Henning Lohmann Armut von Erwerbstätigen in europäischen Wohlfahrtsstaaten
Henning Lohmann
Armut von Erwerbstätigen ...
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Henning Lohmann Armut von Erwerbstätigen in europäischen Wohlfahrtsstaaten
Henning Lohmann
Armut von Erwerbstätigen in europäischen Wohlfahrtsstaaten Niedriglöhne, staatliche Transfers und die Rolle der Familie
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15745-0
Inhalt 1
Einleitung ..............................................................................................11
2
Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich .................... 15 2.1
Armut von Erwerbstätigen: Die aktuelle Diskussion.............................. 15
2.2
Vergleichende Perspektive: Länder und Veränderungen über die Zeit ................................................ 18
2.3
Institutionelle Rahmenbedingungen: Vergleich von Wohlfahrtsstaaten ............................................................... 22
2.4
Ressourcenansatz: Einkommensarmut und Einkommensquellen........ 26
2.5
Armutsdeterminanten: Bedarf, Ressourcen und Restriktionen............. 30
2.6
Ausgangspunkte für die weitere Betrachtung........................................... 33
3
Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen.................... 35 3.1
Dekommodifizierung, Transfers und ökonomische Arbeitsanreize..... 36
3.2
Defamilisierung, intergenerationale und geschlechtsspezifische Abhängigkeiten ............................................................................................. 43
3.3
Lohnverhandlungssysteme, Mindestlöhne und Verteilung von Erwerbseinkommen ..................................................................................... 50
3.4
Wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarktstruktur ........................ 56
3.5
Institutionelle Einflüsse: Unterschiede zwischen Ländern oder Regimes?......................................................................................................... 60
3.6
Länderspezifische Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen.................................................................................... 66
3.7
Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung? .............. 79
3.8
Institutionelle Rahmenbedingungen: Fragestellungen und Hypothesen.................................................................................................... 87
6
Inhalt
4
Messung von Armut von Erwerbstätigen ............................................. 91 4.1
Armutsdefinition und Armutsmessung..................................................... 91
4.2
Armutsmessung im internationalen Vergleich ......................................... 98
4.3
Datenbasis und Grundgesamtheit............................................................ 102
4.4
Messung von Einkommen, Armut und Niedriglohn auf Basis des ECHP .................................................................................................... 103
4.5 5
Armut von Erwerbstätigen ....................................................................... 110 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen.......119
5.1
Armut von Erwerbstätigen im zeitlichen Kontext ................................ 120
5.2
Ausmaß und Struktur der Armut von Erwerbstätigen ......................... 126
5.3
Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen........................ 130
5.4
Armutsreduktion durch staatliche Transfers.......................................... 138
5.5
Armutsreduktion durch weitere Erwerbseinkommen .......................... 146
5.6
Niedriglöhne und Armut ........................................................................... 149
5.7
Teilzeiterwerbstätigkeit, berufliche Selbständigkeit und Armut.......... 157
5.8
Entwicklung der Armut von Erwerbstätigen ......................................... 163
5.9
Zusammenfassung und Ausblick auf weitere Analysen ....................... 175
6
Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive ...........177 6.1
Einflüsse auf Mikro- und Makroebene ................................................... 178
6.2
Modellschätzung ......................................................................................... 179
6.3
Operationalisierung und erwartete Einflüsse ......................................... 186
6.4
‚Cross-level’-Interaktionen und Kompositionseffekte.......................... 193
6.5
Ergebnisse: Individuelle, haushaltsbezogene und länderspezifische Determinanten des Armutsrisikos ........................................................... 196
6.6 7
Diskussion der Ergebnisse ........................................................................ 215 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke .......219
7.1
Eine Frage der Perspektive?...................................................................... 219
7.2
Armut von Erwerbstätigen nach 2001 .................................................... 221
Inhalt
7
7.3
‚Aktivierung’ von Wohlfahrtsstaaten ....................................................... 225
7.4
Sanktionen, Zumutbarkeitsregeln und Aktivierungsmaßnahmen....... 227
7.5
Konsequenzen der Aktivierungstendenzen............................................ 237
8
Zusammenfassung und Diskussion ....................................................241 8.1
Zentrale Ergebnisse.................................................................................... 242
8.2
Schlussfolgerungen..................................................................................... 247
8.3
Offene Forschungsfragen und abschließende Bemerkungen.............. 249
Literatur ....................................................................................................... 253 Anhang A: Indikatoren und Datenquellen .................................................. 268 Anhang B: Zusätzliche Tabellen und Abbildungen .................................... 272
8
Inhalt
Tabellenverzeichnis Tabelle 2.1: Armutsdeterminanten: Ergebnisse früherer Studien............................ 31 Tabelle 3.1: Angenommene Zusammenhänge ........................................................... 61 Tabelle 3.2: Ländervergleich Dekommodifizierung................................................... 67 Tabelle 3.3: Komponenten des britischen WFTC ..................................................... 72 Tabelle 3.4: Ländervergleich Defamilisierung............................................................. 75 Tabelle 3.5: Ländervergleich Arbeitsmarktinstitutionen ........................................... 78 Tabelle 3.6: Entwicklung Dekommodifizierung (1990-2002) .................................. 80 Tabelle 3.7: Veränderung Erwerbstätigenquote von Frauen und Männern 2001 gegenüber 1990.......................................................................................... 83 Tabelle 3.8: Entwicklung Arbeitsmarktinstitutionen (1990-2001/2003)................ 86 Tabelle 4.1: Armutsquote nach Einkommensindikatoren ...................................... 107 Tabelle 5.1: Armutsquote von Erwerbstätigen und Anteil von Erwerbstätigen an allen Armen ......................................................................................... 127 Tabelle 5.2: Armutsquote von Erwerbstätigen und Verteilung armer Erwerbstätiger nach Alter und Geschlecht......................................... 128 Tabelle 5.3: Haushaltsgröße und Haushaltsstruktur ................................................ 131 Tabelle 5.4: Einkommensquellen von Erwerbstätigenhaushalten......................... 136 Tabelle 5.5: Einkommensquellen von armen Erwerbstätigenhaushalten............. 137 Tabelle 5.6: Reduktion der Armut von Erwerbstätigen durch Transfers und Belastung durch Steuern und Sozialabgaben ....................................... 139 Tabelle 5.7: Personen mit Bezug von Transfers nach Transferarten.................... 143 Tabelle 5.8: Reduktion der Armut von Erwerbstätigen nach Transferarten ....... 145 Tabelle 5.9: Armutsquote von Erwerbstätigen ohne Erwerbseinkommen der Partnerin und weiterer Haushaltsmitglieder ........................................ 148 Tabelle 5.10: Niedriglohnquote nach sozio-demographischen Merkmalen und Arbeitszeit ................................................................................................. 150 Tabelle 5.11: Armutsquote und Haushaltskonstellation von Niedriglöhnern ....... 153 Tabelle 5.12: Teilzeiterwerbstätigkeit und berufliche Selbständigkeit..................... 158 Tabelle 5.13: Verteilung von Teilzeiterwerbstätigen nach HH-Konstellation ....... 160 Tabelle 5.14: Veränderung der Armutsquote von Erwerbstätigen und des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen 2001 gegenüber 1994 .. 164 Tabelle 5.15: Veränderung Niedriglohnquote, Teilzeitquote, Selbständigenquote und Anteil Alleinverdiener 1994-2001 .............. 169 Tabelle 5.16: Veränderung der Armutsquote von Standard- und NichtStandard-Erwerbstätigen 2001 gegenüber 1994.................................. 171 Tabelle 5.17: Korrelation zwischen Armut von Erwerbstätigen, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung ............................. 174 Tabelle 6.1: Indikatoren und erwartete Einflüsse..................................................... 187 Tabelle 6.2: Institutionelle Rahmenbedingungen - Länderunterschiede .............. 192
Tabellenverzeichnis Tabelle 6.3: Tabelle 6.4: Tabelle 6.5: Tabelle 6.6: Tabelle 6.7: Tabelle 6.8: Tabelle 6.9: Tabelle 7.1: Tabelle 7.2:
9
Korrelation zwischen Zusammensetzung der Erwerbstätigen und institutionellen Rahmenbedingungen .................................................. 195 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Mikroeinflüsse, 2001)......................................... 198 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Makroeinflüsse, 2001) ........................................ 201 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 2001).......................... 204 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Makroeinflüse, 1994-2001)................................ 208 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Dreiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 1994-2001)................. 209 Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Dreiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 1994-2001)................. 212 Veränderung Armutsquote und Anteil von Erwerbstätigen an allen Armen 2004 gegenüber 2001 und 1994* .................................... 224 Vergleich Fallbeispiele............................................................................. 228
10
Inhalt
Abbildungsverzeichnis Abbildung 2.1: Abbildung 4.1: Abbildung 4.2: Abbildung 4.3: Abbildung 4.4: Abbildung 5.1: Abbildung 5.2: Abbildung 5.3: Abbildung 5.4: Abbildung 5.5: Abbildung 5.6: Abbildung 5.7: Abbildung 5.8: Abbildung 5.9: Abbildung 5.10: Abbildung 5.11: Abbildung 5.12: Abbildung 6.1: Abbildung 6.2: Abbildung 7.1:
Rahmenbedingungen, Einkommensquellen und Haushaltskontext ................................................................................. 27 Armut von Erwerbstätigen nach Umfang der Erwerbstätigkeit im letzten Jahr..................................................................................... 111 Armut von Erwerbstätigen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Abgrenzungen von Erwerbstätigkeit ............... 113 Anteil Erwerbstätiger an allen Armen nach Armutsgrenze......... 115 Armutsquote von Erwerbstätigen, Personen in Erwerbs-HH und Personen in erwerbsfähigem Alter (17-64 Jahre) .................. 116 Veränderungen Bruttoinlandsprodukt (real) ................................. 121 Arbeitslosenquote (standardisiert)................................................... 123 Entwicklung Armutsquote 1994-2001............................................ 124 Entwicklung Armutsquote von Erwerbstätigen 1994-2001........ 125 Anteil von Haushalten mit jungen Arbeitslosen und Personen über 64 Jahren.................................................................................... 133 Niedriglohngrenze und Armutsgrenze (1 Person)........................ 155 Niedriglohngrenze und Mindestlohn.............................................. 156 Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen.............................. 162 Veränderung der Armutsquote und der Armutsquote von Erwerbstätigen 2001 gegenüber 1994 ............................................. 166 Veränderung Erwerbstätigenquote und Erwerbstätigenquote von Armen 2001 gegenüber 1994.................................................... 167 Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf) und Armut von Erwerbstätigen ................................................................................... 172 Arbeitslosigkeit und Armut von Erwerbstätigen.......................... 173 Zusammensetzung der Erwerbstätigen - Länderunterschiede .... 190 Geschätzte Armutswahrscheinlichkeit nach Alter und intergenerationaler Abhängigkeit..................................................... 206 Verhältnis Leistungsbezieher zu offenen Stellen und Sperrzeitenquote ................................................................................ 234
1
Einleitung
Das Bild von erwerbstätigen Armen ist oftmals durch die Vorstellung von hart arbeitenden, aber gering bezahlten Arbeitskräften geprägt, deren Alltag die beiden US-amerikanischen Journalisten Barbara Ehrenreich (2005) und David Shipler (2005) am Beispiel von einfachen Industriearbeitern, Servicekräften oder Erntehelfern eindrücklich geschildert haben. Auch in europäischen Wohlfahrtsstaaten, um die es in dieser Arbeit gehen soll, sind entsprechende Bilder präsent, wenn von armen Erwerbstätigen die Rede ist. Dies ist aber nur eine Seite des Problems ‚Armut von Erwerbstätigen’. Aus anderer Perspektive sind es nicht allein geringbezahlte Jobs, die als Ursache von Armut von Erwerbstätigen in Frage kommen. Frühere Arbeiten, wie beispielsweise die bislang umfassendste Studie zu den ‚working poor’ in Deutschland (Strengmann-Kuhn 2003), weisen darauf hin, dass der Haushaltskontext eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob ein Einkommen ausreichend ist oder nicht. Auch Normalverdiener, die allein eine Familie zu versorgen haben, gehören daher häufiger als manche andere Gruppen zu den erwerbstätigen Armen. Die Berücksichtigung dieses Aspekts setzt allerdings voraus, dass man Armut von Erwerbstätigen im Sinne der allgemeinen Armutsforschung definiert, die von den in einem Haushalt verfügbaren Ressourcen ausgeht und nicht allein von der Verteilung der Erwerbseinkommen. Dies ist auch die grundsätzliche Sichtweise dieser Arbeit. Dieses Verständnis von ‚Armut von Erwerbstätigen’ ist in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion inzwischen durchaus etabliert. So wird seit einigen Jahren ein entsprechender Indikator in der europäischen Sozialberichterstattung verwendet (vgl. Bardone/Guio 2005). Dabei zeigt sich einerseits, dass sich das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen zwischen Ländern erheblich unterscheidet. Andererseits wird aber auch deutlich, dass Armut von Erwerbstätigen in Europa insgesamt kein marginales Problem darstellt. Entsprechend wird in den beschäftigungspolitischen Leitlinien des Rates der Europäischen Union auch ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Bekämpfung von Armut von Erwerbstätigen verwiesen (Rat der Europäischen Kommission 2005). Auch im Rahmen der offiziellen Armuts- und Reichtumsberichterstattung in Deutschland gibt es Gutachten, die allein Armut von Erwerbstätigen betrachten (Hanesch 2001, Fritzsche/Haisken-DeNew 2004). Die Tatsache, dass Arbeit nicht notwendigerweise vor Armut schützt, kann
12
1 Einleitung
daher kaum mehr als Überraschung gelten. Jedoch gibt es bislang – anders als im Fall von Niedriglohnbeschäftigung und von Armut insgesamt – kaum Untersuchungen, in denen umfassend die Ursachen für Armut von Erwerbstätigen und insbesondere die Ursachen für die bestehenden Länderunterschiede im Ausmaß und in der Struktur der Armut von Erwerbstätigen analysiert werden. Dies zu leisten, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Für eine Erklärung, warum sich das Armutsrisiko von Erwerbstätigen von Land zu Land unterscheidet, reicht es nicht aus, die Verteilung der primären Erwerbseinkommen zu betrachten. So kann es mehrere Verdiener pro Haushalt geben. Zudem gibt es staatliche und private Transfers. Will man erklären, warum Armut von Erwerbstätigen auftritt, müssen also sowohl die Faktoren berücksichtigt werden, die die Höhe des Erwerbseinkommens beeinflussen, als auch diejenigen, die das Zusammenfließen unterschiedlicher Einkommensquellen in einem Haushalt bewirken. Es ist die Aufgabe dieser Arbeit, diese Faktoren zu benennen und ihren Einfluss darzustellen. Gedacht ist hierbei vor allem an wohlfahrtsstaatliche Institutionen wie das System der sozialen Sicherung und das Angebot sozialer Dienstleistungen und an Arbeitsmarktinstitutionen wie Kündigungsschutzregeln und die Ausgestaltung des Lohnverhandlungssystems. Diese Aspekte werden hier zusammenfassend als institutionelle Rahmenbedingungen bezeichnet. Um die Unterschiede in der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen berücksichtigen zu können, ist die Arbeit als Vergleich von Wohlfahrtsstaaten angelegt. Zudem werden die Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen seit Mitte der 1990er Jahre betrachtet. Durch den Ländervergleich und die Betrachtung der Veränderungen über die Zeit wird eine umfassende Analyse der Faktoren, die Armut von Erwerbstätigen bedingen, möglich. Über die bislang wenigen, zudem rein deskriptiv und zumeist als Querschnittsbetrachtung angelegten, international vergleichenden Analysen zum Thema (vgl. O’Connor/Smeeding 1995, Marx/Verbist 1998, Strengmann-Kuhn 2003, Bardone/Guio 2005) geht die Arbeit sowohl konzeptionell als auch empirisch deutlich hinaus: Das Ziel der Arbeit ist, nicht allein Länderunterschiede zu beschreiben, sondern auch Erklärungen für diese Unterschiede zu benennen, die dann auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Die zentrale Frage dieser Arbeit lautet also: Wie unterscheidet sich Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich? Oder genauer formuliert: Welchen Einfluss hat die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen? Diese aus einer Perspektive der international vergleichenden Wohlfahrtstaatsforschung gestellte Frage scheint aufgrund ihrer allgemeinen Formulierung nicht direkt an die bereits seit längerer Zeit geführte – eher an sozial- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen orientierte – Diskussion zum Thema Armut von Erwerbstätigen anzuschließen. Betrachtet man allein die Diskussion in Deutschland werden hier so unterschiedliche Themenkomplexe wie Niedriglohn und Mindestlohn (vgl. Pohl/Schäfer 1996, Bispinck et al. 2003), Lohnersatzleistun-
1 Einleitung
13
gen und ökonomische Arbeitsanreize (vgl. Boss 1999, Schneider et al. 2002), Lohnsubventionen und Beschäftigungsfähigkeit (vgl. Fels et al. 2000, Klammer 2000, Kaltenborn 2003) oder Familienförderung und Frauenerwerbstätigkeit (vgl. Hauser/Becker 2001, Becker 2002) verhandelt. Selbstverständlich sind diese Themen auch im Rahmen einer international vergleichenden Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen relevant. Das Ziel dieser Arbeit ist jedoch nicht, diese Diskussionen im Detail zu rekapitulieren. Stattdessen wird ein Vorgehen gewählt, das an der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung anknüpft, und somit zunächst auf generelle Unterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen der einzelnen Länder abstellt. Im weiteren Verlauf der Arbeit lassen sich dann auf dieser Basis auch Einzelaspekte der eingangs skizzierten Diskussion betrachten. Letztlich geht die Arbeit aber davon aus, dass sich internationale Unterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen nur aus einer Perspektive betrachten lassen, die die generelle Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen in den Blick nimmt und die Betrachtung spezifischer Maßnahmen zunächst zurückstellt. Von dieser Betrachtung ausgehend soll dann auch eine weitere Frage bearbeitet werden: In welche Richtung beeinflussen Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen – und hier ist vor allem der Umbau bzw. Abbau der sozialen Sicherungssysteme und die Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen gemeint – das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen? Die Arbeitshypothese hierzu lautet, dass mit den gegenwärtigen Veränderungen eine Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen verbunden ist. Aktuelle Arbeiten verweisen darauf, dass – neben einem möglichen Rückgang des Leistungsniveaus – vor allem Veränderungen der Anspruchsbedingungen für Sozialleistungen zu beobachten sind und die Grenzen für die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit abgesenkt werden (vgl. Gilbert 2002, Barbier 2004). Es erscheint daher plausibel anzunehmen, dass durch die Verschärfung entsprechender Regeln zunehmend Personen in den Arbeitsmarkt gedrängt werden, deren Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um Armut zu vermeiden. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn zusätzlich bisherige Lohnuntergrenzen aufgeweicht werden, wie es in der Diskussion um die Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen und den Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads angenommen wird (vgl. Western 1995, Visser 2005). Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut. Im zweiten Kapitel wird die Fragestellung der Arbeit entwickelt und die Vorgehensweise erläutert. Armut von Erwerbstätigen wird aus einer Perspektive der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung betrachtet, die eine Analyse des Einflusses von institutionellen Rahmenbedingungen auf die Zugriffsmöglichkeiten auf unterschiedliche Einkommensquellen und die Formen familialen Zusammenlebens ermöglicht. Diese Perspektive wird hier zunächst grundlegend eingeführt. Außerdem wird abgegrenzt, was in dieser Arbeit mit Armut von Erwerbstätigen gemeint ist und es werden die Ergebnisse
14
1 Einleitung
früherer Arbeiten zum Thema kurz diskutiert. In Kapitel 3 wird der Erklärungsansatz der Arbeit weiter ausgearbeitet. Dabei geht es vor allem darum zu klären, welcher Einfluss von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und Arbeitsmarktinstitutionen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten ist. Wie in den folgenden Kapiteln werden die 15 Länder der Europäischen Union vor der Osterweiterung miteinander verglichen. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dann die Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen in diesen Ländern anhand von überwiegend quantitativen Indikatoren dargestellt. Das Kapitel endet mit der Formulierung von Hypothesen, die in der empirischen Bearbeitung überprüft werden sollen. Kapitel 4 diskutiert zunächst die grundsätzlichen Probleme der international vergleichenden Armutsforschung. Weiterhin werden die spezifischen Probleme der Messung von Armut von Erwerbstätigen, die hauptsächlich verwendete Datenquelle (Europäisches Haushaltspanel – ECHP) und die in dieser Arbeit verwendete Form der Operationalisierung dargestellt. In Kapitel 5 sind die Ergebnisse deskriptiver Analysen zusammengefasst. Dabei wird gezeigt, wie sich das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen im Ländervergleich unterscheiden. Außerdem wird die Entwicklung der Armut von Erwerbstätigen unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung dargestellt. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird der Einfluss unterschiedlicher Faktoren untersucht. Dabei werden sowohl die Größe und Zusammensetzung von Haushalten, der Zugriff auf unterschiedliche Einkommensquellen, die Armutsreduktion über Transfers und weitere Erwerbseinkommen und der Einfluss von Niedriglöhnen und atypischen Erwerbsformen berücksichtigt. Kapitel 6 führt die eingangs angeführten und auch in deskriptiven Analysen nachgezeichneten Überlegungen in einem Mehrebenenmodell zusammen. So wird es möglich, Einflussfaktoren auf der Mikro- und der Makroebene voneinander zu trennen. Vor allem können die Hypothesen über den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen in einem statistischen Modell überprüft werden. Ausgangspunkt in Kapitel 7 ist die Frage, ob die bis dahin dargestellten Ergebnisse auch bei einer Veränderung der Analyseperspektive Bestand haben. Es wird einerseits versucht, die Entwicklungen nach Ende des primären Analysezeitraums abzubilden. Andererseits wird versucht, die Bedeutung von Faktoren, die aufgrund des Fehlens entsprechender international vergleichbarer Indikatoren bislang nicht berücksichtigt wurden, anhand von Fallbeispielen abzuschätzen. Dabei geht es vor allem um den Einfluss von Sanktionen für nichterwerbstätige Leistungsbezieher. Das abschließende Kapitel 8 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen, diskutiert mögliche Schlussfolgerungen und formuliert Fragen, die sich an die Ergebnisse dieser Arbeit anschließen.
2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
Wie einleitend bereits dargestellt wurde, ist die Tatsache, dass sich Armut und Erwerbstätigkeit nicht wechselseitig ausschließen, sowohl auf wissenschaftlicher als auch politischer Ebene erkannt worden. Umso wichtiger ist es also zu fragen, welche Faktoren Armut von Erwerbstätigen verursachen. Ausgehend von der aktuellen Diskussion über Armut von Erwerbstätigen (Abschnitt 2.1) wird in diesem Kapitel dargestellt, wie in der vorliegenden Arbeit vorgegangen werden soll. Dabei geht es um die Methode des Ländervergleichs (2.2) und insbesondere um die Frage, wie der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen aus einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive berücksichtigt werden kann (2.3). In Abschnitt 2.4 wird überblicksartig betrachtet, welche Faktoren das Zusammenfließen von Einkommensressourcen in Haushalten bedingen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird es darum gehen, diesen Ansatz weiter auszuarbeiten und empirisch zu bearbeiten. Dabei sind auch individuelle und haushaltsbezogene Armutsrisiken zu berücksichtigen. Abschnitt 2.5 bietet einen Überblick über entsprechende Ergebnisse früherer Studien, bevor in Abschnitt 2.6 ein Ausblick auf das weitere Vorgehen der Arbeit gegeben wird.
2.1 Armut von Erwerbstätigen: Die aktuelle Diskussion Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen sind bereits in einer Reihe von Studien aufgezeigt worden. Nach den derzeit aktuellsten Zahlen der Europäischen Kommission (European Commission 2006, Anhang 1: 19) liegt die Armutsquote unter Erwerbstätigen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union vor der Osterweiterung zwischen 4 Prozent (Belgien) und 13 Prozent (Griechenland und Portugal). Anders als bei der Betrachtung von Armut allgemein, wo eine Reihe von vergleichenden Studien deutliche Einflüsse wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen auf das Auftreten von Armut gezeigt haben (vgl. z.B. Jäntti/Danziger 2000, Layte/Whelan 2002, McFate et al. 1995, Sainsbury/Morissens 2002, Kenworthy 1999,
16
2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
2004, Moller et al. 2003, Brady 2004), sind die spezifischen Ursachen für das unterschiedliche Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen bislang nicht betrachtet worden. Keine der allgemeinen Studien geht näher auf Armut von Erwerbstätigen ein und vergleichende Studien, die nur dieses Thema betrachten, sind rar (siehe aber O’Connor/Smeeding 1995, Marx/Verbist 1998, Strengmann-Kuhn 2003, Bardone/Guio 2005). Von diesen Studien geht wiederum keine explizit auf den Einfluss der institutionellen Rahmenbedingungen ein. Entsprechende Einflüsse auf Armut von Erwerbstätigen sind aber dennoch aufgezeigt worden. Dies betrifft vor allem den Bezug von staatlichen Transfers und die durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Studien auf nationaler Ebene zeigen, dass ein relevanter Anteil des Einkommens von erwerbstätigen Armen aus Transfers besteht, und dass diese Transfers eine deutliche armutsreduzierende Wirkung aufweisen (vgl. Lagarenne/Legendre 2000, Strengmann-Kuhn 2003). Aufgrund der Ergebnisse der allgemeinen Armutsforschung ist zu vermuten, dass hierbei ausgeprägte Länderunterschiede bestehen, die auf die unterschiedliche Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten zurückzuführen sind.1 Andere Studien, auch international vergleichend angelegte, gehen auf die armutsreduzierende Wirkung der Erwerbstätigkeit von Frauen ein und führen diesen Effekt, zumindest teilweise, auf Unterschiede in der Doppelverdienerunterstützung einzelner Wohlfahrtsstaaten zurück (vgl. Maître et al. 2003, Büchel et al. 2003). Einverdienerhaushalte sind prinzipiell relativ stark von Armut betroffen (vgl. z.B. Marx/Verbist 1998, Iacovou 2003). Es ist daher anzunehmen, dass die aufgrund der schwach oder stark ausgeprägten Doppelverdienerunterstützung bestehenden Länderunterschiede im Anteil von Einverdienerhaushalten einen Teil der Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen insgesamt erklären. Während diese Aspekte häufig nur am Rande der Diskussion um Armut von Erwerbstätigen erörtert werden, wird der Zusammenhang zwischen Niedriglöhnen und Armut von Erwerbstätigen weitaus häufiger thematisiert.2 Dabei sind in international vergleichender Perspektive die Arbeiten von Marx und Verbist (1998), Nolan und Marx (2000), Strengmann-Kuhn (2001b, 2003) und der OECD (1998b) zu nennen.3 Jedoch wird auch hier der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen nur am Rande behandelt. Versteht man das Ausmaß von Niedriglohn vereinfachend als Aspekt einer ungleichen Einkommensverteilung, lässt sich von Studien, die die allgemeine Verteilung von Erwerbseinkommen betrachten, auf den Einfluss von 1 Die Arbeiten von Oxley et al. (1997: 75f), Strengmann-Kuhn (2003: 102) und O’Connor/Smeeding (1995) zeigen solche Unterschiede, gehen aber auf mögliche Ursachen nicht oder nur kaum ein. 2 Vgl. aber die Arbeiten von Strengmann-Kuhn (2003), Lagarenne und Legendre (2000) und Fritzsche/Haisken-DeNew (2004), die auf den Haushaltskontext und damit zumindest implizit auf die eben angesprochenen Aspekte eingehen. 3 Vgl. auf nationaler Ebene Bäcker 1999, 2000, Göbel et al. 2005, Hanesch et al. 2000, Ponthieux/Concialdi 2000, Sutherland 2001, Manning/Dickens 2002, Nolan 1994, 2000, Brandolini et al. 2002.
2.1 Die aktuelle Diskussion
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institutionellen Rahmenbedingungen auf den Anteil an Niedriglohnbeschäftigung schließen. Diese Studien zeigen, dass Arbeitsmarktinstitutionen, vor allem in Gestalt einer stärkeren Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen, eine Reduktion der Ungleichheit von Erwerbseinkommen bewirken (vgl. Blau/Kahn 1996, Teulings/Hartog 1997, Wallerstein 1999) und das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung verringern (vgl. Lucifora 2000, Lucifora et al. 2005, Robson et al. 1999). Weniger klar ist jedoch, inwieweit Arbeitsmarktinstitutionen den Zusammenhang zwischen Niedriglohn und Armut von Erwerbstätigen beeinflussen. Da in den meisten Ländern die überwiegende Mehrheit der Niedriglöhner nicht arm ist (vgl. Marx/Verbist 1998, Strengmann-Kuhn 2003), ist es nahe liegend, dass auch andere Einflüsse eine Rolle spielen müssen.4 In dieser Arbeit wird daher argumentiert, dass das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen nicht allein aus einer Perspektive der Niedriglohnbeschäftigung erklärt werden können. Das heißt aber nicht, dass Unterschiede in der Ungleichheit von Erwerbseinkommen oder im Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung als grundlegende Ursachen für Armut von Erwerbstätigen ignoriert werden können. Es ist daher ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit zu klären, inwieweit die institutionellen Faktoren, die diese Unterschiede verursachen (vor allem Lohnverhandlungssysteme), auch einen Einfluss auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen haben. Eine solche Perspektive hieße aber, nur die am Arbeitsmarkt produzierte Ungleichheit zu betrachten, ohne zu berücksichtigen, welches Ausmaß an Ungleichheit von Wohlfahrtsstaaten zugelassen oder selbst produziert wird. Und weiter hieße es auch, die Rolle, die Familien bei der Produktion von individueller Wohlfahrt spielen, größtenteils zu ignorieren. Eine solche Perspektive mag sinnvoll sein, wenn man Probleme der Sozialpolitik – hier: Armut – ausschließlich als Folgeproblem einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik begreift (vgl. dazu die ältere Debatte zwischen Heinze et al. 1981/1983 und Kohl/Leisering 1982). Es ist eine Aufgabe dieser Arbeit zu klären, inwieweit dieser Schluss zulässig ist. Um diese Frage aber beantworten zu können, ist eine Perspektive notwendig, die explizit die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und die Rolle der Familie mitberücksichtigt. Es wird also angenommen, dass Unterschiede in der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen einen Einfluss auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen haben, wobei nicht allein nur die Rahmenbedingungen gemeint sind, die die Verteilung von Erwerbseinkommen beeinflussen.
4 Bei seiner Betrachtung von 14 EU-Ländern kommt Strengmann-Kuhn (2003: 122) auf eine durchschnittliche Armutsquote von 18% für Niedriglöhner (gemessen am üblicherweise verwendeten Stundenlohn). Die Variation ist dabei beträchtlich (Belgien: 5,5%, Portugal: 31,1%). Diese Unterschiede stehen allerdings nicht immer in einem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Niedriglohnbeschäftigung.
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2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
2.2 Vergleichende Perspektive: Länder und Veränderungen über die Zeit Voraussetzung für die Bestimmung institutioneller Einflüsse ist eine Perspektive, die die Variation in der Ausgestaltung entsprechender Rahmenbedingungen in den Blick nimmt. Schließt man die Möglichkeit sozialer Experimente5 aus – also die Veränderung von Rahmenbedingungen mit dem vorrangigen Ziel, die Wirkung dieser Veränderungen zu beobachten – bleibt der Vergleich von Ländern übrig (vgl. Landman 2003). Hier werden dann Länder einander gegenüber gestellt, deren institutionelle Rahmenbedingungen sich unterscheiden, und es wird versucht, Unterschiede in dem zu erklärenden Phänomen auf Unterschiede in den Rahmenbedingungen zurückzuführen. Ein Problem hierbei ist, dass sich Länder auch in anderen Merkmalen als den interessierenden Rahmenbedingungen unterscheiden können, dass man also Einflüsse anderer Faktoren nicht ausschließen kann. Hier besteht nur die Möglichkeit, andere Merkmale – soweit sie denn beobachtbar sind – mit zu berücksichtigen, um deren störende Einflüsse zu kontrollieren. Eine generelle Annahme für einen Ländervergleich ist, dass Länder als nach außen eindeutig voneinander abgegrenzte und nach innen möglichst geschlossene Einheiten betrachtet werden können. Anders formuliert bedeutet dies, dass davon ausgegangen werden muss, dass relevante Rahmenbedingungen weder ausschließlich auf supranationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene bestimmt werden, sondern vor allem auf nationaler Ebene. Nur so können Unterschiede zwischen Ländern tatsächlich auch als Folge von Unterschieden in der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen begriffen werden. In dieser Arbeit werden ausschließlich Länder betrachtet, die Mitglieder der Europäischen Union (EU) sind, also in einen supranationalen Zusammenhang eingebunden sind. Zudem besteht in jedem Land eine gewisse regionale Variation in der Ausgestaltung der relevanten institutionellen Rahmenbedingungen. So sind beispielsweise die bei einer Betrachtung von Armut relevanten Systeme der Grundsicherung in vielen Ländern kommunal oder regional organisiert. Was spricht trotzdem für einen Ländervergleich? Zum einen, dass die Ausgestaltung von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und Arbeitsmarktinstitutionen vorrangig nationaler und nicht supranationaler Politik unterliegt. Zum anderen, dass die Variation innerhalb von Ländern häufig geringer ausfällt als die Variation zwischen Ländern. So macht es beispielsweise einen größeren Unterschied, ob es überhaupt ein System der Grundsicherung gibt, als mögliche regionale Unterschiede in der Höhe von Trans5 Landman (2003: 13) führt für die Nichtdurchführbarkeit von sozialen Experimenten praktische und ethische Gründe an. Trotzdem findet sich in der Armutsforschung ein klassisches Beispiel für ein solches Experiment: das ‚New Jersey Income Maintenance Experiment’, in dem durch eine gezielte Veränderung der Bezugsbedingungen von Sozialleistungen die Wirkungen einer negativen Einkommenssteuer überprüft werden sollten (vgl. zusammenfassend Feick 1980).
2.2 Vergleichende Perspektive
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fers, wie sie beispielsweise in Deutschland im früheren System der Sozialhilfe bestanden. Nimmt man an, dass Länder in sinnvoller Weise als Analyseeinheiten dienen können, ist zu klären, wie ein solcher Vergleich gestaltet werden kann. Landman (2003) unterscheidet grundsätzlich zwei Vorgehensweisen für die Betrachtung von mehreren Ländern: eher qualitativ angelegte Vergleiche weniger Länder (‚small-ncomparison’) und quantitativ angelegte Vergleiche vieler Länder (‚large-ncomparison’). Vergleiche weniger Länder sind auf einer mittleren Abstraktionsebene angesiedelt und basieren zumeist auf der ausführlichen Beschreibung der Ausgestaltung der interessierenden Merkmale aller betrachteten Länder. Vergleiche vieler Länder erfordern dagegen eine höhere Abstraktionsebene und basieren auf der Verwendung quantitativer Indikatoren. Dieses Vorgehen ermöglicht die Überprüfung von Hypothesen im Rahmen statistischer Analysen, unterliegt aber gleichzeitig Beschränkungen aufgrund der Verfügbarkeit und Qualität entsprechender Daten. Anstelle eines reinen Ländervergleichs werden in vielen empirischen Arbeiten Typologien verwendet, nach denen die betrachteten Länder gruppiert werden. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Typologien: Für das Thema Armut von Erwerbstätigen sind dabei sicherlich Typologien von Wohlfahrtsstaaten – viele davon inspiriert von der Arbeit von Esping-Andersen (1990) – und Typologien von Lohnverhandlungsverhandlungssystemen bzw. Korporatismusskalen von zentralem Interesse (vgl. Arts/Gelissen 2002, Kenworthy 2001, 2003). Anstelle der individuellen Ausgestaltung von Länderkontexten werden hier als Idealtypen zu verstehende Regimes definiert, denen reale Fälle (Länder) mehr oder weniger gut entsprechen. Grundvoraussetzung für ein solches Vorgehen ist, dass Länder sich in entscheidenden Dimensionen ähneln, sodass durch eine Zusammenfassung in Typen grundsätzliche Unterschiede hervortreten und die Betrachtung nicht durch eine Betrachtung von geringen, nicht entscheidenden Unterschieden dominiert wird. Muffels und Fouarge formulieren dies pragmatisch in Anlehnung an Esping-Andersen (1999: 73) wie folgt: „'[R]egimes' […] shed light on the 'dark forest' rather than causing the researcher to be lost in the 'myriad of unique trees'” (2002: 230). Insbesondere bezogen auf die Arbeit von Esping-Andersen (1990) wurde aber aus wissenschaftstheoretischer Sicht darauf hingewiesen, dass Idealtypen weder ein Mittel der kausalen Analyse noch ein theoretischer Ansatz sind (vgl. Rieger 1998). Eine Argumentation gegen diese Kritik findet sich bei Arts und Gelissen (2002). Prinzipiell stimmen sie den wissenschaftstheoretischen Einwänden zwar zu, verweisen aber darauf, dass die Verwendung von Idealtypen zur Klärung empirischer Zusammenhänge unter drei Bedingungen gerechtfertigt ist: Erstens, die verwendete Typologie ist valide und reliabel. Zweitens, die Typologie dient als Mittel der Erklärung und ist nicht selbst zu erklärender Gegenstand. Drittens, die Entwicklung von Theorien zum Gegenstand ist noch nicht ausreichend fortgeschritten, um umfassende Erklärungen zu formulieren. In der vorliegenden Arbeit werden Typologien
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2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
zur Strukturierung der deskriptiven Analysen verwendet. Die von Arts und Gelissen (2002) formulierten Bedingungen werden dabei wie folgt berücksichtigt: Es wird auf eine bestehende Typologie zurückgegriffen, aber vor der Verwendung wird überprüft, inwieweit diese relevante Unterschiede in der Ausgestaltung relevanter institutioneller Rahmenbedingungen tatsächlich in idealtypischer Weise abbildet. Die Typologie wird dann verwendet, um Unterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen aufzuzeigen. Diese Analysen sind jedoch eher explorativ angelegt und dienen als Basis für weitere Analysen. Wie in vielen anderen empirischen Arbeiten ist die Auswahl der Analyseeinheiten (Länder) grundlegend durch die verfügbaren Datenquellen vorgegeben. Trotz der Betonung des Ländervergleichs wurde für die Arbeit eine Datenquelle gesucht, auf deren Basis auch eine vergleichende, möglichst aktuelle Betrachtung von Armut auf Mikroebene möglich ist. Obwohl in den nächsten Abschnitten Unterschiede auf der Makroebene im Vordergrund stehen, sollen im weiteren Verlauf der Arbeit auch Zusammenhänge auf der Mikroebene betrachtet werden. Dies ist insbesondere deshalb erforderlich, um zeigen zu können, ob diese Zusammenhänge durch die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Es wird also eine Mehrebenenperspektive eingenommen, für die eine Mikrodatenquelle notwendig ist, die dann mit Makromerkmalen aus anderen Datenquellen ergänzt werden kann. Zudem werden Daten benötigt, die eine ausreichend große Zahl an Fällen für jedes betrachtete Land enthalten, da mit den armen Erwerbstätigen nur eine Subpopulation betrachtet wird. Diese Möglichkeiten bietet das Europäische Haushaltspanel (ECHP), dessen Erhebung 1994 begonnen wurde und dessen letzte Welle 2001 in den 15 EU-Ländern vor der EU-Osterweiterung erhoben wurde (vgl. auch Abschnitt 4.3). Da es sich beim ECHP prinzipiell um eine input-harmonisierte Erhebung handelt, ist eine hohe Vergleichbarkeit der Daten aus den betrachteten Ländern gegeben. Weiter ist in eingeschränktem Maße auch die Betrachtung von Veränderungen über die Zeit möglich, da in den meisten Ländern Beobachtungen für den kompletten Zeitraum von acht Jahren vorliegen. Prinzipiell wäre es natürlich möglich, diesen Datensatz um Beobachtungen anderer Länder zu ergänzen. Allerdings würde dies einen im Verhältnis zum Ertrag schwer zu rechtfertigenden Aufwand bedeuten, vor allem weil fraglich ist, ob Probleme der Vergleichbarkeit zufriedenstellend zu lösen wären. Somit ist die Maximalzahl der zu betrachtenden Länder durch die Datenquelle vorgegeben. Eine Möglichkeit wäre es nun, nur Länder zu betrachten, die für einen Vergleich besonders geeignet erscheinen. Hierbei werden i.d.R. zwei Strategien unterschieden: Entweder der Vergleich besonders ähnlicher oder der Vergleich besonders unterschiedlicher Länder (vgl. Landman 2003). Auf eine Auswahl nach einer dieser beiden Strategien wurde verzichtet, da in einem Teil der Arbeit Analysen im Sinne eines ‚large-n’-Vergleichs durchgeführt werden und somit eine möglichst hohe Zahl von Ländern in der Arbeit betrachtet werden sollten.
2.2 Vergleichende Perspektive
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Landman (2003) bezeichnet erst Vergleiche mit mehr als 50 Ländern als ‚largen’-Vergleich. Obwohl diese Anzahl hier bei weitem nicht erreicht wird, ist das Ziel dieser Arbeit trotzdem, Länderunterschiede auch auf Basis von quantitativen Indikatoren statistisch zu modellieren. Nur so ist es möglich, konkret zu zeigen, welche institutionellen Merkmale diese Unterschiede erklären und nicht nur aufzuzeigen, dass Unterschiede zwischen Ländern im Ausmaß und der Struktur von Armut von Erwerbstätigen bestehen. Eine hohe Fallzahl, wie Landman sie vorsieht, ist hierfür sicherlich hilfreich. Dagegen stehen jedoch Hinweise aus der Literatur zu Mehrebenenanalysen, in der bereits mehr als 10 Einheiten auf der obersten Ebene, hier also Länder, als ausreichend betrachtet werden, um entsprechende Zusammenhänge zu modellieren (Snijders/Bosker 1999: 44). Zudem besteht eine Möglichkeit, die Anzahl der Beobachtungen zu erhöhen, darin, Untersuchungseinheiten nicht nur zu einem Zeitpunkt, sondern zu mehreren Zeitpunkten zu beobachten, also Veränderungen über die Zeit mit zu berücksichtigen (vgl. King et al. 1994: 223f). Das ECHP deckt in den meisten Ländern einen Beobachtungszeitraum von acht Jahren ab, die Anzahl an Beobachtungen kann bei Betrachtung aller Länder somit auf über 100 erhöht werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Beobachtungen eines Landes zu verschiedenen Zeitpunkten im Gegensatz zu Beobachtungen verschiedener Länder zum gleichen Zeitpunkt nicht unabhängig voneinander sind. Daher entspricht eine solche Vorgehensweise nicht dem Vergleich von über 100 Ländern und weist einige statistische Probleme auf. Auf diese wird in Abschnitt 6.2 näher eingegangen. Nicht nur aufgrund dieser Probleme werden in dieser Arbeit neben dem Vorgehen im Sinne eines ‚large-n’-Vergleichs zunächst Analysen durchgeführt, die eher der Vorgehensweise eines ‚small-n’-Vergleichs entsprechen. In einem ersten Schritt erfolgt eine detaillierte Beschreibung der institutionellen Rahmenbedingungen, allerdings anhand von (überwiegend) quantitativen Indikatoren. In den nächsten Abschnitten wird auf Basis der vergleichenden Literatur zu Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsmarktinstitutionen zu klären sein, welche Aspekte der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen für eine Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen relevant sind. Diese Zusammenstellung der Länderunterschiede dient als Orientierung für weitere Analysen. Zunächst werden deskriptive Analysen durchgeführt, in denen versucht wird zu bestimmen, über welche Mechanismen institutionelle Rahmenbedingungen das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen beeinflussen. Im Sinne der oben angeführten Argumentation von Arts und Gelissen (2002) wird davon ausgegangen, dass hierbei die Verwendung von Typologien eine hilfreiche Heuristik darstellt. Zudem werden weiterhin Länder als Untersuchungseinheiten verwendet, aber diese werden anhand einer Typologie gruppiert, sodass sowohl Variation innerhalb als auch zwischen einzelnen Typen abgebildet wird. Als weiterer Schritt werden – wie bereits erwähnt – Analysen im Sinne eines ‚large-n’Vergleichs durchgeführt, um neben einem Vergleich von Ländern bzw. Länder-
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clustern, eine direkte Modellierung einzelner institutioneller Einflüsse zu ermöglichen. Vor der empirischen Bearbeitung ist allerdings zu klären, von welchen institutionellen Faktoren entscheidende Einflüsse auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten sind.
2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen: Vergleich von Wohlfahrtsstaaten Die breite Literatur der Wohlfahrtsstaatsforschung bietet umfassende Anknüpfungspunkte für eine international vergleichende Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen, obwohl das Thema kaum explizit behandelt wird. Es geht dabei vor allem um die grundsätzliche Perspektive, nämlich zu zeigen, welche Wirkung die unterschiedliche Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen auf die Lebensbedingungen von Personen und Haushalten hat. Mit institutionellen Rahmenbedingungen sind dabei wohlfahrtsstaatliche Institutionen wie das System der sozialen Sicherung und das Angebot sozialer Dienstleistungen sowie Arbeitsmarktinstitutionen wie Kündigungsschutzregeln und das Lohnverhandlungssystem gemeint. Bevor auf relevante Aspekte dieser Diskussion eingegangen wird, soll allerdings zunächst der Begriff ‚Wohlfahrtsstaat’ geklärt werden, der durchaus unterschiedlich verwendet wird. Grundsätzlich kann man mindestens zwei Begriffsdefinitionen unterscheiden. In einem Teil der Literatur ist mit dem Begriff die Rolle des Staates bei der Bereitstellung von Leistungen der Einkommenssicherung und sozialen Dienstleistungen gemeint (vgl. z.B. Barr 2004: 7). Dagegen steht eine zweite Sichtweise, in der der Wohlfahrtsstaat als eine Ausprägung demokratischer industrieller Gesellschaften angesehen wird, die kapitalistisch organisiert sind, in denen aber der Staat eine grundsätzliche Wohlfahrtsverantwortung für seine Bürgern übernimmt (ersteres im Gegensatz zu sozialistischen Staaten, letzteres im Gegensatz zu liberalen Staaten, vgl. z.B. Kaufmann 1997: 24, Arts/Gelissen 2002: 139). Nach dieser Definition – die auch hier verwendet wird – schließt der Wohlfahrtsstaat die in der ersten Definition angesprochenen Bereiche mit ein, geht aber weit über diese hinaus. Die Umsetzung des Ziels der Wohlfahrt schließt Eingriffe in den Markt ein, die nicht nur der Finanzierung sozialer Leistungen oder anderen Formen der Umverteilung dienen, sondern auch Mechanismen der marktmäßigen Allokation betreffen, beispielsweise in Form von Kündigungsschutzregeln oder in der Festlegung von gesetzlichen Lohnuntergrenzen. Um hervorzuheben, dass es sich hier nicht um Wohlfahrtsstaaten, sondern um einen bestimmten gesellschaftlichen Typus handelt, verwendet beispielsweise Kaufmann (1997) den Begriff ‚wohlfahrtsstaatliches Arrangement’, wenn es um grundsätzliche Eigenschaften von Wohlfahrtsstaaten geht. Wohlfahrtsstaaten können dabei durchaus Unterschiede aufweisen, aber eben immer im Rahmen der grundlegenden Merkmale des wohlfahrtsstaatlichen Arrange-
2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen
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ments. So bleiben „Privateigentum und die unternehmerische Dispositionsfreiheit grundsätzlich gewahrt; beide werden allerdings einschränkenden Bedingungen unterworfen, um die Machtdifferenz zwischen den Unternehmen und ihren Arbeitskräften – »Kapital« und »Arbeit« – unwirksam zu machen und um unerwünschte Effekte, d.h. außerhalb der Kostenrechnung der Betriebe anfallende »soziale Kosten« zu reduzieren. Nationale Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich hinsichtlich des dominierenden Typus dieser Einschränkungen (staatliche Verbote, Schadenersatzpflichten, Verfahrensregelungen, Aufsichts- und Verhandlungssysteme)“ (Kaufmann 1997: 27). Für eine Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen bedeutet dies, dass neben der Ausgestaltung von Einkommenssicherungssystemen und der Verfügbarkeit von sozialen Dienstleistungen auch Einflüsse auf die Ausgestaltung von Lohnverhandlungen oder direkte Eingriffe in die Höhe von Markteinkommen unter einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive berücksichtigt werden können.6 Auch Esping-Andersen (1990, 1999) geht von einer weit angelegten Definition des Begriffs Wohlfahrtsstaat aus. „The welfare state is something other than whatever menu of social benefits a state happens to offer. [...] [T]he welfare state is more than social policy; it is a unique historical construction, an explicit redefinition of what the state is all about” (Esping-Andersen 1999: 34). Bei der Betrachtung von Wohlfahrtsstaaten geht es daher nicht allein um das Ausmaß der Bereitstellung von Dienstleistungen oder Maßnahmen der Einkommenssicherung, sondern um den Einfluss auf das Verhältnis zwischen Markt, Staat und Familie. Da der Begriff des Wohlfahrtsstaats jedoch eine Beschränkung auf die Betrachtung eben dieser Leistungen nahe legt, verwendet Esping-Andersen stattdessen auch den Begriff des Wohlfahrtsregimes. In der Definition des Begriffs wird dieser über den Staat hinausgehende Charakter deutlich hervorgehoben: „A welfare regime can be defined as the combined, interdependent way in which welfare is produced and allocated between state, market, and family“ (Esping-Andersen 1999: 34f). Esping-Andersen geht es bei der Verwendung des Regimebegriffs zudem um die Betonung von Unterschieden zwischen Wohlfahrtsstaaten, indem er zwischen drei unterschiedlichen Regimes unterscheidet (sozialdemokratisches, liberales und konservatives Regime). Grundlegend für diese Betrachtungsweise ist, dass Wohlfahrtsstaaten nicht als zufällige Zusammenstellung von einzelnen Maßnahmen oder Regeln verstanden werden, sondern dass sie institutionelle Arrangements darstellen, deren Teilbereiche miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen. Deswegen ist die Anzahl denk6 Kaufmann weist beispielsweise darauf hin, dass „staatlich dekretierte Mindestlöhne oder Lohnsteigerungen” (1982: 73, Fußnote), Teil einer weit gefassten Sozialpolitik sind, da diese „eine rechtliche Beeinflussung der Einkommensverteilung” (ebd.) darstellen. Kaufmann betrachtet dabei allgemein die Verbesserung der Einkommensverhältnisse von Personen als ein Ziel der Sozialpolitik, sodass auch Interventionen in die Verteilung von Primäreinkommen als Teil der Sozialpolitik aufgefasst werden können. Daneben nennt Kaufmann drei weitere Ziele: Verbesserung des rechtlichen Status, der materiellen und sozialen Umwelt und der Handlungskompentenz von Personen (vgl. Kaufmann 1982: 67).
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2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
barer Konfigurationen eingeschränkt, was die Unterscheidung einiger, weniger Regimes möglich und sinnvoll macht.7 Die Berücksichtigung unterschiedlicher Wohlfahrtsregimes ist in der Folge vielfach aufgegriffen worden, häufig wird aber für die südeuropäischen Länder, die Esping-Andersen als konservativen Subtyp betrachtet, ein viertes Regime angenommen (vgl. Leibfried 1990, 1992, Ferrera 1996, Bonoli 1997, Flaquer 2000).8 Eine nähere Betrachtung der einzelnen Wohlfahrtsregimes erfolgt in Abschnitt 3.5. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die für die Betrachtung von armen Erwerbstätigen relevanten Aspekte in einer Perspektive von Wohlfahrtsregimes erfasst werden. Insbesondere in der Reformulierung seines Ansatzes geht Esping-Andersen auch auf Arbeitsmarktinstitutionen ein, argumentiert aber, dass die Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten und die Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen ‚Hand in Hand’ gehen (1999: 20) und umgeht somit eine gesonderte Diskussion von Arbeitsmarktinstitutionen als mögliche Dimension von Wohlfahrtsregimes. Trotzdem wird aber unter dem Aspekt des Einflusses von Wohlfahrtsregimes auf die Verteilung von Arbeitsmarktrisiken wie Arbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung diskutiert, allerdings ohne hier nun auf den spezifischen Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen einzugehen (1999: 155ff). Es mangelt also an einer systematischen Berücksichtigung von Arbeitsmarktinstitutionen (vgl. auch Ebbinghaus/Manow [2001: 10f]). Implizit wird von einer Kovariation von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und Arbeitsmarktinstitutionen ausgegangen, allerdings ohne diese ausreichend zu belegen. Da die Verteilung von Erwerbseinkommen bei der Betrachtung von armen Erwerbstätigen jedoch eine zentrale Rolle einnimmt, ist es notwendig, genauer auf den Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen einzugehen. Es gibt eine breite, nicht im Zusammenhang mit der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung stehende Literatur, die explizit auf den Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Lohnverteilung und das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung eingeht (vgl. als Überblick Flanagan 1999, Lucifora et al. 2005). Diese wird in Abschnitt 3.3 dargestellt. Dabei ist vor allem zu klären, ob die Annahme der Kovariation zutrifft und somit die Regimeabgrenzung Esping-Andersens eine sinnvolle Analyseperspektive für das hier betrachtete Problem darstellt. Zunächst erscheint die Verwendung von Wohlfahrtsregimes jedoch nicht sehr viel verspre-
7 Hiermit weist das Vorgehen Esping-Andersens weitreichende Ähnlichkeiten mit dem politikwissenschaftlichen Ansatz der ‚Varieties of Capitalism’ auf (vgl. Hall/Soskice 2001, Ebbinghaus/Manow 2001). Hier wird über den Begriff der ‚institutional’ bzw. ‚strategic complementaries’, die als „mutually reinforcing and enabling institutional configurations” (Ebbinghaus/Manow 2001: 4) definiert werden, auf die Nicht-Zufälligkeit institutioneller Arrangements verwiesen. 8 Als weitere, allerdings außereuropäische, ‚Ausreißer’ werden häufig Australien und Neuseeland diskutiert (vgl. z.B. Castles/Mitchell 1993). Für einen Überblick über verschiedene Typologien vgl. Arts/Gelissen 2002.
2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen
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chend.9 In einem auf Wohlfahrtsregimes basierenden Vergleich zeigen Peña-Casa und Latta (2004: 64), dass allein das ‚südeuropäische’ Wohlfahrtsregime ein höheres Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen aufweist, während Unterschiede zwischen den übrigen Regimes kaum wahrzunehmen sind. Gegenüber den Unterschieden, die sich im generellen Armutsrisiko im Vergleich von Wohlfahrtsregimes zeigen, sind die Unterschiede insgesamt wenig ausgeprägt (vgl. Layte/Whelan 2003, Sainsbury/Morissens 2002, Muffels/Fouarge 2002, Gallie/Paugam 2000). Trotzdem soll hier eine entsprechende Sichtweise aufgegriffen werden, und zwar aus zwei Gründen:10 Zum einen bietet die Verwendung von Wohlfahrtsregimes die Möglichkeit der notwendigen Vereinfachung der Betrachtung einer größeren Anzahl von Ländern, zum anderen bietet sie einen Anknüpfungspunkt zur Analyse der Dimensionen, die der Abgrenzung von Wohlfahrtsregimes zugrunde liegen. Ersteres stellt auf den Nutzen der Verwendung von Idealtypen ab (vgl. Abschnitt 2.2) und soll hier insbesondere im Rahmen deskriptiver Analysen angewendet werden. Für weitere Analysen ist allerdings der zweite Aspekt wichtiger, nämlich die Möglichkeit, an die Diskussion der grundlegenden Dimensionen von Wohlfahrtsregimes anknüpfen zu können. Dabei soll gefragt werden, welcher Einfluss von Unterschieden in den grundlegenden Dimensionen von Wohlfahrtsregimes auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten ist. Gemeint sind hier vor allem die Dimensionen ‚Dekommodifizierung’ und ‚Defamilisierung’. Dekommodifizierung zielt darauf, inwieweit Wohlfahrtsstaaten individuelle Wohlfahrt unabhängig vom Markt gewährleisten (vgl. Offe 1972, 1984, EspingAndersen 1990). Defamilisierung ist analog dazu angelegt und zielt auf die Unabhängigkeit von der Familie (vgl. McLaughlin/Glendinning 1994, Lister 1994). Gerade unter dem Aspekt der Defamilisierung wird wiederum deutlich, dass prinzipiell auch Arbeitsmarktinstitutionen als Teil von Wohlfahrtsregimes aufgefasst werden, obwohl dieser Aspekt unzureichend ausgearbeitet ist. So werden insbesondere für das konservative und südeuropäische Wohlfahrtsregime Kündigungsschutzregeln als ein Mechanismus betrachtet, der Arbeitsmarktinsider und -outsider produziert und so mit geschlechts- und alterspezifischen Ungleichheiten und daraus resultierenden Abhängigkeiten einhergeht: „[W]hereas male family heads are well protected 9 Es lässt sich einwenden, dass sich die Definition von Regimes an dem zu betrachtenden Gegenstand orientieren sollte (vgl. Kasza 2002, Bambra 2004), dass es also besser wäre, Typen von Lohnverhandlungssystemen zu betrachten, wenn es um Einflüsse auf die Lohnverteilung geht und diese nicht in ein weiter gefasstes Wohlfahrtsregime einzubinden. Da das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen sowohl von der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen als auch von Arbeitsmarktinstitutionen abhängt, erscheint die Entwicklung einer eng gefassten Typologie als nicht sinnvoll. 10 Ein Ziel des Vergleiches von Wohlfahrtsstaaten ist häufig, die Frage zu klären, warum sich Wohlfahrtsstaaten entwickelt haben bzw. warum eine spezifische Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten entstanden ist (für einen Überblick vgl. Amenta 1993). Auf diese Diskussion wird hier nicht eingegangen. Es interessieren allein Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten und nicht die Gründe der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten.
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against unemployment, most women and young people have very precarious labour contracts. Southern European countries have segmented and rigid labour markets that set up a divide between insiders and outsiders. [...] The theory of insiders/outsiders has been used to explain the persistent high unemployment levels […] but it is also apt to describe the privileged position of family heads in the labour market and the corresponding exclusion of women and young people” (Flaquer 2000: 23). Indem Arbeitsmarktrigiditäten die Zugangsmöglichkeiten von Frauen und jungen Erwachsenen zu bezahlter Erwerbsarbeit beeinflussen, tragen sie zum Ausmaß ökonomischer Abhängigkeit von einem Haupternährer bei. Es ist genau dieser Aspekt, der aus der Perspektive der Defamilisierung betont wird. Eine ausführliche Diskussion der Wirkungen von Dekommodifizierung, Defamilisierung und Arbeitsmarktinstitutionen und möglicher Zusammenhänge im Rahmen von Wohlfahrtsregimes erfolgt in Kapitel 3.
2.4 Ressourcenansatz: Einkommensarmut und Einkommensquellen Im Vorgriff auf die genauere Erörterung in Kapitel 4 soll nun kurz erläutert werden, wie in der vorliegenden Arbeit Armut definiert wird. Armut wird nach dem Ressourcenansatz als Verhältnis des Bedarfes eines Haushalts und seiner verfügbaren Ressourcen definiert. Der Bedarf wird wiederum als Funktion der Größe und Struktur eines Haushalts betrachtet, während Ressourcen – wie in den meisten Arbeiten – ausschließlich Einkommensressourcen umfassen (vgl. z.B. Ringen 1988). Ein höherer Bedarf bei gleichen Ressourcen erhöht die Wahrscheinlichkeit, arm zu sein. Höhere Ressourcen bei gleich bleibendem Bedarf verringern dagegen die Wahrscheinlichkeit, arm zu sein. Dies gilt natürlich auch bei der Betrachtung armer Erwerbstätiger, allerdings mit dem Unterschied, dass Ressourcen in jedem Fall Einkommen aus Erwerbstätigkeit mit einschließen, während im allgemeinen Fall häufig Transfereinkommen im Vordergrund stehen. Dass jedoch auch arme Erwerbstätige in relevantem Ausmaß Transfers beziehen, ist auf nationaler Ebene bereits gezeigt worden (vgl. Lagarenne/Legendre 2000, Strengmann-Kuhn 2003). Im Rahmen der folgenden empirischen Analyse soll dies auch in international vergleichender Perspektive betrachtet werden. Hierzu ist es notwendig, das zur Verfügung stehende Einkommen nicht nur in seiner Gesamtheit, sondern auch differenziert nach seinen Quellen zu betrachten. Diese Perspektive liegt der Analyse des ‚income packaging’ zugrunde, die Rainwater et al. (1986) geprägt haben (vgl. auch Bison/Esping-Andersen 2000, Maître et al. 2005). Dabei wird das Einkommen von Haushalten als Einkommenspaket betrachtet, dass sich aus unterschiedlichen Quellen zusammensetzt. Allgemein wird entsprechend der zentralen Einkommensquellen ‚Markt’, ‚Staat’ und ‚Familie’ zwischen Marktein-
2.4 Ressourcenansatz
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kommen, staatlichen Transfers und privaten Transfers unterschieden. Rainwater et al. führen dies wie folgt aus: „In modern industrial societies, individuals and families can derive income from such sources as a principal wage-earner's earnings, earnings of other family members, income from assets, income from private retirement plans, relatives' contributions in the form of gifts or recognition of legal obligations (e.g. child support), and income from a number of public transfer sources“ (1986: 19). Die Perspektive des ‚income packaging’ lenkt den Blick darauf, dass Wohlfahrtsstaaten prinzipiell Zugriff auf unterschiedliche Einkommensquellen ermöglichen. Zwar ist in den meisten Haushalten das Einkommen eines Hauptverdieners die zentrale Einkommensquelle. Jedoch selbst in Haushalten, in denen die Bezugsperson erwerbstätig ist, kommen – je nach Land – mindestens 25 Prozent bis hin zu mehr als 40 Prozent des Einkommens aus anderen Quellen, sei es Erwerbseinkommen weiterer Personen oder Transfereinkommen (vgl. Maître et al. 2005). Es ist anzunehmen, dass insbesondere Transfereinkommen für arme Erwerbstätige eine noch größere Rolle spielen. Bei einer Fokussierung auf Erwerbseinkommen, oder gar auf Erwerbseinkommen einzelner Haushaltsmitglieder, können möglicherweise grundlegende Länderunterschiede in anderen Einkommensquellen nicht abgebildet werden. Abbildung 2.1: Rahmenbedingungen, Einkommensquellen und Haushaltskontext
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Der Zugriff von Haushalten auf unterschiedliche Einkommensquellen ist in Abbildung 2.1 dargestellt. Die Darstellung macht zunächst schematisch deutlich, dass die Verfügbarkeit von Einkommensquellen in unterschiedlicher Weise durch institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen beeinflusst wird. Die entsprechenden Zusammenhänge werden kurz anhand der Abbildung aufgezeigt, um im nachfolgenden Kapitel 3 dann vertieft zu werden. Das nächste Kapitel stellt somit die Ausformulierung der hier schematisch und stichwortartig angesprochenen Zusammenhänge dar. Das zentrale Element der Abbildung ist der Haushalt, in dem eine oder mehrere Personen (P1-Pn) leben. ‚Markteinkommen’, ‚staatliche Transfers’ und ‚private Transfers’ werden als Einkommensquellen betrachtet. Da der Anteil des Kapitaleinkommens am Markteinkommen durchschnittlich gering ausfällt, werden im Folgenden vor allem Arbeitsmarkteinkommen betrachtet. Der Zugriff auf die unterschiedlichen Quellen ist durch Pfeile dargestellt. Arbeitsmarkteinkommen sind i.d.R. persönliche Einkommen und können an jeweils ein oder mehrere Haushaltsmitglieder fließen. Staatliche Transfers werden dagegen sowohl von Personen als auch von Haushalten bezogen (z.B. Arbeitslosengeld gegenüber Sozialhilfe oder Wohngeld). Letzteres wird durch den Pfeil auf den Haushalt verdeutlicht. Auch private Transfers können an Personen oder Haushalte gerichtet sein. Ob und in welcher Höhe Einkommen erzielt werden, hängt von einer Reihe individueller Merkmale ab. So beeinflussen beispielsweise Alter, Geschlecht und Qualifikation die Höhe des Arbeitsmarkteinkommens einer Person. Individuelle und haushaltsbezogene Merkmale beeinflussen auch die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von staatlichen Transfers. Der Bezug und die Höhe privater Transfers hängen sicherlich vom Familienstand ab, da insbesondere Alleinerziehende entsprechende Transfers für ihre Kinder beziehen. Hier soll es aber weniger um diese individuellen Determinanten gehen, sondern um den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf die Verfügbarkeit einzelner Einkommensquellen (vgl. aber Abschnitt 2.5). Diese sind schematisch am unteren Rand der Abbildung dargestellt. Es wird angenommen, dass Arbeitsmarktinstitutionen wie das Lohnverhandlungssystem Einfluss auf die Verteilung von Arbeitsmarkteinkommen haben. Darauf wird in Abschnitt 3.3 näher eingegangen. Neben institutionellen Rahmenbedingungen wird die wirtschaftliche Entwicklung berücksichtigt, für die vor allem ein Einfluss auf Markteinkommen angenommen wird (vgl. Abschnitt 3.4). Die Verfügbarkeit von staatlichen Transfers ist von der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen abhängig. Der Wohlfahrtsstaat beeinflusst jedoch nicht allein die Verfügbarkeit von staatlichen Transfers, sondern hat auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. So sind mit der Bereitstellung von öffentlich finanzierten Dienstleistungen auch Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst vorhanden. Aus ökonomischer Sicht werden dagegen Einflüsse allgemein verfügbarer Sozialleistungen in Form eines impliziten Mindestlohns geltend gemacht. Es geht dabei darum, dass es sich aus ökonomischer Sicht nur lohnt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen,
2.4 Ressourcenansatz
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wenn das erzielbare Erwerbseinkommen höher ist als das mögliche Transfereinkommen. Wie sich im internationalen Vergleich insbesondere das Verhältnis von ‚Arbeitsmarkteinkommen’ und ‚staatlichen Transfers’ unterscheidet und welche Einflüsse auf Armut von Erwerbstätigen zu erwarten sind, wird unter dem Stichwort ‚Dekommodifizierung’ in Abschnitt 3.1 vertieft. Die Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten beeinflusst jedoch auch die Rolle der Familie. Dies betrifft vor allem die Frage, inwieweit die Betreuung von Kindern, Kranken, Behinderten und Alten als Aufgabe der Familie oder des Staates begriffen wird. Es betrifft aber auch die Frage, inwieweit Familiensolidarität als Äquivalent für eine wohlfahrtsstaatlich gewährleistete Grundsicherung betrachtet wird. Dies hat einerseits aufgrund der Umverteilung von Einkommen innerhalb des Haushaltskontexts11 Einfluss auf das Zusammenleben von Familienmitgliedern, andererseits auf das Ausmaß privater Transfers, die von außerhalb des Haushalts lebenden Familienmitgliedern geleistet werden. Beides steht in Zusammenhang mit der ökonomischen Unabhängigkeit der einzelnen (erwachsenen) Familienmitglieder. Diese kann entweder über den Arbeitsmarkt gewährleistet sein oder aber in Form eigenständiger Ansprüche gegenüber dem Wohlfahrtsstaat. Kommen weder Markt noch Staat als ausreichende Ressourcenquelle in Frage, bleibt als Alternative die Familie übrig. Da deutliche Länderunterschiede im Zugang von Frauen, Jungen und Älteren zum Arbeitsmarkt, im Angebot an Kinderbetreuung und Pflegedienstleistungen und im Zugang zu Einkommenstransfers bestehen, ist eine unterschiedliche Bedeutung der Familie als Sicherungsinstanz anzunehmen. Dabei spielt insbesondere das Zusammenleben mit anderen Familienmitgliedern eine Rolle, beispielsweise wenn arbeitslose junge Erwachsene auf Dauer im elterlichen Haushalt leben. So hat also die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und von Arbeitsmarktinstitutionen einen Einfluss auf die Größe und Struktur von Haushalten. Da dies maßgeblich den Bedarf von Haushalten beeinflusst und das Verhältnis von Bedarf zu Ressourcen das Ausmaß von Armut bestimmt, spielt dieser Aspekt eine zentrale Rolle in der Erklärung von Unterschieden im Ausmaß von Armut. Diese Unterschiede werden im Rahmen der Diskussion von ‚Defamilisierung’ in Abschnitt 3.2 näher betrachtet.
11 Dies setzt das gängige Verständnis des Haushalts als Bedarfsgemeinschaft voraus, in dem sämtliche Ressourcen gepoolt werden (zu einer Definition von Haushalten vgl. Bryant/Zick 2006). Das Problem einer ungleichen Ressourcenverteilung innerhalb von Haushalten wird dabei ignoriert (vgl. auch Abschnitt 4.1).
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2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
2.5 Armutsdeterminanten: Bedarf, Ressourcen und Restriktionen In den vorangegangenen Abschnitten ist die ländervergleichende Perspektive der vorliegenden Arbeit betont worden. Die Argumentation bezog sich dabei vor allem auf Makrofaktoren, von denen ein Einfluss auf das Niveau und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen erwartet wird. Nicht berücksichtigt wurden bislang die Bestimmungsgründe des Armutsrisikos auf der Mikroebene, also personen- und haushaltsbezogegene Determinanten. Inwiefern das Armutsrisiko von Alter, Geschlecht, Bildung oder der Haushaltsgröße abhängt, ist in einer Vielzahl von Armutsstudien, aber auch in Studien, die allein Armut von Erwerbstätigen betrachten, untersucht worden. Aus international vergleichender Perspektive ist dabei insbesondere von Interesse, ob sich diese Determinanten von Land zu Land unterscheiden oder ob diese länderübergreifend sind. Es stellt sich die Frage, ob sich allein das Niveau von Armut von Erwerbstätigen oder auch die individuellen Ursachen von Armut von Erwerbstätigen unterscheiden. Eine erste Antwort auf diese Frage, die in den folgenden empirischen Analysen vertieft wird, bieten die Ergebnisse früherer Studien zu Armut von Erwerbstätigen. Neben den in Tabelle 2.1 zusammengefassten Arbeiten (Marx/Verbist 1998, Strengmann-Kuhn 2003, Bardone/Guio 2005) gibt es noch eine Reihe weiterer vergleichender Arbeiten, die Armut von Erwerbstätigen betrachten. Diese umfassen aber entweder nur eine geringe Anzahl von Ländern, betrachten Armut von Erwerbstätigen nur als Teilaspekt oder sind als reine Literaturstudien angelegt (vgl. O’Connor/Smeeding 1995, Delhausse 1995, Marlier/Ponthieux 2000, Peña-CasasLatta 2004, European Commission 2004b, 2006). Gemeinsam ist allen vergleichenden Arbeiten, dass sie deskriptiv angelegt sind, Länderunterschiede also vor allem darstellen und kaum versuchen, diese zu erklären. Die betrachteten Armutsdeterminanten lassen sich allgemein formuliert als Faktoren zusammenfassen, die entweder den Bedarf oder die Ressourcen von Haushalten betreffen. Dabei wird der Bedarf von Haushalten in der einkommensbasierten Armutsforschung – wie im vorherigen Abschnitt bereits erläutert – zumeist über die Größe und Zusammensetzung von Haushalten bestimmt. Unter Ressourcen werden in dieser Perspektive Faktoren verstanden, die auf dem Arbeitsmarkt zur Erzielung von Einkommen eingesetzt werden können. Hierzu zählen Bildung, Berufserfahrung und die berufliche Tätigkeit. Zusätzlich zu Bedarf und Ressourcen werden Restriktionen für eine erfolgreiche Beteiligung am Arbeitsmarkt berücksichtigt. Hierzu zählen neben Erwerbseinschränkungen aufgrund von Krankheit oder Behinderung vor allem auch Verpflichtungen aufgrund der Betreuung und Pflege von Kindern und Älteren. In Tabelle 2.1 ist der Einfluss von häufig verwendeten Variablen bisheriger Studien zu Armut von Erwerbstätigen dargestellt. Unterschieden wird zwischen positiven bzw. negativen Einflüssen, die für alle bzw. fast alle betrachteten Länder gelten, und uneinheitlichen Einflüssen. Bei letzteren
31
2.5 Armutsdeterminanten
wird zwischen im Länderdurchschnitt positiven oder negativen Einflüssen unterschieden. Tabelle 2.1: Armutsdeterminanten: Ergebnisse früherer Studien
Sozio-Demographie Alter Geschlecht=Frau Bildung HH/Erwerbstätigkeit Kinder im HH Alleinerziehende Doppelverdiener Erwerbstätigkeit Teilzeit Niedriglohn Selbständigkeit
Marx/Verbist 1998 Daten: LIS
Strengmann-Kuhn 2003 Daten: ECHP
Bardone/Guio 2005 Daten: ECHP
-/+ +/k.A.
-/+ -/+ k.A.
-/+ -/+ --
++ (++) 1 --
k.A. 2 k.A. k.A.
++ + --
k.A. ++ k.A.
++ ++ ++ 3
++ k.A. ++
Anmerkungen: 1) Nur Angaben für arme Niedriglöhner, 2) Berücksichtigt wird allein der Haushaltskontext allgemein, 3) Gilt für Einkommensarmut. Erläuterung der Zeichen: positiver (++) bzw. negativer Einfluss (--) in allen untersuchten Ländern; positiver (+) bzw. negativer Einfluss (-) in fast allen untersuchten Ländern; uneinheitlicher Einfluss, häufiger positiv (+/-) bzw. häufiger negativ (-/+). Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Für den Einfluss der Zusammensetzung und der Erwerbskonstellation von Haushalten, der Art der Erwerbstätigkeit und der Bildung zeigen sich nur geringe Unterschiede zwischen Ländern. Eindeutig lässt sich feststellen, dass ein höherer Bedarf von Haushalten, der über die Anzahl der Kinder gemessen wird, ein höheres Armutsrisiko zur Folge hat. In Tabelle 2.1 nicht aufgeführte nationale Studien weisen weiter auf das Armutsrisiko durch die im Haushalt der Eltern lebenden erwachsenen Kinder (Lagarenne/Legendre 2000: 6) bzw. durch die übrigen erwachsenen Nichterwerbspersonen im Haushalt hin (Strengmann-Kuhn 2003: 142). Auch hier ist von einem erhöhten Bedarf auszugehen. Weiter weisen Alleinerziehende ein höheres Armutsrisiko auf. Alleinerziehende unterliegen besonders starken Restriktionen für die Ausübung einer ausreichend entlohnten Erwerbstätigkeit. Außerdem zeigt sich, dass bestimmte Formen der Erwerbstätigkeit mit einem höheren Armutsrisiko einhergehen. Das höhere Armutsrisiko von Teilzeitbeschäftigten kann als
32
2 Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich
Folge von Restriktionen, aber auch von geringen Ressourcen interpretiert werden, da Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten durchschnittlich niedrigere Qualifikationen aufweisen (vgl. Fagan/Rubery 1996: 233ff). Im Gegenteil dazu weisen Doppelverdienerhaushalte ein deutlich niedrigeres Armutsrisiko auf. Nicht überraschend haben Niedriglöhner ein höheres Armutsrisiko. Der Bezug niedriger Löhne kann als Folge niedriger Ressourcen verstanden werden. Direkt zeigt sich ein Einfluss der Bildung. Personen mit höheren Bildungsressourcen weisen ein niedrigeres Armutsrisiko auf (vgl. auch Fritzsche/Haisken-DeNew 2004: 49, Strengmann-Kuhn 2003: 83). Selbständige Erwerbstätigkeit kann teilweise als prekäre Beschäftigung interpretiert werden, die von geringen Ressourcen verursacht wird. Darauf weisen beispielsweise Ergebnisse für Deutschland hin, die zeigen, dass vor allem SoloSelbständige ein hohes Armutsrisiko aufweisen (Strengmann-Kuhn 2003: 70). Das höhere Armutsrisiko von Selbständigen kann aber auch eine Folge der Einkommensuntererfassung bei Selbständigen sein (vgl. Pissarides/Weber 1989, Eardley/Corden 1996: 50ff, Merz 2000). Interessant sind in diesem Zusammenhang weitere Ergebnisse von Strengmann-Kuhn (2003: 93). Er zeigt anhand eines nichtmonetären Armutsmaßes, dass Einkommensuntererfassung vor allem in nordeuropäischen Ländern eine Rolle zu spielen scheint, während in einer Reihe von südeuropäischen Ländern auch bei Verwendung eines nicht-monetären Maßes Selbständige ein höheres Armutsrisiko als andere Erwerbstätige aufweisen. Uneinheitlich stellt sich der Einfluss der Faktoren Geschlecht und Alter dar. Indirekt lassen sich beide Faktoren als Ressourcen auffassen. Alter kann als Indikator für Berufserfahrung interpretiert werden, das Geschlecht als Indikator für eine bessere oder schlechtere Position auf dem Arbeitsmarkt, wie sie sich beispielsweise im Einkommensdifferential zwischen Männern und Frauen ausdrückt. Betrachtet man das Alter, wird in der Mehrzahl der Länder eine Interpretation in Richtung größerer Berufserfahrung gestützt. Durchschnittlich sind eher jüngere Erwerbstätige von Armut betroffen. Jedoch gibt es auch Länder, in denen sich das Armutsrisiko kaum nach dem Alter unterscheidet oder vor allem Ältere hohe Armutsquoten aufweisen. Im Folgenden wird zu zeigen sein, ob sich entsprechende Unterschiede auf die unterschiedliche Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen zurückführen lassen. Bezüglich des Armutsrisikos von Männern und Frauen lässt sich kein eindeutiges Ergebnis feststellen. Durchschnittlich unterscheiden sich die Armutsquoten kaum, wobei in einigen Ländern Männer, in anderen Ländern Frauen höhere Armutsquoten aufweisen. Es ist zu vermuten, dass ein Teil dieser Unterschiede mit der Position von Frauen im Arbeitsmarkt zusammenhängt. Auch dieser Aspekt wird im Folgenden näher betrachtet.
2.6 Ausgangspunkt für die weitere Betrachtung
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2.6 Ausgangspunkte für die weitere Betrachtung In diesem Kapitel wurden der Forschungsstand zu Armut von Erwerbstätigen und die Untersuchungsperspektive für das weitere Vorgehen skizziert. Arbeiten in vergleichender Perspektive zum Thema sind rar, zudem gehen diese kaum systematisch auf Länderunterschiede ein. Ein Schwerpunkt früherer Arbeiten ist die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Niedriglohn und Armut. In einer Perspektive des ‚income packaging’ wird jedoch deutlich, dass in Wohlfahrtsstaaten neben dem Haupterwerbseinkommen auch weitere Einkommen zum Haushaltseinkommen beitragen. Dies ist in besonderer Weise für arme Erwerbstätige von Bedeutung, da – anders als bei erwerbslosen Armen – sowohl Erwerbs- als auch Transfereinkommen einen relevanten Anteil am Einkommen ausmachen. Die international vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung bietet eine Perspektive, die es ermöglicht, die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen und das damit verbundene Zusammenspiel von Markt, Staat und Familie zu erfassen. Prinzipiell schließt diese Perspektive auch die Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen ein, allerdings werden diese häufig eher am Rande thematisiert. Dies heißt nicht, dass sie keine Rolle spielen. Bei einer weiten Definition von Wohlfahrtsstaaten, von der hier ausgegangen wird, sind diese ausdrücklich mitberücksichtigt. Wohlfahrtsstaaten werden als eine Ausprägung demokratischer industrieller Gesellschaften verstanden, in der der Staat eine grundsätzliche Wohlfahrtsverantwortung gegenüber seinen Bürgern übernimmt, was Eingriffe in die Mechanismen marktmäßiger Allokation mit einschließt (beispielsweise die Setzung von Lohnuntergrenzen). Aufgrund der Bedeutung von Erwerbseinkommen für die Betrachtung von armen Erwerbstätigen, wird im Folgenden auf diesen Aspekt ausführlich eingegangen. Dabei wird sich zeigen, inwieweit die häufig implizit bestehende Annahme der Kovariation zwischen der Ausgestaltung von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen und Arbeitsmarktinstitutionen gerechtfertigt ist. Es ist bereits angedeutet worden, in welcher Weise institutionelle Rahmenbedingungen sowohl die Höhe als auch die Zusammensetzung von Haushaltseinkommen beeinflussen. Im Folgenden wird diese Betrachtung vertieft. Das Ziel ist aufzuzeigen, aufgrund welcher Mechanismen Länderunterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten sind. Es wird dabei nicht angenommen, dass es einen zentralen Mechanismus gibt, der diese Unterschiede erklärt. Der Zugriff auf die unterschiedlichen Einkommensquellen wird von unterschiedlichen Mechanismen strukturiert. Wieder andere Mechanismen wirken auf Formen des familialen Zusammenlebens ein, die in Form des Bedarfs von Haushalten einen entscheidenden Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen haben.
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
In diesem Kapitel geht es darum, die im vorherigen Kapitel skizzierten Überlegungen zum Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf Armut von Erwerbstätigen zu präzisieren und auszuarbeiten. Eine Orientierungslinie bilden dafür die bereits angesprochenen grundlegenden Dimensionen. Entsprechend wird in Abschnitt 3.1 der Einfluss der Dekommodifizierung betrachtet, in Abschnitt 3.2 der Aspekt der Defamilisierung, bevor in Abschnitt 3.3 auf die Wirkung von Arbeitsmarktinstitutionen eingegangen wird. Wie zuvor argumentiert, spielen neben institutionellen auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle. Mögliche Einflüsse werden in Abschnitt 3.4 diskutiert. Zunächst werden sämtliche Einflussfaktoren einzeln diskutiert und es ist das Ziel der später folgenden multivariaten Analysen, den Einfluss eben dieser Einzelfaktoren zu überprüfen. Der erste Teil der empirischen Analysen ist jedoch deskriptiv angelegt. Um auch hier bereits die Hypothese des Einflusses institutioneller Faktoren zumindest in allgemeiner Form überprüfen zu können, werden sämtliche Ergebnisse nach Wohlfahrtsregimes gruppiert ausgewiesen. Daher geht es in diesem Kapitel auch um die Frage, welche Möglichkeiten ein solcher Vergleich nach Wohlfahrtsregimes bietet (Abschnitt 3.5). In den beiden folgenden Abschnitten wird dann anhand von einer Reihe von Indikatoren gezeigt, welche Variation in der Ausgestaltung der relevanten Rahmenbedingungen zwischen den hier untersuchten Ländern besteht. Dabei ist Abschnitt 3.6 als Querschnittsbetrachtung angelegt, während Abschnitt 3.7 Veränderungen in den letzten 15 Jahren betrachtet. Das Kapitel endet mit einem zusammenfassenden Überblick von Fragestellungen und Hypothesen (Abschnitt 3.8), die in der darauf folgenden empirischen Analyse überprüft werden.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
3.1 Dekommodifizierung, Transfers und ökonomische Arbeitsanreize Für Esping-Andersen (1990) ist Dekommodifizierung eine der zentralen Dimensionen von Wohlfahrtsstaaten. Dekommodifizierung zielt auf den Schutz vor negativen Effekten rein marktmäßiger Abläufe. „The introduction of modern social rights implies a loosening of the pure commodity status. De-commodification occurs when a service is rendered as a matter of right, and when a person can maintain a livelihood without reliance on the market” (Esping-Andersen 1990: 21f). Der Begriff ist mit deutlichem Bezug auf Karl Polanyi angelegt, der von der Notwendigkeit spricht, „[d]en Faktor Arbeit aus dem Markt herauszunehmen” (Polanyi 2004: 332). Während Polanyi hierbei vor allem an eine Beschränkung rein marktmäßiger Lohnverhandlungen denkt, geht es mit Blick auf moderne Wohlfahrtsstaaten auch darum, Personen die Möglichkeit zu bieten, ohne oder mit eingeschränktem Markteinkommen das Auskommen zu sichern und somit von dem Zwang auszunehmen, sich um jeden Preis auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Betrachtet man die Operationalisierung des Konzepts bei Esping-Andersen, wird deutlich, dass das Ausmaß an Dekommodifizierung in Wohlfahrtsstaaten durch mehrere Faktoren gekennzeichnet ist: die Höhe, die Bezugsdauer, die Anspruchsbedingungen und die Zielgerichtetheit (Bestehen einer Bedürftigkeitsprüfung) von einkommenssichernden Leistungen.12 In einem Teil der Diskussion um Reform oder Abbau von Wohlfahrtsstaaten werden dagegen negative Arbeitsanreizeffekte durch Transferzahlungen hervorgehoben. Dieser Aspekt wird insbesondere in der Mitte der 1990er Jahre formulierten Jobs Strategy der OECD betont, die zumindest in Teilaspekten in den meisten der hier betrachteten Länder Berücksichtigung gefunden hat (vgl. OECD 1994, Haveman 1997, OECD 2006c). Für Armut von Erwerbstätigen ist dies deswegen relevant, da die Frage nach ökonomischen Arbeitsanreizen genau die Nahtstelle betrifft, an der sich entscheidet, ob jemand erwerbstätig oder nicht erwerbstätig ist, aber häufig auch, ob jemand arm oder nicht arm ist. Grundlegend lässt sich das Argument negativer Arbeitsanreize in dieser Diskussion auf die neoklassische Theorie des Arbeitsangebots zurückführen. In ihrer Standardform, wie sie sich in Lehrbüchern finden lässt (vgl. z.B. Varian 1995: 162ff), basiert die Theorie des Arbeitsangebots auf einem Konsummodell, in dem eine Entscheidung zwischen dem Kon-
12 Das Vorhandensein einer Bedürftigkeitsprüfung betrachtet Esping-Andersen (1990: 49) neben der erforderlichen Beitragsdauer oder notwendigen Berufserfahrung als dritten Aspekt der „prohibitiveness of conditions of eligibility”. In seiner Operationalisierung (ebd.: 54) berücksichtigt er das Vorhandensein einer Bedürftigkeitsprüfung als Aspekt des prinzipiellen Zugangs zu einer Leistung und erläutert dies am Beispiel bedürftigkeitsgeprüfter Renten in Australien. Theoretisch sind diese Renten für 100% der Bevölkerung zugänglich, aufgrund der bestehenden Bedürftigkeitsprüfung ist dieser Zugang aber eingeschränkt. Esping-Andersen halbiert daher in diesem Fall den Grad der Abdeckung. Neben der „prohibitiveness” berücksichtigt Esping-Andersen weiter die Stärke von „in-built disincentives” (ebd.: 49), womit Wartedauern bis zum Bezug einer Leistung und die maximale Dauer der Inanspruchnahme gemeint sind.
3.1 Dekommodifizierung
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sum von Gütern oder von sogenannter Freizeit13 getroffen werden muss. Da für den Konsum von Gütern Einkommen vorausgesetzt wird, handelt es sich um eine Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit, wenn man zunächst davon ausgeht, dass Einkommen allein durch Arbeit erzielt wird. Dabei ist die Budgetbeschränkung zu berücksichtigen. Das zur Verfügung stehende Budget ergibt sich aus der angebotenen Arbeitszeit und dem Lohnsatz, woraus sich wiederum das Arbeitseinkommen ergibt. Bei Annahme feststehender Präferenzen hängt die Frage, wie viel Arbeit angeboten wird, für eine Person vor allem von der Höhe des über eine bestimmte Menge Arbeitszeit erzielten Einkommens ab, also von der Höhe des pro Arbeitsstunde gezahlten Lohnes. Dabei werden zwei gegenläufige Effekte angenommen: Einerseits steigt mit höherer Entlohnung der Anreiz Arbeit anzubieten (Substitutionseffekt), andererseits ist es bei höherem Lohn auch bei einer geringeren Arbeitszeit möglich, ein entsprechendes Einkommen zu erzielen (Einkommenseffekt). Höhere Lohnsätze können also sowohl positiv als auch negativ auf das Arbeitsangebot wirken. Jedoch ist der Einkommenseffekt bei sehr niedrigen Lohnsätzen bzw. bei der Entscheidung, ob überhaupt Arbeit angeboten werden soll (Partizipationsentscheidung) vermutlich zu vernachlässigen. Unter diesen Bedingungen wird für höhere Lohnsätze ein eindeutig positiver Effekt angenommen. Dabei gilt die Annahme eines Lohnsatzes, der als Anspruchslohn oder Reservationslohn bezeichnet wird. Gemeint ist ein Lohn, unter dem es sich nicht lohnt, eine Arbeit anzunehmen. Man kann den entsprechenden Wert somit auch als „Opportunitätskosten der Arbeit“ bezeichnen (vgl. Franz 2003: 27). Löhne unterhalb des Anspruchslohns kompensieren nicht die Einschränkungen der Freizeit, die Partizipationsentscheidung fällt somit negativ aus. Hierbei ist nun aber auch das Nicht-Arbeitseinkommen zu berücksichtigen (Kapitaleinkommen und staatliche Transfers). Dieses verschiebt das Verhältnis von Arbeitszeit und Einkommen. Bereits ohne dass Arbeit angeboten wird, steht Einkommen zur Verfügung. Es wird dabei davon ausgegangen, dass das Nicht-Arbeitseinkommen entsprechend dem Einkommenseffekt Arbeitsanreize verringert, also weniger Arbeit angeboten wird. Bei bedürftigkeitsgeprüften Transferleistungen kommt ein zweiter Einfluss hinzu. Werden diese nur in dem Maße gewährt, wie kein Erwerbseinkommen vorliegt, wird der ‚Wert’ der Freizeit erhöht. Die Ausweitung des Arbeitsangebots ist also nicht allein mit Einbußen an Freizeit verbunden, sondern zusätzlich mit Einbußen an Transferleistungen. Der Anspruchslohn wird erhöht bzw. die Opportunitätskosten der Arbeit steigen. Darauf baut sich eine Diskussion auf, die durch den Begriff ‚Armutsfalle’ gekennzeichnet ist (vgl. OECD 1996, Doudeijns 2000, Gebauer et al. 2002, Carone et
13 Freizeit meint hier die Zeit, in der nicht einer entlohnten Tätigkeit nachgegangen wird. Dies schließt auch Zeiten für notwendige Aufgaben wie Hausarbeit, Schlafen, Essen, Kinderbetreuung usw. ein.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
al. 2004).14 Grundsätzlich wird dabei angenommen, dass durch dauerhaft verfügbare Transferleistungen insbesondere für Personen mit niedrigen Lohnsätzen kein ausreichender Anreiz besteht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder diese auszuweiten. Nach den oben geschilderten Annahmen entstehen hohe Opportunitätskosten, die nicht durch das erzielbare Einkommen aufgewogen werden. Es liegt demnach die Entscheidung nahe, Transferleistungen zu beziehen und keine Arbeit aufzunehmen. Als direkte Folge werden andauernde Erwerbslosigkeit und Abhängigkeit von Transfers angesehen. Das Resultat ist höhere Armut insgesamt, aber wohl eher nicht Armut bei Erwerbstätigkeit. Wenn man also Dekommodifizierung vereinfachend mit der allgemeinen Verfügbarkeit möglichst hoher Transfers gleichsetzt und zudem die grundlegenden Annahmen der Theorie des Arbeitsangebots akzeptiert, kann man einen negativen Effekt von Dekommodifizierung auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen annehmen. Dieser Effekt beruht darauf, dass diejenigen, die vor allem aufgrund niedriger Lohnsätze ein geringes Einkommen erzielen und somit ein hohes Armutsrisiko aufweisen, nicht erwerbstätig sind. Man kann dies auch als impliziten Mindestlohn bezeichnen, der der Höhe von Transfers entspricht.15 Prinzipiell lässt sich gegen diese Sichtweise einwenden, dass vor allem auf die Bedeutung ökonomischer Arbeitsanreize abgestellt wird. Aus einer Perspektive der sozialen Exklusion wird Erwerbstätigkeit dagegen als Möglichkeit gesellschaftlicher 14 In einem Teil der Literatur wird auch zwischen mehreren ‚Fallen’ unterschieden, nämlich der Niedriglohnfalle, der Inaktivitätsfalle und der Arbeitslosigkeitsfalle (vgl. OECD 2005: 129). Mit Niedriglohnfalle ist die Situation von Erwerbstätigen mit niedrigem Einkommen gemeint, für die es sich ökonomisch betrachtet nur in geringem Maße lohnt, ihr Erwerbseinkommen auszuweiten, da hinzukommendes Einkommen durch höhere Steuern, Sozialabgaben und wegfallende Transfers teilweise oder ganz aufgebraucht wird. Mit Arbeitslosigkeitsfalle bzw. Inaktivitätsfalle ist derselbe Vorgang bei Betrachtung von Übergängen aus Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit gemeint. In der konkreten Betrachtung der Ausgestaltung von Transfer- und Steuersystemen macht diese Unterscheidung Sinn, da für die drei betrachteten Gruppen prinzipiell sehr unterschiedliche Bedingungen herrschen können (hierauf wird noch näher in Abschnitt 3.6 eingegangen). Hier wird aber der Begriff Armutsfalle als Oberbegriff für diese unterschiedlichen Konstellationen verwendet. 15 Esping-Andersen macht jedoch auch deutlich, dass Dekommodifizierung nicht auf die Verringerung von Erwerbstätigkeit angelegt sein kann. Dies wird vor allem bei der Beschreibung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregimes deutlich: „Perhaps the most salient characteristic of the social democratic regime is its fusion of welfare and work. It is at once genuinely committed to a full-employment guarantee, and entirely dependent on its attainment. On the one side, the right to work has equal status to the right of income protection. On the other side, the enormous costs of maintaining a solidaristic, universalistic, and de-commodifiying welfare system means that it must minimize social problems and maximize revenue income. This is obviously best done with most people working, and the fewest possibly living off of social transfers” (Esping-Andersen 1990: 28). Ein Weg, diesen Widerspruch zu bewältigen, ist die Förderung der öffentlichen Arbeitsnachfrage, z.B. im Bereich sozialer Dienstleistungen, die gleichzeitig durch die öffentliche Bereitstellung von Kinderbetreuung und Pflege von älteren Menschen Erwerbsrestriktionen insbesondere von Frauen mildern und so wieder ein hohes Niveau an Erwerbstätigkeit sichern. Allerdings ist auch Esping-Andersen pessimistisch, was die derzeitige Vereinbarkeit von Vollerwerbstätigkeit und wirtschaftlichem Wachstum angeht (vgl. Esping-Andersen 1990: 164, 1999).
3.1 Dekommodifizierung
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Teilhabe und Verwirklichung von Lebenschancen gesehen (vgl. Kronauer 2002). Dies sind Aspekte, die weit über ökonomische Faktoren hinausreichen. Auch aus sozialpsychologischer Sicht wird neben der Erzielung von Einkommen eine Reihe weiterer Faktoren geltend gemacht. Jahoda (1983) nennt insgesamt fünf ‚Erfahrungskategorien’, die mit Erwerbsarbeit verbunden sind: „die Auferlegung einer festen Zeitstruktur, die Ausweitung der Bandbreite sozialer Erfahrungen in Bereiche hinein, die weniger stark emotional besetzt sind als das Familienleben, die Teilnahme an kollektiven Zielsetzungen oder Anstrengungen, die Zuweisung von Status und Identität durch die Erwerbstätigkeit und die verlangte regelmäßige Tätigkeit“ (Jahoda 1983: 99, vgl. auch: 70). Diese Aspekte werden in der Armutsfallendiskussion häufig vernachlässigt. Auch in der vorliegenden Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der Frage, inwieweit die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen – und hier sind vor allem materielle Aspekte gemeint – das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigkeit beeinflusst. Dies heißt nicht, dass Erwerbstätigkeit allein als Möglichkeit zur Einkommenserzielung gesehen wird. Es heißt aber (zumindest implizit), dass für die Erklärung von Länderunterschieden materielle Aspekte als entscheidender angesehen werden, als Unterschiede in der gesellschaftlichen Bedeutung von Erwerbstätigkeit. Anders formuliert: Es wird angenommen, das in allen hier betrachteten Ländern, Erwerbstätigkeit Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe bietet und dass die sozialen Normen, die mit Erwerbstätigkeit verbunden sind, sich nicht grundlegend unterscheiden. Dies ist sicherlich eine vereinfachende Annahme. Insbesondere hinsichtlich der Einstellungen zur Frauenerwerbstätigkeit hat die bisherige Forschung deutliche Länderunterschiede gezeigt (vgl. Künzler et al. 1999, Sjöberg 2004). Hierauf wird im Zusammenhang mit der Betrachtung von Frauenerwerbstätigkeit nochmals eingegangen. Die bisherige Betrachtung ist jedoch auch bei einem Fokus auf materielle Aspekte unzureichend. Bislang wurde davon ausgegangen, dass sich Erwerbstätigkeit und der Bezug von Transfers unvereinbar gegenüber stehen. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn Erwerbseinkommen vollständig mit Transfereinkommen verrechnet werden, also bis zum Erreichen der Transferbezugsgrenze kein Einkommensgewinn erzielt werden kann, da die Zunahme von Erwerbseinkommen durch die Abnahme von Transfereinkommen ausgeglichen wird. Weiter wird unterstellt, dass der Bezug von Transfers und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zwei Optionen sind, zwischen denen frei gewählt werden kann. Erstens sind aber in vielen Transfersystemen Elemente enthalten, die Erwerbstätigkeit durch ein nicht vollständiges Abschmelzen von Transfers positiv sanktionieren (vgl. Doudeijns et al. 2000, OECD 1996, 2005). Zweitens gibt es jeweils Regelungen, die Nichterwerbstätigkeit durch einen Entzug von Transfers negativ sanktionieren. Letzteres betrifft nicht nur die mit dem Begriff ‚workfare’ bezeichneten Maßnahmen (vgl. Lødemel/Trickey 2000), sondern ist grundlegendes Prinzip aller Systeme der Einkommenssicherung. Wird die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abgelehnt, können keine Transfers bezogen
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
werden. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn Restriktionen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bestehen, die innerhalb der einzelnen Systeme akzeptiert und die auch klar, aber durchaus unterschiedlich definiert sind, wie beispielsweise Alter, Krankheit, Behinderung, Kinderbetreuung, Unangemessenheit der Qualifikation oder Entlohnung (vgl. zur unterschiedlichen Abgrenzung dieser Gruppen Kim 1998: 71, Spicker 1993: 114). Ansonsten gilt die implizite Annahme der Theorie des Arbeitsangebots eben nicht, dass Wahlfreiheit zwischen Erwerbstätigkeit und Transferbezug besteht (wobei dies auch in der grundlegenden Definition von Dekommodifizierung mitschwingt). Die Annahme gilt deswegen nicht, weil in allen Transfersystemen Sanktionen bei Ablehnung einer Erwerbstätigkeit bestehen. Kvist (1998) argumentiert daher, dass eine umfassende Analyse der Wirkungen von Transferleistungen immer auch sämtliche Bezugsbedingungen berücksichtigen muss. Je strikter tatsächliche Sanktionen sind und je enger die Gruppe derjenigen definiert ist, deren Nichterwerbstätigkeit akzeptiert wird, desto geringer wird der Einfluss der prinzipiellen Verfügbarkeit und Höhe von Leistungen auf das Arbeitsangebot ausfallen. Der oben vereinfachend angenommene negative Einfluss von Dekommodifizierung auf Armut von Erwerbstätigen wird also dann abgeschwächt, wenn die Gruppe derjenigen, die von Sanktionen aufgrund von Nichterwerbstätigkeit ausgenommen sind, klein ist und Sanktionen für alle übrigen umfangreich sind. Anders sieht es aus, wenn Erwerbstätigkeit durch Wohlfahrtsstaaten positiv sanktioniert wird. Diese Regelungen sind häufig ausdrücklich darauf ausgerichtet, Armutsfallen zu vermeiden (vgl. Doudeijns et al. 2000, OECD 1996, 2005). Eine Möglichkeit, Armutsfallen zu entschärfen, besteht in zusätzlichen Transfers oder Steuererleichterungen, die sich speziell an Erwerbstätige richten (Lohnsubventionen, negative Einkommenssteuer). Eine andere Möglichkeit ist, Transfers nicht in dem Maße zu entziehen, in dem Erwerbseinkommen erzielt werden. Der Rückgang an Transfereinkommen ist also bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit mit (zunächst) niedrigem Einkommen weniger stark. Die angenommenen negativen ökonomischen Anreizeffekte werden somit abgeschwächt, bleiben prinzipiell aber bestehen. Studien, die den Einfluss der negativen Einkommenssteuersysteme in den USA und Großbritannien untersuchen, kommen zu dem Schluss, dass zwar positive Effekte auf die Partizipationsentscheidung bestehen, jedoch auch geringe negative Effekte auf das Ausmaß des Arbeitsangebots (Eissa/Hoynes 2004, Bargain/Orsini 2006, Brewer et al. 2006). Der Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen ist insgesamt nicht eindeutig abzuschätzen. Einerseits zielen die Leistungen darauf, auch dann erwerbstätig zu sein, wenn man allein aus der Erwerbstätigkeit kein ausreichendes Einkommen erzielen kann. Die Leistungen wirken also nicht dekommodifzierend, sondern rekommodifizierend. Sind dann die Transferleistungen bzw. Steuervergünstigungen nicht hoch genug, um Armut zu vermeiden, ergibt sich eine Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen. Andererseits wird durch die Transfers jedoch das Einkommen von Erwerbstätigen erhöht, sodass auch eine
3.1 Dekommodifizierung
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armutsreduzierende Wirkung vorliegen kann. Der genaue Einfluss hängt stark von der Ausgestaltung der einzelnen Systeme ab. Inwieweit sich entsprechende Regelungen für einen Bezug von Transfers bei Erwerbstätigkeit unterscheiden, und ob hier grundlegende Differenzen zwischen den betrachteten Ländern bestehen, wird in Abschnitt 3.6 betrachtet. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass einerseits Transferleistungen, die sich dem Namen nach an Arbeitslose und Nichterwerbstätige richten, auch von Erwerbstätigen bezogen werden können, und dass es andererseits, zum Teil innerhalb dieses Systems, zum Teil außerhalb, Komponenten gibt, die sich speziell an Erwerbstätige richten. Es wird weiter angenommen, dass diese Leistungen Armut von Erwerbstätigen verringern können. Sie können aber auch ökonomische Anreize für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit setzen, ohne dass Armut vermieden wird. Geht man aber grundsätzlich von einer Armutsreduktion durch Transfers aus, ist zu berücksichtigen, dass sich das Ausmaß dieser Armutsreduktion je nach länderspezifischer Ausgestaltung der Maßnahmen unterscheidet. Relevant sind auch hier die Höhe, die Anspruchsbedingungen und die Zielgerichtetheit. Alle drei Faktoren werden aber entscheidend durch die Ausgestaltung des Übergangs von Transferbezug zu Erwerbseinkommen beeinflusst. Aussagen über das Ausmaß der Armutsreduktion bei Erwerbstätigen sind nur auf Basis einer genaueren Betrachtung eben dieser Regelungen möglich. Neben Leistungen, die sich an Erwerbstätige richten, ist der Bezug von Transfereinkommen durch arbeitslose oder nichterwerbstätige Haushaltsmitglieder zu berücksichtigen, die auch in das Haushaltseinkommen mit einfließen. Entscheidend ist hierbei neben der Höhe dieser Leistungen, ob diese Leistungen unabhängig vom Einkommen anderer, in dem hier betrachteten Fall erwerbstätiger Haushaltsmitglieder bezogen werden können. Wichtig ist also, ob die Voraussetzung für den Bezug von Leistungen eine Bedürftigkeitsprüfung auf Haushaltsebene ist und, falls ja, wie diese ausgestaltet ist (Zielgerichtetheit). Auch hier können Armutsfallen auftreten und zwar in der Form, dass Erwerbseinkommen einer Person auf Transfers von Haushaltsmitgliedern angerechnet werden. Dies kann dazu führen, dass sich die Ausübung einer Erwerbstätigkeit für Partner von Arbeitslosen ökonomisch nicht lohnt. „[D]ie fehlende Individualisierung der Bedürftigkeitsprüfung [führt] dazu, daß auch für die PartnerIn eine Arbeitslosen- bzw. Armutsfalle entsteht, weil das Haushaltseinkommen auch durch ihre Erwerbsarbeit nicht gesteigert wird. Dies gilt jedenfalls immer dann, wenn das erzielte Einkommen des Leistungsempfängers selbst oder das seiner Partnerin voll bei den bedürftigkeitsgeprüften Leistungen angerechnet wird und das zu erzielende Nettoerwerbseinkommen die Transferleistungen für die gesamte Familie nicht übersteigt“ (Doudeijns 2000: 188f). In diesem Punkt unterscheiden sich einerseits in vielen Ländern die Systeme der Arbeitslosenunterstützung und der Grundsicherung (vgl. Mitchell 1991, Eardley 1996, OECD 2004a). Andererseits gibt es aber auch Länder, in denen grundsätzlich – unabhängig von der Dauer der Arbeitslosigkeit – Leistungen nur auf Basis einer Bedürftigkeits-
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
prüfung gewährt werden (z.B. Großbritannien, vgl. Sutherland 2001). Bezogen auf Armut von Erwerbstätigen heißt dies, dass eine höhere Armutsreduktion von Leistungen von erwerbslosen Haushaltsmitgliedern dann zu erwarten ist, wenn diese Leistungen keiner Bedürftigkeitsüberprüfung unterliegen. Dieses Ausmaß der Zielgerichtetheit ist neben der Höhe der Leistungen ein zentraler Aspekt der Dekommodifizierung. Außerdem kann auch der Bezug von Renten und Pensionen Auswirkungen auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen haben. Dies ist entweder dann der Fall, wenn Erwerbstätige mit Personen über dem Erwerbsalter zusammen leben (beispielsweise mit ihren Eltern oder Schwiegereltern), oder dann, wenn Renten auch Personen gewährt werden, die prinzipiell noch im erwerbsfähigen Alter sind, aber ihre Erwerbstätigkeit im Rahmen z.B. von Altersteilzeitprogrammen bereits reduziert haben.16 Während letzteres für die Erklärung von Unterschieden im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen nicht als zentral angesehen wird, ist ersteres von größerer Bedeutung – allerdings nicht vorwiegend unter dem hier angesprochenen Aspekt, dass Altersbezüge zum Haushaltseinkommen beitragen. Wichtiger erscheint, dass mit entsprechenden Formen des familialen Zusammenlebens auch Veränderungen im Bedarf von Haushalten und vor allem im Ausmaß von Pflegeund Betreuungsleistungen innerhalb der Familie verbunden sind. Hierauf wird im Folgenden unter dem Stichwort Defamilisierung noch näher eingegangen. Zusammenfassend kann ein negativer Einfluss des Ausmaßes an Dekommodifizierung auf Armut von Erwerbstätigen angenommen werden. Diese Annahme beruht auf drei unterschiedlichen Mechanismen. Erstens bewirkt die Verfügbarkeit von Transfers, dass diejenigen, die vor allem aufgrund niedriger Lohnsätze ein geringes Einkommen erzielen und somit ein hohes Armutsrisiko aufweisen, häufiger nicht erwerbstätig sind (impliziter Mindestlohn). Dieser Zusammenhang ist allerdings nur auf Basis der Annahmen der Theorie des Arbeitsangebots (z.B. rein ökonomische Arbeitsanreize) und unter Missachtung der Tatsache, dass keine freie Wahl zwischen Erwerbstätigkeit und Transferbezug besteht, anzunehmen. Zweitens können Transfers oder andere Formen der Unterstützung auch von Erwerbstätigen in Anspruch genommen werden. Auch hier ist ein Einfluss der Höhe und Verfügbarkeit der Leistungen auf das Ausmaß der Armutsreduktion anzunehmen. Je höher und verfügbarer entsprechende Leistungen sind, desto niedriger sollte das Armutsrisiko sein. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass diese Leistungen auch rekommodifizierend wirken können, wenn sie die Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Bedingung setzen. Ohne die Ausgestaltung entsprechender Systeme im Detail zu betrachten, ist jedoch nicht abzuschätzen, ob der erste oder der zweite Effekt überwiegt. 16 Hierzu sind auch Erwerbsunfähigkeitsrenten zu rechnen, deren potenzieller Kreis von Anspruchsberechtigten häufig nicht eindeutig abgegrenzt werden kann und die u.a. in südeuropäischen Ländern als funktionales Äquivalent für ein nicht ausreichendes System der Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung diskutiert werden (vgl. Ferrera 1996, Trifiletti 1999, Schmidt/Sevak 2004).
3.2 Defamilisierung
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Drittens reduzieren auch Transfers, die von Haushaltsmitgliedern bezogen werden, das Armutsrisiko von Erwerbstätigen. Hier ist für das Ausmaß der Armutsreduktion neben der Höhe insbesondere die Zielgerichtetheit der Leistungen ausschlaggebend (also ob diese in Form einer Bedürftigkeitsprüfung auf die Einkommen anderer Haushaltsmitglieder angerechnet werden).
3.2 Defamilisierung, intergenerationale und geschlechtsspezifische Abhängigkeiten Während Esping-Andersen (1990) zunächst zur Unterscheidung von Wohlfahrtsstaaten vor allem auf das Ausmaß an Dekommodifizierung abstellt, hat er in der Reformulierung seines Ansatzes zusätzlich die Dimension Defamilisierung eingeführt (Esping-Andersen 1999). Diese Erweiterung ist als direkte Folge umfangreicher Kritik an seinem ursprünglichen Vorgehen zu verstehen. Aus feministischer Sicht wurde kritisiert, dass das Vorgehen Esping-Andersens einer an männlichen Standards geprägten Sicht auf Wohlfahrtsstaaten entspricht und geschlechtsspezifische Elemente gänzlich ignoriert (vgl. z.B. Lewis 1992, Orloff 1993, O’Connor 1993, Sainsbury 1994). Orloff formuliert die Kritik wie folgt: „Its concepts are explicitly gender-neutral – but the categories of workers, state-market relations, stratification, citizenship, and decommodification are based on a male standard; moreover, gender relations and their effects are ignored“ (1993: 307).17 Als Konsequenz wurde eine stärkere Berücksichtigung dreier Aspekte als notwendig angesehen: Erstens, der Einfluss von Wohlfahrtsstaaten auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familien (vgl. ‚care-regimes’ oder ‚male-breadwinner’ in Abgrenzung zu anderen Modellen bei Lewis 1992, 1997 und Sainsbury 1994). Zweitens, die Berücksichtigung der durch Wohlfahrtsstaaten produzierten geschlechtsspezifischen Ungleichheiten (vgl. die Diskussion des Wohlfahrtsstaats als ‚two-channel’ oder ‚twotier-system’, das unterschiedliche Leistungen für Frauen und Männer bereithält und den Aspekt der Abhängigkeit insbesondere von Frauen vom Staat durch Beschäftigung im öffentlichen Sektor bei Nelson 1990 und Hernes 1987). Und drittens, die Einbeziehung der Unterschiede im Zugang zum Arbeitsmarkt (vgl. Orloff 1993).18 Veränderungen in der im ersten Punkt angesprochenen geschlechtsspezifischen 17 Orloff bezieht sich dabei nicht allein auf Esping-Andersen sondern auch auf andere Vertreter des sogenannten Machtressourcenansatzes (insbesondere Korpi und Palme). 18 Vgl. aber auch Bambra (2004), die wie Esping-Andersen argumentiert, dass sich Dekommodifizierung und Defamilisierung innerhalb von Wohlfahrtsregimes stark überlagern und somit dieser Aspekt – zumindest implizit – bereits in der ursprünglichen Formulierung von Wohlfahrtsregimes enthalten war. Bambra geht allerdings von einer sehr eingeschränkten Definition von Defamilisierung aus und berücksichtigt kaum Südeuropa.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Arbeitsteilung innerhalb von Familien sind dabei eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Aus anderer Perspektive wurde die Abgrenzung von gerade drei Wohlfahrtsregimes in Frage gestellt. So wurde für südeuropäische Wohlfahrtsstaaten geltend gemacht, dass sich diese trotz gewisser Ähnlichkeiten mit den kontinentaleuropäischen konservativen Wohlfahrtsstaaten aufgrund der nur rudimentären Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme (vgl. Leibfried 1990, 1992, Bonoli 1997) bzw. der starken Bedeutung von klientelistisch organisierten und auf die Familie bezogenen Formen sozialer Sicherung unterscheiden (vgl. Ferrera 1996, Flaquer 2000). Obwohl sämtliche Kritik auf die Anerkennung der südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten als Vertreter eines eigenständigen Regimetyps zielt, unterschieden sich die Argumentationsweisen teilweise deutlich. Insbesondere Leibfried (1990, 1992) verweist auf Entwicklungsrückstände, die sich in einer rudimentären Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaats und einer stärkeren Rolle der Familie als soziales Sicherungssystem zeigen. Dagegen argumentieren Ferrara (1996) und Flaquer (2000), dass diese Sichtweise zu kurz greift. Dies zeigt sich daran, dass zumindest in Teilbereichen ein hohes Niveau sozialer Sicherung erreicht wird. Sie stellen dagegen die Bedeutung klientelistischer und familialer Muster bei der Organisation von Wohlfahrtsstaaten in den Vordergrund. Insbesondere letzteres trifft sich mit der aus feministischer Sicht geäußerten Kritik, da auch dort eine stärke Berücksichtigung der Rolle der Familie bei der Betrachtung von Wohlfahrtsstaaten als notwendig erachtet wird. Beide Linien der Kritik werden von Esping-Andersen (1999) mit der Verwendung des Konzeptes der Defamilisierung adressiert, das letztlich aber vor allem zur zusätzlichen Abgrenzung des konservativen Wohlfahrtsregimes genutzt wird.19 Die Tatsache, dass in der vorliegenden Arbeit das grundlegende Konzept der Defamilisierung für die Erklärung von Unterschieden im Ausmaß und in der Struktur von 19 Überlegungen zur Verbindung herkömmlicher vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung mit feministischer Theorie gehen insbesondere auf Orloff (1993) und O’Connor (1993) zurück. So schlägt O’Connor (1993: 501f) die Betrachtung von „theoretical and methodological issues associated with the incorporation of gender into the comparative analysis of welfare states” vor. Und stellt weiter fest: „ [W]e cannot hive off 'gender and the welfare state' as a women's issue. Gender is integral to the understanding of the welfare state and its importance is increasing due to changes in the structure of the labour market and welfare state restructuring associated with resource constraints”. Oberflächlich betrachtet wird diese Forderung von Esping-Andersen (1999) eingelöst, letztlich aber eher in formaler als in substantieller Weise. Im Vordergrund steht bei ihm die eindeutigere Abgrenzung des konservativen Regimes. Während seine ursprüngliche Betrachtung stark den Gegensatz zwischen ‚Staat’ (sozialdemokratisches Regime) und ‚Markt’ (liberales Regime) betont und das konservative Regime vor allem aufgrund der korporatistischen Organisation der sozialen Sicherungssysteme abgegrenzt wurde, identifiziert Esping-Andersen über das Konzept der Defamilisierung die Bedeutung von ‚Familie’ als zentrales Merkmal des konservativen Regimes (zusammenfassend vgl. Esping-Andersen 1999: 85). Diese Zuordnung macht es weder möglich, Dekommodifizierung und Defamilisierung unabhängig voneinander zu betrachten, noch südeuropäische Wohlfahrtsstaaten als Vertreter eines vierten Typs aufzufassen. Weiter geht Korpi (2000), auch er ein Vertreter der herkömmlichen vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, der ‚gender policy models’ als zweites Klassifizierungsmerkmal ausdrücklich in seinen Typologisierungsansatz aufnimmt.
3.2 Defamilisierung
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Armut von Erwerbstätigen als notwendig betrachtet wird, bedeutet nicht, dass in diesem Punkt die Interpretation von Esping-Andersen übernommen wird. Ursprünglich taucht der Begriff zeitgleich in Arbeiten von McLaughlin und Glendinning (1994) und Lister (1994) auf.20 Beide legen Defamilisierung in ausdrücklicher Analogie zum Begriff der Dekommodifizierung an. „Arguably, the dimension of decommodification needs also to be complemented by that what we might call 'defamilisation', if it is to provide a rounded measure of economic independence. Welfare regimes might then also be characterised according to the degree to which individual adults can uphold a socially acceptable standard of living, independently of family relationships, either through paid work or through the social security system” (Lister 1994: 37).21 Obwohl die Definition weiter gefasst ist, steht bei Lister der Aspekt ökonomischer Autonomie von Frauen im Vordergrund (vgl. auch Orloff 1993, O’Connor 1993). Der Fokus von McLaughlin und Glendinning, die den Begriff im Zusammenhang der Betrachtung von Pflegearrangements für ältere Menschen entwickeln, liegt dagegen stärker auf dem Aspekt der intergenerationalen Abhängigkeit (vgl. Millar/Warman 1996, Hantrais 1999, Leitner 2003). Dass mit dem Begriff Defamilisierung grundsätzlich an beide Dimensionen – ‚Autonomie von Frauen’ und ‚intergenerationale Abhängigkeit’ – gedacht ist, wird in folgender Formulierung deutlich: „The issue is […] the extent to which packages of legal and social provisions have altered the balance of power between men and women, between dependents and non-dependents, and hence the terms and conditions under which people engage in familial or caring arrangements” (McLaughlin/Glendinning 1994: 66). Der Begriff wurde allerdings kritisiert, da er scheinbar eine Präferenz für die Auflösung von Familien nahe legt. O’Connor et al. (1999: 32) merken dazu an: „We fear that 'defamilisation' will suggest a preference for substantive autonomy – no families – and conjure up exactly the sort of illusions about individuals' capacities to operate without interdependencies for which traditional advocates of liberalism have been criticised by feminist political theorists”. Der Begriff mag diese Interpretation nahe legen, sie ist hier aber ausdrücklich nicht gemeint.22 Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, welcher Einfluss von einem unterschiedlichen Grad an Defamilisierung auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten ist. Hierbei wird vor allem auf den Einfluss der Defamilisierung auf Formen des familialen Zusammenlebens eingegangen und 20 Esping-Andersen (1999: 51) verweist dagegen auf Saraceno (1997), die wiederum McLaughlin und Glendinning (1994) zitiert. 21 Die Definition von McLaughlin und Glendinning (1994: 65) lautet: „De-familisation is constituted by those provisions and practices which vary the extent to which well-being is dependent on 'our' relation to the (partriarchal) family”. 22 Die Idee einer Entfamilisierung wird auch von Esping-Andersen deutlich abgelehnt: „De-familialism does not imply 'anti-family'; on the contrary it refers to the degree to which households' welfare and caring responsibilities are relaxed - either via welfare state provision, or via market provision” (EspingAndersen 1999: 51).
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
gefragt, inwieweit die Ausgestaltung dieses Zusammenlebens die Möglichkeiten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit strukturiert. Ersteres – technisch formuliert die Größe und Struktur von Haushalten – beeinflusst in zentraler Weise den Bedarf von Haushalten. Letzteres beeinflusst die Anzahl und die Höhe von Erwerbseinkommen im Haushalt und somit die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Betrachtet man Armut von Erwerbstätigen im Rahmen des Ressourcenansatzes (siehe Abschnitt 2.4 und 4.1) als Verhältnis von Ressourcen und Bedarf, ist ein Einfluss des Grades der Defamilisierung offensichtlich. Ein zentraler, aber nicht der einzige Aspekt von Defamilisierung ist, welche Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in Paarhaushalten durch ein Wohlfahrtsregime befördert wird (vgl. Gornick et al. 1997, Dingeldey 1999, Korpi 2000). Es geht dabei darum, inwieweit wohlfahrtsstaatliche Regelungen ein männliches oder ein gleichberechtigtes Ernährermodell begünstigen oder verhindern, also inwieweit unbezahlte Familienarbeit (von Frauen) als Voraussetzung für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit (von Männern) angesehen wird.23 Relevante Maßnahmen umfassen die Verfügbarkeit oder finanzielle Förderung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten (insbesondere auch für Kinder unter 3 Jahren), Formen der Altenpflege außerhalb der Familie, gesetzliche Arbeitsplatzgarantien und finanzielle Unterstützung für die Dauer von Erziehungszeiten und hier insbesondere Regelungen, die nicht nur von Müttern, sondern auch von Vätern in Anspruch genommen werden (vgl. Gornick et al. 1997, Korpi 2000). Für die Förderung entsprechender Dienste soll hier der Begriff ‚Doppelverdienerunterstützung’ verwendet werden. Doppelverdienerunterstützung zielt – neben der prinzipiellen Möglichkeit, Familie und Erwerbstätigkeit zu verbinden – auf die Verringerung der Abhängigkeit von Frauen von der Familie (und insbesondere vom ‚männlichen Ernährer’). Im Sinne der oben angeführten Definitionen wirken diese Maßnahmen defamilisierend. Dabei wird häufig übersehen, dass die Entlastung von unbezahlter Familienarbeit nur eine Voraussetzung für diese Form der Defamilisierung ist. Die andere ist die Gewährleistung des Zugangs zum Arbeitsmarkt bei gleichen Verdienstmöglichkeiten für Frauen und Männer (vgl. Orloff 1993). Es spielen also auch Arbeitsmarktrigiditäten, Mechanismen der geschlechtsspezifischen Segregation auf dem Arbeitsmarkt und die generellen Lohnunterschiede von Männern und Frauen eine Rolle. Während letzteres vor allem einen Einfluss auf die Karrieremobilität und die Höhe des Erwerbseinkommens hat, wirken Arbeitsmarktrigiditäten auch dem Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt entgegen. Betrachtet man Arbeitsmarktrigiditäten als 23 Und das in allen Wohlfahrtsstaaten bis weit in die 1960er Jahre, in vielen deutlich länger, als Standard vorausgesetzt wurde. Vgl. dazu folgendes Zitat aus dem Beveridge Report, wo diese Arbeitsteilung als Grundlage für Wohlfahrtsstaaten gesehen wird: „[T]he great majority of married women must be regarded as occupied with work which is vital though unpaid, without which their husbands could not do their paid work, and without which the nation could not continue” (Beverdige 1942: 49, zitiert nach Esping-Andersen 1999: 45).
3.2 Defamilisierung
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Schutzmechanismus für die – in manchen Ländern besonders ausgeprägt – männliche Mehrheit der Erwerbstätigen, wird der weiblichen Mehrheit der Nichterwerbstätigen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert (vgl. Abschnitt 2.3). Bezogen auf Armut von Erwerbstätigen sind diese Faktoren zum einen im Fall von alleinlebenden oder alleinerziehenden Frauen relevant, da hier das Erwerbseinkommen von Frauen immer das einzige potenzielle Erwerbseinkommen ist und so die geschlechtsspezifische Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt ohne möglichen Ausgleich im Haushaltskontext zum Tragen kommt. Ansonsten steht bei der Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen sicherlich die Frage im Vordergrund, ob in Paarhaushalten eine oder zwei Personen erwerbstätig sind, in den meisten Fällen also, ob nur der Mann oder auch die Frau erwerbstätig ist. Das Risiko, arm zu sein, ist für Doppelverdienerhaushalte im Vergleich zu anderen Erwerbstätigenhaushalten niedrig (vgl. Abschnitt 2.5). Von Rahmenbedingungen, die Doppelverdienerhaushalte fördern, ist daher neben der Reduktion des Armutsrisikos von alleinlebenden oder alleinerziehenden Frauen vor allem eine Reduktion von Armut von Erwerbstätigen insgesamt zu erwarten. Den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, wobei Doppelverdienerunterstützung eine Reihe zentraler, aber nicht sämtliche Maßnahmen umfasst, ist nur eine Möglichkeit von Wohlfahrtsstaaten, auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einzuwirken. Eine zweite, gegenläufige Möglichkeit besteht darin, die ökonomischen Nachteile des Einverdienermodells durch Transfers oder steuerliche Vorteile zu kompensieren. Diese Maßnahmen, die vor allem familien- oder eheorientierte Komponenten des Steuersystems (z.B. Ehegattensplitting oder Steuerfreibeträge) und die Zahlung von Kinder- oder Familientransfers (z.B. Kindergeld) umfassen, werden häufig mit dem Begriff ‚allgemeine Familienförderung’ bezeichnet, der auch hier verwendet werden soll (vgl. z.B. Korpi 2000, Dingeldey 1999, 2000).24 Den Einkommensvorteilen familien- oder eheorientierter Komponenten des Steuersystems, insbesondere nicht vollständig individualisierte Formen der Besteuerung von Paaren, stehen allerdings deutliche negative ökonomische Anreizeffekte für Erwerbstätigkeit beider Partner gegenüber. Dingeldey (1999: 60) spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚indirekten Belohnung’ der Nichterwerbstätigkeit eines Partners. Es ist also gerade nicht nur eine Kompensation der familienbedingten Restriktionen, die für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestehen, sondern diese Kompensation wird nur dann geleistet, wenn die Erwerbstätigkeit eines Partners im Umfang reduziert oder beendet wird. Diese Regelungen wirken als starker negativer ökonomischer Arbeitsanreiz und fördern so die stärkere Abhängigkeit eines Partners, in den meisten Fällen der Frau von der Familie, wirken also 24 Neben dem Einfluss des Steuersystems wären noch weitere Aspekte zu nennen, wie beispielsweise die Mitversicherung von Ehepartnern und Kindern in der Krankenversicherung von Erwerbstätigen (vgl. Dingeldey 1999, 2000).
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
der Defamilisierung entgegen. Man könnte dies dann als familisierende Wirkung bezeichnen. Im Gegensatz zu steuerlichen Begünstigungen ist eine entsprechende Wirkung von Kindergeld und anderen familienbezogenen Transfers nur dann zu erwarten, wenn sie einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegen, also dann nicht gezahlt werden, wenn Haushalte über ein höheres Einkommen verfügen, was eher der Fall sein wird, wenn beide Partner erwerbstätig sind. Werden diese Transfers aber unabhängig von Einkommen und Erwerbstätigkeit gezahlt – wie es in vielen Ländern der Fall ist – kann man zwar auch gemäß dem Einkommenseffekt (vgl. Abschnitt 3.1) einen negativen Einfluss auf das Arbeitsangebot annehmen, da man aufgrund der Transfers auch mit ‚weniger Arbeit über die Runden kommt’.25 Allerdings ist dieser Einkommenseffekt weitaus schwächer einzuschätzen als der Effekt des Transferentzugs bei steigendem Einkommen. Daher ist insgesamt von einer armutsreduzierenden Wirkung von Kinder- und Familienleistungen auszugehen (vgl. für Deutschland Strengmann-Kuhn 2003). Zusammengenommen wirken die Maßnahmen der allgemeinen Familienförderung also familisierend, jedoch kann insbesondere von nicht-bedürftigkeitsgeprüften Transfers auch ein armutsreduzierender Effekt ausgehen. Dies ist insbesondere deswegen zu berücksichtigen, da einige Wohlfahrtsstaaten sowohl Elemente der Doppelverdienerunterstützung als auch der allgemeinen Familienförderung miteinander verbinden (vgl. Korpi 2000). Hier wird u.U. die armutsreduzierende Wirkung der Doppelverdienerunterstützung durch generöse Kinder- oder Familientransfers noch verstärkt. Während der Einfluss von Defamilisierung auf Armut von Erwerbstätigen bislang vor allem mit Bezug auf die Autonomie von Frauen betrachtet wurde, soll nun auf die zweite Dimension – intergenerationale Abhängigkeit – eingegangen werden. Dies betrifft zum einen die Abhängigkeit junger Erwachsener, die sich im Übergang in den Arbeitsmarkt befinden, von ihren Eltern. Zum anderen betrifft es Ältere, die bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, und ihre Abhängigkeit von ihren Kindern. Insbesondere letzteres ist offensichtlich eng mit dem Aspekt der Autonomie von Frauen verbunden, die als Töchter, Schwiegertöchter oder Ehefrauen die Hauptlast der Pflege innerhalb von Familien tragen. Die Betrachtung aus der Perspektive intergenerationaler Abhängigkeit betont dagegen auch die andere Seite des Abhängigkeitsverhältnisses. Zunächst soll aber auf die Abhängigkeit junger Erwachsener eingegangen werden. Hier spielen zwei Bedingungen eine Rolle: Zum einen die Möglichkeit des Zugangs zum Arbeitsmarkt, zum anderen die Möglichkeit des Bezugs von staatlichen Transfers ohne bereits (länger) erwerbstätig gewesen zu sein. Sind beide Zugänge nicht oder nur in unzureichender Form gegeben, bleibt als 25 Unter dem Gesichtspunkt der Autonomie von Frauen ist zu berücksichtigen, dass Kindergeld und andere Familienleistungen dann als eine zumindest teilweise ‚Entlohnung’ der Familienarbeit betrachtet werden können, wenn diese an die Frau ausgezahlt werden. Häufig ist dies aber nicht der Fall, sondern sie werden an den Mann ausgezahlt, beispielsweise direkt mit dem Erwerbseinkommen.
3.2 Defamilisierung
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Alternative nur die Familie übrig. Als Mechanismus, der Jüngeren den Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert, wird ähnlich wie im Fall von Frauen vor allem eine hohe Arbeitsmarktrigidität angesehen. Hier sind es allerdings die – in der Mehrheit älteren – Arbeitsplatzinhaber, die vor der Konkurrenz mit Jüngeren geschützt werden (vgl. Gallie et al. 1998, Mills et al. 2006). Da aufgrund der unzureichenden Erwerbsbiographie häufig auch keine Ansprüche innerhalb des Systems der Arbeitslosenunterstützung bestehen, bleiben allein Systeme der sozialen Grundsicherung übrig, die nicht in allen Ländern zur Verfügung stehen. Als Konsequenz dieser Mechanismen lebt insbesondere in südeuropäischen Ländern ein hoher Anteil von jungen Arbeitslosen bei ihren (erwerbstätigen) Eltern (vgl. Paugam/Russell 2000). Bezogen auf Armut von Erwerbstätigen bedeutet dies, dass mehr Personen von einem Erwerbseinkommen abhängig sind, oder anders ausgedrückt, dass sich das Verhältnis von Bedarf zu Ressourcen verschlechtert. Dieser Zusammenhang ist auch für das Zusammenleben von Älteren mit ihren Kindern anzunehmen, wenn eine unzureichende Alterssicherung zumindest ein Grund für dieses Zusammenleben ist. Entscheidender ist aber vermutlich der Aspekt der Betreuung und Pflege, wenn diese nicht über wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen außerhalb der Familie geleistet wird. Bezogen auf Armut von Erwerbstätigen ist dies dann allerdings eher als Restriktion für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit anzusehen, insbesondere als Beschränkung der oben diskutierten Autonomie von Frauen. Wenn nicht ein unzureichendes (Renten)einkommen der Grund für das Zusammenleben ist, sondern vor allem die Betreuung und Pflege, müssten Renten auch in Erwerbstätigenhaushalten auf der ‚Positivseite’ der Ressourcen berücksichtigt werden. Das Zusammenleben im Rahmen eines erweiterten Familienzusammenhangs ist somit nicht nur unter dem Aspekt der Vergrößerung der Bedarfsgemeinschaft, sondern auch unter dem Aspekt der Verbreiterung der Basis möglicher Ressourcenquellen zu betrachten. In diesem Sinne können dann auch geringe Einkommen, wie beispielsweise die von jungen Niedriglöhnern, die vielleicht wie ihre arbeitslosen Altersgenossen bei ihren Eltern leben, zu einer Verringerung von Armut von Erwerbstätigen beitragen. Genau dieses Zusammenkommen unterschiedlicher Ressourcenquellen wird von Trifiletti unter dem Schlagwort ‚synthesis of breadcrumps’ für Italien als Vertreter des südeuropäischen Wohlfahrtsregimes diskutiert: „[A]lthough neither alone could provide a decent living, together they might be of some value if combined within a family income which included other partial incomes from agriculture, self-employment, self-produced services or self-grown products or whatever else, in a 'synthesis of breadcrumps' by which all the needs of the family members could somehow be met” (Trifiletti 1999: 52).
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In dieser Interpretation steht die Schutzfunktion erweiterter Familiensolidarität im Vordergrund,26 während zuvor ein geringer Grad der Defamilisierung vor allem unter dem Aspekt der Überforderung der Familie (und vor allem ihrer Erwerbstätigen) gesehen wurde. Insofern ist kein eindeutiger Einfluss von Defamilisierung auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten. Deutlich hervortreten sollten aber Unterschiede in der Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen. Hier ist bei einer starken Betonung der Familiensolidarität bzw. einem geringen Grad der Defamilisierung eine stärkere Belastung klassischer Hauptverdiener zu erwarten und somit eine Verschiebung des Problems Armut von Erwerbstätigen von den Rändern in die Kernbereiche des Arbeitsmarktes. Umgekehrt bedeutet dies (durchaus paradoxerweise), dass das Armutsrisiko von Arbeitsmarkteinsteigern oder Frauen bei einem niedrigen Grad der Defamilisierung geringer als bei starker Defamilisierung ausfallen sollte.
3.3 Lohnverhandlungssysteme, Mindestlöhne und Verteilung von Erwerbseinkommen Bislang wurden entlang der Dimensionen Dekommodifizierung und Defamilisierung vor allem institutionelle Rahmenbedingungen diskutiert, von denen ein Einfluss auf die Höhe von Transfereinkommen, die Rolle der Familie und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb von Familien erwartet wird. Allenfalls indirekt wurde auf die Frage eingegangen, inwieweit die Höhe und Verteilung individueller Erwerbseinkommen, die in der Mehrheit der Haushalte die zentrale Einkommensquelle ausmachen (vgl. Abschnitt 2.4), von institutionellen Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Hier wird vor allem ein Einfluss der Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen und anderen Mechanismen der Lohnsetzung erwartet. Geht man davon aus, dass sowohl insgesamt höhere als auch weniger ungleich verteilte Erwerbseinkommen mit einem niedrigeren Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen einhergehen, müssten diese Faktoren auch für das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen relevant sein. Mit Blick auf Armut und Ungleichheit sind entsprechende Zusammenhänge auch bereits gezeigt worden (vgl. Moller et al. 2003, Alderson/Nielsen 2002). Da – im Gegensatz zu arbeitslosen und nichterwerbstäti26 Tatsächlich sind die intergenerationalen Einkommensunterschiede (gemessen am Haushaltseinkommen) in südeuropäischen Ländern weitaus weniger stark ausgeprägt als insbesondere in den skandinavischen Ländern (Vogel 1997). Dieses Ergebnis erscheint aufgrund der schlechten Arbeitsmarktchancen von jungen Erwachsenen in Südeuropa zunächst widersinnig. Es erklärt sich aber daraus, dass, während in Nordeuropa auch junge Geringverdiener in einem eigenen Haushalt leben und somit zur intergenerationalen Einkommensungleichheit beitragen, diese Gruppe in Südeuropa mit ihren Eltern zusammenlebt und Einkommensunterschiede im Haushaltskontext ausgeglichen werden. Ein ähnlicher Zusammenhang zeigt sich für Rentner und das Zusammenleben mit ihren Kindern.
3.3 Lohnverhandlungssysteme, Mindestlöhne und Verteilung von Erwerbseinkommen
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gen Armen – die hier betrachtete Gruppe grundsätzlich Erwerbseinkommen bezieht, erscheint dieser Zusammenhang für arme Erwerbstätige sogar plausibler.27 Hinweise auf institutionelle Bestimmungsgründe der Lohnhöhe finden sich insbesondere in der breiten Literatur zum Einfluss von Lohnverhandlungssystemen auf die makroökonomische Leistungsfähigkeit im Ländervergleich. Der Aspekt der Lohnhöhe ist in Teilen dieser Diskussion zentral, da angenommen wird, dass diese einen Einfluss auf das Ausmaß von Arbeitslosigkeit, Inflation und wirtschaftlichem Wachstum besitzt (vgl. als Überblick OECD 1997, Iversen 1999, Flanagan 1999, Visser 2005). Prinzipiell wird davon ausgegangen, dass die Lohnhöhe Ergebnis von Verhandlungen ist, in denen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüber stehen. Die grundsätzlich bestehende Machtdifferenz wird dabei einerseits durch die Organisation in Gewerkschaften, andererseits durch staatliche Eingriffe, z.B. durch die Festlegung von Verfahrensregeln und Mindeststandards, reduziert. Letzteres schließt auch gesetzliche Mindestlöhne ein, auf die in einem weiteren Schritt eingegangen wird. Zunächst geht es jedoch um die Frage, welchen Einfluss Gewerkschaften auf die Höhe von Löhnen haben, und wie sich dieser Einfluss je nach Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen unterscheidet. In der Literatur, die auf den Aspekt der Verhandlungsmacht von Gewerkschaften abstellt (vgl. Flanagan 1999, Fitzenberger/Kohn 2006, Rueda/Pontusson 2000), wird i.d.R. der gewerkschaftliche Organisationsgrad betrachtet, also der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen abhängig Beschäftigten. Bei einem höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad wird eine stärkere Verhandlungsmacht angenommen, die sich aus höheren finanziellen Mitteln und der damit verbundenen Streikfähigkeit erklärt.28 Weiter wird von einer höheren Legitimation und höheren Mobilisierungsreserven ausgegangen (vgl. Ebbinghaus 2003). Aus diesen Faktoren lässt sich auf eine größere Verhandlungsmacht von Gewerkschaften schließen. Geht man davon aus, dass Gewerkschaften das Ziel höherer Löhne verfolgen, sollte eine stärkere Machtposition mit einer besseren Verwirklichung dieses Ziels einhergehen. Dagegen stehen Überlegungen, die eine Internalisierung negativer externer Effekte annehmen, die gegen eine Durchsetzung des Ziels höherer Löhne sprechen wie z.B. 27 Da Lohnersatzleistungen häufig vom früheren Erwerbseinkommen abhängen, besteht auch bei nichterwerbstätigen und arbeitslosen Armen ein Zusammenhang zu Mechanismen der Lohnsetzung. Allerdings ist dieser indirekt und gilt nicht für alle nichterwerbstätigen und arbeitslosen Armen. 28 Allerdings wird darauf verwiesen, dass dieser Zusammenhang durchaus auch vom Ausmaß an Zentralisierung beeinflusst wird. Deutlich wird dies bei Betrachtung der Tarifbindung, dem Anteil der Beschäftigten, die einem Tarifvertrag unterliegen. In den meisten Ländern liegt die Tarifbindung weit über dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Weiter wird argumentiert, dass ein sinkender gewerkschaftlichen Organisationsgrad insbesondere in dezentralen Verhandlungssystemen zu einem Rückgang der Tarifbindung führt, der bei höherer Zentralisierung nicht zu beobachten ist (vgl. Lucifora 2000: 13). So ist auch zu erklären, dass beispielsweise in Frankreich, wo nur sehr wenige Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind (1994: 9%, zum Vergleich USA: 16%, Deutschland: 29%, Schweden: 91%), die Tarifabdeckung trotzdem mit 95% höher liegt als in den meisten anderen Ländern (USA: 18%, Deutschland: 92%, Schweden: 89%, alle Angaben aus OECD 1997: 71).
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
höhere Preise oder Arbeitslosigkeit (Calmfors 1993). In der älteren Literatur wird dieser Aspekt vor allem aus der Perspektive des Einflusses von Korporatismus diskutiert, also von trilateralen Arrangements, in denen der Staat als Vermittlungsoder Verhandlungspartner auftritt (vgl. Lehmbruch 1984). Es wird dabei argumentiert, dass durch die Zentralisierung und Konsensorientierung korporatistischer Arrangements eine stärkere Internalisierung negativer externer Effekte erfolgt, und dass dies dem Ziel der Durchsetzung höherer Löhne entgegenläuft und zu höherer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit führt (vgl. Bruno/Sachs 1985). Grundsätzlich wurde dieser sogenannten ‚Korporatismushypothese’, die einen linearen Zusammenhang zwischen Korporatismus und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit annimmt, in der einflussreichen Arbeit von Calmfors und Driffill (1988) widersprochen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten betrachten Calmfors und Driffill mit dem Grad der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen nur eine Dimension von Korporatismus.29 Sie unterschieden dabei, ob Tarifverträge national, für Wirtschaftszweige oder für einzelne Firmen gelten, also auf zentraler, intermediärer oder dezentraler Ebene abgeschlossen werden. Calmfors und Driffill argumentieren, dass diese Vorgehensweise gegenüber der Verwendung eines multidimensionalen Konzepts von Korporatismus erlaubt, Hypothesen präzise zu formulieren und Zusammenhänge eindeutig zu bestimmen (vgl. auch Flanagan 1999). Vor allem argumentieren sie aber gegen einen linearen Zusammenhang zwischen Zentralisierung und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und plädieren in Richtung eines umgekehrt U-förmigen Zusammenhangs, der darauf beruht, dass eine Internalisierung externer Effekte insbesondere in zentralisierten und dezentralen Verhandlungssystemen der Anwendung der Verhandlungsmacht von Gewerkschaften für Lohnsteigerungen entgegenwirkt.30 Bei zentralisierten Systemen hat in dieser Argumentation mangelnde Lohnzurückhaltung Preissteigerungen auf nationaler Ebene zur Folge, die somit alle von den Lohnzuwächsen Begünstigten betreffen. Diese und andere negative Externalitäten werden daher internalisiert und wirken sich mäßigend auf Lohnforderungen aus. Im dezentralen Fall fallen Lohnsteigerungen auf das betroffene Unternehmen aufgrund höherer Lohnkosten in Form eines Verlustes der Wettbewerbsposition und daraus resultierenden Beschäftigungsverlusten 29 Eine Betrachtung von Einzeldimensionen findet sich auch in anderen Arbeiten, allerdings häufig ohne dabei auf den Begriff Korporatismus zu verzichten. Teulings und Hartog weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Maße für Korporatismus und Zentralisierung häufig ähnliche Ergebnisse erzielen, dass die konzeptionelle Trennung beider Konzepte trotzdem sinnvoll ist: „Conceptually, it may be useful to maintain a distinction between centralization and corporatism. Centralization defines the aggregation level of bargaining, corporatism adds interaction and coordination with and through the government” (Teulings/Hartog 1997: 31). 30 Sie knüpfen dabei an die Annahme von Olsen (1982) an, dass „organized interests may be most harmful when they are strong enough to cause major disruptions but not sufficiently encompassing to bear any significant fraction of the costs for society of their actions in their own interests” (Calmfors/Driffill 1988: 15).
3.3 Lohnverhandlungssysteme, Mindestlöhne und Verteilung von Erwerbseinkommen
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zurück, da andere Unternehmen im gleichen Wirtschaftszweig nicht mit entsprechend höheren Kosten belastet werden. Auch hier gehen Calmfors und Driffill davon aus, dass diese und andere negative Externalitäten bei den Lohnverhandlungen berücksichtigt werden. Die Arbeit von Calmfors und Driffill (1988) ist in der Folge unter anderem wegen ihrer Beschränkung auf die Betrachtung der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen kritisiert worden (vgl. Soskice 1990). Zudem haben spätere Studien nicht immer den vorhergesagten umgekehrt U-förmigen Zusammenhang belegen können (vgl. OECD 1997, 2004). Insgesamt wird die Beurteilung der Arbeiten zu dem Thema durch das Problem der Operationalisierung von (Teildimensionen von) Korporatismus erschwert. Kenworthy (2003) führt in einem entsprechenden Überblick 42 (!) verschiedene Skalen auf, die Korporatismus oder Teildimensionen von Korporatismus messen. Calmfors merkt bereits in einem früheren Literaturüberblick an: „[T]he most striking conclusion of my survey is perhaps that the links between centralisation and macroeconomic performance appear so complex that a scientific consensus on how best to organise wage bargaining seems unlikely to develop” (1993: 184). Im Gegensatz zu den uneindeutigen Befunden zur makroökonomischen Leistungsfähigkeit und damit verbunden der Lohnhöhe, weist eine Reihe von Arbeiten auf einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Zentralisierung und der Gestalt der Lohnverteilung hin. „[T]he extensive literature on the economic impact of wagebargaining institutions in advanced democratic societies contains only a few widely accepted findings. One of these is that more centralized bargaining institutions strongly encourage wage equality” (Golden/Londregan 2006: 208, vgl. auch Blau/Kahn 1996, OECD 1997, Wallerstein 1999, OECD 2004c). Im Zusammenhang mit Armut von Erwerbstätigen ist dabei insbesondere interessant, dass die Reduzierung der Ungleichheit auf eine Stauchung im unteren Bereich der Lohnverteilung zurückzuführen ist (vgl. Blau/Kahn 1996). Vergleichbare Ergebnisse finden sich auch in Arbeiten, die allein den Einfluss gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht betrachten. Hier wird davon ausgegangen, dass bei einem stärkeren Einfluss von Gewerkschaften eher die Setzung von höheren Lohnuntergrenzen erfolgt, auch wenn kein generell positiver Einfluss auf die Lohnhöhe besteht (vgl. Fitzenberger/Kohn 2006). Desweiteren werden in Ländern mit dezentralen Lohnverhandlungssystemen Unterschiede zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Wirtschaftszweigen angenommen (vgl. Blau/Kahn 1996, Zweimüller/Barth 1994). In zentralisierten Lohnverhandlungssystemen ist diese Unterscheidung nicht relevant, trotzdem lassen sich auch hier ähnliche sektorspezifische Unterschiede beobachten. Neben einem Einfluss auf sektorspezifische Lohndifferentiale finden sich auch Hinweise eines Einflusses stärkerer Zentralisie-
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
rung auf Unterschiede entlang sozio-demographischer Merkmale wie Geschlecht oder Qualifikation.31 Neben Studien, welche die gesamte Einkommensverteilung berücksichtigen, gibt es einige Arbeiten, die ausschließlich den Niedriglohnbereich betrachten (vgl. Lucifora 2000, Lucifora et al. 2005, Robson et al. 1999). Obwohl keine Übereinstimmung zwischen dem Auftreten von Niedriglohn und Armut besteht, bilden Niedriglöhner eine besondere Risikogruppe, deren Armutsrisiko höher ist als das von anderen Erwerbstätigen. So ist anzunehmen, dass insbesondere ein geringeres Auftreten niedriger Löhne das Risiko verringert, trotz Erwerbstätigkeit arm zu sein. Lucifora (2000) zeigt, dass unterschiedliche Aspekte von Lohnverhandlungssystemen einen Einfluss auf den Anteil an Niedriglohnbeschäftigung haben. So hat z.B. der Grad der Zentralisierung einen negativen Einfluss. „We have shown that institutional settings differ substantially across countries and that institutional variety in the labour market is able to explain a great deal of the observed patterns of low pay across countries. At a descriptive level, results […] indicate that union density, collective bargaining coverage, and the centralization of wage negotiations jointly contribute to reduce the incidence of low pay across countries” (Lucifora 2000: 34). Dieses Ergebnis wird von Robson et al. (1999) allgemein bestätigt. Allerdings zeigen sich in ihrer Analyse, die nach Geschlecht, Wirtschaftszweig und weiteren Merkmalen differenziert, z.T. deutliche Unterschiede im Niedriglohnanteil zwischen einzelnen Bereichen, die teilweise dem Ergebnis auf allgemein ländervergleichender Ebene entgegenstehen. Insbesondere heben Robson et al. (1999) den zwar vorhandenen, aber deutlich geringeren Einfluss von Lohnverhandlungssystemen auf den Niedriglohnanteil bei Frauen hervor. Vereinfachend lassen sich die hier diskutieren Ergebnisse so zusammenfassen. Es gibt keinen eindeutigen Einfluss von Korporatismus bzw. der Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen auf die Höhe von Löhnen. Eines der wenigen eindeutigen Ergebnisse ist, dass eine stärkere Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen mit einer geringeren Spreizung der Lohnverteilung einhergeht, wobei auch Einflüsse auf geschlechts- und bildungsspezifische Ungleichheiten zu beobachten sind. Weiter ist ein Einfluss gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht auf die Lohnspreizung festzustellen. Sowohl Zentralisierung als auch gewerkschaftliche Verhandlungsmacht betreffen vor allem den Bereich niedriger Einkommen, es handelt sich also um eine Stauchung der Lohnverteilung von unten. Der Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung ist dagegen sel31 Ergebnisse zum Einfluss von Lohnverhandlungssystemen auf geschlechtsspezifische Einkommensungleichheit finden sich bei Teulings und Hartog (1997: 43f), die allerdings eine Korporatismusskala und keine Zentralisierungsskala als erklärende Variable verwenden. Weniger eindeutig fallen Ergebnisse zum Einfluss auf qualifikationsspezifische Lohndifferentiale aus. Tendenziell verringern sich in stärker korporatistisch angelegten Systemen auch die Lohndifferentiale nach Bildung. Allerdings finden Teulings und Hartog hier auch Ausreißer, die diesem Ergebnis entgegenstehen.
3.3 Lohnverhandlungssysteme, Mindestlöhne und Verteilung von Erwerbseinkommen
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ten explizit untersucht worden, jedoch deuten die vorliegenden Ergebnisse auf ähnliche Zusammenhänge wie bei der Betrachtung der Lohnverteilung hin (was nahe liegt, da Niedriglohnbeschäftigung den unteren Bereich der Lohnverteilung umfasst). Neben der Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen sind gesetzliche Mindestlöhne eine weitere Möglichkeit – zumindest im Niedrigeinkommensbereich –, auf die Lohnhöhe einzuwirken. Im weiteren Sinne können auch Lohnuntergrenzen in tariflichen Abschlüssen als Mindestlohn interpretiert werden, insbesondere in zentralen Lohnverhandlungssystemen. Aus dieser Perspektive unterscheiden Dolado et al. (1996: 321) fünf Möglichkeiten der Festlegung von Mindestlöhnen: 1. eine gesetzliche Festlegung durch die Regierung (z.T. unter Beteiligung der Tarifparteien), 2. eine Festlegung in nationalen Lohnverhandlungen, 3. eine Festlegung in wirtschaftszweigweiten Tarifabschlüssen, 4. durch allgemein gültige Tarifverträge oder 5. eine gesetzliche Festlegung für einzelne Wirtschaftszweige (z.B. in Großbritannien bis 1993). Hier soll Mindestlohn – in Abgrenzung zur zuvor diskutierten Wirkung von Lohnverhandlungssystemen – jedoch allein in einem engeren Sinne verstanden werden, also als allgemeine gesetzliche Festlegung. Obwohl sie hier separat behandelt werden, können Mindestlöhne auch als eine Form der Zentralisierung betrachtet werden, aber eben als eine gesetzliche Form und nicht als eine von den Tarifparteien ausgehandelte. Allerdings betrachtet Wallerstein (1999) die Festlegung von Mindestlöhnen als schwächste Form der Zentralisierung von staatlicher Seite. Mindestlöhne werden trotzdem als wichtiges Mittel diskutiert, um die Verbreitung von Niedriglöhnen (und in der Folge Armut) zu bekämpfen. Werden durch Tariflöhne keine oder keine ausreichend hohen Lohnuntergrenzen gesetzt, werden durch die Setzung von Mindestlöhnen Erwerbseinkommen im unteren Einkommensbereich erhöht. Weiter wird argumentiert, dass auch bei relativ umfassender tariflicher Lohnregulierung ein gesetzlicher Mindestlohn als zusätzliches deutlich sichtbares Signal einer Lohnuntergrenze angesehen werden kann (vgl. StrengmannKuhn 2003, Schäfer 1997). Aus makroökonomischer Sicht werden Mindestlöhne dagegen kontrovers diskutiert (vgl. Bazen 2000). In neoklassischer Perspektive stellen Mindestlöhne einen Eingriff in den Arbeitsmarkt dar, der die Arbeit insbesondere von geringqualifizierten Arbeitnehmern verteuert. Als Folge werden entweder Investitionen in die Automatisierung einfacher Tätigkeiten relativ gesehen billiger oder Produkte und Dienstleistungen werden teurer. Beides führt zu einem Beschäftigungsrückgang: einerseits direkt durch die Automatisierung, andererseits indirekt durch zurückgehenden Absatz. Bezogen auf Armut wird davon ausgegangen, dass die negativen Folgen des Beschäftigungsrückgangs und der Rückgang der Produktivität die positiven Folgen des Mindestlohns auf mittlere und längere Sicht übersteigen. Diese Argumentation wird, vor allem wegen der zugrunde liegenden Annahmen der neoklassischen Ökonomie, insbesondere bezüglich der Arbeitslosig-
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
keit, kritisiert. Dagegen wird argumentiert, dass (höhere) Mindestlöhne mit einer Erhöhung der Nachfrage verbunden sind oder dass erhöhte Löhne einen Anreiz für eine Erhöhung der Produktivität bilden (vgl. Bazen 2000). Empirische Studien haben gezeigt, dass die negativen Auswirkungen der Erhöhung von Mindestlöhnen gering sind (vgl. z.B. Machin/Manning 1996). Besondere Aufmerksamkeit hat die Studie von Card und Krueger (1995) erhalten, die unter bestimmten Bedingungen sogar positive Beschäftigungseffekte feststellen. Die Studie wurde allerdings vielfach, insbesondere aufgrund ihrer methodischen Vorgehensweise, kritisiert (vgl. Bazen 2000: 126ff). Auf den hier vor allem interessierenden Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und Armut geht eine Reihe von Studien ein, die im Zusammenhang mit der Einführung eines nationalen Mindestlohns in Großbritannien entstanden sind (vgl. Manning/Dickens 2002, Sutherland 2001). Sutherland (2001) zeigt auf Basis von Simulationsrechnungen, dass die Einführung eines Mindestlohns im Vergleich zu anderen Maßnahmen nur einen geringen Einfluss auf die Reduktion von Armut bzw. der Ungleichheit von Haushaltseinkommen hat (vgl. weiter auch Burkhauser/Finegan 1988, Horrigan/Mincy 1993, Nolan 2000: 97ff). Eindeutig positiv werden Mindestlöhne im Zusammenhang mit der Einführung von Transferleistungen, die sich speziell an Erwerbstätige richten, diskutiert. Hier wird argumentiert, dass Mindestlöhne verhindern, dass eine Erhöhung des Erwerbseinkommens durch Transfers so nicht von Arbeitgebern zum Anlass genommen werden kann, Löhne zu senken (vgl. Blank 1994, Chilman 1995, Sutherland 2001, OECD 2005). So ist also insbesondere im Zusammenhang mit erwerbsorientierten Strategien der Armutsbekämpfung von einem armutsreduzierenden Einfluss von Mindestlöhnen auszugehen.
3.4 Wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarktstruktur Neben institutionellen Einflüssen werden bei der Betrachtung von Armut und Ungleichheit insbesondere Einflüsse der wirtschaftlichen Entwicklung geltend gemacht. In historischer Perspektive wird die wirtschaftliche Entwicklung in industrialisierten Gesellschaften als einer der entscheidenden Faktoren für den Abbau von Einkommensungleichheit und Armut betrachtet. Kuznets (1955) begründet diese Entwicklung mit der Verschiebung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in moderne Sektoren, insbesondere in den industriellen Sektor, der durch höhere Produktivität und Löhne gekennzeichnet ist. Um den Zusammenhang zwischen dieser Verschiebung und der Entwicklung der Einkommensungleichheit zu betrachten, verwendet Kuznets das Konzept des Sektordualismus, wobei das in einem Sektor erwirtschaftete Einkommen ins Verhältnis zu seiner Größe gesetzt wird. Der
3.4 Wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarktstruktur
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Prozess der Industrialisierung ist zunächst durch einen zunehmenden Sektordualismus geprägt und führt zu steigender Ungleichheit. Mit weiter fortschreitender Industrialisierung kehrt sich diese Entwicklung um. Aufgrund des schrumpfenden Agrarsektors bei steigender Produktivität wird nun der Sektordualismus – und somit die Einkommensungleichheit – reduziert. Während in industrialisierten Ländern bis mindestens zum Beginn der 1970er Jahre tatsächlich ein Rückgang der Einkommensungleichheit festzustellen war, ist diese in vielen Ländern seitdem oder seit einem späteren Zeitpunkt wieder angestiegen (vgl. Green et al. 1992, Atkinson et al. 1995, Alderson/Nielsen 2002). Die Umkehrung dieser Entwicklung wird entsprechend dem Titel der Untersuchung von Harrison und Bluestone (1988) als ‚GreatU-Turn’ bezeichnet. Als Erklärung für den ‚U-Turn’ werden mehrere Faktoren angeführt. Alderson und Nielsen (2002) sehen dabei die zunehmende Globalisierung als eine zentrale Ursache für die steigende Einkommensungleichheit in industrialisierten Gesellschaften. Ein Aspekt in diesem Zusammenhang ist der Prozess der Deindustrialisierung durch Verlagerung von Industriearbeitsplätzen in weniger entwickelte Länder. Dies bedeutet in den betrachteten Gesellschaften eine zunehmende Verschiebung von Arbeitskräften in den Dienstleistungssektor, der gegenüber dem industriellen Sektor durch geringere Durchschnittseinkommen und höhere Einkommensungleichheit geprägt ist (vgl. Nielsen/Alderson 1997, Harrison/Bluestone 1988). Als Erklärung für die geringeren Einkommen wird auf die geringere Produktivität im Dienstleistungssektor verwiesen, aber auch auf einen geringeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad (vgl. Zweimüller/Barth 1994). Inwieweit lassen sich diese Überlegungen auf Armut und insbesondere auf Armut von Erwerbstätigen übertragen? Moller et al. (2003) berücksichtigen mehrere der von Alderson und Nielsen (2002) angeführten Faktoren in ihrer ländervergleichenden Analyse des Ausmaßes von Armut. Dabei finden sie einen positiven Effekt der wirtschaftlichen Entwicklung auf Armut, also mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung steigt das Ausmaß von Armut an.32 Allerdings ist dieser Effekt nicht robust. Einen gegenläufigen Effekt finden US-amerikanische Studien, die in diesem Zusammenhang aber auch direkt auf das Ausmaß der Arbeitslosigkeit eingehen. Grundsätzlich wird dabei ein eindeutig negativer Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Armut angenommen: In Zeiten wirtschaftlicher Aufschwünge wird Armut reduziert. Allerdings hat sich dieser Zusammenhang seit den 1970er Jahren abgeschwächt (vgl. Gottschalk/Danziger 1984, Tobin 1994, Blank 1997, Figlio/Ziliak 1999, Freeman 2001, Formby et al. 2001). Es wird darauf verwiesen, dass eine Armutsreduktion nur dann gegeben ist, wenn Wirtschaftswachs32 Moller et al. (2003) betrachten dabei Armut vor Steuern und Transfers. Auf das Ausmaß der Armutsreduktion durch Umverteilung hat die wirtschaftliche Entwicklung dagegen keinen signifikanten Einfluss, der positive Einfluss wird also nicht umgekehrt. Kenworthy (1999) betrachtet dagegen Armut nach Steuern und Transfers und findet – je nach verwendeter Armutsgrenze – keinen oder einen positiven Einfluss.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
tum mit steigenden Beschäftigungsraten einhergeht. Hier wird argumentiert, dass wirtschaftliche Aufschwünge Arbeitslose nicht mehr in ausreichendem Maße in Beschäftigung zurückbringen und somit Armut nicht in gleichem Umfang wie in früheren Jahrzehnten reduziert wird. Zum anderen wird die schwache oder sogar rückläufige Entwicklung von Reallöhnen, insbesondere von Geringqualifizierten, als Ursache für den abgeschwächten Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Armut angesehen (vgl. Freeman 2001, Blank 1997, Tobin 1994). Ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, Reallöhnen und Armut lässt sich auch für Erwerbstätige annehmen. Betrachtet man sinkende Reallöhne als Folge verminderter Arbeitsnachfrage und somit als Einfluss in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit, kann man einen positiven Einfluss von Arbeitslosigkeit und Armut von Erwerbstätigen annehmen (vgl. Moller 2003: 26). Allerdings setzt dieses Argument voraus, dass Löhne nach unten flexibel sind. Inwieweit dies zutrifft, ist allerdings nicht nur von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig, sondern steht auch in engem Zusammenhang mit der Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen. Ein anderes Argument zielt darauf, dass durch Arbeitslosigkeit die Anzahl der Verdiener pro Haushalt bzw. die Anzahl an Arbeitsstunden und somit das Erwerbseinkommen verringert werden (vgl. Gramlich/Laren 1984). Allerdings gibt es auch Hinweise auf einen grundsätzlich gegenläufigen Zusammenhang. Rueda und Pontusson (2000), die den Einfluss von wirtschaftlicher Entwicklung auf die Ungleichheit von Erwerbseinkommen betrachten, argumentieren in Richtung einer Verringerung von Ungleichheit durch steigende Arbeitslosigkeit: „[E]mployers are more likely to lay off unskilled workers than to lay off skilled workers during economic downturns. To the extent that an increase in unemployment entails a disproportionate loss of low-paid jobs, it should be associated with less rather than more wage inequality” (Rueda/Pontusson 2000: 359). Geht man davon aus, dass niedrigqualifizierte Erwerbstätige überproportional häufig arm sind, hätte ein wirtschaftlicher Abschwung verstärkt die Entlassung von armen Erwerbstätigen, also eine Verschiebung von erwerbstätigen zu nichterwerbstätigen Armen, zur Folge. Obwohl hier die wirtschaftliche Entwicklung nicht Armut insgesamt reduziert, erscheint bei der ausschließlichen Betrachtung von Erwerbstätigen die Annahme einer Reduktion des Ausmaßes von Armut von Erwerbstätigen ebenso plausibel wie die Zunahme aufgrund sinkender Löhne und einer Reduktion der Verdiener pro Haushalt. Studien, die Armut von Erwerbstätigenhaushalten unter direkter Berücksichtigung der Veränderung von Arbeitslosigkeit betrachten, liegen allerdings bislang nicht vor. Werden Veränderungen in der gesamtwirtschaftlichen Lage überhaupt berücksichtigt, dann wie oben dargestellt unter dem Aspekt des Ausmaßes von Armut allgemein oder sinkender Arbeitsnachfrage (vgl. Holzer 1999). Ergebnisse über die Armut von Erwerbstätigenhaushalten zu zwei Zeitpunkten mit unter-
3.4 Wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarktstruktur
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schiedlichem Ausmaß von Arbeitslosigkeit finden sich bei McFate et al. (1995: 50).33 Diese erlauben allerdings nur eine indirekte Überprüfung der Annahmen, da keine weiteren Effekte berücksichtigt werden. Die Ergebnisse für die von ihnen betrachteten Länder (USA, Kanada, Großbritannien, Westdeutschland, Niederlande und Schweden) deuten tendenziell in Richtung eines Zusammenhangs, der der oben angeführten Argumentation von Rueda und Pontusson (2000) entspricht. Mit steigender Arbeitslosigkeit geht das Ausmaß der Armut in Erwerbstätigenhaushalten zurück oder bleibt konstant. In einem Land steigt Armut in Erwerbstätigenhaushalten bei sinkenden Arbeitslosenquoten an. Dagegen spricht allerdings die Entwicklung, die für die Niederlande beobachtet wird. Für den betrachteten Zeitraum sinken sowohl die Arbeitslosigkeit als auch das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Während sich also in früheren Arbeiten kein eindeutiger Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Armut von Erwerbstätigen zeigt, sind sektorale Einflüsse zumindest in Arbeiten zu Armut klar aufgezeigt worden. Entsprechend der im Zusammenhang mit Einkommensungleichheit dargelegten Annahmen geht sowohl ein geringerer Anteil an Beschäftigten in der Landwirtschaft als auch ein höherer Anteil an Beschäftigten in der Industrie mit einem geringeren Ausmaß an Armut einher (vgl. Moller et al. 2003). Obwohl in den Ländern, die in der vorliegenden Arbeit betrachtet werden, der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft insgesamt stark gesunken ist, bestehen weiterhin deutliche Unterschiede in den Beschäftigungsanteilen. Ebenso unterscheidet sich das Ausmaß der Tertiarisierung. Ein Einfluss der sektoralen Struktur auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen kann also weiterhin angenommen werden. Als Ursachen für höhere Armutsquoten bei einem höheren Beschäftigungsanteil im primären und tertiären Sektor wurden bereits die geringere Produktivität und der geringere gewerkschaftliche Organisationsgrad im Vergleich zum industriellen Sektor angesprochen. Weiter unterscheiden sich die Sektoren aber auch deutlich in der Verteilung der Beschäftigungsformen. Der Großteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist selbständig, auch der Dienstleistungssektor weist einen höheren Anteil an Selbständigen auf. Zwar haben Selbständige im Durchschnitt ein höheres Einkommen als abhängig Beschäftigte, jedoch ist auch die Einkommensungleichheit weitaus höher (vgl. Sullivan/Smeeding 1997).34 Angesichts steigender Selbständigenzahlen in den 1980er und 1990er Jahren wurde zudem darauf hingewiesen, dass Selbständigkeit insbesondere für Personen mit schlechten Arbeitsmarktchancen eine Alternative zur Arbeitslosigkeit sei. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Selbständigkeit ist allerdings umstritten (vgl. Bögenhold/Staber 1990, 33 Erwerbstätigenhaushalte sind dabei als Haushalte mit (mindestens) einem Vollerwerbstätigen definiert. 34 Grundsätzlich besteht das Problem, dass das Einkommen von Selbständigen schwieriger vollständig zu erfassen ist als das anderer Erwerbstätiger (vgl. Abschnitt 2.5).
60
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Meager 1992, OECD 1997). Jedoch unterstützen bereits seit den 1980er Jahren spezifische Förderprogramme (z.B. das Überbrückungsgeld in Deutschland) entsprechende Übergänge aus Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit. Gleichzeitig ist jedoch auch ein Prozess der Umwandlung von Arbeitnehmerverhältnissen in Formen freier Mitarbeit und Selbständigkeit zu beobachten. Damit zusammenhängend wird eine Prekarisierung von Selbständigkeit vermutet (Müller/Arum 2004: 11). Ein höherer Anteil von Sektoren, in denen entsprechende Formen von Selbständigkeit verbreitet sind, wäre dann mit einem höheren Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen verbunden. Zudem ist der Dienstleistungssektor auch überproportional durch andere Formen der atypischen Beschäftigung gekennzeichnet. Vor allem Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung bergen ein höheres Armutsrisiko, insbesondere dann, wenn dies die einzige Quelle an Erwerbseinkommen in einem Haushalt darstellt (vgl. Strengmann-Kuhn 2001a).
3.5 Institutionelle Einflüsse: Unterschiede zwischen Ländern oder Regimes? In diesem Kapitel wurde bislang dargestellt, welche Einflüsse von der Ausgestaltung institutioneller und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen erwartet werden. Der Ausgangspunkt für diese Überlegungen war die in Abschnitt 2.4 eingeführte schematische Darstellung eben dieser Einflüsse auf die Einkommensquellen und die Zusammensetzung von Haushalten, wobei letztere den Bedarf von Haushalten bedingt. Insgesamt wurde eine Perspektive eingenommen, die einerseits grundsätzlich international vergleichend angelegt ist, andererseits die Verfügbarkeit unterschiedlicher Einkommensquellen in Wohlfahrtsstaaten betont. In dieser Perspektive wird es möglich, Unterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen umfassend darzustellen und den Einfluss einzelner Dimensionen der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen empirisch zu überprüfen. Diese Perspektive wurde im Verlauf des Kapitels weiter ausgearbeitet. Die Diskussion erfolgte zum einen entlang der in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verankerten Konzepte der Dekommodifizierung und Defamilisierung, zum anderen aus der Perspektive des Einflusses von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Verteilung von Erwerbseinkommen. In einem weiteren Abschnitt wurde auf Einflüsse der wirtschaftlichen Entwicklung und der Arbeitsmarktstruktur eingegangen. Diese Aspekte werden jedoch zunächst zurück gestellt. Im Folgenden werden die zentralen Überlegungen dieses Kapitels anhand des in Abschnitt 2.4 eingeführten Schemas zusammengeführt.
Zentralisierung
Defamilisierung
(h) geringere Ungleichheit, insbesondere durch Setzung von Lohnuntergrenzen
(a) Dekommo- Armutsreduktion difizierung (indirekt) durch Setzung impliziter Mindestlöhne
Erwerbstätige
(i) geringere Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen
(e) Armutsreduktion durch weitere Erwerbstätige/ Frauenerwerbstätigkeit
weitere HHMitglieder
Markteinkommen
Tabelle 3.1: Angenommene Zusammenhänge
(d) intergenerationale Unabhängigkeit durch Absicherung junger Arbeitsloser (g) höherer Bedarf, aber auch Schutz durch Familie
weitere HHMitglieder (c) Armutsreduktion durch Leistungen bei Arb.losigkeit/ N.erwerbstätigkeit (f) Armutsreduktion durch Familienleistungen ('familisierend')
(b) Armutsreduktion durch aufstockende Transfers & Leistungen für Erwerbstätige
HH-Zusammensetzung
Erwerbstätige
Transfereinkommen
3.5 Unterschiede zwischen Ländern oder Regimes?
61
62
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Tabelle 3.1 greift daher die Unterteilung nach unterschiedlichen Einkommensarten – Markteinkommen und Transfereinkommen35 – auf und berücksichtigt auch die Unterscheidung zwischen erwerbstätigen Personen und Haushaltsmitgliedern, mit denen eine Person zusammenlebt (wobei Haushaltsmitglieder erwerbstätig, aber auch nichterwerbstätig sein können). Weiter werden die bislang herausgearbeiteten zentralen Dimensionen der betrachteten institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigt: Dekommodifizierung, Defamilisierung und die Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen. Wie in der Diskussion dargestellt, werden dabei Einflüsse sowohl auf die einem Haushalt zur Verfügung stehenden Ressourcen als auch auf den Bedarf von Haushalten angenommen. Daher wird in der Darstellung neben dem Einfluss auf die Höhe von Markteinkommen und Transfers auch der Einfluss auf die Größe und Zusammensetzung von Haushalten berücksichtigt. Allgemein betrachtet wird aus dieser Übersicht zweierlei deutlich. Erstens, bei einer Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen ist eine Vielzahl von Einflüssen zu berücksichtigen, die nicht notwendigerweise in dieselbe Richtung weisen. Zweitens, für die wohlfahrtsstaatlichen Dimensionen Dekommodifizierung und Defamilisierung wird nicht nur ein Einfluss auf die Verfügbarkeit von Transfereinkommen, sondern auch auf die Verteilung von Markteinkommen angenommen, und vor allem auch auf die Zusammensetzung von Haushalten, über die sich der Bedarf von Haushalten bestimmt. Es ergibt sich eine Reihe von Zusammenhängen, die jeweils in einer Zelle der Tabelle stichwortartig aufgeführt sind. Im Folgenden werden diese etwas ausführlicher kommentiert: a.
b.
c.
Ein höheres Maß an Dekommodifizierung verringert die Notwendigkeit, Arbeit am Markt anzubieten, und wirkt somit als impliziter Mindestlohn. Höhere Transfers haben darüber hinaus einen Einfluss auf die Höhe von Erwerbseinkommen und tragen somit indirekt zur Reduzierung von Armut von Erwerbstätigen bei. Die Höhe und Verfügbarkeit von Transfers, die trotz Erwerbstätigkeit bezogen werden können, wirken in Form einer direkten Erhöhung des Einkommens und somit armutsreduzierend. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn die entsprechenden Leistungen ausreichend hoch sind. Zielt das Transfersystem auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, auch wenn nicht die Möglichkeit besteht, ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze zu erzielen, wird der Anteil der erwerbstätigen Armen dagegen erhöht. Eine entsprechende Wirkung wird auch für Transfers an arbeitslose und andere Haushaltsmitglieder angenommen. Ein entscheidender Aspekt für die Re-
35 Auf eine Berücksichtigung privater Transfers wurde verzichtet, da diese in den meisten Haushalten nur in geringerem Maße zum Einkommen beitragen.
3.5 Unterschiede zwischen Ländern oder Regimes?
d.
e.
f.
g.
h.
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duktion von Armut von Erwerbstätigen durch entsprechende Leistungen ist, ob diese auf Basis einer Bedürftigkeitsprüfung geleistet werden, und wenn ja, ob diese sich auf individuelle oder auf Haushaltseinkommen bezieht. Anders formuliert hängt das Ausmaß der Armutsreduktion von der Zielgerichtetheit der Leistungen ab. Die Verfügbarkeit von Leistungen hat jedoch auch Auswirkungen auf die intergenerationale Abhängigkeit. Sind Leistungen für junge Arbeitslose nicht verfügbar, verlängert sich deren Abhängigkeit von den Eltern mit entsprechenden Konsequenzen für die Größe und Zusammensetzung von Haushalten. Ein höheres Maß an Defamilisierung hat einen Einfluss auf die Möglichkeit, Erwerbstätigkeit und Familie besser miteinander vereinbaren zu können. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob in Familienhaushalten eine oder zwei Personen erwerbstätig sind. Da Doppelverdienerhaushalte ein deutlich niedrigeres Armutsrisiko aufweisen, wird von einem hohen Maß der Defamilisierung eine Reduktion von Armut angenommen. Allgemeine Familienleistungen wie Kindergeld erhöhen – wie auch andere Transfers – das Einkommen und können somit Armut reduzieren. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Leistungen ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt werden. Unter dem Aspekt der Zusammensetzung von Haushalten wirkt Familisierung in zwei Richtungen: Einerseits wird eine Verschlechterung des Verhältnisses von Ressourcen und Bedarf angenommen, wodurch für (Haupt-)Erwerbstätige das Armutsrisiko erhöht wird. Andererseits kann das Zusammenleben in einem größeren Haushaltszusammenhang auch Geringverdienern Schutz vor Armut bieten. Die Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen – worunter auch die Festsetzung von gesetzlichen Mindestlöhnen gefasst wird – hat einen Einfluss auf die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Einkommensverteilung. Hier wird vor allem eine Stauchung der Einkommensverteilung von unten angenommen. Aufgrund der daraus resultierenden – zumindest relativ – höheren Einkommen im unteren Einkommensbereich wird von einer stärkeren Zentralisierung ein armutsreduzierender Effekt angenommen. Neben einem Einfluss auf die Einkommensverteilung allgemein wird ein Einfluss auf das Einkommensdifferential zwischen Männern und Frauen angenommen.
Bislang wurden die hier angenommenen Einflüsse ohne eine tiefergehende Berücksichtigung der tatsächlichen Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen in einzelnen Ländern diskutiert. Das Ziel dieser Arbeit ist aber, eine empirische Bearbeitung des Themas Armut von Erwerbstätigen zu leisten, in deren Rahmen
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
über einen Ländervergleich explizit auf den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen eingegangen wird. Wie in Abschnitt 2.2 ausgeführt, soll dabei in den multivariaten Analysen eine Betrachtungsweise eingenommen werden, die der eines ‚large-n-Vergleichs’ entspricht. Zusätzlich sollen deskriptiv orientierte Analysen durchgeführt werden, in denen eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten als Mittel zur Reduktion von Komplexität verwendet werden soll. Zwei Fragen müssen dafür beantwortet werden: 1. Wie unterscheiden sich die hier betrachteten Länder in der Ausgestaltung der für Armut von Erwerbstätigen relevanten Rahmenbedingungen? Ist überhaupt Variation zwischen den Ländern vorhanden, sodass man diese als Ursache für Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen betrachten kann? 2. Ist es auch bei einer Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen sinnvoll, die hier berücksichtigten Länder – wie in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung üblich – als Vertreter einzelner Wohlfahrtsregimes zu behandeln? Um diese Fragen zu klären, werden im Folgenden die bestehenden Länderunterschiede anhand von (überwiegend) quantitativen Indikatoren dargestellt. Die Daten für diese Darstellung stammen aus allgemein zugänglichen Datenbanken oder haben publizierte Ergebnisse zur Grundlage. Eine ausführliche Beschreibung der Datenquellen findet sich in Anhang A. In der Darstellung werden die Länder entsprechend der gängigen Zuordnung zu einzelnen Wohlfahrtsregimes gruppiert, um so einen Vergleich zwischen Regimes, aber auch von Ländern innerhalb eines Regimes zu ermöglichen. Wie in vielen anderen Arbeiten wird dabei eine an Esping-Andersen (1990) angelehnte, aber um einen vierten Typ erweiterte Typologie verwendet. In dieser Typologie wird zwischen sozialdemokratischen, liberalen, konservativen und südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten unterschieden (vgl. Esping-Andersen 1999, Leibfried 1990, 1992, Ferrera 1996, Bonoli 1997, Flaquer 2000). Zum sozialdemokratischen Regime werden Schweden, Dänemark, Finnland und die Niederlande gerechnet. Der liberale Typ umfasst Großbritannien und Irland. Deutschland, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Österreich werden als Vertreter des konservativen Wohlfahrtsregimes angesehen. Portugal, Spanien, Italien und Griechenland bilden den südeuropäischen Typ. Entsprechend der hier aufgeführten Literatur, an die diese Zuordnung angelehnt ist, lassen sich die vier Typen entlang der Dimensionen Dekommodifizierung und Defamilisierung sowie der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen verorten. Die stärksten Gegensätze bestehen zwischen dem sozialdemokratischen und dem südeuropäischen Regime. Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime weist sowohl einen hohen Grad an Dekommodifizierung als auch an Defamilisierung auf. Beides ist im südeuropäischen Typ schwach ausgeprägt. Liberale Wohlfahrtsstaaten sind dagegen am stärksten auf Marktmechanismen ausgerichtet, weisen also ein niedriges Maß an Dekommodifizierung auf. Die Ausgestaltung der Familienbeziehungen wird im Gegensatz zu anderen Wohlfahrtsregimes von staatlicher Seite nur wenig beeinflusst. Dies bedeutet aber auch, dass aufgrund der schwach ausgepräg-
3.5 Unterschiede zwischen Ländern oder Regimes?
65
ten Doppelverdienerunterstützung der Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt erschwert wird und deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in den Einkommen bestehen. Im Gegensatz zu allen übrigen Wohlfahrtsregimes ist das Lohnverhandlungssystem dezentral organisiert. Auch die Regulierung von Arbeitsverhältnissen ist schwach ausgeprägt. Der Kündigungsschutz ist minimal. Das konservative Regime ist durch relativ hohe Transferleistungen geprägt, die aber häufig aufgrund der korporatistischen Organisation zentraler sozialer Sicherungssysteme an vorherige Erwerbstätigkeit geknüpft sind. Deshalb ist der Grad der Dekommodifizierung nicht so hoch wie im sozialdemokratischen Regime. Betrachtet man die Dimension Defamilisierung, gibt es wie im südeuropäischen Regime Elemente, die die Familiensolidarität betonen. Während die intergenerationale Abhängigkeit aber relativ gering ist, ist die Autonomie von Frauen durch Elemente, die das Einernährermodell befördern, insbesondere im Vergleich zum sozialdemokratischen Regime eingeschränkt. Bei einer Zuordnung von realen Fällen (Ländern) zu den einzelnen Typen ist zu berücksichtigen, dass sie den idealtypischen Beschreibungen mehr oder weniger gut entsprechen. Dies betrifft häufig Einzelaspekte (wie beispielsweise die relativ umfassende öffentliche Kinderbetreuung in einigen konservativen Wohlfahrtsstaaten), betrifft aber in manchen Fällen auch grundlegendere Merkmale. So werden insbesondere Irland und die Niederlande häufig als Länder beschrieben, die Merkmale zweier Wohlfahrtsregime miteinander vereinigen, und werden daher auch als hybride Regimes bezeichnet. Die Niederlande vereinigen dabei einen hohen Grad der Dekommodifizierung und sind daher in Esping-Andersens ursprünglicher Typologie dem sozialdemokratischen Regime zugeordnet, stehen aber in der Dimension Defamilisierung durch eine Betonung des Einernährermodells in der Nähe konservativer Wohlfahrtsstaaten (vgl. z.B. Esping-Andersen 1999: 87f, Muffels/Fouarge 2002). Visser und Hemerijck (1998) verorten die Niederlande sogar eindeutig im konservativen Lager, wobei sie allerdings in ihrer sonstigen Argumentation durchgängig auf Esping-Andersen verweisen. Irland vereint dagegen Merkmale des liberalen als auch des familiastisch geprägten südeuropäischen Regimes (vgl. z.B. Gallie/Paugam 2000, Berthoud/Iacovou 2004). Dennoch wird die oben dargestellte Zuordnung beibehalten, da davon ausgegangen wird, dass auch so die Variation innerhalb einzelner Wohlfahrtsregimes trotz dieser Abweichungen kleiner ist als zwischen den betrachteten Regimes. Sollte das Ergebnis der folgenden Betrachtung der institutionellen Rahmenbedingungen anhand von Einzelindikatoren von dieser Erwartung grundsätzlich abweichen, wäre die Zuordnung nochmals zu überdenken.
66
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
3.6 Länderspezifische Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen Im Folgenden werden Länderunterschiede in der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen anhand einer Reihe von Indikatoren dargestellt. Hierbei wird zu zeigen sein, inwieweit die im vorherigen Abschnitt dargestellte idealtypische Beschreibung auf die hier betrachteten Länder und ihre Zuordnung zu einzelnen Wohlfahrtsregimes zutrifft. Dabei wird auf Indikatoren, die für die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen besondere Relevanz aufweisen, aber üblicherweise nicht Gegenstand der Betrachtung von Wohlfahrtsregimes sind (insbesondere der Übergang von Transferbezug in Erwerbstätigkeit bzw. die Vereinbarkeit von beidem), ausführlicher eingegangen. Soweit nicht anders erwähnt, beziehen sich die Indikatoren auf das Ende des Beobachtungszeitraums, bilden also die Situation um das Jahr 2000 ab. Die meisten ländervergleichenden Tabellen in diesem Anschnitt sind nach einem einheitlichen Muster aufgebaut. Die Länder sind entsprechend der oben diskutierten Zuordnung zu Wohlfahrtsregimes gruppiert. Dabei wird jeweils neben den Werten für einzelne Länder das ungewichtete arithmetische Mittel für alle Länder eines Regimes ausgewiesen. Zusätzlich enthalten die Tabellen Angaben dazu, wie gut die Variation zwischen Ländern durch die Gruppierung nach Wohlfahrtsregimes erklärt wird. Als Maß dafür wird jeweils das einfache R-Quadrat aus einer Varianzanalyse mit ‚Wohlfahrtsregime’ als unabhängiger Variable ausgewiesen. Aufgrund der Uneindeutigkeit der Zuordnung bei den zwei oben diskutierten Fällen, sind weitere Werte ausgewiesen, die eine Typologie verwenden, in der jeweils die alternative Regimezuordnung der Niederlande (konservativ statt sozialdemokratisch, Variante 2) und von Irland (familialistisch statt liberal, Variante 3) umgesetzt ist. Diese Angaben sind dazu gedacht, eine Orientierung darüber zu geben, in welchen Bereichen eine Gruppierung mehr oder weniger sinnvoll erscheint und um die abweichenden Eigenschaften der ‚Hybridfälle’ zu verdeutlichen. Dabei wird aber auch offensichtlich, dass allein schon die Umgruppierung eines Falls das Ausmaß der Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes grundlegend verändern kann. Tabelle 3.2 enthält mehrere Indikatoren: einen dem Vorgehen von EspingAndersen folgenden, aber aktualisierten Dekommodifizierungsindex einschließlich der Werte für die grundlegenden Subindizes für das Sicherungsniveau bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter (vgl. Scruggs/Allan 2006), Angaben zur durchschnittlichen Höhe der Arbeitslosenunterstützung (als Anteil eines durchschnittlichen Einkommens) und zum Vorhandensein eines nationalen Systems der Grundsicherung. Wie in Abschnitt 3.1 unter Verweis auf Kvist (1998) argumentiert, müssten für eine umfassendere Beurteilung des Dekommodifizierungsgrads auch weitere Bedingungen des Leistungsbezugs, wie beispielsweise die Praxis der Sanktionsverhängung bei Ablehnung von Arbeitsangeboten, berücksichtigt werden. Entsprechende Angaben liegen allerdings nur für wenige Länder vor. Daher wird an dieser Stelle auf eine
67
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
Darstellung verzichtet. Stattdessen wird in Kapitel 7 dieser Aspekt am Beispiel einzelner Länder vertieft. Tabelle 3.2: Ländervergleich Dekommodifizierung
DK FIN NL S Ø
Dekommodifizierungsindex Arbeitsgesamt losigkeit Krankheit 34,8 9,9 10,9 30,1 8,1 10,0 34,4 9,8 10,7 32,6 9,3 11,2 33,0 9,3 10,7
Alter 14,0 12,0 14,0 12,0 13,0
Lohnersatzrate (Arb.losigk.)1 78,3 76,3 77,5 79,3 77,8
Grundsicherung ja ja ja ja
IRL UK Ø
26,7 24,8 25,7
9,0 6,0 7,5
8,0 7,8 7,9
9,7 11,0 10,3
60,2 57,8 59,0
ja ja
B D F LUX A Ø
30,9 30,5 27,1 28,7 29,3
10,1 7,0 6,5 6,7 7,6
7,8 12,6 8,6 9,1 9,5
13,0 10,9 12,0 12,9 12,2
66,2 73,5 72,8 81,6 69,3 72,7
ja ja ja (> 25 J.) ja (> 25 J.) ja
GR I P ES Ø
26,5 26,5
5,3 5,3
7,2 7,2
14,0 14,0
29,7 27,6 65,6 58,1 45,2
nein nein2 ja ja
Var.1 Var.2 Var.3
0,77 0,61 0,72
0,50 0,38 0,46
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): 0,53 0,62 0,67 0,50 0,56 0,67 0,47 0,50 0,51
-
Anmerkungen: R2: vgl. S. 66. 1) Als Anteil in % des durchschnittlichen Lohns eines Arbeiters im verarbeitenden Gewerbe (APW-Lohn), 2) Nur Pilotprojekte auf regionaler Ebene. Quellen: Dekommodifizierung (Scruggs 2005), Lohnersatzraten/Grundsicherung (OECD 2004a).
68
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Betrachtet man allein die Durchschnittswerte in Tabelle 3.2, zeigt der aktualisierte Dekommodifizierungsindex deutliche Unterschiede zwischen den Regimes. Dies wird durch den hohen Anteil erklärter Varianz bestätigt. Die Alternativtypologien, insbesondere bei Zuweisung der Niederlande zum konservativen Regime, weisen niedrigere Werte auf. Deutlich wird auch, dass die Unterschiede zwischen den Regimes vor allem bei Betrachtung des Gesamtindex, weniger bei den Subindizes hervortreten, obwohl sich auch hier die Durchschnittswerte deutlich unterscheiden. Betrachtet man dagegen einzelne Länder, sind die Übergänge zwischen Regimes fließend. Finnland liegt leicht unter dem Niveau von Deutschland und Belgien, Irland nur knapp unter dem von Frankreich. Verallgemeinerbare Aussagen über Länder des südeuropäischen Wohlfahrtsregimes sind nicht möglich, da nur Angaben für Italien vorliegen. Eine Betrachtung allein auf Basis der Höhe der Arbeitslosenunterstützung weist allerdings in Richtung eines niedrigen Niveaus der Dekommodifizierung, wobei dies insbesondere für Griechenland und Italien zutrifft. Dies sind auch die beiden einzigen Länder in diesem Vergleich, die kein oder kein umfassendes System der Grundsicherung aufweisen. Betrachtet man die Durchschnittswerte der Lohnersatzraten für Arbeitslose auch für die übrigen Regimes, zeigt sich ein Bild, das in etwa der Betrachtung des vollständigen Dekommodifizierungsindexes entspricht. Neben den Angaben in der Tabelle ist zu berücksichtigen, in welcher Weise die dargestellten Transfers mit Einkommen aus Erwerbstätigkeit kombiniert werden können bzw. ob es spezifische Leistungen für Erwerbstätige gibt. Prinzipiell ist es in fast allen Ländern möglich, Arbeitslosenunterstützung oder Leistungen der Grundsicherung mit Erwerbseinkommen zu kombinieren. Unterschiedlich fällt jedoch die Gestaltung entsprechender Kombinationsmöglichkeiten aus. Grundsätzlich sind dabei drei Möglichkeiten zu unterscheiden, die im Folgenden näher betrachtet werden: aufstockende Transfers, negative Einkommenssteuersysteme und Transfers, die sich ausschließlich an Erwerbstätige richten. Auf reine Lohnsubventionen, die vor allem auf die Ausweitung von Beschäftigung und weniger auf die Bekämpfung von Armut zielen, also direkt am persönlichen Bruttoerwerbseinkommen ansetzen und nicht nachträglich am Haushaltsnettoeinkommen, soll nicht eingegangen werden.36 Selbstverständlich kann man alle hier betrachteten Maßnahmen auch als Lohnsubvention interpretieren. Hier soll dieser Begriff aber nicht für entsprechende Maßnahmen angewendet werden, um den Unterschied zu Leistungen, die in Abhängigkeit von der Höhe des individuellen Lohns oder als Lohnzuschuss für be-
36 Eine Reihe von Studien hat für Deutschland gezeigt, dass ein Großteil der Subventionen an Erwerbstätige fließt, die in nicht-armen Haushalten leben, da andere Haushaltsmitglieder weitere Einkommen beisteuern (vgl. Becker 2000, Hauser/Becker 2001, Schupp et al. 1999, Buslei/Steiner 2000). Unter dem Gesichtpunkt der Armutsbekämpfung werden Lohnsubventionen daher in den meisten Studien als ineffizient beschrieben.
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
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stimmte Gruppen von Erwerbstätigen gezahlt werden (z.B. Ältere, Langzeitarbeitslose), deutlich zu machen. Mit aufstockenden Transfers sind Leistungen der Arbeitslosenunterstützung bzw. der Grundsicherung gemeint, die trotz des Vorliegens eines Erwerbseinkommens gezahlt werden, wenn dieses Einkommen unterhalb der Bedarfsbemessungsgrenze liegt. Dies bedeutet, dass im einfachsten Fall der fehlende Betrag bis zur Bedarfsbemessungsgrenze durch Transfers aufgestockt wird. Dies bedeutet jedoch auch, dass mit steigendem Erwerbseinkommen die aufstockenden Transfers jeweils um den Zuwachs des Erwerbseinkommens wegfallen und sinkende Erwerbseinkommen durch eine Ausweitung der Transfers ausgeglichen werden. Wie in Abschnitt 3.1 dargestellt, wird die vollständige Verrechnung von Erwerbseinkommen mit Transfers als Ursache von Armutsfallen angesehen. Um diesen Effekt abzumildern, wird in einigen Transfersystemen das Erwerbseinkommen nicht vollständig angerechnet (vgl. Eardley et al. 1996: 156ff, Doudeijns et al. 2000), also Transfers nicht in gleichem Maße entzogen wie Erwerbseinkommen hinzukommen. Eine vergleichende Darstellung, wie diese Übergänge in den hier betrachteten Ländern gestaltet sind, wäre allerdings außerordentlich umfangreich. Erstens ist eine reine Betrachtung der wegfallenden Transfers nur wenig aussagekräftig, wenn es um ökonomische Arbeitsanreize beim Übergang aus Transfers in die (reine) Erwerbstätigkeit geht. Unterschiede bestehen auch in der Höhe der Einkommenssteuer und der Höhe von Sozialabgaben. Zweitens gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Haushaltstypen. Zumindest in Systemen der Grundsicherung berechnet sich die Leistungshöhe aus der Größe und Struktur eines Haushalts. Teilweise werden bedarfsspezifische Aspekte auch bei Berechnung der Arbeitslosenleistungen berücksichtigt. Weiter gibt es Transfers, die sich nur an bestimmte Haushaltstypen, insbesondere Familien, richten. Diese müssen in der Betrachtung in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden. Drittens unterscheidet sich der Wegfall von Transfers nach der Ausgangslage, also danach ob jemand bereits erwerbstätig, arbeitslos oder nichterwerbstätig ist. Und viertens hat auch die Höhe der potenziellen Erwerbseinkommen einen Einfluss auf den Wegfall von Transfers, aber auch auf die Höhe der Besteuerung und der Sozialabgaben. Anstelle reiner Transferentzugsraten steht bei der Diskussion um die Vermeidung von Armutsfallen die Betrachtung von marginalen effektiven Steuersätzen (METR – marginal effective tax rates) im Vordergrund, die wegfallende Transfers wie eine Steuer begreifen und diese zu den übrigen Steuern und Sozialabgaben addieren. Aus dieser Perspektive lassen sich dann marginale Steuersätze bestimmen, die angeben, wie viel von einem hinzuverdienten Euro ‚wegbesteuert’ wird. Entsprechende Berechnungen sind von der OECD in Kooperation mit der Europäischen Kommission für eine Vielzahl von Konstellationen für das Jahr 2001 durchgeführt worden (vgl. Carone et al. 2004). Folgende Aspekte wurden berücksichtigt: sechs verschiedene Haushaltstypen, vier bis fünf Einkommensniveaus und drei
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Ausgangskonstellationen (Ausweitung eines bestehenden niedrigen Erwerbseinkommens, Übergang aus Arbeitslosigkeit, Übergang aus Nichterwerbstätigkeit). Mit in die Berechnung einbezogen wurden dabei unterschiedliche Arten von Transfers (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Familienleistungen, Wohngeld), Einkommenssteuern und Sozialversicherungsabgaben. In Anhang B (Tabelle A1) sind die METRs für eine Reihe von Konstellationen dargestellt. Aufgeführt sind Angaben für alle sechs Haushaltstypen, außerdem Ländermittelwerte, die allerdings aufgrund der auch dargestellten, teilweise hohen Standardabweichung nur eingeschränkt informativ sind. Betrachtet werden Personen mit einem Erwerbseinkommen von 67 Prozent eines durchschnittlichen Lohns. Obwohl sich bei Betrachtung der METRs nur wenige verallgemeinerbare Ergebnisse ergeben, soll auf einige Punkte hingewiesen werden. Die Besteuerung bei Übergängen aus Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit ist in allen Ländern durchschnittlich am höchsten, wobei hier die Unterschiede zwischen den einzelnen Haushaltstypen recht gering sind. Eine Ausnahme bilden dabei Großbritannien und Irland, bei denen die METRs für Einverdienerhaushalte recht hoch sind. Tendenziell sind bei Übergängen aus Arbeitslosigkeit die METRs in den Ländern des sozialdemokratischen und konservativen Regimes am höchsten. Hier ist ein Zusammenhang mit dem insgesamt höheren Leistungsniveau, aber auch mit der höheren Einkommenssteuer zu vermuten. Im Gegensatz dazu sind die Werte in Italien (mit Ausnahme alleinerziehender Erwerbstätiger) und Griechenland (mit Ausnahme des Übergangs aus Arbeitslosigkeit) durchgängig niedrig. Besonders deutlich wird das Fehlen einer Grundsicherung, sodass bei Übergängen aus Nichterwerbstätigkeit kein Wegfall von Transfers zu beobachten ist (in Italien sind allerdings Familienleistungen zu berücksichtigen, die nur bei Erwerbstätigkeit, aber nicht mehr bei höherem Einkommen geleistet werden). Insgesamt wird aber deutlich, dass die Effekte der Aufnahme bzw. Ausweitung einer Erwerbstätigkeit auf das Einkommen aufgrund der vielen unterschiedlichen Einflüsse ausgesprochen komplex sind. Eine Aussage darüber, in welche Richtung Armut von Erwerbstätigen beeinflusst wird, ist kaum möglich. Statt die Betrachtung von marginalen effektiven Steuersätzen zu vertiefen, soll hier ausführlicher auf die Gestaltung von Maßnahmen eingegangen werden, die speziell auf Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen ausgerichtet sind. Obwohl diese seit spätestens Mitte der 1990er Jahre breit diskutiert werden (vgl. OECD 1996), gibt es nur in wenigen Ländern entsprechende Maßnahmen, die dauerhaft und nicht auf einzelne, sehr kleine Gruppen beschränkt sind. In nennenswertem Umfang bestehen entsprechende Maßnahmen mit dem britischen Working Families Tax Credit (WFTC) und dem irischen Family Income Supplement (FIS) nur in zwei Ländern (vgl. OECD 1996: 25ff, OECD 2005: 125 ff, Kaltenborn/Pilz 2002). Dabei handelt es sich bei ersterem um eine negative Einkommenssteuer, bei letzterem um eine Transferleistung, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit voraussetzt.
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
71
Prinzipiell zielen beide Maßnahmen auf die Verringerung negativer ökonomischer Arbeitsanreize durch Transferbezug, da sie eine Erwerbstätigkeit von mindestens 16 bzw. 19 Stunden wöchentlich voraussetzen. In der sonstigen Ausgestaltung unterscheiden sich aber beide Maßnahmen erheblich. Die Einführung von Elementen einer negativen Einkommenssteuer in Großbritannien ist im Gegensatz zu anderen Ländern keine aktuelle Entwicklung. Zwar wurde der WFTC erst 1999 eingeführt, es handelt sich aber nur um eine Reform und Ausweitung des seit 1988 bestehenden Family Credit (der wiederum das 1971 eingeführte Family Income Supplement ablöste). Im Jahr 2003 wurden die Regelungen erneut reformiert und der WFTC durch den Working Tax Credit (WTC) ersetzt. Hier soll kurz der WFTC in seiner Ausgestaltung im Jahr 2001 dargestellt werden, also zum Ende des hier betrachteten Untersuchungszeitraums. Die Darstellung stützt sich vorwiegend auf Kaltenborn und Pilz (2002: 18ff). Der WTFC richtet sich an Eltern mit maximal 18-jährigen Kindern. Mindestens ein Elternteil muss eine Erwerbstätigkeit im Umfang von mindestens 16 Stunden wöchentlich ausüben. Die Höhe des ‚tax credits’ richtet sich nach Anzahl und Alter der Kinder, der wöchentlichen Arbeitszeit und dem Nettoeinkommen, wobei nicht nur Erwerbseinkommen, sondern auch Transfers und Kapitaleinkünfte mit berücksichtigt werden.37 Familien mit einem Kapitalvermögen von über 8.000 Pfund (ca. 12.800 Euro) sind von der Förderung ausgeschlossen. Neben einer Grundförderung von 59 Pfund (ca. 412 Euro monatlich) gibt es Kinderzuschläge und einen Zuschlag, wenn mindestens 30 Stunden gearbeitet werden.38 Wenn eine staatlich anerkannte Kinderbetreuung in Anspruch genommen wird, wird diese zusätzlich gefördert. Eine Darstellung sämtlicher Komponenten findet sich in Tabelle 3.3. Wenn eine Person voll erwerbstätig ist, kann die Förderung ohne Kinderbetreuungskosten im Fall einer Familie mit einem 15-jährigen und einem 17-jährigen Kind ca. 861 Euro monatlich betragen. An Kinderbetreuungskosten können bis zu 978 Euro geltend gemacht werden. Bis zu einer Einkommensobergrenze von ca. 649 Euro monatlich werden die vollen Förderbeträge ausgezahlt. Das diese Grenze übersteigende Nettoeinkommen wird zu 55 Prozent auf die Leistungen angerechnet, sodass sich mit steigendem Einkommen ein graduelles Abschmelzen des Förderbetrages ergibt. Die Höhe der Leistungen lässt sich auch im Vergleich zu Durchschnittslöhnen ausdrücken. Die Einkommensgrenze, ab der das Abschmelzen der Leistung beginnt, liegt bei einem Nettoeinkommen, das bei 25 Prozent eines durchschnittlichen Lohns liegt. Als Referenzwert wird dabei der sogenannte APW-Lohn verwendet, womit der Lohn eines durchschnittlichen Vollzeitbeschäftigten im verarbeiten37 Außerdem gibt es Leistungen für besondere Gruppen wie Alleinerziehende oder bei Wiedereinstiegen in Erwerbstätigkeit und Leistungen, die den Wegfall anderer Transfers übergangsweise kompensieren sollen (Weiterzahlung von Wohngeld, einmalige Prämie bei Wegfall der Förderung von Kindern). 38 Diese Grenze wurde eingeführt, um den ökonomischen Anreiz, nur eine Teilzeittätigkeit auszuüben, abzumildern.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
den Gewerbe gemeint ist (APW=average production worker). Der vollständige Wegfall der Leistungen erfolgt bei einer Einverdienerfamilie mit zwei Kindern bei einem Erwerbseinkommen, das 110 Prozent des APW-Lohns entspricht. Auch die Höhe der Förderung kann als Anteil des APW-Lohns ausgedrückt werden. Bei Mindestlohn und einer Arbeitszeit von 16 Stunden beträgt diese 35 Prozent des APW-Lohns, bei einer Arbeitszeit von 30 Stunden immerhin noch 30 Prozent. Alle diese Angaben beziehen sich auf die Leistungshöhe und Anspruchsbedingungen des WTFC im Jahr 2002 (vgl. OECD 2005: 144). Allerdings sind die Unterschiede zur Situation im Jahr 2001 nur gering (vgl. Kaltenborn/Pilz 2002: 19). Tabelle 3.3: Komponenten des britischen WFTC
Grundförderung 30-Stunden-Zuschlag1 Kinderzuschlag (Kinder <16 J.) Kinderzuschlag (Kinder 16-18 J.)2 Kinderbetreuungskosten (1 Kind < 14 J.) Kinderbetreuungskosten (mind. 2 Kinder < 14 J.) Anrechnung Nettoeink. auf Förderung (zu 55%)
Pfund (wöchentlich) 59,00 11,45 26,00 26,75 94,50 140,00 ab 92,90
in Euro (monatlich)3 412 80 182 187 660 978 ab 649
Anmerkungen: 1) Für eine Erwerbstätigkeit mit einer Arbeitszeit von mind. 30 Stunden/wöchentlich, 2) Nur für Kinder in Vollzeitausbildung. 3) Umrechnung von Pfund (wöchentlich). Quelle: Kaltenborn/Pilz 2002: 19 (Stand: 2001).
Von der Zielrichtung und der Leistungshöhe ist das irische FIS dem WFTC recht ähnlich (vgl. OECD 2005: 142). Die Mindestarbeitszeit beträgt 19 Stunden wöchentlich. Die Leistungshöhe im Vergleich zum Durchschnittslohn beträgt etwa 32 Prozent bei einer Wochenarbeitszeit von 19 Stunden bei Mindestlohn. Trotzdem unterscheidet sich der FIS vom WFTC grundlegend in mehreren Punkten. Wie bereits angesprochen handelt es sich um eine Transferleistung und nicht um ein steuerliches Instrument. Die Höhe der Transfers hängt allein von der Anzahl der Kinder und dem Nettoeinkommen ab, unterschiedliche Arbeitszeiten werden nicht berücksichtigt. Es gibt also – anders als beim WFTC – keine ökonomischen Anreize, mehr als 19 Stunden zu arbeiten. Die maximale Förderleistung für Familien mit einem Kind liegt bei 944 Euro monatlich. Für weitere Kinder erhöht sich die Leistung um einen Betrag zwischen 68 und 57 Euro, bis bei acht Kindern mit 1405 Euro der Höchstbetrag erreicht ist. Die Unterschiede nach Anzahl der Kinder sind also vergleichsweise gering. Die Transferentzugsrate mit steigendem Einkommen
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
73
liegt mit 60 Prozent etwas höher als beim WFTC. Vor allem aber werden Einkommen ab dem ersten Euro angerechnet, sodass die Einkommensobergrenze bereits eher als in Großbritannien erreicht ist (79 Prozent des APW-Lohns). Insbesondere die negative Einkommenssteuer nach Vorbild des WFTC (oder nach dem bereits Mitte der 1970er Jahre in den USA eingeführten Earned Income Tax Credit – EITC) steht als Mittel zur Bekämpfung von Armut von Erwerbstätigen häufig im Vordergrund der Diskussion und ist in den letzten Jahren in weiteren europäischen Ländern eingeführt worden – im Fall von Belgien allerdings auch bereits wieder abgeschafft worden (Frankreich: Prime pour l’emploi, seit 2000; Belgien: Crédit d’impôt, 2002-2005; Finnland: kunnallisverotuksen ansiotulovähennys, seit 1997).39 Im Unterschied zum WFTC sind bei allen diesen Maßnahmen die Förderhöchstbeträge im Vergleich zum WFTC sehr niedrig. Sie betragen zwischen 0,3 Prozent des APW-Lohns in Belgien und 2,8 Prozent in Frankreich (Paar mit zwei Kindern). Dafür setzt das Abschmelzen der Leistung erst bei höheren Einkommen ein und insbesondere in Finnland liegt die Einkommenshöchstgrenze deutlich oberhalb von der in Großbritannien (vgl. OECD 2005: 141ff). Trotzdem ist jedoch aufgrund der geringen Höhe der Leistungen kaum ein Einfluss auf das Niveau von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten. Zudem sind die Maßnahmen erst zum bzw. nach Ende des hier betrachteten Untersuchungszeitraums eingeführt worden. Ein deutlicher Einfluss entsprechender Maßnahmen ist daher nur in Großbritannien und Irland zu erwarten, die deswegen auch als einzige ausführlicher dargestellt wurden. Im Sinne einer Betrachtung unter dem Aspekt der Dekommodifizierung sei darauf hingewiesen, dass Leistungen, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit voraussetzen, schwierig zu beurteilen sind. Wie bereits zuvor diskutiert, können die damit verbundenen Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich als Element der Rekommodifizierung interpretiert werden. Diese Interpretation wird verstärkt, wenn man das Bestehen entsprechender Erwerbsverpflichtungen als zusätzliche Anspruchsbedingung interpretiert und daher – ähnlich wie bei bedürftigkeitsgeprüften Leistungen – von einem noch geringeren Grad an Dekommodifizierung ausgehen muss (eine Bedürftigkeitsprüfung besteht bei diesen Leistungen ja ohnehin). Im Sinne einer Interpretation nach Wohlfahrtsregimes könnte man dies auch in Richtung der Marktorientierung des liberalen Regimes interpretieren. Werden entsprechende Bedingungen für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit bei bereits bestehenden Leistungen neu eingeführt, ist dies eindeutig als Prozess der Rekommodifizierung anzusehen. Diese Interpretation wird insbesondere auf die Einführung von workfare-Programmen angewendet (vgl. Lødemel/Trickey 2000). Die hier beschriebenen Maßnahmen sind allerdings eher als zusätzliche Elemente neben 39 Vgl. O’Donoghue/Utili 2000 für Simulationsrechnungen zur Einführung eines EITC-ähnlichen Programms in verschiedenen europäischen Ländern.
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
den bestehenden Systemen für Arbeitslose und Nichterwerbstätige zu sehen, sodass vermutlich der Aspekt der Erhöhung der Einkommen von erwerbstätigen Armen im Vordergrund steht.40 Ebenso wie bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme gibt es auch beim Ausmaß der Defamilisierung relativ deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Wohlfahrtsregimes. In Tabelle 3.4 ist dies anhand von verschiedenen Indikatoren dargestellt. Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede im Ausmaß der Doppelverdienerunterstützung. Sowohl in den öffentlichen Ausgaben für Familiendienstleistungen (als Anteil vom BIP) als auch in einem auf verschiedenen Indikatoren basierenden Index (DV) wird eine klare Rangfolge deutlich.41 Es zeigt sich, dass die sozialdemokratischen Länder – mit Ausnahme der in dieser Hinsicht eher konservativ geprägten Niederlande – bei der Doppelverdienerunterstützung sehr hohe Rangplätze einnehmen, während die beiden liberalen Ländern am unteren Ende der Skala zu finden sind. Dass die Niederlande bezüglich des Ausmaßes an Doppelverdienerunterstützung eher dem konservativen Regime zuzurechnen sind, wird auch anhand des höheren Anteils der erklärten Varianz bei Verwendung der alternativen Regimezuordnung deutlich. Die konservativen Wohlfahrtsstaaten weisen dagegen sowohl bei Betrachtung des Anteils öffentlicher Ausgaben als auch in der Rangfolge eines entsprechenden Indexes (FAM) ein hohes Maß an allgemeiner Familienunterstützung auf.42 Für das südeuropäische Regime sind auf Basis der Indexwerte keine verallgemeinerbaren Aussagen möglich, da nur Angaben für Italien vorliegen. Betrachtet man aber die übrigen aufgeführten Indikatoren, wird der relativ geringe Grad der Defamilisierung offensichtlich. Sowohl die Ausgaben für Familiendienstleistungen als auch für die finanzielle Unterstützung von Familien sind sehr niedrig, was den insgesamt residualen Charakter der Familienpolitik verdeutlicht (vgl. dazu auch Flaquer 2000). Entsprechend ist der Anteil der Kinder in Betreuung niedrig bis sehr niedrig. Auch bei der Frage, welche Verpflichtungen zur Pflege von Angehörigen bestehen, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Regimes. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Angaben auf einer älteren Studie beruhen (Millar/Warman 1996).
40 Eine andere Interpretation ergibt sich, wenn gleichzeitig andere Leistungen abgebaut werden. Darauf wird noch im nächsten Abschnitt 3.7 eingegangen (siehe auch Kapitel 7). 41 Der von Korpi (2000) erstellte Index umfasst Angaben zur Verfügbarkeit oder finanziellen Förderung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten (insbesondere auch für Kinder unter 3 Jahren), Formen der Altenpflege außerhalb der Familie, zu gesetzlichen Arbeitsplatzgarantien und zur finanziellen Unterstützung für die Dauer von Erziehungszeiten und hier insbesondere Regelungen, die nicht nur von Müttern, sondern auch von Vätern in Anspruch genommen werden. 42 Der von Korpi (2000) erstellte Index enthält vor allem Angaben zu familien- oder eheorientierten Komponenten des Steuersystems (z.B. Ehegattensplitting oder Steuerfreibeträge) und der Zahlung von Kinder- oder Familientransfers (z.B. Kindergeld).
75
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
Tabelle 3.4: Ländervergleich Defamilisierung Kinder- allg. Famibetreu- lienunterung stützung 1 (< 3 J.) (Ausg.)2 DK 64 1,54 FIN 25 1,92 NL 17 0,81 S 65 1,63 Ø 43 1,48
FamiliendienstleisAnspruchstungen Index Index bedingungen (Ausg.)2 DV3 FAM3 Kindergeld 2,23 2 7 keine 1,44 3 10 keine 0,40 9 11 keine 1,68 1 9 keine 1,44 4 9
gesetzl. Pflegeverpflichtungen Staat Staat Staat Staat
IRL UK Ø
12 26 19
1,58 1,73 1,65
0,16 0,49 0,32
11 12 12
8 13 11
keine
nicht geregelt
keine
nicht geregelt
B D F LUX A Ø
30 9 30 6 13 18
2,06 1,93 1,46 2,40 1,92 1,95
0,16 0,80 1,23 0,41 1,11 0,74
6 7 5 10 7
1 2 3 6 3
keine
Kernfamilie
keine
Kernfamilie
GR I P ES Ø
3 6 22 5 9
1,18 0,58 0,65 0,29 0,68
0,73 0,30 0,33 0,11 0,37
8 -
5 -
0,71 0,62 0,47
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): 0,50 0,73 0,47 -
Var.1 0,47 Var.2 0,64 Var.3 0,49
keine (ab 2.Kind)
Kernfamilie
keine
Kernfamilie
keine
Kernfamilie
Erw.tätigkeit
-
Bedürftigkeit4
Familie
Bedürftigkeit5
Familie
Bedürftigkeit
Familie
-
Anmerkungen: R2: vgl. S. 66. 1) Anteil Kinder unter 3 Jahren in formal anerkannter Kinderbetreuung (%), 2) Ausgaben als Anteil des BIP (%), 3) Länderrangplätze nach Indexwerten, 4) Zusätzlich: Erwerbseinkommen > 0, 5) Seit 1997, vorher keine Bedürftigkeitsprüfung. Quellen: Kinderbetreuung (Immervoll/Barber 2005, Künzler et al. 1999), Ausgaben (OECD Social Expenditure Database), Indexwerte (Korpi 2000), Kindergeld (OECD 2002: 10, 2004: 37f), Pflege (Millar/Warman 1996).
76
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Während es in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes eine Verpflichtung von staatlicher Seite gibt, liegt diese im konservativen Regime bei der Kernfamilie, in Südeuropa bei der erweiterten Familie.43 Im liberalen Regime gibt es dagegen keine gesetzlichen Regelungen. Die familialen Verpflichtungen sind in Südeuropa eindeutig am stärksten. Hier ist auch, im Gegensatz zu allen übrigen Ländern, der Bezug von Kindergeld an Bedingungen geknüpft (Bedürftigkeitsprüfung, in Italien zusätzlich die Ausübung einer Erwerbstätigkeit). Die ökonomische Entlastung von Familien wird also nicht prinzipiell als Aufgabe des Staates verstanden. Trotz deutlicher Unterschiede zwischen den Regimes fallen insbesondere bei Betrachtung des Anteils von Kindern in Betreuung auch Unterschiede innerhalb von Regimes ins Auge. Der Betreuungsanteil in Frankreich und Belgien ist, nicht nur im Vergleich zu anderen konservativen Ländern, relativ hoch. Dagegen ist dieser Anteil in Finnland und – wie bereits angesprochen – in den Niederlanden vergleichsweise niedrig. Im Gegensatz zu dem niedrigen Rang, den Großbritannien auf der Skala für Doppelverdienerunterstützung einnimmt, ist der Kinderbetreuungsanteil sehr hoch. Dies liegt vor allem daran, dass in den neueren Statistiken der OECD auch Kinder in staatlich anerkannter privater Betreuung ausgewiesen werden, während andere Zahlen oft nur die öffentliche Kinderbetreuung berücksichtigen. Auf der Ebene der EU gibt es daher Versuche, standardisierte Kinderbetreuungsquoten zu erstellen. Jedoch liegen entsprechende Zahlen bislang nicht für alle hier betrachteten Länder vor (vgl. EUROSTAT 2004, Plantenga/Siegel 2004, Plantenga/Remery 2005). Während bei der Betrachtung von Elementen der Dekommodifizierung und Defamilisierung klare Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes hervortreten, sind diese bei Betrachtung von Arbeitsmarktinstitutionen nicht auf den ersten Blick ersichtlich (Tabelle 3.5). Dargestellt sind folgende Indikatoren: die Höhe des Mindestlohns als Anteil des APW-Lohns, die dominante Lohnverhandlungsebene und ein Index zum Zentralisierungsgrad,44 der gewerkschaftliche Organisationsgrad (Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten an allen Beschäftigten), der Anteil der Beschäftigten, die einem Tarifvertrag unterliegen und die Striktheit der Kündigungsschutzregelungen.45 Eine eindeutige Rangfolge nach Wohlfahrtsregimes 43 Millar oder Warman (1996: 47) merken aber an, dass in den Ländern des konservativen Regimes die Pflegeverpflichtung der Familie i.d.R. nicht auf rechtlichem Wege eingefordert wird. 44 Der Index wurde von Visser (2004) in Anlehnung an das Vorgehen von Iversen (1999: 48ff) gebildet. Der Index berücksichtigt unterschiedliche Aspekte der Zentralisierung, also nicht allein die primäre Lohnverhandlungsebene. Niedrige Indexwerte weisen auf einen niedrigen Zentralisierungsgrad hin. Auch in einem Vergleich unter Berücksichtigung aller Länder der EU-25 weist Österreich den höchsten und Großbritannien den niedrigsten Wert auf. Die Variation innerhalb der hier betrachteten Länder ist also insgesamt hoch. 45 Dargestellt sind Werte eines Gesamtindizes, der den Kündigungsschutz bei regulärer Beschäftigung, die Bedingungen für befristete Beschäftigung und Kollektiventlassungen berücksichtigt (vgl. OECD 2004c: 102ff). Niedrige Indexwerte weisen auf einen geringen Kündigungsschutz hin. Die Variation
3.6 Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen
77
ergibt sich allein beim Ausmaß des Kündigungsschutzes, was auch im hohen Anteil der erklärten Varianz deutlich wird: am niedrigsten ist der Schutz im liberalen Regime, am höchsten im südeuropäischen Regime, wobei die Unterschiede zu einigen Ländern des konservativen Regimes nicht groß sind. Wie in Abschnitt 3.2 dargestellt, werden diese Unterschiede aus Sicht der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung insbesondere in Richtung des Schutzes von männlichen Hauptverdienern interpretiert (vgl. Esping-Andersen 1999, Flaquer 2000). Betrachtet man dagegen die Indikatoren, die die Mechanismen der Lohnsetzung betreffen, sind nur wenige Gemeinsamkeiten innerhalb von Wohlfahrtsregimes festzustellen. Allein die skandinavischen Länder des sozialdemokratischen Regimes weisen relativ starke Ähnlichkeiten auf. Hier gibt es keine Mindestlöhne, das Lohnverhandlungssystem ist mittel bis stark zentralisiert, der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Tarifbindung sind hoch. Den deutlichsten Gegensatz dazu stellt Großbritannien dar. Hier gibt es einen relativ niedrigen Mindestlohn, das Lohnverhandlungssystem ist dezentral organisiert, nur knapp ein Drittel der Beschäftigten ist gewerkschaftlich organisiert und die Tarifbindung weist den niedrigsten hier aufgeführten Wert auf. Die übrigen Länder sind durch unterschiedliche Kombinationen der hier betrachteten Merkmale gekennzeichnet. Neun Länder haben einen gesetzlichen Mindestlohn (Großbritannien und Irland erst seit 1999 bzw. 2000), allerdings ist die Höhe im Vergleich zu einem Durchschnittslohn sehr unterschiedlich. Lohnverhandlungssysteme sind – mit Ausnahme von Großbritannien – nicht durchgängig dezentral organisiert, wobei weder Lohnverhandlungen auf zentraler noch auf sektoraler Ebene das Bild dominieren. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad reicht – absehen von den skandinavischen Ländern, die deutlich höhere Raten aufweisen – von knapp 10 bis gut 55 Prozent. Allerdings lässt der gewerkschaftliche Organisationsgrad keine direkten Rückschlüsse auf die Tarifbindung zu, die in den meisten Ländern mehr als 80 Prozent beträgt. Deutlich niedrigere Werte finden sich nur – wie bereits angesprochen in Großbritannien – und in Deutschland. Dabei ist anzumerken, dass für vier Länder keine Angaben vorliegen.
innerhalb der hier betrachteten Länder ist hoch. Portugal ist unter den von der OECD betrachteten Ländern das Land mit dem zweithöchsten Indexwert (nach der Türkei). Großbritannien weist den zweitniedrigsten Wert auf (vor den USA).
78
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Tabelle 3.5: Ländervergleich Arbeitsmarktinstitutionen
DK FIN NL S Ø
Höhe Mindestlohn1 tnz tnz 47,1 tnz -
Lohnverhandlungsebene2 zentral (ja) Sektor (ja) Sektor (ja) zentral (nein) -
IRL UK Ø
55,7 41,9 48,8
zentral Betrieb -
0,64 0,13 0,39
36,0 30,7 33,3
35 -
0,9 0,6 0,8
B D F LUX A Ø
49,2 tnz 60,8 48,9 tnz 53,0
zentral (ja) Sektor (ja) Sektor (nein) Betrieb/Sektor Sektor (ja) -
0,61 0,47 0,17 0,33 0,71 0,46
55,8 23,5 9,6 33,5 35,7 31,6
95 60 + 95 98 ~ 87
2,2 2,5 3,0 2,2 2,5
GR I P ES Ø
51,3 tnz 38,2 31,8 40,4
zentral/Sektor zentral (nein) Sektor Sektor (nein) -
0,39 0,34 0,30 0,38 0,35
25,4 34,9 23,4 13,8 24,4
80 + 80 + ~ 80
3,5 2,7 3,7 2,9 3,2
-
0,85 0,84 0,81
Var.1 Var.2 Var.3
0,39 0,35 0,39
-
Zentrali- gewerksch. Tarifbin- Kündigungsschutz Org.grad dung sierung (%) (Index) (%) (Index) 0,54 73,8 76 1,4 0,57 77,8 95 2,1 0,58 22,6 86 2,1 0,56 78,3 92 2,2 0,56 63,1 ~ 87 2,0
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): 0,23 0,49 0,20 0,79 0,21 0,51
Anmerkungen: R2: vgl. S. 66. 1) als Anteil eines APW-Lohns in %, tnz=trifft nicht zu (kein gesetzlicher Mindestlohn), 2) inkl. Angaben zu Sanktionen zur Übernahme von Abschlüssen (in Klammern). Quellen: Mindestlöhne/gewerkschaftl. Org.grad (OECD LFS database), Lohnverhandlungsebene (Golden/Lange/Wallerstein dataset, Visser 2004), Zentralisierungsindex (Visser 2004), Tarifbindung (Visser 2005), Kündigungsschutz (OECD 2004c).
3.7 Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung
79
Zusammengefasst ergeben die Ergebnisse dieses Abschnitts folgendes Bild: Die Varianz in den hier betrachteten Merkmalen zwischen den hier untersuchten Ländern ist beträchtlich. Über die Gruppierung in Vertreter unterschiedlicher Wohlfahrtsregimes wird ein größerer Teil dieser Varianz erklärt. Dies gilt insbesondere beim Ausmaß von Dekommodifizierung, was allerdings auch nicht verwunderlich ist, da dieses Merkmal der ursprünglichen Konstruktion der Wohlfahrtsregimes zugrunde liegt. Besonderes Augenmerk galt den Regelungen, die sich speziell an Erwerbstätige richten. Hier sind es allein die liberalen Wohlfahrtsstaaten, die Programme in nennenswertem Umfang aufweisen. Relativ gut werden die Unterschiede im Ausmaß der Familisierung erklärt. Hier zeigt sich allerdings, warum insbesondere die Niederlande als Hybridfall diskutiert werden. Vor allem in der Ausgestaltung der Kinderbetreuung weisen sie deutliche Ähnlichkeit mit den Ländern des konservativen Regimes auf. Betrachtet man die Ausgestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen, ist die Annahme der Kovarianz mit der Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen weder eindeutig zu bejahen noch abzulehnen. Während die Unterschiede in der Ausgestaltung des Kündigungsschutzes und im gewerkschaftlichen Organisationsgrad zwischen Regimes deutlich hervortreten, ist eine Abgrenzung nach anderen Merkmalen nicht eindeutig. Trotzdem bestehen klare Unterschiede zwischen den sozialdemokratischen skandinavischen Ländern auf der einen Seite und Großbritannien, das relativ eindeutig dem Bild eines liberalen Wohlfahrtsstaats entspricht, auf der anderen Seite. 3.7 Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung? Der Ausgangspunkt in dieser Arbeit waren zwei Fragen: Welchen Einfluss hat die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen? Und: In welche Richtung beeinflussen Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen – und hier ist vor allem der Umbau bzw. Abbau der sozialen Sicherungssysteme und die Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen gemeint – das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen? Mögliche Einflüsse institutioneller Rahmenbedingungen wurden in den vorangegangenen Abschnitten ausführlich diskutiert. Dabei wurde auch die Ausgestaltung relevanter Rahmenbedingungen in den hier betrachteten Ländern anhand einer Reihe von Indikatoren dargestellt. Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen wurden dabei allerdings nicht abgebildet.
80
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Tabelle 3.6: Entwicklung Dekommodifizierung (1990-2002) Dekommodifizierungsindex gesamt A.losigkeit Krankheit Rente 19901990199019901990 2002 1990 2002 1990 2002 1990 2002 DK 33,3 +1,6 8,5 +1,4 10,8 +0,1 14,0 0,0 FIN 30,3 -0,2 7,3 +0,8 10,0 0,0 13,0 -1,0 NL 33,7 +0,9 9,8 0,0 9,8 +1,0 14,0 0,0 S 36,9 -4,4 10,9 -1,6 13,0 -1,8 13,0 -1,0 Ø 33,6 -0,5 9,1 +0,1 10,9 -0,2 13,5 -0,5 IRL 22,2 +6,6 UK 23,8 +0,9 Ø 23,0 +3,8 B D F LUX A Ø
30,2 29,6 30,3 27,3 29,4
5,8 +3,2 6,4 -0,4 6,1 +1,4
5,1 +2,9 11,3 +0,6 6,4 +1,3 11,0 0,0 5,8 +2,1 11,1 +0,3
+0,4 10,1 +0,1 8,6 +0,6 7,3 -0,3 12,3 -3,3 6,7 -0,3 9,6 - - +1,5 6,8 -0,1 9,4 -0,2 7,7 -0,1 10,0
GR I 24,2 +2,5 P ES Ø -
3,1 +2,3 -
-1,1 0,0 -1,0 -0,2 -0,6
Lohnersatzraten (Anteil APW-Lohn in %)
1995 80,6 83,7 82,2 85,9 83,1
1997 79,1 81,4 82,7 84,8 82,0
1999 82,1 78,6 78,6 80,1 79,8
2001 78,3 76,3 77,5 79,3 77,8
57,6 57,4 51,7 60,2 70,9 70,4 62,4 57,8 64,2 63,9 57,0 59,0
11,5 10,1 14,0 11,2 11,7
+1,5 +0,9 -2,0 +1,7 +0,5
72,9 75,7 66,9 81,3 64,5 72,3
70,0 68,1 64,4 78,3 65,9 69,3
70,5 65,0 59,3 79,0 67,4 68,2
66,2 73,5 72,8 81,6 69,3 72,7
- 7,0 +0,2 14,0 - - - -
0,0 -
24,4 43,2 58,8 42,1
25,8 25,8 73,3 58,6 45,9
28,3 27,7 76,9 56,6 47,4
29,7 27,6 65,6 58,1 45,2
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): Var.1 0,86 0,38 0,69 0,37 0,74 0,61 0,58 0,18 0,78 0,58 0,54 0,67 Var.2 0,79 0,40 0,63 0,37 0,77 0,60 0,40 0,19 0,75 0,55 0,52 0,67 Var.3 0,79 0,37 0,52 0,19 0,62 0,64 0,38 0,16 0,56 0,50 0,48 0,51
Anmerkung: R2: vgl. S. 66. Quelle: Dekommodifizierung (Scruggs 2005), Lohnersatzraten (OECD 1998a, 1999, 2002, 2004a).
Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre gibt es eine breite Diskussion über den Abbau oder Umbau von Wohlfahrtsstaaten (vgl. Pierson 1994, 2001, van Keersber-
3.7 Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung
81
gen 2000, Korpi 2003, Korpi/Palme 2003). Parallel dazu wird die Entwicklung in Richtung einer Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen und eines Rückgangs des gewerkschaftlichen Organisationsgrads angenommen (vgl. Western 1995, Visser 2005). Geht man davon aus, dass umfangreiche wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen und zentralisierte Lohnverhandlungssysteme mit einem geringen Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen verbunden sind, sollten diese Entwicklungen eine Zunahme von Armut von Erwerbstätigen zur Folge haben. Betrachtet man aber vor allem die Entwicklung des Niveaus von Sozialleistungen, konstatiert eine Reihe von Autoren, dass es – zumindest bis Ende des Beobachtungszeitraums dieser Arbeit – allenfalls graduelle, und nur in wenigen Ausnahmen drastischere Veränderungen gegeben hat (vgl. z.B. Pierson 1994, 2001, Kvist 2002). Es gibt aber auch Einwände grundsätzlicher Natur, die weniger an der Höhe von Leistungen, sondern eher an der prinzipiellen Ausrichtung von Wohlfahrtsstaaten ansetzen. Dabei wird argumentiert, dass Wohlfahrtsstaaten, deren Kerngedanke die Gewährleistung sozialer Bürgerrechte ist, sich zu Workfare- oder Befähigungssstaaten (‚enabling states’) entwickeln, in denen Bürgerpflichten, wie beispielsweise die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, zum zentralen Merkmal werden (vgl. Jessop 1993, Gilbert 2002). Anstelle auf Dekommodifizierung, zielt der ‚enabling state’ auf Rekommodifizierung. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise die Verschärfung von Sanktionen und die Einführung von Leistungen, bei denen prinzipiell die Ausübung einer Erwerbstätigkeit Voraussetzung ist, als kennzeichnende Merkmale diskutiert. Für die folgenden empirischen Analysen besteht das Problem, entsprechende Entwicklungen angemessen operationalisieren zu können. Dieser Aspekt wird daher zunächst zurückgestellt und in Kapitel 7 anhand von Länderfallbeispielen aus anderer Perspektive aufgegriffen. In diesem Kapitel werden zunächst die Veränderungen der bislang betrachteten Indikatoren untersucht. Es gilt zu klären, ob bereits diese Entwicklungen die anfangs formulierte Arbeitshypothese rechtfertigen, dass aufgrund von Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen eine Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen plausibel erscheint, und ob diese Entwicklung für alle hier betrachteten Länder in gleicher Weise zu erwarten ist. Eine Möglichkeit, Entwicklungen zu betrachten, bietet der von Scruggs (2005) aktualisierte Dekommodifizierungsindex, der bereits bei der Beschreibung der Länderkontexte im vorherigen Abschnitt aufgeführt wurde. Dieser Index liegt für 11 der hier betrachteten Länder vor und deckt gegenwärtig den Zeitraum von 1971 bis 2002 ab. In Tabelle 3.6 ist die Entwicklung des Dekommodifizierungsindexes einschließlich der Teilindizes ab 1990 dargestellt. Außer Frankreich und Schweden weist keines der Länder einen eindeutigen Rückgang des Dekommodifizierungsindexes auf.46 In der Mehrzahl der Länder bleibt der Index konstant oder verändert 46 Eine weiter zurückreichende Darstellung erscheint aufgrund des in der folgenden empirischen Analyse betrachteten Zeitraums nicht relevant. Es sei nur kurz darauf verwiesen, dass in den Ländern, die
82
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
sich nur geringfügig. In Italien und Irland steigt der Index dagegen an, wobei dies die beiden Wohlfahrtsstaaten sind, die neben Großbritannien den niedrigsten Grad an Dekommodifizierung aufweisen. Aufgrund dieses Anstiegs und des deutlichen Rückgangs in Schweden, das zu Beginn der 1990er Jahre das höchste Ausmaß an Dekommodifizierung aufwies, haben sich insgesamt die Unterschiede zwischen den hier betrachteten Ländern verringert. Dies wird auch daran deutlich, dass die Regimetypologie im Jahr 1990 die Unterschiede geringfügig besser erklärt als am Ende des Beobachtungszeitraums (vgl. Tabelle 3.2). Dies gilt insbesondere, wenn man die Teilindizes betrachtet. Auffällig ist weiter, dass Unterschiede zwischen den Ländern durchgängig besser erklärt werden als das Ausmaß der Veränderungen. Wie aber zuvor gezeigt, sind die Unterschiede zwischen einzelnen Wohlfahrtsregimes weiterhin beobachtbar. Tabelle 3.6 zeigt außerdem die Entwicklung der durchschnittlichen Lohnersatzraten bei Arbeitslosigkeit. Wiederum ist in Schweden ein Rückgang zu beobachten, aber auch in anderen Ländern des sozialdemokratischen Regimes. Am deutlichsten fällt aber der Rückgang in Großbritannien aus. In Frankreich wird der zunächst beobachtete Rückgang durch ein deutliches Ansteigen der Lohnersatzraten von 1999 auf 2001 mehr als ausgeglichen. Wie bereits für Italien anhand des Dekommodifizierungsindexes beobachtet, ist in den südeuropäischen Ländern eher von einem Ansteigen der Lohnersatzraten als von einem Rückgang auszugehen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in Portugal nach einem starken Anstieg für das Jahr 2001 ein deutlicher Rückgang der Lohnersatzraten zu beobachten ist. Stärker als der Dekommodifizierungsindex deutet die reine Betrachtung von Lohnersatzraten bei Arbeitslosigkeit in mehreren, aber nicht in allen Ländern auf einen leichten Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen hin. Neben dem Aspekt der Dekommodifizierung wurde vor allem das Ausmaß an Defamilisierung diskutiert. Im Gegensatz zum Dekommodifizierungsindex gibt es hinsichtlich des Ausmaßes an Defamilisierung kaum zeitvariable Indikatoren für die Betrachtung der Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen. So liegen beispielsweise die häufig angeführten Indizes von Gornick et al. (1997) und Korpi (2000) nur für einen Zeitpunkt vor. Daher wird hier allein die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit betrachtet (Tabelle 3.7). Als Referenzwert ist zusätzlich der Anteil der erwerbstätigen Männer ausgewiesen.
einen deutlichen Rückgang des Dekommodifizierungsindexes aufweisen, ein kurvilinearer Verlauf zu beobachten ist, wobei der Scheitelpunkt der Kurve bereits in den späten 1980er Jahren liegt.
83
3.7 Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung
Tabelle 3.7: Veränderung Erwerbstätigenquote von Frauen und Männern 2001 gegenüber 1990 Quote (%)
Frauen
1990 80,1 76,7 75,7 85,2 79,4
Männer Entwicklung 1996- 19902001 2001 1996 80,2 -0,3 +0,4 70,0 +5,8 -12,5 81,5 +4,6 +1,2 76,9 +3,8 -12,0 77,2 +3,5 -5,7
+6,7 +0,4 +3,6
67,5 82,1 74,8
76,0 79,1 77,5
+9,4 +2,8 +6,1
-0,9 -5,8 -3,3
+5,1 +3,3 +3,4 +7,3 +1,6 +4,1
+4,7 +3,3 +1,5 +2,2 -0,6 +2,2
68,1 75,7 69,7 76,4 77,5 73,5
68,5 72,8 69,0 74,9 76,2 72,3
+1,7 0,0 +2,3 +0,5 -0,8 +0,7
-1,3 -2,9 -2,9 -2,1 -0,5 -2,0
+2,6 +5,1 +5,5 +10,0 +5,8
+1,1 -0,2 +0,2 +2,0 +0,8
73,4 69,2 80,1 71,9 73,6
70,9 68,7 76,5 73,8 72,5
-1,6 +1,8 +4,5 +9,1 +3,4
-0,8 -2,3 -8,1 -7,1 -4,6
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): 0,11 0,32 0,24 0,34 0,07 0,74 0,28 0,16 0,07 0,31 0,25 0,35
0,29 0,23 0,24
0,13 0,35 0,13
Entwicklung 1996- 19902001 1996 +4,0 -3,3 +5,9 -12,0 +8,6 +7,8 +3,6 -11,0 +5,5 -4,6
DK FIN NL S Ø
1990 70,6 71,5 47,5 81,0 67,6
2001 71,4 65,4 63,9 73,5 68,5
IRL UK Ø
36,6 62,8 49,7
54,0 66,0 60,0
+10,7 +2,8 +6,7
B D F LUX A1 Ø
40,8 52,2 50,3 41,4 58,8 48,7
50,7 58,7 55,2 50,8 59,8 55,0
GR I P ES Ø
37,5 36,2 55,4 31,8 40,2
41,2 41,1 61,0 43,8 46,8
Var.1 0,51 Var.2 0,69 Var.3 0,48
0,67 0,65 0,60
Anmerkungen: R2: vgl. S. 66. 1) Österreich 1994-2001. Quellen: OECD LFS Database.
Quote (%)
84
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Seit 1990 ist in fast allen Ländern die Erwerbstätigenquote von Frauen angestiegen, seit 1996 in allen Ländern. Am deutlichsten ist der Zuwachs in Spanien, Irland und den Niederlanden. Dies sind auch die drei Länder, in denen der Anteil der erwerbstätigen Männer zugenommen hat. In allen übrigen Ländern stagniert dagegen die Erwerbstätigenquote von Männern, in vielen Ländern ist sie sogar rückläufig. Dadurch wird die Angleichung der Quoten von Männern und Frauen verstärkt. Betrachtet man die Frauenerwerbstätigkeit, weisen allein die drei skandinavischen Länder des sozialdemokratischen Regimes eine grundsätzlich andere Entwicklung auf. Bei den Zuwächsen seit Mitte der 1990er Jahre handelt es sich hier um einen Wiederanstieg nach einem deutlichen Rückgang zu Beginn des Jahrzehnts. Insbesondere in Finnland und Schweden wird für diese Entwicklung die schwere Wirtschaftskrise nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verantwortlich gemacht. Allerdings ging diese Entwicklung von einem sehr hohen Niveau aus. So weisen diese Länder weiterhin die höchsten Erwerbstätigenquoten von Frauen auf und es bestehen deutliche Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsregimes. Trotzdem ist das Bild insbesondere seit 1996 durch einen übergreifenden Trend steigender Frauenerwerbstätigkeit geprägt. Führt man diesen Anstieg auf einen zunehmenden Grad der Defamilisierung zurück, beispielsweise auf einen verstärkten Ausbau der Kinderbetreuungssysteme und einen Abbau von familisierend wirkenden Instrumenten (z.B. Steuervorteile für Einverdiener-Paare), kann man dabei durchaus von einem wohlfahrtsstaatlich bedingten Kommodifizierungstrend sprechen (vgl. Leitner et al. 2004).47 Wie bereits in Abschnitt 3.1 kurz diskutiert, ist die Frage, ob Frauen erwerbstätig sind, jedoch nicht allein von der Höhe des Defamilisierungsgrades abhängig. Zwar sind durchaus Wechselwirkungen zwischen Einstellungen und der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen anzunehmen (vgl. Sjöberg 2004), jedoch ist empirisch genauso ein Auseinanderfallen von beidem feststellbar (vgl. Künzler et al. 1999, Pfau-Effinger 2004). In den sozialdemokratischen Wohlfahrtstaaten gibt es sicherlich am ehesten eine Übereinstimmung zwischen der Befürwortung der Erwerbstätigkeit von Frauen und der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen, die eben diese unterstützen. In anderen Ländern ist insbesondere die gerade betrachtete Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit auch Folge sich wandelnder Einstellungen und nicht allein mit entsprechenden Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen verbunden. In einer Reihe von Arbeiten zur Entwicklung der Einkommensungleichheit wird die in vielen Ländern beobachtete Zunahme der Einkommensungleichheit auf einen Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads oder einer Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen zurückgeführt (vgl. Freeman 1993, For47 Aus einer Perspektive ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen ist dieser Trend zunächst positiv zu interpretieren. Bleiben aber auch bei einer Angleichung der Erwerbsquoten von Männern und Frauen geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt bestehen, beispielsweise die geringere Entlohnung von Frauen, muss gefragt werden, wie hoch die gewonnene Unabhängigkeit tatsächlich ist.
3.7 Rekommodifizierung, Dezentralisierung und Deregulierung
85
tin/Lemieux 1997). Betrachtet man die Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den hier betrachteten Ländern (Tabelle 3.8), wird kein einheitlicher Trend deutlich. Allerdings gibt es nur drei Länder, in denen steigende Anteile zu beobachten sind (Finnland, Belgien, Spanien), während es sieben Länder gibt, in denen Verluste von absolut mehr als 5 Prozentpunkten zu beobachten sind. Dabei ist zunächst zu berücksichtigten, dass die hier gezeigten Veränderungen – wie bereits im letzten Abschnitt dargestellt – von sehr unterschiedlichen Niveaus ausgehen. So waren in Frankreich nur gut 10 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, während dieser Anteil in Schweden annähernd 82 Prozent betrug. Allerdings übersetzt sich auch ein deutlich rückläufiger Organisationsgrad nicht notwendigerweise in einen Rückgang der Tarifbindung. Während in Österreich weiterhin trotz rückläufigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad eine fast 100-prozentige Tarifbindung herrscht, ist in Großbritannien nach den bereits drastischen Einschnitten in den 1980er Jahren auch in den 1990er Jahren ein weiterer Rückgang zu beobachten (Visser 2005: 47). Das einzige andere Land, für das Visser im Verlauf der 1990er Jahre einen Rückgang der Tarifbindung beobachtet, ist Deutschland.48 Diese unterschiedlichen Entwicklungen werden auf die vorherrschende Ebene im Lohnverhandlungssystem und auf die Existenz von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zurückgeführt.49 Im dezentral organisierten Lohnverhandlungssystem Großbritanniens wirkt sich der rückläufige gewerkschaftliche Organisationsgrad stärker auf Ebene der Tarifbindung aus als im stark zentralisierten Österreich. Betrachtet man die Entwicklung der Lohnverhandlungssysteme, ist insgesamt jedoch kein eindeutiger Trend zur Dezentralisierung zu beobachten. Verwendet wird ein von Iversen (1999) entwickelter und von Visser (2004) aktualisierter Indikator. Hohe Werte bedeuten ein hohes Maß der Zentralisierung. Niedrige Werte deuten auf ein dezentrales Lohnverhandlungssystem hin. Eine eindeutige Entwicklung in Richtung Dezentralisierung gibt es in Schweden und in geringerem Maße in Italien. Dagegen weisen die Entwicklungen in Irland, den Niederlanden und Belgien in die gegenläufige Richtung, nämlich hin zu einem zentralisierten Lohnverhandlungssystem.
48 Allerdings liegen Visser (2005) keine Zahlen zur Entwicklung der Tarifbindung in Irland, Luxemburg, Griechenland und Portugal vor, in denen auch mehr oder weniger deutliche Rückgänge im gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu beobachten sind (vgl. Tabelle 3.8). 49 Zunehmend seltener ausgesprochene Allgemeinverbindlichkeitserklärungen werden – neben einem Rückgang der Organisiertheit der Arbeitgeber – insbesondere in Deutschland als Ursache für die rückläufige Tarifbindung diskutiert (vgl. Bispinck 2004).
86
3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Tabelle 3.8: Entwicklung Arbeitsmarktinstitutionen (1990-2001/2003)
DK FIN NL S Ø
gewerkschaftl. Org.grad (%) 1990 2001 75,4 -1,5 72,3 +5,6 25,5 -2,9 81,5 -3,2 63,7 -0,5
Zentralisierung (Index) 1990 1990-2003 52 +2 59 -2 57 +1 74 -18 61 -4
IRL UK Ø
51,1 39,3 45,2
-15,1 -8,6 -11,9
63 12 38
+1 +1 +1
B D F LUX A Ø
53,9 31,2 10,1 45,0 46,9 37,5
+1,8 -7,7 -0,5 -11,6 -11,3 -5,8
53 48 16 72 47
+8 -1 +1 -1 +2
GR I P ES Ø
32,4 38,8 31,7 11,0 28,5
-6,9 -4,0 -8,3 +2,8 -4,1
25 24 26 25
+9 +6 +12 +9
0,42 0,71 0,43
Anteil erklärte Varianz (R 2 ): 0,38 0,42 0,38 0,41 0,36 0,46
0,47 0,53 0,40
Var.1 Var.2 Var.3
Anmerkung: R2: vgl. S. 66. Quellen: Gewerkschaftl. Org.grad (OECD LFS database), Zentralisierung (Visser 2004)
Fasst man die hier betrachteten Entwicklungen in der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen zusammen, ist für den betrachteten Zeitraum keine eindeutige Veränderung des Ausmaßes von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten. Einem zumeist leichten Rückgang im Ausmaß der Dekommodifizierung in den
3.8 Fragestellungen und Hypothesen
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Ländern des sozialdemokratischen und teilweise auch konservativen Regimes, stehen positive Veränderungen insbesondere in den südeuropäischen Ländern gegenüber. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass mögliche Veränderungen in der Sanktionierungspraxis von Arbeitslosen oder Veränderungen in Richtung von Erwerbstätigkeit als Voraussetzung für den Bezug von Transfers auf Basis der verfügbaren, international vergleichbaren Indikatoren kaum abzubilden sind (vgl. aber Kapitel 7). Ebenso stehen keine zeitlich variablen Indikatoren für die Betrachtung des Grads der Defamilisierung zur Verfügung. Hier wurde daher allein die Entwicklung der Erwerbstätigenquote von Frauen betrachtet, die zumindest näherungsweise Aufschluss über die Verfügbarkeit eines weiteren Einkommens in Familienhaushalten bietet. Nicht abgebildet werden andere Aspekte der wirtschaftlichen Autonomie von Frauen, wie beispielsweise die Entwicklung von Lohnunterschieden. Überhaupt nicht konnte auf institutionelle Veränderungen eingegangen werden, die das Ausmaß intergenerationaler Abhängigkeit beeinflussen. Betrachtet man die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit, ist in fast allen Ländern eine Zunahme zu beobachten. Für die sozialdemokratischen Länder gilt dies aber erst nach einer Phase des deutlichen Rückgangs zu Beginn der 1990er Jahre. Besser dokumentiert sind Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen, von denen ein Einfluss auf die Verteilung von Erwerbseinkommen erwartet wird. Zwar ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Mehrzahl der Länder rückläufig, allerdings zeigt dies bislang keine Folgen – mit Ausnahme von Deutschland und Großbritannien – in einer rückläufigen Tarifbindung. Genauso wenig ist für den hier betrachteten Zeitraum ein genereller Trend der Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen zu beobachten. Es gibt aber auch Anzeichen für eine Annäherung zwischen den Ländern. In Schweden, dem Land mit dem höchsten Grad an Dekommodifizierung, sind deutliche Einschnitte erfolgt, während sich in Ländern mit einem niedrigen Ausmaß an Dekommodifizierung eine Zunahme abzeichnet. Auch das Ausmaß der Frauenerwerbstätigkeit hat durch Einbrüche in den skandinavischen Ländern einerseits und Zuwächse in den übrigen Ländern andererseits eine Angleichung erfahren, obwohl weiterhin deutliche Unterschiede bestehen. Im Gegensatz dazu ist keine Angleichung im Grad der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen festzustellen. 3.8 Institutionelle Rahmenbedingungen: Fragestellungen und Hypothesen Die grundlegende Annahme der Arbeit ist, dass Unterschiede im Ausmaß und der Struktur von Armut von Erwerbstätigen über Unterschiede in der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen erklärt werden können. Es wurde argumentiert, dass institutionelle Rahmenbedingungen den Zugriff von Haushalten auf unterschiedliche Einkommenspakete strukturieren. In diesem Kapitel wurde disku-
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3 Institutionelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
tiert, welche Faktoren für die Erklärung von Armut von Erwerbstätigen besonders relevant sind. Es wurde ein umfassender konzeptioneller Rahmen entworfen, um Unterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen zu betrachten und mögliche Entwicklungen zu erklären. Dabei wurde vor allem auf die in der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verankerten Konzepte der Dekommodifizierung und Defamilisierung zurückgegriffen und diese wurden um eine umfangreiche Betrachtung der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen ergänzt. Aufgrund der innerhalb der meisten Länder nur geringen und – aufgrund von sich überlagernden Entwicklungen – zumeist nicht eindeutig verlaufenden Veränderungen, wird davon ausgegangen, dass Unterschiede zwischen Ländern in den folgenden Analysen im Vordergrund stehen werden. Es geht also um die Beantwortung der Frage, welchen Einfluss die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen hat. Allerdings bieten auch diese Analysen eine – zumindest theoretische – Möglichkeit, auf den Einfluss von aktuellen Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen zu schließen und somit auf die zweite anfangs formulierte Frage einzugehen. Auf Basis des Ländervergleichs lässt sich der Einfluss der einzelnen Elemente der institutionellen Rahmenbedingungen überprüfen und es lassen sich somit Richtung und Stärke von möglichen Auswirkungen einer Veränderung der Rahmenbedingungen in eine bestimmte Richtung abschätzen. Zudem lässt sich die Entwicklung seit Mitte der 1990er Jahre betrachten. Allerdings wird – wie bereits erwähnt – davon ausgegangen, dass das Ausmaß von Länderunterschieden die Variation über die Zeit übersteigt. In Abschnitt 3.5 wurde bereits eine Systematisierung der erwarteten Einflüsse vorgenommen. Hier sollen als Grundlage für die folgende empirische Analyse daran anknüpfend nochmals allgemeiner gehaltene Hypothesen formuliert werden. Diese orientieren sich weniger an Einzelmechanismen, sondern gehen von den grundlegenden hier diskutierten Dimensionen aus. Folgende Hypothesen sollen in der empirischen Analyse überprüft werden:
Je höher der Grad der Dekommodifizierung, desto geringer ist das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Es wurde gezeigt, warum das Ausmaß an Dekommodifizierung auch für arme Erwerbstätige und nicht nur für Arbeitslose und Nichterwerbstätige relevant sein kann. Dabei wurde auf die Bedeutung impliziter Mindestlöhne, die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Transfers und Erwerbseinkommen und die Bedeutung von Transfers im Haushaltskontext hingewiesen. Je höher der Grad der Defamilisierung, desto geringer ist das Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen. Die Hypothese stützt sich auf die Annahme, dass Defamilisierung das Verhältnis von Ressourcen (durch eine höhere Autonomie von Frauen, hier konkret ein höheres Erwerbseinkommen von Frauen) und Bedarf (durch
3.8 Fragestellungen und Hypothesen
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die geringere intergenerationale Abhängigkeit von Familienmitgliedern) in eine positive Richtung verschiebt. Dem steht eine Alternativhypothese gegenüber, die auf der Wirkung von erweiterter Familiensolidarität aufbaut. Stärkere Familiensolidarität bietet Schutz für Geringverdiener im Haushaltskontex t. Allerdings wird im Saldo – zusammengenommen mit den negativen Einflüssen geringer Defamilisierung – entsprechend der vorherigen Hypothese trotzdem ein negativer Einfluss des Grads der Defamilisierung auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen angenommen. Weiterhin wird allerdings erwartet, dass sich der Einfluss der erweiterten Familiensolidarität in der Struktur der armen Erwerbstätigen zeigt. Aufgrund der Belastung (älterer, vor allem männlicher) Hauptverdiener durch weitere Haushaltsmitglieder und des Schutzes für (überwiegend jüngere und weibliche) Geringverdiener, wird eine Verschiebung von Armut von Erwerbstätigen von den Rändern ins Zentrum des Arbeitsmarkts angenommen. Je stärker die eZntralisierung von Lohnverh andlungssystemen, desto geringer das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Diese Hypothese stützt sich auf das Ergebnis früherer Studien, die nachweisen, dass der Zentralisierungsgrad die Ungleichheit von Erwerbseinkommen verringert. Obwohl hier Haushaltseinkommen betrachtet werden, sollte dieser Einfluss auch für Armut von Erwerbstätigen spürbar sein, da Erwerbseinkommen eine zentrale Rolle spielen. Für die wirtschaftliche Entwicklung wird kein eindeutiger Einfluss angenommen. Hier steht die Annahme einer Absenkung von Reallöhnen und der Reduzierung der Anzahl der erwerbstätigen Haushaltsmitglieder bei wirtschaftlichen Abschwüngen der Annahme gegenüber, dass arme Erwerbstätige dann aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden.
Da in der deskriptiven Analyse auch auf Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes eingegangen wird, sollen hier kurz die Erwartungen zu möglichen Unterschieden entsprechend der formulierten Hypothesen und den in Abschnitt 3.5 dargestellten Merkmalen der einzelnen Regimes formuliert werden. Das geringste Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen wird für die Länder des sozialdemokratischen Regimes angenommen, die ein hohes Maß an Dekommodifizierung, Defamilisierung und tendenziell auch Zentralisierung aufweisen. Die höchsten Armutsquoten werden dagegen für die Länder des südeuropäischen Regimes aufgrund des geringen Grades an Dekommodifizierung und Defamilisierung angenommen. Für die Länder des liberalen Regimes wird ein mittleres bis hohes Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen angenommen. Diese sind durch ein geringes Maß an Dekommodifizierung und Defamilisierung (wobei anders als im südeuropäischen Regime keine ausgeprägten intergenerationalen Abhängigkeiten bestehen und somit kein entsprechend negativer Einfluss angenommen wird) und im Fall von Großbritannien durch ein dezen-
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trales Lohnverhandlungssystem geprägt. Allerdings sind Irland und Großbritannien die einzigen Länder, die ein umfassendes Transfersystem für arme Erwerbstätige besitzen. Es wird sich zeigen, inwieweit dies einen Einfluss auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen hat. Für die Länder des konservativen Regimes wird ein mittleres bis niedriges Maß an Armut von Erwerbstätigen angenommen, dies vor allem aufgrund des relativ hohen Grads der Dekommodifizierung. Diese Erwartungen dienen vorwiegend als Orientierung für die zunächst folgende deskriptive Analyse. Im weiteren Verlauf der Arbeit steht eine Überprüfung der oben formulierten Zusammenhänge im Vordergrund.
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4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
Bislang wurde die Definition von Armut von Erwerbstätigen nur kurz angesprochen. Dabei ging es vor allem um die Abgrenzung von armen Erwerbstätigen gegenüber Niedriglöhnern. Es wurde deutlich gemacht, dass in dieser Arbeit – im Gegensatz zu einem Teil der Literatur, die den individuellen Bezug von Niedriglohn mit Armut von Erwerbstätigen gleichsetzt (vgl. z.B. Pohl/Schäfer 1996, Cappellari 2002, Cormier/Craypo 2000) – Armut im Sinne der allgemeinen Armutsforschung verstanden wird. In dieser Sichtweise ist die wirtschaftliche Lage von Haushalten und nicht das Erwerbskommen einzelner Personen für die Bestimmung von Armutslagen entscheidend. Armut von Erwerbstätigen umfasst dann Personen, die erwerbstätig sind und die in einem armen Haushalt leben. Dieser Ansatz wird häufig um die Betrachtung von Personen erweitert, die in einem Haushalt leben, in dem mindestens eine Person erwerbstätig ist. Diese allgemeine Definition lässt aber zwei zentrale Fragen offen. Zum einen: Was bedeutet ‚arm’? Und zum anderen: Was bedeutet ‚erwerbstätig’? Auf diese Fragen soll in den nächsten beiden Abschnitten 4.1 und 4.2 eingegangen werden, bevor im darauf folgenden Abschnitt methodische Probleme international vergleichender Armutsforschung betrachtet werden (4.3). In einem weiteren Abschnitt wird dann die zentrale Datenquelle dieser Arbeit, das Europäische Haushaltspanel (ECHP), vorgestellt (4.4). In Abschnitt 4.5 wird abschließend die Bestimmung von armen Erwerbstätigen auf Basis des ECHP erläutert.
4.1 Armutsdefinition und Armutsmessung Es gibt eine breite Literatur zu der Frage, wie Armut definiert und gemessen wird (vgl. Piachaud 1987, Øyen et al. 1996, Spicker 1999, Bradshaw/Sainsbury 2000). Es besteht zwar kein vollständiger Konsens über eine Armutsdefinition, jedoch wird häufig auf die Definition von Townsend (1979) verwiesen: „Individuals, families and groups in the population can be said to be in poverty when they lack the re-
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sources to obtain the type of diet, participate in the activities and have the living conditions and amenities which are customary, or at least widely encouraged, or approved, in the societies to which they belong. They are, in effect, excluded from ordinary living patterns, customs and activities” (1979: 31).50 In der Sichtweise Townsends wird Armut als multidimensionales Konzept aufgefasst, das den Ausschluss von verschiedenen Lebensbereichen berücksichtigt. Weiter ist nach dieser Definition Armut immer nur mit Bezug auf einen allgemein akzeptierten Lebensstandard zu bestimmen. Armut ist also relativ zu den zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft herrschenden Verhältnissen. Während in der Literatur breite Übereinstimmung darin besteht, Armut als multidimensional und relativ zu definieren,51 gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen, wie Armut zu messen ist. Grundsätzlich lassen sich nach Ringen (1988) direkte und indirekte Ansätze der Armutsmessung unterscheiden. Während indirekte Ansätze verfügbare Ressourcen als Indikator für Armut benutzen, verwenden direkte Ansätze den beobachteten Lebensstandard, also das Ergebnis der Ressourcenverwendung als Armutsindikator. Ersteres wird daher auch als Ressourcenansatz, letzteres als Lebensstandardansatz bezeichnet (vgl. Andreß/Lipsmeier 2001).52 In bei50 Auch die Armutsdefinition der Europäischen Union, die im Beschluss des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 19.12.1984 festgelegt wurde, ist sehr eng an die Formulierung Townsends angelegt: „Im Sinne dieses Beschlusses sind verarmte Personen Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist” (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 3.1.1985, L2, S. 24). 51 Die Frage, ob Armut auch absolut und nicht nur relativ zum gesellschaftlichen Standard zu bestimmen ist, beantwortet Ringen (1988) eindeutig negativ. Er stellt absolute Armut als eine reine Theoriefigur dar, die von Vertretern relativer und multidimensionaler Armutsansätze in der Diskussion zu ressourcenbasierten Ansätzen angeführt wird. Ringen geht davon aus, dass es eine Anwendung von absoluten Armutsdefinitionen nie gab: „There never was such a thing as an absolute concept of poverty and no one has argued that there should be. The absolute concept is not the concept of the old men, but a straw man erected by younger men for their purposes” (Ringen 1988: 353). Allerdings räumt Ringen ein, dass Budgetstandards wie z.B. bei Rowntree (1901) oder die US-amerikanische Armutsgrenze häufig als absolute Armutsgrenzen bezeichnet werden, obwohl sie de facto keine sind, da auch diese an gesellschaftlichen Standards ausgerichtet sind. Donnison (1988) vertritt hingegen in einer direkten Erwiderung die Meinung, dass insbesondere in der politischen Diskussion immer wieder absolute Armutsgrenzen gefordert werden, diese also keinesfalls als reine ‚Strohpuppen’ zu interpretieren sind. Als Beispiel wird eine Armutsdefinition von Joseph und Sumption (1979) angeführt: „An absolute standard means one defined by reference to the actual needs of the poor and not by reference to the expenditure of those who are not poor. A family is poor if it cannot afford to eat” (Joseph/Sumption 1979: 27, zitiert nach Donnison 1988: 368). 52 Ringen (1988) selbst verwendet die Bezeichnungen Subsistenzansatz und – unter Bezugnahme auf Townsend (1979) – Deprivationsansatz. Deprivation meint hier den Ausschluss von einem allgemein akzeptierten Lebensstandard. Atkinson (1989, 1998) verweist mit der Verwendung des Begriffs ‚minimum rights approach’ für den Ressourcenansatz darauf, dass die Mindestausstattung an Ressourcen als soziales Bürgerrecht verstanden werden kann. „[T]he [minimum rights] […] approach […] sees poverty in terms of deprivation of a certain minimum right to resources. People are seen as entitled to a minimum income, which is a prerequisite for participation in a particular society. It may be linked to citizen-
4.1 Armutsdefinition und Armutsmessung
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den Ansätzen wiederum gibt es jeweils eine breite Diskussion über die Operationalisierung von Ressourcen bzw. Lebensstandard und die Frage, ab welchem Ressourcen- oder Lebensstandardniveau eine Person als arm zu bezeichnen ist, wie also eine Armutsgrenze festzulegen ist. Beim Lebensstandardansatz hat sich die grundsätzliche Vorgehensweise von Townsend (1979) etabliert. Lebensstandard wird über eine Liste von Gütern und Aktivitäten operationalisiert, die sämtliche relevanten Aspekte des notwendigen Lebensstandards in einer Gesellschaft umfasst, wobei in späteren Arbeiten eine Beurteilung der Notwendigkeit der einzelnen Items mit abgefragt wird, um die Bestimmung eines gesellschaftlich akzeptierten Mindeststandards zu ermöglichen (vgl. Mack/Lansley 1985). Können Personen sich (einige dieser) Güter und Aktivitäten aus finanziellen Gründen nicht leisten, wird dies als Ausschluss vom geltenden Lebensstandard und somit nach der oben angeführten Definition als Armut interpretiert. Für die konkrete Festlegung einer Armutsgrenze werden wiederum verschiedene Verfahren diskutiert (vgl. Andreß/Lipsmeier 2001). Wie in Abschnitt 2.4 bereits angesprochen, wird in dieser Arbeit Armut nach dem Ressourcenansatz betrachtet. Insbesondere in international vergleichender Perspektive ist – trotz der Entwicklungen im Bereich des Lebensstandardansatzes – der Ressourcenansatz weiterhin als Standard anzusehen (vgl. Hauser 1997: 42/45). Es muss jedoch auch bei Verwendung des Ressourcenansatzes festgelegt werden, was unter Ressourcen verstanden wird. In den meisten Arbeiten wird ausschließlich das verfügbare Einkommen betrachtet und nicht-monetäre Ressourcen werden nicht berücksichtigt.53 Allerdings gibt es selbst bei einer Festlegung auf monetäre Ressourcen neben dem Einkommen noch weitere Komponenten, die prinzipiell zu berücksichtigen wären (vor allem Vermögen). Eine ausschließliche Betrachtung von Einkommen bedeutet daher, dass diese anderen monetären Ressourcen, aber auch nicht-monetäre Ressourcen wie die Eigenproduktion von Haushalten (vgl. Jenkins/O’Leary 1996), der Mietwert von selbst genutztem Wohneigentum oder geldwerte Vorteile, wie beispielsweise die Nutzung eines Dienstwagens, nicht berücksichtigt werden. In dieser Arbeit wird jedoch, wie in der Mehrzahl der international vergleichenden Armutsstudien, Einkommen als einziger Ressourcenindikator verwendet. Obwohl diese Perspektive mit Einschränkungen verbunden ist, erscheint diese Betrachtungsweise in entwickelten Gesellschaften als angemessen, da hier monetäres Einkommen als zentrale Ressource zur Erlangung eines bestimmten Lebensstandards anzusehen ist. Weiter kommt bei einer Betrachtung armer Erwerbstätiger dem Arbeitseinkommen eine zentrale Rolle zu. Durch die Frage, inship, in that a certain minimum level of resources is necessary in order that people may enjoy effective freedom” (Atkinson 1998: 24). 53 Aus einer weiter gefassten Perspektive ist anzumerken, dass Einkommen selbst nicht als Ressource zu betrachten ist, sondern nur das Resultat der Verwendung anderer Ressourcen, z.B. Qualifikationen, die es einem ermöglichen, einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen oder Ansprüche zum Bezug von Transfers geltend zu machen.
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4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
wieweit niedrige Arbeitseinkommen mit Armut einhergehen, erscheint eine Fokussierung auf monetäre Ressourcen gerechtfertigt. Natürlich gibt es aber auch pragmatische Gründe dafür wie die Einfachheit und Klarheit der Verwendung eines Einkommensindikators und das Fehlen von Indikatoren, die in geeigneter Weise andere Ressourcen mit berücksichtigen. Fasst man die bislang dargestellte Diskussion zusammen, ergibt sich folgender Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Armut wird als multidimensionales und relatives Konzept verstanden, aber in indirekter Form als Einkommensarmut gemessen, wobei das Einkommen nur monetäre Einkommensbestandteile umfasst. Trotz dieser bereits relativ deutlichen Festlegung gibt es weitere Fragen, die zu klären sind: 1. 2. 3. 4.
Über welchen Zeitraum soll das Einkommen betrachtet werden? Werden Personen oder Haushalte betrachtet? Wenn Armut auf Haushaltsebene betrachtet wird: Wie ist mit Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung umzugehen? Unterhalb welchem Einkommensbetrag sind Personen oder Haushalte als arm zu bezeichnen? Also: An welchem Punkt der Einkommensverteilung wird die Armutsgrenze gezogen?
Dies sind alles grundsätzliche Fragen, zu denen die Armutsforschung eine breite Literatur hervorgebracht hat, auf die hier nur kurz eingegangen werden soll (vgl. z.B. Atkinson 1998). Zur ersten Frage: Die verfügbaren Datenquellen enthalten i.d.R. entweder Einkommensangaben, die sich auf das Einkommen im Jahr vor der Befragung oder auf das aktuelle Monatseinkommen beziehen (oder beides). In vielen Erhebungen ist die Erhebung des Jahreseinkommens sehr viel ausführlicher angelegt (so auch im ECHP). So werden einzelne Einkommenskomponenten wie Erwerbseinkommen, unterschiedliche Transfers und Kapitaleinkommen jeweils einzeln erhoben. Dies ist ein Grund, der für die Verwendung von jährlichen Einkommen spricht, da davon auszugehen ist, dass das Einkommen genauer erhoben wird. Für die Verwendung von jährlichen Einkommen spricht weiter, dass durch die rückblickende Abfrage auch unregelmäßig gezahlte Einkommenskomponenten wie Sondervergütungen oder Weihnachtsgeld erfasst werden können. Zudem werden durch den längeren Beobachtungszeitraum kurzfristige Schwankungen im Einkommen ausgeglichen (z.B. durch kurze Phasen der Arbeitslosigkeit beim Übergang von einem Job zum nächsten), die keinen oder nur geringen Einfluss auf den Lebensstandard haben (vgl. z.B. Jenkins 2000). Es bestehen aber auch mehrere Probleme. Erstens entspricht der Zeitraum der Einkommensabfrage nicht dem Zeitpunkt der Befragung. Während üblicherweise die meisten Merkmale für den Zeitpunkt des Interviews erfragt werden, bezieht sich der Zeitraum der Einkommensab-
4.1 Armutsdefinition und Armutsmessung
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frage auf das Vorjahr. Eine mögliche Lösung besteht in der Verwendung der Einkommensangaben zusammen mit den übrigen Angaben aus dem Vorjahr. Allerdings verkürzt sich dadurch der Beobachtungszeitraum insgesamt um ein Jahr. Außerdem besteht weiterhin das Problem, dass Angaben, die sich auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen, mit Angaben für einen Zeitraum von einem ganzen Jahr kombiniert werden.54 Zweitens basiert das jährliche Haushaltseinkommen auf einer retrospektiven Abfrage, wobei allgemein die Gefahr von Erinnerungsfehlern usw. besteht. Da der Zeitraum nur um ein Jahr zurückreicht, sind negative Einflüsse allerdings als relativ gering einzuschätzen. Als gravierender ist ein drittes Problem anzusehen. Durch die umfangreiche, nach Einkommensarten gegliederte Abfrage erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von fehlenden Werten. Berücksichtigt man dies nicht bei der Addition der einzelnen Einkommensarten, dann resultiert der Item-Nonresponse in einer Unterschätzung des Gesamteinkommens. Diesem Problem wird in vielen Datenquellen (so auch im ECHP) mit einer Imputation von Einkommenskomponenten begegnet, die wiederum selbst mit Problemen verbunden sein kann (zur Einkommensimputation im ECHP vgl. EUROSTAT 2002, Nicoletti/Peracchi 2006). Bei der Messung von Armut von Erwerbstätigen ist vor allem das erste der genannten Probleme relevant. Zur Bestimmung von armen Erwerbstätigen werden Einkommensangaben und Angaben zur Erwerbstätigkeit benötigt. Detaillierte Angaben zur Erwerbstätigkeit werden aber zumeist nur für den Befragungsmonat erhoben. Hierauf wird noch genauer bei der Darstellung der Operationalisierung von Armut von Erwerbstätigen auf Basis des ECHP eingegangen (vgl. Abschnitt 4.5). Bei der zweiten Frage – Betrachtung von Haushalten oder Personen – sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Frage, ob nur das eigene Einkommen oder auch das Einkommen anderer Personen für die Messung von Armut berücksichtigt wird. Zum anderen muss bestimmt werden, ob Ergebnisse auf Basis von Personen oder Haushalten ausgewiesen werden, oder anders formuliert, welche Zähl- oder Analyseeinheit gewählt wird. Zunächst zum ersten Aspekt: Standardmäßig wird in der Armutsforschung davon ausgegangen, dass die in einem Haushalt zusammenlebenden Personen gemeinsam wirtschaften.55 Konkret bedeutet dies, dass die Einkommen aller Personen zusammenfließen und dass sämtliche Haushaltsmitglieder – unabhängig von dem von ihnen beigesteuerten Einkom54 In früheren Arbeiten finden sich beide Ansätze. Fouarge und Layte (2003) beispielsweise verwerfen die Verschiebung der Einkommensangaben um ein Jahr mit dem Hinweis auf nur geringfügige Unterschiede, während Layte und Whelan (2003) die entsprechende Verschiebung vornehmen. 55 Allerdings wird auch argumentiert, dass nicht Haushalte, sondern Familien gemeinsam wirtschaften. Dies kann bedeuten, dass mehrere Wirtschaftseinheiten in einem Haushalt leben, aber auch, dass außerhalb des Haushaltes lebende Familienmitglieder bei der Berechnung des Einkommens berücksichtigt werden müssten (Atkinson 1998: 34f). Hier wird davon ausgegangen, dass in den meisten Fällen Familien und Haushalte deckungsgleich sind. Zusammenlebende Personen können somit als gemeinsam wirtschaftende Einheit angesehen werden.
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mensanteil – in gleicher Weise an diesem Einkommenspool partizipieren. Während die Einkommenspoolannahme für die meisten Haushalte plausibel erscheint, ist der weiterreichenden Annahme der Einkommensgleichverteilung innerhalb eines Haushalts nicht ohne weiteres zuzustimmen (vgl. Jenkins 1991). So wird vor allem argumentiert, dass durch die Annahme der Gleichverteilung im Haushalt relevante Unterschiede in den verfügbaren Einkommen zwischen Männern und Frauen verdeckt werden. Allerdings ist die empirische Evidenz zur Einkommensverteilung innerhalb von Haushalten nicht sehr umfassend, sodass üblicherweise von einer Gleichverteilung des Einkommens innerhalb von Haushalten ausgegangen wird. Auch auf Basis des ECHP ist eine andere Betrachtungsweise nicht möglich. Durch diese Art der Bestimmung von Armut auf Haushaltsebene wird für alle Haushaltsmitglieder dasselbe Einkommen, und daraus abgeleitet, derselbe Lebensstandard angenommen. Nun zu dem zweiten Aspekt, der Frage nach der Zähl- oder Analyseeinheit. Diese ist kurz zu beantworten: Obwohl Armut auf Haushaltsebene bestimmt wird, werden als Analyseeinheit in den meisten neueren Armutsstudien Personen verwendet (vgl. Atkinson et al. 2002: 28f, 93f). Aus der Entscheidung für die Bestimmung von Armut auf Haushaltsebene resultiert die dritte oben angeführte Frage: Wie ist mit Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung umzugehen? Da davon ausgegangen wird, dass das Einkommen innerhalb eines Haushaltes gleichmäßig an alle Haushaltsmitglieder verteilt wird, steht in Mehrpersonenhaushalten jeweils nur ein Teil des Gesamteinkommens pro Person zur Verfügung. Dies kann man auch aus einer anderen Perspektive betrachten: In größeren Haushalten steht den verfügbaren Ressourcen, hier Einkommen, ein höherer Bedarf gegenüber. Um Haushalte mit unterschiedlichem Bedarf, also mit unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung, miteinander vergleichen zu können, ist es notwendig, diese Bedarfsunterschiede zu berücksichtigen. Aufgrund des unterschiedlichen Bedarfs von Kindern und Erwachsenen, aber auch aufgrund von Größengewinnen durch das gemeinsame Wirtschaften in einem Haushalt, ist nicht davon auszugehen, dass der Bedarf von Haushalten eine einfache Funktion der Haushaltsgröße ist (vgl. Faik 1995: 39ff). Stattdessen werden Äquivalenzskalen verwendet, die i.d.R. unterschiedliche Bedarfsgewichte für die erste und weitere Personen in einem Haushalt und zwischen Kindern (z.T. unterschieden nach Alter) und Erwachsenen vorsehen. Es gibt eine Vielzahl von Äquivalenzskalen und es ist gezeigt worden, dass die Verwendung unterschiedlicher Äquivalenzskalen einen Einfluss auf das gemessene Ausmaß von Armut, aber vor allem auf die Struktur der Armutspopulation haben kann (vgl. Buhmann et al. 1988). Auf die Auswahl der Äquivalenzskala wird noch im Rahmen der Operationalisierung von Armut auf Basis des ECHP eingegangen (Abschnitt 4.4). Die vierte und letzte Frage, die hier zunächst allgemein geklärt werden soll, bezieht sich auf die Festlegung der Armutsgrenze. Nach der eingangs angeführten Armutsdefinition ist Armut immer relativ zu den zu einem bestimmten Zeitpunkt in
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einer Gesellschaft herrschenden Verhältnissen zu sehen. Bezogen auf Einkommensarmut bedeutet dies, dass die Armutsgrenze an der Stelle der Einkommensverteilung verlaufen muss, unter der das Einkommen zu niedrig ist, um einen ausreichenden Lebensstandard realisieren zu können. Um diesen Punkt zu bestimmen, stehen mehrere Vorgehensweisen zur Auswahl (vgl. Piachaud 1992): Warenkorbstandards, subjektive Armutsgrenzen, politische Armutsgrenzen und relative Einkommensarmutsgrenzen. Obwohl in dieser Arbeit Armut nur über relative Einkommensarmutsgrenzen gemessen wird, werden diese Verfahren hier kurz vorgestellt, da auf diese Weise Stärken und Schwächen der Verwendung relativer Einkommensarmutsgrenzen besser deutlich gemacht werden können. Bereits Seebohm Rowntree (1901) versucht das notwendige Budget eines Haushalts über den Wert eines typischen Warenkorbes zu bestimmen. Kritisiert wird am Warenkorbverfahren neben der Schwierigkeit, den Inhalt von Warenkörben angemessen in benötigtes Einkommen umzurechnen, vor allem der Einfluss normativer Urteile bei der Zusammenstellung von Warenkörben. So merkt Piachaud (1992: 68) zum Vorgehen Rowntrees und seiner Nachfolger an: „So wurde für Heizung 1899 [im englischen York] kein Bedarf anerkannt. Auch heute sagen entsprechende Standards mehr darüber aus, welches Wohlergehen ein Experte für angebracht hält, als darüber was ‚objektiv’ überlebensnotwendig ist”. Weiter gibt es eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, ein notwendiges Einkommensniveau auf Basis von Befragungen zu ermitteln. Grundsätzlich geht diese Forschungsrichtung auf Goedhart et al. (1977) zurück. In der Folge wurden unterschiedliche Vorgehensweisen entwickelt, um subjektive Armutsgrenzen zu bestimmen (vgl. Flik/van Praag 1991). Prinzipiell führen diese Verfahren zu relativ hohen Armutsgrenzen und es liegt nahe anzunehmen, dass nicht ein notwendiges, sondern ein gewünschtes Einkommensniveau Grundlage für die Beantwortung der betreffenden Fragen ist. Außerdem ergeben sich im internationalen Vergleich z.T. starke Unterschiede in der Höhe von Armutsgrenzen, die nicht durch Unterschiede im Einkommensniveau erklärt werden können (vgl. van den Bosch 1993: 14f). Als weiterer Ansatz ist die Verwendung sogenannter politischer Armutsgrenzen zu nennen, die sich an den Leistungssätzen der staatlichen Grundsicherungssysteme orientieren. Arm sind danach diejenigen, die einen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, eine Definition, die grundsätzlich auf Georg Simmel (1992) zurückgeht. Es lässt sich argumentieren, dass die Höhe von Grundsicherungsleistungen in einer Demokratie einen öffentlichen Konsens über ein minimales Ressourcenniveau darstellt, allerdings auch einwenden, dass eher fiskalische Aspekte bei der Festlegung des Umfangs von Leistungen im Vordergrund stehen (vgl. Piachaud 1992, Veit-Wilson 1987). Prinzipiell ist bei der Verwendung politischer Armutsgrenzen problematisch, dass eine Absenkung der Mindeststandards automatisch zu einer Reduktion von Armut führt.
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4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
In dieser Arbeit wird dagegen das weit verbreitete Konzept relativer Einkommensarmutsgrenzen verwendet. Dabei wird vom durchschnittlichen Einkommen (Median oder arithmetisches Mittel) ausgegangen und dann von Armut gesprochen, wenn ein bestimmter Anteil des Durchschnittseinkommens unterschritten wird. Als Grenzwert werden üblicherweise 40, 50 oder 60 Prozent des Durchschnitts verwendet, wobei die Festlegung des Grenzwertes kaum inhaltlich zu begründen ist. Daher wird häufig für die Verwendung mehrerer Grenzwerte plädiert. Problematisch ist dabei trotzdem, dass in keiner Weise auf den Bedarf von Haushalten oder ein anderweitig bestimmtes Mindesteinkommensniveau Bezug genommen wird, sondern Armut – unabhängig vom Durchschnittseinkommen – immer als unterer Teil der Einkommensverteilung definiert wird. Dies bedeutet, dass grundsätzlich nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung (bei Verwendung des Medians maximal die Hälfte) arm sein kann. Weiter hat dies zur Folge, dass bei steigendem Durchschnittseinkommen auch die Armutsgrenze steigt. Ersteres erscheint für entwickelte Gesellschaften aber auch angemessen und letzteres entspricht der Anforderung, dass Armut relativ zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standard gemessen wird. Für die Verwendung relativer Einkommensarmutsgrenzen spricht weiter, dass diese einfach und eindeutig auf Basis von Einkommensdaten zu bestimmen sind und durch die Bezugnahme auf den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt gut für Vergleiche zwischen Ländern und über die Zeit eignen. Auf Details der Bestimmung relativer Einkommensarmutsgrenzen wird im Rahmen der Operationalisierung auf Basis des ECHP in Abschnitt 4.4 noch näher eingegangen.
4.2 Armutsmessung im internationalen Vergleich Wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, wird in dieser Arbeit Armut als relative Einkommensarmut definiert, die auch als Standard in der international vergleichenden Armutsforschung gilt. Die Darstellung von Problemen der international vergleichenden Armutsforschung bezieht sich daher vorwiegend auf Probleme, die bei Verwendung des Konzeptes relativer Einkommensarmut bestehen (vgl. Hauser 1997, Blackburn 1994/1998, Jäntti/Danziger 2000, Atkinson 1991, Atkinson 1998, Atkinson et al. 2002, aber auch die Diskussion anderer Ansätze in van den Bosch 1993, Spicker 2001). Die Messung von Armut im internationalen Vergleich sieht sich mit Problemen konfrontiert, die auch bei der Messung von Armut in nationaler Perspektive bestehen, aber häufig nicht näher betrachtet werden. Dies betrifft vier unterschiedliche Bereiche: die Bestimmung der Referenzbevölkerung, die Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden, die Verfügbarkeit nicht-monetärer Leistungen bzw. öffentlicher Güter und die Vergleichbarkeit von Datenquellen.
4.2 Armutsmessung im internationalen Vergleich
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Als erstes soll auf die Frage der Bestimmung der Referenzpopulation eingegangen werden. Die Bestimmung von Armut in Relation zu den Mitgliedern einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt wirft die Frage auf, wie die Grenzen dieser Gesellschaft zu ziehen sind. In nationaler Perspektive wird diese Grenze i.d.R. nicht thematisiert. In den meisten Fällen bildet die Bevölkerung, die auf dem Gebiet eines Landes lebt, den Referenzmaßstab für die Armutsmessung.56 Allerdings gibt es auch Ausnahmen: In Deutschland wurden in den Jahren nach der Wiedervereinigung – und werden z.T. bis heute – für Ost- und Westdeutschland grundsätzlich unterschiedliche Lebensbedingungen angenommen, womit nahe liegt, Armut getrennt für beide Landesteile zu messen (vgl. z.B. Andreß 1999). Als Referenzmaßstab wird dann nicht die gesamtdeutsche Bevölkerung, sondern die Bevölkerung in den jeweiligen Landesteilen betrachtet. Die Abgrenzung unterschiedlicher Referenzpopulationen innerhalb eines Landes findet sich teilweise auch in anderen Ländern mit starken regionalen Unterschieden in den Lebensbedingungen (z.B. Italien). Diese Ausnahmen weisen darauf hin, dass die Verwendung der Bevölkerung eines Landes als Referenzpopulation nur dann gerechtfertigt erscheint, wenn die Unterschiede in den Lebensbedingungen innerhalb eines Landes gering sind. Diese Annahme wird bei Verwendung nationaler Armutsgrenzen implizit vorausgesetzt. Was bedeutet dies für die Wahl des Referenzmaßstabs in internationalen Vergleichen? Geht man von unterschiedlichen Lebensbedingungen in den jeweils betrachteten Ländern aus, erscheint die Bestimmung von Armutsgrenzen, die sich am Durchschnittseinkommen eines jeden Landes orientieren, gerechtfertigt. Gerade in Fällen, in denen die Bevölkerung in zwei unterschiedlichen Ländern in zentralen Merkmalen ähnlich erscheint (z.B. flämische Belgier und Niederländer oder Iren und Nordiren, vgl. Spicker 2001: 156) oder im Fall eines supranationalen Rahmens wie der Europäischen Union (vgl. Hauser 1997: 36, Atkinson 1991: 10f, Atkinson et al. 2002: 30f, Atkinson 1998: 27f), ist es aber durchaus plausibel, Vergleichsmaßstäbe über Ländergrenzen hinweg zu definieren. Hier stellt sich also die Frage, ob Gesellschaften über die Grenzen von Nationalstaaten hinausreichen (vgl. van den Bosch 1993: 5). Dagegen spricht jedoch, dass Sozial-, Arbeitsmarkt-, Wirtschaftsund Steuerpolitik weiterhin national geprägt sind und dass sich dadurch die Lebensbedingungen der Bevölkerung mehr zwischen Ländern als innerhalb von (den meisten) Ländern unterscheiden.57 Ginge man allerdings vom politischen Ziel einer 56 Dabei sind aufgrund der Verfügbarkeit entsprechender Daten häufig nur Personen gemeint, die die Landessprache sprechen, und in Privathaushalten leben. Grundsätzlich andere Möglichkeiten der Bestimmung der Referenzbevölkerung werden bei Hauser (1997: 36) diskutiert. Vorstellbar wäre beispielsweise auch die Betrachtung von Personen der gleichen Nationalität (innerhalb eines Landes oder auch grenzüberschreitend) oder nur die langfristig in einem Land lebende Bevölkerung. 57 Van den Bosch (1993: 5) merkt dazu an: „Most researchers, however, recognize that poverty has to be seen in the context of the particular societies under study”.
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4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
Vereinheitlichung der Lebensbedingungen in einem supranationalen Rahmen wie der EU aus, wäre die Verwendung einer einheitlichen Armutsgrenze, die sich an der Gesamtbevölkerung orientiert, sinnvoll. Einheitliche Armutsgrenzen werden allerdings auch in Analysen verwendet, in denen die Vereinheitlichung Voraussetzung für die Bearbeitung der Fragestellung ist (vgl. aber auch generell Atkinson et al. 2002: 30f, Jäntti/Danziger 2000: 313). Dies ist beispielsweise bei der Betrachtung möglicher negativer Effekte von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Fall. Hier wird argumentiert, dass das Ziel, Armut zu senken, durch eine Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums durch höhere Abgabenbelastungen zur Finanzierung von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf längere Sicht behindert wird. Dies ist nur dann überprüfbar, wenn Armut sowohl über die Zeit als auch im Ländervergleich mit einer festen Armutsgrenze gemessen wird (vgl. Blackburn 1994/1998, Kenworthy 1999, siehe auch die Beispiele bei Atkinson 1991: 10f). Obwohl diese Armutsgrenze zunächst durchaus als relative Armutsgrenze bestimmt werden kann (z.B. orientiert am durchschnittlichen Einkommen in einem Land zu einem bestimmten Zeitpunkt), ist sie in der Anwendung auf andere Länder und/oder andere Zeitpunkte als absoluter Maßstab zu verstehen. In dieser Arbeit wird aber, der ersten Argumentation folgend, Armut als relatives Konzept verstanden. Als zweites soll auf die Frage eingegangen werden, inwieweit Kaufkraftunterschiede oder Einflüsse durch Inflation berücksichtigt werden müssen. Da hier das Konzept relativer Einkommensarmut verwendet wird, in dem das Einkommen eines Haushalts im Verhältnis zum dem jeweiligen Durchschnittseinkommen in einem Land zu einem Zeitpunkt betrachtet wird, tritt das Problem von Kaufkraftunterschieden nicht auf (Hauser 1997: 39f, Jäntti/Danziger 2000: 324ff). Diese müssten nur dann berücksichtigt werden, wenn ‚absolute’ Armutsgrenzen für mehrere Länder oder Gebiete mit unterschiedlicher Kaufkraft bzw. über mehrere Zeitpunkte hinweg definiert werden.58 Ein drittes Problem ist mit der Frage verbunden, ob sich die Stärke des Zusammenhangs zwischen monetärem Einkommen und Lebensstandard im Ländervergleich unterscheidet.59 Dieser Zusammenhang ist umso geringer, je höher die Eigenproduktion von Haushalten, die Verfügbarkeit von nicht-monetären Sozialleistungen und der Anteil der Versorgung über öffentliche Güter ist (vgl. Hauser 1997: 44f, Strengmann-Kuhn 2003: 31, van den Bosch 1993: 6 und Fn 5, Atkinson
58 In der deutschen Armutsforschung wurden insbesondere zu Beginn der 1990er Jahre Unterschiede in der Kaufkraft in Ost- und Westdeutschland geltend gemacht (vgl. Andreß 1999). Für den hier betrachteten Zeitraum wird davon ausgegangen, dass die Unterschiede vernachlässigbar sind. 59 Prinzipiell besteht dieses Problem auch bei Vergleichen innerhalb eines Landes, wird aber i.d.R. kaum thematisiert.
4.2 Armutsmessung im internationalen Vergleich
101
et al. 2002: 103f).60 Je größer der Anteil dieser Güter ausfällt, desto weniger wird der Lebensstandard über das monetäre Einkommen bestimmt. Im internationalen Vergleich kann dies problematisch sein. Vergleicht man beispielsweise Länder mit hoher Eigenproduktion (i.d.R. Länder mit einem größeren Anteil von Beschäftigten in der Landwirtschaft, vgl. Atkinson 1991, Atkinson et al. 2002) mit Ländern mit niedriger Eigenproduktion, wird bei reiner Betrachtung des Einkommens Armut im ersten Land überschätzt, da ein Teil der Ressourcen bestimmter Bevölkerungsgruppen ignoriert wird. Prinzipiell lässt sich dieses Problem lösen, wenn man den Wert der Eigenproduktion, nicht-monetärer Sozialleistungen und öffentlicher Güter bei der Berechnung des Einkommens mitberücksichtigt. Zur Frage der Berücksichtigung nicht-monetärer Transfers und öffentlicher Güter merken Atkinson et al. (2002: 103f) allerdings zwei Punkte an: Zum einen ist die Anrechung nichtmonetärer Transfers theoretisch nicht unproblematisch, da die Verwendung des dahinter stehenden Betrages nicht in der Hand der Leistungsempfänger liegt, sondern vorgegeben ist und somit am Bedarf vorbeigehen kann (und somit weniger ‚wert’ wäre). Zum anderen sehen sie eine praktische Umsetzung als äußerst schwierig an, da beispielsweise bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen Art und Umfang der Versorgung oder die Kosten für eine entsprechende Versicherung berechnet werden müssten (vgl. auch Canberra Group 2001). Daher plädieren sie dafür, keine entsprechende Anpassung vorzunehmen. Als letztes ist ein generelles Problem international vergleichender Forschung zu nennen: die Vergleichbarkeit von Datenquellen (vgl. Rothenbacher 1998, Hoffmeyer-Zlotnik/Wolf 2003). Prinzipiell besteht dieses Problem auch bei Vergleichen über die Zeit, auf die hier aber nicht gesondert eingegangen wird. Bei Betrachtung von Armut aus Ressourcenperspektive ist hier vor allem die Vergleichbarkeit von Einkommensdaten relevant. Datenquellen unterscheiden sich in der Definition des abgefragten Einkommens (Brutto-, Netto-, verfügbares Einkommen), in der Berücksichtigung einzelner Einkommenskomponenten und in der Abgrenzung von Haushalten oder Familien, für die das Einkommen erhoben wird (vgl. HoffmeyerZlotnik/Warner 1998, Warner/Hoffmeyer-Zlotnik 2003). Weiter können natürlich auch allgemeine Aspekte des methodischen Vorgehens wie die Stichprobenziehung, die Art der Befragung und die Ausschöpfung von Stichproben zu einer unterschiedlichen Einbeziehung von bestimmten Einkommensgruppen (insbesondere Hochund Niedrigeinkommensbezieher) führen und somit die Vergleiche zwischen Ländern verzerren. Daher ist es notwendig, vorliegende Datenquellen nachträglich möglichst weitestgehend zu harmonisieren (Outputharmonisierung) oder das me60 Es ist anzunehmen, dass die Eigenproduktion von Haushalten in stark landwirtschaftlich geprägten Ländern höher ist. Als relevante nicht-monetäre Sozialleistungen sind beispielsweise die Subventionierung von Wohnraum zu nennen oder – im Fall der hier nicht betrachteten USA – die Ausgabe von Lebensmittelmarken. Als öffentliches Gut wäre beispielsweise eine öffentliche Gesundheitsversorgung zu berücksichtigen.
102
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
thodische Vorgehen vor der Erhebung in mehreren Ländern abzustimmen (Inputharmonisierung). In dieser Arbeit wird mit dem ECHP vorwiegend eine Datenquelle verwendet, bei der die letztere Strategie verfolgt wurde. Für einen kleinen Teil der Analysen wird zusätzlich die Nachfolgestudie EU-SILC (Community Statistics on Income and Living Conditions) verwendet, auf die im Rahmen der Diskussion der betreffenden Analysen kurz eingegangen wird.
4.3 Datenbasis und Grundgesamtheit Das Europäische Haushaltspanel (ECHP) wurde zu Beginn der 1990er Jahre als input-harmonisierte Längsschnitterhebung in allen damaligen Mitgliedsländern der EU geplant (vgl. Bechthold 1997, EUROSTAT 2003, Wirtz/Mejer 2002). Die Zielsetzung für das ECHP war es, eine Datengrundlage zu schaffen, auf deren Basis eine vergleichende Betrachtung der Lebensbedingungen von Personen und Haushalten in Quer- und Längsschnittperspektive möglich ist. Zu den zentralen Erhebungsinhalten zählen Angaben zur Erwerbstätigkeit und zur Einkommenssituation von Haushalten. Mit dieser inhaltlichen Ausrichtung eignet sich das ECHP in hervorragender Weise für eine Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen. Die erste vollständige Erhebungswelle wurde 1994 in zwölf Ländern durchgeführt. In den folgenden Wellen wurde das Ländersample mit Österreich (1995), Finnland (1996) und Schweden (1997) um die erst nach Start des ECHP in die EU eingetretenen Länder erweitert. Die letzte Erhebungswelle wurde in allen Ländern im Jahr 2001 durchgeführt. Somit liegen zwischen fünf und acht Beobachtungszeitpunkte für die hier betrachteten Länder vor. Obwohl das Kriterium der Inputharmonisierung eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des ECHP spielte, wurde dieser Anspruch über die Panellaufzeit aufgeweicht. Nach der dritten Welle wurde in Deutschland, Großbritannien und Luxemburg die Erhebung des ECHP eingestellt und stattdessen auf die bereits bestehenden nationalen Panels zurückgegriffen (Sozio-Oekonomisches Panel – SOEP, British Household Panel – BHPS, Panel SocioEconomique Liewen zu Lëtzebuerg - PSELL). Deren Ergebnisse wurden, soweit möglich, an die bestehenden Vorgaben angepasst und in das ECHP eingefügt. Um eine direkte Vergleichbarkeit über die Zeit zu gewährleisten, wurden die nationalen Daten auch für die früheren Jahre aufbereitet. Die Basis für die folgenden Analysen bilden daher in den drei Ländern jeweils die nachträglich harmonisierten nationalen Datenquellen (PSELL erst ab 1995). Da es sich in allen drei Fällen um grundsätzlich ähnlich angelegte Haushaltspanels handelt, ist trotz der nachträglichen Harmonisierung von einer hohen Vergleichbarkeit mit den übrigen ECHP-Daten auszugehen. Einen weiteren Sonderfall stellt Schweden dar. Auch hier wurden Daten einer nationalen Datenquelle nachträglich in das ECHP eingefügt (Undersökningarna av
4.4 ECHP: Einkommen, Armut und Niedriglohn
103
levnadsförhållanden – ULF [Swedish living conditions survey]). Im Unterschied zu den drei anderen Fällen handelt es sich hierbei jedoch um stärker von den übrigen Ländern abweichende Daten. So basieren die Daten nicht auf einem Haushaltspanel, sondern es sind (zumindest teilweise) Querschnitte aus Registerdaten. Es bestehen daher größere Probleme bei der Vergleichbarkeit der Daten und häufig auch die Schwierigkeit, dass prinzipiell im Datensatz enthaltene Variablen für Schweden fehlen. Um die Nutzung des ECHP für externe Datennutzer zu ermöglichen, hat EUROSTAT die ECHP Users’ Database (UDB) entwickelt.61 Dieser Datensatz unterscheidet sich von den Originaldaten aufgrund von Datenschutzgründen vor allem in der geringeren Detailliertheit der Regionalangaben und in der Benutzerfreundlichkeit. Letzteres bezieht sich auf die einfache Verfolgbarkeit von Personen über Befragungszeitpunkte, eine einheitliche Bezeichnung der Variablen, die Fortschreibung von nur einmal abgefragten nicht veränderlichen Informationen, die Imputation von Einkommensangaben und die Verfügbarkeit von Gewichtungsfaktoren (vgl. EUROSTAT 2003). Wie in Abschnitt 4.1 dargestellt, wird Armut zwar auf Haushaltsebene gemessen, d.h. es werden sowohl bei der Bestimmung des Haushaltseinkommens als auch bei der Bedarfsgewichtung alle Haushaltsmitglieder berücksichtigt. Analyseeinheit ist aber die Person, wobei hier noch genauer zu bestimmen ist, welche Personen zu den armen Erwerbstätigen zählen. Grundsätzlich werden nur Personen im Erwerbsalter (17-64 Jahre) betrachtet. Insgesamt enthält der Datensatz in der ersten Welle pro Land zwischen 1.817 und 15.202 Personen im Erwerbsalter, insgesamt 110.816 Personen. Außer in Luxemburg beträgt die Zahl der Befragten mindestens 4.900. Selbst wenn allein Erwerbstätige und nicht Personen im Erwerbsalter betrachtet werden, ist die Fallzahl ausreichend groß, um Armutsanalysen durchzuführen. Auf die genaue Bestimmung der Erwerbstätigen wird in Abschnitt 4.5 eingegangen. 4.4 Messung von Einkommen, Armut und Niedriglohn auf Basis des ECHP Am Anfang dieses Kapitels wurden zwei grundsätzliche Fragen angesprochen, die für die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen zu klären sind. Zum einen: Was bedeutet ‚arm’? Und zum anderen: Was bedeutet erwerbstätig? Nach der Diskussion unterschiedlicher Ansätze der international vergleichenden Armutsforschung lässt sich die erste Frage für diese Arbeit zunächst wie folgt beantworten: Armut wird als relative Einkommensarmut verstanden. Arm ist jemand, dessen Einkommen unter61 In dieser Arbeit wird die letzte Version der UDB (Dezember 2003) verwendet.
104
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
halb eines Einkommensgrenzwertes liegt, der sich am durchschnittlichen Einkommen der Bevölkerung eines Landes zu einem bestimmten Zeitpunkt orientiert. Allerdings schließen sich daran eine Reihe praktischer, die konkrete Operationalisierung auf Basis des ECHP betreffende Fragen an. Wie wird Einkommen gemessen? Wie werden Haushaltseinkommen für unterschiedliche Haushaltstypen vergleichbar gemacht? Welcher Wert wird für die Abgrenzung von arm und nicht-arm verwendet? Neben diesen Fragen ist dann noch die Frage zu beantworten, wer als erwerbstätig bezeichnet wird. Hierauf wird im nächsten Abschnitt des Kapitels eingegangen. Zunächst wird aber die Messung von Armut dargestellt. Eine Orientierung für das Vorgehen bietet die Arbeit von Atkinson et al. (2002), in der sie Empfehlungen für die Durchführung von empirischen Analysen auf Basis des ECHP im Themenbereich Armut und soziale Exklusion entwickeln. Dabei wird auch konkret auf die Operationalisierung von Armut von Erwerbstätigen eingegangen. Das ECHP enthält zwei unterschiedliche Variablen zum Haushaltseinkommen: zum einen das aktuelle monatliche Haushaltseinkommen, zum anderen das Haushaltseinkommen im Vorjahr. Den monatlichen Angaben liegt eine pauschale Abfrage zugrunde.62 Die jährlichen Angaben basieren auf einer detaillierten, auf unterschiedliche Einkommensarten (Erwerbseinkommen, Kapitaleinkommen, Transfers) eingehenden Abfrage. In beiden Fällen werden Nettoeinkommen erfragt. Ausnahmen bilden Frankreich und Finnland. Die jährlichen Einkommenskomponenten werden in Bruttobeträgen erfragt. Trotzdem wird das jährliche Haushaltseinkommen als Nettobetrag ausgewiesen (dies wird durch Verwendung eines Brutto/Netto-Umrechnungsfaktors erreicht). Im Fall von Frankreich wird auch das monatliche Haushaltseinkommen als Bruttobetrag abgefragt. Eine Umrechnung in einen Nettobetrag erfolgt nicht. Der in der Variablen enthaltene Wert ist der Bruttobetrag und daher nicht direkt mit den Angaben für andere Länder vergleichbar. Eine weitere Ausnahme bildet Schweden. Für Schweden sind generell nur jährliche Einkommensangaben verfügbar. In Abschnitt 4.1 wurden Vor- und Nachteile der Verwendung von jährlichen Einkommensangaben diskutiert. Im Fall des ECHP ist nun außerdem zu berücksichtigen, dass vergleichbare Angaben für alle Länder nur auf jährlicher Basis vorliegen. Als zentrales Argument gegen die Verwendung von jährlichen Einkommensangaben steht aber weiter die Tatsache, dass der Befragungszeitpunkt für die meis62 Im ECHP-Fragebogen ist nicht genau spezifiziert, für welchen Monat das aktuelle Einkommen angegeben werden soll. Die Abfrage ist zweistufig. In beiden Teilen der Abfrage wird nicht auf den Referenzmonat eingegangen: „If you add up the income from all sources, do you know what is your household’s total net income per month?” und weiter „What is your household’s total net income per month?”. In der Dokumentation zur ersten Befragungswelle findet sich allerdings folgende Erläuterung bei Nachfragen an Interviewer: „[I]f income varies over months, please give an average” (EUROSTAT 1994: 22). In allen anderen Fällen wird also davon ausgegangen, dass sich das Einkommen kurzfristig nicht verändert, sodass die Angabe eines Referenzmonats nicht notwendig erscheint. Hier soll davon ausgegangen werden, dass es sich i.d.R. um das Einkommen im Befragungsmonat handelt.
4.4 ECHP: Einkommen, Armut und Niedriglohn
105
ten Variablen und der Erhebungszeitraum für das Einkommen sich nicht überschneiden. Dies ist vor allem für die Messung von Armut von Erwerbstätigen problematisch. Detaillierte Angaben zur Erwerbstätigkeit sind im ECHP nur für den Monat vor der Befragung enthalten. Zwar gibt es auch eine retrospektive Abfrage für jeden Monat des vorherigen Jahres, die auch Erwerbstätigkeit erfasst (in Form eines ‚Aktivitätskalenders’), allerdings wird hier nur danach gefragt, ob eine Person in einem Monat überwiegend erwerbstätig war. Personen, die nicht überwiegend erwerbstätig waren, werden bei dieser Abfrage ignoriert. Zudem gibt es keine Informationen über die Art der Erwerbstätigkeit. Allein die Unterscheidung zwischen selbständiger und abhängiger Erwerbstätigkeit ist enthalten. Angaben dazu, ob eine Vollzeit- oder Teilzeittätigkeit ausgeübt wurde, Angaben zur beruflichen Tätigkeit oder zum Wirtschaftszweig usw. fehlen. Auch die Bestimmung von Niedriglöhnen ist auf Basis der jährlichen Angaben nicht möglich. Daher werden für die Messung der Armut von Erwerbstätigen – trotz der dargestellten Probleme – überwiegend die monatlichen Angaben als Einkommensindikator verwendet (vgl. auch Atkinson et al. 2002: 147ff). Für Schweden, für das keine monatlichen Angaben vorliegen, werden in einigen Analysen Ergebnisse auf Basis des jährlichen Einkommens ausgewiesen. Da aber nicht allein die monatlichen Einkommensangaben fehlen, sondern auch andere Merkmale, kann das Land in einem Teil der Analysen überhaupt nicht berücksichtigt werden. Allerdings ist die Verwendung des monatlichen Einkommensindikators nicht in allen Analysen möglich. Eine Betrachtung der Einkommenszusammensetzung (income packaging) der Haushalte von armen Erwerbstätigen ist nur auf Basis der jährlichen Einkommensangaben durchführbar, da die detaillierte Zusammensetzung des Haushaltseinkommens im ECHP nur retrospektiv erfragt wurde. Will man zeigen, welchen Anteil Transfers am Haushaltseinkommen armer Erwerbstätiger ausmachen und in welchem Maße Armut von Erwerbstätigen durch Transfers reduziert wird, ist es hier also notwendig, jährliche Einkommensangaben zu verwenden. Somit wird je nach betrachteter Problemstellung ein unterschiedlicher Einkommensindikator für die Messung von Armut von Erwerbstätigen verwendet. Um eine durchgängige Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, werden auch in allgemeinen deskriptiven Analysen (Armutsquoten usw.) Angaben auf Basis des jährlichen Einkommens berichtet. In Tabelle 4.1 sind allgemeine Armutsquoten auf Basis monatlicher und jährlicher Angaben aufgeführt. Bei den jährlichen Angaben wurde für die Bedarfsgewichtung sowohl die Haushaltszusammensetzung aus dem Befragungsjahr als auch aus dem Jahr zuvor zusammen mit den retrospektiven Einkommensangaben verwendet. In den meisten Ländern unterscheiden sich die Armutsquoten auf Basis dieser beiden Einkommensindikatoren für die Gesamtbevölkerung nur geringfügig. Der größte Unterschied ist in Großbritannien festzustellen. Insgesamt ist sowohl die Rangkorrelation der Länderreihenfolge als auch die Korrelation der Armutsquoten
106
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
auf Basis beider Vorgehensweisen hoch. Im Folgenden wird daher allein der Indikator, bei dem die Haushaltszusammensetzung im Befragungsjahr gemessen wird, verwendet. Stärkere Abweichungen sind beim Vergleich des monatlichen und jährlichen Indikators festzustellen. Unterschiede hätte man vor allem im Fall von Frankreich erwarten können, da das monatliche Einkommen als Bruttoeinkommen erfragt wird. Jedoch sind die Unterschiede zwischen beiden Quoten mit den Abweichungen in mehreren anderen Ländern vergleichbar oder sogar geringer. Auch die Rangposition ändert sich nicht. Daher wird auch für Frankreich das monatliche Einkommen verwendet. Obwohl bei monatlichen und jährlichen Angaben die Korrelation zwischen beiden Maßen immerhin auch noch 0,63 bzw. 0,92 beträgt, wird in den folgenden Analysen noch näher darauf eingegangen, ob substantielle Unterschiede in den Ergebnissen auf die Verwendung des einen oder anderen Einkommensindikators zurückgehen. In Abschnitt 4.1 wurde weiter die Wahl der Äquivalenzskala als entscheidend für die Größe und vor allem die Struktur der Armutspopulation diskutiert. In international vergleichenden Studien hat sich die Verwendung der sogenannten modifizierten und nicht-modifizierten OECD-Skala etabliert (vgl. Burnieaux et al. 1998, OECD 1982). Die einzige weitere relevante Alternative ist die Verwendung der Quadratwurzel der Haushaltsgröße als Bedarfsgewicht. In den vorliegenden vergleichenden Studien zu Armut von Erwerbstätigen wird sowohl die modifizierte (Marx/Verbist 1998, Ponthieux/Concialdi 2000, Marlier/Ponthieux 2000), die nicht-modifizierte (McFate et al. 1995, Strengmann-Kuhn 2003) als auch die Quadratwurzel (Delhausse 1995, O’Connor/Smeeding 1995, OECD 1998b) verwendet. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden OECD-Skalen in der Höhe der Bedarfsgewichte, nicht in ihrer Struktur. Beide Skalen unterscheiden jeweils zwischen Erwachsenen und Kindern bis 14 Jahren. Während für die erste Person im Haushalt immer ein Bedarfsgewicht von 1 angenommen wird, werden weitere Erwachsene und Kinder mit 0,5 und 0,3 (modifizierte Skala) bzw. mit 0,7 und 0,5 (nichtmodifizierte Skala) gewichtet. Somit wird nach der nicht-modifizierten Skala für größere Haushalte ein höherer Bedarf angenommen, die Skala verläuft also ‚steiler’. Berücksichtigt man, dass die Verwendung der Quadratwurzel der Haushaltsgröße in Bedarfsgewichten resultiert, die der modifizierten OECD-Skala relativ ähnlich sind, ist eine Verwendung einer ‚flacheren’ Bedarfsgewichtung in Studien zu Armut von Erwerbstätigen wie auch in neueren allgemeinen Armutsstudien stärker verbreitet. Auch Atkinson et al. (2002: 100) sprechen sich für die Verwendung der modifizierten OECD-Skala aus. Als Einkommensindikator für die Messung von Armut wird daher hier das mit der modifizierten OECD-Skala bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen verwendet.
107
4.4 ECHP: Einkommen, Armut und Niedriglohn
Tabelle 4.1: Armutsquote nach Einkommensindikatoren monatlich Quote (%) Rang DK 13,7 6 FIN 14,0 7 NL 11,8 4 S Ø 13,2 -
Einkommensmessung jährlich Quote (%) Rang 11,5 5 10,9 3 10,4 1 11,0 11,0 -
jährlich (verschoben) Quote (%) Rang 10,9 2 11,7 5 9,9 1 10,8 -
IRL UK Ø
20,8 18,6 19,7
14 10 -
20,1 18,7 19,4
14 12 -
21,0 17,0 19,0
14 9 -
B D F LUX A Ø
11,2 11,2 16,8 12,2 10,1 12,3
2 3 9 5 1 -
12,9 10,5 15,6 11,9 11,7 12,5
8 2 9 7 6 -
13,9 11,2 15,6 11,8 11,3 12,8
7 3 8 6 4 -
GR I P ES Ø
18,6 18,8 18,9 16,2 18,1
11 12 13 8 -
19,9 18,4 20,8 18,0 19,3
13 11 15 10 -
20,5 19,6 21,2 18,9 20,0
13 11 15 10 -
R2
0,77
-
0,91
-
0,88
-
Anmerkungen: Korrelationen Armutsquoten: (1) mit (2): 0,63; (1) mit (3): 0,65; (2) mit (3): 0,75; Rangkorrelationen: (1) mit (2): 0,92; (1) mit (3): 0,90; (2) mit (3): 0,98. Quelle: ECHP (2000, gewichtet).
Bei der Festlegung der Armutsgrenze ist nicht nur – wie bereits diskutiert – die Frage zu beantworten, ab welchem Anteil des Durchschnittseinkommens eine Person arm ist, sondern es ist auch zu entscheiden, wie dieser Durchschnittswert gebildet werden soll. Alle hier betrachteten vergleichenden Studien zu Armut von Erwerbstätigen beziehen sich bei der Messung von Armut auf nationale Durchschnittswerte (vgl. die Diskussion über relative und ‚absolute’ Armutsgrenzen in
108
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
Abschnitt 4.1). Allerdings finden sich verschiedene Armutsgrenzen: 50 Prozent des Medians (Delhausse 1995, O’Connor/Smeeding 1995, Ponthieux/Concialdi 2000, OECD 1998b), 60 Prozent des Medians (Marlier/Ponthieux 2000, Bardone/Guio 2005) und 50 Prozent des arithmetischen Mittels (und andere Armutsgrenzen, Strengmann-Kuhn 2003). In den Laeken-Indikatoren der EU ist Armut und auch Armut von Erwerbstätigen als Einkommen unterhalb 60 Prozent des Medians definiert (Bardone/Guio 2005, vgl. auch Atkinson et al. 2002: 149). Entsprechend dieser Festlegung werden auch in dieser Arbeit Personen als arm bezeichnet, wenn das bedarfsgewichtete Haushaltsnettoieinkommen unterhalb von 60 Prozent des nationalen Medians liegt. Ein weiterer Abschnitt der empirischen Analysen widmet sich der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Niedriglohnbeschäftigung und Armut. In den meisten Arbeiten werden Niedriglöhner als Personen definiert, die ein persönliches Erwerbseinkommen unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes aufweisen, der als Anteil des nationalen durchschnittlichen Erwerbseinkommens bestimmt wird. Allerdings finden sich auch Studien, in denen Niedriglohn anhand von Dezils- oder Quintilsgrenzen der Einkommensverteilung definiert wird (vgl. Sloane/Theodossiou 1998, Lucifora et al. 2005).63 So ist jedoch kein Vergleich der Größe des Niedriglohnsektors zwischen Ländern oder über die Zeit möglich, da dieser der Definition gemäß auf einen bestimmten Wert von 10 oder 20 Prozent festgelegt ist. Daher soll hier die erstgenannte Möglichkeit der Messung von Niedriglöhnen verwendet werden, die zudem prinzipiell dem Vorgehen bei der Armutsmessung entspricht. Wie bei der Armutsmessung ist hier aber auch zu entscheiden, welches Einkommen, welcher Durchschnittswert und welcher Schwellenwert zur Abgrenzung der Niedriglöhner verwendet werden soll. Bezüglich des Einkommens stellt sich zum einen die Frage, Brutto- oder Nettoeinkommen zu verwenden. Zum anderen muss entschieden werden, ob Stunden-, Monats- oder Jahreserwerbseinkommen als Grundlage für die Berechnung dienen sollen. Zunächst zum ersten Punkt: In Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Niedriglohn und Armut finden sich beide Möglichkeiten, häufig wird die Unterscheidung aber gar nicht thematisiert (vgl. Sloane/Theodossiou 1998, Lucifora et al. 2005). Für die Verwendung von Bruttolöhnen spricht, dass in dieser Arbeit über die Betrachtung von Niedriglöhnen geklärt werden soll, inwieweit die auf dem Arbeitsmarkt produzierte Ungleichheit einen Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen hat. In Nettolöhnen sind bereits Effekte der Besteuerung und der Höhe von Sozialabgaben enthalten, die nicht dem Arbeitsmarkt zuzurechen sind. Weiter werden in Tarifverhandlungen i.d.R. Bruttolöhne festgelegt. Geht es darum, den Einfluss von Lohnverhandlungssystemen auf 63 In Ländern, in denen ein gesetzlicher Mindestlohn gilt, ist – analog zu politischen Armutsgrenzen – eine Orientierung an diesen Festlegungen möglich. Da dies nicht in allen hier betrachteten Ländern der Fall ist, scheidet diese Möglichkeit von vornherein aus.
4.4 ECHP: Einkommen, Armut und Niedriglohn
109
das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung zu zeigen, ist es sinnvoll, diese auf Basis von Bruttolöhnen zu berechnen. Da die Verwendung von Jahreserwerbseinkommen kaum gebräuchlich ist, werden ausschließlich die Vor- und Nachteile von Stunden- und Monatslöhnen diskutiert. Hier sind zwei Aspekte zentral: einerseits der Einfluss von Teilzeitarbeit, andererseits die Genauigkeit der Messung (vgl. Lucifora et al. 2005). Werden Monatslöhne betrachtet, können niedrige Erwerbseinkommen entweder aufgrund von niedrigen Lohnsätzen oder aufgrund von geringer Arbeitszeit auftreten. Häufig werden bei Betrachtung von Monatslöhnen daher ausschließlich Vollzeiterwerbstätige betrachtet (vgl. z.B. Schäfer 1997). Will man aber eine Trennung der Effekte niedriger Lohnsätze und geringer Arbeitszeiten aufrechterhalten, müssen Niedriglöhne auf Basis von Stundenlöhnen betrachtet werden. Hier ergibt sich allerdings das Problem, dass Lohnsätze selten, so auch nicht im ECHP, direkt abgefragt werden. Daher werden Stundenlöhne auf Basis des monatlichen Erwerbseinkommens und der hochgerechneten wöchentlichen Arbeitszeit berechnet. Die Wahrscheinlichkeit von Messfehlern ist bei diesem Vorgehen gegenüber der Verwendung von monatlichen Einkommen natürlich höher, da hier zur Schwierigkeit der Erhebung des Einkommens noch mögliche Ungenauigkeiten der Arbeitszeitangaben hinzukommen. Allerdings entspricht dieses Vorgehen dem von anderen Studien auf Basis von Stundenlöhnen (vgl. Lucifora et al. 2005). Allerdings enthält das ECHP nur Angaben zu monatlichen Löhnen, also Einkommen aus abhängiger Beschäftigung. Andere Erwerbseinkommen, also Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, sind nur auf Jahresbasis erfragt worden. Da Einkommen von Selbständigen ohnehin einer größeren Unsicherheit unterliegen (vgl. Abschnitt 3.4), wurde auf eine Berechnung von Niedriglöhnen für Selbständige verzichtet. Selbständige werden als eigenständige Gruppe neben Niedriglohn- und anderen Beschäftigten betrachtet. Bei der Festsetzung der Niedriglohngrenze sind in der entsprechenden Literatur wie in der Armutsliteratur unterschiedliche Vorgehensweisen zu finden. Allerdings ist ein Schwellenwert von zwei Dritteln des Durchschnitts weit verbreitet (vgl. Sloane/Theodossiou 1998, Atkinson et al. 2002).64 Auch in dieser Arbeit wird diese Grenze verwendet. Der Durchschnittswert wird als Median der Bruttostundenlöhne aller Beschäftigten berechnet. Niedriglöhner sind somit als Personen mit einem Lohn unterhalb von zwei Dritteln des Medianbruttostundenlohns aller Beschäftigten definiert.
64 Als Argument für diese Grenze wird häufig angeführt, dass diese in etwa der Norm der Europäischen Sozialcharta für die Angemessenheit von Löhnen, der sogenannten ‚European decency threshold’, entspricht (vgl. Schäfer 1997, Sloane/Theodossiou 1998).
110
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
4.5 Armut von Erwerbstätigen Für die Bestimmung von Armut von Erwerbstätigen fehlt noch die Klärung der Frage, welche Personen als erwerbstätig betrachtet werden. Auch hier finden sich in der Literatur unterschiedliche Vorgehensweisen, die teilweise dadurch bedingt sind, dass entweder auf monatliche oder jährliche Angaben zurückgegriffen wird. In dieser Arbeit werden überwiegend monatliche Einkommensangaben verwendet, da aber in einigen Analysen die Verwendung jährlicher Angaben notwendig ist, wird auch die Abgrenzung von Erwerbstätigen auf jährlicher Basis diskutiert. Die Bestimmung der Erwerbstätigen auf Basis der monatlichen Angaben ist relativ einfach. Das ECHP enthält eine Selbsteinschätzung der Befragten nach ihrem gegenwärtigen Erwerbsstatus, Angaben zur Arbeitszeit, zu Gründen von Nichterwerbstätigkeit und auch zur Arbeitssuche. Somit ist eine Bestimmung des Erwerbsstatus nach ILO-Standards möglich. Erwerbstätig sind Personen, die mindestens eine Stunde wöchentlich gearbeitet haben. Arbeitslos sind Personen, die nicht gearbeitet haben, aber innerhalb der letzten vier Wochen eine Arbeit gesucht haben und innerhalb von zwei Wochen beginnen könnten. Alle übrigen Personen sind nichterwerbstätig (vgl. Atkinson et al. 2002: 139ff). Bei jährlicher Betrachtung ist zu entscheiden, ob alle Personen, die innerhalb eines Jahres jemals erwerbstätig waren zu berücksichtigen sind, oder nur Personen, die längere Zeit oder ganzjährig erwerbstätig waren. In den USA wurde diesbezüglich bereits früh eine klare Definition entwickelt, die auch in aktuellen Analysen noch angewendet wird (vgl. Klein/Rones 1989, Bureau of Labour Statistics 2005). Hier werden für die Bestimmung von armen Erwerbstätigen Personen berücksichtigt, die mindestens 27 Wochen im Jahr auf dem Arbeitsmarkt aktiv waren. Hierbei werden also auch Phasen der Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Da in Europa aufgrund der höheren Langzeitarbeitslosigkeit bei dieser Definition ein hoher Anteil von Arbeitslosen unter die armen Erwerbstätigen fallen würde, ist eine Betrachtung von Phasen der Erwerbstätigkeit sinnvoller (vgl. Hourriez 2000, Ponthieux 2004, Bardone/Guio 2005).65 Bei Verwendung des ECHP ist zu berücksichtigen, dass der monatliche Aktivitätskalender für das vergangene Jahr keine Angaben darüber enthält, ob jemand in einem Monat erwerbstätig war, sondern nur Angaben über den überwiegenden Erwerbsstatus. Nur tageweise oder regelmäßig nur wenige Stunden Beschäftigte werden so als Nichterwerbstätige oder Arbeitslose gezählt. Trotzdem stellt sich natürlich auch so die Frage, ob nur Personen, die ganzjährig beschäftigt waren, oder auch andere Personen bei der Betrachtung berücksichtigt werden sollen. In Abbildung 4.1 ist dargestellt, wie sich die Armutsquote im Durchschnitt über alle 65 Teilweise werden die Kriterien aber auch kombiniert. Lagarenne und Legendre (2000) betrachten Personen, die mindestens sechs Monate auf dem Arbeitsmarkt aktiv und davon mindestens einen Monat erwerbstätig waren.
111
4.5 ECHP: Armut von Erwerbstätigen
Länder je nach Umfang der Erwerbstätigkeit unterscheidet. Es ergibt sich ein fast linearer Verlauf nach Anzahl der Beschäftigungsmonate. Bei nur einem Monat liegt die Quote bei 28 Prozent, bei ganzjähriger Beschäftigung bei 7 Prozent. Weiter zeigt sich aber auch, dass die deutliche Mehrheit der Erwerbstätigen ganzjährig beschäftigt ist. In fast allen Ländern liegt der Anteil der ganzjährig Beschäftigten bei über 80 Prozent, nur in Finnland und Spanien leicht darunter (Ergebnisse für einzelne Länder nicht aufgeführt). Alle übrigen Beschäftigungsdauern (ein bis elf Monate) treten in etwa gleich häufig auf. Allerdings sind minimale Spitzen bei drei, sechs und neun Monaten auszumachen, was entweder ein Effekt quartalsweiser Kündigungen oder auf Antwortmuster beim Ausfüllen des Aktivitätskalenders zurückzuführen ist. Abbildung 4.1: Armut von Erwerbstätigen nach Umfang der Erwerbstätigkeit im letzten Jahr 100
Armutsquote (%)
25
20 50 15
10
5
Anteil Erwerbstätige (%)
30
0 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
erwerbstätig im letzten Jahr (Monate) Armutsquote
Anteil Erwerbstätige
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
In Abbildung 4.2 ist dargestellt, wie stark die Armutsquote durch die Abgrenzung der Erwerbstätigen insgesamt beeinflusst wird. Neben der Betrachtung auf Basis monatlicher Angaben (die eine Differenzierung nach Arbeitszeit erlauben) und auf Basis der gerade diskutierten Angaben des Aktivitätskalenders ist noch eine dritte Abgrenzungsmöglichkeit aufgeführt. Als Erwerbstätige werden diejenigen betrach-
112
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
tet, die im letzten Jahr Erwerbseinkommen aufzuweisen hatten. Diese Definition wird beispielsweise von Maître et al. (2005) bei einer Analyse des ‚income packaging’ von Haushalten auf Basis des ECHP verwendet. Nicht überraschend ist die Armutsquote von Erwerbstätigen auf Basis dieser Definition sehr hoch, da hier auch Personen berücksichtigt werden, die nur wenige Stunden innerhalb eines Jahres erwerbstätig waren. Auch die Unterschiede nach Arbeitszeiten auf Basis der monatlichen Angaben führen zu plausiblen Ergebnissen. Am höchsten ist die Armutsquote wenn alle Erwerbstätigen, also auch jene, die nur eine Stunde arbeiten, mit in die Betrachtung eingeschlossen werden. Wie unterscheidet sich die Armutsquote nach der Anzahl der Monate, die gearbeitet wurden? Die Armutsquote bei einer Beschäftigungsdauer von mindestens einem Monat liegt bei 8,4 Prozent. Werden nur Personen betrachtet, die länger erwerbstätig waren, sinkt der Wert erwartungsgemäß ab, am stärksten in der linken Hälfte der Grafik, also bei Ausschluss derjenigen, die weniger als ein halbes Jahr gearbeitet haben. Ab sieben Monaten flacht die Kurve deutlich ab. Bei ausschließlicher Betrachtung der ganzjährig Beschäftigten liegt die Armutsquote bei 6,8 Prozent und damit auf dem Niveau der Quote bei Verwendung der monatlichen Angaben bei ausschließlicher Betrachtung der Vollzeiterwerbstätigen. Eine Betrachtung derjenigen, die mindestens sieben oder acht Monate erwerbstätig waren, entspricht durchschnittlich der Betrachtung von Personen, die im Befragungsmonat mindestens 15 Stunden gearbeitet haben. Die Betrachtung aller Erwerbstätigen auf Basis der monatlichen Angaben entspricht im Durchschnitt der Betrachtung derjenigen, die mindestens vier oder fünf Monate gearbeitet haben. Auffällig ist, dass die Abgrenzung über das Erwerbseinkommen im letzten Jahr zu einer leicht niedrigeren Armutsquote führt als die Abgrenzung über die Monate, in denen man überwiegend erwerbstätig war. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es Personen gibt, die zwar im letzten Jahr eine Erwerbstätigkeit, aber kein Erwerbseinkommen angegeben haben. Dies muss nicht notwendigerweise auf Messfehler zurückzuführen sein. In den meisten Ländern liegt dieser Anteil nur bei 1 oder 2 Prozent (Ergebnisse nicht aufgeführt). Mit durchschnittlich 10 bzw. 12 Prozent liegen diese Anteile in Portugal und Griechenland am höchsten. Es ist zu vermuten, dass die Ergebnisse auf den hohen Anteil mithelfender Familienangehöriger in der Landwirtschaft zurückzuführen sind. Diese werden hier zwar als erwerbstätig betrachtet, haben aber häufig kein persönliches Erwerbseinkommen. Die übrigen Länder, die einen erhöhten Anteil von Erwerbstätigen ohne Erwerbseinkommen aufweisen, sind Italien, Spanien und Österreich. Auch hier ist die Erklärung, dass es sich bei den erwerbstätigen Personen ohne Erwerbseinkommen überwiegend um mithelfende Familienangehörige handelt, plausibel. Da bei der Messung von Armut ohnehin das Haushaltseinkommen relevant ist, ist das ‚Fehlen’ des persönlichen Einkommens jedoch nicht problematisch, da zumeist davon auszugehen ist, dass
113
4.5 ECHP: Armut von Erwerbstätigen
andere Personen im Haushalt ein entsprechend höheres Einkommen aufweisen.66 Bei der Messung von Niedriglohn sind die mithelfenden Familienangehörigen ohnehin ausgeschlossen, da sie hier mit zu den Selbständigen gerechnet werden. Abbildung 4.2: Armut von Erwerbstätigen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Abgrenzungen von Erwerbstätigkeit
>=1 Euro 8,0 >=1 h 7,5
>=15 h
Armutsquote (%)
erwerbstätig*/Erwerbseinkommen**
8,5
7,0 >=30 h
6,5 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
im letzten Jahr mind. ... Monate erwerbstätig Anmerkungen: *) Abgrenzung Erwerbstätige nach Arbeitszeit (Zeitpunkt der Befragung), **) Abgrenzung Erwerbstätige nach Erwerbseinkommen (im letzten Jahr). Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass auf Basis des ECHP mehrere Abgrenzungen von armen Erwerbstätigen möglich sind. Wie gezeigt, unterscheidet sich das Ausmaß von Armut, je nachdem welche Definition von Erwerbstätigkeit gewählt wurde. Bei einer engen Definition von Erwerbstätigen liegt die Armutsquote durchschnittlich bei 6,8 Prozent, bei der weitesten Definition 1,6 Prozentpunkte höher. Die meisten Arbeiten, die auf jährlichen Einkommensdaten basieren, verwenden ein 66 Dies gilt natürlich nur, wenn man von einer Gleichverteilung des Einkommens im Haushalt ausgeht (vgl. Abschnitt 4.1). Ansonsten sind hier besonderes starke geschlechtsspezifische, aber auch alterspezifische Ungleichheiten zu vermuten, da vor allem Frauen und Jüngere zu den mithelfenden Familienangehörigen zählen.
114
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
mittleres Kriterium zur Abgrenzung. Auch hier werden im Folgenden Personen dann als erwerbstätig definiert, wenn sie in mindestens sechs Monaten überwiegend erwerbstätig waren. Bei der Bestimmung von Erwerbstätigkeit wird von der ILODefinition ausgegangen (vgl. zu beiden Festlegungen auch Atkinson 2002: 148f). Die durchschnittliche Armutsquote auf Basis der monatlichen Angaben liegt somit leicht über der auf Basis der jährlichen Angaben. Eine Betrachtung der Personen, die mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeiten, hätte zu einer leicht niedrigeren Armutsquote geführt. So sind aber auch geringfügig Beschäftigte in die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen eingeschlossen. In dieser Arbeit werden somit Personen als arm und erwerbstätig definiert, deren bedarfsgewichtetes Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des Medians beträgt und die entweder mindestens eine Stunde in der Befragungswoche bzw. mindestens sechs Monate im letzten Jahr erwerbstätig waren. Gerade bei der Betrachtung von armen Erwerbstätigen wird argumentiert, dass diese zwar arm sind, sich aber im Vergleich zu nichterwerbstätigen Armen eher am oberen Rand der Armutspopulation befinden, sodass bei einer Verwendung einer strengeren Armutsgrenze Armut von Erwerbstätigen deutlich reduziert wird (vgl. Delhausse 1995). Wenn diese Annahme zutreffend wäre, müsste der Anteil der Erwerbstätigen an allen Armen mit einer Verschärfung der Armutsgrenze sinken. Abbildung 4.3 zeigt diesen Anteil bei Verwendung von drei unterschiedlichen Schwellenwerten für die Berechnung der Armutsgrenze (40, 50 und 60 Prozent). Bei Verwendung der 60-Prozent-Grenze sind je nach Land und Einkommensindikator zwischen 19 und 55 Prozent aller Armen erwerbstätig.67 Auf die dabei bestehende Variation zwischen Ländern wird im folgenden Kapitel 5 noch näher eingegangen. Hier soll zunächst betrachtet werden, wie sich der Anteil mit Absenkung der Armutsgrenze verändert. Bei Verwendung der 50-Prozent-Grenze statt der 60Prozent-Grenze verändert sich der Anteil der Erwerbstätigen kaum. Alle Punkte liegen auf oder in der Nähe der Diagonalen. Stärkere Abweichungen sind bei Verwendung der 40-Prozent-Grenze zu beobachten. Allerdings gibt es auch Länder, in denen der Anteil armer Erwerbstätiger in strenger Armut höher liegt. In allen Ländern ist weiterhin ein relevanter Teil der Armen erwerbstätig. Da keine grundsätzlichen Verschiebungen zu beobachten sind, erscheint die ausschließliche Verwendung der 60-Prozent-Grenze gerechtfertigt.
67 Da insbesondere bei Verwendung der 40%-Grenze die Gruppe der Armen in manchen Ländern sehr klein ist, werden für diese Darstellung Daten aus allen verfügbaren Jahren verwendet, um die von Jahr zu Jahr auftretenden zufälligen Unterschiede auszugleichen.
115
4.5 ECHP: Armut von Erwerbstätigen
Abbildung 4.3: Anteil Erwerbstätiger an allen Armen nach Armutsgrenze
Anteil in % (40% Grenze)
60
NLPP
50
A
LUX NL
A GR GRD
40
DK
S IRL B
UK B
30 I IRL
20
ES
LUX DK
IFINF F UK FIN
jährl. Eink. monatl. Eink. Referenzwert
D
ES
20
30
40
50
60
Anteil in % (60% Grenze)
Anteil in % (50% Grenze)
60 PP NL LUX
50 AA GRDS GR
40
NL DK
LUX B F IRL UK I IFINFIN F
30
UK DK
B ES D ES
20
jährl. Eink. monatl. Eink. Referenzwert
IRL
20
30
40
50
Anteil in % (60% Grenze) Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
60
116
4 Messung von Armut von Erwerbstätigen
Abbildung 4.4: Armutsquote von Erwerbstätigen, Personen in Erwerbshaushalten und Personen in erwerbsfähigem Alter (17-64 Jahre) a) jährlicher Einkommensindikator 20
Armutsquote (%)
15
10
5
0
DK FIN NL
S
IRL UK
B
Personen (Erwerbsalter)
D
F
LUX
A
GR
I
Personen in Erw.-HH
P
ES
Erwerbstätige
b) monatlicher Einkommensindikator 20
Armutsquote (%)
15
10
5
0
DK FIN NL
S
IRL UK
Personen (Erwerbsalter)
B
D
F
LUX
A
Personen in Erw.-HH
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
GR
I
P
ES
Erwerbstätige
4.5 ECHP: Armut von Erwerbstätigen
117
Hier wurden bislang Personen als arme Erwerbstätige definiert, die arm und erwerbstätig sind. In vielen Arbeiten (vgl. Strengmann-Kuhn 2003, McFate et al. 1995) werden allerdings auch Personen, die in Haushalten leben, in denen mindestens eine Person erwerbstätig ist, in die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen eingeschlossen. Diese Sichtweise ist nahe liegend, wenn man von einer klassischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ausgeht und Familien somit von nur einem Erwerbseinkommen abhängig sind. Hier wurde die Perspektive bereits auf Personen im Erwerbsalter eingeschränkt (vgl. Abschnitt 4.3). Kinder unterhalb des Erwerbsalters werden also generell nicht mitbetrachtet. In Abbildung 4.4 ist jedoch aufgeführt, wie sich die Armutsquoten verändern, wenn nicht nur Erwerbstätige, sondern alle Personen im erwerbsfähigen Alter in Erwerbshaushalten berücksichtigt werden. Als weitere Referenz ist die Armutsquote von Personen im erwerbsfähigen Alter angegeben, die auch Personen in Nichterwerbshaushalten umfasst. Da das Armutsrisiko von Nichterwerbstätigen höher als von Erwerbstätigen ist, ist diese Quote in allen Ländern am höchsten. Ebenso liegen in allen Ländern die Armutsquoten der Personen in Erwerbshaushalten höher als die Armutsquoten der Erwerbstätigen. In vielen Ländern reichen die Armutsquoten von Personen in Erwerbshaushalten nahe an die Quoten der Personen im erwerbsfähigen Alter heran. Dies ist im Folgenden immer mit zu berücksichtigen. Betrachtet werden allein arme Erwerbstätige, nicht die Personen, die möglicherweise von diesem Erwerbseinkommen abhängig sind. Durch die Messung von Armut über das bedarfsgewichtete Haushaltseinkommen wird der Haushaltskontext trotzdem berücksichtigt. Diese Perspektive ermöglicht es, danach zu differenzieren, ob Personen arm sind, weil sie über ein niedriges Erwerbseinkommen verfügen oder weil weitere Personen von diesem Erwerbseinkommen abhängig sind. Diese Frage soll vor allem im Rahmen multivariater Analysen geklärt werden. In den folgenden deskriptiven Analysen werden zunächst die allgemeinen Länderunterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen, die Entwicklung über die Zeit und das Verhältnis unterschiedlicher Einkommensquellen – Erwerbseinkommen und Transfers – betrachtet.
119
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
In Kapitel 3 wurden zum einen Erwartungen bezüglich der Unterschiede im Ausmaß und der Struktur von Armut von Erwerbstätigen zwischen Wohlfahrtsregimes und zum anderen Hypothesen bezüglich der grundlegenden wohlfahrtsstaatlichen Dimensionen Dekommodifizierung, Defamilisierung und der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen formuliert. Die Analysen in diesem Kapitel beziehen sich auf diese Hypothesen, zunächst allerdings ohne diese formal überprüfen zu können. Stattdessen orientieren sich die Analysen an vier allgemeiner formulierten Fragen, deren Beantwortung als Voraussetzung für die Überprüfung der Hypothesen in einem weiteren Analyseschritt angesehen wird:
Erstens, unterscheidet sich die Größe und Zusammensetzung von Erwerbstätigenhaushalten im Ländervergleich (Abschnitt 5.3)? Falls ja, geht es darum zu klären, ob diese Unterschiede durch ein unterschiedliches Ausmaß an Defamilisierung erklärt werden können. Zweitens, in welchem Maße und über welche Mechanismen wird Armut von Erwerbstätigen über die Zahlung von Transfers reduziert (Abschnitt 5.4)? Mit Mechanismen ist gemeint, ob allgemein verfügbare Transfers aufstockend zum Erwerbseinkommen gezahlt werden, ob es spezifische Transfers für Erwerbstätige gibt oder ob die Armutsreduktion über Transfers für arbeitslose und nichterwerbstätige Haushaltsmitglieder erzielt wird. So sollen einerseits Länderunterschiede im Ausmaß der Armutsreduktion über Transfers aufgezeigt werden. Andererseits ist die Beantwortung der Frage notwendig, um in einem weiteren Schritt allgemeine Indikatoren, die das Ausmaß von Dekommodifizierung messen, auch in sinnvoller Weise für die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen verwenden zu können. Drittens, inwieweit tragen Erwerbseinkommen der Partnerin und weiterer Haushaltsmitglieder zur Verhinderung von Armut bei (Abschnitt 5.5)? Auch hier wurde argumentiert, dass der Grad der Defamilisierung entscheidenden Einfluss auf die Höhe weiterer Einkommen hat.
120
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Viertens, welche Rolle spielt die Verteilung von Erwerbseinkommen und hierbei insbesondere das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung und anderer Erwerbsformen, die durch niedrige Einkommen bzw. eine hohe Einkommensungleichheit geprägt sind (Teilzeiterwerbstätigkeit, berufliche Selbständigkeit)? Dabei geht es vor allem darum zu klären, unter welchen Bedingungen Niedriglöhne Armut bedingen und welcher Zusammenhang zwischen Niedriglöhnen und Mindestlöhnen besteht (Abschnitte 5.6, 5.7).
Vorangestellt sind zwei Abschnitte, in denen zunächst ein allgemeiner Überblick gegeben wird. Im ersten wird der zeitliche Kontext für die hier präsentierten Ergebnisse verdeutlicht, bevor in Abschnitt 5.2 dann grundsätzliche Länderunterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen dargestellt werden. Für den größeren Teil der Analysen werden Armutsquoten verwendet, die auf monatlichen Einkommensangaben beruhen. Wie im vorherigen Kapitel erläutert, eignen sich diese Angaben prinzipiell besser für eine Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen, da nur so detaillierte Angaben zur Erwerbstätigkeit zum Zeitpunkt der Einkommenserhebung vorliegen. Jedoch setzen die in den Abschnitten 5.3 bis 5.5 durchgeführten Analysen detaillierte Angaben zur Einkommenszusammensetzung voraus, die nur auf jährlicher Basis vorliegen. Um auch für die Analysen auf Basis der jährlichen Angaben Referenzpunkte zu haben, werden in grundlegenden Analysen beide Indikatoren verwendet. Zumeist wird aber nur ein Indikator verwendet. Sind keine Angaben zur Einkommenszusammensetzung erforderlich, ist dies immer der Indikator auf Basis der monatlichen Angaben (mit Ausnahme Schwedens, für das nur jährliche Einkommensangaben vorliegen).
5.1 Armut von Erwerbstätigen im zeitlichen Kontext Der überwiegende Teil dieses Kapitels ist als Querschnittsbetrachtung angelegt. Dabei wird die Situation zum Ende des Beobachtungszeitraums, also im Jahr 2001, dargestellt. Zur Einordnung dieser Ergebnisse in einen größeren Kontext werden jedoch zunächst die Entwicklung von Armut und Armut von Erwerbstätigen in den Jahren 1994 bis 2001 betrachtet. Zum Ende des Kapitels wird dann näher auf die Frage nach möglichen Ursachen dieser Entwicklung eingegangen (Abschnitt 5.8). Es wird also dann genauer untersucht, in welchen Ländern Armut von Erwerbstätigen über den Beobachtungszeitraum zu- oder abgenommen hat und ob die Entwicklungen auf Veränderungen in den institutionellen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. Hier wird zunächst nur ein allgemeiner Überblick gegeben.
121
5.1 Zeitlicher Kontext
Abbildung 5.1: Veränderungen Bruttoinlandsprodukt (real)
Veränderung gegenüber Vorjahr in %
15
10
5
0
-5
3,1 1,8
1990
1,0
-0,1 3,2 3,2 2,5
1995
4,0
3,9 4,1 4,7
2000
2,2
1,9 1,5 2,7
2,2
Land DK NL B F IRL IT GR ES P A FIN S D LUX UK
2005
Anmerkungen: Zahlen in Abbildung=ungewichteter Durchschnitt über alle Länder. Quelle: OECD Economic Outlook Database (1992-2005: OECD 2006b: 165, 1990/91: OECD 2004b: 215).
Der Ausgangspunkt für diesen Überblick sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In Abschnitt 3.4 wurde argumentiert, dass sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch die Entwicklung der Arbeitslosigkeit einen Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen haben können. Betrachtet man die jährlichen Wachstumsraten in allen Ländern seit Beginn der 1990er Jahre, wird deutlich, dass der aufgrund der Datenlage ausgewählte Beobachtungszeitraum in allen Ländern durchgängig durch Wachstum geprägt ist (Abbildung 5.1). Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern. Insbesondere Irland weist ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum auf, was dem Land ja auch in Anlehnung an die asiatischen ‚Tigerstaaten’ den Beinamen des ‚keltischen Tigers’ eingebracht hat. So lagen die Wachstumsraten in den Jahren 1997 und 1999 über 10 Prozent. Allein Luxemburg nähert sich zum Ende des Beobachtungszeitraums diesen Wachstumsraten an. Neben diesen Ausreißern nach oben gibt es weitere Unterschiede: Deutschland und Italien bilden in mehreren Jahren die Wachstumsschlusslichter. Finnland, Spanien und Portugal befinden sich – nach Irland und Luxemburg – am oberen Ende der Entwicklung. Für die weitere Be-
122
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
trachtung ist jedoch wichtiger, dass (von Irland einmal abgesehen) keines der Länder eine grundsätzlich andere Entwicklung aufweist. Betrachtet man die in der Abbildung ausgewiesenen Durchschnittswerte für alle Länder, markiert der Beginn des Beobachtungszeitraums das erste Jahr eines deutlichen wirtschaftlichen Aufschwungs nach Zeiten der Rezession in den frühen 1990er Jahren (von der Schweden und Finnland besonders hart getroffen wurden).68 Abgesehen von einer Wachstumsdelle im Jahr 1996 ist der Beobachtungszeitraum gegenüber den Jahren vorher und nachher von überdurchschnittlichem Wachstum geprägt, das erst im Jahr 2001 nachlässt.69 Geht man davon aus, dass wirtschaftliches Wachstum zur Reduktion von Armut von Erwerbstätigen beiträgt, sollte man also allein aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einen Rückgang der Armutsquoten erwarten. Es wird zu klären sein, inwieweit die wirtschaftliche Entwicklung der Annahme einer Verschiebung von Armut in Richtung von Armut von Erwerbstätigen entgegensteht. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit weist Ähnlichkeiten mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung auf (Abbildung 5.2). Griechenland ist das einzige Land, das im Jahr 2001 eine höhere Arbeitslosenquote als zu Beginn des Beobachtungszeitraums aufweist. In vielen Ländern ist die Arbeitslosigkeit dagegen deutlich gesunken. Besonders stark ist dieser Rückgang in Irland, Spanien und Finnland, die zu Beginn des Beobachtungszeitraums jeweils eine deutlich überdurchschnittliche Arbeitslosenquote aufwiesen. In Irland ist die Arbeitslosenquote von 14,3 auf 4,0 Prozent gesunken, in Spanien von 19,5 auf 10,3 Prozent und in Finnland von 16,8 auf 9,1 Prozent. In einigen Ländern ist die Entwicklung dagegen uneindeutig. Insbesondere in Deutschland und Italien ist die Arbeitslosigkeit nach 1994 zunächst angestiegen und danach bei weitem nicht so stark gesunken wie in den meisten anderen Ländern. Die Arbeitslosenquoten liegen zum Ende des Beobachtungszeitraums jedoch jeweils unter denen des Jahres 1994. Betrachtet man die durchschnittliche Entwicklung für alle Länder, ergibt sich ein eindeutiges Bild. 1994 ist das Jahr mit der höchsten Arbeitslosenquote seit 1990, 2001 das mit der niedrigsten.70 Zu 68 Mit Ausnahme von Irland und Luxemburg, wo das Wachstum allenfalls zurückging, war in allen übrigen Ländern die Entwicklung in mindestens einem Jahr in den frühen 1990er Jahren durch Stagnation oder einen Rückgang der Wirtschaftsleistung gekennzeichnet. 69 Die hier dargestellten ungewichteten Durchschnittswerte berücksichtigen nicht die absolute Höhe des BIP in einem Land. Sie entsprechen also nicht dem Wachstum der EU insgesamt. Die Europäische Kommission (2004: 228) weist dagegen gewichtete Durchschnittswerte aus. Insgesamt ergibt sich auf Basis dieser gewichteten Werte ein geringeres Wachstum als in Abbildung 5.1 dargestellt, da beispielsweise ein kleines Land wie Irland, das überdurchschnittliches Wachstum aufweist, weniger zum europäischen Durchschnitt beiträgt. Die inhaltliche Aussage, dass die Phase von 1994 bis 2001 im Vergleich zu den Jahren zuvor und danach durch überdurchschnittliches Wachstum geprägt ist, wird allerdings auch durch diese Zahlen eindeutig gestützt. 70 Wie bei der Betrachtung wirtschaftlichen Wachstums (vgl. Fußnote 69) ist auch hier der ungewichtete Durchschnitt ausgewiesen. Aber auch auf Basis des gewichteten Durchschnitts kommt man zu demselben Ergebnis (vgl. European Commission 2004: 238).
123
5.1 Zeitlicher Kontext
berücksichtigen ist weiter, dass im Jahr 2001 die Unterschiede im Ausmaß der Arbeitslosigkeit zwischen den Ländern deutlich niedriger sind als noch im Jahr 1994. Bei einer Querschnittsbetrachtung auf Basis des Jahres 2001 sind also weitaus weniger Einflüsse durch Unterschiede in der Arbeitsmarktsituation anzunehmen. Abbildung 5.2: Arbeitslosenquote (standardisiert)
Arbeitslosenquote in %
20
15
10
5
0
6,6 7,2 8,4 9,6 9,8
1990
9,3 9,3 8,7 8,0 7,3 6,5
1995
2000
6,1 6,5 6,9 7,2 7,0
Land DK NL B F IRL IT GR ES P A FIN S D LUX UK
2005
Anmerkungen: Zahlen in Abbildung=ungewichteter Durchschnitt über alle Länder. Quelle: OECD Main Economic Indicators (OECD 2006b: 178).
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen also für einen Rückgang von Armut. Lässt sich dieser auch empirisch feststellen? Die Entwicklung der allgemeinen Armutsquote ist in Abbildung 5.3 dargestellt. Hier zeigt sich kein einheitlicher Trend. Zwar geht die durchschnittliche Armutsquote von 16,2 auf 14,7 Prozent zurück.71 Ein leichter Rückgang oder nur geringfügige Veränderungen der Armutsquote sind in etwa der Hälfte der Länder zu beobachten. In mehreren Ländern ist Armut leicht bis mäßig angestiegen (Dänemark, Schweden, Finnland, Niederlande). Markant ist dagegen die Entwicklung in Irland. Wie zuvor gesehen, weist Irland ein 71 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Durchschnitt auf Basis der im ECHP vorhandenen Länder berechnet wurde. 1994 beruht der Wert also nur auf 12 Ländern, im Jahr 2001 auf 15. Jedoch ergibt sich auch bei Konstanthaltung des Ländersamples ein durchschnittlich negativer Trend.
124
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
starkes wirtschaftliches Wachstum auf, das mit gestiegenen durchschnittlichen Einkommen und somit auch deutlich gestiegenen Armutsgrenzen einhergeht. Das Ansteigen der Armutsquote erklärt sich zumindest teilweise daraus, dass bestimmte Gruppen von der allgemeinen Einkommensentwicklung ausgeschlossen oder nur unzureichend daran beteiligt sind. Dies trifft vor allem auf Rentner und andere Personen zu, die von Transfereinkommen abhängig sind (vgl. Nolan 2007). Großbritannien ist dagegen das Land, in dem Armut am stärksten zurückgegangen ist. Auch in Portugal und Griechenland ist die Entwicklung des Ausmaßes von Armut deutlich rückläufig. Da dies zu Beginn des Beobachtungszeitraums die drei Länder mit den höchsten Armutsquoten waren, hat also eine leichte Angleichung des Ausmaßes von Armut im europäischen Vergleich stattgefunden. Abbildung 5.3: Entwicklung Armutsquote 1994-2001
Armutsquote in %
25 Land DK NL B F IRL IT GR ES P A FIN S D LUX UK
20
15
10 16,2
15,6
15,0
14,6
15,0
14,9
14,9
14,7
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
Anmerkungen: Zahlen in Abbildung=ungewichteter Durchschnitt über alle Länder. Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Diese Beobachtung gilt auch, vielleicht sogar in stärkerem Maße, für die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen (Abbildung 5.4). Lagen die Armutsquoten im Jahr 1994 in Portugal und Griechenland noch weit über dem Durchschnitt, ist das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen innerhalb der darauf folgenden Jahre auf
125
5.1 Zeitlicher Kontext
das Niveau einiger anderer Länder gesunken. In den Ländern, die ein Ansteigen von Armut allgemein aufweisen, hat dagegen auch Armut von Erwerbstätigen zugenommen. In allen übrigen Ländern sind die Armutsquoten dagegen leicht gesunken. Abbildung 5.4: Entwicklung Armutsquote von Erwerbstätigen 1994-2001
Armutsquote in %
15
10
5
0
8,9
8,7
8,0
7,8
8,2
7,9
8,0
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
7,7
Land DK NL B F IRL IT GR ES P A FIN S D LUX UK
2001
Anmerkungen: Zahlen in Abbildung=ungewichteter Durchschnitt über alle Länder. Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Auf den ersten Blick lässt sich also keine Bestätigung für die Annahme eines Anstiegs von Armut von Erwerbstätigen feststellen. Auf diese Frage wird aber nochmals unter Berücksichtigung möglicher anderer Ursachen für die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen in Abschnitt 5.8 eingegangen. Hier ergibt sich erst einmal folgendes Bild: Die Jahre 1994 bis 2001 waren durchgängig von eher positiven wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt. Dies kann eine Erklärung für den durchschnittlich beobachteten Rückgang von Armut von Erwerbstätigen sein. Allerdings ist festzuhalten, dass einige Länder von diesem Trend trotz positiver wirtschaftlicher Entwicklung – oder wie im Fall von Irland evtl. gerade deswegen – deutlich abweichen.
126
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
5.2 Ausmaß und Struktur der Armut von Erwerbstätigen Im vorherigen Abschnitt wurde bereits deutlich, dass Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen bestehen. Hier sollen diese Unterschiede nun näher betrachtet werden. Zunächst werden Armutsquoten nach Ländern und Wohlfahrtsregimes betrachtet. Wie in Kapitel 3 sind in Tabelle 5.1 und den folgenden Tabellen Regimemittelwerte und Angaben zur durch die Regimetypologie erklärten Varianz enthalten. Allerdings wird nur das R-Quadrat für die Typologie ausgewiesen, in der die Niederlande dem sozialdemokratischen Regime zugeordnet sind. Diese Angaben sind als Orientierungspunkte gedacht, um mit einem Blick abzuschätzen zu können, ob eine Gruppierung nach Wohlfahrtsregimes Sinn macht. Im Rahmen der in Kapitel 6 folgenden Mehrebenenanalyse wird der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen dann genauer überprüft. Weder bei Verwendung des monatlichen noch des jährlichen Indikators unterscheidet sich das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen eindeutig in der erwarteten Weise nach Wohlfahrtsregimes. Zwar weisen die Länder des sozialdemokratischen Regimes niedrige Armutsquoten und die Länder des südeuropäischen Regimes die höchsten Armutsquoten auf. Jedoch unterscheiden sich die Quoten in den beiden Ländern des liberalen Regimes nicht eindeutig von denen des sozialdemokratischen oder konservativen Regimes. Allein die Länder des südeuropäischen Regimes weisen also deutlich höhere Armutsquoten von Erwerbstätigen auf. Unterschiede zwischen den drei übrigen Regimes sind kaum beobachtbar (vgl. auch PeñaCasas/Latta 2004). Trotzdem trägt die Gruppierung nach Regimes, zumindest bei Verwendung des jährlichen Einkommensindikators zur Messung von Armut, zur Erklärung von Unterschieden im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen bei. Allerdings treten entsprechende Unterschiede bei der Betrachtung von Armut insgesamt deutlicher hervor (vgl. Abschnitt 4.4). Im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen weichen vor allem die beiden Länder des liberalen Regimes – Großbritannien und Irland – von den Erwartungen ab. Bei einer Betrachtung von Armut allgemein weisen beide Länder hohe Armutsquoten auf, was häufig auf den geringen Grad der Dekommodifizierung zurückgeführt wird. Im Folgenden wird zu klären sein, ob die niedrigen und mittleren Armutsquoten von Erwerbstätigen in den beiden Ländern auf die Wirkung von Transfers, die Verteilung von Erwerbseinkommen, das Einkommen weiterer Haushaltsmitglieder oder eine vergleichsweise günstige Bedarfsstruktur der Haushalte von Erwerbstätigen zurückgehen. Trotz der von den Erwartungen abweichenden Ergebnisse nach Wohlfahrtsregimes gibt es klare Länderunterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Dänemark ist neben Österreich das Land mit den niedrigsten Armutsquoten von Erwerbstätigen. Griechenland weist die höchsten Armutsquoten auf.
127
5.2 Ausmaß und Struktur
Tabelle 5.1: Armutsquote von Erwerbstätigen und Anteil von Erwerbstätigen an allen Armen Quote (%) DK FIN NL S Ø
monatlich 5,0 7,1 10,5 7,5
Anteil (%) Einkommensmessung jährlich monatlich jährlich 3,9 48,6 36,9 6,0 36,6 38,8 8,0 65,6 62,1 6,5 45,4 6,1 50,3 45,8
IRL UK Ø
7,0 6,6 6,8
7,3 6,6 6,9
30,4 42,6 36,5
28,3 37,1 32,7
B D F LUX A Ø
5,7 6,8 8,9 9,6 4,3 7,1
4,0 4,6 7,9 8,0 5,8 6,1
38,0 48,2 37,1 60,3 47,1 46,1
28,1 32,7 37,6 45,2 46,1 37,9
GR I P ES Ø
10,9 9,7 8,9 8,3 9,4
12,1 10,4 11,5 9,7 10,9
42,4 32,2 51,6 33,2 39,8
40,5 31,4 51,7 33,7 39,3
R2
0,29
0,71
0,23
0,22
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Neben den Armutsquoten ist in Tabelle 5.1 auch der Anteil der armen Erwerbstätigen an allen Armen dargestellt. Hier zeigt sich, dass in allen Ländern mindestens knapp ein Drittel der Armen erwerbstätig ist, in manchen Ländern mehr als die Hälfte. Klare Muster nach Wohlfahrtsregimes ergeben sich nicht (was auch im geringen Anteil erklärter Varianz deutlich wird). Ein Teil der beobachteten Unterschiede geht auf insgesamt unterschiedliche Erwerbstätigenquoten zurück (vgl.
128
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Abschnitt 3.7). Das Ausmaß von Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit erklärt die Variation in den Anteilen der Erwerbstätigen an allen Armen jedoch nicht vollständig. Auf diesen Aspekt wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch näher eingegangen. Tabelle 5.2: Armutsquote von Erwerbstätigen und Verteilung armer Erwerbstätiger nach Alter und Geschlecht Geschlecht Mann Frau DK 4,9 5,1 FIN 7,5 6,6 NL 10,0 11,1 S* 7,1 5,9 Ø 7,5 7,6 IRL UK Ø
Quote (%) Alter (in Jahren) 17-29 30-49 50-64 10,1 4,1 2,8 12,0 6,0 5,9 14,5 8,9 9,8 14,1 6,0 3,0 12,2 6,3 6,2
Geschlecht Mann Frau 51,7 48,3 55,3 44,7 52,0 48,0 56,6 43,4 53,0 47,0
Anteil (%) Alter (in Jahren) 17-29 30-49 50-64 41,9 43,6 14,6 31,6 46,3 22,1 33,7 47,1 19,2 38,2 47,6 14,2 35,7 45,7 18,6
6,8 6,4 6,6
7,3 6,8 7,0
6,5 7,1 6,8
7,9 6,2 7,0
5,7 7,0 6,3
55,8 48,6 52,2
44,2 51,4 47,8
30,4 25,2 27,8
54,1 48,1 51,1
15,5 26,7 21,1
B 6,5 D 6,0 F 10,0 LUX 9,6 A 4,2 Ø 7,3
4,6 7,8 7,4 9,5 4,6 6,8
10,6 13,3 10,3 10,4 3,9 9,7
4,6 5,4 8,9 9,4 4,3 6,5
4,6 5,0 7,5 8,6 5,1 6,1
62,9 48,8 63,2 59,9 53,4 57,6
37,1 51,2 36,8 40,1 46,6 42,4
32,7 38,1 22,5 33,8 21,5 29,7
51,8 44,9 59,0 52,3 58,0 53,2
15,6 17,0 18,5 13,8 20,6 17,1
GR 11,1 I 11,9 P 9,7 ES 9,0 Ø 10,5
10,5 6,0 8,0 7,1 7,9
8,5 9,1 6,6 5,0 7,3
9,5 9,7 9,9 9,1 9,5
16,0 10,3 10,0 10,6 11,7
63,1 76,4 58,7 66,7 66,2
36,9 23,6 41,3 33,3 33,8
15,7 18,4 21,7 15,8 17,9
48,2 58,2 55,6 60,4 55,6
36,1 23,4 22,7 23,8 26,5
R2
0,06
0,51
0,42
0,59
0,52
0,52
0,69
0,45
0,48
0,43
Anmerkungen: *) Jährlicher Einkommensindikator. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
5.2 Ausmaß und Struktur
129
Für die Darstellung weiterer Ergebnisse wird nur noch ein Einkommensindikator verwendet. Für die folgenden Analysen ist dies das monatliche Einkommen. Bevor auf den Einfluss von Transfers und Niedriglohn eingegangen wird, wird kurz die Struktur der armen Erwerbstätigen nach sozio-demographischen Merkmalen betrachtet. Tabelle 5.2 enthält Armutsquoten und Angaben zur Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen nach Geschlecht und Alter. Bei Betrachtung des Alters zeigen sich unterschiedliche Zusammenhänge. Während in den Ländern des sozialdemokratischen und konservativen Regimes die Gruppe der 17- bis 29-jährigen fast durchgängig das höchste Armutsrisiko aufweist, zeigt sich in den südeuropäischen Ländern ein gegenteiliger Zusammenhang. Mit zunehmendem Alter steigt das Armutsrisiko an. Dies kann man als einen ersten Hinweis auf einen Einfluss der Defamilisierung auf intergenerationale Abhängigkeiten interpretieren, der bewirkt, dass jüngere Erwerbstätige in diesen Ländern durch den Familienkontext geschützt werden, während Ältere dadurch belastet werden. Eine genauere Betrachtung dieses Aspekts erfolgt im nächsten Abschnitt. Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes bestehen auch in der geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen. Zwar finden sich in fast allen Ländern mehr Männer unter den armen Erwerbstätigen, doch während in Ländern des sozialdemokratischen, liberalen und einigen Ländern des konservativen Regimes (Deutschland, Österreich) keine oder nur mäßige Unterschiede im Anteil von Frauen gegenüber Männern bestehen, ist dieser Anteil in den südeuropäischen Ländern, aber auch in Frankreich und Belgien deutlich niedriger. Es ist zu vermuten, dass diese Unterschiede auf das jeweilige Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zurückzuführen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Einflüsse in dieselbe Richtung nicht notwendigerweise auf dasselbe Modell zurückzuführen sind. So weisen sowohl die Länder des sozialdemokratischen Regimes (starke Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt), aber auch Deutschland und Großbritannien (hohes Ausmaß an Frauenteilzeiterwerbstätigkeit) einen hohen Frauenanteil an den armen Erwerbstätigen auf. Unterschiede sind auch in den Armutsquoten von erwerbstätigen Frauen und Männern zu beobachten. Tendenziell sind wiederum Männer stärker von Armut betroffen, durchgängig höher sind allerdings die Armutsquoten von Männern nur in den südeuropäischen Ländern. Aber auch in Frankreich ist die Armutsquote von Männern deutlich höher als die von Frauen. Wie aus früheren Studien bekannt (vgl. Strengmann-Kuhn 2003, Ponthieux 2004), zeigt sich hier, dass Armut von Erwerbstätigen tendenziell eher männlich ist. Auf die Tatsache, dass Niedriglohnbeschäftigung dagegen eher weiblich geprägt ist, wird im Folgenden noch eingegangen. Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass die auf dem Arbeitsmarkt bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, die in der Zusammensetzung der Niedriglöhner deutlich werden, bei einer Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen nicht in gleicher Weise hervortreten, da diese Ungleichheiten teilweise im
130
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Haushaltskontext kompensiert werden. Auf diese Frage wird sowohl bei der Betrachtung von Niedriglohnbeschäftigung als auch unter dem Aspekt der armutsreduzierenden Wirkung von Erwerbseinkommen von Männern und Frauen nochmals eingegangen (vgl. Abschnitte 5.5, 5.6).
5.3 Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen Unterscheiden sich die Größe und Zusammensetzung von Erwerbstätigenhaushalten und können diese Unterschiede als Ausdruck eines unterschiedlichen Ausmaßes an Defamilisierung betrachtet werden? In Tabelle 5.3 sind Angaben zur Größe und Struktur von armen und nicht-armen Erwerbstätigenhaushalten dargestellt. Es bestehen deutliche Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsregimes, was sich auch in den relativ hohen R-Quadrat-Werten zeigt.72 Die Länder des sozialdemokratischen Regimes sind durch geringe Haushaltsgrößen gekennzeichnet. Allerdings gibt es nur geringfügige Unterschiede zu den meisten Ländern des konservativen Regimes. Deutliche Abweichungen ergeben sich aber im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern und Irland. Großbritannien und Irland unterscheiden sich bezüglich der Haushaltsgröße und -struktur stark. Hier wird deutlich, warum Irland auch als Hybridfall betrachtet wird, da es zwar Elemente des liberalen Regimes aufweist, aber auch gleichzeitig stark familialistisch geprägt ist. Eine gemeinsame Betrachtung mit Großbritannien erscheint bei einer Betrachtung von Formen des familialen Zusammenlebens daher nicht sinnvoll. Allerdings wird auch deutlich, dass es durchaus Unterschiede zwischen Irland und den südeuropäischen Ländern gibt. Die hohe durchschnittliche Haushaltsgröße ist in Südeuropa vor allem durch eine höhere Anzahl von Personen ab 17 Jahren bedingt. Dies trifft zwar in ähnlicher Weise auch für Irland zu (wobei Spanien und Portugal höhere Werte aufweisen), jedoch ist Irland das einzige Land, in dem überdurchschnittlich viele Kinder bis 16 Jahren in einem Haushalt leben. Hier spiegeln sich deutlich die Unterschiede in den Geburtenraten wider, während die Unterschiede in der Anzahl der Erwachsenen vermutlich stärker durch ein unterschiedliches Ausmaß an Defamilisierung und hier insbesondere intergenerationaler Abhängigkeit erklärt werden.
72 Abweichend von den übrigen Analysen wird in diesem Abschnitt der Haushalt als Analyseeinheit verwendet, da hier ausschließlich Haushaltsmerkmale betrachtet werden. Andere Studien, die Formen des familialen Zusammenlebens (vgl. Iacovou 2004) oder des ‚income packaging’ von Haushalten (vgl. Maître et al. 2005) betrachten und auf die hier Bezug genommen wird, verwenden auch den Haushalt als Analyseeinheit. Als erwerbstätig wird ein Haushalt betrachtet, wenn mindestens eine Person erwerbstätig ist.
131
5.3 Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen
Tabelle 5.3: Haushaltsgröße und Haushaltsstruktur Erwerbstätigen-Haushalte davon: Personen Kinder <17 J. Pers. 17+ J. DK 2,8 0,7 2,1 FIN 2,7 0,7 2,0 NL 2,6 0,7 2,0 S 2,4 0,6 1,8 Ø 2,6 0,7 1,9
arme Erwerbstätigen-Haushalte davon: Personen Kinder <17 J. Pers. 17+ J. 2,3 0,6 1,7 2,0 0,5 1,6 2,7 0,9 1,8 2,1 0,6 1,5 2,3 0,6 1,6
IRL UK Ø
3,8 2,8 3,3
1,1 0,7 0,9
2,7 2,1 2,4
4,1 2,9 3,5
1,8 1,1 1,5
2,3 1,9 2,1
B D F LUX A Ø
3,1 2,8 3,0 2,8 3,1 3,0
0,8 0,6 0,8 0,7 0,7 0,7
2,3 2,2 2,2 2,1 2,3 2,2
3,2 3,1 3,6 3,4 3,6 3,4
1,1 1,0 1,2 1,3 1,3 1,2
2,1 2,0 2,4 2,1 2,3 2,2
GR I P ES Ø
3,4 3,4 3,8 3,7 3,6
0,8 0,8 0,9 0,8 0,8
2,7 2,7 2,9 2,9 2,8
3,9 4,0 4,5 4,2 4,2
0,9 1,2 1,7 1,4 1,3
3,0 2,9 2,8 2,8 2,9
R2
0,70
0,37
0,82
0,84
0,63
0,92
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Auch die Unterschiede zwischen armen und nicht-armen Erwerbstätigenhaushalten lassen sich gut aus einer Perspektive intergenerationaler Abhängigkeit interpretieren. Allein in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes sind die Haushalte von armen Erwerbstätigen durchschnittlich kleiner als die von den übrigen Erwerbstätigen. In allen anderen Ländern, am deutlichsten in Italien, sind die Haushalte der von Armut betroffenen Erwerbstätigen größer. In den stark defamilisierenden sozi-
132
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
aldemokratischen Wohlfahrtsstaaten sind es also insbesondere diejenigen Erwerbstätigen, die außerhalb eines größeren Haushaltskontextes leben, die von Armut betroffen sind (wie zuvor gesehen sind dies zumeist die Jüngeren). Insbesondere in südeuropäischen Ländern und Irland sind dagegen große Haushalte von Armut betroffen. Trotz des von Trifiletti (1999) als ‚synthesis of breadcrumps’ beschriebenen Mechanismus werden die Mitglieder dieser Haushalte nicht über den stärkeren Zusammenhalt von Familien vor Armut geschützt. Während insbesondere in den Ländern des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes die Unabhängigkeit von jüngeren Erwerbstätigen zu Armut führt, ist es in den südeuropäischen Ländern eher die Abhängigkeit der Jüngeren von ihren Eltern und die damit verbundene Belastung von Erwerbstätigen. Die These der unterschiedlich starken intergenerationalen Abhängigkeiten wird anhand der Betrachtung zweier spezifischer Gruppen weiter verdeutlicht: arbeitslose erwachsene Kinder und Personen im Rentenalter. In Abschnitt 3.2 wurde argumentiert, dass es vor allem diese Gruppen sind, die auf Familiensolidarität angewiesen sind. Für Jüngere gilt dies, wenn weder über den Arbeitsmarkt noch über den Staat ein ausreichendes Einkommen erzielt werden kann, für Ältere dagegen, wenn keine außerfamiliären Möglichkeiten der Betreuung und Pflege bestehen. Nur in wenigen Ländern gibt es in relevantem Maße ein Zusammenleben der beiden Gruppen in einem größeren Haushaltszusammenhang (also junge Arbeitslose mit ihren Eltern bzw. ältere Personen mit ihren Kindern). In Abbildung 5.5 ist jeweils der Anteil an erwerbstätigen Haushalten aufgeführt, in denen ein junger Arbeitsloser oder eine Person oberhalb des Erwerbsalters mit erwerbstätigen Eltern bzw. Kindern zusammenlebt. Aufgeführt sind nur diejenigen Länder, in denen einer der beiden Anteilswerte mindestens 5 Prozent ausmacht. Dies sind allein die südeuropäischen Länder und Österreich. In Italien lebt in mehr als einem Fünftel der Haushalte von armen Erwerbstätigen ein arbeitsloses erwachsenes Kind, in Griechenland in jedem siebten. Italien und Griechenland sind die beiden einzigen Länder, die über kein Grundsicherungssystem verfügen, sodass junge Arbeitslose, die aufgrund mangelnder Berufserfahrung keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben, finanziell vor allem über die Einkommen erwerbstätiger Familienmitglieder abgesichert sind bzw. werden müssen.
133
5.3 Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen
Abbildung 5.5: Anteil von Haushalten mit jungen Arbeitslosen und Personen über 64 Jahren Anteil HH mit arbeitslosen Kindern (%)
a) HH mit arbeitslosen Kindern
20
15
10
5
0
A
GR
I
Erwerbstätigen-HH
P
ES
arme Erwerbstätigen-HH
Anteil HH mit älteren Personen (%)
b) HH mit älteren Personen
20
15
10
5
0
A
GR
I
Erwerbstätigen-HH Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
P
ES
arme Erwerbstätigen-HH
134
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Die südeuropäischen Länder, allerdings auch Österreich, unterscheiden sich von allen anderen auch im Anteil der armen Erwerbstätigenhaushalte, in denen ältere Personen leben. Während in diesen fünf Ländern der Anteil bei bis zu 14 Prozent liegt, weist kein anderes Land einen Anteil von mehr als zwei Prozent auf (Ergebnisse nicht aufgeführt). Insbesondere Griechenland, Portugal und Österreich liegen also weit über dem europäischen Durchschnitt. Nimmt man diese Ergebnisse zusammen, sind es vor allem die südeuropäischen Länder, die nicht nur durch größere Haushalte von armen Erwerbstätigen gekennzeichnet sind, sondern vor allem dadurch, dass in diesen Haushalten überproportional häufig jüngere Arbeitslose oder ältere Nichterwerbstätige leben. Hier ist von einer Erhöhung des Bedarfs und von Restriktionen für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit von Frauen auszugehen. Anders formuliert, hohe intergenerationale Abhängigkeiten führen zu einer deutlichen Belastung der Erwerbstätigen in einem Haushalt bzw. verhindern die Erwerbstätigkeit weiterer Personen. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass es vor allem der Anteil von Haushalten mit arbeitslosen Kindern ist, der im Vergleich von armen gegenüber nicht-armen Erwerbstätigenhaushalten deutlich höher ausfällt. Dies ist beim Zusammenleben mit Älteren nicht grundsätzlich der Fall (siehe Italien, Spanien). Dies ist ein Hinweis darauf, dass beim Zusammenleben von Erwerbstätigen mit Älteren nicht notwendigerweise ökonomische Faktoren im Vordergrund stehen, wie es für junge Arbeitslose in Südeuropa durchgängig anzunehmen ist. Interessant ist es nun, zu untersuchen, ob sich diese Unterschiede in der Zusammensetzung der Haushalte auch in der Zusammensetzung des Einkommens widerspiegeln (Tabelle 5.4 und Tabelle 5.5). Folgende Einkommensquellen werden unterschieden: Erwerbseinkommen, Transfereinkommen und sonstige Einkommen (private Transfers und Kapitaleinkommen). Die Erwerbseinkommen sind danach unterteilt, wer diese erwirtschaftet. Um Effekte der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung eindeutig darstellen zu können, wurde in Paarhaushalten immer der Mann als Bezugsperson definiert. Somit ist das zweite Erwerbseinkommen immer das Einkommen der Partnerin. Erwerbseinkommen weiterer Personen sind in einer dritten Kategorie erfasst.73 Deutlich werden Unterschiede nach dem Grad der De-
73 Es wurde also nicht die im ECHP enthaltene Zuordnung der Bezugsperson und auch nicht die dort angegebene Reihenfolge der Personen im Haushalt verwendet. Lebt nur eine erwachsene Person im erwerbsfähigen Alter im Haushalt, ist dies die Bezugsperson. In Paarhaushalten ist dies – wie gesagt – der Mann. Leben mehrere Paare in einem Haushalt zusammen, wird das älteste Paar im erwerbsfähigen Alter betrachtet. Die Grundlage für diese Zuordnung ist die Annahme, dass es sich beim Zusammenleben von mehreren Paaren im erwerbsfähigen Alter bei dem jüngeren Paar fast immer um ein Kind mit Partner/in handelt, das im Haushalt der Eltern lebt. Die Eltern werden deswegen als Paar berücksichtigt, die (Schwieger-)Kinder als weitere Personen. Lebt ein Paar im erwerbsfähigen Alter mit einem Paar über 64 Jahren zusammen, wird davon ausgegangen, dass es sich beim letzteren fast immer um Eltern handelt, die im Haushalt eines Kindes mit Partner/-in leben. Deshalb werden die (Schwieger-)Kinder als Paar
5.3 Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen
135
kommodifizierung, in der Erwerbsbeteiligung von Frauen und in der Zusammensetzung von Haushalten. Der Effekt der Erwerbsbeteiligung zeigt sich im Anteil des Erwerbseinkommens der Partnerin am Haushaltseinkommen, insbesondere in nicht-armen Erwerbstätigenhaushalten. Aufgrund der hohen Erwerbsquoten nicht überraschend, ist dieser Anteil in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes am höchsten. Der Anteil von Erwerbseinkommen weiterer Haushaltsmitglieder ist dagegen in den Ländern am höchsten, die einen größeren Anteil an Haushalten mit weiteren Erwachsenen aufweisen. Hier zeigt sich, dass das Zusammenleben in einem größeren Haushaltskontext nicht allein aus der Perspektive eines erhöhten Bedarfs, sondern auch aus der des Zusammenfließens mehrerer Einkommensquellen betrachtet werden muss. Da aber arme Erwerbstätigenhaushalte – wie oben diskutiert – durchschnittlich größer sind als nicht-arme, ist davon auszugehen, dass mit wachsender Haushaltsgröße die Erhöhung des Bedarfs den Effekt des Zusammenfließens von Ressourcen übersteigt. Wie eingangs formuliert, ist eine grundsätzliche Bedingung für die Annahme eines Einflusses von Dekommodifizierung auf Armut von Erwerbstätigen, dass Erwerbstätige Transfers beziehen und diese zu einer Reduktion von Armut beitragen. Hier wird zunächst der erste Aspekt betrachtet. Der Anteil an staatlichen Transfereinkommen macht bei den nicht-armen Erwerbstätigen zwischen 8 und 17 Prozent aus und ist in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes durchschnittlich am höchsten. Deutlich stärkere Unterschiede sind allerdings bei den armen Erwerbstätigenhaushalten feststellbar. Dies zeigt sich auch im höheren Anteil der durch die Regimetypologie erklärten Varianz. Während in Schweden und Finnland der Transferanteil 32 bzw. 31 Prozent ausmacht, liegt dieser in Italien und Griechenland nur bei 10 Prozent und somit kaum höher als bei den nicht-armen Erwerbstätigen. Absolut betrachtet fallen die Transfers für arme Erwerbstätige also sogar geringer aus als für nicht-arme Erwerbstätige. Entgegen der Annahmen ist der Anteil an Transfers in Großbritannien und Irland mindestens so hoch wie in den meisten Ländern des konservativen Regimes. Es ist nicht auszuschließen, dass dies ein Effekt der in Abschnitt 3.6 dargestellten spezifischen Leistungen für Erwerbstätige ist.
berücksichtigt, die Eltern als weitere Personen. Nur in wenigen Ausnahmen ist eine Zuordnung nach diesem Muster nicht möglich und nur dann wurde auf die Zuordnung im ECHP zurückgegriffen.
136
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.4: Einkommensquellen von Erwerbstätigenhaushalten (als Anteil in Prozent)
DK FIN NL S1 Ø
Erwerbseinkommen Bezugsweitere person Partnerin Personen 58,1 28,1 2,2 60,9 21,1 2,3 68,6 16,0 2,3 62,2 18,9 0,0 62,5 21,0 1,7
anderes Einkommen Transfers 9,9 13,1 10,8 17,3 12,8
Sonstiges 1,7 2,6 2,3 1,6 2,1
Gesamt 100,0 100,0 100,0 100,0
IRL UK Ø
60,4 62,7 61,5
11,6 18,6 15,1
14,5 4,7 9,6
12,4 10,4 11,4
1,2 3,6 2,4
100,0 100,0
B D F LUX A Ø
61,1 65,3 60,7 68,4 61,0 63,3
18,9 14,3 20,5 12,3 13,2 15,8
5,1 6,0 4,6 5,1 9,6 6,1
11,2 11,2 11,6 11,7 13,7 11,9
3,8 3,1 2,7 2,5 2,4 2,9
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
GR I P ES Ø
64,3 61,4 51,5 63,7 60,2
14,4 15,4 19,8 12,5 15,5
10,2 10,9 14,2 11,6 11,7
8,0 10,1 13,3 9,6 10,2
3,1 2,2 1,1 2,6 2,3
100,0 100,0 100,0 100,0
R2
0,09
0,32
0,74
0,20
0,20
Anmerkung: 1) Keine Angaben über Erwerbseinkommen weiterer Personen. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
137
5.3 Haushaltszusammensetzung und Einkommensquellen
Tabelle 5.5: Einkommensquellen von armen Erwerbstätigenhaushalten (als Anteil in Prozent)
DK FIN NL S1 Ø
Erwerbseinkommen Bezugs- Partnerin weitere 63,9 10,0 1,4 52,8 11,7 0,9 54,4 5,7 1,2 55,0 9,7 0,0 56,5 9,3 0,9
anderes Einkommen Transfers Sonstiges 21,3 3,4 31,4 3,1 29,5 9,3 31,8 3,5 28,5 4,8
Gesamt 100,0 100,0 100,0 100,0
IRL UK Ø
63,8 54,9 59,3
4,9 10,3 7,6
6,1 4,8 5,4
24,6 25,7 25,1
0,7 4,4 2,5
100,0 100,0
B D F LUX A Ø
58,1 53,7 57,4 65,4 46,5 56,2
9,9 13,5 10,3 7,7 9,0 10,1
5,9 3,5 4,3 3,1 7,2 4,8
23,2 24,6 25,3 21,8 30,7 25,1
2,9 4,7 2,8 1,9 6,6 3,8
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
GR I P ES Ø
72,5 71,7 54,5 63,8 65,6
7,8 8,8 8,7 7,4 8,2
8,1 6,8 9,9 8,3 8,3
10,4 10,4 26,1 14,4 15,3
1,2 2,2 0,8 6,1 2,6
100,0 100,0 100,0 100,0
R2
0,31
0,19
0,86
0,58
0,16
Anmerkung: 1) Keine Angaben über Erwerbseinkommen weiterer Personen. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Entsprechend des höheren Anteils an Transfers weisen die Haushalte der armen Erwerbstätigen einen geringeren Anteil an Erwerbseinkommen auf. Dies gilt durchgängig für den Einkommensanteil der Partnerin. Dies weist auf die Bedeutung eines zweiten Erwerbseinkommens bei der Verhinderung von Armut von Erwerbstätigen hin. Der Einkommensanteil von Männern in armen Erwerbstätigenhaushalten ist
138
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
dagegen in den südeuropäischen Ländern, aber auch in Dänemark und Irland höher als in nicht-armen Haushalten. In allen übrigen Ländern ist der Anteil des Erwerbseinkommens von Männern, Frauen und (zumeist auch) weiterer Personen geringer als in nicht-armen Haushalten. Trotz eines höheren Transferanteils, werden geringe Erwerbseinkommen nicht in dem Maße kompensiert, dass Armut vermieden werden kann.
5.4 Armutsreduktion durch staatliche Transfers Die Tatsache, dass staatliche Transfers eine relevante Einkommensquelle in Haushalten von Erwerbstätigen ausmachen, sagt noch nichts darüber aus, ob diese auch zur Reduzierung von Armut beitragen. Diese Frage soll in diesem Abschnitt geklärt werden. Dabei geht es einerseits wie bereits erwähnt darum, ob der Dekommodifizierungsgrad von Wohlfahrtsstaaten auch bei einer Betrachtung von armen Erwerbstätigen relevant ist. Anderseits geht es darum, ob es die Verteilung von Erwerbseinkommen oder die Höhe und Verfügbarkeit von Transfers ist, die Unterschiede in den Armutsquoten im Ländervergleich erklärt. Beides wird durch den Vergleich von Armutsquoten auf Basis des Einkommens vor und nach staatlichen Transfers betrachtet (Tabelle 5.6). Die bisherigen Berechnungen von Armutsquoten beruhen auf dem bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen, das sich aus Markteinkommen (vor allem Erwerbseinkommen), staatlichen und privaten Transfers zusammensetzt. Diesem ‚Nach-Transfer-Einkommen’ wird nun ein ‚VorTransfer-Einkommen’ gegenübergestellt. Der Ausgangspunkt für die Berechnung dieses Einkommens ist wieder das Haushaltsnettoeinkommen von dem die staatlichen Transfers abgezogen werden, sodass sich das ‚Vor-Transfereinkommen’ ergibt. Auch hier wird nun über die Verwendung der modifizierten OECD-Skala eine Bedarfsgewichtung durchgeführt. Dieses bedarfsgewichtete modifizierte Haushaltnettoeinkommen wird zur Berechnung von ‚Vor-Transfer’-Armutsquoten verwendet. Als Referenzwert wird die auf Basis der ‚Nach-Transfer’-Einkommen berechnete Armutsgrenze verwendet. Arm sind alle Personen, die in einem Haushalt leben, deren bedarfsgewichtetes ‚Vor-Transfer’-Einkommen niedriger ist als die Armutsgrenze. Die Differenz zwischen ‚Vor-’ und ‚Nach-Transfer’-Armutsquoten kann als Effekt staatlicher Transfers interpretiert werden, da sie sich genau aus den Personen ergibt, die ohne Transfers arm wären, es mit Transfers aber nicht sind.
139
5.4 Armutsreduktion durch staatliche Transfers
Tabelle 5.6: Reduktion der Armut von Erwerbstätigen durch Transfers und Belastung durch Steuern und Sozialabgaben Belastung durch Steuern und Armutsreduktion durch Transfers Sozialabgaben1 Verhältnis nicht arm arm Armutsquote (%) Reduktion (2)/(1) (1) nach (2) vor (1) *100 Transfers Transfers (2)-(1)/(2) (2) DK 3,9 8,7 55,5 39,9 35,3 88,4 FIN 6,0 16,3 63,3 31,0 24,8 80,0 NL 8,0 14,9 46,1 37,1 35,1 94,4 S 6,5 19,3 66,2 Ø 6,1 14,8 58,8 36,0 31,7 87,6 IRL UK Ø
7,3 6,6 6,9
15,7 13,0 14,4
53,6 49,2 51,6
13,7 20,6 17,1
8,8 12,6 10,7
64,1 61,0 62,5
B D F LUX A Ø
4,0 4,6 7,9 8,0 5,8 6,1
10,3 13,0 17,2 18,1 16,4 15,0
61,2 64,3 54,0 55,7 64,7 59,5
34,2 32,1 16,7
27,6 22,4 16,7
80,8 69,9 99,8
28,4 27,8
24,4 22,8
86,0 84,1
GR I P ES Ø
12,1 10,4 11,5 9,7 10,9
18,1 17,8 19,7 17,5 18,3
33,3 41,7 41,7 44,2 40,3
16,4 25,1 13,5 15,0 17,5
13,8 22,4 9,6 11,2 14,3
83,9 89,3 71,2 75,1 79,9
R2
0,71
0,25
0,70
0,69
0,76
0,52
Anmerkung 1) Abgabenquote: Differenz zwischen Brutto- und Nettolohn als Anteil des Bruttolohns in Prozent. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Grundsätzlich ist anzumerken, dass diese Betrachtungsweise auf der kontrafaktischen Annahme beruht, dass sich das Einkommen vor Transfers nicht ändert, wenn
140
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
keine bzw. weniger Transfers verfügbar wären. Diese Annahme ist nicht unproblematisch. So werden beispielsweise Effekte von Transfers auf das Arbeitsangebot geltend gemacht (dazu ausführlich Uusitalo 1985, Bergh 2005). Es wird hier aber angenommen, dass eine Aussage darüber, ob das Ausmaß der Armutsreduktion in einem Land eher hoch oder niedrig ist, trotzdem möglich ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Ausgangspunkt der Berechnungen das Haushaltsnettoeinkommen ist. Es wird also nicht die gesamte staatlicher Umverteilung erfasst, da Effekte von Steuern und Sozialabgaben nicht berücksichtigt werden. Angaben zum Haushaltsbruttoeinkommen liegen im ECHP jedoch nicht vor. Ein Vergleich von Brutto- und Nettoangaben ist allein für die persönlichen Löhne möglich. Auf Basis dieser Angaben wurden Steuer- und Abgabensätze für arme und nicht-arme Erwerbstätige berechnet, die in der Tabelle zusätzlich dargestellt sind. In jedem Land sind die Armutsquoten vor Transfers deutlich höher. Allein auf Basis der Erwerbseinkommen sind knapp 9 bis 20 Prozent der Erwerbstätigen arm. Absolut sind diese Unterschiede größer als zwischen Armutsquoten nach Transfers. Hier liegen die Armutsquoten zwischen 4 und 12 Prozent. Die Armutsquote in Griechenland ist also dreimal so hoch wie in Dänemark. Das Ausmaß der Armutsreduktion unterscheidet sich deutlich nach Wohlfahrtsregimes. Dieses ist in den Ländern des konservativen und sozialdemokratischen Regimes (mit Ausnahme der Niederlande) am höchsten, in den südeuropäischen Ländern eindeutig am niedrigsten. Irland und Großbritannien sind durch ein mittleres Ausmaß der Armutsreduktion charakterisiert. Wie bereits bei der Formulierung der Hypothesen diskutiert, ist dieses Ergebnis einerseits trivial, da ja ein zentraler Aspekt bei der Bildung von Wohlfahrtsregimes die Höhe und Verfügbarkeit von Transfers ist. Andererseits werden dabei vor allem Transfers betrachtet, die sich primär an Arbeitslose und Nichterwerbstätige richten (Arbeitslosengeld, Rente, ggf. Sozialhilfe). Dass sich auch bei Betrachtung von armen Erwerbstätigen Unterschiede nach Wohlfahrtsregimes ergeben, weist darauf hin, dass diese Transfers auch hier relevant sind. Ob dies darauf zurückzuführen ist, dass Erwerbstätige selbst diese Transfers beziehen, oder daraus resultiert, dass sie mit Arbeitslosen oder Nichterwerbstätigen zusammenleben, wird in einem weiteren Schritt über die Betrachtung der Art der Transfers geklärt. Im Gegensatz zum Ausmaß der Armutsreduktion durch Transfers wird die Höhe der Armutsquoten auf Basis des Nettomarkteinkommens, das überwiegend Erwerbseinkommen ist, nicht durch die Zuordnung zu Wohlfahrtsregimes strukturiert (Tabelle 5.6). Der Anteil erklärter Varianz ist gering. So weist Großbritannien eher eine niedrige Armutsquote auf, Schweden eine der höchsten. Allein in den südeuropäischen Ländern sind die Armutsquoten durchschnittlich höher. Für die Verteilung von Erwerbseinkommen wurden bislang vor allem zwei Einflüsse der institutionellen Rahmenbedingungen diskutiert: der Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Lohnhöhe und der Zusammenhang zwischen Defamilisierung und
5.4 Armutsreduktion durch staatliche Transfers
141
Frauenerwerbstätigkeit, oder allgemeiner, der Anzahl der Verdiener pro Haushalt. Aus einer Perspektive der Umverteilung sind neben den bereits betrachteten Transfers jedoch auch Belastungen durch Steuern und Sozialversicherungsabgaben zu berücksichtigen. In der rechten Hälfte von Tabelle 5.5 sind diese für arme und nicht-arme Erwerbstätige dargestellt. Hier zeigt sich nicht nur, dass Steuersätze in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes insgesamt hoch und in den Ländern des liberalen und südeuropäischen Regimes eher niedrig sind. Es zeigen sich auch Unterschiede in der Besteuerung der armen im Vergleich zu nicht-armen Erwerbstätigen innerhalb einzelner Länder. In Großbritannien und Irland sind die Belastungen für arme Erwerbstätige sehr niedrig und somit eine ‚Besteuerung in die Armut’ eher unwahrscheinlich. Dagegen sind in den meisten anderen Ländern die armen Erwerbstätigen ähnlich hohen Belastungen ausgesetzt wie alle anderen Erwerbstätigen. Allerdings weisen beispielsweise die niedrigen Armutsquoten auf Basis des Erwerbseinkommens in Dänemark bei hoher Besteuerung darauf hin, dass es noch andere Faktoren zur Erklärung dieser Unterschiede geben muss. Wie in der Betrachtung des ‚income packaging’ gesehen, ist der Einkommensanteil von Frauen aufgrund hoher Erwerbstätigenquoten in Dänemark mit am höchsten. Wie stark dies zur Armutsreduktion beiträgt, wird im nächsten Abschnitt 5.5 noch näher betrachtet. Auf mögliche Einflüsse der Lohnhöhe wird im darauf folgenden Abschnitt 5.6 in einer Analyse des Zusammenhangs zwischen Niedriglohn und Armut eingegangen. Wie oben bereits erwähnt, ist eine durchgängige Betrachtung des Einkommens vor und nach Steuern dabei allerdings nicht möglich, da entsprechende Bruttoangaben allein für Löhne, nicht für andere Erwerbs-, Transfer- und sonstige Einkommen vorliegen. Geklärt werden kann aber, über welche Art der Transfers die Reduktion von Armut erfolgt. Diese Klärung ist auch notwendig, da allenfalls in Großbritannien und Irland zu erwarten ist, dass es sich um spezifische Transfers für Erwerbstätige handelt. In Tabelle 5.7 ist zunächst dargestellt, wie hoch jeweils der Anteil von erwerbstätigen Armen ist, die eine bestimmte Art von Transfers beziehen. Unterschieden wird dabei zwischen Arbeitslosenunterstützung, Alters- und Hinterbliebenenrenten und Familienleistungen. Angaben zu Erwerbsunfähigkeitsrenten, Ausbildungsleistungen, Sozialhilfe, Wohngeld und sonstigen Leistungen finden sich in Anhang B (Tabelle A2). Zunächst ist festzustellen, dass in den meisten Ländern mindestens 70 Prozent der armen Erwerbstätigen in Haushalten leben, die Transfers beziehen. Betrachtet man ausschließlich arme Erwerbstätige, die in Haushalten mit Kindern leben, steigt dieser Anteil in vielen Ländern auf annähernd 100 Prozent an. Dieser Effekt ist vor allem auf die Zahlung von Familienleistungen, i.d.R. Kindergeld, zurückzuführen. Deutliche Abweichungen hiervon sind in den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten mit Ausnahme von Portugal zu beobachten. Nur zwischen 27 und 41 Prozent der armen Erwerbstätigen in Haushalte mit Kindern erhalten Transfers. Hier ist ein Einfluss des insgesamt geringen Dekommodifizierungsgrads,
142
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
aber auch der einschränkenden Bedingungen für den Bezug von Familienleistungen anzunehmen (vgl. Abschnitt 3.6). Nach Familienleistungen beziehen die Haushalte armer Erwerbstätiger durchschnittlich am häufigsten Leistungen aufgrund von Arbeitslosigkeit. Es ergibt sich allerdings kein eindeutiges Bild nach Wohlfahrtsregimes. Zwar ist der Anteil derjenigen, die Arbeitslosenunterstützung beziehen, in den südeuropäischen Ländern und in Großbritannien gering. Irland weist dagegen einen sehr hohen Anteil auf und die Variation innerhalb anderer Regimes, insbesondere zwischen den sozialdemokratischen Ländern, ist beträchtlich. Allerdings hängt der Anteil des Leistungsbezugs nicht allein von der Generosität des Systems der Arbeitslosenunterstützung ab, sondern auch davon, wie hoch der Anteil an Arbeitslosen ist. Jedoch erklären die Unterschiede im Ausmaß der Arbeitslosigkeit – die ja wie in Abschnitt 5.1 gesehen im Jahr 2001 relativ gering ausfallen – bei weitem nicht die Unterschiede im Anteil der Leistungsbezieher. In Finnland ist zwar sowohl letzterer Anteil als auch die Arbeitslosenquote mit 9,1 Prozent (2001) relativ hoch. In Italien ist die Quote ebenso hoch, der Anteil der Leistungsbezieher aber sehr niedrig. Auch Portugal und Irland weisen mit 4,0 Prozent exakt dieselbe Arbeitslosenquote, aber sehr unterschiedliche Anteile an Leistungsbeziehern auf. Außerdem ist allein über die Tatsache des Leistungsbezugs noch nichts über die Reduzierung von Armut gesagt, da zusätzlich zu berücksichtigen ist, ob die Höhe der Leistungen ausreichend ist. Daher wird im nächsten Schritt noch das Ausmaß der Armutsreduktion nach unterschiedlichen Arten von Transfers betrachtet. Zunächst gilt es aber, die Frage zu klären, über welchen Mechanismus Arbeitslosigkeitsleistungen die Armut von Erwerbstätigen reduzieren. In Abschnitt 3.1 wurde zwischen der Zahlung aufstockender Transfers bei geringem Erwerbseinkommen und Transfers für arbeitslose Haushaltsmitglieder unterschieden. Dabei wurde argumentiert, dass erstere davon abhängen, wie der Übergang aus Transferbezug in die Erwerbstätigkeit gestaltet ist, und letztere davon, ob eine Bedürftigkeitsprüfung auf Haushaltsebene besteht. Für die Trennung beider Mechanismen ist es notwendig zu betrachten, wer im Haushalt eine bestimmte Leistung bezieht. Zunächst ist festzuhalten, dass insgesamt hohe Variation im Anteil des Bezugs von Arbeitslosenleistungen besteht. In Portugal sind es weniger als 2 Prozent, in Finnland mehr als 40 Prozent aller armen Erwerbstätigen. Ist dies ein Resultat der unterschiedlichen Verfügbarkeit aufstockender Transfers oder von Bedürftigkeitsprüfungen auf Haushaltsebene? Um eine Unterscheidung zu ermöglichen, enthält Tabelle 5.7 eine Unterteilung danach, ob die erwerbstätige Person selbst oder Haushaltsmitglieder diese Leistungen erhalten. Da es sich um jährliche Angaben zum Einkommen und zur Erwerbstätigkeit handelt, ist nochmals zu unterscheiden, ob eine Person ganzjährig oder weniger als 12 Monate erwerbstätig war (aber mindestens 6 Monate, da dies als Kriterium zur Abgrenzung von Erwerbstätigen zu Nichterwerbstätigen verwendet wurde, vgl. Abschnitt 4.5). Es zeigt sich, dass nur in drei Ländern (Finnland, Irland, Belgien),
143
5.4 Armutsreduktion durch staatliche Transfers
die jeweils in ein anderes Wohlfahrtsregime fallen, ein relevanter Anteil von ganzjährig Erwerbstätigen selbst Leistungen der Arbeitslosenunterstützung bezieht. In der Mehrzahl der Länder geht daher eine mögliche Armutsreduktion nicht von aufstockenden Transfers für Erwerbstätige, sondern von Transfers für andere Personen im Haushalt aus. Tabelle 5.7: Personen mit Bezug von Transfers nach Transferarten (als Anteil an allen armen Erwerbstätigen in Prozent)
DK FIN NL S Ø
gesamt nach Art der Transfers alle mit Kind1 Alo.geld Alo.geld2 Alo.geld3 Rente Fam. 78,2 98,0 13,6 7,2 1,7 0,0 42,0 83,5 94,3 41,5 33,3 21,3 13,4 28,4 71,5 85,9 2,3 1,3 0,4 47,3 81,3 97,1 16,7 13,1 6,4 36,5 78,6 93,8 18,5 13,7 11,5 5,1 38,6
Fam.1 98,0 86,3 82,8 94,5 90,4
IRL UK Ø
82,2 70,9 76,6
93,5 94,5 94,0
25,4 8,2 16,8
14,1 5,5 9,8
6,4 1,5 4,0
6,8 6,3 6,5
68,7 52,9 60,8
92,8 94,3 93,5
B D F LUX A Ø
76,8 80,7 79,6 80,0 82,6 79,9
99,1 99,8 93,6 99,1 99,0 98,1
27,2 16,8 14,0 3,3 5,6 13,4
17,1 8,0 7,8 1,6 3,8 7,7
12,7 0,2 1,5 0,0 0,0 2,9
6,9 10,7 13,1 0,3 27,6 11,7
57,2 63,2 50,0 75,8 65,6 62,4
93,3 99,0 85,1 97,4 96,3 94,2
GR I P ES Ø
32,4 34,2 80,0 42,8 47,4
33,9 26,7 91,0 40,7 48,1
3,6 8,7 1,9 15,5 7,4
2,2 4,2 0,3 6,8 3,4
0,7 0,8 0,0 1,1 0,7
23,9 12,2 20,3 13,1 17,4
9,0 8,2 66,0 7,0 22,6
14,7 11,6 87,6 7,6 30,4
R2
0,64
0,72
0,16
0,22
0,33
0,36
0,57
0,71
Anmerkungen: 1) Personen in Haushalten mit Kindern, 2) Bezug von Arbeitslosenunterstützung durch erwerbstätige Personen, 3) Bezug von Arbeitslosenunterstützung von ganzjährig erwerbstätigen Personen (keine retrospektiven Angaben über Erwerbstätigkeit in Schweden und den Niederlanden). Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen.
144
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Vor allem in den südeuropäischen Ländern, aber auch in Österreich, ist ein hoher Anteil von Erwerbstätigen in Haushalten mit Alters- und Hinterbliebenenrenten festzustellen. In allen diesen Ländern handelt es sich dabei fast ausschließlich um Renten, die an andere Personen im Haushalt gezahlt werden und nicht an die Erwerbstätigen selbst. Es geht also nicht um Erwerbstätigkeit trotz des Bezugs von Renten (Ergebnisse nicht aufgeführt). Wie zuvor gezeigt, sind dies die Länder, in denen häufig in Erwerbstätigenhaushalten Personen oberhalb des Erwerbsalters leben. Während zuvor diese Tatsache als mögliche finanzielle Belastung von Erwerbstätigen angesehen wurde, tritt hier der Aspekt des Zusammenfließens von Einkommen aus unterschiedlichen Quellen in den Vordergrund, das nun möglicherweise armutsreduzierend wirkt. Der Bezug übriger Transfers soll nur kurz kommentiert werden (Anhang B: Tabelle A2). Erwerbsunfähigkeitsrenten tragen in einer Reihe von Ländern in geringem Maße zum Einkommen bei, am häufigsten in Finnland, Schweden und Portugal. Ausbildungsleistungen spielen vor allem in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes eine Rolle. Neben einer möglicherweise höheren Verfügbarkeit entsprechender Transfers ist dies auch auf die Altersstruktur der armen Erwerbstätigen zurückzuführen. Sozialhilfe ist nur in wenigen Ländern relevant (vor allem Irland und Dänemark). Wohngeld gehört in bestimmten Ländern zu den am häufigsten von armen Erwerbstätigen bezogenen Transfers. Der Anteil der Wohngeldbezieher variiert im Ländervergleich jedoch stark. So erhalten in Frankreich fast 40 Prozent der armen Erwerbstätigen Wohngeld, in vielen Ländern sind entsprechende Leistungen dagegen überhaupt nicht verfügbar. Neben diesen inhaltlich benannten Kategorien gibt es im ECHP noch eine Kategorie mit sonstigen Transfers. Leider ist nicht eindeutig bestimmbar, welche Transfers in den einzelnen Ländern in diese Kategorie fallen. Da dieser Anteil in Großbritannien und Irland hoch ist, könnte man vermuten, dass hier die spezifischen Leistungen für Erwerbstätige – Family Credit bzw. Working Families Tax Credit und Family Income Support – verbucht werden.74 Auf Basis detaillierterer Angaben des britischen Haushaltspanels (BHPS), das den ECHP-Daten zugrunde liegt, lässt sich diese Einschätzung zumindest für Großbritannien jedoch nicht bestätigen.75
74 Vergleicht man die Höhe dieser Leistungen (vgl. Abschnitt 3.6) mit der Höhe der Armutsgrenzen, wird allerdings deutlich, dass die Förderbeträge insbesondere in Großbritannien zu niedrig sind, um Erwerbstätigen mit geringem Einkommen über die Armutsgrenze zu verhelfen. Geht man beispielsweise von einem Paar mit einem Kind aus, läuft bei Teilzeitbeschäftigung die Förderung vor Erreichen der Armutsgrenze aus. Bei Vollzeitbeschäftigung müsste das Erwerbseinkommen mindestens 1553 Euro betragen, damit dieses einschließlich der Förderung nicht unterhalb der Armutsgrenze liegt (ohne Kinderbetreuungskosten). 75 Auf Basis der Originaldaten des BHPS ist der hier ausgewiesene hohe Anteil von Haushalten, die sonstige Transfers beziehen, nicht nachvollziehbar (persönliche Auskunft durch Sara Connolly).
145
5.4 Armutsreduktion durch staatliche Transfers
Tabelle 5.8: Reduktion der Armut von Erwerbstätigen nach Transferarten (Angaben in Prozent) Art der Transfers Inval.- Ausb.Sozial- Wohngeld rente leist. Sonst. hilfe 8,2 6,3 2,4 1,8 1,0 14,8 2,7 0,0 0,0 2,5 12,5 3,0 0,0 2,3 1,1 13,7 7,3 0,0 0,9 2,5 12,3 4,8 0,6 1,2 1,8
DK FIN NL S Ø
gesamt 55,5 63,3 46,1 66,2 57,8
ALG 12,3 20,9 1,7 11,3 11,5
Famil.Rente geld 15,2 12,5 13,8 17,0 9,2 15,2 13,6 22,0 12,9 16,7
IRL UK Ø
53,6 49,2 51,4
17,5 1,4 9,5
15,6 15,3 15,4
10,9 19,4 15,1
10,7 6,2 8,5
0,4 1,3 0,8
0,8 1,0 0,9
0,0 0,0 0,0
0,0 2,1 1,0
B D F LUX A Ø
61,2 64,3 54,0 55,7 64,7 60,0
6,7 15,4 10,9 2,1 5,4 8,1
16,6 19,1 19,8 15,5 30,5 20,3
22,2 24,1 12,3 27,7 28,0 22,9
9,6 2,8 4,5 13,0 7,7 7,5
1,0 1,2 0,8 0,8 0,7 0,9
0,8 0,0 0,4 0,0 0,0 0,2
0,0 0,8 0,5 1,6 0,2 0,6
0,0 0,2 6,8 0,0 1,2 1,7
GR I P ES Ø
33,3 41,7 41,7 44,2 40,3
2,4 3,2 7,5 8,9 5,5
25,4 34,7 26,0 29,3 28,9
2,1 2,1 4,9 1,6 2,7
3,1 5,6 8,7 9,0 6,6
0,0 0,4 1,0 0,0 0,4
0,4 0,0 0,0 0,9 0,3
0,2 0,0 0,9 0,2 0,3
0,0 0,0 0,2 0,2 0,1
R2
0,70
0,14
0,72
0,79
0,38
0,75
0,13
0,34
0,16
Anmerkungen: Berechnung der Armutsreduktion analog zu Tabelle 5.6. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Deutlicher als bei Betrachtung der Verfügbarkeit bestimmter Transfers zeigen sich bei der Betrachtung der Armutsreduktion nach Transferarten bestimmte Muster, die der unterschiedlichen Ausrichtung von Wohlfahrtsstaaten entsprechen (Tabelle 5.8). Die ausgewiesenen Werte berechnen sich analog zum vorherigen Vorgehen (vgl. Tabelle 5.6). Vom Haushaltsnettoeinkommen wurde der jeweilige Transferbetrag
146
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
abgezogen, darauf basierend ein bedarfsbegewichtetes ‚Vor-Transfers’-Einkommen berechnet und dieses zur Berechnung von Armutsgrenzen verwendet. In der Tabelle ist der Anteil ausgewiesen, um den sich die ‚Vor-Transfer’- und ‚Nach-Transfer’Armutsquoten unterscheiden. Dieser Wert wird als Armutsreduktion interpretiert. Die armutsreduzierende Wirkung der Arbeitslosenunterstützung ist in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes am höchsten (allerdings ist die Abgrenzung zu anderen Wohlfahrtsregimes nicht eindeutig). In südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten sind es dagegen Rentenzahlungen, die am stärksten zur Armutsreduktion beitragen. In konservativen Wohlfahrtsstaaten stehen allgemeine Familienleistungen im Vordergrund. Bei beidem ist die Varianz innerhalb der Regimes deutlich geringer als zwischen den Regimes. In den beiden liberalen Wohlfahrtsstaaten bleibt das Ausmaß der Armutsreduktion hinter der Verfügbarkeit von Leistungen zurück. Eine deutliche Ausnahme stellt jedoch die Arbeitslosenunterstützung in Irland dar. Diese reduziert Armut von Erwerbstätigen deutlich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Armut von Erwerbstätigen in allen Wohlfahrtsstaaten durch Transfers reduziert wird. Obwohl die Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes bei weitem nicht so deutlich ausgeprägt sind wie bei einer Betrachtung von Armut insgesamt, zeigen sich doch Muster, die auf die jeweils unterschiedliche Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten entlang der Linien Dekommodifizierung (vor allem Generosität der Leistungen bei Arbeitslosigkeit) und Defamilisierung (generöse Familienleistungen in konservativen Wohlfahrtsstaaten, Bedeutung von Altersrenten aufgrund anderer Familienstrukturen vor allem in südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten) zurückzuführen sind. Dabei wird aber auch deutlich, dass Armut von Erwerbstätigen vor allem durch allgemeine Transferleistungen (insbesondere Kindergeld) oder über den Haushaltskontext (Arbeitslosigkeit oder Nichterwerbstätigkeit von Haushaltsmitgliedern) reduziert wird. Die Wirkung aufstockender Transfers oder spezifischer Leistungen für Erwerbstätige lässt sich nur in wenigen Fällen nachweisen.
5.5 Armutsreduktion durch weitere Erwerbseinkommen Im vorherigen Abschnitt war der Vergleich des Vortransfereinkommens mit dem verfügbaren Einkommen der Ausgangspunkt für die Betrachtung der Armutsreduktion durch Transfers. Bei alleiniger Betrachtung des Vortransfereinkommens sind zwischen 9 und 20 Prozent der Erwerbstätigen arm. Allerdings sagen diese Unterschiede noch nichts über die Verteilung der individuellen Erwerbseinkommen aus, da bislang die gesamten Erwerbseinkommen eines Haushalts betrachtet wurden, also die Einkommen aller Haushaltsmitglieder. Inwieweit sind aber Länderunterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen durch einen unterschiedlichen
5.5 Armutsreduktion durch weitere Erwerbseinkommen
147
Anteil von mehreren Verdienern pro Haushalt zu erklären? Als relevante Dimension von Wohlfahrtsstaaten wurde insbesondere der Einfluss von Defamilisierung auf das Ausmaß von Frauenerwerbstätigkeit diskutiert (vgl. Abschnitt 3.2). Bei der Betrachtung des ‚income packaging’ wurde aber bereits deutlich, dass der Einkommensanteil zweiter oder weiterer Verdiener geringer ausfällt als in den übrigen Erwerbstätigenhaushalten. Gibt es trotzdem Länder, in denen Erwerbseinkommen, insbesondere Erwerbseinkommen von Frauen, stärker zu einer Reduktion von Armut beitragen? Um diese Frage zu beantworten, wird betrachtet, wie viele Erwerbstätige arm wären, wenn nicht auch das Einkommen eines Partners oder weiterer Personen zum Haushaltseinkommen beitragen würden. Dafür wurden Armutsquoten analog zum Vorgehen zur Betrachtung des Einflusses von Transfers berechnet, die jeweils das Haushaltsnettoeinkommen ohne ein bestimmtes Erwerbseinkommen (Bezugsperson, Partnerin, weitere Personen) als Grundlage haben. Wie bei der Betrachtung der Armutsreduktion durch Transfers wird hier von der kontrafaktischen Annahme ausgegangen, dass sich die übrigen Einkommenskomponenten durch den Wegfall einzelner Erwerbseinkommen nicht verändern. Diese Annahme ist im Fall der Betrachtung von wegfallenden Erwerbseinkommen allerdings noch weitaus unrealistischer als zuvor. Es ist davon auszugehen, dass wegfallende Erwerbseinkommen zumindest teilweise durch Transfers und eine Veränderung des Erwerbsverhaltens der übrigen Haushaltsmitglieder kompensiert würden. Trotzdem wird diese Perspektive verwendet, um deutlich zu machen, dass einzelne Erwerbseinkommen im Ländervergleich in sehr unterschiedlicher Weise zum Haushaltseinkommen und zur Verhinderung von Armut beitragen. In Tabelle 5.9 sind Armutsquoten aufgeführt, die jeweils auf dem Haushaltseinkommen abzüglich des Erwerbseinkommens der (männlichen) Bezugsperson, der (weiblichen) Partnerin und weiterer Personen beruhen. Bezugsperson, Partnerin und weitere Personen sind wie bei der Betrachtung der Zusammensetzung des Haushaltseinkommens definiert (vgl. Abschnitt 5.3). Um eine Vergleichbarkeit trotz der unterschiedlichen Struktur der Haushalte im Ländervergleich zu ermöglichen, werden nur Personen in Paarhaushalten betrachtet. Die weitere Haushaltszusammensetzung wird nicht kontrolliert. Mit Paarhaushalten sind Haushalte gemeint, in denen mindestens ein Paar im erwerbsfähigen Alter zusammenlebt. So können Unterschiede in der durchschnittlichen Armutsreduktion des Einkommens der Partnerin nicht durch einen höheren Anteil an Alleinlebenden oder Alleinerziehenden bedingt sein. Da es sich in dieser Betrachtung um eine Subpopulation handelt, deren Armutsrisiko vom Durchschnitt abweicht, sind Armutsquoten vor und nach Transfers als Referenzmaßstab nochmals ausgewiesen.
148
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.9: Armutsquote von Erwerbstätigen ohne Erwerbseinkommen der Partnerin und weiterer Haushaltsmitglieder (Angaben in Prozent) nach Transfers (ohne Erw.einkommen von …) 3+ Person 1. Person 2. Person 50,0 42,4 10,8 45,4 40,3 16,5 32,6 27,6 14,7 44,9 44,9 16,1 43,2 38,8 14,5
DK FIN NL S Ø
nach Transfers 2,5 3,2 5,9 4,2 4,0
vor Transfers 6,5 13,7 11,6 16,1 12,0
IRL UK Ø
7,2 5,0 6,1
14,5 10,3 12,4
53,3 38,1 45,7
24,5 29,1 26,8
37,4 14,9 26,2
B D F LUX A Ø
3,6 3,9 7,6 7,7 5,6 5,7
9,7 12,7 16,7 17,9 17,0 14,8
42,8 48,9 49,7 42,5 57,1 48,2
32,8 31,6 42,2 33,2 32,6 34,5
17,5 25,2 22,1 26,2 35,4 25,3
GR I P ES Ø
12,7 11,2 11,5 10,1 11,4
18,3 18,3 18,4 17,3 18,1
42,5 50,2 56,3 49,7 49,7
28,2 30,7 32,8 27,4 29,8
32,5 35,6 38,4 37,9 36,1
R2
0,81
0,44
0,16
0,48
0,67
Anmerkungen: Personen in Paarhaushalten. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Dass bei Wegfall des Einkommens der Bezugsperson, die zumeist der Hauptverdiener ist, die Mehrheit der betrachteten Personen arm wäre, ist nicht überraschend. Dies deutet aber nachdrücklich darauf hin, dass auch in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes eine starke Abhängigkeit vom Einkommen der Bezugsperson besteht. Auch der ausgewiesene R-Quadrat-Wert zeigt deutlich, dass entspre-
5.6 Niedriglöhne und Armut
149
chende Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes gering sind. Allerdings wird auch deutlich, dass zumindest in den skandinavischen Ländern des sozialdemokratischen Regimes, aber auch in Frankreich, das Einkommen der Partnerin eine ähnlich bedeutende Rolle spielt. Einen deutlich geringeren Einfluss hätte der Wegfall des Einkommens der Partnerin in den südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, aber auch in Irland und einigen konservativen Wohlfahrtsstaaten. Hier sind stärker die Einkommen weiterer Haushaltsmitglieder von Bedeutung. Wie bereits bei der Betrachtung des Einflusses von Renten, zeigt sich auch hier der armutsreduzierende Effekt des Zusammenfließens der Ressourcen in einem größeren Haushaltszusammenhang.
5.6 Niedriglöhne und Armut In den bisherigen Analysen wurde dargestellt, dass Länderunterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen aufgrund von Bedarfsunterschieden von Haushalten, des unterschiedlichen Ausmaßes der Armutsreduktion durch Transfers und der unterschiedlichen Erwerbsbeteiligung von weiteren Personen im Haushalt bestehen. Obwohl sich Unterschiede zeigen, die entlang der Dimensionen Dekommodifizierung und Defamilisierung interpretiert werden können, lässt sich einwenden, dass ein entscheidender Aspekt, nämlich die Verteilung von individuellen Erwerbseinkommen, bislang ignoriert wurde. Hierauf wird nun in diesem Abschnitt eingegangen, in dem der Zusammenhang zwischen Niedriglohn und Armut von Erwerbstätigkeit betrachtet wird. Theoretisch betrachtet, ist ein direkter Schluss von Niedriglohn auf Armut von Erwerbstätigkeit dann möglich, wenn pro Haushalt nur ein Erwerbs- und keine weiteren Einkommen vorhanden sind. Dies ist in den hier betrachteten Wohlfahrtsstaaten nicht realistisch, da in keinem ein striktes Einernährermodell besteht und eine generelle Verfügbarkeit von Transfers – wie gezeigt – auch für Erwerbstätige gegeben ist. Jedoch stellt selbst in den am stärksten vom Einernährermodell abweichenden Wohlfahrtsstaaten das Erwerbseinkommen der Bezugsperson den mit Abstand größten Anteil am Haushaltseinkommen dar. Ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein solches individuelles Erwerbseinkommen niedrig ausfällt, besteht – trotz anderer Einkommensquellen – ein hohes Risiko, arm zu sein. D.h. aber auch, dass der Zusammenhang zwischen Niedriglohn und Armut dann besonders stark sein sollte, wenn die Haushaltskonstellation und die Verfügbarkeit von Transfers am ehesten dem oben beschriebenen Einernährermodell ohne Transfers entsprechen.
150
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.10: Niedriglohnquote nach sozio-demographischen Merkmalen und Arbeitszeit (Angaben in Prozent) total DK 10,4 FIN 10,6 NL 20,4 S Ø 13,8
Geschlecht m w 8,3 12,6 8,7 12,4 13,9 28,1 10,3 17,7
Alter (in Jahren) 17-29 30-49 50-64 31,3 5,8 5,9 25,0 7,0 7,3 47,7 11,6 10,9 34,6 8,1 8,0
Bildung (ISCED) 0-2 3 5-7 31,7 9,5 1,8 14,7 14,7 3,6 33,0 15,6 6,5 26,5 13,3 4,0
Arbeitszeit VZ TZ 7,1 34,0 9,4 23,2 13,9 35,0 10,1 30,7
IRL 18,5 UK 20,4 Ø 19,5
14,7 22,7 12,5 27,6 13,6 25,2
22,6 17,3 12,8 33,3 14,4 19,6 28,0 15,9 16,2
28,5 17,9 5,0 30,3 23,2 12,1 29,4 20,5 8,5
13,9 35,0 15,4 39,0 14,7 37,0
B D F LUX A Ø
13,3 19,4 15,3 9,7 14,4
10,3 12,8 11,5 4,9 9,9
16,9 27,6 19,8 15,6 20,0
25,9 36,9 34,3 17,4 28,6
22,5 33,8 23,6 16,9 24,2
12,0 15,9 14,5 8,9 12,8
21,1 37,7 23,3 14,8 24,2
GR I P ES Ø
17,6 11,1 11,5 18,3 14,6
13,5 9,7 8,1 13,7 11,3
23,5 13,0 15,5 25,0 19,2
36,5 11,3 12,1 25,7 7,7 6,4 14,3 8,4 15,3 27,0 15,2 13,0 25,9 10,6 11,7
27,5 18,7 15,9 9,3 14,5 9,3 26,4 19,7 21,1 14,2
17,9 11,6 10,7 17,7 14,5
14,1 6,9 29,3 23,0 18,3
R2
0,22
0,20 0,16
0,14 0,44 0,31
0,18 0,26 0,28
11,8 7,0 15,4 19,2 10,8 10,7 7,2 7,0 11,3 11,0
17,9 5,4 19,5 10,2 14,5 9,6 9,1 3,8 15,3 7,3 6,9 2,8 0,9 8,1 4,6
0,29 0,45
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Zunächst soll geklärt werden, wie stark sich die hier betrachteten Länder im Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung unterscheiden. Wie in Abschnitt 3.3 argumentiert wurde, wird hierbei ein Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen angenommen. In diesem Zusammenhang wurde die Hypothese formuliert, dass insbesondere eine stärkere Zentralisierung der Lohnsetzung mit einer geringeren Spreizung der Lohnverteilung und einem geringeren Anteil an Niedriglöhnern einhergeht. In Tabelle 5.10 sind Niedriglohnquoten insgesamt und nach Geschlecht, Alter, Bildung und
5.6 Niedriglöhne und Armut
151
Arbeitszeit aufgeführt. Im Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung bestehen deutliche Länderunterschiede. Während der Niedriglohnanteil in Dänemark, Italien und Österreich nur 10 bis 11 Prozent beträgt, liegen die Quoten in Irland und Großbritannien bei knapp unter bzw. knapp über 20 Prozent. Mit Ausnahme dieser beiden dem liberalen Regime zugeordneten Länder ist die Variation innerhalb von Wohlfahrtsregimes beträchtlich. Während in Deutschland mehr als 19 Prozent der Beschäftigten Niedriglöhner sind, beträgt der Anteil in Österreich weniger als 10 Prozent. Deutliche Unterschiede bestehen auch zwischen Griechenland und Spanien einerseits und Italien und Portugal andererseits. Hier lässt sich argumentieren, dass die Variation der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen nur unzureichend durch die gewählte Typologie ‚erklärt’ wird (was auch im geringen Anteil erklärter Varianz deutlich wird). Werden Einzelindikatoren wie der Grad der Zentralisierung oder der gewerkschaftliche Organisationsgrad verwendet, zeigen sich mittelstarke Korrelationen (-0,53 bzw. -0,57, vgl. auch Lucifora 2000). Je höher also der Zentralisierungsgrad bzw. je höher der gewerkschaftliche Organisationsgrad, desto niedriger ist also das Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung. Auf den Zusammenhang zwischen Mindestlohn, Niedriglohn und Armut wird noch weiter unten eingegangen. Hinweise auf andere Ursachen der Variation der Niedriglohnquote finden sich aber auch bei Betrachtung der geschlechtsspezifischen Unterschiede. Männer weisen durchgängig eine niedrigere Niedriglohnquote als Frauen auf. Die geringsten Differenzen sind in Dänemark und Finnland zu beobachten. Hier deuten sich – wie für Länder des sozialdemokratischen Regimes erwartbar – vergleichsweise geringe Differenzen von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt an. Dies gilt jedoch nicht für die Niederlande. Hier ist die Niedriglohnquote insgesamt am höchsten, ähnlich hohe Niedriglohnquoten finden sich nur in Deutschland und Großbritannien. In diesen Ländern ist ein Einfluss des hohen Anteils von Teilzeitbeschäftigten anzunehmen, da diese einem hohen Risiko unterliegen, niedrige Löhne zu erzielen. Dieser Zusammenhang zeigt sich in fast allen Ländern. Weiter weisen jüngere Personen und Personen mit niedriger Bildung ein hohes Niedriglohnrisiko auf. Es ergibt sich ein Bild, das bereits in früheren vergleichenden Arbeiten zu Niedriglohnbeschäftigung deutlich geworden ist (vgl. Keese et al. 1998: 228ff, European Commission 2004a: 167ff). In vielen Arbeiten zu Armut von Erwerbstätigen ist die Frage zentral, inwieweit man vom Ausmaß der Niedriglohnbeschäftigung auf das Ausmaß von Armut schließen kann. Zu Beginn des Abschnitts wurde bereits argumentiert, dass die Stärke dieses Zusammenhangs von verschiedenen Faktoren abhängt (Abhängigkeit von nur einem Erwerbseinkommen, Verfügbarkeit von Transfers). Zunächst ist allerdings festzustellen, dass das Armutsrisiko von Niedriglöhnern in allen Ländern höher als das von anderen Erwerbstätigen ist. Jedoch bestehen auch deutliche Unterschiede im Ländervergleich (Tabelle 5.11). In Belgien sind nur 8,3 Prozent der
152
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Niedriglöhner arm, in Italien 22 Prozent. Auch der Anteil der Niedriglöhner an allen Armen unterscheidet sich deutlich. In Deutschland und Großbritannien sind etwa die Hälfte aller armen Erwerbstätigen Niedriglöhner. Insbesondere in einigen südeuropäischen Ländern ist dieser Anteil deutlich geringer. Außer der durchschnittlich höheren Armutsquote von Niedriglöhnern in Südeuropa, sind allerdings keine eindeutigen Muster nach Wohlfahrtsregimes zu erkennen. Unterschiede bestehen jedoch in der Haushaltskonstellation von Niedriglöhnern. Zwar lebt in allen Ländern der Großteil der Niedriglöhner mit anderen Personen zusammen. Trotzdem lassen sich insbesondere im Anteil der Alleinlebenden deutliche Abweichungen beobachten. Während in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes ein Sechstel der Niedriglöhner allein lebt, ist dieser Anteil in den südeuropäischen Ländern verschwindend gering. Die Annahme, dass der Haushaltskontext in den familialistisch orientierten Wohlfahrtsstaaten für Niedriglöhner von größerer Bedeutung ist, wird also zunächst bestätigt. Wie jedoch die relativ hohen Armutsquoten von Niedriglöhnern in Südeuropa zeigen, ist das Zusammenleben mit anderen Personen nicht immer mit einem Schutz vor Armut verbunden. Obwohl Niedriglöhner ein erhöhtes Armutsrisiko aufweisen und somit eine Zunahme von Niedriglohnbeschäftigung innerhalb eines Landes auch zu einer Zunahme von Armut von Erwerbstätigen führt, soll hier die Perspektive einmal umgekehrt werden, um zu verdeutlichen, dass Niedriglohn und Armut von Erwerbstätigen nicht immer zusammenfallen. Je nach Land sind zwischen 78 und 92 Prozent der Niedriglöhner nicht arm. Außer in Finnland leben mindestens 70 Prozent der Niedriglöhner mit anderen Verdienern zusammen. In der Mehrheit handelt es dabei nicht um Niedriglöhner. Den höchsten Anteil von Niedriglöhnern, die mit Niedriglöhnern zusammenleben, weist mit 17 Prozent Deutschland auf. Diese Gruppe hat durchschnittlich ein weitaus höheres Armutsrisiko als Niedriglöhner in anderen Mehrpersonenhaushalten. Häufiger sind Niedriglöhne aber ein weiteres Einkommen neben einem ‚vollen’ Erwerbseinkommen, das u.U. gerade den Einkommensbetrag zum Haushaltseinkommen beisteuert, um Armut zu vermeiden. Dies erklärt den hohen Anteil von Niedriglöhnern, die nicht arm sind. Diese Interpretation betont die prinzipiell armutsreduzierende Funktion zusätzlicher Einkommen. Dies widerspricht jedoch nicht der Tatsache, dass Niedriglöhne ein Ausdruck der Ungleichheit und insbesondere der geschlechtsspezifischen Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt sind. In einer Armutsperspektive, die von einer gleichmäßigen Ressourcenverteilung im Haushalt ausgeht, tritt diese Ungleichheit jedoch in weit geringerem Maße hervor. Niedriglöhner sind insbesondere dann arm, wenn sie Alleinverdiener sind oder mit anderen Niedriglöhnern zusammenleben.
153
5.6 Niedriglöhne und Armut
Tabelle 5.11: Armutsquote und Haushaltskonstellation von Niedriglöhnern Niedriglöhner Armuts- Anteil an quote armen (%) Erw. (%) DK 10,7 29,2 FIN 18,3 32,2 NL 16,7 34,4 S Ø 15,2 31,9
Verteilung von Niedriglöhnern nach HHKonstellation (Anteil in %) Alleinverdiener-HH Mehrverdiener-HH allein2+ nur andere lebend Personen N.löhner Verdiener 12,7 8,3 7,1 71,8 21,3 18,6 7,9 52,3 14,4 14,5 8,9 62,1 16,1 13,8 8,0 62,1
total 100,0 100,0 100,0 -
IRL UK Ø
8,6 12,8 10,7
31,2 52,5 41,8
3,1 9,3 6,2
16,9 20,2 18,6
13,5 10,3 11,9
66,5 60,2 63,3
100,0 100,0
B D F LUX A Ø
8,3 11,9 15,8 10,4 11,6
21,1 49,0 33,0 33,7 34,2
10,5 11,9 7,8 5,1 8,8
20,6 17,1 22,0 10,0 17,4
10,0 17,1 14,2 11,7 13,3
58,9 53,8 56,1 73,2 60,5
100,0 100,0 100,0 100,0
GR I P ES Ø
14,1 22,1 15,4 16,2 16,9
41,5 27,9 26,5 45,3 35,3
3,4 1,8 1,7 4,7 2,9
16,4 28,2 12,2 17,5 18,6
16,7 10,2 8,0 14,4 12,4
63,5 59,7 78,1 63,4 66,2
100,0 100,0 100,0 100,0
R2
0,44
0,12
0,77
0,14
0,39
0,10
Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Das Armutsrisiko aufgrund von Niedriglöhnen wird vor allem deutlich, wenn man Armutsgrenzen für alleinlebende Personen mit Niedriglohngrenzen vergleicht (Abbildung 5.6). Im Gegensatz zum hier eigentlich gewählten Standardvorgehen, das auf Bruttolöhnen basiert, werden nun allerdings Nettolohngrenzen verwendet. Die bisherige Betrachtung zielte auf Arbeitsmarktungleichheiten und den Einfluss
154
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
von Arbeitsmarktinstitutionen, was beides die Verwendung von Bruttolöhnen nahe legt. In einem Vergleich mit Armutsgrenzen steht das verfügbare Einkommen im Vordergrund. Daher werden in dieser Darstellung Nettolohngrenzen verwendet.76 Für den Vergleich wurden sehr konservative Annahmen getroffen. Es wird von einem Erwerbseinkommen in Höhe der Niedriglohngrenze ausgegangen, obwohl es natürlich auch Personen gibt, die einen Lohn unterhalb dieser Grenze erzielen. Es werden Monatslöhne berechnet, die davon ausgehen, dass eine Person 40 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Die berechneten monatlichen Niedriglohngrenzen werden den Armutsgrenzen für eine alleinstehende Person gegenüber gestellt, obwohl zum Teil weitere Personen vom Einkommen der Niedriglöhner abhängig sind. Üblicher ist es, davon auszugehen, dass ein Vollzeiterwerbseinkommen ausreichen sollte, eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren (vgl. z.B. OECD 2004a: 14). Allerdings lässt sich sowohl bei der hier gewählten Perspektive als auch bei der letzteren Perspektive fragen, inwieweit diese dem vorherrschenden Erwerbs- bzw. Familienmodell entsprechen. Diese Frage wurde bereits im Zusammenhang mit dem Armutsrisiko von Niedriglöhnern diskutiert. Geht man von einem klassischen Einernährermodell aus, ist letztere Perspektive vollkommen angemessen. Geht man von anderen Modellen aus, wird man sich in Richtung der hier gewählten Perspektive bewegen, die allerdings einem unrealistischen Extremfall entspricht, da impliziert wird, dass alle Haushaltsmitglieder – also auch Kinder – ein eigenes Erwerbseinkommen erzielen. Aber auch aus der hier gewählten Perspektive lässt sich auf die Situation anderer Haushaltskonstellationen schließen. Bereits für eine Person liegt die Niedriglohngrenze in vielen Ländern nur knapp über der Armutsgrenze. D.h., wenn nur eine der hier getroffenen, letztlich extremen Annahmen nicht zutrifft (Einkommen auf Niveau der Niedriglohngrenze, Vollzeiterwerbstätigkeit, keine abhängigen Personen im Haushalt), ist es sehr wahrscheinlich, dass das Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um einen Haushalt vor Armut zu schützen. Vergleicht man das Verhältnis von Niedriglohngrenze zu Armutsgrenze mit den Bedarfsgewichten der hier verwendeten modifizierten OECD-Äquivalenzskala, wird deutlich, dass in allen Ländern, außer Irland (Faktor 1,56), bereits ein Haushalt mit zwei Erwachsenen und nur einem Vollzeit-Niedriglohneinkommen arm wäre. In vielen Ländern ist ein Vollzeit-Niedriglohneinkommen nur ausreichend, um eine Person vor Armut zu schützen. Dass trotzdem viele Niedriglöhner nicht arm sind, erklärt sich – wie zuvor diskutiert – aus der Tatsache, dass es im Haushalt noch weitere Verdiener gibt bzw. dass Transfers verfügbar sind.
76 Insgesamt ist die Korrelation zwischen Brutto- und Nettolohngrenzen mit 0,95 hoch, obwohl in manchen Ländern die Effekte der Besteuerung den Niedriglohnanteil stärker beeinflussen. Da hier allerdings die Betrachtung des prinzipiellen Zusammenhangs zwischen Armut und Niedriglohn im Vordergrund steht, wird hierauf nicht weiter eingegangen.
155
5.6 Niedriglöhne und Armut
Abbildung 5.6: Niedriglohngrenze und Armutsgrenze (1 Person) 1.500
Euro
1.000
500
0
DK FIN NL IRL UK
B
D
Niedriglohngrenze
F
LUX
A
GR
I
P
ES
Armutsgrenze
Quellen: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen.
Eine Maßnahme, die auf die Vermeidung niedriger Löhne zielt, ist die Setzung gesetzlicher Mindestlöhne. Gut die Hälfte der hier betrachteten Länder haben eine solche offizielle Lohnuntergrenze (vgl. Abschnitt 3.6). Grundsätzlich, so beispielsweise im Rahmen der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne in Großbritannien und Irland, werden Mindestlöhne zudem als Mittel zur Bekämpfung von Armut von Erwerbstätigen diskutiert (vgl. Nolan 2000: 97ff, Sutherland 2001, Manning/Dickens 2002). Ein Vergleich der bestehenden Mindestlohngrenzen mit den hier berechneten Niedriglöhnen zeigt jedoch, dass Mindestlöhne als Mittel zur Bekämpfung von Armut von Erwerbstätigen weitaus höher ausfallen müssten, als dies in den hier aufgeführten Ländern der Fall ist. In allen Ländern außer Portugal liegt der Mindestlohn unter der Niedriglohngrenze (Abbildung 5.7). Diese ist aber – wie gezeigt – für die meisten Haushalte bereits zu niedrig, um Armut zu verhindern. In manchen Ländern wäre der Mindestlohn nicht einmal ausreichend, um eine alleinlebende Person vor Armut zu schützen. Um eine vierköpfige Familie mit einem Alleinverdiener über der Armutsgrenze zu halten, wäre in allen Ländern eine deutliche Anhebung der Mindestlohngrenze notwendig.
156
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Abbildung 5.7: Niedriglohngrenze und Mindestlohn 1.500
Euro
1.000
500
0
NL
IRL
UK
B
Niedriglohngrenze
F
GR
P
ES
Mindestlohn
Quellen: Niedriglohngrenzen: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen; Mindestlöhne: Clare 2002: 2 (Stand: 1.1.2001).
Gegenwärtig sind die Armutsquoten von Erwerbstätigen in Ländern mit Mindestlohn durchschnittlich sogar höher als in Ländern ohne Mindestlohn (8,6 gegenüber 7,1 Prozent). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass beispielsweise in den skandinavischen Ländern, aufgrund des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrads und der stärkeren Zentralisierung des Lohnverhandlungssystems, andere Mechanismen als die Setzung von gesetzlichen Mindestlöhnen auf die Verteilung der Erwerbseinkommen einwirken. Die Tatsache, dass Länder mit Mindestlohn höhere Armutsquoten aufweisen, ist daher nicht als direkte Folge von Mindestlöhnen zu interpretieren. Grundsätzlich ist außerdem nochmals zu betonen, was bereits bei der Betrachtung von Niedriglohn und Armut gezeigt wurde: Der Einfluss von Niedriglöhnen wird durch den Haushaltskontext deutlich abgeschwächt. Dies gilt auch für den Einfluss von Mindestlöhnen auf Armut von Erwerbstätigen. Ein deutlicher Effekt der Setzung von (höheren) gesetzlichen Lohnuntergrenzen ist nur bei der Betrachtung individueller Erwerbseinkommen zu erwarten. Dies gilt natürlich nur dann, wenn weiterhin die Mehrheit von Niedriglöhnern in Mehrverdienerhaushalten lebt.
5.7 Teilzeiterwerbstätigkeit und berufliche Selbstständigkeit
157
5.7 Teilzeiterwerbstätigkeit, berufliche Selbständigkeit und Armut Niedrige Erwerbseinkommen sind nicht allein Folge niedriger Löhne, sondern auch Folge niedriger Arbeitszeiten. Hierbei besteht zwar ein gewisser Zusammenhang, da Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte ein höheres Risiko aufweisen, einen Niedriglohn zu beziehen. Hierauf wurde bereits im vorherigen Abschnitt verwiesen. Hier soll es nun dagegen primär um den Effekt der niedrigen Arbeitszeit gehen. Diese Vorgehensweise macht es möglich, die Effekte von Niedriglohn und niedriger Arbeitszeit getrennt voneinander zu betrachten. Weiter wird auf den Einfluss von beruflicher Selbständigkeit eingegangen, die bei der Betrachtung von Niedriglöhnen nicht berücksichtigt wurde.77 Berufliche Selbständigkeit ist durch eine weitaus höhere Einkommensungleichheit als andere Formen der Erwerbstätigkeit gekennzeichnet (vgl. Sullivan/Smeeding 1997). Es ist zu vermuten, dass diese Einkommensungleichheit insbesondere in Ländern mit einem hohen Anteil an Selbständigen zur Erklärung des Ausmaßes von Armut von Erwerbstätigen beiträgt. Sowohl im Anteil von Teilzeiterwerbstätigen als auch im Anteil an Selbständigen bestehen deutliche Länderunterschiede (Tabelle 5.12). Insbesondere in den Ländern des liberalen Regimes, aber auch in den meisten konservativen Wohlfahrtsstaaten, weisen vor allem Frauen eine hohe Teilzeitquote auf. Dies lässt sich als Folge des – im Vergleich zu den Ländern des sozialdemokratischen Regimes – geringeren Ausmaßes an Doppelverdienerunterstützung interpretieren. Die zuvor als Hybridfall diskutierten Niederlande ähneln in diesem Merkmal stark den konservativen Wohlfahrtsstaaten. Betrachtet man die Teilzeitquoten von Frauen, treten die Niederlande neben Großbritannien, Irland und Deutschland als ein Land hervor, in dem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen häufig über die Ausübung einer Teilzeiterwerbstätigkeit geregelt ist.78 Dies bedeutet, dass Frauen – neben dem höheren Risiko, zu einem Niedriglohn beschäftigt zu sein – auch aufgrund der geringeren Stundenzahl ein niedrigeres Erwerbseinkommen erzielen. Wie wirkt sich dies auf Armut von Erwerbstätigen aus? Wie auch Niedriglöhner sind Teilzeiterwerbstätige eher als andere Erwerbstätige von Armut betroffen. Jedoch liegen die Armutsquoten von Teilzeiterwerbstätigen – vor allem in den Ländern mit hohen Teilzeitquoten und hier insbesondere in den Ländern des konservativen Regimes – nur um einige Prozentpunkte über denen der Erwerbstätigen insgesamt.79 77 Die Abgrenzung der Selbständigen beruht auf der Selbstauskunft der Befragten. Mithelfende Familienangehörige werden dabei auch zu den Selbständigen gezählt. 78 Allerdings weisen die Niederlande auch die höchste Teilzeitquote von Männern auf. Dies ist im Kontext der Betonung von Teilzeiterwerbstätigkeit als Strategie zur Beschäftigungsförderung zu sehen, was dem Land auch den Beinamen der ‚first part-time economy of the world’ eingebracht hat (vgl. Visser 2002). 79 In Frankreich, Österreich und Italien liegen die Armutsquoten von Teilzeiterwerbstätigen sogar unter dem Durchschnitt aller Erwerbstätigen.
158
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.12: Teilzeiterwerbstätigkeit und berufliche Selbständigkeit (Armutsquote/Anteil)
DK FIN NL S Ø
Teilzeiterwerbstätige Quote (Anteil an Erw.tätigen in %) ArmutsGeschlecht quote (%) gesamt m w 13,4 11,6 4,6 19,5 20,0 8,5 5,0 12,2 14,8 30,1 11,0 53,2 9,0 3,1 15,6 16,1 14,8 5,9 25,1
Armutsquote (%) 13,5 11,5 16,8 14,0
Selbständige Quote (Anteil an Erw.tätigen in %) Geschlecht gesamt m w 6,4 8,5 4,1 12,3 16,1 8,3 6,4 7,1 5,6 10,5 14,3 6,3 8,9 11,5 6,1
IRL UK Ø
10,7 12,1 11,4
21,6 20,6 21,1
8,7 5,5 7,1
38,8 35,7 37,3
13,7 19,0 16,4
13,8 11,5 12,7
19,5 15,9 17,7
6,1 7,2 6,6
B D F LUX A Ø
6,0 10,1 7,7 13,3 5,0 8,4
14,4 16,4 9,1 10,3 12,9 12,6
3,0 4,8 3,1 1,7 2,3 3,0
28,3 31,3 16,7 24,1 26,2 25,3
7,1 10,1 19,2 5,0 12,1 10,7
12,6 10,1 8,7 7,1 14,3 10,5
14,5 11,7 11,6 7,9 14,8 12,1
10,4 8,1 5,1 5,8 13,6 8,6
GR I P ES Ø
13,8 9,3 15,9 13,2 13,0
8,2 11,2 6,7 10,2 9,1
3,7 4,3 2,4 4,0 3,6
15,4 22,5 11,9 19,9 17,4
18,9 11,2 16,0 14,8 15,2
37,1 25,5 23,5 20,2 26,6
40,1 29,8 23,7 22,9 29,1
32,3 18,6 23,3 15,8 22,5
R2
0,56
0,36
0,43
0,30
0,27
0,78
0,75
0,76
Quellen: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen.
Besonders hohe Armutsquoten von Teilzeiterwerbstätigen sind dagegen in zwei Ländern zu beobachten, die durch sehr niedrige Teilzeitquoten gekennzeichnet sind (Finnland, Portugal). Wie auch Niedriglöhner leben die meisten Teilzeitbeschäftigten mit anderen Erwerbstätigen zusammen (Tabelle 5.13). Im Vergleich der Wohl-
5.7 Teilzeiterwerbstätigkeit und berufliche Selbstständigkeit
159
fahrtsregimes ergibt sich allerdings ein Muster, das dem der Haushaltskonstellation von Niedriglöhnern ähnelt. In den Ländern des sozialdemokratischen Regimes lebt ein höherer Prozentsatz von Teilzeitbeschäftigten allein. Insbesondere in den südeuropäischen Ländern ist dieser Anteil gering. Die ausgewiesenen R-Quadrat-Werte zeigen aber auch, dass dies der einzige eindeutige Unterschied ist. Grundsätzlich sind Einkommen aus Teilzeiterwerbstätigkeit häufig ‚zusätzliche’ Einkommen, die nicht notwendigerweise mit Armut einhergehen, sondern auch zu einer Verringerung von Armut von Erwerbstätigen beitragen können.80 Problematisch ist Teilzeiterwerbstätigkeit aus einer Armutsperspektive dann, wenn sie die einzige Quelle an Erwerbseinkommen darstellt, die einem Haushalt zur Verfügung steht. Während Teilzeiterwerbstätigkeit in allen Ländern von Frauen dominiert ist, ist berufliche Selbständigkeit eine männlich geprägte Form der Erwerbstätigkeit. In allen Ländern weisen Männer eine höhere Selbständigenquote als Frauen auf. In vielen Ländern ist die Selbständigenquote von Männern mehr als doppelt so hoch. Neben geschlechtsspezifischen Unterschieden gibt es auch deutliche länderspezifische Unterschiede in der Selbständigenquote, was sich auch im hohen Anteil der durch die Gruppierung nach Wohlfahrtsregimes erklärten Varianz widerspiegelt. Insbesondere die südeuropäischen Länder weisen sehr hohe Selbständigenquoten auf. Dies ist teilweise durch den höheren Anteil an Beschäftigten in der Landwirtschaft, die stark durch Selbständige geprägt ist, zu erklären. Aber auch außerhalb der Landwirtschaft liegt der Anteil an Selbständigen in den südeuropäischen Ländern über dem anderer Länder. Aus einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive wird dabei auf den Zusammenhang zwischen Familiensolidarität und beruflicher Selbständigkeit verwiesen. Selbständigkeit ist in vielen Fällen weitaus weniger individuell geprägt, sondern auf die Mitarbeit von Familienmitgliedern angelegt. Andere Erklärungen verweisen auf die geringere Konzentration des Handels und der besonderen Bedeutung des Tourismus in südeuropäischen Ländern, die selbständige Erwerbstätigkeit im Einzelhandel, der Gastronomie und im Gastgewerbe begünstigen (vgl. Parisotto 1992).
80 In allen Ländern, außer in Schweden und Finnland, leben mehr als 70 Prozent der Teilzeitbeschäftigten mit anderen Erwerbstätigen zusammen. Einen Anteil an alleinlebenden Teilzeitbeschäftigten von mehr als 10 Prozent weisen nur die Länder des sozialdemokratischen Regimes auf. Personen in größeren Haushalten, in denen eine Teilzeitbeschäftigung die einzige Quelle an Erwerbseinkommen darstellt, gibt es in größerem Ausmaß nur in Großbritannien und Italien (mehr als 20 Prozent). Auffällig ist jedoch auch der Zusammenhang zwischen Teilzeiterwerbstätigkeit und Armut in Portugal. Hier lebt zwar mit 88 Prozent die überwiegende Mehrheit der Teilzeiterwerbstätigen mit anderen Erwerbstätigen zusammen, die Armutsquote dieser Gruppe ist aber dennoch relativ hoch. Dies verweist darauf, dass in Portugal für viele Haushalte ein zusätzliches Teilzeiteinkommen nicht ausreichend ist, um Armut zu verhindern (Tabelle 5.12).
160
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.13: Verteilung von Teilzeiterwerbstätigen nach HH-Konstellation
DK FIN NL S Ø
Verteilung von Teilzeiterwerbstätigen nach HH-Konstellation (in %) Alleinverdiener-HH Mehrverdiener-HH nur TZandere alleinlebend 2+ Personen Erwerbstätige Verdiener gesamt 11,9 10,4 7,7 70,0 100,0 24,4 14,7 4,2 56,8 100,0 10,5 13,9 5,7 69,8 100,0 26,4 18,9 4,7 50,0 100,0 18,3 14,5 5,6 61,6
IRL UK Ø
8,1 5,9 7,0
13,1 23,3 18,2
6,2 5,1 5,6
72,6 65,7 69,2
100,0 100,0
B D F LUX A Ø
4,5 8,7 9,3 6,4 5,8 6,9
13,9 14,4 10,9 8,7 8,3 11,2
4,8 7,2 13,0 8,6 3,8 7,5
76,8 69,8 66,7 76,3 82,0 74,3
100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
GR I P ES Ø
5,3 5,4 2,7 4,7 4,5
18,5 21,5 9,4 12,2 15,4
15,5 7,4 6,2 6,3 8,8
60,7 65,7 81,7 76,8 71,3
100,0 100,0 100,0 100,0
R2
0,67
0,28
0,18
0,33
Quellen: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen.
Hier soll allerdings nicht der erhöhte Anteil an Selbständigen, sondern der Einfluss von Selbständigkeit auf Armut von Erwerbstätigen betrachtet werden. Mit der Ausnahme Luxemburgs liegen die Armutsquoten von Selbständigen über dem Durchschnitt der Erwerbstätigen insgesamt. Ein direkter Zusammenhang mit dem Ausmaß der selbständigen Erwerbstätigkeit ist jedoch nicht festzustellen. Die höchsten Armutsquoten von Selbständigen weisen jeweils Länder mit sehr unterschiedlichen
5.7 Teilzeiterwerbstätigkeit und berufliche Selbstständigkeit
161
Selbständigenquoten auf (Niederlande, Großbritannien, Frankreich, Griechenland). Selbständigkeit ist in diesen Ländern jeweils sehr unterschiedlich geprägt und so sind auch unterschiedliche Ursachen für Armut anzunehmen. Während in Griechenland der hohe Anteil von Landwirten eine Rolle spielt, wird beispielsweise in Großbritannien die Prekarität von Selbständigen als Folge der Umwandlung zuvor abhängiger Beschäftigungsverhältnisse diskutiert. Festzuhalten ist daher vor allem, dass berufliche Selbständigkeit häufig in ähnlicher Weise wie niedrige Löhne oder geringe Arbeitszeiten mit einem höheren Risiko verbunden ist, arm zu sein. Der Anteil aller dieser Erwerbsformen unterscheidet sich wie jeweils dargestellt im Ländervergleich deutlich. Allein aufgrund der Zusammensetzung der Erwerbstätigen sind also relevante Länderunterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten. Daher wird hier abschließend die Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen nach den hier diskutierten Faktoren betrachtet, um Kompositionseffekte abschätzen zu können (Abbildung 5.8). Hierbei wird zunächst nach selbständiger und abhängiger Beschäftigung innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft unterschieden. In den südeuropäischen Ländern, aber auch in Österreich, Großbritannien und Irland ist ein relativ hoher Anteil der armen Erwerbstätigen selbständig. Dabei sind in mehreren Ländern selbständige Landwirte von besonderer Bedeutung. Abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft tragen dagegen nur in geringem Maße zur Gruppe der armen Erwerbstätigen bei. Einen Extremfall stellt Griechenland dar. Hier sind nur ein Drittel der armen Erwerbstätigen abhängig Beschäftigte außerhalb der Landwirtschaft. In allen übrigen Ländern gehören dagegen mehr als die Hälfte der armen Erwerbstätigen zu dieser Gruppe (bis zu annähernd 90 Prozent). Diese Unterschiede sind in den meisten Fällen auf eine unterschiedliche Zusammensetzung der Erwerbstätigen insgesamt zurückzuführen (siehe Abbildung A2 in Anhang B), weniger auf ein unterschiedliches Armutsrisiko der einzelnen Gruppen. Wie wirken sich die unterschiedliche Anteile von Teilzeit- und Niedriglohnbeschäftigung auf die Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen aus? Selbst in Ländern mit hohen Teilzeitquoten sind mehr als die Hälfte der armen Erwerbstätigen Vollzeitbeschäftigte. In den südeuropäischen Ländern, aber auch in Frankreich und Belgien liegt der Vollzeitanteil bei 80 Prozent und höher. Darunter sind auch viele Niedriglöhner. Auf die Tatsache, dass trotz der Kompensation von Niedriglöhnen im Haushaltskontext viele arme Erwerbstätige Niedriglöhner sind, wurde bereits im vorherigen Abschnitt hingewiesen. Hier wird nun allerdings auch deutlich, dass zwar Teilzeiterwerbstätigkeit zum Niedriglohnrisiko beiträgt, dass aber natürlich auch Vollzeiterwerbstätige von Armut betroffen sind, wenn sie zu einem niedrigen Lohnsatz arbeiten.
162
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Abbildung 5.8: Zusammensetzung der armen Erwerbstätigen a) nach beruflicher Stellung und Sektor Dänemark Finnland Niederlande Irland Gr.britannien Belgien Deutschland Frankreich Österreich Griechenland Italien Portugal Spanien 0
20
40
60
80
100
Anteil in % selbständig LWS abh. LWS
selbständig abh.
b) nach Arbeitszeit und Niedriglohn Dänemark Finnland Niederlande Irland Gr.britannien Belgien Deutschland Frankreich Österreich Griechenland Italien Portugal Spanien 0
20
40
60
80
Anteil in % TZ VZ/NL
TZ/NL VZ
Anmerkungen: LWS=Landwirtschaft, TZ/VZ=Teil-/Vollzeit, NL=Niedriglohn. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
100
5.8 Entwicklung
163
Allein bei Betrachtung der Art der Erwerbstätigkeit ergeben sich somit unterschiedliche Konstellationen, die das Risiko arm und erwerbstätig zu sein, deutlich erhöhen. Diese Konstellationen sind in den hier betrachteten Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Inwieweit diese zum Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen beitragen, ist in dieser Perspektive allerdings kaum zu klären. In der im nächsten Kapitel folgenden multivariaten Mehrebenenanalyse wird es dagegen möglich sein, Effekte der Zusammensetzung der Erwerbstätigen von den individuellen Risiken und dem Einfluss der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen zu trennen.
5.8 Entwicklung der Armut von Erwerbstätigen In den vorherigen Abschnitten ist gezeigt worden, dass sich die Haushalte der armen Erwerbstätigen im Ländervergleich unterscheiden, dass Transfers in unterschiedlichem Maße zur Armutsreduktion beitragen und dass das Ausmaß von Niedriglohn-, Teilzeit- und selbständiger Beschäftigung variiert. Es wurde dabei argumentiert, dass diese Unterschiede, zumindest teilweise, auf Unterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen, genauer dem Ausmaß an Dekommodifizierung, Defamilisierung und Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen zurückzuführen sind. Zu Beginn des Kapitels wurde darüber hinaus gezeigt, dass nicht – wie angenommen – ein genereller Trend in Richtung von Armut von Erwerbstätigen stattgefunden hat. Dazu sind die Entwicklungen im Zeitraum 1994 bis 2001 in den hier betrachteten Ländern zu unterschiedlich verlaufen. Allerdings wurde bislang nicht ausführlicher auf diese Unterschiede eingegangen. In diesem Abschnitt sollen nun mögliche Ursachen für die unterschiedlichen Entwicklungen betrachtet werden. Die Entwicklung der Armutsquoten von Erwerbstätigen und des Anteils von Erwerbstätigen an allen Armen sind in Tabelle 5.14 dargestellt.81 Da sich die Entwicklungen teilweise je nach verwendetem Armutsindikator unterscheiden, sind sowohl Angaben auf Basis der monatlichen als auch der jährlichen Einkommensangaben aufgeführt.
81 Da auf Basis von zwei Zeitpunkten nicht auf Trends geschlossen werden kann, sind in Anhang B die Armutsquoten für jedes Land für alle Jahre dargestellt. Grundsätzlich lassen sich hieraus aber keine anderen Schlüsse ziehen als aus den in Tabelle 5.14 dargestellten Ergebnissen.
164
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Tabelle 5.14: Veränderung der Armutsquote von Erwerbstätigen und des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen 2001 gegenüber 1994* Quote (%) monatlich Verän1994* derung DK 3,9 +1,1 FIN 6,0 +1,1 NL 6,5 +4,0 S Ø 5,4 +2,0 IRL UK Ø
Anteil an allen Armen (%) Einkommensmessung jährlich monatlich jährlich VeränVeränVerän1994* derung 1994* derung 1994* derung 4,0 -0,1 35,9 +12,7 36,4 +0,5 3,4 +2,5 29,9 +6,7 25,3 +13,5 5,9 +2,1 37,8 +27,8 39,3 +22,8 5,8 +0,7 43,8 +1,6 4,8 +1,3 34,6 +15,7 36,2 +9,6
5,8 7,9 6,8
+1,2 -1,2 0,0
4,2 7,5 5,8
+3,1 -0,9 +1,1
27,4 37,3 32,4
+3,0 +5,3 +4,2
14,4 32,1 23,3
+13,9 +4,9 +9,4
B 5,8 D 7,0 F 10,3 LUX 9,7 A 6,3 Ø 7,8
-0,2 -0,2 -1,4 -0,1 -2,0 -0,8
6,6 6,1 9,8 11,9 7,9 8,4
-2,6 -1,5 -1,8 -3,9 -2,1 -2,4
33,2 43,1 34,6 51,4 50,1 42,5
+4,8 +5,1 +2,4 +9,0 -3,0 +3,6
30,4 33,0 36,7 50,7 50,5 40,3
-2,3 -0,3 +0,9 -5,5 -4,4 -2,3
GR I P ES Ø
15,7 10,5 14,7 8,7 12,4
-4,8 -0,8 -5,8 -0,4 -3,0
16,8 12,3 14,6 10,9 13,6
-4,8 -1,9 -3,1 -1,2 -2,7
47,7 34,3 56,2 27,6 41,5
-5,3 -2,2 -4,6 +5,5 -1,6
48,3 33,7 53,3 27,2 40,6
-7,8 -2,3 -1,7 +6,5 -1,3
R2
0,63
0,56
0,76
0,68
0,21
0,57
0,29
0,48
Anmerkungen: *) Österreich: 1995, Finnland: 1996, Schweden: 1997. Quelle: ECHP 1994-1997, 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Zunächst wird die Entwicklung der Armutsquoten betrachtet. Während in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes (insbesondere in den Niederlanden) und in Irland eine Zunahme von Armut von Erwerbstätigen zu beobachten ist, geht in allen übrigen Ländern Armut von Erwerbstätigen zurück. Es zeigt sich also kein
5.8 Entwicklung
165
allgemeiner Trend einer Zunahme von Armut von Erwerbstätigen. Vergleicht man die Entwicklung nach Wohlfahrtsregimes, zeigen sich durchaus Unterschiede. Es ist aber trotzdem nur eingeschränkt möglich, die Unterschiede in der Entwicklung direkt auf Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Mit Schweden weist das Land, das am stärksten durch einen Rückgang der Dekommodifizierung und eine zunehmende Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen gekennzeichnet ist (vgl. Abschnitt 3.7), nur eine moderate Steigerung der Armutsquote auf, während in den Niederlanden, aber auch in Finnland deutlichere Zuwächse zu beobachten sind. Großbritannien, das vor allem durch ein fortschreitendes Absinken der Tarifbindung und rückläufige Lohnersatzraten gekennzeichnet ist, weist sogar einen Rückgang von Armut von Erwerbstätigen auf. Ein direkter Schluss von den Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen auf die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen ist auf dieser Ebene nicht möglich. Zusätzlich ist in Tabelle 5.14 der jeweilige Anteil der Erwerbstätigen an allen Armen dargestellt. Bei Verwendung des monatlichen Einkommensindikators zeigt sich eine solche Zunahme in den Ländern des sozialdemokratischen, des liberalen und des konservativen Regimes, während in den südeuropäischen Ländern (bis auf Spanien) der Anteil der armen Erwerbstätigen sinkt. Wie kann diese Zunahme interpretiert werden? Verschiedene Ursachen sind denkbar. Erstens kann die Zunahme an armen Erwerbstätigen eine Folge eines Ansteigens der Erwerbstätigenquote sein. Selbst wenn neu in den Arbeitsmarkt eintretende Personen kein überproportionales Armutsrisiko aufweisen, ist mit einem Ansteigen des Anteils der erwerbstätigen Armen zu rechnen. Da in fast allen Ländern sowohl der Anteil erwerbstätiger Frauen und teilweise auch erwerbstätiger Männer gestiegen ist (vgl. Abschnitt 3.6), sollte man auch eine Ausweitung des Anteils armer Erwerbstätiger erwarten. Zweitens kann aber auch das Armutsrisiko von Erwerbstätigen stärker als Armut von Nichterwerbstätigen gestiegen (bzw. weniger stark zurückgegangen) sein, was auch ein Ansteigen des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen zur Folge hätte. Welcher der beiden Mechanismen steht aber im Vordergrund? In Abbildung 5.9 sind die Armutsentwicklungen von Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen gegenüber gestellt. Die Werte geben jeweils an, um welchen Faktor sich die entsprechende Armutsquote verändert hat. Als Orientierung sind drei Hilfslinien eingezeichnet. In Ländern, die oberhalb der horizontalen Linie liegen, ist die Armutsquote von Erwerbstätigen angewachsen. Der entsprechende Faktor ist größer als eins. In Ländern rechts von der vertikalen Linie, hat die Armutsquote von Nichterwerbstätigen zugenommen. Eine Lage auf oder in der Nähe der Diagonalen deutet auf eine ähnliche Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen hin. Wie zuvor gesehen, weisen fünf Länder eine gestiegene Armutsquote von Erwerbstätigen auf. In all diesen Ländern ist auch sonst die Armutsquote angestiegen. Eindeutig überproportional ist allein die Ar-
166
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
mutsquote von Erwerbstätigen in den Niederlanden gewachsen. In den übrigen Ländern hängt das Ergebnis davon ab, ob man den jährlichen oder monatlichen Einkommensindikator berücksichtigt. In der Mehrzahl der Länder stagniert Armut von Erwerbstätigen jedoch oder ist zurückgegangen. Dies gilt auch für die Armutsquote der Nichterwerbstätigen. Dabei ist in den meisten Ländern – mit Ausnahme von Großbritannien und Deutschland – die Armutsquote der Erwerbstätigen stärker zurückgegangen. Abbildung 5.9: Veränderung der Armutsquote und der Armutsquote von Erwerbstätigen 2001 gegenüber 1994*
Armutsquote Erwerbstätige (Index)
200 IRL
FIN
NL
150 NL DK FIN S
100
D UK ESF I UK FP D A GR A GR LUX P B
LUX B ES I
IRL
DK
jährl. Eink. monatl. Eink. Referenzwert
50 50
100
150
Armutsquote (Index) Anmerkungen: Indexwerte: 1994=100, *) Österreich: ab 1995, Finnland: ab 1996, Schweden: ab 1997. Quelle: ECHP 1994-1997, 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Abbildung 5.10 zeigt dagegen eine Zunahme des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen gegenüber der Zunahme der Erwerbstätigen an allen Personen im erwerbsfähigen Alter (17-64 Jahre). Wie bereits gezeigt, ist in allen Ländern von 1994 bis 2001 der Anteil der Erwerbstätigen gewachsen oder zumindest nicht zurückgegangen. Besonders starke Zuwächse sind in Irland, den Niederlanden und Spanien zu beobachten. Hervorstechend ist wiederum die Entwicklung in den Niederlanden. Hier hat der Anteil der Erwerbstätigen an allen Armen je nach Indikator um mehr als 50 bzw. um mehr als 70 Prozent zugenommen. Dies ist, wie zuvor gesehen,
167
5.8 Entwicklung
überwiegend ein Resultat der im Vergleich zu Nichterwerbstätigen deutlich gestiegenen Armutsquote, teilweise aber auch der insgesamt angestiegenen Erwerbstätigenquote. Hier zeigt sich also einerseits die extrem positive Beschäftigungsentwicklung in den Niederlanden – Visser und Hemerijck (1998) sprechen in diesem Zusammenhang vom ‚holländischen Wunder’. Andererseits zeigt sich aber auch, dass dieses überproportional häufig Personen erfasst, deren Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um Armut zu vermeiden. In dieser Eindeutigkeit sind die Niederlande jedoch das einzige Land, in dem diese Entwicklung zu beobachten ist. Ähnliche, aber weniger eindeutige Entwicklungen, sind in Irland, Finnland und Dänemark festzustellen. Dies sind alles Länder, in denen auch die Armutsquote von Erwerbstätigen zugenommen hat. Die Zunahme des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen in den übrigen Ländern ist dagegen vor allem der allgemeinen Zunahme der Erwerbstätigkeit geschuldet. In vier Ländern geht der Anteil der Erwerbstätigen unter den Armen sogar zurück, was auf die zurückgegangene Armutsquote von Erwerbstätigen zurückzuführen ist. Abbildung 5.10: Veränderung Erwerbstätigenquote und Erwerbstätigenquote von Armen 2001 gegenüber 1994*
Anteil Erwerbstätige/Arme (Index)
200
IRL
NL
FIN
150
NL
DK FIN ES ES UKB LUX D UK IRL F S F D P DK A II P B A GR LUX GR
100
jährl. Eink. monatl. Eink. Referenzwert
50 50
100
150
Anteil Erwerbstätige (Index) Anmerkungen: Indexwerte: 1994=100, *) Österreich: ab 1995, Finnland: ab 1996, Schweden: ab 1997. Quelle: ECHP 1994-1997, 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
168
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Insgesamt finden sich also nur wenige Indizien für eine grundsätzliche Verschiebung von Armut von Nichterwerbstätigen zu Erwerbstätigen. Das einzige Land, das diesem Bild eindeutig entspricht, sind die Niederlande. In geringerem Maße trifft dies für Dänemark, Irland und Finnland zu. Gibt es Faktoren, die dazu führen, dass in anderen Ländern gegenläufige Entwicklungen zu beobachten sind? Hierbei ist vor allem an Veränderungen in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen gedacht. Wie zuvor gezeigt, unterscheidet sich das Armutsrisiko je nach Art der Erwerbstätigkeit deutlich. Niedriglöhner, Teilzeiterwerbstätige und Selbständige weisen ein höheres Armutsrisiko auf. In der gegenwärtigen Diskussion um die Veränderung von Wohlfahrtsstaaten, auf die sich auch die Hypothese einer Verschiebung von nichterwerbstätigen zu erwerbstätigen Armen stützt, stehen diese Gruppen daher häufig im Mittelpunkt. Es wird argumentiert, dass zunehmend Personen in Erwerbsformen gedrängt werden, die keinen ausreichenden Schutz vor Armut bieten. In Tabelle 5.15 ist jeweils die Veränderung des Anteils einzelner Erwerbsformen aufgeführt. Außerdem enthält die Tabelle Angaben zur Veränderung der Haushaltskonstellation von Niedriglöhnern und Teilzeitbeschäftigten. Angegeben ist dabei jeweils der Anteil der Gruppe, die die höchsten Armutsrisiken aufweist. Dies sind vor allem Niedriglöhner oder Teilzeitbeschäftigte, die Alleinverdiener sind (vgl. auch Tabelle 5.11 und Tabelle 5.13). Da insbesondere in diesen Haushaltskonstellationen Niedriglöhner und Teilzeitbeschäftigte von Armut betroffen sind, sollte eine Entwicklung in diese Richtung mit einer Zunahme von Armut von Erwerbstätigen einhergehen. Zunächst werden daher die Länder betrachtet, in denen die Armutsquote von Erwerbstätigen angestiegen ist. Hier ist allein in den Niederlanden eine eindeutige Zunahme der Niedriglohn- und der Teilzeitquote festzustellen, während die Anteile der jeweiligen Alleinverdiener zurückgegangen sind. In Finnland und Irland ist zwar die Teilzeitquote gestiegen, gleichzeitig ist jedoch der Anteil der Niedriglöhner und Selbständigen gesunken. Das einzige Land, in dem der Anteil aller drei Erwerbsformen angestiegen ist, ist Deutschland. Hier ist allerdings nicht die Armutsquote von Erwerbstätigen angestiegen. Welche Entwicklung zeigt sich dagegen in Griechenland und Portugal, also in den Ländern, in denen die Armutsquote am stärksten zurückgegangen ist? Hier haben eindeutig Verschiebungen in Richtung von abhängiger Vollzeiterwerbstätigkeit oberhalb der Niedriglohnschwelle stattgefunden, da der Anteil der übrigen Erwerbsformen zurückgegangen ist. Hier erklärt also die Entwicklung der Erwerbsformen zumindest einen Teil des Rückgangs der Armutsquote von Erwerbstätigen.
169
5.8 Entwicklung
Tabelle 5.15: Veränderung Niedriglohnquote, Teilzeitquote, Selbständigenquote und Anteil Alleinverdiener 1994-2001* (Veränderung in Prozentpunkten) Niedriglohnquote DK -0,4 FIN -0,8 NL +4,4 S Ø +1,1
NL-Alleinverdiener -10,4 -5,2 -1,9 -5,8
Teilzeitquote -1,3 +1,2 +2,7 -1,0 +0,4
TZ-Alleinverdiener -6,2 -3,2 -2,3 +5,8 -1,5
Selbständigenquote -0,9 -1,7 -0,4 -0,9 -1,0
IRL UK Ø
-5,6 -1,8 -3,7
-4,5 -1,5 -3,0
+5,7 0,0 +2,9
-4,6 -1,5 -3,0
-6,3 -1,4 -3,8
B D F LUX A Ø
-0,6 +1,6 -1,5 -6,7 -1,8
+1,5 -4,7 -6,5 -7,3 -4,2
+2,3 +2,0 -3,7 -2,5 +1,6 -0,1
-7,1 -3,2 -10,6 +0,3 -5,3 -5,2
-2,2 +1,3 -2,3 -4,9 +0,4 -1,5
GR I P ES Ø
-0,3 +0,2 -6,6 -1,3 -2,0
-12,1 -1,2 -3,7 -15,2 -8,1
-1,9 -0,1 +0,1 -1,0 -0,7
-2,3 +3,3 -10,0 -7,1 -4,0
-9,1 -1,9 -4,0 -5,2 -5,0
R2
0,25
0,17
0,23
0,11
0,40
Anmerkungen: *) Österreich: ab 1995, Finnland: ab 1996, Schweden: ab 1997. Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Als zweites kann sich aber auch die Armutsquote innerhalb der Erwerbsformen verändert haben. Dies ist allein schon deswegen anzunehmen, da die Zunahme von Armut von Erwerbstätigen in den meisten Ländern nicht über eine Veränderung der Zusammensetzung der Erwerbstätigen erklärt werden kann. Daher wird abschließend die Entwicklung der Armutsquote von Nicht-Standarderwerbstätigen (Niedriglöhner, Teilzeitbeschäftigte und Selbständige) und Standarderwerbstätigen, also Vollzeitbeschäftigte oberhalb der Niedriglohnschwelle, betrachtet (Tabelle
170
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
5.16).82 In Tabelle 5.16 wird zunächst noch einmal das hohe Armutsrisiko der Nicht-Standarderwerbstätigen deutlich. Mit Ausnahme Belgiens und Italiens (nur 2001) ist die Armutsquote dieser Gruppe mindestens doppelt so hoch wie die von abhängig Vollzeitbeschäftigten, die nicht zu einem Niedriglohn arbeiten. In einigen Ländern sind Standarderwerbstätige kaum von Armut betroffen. In Großbritannien liegt die Armutsquote in dieser Gruppe bei 1,9 Prozent, während 13,5 Prozent der Nicht-Standarderwerbstätigen von Armut betroffen sind. Weiter zeigt sich, dass die Zunahme von Armut von Erwerbstätigen in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes und Irland auf eine Zunahme der Armutsquote innerhalb beider Gruppen von Erwerbstätigen zurückzuführen ist. Aber insbesondere wenn man das ursprünglich sehr niedrige Armutsniveau der Standarderwerbstätigen in diesen Ländern berücksichtigt, ist das Ansteigen der Armut in dieser Gruppe weitaus stärker ausgeprägt als das der Nicht-Standardbeschäftigten (außer in Dänemark). So ist in den Niederlanden die Armutsquote der Standarderwerbstätigen um 3,6 Prozentpunkte angestiegen und hat sich damit mehr als verdoppelt, während die Zunahme bei den Nicht-Standarderwerbstätigen absolut, aber vor allem gemessen am Ausgangsniveau geringer ausgefallen ist. In den Ländern, in denen die Armut von Erwerbstätigen zurückgegangen ist, findet dieses Ergebnis insofern seine Entsprechung, als dass der Rückgang vor allem in der Gruppe der NichtStandarderwerbstätigen stattgefunden hat. Die Armutsquote der Standarderwerbstätigen ist dagegen nur in zwei Ländern eindeutig gesunken (Großbritannien, Portugal). Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass – mit Ausnahme der Niederlande und Deutschlands – keine Ausweitung von Erwerbsformen stattgefunden hat, die durch hohe Armut gekennzeichnet sind. Es ist eher so, dass entsprechende Erwerbsformen in einigen Ländern deutlich zurückgegangen sind. Zudem sind in den meisten Ländern keine auffälligen Veränderungen der Armutsquote innerhalb der Erwerbsformen zu beobachten, bzw. allenfalls in Richtung eines Rückgangs von Armut von Erwerbstätigen. Dies gilt nicht für Länder, in denen die Armut auch insgesamt angestiegen ist. Diese weisen auch einen Anstieg von Armut von Erwerbstätigen auf. Armut ist in diesen Ländern also sowohl bei Nichterwerbstätigen als auch bei Erwerbstätigen angestiegen. Weiter ist der Anstieg bei Erwerbstätigen weder eindeutig der Gruppe der Nicht-Standarderwerbstätigen noch der Gruppe 82 Die Bezeichnung Standarderwerbstätige legt eine Interpretation in Richtung des Normalarbeitsverhältnisses nahe. Da hier jedoch keine Unterscheidung nach befristeter und unbefristeter Beschäftigung vorgenommen wurde und auch andere Aspekte des Normalarbeitsverhältnisses nicht berücksichtigt werden (z.B. Betriebsgröße), ist dies damit nicht gemeint. Die Abgrenzung ist allein dazu gedacht, Erwerbsformen, die einem hohen Armutsrisiko unterliegen, von abhängig Vollzeiterwerbstätigen zu unterscheiden, die ein relativ geringes Armutsrisiko aufweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere in den südeuropäischen Ländern aufgrund des hohen Selbständigenanteils, aber auch in Ländern wie den Niederlanden aufgrund des hohen Teilzeitanteils ein großer Teil der Erwerbstätigen NichtStandarderwerbstätige sind.
171
5.8 Entwicklung
der Standarderwerbstätigen zuzurechnen. Tendenziell zeigt sich aber, insbesondere wenn man das Ausgangsniveau der Armutsquoten in den beiden Gruppen mitberücksichtigt, eine stärkere Zunahme bei den Standarderwerbstätigen. Betrachtet man jedoch alle Länder zusammen und betrachtet die Entwicklungen insgesamt, lässt sich kein genereller Trend in Richtung Armut von Erwerbstätigen feststellen. Tabelle 5.16: Veränderung der Armutsquote von Standard- und NichtStandarderwerbstätigen 2001 gegenüber 1994* (Armutsquoten in Prozent und Veränderung in Prozentpunkten)
DK FIN NL S Ø
Nicht-Standarderwerbstätige 1994* 2001 Diff. 10,0 12,8 +2,8 14,9 14,8 -0,1 11,7 15,0 +3,2 12,2 14,2 +2,0
Standarderwerbstätige 1994* 2001 Diff. 1,8 2,7 +0,9 2,7 4,2 +1,6 3,4 7,0 +3,6 2,6 4,6 +2,0
IRL UK Ø
10,0 13,5 11,8
10,7 13,5 12,1
+0,7 +0,1 +0,4
2,1 3,8 3,0
4,3 1,9 3,1
+2,2 -1,9 +0,1
B D F LUX A Ø
7,8 11,4 18,7 12,0 12,5
7,1 10,9 14,8 9,3 10,5
-0,7 -0,6 -3,9 -2,7 -2,0
4,8 5,0 6,0 3,2 4,8
5,0 4,7 6,7 2,0 4,6
+0,2 -0,3 +0,7 -1,2 -0,2
GR I P ES Ø
23,2 15,5 24,1 14,5 19,3
16,5 12,3 15,5 14,5 14,7
-6,6 -3,2 -8,6 -0,1 -4,6
4,1 6,8 7,8 3,9 5,7
4,6 7,8 5,4 3,9 5,4
+0,6 +1,0 -2,4 +0,1 -0,2
R2
0,47
0,46
0,59
0,52
0,18
0,33
Anmerkungen: *) Österreich: 1995, Finnland: 1996, Schweden: 1997. Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
172
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Abschließend soll noch einmal auf den Einfluss der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingegangen werden. Zu Beginn des Kapitels wurde bereits gezeigt, dass der hier betrachtete Zeitraum in allen Ländern eher durch wirtschaftliches Wachstum geprägt ist und argumentiert, dass auf Basis dieser Entwicklung tendenziell ein Rückgang von Armut zu erwarten wäre. Welchen Zusammenhang es zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen gibt, soll nun näher untersucht werden. Betrachtet wird dabei die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf und der Arbeitslosigkeit. Zum einen soll dabei geklärt werden, ob Länderunterschiede im wirtschaftlichen Zyklus als Erklärung für die beobachteten Unterschiede im Ausmaß und vor allem in der Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen in Frage kommen. Zum anderen lassen bisherige Arbeiten unterschiedliche Hypothesen zum Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung zu (vgl. Abschnitt 3.4). Daher ist hier zu untersuchen, ob wirtschaftliches Wachstum und geringe Arbeitslosigkeit positiv oder negativ auf Armut von Erwerbstätigen wirken. Abbildung 5.11: Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf) und Armut von Erwerbstätigen GR94
Armutsquote in %
15
PT94 PT96 GR95 GR96 GR97 PT95 GR98 PT98 PT97 GR99 GR01 PT99 GR00 IRL00 IT94 IT96 IT95 NL01 IT00 IT97IT99 FR94 FR95 IT98 PT00 IT01 LUX94 FR98 IRL97 FR99 FR96 FR00 ES95PT01 LUX95 FR01 ES98 ES94 FR97 NL00 ES97 UK98 NL96 ES01 UK99IRL99 ES96 ES99 UK94 NL95 NL98 LUX98 NL97 IRL98 GER00 GER95 GER98 FIN99 FIN01 IRL01 LUX96 LUX97 GER97 UK00 IRL95UK95 GER94 FIN00 BE95 FIN98 GER01 UK97 BE97 ES00 UK01 BE96 GER96 NL99 NL94 AT95 BE99 DK99 DK00 IRL96 UK96 FIN96 BE94 BE98 IRL94 GER99 BE01 FIN97 DK98 DK95 BE00 AT98 AT96 DK96 AT99 DK01 AT97 AT00 AT01 DK97 DK94
10
5
10000
20000
30000
LUX99
40000
BIP in $ (pro Kopf) Korrelation: -0,36 (ohne LUX: -0,65)
Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen, OECD Annual National Accounts.
LUX0 LUX00
50000
173
5.8 Entwicklung
Entsprechend der Kuznets-Kurve (Kuznets 1955) wurde argumentiert, dass ein höheres Niveau wirtschaftlicher Entwicklung mit einer Reduktion von Ungleichheit und Armut einhergeht. Allerdings wurde unter Verweis auf die Great-U-TurnHypothese (Harrison/Bluestone 1988) darauf hingewiesen, dass sich diese Entwicklung in einer Reihe von entwickelten Industriegesellschaften umgekehrt hat. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und dem Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen für alle Länder zu allen Zeitpunkten (Abbildung 5.11), ist zunächst von einem Rückgang von Armut von Erwerbstätigen mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung auszugehen (insbesondere, wenn man Luxemburg als Ausreißer betrachtet). Teilweise spiegelt dieses Ergebnis allerdings auch Unterschiede wider, die bereits unter dem Gesichtspunkt der Dekommodifizierung und Defamilisierung deutlich wurden. Inwieweit wirtschaftliche Entwicklung die Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen bedingt, kann hier nicht diskutiert werden. Es sei allerdings darauf verwiesen, dass die Besonderheiten südeuropäischer Wohlfahrtsstaaten nicht allein als Ergebnis von Entwicklungsrückständen angesehen werden (vgl. Ferrera 1996, Flaquer 2000). Abbildung 5.12: Arbeitslosigkeit und Armut von Erwerbstätigen GR94
15
PT94 PT96 PT95
Armutsquote in %
PT98
GR95 GR96 GR97
GR98
PT97 GR99 GR01 GR00 IT94 IT96 IT95 IT00 IT97 FR94 IT98 IT99 FR95
PT99 IRL00
NL01 LUX99 PT00 LUX94 LUX01 LUX00 LUX95PT01 NL00
10
IT01 FR98 IRL97 FR99 FR96 FR00 FR01 FR97 ES01 ES99 UK94
ES98 UK98 NL96 IRL99 UK99 NL95 NL98 LUX98 NL97 IRL98 GER00 GER95 GER98 UK95 FIN01 FIN99FIN98IRL95 GER97 IRL01 UK00 UK97GER01 GER94 LUX97 FIN00 BE95 LUX96 BE97 ES00 UK01 BE96 GER96 NL99 DK00 NL94 BE99 IRL96 AT95DK99 UK96 FIN96 BE94 BE98 GER99 BE01 FIN97 IRL94 DK98 DK95 BE00 AT98 AT96 DK01 DK96 AT99 AT97 AT00 AT01 DK97 DK94
5
0
5
10
15
ES97
ES95 ES94 ES96
20
Arbeitslosigkeit in % Korrelation: 0,16
Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen, OECD Main Economic Indicators (OECD 2006b: 178).
174
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
Weniger eindeutig ist das Ergebnis bei Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Armut von Erwerbstätigen. Bei Betrachtung aller Länder zu allen Zeitpunkten (Abbildung 5.12) ist allenfalls ein schwach positiver Zusammenhang feststellbar. Bezüglich der Wirkung von Arbeitslosigkeit wurden jedoch auch zwei grundsätzlich gegenläufige Einflüsse diskutiert. Einerseits wurde auf die Möglichkeit des Ansteigens von Armut von Erwerbstätigen aufgrund von sinkenden Reallöhnen und einer Reduktion der Anzahl der Erwerbstätigen pro Haushalt verwiesen. Andererseits erscheint auch ein Herausdrängen der armen Erwerbstätigen aus dem Arbeitsmarkt plausibel, das mit einer Reduktion von Armut von Erwerbstätigen einherginge. Für die Klärung dieser Frage erscheint eine Perspektive, die auf den Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb eines Landes und nicht auf Unterschiede zwischen Ländern eingeht, geeigneter. Tabelle 5.17: Korrelation zwischen Armut von Erwerbstätigen, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung Arb.losigkeit BIP pro Kopf
DK -0,58 0,55
FIN -0,85 * 0,81 +
NL -0,48 0,68 +
IRL -0,58 0,56
UK 0,00 -0,02
Arb.losigkeit BIP pro Kopf
F 0,38 -0,67 +
L -0,33 0,44
A 0,25 -0,79 *
GR I -0,76 * 0,67 + -0,94 ** -0,73 *
B 0,63 + -0,54
D 0,01 -0,18
P E 0,89 ** 0,58 -0,97 *** -0,54
Anmerkungen: Signifikanzniveaus: ***) 0,1%, **) 1%, *) 5%, +) 10%. Quellen: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen, OECD Main Economic Indicators (OECD 2006b: 178), OECD Annual National Accounts 1994-2001.
Bei einer Betrachtung des Einflusses von Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung innerhalb von Ländern (Tabelle 5.17) zeigt sich kein einheitliches Ergebnis. In fünf Ländern steigt Armut von Erwerbstätigen mit sinkender Arbeitslosigkeit und steigendem BIP an. In sechs Ländern ist der gegensätzliche Zusammenhang zu beobachten. In zwei Ländern ergibt sich kein klarer Zusammenhang.83 Eine grundsätzliche Ausnahme bildet Griechenland. Hier geht Armut von Erwerbstätigen sowohl bei steigender Arbeitslosigkeit als auch bei steigendem BIP zurück. Diese Ergebnisse sind allerdings insgesamt zurückhaltend zu interpretieren, da die angeführten Korrelationskoeffizienten auf jeweils nur 6 bis 8 Beobachtungen beruhen, 83 Auf einen uneindeutigen Zusammenhang deuten jedoch auch die Ergebnisse von Rueda und Pontusson (2000: 372) hin, die keinerlei Einfluss der Höhe der Arbeitslosigkeit auf das Ausmaß von Lohnungleichheit finden.
5.9 Ausblick auf weitere Analysen
175
die zudem alle in eine Phase wirtschaftlichen Wachstums fallen. Trotz der geringen Fallzahl sind einige der Koeffizienten signifikant. Jedoch ergibt sich auch bei Berücksichtigung allein der signifikanten Koeffizienten kein einheitliches Bild. Versucht man trotzdem, Schlüsse aus diesen Ergebnissen zu ziehen, sind Überlegungen in folgende Richtung möglich: So kann die unterschiedliche Richtung der Einflüsse auf ein unterschiedliches Ausmaß an Arbeitsmarktrigidität zurückzuführen sein. Insbesondere in den Ländern des sozialdemokratischen und des liberalen Regimes, die beide durch eine geringe Arbeitsmarktrigidität gekennzeichnet sind, lassen sich die Ergebnisse in Richtung eines Herausdrängens der erwerbstätigen Armen aus dem Arbeitsmarkt interpretieren. Angesicht der dünnen hier präsentierten empirischen Basis, kann dies aber nur als Hypothese verstanden werden, auf die im nächsten Kapitel 6 nochmals aus anderer Perspektive eingegangen wird. 5.9 Zusammenfassung und Ausblick auf weitere Analysen In diesem Kapitel wurden in breiter Form Ergebnisse deskriptiver Analysen präsentiert. Dabei ging es einerseits darum, einen allgemeinen Überblick über das Ausmaß und die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen zu bieten. Anderseits sollten als Grundlage für weitere Analysen vier grundlegende Fragen beantwortet werden. Die Antworten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen unterscheidet sich in relevanter Weise in den hier betrachteten Ländern. Allerdings entsprechen die Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes nur teilweise den Erwartungen. Insbesondere die niedrigen Armutsquoten in den beiden Ländern des liberalen Regimes weichen von den Erwartungen ab. Die deutlichsten Unterschiede weisen die südeuropäischen Länder auf. Dies zeigt sich auch bei Betrachtung von Einzelindikatoren. Insbesondere die südeuropäischen Länder weisen abweichende Muster des familialen Zusammenlebens auf. Hier leben sowohl junge Arbeitslose als auch Ältere häufiger mit ihren erwerbstätigen Eltern bzw. Kindern zusammen (letzteres gilt auch für Österreich). Hieraus ergibt sich nicht nur ein anderer Bedarf in den Erwerbstätigenhaushalten, deutlich werden auch Unterschiede in der Struktur der armen Erwerbstätigen. Hier sind sehr viel stärker Personen in höherem Erwerbsalter von Armut von Erwerbstätigen betroffen. Das extreme Gegenteil stellen die Ländern des sozialdemokratischen Regimes dar. Hier sind häufiger sehr junge Personen und eher alleinlebende Erwerbstätige von Armut betroffen. Insgesamt zeigen sich in diesem Punkt deutliche Übereinstimmungen mit den Erwartungen bezüglich des Einflusses intergenerationaler Abhängigkeit auf Armut von Erwerbstätigen. Bei der Betrachtung des Einflusses von Transfers wurde deutlich, dass es insbesondere allgemeine Transferleistungen sind und nicht spezifische Leistungen für Erwerbstätige, die Armut von Erwerbstätigen reduzieren. Nicht eindeutig konnte
176
5 Ausmaß, Struktur und Ursachen von Armut von Erwerbstätigen
auf Basis der vorliegenden Daten geklärt werden, ob die unerwartet niedrigen Armutsquoten in den Ländern des liberalen Regimes auf spezifische Leistungen zurückgehen. Deutlich wurde allerdings, dass die Armutsquoten bereits vor Anrechnung von Transfers relativ niedrig ausfallen. Aufgrund der Bedeutung allgemeiner Transfers erscheint es insgesamt gerechtfertigt, das allgemeine Ausmaß an Dekommodifizierung auch für Armut von Erwerbstätigen als einflussreich anzusehen. Auch bezüglich des zweiten Aspekts der Defamilisierung – wirtschaftliche Autonomie von Frauen – zeigen sich erwartbare Unterschiede zwischen den Ländern. Die Armutsreduktion durch das Erwerbseinkommen der Partnerin ist durchschnittlich in den sozialdemokratischen Ländern am höchsten und in den südeuropäischen Ländern am niedrigsten. Es zeigen sich aber auch Effekte des südeuropäischen Familialismus. Hier ist die Armutsreduktion durch Erwerbseinkommen weiterer Haushaltsmitglieder am höchsten. Es zeigt sich also der armutsreduzierende Effekt des Zusammenfließens der Ressourcen in einem größeren Haushaltszusammenhang. Niedriglohn- und Teilzeiterwerbstätigkeit sowie berufliche Selbständigkeit erhöhen das Risiko, arm zu sein. Eindeutige Unterschiede des Niedriglohnrisikos zwischen Wohlfahrtsregimes bestehen nicht. Mittlere Korrelationen mit Einzelindikatoren zur Beschreibung von Arbeitsmarktinstitutionen weisen jedoch trotzdem auf Zusammenhänge mit der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen hin. Jedoch ist es bei Niedriglohn- und Teilzeiterwerbstätigkeit häufig der Haushaltskontext, in dem das Armutsrisiko kompensiert wird. Dies erschwert eine Erklärung des Armutsrisikos von Niedriglöhnern. Abschließend wurde die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen dargestellt. Es zeigte sich dabei kein eindeutiger Trend in Richtung höherer Armutsquoten. Eine Zunahme der Armutsquote wurde in den Ländern des sozialdemokratischen Regimes und Irland beobachtet. Inwieweit hierbei Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen, ist allerdings nur schwer zu klären. Zu berücksichtigen ist in jedem Fall, dass es sich beim Beobachtungszeitraum um eine Phase des kontinuierlichen – wenn teilweise auch schwachen – Wirtschaftswachstums und rückläufiger oder zumindest nicht steigender Arbeitslosigkeit handelt. Entwicklungen in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen (Niedriglohn, Teilzeit, Selbständigkeit), die in Richtung einer Zunahme von Armut von Erwerbstätigen deuten, sind nur in wenigen Ländern zu beobachten. In Kapitel 7 wird anhand einzelner Länderbeispiele versucht zu überprüfen, ob sich in den nachfolgenden, wirtschaftlich teilweise weniger positiven und durch weitergehende Reformen der sozialen Sicherungssysteme geprägten Jahren, grundsätzlich andere Entwicklungen zeigen.
177
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Im vorangegangenen Kapitel wurde in deskriptiven Analysen gezeigt, dass Länderunterschiede im Armutsrisiko wie auch in der Struktur der Erwerbstätigen und ihrer Haushalte bestehen. Es ergaben sich dabei Hinweise, dass diese zumindest teilweise auf Unterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. So zeigt sich auch bei Erwerbstätigen ein unterschiedliches Ausmaß der Armutsreduktion durch allgemeine Transfers, ein unterschiedliches Ausmaß an Niedriglohnbeschäftigung, eine unterschiedliche Zusammensetzung der Erwerbstätigenhaushalte und der Erwerbsbeteiligung von Frauen. Es finden sich überwiegend Muster, wie sie aufgrund der Charakteristika unterschiedlicher Wohlfahrtsregimes erwartet wurden. Ein Einfluss der dahinter liegenden, in Kapitel 3 ausführlich diskutierten Einzeldimensionen – des unterschiedlichen Grades an Dekommodifizierung und Defamilisierung sowie die der unterschiedlichen Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen – lässt sich auf Basis der deskriptiven Ergebnisse vermuten, allerdings nicht direkt zeigen. Dies ist der Ausgangspunkt für die Analysen in diesem Kapitel. Die Perspektive der Wohlfahrtsregimes wird dafür aufgegeben. Diese wurde in der deskriptiven Analyse vor allem als Mittel zur Reduktion von Komplexität verwendet. Im Rahmen der folgenden multivariaten Analyse wird dagegen die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen über quantitative Indikatoren gemessen.84 So ist eine Analyse des Einflusses einzelner Merkmale der institutionellen Rahmenbedingungen möglich. Länder werden nun als Träger unterschiedlicher Merkmale betrachtet und 84 Dies bedeutet nicht, dass die Wohlfahrtsregimes zugrunde liegende Sichtweise, nämlich dass Wohlfahrtsstaaten keine zufällige Konfiguration von Maßnahmen darstellen, sondern diese sich zumindest in Teilen gegenseitig bedingen, verworfen wird. Vgl. aber auch Brady (2004: 29), der aufgrund der Tatsache, dass bei Kontrolle von Einzelfaktoren Wohlfahrtsregimes keinen eigenständigen Einfluss auf Armut mehr aufweisen, schließt, dass eben dies nicht der Fall ist. In jedem Fall erlaubt die Analyse des Einflusses von Einzelfaktoren es aber, genauer zu erklären, in welcher Weise Wohlfahrtsstaaten Armut von Erwerbstätigen verringern.
178
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
nicht als Fälle an sich oder als Repräsentanten eines bestimmten Wohlfahrtsregimes. Zudem erlauben die verwendeten Methoden die Kombination der Analyse von Makroeinflüssen und personen- bzw. haushaltsbezogenen Armutsdeterminanten. Es wird so in umfassender Weise möglich, die zentrale Frage dieser Arbeit zu beantworten, nämlich inwieweit Unterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen auf die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen zurückzuführen sind.
6.1 Einflüsse auf Mikro- und Makroebene Die zentralen Merkmale der hier verwendeten Mehrebenenperspektive sollen kurz erläutert werden. Vier unterschiedliche Einflüsse können unterschieden werden. Erstens gibt es auf der Mikroebene eine Reihe von Determinanten des Armutsrisikos, deren Einfluss in früheren Studien zu Armut und Armut von Erwerbstätigen bereits vielfach belegt wurde (vgl. Abschnitt 2.5). Auch in den deskriptiven Analysen wurde deutlich, dass sich das Armutsrisiko nach Alter, Geschlecht und Art der Erwerbstätigkeit unterscheidet. Die folgende multivariate Analyse wird um die Betrachtung weiterer Einflussfaktoren auf der Mikroebene ergänzt. Zweitens sind Einflüsse auf der Makroebene zu berücksichtigen. Diese wurde bereits ausführlich diskutiert (vgl. Kapitel 3). In diesem Kapitel wird es daher vor allem darum gehen, die berücksichtigten Determinanten in geeigneter Weise zu operationalisieren und ihren Einfluss in entsprechenden Modellen zu überprüfen. Drittens gibt es neben Mikro- und Makroeinflüssen Interaktionen zwischen Merkmalen auf der Mikround der Makroebene (‚Cross-Level’-Interaktionen). Dahinter steht die Annahme, dass sich der Einfluss von individuellen Faktoren je nach institutionellem Kontext unterscheidet. In den Hypothesen in Kapitel 3 wurden entsprechende Einflüsse bereits diskutiert. Viertens sind in der deskriptiven Analyse Unterschiede in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen und ihrer Haushalte deutlich geworden. Da sich Armutsrisiken nach individuellen Merkmalen stark unterscheiden, kann eine unterschiedliche Zusammensetzung der Erwerbstätigen bereits einen Teil der Unterschiede in den Armutsquoten erklären (vgl. auch Jäntti/Danziger 1994, Frick et al. 2000). Es ist also von Kompositionseffekten auszugehen. Eine wichtige Frage ist dabei, ob die Zusammensetzung der Erwerbstätigen als exogener oder endogener Faktor angesehen wird. Wie bereits in der deskriptiven Analyse deutlich geworden ist, wird die Zusammensetzung von Haushalten, das Erwerbsverhalten von Frauen, das Auftreten von Niedriglohnbeschäftigung usw. von der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen beeinflusst. Die Zusammensetzung ist also kein exogener Faktor. Kontrolliert man auf Mikroebene die Unterschiede in der Zusammensetzung, werden bereits Unterschiede in der institutionellen Ausgestaltung
6.2 Modellschätzung
179
aufgegriffen. Auch auf diesen Aspekt wird im Rahmen der entsprechenden Analysen noch näher eingegangen.
6.2 Modellschätzung Wie auch im vorherigen Kapitel stellt das Europäische Haushaltspanel (ECHP) die zentrale Datenbasis für die empirische Analyse dar. Eine ausführliche Darstellung des ECHP und die Operationalisierung grundlegender Konzepte finden sich in Kapitel 4. Wie dort bereits erwähnt, enthält das ECHP Angaben zu allen EUMitgliedsländern vor der Osterweiterung. Da die schwedischen Daten in vielen Aspekten von denen der übrigen Länder abweichen, kann Schweden in den folgenden Analysen nicht berücksichtigt werden. Es ergibt sich also ein Ländersample von 14 Fällen. Für die Mehrheit dieser Länder enthält das ECHP Daten über einen Zeitraum von 8 Jahren. Für einige Länder ist der Zeitraum kürzer. Für die Abbildung institutionellen Wandels ist dieser Zeitraum in jedem Fall sehr kurz, sodass die Betrachtung von Länderunterschieden im Zentrum der Analysen stehen wird. Daher wird zunächst nur die letzte Welle des Panels verwendet (2001). Ob eine Berücksichtigung zusätzlicher Beobachtungszeitpunkte möglich und sinnvoll ist, wird in einem weiteren Schritt diskutiert. Aus einer Perspektive der Mehrebenenanalyse85 kann die verwendete letzte Welle des Panels als Zweiebenendatensatz bezeichnet werden. Individuen bilden die untere Ebene, Länder die obere Ebene. Es gibt mehrere Gründe, warum ein solcher Datensatz mit Methoden der Mehrebenenanalyse und nicht mit herkömmlichen Verfahren analysiert werden sollte. Einerseits gibt es inhaltliche Gründe. Die Mehrebenenanalyse betont die Unterscheidung zwischen Einflüssen auf Mikro- und Makroebene und insbesondere von Wechselwirkungen zwischen beiden. Andererseits gibt es statistische Gründe. Würde man bei der Schätzung diese Zweiebenenstruktur ignorieren, würde dies zu verzerrten Schätzern und inkorrekten Standardfehlern führen. Die Probleme resultieren daraus, dass in einem Land lebende Personen bestimmte gemeinsame unbeobachtete Eigenschaften aufweisen. Snijders und Bosker (1999: 6ff) weisen darauf hin, dass Letzteres unterschiedlich berücksichtigt werden kann. Entweder kann es ein Problem für die Schätzung unverzerrter und effizienter Modellparameter darstellen oder als inhaltlich interpretierbares Phänomen betrachtet werden, das in einem entsprechenden Modell Berücksichtigung 85 Vgl. z.B. Snijders/Bosker 1999, Hox 2002 oder Engel 1998. In der neueren Literatur ist mit Mehrebenenanalyse zumeist die Schätzung von ‚random effects models’, also Modellen mit Zufallseffekten gemeint (vgl. dagegen aber Hummell 1972). Die Bezeichnung ‚random effects model’ ist vor allem auch in der Literatur zur Analyse von Paneldaten gebräuchlich (vgl. Wooldridge 2002). Dies ist kein Widerspruch, da die Analyse von Paneldaten als Spezialfall der Mehrebenenanalyse aufgefasst werden kann.
180
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
finden sollte. Das Vorgehen von Mehrebenenanalysen entspricht der zweiten Perspektive, die auch hier geteilt wird. Der Fall, dass Personen in einem Land gemeinsame unbeobachtete Eigenschaften aufweisen, ist in Gleichung (1) für ein einfaches lineares Regressionsmodell dargestellt.86 Der Index i bezieht sich dabei auf Personen, der Index j auf Länder. Der Fehlerterm des Regressionsmodells besteht aus zwei Teilen. Neben dem personenspezifischen Fehlerterm eij gibt es eine länderspezifische Konstante uj, die alle Einflüsse der unbeobachteten Merkmale eines Landes enthält, die auf die abhängige Variable einwirken.87 Aufgrund dieser Konstante werden die Annahmen eines herkömmlichen Regressionsmodells verletzt.88 y ij
E 0 E 1 x1ij u j eij (1)
Da uj für alle Personen eines Landes konstant ist, kann der Term aber als Teil einer länderspezifischen Modellkonstante aufgefasst werden, wie in Gleichung (2) dargestellt.89
y ij
E 0 j E 1 x1ij eij (2)
mit: E 0 j
E0 u j
Da nun die Zufallsvariable uj als Teil der Modellkonstanten interpretiert wird, wird in der Mehrebenenliteratur von einem ‚random intercept model’ gesprochen, also einem Modell mit Zufallskonstante. Die Varianz der Zufallskonstante lässt sich als 86 Die grundlegenden Aspekte der Mehrebenenanalyse werden zuerst am Fall eines möglichst einfachen linearen Regressionsmodels erläutert, obwohl dieses für die hier betrachtete abhängige Variable arm/nicht arm nicht geeignet ist. Nach dieser Betrachtung werden diese Überlegungen auf Logit-Modelle übertragen. 87 Dabei muss angenommen werden, dass auch die Analyseeinheiten der oberen Ebene als Zufallsstichprobe aus einer größeren Grundgesamtheit aufgefasst werden können. In Mehrebenenanalysen, in denen Länder die Untersuchungseinheiten der obersten Analyseebene darstellen, wird diese Annahme häufig ignoriert. 88 Sowohl die Annahme, dass keine Korrelation der stochastischen Komponente vi=uj+eij verschiedener Beobachtungen besteht als auch die Annahme, dass uj nicht mit den unabhängigen Variablen korreliert ist, kann verletzt sein. 89 Die Schätzung des Modells mit Zufallskonstante (random intercept model) basiert weiterhin auf der Annahme, dass uj nicht mit den unabhängigen Variablen korreliert ist [corr(uj, xij)=0] (vgl. Fußnote 88). Das Problem der Verletzung dieser Annahme wird ausführlich im Rahmen der Analyse von Paneldaten diskutiert (vgl. z.B. Wooldridge 2002: 247ff). In der Literatur zur Mehrebenenanalyse wird dieses Problem weitaus weniger ausführlich thematisiert (vgl. aber Snijders/Bosker 1999: 44). Auch die folgenden empirischen Analysen gehen davon aus, dass die Annahme nicht verletzt wird.
181
6.2 Modellschätzung
Varianz auf Länderebene interpretieren. Üblicherweise wird in einem ersten Schritt ein leeres Modell geschätzt, also ein Modell, das keine unabhängigen Variablen enthält, um den Varianzanteil auf Länderebene im Verhältnis zur Gesamtvarianz zu bestimmen. Der entsprechende Anteilswert wird häufig als Ʊ ausgewiesen:
U
W2 V 2 W 2
mit: W 2
(3)
var(u j ), V 2
var(eij )
Neben individuellen Merkmalen können auch Variablen auf Länderebene als fixe Effekte in das Modell eingeführt werden. Zur Unterscheidung zwischen fixen Effekten auf Personen- und Länderebene sind die entsprechenden Variablen in Gleichung (4) unterschiedlich bezeichnet. Die Personenvariable ist als xij, die Ländervariable als zj bezeichnet. y ij
E 0 E1 xij E 2 z j u j eij (4)
Auf Basis dieser Schreibweise lässt sich nun auch der Begriff der ‚Cross-Level’Interaktion erläutern, der im vorherigen Abschnitt bereits verwendet wurde. In Gleichung (5) ist neben dem Effekt einer Personen- und einer Ländervariablen eine solche Interaktion zwischen beiden aufgeführt. Es wird also angenommen, dass sich der Einfluss der personenspezifischen Variablen xij je nach Ausprägung der länderspezifischen Variablen zj unterscheidet. y ij
E 0 E1 xij E 2 z j E 3 xij z j u j eij (5)
Prinzipiell wäre es auch hier möglich, die Unterschiedlichkeit der Steigungskoeffizienten zwischen Ländern, die in solchen Interaktionseffekten ausgedrückt wird, als Zufallseffekte zu modellieren (Zufallseffekt des Steigungskoeffizienten, ‚random slope’). Aufgrund der geringen Fallzahl auf Länderebene wurde von einer Modellierung entsprechender Effekte jedoch abgesehen. Die im Folgenden geschätzten Modelle enthalten also nur fixe Effekte (Personen- und Ländermerkmale, ‚CrossLevel’-Interaktionen) und den Zufallseffekt der Konstanten.
182
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Wie eingangs angesprochen, wird bei dem beschriebenen Vorgehen nur eine Welle des vorliegenden Datensatzes verwendet. Dies kann aus mindestens zwei Gründen problematisch sein. Erstens weist das ECHP eine deutliche Panelmortalität auf, sodass davon auszugehen ist, dass die letzte Welle eine geringere Stichprobenqualität aufweist als die erste Welle. Zwar zeigt Watson (2003) in einem Vergleich der ersten und der fünften Welle des ECHP, dass die Panelmortalität die Messung des Ausmaßes von Armut und Einkommensungleichheit nur geringfügig beeinflusst. Ob dies auch für spätere Wellen der Fall ist, wurde bislang nicht untersucht. Um durch Panelmortalität bedingte Verzerrungen auszuschließen, werden die zentralen Modelle auch für andere Jahre geschätzt. Allerdings ist dieses Vorgehen nur für die Jahre möglich, in denen entsprechende Makroindikatoren vorliegen. Das zweite Problem liegt darin, dass zeitlich veränderliche Rahmenbedingungen – wie beispielsweise das Ausmaß von Arbeitslosigkeit oder Veränderungen in der Höhe von Lohnersatzleistungen – in einer Querschnittsperspektive nicht berücksichtigt werden. Für den Beobachtungszeitraum, der durch das ECHP abgedeckt wird, ist dieses Problem allerdings weniger gravierend. Es gibt keine grundsätzlichen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung während des Beobachtungszeitraums. Wie in Abschnitt 5.1 dargestellt wurde, sind die Jahre 1994 bis 2001 in allen Ländern durch ökonomisches Wachstum und sinkende oder zumindest nicht zunehmende Arbeitslosigkeit gekennzeichnet (vgl. auch OECD 2006b). Außerdem sind Veränderungen auf Ebene der Makroindikatoren relativ schwach ausgeprägt. Mehr als 90 Prozent der Varianz jedes Makroindikators wird durch Unterschiede zwischen Ländern erklärt, nur ein geringer Teil innerhalb der Länder, also durch Veränderungen über die Zeit.90 Dies bedeutet nicht, dass es keinerlei Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen gibt. Betrachtet man die Durchschnittswerte über alle Länder, sind durchaus Anzeichen von Einschnitten in die sozialen Sicherungssysteme (Rückgang der Lohnersatzraten) oder eines Rückgangs des gewerkschaftlichen Organisationsgrads zu beobachten. Das Ausmaß der Veränderungen ist aber, wie gesagt, im Vergleich zum Ausmaß der Unterschiede, die zwischen Ländern bestehen, relativ schwach. Obwohl durch das geringe Ausmaß des Wandels die bislang diskutierte Querschnittsbetrachtung ausreichend erscheint, wäre es besser, Veränderungen über die Zeit im Modell mit zu berücksichtigen. Dabei ergibt sich allerdings ein grundsätzliches Problem der Analyse von Paneldaten (vgl. Wooldridge 2002). Für jede Person liegen mehrere Beobachtungen vor. Es ist dabei davon auszugehen, dass jede Person unbeobachtete, über die Zeit konstante Merkmale aufweist, sodass die Annahme der Unabhängigkeit des Fehlerterms verletzt wird. Es besteht also das Problem, das bereits im Zusammenhang mit Gleichung (1) diskutiert wurde. Der Unterschied besteht allein darin, dass nicht Daten für mehrere Personen aus einem Land vorlie90 Entsprechende Analyseergebnisse sind im nächsten Abschnitt in Tabelle 6.3 dargestellt.
6.2 Modellschätzung
183
gen, sondern mehrere Beobachtungen einer Person. Die Panelregression kann also als Spezialfall der Mehrebenenanalyse verstanden werden. Daher lässt sich das bislang diskutierte Zweiebenenmodell problemlos um eine dritte Ebene erweitern. Wie zuvor leben Personen in unterschiedlichen Ländern, allerdings liegen für jede Person mehrere Beobachtungen vor. Es ergibt sich folgende Ebenenstruktur: Länder, Personen, Beobachtungen. Dieses Vorgehen entspricht einem Panelregressionsmodell, das zusätzlich die Einbettung in unterschiedliche Länderkontexte berücksichtigt. Das Modell ist in Gleichung (6) dargestellt. y hij
E 0 E1 x hij u j u ij ehij (6)
Der Term uj enthält wie zuvor die unbeobachteten (zeitlich konstanten) Merkmale eines Landes. Der Term uij enthält die unbeobachteten, über die Zeit konstanten Merkmale einer Person. Der Index h bezieht sich auf die Beobachtungen. Es gibt allerdings keine Zufallskomponente, die die zeitspezifischen Faktoren erfasst. Es wird also davon ausgegangen, dass die unbeobachteten Faktoren auf Länderebene nicht nur für alle Personen eines Landes, sondern auch über die Zeit konstant sind. Wie ein Modell aussehen könnte, dass ohne diese Einschränkung auskommt, wird in einem weiteren Schritt dargestellt. Dabei sei allerdings bereits hier angemerkt, dass eine Umsetzung auf Basis der vorliegenden Daten nicht sinnvoll erscheint. Daher wird zunächst das Modell in Gleichung (6) weiter erläutert. Die Tatsache, dass das Modell keine Zufallskonstante für die unbeobachteten Merkmale einzelner Zeitpunkte enthält, bedeutet nicht, dass keinerlei Veränderungen auf der Makroebene abgebildet werden können. Eine Modellierung über fixe Effekte ist ohne weiteres möglich. Zum einen können Dummyvariablen oder kontinuierliche Variablen für die Beobachtungszeitpunkte eingefügt werden. Zum anderen müssen Makrovariablen nicht konstant sein, sondern können über die Zeit variieren. Abschließend soll auf die bereits angesprochene Möglichkeit eingegangen werden, die Unterschiede zwischen einzelnen Zeitpunkten als Zufallseffekt zu modellieren. Der Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist wiederum das Modell mit einer Zufallskonstanten, das in Gleichung (1) dargestellt wurde. Die Gleichung wird um die Zufallskomponente u2k erweitert, wobei sich der Index k auf die Beobachtungszeitpunkte bezieht (der länderspezifische Term wird nun als u1j bezeichnet). Es wird also davon ausgegangen, dass die Modellkonstante nicht nur aufgrund von unbeobachteten Ländermerkmalen variiert, sondern dass unbeobachtete Faktoren auch über die Zeit variieren. y ij
E 0 E1 xij u1 j u 2 k eij (7)
184
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Auch dies bedeutet eine Veränderung in der zuvor betrachteten Ebenenstruktur. Auf der unteren Ebene werden nicht Personen, sondern einzelne Beobachtungen von Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet. Diese Personen leben nicht nur in unterschiedlichen Ländern, sondern werden auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachtet. Es gibt also zwei unterschiedliche Kontexte – Land und Zeit – die nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern nebeneinander bestehen. Solche Modelle werden in der Mehrebenenliteratur als ‚cross-classified’ oder ‚crossed random coefficients’ bezeichnet (vgl. z.B. Hox 2002: 123ff oder Snijders/Bosker 1999: 155ff).91 Will man ein entsprechendes Modell auf Basis des ECHP schätzen, stellt sich allerdings das Problem, dass insgesamt nur acht Beobachtungszeitpunkte vorliegen, für manche Länder sogar weniger. Das bedeutet, dass die Schätzung des Terms u2k auf entsprechend wenigen Fällen beruhen würde. Selbst wenn man davon ausgeht, dass nur 10 Fälle auf der obersten Modellebene vorliegen sollten, wie es beispielsweise Snijders und Bosker (1999: 44) tun, erscheint das ECHP für dieses Vorgehen ungeeignet. Außerdem werden in einem solchen Modell unbeachtete konstante Faktoren einer Person nicht berücksichtigt. Aus der Perspektive der Panelregression wird gerade dies als Ursache der Verzerrung von Schätzergebnissen angesehen. Ein entsprechendes Vorgehen wird daher verworfen. Eine Schätzung des zuvor dargestellten hierarchischen Dreiebenenmodells (Gleichung 6) ist jedoch auf Basis des ECHP möglich. Trotzdem werden zunächst die zuvor beschriebenen Zweiebenenmodelle geschätzt. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe: Erstens stehen in der Analyse Länderunterschiede im Vordergrund. Das diskutierte Dreiebenenmodell berücksichtigt auf der Makroebene dagegen Unterschiede sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern. Aufgrund der geringen Variation über die Zeit werden jedoch auch diese Modelle von Unterschieden zwischen Ländern dominiert. Insbesondere aufgrund der geringen Variation über die Zeit wird zunächst das einfachere Zweiebenenmodell bevorzugt.92 Zweitens sind nicht sämtliche Makroindikatoren für frühere Beobachtungszeitpunkte verfügbar. Hier müsste also ohnehin angenommen werden, dass sich entsprechende Rahmenbedingungen nicht verändern. Trotzdem wird die Zweiebenenanalyse um Dreiebenenmodelle ergänzt, um Verzerrungen durch die Auswahl eines einzelnen 91 Erläuterungen anhand eines Beispiels, in dem ‚Zeit’ eine der Modellebenen darstellt, finden sich in Rabe-Hesketh und Skrondal (2005: 249ff). Auch hier wäre eine Berücksichtigung von ‚random slopes’ möglich. Da eine entsprechende Modellierung aber aufgrund der kleinen Länderfallzahl bereits verworfen wurde, wird auch hier nicht darauf eingegangen. Eine Anwendung mit ‚Zeit’ und ‚Land’ als Kontexte für Personen stellt die Analyse von Lubbers und Scheepers (2001) dar. Allerdings verwenden sie gepoolte Querschnittsdaten, sodass jeweils nur eine Beobachtung pro Person vorliegt und somit das Problem der Panelregression nicht auftritt. 92 Aufgrund der geringeren Komplexität sind Zweiebenenmodelle auch mit weniger Rechenaufwand verbunden. Anders als in herkömmlichen Regressionsmodellen kann Rechenzeit bei Modellen mit Zufallskomponenten auch heute noch ein Problem darstellen (insbesondere bei Modellen mit dichotomen abhängigen Variablen, einer größeren Zahl von unabhängigen Variablen und großen Fallzahlen).
185
6.2 Modellschätzung
Beobachtungszeitpunkts auszuschließen und Fragen zu beantworten, für die die Berücksichtigung zeitlicher Einflüsse grundlegend ist. Sind zeitlich variable Indikatoren vorhanden, bieten Dreiebenenmodelle aufgrund der größeren Fallzahl (Länder*Zeitpunkte) eine zusätzliche Möglichkeit, Makroeinflüsse betreffende Hypothesen zu überprüfen. Es bleibt ein letzter Punkt zu klären: Die Schätzung von Mehrebenenmodellen auf Basis des ECHP wurde bislang am Fall linearer Regressionsmodelle dargestellt. Diese sind jedoch für Armutsanalysen nicht geeignet, da die interessierende Variable nur zwei Ausprägungen aufweist (arm/nicht arm). Wie auch bei einfachen Regressionsmodellen stellt das Logit-Modell auch im Mehrebenenfall eine gängige Möglichkeit zur Analyse dichotomer abhängiger Variablen dar (vgl. Snijders/Bosker 1999: 207ff, Hox 2002: 103ff, Engel 1998: 177ff). Die Schätzgleichung eines LogitModells mit Zufallskonstante, fixen Personen- und Ländereffekten ist in Gleichung (8) dargestellt.93
logit (S ij ) E 0 E1 xij E 2 z j E 3 xij z j u j eij (8) mit: S ij
P( y ij
1 | xij , z j ) und: logit (S ij )
ln
S ij 1 S ij
Analog zum linearen Modell lässt sich auch im Logit-Modell die Varianz der Zufallsvariablen als Varianz auf Länderebene interpretieren. Für die Bestimmung der Varianzkomponenten in logistischen Mehrebenenmodellen gibt es jedoch unterschiedliche Vorgehensweisen. Hier wird entsprechend der logistischen Verteilung auf erster Ebene eine Varianz von ư2/3 (§3,29) angenommen (vgl. Snijders/Bosker 1999: 224, Goldstein et al. 2002). Grundsätzlich ist wie beim herkömmlichen LogitModell zu berücksichtigen, dass die Schätzergebnisse nicht direkt interpretierbar sind. Zusätzlich zu den Modellparametern werden daher in Teilen der folgenden Analyse vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten ausgewiesen.
93 Es gibt verschiedene Ansätze, Logit-Modelle mit Zufallskomponenten zu schätzen. Dies liegt daran, dass die Schätzung außerordentlich rechenintensiv ist, sodass häufig Näherungsverfahren verwendet werden. Leider können sich die Ergebnisse der unterschiedlichen Näherungsverfahren unterscheiden (vgl. Guo/Zhao 2000). Für die Schätzung der Zweiebenenmodelle wurde das auf Stata basierende Programm GLLAMM verwendet. Die Dreiebenenmodelle wurden mit dem Programm HLM 6.0 geschätzt.
186
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
6.3 Operationalisierung und erwartete Einflüsse Wie in den deskriptiven Analysen werden erwerbstätige Personen im Erwerbsalter (17 bis 64 Jahre) betrachtet. Die Definition von Erwerbstätigkeit folgt den Vorgaben der ILO: Erwerbstätig ist, wer wöchentlich mindestens eine Stunde arbeitet. Für die Messung von Armut werden die monatlichen Einkommensangaben verwendet. Arm ist, wer in einem Haushalt lebt, der über weniger als 60 Prozent des Medians des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens verfügt. Zur Bedarfsgewichtung wird die modifizierte OECD-Skala benutzt. Eine ausführliche Beschreibung grundlegender Konzepte findet sich in Kapitel 4. Als Einflüsse auf der Mikroebene wurden der Bedarf, die Ressourcen und die Restriktionen von Erwerbstätigen und den Haushalten, in denen sie leben, diskutiert (vgl. Abschnitt 2.5). In Tabelle 6.1 ist dargestellt, welche Indikatoren zur Messung dieser Konstrukte verwendet werden und welcher Einfluss einzelner Indikatoren erwartet wird. Der unterschiedliche Bedarf wird über die Anzahl der Haushaltsmitglieder in verschiedenen Altersgruppen gemessen (0-2, 3-5, 6-16 und 17+ Jahre). Es wird angenommen, dass Personen, die in einem Haushalt mit höherem Bedarf leben, ein höheres Armutsrisiko aufweisen. Ressourcen werden über mehrere Indikatoren gemessen, worunter allerdings nur wenige sind, die diese direkt messen. Es werden auch Indikatoren wie die Position im Arbeitsmarkt oder die Erwerbstätigkeit von Haushaltsmitgliedern berücksichtigt, die als Realisierung von Ressourcen interpretiert werden. Folgende Indikatoren werden verwendet: Bildung (ISCED 0-2, 3, 5-7), Alter und Alter quadriert, Geschlecht, Arbeitszeit (<30h/30+h), Anzahl der erwerbstätigen Haushaltsmitglieder nach Arbeitszeit, Art der Erwerbstätigkeit (abhängig beschäftigt - kein Niedriglohn, abhängig beschäftigt - Niedriglohn94, selbständig), berufliche Tätigkeit (7 Ausprägungen). Alter und Geschlecht können als Indikatoren für die Berufserfahrung interpretiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Frauen aufgrund von häufigeren Erwerbsunterbrechungen durchschnittlich über weniger Berufserfahrung verfügen. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass ‚Alter’ und insbesondere ‚Frau’ auch andere Aspekte beinhalten. Höheres Alter kann ein Indikator für sich verschlechternde Arbeitsmarktchancen sein. Je nach Alter unterscheiden sich aber auch die Möglichkeiten des Rückgriffs auf Unterstützung durch die Familie. Auch die schlechtere Position von Frauen am Arbeitsmarkt kann durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren bedingt sein, z.B. Diskriminierung oder Unterschiede in der Ausbildungsrichtung.
94 Wie zuvor sind Niedriglöhner als abhängig beschäftigte Personen definiert, die weniger als zwei Drittel des Medianbruttostundenlohns verdienen.
187
6.3 Operationalisierung und erwartete Einflüsse
Tabelle 6.1: Indikatoren und erwartete Einflüsse a) Individualebene Ressourcen Berufserfahrung, Position am Arbeitsmarkt Bildung
Alter / Alter quadriert Frau ISCED (3 Ausprägungen)
eingeschränkte Arbeitszeit
Teilzeit (< 30h)
+
weitere Erwerbseinkommen
Anzahl Erwerbstätige HHMitglieder nach Arbeitszeit Niedriglohnbeschäftigung, Selbständigkeit 7 Ausprägungen
-
schlechte Position am Arbeitsmarkt berufliche Tätigkeit
-/+ -
+ ~
Bedarf Kinder im Haushalt weitere Personen im Haushalt
Anzahl Kinder im Haushalt nach Altersgruppe Anzahl Personen 17+ Jahre im Haushalt
+ +
Restriktionen Kinder im Haushalt
s.o.
s.o.
Scheidungsfolgen
Familienstand (geschieden/getrennt)
+
Durchschnittliche Nettolohnersatzrate bei Arbeitslosigkeit [2001]
-
allgemeine Familienunterstützung
Kinder-/Familiengeld (öffentl. Ausgaben in % vom BIP) [1998]
-
Doppelverdienerunterstützung
Familiendienstleistungen (öffentl. Ausgaben in % vom BIP) [1998]
-
intergenerationale Abhängigkeit
Durchschnittl. Anzahl an HHMitgliedern 17+ Jahre [2001]
b) Länderebene Dekommodifizierung Transferhöhe Defamilisierung
Fortsetzung nächste Seite
+/-
188
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Fortsetzung Tabelle 6.1 Arbeitsmarktinstitutionen Zentralisierung
Lohnverhandlungsebene [2000]
-
gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Anteil Gewerkschaftsmitglieder an allen abh. Beschäftigten [2001]
-
c) Individualebene*Länderebene (cross-level) Doppelverdienerunterstützung* Kinder (0-2 Jahre) im HH Doppelverdienerunterstützung* Geschlecht: Frau intergenerationale Abh.* Alter Zentralisierung* geringqualifizierte Tätigkeit
siehe oben
-
siehe oben
+
siehe oben
-
siehe oben
-
Anmerkungen: Siehe Anhang A für zusätzliche Informationen zu den Indikatoren.
Allgemein wird angenommen, dass höhere Ressourcen das Risiko von Armut von Erwerbstätigen verringern. Entsprechend wird ein negativer Einfluss höherer Bildung, längerer Arbeitszeit, einer höheren Anzahl erwerbstätiger Haushaltsmitglieder und höheren Alters angenommen. Für das Alter wird allerdings erwartet, dass sich der Einfluss zunehmend abschwächt. Ob dies ein Effekt eines abnehmenden Zuwachses an Berufserfahrung oder abnehmender Arbeitsmarktchancen aufgrund des Alters ist, wird dabei nicht unterschieden. Der Einfluss des Geschlechts ist in früheren Studien uneinheitlich. Teilweise weisen erwerbstätige Frauen höhere Armutsquoten auf, teilweise niedrigere. Hier wird entsprechend der obigen Argumentation zunächst davon ausgegangen, dass Frauen eher armutsgefährdet sind. Ob der Einfluss des Geschlechts je nach länderspezifischen Rahmenbedingungen variiert, wird in einem weiteren Schritt geklärt. Der Bezug niedriger Löhne kann als Folge niedriger Ressourcen verstanden werden. Daher wird für Niedriglöhner ein höheres Armutsrisiko angenommen. Uneindeutig ist die Bedeutung des Indikators ‚berufliche Selbständigkeit’. Für einen Teil der Selbständigen kann eine schlechtere Position im Arbeitsmarkt angenommen werden. Sicherlich wird über den Indikator aber auch die Einkommensuntererfassung bei Selbständigen kontrolliert. Neben dem Erwerbsstatus wird zwischen sieben beruflichen Tätigkeitsbereichen unterschieden. Für Personen, die eine berufliche Tätigkeit ausüben, die geringe Qualifikationen erfordert, wird ein höheres Armutsrisiko angenommen. Als Restriktion ist das Vorhandensein von Kindern im Haushalt zu verstehen. Allerdings ist dieser Einfluss
6.3 Operationalisierung und erwartete Einflüsse
189
nicht von der oben diskutierten Erhöhung des Bedarfs durch Kinder zu trennen. Besondere Restriktionen bestehen für Geschiedene. Daher wird für diese Gruppe ein höheres Armutsrisiko angenommen (Dummyvariable geschieden/getrennt lebend). Wie bereits in den deskriptiven Analysen angesprochen, unterscheiden sich die betrachteten Länder in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen nach den hier betrachteten Merkmalen. Diese Unterschiede werden nochmals in knapper Form dargestellt. Dabei steht die Frage im Vordergrund, in welchen Merkmalen sich die Länder besonders stark unterscheiden, um die Stärke möglicher Kompositionseffekte abschätzen zu können. Um einen Vergleich sämtlicher Merkmale zu ermöglichen, wurde für jedes Land und jedes Merkmal der beobachtete Wert (Anteil oder Mittelwert) durch den jeweiligen Durchschnitt über alle Länder (arithmetisches Mittel) geteilt. Dies ermöglicht, trotz der Unterschiede im durchschnittlichen Auftreten eines bestimmten Merkmals, einen Vergleich der Verteilung der Merkmale auf Länderebene. Anhand eines Beispiels lässt sich dies erläutern: Das Alter der Erwerbstätigen beträgt in Dänemark durchschnittlich 42,3 Jahre. Im Durchschnitt über alle Länder dagegen 39,5 Jahre. Das Durchschnittsalter in Dänemark ist also um den Faktor 1,07 höher. Je größer die Varianz dieser Faktoren, desto stärker unterscheiden sich die Länder in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen in dem betreffenden Merkmal. Die Verteilung der so berechneten Faktoren ist in einem Box-Plot dargestellt (Abbildung 6.1). Ist der Anteil einzelner Merkmale in allen Ländern ähnlich, ist die Höhe der Boxen gering. Gibt es große Unterschiede, sind die Boxen entsprechend größer. Die als Mittellinie in den Boxen ausgewiesenen Medianwerte geben zusätzlich Auskunft über die Schiefe der Verteilung. Ein Medianwert von 1 deutet auf eine symmetrische Verteilung hin, größere oder kleinere Werte auf links- bzw. rechtsschiefe Verteilungen. Die Länder unterscheiden sich wenig im Durchschnittsalter der Erwerbstätigen (1-2) und – verglichen mit anderen Merkmalen – auch nicht besonders stark im Anteil von Frauen an allen Erwerbstätigen (3). Sehr viel deutlicher fallen Bildungsdifferenzen aus (4-6). So reicht der Anteil von Erwerbstätigen mit tertiärer Bildung von 36 bis 169 Prozent des Durchschnitts über alle Länder. Dies entspricht Anteilswerten von 10 bis 48 Prozent. Die nächsten vier ‚Boxen’ (710) verdeutlichen Unterschiede in der Zusammensetzung der Haushalte von Erwerbstätigen. Berücksichtigt man keine Ausreißer, variiert die Anzahl der Personen ab 17 Jahren am stärksten, während Unterschiede in der Anzahl der Kinder geringer ausfallen. Verglichen mit den Unterschieden im Anteil der Geschiedenen und getrennt Lebenden (11), sind die Unterschiede in der Haushaltszusammensetzung insgesamt relativ gering.
190
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Abbildung 6.1: Zusammensetzung der Erwerbstätigen - Länderunterschiede 3
2
1
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Legende: 1/2: Alter/Alter quadriert, 3: Geschlecht: weiblich, 4-6: Bildung (ISECD 0-2, 3, 5-7), 7-10: Anzahl Kinder/Personen im HH nach Alter (0-2, 3-5, 6-16, 17+ Jahre), 11: Familienstand: geschieden/getrennt, 12/13: Arbeitszeit <30h/30+h 14/15: Anzahl erwerbstätige Haushaltsmitglieder nach Arbeitszeit (<30h, 30+h), 16/17: Art der Erwerbstätigkeit Niedriglohn/Selbständigkeit, berufliche Tätigkeit: 18: hohe Beamte, Angestellte, Manager, 19: freie Berufe und Semiprofessionen, 20: Angestellte, 21: landwirtschaftliche Berufe, 22: einfache Dienstleistungstätigkeiten, 23: Facharbeiter, 24: un/angelernte Arbeiter. Anmerkungen: Dargestellt ist die Verteilung der Ländermittelwerte bzw. –anteilswerte des jeweiligen Merkmals im Verhältnis zum arithmetischen Mittel über alle Länder (n=14). Ein Wert von 1 bedeutet, dass der Länderwert genau dem des arithmetischen Mittels über alle Länder entspricht (weitere Erläuterungen im Text). Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Etwas schwächere, aber trotzdem relevante Unterschiede zeigen sich im Anteil der Teilzeiterwerbstätigen (12) und der Anzahl weiterer erwerbstätiger Personen im Haushalt (14-15). Größere Unterschiede bestehen weiter im Anteil der Niedriglöhner (16) und insbesondere im Anteil der Selbständigen (17). Die übrigen sieben ‚Boxen’ verdeutlichen die Unterschiede in der Verteilung beruflicher Tätigkeiten (18-24). Die stärksten Unterschiede sind dabei beim Anteil landwirtschaftlicher Berufe festzustellen. Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es gibt in mehreren Bereichen starke Unterschiede in der Zusammensetzung der Erwerbstätigen. Dies betrifft insbesondere den Anteil an Personen in landwirtschaftlichen Berufen und
6.3 Operationalisierung und erwartete Einflüsse
191
Selbständigen (wobei dies in engem Zusammenhang stehen dürfte, da Landwirte überproportional häufig selbständig sind). Deutliche Unterschiede zeigen sich aber auch in der Bildungsverteilung, dem Anteil von Geschiedenen und getrennt Lebenden, dem Anteil an Niedriglöhnern und Teilzeiterwerbstätigen und in der Anzahl von weiteren (erwerbstätigen) Personen im Haushalt. Neben Mikroindikatoren werden in den folgenden Analysen mehrere Makroindikatoren zur Messung des Grades an Dekommodifizierung und Defamilisierung sowie zur Ausgestaltung von Lohnverhandlungssystemen verwendet. Diese Indikatoren wurden bereits in Kapitel 3 ausführlich dargestellt (siehe auch Anhang A). Für die folgenden Analysen ist die Auswahl allerdings eingeschränkt, da nur Indikatoren verwendet werden können, die in aktueller Form für alle 14 Länder vorliegen, um nicht weitere Fälle auf der Makroebene zu verlieren. Der Grad der Dekommodifizierung wird daher zunächst nicht über einen Dekommodifizierungsindex (EspingAndersen 1990, Scruggs 2005) gemessen, sondern allein über die Höhe der Lohnersatzrate bei Arbeitslosigkeit. Entsprechend der in Abschnitt 3.8 formulierten Hypothese, wird ein negativer Einfluss angenommen. Zusätzlich werden Modelle mit dem Dekommodizierungsindikator in der Version von Scruggs (2005) auf Basis eines kleineren Ländersamples gerechnet. Die Ergebnisse werden im Zusammenhang mit dem Einfluss der reinen Lohnrersatzrate diskutiert. Wie zuvor diskutiert, umfasst das Konzept der Defamilisierung unterschiedliche Dimensionen. Diese werden mit unterschiedlichen Indikatoren abgebildet. Doppelverdienerunterstützung und generelle Familienunterstützung werden über die Höhe der Staatsausgaben für entsprechende Dienstleistungen und Kinder- bzw. Familiengeld gemessen (jeweils als Anteil am BIP), wie sie in der Sozialausgabendatenbank der OECD enthalten sind. Für die Messung des Ausmaßes intergenerationaler Abhängigkeit liegt kein institutioneller Indikator vor.95 Stattdessen wird die durchschnittliche Anzahl von Personen ab 17 Jahren in einem Haushalt, also im erwerbsfähigen Alter und darüber, verwendet. Das Zusammenleben von einer größeren Anzahl von Personen ab 17 Jahren wird als Indikator für eine höhere intergenerationale Abhängigkeit interpretiert, da davon auszugehen ist, dass sich darin vor allem das Zusammenleben von jungen Erwachsenen mit ihren Eltern bzw. von älteren Personen mit ihren Kindern widerspiegelt (vgl. Abschnitt 5.3). Wie in Kapitel 3 diskutiert, werden gegenläufige Effekte angenommen. Einerseits verringert ein 95 Vorstellbar wäre eine Operationalisierung, die die rechtlichen Verpflichtungen bzgl. Pflege und Unterhalt von Kindern gegenüber ihren Eltern bzw. anders herum betrachten (vgl. Millar/Warman 1996). Entsprechende Regelungen sind allerdings nur schwer zu quantifizieren. Außerdem liegen keine aktuellen Arbeiten vor, die entsprechende Regelungen in international vergleichender Form aufarbeiten. Zudem wird darüber nur ein Aspekt intergenerationaler Abhängigkeit abgedeckt. Zu berücksichtigen wären weiter die Regulierung des Zugangs junger Erwachsener zum Arbeitsmarkt und die eigenständige Absicherung junger Arbeitsloser durch soziale Sicherungssysteme. Beides betrifft die materielle Unabhängigkeit junger Erwachsener von ihren Eltern und somit einen zentralen Aspekt intergenerationaler Abhängigkeit.
192
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
hoher Grad der Defamilisierung das Risiko von Armut bei Erwerbstätigkeit. Andererseits senken – familisierend angelegte – allgemeine Familienleistungen das Armutsrisiko von Familien. Weiter kann intergenerationale Abhängigkeit, positiv gewendet, als Familiensolidarität interpretiert werden und somit auch eine Schutzfunktion haben. Tabelle 6.2: Institutionelle Rahmenbedingungen - Länderunterschiede
arithm. Mittel
Std. abw.
Min.
Max.
1994-2001 Varianz über die Zeit1
63,9
16,7
27,6
81,6
8,7 2
0,71
0,61
0,11
2,23
3,7 3
1,43
0,64
0,29
2,40
5,7 3
1,48
0,33
0,97
1,89
2,5
3
1
1
5
35,5
20,4
9,6
77,8
2001
Lohnersatzrate (Arbeitslosigkeit) Familiendienstleistungen (Ausgaben als Anteil des BIP) Familienunterstützung (Ausgaben als Anteil des BIP) Anzahl HH-Mitglieder 17+ Jahre Lohnverhandlungsebene gewerkschaftl. Organisationsgrad
2,5 4 0,8
Anmerkungen: 1) Varianz innerhalb von Ländern als Anteil an der Gesamtvarianz, 2) Angaben nur für 1995, 1997, 1999 und 2001, 3) Angaben nur bis 1998, 4) Angaben nur bis 2000 (ohne Irland, Griechenland, Luxemburg). Quellen: Siehe Tabelle 3.2, Tabelle 3.4, Tabelle 3.5 und Anhang A.
Angaben zur Lohnverhandlungsebene sind dem international vergleichenden Datensatz von Golden, Lange und Wallerstein entnommen (Golden et al. 2006). Der verwendete Indikator unterscheidet zwischen fünf Lohnverhandlungsebenen: 1. dezentral (betrieblich), 2. auf Wirtschaftszweigebene (ohne Sanktionen zur Übernahme von Abschlüssen), 3. auf Wirtschaftszweigebene (mit Sanktionen), 4. zentral (ohne Sanktionen), 5. zentral (mit Sanktionen). Fehlende Angaben wurden durch Angaben aus Länderberichten des European Industrial Relations Observatory ergänzt (vgl. die Zusammenstellung in Visser 2004). In zusätzlichen Analysen wird ein Zentralisierungsindex (Visser 2004) verwendet, der allerdings nicht für alle Länder vorliegt. Neben der Lohnverhandlungsebene wird auch die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften berücksichtigt. Hier wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad
6.4 ,Cross-level’-Interaktionen und Kompositionseffekte
193
als Indikator verwendet (Quelle: OECD Labour Force Survey Database). Es wird dabei davon ausgegangen, dass sowohl ein höherer Grad der Zentralisierung als auch ein höherer Organisationsgrad einen negativen Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen aufweisen. Die Länderunterschiede in der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen werden noch einmal kurz dargestellt (Tabelle 6.2, eine ausführliche Diskussion findet sich in Abschnitt 3.6). Die durchschnittliche Lohnersatzrate variiert zwischen 27,6 und 81,6 Prozent eines Durchschnittslohns. Die höchsten öffentlichen Ausgaben für Familiendienstleistungen belaufen sich auf 2,23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während die meisten Länder deutlich niedrigere Ausgaben aufweisen. Die Ausgaben für Leistungen wie Kindergeld (allgemeine Familienunterstützung) sind durchschnittlich höher. Die Unterschiede in der Anzahl von Personen über 17 Jahren wurden bereits diskutiert, da es sich hierbei um eine aggregierte Mikrovariable handelt. Der Indikator für die Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen hat fünf Ausprägungen. Zwischen 9,6 und 77,8 Prozent der Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert. Neben Angaben für das jeweils aktuellste Jahr enthält Tabelle 6.2 auch Informationen über die Variabilität der Indikatoren über die Zeit. Wie im vorherigen Abschnitt argumentiert, sind Unterschiede zwischen Ländern deutlich stärker ausgeprägt als Unterschiede innerhalb von Ländern während des Beobachtungszeitraums. Insgesamt sind Unterschiede innerhalb von Ländern nur schwach ausgeprägt. Die stärksten Schwankungen sind in der Lohnersatzrate festzustellen. Allerdings beträgt auch hier die Varianz auf Länderebene mehr als 90 Prozent. Es erscheint also gerechtfertigt, in der folgenden Analyse zunächst vor allem Länderunterschiede zu berücksichtigen.
6.4 ‚Cross-level’-Interaktionen und Kompositionseffekte Im Rahmen von Mehrebenenmodellen ist es nicht nur möglich, den Einfluss von Mikro- und Makrofaktoren zu bestimmen, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Einflüssen abzuschätzen. Neben einem direkten Effekt der Makrodeterminanten wird davon ausgegangen, dass mit den institutionellen Rahmenbedingungen auch Einflüsse von individuellen bzw. haushaltsbezogenen Determinanten variieren. Um diese Annahme zu überprüfen, werden in einem letzten Schritt ‚Cross-level’ Interaktionen zu den Modellen hinzugefügt. Wie zuvor bereits argumentiert, wird angenommen, dass die institutionellen Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit, die Position von Frauen im Arbeitsmarkt, das Zusammenleben von Haushalten und das spezifische Armutsrisiko von Geringqualifizierten haben. Folgende Hypothesen werden überprüft (siehe auch Tabelle 6.1 und die Diskussion
194
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
in Kapitel 3): 1. Defamilisierung (gemessen als Doppelverdienerunterstützung) verringert das mit Kindern assoziierte Armutsrisiko, da Restriktionen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abgebaut werden. 2. Defamilisierung verändert die Position von Frauen im Arbeitsmarkt und damit das Armutsrisiko erwerbstätiger Frauen. Dies ist allerdings kein Effekt der zunehmenden Anzahl von Doppelverdienerhaushalten, denn dann müsste man annehmen, dass erwerbstätige Frauen aufgrund des geringen Armutsrisikos von Doppelverdienerhaushalten eher nicht arm sind. Der Einfluss wird vermutet, da gleichzeitig zu erwarten ist, dass es mehr Haushalte gibt, in denen das Einkommen von Frauen das einzige Erwerbseinkommen ist und dieses aufgrund der bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt nicht ausreicht, um Armut zu verhindern (Alleinerziehende und Frauen mit erwerbslosem Partner). Daher wird angenommen, dass ein höherer Grad der Defamilisierung das relative Armutsrisiko von Frauen erhöht. 3. Intergenerationale Abhängigkeit wird als ein Faktor betrachtet, der das Armutsrisiko von jüngeren zu älteren Erwerbstätigen verschiebt. Dies wird deshalb angenommen, da jüngere Arbeitslose und Niedriglöhner eher mit ihren Eltern zusammenleben. Für diese bedeutet dies ein gewisses Maß an Schutz, während für die erwerbstätigen Eltern Belastungen entstehen. 4. Es wird ein Zusammenhang zwischen Zentralisierung der Lohnverhandlungen und dem Armutsrisiko von Geringqualifizierten angenommen. In zentralisierten Lohnverhandlungssystemen wird vor allem eine Stauchung der Lohnverteilung von unten angenommen, sodass die Position von Geringqualifizierten innerhalb der Lohnverteilung verbessert werden sollte. In den vorangegangenen Abschnitten wurde außerdem erläutert, dass über Kompositionseffekte bereits ein Teil der Länderunterschiede erklärt wird. Bislang wurde aber nur ansatzweise gezeigt, dass die Zusammensetzung der Erwerbstätigen und ihrer Haushalte bereits ein Resultat der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen ist. Träfe dies in starkem Maße zu, würde über die Kontrolle der Zusammensetzung der Erwerbstätigen bereits ein Großteil der institutionellen Effekte berücksichtigt. Um diese Frage zu klären, werden Korrelationen zwischen den in Abschnitt 6.3 dargestellten aggregierten Mikroindikatoren und den Makroindikatoren berechnet (Tabelle 6.3). Die durchschnittlich stärksten Korrelationen zeigen sich für den Anteil der Personen mit geringer Schulbildung, die Zahl in einem Haushalt lebender Personen ab 17 Jahren, den Anteil an Personen in freien Berufen bzw. Semiprofessionen und den Anteil der Selbständigen. Inwieweit ein kausaler Einfluss zwischen Zusammensetzung der Erwerbstätigen und der Ausgestaltung der hier betrachteten institutionellen Rahmenbedingungen besteht, ist auf Basis dieser Analyse nicht zu unterscheiden. Betrachtet man allerdings, zwischen welchen Merkmalen besonders starke Korrelationen auftreten, lassen sich durchaus inhaltlich interpretierbare Muster feststellen.
195
6.4 ,Cross-level’-Interaktionen und Kompositionseffekte
Tabelle 6.3: Korrelation zwischen Zusammensetzung der Erwerbstätigen und institutionellen Rahmenbedingungen
aggregierte Individualmerkmale Alter Alter quadriert Geschlecht: weiblich ISCED 0-2 ISCED 3 ISCED 5-7 Kinder in HH 0-2 J. (Anzahl) Kinder in HH 3-5 J. (Anzahl) Kinder in HH 6-16 J. (Anzahl) Pers. in HH 17+ J. (Anzahl) Familienstand: geschieden/getrennt Arbeitszeit <30h Arbeitszeit 30+h erwerbst. HH-Mitgl. <30h (Anzahl) erwerbst. HH-Mitgl. 30+h (Anzahl) Niedriglohn Selbständigkeit berufl. Tätigkeit: hohe Beamte/Angestellte, Manager freie Berufe/Semiprofessionen Angestellte landwirtschaftl. Berufe einfache Dienstleistungstätigk. Facharbeiter un-/angelernte Arbeiter
1
institutionelle Rahmenbedingungen 2 3 4 5 6
0,04 0,01 0,49 -0,38 0,16 0,30 0,34 0,22 0,05 -0,54 0,45 0,16 -0,16 0,12 -0,28 0,29 -0,87
0,63 0,64 0,40 -0,58 0,50 0,10 0,55 0,38 -0,25 -0,52 0,08 -0,30 0,30 -0,41 -0,20 -0,43 -0,30
0,22 0,18 0,28 -0,69 0,44 0,35 0,27 0,37 0,05 -0,58 0,61 0,01 -0,01 -0,12 -0,45 0,25 -0,52
-0,62 -0,60 -0,61 0,66 -0,20 -0,64 -0,31 -0,24 0,33 0,94 -0,67 -0,22 0,22 0,06 0,72 -0,13 0,75
0,26 0,26 0,00 -0,35 0,42 -0,11 0,28 0,34 0,20 0,03 -0,38 0,03 -0,03 0,07 0,03 -0,53 0,19
0,45 0,45 0,42 -0,48 0,29 0,26 0,56 0,46 0,19 -0,41 0,19 -0,16 0,16 -0,19 -0,15 -0,47 -0,22
0,20 0,63 -0,25 -0,56 -0,43 -0,34 0,19
-0,10 0,41 -0,13 -0,11 -0,28 -0,17 -0,47
0,13 -0,32 -0,51 -0,02 0,41 -0,85 0,13 0,42 0,26 -0,17 0,29 0,01 -0,41 0,78 0,11 -0,19 -0,36 0,69 -0,08 -0,20 -0,41 0,67 -0,14 -0,40 -0,18 0,43 -0,10 -0,19
Legende: 1: Lohnersatzrate (Arbeitslosigkeit), 2: Familiendienstleistungen (Ausgaben als Anteil des BIP), 3: allgemeine Familienunterstützung (Ausgaben als Anteil des BIP), 4: Anzahl HH-Mitglieder 17+ Jahre, 5: Lohnverhandlungsebene, 6: gewerkschaftl. Organisationsgrad. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Der Anteil der Teilzeiterwerbstätigen und die Anzahl der teilzeiterwerbstätigen Haushaltsmitglieder sind am höchsten mit dem Indikator für Doppelverdienerunterstützung korreliert. Je höher das Ausmaß an Doppelverdienerunterstützung,
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6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
desto niedriger ist der Anteil bzw. die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten. Die höchste Korrelation mit dem Anteil der Niedriglöhner weist der Indikator für die Zentralisierung des Lohnverhandlungssystems auf. Stärker zentralisierte Systeme weisen einen niedrigeren Anteil an Niedriglöhnern auf. Die Selbständigenquote und der Anteil der Personen in landwirtschaftlichen Berufen sind stark mit dem Indikator für intergenerationale Abhängigkeit korreliert. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen Familialismus und selbständiger Erwerbstätigkeit, insbesondere in der Landwirtschaft hin. Zusammengenommen finden sich also Belege dafür, dass ein Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen und der Zusammensetzung der Erwerbstätigen besteht. Da sich das Armutsrisiko unterschiedlicher Gruppen von Erwerbstätigen unterscheidet, wirken institutionelle Rahmenbedingungen auch dann, wenn sie die Größe von ‚Risikogruppen’ verringern. Dies wird bei der Interpretation der Schätzergebnisse zu berücksichtigen sein.
6.5 Ergebnisse: Individuelle, haushaltsbezogene und länderspezifische Determinanten des Armutsrisikos Im Zentrum der folgenden Analysen steht die Frage, inwieweit sich Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen auf eine unterschiedliche Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen zurückführen lassen. Zur Klärung dieser Frage werden zunächst mehrere Zweiebenenmodelle geschätzt. Ausgangspunkt ist ein leeres Modell (M0), in dem allein die Frage geklärt werden soll, wie hoch der Anteil an Varianz auf Länderebene ist. Dabei wird sich zeigen, ob sich die Armutsquote aufgrund von individuellen oder von Ländereigenschaften unterscheidet. Im zweiten Schritt wird ein Modell (M1) geschätzt, das sämtliche Mikrovariablen enthält. Dabei geht es einerseits um die Frage, welche personen- und haushaltsspezifischen Faktoren das Armutsrisiko beeinflussen. Andererseits lässt sich aber auch zeigen, inwieweit Varianz auf der Länderebene Ausdruck der unterschiedlichen Zusammensetzung der Erwerbstätigen bzw. auf den unterschiedlichen Einfluss von Mikrofaktoren zurückzuführen ist. In einem dritten Schritt wird dann der direkte Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen überprüft (M2/M3). Danach wird gezeigt, ob Einflüsse auf der Makroebene bestehen bleiben, wenn Einflussfaktoren auf der Mikroebene mitberücksichtigt werden. Dabei geht es darum zu klären, inwieweit Kompositionseffekte und Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makrofaktoren eine Rolle spielen (M4/M5). In weiteren Schritten wird die Analyse auf alle verfügbaren Zeitpunkte ausgeweitet. Dabei wird überprüft, ob Panelmortalität einen Einfluss auf die Ergebnisse hat, aber vor allem, inwieweit zeitliche Aspekte eine Rolle spielen. Ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede, bietet die Betrachtung
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
197
auf Basis aller Zeitpunkte aufgrund der höheren Fallzahl auf der Makroebene (Länder*Zeitpunkte) bessere Analysemöglichkeiten. Zuerst werden jedoch Zweiebenenmodelle geschätzt, in denen Unterschiede eindeutig als Unterschiede zwischen Ländern interpretiert werden können. Das Nullmodell (M0, Tabelle 6.4) zeigt, dass 5,6 Prozent der Gesamtvarianz Varianz auf Länderebene ist (zur Berechnung vgl. Abschnitt 6.2). Das bedeutet zunächst, dass individuelle Eigenschaften mehr darüber aussagen, ob eine Person arm und erwerbstätig ist als die Tatsache, dass sie in einem bestimmten Land lebt. Weiter ist allerdings zu berücksichtigen, dass – wie zuvor diskutiert – die länderspezifischen institutionellen Rahmenbedingungen einen Einfluss darauf haben können, wie groß der Anteil von Personen ist, die einer Gruppe mit hohem Armutsrisiko angehören. Ist beispielsweise der Anteil von Personen, die in Zweiverdienerhaushalten leben, größer, wird dies die länderspezifische Armutsquote senken, ohne dass dies in dem hier geschätzten Modell der Varianz auf Länderebene zugerechnet wird. Wenn dies der Fall ist, sollte bei Kontrolle individueller Merkmale die Varianz auf Länderebene reduziert werden. Genau dies ist im nächsten Modell (M1) zu beobachten. Allerdings ist die Varianz auf Länderebene insgesamt nicht sehr hoch. Außerdem schwankt der Varianzanteil von Welle zu Welle.96 Dieses Problem liegt vermutlich darin begründet, dass die Anzahl der Länder mit 14 für eine solche Analyse relativ gering ist. Auf eine weitere Interpretation der Varianzanteile soll daher im Folgenden verzichtet werden. Eindeutige Aussagen lassen sich dagegen über die Struktur individueller Armutsrisiken machen, wie sie sich in den Ergebnisse von Modell M1 zeigt. Die Resultate entsprechen durchgängig den Erwartungen und bestätigen die Ergebnisse früherer Arbeiten (vgl. Abschnitt 2.5). Das Armutsrisiko nimmt mit zunehmendem Alter ab, wobei sich dieser Effekt mit höherem Alter abschwächt bzw. umkehrt. Personen mit höherer Bildung weisen ein geringeres Armutsrisiko auf. Trennung und Scheidung erhöhen das Armutsrisiko. Allein der Einfluss des Geschlechts ist uneindeutig. In dem hier dargestellten Modell ist der Effekt nicht signifikant. In Modellen, die nur jeweils eine Auswahl der hier verwendeten Variablen enthalten, ist der Effekt teilweise positiv, teilweise negativ (Ergebnisse nicht dargestellt). Personen, die in Haushalten mit höherem Bedarf leben, weisen ein höheres Armutsrisiko auf. Während Kinder prinzipiell den Bedarf eines Haushaltes erhöhen, können Erwachsene über Erwerbstätigkeit Einkommen zum Haushalt beisteuern. Da das 96 Auf Basis früherer Wellen wird ein Varianzanteil zwischen 3,8 und 7,2 Prozent geschätzt, wobei zu berücksichtigen ist, dass in den Jahren 1994 und 1995 weniger Länder zur Verfügung stehen. Der für 2001 ausgewiesene Anteil ist also kein Extremwert. Da die Schwankungen keinem Muster folgen, sondern hohe und niedrige Werte in aufeinander folgenden Jahren zu beobachten sind, ist zu vermuten, dass diese Veränderungen nicht inhaltlich zu interpretieren sind, sondern eher dem Problem zuzurechnen sind, auf Basis eines kleinen Ländersamples verlässliche Schätzungen der Varianzkomponenten zu erlangen.
198
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
hier spezifizierte Modell die Erwerbstätigkeit von Haushaltsmitgliedern gesondert berücksichtigt, kann der Effekt der Anzahl der Haushaltsmitglieder vor allem als Bedarfseffekt interpretiert werden.97 Prinzipiell wird durch die Erwerbstätigkeit von weiteren Haushaltsmitgliedern Armut verringert. Auf Basis der Schätzergebnisse wird weiter deutlich, dass auch bei Teilzeiterwerbstätigkeit von Haushaltsmitgliedern der negative Bedarfseffekt durch den positiven Erwerbstätigkeitseffekt ausgeglichen wird.98 Vollzeiterwerbstätigkeit trägt auch im Saldo von Bedarf gegenüber Einkommen zur Verringerung von Armut bei. Tabelle 6.4: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Mikroeinflüsse, 2001) M0 log odds Alter in Jahren in Jahren quadriert Geschlecht (Ref.: männlich) weiblich Bildung (Ref.: ISCED 0-2) ISCED 3 ISCED 5-7 Anzahl Kinder/Personen in HH (nach Alter) 0-2 Jahre 3-5 Jahre 6-16 Jahre 17+ Jahre Familienstand (Ref.: ledig/verheiratet/verwitwet) geschieden/getrennt Arbeitszeit (Ref.: Vollzeit [30+ h]) Teilzeit (<30h) Anzahl erwerbstätige HH-Mitgl. (nach Arbeitszeit) Teilzeit (<30h) Vollzeit (30+h)
M1 log odds -0,089 *** 0,001 *** 0,034 -0,441 *** -0,700 *** 0,484 0,377 0,580 0,577
*** *** *** ***
0,466 *** 0,623 *** -0,586 *** -1,263 ***
Fortsetzung nächste Seite 97 Um den Bedarfseffekt vollkommen eindeutig zu bestimmen, müsste berücksichtigt werden, dass sich die Höhe von Transfers mit der Haushaltsgröße verändert. 98 Bei Personen, die mindestens 15 Stunden erwerbstätig sind, übersteigt der Erwerbstätigkeitseffekt den Bedarfseffekt deutlich. Der Effekt geringfügiger Beschäftigung gleicht den Bedarfseffekt dagegen nicht aus. Diese Unterscheidung wurde in Modell M1 allerdings nicht verwendet, da entsprechende Angaben nicht für alle Länder vorliegen.
199
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
Fortsetzung Tabelle 6.4 M0 log odds Art der Erwerbstätigkeit (Ref.: abhängig, kein N.lohn) abhängig, Niedriglohn selbständig berufliche Tätigkeit (Ref.: leitende Angestellte/hohe Beamte) freie Berufe/Semiprofessionen Angestellte landwirtschaftl. Berufe einfache Dienstleistungstätigkeiten Facharbeiter un-/angelernte Arbeiter Konstante 2
ƴ n (Länder) n (Personen) log-likelihood
M1 log odds 0,956 *** 0,906 *** -0,174 0,120 1,549 0,574 0,594 0,851
-2,505 *** 0,196 14 53749 -14934,3
Anmerkungen: Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quelle: ECHP 2001, eigene Berechnungen.
+ *** *** *** ***
-2,019 *** 0,110 14 53749 -11985,5
Die Art der Erwerbstätigkeit der jeweils betrachteten Person hat den erwarteten Einfluss. Teilzeiterwerbstätige, Niedriglöhner und Selbständige haben ein höheres Risiko, arm zu sein. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Variable ‚Niedriglohn’ einen deutlichen Einfluss aufweist, obwohl im Modell eine Reihe von Determinanten des Niedriglohnrisikos enthalten sind (Alter, Bildung, Geschlecht, Arbeitszeit, berufliche Tätigkeit). Mit einer Niedriglohnbeschäftigung sind also spezifische Armutsrisiken verbunden, die nicht über die genannten Variablen erfasst werden. Dieser Effekt bestätigt die Ergebnisse der deskriptiven Analyse. Dort wurde gezeigt, dass viele Niedriglöhner zwar nicht arm sind, dass jedoch die Armutsquote unter Niedriglöhnern höher ist als die der übrigen Erwerbstätigen. Dieses Ergebnis bleibt auch bei Berücksichtigung des Haushaltskontextes bestehen. Weiterhin wird deutlich, dass Selbständige ein annähernd gleiches Armutsrisiko aufweisen wie Niedriglöhner. Wie bereits angesprochen kann dies daran liegen, dass Teilbereiche beruflicher Selbständigkeit mit geringen Einkommen verbunden sind. Es kann sich allerdings auch um einen Effekt der Einkommensunterfassung handeln. In jedem Fall werden mögliche Verzerrungen im Ländervergleich durch die unterschiedliche Größe des Selbständigensektors durch die Kontrolle des Merkmals ‚selbständig’ verringert. Armutsrisiken nach beruflicher Tätigkeit folgen einem erwartbaren Muster. Insbesondere berufliche Tätigkeiten in der Landwirtschaft und Tätigkeiten, die
200
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
mit einer geringen Qualifikation verbunden sind, weisen ein höheres Armutsrisiko auf. Zusammengenommen bestätigen die Ergebnisse die Erwartung, dass das Armutsrisiko durch den Bedarf, die Ressourcen und die Restriktionen von Personen bzw. den Haushalten, in denen sie leben, strukturiert wird. Ob es dabei in Einzelaspekten Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern gibt – anders formuliert: ob es Wechselwirkungen zwischen der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen und individueller Armutsrisiken gibt – wird in einem weiteren Schritt untersucht Bevor jedoch auf mögliche Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makrofaktoren eingegangen wird, muss geklärt werden, ob es überhaupt Einflüsse der institutionellen Rahmenbedingungen in der erwarteten Weise gibt. Es soll also zunächst um die Frage gehen, ob sich die ausführlich in Kapitel 3 diskutierten Einflüsse des Grades der Dekommodifizierung und Defamilisierung sowie ein Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auch in einem statistischen Modell nachweisen lassen. Da – wie gerade gezeigt – individuelle Faktoren bereits einen Teil der Länderunterschiede erklären, wird zunächst der Einfluss institutioneller Faktoren ohne die Kontrolle weiterer Variablen betrachtet. Ergebnisse entsprechender Modelle finden sich in Tabelle 6.5. In der ersten Spalte sind die Koeffizienten von sechs Modellen aufgeführt, in denen jeweils nur eine Makrovariable enthalten ist. Es handelt sich also um die Überprüfung eines bivariaten Zusammenhangs, allerdings in einem Mehrebenenmodell.99 Diese bivariaten Modelle bestätigen die Erwartungen bezüglich des Einflusses von Dekommodifizierung, Defamilisierung und von Arbeitsmarktinstitutionen.100 Höhere Lohnersatzleistungen, höhere Ausgaben für Kinderbzw. Familiengeld und familienbezogene Dienstleistungen, die Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen und ein höherer gewerkschaftlicher Organisationsgrad reduzieren das Risiko, arm und erwerbstätig zu sein. Dagegen erhöht intergenerationale Abhängigkeit (gemessen über die Anzahl von Personen ab 17 Jahren pro Haushalt) das Armutsrisiko. Hier zeigt sich der Einfluss intergenerationaler Abhängigkeit auf den Bedarf der Haushalte von Erwerbstätigen, die nicht durch mögliche positive Effekte gemeinsamen Wirtschaftens ausgeglichen werden. Man sollte allerdings bedenken, dass diese Schätzungen auf bivariaten Modellen beruhen. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Effekte den Einfluss anderer, in dem jeweiligen Modell nicht berücksichtigter Faktoren, mit aufgreifen. Dies ist insbesondere daher zu vermuten, da – wie in der Diskussion von Wohlfahrtsregimes dargestellt – die Ausgestaltung einzelner Aspekte der institutionellen Rahmenbedingungen in starkem Maße kovariieren. So sind auch die hier verwendeten Makroindikatoren untereinander stark korrelliert. In einem multivariaten Modell (M3) wurde 99 Folgendes Modell wird geschätzt: logit (S ) E E z u e (zur Notation vgl. Abschnitt 6.2). ij 0 1 j j ij 100 Einige der Effekte sind nicht signifikant, wobei man allerdings die geringe Fallzahl von 14 Ländern berücksichtigen sollte.
201
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
deswegen überprüft, inwieweit Effekte noch nachweisbar sind, wenn alle übrigen Makroeinflüsse kontrolliert werden. Es zeigt sich, dass sich – mit Ausnahme des auch zuvor nicht signifikanten Einflusses der allgemeinen Doppelverdienerunterstützung – die Richtung der Effekte nicht ändert. Es werden jedoch nur noch zwei Effekte signifikant und die Stärke der Einflüsse wird teilweise deutlich reduziert. Eindeutig zeigt sich aber weiterhin, dass die Höhe der Lohnersatzleistungen und der Familienleistungen das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen verringert. Auffällig ist die starke Reduktion des Einflusses intergenerationaler Abhängigkeit. Hier wurde zuvor argumentiert, dass die Verfügbarkeit von Sozialleistungen auch für jüngere Arbeitslose die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt und das Angebot von Pflegedienstleistungen das Ausmaß intergenerationaler Abhängigkeit beeinflusst. Werden – wie in diesem Modell – entsprechende Faktoren zumindest teilweise kontrolliert, verringert sich der Einfluss intergenerationaler Abhängigkeit deutlich. Tabelle 6.5: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Makroeinflüsse, 2001) M2 a-f Lohnersatzrate (Arbeitslosigkeit) allg.Familienunterstützung (Ausg. als Anteil des BIP) Familiendienstleistungen (Ausg. als Anteil des BIP) Anzahl HH-Mitglieder 17+ Jahre Lohnverhandlungsebene gewerkschaftl. Organisationsgrad Fortsetzung nächste Seite
1
log odds M32
M4 a-f3
-0,013 *
-0,010 **
-0,001
-0,400 ***
-0,214 *
-0,191 *
0,149
0,075
0,681 *
0,082
-0,282
-0,082
-0,053
-0,066
-0,012 **
-0,007
-0,006
-0,233
202 Fortsetzung Tabelle 6.5
Lohnersatzrate (Arbeitslosigkeit) allg.Familienunterstützung (Ausg. als Anteil des BIP) Familiendienstleistungen (Ausg. als Anteil des BIP) Anzahl HH-Mitglieder 17+ Jahre Lohnverhandlungsebene gewerkschaftl. Organisationsgrad
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
geschätzte Wahrscheinlichkeiten (Min./Max.werte der Makrovariablen)4 1 M32 M4 a-f3 M2 a-f min max min max min max 11,1
5,8
12,6
7,7
5,8
5,7
12,2
5,6
10,2
6,7
6,7
5,1
8,3
5,3
7,8
10,4
6,4
6,9
5,2
9,3
8,8
9,4
6,0
5,4
8,3
6,2
10,0
8,2
6,1
5,4
9,7
4,5
10,7
6,9
5,9
4,7
Anmerkungen: 1) Koeffizienten von sechs bivariaten Modellen, 2) Koeffizienten aus multivariatem Modell, das alle sechs Makrovariablen enthält, 3) Koeffizienten aus sechs Modellen, die jeweils eine Makrovariable und sämtliche Mikrovariablen aus M1 enthalten. 4) Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten in multivariaten Modellen für folgende Kombination von Merkmalen: M3: alle übrigen Variablen gleich arithmetisches Mittel, Zufallskonstante gleich null, M4: alleinverdienender 40-jähriger Mann (abhängig vollzeitbeschäftigt) in einem Paarhaushalt mit einem Kind unter 3 Jahren, mittlere Bildung, einfache Dienstleistungstätigkeit, Zufallskonstante gleich null. Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quellen: ECHP 2001, eigene Berechnungen; Ländermerkmale: siehe Tabelle 6.2.
Eine Abschwächung der Effekte auf Länderebene ist auch bei Kontrolle der zuvor betrachteten Mikrovariablen zu beobachten. Die Ergebnisse entsprechender Modelle sind in Spalte 3 von Tabelle 6.5 dargestellt. Wie zuvor wurden sechs Modelle gerechnet, die jeweils eine Makrovariable enthalten (M4a-f). Bei Kontrolle der Mikrovariablen zeigen sich – bis auf eine Ausnahme: allgemeine Familienunterstützung – keine signifikanten Einflüsse auf Makroebene. Dieses Ergebnis bestätigt die Erwartung, dass institutionelle Faktoren einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Erwerbstätigen haben und daher bei Kontrolle individueller Merkmale der Erwerbstätigen an Einfluss verlieren. Dies weist also nicht auf die Bedeutungslosigkeit institutioneller Einflüsse hin, macht es aber schwierig, diese bei Kontrolle einer Vielzahl von Faktoren auf der individuellen Ebene noch nachzuweisen. Wie bereits beim Vergleich bivariater gegenüber multivariater Modelle ist die Veränderung des Einflusses intergenerationaler Abhängigkeit auch bei Kontrolle
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
203
individueller Merkmale am stärksten. Obwohl der Effekt nicht signifikant wird, ist auffällig, dass sich die Richtung des Einflusses umkehrt. Dies kann als Anzeichen dafür interpretiert werden, dass bei Kontrolle negativer Aspekte intergenerationaler Abhängigkeit, wie beispielsweise höherer Bedarf in größeren Haushalten, positive Effekte, wie eine stärkere Familiensolidarität, in den Vordergrund treten. Um allerdings zu klären, inwieweit die beobachtete Abschwächung der Einflüsse auf Länderebene inhaltlich zu interpretieren ist, wurde überprüft, welche Variablen auf Mikroebene diese Veränderungen bewirken. Dafür wurden Modelle geschätzt, in denen jeweils eine Makrovariable mit jeweils einer Mikrovariable kombiniert wurde (Ergebnisse nicht dokumentiert). Interessant ist, dass es i.d.R. nicht einzelne Variablen sind, die die Abschwächung der Einflüsse auf Länderebene bewirken. Insgesamt sind die Einflüsse auf Makroebene bei Kontrolle einzelner Mikrovariablen relativ stabil. Nur in drei Fällen sind zuvor beobachtete Effekte nicht mehr auf 5%-Niveau signifikant, allerdings jeweils bei unterschiedlichen Mikrovariablen (Selbständigkeit, Anzahl Personen ab 17 Jahren pro Haushalt, landwirtschaftliche berufliche Tätigkeit). Insgesamt zeigen die Ergebnisse aber, dass erst die Kombination mehrerer Variablen die Abschwächung institutioneller Effekte erklärt. Ein direkter Einfluss der Rahmenbedingungen auf die Zusammensetzung der Erwerbstätigen und ihrer Haushalte lässt sich also auf diese Weise nur in sehr eingeschränkter Form nachweisen. Aufgrund der Korrelation zwischen aggregierten Merkmalen und Makroindikatoren ist aber zu vermuten, dass ein entscheidender Teil der institutionellen Effekte sich in der unterschiedlichen Zusammensetzung der Erwerbstätigen ausdrückt. Von den bislang dargestellten Logit-Koeffizienten ist die Stärke der einzelnen Einflüsse nicht abzuschätzen. Daher sind in der rechten Hälfte von Tabelle 6.5 vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für alle Modelle aufgeführt. Berechnet wurden jeweils die Werte, die sich für den Minimal- oder Maximalwert einer unabhängigen Variablen ergeben. Die Zufallskonstante wurde in allen Fällen auf null gesetzt. Im Modell mit allen Makrovariablen (M3) wurden die übrigen Variablen jeweils auf den Mittelwert gesetzt. Weitere Angaben finden sich in den Anmerkungen zur Tabelle. Mit einer Ausnahme haben die Höhe von Lohnersatzleistungen, das Ausmaß an allgemeiner Familienunterstützung und der gewerkschaftliche Organisationsgrad den stärksten Einfluss. Selbst bei Kontrolle aller weiteren Merkmale auf Länderebene (M3) sagt das Modell einen Unterschied von 4,9 Prozentpunkten voraus, je nachdem ob ein Land sehr hohe oder sehr niedrige Lohnersatzraten aufweist (12,6 gegenüber 7,7 Prozent). Es wird aber auch deutlich, dass die ausschließliche Betrachtung der Makrovariablen, insbesondere in den bivariaten Modellen (M2a-f), deren Einfluss vermutlich überschätzt. Die Differenz der vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten in den Modellen mit Individualmerkmalen ist insgesamt deutlich niedriger. Hier ist, wie gesagt, anzunehmen, dass ein Teil des Einflusses der Ländermerkmale bereits über die Zusammensetzung der Erwerbstätigen und ihrer Haushalte kontrolliert wird.
204
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
In einem weiteren Schritt der Analyse wird überprüft, ob Einflüsse der Rahmenbedingungen auf die Stärke des Einflusses individueller Merkmale festgestellt werden können. Hierzu wurden mehrere Hypothesen formuliert, die nun über die Schätzung von Modellen mit ‚Cross-Level’-Interaktionseffekten überprüft werden. Zwei Hypothesen beziehen sich auf den Einfluss der Doppelverdienerunterstützung. Keiner der entsprechenden Interaktionseffekte ist allerdings signifikant. Zudem weisen beide – wie auch der Haupteffekt – nicht in die erwartete Richtung (Ergebnisse nicht dargestellt). Wie erwartet zeigt sich aber ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß intergenerationaler Abhängigkeit und dem Einfluss des Alters (Tabelle 6.6, M5). Aufgrund des positiven Interaktionseffekts wird der negative Einfluss des Alters verringert. Die Unterschiede des Alterseffekts zwischen Ländern mit hoher, mittlerer oder niedriger intergenerationaler Abhängigkeit werden in Abbildung 6.2 deutlich. Dargestellt ist jeweils die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, arm zu sein. Während in Ländern mit geringer intergenerationaler Abhängigkeit (durchgezogene Linie) das Armutsrisiko mit zunehmendem Alter zunächst stark abnimmt und erst am oberen Ende des Erwerbsalters wieder ansteigt, verläuft die Kurve in Ländern mit hoher intergenerationaler Abhängigkeit sehr viel flacher (gepunktete Linie). Dies bedeutet, dass die Unterschiede im Armutsrisiko nach Alter weniger stark ausgeprägt sind. Geht man davon aus, dass dies vor allem dadurch bedingt ist, dass erwachsene Kinder ohne oder mit geringem Erwerbseinkommen im Haushalt ihrer erwerbstätigen Eltern leben, lässt sich dieses Ergebnis als Verschiebung des Armutsrisikos von jüngeren zu älteren Erwerbstätigen interpretieren. Kein signifikanter Zusammenhang ergibt sich dagegen zwischen der Zentralisierung des Lohnverhandlungssystems und dem Armutsrisiko von Personen, die eine geringqualifizierte Tätigkeit ausüben. Der Effekt weist allerdings in die erwartete Richtung. Tabelle 6.6: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 2001) M5 log odds Rahmenbedingungen / cross-level Interaktionen Anzahl HH-Mitglieder 17+ Jahre HH-Mitgl. 17+ J.*Alter Lohnverhandlungsebene Lohnverhandlungsebene*geringqual. Tätigkeit Alter in Jahren in Jahren quadriert
Fortsetzung nächste Seite
M6 log odds
-0,919 ** 0,016 ** -0,058 -0,024 -0,110 *** 0,001 ***
-0,089 *** 0,001 ***
205
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
Fortsetzung Tabelle 6.6 Geschlecht (Ref.: männlich) weiblich Bildung (Ref.: ISCED 0-2) ISCED 3 ISCED 5-7 Anzahl Kinder/Personen in HH (nach Alter) 0-2 Jahre 3-5 Jahre 6-16 Jahre 17+ Jahre Familienstand (Ref.: ledig/verheiratet/verwitwet) geschieden/getrennt Arbeitszeit (Ref.: Vollzeit [30+ h]) Teilzeit (<30h) Anzahl erwerbstätige HH-Mitgl. (nach Arbeitszeit) Teilzeit (<30h) Vollzeit (30+h) Art der Erwerbstätigkeit (Ref.: abhängig, kein N.lohn) abhängig, Niedriglohn selbständig berufliche Tätigkeit (Ref.: leitende Angestellte/hohe Beamte) freie Berufe/Semiprofessionen Angestellte landwirtschaftl. Berufe einfache Dienstleistungstätigkeiten Facharbeiter un-/angelernte Arbeiter Konstante 2
ƴ n (Länder) n (Personen) log-likelihood
M5 log odds
M6 log odds
0,037
0,033
-0,431 *** -0,692 *** 0,479 0,374 0,577 0,580
*** *** *** ***
-0,440 *** -0,701 *** 0,484 0,377 0,580 0,577
*** *** *** ***
0,481 ***
0,466 ***
0,615 ***
0,624 ***
-0,588 *** -1,263 ***
-0,583 *** -1,263 ***
0,950 *** 0,899 ***
0,955 *** 0,907 ***
-0,176 0,114 1,541 0,576 0,597 0,861
+ *** *** *** ***
-0,677 0,103 14 53749 -11979,6
Anmerkungen: Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quelle: ECHP 2001, eigene Berechnungen; Ländermerkmale: siehe Tabelle 6.2.
-0,175 0,120 1,546 0,639 0,593 0,913
+ *** *** *** ***
-1,784 *** 0,147 14 53749 -11985,5
206
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Nach der grundsätzlichen Klärung institutioneller Einflüsse soll betrachtet werden, ob die hier gezeigten Ergebnisse auch unter Berücksichtigung weiterer Panelwellen Bestand haben. So kann einerseits überprüft werden, ob Verzerrungen aufgrund von Panelmortalität eine Rolle spielen. Andererseits können der wirtschaftliche Zyklus und andere zeitlich variierende Einflüsse berücksichtigt werden. In einem ersten Schritt wurden die bivariaten Modelle mit Makrovariablen für sämtliche Wellen geschätzt. Prinzipiell entsprechen die Modelle den in Tabelle 6.5 dargestellten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht für alle Länder für alle Zeitpunkte Angaben zum Lohnverhandlungssystem vorliegen. Daher wurden diese Modelle auf Basis eines kleineren Ländersamples geschätzt. Weiter liegen die Angaben zur Höhe von Lohnersatzraten nur im zweijährigen Abstand vor. Daher werden die entsprechenden Modelle nicht für alle Jahre geschätzt. Grundsätzlich werden die zuvor berichteten Ergebnisse auf Basis aller früheren Wellen bestätigt (Tabelle 6.7). Es ergeben sich zwar von Jahr zu Jahr durchaus Unterschiede in der Größe der Koeffizienten, jedoch gibt es keine signifikanten Effekte mit gegenläufigem Vorzeichen. Abbildung 6.2: Geschätzte Armutswahrscheinlichkeit nach Alter und intergenerationaler Abhängigkeit
geschätzte Wahrscheinlichkeit in %
20
15
10
5
interg. Abhängigk. Minimum Mittelwert Maximum
0 20
30
40
50
60
Alter in Jahren Anmerkungen: Vorhersage auf Basis von Modell M5 (siehe Tabelle 6.6). Wahrscheinlichkeiten für folgende Kombination von Merkmalen: alleinverdienender Mann (abhängig vollzeitbeschäftigt) in einem Paarhaushalt mit einem Kind unter 3 Jahren, mittlere Bildung, einfache Dienstleistungstätigkeit, Zufallskonstante gleich null.
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
207
Die zuvor überprüften Hypothesen werden also auch auf Basis der Daten früherer Jahre und mit teilweise anderen Ländersamples bestätigt. Ein bedeutsamer Einfluss der Panelmortalität für die Beantwortung der hier betrachteten Fragen kann daher ausgeschlossen werden. Zusätzlich sind noch Modelle mit alternativen Indikatoren dargestellt, die beide bereits in Kapitel 3.6 verwendet wurden. Zum einen wurden Modelle mit dem an das Vorgehen von Esping-Andersen angelehnten Dekommodifizierungsindex (Scruggs 2005) geschätzt, der nur für 10 Länder vorliegt, weswegen zuvor allein die Höhe der Lohnersatzrate bei Arbeitslosigkeit berücksichtigt wurde. Zum anderen wurde anstelle des Indikators für die Lohnverhandlungsebene ein Zentralisierungsindex (Visser 2004) verwendet, für den allerdings keine Angaben für das Jahr 2001 vorliegen. Angaben liegen allein für 1990, 1995 und 2003 vor. Daher wurden hier Modelle für drei Jahre gerechnet. Die Angaben für 1990 wurden mit den ECHP-Daten aus dem Jahr 1994 kombiniert, die Angaben für 2003 mit den Daten von 2001. Auch bei Verwendung der beiden alternativen Indikatoren werden die zuvor überprüften Hypothesen bestätigt. Im Gegensatz zum Einfluss der Lohnverhandlungsebene ergibt sich bei Verwendung des Zentralisierungsindexes sogar ein signifikanter Einfluss.101 Zusammengenommen lässt sich also feststellen, dass die Ergebnisse sowohl gegenüber Verschiebungen des Beobachtungszeitpunkts, Veränderungen im Ländersample als auch der Verwendung alternativer Indikatoren recht robust sind, zumindest was die Richtung der beobachteten Zusammenhänge angeht. In einem weiteren Schritt wird im Rahmen von Dreiebenenmodellen der Einfluss bislang nicht kontrollierter, zeitlich variabler Rahmenbedingungen (insbesondere Wirtschaftszyklus) untersucht. Weiter wird eine Frage untersucht, die sich aus den unterschiedlichen Vorgehensweisen in diesem und dem vorherigen Kapitel ergibt. In Kapitel 5 wurden Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes dargestellt. Das Ziel dabei war vor allem, trotz der großen Anzahl von Ländern, auch in den deskriptiven Analysen eine Orientierung über mögliche institutionelle Einflüsse zu geben. Die dahinterliegenden Dimensionen wurden in der Diskussion zwar durchaus berücksichtigt, aber nicht im Rahmen zusätzlicher Analysen überprüft. In diesem Kapitel nun wurde der Einfluss eben dieser Einzeldimensionen nachgewiesen. Es bleibt zu zeigen, ob darüber tatsächlich auch die Unterschiede zwischen Wohlfahrtsregimes erklärt werden oder ob weitere Unterschiede bestehen, die nicht über die berücksichtigten Makrofaktoren erfasst werden.
101 Bei Kontrolle weiterer Makroeinflüsse ist allerdings auch der Einfluss des Zentralisierungsgrades nicht signifikant (Ergebnisse nicht dargestellt).
4
12 59351
13 61894
-1,903 *** -1,233 **
-0,039 *
-0,016 **
-0,021 ** -0,036
-0,115 *
0,748 **
0,925 * -0,181 *
-0,275
-0,350 **
-0,014 ***
-0,394
-0,279
-0,012 *
-
14 63120
-
-0,026 +
-0,013 *
-0,097
0,877 ***
-0,280
-0,012 *
-0,141 *
0,811 ***
-0,261
-0,004
0,020
0,555 *
-0,176
-0,238 *
-0,007 *
-0,008 +
-0,007
0,728 ***
-0,271 +
-0,302 **
-
14 61443
-
14 60482
-
14 56705
-
14 54751
-
-0,040 *** -0,045 *** -0,045 *** -0,036 **
-0,011 *
-0,076
0,877 **
-0,260
-0,402 *** -0,453 *** -0,404 **
-
14 53749
-1,107 *
-0,030
-0,012 **
-0,082
0,681 *
-0,233
-0,400 ***
-0,013 *
Anmerkungen: 1) 1995: ohne Griechenland, 2) 1994-2000: ohne Griechenland, Portugal, Luxemburg und Irland, 3) ohne Griechenland, Portugal, Spanien, Luxemburg, 4) 1994: Angaben für 1990, ohne Luxemburg und Griechenland, 2001: Angaben für 2003. Durch die Verkleinerung des Ländersamples verändert sich jeweils auch die Größe des Personensamples. Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quellen: ECHP 1994-2001, eigene Berechnungen; Ländermerkmale: siehe Anmerkungen Tabelle 6.2.
n (Personen)
n (Länder)
Zentralisierung
5
Dekommodifizierung
zusätzliche Indikatoren:
gewerkschaftl. Organisat.grad
Lohnverhandlungsebene
3
Anzahl HH-Mitglieder 17+ J.
Familiendienstleistungen
2
allg. Familienunterstützung
2
Lohnersatzrate (Arb.losigkeit)
1
Tabelle 6.7: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Makroeinflüsse, 1994-2001) 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 log odds Indikatoren aus M2a-f:
208 6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Tabelle 6.7: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Zweiebenenmodell, Makroeinfl se, 1994-2001)
209
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
Tabelle 6.8: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Dreiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 1994-2001)
Ländermerkmale Lohnersatzrate (A.losigkeit) allg. Familienunterstützung* Familiendienstleistungen* Anz. HH-Mitglieder 17+ J. gewerkschaftl. Org.grad Wohlfahrtsregime (Ref.: sozialdemokratisch) liberal konservativ familialistisch Alter in Jahren in Jahren quadriert Geschlecht (Ref.: männlich) weiblich Bildung (Ref.: ISCED 0-2) ISCED 3 ISCED 5-7 Anzahl Kinder/Personen in HH (nach Alter) 0-2 Jahre 3-5 Jahre 6-16 Jahre 17+ Jahre Familienstand (Ref.: ledig/verheiratet/verwitwet) geschieden/getrennt Arbeitszeit (Ref.: Vollzeit [30+ h]) Teilzeit (<30h) Anzahl erwerbstätige HH-Mitgl. (nach Arbeitszeit) Teilzeit (<30h) Vollzeit (30+h)
Fortsetzung nächste Seite
M7 log odds
M8a log odds
M8b log odds
M9 log odds
-0,006 -0,224 -0,458 -0,189 0,010
-0,003 -0,338 -0,447 -1,475 -0,019
-0,004 -0,294 -0,432 -1,326 -0,010
-0,004 -0,353 -0,472 -1,365 -0,023
*** *** *** ***
*** *** *** *** ***
*** *** *** *** ***
*** *** *** *** ***
-0,781 -0,580 -0,759 -0,091 *** 0,001 *** 0,017
0,017
-0,396 *** -0,745 ***
0,387 0,384 0,533 0,608
-0,091 *** 0,001 ***
*** *** *** ***
0,017
-0,397 *** -0,748 ***
0,387 0,385 0,533 0,607
-0,091 *** 0,001 ***
*** *** *** ***
-0,396 *** -0,745 ***
0,388 0,384 0,533 0,608
*** *** *** ***
0,543 ***
0,543 ***
0,543 ***
0,708 ***
0,708 ***
0,708 ***
-0,565 *** -1,180 ***
-0,565 *** -1,180 ***
-0,566 *** -1,180 ***
210
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
Fortsetzung Tabelle 6.8 M7 log odds Art der Erwerbstätigkeit (Ref.: abhängig, kein N.lohn) abhängig, Niedriglohn selbständig berufliche Tätigkeit (Ref.: leitende Angestellte/hohe Beamte) freie Berufe/Semiprof. Angestellte landwirtschaftl. Berufe einfache Dienstl.tätigkeiten Facharbeiter un-/angelernte Arbeiter Jahr (Ref.: 1994) 1995, 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001 Konstante
-1,890 ***
M8a log odds
0,909 *** 1,020 ***
-0,341 -0,004 1,426 0,431 0,452 0,672
*** *** *** *** ***
M8b log odds
0,908 *** 1,020 ***
-0,341 -0,004 1,427 0,431 0,453 0,671
*** *** *** *** ***
M9 log odds
0,909 *** 1,020 ***
-0,341 -0,004 1,427 0,431 0,452 0,672
*** *** *** ***
s. Anmerk. 1,863 ***
1,191 ***
2,415 ***
ƴ2
2,373
1,747
1,747
1,747
ƶ2
0,133
0,296
0,161
0,296
14 109277 458386 -529922
14 109277 458386 -529167
14 109277 458386 -529135
14 109277 458386 -529153
n (Länder) n (Personen) n (Beobachtungen) log-likelihood
***
Anmerkungen: *) Ausgaben als Anteil des BIP; M8b enthält Jahresdummies als Kontrollvariablen, signifikante Effekte für 1998 (0,070*) und 2001 (0,070+); Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quellen: ECHP 1994-2001, eigene Berechnungen; Ländermerkmale: siehe Anmerkungen Tabelle 6.2.
In Tabelle 6.8 sind jedoch zunächst Modelle dargestellt, die die Vorgehensweise im Zweiebenenkontext replizieren. Allerdings wurde der Indikator für die Zentralisierung des Lohnverhandlungssystems nicht berücksichtigt, da er nicht für alle Länder in zeitlich variabler Form vorliegt. Mit einer Ausnahme (gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Modell M7) werden auch in diesen Dreiebenenmodellen die erwarteten Einflüsse bestätigt. Es ergibt sich kein grundsätzlich anderes Bild als zuvor. Im Vergleich zu den Zweiebenenmodellen ist aber bemerkenswert, dass auch bei Kontrolle individueller Merkmale für alle weiteren Merkmale die erwarteten Einflüsse nachgewiesen werden können (M8a). Es ist davon auszugehen, dass dies teilweise
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
211
auf die größere Fallzahl aufgrund der Berücksichtigung mehrerer Beobachtungszeitpunkte zurückzuführen ist. Die manchmal unsicheren Schlüsse auf Basis der Zweiebenenanalyse werden durch diese Ergebnisse bekräftigt. Ebenso wenig ergeben sich Veränderungen im Bild individueller Armutsrisiken. Die Ergebnisse des Dreiebenenmodells unterschieden sich nur wenig von denen des Zweiebenenmodells. Auch die Kontrolle zeitlicher Veränderungen ändert die Ergebnisse nicht grundsätzlich. Ein zeitlicher Trend lässt sich nicht nachweisen (M8b). Nur zwei der Jahresvariablen sind signifikant und die entsprechenden Variablen liegen zudem nicht direkt beisammen. In Modell M9 wurde die bereits angesprochene Frage untersucht, ob neben dem Einfluss einzelner Ländermerkmale zusätzlich ein Einfluss der Wohlfahrtsregimes festzustellen ist. Es wird überprüft, ob sich trotz der Kontrolle von Einzelmerkmalen auf Länderebene ein signifikanter Einfluss der Wohlfahrtsregimes zeigt. Wie die Ergebnisse zeigen, ist dies jedoch nicht der Fall. Keine der Regimevariablen weist einen signifikanten Einfluss auf. Die Einflüsse der institutionellen Rahmenbedingungen zeigen sich in den Dreiebenenmodellen also auch unter Kontrolle weiterer Faktoren. Daher sollen hier auch die ‚Cross-Level’-Hypothesen, die sich auf den Einfluss der Doppelverdienerunterstützung beziehen, überprüft werden. Zusätzlich wird noch einmal der Zusammenhang zwischen intergenerationaler Abhängigkeit und Alter betrachtet. Eine Überprüfung des Einflusses des Lohnverhandlungssystems auf das Armutsrisiko von Niedrigqualifizierten ist allerdings nicht möglich, da der entsprechende Indikator nicht für alle Zeitpunkte vorliegt. Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tabelle 6.9 dargestellt (M10). Wie zuvor wird die Hypothese, dass intergenerationale Abhängigkeit einen Einfluss auf das altersspezifische Armutsrisiko hat, bestätigt. In Ländern mit hoher intergenerationaler Abhängigkeit verläuft die Kurve des Alterseinflusses flacher. Das Risiko, arm zu sein, ist weniger in der Gruppe junger Erwerbstätiger konzentriert, sondern reicht weiter in mittlere und ältere Gruppen hinein.102 Weiter wird der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Doppelverdienerunterstützung und dem Armutsrisiko durch Erwerbseinschränkungen aufgrund kleiner Kinder (0-2 Jahre) betrachtet. Auch hier ergibt sich der erwartete Zusammenhang: In Ländern mit höherer Doppelverdienerunterstützung ist das kinderspezifische Armutsrisiko niedriger. Ebenso wird die Annahme bestätigt, dass in Ländern mit stärkerer Doppelverdienerunterstützung das Armutsrisiko von Frauen höher ist. Auf den ersten Blick wirkt dieses Ergebnis kontraintuitiv. Hier wird das Ergebnis so interpretiert, dass Frauenerwerbstätigkeit in Ländern mit ho102 In einem weiteren Modell wurde zusätzlich über die Bildung eines Interaktionseffekts mit dem quadrierten Alter überprüft, ob es sich allein um eine Abschwächung des Alterseffekts handelt oder ob sich das altersspezifische Risiko in Ländern mit hohen intergenerationalen Abhängigkeiten grundsätzlich unterscheidet. Eine negative Interaktion mit dem quadrierten Alterseffekt deutet sogar auf eine eindeutigere Abschwächung, evtl. sogar leichte Umkehrung des negativen Alterseffekts hin. Allerdings ist in diesem Modell keiner der Interaktionseffekte signifikant.
212
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
her Defamilisierung weniger ein ‚Hinzuverdienst’ ist, sondern eine existenzsichernde Rolle hat und somit erwerbstätige Frauen stärker dem Risiko ausgesetzt sind, arm zu sein. Tabelle 6.9: Armut von Erwerbstätigen - Logit-Modelle mit Zufallskonstante (Dreiebenenmodell, Mikro-/Makroeinflüsse, 1994-2001)
Ländermerkmale Lohnersatzrate (A.losigkeit) allg. Familienunterstützung* Familiendienstleistungen* Anz. HH-Mitglieder 17+ J. gewerkschaftl. Org.grad Kündigungsschutz (Index) Wirtschaftswachstum Arbeitslosenquote Kündigungsschutz*A.losenquote Cross-level Interaktionen HH-Mitgl.-17+ J.*Alter Fam.dienstl.*Kinder (0-2) Fam.dienstl.*weiblich Alter in Jahren in Jahren quadriert Geschlecht (Ref.: männlich) weiblich Bildung (Ref.: ISCED 0-2) ISCED 3 ISCED 5-7 Anzahl Kinder/Personen in HH (nach Alter) 0-2 Jahre 3-5 Jahre 6-16 Jahre 17+ Jahre
Fortsetzung nächste Seite
M10 log odds
M11a log odds
M11b log odds
M11c log odds
-0,004 -0,340 -0,459 -1,944 -0,019
-0,004 -0,197 -0,359 -0,959 -0,003
-0,007 -0,036 ***
-0,005 -0,216 -0,381 -0,918 -0,003 -0,029 0,001 -0,033
-0,004 -0,199 -0,400 -0,929 0,003 -0,238 0,006 -0,076 0,017
-0,091 *** 0,001 ***
-0,092 *** 0,001 ***
*** *** *** *** ***
*** *** *** ***
*** *** *** ***
***
*** *** *** *** *** *** ***
0,012 *** -0,106 * 0,073 * -0,108 *** 0,001 *** -0,024
0,016
-0,387 *** -0,737 ***
0,449 0,383 0,532 0,610
*** *** *** ***
0,015
-0,397 *** -0,750 ***
0,388 0,386 0,534 0,608
*** *** *** ***
0,015
-0,381 *** -0,742 ***
0,388 0,370 0,532 0,623
-0,092 *** 0,001 ***
*** *** *** ***
-0,384 *** -0,746 ***
0,387 0,370 0,531 0,624
*** *** *** ***
213
6.5 Determinanten des Armutsrisikos
Fortsetzung Tabelle 6.9 M10 log odds Familienstand (Ref.: ledig/verheiratet/verwitwet) geschieden/getrennt Arbeitszeit (Ref.: Vollzeit [30+ h]) Teilzeit (<30h) Anzahl erwerbstätige HH-Mitgl. (nach Arbeitszeit) Teilzeit (<30h) Vollzeit (30+h) Art der Erwerbstätigkeit (Ref.: abhängig, kein N.lohn) abhängig, Niedriglohn selbständig f g ( f Angestellte/hohe Beamte) freie Berufe/Semiprof. Angestellte landwirtschaftl. Berufe einfache Dienstl.tätigkeiten Facharbeiter un-/angelernte Arbeiter Konstante 2
ƴ ƶ2 n (Länder) n (Personen) n (Beobachtungen) log-likelihood
M11a log odds
M11b log odds
M11c log odds
0,554 ***
0,542 ***
0,533 ***
0,532 ***
0,705 ***
0,709 ***
0,705 ***
0,704 ***
-0,565 *** -1,179 ***
-0,567 *** -1,182 ***
-0,572 *** -1,171 ***
-0,574 *** -1,171 ***
0,907 *** 1,016 ***
0,910 *** 1,023 ***
0,865 *** 1,010 ***
0,865 *** 1,010 ***
-0,343 -0,011 1,416 0,427 0,453 0,674
*** *** *** *** ***
-0,340 -0,005 1,428 0,433 0,453 0,669
*** *** *** *** ***
-0,327 -0,003 1,422 0,408 0,419 0,646
*** *** *** *** ***
-0,329 -0,004 1,421 0,406 0,417 0,646
*** *** *** *** ***
2,574 ***
0,572 +
0,615
0,812 *
1,747 0,291
1,748 0,096
1,739 0,116
1,740 0,144
14 109277 458386 -529247
14 109277 458386 -529040
13 103759 439061 -507173
13 103759 439061 -507133
Anmerkungen: *) Ausgaben als Anteil des BIP; Signifikanzniveau: +) p<0,1, *) p<0,05, **) p<0,01, ***) p<0,001. Quellen: ECHP 1994-2001, eigene Berechnungen; Ländermerkmale: siehe Anmerkungen Tabelle 6.2.
Abschließend wird nochmals auf den bereits in der deskriptiven Analyse (Abschnitt 5.8) betrachteten Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichem Wachstum und Armut von Erwerbstätigen eingegangen. In Modell M11a zeigt sich, dass die Kontrolle des wirtschaftlichen Zyklus (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachs-
214
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
tum) den Einfluss einiger Makroeffekte zwar abschwächt, aber nicht grundlegend verändert. Interessant ist jedoch der Einfluss der Arbeitslosigkeit. Das Modell sagt niedrigere Armut von Erwerbstätigen bei höherer Arbeitslosigkeit voraus. Dies würde die in Anlehnung an Rueda und Pontusson (2000) formulierte Hypothese bestätigen, dass arme Erwerbstätige in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Dieses Ergebnis zeigte sich auch bereits für einige Länder auf Basis einfacher Korrelationsanalysen, während sich für andere Länder ein positiver Zusammenhang ergab. Dabei wurde vermutet, dass dieses Ergebnis auf ein unterschiedliches Ausmaß des Kündigungsschutzes zurückzuführen ist. Ein Herausdrängen der erwerbstätigen Armen aus dem Arbeitsmarkt in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit (und damit eine Verringerung ihres Anteils) ist eher bei geringem Kündigungsschutz zu erwarten. Auch wenn diese Hypothese erst adhoc auf Basis der deskriptiven Ergebnisse gebildet wurde, soll sie im Rahmen eines Modells überprüft werden. Zunächst wird der Einfluss des Kündigungsschutzes betrachtet (M11b). Als Indikator wird der in der Diskussion der Arbeitsmarktinstitutionen bereits dargestellte Gesamtindex verwendet (vgl. Tabelle 3.5). Der entsprechende Effekt ist negativ aber nicht signifikant. Für sich genommen hat der Kündigungsschutz keinen Einfluss auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Dies ändert sich deutlich, wenn der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kündigungsschutz über einen Interaktionseffekt mitberücksichtigt wird. Für diesen Interaktionseffekt zeigt sich ein Ergebnis in der erwarteten Richtung. Der Haupteffekt für Arbeitslosigkeit ist weiter negativ, jedoch stärker. Bei stärkerem Kündigungsschutz steigt das Armutsrisiko von Erwerbstätigen mit höherer Arbeitslosigkeit dagegen an. Allerdings wird nur bei einem sehr starken Kündigungsschutz (der Maximalwert des Indexes beträgt bei den hier betrachteten Ländern 3,7 Punkte) der negative Einfluss der Arbeitslosigkeit aufgehoben. Eine Konstellation, bei der der Gesamteinfluss der Arbeitslosigkeit positiv ist, ergibt sich nicht. Bei höherer Arbeitslosigkeit sagt das Modell immer eine niedrigere Armutsquote von Erwerbstätigen voraus. Vermutlich ist dieser Einfluss jedoch bei starkem Kündigungsschutz nicht signifikant. Die Hypothese, dass stärkerer Kündigungsschutz dem negativen Einfluss von Arbeitslosigkeit entgegenwirkt, wird durch den positiven Interaktionseffekt also prinzipiell bestätigt. Grundsätzlich muss hierbei, wie bereits auch schon in der deskriptiven Analyse, berücksichtigt werden, dass der Beobachtungszeitraum relativ kurz und durchgängig durch sinkende oder stagnierende Arbeitslosigkeit charakterisiert ist. Die empirische Basis für die Untersuchung des Einflusses der Arbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Wachstums ist eher schwach.
6.6 Diskussion der Ergebnisse
215
6.6 Diskussion der Ergebnisse In diesem Kapitel wurde der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen im Rahmen multivariater Analysen überprüft. Letztlich ging es – stärker noch als im vorangegangenen Kapitel – um die Klärung der zentralen Frage dieser Arbeit: Welche Faktoren bedingen Länderunterschiede im Ausmaß und in der Struktur von Armut von Erwerbstätigen? Bei ausschließlicher Betrachtung des Einflusses von Makrofaktoren zeigen sich durchgängig Einflüsse in erwarteter Richtung: Länder mit einem höheren Grad an Dekommodifizierung weisen ein niedriges Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen auf. Dies gilt ebenso für den Grad der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen und die Stärke gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. Wie erwartet, ist der Einfluss des Grades der Defamilisierung uneindeutig. Doppelverdienerunterstützung verringert das Armutsrisiko. Ebenso haben – eigentlich familisierend angelegte – allgemeine Familienunterstützungsleistungen einen negativen Einfluss. Sehr deutlich zeigen sich gegenläufige Effekte intergenerationaler Abhängigkeit. Einerseits wird Armut von Erwerbstätigen dadurch erhöht, was vor allem auf einen Bedarf von Erwerbstätigenhaushalten zurückzuführen ist. Andererseits kann intergenerationale Abhängigkeit aber auch als Familiensolidarität interpretiert werden, die vor Armut schützt. In diesen Ergebnissen zeigt sich ein entscheidender Unterschied zur zuvor eingenommenen Perspektive der Wohlfahrtsregimes. Über die Berücksichtigung von Einzelfaktoren wird es möglich, auch gegenläufige Einflüsse herauszuarbeiten. Es ließ sich so zeigen, dass der Einfluss der Defamilisierung nicht nur negative Einflüsse aufweist. Außerdem konnte der eigenständige Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen nachgewiesen werden. Zudem ist deutlich geworden, dass bei einer umfassenden Berücksichtigung relevanter Einzelfaktoren die Gruppierung nach Wohlfahrtsregimes keinen signifikanten Einfluss mehr aufweist. Aufschlussreich sind auch die hier gezeigten Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene. Insbesondere in der Querschnittsperspektive wurde deutlich, dass sich Befunde verändern, wenn individuelle Armutsdeterminanten berücksichtigt werden. Dies wurde vor allem auf Kompositionseffekte zurückgeführt. In bivariater Betrachtung hatte sich gezeigt, dass die Zusammensetzung der Erwerbstätigen stark mit der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen korrelliert ist. Kontrolliert man die Zusammensetzung über die Berücksichtigung von Mikrofaktoren, ist es daher nicht überraschend, dass Einflüsse auf der Makroebene abgeschwächt werden. Dagegen kann der nachgewiesene Einfluss institutioneller Faktoren auf individuelle Armutsrisiken im Rahmen der Analyse von ‚Cross-Level’Interaktionen als eindeutige Bestätigung der allgemeinen Hypothese grundsätzlicher Länderunterschiede verstanden werden. Es wurde gezeigt, dass das Ausmaß intergenerationaler Abhängigkeit einen Einfluss auf das altersspezifische Armutsrisiko hat. Weiter ergeben sich Wechselwirkungen zwischen dem Ausmaß an Doppelver-
216
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
dienerunterstützung, dem Armutsrisiko durch Kinder und dem von Frauen. Ein Einfluss des Lohnverhandlungssystems auf das Armutsrisiko von Geringqualifizierten konnte dagegen nicht signifikant nachgewiesen werden. Anhand dieser Ergebnisse wird noch etwas anderes deutlich: Zu Beginn der Arbeit wurde auf die Bedeutung einer Perspektive des ‚income packaging’ für die Analyse von Armut von Erwerbstätigen hingewiesen (vgl. Abschnitt 2.4). Dabei wurde betont, dass Haushalte Zugriff auf unterschiedliche Einkommensquellen haben, die sich allgemein dem Markt, dem Staat und der Familie zuordnen lassen. Dass Haushalte von Erwerbstätigen und insbesondere Haushalte von armen Erwerbstätigen nicht nur Markteinkommen, sondern auch in relevantem Maße Transfereinkommen beziehen, wurde bereits im vorherigen Kapitel gezeigt. Weiterhin ließen sich Unterschiede in der Art des Zusammenlebens von Familien feststellen. In diesem Kapitel hat sich nun – auch aus Makroperspektive – gezeigt, dass nicht allein Aspekte der Beeinflussung von Markteinkommen (Lohnverhandlungssystem, gewerkschaftliche Verhandlungsmacht), sondern sich auch – und evtl. stärker – ein Einfluss von Dekommodifizierung und Defamilisierung feststellen lässt. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Arbeitsmarkt nicht als zentrale Ursache für Armut von Erwerbstätigen in Frage kommt. Es weist aber darauf hin, dass eine Erklärung der Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen nicht ohne die Berücksichtigung der Muster familialen Zusammenlebens und des Einflusses staatlicher Transfers auskommen kann. Nur indirekt lässt sich von den bislang dargelegten Ergebnissen auf die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen schließen. Auf Basis der vorliegenden Daten zeigt sich kein eindeutiger Trend in der Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen. Weiter erscheint der betrachtete Zeitraum zu kurz, um mögliche Entwicklungen als Auswirkungen der Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen zu interpretieren. Geht man aber davon aus, dass sich der Einfluss der hier betrachteten Faktoren nicht grundlegend verändert, kann man Erwartungen über den Einfluss zukünftiger Veränderungen formulieren. Eine Absenkung des Niveaus der Dekommodizifizierung würde das Ausmaß der Armut von Erwerbstätigen verstärken. Weitere Defamilisierung könnte Armut dagegen senken. Eine Entwicklung in Richtung Familisierung hätte vor allem Verschiebungen innerhalb der Armutspopulation zur Folge. Die Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen und ein Rückgang gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht wären mit einem Ansteigen der Armut von Erwerbstätigen verbunden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die hier betrachteten Modelle vor allem Länderunterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen abbilden, während Veränderungen innerhalb von Ländern durchaus andere Auswirkungen haben können. Dies wird vielleicht deutlich, wenn man nochmals die Modellprognosen in Tabelle 6.5 betrachtet. So wird in Modell M4 ein Unterschied in der Armutswahrscheinlichkeit von 1,6 Prozentpunkten vorhergesagt, je nachdem ob das Ausmaß allgemeiner Familienunterstützung minimal oder maxi-
6.6 Diskussion der Ergebnisse
217
mal ist (was etwa einer Differenz von 2 Prozentpunkten in den entsprechenden Ausgaben entspricht). Ob aber eine Erhöhung in dem Land mit dem bisherigen Maximalwert um weitere 2 Prozentpunkte ebenfalls Armut von Erwerbstätigen um 1,6 Prozentpunkte gesenkt wird, kann nicht gesagt werden. Es wäre auch vorstellbar, dass über höhere Ausgaben zunehmend auch Haushalte erreicht werden, die nicht arm sind, sodass sich das Ausmaß der Armutsreduktion abgesenkt wird. Diese Frage lässt sich jedoch auf Basis der hier vorliegenden Datenbasis nicht abschließend klären. Daher wird auf diese Frage im folgenden Kapitel aus einer grundlegend anderen Perspektive eingegangen, indem die weiteren Entwicklungen anhand einzelner Länderfallbeispiele nachgezeichnet werden.
219
6 Armut von Erwerbstätigen aus einer Mehrebenenperspektive
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Betrachtet man auf Basis der bisherigen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit die eingangs formulierte Hypothese, dass aufgrund von Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen eine Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen erfolgt ist, muss diese abgelehnt werden. In diesem Kapitel wird die Untersuchung der entsprechenden Frage daher um zwei Aspekte erweitert. Zum einen wird die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen anhand neuerer Daten fortgeschrieben (Abschnitt 7.2). Zum anderen werden grundsätzliche Veränderungen von Wohlfahrtsstaaten diskutiert, die sich nicht allein über die Höhe von Lohnersatzraten, der Anzahl von Kinderbetreuungsplätzen oder dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad messen lassen (Abschnitt 7.3). Diese Veränderungen werden dann anhand von Länderfallbeispielen verdeutlicht (Abschnitt 7.4). Abschließend werden die Konsequenzen dieser Entwicklungen diskutiert.
7.1 Eine Frage der Perspektive? In den vorangegangenen Analysen wurden vor allem Unterschiede zwischen Ländern herausgearbeitet. Zwar ging es auch um Veränderungen über die Zeit, allerdings wurde insbesondere in Kapitel 6 deutlich, dass Länderunterschiede stärker ausgeprägt sind als Unterschiede innerhalb der Länder zu verschiedenen Zeitpunkten. Ein länderübergreifender Trend in Richtung Armut von Erwerbstätigen ließ sich insgesamt nicht feststellen. Nur in drei oder vier Ländern ist die Armutsquote unter Erwerbstätigen eindeutig gestiegen (Finnland, Irland, Niederlande, Dänemark), in einer Reihe von Ländern dagegen eindeutig gesunken. Ebenso wenig ist ein eindeutiges Ansteigen des Anteils Erwerbstätiger an allen Armen zu beobachten. Dies könnte bedeuten, dass es keinen grundsätzlichen Wandel in den institutionellen Rahmenbedingungen gegeben hat, der die zunächst angenommene Entwicklung bedingen könnte. In gewisser Weise legt die bisherige Darstellung der Veränderung
220
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
institutioneller Rahmenbedingungen dies auch nahe. Weder die Entwicklung des Ausmaßes der Dekommodifizierung und der Defamilisierung, noch die Veränderung von Arbeitsmarktinstitutionen lässt den Schluss auf eine grundsätzliche Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen zu. Dies heißt nicht, dass keinerlei Veränderungen stattgefunden haben. So ist beispielsweise die Höhe der Lohnersatzraten durchschnittlich merklich gesunken. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad unterliegt einem negativen Trend. Die Veränderungen über die Zeit sind allerdings nicht für alle Länder einheitlich und sind – im Vergleich zu den weiter bestehenden Länderunterschieden – eher gradueller denn grundsätzlicher Natur. Nur für wenige Länder sind in Einzelindikatoren deutlichere Veränderungen zu verzeichnen.103 Gegen diese Befunde lassen sich zwei grundsätzliche Argumente vorbringen: Zum einen kann eingewendet werden, dass in vielen der betrachteten Länder Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen erst zum oder nach Ende des hier gewählten Beobachtungszeitraums erfolgt sind, sodass die erwartete Verschiebung in Richtung von Armut von Erwerbstätigen noch nicht beobachtbar ist. Dieses Argument erscheint beispielsweise für Deutschland gerechtfertigt, da hier die bislang einschneidenste Reform der sozialen Sicherungssysteme – die mit der Umsetzung der Hartz-IV-Gesetzgebung verbundene Abkehr vom Prinzip dauerhafter Statussicherung – erst vier Jahre nach Ende des bisherigen Beobachtungszeitraums in Kraft getreten ist (vgl. Adamy 2003, Blos/Rudolph 2005, Becker/Hauser 2006). Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Betrachtung der Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen auf Basis hochaggregierter Indikatoren erfolgt ist, die allein quantitative Veränderungen erfassen, aber vielleicht wenig geeignet sind, Veränderungen in der grundsätzlichen Orientierung von Wohlfahrtsstaaten abzubilden. Gedacht ist hierbei an die zunehmende Ausrichtung von sozialen Sicherungssystemen auf Erwerbstätigkeit, die sich unter Umständen weniger in der Höhe von Lohnersatzraten zeigt, sondern in der Veränderung von Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, einer Verschärfung der Sanktionierung bei Ablehnung von Arbeitsangeboten, aber auch in den Abläufen in der Arbeitsvermittlung und -förderung. Insbesondere Sanktionen und Zumutbarkeitsregelungen betreffen den Grad der Dekommodifizierung, da sie die Zugangsberechtigung zu Transfers definieren. Sie wurden in dieser Arbeit jedoch – wie auch in der übrigen Literatur üblich (vgl. Kvist 1998: 41ff) – bislang nicht mitberücksichtigt. In den letzten Jahren ist aber vor allem unter dem Begriff ‚Aktivierung’ eine Reihe von Arbeiten entstanden, die entsprechende Veränderungen aus einer Perspektive des Umbaus oder Abbaus von Wohlfahrtsstaaten betrachtet (vgl. z.B. Barbier/Ludwig-Mayerhofer 2004, Barbier 2004, Clasen/Clegg 2006). Dabei meint 103 Dies gilt vor allem für Schweden (Rückgang des Dekommodifizierungsgrades und der Zentralisierung von Lohnverhandlungen), Großbritannien und Deutschland (Rückgang der Lohnersatzraten und der Tarifabdeckung).
7.2 Armut von Erwerbstätigen nach 2001
221
Aktivierung die Aktivierung von Erwerbslosen und Nichterwerbstätigen, wobei die (Re)-Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt einen zentralen, aber nicht den einzigen Aspekt darstellt.104 Teile dieser Literatur gehen von einem allgemeinen Trend in Richtung eines anderen Modells von Wohlfahrtsstaaten aus (vgl. Jessop 1993, Gilbert 2002, Handler 2003). Wäre dies der Fall, ließe sich berechtigterweise fragen, inwieweit die zuvor gezeigten Einflüsse wohlfahrtsstaatlicher Merkmale weiterhin Gültigkeit aufweisen. Dies ist also ein weitaus grundsätzlicherer Einwand, während der erste Einwand letztlich nur auf die Aktualität der hier dargestellten Analysen zielt, die getroffenen Aussagen aber nicht generell in Frage stellt. Auf beide Einwände soll in diesem Kapitel eingegangen werden. Nach einem kurzen Überblick über weitere Entwicklungen des Ausmaßes von Armut von Erwerbstätigen auf Basis neuerer Datenquellen wird anhand von Länderfallbeispielen überprüft, ob ein gemeinsamer Trend in Richtung ‚Aktivierung’ zu beobachten ist, der mit einer grundlegenden Veränderung von Wohlfahrtsstaaten einhergeht. 7.2 Armut von Erwerbstätigen nach 2001 Zunächst soll auf den ersten Einwand eingegangen werden, nämlich, dass die Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen erst nach Ende des bislang betrachteten Zeitraums zu beobachten sind. Die Grundlage für die Bearbeitung dieses Einwands ist die erste Welle der ‚Community Statistics on Income and Living Conditions’ (EU-SILC), die erst seit Ende 2006 für die wissenschaftliche Nutzung vorliegt. Es handelt sich hierbei um die Nachfolgestudie des ECHP. Daher weisen beide Studien weitreichende Ähnlichkeiten in grundlegenden Konzepten auf (vgl. Museux 2005, EUROSTAT 2005). Derzeit ist EU-SILC die aktuellste Datenbasis auf EU-Ebene, die detaillierte Einkommensangaben und die für die Untersuchung von Armut benötigten Fallzahlen aufweist. Leider sind erst seit 2005 alle EUMitgliedsländer dazu verpflichtet, Daten für EU-SILC zu erheben. Für den vorliegenden Datensatz aus dem Jahr 2004 gibt es aber Ergebnisse aus immerhin 12 der 15 in dieser Arbeit untersuchten Länder. Es fehlen Deutschland, die Niederlande und Großbritannien. Im Gegensatz zum ECHP handelt es sich nicht um eine vollständig inputharmonisierte Erhebung, jedoch wurde bei der Konzeption darauf geachtet, möglichst vergleichbare Einkommensangaben zu erhalten, da diese zu den zentralen Erhebungsinhalten zählen. Grundsätzlich ist die Struktur der Einkommensdaten der im ECHP ähnlich. Allerdings wurden nicht das monatliche und das jährliche Haus104 Andere Maßnahmen zielen auf die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, die Re-Integration von Erwerbsunfähigen oder die Rücknahme von Vorruhestandsregelungen oder andere Maßnahmen zur Erhöhung des Renteneintrittsalters.
222
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
haltseinkommen erhoben, sondern allein das jährliche Einkommen. Wie auch im ECHP wurde rückblickend der hauptsächliche Erwerbsstatus für jeden Monat erfragt. Es ist also eine Berechnung von Armutsquoten von Erwerbstätigen analog zum Vorgehen in den vorherigen Kapiteln möglich (vgl. Abschnitt 4.5). Auch in diesem Kapitel sind arme Erwerbstätige als Personen definiert, die mindestens 6 Monate im Jahr erwerbstätig waren und die in einem Haushalt leben, der über weniger als 60 Prozent des Medians des bedarfsgewichteten jährlichen Haushaltsnettoeinkommens verfügt. In Tabelle 7.1 sind Armutsquoten und deren Veränderung gegenüber dem Beginn bzw. Ende des bisherigen Beobachtungszeitraums dargestellt. Soweit möglich, wurden Ergebnisse für Großbritannien und die Niederlande auf Basis von publizierten Zahlen der Europäischen Kommission ergänzt (European Commission 2006, Anhang 1: 19). Die Zahlen für Deutschland wurden auf Basis des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) berechnet. Die Operationalisierung von Armut von Erwerbstätigen erfolgte analog zum Vorgehen auf Basis von EU-SILC. Die Ergebnisse sind in Tabelle 7.1 dargestellt. Auch nach 2001 – also nach Ende der Phase einer durchgängig positiven wirtschaftlichen Entwicklung, die möglicherweise die Einflüsse negativer Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen überlagert hat – ist keine eindeutige Entwicklung in Richtung Armut von Erwerbstätigen zu beobachten. Dänemark ist das einzige Land, in dem zwischen 1994 bis 2001 Anzeichen eines Ansteigens von Armut von Erwerbstätigen zu beobachten waren (allerdings nur auf Basis der monatlichen Einkommensmessung) und in dem auch nach 2001 die Armutsquote angestiegen ist. In keinem der anderen Länder, die zuvor steigende Armutsquoten aufwiesen, ist ein länger anhaltender Trend zu beobachten. In Finnland und den Niederlanden ist die Armutsquote eindeutig zurückgegangen, in Irland und Schweden zumindest nicht weiter angestiegen. Dagegen ist nun ein Ansteigen der Armutsquote von Erwerbstätigen in Ländern zu beobachten, in denen dies zuvor nicht der Fall war. Es handelt sich dabei um drei der vier südeuropäischen Länder und Österreich. Allerdings liegt in allen Fällen außer Spanien die Armutsquote auch 2004 unter dem Niveau von 1994. Es handelt sich also um einen Wiederanstieg nach einem deutlichen Rückgang in den vorherigen Jahren. Der deutlichste Anstieg von Armut von Erwerbstätigen ist dagegen in Deutschland zu beobachten. Betrachtet man das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen im Jahr 2004 mit der Situation vor 10 Jahren ist Deutschland eines von ohnehin nur vier Ländern (neben Dänemark, Finnland und Irland), in denen die Quote eindeutig angestiegen ist. In keinem der Länder ist ein eindeutiger, länger anhaltender Trend zu beobachten. Vier Länder weisen keine oder nur geringfügige Veränderungen gegenüber 2004 auf (Niederlande, Schweden, Österreich, Spanien). In den übrigen Ländern ist Armut von Erwerbstätigen zurückgegangen. Es erscheint also insgesamt nicht gerechtfertigt, von einem allgemeinen Trend in Richtung von Armut von Erwerbstätigen zu sprechen.
7.2 Armut von Erwerbstätigen nach 2001
223
Zu dieser Schlussfolgerung kommt man auch, wenn man die Entwicklung des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen betrachtet. Eine kontinuierliche Zunahme des Erwerbstätigenanteils ist allein in Irland und Spanien zu beobachten. Für die Niederlande, wo anhand der vorherigen Ergebnisse eine ähnliche Entwicklung zu erwarten wäre, liegen leider keine aktuellen Zahlen vor. Für alle übrigen Länder hat sich der Anteil armer Erwerbstätiger entweder uneinheitlich oder eindeutig rückläufig (Belgien, Portugal) entwickelt. Neben den beiden Ländern mit steigenden Erwerbstätigenanteilen weist nur noch Finnland einen deutlich höheren Anteil an erwerbstätigen Armen als vor 10 Jahren auf. Da dieser Vergleich zwar auf zwei ähnlichen Datenquellen, aber eben nicht ein- und derselben Datenquelle beruht, sollen noch zusätzlich Ergebnisse nationaler Studien auf Basis durchgängiger Zeitreihen betrachtet werden. Allerdings lassen sich auch so kaum Ergebnisse finden, die in eine grundsätzlich andere Richtung weisen. In Deutschland ist nach 2001 eine Zunahme von Armut von Erwerbstätigen festzustellen, wie sie sich auch hier gezeigt hat (vgl. Andreß/Seeck 2007, Gießelmann/Lohmann 2007).105 In Irland ist dagegen das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen nach 2001 leicht gesunken (vgl. Nolan 2007). Entsprechend aktuelle Zahlen für arme Erwerbstätige in anderen Ländern sind rar. In offiziellen Publikationen finden sich jedoch aktuelle Zahlen zur Armut von Erwerbstätigenhaushalten (Italien) oder von Personen in Erwerbstätigenhaushalten (Großbritannien). In Italien ist die Armutsquote von Erwerbstätigenhaushalten mit abhängig beschäftigter Bezugsperson von 8,5 Prozent im Jahr 2002 auf 9,4 Prozent (2005) gestiegen (ISTAT 2004, 2006). Für Selbständigenhaushalte ist eine leicht stärkere Zunahme zu beobachten. In Großbritannien ist die Armut von Personen in Erwerbstätigenhaushalten dagegen seit 2001 leicht zurückgegangen (Department for Work and Pensions 2002, 2004, 2006). Auf Basis dieser Beispiele lassen sich zwar nicht die in den vorangegangenen Kapiteln durchgeführten Analysen fortschreiben, sie zeigen aber, dass eine allgemeine Entwicklung in Richtung von Armut von Erwerbstätigen nach Ende des Beobachtungszeitraums nicht stattgefunden hat. Es bleibt abzuwarten, ob sich der in einigen Ländern in den letzten Jahren beobachtete Trend steigender Armutsquoten verfestigt (dies gilt insbesondere für Deutschland und Dänemark) oder, ob es sich um ein temporäres Ansteigen handelt, wie es zuvor in anderen Ländern zu beobachten gewesen ist. Zumindest für den Zeitraum, der bislang auf Basis verfügbarer Daten oder publizierter Ergebnisse zu überschauen ist, ist der eingangs formulierte erste Einwand also zurück zu weisen.
105 Eindeutig zeigt sich jedoch ein Auseinanderdriften von Ost- und Westdeutschland. In Ostdeutschland ist Armut von Erwerbstätigen in den letzten Jahren deutlich angestiegen, was sich im gesamtdeutschen Durchschnitt jedoch kaum zeigt. Die Betrachtung der Ursachen regionaler Differenzen liegt allerdings außerhalb der Zielsetzung dieser Arbeit.
224
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Tabelle 7.1: Veränderung Armutsquote und Anteil von Erwerbstätigen an allen Armen 2004 gegenüber 2001 und 1994* Armutsquote (%) Veränderung 200420042001 1994* % % +2,5 +2,3 -1,3 +1,2 -2,0 0,0 -0,1 +0,5 -0,2 +1,0
Anteil an allen Armen (%) Veränderung 200420042004 2001 1994* % % % 45,8 +8,9 +9,3 31,1 -7,6 +5,8 45,9 +0,5 +2,2 41,0 +0,6 +5,8
DK FIN NL1 S Ø
2004 % 6,3 4,7 6,0 6,4 5,8
IRL UK1 Ø
6,8 7,0 6,9
-0,4 +0,4 0,0
+2,7 -0,5 +1,1
45,9 -
+17,6 -
+31,5 -
B D2 F LUX A Ø
4,5 7,6 5,6 8,4 7,8 6,8
+0,5 +3,0 -2,3 +0,3 +2,0 +0,7
-2,1 +1,5 -4,2 -3,5 -0,1 -1,7
21,5 35,8 28,4 50,8 48,5 37,0
-6,6 +3,1 -9,2 +5,6 +2,4 -1,0
-8,9 +2,8 -8,3 +0,1 -2,0 -3,3
GR I P ES Ø
13,3 10,5 12,8 11,2 11,9
+1,2 +0,1 +1,3 +1,4 +1,0
-3,5 -1,8 -1,8 +0,3 -1,7
46,0 32,9 48,4 39,9 41,8
+5,5 +1,5 -3,3 +6,2 +2,5
-2,3 -0,8 -5,0 +12,7 +1,2
R2
0,83
0,13
0,39
0,09
0,45
0,77
Quelle: EU-SILC 2004 (gewichtet), eigene Berechnungen, außer: 1) Angaben aus European Commission 2006, Anhang 1: 19, 2) SOEP 2004 (gewichtet), eigene Berechnungen. *) Österreich: 1995, Finnland: 1996, Schweden: 1997.
7.3 ,Aktivierung’ von Wohlfahrtsstaaten
225
7.3 ‚Aktivierung’ von Wohlfahrtsstaaten Um auf den zweiten Einwand einzugehen, wird mit ‚Aktivierung’ ein Begriff näher betrachtet, der in der Diskussion über die gegenwärtige Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten zentral ist. Dabei sind mehrere Verwendungen zu unterscheiden. In einem engeren Sinne wird Aktivierung im Zusammenhang mit konkreten Maßnahmen diskutiert, die darauf zielen, Bezieher von Arbeitslosengeld oder von Sozialhilfe in den Arbeitsmarkt (zurück) zu bringen (vgl. Lødemel/Trickey 2000, Torfing 1999, Gilbert/Van Voorhis 2001). In einem weiteren Sinne wird Aktivierung als eine zentrale Dimension im Veränderungsprozess sozialer Sicherungssysteme angesehen, wobei nicht einzelne Maßnahmen gemeint sind, sondern eine generelle Neuausrichtung von Wohlfahrtsstaaten. So definieren Barbier und Ludwig-Mayerhofer Aktivierung als „an increased and explicit linkage between on the one hand, social protection, and on the other hand, labour market participation and labour market programmes” (2004: 425f). Wie in den vorangegangenen Kapiteln argumentiert, sind von einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses von Transferbezug und Erwerbstätigkeit Konsequenzen für das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen zu erwarten. Da Aktivierung genau auf diesen Punkt zielt, müsste ein fortschreitender Aktivierungsprozess, der sich nicht notwendigerweise in den zuvor verwendeten Indikatoren zeigt (vgl. Kvist 2002), eben diese Entwicklung hervorrufen. Ob allerdings ein allgemeiner und weitgreifender Aktivierungstrend zu beobachten ist, ist umstritten. So geht Gilbert eindeutig von einem Trend aus, bei dem sich alle Wohlfahrtsstaaten in Richtung der liberalen ‚Vorbilder’ USA und Großbritannien entwickeln oder bereits entwickelt haben: „I think the evidence indicates that a basic shift has occurred in the institutional framework for social protection (or to hedge the bet, at least is far enough along that one might speak of an emerging paradigm), most prominently in the United States and England, with the other advanced nations moving steadily in the same direction” (Gilbert 2002: 15). Gilbert geht von einer Veränderung des Wohlfahrtsstaats zum ‚enabling state’ aus, der durch eine Abkehr von der Einkommenssicherung von Erwerbslosen geprägt ist. Stattdessen erfolgt eine Betonung sozialer Inklusion über Erwerbstätigkeit. Leistungsbezug ist zunehmend an Anreize und Sanktionen geknüpft, die auf die Annahme von Arbeit, sozial nützlicher Tätigkeiten oder Weiterbildungsmaßnahmen zielen. Ist der Wohlfahrtsstaat durch Dekommodifizierung geprägt, zielt der ‚enabling state’ auf Rekommodifizierung (Gilbert 2002: 43ff).106 Auch andere Autoren sehen Entwicklungen in diese Richtung, argumentieren aber gegen eine allgemeine, länderübergreifende Entwicklung in die von Gilbert beschriebene Richtung. So sieht zwar auch Barbier „activation as a principle, a tendency […] irrespective of the particular and diverging justifications attached to it in such and such a national context” (2004: 106 Vgl. auch die Gegenüberstellungen ‚welfare state vs. workfare state’ (Jessop 1993, Handler 2003).
226
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
235f, H.i.O.), unterscheidet aber trotzdem zwei Idealtypen der Aktivierung, die in grundsätzlich unterschiedliche Richtungen weisen. Dabei entspricht der liberale Typ in etwa dem Modell des ‚enabling state’. Liberale Aktivierung ist geprägt durch die Setzung ökonomischer Anreize (wobei entsprechend der Theorie des Arbeitsangebots auch die Absenkung des Niveaus von Lohnersatzleistungen zählt), kombiniert mit Überwachung und Sanktionen, um zunehmende Erwerbsanforderungen durchzusetzen. Dagegen betont universelle Aktivierung sehr viel stärker die produktive Einbindung in den Arbeitsmarkt, die über Aus- und Weiterbildung, Trainingsprogramme und gezielte Platzierung erreicht wird. Letztlich steht hier die Weiterführung aktiver Arbeitsmarktpolitik im Vordergrund, wie sie skandinavische und andere Wohlfahrtsstaaten seit Jahrzehnten kennzeichnet. Ein entscheidender Unterschied besteht dagegen im zunehmend durchgesetzten Verpflichtungscharakter entsprechender Maßnahmen. Jedoch werden nur in geringem Maße ökonomische Arbeitsanreize durch die Absenkung von Transfers verstärkt. Insgesamt weist die Unterscheidung zwischen liberaler und universeller Aktivierung deutliche Ähnlichkeiten mit der Unterscheidung zwischen liberalen und sozial-demokratischen Wohlfahrtsstaaten bei Esping-Andersen (1990) auf. Die Analogie wird dadurch verstärkt, dass auch Barbier die Möglichkeit eines dritten Typs diskutiert, dem er die kontinental-europäischen Wohlfahrtsstaaten zurechnet. Unabhängig davon, wie weit die Übereinstimmungen beider Typologien reichen, wird wie bei Esping-Andersen die Unterschiedlichkeit von Wohlfahrtsstaaten betont. Es wird also gerade nicht wie von Gilbert (2002) von einer einheitlichen Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten in Richtung eines Aktivierungsstaates ausgegangen. Stattdessen wird konstatiert, dass trotz einer allgemeinen Tendenz in Richtung Aktivierung die Unterschiedlichkeit der Wohlfahrtsstaaten bestehen bleibt oder evtl. sogar verstärkt wird. Im Folgenden soll anhand von vier Länderfallbeispielen zweierlei betrachtet werden: Lässt sich ein Trend in Richtung Aktivierung beobachten und ist dabei von einem grundsätzlichen Wandel auszugehen? Und: Ist die Annahme der Unterschiedlichkeit gerechtfertigt oder ist von einer zunehmenden Angleichung der Wohlfahrtsstaaten auszugehen? Diese Fragen lassen sich auf Basis von Fallbeispielen sicherlich nicht umfassend beantworten. Es kann hier nur darum gehen, Perspektiven für die weitere Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen aufzuzeigen und abzuschätzen, ob sich diese grundsätzlich von der bisherigen Situation unterscheiden wird. Die Auswahl der Fälle orientiert sich an der zuvor verwendeten Wohlfahrtsregimetypologie, die zwischen vier Typen unterscheidet. Betrachtet wird jeweils ein Land, das sowohl nach der bisher verwendeten Wohlfahrtsregimetypologie als auch in der Aktivierungstypologie relativ eindeutig einem Typ zuzuordnen ist. Folgende Länder werden betrachtet: Dänemark (sozialdemokratisch/universalistisch), Großbritannien (liberal/liberal), Deutschland (konservativ/kontinental-europäisch) und Italien (südeuropäisch/kontinental-europäisch). Auch wenn Barbier keinen eigenen
7.4 Fallbeispiele
227
Typ für die südeuropäischen Länder bildet, wird im Vergleich von Italien mit dem eindeutig kontinental-europäischen Frankreich deutlich, dass Italien einige ‚südeuropäische’ Eigenheiten aufweist (Barbier/Fargion 2004).
7.4 Sanktionen, Zumutbarkeitsregeln und Aktivierungsmaßnahmen Zu Beginn des Vergleichs wird noch einmal kurz auf die Entwicklung von Indikatoren in den bereits in Kapitel 3 betrachteten Dimensionen eingegangen. In knapper Form sind diese im oberen Teil von Tabelle 7.2 zusammengefasst. Die Tabelle enthält jeweils Angaben zum Niveau und zur Entwicklung der jeweiligen Indikatoren. Wie in den vorherigen Kapiteln verdeutlicht, dominieren Unterschiede zwischen den Ländern. Veränderungen innerhalb der Länder sind dagegen weniger stark ausgeprägt. Trotzdem ist in allen Ländern außer Italien ein Rückgang der Lohnersatzraten festzustellen. Für Deutschland ist anzunehmen, dass die Hartz IVReform zu einem weiteren Rückgang beiträgt. Die in dieser Arbeit verwendeten international vergleichenden Indikatoren erfassen diese Veränderungen jedoch noch nicht. Eindeutig ist der Trend steigender Frauenerwerbsquoten. Diese wurde zuvor als Folge der Veränderungen im Grad der Defamilisierung interpretiert. Eine grundsätzliche Veränderung im Lohnverhandlungssystem ist in keinem der Länder zu beobachten. Dagegen ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad insbesondere in Deutschland und Großbritannien rückläufig. Hier soll es nun aber darum gehen, bislang ignorierte Faktoren, die für die Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Im Einzelnen werden Regeln über die Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten, das Ausmaß und die Häufigkeit von Sanktionen, das Ausmaß von Qualifizierungsmaßnahmen und die Ausgestaltung der Eingliederung von Arbeitslosen über formale Vereinbarungen betrachtet. Tabelle 7.2 enthält auch einen vergleichenden Überblick über diese Veränderungen, die im Folgenden näher erläutert werden. Zur Einordnung in den jeweiligen Länderkontext werden kurz grundsätzliche Entwicklungen seit den frühen 1990er Jahren betrachtet. Für Großbritannien sind insbesondere zwei Entwicklungen zu nennen. 1996 erfolgte ein erster Schritt in Richtung der Zusammenlegung von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe. Die neu geschaffene Jobseeker’s Allowance richtet sich an Erwerbsfähige, also auch an jene, die keine ausreichenden Ansprüche in der Arbeitslosenversicherung erworben haben.
Qualifikation Stärkung Vermittlung
konstant
sinkend
konstant Qualifikation
mittel
gestiegen
gestiegen hoch
mittel bis hoch
hoch
niedrig Verschärfung
abgeschafft Verschärfung
eher niedrig Verschärfung
eher niedrig
sinkend
konstant
Verschärfung
niedrig/mittel
hoch
Branche konstant
zentral konstant
mittel ansteigend
hoch wieder ansteigend
mittel/hoch leicht sinkend
hoch
konstant
leicht sinkend
niedrig
mittel/hoch
hoch konstant
Stärkung Vermittlung
Vermittlung
konstant
niedrig
konstant
niedrig/mittel
(Verschärfung 1989)
minimal
eher konstant
mittel
sinkend
mittel
konstant
Betrieb
leicht ansteigend
mittel/hoch
sinkend
niedrig/mittel
konstant
Großbritannien
Deutschland
Dänemark
Anmerkungen: 1) Basis: Darstellung in Kapitel 3. Quellen: eigene Zusammenstellung (weitere Angaben siehe Text).
Ausrichtung aktive Arbeitsmarktpolitik
Ausgaben aktive Arbeitsmarktpolitik
Mobilitätsanforderungen
Berufsschutz
Aktivierungsindikatoren Sanktionen
gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Lohnverhandlungen
Frauenerwerbstätigkeit
Lohnersatzraten
"klassische" Indikatoren1 Dekommodifizierung
Tabelle 7.2: Vergleich Fallbeispiele
-
-
-
niedrig
-
niedrig/mittel
-
vorhanden
-
(strikt)
leicht sinkend
mittel
konstant
zentral
leicht ansteigend
niedrig
leicht ansteigend
niedrig
leicht ansteigend
niedrig/mittel
Italien
228 7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Tabelle 7.2: Vergleich Fallbeispiele
7.4 Fallbeispiele
229
Die Jobseeker’s Allowance ist eine reine Grundsicherungsleistung, die bedürftigkeitsgeprüft ist und in der Höhe der Sozialhilfe (Income Support) für Nichterwerbsfähige entspricht. Für Personen, die Ansprüche auf Arbeitslosengeld erworben haben, gibt es die sogenannte ‚contribution-based’, also beitragsbasierte Jobseeker’s Allowance, auf die allerdings nur sechs Monate ein Anspruch besteht (vgl. Knuth/Finn 2004, Wright et al. 2004, Clasen 2005). Diese unterscheidet sich jedoch nicht durch die Höhe der Leistungen, sondern allein dadurch, dass die Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Der überwiegende Anteil der Arbeitslosen hat darauf jedoch keinen Anspruch. Während 1980, also vor den einschneidenden Reformen der Thatcher-Regierung, noch die Hälfte der Arbeitslosen beitragsbasierte Leistungen erhielten, waren es 2001 nur noch 16 Prozent (Clasen 2005: 59). Grundsätzlich wurden die von der konservativen Regierung durchgesetzten Reformen von der seit 1997 regierenden Labour-Regierung beibehalten. Nach 2001 wurde dann auch die verwaltungstechnische Durchführung der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe vollzogen. Die neu geschaffenen Jobcentres Plus sind sowohl für Erwerbsfähige als auch Nichterwerbsfähige zuständig. In eine ähnliche Richtung gehen die Reformbemühungen in Deutschland, die allerdings später einsetzen, dafür aber weitaus schneller umgesetzt wurden. Die 1990er Jahre sind durch graduelle Veränderungen in der Höhe, der Bezugdauer und den Anspruchsbedingungen von Arbeitslosenunterstützung geprägt (vgl. Clasen 2005: 67ff). Einen grundsätzlichen Einschnitt stellt die im Jahr 2005 in Kraft getretene Hartz-IV-Gesetzgebung dar, durch die die einkommensbasierte Arbeitslosenhilfe abgeschafft wurde. Außerdem ist im Zuge der Reformen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt worden. Die frühere Arbeitslosenhilfe wurde mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II) zusammengelegt, auf das alle Erwerbsfähigen einen Anspruch haben. Im Gegensatz zur Arbeitslosenhilfe ist das ALG II eine reine Grundsicherungsleistung, die sich in der Höhe an der früheren Sozialhilfe orientiert (vgl. Adamy 2003, Blos/Rudolph 2005, Becker/Hauser 2006). In Dänemark ist dagegen die grundsätzliche Organisation der Arbeitslosenversicherung unverändert geblieben. Deutliche Einschnitte gab es in der maximalen Dauer des Anspruches auf Arbeitslosenleistungen, die im internationalen Vergleich aber immer noch als lang einzuschätzen ist (schrittweise Verringerung der Bezugsdauer von 9 auf 4 Jahre, vgl. Halvorsen/Jensen 2004: 473). In diesem Zusammenhang ist auch die Änderung der Stellung der Teilnahme an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu sehen. Bis 1994 qualifizierte die Teilnahme an solchen Maßnahmen zur Erneuerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, sodass faktisch ein dauerhaftes Pendeln zwischen Maßnahmenteilnahme und Bezug von Arbeitslosengeld möglich war. Ein grundsätzlicher Unterschied betrifft die verpflichtende Einführung von Aktivierungsmaßnahmen. Nachdem diese 1990 zunächst auf 18- und 19-jährige beschränkt waren, wurden die Regelungen 1993 teilweise ausgeweitet und gelten seit 1998 für alle Leistungsempfänger (Halvorsen/Jensen 2004: 473f).
230
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Sehr verschieden davon stellt sich die Situation in Italien dar. Barbier und Fargion (2004: 445ff) argumentieren, dass aufgrund der fragmentierten Arbeitslosenversicherung und des fehlenden Grundsicherungssystems kein koordiniertes Aktivierungsprogramm zu erwarten ist. Dies vor allem deshalb, da die Notwendigkeit, Leistungsbezieher in den Arbeitsmarkt einzugliedern, eine weitaus kleinere Gruppe betrifft als in anderen Ländern. Reformen in Richtung Aktivierung sind aber in der Arbeitslosenversicherung der Beschäftigten des Kernarbeitsmarktes (Cassa Integrazione Guadagni) unternommen worden, die allerdings ineffizient blieben und teilweise zurückgenommen wurden (vgl. Borzaga/Brunello 1997, Borzaga/Miniaci 1997, Barbier/Fargion 2004). Ein eindeutigeres Signal in Richtung Aktivierung stellt der Versuch dar, ein auf Integration über Arbeit zielendes Grundsicherungssystem zu etablieren (reddito minimo di inserimento), das 1999 als Modellversuch in ausgewählten Kommunen eingeführt wurde. Eine landesweite Ausweitung erfolgte jedoch nicht, sondern der Modellversuch wurde 2002 beendet (vgl. Sacchi/Bastagli 2005). Insgesamt konstatieren Barbier und Fargion „a sustainable mismatch […] between social needs and institutional capabilities” (2004: 454), der abgestimmte und weiterreichende Reformen des italienischen Wohlfahrtsstaats verhindert. Im Folgenden soll nun betrachtet werden, inwieweit die Entwicklung in den letzten Jahren durch Veränderungen geprägt ist, die – zusätzlich zu den bereits beschriebenen Veränderungen – als Verstärkung aktivierender Elemente zu interpretieren sind. Dabei soll es um Zumutbarkeitsregeln, Sanktionen und Eingliederungsmaßnahmen gehen. Für die Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen sind diese Regelungen relevant, da sie das Verhältnis von Transferbezug und Erwerbstätigkeit mitbestimmen. Zunächst wird die Ausgestaltung von Sanktionsmöglichkeiten betrachtet. Grundsätzlich wird zwischen Sanktionen unterschieden, die sich auf das Verhalten vor und während des Bezugs von Leistungen beziehen. So wird die Kündigung einer Stelle bzw. eine Kündigung aufgrund von Fehlverhalten als ‚freiwillige Arbeitslosigkeit’ interpretiert, für die zunächst kein Anspruch auf Leistungen besteht. Sanktionen während des Bezugs von Leistungen werden aufgrund der Ablehnung von Arbeitsangeboten oder der Nichtteilnahme an Maßnahmen, aber auch aufgrund von unzureichenden Eigenbemühungen bei der Arbeitssuche und sogenannter administrativer Vergehen ausgesprochen (z.B. fehlende oder unzureichende Angaben zum Einkommen, keine Angaben zu Veränderungen der Lebensumstände, Nichterscheinen bei Terminen, vgl. Oschmiansky et al. 2001: 12f). Geht es um die Aktivierung von Arbeitslosen sind Sanktionen aufgrund der Ablehnung von Arbeitsangeboten bzw. Ablehnung der Teilnahme an Maßnahmen von besonderem Interesse. Hier unterscheiden sich die Regelungen deutlich. Während in Großbritannien Sanktionen von einer Woche bis zu einem halben Jahr möglich sind, beträgt die Dauer in Dänemark drei Wochen, in Deutschland bis zwölf Wochen (Hassel-
7.4 Fallbeispiele
231
pflug 2005: 34).107 In Dänemark wurden die Sperrzeiten in den letzten Jahren verlängert, in Deutschland verkürzt bzw. flexibler gestaltet (vgl. zu früheren Regelungen Grubb 2000: 154ff, Danish Ministry of Finance 1998). In Deutschland war bis 2003 eine Sperrzeit von zwölf Wochen Standard, die nur in Ausnahmefällen auf drei oder sechs Wochen verkürzt werden konnte (vgl. Bäcker et al. 2000: 351, Müller/Oschmiansky 2006: 6).108 Neben Sperrzeiten kann die Ablehnung von Jobangeboten oder der Teilnahme an Maßnahmen auch den vollständigen Ausschluss vom Leistungsbezug zur Folge haben (vgl. Hasselpflug 2005: 37). In Dänemark erfolgt ein Ausschluss bei einer zweiten Ablehnung innerhalb von 12 Monaten. Langzeitarbeitslose, die die Teilnahme an einer Aktivierungsmaßnahme ablehnen, werden dagegen sofort vom Leistungsbezug ausgeschlossen. In Deutschland erfolgt ein Ausschluss nach einer Gesamtsanktionsdauer von 21 Wochen (bis 2003: 24 Wochen). In Großbritannien erfolgt dagegen auch bei weiteren Ablehnungen kein genereller Ausschluss vom Leistungsbezug. Im Gegensatz zu Dänemark, wo die Nichtteilnahme an Maßnahmen scharf sanktioniert wird, sind in Großbritannien die Möglichkeiten zur Sanktionierung der Ablehnung von Arbeitsangeboten ausgeprägter. Auch in der Sanktionshäufigkeit bestehen deutliche Unterschiede. Als Maß hierfür wird die Sperrzeitenquote verwendet, die die Gesamtanzahl der Sanktionen pro Jahr zur durchschnittlichen Anzahl der Leistungsbezieher in Beziehung setzt. Ende der 1990er Jahre wurden in Großbritannien Leistungsbezieher etwa zehnmal so häufig mit Sanktionen belegt wie in Deutschland, in Dänemark etwa viermal so häufig (vgl. Grubb 2000: 158). Die Sanktionierung von Arbeitslosen vor Beginn des Leistungsbezugs aufgrund sogenannter ‚freiwilliger Arbeitslosigkeit’ erfolgte in Großbritannien und Deutschland ähnlich häufig. Neben diesen Länderunterschieden ist hier vor allem die Frage von Interesse, ob die Häufigkeit von Sanktionen zugenommen hat, also ob davon auszugehen ist, dass Arbeitslose stärker gedrängt werden, Arbeit anzunehmen. Eine Zunahme bis zum Jahr 2004 ist sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien zu beobachten (OECD 2006a: 23), wobei die Gründe für die Sanktionen zu berücksichtigen sind. In Großbritannien sind es vor allem administrative Vergehen, die verstärkt zu Sanktionen führen, während Sanktionen aufgrund von unzureichender Arbeitssuche eher zurückgegangen sind. In Dänemark ist allgemein eher eine Abschwächung zu beobachten.109 107 Entsprechend detaillierte Informationen liegen für Italien nicht vor. In einer Studie des dänischen Finanzministeriums wird der mögliche Umfang der Sanktionen in Italien als hoch eingestuft (Hasselpflug 2005: 12). 108 Allerdings betrug die Sperrzeit bis 1994 nur acht Wochen. Vor der Verkürzung bzw. Flexibilisierung im Jahr 2003 wurde also eine Verschärfung durchgeführt (zur Entwicklung der Sperrzeitregelungen allgemein vgl. Karasch 2005a, b, c). 109 Diese Einschätzung beruht nicht auf Zahlen zur Häufigkeit von Sanktionen, sondern ist das Ergebnis von Studien des dänischen Finanzministeriums, die die Schärfe von Sanktionen anhand einer fünfstufigen Skala bemisst (vgl. Danish Ministry of Finance 1998: 15, Hasselpflug 2005: 12).
232
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Bei der Beurteilung der Häufigkeit von Sanktionen ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass sich diese – wie oben dargestellt – in ihrer Dauer unterscheiden. Oschmianski et al. (2001: 14) argumentieren, dass sich beispielsweise die früher sehr niedrige Sperrzeitenquote in Deutschland auch aus der Tatsache erklärt, dass bereits eine zweite Sperrzeit zum vollständigen Ausschluss vom Leistungsbezug führen konnte und dementsprechend seltener Sperrzeiten verhängt wurden. Weiter ist festzustellen, dass die Häufigkeit von Sanktionen nicht allein eine Folge der Schärfe der Regeln bzw. der Regelauslegung ist, sondern es lässt sich auch – zumindest in Deutschland – ein klarer Einfluss der Arbeitsmarktlage beobachten (vgl. auch Kvist 1998: 43f, Oschmiansky 2003: 13). Abbildung 7.1 zeigt die Sperrzeitenquote für die Ablehnung von Arbeitsangeboten oder Ablehnung der Teilnahme an Maßnahmen für den Zeitraum von 1993 bis 2004 in Abhängigkeit von der Anzahl der Arbeitslosen je gemeldeter offener Stelle. Dieses Verhältnis wird als Indikator für die Arbeitsnachfrage interpretiert, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein hoher Wert eine geringe Nachfrage signalisiert. Für die Jahre bis 2002 zeigt sich ein deutlicher linearer Zusammenhang (r=-0,96). Je geringer die Arbeitsnachfrage, desto niedriger ist auch die Quote der verhängten Leistungssperren. In anderen Worten: Wenn keine Arbeit verfügbar ist, ist es wenig wahrscheinlich, dass Arbeitsangebote abgelehnt und deswegen Sanktionen ausgesprochen werden. Nicht durch das Angebot an offenen Stellen wird dagegen das Ansteigen der Quote von 2002 auf 2003 erklärt. Während die Sperrzeitenquote sich zuvor zwischen 1,0 und 2,4 Prozent bewegte, steigt sie 2003 auf 4,6 Prozent an und geht auch 2004 nicht auf das vorherige Niveau zurück. Hier ist von einer veränderten Sanktionspraxis auszugehen, die mit der Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit und dem Einstieg in die Hartz-Gesetzgebung zusammenfällt (vgl. Müller/Oschmiansky 2006). Der für frühere Jahre bestehende Zusammenhang zwischen Arbeitsnachfrage und Sperrzeiten scheint jedoch weiter fortzubestehen, obwohl die Betrachtung auf Basis von zwei Beobachtungszeitpunkten wenig aussagekräftig ist. Verlässliche Aussagen für weitere Jahre sind leider bislang nicht möglich. Für 2005 liegen wegen der Veränderung in der Arbeitsverwaltung aufgrund der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe nur unvollständige Zahlen vor. Zu berücksichtigen ist allerdings die Tatsache, dass mit der HartzGesetzgebung zwei neue Gründe für Sperrzeiten eingeführt wurden, die zuvor mit Leistungskürzungen, aber nicht mit Sperrzeiten geahndet wurden (Karasch 2005c: 69). Sperren werden nun auch bei Meldeversäumnissen und bei unzureichenden Eigenbemühungen bei der Jobsuche verhängt.110 Betrachtet man jedoch die Zahlen 110 Für 2005 liegen nur Zahlen für den Zeitraum von Mai bis Dezember vor (Bundesagentur für Arbeit 2006: 112). Nimmt man diese Zahlen als Basis für eine einfache Hochrechnung für das Gesamtjahr, liegt die Gesamtzahl der Sperrzeiten auf dem Niveau von 2004, die Zahl der Sperrzeiten aufgrund von Arbeitslehnung jedoch deutlich darunter. Im Jahr 2006 ist die Gesamtzahl der Sperrzeiten dagegen auf
7.4 Fallbeispiele
233
im internationalen Vergleich, handelt es sich bei der Zunahme seit 2002 um Veränderungen auf relativ niedrigem Niveau. Deutschland hatte 1997 im internationalen Vergleich mit 1,1 Prozent die niedrigste Sperrzeitenquote aufgrund von Arbeitsablehnungen und unzureichender Arbeitssuche (Grubb 2000: 158). Dänemark wies dagegen eine leicht höhere Quote (2,1 Prozent), Großbritannien dagegen mit 5,5 Prozent eine deutlich höhere Quote auf. Berücksichtigt man dazu auch Sperrzeiten aufgrund administrativer Verfehlungen, die in Deutschland bis vor kurzem nicht mit Sperrzeiten geahndet wurden, liegen die Quoten in Dänemark oder Großbritannien nochmals deutlich höher (4,3 bzw. 10,3 Prozent).111 Die jüngsten Veränderungen in Deutschland bedeuten also eine Angleichung der Sperrzeitenquote auf das Niveau anderer europäischer Länder wie Dänemark, nicht aber eine Zunahme auf ein im internationalen Vergleich hohes Niveau. Während zumindest die Häufigkeit von Sanktionen in einem einfachen Indikator auszudrücken ist, gilt dies nicht für die Vorschriften, die die Zumutbarkeit eines Arbeitsangebots regeln. Zu unterscheiden sind hierbei die Anforderungen an die örtliche Mobilität (maximale Dauer des Arbeitsweges, Verpflichtung zum Ortswechsel) und Regeln, die den Schutz der eigenen Qualifikation garantieren.112 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Angaben auf die Ergebnisse zweier Studien des dänischen Finanzministeriums (Danish Ministry of Finance 1998, Hasselpflug 2005). Außer in Italien gibt es in den betrachteten Ländern keinen dauerhaften Berufsschutz mehr. In Deutschland ist der Berufsschutz mit dem Inkrafttreten des neuen SGB III im Jahr 1998 aufgehoben worden (Karasch 2005c: 68). Dafür wurde eine Zumutbarkeitsregel eingeführt, die sich zu Beginn der Arbeitslosigkeit am vorherigen Einkommen orientiert. Ein 20-prozentiger Einkommensrückgang (nach 3 Monaten 30 Prozent) gilt als zumutbar. Nach einem halben Jahr muss allerdings jede Tätigkeit angenommen werden. Eine ähnliche Regelung findet sich in Großbritannien. In den ersten 13 Wochen der Arbeitslosigkeit können unpassende Angebote abgelehnt werden (geringere Frist bei kurzer Beschäftigungsdauer). Die
einen neuen Höchststand angestiegen („Bundesagentur straft 500.000 Arbeitslose ab”, Spiegel Online vom 5.1.2007). 111 In den USA wurde dagegen mehr als ein Drittel der Arbeitslosen (35,4 Prozent) aufgrund der Ablehnung von Arbeitsangeboten bzw. unzureichender Eigenbemühungen bei der Arbeitssuche mit Leistungssperren belegt. Berücksichtigt man auch Sperrzeiten aufgrund administrativer Verfehlungen, ergibt sich eine Quote von 57,0 Prozent. 112 Unterschiede bestehen auch in der Definition der Erwerbsbevölkerung. So sind in Großbritannien alleinerziehende Leistungsbezieher mit Kindern bis unter 16 Jahren nicht verpflichtet, eine Arbeit aufzunehmen und können daher Income Support anstelle von Jobseeker’s Allowance beziehen. In Deutschland gilt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nur dann als nicht zumutbar, wenn die Erziehung eines Kindes unter drei Jahren gefährdet wäre, wobei keine Gefährdung angenommen wird, wenn die anderweitige Betreuung des Kindes sichergestellt ist.
234
7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Regelung wurde seit Beginn der 1990er Jahre nicht verändert.113 Eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln wie in Deutschland gab es dagegen in Dänemark. Der 1998 noch bestehende sechsmonatige Berufsschutz wurde inzwischen vollständig aufgehoben. Auch müssen Arbeitsangebote nicht mehr den geltenden Tarifverträgen entsprechen (Halvorsen/Jensen 2004: 473). Abbildung 7.1: Sperrzeitenquote
Verhältnis
Leistungsbezieher
zu
offenen
Stellen
und
5
Sperrzeiten/Leistungsempfänger
03
4
04
3 0001
02 99
2
98
95 93
1
96
8
97 94
12
16
Arbeitslose/offene Stellen
Quellen: Oschmianski et al. 2001, Bundesanstalt/-agentur für Arbeit 2002, 2004, 2006, Stat. Bundesamt 2006.
Wie beim Berufsschutz sind auch die Regeln für die örtliche Mobilität verschärft worden. In Deutschland sind je nach Arbeitszeit zwei bis zweieinhalb Stunden als Arbeitsweg zumutbar. Nach drei Monaten Arbeitslosigkeit ist ein Umzug an einen weiter entfernt liegenden Beschäftigungsort zumutbar. Dabei gelten jedoch Ausnahmen je nach familiärer Situation. In Dänemark gelten Arbeitswege von drei Stunden bzw. vier Stunden (nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit) als zumutbar. Seit 113 Die jetzige Regelung des Berufsschutzes geht auf eine Gesetzesänderung im Jahr 1989 zurück, die einen deutlichen Einschnitt in die Berufsschutzregelungen darstellte. In Großbritannien wurde dieser Einschnitt also deutlich früher vollzogen als in Deutschland (vgl. Clasen 2005: 79).
7.4 Fallbeispiele
235
einiger Zeit gilt für Personen mit höherer Qualifikation (Bachelor-Abschluss oder höher) eine gesonderte Regel: Kann ein Arbeitsplatz nicht mit einem anderen Bewerber besetzt werden, gelten keinerlei Beschränkungen bei der Entfernung. Weniger restriktiv sind die Regeln in Großbritannien und Italien. In Großbritannien gelten Arbeitswege von maximal zwei Stunden als zumutbar, in Italien eine Entfernung von 50 Kilometern. Betrachtet man die Entwicklung von Sanktionen und Zumutbarkeitsregelungen zusammen, ergibt sich prinzipiell ein Bild der Verschärfung entsprechender Regelungen. Eine Ausnahme davon stellt sicherlich Italien dar. Aber auch zwischen den übrigen drei Ländern bestehen Unterschiede. In Dänemark wurden zwar die Zumutbarkeitsregeln verschärft, die Sanktionspraxis ist aber weiterhin weniger scharf als in den meisten übrigen Ländern. In Deutschland ist dagegen sowohl eine Verschärfung von Zumutbarkeitsregelungen als auch eine Ausweitung der Gründe für Sperrzeiten und der Häufigkeit von Sperrzeiten festzustellen. Letzteres ist aber zumindest teilweise auch der Verkürzung der Dauer von Sperrzeiten bei erst- oder zweitmaliger Ablehnung von Arbeitsangeboten zuzurechnen. Eine leichte Zunahme von Sperrzeiten lässt sich auch in Großbritannien beobachten. Es wurden aber weder die Dauer von Sperrzeiten, noch die Zumutbarkeitsregelungen verändert. Dies ist sicher zum Teil dadurch begründet, dass Großbritannien bereits in den 1980er Jahren die Regelungen für den Bezug von Arbeitslosenleistungen deutlich verschärft hat. Es fällt aber auf, dass in Großbritannien – beispielsweise im Gegenteil zu Dänemark – immer noch ein zumindest minimaler Berufsschutz besteht und auch die Anforderungen an die örtliche Mobilität relativ gering sind. Bislang wurde ausschließlich auf Sanktionen und Zumutbarkeitsregelungen eingegangen, die nur einen Aspekt der angenommenen zunehmenden Aktivierung darstellen. Die andere Seite stellt die Förderung von Arbeitslosen und Nichterwerbstätigen dar, die einen (Wieder)einstieg in Erwerbstätigkeit erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen soll. In allen betrachteten Ländern gibt es Ansätze, die auf eine Förderung von Jobsuchenden abzielen. Auf Italien wird hier nicht weiter eingegangen, da die Modellprojekte zur Einführung eines nationalen Grundsicherungssystems, die eine starke Aktivierungskomponente aufwiesen, im Jahr 2002 ausgelaufen sind und die Maßnahmen zur Wiedereingliederung im System der Cassa Integrazione Guardagni ineffizient geblieben sind (vgl. Sacchi/Bastagli 2005, Borzaga/Miniaci 1997). Insbesondere in Dänemark als auch in Deutschland sind entsprechende Instrumente nicht neu. Beide Länder weisen eine lange Tradition der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf, zu der eine Reihe der neu geschaffenen Instrumente auch zu rechnen sind. Ein grundsätzlicher Unterschied ist jedoch, dass früher die Teilnahme an Maßnahmen freiwillig war, während die hier beschriebenen Entwicklungen verpflichtenden Charakter haben. Eine Nichtteilnahme hat i.d.R. Sanktionen in der oben beschriebenen Form zur Folge. In Dänemark wurden 1990 verpflichtende
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7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
Aktivierungsmaßnahmen zunächst für Jugendliche (18-19 Jahre) eingeführt, die nach und nach auf andere Gruppen ausgeweitet wurden. Seit 1998 haben alle Langzeitleistungsbezieher die Pflicht bzw. das Recht an Aktivierungsmaßnahmen teilzunehmen (Halvorsen/Jensen 2004: 473f). Dabei wurde im Lauf der 1990er Jahre der Zeitpunkt, wann Aktivierungsmaßnahmen einsetzen, in mehreren Schritten von vier Jahren auf ein Jahr verschoben (Emmerich et al. 2000: 5, Torfing 1999: 16f). Trotz des verpflichtenden Charakters werden die Veränderungen weniger als Verschiebung in Richtung liberaler Wohlfahrtsstaaten interpretiert, sondern aufgrund der stark qualifizierenden Komponenten eher in der Tradition aktiver Arbeitsmarktpolitik sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten gesehen (Halvorsen/Jensen 2004, Barbier 2004, Trickey 2000, Torfing 1999). In Deutschland ist ein erster Schritt in Richtung verpflichtender Aktivierung mit dem Job-AQTIV-Gesetz aus dem Jahr 2002 verbunden (AQTIV=Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln). Im Rahmen des Gesetzes wurden beispielsweise verpflichtende Eingliederungsvereinbarungen für Arbeitslose eingeführt.114 Weitere entscheidende Schritte in diese Richtung sind mit der sogenannten Hartz-Gesetzgebung verbunden, in der der Ansatz des ‚Förderns und Forderns’ gesetzlich festgeschrieben ist. Hierbei handelt es sich um eine Formulierung, die prinzipiell Ansprüche auf Leistungen und Maßnahmenteilnahme, aber auch die Pflichten der Arbeitslosen betont. Da der Anspruch erfolgreicher Förderung nur schwer kurzfristig umzusetzen ist, steht der Aspekt des Forderns in der gegenwärtigen Diskussion sicherlich im Vordergrund. Hierzu zählt neben verstärkten Eigenbemühungen zu Suche von Arbeit auch die Verpflichtung Arbeitsgelegenheiten wahrzunehmen. Insgesamt lässt sich in den letzten Jahren in der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein Rückgang der qualifizierenden Maßnahmen und eine Entwicklung in Richtung schnellerer Vermittlung beobachten (vgl. Clasen 2005: 74, OECD 2006c: 68ff), wobei auch die oben beschriebenen verschärften Zumutbarkeitsregeln eine Rolle spielen. Für eine abschließende Beurteilung, in welche Richtung der Aktivierung Deutschland sich nach Umsetzung der Hartz-Gesetzgebung entwickelt, ist es aber bislang noch zu früh. In Großbritannien ist der Begriff der Aktivierung eng mit den sogenannten New-Deal-Programmen verknüpft, die 1998 für junge Arbeitslose eingeführt wur114 Eingliederungsvereinbarungen können als formaler Ausdruck des angestrebten Zusammenspiels von verschärften ökonomischen Arbeitsanreizen, Sanktionen und Eingliederungshilfen angesehen werden. Diese gleichen einem Vertrag zwischen Arbeitsagentur und Arbeitslosen, in denen individuelle Ansprüche und Pflichten definiert werden. In allen hier betrachteten Ländern sind entsprechende Vereinbarungen eingeführt worden. In Dänemark besteht das Instrument seit 1994 (individuell handlingsplan), in Großbritannien seit 1996 (jobseeker’s agreement). In Deutschland sind Eingliederungsvereinbarungen 2002 im Rahmen des Job-AQTIV-Gesetzes eingeführt worden und sind auch Bestandteil der HartzGesetzgebung. Eingliederungsvereinbarungen waren auch Bestandteil der Modellvorhaben zur Einführung der Grundsicherung RMI (patto di aiuto concordato e individualizzato, PACE), welche inzwischen aber eingestellt wurden.
7.5 Konsequenzen der Aktivierungstendenzen
237
den und nach und nach auf alle über einen längeren Zeitraum Erwerbslosen ausgeweitet wurden (vgl. Trickey/Walker 2000, Clasen 2005: 81ff). Der Ablauf der Programme ist in drei Phasen gegliedert. In den ersten vier Monaten erfolgen Hilfen zur Jobsuche. Arbeitslose, die in dieser Zeit keinen Job finden, kommen in eine zweite, sechsmonatige Phase. Diese besteht entweder aus subventionierter Erwerbstätigkeit oder Vollzeitausbildung. Für junge Arbeitslose gibt es auch die Möglichkeit, soziale Arbeit oder Arbeiten im Umweltschutzbereich aufzunehmen. Führt auch die zweite Phase nicht in reguläre Beschäftigung, folgt eine weitere Phase mit Beratung oder Ausbildung. Clasen (2005: 78) sieht in den Programmen vor allem eine Entwicklung in Richtung einer schnellen Vermittlung in den Arbeitsmarkt, weniger in Richtung Qualifizierung: „[T]he emphasis within labour-market policy switched from training to job-search activities, enhancing work-incentives and subsidizing work placements for the long-term unemployed”. Unterschiede in der grundsätzlichen Ausrichtung der Aktivierungsbemühungen lassen sich auch auf Basis der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik ausmachen, auch wenn diese nicht allein die hier beschriebenen, sondern auch weitere Maßnahmen umfassen. Grundsätzlich zeigt sich auch nach den Veränderungen der letzten Jahre absolut betrachtet ein unterschiedliches Bild. Die Ausgaben sind mit 1,56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Dänemark am höchsten, in Großbritannien und Italien am niedrigsten (0,43 bzw. 0,55 Prozent). Deutschland rangiert mit 0,97 Prozent in der Mitte (OECD 2006c: 270ff). Die Unterschiede werden verstärkt, wenn man unterschiedliche Ausgabenbereiche unterscheidet. Dabei wird deutlich, dass der Schwerpunkt der – ohnehin niedrigen – Ausgaben in Großbritannien auf der Arbeitsvermittlung liegt, während insbesondere in Dänemark (in geringerem Maße in den übrigen Ländern) ein höherer Anteil der Ausgaben für Trainings- und Ausbildungsmaßnahmen aufgewendet wird. In Dänemark beträgt der Anteil der Vermittlungsausgaben drei Prozent, in Großbritannien dagegen 63 Prozent. Unterschiede in der Ausrichtung von Wohlfahrtsstaaten bestehen also weiter fort, obwohl übergreifende Trends in Richtung verschärfter Anforderungen an Arbeitslose durchaus festzustellen sind. Hier allerdings von einer Angleichung auf Basis des geringsten gemeinsamen Nenners auszugehen, erscheint – soweit dies anhand der Entwicklungen in den hier betrachteten Ländern zu beurteilen ist – nicht plausibel.
7.5 Konsequenzen der Aktivierungstendenzen Ausgangspunkt für dieses Kapitel waren zwei Einwände, die man gegen die zuvor dargestellten Analysen erheben könnte. Der eine Einwand betraf die reine Aktualität der vorliegenden Ergebnisse. Der andere Einwand zielte darauf, ob die Entwick-
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7 Konsequenzen wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen: Ausblicke
lung von Wohlfahrtsstaaten in Richtung Aktivierung die Annahme der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit von Wohlfahrtsstaaten in Frage stellt. Da das Ziel der Arbeit war, den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf Armut von Erwerbstätigen im Ländervergleich zu untersuchen, ist der erste Einwand kein grundlegender. Auch bei einer Verschiebung des Beobachtungsfensters sollten die aufgezeigten Mechanismen Bestand haben. Zudem ließ sich zeigen, dass auch nach Ende des hier betrachteten Beobachtungszeitraums ein genereller Anstieg des Ausmaßes von Armut von Erwerbstätigen nicht festzustellen ist. Natürlich gibt es Länder, in denen ein Anstieg von Armut von Erwerbstätigen zu beobachten ist (beispielsweise in Deutschland). Allerdings sind weder dramatische Veränderungen in einzelnen Ländern, noch ist ein genereller Trend zu beobachten. Der zweite Einwand wurde dagegen als möglicherweise folgenreicher angesehen. Gäbe es grundsätzliche Veränderungen von Wohlfahrtsstaaten, die nicht in den hier verwendeten Indikatoren erfasst werden, so würde dies die Gültigkeit der Ergebnisse weitaus mehr in Frage stellen. Ausgangspunkt für Überlegungen in diese Richtung ist die gegenwärtige Diskussion über die Entwicklung hin zu aktivierenden Wohlfahrtsstaaten, die statt auf Dekommodifizierung auf Rekommodifizierung zielen. Anhand von Länderfallbeispielen konnte gezeigt werden, dass entsprechende Entwicklungen sich durchaus anhand von verschärften Sanktions- und Zumutbarkeitsregeln und der verpflichtenden Teilnahme an Aktivierungsmaßnahmen belegen lassen. Trotzdem bleiben Unterschiede – wie zuvor gezeigt – in der Leistungshöhe wie auch in der Ausrichtung von Aktivierungsmaßnahmen bestehen. Zudem ist die Entwicklung in Richtung Aktivierung in einem der betrachteten Länder (Italien) kaum nachzuweisen. Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten entlang der zuvor aufgezeigten Linien scheinen weiterhin zu bestehen. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Barbier und Ludwig-Mayerhofer auf Basis einer Untersuchung zu möglichen Veränderungen in Richtung Aktivierung in acht europäischen Ländern: „[T]he conclusion emerges that the demands made on citizens, in behavioural terms, have undoubtedly increased across the countries surveyed. What is now more and more considered as the norm, i.e., active engagement in labour marketrelated activities, can be observed in all countries of our sample. At the same time, the conditionality of benefits has also increased in the majority of cases. Yet to interpret this general procedural dynamics as testimony for a common substantive normative turn across Europe remains highly far-fetched” (Barbier/LudwigMayerhofer 2004: 432, H.i.O.). Trotzdem bleibt ein wenig die Verwunderung darüber, dass trotz der hier beschriebenen Entwicklungen – auch wenn sie nicht grundlegender Natur sein sollten – keine oder keine stärkere Zunahme von Armut von Erwerbstätigen zumindest in einigen Ländern zu beobachten ist. Die Bestrebungen, Arbeitslose, deren Arbeitsmarktchancen zumeist schlechter sind als die der bereits Erwerbstätigen (sei es über Sanktionen oder Förderung), in Erwerbstätigkeit zu bringen, sollte den Anteil der-
7.5 Konsequenzen der Aktivierungstendenzen
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jenigen erhöhen, deren Erwerbseinkommen nicht ausreicht, Armut zu vermeiden. Dass dies trotzdem nicht zu beobachten ist, kann eine Folge gegenläufiger Entwicklungen sein. Eine der deutlichsten Veränderungen stellt die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit und die damit verbundene zunehmende Förderung von Doppelverdienerhaushalten dar (vgl. Abschnitt 3.7). Auch wurde das Niveau der Familienleistungen in einigen Ländern deutlich angehoben.115 In den Analysen in Kapitel 6 hat sich gezeigt, dass dies Faktoren sind, die Armut von Erwerbstätigen verringern. Eine stärkere Erwerbsorientierung von Wohlfahrtsstaaten, die ja auch die Förderung von Frauenerwerbstätigkeit einschließt, kann also auch einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen haben. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass Doppelverdienerhaushalte dabei zunehmend den Einkommensstandard setzen. Die Vorstellung, dass ein Erwerbseinkommen für eine Familie armutsvermeidend sein sollte, wird dann mehr und mehr der Vergangenheit angehören.
115 So wurden beispielsweise in Deutschland und Großbritannien nicht bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen für Familien ausgeweitet, die zu einer Reduktion von Armut von Erwerbstätigen beitragen. Wright et al. (2004: 524) sehen darin einen klaren Widerspruch zur Annahme einer eindimensionalen Entwicklung in Richtung zunehmender Aktivierung: „This seems to be a move that goes against the flow of a purely liberal activation strategy, because it contains no work-incentive (serving only to ‚make work possible’ by compensating for child care costs), no compulsion and no punitive element. The effect is more social democratic strengthening of social rights for people with children”.
7.3 ,Aktivierung’ von Wohlfahrtsstaaten
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8 Zusammenfassung und Diskussion
Das Ziel dieser Arbeit war es, die Frage zu klären, welchen Einfluss die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen hat. Für die Beantwortung dieser Frage wurde eine Perspektive eingenommen, die den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf Einkommensquellen und auf die Haushaltskonstellation erwerbstätiger Personen berücksichtigt. Diese Perspektive schließt die Problematik der ungleichen Verteilung von Erwerbseinkommen bzw. des Auftretens von Niedriglöhnen mit ein, geht aber darüber hinaus, da die Höhe des Erwerbseinkommens nicht als einziger Faktor für das Auftreten von Armut von Erwerbstätigen betrachtet werden kann. Grundsätzlich ist dies die Perspektive der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, die versucht, über den Vergleich von Ländern die Auswirkungen unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Arrangements auf das Verhältnis von Markt, Staat und Familie zu klären. Mit dieser Perspektive und dem Ziel, Unterschiede im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen nicht nur zu zeigen, sondern auch zu erklären, erweitert die vorliegende Arbeit die bisherigen – ohnehin nicht zahlreichen – Arbeiten zum Thema deutlich. Die zentrale Hypothese der Arbeit über die Bedeutung unterschiedlicher Rahmenbedingungen für Armut von Erwerbstätigen ließ sich grundsätzlich bestätigen. Von dieser Betrachtung ausgehend wurde dann eine weitere Frage bearbeitet: Lassen sich als Folge des Wandels institutioneller Rahmenbedingungen Veränderungen im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen feststellen? Aufgrund eines Rückgangs des Niveaus der sozialen Sicherung und einer Dezentralisierung von Lohnverhandlungssystemen wurde eine Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen erwartet. Für den primären Beobachtungszeitraum von 1994 bis 2001 ließ sich diese Annahme nicht bestätigen. Das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen entwickelte sich nur in wenigen Ländern in die erwartete Richtung. In mehreren Ländern ist die Armutsquote von Erwerbstätigen sogar deutlich zurückgegangen. Ebenso bestätigt auch die Entwicklung des Anteils der Erwerbstätigen an allen Armen nur in einigen Ländern eindeutig die Annahme einer Verschiebung von nichterwerbstätigen zu erwerbstätigen Armen. Auch bei Ausweitung des Beobachtungszeitraums verändert sich dieses Ergebnis nicht grundlegend.
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8 Zusammenfassung und Diskussion
Neben den zwei allgemeinen Hypothesen – Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen und Verschiebung von Armut in Richtung von Armut von Erwerbstätigen – wurde in dieser Arbeit eine Reihe von Detailhypothesen überprüft. Die Ergebnisse dieser Überprüfung werden im nächsten Abschnitt kurz zusammengefasst. In Abschnitt 8.2 werden auf Basis dieser Ergebnisse Schlussfolgerungen diskutiert. In Abschnitt 8.3 werden offene Forschungsfragen dargestellt, bevor die Arbeit mit einigen abschließenden Bemerkungen endet.
8.1 Zentrale Ergebnisse Die Darstellung zentraler Ergebnisse orientiert sich an den in Abschnitt 3.8 aufgestellten Hypothesen. Diese zielten vor allem auf den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen. Grundlage für die Formulierung dieser Hypothesen war die Annahme einer Reihe von Mechanismen, die in Abschnitt 3.5 dargestellt wurden. Die Diskussion der Ergebnisse bezieht sich sowohl auf die deskriptiven Analysen in Kapitel 5 und die multivariaten Mehrebenenanalysen in Kapitel 6. In einem zweiten Schritt wird auf die Frage eingegangen, wie die Ergebnisse zur Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen zu interpretieren sind (Abschnitt 5.8, Kapitel 7). a) Je höher der Grad der Dekommodifizierung, desto geringer ist das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen. Der Einfluss des Dekommodifizierungsgrads auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen ließ sich eindeutig nachweisen. Sowohl auf Basis der deskriptiven Analysen als auch in der multivariaten Mehrebenenanalyse in Kapitel 6 zeigten sich entsprechende Ergebnisse. So ist beispielsweise in Schweden die Armutsquote von Erwerbstätigen nach Transfers um zwei Drittel niedriger als die Armutsquote vor Transfers. In Griechenland wird dagegen Armut von Erwerbstätigen deutlich weniger stark, nämlich nur um ein Drittel reduziert (Abschnitt 5.4). Neben der Betrachtung des Ausmaßes der Armutsreduktion stellte sich die Frage, warum ein höherer Dekommodifizierungsgrad, der sich überwiegend an dem Niveau und der Verfügbarkeit von Leistungen für Nichterwerbstätige bemisst, auch einen deutlichen Einfluss auf Armut von Erwerbstätigen hat. Drei unterschiedliche Mechanismen wurden diskutiert: Erstens ist ein Einfluss der Höhe von Lohnersatzraten auf die Höhe impliziter Mindestlöhne anzunehmen. Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse ist die Annahme eines solchen Einflusses weder abzulehnen noch zu bestätigen, da es kaum möglich
8.1 Zentrale Ergebnisse
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ist, diesen von anderen Einflüssen zu trennen. Zweitens zeigt sich aber ein eindeutiger Einfluss durch den Bezug von Transfers durch nichterwerbstätige Haushaltsmitglieder. Auch Armut von Erwerbstätigen wird darüber – teilweise sogar deutlich – reduziert. Der als drittes angenommene Einfluss aufstockender oder speziell an Erwerbstätige gerichteter Transfers lässt sich dagegen weniger eindeutig nachweisen. Nur in wenigen Ländern tragen diese zur Verringerung von Armut von Erwerbstätigen bei. b) Je höher der Grad der Defamilisierung, desto geringer ist das Ausmaß an Armut von Erwerbstätigen. Einflüsse auf Armut von Erwerbstätigen bestehen sowohl auf Ebene der Größe und Struktur von Haushalten, über die sich der Bedarf eines Haushaltes definiert, als auch im Erwerbsverhalten von Frauen. Insbesondere in familialistisch orientierten Wohlfahrtsstaaten wird der Bedarf von Erwerbstätigenhaushalten durch das Zusammenleben mit nichterwerbstätigen Erwachsenen wie arbeitslosen Kindern und Rentnern erhöht (Abschnitt 5.3). So lebt in den südeuropäischen Ländern in bis zu einem Fünftel der Haushalte von Erwerbstätigen ein arbeitsloser junger Erwachsener, während dieser Anteil in den meisten übrigen Ländern marginal ist. In defamilisierend ausgerichteten Wohlfahrtsstaaten sind also diese Personengruppen weniger auf die Unterstützung im Rahmen der Familie angewiesen. Die Haushalte von Erwerbstätigen werden entlastet. Gleichzeitig ist der Einkommensanteil von Frauen und die daraus resultierende Armutsreduktion höher (Abschnitte 5.4, 5.5). c) Stärkere Familiensolidaritat bietet jedoch auch Schutz für Geringverdiener im Haushaltskontext. Dies zeigt sich vor allem in der Struktur armer Erwerbstätiger. Tatsächlich sind junge Erwerbstätige im Familienkontext eher vor Armut trotz Erwerbstätigkeit geschützt (Abschnitt 5.2, Kapitel 6), was die Hypothese der Schutzfunktion der Familiensolidarität bestätigt. Auch ist das Armutsrisiko von erwerbstätigen Frauen niedriger (Kapitel 6). Dies bedeutet aber nicht, dass Armut von Erwerbstätigen insgesamt verringert wird. Andere Erwerbstätige – insbesondere männliche Hauptverdiener – werden stärker belastet. Der Effekt des höheren Bedarfs größerer Haushalte wirkt eindeutig negativ. Dieser wird auch nicht vollständig durch den Mechanismus der ‚s ynthesis of breadcrumps’, also dem Zusammenfließen mehrerer – wenn vielleicht auch geringfügiger – Einkommenskomponenten, ausgeglichen. Durch die stärkere Umverteilung im Haushaltskontext unterscheidet sich aber die Struktur der armen Erwerbstätigen
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8 Zusammenfassung und Diskussion
zwischen familialistischen und defamilisierend ausgerichteten Wohlfahrtsstaaten. d) Die Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen trägt zur Verringerung der Ungleichheit von Erwerbseinkommen und darüber zur Verringerung von Armut von Erwerbstätigen bei. In der multivariaten Analyse ließ sich vor allem ein Einfluss des gewerkschaftlichen Organisationsgrads auf das Niveau von Armut von Erwerbstätigen nachweisen (Kapitel 6). Wie erwartet, ist die Armutsquote bei höherem Organisationsgrad geringer. In deskriptiven Analysen wurde auch die Höhe des Anteils von Niedriglohnbeschäftigten betrachtet. Insgesamt gibt es große Unterschiede in der Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung. Während in Österreich nur 9,7 Prozent der Beschäftigten Niedriglöhner sind, ist der Anteil in Großbritannien mit 20,4 Prozent mehr als doppelt so hoch (Abschnitt 5.6). Einfache Korrelationskoeffizienten verweisen dabei auf einen mittleren Zusammenhang mit der Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen und der Höhe der Niedriglohnquote. Jedoch wurde auch deutlich, dass das Ausmaß der Teilzeitbeschäftigung teilweise mit dem Ausmaß der Niedriglohnbeschäftigung zusammenhängt (Abschnitt 5.7). Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf Armut von Erwerbstätigen im Haushaltskontext abgeschwächt wird, da das Zusammenfließen mit anderen Erwerbseinkommen und Transfers eine wichtige Rolle spielt. So ist mit einem Anteil zwischen 78 und 92 Prozent die deutliche Mehrzahl der Niedriglöhner nicht arm. Dies heißt allerdings auch nicht, dass Niedriglohnbeschäftigung keinerlei Armutsrisiken aufweist. Das Armutsrisiko von Niedriglöhnern ist bis zu dreimal so hoch wie das von anderen Erwerbstätigen. e) Es lässt sich kein eindeutiger Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen bestimmen. Ein eindeutiger Einfluss zeigt sich allein im Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen Ländern (Abschnitt 5.8). Wirtschaftlich höher entwickelte Länder (höheres BIP pro Kopf) weisen eine niedrigere Armutsquote von Erwerbstätigen auf. Der Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb von Ländern, also der Einfluss des wirtschaftlichen Wachstums (Veränderung des BIP pro Kopf) auf Armut von Erwerbstätigen, ließ sich nicht eindeutig klären. In einigen Ländern ist der Zusammenhang positiv, in anderen negativ. Dies bestätigt die uneinheitlichen Ergebnisse früherer Studien. Auch theoretisch lassen sich zwei unterschiedliche Erklärungen finden. Entweder partizipieren Erwerbstätige an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung über steigende Löhne und eine größere Anzahl von Verdienern pro Haushalt. Oder es werden
8.1 Zentrale Ergebnisse
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gerade die von Armut betroffenen Erwerbstätigen in wirtschaftlich schlechten Zeiten aus dem Arbeitsmarkt gedrängt und sind dann zwar weiterhin arm, aber eben nicht mehr erwerbstätig. Die Ergebnisse der multivariaten Analyse deuten auf ein Herausdrängen aus dem Arbeitsmarkt hin (Kapitel 6). Aufgrund der einförmig und annähernd monoton positiv verlaufenden Wirtschaftsentwicklung über den gesamten Beobachtungszeitraum ließ sich aber deren Einfluss unter negativen wirtschaftlichen Bedingungen nicht testen. Im Zentrum der Arbeit stand der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen. Untersucht wurde jedoch auch der Einfluss individueller und haushaltsbezogener Faktoren. Hier wurden die Ergebnisse früherer Studien durchgängig bestätigt. Personen, die in Haushalten mit höherem Bedarf leben, weisen ein höheres Armutsrisiko auf. Weiter zeigte sich eindeutig der Einfluss geringer Ressourcen und von Restriktionen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Interessanter sind sicherlich die Ergebnisse, die auf Wechselwirkungen zwischen der Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen und individueller Faktoren hinweisen. Auf den Einfluss des Ausmaßes intergenerationaler Abhängigkeit von der Familie auf das Armutsrisiko von Jüngeren wurde bereits weiter oben hingewiesen. Es zeigt sich aber auch ein Zusammenhang zwischen dem Armutsrisiko von erwerbstätigen Frauen und der Ausgestaltung der Doppelverdienerunterstützung, ebenso wie die Bedeutung letzterer für das Armutsrisiko, das von Kindern ausgeht. Wie bereits angesprochen, ließ sich die Annahme einer Verschiebung von Armut in Richtung Armut von Erwerbstätigen nicht eindeutig bestätigen. In Kapitel 5 und 7 wurden die entsprechenden Entwicklungen für alle Länder einzeln ausführlich dargestellt. Hier soll die Entwicklung noch einmal auf Basis von Durchschnittswerten betrachtet werden. Um zu vermeiden, dass Veränderungen im Ländersample die Entwicklung über die Zeit beeinflussen, werden nur die 10 Länder betrachtet, für die zu allen Zeitpunkten Daten vorliegen. Im Jahr 1994 lag die durchschnittliche Armutsquote mit 9,7 Prozent eindeutig am höchsten.116 Bis 2001 ist die Quote auf 7,9 Prozent zurückgegangen, um dann bis 2004 wieder auf 8,7 Prozent anzusteigen. Der durchschnittliche Anteil der Erwerbstätigen hat sich von 1994 bis 2001 kaum verändert (36,4 gegenüber 36,6 Prozent) und ist erst in den letzten Jahren auf 39,5 Prozent angestiegen. In Richtung einer kontinuierlichen Entwicklung weisen die Ergebnisse auf Basis der monatlichen Einkommensdaten, die allerdings nur bis zum Jahr 2001 vorliegen. Hier ist der Anteil der armen Erwerbstätigen seit 1994 von 38,9 auf 44,2 Prozent angestiegen. Es ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass in allen 116 Die ausgewiesenen Angaben sind ungewichtete Durchschnittswerte der Armutsquoten auf Basis der jährlichen Einkommensangaben (da nur diese auch für 2004 vorliegen). Zum Vergleich: Auch die monatlichen Armutsquoten sind von 1994 bis 2001 gesunken, allerdings nicht so deutlich (von 8,9 auf 8,2 Prozent). Durchschnittswerte auf Basis des gesamten Ländersamples sind in Abschnitt 5.1 dargestellt. Auch hier ergibt sich ein negativer Trend.
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8 Zusammenfassung und Diskussion
Ländern die Erwerbstätigenquote insgesamt angestiegen ist. Nur in wenigen Ausnahmen ist der Anteil der Erwerbstätigen an allen Armen stärker gestiegen als der Anteil der Erwerbstätigen insgesamt. Man kann nun natürlich argumentieren, dass der Anstieg der Erwerbstätigenquoten mit einem Anstieg des Anteils der armen Erwerbstätigen erkauft wurde. Gegen eine Interpretation als grundsätzlich negative Entwicklung spricht aber, dass – wie gezeigt – die Armutsquote von Erwerbstätigen in den meisten Ländern nicht angestiegen ist. Im Detail stellt sich die Entwicklung wie folgt dar: In den Ländern, in denen Armut von Erwerbstätigen zugenommen hat, erfolgt dies parallel zu einem Ansteigen von Armut insgesamt. Das einzige Land, in dem Armut von Erwerbstätigen und der Anteil der Erwerbstätigen an allen Armen eindeutig überproportional angestiegen sind, sind die Niederlande. Hier ist die Quote im Zeitraum von 1994 bis 2001 je nach Art der Armutsmessung von 5,9 auf 8,0 Prozent bzw. von 6,5 auf 10,5 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Erwerbstätigen von unter 40 Prozent auf über 60 Prozent gestiegen und somit auf den höchsten Wert aller hier betrachteten Länder. Die Niederlande zählen aber auch zu den Ländern, in denen aufgrund sozial- und arbeitsmarktpolitischer Reformen die Erwerbsquoten insgesamt stark zugenommen haben, was von Visser und Hemerijck (1998) auch als Teil des ‚holländischen Wunders’ bezeichnet wurde. Das gleichzeitige Ansteigen der Armut von Erwerbstätigen verweist auf die negativen Seiten dieses ‚Wunders’ und hier bestätigt sich die Annahme einer Verschiebung von erwerbslosen zu erwerbstätigen Armen im Zuge wohlfahrtsstaatlicher Veränderungen. Wie gesagt, die Niederlande sind jedoch der einzige Fall, wo dies eindeutig zutrifft. Gegen die Annahme stehen die Beispiele Schweden und insbesondere Großbritannien. Hier würde man aufgrund der Entwicklung der institutionellen Rahmenbedingungen – Rückgang der Dekommodifizierung und zunehmende Dezentralisierung des Lohnverhandlungssystems – eine Zunahme von Armut von Erwerbstätigen erwarten. In beiden Ländern ist aber weder eine entsprechende Entwicklung zu beobachten, noch ist das Armutsniveau oder der Anteil von Erwerbstätigen überdurchschnittlich hoch. Ein einheitlicher Trend ist in der Entwicklung von Armut von Erwerbstätigen also nicht zu festzustellen. Obwohl in einigen Ländern eine deutliche, wenn auch nicht über alle Länder einheitliche Entwicklung zu beobachten ist, sind Unterschiede zwischen Ländern stärker ausgeprägt als innerhalb von Ländern. Diese sind – zumindest wenn man jeweils allein den oberen und unteren Rand betrachtet – relativ stabil. Griechenland und Portugal sind durchgängig die Länder mit den höchsten Armutsquoten (bis über 15 Prozent), die teilweise mehr als viermal so hoch sind wie in dem jeweiligen Land mit der niedrigsten Quote. Dies ist häufig Dänemark, das in mehreren Jahren eine Armutsquote von unter 4 Prozent aufweist. Hier zeigen sich die Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten deutlich, die trotz eines generell feststellbaren Trends in Richtung ‚aktivierender Wohlfahrtsstaaten’ – zumindest bislang – Bestand haben.
8.2 Schlussfolgerungen
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8.2 Schlussfolgerungen Die Analyse der Bestimmungsgründe der Armut von Erwerbstätigen wirft grundsätzlich die Frage auf, welche Auswirkungen die Mechanismen der Dekommodifizierung, Kommodifizierung und Rekommodifizierung haben. Mit der zunehmenden Ausrichtung der sozialen Sicherungssysteme auf Erwerbstätigkeit ist ein Prozess der Rekommodifizierung zu beobachten. Vor allem die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit kann dagegen als Kommodifizierungstrend interpretiert werden, zumindest dann, wenn diese Entwicklung darauf beruht, dass Wohlfahrtsstaaten die Erwerbstätigkeit von Frauen gezielt fördern bzw. Mechanismen, die das Einverdienermodell unterstützen, abbauen. Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf Armut von Erwerbstätigen? Betrachtet man zunächst erwerbslose und nichterwerbstätige Arme, lässt sich relativ eindeutig sagen, dass ein hoher Dekommodifizierungsgrad mit geringen Armutsquoten einhergeht, zumindest wenn man das Problem möglicher langfristiger Wechselwirkungen zwischen Sozialausgaben und wirtschaftlichem Wachstum außer Acht lässt. Für Armut von Erwerbstätigen ist dieser Zusammenhang nicht so eindeutig. Einerseits ist das Armutsrisiko von Erwerbstätigen, und das hat sich auch in dieser Arbeit gezeigt, grundsätzlich niedriger als das von Nichterwerbstätigen. Erwerbstätigkeit kann also als Schutz vor Armut interpretiert werden. Andererseits, und auch das ist in dieser Arbeit deutlich geworden, ist ein nicht zu ignorierender Teil der Erwerbstätigen arm. Erwerbstätigkeit kann also nicht immer eine Lösung für die Verhinderung von Armut sein. Gilt es zwischen ‚mehr Erwerbstätigkeit’ und ‚weniger Armu t’ abzuwägen, ist keine eindeutige Lösung vorhersagbar. Aus einer Perspektive der Dekommodifizierung wird Armut von Erwerbstätigen dadurch verhindert, dass Personen nicht gezwungen sind, sich am Arbeitsmarkt anzubieten, wenn ihnen dies kein ausreichendes Einkommen sichert. Möglicherweise sind diese Personen dann arm, aber nicht arm und erwerbstätig. Weiter hat sich jedoch auch ein positiver Einfluss des Ansteigens des Anteils erwerbstätiger Frauen gezeigt, der zumindest teilweise als Kommodifizierung zu verstehen ist. Einkommen von Frauen tragen zunehmend zur Reduzierung von Armut von Erwerbstätigen bei. Diese Entwicklung ist jedoch in vielen Ländern mit einem Ansteigen des Anteils von Teilzeitbeschäftigten verbunden, deren Einkommen häufig nicht ausreicht, um eigenständig Armut zu verhindern. Zudem setzen Doppelverdienerhaushalte zunehmend den Standard in der Einkommensverteilung, sodass auf längere Sicht der armutsvermindernde Effekt von zwei Einkommen verringert wird. Es bleibt der Aspekt der Rekommodifizierung. Ist damit gemeint, dass über verpflichtenden Arbeitseinsatz oder eine Absenkung von Lohnersatzraten, Erwerbstätigkeit ‚attraktiver’ gemacht wird, kann man dies eindeutig als Rückgang der Dekommodifizierung interpretieren. Als Folge werden mehr Personen in die Erwerbstätigkeit gedrängt, ohne ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften zu können. Sind je-
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8 Zusammenfassung und Diskussion
doch Maßnahmen wie ein System negativer Einkommenssteuer gemeint, die das Einkommen von Erwerbstätigen erhöhen, ohne dass Leistungen für Nichterwerbstätige beschnitten werden, ist die Situation weniger eindeutig. Vielleicht sind es gerade die zusätzlichen Leistungen, die Erwerbstätigen über die Armutsgrenze verhelfen. Unter Umständen ist es aber auch so, dass über Erwerbstätigkeit zwar ein höheres Einkommen erzielt werden kann als über Nichterwerbstätigkeit, dass dieses aber trotzdem nicht ausreicht, Armut zu verhindern. Was bedeutet dies in Bezug auf konkrete sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen? Obwohl diese Frage in dieser Arbeit nicht im Vordergrund stand, soll abschließend kurz angedeutet werden, was sich aus den eher abstrakten Ergebnissen und Überlegungen für die gegenwärtig diskutierten Maßnahmen zur Verhinderung von Armut insgesamt und von Armut von Erwerbstätigen schließen lässt. Erstens wird eine Absenkung des Niveaus der sozialen Sicherung nicht allein die Erwerbslosen treffen, sondern auch die erwerbstätigen Armen (erstere aber sicherlich stärker, da der Anteil von Transfereinkommen bei den erwerbstätigen Armen geringer ausfällt). Zweitens werden zusätzliche Leistungen, die das Einkommen von Erwerbstätigen im Niedrigeinkommensbereich erhöhen, Armut von Erwerbstätigen nur dann verringern können, wenn die Bedarfsbemessungsgrenze oberhalb der Armutsgrenze liegt. Drittens wird eine Verringerung der eigenständigen Ansprüche von jungen Erwachsenen vermutlich das Ausmaß intergenerationaler Abhängigkeit erhöhen und Armut über den Familienkontext auf klassische Haupterwerbstätige, also Männer im mittleren Alter, verschieben. Viertens werden der Ausbau des Angebots an Familiendienstleistungen wie Kinderbetreuungseinrichtungen und nicht-familiäre Formen der Pflege, die auf eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie zielen, den Anteil von Doppelverdienerhaushalten weiter erhöhen und damit – zumindest kurzfristig – Armut von Erwerbstätigen verringern. Fünftens wird eine Ausweitung der allgemeinen Familienunterstützung (z.B. Kindergeld) das Einkommen von Haushalten mit Kindern, die im Vergleich zu Kinderlosen ein höheres Armutsrisiko aufweisen, erhöhen und somit zur Armutsreduktion beitragen. Sechstens, da die Zentralisierung von Lohnverhandlungen zur Verringerung der Ungleichheit von Erwerbseinkommen beiträgt, sollte Dezentralisierung gegenläufige Folgen haben, die auch – allerdings vermittelt über den Haushaltskontext – im Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen spürbar wären. Siebtens wird eine Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen arme Erwerbstätige nur dann erreichen, wenn diese ausreichend hoch sind. Im Moment sind Mindestlöhne in den meisten Ländern zu niedrig, um Armut von Erwerbstätigen, manchmal selbst wenn diese allein leben, zu verhindern. Wie der Zusammenhang zwischen Niedriglohn und Armut ist auch der Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Armut indirekt, da Mindestlöhne an der Verteilung der persönlichen Einkommen ansetzen, Armut jedoch auf der Verteilung der Haushaltseinkommen beruht. Daher wird bei einer Einführung oder Anhebung
8.3 Abschließende Betrachtung
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von Mindestlöhnen auch das Einkommen von vielen Erwerbstätigen erhöht, die nicht arm sind. Bei dieser Zusammenstellung ist zu berücksichtigen, dass vermutlich alle diese Maßnahmen von positiven oder negativen Beschäftigungseffekten begleitet werden. Diese Effekte und deren Auswirkungen auf das Ausmaß von Armut abzuschätzen, liegt jedoch weit außerhalb der Zielsetzung dieser Arbeit, die darin bestand, den Einfluss des Niveaus von Dekommodifizierung, Defamilisierung und der Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen auf das Ausmaß und die Struktur von Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich zu bestimmen. 8.3 Offene Forschungsfragen und abschließende Bemerkungen Für das Ziel dieser Arbeit, den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf Armut von Erwerbstätigen im internationalen Vergleich umfassend zu betrachten, war es notwendig, die Ausgestaltung der entsprechenden Rahmenbedingungen ausführlich darzustellen und in ländervergleichenden Analysen zu überprüfen. Nur so war es möglich, Unterschiede im Ausmaß und der Struktur nicht allein zu beschreiben, sondern auch zu erklären. Die Methode eines breiten Ländervergleichs ist jedoch aufwändig und bedeutete, gleich zu Beginn der Arbeit bestimmte konzeptionelle Einschränkungen zu akzeptieren. Dies betrifft einerseits den Armutsbegriff, der hier auf die Betrachtung finanzieller Armut verengt wurde. Andererseits ist der Einfluss von Einstellungen und anderen nicht-materiellen Faktoren auf das Erwerbsverhalten – und somit potenziell auch auf Armut von Erwerbstätigen – nur am Rande thematisiert worden. Ausgangspunkt für eine Betrachtung, die diese Aspekte mitberücksichtigt, könnte der prinzipielle Widerspruch sein, der bei der Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen besteht. Einerseits weist die in vielen Arbeiten zum Thema variierte Aussage ‚Wer arbeitet, sollte nicht arm sein’ darauf hin, dass diese Form der Armut vielleicht noch stärker als andere Formen der Armut nicht akzeptiert wird. Andererseits ist es aus einer Perspektive sozialer Ausgrenzung gerade die Nichterwerbstätigkeit, die – unabhängig von der finanziellen Armut – problematisch ist. Armut von Erwerbstätigen erscheint aus dieser Perspektive als geringeres Problem. Eine Betrachtung von Armut von Erwerbstätigen, die diese Gegensätzlichkeit in den Mittelpunkt stellt, wäre sicherlich lohnend. Im Gegensatz zu dieser Arbeit müssten bei einer solchen Untersuchung die Funktionen der Erwerbstätigkeit, die über die Erzielung von Einkommen hinausgehen, weitaus stärker thematisiert werden. Eine solche Betrachtung könnte die hier erarbeiteten Ergebnisse ergänzen. Interessant wäre hierbei auch die Frage, inwieweit sich Einstellungen und die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen wechselseitig bedingen.
250
8 Zusammenfassung und Diskussion
Offene Fragen betreffen aber auch die Perspektive der international vergleichenden Wohlfahrtsforschung. In dieser Arbeit sind dabei zwei allgemeine Probleme deutlich geworden. Diese sind auch bereits in anderen Arbeiten angesprochen worden, treten aber bei der Betrachtung armer Erwerbstätiger besonders zu Tage. Erstens ist die Ausgestaltung von Arbeitsmarktinstitutionen bei der Betrachtung von Wohlfahrtsregimes nicht ausreichend berücksichtigt. Diese Kritik findet sich beispielsweise auch in der Literatur zu den ‚varieties of capitalism’ (vgl. Hall/Soskice 2001, Ebbinghaus/Manow 2001). Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Perspektive der Wohlfahrtsregimes ausdrücklich die Generierung von Wohlfahrt im Zusammenspiel von Markt, Staat und Familie betrachtet, erscheint diese Auslassung problematisch. Dies fällt bei einer Betrachtung von armen Erwerbstätigen besonders ins Gewicht, da trotz der relevanten Rolle staatlicher Transfers der überwiegende Teil der Einkommen Markteinkommen sind. In dieser Arbeit wurden zwar Arbeitsmarktinstitutionen ausdrücklich mitberücksichtigt und deren Einfluss auch im Rahmen multivariater Analysen überprüft. Eine weitere Ausarbeitung dieses Aspektes auf allgemeiner Ebene wäre aber wünschenswert. Zweitens, und dies wurde bereits im vorherigen Abschnitt angesprochen, ist es nicht allein das Ausmaß der Dekommodifizierung, sondern auch das der Kommodifizierung und Rekommodifizierung, in dem sich Wohlfahrtsstaaten unterscheiden. Wenn man als Kommodifizierungstrend vor allem die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit betrachtet, ist dieser Aspekt zum Teil über die Betrachtung des Ausmaßes der Defamilisierung abgedeckt. Problematischer ist der Aspekt der Rekommodifizierung. Wie bereits von Kvist (1998) argumentiert, ignoriert die gängige Konzeptionalisierung von Dekommodifizierung die Tatsache, dass keine Wahlfreiheit zwischen Arbeiten und Nicht-Arbeiten besteht, sondern dass neben den allgemeinen Zugangsregelungen wie einer Bedürftigkeitsprüfung eine Reihe von Mechanismen besteht, die als Prüfung der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt wirken. In Kapitel 7 ist deutlich geworden, dass die dafür gültigen Regeln in den letzten Jahren in vielen Ländern verschärft wurden. Diese Entwicklung wird aber weder im Niveau der Lohnersatzraten, noch im Ausmaß der Abdeckung oder in den bisher berücksichtigten Zugangsregelungen erfasst. In der Sichtweise von Autoren wie Gilbert (2002) werden diese Entwicklungen als Trend zu einem grundsätzlich anderen Typ von Wohlfahrtsstaaten gesehen. Unabhängig davon, ob diese Meinung geteilt wird, erscheint es notwendig, diese Regelungen bei der Betrachtung der Ausgestaltung von Transfersystemen systematisch mitzuberücksichtigen. Nur so kann der Wandel in diesem Bereich, der bislang eher anhand von Einzelentwicklungen nachgewiesen wird, abgebildet werden. Darüber hinaus bietet eine solche systematische Betrachtung natürlich auch die Möglichkeit, Unterschiede, die vermutlich weiterhin zwischen Wohlfahrtsstaaten bestehen, auch in der Ausgestaltung von Zumutbarkeitsregeln, Sanktionen usw. zu erfassen. Die vorliegende Arbeit hat hier einige Ansatzpunkte verdeutlicht. So wurde beispielsweise die Veränderung der
8.3 Abschließende Betrachtung
251
Sperrzeitenquote in Deutschland detailliert dargestellt und, soweit möglich, auch andere Indikatoren für die in Kapitel 7 betrachteten Länder zusammengestellt. Eine weitere Ausarbeitung für einen breit angelegten Ländervergleich ist jedoch nicht erfolgt. Mit dem Aspekt der Rekommodifizierung ist noch ein weiterer Punkt verbunden. Obwohl man negative Einkommenssteuersysteme und Transfersysteme für Erwerbstätige durchaus als marktorientierte Lösungen interpretieren kann, bleibt doch der Widerspruch bestehen, dass diese zwar auf Rekommodifizierung zielen, aber Haushalte trotzdem Zugriff auf Einkommen von staatlicher Seite erhalten. Übertrieben formuliert ist dies dann eine Form der Dekommodifizierung in der Rekommodifizierung, da ja – wenn auch häufig nur in geringem Maße – eine gewisse Unabhängigkeit vom Markt gewährleistet wird. Die von den Erwartungen und auch den Ergebnissen der allgemeinen Armutsforschung abweichenden Ergebnisse für Großbritannien und Irland, die als einzige umfassende Systeme der Unterstützung von Erwerbstätigen aufweisen, sind vielleicht auch auf diesen Effekt zurückzuführen. Auf Basis der vorliegenden Daten konnte diese Frage aber nicht eindeutig geklärt werden. Sollten entsprechende Systeme in größerem Umfang auch in anderen Ländern Verbreitung finden, wird man diesen Aspekt verstärkt berücksichtigen müssen, wenn man Unterschiede im Ausmaß von Armut und insbesondere Armut von Erwerbstätigen erklären möchte. Wie in dieser Arbeit deutlich geworden ist, wirft das Thema ‚Armut von Erwerbstätigen’ grundsätzliche Fragen für die zukünftige Entwicklung von Wohlfahrtstaaten auf. Gezeigt wurde nicht nur, dass es arme Erwerbstätige gibt, sondern auch, dass die Größe und Zusammensetzung dieser Gruppe nicht allein vom Ausmaß von Niedriglohnbeschäftigung abhängt, sondern das Resultat der allgemeinen Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen in Wohlfahrtsstaaten ist. Eine Frage, die sich am Beispiel von Armut von Erwerbstätigen stellt, ist die nach der grundsätzlichen Rolle von Erwerbstätigkeit. Es ist heute schon so, dass die Sichtweise, dass ein Erwerbseinkommen ausreichen sollte, um eine Familie zu ernähren, nicht der empirischen Realität entspricht. Und dies ist nicht allein deswegen so, weil es Vollzeiterwerbstätige mit einem Einkommen gibt, das dafür bei weitem nicht ausreichend ist. Diese Sichtweise wird auch dadurch in Frage gestellt, dass Erwerbstätigkeit von Frauen mehr und mehr zum Standard wird. Und weiter auch dadurch, dass es Gruppen gibt, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, da ausreichend entlohnte Arbeit nicht verfügbar ist, man diesen Ausschluss aber nicht dauerhaft akzeptieren kann. Die Frage, wofür ein Erwerbseinkommen ausreichen sollte, ist unter diesen Bedingungen schwieriger zu beantworten als es vielleicht noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall war. Ebensowenig ist die Frage nach Armut von Erwerbstätigen in einfacher Weise zu beantworten. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass es sehr unterschiedliche Konstellationen gibt, aus denen Armut von Erwerbstätigen resultiert und dass unterschiedliche Faktoren auf der institutionellen Ebene das
252
8 Zusammenfassung und Diskussion
Ausmaß von Armut von Erwerbstätigen beeinflussen. Diese Ergebnisse können sicherlich als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen in die hier abschließend skizzierte Richtung dienen.
7.3 ,Aktivierung’ von Wohlfahrtsstaaten
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268
Anhang A: Indikatoren und Datenquellen a) Mikrodaten: 1. verwendete Datensätze: European Community Household Panel 1994-2001 (ECHP), Community Statistics of Income and Living Conditions 2004 (EU-SILC), SozioOekonomisches Panel 2004 (SOEP). 2. Indikatoren: 2.1 Armut von Erwerbstätigen (ECHP, EU-SILC und SOEP) Armut:
relative Einkommensarmut, Armutsgrenze definiert als 60 Prozent des Medians des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens (modifizierte OECD-Skala), aktuelles Monatseinkommen oder jährliches Einkommen des Vorjahres (EU-SILC und SOEP nur Verwendung des jährlichen Einkommens).
Erwerbstätigkeit: bei Verwendung des monatlichen Einkommensindikators: mindestens 1 Stunde pro Woche erwerbstätig (ILO-Konzept), bei Verwendung des jährlichen Armutsindikators: mindestens 6 Monate im Jahr erwerbstätig (hauptsächlicher Erwerbsstatus). arme Erwerbstätige: Personen, die erwerbstätig sind und in einem Haushalt mit einem bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen unterhalb der Armutsgrenze leben. 2.2 Weitere Angaben zur Erwerbstätigkeit (ECHP) Niedriglohn: relatives Niedriglohnkonzept, Armutsgrenze definiert als 2/3 des Medians des Bruttostundenlohns aller abhängig Beschäftigten, sämtliche Analysen zu Niedriglohn ohne Berücksichtigung der Selbständigen. Teilzeit/Vollzeit: weniger als 30 Stunden pro Woche/mindestens 30 Stunden pro Woche.
Indikatoren und Datenquellen
269
berufliche Selbständigkeit: Abgrenzung nach Selbstauskunft der Befragten, mithelfende Familienangehörige zählen zu den Selbständigen. berufliche Tätigkeit (Ausprägung der entsprechenden Variable im ECHP): hohe Beamte/Angestellte, Manager (1000-1999), freie Berufe und Semiprofessionen (2000-3999), Angestellte (4000-4999), landwirtschaftliche Berufe (6100, 9200), einfache Dienstleistungstätigkeiten (5100, 5200, 9100, 9400), Facharbeiter (7000-8400), un-/ angelernte Arbeiter (9300). b) Makrodaten: 1. Dekommodifizierung: Dekommodifizierungsindex: Dekommodifizierungsindex und Subindizes (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Rente) gebildet nach dem Vorgehen von Esping-Andersen (1990), Jahre: 1990-2000, Quelle: Welfare State Entitlements Data Set: A Comparative Institutional Analysis of Eighteen Welfare States (Scruggs 2005). Lohnersatzrate: Durchschnittliche Höhe der Arbeitslosenunterstützung als Anteil des APW-Lohns in %, eigene Berechnung auf Basis von Angaben für unterschiedliche Haushaltskonstellationen, Einkommenshöhen und Arbeitslosigkeitsdauer, Jahre: 1995-2001 (zweijährlich), Quelle: OECD Tax-Benefit Models (OECD 1998a, 1999, 2002, 2004a). Marginale effektive Steuersätze (METRs): Höhe der effektiven Besteuerung - Steuern, Abgaben und Wegfall von Transfers – bei einer Zunahme des Einkommens um 1 Prozent des APWLohnes (Ausgangsniveau: 67% des APW-Lohns), Jahr: 2001, Quelle: OECD Tax-Benefit Models (Carone et al. 2004: 17, 35, 39). 2. Defamilisierung: Kinderbetreuung: Kinder unter 3 Jahren in formal anerkannter Kinderbetreuung (Anteil in %), Jahre: um 2000, Quelle: OECD auf Basis nationaler Angaben (Immervoll/Barber 2005: 13, Ausnahme Luxemburg: Künzler et al. 1999: 206).
270
Anhang A
Ausgaben für allgemeine Familienunterstützung: Ausgaben für monetäre Familienleistungen als Anteil am BIP in %, Jahre: 1994-1998, Quelle: OECD Social Expenditure Database. Ausgaben für Familiendienstleistungen: Ausgaben für Familiendienstleistungen als Anteil am BIP in %, Jahre: 1994-1998, Quelle: OECD Social Expenditure Database. Index allgemeine Familienunterstützung: Länderrangplätze eines Indexes allgemeiner Familienunterstützung, Jahre: 1985-1990, Quelle: Korpi 2000: 147. Index Doppelverdienerunterstützung: Länderrangplätze eines Indexes der Doppelverdienerunterstützung, Jahre: 1985-1990, Quelle: Korpi 2000: 147. 3. Arbeitsmarktinstitutionen: Höhe Mindestlohn: Gesetzlicher Mindestlohn als Anteil eines APW-Lohns in %, Jahr: 2000, Quelle: OECD Labour Force Survey Database. Lohnverhandlungsebene: Zentrale Lohnverhandlungsebene, Jahre: 1994-2000, Quelle: Dataset on union centralization among advanced industrial societies (Golden et al. 2006). Gewerkschaftlicher Organisationsgrad: Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten in %, Jahre: 1990-2001, Quelle: OECD Labour Force Survey Database (administrative Daten, außer Großbritannien 1997-2001 [Surveydaten]). Tarifbindung: Beschäftigte, die einem Tarifvertrag unterliegen als Anteil an allen Beschäftigten in %, Jahre: etwa 2000-2003, Quelle: Visser 2005: 47. Zentralisierung: Index zur Zentralisierung von Lohnverhandlungssystemen gebildet nach dem Vorgehen von Iversen (1999), Jahre: 1990, 1995, 2003, Quelle: Visser 2004: 43.
Indikatoren und Datenquellen
271
Kündigungsschutz: Index der Striktheit der Kündigungsschutzgesetzgebung (Kündigungsschutz bei regulärer Beschäftigung, Bedingungen für befristete Beschäftigung und Kollektiventlassungen), Jahre: Ende der 1990er Jahre, Quelle: OECD 2004c: 117. 4. Weitere Indikatoren: Erwerbstätigenquoten Frauen/Männer: Anteil Erwerbstätige an allen Personen im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre), Jahre: 1990-2001, Quelle: OECD Labour Force Statistics Database. Sperrzeitenquote: Anzahl Sperrzeiten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bezieher von Arbeitslosengeld und – hilfe, Jahre: 1992-2004, Quelle: Oschmianski et al. 2001: 23, Bundesanstalt/-agentur für Arbeit 2002: 37, 2004: 39, 2006: 112. Arbeitslosenquote: Arbeitslose als Anteil an allen Erwerbspersonen in % (soweit möglich nach ILO-Konzept), Jahre: 1990-2005, Quelle: OECD Main Economic Indicators (OECD 2006b: 178). Wirtschaftswachstum: Veränderung des realen BIP gegenüber dem Vorjahr in %, Jahre: 19902005, Quelle: OECD Economic Outlook Database (OECD 2004b: 215, OECD 2006b: 165). Wirtschaftsleistung: BIP pro Kopf zu Preisen von 2000 (kaufkraftbereinigt in US-$), Jahre: 1990-2005, Quelle: OECD Annual National Accounts.
272
Anhang B: Zusätzliche Tabellen und Abbildungen Tabelle A1: Marginale effektive Steuersätze (METR) Alleinstehende
1 Verdiener-HH
2 Verdiener-HH
1P 1P+2K 2P 2P+2K 2P 2P+2K Ausweitung bestehendes Erwerbseinkommen (Niedriglohnfalle) DK 56 67 110 116 56 56 FIN 41 88 95 85 41 41 NL 45 41 45 45 45 45 S 37 57 37 100 37 37 IRL 24 62 4 62 24 24 UK 32 89 70 89 32 32 B 54 54 45 45 56 56 D 51 48 39 60 51 51 F 41 46 30 88 35 29 LUX 31 14 14 110 31 14 A 37 37 37 37 37 37 I 32 120 32 32 32 32 GR 16 16 16 16 16 16 P 23 55 55 55 23 11 ES 33 6 26 6 33 26 Übergang aus Arbeitslosigkeit (67% APW) (Arbeitslosigkeitsfalle) DK 91 97 83 87 91 91 FIN 81 88 91 99 71 78 NL 85 87 91 90 78 78 S 87 91 98 100 87 87 IRL 73 54 87 87 48 61 UK 70 56 82 72 41 49 B 89 82 80 76 89 89 D 88 93 88 85 86 98 F 87 92 89 84 88 87 LUX 88 89 107 104 83 89 A 75 84 86 97 69 74 Fortsetzung nächste Seite
Ø
Stand. abw.
77 65 44 51 33 57 52 50 45 36 37 47 16 37 22
26 24 1 23 21 26 5 6 20 34 0 33 0 18 11
90 85 85 92 68 62 84 90 88 93 81
4 9 5 5 15 14 5 4 2 9 9
273
Zusätzliche Tabellen und Abbildungen
Fortsetzung Tabelle A1 Alleinstehende
1 Verdiener-HH
2 Verdiener-HH
1P 1P+2K 2P 2P+2K 2P 2P+2K Übergang aus Arbeitslosigkeit (67% APW) (Arbeitslosigkeitsfalle) I 60 53 57 54 64 70 GR 79 84 79 84 79 84 P 88 72 72 55 91 86 ES 81 82 77 82 81 83 Übergang als Nichterwerbstätigkeit (Inaktivitätsfalle) DK 83 87 73 74 50 64 FIN 78 66 91 99 30 38 NL 84 80 92 90 36 38 S 82 61 98 100 29 37
Ø
IRL UK
73 70
54 56
87 82
87 72
18 19
B D F LUX A
67 80 71 76 75
71 85 81 82 84
69 81 86 98 86
65 77 82 93 97
I GR P ES
20 16 42 44
-2 16 55 58
13 16 55 47
-7 16 55 64
Stand. abw.
60 82 77 81
6 3 12 2
72 67 70 68
12 26 24 28
29 44
58 57
27 21
49 47 27 20 24
48 51 41 14 24
62 70 65 64 65
9 15 23 34 30
32 16 30 19
43 16 57 15
17 16 49 41
18 0 10 18
Anmerkungen: P=erwachsene Person, K=Kind. Quelle: Carone et al. 2004 (weitere Anmerkungen siehe Anhang A).
274
Anhang B
Tabelle A2: Personen mit Bezug von Transfers nach Transferarten (als Anteil an allen armen Erwerbstätigen in Prozent) DK FIN NL S Ø
Invalidität 3,2 17,6 10,5 12,2 10,9
IRL UK Ø
6,4 10,8 8,6
B D F LUX A Ø
Ausbildung 46,6 19,5 17,7 41,3 31,3
Sonstiges 1,8 0,5 0,0 1,4 0,9
Sozialhilfe 1,1 18,1 7,0 9,3 8,9
Wohngeld 10,5 31,8 6,5 21,6 17,6
4,7 3,2 4,0
9,6 26,3 17,9
16,0 0,0 8,0
2,3 16,6 9,4
4,7 3,1 10,4 8,2 5,1 6,3
10,1 3,7 10,5 0,0 2,0 5,3
5,9 0,0 2,6 0,0 1,7 2,0
1,4 6,1 1,8 3,4 1,7 2,9
0,0 12,6 37,0 0,0 4,6 10,8
GR I P ES Ø
2,7 7,8 13,0 13,4 9,2
0,0 1,2 8,7 0,7 2,6
1,0 1,4 1,1 5,7 2,3
0,8 3,1 9,1 0,6 3,4
0,0 0,4 0,1 0,1 0,2
R2
0,18
0,73
0,72
0,24
0,30
Anmerkung: Vgl. auch Tabelle 5.7. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechungen.
275
Zusätzliche Tabellen und Abbildungen
Abbildung A1: Zusammensetzung der Erwerbstätigen (17-64 Jahre) nach a) beruflicher Stellung und Sektor, b) Arbeitszeit und Niedriglohn Dänemark Finnland Niederlande Irland Gr.britannien Belgien Deutschland Frankreich Österreich Griechenland Italien Portugal Spanien 0
20
40
60
80
100
Anteil in % selbständig LWS abh. LWS
selbständig abh.
Dänemark Finnland Niederlande Irland Gr.britannien Belgien Deutschland Frankreich Österreich Griechenland Italien Portugal Spanien 0
20
40
60
80
Anteil in % TZ VZ/NL
TZ/NL VZ
Anmerkungen: LWS=Landwirtschaft, TZ/VZ=Teil-/Vollzeit, NL=Niedriglohn. Quelle: ECHP 2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
100
Quelle: ECHP 1994-2001 (gewichtet), eigene Berechnungen.
Abbildung A2: Entwicklung Armutsquote von Erwerbstätigen 1994-2001 nach Einkommensindikator
276 Anhang B