhängnisvollen Rationalismus zu gewinnen und ihn stattdessen für das Gemeinwohl zu nutzen. Webers geschichtsphilosophische Überlegungen bilden das Fundament seiner soziologischen Analysen. In seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Herrschaft begegnet uns als Grundlage seiner Typologie abermals der Dualismus von Rationalismus und Irrationalismus, von Institution und Charisma. Die institutionellen Formen der Herrschaft, welche die Gewohnheit in den Vordergrund stellen, gelten aus Tradition bzw. kraft Satzung. Traditionelle Herrschaftk' ist definiert als auf von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten gründend. Legale Herrschaftl' basiert auf dem rationalen Konsens der Mitglieder einer Gruppierung, dass nicht die Befehle einer Person, sondern gesatzte Regeln gelten und bindend sein sollen. Als die typische Form des Regierens in der Moderne tritt die legale Herrschaft als rationale Amtsführung auf, die Weber „Bürokratie“ nannte. Bürokratie bedeutet die Herrschaft von Experten: Fachbeamten. Deren Regiment ist, verglichen mit der Amtsführung von Patriarchen oder Politikern, die effizienteste Form, die Angelegenheiten des Herrschaftsverbandes zu handi'
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Max Weber, „Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 146-214, hier S. 166-170. Max Weber, „Der Sozialismus“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), S. 492-518. Max Weber, „Die drei reinen Typen legitimen Herrschaft“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 475-488, hier S. 478-482. Ebd., S. 475-478.
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haben. Webers Hervorhebung der Bürokratie dient der empirischen Begründung der Philosophie des fortschreitenden technischen Rationalismus. Bürokratien entstehen insbesondere, wenn charismatische Herrschaft veralltäglicht, in Institutionen überführt wird.m' Der Aufstieg einer charismatischen Bewegung lässt sich nicht auf bestimmte soziale Determinanten zurückführen; er lässt sich nur erklären, im Sinne der Bedingungen, unter denen er gelingt oder scheitert. Dagegen lässt sich die Veralltäglichung charismatischer Bewegungen in hohem Maß als eine Frage der Ökonomie behandeln, als Frage des Abgleichs von Jüngern und Parteigängern mit den sozialen Einrichtungen, der Bereitstellung eines regelmäßigen Einkommens, einer Stellung, einer Belohnung. Das fortgesetzte Zusammenspiel von Charismatischem und Institutionellem ist der Nukleus der Geschichte. Die Rechtssoziologie kreist ebenfalls um den Dualismus von Rationalismus und Irrationalismus, der hier in Form der formalen und materialen Qualitäten des Rechts in Erscheinung tritt. Weber hob hervor, dass logische Rationalität und Systematik in Folge der Herausbildung einer berufsmäßigen Rechtspraxis zu Elementen des Rechtsdenkens wurden.n' Die Entfaltung der Rechtssphäre hängt von der Eigenart der politischen Organisation ab, vom dynamischen Ineinanderwirken religiöser und profaner Institutionen, von der Spezifik des Rechtshonoratiorentums, die wiederum stark von der politischen Struktur geprägt ist.o' Die rationale Rechtslehre ist eine Erfindung des Westens. Obwohl die wirtschaftlichen Verhältnisse ihre Entwicklung befördert haben, haben sie sie doch keinesfalls bestimmt; sie ist vor allem das Ergebnis des okzidentalen politischen Pragmatismus und Rationalismus.p' Wie in allen seinen Analysen betonte Weber die relative Autonomie der Rechtssphäre und den Primat des Politischen gegenüber den wirtschaftlichen Verhältnissen. Webers Analysen zur Stadt sind ein Musterbeispiel seiner historischen Soziologie und zugleich einen vorzügliche Einführung in die Stadtsoziologie.q' Er stellte eine Perspektive vor, die es ermöglicht, ökonomische, politische und verwaltungswissenschaftliche Theorien über die Stadt- und Bürgerschaftsentwicklung zu vereinen. Die Stadt ist der Ursprung der Zivilisation und dauerhafter sozialer Einrichtungen, impliziert soziale Befriedung und gesetzliche Ordnung. Weber betonte fortgesetzt die militärisch-politischen Umstände und Beweggründe, die bei der Entwicklung städtischer Institutionen mitwirken. Selbst die Vorherrschaft der ökonomisch Mächtigen in den italienischen Städten des späten m' n' o' p' q'
Ebd., S. 487-488. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 412. Ebd., S. 456-482. Ebd., S. 394. Ebd., S. 514-601.
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Mittelalters wurde erst durch die vereinten Kräfte, die gegen die feudalpatrizischen Rentiers rebellierten, zu politischer Realität.r' Weber etablierte mit diesen Analysen einen neuen Zweig der Soziologie: die historische Soziologie. Zu deren Gegenstand machte er das Zusammenspiel und die Wechselwirkung unterschiedlicher Schichtungen des Religiösen, des Rechts, der politischen Herrschaft und der städtischen Organisation. Spezifik und Zweck der verschiedenen Sphären, so zeigte er, vermögen wir nur dann zu verstehen, wenn wir sie in dem ihnen eigenen Referenzrahmen betrachten. Weber erkannte zudem, dass es in allen Gesellschaften institutionelle Zentren, Struktureinheiten gibt, die für die anderen Sphären ein Gravitationszentrum bilden. All diese strukturierten Sphären des sozialen Lebens entfalten eine eigene Dynamik, die sich unaufhörlich dem Druck ihrer Umwelt ausgesetzt sieht. Die Erkenntnisse der historischen Soziologie Webers lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens existiert kein gemeinsamer Nenner, der die soziale Entwicklung in Gänze erklären könnte. Vielmehr beobachten wir als Soziologen eine bewegliche Hierarchie bestimmender Faktoren, die sich wandelt gemäß der eigentümlichen Konstellation, zu der es im Zuge der historischen Entwicklung kommt. Es hat Epochen gegeben, während derer magische oder religiöse Bedürfnisse das politische und wirtschaftliche Handeln bestimmten. Zu anderen Zeiten hatten Politik oder Wirtschaft den Vorrang. Zweitens richtet sich jenes bewegliche Kaleidoskop unterschiedlicher Bedingungen ebenso nach äußeren Einflüssen wie nach inneren Kräfteverhältnissen. Daraus folgt, drittens, dass die innere Logik der einzelnen Sphären des sozialen Lebens eigenen Gesetzen unterliegt, kontextunabhängig ist. Die soziologische Forschung auf dem Gebiet der Universalgeschichte ermöglichte es, eine allgemeine Theorie des sozialen Handelns unter Berücksichtigung der Motive Handelnder und der sozialen Bedingungen, unter denen diese entstehen, zu konstruieren. „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder’, welche durch ,Ideen’ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“s' Webers Typologie des sozialen Handelns, die auf seiner historischen Soziologie gründet, ist näher an der formalen Soziologie als an seinen konkreten historischen Studien. Weber klassifizierte die Typen gemäß ihres abnehmenden Rationalitätsgrads bzw. nach der Zunahme ihrer Irrationalität.t' Eine solche Klassifikation ist ebenso problematisch wie die Formalisierung der r' s'
t'
Ebd., S. 537-540. Max Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 237-275, hier S. 252. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 12-16.
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Kategorie „Interesse“,u' auf dass sie im Grunde sämtliches menschliche Handeln und Gebaren abzudecken vermag. Weber war einer der letzten enzyklopädischen Denker, ein Genie an historischem Weitblick. Seine Kritik an Marx ist ein bleibender Fortschritt für die Soziologie als Wissenschaft. Die historische Soziologie eröffnete neue Wege zu einer historischen Anthropologie. Gleichwohl erkannte Weber nicht, was alles die Idee des Referenzrahmens, was das Verständnis des historischen Prozesses als Ganzes, als Einheit, impliziert. Das wohl schwächste Glied dieses großen Werkes ist die Religionssoziologie. Der Haupteinwand indes gilt der Methodologie, doch muss dies an anderer Stelle behandelt werden. Ich möchte hier lediglich die Aufmerksamkeit der Leser Webers darauf lenken, dass er tatsächlich in seinen Studien zur historischen Soziologie eine andere Methode anwandte, als die, die er in seinen methodologischen Schriften so sorgfältig erklärte hatte.9
Webers vielfältige Wirkung Max Webers Bemühungen, Geschichte und Soziologie zusammenzuführen, fanden ein breites Echo. Sein Werk regte viele an, ihm auf bisweile merkwürdige Art nachzueifern. Es veranlasste Alfred Weber (1868-1958), Professor der Nationalökonomie und Max Webers jüngerer Bruder, die Kategorien der Geschichts- bzw. Sozialphilosophie Comtes einer kritischen Revision zu unterziehen. Er nannte sein Vorhaben Kultursoziologie. Aus seinen empirischen Studien über die Antikev' gewann er die Überzeugung, dass man als Wissenschaftler unmöglich etwas über den Sinn des geschichtlichen Prozesses wissen könne. Doch könne man eine Theorie der historischen Strukturen, der Gesetzmäßigkeiten, welche die unterschiedlichen Stufen geschichtlichen Daseins prägen, entwickeln. Das geschichtliche Dasein ist demnach die Komposition dreier Prozesse.w' Der Gesellschaftsprozess, erstens, schafft den Referenzrahmen, in dem lebendige Menschen zusammenwirken und Institutionen errichten, die den Fortbestand der Gesellschaft u' 9
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Ebd., S. 15. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft; Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie; Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1924. Alfred Weber, „Kultursoziologische Versuche. Das alte Aegypten und Babylonien“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55, 1926, S. 1-59; Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Leyden: Sijthoff 1935. Alfred Weber, „Prinzipielles zur Kultursoziologie“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47, 1920/1921, S. 1-49.
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sichern. Dieser Prozess folgt dem Gesetz von Wachstum und Niedergang. Der Zivilisationsprozess, zweitens, ist die Sphäre des Fortschritts der Vernunft und des technischen Vermögens. Hier gilt das Gesetz unbegrenzten Wachstums. Die Kulturbewegung, drittens, ist die Sphäre geistig-spiritueller Schöpfung, mittels derer Menschen sich ihre Welt als eine Einheit, als einen Sinnzusammenhang einrichten. Die Kulturbewegung ist immerwährend und an keinerlei Gesetz gebunden. Aus diesem Grund existiert eine Mannigfaltigkeit historischer Strukturen – ungeachtet dessen, dass sie sich auf Universalien gründen. Die drei Prozesse beeinflussen sich zu voneinander abweichenden Zeitpunkten ihres jeweiligen Verlaufs gegenseitig. Alfred Webers Analysen der typischen Struktur historischer Prozesse stellen eine wertvolle Ergänzung der historischen Soziologie seines Bruders Max dar. Robert MacIver10 hat ihre Bedeutung für die Theorie des sozialen Wandels gewürdigt.11 Max Webers religionssoziologische Studien gaben den Anstoß für ein Werk, das als grundlegend für die Entwicklung einer Religionssoziologie gelten kann. Ernst Troeltsch (1865-1923) verfasste Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppenx' unter seinem Einfluß. Dabei wandte er dessen soziologische Grundbegriffe auf die Sphäre der christlichen Religion an, ohne die ihr eigene Besonderheit außer Acht zu lassen, und umging so den fragwürdigen Soziologismus Webers. Troeltsch begann mit der Hypothese, die christliche Religion sei als religiöses Phänomen an sich zu definieren.y' Dieses bildet einen komplexen Gegenstand, der eschatologische, mystische, moralische, sakramentale und philosophische Elemente beinhaltet. Diese synthetische Konstitution sorgt dafür, dass sich die historische Entwicklung der Religion dem Gepräge der verschiedenen Gruppierungen fügt, die einmal diesen, einmal jenen Gesichtspunkt des Evangeliums weitertragen und verbreiten. Stadtgesellschaften haben die moralisch-pragmatischen Lehren des Christentums befördert, während ländliche und militärisch geprägte Gesellschaften stets eine Vorliebe für die sakramentalen und magischen Elemente pflegten, dagegen die Intellektuellen die mystische Tradition bevorzugten. Troeltschs Verdienst ist die Analyse einer lebendigen christlichen Religion, wie sie sich sozial entfaltet, auf den verschiedenen Stufen des sozialen Prozesses. Deutlich getrübt wird dies Verdienst indes durch seinen
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Robert M. MacIver, „The Historical Pattern of Social Change”, In: Journal of Social Philosophy 2, 1936, S. 35-54. Alfred Weber: Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, Karlsruhe: Braun 1927; Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. Ebd., S. 5.
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Mangel an theologischer Gelehrsamkeit. Insbesondere sein Kapitel über Lutherz' ist unbefriedigend.12 Einen starken Einfluss übte Max Weber auch auf die Anhänger von Karl Marx unter den Gelehrten aus. Emil Lederer (1882-1939) revidierte seine marxistische Position im Lichte von Webers schonungslosem Realismus. Seine soziologische Analyse des neuen Mittelstandsa'' bedeutete eine wertvolle Korrektur von Marx’ und Engels Theorie der zunehmenden Proletarisierung.b'' Seine Darstellung des sozialpsychischen Habitus der Gegenwart wartete mit der These auf, dass das psychische Element stets maßgeblich dem Einfluss der sozialen Sphäre unterliegt.c'' In vielen seiner Texte hatte er den Begriff ,ökonomisch’, mit dem man marxistischerseits das „Ensemble“ der menschlichen „Verhältnisse“ fasste, durch den Begriff ,gesellschaftlich’ ersetzt;d'' Insbesondere sein Aufsatz zur Frage der Kultursoziologiee'' stellte einen sinnvollen Versuch dar, Grenzen und Möglichkeiten einer Kunst-, einer Literatursoziologie aufzuzeigen; Lederer selbst hatte seine Methode für eine soziologische Interpretation der modernen Kunst angewandt.f'' Seine letzte Arbeit war ein Beitrag zur Soziologie des totalitären Staates.g'' Er unterzog darin die sozialistischen Theorien über Kollektivismus und die klassenlose Gesellschaft einer Revision. Die Analyse zur Bedeutung einer gegliederten, mit bestimmten Zuständigkeiten betrauten Gruppenorganisation als Gegenpart zu den amorphen Massen bildet einen wichtigen Beitrag zur Phänomenologie des totalitären Staates.13
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Ebd., S. 434-448. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen; Eugene Lyman, „Ernst Troeltsch’s Philosophy of History“. In: Philosophical Review 41, 1932, S. 443-465. Emil Lederer und Jacob Marschak, „Der neue Mittelstand“. In: Grundriß der Sozialökonomik, 9. Abteilung, 1. Teil. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1926, S. 120-141. Friedrich Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 21. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1972. S. 259-308, hier S. 300. Emil Lederer, „Zum sozialpsychischen Habitus der Gegenwart“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 46, 1918/1919, S. 114-139. Emil Lederer, „Zeit und Kunst“. In: Die Neue Rundschau 33, 1922, S. 992-1001, hier S. 992993. Vgl. Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 3. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1969, S. 5-7, hier S. 6. Emil Lederer, „Aufgaben einer Kultursoziologie“. In: Melchior Palyi (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2. München, Berlin: Duncker & Humblot 1923, S. 145-171. Emil Lederer, „Zeit und Kunst“. Emil Lederer, State of the Masses. The Threat of the Classless Society. New York: Norton 1940. Emil Lederer und Jacob Marschak, „Der neue Mittelstand“; Lederer, „Aufgaben einer Kultursoziologie“; Lederer, „Zeit und Kunst“; Lederer, The State of the Masses.
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Zwei weitere bedeutende Beiträge zur Literatursoziologie, die von der Ergiebigkeit einer Zusammenführung von Marx und Max Webers zeugen, möchte ich erwähnen. Es handelt sich um zwei Texte von Georg Lukács (1885-1971), deren großes Verdienst es ist, die Möglichkeit ausgewiesen zu haben, den Wandel literarischer Formen im Lichte des Wandels von Ethos und Gesichtskreis der modernen Gesellschaften zu interpretieren.14 Als ähnlich produktiv erweist sich die Synthese von Marx und Weber überdies im berühmt-berüchtigten Werk Karl Mannheimsh'' (1893-1947), auf das an anderer Stelle einzugehen sein wird. Unter Marx’ Opponenten nimmt der liberal gesonnene Franz Oppenheimer (1864-1943) eine Sonderstellung ein. Sicher stand er Comte und Proudhon näher als Hegel oder Marx. Aus diesem Grund will ich an dieser Stelle nur am Rande auf sein Werk eingehen. In seiner enzyklopädischen Theorie der Soziologie hat Oppenheimer mit dem Begriff der Kraft das ordnende Element identifiziert, dass rechtliche und soziale Institutionen konstituiert.i'' Sorgfältig hat er Gumplowicz’ Gedanken ausgearbeitet, dass der Staat das Resultat militärischer Unterwerfung sei.j'' Militärische Eroberung sei ein Mittel der Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse. Indem er diesen Gedanken verfolgte, entwickelte Oppenheimer die Theorie der zwei Mittel der Güterbeschaffung, des politischen und des ökonomischen.k'' Diesen Dualismus fand er in allen Schichten sozialen Handels. Dabei betonte er eindringlich, dass Monopole aus politischen, nicht aus ökonomischen Mitteln entstehen.l'' Mithin ist Wettbewerb nicht eine rein ökonomische Kategorie, sondern hat Anteil am Dualismus der sozialen Mittel. Friedlicher Wettbewerb herrscht im ökonomischen Kampf der Einzelnen vor; feindlicher Wettkampf entsteht aus politischen Mitteln und schafft alle Arten von Monopolen.m'' Es ist Oppenheimers Verdienst, dargelegt zu haben, dass die modernen Soziologen sich exklusiv mit Konkurrenz und Herrschaft beschäftigt haben, dabei jedoch die Kategorie vernachlässigten, die es ermöglicht, in einer technischökonomischen Welt Freiheit zu gewährleisten, nämlich die Kategorie der Genos-
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Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Stuttgart: Union 1916; Georg Lukács, „Zur Soziologie des modernen Dramas“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitk 38, 1914, S. 303-345 und 662-706.. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn: Cohen 1929. Franz Oppenheimer, Der Staat. Eine soziologische Studie. Dritte, überarbeitete Auflage. Jena: Fischer 1929, S. 18. Ebd., S. 32-45; Ludwig Gumplowicz, Die sociologische Staatsidee. Graz: Leuschner & Lubensky 1892. Oppenheimer, Der Staat, S. 19-20. Ebd., S. 92-96. Franz Oppenheimer, Theorie reiner und politischer Ökonomie. Berlin: de Gruyter 1919, S. 558.
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senschaft.n'' Eine Gesellschaft, die auf freiwilligen Genossenschaften basiert, wird sämtliche Monopole zerstören und stattdessen eine wissenschaftlich fundierte Ordnung errichten. Das Werk Oppenheimers15 ist das Ergebnis einer großen Begabung, die alleinsteht in einer deutscher Umwelt, welche schlicht nicht die Lebenswelt dieser Denkungsart ist. Dagegen würde sie akkurat an die französische Tradition soziologischen Denkens von Comte bis Proudhon angeschlossen haben.
Georg Simmel (1858-1918): Eine Theorie der sozialen Formen Georg Simmel war in erster Linie Philosoph. Indes bildeten soziologische Betrachtungen ein grundlegendes Element seiner philosophischen Reflexionen. Seine frühen Arbeiten16 stehen noch in der Tradition Herbert Spencers, dessen Werk ebenfalls philosophische und soziologische Aspekte verbindet. Simmels eigener Weg führte zu einer Lebensphilosophie, in der die Soziologie in methodischer ebenso wie in theoretischer Hinsicht eine beachtliche Rolle spielt. Simmels soziologisches Interesse war neben Spencer vor allem durch Marx angeregt. Nicht anders als Tönnies und die Brüder Weber war er fasziniert von Marx’ Werk. Er war überzeugt, dass es möglich sein müsste, die wissenschaftliche Wahrheit, die sich hinter Marx’ politischer Eschatologie verbarg, zu bewahren. Wieder und wieder merkte er an, Ziel seiner Bemühungen sei es, in der Struktur der menschlichen Lebenswelt ein profunderes, umfassenderes Fundament des dialektischen Materialismus zu finden; drei Mal ging er dieses Problem an.17 Er erarbeitete die These, die menschliche Existenz sei ihrem Wesen nach dialektisch. Unweigerlich werde der unendlich sich ausdehnende Lebensprozess mit den Formen der Individuation, mit der Schöpfung sozialer Gebilde aneinandergeraten. Diese Schöpfungen transzendieren den Strom des Lebens, kreieren ihre eigene Wirklichkeit, eine Seinsform jenseits dieses Stroms. Dies ist das unaus-
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Franz Oppenheimer, Grossgrundeigentum und soziale Frage. Versuch einer neuen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft. Jena: Fischer 1922. Franz Oppenheimer, System der Soziologie. 4 Bde. Jena: Fischer 1922-1935. Zu Oppenheimer siehe Eduard Heimann: „Franz Oppenheimer’s Economic Ideas“. In: Social Research 11, 1944, S. 27-39. Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. 2 Bde. Berlin: Hertz, 1892-1893; Georg Simmel, Über soziale Differencierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen. Leipzig: Duncker und Humblot 1890. Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Zweite, um einige Zusätze vermehrte Auflage. Leipzig: Kröner 1919, S. 223-253; Georg Simmel, „Die Krisis der Kultur“. In: Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1917, S. 43-64.
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weichliche Schicksal des Menschen, seine Tragödie und die Krise der Zivilisation. Simmel nennt diesen Dualismus des Lebens und der geistigen Gegenstände die „Vergegenständlichung des Geistes“;o'' Marx hatte stattdessen von Selbstentfremdung gesprochen.p'' Simmel behauptete nun, diese Dialektik sei keine dem Kapitalismus eigentümliche historische Erscheinung, sondern das Schicksal aller überreifen Zivilisationen. Menschenwerk verliert seinen menschlichen Faktor, bildet einen eigenständigen Zusammenhang. Jene Zwischenschichten der Zivilisation bedrohen die echte, naturhafte Einheit des Menschen mit seinen Werten.q'' Insbesondere überreife Zivilisationen begegnen diesem Problem; die Menschen haben eine solche Vielfalt von Gegenständen und Gebilden geschaffen, dass häufig Mittel und Zweck verwechselt werden. Für Simmel bilden die Konfusion von Zweck und Mittel und der Zusammenprall von Subjekt und Objekt die Elemente die Dialektik menschlichen Lebens. Immerzu läuft der Mensch Gefahr, von seiner eigenen Schöpfung erschlagen zu werden. Mit dieser These humanisiert Simmel Marx’ Vergegenständlichung des Bewusstseins und dessen Theorie der Selbstentfremdung. In ähnlich lautenden Begriffen formuliert Simmel in der Vorrede zur Philosophie des Geldes seine methodische Absicht, den historischen Materialismus einer Revision zu unterziehen und die Ursachen der geistigen Kultur zu finden, um so die Dynamik des ökonomischen Prozesses mittels der menschlichen Natur zu erfassen. Im Fluss des Lebens, führt er aus, bilden alle sozialen Erscheinungen ein Ganzes, sämtliche Aspekte einer Situation müssen berücksichtigt werden, will man diese verstehen.r'' Marx hat das Verdienst, dem ökonomischen Prozess die ihm gebührende Bedeutung für den Zivilisationsprozess beigemessen zu haben. Dem Soziologen sind ökonomische Prozesse gleichwohl nur begreiflich, wenn er die psychologischen, geistigen, sittlichen, seelischen Kräfte zu berücksichtigen weiß, welche die Verhaltensmuster einer Wirtschaftsgesellschaft prägen. Simmel bezeichnete die Methode der Soziologie mit der Analyse des Wechselwirkens und Zusammenwirkens aller erdenklichen Umstände.s'' In der Philosophie des Geldes bringt er diese Methode zur Anwendung. Er nahm Georg
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Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, S. 229 Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Ergänzungsband. Schriften – Manuskripte – Briefe bis 1844. Werke. Erster Teil. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1968. S. 465-588, hier S. 510-522. Simmel „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, 234. Georg Simmel, Philosophie des Geldes. Zweite, vermehrte Auflage. Leipzig: Duncker & Humblot 1907, S. VIII. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 3.
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Friedrich Knapps Theorie des Geldest'' zur Voraussetzung, um sorgfältig die Auswirkungen herauszuarbeiten, die der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft für die sozialen Lebensformen hat. Mit dem Blick des Soziologen analysierte er etwas, was Philosophen bereits als einen revolutionären Wandel im philosophischen Begriffsgefüge beschrieben hatten, nämlich die Verdrängung des Substanz-Begriffs zugunsten eines neuen, um den Begriff Funktion kreisenden wissenschaftlichen Denkens. Im neuen Kreditsystem verlagert sich der Wert des Geldes von einem substanziellen auf einen funktionalen Wert.u'' Geld wird zu einem Symbol, ja zur Abstration eines Wertes. Dieses neue Werkzeug findet einen enormen Widerhall in allen Bereichen des Lebens. Nach und nach befördert sie eine Tendenz zum Intellektualismus, zum Geist der Kalkulation und Abstraktion gegenüber dem Gefühlsleben, der Imagination.v'' Simmel analysierte den Einstellungswandel, den neuen Lebensstil der herrschenden Klassen mit Sorgfalt. Implizit entwickelte er die These, dass diese neuen Verhaltensmuster nicht auch dem modernen Mittelstand zugeschrieben werden können. Vielmehr sind sie das Merkmal der Elite des revolutionären absolutistisch-souveränen Staates. Simmel beschrieb diese Elite zu Recht als die erste Wettbewerbsgesellschaft, in der Verdienst und Leistung höhere Tugenden als Herkunft und Geschick sind.w'' Darin manifestiert sich einmal mehr der neue pragmatische Rationalismus und Intellektualismus. Das neue ökonomische Werkzeug hat positive wie negative Folgen. Es begrenzt originelle, eigenständige Charaktere, ebnet sie ein. Andererseits eröffnet es neue Wege der Freiheit, der Unabhängigkeit. Es bringt Emanzipation und Unterwerfung gleichermaßen mit sich. Befreit wird der Mensch von den Fesseln persönlicher Dienstbarkeit; unterworfen wird er der beständig wachsenden Welt rational-technischer Institutionen. Bedauerlicherweise wurde Simmels Werk nie die Anerkennung zuteil, die ihm zusteht. Es ist das soziologische Pendant zu Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien.x'' Es zeigt unter soziologischen Vorzeichen die Problematik der modernen Unabhängigkeit, des modernen Individualismus nach dem Zerfall der feudalen Gesellschaften. Zudem ist es von großer Bedeutung für die kritische Überprüfung der These Max Webers über innerweltliche Askese und puritanischen Geist.y'' Simmel hat auf eine durchaus andere Lösung hingewiesen.
t'' Georg Friedrich Knapp, Staatliche Theorie des Geldes. Leipzig: Duncker & Humblot, 1905. u'' Simmel, Philosophie des Geldes, S. 159-196. v'' Ebd., S. 480-501. w'' Ebd., S. 297-386. x'' Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. y'' Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S 17-206.
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Mehrfach betonte Simmel, die in der Philosophie des Geldes angewandte Methode eigne sich für alle Felder der Ideengeschichte. Denn der moderne Mensch begegnet den Auswirkungen, ja dem Druck kollektiver Institutionen in allen Sphären des Denkens und Handelns. Diese Erfahrung ist zu einem festen Bestandteil seines Bewusstseins geworden.18 Gleichwohl ist die Soziologie mehr als eine Methode. Simmels Überlegung lautet, dass die Soziologie eine spezielle Form der Sozialwissenschaften ist. Er schlug deren Dreiteilung in eine formale, eine allgemeine und eine philosophische Soziologie vor.19 Simmel ging von der Annahme aus, weder die ökonomische noch irgendeine andere materielle Wirklichkeitsschicht unterstütze uns darin, Aufschluss über das Fundament der gesellschaftlichen Beziehungen, den menschlichen Aufbau der Gesellschaft zu gewinnen. Im Gegenteil stellen wir fest, dass die gleichen Attitüden, die gleichen Beziehungsformen in allen Sphären, auf allen Ebenen sozialen Handelns anzutreffen sind. In der Religion wie in der Politik, in der Schule wie in der Wirtschaft, beim Sport wie beim Militär fand Simmel eine Ähnlichkeit bleibender und wiederkehrender menschlicher Beziehungen. Alle sozialen Institutionen sind Kompositionen von Wechselwirkungen zwischen Individuen, die unabhängig von den Inhalten der sozialen Gebilde sind. Diese Attitüden und Beziehungen, dies sind die Formen der Gesellschaft, die der Soziologe zu beschreiben, zu deuten vermag. Diesen Zweig der Soziologie bezeichnete Simmel als formale Soziologie.z'' Diese Bezeichnung ist unglücklich gewählt, scheint sie doch anzudeuten, es handele es sich hier um eine Klassifikation gemäß eines mathematischen Prinzips, lediglich der Erkenntnis formalabstrakter Beziehungen zugeeignet. Simmel gebrauchte den Begriff Form allerdings zur Kennzeichnung der Individuation, der Organisation des formlos strömenden Lebens. Formen sind die irreduziblen Invariablen, in denen sich das pluralistische Universum der Intersubjektivität darstellt.a''' Herrschaft und Gefolgschaft, Treue und Konkurrenz, Selbsterhaltung und Abwehr, Intimität und Fremdheit, Distanz und Nähe sind dauerhafte Formen gegenseitiger Beziehungen zwischen Menschen als Individuen, zwischen Menschen in Kollektivverbänden. Diese Formen ermöglichen die Strukturierung, die Gliederung des Lebens- und Erlebensstroms. Allein diese Formen setzen Menschen in die Lage, eine Vielfalt von Wir- und Du-Beziehungen zu entwickeln, Dichte und Qualifiziertheit ihrer gesellschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen. Diese beiden Kategorien – die Dauer und die Form – bilden die zentralen Begriffe von Simmels Le18 19 z'' a'''
Georg Simmel, Philosophie des Geldes. Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft. Berlin, Leipzig: Göschen 1917. Ebd., S. 50-71. Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, S. 223-224.
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bensphilosophie und ebenso seiner Soziologie, dem empirischen Zweig der Lebensphilosophie. Für Simmel waren die Formen die grundlegenden Phänomene, ungeachtet ihres Inhalts. Soziale Formen treten als Attitüden auf, Instrumente, die unverzichtbar sind, um das menschliche Leben als Bedeutsamkeit innerhalb des formlosen Lebensstrom zu realisieren. Selbst verneinende Formen wie Kampf und Konflikt dienen immer wieder von Neuem Struktur und Gleichgewicht der Lebensausprägungen. Simmels Entwurf einer formalen Soziologie ist ein gewaltiger Fortschritt für die soziologische Theorie. Sie überwindet den überkommenen Dualismus von Individualismus und Kollektivismus, der die Soziologie zuvor geprägt hatte. Simmel erkannte die Notwendigkeit, eine soziale Beziehung als Strukturganzheit zu verstehen, komponiert aus menschlichem Wirken, Attitüden auf Gegenseitigkeit. Seine Darstellung der Vielfalt intersubjektiver Formen mittels einer offenen Typologie ermöglicht es, die grundlegenden Fragen von Intimität und Fremdheit, von Anonymität und Persönlichkeit sozialer Beziehungen als Elemente von Geselligkeit, Elemente sozialer Strukturen zu analysieren. Dadurch ebnet er einer philosophischen Anthropologie den Weg.20 Die allgemeine Soziologie ist ein Nebenprodukt der formalen Soziologie. Ihr Gegenstand sind die spezifischen Bedingungen, die Voraussetzungen gesellschaftlicher Institutionen. Simmel war der Meinung, die Konzentration von Macht und Repressionsmitteln in gesellschaftlichen Institutionen mache es erforderlich, die Spezifik ihres Wirkens im Vergleich mit dem Handeln der Individuen zu analysieren. Besonderes Augenmerk richtete er auf Unterschiede auf der menschlichen Ebene zwischen Gruppen unterschiedlicher Größe.b''' Alle diese Analysen rechnete er der allgemeinen Soziologie zu. Den dritten Teilbereich bezeichnete Simmel als „philosophische Soziologie“,c''' philosophisch insofern, als der Soziologe hier der Grenze seiner Methode, der transsoziologischen Bedeutung der schöpferischen Person begegnet. Simmel wählte diesen Zugang anlässlich der intellektuellen Biographien von Philoso20
b''' c'''
Simmel, Soziologie. Die reinweg formalistische Tendenz im Denken Simmels fand ihre Fortsetzung bei: Leopold von Wiese, System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre). Zweite, neubearbeitete Auflage. München: Duncker & Humblot 1933. Ins Amerikanische übersetzt, bearbeitet und erweitert wurde von Wieses Werk von Howard Becker als: Howard Becker und Leopold von Wiese, Systematic Sociology on the Basis of the Beziehungslehre and Gebildelehre of Leopold von Wiese. New York: Wiley & Sons 1932. Wieses ganzes Bemühen galt der Klassifizierung sozialer Verbindungen und Gruppen auf der Grundlage einer nominalistisch interpretierten ,Beziehungslehre’. Vgl. Logan Wilson, „Sociology of Groups“. In: Georges Gurvitch und Wilbert E. Moore (Hg.), Twentieth Century Sociology. New York: The Philosophical Library 1945, S. 139-171. Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 34-49. Ebd., S. 71-103.
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phen und Künstlern, die er verfasste.d''' Diese Texte verweisen auf die Paradoxie des gesellschaftlichen Daseins. Obwohl die porträtierten Personen wie alles Leben abhängig von Zeit und Raum sind, existiert in ihren Werken ein Bezirk der Vollkommenheit und Endgültigkeit, der allen soziologischen Zuschreibungen unzugänglich bleibt. Je raffinierter die Instrumente für die Erkenntnis der Lebensumstände sind, umso deutlicher zeigt sich die profunde Einsamkeit außergewöhnlicher, nachdenklicher Personen. Diese negative Soziologie wirft die Frage nach der Historizität des Fachs auf, seiner Beschränkungen und Vorzüge. Mit ihr beginnt eine philosophische Erörterung über die Fragen von Determination und Freiheit, über individuelle und allgemeine Normen, über schöpferisches Handeln und kollektives Forschen. Die drei von Simmel definierten Zweige der Soziologie verweisen auf unterschiedliche Perspektiven, die es ermöglichen, den überkommenen Antagonismus von Individualismus und Kollektivismus zu überwinden. Sie begründen einen soziologischen Humanismus, der das Ganze mittels Invariablen der Gegenseitigkeit erfasst. Das Werk Simmels ist lebendig und wirft nach wie vor Fragen auf, denn es entstand in einer der Philosophie und der Psychologie ungünstigen Situation. Daher ist es notwendig, anlässlich seiner Deutung sorgsam darauf zu achten, nicht das Leitmotiv von Simmels Denken zu verfehlen – die Lebensphilosophie. Fragen ergeben sich überdies aus dem unsystematischen Aufbau des Werks; die Begriffsbildung zielt eher auf dichte Beschreibung als auf strenge Abstraktion. Aufgrund der Vielfalt menschlicher und sozialer Erscheinungen, die Simmel mit seltenem Feinsinn beschrieben hat, ist sein Werk gleichwohl lebendig und anregend. Dies wird so bleiben, so lange Sozialwissenschaftler das Zusammenwirken mit der Philosophie um der Überwindung der Antinomien des Lebens – der Schlichtung seiner Widersprüche willen – für der Mühe wert erachten. Simmels Analyse der Attitüden, die den Aufstieg der Moderne befördert haben, ist bis heute nicht ausgeschöpft. Er skizzierte Fragestellungen, denen sich die phänomenologischen Schule anlässlich der Analyse sozialer Phänomene widmet.
d'''
Georg Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität. Vierte, erweiterte Auflage. München, Leipzig: Duncker & Humblot 1918 ; Georg Simmel, Goethe. Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1913 ; Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch. Leipzig: K. Wolf 1916.
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IV. Der Einfluss der Phänomenologie Marx und Hegel sind von bleibender Bedeutung für die deutsche Soziologie. Seit den 1930er Jahren wuchs allerdings zunehmend der Einfluss der Philosophie Edmund Husserls: seiner phänomenologischen Methode, die der soziologischen Analyse neue Wege eröffnete. Diese Philosophie, verstanden als strenge Wissenschaft, bewegte sich jenseits des idealistischen Subjekt-Objekt-Dualismus und ging über die positivistischen Methoden hinaus. Mit ihr gelingt es, Phänomene an sich in ihrem Sinnzusammenhang zu beschreiben. Individuell-historische Phänomene lassen sich so als Abweichungen von unvermischten Strukturen gemäß des Drängens der inneren Einstellung und der sozialen Umstände verstehen und erklären. Der erste Schüler Husserls, der die Soziologie beeinflusste, war Max Scheler.
Max Scheler (1874-1928) Scheler machte von der phänomenologischen Methode in sehr eigenwilliger Weise Gebrauch, um eine Theorie der emotionale Aprioris und der Wertgefühle zu entwickeln.e''' Auf sämtliche Verdienste dieser Unternehmung muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wichtig ist allein der Hinweis, dass Scheler hier Tönnies’ Theorie der elementaren sozialen Strukturen einer Revision unterzog. Zu Recht bemerkte er, dass eine Klassifizierung sozialer Strukturen nicht anhand von Willensformen begründet werden kann, sondern aufgrund unterschiedlicher Formen der Affektion, die sich in der Intensität und gemäß ihres Wesens unterscheiden. Sympathie und mitfühlendes Verstehen sind in allen Gliederungen der Gemeinschaft unverzichtbar;f''' Liebe, die vollkommene Identifikation mit einer Sache, einer Person oder einer Idee, kreiert eine spezifische universalistische Struktur, die Schmalenbachs ,Bund’ ähnelt;g''' emotionale Affektion dagegen schafft einen vordergründigen Kontakt, ermöglicht die Struktur einer Herde, die Scheler fälschlicherweise mit der Masse gleichsetzt.h''' Schelers Erkenntnisse über die integrative Kraft kollektiver Gefühle deutet die Entwicklung an, die auf diesem Feld der Soziologie möglich ist. e'''
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g''' h'''
Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Gesammelte Werke, Bd. 2. Vierte, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1954. Max Scheler, „Wesen und Formen der Sympathie“. In: Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie – Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Gesammelte Werke, Bd. 7. Herausgegeben von Manfred S. Frings. Bern, München: Francke 1973, S. 7-258, hier S. 19. Ebd., S. 156-157. Ebd., S. 23.
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Scheler hat einen weiteren unmittelbaren Beitrag zur soziologischen Theorie geleistet, verstreut über sein ganzes Werk. Seine Theorie des sozialen „Ethos“i''' ist wertvoll für die Analyse sozialer Ordnungen und sozialen Wandels. Dabei handelt es sich um ein System von Präferenzen und Normen, die eine Gesellschaft in Form unbewusster, aller Rationalisierung vorauslaufender emotionaler Haltungen als gegeben erachtet. Schelers Theorie ermöglicht es, einen soziologischen Zugang zum Verständnis des Nationalcharakters zu finden.j''' Ebenso bedeutend ist die Theorie sozialer Vorbilder.k''' Diese Vorbilder repräsentierten unterschiedliche Typen der sozialen Persönlichkeit, Orientierungspunkte für soziales Handeln in Gestalt von Idealfaktoren. Solche Vorbilder gibt es für sämtliche Lebensformen, sämtliche Formen der Selbstverwirklichung; berufliche Vorbilder, Vorbilder persönlicher Vollkommenheit wie Helden, Genies, Heilige. Scheler unterschied zu Recht Formen der Nachahmung anhand des Verhältnisses von Vorbild und Nachbild, wobei er eine wichtige Anregung für die soziologische Analyse gab, indem er dem Typus des Vorbilds für eine bestimmte Lebensform den Typus des Gegenbilds zu dieser Lebensform gegenüberstellte.l''' In wenigen fragmentarischen Notizen wies er auf den pseudomythologischen Charakter modern-revolutionärer Vorstellungen hin, die eine Welt moderner Dämonie errichten.m''' Seine Bemerkungen über die Unterschiede im Verhältnis von Führer und Gefolgschaft im Vergleich zum Verhältnis von Vorbild und Nachbildn''' sind von bleibender Bedeutung. In unterschiedlichen Zusammenhängen entwickelte Scheler eine soziologische Theorie über das Ressentiment gegen den Wandel von Ethos und Ethik. Das Ressentiment definierte er als die ideologische Transformation unterdrückten Hasses in die Negation und Zerstörung der Werte einer herrschenden Gruppierung.o''' Er übertrug den Begriff auf den revolutionären Wandel sozialer Werte, zu dem es im Zuge der radikalen gesellschaftlichen Bewegungen der Moderne kam. Dieser revolutionäre Wandel verdankte sich der Bevorzugung abstrakter Werte wie Humanität und universaler Menschenliebe gegenüber der unmittelbari''' j'''
k''' l''' m'''
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Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 314-318. Ebd., S. 523-563; Max Scheler, „Über die Nationalideen der großen Nationen“. In: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke, Bd. 6. Zweite, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern, München: Franke 1963, S. 121-130. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 573-584. Ebd., S. 576. Max Scheler, „Vorbilder und Führer“. In: Max Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Gesammelte Werke, Bd. 10. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1957, S. 255-344, hier S. 276-277. Ebd., S. 259-263. Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“. In: Max Scheler, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke, Bd. 3. Vierte, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern, München: Francke 1955, S. 33-147, hier S. 37-68.
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konkreten Verantwortlichkeit für den Nächsten, für Nachbarn, für das Land, für die Vervollkommnung der einzelnen Seele. Diese Umwertung schrieb er dem Ressentiment der aufstrebenden Mittelschichten und der folgenden radikalen Bewegungen zu.p''' Dies führt uns zu Schelers bedeutendstem Beitrag zur Soziologie, hat er doch eine soziologische Methode für die Beschreibung emotionaler Erscheinungen verwandt. Die Klärung der phänomenologischen Struktur eines Erlebens ist für den soziologischen Beobachter, der das Einwirken solcher Phänomene auf den Verlauf der sozialen Entwicklung analysiert, unverzichtbar. Die phänomenologische Methode ermöglicht es, universale Elemente in der Struktur menschlichen Erlebens und sozialen Handelns eindeutig zu isolieren. Die Technik der phänomenologischen Reduktion enthüllt die Struktur an sich, das Invariable emotionaler Tatsachen. Der Soziologe Scheler war somit in der Lage, die individuell-historische Realisierung jener grundlegenden Struktur und ihren Wandel im Zuge der sozialen Entwicklung zu verstehen und zu erklären. Seine Beschreibungen der Schamq'''und der Reue,r''' des Todesbewusstseins,s''' des Leids,t''' der Liebeu''' oder der Wiedergeburt der Tugendv''' folgen alle dem gleichen Muster: Scheler postulierte zunächst die Haltung bzw. die Affektion innerhalb der Struktur des Erlebens; danach beschrieb er ihre funktionale Bedeutung hinsichtlich der Strukturelemente; schließlich erfasste er die verschiedenen historischen Verwirklichungen aus soziologischer Perspektive. All jene Abhandlungen sind Beiträge zur Soziologie sozialer Beziehungen und sozialer Strukturen.21 p''' q'''
r'''
s'''
t'''
u'''
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21
Ebd., S. 114-148. Max Scheler, „Scham und Schamgefühl“. In: Max Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Gesammelte Werke, Bd. 10. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1957, S. 65-154. Max Scheler, „Reue und Wiedergeburt“. In: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke, Bd. 5. Vierte, durchgesehene Ausgabe. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1954, S. 27-59. Max Scheler, „Tod und Fortleben“. In: Max Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Gesammelte Werke, Bd. 10. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1957, S. 9-64. Max Scheler, „Vom Sinn des Leides“. In: Max Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke, Bd. 6. Zweite, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern, München: Francke 1963, S. 36-72. Max Scheler, „Ordo amoris“. In Max Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Gesammelte Werke, Bd. 10. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1957, S. 345-376. Max Scheler, „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas“. In: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke, Bd. 5. Vierte, durchgesehene Ausgabe. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1954, S. 403-447. Scheler. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; Scheler, „Wesen und Formen der Sympathie“; Max Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Er-
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Schelers Studien sind eher als Anregungen, Aufforderungen denn als eindeutige Ergebnisse zu lesen. Die Theorie des Ressentiments ist eine Bereicherung, sofern sie mit Bedacht und Sorgfalt angewandt wird. In Schelers Darstellung bleibt sie aufgrund seiner unwissenschaftlichen Annäherung an die moderne Gesellschaft ohne Wert. Fruchtbar sind seine Überlegungen nur dann, wenn sie aus angemessener Perspektive auf soziale Interaktionen in Form der objektiven Betrachtung ebenso des positiven wie des negativen Gehalts ausnahmslos aller sozialen Phänomene angewandt werden. Schelers Beitrag zum Verständnis emotionaler Erscheinungen ist von bleibendem Wert. Er legte damit das Fundament für eine zukünftige Soziologie der Einstellungen. Ebenso vermag die Theorie der Vorbilder empirische Untersuchungen über Tendenzen des Wertens anzuregen, etwa in Form von Studien über soziale Teleologie. In diesem Zusammenhang sind weitere Autoren zu nennen, die Husserls neue philosophische Methode umgesetzt haben. Alfred Vierkandt (1867-1953),22 nannte seine Methode „phänomenologisch“,w''' um darauf hinzuweisen, dass die Vielfalt der gesellschaftlichen Beziehungen in mannigfaltigen Formen innerer Verbundenheit gründet. Er erhob die Unterschiede in Dichte und Qualität der inneren Verbundenheit zu zentralen Prinzipien der Klassifikation gesellschaftlicher Zustände.x''' Vierkandt hatte die Formeln von den Beziehungen, in denen das Verstehen „unmittelbarem Miterleben [...] nahe kommt“,y''' und von den Beziehungen der „Unterordnung unter ein Sinngesetz“ und die „darin enthaltene Ordnung“,z''' geprägt. Die Soziologie verstand er als eine Wissenschaft, die sich der phänomenologischen Beschreibung der Formen innerer Verbundenheit widmet, ihren Abstufungen und Gesetzmäßigkeiten. Unklar bleiben jedoch Unterschiede zwischen sozialen Strukturen, gesellschaftlichen Beziehungen und sozialen Entwicklungen.
22 w''' x''' y''' z'''
kenntnislehre. Gesammelte Werke, Bd. 10. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern: Francke 1957; Max Scheler, „Moralia“. In: Max Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke, Bd. 6. Zweite, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern, München: Franke 1963, S. 9-114. Alfred Vierkandt, Gesellschaftslehre. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Stuttgart: Enke 1928. Ebd., S. 19 Ebd., S. 17-18. Ebd., S. 105. Ebd., S. 244.
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Alfred Schütz (geb. 1899-1959)a'''' Anders als Scheler übernahm Alfred Schütz die phänomenologische Methode in ihrer ursprünglichen Form bei Husserl und verwandte sie, um Max Webers Theorie des sozialen Handelns zu korrigieren.b'''' Indem er die Frage der Grenzen der Kategorie des subjektiven Sinns aufwarf, erkannte er – in Abgrenzung von Weber – den Schlüssel zum Problem des subjektiven Sinns und seiner Interpretation im Verständnis des Bewusstseinsstroms, der Zeitstruktur des Handlungserlebens, wie es von Husserl, William James, Bergson und George Herbert Mead ausgearbeitet wurde.c'''' Auf dieser Grundlage analysierte Schütz die in der Lebenswelt vorfindlichen natürlichen Einstellungen. Dabei gelang ihm, zwischen Handeln und vollzogener Handlung zu differenzieren.d'''' Die Handlung ist definiert als die Reflexion auf das handelnde Erleben. Im Vergleich dazu ist Handeln durch den ihm vorausgehenden Entwurf bestimmt, impliziert Antrieb und Vorsatz. Im Entwurf begreifen wir den ursprünglichen Sinn von Handeln. Um den Begriff des Sinns zu erklären, unterscheidet Schütz Weil-Motive und Um-Zu-Motive.e'''' Ein weiterer Aspekt sind die verschiedenen Ebenen sozialen Handelns, unterschieden nach Graden der Konkretion und Abstraktheit, Graden von Intimität und Fremdheit. Er identifizierte vier Ebenen: die der Mitmenschen, der Nebenmenschen, der Vorfahren, der Nachfahren.f'''' Mitmenschen sind Personen meines aktuellen Umgangs, mit denen ich das Erleben der Welt teile. Nebenmenschen dagegen sind Personen, die niemals zu meiner Umwelt gehört haben; dies ist die Welt der Anonymität, die Welt der öffentlichen Meinung. In dieser Sphäre ist Webers Konzeption des Idealtypus angemessen, hat seine besondere Bedeutung.g'''' Schütz’ Darstellung der Grenzen dieser Konzeption, ihrer vielfältigen Umstände, bedeutet ein Fortkommen in der Auseinandersetzung mit der verstehenden Soziologie Webers.h'''' Eine fruchtbare Anwendung seiner methodologischen Studien stellt Schütz’ Aufsatz über den Fremden dar.i'''' Sie verweist auf die unterschiedlichen Wissens-
a'''' b'''' c'''' d'''' e'''' f'''' g'''' h'''' i''''
Überschrift eingefügt Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Ebd., S. 62-70. Ebd., S. 64-88. Ebd., S. 115-136. Ebd., S. 203. Ebd., S. 245-290. Ebd., S. 307-352. Alfred Schütz, „Der Fremde“. In: Alfred Schütz, Studien zur soziologischen Theorie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Herausgegeben von Arvid Brodersen. Den Haag: Martinus Nijhoff 1972, S. 53-69.
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schichten in einer Mannigfaltigkeit lebensweltlicher Erfahrungen und auf deren Distanz zu wechselnden Umwelten. Es ist dies ein wichtiger Beitrag zum Phänomen der Einsamkeit. Vergleichbar Theodor Littj'''' hat Schütz eine Idee der wechselwirkender Perspektiven entwickelt, die es ermöglicht, den Dualismus von individuellem und kollektivem Bewusstsein zu überwinden.23
j'''' 23
Theodor Litt, Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie. Berlin: Teubner 1926. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien: Julius Springer 1932; Alfred Schütz, „Phänomenologie und die Grundlegung der Sozialwissenschaften (Husserls Ideen III)“. In: Alfred Schütz, Studien zur phänomenologischen Philosophie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3. Herausgegeben von Ilse Schütz. Den Haag: Martinus Nijhoff 1971, S. 74-85; Alfred Schütz, „William James’ Begriff des ,Stream of Thought’ phänomenologisch interpretiert“. In: Alfred Schütz, Studien zur phänomenologischen Philosophie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3. Herausgegeben von Ilse Schütz. Den Haag: Martinus Nijhoff 1971, S. 32-46; Alfred Schütz, „Schelers Theorie der Intersubjektivität und die Generalthese vom alter ego“. In: Alfred Schütz, Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1. Mit einer Einführung von Aron Gurwitsch und einem Vorwort von Herman L. Van Breda. Den Haag: Martinus Nijhoff 1971, S. 174-206. Alfred Schütz, “Der Fremde”.
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„Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“a
I. Die Tyrannei der Geschichte Es ist nahezu ein soziologisches Axiom, dass radikale Entwicklungen des Denkens ähnlich radikale Gegenentwicklungen hervorrufen. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die Entwicklung der Psychologie. Das radikale Beharren auf einer mechanistischen und deterministischen Psychologie erzeugte die heftige Reaktion William James’ und Henri Bergsons, die versuchten, das Bild der spontanen menschlichen Persönlichkeit zu verteidigen.b In der Soziologie haben wir erlebt, wie es mal zu mal als Reaktion auf naturalistische, vollständig deterministische Systeme zu einer Renaissance voluntaristischer Theorien kam. Noch bezeichnender ist der Fall der Historiographie. Über Jahrhunderte hinweg beschäftigte man sich an den Universitäten und Akademien mit Studium und Interpretation der Geschichte, indem man große Datenmengen anhäufte, eine wahre Enzyklopädie der Vergangenheit, kostbar in vielerlei Hinsicht. Aber schon früh in
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Albert Salomon, „Transcending History. Jacob Burckhardt“. In: Philosophy and Phenomenological Research 6, 1945, S. 225-269. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 328-372. Übersetzt von Peter Gostmann und Karin Ikas. Der Autor möchte Dr. Leo Strauss seinen Dank für einige erhellende Gespräche über das Thema dieses Aufsatzes aussprechen, ebenso Dr. Waldemar Gurian, dem Herausgeber des Review of Politics, für seine freundliche Genehmigung, einige Absätze aus einem früheren Artikel des Autors zu übernehmen. Vgl. Albert Salomon, „Krise – Geschichte – Menschenbild“. In: Albert Salomon, Schriften 1934-1942. Werke, Bd. 2. Herausgegeben von Peter Gostmann und Gerhard Wagner. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 225-248. Johann Wolfgang Goethe, „Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen.“ In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes naturwissenschaftliche Schriften. Allgemeine Naturlehre erster Teil. Werke. Weimarer Ausgabe Abt. 2, Bd. 11. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Hermann Böhlau 1893, S. 103163, hier S. 159. William James, „Are We Automata?“. In: Mind 4, 1879, S. 1-22; Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. Berechtigte Übersetzung. Jena: Diederichs 1911.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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der Geschichte begannen Herrscher wie Beherrschte damit, diese Sammlungen des Vergangenen als Mittel zu gebrauchen, ja zu missbrauchen, um ihre eigenen Ansprüche für die Zukunft zu rechtfertigen. Über Jahrhunderte hinweg verwiesen Individuen und Gruppen ihre Bedürfnisse und Hoffnungen an das ewige Gesetz der Natur, Widerspiegelung göttlicher Ordnung in der menschlichen Welt. Die revolutionären Bauern des 16. Jahrhunderts, die aufbegehrenden Feudalherrn der französischen Fronde und die gepanzerten Revolutionäre in Cromwells Armee, alle gründeten sie ihre Ansprüche auf die jedem einleuchtenden, unfraglichen Wahrheiten eines göttlichen Naturrechts. Mit dem Aufstieg säkularer Gesellschaften und der Entwicklung unabhängiger politischer Institutionen begannen diese Ideen ihre alte Kraft zu verlieren und machten dem Gefühl Platz, die lebendige Vernunft entwickle sich erst im Fortgang der Zeit, existiere nicht von sich aus. Seit dem 17. Jahrhundert haben Wissenschaftler und Philosophen eifrig verkündet, die Wahrheit sei eine Tochter der Zeit und die Modernen den Alten kraft der gewaltigen Fortschritte der experimentellen Wissenschaften überlegen. Die Idee des Fortschritts ersetzte das überkommene Naturrecht. Sie stammt von humanistischen Wissenschaftlern, die in ihr die spezifische Herausforderung des Intellektuellen an den vorwissenschaftlichen Obskurantismus des ,finsteren Mittelalters’ sahen. Diese Intellektuellen waren die ersten, die von der Voraussetzung ausgingen, dass der materiale Gehalt der historischen Zeit der andauernde Fortschritt von Wissen und Zivilisation sei. Sie priesen den geschichtlichen Prozess als das wesentliche Element der zunehmenden geistigmoralischen Aufklärung. Ihre eigenen Bemühungen verstanden sie als maßgebliche Beiträge zum Fortschritt der ‚Vernunft’. Ihre Ideen wurden von den liberalen Intellektuellen insbesondere in Amerika und Frankreich, die sie auf die drängenden sozialen Probleme ihrer Epoche übertrugen, begierig aufgegriffen. Diese postulierten, der Fortschritt der Vernunft sei der wahre Gehalt jenes Prozesses, den wir Geschichte nennen. Nur wenn man alle sozialen Probleme, alle sozialen Institutionen am Maßstab der Vernunft bemäße, werde es gelingen, ein Reich des Glücks auf Erden zu errichten. Geschichte bedeutete nicht länger die Totalität des Vergangenen, vergangene Taten und Werke; ihre Sphäre wurde auf die Ausbildung der pragmatisch-wissenschaftlichen Vernunft und deren Verwirklichung in sozialen und politischen Institutionen begrenzt. Geschichte wurde zum Wissen um die Tendenzen, aus denen in modernen Gesellschaften Situationen entstehen, die den Strebungen revolutionärer Gruppierungen günstig sind. In dieser neuen Geschichtsphilosophie, Ersatz für die Philosophie der Vergangenheit, in der die menschliche Welt Teil eines sinnhaften, jedem verständlichen Universumsganzen war, bringt sich deutlich die säkular-progressive Gesellschaft der Moderne zum Ausdruck.
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Geschichte als Philosophie des Fortschritts ist ein Ausdruck der existenziellen Haltung der aufkommenden liberalen, progressiven, sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Wie auch immer sich Turgots und Condorcets rationalistische Eschatologie, Hegels dialektischer Agnostizismus, Marx’ dialektischer Ökonomismus, Comtes Positivismus und Spencers Evolutionismusc in den Nuancen unterscheiden mögen, ihnen allen gemeinsam sind vier Merkmale. Erstens geben all diese Systeme vor, den rationalen Sinn der Geschichte zu kennen. Zweitens sind sie alle eindeutig hinsichtlich der Richtung der Geschichte und des Ziels, auf das sie hinausläuft, sind überzeugt, dass Sinn und soziales Handeln in der Immanenz der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenfallen. Drittens gehen sie alle in derselben Weise vor, isolieren einzelne Tendenzen innerhalb des allumfassenden Ganzen, um darauf die Einheit ihres historischen Systems zu gründen. Sie gelangen zu Ordnung und Harmonie, indem sie menschliches Denken und Handeln einem abstrakten Prinzip zueignen, das der Geschichte den Charakter eines zielgerichtet strömenden Schauspiels verleiht. Philosophie und Religion, Staat und Sitte, Wirtschaftsordnung und moralische Ordnung, alle erscheinen sie wie Manifestationen des gleichen Prinzips auf verschiedenen Stufen der Geschichte. Alle scheinen sie von jenem universellen Prinzip auszuströmen; Geschichte wird mithin zu einer Art philosophischem Totalitarismus, der alles Denken und Handeln in eine vorbestimmte Form zwingt. Letztlich stimmen all diese Systeme darin überein, dass dem Individuum eine nur instrumentelle Rolle im Geschichtsprozess zukommt. So setzen sie alle ein anonymes, blindes Schicksal voraus, mögen sie es als absoluten Geist, als Produktivkräfte, als Geist des Positivismus bezeichnen. In all diesen Systemen ist der Mensch ein blindes Werkzeug eines geheimen Sinns, der den Lauf der Geschichte lenkt. Der Mensch existiert nur in seiner funktionalen Beziehung zu einem abstrakten Prinzip, bleibt die Marionette in einer Aufführung, deren Regisseur unbekannt ist, während wir lediglich den Titel des Stücks kennen. Jene Systeme bezeugen den Aufstieg einer neuen Gesellschaft, neuer Handlungstypen c
Anne-Robert-Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Eingeleitet von Johannes Rohbeck. Übersetzt von Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990; Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Wilhelm Alff. Übersetzt von Wilhelm Alff in Zusammenarbeit mit Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Brunstäd. Leipzig: Reclam 1920; Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bde. Herausgegeben von Friedrich Engels. Hamburg: Meissner 1867-1894; Auguste Comte, Système de Politique Positive ou Traité de Sociologie. Instituant la Religion de L'Humanité, 4 Bde. Paris: Mathias 1851-1854; Herbert Spencer, System der synthetischen Philosophie, Bd. 6: Die Principien der Sociologie. Übersetzt von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart 1876.
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in der beweglichen Welt der technischen Effizienz. Einige der Denker, die Zeugen der Heraufkunft jener neuen Welt waren, waren sich der Folgen bewusst. Als Goethe über die Modernität der „überfüllten Musik“ Beethovens reflektierte, entdeckte er darin einen charakteristischen Ausdruck seines „Zeitalters“: „[A]lles aber, mein Theuerster, ist jetzt ultra, alles transcendirt unaufhaltsam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht seyn; einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, daß eine mittlere Cultur gemein werde, dahin streben die Bibelgesellschaften, die Lancasterische Lehrmethode, und was nicht alles. Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten seyn einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt.“ 2Alexis de Tocqueville beschreibt seine Zeit auf nahezu dieselbe Weise: „[W]ir gehören einer intellektuellen und moralischen Familie an, die verschwindet.“3 Allerdings fanden sich nicht alle Zeitgenossen mit dieser ‚neue Zeit’ im Geist elegischer Resignation ab. Kierkegaard4 war der erste, der die Systeme Marx’ und Hegels angriff. In seinen Augen waren diese Pseudotheologien tödliche Fallen, eine Bedrohung für das menschliche Dasein in seiner Spontaneität. Sokrates und Christus sind wahrhaftige Bildnisse einer eigentlichen, vollständigen Person, Gegenbilder zum nach außen gerichteten Menschen, dessen Dasein nur durch seine Institutionen, durch Kirche, Staat, Gesellschaft Sinn erlangt. Kierkegaard erhob seine Stimme gegen die Entwürdigung, ja Entmenschlichung 2
3
4
Johann Wolfgang Goethe, „An Carl Friedrich Zelter. Brief vom 6. Juni 1825“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Briefe. Weimarer Ausgabe, Bd. 39. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Hermann Böhlau 1887-1912, S. 214-216, hier S. 215-216. Alexis de Tocqueville, „An A. M. Lanjuinais, 10. März 1859“. In: Alexis de Tocqueville, Œuvres et Correspondance Inédites, Bd. 2. Herausgegeben von Gustave de Beaumont. Paris: Michel Lévy Frères 1861, S. 484-485, hier S. 484. Karl Löwith, „On the Historical Understanding of Kierkegaard”. In: The Review of Religion 7, 1943, S. 227-241; David F. Swenson, Something about Kierkegaard. Minneapolis: Augsburg Publishing House 1941; Jean Wahl, Etudes Kierkegaardiennes. Paris: Aubier 1938.
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des Menschen durch die moderne Philosophie des blinden, willkürlichen Fatalismus. Er wünschte leidenschaftlich, die spirituelle Person, den Menschen, der im wirklichen Christus, nicht in dem der Kirchen lebend zu sich kommt, zu retten und wiederherzustellen. Nietzsche nahm diesen Angriff auf den Historismus auf.d Ihm ging es nicht um die Verteidigung der christlichen Person; er kämpfte für das Überleben der unabhängigen, schöpferischen Persönlichkeit. Er hasste die Anbetung des Fortschritts und verachtete den Optimismus einer mechanistisch-rationalistischen Philosophie, in der kein Platz für das kraftvolle, selbstverantwortliche Individuum war. Er stürmte die Festungen der Geschichte, um den Menschen vom lähmenden Einfluss historischer Selbstzufriedenheit und vom Fatalismus zu befreien. Diese Situation brachte das hervor, was man als den spezifisch deutschen Beitrag zur Soziologie bezeichnen kann, die verstehende Soziologie Max Webers, Simmels und Troeltschs. Deren in Reichweite und Potenz unterschiedlichen Bemühungen hatten ein gemeinsames Ziel. Sie wiesen den absoluten Determinismus, die abstrakte Notwendigkeit von Marx’ dialektischer Geschichtsphilosophie zurück. Als empirisch arbeitende Wissenschaftler untersuchten sie eine Vielfalt historischer Situationen und verdeutlichten, dass menschliches Tun und Entscheiden nicht dem Wirken eines anonymen Gesetzes der Geschichte zugeschrieben werden kann. Im Gegenteil lassen sich die endgültigen Entscheidungen, die im im sozialen Handeln Wirkung entfalten, nur als Ausdruck elementarer Bedürfnisse der menschlichen Konstitution verstehen. Diese Soziologen waren bestrebt, an die Stelle der Systeme des geschichtlichen Dogmatismus eine Theorie des sozialen Gebarens, des sozialen Handelns zu setzen, die psychologische und soziologische Elemente vereint, um sich so weit wie möglich einer Wissenschaft anzunähern, deren Gegenstand das Menschsein in der geschichtlichen Wirklichkeit ist. Allerdings scheiterten alle diese Soziologen daran, den Geist des Historismus zu überwinden. Sie attackierten ein System im Besonderen denkbar heftig, setzten aber die Hypothese, auf der alle diese Systeme gründeten, als gegeben voraus. Sie akzeptieren die positivistische Version einer der Geschichte immanenten Notwendigkeit, nämlich die unbedingte Bedingtheit aller Ideen und Vorstellungen durch ihre historische Situation. Diese Gelehrten haben Vieles unternommen, um Marx’ Position zu diskreditieren, haben sie jedoch nicht ausgelöscht. Sie verfeinerten und relativierten den uneingeschränkten Historismus der Vergangenheit, stellten die moderne eschatologische Vision vom Ende der Geschichte in Frage und setzten an deren Stelle die unendliche Relativität jeder d
Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. In Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen – Aus dem Nachlaß 1873-1875. Nietzsches Werke, Bd. 2. Leipzig: Naumann 1906, S. 101-208.
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einzelnen Situation. Gegen den Optimismus und Fatalismus der Zeit forderten sie ihre aufgeklärten Zeitgenossen zu nüchternem Pessimismus auf. Die Ketten des historischen Immanentismus und Fatalismus sprengten sie gleichwohl nicht. Kierkegaard und Nietzsche waren erfolgreich, wo die Soziologen scheiterten. Sie durchbrachen die Ketten des modernen Historismus. Diese Feststellung muss allerdings eingeschränkt werden. Will man von ihrer Emanzipation sprechen, so ist anzufügen, dass dies eine nur private Freiheit war. Zweifellos waren sie die bittersten Kritiker ihrer Zeit. Diese Opposition, eher noch Feindschaft, ist ein wesentliches, maßgebliches Element ihrer Vision. Doch war dies eine verzweifelte Vision. Sie konnten ihre positiven Ziele nur in negativen Begriffen der Revolte und Verzweiflung formulieren. Es blieb die ungelöste Spannung des Geistes, frei allein, eine historische Situation widerzuspiegeln, die unveränderlich, der nicht zu entkommen ist, so dass die Begriffe und Konzepte, mit denen die neuen Ideen zum Ausdruck kamen, noch immer das Stigma der „Krankheit dieser Zeit“ trugen.e Ein Mann war im Kampf gegen die Tyrannei der Geschichte erfolgreicher als alle anderen. Er überwand den Historismus, da er nie in Aufruhr oder Verzweiflung war. Dieser Mann war Jacob Burckhardt, Professor der Geschichte und der Kunst in seiner Geburtstadt Basel.5 Er war stolz, Bürger einer der letzten Poleis der Welt zu sein, auch wenn dieser Stolz einen gewisse Ironie in sich barg, war es doch offensichtlich, dass neue gesellschaftliche Schichten der patrizischen Elite, der die Burckhardts als Minister und Professoren nahezu zwei Jahrhunderte lang angehört hatten, allmählich die Herrschaft entrissen. Abgesehen von einem kurzen Intermezzo am Eidgenössischem Polytechnikum in Zürich verbrachte Burckhardt sein gesamtes Berufsleben als Lehrer an seiner Heimatuniversität und dem Pädagogium der Stadt. Er hatte den Entschluss gefasst, dass seine Heimatstadt der einzige Fleck in der Welt war, an dem er denken und lehren konnte, was er wollte, ohne mit den politischen Launen der Regierungen oder der öffentlichen Meinung konform gehen zu müssen. Alle Rufe auf Lehrstühle in Deutschland lehnte er ab, einschließlich der Nachfolge Rankes in Berlin. Er war frei von akademischen Eitelkeiten, akademischem Ehrgeiz und wünschte sich nichts mehr, als ein unabhängiger Denker und guter Lehrer zu sein. Er nahm Abstand von allen politischen Aktivitäten. Dies tat er nicht, weil er in einem Elfenbeinturm lebte, sondern weil er spürte, dass man sich zwischen e
5
John Donne, „From a sermon preached before King Charles I. (April 1627)”. In: John Donne, The Major Works, including Songs and Sonnets and sermons. Oxford, New York: Oxford University Press 2000, S. 381-382, hier S. 381. Jacob Burckhardt war Schweizer, nicht Deutscher. Wir sollten nie vergessen, dass die Schweizer und die Österreicher ebenso eine eigene Kultur haben, wie die Holländer oder die Flamen, die freilich Dialekte des Deutschen sprechen.
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Politik und Gelehrsamkeit zu entscheiden hat. Begonnen hatte er als liberaler Journalist, der davon überzeugt war, dass die Hoffnung auf eine freie Gesellschaft durch sorgfältiges Steuern zwischen der Skylla des brutalen Absolutismus und der Charybdis des fanatischen Radikalismus zur Wirklichkeit werden könne. Im Jahr 1845 erlebte er die Revolte der radikalen Nationalisten in Luzern, mit stürmischen Massenversammlungen, Ausschreitungen und bewaffneten Streitkräften. Diese Erfahrung zerstörte sein Vertrauen in die Zukunft der liberalen Bewegung. Seit dieser Zeit wurde er nicht müde, seine radikalen und revolutionären Freunde in Deutschland davor zu warnen, dass die von ihnen aufgerüttelten Massen sie schnell zur Seite drängen und ihre eigene Herrschaft aufrichten würden, die dann alles andere als liberal wäre. Im Gegenteil würden sie den moderaten, gebildeten Liberalismus des Bürgertums zu Fall bringen. Burckhardt gab die Politik auf, da er keine Möglichkeit sah, eine Situation zu bessern, die auf jene von ihm bereits klar erkannten Gefahren zusteuerte. In einen Brief an Kinkel fasste er seine Erfahrung wie folgt zusammen: „Das Wort Freiheit klingt schön und rund, aber nur der sollte darüber mitreden, der die Sklaverei unter der Brüllmasse, Volk genannt, mit Augen gesehen und in bürgerlichen Unruhen duldend und zuschauend mitgelebt hat. Es gibt nichts Kläglicheres unter der Sonne, experto crede Ruperto, als eine Regierung, welcher jener Intrigantenklub die exekutive Gewalt unterm Hintern wegstehlen kann und die dann vor dem ‚Liberalismus’ der Schwünge, Knoten und Dorfmagnaten zittern muß.“6 Burckhardt wies den Vorwurf seiner revolutionären Freunde zurück, er wolle als luxuriöser Epikuräer, als sich amüsierender Zuschauer und Ästhet leben: „Ach lieber Junge, Freiheit und Staat haben an mir nicht viel verloren. Mit Menschen, wie ich einer bin, baut man überhaupt keinen Staat; dafür will ich, solange ich lebe, gegen meine Umgebung gut und teilnehmend sein; ich will ein guter Privatmensch sein […]. Mit der Gesellschaft im großen kann ich nichts mehr anfangen; ich verhalte mich gegen sie unwillkürlich ironisch; das Detail ist meine Sache. […] Ihr Alle wisst noch nicht, was das Volk ist, und wie leicht das Volk in barbarischen Pöbel umschlägt. Ihr wisst nicht, welche Tyrannei über den Geist ausgeübt werden wird unter dem Vorwand, daß die Bildung eine geheime Verbündete des Kapitals sei, das man vernichten müsse. Ganz närrisch kommen mir diejenigen vor, welche verhoffen, durch die Philosopheme die Bewegung leiten und im rechten Gleise erhalten zu können. Sie sind die feuillants der bevorstehenden Bewegung; letztere aber wird sich so gut wie die Französische Revolution in Gestalt eines Naturereignisses entwickeln […]. Ich möchte diese Zeiten nicht mehr erleben, wenn ich nicht dazu verpflichtet wäre; denn ich will 6
Jacob Burckhardt, „An Gottfried Kinkel. 19. April 1845“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 131-134, hier S. 132.
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retten helfen, soviel meines schwachen Ortes ist. […] Untergehen können wir alle; ich aber will mir wenigstens das Interesse aussuchen, für welches ich untergehen soll, nämlich die Bildung Alteuropas.“7 Ein persönliches Anliegen war Burckhardt die Klärung der Frage, welches die Verantwortung des Gelehrten in einer Zeit revolutionären Wandels sei. Er verstand es als seine Pflicht, für die Bewahrung geistiger Normen zu arbeiten und die Tradition eines intellektuellen Vermächtnisses zu errichten, die helfen möge, eine neue Welt zu bauen, sobald die revolutionäre Welle abgeflaut wäre. Er lebte in Basel wie ein Stoiker oder Epikuräer zu Zeiten des römischen Kaiserreichs, oder wie Tocqueville in einer ähnlichen Epoche revolutionärer Unruhen. Allerdings wählte Burckhardt sein Leben eines bescheidenen Lehrers in einer kleinen Schweizer Stadt nicht im Geiste ernster, unnachgiebiger Askese. Vielmehr war es für ihn eine Möglichkeit, die gesellschaftlichen Anforderungen des akademischen Lebens zu umgehen; und dennoch ist dieses Leben des ruhigen, ironischen Dienstes beispielhaft – als das ideale Leben des idealen Gelehrten. Wie ihm diese Unternehmung gelang, soll in diesem Aufsatz untersucht und interpretiert werden. Burckhardts Name ist allen Kennern Nietzsches ein Begriff.8 Als Nietzsche nach Basel kam, um dort zu lehren, war er bereits ein unabhängiger und selbständiger Gelehrter. Er sehnte sich nach der Freundschaft jenes Mannes, dessen Geschichtsbild und insbesondere dessen Haltung zur Moderne so verwandt seiner eigenen war. Dennoch gelang es Nietzsche nie, die wohlwollende Distanz des älteren Mannes zu überwinden. Trotz ihrer gemeinsamen Bewunderung Schopenhauers und ihrer Liebe zu Hellas konnte Burckhardt ihm nicht die Freundschaft bieten, nach der es Nietzsche verlangte. Burckhardt lehnte die romantische Wesensart ab, war misstrauisch gegenüber einem Mann, der ein leidenschaftlicher Gefolgsmann des anrüchigen Magiers von Tribschen, Richard Wagners, sein konnte. Er war von Nietzsches teutonischem Radikalismus schockiert und beobachtete mit Unbehagen seinen Hang zum Despotismus und Absolutismus. Gleichwohl zählte Nietzsche zu den wenigen, die bereits zu Lebzeiten Burckhardts erkannten, dass dieser Mann mehr war als ein Professor der Geschichte, sondern führwahr ein Prophet, ein Weiser. Die Berufshistoriker der Zeit wussten den originellen, einzigartigen Charakter der Ideen Burckhardts nicht zu würdigen. Als Nationalisten oder Liberale 7
8
Jacob Burckhardt, „An Hermann Schauenburg. 28 Februar und 5. März 1846“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 146-149, hier S. 147-149. Charles Andler, Nietzsche und Jakob Burckhardt. Basel, Straßburg: Rhein Verlag 1926; Karl Löwith, Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte. Luzern: Vita Nova 1936; Edgar Salin, Jacob Burckhardt und Nietzsche. Basel: Verlag der Universitätsbibliothek 1938.
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vermochten sie Burckhardt dessen offen geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der Entwicklung des zentralisierten Nationalstaats und seine unerquicklichen Vorhersagen einer Zukunft der Revolutionen, Weltkriege und Tyranneien nicht zu verzeihen. Die übliche Praxis war es, sein politisches Verständnis herabzumindern und das „herrliche Traumbild, das er schilderte“, oder die „mit vornehmem Geschmack entworfene Darstellung“ zu rühmen, eine vornehme Art, Burckhardts eigentümlichen Beitrag zum geschichtlichen Denken außer Acht zu lassen.9 Nur zwei Autoren scheinen Originalität und Neuartigkeit von Burckhardts Beitrag zur geschichtlichen Bildung erfasst zu haben. Der eine war Wilhelm Dilthey,10 der später in vielem den in Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien enthaltenen Hinweisen folgte. Bei dem anderen Autoren handelt es sich um einen anonymen Amerikaner, der die amerikanische Übersetzung von Burckhardts Studie über die Renaissance im New York Herald Tribune vom 1. Oktober 1880 besprach.11 Beide fragen sich, warum Die Kultur der Renaissance in Italien als Werk eines Historikers bezeichnet wird. Beide stimmen darin überein, dass der wahre Historiker als ein Wissenschaftler zu definieren sei, der soziale Kausalitäten analysiert, und für beide steht fest, dass Burckhardt an dieser Methode kein Interesse hatte. Zutreffend bemerken beide Kritiker, dass Burckhardt die unterschiedlichen Aspekte jener Situation nur so weit analysiert, bis er einen Hinweis auf ihr besonderes Gepräge findet, in dem die Vielfalt individueller Gesinnungen und Werke enthalten ist. Beide unterstreichen, dass Burckhardt diese Situation im Kontext der westlichen Zivilisation interpretiert, als Übergangsepoche, die eine spezifische Funktion für das Ganze erfüllt. Der amerikanische Autor drückt 9
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Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie. Berlin, München: Oldenburg 1911, S. 599; Vgl. Benedetto Croce, Theorie und Gechichte der Historiographie und Betrachtungen zur Philosophie und Politik. Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übersetzung, 1. Reihe, Bd. 4. Herausgegeben von Hans Feist und Richard Peters. Tübingen, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1930; James Westfall Thompson in Zusammenarbeit mit Bernard J. Holm, History of Historical Writing, Bd. 2: The Eighteenth and Nineteenth Centuries. New York: Macmillan 1942, S. 452-455. Wilhelm Dilthey, „Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch von Jacob Burckhardt“. In: Wilhelm Dilthey, Vom Aufgang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen. Gesammelte Schriften, Bd. 11. Herausgegeben von Georg Misch. Zweite, unveränderte Auflage. Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1936, S. 70-76. An dieser Stelle möchte ich meinen aufrichtigen Dank an Herrn Robert E. Grayson, dem Archivleiter des New York Herald Tribune ausdrücken, welcher so freundlich war, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Aufzeichnungen nicht auf den Namen des Autors verweisen. Nach meiner Auffassung ist es dennoch äußerst wahrscheinlich, dass es sich bei dem Autor, der eine seltene Beherrschung der Renaissanceliteratur zeigte und die einzigartige Qualitäten und philosophischen Zusammenhänge des Buches erkannte, entweder um Henry Adams oder seinen Bruder Brooks Adams handelt.
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sich klarer aus. Er zeigt auf, dass diese Übergangsepoche eine Epoche des Niedergangs ist, ähnlich der des Römischen Imperiums im Endstadium. Ihm scheint nicht bekannt zu sein, dass sich Burckhardts erstes Buch gerade mit dem Verfall des heidnischen und dem Aufstieg des christlichen Gemeinwesens auseinandersetzte.12 Das Buch über die Renaissance beschreibt den Niedergang der mittelalterlichen Welt und das Erwachen der modernen Zivilisation mit den ihr eigenen Formen des Denkens und Empfindens. Der anonyme Rezensent bemerkt richtig, dass Burckhardt diese Situation mit der Gegenwart in Verbindung bringt, ja konfrontiert, dass er an der Entstehungsgeschichte der Moderne interessiert ist, weil deren gegenwärtige Verfassung, ihr problematisches Gepräge, ihm Anlass ernster Besorgnis ist. Der Kritiker hat den Eindruck, dass Burckhardt ein objektives und umfassendes Bild einer Epoche geben möchte, deren negative, destruktive Elemente beiden, Burckhardt ebenso wie ihm selbst, nur allzu klar sind. Er seinerseits prophezeit, dass die antagonistischen Elemente der modernen Zivilisation zwangsläufig eine Reaktion in Form einer neuen Synthese erzeugen werden, die sich dem Zerfall der modernen Welt entgegenstellen werde. Er scheint Genuss an Burckhardts luzidem Verständnis der Dekadenz des zeitgenössischen Szenarios zu finden. Burckhardts Studie über die Renaissance zeigt ebenso eine sorgfältige Lesart der Geschichte, wie sie ein persönliches Dokument von großem Wert ist. „Niemals wurden die Facetten des menschlichen Lebens in so mannigfaltigen Formen und bunten Farben geschildert wie in diesem Kaleidoskop, das Burckhardt dem Leser vor Augen hält und langsam in seiner Hand rotieren lässt.”f Tatsächlich konnte der anonyme Rezensent kein besseres Bild als das des Kaleidoskops finden, um den spezifischen Charakter von Burckhardts geschichtlichem Werk zu beschreiben. Genau dies ist es, was Burckhardt gelingt: Er zieht vertikale Linien durch die italienische Gesellschaft des 15. Jahrhunderts, analysiert die neuen Einstellungen und Verhaltensmuster – etwa die Kultivierung des individuellen Selbst, die daraus folgende Objektivierung seiner sozialen Beziehungen, sein Verhältnis zur Natur. Er ist sich der weiteren Konsequenzen bewusst, welche die Trennung von Staat und Gesellschaft und die allgemeine Tendenz zur Säkularisierung nach sich ziehen. Er versteht die Vielfalt dieser Phänomene als Anzeichen für die Heraufkunft eines neuen Menschentyps, selbständig und pragmatisch, rational und brutal, desillusioniert und teilnahmsvoll, streng und bescheiden. Dieser neue Mensch wird in den urban-säkularen Zentren der modernen Gesellschaft geboren, in tyrannischen ebenso wie in demokratischen Staaten. Dem Rezensenten ist bewusst, dass dies vorrangig eine Studie der menschlichen Natur, ihrer Entfaltung in der historischen Welt ist. Es ist eine 12 f
Jacob Burckhardt, Die Zeit Constantin’s des Großen. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 2. Herausgegeben von Felix Stähelin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930. Anomymer Autor, New York Herald Tribune vom 1. Oktober 1880. [nicht nachgewiesen]
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empirische Arbeit mit philosophischer Intention, sofern es philosophisch ist, den Spielraum menschlichen Tuns und Leidens zu ermessen. Burckhardts geschichtliches Werk erinnert an das, was ein englischer Kritiker einmal als herausragendes Merkmal der Vision Goethes pries – „panoramic ability“g, ein Begriff der exakt dem des Kaleidoskops entspricht, von dem der amerikanische Rezensent spricht. Burckhardt wandte diese neue Forschungsmethode in all seinen historischen Studien an, insbesondere in der Vorlesungsreihe Über das Studium der Geschichte, die nach seinem Tod als die Weltgeschichtlichen Betrachtungenh veröffentlicht wurde und ein reifes Resümee seiner Theorie der Geschichte enthält.13
II. Die Methode Gleich zu Beginn seiner Betrachtungen weist Burckhardt darauf hin, dass er nicht beabsichtige, einen Beitrag zur epistemologischen oder fachlichen Diskussion der Geschichte als Wissenschaft zu leisten. Für ihn stellt sich die Situation der akademischen Historiographie ebenso kritisch dar wie die des zeitgenössischen Lebens, deren Produkt sie ist. Nach Burckhardts Auffassung leidet die moderne Geschichtsschreibung unter der sich rasch ausbreitenden Spezialisierung und der endlosen Anhäufung von Daten. Folglich ist die politische Geschichte sowohl in ihren Kriterien als auch in ihren Schlussfolgerungen sehr unsicher. Die politische Geschichte muss unaufhörlich überarbeitet und korrigiert werden. Der spezialisierte Historiker hat jegliche Initiative verloren, sein spezielles Wissensgebiet mit einem höheren, einem größeren Ganzen in Verbing
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13
Johann Wolfgang Goethe, „Maximen und Reflexionen. Denken und Kunst“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Kunst – Schriften zur Literatur – Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe, Bd. 12. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (C. H. Beck) 1998, S. 396-417, hier S. 405. Jacob Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“. In: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen – Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 7. Herausgegeben von Albert Oeri und Emil Dürr. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1929, S.1-208. Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen wurden in einer englischen Übersetzung unter dem Titel Force and Freedom. Reflections on History by Jacob Burckhardt herausgegeben. Der Verlag verdient hohes Lob für diese Pionierarbeit. Der Herausgeber hat eine exzellente Einleitung verfasst, die es ermöglicht, Burckhardts Herangehensweise an die Geschichtswissenschaft angemessen erfassen zu können. Leider ist die Übersetzung sehr schlecht, wobei man natürlich fairerweise sagen muss, dass es eine sehr schwere Aufgabe ist, das Deutsch eines Schweizers zu übersetzen, dessen Stil Anleihen französischer und lateinischer Prosa enthält. Dies ist die Einschränkung eines Buches, dessen Publikation mit Dankbarkeit aufgenommen werden sollte. Vgl. Jacob Burckhardt, Force and Freedom. Reflections on History. Herausgegeben von James Hastings Nichols. New York: Pantheon Books 1943.
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dung zu bringen. Der wahren Aufgabe des Historikers, einzelne Fakten mit Referenz auf eine Struktur, ein Ganzes auszulegen, steht er hilflos gegenüber. Doch nur in diesem Kontext kann der Historiker die Bedeutung einzelner Handlungen und Ereignisse verstehen und verdeutlichen. Dies ist der bedeutendendste und ernstzunehmendste Nachteil des spezialisierten Historikers. Von Goethe hat Burckhardt gelernt, dass wir das Universelle nur im individuellen und konkreten Phänomen erfassen können. Er erkannte, dass jedes einzelne Faktum eine spezifische Form, eine spezifische Morphe hat, welche das universelle Element im Konkreten ist; Goethes Formenlehre,i welche die grundlegende Auffassung der gestalttheorischen Schule vorwegnimmt, bildet die Grundlage für Burckhards Kritik am modernen Spezialistentum. Burckhardt ist kein Romantiker. Die Spezialisierung lässt sich nicht aufhalten. Dennoch müssen wir Liebhaber der Ganzheit bleiben, müssen versuchen, die Einheit in der Vielfalt zu verstehen. Burckhardts Betrachtungen richten sich an Menschen ohne Vorurteile, die noch immer den Wunsch hegen, dieses seltsame Phänomen, den Menschen, im geschichtlichen Kosmos zu verstehen. Warnend weist er darauf hin, dass die moderne Historiographie von allerlei Gefahren heimgesucht ist. Subjektive Interessen, Provinzialismus und engstirniger Patriotismus gefährden das Bemühen, zu objektiver Wahrheit vorzustoßen. Die Prahlerei des modernen Fortschrittsgeistes ist eine Quelle ernsthafter Schädigung für eine wahrhaftige wissenschaftliche Forschung. Der typische Modernist geht davon aus, die gesamte Vergangenheit sei lediglich ein Vorspiel unserer Zeit gewesen, die ihrerseits die Vollendung des historischen Prozesses darstellt. Burckhardt mahnt an, dass wir uns von dieser engstirnigen Eitelkeit befreien müssen, wenn wir das Rätsel des Lebens, das wir Geschichte nennen, auch nur zu einem Bruchteil verstehen wollen. In seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen formuliert Burckhardt eine Hypothese, die alles in Frage stellt, was seine Zeitgenossen – seien sie Historiker oder Geschichtsphilosophen – für selbstverständlich erachtet haben. Geschichte ist für Burckhardt das Leben der Menschen in der Welt; dieses Bruchstück ist das Forschungsfeld, über dessen Grenzen hinauszugehen er sich nicht gestatten will. Wir wissen nichts über den transzendenten oder immanenten Sinn der Geschichte. Wir können lediglich Beobachtungen und Überlegungen zur Art und Weise darbieten, wie Menschen handeln und wie sie behandelt werden. Wir haben weder Kenntnis von einer göttlichen Vorsehung noch können wir die grandiosen Verallgemeinerungen der Philosophen für selbstverständlich erachten, die „das Gras der Notwendigkeit wachsen hören.“j Burckhardt weigert sich, i j
Johann Wolfgang Goethe, Morphologische Schriften. Ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Troll. Jena: Diederichs 1932. Jacob Burckhardt, „Historische Fragmente aus dem Nachlaß“. In: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen – Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Jacob Burckhardt Ge-
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Herkunft, Klima und Rasse in Erwägung zu ziehen. Anthropologen sind gezwungen, zu viele Hypothesen zu entwerfen und abzuändern. Er bezweifelt, dass der Gang der Entwicklung an sich uns etwas lehren könne, das über die Erscheinungen selbst hinausgeht. Dieses Leben der Geschichte, das sich in fortwährender Bewegung, ja Veränderung von einem Anfang zu einem Ende entfaltet, bildet das Material, auf welches Burckhardt seine neue historische Methode anwendet. Diese Begrenzung des Forschungsfeldes zwingt ihn dazu, die allgemeine Aufgabe des Historikers zu definieren und die Mittel, sie zu realisieren, zu benennen. Es „ist das Thema der Geschichte überhaupt, daß sie die zwei in sich identischen Grundrichtungen zeige und davon ausgehe, wie erstlich alles Geistige, auf welchem Gebiete es auch wahrgenommen werde, eine geschichtliche Seite habe, [...], und wie zweitens alles Geschehen eine geistige Seite habe, von welcher aus es an der Unvergänglichkeit teilnimmt.“k In diesem Sinne versteht Burckhardt Geschichte als Geschichtlichkeit, als die immer währende Gegenwart und die Gegenwart des Immerwährenden. Es ist sein Anliegen, die Erinnerung an eine Vergangenheit wachzurufen, die ein geistiges Kontinuum bildet, und er hält das Studium der geistigen Sphäre unter historischen Gesichtspunkten für das faszinierendste aller Themen. Dieses Verständnis der Aufgabe des Historikers ist seinerseits ein historisches Faktum. Burckhardt glaubt, die Welt werde, beginnend mit den Kriegen der Jahre 1864, 1866 und 1870, eine Epoche der Kriege und Krisen erleben, eine sich ausweitende und beschleunigende Umwälzung, gegen die tatsächlich alles, was wir von der europäischen Geschichte wissen, belanglos, unbedeutend erscheinen wird. In dieser Situation ist es die Pflicht des verantwortungsbewussten Historikers, selbst angesichts der Katastrophe, die Werte zu schützen, die bewahrt und kultiviert zu werden verdienen. Burckhardt ist kein Idealist; er weiß, dass die Befehle eines einzelnen barbarischen Führers mit einem Schlag die edelsten Menschen, die größten geistigen Güter vernichten können. Dennoch muss der Historiker helfen, die Traditionen dieses Erbes zu bewahren, muss das Bewusstsein der Gegenwart des Ewigen pflegen, auch wenn der Flächenbrand sich ausbreitet. Als historisches Wesen muss der Historiker den Widersprüchlichkeiten des Lebens Tribut zollen, die das „Hauptphänomen“ der Geschichte sind.l Dieses Hauptphänomen ist die Wechselwirkung von Macht und Geist in sozialen Institutionen, ist deren fortgesetzte Revision, Reform und Revolution durch die ideellen Kräfte des Geistes. Dies ist das grundlegende Faktum der Geschichtlichkeit. Alle Menschen sind diesen schicksalshaften Transformationen
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samtausgabe, Bd. 7. Herausgegeben von Albert Oeri und Emil Dürr. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1929, S. 209-466, hier S. 293. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 4. Ebd., S. 5.
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unterworfen. Es ist unvermeidlich, dieses geschichtliche Dasein zu erleiden. Gleichwohl, wir sind in der Lage, in der Kontemplation unser Schicksal zu transzendieren. Burckhardt ist überzeugt, dass allein der Geist der Kontemplation Menschen der Gefahr enthebt, ganz und gar Gegenstand einer geschichtlichen Situation zu sein. Wir sind in der Lage, objektive Erkenntnis zu erlangen, da wir die Grundstoffe des Menschseins teilen, die identisch sind, wie auch immer sich, unter dem Druck divergierender Umstände, das Kaleidoskop menschlichen Erscheinens ausnehmen mag. Wir können diese ‚Objektivität’, diese „panoramic ability“m nur erreichen, wenn wir uns durch Kontemplation von den Ängsten und Interessen des Selbst befreien. Burckhardt erwähnt nie, dass dies die unverfälschte philosophische Haltung der Menschen der Antike war. Sie waren zu einer aufrichtigen und befreienden philosophischen Haltung fähig, da sie die Erleuchtung der Erkenntnis mehr schätzten als ihre eigenen Bedürfnisse und Sorgen. Burckhardt möchte seine Studenten für den Gedanken öffnen, dass der höchste menschliche Zustand der eines Lebens im selbstlosen Geist teilnehmenden Verstehens ist. Nur kraft einer persönlichen Läuterung dieser Art lässt sich die geistig-moralische Seite menschlichen Handelns verdeutlichen. So ist es uns gestattet, in der richtigen Weise, nach dem Maß wissenschaftlicher Einsicht den Preis zu würdigen, den menschliche Gesellschaften für die Verwirklichung einiger ihrer Werte und für die Zerstörung anderer zu zahlen haben. Burckhardt bezeichnet diese Betrachtungsweise als „gewissermaßen pathologisch“, und zwar pathologisch in dem doppelten Sinn, dass sie in all ihrer Abstraktheit Würde und Elend des menschlichen Daseins enthält.n Seine Methode nennt er „Kulturgeschichte“.o Ihm ist bewusst, dass der Begriff missverständlich und unpräzise ist. Er interessiert sich nicht für die Anhäufung von Daten über kulturelle Errungenschaften und Produkte; ,Altertümer’ sind ihm gleichgültig. Nur ein Aspekt der Geschichte interessiert ihn. Er möchte die Erscheinungsweisen menschlicher Selbstverwirklichung insoweit beschreiben, als diese Daten das geistige Wirken des historischen Menschen zum Ausdruck bringen. Angesichts einer neuen, prekären Situation erachtet er das Studium des Menschen als das zentrale Thema m n o
Goethe, „Maximen und Reflexionen. Denken und Kunst“, S. 405. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 3. Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd 1. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 8. Herausgegeben von Felix Stähelin. Berlin, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1930; Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd 2. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 9. Herausgegeben von Felix Stähelin. Berlin, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1930; Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd 3. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 10. Herausgegeben von Felix Stähelin und Samuel Merian. Berlin, Leipzig: Deutsche VerlagsAnstalt 1931; Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd 4. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 11. Herausgegeben von Felix Stähelin und Samuel Merian. Berlin, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1931.
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der Geschichte. Wir wissen nichts von der objektiven Bedeutung des Prozesses, den wir Geschichte nennen. Falls es so etwas wie eine göttliche Vorsehung gibt, ist sie verborgen, und wir haben das Wort der Erlösung noch nicht vernommen. Uns bleibt das Staunen über die seltsame und faszinierende Existenz, die wir lebend erfahren, das Staunen über den Menschen in seiner Erhöhung, in seinem Leiden. Für Burckhardt ist die menschliche Geschichte Passio Humana. Der Mensch steht nicht länger unter dem Schutz göttlicher Gnade, ist nicht geborgen im allumfassenden Fluß des Universums, sondern stellt sich allein mit den Kräften seines Verstandes, seines Geistes einer konkreten Situation in der geschichtlichen Welt. Lediglich durch selbstlose Kontemplation können wir hoffen, den wundervollen Charakter dieses Lebens zu verstehen, das gerade in der Immanenz des Daseins über sich hinauswächst. Kontemplation ist ein Recht, eine Pflicht, eine Notwendigkeit; ein Recht unseres höheren „Pragmatismus“, den Ort, an dem wir sind, und die Geschwindigkeit des gegenwärtigen Kräftespiels, mit dem wir seit der Französischen Revolution leben, zu verstehen; eine Pflicht, sofern es an uns liegt, das geistige Vermächtnis in Zeiten radikalen Wandels zu bewahren; eine Notwendigkeit, in Zeiten universeller Determination und der Bedrängnis des Individuums innere Unabhängigkeit und geistige Freiheit auszubilden.p Aus diesem Grunde ist die geschichtliche Kontemplation, die Burckhardt lehrt, eine Methode, die Geschichte zu überschreiten, um Freiheit aufzurichten. In dieser Hinsicht gleichen seine Bestrebungen dem Werk von William James. James hat für die Psychologie das getan, was Burckhardt für die Geschichte tat: In Zeiten eines allgemeinen Determinismus eröffnete er von Neuem den Zugang zur kreativen und spontanen Freiheit der menschlichen Persönlichkeit.q Burckhardt war in der Lage, seine „panoramic ability“r zu meistern, da er Begriffe verwandte, die sich von denen der politischen Historiker unterschieden. Die Idee einer chronologischen Entwicklung lehnte er ab. Seine Aufmerksamkeit richtete er auf die unabänderlichen Faktoren in der Geschichte. Diese Faktoren können die elementaren Tendenzen, die grundlegenden Bedürfnisse des Menschseins lediglich andeuten. Genau dies ist Burckhardts Problemstellung: die wiederkehrenden, typischen, unabänderlichen Muster individuellen und sozialen Verhaltens zu klassifizieren und zu beschreiben, aus denen sich die menschliche Situation zu einem geschichtlichen Zeitpunkt konstituiert. Mit dem ihm eigenen unfehlbaren Einfühlungsvermögen erkannte Dilthey, dass Burckhardts Verallgemeinerungen nichts mit den statistischen Klassifikationen der Naturwissenschaften gemein hatten. Burckhardt be-
p q r
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 11. William James, Psychologie. Herausgegeben von Marie Dürr. Leipzig: Quelle & Meyer 1909. Goethe, „Maximen und Reflexionen. Denken und Kunst“, S. 405.
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wahrte sich ein humanistisches Misstrauen gegenüber der Macht abstrakter Konzeptionen, um die lebendige Ganzheit konkreten menschlichen Erscheinens nachzubilden. Dilthey definierte den Referenzrahmen für Burckhardts Verallgemeinerungen äußerst klarsichtig. Demnach referieren Burckhardts allgemeine Begriffe auf die Identität, die dynamische Einheit des Menschseins; dies sind die Begriffe einer historisch-sozialen Morphologie. Sie geben allgemeine Daseinsformen wieder, die in wechselnden Verknüpfungen in allen menschlichen Situationen, allen menschlichen Erscheinungsweisen wiederkehren. Burckhardt wandte diese Begriffe nur auf besonders unstrittige Quellenmaterialien an, auf Dokumente höchster Objektivität, die etwas über das innere Leben der Menschen in einer konkreten historischen Situation enthüllen, indem er die individuelle Konkretion einer Mannigfaltigkeit menschlicher Standards in Form typische Haltungen, typischer Ausdrucksweisen darstellte. Diese Einheit, die Individuelles und Allgemeines im Dasein des historischen Menschen eingehen, ist das zentrale Thema in Burckhardts historischem Werk. Er war mit dem Begriff „kulturgeschichtlich“ nicht zufrieden. Was er vorschlug, was ihm selbst in hohem Maße gelang, ist eine historische Soziologie, die um die Passio Humana kreist.
III. Historische Soziologie Dilthey erkannte klar, dass Burckhardts „Kulturgeschichte“ eine phänomenologische Beschreibung der menschlichen Lage in einer geschichtlichen Situation ist.s Diese Untersuchung menschlicher Intentionen und Gesinnungen ist auf einen Referenzrahmen bezogen, der sich aus der engen Verflechtung von Invarianzen konstituiert, die auf spezifische Handlungen und Intentionen hindeuten. Burckhardt hat dies unglücklicherweise als soziale Institutionen – Politik, Religion, Kultur – umschrieben. Er wollte eigentlich sagen: Menschliches Gebaren und soziales Handeln lassen sich bestimmten Handlungsweisen zurechnen, die elementare Bedürfnisse und Intentionen zum Ausdruck bringen: Macht, Hingabe, schöpferische Intelligenz. Sie bilden den Untergrund der Sphären der Politik, der Religion und der Kultur, sind zugleich eng verflochten und antagonistisch. Sie sind widersprüchlich und bilden eine zusammenhängende Einheit. Die Verkettung ihrer Kräfte gibt für jede geschichtliche Situation den Referenzrahmen vor. Es mag Epochen geben, in denen die eine oder die andere Konstante die Oberhand hat. Dennoch ist keine Zeitspanne vorstellbar, die nicht auf diese grundlegende Struktur verwiese. Dieses Schema blieb keine bloße Theorie. Burckhardt hat seine Ergiebigkeit in all seinen historischen Arbeiten überprüft. s
Dilthey, „Die Kultur der Renaissance in Italien“, S. 72.
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Alle beginnen sie mit einer Untersuchung der politischen Institutionen, innerhalb derer und in Bezug zu diesen alle sozial-kulturellen Handlungen ihre spezifisch positive oder negative Bedeutung erlangen. So deutet sich an, um einen Fall anzuführen, dass die politischen Institutionen der Renaissance das moderne Individuum, säkular und wetteifernd, ermöglicht und herangezüchtet haben, in tyrannischen ebenso wie in demokratischen Staaten.t Für Burckhardt ist die politische Sphäre das vorrangige Phänomen der Geschichte. Sie ist ein Zusammenspiel von roher Gewalt, die aus der Übermacht einer Physis oder eines Kollektivs erwächst, und ‚triftigen Gründen’, die sich kreativer Vernunft verdanken. Dies ist ein langer, schauderhafter Prozess. Burckhardt, als Anhänger der historischen Schule, lehnte alle staatlichen Vertragstheorien ab.u Physische Stärke und Gewalt sind notwendigerweise der grundlegende Faktor bei der Entstehung eines Staates. Sobald er etabliert ist, ist der Staat jedoch, so Burckhardt, die „Abdikation der individuellen Egoismen“.v Diese Formulierung erinnert eher an das 17. oder 18. Jahrhundert als an die Romantik der historischen Schule. Das Klima moralisch-politischer Aufklärung durchzieht Burckhardts Werk in vielerlei Hinsicht; es geht ihm, cum grano salis, um die Revolte des klaren Verstandes des Moralisten gegen die romantische Verklärung der Geschichte. Die Analyse der Grundlagen des Staates beinhaltet eine weitere Komponente; einen nüchternen Realismus, der eher auf die Schule Machiavellis denn auf die historische Schule verweist. Die Grundlage des Staates ist irrational – es ist physische Übermacht von Individuen oder Kollektiven, die den physisch Schwächeren, die häufig die Besseren, Edleren, Gebildeteren sind, auferlegt wird. Burckhardt betont wieder und wieder, dass die Institution des Staatskörpers, die den Wechsel von roher Gewalt hin zu sinnvoller Stärke, zu Gesetzmäßigkeit und Moralität ermöglicht, nur auf Grundlage dieser irrationalen Machtexplosion entstehen kann. Seine wiederholte Betonung der Heillosigkeit und Unmenschlichkeit, die ein Primat des Staates in allen sozialen Beziehungen bedeute, ist eine Reaktion auf die „einladende optimistische Ansicht“, die besagt, dass die Gesellschaft das primäre Phänomen ist und der Staat lediglich der Gesetzeshüter. „Die Menschen sind ganz anders.“w Wir müssen voraussetzen, dass die dunklen Mächte der Gewalt immer dort zugegen sind, wo wir dauerhafte soziale Institutionen etablieren. Wir müssen zufrieden sein, wenn der errichtete Staat als Treuhänder und Hüter von Gesetz und Sicherheit zu wirken vermag. t
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Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 5. Herausgegeben von Werner Kaegi. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 21. Ebd., S. 27. Ebd., S. 22.
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Die untrennbare Einheit von Furcht und Gier bildet die Basis für die sich ausdehnende Macht unserer politischen Institutionen. Das Streben nach Recht und Sicherheit, um sich vom Gefühl der Unsicherheit und der unerschöpflichen Machtgier zu befreien, ist der elementare Ausdruck menschlicher Vitalität. Burckhardt beschrieb dieses Phänomen als eine ursprüngliche empirische Tatsache, als Basis allen sozialen Handelns. Ihm fröstelt dabei, aber er will dieser Wirklichkeit nicht entkommen. Er bewertet sie einfach negativ und stellt fest, dass „die Macht an sich böse ist“.x Dies ist kein Ausdruck eines simplen Moralismus. Burckhardt ist ein viel zu realistischer Beobachter, um nicht zu wissen, dass Körper und Seele, Freiheit und Autorität, Gewalt und Geist in Wechselbeziehung stehende Antinomien sind. Gleichwohl scheint der Gedanke nicht korrekt formuliert zu sein, einer sorgfältigen Prüfung zu bedürfen. Burckhardt spricht von der Macht einer Institution, nicht von einer individuellen Potenz, von der Ansammlung, ja Verdichtung einzelner Wünsche und Bedürfnisse zu einer abstrakten, kollektiven Selbstsucht, die aufgrund des nicht endenden Drängens der sich gegenseitig unterstützenden, die kollektive Macht bildenden Individuen zum Ziel an sich wird. Dieses abstrakte und eigensinnige Verlangen nach Expansion und Wachstum ist der natürliche Egoismus des Individuums, dessen alleiniges Ziel der Genuss seiner rohen Macht ist. Burckhardt überspitzte diesen Egoismus zu einer Haltung sozialer Erhabenheit als der Basis des kollektiven Daseins. Was immer Religion oder Sittenlehre auch Gegensätzliches lehren mögen, jenes Recht zum Egoismus wird als selbstverständlich betrachtet. Dies ist ein gefährliches Präjudiz für alle sozial-moralischen Verpflichtungen. Denn der Staat verfügt weder über einen absoluten Wert noch ist er a priori. Wenn es dem Staat erlaubt ist, sich vom Sittengesetz zu entbinden, werden sich Verbrechen, Terror und Gewalt überall in der Gesellschaft ausbreiten. Der Staat wird die natürliche Dämonie des Menschengeschlechts in allen politischen und sozialen Beziehungen entfesseln. Burckhardts Definition kollektiver Macht bringt eine säkulare Version der Idee der ‚Ursünde’ zum Ausdruck. Tapfer akzeptiert er diese pessimistische Doktrin ohne die Annehmlichkeiten einer überirdischen Hoffnung. Diese Haltung machte es ihm möglich, Hegels und Rankes Optimismus bezüglich der Logik, Harmonie und des spirituellen Sinns des Laufs der Geschichte zurückzuweisen. Die modernen Historiker und Fortschrittsphilosophen sind nur zu begierig darauf, den schrecklichen Preis zu vergessen, den die Menschheit für all die geistigen Werte zu zahlen hat, die vom Staat stimuliert in Erscheinung traten. Weise ist es, sich der Paradoxie des historischen Lebens zu erinnern – dass aus Schlechtem Gutes entspringen und Schlechtes die Folge der besten Taten sein kann. Burckhardt bezeichnet den Komplex dieser grundlegenx
Ebd., S. 25.
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den Handlungen, auf die der Staat gründet, als Macht. Und er ist der Auffassung, dass „die Macht an sich böse ist“.y In dieser Macht zeigt sich der abstrakte, eigenen Gesetzen folgende Druck eines Kollektivs, das seine Macht um der Macht willen ziel- und richtungslos ausbreitet. Allerdings gibt es auch einen anderen Typus der Macht: die strahlende Stärke eines Individuums, die Burckhardt als „historische Größe“ bezeichnet.z Seine Behandlung dieses Themas zeigt ihn als sorgfältigen und scharfsinnigen Beobachter, der die Gesinnungsschichten untersucht, die Großes in der Geschichte bedingen und hervorbringen. Er hebt hervor, dass das, was wir als „historische Größe“ bezeichnen, ein soziologisches Phänomen ist. Dies setzt zwei Dinge voraus: einen geeigneten Menschen und eine Gesellschaft, die eines Erlösers bedarf. Es kann Zeiten geben, in denen großartige Menschen im Überfluss für Aufgaben zur Verfügung stehen, denen die Gesellschaft keinen Wert beimisst. Ebenso kann es Zeiten geben, in denen es das Bedürfnis nach einer Rettergestalt gibt, die auszufüllen sich kein Mensch findet. Es gibt keine prästabilierte Harmonie zwischen Epoche und Genius. Wo aber beide einander begegnen, ist es eine Art „heilige Ehe“a' zwischen Mensch und Geschichte. Die soziologische Vorbedingung dafür, dass ein großer Mensch erkannt wird, ist eine Gesellschaft im Zustand der Zerüttung, deren Lebensgrundlage in Frage steht, die seine Führung benötigt, um Einheit und Sinn wiederherzustellen. Solche Führer verfügen über gewisse Fähigkeiten: die eines fanatischen Willen; die der Konzentration aller Energien; die der Vision einer universalen Erlösungsidee auf politischer, sozialer, religiöser Ebene; die der subtilen Kontrolle des Handelns in allen Details. Diese allgemeinen Fähigkeiten werden sich mit den Interessen einer Gruppe treffen, wenn es dem zukünftig großen Menschen gelingt, den Gegenstand oder den Grundsatz zu finden, in Hingabe zu dem die fragliche Gesellschaft sich und das Vertrauen in sich wiederherstellt. ,Große Männer’ sind immer Ausnahmeerscheinungen, nicht etwa die höchsten Erzeugnisse der Normalität. Ob sie etwas zerstören oder aufbauen (und es ist teilweise schwierig, die Bedeutung ihrer Taten zu bestimmen), sie sind die ,Geißeln des Schicksals’. Ähnlich wie bereits in seiner Analyse der politischen Macht insistiert Burckhardt anlässlich seiner Überlegungen zur Rolle großer Menschen in der Geschichte darauf, dass die Machtgier der Stimulus der Größe ist. Allerdings muss sie mit einem Ideal politischer, sozialer, religiöser Perfektion verschmelzen, in Hingabe an das ,historische Größe’ erst zu entstehen vermag.
y z a'
Ebd., S. 25. Ebd., S. 160-191. Ebd., S. 177.
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Burckhardt betrachtet die Existenz „großer Männer“b' in der Geschichte als eine Tatsache, ja als eine Notwendigkeit. Sie ist ebenso notwendig wie die dämonischen Taten, auf die das Staatswesen gegründet ist, ist jedoch keine Tatsache, die wir enthusiastisch preisen sollten. Diese Männer können ihre Mission nur dann erfüllen, wenn sie mit einer Unnachgiebigkeit im Seelischen begabt sind, die sie jede Chance auf Erfolg nutzen lässt, und mit einer Festigkeit, die sie die Unglücke und Missgeschicke aushalten lässt, die dem verwegenen Revolutionär begegnen mögen, egal ob er der Begründer eines politischen Gemeinwesens oder einer Religion ist. Es gibt nur eine Ausnahme, die Burckhardts Zustimmung findet: „Das Allerseltenste aber ist bei weltgeschichtlichen Individuen die Seelengröße. Sie liegt im Verzichtenkönnen auf Vorteile zugunsten des Sittlichen, in der freiwilligen Beschränkung nicht bloß aus Klugheit, sondern aus innerer Güte, während die politische Größe egoistisch sein muß, und alle Vorteile ausbeuten will. [...] Wenn aber die Kunde reichlicher fließt, dann ist höchst wünschbar, dass in dem großen Menschen ein bewusstes Verhältnis zum Geistigen, zur Kultur seiner Zeit nachweisbar sei, [...]. Einem Solchen allein trauen wir dann eine höchst gesteigerte Genialität und den wahren Genuß seiner welthistorischen Stellung schon bei Lebzeiten zu. So denken wir uns Cäsar.“c' Die Seelengröße mag vollkommen heißen, wenn ein politischer Führer über die Anmut des Charakters und dauerhafte Todesverachtung verfügt, über den Willen zu versöhnen und einen Funken Güte. Burckhardt wiederholt seine Machttheorie auf der Ebene individuellen Wirkens. Um ein harmonisches und gerechtes Leben zu erreichen, muss die verständige Kraft der schöpferischen Vernunft mit den Kräften roher Macht verschmelzen. Burckhardt insistiert, dass die großen Männer, die als Ideale fortleben, von großem Nutzen für die Menschheit, insbesondere für ihre Nationen sind. Oftmals verleihen sie ihnen Pathos und Würde, die auf alle Schichten der Gesellschaft übergreifen. Sie heben die Maßstäbe eines Volkes rein durch ihre Normalität, sind ihnen in Zeiten der Not Ermutigung. Burckhardt stellte dies als eine soziologische These vor und diskutierte ausführlich zeitgenössische Bemühungen, die Rolle des großen Menschen in der Geschichte zu schmälern. „Heutzutage ist zunächst eine Schicht von Leuten auszuscheiden, welche sich und die Zeit vom Bedürfnis nach großen Männern emanzipiert erklären. Es heißt, die jetzige Zeit wolle ihre Geschäfte selber besorgen, und man denkt sich etwa, es werde ohne die Verbrechen großer Männer recht tugendhaft zugehen. Als ob nicht die Kleinen, sobald sie auf Widerstand
b' c'
Ebd., S. 190. Ebd., S. 181-182.
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stoßen, eben auch böse würden, abgesehen von ihrer Gier und ihrem Neid untereinander.“d' Überall erkannte er eine Tendenz zur zentralisierten und rationalisierten Ordnung, welche die Absenkung der Maßstäbe, die Ausbreitung allgemeiner Mittelmäßigkeit begünstigen wird. Dieser Entwicklung, so Burckhardt, begegnet der wiederkehrende Wunsch nach Führern und großen Männern im politischen Feld. Er erinnert daran, wie sich Frankreich 1848 nach einem großen Mann sehnte und dieses Bedürfnis letztlich mit dem Abenteurer und Gauner Louis Napoléon stillte; und er sagt voraus, dass die sozialen Konflikte der Epoche einen Ausnahmezustand heraufbringen werden, angesichts dessen die Menschen wieder nach großen Männern rufen und diese unter denen finden werden, die ihrem Geschmack entsprechen. Einem Freund schreibt er am 12. März 1883: „Was Politik betrifft, so möchte ich dringend mahnen, in Frankreich kaum auf eine Monarchie und keinesfalls auf eine haltbare zu hoffen. Die Dinge gehen diesmal anders als früher. Meine Meinung zu jener Soldatenherrschaft kennen sie, und leider kann ich mich immer weniger von diesen Bildern losmachen. Der Umschlag aus der Demokratie geschieht nicht mehr in der Herrschaft eines einzelnen, denn diesen würde man ja mit Dynamit usw. aus der Welt schaffen, sondern aus der Herrschaft einer militärischen Korporation: auch wird dabei zu Mitteln gegriffen werden, welche auch der furchtbarste Despot nicht übers Herz brächte.“e' Und im April 1882 schrieb er einem Anderen folgende Zeilen: „Für mich ist es schon lange klar, daß die Welt der Alternative zwischen völliger Demokratie und absolutem rechtlosem Despotismus entgegentreibt, welcher letztere dann freilich nicht mehr von Dynastien betrieben werden möchte, denn diese sind zu weichherzig, sondern von angeblich republikanischen Militärkommandos. Man mag sich nur noch nicht gern eine Welt vorstellen, deren Herrscher von Recht, Wohlergehen, bereichernder Arbeit und Industrie, Kredit usw. völlig abstrahieren und dafür absolut brutal regieren könnten. Solchen Leuten treibt man aber die Welt in die Hände mit der heutigen Konkurrenz um Teilnahme der Massen bei allen Parteifragen.“f' Er stellt die großen Männer der revolutionären Militärkorporationen als Männer mit den Talenten von Unteroffizieren vor. So wird ,historische Größe’ aussehen, wenn der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit auf dem Kontinent ein
d' e'
f'
Ebd., S. 190. Jacob Burckhardt, „An Max Alioth. 12. März 1883“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 457-458, hier S. 457-458. Jacob Burckhardt, „An Friedrich von Preen. 13. April 1882“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 450-452, hier S.451.
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gewaltsameres Stadium erreicht hat. Burckhardts Untersuchung des Phänomens der Macht in ihren verschiedenen Facetten verdeutlicht, dass Macht eine Invariable darstellt, die darauf ausgerichtet ist, gesellschaftliche Institutionen von Dauer zu errichten und Eroberung und Usurpation in Form legalen Besitzes zu stabilisieren. Diese Konstante trifft auf die Erfordernisse einer anderen Konstanten, die Burckhardt als „Kultur“ bezeichnet. Er definiert den Begriff, um alles freie und spontane Handeln, das aus materiellen und ideellen Bedürfnissen des Menschen hervorgeht, zu erfassen – die Sphäre der Unabhängigkeit und Freiheit. In der soziologischen Terminologie ist dies die Sphäre der Gesellschaft, das Gegenteil der Zwangsmacht des Staates, des Drucks der in ihm verkörperten systematischen Gewalt.g' Jene beide Potenzen bedingen einander fortlaufend gegenseitig. Der Staat bedingt die Kultur, wo das Staatswesen waltet, und die Kultur bedingt den Staat, wo die Gesellschaft stärker ist. Burckhardts Analyse dieser sich gegenseitig bedingenden Konstanten stellt einen wertvollen Beitrag zur historischen Soziologie dar. Seine These lautet, dass selbst in einem demokratischen Stadtstaat wie dem Athenischen – ganz zu schweigen von den strengen Institutionen des alten Ägypten – Spielraum und Richtung kultureller Tätigkeiten von der politischen Struktur bestimmt, zumindest beeinflusst werden. Die politischen Institutionen Ägyptens verhinderten in jeder Hinsicht die Entstehung unabhängigen und privaten Denkens, Vorstellens, Fühlens. Sie begünstigten die Schulung technischer Kenntnisse und beruflicher Effizienz. So ist es wenig überraschend, dass das alte Ägypten bemerkenswerte Beiträge zur Mathematik, Astronomie und Medizin leistete, Wissenschaften, die von der Persönlichkeit des Wissenschaftlers geschieden ausgeübt werden können. Selbst im demokratischen Athen bürdete die politische Struktur den Bürgern derart viele soziale Verpflichtungen und Konventionen auf, dass deren Entschlusskraft beträchtlich eingeschränkt wurde. Politische Gesellschaften fördern und würdigen fachliche Ausbildung und Anwendungswissen. Gesellschaften, die von politischen Verpflichtungen freigesetzt sind, wie die von Hellas, die des Römischen Weltreichs oder die in den absolutistischen Staaten von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, bevorzugen die zweckfreie Neugier der Kontemplation und die Reflexion der Fundamente des Daseins, solange sie keinen direkten Einfluss auf die praktischen Tätigkeiten haben. Der Widerstreit zwischen der beständigen Heraubildung individueller Unabhängigkeit und der ebenso beständigen politischen Ordnung stellt ein fortwährendes Motiv in Burckhardts Denken dar. In seinen historischen Studien werden die verschiedenen Aspekte dieses Widerstreits, die verschiedenen Formen seiner g'
Jacob Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 20 u. 42-52.
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Überwindung gründlich analysiert. Die Erringung der Freiheit gegenüber dem Druck wechselnder Einflussgrößen ist das grundlegende Problem seines Denkens und Lehrens. Burckhardt führt als empirisches Faktum menschlicher Gesinnung an, was Aristoteles als Philosoph gefordert hatte, dass nämlich der Freiheit wahres Gut auf der Mitte zwischen Ermächtigung und Unterwerfung liegt.h' Als junger Mann schrieb er einem seiner radikalen Freunde, selbst der Revolutionär müsse lernen, mit Maß zu denken und zu handeln, wenn er erfolgreich sein wolle.i' In Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte spielt dieses Problem eine entscheidende Rolle. Kleon und Alkibiades werden als Menschen dargestellt, die Institutionen politischer Freiheit in Werkzeuge ihrer selbstsüchtigen Ambitionen verwandelten. Durch ihre Eitelkeit und ihre Gier haben sie das empfindliche Gleichgewicht durcheinander gebracht, das Perikles durch Hingabe an die Sache der athenischen Demokratie erreicht hatte.j' In Burckhardts Studie über die Renaissance spielt Pietro Aretino die Rolle des perfekten Bösewichts. Aretino vergeudete seine großen Talente damit, sich den vulgärsten Vergnügungen hinzugeben.k' Als seinen Gegenspieler führt Burckhardt den lauteren Charakter Vittorino da Feltre ein. Der war umringt von höfischen Versuchungen und hätte Wohlstand und Ehre anhäufen können. Aber er war bedacht darauf, sich in der innigen Hingabe an seine Schule und seine Studenten seine Unabhängigkeit zu bewahren. Er konnte die Fürsten davon überzeugen, dass es das höchste Privileg des intelligenten Herrschers ist, allen begabten Kindern das Studium zu ermöglichen. Es gelang ihm, die Hälfte seiner Studentenschaft aus den begabten Armen zu rekrutieren. Diese Hingabe an eine Sache preist Burckhardt als Beispiel wahrer Unabhängigkeit unter den widrigsten Umständen eines tyrannischen Staates.l' Burckhardt kommt immer wieder zurück auf das Problem der unabhängigen Persönlichkeit und die Mittel, solche Unabhängigkeit in einer Welt der sozialen und politischen Bedrängnis zu sichern. Er beschreibt die Einstellungen der griechischen und hellenistischen Philosophen – von Sokrates bis zu den Kynikern, von den Epikuräern bis zu den Stoikern – trotz all ihrer metaphysischen Differenzen als identisch. Das zentrale Problem ihrer Philosophie ist die Sorge um geistige Unabhängigkeit und Spontaneität, ist die Suche nach den Mitteln, mit denen diese in einer Welt voller Zwang, einer Welt bar der Philosophie verwirklicht werden können. Ihre Askese h' i'
j' k' l'
Aristoteles, Politik. Übersetzt von Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner 1995, S. 85 (III 4 1277b 13-19). Jacob Burckhardt, „An Gottfried Kinkel 7. Januar 1845“. In: Jacob Burckhardt, Briefe zur Erkenntnis seiner geistigen Gestalt. Mit einem Lebensabriß. Herausgegeben von Fritz Kaphan. Leipzig: Kröner 1935, S. 130-131. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd 1, S. 206-245. Burckhardt, Kultur der Renaissance in Italien, S. 119-123. Ebd., S. 150-152.
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nimmt den Rückzug der letzten heidnischen Philosophen, nimmt die frühen Eremiten vorweg, welche die Entwürdigung ihrer Gesellschaften flohen, um spirituelle Freiheit und geistige Unabhängigkeit zu erlangen. Mit Burckhardts Hervorhebung der unabhängigen Persönlichkeit bewegen wir uns ins Zentrum seiner Philosophie des Menschen. Trotz der unausweichlichen Historizität menschlichen Geschicks bleibt die reale Freiheit immer eine Herausforderung und eine Quelle des Staunens. Menschen widmen ihr Leben, ja opfern sich selbst für Werte, Ideen, Grundsätze, durch die sie Freiheit erlangen. Sie wissen, dass auch diese ideellen Güter sozialem Druck und Wandel unterworfen sind. Gleichwohl geben sie sich vorbehaltlos bestimmten Werten, einer Sache hin. Für Burckhardt scheint dies das wundersame Element im menschlichen Schicksal zu sein, ist doch letztlich der Mensch genau dies: ein rätselhaftes, wundervolles Wesen, dass zu Edlem und Erhabenem ebenso fähig ist wie zu Entwürdigendem und Grausamem. Aus der freiwilligen Fügung unter das summum bonum ensteht Freiheit. Neben dieser entstehenden Freiheit existiert im Sozialen eine zweite absolute Wahrheit, nämlich das Königsrecht der Zivilisation zur Unterwerfung der Barbaren. Allerdings stellt Burckhardt seine eigene Überzeugung unverzüglich in Frage: „Fraglich aber ist, ob man sie [die Barbarei] wirklich innerlich zivilisiert, was aus den Nachkommen von Herrschern und von überwundenen Barbaren, zumal anderer Rassen gutes kommt, ob nicht ihr Zurückweichen und Aussterben (wie in Amerika) wünschbarer ist, ob dann der zivilisierte Mensch auf dem fremden Boden überall gedeiht.“m' Obwohl Burckhardt einräumt, dass vornehmlich der politische Referenzrahmen die soziale Sphäre bestimmt, verwendet er große Mühen darauf, die Auswirkungen der Gesellschaftskultur auf die politischen Einrichtungen zu analysieren. Dies ist für ihn die Crux, wenn die Krise der modernen Zivilisation, wenn die menschliche Unabhängigkeit zur Frage steht. Er betrachtet als gegeben, dass die Gesellschaft und die politischen Institutionen zwei notwendige Konstanten der historischen Situation des Menschen darstellen. Er erkennt, dass die Ereignisse auf dem europäischen Kontinent eine Situation entstehn lassen, in der das Zusammenwirken dieser beiden Konstanten zerrüttet sein wird. Es ist das Paradox unseres modernen Lebens, dass die gleichen Gesellschaften, die sich ihrer Bürgerrechte und ihrer Freiheit von staatlicher Macht rühmen, andererseits darauf erpicht sind, die Kontrolle über alles Gesellschaftliche in den Händen des Staates zu wissen. Burckhardt definiert den Staat als die „Abdikation der individuellen Egoismen.“n' Für die Zukunft prophezeit er die Heraufkunft eines politischen Leviathan, der die Abdikation beider, des Individuums und der Gesell-
m' n'
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 27. Ebd., S. 27.
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schaft, bewirken wird. Burckhardt hatte die Heraufkunft des totalitären Staates mehr als jeder andere Philosoph oder Historiker des 19. Jahrhunderts erkannt. Er war sich sicher, dass die europäische Gesellschaft seiner Zeit auf dem besten Weg war, sich zu einem totalitären Staat zu entwickeln: Wenn die Gesellschaft durch soziale Konflikte gelähmt ist, ist sie gezwungen, die staatlichen Mächte auf ein nie erträumtes Ausmaß auszudehnen. Obendrein begünstigen die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen die Expansion der organisierten Staatsmacht aufs äußerste. Dies war die Zukunft der europäischen Gesellschaft, wie Burckhardt sie inmitten des optimistischen 19. Jahrhunderts sah. Der tyrannische Staat wird noch für lange Zeit vorherrschen, selbst wenn es letztlich eine neue Anstrengung der ‚idealen Kräfte’ geben wird, Freiheit und Würde des Individuums wieder aufzurichten. Folgerichtig hätte Burckhardt die Konstellation seiner Konstanten auf die Dichotomie von Macht und Geist reduzieren können. Wenn er die religiöse Konstante als eine unabhängige Größe herausstellt, die von der Kirche zu unterscheiden ist, und diese eine die Gesellschaft stabilisierende Kraft nennt, sie mithin in die Nähe des Staates rückt, so auf Grundlage der Beobachtung der christlichen Kirchen, die versuchten, ein Monopol auf Wahrheit zu erlangen und zu vollstrecken. Jedoch stellt er fest: „[I]n Thesi aber verlangen alle Religionen mindestens so ewig zu sein als die sichtbare Welt, und jede hat einen bleibenden menschlichen Gehalt in sich, welcher sie hierzu teilweise berechtigt. […] Jede ausgebildete Religion höheren Ranges ist vielleicht relativ ewig […] Die späteren ‚Einrichtungen’ einer Religion sind nämlich einzelne Reste oder Nachklänge aus dem Gesamtzustand bei ihrer Entstehung wie denn, z.B. die Klöster der Rest des anfänglichen gemeinsamen Lebens der Urgemeinde sind.“o' Burckhardt erachtet das primäre Phänomen der Religion als eine Potenz, die im Gegensatz zum soziologischen Phänomen religiöser Institutionen steht. Die Quellen dieses primären Phänomens sind das Bedürfnis, die Endlichkeit und den fragmentarischen Charakter der menschlichen Person zu überwinden, und die Hingabe an ein größeres Ganzes. Diese Wahrnehmung eines spirituellen Elements in der menschlichen Natur als anhaltende Quelle religiösen Handelns veranlasst Burckhardt zu insistieren, Religion und die Frage nach dem Sinn seien die Wurzeln jeder Zivilisation. Die Ewigkeit der religiösen Intention billigend, lehnt Burckhardt es gleichwohl ab, jedweder kirchlichen Institution Ewigkeit zuzugestehen. Jede Religion hat einen geschichtlichen Ursprung und unterliegt, wie jede geschichtliche Erscheinung, dem Geschick zu einer sozialen Institution zu werden. Religionen werden in Machtbeziehungen und persönliche Interessen verwickelt, insbesondeo'
Ebd., S. 39, 42 u. 32.
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re, indem sie mit dem Staatswesen in Wechselwirkung treten. So sind Religionen zugleich historisch und ewig. Die Historizität der Religion bedeutet keine Evolution dieser Potenz. Die verschiedenen Religionstypen – z. B. übernatürlichtranszendental, mystisch-pantheistisch, magisch-rituell – korrespondieren mit der unterschiedlichen Tiefe religiöser Erfahrung und haben Affinitäten zu verschiedenen Sozialformen. Die Entwicklung und die Ausbreitung von Religionen ist vor allem ein soziologisches Phänomen. Der wesentliche Inhalt der religiösen Botschaft und der Zeitpunkt ihres Erfolgs sind bestimmt durch die sozialen Umstände der fraglichen Gruppen, insbesondere durch den Charakter der Elite. Somit ist es die Elite, die letztlich über Anerkennung oder Ablehnung einer religiösen Lehre entscheidet, während die Massen sich mühelos ergeben, nicht widerstehen können, wenn eine starke und entschiedene Überzeugung auf ihre düsteren, unbeständigen und nihilistischen Meinungen trifft. Burckhardts Analyse der soziologischen Folgen der Religion Mohammeds ist ein ausgezeichnetes Beispiel für soziologischen Realismus. Diese Religion ist eine „äußerste Vereinfachung“p' jüdischer und christlicher Ideen und zielt darauf ab, die Bedürfnisse räuberischer Stämme auf der niedrigsten kulturellen Ebene zu befriedigen. Einige paradoxe Aspekte der Reformation unterzog Burckhardt einer ähnlichen soziologischen Analyse. Es ist die Paradoxie der Reformation, ursprünglich darauf abzuzielen, die religiöse Innerlichkeit des Individuums freizusetzen, letztlich aber die sittlichen und seelischen Kräfte des Menschen den politischen Mächten anheim zu geben. Mit ähnlichen Begriffen, wie sie John Neville Figgis und George de Lagarde gebrauchten,q' verweist Burckhardt auf die fatale Ähnlichkeit Luthers mit Machiavelli, auf seinen tragischen Erfolg, die moderne Säkularisierung unbewusst zu begünstigen. Schließlich merkt er an, dass die Reformation durch diejenigen Gruppen unterstützt wurde, die mit Recht davon ausgehen konnten, von der Lockerung seelischer und weltlicher Bindungen zu profitieren.r' Burckhardts bedeutendster Beitrag zur Religionssoziologie ist die Analyse der Bedingungen, unter denen die christliche Kirche ein Teil des Römischen Imperiums wurde. Die Verfolgungen unter Diocletian hatten den positiven Effekt, die sich streitenden Sekten zu einer starken hierarchischen Körperschaft zusammenzuführen. Diese gut funktionierende Körperschaft mit ihrer strengen und rigiden Organisation sah Konstantin als die am besten geeignete Gewalt an, die Verwaltung des Imperiums zu übernehmen. Hinzu kommt, dass unter den p' q'
r'
Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 267. John Neville Figgis, „Luther and Machiavelli“. In: John Neville Figgis, Political Thought from Gershon to Grotius 1414-1625. Herausgegeben von Garret Mattingly. New York: Harper & Brothers 1960, S. 71-121; George de Lagarde, La naissance de l’esprit laïque au déclin du moyen âge. 2. Aufl. Paris: Presses universitaires de France 1942. Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 312-328.
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konkurrierenden Religionen allein die christliche Konfession über eine einfache, verständliche Erlösungsbotschaft verfügte, die eine Vielzahl sozialer und religiöser Bedürfnisse ansprach. Burckhardt untersuchte diesen Wendepunkt in der Kirchengeschichte: Erstens bot sich die einzigartige Gelegenheit, das Evangelium unter den Heiden, den barbarischen Stämmen zu verbreiten; zweitens war dies die großartige Gelegenheit, der neuen Religion die antike Zivilisation einzuverleiben; drittens war es für die Kirche die schreckliche Versuchung, sich mit dem Staat in seiner Gier nach Macht zu verbinden. Die Wandlung von einer asketischen, jenseitigen Religion zu einer politischen Institution gefährdete die wahre Botschaft des Christentums, etwa die von der Überwindung des Lebens und der Erringung seelischer Freiheit durch Asketentum. Overbeck und Barth griffen Burckhardts Vorschläge auf, wonach Mönchtum und Askese den wahren Sinn des Evangeliums verkörpern.s' Burckhardt war überzeugt, dass der unverfälschte Geist der Religion nur durch seine Trennung von der Macht wiedergeboren werden könne. Nur dann werde Religion erneut zu einer Manifestation des Freiheitsdrangs, zu einer ideellen Macht, die ihren Beitrag zum Umbau der Welt zu leisten vermöchte. Er nimmt zur Voraussetzung, dass Religion ein elementarer Wesenszug des Menschseins ist; sie steht in Wechselwirkung mit den Konstanten der Macht und der Kultur. Wo und wann immer Religion entsteht, muss sie Spielraum und Volumen kulturellen Tätigseins begrenzen. Dies kann ebenso positive wie negative Effekte zeitigen. Negative, wenn wir unterstellen, dass auf diese Weise die menschlichen Potenziale vollständig absorbiert und unterdrückt werden; positive, wenn wir unterstellen, dass all das, was im Zuge einer religiösen Zivilisation verhindert wird, in zukünfige Gesellschaften, gleichsam ,schicksalhaft’, als ungeformt-spontanes menschliches Schöpfertum wiedergeboren wird. Als unverzichtbare Bedingung der Künste und der Poesie wird Religion immer eine positive Wirkung entfalten. Allein Religion ist die Quelle, aus der die tiefste und zugleich einfachste Wahrheit über das Ganze entspringt; indem die Religion gänzlich durch die Künste beansprucht wurde, hat sie die menschlichen Seelen aus Furcht und Aberglauben gerettet und ihnen eine klare Vorstellung von der gewaltigen, ja überwältigenden Macht des Geistes gegeben. Ein sorgfältiges, wohlüberlegtes Abwägen der positiven und negativen Wirkung der Konstanten menschlichen Handelns gebietet Mäßigung in allen Theorien über die ‚Notwendigkeit’ historischer Ereignisse. Dennoch begegnen wir dem Begriff ‚Notwendigkeit’ recht häufig in den Arbeiten dieses radikalen Kritikers der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Die Reformation war ‚notwens'
Franz Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie. Aus dem Nachlass herausgeben von Carl Albrecht Bernoulli. Basel: Schwabe 1919. Karl Barth, Der Römerbrief. Bern: Bäschlin 1919.
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dig’; das moderne Denken wird als ‚notwendig’ bezeichnet; Borgia wird als ‚notwendig’ tituliert. Andererseits verspottet Burckhardt die Historiker, die „das Gras der Notwendigkeit wachsen hören“t'. Mit seinen empirischen Untersuchungen stellt er den Glauben in Frage, jedem Augenblick komme eine relative Notwendigkeit für die nächste Episode im historischen Prozess zu. „Flach und ungenügend ist die Urteilslosigkeit, welche sich damit abfindet, jedem einzelnen Moment der Revolution seine relative Berechtigung zuzuweisen, als Entwicklungsdurchgang“.u' Zufälle, Fehler, persönliche Schuld gibt es zu jeder Zeit; dies lässt sich nicht beseitigen. So gab es in Italien zur Zeit der deutschen Reformation religiöse Kräfte mit großen Potenzialen; gleichwohl hatten die Italiener nicht die gleiche ‚Chance’. Was sollen diese widersprüchlichen Aussagen bedeuten? Revolutionäre Umschwünge wie die Renaissance oder die Reformation entziehen sich im Kleinen wie im Großen philosophischen Schlussfolgerungen über ihren Ursprung und Fortgang. Da wir niemals in der Lage sind, alle relevanten Fakten in Erfahrung zu bringen, bleibt immer ein Rätsel ungelöst. Wir können nur in einer hypothetischen Form von ‚Notwendigkeiten’ sprechen. Burckhardt spricht von ‚Notwendigkeiten’ als der Diagonalen in einer Verkettungen von Umständen in einer spezifischen Situation. In diesem empirischen Sinn meinen Notwendigkeiten Tendenzen, die vermutlich dann vorherrschen werden, wenn es uns gelingt, Intensität und Wirklichkeit der Konstituenten der sozialen Struktur korrekt zu messen. Vielleicht ist an dieser Stelle eine allgemeine Reflexion der Begriffswelt Burckhardts angebracht. Burckhardt war ein Schüler von Hegel, Ranke, Schopenhauer und Hartmann. Er verwendete deren Begrifflichkeiten nie in einem strikt philosophischen Sinn. Er spürte, dass das, was er zu sagen hatte, unzeitgemäß war, über die Grenzen akademischen Denkens hinausging. Aus diesem Grund dürfen wir seine Worte niemals zu wörtlich nehmen; wir müssen ihn cum grano salis lesen. Burckhardt schreibt revolutionäre Macht dem spontanunabhängigen Geist zu, der etablierte Institutionen unter dem Gesichtspunkt absoluter Werte frei kritisieren kann. Diese intellektuelle Freiheit ermöglicht sozialen Wandel. Während Max Weber diese Konstante als eine historische Form des modernen pragmatischen Rationalismus beschreibt, ist sich Burckhardt sehr wohl bewusst, dass das revolutionäre Vernunfthandeln zwei Seiten hat. Es kann sozialen Wandel hervorbringen und es kann „die Erdendinge“ durcheinanderrütteln,v' ist gleichermaßen historisch und transhistorisch. Es ermöglicht die Transzendenz des Menschen als geschichtlichem Selbst, erlangen t' u' v'
Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 293. Ebd., S. 420. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 336.
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doch alle Handlungen der Erkenntnis und der Seelenschau einen objektiven Stand jenseits der strömenden Zeit. Eine eingehende Untersuchung von Burckhardts Arbeiten wird ohne Umstände erweisen, dass er stets die ideellen und geistigen Kräfte als diejenigen Mächte identifizierte, die den Menschen befähigen, in einer Welt umfassender Bestimmtheit frei zu werden. Burckhardt konstatiert, dass der tiefste Grund jeglicher Religion und Erkenntnis die Eroberung irdischer Dinge ist. Die Eroberung irdischer Dinge ist das Ende menschlicher Vervollkommnung. Burckhardts Lehren werden dem modernen Studenten, den der Druck der Geschichte verwirrt, Instrumente an die Hand geben, mit deren Hilfe er die Grenzen des Historismus zu überschreiten vermag. Er empfiehlt keine spezifische Doktrin, ist tätig im Geist der Alten, überzeugt, dass Kontemplation frei macht. Bei diesem kompromisslosen Realismus vergisst Burckhardt jedoch nicht, dass diese Freiheit nicht außerhalb einer existierenden Ordnung, deren Fundamente mit Gewalt und Zwang zementiert wurden, praktiziert werden kann. Dieser Antinomie begegnet er, indem er die Frage stellt, auf die der Agnostiker keine Antwort weiß: „Aber wer die Macht will und wer die Kultur will, – vielleicht sind beide Werkzeuge eines Dritten, noch Unbekannten.“w' Burckhardt präsentiert seinem Leser viele derartige Antinomien, die im Leben der Einzelnen zusammengeführt werden. Aus diesem Grund meine ich, dass man Burckhardts historische Soziologie eine empirische Wissenschaft in philosophischer Absicht nennen darf.
IV. Die Geschichte und die Künste Es gibt noch einen anderen Weg, die Geschichte zu transzendieren. Mit seinen Arbeiten zur Kunst und Kunstgeschichte hat Burckhardt diesen Weg bereitet.14 w' 14
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 73. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, Bd. 1. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 3. Herausgegeben von Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1933; Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, Bd. 2. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 4. Herausgegeben von Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1933; Jacob Burckhardt, Die Kunst der Renaissance in Italien. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 6. Herausgegeben von Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1932; Jacob Burckhardt, Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 12. Herausgegeben von Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930; Jacob Burckhardt, Antike Kunst – Skulptur der Renaissance – Erinnerungen aus Rubens. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 13. Herausgegeben von Felix Stähelin und Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1934.
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Seine Herangehensweise, seine Intentionen hier ähneln denen, die er anlässlich des Studiums der Geschichte verwandte. Näher geht er hier vor allem auf die mitteilsamen Aspekte der Kunst ein, geht es ihm doch in der Hauptsache darum, seinen Studenten wissenschaftliche Instrumente für die verständige Interpretation von Kunstwerken weiterzugeben. In diesen Untersuchungen interpretiert er das Kunstwerk als musterhaften Ausdruck einer historischen Situation und ebenso des endlosen Bemühens in der Abfolge der Zeiten, Generation für Generation, das menschliche Dasein in Zeit und Raum durch Symbole und Bilder zu erklären. Die Formenanalyse nimmt einen wichtigen Teil dieser Studien ein. Ihre Hauptaufgabe ist es allerdings, dem Leser und Schüler bewusst zu machen, dass alle diese Kunstwerke bestimmte Aspekte der menschlichen Natur ausdrücken und einen gewissen Einfluss darauf haben, wie die Existenz des Menschen in der Welt zu verstehen ist. Wie in seinen historischen Studien interessiert sich Burckhardt auch in seinen Forschungsarbeiten zur Kunst nicht für Anekdoten oder Daten. So wie er in seinen Überlegungen zur Geschichte die Verallgemeinerungen der Philosophen einer soliden skeptischen Prüfung unterzog, begegnet er auch hier den ästhetischen Theorien der Experten mit Skepsis. Der Kunsthistoriker Burckhardt lehrt, dass wir jenem Rätsel des Lebens, das sich im historischen Dasein des Menschen ausdrückt, im unsagbaren Geheimnis großer Kunstwerke begegnen. Durch spezialisierte Forschung mag es uns vergönnt sein, einige Geheimnisse der Natur zu erobern; doch werden wir niemals den Schleier des lebendigen Geistes lüften können, der den vollkommenen Werken des großen Künstlers innewohnt. Dies ist weder Defätismus noch Irrationalismus, es bedeutet schlichtweg, dass die Definitionen der Philosophen denkbar unangemessene Mittel sind, um die lebendige Gänze eines Kunstwerks zu erfassen. Der Gelehrte kann nur die konstituierenden Elemente des Schönen beschreiben, Kriterien seiner Vollkommenheit angeben. Die Künste und ihre Geschichte sollten als ein bedeutendes Element der Bildung und Interpretation des Selbst in Raum und Zeit gelehrt werden. Die Künste sind als geschichtliches Phänomen ein höchst bedeutender Faktor und eine wirkend-schaffende Kraft im Leben einer Gesellschaft. In ihrer höchsten Vollendung offenbaren sie die Paradoxie von Vollkommenheit, von absolutem Wert einerseits und menschlicher Endlichkeit in der Geschichte andererseits. Burckhardt insistiert auf dem einzigartigen Charakter der Plastik und der Literatur. Mit ähnlichen Begriffen wie Henri Bergsonx' beschreibt er den „geistigen Überschuß“, der im Verlauf jeglicher materieller Tätigkeit entsteht. „Und dieser
x'
Vgl. Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung. Übersetzt von Gertrud Kantorowicz. Jena: Diederichs 1912, S. 93-103.
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geistige Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zugute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung; [...] oder er wird bewusster Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede, – Kunstwerk; und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter. […] Und endlich ist nicht nötig, für die Entbindung jedes Geistigen einen materiellen Anlaß als Basis aufzufinden, obwohl er sich am Ende fände. Wenn der Geist sich einmal seiner selbst bewußt geworden, bildet er von sich aus seine Welt weiter.“ Die Künste „beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen, in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungsvoll und unvergänglich.“y' Burckhardts Bestreben ist es, in dem Lehrer, dessen Sorge dem Wachstum eines Individuums gelten soll, ein Bewusstsein für die höchste Perspektive der Kunst zu wecken. Genau aus diesem Grund will er dem Studenten Maßstäbe vermitteln, die ihn in die Lage setzen, wahrhafte Originalität, Kraft und Größe in der Kunst zu erkennen. Eine solche Unterweisung wird die gesamte Anschauung des Studenten, seine Lebensphilosophie formen. Nur auf diese Weise wird er auf die ‚gesegnete Stunde’ des Erleuchtetwerdens vorbereitet, wenn er Einheit und Gänze eines großen Kunstwerks zu verstehen vermag. Solche Unterweisung kann uns helfen, die Sphäre der Kunst als ein Reich reiner und unvoreingenommener Kontemplation zu verstehen. Es mag uns zudem lehren, die Künste nicht mit Unterhaltung und Entspannung gleichzusetzen, sie nicht als Ersatz des Glücks zu nehmen, und dennoch wird es manchmal geschehen, dass Kunst die höchsten Momente menschlichen Erlebens umgestaltet und die verworrenen, unverstehbaren Schicksale des Menschen in der Welt durchschauen, deutlich werden lässt. Mehr noch als in seinen Studien zur Geschichte lobt Burckhardt in seinen Arbeiten zur Kunst das „ansonsten höchst unangenehme 19. Jahrhundert“z' dafür, dass es das objektive Verstehen antiker und fremdartiger Kunstwerke ermöglicht. Verglichen mit den Jahrhunderten, die lediglich solche Kunst schätzten, die den Werten ihrer eigenen spezifischen Geschichtssituation entsprach, ist dies keine geringe Errungenschaft. Die Renaissance und der Barock hatten kein Verständnis für die Kostbarkeit der gotischen Kunst; die Moderne interessierte sich kaum für die Kunst des Barock. Mit dem Zusammenbruch der politischen, religiösen und sozialen Monopole während des 19. Jahrhunderts war der Weg bereitet, die Annäherung an eine Vielfalt künstlerischer Erfahrungen zuzulassen. Moderne Weltoffenheit ermöglichte es, sich drei verschiedene Aspekte der
y' z'
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 44-46. nicht nachgewiesen
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Kunstwerke vor Augen zu führen: Wir können sie als Ausdruck einer individuellen Situation auffassen; wir können sie als eine zeitlose Offenbarung des menschlichen Geistes in der Zeit würdigen; und schließlich können wir sie als die Phänomene erkennen, mittels derer Menschen eine Form des Wissens erlangen, die den fachlichen Errungenschaften der Wissenschaften und philosophischer Einsicht weit überlegen ist. Der unvoreingenommene Eifer der Moderne, die Vielfalt des Ausdrucks, der Formen und Muster aller Kulturen zu verstehen, hat sich positiv auf das menschliche Dasein als solches ausgewirkt. Er erweiterte den Horizont unseres Denkens, hob unser Erleben auf eine höhere Ebene. Die äußerste Faszination des schönen Kunstwerks entfesselt in der um Verstehen bemühten Person eine Unruhe, die vom endlichen und unvollständigen Sein zum wahren und perfekten Sein führt. Burckhardt war überzeugt, die Kunstgeschichte zu lehren ermögliche es, den Einzelnen zu verwandeln, sein Verständnis auszuweiten, jene Kräfte zu steigern, die es ihm gestatten, in der historischen Zeit zu leben und sie zugleich in der ewigen Gegenwart des Geistes zu überschreiten. Angesichts der prekären Situation, die das Los des Künstlers in der modernen Welt ist, kann das Studium der Kunst zeigen, wie mächtig das Verlangen ist, Werke voller Schönheit hervorzubringen, selbst wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dem ungünstig sind. Der Lehrer kann auf die Natur der künstlerischen Intention jeder Kultur verweisen, auf ihre Vermögen, soziale Ächtung oder Gleichgültigkeit zu überwinden. Im Widerspiel mit der Mobilität, der revolutionären Dynamik des 19. Jahrhunderts schaffen Burckhardts Überlegungen zur Bedeutung der Kunst eine Sphäre der Kontemplation, die man in der Vergangenheit nicht kannte. Wir lernen, die Geschichtlichkeit der Kunst und des Menschen als selbstverständlich zu betrachten und damit die plurale Ewigkeit künstlerischer Errungenschaften, die unterschiedlichen Schichtungen des künstlerischen Ausdrucks als verschiedene Formen der Weltauslegung zu betrachten. In seinen Studien über die Kunst ist Burckhardt wahrhaftig Lehrer, bildet seinem Leser das Verstehen von Kunstwerken um des mitgeteilten Wissens von der Wahrheit des Ganzen willen an. Zwischen Burckhardts Vorstellung der Aufgabe der Historiographie und der des Studiums der Kunst besteht eine profunde Ähnlichkeit. Nach seiner Vorstellung befasst sich die Geschichte mit dem Studium der Kultur. Für das Studium der Kunst prägte er den recht seltsamen Begriff der „systematischen“ Kunstgeschichte.a'' Was er tatsächlich praktizierte, war die soziologische Untersuchung künstlerischer Formen und sich wandelnder Muster. So war es für ihn selbstverständlich, dass Kunst eine autonome Existenz hat. Er erachtete es aber auch als seine eigene Aufgabe, die Auswirkungen sozialer Verhältnisse auf diese autoa''
Burckhardt, Die Baukunst der Renaissance, S. 304.
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nomen Gebiete zu erforschen. „Vielleicht ließe sich die hier vorliegende Arbeit auch durch ihre Kürze rechtfertigen, indem sie den wesentlichen Kunstgehalt einer Periode in einen kleinern Umfang zusammendrängt, als dies die Künstlergeschichte vermag.“b'' Sein nüchterner Realismus lehnte sich gegen einen rein idealistischen, rein geistigen Umgang mit Kunstwerken auf. Es existieren soziale Bande zwischen Künstler und Sammler, die für die Problemlage des Künstlers und für deren Lösung von hoher Relevanz sein könnten. Die Bedeutung von Ruhm und sozialem Prestige, die ihren Ursprung in den unrechtmäßigen Regierungen der italienischen Renaissance und deren Rücksichtnahme auf die Macht der öffentlichen Meinung hat, ermöglicht es, die kolossalen Vorhaben der italienischen Architekten zu erklären. Die Neigungen und Vorlieben der Sammler – unabhängig davon, ob sie nun dem Adel, den Patriziern oder dem wohlhabenden Mittelstand angehörten – wirkten sich auf die künstlerische Produktion aus, beeinflussten die technischen und materiellen Probleme, die sich für die Künstler stellten. Burckhardts Aufsätze über den Sammler, das Portrait und das Altarbildc'' sind unübertroffene Modelle dieser soziologischen Herangehensweise an die Kunst. Es ist der große Verdienst dieser Studien, dass sie unterschiedliche Tiefen der Kunstgeschichte deutlich machen. Burckhardt ist hellsichtig genug, um zu erkennen, dass die formalen und fachlichen Probleme, mit denen sich der Künstler herumschlagen muss, einen ebenso bedeutenden Faktor darstellen, wie seine soziologische Position. Seine Konzeption der systematisch-soziologischen Behandlung der Künste verweist auf eben diesen Aspekt: auf den Zusammenhang der historischen Situation künstlerisch-technischer Probleme mit der sozialen Situation von Künstler und Sammler, auf die Aufklärung der Überzeitlichkeit des Kunstwerks. Die Wechselbeziehung und gegenseitige Abhängigkeit von sich verändernden Inhalten und immerwährenden Kunstformen bleibt der Konzentrationspunkt dieser Wissenschaft der Kunst. Wie im geschichtlichen Leben des Menschen vermutet Burckhardt auch in der Kunstgeschichte wiederkehrende Tendenzen und bleibende Intentionen, die in spezifischer Form in Erscheinung treten. Ihr Aufeinandertreffen und Verschmelzen mit technischen Problemen erzeugt die Veränderungen in der Entwicklung der Kunst. Allerdings nimmt Burckhardt stark an, dass die Verhältnisse der externen und internen Welt für das künstlerische Vorhaben lediglich Anreize bilden. „Wünscht man aber noch Werke der höchsten Inspiration von den Künstlern, so wird man dieselben heute am ehesten erhalten, wenn man ihnen selbst die materielle Wahl des Thema’s frei läßt und nur die große und schöne Erscheinung begehrt. Man überlasse sie ihren
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Ebd. S. 304. Burckhardt, Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien.
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Visionen.“d'' Burckhardt lehrte seine Studenten, dass sie zuerst Kenntnis davon nehmen müssten, was der Künstler in einer gegebenen historischen Situation mit deren technischen, materiellen und künstlerischen Problemen überhaupt zum Ausdruck bringen konnte. Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, können wir die Frage nach Geschichtlichkeit und Übergeschichtlichkeit der Kunstwerke stellen. Burckhardt unterscheidet sorgsam zwischen den verschiedenen Ebenen der Kunst. Es gibt Kunstprodukte, deren ausschließlicher Zweck die Unterhaltung ist; ebenso gibt es Kunstwerke, die die Vollendung eines Stils darstellen. Die seltenen großen Werke der Vollkommenheit übersteigen das allgemeine Niveau künstlerischen Tuns. In einem sehr formalen Sinne sind alle Kunstwerke als Objekte des menschlichen Denkens und der Vorstellungskraft geschichtlich. Was Burckhardt als „irdisch-unsterblich“e'' bezeichnet, wird lediglich solchen Kunstwerken zugeschrieben, die das Zeichen der Größe tragen. Er will diese Formulierung als Hinweis auf ein Werk verstanden wissen, das unersetzlich, einzigartig ist: die Manifestation einer Persönlichkeit, der es gelingt, mit fügender Geisteskraft und Imagination eine Mannigfaltigkeit des Erlebens zu einen. Burckhardt ist recht überzeugt, dass die Größe von Künstlern oder Dichtern nur in Begriffen des Sittlichen definiert werden kann. Es gibt viele geniale Menschen in allen Lebensformen. Die meisten von ihnen verschwenden ihre Talente, ohne sich einer Sache aufrichtig hinzugeben. So lehnt es Burckhardt ab, einem Künstler mit herausragendem handwerklichen Geschick wie Andrea del Sarto Großartigkeit zuzusprechen, da er einen miserablen Charakter hatte.f'' Raffael hingegen preist er: „Die höchste persönliche Eigenschaft Raffaels war […] nicht ästhetischer, sondern sittlicher Art: nämlich die große Ehrlichkeit und der starke Wille, womit er in jedem Augenblick nach demjenigen Schönen rang, welches er eben jetzt als das höchste Schöne vor sich sah. Er hat nie auf dem einmal Gewonnenen ausgeruht und es als bequemen Besitz weiter verbraucht.“g'' Mit ähnlichen Worten lobt er Rubens, dessen Größe sich in der unendlichen Bildung und Kultivierung seines Selbst darstellt, im aufrichtig-naiven Streben seines Werkes trotz aller weltlichen Zerstreuungen, in der vollständigen Unabhängigkeit seiner Arbeit. Man „trifft schon an so vielen Stellen auf Glück und Güte wie kaum bei
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Jacob Burckhardt, „Über erzählende Malerei (11. November 1884)“. In: Jacob Burckhardt, Vorträge. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 14. Herausgegeben von Emil Dürr. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1933. S. 301-315, hier, S. 315. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 46. Burckhardt, Der Cicerone, Bd. 2, S. 265. Ebd., S. 309.
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einem anderen von den großen Meistern und er ist genau genug bekannt um ein sicheres Urteil zu ermöglichen.“h'' Diese Menschen sind wahrhaft groß. Und dies ist für Burckhardt die einzige Größe, die er als außergewöhnlich und normsetzend erachtet, während historische Größe eine Manifestation des Außerordentlichen und Außernormalen ist. Groß sind jene Menschen, weil sie ihr Leben der idealen Schöpfung gewidmet haben, ihre gewaltigen Energien, ihr sittliches Wollen auf deren Verwirklichung verwandten. Das Streben nach Größe in der Sphäre der Kunst korrespondiert dem Streben nach Weisheit in der Sphäre des Geschichtlichen, als unerlässliche Bedingung, um die Geschichte zu transzendieren. Burckhardt wies wiederholt darauf hin, dass selbst in der Sphäre der Künste Größe nie eine rein ästhetische, rein formale Kategorie ist. Seine Untersuchungen ästhetischer Phänomene haben deutlich gemacht, wie Verschiedenheit und Rangfolge menschlicher Attitüden in Kunstwerken ihren Ausdruck finden. Der Kern seiner ästhetischen Konzeption findet sich gleichwohl in seinen Studien zur Kultur der Renaissance. Burckhardt ist der Auffassung, dass Raffael der Schöpfer des eigenartigen Modells moderner Schönheit ist. Sein Werk wurde zum modernen Bildnis der Perfektion kraft Harmonie. „Thatsächlich hebt er [Raffael], was er irgend darstellt […] in eine ideale Welt empor, welche zwar keine Urzeit ist, aber doch einen außerzeitlichen Charakter hat [...] Eine reine Versöhnung des Gegebenen mit dem Motivschönen gewähren nur die höchsten Leistungen Raffaels.“i'' Burckhardts Lob Raffaels wurde fälschlicherweise häufig als epigonaler Klassizismus interpretiert. Für Burckhardt ist Raffael der Künstler, der ein Bildnis des „erhöht Individuellen“ geschaffen hat.j'' Er verlieh der Eigenart des Persönlichen Ausdruck, die aufgrund ihrer geistig-moralischen Kraft erfolgreich die ‚irdischen Dinge’ erobert und die widersprüchlichen und gegenläufigen Elemente des Lebens in ein unversehrtes, sinnhaftes Ordnungsgefüge umschafft. Er ist insofern historisch und modern, als er diese gewaltige lebendige Einheit auf der schmalen Grundlage maßvoll-harmonischer Innerlichkeit erlangt. h''
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Jacob Burckhardt, „Erinnerungen aus Rubens“. In: Jacob Burckhardt, Antike Kunst – Skulptur der Renaissance – Erinnerungen aus Rubens. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 13. Herausgegeben von Felix Stähelin und Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1934, S. 367-517, hier S. 373. Jacob Burckhardt, „Geschichte der Renaissance“. In Jacob Burckhardt, Die Kunst der Renaissance in Italien, Bd. 1. Geschichte der Renaissance in Italien – Die Malerei nach Inhalt und Aufgaben – Randglossen zur Sculptur der Renaissance. Jacob Burckhardt Werke, Bd. 16. Herausgegeben von Maurizio Ghelardi, Susanne Müller und Max Seidel. München: Beck u. Basel: Schwabe 2006, S. 3-257, Hier S. 199-200. Burckhardt, „Das Portrait in der italienischen Malerei“. In: Jacob Burckhardt, Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 12. Herausgegeben von Heinrich Wölfflin. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1930, S. 141-291, hier S. 240.
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In der Vergangenheit musste der Künstler einfach eine universelle Ordnung reproduzieren, die als gültig und selbstverständlich in Geltung war. Ästhetische Perfektion hatte keinen eigenständigen, keinen speziellen Ausdruck; sie war lediglich ein Element religiöser oder philosophischer Kontemplation. Raffael war der erste, der einen künstlerischen Kosmos schuf, der sein persönliches Universum war. Diese persönliche Ausführung des Schönen ist von profunder geistig-moralischer Bedeutung. Deshalb vermutete Burckhardt, dass Raffaels Arbeit nicht der Triumph eines epigonalen, sondern eines normsetzenden Klassizismus ist. Die reinste, einfachste Überwindung des Daseins ist es, wenn ein Mensch sich durch Kontemplation und Vorstellungskraft selbst erlöst. In der Kunst der Plastik entsteht so ein überdauernder, normgebender Klassizismus, der Ausdruck des reinen, des gewöhnlichen Lebens in seiner höchsten Form ist. Raffaels Werk ist übergeschichtlich im formalen Sinne und von Dauer als ein Ausdruck der Überwindung des Daseins. Burckhardts Lob des Klassizismus Raffaels lässt sich nur dann wirklich verstehen, wenn es seinem Urteil über Michelangelo gegenüber gestellt wird. Michelangelo ist der moderne Künstler schlechthin. Um sich selbst zu finden, muss er sich der Tradition, den antiken und christlichen Mythen und Stilkonventionen widersetzen. Er ist fortwährend ruhelos und strebt danach, neue und unbekannte Möglichkeiten zur Darstellung des menschlichen Körpers zu entdecken. In seinen Beziehungen zu anderen ist er willkürlich, ungestüm, aufdringlich. Er verkörpert den anderen Pol der Moderne: das radikale, maßlose Element. Raffael stellt sein Gegenbild dar: die rationale, versöhnliche und harmonische Persönlichkeit. In der Gedrängtheit und Anspannung Michelangelos spiegelt sich die Selbstdramatisierung der modernen Epoche inmitten der unauflöslichen Konflikte, in denen sie gefangen ist. Michelangelo zielt auf einen zuhöchst naturalistischen, einen physiologischen Realismus; gleichzeitig strebt er danach, das Übermenschliche auszudrücken, dem er in exzessiven Attitüden, gewaltsamen Bewegungen und übersteigerten Positionen eine konkrete Form gibt. Bei Michelangelo erscheint das, was später zu einer reinen Vulgarität und Perversität degeneriert, als „im einzelnen Fall monströs“.k'' Dies ist das Gegenteil zu Raffaels ‚erhöhtem Individuellen’. Raffael verleiht der Macht objektiver, reiner Rationalität Ausdruck; Michelangelo erzählt die Geschichte des modernen Menschen, der im Wirrwarr seiner eigenen irrationalen Wünsche gefangen und unfähig ist, die Geschichte zu transzendieren. „Alle die schönsten Regungen der Seele (statt sie aufzuzählen genügt eine Hinweisung auf Raffael) hat er beiseite gelassen; von all
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Burckhardt, Der Cicerone, Bd. 2, S. 254.
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dem, was uns das Leben teuer macht, kommt in seinen Werken wenig vor.“l'' Burckhardt konzediert die Größe von Michelangelos Genie, doch ist ihm dies die Größe einer gewalttätigen, radikalen, zerrissenen Seele, unfähig, Gleichgewicht und Harmonie zu erlangen. Seine Arbeit bleibt die Manifestation einer problematischen menschlichen Situation, das Protokoll einer tragischen Periode in der Menschheitsgeschichte, ähnlich den Dramen des Euripides.m'' Raffael und Aischylos bringen ihre Zeiten zum Ausdruck, transzendieren jedoch zugleich auch den Augenblick, während Euripides und Michelangelo diesen Augenblick nur widerspiegeln. Burckhardts Annäherung an die Werke der Kunst ist immer von der Frage bestimmt, ob es ihrem Schöpfer gelang, die Geschichte zu transzendieren, oder ob er sie lediglich zur Darstellung bringt. Er lobt Rubens aus denselben Gründen, die er schon anlässlich seiner Apotheose Raffaels anführte. Rubens ist der letzte Ausdruck einer Welt der Vollkommenheit und Vornehmheit, ein Mann, der vermag, die mannigfaltigen Bilder, die ihn zu überwältigen drohen, in einem harmonischen Kosmos zu verschmelzen, dessen Herr er ist. Burckhardts Studien zur Kunst werden manchmal als Leitfaden betrachtet. Tatsächlich sind sie dies, aber nicht für den Amateur oder den Sammler; in Wirklichkeit ist dies ein Leitfaden für ein erhabenes und vollkommenes Leben. Für Burckhardt offenbart die Welt der Formen eine Vielfalt grundlegender menschlicher Neigungen und Intentionen, deren Wert sich nach dem Horizont, den sie erfassen, bemisst. Die Künste haben für ihn nur im Suchen und Finden der Weisheit Bedeutung. Es sind Formen menschlicher Erkenntnis, deren letztes Ziel es ist, dem Menschen zu helfen, seine historische Perspektive zu transzendieren, sein Leben transparenter zu machen, es im Lichte jener Magie zu betrachten, die real erscheint, wenn sie mit den idealen Kräften natürlicher Vernunft und ausgewogener Weisheit erobert wurde. So ist es kein Zufall, dass der Mann, der die Größe Raffaels’ und Rubens’ rühmte, auf den letzten Seiten seines Cicerone mit reinster Bewunderung von Claude Lorrain sprechen sollte: Auf seinem Werk liegt „ein unaussprechlicher Zauber. Claude als reingestimmte Seele, vernimmt in der Natur diejenige Stimme, welche vorzugsweise den Menschen zu trösten bestimmt ist und spricht ihre Worte nach. Wer sich in seine Werke vertieft – schon ihre gleichmäßige schöne Vollendung macht dies zu einer dankbaren Arbeit – für den ist kein weiteres Wort von nöten.“n'' Interessant zu bemerken ist hier, dass Goethe in ähnlicher Weise von dem großen französischen Maler sprach: In Claude Lorrain „sehen sie einmal einen vollkommenen Menschen, der schön gedacht und empfunden hat l'' m'' n''
Ebd., S. 254. Euripides, Ausgewählte Dramen. Übersetzt von Jakob Mähly. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1881; Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 171. Burckhardt, Der Cicerone. Bd. 2, S. 413-414.
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und in dessen Gemüth eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.”o'' Wie Goethe glaubte auch Burckhardt, dass die höchste Vollendung der Kunst nicht das tragisch-dramatische Genie ist, sondern erhabene Normalität und weise Mäßigung. Dies sind die Voraussetzungen, um Geschichte und ‚Erdendinge’ zu transzendieren; der Wissenschaftler oder der Künstler haben nicht das Monopol darauf. Eine solche Transzendenz ist möglich, wo eine reine und aufrichtige Seele sich dem kontemplativen und imaginären Verstehen des Wunders menschlicher Existenz in der Welt widmet. Für Burckhardt ist Homer der größte Dichter und Goethes Nausikaa-Fragmentp'' ist der ausgezeichnetste Ausdruck dieses Geistes von ‚erhabener Menschlichkeit’ in einer hässlichen und gleichgültigen Kultur.q'' Es bleibt eine weitere Äußerung, die den Kern der Lehre Burckhardts enthält. Dabei spricht er über Luca della Robbia. Wir wissen, dass dessen Werk nicht die höchste künstlerische Vollendung darstellt. Jedoch war es „in seiner Art vollendet. Sie lehrt uns die Seele des 15. Jahrhunderts von der schönsten Seite kennen; der Naturalismus liegt wohl auch hier zugrunde, aber er drückt sich mit einer Einfachheit, Liebenswürdigkeit und Innigkeit aus, die ihm dem hohen Styl nahe bringt und deren lange und gleichmäßige Fortdauer geradezu ein psychologisches Rätsel ist. Was als religiöser Ausdruck berührt, ist nur der Ausdruck eines tief ruhigen einfachen Daseins, ohne Sentimentalität oder Absicht auf Rührung.“r'' Hierin liegt tatsächlich der Schlüssel verborgen, um die Geschichte zu transzendieren: seine höchsten Bemühungen der Aufgabe widmen, das Leben durch schöpferische Kontemplation erkennbar zu machen. Burckhardts Interpre-
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Johann Wolfgang Goethe, „Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 10. April 1829“. In: Goethes Gespräche, Bd. 7. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann. Leipzig: Divan 1889-1896, S. 73. Johann Wolfgang Goethe, „Nausikaa“. In: Johann Wolfgang Goethe, Unvollendete Dramen – Bruchstücke und Entwürfe. Goethes Werke. Vollständige Ausgabe in vierzig Teilen, Bd. 13. Herausgegeben von Rudolf Pechel. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 1911, S. 46-50. Jacob Burckhardt, „Das Phäakenland Homers“. In: Jacob Burckhardt, Vorträge. Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, Bd. 14. Herausgegeben von Emil Dürr. Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt 1933, S.164-177. Burckhardt, Der Cicerone, Bd. 2, S. 8.
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tation der Rolle der Künste eröffnet einen Weg, um die Geschichtlichkeit zu überwinden.
V. Eine Philosophie des Menschen im Kosmos der Geschichte Burckhardts wegweisende Arbeiten zur historischen und zur Kultursoziologie legten die problematischen Voraussetzungen frei, von denen die zeitgenössische Geschichtsphilosophie ausging, und stellten sie in Frage. Er insistierte auf der wissenschaftlich-empirischen Beschaffenheit seines Werks. Gleichwohl setzt dieses Werk eine eigenständige Philosophie voraus, Ergebnis einer konstruktiven Prüfung jener Theorien, die er mittels empirischer Untersuchungen widerlegte. Burckhardt bezeichnete seinen Standpunkt als „wahre[n] Skeptizismus“.s'' Dies bedarf einer Erklärung: Es geht nicht um ‚Entlarvung’; dies ist der nüchterne Realismus empirischen Forschens, der von allen anthropologischen oder theologischen Hypothesen absieht. Burckhardt macht geltend, dass wir, die wir uns dem Studium der Geschichte widmen, nicht Ursprung und Zweck der Geschichte kennen. Es existiert weder ein immanenter noch ein transzendenter Sinn der Geschichte, den wir uns bewusst zu machen wüssten. Die Ursprünge sind dunkel und ungewiss; das Forschungsfeld ist auf die höheren Kulturen begrenzt. Geschichte ist ein kontinuierlicher, beweglicher Prozess; dieser ist „die große Gesamtaufgabe der Geschichte im allgemeinen“.t'' Geschichte ist Fortdauer und Zusammenhandeln des Menschengeschlechts. Dieser Prozess mag als Evolution oder als Kreislauf erscheinen; er ist der Bewegung eines Ganzen nachgeordnet. Das Leben der Menschheit ist ein Ganzes, in dem jedes Individuum nicht um seiner Selbst willen existiert, sondern um der Vergangenheit und aller Zukunft willen. Dieser Gedanke ist umso bemerkenswerter, weil Burckhard ein Gegner jenes entmenschlichenden Evolutionismus ist, der jeden Augenblick lediglich als Vorbereitung des nächsten erachtet. Burckhardt insistiert auf der Ewigkeit des Gegenwärtigen. Er räumt ein, dass der einzelne historische Augenblick eine funktionelle Bedeutung innerhalb des Zusammenhangs einer „höhern Notwendigkeit“u'' hat; aber was können wir über ein „für uns unermeßliches Ganzes“v'' wissen und über dessen Notwendigkeit, nachdem wird den Intellektualismus der Fortschrittsphilosophie verworfen haben? Die Antwort lautet, dass dieses ‚Ganze’ ebenso unsagbar ist wie das echte Kunstwerk. Diese primär philosophische s'' t'' u'' v''
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 7. Ebd., S. 4. Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 249. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 4.
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Haltung angesichts des menschlichen Daseins in der Welt ist ebenso vernünftig und einleuchtend wie der „wahre Skeptizismus“, auf den Burckhardt so versessen war.w'' Das Ganze der Geschichte bildet eine offen-dynamische Einheit von Widersprüchen. Das Leben der Menschheit ist eine fortdauernde Entwicklung antagonistischer Tendenzen. Kooperation und Konflikt, vitale Kraft und Befreiung durch ‚gesunde Vernunft’ sind in einem dynamischen Ganzen verflochten. In diesem Zusammenhang kann Verantwortlichsein für das Ganze zuhöchst bedeuten, dass die Lebensform, die wir wählen, ein Element in der Totalität dieses Ganzen ist. Es gibt eine universelle Solidarität des Leidens, der geistigen Verantwortung für die gesamte Menschheit – so muss die folgerichtige Interpretation der ,höheren Notwendigkeit’ Burckhardts lauten. Ist Leben Wachstum und Entwicklung, so schmerzlich auch immer dies sein mag, und da wir Leben sind, so sind eben auch wir es, die schließlich über die Maßstäbe, über den Gesichtskreis dieses Lebens in seiner Gänze entscheiden. Menschen machen Geschichte, indem sie handeln und behandelt werden, indem sie auf ihre Mitmenschen einwirken, indem sie deren Spielräume einschränken. Geschichte als Ganzes kann nur die Offenbarung von Größe und Elend des Menschen unter Einfluss seiner Umwelt sein, ein nie endendes Spiel der schlechten und der gesunden Kräfte des Menschen bedeuten, deren Wechselwirken und dessen Folgen für die spontanen Bewegungen des menschlichen Verstandes. Um ein wirkliches Verständnis der menschlichen Situation in der Geschichte zu erlangen, müssen wir die fortwährenden Antinomien des menschlichen Lebens erkennen, die antagonistischen Kräfte von Vitalität und Geist, der ,materiellen’ und der ,höheren’ Interessen. Soziales Leben kann nur da stattfinden, wo diese Kräfte eine Synthese, ein provisorisches Gleichgewicht erlangen. Zivilisationen können sich nur innerhalb der Institutionen eines Staatswesens entwickeln. Kein Staat ist je anders als durch Usurpation gegründet, keine große Macht ist je anders als durch Verbrechen errichtet worden. Nur wenn die ,vernünftigen Kräfte’ den rohen Kräften der Gewalt beigefügt werden, kann Gewalt zu Macht, zu Gesetz und Ordnung werden. Die grausamen, blutigen, menschenverschlingenden Grundlagen der Zivilisation ermöglichen jene Sicherheit und Kontinuität sozialen Handelns, ohne die keine materiellen, keine geistigen Erfolge denkbar sind. Dieser machiavellische Realismus ist ein Aspekt von Burckhardts gesunder Skepsis. Usurpation ist die Grundlage sozialer Institutionen. Ein sicheres Sozialleben wird niemals ohne Zwangsgewalt möglich sein. Burckhardt verspottet die idealistische Annahme, ein Regime, das auf Gewalt, Terror und Lügen gründet, sei nicht von Dauer: „Nun ist tatsächlich noch gar nie eine Macht ohne Verbrechen gegründet worden, und doch entwickeln sich die wichtigsten materiellen und geistigen Besitzw''
Ebd., S. 11.
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tümer der Nationen nur an einem durch Macht gesicherten Dasein.“x'' Die politischen Institutionen bilden den Rahmen jeder Kultur. Aus diesem Grund beginnt Burckhardt alle seine Studien zur Geschichte mit einer Analyse der politischen Institutionen, innerhalb derer menschliches Gebaren, die menschliche Kultur sich abspielen. Er untersucht das Dilemma der Kultur von allen Seiten: Die größten Zivilisationen sind auf der Verzweiflung, dem Wehgeschrei der Eroberten errichtet, ihr Boden ist mit Blut und Schweiß ihrer Untergebenen gedüngt. Dies bringt ihn zu der Schlussfolgerung, „Satan“ sei (er ergänzt: „laut der christlichen Lehre“) der Fürst dieser Welt.y'' Gewalt und Zwangsherrschaft zeigen die dämonische Selbstsucht des Menschen, angetrieben von Gier und Furcht. Der Urzustand ist nur die Systematisierung der Gewalt. In diesem Sinne erklärt Burckhardt, dass „Macht an sich böse ist“.z'' Macht ist jedoch von der Potenz, die ein echtes Element von Größe darstellt, zu unterscheiden. Im ‚großen Mann’ tritt vitale Macht von Beginn an als geistige Verdichtung und Wollenssteuerung auf, ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel. Macht ist allerdings böse, wenn sie jene abstrakte Akkumulation kollektiven Drängens ist, die ihren Expansionstrieb, ihr Übergreifen auf andere nicht zu kontrollieren vermag, weil Begierde und Habsucht ohne Ende, unerschöpflich sind. Dies ist die Grundlage der Zivilisation. Es ist das Wesen der menscheneigenen Trägheit, diese dunklen Ursprünge zu vergessen, wenn Gesetz und Ordnung ihr Humanisierungswerk verrichtet haben. Doch das gute Ergebnis eliminiert nicht die Antinomien menschlichen Lebens, kann Verbrechen und Terror nicht rechtfertigen. Wir dürfen niemals den schrecklichen Preis vergessen, den die Menschheit zu zahlen hatte, um die Fundamente der Zivilisation zu errichten. Keine Rationalisierung ermöglicht es, das bleibende Übel aus der Bilanz der Geschichte zu entfernen. Es ist die entmenschlichende Haltung der modernen Menschen, den gesamten geschichtlichen Prozess auf sich selbst zu beziehen und die Vergangenheit wie selbstverständlich als die Vorbereitung ihrer eigenen Vervollkommnung zu betrachten. Burckhardt lehnt diese Auffassung ab. Es ist eine wissenschaftliche Beobachtung, dass die gesamte Geschichte hindurch die Kräfte des Bösen Konstruktives, ja Gutes hervorgebracht haben. Gleichermaßen haben gute Absichten, gutes Tun den Aufstieg dunkler und böser Kräfte ermöglicht. Politische Geschichte ist die Geschichte des Tätigseins irrationaler und dämonischer Kräfte. Burckhardt kommt zu dem Schluss, dass wir dieses Leben nicht höher schätzen sollten, als es ihm zusteht. Diese Haltung sollte man nicht mit Pessimismus verwechseln. Als ein wahrer Skeptiker, als Realist untersucht Burckhardt alle Aspekte menschlichen Erscheinens. Ihm ist bewusst, dass die Kräfte des Bösen in den Antinomien des x'' y'' z''
Ebd., S. 186 Ebd., S. 202. Ebd., S. 25.
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Lebens eine dauerhafte Rolle für die Geschichte spielen. Sie können über eine lange Zeit hinweg herrschen, können Zivilisationen zerstören, manchmal die Kraft des Geistes auslöschen. Doch wird es immer Menschen geben, die im stillen Heroismus der Hingabe an jene Werte, an die sie glauben, die Macht herausfordern. Wir müssen diesen Gedanken mit Sorgfalt interpretieren. Er besagt nicht, dass das Dasein der Menschheit im Zustand des Gleichgewichts ist, immer wieder neu hergestellt im fortgesetzten Wechselwirken der Kräften des Bösen und der ‚gesunden Kräfte’ der Vernunft und des Geistes. Burckhardt setzt keinesfalls voraus, dass eine solche Harmonie, eine solche Ordnung existiert. Er stellt lediglich fest, dass der Druck des Krieges, der Revolution, der Tyrannei, radikaler Formen der Gewalt mitunter Formen des Heroismus, des Märtyrertums, der Rechtschaffenheit zur Wirklichkeit verhilft, die im alltäglichen Dasein nicht so einfach in den Vordergrund träten. Güte und Größe der Seele, geistige Erleuchtung und Weisheit können neben den Kräften des Bösen, neben Sündhaftigkeit existieren. Erhabene Kunstwerke können auf dem ‚faulen Boden’ krimineller und nihilistischer Politik gedeihen, wie es in einigen Staaten während der italienischen Renaissance und im Athen zur Zeit des Sokrates der Fall war. Burckhardt scheint von dieser Koexistenz von Größe und Elend immer wieder aufs Neue erstaunt zu sein. Seine Theorie einer der Struktur des menschlichen Lebens in der Geschichte innewohnenden Antinomie ist in unserer Zeit durch die Helden und Märtyrer beglaubigt worden, die den Nazis und den Faschisten trotz drohender Folter und Vernichtung Widerstand leisteten. Es hat Ausbrüche von Mut und Widerstand in unserer Zeit gegeben, die unseren Glauben an die Würde des Menschen stärken müssen, die jedoch zugleich unsere Demut vertiefen müssen, wenn wir uns die Grausamkeit und Bestialität vor Augen führen, durch die erst diese Akte menschlicher Größe hervorgerufen worden sind. Die geistige Disziplin, die Burckhardts aufrichtigen Realismus begleitet, offenbart einen weiteren Aspekt, den wir epikureisch nennen und dem machiavellischen gegenüberstellen können. Burckhardts Hauptanliegen ist nicht dieser oder jener soziale Typus, sondern eigentlich der Mensch. Es ist tiefe Liebe zum Menschen, ist die Bewunderung des Menschen Möglichen, die letztlich hinter seinem Bemühen stand, von Neuem dessen Bild aufzurichten, in einer Welt ohne göttlichen Schutz und getrieben von den Kräften der Natur; dies ist ein Bildnis des Menschen, der zu höchster geistiger Erhabenheit, zu empfindsamster Zärtlichkeit fähig ist und doch ebenso zur Verkörperung von Bestialität und Gier werden kann. Im Mittelpunkt menschlicher Größe steht für Burckhardt die bedingungslose – letztlich durch ihre Historizität bedingte – Hingabe an eine Sache. Dies ist keinesfalls ein Ausdruck von Nihilismus. Heideggers Lob des Heroismus um des
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Heroismus Willen ist gewiss nihilistisch.15 Burckhardt dagegen glaubt an die positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, für Verpflichtungen, für Normen leben zu können, auch wenn sie nur in geschichtlichen Formen auftreten. Er setzt die Historizität des Menschen voraus, und hält ihn dennoch für fähig, den Schleier der Geschichte zu durchschauen und sich Elementen der Wahrheit, der Güte, der Schönheit bewusst zu werden. Hierin folgt Burckhardt der antiken Philosophie. Der denkende Mensch vermag das Bewusstsein unaufhörlicher Veränderung und der Geschichtlichkeit des Geistes zu ertragen, die oberflächlich sind und den Kern von Wahrheit und Wert nicht berühren. Es ist uns möglich, im Rahmen des Ausblicks, den zu nehmen uns die Historizität unserer Situation gestattet, wahre Einsichten, ja eine Spur des Absoluten zu realisieren. Genug, die Positivität unseres Daseins durch die Hingabe unseres Bemühens für ein größeres Ganzes abzustützen. Burckhardts Lehre zielt auf das menschliche Vermögen, Wahrheit und objektive Erkenntnis über die Welt zu erlangen, sofern wir uns von den engen Interessen unserer geschichtlichen Stellung lösen. Der Zweck seiner Leitfäden durch das Labyrinth der Geschichtlichkeit und das Paradies der Weisheit und Kunst ist es, die Idee der wahren Erkenntnis zu verteidigen, um den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, geistige Freiheit und Unabhängigkeit in einer Welt zu erreichen, in der sie mehr und mehr umgeben von Determinanten sind. Er richtet von Neuem die Würde der Kontemplation in der immer weiter ausgreifenden Welt des Politischen auf. Burckhardt ist gewiss, dass wir die geschichtliche Welt und ihre Bedingungen transzendieren, wenn wir die alte Methode der Kontemplation wieder entdecken. In Momenten der Erkenntnis lernen wir uns selbst zu kontrollieren und Distanz zum Fluss der Zeit zu gewinnen, lernen wir, den Prozess der Geschichte und seine Bedeutung für unser Dasein zu beurteilen. Die Kontemplation des Menschen ist seine Verantwortung. Sie schließt Kontinuität im Geistigen ein, tut das Menschenrecht kund, Freiheit inmitten umfassender Abhängigkeiten aufzurichten, ist zugleich eine Notwendigkeit, wenn wir unseren eigenen Stand in der endlosen Revolution der Moderne aufklären sollen. Der objektive Gedanke verdeutlicht die törichte Begrenzung, der alles subjektive Denken unterliegt. Er ermöglicht wahrhaftes Verstehen und Bemessen des Preises, den der Mensch für alle Errungenschaften der Geschichte zu zahlen hat. Burckhardt bezeichnet sich selbst als einen „humanen Spätling“a'''. Als solcher hat er die Fackel der antiken Weisheit übernommen und hat sie entfacht, um den dunklen Fatalismus der modernen Geschichte zu erhellen und den Historismus zu überwinden, den die modernen Körperschaften praktizieren. Wie die hellenistischen
15 a'''
Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? Bonn: Cohen 1929, S. 23. Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 369.
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Epigonen, die Stoiker und die Epikuräer, verzichtet Burckhardt auf die Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse, um sich der menschlichen Persönlichkeit im Gegenüber ihrer Institutionen anzunehmen. Indem er dies versucht reflektiert er über das Dasein und dessen unterschiedliche Ebenen, darüber, dass diese Unterschiede in grundlegenden Standpunkten unabdingbare Elemente eines umfassenden Studiums des Menschen sein müssen. Jenes Studium des Menschen im Kosmos der Geschichte ist für Burckhardt kein logisches Axiom. Es entspricht der existenziellen Stellung des modernen Menschen, der sich noch immer als Teil des Ganzen fühlt; gibt eine Haltung natürlicher Spontaneität und Vollständigkeit wieder, die nach Unabhängigkeit strebt; spiegelt das tapfer-aufrichtige Bewusstsein der Einsamkeit des Menschen im Kosmos der Geschichte, der weiß, dass jener Denker, der das menschliche Gebaren der säkularen Moderne zum Gegenstand wählt, nicht mehr vermag als eine Vielfalt von Formen der Größe und des Elends zu beschreiben. Die erhabene Notwendigkeit, mit welcher der moderne Geist umgeht, ist es, dass er weder die Idee einer göttlichen Vorsehung noch irgendeine metaphysische Theorie der menschliche Natur voraussetzen kann. Nur im Studium des Menschen in seiner historischen Welt können wir lernen, was wir sind und wo wir sind, wonach wir streben, was unser Erfolg und was unser Scheitern ist. Dies ist die philosophische Implikation der historischen Soziologie Burckhardts; sie beschreibt Phänomene, die Größe und Elend des Menschen bezeichnen, die dauerhafte Transzendenz des Menschen in der Immanenz seines Daseins in der Welt. Burckhard wusste recht wohl, dass seine eigene Haltung das Resultat einer spezifischen geschichtlichen Situation war, die im Zuge der Renaissance entstanden war. In einer bemerkenswerten Passage seines Werkes Die Kultur der Renaissance in Italien zeigt er, während er Pico della Mirandola zitiert, dass das Studium des Menschen in seiner Wirklichkeit erst dann möglich ist, wenn der religiöse Glaube an göttliche Führung vergangen ist. Er zitiert aus Über die Würde des Menschen: „‚Mitten in die Welt’, spricht der Schöpfer zu Adam, ‚habe ich dich gestellt, damit du um so leichter um dich schauest und sehest alles was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich allein, damit du dein eigener freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären.’“b''' Dies ist exakt der Ursprung der modernen Situation, in deren Zusammenhang Burckhardts Konzeption der Bedeutung des Menschen in der Welt zu sehen ist. Burckhardt umschreibt den Charakter seiner b'''
Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 256; Vgl. Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Nebst einigen Briefen und der Lebensbeschreibung Pico della Mirandolas. Ausgewählt und übertragen von Herbert W. Rüssel. Amsterdam: Pantheon 1940, S. 50.
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Arbeit mit nahezu denselben Begriffen, in denen zu Zeiten der Renaissance Pico die Funktion einer philosophischen Wissenschaft vom Menschen festgehalten hatte. „In unserem zweifelhaften und wunderbaren Dasein klammern wir uns unwillkürlich an die Erkenntnis des Menschen als solchen, der Menschheit, der empirischen, wie sie uns im Leben entgegentritt [...]. Sind die drei großen Menschenalter etwa wie die drei Tageszeiten im Rätsel der Sphinx? Eher sind sie eine beständige Metempsychose des handelnden und duldenden Menschen durch zahllose Hüllen hindurch. Wahre Erkenntnis wird alle diese Wandelungen erkennen wollen und sich jeder Parteilichkeit [...] für einzelne Zeitalter entwöhnen, um so eher, je lebendiger das Gefühl für menschliche Unzulänglichkeit überhaupt entwickelt ist. Sobald man einmal weiß, daß es keine glücklichen Epochen, goldenen Zeitalter im phantastischen Sinne gegeben hat noch geben wird, bleibt man frei von der törichten Überschätzung irgend einer Vergangenheit oder von törichtem Verzagen an der Gegenwart und von törichter Hoffnung an die Zukunft, erkennt aber in der Betrachtung der Zeiten eine der edelsten Beschäftigungen: Sie ist die Lebensgeschichte der Menschheit als eines Ganzen.“c''' Die Geschichte als Ganzes ist Passio Humana. Das Studium menschlicher Größe und Demut mag eine Quelle bescheidenen Glücks in Zeiten gewaltiger Umwälzungen sein. „Vielleicht ergibt sich aus der ruhigeren Betrachtung aus größerer Ferne ein Anfang der wahren Sachlage unseres Erdentreibens, und glücklicherweise sind in der Geschichte des Altertums einige Beispiele erhalten, wo wir das Werden, Blühen und Vergehen nach Hauptvorgängen und geistigen, politischen und ökonomischen Zuständen jeder Richtung bis auf einen hohen Grad verfolgen können“.d''' Burckhardt war der philosophischen Implikationen seiner Arbeit gewahr. Er wusste, dass seine Darstellung der Passio Humana Fragen metaphysischer und spiritueller Natur aufwerfen musste. Er war ein schlichter und bescheidener Arbeiter im menschlichen Universum, das ihm ebenso Labyrinth wie Paradies war. Was immer sonst der Wert seiner Anleitungen für die menschliche Historizität sein mag, es kann nicht der geringste Zweifel bestehen, dass sie Fenster zur Ewigkeit sind. Burckhardts Lebenswerk war eine lange Suche nach einen Platz ‚außerhalb’ der Welt, um die menschlichen Situation ‚innerhalb’ des Geschichtlichen zu ertragen. Aus diesem Grund lehnte er sich nicht auf und war nicht verzweifelt. Ihm war wohl bewusst, dass seine Lehre wie die antiken Selbsterlösungslehren den Menschen helfen würde, die ‚Erdendinge’ zu erobern, ohne Zuflucht in religiösen Glauben zu nehmen. Seine Lehre der Passio Humana ist eine Anleitung zur Transzendenz des beständig
c''' d'''
Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 226-227. Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 8.
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wechselnden geschichtlichen Lebens und zum teilnahmsvollen Verstehen aller Manifestationen menschlicher Selbstverwirklichung. Wie Arnold J. Toynbee plädierte Burckhardt nicht für die Rückkehr zu antiken oder christlichen Denkweisen und Daseinsformen. Gleichwohl war es ein Axiom seiner Analysen des Religiösen, dass Religion die eigentliche Wurzel der Zivilisation ist, dass deren Beschränkungen nur durch eine letzte Anstrengung der ideellen und geistigen Kräfte des Menschen überwunden werden können. Er war zutiefst überzeugt, dass es eine solche äußerste, die Kette der entmenschlichenden Sklaverei durchbrechende Anstrengung der ideellen und geistigen Kräfte geben werde, nachdem die neuen Tyranneien eine Reihe von Weltkriegen durchlebt hätten. Dies ist nicht romantischer Idealismus; es ist die Überzeugung, dass es dem Menschsein innewohnende Bedürfnisse gibt, die nicht einfach vernachlässigt werden können, ohne seinen eigentlichen Charakter zu zerstören. Wie Rilkes Malte Laurids Briggee''' wusste Burckhardt, dass es Unum Necessarium, das einzig Notwendige, gibt, das noch immer verborgen ist und dessen Wiedererscheinen nicht erzwungen werden kann. Er wartete nicht darauf, und persönlich benötigte er es auch nicht. Aus der Haltung des Soziologen prophezeite er die Renaissance jener geistig-seelischen Kräfte, die den Herausforderungen einer Welt absoluten Bestimmtseins begegnen und Würde und Unabhängigkeit des Menschen wiederherstellen. Francis Bacon hatte die Moderne mittels einer Philosophie, welche die Natur zu kontrollieren und „die Herrschaft des Menschen“ zu errichten lehrte, eingeleitet.f''' Am Ende dieser Epoche finden wir eine Philosophie des Menschen vor, die es ermöglicht, die Geschichte zu kontrollieren und Würde und Demut des Menschen in seiner historischen Unvergänglichkeit wieder aufzurichten, während er von den Bedrohungen des Nihilismus und den alles verschlingenden Kräften des Totalitarismus umgeben ist.
VI. Historiographie der Krise Die historische Soziologie ist eine eher junge Wissenschaft. Burckhardts Variante kann durchaus als eine Historiographie der Krise bezeichnet werden. In der Geschichte gibt es Situationen, in denen sich das Hauptinteresse von der Analyse der allgemeinen Entwicklung zur empirischen Beschreibung der einzelnen Situation als eines weitgespannten Kaleidoskops des menschlichen Universums verschiebt. Tacitus hatte ein Geschichtsmodell entwickelt, das Burckhardt wiedere''' f'''
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig: Insel 1927. Francis Bacon, Franz Baco’s neues Organon. Herausgegeben von Julius H. von Kirchmann. Berlin: Heimann 1870.
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belebte.g''' Tacitus’ Werk trägt Spuren der tyrannischen Herrschaft, unter der er lebte. Burckhardt sah die zukünftigen Tyranneien totalitärer Regimes voraus. Die tatsächliche Wirklichkeit totalitärer Regimes im Fall des antiken und die vorhersehbare Wirklichkeit totalitärer Regimes im Fall des modernen Historikers riefen bei beiden die gleichen Reaktionen hervor. Beide nahmen die Tragik ihrer Zeit als selbstverständlich an; beide dienten dem Geistigen, indem sie das geistigmoralische Erbe der Vergangenheit weitertrugen und dadurch jene Traditionen wahrten, deren zukünftige Generationen bedürfen würden, wenn einmal der barbarische Despotismus vergangen wäre. Beide Historiker schufen ein wissenschaftliches Modell historischer Soziologie, das die Typen menschlichen Verhaltens und Handelns in einer spezifischen Situation untersucht. Tacitus lebte während der Epoche Domitians; Burckhardt nahm mit seinem Weitblick die militaristisch-radikalen Diktaturen der totalitären Regimes vorweg. Beide hatten sich damit abgefunden, dass Intellektuelle die gesellschaftlichen Institutionen nicht zu verändern vermögen, und ertrugen den Prozess der Geschichte als unabwendbares Los. Beide versuchten sie nicht, der sozialen Laufbahn zu entkommen, die ihnen ihre Gesellschaft bot. Tacitus, Sohn einer bürgerlichen Familie aus der Provinz, strebte eine traditionelle Verwaltungskarriere an, wie es für einen Studenten der Rechte üblich war. Burckhardt, der Sohn einer Patrizierfamilie mit protestantischen Priestern und Professoren, entschied sich für eine Akademikerlaufbahn. Diese moderaten Anpassungen der beiden Historiker führten zu keiner Beeinträchtigung ihrer existenziellen Haltung gegenüber ihren moralischen Bindungen und intellektuellen Verpflichtungen. Diese existenzielle Haltung bedeutete, dass es unter den terroristischen Umständen, die ein diktatorisch-revolutionäres Regime schuf, die Aufgabe des Wissenschaftlers ist, den Gehalt des Begriffs Humanitas zu bewahren. Dies vermag er, indem er jene Erscheinungen des Menschseins sammelt und beschreibt, die den konstruktiven Sinn menschlichen Daseins konstituieren, oder indem er aufweist, was mit dem Menschen geschehen kann, wenn er dem entwürdigenden Einfluss derartiger Zustände ausgesetzt ist. In Zeiten der Tyrannei oder Revolution bürdet die Formel von Lukrez, „vitai lampada tradunt“,h''' dem Intellektuellen eine mächtige Verantwortung auf. In solchen Situationen ist der Intellektuelle, sofern er seiner Berufung treu bleiben will, gezwungen, außerhalb der Gesellschaft zu leben. So wird er in solchen Situationen mit Seneca ausrufen: Das Haus brennt! – und er wird versuchen, es zu retten. In Zeiten großer Krisen wird der Gelehrte entdecken, dass seine Arbeit nicht primär technischen, logischen, methodologischen g''' h'''
Cornelius Tacitus, Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt und herausgegeben von Walther Sontheimer. Eingeleitet von Viktor Pöschl. Stuttgart: Kröner 1959. Die Fackel des Lebens weiterreichen. Vgl. Lukrez, Von der Natur. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Diels. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1924, S. 47 (II 79).
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Problemen gilt. Er wird feststellen, dass Fragen und Herangehensweisen, die keinen entscheidenden Einfluss auf das geistige Wachstum, auf die Erhellung des menschlichen Verstandes haben, nicht die grundlegende, entscheidende Aufgabe des Gelehrten sind. Unter dem Ausnahmezustand wird der Intellektuelle sich nicht länger mit den Kunstgriffen und verfeinerten Techniken seines Fachgebiets beschäftigen. Er wird seinen Untersuchungsbereich nach den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und Interessen ausrichten. Gelehrte haben sich mitunter zu Recht geweigert, die Werke solcher Autoren als historisch zu klassifizieren, indem sie sie als Moralisten bezeichneten. Dies ist jedoch eine äußerst dürftige Lesart. Jenen Menschen geht es weder um sittliches Gebaren noch sind sie an sozialen Kausalitäten interessiert. Tacitus geht es vorwiegend um die Mannigfaltigkeit von Wesenszügen, wie sie sich in einer spezifischen Situation zeigen. Ironisch kommentiert er das veraltete Modell der chronologischen Historiographie Roms, welche die jährlichen Leistungen der Magistraten beschreibt.i''' Dies ist eine Revolte gegen die pragmatischen Historiker, die nur widerstrebend die sinnvolle Transformation Roms in ein Prinzipat anerkannten. In dieser kritischen Haltung kommt das Bewusstsein, dass es der politischen Maschinerie des Römischen Imperiums an einem immanenten Grund, einem tieferen Sinn fehlt, zum Ausdruck. Dies war lediglich eine kolossal effiziente, anonyme Maschinerie, die möglich wurde, als der Republik ihre aristokratischen Verantwortlichkeiten verloren gingen und sie sich zwei Gruppen ausbeuterischer Gangster unterworfen hatte: dem Adel und den Rittern. Die Militärdiktatur, unterstützt vom Bürgertum, hatte eine legal-administrative Ordnung für diese unpolitischen Gruppen errichtet. Tacitus idealisierte weder die tote Republik noch pries er die ‚neue Ordnung’. Wer aufmerksam und geistreich war, wusste nur zu gut, welcher Preis für sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zu zahlen war. Der Preis war die langsame, aber unaufhörliche Zerstörung der gebildeten und kultivierten Klasse der alten republikanischen Nobilität. Auch hier, keine romantische Sehnsucht: Tacitus begriff mit erbitterter Deutlichkeit, dass mit der Zersetzung jener Klassen intellektuelle Unabhängigkeit und geistiger Mut von der Szene gefegt worden waren. Die neue Führungselite war das Produkt der Diktatur: zwielichtige Denunzianten, Abenteurer, Profiteure, Bankiers und Geschäftemacher. Auch Lehre und Bildung wurde zu einem Geschäft. Den Studenten wurden die raffiniertesten und anspruchsvollsten Techniken öffentlicher Rede beigebracht – doch ging es dabei um Kunstgriffe, nicht um Überzeugungen, um dramatische Gesten, nicht um tragischen Geist. Bei aller rechtlichen und wirtschaftlichen Sicherheit war das Rom, in dem Tacitus lebte, eine Welt
i'''
Cornelius Tacitus, Annalen. Übersetzt von August Horneffer, eingeleitet von Joseph Vogt und mit Anmerkungen von Werner Schur. Stuttgart: Kröner 1957, S. 222-223 (IV, 32-33).
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inneren Zerfalls. Bis hierher mag es scheinen, als handle es sich bei Tacitus’ Werk um ein historisches – um eine Studie über den Niedergang der römischen Nobilität. Doch wäre dies eine vordergründige Sicht. Tacitus verwendet seine Kritik des veralteten Modells der Chronologie als Mittel zur Diskreditierung der pragmatischen Geschichte und aller Geschichtsphilosophie oder Geschichtstheologie. Er zeigt die Existenz einer Mannigfaltigkeit menschlichen Erlebens, einer Manigfaltigkeit an Gesinnungen trotz der etablierten Tyrannei. Dies ist keine politische Anklage des Regimes; es ist die herzzerreißende, atemberaubende Vision dessen, was Menschen unter einer Diktatur vermögen. Tacitus’ ausdrückliche Absicht ist es, Verderblichkeit und Elend des Menschen in genau dem Augenblick darzustellen, als mit Nervas und Trajans Bemühungen, wieder eine Verfassung einzuführen, die Aussicht auf eine bessere Zukunft aufleuchtet. Tacitus stellt historische Persönlichkeiten als soziale Typen dar, die durch ihre Institutionen geformt wurden. Der kaiserliche Hof steht im Zentrum des Interesses von Dezunzianten, Geschäftemachern, Höflingen und politischen Generälen, die das Imperium als eine Ausbeutungs- und Karrieremöglichkeit betrachten. Es existiert eine Gesellschaft der Neureichen: Bankiers und Kaufleute aus Italien und den Provinzen, die sich nicht für Politik interessieren, sondern nur für ihren wirtschaftlichen Erfolg. Tacitus ergeht sich nicht in Zorn oder Verzweiflung. Es gibt noch immer andere Typen menschlichen Gebarens, die angesichts dieser Lage ins Blickfeld rücken. Da sind die militärischen und zivilen Beamten, Generäle und Richter, die an jenen Traditionen und Tugenden festhalten, die Rom einst groß gemacht hatten. Ihnen ist es zu verdanken, dass der innere und äußere Frieden gewahrt wurde, dass die gesetzliche und administrative Maschinerie des Imperiums einigermaßen funktionierte. Dank ihrer ruhigen Beharrlichkeit gab es in gewisser Weise Kontinuität. Sie blieben der Tradition des Dienstes, der Hingabe an die Republik treu, indem sie den herrschenden Tyrannen keine Aufmerksamkeit schenkten. Agricola soll als ein Modell lebendiger Tugend in einer Welt des Lasters stehen. Allerdings ist Tacitus nicht vollständig überzeugt, dass dies die endgültige Form der Vollkommenheit in einer Welt der Diktatur ist. In Das Leben des Agricola finden sich Äußerungen, die zeigen, dass Tacitus nicht sicher ist, ob es überhaupt möglich ist, in einer Welt der Zügellosigkeit und des Terrors ein makelloses Leben zu führen, ob es möglich ist, nicht mitverantwortlich am mörderischen Tun der Tyrannen zu sein.j''' Agricola war Senator und widersetzte sich den Anordnungen Domitians nicht, als dieser den Senat anwies, die unter seinen Mitgliedern, die mutig opponierten, zu töten. Tacitus wusste genau, dass der Mann der Tat, der Bürger oder der Staatsmann, sich in der radi-
j'''
Cornelius Tacitus, Das Leben des Agricola. Dritte, durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Curt Woyte. Leipzig: Reclam 1920.
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kalen Situation der Diktatur keine gemäßigte, keine versöhnliche Haltung leisten kann. Er ahnte, dass es eine soziologische Regel gibt, derzufolge ehrbare und sittliche Charaktere gezwungen sind, den Kampf um die Prinzipien radikaler Gerechtigkeit und Gleichheit dann aufzunehmen, wenn Tyrannen sich die extremen Gegensätze von Willkür und Opportunität zu eigen machen. Er wartet nicht mit Illusionen über das Wirken dieser Dialektik auf; man kann die Abhandlung über Agricola wohl eher als Verteidigung denn als Lobpreis seines Schwiegervaters interpretieren. Das Panorama der Welt der Tyrannei, das Tacitus entwirft, wäre nicht vollständig, wenn es nicht die Männer einschlöße, die sich weigerten, sich dieser dekadenten Sozialordnung anzupassen. Es gibt die politischen Eskapisten, etwa die Angehörigen der republikanischen Nobilität, die nicht dazu gebracht werden konnten, dem kaiserlichen Senat beizutreten. Sie hatten sich in die Privatsphäre zurückgezogen. Dabei wussten sie durchaus, dass jeder Tyrann diesen Akt des Nonkonformismus als eine feindliche, eine revolutionäre Geste verstehen würde. In einer Diktatur gibt es keine Alternativen. Man muss sich fügen oder dem Exil, dem Tod und der Enteignung ins Auge sehen. Die besiegte Elite wusste sehr genau, wie aussichtslos eine Revolte war; dennoch leistete sie Widerstand – eine sittliche Haltung ohne irgendeine politische Bedeutung. Sie zogen den Tod einem Leben ohne Ehre, das Exil der Unterwürfigkeit vor. Diese Verwandlung einer hochmütigen, ausschweifend lebenden Elite in geistig-moralische Nobilität ist eine konstruktive Reaktion auf größte sittliche Entwürdigung. Es gibt eine weitere Form des Gebarens, die während der Diktatur entsteht; die stoischen Märtyrer sind der letzte Typus menschlicher Vollkommenheit, den Tacitus darstellt. Er spricht nicht von ‚den’ Intellektuellen als einer sozialen Gruppe. Die Gelehrten und Literaten machten das Beste aus der neuen Situation. Naturgemäß gab es unter ihnen nur wenige Auserwählte, die höchste Vollkommenheit erreichten. Dies waren die Laienphilosophen, die philosophisch gesonnenen Laien, deren Überzeugungen in einen religiösen Glauben verwandelt wurden. Sie bilden den einzigen Fall in der Geschichte, für den es statthaft ist, von philosophischen Märtyrern zu sprechen. Bereitwillig nahmen sie den Tod auf sich, als die letzte Zuflucht, um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu wahren. Sie starben um der menschlichen Würde willen, die letztlich nur durch Selbstmord verteidigt werden konnte. Sie opferten ihr Leben, um den Idealen von Integrität und Anstand treu zu bleiben. Diese philosophische Religion war so weit verbreitet, dass sich Ehefrauen ihren Männern anschlossen, Eltern ihren Söhnen, Kindern ihren Eltern, Freunde sich mit Freunden zusammentaten, um freiwillig Selbstmord zu begehen. Tacitus legt eine Typologie menschlicher Verhaltensmuster in der konkreten geschichtlichen Situation einer Tyrannenherrschaft vor. Weder dem Fluss der
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Zeit, den wir Geschichte nennen, wohnt Bedeutung inne, noch gibt es eine die menschliche Welt umschließende göttliche Vorsehung. Es finden sich am gleichen Ort und im selben Augenblick Boshaftigkeit und Erhabenheit, Niedertracht und Heldentum, raffinierte Grausamkeit und einfache Spiritualität, ausgeklügelte Terrorsysteme und jener gesunde Menschenverstand, der an die Würde des Menschen glaubt. Diese Antinomien der menschlichen Gesinnung koexistieren in der radikalen Situation von Terrorismus und Diktatur. Tacitus’ phänomenologische Darstellung zeigt, dass Umstände der Gewalt die höchsten wie die niedersten Möglichkeiten des Menschlichen hervorbringen. Menschen bedürfen offensichtlich der massivsten Impulse, Krieg, Revolution und Diktatur, um jene höchsten und niedersten Möglichkeiten im Hier und Jetzt der radikalen Situation zu verwirklichen. Es gibt nicht den Schutz der Errettung, keinen himmlischen Lohn für die Tugendhaften; nicht den Trost der Erlösung, aber das unsagbar erhabene Wunder des menschlichen Lebens in der Welt. Zu demütigen und gedemütigt zu werden, zu herrschen und beherrscht zu werden, zu handeln und behandelt zu werden – dies alles macht Größe und Elend des Menschseins aus. In der Immanenz des Geschichtsprozesses existiert kein Sinn, keine göttliche Vorsehung, keine allumfassende und beschützende Vernunft. Da ist nur die Hölle und der Himmel menschlichen Gebarens. Das bedeutet Passio Humana. Der Autor Tacitus war ein Bestseller an den Höfen der absolutistischen Herrscher des 16. und 17. Jahrhunderts. Er lehrte sie, wie man Untergebene gehorsam macht und wie man eine effiziente Geheimpolizei organisiert. Auch Washington und Jefferson studierten ihn sorgfältig, als bleibendes Zeugnis der Entwürdigung und Verbildung des Menschen unter einer Tyrannenherrschaft. Seine Soziologie des Menschen in der Geschichte wurde bis zu Burckhardt nicht wieder aufgenommen. Dieser entwickelte seine historische Soziologie unter Bedingungen, die denen sehr ähnlich waren, unter denen Tacitus gelebt und geschrieben hatte. Vergleichbare Bedingungen im Leben der beiden Historiker brachten eine ähnliche Vision vom geschichtlichen Menschen hervor. In Burckhardts Zeit war die religiöse Bedeutung der christlichen Lebensphilosophie verschwunden; die philosophischen Ansprüche, den immanenten Sinn der Geschichte entdeckt zu haben, konnten durch die empirische Forschung nicht verifiziert werden. Das Kaleidoskop der Vielfalt und Diversität menschlicher Gesinnungen und Verhaltensmuster erwies sich als sinnvoller als die kausale Untersuchung einer chronologischen Abfolge. Burckhardt war entsetzt von seiner Vision der kommenden radikalen Tyranneien des 20. Jahrhunderts, von der Aussicht auf eine allgemeine Zerrüttung menschlicher Normen und dem Verschwinden menschlicher Unabhängigkeit. Aus dieser Vision entstanden seine humanistischen Versuche. In seinen historischen Studien zeigte er den Menschen nicht im
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politischen Sinn des Wortes unter Umständen der Diktatur. Er wählte Perioden des Übergangs, der Krise oder Umwälzung, die den gleichen Einfluss auf das menschliche Gebaren und Denken haben. In Zeiten radikalen Wandels werden die Menschen nicht länger von den als gegeben erachteten Werten, die zu Zeiten zivilisatorischer Geborgenheit als natürlichen Beweise der verbreiteten Lebensweise gelten, geleitet. Eine allgemeine Übereinkunft über eine Reihe sittlicher Grundsätze ist dem Fortbestand einer Gesellschaft dienlich – jener Antithese der revolutionären Situation, die nichts als erwiesen annimmt, außer der Macht und Entschlossenheit, gegnerische Gruppen oder Individuen zu eliminieren. In einem solchen Ausnahmezustand wird sich der Mensch ebenso verhalten wie unter einer Diktatur. Er bleibt sich selbst überlassen, ist frei in seiner Entscheidung für das Gute oder das Böse. Burckhardt wählte die Perioden des Übergangs von der paganen zur christlichen und von der christlichen zur säkular-modernen Welt, um zu zeigen, wie sich die Menschen in diesen führungs- und schutzlosen Zeiten auf sich selbst verlassen müssen, angesichts der zerstreuten Fragmente einer geleerten Werteskala zu entscheiden haben, welchen Weg sie einschlagen. Burckhardts Hauptaufgabe war es, aufzuzeigen, wie der Mensch in der Begegnung mit der Natur sich selbst, seine Mitmenschen, den Druck politischer Institutionen erfährt. Deshalb folgen sein Werk und das Werk Tacitus’ dem gleichen Muster. Sie schaffen einen Referenzrahmen, innerhalb dessen der Mensch sich bewegen und agieren kann. Dieser Referenzrahmen dominiert das Geschichtsbild. Innerhalb seiner ist eine Mannigfaltigkeit menschlichen Gesinnungen und Lebensweisen möglich. Pietro Aretino und Vittorino da Feltre, die edlen und weisen Heiden in ihren ländlichen Zufluchtsstätten; die radikalen und fanatischen Organisatoren des christianisierten Weltreichs; die individuellen und kollektiven Tyranneien Athens und Griechenland; die freien Persönlichkeiten der Philosophen – gemeinsam bilden sie ein Panorama der höchsten und der niederster Werke des Menschseins, ein Panorama der Passio Humana. Burckhardt führte Tacitus nie als einen Vorläufer seiner Methode, seiner Philosophie an; die Römer interessierten ihn kaum. Auch wenn Tacitus’ Arbeiten den jungen Burckhardt auf seiner ersten Reise nach Italien begleiteten, so nimmt er doch nur einmal auf ihn Bezug.k''' In der historischen Betrachtungsweise wird ihre Affinität deutlich sichtbar. Burckhardt wusste, dass seine Art des Lebens und des Denkens jener der alten Philosophen und Historiker am nächsten war. Er, der so stolz die grandiosen Generalisierungen Hegels, die unerträgliche Synthese aus Machtpolitik christlicher Theodizee bei Ranke und des engen Pragmatismus der politischen Historiker seiner Zeit ablehnte, konnte seine Vorfahren nur in der antiken Welt finden. k'''
Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, S. 12.
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Ausdrücklich beansprucht er Thukydides als Vorgänger seiner eigenen kulturgeschichtlichen Methode.l''' Aus drei Gründen fühlt er sich ihm verbunden. Erstens hatte der griechische Historiker mit dem Mythos seiner Vorfahren ebenso gebrochen, wie Burckhardt die christliche Theologie und die Fortschrittsphilosophien aufgegeben hatte. Beide Männer stimmten darin überein, dass es möglich sei, eine geschichtliche Umwälzung mit dem höchsten Maß an Beweiskraft und Objektivität zu untersuchen. Burckhardt rühmt Thukydides’ sachkundige und behutsame Darstellung der allgemeinen Entwicklungen, deren Zusammenwirken historische Notwendigkeit schafft. Er bewundert Thukydides’ Erfolg, die zum Debakel von Athen führenden Ursachen und Motive transparent und verständlich gemacht zu haben. Sie sind für den gemeinen Mann ebenso wie für den Gebildeten nachvollziehbar, da Thukydides individuelles Tun, die Situation des Einzelnen mit den allgemeinen Regeln menschlichen Verhaltens unter spezifischen Umständen in Zusammenhang bringt. Thukydides’ Refexionen über die Eigenart der menschlichen Natur, ihre radikalen, ungehemmten Möglichkeiten in Krise und Umwälzung nimmt Burckhardts ‚pathologische’ Hypothesen vorweg. Zweitens versteht Burckhardt die Einleitung und den ersten Band von Thukydides’ Geschichtswerk als die Quelle seiner Methode. Thukydides vergleicht typische Situationen und Entwicklungstendenzen, die sich in unterschiedlichen Teilen Griechenlands zu verschiedenen Zeiten ereigneten. Diese einzelnen Tatsachen und Handlungen subsumiert er unter allgemeine Begriffe, die den Historiker in die Lage versetzen, allgemeine Tendenzen in individuellen Handlungen, Ideen und Begehrlichkeiten zu erkennen. Im Besonderen erwähnt Burckhardt Thukydides’ Vorarbeiten zu einer Soziologie der Migration, zur Analyse der Grundlagen der Polis und der Auswirkungen ökonomischtechnischer Fragen auf die innere und die auswärtige Politik. Schließlich untersuchte Thukydides die innere Struktur einer Situation der Umwälzungen, wie dies auch Burckhardt in allen seinen historischen Arbeiten tat. Burckhardt ist sich wohl bewusst, dass Thukydides die Geschichte eines politischen Niedergangs schrieb, nicht des Übergangs von einer Zivilisation zur nächsten. Er ist tief beeindruckt von diesen ersten Schritten zu einer vergleichenden Soziologie, von der Beharrlichkeit, mit der der griechische Autor die Identität des Menschlichen im sich verändernden Kaleidoskop der geschichtlichen Welt darstellt. Deshalb besteht Burckhardt darauf, Thukydides als Vorläufer seiner Methode zu betrachten, obschon er ein politischer Historiker ist. Thukydides ist mehr als nur ein Vorfahre der Methode Burckhardts. Er errichtete ein Bildnis wahrhafter Gelehrsamkeit unter dem Ausnahmezustand. Er tröstet die Athener nicht, dient keinen Interessen außer dem der Suche nach der l'''
Ebd., S. 16, 97, 133 u.136-137.
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historischen Wahrheit. Sein Buch wurde nicht geschrieben, um den Beifall seiner Zeitgenossen zu erhalten, sondern um „ein Besitztum für alle Zeiten zu sein“.m''' Es wird nicht dem engen Pragmatismus an Zweck und Nutzen orientierter Menschen zu Diensten sein, die Geschichte lesen, um zu erfahren, wie man Erfolg hat. Thukydides strebte nach dem, was Burckhardt als „höher und weiter gefasst[en] Pragmatismus“ bezeichnet.n''' Er klärte seine Zeitgenossen ebenso wie spätere Generationen auf, auf dass sie sich jener Umstände, die er schildert, in vergleichbaren Fällen erinnern und sie kraft gewissenhafter Referenz auf das Menschsein und seine Voraussetzungen zu durchschauen vermögen. Es ist bezeichnend für die Nähe Burckhardts und Thukydides’, dass letzterer in fast den gleichen Worten den Zweck seiner Schriften und seiner Lehre umschrieben hat. „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden“, so lautet Burckhardts Credo.o''' Es steht vollständig im Einklang mit dem Wort des großen Meisters vom ,Besitztum für alle Zeiten’. Diese Übereinstimmung zeigt Burckhardts Verbundenheit mit der antiken Welt. Die griechische Tradition war das wertvollste Gut des geistigen Vermächtnisses, das für die Zukunft zu bewahren Sinn und Zweck seines Schaffens war. Es war die einzige Zivilisation, in der Menschen als freie und unabhängige Lebewesen zu handeln und zu leiden, die Enge ihrer Begierden und Bedürfnisse zu transzendieren gelernt hatten. Schließlich, sie ermöglichte eine Art zu leben, wo es die Vernunft vermag, das Wunder des menschlichen Daseins zu durchschauen und daran weise zu werden. Burckhardt trug dieses Erbe weiter, während zugleich sein eigenes Leben zum Bildnis des Weisen wurde, der unabhängig und heiter die Geschichte überragt.16
m''' n''' o''' 16
Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Bd. 1. Übersetzt von Adolf Wahrmud. Berlin: Langenscheidt 1865, S. 31 (I, 22). Burckhardt, „Weltgeschichtliche Betrachtungen”, S. 11. Ebd., S. 7. Zu Thukydides vgl.: John H. Finley, Thucydides. Cambridge, Harvard University Press 1942; Ernst Knapp, Rezension von Wolfgang Schadewaldt, „Die Geschichtsschreibung des Thukydides“. In: Gnomon. Kritische Zeitschrift für die gesamte klassische Altertumswissenschaft 5, 1930, S. 92-95. Zu Tacitus vgl. Ronald Syme, Die Römische Revolution. Stuttgart: Klett 1957; Tacitus, Das Leben des Agricola ; Tacitus, Historien; Kurt von Fritz, „Aufbau und Absicht des Dialogus de Oratoribus“. In: Kurz von Fritz, Schriften zur griechischen und römischen Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie. Berlin: de Gruyter 1976, S. 513-534.
Die Religion des FortschrittsÜ1
I. Die modernen gesellschaftlichen Bewegungen des Industriezeitalters, ihre sozialen Bedingungen und kollektiven Motive hat man ausführlich untersucht. Ein Jahrhundert lang lehrten Historiker und Soziologen, diese Bewegungen folgten materiellen, insbesondere ökonomischen Interessen. Einer umfassenden empirischen Prüfung halten diese Theorien jedoch nicht Stand. Wirtschaftliche Einrichtungen sind keine lebendigen, keine autonomen Gebilde. Menschen, deren Handeln einer Mannigfaltigkeit von Motiven unterliegt, sind es, die diese Gebilde konstituieren. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, dass der soziale Prozess nicht einfach nur Evolution ist, die ein einzelnes Motiv anzutreiben oder zu erklären vermag. Es ist ein Gemeinplatz, dass das Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft von materiellen Interessen gelenkt wird. Ob in Fragen der Politik oder der wirtschaftlichen Entwicklung, ob es um sozialen Fortschritt geht oder um intellektuellen Wettbewerb, Menschen folgen rohen, materiellen Interessen. Geht es aber darum, die im sozialen Handeln wirksame Dynamik zu bemessen, so gilt es die Komponenten zu untersuchen, aus denen sich Intensität, Dichte und Antriebskraft von sozialen Bewegungen bilden. Ihre Prüfung wird zeigen, dass Gesellschaften ihre materiellen Bedürfnisse, ihre Begehrlichkeiten und ebenso ihre Mängel auf einen Bedeutungsrahmen projizieren, der die Richtwerte für soziales Handeln und sozialen Wandel bereitstellt. Ein solcher Bedeutungsrahmen ist ein Zusammenhang von Werten, bezogen ebenso auf das Leben des Einzelnen wie das soziale Leben in seiner Fülle. Der geistige Horizont ist es, der die Grundlagen des Handelns, der Leidenschaften des Menschen als sinnhaft gemäß eines größeren Ganzen schafft. Indem der Mensch seine materiellen Interessen anhand solch eines Bedeutungssystems bemisst, vermag er seine materiellen, seine ökonomischen Bedürfnisse mit der explosiven Kraft radikalen Handelns zu sättigen. Menschen leben nicht vom Brot allein; ihr Handeln und Behandeltwerden bedarf eines Sinns, an dem sie ihr Leiden und Hoffen orientieren können.
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Albert Salomon, „The Religion of Progress“. In: Social Research 13, 1946, S. 441-462. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke. Der vorliegende Beitrag entstand anlässlich der Seventh Conference on Science, Philosophy and Religion, die vom 9. bis 11. September 1946 in Chicago stattfand.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Elend, Ausbeutung und Ungerechtigkeit gibt es, seit es Gesellungen gibt. Meist ertragen die gedemütigten und unterdrückten Klassen die Herrschaftsverhältnisse aus Gründen menschlicher Trägheit. Nur unter zweierlei Voraussetzungen erheben sie sich zu revolutionärem Handeln. Den unterprivilegierten Klassen gelingt der Zusammenschluss zu einer revolutionären Gruppierung, wenn sie sich auf überkommene Rechte berufen können, die von der herrschenden Elite abgeschafft worden sind. Nach diesem Muster verfuhren sämtliche vorindustriellen Revolutionen, seit der Epoche Solons bis zu den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts. Diese Revolutionen verblieben im Bannkreis der politisch-legalen Sphäre. Der zweite Typus der Revolution ist der moderne. In der Moderne formieren sich soziale Bewegungen zu einer einheitlichen revolutionären Klasse, wenn bestimmte Gruppen die unbedingte Überzeugung ihrer historischen Mission für den Fortschritt der Menschheit hegen. Moderne Revolutionen finden nicht im Rahmen des Politischen statt, sondern im Rahmen der Religion. Sie sind buchstäblich radikal, gestalten das gesellschaftliche Leben von seinen Wurzeln her um, sind also: total. Moderne soziale Bewegungen, moderne Revolutionen entfalten ihre Wirkung nicht kraft ökonomischer Bedürfnisse, sondern kraft eines religiösen, ja messianischen Bezugsrahmens. Eine der großen Errungenschaften der Religionssoziologie Max Webers ist die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Interessenmotiven und Sinnmotiven sozialen Handelns.a Die säkularen und revolutionären Religionen, die der totalitären Welt den Weg geebnet haben, muss man ebenfalls auf diese Weise analysieren. Säkularisierung verstehen wir als ein Charakteristikum der Moderne. Der Begriff verweist auf den Verlust der schöpferischen Gewalt, des Führungsvermögens der naturtranszendenten Religionen und Kirchen in den modernen technisch-industriellen Gesellschaften. Er impliziert, dass der Niedergang dieser Religionen mit dem Ende aller Religion gleichzusetzen sei. Ein Soziologe sollte indes nicht mit Begriffen arbeiten, die bereits eine bestimmte theologische Bedeutung haben. Er sollte Kategorien verwenden, die nicht wertbestimmt sind. Deshalb sollte er von einer Religion des Fortschritts als einem sozialen Phänomen des revolutionären 19. Jahrhunderts sprechen. Die religiösen Überzeugungen und geistigen Bekenntnisse der Industriezeitalters haben in den modernen sozialen Bewegungen als dynamische Kräfte gewirkt und sind in den Komponenten der totalitären Welt lebendige Realität. Fassen wir unsere These in zwei Sätzen zusammen: Das 19. und 20. Jahrhundert sind zutiefst religiöse Epochen. Die sozialen und ökonomischen Aspekte der modernen Bewegungen können
a
Max Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtung religiöser Weltablehnung“. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 536-573.
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nicht getrennt von der religiösen Bedeutung betrachtet werden, die Menschen ihrem revolutionären Tun zuschreiben.
II. Die Religionen des Fortschritts sind ein universelles Phänomen der Welt, das nach der Französischen Revolution entsteht. Deshalb ist es notwendig, kurz dieses allgemeine Phänomen zu beschreiben, bevor wir uns auf unser Thema konzentrieren. Die Sehnsucht nach einer neuen Religion ist ein Merkmal der Romantik. Romantik ist nicht allein eine literarische Bewegung; zur Gänze verstanden ist es eine philosophisch-soziale Haltung. Es ist ein internationales Phänomen mit deutlich unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Es ist eine Bewegung von Intellektuellen, Philosophen und Dichtern, die in ihrem Leben zwei widerstreitende Tendenzen als schöpferisch und zerstörerisch erkennen. Sie sind enthusiastisch wegen des gewaltigen Fortschritts, den Philosophen, Wissenschaftler und Dichter darin erzielt haben, die Souveränität menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens auszuweiten. Sie sind verzweifelt im Gefühl von Einsamkeit und Verlorenseins des geistigen Lebens in der modernen Welt der Philister, der Pedanten, der Bourgeoisie. Aus diesem speziellen Erleben der Kraft des menschlichen Geistes einerseits, der Einsamkeit des modernen Intellektuellen andererseits, entstand der romantische Messianismus, das gemeinsame Charakteristikum Schlegels und Saint-Simons, Novalis’ und Comtes. Ihre Religionen sind Religionen des Fortschritts. Ihre Absicht war es, in einer Gesellschaft, in der jeder seinen objektiven Platz, eine objektive Funktion, eine objektive Bedeutung für das Ganze hätte, geistigen Fortschritt und soziale Ordnung zu einer Gemeinschaft der progressiven Bildung, der sich fortentwickelnden Geistigkeit zu vereinen. Es war ihnen ernst mit der Idee, eine Religion des Fortschritts zu konstruieren. Schlegels Satz gilt auch für alle nachfolgenden dieser Religionen: „Der revoluzionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte.“2 Schlegel fordert das Reich Gottes im Hier und Jetzt und verwirft die Idee, die Menschheit verwirkliche sich in der Unendlichkeit des historischen Prozesses. Die romantische Vorstellung von einer Religion des Fortschritts unterscheidet sich grundsätzlich von den vorangegangenen Philosophien des Fortschritts.
2
Friedrich von Schlegel, „Fragmente“. In: Athenaeum 1, 1789, S. 1-322, hier S. 236; Vgl. Friedrich von Schlegel, „Ideen“. In: Athenaeum 3, 1800, S. 4-33, hier S. 4-7, 9-11 u. 13.
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Während des 17. Jahrhunderts machten einige Denker die Entdeckung, der moderne sei dem klassischen Geist überlegen. Sie verstanden dies als Hinweis auf geistigen Fortschritt. So war es möglich, die Autorität der Klassiker herauszufordern. In den Fortschrittsphilosophien Turgots und Condorcetsb vereinigten sich geistiger und politischer Fortschritt in der umfassenden Idee totaler Evolution, ohne dass sie ihren Theorien religiöse Erhabenheit aufgebürdet hätten. Auch Spencers Soziologie des Fortschrittsc ist keine Religion, wie groß auch immer ihr Einfluss auf die protestantischen Kirchen der angelsächsischen Welt gewesen sein mag. Die Theorien der Aufklärung waren definitiv anti-religiös und rein philosophisch. Sie warfen ein Licht auf die Denkungsart des philosophisch Gesonnenen. Die Religionen des Fortschritts waren darauf gerichtet, einen praktischen Effekt auf das Gesellschaftsganze zu entfalten, wollten in einem allumfassenden Geist von Neuem sinnerfüllte Bindungen in Form von Überlegenheit und Unterordnung, Hierarchie und Disziplin errichten. Die neuen Religionen waren von der Hoffnung getragen, ein allumfassendes Universum des Sinns wiederherzustellen, um dem Einzelnen geistig-moralische Geborgenheit zu geben. Damit reagierten sie auf die allgemeine Tendenz zu Materialismus und Atheismus, die während des 18. Jahrhunderts vorherrschte. Sie sollten Antwort auf die Frage geben, wer die Funktion des transzendenten Gottes als einer letzten Wirklichkeit, als der endgültigen Legitimationsinstanz der Geschichte, übernehmen würde. Man war sich bewusst, dass es galt, eine neue Ontologie zu begründen, nachdem die Transzendenz abhanden gekommen war. Man entdeckte zwei soziale Realitäten – Menschheit und Geschichte. Einige sprechen weniger von der Menschheit und mehr vom Volk oder von der Nation; aber für alle ist die Gesellschaft Trägerin absoluter Bedeutung, Trägerin des Fortschritts als der totalen, der wahren Realität. Volk, Nation, Menschheit sind Manifestationen der Wahrheit und offenbaren die Wirklichkeit des Göttlichen. Die Romantiker haben Geschichte und Gesellschaft zu Demiurgen der Welt des Fortschritts gemacht. Für Schlegel und für Saint-Simon, für Comte und de Bonald, für Proudhon und de Maistre liegt
b
c
Anne-Robert-Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Eingeleitet von Johannes Rohbeck. Übersetzt von Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990; Jean Antoine Nicolas de Caritas de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Herausgegeben von Wilhelm Alff. Übersetzt von Wilhelm Alff in Zusammenarbeit mit Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963. Herbert Spencer, System der synthetischen Philosophie, Bd. 1: Grundlagen der Philosophie. Übersetzt von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart 1875; Herbert Spencer, System der synthetischen Philosophie, Bd. 6: Die Principien der Sociologie. Übersetzt von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart 1876.
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die wahre Realität in der Geschichte. Geschichte ist die Selbstverwirklichung des sich entwickelnden Absoluten. Dieses allgemeine Phänomen der Vision einer neuen Religion in den romantischen Bewegungen findet seinen spezifischen Ausdruck in den Religionen des Fortschritts, die zugleich auf die industriellen und die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts verweisen. Es ist kennzeichnend für die entwurzelte Zivilisation Europas, dass alle sozialen Bewegungen, auch solche, die revolutionäres Handeln ablehnen, als Religionen auftreten. Sie bedürfen doktrinärer Lehren, die auf Wollen und Gebaren der Menschen einwirken, indem sie dem sozialhistorischen Prozess absolute Bedeutung verleihen. Vier Typen der Religion zeigen sich in den sozialen Bewegungen der modernen industriellen Welt. Die Religion der Saint-Simonisten tritt als das Evangelium eines pantechnologischen Kollektivismus auf. Comtes Religion der Humanität bringt einen wissenschaftlich-sentimentalen Katholizismus zum Ausdruck, verkündet ein Evangelium der Harmonie, verwirklicht in einer total geplanten, total gelenkten Industriegesellschaft. Die Gründer dieser Religionen hegten die Hoffnung, ihr Evangelium zu verbreiten und die Welt durch ihre religiösen Lehren zu verändern. Auch die atheistischen Revolutionsdoktrinen treten als negative Religionen auf. Sie errichten eine unanfechtbare Theologie und etablieren eine Priesterschaft, welche die heilige Schrift authentisch, frei von ketzerischen Lehren auslegt. Was immer Marx selbst über seine Arbeiten gedacht haben mag, der Marxismus in seiner russischen Variante ist zu einem Evangelium des Fortschritts, der letzten Gewissheit geworden, ein religiöser Glaube und eine militante Kirche. Radikaler noch sind die atheistischen Religionen, die Bakunin und Proudhon im Zuge ihres revolutionären Kampfes gegen die verbindlichen Institutionen der Vergangenheit entwarfen. Sie waren zutiefst überzeugt, dass es keine sozialen und keine politischen Fragen gäbe, die nicht im Kern mit theologischen Fragen verwoben wären. In der modernen Welt beschränken sich Revolutionen nicht auf den konstitutionellen Bezugsrahmen. Es geht um eine neue Menschheit, die aus dem Wurzelwerk der Geschichte entspringt und die Totalität des menschlichen Daseins wiederherstellt, indem sie den Fortschritt mit Sinn erfüllt. Dieses Grundprinzip der Religion lässt sich bei allen vier Typen der Fortschrittsreligion erkennen. Wir bedürfen neben der weltlichen einer geistigen Kraft, die Geist und Seele zu leiten vermag, um dem endlosen Fortschritt der Menschheit in der Geschichte Gelassenheit, Klarheit und Ordnung beizufügen. Dieser Grundsatz einer dynamischen Ordnung ist die normative Idee für eine vollkommenen Welt; diese Vereinigung von Fortschritt und Ordnung, die Synthese der Antagonismen, bildet das Kernelement der neuen Religionen.
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III. Kraft der Vision absoluter Harmonie erlebten die neuen Religionen die zeitgenössischen Verhältnisse als Anarchie – ein Chaos, das sie auf die Französische Revolution zurückführten. Geistige Anarchie, moralische Anarchie, wirtschaftliche Anarchie lauten die wiederkehrenden Formeln, um die zeitgenössische Welt als sündhaft, als reif für die Erlösung zu beschreiben. Es gilt festzuhalten, dass die Kategorie der Anarchie, wie Saint-Simon sie prägte, wie Comte, Enfantin und Marx sie übernahmen und erweiterten, nicht als eine wissenschaftliche Konzeption verstanden werden sollte. Vielmehr ist dies ein mythischer Begriff, der die Idee der Ursünde und das politische Konzept eines Naturzustands ersetzte. In der Sprache der neuen Geschichtstheologie, in der die Einheit von Fortschritt und Ordnung für das irdische Paradies innerhalb des Universums der Geschichte steht, kennzeichnet der Begriff Anarchie den Zustand der Verderbtheit. Aus diesem Grund kann niemand den messianischen oder eschatologischen Terror verkennen, den die Darstellung eines solchen geistigen, moralischen und sozialen Chaoszustands in sich trägt. Dies führt uns zu den politischen Quellen der Religionen des Fortschritts.3 Allesamt haben sie die Erbschaft des französischen Jakobinismus angetreten. Alle waren sie Erben der Religionen der Vernunft, des Höchsten Wesens, der Theophilanthropie. Trotz ihrer Gegnerschaft zur Französischen Revolution teilen sie deren historischen Messianismus. Die revolutionären Kulte bereiteten all die späteren Religionen vor, die im Namen von Vernunft und Fortschritt die spirituelle Mission der historischen Klassen für die Menschheit der industriellen Welt verkündeten. Die Jakobiner starteten jenen historischen Messianismus als Religion des Fortschritts. Ihre eschatologische Vision der Situation des Menschseins ermöglichte es, Feinde wie Atheisten oder Häretiker zu betrachten und die Menschheit in Gläubige und Ungläubige aufzuteilen. Revolution und Religion trennten die Gesellschaft nach gut und böse, nach Freund und Feind. Die moderne Gesellschaft anerkennt nicht jemandes legalen oder politischen Status als maßgeblich für seine soziale Klassifizierung. Der revolutionäre Radikalismus der Moderne trägt Fanatismus und Terror monopolistischer Religionen in sich. Der Begriff ,Aristokrat’ war dem ,Bürger’ eine Kategorie schamloser Sündhaftigkeit, ähnlich der Idee des Teufels. Diese mythische Klassifizierung der Gesellschaft illustriert, dass moderne Revolutionen ihren Kampf mit dem Streit für den Sieg der Wahrheit und des Absoluten im historischen Fortschritt der Gesellschaft
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Siehe Henri Gouhier, La jeunesse d’Auguste Comte et la formation du positivisme. Bibliothèque d’histoire de la philosophie, 2 Bde. Paris: Vrin 1936; Henri Gouhier, La vie d’Auguste Comte. Paris: Gallimard 1931.
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gleichsetzten. Diese revolutionär-religiöse Haltung lebt in den eschatologischen Gegensätzen der bolschewistischen und nationalsozialistischen Welt: bürgerlich vs. proletarisch, beziehungsweise: jüdisch vs. arisch, fort. Niemand hat die eschatologische Vision einer untergehenden Welt klarer und vornehmer zum Ausdruck gebracht als Proudhon. Er begreift seinen Kampf gegen den Konstitutionalismus und Sozialismus als entscheidenden Vernichtungskrieg und spricht häufig von einer napoleonischen Schlacht, um den ultimativen Charakter des revolutionären Konflikts anzudeuten.d Er sieht den Niedergang der Bourgeoisie und, als dessen Folge, das Verschwinden des Christentums. In dessen „letzter Stunde“,e wie er sagt, erinnert er sich der Verdienste dieser Religion – geht sie doch zugrunde mit den sozialen und politischen Einrichtungen der modernen Welt. „Alle Traditionen werden mißbraucht, aller Glaube abgeschafft, während das neue Evangelium noch nicht in die Köpfe der Massen gedrungen ist. Das ist das, was ich die Auflösung nenne. Sie ist der schrecklichste Augenblick in der Geschichte der Gesellschaft. Alles kommt zusammen, um die Menschen guten Willens zu bedrücken. [...] Ich mache mir keine Illusionen, und ich erwarte es nicht mehr, die Intelligenz bei den Bürgern und den gesunden Menschenverstand bei den Plebejern [...] in unserem Lande wieder auferstehen zu sehen. [...] Ein Morden wird kommen und von einem fürchterlichen Zusammenbruch gefolgt werden. Wir werden die neue Epoche nicht mehr erleben. Wir werden in der Dunkelheit kämpfen.“4 Ähnliche Passagen finden sich bei Marx, Saint-Simon, Comte und bei den Saint-Simonisten, die ihre historische Situation in ähnlich eschatologischer Form fassen. In der klassischen Literatur dagegen findet man nichts dergleichen. Wenn Thukydides den Fall Athens beschreibt,f erklärt und begreift er dieses tragische Ereignis in Form menschlicher Motive und sozialer Gesetzmäßigkeiten. Weder Sallust, der die Verbildung des römischen Adels analysiert,g noch Tacitus in seiner Darstellung des Kaiserhofs verlassen die Sphäre historisch-psychologischen Erklärens und Verstehens. Noch wo sie zutiefst bewegt sind, weil es Gegenstände ihrer höchsten Wertschätzung sind, deren Niedergang sie sichtbar werden lassen, verbleibt ihre Darstellung im Orbit menschlichen Handelns und menschlicher Gesinnungen. Es musste erst der christliche Dogmatismus durchd e 4 f g
Pierre Joseph Proudhon, Les confessions d'un révolutionnaire pour servir a l'histoire de la Révolution de février. Ixelles lez Bruxelles: Delevingne et Callewaert 1849, S. 218-219. Ebd., S. 259. Pierre Joseph Proudhon, Corresponance, Bd. 10. Herausgegeben von Amédée-Jérome Langlois. Paris: Lacroix 1875, S. 205-207. Thukydides, Geschichte des Pelopennesischen Krieges, Bd. 2. Herausgegeben und übersetzt von Adolf Wahrmund. Berlin: Langenscheidt 1865, S. 186-22 (VII, 19-87). Gaius Sallustius Crispus, Sallusts Catilinarische Verschwörung. Herausgegeben von Theodor Opitz. Leizig: Teubner 1918.
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laufen werden, damit es möglich wurde, pax terrena und pax coelestis zu verwechseln und sich der romantischen Ineinssetzung von Gott, Geschichte, Gesellschaft und Menschheit hinzugeben. Der anarchische Zustand der modernen Welt, den die neuen Religionen allerorts erkannten, machte es für sie unabdingbar, einen Sinnzusammenhang wiederherzustellen, kraft dessen das Chaos des historischen Prozesses in ein Universum des Fortschritts verwandelt würde. Dies wiederum ist neu. Die schottischen Philosophen, zweifellos nicht mehr christlich zu nennen, waren äußerst misstrauisch gegenüber der Geschichte, jener Sphäre, in der sich sämtliche menschlichen Irrationalitäten und Leidenschaften zeigen. Vollkommenheit und Fortschritt galten ihnen als Kategorien, die persönliche Errungenschaften ausdrückten, nicht als Verallgemeinerungen, die den historischen Prozesses in toto zu beschreiben vermögen. Auch diesbezüglich war es die Französische Revolution, die den Weg dafür bereitete, dass die Geschichte mit dem Sinn der sozialen Entwicklung gleichgesetzt und den Klassen, die Träger des Fortschritts waren, eine spirituelle Würde aufgebürdet wurde.
IV. Unter den neuen Religionen verdienen Theologie und Kirche des SaintSimonismus besondere Aufmerksamkeit, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil die meisten französischen Sozialisten Erfahrungen damit sammelten und den Saint-Simonismus in ihre eigenen Theorien gesellschaftlicher Erlösung integrierten; zweitens, weil alle technokratischen Religionen von dieser wegweisenden Vision der Rettung der Welt durch die Vollkommenheit einer industrielltechnologischen Gesellschaft ausgingen. Der Saint-Simonismus ist von besonderem Wert, insofern sich in ihm die moderne Gesellschaft noch vor der Offenbarung der kapitalistischen Antagonismen darstellt. Die Zusammenkünfte dieser Kirche besuchten Bankleute, Ingenieure, Industrielle und Berufsrevolutionäre, Arbeiterführer, Philanthropen und Sozialreformer. Alle waren sie bereit, für die Herstellung einer harmonischen industriellen Ordnung zusammenzuarbeiten. Bemerkenswert ist zudem, dass die Gründer des Saint-Simonismus die Existenz eines göttlichen Wesens oder von etwas Heiligem ganz und gar verwarfen. Gemäß ihres Glaubens ist Religion eine Synthese des Wissens mit dem praktischen Zweck, Geist und Seele der Menschen in allen Lebenslagen zu lenken und zu leiten; eine geistliche Macht, ohne die keine weltliche Macht Disziplin, Hierarchie, Ordnung und Gehorsam zu schaffen vermag. Diese geistliche Macht verdankt ihre religiöse Würde nicht einem transzendenten Gott. Ihre Bot-
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schaft entnimmt sich der Einheit wissenschaftlichen und humanitären Denkens, die der Mensch verkörpert. Die positive Wissenschaft geht von der Annahme aus, das Universum unterliege einem providentiellen Plan. Folglich bilden Wissenschaftler die Hauptmacht innerhalb des neuen Klerus. Unterstützt werden sie von Dichtern und Künstlern. Wissenschaftler vermögen aus den Gesetzen der Natur endgültige Wahrheiten abzuleiten, die es Menschen ermöglichen, den Code ihrer Interessen, die Sequenz ihrer Bedürfnisse zu begreifen. Dichter werden Menschen lehren, die Wirkkraft ihrer Imaginationen, ihrer Stimmungen, ihres Empfindungsvermögens zu verstehen. Wissenschaftler wie Dichter werden die Menschen anleiten, ihre intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten vernünftig und im Sinne der Gesellschaft zu verwenden, indem sie Ordnung schaffen und Fortschritte in der Kontrolle von Natur und Gesellschaft erreichen. Jene geistliche Macht aus Wissenschaftlern und Dichtern wird die Initiative für eine sinnvolle Planung der industriellen Welt übernehmen und dadurch die weltliche Macht, die Industriellen, unterstützen. Folglich tritt von Neuem die Religion als allumfassende, Führung gebende Institution der sozialen Welt auf, als Treuhänderin der letzten, absoluten Bedeutung des Ganzen. Dieses Ganze ist jedoch nicht länger die Welt der Schöpfung oder das Universum der Natur. Es ist von nun an das begrenzte Universum einer totalen Evolution der Menschheit in der Geschichte, das Universum des gesellschaftlichen Fortschritts. Der neue Klerus wird das Gebaren von Individuum und Gesellschaft in allen Details bestimmen und vorgeben, denn er allein ist in der Lage, die historische Situation der Menschheit nachzuvollziehen und zu erklären. Der Klerus wird die grundlegenden religiösen Normen ausarbeiten: das Evangelium der Arbeit, das Evangelium der Bruderschaft, das Evangelium der Armen. Das Evangelium der Arbeit gilt der spirituellen Bestätigung industrieller Gesellschaften. Die Arbeit ist gesegnet als Agentin der Produktivität, durch die Fortschritt erst möglich wird. Alle Tätigkeiten sind darin eingeschlossen, noch die wertschöpfende Kapitalinvestition in nützlichen Unternehmungen. Jeder, der eine konstruktive Leistung zur industriellen Welt beisteuert, ob als Arbeiter, Meister, Manager, Banker oder Ingenieur, ist im Zustand der Seligkeit, denn er trägt bei zur Herstellung einer harmonischen Ordnung des Fortschritts. Allein die Müßiggänger, Relikte der Feudalgesellschaft, die von den Zinsen leben, sind amoralisch und antireligiös. Dies ist der erste Schritt in Richtung einer technokratischsozialistischen Religion, die sich anschickt, ein humanitäres Paradies zu errichten.5 5
Siehe Henri de Saint-Simon, L’Œuvre de Henri de Saint-Simon. Textes choisis. Herausgegeben und eingeleitet von Célestin Bouglé. Paris: F. Alcan 1925; Henri de Saint-Simon, Œuvres de Saint-Simon et d’Enfantin, 47 Bde. Paris: E. Dentu 1865-1878; bezüglich der SaintSimonistischen Religion und Predigten siehe insbesondere: Henri de Saint-Simon, Le Nouveau
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Bis zu diesem Punkt lässt sich davon sprechen, dass die Saint-Simonisten Wissenschaftler als wertvolle Körperschaft innerhalb des neuen Klerus betrachten. Dagegen können das Evangelium der Bruderschaft und die religiöse Verklärung der ärmsten und größten Klasse nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern allein aus dem Gefühl der Menschliebe gewonnen werden. Es ist dies ein utilitaristischer Transfer der spirituellen Grundsätze von Barmherzigkeit und Bedürftigkeit auf das Feld der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die physische und moralische Verfassung der ärmsten und größten Klasse zu verbessern ist eine religiöse Norm, die zum Evangelium der Arbeit gehört. Saint-Simon gründete seine Herausforderung der christlichen Religion auf die Notwendigkeit einer Beziehung zwischen wissenschaftlicher Industrie und humanitärem Fortschritt. Hätte die Kirche Wissenschaft und Technologie gefördert, um das Lebensniveau der Massen zu steigern, dann wäre kein Bedarf für ein neues Christentum. Doch ist die Verknüpfung von Technologie und Sozialethik weder naturgegeben noch logisch. Sie verdankt sich dem optimistischen Glauben, dass die spirituellen Grundsätze einer übernatürlichen Religion einer in endlosem Fortschritt begriffenen, gereiften Menschheit zum naturhaften Interesse geworden sind. Die Welt der industriellen Bruderschaft ist nicht gleichbedeutend mit Freiheit und Gleichheit. Sie steht für eine Hierarchie auf Gegenseitigkeit. Die Stärkeren und Klügeren tragen die Verantwortung für die Schwächeren und Unwissenden, die im Gegenzug Ordnung und Gliederung der Gesellschaft anerkennen. Jene Ordnung gründet nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Liebe. Verantwortung füreinander und Dienst aneinander kann es nur in einer Gesellschaft geben, die einig ist im Ziel, progressive Harmonie kraft der Liebe zum Mitmenschen zu verwirklichen. Dieses Evangelium verwandelten Schüler und Anhänger Saint-Simons in Kirche und Kultus. Ihr Kreis umfasste neben jungen Bankleuten – darunter einige emanzipierte Juden – Ingenieure und Sozialreformer. Sie übten einen starken Einfluss auf sämtliche Schichten der Gesellschaft aus, auf Industrielle, Bankleute und Arbeiter gleichermaßen. Die Saint-Simonisten waren überzeugt, dass im Zuge der Dialektik des Fortschritts, von einer organischen Epoche zur nächsten, ihre Religion den letzten verbleibenden Antagonismus, Geist vs. Materie, beseitigen und damit den Monotheismus überwinden werde. Dies ist wahrhaft das Evangelium einer materialistisch-technischen Gesellschaft. In ihrer eigenen Sprache erscheint es als Pantheismus, definieren sie doch ihre dogmatische Position wie folgt: „Gott ist Christianisme. L’Œuvre de Henri de Saint-Simon. Textes choisis, Bd. 23. Paris: E. Dentu 1869; Siehe auch Henri de Saint-Simon, Doctrine de Saint-Simon, Exposition, première année 1829, Neuauflage. Herausgegeben und eingeleitet von Célestin Bouglé und Elie Halévy. Paris: Riviáere 1924; Sébastian Charléty, Histoire du Saint-Simonisme. Paris: Gonthier 1931.
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eins; Er ist alles was ist [...] Er offenbart sich unter zwei Hauptaspekten, dem Geist und der Materie“.6 Gleichwohl, gemäß ihrer Predigten sind Göttliches und die wahre Religion nur möglich, wenn ihr Fundament die gesellschaftliche Wirklichkeit und der gesellschaftliche Fortschritt sind. Insofern ist der Begriff ,Pantheismus’ irreführend. Es gibt keine göttliche Wesenheit, die jenes Alles durchzieht, nur menschliche Leidenschaften und menschliche Gedanken, welche die komplexe Einheit der Menschennatur und ihre Identität mit dem Göttlichen zum Ausdruck bringen. In der menschlichen Natur offenbart sich die Trinität der Saint-Simonistischen Religion: Wahrheit, Zweckmäßigkeit und Schönheit sind ihr die höchsten Güter. In ihnen spiegelt sich die spirituelle Natur des Menschen, nach Erkenntnis strebend, Sicherheit suchend und sich nach Liebe sehnend. Das Evangelium Saint-Simons lässt sich durch zwei Formen der Lobpreisung zusammenfassen: die Glorifizierung der Arbeit und die Verklärung der Leidenschaften. In beiden zeigt sich die komplexe Einheit der antagonistischen Kräfte von Geist und Materie. Daraus folgte die Propaganda für die Rehabilitation des Fleischlichen, für die Aufhebung des Geschlechtergegensatzes durch die Idee der totalen Person, für die Suche nach der göttlichen Mutter. Diese Details sollte man kennen, will man richtig verstehen, dass all die Bemühungen um Identifikation und Synthese, die man Religion nennt, einen einzigen Zweck haben – die totale Bedeutung von Geschichte und sozialer Entwicklung zu begründen und den Intellektuellen, die dieses Universum des gesellschaftlichen Fortschritts konstituieren, ja geschaffen haben, religiöse Würde zu verleihen. Das Evangelium der Saint-Simonisten gestaltete die Welt nicht um, wie es die Gläubigen gehofft hatten. Aber ihre Vision gewann enormen Einfluss auf den technologischen und sozialistischen Fortschritt, inspirierte Ingenieure und Bankleute ebenso wie radikale Arbeiter.
V. Comtes Religion der Humanität7 repetiert die Saint-Simonistische Theologie in deutlicherer Form und systematischer. So kann man erkennen, wie sehr diese neue Theokratie späteren totalitären Philosophien den Weg bereitete. Von Beginn an umfasste die Philosophie des Positivismus ihrer grundlegenden Intention nach die Religion der Humanität. Für Comte bilden Wissenschaft und Religion zwei Aspekte einer der menschlichen Natur innewohnenden Teleologie. Beide 6 7
Saint-Simon, Doctrine de Saint-Simon, S. 251. Auguste Comte, Système de Politique Positive, Bd. 4. Paris: Chez L'Auteur 1854. Erwähnenswert ist zudem der Untertitel: „Traité de Sociologie, Instituant la Religion de l'Humanité […] Contenant le Tableu Synthétique de L'Avenir Humain”.
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zielen auf Einheit und Harmonie; beide erkennen, ja anerkennen die Wirklichkeit des Religiösen, um sie zu sättigen. Beide schaffen Ordnung: im einen Fall in der Sequenz der Wissens, um der Kontrolle über die Natur willen; im anderen Fall in der Sequenz der Gefühle, um der Disziplin und Unterordnung in der organisierten Gesellschaft willen. Es gibt zwei Felder der Religion, das intellektuelle und das moralische. Auf dem ersten Feld findet Comte den Geist, wie er sich in Glaube und Dogmatismus ausdrückt; auf dem anderen Herz und Liebe, die sich in Anbetung, Hingabe und Dienst manifestieren. Glaube gilt als die intellektuelle Bestätigung des Dogmatismus. Er verleiht die Sicherheit der Kenntnis des Universums und ermöglicht so, die Lage der Menschheit zu verbessern: dies ist ein Universum, das nicht offenbart, sondern veranschaulicht wird. Der Glaube bringt uns dazu, das Leben als Mixtur aus Fatalismus und Spontaneität zu nehmen – eine fatalité modifiable.h In Manifestationen der Liebe setzen wir die Wahrheit des Dogmatismus in Geltung, widmen unser Leben anderen, stellen unsere Bemühungen in den Dienst der Menschlichkeit – in der Familie, in einer Gruppe, einem Land, der Menschheit als Ganzer. Die drei Typen der Anbetung, die Comte unterscheidet, und die Formen des Gebets sind Symbole der Disziplin, des Segens der Unterordnung als einer Befreiung von individueller Ungebundenheit, und zugleich deren Ausdruckstechniken. Sie werden beschrieben als Techniken, die es Menschen ermöglichen, ihren Organismus zu manipulieren, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.i Dies ist die Religion Comtes: der Kult industriell-unternehmerischen Menschentums, sozial und wissenschaftlich verwaltet von humanitären Ingenieuren. Er wollte eine Kirche errichten, welche die industrielle Variante des Katholizismus sein sollte, eine spirituelle Macht, überlegen allen politischen Institutionen, und zugleich eine moralische Macht, die den Einzelnen der Gesellschaft unterwirft und die Animalität des Menschen zu Soziabilität umformt. Diese Idee ist im wörtlichen Sinne universell, vereint sie doch Wissenschaft und Religion, indem sie den Menschen als ein auf Finalität gerichtetes Tier zeigt. Aus diesem Grund steht die Sittenlehre in der abschließenden Hierarchie der Wissenschaften über der Soziologie.j Sie bildet die empirische Sparte der Religion der Humanität. Sein Leben anderen zu widmen, zum Wohl der Menschheit zu arbeiten, dies ist die religiöse Wahrheit. Folglich bildet die Menschheit, verbunden durch den Prozess der Geschichte, eine fortdauernde Einheit, sind Verstorbene und Ungeh i
j
Auguste Comte, Système de Politique Positive ou Traité de Sociologie, Instituant la Religion de l'Humanité, Bd. 2. Paris: Chez L'Auteur 1852, S. 379. Auguste Comte, Soziologie, Bd. 2: Historischer Teil der Sozialphilosophie: theologische und metaphysische Methode. Übersetzt von Valentine Dorn. Eingeleitet von Heinrich Waentig. Jena: Gustav Fischer 1907. Auguste Comte, Cours de Philosophie Positive, Bd. 1. Paris: Bachelier 1830, S. 57-115.
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borene in den Lebenden enthalten. Im Erleben und Begreifen der Abhängigkeit voneinander und des Dienstes aneinander offenbart die Menschheit ihren religiösen Charakter. Im begrenzten Universum totaler Entwicklung sind wir Herren und Diener, Gott und historischer Mensch zugleich. Dies, die Selbstanbetung, ist die Religion der Humanität. Sie knüpft neue Bande und bestätigt alte Verbindlichkeiten jenseits der traditionellen Kirchen und sich verflüchtigenden Staaten. Diese Religion schafft ein neues Sinnuniversum, nachdem die Welt der Schöpfung verschwunden ist und politische Verfassungen ihre moralisch-soziale Geltung verloren haben. Das Fiat der ersten Soziologen begründet anhand der modernen Welt das Verhängnis des Fortschritts und verkündet die religiöse Mission der industriellen Klassen, die Träger des folgerichtigen spirituellen Fortschritts sein sollen. Die modernen Naturwissenschaften haben den klassischen Kosmos zerstört, als sie die endlose, offene Natur des Universums entdeckten. Die moderne Soziologie, verstanden als Religion der Humanität, übertrug die christliche Idee der Heilsgeschichte auf die Gesellschaftsgeschichte. So machten sie aus dem gesellschaftlich-politischen Fortschritt ein spirituelles Anliegen. Dies beinhaltete, dass ihre Idee der Ordnung ihrem Wesen nach auf Endgültigkeit und Absolutheit gerichtet war. In allen Details lassen die Arbeiten Comtes das Bestreben erkennen, ein Sinnuniversum wiederherzustellen, das einer verlorenen, hilflosen modernen Menschheit Führung und Schutz sein soll. Dies ist eine ausgesprochen düstere Religion der totalen Kontrolle – Totalitarismus in nuce. Comte und ebenso die Saint-Simonisten priesen die Regentschaft Louis Napoléons als notwendigen Übergang zu einem eindeutig von Ordnung und Sinnhaftigkeit geprägten Zustand. Insbesondere Comte zelebrierte sämtliche Details der zukünftigen Verwaltung einer positivistisch verfassten Gesellschaft. Wenn er sich mit dem Kulturhaushalt oder der Pressefreiheit beschäftigt,k erbringt er den deutlichen Beweis, dass seine früh erlangte Überzeugung, die Freiheit besitze ein negatives Gepräge, die ganze Zeit über sein Denken bestimmt hat. Die Einführung eines neuen Kalenders und die Benennung positivistischer Heiliger für jeden Tag des Jahresl imitieren die Religion der Jakobiner. Seine Ideen zur Verwaltung der Okzidentalen Republikm sind gleichermaßen vom jakobinischen und vom napoleonischen Modell einer radikalen Beseitigung überkommener Begrenzungen inspiriert. In den neuen Religionen verschmelzen die Traditionen des jakobinischen Kultus, Enthusiasmus und Disziplin der Kaiserzeit, Visionen von Ingenieuren k l m
Auguste Comte, Système de Politique Positive ou Traité de Sociologie, Instituant la Religion de l'Humanité, Bd. 1. Paris: Chez L'Auteur 1851, S. 381-382. Comte, Système de Politique Positive, Bd. 4, S. 403. Ebd., S. 372 u. 480-481.
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und Wissenschaftlern und die philosophischen Lehren de Bonalds und Condorcets. Für die revolutionäre Situation in modernen Zeiten ist es kennzeichnend, dass die Konzeptionen von Fortschritt und Revolution wie Religionen auftreten. Und es ist symbolisch, dass die Religionsstifter die einsamsten und ungeselligsten Mitglieder jener Gesellschaft waren, die sie als anarchisch darstellten. Ihre prekäre Lage gestattete ihnen die Erkenntnis der desparaten Stellung des Intellektuellen in einer zerfallenden Welt. Dies ist der Grund dafür, dass sie Ordnung, Gemeinsinn, Religion postulierten. Als Napoléons des wissenschaftlich-dirigistischen Zeitalters kündeten sie ihr sic volo, sic jubeon – Ich will’s, forder’ es so – zu dem Zweck, Einheit, Ruhe, soziale und spirituelle Sicherheit wiederherzustellen. Man muss diese Religionen, welche die sozialrevolutionären Bewegungen begleiteten, im allgemeinen Kontext der Romantik sehen. Romantik bedeutet in allen ihren Manifestationen die Wiederherstellung, ja Rückeroberung der Welt als einer Einheit von Sinn und Ordnung. Ob die Romantiker sich die neue Ordnung als Rückkehr zur Welt des Mittelalters oder als wissenschaftlichindustriellen Katholizismus vorstellen mochten, die Aufgabe ihrer Religion war es, einen Bezugsrahmen zu schaffen, innerhalb dessen Gehorsam, Unterordnung und Dienst wieder Wert und Bedeutung zukäme.
VI. Es ist unerlässlich, im Zusammenhang der Religionen des Fortschritts auf Marx’ System zu sprechen zu kommen. Sein wissenschaftlicher Sozialismus ist als revolutionärer Dogmatismus romantisch und eschatologisch, wie auch immer man den Wert seines Werks für die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie bemessen mag. Als revolutionäre Kraft hat dieses Werk Millionen von Arbeitern fasziniert, nicht kraft seines wissenschaftlichen Wahrheitswerts, sondern aufgrund der religiösen Hoffnungen und der spirituellen Sicherheit, die es schenkt. In den Arbeiten aller großen politischen Führer der Bewegung des marxistischen Sozialismus ist das religiöse Element maßgeblich. In Bebels Büchern ist augenfällig, dass das Pathos seiner Sprache aus der religiösen Gewissheit rührt, die ihm sein sozialistischer Glaube verlieh. Es lohnt sich, die unterschiedlichen Auflagen seiner Schriften zu vergleichen, um zu erkennen, wie langsam sich angesichts der Routinen des politischen Alltagsgeschäfts die religiöse Inbrunst erst verflüchtigt. All die Simplizismen und Vulgarismen des Zukunftsstaa-
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Decimus Iunis Juvenalis, Satiren. Im Versmaß des Originals übersetzt und erläutert von Alexander Berg. Berlin: Langenscheidt 1890, S. 137 (VI, 223).
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teso verdanken sich Begrifflichkeiten, von denen Marx sich nie verabschiedet hat, obschon sie eine romantisch-eschatologische Affinität zu Hegel anzeigen. Die Dialektik der Freiheit und ihre letzte Vollendung sind bloß ein metaphysischer Ersatz für die theologischen Prinzipien von Gnade und Vorsehung. Selbst die früh eingeführten Begriffe der „wahren Demokratie“ und des „realen Humanismus“p sind Übertragungen der Augustinischen civitas coelestis die sie mit der civitas terrena verwirren,q auf den säkularen Prozess der Geschichte. Marx’ Arbeiten zeigen denkbar deutlich, dass Religion des Fortschritts und Revolution sich unter den Bedingungen der Moderne geradezu vermengen müssen, denn moderne Revolutionen sind ihrem Wesen nach total und radikal von Natur. Es ist kein religiöser und auch kein politischer Bezugsrahmen mehr verblieben, der dem schöpferischen oder zerstörerischen Tun der revolutionären Massen Orientierung geben könnte. Sie selbst sind es, die handeln und behandelt werden, Bedingungen stellen und Bedingungen ausgesetzt sind. Sie selbst sind es, die eine neue Welt schaffen, was bedeutet: sie selbst schaffen denkend, fühlend, handelnd Wert und Bedeutung. Deshalb müssen alle modernen Revolutionen Religionen des Fortschritts sein. Proudhon und Bakunin behandelten die religiöse Frage auf andere, radikalere Weise. Beide können eher als Ahnherrn von Anarchismus und Syndikalismus denn als Ahnherrn des Sozialismus gelten. Beide machten den Krieg gegen das Christentum zu einem der Hauptanliegen ihrer revolutionären Lehren. Beide waren fest entschlossen, die Fundamente der Idee religiöser Transzendenz zu beseitigen. Insbesondere Bakunin verfocht in seinem Kampf gegen die Theologie den radikalsten Naturalismus. Er hasste die Folgen der theologischen Soziologie, Kontrolle, Subordination, Disziplin. Sein Zorn galt vor allem den Ideen der Erbsünde, des Sturzes, der Verderbnis. Dies sind die Prinzipien, Bakunin zufolge sind sogar nur dies die Prinzipien, die Herrschaft und Ausbeutung, Überlegenheit und Gehorsam erst ermöglichen. Sämtliche Formen der Kontrolle leiten sich o
p
q
August Bebel, Zukunftsstaat und Sozialdemokratie. Eine Rede des Reichtagsabgeordneten August Bebel in der Sitzung des deutschen Reichstags vom 3. Februar 1893. Berlin: Verlag des Vorwärts 1893. Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Berlin: Dietz Verlag 1970, S. 201-333, hier S. 229-234; Friedrich Engels und Karl Marx, „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 2. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Berlin: Dietz Verlag 1970, S. 5-223, hier S. 7. Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat [De Civitate Dei]. Die staatswissenschaftlichen Teile übersetzt, mit teilweisem lateinischen Begleittext versehen und behandelt von Karl Völker. Jena: Verlag von Gustav Fischer 1923, S. 86 (XI, 2).
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aus dem Pessimismus des Christentums hinsichtlich der Natur des Menschen ab, ruhen doch alle moralischen Werte auf theologischem Fundament. Und alle soziale und politische Autorität verweist auf, ja ist legitimiert durch ein geistiges Bild der menschlichen Natur, das die Wahrheit, die dem Leben innewohnt, und seine Schönheit verdrängt oder entstellt. Bakunin sah die Wurzeln solchen pervertierten Denkens in der Habgier, in der Lust an der Macht seitens der Stärkeren und Schlaueren, und sah dies widernatürliche Denken sich auswirken in der universellen Korrumpiertheit Herrschender und Beherrschter gleichermaßen. Indem er die radikale, absolute Güte des Menschen verkündete, forderte er die Lehren der Theologie heraus.8 Proudhon war sich deutlicher bewusst, dass sein Streit gegen Gott nicht allein eine Seite seines Kampfes gegen die sozialen und politischen Institutionen der Bourgeoisie war. Er fühlte, dass er den Kampf gegen Gott nur auf der spirituellen Ebene führen konnte. Durchdrungen vom Geist echter Verzweiflung und radikaler Negation kommt seine Revolte dem nahe, was eine neue religiöse Einsicht heißen könnte. Dies ist bemerkenswert, hat er doch einige grundlegende Voraussetzungen mit den Religionen des Fortschritts gemeinsam. Auch er glaubt an das Gesetz des Fortschritts als einer der Menschheit innewohnenden Logik, der die Philosophen sich fügen müssen, wollen sie sich nicht die Fehlschlüsse eines willkürlichen Subjektivismus zu eigen machen. Nur die Gesellschaft als kollektives Wesen kann ihrem Instinkt auf kluge Weise folgen, kann sich ihrem freien Willen überlassen, ohne fürchten zu müssen, einem absoluten Irrtum zu erliegen. Im menschlichen Kräftespiel weist die höhere Vernunft den rechten Weg. So fließen Wahrheit, Instinkt, Wirklichkeit und Geschichte ineinander im Fortschritt der Menschheit, der zugleich Fortschritt auf dem Feld der Arbeit ist. Bis hierher stimmt Proudhon mit den Romantikern und den Sozialisten überein, hinsichtlich der Totalität des Fortschritts und der Menschheit als seiner Trägerin. Aber er lehnt vehement den sozialen Pantheismus der Saint-Simonisten und ebenso den totalen Immanentismus der Sozialisten ab. Er hasst die Vergöttlichung des Menschen; er verspottet die Auswilderung des Mystizismus unter dem Namen des Humanismus; er verübelt es, dass die Welt der Moral zugunsten der Autorität der Gewohnheiten und Sitten verworfen und die Wirtschaft den Regeln des Kommunismus untergeordnet wird. In all den unterschiedlichen Typen des religiösen Dogmatismus, welche die industrielle Welt hervorbrachte, erkennt er ein Streben, Freiheit und Unabhängigkeit zu fliehen, um komplexere Modelle von Autorität und Ausbeutung zu schaffen, als sie die Welt je gesehen hat. Seine Attacke verfolgt das Ziel, alle Institutionen der Herrschaft und Abhän8
Michael Bakunin, Œuvres, 5 Bde. Paris: Stock 1895-1912; siehe vor allem Michael Bakunin, L’Empire Knouto-Germanique et la Révolution sociale. Œuvres, Bd. 2 Herausgegeben von James Guillaume. Paris Stock 1907.
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gigkeit, welche die natürliche Freiheit mindern und die guten Instinkte korrumpieren, auszurotten. So läuft er Sturm gegen die Idee eines Gottes, in der das Monopol auf Sinn und Bedeutung vereinigt und zentralisiert ist. Aus diesem Prinzip leiten sich alle weiteren Formen zentralisierter Autorität ab, etwa die Idee des zentralistischen Staats oder die eines Monopols wissenschaftlicher Wahrheit. Obwohl – oder gerade weil – er die These eines ewigen Wesens anerkennt, verwirft er den totalen Immanentismus der Romantiker. Aus dem gleichen Grund ist ihm dies ewige Wesen eine feindliche Macht, die er bis zu seinem Tod zu bekämpfen hat. Ausdrücklich hält Proudhon dafür, dass das Böse göttlich, das Gute menschlich sei.r Menschliche und göttliche Mächte agieren als zwei Rivalen, zwischen denen sich entscheidet, ob das Gute oder das Böse die Welt beherrschen soll. Des Menschen Pflicht ist es, Gott, der sein Feind ist, weil er das Prinzip der Unterjochung verkörpert, zu überwinden und das Prinzip menschlicher Güte aufzurichten, um Freiheit zu schaffen. Proudhon ahnte, dass auch sein Kampf gegen Gott noch ein Kampf der Sorge um eine unverfälschte Religion war, die eine der tiefsten Wurzeln menschlicher Vergesellschaftung ist.9 Proudhon, der tiefer schürfte und klüger dachte als Marx, verstand, dass die radikalen Revolutionen der Moderne totale Revolutionen sein müssen. Sie müssen die Struktur der Gesellschaft an ihren Wurzeln, in ihren Fundamenten angreifen. Proudhon erkannte sehr genau, dass die Religion ein konstitutives Element des Aufbaus von Politik und Gesellschaft ist. Je größer daher seine Bereitschaft wurde, dem Gedanken eines ewigen Wesens stattzugeben, um so wichtiger wurde es ihm, die christliche Transzendenzvorstellung zu zerstören. Er war sich gewiss, wenn erst einmal diese Vorstellung besiegt wäre, dann würde er auch die Welt der Bourgeoisie erobern, und folgte darin selbst einer spirituellen Idee, die das integrierende Moment seiner Revolution war. So forderte er die bestehende Ordnung heraus, indem er das Königreich Satans ausrief. Wie Bakunin identifizierte Proudhon seinen revolutionären Kampf mit der Ausbreitung Satans. Nur Sozialismus- oder Soziologiehistoriker lesen heute noch Proudhon und Bakunin. Ihre Schriften, ihre Ideen sind nicht länger lebendig. Geblieben ist gleichwohl ein Symbol ihrer radikal antichristlichen Religion, die Inthronisierung Satans bei Baudelaire. Baudelaire schuf mit seiner Darstellung Satans, der r
9
Pierre Joseph Proudhon, Philosophie der Staatsökonomie, oder, Nothwendigkeit des Elends, Bd. 1. Deutsch bearbeitet von Karl Grün. Darmstadt: D.W. Leske 1847, S. 368, 370-371, 383 u. 390-391. Vgl. insbesondere Pierre Joseph Proudhon, Systèmes des contradictions économiques, ou Philosophie de la misère. Paris: Chez Guillaumin 1846; Pierre Joseph Proudhon, Les confessions d’un révolutionnaire pour servir à l'histoire de la révolution de février. Paris: Au Bureau Du Journal La Voix Du Peuple 1849; Pierre Joseph Proudhon, De la Justice dans la Révolution et dans l’église, 3 Bde. Paris: Garnier 1858.
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den Thron erklimmt, ein Sinnbild des spirituellen Klassenkampfes, den Proudhon und Bakunin austrugen. Satan tritt hier auf als „Wahlvater jener, die in einem schwarzen Zorn Gottvater aus dem irdischen Paradies verjagt hat“.10 Unterstützung erhält das Königreich Satans von Kain, im Aufstand gegen den Bourgeoise Abel, der den Bauch sich wärmt am väterlichen Herde,s zu dessen Mörder er geworden ist. In vollendeter Form bringt Baudelaire die essentielle Bedeutung von Proudhons religiösem Ringen zum Ausdruck: „Kains Stamm, zum Himmel steige und auf die Erde schleudre Gott.“11 Nach Auffassung dieser Revolutionäre kann der Gott der Kirchen nicht das wahre spirituelle Prinzip sein. Wäre Er dies, könnte Er niemals Elend, Demütigung und Ausbeutung der Mehrheit der Menschen dulden. Und so führen sie einen revolutionären Kampf gegen Elend, Demütigung und Ausbeutung. Im Gegensatz zum Saint-Simonistischen Pantheismus und zu Comtes totalitärem Katholizismus ist Proudhon von einer wahrhaft eschatologischen Verzweiflung über eine letzte Schlacht napoleonischen Ausmaßes getrieben, und vom Begehren, Lebendiges und Göttliches von Neuem zu einen. Es ist bezeichnend für die revolutionäre Situation in modernen Zeiten, dass es Proudhons schärfster Widersacher war – Donoso Cortés, Katholik und Philosoph, Verfechter der Idee totaler Autorität –, der den einzigartig religiösen Charakter der modernen Revolutionen in Gänze erfasste. Bemerkenswert ist dies, weil für ihn Proudhon der Erzfeind war. Gleichwohl stimmte er mit Proudhons Einschätzung sämtlicher Aspekte des modernen Liberalismus und meistenteils des modernen Kollektivismus überein; er würdigte den edlen, außergewöhnlichen Geist Proudhons und verstand ihn als seinen größten Feind. „Die modernen Revolutionen“, schrieb er, „haben eine unbezwingbare und zerstörerische Gewalt, die die Revolutionen der Vergangenheit nicht besaßen; und diese Gewalt ist notwendigerweise satanisch, da sie nicht göttlich sein kann.“12
VII. Der Student der Soziologie kann nicht die gleichen Begriffe verwenden wie der christliche Theologe. Doch kann er billigen, dass Satan als gefallener Engel gilt. 10
s 11 12
Charles Baudelaire, „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“. In: Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen. Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Bd. 3. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München, Wien: Carl Hanser 1975, S. 51-339, hier S. 318-319. Ebd., S. 310-311. Ebd., S. 312-313. Don Juan Donoso Cortés, An Essay on Catholicism, Authority and Order considered in their fundamental principles. New York: Joseph F. Wagner 1925, S. 264.
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Unter dieser Prämisse betrachtet, befreiten sich die modernen Gesellschaften vom Schöpfergott, von Erbsünde und göttlicher Gnade. Stattdessen beteten sie in den technischen Möglichkeiten des Industriezeitalters die eigene Macht und Schaffenskraft an. Sie setzten den historisch-sozialen Prozess an die Stelle göttlicher Vorsehung und vermochten noch nicht zu erkennen, was dem heutigen Studenten der Soziologie seine Epoche bestätigt – dass die Gebieter und Götter der industriell-technologischen Schöpfung zu Sklaven ihres eigenen Werks geworden sind, die Schöpfer von ihrer Schöpfung erschlagen werden. So erkennt der Student der Soziologie, dass die Religionen des Fortschritts Dämonien sind. Dämonisch sind sie, weil sie die entfesselte Menschenmacht als sinnvoll an sich, als gleichbedeutend mit absolutem Sinn preisen. Dämonisch, weil sie keinen Bezugsrahmen jenseits der Menschennatur anerkennen. So sind die Religionen des Fortschritts Sinnbilder der revolutionären Situation des 19. Jahrhunderts, der Wiederkehr des Hobbesschen Naturzustands. Die schöne neue Weltt ist dämonisch im Zusammenhang ihres gigantischen Vermögens, Kontrolle über die Natur auszuüben, und ihres Unvermögens, sich selbst zu kontrollieren. Letztlich fallen Satanismus und Dämonismus zusammen. Die Religionen des Fortschritts sind Manifestationen eines allgemeinen Zustands der Entwurzelungen, der universellen Revolution. Als solche offerieren sie eine radikale Kur zur Bewältigung einer radikalen Situation. Religion ist eine radikale Kur, sie stellt Verhaltensmaßregeln auf und stattet das Menschsein mit Sinn aus. Die Philosophen-Priester sind es, die dies tun, kraft ihres Fiat. Es sind die ersten Versuche der totalen Planung von Mensch und Gesellschaft in modernen Zeiten. In den Religionen des Fortschritts verschmelzen die Strukturen der modernen Revolution und des Katholizismus der Vergangenheit. Gemeinsam sind ihnen absolutes Erlösungswissen, die radikale Konzeption eines Zustands von Sündhaftigkeit und Verderbnis, der wesenseigene Fanatismus derer, die das Monopol auf Wahrheit besitzen. Die Religionen des Fortschritts bringen in aller Deutlichkeit einen Aspekt der totalen Revolution zum Ausdruck, die seit 1789 andauert. Alexis de Tocqueville war es, der diesen Zusammenhang klar erkannte. Häufig sprach er von einer unaufhörlichen Revolution. Er war sich wohl bewusst, dass die Französische Revolution die Schranken für eine grundstürzende Transformation der westlichen Menschheit geöffnet hatte, und machte deutlich, dass diese Revolution alles Denken und Fühlen verändern und die überlieferten Verhaltensweisen vollständig revidieren würde. Er wusste die satanischen und dämonischen Elemente in den sozialistischen und industrialistischen Strömungen zu verstehen und prog-
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Aldous Huxley, Brave New World. London: Chatto & Windus 1932.
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nostizierte, dass sie zu einem nie gesehenen Despotismus führen würden.u Gleichwohl ahnte er, dass die totale Revolution einen totalen Frieden im Sinn hatte, und wollte sie daher in den Rahmen der christlichen Grundsätze zurückführen, während er die sozialen Probleme in der politisch-konstitutionellen Sphäre lösen wollte. Jede Religion des Fortschritts besitzt eine gewisse Affinität zu einer bestimmten historischen Religion. Der Saint-Simonismus und Comtes Religion der Humanität übertragen das Modell der katholischen Kirche und deren Einrichtungen auf ihre irenisch-wissenschaftlichen Religionen. Das marxistische Glaubensbekenntnis ist eindeutig sozialmohammedanisch, während man Proudhon als Manichäer klassifiziert hat.14 Doch bei allen Unterschieden bleibt diesen Systemen als Gemeinsamkeit die grundlegende Tendenz zu allumfassender, totaler Planung des Lebens des Einzelnen ebenso wie des gesellschaftlichen Lebens. Die Verschmelzung von totaler Revolution und Religion war unausweichlich in einer Welt, der die Vision eines größeren Ganzen abhanden gekommen ist, deren Perspektive nur mehr auf die historische Evolution der Menschheit begrenzt ist. Dieser Prozess ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. Die Abkehr von der überlieferten Religion war keine notwendige Folge der Entwicklung der Wissenschaften. Für Rationalismus und Aufklärung war die Welt des Menschen noch im transhistorischen Gesichtskreis von normativer Vernunft und geistig-moralischer Vollkommenheit. Erst die Französische Revolution vermengte dies zur eindeutig antichristlichen Religion des Fortschritts und zum Historismus. Welche Bedeutung das französische Kaiserreich für diese Religionen besaß, ist bisher noch nicht gründlich analysiert worden; wenigstens Saint-Simon und Comte erkannten die segensreichen Vorteile einer diktatorischen Fortschrittsordnung. Doch den größten Beitrag zu den neuen Religionen leistete das technisch-wissenschaftliche Denken der Industriegesellschaft. Die unterschiedlichen Kräfte vereinten sich zu jener romantischen Bewegung, die ebenso das konstruktive wie das destruktive Potential der totalen Revolution offenbarte. Als deren konstitutives Element ist die Religion des Fortschritts nicht weniger real als materielle Interessen es sind. Sie ist sogar realer als diese, denn jene streitbaren Gesellschaften würden niemals ihre gebündelte Explosivität gewonnen haben, hätten sie nicht ihre Bedürfnisse und Forderungen der Religion des Fortschritts überantwortet.
u
14
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 2. Herausgegeben von Jacob Peter Mayer, Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. Übersetzt von Hans Zbinden. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1962. Cortés, An Essay on Catholicism, S. 111.
Alexander H. PekelisÜ
„Die Rabbanan lehrten: [...] Ein Gelehrter geht einem König vor, denn wenn ein Gelehrter stirbt, so haben wir seinesgleichen nicht mehr, wenn aber ein König stirbt, so ist jeder Jisraélit zur Königswürde befähigt.“a
Alexander Pekelis ist ,gefallen’, gefallen im Kampf für ein unabhängiges jüdisches Palästina. Sein Tod ist ein unsagbarer Verlust für die Sache des Zionismus, für die Sache der Freiheit weltweit. In der ersten Reaktion ist man von diesem Unglück überwältigt und paralysiert wie vom Moment der Peripetie in einer griechischen Tragödie: ein strahlendes, heroisches Leben, begriffen im Aufstieg zur vollsten Verwirklichung seiner Energien, plötzlich ausgelöscht durch ein dämonisches Schicksal. Kein Zweifel, in dem emotionalen Wechselbad, das unsere Reaktion auf Pekelis’ Tod prägt, ist der Eindruck einer tragischen Katastrophe zwangsläufig allgegenwärtig. Wenn man sich seine Lebensgeschichte vor Augen hält, wird dies verständlich. Geboren 1902 in Russland, verließ Pekelis seine Heimat nach der bolschewistischen Revolution. Er studierte Philosophie in Wien und Leipzig. Als staatenloser Flüchtling konnte er nicht auf eine Karriere in Deutschland hoffen. So ging er nach Italien und studierte in Florenz die Rechte. Er wurde in Rom als Anwalt zugelassen und lehrte an der dortigen Juristischen Fakultät. Er verließ Italien, nachdem Mussolini 1938 die Nürnberger Gesetze eingeführt hatte, und lebte in Frankreich, bevor er nach dem französischen Zusammenbruch in die USA kam. Hier wurde er als Nachfolger Nino Levis Mitglied der Graduate Faculty der New School for Social Research. An der Columbia Law School studierte er die Theorien und Methoden des Rechts, die man auf diesem neuen Kontinent anwendet. Deren Vergleich mit dem Römischen Recht und den Rechtslehren Europas, den er kraft seiner ausgedehnten Erfahrungen und umfangreichen
Ü a
Albert Salomon, „Alexander H. Pekelis“. In: Jewish Frontier 14, 3, 1947, S. 24-26. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke. „bHorajoth III, Folie 13a – Gemara.“ In: Der babylonische Talmud. Mit Einschluß der vollständigen Misnah, Bd. 7: Synhedrin, Makkoth, Sebuôth, Aboda-Zara, Horajoth, Edijoth, Aboth. Herausgegeben und übersetzt von Lazarus Goldschmidt. Haag: Nijoff 1933, hier S. 1111.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Alexander H. Pekelis
Bildung anzustellen vermochte, regte ihn zu neuen schöpferischen Arbeiten an.b Zwei Jahre lang war er Redakteur der Columbia Law Review. Schließlich war er als Berater der Commission on Law and Social Action des American Jewish Congress tätig und Mitglied der Exekutive der Labor Zionist Organization. Als er starb, erwog man gerade an der Universität von Jerusalem seine Berufung als Professor für Politische Wissenschaften; dies war der Ort, wo zu leben Pekelis sich immer gewünscht hatte. Ohne Zweifel, es ist ein Element unserer Trauer, dieser Tragik nachzufühlen, aber nicht das einzige. Pekelis war nicht nur ein Gelehrter, sondern auch eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war kein Wissenschaftler des Typus, dessen Leben vollständig in seinen Fachbeiträgen aufgeht. Bei manchen Wissenschaftlern ist die Persönlichkeit wichtiger als ihr Werk. Zu dieser Gruppe gehörte Pekelis. Seine wichtigen Beiträge zur amerikanischen Jurisprudenz werden als objektive Befunde die Zeiten überdauern und sicher gebührlich bewertet und gewürdigt werden, wenn seine Hinterlassenschaft vollständig sein wird. Im Augenblick der Trauer und des Abschieds dagegen gilt es, die bleibende Bedeutung dieser glänzenden Persönlichkeit zu erfassen. Viele der Trauernden sind nicht nur von pathetischen Empfindungen bewegt. Viele spüren, dass uns dieser Tod eines Musters essentieller Humanität beraubt hat. Bewusst oder unbewusst sind sie gewahr, dass Pekelis nicht einfach ein beliebiges Individuum gewesen ist; er war zu einem objektiven Symbol geworden, zum Muster einer eigenen Regeln folgenden Individualität. Einer alten Wendung zufolge ist das Individuum keiner Beschreibung zugänglich. Intuitiv erfährt man deren Wahrheit und Gültigkeit, wenn der Tod die Bande von Liebe und Freundschaft durchtrennt. Denn ein Individuum ist ein beweglich-dynamisches Ganzes, offen für eine Vielfalt von Situationen und Beziehungen, zugleich von einer Vielfalt von Situationen und Beziehungen geprägt. Unsererseits erleben wir ein Individuum subjektiv, als bestimmt durch unsere Beziehung zu ihm, ohne Anspruch auf objektive Gültigkeit unserer persönlichen Perspektive. Gleichwohl gibt es außergewöhnliche Individuen, in deren Fall es anders zu sein scheint. So jemand war Pekelis. Einige standen ihm nahe und genossen seine Freundschaft. Andere mögen ihn von fern bewundert und ihm scheue Liebe entgegengebracht haben. Doch jeder war sich klar bewusst, dass Pekelis kein modernes Individuum war, unscharf umrissen, mit wechselnden Konturen, sondern die alt-neue Erscheinung eines Juden, in dem sich Elemente der Überlieferung mit der modernen, wiederbelebten Hoffnung für die Zukunft Palästinas vereinen. Unweigerlich fühlt man b
Vgl. u.a. Alexander Pekelis, „Administrative Discretion and the Rule of Law.“ In: Social Research 10, 1943, S. 22-37; Alexander Pekelis, „The Case for a Jurisprudence of Welfare. Possibilies and Limitations“. In: Social Research 11, 1944, S. 312-353.
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sich an einen Aufsatz Hofmannsthals erinnert, in dem er Agur beschreibt, den König eines gewaltigen namenlosen Volkes von Wandernden, einen Mann strahlender Jugend, und dessen Streben im Strom der Aufbrechenden, in der Bewegung des Vorwärtsgehens und darin ganz bei sich, seine Augen friedvoll und ruhig, weise und aufrichtig.c Pekelis war Agur, Anführer von Natur, zugemessen dem Gewicht eines Volkes, das unaufhörlich auf dem Weg zu seinen Ursprüngen ist. Anführer war er kraft der vollkommenen Einheit, des Einklangs seiner Persönlichkeit. In seinem Judentum war eine spontane Ganzheit. Ein Jude zu sein war für ihn niemals ein tragisches Schicksal, für das man sich rechtfertigen oder dem man Aufdringlichkeit entnehmen müsste. Es war ihm ebenso natürlich wie Sein und Werden in Zeit und Raum. Vier oder fünf Regionen der westlichen Kultur hat er durchmessen. Zu zweien leistete er beachtliche Beiträge. Dies vermochte er, weil er so tief in seinem Judentum verwurzelt war, dass die Begegnung mit anderen Lebensformen, anderen Denkweisen seine Vorstellungswelt stimulieren konnte, ohne sie zu entstellen, seinen Bezugsrahmen aus letzten Werten verbreitern konnte, ihn aber nicht zerbrechen musste. Ein Bezugsrahmen, der mehr und mehr vorsah, dass die Völker Frieden und Wohlstand unter Schutz und Anleitung des Gesetzes finden sollten. Sein spontanes Judentum war die Quelle seiner schöpferischen Freiheit. Einmal, in einem Gespräch über die jüdische Erziehung unserer Kinder, sagte er zusammenfassend: ,Es gibt nur ein sehr einfaches Mittel, man muss sie lehren, niemals die Stimme zu senken, wenn sie sagen müssen, dass sie Juden sind. Das ist alles’. So war Pekelis. Es ist lediglich eine Frage der bescheidenen und aufrichtigen Haltung. Kein Problem. Keine Frage. Pekelis kannte viele unterschiedliche Kulturen, doch für den modernen Historismus fehlte ihm der Sinn. Er war ebenso der Zeit enthoben wie all jene Juden, deren Leben von den Überlieferungen jüdischer Religion und Ethik geprägt ist. Dies verlieh ihm trotz seiner tatkräftigen, streitbaren Jugendlichkeit die Weisheit eines Patriarchen. Als Jude verstand er wohl Goethes Wort: „Wer Maximen bestreiten will, sollte fähig sein, sie recht klar aufzustellen und innerhalb dieser Klarheit zu kämpfen.“d Denn die Wahrheit ist alt, sie ist in unseren Überlieferungen dargelegt, auch wenn wir ihr im Wechsel der Umstände wieder und wieder eine neue Form geben müssen. Eine vollkommene Einheit des Alten und
c d
Hugo von Hofmannsthal, „Die Wege und die Begegnungen“. In: Hugo von Hofmannsthal, Wege und Begegnungen. Stuttgart: Reclam 1949, S. 30-37, hier S. 33-34. Johann Wolfgang Goethe, „Denken und Tun“. In: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Kunst – Schriften zur Literatur – Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe, Bd. 12. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (C. H. Beck) 1998, S. 396-417, hier S. 412.
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Neuen war es, die natürliche Harmonie und Schönheit seines Judentums, kraft derer uns Pekelis ein bleibendes Ideal jüdischen Lebens ist. Sicher hätten Pekelis viele andere Laufbahnen offengestanden, wäre er auf vielen Gebieten ein ‚Erfolg’ gewesen. Gleichwohl scheint es unvermeidlich, dass sein Judentum ihn bewegen musste, sich dem Gesetz zuzuwenden, einem der vitalen Aspekte jüdischer Wesensart. Das Gesetz ist Gottes. Es verweist auf, es intendiert eine soziale Haltung, im gleichen Maße wie es das Verhältnis zu Gott und seiner Schöpfung reguliert. Das Gesetz ist die Torah – und was sonst haben die Rabbiner seit mehr als 2000 Jahren getan, als das Gesetz neu zu deuten, in veränderten Umständen angemessenen Begriffen und verständlich denen, die es in ihrem Alltag anwenden, ja leben sollen? Pekelis hat wichtige Beiträge zur amerikanischen und zur italienischen Rechtslehre geleistet. War aber nicht die innerste Richtschnur all seiner rechtswissenschaftlichen Bemühungen jene erhabende rabbinische Demut, die festhält an den wenigen Grundideen, welche allein im Wechsel der Umstände, die unser kleines soziales Universum erfährt, die irrationalen, die dunklen Kräfte der menschlichen Natur zu kontrollieren vermögen? 1944 veröffentlichte Pekelis in Social Research einen Artikel mit dem Titel: „The Case for a Jurisprudence of Welfare“,e der in vielerlei Hinsicht eine Neuinterpretation der New Deal-Politik ist und zugleich ein erster Entwurf einer liberalen Philosophie des Rechts. Er beendet den Text mit den Worten: „Zweckmäßigkeit bedeutet nicht die vorauseilende Planung zu erreichender Ergebnisse, sondern den Willen zu entdecken, den Willen, das winzige Segment der uns bekannten Welt zu erweitern, den Willen, zu lernen und seine Sache besser zu machen, die feste und verwurzelte Überzeugung, die Menschheit möge wieder und wieder, in jedermanns Lebenszeit, sehen ‚schmal in der Ferne, schmal, aber direkt voraus, die Silhouette unvorstellbarer Küsten.’”f Dies ist eine moderne Fassung jener Haltung, die unsere Rabbiner einnahmen, um das Gesetz neu zu formulieren, den neuen Lebensbedingungen angepasst, denen Juden überall auf der Welt zu begegnen haben. Das Gesetz schützt und gibt Anweisungen. Es ist ausgerichtet auf Gott und auf die Gemeinschaft – und Gemeinschaft bedeutet dem Juden die Einheit von Vergangenem und Zukünftigem in der Gegenwart zu leben. Pekelis zufolge markiert das Gesetz wieder und wieder den Bezugsrahmen für das Streben der Menschen nach sozialer Integration, nach der guten Gesellschaft, gut, insofern sie die dunklen Kräfte der Irrationalität kraft Einsicht in die Bedeutung des Gesetzes zu kontrollieren vermag.
e f
Pekelis, „The Case for a Jurisprudence of Welfare“. Ebd., S. 353. Vgl. Stephen Vincent Benét, „Prelude”. In: Stephen Vincent Benét, Western Star. New York, Toronto: Farrar & Rinehart 1943, S. 1-13, hier S. 13.
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Pekelis war kein bloßer Berufsjurist. Er war seinem Wesen nach ein Student der Rechte, wie alle Juden es sein sollten. Er war vom Wesen Jude, insofern er dem Wesen nach ein Mann der Rechte war. Er war Jude aus innerer Berufung. Dies machte ihn zum ebenmäßigsten, ja glücklichsten Menschen, dem ich begegnet bin. So schuf er etwas, das dauerhafter ist als sein persönliches Leben, nämlich das objektive Ideal jüdischen Lebens. Allem begegnete er frei und offen, weil er willens war, sich seines Wesen, seiner Bedeutung, seines Gesetzes zu vergewissern. Er war spontan, war glücklich, obgleich er sich bewusst war, im Galut, im unfreiwilligen Exil zu leben, denn in ihm war die überlieferte Tröstung lebendig, dass wir einmal wieder in Zion leben werden. Aus diesem Grund widmete er ebenso den Rechtsproblemen der Juden im Galut wie den Fragen des Wiederaufbaus Palästinas große Anstrengungen. Ohne ausdrücklichen Entschluss, aus tiefinnerlicher Hingabe, als sei es sein natürlichstes Anliegen, gehörte sein Leben dem Judentum. Darum ist seine streitbare Arbeit für den Schutz jüdischer Minderheiten etwas, das bleiben wird. Ein hervorragendes Dokument seines Lebens bildet eine Analyse der antisemitischen Tendenzen in der Daily News, eine kurze Skizze, die der Bewerbung der Daily News um eine Lizenz für eine eigene UKW-Rundfunkstation entgegentrat.1 Diese Studie, die Pekelis leitete und größtenteils verfasste, kann – und sollte – jeder Jude gelesen haben: „Das Bild des Juden in der Daily News“ wurde zum Musterfall einer ‚Inhaltsanalyse’. Sie verdeutlicht den Beitrag, den soziologische Methoden zur Klärung sozialer Streitfragen zu leisten vermögen, wenn sie von hochwertiger, weitgespannter Geistigkeit getragen sind. In dieser Analyse hat Pekelis ein Modell der Forschung erstellt, das von bleibendem Wert für den jüdischen Kampf gegen Antisemitismus sein wird. Die Analyse über „Das Bild des Juden in der Daily News“ ist seine letzte gedruckte Arbeit. Seine größte Leistung bleibt es, in seinem eigenen Leben ein Ideal für jüdisches Leben an jedem Ort der Welt gegeben zu haben. Ohne Vorsatz, ohne Mühe erreichte er etwas, was nur wenigen gelingt. Begegnete man ihm, so hatte man das Gefühl, heimzukehren, behütet, in Judäa zu sein. Er gab uns eine Ahnung, wie unser Volk aussehen mag, wenn wir frei, gemäß unseres eigenen Geistes lebten. Er war frei unter dem Gesetz, das sein Gesetz und zugleich das Gesetz seines Volkes war. Es würde etwas fehlen, wenn unsere Darstellung an diesem Punkt endete. Pekelis ist ein Teil unseres Lebens geworden, eine auf Dauer stimulierende, schöpferische Kraft, so sehr im Reinen mit sich war dieser Mensch. Seine Be1
Before the Federal communications commission, Washington, D.C. Document No. 6175. In reapplication of News syndicate co., inc., New York, New York, for construction permit for an FM station. Memorandum in the nature of proposed findings submitted at the direction of the Federal communications commission.
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mühungen unterstützte die Natur mit wohlwollenden Gaben. Er verfügte über eine kraftvolle Physis. Doch eindrücklicher war seine Herzensgüte. Stets befürchtete er, andere über die Maßen in Anspruch zu nehmen, und es war ihm ein moralisches Anliegen, die Freiheit und Unabhängigkeit derer, mit denen er zusammenwirkte, nicht zu schmälern: „Sanft war sein Leben, und so mischten sich Die Element’ in ihm, dass die Natur Aufstehen durfte und der Welt verkünden Dies war ein Mann.“g
Unsere Pflicht, Zeichen unseres dauernden Dankes, wird es sein, unsere Kinder zu lehren, so aufzutreten, wie Pekelis es tat, und stolz auf ihn zu sein.
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William Shakespeare, „Julius Cäsar”. In: William Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 4. Herausgegeben von Anselm Schlösser. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1994, S. 179262, hier S. 262.
Karl Mannheim (1893-1947)Ü
I. Karl Mannheims früher Tod im Januar 1947 stürzte seine Freunde und Studenten überall auf der Welt in Trauer. Alte und neue Freunde, ungarische und deutsche, französische und skandinavische, englische und amerikanische, chinesische und ostindische, sie alle empfanden mehr als nur einen persönlichen Verlust. Ebenso wie uns sein Tod emotional ergreift, trifft er auch unsere Arbeit, denn Mannheim war ein einzigartiges Phänomen in der akademischen Welt im Allgemeinen und im Feld der Soziologie im Besonderen. Für Mannheim war die Soziologie eine Lebensform, eine Grundhaltung, eine Wissenschaft und eine synthetische Philosophie. Sie war nicht nur unter vielen akademischen Disziplin die, die er für seine berufliche Karriere ausgewählt hatte. Für ihn war die Entscheidung für die Soziologie eine moralische Entscheidung, die auf der Überzeugung basierte, dass nur die Soziologie wissenschaftlich die Voraussetzungen schaffen könne, mit denen moderne Gesellschaften Umbauprozesse auf eine vernünftige Weise voranbringen können. Wie die SaintSimonisten und Comtea sprach er in ernsten, ja religiösen Begriffen von der Neuen Welt und dem Dritten Weg,b einem durch die Anwendung soziologischer Erkenntnisse herbeigeführten Zustand relativer Vervollkommnung. Nicht in der Lage, an religiöse Dogmen oder metaphysische Aprioris zu glauben, sah Mannheim – wie Comte und Durkheim – im Zeitalter der positiven Wissenschaft in der Soziologie einen möglichen Weg der Erlösung für die moderne Menschheit. Mannheim war kein kontemplativer Mensch, er war von Haus aus ein Liebhaber der Humanität. Sein Hauptanliegen war es, dem Einzelnem und der Gesellschaft zu helfen, indem er die Rolle des guten Arztes einnahm, der korrekte Diagnosen stellt und die richtigen Mittel zur Heilung verschreibt.c Von der bloÜ a
b c
Albert Salomon, „Karl Mannheim 1893-1947“. In: Social Research 14, 1947, S. 350-364. Übersetzt von Dorte Huneke. Saint-Simonistische Texte. Abhandlungen von Saint-Simon, Bazard, Blanqui, Buchez, Carnot, Comte, Enfantin, Leroux, Rodrigues, Thierry und anderen in zeitgenössischen Übersetzungen, 2 Bde. Herausgegeben und eingeleitet von Rütger Schäfer. Aalen: Scientia 1975; Comte, Auguste, Système de Politique Positive ou Traité de Sociologie. Instituant la Religion de l'Humanité. Osnabrück: Zeller 1967. Karl Mannheim, Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen. Zürich, Wien, Konstanz: Europa-Verlag 1951. Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 8.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Karl Mannheim (1893-1947)
ßen Bekundung edler Gesinnung und erhabener Ideale nicht zufrieden gestellt, war er fest entschlossen, soziale Techniken und Konzepte auszufeilen, mit deren Hilfe sich die antagonistischen Grundsätze von Sozialismus und Freiheit in Einklang bringen lassen würden. Mannheim sah seine Hingabe an den soziologischen Weg der Befreiung als seine höchste menschliche Pflicht. Dementsprechend widmete er sich ihr restlos, in der Lehre wie im Schreiben. Seine Entscheidung für eine akademische Karriere war eine wahre Opfergabe. Denn wie Comte spürte er, dass das, was er zu sagen hatte, über die Grenzen der Bildungseinrichtungen hinaus führen würde. Als er seine Laufbahn bereits eingeschlagen hatte, sagte er mir lakonisch ,Totum me dedi’, ,Ich habe mich ganz gegeben’ – eine halb scherzhafte Bemerkung, und dennoch hat er wohl nie wieder etwas so Aufrichtiges und Wahres geäußert. Sein Leben wurde ein erhabener Asketismus im Dienste des sozialen Fortschritts kraft Soziologie. Die Soziologie war Mannheims Obsession, eine Obsession, die sich auf die Krise der modernen Welt bezog und auf seine feste Überzeugung stützte, dass soziologisches Denken helfen könne, die der westlichen Zivilisation bevorstehende Katastrophe zu verhindern. Er war von der Vorstellung einer möglichen Synthese zwischen Vergangenheit und Gegenwart besessen, als letztem Ausweg statt eines vollständigen Absinkens in irrationale Barbarei. Diese Überzeugung schuf den in allen Äußerungen seines humanitaristischen Pathos enthaltenen soziologischen Furor. Dieser Furor wirkte auf einige faszinierend, auf andere abstoßend, auf alle jedoch bewegend, als Ausdruck einer aufrichtigen Seele. Niemand, der das Privileg hatte, Mannheims Freund oder Student zu sein, wird jemals die Intensität und Vitalität dieser Persönlichkeit, die mitreissende geistig-moralische Kraft, die seine Gespräche und Vorträge beseelte, vergessen können. Aber mit den Jahren wird es immer weniger Menschen geben, die persönlichen Umgang mit dem Charme und der menschlichen Wärme seines so schöpferischen Lebens hatten. Wir müssen deshalb versuchen, im geschriebenen Wort etwas von dieser Ausstrahlung einzufangen, auf dass diese für uns alle so wichtige Erfahrung erhalten und lebendig bleibt.
II. Mannheim kam in Ungarn in einer jüdischen Mittelstandsfamilie zur Welt. In seiner Jugendzeit galt es in den mitteleuropäischen Ländern und in Russland als selbstverständlich, dass ein jüdischer Intellektueller nur Sozialist sein konnte; was in Mitteleuropa Marxist bedeutete. So kam Mannheim mit der Gruppe ungarischer Sozialisten in Berührung, deren prominentestes Mitglied Georg Lukács war.
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Es lässt sich mit Recht sagen, dass Lukács ein prägendes Element in Mannheims früher Entwicklung war, dessen Einfluss in zwei verschiedene Richtungen wirkte. Zum einen legte er den allgemeinen Wert der soziologischen Methode in sämtlichen Bereichen der Geistes- und Sozialgeschichte dar. Er zeigte Mannheim, wie es möglich war, wissenschaftlich präzise soziologische Literaturanalysen vom marxistischen Standpunkt aus durchzuführen. Damit leistete er einen wesentlichen Beitrag zu Mannheims späteren Studien zur Wissenssoziologie.d Zum anderen war Mannheim stark beeinflusst von Lukács’ Weiterentwicklung des theoretischen Marxismus. Es muss betont werden, dass Marx das grundlegende Erlebnis für Mannheims Denken blieb, der, auch wenn er im Zuge seiner Forschungen vom orthodoxen Marxismus abgewichen ist, das Fundament wirtschaftlich-sozialer Variablen für seine Überlegungen zum Historismus beibehalten hat.e Lukács hatte den Marxismus zunächst als notwendigen Bestandteil einer eschatologischen Dialektik betrachtet. Angesichts der Misere der kapitalistischen Gesellschaften sah er im Marxismus das entscheidende Mittel, mit dem die organisatorischen Unzulänglichkeiten und die Unsicherheiten einer industrialisierten Menschheit zu heilen wären. Erst wenn der Sozialismus ganz etabliert und äußerliche Institutionen den Einzelnen und das Kollektiv vom lastenden Gefühl der Unsicherheit befreit haben würden, könne der freie Mensch erfahren und begreifen, dass echtes Leid und unverfälschte Leidenschaft jenseits der Grenzen sozialer Institutionen entstehen. Dann würden sich eine neue und unverfälschte Verzweiflung und eine Demut ausbreiten, die schließlich eine religiöse, eine eschatologische Erneuerung hervorbringen würden.f Mit seinem zunehmenden Verständnis von Marx als dem einzigen ernst zu nehmenden philosophischen Genius, der Hegels Begriff der Entfremdung des Selbst vollständig erfasst hatte,g distanzierte sich Lukács von dieser Annahme. Lukács erhellte die schicksalhafte d
e f g
Karl Mannheim, „Das Problem einer Soziologie des Wissens“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53, 1925, S. 577-652; Karl Mannheim, „Das Konservative Denken“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57, 1927, S. 68-142 u. 470-495; Karl Mannheim, „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“. In: Verhandlungen des sechsten deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1929, S. 35-83. Karl Mannheim: „Historismus“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52, 1924, S. 1-60. Georg Lukács, Balázs Béla és akiknek nem kell [Béla Balázs und diejenigen, die es nicht brauchen]. Übersetzt von Anna Bak-Gara. Gyoma: Kner 1918. Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Schriften – Manuskripte – Briefe bis 1844. Werke. Ergänzungsband. Erster Teil. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1968. S. 465-588, hier S. 510-522; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.
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Übersetzung Hegels durch Marx, als dieser die erlösende Funktion der Philosophie auf eine gesellschaftliche Revolution übertrug.h Es ist bezeichnend für die Entwicklung von Mannheims Denken, dass er Lukács später dogmatischen und metaphysischen Historismus vorwarf, der ihn daran hindere, die Vielfalt der Determinanten zu erkennen.i Dass Mannheim diese Kritik üben konnte, war das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Annäherung an das Problem. Er anerkannte den Historismus als bleibende Bestimmtheit neben einem dynamischen Kaleidoskop von Bedingungen, unter denen besonders die ökonomisch-technologischen hervorstachen. Gleichwohl betonte er stets die Vielschichtigkeit sozialer Zusammenhänge. 1920 ging Mannheim nach Heidelberg, wo er, beeinflusst durch Emil Lederer und Max Weber, seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus in Richtung eines relativistischen Historismus fortsetzte. Lederer hatte den Begriff der Produktivkräfte in die Formel des „gesamte[n] Ensemble[s] der gesellschaftlichen Verhältnisse“ umgewandelt.j Dies besagt, dass die Produktivkräfte auch gesellschaftliche Gepflogenheiten, Wertvorstellungen und deren rechtliche und politische Umsetzung einschließen, und zwar unabhängig von, aber dennoch im Zusammenspiel mit der ökonomischen Entwicklung. Weber hinterließ seine soziologischen Arbeiten unvollständig und fragmentarisch, ohne seine Gedanken hinsichtlich der Beschaffenheit einer Soziologie als eigenständiger Disziplin geklärt zu haben. Er starb, ohne seinen Schülern eine Richtung vorzugeben, wie sie beim Ausarbeiten einer Soziologie als Wissenschaft mit eigenen Fragestellungen, konkreten Inhalten und eindeutigem Anwendungsbereich vorgehen sollten. Deshalb sah es Mannheim als seine Pflicht an, Webers Vorschläge, Ideen und methodologischen Grundsätze zu systematisieren und einzuordnen, um die Ziele der Soziologie auf diese Weise überzeugend zu untermauern und voranzutreiben. Er wollte zeigen, dass die Soziologie eine systematische Einheit bildet, einen inneren Zusammenhang besitzt, dass sie sich eine Fülle von Fragen stellt, deren Bearbeitung dazu beitragen kann, soziale Spannungen und Konflikte zu lösen. Mannheim hoffte, diesem Zweck auf seine Weise dienlich sein zu können. Von Lederers relativistischem Marxismus und Webers radikalem Historismus beeinflusst, überführte Mannheim Marx’ soziologische Enthüllung der sozih i j
Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin: Malik 1923. Karl Mannheim, „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“, S. 70-71. Emil Lederer, „Zeit und Kunst“. In: Die Neue Rundschau 33, 1922, S. 992-1001, hier S. 992993; Vgl. Emil Lederer, „Zum sozialpsychischen Habitus der Gegenwart“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 46, 1918/1919, S. 114-139; Vgl. Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“. In: Karl Marx und Friedrich Engels, 1845 bis 1846. Werke, Bd. 3. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1962, S. 5-7, hier S. 6.
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alen Bedingungen aller Denkungsarten vom Stand eines absoluten Dogmatismus in eine Wissenssoziologie, in der jede Position relativ zur Besonderheit ihrer Umstände und ihres Gesichtsfeldes ist. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war das Buch Ideologie und Utopie.k Das Buch war ein kolossaler Erfolg bei freigeistigen Gruppen, wurde von Philosophen aber hart kritisiert, da es die Fragen von Kontemplation und Politik verwechsle. Angegriffen wurde es auch von denjenigen, die die Meinung vertraten, dass ein Gelehrter nur dann befugt sei, geltende Überzeugungen und Werte zu zerstören, wenn er gleichzeitig in der Lage ist, etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Wie dem auch sei, die Veröffentlichung des Buches trug Mannheim nicht nur die einzige ordentliche Professur für Soziologie in Deutschland ein, den Lehrstuhl des liberalen Franz Oppenheimer in Frankfurt, sondern auch, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, Einladungen, in anderen Ländern zu lehren. Er nahm schließlich das Angebot eines Lehrauftrags an der London School of Economics an; eine Entscheidung, die für die Entwicklung seiner Arbeit nach 1933 von großer Bedeutung war, insbesondere für seine Bücher Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus und Diagnose unserer Zeit.l 1945 wurde er, als Nachfolger von Sir Fred Clarke, auf den Lehrstuhl für Soziologie der Erziehung an der University of London berufen. Seine Radioansprachen, seine pädagogischen Arbeiten und seine Tätigkeit als Herausgeber der International Library of Sociology and Social Reconstruction zeugen von neuen sozialen Erfahrungen und neuen Verantwortlichkeiten, die, wie er selbst bemerkte, sowohl von theoretischer als auch von politischer Art waren. All dies folgte dem Bestreben, das englische Volk vor und während des Krieges über die sozialen und psychologischen Voraussetzungen aufzuklären, die für das Überleben der Demokratie in einer totalitären Welt unabdingbar sind. Es waren Versuche, die englische Gesellschaft davon zu überzeugen, dass eine umfassende Planung in allen Sphären des Lebens das notwendige Rezept sei, wenn man in einer größtenteils totalitären Welt ein gewisses Maß an Freiheit erhalten wollte. Aus diesem Grund verweisen Mannheims letzte Bücher auf die Planung von Freiheit und die Erziehung zur Freiheit als den dringendsten Zielen eines Soziologen. So verwandte er die letzten zwölf Jahre seines Lebens darauf, seine humanitäre Haltung auszuformulieren und zu konkretisieren. Im ganz wörtlichen Sinne verschrieb Mannheim sein Leben dem Aufbau eines sozialistischen England, das sein liberales Erbe bewahren würde, und er bewies seine Verbundenheit mit diesem Land, indem er als Ratgeber und Erzieher in seinen Dienst trat. Bald wurde er hier ebenso bewundert und geliebt wie zuvor in Deutschland. In seine Veranstaltungen strömten Studenten aus allen k l
Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn: Cohen 1929. Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Leiden: Sijthoff 1935; Mannheim, Diagnose unserer Zeit.
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Teilen der Welt. Er gewann die Engländer, die so stolz auf ihre eigene akademische Tradition und so skrupulös gegenüber neuen Disziplinen sind, mit seinem Eifer, seinem Enthusiasmus und seiner tiefgründigen Persönlichkeit. Im Lichte seiner Arbeiten in England scheint es folgerichtig, ja geradezu unausweichlich, dass Mannheim den Lehrstuhl in London annahm. Denn hier konnte er sich einer Aufgabe widmen, welche die Anwendung seiner soziologischen Erkenntnisse auf die schicksalsschwere Entwicklung der Gesellschaft forderte, mit dem Ziel einer Versöhnung überlieferterter politische Freiheiten und planerischen Tendenzen. Er fand vollständige Befriedigung darin, beizutragen zur notwendigen Synthese der liberalen und der sozialistischen Demokratie, und er verlangte nach keinen weiteren Ehren in einem Zeitalter zwischen Revolution und Reform.
III. Mannheims Arbeit durchziehen drei markante Linien. Erstens das Bemühen, die Soziologie als eigenständige Disziplin zu systematisieren; zweitens die Wissenssoziologie; und drittens der Versuch, Erziehung und Soziologie zusammenzubringen. Indem er die Soziologie im Bildungswesen verortete, präsentierte er den bis dahin ausgefeiltesten Entwurf für ein Curriculum der Soziologie.m Zugleich war er jedoch unweigerlich versucht, die empirische Wissenschaft in eine Grundlagenwissenschaft umzugestalten, was einer Synthese sämtlicher wissenschaftlicher Fachrichtungen gleichkäme. Eine derart synthetisierte Wissenschaft übernähme die Funktion der Philosophie und hätte damit die gleiche Ambivalenz zur Voraussetzung, die der modernen Soziologie seit je innewohnte. Mannheim betrachtete die Soziologie zunächst als Spezialwissenschaft mit drei unterschiedlichen Zweigen.n Der erste Zweig war die allgemeine Soziologie, eine Theorie sozialer Axiome, die darauf zielt, in der Vielfalt sozialer Phänomene jene Grundelemente zu entdecken, aus denen sich die Struktur einer Gesellschaft konstituiert. In diesem Zusammenhang referiert Mannheim Simmels Theorie sozialer Formen.o Diese Formen tauchen zu allen Zeiten, an allen Orten und auf allen sozialen Ebenen auf. Alle Sozialwissenschaftler, auch die Historiker und die Anthropologen, brauchen derartige Grundbegriffe, denn nur so sind die
m n o
Karl Mannheim, Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie. Ihre Lehrgestalt. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1932. Ebd., S. 6-14. Ebd., S. 4; Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig: Duncker & Humblot 1908.
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individuellen und spezifischen Abweichungen von allgemeinen Formen des Verhaltens und den Institutionen zu erklären und zu erfassen. Von wesentlicher Bedeutung war für Mannheim die Suche nach den möglichen Irrtümern einer solchen formalen Wissenschaft mit Blick auf die spezifischen Erfordernisse im historischen Prozess. Den zweiten Zweig der Soziologie nennt er daher vergleichende Soziologie, was wir als historische Soziologie bezeichnen würden. Sie ergänzt die phänomenologische Beschreibung und die Analyse abstrakter, allgemeiner sozialer Erscheinungen in Form einer Theorie, die erklärt, wie diese allgemeinen Formen von Beziehungen und Institutionen unter dem Einfluss sich wandelnder historischer Bedingungen variieren. Auf Basis der formalen und der historischen Soziologie etablierte Mannheim die strukturelle Soziologie als einen weiteren Zweig, der das spezifische Zusammenspiel jener sozialen Kräfte erläutert, welche die wechselwirkenden Bereiche der Gesellschaft einbeziehen. Tatsächlich erklärt die strukturelle Soziologie den Konsens als die Einheit sozialer Vielfalt, als produktive Koexistenz verschiedener Ebenen des Lebens und des sozialen Handelns. Diese Einheit besteht aus zwei Teilen: Statik und Dynamik. Die Statik sorgt dafür, dass die gesellschaftlichen Kräfte in einer vorhandenen Sozialstruktur ein Gleichgewicht bilden. Dynamik entsteht durch jene Elemente, die sich widersprüchlich zueinander verhalten und dazu tendieren, die Gesellschaft zu spalten. Dies ist die Theorie des sozialen Wandels, von Gleichgewicht oder Ungleichgewicht im Sozialen. Mannheim postulierte zudem, dass die Soziologie über eine Theorie des Kontexts der soziokulturellen Entwicklung verfügen, also eine Kultursoziologie sein solle.p Die Kultursoziologie sollte an die Stelle der Geschichtsphilosophie und ihrer abstrakten Hypothesen treten, sollte eine konkrete Analyse des historischen Prozesses und des prekären Nebeneinanders seiner unterschiedlichen Ebenen sein. Mannheim ergänzte eine spezielle Sparte, die sich mit der Soziologie bestimmter Wissenszweige der Kultur beschäftigen sollte – Recht, Kunst, Sprache, Literatur, Erkenntnis. Nach seiner Einschätzung würden die dazugehörigen Disziplinen verschwinden, sobald die soziologischen Methoden auch von deren Vertretern als unverzichtbare Instrumente ihrer Forschungen akzeptiert worden wären.q Und schließlich beschrieb er die praktische Soziologie als Sozialarbeit. Gesellschaftliche Institutionen und Sozialstatistiken würden notwendig zum Gegenstand angewandter Forschung.r Die Soziologie war für Mannheim sowohl wissenschaftliche Theorie als auch eine Methode, die in einer im Wandel befindlichen Welt eine bestimmte p q r
Mannheim, Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, S. 22-27. Ebd., S. 14-21. Ebd., S. 28-32.
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Funktion übernimmt. Sie überschreitet sich selbst in zweifacher Weise. Angestoßen durch den Marxismus tendiert sie einerseits zur gesellschaftlichen Transformation; auf Grundlage der Ergebnisse ihrer Analysen gesellschaftlicher Beziehungen deutet sie andererseits auf die Philosophie und philosophische Anthropologie hin. Diese Voraussetzung erklärt die Koexistenz verschiedener Stufen der historischen Entwicklung der Soziologie in Mannheims Denken. Die historische Funktion der Soziologie bestand für ihn darin, Manifestation des Rationalen in einer Zeit des Umsturzes, der Reform zu sein. Jedoch war er nicht damit zufrieden, dass die Soziologie lediglich einen bescheidenen Beitrag zur Philosophie leisten sollte. Der Tradition Comtes folgend skizzierte er eine Soziologie, die sich in Philosophie transzendiert. Diese metabasis eis allo genos, jener Übergang in eine andere Gattung, resultierte aus seiner Überzeugung, die Soziologie sei ein Werkzeug zur Stärkung des Verstandes und der Seele geworden, so dass mit ihrer Hilfe eine Überprüfung aller Ansprüche auf absolute Werte und letzte Wahrheiten, die in der Vergangenheit in Wissenschaft und Philosophie vorgebracht worden sind, möglich sei. Hier liegen die Wurzeln von Mannheims Wissenssoziologie, die er in Ideologie und Utopie erstmals dargestellt hat.s Er glaubte, jeden Absolutheitsanspruch im Denken ein für allemal erfolgreich ausgeräumt zu haben, indem er die sozialen Voraussetzungen offen gelegt hatte, unter denen spezifische Muster des Begründens und Urteilens zustande kommen. Es erfüllte ihn mit Stolz, auf wissenschaftlichem Wege die Begrenztheit von Werturteilen nachgewiesen zu haben, und als eine der sozialen Perspektive geschuldete Begrenztheit erklärt zu haben.t Durch die Anwendung dieser Methode kam er auch zu einer Überprüfung seines eigenen relativistischen Denkens und analysierte die Perspektive, die seinen eigenen Konzeptionen zugrundeliegt.u Unbeirrbar hielt er an der Überzeugung fest, die soziologische Analyse könne uns, ebenso wie die Psychoanalyse, von einem irrationalen Druck befreien. Aus dem breiten Spektrum der Soziologie war es in seinen Augen vor allem die Wissenssoziologie, die jene irrationalen Einstellungen identifizieren konnte, die unsere Anpassung an den Vergesellschaftungsprozess behindern oder befördern. Er betonte jedoch häufig, dass solches Entlarven kein Zerstören sei. Vielmehr ging es ihm darum, uns anzuleiten, in der Wahrheit zu leben und die Schrecken der Wirklichkeit auszuhalten. Um Mannheim historisch einzuordnen, bietet es sich an, einen Vergleich anzustellen. Im 18. Jahrhundert war es ebenso in Mode, zu entlarven, wie in Mannheims soziologischem Zeitalter, aber es gab einen wesentlichen Unters t u
Mannheim, Ideologie und Utopie. Ebd., S. 77-113. Ebd., S. 160-168.
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schied. Fontenelle schrieb seine Abhandlung De l‘origine de fables, um aufzudecken, welche Hindernisse die Entwicklung des Verstandes und der wissenschaftlichen Intelligenz blockierten.v Er präsentierte eine andere Art der Wissenssoziologie, indem er zeigte, wie Unwissen, Trägheit und irrationale Leidenschaften zur Mythenbildung und zu religiösen Konstruktionen beitragen und somit das Voranschreiten des aufgeklärten Geistes behindern. Untersuchungen dieser Art waren Fontenelle möglich, weil er das Kriterium der Wahrheit als einer kraft Vernunft verifizierten Größe verwandte. Vermittels der Vernunft würde die menschliche Kommunikation zu einer neuen Harmonie, einer neuen Einheit geführt werden, wenn einmal die Mythen als Überbleibsel eines prärationalen, ja instinktiven Antriebs, die Natur zu erklären und zu verstehen, erkannt wären. Mannheim hingegen konnte die Welten, die er zerstörte, nicht wieder aufbauen. Die Wissenssoziologie als eine Theorie des Ideologischen bietet keine neue Basis der Kommunikation, auf dass Verstehen zwischen den Angehörigen der geschichteten Gesellschaft möglich werde. Sie hinterlässt das soziale Universum als Chaos widersprüchlicher Irrationalitäten, die nicht einmal über Ort und Augenblick der sozialen Entwicklung, in die sie sich einzufügen hätten, zur Einigung kommen. Mannheim konnte nie nachvollziehen, weshalb man ihm vorwarf, er propagiere mit seinem soziologischen Relativismus einen soziologischen Imperialismus, der letztlich nihilistisch sei.w Ideologie und Utopie weist lediglich Spuren des reformerischen Anliegens Mannheims auf, während in seinen späteren Büchern der Schwerpunkt auf politischen, sozialen und sittlichen Fragen der Bewahrung von Demokratie und Freiheit liegt. Sein hauptsächliches Interesse war es, jene Entwicklungen zu beleuchten, die Planung auf allen Ebenen und in allen Sphären der zeitgenössischen technisierten Massengesellschaft unausweichlich machen. Wenn die westliche Zivilisation überdauern sollte, gab es seiner Meinung nach keine Freiheit ohne Planung und keine Planung ohne Freiheit.x Mannheim präsentierte seine Gedanken zur modernen Krise in einer Vielzahl von Studien.y Ein Element der Katastrophe lag nach seiner Einschätzung in v w x y
Bernard Le Bovier de Fontenelle, De l‘origine de fables. Herausgegeben von Jean R. Carré. Paris: Alcan 1932. Vgl. Volker Meja und Nico Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Karl Mannheim, „The Crisis of Culture in the Era of Mass-Democracies and Autarchies“. In: Sociological Review 26, 1934, S. 105-129; Karl Mannheim, „The Psychological Aspects of the Problem of Peaceful Change“. In: Charles A. W. Manning und Charles K. Webster (Hg.), Peaceful Change. An International Problem. London: Macmillan 1937, S. 101-132; Karl Mannheim, „Present Trends in the Building of Society“. In: Raymond B. Catell, John Cohen und Robert M. W. Travers (Hg.), Human Affairs. London: Macmillan 1937, S. 278-300; Karl
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der allgemeinen Disproportionalität der modernen Gesellschaft, insbesondere in der ungleichen Verteilung rationaler und irrationaler Fähigkeiten der Einzelnen und der Gesellschaft.z Ein Ausbau der Rationalität, die fortschreitende Kontrolle der Leidenschaften und eine Anhebung der gesellschaftlichen Moral sei jedoch, wie er betonte, niemals von Einzelnen abhängig, sondern von den allgemeinen Umständen und Problemen, die von den gesellschaftlichen Strukturen vorgegeben sind.a' Da Mannheim fundamentale Demokratisierung und allgemeine Interdependenz als Charakteristiken der Moderne betrachtete, waren seine Gedanken an die Zukunft von maßvoller Hoffnung getragen. Für ihn stand fest, dass in einem Zeitalter, das auf gegenseitigen Abhängigkeiten gegründet war, keine Seite einen Vorteil daraus ziehen konnte, die übrigen auszubeuten. Er vertraute zudem darauf, dass in einer Welt allumfassender Wechselwirkungen eine verständnisvolle und kompromissbereite Haltung als notwendig angesehen würde.b' Durch sein radikales, eindringliches Forschen gewann Mannheim die Überzeugung, in genau diesem Moment würden Erziehung und Soziologie miteinander verschmelzen; Fragen der Erziehung seien auf allen Ebenen der menschlichen Entwicklung soziologische und sozialpsychologische Fragen.c' Darum hielt er dafür, der Soziologe könne wesentlich dazu beitragen, den Forderungen der Zeit gerecht zu werden, vermöge er doch, die Verflechtungen aller gesellschaftlichen Schichten zu verdeutlichen und die Unausweichlichkeit einer fundamentalen Demokratisierung, einer neuen Homogenität in Zeiten totaler Technisierung aufzuzeigen. Mannheim hoffte, dass mit den Mitteln der Soziologie, des Behaviorismus und der Tiefenpsychologie kluge Planung realisierbar werde.d' Die Soziologie wäre in dieser Konstellation das integrierende Element, denn der Vergesellschaftungsprozess folge eigenen Gesetzen, habe eigene Regeln der Anpassung und eigene Erfordernisse des Wertens, der Technik, des Erfindens. Er stelle einen Mechanismus dar, der das menschliche Leben als Individuum und als Sozius umfasst; dieser Mechanismus lässt sich mit wissenschaftlichen Begriffen erfassen und aufschlüsseln. Mannheims Begriff der Planung als der Konstruktion eines Referenzrahmens sozialen Verhaltense' unterscheidet sich deutlich von totalitärer Planung,
z a' b' c' d' e'
Mannheim, „Democratic Planning and the New Science of Society”. In: J. R. M. Brumwell (Hg.), This Changing World. A Series of Contributions by some of our Leading Thinkers, to Cast Light upon the Pattern of the Modern World. London: Routledge 1944, S. 71-82. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, S. 13-19. Ebd., S. 57-92. Ebd., S. 19-27. Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 80-133. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, S.163-197. Ebd., S. 93-207.
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die Mensch und Gesellschaft zugunsten eines abstrakten Staates, einer Gesellschaftsmaschinerie manipuliert. Mannheim verfolgt ein denkbar anderes Ziel. Er irrte sich, als er seine Begriffe formal nannte; das sind sie nur bei oberflächlicher Betrachtung. Sie haben spezifische Inhalte und implizieren bestimmte Werte. Sein Begriff der Planung zum Beispiel zielt auf die Befreiung von Mensch und Gesellschaft, also auf ein Ziel, das einen Begriff menschlicher Würde voraussetzt, wie sie sich im Vermögen des Einzelnen zu spontanem Denken und Handeln zeigt. Ebenso irrte Mannheim, als er konstatierte, der Planung seien durch die biologischen Tatsachen der Vererbung und durch Individualität Grenzen gesetzt. In Wirklichkeit stößt sie an Grenzen, weil die spontane Produktivität von Gruppen und Individuen als ein gesellschaftlicher Wert zwar durch etwas bedingt, nicht aber manipuliert werden kann. Mannheim war sich nicht bewusst, dass seine Ideen zur Verschmelzung von Soziologie und Erziehung in der Tradition der frühen Soziologie in den Jahren seit 1829 standen. Seine Darstellung der Soziologie als Erziehung zur Freiheit wirft jedoch eine interessante Frage auf. Schon vor seiner Zeit hatte es Erzieher gegeben, die für die Freiheit kämpften und gewissermaßen – wenn auch im Widerspruch zu Mannheims Verständnis – Soziologen waren. Erasmus etwa vertrat eine Mannheim entgegen gesetzte Position, die gleichwohl soziologisch ist. In der Apologie zu seinen Colloquia Familiaria stellte er ausdrücklich fest, der beste Weg, ein Kind zu erziehen, bestehe darin, es mit Situationen zu konfrontieren, in denen der Mensch versagt, in denen er die an ihn gerichteten Ansprüchen nicht erfüllen kann und stattdessen Irrtum und Laster verfällt. Erasmus wusste, dass sittlich-soziale Güter kraft Vernunft und geistiger Einsicht verstehbar sind. Allerdings verhalten sich die meisten Leute nicht so, wie sie sollten. Die meisten der Colloquia Familiaria konstruierte Erasmus um persönliche Interessen, unkontrollierte Leidenschaften und sinnlose Traditionen und Bräuche herum, die Menschen davon abhalten, nach den Regeln von Billigkeit und Rechtschaffenheit zu leben.f' Er leistete damit entscheidende Vorarbeiten für die Entwicklung einer Soziologie als Wissenschaft, die Scheitern und Irrtum auf eine Verkettung gegebener Umstände zurückführt, mögen auch zur gleichen Zeit Wahrheit und Wert der menschlichen Vernunft zugänglich sein. Eine solche Wissenschaft besitzt Objektivität und Beweiskraft, kennen wir doch aus der Philosophie die Prinzipien eines guten Lebens als Bürger, Gefährte, Freund, Liebender. Wir sind also in der Lage, menschliche Fehler und menschliches Versagen als Abweichungen vom aufgeklärten Geist zu erklären, die aus dem Kontext der sozialen Umstände resultieren. Dies ist Soziologie als strenge Wissenschaft. f'
Desiderius Erasmus, Colloquia Familiaria. Vertraute Gespräche. Ausgewählte Schriften, Bd. 6. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
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Mannheim hätte eine solche Definition der Soziologie scharf zurückgewiesen. Er weigerte sich, der Philosophie Unabhängigkeit zuzugestehen und klassifizierte jede Philosophie, die sich nicht unter die Begriffe des Pragmatismus oder Behaviorismus subsumieren ließ, als idealistisch. Seine Soziologie steht als Wissenschaft, Philosophie und Theorie einer gesellschaftlichen Erlösung in der geistigen Nachfolge von Comte und Marx. Als eine synthetische Grundlagenwissenschaft sollte sie den bisherigen Platz der Philosophie einnehmen. Mannheim wies mehrfach Kritik an diesem Entwurf zurück. Er äußerte sich jedoch nie zu der Frage, welchen Gegenstand die Philosophie in seinen Augen noch haben könnte, wenn alle ontologischen Positionen als einseitige Ideologien entlarvt wären. Die Soziologie als synthetische Wissenschaft beinhaltet einen Anspruch auf eine relative letzte Gewissheit, relativ zu den gegebenen Umständen. Dies ist Soziologismus, ist der revolutionäre Imperialismus einer überzeugten Wissenschaft, mithin Ausdruck eines revolutionären Zustands seit den Zeiten Comtes und Marx’, die mit ihren soziologischen Systemen den Boden für den Totalitarismus bereiteten. Mannheim konnte sich nicht aus dieser verhängnisvollen Tradition der Soziologie lösen, obgleich seine eigenen Bemühungen in eine andere Richtung wiesen. Mit seiner These, die soziale Entwicklung sei zu großen Teilen durch einen ihr innewohnenden Mechanismus bestimmt und anhand dessen erklärbar, erwies Mannheim der Soziologie einen guten Dienst. Allerdings ist das gesellschaftliche Leben reichhaltiger und komplexer als der subtilste Mechanismus, der sich in biologischen und sozialen Prozessen abspielt. Es gibt Haltungen, Ideen, Gefühle, die über Anpassungsleistungen hinausgehen und nicht als Überlebenswerte erklärbar sind. Der fatale Irrtum, dem die revolutionären Formen der Soziologie unterliegen, ist offenbar, dass sie klare, eindeutige Merkmale einer als Wissenschaft verstandenen Soziologie außer Acht lassen. Es ist dem Soziologen vollkommen angemessen, wenn er sich mit Meinungen, Wertungen, Geschmacksurteilen, ja sämtlichen Formen des Handelns in der Gesellschaft beschäftigt. Doch irrt er, wenn er Meinung mit Wissen, Wertung mit Wert, Glauben mit Religion, Geschmack mit Schönheit gleichsetzt. Es gibt keine Soziologie des Wissens, es gibt nur eine Soziologie des Irrtums; keine Soziologie der Religion, nur eine der Pseudoreligion und Religionslosigkeit; keine Soziologie der Ästhetik, nur eine der Mode und des Geschmacks. Ein Soziologe, der bewusst Inhalt und Funktion und Prinzipien und Handlungen durcheinander bringt, opfert die Philosophie zugunsten der Soziologie als universaler Wissenschaft. Ein solcher Soziologismus basiert auf der anthropologischen Hypothese, der Mensch sei ein technisches Wesen, ein homo faber. Dies mag genügen, den sozialen Mechanismus um eines gesellschaftliches Gleichge-
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wichts willen in Gang zu setzen. Um jedoch metaphysische, spirituelle Werte in das Gesellschaftssystem einzuführen, reichen diese Grundannahmen nicht hin. Ebenso wenig lassen sich auf dieser Basis die Prinzipien von Freiheit und Menschenwürde begründen, deren Realisierung doch das eigentliche Ziel ist, das Mannheim mit seiner soziologischen Theorie der Planung verfolgt. Weder soziologische noch psychologische Techniken der Planung haben einen Nutzen, wenn sie nicht in einen Referenzrahmen zu schaffen vermögen, in dem Leben und Tod einen Sinn haben. Dieses Dilemma trieb Mannheim um, und er richtete seine Bemühungen darauf, jenen Widerspruch aufzuheben. Teilweise hemmte ihn allerdings sein rührender Glaube an den Fortschritt und die menschliche Intelligenz daran, eine abschließende Lösung zu finden. Erfüllt vom Messianismus der revolutionären Soziologie vertrat er eine weit naivere Position als die, die er den Männern der Aufklärung unterstellte. Denn die Aufklärer wussten um den bescheidenen Einfluss von Philosophie und Wissenschaft auf die soziale Entwicklung, die von Vorurteilen, Überzeugungen und Interessen getrieben ist. Aufgrund dieser nüchternen, desillusionierten Erkenntnis erkannten sie zugleich, zu welchen Fortschritten die Vernunft in der endlosen Kette philosophischer Kontemplation fähig war. Es ist naiv zu glauben, ein Soziologe könne Kollektivgebilde kraft wissenschaftlichen Argumentierens überzeugen, dass sich Herrschaftsmonopole in einem Zeitalter der Interdependenz nicht länger rentieren. Der Soziologe verfällt einer dunklen, müßigen Hoffnung, wenn er aller gegenteiligen Anzeichen zum Trotz annimmt, die Angst vor der Katastrophe könne Kriege und Flächenbrand verhindern. Mannheim wurde Opfer seiner eigenen Soziologie, als er versuchte, sie weiter voranzutreiben, sich mit den Grundlagen beschäftigte, für die eine Demokratie kämpfen müsse, um nach dem Krieg eine liberale und geplante Gesellschaft zu etablieren. Am Offensichtlichsten war sein soziologistischer Trugschluss anlässlich seiner Angriffe auf religiöse Werte.g' Es ist bewegend, ihn im Kampf mit der Wirklichkeit spiritueller Prinzipien zu beobachten, und wie er versuchte, diese Prinzipien in soziologischen Begriffen des Massenerlebens zu koordinieren. Er scheiterte daran, weil er nicht bereit war, die Religion als primäres Phänomen anzuerkennen, das wir nicht soziologisch erfassen können. Hier musste er scheitern, denn er entkleidete alle geistig-seelischen Phänomene ihres ursprünglichen Charakters und zwang sie in einen soziologischen Funktionalismus. Indem er dies tat, leugnete er die Existenz von Archetypen und primären Phänomenen. Und genau hier liegt der unausweichliche Fehlschluss einer wissenschaftlichen Philosophie, die alle Erscheinungen auf ihre funktionale Rolle im g'
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Vergesellschaftungsprozess reduziert und jede anderslautende Erklärung als unwissenschaftlich von sich weist. Hier liegen die Grenzen von Mannheims Arbeit, die Grenzen eines Werkes, das hinsichtlich zahlreicher andere Aspekte der soziologischen Forschung anregende und konstruktive Ideen vermacht hat. Ebenso ambivalent wie Mannheims Haltung zu Soziologie und Philosophie war sein Verhältnis zur Geschichte. Er wusste, dass persönliche Interessen, Trägheit und Leidenschaften seit je die Geschicke von Gesellschaften bestimmt haben und dass es im sozialen Umgang keinen Fortschritt gibt. Doch er wollte die Wahrheit über die Geschichte nicht wissen. Er hing an der Philosophie des Fortschritts als notwendigem Element der Soziologie, und sein Historismus erlaubte es ihm, diesen Standpunkt aufrecht zu erhalten. Tatsächlich spielte die Geschichte keine Rolle für ihn. Für ihn begann sie mit Marx und der modernen Evolution. An keiner Stelle erwähnt er, dass vielen der Ansprüche, die er in seiner historischen Soziologie und in der Soziologie der Kunst, der Politik, der Literatur und der Ideen erhob, schon in der Vergangenheit von Historikern und humanistischen Gelehrten entsprochen worden war. Er sah nicht, dass die Soziologie als Methode längst Wirkung entfaltet hatte, von Geschichtsphilosophen und Ideengeschichtlern mit großer Sorgfalt angewandt worden war, vor allem in Amerika.
IV. Nach dieser Analyse der Arbeiten Mannheims verfügen wir über ein kritisches Verständnis seiner Ideen und Methoden. Es wäre jedoch irreführend, diese Kritik als Negativbewertung auszulegen. Mannheim selbst war ein zu leidenschaftlicher Wissenschaftler, als dass er nicht kritische Argumente einer schmeichelnden Zustimmung vorgezogen hätte. Er kann heute auf diese harsche Kritik keine Antwort mehr geben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich festhalten, dass ich diese Betrachtungen seines Werkes im Geist tiefster Freundschaft und großer Dankbarkeit geschrieben habe. Ich selbst zum Beispiel hätte niemals die Grundlagen der Soziologie einer Neubetrachtung unterzogen, wenn Mannheim nicht den Ansporn geliefert hätte, im Sinne des Humanismus zu den Ursprüngen der Dinge an sich zurückzukehren. Seine radikale, unbequeme Auseinandersetzung mit den Problemen der Soziologie schufen die Grundlage für eine weit reichende Revision der grundlegenden Begriffe und Fragen unserer Wissenschaft. Er leistete Pionierarbeit und half uns auf diese Weise, den Zwängen des Soziologismus zu entkommen. Seine Aufrichtigkeit im Sittlichen wie im Wissenschaftlichen hat Maßstäbe für zukünftige Forschungen gesetzt. So gibt es
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keine bessere, keine zugeneigtere Art, alte Freundschaft und andauernde Treue auszudrücken, als meine von den seinen abweichenden Schlüsse darzulegen. Wir sollten vielleicht auch darüber nachdenken, welche letzten Schlüsse Mannheim selbst aus seinen Arbeiten gezogen hätte, wenn der Tod seinem Leben nicht so frühzeitig ein Ende gesetzt hätte. Denn ihm war sehr wohl bewusst, dass sittliche und spirituelle Werte eine soziale Wirkung haben, die über Ideologisches hinausgeht. Während seiner Zeit in England erkannte er, wie Brüderlichkeit, Gnade, Mäßigung, Weisheit, Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit – eben: spirituelle und sittliche Güter – das gesellschaftliche Leben durchdringen, die Integration der gesellschaftlichen Verhältnisse den fast unerträglichen Spannungen einer Vorkriegs- und dann einer Kriegszeit zum Trotz ermöglichen können. Er konnte nicht übersehen, dass es die Dynamik des sozialen Mechanismus nicht zulässt, diese Werte zugunsten eines Systems von Werten des Überlebens und der Regulierung auszusetzen. Deshalb finden wir in seinem letzten Buch Anmerkungen zu Themen wie ‚kreative Anpassung’ oder ‚Geben und Nehmen’, die auf ein neues Ziel hinweisen, auf einen Versuch, frisch gewonnene Einsichten in das System des sozialen Mechanismus zu integrieren.h' Von allen Seiten bedrängt, er möge die Frage der Werte in einer wissenschaftlichen Welt lösen – er hätte eine Lösung gefunden. Die Hingabe, mit der er sich in schwierigen Zeiten der grundlegenden sozialer Probleme annahm, ist Ausweis sittlicher Größe; die ihm gesetzten Grenzen sind die seiner theoretischen Werkzeuge. Karl Mannheim war ein Kind seiner Zeit und die Frucht seiner persönlichen Tugend. Wie Goethe einmal richtig bemerkte, als er den Tod von Freunden und Geistesverwandten erwog: „Wir leiden alle am Leben; wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen? Tadeln darf man keinen Abgeschiedenen; nicht was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und gethan, beschäftige die Hinterbliebenen. An den Fehlern erkennt man den Menschen, an den Vorzügen den Einzelnen; Mängel und Schicksale haben wir alle gemein; die Tugenden gehören jedem besonders.“i'
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Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 50-58 u. 113-122. Johann Wolfgang Goethe, „Kleine Biographie zur Trauerloge am 15. Juni 1821“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes Werke. Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. 36. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Hermann Böhlau 1887-1912, S. 347-363, hier S. 363.
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Eines großen Gelehrten zu gedenken bedeutet nicht, eine Statue in einem kulturgeschichtlichen Museum abzustauben. Vielmehr ist es die Pflicht des Studenten, sich um immer neue Interpretationen der gelehrten Leitbilder zu bemühen und auf diese Weise die beständige Gegenwart des lebendigen Geistes zu wahren. Diese Rückbesinnung auf Vergangenes ermöglicht uns zugleich die Überprüfung der aktiven Kräfte in unseren eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen. Wenn ein Sozialwissenschaftler einen Beitrag zur erneuten Beschäftigung mit dem Werk von Hugo Grotius leisten und zugleich sein Eindringen in die Domäne der Jurisprudenz rechtfertigen möchte, könnte er geneigt sein, mit einer alten Redensart zu beginnen: „Anders lesen Knaben den Terenz, Anders Grotius.“a Der Sozialwissenschaftler könnte diese Aussage sogar um den Zusatz erweitern, dass Grotius von seinen Lesern zu verschiedenen Zeiten verschieden verstanden worden ist. Es ist die Mannigfaltigkeit der Auslegungen, die es dem Sozialwissenschaftler erlaubt, durch sein Verständnis der Leistungen des großen Rechtsgelehrten, einen bescheidenen Beitrag zu dessen Gesamtbild und damit zu den Anfängen der Sozialwissenschaft zu leisten. Gewöhnlich denkt man beim Namen Grotius zunächst an sein Werk De jure belli ac pacis.b Tatsächlich erreichte er weit größeren Einfluss mit seinem Werk über die holländische Rechtswissenschaft, das noch heute in den Juristischen Fakultäten Englands benützt wird, mit den theologischen und exegetischen Schriften und mit der religiösen Lyrik, die Milton entzückt hat.c Dennoch muss Ü
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Albert Salomon, „Hugo Grotius and the Social Sciences”. In: Political Science Quarterly 62, 1947, S. 62-81. Wieder abgedruckt in: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 44-60. Übersetzt von Monika Plessner. Johann Wolfgang Goethe, „Zahme Xenien“. In: Johann Wolfgang Goethe, Poetische Werke. Gedichte und Singspiele. Berliner Ausgabe, Bd. 1. Herausgegeben von Regine Otto. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1965, S. 635-713, hier S. 674. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Neuer deutscher Text übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Walter Schätzel. Tübingen: Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1950. Hugo Grotius, The Jurisprudence of Holland [1631]. Herausgegeben von Robert W. Lee. Oxford: Clarendon 1926; Hugo Grotius, Annotationes in Vetus & Novum Testamentum juxta editionem amstelædamensem. Herausgegeben und eingeleitet von Samuel Moody. Londin: Jos. Smith, Guil. Mears, Jos. Pote, & N. Moody 1727; Hugo Grotius, De veritate religionis Christianæ. Von der Warheit der christlichen Religion. Übersetzt von Robert Opitz von Boberfeldt. Breßlau: Fellgibel 1690; Hugo Grotius, The Adamus exul of Hugo Grotius or the Prototype of Paradise Lost. Herausgegeben und übersetzt von Francis Barham. London: Sherwood, Gilbert
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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der Sozialwissenschaftler seine Erörterungen auf Grotius’ berühmtes Buch begrenzen, das für die Entstehung der Sozialwissenschaften von ganz entscheidender Bedeutung ist. Als Reaktion auf dieses Werk und den Dreißigjährigen Krieg errichtete der pfälzische Kurfürst 1661 in Heidelberg einen Lehrstuhl für Naturrecht und Völkerrecht, auf den er Pufendorf berief. Pufendorf hielt sich für den wahren Nachfolger von Grotius, den er als den „Begründer des Naturrechts“d bezeichnete. Die Formulierung sollte besagen, dass es Grotius gelungen sei, die Frage nach den sittlichen und gesellschaftlichen Normen aus der religiösen Sphäre herauszulösen und eine weltliche Lehre des sozialen Verhaltens zu begründen. Es fällt auf, dass – der noch stark von Grotius beeinflusste – Pufendorf den wahren Sinngehalt des Werkes seines Meisters verfälschte. Er schrieb ihm ein Verdienst zu, das nicht Grotius, sondern Hobbes zukommt, dessen anthropologischen Theorien Pufendorf anhing. Allein die Fehlinterpretation wirkte sich sowohl positiv als auch negativ aus. Eine negative Folge war die niemals aufhörende Wiederholung von Pufendorfs Behauptung, Grotius habe das Naturrecht säkularisiert. Positiv war, dass er De jure belli ac pacis als Pflichtlektüre für das Studium des Naturrechts einführte. Dem Beispiel des pfälzischen Kurfürsten schlossen sich viele andere Fürsten an. In den protestantischen Ländern entstanden Lehrstühle für Naturrecht, und die Professoren taten es Pufendorf gleich und erhoben Grotius’ Buch zur Pflichtlektüre. So wurde es ein Ansporn zu liberalem und sozialem Denken. In den reformierten schottischen Universitäten gab die Abhandlung den Anlass zur Aufteilung der Pflichtkurse über Moralphilosophie in die Fächer Natürliche Theologie, Naturrecht, Ethik und Politik. Adam Smith hat dankbar zugegeben, was er Grotius schuldete,e und in Frankreich war dieser noch eine prägende Kraft für Montesquieu und einige Autoren der Enzyklopädie. Während des 19. Jahrhunderts wurde Grotius nur noch in den juristischen Fakultäten rezipiert. Es fällt uns heute schwer, den Unterton tiefer Genugtuung herauszuhören, der im Ausspruch Hegels – dieses Napoleons des Historismus –
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and Piper 1839; Hugo Grotius, Leidender Christus. Trauer-Spiel. Herausgegeben und übersetzt von Daniel Wilhelm Triller. Hamburg: Herold 1748; Vgl. John Milton, Paradise Lost. The works of John Milton, Bd. 2. Herausgegeben von Frank Allen Patterson. New York: Columbia University Press 1931. Samuel von Pufendorf, Elementorum jurisprudentiae universalis libri duo. Gesammelte Werke, Bd. 3. Herausgegeben von Thomas Behme. Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 5-6, hier S. 6. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle oder Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen, Bd.2. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und herausgegeben von Walther Eckstein. Leipzig: Meiner 1926, S. 570.
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mitschwingt: „es liest es jetzt niemand mehr“.f Unter den Händen der Verfassungs- und Völkerrechtler war der ältere, weitere Bezugsrahmen langsam verloren gegangen. Die Spezialisten des positiven Rechts kritisierten Mängel an Genauigkeit, erkannten einen Rückfall hinter Althusiusg und Unklarheiten bei den juristischen und soziologischen Begriffen. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg glaubten Völkerrechtler, in Grotius’ Buch die Beschreibung transnationaler Institutionen entdeckt zu haben. 1946, nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs und ausgerüstet mit ausgereifteren Hilfsmitteln wie formaler und verstehender Soziologie, Gestaltpsychologie und Phänomenologie öffneten die Sozialwissenschaftler das Buch von Neuem und lasen den Titel: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, in welchen das Recht der Natur und der Völker und die Grundlagen des Verfassungsrechtes dargelegt werden. Offenbar hatte Grotius ein Buch über Naturrecht mit dem Schwerpunkt einer Legalisierung des Krieges geschrieben. Für den Sozialwissenschaftler ist vor allem jener Aspekt des Buches wichtig, den der Historismus übergangen hatte, umso mehr, wenn er die eigene Aufgabe darin sieht, mit Hilfe der modernen Philosophie und der Einzelwissenschaften das Naturrecht neu zu fundieren. Fragen, die den Juristen oder Politikwissenschaftler reizen, muss er bewusst ausklammern. Ihn interessieren weder die Theorie der Souveränität noch die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen oder ein systematischer Katalog von Vorschriften für Kriegshandlungen nach Maß des positiven Rechts. Der Sozialwissenschaftler befasst sich damit, was Grotius selbst als Erklärung für die Einzigartigkeit seines Buches und dessen Bedeutung für die damalige Zeit vorbringt. Der Autor selbst bestand nämlich auf der Neuheit und Kühnheit seiner Unternehmung. Ihm ging es nicht um Theorie, sondern um Praxis. Er versuchte, eine erschöpfende Darstellung modellhafter Einstellungen und Verhaltensweisen des Menschen in der Gesellschaft in Gestalt eines Leitfadens für den einsichtigen Herrscher und Staatsmann zu geben. Sein Werk war dazu gedacht, Klarheit zu schaffen und in das Vielerlei an rechtlichen, moralischen und theologischen Möglichkeiten ein System der menschlichen Natur zu bringen. Juristischen Theologen und theologischen Moralisten warf er vor, die verschiedenen Rechtssphären verwechselt und die Rangfolge der Normen, die allen Rechten und Pflichten zugrunde liegen, außer Acht gelassen zu haben. Sie machten Grotius zufolge den Fehler, verschwommene Generalisierungen und gewagte f
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3. Werke, Bd. 20. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 224. Johannes Althusius, Politica. Methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata. Aalen: Scientia 1961.
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Systeme auf das positive Recht staatlicher Gesetzgebung zu stützen. Sie ignorierten das willkürliche und eigentümliche Wesen der meisten Gesetze, die vom Staatskörper erlassen werden. Ebensowenig betrachteten sie die immense Fülle an Stoff, den die Geschichte für jenen Forscher bereithält, der sich mit anthropologischen Konstanten in der Vielfalt historischer Verkleidungen beschäftigt. Mit Hilfe seines enzyklopädischen, historischen und juristischen Wissens wollte Grotius diese Fehler vermeiden. Seine Absicht war es aufzudecken, dass ein potenzieller ‚sensus communis der Menschheit’ als eine Art gefühlsbasiertes Bewusstsein von der inneren Normativität der menschlichen Natur alle Veränderungen in Zeit und Raum überdauern kann. Um es bewahren zu helfen, wollte er den Verstand der Herrschenden und der Beherrschten erhellen. Aus diesem Grund betrachtet es Grotius als sein Verdienst, die ars naturalis et perpetue jurisprudentiae begründet zu haben, indem er die Tradition der sittlichen und geistigen Werte mit den neuen wissenschaftlichen Methoden zusammenbrachte. Gemeint ist eine Disziplin, die sich sowohl vom Bezugssystem der Theologie als auch von den launenhaften Gesetzen des Staates unabhängig weiß. Er hatte für sein Vorhaben „viele und erhebliche Gründe“h – erhebliche, weil sein Werk als universelles System der Rechtslehre unentbehrlich für alle Herrschenden sein würde, welche die Herrschaft des Rechts voran treiben und den Bereich menschlicher Unsicherheit eindämmen wollen. Als solches würde es die Staatsmänner aufklären und helfen, die ganze Gesellschaft auf ein höheres Niveau zu heben. Grotius wusste um die Unvollkommenheit seines Systems und erklärte bescheiden, nur die Fundamente gelegt zu haben, auf denen künftige Generationen ein perfektes Gebäude errichten könnten. Er erarbeitete einen ersten Entwurf einer Gesellschaftsordnung zum Zwecke des besseren Verständnisses der sozialen Kräfte und menschlichen Motive, die der Kontinuität und dem Bestand der Gesellschaft im Ganzen auf den diversen Ebenen des Lebens dienlich sind. Erhaben ist sein Versuch auch deshalb, weil er all jenen Menschen eine Anleitung an die Hand gab, welche die konstruktiven und destruktiven Kräfte der menschlichen Natur sowie ihre Fähigkeit verstehen möchten, mit jener gefühlsbasierten Verstandeskraft die göttlichen Gesetze einzusehen, um auf diese Weise zu höheren moralischen Maßstäben und einer besseren Gesellschaftsordnung zu gelangen. Und schließlich schien ihm sein Werk erhaben, weil es die Vielfalt rationaler und sensueller Erfahrungen so darstellt, dass der Mensch verstehen kann, dass er – trotz aller Grausamkeit und Bosheit, in die das Leben ihn verwickelt – Gottes liebstes Geschöpf ist.i
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Grotius, De jure belli ac pacis, S. 37 (Vorrede Abs. 28). Grotius, De jure belli ac pacis, S. 598 (Drittes Buch Kap. 25. § VIII).
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Für dringlich hielt Grotius sein Werk als Reaktion auf die alarmierende Situation seiner Zeit. So beschränkte er seine Kritik denn auch nicht etwa auf die Rohheit der Kriegsführung, wenngleich er sich schon vorstellen konnte, dass der Dreißigjährige Krieg den Kriegen der Vergangenheit nicht nachstehen würde, was Barbarei und Gesetzlosigkeit betrifft. Er sah einen Geist der Revolution voraus, der sich über alle Bereiche des Denkens und Handelns ausbreiten würde. Er sah ein von Grund auf revolutionäres Zeitalter anbrechen. Als Mitglied der föderativen und patrizischen Partei, die durch die Zusammenarbeit der Volkspartei mit der Exekutive hinweggefegt worden war, hatte er selbst eine spezielle Variante der Revolution erlebt. Sie hatten einen zentralisierten, souveränen Staat errichtet, der faktisch eine Diktatur des Moritz von Oranien war. Grotius wurde zuerst eingesperrt und dann nach seiner Flucht verbannt. Als Vertriebener sah er das ganze Ausmaß der Revolution. Die politische Revolution und die Bürgerkriege waren für ihn eine logische Folge der religiösen Umwälzungen der Reformation. Er gehörte zwar der liberalsten Gruppierung der Protestanten an, war aber doch tief betroffen über das Resultat – die totale Zerschlagung der Einheitskirche. Er beobachtete überall ein Anwachsen von Irrationalismus und Defätismus. Er erkannte nur zu deutlich, wie geistige, moralische und gesellschaftliche Unsicherheit wuchsen und wie rohe Gewalt und Zwang den Sinn für Recht und Gerechtigkeit bei Eroberern wie Eroberten, Herrschern wie Beherrschten, untergruben. Macht ging vor Recht. Recht war nur noch ein willfähriges Werkzeug des Parteiinteresses. Dieser Bestandteil der machiavellistischen raison d'être war ein Aspekt des totalen Nihilismus, welcher die Zivilisation an ihren Wurzeln bedrohte, die für Grotius der antike logos und der Geist des Christentums waren. Grotius wandte sich mit seinem Buch ausdrücklich gegen diesen Zug der Zeit. Er hoffte, damit zur Bändigung der irrationalen Gesetzlosigkeit im Denken und Handeln beitragen zu können. Er hatte selbst erlebt, wie unsicher alles wird, wenn es sich vom Recht entfernt. Er wollte das Gespür für Moral und Rechtsmäßigkeit wieder wecken, indem er die Menschen dazu brachte, die Erfordernisse eines sozialen Ethos in ihrer grundlegenden Deutlichkeit nochmals zu erwägen. Aber er wusste auch genau, dass noch der perfekteste Rechtszustand nie absolut sicher ist: „Das menschliche Leben ist so, daß eine vollkommene Sicherheit niemals vorhanden ist. Gegen ungewisse Übel muß der Schutz bei der göttlichen Vorsehung oder durch unschädliche Bürgschaften gesucht werden, aber nicht durch Gewalt.“j Obwohl die Schrift vornehmlich gegen die negativen Aspekte ihrer Zeit gerichtet war, hatte sie doch Anteil an deren konstruktiven Ideen. Ganz ähnlich wie im 19. Jahrhundert den großen Liberalen Burke und Tocqueville ging es Grotius j
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 145 (Zweites Buch Kap. 1 § XVII).
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darum, die Alternative zwischen den engstirnigen Konservativen und den engstirnigen Progressiven zu überwinden. In der Nachfolge des Humanismus eines Erasmus hielt er an den Werten der Vergangenheit fest und passte sie durch neue Formulierungen dem zeitgenössischen Denken an. Mit Machiavelli stimmte er überein, dass auf das Heilige Römische Reich des Mittelalters niemand mehr Anspruch hatte. Selbstverständlich akzeptierte er die souveränen Staaten und stimmte Machiavelli ingrimmig darin zu, dass man Tugenden als Vorteile verkleiden müsse, um sie den Herrschenden schmackhaft zu machen. Grotius war zu tief vom Spiritualismus der Arminianer durchdrungen, um die Idee einer einzigen Kirche als weltumspannender Kraft nicht abzulehnen. Jedoch glaubte er, dass sich die verhängnisvollen Resultate der verschiedenen Revolutionen unter Kontrolle bringen lassen würden. Er war der festen Überzeugung, dass die Einheit der Zivilisation wieder hergestellt werden könne, da es möglich sei, die Vernunft nachzuweisen, welche den sozialen und religiösen Bindungen innewohnt und die menschliche Zivilisation zusammenhält. Grotius’ gesamtes Werk fußt auf einer impliziten Voraussetzung. In Zeiten, in denen die kirchlichen Institutionen sich von konkurrierenden Interessen absorbieren lassen, müssen Laien, vor allem Juristen und Politiker, die Verantwortung für das Überleben des religiösen Geistes übernehmen. Sie müssen Sorge dafür tragen, dass Religion eine lebendige Kraft des täglichen Lebens bleibt. Nur dann lassen sich Gerechtigkeit und Frieden wieder herstellen. Als Politiker und Rechtsgelehrter in der Verbannung hatte Grotius seine Stimme für eine wiedervereinigte Menschheit erhoben. Er hatte sowohl den Abfall der Niederlande als auch das revolutionäre Beben in Richelieus Frankreich erlebt, in dem der Kampfgeist der protestantischen und feudalen Oppositionen immer noch ungebrochen war. Weil er bar eigener Interessen war, konnte er eine abendländische Zivilisation ins Auge fassen, die durch aufgeklärten Gemeinsinn und den Geist religiöser Solidarität geeint sein würde. „Diese von uns hier nur roh bezeichnete, der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet.“k Grotius glaubte fest an die Verwirklichung seiner Vision, sofern sie sich auf Rechtsinstitutionen gründet, die mit den Forderungen des Gemeinsinns und der Religion im Sinne des alles durchwaltenden Naturrechts übereinstimmen. Wir können De jure belli ac pacis nicht wirklich verstehen, wenn wir uns nicht klar machen, dass Recht und Religion in Grotius’ Denken interdependent sind. Aus diesem Grund ist es vernünftig, das Buch nicht allein als ein juristisches und moralisches System zu betrachten, sondern als wissenschaftlichen Versuch der Verwandlung einer Vision in Wirklichkeit. k
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 33 (Vorrede Abs. 8).
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Alle seine theologischen und exegetischen Schriften dienen demselben Zweck: der Verwirklichung seiner Vision einer wieder geeinten Welt. Sie sollte das wissenschaftliche Rüstzeug zur Erhellung der konkurrierenden Konfessionen beitragen und die gebildeten Laien darüber belehren, dass sie in Wahrheit und im Geiste letztlich einig sind. Im Kontrast zu Herbert von Cherburys Lehre vom natürlichen Deismusl laufen Grotius’ exegetische Schriften auf ein ‚natürliches Christentum’ hinaus. Diese geistige Selbstständigkeit ist eine Pionierleistung, die dem Zweck dient, die überlieferten Grundprinzipien im Lichte wissenschaftlicher Vernunft bewahren zu können. Grotius steht damit dem katholischen und socinianischen Rationalismus sehr viel näher als den Theorien von Calvin und Luther. Sein wissenschaftlicher Impetus – Ernesti hat ihn den Erzvater der Bibelkritik genanntm – brachte ihn sogar dazu, mit Bezug auf die verbale Inspiration eine Theorie der Sparsamkeit zu praktizieren, die sich kritisch mit jenem Kernstück des protestantischen Dogmas auseinandersetzte. Von diesem rationalen, kritischen Denken sind alle seine theologischen Schriften und seine Gedanken über die Wunder der Auferstehung und der Messe durchdrungen. Er stellte sie nicht in Frage, weil vernünftige und gebildete Menschen bei klarem Verstand an sie geglaubt haben, ohne sich zu Gefühlen hinreißen zu lassen. Er kam zu dem Schluss, dass die christlichen Grundwahrheiten der Vernunft zugänglich und dabei einfach und einleuchtend sind, wie alle fundamentalen Wahrheiten. Solche Wahrheiten können von jedermann überall erfasst und erfahren werden, wenn jedermann dazu angehalten wird, seinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen. Die Res Christiana, die Hingabe an den liebenden Schöpfergott und obersten Richter über unser Tun im Geiste des Zusammenhalts in Christus, ist Grotius’ Hauptanliegen. Res Christiana ist das Evangelium als lebendige Kraft und als Richtmaß für unser Tun und Lassen. Die erlebte und ausgeübte Religion der Laien ist nach Grotius die eigentliche Kraft, welche Einigkeit, Gerechtigkeit und Frieden in einem revolutionären Zeitalter wieder herstellen kann. Die Verwandtschaft dieser Einstellung mit Erasmus’ religiösem Pragmatismus ist augenfällig. Grotius erweckte dadurch den Eindruck, als schwanke er zwischen einem rationalen Theismus und einem christlichen Spiritualismus. Aber ungeachtet seiner Betonung des Auftrags Christi und der Vorrangigkeit der Normen des Evangeliums stand er mit seinen Gedanken über den religiösen Bedürfnissen der menschlichen Natur einem natürlichen Theismus sehr nahe.
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Edward Herbert Lord of Cherbury, De religione gentilium. The Ancient Religion of the Gentiles, and Causes of Their Errors Consider’d. London: William Taylor 1711. Johann August Ernesti, Institution Interpretis. Principles of Biblical Interpretation, Bd. 2. Übersetzt von Charles H. Terrot. Edinburgh: Thomas Clark 1833, S. 218.
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Wahre Religion ruht – worüber man sich zu allen Zeiten einig war – auf vier Grundpfeilern: der Einzigkeit Gottes, seiner Transzendenz, seiner Sorge für den Menschen als Vater und Richter, und seinem Schöpfertum. Diese vier Ideen werden mit uns geboren und von der Vernunft ans Licht gebracht. Sie sind universal und unerlässlich für die Erhaltung der Religion. Alle anderen Ideen werden durch die Überlieferung erworben. Grotius hatte den Mut besessen, eine religiöse Position zu formulieren, die quer zu den christlichen Theologien und den deistischen Dogmen liegt. Grotius persönlicher religiöser Vorstoß hat zu Missverständnissen hinsichtlich seiner Grundeinstellung geführt. Besonders trifft das auf jene Passage zu, in der er das Naturrecht für autonom erklärte: etsi daretur no Deus.n Gelehrte vom Range Gierkes und Diltheys glaubten in diesem Diktum den klaren Beweis dafür zu haben, dass Grotius das Naturrecht säkularisiert hatte, worin sie Anzeichen für seine ‚fortschrittliche’ und ‚moderne’ Einstellung erkannten.o Diese Deutung ist jedoch falsch. Grotius wollte die moralische nicht von der göttlichen Sphäre loslösen. Allerdings ist das Naturrecht für die menschliche Vernunft verstehbar (ab intrinseco ex ratione). Wir sind in der Lage, soziale Ordnungen verstandesmäßig zu erfassen, ohne Zuflucht zur göttlichen Offenbarung nehmen zu müssen. Aber diese Unabhängigkeit entspricht der Gesamtheit der göttlichen Schöpfung, die an sich verständlich und vernünftig ist, in der jedoch auch der richtige Vernunftgebrauch des Menschen ein Reflex der göttlichen Vernunft bleibt. Gott ist und bleibt der Garant des Naturrechts.p In dieser Aussage ist nichts revolutionäres Säkulares. Sie ist vielmehr ein häufig im Kampf gegen den radikalen Voluntarismus der meisten Nominalisten verwendeter Gemeinplatz der Scholastik. Warum aber stellte sich Grotius damit auf die Seite der Scholastiker, während er doch im Allgemeinen die protestantische Abneigung gegen katholische Religionsphilosophen teilte? Den radikalen Voluntarismus lehnte er als verhängnisvoll für die Ideen von Recht und Gerechtigkeit ab. Wegen ihrer antirationalen Einstellung opponierte er gegen Machiavelli und Luther in gleichem Maße. Dies bedeutet jedoch keinen romantischen Katholizismus. Vielmehr kommt darin die Überzeugung zum Ausdruck, dass nur Vernunft das eigentliche Wesen des Schöpfergottes sein kann. Demnach gibt es Gerechtigkeit, weil sie ein Attribut des göttlichen Wesens ist, nicht weil Gott sie
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Grotius, De jure belli ac pacis, S. 33 (Vorrede Abs. 11). Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, Bd. 2. Herausgegeben von Georg Misch. Stuttgart: Teubner 1913, S. 132-133; Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 4. Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Durchgeführt bis zur Mitte des siebzehnten, für das Naturrecht bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin: Weidmann 1913. Grotius, De jure belli ac pacis, S. 33 (Vorrede Abs. 12).
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in seiner Allmacht eingesetzt hat. Am besten hat Gottfried Wilhelm Leibniz die Position von Grotius auf eine Formel gebracht, als er Pufendorfs nominalistische Rechtstheorie zurückwies: „Niemand wird sich unterstehen zu sagen, Gott sei aus Notwendigkeit und nicht aus freiem Willen gerecht: weil er Sünde und Unrecht unmöglich wollen kann.“q Immer wieder berief sich Grotius auf Gott als den höchsten Richter, der jenseits aller Institutionen und Sanktionen des Rechts steht. Seine ewige Gegenwart stützt und stärkt die Forderungen des Naturrechts und hebt sie auf den höheren Plan der Normen des Evangeliums. All diese Erwägungen deuten darauf hin, dass Grotius alles andere als ein Deist oder Rationalist war. Es ist ein allgemeiner Fehler moderner Interpreten, die in den wissenschaftlichen Ideen enthaltenen Wertvorstellungen zu übersehen und deren Bezugsrahmen zu missachten. Newton, Swamerdam und Grotius konnten Wissenschaft und Vernunft noch als wunderbare Instrumente bezeichnen, mittels derer wir an Gottes schöpferischer Vernunft teilhaben. Es ist kein Zufall, dass Grotius als Christ dem modischen Neo-Stoizismus seiner Zeit nahe stand. Der moderne Stoizismus versteht die Immanenz des Göttlichen als kreative Vernunft in Natur und Gesellschaft. In den meisten seiner Grundthesen berief sich Grotius auf Seneca, Marc Aurel und auf den Cicero der Werke De Officiis und De Legibus.r Diese beiden Schriften bestimmten die Generallinie seines Gedankengangs über das ganze Buch hinweg, ohne eigens zitiert zu werden. Grotius war sogar eifrig bemüht, die höheren Werte des Evangeliums durch Verweise auf Cicero, Seneca und Marc Aurel noch zu bekräftigen, um so die grundlegende Humanität der Menschheit zu verdeutlichen, sofern sie nur vom Lichte der Einheit von logos und caritas erhellt wird. Wenn man will, kann man Grotius als christlichen Stoiker bezeichnen. Es gibt den Schöpfer, eine göttliche Vernunft, aber Gott ist real und waltet durch das Ganze von Natur und Gesellschaft. Es ist eine der Funktionen des Stoizismus im Anbruch der Neuzeit gewesen, den philosophischen und juristischen Rationalismus des Säkularismus mit dem Geist des Christentums in Einklang zu bringen. Diese typisch humanistische Intention sollte es dem modernen Denker ermöglichen, seinen religiösen Traditionen treu zu bleiben, ohne seine intellektuelle Redlichkeit einzubüßen.
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Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodicee. Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee: das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten vierten Ausgabe. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Anhang versehen von Hubert Horstmann. Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 277 (§ 286). Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln. Herausgegeben von Karl Büchner. Zürich: Artemis 1953; Marcus Tullius Cicero, De Legibus. Herausgegeben von Konrat Ziegler. Heidelberg: Kerle 1950.
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Bei Grotius verschmelzen religiöser und philosophischer Glaube in seinen Rechtsidealen. Die Synthese findet sich in De jure belli ac pacis in seiner Analyse der inneren Struktur des gesellschaftlichen Ganzen.s Grotius war durch die Schule des Römischen Rechts gegangen. Das Römische Recht bestand weitgehend aus jenem jus gentium, das Juristen aus dem Vergleich der Gesetze vieler Staaten gewonnen hatten. Das Ergebnis dieses Vergleichs hatten sie zum Naturrecht erklärt, als dem allgemeinen Konsens aufgeklärter und gebildeter Menschen. Dieses Römische Recht war von der historischen ratio scripta der Römer ebenso unabhängig wie der Spiritualismus des Grotius von der katholischen Überlieferung und den Lehren der protestantischen Amtskirche. Das nachantike Römische Recht gründet in der Vernunft, in der latenten Vernünftigkeit der Menschheit, wie auch immer ihre Bedingungen in Raum und Zeit sein mögen. Sein philosophischer Hintergrund war das Gedankengut der römischen Stoa, die im Grunde ein Pantheismus der Vernunft war. Noch wichtiger für das Verständnis von Grotius ist die Tatsache, dass die Renaissance-Juristen in die Rechtsexegese den Geist ‚humaner Interpretation’ eingeführt hatten, d. h. die Berücksichtigung sämtlicher Umstände jedes Falles. Diese Methode ist für Grotius maßgebend geblieben. Er hielt sich an das Corpus Juris, wenn er die Regeln von Gruppen explizierte und ein natürliches System sozialer Institutionen konstruierte. Die römischen Rechtslehrer hatten juristische Beziehungen als Beziehungen zwischen Personen aufgefasst. Sie erkannten Wechselbeziehungen zwischen Individuen, einerlei ob gleichen oder ungleichen, als Kern aller gesellschaftlichen Beziehungen. Die für die Soziologie grundlegende Idee des Socius stammt ursprünglich aus dem Römischen Recht. Die Römer führten alle juristischen Grundlagen zurück auf die ursprüngliche Reziprozität zwischen Socii. Die kollektive Person war für sie kein eigener Begriff, sondern nur die Gesamtheit von Einzelbeziehungen. Diese Einschränkung enthielt eine Einsicht von größter Bedeutung für die Entstehung der formalen Soziologie und die ihr nahestehenden Versionen der verstehenden Soziologie im Sinne etwa des ersten Kapitels von Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft.t Diese Einsicht hat es möglich gemacht, gesellschaftliche Beziehungen und Institutionen als eine Vielfalt von Gegenseitigkeitsbeziehungen des Gebens und Nehmens, der Überund der Untergeordnetheit, des Machtwillens und der Schutzbedürftigkeit, der Güte und der Härte zu betrachten. In der Nachfolge des römischen Vorbildes verstand Grotius die Realität des Naturrechts als die Vernünftigkeit menschlicher Absichten und die Einsehbarkeit sozialer Werte, die im sozialen Handeln in s t
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 135-415 (Zweites Buch). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Zweite, vermehrte Auflage. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925, S. 1-30.
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Erscheinung treten. Er war davon überzeugt, dass demjenigen, der das Wirken der menschlichen Natur im Naturrecht erkannt hat, auch die Teleologie des sozialen Seins und die Elemente klar werden, die für Bestand und Kontinuität der gesellschaftlichen Grundverfassung sorgen. Aus diesem Grunde ist De jure belli ac pacis ein Kompendium des Naturrechts, das die sozialen Beziehungen in den verschiedensten Handlungsmodellen und Lebensbereichen systematisch darstellt. Internationale Beziehungen und politische Institutionen haben im naturrechtlichen Gesamtzusammenhang zwar spezielle Funktionen, sind aber keine autonomen Bereiche, die isoliert vom gemeinsamen Boden des Ineinanderwirkens von logos und Geist denkbar wären. Grotius erklärte mehrfach, man dürfe Naturrecht nicht verwechseln mit nationalem Brauch oder mit den Normen und dem willkürlichen göttlichen Recht. Derartige Regelungen sind durch Willensakte entstanden, seien es menschliche oder göttliche. Sie lassen zu, dass man sich für sie oder wider sie entscheidet, und gelten unter besonderen Umständen. Das Naturrecht dagegen entspricht der menschlichen Natur, deren Manifestation es als angeborene Vernunft (qua recta ratio insita) ist. Tendenziell erscheint diese innere Rationalität schon im Bedürfnis nach Vergesellschaftung, das für die Spezies Mensch charakteristisch ist. Gewöhnlich wird diese wichtige Stelle nicht vollständig zitiert. Grotius sagte nämlich ausdrücklich, nach welcher Art Gesellschaft sich Menschen sehnen. Eigentümlich für den Menschen sei „der gesellige Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen, wie die Stoiker sagten“.u Das ist die Grundthese des Buches. Die menschliche Natur ist instinktiv auf Frieden – ihr wahres telos – gerichtet. Die Einschränkung, dass es sich um ein telos handelt, fügte Grotius hinzu, um zu zeigen, dass die Eigenart der menschlichen Vernunft keinen vollkommenen und absoluten Frieden in der Welt zulässt. Dies sollte man aber nicht mit Augustinus’ radikalem Dualismus von himmlischem und irdischem Frieden verwechseln.v Das ganze Buch, besonders der dritte Teil, zielt darauf ab, dass die Menschen Frieden auf Erden stiften können, wenn sie die Gesetze des Naturrechts befolgen. Friede und Gelassenheit sind als Ordnungsvorstellungen in der menschlichen Natur verwurzelt. Die Idee des Friedens ist das Kernstück des Buches. Krieg ist ein Ersatz für fehlende Rechtsinstitutionen und ein Instrument rechtlichen Handelns zur Wiedereinsetzung von Gerechtigkeit unter den Völkern.w
u v
w
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 32 (Vorrede Abs. 6). Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat [De Civitate Dei]. Die staatswissenschaftlichen Teile übersetzt, mit teilweisem lateinischen Begleittext versehen und behandelt von Karl Völker. Jena: Verlag von Gustav Fischer 1923. Grotius, De jure belli ac pacis, S. 419-598 (Drittes Buch).
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Wechselseitigkeit ist die primäre Gegebenheit des Lebens in der Gesellschaft. Grotius sagte, diese gesellschaftliche Grundbeziehung sei aus zwei Elementen zusammengesetzt: wechselseitigen Bedürfnissen und wechselseitigen Sympathien. Der Mensch ist ein unvollkommenes Wesen, er ist auf Kooperation angewiesen und überströmend von Sympathie. Grotius bezeichnete die spontane Sympathie, die Menschen aneinander bindet, an zwei Stellen als Naturtrieb, der Freundschaft und Gemeinschaft zwischen Menschen und Staaten stiftet und zur gemeinsamen Achtung sozialer und moralischer Güter anreizt. In einer fast Kantischen Formulierung sagte er, natürliche Sympathie müsse es dem Menschen unmöglich machen, das Leben anderer Menschen als Mittel zu eigenen Zwecken zu missbrauchen. Diese ursprüngliche Geselligkeit des Menschen müsse bewahrt und geschützt werden, um den Fortbestand der Gesellschaft zu ermöglichen.x Der Schutz der Gesellschaft (custodia societatis) sei eine Quelle des Rechts. Sie entspringt der geselligen Natur des Menschen und wird deshalb Naturrecht genannt. Die Prinzipien des Naturrechts als solche sind deutlich und klar. Grotius unterschied zwischen allgemeinen und evidenten Prinzipien und deren Ableitungen. Ein allgemeines Prinzip ist, dass man ehrbar oder vernunftgemäß leben muss. Evident ist das Prinzip, dass man sich nicht das Gut eines anderen aneignen darf. Ableitungen aus Prinzipien können sowohl evident als auch nicht evident sein. Evident ist, dass Ehebruch nicht erlaubt sein kann, wo die Ehe garantiert wird. Nicht evident ist, dass Vergeltung schlecht ist, wenn sie nur auf Kosten der Leiden eines anderen geübt werden kann. Grotius nahm die berühmte Formulierung Spinozas vorweg, wenn er behauptet, diese Prinzipien seien so gewiss und einleuchtend wie mathematische Axiome.y Naturrecht wirkt im Menschen durch die Antagonismen seines Wesens. Grotius unterscheidet zwischen sozialen und personalen Bereichen des Naturrechts. Er nimmt die antike Theorie wieder auf, dass alle Lebewesen einen Selbsterhaltungstrieb haben. Der Mensch strebt nach der Erhaltung seines Lebens, seines Selbst und seines Eigentums. Naturrecht das mit den Bedürfnissen des Einzelnen in der Gesellschaft befasst ist, ist Recht im wörtlichen Sinne. Es bezieht sich auf die Sicherung des Menschen im Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Es ist restriktives Recht, das vorschreibt, nicht zu schaden und Abstand von fremdem Eigentum zu nehmen. Es gibt dem Einzelnen in seinem Eigenbereich Sicherheit und erkennt seine Rechte als Qualitäten der moralischen Person an, die vor den ordentlichen Gerichten eingeklagt werden können. Die Wechselseitigkeit von Recht und Pflicht macht den Vertrag zur originären Form der x y
Ebd., S. 33 (Vorrede Abs. 8). Baruch de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata. Lateinisch–deutsch. Neu übersetzt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 1999.
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Rechtsbeziehung. Sie setzt die Grundforderung des gesellschaftlichen Rechts voraus, dass Verträge eingehalten werden müssen.z Als Sozius weiß der Einzelne, dass die in einer Vielfalt von Übereinkommen bestehenden Wechselbeziehungen sich auf Treu und Glauben gründen müssen. Ohne Treu und Glauben kann keine Übereinstimmung zustande kommen. Übereinstimmung setzt eine gemeinsame Absicht voraus, die gemeinsame Bejahung dieser Absicht beziehungsweise dieses Ziels und den gemeinsamen Willen, es zu erreichen. Dies ist das Fundament aller rechtlichen und sozialen Beziehungen. Er schließt Treu und Glauben als den Willen mit ein, an den Voraussetzungen des sozialen Handelns festzuhalten. Treu und Glauben bedeuten mehr als die Befolgung von Spielregeln. Sie setzen voraus, dass Wahrheit das sine qua non des sozialen Friedens ist. Die Tatsache, dass Grotius auch gesellschaftliche Standpunkte untersuchte, die von Treu und Glauben abzuweichen scheinen, weist darauf hin, dass er das ganze Phänomen Gesellschaft untersuchen wollte. Er untersuchte, unter welchen Umständen List und Betrug mit Moral und Gerechtigkeit vereinbar sein können. Er erwähnte sechs statthafte Typen der Falschheit, die moralisch konstruktiv sind.a' Der Lehrer darf seinen Schülern Erdichtetes als wahr vortäuschen, um ihrem begrenzten Verständnisvermögen entgegen zu kommen. Ironie und geheime Anspielungen sind erlaubt, wenn die Gesprächsteilnehmer sich in dieser Form der Kommunikation auskennen. Wenn eine dritte Person dadurch getäuscht wird, so ist das kein Unrecht. Der Arzt darf den Kranken täuschen, um ihn zu trösten. Freunde dürfen einander belügen, wenn es dem einen dadurch gelingt, dem anderen aus Verzweiflung und Bedrückung herauszuhelfen. Der Offizier darf Tatsachen verwischen und Nachrichten manipulieren, wenn es ihm dadurch gelingt, den Mut und die Moral der Truppe und der Zivilbevölkerung zu stärken. Wir dürfen lügen, wenn uns nichts anderes übrigbleibt, um unschuldiges Leben zu retten oder ein Verbrechen zu verhüten. Herrscher und Vorgesetzte können lügen, wenn es das Wohl ihrer Untertanen verlangt oder der Aufdeckung der Wahrheit dient. Mit dieser Übersicht lieferte Grotius eine typische sozialpsychologische Darstellung der Umstände, unter denen ein spezielles Verhalten als moralisch positiv gerechtfertigt sein kann, während es mit einem allgemeinen System der Ethik als unvereinbar gilt. Seiner Aufführung der Verhaltensweisen unter speziellen Umständen liegt eine relativistische Einstellung zu ethischer Absolutheit zugrunde. Was moralisch gut ist, hängt davon ab, was spezielle Strukturen oder Situationen jeweils notwendig machen. Grotius verglich die Rolle des sozialen Konsenses in Kollektiven mit der moralischen Entscheidung des Einzelnen. Er unterschied zwischen Zusammen-
z a'
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 34 u. 245-256 (Vorrede Abs. 15 u. Zweites Buch Kap. 12). Ebd., S. 426-433 (Drittes Buch Kap. 1 § X-XXII).
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schlüssen von Gleichen und den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Die wechselseitige Beziehung, sei es das freie Übereinkommen oder die Unterordnung, ist die Quelle des bürgerlichen Rechts, das in jedem Falle historisch und individuell ist. Die elementaren Formen der Gruppenbildung entsprechen jedoch natürlichen Bedürfnissen. Sie weisen Muster auf, die Grotius zufolge so elementar sind, dass sie auch in verschiedenen Regierungstypen zu finden sind. Machtverteilungen wie die natürlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Vormund und Mündel, Herr und Knecht kehren in verschiedenen Regierungsformen wieder. Hierin können wir den Einfluss des Römischen Rechts auf Grotius erkennen. Alle juristischen Konzeptionen beziehen sich auf die Grundformen sozialer Beziehungen und bilden so den sozialen Bereich des Naturrechts. Juristische und soziologische Kategorien sind für Grotius identisch. Als ein Bereich des Naturrechts ist das soziale Recht restriktiv und referiert auf die justicia expletrix – die eigentliche Gerechtigkeit. Wenn der Staat es durchsetzt, wird es zum Naturrecht. Rechte jedoch können nur etabliert werden, wenn sie dem Menschen etwas geben, das er als sein Eigen erkennt. Sie sollten allerdings niemals willkürlich sein und die Rechtsprechenden sollten von vernünftigen Überlegungen geleitet sein, die alle möglichen Fälle daraus resultierender Ansprüche mit einschließen. Das führt zum zweiten und größeren Zweig des Naturrechts, der sich auf die moralischen und menschlichen Erfordernisse der Gesellschaft bezieht. Er befasst sich mit der Schichtung der Gesellschaft und mit den Gerechtigkeitsnormen, nach denen jedem Menschen zuteil wird, was ihm zusteht und ihm als latentes Recht innewohnt. Dies ist aber kein Recht im strengen Sinne, da es nicht vollstreckt werden kann. Dieser umfangreichste Bereich des Naturrechts variiert von Fall zu Fall, und wir müssen uns oft dabei über bestehendes juristisches Recht hinwegsetzen und eine neue Machtverteilung zustande bringen. Das Zusammenspiel zwischen dem Gesetz selbst und dem dynamischen Recht der Gerechtigkeit verbindet die moralischen und menschlichen Erfordernisse der Gesellschaft ständig mit den Institutionen des gesatzten Rechts. Frieden und Eintracht der Gesellschaft beruhen nach Grotius auf der Realität moralischer Pflichten, welche die Grundlage für Eingriffe der Gesetzgeber sind. Grotius verwandte viel Mühe auf die Klärung des Zusammenspiels zwischen bestehenden Gesetzen und den moralischen Voraussetzungen, welche die anerkannten Werte des Friedens und der Eintracht sind. Grotius zufolge basiert der Aufbau der Gesellschaft auf der untrennbaren Einheit von moralischen Pflichten und gesetzlichen Normen, die der Natur des Menschen inhärent ist. Recht ist eine Form des Guten. Grotius unterschied sorgfältig zwischen dem Gesetz selbst und dem Naturrecht als Ganzem, das eine Rangfolge von Pflichten enthält, welche unter gewissen Umständen höhere Ansprüche an uns stellen als an jene Rechte und Privile-
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gien, die durch Gesetz und Sitte gestützt sind. Selbst wenn uns nichts am Genuss unserer Privilegien hindert, können diese doch die Herrschaft des Rechts beeinträchtigen. Daher sind wir gehalten, im Rahmen höherer Forderungen auf sie zu verzichten. Die Dynamik des Naturrechts umfasst die verschiedenen Rechtssphären von der Legalität bis zur Moralität, vom Zulässigen bis hin zum Guten und Besseren. Zum Naturrecht gehört ein Gesetz der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, das, wie man an Cicero und Seneca sieht, Gemeingut der heidnischen Welt war. Letzten Endes entspricht dieser humanitäre Geist des Naturrechts den Normen des Evangeliums. Grotius wollte zeigen, dass die Universalität menschlicher Sympathien und der sensus communis rationaler Normativität aus der menschlichen Natur entspringt. Die menschliche Natur hat eine solche Fülle von Möglichkeiten, dass sie zu Wertvorstellungen fähig ist, die in ihrer klaren und entschiedenen Moralität die strikten Gesetze des Naturrechts noch übertreffen und außer Kraft setzen können. Der Mensch hat einen Sinn für Scham und Sittsamkeit, der ihm anzeigt, was gerechter und besser ist als der Buchstabe des Gesetzes selbst. Aus der spontanen Sympathie entspringt ein Sinn für Ehre, der in Rechtssachen wie Vermächtnissen mit Gerechtigkeit übereinstimmt. Viele Pflichten fallen nicht unter den Begriff des Gesetzes im engeren Sinne, sondern spiegeln Wertbegriffe einer höheren Seinsebene wider, für die jedoch noch immer das Naturrecht gilt. Güte, Großzügigkeit, Vaterlandsliebe, Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie (einschließlich der Feinde) fordern so manches, das über die Vorschriften des Gesetzes selbst hinausgeht: ‚Die Herrschaft der Pflicht reicht weiter als die des Gesetzes.’ Die „Logik des Herzens“, der die Pflicht gehorchen soll, ist so vernünftig und einleuchtend wie das Gesetz der Selbsterhaltung.b' In diesen Passagen von Grotius ist die unausgesprochene These enthalten, dass Gegenseitigkeit zweierlei bedeutet: die Wechselwirkung zwischen Individuen und die Zugehörigkeit zu einem Ganzen. Diese implizite Definition der Wechselseitigkeit wird evident, sobald Grotius auf die höheren Notwendigkeiten eingeht, die sich aus den Beziehungen zwischen Staaten ergeben. Obwohl Grotius mit größtem Nachdruck gezeigt hat, dass Krieg nur in sehr seltenen Fällen gerechtfertigt ist, hält er es doch für rechtschaffener und gerechter, das Recht des Einzelnen um des höheren Wertes eines allumfassenden Friedens willen aufzugeben. Herrscher sind wie Väter, sie entschließen sich nicht leicht dazu, ihre Söhne, Untertanen oder Nachbarn zu strafen, es sei denn aus größter Notwendigkeit und namens der höchsten Werte der Gerechtigkeit. Grotius ging so weit, Umstände anzunehmen, die es uns aus Gründen der Liebe und
b'
Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Heidelberg: Lambert Schneider 1946.
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Rücksichtnahme, die wir allen Menschen schulden, zur Pflicht zu machen, auf unser eigenes Recht zu verzichten. Er wollte den Bereich internationaler Beziehungen ausweiten, konnte sich jedoch keine internationalen Institutionen vorstellen. Er konnte nur daran denken, alle Nationen aufzuklären, damit sie derselben Vernunft und desselben bei allen Menschen verständigen Mitgefühls gewärtig werden. Diese Erkenntnis würde dem Gemeinsinn der Menschheit Geltung verschaffen, der die Übereinstimmung zwischen Staaten möglich macht, wie sie im Völkerrecht zum Ausdruck kommt. Da Grotius sich internationale Organe nicht vorstellen konnte, musste er nach einer von ihm so benannten a posterioMethode vorgehen.c' Er trug ein immenses historisches Material von Philosophen, Geschichtsschreibern, Juristen, Dichtern und Rhetorikern zusammen, um aufzuzeigen, dass es hinsichtlich der Gültigkeit sozialer und humaner Forderungen tatsächlich einen universalen Gemeinsinn der Gebildeten gibt. Diese Forderungen sind einfach und selbstverständlich. Aus seiner Analyse der potenziellen Rationalität und des verständigen Mitgefühls der Menschheit zog Grotius die folgenden Schlüsse für jedwede Betrachtung der dem Menschen angeborenen Vernunft. Wenn der Friede das telos sozialen Handelns ist, dann ist Leben der primäre Wert zu seiner Erreichung. Grotius anerkannte, dass Gott einen höheren Anspruch auf unser Leben hat als wir selbst. Er erklärte wiederholt, das Leben sei der eigentliche locus und die Basis aller zeitlichen und ewigen Güter, die uns zu konstruktiven, also nicht zu destruktiven Zwecken gegeben sind. Im Falle der Not bewertete er Leben höher als die Freiheit des Einzelnen und des Staates, da es die unerschöpfliche Quelle potenzieller Güter sei. Das ist kein moralischer Eskapismus. Es ist die besonnene Einsicht eines Mannes, der den höheren Wert des Ganzen erkannte und dennoch den möglichen Reichtum jedes einzelnen Menschen nicht vergessen konnte. Diese Humanitas Grotiana ist der Nährboden der Idee einer internationalen Politik in den angelsächsischen Ländern geworden. Seit John Jay George Washington in die Prinzipien von Grotius eingeführt hat, gehört sie zu den Bestrebungen der amerikanischen Außenpolitik. Friede ist das telos sozialen Handelns. Krieg ist eine allgemeine soziologische Kategorie, die im Sinne Senecas private und öffentliche Konflikte umschließt. Definiert wird er als Auseinandersetzung mit Mitteln der Gewalt. Er ist zulässig in Situationen, in denen Schlichtung durch Rechtsprechung nicht erreicht werden kann, etwa bei Überraschungsangriffen von Räubern, Dieben und Piraten. In Staatsangelegenheiten kann Krieg als Notmaßnahme zur Wiedereinsetzung von Gerechtigkeit, zur Erlangung von Schadensersatz oder zur Bestrafung von Angreifern zulässig sein. Krieg ist für Grotius eine marginale Institutic'
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 52 (Erstes Buch Kap. 1 § XII Abs. 1).
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on der Gerechtigkeit, die unentbehrlich ist, weil es keine internationalen Gerichtshöfe und Schiedsinstanzen gibt, die über zwischenstaatliche Konflikte Recht sprechen und dessen Vollzug garantieren. Für Grotius ist Krieg nicht die Fortsetzung der Politik mit den Mitteln der Gewalt, sondern eher ein unterzuordnendes Instrument der Gerechtigkeit. Politik ist für ihn die ständige Zunahme und Ausweitung von Rechtsinstitutionen und deren schöpferische Entfaltung im Einklang mit den neuen Kräften, die im sozialen Prozess immer wieder entstehen. Es ist der lebendige Geist der Gerechtigkeit, der das etablierte Recht ständig überprüft, mit dem nie endenden Willen zur Beseitigung von Unrecht und Ungerechtigkeit, auch wenn sie der kleinsten Minderheit angetan werden. Außerhalb der Herrschaft des Rechts gibt es im Staat weder Sicherheit noch Freiheit. Grotius warf Erasmus wirklichkeitsfremden Pazifismus vor, war aber selbst nicht frei von Pazifismus. An seinen Bruder schrieb er: „Wenn aber christliche Fürsten meinen Warnungen Gehör schenken würden, gäbe es keine Kriege mehr zwischen ihnen. Sie würden viel mehr lieber auf einige ihrer Rechte verzichten oder sich gerechten Schiedssprüchen unterwerfen.“d' Grotius’ pazifistische Neigungen basierten auf seinem Verständnis der humanitären und kosmopolitischen Bestandteile des Naturrechts. Demnach sollte man, auch wenn es um Recht oder Unrecht geht, nicht zu den Waffen greifen, sich nicht gegen Usurpatoren erheben und ungerechte Herrscher nicht durch Revolution bekämpfen. In dieser Einstellung treffen strenge Rechtsbegriffe und humanitäre Bedenken zusammen. Das menschliche Leben ist so kostbar, dass man sich besser in die Gegebenheiten fügt, um Blutvergießen zu verhüten, und danach strebt, das begehrte Ziel durch kluge Kompromisse zu erreichen. Grotius erkannte das Recht auf Widerstand nur an, wenn es fest in der Verfassung verankert ist, wie in den sieben Beispielen, die er bei der Behandlung der verschiedenen Verfassungsformen im Feudalstaat und im Ständestaat aufzählte.e' Er bekräftigte ein Recht zur Revolution, das logisch durch einen Unterwerfungsvertrag verwirkt ist. Von solchen Fällen abgesehen, ist es nicht möglich, dass die Beherrschten nach den Schuldigen unter den Herrschern und deren Ratgebern suchen. Grotius hielt das für einen Teufelskreis, weil der gesellschaftliche Prozess so komplex und verschlungen ist, dass Verantwortlichkeit sich mit Sicherheit kaum jemals feststellen lässt. Die Menschen müssen auf Gott als den obersten Richter – auch über die Herrscher und ihre Völker – vertrauen. Grotius wiederholte Betonung des moralischen Aspekts des Naturrechts lässt sich auf seine Analyse des Naturzustands und dessen revolutionärer Umformung durch die Einsetzung des Privateigentums zurückführen. Im Zustand
d' e'
nicht nachgewiesen Grotius, De jure belli ac pacis, S. 226-227 (Zweites Buch Kap. 9 § VIII).
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der Freiheit gehörte alles allen Menschen gemeinsam. Der Urzustand beruhte auf zwei Prinzipien: der Einfachheit des Lebens und einer totalen Zugewandtheit der Menschen zueinander. Beide ermöglichten es, diese Lebensform so lange beibehalten zu können. Aber der Mensch war rastlos und strebte nach Vollkommenheit. Deshalb konnte sich der Urzustand des Gemeinschaftslebens nur unter harten, natürlichen Lebensbedingungen erhalten – bei den Indianern etwa oder bei religiösen Sekten (wie den Essenern), aber auch im Frühchristentum und bei den Mönchsorden. Der allgemeine Zug der menschlichen Natur strebte aber nach Wissen, Wettbewerb und Genuss verfeinerter Güter. In diesem Zuge wurde mit der Zeit der ‚natürliche Kommunismus’ zerstört, indem sich die Besitzer großer Herden voneinander trennten. Was blieb, war ein beschränkter Kommunismus in Form gemeinschaftlich genutzter Weiden. Die Stämme und Familien trieben die Eigentumsordnung weiter in Richtung auf persönlichen Besitz durch Aneignung von Ländereien und Wasserstellen. Grotius erklärte diesen Verlauf mit dem widersprüchlichen Wesen des Menschen. Als Vernunftwesen ist der Mensch nie zufrieden und strebt nach Vollkommenheit. Daher hat er Kunst, Handwerk und Industrie erfunden. Die Errungenschaften steigern die Begierde. Geiz und Ergeiz erwachen und machen sich die Vernunft zu ihrer Dienerin. Als destruktive und konstruktive Kräfte haben Begierde und Vernunft die Einheit der Urgemeinschaft beseitigt. Praktische Schwierigkeiten (fehlende Transportmittel etwa) und moralische Mängel (wie der schwindende Sinn für Solidarität) haben schließlich eine gerechte Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte aufgelöst.f' Das waren die Bedingungen, aus denen das Privateigentum entstanden ist, aber nicht als vernunftwidrige Gewalt oder als Druck der Stärkeren, wie Franz Oppenheimer meint.g' Grotius erklärte die Entwicklung als eine Art von Übereinkunft, als einen vernünftigen Kompromiss im Sinne einer Form der Teilung und Inbesitznahme. Besitznahme im Großen erfolgt durch ein ganzes Volk, Teilung als Aufteilung des in Besitz genommenen Ganzen unter seinen Mitgliedern. Nach Grotius’ Auffassung hat die Einführung des Privateigentums die alten Bande der Solidarität und des Gemeineigentums nie ganz aufgelöst. Er behauptete, es sei nie die Absicht der Neuerer gewesen, alle Überbleibsel gemeindlicher Freiheiten zu zerstören. Ganz im Gegenteil wollten sie sich vielmehr so wenig wie möglich von der natürlichen Gleichheit entfernen. Deshalb ist es nicht etwa eine religiöse Norm, dem Notleidenden zu geben, was er dringend braucht. Vielmehr verpflichtet das Naturrecht die Eigner von Privatbesitz darauf, dafür zu sorgen, dass ordentliche Gesetze Schutz und Schirm für die vorsehen, die in Not
f' g'
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 158-165 (Zweites Buch Kap. 3). Franz Oppenheimer, Theorie reiner und politischer Ökonomie. Berlin: de Gruyter 1919.
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sind, „weil das Privateigentum überhaupt nur mit dieser milden Beibehaltung des ursprünglichen Rechts eingeführt zu sein scheint“.h' In diesem grundlegenden Bezugsrahmen bewegt sich Grotius’ gesamtes juristisches Denken. Dies ermöglichte ihm, über die gemeinschaftlichen Rechte zu sprechen, die in der Welt des Privateigentums bestehen bleiben. Die natürliche Gleichheit erfordert eine gewisse Bewegungsfreiheit zu Land und zur See, das Recht für jeden, aus- und einzuwandern und gemeinsame Anrechte bei Unternehmungen und an Sachen. Diese Rechte bleiben Normen des Naturrechts und haben Vorrang gegenüber sich widersprechenden Verordnungen einzelner Staaten. Zu diesen Rechten zählte Grotius jene Elemente der Freiheit der Person und ihrer Pflicht gegenüber der Gesellschaft, vor allem auf ökonomischem Gebiet: bei Preisen, Monopolen und Profiten (Wucherzinsen beispielsweise) und die Freiheit, zu kaufen und zu verkaufen. Das alles ist erlaubt oder verboten, nicht aus Gefälligkeit, sondern als Recht. Der Ursprung dieses Rechts ist die Macht der natürlichen Freiheit, welche der bleibende Bezugsrahmen des Naturrechts ist. Dieser Bezugsrahmen entspricht nicht etwa dem Traum vom goldenen Zeitalter. In ihm erkennen wir vielmehr die naive und mitfühlende Vernünftigkeit des menschlichen Daseins. In Zeiten aufgeklärten und erleuchteten Geistes erscheint der mitmenschliche Rahmen als ‚sensus communis der Menschheit’. Wenn das Naturrecht allerseits als Widerschein der menschlichen Natur erkannt wird, die eine Welt des Friedens und der Solidarität möglich macht, kann aus ihren Möglichkeiten auch Wirklichkeit werden. Grotius wollte mit seinem Werk der weiteren Aufklärung der Gesellschaft eine Bresche schlagen und die verlorene Solidarität als neu überdachte und neu verstandene Einheit aller Menschen wieder errichten helfen.
h'
Grotius, De jure belli ac pacis, S. 150 (Zweites Buch Kap. 2 § VI Abs. 4).
Natürliches JudentumÜ
Vier Umstände verweisen auf die prekäre Lage des Judentums weltweit: erstens die Gefährdung des Wunders der Pioniertätigkeit in Palästina durch die arabische und britische Opposition und innere Konflikte; zweitens die anhaltend unsichere Lage der jüdischen Gemeinden in Europa; drittens die Kluft zwischen Orthodoxie und Säkularismus in Palästina; viertens die Tendenz zur Assimilation der jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten. Die beiden großen transzendenten Religionen, das Judentum und das Christentum, sind tief und gefährlich berührt von der Technisierung und dem Kollektivismus, welche die moderne Welt mit sich bringt. Der technologische Fortschritt beinhaltet eine Negation aller überrationalen und kosmologischen Kräfte, die sich nicht für weitere Effizienzsteigerung ausbeuten lassen. Der Kollektivismus evoziert eine atheistische Religion der totalen Planung. Für die besondere Lage der Juden gibt es zudem besondere Gründe. Die ethnische, die nationale und die religiöse Komponente des Judentums sind untrennbar miteinander verflochten. Aus diesem Grund wirkt sich die Entstehung einer konfessionslosen, säkularen Tradition der Demokratie, wie sie in allen Bereichen des intellektuellen und öffentlichen Lebens stattfindet, notwendig auf das Judentum als Religion und als Nation aus. Die mit dieser Entwicklung einhergehende Angleichung beeinflusst die ethnische Loyalität, das naturhafte Gefühl der Zugehörigkeit. Viele Juden, die im Bannkreis der säkularen Kultur leben, sind dadurch verwirrt, ja paralysiert. Diese Situation sollte berücksichtigen, wer Milton Steinbergs jüngstes Buch1 zur Hand nimmt. Der Autor stellt ausdrücklich fest, dass sein Buch auf die Notlage Israels hinweist und einen praktischen Zweck verfolgt (‚praktisch’ ist dabei nicht gleichbedeutend mit ‚propagandistisch’.).a Dies ist kein missionarischer Text. Er ist praktisch orientiert, insofern sein Autor auf die Lebensführung seiner jüdischen Mitmenschen einwirken möchte. Er hat den Wunsch, sie über die schöpferische Kraft der Religion aufzuklären. Tatsächlich hofft er, nicht nur Juden, sondern auch Christen in sie einzuführen. Beide sollen einander kennenlernen, ihre gemeinsamen Ideale und die Weisheiten ihrer Lehrer und Propheten
Ü 1 a
Albert Salomon, „Natural Judaism”. In: Jewish Frontier 15, 4, 1948, S. 61-71. Übersetzt von Peter Gostmann und Dorte Huneke. Milton Steinberg, Basic Judaism. New York: Harcourt Brace 1947. Ebd., S. IX-XI.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Natürliches Judentum
achten lernen. Dies ist ein praktisches Buch, weil es auf menschliches Wollen einzuwirken hofft. Es ist erzieherisch, insofern es das Wesen des Judentums beschreibt und auslegt. Das Judentum konfrontiert den, der es lehrt, nicht anders als den, der es studiert, mit schwierigen methodologischen Problemen. Es ist ein komplexes historisches Phänomen, in einem steten Wandel begriffen und dennoch immerzu gleichbleibend. Es umfasst eine breite Spanne theologischer, philosophischer, mystischer und moralischer Variationen. Trotzdem zeigt sich in ihm über alle Zeiten hinweg dieselbe schöpferische Dynamik. Wer das Wesen des Judentums veranschaulichen möchte, ist daher gezwungen, eine Vielfalt von Erfahrungen und Ideen in ein logisch zusammenhängendes Ganzes einzufügen. Im Fall des Judentums ist dies schwieriger, als es im Fall der christlichen Theologien wäre. Zu Recht legt Steinberg Wert auf die Feststellung, dass die theologischen, moralischen, philosophischen und sozialen Grundvoraussetzungen des Judentums seit je ineinander greifen und sich wechselseitig beeinflussen.b Somit ist er sich wohl bewusst, dass seine Aufgabe vielschichtig und schwierig ist. Gleichwohl, er hat ein Kriterium, anhand dessen er eine Auswahl aus der unendlichen Menge von Fakten zu treffen und sie zu einem Ganzen zusammenzufügen vermag. Dieses Kriterium verdankt sich seiner Vorstellung eines lebendigen jüdischen Geistes und seiner Hoffnung auf ihn.c Er trifft eine Auswahl miteinander verbundener Ideen und Grundsätze, die zwar historisch, aber zugleich von zeitloser Gültigkeit sind, um Juden für das Leben in einer feindlich gesonnenen Welt zu rüsten. Logik und Zusammenhang dieser Ideen und Grundsätze begründet er, indem er sinnfällig macht, wie theologische und moralische Prinzipien mit Notwendigkeit aufeinanderfolgen und wie sich die Einheit von rituellen Gesetzen und religiösem Bekenntnis offenbart.d Auch die Kriterien, die Steinberg anwendet, sind von praktischer Bedeutung. Mit der Idee eines lebendigen jüdischen Geistes verbindet er keine theologische Doktrin, sondern eine Reihe von Grundsätzen, die Menschen hier und jetzt, im gegenwärtigen Szenario, zu Tun und Dulden befähigen sollen. Mit dieser Grundhaltung verbindet sich die Frage nach der Gültigkeit, die der Anspruch auf die zeitlose Bedeutung religiöser Ideen und moralischer Prinzipien besitzt, wenn man ihn mit dem Wissen der modernen Philosophie und Wissenschaft konfrontiert. Rabbi Steinberg trägt dieser Frage durch die Auswahlkriterien, um die sein Buch kreist, Rechnung.
b c d
Ebd., S. 8-9. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4-8.
Natürliches Judentum
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Steinbergs Idee, seine Interpretation der elementaren Wahrheiten des Judentums mit der Torah beginnen zu lassen,e nicht mit Gott, wird beim Leser auf Verwunderung stoßen. Dieser Aufbau illustriert indes Steinbergs Gesamtkonzeption, das Primat der Morallehre gegenüber den geistigen Fragestellungen im Judentum. Deshalb folgen die Kapitel über Gottf und das gute Lebeng dem Kapitel über die Torah. Diese Kapitel sind von den Kapiteln über die Praktiken,h das Rechti und die Eschatologiej durch einen eingeschobenen Text gesondert, der die Rolle Israels inmitten der Nationen behandelt, eine luzide und breit angelegte Diskussion der Gemeinsamkeiten, die Israel mit den christlichen Bekenntnissen teilt, und ebenso ihrer wesentlichen Unterschiede.k Was Steinberg durch diesen originellen Aufbau vollbringt, ist in der Tat eine Offenbarung; denn es offenbart sich darin in anschaulicher Form, dass der Lebendige Geist zugleich die Alte Wahrheit ist. Steinberg konstruiert keine neuen Wahrheiten. Wie alle Humanisten weiß auch er, dass erst die alte Wahrheit zu begreifen und anzunehmen wahrhaften Fortschritt ermöglicht. Dies wird umso deutlicher, je weiter man in der Lektüre des Buches voranschreitet. Den oberflächlichen Leser mag das häufige Nebeneinander überlieferter und moderner Deutungen der elementaren Begriffe des Judentums verwirren. Dieses Nebeneinander bedeutet jedoch weder, dass Steinberg der modernen Auffassung schlicht eine Ergänzung beigeben will, noch dass er sich die eklektische Attitüde eines Moderators zueignet. Jene beiden grundlegenden Deutungsweisen, die überlieferte und die moderne, sind für ihn zwei Aspekte der einen dynamischen Wirklichkeit des hebräischen Geistes. Steinberg ist kein Relativist; er glaubt nicht, dass beide Deutungsweisen richtig sein können. In seiner abschließenden Analyse formuliert er die Annahme, der schöpferische Geist der Überlieferung vermöchte sämtlichen Anforderungen, die das moderne Leben stellt, zu begegnen, wenn er nur seinem Wesen nach wahrhaft verstanden wird.l Rabbi Steinberg arbeitet fünf grundlegende Ideenkomplexe als Fundamente des Judentums heraus: erstens die Einheit von undogmatischem Bekenntnis und individuellem Gewissen; zweitens das Paradox von metaphysischer Göttlichkeit und dem Menschen als Ebenbild Gottes; drittens die Interdependenz von Torah, Gesetz und Sozialethik; viertens die Verbindung von persönlicher Erlösung und überlieferter Eschatologie; fünftens den Zusammenhang von Auserwähltheit und e f g h i j k l
Ebd., S. 18-30. Ebd., S. 31-58. Ebd., S. 59-90. Ebd., S. 116-142. Ebd., S. 143-149. Ebd., S. 159-170 Ebd., S. 91-115. Ebd., S. 171-172.
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Passion. Die Verkettung dieser fünf Ideenkomplexe verleiht dem jüdischen Geist eine fortwirkende schöpferische Potenz, kraft derer er zu steter Wiedergeburt fähig ist, gerade auch in Zeiten von Not und Krise. Zu Recht betont Steinberg – erstens –, dass das Judentum im Gegensatz zu den kirchlichen Religionen über kein ausgearbeitetes Dogmensystem, keine systematische Theologie verfügt.m Es gibt das grundlegende Prinzip der Offenbarung, die Vision Gottes, der als Ganzes unsagbar und unbegreiflich ist, begreifbar jedoch in Seinen Eigenschaften als Geist, Gesetzgeber, Befreier und Erlöser. Die gesamte jüdische Geschichte hindurch waren sich Rabbiner und Philosophen, Moralisten und Mystiker über die eine Wahrheit einig, dass den Menschen angesichts der Endlichkeit ihres Denkens höchstens ein flüchtiger Blick auf das Unendliche möglich sein kann. Judentum ist disziplinierter Mystizismus, der niemals aufhört, neue Wege der Annäherung an die unendlichen Facetten des Göttlichen, das in Verborgenheit wird und wirkt, zu ,erfinden’. Gott ist das ewige Paradox von Anderssein und Nähe zugleich. Er ist von der Welt gesondert und in ihr nahe, ist immanent und transzendent. Gott bleibt im Verborgenen, denn der Mensch könnte in seiner vollkommenen Gegenwart nicht leben. Menschen begegnen Ihm im Hier und Jetzt, in alltäglichen Gewohnheiten ebenso wie an den Wegscheiden des Schicksals von Einzelnen und Gesellschaften. Sie erkennen in Seiner Stille, in Seinen Gewittern Geist, Vorsehung, den Sinn der Geschichte. Gleichwohl, auch in solchen Begegnungen bleibt Er unergründlich, Seine Weisheit liegt jenseits unseres Auffassungsvermögens. Judentum bedeutet, einen heroischen Quietismus zu verrichten, in schöpferischer Weise die unbegreifliche Paradoxie des Ganzen zu bejahen. Ein Jude verzweifelt niemals an Gott oder fällt von Ihm ab, obschon er sich weder das Glück des Sündhaften noch die Leiden des Gerechten zu erklären vermag. Einer verbreiteten Annahme zufolge hat das Judentum eine im Kern intellektualistische Auffassung Gottes. Steinberg teilt diese Überzeugung. Doch entwirft er seinerseits in schöner Form die transintellektuelle Haltung der Amor Dei als Amor Fati, menschlichem Denken unzugänglich, erfüllt von jenseitigem Sinn, unsere Vorstellungs- und Begriffswelt übersteigend. Vielleicht ist eine Schwierigkeit von Steinbergs Entwurf, dass er Philosophisches und Religiöses auf derselben Ebene zusammenfügt. Selbstverständlich wird der Philosoph das Wunder der Offenbarung im Rahmen einer philosophischen oder einer metaphysischen Fragestellung deuten, in Bezug auf das Eine und das Viele oder die Einheit in der Vielfalt. Doch der Gott der Philosophen ist nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Weder die jüdische noch die christliche Religion lassen sich verstehen, wenn man nicht die Wirklichkeit der Offenbarung, das Wunder am m
Ebd., S. 31-36.
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Berg Sinai, die fortdauernde Schöpferkraft von Barmherzigkeit und Gnade, ungeachtet unseres Wissens über natürliche und soziale Kausalitäten, ernst nimmt. Seit dem Aufstieg der modernen Wissenschaft und der Philosophie des Fortschritts kennen und erleiden religiöse Menschen das Dilemma der Wahrheit zwischen Wunder und Wissenschaft. Pascal und Kierkegaard zeugen von diesem Dilemma. Gleichwohl trifft es zu, dass durch Einfachheit und Größe der jüdischen Vorstellung des Göttlichen dem Einzelnen die Verantwortung auferlegt ist, den Versuch zu unternehmen, das Unsagbare, das Er in Mannigfaltigkeit in die Welt verströmt, zu verstehen. Dieses der jüdischen Religion eigene Phänomen hat die gesamte Geschichte hindurch zu Denken und Kontemplation, zu Reflexion und Gelehrsamkeit angeregt. Als Ergebnis des undogmatischen jüdischen Gottesbegriffs entstand eine Dynamik, welche die jüdische Religion zu einer Demokratie des Lernens machte, während die Griechen eine soziale Schichtung zwischen Gebildeten und Ungebildeten einführten. Die jüdische Vorstellung der Paradoxie Gottes beinhaltet – zweitens – die Idee, der Mensch sei das lebendige Ebenbild Gottes. Selten hat ein Philosoph oder Theologe diese Idee in ihrem Zusammenhang mit der Gottesvorstellung so erhellend dargestellt, wie Rabbi Steinberg dies tut. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit bedeutet, dass der Mensch der Ort ist, an dem Immanenz und Transzendenz einander begegnen. Der Mensch lebt in der Kontinuität des organischvitalen Prozesses; er existiert als Glied einer ununterbrochenen Kette von Lebenskräften. Zugleich vermag er, in Akten der Kontemplation und in der Entscheidung für eine bestimmte sozial-moralische Haltung, die Mechanismen biologischer Teleologie zu überwinden. In solcher geistig-moralischer Bewusstwerdung erlangt der Mensch Freiheit, überwindet er die Sphäre des Organischen. Als Ebenbild Gottes steht er zwischen Unwissenheit und letzter Gewissheit, zwischen Bedürftigkeit und Habe. Indem er Gott sucht, erschließt er neue Wege der Kontemplation und Moralität. Aus diesem Grund manifestiert sich – drittens – in der Wahrhaftigkeit des guten Lebens das, was dem Menschen über die Wahrheit des Universums Gottes zuteil und begreiflich geworden ist. Sozial-moralisches Handeln führt zu Freiheit und Erlösung. Es stimmt nicht, dass der Mensch sich selbst erlösen kann. Dies kann allein Gott durch seine Gnade. Der hebräische Gott ist nicht der irrationale, willkürliche Souverän der Prädestinationslehre. Dennoch bleibt Gnade der freien Schöpferkraft Gottes überlassen, so wie Kontemplation und Einfühlung in der Sphäre menschlicher Freiheit verbleiben. Gottes Gnade vollbringt die endgültige Vollkommenheit. Sie ist das Siegel, durch das Er beglaubigt, dass das unsagbare Dunkel sich lichten wird. Keine moderne Anschauung vermag diese Gnade auszusondern. Sie ist ebenso unabdingbar wie die Offenbarung und die zehn Gebote. Sie wäre selbst dann noch wahr, wenn man ihr ihre theologische Bedeutung
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entzöge. Denn die Tragik der Endlichkeit des Menschen und seine Befähigung zur Größe sind nur verständlich, wenn man sie in Begriffen von Sünde und Gnade erfasst. All die höchsten Leistungen, die Menschen vollbringen, alle wahrhaft geistigen und künstlerischen Werke, alle Werke aufrichtiger und vollkommener Hingabe, tragen Siegel und Zeichen der Gnade. Ihnen allen eignet eine Ausstrahlung, die über menschliches Bestreben hinaus weist, ein Seelenfrieden, der in Begriffen der Kausalität nicht erklärlich ist. Ohne die messianische Vision ständen – viertens – Torah, Gesetz und gutes Leben nicht im Zentrum der jüdischen Religiosität. Steinberg gelingt es prächtig, die vorrangige Bedeutung von Torah, Gesetz und den Praktiken als Wesenskern des Judentums darzulegen. Juden lernen, in Gottesdienst und Alltag Gebrauch von ihnen zu machen, lernen mithin, jede Phase ihres Lebens zu heiligen. Steinberg beschreibt erhellend die Rituale und ihre symbolische Bedeutung. Er erklärt, wie diese religiösen Überlieferungen einen geistig-seelischen Habitus erschaffen, der immer großen Einfluss auf die geistig-moralischen Lehren hatte, die das Judentum in seiner Geschichte aufgestellt hat. Indem sie die Gesetze anwenden, bezeugen Juden die Weisheit Gottes. Sie verwirklichen in Form sozial-moralischen Handelns, was Kontemplation und Bewusstsein sie zu verstehen lehren: die Weisheit der Forderungen Gottes, die im Einklang mit den Bedürfnissen Seiner Schöpfung sind. Diese Forderungen richten sich auf alle erdenklichen Situationen, die aus dem Wechsel der menschlichen Lebensumstände erwachsen. Die Gesetze Gottes sind niemals irrational oder willkürlich. Alle verweisen auf einen Bezugsrahmen. Den bilden – in der menschlichen Welt – Vernunft, Frieden, Kontinuität und Dauer, sowie – im Universellen – Harmonie und Ewigkeit. Für Juden sind ihre persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Prüfsteine für die Wahrheit der Gebote Gottes. Es sind Prüfsteine unserer gelebten Religiosität. So ist es konsequent und folgerichtig, dass das Judentum für die Ordnung des Staatswesens vollständige Gleichstellung und soziale Demokratie vorsieht. Die Demokratie des Lernens und die soziale Gerechtigkeit, dies sollte betont sein, bilden Grundanforderungen der jüdischen Religion. Die zentrale Wahrheit jüdischer Religiosität richtet sich auf das gute Leben. Ein gutes Leben zu führen bedeutet, sich Gott zu fügen und nach Seinen Regeln zu handeln. Sich Gott zu fügen und sich an Seine Regeln zu halten bedeutet, frei zu sein. Sich der Disziplin der Rituale zu unterwerfen, bekundet die Übermacht des Geistig-Seelischen gegenüber dem Vital-Organischen. Entsagung und der Wille zur Beschränkung setzen die Kräfte des Guten und der Sympathie frei. Wahrhaftige Freiheit bedeutet, Gutes unter dem Gesetz Gottes zu wirken. Freiheit und Fügsamkeit sind der jüdischen Seele eins und untrennbar, sind ihrer Natur nach religiös. Darin stimmen alle jüdischen Theologen und Philosophen überein, wie auch immer sie sich im Detail unterscheiden mögen.
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Es bleibt der letzte – der fünfte – Ideenkomplex, das Prinzip des Berith, des Bundes zwischen Gott und Mensch. Der Kerngedanke ist, dass Gott einen Vertrag gemacht hat, der die Juden als das auserwählte, das berufene Volk einsetzt. Ihre Feinde, auch fehlgeleitete Freunde, haben darin einen monopolistischen Geist, eine unerträgliche Anmaßung der Judenheit gefunden, und es fehlt nicht an psychologischen Erklärungen wie der eines Minderwertigkeitskomplexes, der durch Größenwahn überkompensiert werde. Steinberg hat Zeugnisse und Betrachtungen aus mehreren Jahrhunderten zusammengetragen, die belegen, dass gerade das Gegenteil zutrifft. Israel hätte es vorgezogen, seiner Berufung zu fliehen statt ihr zu folgen. Die Berufung Israels war Gottes Joch und Israels Passion. Für Juden bedeutet die Berufung Israels demütige Hingabe an Gottes Gebote und mithin die schreckliche, kaum zu ertragende Last, die offenbarte und zugleich verborgene Wahrheit durch ihr eigenes Leben beglaubigen zu müssen. Die Berufung Israels bedeutet nicht, ein Volk von Heiligen zu schaffen. Aber vielleicht ist es eine schwierigere Aufgabe und eine größere Verantwortung, die diesem Volk auferlegt ist, sich in den Routinen des Alltags Auge in Auge mit seinen Mitmenschen anständig und tugendhaft zu verhalten. Dies ist der nüchterne Heroismus, ist die Schule der Moral, die dem Judentum ein Maß geben und zu seinem Überleben beitragen. Keine wissenschaftliche, keine historische Deutung wird jemals die unentwegten Renaissancen dieses verfolgtesten unter den Völkern erklären können. Am wenigsten kann die modische ökonomische Interpretation der Geschichte dieses Phänomen zufriedenstellend deuten. Denn ökonomisch mächtige Juden waren häufig die ersten, die sozialem oder politischem Druck nachgaben, sich ihm unterwarfen. Stets war es nur eine kleine Herde, Reiche und Arme, eine Gruppe aus allen Schichten der jüdischen Gemeinschaft, die Verfolgungen auf sich nahmen, Mal für Mal ihre Zelte abbrachen und die unaufhörliche Wanderung durch die Wüste, durch das Labyrinth der Welt fortsetzten. Eine so ganz und gar unbegreifliche Haltung lässt sich nicht ökonomischen Motiven zurechnen. Es zeigt allein, dass diese Juden willens sind, für das zukünftige Wohl der Menschheit und Israels Leiden auf sich zu nehmen. Passio Hebraica ist die innerste Bedeutung der Berufung Israels. Dies sind die fünf Säulen des Judentums: Der Eine Gott, der Unsagbare und doch Begreifliche, erkennbar dem einzelnen Bewusstsein und der Menschheit im Ganzen verborgen; der Messias und Erlöser, in dessen Kommen Hoffnung und Sehnsüchte der Menschheit ankern; der Mensch, der als Ebenbild Gottes die Einheit von Immanenz und Transzendenz verwirklicht; der Mensch, der im sozial-moralischen Alltagshandeln die Forderungen Gottes lebt; Israels Berufung als Passio Hebraica. Mit ziemlicher Sicherheit werden professionelle Theologen viele der Ausführungen Rabbi Steinbergs aus historischen oder philologischen Gründen für
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unzulässig befinden. In methodologischer Hinsicht werden sie die Gültigkeit der Verknüpfung von theologischen, philosophischen, poetischen und mystischen Ideen auf derselben Ebene in Frage stellen. Ich unterschätze die Ernsthaftigkeit dieser Zweifel nicht. Gleichwohl bin ich tief berührt vom schöpferischen, revitalisierenden Eindruck, den Steinbergs scharfsinnige Konstruktion hinterlässt, eine Konstruktion, die man ,Natürliches Judentum’ nennen kann. ,Natürliches Judentum’ bezeichnet den Versuch, die jüdische Religion als ,naturhaft’ zu begreifen. Die Natur ist zugleich verstehbar und unverständlich. Steinbergs Interpretation zufolge gewährt das Judentum ein wahrhaftes Wissen um die Paradoxien, die das Leben konstituieren: das Paradox von Gott als verborgen und klar, Vorsehung und undurchsichtig zugleich; das Paradox des Menschen, der Elend und Größe in sich vereint; das Paradox Israels, das gesegnet ist und zugleich leidet. Tatsächlich scheinen diese Paradoxien auch nach rein philosophischen Maßstäben Gültigkeit zu besitzen. Wussten nicht bereits die griechischen Philosophen um Antagonismen dieser Art? Sie wussten um einige Aspekte der prekären Lage des Menschen. Sie wussten nichts vom Gott der Offenbarung, nichts über Natur als Schöpfung. Aus diesem Grund kann natürliches Judentum nicht dasselbe bedeuten wie das rationale System der natürlichen Religion, gegründet auf der Idee eines göttlichen Wesens, das als kluger Ingenieur, als Architekt des Universums wirkt. Natürliches Judentum ist nicht natürliche Religion im Sinne des 18. Jahrhunderts. Vielmehr bedeutet es die Wiederentdeckung der alten Wahrheit, dass die menschentypische Form moralischen und philosophischen Argumentierens sich in Akten der Kontemplation und der Hingabe selbst transzendiert. Im Zuge dieser Selbsttranszendierung kommen Menschen mit einem allumfassenden Referenzrahmen in Berührung, der, obgleich nicht begreiflich, menschlicher Erfahrung und sinnhafter Deutung zugänglich ist. Steinbergs Hypothese entspricht Goethes Haltung, das Erkennbare zu erforschen und das Nichterkennbare ruhig zu verehren.n Steinberg ist durchweg bemüht, Philosophie und Überlieferung in Einklang zu bringen, ohne das eine auf das andere zu reduzieren. Philosophie und Überlieferung sind ineinanderwirkende Aspekte eines größeren Ganzen, das Menschen gedanklich nicht zu erfassen vermögen, das sie jedoch – so eigenartig sind die Menschen – zu erleben und als Bedeutsamkeit zu verstehen vermögen. Natürliches Judentum bezeichnet den ebenso bescheidenen wie gewagten Versuch, die Grundgedanken der jüdischen Religion als im Kontext des n
Johann Wolfgang Goethe, „Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen“. In: Johann Wolfgang Goethe, Goethes naturwissenschaftliche Schriften. Allgemeine Naturlehre erster Teil. Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 2, Bd. 11. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Hermann Böhlau 1893, S. 103163, hier S. 159.
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Ganzen verständlich und sinnvoll darzulegen, verständlich einer naturgemäß hebräischen Seele in Form menschlichen Erlebens. Der jüdische Referenzrahmen eignet sich für eine solche Versöhnung von Philosophie und Überlieferung besser als die Lehren des Christentums. Gleichwohl haben Humanismus und Romantik Steinbergs Unternehmung die Richtung gewiesen. Bereits Erasmus versuchte, die klassische Morallehre und die Ethik des Evangeliums, die er beide dem gleichen Gesichtskreis zuschrieb, in einem natürlichen Christentum miteinander zu versöhnen, umfassend eine Vielfalt von Religionen, die auf unterschiedlichen Wegen allesamt das gleiche Ziel sozialmoralischer Wahrhaftigkeit und Vervollkommnung ansteuern. Vergleichbar versuchte sich in der frühen Romantik Friedrich Schleiermacher daran, das Evangelium mit der Philosophie Spinozas zu versöhnen. Sein Bestreben entspringt einer Besorgnis ähnlich der, die Rabbi Steinberg veranlasst hat, das Buch zu schreiben, welches Gegenstand meiner Betrachtungen ist. Steinbergs Buch kann nicht als Werk der Wissenschaft diskutiert werden. In erster Linie ist es eine praxisorientierte Abhandlung, in der es um religiöse Erziehung geht. Seinem Wesen nach ist Steinbergs Buch autobiographisch. Es enthält ebenso Subjektives wie Objektives. Subjektiv ist das Buch, insofern es dem aufmerksamen Leser implizit Einblick in das persönliche Erleben seines Verfassers gewährt. Objektiv ist es, weil dieses persönliche Erleben von allgemeiner Bedeutung und symbolischem Wert für die Szenerie der Gegenwart ist. Steinbergs persönliches Erleben ist von religiöser Art und charakteristisch für das Los des religiösen Menschen unserer Zeit. Es spielt auf zwei Bühnen. Erstens ist es Hingabe an Gott – in theologischen Begriffen: ein Opfer. Steinberg, ein geborener Gelehrter, leidenschaftlich der Suche nach Wahrheit zugetan, opfert diese Neigung, verzichtet auf Muße und Kontemplation zugunsten eines Lebens der Praxis als Lehrer und Erzieher. Er praktiziert, was er als die Wahrheit des Ganzen ausgemacht hat und bekräftigt das Wissen um Unsagbarkeit und doch Begreiflichkeit Gottes mit seinem eigenen Leben, als Wegweiser, Beispiel und Vorbild. Dieser freiwillige Verzicht auf Muße und Kontemplation ist eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Wer nach Weisheit strebt, fühlt sich beklommen und unsicher in einer intellektuellen Welt, in der man mehr und mehr über weniger und weniger weiß. Rabbi Steinberg ist sich wohl bewusst, dass Wissen, das keinen Beitrag zum Wachstum und zur Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit zu leisten vermag, eitel und steril ist. Mit dieser Haltung weist er denen die Richtung, die mit der Wahrheit des Ganzen befasst sind. Einige Jahrzehnte lang glaubten diese Schüler der Weisheit, sich dem humanistischen Abenteuer anschließen zu müssen, dem Streben nach Rückkehr zu den Wurzeln, zu den Quellen des Daseins. Es ist eine traurige Wahrheit, dass in unserer Zeit nur wenige Rabbiner, nur wenige Geistliche ein offenes Ohr für die
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Bedürfnisse und Sehnsüchte derer haben, die verzweifelt nach schlichter Wahrheit suchen, nüchtern wie Brot und Wasser. Milton Steinberg ist das Beispiel eines Theologen, der sich den grundlegenden Wahrheiten des Judentums verschrieben hat, um es zu erneuern. Dabei bleibt er ein Schüler der Weisheit. Als Gelehrter ist er sich der raffinierten und delikaten Fragen bewusst, die Philosophen und Philologen umtreiben. Aber er hat den Mut, den Menschen zu sagen, dass die großen Wahrheiten über den Zusammenhang des Ganzen und die Stellung des Menschen unter den Gewittern Gottes schlicht und klar sind. Für ihn sind Wahrheit und lebendiger Geist des Judentums in gesellschaftlichen Beziehungen auf Gegenseitigkeit enthalten. Wie die großen Lehrer unserer Geschichte offenbart Steinberg die wesensmäßige Einfachheit unserer Grundwahrheiten. Jude zu sein ist Segen und Passion, Elend und Größe zugleich. Ausgeliefert den Auswirkungen unserer Endlichkeit, unseren Fehlern, vermögen wir sie doch im Wissen um Gott, der schöpferische Weisheit und liebende Güte ist, zu beherrschen und zu transzendieren. Für Rabbi Steinberg ist ein Rabbiner vor allem ein Lehrer. Er hat keine ekklesiastische Berufung.o Historisch gesehen hat er damit Recht. Er hat nicht Recht bezogen auf seine eigene Person. Er ist gewiss ein Berufener, denn er machte sich auf den Weg, den lebendigen Gott zu suchen. Ihm wurde Segen zuteil, denn er ließ sich nicht entmutigen, er nahm Wunden hin, die wieder und wieder aufbrechen, und er besiegelt das fortdauernde Ineinanderwirken von lebendigem Geist und Strom der Überlieferung. Dieses Erleben verleiht seiner Sprache eine einzigartig zarte Klarheit und Liebenswürdigkeit. Der Leser möchte meinen, dass seine Worte von dem nüchternen Enthusiasmus eines Menschen erhellt sind, der jene Wahrheit gefunden hat, die von Zeit zu Zeit durch einen Funken des Geistes kenntlich gemacht wird, der im Dornbusch auf dem Berg Sinai entflammte.
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Steinberg, Basic Judaism, S. 154-155.
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Epiktets kleines Werk Encheiridion – oder auch ‚Handbüchlein’ genannt – spielte eine ungemein große Rolle bei der Entstehung moderner Geisteshaltungen und der modernen Philosophie. Sobald es in die Landessprachen übersetzt worden war, wurde es zu einem Beststeller unter den unabhängigen Intellektuellen, den antichristlichen Denkern und den Vertretern der Subjektphilosophie. Montaigne hatte eine Ausgabe des Encheiridions in seiner Bibliothek. Pascal lehnte den größenwahnsinnigen Stolz der stoischen Philosophen vehement ab. Friedrich der Große trug das Buch bei all seinen Feldzügen bei sich. Für Anthony, den Earl of Shaftesbury, war es eine Quelle der Inspiration und der Ermutigung während der Zeit schwerer Krankheit, die mit seinem Tod ein Ende nahm. Auf vielen Seiten seiner Tagebücher finden sich Passagen, die aus dem Encheiridion abgeschrieben wurden.a Das Werk wurde von schottischen Philosophen wie Francis Hutcheson,b Adam Smithc und Adam Fergusond studiert und häufig zitiert; sie schätzen die stoische Moralphilosophie sehr, weil sie soziale Abhängigkeit und persönliche Unabhängigkeit miteinander in Einklang brachte. Es war kein Zufall, dass es in den Jahrhunderten der Renaissance, die das Aufkommen des modernen Zeitalters markierten, zu einem Wiederaufleben des Stoizismus kam. Vielmehr wurde es durch das Zusammenspiel philosophischer, moralischer und gesellschaftlicher Zustände der Zeit hervorgerufen. Der römische Stoizismus hatte sich in Zeiten der Despotie als eine Philosophie einsamer und mutiger Seelen entwickelt, welche die erlösende Kraft der philosophischen Vernunft in allen moralischen und gesellschaftlichen Zielen des Lebens erkannt Ü
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Albert Salomon, „Introduction“. In: Epictetus, The Enchiridion. Übersetzt von Thomas W. Higginson. New York: The Liberal Arts Press 1948, S. 7-12. Wieder abgedruckt als „Stoicism as a Way to Freedom. The Enchiridion of Epictetus“. In: Albert Salomon, In Praise of Enlightenment. Cleveland, New York: Meridian Books 1963, S. 16-20. Übersetzt von Karin Ikas. Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury, The Life, Unpublished Letters and Philosophical Regimen of Anthony Earl of Shaftesbury, Author of the ‚Characteristics’. Herausgegeben von Benjamin Rand. London: S. Sonnenschein & Co. 1900. Francis Hutcheson, A Short Introduction to Moral Philosophy. In three parts. Containing the Elements of Ethicks, and the Law of Nature. Dublin: McKenzie 1787. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle oder Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen, 2 Bde. Herausgegeben und eingeleitet von Walther Eckstein. Leipzig: Meiner 1926. Adam Ferguson, Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt von Christian Garve. Leipzig: Dyck 1772.
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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hatten. Die Philosophie als Lebensform machte den Menschen frei. Sie war der letzte verzweifelte Rückzugsort der Freiheit in einer Welt der Knechtschaft. Viele Elemente der Neuzeit führten zu einem Denken, das strukturelle Ähnlichkeiten mit dem römischen Stoizismus aufwies. Das moderne Zeitalter hatte den unabhängigen Denker erschaffen, den freien Intellektuellen in einer säkularen Zivilisation. Es hatte mittelalterliche Freiheiten zerstört und einen neuen Despotismus des absoluten Staates errichtet, der durch die kirchliche Autorität gestützt wurde. Die modernen Philosophien setzten die grundlegende Richtung des Stoizismus fort, indem sie das subjektive Bewusstsein zum Fundament ihrer Philosophie machten. In dieser Zeit rasanten Wandels, in der bislang unhinterfragte Werte neu diskutiert wurden, war auch die stoische Betonung moralischer Probleme reizvoll. Es ist schon interessant, die vielfältigen Auswirkungen dieses kleinen Büchleins, dieses Inbegriffs des stoischen Systems der Moralphilosophie, zu beobachten. Viel bemerkenswerter erscheinen sie uns aber noch, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass dieses Werk gar nicht darauf abzielte, ein für alle Studenten verfasstes Lehrbuch des Stoizismus zu sein. Es sollte vielmehr ein Leitfaden für fortgeschrittene Studenten des Stoizismus sein, um ihnen die besten Wege aufzuzeigen, ein wahrer Philosoph zu werden. Hierdurch haben Epiktet und sein Encheiridion eine einzigartige Position im römischen Stoizismus inne. Seneca und Marcus Aurelius sahen die stoische Philosophie als das angebrachteste System an, um ihre existenziellen Probleme der Unabhängigkeit, der Einsamkeit und der Geschichte auszudrücken.e Im Zuge dieses Vorhabens brachte Seneca mit seinen Einsichten die Sozialpsychologie entschieden voran, die als Nebenprodukt aus seinem Bewusstsein der Dekadenz (in dieser Hinsicht war er Nietzsche sehr ähnlich) entstand. Er war allerdings nicht vorrangig an der Einheit des stoischen Systems interessiert. Marcus Aurelius wiederum verwandelte den Stoizismus in das Regime des einsamen Herrschers. Im Gegensatz zu beiden unterrichte Epiktet die stoische Philosophie als Doktrin und Lebensform, weswegen das Encheiridion eine Zusammenfassung des theoretischen und angewandten Stoizismus’ ist. Epiktet war der Sohn einer Sklavin und wurde zwischen 50 und 60 n. Chr. in Hierapolis in Phrygien geboren. Wie er nach Rom gelangte, wissen wir nicht. Er war dort Sklave eines angesehenen Freigelassenen Neros, der als Sekretär des Kaisers fungierte. Noch in seiner Zeit als Sklave ließ sich Epiktet von Musonius Rufus unterweisen, einem angesehenen stoischen Philosophen. Dieser war von e
Lucius Annaeus Seneca, Vom glückseligen Leben. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Stuttgart: Kröner 1953; Marcus Aurelius Antoninus, Selbstbetrachtungen. Übertragen und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Zehnte Auflage. Stuttgart: Kröner 1963.
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der aufrichtigen und dynamischen Persönlichkeit des jungen Sklaven beeindruckt und bildete ihn aus. Epiktet wurde schließlich ein freier Mann und begann, an Straßenecken und auf dem Markt Philosophie zu unterrichten – allerdings nicht besonders erfolgreich. Während der Herrschaft Domitians wurde Epiktet (vermutlich zwischen 89 und 92 n. Chr.) ebenso wie viele andere Philosophen aus Rom ins Exil vertrieben. Er ging über Actium in Epirus nach Nikopolis, wo er seine eigene Schule gründete. Er wurde so sehr geschätzt und hoch angesehen, dass Nikopolis bald als Stadt der Schule des Epiktet bekannt wurde. Die Studenten kamen aus Athen und Rom, um seinen Unterricht zu besuchen. Bürger fragten ihn um Rat und erbaten seine Führung. Einige seiner Studenten kehrten nach Hause zurück, um jene traditionellen Laufbahnen einzuschlagen, zu denen sie gesellschaftlich verpflichtet waren. Andere entschieden sich für die philosophische Lebensweise, um so in die Sphäre stoischer Freiheit zu entfliehen. Unter seinen Studenten war auch ein junger Römer namens Flavius Arrian, der die Schule in Nikopolis besuchte, als Epiktet bereits alt war. Der um 108 n. Chr. geborene Flavius war einer der Vertrauten Hadrians, der ihn um 130 n. Chr. zum Konsul machte. Vermutlich studierte er zwischen 123 und 126 bei Epiktet und zeigte sich dabei fasziniert von den zwanglosen philosophischen Gesprächen, die dieser mit seinen Studenten führte. Selbstredend gab es auch systematische Unterweisungen in den verschiedenen Bereichen der Philosophie. Allerdings waren es die zwanglosen Diskurse, die Arrian überzeugten, letztendlich einen stoischen Sokrates oder einen stoischen Diogenes gefunden zu haben: jemanden, der eine Doktrin nicht nur lehrte, sondern diese Wahrheit auch lebte. Arrian zeichnete zahlreiche dieser Vorträge und zwanglosen Gespräche zwischen Epiktet und den Studenten auf, die ihm nahe waren. Er notierte sie sich, um ihnen die unsagbare Lebendigkeit, Grazie und Scharfsinnigkeit seines geliebten Lehrers zu bewahren. Als sich Arrian nach dem Tod von Hadrian im Jahr 138 ins Privatleben zurückzog, wandte er sich seinem literarischen Werk zu. Er veröffentlichte seine Aufzeichnungen der Lehre Epiktekts unter dem Titel Diatriben (Unterredungen).f Das ebenfalls von Arrian geschriebene Encheiridiong fasst die grundlegenden Ideen der stoischen Philosophie kurz zusammen und gibt eine Einführung in die Techniken, derer es bedarf, um die stoischen Philosophie als Lebensform umzusetzen. f
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Epiktet, „Diatriben“. In: Epiktet, Teles und Musonius, Wege zu glückseligem Leben. Die Bibliothek der alten Welt, Bd. 3. Herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Zürich: Artemis 1948, S. 55-206. Epiktet, „Handbüchlein der Moral“. In: Epiktet, Teles und Musonius, Wege zu glückseligem Leben. Die Bibliothek der alten Welt, Bd. 3. Herausgegeben und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Zürich: Artemis 1948, S. 27-53.
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Wir haben also keine Originalschriften von Epiktet. Wie in jüngster Zeit George Herbert Mead, widmete auch er sich völlig den menschlichen und intellektuellen Problemen seiner Studenten. Ihnen war es überlassen, das aufzubewahren, was sie als die dauerhafte Botschaft des Lehrers erachteten.h Im Gegensatz zu Seneca und Marcus Aurelius hatte Epiktet keine subjektive Herangehensweise an die stoischen Lehrmeinungen. Die Moralphilosophie stand im Zentrum seiner Lehren, während die Epistemologie nur Mittel zum Zweck war. Es ist sogar angebracht zu behaupten, dass er mit der Physik oder Kosmologie zu leichtfertig umging. Wenn dies zutrifft, dann müssen wir eingestehen, dass er vollständig von den Grundlagen des stoischen Denkens gefesselt war, wie sie im Encheiridion dargelegt sind. Epiktets Persönlichkeit erschöpfte sich im Akt des Denkens, der die Anpassung an die Natur ermöglicht. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Diatriben und dem Encheiridion sollte beachtet werden. Die Diatriben sind ein lebendes Bildnis des tätigen Lehrers; sie stellen den Prozess des Philosophierens dar und nicht das fertige Produkt. Sie zeigen den enthusiastischen und nüchternen, den realistischen und pathetischen Moralisten in ständig wechselnden Perspektiven. Bestimmt werden sie durch die sich wandelnden Anliegen, Probleme und Fragen seiner verschiedenen Studenten. Seine Lehrmeinungen, seine Formulierungen haben einen direkten Bezug zu den verschiedenen Lebenssituationen, in denen seine Studenten die stoischen Lehren ihres Meisters anwenden und umsetzen sollten. Da die Philosophie als Verhaltensleitfaden für jede Situation des menschlichen Lebens von Bedeutung ist, bleibt keine außen vor. Ob die Studenten nun ein Gastmahl zu besuchen haben, ob sie an einem Wettbewerb in einem Stadion oder Schwimmbad teilnehmen, ob sie vor Gericht oder auf einem Amt aussagen müssen, ob sie in Begleitung ihrer Mütter und Schwestern oder ihrer Freundinnen sind, für alle menschlichen Situationen kann der Philosoph dem philosophischen Schüler einen passenden Ratschlag geben. In den Diatriben zeigt Arrian deshalb die einzigartige Individualität des Philosophen und seine moralische Methode im lebendigen Umgang mit seinen Studenten in ihren konkreten Situationen. Mit seinem Blick für die Strukturen der einzelnen Situationen und den sich ändernden Perspektiven in menschlichen Beziehungen griff Epiktet modernen Erziehungsmethoden vor. Im Encheiridion ist nichts derartiges zu finden. Verschwunden ist der stoische Philosoph als lebendiger Geist, was zurückbleibt ist der lebendige Geist des Stoizismus. Das Encheiridion ist ein Handbuch für den Gefechtsoffizier. Diese Analogie sollte ernst genommen werden. Die römischen Stoiker schufen die h
George Herbert Mead, The Philosophy of the Present. Chicago: Open Court 1932; George Herbert Mead, Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago: University of Chicago Press 1934.
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Formel: Vivere militare! (Leben heißt ein Soldat zu sein). Der Student der Philosophie ist ein Gefreiter, der fortgeschrittene Stoiker ein Unteroffizier und der Philosoph ein Gefechtsoffizier. Aus diesem Grunde wenden alle römischen Stoiker militärische Metaphern und Bilder an. Studenten in der Ausbildung zum Stoizismus werden als Botschafter beschrieben, als Kundschafter Gottes, als Repräsentanten der göttlichen Natur. Der fortgeschrittene Student, der kurz davor ist, ein Philosoph zu sein, hat den Rang eines Offiziers inne. Er ist bereits in der Lage, innere Freiheit und Unabhängigkeit aufzubauen. Er versteht die grundlegende stoische Wahrheit vom subjektiven Bewusstsein, welche darauf abzielt, zwischen dem in unserer Macht stehenden und dem nicht in unserer Macht stehenden, zu unterscheiden. Alle Elemente, die unsere Umgebung konstituieren, wie Reichtum, Gesundheit, Reputation, gesellschaftliches Prestige, Macht, das Leben unserer Lieben sowie der Tod, liegen nicht in unserer Macht. Während unser Denken, unsere Intentionen, unsere Wünsche, unsere Entscheidungen alle in unserer Macht liegen.i Dies ermöglicht es uns, uns selbst zu kontrollieren und uns zu Elementen und Teilen des Naturuniversums zu machen. In einer Welt der Abhängigkeiten macht uns diese Erkenntnis unserer selbst frei. Diese Vorherrschaft unserer Macht befähigt uns, im Einklang mit der Natur zu leben. Die vernunftgesteuerte Philosophie der Selbstkontrolle und der Anpassung an das Ganze beinhaltet eine Askese des Gefühlslebens. Der Philosoph muss seine Leidenschaften, seine Liebe und seine Zärtlichkeit zu allen Zeiten überprüfen und kontrollieren, um für den unvermeidlichen Abschiedsmoment bereit zu sein. Die Stoiker pflegten einen Jesuitismus avant la lettre. Sie waren in der Lage, so in der Welt zu leben, als ob sie nicht in ihr lebten. Für die Stoiker war das Leben ein Militärlager, ein Theaterstück auf der Bühne, ein Bankett, zu dem wir eingeladen sind. Das Encheiridion verweist kurz auf die Techniken, die der Philosoph anwenden sollte, um die Rollen gut auszuüben, die Gott denen, die er liebte – den Stoischen Philosophen –, zugewiesen haben könnte. Von gesellschaftlichen Verhaltensregeln bis hin zu Empfehlungen für sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe und der Methode wahren Denkens wird der fortgeschrittene Stoiker in diesem dünnen Bändchen alle Prinzipien der Vervollkommnung finden, sowie alle Richtlinien, um die philosophischen Prinzipien durch sein Verhalten umzusetzen. Deshalb erwies sich das Encheiridion für alle Intellektuellen als befreiend, die durch dieses Werk die philosophischen Arten der Selbsterlösung kennen lernten. Der säkulare Denker konnte sich glücklich schätzen, da er nun keiner göttlichen Gnade mehr bedurfte. Epiktet hatte ihm gezeigt, dass ihn eine philo-
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Epiktet, „Handbüchlein der Moral“, S. 27.
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sophische Vernunft frei machen und dass er sich selbst durch vernünftiges Denken erlösen konnte. In den stoischen Unterscheidungen zwischen der Persönlichkeit und der Welt, dem Ich und dem, was ihm gehört, dem subjektivem Bewusstsein und der Welt der Objekte, der Freiheit und der Abhängigkeit, finden wir implizit die grundlegenden Elemente der modernen Philosophien des Rationalismus und objektiven Idealismus oder Pantheismus. Aus diesem Grund gibt es ein unaufhörliches Wiederaufleben des Stoizismus, angefangen von Descartes, Grotius und Bischof Butler bis hin zu Montesquieu, Adam Smith und Kant. Im Verlauf dieser langen Entwicklung der Moderne spielte Epiktets kleines Encheiridion eine bemerkenswerte Rolle. Die Übersetzungen von Epiktet und allen anderen Stoikern hatten die weitreichendste Auswirkung auf Philosophen, Theologen und Laiengelehrte. Sie wurden von den Geistlichen diverser christlicher Konfessionen studiert, von Wissenschaftlern, die für eine natürliche Religion kämpften, sowie von unabhängigen Philosophen, die darauf erpicht waren, die Philosophie von der Theologie zu trennen. In der Katholischen und Anglikanischen Kirche gab es viele herausragende Bischöfe, die eifrig versuchten, die Traditionen des römischen in einen christlichen Stoizismus umzuwandeln. Unter den Anhängern der calvinistischen Glaubensauffassungen waren viele Gelehrte, die mit den stoischen Moralprinzipien angesichts ihres Lobes für die Askese im Leben und die Kontrolle der Leidenschaften sympathisierten. In ähnlicher Weise propagierten auch die Anhänger der natürlichen Religion den Stoizismus als das ideale Modell einer universell gültigen und wahrnehmbaren Religion. Der wieder erwachte Stoizismus hatte drei Funktion beim Aufkommen der modernen Welt inne: erstens versöhnte er die christlichen Traditionen mit den rationalistischen Philosophien; zweitens errichtete er ein ideales Modell einer Naturreligion; und drittens bereitete er den Weg für die Autonomie der Sittenlehre.
Personenregister
Adams, Brooks ……………105, 145 Adams, Henry ……………..105, 145 Agricola, Gnaeus Julius.………...186 Aischylos ……………………….173 Althusius, Johannes …………….235 Andler, Charles …………............144 Aretino, Pietro ………….............159 Aristoteles …………..45, 70, 78, 159 Arrian, Flavius ………………… 265 Attila ……………………………..33 Augustinus von Hippo….......61, 205, 243, 271 Ayling, Keith …………………….26 Bacon, Francis ………………….182 Bakunin, Michail ……. 195, 205-208 Barrès, Maurice ………............49-50 Barth, Karl ………………….......163 Baudelaire, Charles ………..207-208 Baumann, Hans …………………. 45 Bebel, August ……………...204-205 Becker, Howard ………………...128 Beethoven, Ludwig van ………...140 Bénet, Stephen V. …………........214 Bergson, Henri.…......49, 54, 61, 134, 137, 166 Bismarck, Otto von ………..…31, 64 Blum, Léon ………………........…18 Boas, Franz ……………………..114 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de ……….. ……………...194, 204 Borgia, Cesare ………….... 45, 164 Bradley, Phillips …………............89 Bryson, Gladys …………………..70 Buchan, John …………………….17
Burckhardt, Jacob………….... 20-21, 46, 105-107, 126, 137-190, 269, 270, 275 Burdach, Konrad ………………. 275 Burke, Edmund ……..27-28, 89, 238 Butler, Samuel Bischof .………...268 Caesar, Gaius Julius……………... 44 Calvin, Johannes ….…………….239 Catilina …………………………..45 Cicero, Marcus Tullius...98, 241, 247 Clark, Fred …………………….. 221 Clausewitz, Carl von …………….28 Comte, Auguste …………...103, 120, 123-124, 139, 193-197, 201-203, 210, 212, 217-218, 224, 228 Condorcet (Marie J. A. N. de Caritat) …………………..139, 194, 204 Cortès, J. Donoso ………….……208 Croce, Benedetto ……………….145 Cromwell, Oliver ……………….138 Dante (Dante Alighieri ) ……. 32, 61 Descartes, René …………….54, 268 Dewey, John ……………………..42 Dilthey, Wilhelm ….…107-111, 145, 151-152, 240 Domitian …………………..183, 267 Donne, John ………………...61, 142 Dostojewskij, Fjodor M ……....32-33 Dreyfus, Alfred .............53-54, 57-58 Durkheim, Emile .........................217 Enfantin, Barthélemy P. ...............196
P. Gostmann, C. Härpfer (Hrsg.), Albert Salomon Werke, DOI 10.1007/978-3-531-92596-7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
282 Engels, Friedrich .........................122, 125, 139, 205, ,219-220 Epiktet ..................................263-268 Erasmus von Rotterdam.…......37-38, 44, 50, 55, 100, 227, 238-239, 249, 260 Ernesti, Johann A. ……………... 239 Euripides ………………………..173 Feltre, Vittorino da ………..159, 188 Ferguson, Adam ……………......263 Figgis, John N. ………………… 162 Finley, John H. …………………190 Fontenelle Bernard le Bovier de...225 Freyer, Hans ........................110, 111 Fried, Hans E .................................24 Friedrich II. (König von Preußen) ..... ...................... 31, 41, 64-65, 263 Friedrich Wilhelm I (König von Preußen) ........................................41 Fueter, Eduard .............................145 Giddings, Franklin H. ....................70 Gierke, Otto von ..........................240 Gobineau, Arthur de ………….95-96 Goethe Johann W. von...…..137, 140, 147-148, 150-151, 173-174, 213, 231, 233, 260, 278 Gonzague, Louis de ……………...59 Gouhier, Henri ………………….196 Grayson, Robert E. ……………..145 Greene, Joseph I. ………………...63 Grotius, Hugo ………71-73, 97-102, 233-251, 268 Gumplowicz, Ludwig …………..123 Gurian, Waldemar ……………...137 Guynemer, Georges ……………...25 Habe, Hans ………………………18 Hadrian, Publius Aurelius ……...265
Personenregister
Hardenberg, Karl A. von .……30, 41 Hartmann .....................................164 Hegel, Georg W. F......34, 42-43, 104107, 110-111, 123, 129, 139, 140, 154, 163-164, 188, 205, 219-220, 234-235, 271-275, 278 Heidegger, Martin ....................... 178 Heimann, Eduard ........................ 124 Herbert von Cherbury ..................239 Hintze, Otto .............................18, 31 Hiob ...............................................61 Hitler, Adolf ..........17, 25-27, 43-46, 66, 221 Hobbes, Thomas ......30, 99, 113, 234 Hofmannsthal, Hugo von ............ 213 Hölderlin, Friedrich .................52, 56 Holl, Karl .....................................278 Homer ............................................55 Huizinga, Johann ……………….269 Hume, David …………………74-75 Husserl, Edmund...112, 130, 133-134 Hutcheson, Francis ……………..263 Huxley, Aldous …………………209 James, William…………...… 43, 60, 109, 134, 137, 151, 279 Jaurès, Jean ………………………54 Jay, John ………………………..248 Jeanne d’Arc …………………49, 55 Jefferson, Thomas ……………... 187 Jesus von Nazareth…....140-141, 271 Juvenalis, Decimus Julius…........ 204 Kant, Immanuel ………………...268 Kapp, Wolfgang ............................45 Karl II. ...........................................80 Kierkegaard, Søren ............ 140, 142, 257, 271-272, 278 Kinkel, Gottfried ......................... 143
Personenregister
Knapp, Georg F. ...................125-126 Knapp, Ernst ................................190 Knopf, Alfred A. ........................... 89 Lagarde, George de .....................162 Laurie, Harris ................................ 70 Lazare, Bernard .......................58, 60 Lederer, Emil .......................122, 220 Leibniz, Gottfried W. ..................241 Leske, Gottfried ....................... 25-26 Levi, Nino ………………………211 Litt, Theodor ……………….…...134 Lorrain, Claude ………………... 173 Lovejoy, Arthur O.……………….42 Löwe, Adolph ……………………70 Löwith, Karl ………………140, 144 Ludendorff, Erich ………………..28 Lukács, Georg …..123, 218-220, 273 Lukrez (Titus Lucretius Carus) ....183 Luther, Martin …….43-44, 122, 162, 239-240 Lyautey, Hubert…………………..40 Machiavelli, Niccolo 19, 98-99, 153, 162, 238, 240 MacIver, Robert ……………….. 121 Maistre, Joseph M. de …………. 194 Mann, Thomas ...............................31 Mannheim, Karl ...........123, 214-232 Marcus Aelius Aurelius Verus……... …………………..241, 264, 266 Maritain, Jacques ………………...49 Marx, Karl..34, 43, 51, 104-105, 111112, 115-117, 120, 122-125, 129, 139-141, 195-197, 204-205, 207, 219-221, 228, 230, 271-273, 278 Mazarin, Jules ............................... 97 McCosh, James …………………. 70 McGovern, William M. .................44 Mead, George H. …….109, 134, 266 Meja, Volker ................................225
283 Menasseh ben Israel .....................101 Michelangelo ………………172-173 Mill, John Stuart ………………..108 Milton, John …………...61, 233-234 Mohammed (Prophet) …………..269 Montaigne, Michel E. de …….....263 Montesquieu Carles de..234, 268-270 Moritz von Oranien .....................237 Morrow, Glenn R........................... 70 Mounier, Emmanuel ……………..49 Muret, Charlotte …………………34 Mussolini, Benito …………..45, 211 Napoléon I. Bonaparte ….. 45-46, 64 Napoleon III (Charles-Louis Napoléon Bonaparte).……....89, 157, 206-204 Nerva, Marcus Cocceius………...185 Nietzsche, Friedrich…. ……….... 43, 141-142, 144, 264 Novalis (Friedrich von Hardenburg)... ………………..…………....193 Olivi, Petrus Johannes ………….274 Oppenheimer, Franz …123-124, 221, 250 Overbeck, Franz ………………...163 Papini, Giovanni …………………43 Pascal, Blaise ……..75, 79, 106, 247, 257, 263 Péguy, Charles ………………. 49-62 Pekelis, Alexander H. …….. 211-216 Pico della Mirandola, Giovanni …87, 180 Platon …………………………….54 Powell, Clifford R. …….…….34, 35 Proudhon, Pierre J. ……......123-124, 195, 197, 205-207 Pufendorf, Samuel von .…...234, 241
284 Raffael da Urbino…….…….170-173 Ranke, Leopold von….…....142, 154, 164, 188 Rauschning, Hermann…….……...25 Reimarus, Hermann S. …..…….. 271 Richelieu, Armand ………… 97, 238 Rilke, Rainer Maria …………….182 Robbia, Luca della ……………...174 Rosinski, Herbert ………………...63 Rougemont, Denis de ……………36 Rubens ………………..170-171, 173 Rufus, Musonius ………………. 264 Saint-Simon (Claude-Henri de Rouvroy)..……….103, 193-203, 206, 208, 210 Salin, Edgar …………………….144 Sallust (Gaius Sallustius Crispus)………………………...197 Santayana, Georges ……………...42 Sarto, Andrea del ……………….170 Scheler, Max …………..33, 130-133 Schlegel, Friedrich von……….....193 Schleiermacher, Friedrich ........... 261 Schmalenbach, Herman ...............114 Schmitt, Carl ................................. 29 Schopenhauer, Arthur ..........144, 164 Schüller, Richard ...........................70 Schütz, Alfred ......................133-135 Seneca, Lucius Annaeus…..181, 241, 247-248, 264, 266 Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper)……………... …………266 Shakespeare, William …………..216 Simmel, Georg…...62, 124-129, 141, 222 Small, Albion W. ………………...70 Smith, Adam …69-88, 234, 263, 268 Sokrates ………...140, 159, 178. 265
Personenregister
Solon ………………………. 24, 192 Sombart, Werner ……………..34-35 Sorokin, Pitirim A. ......................114 Spencer, Herbert ……..124, 139, 194 Spinoza, Baruch de...............244, 261 Stehr, Nico .................................. 225 Stein, Lorenz von ........................ 110 Steinberg, Milton ................. 253-262 Strauss, Leo …………………….137 Suarez, André …………………....49 Sylla (Lucius Cornelius Sulla Felix) .……………………………...45 Syme, Ronald……………….20, 190 Tacitus, Publius Cornelius …………...………182-188, 197 Taine, Hippolyte ……….……….108 Taubes, Jacob ………….......269-278 Terenz (Publius Terentius Afer)...233 Thompson, James W. ……...…...145 Thukydides …….……..189-190, 197 Tocqueville, Alexis de……….89-96, 140, 144, 209-210, 238 Turgot, A. Robert J. ……….139, 194 Tönnies, Ferdinand …......... 111-114, 124, 130 Toynbee, Arnold J. ......................182 Trajan (Marcus Ulpius Traianus)...................................... . 185 Troeltsch, Ernst ....121-122, 141, 278 Udet, Ernst .....................................25 Valéry, Paul ..........................269-271 Veblen, Thorstein ..........................42 Vierkandt, Alfred ........................ 133 Voltaire (François Marie Arouet)...28 Wagner, Richard ......................... 144
Personenregister
Wallenstein (Albrecht W. E. von Waldstein).............................. 45 Washington, George.............187, 248 Wavell, Archibald ....................35-36 Weber, Alfred .......................120-121 Weber, Max ................110-111, 115123, 128, 133-134, 141, 164, 192, 220, 242, 271 Westermarck, Edward ...................79 Wiese, Leopold von .....................128 Wilhelm I. (deutscher Kaiser) .......41 Wilhelm II. (deutscher Kaiser).............................. 31-32, 41 Wilson, Logan .............................128
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